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Oliver Pötzsch
Die Henkerstochter und der schwarze Mönch
Historischer Roman
Ullstein
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Das Buch Im Januar des ...
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Oliver Pötzsch
Die Henkerstochter und der schwarze Mönch
Historischer Roman
Ullstein
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Das Buch Im Januar des Jahres 1660 stirbt in Altenstadt nahe der bayerischen Stadt Schongau ein Pfarrer auf dramatische Weise. Offenbar wurde er vergiftet, doch im Sterben konnte er noch einen Hinweis geben auf ein uraltes Grab, das er unter seiner Kirche entdeckt hat. Der Medicus Simon Fronwieser und Jakob Kuisl, Henker von Schongau, finden in dem riesigen Sarkophag die Überreste eines Templerritters und ein Rätsel, das der Verstorbene der Nachwelt hinterlassen hat. Sie sind sicher, dass die geheimnisvollen Sprüche des Templers eine Spur legen zu dem berühmten Schatz des Ordens, der seit vielen Jahrhunderten verschwunden ist. Gemeinsam mit der kräuterkundigen Henkerstochter Magdalena und der Schwester des toten Pfarrers, der wohlhabenden, gebildeten Händlerin Benedikta, machen sich Simon und Kuisl daran, das Rätsel zu lösen. Doch sie müssen feststellen, dass hinter dem ersten Rätsel ein zweites und drittes stecken und dass auch andere nach dem Schatz suchen. Die Verschwörer tragen Kutten, und der schwarze Mönch, der bereits den Pfarrer ermordet hat, kennt keine Skrupel.
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Der Autor Oliver Pötzsch, Jahrgang 1970, arbeitet seit Jahren als Filmautor für den Bayerischen Rundfunk, vor allem für die Kultsendung quer. Er ist selbst ein Nachfahre der Kuisls, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die berühmteste Henker-Dynastie Bayerns waren. Oliver Pötzsch lebt mit seiner Familie in München. Mehr unter www.oliver-poetzsch.de. Von Oliver Pötzsch ist in unserem Hause außerdem erschienen: Die Henkerstochter
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Für meine Großmutter, die Matriarchin – und für meine Mutter, die immer noch die besten Geschichten erzählt
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Dramatis Personae
Jakob Kuisl, Schongauer Scharfrichter Simon Fronwieser, Sohn des Stadtmedicus Magdalena Kuisl, Henkerstochter Anna Maria Kuisl, Frau des Scharfrichters Die Kuisl-Zwillinge Georg und Barbara Die Bürger Bonifaz Fronwieser, Schongauer Stadtmedicus Benedikta Koppmeyer, Händlerin aus Landsberg am Lech Martha Stechlin, Hebamme Magda, Pfarrhaushälterin der Altenstadter Lorenzkirche Abraham Gedler, Mesner der Altenstadter Lorenzkirche Maria Schreevogl, Ratsherrengattin Franz Strasser, Altenstadter Wirt Balthasar Hemerle, Altenstadter Zimmermann Hans Berchtholdt, Sohn des Schongauer Bäckermeisters Sebastian Semer, Sohn des Ersten Bürgermeisters Die Ratsherren Johann Lechner, Gerichtsschreiber Karl Semer, Erster Bürgermeister und Wirt vom Gasthaus »Zum Goldenen Stern« 7
Matthias Holzhofer, Zweiter Bürgermeister Jakob Schreevogl, Hafner und Ratsherr Michael Berchtholdt, Bäckermeister und Ratsherr Die Augsburger Philipp Hartmann, Augsburger Scharfrichter Nepomuk Biermann, Inhaber der Augsburger Marienapotheke Oswald Hainmiller, Händler aus Augsburg Leonhard Weyer , Händler aus Augsburg Die Kirche Andreas Koppmeyer, Pfarrer der Altenstadter Lorenzkirche Elias Ziegler, Pfarrer der Altenstadter Basilika St. Michael Augustin Bonenmayr, Abt des Steingadener Prämonstratenserstifts Michael Piscator, Propst des Rottenbucher Augustinerchorherrenklosters Bernhard Gering, Abt des Wessobrunner Benediktinerklosters Die Mönche Bruder Jakobus, Bruder Avenarius, Bruder Nathanael 8
»Das Wunderbare bereitet Vergnügen. Ein Beweis dafür ist, dass jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt, in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu erweisen.«
Aristoteles: Poetik
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Prolog Altenstadt bei Schongau, in der Nacht zum 18. Januar, Anno Domini 1660
A
ls Pfarrer Andreas Koppmeyer den letzten Stein in
die Öffnung presste und mit Kalk und Mörtel versiegelte, hatte er noch gut vier Stunden zu leben. Mit seinem breiten Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lehnte sich an die kühle, feuchte Wand hinter ihm. Dann blickte er nervös die schmale, gewundene Steintreppe nach oben. Hatte sich über ihm nicht etwas bewegt? Erneut war ein Knarren zu hören, so als schliche jemand über die Dielenbretter oben in der Kirche. Aber es konnte auch eine Täuschung gewesen sein. Holz arbeitete, und die Lorenzkirche war alt und windschief. Nicht umsonst waren Handwerker seit ein paar Wochen dabei, sie zu reparieren, damit sie nicht irgendwann während der Messe einstürzte. Draußen pfiff ein Januarsturm um das verwitterte Gemäuer und rüttelte an den Holzläden. Doch nicht nur wegen der Kälte hier unten in der Krypta fröstelte es den Pfarrer. Er zog seine löchrige Soutane fest um sich, warf einen letzten prüfenden Blick auf die zugemauerte Wand und begab sich wieder nach oben. Seine Schritte hallten auf den ausgetretenen, mit Raureif überzogenen Stufen der Treppe. Das Heulen des Sturms wurde plötzlich lauter, so dass vom leisen Knarren in der Galerie über ihm nichts 10
mehr zu hören war. Er musste sich getäuscht haben. Wer um Himmels willen sollte sich schon um diese Zeit in der Kirche aufhalten? Es war weit nach Mitternacht. Seine Haushälterin Magda schlief seit Stunden im kleinen Pfarrhäuschen nebenan, und auch der alte Mesner würde erst zum Sechsuhrläuten hier auftauchen. Pfarrer Andreas Koppmeyer stieg die letzten Stufen aus der Krypta empor. Seine breite Gestalt füllte die Öffnung im Kirchenboden ganz aus. Er war über sechs Fuß groß, ein Bär von einem Mann; mit seinem breiten Vollbart und den buschigen, schwarzen Augenbrauen sah er aus wie die Verkörperung eines alttestamentarischen Gottes. Wenn Koppmeyer im schwarzen Gewand vor dem Altar stand und mit brummiger, tiefer Stimme predigte, hatten seine Schäflein schon allein wegen seiner Erscheinung Angst vor dem Fegefeuer. Der Pfarrer fasste die mehrere Zentner schwere Grabplatte mit beiden Händen und schob sie schnaufend über die Öffnung. Mit einem Knirschen legte sie sich über den Eingang der Krypta und verschloss sie so perfekt, als wäre sie nie geöffnet worden. Zufrieden betrachtete Koppmeyer sein Werk, dann machte er sich auf den Weg hinaus in den Sturm. Als er die Tür der Kirche öffnen wollte, merkte er, dass der Schnee bereits in hohen Wehen vor dem Portal lag. Ächzend drückte Koppmeyer mit der Schulter gegen die schweren, eichenen Türflügel, bis sich ein Spalt auftat, durch den er gerade eben hindurchpasste. Schneeflocken prasselten wie kleine Dornen gegen sein Gesicht, und er musste die Augen schließen, während er hinüber zum Pfarrhaus stapfte. 11
Bis zu dem kleinen Gebäude waren es nur dreißig Schritte, doch dem Pfarrer kam es vor wie eine Ewigkeit. Der Wind zerrte an seiner Soutane, so dass sie wie eine zerrupfte Flagge um seinen Körper wehte. Der Schnee war hier draußen fast hüfttief, und selbst Koppmeyer mit seiner massigen Gestalt hatte Mühe voranzukommen. Während er sich so Schritt für Schritt durch den Sturm und die Dunkelheit kämpfte, dachte er an die letzten zwei Wochen zurück. Pfarrer Koppmeyer war ein einfacher Mann Gottes, aber auch er hatte gemerkt, dass sein Fund etwas Außergewöhnliches war. Etwas, an dem sich andere die Finger verbrennen sollten, nicht er. Es war richtig gewesen, den Zugang zu vermauern. Sollten mächtigere, kundigere Menschen entscheiden, ob er jemals wieder geöffnet würde. Vielleicht hätte er den Brief an Benedikta nicht schreiben sollen, aber er hatte seiner jüngeren Schwester schon immer vertraut. Sie war für ein Weibsbild erstaunlich klug und belesen. Schon oft hatte er sie um ihren Rat gefragt. Bestimmt würde sie auch diesmal die richtigen Schlüsse ziehen. Andreas Koppmeyers Gedanken wurden jäh unterbrochen. Aus den Augenwinkeln glaubte er eine Bewegung zu sehen, irgendwo rechts hinter dem Holzstapel neben dem Pfarrhaus. Er kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit der Hand gegen die Schneeflocken ab. Aber er konnte nichts erkennen. Es war zu dunkel, und der Schneefall nahm ohnehin jede Sicht. Der Pfarrer wandte sich achselzuckend ab. Wahrscheinlich nur ein Fuchs, der sich an den Hühnerstall anschleichen wollte, dachte er. Oder ein Vogel, der Schutz vor dem Sturm gesucht hatte. 12
Endlich erreichte Koppmeyer den Eingang des Pfarrhäuschens. Hier zur Südseite hin waren die Schneewehen nicht ganz so hoch. Er öffnete die Tür, zwängte seine massige Gestalt in die Diele und schob den Riegel vor. Sofort breitete sich angenehme Stille aus. Der Sturm schien weit, weit weg zu sein. In der offenen Feuerstelle in der Diele lag noch etwas Glut und verbreitete wohlige Wärme, weiter vorne führte eine Treppe hoch in das Zimmer der Haushälterin. Der Pfarrer wandte sich nach rechts, um durch die Stube in seine kleine Kammer zu gelangen. Als er die Tür zur Stube öffnete, empfing ihn ein süßer, fettiger Duft. Andreas Koppmeyer floss das Wasser im Mund zusammen, als er dessen Ursprung ausmachte. Auf dem Tisch in der Mitte der Stube stand eine Tonschüssel, bis obenhin gefüllt mit saftigen Schmalznudeln. Koppmeyer trat näher und berührte sie sacht. Sie waren noch warm. Der Pfarrer grinste. Die gute Magda hatte mal wieder an alles gedacht. Er hatte ihr gesagt, dass er heute noch länger in der Kirche bleiben werde, um bei den Renovierungsarbeiten selbst mit Hand anzulegen. Wohlweislich hatte er sich einen Laib Brot und einen Krug Wein mitgenommen. Aber die Haushälterin wusste, dass ein Mann wie Koppmeyer davon allein nicht leben konnte. Also hatte sie ihm Schmalznudeln gemacht, und die warteten jetzt hier auf ihren Erlöser! Andreas Koppmeyer entzündete eine Kerze an der Glut des Herdes und setzte sich an den Tisch. Erfreut bemerkte er, dass die Nudeln dick mit Honig bestrichen waren. Er zog die Schüssel mit seinen beiden Pranken zu sich heran, 13
nahm sich eine der noch warmen Nudeln und biss genüsslich hinein. Sie schmeckte köstlich. Still vor sich hinkauend, spürte der Pfarrer, wie die Wärme in seinen Körper zurückkehrte. Schon bald war er fertig und griff zum nächsten Schmalzgebäck. Er zerpflückte die zarte Nudel und schob sich die dampfenden Stücke in immer schnellerer Folge in den Mund. Kurz glaubte er, ein unangenehmes Aroma am Gaumen zu spüren. Aber der Geschmack wurde sofort wieder vom süßen Honig überdeckt. Nach der sechsten Schmalznudel musste Koppmeyer schließlich aufgeben. Ein letztes Mal linste er in die Schüssel, auf deren Grund gerade noch zwei Nudeln lagen. Er seufzte tief, rieb sich den Bauch, dann begab er sich mehr als gesättigt in die Kammer nebenan, wo er alsbald in tiefen Schlaf sank. Die Schmerzen kündigten sich kurz vor Hahnenschrei mit einer leichten Übelkeit an. Still verfluchte Koppmeyer sich für seine Gier und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, wohl wissend, dass Völlerei eine der sieben Todsünden war. Vermutlich hatte Magda den Inhalt der Schüssel für die nächsten paar Tage gedacht. Aber die Nudeln waren einfach zu köstlich gewesen! Nun bestrafte Gott ihn stante pede mit Brechreiz und Leibgrimmen. Was musste er auch mitten in der Nacht das Fressen anfangen! Geschah ihm nur recht! Gerade eben wollte er aus dem Bett steigen, um sich in den für solche Fälle bereitgestellten Nachttopf zu erleichtern, als die Bauchschmerzen schlimmer wurden. Blitze zuckten durch seinen Leib, so dass sich Koppmeyer stöh14
nend am Bettrand festklammern musste. Ächzend richtete er sich auf und humpelte nach nebenan in die Stube, wo auf einem Tischchen ein Krug mit Wasser stand. Er setzte an und trank das kühle Nass in einem Zug, in der Hoffnung, die Schmerzen damit zu lindern. Auf dem Weg zurück in seine Kammer schoss ein Schmerz von der Kehle bis hinunter zum Magen, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Koppmeyer versuchte zu schreien, doch der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Seine Zunge war ein fleischiger Korken, der seine Kehle verstopfte. Der Pfarrer sank auf die Knie, heißes Feuer kroch seinen Hals hoch. Er erbrach breiige Klumpen, doch der Schmerz ließ nicht nach. Im Gegenteil, er steigerte sich, bis Koppmeyer nur noch wie ein geprügelter Hund auf allen vieren robben konnte; seine Beine versagten plötzlich ihren Dienst. Flüsternd versuchte er, nach der Haushälterin zu krächzen, doch das Feuer hatte längst seine Kehle verbrannt. Langsam dämmerte dem Pfarrer, dass dies keine normalen Bauchschmerzen waren und dass Magda nicht einfach nur die Milch hatte schlecht werden lassen. Koppmeyer spürte, dass er sterben würde. Er lag da und krepierte. Nach Minuten der Angst und Verzweiflung fasste der Pfarrer einen Entschluss. Mit der ihm noch verbliebenen Kraft stemmte er sich gegen die Haustür und drückte sie auf. Wieder wehte ihm der Sturm ins Gesicht, eine Wand aus Kälte und eisigen Dornen. Das Heulen schien Koppmeyer zu verhöhnen. In der Spur, die er Stunden zuvor gewalzt hatte und die teilweise noch zu erkennen war, schleppte er sich auf allen vieren zurück zur Kirche. Immer wieder musste er anhal15
ten und sich hinlegen, wenn der Schmerz ihn übermannte. Schnee und Eis krochen unter seine Soutane, seine Hände froren zu unförmigen Klumpen. Koppmeyer verlor jegliches Zeitgefühl. Seine Gedanken hatten nur noch ein Ziel: Er musste die Kirche erreichen! Schließlich stieß sein Kopf gegen eine Wand. Erst mit ein paar Sekunden Verzögerung registrierte er, dass es das Portal der Lorenzkirche war. Mit letzter Kraft zwängte er die gefrorenen Stumpen, die einst seine Hände gewesen waren, in den Schlitz und zog die Tür auf. Drinnen war er nicht einmal mehr in der Lage, auf allen vieren zu kriechen. Die Beine knickten immer wieder unter dem schweren Körper weg. Die letzten Meter robbte er, in seinem Inneren tobte ein unerbittlicher Kampf. Er spürte, wie seine Organe nach und nach versagten. Als der Pfarrer die Platte über der Krypta erreicht hatte, streichelte er kurz das Relief der Frau unter ihm. Er liebkoste die verwitterte Gestalt wie eine Geliebte, schließlich legte er seine Wange auf ihr Gesicht. Die Lähmung stieg von seinen Beinen langsam nach oben. Bevor sie seine Hände erreichte, kratzte Koppmeyer mit dem schartigen Nagel seines rechten Zeigefingers einen Kreis in die Frostschicht auf der Grabplatte. Dann wich die Spannung aus dem bulligen Körper, er sackte zusammen. Noch einmal versuchte er, den Kopf zu heben, doch irgendetwas hielt ihn fest. Das Letzte, was Andreas Koppmeyer spürte, war, wie sein Bart, sein rechtes Ohr und seine Gesichtshaut langsam auf dem Stein festfroren. Kälte und Stille breiteten sich in ihm aus. 16
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S
imon Fronwieser stapfte die Altenstadter Straße ent-
lang durch den Schnee und verfluchte seinen Beruf. Bauern, Knechte, Zimmerleute, ja sogar Huren und Bettler blieben bei einer solch gottverdammten Kälte im Warmen. Nur er, der Schongauer Stadtmedicus, musste unbedingt einen Krankenbesuch machen! Trotz des dicken Wollmantels über seinem Rock und der ledernen, mit Fell gefütterten Handschuhe fror er zum Gotterbarmen. Schneebrocken und Eisklumpen waren in seinen Kragen und seine Stiefel gekrochen und zerronnen dort zu kaltem Matsch. Als er an sich hinunterblickte, bemerkte er vorne an der linken Stiefelspitze ein neues Loch, durch das sein großer, rotgefrorener Zeh hinauslugte. Simon biss die Zähne zusammen. Dass ihn seine Stiefel gerade jetzt im Winter im Stich lassen mussten! Er hatte sein Erspartes bereits für eine neue Rheingrafenhose ausgegeben. Aber die war einfach nötig gewesen. Lieber sollte ihm ein Zeh abfrieren, als dass er auf die Annehmlichkeiten der neuesten französischen Mode verzichten musste. Es galt, Stil zu wahren, gerade in so einer verschlafenen bayerischen Kleinstadt wie Schongau. Simon richtete den Blick wieder auf die Straße. Erst vor kurzem hatte es aufgehört zu schneien. Jetzt in den Vormittagsstunden hing eine schneidende Kälte über den brachliegenden Äckern und Wäldern rund um die Stadt. 17
Die Schneekruste auf dem schmalen Trampelpfad in der Mitte der Straße brach bei jedem Schritt ein. Eiszapfen hingen an den Zweigen, die Bäume ächzten unter der Last des Schnees. Hier und dort brachen Äste oder gaben mit lautem Krachen ihre Ladung frei. Simons perfekt ausrasierter Knebelbart und das auf Schulterlänge geschnittene schwarze Haar waren mittlerweile steif gefroren. Der Medicus tastete nach seinen Augenbrauen. Auch sie fühlten sich eisig an. Zum wiederholten Mal fluchte er laut vor sich hin. Es war der verdammt kälteste Tag des Jahres, und er musste im Auftrag seines Vaters nach Altenstadt stapfen! Und das alles nur wegen eines kranken Pfaffen! Simon konnte sich schon denken, was mit dem fetten Koppmeyer los war. Überfressen hatte er sich, wie so oft! Und nun lag er mit Bauchgrimmen im Bett und verlangte nach Lindenblütentee. Als wenn ihm den nicht auch seine Haushälterin Magda brauen könnte! Aber wahrscheinlich hatte der Herr Pfarrer mal wieder auswärts gevöllert, sich auf eine Liebelei mit einer der Dorfhuren eingelassen, und nun war Magda eingeschnappt, und Simon musste es ausbaden. Bereits in aller Frühe hatte Abraham Gedler, der Mesner der Altenstadter Lorenzkirche, an die Tür des Fronwieserhauses gehämmert. Merkwürdig blass und einsilbig war er gewesen, hatte nur gesagt, der Pfarrer sei krank und der Herr Doktor solle schleunigst kommen. Dann war er ohne einen weiteren Kommentar wieder zurück nach Altenstadt durch den Schnee gelaufen. Simon hatte wie üblich um diese Zeit noch im Bett gelegen, den Kopf schwer vom gestrigen Tokajer im Gasthaus »Zum Goldenen Stern«. Doch sein Vater hatte ihn 18
unter wüsten Flüchen herausgezerrt und ohne Frühstück auf den Weg geschickt. Zum wiederholten Mal brach Simon bis zur Hüfte ein und musste sich mühsam frei kämpfen. Trotz der trockenen Kälte stand ihm der Schweiß im Gesicht. Er grinste grimmig, während er das rechte Bein aus der Wehe zog und dabei fast seinen Stiefel einbüßte. Wenn er nicht aufpasste, mußte er sich demnächst selbst kurieren! Simon schüttelte den Kopf. Es war ein Wahnsinn, bei diesem Wetter nach Altenstadt zu gehen, doch was blieb ihm übrig? Sein Vater, der Stadtmedicus Bonifaz Fronwieser, weilte bei einem steinreichen, gichtkranken Ratsherren, der Bader lag mit Nervenfieber zu Bett; und bevor der alte Fronwieser den Henker nach Altenstadt schickte, würde er sich lieber einen Finger abbeißen. So schickte er eben seinen missratenen Sohn … Der dürre Mesner erwartete Simon bereits am Eingang der kleinen Kirche, die etwas außerhalb des Dorfs auf einer Anhöhe lag. Gedlers Gesicht war so weiß wie der Schnee um ihn herum. Er hatte Ringe um die Augen und zitterte am ganzen Leib. Kurz fragte Simon sich, ob vielleicht Gedler und nicht der Pfarrer eine Behandlung nötig hatte. Der Mesner machte einen Eindruck, als hätte er mehrere Nächte nicht geschlafen. »Nun, Gedler«, begann Simon aufmunternd. »Was hat er denn, der Herr Pfarrer? Darmverschlingungen? Verstopfung? Ein Einlauf wird Wunder wirken. Du solltest auch einen versuchen.« Schnurstracks ging er auf das Pfarrhäuschen zu, doch der Mesner hielt ihn zurück und deutete schweigend auf die Kirche. 19
»Dort drinnen ist er?«, fragte Simon erstaunt. »Bei dieser Kälte? Er soll froh sein, wenn er sich nicht den Tod holt.« Er wandte sich zur Kirche, als er hinter sich ein Räuspern hörte. Kurz vor dem Portal drehte Simon sich um. »Was ist, Gedler? « »Der Herr Pfarrer, er ist ...« Dem Mesner versagte die Stimme. Er blickte stumm zu Boden. Von einer plötzlichen Ahnung getrieben, drückte Simon die schweren Flügel auf. Ein eisiger Wind wehte ihm entgegen, noch ein paar Grad kälter als die Luft draußen; irgendwo schlug ein Fenster zu. Der Medicus sah sich um. Baugerüste ragten an der linken und rechten Innenmauer empor bis hinauf zur morschen Galerie. Eine Balkenkonstruktion oben an der Decke ließ vermuten, dass hier in naher Zukunft eine neue Holzdecke eingezogen werden sollte. Die Fensteröffnungen an der Rückfront waren teilweise aufgemeißelt, sodass ein stetiger eiskalter Zug durch das Kirchenschiff fegte. Simon spürte, wie sein Atem wie feiner Nebel sein Gesicht streifte. Pfarrer Andreas Koppmeyer befand sich im hinteren Drittel des Kirchenraums, nur wenige Schritte von der Apsis entfernt. Er sah aus wie eine aus Eis gehauene Statue, ein gefällter weißer Riese, niedergestreckt vom Zorn Gottes. Sein ganzer Körper war von einer feinen Eisschicht überzogen. Simon näherte sich ihm vorsichtig und berührte die weißglitzernde Soutane. Sie war hart wie ein Brett. Selbst über die im Todeskampf weit aufgerissenen 20
Augen hatten sich Eiskristalle gelegt, was dem Gesicht des Pfarrers etwas Überirdisches gab. Entsetzt drehte Simon sich um. Der Mesner stand schuldbewusst im Portal und drehte seinen Hut in der Hand. »Aber ... er ist ja tot!«, rief der Medicus. »Warum hast du das nicht gesagt, als du mich geholt hast?« »Wir ... wir wollten keine Umständ machen, Euer Ehren«, murmelte Gedler. »Wir hab’n gedacht, wenn wir’s in der Stadt erzählen, dann weiß es gleich jedes Kind. Und dann wird getratscht, und vielleicht wird’s dann mit dem Umbau der Kirche nichts ...« »Wir?«, fragte Simon verwirrt. Im gleichen Moment tauchte neben dem Mesner unter lautem Schluchzen die Pfarrhaushälterin Magda auf. Sie war das glatte Gegenteil von Abraham Gedler, rund wie ein Krautfass, mit dicken, wassergefüllten Beinen. Sie schnäuzte sich in ein großes, weißes Spitzentaschentuch, so dass Simon nur teilweise ihr aufgedunsenes, verheultes Gesicht zu sehen bekam. »Eine Schand ist das, eine Schand«, jammerte sie. »Dass ein Mensch so gehen muss, noch dazu der Herr Pfarrer. Aber ich hab ihm immer gesagt, dass er nicht so viel fressen soll!« Der Mesner nickte und knetete weiter seinen Hut. »Er hat sich mit den Schmalznudeln übernommen«, murmelte er. »Nur zwei hat er noch über lassen. Hier beim Beten hat’s ihn dann erwischt.« »An den Schmalznudeln ...« Simon runzelte die Stirn. Seine Befürchtungen waren wenigstens zum Teil eingetre21
ten, mit dem einzigen Unterschied, dass der Pfarrer nicht krank, sondern tot war. »Aber warum liegt er dann hier und nicht in seinem Bett?«, fragte er mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden. »Wie gesagt, er wollt wohl noch beten, bevor er vor den Schöpfer tritt«, murmelte Gedler. »Bei dem Wetter?« Simon schüttelte skeptisch den Kopf. »Kann ich das Pfarrhaus einmal sehen?« Der Mesner zuckte mit den Schultern und wandte sich nach draußen. Gemeinsam mit der immer noch schluchzenden Magd gingen sie hinüber in das benachbarte Gebäude. Magda hatte die Tür offen gelassen, so dass der Schnee nun bis in die Stube hineingeweht war und unter Simons Schritten knirschte. Auf dem Tisch vor der Ofenbank stand eine Schüssel, in der zwei fettig glänzende Schmalznudeln lagen. Sie sahen zum Anbeißen lecker aus. Braun und handtellergroß, mit einer dicken Schicht Honig bestrichen. Trotz der zurückliegenden, nicht eben appetitfördernden Begegnung mit dem Toten lief Simon das Wasser im Mund zusammen. Ihm fiel ein, dass er heute noch nichts gefrühstückt hatte. Einen Moment lang war er versucht zu probieren, dann besann er sich eines Besseren. Dies war eine Totenschau und kein Leichenschmaus. Vom Bett des Pfarrers aus rekapitulierte der Schongauer Medicus dessen letzten Gang. »Er muss aufgestanden und in die Küche hinübergegangen sein, um einen Schluck Wasser zu trinken. Hier ist er dann zusammengebrochen.« Er deutete auf die Scherben des Krugs und die breiigen Spuren von Erbrochenem. In 22
dem engen Raum roch es bitter nach Magensäure und geronnener Milch. »Aber warum, in Gottes Namen, ist er dann hinaus in die Kirche?«, murmelte er. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wandte er sich an den Mesner. »Was hat Pfarrer Koppmeyer eigentlich am gestrigen Abend gemacht?« »Er ... er war in der Kirche. Bis spät in die Nacht«, sagte Gedler. Die Haushälterin nickte. »Er hat sich sogar einen Krug Wein und einen Laib Brot mitgenommen. Meinte, es würd länger dauern. Als ich ins Bett bin, war er noch drüben. Kurz vor Mitternacht bin ich noch einmal aufgewacht. Da hab ich drüben noch Licht gesehen.« »Kurz vor Mitternacht?«, warf Simon ein. »Was hat ein Pfarrer um diese Zeit in einer eiskalten Kirche zu suchen?« »Er...er meinte, er müsste den Umbau des Chorgewölbes in Augenschein nehmen«, sagte der Mesner. »Überhaupt war er in den letzten zwei Wochen ein bisserl komisch, der Herr Pfarrer. Ständig war er drüben in der Kirche, und das bei der Kältn!« »Nichts hat er andere machen lassen, die gute Seel«, unterbrach ihn Magda. »Ein Bär von einem Mann. Mit Hammer und Meißel konnte er umgehen wie kein Zweiter.« Simon überlegte. Die gestrige Nacht war die kälteste seit langem gewesen. Nicht umsonst hatten die Handwerker jetzt im Januar ihre Arbeiten an der Kirche eingestellt. Wenn jemand in einer solchen Nacht Hammer und Meißel 23
in die Hand nahm, dann musste er dafür einen verdammt guten Grund haben. Ohne den Mesner und die Haushälterin weiter zu beachten, eilte er wieder hinüber in die Kirche. Drinnen lag der Pfarrer noch da, wie er ihn verlassen hatte. Erst jetzt bemerkte Simon, dass die Leiche sich direkt über einer Grabplatte befand. Darauf war das Relief einer Frau abgebildet, die dem Bildnis Marias glich. Angeordnet wie der Bogen eines Heiligenscheins, umkränzten die Wörter einer Inschrift ihren Kopf. Sic transit gloria mundi. »So vergeht der Ruhm der Welt ... «, murmelte Simon. »Wohl wahr.« Er hatte diese Inschrift schon oft gelesen. Auf vielen Grabsteinen war sie zu finden, und bereits im alten Rom war es Sitte gewesen, dass ein Sklave die Worte dem siegreichen Feldherrn auf seinem Triumphzug durch die Stadt zuraunte. Nichts Irdisches ist ewig … Beinahe sah es so aus, als hätte der Pfarrer in einer letzten Geste mit seiner rechten Hand auf die Inschrift gewiesen. Simon seufzte. Sollte Andreas Koppmeyer hier wirklich nur den Gelüsten des Fleisches erlegen sein? Oder war dieser Fingerzeig eine letzte Mahnung an die noch Lebenden? Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken. Es war Magda, die sich von hinten genähert hatte. Mit weit offenem Mund starrte sie auf den gefrorenen Leichnam, dann sah sie Simon an. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. »Was ist?«, fragte Simon ungeduldig. »Die ... die zwei übriggebliebenen Schmalznudeln ...«, begann die Haushälterin. 24
»Was soll damit sein?« » Sie ... sind mit Honig bestrichen.« Simon zuckte die Schultern, stand auf und wischte sich den Schnee von den Händen. Er war im Begriff zu gehen, hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. »Na und? Im ›Stern‹ machen sie sie auch mit Honig. Hervorragend übrigens. Hast du das Rezept von dort?« »Aber ... ich habe keinen Honig draufgetan.« Simon hatte kurz das Gefühl, es ziehe ihm den Boden unter den Füßen weg. Er meinte, sich verhört zu haben. »Du ... du hast keinen Honig drauf?« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Unser Honigtopf war leer. Ich wollte nächste Woche auf dem Markt einen neuen kaufen. Deshalb habe ich die Schmalznudeln diesmal ohne Honig gemacht. Weiß der Kuckuck, wer den da draufgestrichen hat. Ich jedenfalls nicht.« Simon blickte auf den erstarrten Pfarrer und sah sich dann vorsichtig in der Kirche um. Ein kalter Windzug erfasste sein Haar. Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Mit Magda im Schlepptau rannte er aus der Kirche. Der Wind zerrte an seinem Mantel, als wollte er ihn festhalten. Endlich draußen angekommen, fasste er die kalkweiße Haushälterin an den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Hör mir zu. Schick den Gedler noch mal nach Schongau«, sagte er leise. »Er soll den Henker holen.« »Den Henker?«, krächzte Magda. Ihr Gesicht wurde noch eine Spur weißer. »Aber warum?« »Glaub mir«, flüsterte Simon. »Wenn uns jetzt noch einer helfen kann, dann er. Und jetzt frag nicht lang, lauf!« 25
Er gab der Haushälterin einen Klaps auf ihr breites Gesäß. Dann drückte er die schweren Türflügel zu; mit lautem Quietschen schlossen sie sich. Geschwind drehte der Medicus den bronzenen Schlüssel im Schlüsselloch herum und steckte ihn in seine Tasche. Erst jetzt fühlte er sich ein wenig sicherer. Dort in der Kirche war der Teufel, und nur der Henker konnte ihn wieder austreiben. Kurze Zeit später saß Simon in der zugigen Stube des Pfarrhäuschens, kaute an einem Kanten Brot und schlürfte missmutig den von Magda eigens gebrauten Lindenblütentee. Eigentlich hatte der Medicus die getrockneten Blüten für den Pfarrer mitgebracht, aber der brauchte sie ja nun nicht mehr. Der braungrüne Sud roch nach Krankheit und Kater. Simon seufzte, während er an der heißen Brühe nippte. Er war allein. Der Mesner war unterwegs nach Schongau, um den Henker zu holen, und Magda war ins Dorf gelaufen, um die schauerliche Neuigkeit zu verbreiten. Einen zu Tode gefressenen Pfaffen hätte sie noch für sich behalten können, einen vergifteten sicher nicht. Wahrscheinlich zerriss sich das Volk bereits jetzt das Maul über mögliche Giftmischerinnen und Satansmessen. Der Medicus schüttelte den Kopf. Wie gerne hätte er jetzt statt des Tees einen Becher mit starkem Kaffee getrunken, doch die braunen, harten Bohnen lagerten bei ihm zu Hause, sicher verwahrt in einem Lederbeutelchen in einer Truhe. Von seinem letzten Kauf auf der Augsburger Dult war nicht mehr viel da. Er musste sparsam damit umgehen, denn Kaffee war ein exotisches, teures Produkt. Nur selten 26
brachten es Händler aus Konstantinopel oder noch weiter her von ihren Reisen mit. Simon liebte das bittere Aroma, das es ihm ermöglichte, klar zu denken. Mit Kaffee löste er auch die kniffligsten Probleme. Gerade jetzt hätte er eine Portion dringend nötig gehabt. Simons Grübeln wurde jäh unterbrochen, als er draußen vor dem Fenster ein Geräusch hörte. Ein leises Klacken und Quietschen wie von einem verrosteten, sich langsam öffnenden Gatter. Vorsichtig schlich er zur Tür, drückte sie einen Spalt weit auf und blickte nach draußen. Nichts war zu sehen. Er wollte schon wieder hineingehen, als sein Blick noch einmal nach unten fiel. Entsetzt bemerkte er die frischen Spuren im Schnee, die hin zur Kirche führten. Sein Blick folgte den Spuren bis hin zum Portal. Die breite Holztür stand einen Spalt offen. Simon fluchte. Er fasste in seine Rocktasche und spürte dort den kalten Stahl des Kirchenschlüssels. Wie um alles in der Welt...? Nervös sah der Medicus sich in der Stube nach einer geeigneten Waffe um. Seine Augen wanderten über den Herd und blieben an einem großen Fleischermesser hängen. Er griff nach dem Messer, es fühlte sich kalt und schwer an. Dann begab er sich nach draußen. Die Spuren waren eindeutig die eines großen Mannes, und sie führten von der Allee direkt in die Kirche. Simon tastete sich leise durch den Schnee, das Messer wie einen Säbel vor sich haltend, bis er das Portal erreicht hatte. Von hier draußen war im Dunkel der Kirche nichts zu erkennen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und betrat das Innere. 27
Weiter hinten lag immer noch der tote Pfarrer. Ein blutender Jesus am Kreuz glotzte Simon von jenseits der Apsis aus vorwurfsvoll an, an den Seiten standen in Nischen kleine Holzfiguren von Märtyrern, verdreht in ihrem Todeskampf. Es waren Figuren von gemarterten, erschlagenen und durchbohrten Kreaturen, wie der heilige Sebastian links von Simon, den sechs Armbrustbolzen durchlöchert hatten. Auf den Baugerüsten, die bis zur Galerie hinaufragten, glitzerte der Raureif. Simon machte einen weiteren Schritt nach vorne, als er hörte, wie jemand laut ausspuckte. Mit dem Messer in der Hand drehte der Medicus sich hektisch suchend um und musterte die Schatten, die die Märtyrer an die Wand warfen. »Schmeiß das Messer weg, bevor du dir weh tust, Quacksalber«, knurrte es von irgendwoher. »Und hör auf, wie ein Dieb durch die Kirche zu schleichen. Wärst nicht der erste Opferstockräuber, den ich aufhäng.« Die Stimme schien von oben aus der Galerie zu kommen. Als Simon hochblickte, sah er hinter der morschen Balustrade eine große, vermummte Gestalt stehen. Der Mantelkragen war nach oben geklappt, ein Schlapphut hing ihr tief ins Gesicht, so dass nur das Ende einer gewaltigen Hakennase zu sehen war. Kleine Rauchwölkchen stiegen auf, als die Gestalt an einer langstieligen Tonpfeife zog. Zwischen Hut und einem zerzausten schwarzen Bart leuchteten zwei wache Augen, die spöttisch auf Simon hinunterblickten. »Mein Gott, Kuisl! «, rief Simon erleichtert. »Ihr habt mir einen Schrecken eingejagt!« 28
»Wennst das nächste Mal durch einen Raum schleichst, dann schau gefälligst nach oben«, schimpfte der Henker, während er sich an einer Gerüststange hinunterschwang. »Sonst springt dir dein Mörder ins Kreuz, und aus ist’s mit dem gelehrten Doktorenleben.« Unten angekommen, klopfte Jakob Kuisl sich den Mörtelstaub vom löchrigen Mantel und schnaubte verächtlich durch die Nase. Mit dem Pfeifenstiel deutete er auf die Leiche des Pfarrers. »Ein fetter Pfaffe, der sich tot gefressen hat ... Und darum schickst du nach mir? Als Henker und Abdecker bin ich zwar für die toten Viecher zuständig, aber die toten Pfaffen, die gehen mich nichts an.« »Ich glaube, er ist vergiftet worden«, sagte Simon leise. Der Henker pfiff durch die Zähne. »Vergiftet? Und jetzt glaubst du, ich kann dir sagen, was für ein Gift es war?« Simon nickte. Der Schongauer Scharfrichter galt in weiten Kreisen als Meister seines Faches, nicht nur am Schwert, sondern auch in der Lehre der Heilkräuter und Giftpflanzen. Ob es nun ein Sud aus Mutterkorn und Gartenraute bei unwillkommenen Schwangerschaften war, ein paar gedrehte Pillen gegen Verstopfung oder ein Schlaftrunk aus Mohn und Baldrian – viele einfache Leute gingen bei einer Krankheit lieber zum Henker als zum Medicus. Es war billiger, und man kam nicht kränker raus, als man hineingegangen war. Schon oft hatte Simon den Scharfrichter bei Arzneien und rätselhaften Krankheiten um Rat gefragt, sehr zum Leidwesen seines Vaters. »Könnt Ihr ihn Euch nicht ein wenig näher ansehen?«, bat Simon und deutete auf den steifgefrorenen 29
Pfarrer. »Vielleicht finden wir einen Hinweis auf den Mörder.« Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Wüsst nicht, was das bringen sollte. Aber meinethalben, weil ich schon mal da bin ... « Er zog tief den Rauch aus seiner Pfeife ein. Neugierig musterten seine Augen die Leiche auf dem Kirchenboden. Dann beugte er sich hinunter und untersuchte den toten Pfarrer oberflächlich. »Kein Blut, keine Würgemale, keine Spuren von Kampf«, murmelte er und strich über die Kleidung Koppmeyers, an der sich gefrorene Reste von Erbrochenem fanden. »Warum glaubst du denn, dass er vergiftet worden ist?« Simon räusperte sich. »Schmalznudeln ...«, begann er. »Die Schmalznudeln?« Die buschigen Augenbrauen des Henkers zogen sich fragend nach oben. Der Medicus zuckte mit den Schultern. Dann erzählte er Jakob Kuisl in aller Kürze, was ihm der Mesner und die Haushälterin berichtet hatten. »Es ist wohl besser, wenn Ihr mir zunächst ins Pfarrhaus folgt«, endete er schließlich und ging auf den Eingang zu. »Vielleicht habe ich etwas übersehen.« Als sie das Portal passierten, sah Simon Jakob Kuisl fragend von der Seite an. »Wie seid Ihr überhaupt hineingekommen in die Kirche? Ich meine, ich hab doch den Schlüssel ... « Der Henker hielt ihm grinsend einen verbogenen Zimmermannsnagel entgegen. »Diese Kirchentüren sind wie Vorhänge. Kein Wunder, dass so viele Opferstockräuber in der Gegend herumlaufen. Die Schwarzkittel könnten ihre Kirchen auch gleich ganz auflassen.« 30
Drüben angekommen, führte Simon den Henker in die Stube und deutete auf die zwei glasierten Schmalznudeln und das Erbrochene am Boden. »Es müssen ungefähr ein halbes Dutzend dieser Nudeln gewesen sein«, sagte der Medicus. »Alle mit Honig bestrichen. Die Magd meint allerdings, sie hätte keinen draufgetan.« Jakob Kuisl nahm vorsichtig ein Stück Backwerk in seine gewaltigen Pranken und roch daran. Dabei schloss er die Augen, während die mächtigen Nüstern sich wie bei einem Pferd blähten. Es sah aus, als wollte er die Nudel mit der Nase einsaugen. Schließlich legte er sie weg, kniete nieder und schnüffelte an dem Haufen Erbrochenem. Simon spürte, wie ihm allmählich übel wurde. In der Kammer lag ein Geruch von Rauch, ätzender Säure und Verwesung. Und etwas anderem, das der Medicus nicht genau einordnen konnte. »Was ... was macht Ihr da?«, fragte Simon. Der Henker richtete sich auf. »Auf die kann ich mich immer noch verlassen«, sagte er und tippte auf seine rotgeäderte Hakennase. »Jede noch so kleine Krankheit riech ich dir aus einem verschissenen Nachttopf heraus. Und diese Lache hier stinkt nach Tod. Die Nudel genauso.« Er nahm das Teigstück noch einmal in die Hand und fing an, es zu zerpflücken. »Das Gift ist im Honig«, murmelte er nach einiger Zeit. »Er riecht nach ... « Er hob ein Stück der Nudel an seine Nase, schließlich grinste er. »Mäuseharn. Wie ich’s mir gedacht hab.« »Mäuseharn?«, fragte Simon irritiert. 31
Jakob Kuisl nickte. »Schierling riecht so. Eine der stärksten Giftpflanzen hier im Pfaffenwinkel. Die Starre kriecht ganz langsam von deinen Füßen hoch bis hinauf ins Herz. Kannst dir selbst beim Sterben zusehen.« Simon schüttelte entsetzt den Kopf. »Welcher Satan denkt sich so etwas aus? Das kann doch keiner aus dem Dorf gewesen sein, oder? Irgendein eifersüchtiger Handwerksgeselle hätte den Koppmeyer doch einfach mit einem Knüppel von hinten totgeschlagen. Aber so etwas!« Gedankenverloren saugte der Henker an seiner kalten Pfeife. Dann verließ er abrupt die warme Stube und ging vor die Tür. »Wo wollt Ihr hin?«, rief ihm Simon hinterher. »Ich schau mir den toten Pfaffen mal genauer an«, brummte Jakob Kuisl von draußen. »Irgendwas stimmt hier nicht.« Simon musste unwillkürlich grinsen. Der Henker hatte Blut geleckt. Wenn sein Verstand erst mal geweckt war, lief er so präzise wie eine Nürnberger Taschenuhr. Zurück in der Kirche, beugte sich Jakob Kuisl über die Leiche und musterte sie eingehend. Ohne den toten Körper zu berühren, ging er um ihn herum, als studiere er genau dessen Position. Andreas Koppmeyer ruhte noch immer wie heute früh auf der Grabplatte, die das verblichene Antlitz einer Gottesmutter mit Heiligenschein zeigte. Das Haar des Pfarrers war weiß von Eiskristallen; er lag verkrümmt auf der Seite, so dass nur sein Profil zu sehen war. Die Gesichtshaut hatte mittlerweile die Farbe eines gefrorenen Karpfens. Der linke Arm war am Körper an32
gewinkelt, die rechte Hand schien auf die Inschrift oberhalb der Madonna zu deuten. »Sic transit gloria mundi«, murmelte der Henker. »So vergeht der Ruhm der Welt …« »Er hat den Spruch sogar umrahmt. Seht selbst!«, sagte Simon und deutete auf einen zittrigen Kringel um die Inschrift. Die Linie war fahrig, so als hätte Koppmeyer sie mit letzter Kraft ins Eis gemalt. »Er war sich wohl im Klaren darüber, dass es mit ihm zu Ende ging«, sinnierte der Medicus. »Der alte Koppmeyer hatte immer schon einen Sinn für Humor, das muss man ihm lassen.« Der Henker beugte sich hinunter und strich über das steinerne Relief Marias, über deren Haupt ein strahlenförmiger Heiligenschein thronte. »Eins wundert mich«, murmelte er. » Das hier ist doch eine Grabplatte, nicht wahr?« Simon nickte. »Die ganze Lorenzkirche ist voll davon. Warum fragt Ihr?« »Schau selbst, du Rindvieh.« Der Henker zeigte mit einer weiten Handbewegung auf das Kircheninnere. »Auf den anderen Platten sind immer die Verstorbenen zu sehen. Ratsherren, Richter, reiche Weibersleut. Aber das hier ist ohne Zweifel die Jungfrau Maria. Kein Weib ist so vermessen, sich mit Heiligenschein meißeln zu lassen.« »Vielleicht eine Stiftung für die Kirche?«, dachte Simon laut nach. »Sic transit ... «, murmelte der Henker noch einmal. »So vergeht der Ruhm der Welt«, unterbrach ihn Simon ungeduldig. »Ich weiß, aber was hat das mit dem Mord zu tun?« 33
»Vielleicht nichts mit dem Mord, aber mit einem Versteck«, sagte Kuisl plötzlich. »Versteck?« »Hast du mir nicht erzählt, der Pfarrer hätt die ganze letzte Nacht in der Kirche gearbeitet?« »Ja, aber …« »Schau dir den Kringel mal genauer an«, murmelte der Henker. »Was fällt dir auf?« Simon beugte sich hinunter und nahm den Kreis näher in Augenschein. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. »Der Kreis geht gar nicht um die ganze Inschrift«, keuchte er. »Sondern nur um die ersten zwei Worte …« »Sic transit«, sagte Jakob Kuisl und grinste. »Der gelehrte Herr Doktor weiß sicher auch, was das bedeutet.« »So geht es hinüber ... «, murmelte Simon abwesend. Erst dann verstand er. »Durch ... die Grabplatte?«, flüsterte er ungläubig. »Die müssen wir natürlich vorher wegschieben.« Der Henker war bereits dabei, den monströsen Leichnam Andreas Koppmeyers zur Seite zu ziehen. Er packte ihn an der Soutane und schleppte ihn die paar Meter hinter den Altar. »Hier hat er erst mal seine Ruh«, sagte er. »Muss ja nicht sein, dass sich ein altes Weiberl beim Rosenkranzbeten zu Tode erschreckt.« Er spuckte in die Hände. »Und jetzt frisch an die Arbeit.« »Aber die Grabplatte ... sie wiegt bestimmt einige Zentner«, warf der Medicus ein. »Na und?« Jakob Kuisl hatte die Platte bereits mit dem Zimmermannsnagel aus der Versenkung gehebelt. Nun packte er sie mit beiden Händen und hob sie langsam, 34
Zentimeter für Zentimeter, hoch. Fingerdicke Muskelstränge traten seitlich an seinem Hals hervor. »Wenn ein fetter Pfaffe sie heben kann, dann kann das ja nicht so schwer sein, oder?«, keuchte er. Mit einem knirschenden Krachen landete die massive Steinplatte direkt neben Simons Füßen. Magdalena Kuisl kniete im blutigen Stroh und presste ihre Hände auf den geschwollenen, geschundenen Bauch der Hainmillerin. Das Schreien der Bäuerin direkt neben ihrem Ohr ließ sie zusammenzucken. Die Kindsmutter schrie jetzt schon seit Stunden, Magdalena kam es vor, als wären es bereits Tage. Gestern Abend war die Henkerstochter gemeinsam mit der Hebamme Martha Stechlin ins Haus der Hainmillers gekommen. Zunächst schien alles auf eine normale Geburt hinzudeuten. Die Tanten, Nichten, Basen und Nachbarinnen hatten schon frisches Stroh und Binsen ausgebreitet, heißes Wasser aufgesetzt und Leinentücher bereitgestellt; es roch aromatisch nach geräuchertem Beifuß. Josefa Hainmiller lag da mit hochrotem Kopf und presste in ruhigen, regelmäßigen Stößen. Es war die sechste Geburt der Großbäuerin, und bis jetzt hatte sie alle unbeschadet überstanden. Doch dann verlor Josefa immer mehr Blut. Das zunächst von der geplatzten Fruchtblase zartrosa gefärbte Bettlaken hatte schon bald die Farbe einer Schlachtbank angenommen. Aber das Kind wollte und wollte einfach nicht kommen. Josefa Hainmillers anfängliches Wimmern ging zunächst in Schluchzen und dann in lautes Schreien über, so dass ihr Mann immer wieder entsetzt an die Tür klopfte und laut zur heiligen Margareta betete. Hereinzu35
kommen wagte er nicht, dies hier war Frauensache; doch sollte seine Frau oder das Kind die Geburt nicht überleben, wusste er bereits jetzt, wer daran schuld war: die gottverfluchte Hebamme. Martha Stechlin tastete im Inneren der Kindsmutter nach dem quer liegenden Kinderleib. Ihre Hände steckten bis zum Ellenbogen im Bauch der Hainmillerin, deren Kleid bis über die Schenkel hochgerutscht war, trotzdem bekam die Stechlin das Kind nicht richtig zu fassen. Das Gesicht der älteren Hebamme war mit Blut besprenkelt, Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht; immer wieder zwinkerte sie, wenn die Tropfen ihr in die Augen liefen. Besorgt blickte Magdalena hinüber zu den Tanten und Basen. Sie tuschelten, kneteten murmelnd ihre Rosenkränze und deuteten immer wieder auf die Hebamme. Erst letztes Jahr war Martha Stechlin des Kindsmords und der Hexerei verdächtigt worden. Nur das schnelle Eingreifen von Magdalenas Vater und dem jungen Medicus hatte sie vor dem Feuer bewahrt. Trotzdem wurde die Hebamme in der Stadt schief angesehen. Der Verdacht blieb an ihr hängen wie Kindspech. Man holte sie zwar nach wie vor zu den Geburten oder bat um ein fiebersenkendes Kräutlein, aber hinter ihrem Rücken schlugen die braven Bürger ein Kreuz und machten das Schutzzeichen gegen bösen Zauber. Genauso wie sie es bei mir tun, dachte Magdalena und wischte sich die verfilzten schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ihre sonst so fröhlichen Augen blickten müde und verkniffen, in den buschigen, dichten Brauen sammelte sich der Schweiß. Sie seufzte, während sie weiter in 36
rhythmischen Stößen auf den Leib der Kindsmutter drückte. Magdalena war dankbar gewesen, als die Stechlin sie vor einem halben Jahr gefragt hatte, ob sie nicht bei ihr in die Lehre gehen wolle. Als Henkerstochter hatte sie keine große Wahl. Die Henkerei war ein ehrloser Beruf, die Leute mieden sie und ihre Familie. Als Ehemann kam eigentlich nur ein anderer Henker in Betracht, und weil sie das nicht wollte, musste sie eben selber für ihren Unterhalt aufkommen. Mit ihren einundzwanzig Jahren konnte sie ihren Eltern nicht mehr länger auf der Tasche liegen. Der Beruf der Hebamme war im Grunde genau das Richtige für sie. Schließlich hatte Magdalena von ihrem Vater alles Wissenswerte über Kräuter gelernt. Sie wusste, dass Beifuß bei inneren Blutungen half und Petersilie dafür sorgte, dass unerwünschte Kinderlein erst gar nicht auf die Welt kamen. Sie konnte eine Salbe aus Gänsefett, Melisse und Hammelknochen zubereiten, und sie wusste, wie man mit dem Mörser Hanfsamen zerstieß, um ein junges Mädchen fruchtbar zu machen. Als sie jetzt allerdings das viele Blut, die flüsternden Tanten und die schreiende Hainmillerin betrachtete, war sie sich plötzlich doch nicht mehr so sicher ,ob sie wirklich Hebamme werden wollte. Während sie weiter presste und drückte, schweiften ihre Gedanken ab. In einer anderen Welt sah sie sich mit Simon gemeinsam vor dem Altar stehen, den Blütenkranz im Haar, ein Ja auf den Lippen; sie würden Kinder haben, und er würde als respektierter Medicus der Stadt für ein bescheidenes Auskommen sorgen. Sie könnten … »Träum nicht, Mädchen! Wir brauchen neues Wasser!« Martha Stechlin wandte Magdalena ihr blutbesprenkeltes 37
Gesicht zu. Sie versuchte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, doch ihre Augen verrieten etwas anderes. Magdalena glaubte, im verknitterten Gesicht der Vierzigjährigen ein paar neue Falten entdeckt zu haben. Ihre Haare waren im letzten Jahr fast vollständig grau geworden. »Und Moos zum Blutstillen! «,rief die Hebamme dem Henkersmädchen hinterher. »Sie hat schon zu viel verloren.« Magdalena schreckte aus ihren Gedanken hoch und nickte. Als sie zum Flur ging, glitt ihr Blick durch die überheizte, finstere Stube. Die Fenster waren verriegelt und die Ritzen mit Stroh und Lehm zugekittet. Auf den Bänken rund um den Ofen und am Tisch saßen Frauen aus der Nachbarschaft und blickten besorgt und skeptisch auf die sich abmühende Hebamme und ihre junge Helferin. »Ave Maria, der Herr ist mit dir ... « Einige der alten Weiber fingen an, laut ihren Rosenkranz zu beten. Offenbar gingen sie davon aus, dass Josefa Hainmiller bald zum lieben Herrgott ging. Magdalena eilte in den Flur, nahm aus der Hebammentasche ein Büschel Moos und füllte am kupfernen Ofenbecken die Wasserschüssel. Als sie wieder in die Stube trat, glitt sie auf dem vom Blut rutschigen Stroh aus und schlug der Länge nach hin. Das Wasser spritzte über die Röcke der alten Weiber. »Himmelherrgott, kannst du nicht aufpassen!« Eine der Nachbarinnen sah sie zornentbrannt an. »Überhaupt, was hast du junges Ding hier zu schaffen? Verfluchte Henkersdirn!«
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Eine zweite Nachbarin mischte sich ein. »Es ist schon wahr, was man sagt. Unglück bringt’s, wenn man den Henker im Haus hat.« »Sie geht bei mir in die Lehr«, keuchte Martha Stechlin, während sie weiter im Leib der schreienden Hainmillerin wühlte. »Und jetzt lasst sie in Ruh und bringt mir lieber frisches Linnen.« Magdalena biss die Zähne zusammen und holte von draußen neues Wasser. Tränen der Wut liefen ihr übers Gesicht. Als sie zurückkam, hatten sich die Weiber noch nicht beruhigt. Ungeachtet der Schmerzensschreie fingen sie wieder an zu tuscheln und deuteten auf sie. »Was soll diese ständige Wascherei? «, meldete sich eine der älteren Tanten. Ihr Gesicht war schwarz von Ruß, drei letzte gelbe Zähne steckten noch in ihrem Mund. »Wasser hat noch nie genutzt bei einer schweren Geburt! Johanniskraut und wilder Majoran, damit muss man den Teufel ausräuchern. Weihwasser vielleicht, aber doch nicht einfaches Brunnenwasser, lächerlich!« Magdalena platzte der Kragen. »Ihr blöden Weiber!«, schrie sie und knallte die Schüssel auf den Tisch. »Was wisst’s ihr schon von der Heilkunst! Dreck und dummes Daherreden, das ist es, was die Leute krank macht!« Sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde sie ersticken. Der beißende Geruch von Beifuß, Knoblauch und Rauch stieg ihr schon viel zu lange in die Nase. Mit schnellen Schritten eilte sie zum Fenster und riss die verschlossenen Läden auf. Licht flutete in die Stube, während der Rauch nach draußen zog. Die Nachbarinnen und Familienangehörigen hielten den Atem an. Es galt als ehernes Gesetz, dass bei Geburten 39
nicht die Fenster geöffnet werden durften. Frische Luft und Kälte galten als der sichere Tod eines jeden Neugeborenen. Eine Zeitlang war nur das Schreien der Hainmillerin zu hören, das jetzt bis auf die Straße hinaus tönte. »Ich glaube, du gehst jetzt besser«, flüsterte Martha Stechlin und sah sich vorsichtig um. »Du kannst hier ohnehin nicht mehr helfen.« »Aber ... «, begann Magdalena. »Geh«, unterbrach sie die Hebamme. »Es ist für uns alle das Beste.« Unter den strafenden Blicken der Frauen stapfte Magdalena nach draußen. Als sie die Tür schloss, hörte sie hinter sich Tuscheln und das Schlagen von Fensterläden. Sie schluckte und versuchte mühsam, die Tränen zurückzuhalten. Warum war sie nur immer so starrsinnig! Eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt und schon öfter in Schwierigkeiten gebracht hatte. Gut möglich, dass der Besuch bei den Hainmillers ihr letzter Krankenbesuch als Hebamme gewesen war. Ihr Verhalten würde sich im Ort schnell herumsprechen. Und bei der Stechlin brauchte sie sich so schnell auch nicht wieder blicken lassen. Sie seufzte. Müde hob sie ihren Lederbeutel mit Schere, löchrigen Leintüchern und ein paar Salben über die Schulter und machte sich auf den Weg zurück nach Schongau. Vielleicht würde sie ja wenigstens Simon heute noch sehen können. Als Magdalena an den jungen Medicus dachte, spürte sie ein warmes, verlangendes Gefühl in sich hochsteigen. Die Wutverrauchte und machte einem angenehmen Kribbeln im Bauch Platz. Es war schon viel zu lange her, seit sie das letzte Mal ein paar Stunden gemeinsam verbracht hatten. An Dreikönig war es gewesen; die 40
Sternsinger waren von Haus zu Haus gezogen und die Burschen hatten mit wilden Tiermasken, die kleinen Kinder erschreckt. Verborgen hinter den Masken, war keinem das Paar aufgefallen, das Hand in Hand in einem der Stadl unten am Lech verschwunden war. Das Klappern von Hufen riss Magdalena aus ihren Träumereien. Auf der breiten, von Bäumen gesäumten Straße, die kniehoch mit Schnee bedeckt war, kam ihr ein Pferd mit Reiter entgegen. Die Henkerstochter kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Jetzt erst bemerkte sie, dass auf dem stattlichen Hengst kein Mann, sondern eine Frau saß. Sie schien nicht von hier zu sein; ihr Blick streifte über die Landschaft, als suchte sie etwas. Magdalena beschloss, am Straßenrand auf die Fremde zu warten. Als die Reiterin bis auf ein paar Meter herangekommen war, erkannte die Henkerstochter, dass die Frau vor ihr aus einem reichen Haus stammen musste. Sie trug einen dunkelblauen feingewebten Umhang, unter dem ein steifer weißer Rock und polierte Lederstiefel hervorschauten. Die Hände steckten in Pelzhandschuhen, die die Zügel auffällig locker hielten. Am auffälligsten war allerdings der rotblonde Haarschopf, der unter einer Samthaube hervorlugte und ein feingeschnittenes, aristokratisch blasses Gesicht umrahmte. Die Reiterin mochte Mitte dreißig sein, von hochgewachsener Statur, und sie war mit Sicherheit nicht von hier. Eher schien sie aus einer größeren Stadt zu kommen, vielleicht aus dem fernen München. Aber was zum Teufel hatte sie dann hier in Altenstadt verloren?
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»Kann ich Euch helfen?«, fragte Magdalena und setzte ein einladendes Lächeln auf. Die Fremde schien kurz zu überlegen, dann lächelte sie zurück. »Du kannst, Mädchen. Ich suche meinen Bruder. Er ist Pfarrer in dieser Gemeinde. Andreas Koppmeyer heißt er.« Sie beugte sich zu Magdalena hinunter, um ihr die behandschuhte Hand zu reichen. »Mein Name ist Benedikta Koppmeyer. Und wie heißt du?« »Magdalena Kuisl. Ich bin die ... Hebamme hier.« Wie immer fiel es Magdalena schwer zu erwähnen, dass sie die Tochter des hiesigen Scharfrichters war. Oft schlugen die Leute dann ein Kreuzzeichen oder blickten murmelnd in eine andere Richtung. »Magdalena, ein schöner Name«, fuhr die Dame fort und deutete auf den Beutel. »Ich sehe, du kommst gerade von einer Geburt. Ist sie gut verlaufen?« Magdalena nickte, den Blick zu Boden gesenkt. Sie hoffte, dass die Reiterin nicht bemerkte, wie sie rot wurde. »Das freut mich«, sagte die Dame und lächelte wieder. »Davon abgesehen ... Weißt du, wo die Kirche meines Bruders ist?« Ohne ein weiteres Wort machte Magdalena kehrt und ging zurück auf die Dorfstraße. Im Grunde war sie froh, dass sie auf die Fremde gestoßen war; ein wenig Ablenkung würde ihr guttun. »Folgt mir. Es ist nicht weit von hier.« Sie deutete nach Westen. »Dort gleich hinter den Hügeln könnt Ihr die Lorenzkirche schon sehen.« 42
»Ich hoffe, mein Bruder ist zu Hause«, sagte Benedikta Koppmeyer und glitt elegant vom Pferd, um dem rotbraunen Fuchs eine Verschnaufpause zu gönnen. »Er hat mir einen Brief geschrieben. Es scheint wichtig zu sein.« Das Pferd am Zügel ziehend, folgte sie Magdalena durch die Altenstadter Dorfstraße. Durch die Schlitze der Fensterläden zur Linken und zur Rechten folgten den beiden Frauen die misstrauischen Blicke der Dorfbewohner. Simon blickte in das schwarze Loch, das sich vor ihnen auftat. Aus der rechteckigen Öffnung wehte ihnen ein muffiger, feuchter Geruch entgegen. Eine steile, in den Fels geschlagene Treppe führte nach unten, schon nach wenigen Metern verlor sich der Weg in der Dunkelheit. »Sollen wir ... ? «, begann er. Als der Medicus das grimmige Nicken des Henkers sah, führte er den Satz nicht zu Ende. »Wir werden ein Licht brauchen«, sagte er schließlich. »Wir nehmen die da.« Jakob Kuisl deutete auf zwei silberne, fünfarmige Kerzenleuchter, die auf dem Altar standen. »Der liebe Herrgott wird es uns schon nicht übelnehmen.« Er griff sich die beiden Leuchter und entzündete sie an einer Opferkerze, die in einer Nische vor der mit Pfeilen durchbohrten Statue des heiligen Sebastian brannte. »Und jetzt komm.« Er reichte Simon den zweiten Leuchter und stieg die Treppe hinunter. Simon folgte ihm. Die Stufen waren feucht und glitschig. Während der Medicus nach unten ging, hatte er kurz das Gefühl, einen eigenartigen Geruch 43
wahrzunehmen. Aber er konnte ihn nicht einordnen, und der Geruch verflog wieder. Schon nach wenigen Metern hatten sie den Grund der Kammer erreicht. Jakob Kuisl leuchtete mit den Kerzen den fast würfelförmigen Raum aus. Zerbrochene Fässer und morsche Latten verrotteten hier; ein zersplittertes Kreuz mit einem verblichenen Jesus, von dem die Farbe abblätterte, vergammelte in einer Ecke. In einer anderen Ecke lag ein Bündel verschlissener Tücher. Simon griff danach. In das schimmlige Leinen waren Opferlämmer und Kreuze eingestickt. Der Stoff zerfiel ihm zwischen den Händen. Jakob Kuisl hatte in der Zwischenzeit eine Truhe geöffnet, die quer in der Mitte des Raums stand. Er zog einen verrosteten Kandelaber und eine heruntergebrannte Opferkerze hervor. Angewidert warf er die Gegenstände in die Truhe zurück. »Heiliger Antonius, hab Dank! Wir haben die Abstellkammer der Kirche gefunden«, knurrte er. »Nichts als Plunder!« Simon nickte zustimmend. Es sah so aus, als wären sie in den Trödelkeller der Lorenzkirche geraten. Hierher wurde seit Jahrhunderten offenbar alles gebracht, für das man oben keine Verwendung mehr hatte. War es also doch nur Zufall gewesen, dass der tote Pfarrer genau über der Platte gelegen hatte? Simons Blick glitt über die Wand, auf der durch den Kerzenschein überlebensgroße Schatten tanzten. In der Mitte, ihm genau gegenüber, lag ein Haufen Gerümpel. Bretter, zersplitterte Stühle und ein gewaltiger Eichentisch, der kopfüber an der Mauer lehnte. Hinter dem Tisch 44
leuchtete etwas weiß auf. Simon ging hin und fuhr mit dem Finger über die Stelle. Als er den Finger im Schein des Leuchters betrachtete, war er weiß von Kalk. Erst jetzt fiel ihm wieder der Geruch auf, den er vorher auf der Treppe bereits wahrgenommen hatte. Es roch nach Kalk. Nach Kalk und frischem Mörtel. »Kuisl! «, rief er. »Ich glaube, hier ist etwas!« Als der Henker den frischen Mörtel sah, schob er mit einer einzigen Bewegung den massiven Eichentisch zur Seite. Dahinter war ein frisch vermauertes, nur brusthohes Portal zu erkennen. »Schau einer an«, keuchte Jakob Kuisl, während er mit den Füßen das restliche Gerümpel zur Seite räumte. »Der Pfaffe hat tatsächlich selbst bei den Umbauarbeiten Hand angelegt. Nur anders, als wir dachten. Sieht so aus, als hätte er diesen Eingang frisch zugemauert.« Mit dem Finger bohrte er im noch nicht trockenen Mörtel. »Was wohl dahinter ist?«, fragte Simon. »Hol mich der Teufel, wenn’s nichts Wertvolles ist«, sagte Jakob Kuisl und kratzte mit dem Zimmermannsnagel den frischen Mörtel aus den Fugen, bis dahinter Mauersteine sichtbar wurden. »Wetten möcht ich, dass der Pfaffe genau deswegen umgebracht worden ist.« Mit dem Fuß trat er gegen das vermauerte Portal. Einige Ziegel flogen in eine Öffnung dahinter und lösten eine Kettenreaktion aus. Krachend und berstend stürzte die ganze Mauer in sich zusammen. Nach einer Weile war wieder Ruhe, eine Wolke Mörtelstaub hing in der Luft und versperrte die Sicht durch das nun offene Portal. Erst als sich der Staub gelegt hatte, konnte Simon dahinter ei45
nen weiteren Raum ausmachen. Etwas Großes, Schweres stand in der Mitte, doch es war zu dunkel, um mehr zu erkennen. Der Henker stieg über den Steinhaufen hinweg und duckte sich durch die niedrige Öffnung. Simon hörte, wie er anerkennend durch die Zähne pfiff. »Was ist?«, fragte Simon und versuchte vergeblich, von seiner Position aus mehr zu sehen als einen gigantischen Schemen. »Das schaust du dir am besten selber an«, sagte Jakob Kuisl. Mit einem Seufzen folgte Simon dem Henker. Gebückt stieg er durch den engen Torbogen und leuchtete mit dem Kandelaber in den zweiten Raum. Die Kammer war leer bis auf einen gewaltigen Steinsarg, der auf einem noch gewaltigeren Steinblock thronte. Der Sarg war schlicht und ohne Verzierungen. Nur das Relief eines gut fünf Fuß langen Breitschwerts war auf der Platte abgebildet. Auf der ihnen zugewandten Kopfseite des Steinblocks war eine lateinische Inschrift eingemeißelt. Simon ging hin, um sie zu entziffern. Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam. »Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen sei Ehre«, las der Medicus leise vor. Irgendwoher kannte er diesen Spruch, aber er konnte sich nicht erinnern, wann und wo er ihn gelesen hatte. Fragend blickte er den Henker an, der mittlerweile neben ihm kniete und ebenfalls nachdenklich auf die Inschrift blickte. 46
Schließlich zuckte Kuisl mit den Schultern. »Du bist doch der Gelehrte«, knurrte er. »Jetzt zeig, dass dein sauteures Studium zu etwas nütze war.« Unwillkürlich musste Simon schmunzeln. Jakob Kuisl würde es ihm nie verzeihen, dass er studiert hatte, während dies dem Henker wegen seines ehrlosen Stands verwehrt geblieben war. Kuisl hielt nichts von den gelehrten Quacksalbern, und oft musste Simon ihm auch zustimmen. Aber jetzt wäre es wohl besser gewesen, er hätte sein Ingolstädter Medizinstudium nicht nach sieben Semestern aus Geldmangel und Faulheit abgebrochen. »Ich weiß nicht, woher ich diesen Spruch kenne«, fluchte der Medicus. »Aber ich schwöre, ich find’s heraus. Und wenn ich ...« Er brach ab, weil er im Nachbarraum ein Geräusch zu hören glaubte. Schabende Schritte, die sich eilig entfernten. Etwas strich an einer Wand entlang. Oder hatte er sich getäuscht? Hallende, unterirdische Gewölbe konnten einem so manchen Streich spielen. Vielleicht war das Geräusch ja auch von oben aus der Kirche gekommen? Der Henker hatte offenbar nichts vernommen. Er hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, die Wände abzutasten, konnte aber keinen weiteren Ausgang finden. »Wenn es stimmt, dass der fette Pfaffe dafür gestorben ist«, murmelte er, »dann muss hier unten mehr sein als ein steinernes Grab. Oder ... « Er wandte sich wieder dem Sarkophag zu. »Das Geheimnis ist im Grab.« Er ging zum Kopfende des Steinblocks und versuchte, die Platte von sich wegzuschieben. Dabei lief sein Gesicht puterrot an. 47
»Kuisl! Ihr könnt doch nicht ... «, rief Simon. »Das ist Störung der Totenruhe!« »Ach was! «, schnaufte der Henker, während er sich weiter mit der Platte abmühte. »Die Toten schert das nicht. Und dieser hier ist schon so lange tot, dass sich nicht mal mehr die Lebenden beschweren können.« Ein Knirschen war zu hören, dann schob sich die Steinplatte einen Fingerbreit nach vorne. Fasziniert sah Simon zu, wie Jakob Kuisl ganz allein eine Platte stemmte, die vor langer Zeit vermutlich von einer ganzen Reihe Männer auf ihren Platz geschoben worden war. Und sicher hatten sie auch noch Werkzeug und Seile dafür gebraucht... Immer wieder erstaunte ihn die gewaltige Kraft des Henkers. Ein weiteres Mal bewegte sich die Platte unter leisem Knirschen. Ein handbreiter Spalt tat sich auf. »Halt hier nicht Maulaffen feil!«, fluchte Kuisl unter Keuchen. »Hilf mir lieber!« Simon schob mit, auch wenn er sich sicher war, dass er keine allzu große Hilfe darstellte. Nach einigen Minuten hatten sie die Platte um gut einen halben Meter nach hinten geschoben. Kuisl hielt schnaufend inne und leuchtete mit seinem Kerzenleuchter ins Innere. Muffiger Gestank drang aus dem Sarg hervor, ein Totenschädel grinste ihnen entgegen. Bleiche Knochen lagen zwischen Staub und rostigen Teilen einer Rüstung. Der Henker griff sich einen Knochen und hielt ihn ans Licht. Simon erkannte aus seinen wenigen anatomischen Studien an der Ingolstädter Universität, dass es ein menschlicher Oberarmknochen war. Aber was für einer! 48
»Bei meiner Seel«, flüsterte Kuisl. »Einen solch gewaltigen Knochen hab ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Das muss ein Mordstrumm von einem Mann gewesen sein ...« Simon musste schlucken, als er sich vorstellte, wie der Arm eines solchen Ritters ein Breitschwert so groß wie das auf dem Relief führte. »Das Schwert«, flüsterte er dem Henker zu. Plötzlich fand er Gefallen an dem Gedanken, das Grab eines mysteriösen Kriegers zu durchwühlen. Er musste an die Balladen über Artus und die Ritter der Tafelrunde denken, die er in der Universität viel lieber gelesen hatte als das ewig gleiche Geleier über die vier verschiedenen Körpersäfte. »Seht nach, ob das Schwert auch in dem Sarg ist!« Jakob Kuisl nickte und wühlte weiter im Inneren des Sarkophags. Er zog Rüstungsteile hervor, rostige Fetzen eines Kettenhemds, braune, vertrocknete Lumpen und schließlich einen Oberschenkelknochen, groß wie ein Knüppel. Nur ein Schwert war nicht dabei. Der Henker wollte schon aufgeben, als seine Hände plötzlich an etwas Kaltes, Glattes stießen. Vorsichtig zog er es hervor. Es war eine dünne Marmorplatte von der Größe eines Buches. Gemeinsam blickten sie auf eine gemeißelte Inschrift, bei der jeder einzelne Buchstabe mit Blattgold ausgemalt war. Die Inschrift war ebenso wie die Schrift auf dem Steinblock in Lateinisch gehalten. Simon übersetzte laut. Und ich will meinen zwei Zeugen auftragen, dass sie sollen weissagen. Und wenn sie ihr Zeugnis geendet ha49
ben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, sie bekämpfen, besiegen und töten. »Was für ein wirres Geraune«, schimpfte Kuisl. »Wer soll daraus schlau werden!« »Ich muss zugeben, dass ich damit auch nichts anfangen kann«, sagte Simon und drehte die Marmorplatte in den Händen. »Aber es scheint wichtig zu sein. Sonst wäre die hier nicht im Sarkophag gelegen. Kein Schwert, nur diese Platte ...« Seine Gedanken wurden jäh gestört, als aus dem benachbarten Raum Schritte zu hören waren. Jemand kam die Treppe nach unten! Von einer plötzlichen Angst ergriffen, tastete Simon nach dem am Boden liegenden Oberschenkelknochen und hielt ihn wie einen Prügel vor sich. Der Henker neben ihm umklammerte den silbernen Kerzenleuchter fester mit seiner rechten Hand. Beide warteten sie darauf, dass die Schritte näher kamen. Schließlich tauchte ein Gesicht im Portal auf. Ein ausnehmend hübsches Gesicht. Es war Magdalena, dicht gefolgt von einer weiteren Frau mit roten Haaren und blassem Gesicht. Beide hielten jeweils eine der Opferkerzen in der Hand und blickten weniger verängstigt als erstaunt auf die beiden Männer vor ihnen. »Was um alles in der Welt machst du hier, Simon?«, fragte Magdalena. »Und was um Gottes willen hast du mit dem Knochen in deiner Hand vor?« Verlegen legte Simon den Knochen zurück in den Sarg. »Das ist eine lange Geschichte«, begann er. »Lasst uns am besten nach oben gehen.« 50
Oben vor dem Eingang der Lorenzkirche kauerte hinter einem der schiefen, schneebedeckten Grabsteine eine schwarze Gestalt und fluchte leise. Er war zu spät gekommen! Der fette Schwarzkittel hatte offenbar bereits geplaudert. Anders war nicht zu erklären, wie dieser Quacksalber so schnell die Krypta hatte finden können. Und jetzt wussten auch noch zwei Weibsbilder und dieser große, breitschultrige Kerl von dem Geheimnis. Die Sache lief aus dem Ruder! Er würde Erkundigungen einziehen müssen, wer diese Leute waren und ob von ihnen Gefahr drohte. Besonders dieser grimmige, ständig Pfeife rauchende Hüne könnte ihnen bedrohlich werden. Der Mann fühlte das. Der Riese hatte irgendetwas an sich, das ihn beunruhigte. Perlen von Angstschweiß krochen wie kleine Käfer über seine Stirn. Hektisch holte er eine kleine Glasphiole unter seiner schwarzen Kutte hervor, entnahm ihr ein paar Tropfen und tupfte sie sich an den Hals und hinter die Ohren. Der betörende Geruch von Veilchen waberte durch die kalte Luft, und sofort fühlte sich der Fremde wieder sicher und unangreifbar. Er bezweifelte, dass die einfachen Leute dort unten mehr gefunden hatten als er und seine Verbündeten. Doch zur Sicherheit würden sie ihnen von nun an auf den Fersen bleiben. Vielleicht ließ sich ja mehr über diesen nach Tabak stinkenden Bären herausfinden. Wie ein schwarzer Schatten glitt die Gestalt hinter den Grabsteinen hervor und schlich davon. Nur der süßliche Geruch schwebte noch eine Weile in der Luft, dann war auch er verschwunden.
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2
S
chweigend stiegen Simon, der Henker und die beiden
Frauen die schmale Treppe aus der Krypta nach oben. Erst als sie in der Pfarrstube saßen und Magdalena den Medicus erwartungsvoll anstarrte, begann er zu erzählen. Doch schon nach wenigen Worten stockte er. Er hatte in der ganzen Aufregung vergessen zu fragen, wer die schöne Frau an Magdalenas Seite war. Jedenfalls keine aus dem Dorf, so viel war sicher. Magdalena bemerkte seinen fragenden Blick. »Ich hab euch noch nicht vorgestellt«, sagte sie. »Das hier ist Benedikta Koppmeyer, die Schwester von Pfarrer Koppmeyer. Sie sucht ihren Bruder.« Jakob Kuisl, der bislang mürrisch an seiner Pfeife gezogen hatte, begann zu husten. Hinter den dichten Rauchschwaden war sein Gesicht kaum auszumachen. Der Medicus blickte betreten zur Seite. Nach einer Weile ergriff Benedikta das Wort. »Was ist mit meinem Bruder? Es ist doch etwas, ich merk’s Euch an.« Endlich fasste sich Simon ein Herz und begann zögerlich zu sprechen: »Nun, Euer Bruder ist, wie soll ich es sagen, er ist...« »Tot ist er«, unterbrach ihn Kuisl. »Steif und tot. Bet für ihn. Er wird es nötig haben.«
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Mit diesem Satz stand er auf und ging nach draußen. Das Quietschen der Tür klang lange nach, während Simon immer noch nach Worten rang. Benedikta Koppmeyers ohnehin schon blasses Gesicht schien noch ein wenig durchsichtiger geworden zu sein. Fassungslos sah sie den Medicus an. »Ist das wahr?«, flüsterte sie. »Andreas ist tot?« »Was soll das heißen?«, fragte jetzt auch Magdalena. » Simon, erklär dich!« Innerlich verfluchte Simon die Taktlosigkeit dieses mürrischen Holzkopfs von Henker. Er hatte ihn schon öfter in solchen Situationen erlebt; trotzdem war er immer wieder irritiert über dessen grobes Auftreten, das so gar nicht zu jenem Jakob Kuisl passen wollte, der stundenlang über Bücher brüten konnte oder mit seinen siebenjährigen Zwillingen Georg und Barbara im Garten Fangen spielte. Nach einigen Zögern fing der Medicus an zu erzählen. Die Pfarrersschwester schien sich während seines Berichts wieder zu fangen. Sie hörte konzentriert zu, mit geballten Fäusten und einem Blick, der Simon zeigte, dass diese vornehme Frau schon einige andere Schicksalsschläge in ihrem Leben verkraftet haben musste. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird«, sagte sie schließlich. »Aber jetzt erklärt sich wenigstens der Brief, den mein Bruder mir geschickt hatte. Er schreibt darin von einer seltsamen Entdeckung und dass er nicht weiß, an wen er sich wenden soll. Mein Bruder und ich ... « Sie stockte und schloss kurz die Augen, die Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammengepresst. »Wir sind uns sehr nahegestanden. Es war nicht das erste Mal, dass er mich in einer wichtigen Angelegenheit um Rat fragte. Er hat im53
mer auf seine kleine Schwester gehört ... « Sie rang sich ein Lächeln ab. »Darf ich fragen, wann Ihr den Brief genau bekamt?«, fragte Simon leise. »Vor drei Tagen. Ich bin sofort hierher aufgebrochen.« »Von wo?«, hakte Simon nach. Benedikta Koppmeyer sah ihn fragend an. »Hab ich das noch nicht erwähnt? Ich komme aus Landsberg, unten am Lech. Mein verstorbener Gatte hatte dort einen Weinhandel. Ich führe die Geschäfte seit ein paar Jahren.« Und offenbar nicht gerade schlecht, dachte Simon, während er die elegante Kleidung der Händlerswitwe musterte. Noch einmal fiel ihm ihr zartgeschnittenes Antlitz auf, in das sich bereits die ersten Falten des Alters gegraben hatten. Ihr Mund hatte etwas Sprödes, Hartes; diese Frau war es gewohnt, Befehle zu geben. Ihre Augen dagegen versprühten einen fast kindlichen Charme. Die Kleidung entsprach vom Schnitt her der französischen Mode. Benediktas gesamte Erscheinung strahlte noblesse aus. Etwas, das Simon in Schongau allzu oft vermisste. Er richtete sich auf. »Ich nehme an, dass Ihr Euren Bruder jetzt gerne noch einmal sehen wollt«, sagte er. Die Händlerin nickte. Sie straffte sich und steckte ihr rotes Haar zu einem Dutt hoch. Schließlich folgte sie dem Medicus nach draußen. »Évidemment«, flüsterte sie, während sie in ihrem weitgeschnittenen Kleid an Simon vorüberrauschte. Der Medicus war entzückt. Die vornehme Dame aus Landsberg kleidete sich nicht nur französisch, sie verstand auch französisch zu parlieren! Was für ein außergewöhnliches Frauenzimmer! 54
Magdalena eilte ihnen nach. Wenn Simon sich umgesehen hätte, wäre ihm der düstere Ausdruck auf ihrem Gesicht aufgefallen. Doch der Medicus war in Gedanken noch ganz bei der eleganten, weltgewandten Fremden. Nach einer guten Stunde machten sie sich zu dritt auf den Weg zurück nach Schongau. Sie hatten die Leiche Koppmeyers im Gebeinhaus neben der Kirche aufgebahrt und seine Schwester eine Weile mit ihm allein gelassen. Als Benedikta Koppmeyer das Gebeinhaus wieder verließ, machte sie einen immer noch blassen, aber gefassten Eindruck. Jakob Kuisl blieb verschwunden, was Simon nicht weiter verwunderte. Mit der schroffen, manchmal beleidigenden Art des Henkers hatten viele Menschen ihre Probleme, doch Simon kannte ihn mittlerweile gut genug, um darüber hinwegzusehen. Er vermutete, dass man einfach kein Menschenfreund sein konnte, wenn man in seinem Leben Dutzende Verbrecher gehängt, geköpft und gevierteilt hatte. Simon konnte sich noch gut an die letzte Hinrichtung vor knapp einem Jahr erinnern. Einer der Söldner, der damals für die bestialischen Kindermorde in Schongau verantwortlich gewesen war, hatte sein Ende auf dem Rad gefunden. Jakob Kuisl hatte ihm sämtliche Glieder gebrochen und ihn erst zwei Tage später mit dem Würgeeisen stranguliert. Während der ganzen Prozedur, während all dem Schreien, Kreischen und Weinen war Kuisl nicht eine Gefühlsregung anzumerken gewesen. Kein Augenzucken, kein Zittern, nichts. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Simon sah zu Benedikta Koppmeyer hinüber, die ihr Pferd am Zügel 55
durch den tiefen Schnee führte. Sie schien in Gedanken versunken, die Trauer über ihren toten Bruder hielt sie offenbar ganz gefangen. Simon wagte nicht, sie anzusprechen. Auch Magdalena schwieg, den Blick starr geradeaus auf die Straße gerichtet. Ein paarmal versuchte Simon sie aufzumuntern, doch sie antwortete ihm nur mürrisch und einsilbig, bis er die Lust daran verlor. Was hatte sie nur? Hatte er ihr etwas getan? Er liebte dieses Mädchen, auch wenn er wusste, dass eine Ehe mit der ehrlosen Henkerstochter ausgeschlossen war. Sein Vater versuchte immer wieder, ihn zu überzeugen, doch lieber einer reichen Schongauer Bürgerstochter Avancen zu machen. Simon war bei den Frauen des Ortes beliebt. Er kleidete sich nach der neuesten Mode, achtete auf ein gepflegtes Äußeres und hatte immer ein charmantes Kompliment auf den Lippen. Dass er mit fünf Fuß eher zu den kleineren Männern zählte, sahen ihm die Damen nach. Mit der einen oder anderen hatte er sich schon in den umliegenden Scheunen vergnügt, doch seit er Magdalena kannte, war das anders geworden. Diese Frau mit ihrem Temperament, aber auch mit ihrer Bildung und ihrem Wissen um heilende und giftige Kräuter faszinierte ihn. Selbst wenn Magdalenas Sturköpfigkeit und ihre gelegentlichen Zornanfälle die viel zu seltenen Schäferstündchen nicht eben einfach machten. Auf der anderen Seite, welche Frau war schon einfach? Nur kurze Zeit später wurden die Tannen lichter. Felder breiteten sich aus, dahinter war der Lech als grünes Band im Schnee zu erkennen. Vor einem winterklaren Himmel erhob sich auf einem Hügel die Stadt Schongau mit ihren Türmen und Mauern. Simon war erleichtert, als sie das 56
Stadttor mit den zwei schläfrigen Bütteln passierten. Benedikta neben ihm wirkte mittlerweile mehr als erschöpft. Sie hatte beschlossen, sich im Gasthaus »Zum Goldenen Stern« einzuquartieren, bis der Tod ihres Bruders geklärt war. Der Medicus wollte ihr das ausreden, doch ein Blick von ihr ließ ihn verstummen. Die Händlerswitwe sah nicht so aus, als ob sie Widerspruch duldete. Simons Gedanken kehrten zurück zur Krypta und der Inschrift auf dem Sarg. Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam … Wo hatte er diesen Spruch schon einmal gelesen? War es in der Ingolstädter Universität gewesen? Nein, es war noch nicht so lange her. Also in Schongau? In der Stadt gab es eigentlich nur drei Orte, an denen es mehr Bücher gab als nur die Bibel und ein paar Bauernkalender. Der erste war Simons Schlafzimmer beziehungsweise eine Truhe neben seinem Bett, in dem er sich auch tagsüber gerne aufhielt. Der zweite war eine Kammer im Hause des Scharfrichters, wo Jakob Kuisl in einem Schrank Bücher über Kräuter, Gifte, aber auch Skripten über neuartige Heilmethoden verwahrte. Der dritte schließlich war die beheizte Bibliothek des Patriziers Jakob Schreevogl, einem Bücherfreund, der Simon seit den Kindermorden vor einem Jahr freundschaftlich verbunden war. Damals hatte der Medicus die Tochter des Patriziers gerettet. Schreevogl ... Bibliothek … In Simons Kopf tönte eine feine Glocke. Ohne auf die Frauen zu warten, rannte er durch das Stadttor, so dass die beiden Büttel überrascht von ihrem Nickerchen aufschreckten. 57
»Wo willst du hin, Simon?«, rief Magdalena ihm nach. »Muss ... etwas ... erledigen«, brachte Simon noch während des Laufens hervor. Dann war er hinter der nächsten Ecke verschwunden. »Hat er das öfter?«, fragte Benedikta die neben ihr gehende Magdalena. Die Henkerstochter zuckte die Achseln. »Fragt ihn besser selbst. Manchmal glaube ich, ihn gar nicht richtig zu kennen.« Simon rannte die Münzgasse entlang und am Rathaus vorbei. Am Platz dahinter reihten sich die eleganten Häuser der Patrizier. Dreistöckige Gebäude mit prunkvollen Balustraden, Stuckarbeiten und bunten Wandmalereien, die vom Wohlstand ihrer Bewohner erzählten. Die Stadt mochte unter dem Großen Krieg gelitten haben, doch die Ratsherren hatten sich hinübergerettet in die neue Zeit. Durch die Zahlung eines saftigen Lösegelds war Schongau der Zerstörung durch die Schweden gerade noch entronnen. Die Lechvorstadt hatten die feindlichen Truppen zwar niedergebrannt; die Häuser hier am Marktplatz hingegen besaßen noch etwas von dem Glanz vergangener Jahrhunderte, als Schongau eine mächtige Handelsstadt gewesen war. Nur der bröckelnde Putz und die teils abblätternde, ausgebleichte Farbe verrieten, dass die Stadt am Fluss mittlerweile vor sich hin siechte. Das Leben fand anderswo statt, in Frankreich, den Niederlanden, vielleicht noch in München und Augsburg, doch sicher nicht im bayerischen Pfaffenwinkel am Rande der Alpen. Obwohl es noch nicht dämmerte, waren die Straßen der Stadt wie leergefegt. Die Menschen hatten sich in ihre 58
Häuser zurückgezogen und wärmten sich am Kamin in der Stube oder am Küchenofen. Hinter den Glasfenstern der bürgerlichen Fassaden leuchtete hier und da eine Kerze oder Öllampen flackerten. Simons Ziel war das dreigeschossige Patrizierhaus der Schreevogls auf der linken Seite. Sooft er konnte, besuchte er die gutsortierte Bibliothek des Ratsherrn. Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass er den Spruch aus der Krypta hier gelesen hatte. Irgendwann beim Blättern und Schmökern musste ihm die Formulierung aufgefallen sein. Nach zweimaligem Läuten öffnete ihm die Dienstmagd Agnes, die ihn mit einem Kopfnicken begrüßte. Im Hintergrund ertönte Freudengeschrei; es war Clara Schreevogl, die ihm mit ausgebreiteten Armen entgegenstürmte. Seit ihrem gemeinsamen Abenteuer vor fast einem Jahr war Simon für das zehnjährige Waisenkind, das die Schreevogls neben ihren eigenen Kindern in Obhut genommen hatten, so etwas wie ein Onkel geworden. Sie sprang an ihm hoch und hielt sich mit ihren kleinen Händchen an seinem Rock fest. »Onkel Simon, hast du mir was vom Markt mitgebracht?«, rief sie. »Getrocknete Zwetschgen oder Honigkonfekt? Sag, hast du?« Lachend schüttelte Simon das Mädchen ab. Immer wenn der Medicus Jakob Schreevogl und seine Hausbibliothek aufsuchte, stattete er auch Clara einen Besuch ab. Meist hatte er für sie ein kleines Geschenk dabei, einen Kreisel, ein geschnitztes Holzpüppchen oder eine mit Honig kandierte Frucht. »Du bist wie eine Klette! Weißt du das? Und eine vernaschte noch dazu!« Behutsam strich er ihr durchs Haar. 59
»Diesmal hab ich nichts dabei. Schau mal in der Küche nach, ob die Köchin ein paar Dörräpfel für dich hat.« Schmollend zog Clara von dannen. Auf der breiten Wendeltreppe, die in die oberen Stockwerke führte, waren nun Schritte zu hören. Jakob Schreevogl kam Simon in Hausrock und Pantoffeln entgegen. Um seinen Hals hatte der Ratsherr einen Schal geschlungen. Er war blass und hustete leicht, doch sein Gesicht hellte sich auf, als er Simon erblickte. »Simon! Was für eine Freude, Euch zu sehen!«, rief er von der Treppe und breitete die Arme aus. »Bei dieser Saukälte ist man froh um jeden, der einen in den eigenen vier Wänden besucht und die Zeit vertreibt.« »Ihr seht eher so aus, als bräuchtet Ihr ein Bett und einen kundigen Arzt«, entgegnete Simon besorgt. »Wie es der Zufall will, ist gerade einer anwesend. Soll ich vielleicht...?« Er griff nach seiner Arzttasche, die er schon seit heute Morgen mit sich herumschleppte. Doch Jakob Schreevogl winkte ab. »Ach was, ein simpler Schnupfen. Die halbe Stadt ist kränker als ich. Wir wollen nur hoffen, dass der liebe Gott unsere Kinder verschont.« Er zwinkerte dem Medicus zu. »Ich glaube ohnehin nicht, dass Euch der Sinn nach einem langweiligen Hausbesuch steht. Begleitet mich lieber in die Bibliothek. Dort brennt ein warmer Ofen, und wenn Ihr Glück habt, ist noch ein Rest von diesem schwarzen Teufelszeug da.« Simon folgte ihm nach oben, die Aussicht auf eine Tasse heißen Kaffee trieb ihn zur Eile an. Jakob Schreevogl hatte erst durch Simon den Genuss dieses neumodischen Getränks kennengelernt. Der junge Medicus hatte die 60
braunen Bohnen zum ersten Mal vor zwei Jahren von einem sarazenischen Händler erworben. Seither war er der Sucht des Kaffeetrinkens verfallen. Und nun hatte er offenbar auch den Patrizier Schreevogl abhängig gemacht. Gemeinsam hatten sie schon wahre Kaffeeorgien in der Bibliothek gefeiert. Nach der dritten Kanne erschlossen sich ihnen dann auch so langweilige Kirchenlehrer wie Johann Damascenus oder Petrus Lombardus. Simon betrat die Bibliothek und sah sich um. In der Ecke der holzvertäfelten Stube glühte ein kleiner gusseiserner Ofen, an den Wänden in glänzenden Kirschholzregalen reihte sich Buch an Buch. Jakob Schreevogl war vermögend, sein Vater hatte eine kleine Hafnerei zum führenden Töpferunternehmen der Region ausgebaut. Einen nicht geringen Teil seines Geldes steckte der junge Schreevogl seit dem Tod des Vaters in seine große Leidenschaft, das Sammeln von Büchern. Eine Leidenschaft, die er mit Simon teilte. Der Patrizier wies ihm einen Lehnstuhl zu und goss ihm eine dampfende Tasse Kaffee ein. Jakob Schreevogl war großgewachsen und hatte wie alle Schreevogls eine spitze, leicht gebogene Nase, die ihm nun beinahe in den Kaffee hing. Während der junge Ratsherr das heiße Gebräu schlürfte, erkundigte sich Simon nach der Stadtratssitzung von heute früh. Er wusste, dass wichtige Themen auf der Tagesordnung gestanden hatten. »Und? Hat der Stadtrat beschlossen, wie man gegen diese Mordbande vorgehen will?« Jakob Schreevogl nickte ernst. »Wir werden wohl eine Patrouille ausschicken, die sich auf die Suche nach den Räubern machen soll.« 61
»Aber das habt Ihr doch schon einmal getan!«, warf Simon ein. »Ich weiß, ich weiß«, seufzte Schreevogl. »Aber diesmal muss die Sache gut durchdacht sein und braucht einen fähigen Anführer. Wir überlegen noch, wer dafür in Frage kommen könnte.« Simon nickte. Die Angelegenheit war allerdings zu ernst für ein paar angetrunkene Dorfbüttel. Seit Wochen schon machte eine Räuberbande die Gegend unsicher. Ein Händler und zwei Großbauern waren bereits überfallen worden; den Händler hatten die Wegelagerer erschlagen, den beiden Bauern war gerade noch die Flucht gelungen. Sie berichteten von mindestens einem Dutzend Männern, manche von ihnen hatten Armbrüste, einige sogar Musketen. Eine echte Gefahr also, wenn nicht für die Stadt, so doch für das Umland. »Wenn der Stadtrat die Halunken nicht bald zu fassen bekommt, werden wir wohl nach München schicken und Soldaten anfordern müssen!« Jakob Schreevogl fluchte leise und pustete in seine heiße Tasse. »Aber das will der Rat auf alle Fälle vermeiden. Soldaten kosten Geld, wie Ihr wisst.« Er winkte ab. »Aber lassen wir die Politik. Sie langweilt mich. Ihr seid gewiss wegen etwas anderem gekommen.« »In der Tat«, sagte Simon. »Ich suche ein Buch, oder vielmehr einen Spruch, den ich, glaube ich, bei Euch gelesen habe.« »So, ein Buch.« Jakob Schreevogl lächelte. »Es freut mich, dass meine Bibliothek bei Euch auf so großen Gefallen stößt. Nun, wie soll der Spruch denn lauten?« 62
»Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam«, wiederholte Simon aus dem Gedächtnis. Der Patrizier stutzte. »Wo habt Ihr diesen Spruch gelesen?« »In der kleinen Lorenzkirche in Altenstadt.« »Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen sei Ehre«, murmelte Jakob Schreevogl, und eine Falte legte sich quer über seine Stirn. »Seltsam. Das ist meines Wissens der Leitspruch der Templer gewesen.« Simon musste husten, als er sich am Kaffee verschluckte. »Der Templer?«, fragte er schließlich. Schreevogl nickte. »Es war der Ausruf, mit dem sie in die Schlacht gezogen sind.« Plötzlich runzelte der Ratsherr die Stirn, er schien sich an etwas zu erinnern. Mit einer schnellen Bewegung stand er auf und ging zu einem Regal neben dem Ofen. »Jetzt weiß ich auch, welches Werk Ihr meint!« Nach einigem Stöbern zog er ein handtellergroßes, in Leder gebundenes Büchlein hervor. »Hier!«, rief er und reichte es Simon. »Das Traktat des Wilhelm von Selling. Ordinis Templorum Historia. Ein altes, seltenes Exemplar. Selling war ein englischer Benediktinermönch, der im Gegensatz zur Kirche die Templer vor dem Vergessen bewahren wollte. Deshalb schrieb er vor über zweihundert Jahren dieses Buch. Da waren die Templer aber schon seit einem Jahrhundert nur noch Geschichte.« Simon nickte, während er in dem abgegriffenen Wälzer blätterte. Einige Seiten waren offenbar herausgerissen worden, andere Seiten von Feuchtigkeit gewellt oder angesengt. Das Buch war in Lateinisch geschrieben, mit verzierten Anfangslettern, kein Druck, sondern eine handge63
schriebene Kopie. Es sah aus, als hätte es in seinem langen Leben schon einiges mitgemacht. »Ich habe das Buch damals nur überflogen«, sagte Simon. »Trotzdem ist mir der Spruch in Erinnerung geblieben. Erzählt mir mehr von diesen ... Templern.« Jakob Schreevogl setzte sich wieder hin und nippte an seiner Tasse Kaffee. Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen anfing. Draußen klopfte ein Eissturm an die Fensterscheiben. »Ihr voller Name ist etwas länger, er lautet ›Arme Ritterschaft Christi vom salomonischen Tempel‹. Vieles, was wir über sie wissen, ist vielleicht nur Legende.« Der Patrizier machte es sich im Lehnsessel bequem, während er weitersprach. »Fest steht jedoch, dass die Templer die mächtigste und reichste Vereinigung waren, die die Welt bislang gesehen hat. Sie fingen als kleiner Ritterorden zur Zeit der Kreuzzüge an. Ihre eigentliche Aufgabe war es, die Pilger auf ihrem Weg nach Jerusalem zu beschützen. Eine bis dahin einmalige Mischung aus Rittertum und asketischem Mönchsorden. Aber durch geschicktes Taktieren und die richtigen Fürsprecher breiteten sich die Templer innerhalb weniger Jahrzehnte über ganz Europa aus. Templerniederlassungen gab es überall. Wer wollte, konnte sein Gold in Köln gegen einen Wechseltauschen und ihn in Jerusalem oder Byzanz wieder einlösen. Der Orden war nur dem Papst unterstellt und damit eigentlich unantastbar. Durch ihre geschickte Finanzpolitik wurden die Templer nach und nach reicher als Könige und Kaiser. Und das wurde ihnen schließlich wohl auch zum Verhängnis …« 64
»Was war geschehen?«, fragte Simon neugierig und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Nun, es war wie so oft.« Jakob Schreevogl zuckte fast entschuldigend mit den Schultern. »Der französische König Philipp IV. hatte es auf ihr Geld abgesehen. Es gelang ihm, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion sämtliche Templer in ganz Frankreich festnehmen zu lassen. Er unterstellte ihnen Sodomie und satanische Riten, kaufte sich Zeugen und erzwang durch Folter die nötigen Geständnisse. Schließlich rückte auch die Kirche von den Templern ab, der Papst konnte sie nicht länger halten und ließ sie am Ende fallen. Ihr letzter Großmeister wurde, soviel ich weiß, in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Innerhalb weniger Jahre waren aus den mächtigsten Herren Europas machtlose Verfolgte geworden. Die Templer wurden gejagt und getötet, wenn es ihnen nicht vorher gelang unterzutauchen. Und das, nachdem sie fast zweihundert Jahre lang die Geschicke Europas mitbestimmt hatten.« »Und ihr Geld?«, hakte Simon nach. »Das hat sich wohl der französische König unter den Nagel gerissen?« Der Patrizier grinste. »Nur einen kleinen Teil. Der Rest ist bis heute verschwunden. Gold, Juwelen, Reliquien … Man sagt, die Templer hätten diesen Schatz irgendwo versteckt. Manche glauben, sie hätten ihn hinüber in die Neue Welt gebracht. Andere vermuten ihn im Heiligen Land oder auf den Britischen Inseln. Wer ihn findet, kann sich vermutlich jeden Thron der Welt kaufen.« Simon pfiff durch die Zähne. »Warum habe ich nie etwas davon gehört?« Schreevogl wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt, bevor er weitersprach. 65
»Weil die Kirche nicht wollte, dass ihre Mitschuld an der Sache offenbar wird. Und auch der Großadel hat hübsch geschwiegen und sich die Ländereien der Templer einverleibt. Nur einige wenige, wie eben Wilhelm von Selling, haben das Schweigen gebrochen.« Der Medicus nickte. »Aber das erklärt noch nicht, warum sich dieser Templerspruch in der Lorenzkirche befindet.« Jakob Schreevogl zögerte. »Ich habe einmal gehört, dass die Lorenzkirche einst eine Templerkirche war«, sagte er schließlich. »Eine Templerkirche? In Altenstadt?« Simon hätte sich beinahe erneut verschluckt. »Ja. Warum nicht?« Der Patrizier zuckte mit den Schultern. »Die Templer hatten überall ihre Niederlassungen. Und gibt es in Altenstadt nicht sogar eine Templergasse?« »Ihr habt recht!«, rief Simon. »Die schmale Templergasse, kurz vor der Brücke über die Schönach. Merkwürdig. Ich habe mich bislang nie gefragt, warum dieser Weg so heißt …« »Seht Ihr. Aber Genaueres kann Euch bestimmt der Pfarrer der Basilika in Altenstadt sagen. Schließlich muss es von dem kleinen Nachbarkirchlein ja Aufzeichnungen geben. Die lagern, wenn nicht in der Lorenzkirche selbst, dann in der Basilika St. Michael. – Wollt Ihr noch einen Kaffee?« Simon stand auf und griff Jakob Schreevogls Hand. »Habt Dank, aber ich glaube, ich muss zu meinem Vater. Es stehen ein paar langweilige Behandlungen an. Husten, Fieber, Aderlass, das Übliche eben. Ihr habt mir trotzdem 66
sehr weitergeholfen.« Er zögerte kurz. »Dürfte ich noch um eines bitten?« Der Patrizier nickte. »Nur zu.« Simon deutete auf das kleine ledergebundene Buch auf dem Beistelltisch. »Dieses Buch über die Templer. Dürfte ich es mir ausleihen?« »Gerne. Aber passt darauf auf. Es ist sehr kostbar.« Simon griff sich das Buch und eilte zur Tür. In der Türschwelle blieb er noch einmal kurz stehen und drehte sich um. »Es gibt noch einen zweiten Spruch, aus dem ich nicht schlau werde. Es geht darin um zwei Zeugen und ein Tier, das sie bekämpft und schließlich tötet. Ihr habt nicht zufällig davon schon einmal gehört?« Der Patrizier überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »An irgendetwas erinnert er mich, aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, an was. Tut mir leid. Vielleicht komme ich noch darauf.« Er schaute den Medicus skeptisch an. »Simon, Ihr stürzt Euch nicht gerade wieder in so ein Abenteuer gemeinsam mit dem Henker? Passt um Himmels willen auf Euch auf!« Simon grinste. »Ich werde mir Mühe geben. Lasst es mich auf alle Fälle wissen, wenn Ihr glaubt, Euch zu erinnern.« Er verbeugte sich kurz, dann rannte er mit dem Buch in der Hand die Treppe hinunter. Der Patrizier stand oben am Fenster und sah ihm nach, wie er auf dem Schongauer Marktplatz im Schneesturm verschwand. 67
Der Maurer Peter Baumgartner stand mit nacktem, muskulösem Oberkörper in der Mitte der Henkersstube und machte sich vor Angst fast in die Hose. Trotz des eiskalten Windes, der durch die mit Schweinsblasen zugenagelten Fenster pfiff, lief ihm der Schweiß über die Stirn. Er überlegte sich, ob er ein paar Kreuzer mehr hätte springen lassen sollen und statt zum Henker doch zum Medicus hätte gehen sollen. Oder vielleicht zu keinem von beiden. Ja genau, stattdessen hätte er zu Hause bleiben, den Schmerz mit einem Ave Maria und einem Glas Weinbrand hinunterspülen und darauf hoffen sollen, dass seine Schulter allein mit Gottes Hilfe heilen würde. Aber dafür war es nun zu spät. Auf dem Tisch vor ihm lagen allerlei Werkzeuge, von denen er nicht sagen konnte, ob sie für die Folter oder für medizinische Zwecke bestimmt waren. Lange Zangen, vermutlich zum Herausbrechen von Zähnen, scharfe, auf Hochglanz polierte Messer in sämtlichen Größen und Formen und eine kleine, handliche Säge, auf der ein paar rostrote Flecken zu sehen waren. Flecken getrockneten Blutes, da war sich Peter Baumgartner sicher. Was Baumgartner allerdings am meisten ängstigte, war die mächtige Gestalt des Schongauer Henkers direkt vor ihm, der seine prankengleichen Hände gerade in einen Topf mit weißem, fettartigem Brei tauchte und sie langsam und gründlich damit einschmierte. »Ist das ... Menschenfett?«, keuchte der Maurer. Obwohl Baumgartner sich Mühe gab, konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme leicht zitterte. Er wusste, dass der Schongauer Scharfrichter die Leichen der Hingerichteten fein säuberlich häutete und das Fett von der Haut 68
kratzte. Daraus stellte er eine Paste her, die wahre Wunder wirken sollte. Baumgartner mochte gerne an Wunder glauben; die Vorstellung allerdings, mit den glitschigen Resten eines Bösewichts eingerieben zu werden, verursachte ihm Bauchschmerzen. »Blöder Hund, meinst, ich vergeud mein gutes Menschenfett an so einen wie dich?«, brummte Jakob Kuisl, ohne hochzusehen. »Bärenfett ist das, vermischt mit Arnika, Kamille und ein paar Kräutern, deren Namen du noch nie gehört hast. Und jetzt komm her, es wird ein bisserl weh tun.« »Kuisl, lass ... ich glaub, ich geh doch lieber zum alten Fronwieser ... «, murmelte Peter Baumgartner, als er die beiden beschmierten, tellergroßen Pranken vor sich sah. »Und lässt dir zwei Gulden abnehmen, dafür, dass du deinen Arm dann gar nimmer bewegen kannst. Stell dich nicht so an und komm her.« Baumgartner seufzte. Er war vor einer Woche vom Baugerüst in der Lorenzkirche gestürzt. Seitdem leuchtete seine Schulter in sämtlichen Farben, der Schmerz pulste bis hinunter in die rechte Hand, so dass er nicht einmal mehr einen Löffel halten konnte. Lange hatte er gezögert, zum Henker zu gehen. Aber mittlerweile hatte er Angst, dass er seinen rechten Arm vielleicht nie mehr würde benutzen können. Also hatte er sein Erspartes zusammengekratzt und war heute Mittag nach Schongau aufgebrochen. Die Heilkünste Jakob Kuisls waren berühmt, weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Wie alle Scharfrichter verdiente Kuisl sein Geld weniger mit Exekutionen und Folterungen, von denen es jedes Jahr höchstens eine Handvoll gab, sondern vielmehr mit dem Heilen und dem 69
Verkauf von Salben, Pillen und Tinkturen. Auch ein Stück vom Henkerstrick oder den Daumen eines Diebes konnte man bei ihm erwerben. In den Geldbeutel gelegt sollte der mumifizierte Finger vor jeglichem Diebstahl schützen. Natürlich nur, wenn man den Geldbeutel täglich mit Weihwasser besprengte und eifrig daran glaubte. Jakob Kuisl glaubte nicht daran, aber er verdiente gut damit. Wie viele andere Patienten vor ihm in der Henkerstube war Peter Baumgartner hin- und hergerissen zwischen Angst und Hoffnung. Es war bekannt, dass die meisten Menschen das Kuisl-Haus wenigstens nicht kränker verließen, als sie es betreten hatten, in vielen Fällen sogar gesünder. Ein Umstand, der bei den studierten Ärzten eher selten der Fall war. Auf der anderen Seite war Jakob Kuisl der Schongauer Henker. Schon ein Blick von ihm brachte Unglück, mit ihm zu sprechen war Sünde. Sollte Baumgartner diesen Krankenbesuch beim nächsten Kirchgang beichten, würde er sicher hundert Vaterunser aufgebrummt bekommen. »Komm her, verdammt! Oder ich renk dir auch noch die andere Schulter aus.« Noch immer stand Jakob Kuisl mit seinen eingefetteten Händen vor dem stämmigen Maurer. Baumgartner nickte ergeben, schlug ein Kreuz und trat dann einen Schritt nach vorne. Der Henker drehte ihn herum, tastete vorsichtig die geschwollene Schulter ab, packte plötzlich Baumgartners rechten Arm und zog ihn kräftig nach hinten und dann nach unten. Ein Knacken ertönte. Der Schrei war bis hinauf zum Marktplatz zu hören. Baumgartner wurde schwarz vor Augen. Benommen ließ er sich auf den Schemel neben dem Tisch fallen. Er 70
war kurz davor, sich zu übergeben. Gerade wollte er zu einem nicht enden wollenden Fluch ansetzen, als er einen Blick auf seine rechte Hand warf. Er konnte sie wieder bewegen! Auch der Schmerz in der Schulter schien nachzulassen. Jakob Kuisl knallte ihm einen hölzernen Tiegel vor die Nase. »Sag deiner Frau, sie soll die Schulter damit dreimal am Tag eine Woche lang einmassieren. In zwei Wochen wirst du wieder arbeiten können. Du schuldest mir einen Gulden.« Baumgartners Freude über den nachlassenden Schmerz bekam einen herben Rückschlag. »Einen Gulden?«, keuchte er. »Verdammt, so viel nimmt nicht mal der alte Fronwieser. Und der hat studiert!« »Nein, der lässt dich zur Ader, schickt dich heim, und drei Wochen später sägt er dir für drei Gulden den ganzen Arm ab. Das ist das, was er studiert hat.« Baumgartner knetete nachdenklich seine Hand. Er schien tatsächlich geheilt! Trotzdem begann er zu feilschen. »Ein Gulden, hä? So viel verdient ja kein Müller an einem Tag. Sagen wir einen halben, und damit ist’s gut.« »Sagen wir einen ganzen, und ich kugel dir die zweite Schulter nicht auch noch aus.« Seufzend gab Baumgartner auf. Er kramte in seinem Beutel und legte die Münzen fein säuberlich abgezählt auf den Tisch. Der Henker strich die Hälfte ein, die andere Hälfte schob er Baumgartner wieder zu. 71
»Ich hab’s mir überlegt«, sagte er. »Einen halben Gulden. Wenn du mir dafür ein bisserl was erzählst.« Baumgartner sah ihn erstaunt an, beeilte sich dann aber, seine Münzen wieder in den Beutel zu stecken. »Was willst denn wissen?« »Du bist doch Maurer oben bei der Lorenzkirche, nicht wahr?« »Freilich«, sagte Baumgartner. »Da bin ich ja auch von diesem verdammten Gerüst gefallen.« Jakob Kuisl zog seinen Tabaksbeutel heraus und begann umständlich, seine Pfeife zu stopfen. »Was wird da oben eigentlich gebaut?«, fragte er. »Nun ... gebaut wird eigentlich nichts«, sagte Baumgartner zögernd. Fasziniert sah er dem Henker beim Pfeifenstopfen zu. Das Rauchtrinken war eine vollkommen neue Modeerscheinung. Der Maurer kannte bislang keinen Menschen außer Kuisl, der so etwas tat. Der Schongauer Pfarrer hatte es trotzdem in einer seiner letzten Predigten schon mal vorsorglich zum Laster erklärt. »Wir erneuern die Kirche nur«, fuhr Baumgartner schließlich fort. »Außen- und Innenwände. Die gesamte Galerie. Das wär ja beinah alles zusammengestürzt. Die Kirche soll gut und gern fünfhundert Jahre alt sein.« »Ist euch beim Erneuern irgendwas aufgefallen?«, wollte Kuisl wissen. »Zeichnungen? Figuren? Alte Malereien?« Das Gesicht des Maurers hellte sich auf. »Da war tatsächlich was! Oben in der Galerie, da prangten an der Wand so rote Kreuze. Die ganze linke Wand war voll damit!« »Wie sahen die Kreuze denn aus?« 72
»Nun, anders als das Kreuz unseres Erlösers. Sie waren eher so ... Darf ich?« Baumgartner deutete auf eines der scharfen Messer auf dem Tisch. Als der Henker nickte, ritzte er ein gleichseitiges Kreuz in eine Ecke der Platte. Die Balken des Kreuzes wurden zur Mitte hin immer schmaler. Der Maurer nickte zufrieden. »So etwa sahen sie aus.« »Und was habt ihr mit den Kreuzen gemacht?«, fragte Kuisl weiter. »Das war komisch. Der Pfarrer hat uns befohlen, sie zu übermalen. Das war kurz nachdem er so aufgeregt wegen dem Keller war.« »Dem Keller?« Falten zogen sich über die Stirn des Henkers. »Nun, beim Verlegen der Fliesen hat der Steiner Johannes an Neujahr gemerkt, dass unter einer Grabplatte ein Hohlraum war. Wir haben dann die Platte zur Seite geschoben, drei Männer waren dafür nötig, ein Mordstrumm. Und da ging’s dann in den Keller.« Jakob Kuisl nickte, während er seine nunmehr gestopfte Pfeife mit einem glimmenden Kienspan entzündete. Baumgartner sah ihm mit zunehmender Begeisterung zu. »Seid’s ihr mit runter in den Keller?«, wollte Kuisl wissen und paffte an der Pfeife. »Nein ... da ist nur der Pfarrer runter. Und schon bald ist er ganz aufgeregt wieder raufgekommen. Und am nächsten Tag, da sollten wir dann die Kreuze übermalen. Das haben wir auch gemacht.« Der Henker nickte bedächtig. »Von euch ist sicher keiner da runtergegangen?«, fragte er noch einmal. 73
»Bei der Jungfrau Maria, nein!«, rief Baumgartner. »Aber warum ist das so wichtig?« Jakob Kuisl stand auf und ging zur Tür. »Vergiss es. Du kannst jetzt gehen.« Erleichtert richtete sich Peter Baumgartner auf. Er wusste zwar nicht, was diese Fragerei zu bedeuten hatte, aber immerhin hatte sie ihm einen halben Gulden gespart. Außerdem war er froh, dass er das Haus des Scharfrichters verlassen konnte. Er sah förmlich das Böse in jeder Ecke der Stube. Trotzdem juckte ihn noch eine letzte Frage. »Kuisl?« »Was magst wissen?« »Dieses Rauchtrinken? Schmeckt das? Es riecht ... nun, gar nicht mal so übel.« Jakob Kuisl stieß eine dicke Rauchwolke in die Luft, die seinen Kopf fast vollständig umhüllte. »Fang erst gar nicht damit an«, ertönte es hinter der Wolke. »Es ist wie mit dem Saufen. Es macht Spaß, aber man kann nicht mehr damit aufhören.« Als der Maurer gegangen war, kam Magdalena die schmale Stiege vom oberen Stockwerk hinunter in die Stube. Nach der anstrengenden Nacht, dem Rauswurf bei der Hainmillerin und der Begegnung mit Benedikta Koppmeyer hatte sie sich ein wenig hingelegt. In wirren Träumen waren ihr Simon und Benedikta gemeinsam auf einem Schlitten begegnet. Lachend waren sie an ihr vorbeigefahren und hatten ihr zugewunken. Simons Gesicht war eine hämische Fratze, die zerfloss und wie geschmolzener Schnee zu Boden tropfte. Durch einen Schrei wachte sie schließlich auf. Es war der Schmerzensschrei des Peter 74
Baumgartner gewesen. Durch den dünnen Boden hindurch hatte sie das anschließende Gespräch der beiden mitangehört. »Warum, glaubst du, hat der Pfarrer die Kreuze übermalen lassen?«, fragte sie, während sie die Stufen hinabstieg. »Ob sie irgendetwas mit dieser Krypta zu tun haben? Und überhaupt, was habt ihr dort unten eigentlich gefunden?« »Besser, du weißt es gar nicht«, brummte ihr Vater. »Sonst fängst du nur das Rumschnüffeln an. « »Aber Vater«, sagte sie mit einem Blick, mit dem sie ihren Vater seit Kindheitstagen becircen konnte. »Wenn du’s mir nicht sagst, sagt’s mir der Simon. Also red schon!« »Pass lieber gut auf deinen Simon auf.« »Wie meinst das?« »Das weißt du ganz genau. Der macht diesem Frauenzimmer aus der Stadt mehr als schöne Augen.« Magdalena fuhr die Röte ins Gesicht. »Wie kannst du so was sagen? Du hast sie doch kaum zusammen gesehen!«, rief sie. »Und außerdem ... es ist mir sowieso egal, mit wem der Simon rumpoussiert. « »Dann ist’s ja gut.« Er ging zum Ofen und warf ein weiteres Scheit Holz hinein. Funken stoben auf. »Viel wichtiger ist, dass wir herausfinden, welche von den Handwerkern in der Kirche gewesen sind.« Magdalena hatte Mühe, ihre Gedanken auf etwas anderes als Simon zu lenken. Seit über einem Jahr waren sie nun ein Paar, auch wenn sie das in der Öffentlichkeit nicht zeigen durften. Die Vorstellung, dass er mit einer anderen … Sie verfluchte ihren Vater dafür, dass er ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. 75
»Wieso Handwerker?«, sagte sie schließlich, bemüht, den Faden wieder aufzunehmen. »Du glaubst doch nicht, dass…« »Du hast’s doch gehört«, unterbrach sie ihr Vater. »Die Handwerker haben die Krypta geöffnet. Auch wenn der Baumgartner dreimal schwört, dass keiner von ihnen dort unten war, ich glaub das nicht. Irgendeiner hat rumgeschnüffelt.« »Und hat den Pfarrer dann umgebracht?«, hauchte Magdalena. »Schmarren!« Kuisl spuckte auf den Boden. Etwas, das er nur wagte, wenn seine Frau Anna Maria nicht im Haus war. Zurzeit war sie mit den Zwillingen oben in der Stadt auf dem Markt. »Natürlich hat keiner von denen den fetten Pfaffen auf dem Gewissen«, fuhr er fort. »Aber ihr Maul werden sie auch nicht gehalten haben. Wir müssen also den finden, dem sie’s erzählt haben. Ich bin sicher, dann haben wir den Mörder.« Magdalena nickte. »Der Mörder hat von der Krypta erfahren und bekam es mit der Angst zu tun, dass Koppmeyer zu viel herausfindet. Deshalb hat er ihn getötet. So könnt’s gewesen sein«, sagte sie nachdenklich. Der Henker öffnete die Tür, so dass Schwaden von Tabak- und Ofenqualm nach draußen zogen und eine eiskalte Brise durch die Stube wehte. »Also, was ist? Worauf wartest du noch?«, sagte er. »Was meinst du?«, fragte Magdalena irritiert. »Du wolltest mir doch beim Rumschnüffeln helfen. Also, such die Handwerker von der Lorenzkirche und unter76
halt dich mit ihnen. Mit Männern reden und ihnen schöne Augen machen, das ist doch etwas, das du kannst, oder?« Magdalena zeigte ihm eine böse Grimasse. Dann zog sie ihren Umhang über und ging hinaus in die Kälte. Als Simon die Haustür öffnete, merkte er, dass es wohl noch eine Weile dauern würde, bis er in dem kleinen Templerbüchlein weiterlesen konnte. Auf der Bank am Ofen saßen drei Schongauer, die alle so aussahen, als bräuchten sie mehr als nur ein paar tröstende Worte und einen Quarkwickel. Simon kannte sie alle. Zwei von ihnen waren Bauern aus dem Umland, die er schon des Öfteren auf dem Markt gesehen hatte; der dritte war der Geselle vom Schongauer Schmied. Er hustete rötlich-gelben Schleim, den er dankenswerterweise in braune Lappen spuckte. Trotzdem landete immer wieder etwas auf den Holzdielen, die mit schmutzigen Binsen nur notdürftig bestreut waren. Die Gesichter der Kranken waren eingefallen, Schweißperlen standen ihnen auf der Stirn; alle hatten tiefe Augenringe in ihren wachsfarbenen Gesichtern. Um die giftigen Miasmen zu vertreiben, hatte der alte Fronwieser Lavendel und Melisse verbrannt, so dass es in der kleinen Stube wie in der Ostermesse roch. Simon glaubte nicht, dass diese Dämpfe etwas bewirkten. Er hatte vielmehr gelesen, dass Krankheiten durch Schmutz und Körperflüssigkeiten übertragen wurden, doch das hielt sein Vater für neumodischen Unsinn. Als der Schmiedgeselle zu seiner Linken zu einem neuen Hustenanfall ansetzte, trat Simon vorsichtshalber einen Schritt zur Seite.
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»Schön, dass der junge Herr auch einmal kommt. Was hast du in Altenstadt so lange gemacht? Mit dem Pfarrer gevespert?« Bonifaz Fronwieser trat aus der Kammer nebenan, in den Händen einen rußenden Kienspan und ein paar weitere Sträucher Lavendel. Er wirkte älter als seine fünfzig Jahre. Einst war er eine stattliche Erscheinung gewesen; dem schneidigen Feldscher im Krieg hatten nicht wenige Mädchen schöne Augen gemacht. Doch nun, mit grauem, lichtem Haar und krummem Rücken, hatte er sich von früher nur den stechenden, wachen Blick bewahrt. Und seinen harschen Ton. »Seit Stunden warte ich hier auf dich!«, zischte er so leise, dass es die drei Patienten auf der Bank nicht hören konnten. »Ich soll zum Magister Hardenberg, immerhin Mitglied des Stadtrats. Auch ihn hat’s erwischt! Stattdessen muss ich mich hier mit ein paar Bauern abplagen, die mich, wenn’s hoch kommt, mit ein paar Eiern bezahlen!« Er legte seinen dürren Zeigefinger auf Simons Brust. »Gib’s zu, du hast dich wieder beim Henker rumgetrieben und deine Nase in schmutzige Bücher gesteckt! Die Leut tratschen schon, und du gibst ihnen allen Grund dazu.« Simon rollte mit den Augen. Bonifaz Fronwieser hasste den Scharfrichter, von dem er glaubte, dass er mit seinen unorthodoxen Heilmethoden und Büchern seinen Sohn verdarb. »Vater, der Pfarrer ... «, versuchte Simon die Predigt des Alten zu unterbrechen. Doch dieser fiel ihm gleich wieder ins Wort. »Aha, so ist das! Hast wohl mit dem fetten alten Zausel noch gezecht, hä? Ich hoffe, es hat wenigstens ge78
schmeckt«, schnarrte er. »Die Haushälterin vom Koppmeyer soll eine ausgezeichnete Köchin sein!« »Er ist tot, Vater«, sagte Simon leise. »Was?« Bonifaz Fronwieser wirkte irritiert. Kurz wollte er in seiner Litanei fortfahren, dann zögerte er doch. Damit hatte er nicht gerechnet. »Koppmeyer ist tot. Es gab deshalb noch einiges zu tun«, wiederholte Simon. »Das ... das tut mir leid«, murrte der ältere Medicus nach einer kurzen Pause. »Hatte er auch dieses Fieber?« Simon sah auf die drei Kranken, die ihn teils neugierig, teils ängstlich anblickten. Dann schüttelte er den Kopf. »Etwas ... anderes. Ich erzähle es dir später.« »Nun gut«, murrte sein Vater, jetzt wieder ganz der Alte. »Dann mach dich an die Arbeit. Wie du siehst, sind hier noch ein paar Lebende, und die wollen behandelt werden.« Simon seufzte, dann half er seinem Vater bei der Untersuchung der Kranken. Viel gab es nicht zu tun. Ein paar getrocknete Kräuter für einen Sud, Brustkörbe abklopfen, Zungen begutachten, das übliche Beschnüffeln und Betrachten des Urins. Simon machte sich nichts vor. Vieles davon war nichts als billiges Theater, aufgeführt, um die Kranken in falscher Hoffnung zu wiegen und an ihr Geld zu kommen. Ausrichten konnten selbst studierte Doktoren nur in den wenigsten Fällen etwas. Auch diesem Fieber, das seit gut zwei Wochen nun in Schongau grassierte und dem schon ein Dutzend Bürger zum Opfer gefallen waren, standen die beiden Fronwiesers machtlos gegenüber. Die Menschen bekamen Schüttelfrost und Gliederschmerzen, manche starben ganz plötzlich innerhalb einer Nacht. An79
dere überstanden die erste Welle, nur um sich wenig später die Lunge aus dem Leib zu husten. Es machte Simon wütend, diesem Dahinsiechen machtlos zuzusehen. Sein Vater dagegen hatte sich offenbar damit abgefunden. Das Verhältnis zwischen ihnen war, gelinde gesagt, angespannt. Als Schongauer Stadtmedicus hoffte Bonifaz Fronwieser, dass sein Sohn einst in seine Fußstapfen treten würde. Doch Simon hatte mit den veralteten Methoden seines Vaters nichts am Hut. Klistierspritzen verabreichen, Blut abzapfen, das Riechen an der Pisse alter Männer ... Der junge Medicus beschäftigte sich lieber mit den Büchern, die ihm der Schongauer Henker immer wieder zur Verfügung stellte. Die Kiste mit den Lederfolianten, die er von Jakob Kuisl vor fast einem Jahr geschenkt bekommen hatte, war längst durchgearbeitet. Er gierte nach mehr. Auch jetzt während der Behandlung der drei Kranken geisterten zum wiederholten Mal die Theorien umstrittener Wissenschaftler durch seinen Kopf. Zurzeit las Simon mal wieder das Werk eines Engländers namens William Harvey, der sich mit dem Zirkulieren des Blutes im menschlichen Körper auseinandersetzte. Könnte es vielleicht sogar sein, dass das Blut aus winzigen Tierchen bestand...? »Was träumst du herum, Nichtsnutz!«, drang sein Vater mit schnarrender Stimme in seine Träume ein. »Hier! Lass den Steringer Johannes noch zur Ader! Ich werde mich jetzt zum Ratsherrn begeben. Aderlassen, das wirst du wohl noch alleine können!« Er reichte Simon das spitze kleine Stilett, mit dem die Vene des Patienten angeritzt wurde. Dann machte er sich nach kurzen Genesungswünschen auf den Weg. »Und lass 80
dich nicht mit ein paar Eiern und einem Laib Brot abspeisen«, zischte er Simon noch im Vorübergehen zu. Simon sah auf den Steringer Johannes hinab, der hustend und zitternd vor ihm auf der Bank saß und gerade wieder rötlich-gelben Auswurf in sein löchriges Tuch spuckte. Er kannte den Schmiedgesellen von einigen Hausbesuchen her, ein kräftiger, lauter Mann, der jetzt zusammengesunken, zu keiner Regung fähig, vor sich hin stierte. Die Vorstellung, diesem kranken, geschwächten Körper auch noch Blut abzuzapfen, kam Simon komplett töricht vor. Er wusste, dass der Aderlass als probates Mittel gegen fast alle Leiden galt, trotzdem legte er das Stilett zur Seite. »Es ist gut, Steringer«, sagte er. »Du kannst jetzt heimgehen. Lass dir von deiner Frau einen Sud aus Salbei brauen und leg dich neben den Ofen, bis es besser wird.« »Und der Aderlass?«, keuchte der Geselle. »Den machen wir ein andermal. Jetzt brauchst du dein Blut. Geh heim.« Steringer nickte und machte sich auf den Heimweg, ebenso wie die zwei Bauern, denen Simon jeweils einen Tiegel mit Quendelsalbe mitgab. Als Lohn steckten sie dem jungen Medicus ein paar fleckige Münzen und eine halbe geräucherte Schinkenkeule zu. Er bedankte sich und schloss hinter ihnen die Tür ab. Simon atmete auf. Endlich hatte er Zeit, sich wieder dem kleinen Buch zu widmen, das ihm der Patrizier mitgegeben hatte. Gespannt setzte er sich auf die Bank direkt neben dem Ofen und schlug die vergilbten Seiten auf. Vieles erfuhr er über den Aufstieg und Niedergang der Templer. Er las, dass sie selbst dem Papst Geld geliehen 81
hatten. Er erfuhr, dass sie im Kampf nahezu unschlagbar gewesen waren. Eine verschworene Gemeinde mit merkwürdigen Riten und Bräuchen, die sich für Gott in die Schlacht gestürzt hatten, geachtet selbst von ihren Feinden für ihre Tapferkeit. Er las von den großen Kämpfen im Gelobten Land, vom Untergang Jerusalems, von der Flucht der Templer nach Zypern und ihrer weiterhin bestehenden Macht in Europa. Staunend nahm er zur Kenntnis, dass der Ritterorden am Ende über zehntausend Burgen und Komtureien besessen hatte, von England bis Byzanz! Hatte es auch hierin Schongau eine solche Komturei gegeben? Wer war der Templer gewesen, dessen Knochen sie unter der Lorenzkirche gefunden hatten? Hatte er mit der Marmorplatte eine Botschaft hinterlassen? Zwei Zeugen, die weissagen... Ein Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, sie bekämpft, besiegt und tötet … Doch selbst nach ausgiebiger Lektüre konnte Simon den merkwürdigen Spruch, der auf der Marmorplatte im Sarg eingraviert gewesen war, nicht finden. Auch von dem sagenumwobenen Schatz der Templer war in dem Buch nicht die Rede. Hatte er vielleicht doch nie existiert? Müde rieb sich Simon die Augen und begab sich zu Bett. Der Wind pfiff weiter durch die Fensterläden, während sich in seiner Kammer langsam eine dünne Eisschicht auf die Bettpfosten legte.
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M
agdalena klopfte an die Tür des Zimmermanns Bal-
thasar Hemerle und lauschte auf die Schritte im Inneren des Hauses. Es war früh am Morgen. Schon gestern hatte sie den Maurern und dem Altenstadter Steinmetz Besuche abgestattet. Die Männer hatten sie zunächst misstrauisch angeschaut, keiner mochte es gerne, wenn die Tochter des Henkers vor der eigenen Haustür stand; gut möglich, dass am nächsten Tag das Vieh krank war. Als sie erklärte, dass es ihr um den toten Altenstadter Pfarrer und die Bauarbeiten in der Lorenzkirche ging, wurde sie nur widerwillig eingelassen, oft unter den misstrauischen Blicken der Ehefrau. Magdalena war eben nicht nur die Henkerstochter, sondern mit ihrem üppigen schwarzen Haar, den buschigen Augenbrauen und den vollen Lippen eine attraktive Erscheinung, die durchaus Begehrlichkeiten wecken konnte. Sie wusste nur zu gut, dass die Männer sie hinter ihrem Rücken anstarrten. Zum Tanz aufgefordert hatte sie von den jungen Burschen allerdings noch keiner. Keiner außer Simon. Die Gespräche des gestrigen Abends hatten nichts Neues ergeben. Alle Handwerker berichteten übereinstimmend vom Fund der Krypta und dass nur der Pfarrer selbst hinuntergegangen sei. Bleich sei er wieder hinausgekommen, habe den Eingang mit Weihrauch ausgeräuchert und auf der Stelle schließen lassen. Auch die merk83
würdigen Kreuze an den Wänden der Galerie erwähnten sie, aber keiner von ihnen wolltedavon einem Fremden erzählt haben. Der Besuch beim Zimmermann war nun Magdalenas letzter Versuch. Sie ließ sich von Balthasar Hemerle in die Stube führen. Der Handwerker aus Altenstadt war ein gutmütiger Bär von einem Mann mit zottigem Vollbart und einem von Pockennarben entstellten Gesicht, in dem zwei freundliche Augen leuchteten. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern im Ort hatte er sich nie darum geschert, dass Magdalena nur eine ehrlose Henkerstochter war. Im Gegenteil, auf der letzten Kirchweih hatte er ihr zugelächelt und sogar schelmisch seinen großen Zimmermannshut vor ihr gezogen. Magdalena wusste aber, dass er vielen Mädchen schöne Augen machte. Von seiner Frau hatte er deshalb schon die eine oder andere Abreibung bekommen. Glücklicherweise war Katharina Hemerle gerade auf dem Markt in Schongau. »Na, Blutdirn, was willst von mir?«, fragte Hemerle grinsend und schob ihr am Tisch einen Humpen heißen Gewürzwein zu. »Braucht die Stadt einen neuen Galgen? Der alte sieht schon arg morsch aus, meinst nicht? Meine Wette, beim nächsten Hängen bricht er durch, und dein Vater schaut blöd aus der Wäsch.« Magdalena schüttelte lächelnd den Kopf und nippte an dem belebenden Getränk. Nach einem tiefen Schluck erzählte sie schließlich von ihrem Anliegen. Balthasar Hemerle sah sie daraufhin lange nachdenklich an. »Hat das was damit zu tun, dass der fette Koppmeyer vergiftet worden sein soll?« Magdalena zuckte mit den Schultern. »Das wollen wir eben herausfinden.« 84
Hemerle nickte. »Ich weiß zwar nicht, was du damit zu schaffen hast«, begann er. »Aber es ist wahr. Keiner von uns ist in die Krypta runter. Und die Kreuze haben die Maler brav überpinselt.« »Habt ihr mit irgendwem darüber gesprochen?«, fragte Magdalena und schlürfte weiter an ihrem Gewürzwein. Sie spürte, wie die Wärme in ihr hochstieg. Sie durfte auf keinen Fall den ganzen Humpen leeren, sonst schaffte sie es nicht mehr nach Hause. »Mit wem sollen wir schon groß gesprochen haben?«, sagte Hemerle. »Wobei ... « Er hielt inne. »Beim StrasserWirt hier in Altenstadt, am Stammtisch, da haben wir uns letzten Sonntag nach dem Kirchgang noch einmal darüber unterhalten. Weil der Pfarrer bei seiner Predigt gar so fahrig gewesen ist. Und da waren tatsächlich ein paar in der Wirtsstube, die wir nicht kannten ...« »Wer?« Magdalena spürte, wie ihr Herz schneller ging, und das lag nicht nur am starken Wein. »Fremde halt«, knurrte Hemerle. »Hab nicht so genau hingesehen. Saßen am Nachbartisch, mit schwarzen Kutten wie Mönche. Nicht einmal ihre Kapuzen haben sie abgenommen. « »Sonst ist dir nichts aufgefallen?« Die Stirn des Zimmermanns legte sich in Falten, schließlich schien er sich an etwas zu erinnern. »Da war ein Geruch in der Luft, so wie von einem teuren Parfum«, sagte er. »Und draußen vor der Tür standen drei schwarze Rappen. Nicht so eine Mähre wie die von deinem Vater, sondern große, pechschwarze Pferde. Haben einem richtig Angst gemacht...« Er schüttelte den Kopf und lachte. 85
»Aber was soll’s! Lass uns lieber von was anderem reden.« Er grinste anzüglich. »Ich hab mir ein neues Bett aus Fichtenholz gezimmert. Drüben in der Kammer steht’s, schön groß und warm. Magst es mal sehen?« Magdalena schmunzelte. »Dass mir deine Frau den Hals umdreht? Nein danke.« Sie trank den Humpen in einem Zug leer und machte sich auf dem Weg nach draußen. Leicht schwankend stapfte sie wieder durch den Schnee Richtung Schongau. Balthasar Hemerle winkte ihr nach, doch sein Gesicht war plötzlich wieder ernst. Er musste an die Männer mit den schwarzen Pferden denken. Kurz glaubte er, einen Hauch von Parfum in der winterkalten Luft zu riechen. Doch vermutlich war es nur der Duft des Gewürzweins. Schon früh am Morgen brach Simon wieder nach Altenstadt auf. Noch vor der Morgendämmerung war er leise an der Kammer seines schnarchenden Vaters vorbeigeschlichen. Bonifaz Fronwieser war gestern Nacht erst spät nach Hause gekommen. Simon vermutete, dass er den Lohn vom Krankenbesuch bei Ratsherr Hardenberg sogleich in Wein und Schnaps umgesetzt hatte. Die Wirte der Tavernen hinter dem Ballenhaus ließen auch nach der Sperrstunde um acht Uhr abends noch den einen oder anderen Gast sitzen, wenn er genügend Münzen hatte. Und der angesehene Patrizier Hardenberg hatte bestimmt mehr für seine Untersuchung gezahlt als alle kranken Bauern in dieser Woche zusammen. Genug jedenfalls für mindestens drei Schoppen teuersten Burgunder. Vorsichtig zog Simon die Tür zu und eilte im Laufschritt auf das Hoftor am Ende der Gasse zu. Dort unten 86
neben den Mauern des verfallenen Herzogsschlosses lehnte Josef von der Stadtwache. Er hatte das mit Eisen verstärkte Tor bereits geöffnet und starrte müde auf die herannahende Gestalt. »So früh schon auf den Beinen, Simon?«, brummte er. Sie kannten sich gut, der junge Medicus hatte erst vor kurzem Josefs Sohn von der Krätze geheilt. Umsonst natürlich, denn es war immer gut, jemanden von der Wache zum Freund zu haben. So konnte man gelegentlich auch noch nach Sonnenuntergang durchs Einmanntor in die Stadt schlüpfen. »Muss noch einmal nach Altenstadt«, sagte Simon. »Ein Kranker braucht meine Hilfe.« »Ist’s wieder das Husten und Schwitzen?«, fragte Josef, wissend, dass auch in dem kleinen Dorf Altenstadt viele an dem merkwürdigen Fieber erkrankt waren. Simon nickte bedächtig und lief eilig durchs Tor. Es musste ja niemand wissen, was er wirklich in Altenstadt wollte. Der Wächter Josef sah ihm nach und zeichnete ein Trudenkreuz in den Schnee. »Gott verhüt, dass die Pest nach Schongau zurückkommt!«, rief er dem Medicus nach. »Gott verhüt’s! « Er dankte der Jungfrau, dass sie ihn vor der Krankheit bislang verschont hatte. Dann versuchte er wieder, mit offenen Augen zu schlafen. Die Straße schlängelte sich in Serpentinen den Berg hoch. Schon bald war Simon trotz der trockenen Kälte wohlig warm. Während des Marschierens überlegte er, warum er sich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg machte, um den Tod eines Menschen zu ergründen, der ihm noch nicht einmal nahestand. Er hätte im Bett liegen blei87
ben können, hätte zum Neunuhrläuten einen Becher Kaffee trinken und am bullernden warmen Herd den Schneeflocken draußen beim Tanzen zuschauen können. Aber wie so oft überkam ihn die Neugierde, ein ihm angeborener Drang, hinter die Dinge zu schauen; außerdem war da natürlich Benedikta Koppmeyer. Seit er sie gestern gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht tat er ihr mit diesem Gang einen kleinen Gefallen? Simons Ziel war die Basilika St. Michael in Altenstadt. Bullig ragte sie zwischen den gedrungenen Häusern empor, Erinnerung an eine Zeit, als das jetzt kleine Dorf ein wichtiger Handelsstützpunkt auf der Via Claudia Augusta, der alten römischen Heeresstraße, gewesen war. Umgeben von einer hohen Mauer und erbaut aus wuchtigen Steinquadern mit zwei himmelhohen Türmen, wirkte die Basilika fast mehr wie eine Burg als wie eine Kirche. Simon schritt die breite Treppe hinauf zum Hauptportal. Direkt über dem zweiflügligen Tor prangte ein Relief. Es zeigte einen mit Schild, Helm und Schwert bewaffneten Ritter , der gegen einen Drachen kämpfte. Im Maul des Drachen steckte der Körper eines zweiten Mannes. Simon schüttelte den Kopf. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute hatte er sich nie mit den blutigen, monströsen Darstellungen in den Kirchen anfreunden können. Solche Bilder sollten die Leute wohl an die Schrecken der Hölle erinnern, Simon erschienen sie eher wie Boten einer längst überwunden geglaubten Zeit. Seine Gedanken beruhigten sich erst, als er die Kirche betrat und er seinen Blick nach vorne richtete. In der Apsis über dem Altar hing das schönste und größte Kruzifix des Pfaffenwinkels. Der »Große Gott von Altenstadt« war 88
weit über die Grenzen des Orts hinaus bekannt, und auch der sonst eher nüchtern denkende Medicus konnte sich seiner Wirkung nicht entziehen. Die aus Lärchenholz geschnitzte Figur war riesig, bestimmt drei Schritt lang und ebenso breit. Links und rechts von ihr standen lebensgroß die Figuren von Maria und Johannes. Das Besondere aber war das Gesicht des Heilands. Es blickte nicht schmerzverzerrt oder anklagend auf den Gläubigen herab, sondern milde und fast ein wenig traurig. Als Simon wieder aufsah, bemerkte er eine Gestalt in einer der vorderen Kirchenbänke, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Vermutlich lag es daran, dass die Person kniete und den Kopf geneigt hielt. Ein Kopftuch fiel ihr bis über die Schulter. Bevor Simon etwas sagen konnte, richtete sie sich auf, schlug ein Kreuzzeichen und drehte sich zu ihm um. Simon zuckte zusammen. Es war Benedikta Koppmeyer! Ihr Gesicht war noch blasser als gestern, sie schien nicht viel geschlafen zu haben. Trotzdem ging von ihr eine Aura der Stärke aus, wie Simon es noch nie bei einer Frau erlebt hatte. Als die Händlerwitwe Simon erkannte, lächelte sie ihm mit schmalen Lippen zu. »Ich ... ich habe Euch nicht hier in der Kirche erwartet«, stotterte der Medicus, während sie sich ihm näherte. Im milchigen Licht des Morgens sah es kurz aus, als würde sie schweben. »Ich dachte, Ihr seid in Schongau beim ›Stern‹ untergekommen.« »Bin ich auch«, sagte sie leise und reichte ihm die beringte Hand zum Kuss. »Aber ich konnte nicht schlafen. Also kam ich hierher, um zu beten. Diese Kirche ... sie ist etwas ganz Besonderes, findet Ihr nicht?« 89
Simon nickte. Auch Benedikta konnte sich offenbar dem Zauber der Basilika nicht entziehen. Dann fiel ihm ein, dass sie den Weg von Schongau nach Altenstadt noch vor Morgengrauen zurückgelegt haben musste. »Ihr solltet nicht alleine unterwegs sein«, bemerkte er besorgt. »Eine Räuberbande treibt zurzeit ihr Unwesen in dieser Gegend. Eine wehrlose Frau wie Ihr ...« »Ich bin nicht so wehrlos, wie ich aussehe«, unterbrach sie ihn trocken. Dann deutete sie auf seine leeren Hände und wechselte das Thema. »Ihr habt heute gar nicht Euren Beutel dabei. Gibt es keinen Kranken zu behandeln? Oder was führt Euch sonst hierher? Das Beten?« Simon musste schmunzeln. »Leider nicht. Obwohl ich glaube, der Pfarrer würde mich gerne öfter in der Kirche sehen. « Er stockte, bevor er weitersprach. »Nein, es hat mit Eurem Bruder zu tun.« »Mit meinem Bruder?« Benedikta sah ihn erstaunt an. Simon nickte und blickte sich nach weiteren Betenden um. »Es sieht ganz so aus, als hätte Euer Bruder etwas entdeckt dort unten in der Krypta der Lorenzkirche«, flüsterte er schließlich. »Vielleicht wurde er deshalb zum Schweigen gebracht.« »Aber was habt Ihr dann in der Basilika St. Michael verloren?«, fragte sie hartnäckig weiter. »Nun, ich hoffe, dass der Pfarrer hier mir mehr über die Lorenzkirche sagen kann. Schließlich gehört sie zu seiner Gemeinde.« Benedikta nickte. »Ich verstehe«, sagte sie. Nach einer Weile des Zögerns fuhr sie fort: »Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch zum Pfarrer begleite? Ich 90
möchte erfahren, was es mit dem Tod meines Bruders auf sich hat.« Simon zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«, sagte er. »Dann kommt. Er bereitet vermutlich gerade die Messe vor.« Sie trafen den Pfarrer in der Sakristei an, in der Hand einen tropfenden Krug, den er zum Mund führte. Offensichtlich verkostete er gerade den Messwein. »Das Blut Christi«, murmelte Simon so laut, dass der Pfarrer ihn hören musste. »Welch ein Glück, dass uns der Heiland ein solch wohlschmeckendes Erbe hinterließ.« Pfarrer Elias Ziegler zuckte kurz zusammen, fing sich aber schnell wieder. Verärgert drehte er sich zu den ungebetenen Gästen um. Er war klein und beleibt, sein Gesicht fleischig mit einer verwachsenen Nase, über die sich rote Äderchen zogen. Er sah tatsächlich so aus, als würde er sich des Öfteren von der Qualität des Messweins überzeugen. »Wir Ihr sicher wisst, wird der Messwein erst durch die Wandlung zum Blut Christi«, erklärte er trocken. »Im jetzigen Zustand ist er nur ein Wein, wenn auch ein ziemlich guter. « Der Pfarrer fuhr sich über den Mund und stellte den Krug auf ein silbernes Tablett, auf dem sich auch die Hostien befanden. Dann wischte er sich die nassen Finger an seinem schwarzen Talar ab. Seine Stimme klang ein wenig vernuschelt. »Ich nehme an, es gibt einen Grund, warum Ihr mich bei den Vorbereitungen zur Messe stört. Noch dazu mit einer Frau, hier in der Sakristei ...« »Wir wollen es kurz machen, Hochwürden«, sagte Simon. Er stellte sich und Benedikta vor. Als der Name Koppmeyer fiel, horchte der Pfarrer auf. 91
»Andreas Koppmeyer?«, fragte er. »Der Pfarrer der Lorenzkirche? Wie ich hörte, ist er tot. Mein Beileid an die Schwester. Weiß man schon, was ...« »Ich möchte gerne, dass Ihr das Begräbnis meines Bruders in die Wege leitet«, unterbrach ihn Benedikta. »Ist das möglich?« »Na ... natürlich.« Auch der Pfarrer schien von ihrer vornehmen, selbstsicheren Art beeindruckt. Als Vorsteher einer der größten Kirchen in der Region war er es gewohnt, hochfahrend aufzutreten. Doch diese Frau nötigte ihm Respekt ab. Ein Satz von ihr genügte, und er schrumpfte auf Normalgröße zusammen. »Ich werde alles Nötige veranlassen«, nuschelte er. »Habt keine Sorge. Wann soll die Beerdigung stattfinden?« Sie vereinbarten als Termin den kommenden Samstag. Schließlich stellte Simon dem Pfarrer die Frage, wegen der er eigentlich gekommen war. »Die Lorenzkirche ... «, begann er. »Benedikta Koppmeyer wüsste als Schwester des Verstorbenen gerne mehr über die Kirche, in der er so lange gewirkt hat. Auch über ihre Vergangenheit. Gibt es Papiere darüber, hier in der Basilika? « Pfarrer Ziegler schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, nein. Die Kirche gehört nicht zur Gemeinde St. Michael. Da müsstet Ihr Euch schon nach Steingaden bemühen.« »Nach Steingaden?«, fragte Simon überrascht. Der Pfarrer nickte. »Die Lorenzkirche befindet sich im Besitz des Prämonstratenserstifts in Steingaden. Soviel ich weiß, hat das Stift die Kirche schon vor langer Zeit ge92
kauft. Wenn die Schweden die zugehörigen Papiere nicht verbrannt haben, dann müssten sie sich dort befinden.« »Und wem hat die Kirche davor gehört?«, fragte Simon so arglos wie nur möglich. »Der Gemeinde St. Michael?« Der Pfarrer lachte. »Ich muss Euch ein weiteres Mal enttäuschen, wir haben wirklich nie etwas mit dem Lorenzkirchlein zu schaffen gehabt. Nein, wenn die Gerüchte stimmen, dann gehörte die Kirche früher einem Kreuzritterorden, den Templern. Aber das ist nun wirklich schon lange her. Warum interessiert Ihr Euch so dafür?« »Mein Bruder hat immer sehr für seine Kirche geschwärmt«, sagte Benedikta. Ihr Lächeln hätte das Januareis draußen schmelzen können. »Ich wollte nur mehr wissen, über den Ort, der ihm so viel bedeutet hat. Vielleicht könnt Ihr das auch für die Leichenrede verwenden …« »Oh, natürlich.« Elias Ziegler nickte beflissen. »Ich werde sehen, was ich machen kann. Weiß man denn schon, warum ...« »Entschuldigt uns jetzt bitte«, murmelte Benedikta. »Die Trauer liegt immer noch schwer auf meinem Herzen. Ich werde mich jetzt zum Beten zurückziehen.« Der Pfarrer nickte ergeben und sah den beiden nach, als sie durch die Sakristeitür nach draußen verschwanden. Dann wendete er sich wieder der Verkostung des Messweins zu. Der Wein war einfach zu schade, um ihn nur in das Blut Christi zu verwandeln. »Wir müssen nach Steingaden«, flüsterte Benedikta, während sie durch die Basilika eilten. »Am besten heute noch.« » Ihr wollt mit?«, fragte Simon, unsicher, was er von diesem Plan halten sollte. 93
»Natürlich. Ich will wissen, warum mein Bruder sterben musste. Ist das so schwer zu verstehen?« »Nein, nein. Aber heute noch?« Mittlerweile standen sie wieder draußen vor dem Portal. Schneeflocken wehten ihnen ins Gesicht. Simon deutete nach oben. »Es hat wieder zu schneien begonnen. Wir werden Mühe haben, voranzukommen«, gab er zu bedenken. »Nun, ich habe ein Pferd. Das trägt mich sicher und bequem auch noch durch kniehohen Schnee«, sagte Benedikta und sah ihn prüfend an. »Und Ihr? Als Stadtmedicus müsst Ihr doch auch über ein Pferd verfügen. Ihr seid doch der Stadtmedicus?« »Äh, sicher, sicher, aber ...« »Nun, dann ist ja alles gesagt«, sagte Benedikta und eilte die Stufen nach unten. »Lasst uns in zwei Stunden aufbrechen.« Simon sah ihr wütend nach, dann zuckte er die Achseln und folgte ihr. »Seid Ihr immer so schnell in Euren Entscheidungen?«, fragte er, während er zu ihr aufschloss. »Ich wäre keine erfolgreiche Händlerin, wenn ich immer nur abwägen und debattieren würde«, sagte sie. »Das überlasse ich den Männern an den Stammtischen.« Simon grinste. »Ich hoffe, ich muss nie mit Euch Geschäfte machen. Wahrscheinlich würdet Ihr mir drei Fässer überteuerten Weins andrehen, bevor ich auch nur mit der Wimper zucke.« Benedikta lachte. Es war das erste Mal, dass Simon sie lachen hörte, und er spürte, wie sehr er dieser selbstbewussten, weltgewandten Frau gefallen wollte. 94
Nun brauchte er noch ein Pferd. Und er hatte auch schon eine Idee, wo er eines auftreiben konnte. An einer Straßenecke unweit der Basilika St. Michael stand Magdalena und sah den beiden nach, wie sie die Allee nach Schongau entlanggingen. Erst vor einigen Minuten hatte die Henkerstochter leicht angetrunken das Haus von Balthasar Hemerle verlassen. Nun wollte sie noch dem Altenstadter Wirt einen Besuch abstatten, um ihn nach den merkwürdigen Fremden vom letzten Sonntag zu fragen. Der Anblick Simons zusammen mit der Fremden aus der Stadt traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Die zwei schienen sich gut zu unterhalten, nach einer Weile legte Simon Benedikta sogar seinen Mantel um die Schultern. Magdalena glaubte, von weitem leises Gelächter zu hören. Sie versuchte, die bösen Ahnungen zu vertreiben, aber es gelang ihr nicht. Der Alkohol in ihrem Körper tat ein Übriges, er überschwemmte sie mit einer trüben Welle aus Hass, Eifersucht und Traurigkeit. Wütend zog sie ihr Mieder fester und stapfte in Richtung Wirtshaus. Ihr Vater hatte gesagt, sie solle den Handwerkern schöne Augen machen. Er konnte sich auf sie verlassen. »Was willst?« Der Henker nahm den Pfeifenstiel aus dem Mund und sah Simon ungläubig an. Simon hatte ihn im Stall neben dem Henkershaus angetroffen, wo Jakob Kuisl gerade den frischen, noch dampfenden Mist ausräumte. Die Kuh Resl an der Seite des Henkers blickte mit blöden Augen auf den nervösen, jungen Medicus, der versuchte, 95
zwischen den Fladen und den gefrorenen Urinpfützen am Boden nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Simon knetete einen Filzhut mit Straußenfedern zwischen den Händen, er hatte seine besten Kleidungsstücke an. Die hochgebundene Rheingrafenhose, ein Hemd mit polierten Manschetten, einen knielangen Rock aus feinstem französischem Tuch und darüber seinen guten Wollmantel, den er noch eilig von Flecken gereinigt hatte. Nun stand er verlegen vor dem Henker und wiederholte seine Frage. »Ist es möglich, das Ihr mir Euer Pferd leiht?« Er nuschelte mehr, als er sprach. »Nur bis morgen.« Jakob Kuisl sah ihn nachdenklich an. Dann brach er in ein Lachen aus. »Meine alte Walli? Das Mistvieh? Die frisst deinen schönen Hut, als wär’s ein Sellerie. Und dann wirft sie dich schneller ab, als du schauen kannst!« Er schüttelte grinsend den Kopf. Simon warf einen Blick auf die dürre Mähre, die im hinteren Teil des Stalles mürrisch vor sich hin kaute. Es war gut möglich, dass der Henker recht hatte. »Überhaupt, wo willst denn hin, so wie du ausschaust? Nach Venedig, zum Karneval?«, fragte Kuisl, während er Simons Kleider von oben bis unten musterte. »Ich ... ich will nach Steingaden, zum Kloster. Vielleicht erfahre ich dort mehr über die verborgene Krypta in der Lorenzkirche.« Stockend erzählte er dem Henker von seinem Besuch in der Basilika St. Michael und was er dort herausgefunden hatte. Ganz nebenbei fügte er zum Schluss an: »Benedikta Koppmeyer wird mich im Übrigen begleiten. Sie will mehr über den Tod ihres Bruders wissen.« 96
»So, so.« Jakob Kuisl nickte. Er spuckte in den Mist, dann fing er an, mit der Gabel das frische Stroh im Stall zu verteilen. »Deshalb also die Verkleidung. Sei’s drum, wegen mir kannst du die Walli haben. Brauch sie ohnehin nur, um die armen Sünder zum Galgenhügel zu fahren. Und gehängt wird zurzeit nicht. Aber sieh dich vor. Das Vieh ist störrisch wie ein Maulesel. Und bösartig!« »Ich ... kenne mich mit Pferden aus«, beruhigte sich Simon selbst. Jetzt war es ohnehin schon zu spät für einen Rückzieher. Benedikta wartete auf ihn vor dem »Stern«, und er war bereits spät dran. Das Ankleiden hatte etwas länger gedauert als erwartet. Simon war stolz auf seine Garderobe, die er sich trotz seines kläglichen Salärs leistete. Oft steckten ihm die Töchter reicher Patrizier etwas zu oder versorgten ihn mit feinem Tuch. Trotz seiner geringen Körpergröße galt er in Schongau als Mann von Welt. Magdalena versicherte ihm aber immer wieder, dass das in einer bayerischen Kleinstadt wie Schongau nicht sonderlich viel heißen wollte. »Nun denn, habt vielen Dank!«, rief Simon ein wenig zu fröhlich und tappte, vorsichtig darauf achtend, nicht seinen Rock zu beschmutzen, in den hinteren Teil des verdreckten Stalles. Walli wartete in einem abgetrennten Verschlag auf ihn. Der alte, abgezehrte Rappe sah ihn mit bösen Augen an, während er stoisch auf einigen Halmen herumkaute. Er schien keinerlei Interesse zu haben, sich mit dem Zweibeiner vor ihm abzugeben. Als Simon sich näherte, schnaubte das Pferd kurz und stellte sich dann auf die Hinterbeine, um mit den Vorderhufen nervös gegen die Bretterwand zu trommeln. 97
»Das Zaumzeug hängt in der Ecke«, brummte der Henker , ohne aufzusehen. »Ich hoff, du kommst allein zurecht. Ich muss weg. Der Lechner will mich wegen irgendwas sprechen. Befehl von oben.« Er legte die Mistgabel weg, klopfte sich den Schmutz von den schwieligen Händen und wandte sich zur Tür, die in den Wohnbereich führte. »Wahrscheinlich hat sich wieder einer der Ratsherren bei ihm beschwert, weil ich den Leuten verbotenerweise eine Arznei verkauft habe«, murmelte er. »Trottel, damische!« Dann drehte er sich noch einmal um. »Ach, wenn die Walli bös ist und schnappt, dann zieh sie einfach an den Ohren. Dann gibt sie Ruh, bestimmt.« Er stapfte leise fluchend hinüber in die Stube. Simon stierte das Pferd vor sich an, und das Pferd stierte mit kleinen, bösen Augen zurück. Der Medicus schluckte. Schließlich griff er zur Trense am Haken und öffnete mit beruhigenden Gesten und sanften Worten den Verschlag. Benedikta würde wohl noch eine Weile warten müssen. Jakob Kuisl fluchte noch immer, als er sich mit frischem Hemd und gewaschenen Händen auf den Weg hinauf zur Stadt machte. Es hatte nie etwas Gutes zu bedeuten, wenn der Schreiber Johann Lechner ihn zu sich bestellte. Lechner galt als heimliches Oberhaupt Schongaus. Zwar gab es den Stadtrat und die vier Bürgermeister, die sich quartalsweise an der Spitze abwechselten. Doch der Gerichtsschreiber war der offizielle Vertreter des kurfürstlichen Pflegers im Ort. Und da sich Pfleger Graf von Sandizell, geschweige denn der Kurfürst selbst, nur selten hier blicken ließen, regierte Lechner wie ein König ohne Thron. 98
Er war eigentlich nur für die fürstlichen Belange zuständig, doch durch geschicktes Taktieren hatte er es immer wieder verstanden, sich auch in die Geschäfte der Stadt einzumischen. Der Henker betrat die Stadt durch das Lechtor und wandte sich nach rechts in die Hennengasse. Schneeflocken bliesen ihm ins Gesicht und ließen ihn die Augen zusammenkneifen. Er mied die großen Straßen, hier im Ort war er nicht gern gesehen. Die wenigen Leute, die ihm im dichten Schneetreiben begegneten, blickten weg oder schlugen murmelnd ein Kreuz. Als Scharfrichter durfte Jakob Kuisl nicht christlich heiraten, er würde später kein christliches Begräbnis bekommen und seine Kinder blieben ungetauft. Wenn er in den düsteren Tavernen hinter dem Ballenhaus sein Bier trank, saß er an einem eigenen Tisch, ausgeschlossen und gemieden. Trotzdem kamen die Leute immer wieder heimlich zu ihm, um sich kurieren zu lassen oder ein todsicheres Zauberamulett zu ergattern. Jakob Kuisl seufzte. Er hatte es längst aufgegeben, sich über den Verstand der Menschen den Kopf zu zerbrechen. Endlich stand der Henker vor dem herzoglichen Schloss, das direkt an die westliche Stadtmauer grenzte. Das Gebäude wirkte verfallen, einem der Wehrtürme fehlte das Dach, Schnee fiel auf die verkohlten Dachbalken. Eine Brücke mit angefaultem Geländer führte über einen zugewachsenen Schlossgraben ins Innere des Zwingers. Gerade als Kuisl die Brücke passieren wollte, war aus dem Innenhof Wiehern und das Getrappel eines Pferdes zu hören. Im schnellen Galopp raste ein schwarzer Hengst auf den Henker zu. Auf ihm saß ein ebenso schwarzgewandeter Reiter, gekleidet in eine Kutte mit Kapuze, die 99
sein Gesicht fast gänzlich verbarg. Der Mann schien Jakob Kuisl überhaupt nicht wahrzunehmen. Er galoppierte direkt auf ihn zu, so dass der Henker im letzten Moment zur Seite springen musste. Ein Zipfel des Mantels fuhr ihm über das Gesicht; Kuisls Nase roch ein teures, exotisches Parfum, dann war die Gestalt hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. Der Henker warf dem unbekannten Reiter einen saftigen Fluch hinterher, überquerte mit wenigen Schritten den Rest der Brücke und betrat das Gebäude. Als Jakob Kuisl an die massive Holztür der Schreibstube im ersten Stock klopfte, bemerkte er im gleichen Moment, dass sie nur angelehnt war. Quietschend schwang sie nach innen auf und gab den Blick frei auf Johann Lechner, der, bewaffnet mit Tinte und Feder, bei Kerzenschein über einigen Papieren saß und mit hektischen, kräftigen Bewegungen seine rechte Hand über ein Pergament gleiten ließ. Lange Zeit war nur das Kratzen der Feder zu hören. »Du kannst dich setzen, Kuisl«, sagte der Schreiber endlich, ohne aufzusehen. Er war blass, fast wächsern im Gesicht, ein Eindruck, der noch durch den schwarzen Spitzbart unterstützt wurde. Er trug eine flache, dunkle Samtkappe und einen einfachen, ebenso dunklen Rock. Als Lechner nach einer Weile aufsah, leuchteten Kuisl zwei schwarze Augen entgegen, die ständig in Bewegung schienen. Durch den Kneifer wirkten sie merkwürdig groß in dem sonst schmalen Gesicht. »Setz dich schon«, wiederholte der Gerichtsschreiber und wies auf einen Schemel vor dem fleckigen Eichen100
tisch, der fast die gesamte Breite des Raumes einnahm. »Ich habe eine Aufgabe für dich.« »Habt’s einen von den Straßenräubern endlich gefangen?«, brummte Jakob Kuisl und ließ sich auf den Schemel fallen. Unter seinem gewaltigen Körper ächzte der hölzerne Hocker, aber er hielt stand. »Nun, noch nicht ganz«, antwortete der Schreiber und spielte mit dem Gänsekiel in seiner Hand. »Deshalb habe ich dich rufen lassen.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wie du vielleicht weißt, soll ein Trupp von Bürgern die Mörderbande jagen und fangen. Ich möchte, dass du diesen Trupp anführst.« »Ich?« Jakob Kuisl verschluckte sich fast. »Aber …« »Ich weiß, du bist als Henker eigentlich ehrlos und darfst Bürgern keine Befehle geben«, unterbrach ihn der Schreiber. »Auf der anderen Seite, sie fürchten dich, sie haben Respekt vor dir. Keine schlechte Voraussetzung für einen Anführer. Außerdem bist du der Einzige, dem ich so etwas zutraue. Hast du nicht erst letztes Jahr diesen riesigen Wolf erlegt? Und dann die Sache mit den Söldnern im Frühjahr... Du bist stark, du bist schlau, du kannst kämpfen und du kennst dieses Gesindel besser als unsereins.« »Warum nehmt’s nicht einen der Ratsherren als Anführer? «, fragte der Henker spöttisch. »Die verstehen sich doch aufs Rumkommandieren.« Johann Lechner lachte. »Den Semer? Oder den alten Hardenberg? Da kann ich gleich meine Mutter schicken. Fette, verweichlichte Pfeffersäcke! Die hätten die Schweden nicht mal als Geisel genommen. Nein, Kuisl, du wirst das machen. Du hast oft genug bewiesen, dass du zu mehr in der Lage bist, als Leute aufzuknüpfen. Und wegen des 101
Kommandierens ... « Er grinste den Henker an. »Keine Angst, das werde ich den hohen Herren schon beibringen, dass ihnen der Scharfrichter einmal den Marsch bläst. Tut ihnen ganz gut. Hast du noch deine Waffen vom Krieg? Du warst doch im Krieg, oder?« Jakob Kuisl nickte. Bilder zogen wie giftige Schwaden durch seinen Kopf. Mehr, als du dir vorstellen kannst, dachte er. »Gut«, sagte der Schreiber. »Die Jagd soll übermorgen um acht in der Früh beginnen. Ich muss die Leut vorher noch in Kenntnis setzen. Finde dich bitte zur vereinbarten Zeit auf dem Marktplatz ein. Du erhältst pro Tag einen halben Gulden, für jeden gefangenen Räuber noch einmal einen.« Lechner beugte sich wieder über seine Akten. »Du kannst jetzt gehen.« Jakob Kuisl setzte noch einmal an, doch als er den konzentrierten Ausdruck im Gesicht des Schreibers sah, wusste er, dass Widerworte keinen Sinn hatten. Er wandte sich zum Gehen. Plötzlich ertönte hinter ihm noch einmal die Stimme Lechners. »Ach, Henker! Einen Moment!« Jakob Kuisl drehte sich noch einmal um. Der Gerichtsschreiber sah ihn hinter seinem Kneifer prüfend an. »Ich habe gehört, der Altenstadter Pfarrer hat das Zeitliche gesegnet. Du selbst sollst kurz nach seinem Ableben zugegen gewesen sein. Gab es irgendwelche... merkwürdigen Vorkommnisse?« Der Henker fluchte innerlich. Wie hatte der Schreiber nur so schnell von den Ereignissen in der Lorenzkirche erfahren? Es gab offensichtlich nichts, was dem Lechner verborgen blieb. Jakob Kuisl überlegte kurz. Dann entschloss er sich, die Wahrheit zu sagen. 102
»Schaut aus, als ob den Pfaffen wer vergiftet hätt.« »Vergiftet?« Der Schreiber runzelte die Stirn. »Mmh, das ist unerfreulich. Aber wie ich dich kenne, hast du schon eine Ahnung, wer’s gewesen sein könnte.« Jakob Kuisl schüttelte den Kopf. »Nein, Herr. Keine.« »Das ist auch gut so. Den Tod ihres Pfarrers sollen die Altenstadter selbst regeln.« Der Schreiber runzelte die Stirn. »Vielleicht hat sich der fette Pfaffe einfach nur überfressen?« »Nein, Herr. Ich glaub …« »Glauben sollst du in der Kirche«, unterbrach ihn Lechner. »Ich möchte, dass du dich ausschließlich um diese Mörderbande dort draußen kümmerst. Ausschließlich, verstehst du? Das ist ein Befehl. Die Stadt braucht deinen Spürsinn und deine Stärke, aber nicht in Altenstadt, sondern hier in Schongau. Alles andere hat Zeit. Ist das klar?« Jakob Kuisl schwieg. »Ob das klar ist, will ich wissen.« Der Henker nickte und verschwand ohne ein weiteres Wort im dunklen Gang. Hinter sich konnte er wieder das Kratzen der Feder hören. Dezent zog der Schreiber ein Dokument unter den Papieren hervor, das er kurz vor dem Eintreten des Henkers dort verborgen hatte. Noch einmal warf er einen kurzen Blick darauf. Das Siegel schien echt zu sein, und auch der Mann, der den Brief überbracht hatte, hatte einen glaubwürdigen Eindruck gemacht. Lechner kratzte sich mit der Gänsefeder an der Nase. Es wäre unklug, sich der Bitte eines so mächtigen Mannes 103
zu verweigern, auch wenn sich ihm der Hintergrund des amtlichen Schreibens nicht erschloss. Eigentlich hatte Lechner den Henker nur nach dem Mord an dem Pfaffen Koppmeyer befragen wollen. Doch der Fremde von vorhin hatte ihm unmißverständlich klargemacht, dass weitere Nachforschungen im Fall Koppmeyer nicht erwünscht waren. Zur Untermauerung seiner Aufforderung hatte er einen hübschen Batzen Geld dagelassen. Lechner spielte mit den Münzen in der Schublade seines Schreibtisches. Sie fühlten sich kühl und fest an. Die Stadt konnte sie gut für nötige Reparaturarbeiten brauchen, vor allem das herzogliche Schloss befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Und der Fremde hatte noch mehr Geld in Aussicht gestellt, wenn der Henker sein Maul hielt … Trotzdem nagte es an Lechner. Was für ein Interesse konnte ein so mächtiger Mann daran haben, dass der Schongauer Henker nicht weiter in Altenstadt herumschnüffelte? Nun, er würde eigene Nachforschungen anstellen, und bis dahin musste er den Scharfrichter eben anderweitig beschäftigen. Lechnerschmunzelte. Die Vorstellung, dass Jakob Kuisl demnächst Schongaus verfettete Ratsherren auf Trab halten würde, war einfach zu köstlich. Schon allein das war die kleine Lüge wert. Benedikta wartete ungeduldig im Schneetreiben vor dem Gasthof »Zum Goldenen Stern«, gleich neben dem Ballenhaus. Ihr Pferd, ein rotbraun glänzender Fuchs, tänzelte nervös hin und her. Als die Händlerin Simon erblickte, tauchte ein schmales Lächeln auf ihrem Gesicht auf. »Ihr seid wohl sonst eher zu Fuß als zu Pferde unterwegs, Medicus? «, fragte sie. 104
Tatsächlich machte Simon auf seinem Gaul nicht den besten Eindruck. Das Mistvieh hatte ihn auf dem kurzen Weg vom Lech hierher zweimal fast abgeworfen. Das Aufzäumen war ein Kampf gewesen, bei dem ihm Walli mehrmals in die Hand gebissen hatte. Der Schweiß stand Simon im Gesicht, sein Hut mit der sonst so koketten Straußenfeder thronte schief auf seinem Kopf. Einmal war er sogar im Stall ausgeglitten, so dass nun ein gelbbrauner Fleck seinen Rock zierte. Trotzdem versuchte Simon zu lächeln. »Walli ist ein Pferd mit eigenem Willen«, sagte er, während der Gaul versuchte, sich erneut aufzubäumen, und an den Zügeln zerrte. »Und ich mag nun mal eigensinnige Frauenzimmer.« Die Händlerin lächelte. »Lobenswert. Aber vielleicht braucht das Pferd ein Gespräch von Frau zu Frau.« Benedikta stieg ab und näherte sich mit langsamen Schritten dem schnaubenden Pferd. Als sie bei ihm angelangt war, zog sie dessen Kopf an der Mähne zu sich hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort beruhigte sich der Gaul. Das Schnauben hörte auf, er stand still da. »Wie ... wie habt Ihr das gemacht?«, fragte Simon ungläubig. »Un secret de femmes. Ein Frauengeheimnis.« Benedikta lächelte und schwang sich wieder auf ihr Pferd. »Wir sollten aufbrechen«, sagte sie. »Sonst schaffen wir es nicht mehr bis zur Abenddämmerung nach Steingaden. Es ist bereits nach Mittag.« Sie ritten durch das Lechtor Richtung Peiting. Das Schneetreiben hatte zugenommen. Nur blinzelnd erkannte Simon den Weg vor ihnen. Dabei orientierte er sich an 105
den fast zugeschneiten Wagenspuren, die die Fuhrwerke vor ihnen im Schnee hinterlassen hatten. Auf der sanft ansteigenden Straße begegneten sie noch gelegentlich einem einzelnen Wanderer oder einem Ochsengespann. Doch als sie die Häuser Peitings hinter sich gelassen hatten, waren sie schließlich allein. Stille breitete sich aus, der Schnee dämpfte alle Geräusche. Die wenigen Weiler, an denen sie vorbeikamen, wirkten ungastlich. Fenster und Türen waren verschlossen, nur gelegentlich drang ein Lichtschein aus einer Fensterritze oder ein schüchternes Kind lugte um eine Häuserecke. In regelmäßigen Abständen passierten die Reiter kleine, vereiste Weiher, aus deren Schilf aufgeschreckte Enten in den Winterhimmel flatterten. Bei jedem neuen Schrei aus dem Röhricht zuckte Simon zusammen. Er musste an die Räuberbande denken, die hier in der Gegend ihr Unwesen trieb. Neben ihm summte Benedikta ein kleines französisches Liedchen. Belle qui tiens ma vie, captive dans tes yeux … Als Simon ihrer Stimme lauschte, merkte er, wie ihm merkwürdig warm wurde ums Herz. Er verstand zwar nur die Hälfte der Worte, doch allein der Klang dieser fremden Sprache ließ Fernweh in ihm aufsteigen. Hier im Pfaffenwinkel war alles so ... gottesfürchtig. So verkrustet und verschlafen. Nichts änderte sich. In Paris hingegen, dort wussten die Menschen zu leben! Er hatte gehört, dass es dort Theater und Schneider an jeder Straßenecke gab; die Menschen rochen nach Parfum aus Lavendel und Vergissmeinnicht, und an der Sorbonne lehrten die besten Mediziner aus ganz Europa! 106
So in Gedanken war er, dass er die Wegelagerer erst sah, als sie fast vor ihnen standen. Drei Gestalten standen abwartend am Rande des Weges im dichten Schneetreiben. Zwei von ihnen stützten sich auf lange, grobgeschnitzte Knüppel, dem Dritten baumelte ein Degen an der Hüfte. Nun bemerkte Simon noch einen vierten Mann. Er hockte im Dickicht und hatte seine Muskete, die er lässig auf eine Baumwurzel gestützt hatte, auf sie gerichtet. Alle vier sahen ausgehungert aus. Ihre Gesichter waren eingefallen, die Bärte zottig und mit kleinen Eiszapfen behangen. Gekleidet waren sie in löchrige Röcke und fleckige Soldatenmäntel; die Füße steckten in Stiefeln, die nur noch aus Fetzen bestanden. »Was haben wir denn da?«, fragte der Mann mit dem Degen und grinste anzüglich. Er war offensichtlich der Anführer. »Ein schönes Weib und ihr Galan, ganz alleine unterwegs. Und beide so vornehm gekleidet!« Er machte einen Kratzfuß, die anderen brachen daraufhin in meckerndes Gelächter aus. Mittlerweile verfluchte Simon seine geckenhafte Aufmachung. Er musste hier im Wald wirken wie ein fetter Fasan auf Brautschau. »Nun denn, ein kleines Almosen für ein paar arme Sünder , denen der Krieg böse mitgespielt hat und die sich keine so schönen Kleider leisten können«, sagte der Anführer immer noch in gebückter Haltung. Er hielt fordernd die Hand auf, während seine andere Hand mit dem Degen spielte. Simon konnte sehen, wie einer der Räuber am Wegesrand Benedikta musterte und sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Der Mann an der Muskete ließ seinen Blick derweil prüfend über Simons teuren Mantel gleiten. Die 107
Augen erinnerten den Medicus an die eines wilden Tieres, ausdruckslos und gierig; kein Funken Menschlichkeit, der darin leuchtete. Simon öffnete den Mund, um etwas zusagen, um die Frau an seiner Seite, wenn nicht mit der Waffe, so doch mit Worten zu verteidigen, aber alles, was er herausbrachte, war ein heiseres Krächzen. Er wusste: Diese Männer würden sie ausrauben und abschlachten wie Vieh. Aber vorher würden sie einer nach dem anderen über Benedikta herfallen. Der Medicus nestelte in seiner Manteltasche nach dem scharfen Stilett, das er neben einigen medizinischen Utensilien immer bei sich führte. Doch was nutzte ihm ein Messer gegen vier bewaffnete Räuber! Außerdem begann Walli, unter ihm nervös herumzutänzeln. Lange würde er die alte Mähre nicht mehr ruhig halten können. »Geh zur Seite, oder ich reiß dir den Bauch bis zum Hals hin auf. Espèce de pourriture!« Kurz glaubte Simon, sich verhört zu haben, aber es war tatsächlich Benedikta, die gesprochen hatte. Kühl musterte sie den Räuberhauptmann vor ihr, die Hände ruhig und abwartend auf den Sattelknauf gestützt. Auch die Räuber waren von so viel Chuzpe überrascht. Der Räuberhauptmann klappte den Mund auf, aber es dauerte einen Moment, bis er etwas herausbrachte. »Du kleines, hochmütiges Mistvieh«, knurrte er schließlich. »Du wirst winseln, wenn ich mit dir fertig bin. Und dann sind meine Kameraden dran, und dieser Pfau darf zusehen.« »Zum letzten Mal, tritt zur Seite.« Benediktas Stimme blieb weiter kühl. Ihr Pferd schnaubte, eine Dampfwolke erschien über den Nüstern. 108
»Jetzt langt’s, du gottverdammte Hure.« Der Räuberhauptmann griff nach dem Zügel vor ihm. »Ich werd dir zeigen, was ... « Der Schuss hallte wie ein Peitschenschlag durch den Winterwald. Einen Moment lang blieb der Räuber noch stehen und blickte mit offenem Mund auf das Loch in seiner Brust. Die Kugel hatte Mantel, Rock und das Fleisch darunter zerfetzt, Blut schoss in einem dünnen Strahl hervor. Mit einem Gurgeln kippte der sterbende Mann nach hinten. Simon schaute wild umher, woher der Schuss gekommen war. Dann erst sah er die rauchende Pistole in Benediktas Hand. Sie musste sie im Bruchteil einer Sekunde unter ihrem Mantel hervorgezogen haben. Und sie war geladen gewesen! Im nächsten Augenblick passierten einige Dinge gleichzeitig. Benedikta gab ihrem Pferd die Sporen, so dass dieses wie ein abgeschossener Pfeil die Straße entlanggaloppierte. Irgendetwas krachte, und Simon spürte ein kaltes Pfeifen an seiner linken Wange. Die zwei Räuber mit den Knüppeln rannten schreiend auf ihn zu, was Walli dazu veranlasste, sich wiehernd auf die Hinterbeine zu stellen. »Benedikta! «, schrie Simon, während er krampfhaft versuchte, sich im Sattel zu halten. »Wartet auf mich!« Das Pferd ging mit ihm durch, Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er spürte einen dumpfen Schlag am Oberschenkel, einer der Räuber musste ihn dort mit dem Knüppel getroffen haben. Eine sehnige, fleckige Hand griff auf der anderen Seite nach den Zügeln seines Pferdes. Instinktiv zog Simon das Stilett hervor und stach auf die Hand ein. 109
Schreie waren zu hören, die Hand verschwand, während Walli davongaloppierte. Jetzt erst wagte der Medicus, sich im Sattel ein wenig aufzurichten und umzusehen. Der Weg war verschwunden, Walli galoppierte wie vom Teufel gebissen immer tiefer in den Wald. Tannenzweige schlugen ihm klatschend ins Gesicht. Mühsam drehte er sich um, um wenigstens einen Blick nach hinten erhaschen zu können. Kein Weg, nicht einmal ein Pfad, und auch Benedikta war wie vom Erdboden verschluckt! Er war allein im Wald, auf einem Pferd, das mit ihm geradewegs auf die Hölle zuzurasen schien. Kurz überlegte er abzuspringen, doch als er den Boden sah, der unter ihm vorbeirauschte, klammerte er sich nur noch fester in den Sattel. Wo war Benedikta? Noch einmal sah er sich gehetzt um. Die Tannen hinter ihm wurden dichter und dichter. Nebenbei stellte Simon fest, dass er auch noch seinen teuren Hut verloren hatte. Zwei Gulden hatte er gekostet! Aber vielleicht, schoss es ihm durch den Kopf, würde er in Zukunft sowieso keinen Hut mehr brauchen, weil ihm der Kopf dazu fehlte … Als er sich wieder nach vorne drehen wollte, hörte er ein leises Zischen, dann traf ihn etwas seitlich an der Schläfe. Schwärze breitete sich aus. Simon spürte noch, wie er in den Schnee fiel. Der Schnee war merkwürdig warm. Wie ein Daunenbett, dachte er noch. Hände schienen nach ihm zu greifen, dann verschlang ihn wabernde Dunkelheit.
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ornig stapfte Magdalena auf den Eingang des Stras-
ser-Wirts zu. Noch immer wirkte der starke Gewürzwein des Zimmermanns in ihr nach, doch sie würde weitaus mehr Alkohol brauchen, um ihre Begegnung mit Simon und Benedikta zu vergessen. Wie konnte er ihr so etwas nur antun? Ein Flittchen aus der Stadt! Aber vielleicht tat sie Benedikta auch unrecht, vielleicht hatten sich die beiden nur zufällig in der Basilika getroffen, ein gemeinsamer Heimweg nach Schongau, mehr nicht. Doch warum hatte Simon ihr dann den Mantel um die Schultern gelegt? Und dieses Lachen … Als sie die Tür zum Wirtshaus öffnete, schlug ihr warme, stickige Luft entgegen. Eine Fiedel spielte, und jemand schlug mit dem Fuß den Takt dazu. In der düsteren, niedrigen Stube, die nur durch ein paar Kienspäne erhellt wurde, hatten sich jetzt zu Mittag bereits über ein Dutzend Handwerker eingefunden. Auch ein paar der Maurer, die sie gestern befragt hatte, waren darunter. Sie sahen Magdalena misstrauisch an und wandten sich dann wieder ihren Humpen zu. Auf einem wackligen Tisch in der Mitte stand ein jüngerer Geselle und strich die Fiedel, während ein paar Umstehende dazu klatschten und tanzten. Die Henkerstochter lächelte. Die Männer hatten vermutlich schon mehr getrunken, als ihnen guttat. Jetzt im Winter ruhte die Arbeit, die Handwerker schlugen sich mit 111
Tagelöhnereien durch, versoffen ihren kargen Lohn und warteten auf den Frühling. Als die fröhlichen Männer sahen, dass eine Frau die Wirtsstube betreten hatte, prosteten sie ihr zu und machten ein paar zotige Bemerkungen. »Mädchen, komm rüber zu uns! Ein Bier, wenn ich deine weichen Brüste sehen darf!« Ein kleiner, buckliger Zimmermannsgeselle näherte sich tänzelnd, machte einen Kratzfuß und versuchte sich bei ihr einzuhaken. »Komm, tanz, Henkersdirn! Hex mir den Rücken grade und lass meine Rute wachsen!« Magdalena entwand sich lächelnd. »Wo nichts ist, kann ich auch nichts hexen. Kusch dich!« Sie setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits in einer Nische stand. Eine Weile noch warfen ihr die Männer anzügliche Blicke zu, dann wiegten sie sich wieder im Takt der Musik und soffen um die Wette. Es war nicht üblich, dass Frauen allein das Wirtshaus aufsuchten. Aber Magdalena war als Henkerstochter sowieso keine Bürgersfrau im eigentlichen Sinne, sie war eine Ehrlose, eine Unberührbare. Eher eine Mischung aus Frau und Ding, dachte sie zornig, und ihre Gedanken kehrten wieder zu Simon und Benedikta zurück. Was sollte der Medicus auch mit einer wie ihr anfangen? Benedikta hingegen war eine feine Dame … Fast hatte sie vergessen, warum sie hier war, als plötzlich der Strasser-Wirt vor ihr auftauchte, in der Hand einen schäumenden Humpen. »Den spendiert dir ein unbekannter Verehrer«, sagte er grinsend und knallte den Humpen auf den Tisch. »Wenn 112
ich’s recht überschau, wird’s nicht bei dem einen Humpen bleiben.« Kurz überlegte Magdalena, ob sie das Bier ablehnen sollte. In ihrem Körper pulste immer noch der Alkohol von vorher; außerdem verbot es eigentlich ihr Stolz, sich ein Bier von einem fremden Mann ausgeben zu lassen. Doch dann siegte der Durst, sie zog den Humpen zu sich her und nippte dran, das Bier schmeckte herrlich frisch. Nachdem sie sich den Schaum von den Lippen gewischt hatte, wandte sie sich an den Altenstadter Wirt. »Der Hemerle hat erzählt, es wären am Sonntag drei Fremde hier gewesen, mit schwarzen Kutten. Stimmt das?« Der Wirt nickte. »Müssen Mönche von irgendwoher gewesen sein. Aber keine gewöhnlichen. Die hatten feine Pferde vor der Tür stehen. So schwarze Rappen, wie man sie hier selten sieht. Das waren geldige und gebildete Leut, so was seh ich gleich.« »Sonst ist dir nichts aufgefallen?«, fragte Magdalena weiter. Franz Strasser runzelte die Stirn. »Etwas war merkwürdig. Als ich ihnen das Bier gebracht habe, haben sie ihre Unterhaltung ganz plötzlich abgebrochen. Aber ein bisschen hab ich noch hören können. Ich glaub, die haben sich die ganze Zeit lateinisch unterhalten.« Magdalena sah ihn mit großen Augen an. »Lateinisch?« »Ja, so wie unser Pfarrer in der Kirche, Gott hab ihn selig. « Strasser schlug ein schnelles Kreuz. »Nicht dass ich was verstanden hätt, aber es klang lateinisch, ich schwör’s bei der Jungfrau Maria.« »Hast du denn gar nichts verstehen können?« 113
Strasser dachte nach. »Doch, ein Wort. Das kam öfter. Crux Christi ... « Seine Miene erhellte sich. »Ja, Crux Christi! So hieß es!« »Crux Christi heißt Christuskreuz«, murmelte Magdalena mehr zu sich selbst. »Nicht gerade ungewöhnlich, wenn es Mönche waren. Und sonst?« Strasser wandte sich zum Gehen. »Was weiß ich. Frag sie am besten selbst. Einer steht noch hinten am Tresen. Der hat sich auch grad nach deinem Vater erkundigt.« Magdalena fuhr vom Tisch auf. »Und das sagst du erst jetzt?« Franz Strasser hob entschuldigend die Hände. »Hat bloß wissen wollen, wer der große Mann im Ort ist, der dieses stinkende Kraut raucht.« Er grinste. »Der wollt dem Kuisl sicher was davon abkaufen. Von dir hab ich ihm auch erzählt.« »Von mir?« Die Henkerstochter verschluckte sich fast am Bier. »Na, weil du doch mit Kräutern handelst, oder etwa nicht? Vielleicht ja auch mit diesem Tobak oder wie das heißt.« Franz Strasser ging voraus. »Komm mit, der hat das Geld locker sitzen. Das ist ein hoher Herr, das sieht man.« Magdalena sprang auf und folgte dem Wirt durch die Wirtsstube, die sich nun immer mehr füllte. Eilig blickte sie sich um, in der Hoffnung, zwischen den vielen Altenstadtern den Fremden zu sehen. Doch am Tresen traf sie nur auf bekannte Gesichter. Ein Maurer versuchte sie zu begrabschen und kassierte eine Ohrfeige. Maulend suchte er das Weite. 114
»Komisch«, murmelte Strasser. »Gerade eben war der Mann noch hier.« Er trat hinter die Theke. »Sicher ist er nur dort hingegangen, wo selbst der Papst hinmuss. Wart einfach ein bisserl.« Magdalena ging zurück zu ihrem Platz und nippte gedankenverloren an ihrem Bier. Drei Männer in schwarzen Kutten, die sich lateinisch unterhielten ... Die Fremden waren mit Sicherheit Mönche auf Wanderschaft. Aber warum dann die teuren, schwarzen Pferde? Und weshalb hatte sich einer von ihnen nach ihrem Vater erkundigt? Sie nahm einen weiteren tiefen Schluck. Das Bier schmeckte herrlich, vielleicht ein wenig bitter, aber es belebte die Sinne. Hinzu kam, dass ihr Kopf so merkwürdig leicht wurde. Die Gedanken flogen davon, bevor sie sie festhalten konnte. Die Musik und das Gelächter der Männer am Tresen verschwammen zu einem einzigen hallenden Brummen. Konnte das die Wirkung des Alkohols sein? Aber so viel hatte sie doch gar nicht getrunken ... Egal, sie fühlte sich frei, ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Während sie mit den Füßen den Takt der Fiedel mitschlug, trank sie weiter an ihrem Bier. Der Mann in der schwarzen Kutte stand draußen und beobachtete sie durch einen Schlitz zwischen den Fensterläden. Er würde warten müssen, bis das Bilsenkraut zu wirken begann. Aber irgendwann musste dieses Weibsbild ja herauskommen, und dann würde sie sicher Hilfe brauchen. Ein hilfsbereiter Mann, der einer betrunkenen Magd nach Hause half, wer sollte da groß Verdacht schöpfen? Wie war noch einmal der Name des Mädchens gewesen? Magdalena. 115
Ein Zittern ging durch seinen Körper, das er sich selbst nicht erklären konnte. Jakob Kuisl liebte die Stille, und nichts war so still wie ein Winterabend, wenn es den ganzen Tag geschneit hatte. Man hatte das Gefühl, dass sämtliche Geräusche vom Schnee geschluckt wurden. Übrig blieb eine Leere, die sich auch auf den Kopf übertrug. Keine Gedanken, kein Grübeln und Forschen, einfach nur da sein. Manchmal wünschte sich Jakob Kuisl, ein ewiger Winter möge sich über die Welt legen, und all das Geplapper und Getratsche hätte endlich ein Ende. Er marschierte auf der verschneiten Allee auf Altenstadt zu, von fern waren die Glockenschläge der Basilika zu hören. Der Henker war auf der Suche nach seiner Tochter. Seit dem frühen Morgen war sie verschwunden, und jetzt ging es bereits auf den Nachmittag zu. Dabei hatte Magdalena ihrer Mutter versprochen, beim Flicken der alten Gewänder und Leinentücher zu helfen. Immer wieder war Anna Maria Kuisl während des Tages vor die Tür gegangen und hatte nach ihrer Tochter Ausschau gehalten. Das anfängliche Schimpfen war immer mehr in ein besorgtes Schweigen übergegangen. Als der Henker seiner Frau schließlich beichtete, dass er Magdalena nach Altenstadt geschickt hatte, um dort für ihn etwas nachzufragen, hatte sie ihn hochkant rausgeschmissen. Die Worte, die sie ihm noch hinterhergeworfen hatte, waren unmissverständlich gewesen: Nur gemeinsam mit Magdalena durfte Jakob Kuisl sein Haus wieder betreten. Der Henker liebte seine Frau, er respektierte sie; manche behaupteten sogar, er fürchte sie. Was natürlich Un116
sinn war, denn ein Henker fürchtete nichts und niemanden, am wenigsten seine Frau. Aber Jakob Kuisl hatte gelernt, dass Widerworte unsinnig waren und nur dazu führten, dass die so heißersehnte Stille in seinem Haus nicht einkehrte. Also machte er sich eben auf die Suche nach Magdalena. Als er in Altenstadt ankam, ertönte Musik aus dem einzigen Gasthaus des Ortes. Die Fenster des Strasser-Wirts leuchteten warm; Gelächter, das Stampfen von Füßen und der Klang einer verstimmten Fiedel waren zu hören. Jakob Kuisl näherte sich einem der Fenster, um durch einen Schlitz nach innen zu blicken. Was er sah, ließ ihn erstarren. Auf einem Tisch in der Mitte tanzten einige Burschen und grölten ein derbes Bauernlied. Ein Kreis von Zuschauern hatte sich darum gebildet und prostete ihnen lachend zu. Zwischen den Burschen auf dem Tisch tanzte ein Mädchen und reckte die Arme anzüglich in die Höhe. Es hatte den Kopf nach hinten geneigt und ließ sich gerade von einem der Burschen Bier aus einem riesigen Humpen einflößen. Es war Magdalena. Ihre Augen waren seltsam verdreht. Ein Geselle griff lüstern nach ihrem Rock, ein weiterer zupfte an den Schnüren ihres Mieders. Jakob Kuisl trat die Tür mit dem Fuß auf, so dass sie krachend nach innen schwang. Dann stürmte er wie ein Rammbock auf die Gruppe zu. Einen der verdutzten Burschen zog er vom Tisch und schleuderte ihn in Richtung der Zuschauer, wo er mit dem Kopf voran in einen Hocker rutschte, der splitternd zerbrach. Ein zweiter Geselle ließ 117
in einem Abwehrreflex seinen Humpen auf den Henker niederrauschen. Ein schwerer Fehler, wie er gleich einsehen musste. Kuisl zog ihm am Arm zu sich herunter, verpasste ihm eine Maulschelle und schubste ihn auf zwei weitere Männer zu, so dass alle drei in einem Gewirr aus Armen und Beinen zu Boden glitten. Der Humpen zersplitterte am Boden, und eine Lache Bier breitete sich zwischen den Beinen der erstarrten Zuschauer aus. Jakob Kuisl ergriff seine Tochter wie einen Getreidesack und warf sie sich über die Schulter. Magdalena schrie und wehrte sich, sie schien wie von Sinnen, aber sein Griff war fest wie ein Schraubstock. »Möcht noch jemand eine Watschn? «, knurrte er und blickte erwartungsvoll in die Runde. Die Burschen rieben sich ihre schmerzenden Köpfe und blickten nervös zur Seite. »Wenn ihr noch einmal meine Tochter anlangt’s, dann brech ich euch sämtliche Knochen. Habt’s mich?«, sagte er leise, aber eindringlich. »Sie mag ein Henkersmädchen sein, aber sie ist noch lang kein Freiwild.« »Aber sie wollt doch selber tanzen«, bemerkte einer der Zimmermannsgesellen kleinlaut. »Hat wohl ein bisserl zu viel erwischt und …« Ein Blick des Henkers ließ ihn verstummen. Kuisl warf dem Wirt, der mit den anderen respektvoll zur Wand zurückgewichen war, ein paar Münzen zu. »Da, Strasser. Für den Humpen und einen neuen Hocker. Vom Rest spendierst a paar Bier. Und jetzt gehabt euch wohl.« Die Tür fiel krachend zu; zurück blieb eine Gruppe junger Männer, die ganz langsam wie aus einem Traum zu 118
erwachen schien. Als Jakob Kuisl mit Magdalena um die Ecke verschwunden war, begannen die Ersten, leise zu flüstern. Schon bald brandete erneut Gelächter auf. »Bist wahnsinnig, Vater?«, rief Magdalena. Die beiden hatten mittlerweile die Hauptstraße erreicht. Noch immer baumelte sie wie ein Sack über der Schulter des Henkers. Sie lallte leicht. »Lass ... lass mich sofort runter!« Der Henker warf seine Tochter in hohem Bogen in eine Schneewehe. Er stapfte hinterher und rieb ihr das Gesicht mit Schnee ab, bis es puterrot leuchtete. Schließlich flößte er Magdalena aus einem Fläschchen eine bittere Flüssigkeit ein, bis sie spuckte und hustete. »Um Gottes willen, was ist das?«, ächzte sie und wischte sich über den Mund. Sie war noch benommen, aber wenigstens konnte sie wieder halbwegs klar denken. »Meerträubchen, Bergfieberwurzel und ein Sud aus diesen braunen Bohnen vom Simon«, knurrte ihr Vater. »Wollt ich eigentlich dem Kohlberger Hans bringen, weil seine Frau immer so müd ist und nur noch aus dem Fenster starrt. Aber bei dir erfüllt’s auch seinen Zweck.« Magdalena schüttelte sich. »Es schmeckt grauenhaft, aber es hilft.« Sie machte eine Grimasse, doch plötzlich wurde ihr Gesicht ernst. Was war nur mit ihr los gewesen? Sie konnte sich noch erinnern, wie sie am Tisch gesessen und dieses Bier getrunken hatte. Dann war sie immer fröhlicher geworden, sie war zu den Handwerkern gegangen und hatte mit ihnen getanzt. Ab diesem Zeitpunkt wurden ihre Erinnerungen verschwommen. Konnte es sein, dass ihr jemand etwas ins Bier geschüttet hatte? Oder hatte sie einfach nur 119
zu viel getrunken? Um ihren Vater nicht zu beunruhigen, schwieg sie und ließ stattdessen seine Strafpredigt über sich ergehen, die sich gerade zu ihrem Höhepunkt steigerte. »Unmöglich hast du dich g’macht da drinnen, Sauluder, ausgschamt’s! Was sollen die Leut denken? Du ... du ... « Er atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen. »Ach, die Leut«, murmelte sie. »Lass die Leut reden. Ich bin doch eh die Henkerstochter. Die zerreißen sich ohnehin das Maul.« »Und der Simon?«, knurrte er. »Was soll der Simon dazu sagen?« »Hör mir mit dem Simon auf!« Sie drehte den Kopf zur Seite. Der Henker grinste. »Ah, daher weht der Wind ... Na, so holst du deinen Simon jedenfalls nicht zurück.« Er verschwieg ihr, dass er Simon für die Reise nach Steingaden mit Benedikta sein Pferd geliehen hatte. Stattdessen wechselte er abrupt das Thema. »Hast was rausgefunden wegen der Kirche?« Magdalena nickte und berichtete, was ihr Balthasar Hemerle und der Strasser-Wirt erzählt hatten. Das Gesicht des Henkers wurde nachdenklich. »Ich glaub, ich hab einen dieser Mönche auch schon gesehen …« »Wo?«, fragte Magdalena neugierig. Ihr Vater wandte sich plötzlich ab und marschierte Richtung Schongau. »Sei’s drum«, brummte er. »Was schert’s uns, wer den Koppmeyer umgebracht hat. Deine Mutter hat schon recht, wenn sie meint, dass uns das eigentlich nichts angeht. Lass uns heimgehen und essen.« 120
Magdalena rannte ihm nach und hielt ihn an den Schultern fest. »Nix da! «, rief sie. »Ich will wissen, was da passiert ist. Der Koppmeyer ist vergiftet worden! In der Krypta ist ein altes, verstaubtes Grab, und ein paar Fremde treiben sich hier in der Gegend herum und reden Lateinisch oder irgendeine andere Zaubersprache. Was soll das alles bedeuten? Du kannst doch jetzt nicht einfach heimgehen und deine Füß auf die Ofenbank legen! » »O doch, das kann ich.« Jakob Kuisl stapfte weiter. Magdalenas Stimme wurde plötzlich leise und scharf. »Und was ist, wenn sie für den Mord am Koppmeyer irgendeinen Unschuldigen ins Loch werfen? So wie bei der Stechlin damals?« Sie wusste, dass sie damit bei ihrem Vater einen wunden Punkt traf. »Es war doch ein Gift, das den Pfaffen umgebracht hat, oder?«, hakte sie nach. »Gut möglich also, dass sie dich wie beim letzten Mal die Hebamme foltern lassen, nur weil sie was von Giften versteht. Willst du das?« Der Henker blieb stehen. Eine Zeitlang war nur das Krächzen einer Krähe zu hören. »Also gut«, sagte er schließlich. »Wir schauen noch einmal in der Lorenzkirche nach. Gleich jetzt. Nur damit du wieder ruhig schlafen kannst.« Der Fremde blickte den beiden nach, wie sie die Hauptstraße Richtung Lorenzkirche gingen. Mühsam presste er ein Vaterunser zwischen den Lippen hervor, um sich zu beruhigen. Sein Plan war nicht aufgegangen! Nur zu gerne hätte er aus dem Henkersmädchen herausgepresst, was ihr Vater in der Krypta gefunden hatte. 121
Magdalena … Eine leise Erinnerung rieselte durch seinen Körper und verschwand wieder. Der Fremde schüttelte sich. Er würde noch einmal mit diesem Schreiber reden müssen. Schließlich hatte er gutes Geld dafür bezahlt, dass ihnen der Henker nicht mehr in die Quere kam. Nun sah es ganz danach aus, als ob dieser stinkende Abdecker in Schongau schalten und walten konnte, wie es ihm beliebte. Die Finger des Mannes spielten mit dem goldenen Kreuz, das unter dem schwarzen Mantel und der weißen Tunika darunter direkt über seinem Herzen hing. Er würde Kraft brauchen. Seine Bruderschaft hatte noch nie etwas davon gehalten, wenn das einfache Volk lesen lernte. Man sah ja, wozu das führte. Die Leute wurden aufmüpfig und scherten sich einen Dreck um Befehle. Er hatte im Wirtshaus erfahren, dass der Henker trotz seiner Herkunft schlau und gebildet war, das machte ihn gefährlich. Gefährlicher jedenfalls als diesen anderen Schnüffler, diesen kleinen Feldscher, der wie ein Hündchen hinter seinem Herrn herlief. Der Fremde küsste das Kreuz und steckte es zurück unter die Tunika. Er hatte einen Entschluss gefasst. Auf den Schreiber war kein Verlass, er musste selber handeln. Sie würden den Henker beseitigen, und zwar sofort; zu groß war die Gefahr, dass er ihnen ins Handwerk pfuschte. Jetzt musste er nur noch die anderen warnen. Das Geräusch seiner Schritte wurde vom weichen Schnee verschluckt.
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Der Henker und seine Tochter gingen auf die Lorenzkirche zu, deren windschiefer Turm von den aufziehenden Nebelschwaden der Abenddämmerung fast verschluckt wurde. Auch wenn kein Wind wehte, war es schneidend kalt. Drüben am Pfarrhaus konnte Magdalena zwischen den Ritzen der Fensterläden den Schein eines Kienspans ausmachen. Die Pfarrhaushälterin und der Mesner waren offenbar noch wach. Jakob Kuisl hielt direkt auf die Kirche zu, als ihn seine Tochter nervös am Ärmel zupfte. »Schau, da drüben!«, flüsterte sie und deutete auf die Kirche. Die Tür zum Gotteshaus war mit einer eisernen Kette versperrt, doch in den Fenstern leuchtete für einen kurzen Moment Fackelschein. Ein Flackern nur, doch Kuisl hatte es deutlich gesehen. »Was zum Teufel ... ? «, knurrte er. Er ging um die Kirche herum, Magdalena folgte ihm. Vom Friedhofsgatter aus stießen sie auf frische Fußspuren, die in Höhe der Apsis auf das Gebäude zuführten. Der Henker bückte sich und nahm die Spuren in Augenschein. »Es sind zwei«, flüsterte er. »Festes Schuhwerk, gute Stiefel. Das sind keine Handwerker oder Bauern von hier.« Sein Blick folgte den Fußspuren. Sie endeten an einem wackligen Baugerüst, das die Handwerker bereits im Herbst aufgebaut hatten, in luftiger Höhe war ein Kirchenfenster aufgebrochen. »Wir sollten Hilfe holen«, sagte Magdalena ängstlich. Ihr Vater lachte leise. »Wen? Die Magda? Den dürren Mesner?« Er stapfte auf das Baugerüst zu. »Darum muss ich mich selber kümmern«, murmelte er. Er drehte sich noch einmal zu Magdalena um. 123
»Du bleibst hier, verstanden? Egal, was passiert. Wenn ich nach dem nächsten Glockenläuten immer noch drin bin, kannst du von mir aus Hilfe holen. Vorher nicht.« »Soll ich dich nicht begleiten?«, fragte sie. »Nichts da. Du bist mir keine Hilfe. Duck dich hinter die Grabsteine und wart, bis ich wiederkomm.« Mit diesen Worten begann er, an den Stangen des Baugerüsts hochzuklettern. Das Gerüst ächzte und wankte, doch es hielt. Nach wenigen Augenblicken hatte der Henker die zweite Ebene erreicht. Er balancierte auf den vereisten Brettern bis zu dem aufgebrochenen Fenster und kroch ins Innere. Obwohl draußen erst die Dämmerung einsetzte, war es hier drinnen in der Kirche bereits stockfinster. Jakob Kuisl kniff die Augen zusammen, es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Henker spürte den frisch gehobelten Boden der Galerie unter sich, von irgendwoher war ein Klopfen zu hören. Stimmen zischten. Schließlich konnte er den Boden und die Wände der Kirche schemenhaft wahrnehmen. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass der Maurer Peter Baumgartner die Wahrheit gesagt hatte. An den Wänden hier oben auf Höhe der Galerie prangten tatsächlich rote Tatzenkreuze an der Wand. Sie waren frisch übermalt worden. Aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, die weiße Kalkfarbe an einigen Stellen wieder abzuwaschen. So, als wollte er überprüfen, was dahinter war, dachte der Henker. Er sah von der Galerie nach unten und erkannte, dass die Grabplatte zur Seite geschoben war, obwohl er sie selbst nach seinem letzten Besuch wieder eingepasst hatte. 124
Seine Hand glitt unter den Mantel, wo im Gürtel der schwere Knüppel aus Lärchenholz steckte, den er immer mit sich führte. Gerade eben im Wirtshaus hatte er auf seinen Einsatz verzichtet. Kuisl wusste, dass ein Schlag mit dieser Waffe den Schädel jedes Gegners wie eine Walnuss zerschmettern konnte. Jetzt holte er den Knüppel hervor und wog das warme Holz in der Hand. Er würde ihn heute noch brauchen, so viel stand fest. Seine Füße tasteten sich auf die Treppe zu, die neben dem Portal abwärtsführte. Leise wie eine Katze glitt er nach unten und eilte auf das Loch im Boden zu. Stimmen drangen herauf. Sie klangen seltsam verhallt, die Eindringlinge mussten sich im hinteren Teil der Krypta befinden, wo auch der Sarkophag stand. Nachdenklich musterte der Henker die schwere Grabplatte, die schief neben dem Loch auf dem Boden lag. Wer auch immer dort unten war, es konnte seit dem Einstieg noch nicht viel Zeit vergangen sein; schließlich hatten er und Magdalena noch vor kurzem Fackelschein in der Kirche gesehen. Der Henker sah sich noch einmal in der Dunkelheit um, dann stieg er leise die steinernen Stufen hinab, bis er schließlich in der Abstellkammer stand. Der Eichentisch an der Wand gegenüber war weggeräumt. Durch das niedrige Portal dahinter drang der flackernde Schein einer Laterne. Die Stimmen waren jetzt deutlich zu hören. »Es muss hier noch ein Hinweis sein, verdammt! Irgendetwas!«, zischte eine von ihnen. Sie klang seltsam heiser , als ob der Mann Schwierigkeiten beim Sprechen hatte. 125
»Das Grab ist das richtige, also hat er es hier irgendwo versteckt.« »Hier ist nichts, so wahr mir Gott helfe!« Die zweite Stimme war dunkel und hatte einen schwäbischen Einschlag. »Nur diese Marmorplatte mit dem Spruch, ansonsten Knochen und Fetzen.« Die Stimme ging in ein Flüstern über. »Bei meiner Seel, dass uns Gott nicht strafe, weil wir die Ruhe des Toten stören.« »Kümmer dich lieber darum, dieses verfluchte Ketzerrätsel zu lösen. Nur deshalb hat dich der Meister an unsere Seite gestellt. Vergiss das nicht, fetter, verweichlichter Sack. Wenn es nach mir gegangen wäre, würdest du noch immer in irgendwelchen Kellern Bücher abstauben. Also hör auf zu jammern und such weiter! Deus lo vult!« Erst jetzt hörte Jakob Kuisl in der heiseren Stimme des ersten Fremden einen merkwürdigen Akzent heraus. Er musste ein Ausländer sein. »Also gut, lass uns noch einmal im Nebenraum nachschauen«, ertönte nun wieder der ängstliche Schwabe. »Vielleicht habe ich in einer der Kisten ja etwas übersehen. Der Ketzer könnte es auch dort zwischen all dem Gerümpel versteckt haben.« Am Klang der Stimme konnte Jakob Kuisl erkennen, dass die Gestalten sich jetzt dem Vorraum näherten. Der Henker drückte sich an die Wand direkt neben dem Portal. Schritte kamen näher, ein warmer Lichtkreis bewegte sich langsam auf ihn zu. Im Torbogen tauchte nun eine sehnige Hand auf, die eine eiserne Öllampe vor sich hertrug. Der Ärmel einer schwarzen Kutte ragte hervor. Jakob Kuisl reagierte geistesgegenwärtig. Er schlug mit dem Knüppel auf die Hand, so dass die Laterne zu Boden 126
fiel und erlosch. Dem Laternenträger blieb kaum Zeit zum Schreien, weil ihn Kuisl ruckartig nach vorne zog und mit dem Knüppel direkt am Hinterkopf traf. Stöhnend sank der dickliche Mann in sich zusammen. Kurz herrschte Stille. Dann ertönte von drüben wieder die heisere Stimme. »Bruder Avenarius? Was ist mit dir? Bist du ...« Die Stimme brach ab, nur noch ein leises Rascheln war zu hören, sonst nichts mehr. »Deinem Bruder Avenarius geht’s nicht mehr so gut«, rief Kuisl in die Stille. »Aber immer noch besser als dem Koppmeyer! Den habt ihr doch umgebracht, nicht wahr?« Er wartete auf eine Reaktion, doch von drüben kam nichts. Also sprach er weiter. »Ich mag das nicht, wenn man in meinem Revier Leute vergiftet! Hier gibt’s nur einen, der Leute umbringt, und das bin ich!« »Und wer bist du, dass du glaubst, dass dich das was angeht?«, zischte von drüben die Stimme mit dem ausländischen Akzent. »Ich bin der Henker«, sagte Kuisl. »Und du weißt, was Giftmörder bei uns erwartet. Das Rad. Aber vorher werd ich euch aufknüpfen und vielleicht auch noch aufschneiden.« Heiseres Gelächter erklang von drüben. »Und wie stirbt der Henker? Nun, sei’s drum, du wirst es bald wissen.« Jakob Kuisl knurrte. Er hatte dieses Geplänkel satt. Der Mann neben ihm am Boden stöhnte, offenbar war der Schlag nicht hart genug gewesen, er würde bald wieder zu sich kommen. Gerade wollte der Henker zu einem neuen 127
Hieb ansetzen, als er einen Luftzug spürte. Ein Schatten sprang aus dem Torbogen und zielte seitwärts in seine Richtung. Kuisl sprang zur Seite und spürte, wie eine gekrümmte Klinge seinen linken Unterarm ritzte. Der Henker holte mit dem Knüppel aus, verfehlte sein Gegenüber aber knapp. Das schwere Lärchenholz zischte über dessen Kopf hinweg. Kuisl holte mit dem Fuß aus und traf den Mann genau zwischen die Beine. Befriedigt hörte er, wie der Mann schmerzvoll aufstöhnte und zurückwich. In der Dunkelheit konnte Kuisl nicht mehr erkennen als einen schwarzen Umriss. Der Mann vor ihm schien eine Mönchskutte zu tragen, seine Hand umklammerte einen Krummdolch, wie ihn Jakob Kuisl bei muselmanischen Kriegern schon gesehen hatte. Doch für eine genauere Überprüfung blieb keine Zeit, denn nun ging der Fremde wieder zum Angriff über und stach mit seinem Dolch in Richtung der mächtigen Brust des Henkers. Kuisl wich aus und hielt sich seinen Gegner mit ausholenden Knüppelschlägen vom Leib. Als er einen Schritt nach vorne tat, trat er gegen etwas Weiches, Großes und kam ins Stolpern. Vor ihm am Boden lag immer noch der feiste Schwabe, den er zu Anfang außer Gefecht gesetzt hatte. Gerade wollte Kuisl sein Gegenüber mit ein paar weiteren Schlägen abwehren, als er ein leises Schaben hinter sich hörte. Im nächsten Augenblick zog sich eine dünne Schlinge um seinen Hals. Aber es waren doch nur zwei? Er griff zum Hals, doch die Lederschnur hatte sich bereits tief in seine Haut gegraben. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land, Schwärze brandete auf. Verzweifelt warf er sein ganzes Gewicht nach hinten und spürte, 128
wie er auf Widerstand stieß. Die Wand! Er stemmte beide Beine in den Boden und versuchte, den Mann hinter ihm zwischen seinem breiten Rücken und der Wand zu zerquetschen. Endlich ließ der Druck am Hals nach. Luft strömte wieder in seine Lungen. Er japste und hustete. Brüllend fuhr er hoch, bereit für einen neuen Angriff. Seine linke Hand krallte sich in ein Stück weichen, samtigen Stoff vor ihm und riss daran. Seine Rechte suchte nach dem Knüppel, den er vorher verloren hatte. Er duckte sich und ließ seine Augen durch den dunklen Raum schweifen. Die Umrisse schienen zu verschwimmen. Die einzelnen Schatten gingen fließend ineinander über und bildeten einen einzigen großen Körper. Plötzlich spürte er, wie sich eine Taubheit in seinem Körper ausbreitete. Sie pulste von seinem linken, verletzten Arm bis in die entferntesten Winkel seines Körpers. Eine Lähmung ergriff ihn. Mühsam versuchte er, seine Finger zu bewegen, doch es ging nicht. Der gekrümmte Dolch ... Ein Gift … Er rutschte an der Wand der Krypta nach unten. Der Hauch eines Parfums streifte seine Nase, ein intensiver Veilchenduft, der ihn an eine große, bunte Blumenwiese erinnerte. Mit offenen Augen, aber unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren, musste er mitansehen, wie sich drei Männer in schwarzen Kutten tuschelnd über ihn beugten. Der dritte Mann ... er muss mir gefolgt sein ... Wo ist Magdalena? Jakob Kuisl spürte, wie ihn die Fremden hochhoben und davontrugen.
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Als Simon erwachte, lag er in einem Bett mit weißem Linnen und starrte auf eine Holzdecke aus frisch gehobeltem Fichtenholz. Von irgendwo draußen drang zu ihm der dumpfe Lärm einer Baustelle. Hämmern, Sägen, das Rufen einzelner Männer. Wo um alles in der Welt war er? Er richtete sich auf und spürte, wie ein stechender Schmerz durch seinen Kopf raste. Als er nach seiner Stirn tastete, fühlte er einen frischen Verband aus Leinenstreifen. Die Erinnerung kam zurück. Räuber hatten sie überfallen! Benedikta hatte ... ja, sie hatte geschossen, dann die Flucht durch den Wald und schließlich Schwärze. Ein Ast musste ihn erwischt haben. Starke Arme hatten ihn auf ein Pferd gehoben, er konnte sich an Stimmen erinnern und an das Schaukeln des Tieres. Dann nichts mehr. Simon spürte Durst. Als er sich umsah, konnte er rechts neben dem Bett ein kniehohes Nachttischchen erkennen, auf dem ein tönerner Becher stand. Nicht nur die Holzdecke, auch das Nachttischchen schien erst vor kurzem gezimmert worden zu sein, ebenso das breite Bett; ein Duft von Harz und frisch geschlagenem Holz lag in der Luft. Ein kleiner Kaminofen bollerte in der Ecke, ansonsten war der Raum leer. Die Fensterläden waren zugezogen, sodass nur ein schmaler ,aber heller Lichtstrahl nach drinnen drang. Es musste Tag sein. Simon griff nach dem Becher und probierte die Flüssigkeit darin. Sie schmeckte bitter und aromatisch nach Minze, offenbar eine Medizin, die man ihm hingestellt hatte. In tiefen Schlucken trank er, als sich knarzend die Tür öffnete. Benedikta stand im Türrahmen und lächelte ihn an. 130
»Na, ausgeschlafen?« Sie deutete auf seinen Verband. »Das hat zwar kein Medicus gemacht, aber ich nehme an, die Chorherren hier können auch mit Nadel und Faden umgehen.« »Die Chorherren?« Simon sah sie verwirrt an. Benedikta nickte. »Prämonstratenser. Wir sind im Steingadener Kloster. Als wir vor den Räubern geflohen sind, habt Ihr Euch den Kopf an einem Ast gestoßen. Ich habe Euch auf das Pferd gehoben und hierhergebracht. Es waren nur noch ein paar Meilen.« »Aber die Männer ... Die Stimmen ... « Simon spürte, wie sich die Kopfschmerzen immer mehr in sein Gehirn fraßen. Mitleidig blickte Benedikta auf ihn herunter. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen. Mit Verband, blass, nur mit seinem schmutzigen Leinenhemd bekleidet, musste er einen denkbar jämmerlichen Eindruck machen. »Welche Stimmen?«, fragte sie. »Als ich ohnmächtig war ... wer hat mir da aufs Pferd geholfen?« Benedikta lachte. »Das war ich! Aber wenn es Euch beruhigt, ausgezogen haben Euch später die Mönche.« Simon lächelte. »Wenn Ihr es gewesen wärt, hätte ich mich sicher daran erinnert.« Spielerisch entrüstet hob sie die Augenbrauen und wandte sich zum Gehen. »Bevor wir die Grenzen des Anstands überschreiten, ist es wohl besser, wenn wir uns dem zuwenden, weshalb wir tatsächlich hier sind«, sagte sie. »Der Abt erwartet uns bereits. Natürlich nur, wenn es Euere Verletzung zulässt«, fügte sie mit einem spöttischen Lächeln hinzu. »Ich werde draußen auf Euch warten.« 131
Die Tür schloss sich, doch Simon blieb noch einen Augenblick liegen, um seine Gedanken zu sammeln. Diese Frau … verwirrte ihn. Schließlich erhob er sich und zog sich an. Die Kopfschmerzen plagten ihn zwar noch gewaltig, aber ein kurzes Abtasten des Verbands überzeugte ihn, dass die Mönche ihre Sache gut gemacht hatten. Eine saubere Naht war zu spüren; eine kleine Narbe oberhalb des Haaransatzes würde vermutlich alles sein, was zurückblieb. Vorsichtig öffnete der Medicus die Tür und war sofort geblendet von grellem Winterlicht. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien und ließ den Schnee funkeln und glitzern. Simon brauchte eine Weile, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Dann blickte er auf die größte Baustelle, die er bislang gesehen hatte. Vor ihm lag das Kloster Steingaden, oder vielmehr das, was nach dem Überfall der Schweden dort in neuer Pracht entstehen sollte. Simon hatte zwar gehört, dass der jetzige Abt Augustin Bonenmayr ehrgeizige Pläne verfolgte. Doch wie ehrgeizig diese Pläne waren, konnte er erst jetzt mit eigenen Augen sehen. Überall auf dem Gelände standen kurz zuvor hochgezogene Gebäude. An vielen schimmerte noch der frische Dachstuhl; die meisten waren eingerüstet, weißgewandete Mönche und zahlreiche Handwerker liefen Seite an Seite mit Kellen und Fuhren voller Mörtel herum. Links von Simon zogen drei Männer unter lauten Rufen einen Flaschenzug in die Höhe, weiter hinten näherte sich auf einer neu gepflasterten Straße ein Ochsenfuhrwerk, das frisch geschnittene Bretter brachte. Es roch nach Harz und Kalk. 132
Benedikta sah Simons staunenden Blick und klärte ihn auf. »Einer der Baumeister hat mich schon ein wenig herumgeführt. Dort, wo wir geschlafen haben, entsteht das neue Gasthaus. Gleich daneben kommt die Lateinschule hin, und dort ... « Sie wies auf ein kleines Gebäude, das auf der anderen Seite eines Parks lag. »Dort ist sogar ein Komödienhaus geplant.« Sie ging voraus, während sie weitersprach. »Ich habe mich heute Morgen mit dem Prior unterhalten. Abt Bonenmayr plant, das Kloster zum schönsten der Gegend zu machen. Mindestens so schön wie das in Rottenbuch, sagt er. Er ist drüben in der Abtei und empfängt uns jetzt zur Mittagszeit.« Simon blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und ihr hinterherzutrotten. Wie selbstverständlich hatte Benedikta das Ruder übernommen. Simon konnte jetzt verstehen, warum ihr Bruder sie gerne um Rat gefragt hatte. Benedikta hatte hinter ihrer vornehmen Fassade eine äußerst zupackende Art. Mit Schaudern dachte er an den Pistolenschuss von gestern Nachmittag zurück. Sie trafen den Abt im Kreuzgang zwischen Abtei und Kirche an. Augustin Bonenmayr war ein hagerer Mann mit schmalem Gesicht. Auf seiner Nase saß ein in Messing eingefasster Kneifer, mit dem er gerade die Fresken in einer vom Gang abgehenden Kapelle musterte. Sein rechter Arm hielt einen Packen Pergamentbündel, an seinem Gürtel baumelten neben einem gigantischen Schlüsselbund ein Senkblei und ein Winkelmaß. Er sah eher wie ein Baumeister aus als wie der Vorsteher eines großen Stifts. Erst als der Abt die Schritte der Neuankömmlinge hörte, wandte er sich zu Simon und Benedikta um. 133
»Ah, die junge Dame mit ihrer Bitte! Man hat Euch schon angekündigt! «,rief er und nahm den Kneifer ab. Seine Stimme klang dunkel und hallend durch den Kreuzgang. »Und Ihr müsst der junge Fronwieser sein.« Der Abt kam lächelnd auf den Medicus zu und reichte ihm die Hand. Augustin Bonenmayr trug wie alle Prämonstratenser eine weiße Tunika, um den Bauch war eine purpurne Schärpe gegürtet, die ihn als Abt des Klosters auszeichnete. Simon kniete nieder und küsste einen goldenen, mit einem Kreuz verzierten Siegelring. »Wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt«, murmelte Simon noch immer kniend. »Ich habe noch nie ein so gewaltiges Kloster gesehen.« Augustin Bonenmayr lachte und half ihm wieder auf die Beine. »In der Tat. Wir werden alles wieder aufbauen. Mühle, Brauhaus, Schule und natürlich die Klosterkirche. Dies soll ein Ort werden, zu dem die Leute in Scharen pilgern, um Gott nahe zu sein.« »Ich bin sicher, Steingaden wird ein Prunkstück im Pfaffenwinkel sein«, sagte Benedikta. Der Abt lächelte. »Die Menschheit braucht wieder Orte, die einer Wallfahrt würdig sind. Stätten, an denen wir spüren, wie groß Gott wirklich ist.« Er trat aus der Kapelle hinaus in den Kreuzgang. »Aber Ihr seid nicht gekommen, um über Wallfahrten zu debattieren, nicht wahr? Wie ich hörte, ist Euer Anlass ein weit traurigerer.« Simon nickte, dann fasste er kurz zusammen, warum sie hier waren. »Vielleicht finden wir den Grund für den Tod des Pfarrers ja in der Vergangenheit der Lorenzkirche«, endete er schließlich. 134
Der Abt runzelte die Stirn und wandte sich an Benedikta. »Ihr glaubt tatsächlich, Euer Bruder wurde vergiftet wegen irgendeines dunklen Geheimnisses in seiner Kirche? Ist das nicht ein bisschen zu weit hergeholt?« Bevor Benedikta antworten konnte, fuhr Simon dazwischen. »Hochwürden, es heißt, die Lorenzkirche gehört zu Euren Kirchengütern«, sagte er eher beiläufig. »Gibt es Pläne von ihr? Oder weiß man wenigstens, wem sie vorher gehört hat?« Augustin Bonenmayr rieb sich den Nasenrücken, wo vorher der Kneifer gethront hatte. »Dem Stift gehören so viele Güter, dass ich wirklich nicht über jedes einzelne Gut Bescheid weiß. Aber vielleicht lässt sich in unserem Archiv etwas finden. Folgt mir.« Sie gingen den Kreuzgang Richtung Abtei. Im ersten Stock befand sich eine schmucklose, niedrige Tür, die mit zwei massiven Schlössern versperrt war. Der Abt öffnete sie, und sofort schlug Simon der muffige Geruch von altem Pergament entgegen. Der Raum war sicher vier Schritt hoch. Bis zur Decke reichten die in Nischen abgetrennten Regale, vollgefüllt mit Büchern, Folianten, aber auch Pergamentrollen, an denen die roten Siegel des Klosters hingen. Spinnweben breiteten sich hier und da aus, auf einem glattpolierten Tisch aus Nussbaum in der Mitte des Raums lag eine dünne Schicht Staub. »Unsere jahrhundertealte Klosterbibliothek«, sagte Bonenmayr. »Ein Wunder, dass sie nicht ein Raub der Flammen wurde. Wie Ihr seht, sind wir zurzeit nur selten hier. Aber die Ordnung ist die gleiche geblieben. Wartet …« 135
Er nahm eine Leiter, die in einer Ecke stand, und stieg hinauf bis zum vorletzten Regal. »Lorenzkirche, Lorenzkirche ... «, murmelte er und ließ seinen Blick über die einzelnen Fächer schweifen. Schließlich stieß er einen Laut der Überraschung aus. »Na, so was! Hier vorne ist sie ja.« Er kam mit einer zerfledderten Pergamentrolle herunter, an der noch die Splitter roten Lacks klebten. Verwundert wies Simon auf das gebrochene Siegel. »Die Rolle ist offenbar bereits geöffnet worden.« Der Medicus fuhr mit dem Finger über die Pergamentränder. »Und zwar vor nicht langer Zeit. Die Bruchstellen glänzen noch.« Augustin Bonenmayr musterte nachdenklich das brüchige Pergament. »Tatsächlich«, murmelte er. »Merkwürdig. Schließlich ist die Rolle einige hundert Jahre alt. Nun ja …« Er ging hinüber zu dem Tisch, wo er die Pergamentrolle ausbreitete. »Vielleicht ist sie wegen ihres schlechten Zustands kürzlich kopiert worden. Aber nun lasst uns einmal sehen ...« Simon und Benedikta standen jeweils links und rechts vom Abt und blickten auf ein Dokument, das an den Rändern bereits zerbröckelte. Die Schrift war blass, aber immer noch gut lesbar. »Hier steht es.« Der rechte Zeigefinger Bonenmayrs fuhr auf eine Stelle in der Mitte. »Das Kloster Steingaden hat im Jahr 1289 unseres Herrn folgende Güter gekauft: zwei Höfe in Warenberg, zwei Höfe in Brugg, einen Hof in Dietlried, drei Höfe in Edenhofen, einen Hof in Altenstadt und ... in der Tat, das Altenstadter Lorenzkirchlein! « 136
Bonenmayr pfiff anerkennend. »Wahrlich ein gewaltiger Handel. Saubere 225 Pfund Denare hat uns das gekostet. Das muss damals eine Menge Geld gewesen sein.« »Und wer war der Verkäufer?«, hakte Simon nach. Der Finger des Abts fuhr nach oben an den Kopf des Pergaments. »Ein gewisser Friedrich Wildgraf.« »Was war er?«, fragte Simon. »Ein Händler? Ein Patrizier? Sagt bitte!« Der Abt schüttelte den Kopf. »Wenn es stimmt, was hier steht, dann war Friedrich Wildgraf kein Geringerer als der Provinzmeister des Templerordens im Deutschen Reich. Ein überaus mächtiger Mann zu seiner Zeit.« Bonenmayr sah auf und blickte in das versteinerte Gesicht Simons. »Was ist los mit Euch?«, fragte er besorgt. »Geht es Euch nicht gut? Vielleicht muss ich Euch zunächst aufklären, was es mit diesen Templern auf sich hat.« »Nicht nötig«, sagte Simon. »Wir wissen Bescheid.« Sie verließen das Kloster nur eine halbe Stunde später. Von einem sicheren Versteck aus beobachtete eine Gestalt die beiden, bis sie mit ihren Pferden zwischen den Bäumen verschwunden waren. Der Mann wandte sich ab und rollte wieder den Rosenkranz durch seine schweißnassen Finger, Perle für Perle, Glied für Glied. So viele Jahre waren vergangen, doch nun spürte er, dass sie fast am Ziel waren. Gott hatte sie ausersehen. »Deus lo vult«, flüsterte er, fiel auf die Knie und fing zu beten an. 137
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E
s war ein unangenehmer Geruch, der Jakob Kuisl aus
wabernden Alpträumen zurück an die Oberfläche seines Bewußtseins holte. Es roch ... muffig, nach Staub und Erde, auch irgendwie modrig und feucht. Wie in einem Kellerloch, dachte er. Wo bin ich? Was ist passiert? Wie eine Woge kam seine Erinnerung zurück und mit ihr die Wut und die Schmerzen. Er hatte den dritten Mann übersehen! Er musste nach ihm die Treppe zur Krypta heruntergekommen sein. Der Fremde, der nach Veilchen duftete, hatte ihn mit einem Lederseil beinahe erdrosselt. Jakob Kuisl wusste, dass die Bewusstlosigkeit beim Erdrosseln schon nach einer Minute eintrat, der Tod folgte nur wenige Minuten später. Er wusste das deshalb so genau, weil er schon selbst einige Menschen mit dieser Methode hingerichtet hatte. Zum Scheiterhaufen Verurteilte hatten ihm Geld dafür gegeben, dass er ihnen auf diese Weise den qualvollen Hitzetod ersparte. Im dichten Rauch konnten die Zuschauer nicht sehen, dass die Person dort oben in den Flammen bereits tot war. Jakob Kuisl erinnerte sich an den vergifteten Dolch, der ihn unten in der Krypta innerhalb weniger Minuten gelähmt hatte. Ein interessantes Gift, das er selbst noch nicht kannte. Die Pflanze oder Beere musste aus einem anderen Teil der Welt stammen. Vorsichtig bewegte der Henker 138
seine Finger und Zehen. Sie rührten sich, ein gutes Zeichen. Also hatte die Wirkung des Gifts, was immer es auch gewesen war, nachgelassen. Jetzt erst öffnete er die Augen. Und sah nichts. Er zwinkerte ein paarmal. War er blind? Hatten ihm die Männer eine Augenbinde umgebunden? Oder war es hier in diesem Keller wirklich so dunkel? Er fuhr mit der Hand nach oben, um sein Gesicht abzutasten. Es ging nicht. Seine Hand stieß nach wenigen Zentimetern auf kalten, harten Widerstand. Er versuchte es mit der anderen Hand, auch hier das Gleiche. Er wollte sich aufrichten, doch seine Stirn prallte gegen eine Steinplatte. Der Schweiß brach ihm aus, sein Mund fühlte sich ausgedörrt an. Er drehte sich nach allen Seiten hin und her, überall war nur kalter Stein. Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Nur mühsam brachte er seinen Atem wieder unter Kontrolle. Sie haben mich lebendig begraben. Im Sarkophag … Jakob Kuisl zählte seine Herzschläge. Er atmete bewusst gleichmäßig, und schließlich spürte er, wie der Abstand zwischen den Schlägen immer größer wurde, bis sein Herz wieder normal pumpte. Erst dann begann er zu schreien. »He! Hört mich jemand? Hier bin ich!« Er hatte das Gefühl, dass seine Stimme bis zur Platte kam und dann restlos verschluckt wurde. Wahrscheinlich konnte ihn angesichts des massiven Deckels nicht mal einer hören, der direkt neben dem Sarkophag stand. Er musste sich selbst helfen. 139
Vielleicht hätte Jakob Kuisl mit seinen muskulösen Armen die Platte hochstemmen können. Doch der Abstand zum Deckel war so gering, dass er die Arme nicht auf Brusthöhe bekam. Es sei denn, er könnte die Platte ein wenig anheben … Der Henker atmete tief durch, dann stemmte er seinen ganzen Oberkörper nach oben, so dass seine breite Stirn die Platte berührte. Es fühlte sich an, als wollte er mit seinem Kopf eine Hauswand einreißen. Die Adern traten an den Schläfen hervor, durch seinen Kopf rauschte das Blut, aber die Platte saß wie festgemörtelt. Er presste und pumpte, er hörte seine Knochen knacken, seine Muskeln waren hart wie Fels. Dann endlich ein leises Knirschen. Ein Lichtstrahl drang in eine schmale Ritze – eigentlich kein Lichtstrahl, sondern eine Dunkelheit, die nicht ganz so dunkel war wie das Innere des Sargs. Jakob Kuisl stemmte weiter seinen Oberkörper gegen den Stein. Er wusste, wenn er jetzt aufgab, würde ihm für lange Zeit die Kraft fehlen, die Platte noch einmal hochzudrücken. Vielleicht für immer. Sein Kreuz fühlte sich an wie eine berstende Eiche. Endlich hatte er die Platte so weit aufgestemmt, dass er seine Arme auf Brusthöhe bringen konnte. Er winkelte die Unterarme an und drückte die Handflächen auf den kalten Stein über ihm. Mit einem gellenden Schrei schob er sechs Zentner Stein von sich weg. Die Platte schwebte kurz wie ein Tablett auf den Händen eines Lakaien, dann kippte sie nach links und zerbarst unter gewaltigem Krachen auf dem Steinboden. Wie ein 140
Untoter richtete sich der Henker im Sarg auf. Sein Körper war bedeckt mit Steinstaub und Knochenmehl. Gebeine und Stofffetzen waren im ganzen Raum verteilt. In einer Ecke lag die Platte mit der Inschrift. Jakob Kuisl stieg aus dem Sarkophag und griff sich die Marmorplatte. Erst jetzt bemerkte er, dass sich an seiner linken Hand immer noch ein schwarzer Fetzen der Kutte befand, nach der er kurz vor seiner Ohnmacht gegriffen hatte. Er hielt ihn an die Nase und sog den Duft ein. Veilchen, Zimt und eine Note, die Jakob Kuisl nicht einordnen konnte. Er würde diesen Duft nie mehr vergessen. Mit dem Fetzen und der Marmorplatte in den Händen stapfte er nach oben ins Freie. Sie würden noch feststellen, dass es ein Fehler gewesen war, sich mit dem Henker anzulegen. Magdalena hatte eine schlimme Nacht hinter sich. Eine geschlagene Stunde hatte sie gestern Abend vor der Lorenzkirche gewartet, aber ihr Vater war nicht gekommen. Schließlich waren drei dunkel gekleidete Gestalten aus dem aufgebrochenen Kirchenfenster gekrochen und in der Dunkelheit verschwunden. Von fern hatte Magdalena noch das Wiehern und Galoppieren von Pferden hören können. Wo war ihr Vater? Schließlich eilte sie zum Pfarrhäuschen und weckte Magda und den dürren Mesner. Gemeinsam öffneten sie die Kirchentür, wobei Magda immer wieder Kreuze schlug und Stoßgebete in den Nachthimmel schickte. Sollte da drinnen wirklich noch jemand lauern, würden die 141
beiden vermutlich vor Schreck tot umfallen, dachte Magdalena. Doch in der Kirche war nichts. Zwar war die Grabplatte über der Krypta zur Seite geräumt, doch auch nachdem Magdalena unter Magdas Beten und Jammern in die Krypta hinabgestiegen war ,hatte sie nichts finden können. In beiden unterirdischen Räumen hatte offensichtlich ein Kampf stattgefunden, Gerümpel lag zerbrochen am Boden. In der hinteren Kammer war der Sarkophag wohl noch einmal untersucht worden. Knochen und Stofffetzen waren quer über die Kammer verteilt. Doch der Sarg stand dort nach wie vor mit geschlossenem Deckel, genauso wie ihn ihr Vater und Simon das letzte Mal hinterlassen hatten. Kurz beschlich sie beim Betrachten des Sarkophags ein mulmiges Gefühl, aber sie konnte sich nicht erklären, warum. Fast war ihr, als würde sie die Anwesenheit ihres Vaters spüren. Aber er blieb verschwunden. Voller Angst hatte sie schließlich die Nacht im Pfarrhaus verbracht und war am nächsten Morgen in aller Frühe nach Hause gelaufen. Ihre Mutter stand bereits an der Haustür, die Augen rot vom Weinen. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie. »Und wo ist der Vater?« Einen Augenblick lang war Magdalena versucht, ihrer Mutter ein Lügenmärchen aufzutischen – sie habe als Hebamme die Nacht in Altenstadt durcharbeiten müssen, und der Vater schlafe beim Strasser seinen Rausch aus. Aber dann brach es plötzlich aus ihr heraus. »Ich ... ich weiß es nicht«, konnte sie nur noch schluchzen, bevor sie sich weinend an der Brust ihrer Mutter vergrub. Drinnen am Stubentisch erfuhr Anna Maria Kuisl 142
schließlich die ganze Wahrheit über das ungewisse Schicksal ihres Mannes. »Wie oft hab ich dem Vater gesagt, er soll sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen!«, schimpfte Anna Maria Kuisl. »Haben wir selber nicht schon genug Schwierigkeiten? Aber nein, er will ja nicht hören. Steckt seine Nase in Bücher und die Ärsche fremder Leute, und jetzt bringt er einmal mehr seine eigene Tochter in Gefahr! Der Teufel soll ihn holen!« Es war Anna Maria Kuisls ureigenste Methode, die Angst um ihren Mann durch Schimpfen und Fluchen zu besiegen. Je mehr sie schimpfte, umso mehr löste sich die Angst; zum Schluss wünschte sie ihrem Gatten oft sogar den Tod an den Hals, obwohl sie ihn wirklich liebte. Anna Maria Kuisl stammte selbst aus einer Kemptener Henkersfamilie. Tod und Schrecken waren für sie etwas ganz Natürliches, doch die Angst um ihre Familie konnte ihr niemand nehmen. Auf der anderen Seite konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass ihr Jakob von drei dahergelaufenen Meuchelmördern erschlagen und verscharrt worden war. Nicht Jakob Kuisl, der Henker von Schongau! Dieser gottverdammte, quadratschädlige, siebeng’scheite Hundsfott! Diesen denkbar ungünstigsten Moment hatte Jakob Kuisl sich ausgesucht, um heimzukehren. Die Tür öffnete sich quietschend, und da stand seine breite Gestalt, immer noch überzogen von Steinstaub, Dreck und Knochenmehl. Er blutete an der Stirn und am Arm, seine Hände waren bis unter die Haut aufgeschürft, jeder einzelne Muskel schmerzte und war steif wie ein Brett. Wohl des143
halb war es ihm nicht möglich, dem mit Brei gefüllten Kupfertopf auszuweichen, der auf ihn zugeflogen kam. »Schafsköpfiger Bauernschädel! Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst deine Tochter aus dem Spiel lassen, wenns’d wieder rumspionierst!« Jakob Kuisl wischte sich das warme Gerstenmus vom Hemd und steckte einen Finger voll in den Mund. »Habt’s noch mehr oder war des alles für heut? Schmeckt gar ned a mal schlecht ... «, murmelte er. Ein Tonbecher kam auf ihn zugeflogen. Doch diesmal war der Henker gewappnet. Er drehte den immer noch steifen Oberkörper, so dass das Gefäß spritzend an der Wand hinter ihm zersplitterte. »Dass du’s überhaupt noch wagst, hier aufzutauchen!«, rief seine Frau. Aber ihre Wut schien schon ein wenig verraucht zu sein. Außerdem fehlte ihr weitere Munition. »Sorgen hab ich mir gemacht, um euch beide!« Tappelnde Schritte waren oben auf der Stiege zu hören. Die siebenjährigen Zwillinge Georg und Barbara blinzelten in Nachthemden hinter dem Geländer hervor. »Mama, warum hat der Papa den ganzen Brei auf der Jack’n?« »Weil ihn die Mama geschimpft hat.« Anna Maria Kuisl ging die Treppe nach oben. »Weil ihr so einen gottverdammten Sturschädel als Vater habt, dass es eine Plag ist. Und jetzt zieht euch was an, bevor ihr euch den Tod holt.« Sie verschwand mit den Kindern in der oberen Kammer. Jakob Kuisl deutete auf Magdalena und den Topf am Boden. Er grinste. 144
»Was ist? Machst du mir wenigstens noch einen Gerstenbrei? Oder bekomm ich von dir den Löffel übergezogen?« Magdalena lächelte. »Mei, Vater, die Hauptsach ist, du bist wieder da.« Dann ging sie mit dem verbeulten Topf in die Flurküche und setzte neues Wasser zum Kochen auf. Am frühen Nachmittag kam Simon Fronwieser im Henkershaus vorbei und berichtete, was er und Benedikta erlebt hatten. Der Rückweg von Steingaden nach Schongau war ereignislos verlaufen, gleich nach dem Aufbruch waren sie auf einen bewaffneten Tross von Händlern gestoßen, der sie bis Schongau begleitet hatte. Von den Räubern war keine Spur zu sehen gewesen. Vielleicht erschienen ihnen die Händler zu wehrhaft, überlegte Simon. Oder sie erinnerten sich noch an Benedikta und zogen es deshalb vor, in den Wäldern zu bleiben und ihre Wunden zu lecken. Die Händlersfrau hielt sich im »Stern« auf, wo sie einige wichtige Korrespondenzen erledigen wollte. Anna Maria Kuisl war mit den Zwillingen in den Wald gegangen, um Klaubholz zu sammeln; sie war ihrem Mann immer noch gram und ging ihm deshalb aus dem Weg. Jakob Kuisl wusste, dass sich das bis spätestens morgen wieder legen würde. So saßen Jakob Kuisl und Simon nun am Stubentisch und grübelten über die vergangenen Tage nach. Ein grobgemauerter Kachelofen in der Ecke verbreitete angenehme Wärme. Auf dem Tisch stand ein Kienspanhalter mit einem brennenden Stück Holz, der den niedrigen Raum in 145
ein dämmriges Licht tauchte. Unter der Bank scharrten einige Hühner in ihren Käfigen. Magdalena hatte einen Kräutersud gekocht, an dem die beiden Männer missmutig schlürften. Gerne hätte Simon einen Kaffee getrunken, doch Magdalena hatte ihm das stimulierende Gebräu verboten; in seinem jetzigen Zustand sei ein beruhigender Kräutertrank genau das Richtige, meinte sie. Simon hatte das Gefühl, dass sie ihm den Kaffee auch deshalb verbot, weil er mit Benedikta nach Steingaden geritten war. Überhaupt machte Magdalena einen mürrischen und einsilbigen Eindruck. Als er sie einmal am Rock berührte, wich sie ihm aus und wandte sich wieder dem Topf auf dem Herd zu. Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Sowohl der Henker wie auch der Medicus trugen einen Verband um die Stirn. Jakob Kuisl hatte zudem bandagierte Hände, was ihn nicht davon abhielt, in der einen Hand den Becher und in der anderen die rauchende Pfeife zu halten. In kurzen Worten hatte er Simon von dem Überfall in der Krypta erzählt. Nun ging es um ihr weiteres Vorgehen. »Lasst uns noch einmal zusammenfassen, was wir wissen«, begann Simon. »In der Krypta der Lorenzkirche liegen die Gebeine eines Templers. Das jedenfalls lässt die Inschrift auf dem Sarkophag vermuten.« Er schlürfte leicht angewidert an seinem Kräutersud, bevor er weitersprach. »Die Kirche selbst hat vor vielen hundert Jahren einmal den Templern gehört, bevor diese sie an die Prämonstratenser verkauften. Verkäufer war ein gewisser Friedrich Wildgraf, der damalige Provinzmeister des 146
Templerordens im Deutschen Reich. Benedikta vermutet …« »Hör mir mit deiner Benedikta auf!«, warf Magdalena schnippisch ein. »Vielleicht wart ihr ja gar nicht bis heute Mittag in Steingaden. Vielleicht habt ihr euch in irgendeinem Stall vergnügt, seid Händchen haltend heute früh hier aufgetaucht und die Sache mit den Räubern ist erstunken und erlogen ...« »Sei still, Magdalena, und red keinen Unsinn. Denk lieber mit, das hilft allerweil mehr. » Die Stimme ihres Vaters war ruhig und gelassen, doch Magdalena wusste, dass sie den Bogen nicht überspannen durfte. Es hatte heute am frühen Nachmittag schon eine hitzige Auseinandersetzung zwischen ihr und Simon gegeben. Simon hatte ihr versichert, dass zwischen ihm und Benedikta nichts gewesen sei, aber die Art, wie er dabei zur Seite gesehen hatte, ließ sie Schlimmes vermuten. »Vielleicht sind es ja die Gebeine von diesem Friedrich Wildgraf, die in der Krypta liegen«, warf sie nun ein. »Das hat Benedikta auch vermutet«, sagte Simon achselzuckend. »Blödsinn.« Der Henker schüttete aus einer Flasche unter dem Tisch irgendetwas Hochprozentiges in seinen Becher mit Kräutersud. »Dieser Templer hat doch die Grundstücke verkauft. Warum soll er also dort begraben sein? Außerdem hat ein so feiner Herr sich für die Zeit bis zum Jüngsten Gericht bestimmt ein besseres Platzerl ausgesucht als ausgerechnet unsere windschiefe Lorenzkirche.« Dagegen wussten weder Simon noch Magdalena etwas einzuwenden. 147
»Wie dem auch sei«, fuhr Simon fort. »Dort unten ist jedenfalls ein Templergrab. Der fette Koppmeyer findet’s, irgendeiner redet zu viel, und plötzlich ist der Koppmeyer tot. « »Vermutlich vergiftet von den drei Männern, die Magdalena und ich gestern in der Kirche gesehen haben«, knurrte Jakob Kuisl. »Sie haben dort was gesucht. Weiß der Teufel, was das gewesen ist!« »Jedenfalls sind diese Männer immer noch in der Gegend«, warf Magdalena ein. »Seit Tagen treiben sie sich hier herum, und sie reden im Wirtshaus lateinisch miteinander!« Noch einmal erzählte sie den beiden von ihren Begegnungen in Altenstadt. »Der Strasser-Wirt meinte, es seien Mönche gewesen«, schloss sie. »Feine, studierte Leut. Nach Parfum soll einer von ihnen gestunken haben wie ein ganzer französischer Tross.« » Kreuzkruzitürken, wo hab ich nur meinen Kopf!« Jakob Kuisl schlug mit der Faust an seine Stirn. Dann kramte er das Stück Stoff hervor, das er aus der Krypta mitgenommen hatte. »Beinah hätt ich’s vergessen. Das hab ich dem einen Banditen in der Lorenzkirche aus dem Mantel gerissen. Ich bin mir sicher, dass der gleiche Sauhund am Vormittag beim Lechner im Schloss gewesen ist. Fast umgeritten hat er mich.« »Seid Ihr Euch da ganz sicher?«, fragte Simon nach. »So sicher, wie der Teufel einen Bocksfuß hat. Es ist das gleiche Parfum gewesen. Da macht mir keiner was vor!« Er knetete den schwarzen Stofffetzen in der Hand, als könne er den darin liegenden Duft herauspressen. 148
»Der Lechner als Teil einer Verschwörung, durch die der fette Koppmeyer sein Leben lassen musste...?« Simon schüttelte skeptisch den Kopf. »Der Schreiber mag ein gewissenloser Intrigant sein, aber das passt nicht zu ihm.« »So oder so«, brummte Kuisl. »Er hat mir verboten, mich weiter einzumischen. Schon morgen soll ich für ihn die Räuberbande in den Schongauer Wäldern fangen.« »Du? Warum denn du, Vater?« Magdalena blieb der Mund offen stehen. »Weil der Lechner glaubt, dass ich der Einzige bin, der das kann. Und weil er mich so loswird.« Jakob Kuisl erläuterte in knappen Worten, was der Schreiber von ihm verlangte. »Kaltstellen will er mich, so viel ist klar«, knurrte er. »Aber ich lass mich nicht abschieben. Ich find die Dreckskerle, die mir das angetan haben, so wahr ich Jakob Kuisl heiße.« Simon schluckte. Er mochte sich nicht ausmalen, was der Henker mit den drei Meuchelmördern anstellte, sollte er sie tatsächlich erwischen. »Bis ich mit der Jagd fertig bin, musst eben du für mich den Spürhund machen«, sagte Kuisl, an Simon gewandt. »Der Koppmeyer ist mir wurscht, aber jetzt haben die den Bogen überspannt. Keiner sperrt den Henker in einen Sarg, keiner, schon gar nicht so dahergelaufene Bettelbrüder!« Mit einer fließenden Handbewegung fischte Jakob Kuisl die Marmorplatte hervor, die bis eben unter der Bank gelegen hatte. »Irgendwo da drauf ist die Lösung«, sagte er und tippte mit den bandagierten Fingern auf die Platte. »Dieser sie149
beng’scheite Ritter hat zu Lebzeiten etwas versteckt, und wir finden es, wenn wir dieses Rätsel lösen. Darauf verwett ich meinen breiten Arsch.« »Aber vielleicht ist es nur eine Grabinschrift, nichts weiter?«, warf Simon ein. »Nichts da!« Der Henker blieb stur. »Auch die Meuchelmörder haben sich für die Platte interessiert, sie war jedenfalls nicht mehr im Sarg. Die Lösung liegt hier vor uns!« Simon blickte noch einmal auf die seltsame Inschrift. Und ich will meinen zwei Zeugen auftragen, dass sie sollen weissagen. Und wenn sie ihr Zeugnis geendet haben, wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, sie bekämpfen, besiegen und töten. Er zermarterte sich den Kopf, was mit diesen Worten gemeint sein könnte. Wenn es der Hinweis für einen Ort war, dann musste dieser Ort bekannt sein. Und wenn sie überhaupt eine Chance haben sollten, ihn zu finden, dann musste es diesen Ort auch heute noch geben. Nach über dreihundert Jahren … Zwei Zeugen ... Ein Tier, das sie bekämpft und tötet … Bilder zogen durch seinen Kopf und verflogen wieder. Kämpfer, Ritter, Ungetüme, Drachen. Plötzlich streifte etwas seine Erinnerung und setzte sich fest. Zwei Zeugen ... Ein Tier … »Ich hab’s!«, schrie er plötzlich. »Es ist so einfach, wenn man es weiß. Es war immer vor unseren Augen!« »Wovon redest du?«, fragte Magdalena. Simon hüpfte jetzt um den Tisch herum. Einer der Becher mit dem Kräutersud fiel um und verspritzte seinen 150
Inhalt über der Tischfläche. Auch der Henker sah Simon jetzt verdutzt an. »Red schon«, sagte er. »Und führ dich bittschön nicht auf wie der leibhaftige Beelzebub.« Simon hielt inne, aber er setzte sich nicht wieder hin. »Ich ... ich muss zuerst etwas nachprüfen«, sagte er keuchend. »Habt ihr eine Bibel im Haus?« Jakob Kuisl stand auf, ging hinüber in seine Kammer und kam mit einem abgegriffenen Buch zurück. »Gott ist auch beim Henker zu Hause«, knurrte er und warf Simon die Bibel zu. Der Medicus fing an, darin zu blättern. Endlich fand er die entsprechende Seite. »Hier!«, sagte er und tippte triumphierend auf eine bestimmte Stelle. »Die Offenbarung des Johannes, Kapitel vier. Hier steht der Vers!« Er begann, die Zeile vorzulesen. »Ich will meinen zwei Zeugen auftragen, dass sie sollen weissagen ...« Aufgeregt sah er die beiden an. »Die beiden Zeugen sind Henoch, der Sohn des Kain, und der Prophet Elias! Wenn sie ankommen, das Tier zu bekämpfen, steht der Jüngste Tag kurz bevor!« Magdalena zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Schön, dass du dich in der Bibel auskennst. Aber wo finden wir diese... Zeugen? Ich hab sie jedenfalls hier in Schongau noch nie gesehen.« Simon grinste breit über das ganze Gesicht. »Hier in Schongau tatsächlich nicht«, sagte er. »Aber in Altenstadt. Sie prangen gut sichtbar auf dem Portal der Altenstadter Basilika. Ich finde, wir sollten dieser schönen Kirche heute noch einen Besuch abstatten.«
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Als sie das Relief oben am Portal sahen, wunderten sie sich, dass sie es nicht schon früher bemerkt hatten. Es thronte direkt über dem Eingang. Ein Ritter, der mit Schild und Schwert gegen einen Drachen kämpfte, und ein zweiter Mann, der von dem Untier gerade verschlungen wurde. Wie oft war jeder von ihnen unter diesem Relief hindurch schon in die Basilika gegangen! »Ich habe so ein Bild auch in anderen Kirchen gesehen«, murmelte Simon. »Ein Pfarrer in Ingolstadt hat mir mal erklärt, dass es einst ein Symbol für den nahenden Jüngsten Tag war.« »Dann hat sich der Jüngste Tag ja reichlich Zeit gelassen«, bemerkte Magdalena. »Schließlich warten wir immer noch darauf.« »Ihr wart’s nie draußen im Krieg«, sagte Kuisl und betrachtete den geifernden Drachen mit seinen Krallen und Flügeln. »Sonst wüsstet ihr, dass die vier Reiter der Apokalypse schon längst unter uns sind.« »Hör auf mit deinem Geraune, Vater«, sagte Magdalena. »Hilf uns lieber weiter.« Dann wandte sie sich an Simon. »Also, hier sind die beiden Zeugen. Und jetzt?« »Es muss irgendwo einen Hinweis geben«, murmelte Simon. »In der Basilika oder hier draußen. Ich schlage vor, wir trennen uns. Du, Magdalena, suchst außen um die Basilika herum, dein Vater und ich gehen hinein.« Jakob Kuisl war schon auf dem Weg nach drinnen, Simon folgte ihm. Als er das Innere der Basilika St. Michael betrat, durchfuhr ihn wie so oft ein Schauer. Der Große Gott von Altenstadt blickte von seinem über drei Schritt großen Holzkreuz gütig auf sie herunter. Jetzt am späten Nachmittag waren sie fast allein in der Kirche. Nur in den 152
vorderen Bänken saßen ein paar alte Frauen, die mit gichtigen Händen ihre Rosenkränze kneteten. Es roch intensiv nach Weihrauch. Simon vergaß für einen kurzen Moment, weshalb er hier war, und faltete die Hände zum Gebet. Wenn er die prunkvollen, neuen Klosterbauten in Steingaden mit der Altenstadter Basilika verglich, hatte er das Gefühl, dass Gott eher hier zu Hause war. Während der Medicus in sich versunken das gewaltige Kruzifix anstarrte, ging der Henker zielstrebig durch das Mittelschiff nach vorne und betrachtete konzentriert die Fresken im Altarraum. Danach durchwanderte er die Seitenschiffe. Im linken Schiff hatte ein längst verstorbener Künstler die vierzehn Nothelfer an die Wand gemalt; über dem Eingang blickte ein überlebensgroßes Bildnis des heiligen Christopherus vorwurfsvoll auf den Henker herab. »Nichts«, brummte er. »Ich kann nichts finden. Kruzitürken! Ich glaub, du hast dich getäuscht.« »Wir müssen weitersuchen«, insistierte Simon. »Es ist sicher hier etwas. Es ist nur gut versteckt. Vielleicht...« Er wurde unterbrochen durch einen Schrei, der von draußen kam. Es war Magdalena! Sie stürzten hinaus und fanden sie am Rande des verschneiten Friedhofs, der die Basilika umgab. Sie stand vor der linken Kirchenmauer und deutete auf eine kleine, nur handtellergroße Tafel in Brusthöhe, fast zugewachsen von Efeu. Magdalena hatte das vereiste Unkraut zur Seite geräumt. »Hier!«, rief sie. »Hier steht es! Du hast recht gehabt, Simon!«
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Die Tafel war aus Stein und in eine Vertiefung des Mauerwerks hineingemörtelt. Sie sah alt und verwittert aus; eine Inschrift war darauf eingraviert. Fridericus Wildergraue, Magister Domus Templi in Alemania. Anno domini MCCCXXIX. Sanctus Cyriacus, salva me. »Die Grabplatte von Friedrich Wildgraf«, flüsterte Simon. »Gestorben 13 29 ...« »Aber warum ist die Grabplatte hier, wenn das Templergrab in der Lorenzkirche steht?«, fragte Magdalena. Simon zuckte mit den Schultern. »Im Jahre 13 29 waren die Templer in Deutschland schon seit über zwanzig Jahren verboten«, sagte er. »Vielleicht war es einfach zu gefährlich, den deutschen Provinzmeister hier zu begraben. Möglich, dass man beim damaligen Pfarrer nur diese kleine Inschrift durchsetzen konnte.« Er fuhr über die eingemeißelten Buchstaben. »Vielleicht ist diese Tafel aber auch nur hinterlassen worden, um uns auf die richtige Spur zu bringen ...« »Bevor wir weiter um den heißen Brei herumreden, lasst es uns einfach rausfinden.« Der Henker zückte ein Messer und begann, den Mörtel um die Platte herauszukratzen. »Aber Vater!«, flüsterte Magdalena. »Wenn uns der Pfarrer sieht …« »Der Pfarrer ist mit der Vorbereitung der Abendmesse beschäftigt und besäuft sich vermutlich mit dem Messwein«, sagte Jakob Kuisl und kratzte weiter. »Aber du kannst ihn gerne fragen, wenn du willst.«
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Schon nach kurzer Zeit entstand um die Platte herum eine Rille. Der Henker setzte seinen Dolch als Hebel an, und die Platte fiel in den weichen Schnee. Dahinter war nichts als graues Gestein. Simon klopfte dagegen. Der Stein war fest, Teil eines gewaltigen Quaders, unverrückbar wie die anderen Steine, aus denen die Kirche erbaut war. »Verdammt!«, rief er. » Das kann es doch nicht sein! Hält uns dieser Templer zum Narren?« Der Medicus schlug mit dem Fuß gegen die eisige Kirchenwand, was die Wand nicht weiter beeindruckte. Nur seine eingefrorenen Zehen schmerzten. Schließlich atmete er tief durch. » Gut. Das Rätsel hat uns zur Basilika gebracht«, murmelte er. »Hier ist die Grabplatte. Was haben wir übersehen?« Der Henker griff noch einmal zur Platte, die vor ihm auf dem Boden lag. »Sanctus Cyriacus, salva me«, murmelte er. »Heiliger Cyriacus, rette mich ... Merkwürdig, dass er sich für die Inschrift gerade diesen Heiligen ausgesucht hat. Soweit ich weiß, war dieser Cyriacus ein Märtyrer, der erst mit siedendem Öl übergossen und dann enthauptet wurde.« »In der Todesstunde ist der heilige Cyriacus der Nothelfer bei Anfechtungen«, sagte Simon. »Für einen Templer, dem Verrat und Sodomie vorgeworfen wird, nicht gerade der schlechteste Patron.« »Sind drinnen in der Kirche nicht auch die Nothelfer aufgemalt?«, fragte Jakob Kuisl. »Einen heiligen Cyriacus hab ich da aber nicht gesehen...« 155
Simon durchfuhr es gleichzeitig heiß und kalt. Die Nothelfer im südlichen Seitenschiff! Wie hatte er nur so blind sein können? Ohne auf die anderen zu warten, rannte er um die Kirchenmauer herum, stürmte durch das Portal, bis er schließlich vor den Nothelfern im Seitenschiff stand. Sie waren in Paaren übereinanderpostiert. Ganz oben stand die heilige Barbara, die Patronin der Sterbenden und Helferin bei Blitz- und Feuersgefahr. Es folgten der heilige Christopherus, die heilige Margareta als Patronin der Gebärenden, der heilige Georg und der heilige Blasius, der bei Halsleiden helfen sollte. Noch neun weitere Nothelfer waren auf der Kirchenwand verewigt, doch der heilige Cyriacus war nicht darunter. Dafür aber ein anderer Heiliger, dessen Name klein unter dem Bild vermerkt war. Sanctus Fridericus. Der heilige Fridericus … Simon hätte beinahe gelacht, als er die Inschrift sah. Offensichtlich war bisher keinem der vielen Kirchgänger der Irrtum aufgefallen. Dargestellt war ein Mann im Bischofsgewand mit Mitra und Stab. Seine rechte Hand hatte er schützend über eine Burg erhoben, die auf einem bewaldeten Berg thronte. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass er mit dem Zeigefinger die Burg berührte. In der Zwischenzeit waren auch Jakob Kuisl und seine Tochter vor dem Fresko angekommen. Simon deutete auf das Bild des heiligen Fridericus. »Er hat alle an der Nase herumgeführt, viele hundert Jahre lang!«, rief er lachend, so dass sich einige der betenden Weiber vorwurfsvoll zu ihnen herumdrehten. »Der heilige Fridericus! «, fügte er flüsternd, aber immer noch 156
grinsend hinzu. »Er hat einfach seinen eigenen Namen verwendet! Was für eine herrliche Blasphemie!« »Aber was will uns dieser Templer damit sagen?«, fragte Magdalena und blickte ratlos auf das Fresko. »Macht er sich nur lustig über uns?« Jakob Kuisl näherte sich der Zeichnung bis auf wenige Zentimeter. Schließlich tippte er auf die Burg unterhalb des Heiligen. Ein brauner Fleck zeichnete sich dort ab, nicht viel größer als ein Fliegenschiss. »Hier«, sagte er. »Hier steht es.« Aus den Tiefen seines Mantels holte er eine geschliffene Linse und hielt sie über den Fleck. Zwei Wörter waren plötzlich zu erkennen, geschrieben mit dünnen, krakeligen Pinselstrichen. Castrum Guelphorum … »Die alte Burg der Welfen«, flüsterte Simon. »Oben auf dem Schlossberg über Peiting. Mein Gott, da stehen doch nur noch Ruinen!« Er seufzte und rieb sich die müden Augen. »Ich fürchte, die Suche wird doch länger dauern als zunächst erwartet.« Der Fremde mit der schwarzen Kutte und dem süßen Geruch nach Veilchen stand draußen auf dem Friedhof der Basilika. Mit zitternden Händen hielt er die Steinplatte des Templers in den Händen, die Jakob Kuisl dort liegen gelassen hatte. War das möglich? Der Henker weilte noch unter den Lebenden und hatte offenbar einen Hinweis entdeckt! Vielleicht war es ja eine Fügung Gottes, dass dieser Kuisl nicht im Sarkophag erstickt war. Der Fremde hatte das für eine angemessene Todesart gehalten für jemanden, der 157
selbst schon so viele unter die Erde gebracht hatte. Sei’s drum, der Mann lebte und hatte das Rätsel gelöst. Er ,seine Tochter und dieser neunmalkluge Feldscher! Warum war ihnen das nicht gelungen? Hatten sie nicht einen Spezialisten in den eigenen Reihen? Auch sie hatten den Spruch auf der Marmorplatte in der Krypta gelesen, waren daraus aber nicht schlau geworden. Seit Tagen schon verkrochen sie sich wie fahrendes Pack in den umliegenden Scheunen der Bauern, nur um keinen Verdacht zu erregen. Sie lebten allein von trocken Brot und ihrem Glauben, sie froren, sie beteten, und alles, was sie aufrecht hielt, war das Wissen, dass sie die Auserwählten waren. Die von Gott Geschickten. Deus lo vult … Der Fremde fluchte auf Lateinisch und murmelte gleich darauf ein kurzes Gebet, um den Herrn für diese kleine Sünde um Verzeihung zu bitten. Dann ordnete er seine Gedanken. Eigentlich war alles ganz einfach. Sie würden sich weiter an die Fersen der drei heften, wie Bluthunde. Sie würden den Schatz finden, und der Meister würde ihnen den Segen erteilen. Das Paradies war ihnen gewiss, auch wenn der Weg dorthin ein kalter und steiniger war. Der Fremde schlug ein Kreuz und lächelte. Vorsichtig legte er die Steinplatte auf den Boden und wartete hinter den Grabsteinen darauf, dass die drei wieder aus der Basilika kamen. Simons anfängliche Freude über den gefundenen Hinweis in der Basilika schlug schnell in Verwirrung und Wut um. Der Grund dafür lief trotzig neben ihm her. Schweigend 158
schritten er und Magdalena den schmalen Steig nach Schongau hinab. Ein paarmal wäre die Henkerstochter fast ausgeglitten, doch als Simon ihr helfen wollte, hatte sie seine Hand brüsk weggedrückt. Was war nur mit ihr los? Kein Wort der Anerkennung über seinen Fund, nur dieses Schweigen. Jakob Kuisl hatte sie bereits in Altenstadt verlassen. Brummend war er in einer schmalen Gasse verschwunden und hatte ihnen nur kurz zugerufen, er habe beim Schmied unten am Mühlenweg noch etwas zu besorgen. Für morgen früh hatte ihn der Schreiber zum Marktplatz bestellt, um mit einem Trupp Bürger die Wälder rund um Schongau nach Räubern abzusuchen. Simon wusste, dass er deshalb auf den Henker in den nächsten Tagen nicht zählen konnte. Außerdem glaubte der Medicus noch einen weiteren Grund zu kennen, warum Kuisl sich bereits in Altenstadt von ihnen trennte. Er vermutete, dass der Henker ihn und Magdalena alleine lassen wollte; wohl weil er spürte, dass zwischen ihnen etwas im Argen war. Doch dieser Schuss war nach hinten losgegangen. Seit dem Beginn ihres Fußmarschs hatten er und Magdalena kein Wort miteinander gewechselt. Als vor ihnen schon das Hoftor von Schongau auftauchte, platzte Simon der Kragen. »Magdalena, was ist nur los mit dir?« »Was mit mir los ist?« Sie schaute ihn trotzig an. »Frag lieber, was mit dir los ist. Machst dieser Benedikta schöne Augen, und ich bin grad gut genug zum Kochen und Putzen. Aber diese Benedikta ist ja auch eine feine Dame!« Simon rollte mit den Augen. »Magdalena, darüber haben wir doch schon geredet. Zwischen Benedikta Koppmeyer und mir ist nichts«, rede159
te er behutsam auf sie ein. »Sie hat mir das Leben gerettet, sie ist eine erstaunliche Frau, aber ...« »Eine erstaunliche Frau! Pah!« Magdalena blieb stehen und sah ihn mit funkelnden Augen an. »Fein daherreden, das kann sie, die erstaunliche Frau. Schöne, teure Kleider hat sie, aber darunter ist sie doch nicht anders als eine aufgetakelte Stadtschlampe!« »Magdalena, ich verbiete dir …« »Du verbietest mir gar nichts, du Hallodri!« Magdalena hatte sich jetzt in Rage geredet. »Meinst, ich seh nicht, wie du hinter meinem Rücken mit den anderen Mädchen rumpoussierst? Aber ich bin ja bloß das Henkersmädchen, um das ist’s eh nicht schad! Da zerreißen sich die Leut ohnehin das Maul. Ein Drecksluder ist sie, diese Benedikta, das sag ich dir!« »So, ein Drecksluder? « Simon war nun mit seiner Geduld am Ende. Seine Stimme bekam einen eisigen Unterton. »Dieses ... Drecksluder hat mehr Anstand und Bildung, als du in drei Leben jemals haben wirst. Sie weiß sich zu benehmen, sie stammelt nicht, sondern spricht ein anständiges Deutsch. Sogar Französisch kann sie parlieren! Sie ist eine feine Dame und eben kein fluchendes Henkersweib!« Der Eisbrocken traf ihn mitten auf die Nase, so dass ihm für einen kurzen Moment schwarz vor Augen wurde. Als er wieder bei Sinnen war, spürte er, wie ihm das Blut warm übers Gesicht lief. Er hielt sich die Nase, trotzdem fielen immer wieder rote Tropfen in den Schnee und bildeten dort ein unregelmäßiges Muster. »Magdalena! «, rief er mit verschnupfter Stimme, die rechte Hand noch immer an der Nase. »Bleib hier, ich hab 160
das doch nicht so gemeint!« Doch die Henkerstochter war bereits im Hoftor verschwunden. Leise fluchend eilte er hinauf in die Stadt, immer darauf achtend, dass das Blut nicht auf seinen teuren Rock tropfte. Warum musste Magdalena bloß immer so jähzornig sein! Er wusste, dass seine Worte dumm gewesen waren. Nur zu gerne hätte er sich bei ihr entschuldigt, sie in den Arm genommen und ihr gesagt, dass sie doch die Einzige war, die er wirklich begehrte. Doch das Henkersmädchen war wie vom Erdboden verschluckt. »Magdalena!«, rief er mehrmals und blickte nach links und rechts in die kleinen Seitengassen. »Komm zurück! Es tut mir leid!« Vorübergehende Passanten sahen ihn fragend an, doch er hielt den Kopf gesenkt und hastete weiter. Irgendwo musste sie doch sein! An der nächsten Ecke rannte er beinahe einen kleinen Hund über den Haufen, der jaulend das Weite suchte. Er hastete weiter ,an verschneiten Ochsenkarren und dick vermummten Gestalten vorbei. Sein Blick glitt nervös über einzelne Passanten, die im einsetzenden Schneetreiben nur schemenhaft zu erkennen waren. Nirgendwo war Magdalena zu sehen. Als er in die Münzgasse bog, hörte er hinter sich eine vertraute Stimme. »Simon?« Er drehte sich um. Vor dem Portal von Mariae Himmelfahrt stand Benedikta und blickte ihn besorgt an. Sie schien gerade aus der Schongauer Pfarrkirche gekommen zu sein. »Ihr blutet ja! «, rief sie. » Was ist passiert?« »Nichts«, murmelte er. »Ich bin ... hingefallen, weiter nichts.« 161
»Lasst sehen.« Sie ging auf ihn zu und begann, mit ihrem Spitzentaschentuch entschlossen das Blut von seinem Gesicht zu tupfen. Die Berührung brannte, trotzdem empfand Simon sie als angenehm. »Eisplatten vor dem Hoftor«, flüsterte er mit verschnupfter Stimme, während sie seine Nase säuberte. »Ich bin ausgerutscht.« »Ihr braucht heißes Wasser zum Auswaschen der Wunde. Kommt.« Sie fasste ihn wie eine Mutter am Ärmel und zog ihn hinter sich her. »Wo gehen wir hin?«, fragte er. »Ins Semer-Wirtshaus, wo ich abgestiegen bin«, sagte sie. »In der Gaststube bekommen wir bestimmt eine Schüssel Wasser und einen Becher heißen Gewürzwein für Euch. Und dann könnt Ihr mir ja erzählen, ob Ihr in der Zwischenzeit etwas herausgefunden habt.« Kurz zögerte Simon. Eigentlich wollte er weiter nach Magdalena suchen. Auch erwartete ihn sein Vater zu Hause. Dieses verfluchte Fieber forderte immer neue Opfer, die kuriert werden mussten. Aber was war gegen einen Becher Gewürzwein einzuwenden? Magdalena war vermutlich bereits hinunter zum Gerberviertel gelaufen und schmollte im Haus ihres Vaters. Wahrscheinlich war es sogar besser, noch einige Zeit zu warten, bis der größte Zorn verraucht war. Außerdem gab es ja tatsächlich eine Menge zu erzählen. Simon brauchte einfach jemanden, mit dem er reden konnte. Zu viel war in den letzten Tagen passiert. In froher Erwartung taumelte er hinter Benedikta auf das Se162
mer-Wirtshaus zu. Als sie die Türe öffnete, drang der Duft von frischgebackenem Kuchen und warmem Wein in seine angeschwolleneNase. Magdalena wischte sich die Tränen aus den Augen und rannte halbblind durch die Straßen von Schongau. Menschen gingen an ihr vorüber, doch sie nahm sie nicht wahr. Sie war einfach so ... wütend. Wie konnte Simon nur so gemein zu ihr sein! Vielleicht war es ja tatsächlich wahr und sie passten einfach nicht zueinander. Sie, eine Henkerstochter, das Schindermädchen, Spross eines unehrlichen Berufstands – und er, der studierte Medicus, den die Frauen im Ort bewunderten, der fein daherreden konnte, mit seinen glitzernden Mantelknöpfen und geputzten Stiefeln. Dabei kam er doch selbst aus armen Verhältnissen! Sein Geld und seine Kleider waren geliehen oder geschenkt von irgendwelchen Verehrerinnen, die um ihn herumscharwenzelten. Magdalena biss die Zähne zusammen. Viel zu lange hatte sie diesem Treiben zugesehen, nun war endgültig Schluss. Sie mochte eine unehrliche, schmutzige Henkerstochter sein, aber sie hatte auch ihren Stolz. Das Husten und Greinen eines Kindes riss sie aus ihren Gedanken. Ohne auf die Richtung zu achten, war sie hinter dem Hoftor rechts in eine schmale Seitenstraße abgebogen und so über kleine Gassen ins Frauentorviertel gelangt, wo die ärmeren Bürger wohnten. Der scharfe Geruch von Beize lag in der Luft. Aus der Hütte eines Schwarzfärbers drang beißender Dampf; auf Holzgerüsten vor der Tür waren graue, frische gefärbte Leinenkittel aufgehängt. Magdalena sah sich um und horchte. Das 163
Weinen kam eindeutig aus der Hütte. Als die Henkerstochter an der windschiefen Kate mit Strohdach vorüberging, blickte sie eine blasse Frau mit eingefallenen Wangen an, die in der niedrigen Türöffnung stand. »Du bist doch die Tochter vom Kuisl, oder?« Magdalena konnte nichts Feindseliges in ihrem Blick erkennen, sie blieb stehen und nickte. »Sollst eine gute Hebamme sein«, sprach die Frau weiter. »Der Maierin hast geholfen, die Zwillinge zur Welt zu bringen, und beide leben noch. Und dem Blaufärber seiner Tochter, dem jungen Luder, hast ein Pulver gegeben, dass der Balg wieder weggeht …« Magdalena sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Ich weiß nicht, von was du redest«, sagte sie leise. »Ach, komm.« Die Frau machte eine verächtliche Handbewegung. »Bei uns im Viertel kannst du offen reden. Jede Zweite hier hat sich von deinem Vater schon ein Balg wegmachen oder sich ein Liebestränklein brauen lassen.« Sie kicherte, ein paar schwarze Stumpen waren zwischen ihren verdorrten Lippen zu sehen. »Den feschen Medicus können sich ja nur die Geldsäcke leisten oder die, die ihm schöne Augen machen. Aber wem erzähl ich das …« »Was willst du von mir?«, fragte Magdalena. »Ich hab keine Zeit für dein Gewäsch.« Das Gesicht der Frau wurde schlagartig ernst. »Meiner kleinen Lisbeth geht’s schlecht. Ich glaub, sie hat dieses Fieber. Aber für den Doktor haben wir kein Geld. Vielleicht magst du einmal nach ihr sehen …« 164
Sie machte eine einladende Handbewegung nach drinnen und versuchte gleichzeitig einen erbärmlichen Knicks. Sämtlicher Hohn war aus ihren Augen verschwunden. Zurück blieb eine verzweifelte Mutter, die um das Leben ihres Kindes bangte. Magdalena zuckte mit den Schultern. »Ich kann sie mir mal anschauen. Aber versprechen will ich nichts.« Sie betrat das Innere der verrauchten Hütte. Auf einer offenen Feuerstelle stand auf einem rostigen Dreibein ein Kessel, aus dem beißender, zäher Dampf waberte. Der Qualm war so dicht, dass vom Rest der Hütte nicht viel zu sehen war. Magdalena erkannte einen wackligen Tisch, ein ranziges Butterfass, einen Schemel und ein paar mit Stroh ausgestopfte Säcke in der Ecke. Von dort kam das Greinen. Als sich Magdalena näherte, erblickte sie am Boden ein kleines Bündel Mensch. In Lumpen gewickelt lag dort ein etwa zehnjähriges Mädchen mit blassem, eingefallenem Gesicht. Augenringe lagen wie schwarze Halbmonde um ihre ängstlich umherhuschenden Augen. Sie hustete rasselnd und spuckte roten Schleim. Die Henkerstochter erkannte sofort, dass es sich um das gleiche Fieber handelte, das schon so viele Schongauer in den letzten Wochen dahingerafft hatte. Sie beugte sich über das Mädchen und strich ihm über die heiße Stirn. »Alles wird gut werden«, murmelte sie. Die Augen des Mädchens schlossen sich, ihr Atem ging ruhiger. »Gib mir heißes Wasser!«, rief Magdalena nach hinten. Die besorgte Schwarzfärberin eilte davon und kam mit einem dampfenden Becher zurück. Aus den Tiefen ihres Rockes zog die Henkerstochter einen Lederbeutel und schüttete ein graues Pulver in den Becher. 165
»Gib ihr davon drei Tage lang morgens und abends einen Schluck«, sagte sie. »Jetzt gleich drei Schlucke. Es ist Arnika, Immergrün, Johanniskraut und ein paar Kräuter, die du nicht kennst. Es wird ihr helfen, einzuschlafen und den Husten zu vergessen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mehr kann ich nicht tun.« Die Schwarzfärberin sah Magdalena ängstlich an. Ihre Hände krallten sich um den Becher. »Wird sie wieder gesund? Sie ist alles, was mir noch geblieben ist. Meinem Mann, dem Josef, haben die Dämpfe beim Färben letzten Sommer die Eingeweide zerfressen. Blut gespuckt hat er zum Ende hin, wie jetzt die Lisbeth.« »Hast du keine anderen Kinder?«, fragte Magdalena mitfühlend. »Alle, alle haben mir die Blattern genommen. Lisbeth ist die Letzte ...« Die Augen der Frau wurden wässrig. Sie presste die Lippen zusammen und richtete den Blick starr geradeaus. Das Mädchen schien jetzt zu schlafen, aber bei jedem Atemzug rasselte es in seinem schmächtigen Brustkorb. Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff sich Magdalena an den Hals und löste eine Kette, an die in regelmäßigen Abständen Amulette geknotet waren. Ein in Zinn gefasster Wolfszahn, ein Blutstein, ein silberner Sebastianpfeil, eine Maulwurfspfote, ein Bergkristall, ein winziges, geweihtes Stoffsäckchen ... Es war eine sogenannte Fraisenkette, die vor Unheil und bösen Zauber schützen sollte. Die Henkerstochter riss den Wolfszahn von der Kette, beugte sich zu dem Mädchen hinunter und drückte 166
ihm den Zahn in die schlaffe Hand. Im Schlafen schloss sich die Hand des Mädchens zu einer Faust. »Was ist ... ? «, fragte die Mutter ängstlich. »Er wird sie beschützen«, beruhigte Magdalena. »Es liegen ein paar mächtige Schutzzauber darauf, von meinem Vater gesprochen.« Das stimmte zwar nicht, aber die Henkerstochter wusste, dass Glaube, Liebe und Hoffnung oft mehr bewirken konnten als die stärkste Medizin. Ihr Vater hatte ihr die Fraisenkette geschenkt, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Immer wenn sie Angst hatte oder sich bedroht fühlte, hielt sie sich daran fest. Sie gab ihr Kraft, und ein Teil dieser Kraft sollte nun auf das kleine Mädchen übergehen. »Ich kann das niemals bezahlen«, warf die Frau ein. »Ich bin eine arme Schwarzfärberin ...« Magdalena winkte ab. »Den Wolf hat mein Vater letztes Jahr geschossen. Wir haben noch genug Zähne zu Hause für ganz Schongau.« Sie zwinkerte verschwörerisch. »Wichtig sind die Zaubersprüche, die darauf liegen. Du wirst mich doch nicht verraten, oder?« Die Frau schüttelte den Kopf, immer noch sprachlos über das Geschenk. Dann fiel ihr etwas ein, ihr Gesicht hellte sich auf. »Ich habe zwar kein Geld«, sagte sie. »Aber vielleicht kann ich dir helfen. Dein Vater war doch drüben in Altenstadt wegen des toten Pfaffen.« Magdalena wurde hellhörig. »Woher weißt du...?«
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Die Frau zuckte mit den Schultern. »So etwas spricht sich herum. Es heißt, er sei vergiftet worden. Nun, hör zu ...« Sie sah sich vorsichtig um und senkte die Stimme. »Ich war vor ein paar Tagen noch drüben beim Koppmeyer. Musste ihm ein paar gefärbte Leintücher bringen für die Messe. Als ich vor dem Pfarrhaus steh, seh ich drinnen einen Mann mit dem Pfarrer reden. Ein Mönch war das, mit schwarzer Kutte. Darunter aber feines, weißes Tuch, nicht so grobe Fetzen, wie sie unsereins trägt.« »Und?«, fragte Magdalena. »Der Mönch hat auf den Koppmeyer leise eingeredet. Der Pfarrer hat richtig Angst gehabt, das hat man gesehen. Die Augen sind ihm schier aus dem Gesicht gefallen. Dann hat der Mann noch was gezischt und ist rausgegangen zu seinem Pferd. Ich hab mich gleich hinter dem Holzstapel verkrochen.« »Wie sah er denn aus?«, hakte Magdalena nach. »Viel war nicht zu sehen wegen der Kapuze und der Kutte ... « Die Frau stockte. »Aber eines war merkwürdig.« »Was denn? Erzähl schon!« »Als er auf sein Pferd gestiegen ist, da musste er sich bücken, und da hab ich unter seiner Kutte eine goldene Kette baumeln sehen. An der Kette war ein Kreuz, so ein großes, schönes. Aber es sah anders aus wie die Kreuze bei uns in der Kirche.« Magdalena spürte, wie es ihr vor Aufregung den Hals zuschnürte. »Wie ... wie sah es denn aus?«
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»Nun, es hatte nicht einen Querbalken, sondern zwei, und der obere von beiden war kleiner. Und es war ganz aus Gold. Ich habe so ein Kreuz noch nie gesehen.« Magdalena überlegte kurz. Auch sie konnte sich nicht daran erinnern, je ein solches Kreuz gesehen zu haben. »Was war dann?«, fragte sie schließlich. Die Schwarzfärberin zuckte mit den Schultern. »Dann hab ich dem Koppmeyer die Tücher gebracht. Er war noch ganz benommen. Hat mir zwei Pfennige zu viel in die Hand gedrückt und mich wieder heimgeschickt. So ängstlich hab ich den fetten Pfaffen noch nie gesehen. Ich mein, der Mann war doch stark wie ein Bär!« Magdalena nickte. »Du hast mir sehr geholfen. Ich danke dir.« Sie ging nachdenklich zur Tür. »Vergiss den Trank für deine Tochter nicht«, sagte sie im Hinausgehen. »Wenn es in drei Tagen nicht besser wird, komm zu uns ins Henkershaus.« Sie grinste. »Wenn du dich traust. Mein Vater bringt nur die um, die’s verdient haben.« Die Schwarzfärberin sah ihr nach, wie sie in der nächsten Gasse verschwand. Das Husten des Mädchens setzte wieder ein. Still vor sich hin betend, ging die Mutter ins Haus zu ihrer Tochter. Simon saß neben Benedikta an einem der hinteren Tische im »Stern« und nippte an einem Becher heißen Gewürzwein. Seine Nase hatte endlich aufgehört zu bluten, doch er spürte, wie sie von Minute zu Minute mehr anschwoll. Wahrscheinlich war er bereits völlig entstellt. Er ließ seinen Blick über die anderen Gäste schweifen. Jetzt gegen Abend füllte sich das Wirtshaus langsam mit Händlern, 169
die hier über Nacht blieben, mit betuchteren Handwerkern und dem einen oder anderen Ratsherrn. Das Wirtshaus gehörte Karl Semer, dem Ersten Bürgermeister der Stadt, und war das beste Haus am Platze, dementsprechend vermögend waren auch die Gäste. Ein heimeliges Feuer loderte in dem großen, steinernen Kamin in der Ecke; von der Decke hängende Kandelaber tauchten den niedrigen, holzgetäfelten Raum in ein warmes Licht. Es roch nach Zimt, Nelken und Eintopf. Simon ging nur sehr selten hierher. Lieber hielt er sich in den Spelunken im Viertel hinter dem Ballenhaus auf, wo der Wein und das Bier billiger waren, aber auch größere Kopfschmerzen verursachten. Er liebte es, wenn irgendeiner der Gesellen oder Lehrlinge zu seiner Fiedel griff und aufspielte, während der Rest der Gäste mit den Füßen den Takt stampfte und die Röcke der Mädchen sich im Kreis drehten. Hier beim Semer ging es weitaus gesitteter zu. Am Tisch neben ihnen unterhielten sich zwei Händler gedämpft über ihre letzten Bilanzen, während weiter hinten der Ratsherr Johann Püchner zum wiederholten Mal versuchte, mit einer der Dienstmägde anzubandeln, indem er sie auf einen Schoppen Wein einlud. Das Mädchen stellte ihm schnippisch einen Krug feinsten Elsässer Wein hin, bevor es kichernd wieder in der Küche verschwand. Benedikta hatte sich bislang mit Fragen zurückgehalten und nur gelegentlich das Blut unter Simons Nase weggetupft. In Gedanken versunken, nippte sie an ihrem Becher mit verdünntem Wein und schien, genau wie er, die anderen Gäste mit wachen Augen zu beobachten. Schließlich richtete sie das Wort an ihn. 170
»Ich habe beschlossen, noch ein paar Tage in Schongau zu bleiben. Die Geschäfte in Landsberg führt mein Verwalter ebenso gut wie ich. Außerdem habe ich heute gute Kontakte mit einigen Augsburger Weinhändlern knüpfen können.« Sie seufzte. »Aber natürlich ist es vor allem mein Bruder, der mich noch hierhält. Ich werde nicht eher ruhen, bis man seine gottverdammten Mörder gefasst hat. Habt Ihr mehr über seinen Tod in Erfahrung bringen können?« Simon zögerte kurz. Dann erzählte er ihr von der Lösung des Rätsels, dem Fund in der Altenstadter Basilika und dass er vorhatte, die Burgruine der Welfen nach einem weiteren Hinweis abzusuchen. Benediktas Gesicht verfinsterte sich. »Aber was hat all das mit meinem Bruder zu tun? Er kann doch von alldem nichts gewusst haben!« Simon trank einen Schluck, bevor er weitersprach. »Euer Bruder kannte sicherlich nicht die ganze Wahrheit. Aber er wusste von dem Grab unter der Kirche. Er hat irgendjemanden davon erzählt, und dieser Jemand wollte keine Mitwisser.« »Keine Mitwisser?« Benedikta sah ihn ungläubig an. »Was gab es denn bisher groß zu finden als ein paar alberne Rätsel? Der Spaß eines in die Jahre gekommenen Ritters.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war dieser Wildgraf einfach nur ein Mann mit Humor, und in der Burgruine erwartet Euch nichts weiter als ein derber Reim über die Neugierde mancher Menschen.« Simon schüttelte den Kopf. »Das entspricht nicht dem Denken der Templer. Sie waren ein Orden, der die Tugenden des christlichen Lebens und des Rittertums mitei171
nander vereinigte, keine Possenreißer. Das erste Rätsel stammt aus der Offenbarung des Johannes, das zweite Rätsel bezieht sich auf eine uralte Adelslinie, die Welfen. Das kann kein Zufall sein. Fast sieht es so aus, als wollte unser toter Ritter prüfen, ob wir würdig sind. Offenbar suchte er Menschen, die sich sowohl in der Bibel als auch im Leben des Adels auskennen. Templer ... « Er stutzte und hörte mitten im Satz auf zu reden. »Was habt Ihr?« Benedikta sah ihn lächelnd an. »Ist Euch der Wein zu Kopf gestiegen?« Simon schüttelte den Kopf, dann zog er das kleine Brevier hervor, das er sich vom Patrizier Jakob Schreevogl ausgeliehen hatte. Noch immer trug er es in seiner Rocktasche bei sich. Er legte es auf den Tisch und blätterte hektisch in den Seiten. »Was ist das?«, fragte die Händlersfrau und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen. »Es ist ... ein Buch über die Templer«, begann Simon, hörte mit dem Blättern auf und seufzte. »Ich dachte kurz, mich an etwas zu erinnern. Aber ich muss mich getäuscht haben.« In aller Kürze erzählte er Benedikta, was er von den Templern wusste. »Dieser Friedrich Wildgraf, der dort unten in der Krypta liegt, war ein Meister dieses Ordens«, kam er schließlich zum Ende. »Laut dem Vertrag, den wir in Steingaden gesehen haben, war er als Komtur für das gesamte Deutsche Reich verantwortlich. Er gehörte zum innersten Zirkel der Macht. Nur wenige Jahre danach werden die Templer in ganz Europa verfolgt und ausgelöscht. Ihr riesiges Vermögen bleibt allerdings verschwunden ... « Er blickte Be172
nedikta fest in die Augen, bevor er fortfuhr: »Warum sollte ein so mächtiger Meister des Ordens solche Rätsel stellen, wenn nicht um etwas zu verstecken? Zuerst der Spruch am Sarkophag, jetzt der Hinweis in der Basilika ... Das muss doch einen Grund haben!« »Ihr meint ...« Simon nickte. »Ich meine, dass Friedrich Wildgraf den Schatz der Templer irgendwo hier versteckt haben könnte. Oder zumindest einen Teil davon.« »Einen Schatz?« Benedikta wischte sich mit einem Taschentuch einige Weintropfen von den Lippen. »Warum sollten die Templer gerade an diesem gottverlassenen Flecken Erde etwas verstecken wollen? Nach allem, was Ihr erzählt habt, waren sie in Paris zu Hause, in Jerusalem, in Rom! Was sollte sie also dazu veranlassen, gerade im Pfaffenwinkel ... « – sie spuckte den Namen aus wie eine faule Frucht – » ... also in der tiefsten bayerischen Provinz einen Schatz zu vergraben!« Simon schlug auf den Tisch. »Aber das ist es doch gerade! Keiner würde den Schatz hier vermuten. Der französische König hätte den Pfaffenwinkel vermutlich nicht mal auf der Landkarte gefunden, wenn der Herzog einen Kreis darum gemacht hätte. Berge, Wälder, Sümpfe und ein paar ungebildete, aber kreuzbrave Bauern. Das perfekte Versteck!« Benedikta schwieg eine Weile, dann nickte sie langsam. »Ihr könntet vielleicht recht haben.« Ihre sonst so wachen Augen bekamen einen glasigen Glanz. »Wie viel meint Ihr...?« »Geld?« Simon zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Auf alle Fälle mehr, als wir uns vorstellen können. 173
Vergesst nicht, der französische König hat die Templer nur wegen diesem Schatz auslöschen lassen. Wenn auch nur ein Teil davon hier ist ... « Er brach ab. »Wir sollten auf alle Fälle vorsichtig sein«, flüsterte er und sah sich um. »Es sind schon Menschen für weit geringere Summen umgebracht worden.« »Es sind Menschen aber auch schon für weit geringere Summen ein gewisses Risiko eingegangen.« Benedikta zwinkerte ihm zu. »Erzählt einer Händlerin nie von verborgenen Schätzen. Ihr bekommt sie dann nur noch schwer los.« Sie erhob ihr Weinglas. »Ich finde, wir sollten dieses Risiko eingehen. »A la vôtre!« »A la vôtre. « Simon ließ sein Glas an ihres klirren. Die Frau aus Landsberg verblüffte ihn immer wieder aufs Neue. Doch sie hatte recht. Sollte auch nur ein Bruchteil des Templerschatzes irgendwo im Pfaffenwinkel vergraben sein, brauchte er sich über seine Zukunft keine Gedanken mehr machen. Er würde sich truhenweise Mäntel, Röcke und neue Schuhe, außerdem Hüte mit Pfauenfedern, ein schnelles Pferd und einen Koffer mit den neuesten ärztlichen Instrumenten kaufen können. Sein Ansehen in der Stadt würde sprunghaft steigen. Und nicht nur das! Wer wollte ihm dann noch verbieten, die Tochter des Scharfrichters zu heiraten? Er würde für Magdalena und sich ein Haus bauen! Wer weiß, vielleicht machten sie ja gemeinsam in Schongau eine Apotheke auf? Er als Medicus, sie als seine Ehefrau, bewandert in den Heilkräutern und Giften der Gegend ... Ein perfektes Paar! Vor lauter Freude über sein zukünftiges Leben bemerkte Simon nicht, dass im hinteren Teil eine hagere Gestalt vom Tisch aufstand und zur Tür ging. Als der Mann die 174
Schenke verließ, verbreitete er einen leichten Hauch von Frühling.
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agdalena stand vor der Pfarrkirche und zog das
wollene Tuch um ihre Schultern, die Kälte stach wie mit Nadeln. Nach ihrem Besuch bei der Schwarzfärberin war sie ziellos durch die Gassen gelaufen. Wo sollte sie hingehen? Simon würde sie nach ihrem Wutanfall bestimmt zu Hause bei ihren Eltern suchen. Doch auch jetzt, nachdem der erste Zorn verraucht war, wollte sie ihn nicht sehen. Vielleicht stand er gerade jetzt unten im Gerberviertel vor der Tür des Henkershauses und machte sich Sorgen um sie. Sollte er doch! Was musste er in ihrer Gegenwart auch von diesem Frauenzimmer schwärmen. Es konnte ihm nur guttun, wenn er sich ein wenig grämte, vielleicht weckte das ja sein schlechtes Gewissen. So sprang man mit einer Kuisl nicht um! In Gedanken versunken, wanderte sie über den Marktplatz. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, ein fahrender Händler bot Scheren, Messer und allerlei Tand feil. Magdalena stieg der Geruch von mit Honig gerösteten Haselnüssen in die Nase. Sie rieb ihre klammen Hände aneinander und sah sich um. Jetzt am Abend waren nur noch wenige Schongauer Bürger auf dem Platz unterwegs. Im leichten Schneetreiben waren sie in mehr oder weniger löchrige Tücher und Mäntel gehüllt und gingen gebückt, damit ihnen die Flocken nicht in die Augen wehten. Magdalena blickte in leere, ausgemergelte Gesichter. Der Gro176
ße Krieg war erst wenige Jahre vorbei, noch immer litten die Menschen unter den Folgen. Pest, Krankheit und Hunger waren damals über die einst reiche Stadt gekommen. Auch jetzt noch verdeckte nur der Schnee den bröckelnden Putz an den Wänden und den gefrorenen Kot auf den Straßen. Zwischen den Häusern standen vereinzelt Ruinen mit eingefallenen Dächern, stumme Zeugen von ganzen Sippschaften, die die Pest hinweggerafft hatte. In den letzten Jahrzehnten hatte die Stadt durch die Seuchen mehr als ein Drittel ihrer Einwohner verloren, fast jede Familie hatte mindestens einen Toten zu beklagen. In ihrer Kindheit hatte Magdalena oft die Karren gesehen, mit denen die Leichen dutzendweise zum neuen Friedhof Sankt Sebastian gebracht wurden. Der alte Friedhof an der Stadtpfarrkirche reichte für die vielen Toten schon lange nicht mehr aus. Und jetzt war auch noch dieses Fieber über die Stadt gekommen! Einem spontanen Entschluss folgend, ging Magdalena auf das Haus des Semer-Wirts zu. Sie hatte noch ein paar Münzen in der Tasche, und ein warmes Getränk würde ihr nach dem ganzen Ärger bestimmt guttun. Allein der Gedanke daran besserte ihre Stimmung merklich auf. Sie hatte bereits die Hand auf der Klinke, als sie einen Blick durch die Butzenscheiben links vom Eingang warf. Der Anblick traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Leicht verschwommen sah sie hinter den Scheiben Simon und Benedikta an einem Tisch sitzen. Die beiden schienen in etwas vertieft; im schummrigen Licht der Kerzen glaubte Magdalena zu erkennen, wie Simon den Arm um die Händlerin legte. Die Henkerstochter durchlief es gleichzeitig heiß und kalt. Kurz war sie versucht, die 177
Tür aufzureißen, einen schweren Humpen aus den Regalen zu reißen und ihn auf Simon zu schleudern. Doch dann rannte sie einfach nur über den Marktplatz davon, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Tränen liefen ihr übers Gesicht und gefroren zu Eis. Als sie wieder zu sich kam, stand sie in der Nähe des Kuehtors. Das Haus der Hebamme war nur wenige Meter entfernt. Ohne weiter nachzudenken, riss sie die Tür auf und stürmte hinein. Martha Stechlin blickte erstaunt auf. Sie saß am Tisch in der Stube und zerrieb einige getrocknete Kräuter in einem Mörser. Schon wollte die Hebamme zu einer Strafpredigt ansetzen, doch als sie sah, dass das Henkersmädchen totenblass war und zitterte, besann sie sich eines Besseren. »Mädel, was ist mit dir?«, fragte sie besorgt. »Es ist doch nicht wegen der Sach bei der Steigenbergerin? Du kannst unbesorgt sein, das Kind ist wohlauf, du brauchst dich nicht …« Magdalena schüttelte den Kopf, dann brach sie wieder in Tränen aus. Die Hebamme führte sie an den Tisch, drückte sie sanft auf einen der Holzschemel und strich ihr über den Kopf. » Was hast denn, Liebes?«, murmelte sie und reichte ihr einen Becher mit heißem Pfefferminzsud, der eben noch über dem Feuer gebrodelt hatte. Wie heiße Galle rannen die Worte aus Magdalena heraus, bis sie der Hebamme ihr ganzes Leid gebeichtet hatte. Martha Stechlin nickte mitfühlend. »Die Männer sind so«, flüsterte sie leise. »Nie zufrieden mit dem, was sie haben. Aber irgendwann kommen sie 178
immer wieder zurück. Mein Hans, Gott hab ihn selig ... « Ihre Stimme brach, verlegen strich sie sich über die Augen, als wollte sie dort eine Aschenflocke entfernen. » Was war mit deinem Mann?«, fragte Magdalena, froh um die Ablenkung von den eigenen Sorgen. »Du hast mir nie von ihm erzählt.« » Den Mädchen schöne Augen gemacht hat er«, sagte Martha Stechlin. »Nie war er zu Hause, immer in den Wirtshäusern, der Sauhund ... « Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Aber geliebt hab ich ihn. Auch als wir keine Kinder bekamen und die Leut anfingen zu tratschen ... immer haben wir zusammengehalten. Da konnte auch so eine dahergelaufene Dirn nichts dran ändern.« Sie zwinkerte Magdalena zu. »Was ist aus ihm geworden?« Die Henkerstochter wischte sich die Tränen vom Gesicht und spürte, wie die Wärme des Kaminfeuers an ihren Beinen hochstieg. Die Augen der Hebamme starrten ins Leere. »Die Pest hat ihn geholt. Vor über zehn Wintern hab ich ihn begraben. Seitdem bin ich allein.« In der nun folgenden Stille war nur das Knistern des Herdfeuers zu hören. Magdalena biss sich auf die Lippen. Was hatte sie auch fragen müssen! Beschämt nippte sie an dem dampfenden Becher. Schließlich stand die Hebamme auf und ging zu den Regalen, die sich vom Herrgottswinkel über die ganze Wand bis hin zum Kamin zogen. »Sei’s drum«, sagte sie. »Das Leben geht weiter.« Ihr Blick glitt an den Tiegeln und Töpfen entlang, die aufgereiht in den Regalen standen. Die Tiegel leuchteten frisch lasiert, auf allen waren Zeichen angebracht, die auf ihren Inhalt hindeuteten. Die 179
Hebamme öffnete ein paar von ihnen und schüttelte den Kopf. »Ich werd getrocknete Melisse brauchen«, murmelte sie. »Und Mutterkorn, wenn sonst nichts hilft.« »Was hast du vor?«, fragte Magdalena und trat neben sie. »Steht wieder eine schwierige Geburt an?« Seit einem halben Jahr war die Henkerstochter jetzt bei Martha Stechlin in der Lehre. Seitdem war Magdalena bei gerade mal fünf Geburten zugegen gewesen. Nur in schwierigen Fällen wurde die Hebamme tatsächlich gerufen. Oft gebaren die Frauen ohne fremde Hilfe, allein oder im Kreise der Familie, in der warmen Stube, im Stall und manchmal auch auf dem Feld. Wenn die Stechlin jetzt die Tiegel durchsah, musste also wieder ein Notfall eingetreten sein. »Die Frau vom Holzhofer ... «, begann Martha Stechlin. Magdalena sog laut die Luft ein. »Der Zweite Bürgermeister?« Die Hebamme suchte weiter in den Tiegeln. »Die Holzhoferin ist bereits überfällig. Wenn das Kind nächste Woche nicht da ist, werden wir ihr Mutterkorn geben müssen.« Magdalena nickte. Mutterkorn war ein Pilz, der auf Roggen und Hafer wuchs. Ein starkes Gift, das das berüchtigte Antoniusfeuer auslöste, in geringen Dosen allerdings wehenfördernd wirkte. »Und jetzt hast du keines mehr?«, fragte sie. Martha Stechlin war mittlerweile bei den hinteren Tiegeln angekommen. »Nicht nur kein Mutterkorn, sondern auch keine Melisse, kein Artemisia und keinen Sonnentau. Und dein Vater 180
hat auch nichts mehr!« Sie seufzte. »Sieht so aus, als ob ich bei der Saukälte noch nach Augsburg müsste. Mutterkorn und Artemisia krieg ich im Winter nur dort in der Apotheke. Aber was hilft’s! Wenn seiner Frau was zustößt, macht mich der Holzhofer verantwortlich, und am Ende treiben’s mich aus der Stadt raus oder zünden mir das Haus an …« Plötzlich hatte die Henkerstochter eine Idee. Breit lächelte sie die Hebamme an. »Ich kann doch gehen«, sagte sie. »Du?« Die Hebamme machte ein ungläubiges Gesicht, doch Magdalena nickte eifrig. »Ich mag dem Simon zurzeit sowieso aus dem Weg gehen. Soll er doch sehen, wie er ohne mich zurechtkommt. Gleich mit dem nächsten Floß morgen früh fahr ich los.« Je mehr Magdalena darüber nachdachte, umso besser gefiel ihr die Idee. »Du schreibst mir einfach auf, was du haben willst und wo ich in Augsburg hingehen soll«, sprach sie schnell weiter. »Mein Vater braucht sicher auch noch ein paar Pillen und Kräuter. So erspar ich euch beiden die Reise.« Die Hebamme sah sie nachdenklich an. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Warum nicht«, murmelte sie. »Schließlich willst du ja Hebamme werden. Da kann es nur gut sein, wenn du einmal eine Apotheke von innen siehst. Und Augsburg ... « Sie lächelte Magdalena an. »Nun, die Stadt wird dich sicher ablenken. Pass bloß auf, dass du nicht überschnappst. So viel Leut hast du noch nie gesehen.« Sie klatschte in die Hände. »Aber jetzt an die Arbeit! Die Ringelblumenblätter gehören fein zermahlen und der Speck ausgelassen, 181
die Kornbichlerin möchte heut Abend noch ihre Salbe haben!« Magdalena lächelte und machte sich daran, die trockenen, duftenden Blätter in den Mörser zu schütten. Der Geruch von heißem Gänsefett drang in ihre Nase, das Geplapper der Stechlin klang wie rieselndes Wasser auf einem Mühlrad. Simon, ihr Vater und der tote Pfarrer waren plötzlich weit, weit weg. Jakob Kuisl öffnete die Truhe und blickte in ein anderes Leben. Der Kasten hatte lange Zeit oben im Speicher des Henkershauses gestanden, verborgen hinter Taurollen und zerbrochenen Fässern, wo ihn keiner sehen konnte. Nun hatte der Henker ihn nach unten in die Stube getragen und mit einem sorgfältig verwahrten Schlüssel geöffnet. Jakob Kuisl legte die zusammengefaltete, mottenzerfressene Landsertracht zur Seite und holte darunter den abmontierten Lauf der Luntenschlossmuskete heraus. Es folgten der polierte Griff mit den Intarsien, ein Beutel voll Bleikugeln und die Kette mit den hölzernen Pulverfässchen, in Söldnerkreisen auch als »Zwölf Apostel« bekannt. Der Henker zog den Säbel aus der Scheide und prüfte mit dem Daumen seine Schärfe. Nach all den Jahren war der Stahl immer noch genauso scharf und glänzend wie das Richtschwert, das seit Urzeiten neben dem Herrgottswinkel in seinem Haus hing. Zuunterst in der Truhe lag ein Kästchen aus Kirschholz. Jakob Kuisl ließ den Verschluss zurückschnappen und öffnete es vorsichtig. Darin befanden sich zwei gutgeölte Radschlosspistolen. Der Henker strich über ihre polierten 182
Griffe und kühlen, eisernen Spannhähne. Diese Pistolen hatten ihn ein Vermögen gekostet. Doch Geld hatte damals keine Rolle gespielt. Man hatte es sich genommen, versoffen, mit vollen Händen ausgegeben. Kuisls Lider zuckten. Ein Schatten legte sich plötzlich über seine Erinnerung. Zappelnde Beine in den Ästen einer Eiche. Das Flackern ferner Feuer. Das Weinen eines kleinen Mädchens, das aus schwarzen Ruinen zu ihm herüberdringt. Lachende Männer beim Würfelspiel, zwischen ihnen ein Berg von blutigen Kleidern und glitzerndem Tand... Eine verkohlte Kinderrassel… Er war Rottführer gewesen, ein sogenannter Schwertspieler, der immer in der ersten Reihe kämpfte und den Zweihänder führte, so wie es ihn sein Vater gelehrt hatte. Er hatte den doppelten Sold bekommen, den größten Anteil an der Beute. Er war einer der Besten gewesen, der perfekte Mörder … Eine verkohlte Kinderrassel. Mit einem Kopfschütteln wischte der Henker die Vision beiseite. Er schloss das Kirschholzkästchen, bevor weitere Träume daraus hervorquollen. Ein Quietschen der Tür ließ ihn herumfahren. Es war Magdalena, die mit hochrotem Kopf hereinstürmte. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Torwächter die Stadttore geschlossen hatte, war sie von der Stechlin nach Hause geeilt. Jetzt brannte sie darauf, ihrem Vater die Neuigkeit zu berichten. »Vater, ich muss für die Stechlin morgen früh nach Augsburg! Bitte, erlaub’s …« Ein Blick auf die Truhe ließ sie innehalten. 183
»Was ist das?« »Nichts, was dich was angeht«, brummte ihr Vater. »Aber wennst es schon wissen willst, Waffen sind’s. Morgen beginnt die Hatz auf die Räuber.« Magdalena drehte sich um und sah nun den Säbel, den fleckigen Söldnerrock und das Gewehr, die fein säuberlich nebeneinander auf dem Tisch lagen. Mit dem Finger strich sie über den kupferverstärkten Lauf der Muskete. »Wo hast du die her?« »Von früher.« Die Henkerstochter wandte den Blick von den Waffen ab und sah ihrem Vater direkt ins Gesicht. »Du hast mir nie von früher erzählt. Die Mutter meint, du seist ein rechtschaffener Soldat gewesen. Stimmt das? Warum bist du in den Krieg gezogen?« Jakob Kuisl schwieg lange. »Was willst du mit deinem Leben anfangen?«, fragte er schließlich. Magdalena zuckte mit den Schultern. »Hab ich die Wahl? Als Henkerstochter bleibt mir doch nichts anderes übrig, als einen Schinder oder Scharfrichter zu heiraten. Auch du kannst keinen anderen Beruf wählen.« »Siehst«, sagte der Henker. »Der Krieg ist grausam, aber er macht die Leut frei. Morden darf ein jeder, und wenn er’s schlau anstellt, dann wird er sogar ein Fähnrich oder Feldweibel und hat so viel Gold, dass er’s nicht versaufen kann.« »Und warum bist du dann zurückgekommen?«, erwiderte Magdalena. »Weil’s mit dem Töten so ist wie mit allem im Leben. Es muss seine Ordnung haben.« 184
Mit dieser Antwort ließ es der Henker bewenden. Er klappte die Truhe zu und sah seine Tochter herausfordernd an. »Nach Augsburg willst also? Und warum?« Magdalena erklärte ihm, dass die Hebamme einige wichtige Ingredienzien brauche und sie deshalb in die große Stadt schicken wolle. »Und einen Bezoar soll ich ihr auch besorgen!«, schloss sie aufgeregt. »Einen Bezoar?« »Ein Stein aus dem Magen einer Ziege, der gegen Unfruchtbarkeit und schwere Geburten hilft und ... « »Ich weiß, was ein Bezoar ist«, unterbrach sie der Henker barsch. »Für was braucht ihn die Stechlin?« Magdalena zuckte mit den Schultern. »Die Frau vom Zweiten Bürgermeister, die Holzhoferin, ist schwanger, aber das Kind will nicht raus. Sie hat von der Stechlin einen Bezoar verlangt.« »Da wird die Holzhoferin aber einiges berappen müssen«, knurrte der Henker. »Ein Bezoar ist nicht billig. Das heißt, dass du einen Haufen Geld mit nach Augsburg nimmst.« Magdalena nickte. »Gleich morgen früh will’s mir die Stechlin geben.« »Und wenn du ausgeraubt wirst?« Lachend drückte Magdalena ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Machst dir Sorgen um mich? Vergiss nicht, ich bin die Tochter vom Schongauer Henker! Die Leut haben eher Angst vor mir als ich vor ihnen.« Sie lächelte ihn an. »Bitte erlaub’s! Die Mutter hat gesagt, ich muss dich fragen. Gleich morgen nehm ich das Floß, und 185
zurück geht’s mit einem Tross Augsburger Händler. Was soll schon groß passieren? » Jakob Kuisl seufzte. Er konnte seiner Tochter nur sehr schwer etwas abschlagen. »Also gut«, sagte er schließlich. »Aber nur, wenn du mir auch was mitbringst. Lass mal sehen, was ich brauche …« Er ging hinüber in die Kammer, an deren gegenüberliegenden Wand ein gewaltiger Schrank stand, der bis zur Decke reichte. Aus Fächern und Regalen quollen Pergamente und Bücher, einige der Schubladen standen offen und gaben den Blick frei auf unzählige Beutel, Tiegel und Phiolen. In der ganzen Kammer roch es mitten im Winter plötzlich nach Sommer, nach Rosmarin, Ingwer, Muskat und Nelken. Der Apothekerschrank des Henkers war in ganz Schongau bekannt und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht einmal die Hebamme, geschweige denn der Medicus, verfügten über eine solche Sammlung von Kräutern, Arzneien und Giften wie die Kuisls. Auf dem wackligen Tisch in der Mitte der Kammer rußte in einem verrosteten Halter ein flackernder Kienspan. Magdalena erblickte in seinem Licht einige aufgeschlagene Bücher , die den ganzen Tisch bedeckten, darunter auch Dioscurides’ Werk über Heilpflanzen und ein ihr unbekanntes Buch, geschrieben in einer fremden Sprache. »Schaust du was nach wegen dem vergifteten Koppmeyer?«, fragte sie neugierig. »Kann schon sein.«
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Ohne weiter zu antworten, durchforstete Jakob Kuisl seinen Bestand an Kräutern und Pulvern und schrieb Magdalena eine Liste zusammen. »Ich brauch auch ein paar Zutaten, die dir ein Apotheker eigentlich nicht geben darf«, sagte er. »Getrocknete Tollkirschen und Stechapfelsamen, außerdem Alaun, Salpeter und Arsenikon. Ich kenn die Burschen, leg einfach ein paar Kreuzer drauf, dann werden sie dir das Zeug schon geben. Und wenn nicht ...« Er grinste. »Sag einfach, du kommst vom Schongauer Henker. Das hat noch alle überzeugt.« Plötzlich sah er sie nachdenklich an. »Dass du so plötzlich gehst, hat aber nichts mit dem Simon zu tun?« Magdalena schnitt eine Grimasse. »Der Simon ist mir wurscht, der soll ruhig einmal ohne mich auskommen.« Jakob Kuisl wandte sich wieder der Arzneienliste zu. »Na, wennst meinst. So bist wenigstens weg von Mord und Totschlag.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Nicht dass du am Ende auch noch in diese Sach reingezogen wirst. Ich spür ganz deutlich, das ist noch nicht ausgestanden.« Magdalena rückte näher an ihn heran. »Weißt du denn jetzt, wer die Männer gewesen sein könnten, die dir in der Kirche aufgelauert haben?« Der Henker schüttelte den Kopf. »Ich krieg’s schon noch raus. Und dann gnade ihnen Gott.« Die Kerze warf huschende Schatten über sein Gesicht. In solchen Momenten fürchtete sich Magdalena vor ihrem Vater. So, dachte sie, sieht er aus, wenn er einem die Schlinge um den Hals legt oder mit dem Rad jeden Knochen einzeln bricht. 187
»Ich weiß jetzt, dass zumindest einer der Männer den Koppmeyer vor seinem Tod besucht hat«, sagte sie schließlich. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit der Schwarzfärberin und von dem merkwürdigen goldenen Kreuz, das die Frau am Hals des Fremden gesehen hatte. Als sie mit ihrem Bericht am Ende war, schüttelte ihr Vater den Kopf. »Templer, lateinische Verse, ein goldenes Kreuz mit zwei Querbalken ... Die Sache wird immer verworrener!« Er schlug mit der Hand auf den Tisch, so dass die Seiten der Bücher aufflatterten. »Der Simon geht jedenfalls morgen früh auf den Peitinger Schlossberg und schaut nach, ob er bei der alten Ruine einen Hinweis findet. Vielleicht wissen wir dann mehr über diesen verfluchten Templer , der uns alle zum Narren hält, oder auch über unsere Verfolger.« Einen Augenblick lang war Magdalena versucht, ihre Pläne zu überdenken. Was, wenn Simon tatsächlich oben bei der alten Schlossruine einen Schatz fand? Oder wenn ihm dort die Fremden auflauerten? Brauchte er dann nicht ihre Hilfe? Aber dann dachte sie an die Floßfahrt, die große Stadt, die fremden Gerüche und Gesichter. Sie wollte fort, auch fort von Simon. Sie küsste ihren Vater auf die Stirn und ging die Treppe nach oben, wo ihre Mutter und die Zwillinge bereits schliefen. »Pass gut auf dich auf, Vater«, flüsterte sie. »Auf dich und den Simon.« Dann verschwand sie in der Schlafkammer. Jakob Kuisl beugte sich im flackernden Licht des Kienspans wieder über die aufgeschlagenen Bücher. Tollkir188
sche, Nachtschatten, Eisenhut ... Sein Finger folgte unzähligen Zeichnungen von Giftpflanzen, doch keine war in ihrer Wirkung so wie das Gift, das ihn in der Krypta steif wie einen Toten hatte werden lassen. Dieses Mittel musste von sehr weit weg kommen, aus einem fernen Land, so viel war sicher. Nur, wie waren die Männer an ein solches Gift gekommen? Stammten sie selbst aus dieser fernen Gegend? Waren es Wandermönche aus einem entfernten Kloster? Einer von ihnen hatte einen merkwürdigen Dialekt gesprochen. Und Latein. Plötzlich fiel ihm der merkwürdige Satz wieder ein, den er in der Krypta belauscht hatte. Deus lo vult... Gott will es … Seufzend schlug Jakob Kuisl das Buch zu und fing an, die Muskete zu reinigen. Er würde morgen für die Hatz früh aufstehen müssen. Der Schreiber Johann Lechner hatte die Bürger schon zum Sechsuhrläuten auf den Marktplatz bestellt. Sollte sich doch der junge Fronwieser mit Templern, Rätseln und Meuchlern herumschlagen, Jakob Kuisl würde Räuber jagen. Das war etwas, was der Henker besser konnte als jeder andere. Leonhard Weyer fluchte und zog die Peitsche über den Nacken des Pferdes. Der Schimmel stellte sich wiehernd auf die Hinterhufe und sackte dann wieder in den tiefen Schnee. Es dämmerte bereits, Schneeflocken fielen in dichten Schwaden, so dass der Augsburger Händler immer wieder die Augen schließen musste. Sie waren zu spät dran! Zwar waren sie in aller Herrgottsfrüh von Schongau aufgebrochen, doch schon mittags 189
hätte ihnen klar sein müssen, dass sie es nie bis Einbruch der Dunkelheit nach Füssen schaffen würden. Weyer hatte sich für die alte Straße durch den Wald entschieden. Sie war zwar länger, aber dafür auch kaum befahren, besonders nicht jetzt in der Winterzeit. Wegelagerer lauerten eher an der breiten Heerstraße, die den Lech entlangführte. Der Augsburger Tuchhändler war sich sicher, dass sich kein Bandit tagelang den Arsch abfror, um dann vielleicht irgendwann auf einen einsamen Bauern mit seinem Winterfutter zu treffen. Außerdem hatte Weyer nur dem engsten Kreis seiner Augsburger und Schongauer Kollegen verraten, dass er diese Straße nehmen würde, und war anders als sonst nur mit einem einfachen Karren unterwegs. Sogar die angenehm gefederte Kutsche hatte er in Augsburg gelassen! Wer sollte da schon Verdacht schöpfen? Weyer fühlte sich sicher, aber das änderte nichts daran, dass die Nacht hereinbrach und sie noch immer nicht in einem Dorf angelangt waren. Gegen Nachmittag war das Schneetreiben immer dichter geworden, in teils meterhohen Schneewehen waren die vier Knechte mit dem Fuhrwerk kaum noch vorangekommen. Jetzt in der Dämmerung sah man gerade noch die Hand vor Augen, rechts und links des Wegs ragten dichte Tannen wie schwarze Finger in den Himmel. Schnaufend zogen die beiden Packpferde den Karren durch den kniehohen Schnee. Immer wieder blieben die Räder im Morast und in halbgefrorenen Pfützen stecken, so dass die Knechte absteigen und anschieben mussten. Sie hieben mit Peitschen auf die müden Haflinger ein, doch selbst heftigste Schläge brachten sie nicht dazu, schneller zu ziehen. Gerade war der Karren erneut in eine 190
Schneewehe geraten; zwei Knechte schaufelten fluchend den Weg frei, während die beiden anderen von hinten den vollgepackten Karren schoben. »Verdammt, geht das nicht schneller? In einer Stunde ist es hier finster!« Der Grauschimmel des Händlers tänzelte nervös auf der Stelle. Weyer rieb pustend die kalten Hände aneinander, die in Fäustlingen aus Nerzfell steckten. Auf seinem Haupt thronte eine schneebedeckte Kappe aus Bärenpelz, und auch der knielange Mantel war aus seidig glänzendem Fell gefertigt. Trotzdem fror Leonhard Weyer wie ein Schneider, sein Atem verdampfte vor seinem Mund zu weißen Wolken, auf den Augenbrauen und im gestutzten Kinnbart hatte sich Raureif festgesetzt. Ängstlich blickte der Händler sich um. Gleich hinter den Tannen am Wegesrand hing die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch, die Dämmerung kroch langsam auf die kleine Gruppe zu. Zum wiederholten Mal fluchte Leonhard Weyer und schimpfte auf die Knechte ein, die müde den Karren durch den Schnee schoben. Es war bestimmt noch eine halbe Stunde bis zur nächsten Ortschaft! Sein Vorhaben, es heute nach Füssen zu schaffen, hatte der Händler bereits aufgegeben. Er wäre froh, wenn er sicher eine billige Dorfherberge erreichte. Dabei war der Plan perfekt gewesen! Wegen der Räuberbande wagte zurzeit kein anderer großer Augsburger Händler, die sicheren Stadtmauern alleine zu verlassen. Wenn überhaupt, zog man im Tross los, bewacht von sündhaft teuren Söldnern. Nur Weyer hatte sich via Schongau vor allen anderen auf den Weg gemacht – und würde so nach Gutdünken die Preise diktieren können. Wenn er jemals in Füssen ankam 191
... Nervös tastete der Händler nach der geladenen Faustbüchse, die unter seinem Mantel am Gürtel hing. Vier seiner stärksten Männer hatte er mitgenommen, alle waren mit Säbeln und Knüppeln ausgerüstet, der Kutscher hielt sogar eine Armbrust in den Händen. Aber ob dies alles ausreichte, eine gierige, hungrige Räuberbande aufzuhalten? Weyer schüttelte den Kopf. Ach was! Was sollten Marodeure auf einer so einsamen Landstraße verloren haben? Keiner wusste, dass er hier mit einer besonders wertvollen Ladung unterwegs war. »Zieh schon, verdammte Mähre!« Joseph, der erste Knecht, drosch mit dem Prügel auf einen der Haflinger ein, so dass dieser nach vorne sprang und der Karren einen Satz machte. Endlich rollte das Rad über die Schneewehe hinweg, die Fahrt konnte weitergehen. Auf dem Weg vor ihnen tat sich eine ausgefahrene Wagenspur auf, die nur leicht von Schnee bedeckt war. Leonhard Weyer lächelte. Sie würden es schaffen. Vor allen anderen würde er in Füssen mit Tuch handeln! Der Gewinn würde beträchtlich sein. Vielleicht konnte er sich nach diesem Geschäft endlich zur Ruhe setzen und alles Weitere seinen Söhnen überlassen. Ein warmer Herd, ein guter Trunk, ein fetter Kapaun, was brauchte der Mensch schon mehr? Das Geräusch kam von rechts, ein leises Knacken in den vereisten Zweigen. Leonhard Weyer kniff die Augen zusammen und sah in die Schwärze der Bäume vor ihm. Doch da war nichts außer Tannendickicht. Auch die Knechte hatten etwas gehört. Sie flüsterten und blickten sich vorsichtig nach allen Seiten um. Irgendet192
was lauerte dort draußen. Jetzt ertönte ein Pfiff, ganz nah neben Leonhard Weyers Ohr. Der Blick des Händlers glitt den Baum empor und verharrte etwa in halber Höhe. Die Zweige dort bewegten sich, als wären sie lebendig. Sie schwankten hin und her, obwohl es fast windstill war. Viel zu spät sah er die Augen. Auf halber Höhe der Tanne glänzten sie weiß in einem sonst aschfarbenen Gesicht. Direkt unterhalb davon war eine Armbrust auf den Händler gerichtet. Leonhard Weyer hörte ein leises Klicken, dann spürte er einen flammenden Schmerz in der rechten Schulter. Er sank vom Pferd und griff instinktiv nach der Pistole, fand sie aber nicht. Um ihn herum brach das Chaos aus, Rufe gellten durch die Dämmerung. Er hörte Schüsse krachen und das Ächzen von kämpfenden Männern. Ein schriller Todesschrei ertönte, der in ein Gurgeln überging. Neben ihm fiel jemand krachend zu Boden. Als er zur Seite blickte, sah er in die angstgeweiteten Augen von Joseph, seinem ersten Knecht. Aus einem breiten Schnitt in der Kehle ergoss sich ein Schwall von Blut auf Weyers wertvollen Pelzmantel. Der Händler blickte ungläubig auf das Stechen, Hauen und Morden. Wie war das möglich? Wer, in Gottes Namen, konnte wissen, dass wir die alte Straße nehmen? Leonhard Weyer schob die Leiche neben sich beiseite und nestelte an seinem Mantel. Der Pelz war so verflucht schwer, dass er den Schlitz nicht fand, durch den er hineingreifen konnte. Wo war nur die verdammte Pistole? Endlich bekam er sie zu fassen, der kalte Stahl glitt durch die Öffnung nach außen. Weyer ignorierte den Schmerz in seiner Schulter und richtete sich vorsichtig auf. Im Sitzen 193
sah er, dass zwei seiner Knechte bereits blutend am Boden lagen. Ein weiterer rang mit drei Räubern, von denen einer gerade mit einer Axt ausholte und den Knecht in der Halsbeuge traf. Aus dem Augenwinkel bemerkte Weyer einen Schatten, der sich ihm von links näherte. Er fuhr herum und sah einen Mann auf sich zurennen. Um die Beine und Arme hatte er Tannenzweige gebunden, sein Gesicht war mit Kohle schwarz angemalt, in seiner rechten Hand blitzte eine polierte Pistole. Er war von kleiner Statur und bewegte sich so geschmeidig wie eine Katze. Trotz der Tarnung hatte Weyer das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Nur wo? Für weiteres Nachdenken war jetzt keine Zeit mehr. Weyer richtete seine geladene Waffe auf den Banditen und drückte ab. Es klickte. Sonst nichts. Verdammt, das Pulver ist nass geworden, dachte Leonhard Weyer noch. Gott, hilf mir! Die Gestalt näherte sich langsam, fast genüsslich, und hielt den Lauf ihrer Pistole direkt an Weyers Stirn. Kurz bevor der Hahn niederfuhr und das Schießpulver zum Explodieren brachte, fiel Leonhard Weyer endlich ein, woher er die Gestalt kannte. War das möglich? Aber wieso … Die plötzliche Erkenntnis nützte ihm nichts mehr. Die Welt zerstieb in tausend Sterne, und dahinter war unendliche Schwärze.
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Sie trafen sich noch vor dem Morgengrauen am Marktplatz, Schemen in der Dunkelheit, die erst langsam Konturen bekamen, als Jakob Kuisl näher kam. Der Henker kannte die meisten von ihnen. Der Torwächter Jakob Rauch war darunter und auch der kräftige Schmied Georg Krönauer. Sogar der greise Andre Wiedemann hatte sich angeschlossen. Der Kriegsveteran stützte sich müde auf seine Muskete und musterte argwöhnisch die Neuankömmlinge, die in dicken Mänteln auf den Platz schlurften; gefrorener Atemhauch drang wie Rauch aus ihren Mündern. Weiter hinten erblickte Jakob Kuisl die Söhne der Ratsherren Semer und Hardenberg. Sie standen zusammen mit Hans Berchtholdt, dessen Vater für die Bäcker im Äußeren Rat saß. Tuschelnd deuteten sie auf den Henker und spielten gelangweilt mit ihren funkelnden Säbeln. Ab und zu drang aus der Gruppe Gelächter zu Kuisl herüber, der sich jetzt in die Mitte des Kreises begab. Knapp zwei Dutzend Männer hatten sich eingefunden. Um den Scharfrichter herum standen Ratsherren, Wirte und Handwerker, allesamt ehrbare Bürger, die ihn misstrauisch bis feindselig anblickten, als warteten sie nur darauf, dass er ihnen irgendeinen Anlass zum Widerspruch gab. In diesem Moment wurde Jakob Kuisl die ganze Sinnlosigkeit von Lechners Plan bewusst. Er war nichts weiter als ein ehrloser Henker, ein Folterknecht und Abdecker. Wie sollte er diesen Leuten Befehle erteilen? Gerade wollte er sich räuspern, als hinter ihm aus dem Nebel eine Stimme erklang. »Meine Herren, ich habe Euch allen eine traurige Mitteilung zu machen.« 195
Johann Lechner war wie ein Geist aus der Dämmerung aufgetaucht. Der Schreiber sah aus, als wäre er bereits seit Stunden wach. Haare und Bart frisiert, Rock und Mantel akkurat geknöpft, den stechenden Blick befehlsgewohnt auf die Männer gerichtet. »Man hat im Wald kurz hinter Lechbruck ein paar Tote gefunden«, fuhr er fort. »Den Augsburger Händler Leonhard Weyer und seine Knechte. Erst gestern Morgen sind sie von Schongau aus aufgebrochen!« Er hob die Stimme an und ließ seine Augen prüfend über die mit Sensen, Dreschflegeln und verrosteten Musketen bewaffneten Männer schweifen. »Das nächste Mal ist es vielleicht einer von uns, den sie ausrauben und massakrieren. Bürger dieser Stadt, es wird endlich Zeit, dass wir dieser Bande das Handwerk legen!« Ein Raunen ging durch die Menge. Von da und dort waren Flüche zu hören. »Ruhe bitte!« Der Schreiber klatschte in die Hände, und sofort kehrte wieder Stille ein. »Der Kuisl war als Söldner im Großen Krieg.« Johann Lechner deutete auf den Henker, der in voller Montur mit Säbel, Gewehr und Pistolen in der Mitte der Gruppe stand. »Ein fähiger und geschickter Rottführer, wie ich mir habe sagen lassen. Er hat also Erfahrung mit solchem Pack. Und er kann von Euch allen am besten mit Waffen umgehen. Ich möchte, dass Ihr seinen Befehlen gehorcht. Es ist zu unser aller Wohl.« »Und wenn wir nicht wollen, hä?« Es war Hans Berchtholdt, der Sohn des Bäckers, der sich nun breitbeinig vor den Schreiber stellte. »Mein Vater meint, Ihr könnt uns gar nichts vorschreiben. Das ist immer noch ei196
ne freie Stadt! Ein Berchtholdt lässt sich nicht von einem räudigen Schinder herumkommandieren!« Ein leises Zischen war zu hören, als Jakob Kuisl seinen Säbel aus der Scheide zog. Seine Faust ballte sich um den Griff. »Dein Vater ist ein alter Trottel.« Die Stimme war von rechts gekommen, aus dem Morgennebel tauchte die Gestalt Jakob Schreevogls auf. Der Patrizier nickte dem Schreiber und Jakob Kuisl zu. »Ihr gestattet, dass ich mich anschließe.« Der junge Ratsherr steckte seine gutgeölte Pistole zurück in den Gürtel und stellte sich neben den Henker. »Es freut mich, dass wir einen weiteren Mitstreiter gefunden haben«, sagte Johann Lechner lächelnd. »Und nun zu Eurer Frage ...« Er blickte Hans Berchtholdt mit seinen stechenden Augen an, so dass dieser eingeschüchtert zurückwich. »Der Überfall auf den Augsburger Händler ist feiger Mord und damit nicht mehr Sache der Stadt, sondern des Kurfürsten«, fuhr Lechner beiläufig fort. »Der Stellvertreter des Kurfürsten in Schongau bin nun mal ich. Und ich befehle, dass der Henker diesen Tross anführt. Wollt Ihr diesen Fall mit mir vor dem Münchner Hofgericht ausdiskutieren?« Hans Berchtholdt war zurück ins Glied getreten. Die beiden anderen Patriziersöhne schauten verzweifelt in eine andere Richtung. »Nein ... natürlich nicht. Ich...«, stammelte Berchthold. »Gut, dann können wir ja endlich fortfahren.« Der Schreiber wandte sich Jakob Kuisl zu. »Der Henker wird Euch erklären, wie wir vorgehen.« 197
Jakob Kuisl grinste. Man konnte von Lechner halten, was man wollte, seine Stadt hatte er jedenfalls im Griff. Grimmig rammte der Scharfrichter den Säbel zurück in die Scheide und blickte einem Mann nach dem anderen ins Gesicht. Dann erläuterte er in kurzen knappen Worten seinen Schlachtplan. Krachend schlug Simon die Tür hinter sich zu und machte sich auf zur Peitinger Schlossruine, während sein Vater hinter ihm noch immer schimpfte und zeterte. Es war kurz vor acht Uhr morgens, in den Gassen Schongaus waren bereits die ersten Bauern und Handwerker mit ihren Karren unterwegs. Bonifaz Fronwieser hatte vergeblich darauf bestanden, dass sein Sohn zu Hause blieb, um ihm bei den anfallenden Behandlungen zu helfen. Noch gestern Nacht waren zwei weitere Schongauer zum Haus des Medicus gekommen und hatten über Husten und Schüttelfrost geklagt. Der alte Arzt hatte ihnen einen Saft aus Lindenblütenextrakt aufgeschwatzt und ansonsten für viel Geld ihren Urin beäugt. Dann hatte er sie unter gutem Zureden nach Hause geschickt. Simon war froh, dass er dieses Treiben heute nicht mitansehen musste. Sie waren so machtlos! Die Menschen starben wie die Fliegen, und den Doktoren hierzulande fiel nichts Besseres ein, als die Kranken zur Ader zu lassen und ihnen Klistiere zu verabreichen. In Paris, London oder dem niederländischen Leiden waren die Gelehrten schon weiter; in diesen Städten gab es sogar renommierte Professoren, die behaupteten, Krankheiten würden nicht durch üble Gerüche und Miasmen, sondern durch kleine, mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erken198
nende Tierchen von Mensch zu Mensch übertragen. In Schongau war man noch der Ansicht, dass Rotz Gehirnschleim sei und ein Schnupfen den Menschen innerlich austrocknen und verblöden ließ. Simon fluchte. Bis letzte Woche hatte er noch ein Quentchen Jesuitenpulver gehabt, gewonnen aus der Rinde eines exotischen Baumes, der jenseits des großen Ozeans wuchs. Das Fieber war daraufhin zurückgegangen, aber jetzt war der letzte Rest verbraucht, und der nächste venezianische Händler würde erst wieder im Frühjahr über die Passstraßen nach Norden kommen. Als Simon um die Ecke in die Weinstraße einbog, verstummte das Geschrei seines Vaters. Vermutlich spülte Bonifaz Fronwieser seinen Ärger bereits mit einem Glas billigen Weißweins hinunter. Simon hoffte, dass er sich bis zum Abend hin wieder beruhigt hatte. Auch Magdalena war bis dahin hoffentlich zur Vernunft gekommen. Er hatte gestern Abend noch bei ihr vorbeigesehen, aber niemand hatte ihm geöffnet. Mehrmals hatte er laut an die Haustür geklopft, bis Anna Maria Kuisl einen gefüllten Nachttopf aus dem Fenster gekippt und ihm damit unmissverständlich klargemacht hatte, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht war. Nun, in den nächsten Tagen würden sich die Wogen sicherlich glätten, und bis dahin hatte er vielleicht herausgefunden, was es mit den Rätseln rund um den Templerschatz auf sich hatte. Möglicherweise würde er nach seinem Besuch in Peiting schon klarer sehen. Als er im frostigen Morgennebel aus dem Lechtor trat, kam ihm eine Gestalt entgegen, die sich im Schatten der Stadtmauer verborgen hatte. Es war Benedikta. 199
»Ich finde, unsere Unterhaltung ist gestern viel zu schnell zu Ende gewesen«, sagte sie und lächelte ihn an. Sie trug eine Fellmütze und einen schweren, groben Wollmantel, der nicht zu ihrem zierlichen Körper passte. Sie musste sich die Kleider im Ort gekauft haben, als sie gemerkt hatte, dass sie wohl doch noch länger bleiben würde. Als Benedikta Simons fragendes Gesicht sah, zuckte sie entschuldigend mit den Schultern. »Das Begräbnis meines Bruders ist erst morgen. Ich dachte, ich könnte Euch begleiten. Zu Euerem eigenen Schutz...« Bei den letzten Worten zwinkerte sie, und Simon spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Beschützt von einer Frau. Hoffentlich erfährt das nie der Henker … Jetzt erst bemerkte er unter Benediktas schweren Mantel links in Hüfthöhe eine Ausbeulung. Er vermutete, dass sich dort die Pistole befand, mit der die Händlerin den Räuber zusammengeschossen hatte. »Warum nicht?«, sagte er. »Aber bitte diesmal ohne Pferde. Mir tut immer noch jeder Muskel weh.« Benedikta lachte laut auf und schritt im knirschenden Schnee voran, so dass Simon Mühe hatte, sie einzuholen. »Keine Angst«, sagte sie. »Ich habe meinem Aramis heute eine Ruhepause verordnet. Und der Weg ist ja nicht weit, nicht wahr?« Simon nickte und ging nun neben ihr her. »Seht Ihr den großen Hügel?« Er deutete auf die andere Seite des Lechs. »Dahinter ist Peiting, das Nachbardorf, und direkt daneben ist der Schlossberg mit der alten Welfenburg. Zumindest das, was die Schweden noch davon übrig gelassen haben.« 200
»Wohnt denn keiner mehr dort oben?«, fragte Benedikta. Simon lachte. »Höchstens noch ein paar Schlossgespenster. Früher haben dort die Welfen gelebt, ein Herzogsgeschlecht, das hier vor Urzeiten herrschte. Aber das ist lange her. Als sich im Großen Krieg die Bevölkerung dort oben verschanzt hat, haben die Schweden auch noch den letzten Rest der Burg zusammengeschossen. Jetzt treiben sich höchstens noch ab und zu ein paar Bauern herum, die sich Steine für ihre Feldmauern und Scheunen holen.« »Und Ihr glaubt, dass wir dort oben tatsächlich noch etwas finden?« Simon zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht, aber dann haben wir es wenigstens versucht.« Der Weg stieg am anderen Ufer des Lechs sanft an. Schon bald waren sie von Bäumen umgeben, die Mauern und Häuser von Schongau tauchten noch einmal kurz zwischen den Wipfeln auf, dann hüllte sie der Wald ein. Simon sah sich vorsichtig um. Peiting war zwar nur eine knappe Stunde von der Stadt entfernt, trotzdem glaubte er nach dem Erlebnis vor drei Tagen, hinter jedem Stamm einen Wegelagerer zu sehen. Doch außer einem müden Bauern, der einen Ochsen vor sich hertrieb, begegnete ihnen niemand. Von fern waren bereits die ersten Häuser von Peiting zu erkennen, als rechts ein schmaler Pfad auf den Schlossberg hinaufführte. Simon schritt voraus. Der Schnee war hier wesentlich höher und noch nicht festgetreten, nur mit Mühe kamen sie voran. Immer wieder sanken sie ein, manchmal bis zur Hüfte. Nach einer Weile entdeckten sie 201
einen Wildwechsel, wo Tiere bereits eine Spur gezogen hatten, so dass das Gehen leichter fiel. Der Weg stieg steil an, links und rechts standen uralte Eichen, die einst Teil einer herzoglichen Allee gewesen sein mussten, die jetzt aber der Wald verschlungen hatte. Etwa eine halbe Stunde später hatten sie die Kuppe des Hügels erreicht, der Wald wich zurück und machte den Blick frei auf eine Lichtung, auf der die Überreste einer Burg standen. Die Schweden hatten ganze Arbeit geleistet. Die Außenmauern waren allesamt niedergerissen, die herrschaftlichen Gebäude standen als dürre, schwarze Gerippe zwischen verrußten Balken und schneebedeckten Trümmerhaufen. Nur noch der Bergfried ragte wie ein mahnender Zeigefinger aus der Ruinenlandschaft empor. Eine gespenstische Stille lag über der Lichtung, so als würde der Schnee, der hier oben teils meterhoch lag, sämtliche Geräusche schlucken. »Na wunderbar«, sagte Benedikta und rieb ihre frostigen Hände aneinander. »Einen besseren Platz für ein Versteck hätte dieser Templer wirklich nicht finden können.« Simon zuckte mit den Schultern und blickte ein wenig ratlos auf das Durcheinander. »Als die Templer noch in Schongau lebten, muss das hier ein stattliches Schloss gewesen sein. Aber irgendwann hat sich der Herzog nicht mehr blicken lassen, die Burg verfiel, und jetzt noch die Schweden ... « Er kletterte auf einen Schutthaufen und versuchte von dort, das ganze Ausmaß der Anlage zu überblicken. Von hier oben sah man bis nach Schongau und auf den Lech, der von den Bergen gen Augsburg floss, weit entfernt ragte der Hohe Peißenberg im Morgennebel empor. Doch direkt unter ih202
nen lagen nur Trümmer und Ruinen. Simon seufzte und stieg vorsichtig wieder zu Benedikta hinunter. »Genauso gut könnten wir eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen«, sagte er. »Aber nun gut, da wir schon mal hier sind ...« Sie beschlossen, sich aufzuteilen. Benedikta übernahm den südlichen Teil der Anlage, Simon den nördlichen. Er stapfte über Geröllfelder und warf immer wieder einen flüchtigen Blick in die Gebäude, von denen meist nur noch die Mauern standen. Mehrmals stieß er zwischen Steinbrocken auf Knochen und grinsende Totenschädel, in einer Nische klemmten Überreste eines Gerippes, das in Fetzen eines schwedischen Waffenrocks gehüllt war. Zweimal brach Simon im Schnee ein; sein Stiefel verkeilte sich in einer verborgenen Spalte, so dass er Mühe hatte, sich zu befreien. »Habt Ihr schon etwas gefunden?«, rief er in die Richtung, wo er Benedikta vermutete. Seine Stimme kam ihm merkwürdig laut und gleichzeitig gedämpft vor. »Hier ist nichts!«, hallte es zurück. »Glaubt Ihr wirklich, dass wir weitermachen sollen?« »Nur noch ein bisschen!« Er kletterte über einen weiteren Schutthügel und sah vor sich die Ruinen einer kleinen Kapelle liegen. Über Felsen und Schneewehen ging Simon auf die verfallenen Mauern des Kirchenschiffs zu, das auf einer kleinen Anhöhe stand. Hierhin hatten sich die Welfen wohl früher zum Beten zurückgezogen. Jetzt starrten ihn nackte, rußige Wände an, selbst die Kirchenfenster mit den Bleifassungenwaren herausgebrochen und vermutlich zu Kugeln eingeschmolzen worden. Schnee 203
rieselte durch das Dachgerippe auf den steinernen Altar ,überall lagen Haufen von verkohlten Balken. Einer plötzlichen Eingebung folgend, betrat Simon die Kapelle und stieg auf einen der Holzstapel, um zum Altar zu gelangen. Die bisherigen zwei Rätsel des Templers hatten immer mit Kirchen zu tun gehabt, zunächst die kleine Lorenzkirche, dann die Altenstadter Basilika. Vielleicht war das auch hier der Fall. Er musste nur noch … Krachend gaben die Balken unter ihm nach. Holzsplitter rissen ihm Mantel und Rock auf, während er mit einem lautlosen Schrei in die Tiefe fiel. Verzweifelt versuchte er sich an einem überhängenden Holzstück festzuhalten, doch es brach ab und polterte mit ihm in die Dunkelheit. Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Er spürte kalten Stein und etwas Dünnes, das unter ihm zersplitterte. Noch während er sich aufrappelte, hörte er ein reißendes Geräusch über sich. Instinktiv warf er sich zur Seite, als ein ganzer Stapel Balken in die Tiefe rauschte und direkt neben ihm am Boden liegen blieb. Einen Meter weiter rechts, und er wäre darunter begraben worden. Simon atmete tief durch und bewegte vorsichtig seine Gliedmaßen. Es schien nichts gebrochen zu sein. Ein Riss in seinem neuen Augsburger Rock zog sich von der Achsel bis hinunter zur Hüfte. An einigen Stellen hatten sich winzige Holzsplitter durch die Kleidung in seine Haut gebohrt, doch ansonsten war er unverletzt. Erst jetzt hatte er Gelegenheit zu untersuchen, auf was er da eigentlich gefallen war. Er griff neben sich und hielt einen bleichen, zerbrochenen Oberschenkelknochen in die Höhe. Zwischen seinen Beinen grinste ihn ein zahnloser Totenschädel an. 204
Entsetzt sprang Simon auf und sah sich um. Überall um ihn herum lagen Schädel und Gebeine, ein Haufen vermoderter, teils grünlich verfärbter Gerippe, die sich über den ganzen Boden verteilten. Er schien durch den morschen Boden in die Krypta der Kapelle gestürzt zu sein. Licht fiel in Streifen durch die Öffnung über ihm. An der Westseite führte eine schmale steinerne Treppe zu einer Falltür in der Decke, die wohl früher einmal der Eingang gewesen war. In die Felswände der Kammer waren Grabplatten gemauert, die Ritter mit ihren Schwertern oder auf dem Rücken ihrer Pferde zeigten. Simon sah sie sich genauer an. Vermutlich waren es Welfenherrscher, oder aber die Staufer, die nach ihnen auf dieser Burg residiert hatten. Kurz musste der Medicus daran denken, dass die Burg schon den Römern als Wehrturm gedient hatte. Wie alt mochten die Gebeine um ihn herum sein? »Ist alles in Ordnung?« Von oben kam Benediktas Stimme. Simon sah ihr besorgtes Gesicht in der Öffnung. »Ich habe das Krachen gehört und bin sofort herübergekommen. Was ist passiert?« Simon grinste. »Ich hätte wohl an Dreikönig nicht so sehr bei den Knödeln zulangen sollen. Durchgebrochen bin ich wie ein Sack Getreide.« Er wies auf die Grabplatten und die Knochen, die ihn umgaben. »Ein bisschen weniger Glück, und ich hätte mich gleich dazulegen können.« Benedikta blickte in die Tiefe. Der Kellerboden befand sich ungefähr drei Schritt unterhalb der Kirche. »Wir werden einen Balken brauchen, an dem Ihr wieder hochklettern könnt«, sagte sie, während sie sich prüfend umsah. 205
Simon nickte. »Seht einmal rechts neben dem Altar. Ich glaube, dort liegen ein paar große Latten. Aber passt um Himmels willen auf! Sonst liegen wir gleich beide hier unten. « Benedikta lächelte ihn an. »Wäre das das Schlechteste?« Sie verschwand, und Simon hörte sie vorsichtig über den morschen Kirchenboden tappen. Während der Medicus auf Hilfe wartete, nahm er die Grabplatten näher in Augenschein. Lateinische Inschriften, die von den Namen der Verstorbenen kündeten. Steinerne Reliefs von Rittern in Rüstungen, liegend, stehend und zu Pferde. Auf einem Bild waren sogar zwei Ritter auf einem Pferd zu sehen. Der Medicus stutzte. Zwei Ritter? Etwas in Simon bahnte sich einen Weg, ein verschwommenes Bild, das bis soeben in seinem Unterbewusstsein geschlummert hatte. Hektisch zog er das kleine Brevier des Wilhelm von Selling, das er immer noch mit sich führte, aus der Rocktasche und blätterte darin. Etwa in der Mitte des Büchleins fand er die Lösung. Zwei Ritter. Ein Pferd. »Benedikta! Benedikta! «, rief er heiser vor Aufregung. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden! Die Lösung des Rätsels, sie ist hier!« Benediktas Gesicht tauchte wieder in der Öffnung auf. »Was?« »Die Templer! «, rief Simon weiter. »Sie müssen hier gewesen sein! Hier unten ist eine Grabplatte der Templer! Das Siegel der Großmeister, es zeigte immer zwei Ritter 206
auf einem Pferd. Es gibt eine alte Abbildung davon in Sellings Buch!« Simon wedelte mit dem Brevier, während Benedikta einen schweren Balken vorsichtig nach unten schob. »Für die Templer war das gemeinsame Reiten auf einem Pferd ein Zeichen großen Vertrauens, ein Sinnbild dafür, dass sie alles miteinander teilten. Deshalb haben sie es auch zu ihrem Siegel gemacht. Jetzt kann ich auch die Schrift erkennen!« Er ging ganz nahe an die Grabplatte und fuhr über die reliefartigen Buchstaben, die kreisrund am Rande der Grabplatte entlangliefen. »Sigillum Militum Christi«, flüsterte Simon. »Siegel der Streiter Christi. Es ist tatsächlich ihr Zeichen.« Benedikta war in der Zwischenzeit auf dem Balken in die Tiefe gerutscht und stand jetzt neben ihm. »Wieder eine Grabplatte«, stöhnte sie. »Langsam wird es lästig.« »Es muss etwas dahinter sein.« Simon zog sein Stilett hervor ,das er sonst gelegentlich bei kleinen Operationen verwendete, und begann, den Mörtel seitlich an der Platte wegzukratzen. Benedikta half ihm mit ihrem Messer. Schweigend arbeiteten sie eine gute Viertelstunde, dann rutschte die Grabplatte langsam zu Boden. Dahinter war nichts. Nur eine nackte Wand, auf der allerdings einige Zeilen in den Fels gemeißelt waren. Im Gegensatz zu all den anderen Inschriften in der Grabkammer waren die Sätze auf Deutsch verfasst, wenn auch in einem sehr altertümlichen Deutsch. Simon murmelte sie leise vor sich hin. »Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes, dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht 207
Baum, noch Berg nicht war, nicht noch irgendetwas, noch die Sonne nicht schien, noch der Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer.« »Was um Himmels willen soll das bedeuten?«, flüsterte Benedikta. »Wieder so ein Rätsel aus der Bibel?« Simon nickte. »Es sieht ganz so aus. Wobei ich diesen Spruch noch nie gehört habe. Und auch etwas anderes ist merkwürdig …« »Was?« Benedikta sah ihn fragend an. »Nun, wenn es aus der Bibel ist, dann müsste es eigentlich lateinisch sein. Es gab damals meines Wissens noch keine deutsche Übersetzung. Jedenfalls keine von der Kirche erlaubte. Die Inschrift ist aber auf Deutsch.« Benedikta ging näher an die Inschrift heran. Sie tippte auf ein Wort in der zweiten Zeile. »Das Wort ›BAUM‹ ist großgeschrieben. Warum nur?« Simon fuhr die Buchstaben mit dem Zeigefinger nach. »Vielleicht ist dieses Wort besonders wichtig«, sagte er. »Vielleicht liegt der Schatz ja unter einem Baum.« Benedikta lachte verzweifelt auf. »Unter welchem? Da draußen ist ein Wald!« »Es muss ein alter Baum sein. Einer, der hier bereits vor über dreihundert Jahren stand. Und er muss etwas Besonderes an sich haben, so dass man ihn gleich wiedererkennt.« Simon eilte auf den verkohlten Balken zu und begann, sich hochzuziehen. »Kommt, lasst uns nachsehen. Vielleicht stehen wir kurz vor der Lösung des Rätsels!« Benedikta seufzte und kletterte ihm nach. Sie suchten den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag. Sie hielten Ausschau nach alten oder merkwürdig verkrüppelten Bäumen, nach Eichen, in deren 208
Rinde etwas geschnitzt war, oder Buchen, die einsam auf einer Anhöhe standen. Sie suchten nach versteckten Zeichen und steinernen, im Boden eingelassenen Platten, sie suchten in Astlöchern, Wurzelhöhlen und alten Dachsbauten. Sie fanden nichts. Nach fünf Stunden vergeblicher Suche setzte sich Simon auf einen großen, verschneiten Felsbrocken, der aus der Burgmauer herausgefallen war, und rieb seine eiskalten Hände aneinander. »So kommen wir nicht weiter«, sagte er, während sein Atem als weißer Dampf aufstieg. »Selbst wenn der Schatz, oder was auch immer, hier unter einem Baum versteckt wäre, die Erde ist viel zu hartgefroren, als dass wir graben könnten.« Benedikta setzte sich neben ihm auf den Felsbrocken, ihr Gesicht war rot von der trockenen Kälte. »Glaubt Ihr immer noch, hier oben liegt ein Haufen Geld?« Simon stand auf und ging schnell auf und ab, um wieder Wärme in seine Gliedmaßen zu bringen. »Vielleicht ist es gar kein Geld. Es kann Gold sein, Geschmeide, Diamanten. Etwas Kleines, sehr Wertvolles. Vielleicht ist das alles aber nur Blödsinn und ich habe mich in eine Idee verrannt.« Wütend warf er einen Stein ins Tal hinab. Der hühnereigroße Kiesel riss eine Schneewehe mit sich, die als kleine Lawine zwischen den Bäumen zerplatzte. »Lasst uns heimgehen«, sagte er, zu Benedikta gewandt. »Ihr müsst noch die Beerdigung Eures Bruders vorberei209
ten. Und ich habe von diesen Templern erst einmal die Nase voll.« Gemeinsam stapften sie durch den Schnee ins Tal hinunter. Keiner von beiden bemerkte die drei Gestalten, die ihnen, gut verborgen hinter einem Mauerstück, mit hasserfüllten Augen hinterherstarrten. Bruder Avenarius rieb sich den dicken Verband am Hinterkopf, wo ihn der Henker mit dem Knüppel erwischt hatte. »Sieht nicht so aus, als ob sie etwas gefunden haben«, sagte er in seinem schwäbischen Dialekt. »Vielleicht ist der Bursche doch nicht so schlau, wie er meint. Sapientia certa in re incerta cernitur ...« »Schlauer als du ist er auf alle Fälle, Klugscheißer!« Der Mann mit der Narbe im Gesicht und der krächzenden Stimme spielte mit dem Krummdolch zwischen seinen Fingern. »Was haben uns deine gelehrten Sprüche denn bis jetzt gebracht, hä? Nichts außer einen toten Pfaffen und einen Sack voll Ärger!« »Mit dem Pfarrer hab ich nichts zu schaffen!«, rief der Schwabe zornig. »Man hätte ihn doch nicht gleich umbringen müssen! Es hätte gereicht, ihn ... nun, zum Schweigen zu bringen.« »So schweigt er auch.« Der Mann mit der Narbe warf den Dolch in Richtung eines morschen Baumstamms, wo die Waffe zitternd stecken blieb. »Bruder Nathanael hat recht«, meldete sich der dritte, schwarzgewandete Mönch, den auch hier draußen ein stechender Veilchengeruch umwaberte. Er war hager und ausgezehrt wie ein Stück trockenes, rissiges Holz. Als 210
Einziger der drei trug er die Kapuze tief im Gesicht. »Der Pfaffe war zu gefährlich. Deus lo vult!« »Wo soll das noch hinführen!«, jammerte der Schwabe. »Zuerst der Pfarrer, dann der Henker ... Dafür hat uns der Meister nicht ausgeschickt!« »Die Worte des Meisters waren mehr als deutlich.« Der hagere, lange Mönch beugte sich nun über Bruder Avenarius, so dass dem dicken Schwaben vor lauter Parfumgestank fast übel wurde. Doch niemals hätte Avenarius es gewagt, etwas dagegen zu sagen. Der Hagere war ihr Anführer, auch wenn er von Woche zu Woche merkwürdiger wurde. »Der Meister verlangt, dass wir den Schatz dorthin zurückbringen, wo er hingehört«, flüsterte der Mann mit dem Veilchenduft. Sein Mund war ein rotes Loch in der schwarzen Tiefe der Kapuze. »Alles andere zählt nicht. Außerdem ist der Henker entkommen, er lebt. Ich hab ihn erst gestern mit den anderen an der Basilika St. Michael gesehen.« »Du hast was ... ? « Der Mönch mit der Narbe sprang auf, doch der Hagere beruhigte ihn. »Es ist gut so, wie es ist. Gott hat offenbar nicht gewollt, dass der Henker stirbt. Er braucht ihn noch als kleines Teilchen in seinem großen Plan. Vermutlich ist uns deshalb auch seine Tochter entkommen, die Henkersdirn. Ein erstaunliches Weib ... « Er zögerte, als dächte er über etwas nach. »Sie heißt Magdalena, merkwürdig. Ich kannte einmal jemand, der so hieß …« Plötzlich klatschte er in die Hände. »Lasst uns jetzt dem Meister Bericht erstatten.« 211
Der Hagere sprang über das Mauerstück und winkte den anderen, ihm zu folgen. Als er die enttäuschten Blicke seines vernarbten Mitbruders sah, versuchte er ihn aufzumuntern. »Wenn sie den Schatz wirklich finden, ist ihre Aufgabe getan, Nathanael. Gott wird nicht dulden, dass sich das frevlerische Denken der Ketzer noch einmal ausbreitet. Wir haben sie einmal vernichtet, es wird uns auch diesmal wieder gelingen. Jegliche Erinnerung muss ausgelöscht werden. Deine Zeit wird kommen.« Der Mönch mit dem Krummdolch nickte grimmig. Zu dritt eilten sie wie Spürhunde den frischen Spuren hinterher.
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akob Kuisl wanderte am steilen Hang der Ammer-
schlucht entlang und blickte nach unten, wo der Fluss in fünfzig Schritt Tiefe dahinrauschte. Auf der Oberfläche trieben Eisschollen, stießen gegeneinander und türmten sich zu bizarren Formationen auf, die den Henker an krumme, ausgetretene Treppen erinnerten. Dort unten dämmerte es bereits, schon bald würde es spürbar kälter werden. Die Sonne verschwand langsam hinter den Wipfeln und tauchte die Gesichter seiner Mitstreiter in ein letztes goldenes Licht. »Wir sollten für heute aufhören«, murrte hinter ihm Hans Berchtholdt. »Genauso gut könnten wir einen Hasen im Gebirge suchen.« Der Bäckerssohn hatte bereits kurz nach dem Beginn der Jagd begonnen, an dem Unternehmen zu zweifeln. Andere Patriziersöhne hatten sich ihm nach und nach angeschlossen. Wie sollten sie bloß in den Weiten der Schongauer Wälder eine Räuberbande finden? Und überhaupt, war das nicht Aufgabe von Soldaten und einfachen Bütteln? Auch wenn einige der jungen Burschen zunächst noch Feuer und Flamme gewesen waren, weil sie hofften, einmal richtig Krieg spielen zu dürfen, mittlerweile hatten ihnen die Kälte und der anstrengende Marsch das letzte bisschen Jagdfieber ausgetrieben. Jetzt wollten sie nur noch nach Hause. 213
Jakob Kuisl ließ den Blick hinüberschweifen zum anderen Ufer, in der Hoffnung, dort eine verdächtige Bewegung zu sehen. Die Wegelagerei war in den bayerischen Wäldern schon immer eine Plage gewesen, doch seit dem Großen Krieg war es praktisch nicht mehr möglich, ohne Begleitschutz von einer Stadt in die andere zu reisen. Mehrmals im Jahr hängte Jakob Kuisl ein paar Strolche oben am Galgenbichl auf, manche von ihnen nicht älter als vierzehn Jahre, doch vergebens. Hunger und Gier waren stärker als die Angst vor dem Henker. Die Räuberbande in diesem Winter war allerdings die größte seit vielen Jahren. Ihr Anführer, ein gewisser Hans Scheller, hatte fast zwei Dutzend Spießgesellen um sich gesammelt, darunter ehemalige Söldner, aber auch Bauern, deren Felder, Scheunen und Vieh der Krieg verzehrt hatte; viele von ihnen brachten ihre Frauen und Kinder in die Bande mit. »He, Kuisl, ich red mit dir! Lass uns heimgehen. Kannst ja allein noch weitersuchen.« Jakob Kuisl sah sich verächtlich nach dem Bäckerssohn um. »Einen letzten Schlupfwinkel schauen wir uns noch an, dann darfst wieder heim ins warme Federbett. Schaust schon ganz verfroren aus. Oder kommt die rote Nase vom Saufen?« Hans Berchtholdt wurde noch röter, als er ohnehin schon war. »Werd bloß nicht frech, Schinder!«, rief er und fuchtelte mit seinem Säbel. »Von einem wie dir lass ich mir schon gleich gar nichts sagen. Eine Schand ist’s, dass der Lechner dich zum Anführer gemacht hat!« 214
»Hüte dein vorlautes Mundwerk, Berchtholdt! «, sagte Jakob Schreevogl, der bislang schweigend mit dem Henker vorausgegangen war. »Hast selbst gehört, was der Schreiber gesagt hat. Der Kuisl kennt sich hier am besten aus. Also führt er uns auch.« »Der Berchtholdt hat recht, Schreevogl!« Es war Sebastian Semer, der Sohn einer des ersten Bürgermeisters, der sich nun zu Wort meldete. In seinem enggeschnittenen Wams mit den kupfernen Knöpfen und dem geschwungenen Hut mit der Hahnenfeder wirkte er hier im Wald reichlich fehl am Platz. Außerdem schien er in seinen dünnen Lederstiefeln gewaltig zu frieren. Seine Stimme zitterte, und Jakob Kuisl wusste nicht, ob es an der Kälte oder an der unterschwelligen Angst lag, als der junge Patrizier den Henker nun feindselig musterte. »Das hat es noch nie gegeben, dass ein Schinder und Scharfrichter ehrenwerte Bürger herumkommandiert«, brachte Semer endlich hervor. »Ich ... ich ... werd mich bei meinem Vater beschweren!« »Ja, ja, mach das, und jetzt geh zu, bevor es Nacht wird.« Jakob Kuisl stapfte voran, in der Hoffnung, dass ihm die Gruppe folgte. Er spürte, wie seine Autorität langsam bröckelte. Die Menschen, die ihm in dieser Runde vertrauten, konnte er an einer Hand abzählen. Jakob Schreevogl, der alte Andre Wiedemann, den er noch vom Krieg her kannte, vielleicht der Schmied Georg Kronauer und ein paar der Handwerker. Der Rest folgte ihm, weil der Schreiber es so bestimmt hatte und weil sie den Henker fürchteten. 215
Kuisl seufzte leise. Scharfrichter waren in den Augen der meisten keine ehrenwerten Mitbürger, weil ihr Beruf aus Tätigkeiten bestand, die sonst keiner übernehmen mochte: Sie folterten und hängten Verbrecher, beseitigten die toten Tiere im Ort, kehrten den Dreck von den Straßen und panschten magische Tränke und Tinkturen. Für die Söhne der Ratsherren musste die Vorstellung, dass ein solcher Mensch ihnen Befehle gab, einen ungeheuren Frevel darstellen. Jakob Kuisl konnte förmlich spüren, wie sich hinter ihm der Widerstand zusammenbraute. Leise verfluchte er den Gerichtsschreiber Johann Lechner, der ihn in diese Lage gebracht hatte. Vielleicht wollte Lechner ihn auf diese Weise einfach nur loswerden? Es waren Henker schon aus weitaus geringeren Anlässen vom Volk gelyncht worden. Kuisl war klar, wenn auch der nächste Unterschlupf leer sein sollte, dann war die Räuberjagd für ihn zu Ende. Als er jedoch hinter der nächsten dichten Tanne hervortrat, wusste er sofort, dass sie diesmal Erfolg haben würden. Von unten aus der Ammerschlucht stieg Rauch zu ihm empor, ein dünner Faden nur, aber in der klaren Winterluft trotzdem gut zu erkennen. Jakob Kuisl grinste. Er hatte gewusst, dass das Gesindel hier irgendwo untergekrochen war. Als der Henker die Jagd geplant hatte, war ihm bewusst gewesen, dass es keinen Sinn machen würde, auf gut Glück durch den Wald zu laufen in der Hoffnung, auf einzelne Marodeure zu treffen. Die Gegend rund um Schongau war eine Wildnis aus Wäldern, Schluchten und schroffen Hügeln. Nur ein jeweils kleiner Bereich um die 216
Ortschaften wurde überhaupt bewirtschaftet, dahinter begann der Urwald, endlos und unübersichtlich. Doch der Henker kannte diese Gegend wie kein Zweiter. Auf der Suche nach heilenden und giftigen Pflanzen war er in den letzten Jahren meilenweit in den Wald eingedrungen, er kannte jede größere Höhle, jede Ruine, jedes Versteck. Drei mögliche Unterschlupfe hatten sie heute bereits aufgesucht, jetzt beim vierten schienen sie Glück zu haben. Jakob Kuisl hatte von Anfang an geahnt, dass er hier bei den Schleyerfällen fündig werden würde. Der Rauch kam aus einer Felsspalte in der Nähe des Abhangs. Der Henker wusste, dass sich dort unten große Kalkformationen befanden, durch die sich das Wasser über Jahrtausende hindurchgefressen hatte. Die Folge waren weitverzweigte Höhlen, deren Eingänge sich oft hinter Wasserfällen verbargen. Hier bei den Schleyerfällen floss das Wasser im Sommer über grünes Moos hinunter in die Ammer. Jetzt im Winter hingen die Eiszapfen wie ein weißer Vorhang über den Eingängen. Jakob Kuisl beugte sich nach unten und sog den Rauch ein. Er roch gebratenes Fleisch und verbranntes Fett. Die Rauchsäule vor ihm musste von einem größeren Lagerfeuer stammen, sie zog über einen natürlichen Kamin zu ihnen herauf. »Henker, was ist los, warum ...« Mit einer raschen Handbewegung bedeutete Kuisl dem Bäckerssohn zu schweigen. Dann zeigte er auf den Rauchfaden und auf einen schmalen Trampelpfad dreißig Schritt vor ihnen, der nach unten in die Schlucht führte. Gerade wollte er weitergehen, als er ein paar eiserne Sprossen 217
entdeckte, die direkt neben ihm an der Felswand in die Tiefe führten. »Ihr Fluchtweg«, flüsterte er. »Wir müssen uns aufteilen. « Er deutete auf Jakob Schreevogl. »Ihr nehmt den größten Teil der Männer und geht den Pfad hinunter. Ich werde mit ein paar wenigen Leuten die Sprossen hinunterklettern. Nicht dass sie uns wie die Ratten durch dieses Schlupfloch entwischen.« Aus einem Sack, den er bislang über der Schulter getragen hatte, holte er Fackeln und verteilte sie an Andre Wiedemann und Georg Kronauer. »Wir werden sie von hinten ausräuchern«, sagte er zu den Anderen. »Ihr wartet vor dem Eingang. Wenn sie rauskommen, nehmt so viele wie möglich gefangen. Wer sich wehrt, den haut ihr nieder.« Der alte Kriegsveteran Andre Wiedemann knurrte beifällig. Hans Berchtholdts Gesicht wurde derweil blass. »Sollten nicht ein paar von uns hier oben warten, nur für den Fall, dass euch jemand entkommt?«, stammelte er. Auch Sebastian Semer wirkte plötzlich nicht mehr so vorlaut wie noch gerade eben. Ängstlich sah er sich nach allen Seiten um. Von irgendwoher ertönte der Ruf eines Käuzchens. »Schmarren«, sagte Kuisl und stopfte die beiden frisch geölten Radschlosspistolen mit Pulver, während er weiter an seiner kalten Pfeife kaute. »Wir brauchen unten jeden Mann. Und jetzt ab mit euch.« Er nickte Jakob Schreevogl noch einmal zu, dann steckte er die beiden Pistolen in den Gürtel und kletterte mit Wiedemann, dem Schmied Kronauer und zwei weiteren Handwerkern hinunter in die Tiefe. Die Muskete baumelte 218
geladen über seiner Schulter. Kurz überlegte er, ob es nicht besser gewesen wäre, die beiden Patriziersöhnchen oben zu lassen. Möglich, dass sie in ihrer Angst etwas Unüberlegtes taten und sie so verrieten. Doch dann dachte er an ihre funkelnden Säbel, feschen Hüte und blitzblanken Gewehre. Unwillkürlich musste er grinsen. Sie wollten Krieg spielen, nun sollten sie ihn auch wirklich erleben. Magdalena kam es vor, als würde sie schweben. Sie stand ganz vorne auf dem Floß und sah das Wasser links und rechts an den roh behauenen Stämmen vorbeirauschen. Gelegentlich stieß das Floß an zersplitterte Eisschollen und abgebrochene Eiszapfen, die in kleinen Strudeln im Lech versanken. Steile Hänge, an deren Saum verschneite Buchen standen, zogen an beiden Seiten des Flusses an ihr vorüber; das Gelächter und die Befehle der Flößer tönten wie ein endloses Lied. Weiter unten verließ der Lech die enge Schlucht und wand sich durch eine weiße Landschaft, in der als dunkle Flecken immer wieder Weiler und kleine Wäldchen auftauchten. Magdalena sah nach links. Am Ufer erschien nun das kleine Städtchen Landsberg mit seinen trutzigen Festungsmauern und Türmen, die während des Großen Krieges teilweise geschleift worden waren. Die Henkerstochter wusste aus Erzählungen, dass die Stadt noch weit mehr als Schongau unter den Soldaten zu leiden gehabt hatte. Viele Landsberger Mädchen waren aus Angst vor einer Vergewaltigung von den Wehrtürmen in den Lech gesprungen und dort ertrunken. Magdalena fiel ein, dass auch Benedikta aus dieser Stadt kam. Die Gedanken an 219
den Krieg und die Nebenbuhlerin legten sich plötzlich wie ein grauer Schleier über die bislang so angenehme Fahrt. »Es sind schon andere in den Fluss gefallen, weil sie sich in die Wellen verguckt haben.« Eine tiefe Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. Sie sah sich um und erblickte den Augsburger Händler Oswald Hainmiller , der an einem Gänseschlegel nagte und ihr einladend ein zweites Stück reichte. Von seinen Lippen troff Fett, das den gestutzten Knebelbart und seine weiße Halskrause bekleckerte. Der Händler war von feister Gestalt und mochte auf die vierzig zugehen, der breite Gürtel mit der silbernen Schnalle spannte bereits merklich um seinen Bauch. Die rote Hahnenfeder auf seinem Hut flatterte im Fahrtwind. Magdalena überlegte kurz, dann griff sie nach dem Gänseschlegel und biss hinein. Sie hatte seit den paar Löffeln Haferbrei heute früh nichts gegessen. »Vergelt’s Gott«, sagte sie mit vollem Mund und blickte weiter nach vorne auf die Windungen des Flusses. Hainmiller grinste. »Wie lang wirst denn in unserem schönen Augsburg bleiben? «, fragte er und wischte sich mit dem spitzenbesetzten Ärmel das Fett von der Backe. »Oder musst gleich wieder heim in dein schäbiges Städtlein?« Hainmiller sprach den breiten Augsburger Dialekt, der den Schongauern so verhasst war, weil er sie an die Überlegenheit der freien Reichsstadt erinnerte. Magdalena hatte bei dem Händler am Morgen die Passage gebucht. Oswald Hainmiller führte unter anderem Wein, Öl, Zinn, Gewürze und eine große Fuhre Kalk mit sich. Die Anwesenheit von Magdalena war für den Händler eine willkommene Gelegenheit, sich die Zeit zu vertreiben und ein 220
wenig zu prahlen, bis man am Abend endlich in Augsburg ankommen würde. Magdalena seufzte. Schon seit Schongau versuchte der feiste Händler, Konversation zu machen. Es sah nicht so aus, als ob er aufgeben wollte. Selbst als Magdalena ihm erzählt hatte, dass sie die Tochter des Schongauer Henkers war, hielt ihm das nicht davon ab, ihr Avancen zu machen. Im Gegenteil, die Vorstellung schien ihn eher noch anzustacheln. Magdalena fügte sich in ihr Schicksal und lächelte zurück. »Ich werd wohl nur einen Tag bleiben können«, sagte sie. »Schon übermorgen geht’s zurück.« »Einen Tag!«, rief der Händler und blickte in einer Geste der Verzweiflung zum Himmel. »Wie willst du in nur einem Tag die Schönheit dieser Stadt ermessen können? Das neue Rathaus, den Bischofspalast, all die Brunnen! Ich habe von anderen Schongauern gehört, die sich nach der Ankunft erst einmal setzen mussten. Der Anblick war einfach zu viel für sie.« Mir reicht schon dein Anblick, dachte sich Magdalena und versuchte, sich wieder auf die schäumenden Kronen vor ihr zu konzentrieren. Sie ärgerte sich, dass der fette Prahlhans ihr mit seinen Reden den Besuch in Augsburg vergällte. Tatsächlich freute sie sich sehr auf die Stadt, die vor dem Krieg noch zu den größten und schönsten in Deutschland gehört hatte. »Weiß du denn schon, wo du schlafen wirst?« Das Gesicht des Händlers bekam etwas Frettchenhaftes. »Ich ... mein Vater hat mir eine gute Herberge am Lech genannt«, sagte sie und spürte den Ekel wie Galle in sich 221
hochsteigen. »Kost und Logis für nur vier Kreuzer die Nacht.« »Dafür teilst du dein Bett aber mit einer ganzen Armee von Flöhen und Wanzen.« Oswald Hainmiller war jetzt ganz nahe an sie herangetreten und strich ihr über den Rock. Sie sah das Gänsefett in kleinen Tröpfchen in seinem Bart hängen. » Bei mir zu Hause steht ein Himmelbett aus weißen Linnen, und das teilst du nur mit mir. Vielleicht zahl ich dir sogar vier Kreuzer für die Nacht«, flüsterte er in ihr Ohr, so dass sie seinen weindurchtränkten Atem riechen konnte. »Lasst das!«, zischte Magdalena und schob ihn weg. »Nur weil ich die Tochter vom Henker bin, bin ich noch lange kein Freiwild.« Der Händler ließ sich davon nicht einschüchtern. »Ich kenn euch Dirnen«, geiferte er. »Erst wehrt ihr euch, aber dann seid ihr umso williger.« Der Wein und der Anblick Magdalenas hatten Hainmiller in den letzten Stunden der Fahrt offenbar immer lüsterner gemacht. Er griff der Henkerstochter ans Mieder. »Nun, hab dich nicht so!« Angeekelt schob Magdalena seine Hand von sich weg. »Wascht Euch erst mal den Mund aus, bevor Ihr weitersprecht«, sagte sie. » Ihr stinkt wie eine tote Ratte.« Sie entwand sich seinem Griff und lief zur Mitte des Floßes, wo zwei Schongauer Flößer mit langen Stangen das Gefährt lenkten. Sie kannte sie vom Sehen aus dem Semer-Wirt. Zögernd blickten sie zu ihr herüber, griffen aber nicht ein. Magdalena fluchte. Als Henkerstochter war sie in den Augen der Männer vermutlich nichts weiter als ein Flittchen, das nun seinen gerechten Lohn erhielt. 222
Für Oswald Hainmiller geriet das Ganze immer mehr zu einem Spiel. Er eilte ihr grinsend nach, während sie an den Flößern vorbei nach hinten kletterte. Magdalena hangelte sich über Kisten und Bündel, vorbei an Mühlsteinen und Säcken mit Marmor und Salz. Schließlich hatte sie das Heck des Floßes erreicht, und der Händler war noch immer dicht hinter ihr. »Sehr gut«, schnurrte Hainmiller und griff nach ihrem Mieder. »Hier sind wir wenigstens ungestört.« Magdalena blickte sich um. Links von ihr stand eine große hölzerne Fuhre mit ungelöschtem Kalk, die nur notdürftig mit einer Plane aus Leinen abgedeckt war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, riss sie die gewachste Plane herunter, zog sich hoch und begann, am Rand der Fuhre entlangzutänzeln. Sie lächelte und ließ ihr Becken anzüglich kreisen. »Kommt schon!«, rief sie dem Händler zu, der mittlerweile ziemlich außer Atem war. »Wenn Ihr was von mir haben wollt, dann müsst Ihr Euch schon hier hochbequemen.« Oswald Hainmiller zögerte einen Augenblick. Dann hievte er seinen fetten Leib auf den Rand der Fuhre und balancierte ihr nach. »Gleich ... gleich hab ich dich«, ächzte er. Als der Händler sich auf Armlänge genähert hatte, gab Magdalena ihm plötzlich einen Stoß, so dass er mit den Händen wild um sich ruderte. »Verdammtes Flittchen!«, brüllte Hainmiller, dann fiel er kopfüber in die Fuhre. Eine weiße Staubwolke hüllte ihn ein, schon nach kurzer Zeit begann er zu schreien. Der ungelöschte Kalk 223
drang in seine Augen, seinen Mund und in jede noch so kleine offene Wunde. Er hustete und wand sich, schließlich zog er sich aus der Fuhre empor. Sein Mantel und der darunterliegende Rock waren mit weißen Flecken übersät, die sich an den feuchten Stellen von innen nach außen fraßen. Magdalena sprang von der Fuhre herunter und grinste. Oswald Hainmiller würde vor seinem nächsten Schäferstündchen auf alle Fälle eine neue Garderobe brauchen. Und vielleicht auch ein neues Gesicht. Nach kurzem Zögern nahm sie zwei Handvoll von dem weißen Pulver und füllte damit vorsichtig die Seitentasche ihres Überrocks. Dabei achtete sie darauf, dass der stark ätzende Kalk nicht nass wurde und sich auch durch ihre Kleidung fraß. Wer weiß, vielleicht konnte sie ihn noch einmal brauchen. »Das ... das wirst du mir büßen, Henkersdirn! «, keuchte Hainmiller , während er sich am Heck des Floßes übers Wasser beugte und halbblind seine brennenden Augen auswusch. Nur Sekunden später wand er sich schreiend am Boden, als das Pulver sich zischend und rauchend mit dem Wasser verband. »Verfluchtes Weib!«, heulte Hainmiller und robbte über die Balken auf der Suche nach einem Stück sauberen Stoff, um sein Gesicht abzuwischen. »Du wirst keine Freude haben im schönen Augsburg. Keine Freude, das versprech ich dir!« »Lasst mich ab jetzt einfach in Ruh«, rief Magdalena und kletterte wieder nach vorne, wo sie die Schongauer Flößer neugierig anstarrten. »Und ihr auch!«, schrie sie. »Rollige, bocksbeinige Mannsbilder! Nichts als Ärger hat man mit euch!« 224
Sie setzte sich am Bug auf eine Kiste und schlang die Arme um ihre Knie, während sie den Blick starr geradeaus richtete. Ihre Mutter hatte sie immer gewarnt: Die meisten Männer waren entweder lüsterne Trottel oder gefühlskalte Eisbrocken. Am besten war, wenn man sich von ihnen fernhielt. Tränen schossen ihr in die Augen, sie wischte sie weg. Keiner der Gaffer sollte ihre Traurigkeit sehen. In diesem Moment wünschte sie sich wie ein kleines Kind ihren Vater herbei. Jakob Kuisl ließ sich in die Tiefe gleiten, bis seine Füße die ersten Sprossen berührten. Die eiserne Leiter lief an der Felswand entlang, bis sie nach zehn Schritt in einem Spalt verschwand. Kurz überlegte der Henker, die mitgebrachten Fackeln zu entzünden, entschied sich dann aber dagegen. Die Räuber sollten nicht durch das Licht gewarnt werden. Als er in den Spalt kletterte, wurde es kurzzeitig schwarz um ihn, doch schon bald gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Über sich konnte er durch die Öffnung das Tageslicht sehen, das immer wieder verschwand, wenn einer der Männer sich hinter ihm durch das schmale Loch schob. Sie waren insgesamt nur fünf, aber Kuisl wusste, dass er sich auf jeden von ihnen voll verlassen konnte. Besonders auf Andre Wiedemann, der mit ihm bereits vor Augsburg gegen die schwedischen Soldaten Gustav Adolphs gekämpft hatte. Aber auch der Schmied und die zwei anderen Handwerker machten einen erfahrenen Eindruck. Nach weiteren zehn Schritt endeten die Sprossen am Fuße eines Felskamins. Links in der Ecke konnte Kuisl einen schmalen Durchlass erkennen, aus dem leises Ge225
murmel und Gelächter zu hören war. Vorsichtig glitten die Männer auf den Boden und schlichen zu beiden Seiten des Durchgangs. Der Henker riskierte einen Blick. Hinter der nur kniehohen Öffnung begann ein niedriger Tunnel, der nach nur wenigen Schritten in einer großen Höhle endete. Dort flackerte ein Feuer, über dem ein paar Hasen am Spieß brutzelten. Gelegentlich ging eine zerlumpte Gestalt daran vorbei. Jenseits der Flammen sah Jakob Kuisl weitere Männer sitzen, gehüllt in Fell und Lumpen gegen die Kälte. Irgendjemand rülpste laut, die anderen lachten, während sich zwei weitere lauthals stritten; auch das Greinen eines Säuglings war zu hören. Es roch nach Schweiß, Pulverdampf und verkohltem Fleisch. Kuisl zwinkerte, als ihm der beißende Rauch in die Augen drang. Er hatte recht gehabt. Sie hatten das Winterlager der Scheller-Bande gefunden, und es sah so aus, als ob die meisten von ihnen jetzt am Abend von ihren täglichen Streifzügen heimgekommen waren. Der Henker lächelte grimmig. Einen günstigeren Augenblick, um den Marodeuren das Handwerk zu legen, konnte es kaum geben. Kuisl konnte ihre Zahl nur anhand der Stimmen schätzen. Es mochten etwa dreißig sein, darunter auch viele Frauen und Kinder. Er nickte Wiedemann, Kronauer und den anderen beiden zu. Dann nahm er die Kette mit den zwölf hölzernen Pulverfläschchen von der Schulter und trennte die Hälfte von ihnen ab, in jedem von ihnen befand sich Pulver für genau eine Gewehrladung. Mit einer Lederkordel band Kuisl die sechs Fläschchen so fest zusammen, dass sie als fester Klumpen gut in seiner Hand lagen. 226
Der Henker kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, schätzte die Entfernung ab und holte mit seiner rechten Hand aus. Mit einer fließenden Bewegung warf er die selbstgebaute Bombe durch den Tunnel direkt in das Feuer. Die Explosion war so stark, dass sie Kuisl einen ganzen Meter nach hinten warf. Der Krach wurde von den Felswänden der Höhlen und Gänge zurückgeworfen, immer wieder, ein donnerndes Echo, als würde der ganze Berg einstürzen. In Jakob Kuisls Ohren tönte ein feines Klingeln. Es dauerte eine Zeit, bis er die Geräusche in der Räuberhöhle wieder wahrnahm. Schreie, Husten und Fluchen drangen zu ihnen herüber. Der Henker gab den anderen vier Männern ein Zeichen, dann krochen sie durch den niedrigen Tunnel und betraten mit gezückten Säbeln das Inferno. Die Explosion hatte Glut und brennende Holzscheite über die ganze Höhle verteilt. Überall lagen große und kleine Felsbrocken, die sich aus der Decke gelöst hatten. Dazwischen krochen zerlumpte Männer und Frauen und versuchten sich trotz der dichten Rauchschwaden zu orientieren. Um die ehemalige Feuerstelle lagen ein paar leblose Gestalten, Schmerzensschreie und das Weinen von Kindern hallten durch das rußige Gewölbe. Der Henker zögerte. Dann entschied er sich gegen einen Angriff und brüllte mit seiner tiefen Stimme, die in der ganzen Höhle gut zu hören war: »Aus ist’s, ihr räudigen Marodeure! Ihr geht’s jetzt hübsch nach draußen, ohne Waffen, die Arme nach oben! Dort wartet ein Heer gutbewaffneter Bürger auf euch. Wenn ihr euch brav ergebt, dann ... « 227
Ein schwarzer Schatten flog auf ihn zu. Im letzten Moment tauchte der Henker zur Seite, so dass ihn die Klinge nur an der Wange ritzte. Der Mann vor ihm war mindestens ebenso groß wie er selbst. Im rußigen Gesicht, eingerahmt von einem struppigen Bart, funkelten Augen wie glimmende Kohlen. Kuisls Stimme klang tief und drohend. »Leg die Waffe weg und geh nach draußen. Du machst es nur noch schlimmer.« »Sauhund, fahr zur Hölle«, zischte der Mann und holte ein weiteres Mal mit dem Säbel aus. Diesmal war der Henker vorbereitet. Er sprang zurück, zog die geladene Pistole und drückte im gleichen Moment den Abzug. Die Bleikugel traf den Räuber seitlich an der Schulter und drückte ihn an die Wand. Während er noch verwundert auf die blutige Masse starrte, wo einmal sein rechter Arm gewesen war, holte der Henker mit seinem Lärchenholzknüppel aus und fällte den Riesen, so dass dieser an der Felswand zu Boden rutschte. »Ich hab dich gewarnt«, brummte Kuisl und wischte sich ein Rinnsal Blut von der Wange. Aus dem Augenwinkel nahm der Henker wahr, dass auch Wiedemann mit einem Gegner kämpfte. Die anderen drei Handwerker waren den flüchtenden Wegelagerern nach draußen hinterhergeeilt. Wiedemann stand mit dem Rücken zur Wand. Auf seiner Stirn glitzerten trotz der Kälte Schweißperlen. Der Mann vor ihm schlug mit einem schartigen Säbel auf ihn ein, als wollte er Holz spalten. Nur mit Mühe gelang es dem Kriegsveteranen, die Hiebe abzuwehren. Nicht mehr 228
lange, und er würde unter dem Hagel der Schläge zusammenbrechen. Von draußen waren weiter Schüsse zu hören. Jakob Kuisl stutzte. Was war dort los? Hatten sich die Halunken nicht ergeben? »Gib auf!«, brüllte der Henker dem Räuber neben Wiedemann zu. »Du bist der Letzte!« Doch der Mann schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Immer noch drosch er auf Andre Wiedemann ein, in seinen Augen ein Ausdruck, der den Henker an ein wildes Tier erinnerte, eine Mischung aus Hunger, Gier und nackter Angst. Der Jüngling mochte keine zwanzig Jahre alt sein. Jakob Kuisl trat dem jungen Burschen mit seinem rechten Stiefel in die Seite, so dass dieser keuchend zu Boden ging. Dann richtete er seine zweite geladene Pistole auf ihn. »Raus mit dir. Aber schnell! Dann passiert dir nichts.« Der Räuber schien sich zu besinnen. Er musterte den Henker, dann warf er den Säbel fort und rannte mit erhobenen Händen auf den Eingang zu. »Ich komm jetzt raus!«, rief er. »Tut’s mir nichts, ich bin...« Als er in der Öffnung auftauchte, krachte ein Schuss. Der Körper des Jünglings wurde in die Höhle zurückgeworfen, wo er zuckend am Boden liegen blieb. Noch einmal richtete sein Kopf sich auf. Staunend blickte er den Henker an, dann sackte er zusammen. »Verdammt, was ist da draußen los!«, brüllte Kuisl. »Der Mann hat sich ergeben!« 229
Er eilte auf den Ausgang zu, an dem zu beiden Seiten Eiszapfen wie Säulen hingen. Als er nach draußen blickte, sah er rechts ein Mündungsfeuer aufblitzen. Er duckte sich hinter einen der Eiszapfen und spürte im gleichen Moment einen dumpfen Schmerz in seinem linken Oberarm. »Ihr Trottel!«, rief er. »Ich bin’s, der Henker! Hört’s auf, sofort!« An die Felswand gelehnt, suchte er Deckung. Als kein weiterer Schuss folgte, schob er seinen Kopf vorsichtig ein Stück vor und blickte auf die grausige Szenerie draußen vor der Höhle. Eine Welle des Zorns übermannte ihn. Die Schongauer hatten einen Halbkreis gebildet. Vor dem Höhleneingang lag ein Haufen toter Leiber. Junge, Alte, Frauen, Männer und Kinder. Blut breitete sich in Strömen auf dem weißen Schnee aus. Mehrere Musketen waren auf den Eingang gerichtet, erst nach und nach senkten die Bürger ihre Waffen. Es war die Muskete von Hans Berchtholdt, die noch rauchte. In einer Mischung aus Verwirrung und Mordlust starrte er den Henker an, der jetzt wie der leibhaftige Teufel aus der Höhle trat. »Ich ... ich ... «, stotterte Berchtholdt. »Du Drecksau, du hast mich fast umgebracht!« Jakob Kuisl rannte auf den Bäckerssohn zu und fasste die Muskete mit seiner rechten Hand vorne am Lauf. Fluchend rammte er Berchtholdt den Schaft in die Magengegend, so dass dieser keuchend zusammensackte. »Und was ist das?«, brüllte der Henker und deutete auf den Haufen von Leichen. »Entwaffnen und arretieren soll230
tet ihr sie, nicht abschlachten!« Kurz war er versucht, Berchtholdt die eigene Muskete über den Schädel zu ziehen, dann zerbrach er sie nur über dem Knie und schleuderte sie weit von sich fort. »Sie ... sie haben einfach angefangen zu schießen.« Jakob Schreevogl trat jetzt aus der Gruppe vor. Das Gesicht des Patriziers war bleich, er zitterte und blickte betreten zu Boden. »Ich konnte es nicht verhindern.« »Wieviele?«, flüsterte Kuisl. Schreevogl zuckte mit den Schultern. »Wir konnten ein Dutzend gefangen nehmen. Der Rest ist tot. Abgeknallt wie die Hasen.« »Froh solltest du sein«, ächzte Berchtholdt, der sich jetzt wieder aufgerichtet hatte. »Das erspart dir die Arbeit. Musst nicht mehr so viele aufknüpfen.« »Es ... war ganz einfach«, meldete sich der junge Sebastian Semer. In seinen Augen glomm ein Feuer, das der Henker nur zu gut kannte. »Wie beim Jagen.« Von hinten wurden Stimmen laut. »Warum warten? Lasst uns das restliche Pack dort drüben an den Buchen aufhängen!« Jakob Kuisl schloss die Augen. Sein verwundeter linker Arm schmerzte. Blutige Schemen zogen vorüber, Erinnerungen an längst vergangene Tage. Stille. Nur das Krächzen der Raben, die über blutige Röcke stolzieren und nach den Augen der toten Weiber hacken ... Ein knorriger Baum, vollgehängt mit zuckendenLeibern, wie pralle Äpfel im Geäst... Die Männer, meine eigenen Männer, sehen mich mit schreckensweiten Augen an. Ich nehme den nächsten und hänge ihn in die 231
Schlinge, einen nach dem anderen. Einen nach dem anderen … Der Bäckerssohn schien Kuisls Verunsicherung zu bemerken. »Seit wann hat der Henker Angst vor dem Tod, hä?«, höhnte er und schwankte auf immer noch unsicheren Beinen. »Wir haben dir doch nur die Arbeit abgenommen!« Jakob Kuisl beachtete ihn nicht weiter. »Tiere seid ihr«, flüsterte er leise wie zu sich selbst. »Alle miteinander seid’s ihr die schlimmeren Henker.« Er schob die Menge auseinander und trat auf die zitternden Gefangenen zu, die gebunden auf ihr weiteres Schicksal warteten. Es waren etwa ein Dutzend, darunter auch vier Frauen. Eine von ihnen trug einen schreienden Säugling unter einem Tuch auf dem Rücken. Zwei ausgehungerte Knaben im Alter von etwa sechs und zehn Jahren drückten sich an ihre Mütter. Die meisten Männer trugen frische Wunden von Säbelhieben oder Streifschüssen, ihre ausgezehrten Gesichter waren teils blutig geschlagen. Aus der verängstigten Gruppe stach ein Mann hervor, der fast so groß wie der Henker war. Er trug einen dichten Vollbart, zerrissene Pumphosen und einen vor Dreck starrenden Lederkoller. Blut lief aus einer Wunde an seiner Stirn. Trotz seines ärmlichen Äußeren umgab ihn eine Aura von Stärke und Stolz. Mit wachen, ungebrochenen Augen blickte er den Henker an. »Du musst der Scheller Hans sein«, stellte Kuisl fest. Der Räuberhauptmann nickte. »Und ihr seid’s auch nicht mehr als ein dreckiges, mordlustiges Gesindel«, sagte er. 232
Im Hintergrund waren Rufe und Zischen zu hören. »Pass auf, was du sagst, Scheller! «, schrie einer der Handwerker. »Sonst reißen wir dir noch hier den Bauch auf und hängen deine Eingeweide in die Äste!« »Keiner reißt irgendwem den Bauch auf«, sagte Kuisl. Seine Stimme war ruhig, aber etwas in ihr ließ die anderen verstummen. »Wir werden die Marodeure jetzt mit nach Schongau nehmen«, fuhr er fort. »Und dann wird sich der Rat um sie kümmern. Es reicht schon, was ihr hier angestellt habt.« Er deutete angewidert zur Seite. Schneeflocken fielen auf die leblosen Leiber, die vor der Höhle wie Schlachtvieh auf dem Boden lagen. Der Henker schüttelte den Kopf. »Jetzt lasst uns die Toten wenigstens begraben.« Er band mit einem Fetzen schmutzigen Tuchs notdürftig seinen linken Arm ab; mit dem rechten Arm räumte er dann ein paar Felsbrocken zur Seite, die in einer Senke unweit der Höhle lagen. »Was ist?«, murrte er. »Mag mir vielleicht einer helfen? Wenn ihr mich schon kaputtschießt. « Schweigend kamen die Schongauer näher und räumten mit ihm das eisige Felsengrab frei. Jakob Kuisl ließ die Männer bald allein die blutige Arbeit verrichten, sein linker Arm schmerzte zu sehr. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er zurück in die Höhle und sah sich noch einmal um. Die beiden Räuber lagen dort, wo sie gestorben waren. Auch jetzt war der Rauch noch so dicht, dass man nur wenige Schritte weit sehen konnte. Der Henker stieg über 233
Felsbrocken, glimmende Äste und verkohlte Holzscheite, bis er den hinteren Bereich des Gewölbes erreichte. Hier befanden sich, lose verstreut, die wenigen Habseligkeiten der Wegelagerer. Löchrige Mäntel, Kupferteller mit Grünspan, ein paar rostige Waffen, sogar eine grobgeschnitzte Holzpuppe war darunter. Weiter hinten direkt an der rußigen Felswand stand eine mit Eisenbändern verstärkte Kiste; sie war mit einem Vorhängeschloss abgesperrt, das den Henker kaum fünf Minuten kostete. Schnappend sprang das Schloss auf, und Jakob Kuisl steckte den Dietrich wieder zurück in seinen Sack. Vorsichtig öffnete er die Truhe, wohl wissend, dass in manchen dieser Kisten verborgene Fallen eingebaut waren, vergiftete Nadeln und Bolzen, die plötzlich hervorschießen konnten. Doch nichts passierte. Auf dem Boden der Truhe lagen ein paar glänzende Gulden, ein Silberkrug, eine tönerne, verkorkte Branntweinflasche, Pelze und eine goldene Brosche, die wohl vorher der Ehefrau eines reichen Händlers gehört haben musste. Viel war es nicht, doch das überraschte den Henker nicht. Die Räuber hatten das meiste davon offenbar schon wieder in Naturalien umgetauscht, oder sie hatten ihren Schatz irgendwo versteckt, was Kuisl jedoch bezweifelte. Die Wahrheit würde er ohne Zweifel in den Verliesen der Fronfeste erfahren. Der Henker hoffte, dass Hans Scheller sich vernünftig zeigte und er ihm nicht zentnerschwere Steine an die Füße binden musste, wie damals vor zwei Jahren dem Straßenräuber Georg Brandner. Dem hatte Kuisl sämtliche Knochen brechen müssen, bevor er ihm endlich erzählte, wo er die geraubten Münzen verscharrt hatte. 234
Unter einem verlausten Pelzmantel und einer Bärenfellkappe stieß der Henker schließlich auf ein zusammengebundenes Lederfutteral. Er öffnete es und musste lächeln. Das war genau das, was er jetzt brauchte! Offenbar hatten die Räuber irgendwann auch einmal einen Feldscher überfallen, oder einer von ihnen hatte das Wundbesteck aus seinem früheren Söldnerleben hinübergerettet. In dem Futteral lagen Nadel, Faden und Wundzangen, fein säuberlich aufgereiht in den verschiedenen Größen. Sie sahen noch nicht einmal sonderlich verrostet aus. Jakob Kuisl zog mit den Zähnen den Korken aus der Branntweinflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Dann krempelte er seinen linken Hemdsärmel hoch und tastete nach der Wunde. Die Kugel hatte Mantel, Lederkoller und Hemd durchschlagen und war in den Oberarm eingedrungen. Glücklicherweise schien das Geschoss nicht den Knochen verletzt zu haben, doch Kuisl spürte, dass es noch im Fleisch steckte. Er klemmte sich ein Stück Leder zwischen die Zähne, das sich dankenswerterweise auch im Futteral befand, dann tastete er mit der Zange nach der Kugel. Der Schmerz war so stark, dass ihm übel wurde. Er setzte sich auf die Truhe, atmete kurz durch und suchte dann weiter. Als er schon glaubte, ohnmächtig zu werden, stieß die Zange auf festen Widerstand. Vorsichtig zog er sie zurück und blickte auf ein kleines, verbogenes Stück Blei. Er nahm noch einen weiteren Schluck, bevor er sich den Rest der Flasche über die Wunde kippte. Noch einmal schien ihn der Schmerz zu übermannen, doch der Henker wusste, dass die meisten Soldaten nicht an den Kugeln starben, sondern am Wundbrand, der erst Tage später 235
folgte. Im Krieg hatte er gelernt, dass Schnaps diesen Wundbrand stoppen konnte. Die meisten Feldscher empfahlen zwar, die Wunde auszubrennen oder heißes Öl hineinzugießen, doch Kuisl bevorzugte diese Methode. Er hatte bei einigen seiner Patienten schon gute Erfahrungen damit gemacht. Schließlich verband er den Arm mit Stoff, den er vom Hemd eines toten Räubers abriss, und lauschte den Stimmen draußen. Die Männer schienen mit ihrer Arbeit fast fertig zu sein. Kuisl würde sie an die zwei Leichen in der Höhle erinnern müssen. Außerdem mussten sie noch die Truhe mitnehmen. Die Besitzer der geraubten Gegenstände verwesten wahrscheinlich irgendwo in den Schongauer Wäldern, doch das Geld konnte die Stadt gut brauchen. Allein schon, um dem Henker die bevorstehenden Hinrichtungen zu bezahlen. Jakob Kuisl nahm pro erhängten Räuber einen Gulden. Das Rädern brachte für jeden Stoß gleich vier Gulden, eine Folter vor der Exekution schlug mit zwei Gulden und dreißig Kreuzer zu Buche. Es war gut möglich, dass dem Räuberhauptmann Scheller genau dieses Schicksal blühte. Gerade wollte Kuisl aufstehen, als er hinter der Truhe eine große, glänzende Ledertasche entdeckte. Sie war aus feinstem Kalbsleder gefertigt und trug an der Vorderseite einen Prägestempel, dessen Zeichen der Henker nicht kannte. Sollten die Räuber doch noch weitere Schätze gehortet haben? Kuisl holte die Tasche hervor und blickte hinein. Ihr Inhalt ließ ihn die Stirn runzeln. Was in aller Welt...? Nachdenklich stopfte er die Tasche in seinen Sack und ging auf den Höhlenausgang zu. 236
Er würde Hans Scheller noch einige Fragen stellen müssen. Kuisl hoffte für beide, dass sie der Räuberhauptmann schnell und ehrlich beantwortete. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als Simon am Haus des Henkers unten im Gerberviertel anklopfte, das sich noch vor den Mauern der Stadt befand. In der letzten Stunde war er mit Benedikta Koppmeyer im leichten Schneetreiben von der Peitinger Schlossruine nach Schongau zurückgestapft. Die Händlerin hatte sich gleich ins Semer-Wirtshaus begeben. Simon vermutete, dass sie sich noch um die morgige Beerdigung ihres Bruders kümmern musste, außerdem schien sie erschöpft zu sein. Auch der Medicus war nach der langen Suche müde und ausgefroren. Doch trotz der Kälte und des beginnenden Abends wollte er noch unbedingt mit Jakob Kuisl über ihren Fund in der Schlossruine sprechen. Außerdem war er neugierig, wie die Jagd auf die Räuberbande verlaufen war. Seine Füße und Hände fühlten sich an wie Eisklumpen, und so war er mehr als froh, als ihm Anna Maria Kuisl endlich aufmachte. »Simon, was ist mit dir?«, fragte sie erstaunt und blickte auf seinen eingeschneiten Mantel und die steifgefrorenen Hosenbeine. Die gestrige Ruhestörung, als Simon noch spät in der Nacht nach Magdalena gerufen hatte, schien sie ihm bereits verziehen zu haben. Mitleidig schüttelte die Henkersfrau den Kopf. »Du siehst aus wie der Schneemann, den die Kinder im Garten gebaut haben.« »Ist Euer Mann da?«, fragte Simon mit zitternder Stimme. Er fror jetzt am ganzen Leib. 237
Anna Maria Kuisl schüttelte den Kopf. »Er ist noch auf Räuberjagd. Ich hoff, dass er bald heimkehrt. Aber jetzt komm erst mal rein.« Sie führte Simon in die warme Stube. »Du bist ja kurz vorm Erfrieren.« Die Frau des Henkers goss Simon einen heißen Apfelmost ein und reichte ihm den Becher. Durch die Stube wehte der Geruch von gedämpften Zwiebeln und zerlassener Butter. »Hier, das wird dir guttun.« Sie lächelte ihn aufmunternd an, während er an dem mit Honig gesüßten Most nippte. »Mit Kaffee kann ich leider nicht dienen. Aber vielleicht magst ja in der Kammer auf meinen Mann warten. Ich muss wieder hoch zu den Kindern.« Von oben war ein trockener Husten und das Greinen der kleinen Barbara zu hören. »Der Georg hat’s auf der Brust«, sagte sie mit ernstem Gesicht. »Wollen hoffen, dass es nicht dieses Fieber ist, das gerade umgeht.« Sie ging die steile Stiege nach oben, noch bevor Simon fragen konnte, ob Magdalena zu Hause sei. Der Medicus zuckte mit den Schultern. Vermutlich war die Henkerstochter noch immer beleidigt. Nun, er hatte gelernt, dass Frauen Zeit brauchten. Sie würde sich schon wieder bei ihm melden, und dann konnte er sich immer noch entschuldigen. Gestärkt vom süßen Apfelmost, betrat Simon die Kammer nebenan. Er hatte es sich im letzten Jahr angewöhnt, mindestens einmal in der Woche die Bibliothek des Henkers aufzusuchen. Jakob Kuisl hatte ihm erlaubt, in seiner Abwesenheit in den alten Folianten und ledergebundenen Wälzern zu schmökern. Dabei war Simon schon des Öfte238
ren auf Details gestoßen, die auch für seine Arbeit als Mediziner interessant waren. So verfügte der Henker beispielsweise über eine Gesamtausgabe der Werke des englischen Arztes Thomas Sydenham, in dem alle bekannten Krankheiten detailliert aufgelistet und beschrieben waren. Ein Kompendium, das nicht einmal die Ingolstädter Bibliothek besaß! Das Buch, das er jetzt in den Händen hielt, hatte jedoch mit Medizin nicht das Geringste zu tun. Sein Titel lautete Malleus Malefi carum, verfasst von zwei Dominikanern namens Heinrich Kramer und Jakob Sprenger. Die Seiten waren schmutzig und abgegriffen, an manchen Stellen schimmerten sie bräunlich wie von getrocknetem Blut. Schon des Öfteren hatte Simon im sogenannten »Hexenhammer« geblättert. Auf der Seite, die er jetzt aufgeschlagen hatte, versuchten die Autoren zu beweisen, dass das lateinische Wort femina für Frau von fides minus, also »weniger Glauben« herrührte. In einem anderen Kapitel wurde beschrieben, wie Hexen aussahen, welche Zauber sie anwandten und wie man sich vor ihnen schützen konnte. Simon vertiefte sich in eine Stelle, in der die Dominikaner detailliert auf das Wegzaubern des männlichen Gliedes eingingen. »Ein böses Buch«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Du legst es besser gleich weg.« Simon drehte sich um. In der Tür zur Kammer stand der Henker. Er trug einen Verband am linken Oberarm, getauter Schnee bildete eine Pfütze um seine mit Fell verschnürten Beinkleider. Achtlos warf er die Muskete in die Ecke und nahm Simon den Folianten aus der Hand. 239
»Dieses Buch hat meinem Großvater gehört«, sagte er und stellte es zurück in den mannshohen Schrank zu den anderen Büchern, Pergamentrollen, Kladden und Bauernkalendern. »Er hat es bei den Verhören verwendet, damals, als in Schongau über sechzig Weiber verbrannt wurden. Wenn du nur lange genug fragst, ist jeder eine Hexe.« Simon fröstelte, und das lag nicht nur an der Kälte in der ungeheizten Kammer. Wie alle anderen Schongauer kannte er nur zu gut den berüchtigten Hexenprozess, der vor drei Generationen die Stadt bayernweit bekannt gemacht hatte. Jakob Kuisls Großvater Jörg Abriel war damals zu einem Batzen Geld und zweifelhafter Berühmtheit gekommen. Mit Dienerschaft und Kutsche war er zu den einzelnen Hinrichtungsorten gereist und hatte noch aus jeder Hexe ein Geständnis herausgepresst. »Diese Dominikaner...«, fragte Simon nach einer Pause. »Sind sie nicht oft als Inquisitoren bei den Hexenprozessen dabei?« Der Henker nickte. »Domini canes werden sie auch genannt. Die Hunde des Herrn. Sie sind schlau und belesen, und sie erledigen für den Papst die Drecksarbeit.« Er spuckte auf den mit frischen Binsen bedeckten Fußboden. »Wollen hoffen, dass keiner von diesem verruchten Orden jemals in Schongau auftaucht. Wo die Dominikaner sind, brennen die Feuer. Und wer muss sich dann wieder die Hände schmutzig machen? Na, wer wohl? Ich! Drecksbande, vermaledeite! Gewissenlose Klugscheißer und Pergamentfresser, die sich am Leiden der anderen ergötzen!« 240
Jakob Kuisl hatte sich in Rage geredet. Unter seinem Mantel zog er eine Flasche Branntwein hervor und nahm einen tiefen Schluck. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und atmete tief aus. Langsam nur fand er zu seiner alten Ruhe zurück. »Gebraucht Ihr selber noch dieses ... Buch?« Simon deutete zögerlich auf den »Hexenhammer« im Regal. Der Henker schüttelte den Kopf und ging hinüber in die warme Stube. »Ich hab andere Methoden. Und jetzt erzähl, was ihr oben bei der Burg gefunden habt.« Sie machten es sich am Ofen bequem, auf dem ein Eintopf aus Zwiebeln, Rüben und Speck köchelte. Simon spürte plötzlich, wie hungrig er war, und griff dankbar zu, als der Henker ihm und sich selbst die Teller füllte. Nachdem sie eine Weile schweigend vor sich hin gelöffelt hatten, deutete Simon auf den verbundenen Arm des Henkers. »Ist das bei der Räuberjagd passiert?«, fragte er. Jakob Kuisl nickte, wischte sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab und schob den Teller zur Seite. Dann begann er, seine lange Stielpfeife zu stopfen. »Wir haben sie erwischt«, brummte er. »Unten in der Ammerschlucht, bei den Schleyerfällen. Ein Gutteil ist tot, der Rest sitzt oben in der Fronfeste. Ich werd also auch in den nächsten Tagen noch viel zu tun haben und dir nicht helfen können.« Er zündete mit einem Kienspan die Pfeife an und musterte Simon mit strengem Blick. »Aber jetzt red endlich! Was ist dort oben auf dem Schlossberg passiert? Oder muss ich dir erst die Daumenschrauben anlegen?« 241
Simon grinste heimlich. Auch wenn der Henker sich mürrisch und schweigsam gebärdete, Kuisls Neugierde stand seiner eigenen in nichts nach. Gerne hätte der Medicus noch mehr von dem Kampf mit den Räubern erfahren. Doch dann berichtete er von seinem Fund in der Krypta der Schlosskapelle und der anschließenden Suche mit Benedikta. »Diese Inschrift«, endete er. »Sie muss ein Rätsel sein. Und das Wort ›Baum‹ ist großgeschrieben. Aber, ich schwöre, wir haben sämtliche Bäume in dem ganzen verdammten Bergwald untersucht. Wir haben nichts gefunden!« »Eine deutsche Inschrift ... «, murmelte der Henker. »Merkwürdig, man könnt doch meinen, dass zur Zeit der Templer lateinisch geschrieben wurde. Jedenfalls ist das in allen meinen alten Büchern so. Nur geschwollenes Latein, kein Deutsch, geschweige denn Bayerisch. Sei’s drum ... « Er fing an, mit seiner Stielpfeife große schwarze Wolken zu paffen. Konzentriert sah er ihnen im flackernden Licht des Kienspans nach. »Dieser Hundsfott von Templer schickt uns auf eine lange Reise«, murmelte er. »Zuerst die Krypta in der Lorenzkirche, dann die Altenstadter Basilika. Und die Peitinger Schlossruine scheint auch noch nicht das letzte Rätsel zu sein. Was mag bloß am Ende auf uns warten?« »Ich glaube, ich weiß es«, sagte Simon und erzählte von seiner Vermutung, dass der Tempelmeister Friedrich Wildgraf einen Teil des Templerschatzes hier versteckt hatte. Der Henker hörte schweigend zu. »Dieser Schatz ist jenseits jeder Vorstellungskraft«, endete Simon flüsternd, als hätte er Angst, jemand könnte 242
sie belauschen. »Vermutlich lassen sich damit ganze Städte kaufen und Kriege bezahlen. Ein solcher Schatz würde auch den Mord an Koppmeyer, diese Mönche beim Strasser-Wirt und das Attentat auf Euch erklären. Jemand will mit allen Mitteln mögliche Mitwisser ausschalten.« »Aber was soll dieser ganze Zinnober mit Rätseln und Versteckspiel«, knurrte der Henker und sog an seiner Pfeife. »Ein einfacher Hinweis in der Krypta, ein Testament hätt es doch auch getan.« »Alle Rätsel bislang haben etwas mit Gott zu tun «, unterbrach ihn Simon, der Mühe hatte, bei all dem Qualm nicht zu husten. »Die Templer wollten vermutlich sichergehen, dass nur ein wahrhaft Gläubiger den Schatz findet. Auch diese Inschrift aus der Schlossruine scheint mir eine Art Gebet zu sein.« Er zog ein Stück Pergament hervor, auf das er die Zeilen notiert hatte. »Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes «, murmelte der Medicus. »Dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum ... « Er stockte. »Warum bloß ist das Wort ›Baum‹ großgeschrieben? Haben wir etwas dort oben übersehen?« »Deus lo vult«, murmelte der Henker plötzlich. »Was?« »Deus lo vult – Gott will es. Das hat der Mann mit dem Dolch zu dem fetten Schwaben unten in der Krypta gesagt. Es klang beinahe wie ein Kampfruf. Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« Simon zuckte mit den Schultern. »Ein nach Parfum duftender Mönch, ein weiterer mit einem Krummdolch, ein dicker Schwabe ... « Der Medicus rieb sich die müden, vom Rauch tränenden Augen. »Was für ein merkwürdiger 243
Haufen! Und wie haben diese Männer bloß von dem Templergrab erfahren? Durch die Handwerker?« Der Henker schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Ich denk da eher an was anderes. Aber dafür ist’s noch zu früh. Jetzt bin ich müde.« Er stand auf und geleitete den Medicus zur Tür. Plötzlich fiel Simon ein, dass er Jakob Kuisl in der ganzen Aufregung gar nicht nach Magdalena gefragt hatte. »Eure Tochter ... «, begann er, schon auf der Schwelle stehend. »Ich ... ich muss mit ihr reden. Ich glaube, ich muss mich entschuldigen. Ist sie oben im Haus oder noch bei der Stechlin?« Der Henker schüttelte den Kopf. »Nichts von beiden. Sie ist heute früh nach Augsburg, mit dem Floß. Sie holt für mich und die Hebamme ein paar Ingredienzien. Es ist wohl besser, wenn ihr euch erst mal nicht mehr seht.« »Aber ... « Simon fühlte sich mit einem Mal furchtbar leer. Jakob Kuisl schob ihn nach draußen und schloss langsam die Tür. »Sie wird schon wiederkommen«, brummte der Henker. »Ist halt eine trotzige Kuisl, wie ihre Mutter. Und jetzt gehab dich wohl. Ich muss nach dem kleinen Georg schauen.« Mit einem Knirschen fiel die Tür ins Schloss, und Simon stand draußen allein in der Dunkelheit. Schneeflocken fielen auf sein Haar, es war so still wie in einem Grab. Vorsichtig tastend stapfte er durch den Neuschnee auf die Lichter der Stadt zu. Ganz leise beschlich ihn das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben.
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Der Händler ließ Magdalena bis zu ihrer Ankunft in Augsburg in Ruhe. Nur gelegentlich blickte er hasserfüllt mit geröteten Augen zu ihr hinüber, ansonsten war er damit beschäftigt, sein vom Kalk brennendes Gesicht immer wieder ins eisige Wasser des Lechs zu tauchen und mit Öl zu betupfen. Rote, nasse Pusteln breiteten sich um seinen Bart herum aus. Er fluchte leise und nippte zur Beruhigung immer wieder an einer tönernen Flasche mit Obstbrand. Es ging auf das Sechsuhrläuten zu, als Magdalena im Dunkeln vor sich eine Reihe funkelnder Lichter ausmachen konnte. Zuerst leuchteten sie nur vereinzelt, doch mit der Zeit wurden es immer mehr, bis zum Schluss der ganze Horizont davon erfüllt schien. »Augsburg«, hauchte sie ehrfurchtsvoll. Magdalena kannte die Stadt bislang nur von Erzählungen; eine Metropole, in der es lebhafter und bunter zuging als im engen Schongau. Hier lebten Protestanten und Katholiken friedlich nebeneinander, eine freie Stadt, die nur dem Kaiser unterstellt war. Der Reichtum Augsburgs war bis zum Großen Krieg legendär gewesen, und auch jetzt schien die Stadt nicht viel von ihrem einstigen Glanz verloren zu haben. Der Anblick ließ die Henkerstochter ihre Wut und Traurigkeit vorerst vergessen. Die Floßlände befand sich ein wenig außerhalb der Stadt, unweit des Roten Tores. Selbst jetzt zur späten Stunde herrschte auf der Mole noch ein Treiben, wie es Magdalena in Schongau noch nie erlebt hatte. Fässer und Säcke wurden zu Dutzenden abgeladen, eine Horde von Tagelöhnern trug die schweren Lasten auf gebeugten Schultern in die angrenzenden Schuppen. Der 245
Schein unzähliger Fackeln und Laternen sorgte dafür, dass auch jetzt nach Einbruch der Dämmerung noch gearbeitet werden konnte. Harsche Befehle, aber auch derbe Sprüche und Gelächter tönten über die Floßlände. Magdalena hatte ihre Passage glücklicherweise schon in Schongau bezahlt. So konnte sie, ohne sich weiter um den Händler zu kümmern, vom Floß springen und in das Getümmel eintauchen. Zum wiederholten Male versicherte sie sich, dass die kleine Tasche aus Leinen noch immer über ihrer Schulter hing. In ihr befanden sich die Aufzeichnungen der Stechlin und ihres Vaters, aber vor allem das Geld, das ihr die Hebamme mitgegeben hatte. Zwanzig Gulden! So viel hatte Magdalena noch nie in ihrem Leben besessen! Das meiste davon kam von der schwangeren Holzhoferin, die in Schongau auf ihren Bezoarstein wartete. Als die Henkerstochter sich noch einmal umblickte, sah sie, dass Oswald Hainmiller mit zwei dunkel gekleideten Männern tuschelte und zu ihr hinüberdeutete. Sein von Pusteln und rotem Ausschlag entstelltes Gesicht war eine Fratze des Hasses. Magdalena stieg in einen der Kähne um, die Reisende über einen Kanal bis zum Roten Tor brachten. Auf dem wackligen Gefährt drängten sich die Menschen dicht an dicht; aus dem Augenwinkel heraus bemerkte die Henkerstochter, dass auch die beiden Männer in den Kahn gestiegen waren. Magdalena beschloss, sie vorerst zu ignorieren. Nur kurze Zeit später kam sie ausgefroren und hungrig am Roten Tor an, das in wenigen Minuten pünktlich zum Sechsuhrläuten geschlossen werden würde. In Pelz ge246
kleidete Händler ,aber auch lumpige Tagelöhner und Fuhrleute drängten in die Stadt. Magdalena wich einer Pferdekutsche aus, die mit trabenden Pferden an ihr vorbeirumpelte, und stolperte prompt über einen Hausierer, der mit seinem Bauchladen direkt hinter ihr gestanden hatte. »Pass doch auf!«, fauchte der Mann und hob seine Zunderbüchsen, Scheren und Schleifsteine von der Straße auf. »Das ... das tut mir leid«, stotterte Magdalena, als sie spürte, wie etwas an ihr zog. Im letzten Moment drehte sie sich um und bemerkte einen etwa zehnjährigen Jungen, der mit einem kleinen Messer versuchte, den Tragegurt ihrer Tasche zu durchtrennen. Magdalena gab ihm eine Ohrfeige, dass er rücklings in den dreckigen Schneematsch fiel. »Versuch das nicht noch mal! «, zischte sie ihm zu, raffte den Beutel an sich und eilte durch die sich langsam schließenden Tore. Als sie sich noch einmal nach dem Jungen umblickte, sah sie mit Entsetzen, dass die beiden Männer von der Floßlände nur wenige Schritte hinter ihr standen und sie musterten. »Wohin so eilig, Liebchen?«, knurrte der eine von ihnen. Er trug einen löchrigen Mantel und eine Augenbinde. »Lass uns doch gemeinsam ein Quartier suchen. Dann ist’s wärmer. « Als sich sein Mantel bei einem Windzug ein wenig öffnete, konnte Magdalena darunter einen schweren, unterarmlangen Dolch erkennen. Der andere Mann war breit wie ein Weinfass, in seiner Hand schwang er einen polierten Knüppel. Ohne weiter auf die beiden zu achten, sprintete Magdalena los. Sie fand eine Lücke in der Menge, durch die sie 247
hindurchschlüpfen konnte. Hinter ihr ertönte unterdrücktes Fluchen. Die Menschenmasse vor ihr war so dicht, dass es schwer war voranzukommen. Sie rannte ein paar Tagelöhner über den Haufen, rempelte einen weiteren Hausierer an und warf einen Korb mit Brennholz um. Schließlich hatte sie das schlimmste Gedränge hinter sich gelassen. Die Straße war jetzt merklich leerer. Schon wollte sie aufatmen, als sie hinter sich eilige Schritte hörte. Im Laufen erhaschte sie einen Blick auf ihre Verfolger, die sich ebenso wie sie einen Weg durch die Menge gebahnt hatten. Der Fette ließ seinen Knüppel durch die Luft sausen und rannte keuchend hinter ihr her. Der Mann mit der Augenbinde war schneller, mit großen Schritten näherte er sich Magdalena, die sich panisch nach Hilfe umsah. Warum war sie nicht in der Menge geblieben? Dort hätten die Männer niemals gewagt, sie offen anzugreifen! Aber hier? Mittlerweile war es Nacht geworden, von den Häusern und der Straße waren nur noch Schemen zu erkennen. Menschen begegnete Magdalena kaum noch, und wenn, dann flüchteten sie in einen der Hauseingänge und sahen den Verfolgern aus winzigen Fensternischen ängstlich hinterher. Magdalena änderte ihre Taktik und bog in eine kleine Nebenstraße ein. Vielleicht war es ihr möglich, die beiden im Labyrinth der Gassen loszuwerden? Sie eilte an ratternden Mühlrädern vorbei, über wacklige Brücken und winzige, kopfsteingepflasterte Plätze, doch die beiden Männer blieben ihr auf den Fersen. Die Henkerstochter war eine gute Läuferin, im Wald und auf den Feldern hätte sie die beiden vermutlich leicht abgeschüttelt. Aber hier in den Straßen und Gassen waren die Männer im Vorteil. 248
Sie wussten, wo eine Reihe abgestellter Fuhrwerke stand, die für Magdalena einen Umweg bedeuteten, sie kannten jede Treppe und jede Stolperschwelle. Als Magdalena um die nächste Ecke lief, tauchte vor ihr eine Mauer auf. Vereister Efeu rankte aus zwei Schritt Höhe von der Mauerkrone herunter, ein Haufen stinkender Unrat gammelte in einer Ecke. Links und rechts ragten nackte Hauswände empor. Panisch suchte Magdalena nach einem Ausweg. Sie war in eine Sackgasse geraten. Hinter ihr tauchten die beiden Männer auf. Grinsend näherten sie sich dem gestellten Wild. »Siehst du, Flittchen, jetzt haben wir ja ein Quartier für uns drei gefunden!«, sagte der Mann mit der Augenbinde. Er sah sich um, als musterte er das Zimmer eines Wirtshauses. »Ist vielleicht nicht so gemütlich, aber ich mag’s gerne hart. Du auch?« Der Dicke mit dem Knüppel näherte sich ihr von links. »Mach’s dir nicht unnötig schwer«, brummte er. »Wenn du kratzt und beißt, tut’s nur noch mehr weh.« »Ach, lass sie doch«, sagte der andere. »Ich liebe es, wenn sie kratzen und beißen.« Er ließ seinen Säbel durch die Luft sausen. »Der Hainmiller hat uns ein hübsches Sümmchen dafür gegeben, dass du ihn nicht so leicht vergisst. Was hast du bloß mit seinem Gesicht angestellt, Mädchen? Ihn schlecht rasiert? Nun, jetzt sollen wir jedenfalls dich rasieren.« Der Dicke blickte sie fast mitleidig an. »Eigentlich schade um die hübschen Lippen. Aber was soll’s, bringen wir’s hinter uns.« Er kam auf sie zu. 249
Magdalena beobachtete die Männer und wog ihre Chancen ab. Sie war allein, und die Gegend sah nicht so aus, als würde ihr jemand zu Hilfe eilen, wenn sie laut schrie. Im Gegenteil, eher würden die Leute ihre Fensterläden schließen und hoffen, dass das Unglück nicht auch sie ereilte. Beide Schläger waren muskulös und schienen im Straßenkampf erfahren. In der offenen Auseinandersetzung, so viel war Magdalena klar, hatte sie keine Chance. Aber vielleicht mit einer List. Sie ließ die Arme sinken, als ergäbe sie sich in ihr Schicksal. Den Kopf demütig geneigt, wartete sie darauf, dass die Männer über sie herfielen. »Tut mir nichts, ich bitt euch ... «, wimmerte sie. »Das hättest du dir früher überlegen sollen, Flittchen«, sagte der Mann mit der Augenklappe und näherte sich mit erhobenem Säbel. »Jetzt ist’s dafür zu …« In einer weit ausholenden Bewegung schleuderte Magdalena dem Schläger den ungelöschten Kalk entgegen, den sie bislang in der Tasche ihres Überrocks aufbewahrt hatte. Das Pulver zerstob direkt vor den Augen des Mannes. Er schrie und fuhr sich mit dem Schwertarm über das Gesicht, um den Kalk wegzuwischen. Dabei rieb er ihn nur noch tiefer in die Augen. Kreischend ging er zu Boden. »Dreckshure, verdammte! Das wirst du mir büßen!« Der Mann robbte jetzt auf Knien auf sie zu und ließ den Säbel ziellos durch die Luft zischen. In der Zwischenzeit näherte sich der Dicke mit dem Knüppel. Magdalena griff noch einmal in ihre Rocktasche, auch wenn sie wusste, dass dort nichts mehr war. Sie holte mit der geballten 250
Faust aus, als wollte sie dem Mann die nächste Ladung ins Gesicht werfen. »Was ist, Fettsack?«, zischte sie. »Willst blind werden wie dein Freund?« Der Dicke hielt unschlüssig inne und sah zu seinem jammernden Kameraden hinunter. Im gleichen Moment tat Magdalena so, als würde sie ihm das Pulver ins Gesicht schleudern. Der Mann duckte sich, und die Henkerstochter nutzte die Schrecksekunde, um zu dem Haufen Unrat zu eilen und sich von dort abzustoßen. Ihre Füße versanken in schleimigen, halbgefrorenen Abfällen und Fäkalien. Trotzdem gelang es ihr, die Mauerkrone zu erreichen. Mit beiden Händen hievte sie sich hoch, ihre Finger krallten sich in Eis und Schnee. Als sie schon fast den Sims erreicht hatte, zog sie etwas wieder zu Boden. Es war der Dicke, der an ihrer Umhängetasche zerrte. Magdalena spürte, wie der Gurt sich wie ein Galgenstrick um den Hals schnürte und ihr den Atem raubte. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie gab nach und ließ sich wieder fallen oder der Mann erwürgte sie. Es gab natürlich noch die dritte Möglichkeit, sich von der Tasche zu trennen. Aber darüber wollte sie nicht einmal nachdenken. Der Gurt zog sich fester und fester. Magdalena musste an die armen Sünder am Galgen denken. Fühlte es sich so an, wenn man erhängt wurde? Schwarze Schleier zogen an ihren Augen vorbei. Sie begann, das Bewusstsein zu verlieren. Die dritte Möglichkeit... 251
In einer plötzlichen Bewegung duckte sie sich, so dass der Gurt über ihren Kopf rutschte. Der Fette fiel ächzend mit der Tasche auf den Haufen Unrat, und sie war frei. Ohne auf die Schmerzensschreie und Flüche hinter ihr zu achten, sprang sie auf der anderen Seite von der Mauer und lief nach Atem ringend die angrenzende Straße entlang. Sie rannte durch vereiste Gassen und über glitschige Brücken, rutschte ein paarmal im Schneematsch aus und blieb schließlich keuchend an einer Häuserecke stehen. Schluchzend glitt Magdalena an der Wand nach unten und kauerte sich auf dem kalten Boden zusammen. Sie hatte alles verloren. Zwanzig Gulden! Geld, das ihr die Stechlin und ihr Vater anvertraut hatten. Geld, das die Hebamme selbst von einer Patrizierin nur geliehen hatte! Sie konnte nie mehr zurück nach Schongau, die Schmach war zu groß. Nicht einmal die paar Münzen für eine Unterkunft hatte sie noch. Sie war ganz allein. Magdalena weinte, bis sie plötzlich das Gefühl hatte, jemand stehe neben ihr. Als sie hochsah, lehnte in ein paar Schritt Entfernung ein Junge an der Hauswand. Es war der kleine Taschendieb, der versucht hatte, ihr die Tasche zu stehlen. Er beobachtete sie schweigend, bis Magdalena der Geduldsfaden riss. »Was schaust so blöd?«, schrie sie. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram und scher dich davon!« Der Junge zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Plötzlich fiel Magdalena etwas ein. Es gab tatsächlich jemanden, der ihr vielleicht helfen konnte. Bei ihm konnte sie wenigstens die Nacht über bleiben, und vielleicht 252
wusste er auch eine Lösung, was das verlorene Geld anging. Magdalena hatte gehofft, dass ihr dieser Gang erspart bliebe, aber so wie es jetzt aussah, war es ihre letzte Chance. »Warte!«, rief sie dem Jungen hinterher. Der drehte sich um und sah sie fragend an. »Bring mich zu Philipp Hartmann«, flüsterte sie »Zu ... wem?«, fragte der Junge und sah sie ängstlich an. Sein Gesicht erschien im fahlen Licht, das durch ein Fenster auf sie herabschien, plötzlich kreideweiß. »Ich kenne keinen...« »Du weißt nur zu gut, wen ich meine.« Magdalena stand auf und wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht. »Zum Augsburger Henker will ich. Und jetzt spute dich, sonst sorg ich dafür, dass er dich vom Roten Tor baumeln lässt. Das schwör ich, so wahr ich Magdalena Kuisl heiße.«
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U
m sechs Uhr am nächsten Morgen machte sich Jakob
Kuisl auf den Weg hinauf in die Stadt. So früh waren in dieser Jahreszeit selbst auf der großen Münzgasse nur wenig Menschen unterwegs. Die paar Wein- und Tuchhändler, die ihm begegneten, wechselten bei seinem Anblick die Straßenseite oder schlugen ein Kreuz; es war nie gern gesehen, wenn der Henker vom Lechufer hoch nach Schongau kam. Man duldete ihn zum Töten und zum Abtransport der verendeten Tiere, doch ansonsten war man froh, wenn der Scharfrichter unten im stinkenden Gerberviertel blieb. Jakob Kuisl spürte die Blicke der Bürger in seinem Rücken. Es hatte sich offenbar schon herumgesprochen, dass er die Scheller-Bande ausgeräuchert hatte, und auch sein Zwist mit den jungen Patriziern war vermutlich kein Geheimnis mehr. Ohne auf das Getuschel hinter sich zu achten, ging er auf die Fronfeste zu, ein bulliger dreistöckiger Turm mit rußigen Wänden, direkt an der Stadtmauer gelegen. Hier hatten die Wachen gestern Abend die Marodeure eingesperrt. Eingewickelt in einen viel zu dünnen Mantel, stand ein Büttel vor der schweren Holztür. Den Spieß hatte er an die Wand gelehnt, um seine kalten Hände in die Taschen stecken zu können. Erstaunt blickte er den Henker an, der lächelnd auf ihn zutrat.
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»Hier ,Johannes«, sagte Jakob Kuisl und drückte dem verfrorenen Büttel ein paar warme Esskastanien in die Hand, die er bislang unter seinem Mantel verborgen hatte. »Einen lieben Gruß von meiner Frau soll ich dir ausrichten, sie hat extra ein paar Maronen für dich aufgehoben.« »Da ... danke schön ... « Der Büttel Johannes nieste und rieb die Kastanien zwischen seinen blauen Fingern. »Aber du bist doch nicht gekommen, um mir was zum Essen zu bringen, oder?« Er sah misstrauisch unter seiner Kaninchenfellkapuze hervor. »Ich kenn dich doch, Kuisl.« Der Henker nickte. »Ich hab mit dem Scheller da drin noch eine Rechnung offen. Lass mich kurz rein, ich bin auch gleich wieder draußen.« »Und wenn der Lechner davon erfährt?«, murrte Johannes, während er hungrig die warmen Kastanien schälte. »Der reißt mir den Arsch auf.« Jakob Kuisl winkte ab. »Ach, der Lechner. Der dreht sich grad noch einmal um und schnarcht weiter. Geh heut nach dem Mittagsläuten zu meiner Frau runter. Da kannst du dir einen Fichtenbalsam gegen deine Erkältung abholen.« Der Büttel schob sich grinsend eine dampfende Kastanie zwischen die schwarzgelben Zähne, dann öffnete er mit einem großen, rostigen Schlüssel die Tür zur Fronfeste. »Aber malträtier den Scheller nicht zu arg«, rief er dem Henker mit vollem Mund nach. »Sonst kippt er uns noch vor dem Rädern um, und das wär doch jammerschad!« Jakob Kuisl antwortete nicht, sondern ging zu den Zellen, die im hinteren Teil des Gewölbes lagen. Man hatte die Männer und Frauen aufgeteilt, manche der Räuber la255
gen apathisch auf dem kalten Felsboden, die Wunden nur notdürftig versorgt. Der sechsjährige Knabe, der Kuisl schon gestern aufgefallen war, schien hohes Fieber zu haben. Seine Mutter wiegte ihn auf dem Schoß, er zitterte am ganzen Leib und blickte mit leeren Augen zur Decke. Als Kuisl näher kam, rüttelten einige der Männer, die noch stehen konnten, an den rostigen Gitterstäben. »Jetzt schon, Henker?«, rief einer von ihnen. »Wo’s grad gemütlich wird! Hast wenigstens deine Henkersmahlzeit dabei?« Andere lachten. Es stank nach Kot und nassem Stroh. »Gott verfluche dich!«, schrie eine der beiden gefangenen Frauen und hielt ihm ihr schreiendes Kind entgegen. »Wer kümmert sich um meinen Kleinen, wenn ich nicht mehr da bin? Wer? Oder wollt ihr ihn gleich mitaufhängen?« »Halt’s Maul, Anna!«, erklang eine Stimme aus der Zelle ganz rechts. »Wenn das Balg überlebt, werden sie es der Kirche geben. Der Bub hat’s von uns allen noch am besten. Und jetzt sterbt wenigstens mit Anstand, wenn ihr schon nicht so gelebt habt!« Hans Scheller stand breitbeinig in der Mitte der Zelle, die Arme vor dem muskulösen Brustkorb verschränkt. Er sah aus wie ein grobbehauener Klotz, unverrückbar ,die Gesichtszüge eingekerbt wie in hartes Nussholz. Seine Wangen waren von den Schlägen blau und verquollen, getrocknetes Blut hatte das linke Auge vollständig verklebt. Doch das rechte Auge blickte Jakob Kuisl wach und stolz an. »Was willst du, Kuisl? «, fragte Hans Scheller. »Du kommst doch nicht, um uns zum Schafott zuführen. Da 256
macht ihr doch eine große Feier draus, mit Wein und Tanz und Gelächter ,und wenn der Scheller laut beim Rädern schreit, gibt’s für dich einen Gulden extra. Aber ich werd nicht schreien, verlass dich drauf.« »Es hat noch jeder geschrien«, knurrte der Henker. »Darauf hast du mein Wort.« In Schellers Augen konnte Jakob Kuisl kurz das Blitzen von Angst erkennen. Das Rädern galt als die grausamste aller Hinrichtungsarten. Dabei wurde dem Verurteilten erst mit einer Eisenstange jeder einzelne Knochen gebrochen, dann band der Henker den Übeltäter auf ein Wagenrad. Wenn der Mann Glück hatte und der Scharfrichter gnädig war , brach dieser ihm am Ende den Hals; hatte er Pech, richtete der Henker das Rad auf und ließ ihn langsam in der Sonne verrecken. Das konnte mehrere Tage dauern. Jakob Kuisl zwinkerte Scheller zu. »Wir wollen sehen, vielleicht kommt’s ja ganz anders.« »Hoho!«, höhnte einer der Räuber aus der Nachbarzelle. »Der Henker lässt uns laufen, und der Papst wischt sich den Arsch mit Eichenblättern!« »Halt’s Maul, Springer!«, rief Hans Scheller. »Sonst schneid ich dir noch vor dem Henker die Nase ab.« Der Räuber verstummte. Auch die anderen zogen sich langsam von den Gitterstäben zurück und ließen sich im nassen, dreckigen Stroh nieder. »Also, Kuisl, was willst du?«, flüsterte der Räuberhauptmann. Der Henker beugte sich ganz nah an die Stäbe, so dass er den fauligen Atem des Räubers riechen konnte. Hans 257
Schellers Gesicht war eine Landschaft aus Narben, Bartstoppeln, blauen Flecken und getrocknetem Blut. »Wenn du mir sagst, wo ihr eure Beute habt, dann kann ich bei der Stadt vielleicht eine mildere Bestrafung aushandeln«, sagte Kuisl leise. »Beute?« Hans Scheller tat verwundert und grinste ihn unschuldig an. »Welche Beute?« Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Jakob Kuisl durch die Gitterstäbe nach der rechten Hand des Räuberhauptmanns und bog ihm die Finger um, bis es merklich knackte. Hans Scheller wurde weiß im Gesicht. »Keine Spielchen, Scheller«, knurrte Kuisl. »Das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was dich erwartet, wenn du so weitermachst. Zangen, Daumenschrauben, Streckbank. Ich kann dir alles zeigen. Heute noch. Also, was ist?« Hans Scheller versuchte, seine Hand wegzuziehen, aber der Henker verstärkte noch einmal seinen Druck. Das Knacken war jetzt ganz deutlich zu hören. »Die Beute ... sie ist neben der Höhle vergraben, bei der toten Buche ... «, ächzte der Räuberhauptmann. »Ich hätt’s dir ... auch so gesagt ...« »Ausgezeichnet.« Kuisl grinste und ließ die Hand los. Hans Scheller zog sie zurück und betrachtete seinen kleinen Finger, der in einem unnatürlichen Winkel von der Hand abstand. »Fahr zur Hölle, Henker«, flüsterte er. »Ich kenn Leut wie dich, du sackst die Beute selbst ein und bescherst uns einen langen Tod.« Jakob Kuisl schüttelte den Kopf. »Ich mein es ernst, Scheller. Ich werd mich bei der Stadt für euch einsetzen. 258
Keine Folter , kein Rädern. Ein sauberes Erhängen. Versprochen.« »Und die Kinder und Frauen?«, fragte Hans Scheller. In seinem Gesicht zeigte sich so etwas wie Hoffnung. Der Henker nickte. »Ich werd mein Bestes tun. Versprechen kann ich allerdings nichts. Dafür musst du mir aber noch ein paar Dinge verraten.« Hans Scheller sah ihn misstrauisch an. »Was?« »Zunächst, dieser Überfall vor ein paar Tagen auf unseren Medicus und seine Begleiterin. Wart das ihr?« Scheller zögerte kurz. »Nicht ich selber«, sagte er schließlich. »Aber ein paar von meinen Männern. Haben sich, weil’s ihnen grad langweilig war, auf die Lauer gelegt und sich dann von einer Frau über den Haufen schießen lassen.« Er grinste. »Muss ein echtes Satansweib sein, was ich so gehört hab.« Der Henker erwiderte das Grinsen. »Das würd ich auch sagen, wenn mich eine Frau niederschießt. Aber da ist noch was. Diese Tasche.« Jakob Kuisl zog die lederne Tasche mit dem Prägestempel unter seinem Mantel hervor, die er in der Räuberhöhle gefunden hatte. »Wo habt ihr die her?« Der Räuberhauptmann stockte. »Die ... die haben wir ein paar anderen Wegelagerern weggenommen.« »Anderen Wegelagerern?« Scheller nickte. »Das waren harte Burschen. Wir konnten sie vor einiger Zeit abends am Lagerfeuer überraschen, aber die haben sich gewehrt wie die Schweden. Zwei von meinen Männern haben sie den Bauch aufgeschlitzt, bevor sie geflohen sind. Das sind echte Teufels259
kerle, pass auf, wenn du dich mit denen einlässt. Die Tasche haben sie zurückgelassen.« Hans Scheller blickte verwundert. »Aber was willst du mit der? Da ist doch nichts Wertvolles drin! Wir haben sie schon zweimal durchwühlt.« Der Henker ging nicht darauf ein. »Wie sahen die Männer aus?«, fragte er stattdessen. »Hatten sie schwarze Kutten an, so wie Mönche? Trugen sie Krummdolche?« »Krummdolche?« Der Räuberhauptmann zuckte mit den Schultern. »Nein. Das waren ganz gewöhnliche Banditen. Dunkle Mäntel, Schlapphüte, Säbel. Vermutlich ehemalige Söldner. Schnell und kampferfahren.« »Und ihre Beute?«, hakte Kuisl nach. Scheller grinste, so dass sich sein zusammengeschlagenes Gesicht zu einer Grimasse verzerrte. »Die haben wir eingesackt. War gar nicht wenig. Die müssen’s bunt getrieben haben hier in der Gegend.« Plötzlich wurde er nachdenklich. »Eins war allerdings merkwürdig. Sie haben eine Menge Sachen am Lagerfeuer zurückgelassen. Geschirr, Löffel, Decken, solche Dinge halt ... und alles für vier Mann, dabei haben wir nur drei von ihnen gesehen.« Er lächelte wieder. »Der vierte war vermutlich grad beim Bieseln und hat sich, als wir kamen, gleich davongemacht.« »Der vierte Mann ...« Jakob Kuisl blickte nachdenklich auf die Tasche in seiner Hand, dann warf er sie sich wie ein Spielzeug über die Schultern und ging zum Ausgang. »Denk an dein Versprechen!«, rief ihm Hans Scheller hinterher. Der Henker nickte. »Mein Wort gilt.« 260
Er blickte auf den kranken Jungen, der sich in Fieberträumen schüttelte. »Ich werd euch nach dem Mittagsläuten einen Trank aus Efeu und Wacholderschnaps vorbeibringen lassen. Der wird dem Buben das Fieber austreiben.« Kuisl öffnete die Tür und sah mitten in das strenge Gesicht des Gerichtsschreibers Johann Lechner. Hinter dem Schreiber stand der Büttel und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Kuisl«, zischte Lechner. »Du schuldest mir eine Erklärung. Ich komme hierher, um die Gefangenen zu observieren, und was muss ich feststellen? Der Henker war schon vor mir da! Wollen hoffen, dass du ihnen nicht bereits den Hals umgedreht hast.« Jakob Kuisl seufzte. »Euer Exzellenz«, sagte er. »Ihr bekommt eine Erklärung, aber vielleicht gehen wir dafür ins Schloss. Es reicht ja schon aus, wenn sich die Marodeure den Arsch abfrieren.« Die Glocken für die Beerdigung läuteten punkt zehn Uhr vormittags. Trotz der Kälte hatten sich viele Leute eingefunden, die von Pfarrer Andreas Koppmeyer Abschied nehmen wollten, darunter viele einfache Handwerker und Tagelöhner , für die der dicke, väterliche Pfaffe einer der ihren gewesen war. Weil die alte Lorenzkirche zurzeit renoviert wurde und ohnehin nicht für einen solchen Ansturm gewappnet schien, hatten die Altenstadter Bürger die Trauerfeier kurzerhand in die große Basilika verlegt. Simon war einer der Letzten, der eintraf. Er hatte noch die halbe Nacht über dem Rätsel aus der Kapelle gebrütet und immer wieder in dem kleinen Brevier Wilhelm von 261
Sellings geblättert, war aber nicht weitergekommen. Außerdem quälte ihn der Gedanke, dass Magdalena nach Augsburg gereist war, ohne sich von ihm zu verabschieden. Ob sie ihm jemals verzeihen würde? Warum war sie nur immer so sturköpfig! Erst kurz vor dem ersten Hahnenschrei war er eingeschlafen, um nur wenige Stunden später von seinem Vater wieder geweckt zu werden, der ihm nur äußerst ungern wegen der Totenmesse freigab. Simon war in seine Hosen gesprungen, hatte den neuen Rock aus feinem Augsburger Tuch übergezogen und im Hinausgehen den kalten Kaffee vom vergangenen Abend direkt aus dem Topf getrunken. Als er jetzt vorsichtig das Portal zur Basilika öffnete, hatte die Predigt bereits begonnen. Eiskalter Wind wehte von draußen herein und die Türflügel quietschten laut, so dass sich etliche Trauergäste vorwurfsvoll nach ihm umdrehten. Simon murmelte ein Wort der Entschuldigung, nahm seinen Hut vom Kopf und setzte sich rechts hinten in eine der Bänke, die für die Männer vorgesehen waren. Ganz vorne links konnte er Benedikta erkennen. Sie trug einen schwarzen, in lockere Falten gelegten Rock und darüber eine Schoßjacke, die ihr enggeschnürtes Mieder nur noch mehr zur Geltung brachte. Ihr rotes Haar war fast gänzlich unter einer schwarzen Haube verborgen, und sie schien noch blasser als sonst. Neben und hinter ihr saßen die gutsituierten Altenstadter Bürger. Simon erkannte den Wirt Franz Strasser, den Zimmermann Balthasar Hemerle, aber auch Matthias Sacher, der als reicher Müller für die Altenstadter im Schongauer Rat saß. Als der Medicus zu den mit rotem Stoff ausgeschlagenen Ehrenplätzen hinter dem Altar hinüberblickte, bemerkte er eine einzelne 262
Gestalt. Es war der Steingadener Abt Augustin Bonenmayr, der dort aufrecht sitzend und mit geschlossenen Augen ein stilles Gebet murmelte. Als Vorgesetzter von Andreas Koppmeyer hatte er offenbar den weiten Weg nicht gescheut, um dem Altenstadter Pfarrer die letzte Ehre zu erweisen. Vor dem Altar stand aufgebahrt der offene Sarg mit dem Toten. Es war so kalt in der Kirche, dass sich auf dem Gesicht Koppmeyers eine dünne Schicht Eis gebildet hatte. Pfarrer Elias Ziegler hatte seine Predigt kurz unterbrochen, um den Spätankömmling mit einem strafenden Blick zu mustern. Jetzt fuhr er in seiner Rede fort. Seine Nase glühte rot wie ein reifer Apfel; Simon vermutete, dass er bereits heute früh zum Messwein gegriffen hatte. »Andreas Koppmeyer war ein Mensch aus unserer Mitte«, sprach der Pfarrer in salbungsvollem Ton, »ein Bär von einem Mann, der die Sorgen und Ängste seiner Schäflein gut verstand, weil es auch seine eigenen Sorgen waren.« Ein Wimmern war aus einer der hinteren Bänke zu hören. Simon blickte nach links und sah dort die dicke Pfarrhaushälterin Magda, die sich soeben lautstark in ein großes, schmutziges Taschentuch schnäuzte. Auch der dürre Mesner Abraham Gedler schien den Tränen nah. Seine Hände krallten sich um das Gotteslob, als wollte er Saft daraus pressen. »Aber der Herrgott alleine weiß, wann unsere Stunde gekommen ist«, fuhr der Pfarrer fort. »Und so legen wir all unser Hoffen und Sehnen in den Schoß Gottes …« 263
Simons Gedanken schweiften ab. Er dachte an Magdalena und ihre Reise. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Auch auf dem Lech war man vor Marodeuren nicht sicher, vom Landweg zurück ganz zu schweigen. Ihr Vater hätte sie niemals gehen lassen dürfen! Sie war viel zu jung für so eine Reise, zu jung und zu naiv. Anders als Benedikta, dachte Simon. Die Landsberger Bürgersfrau mochte nur ein paar Jahre älter sein, aber sie wirkte auf alle Fälle wesentlich reifer. Simon blickte nach vorne. Auch jetzt schien Benedikta Koppmeyer trotz des Todes ihres Bruders gefasst. Der Medicus konnte keine Gäste erkennen, die Verwandte von ihr hätten sein können. Vermutlich waren Benedikta und Andreas die einzigen Geschwister, und Kinder hatte die Bürgersfrau offenbar keine, jedenfalls hatte sie von keinen erzählt. Noch immer war Simon zugleich fasziniert und irritiert von dieser vornehmen Dame, die französisch parlierte und nur Minuten später einen Räuber kaltblütig über den Haufen schoss. Er fühlte sich von Benedikta gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Der Schongauer Medicus seufzte, wohl wissend, dass diese Mischung fatale Konsequenzen haben konnte. Simon sah hinauf zum Großen Gott von Altenstadt, der von seinem Holzkreuz gütig und allwissend auf die Gläubigen blickte. Auch er konnte dem Medicus bei seinen Problemen nicht helfen. »Wir wollen beten.« Die Aufforderung des Pfarrers riss Simon aus seinen Gedanken. Gemeinsam mit den anderen erhob er sich und betete das Vaterunser. 264
»Pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum...« Als Pfarrer Elias Ziegler geendet hatte, richtete er seinen Blick hoch zum Großen Gott von Altenstadt. Er hob die Hände, als wollte er die Gemeinde segnen. Dann sprach er mit klarer Stimme weiter. Seine folgenden Worte rissen Simon fast um, nur mit Mühe klammerte er sich an der Lehne der Kirchenbank fest. »Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes, dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum, noch Berg nicht war, nicht noch irgendetwas... « Die Stimme von Elias Ziegler hallte durch das Gewölbe der Basilika wie die eines Propheten. Es war das Rätsel aus der Krypta der Schlosskapelle. »Du verlangst was von mir?« Gerichtsschreiber Johann Lechner sah den Henker ungläubig an und ließ die Feder fallen, mit der er eben noch einige Dokumente unterzeichnen wollte. Seine Lippen waren ein schmaler ,blutleerer Strich im bleichen Gesicht, die Augen zuckten nervös hin und her. Der nicht enden wollende Papierkram, aber vor allem die wachsende Sorge um die Stadt hatten ihn in den letzten Nächten wenig schlafen lassen. Lechners Haut wirkte gelegentlich so durchsichtig wie zu oft beschriebenes Pergament, aber sein Wille und seine Durchsetzungskraft waren weit über die Grenzen von Schongau hinaus bekannt – und gefürchtet. Gemeinsam mit Jakob Kuisl und mit zwei Bütteln im Gefolge war er nach seinem Besuch in der Fronfeste zu265
rückgeeilt zur herzoglichen Residenz. Der Schreiber war die ganze Zeit vorausgeschritten, die Wachen hatten Schwierigkeiten, ihm auf den Fersen zu bleiben. In seiner Schreibstube hatte Lechner dem Henker schließlich einen Platz zugewiesen und sich dann mit seinen Unterlagen beschäftigt. Erst nach einer Weile forderte er Kuisl auf, den Hintergrund seines Gesprächs mit dem Räuberhauptmann zu erklären. Als Jakob Kuisl ihn erläuterte, schwoll die kleine Ader auf Lechners bleicher Stirn zu einem roten Strang an. »Natürlich werden wir ein Exempel statuieren und den Scheller rädern. Etwas anderes kommt gar nicht in Frage!«, zischte er und fuhr fort, die Dokumente zu unterzeichnen. »Noch heute werde ich im Rat auf die baldige Hinrichtung drängen.« »Wenn Ihr das macht, werden wir nie erfahren, wo Scheller die Beute versteckt hat«, sagte Kuisl und holte seine Pfeife hervor. »Dann press es aus ihm heraus. Fang mit den Daumenschrauben an, streck ihn mit Mühlsteinen oder schieb ihm Schwefelhölzer unter die Nägel. Egal was, dir wird schon das Rechte einfallen.« Kuisl schüttelte den Kopf. »Der Scheller ist ein harter Hund. Gut möglich, dass der auch unter der Folter schweigt. Warum also Zeit und Geld vergeuden?« Der Schreiber funkelte den Henker böse an. »Was soll das schon für eine Beute sein?«, sagte er schließlich. »Ein paar Gulden und Heller, vielleicht ein verlauster Pelzmantel, wen schert das schon?« Kuisls Blick glitt beinahe gelangweilt durch den Raum, wo sich auf Tischen und in Regalen unerledigte Doku266
mente stapelten. Lechners Frühstück, ein Stück Weißbrot und ein Krug mit Wein, stand unangerührt auf einem Schemel. Endlich sprach der Henker weiter. »Es ist weit mehr als nur ein paar Gulden, vermut ich. Scheller hat nämlich eine andere Räuberbande ausgeplündert.« »Eine andere Räuberbande?« Johann Lechner hielt es kaum noch auf dem Stuhl. »Soll das heißen, da draußen treibt sich noch ein zweiter Haufen herum?« Der Henker begann umständlich, seine Pfeife zu stopfen. »Die ganzen Überfälle in letzter Zeit, vom Hohen Peißenberg bis hinüber ins Landsberger Land, das kann nicht bloß eine einzige Bande gewesen sein. Ich glaub dem Scheller. Lasst mich auch die anderen aufspüren; den Räuberhauptmann und seine Männer hänge ich Euch noch am Tag drauf, wenn’s sein muss. Dafür wissen wir dann, wo die Beute versteckt ist, und im Pfaffenwinkel kehrt endlich Frieden ein.« Lechner sah den Henker prüfend an. »Und wenn ich auf dem Rädern bestehe?«, fragte er schließlich. Kuisl zündete seine Pfeife an. »Dann könnt Ihr Eure Räuber alleine suchen. Ich bezweifle allerdings, dass Ihr sie findet. Nur ich kenn ihre möglichen Verstecke.« »Du drohst mir? « Lechners Stimme war plötzlich kalt wie ein Morgen im Januar. Jakob Kuisl lehnte sich zurück und ließ kleine Rauchringe zur Decke steigen. »Drohen würd ich nicht sagen. Es ist eher... eine Abmachung.« Lange Zeit war nichts zu hören als das Klopfen von Lechners Fingern auf der Tischplatte. 267
»Also gut«, sagte der Schreiber endlich. »Du fängst mir diese anderen Räuber, und dafür wird der Scheller meinetwegen gehängt und nicht gerädert. Zuvor muss er uns allerdings sagen, wo er die Beute versteckt hat.« »Die Frauen und Kinder kommen frei«, sagte der Henker leise. »Auspeitschen und Verbannung aus der Stadt. Das muss reichen.« Lechner seufzte. »Was soll’s. Sind wir eben mal human.« Er beugte sich nach vorne. »Aber einen Gefallen musst du mir dafür noch tun. « »Welchen?« »Mach die verdammte Pfeife aus. Dieser ekelhafte Rauch kommt direkt aus der Hölle. In München und Nürnberg haben sie diese Unsitte schon vor Jahren verboten. Und wenn das so weitergeht, werde ich das Rauchtrinken auch hier in Schongau unter Strafe stellen, dann kannst du dich selbst auspeitschen.« Der Henker grinste. »Wie Ihr befehlt.« Er löschte die Pfeife mit seinem Daumen und begab sich zur Tür. »Ach, Kuisl.« Die Stimme des Schreibers ließ den Henker innehalten. »Ja?« »Warum machst du das?«, fragte Lechner und sah ihn misstrauisch an. »Du hättest für das Rädern einen Batzen Geld bekommen. Das Zehnfache von dem, was du für das Hängen kriegst. Warum also? Wirst du auf deine alten Tage plötzlich weich, oder steckt etwas anderes dahinter?« Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Wart Ihr im Krieg?«, fragte er schließlich. 268
Lechner wirkte irritiert. »Nein, warum willst du das wissen?« »Ich hab schon genug Männer schreien gehört. Lieber schlag ich ein wenig bei den Arzneien drauf.« Ohne ein weiteres Wort ging der Henker nach draußen und schloss die Tür. Drinnen fuhr der Schreiber mit dem Sichten der Dokumente fort, aber er konnte sich nicht recht konzentrieren. Er würde diesen Kuisl nie verstehen. Aber sei’s drum. Er hatte dem mächtigen Boten versprochen, den Henker längerfristig aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn es noch eine zweite Räuberbande gab, umso besser. Das würde Zeit kosten. Und immerhin sparte Lechner sich nun ganze sechzehn Gulden fürs Rädern, für jeden Radstoß zwei. Von der Beute ganz abgesehen, die würde zusätzliches Geld in den Stadtsäckel spülen. Zufrieden setzte er seine schwungvolle Unterschrift unter ein weiteres Dokument. Man konnte ja immer noch den Anführer der zweiten Räuberbande rädern. Der Gerechtigkeit wegen. Nervös trommelte Simon auf die Lehne der Kirchenbank und wartete auf das letzte Amen von Elias Ziegler. Am liebsten wäre er während der Messe aufgesprungen, nach vorne gerannt und hätte den versoffenen Pfarrer zur Rede gestellt. Auch Benedikta rutschte unruhig hin und her. Gleich nachdem Ziegler das Rätsel aus der Schlosskrypta in seiner Predigt erwähnt hatte, hatte sie sich mit offenem Mund zu Simon umgedreht. Doch es dauerte noch zwei lateinische Gebete und ein, wie Simon fand, endloses Kyrieeleison, bis der Gottesdienst endlich vorbei war. 269
Die Altenstadter Bürger stellten sich nun zur Kondolenz an. Benedikta hatte auf einem kleinen hölzernen Schemel neben ihrem aufgebahrten Bruder Platz genommen. Der Pfarrer stand daneben und nickte den Gästen salbungsvoll zu, während sie den Sarg abschritten und Benedikta ihr Beileid aussprachen. Manche legten eine getrocknete Blume in den Sarg, schlugen ein Kreuz oder machten mit den Fingern eine Geste, die bösen Zauber abwehren sollte. Zwar glaubten die meisten mittlerweile, Andreas Koppmeyer habe sich schlicht überfressen und sei deshalb tot umgefallen. Doch noch immer hielt sich dank Magda das Gerücht, die Diener des Teufels hätten ihn vergiftet, weil er zu viel Gutes in die Welt gebracht habe. Gerade eben brach die Pfarrhaushälterin weinend neben dem Sarg zusammen und musste vom Mesner Abraham Gedler nach draußen gebracht werden. Simon beobachtete Benedikta. Auch jetzt wirkte die Landsberger Weinhändlerin gefasst; sie dankte jedem Einzelnen und erinnerte noch einmal an den Leichenschmaus. Das wäre sicher nicht nötig gewesen. Simon vermutete, dass viele der Altenstadter vermutlich nur deshalb auf die Beerdigung gekommen waren, um sich danach einmal wieder so richtig satt zu essen. »Nun, Fronwieser? Seid Ihr bei Euren Erkundigungen schon weitergekommen?« Simon fuhr herum. Es war Augustin Bonenmayr, der sich in der Kondolenzreihe neben ihn gestellt hatte. Der hagere, großgewachsene Steingadener Abt trug auch hier in der Basilika seinen Kneifer aus Messing. Dahinter blinzelten den Medicus kleine wache Augen an. »Leider nein, Hochwürden.« 270
»Solltet Ihr Schongau jemals den Rücken kehren wollen, dann kommt doch nach Steingaden.« Bonenmayr zwinkerte. »Das Kloster braucht noch einen klugen, aufgeschlossenen Medicus, wie Ihr einer seid. Vor allem jetzt, da wir umbauen und erweitern. Wenn der Bau erst einmal vollendet ist, werden jedes Jahr Tausende Menschen zu uns pilgern. Menschen mit Krankheiten und Gebrechen. Nicht alle kann Gott heilen.« Der Abt lächelte milde. Dann fiel sein Blick auf den Sarg vor ihnen, er wurde wieder ernst. »Ein schwerer Verlust für uns alle«, sagte er. » Koppmeyer war ein Mann aus dem Volk, die Kirche bräuchte mehr von seinem Schlag.« »Da habt Ihr recht, Hochwürden.« Simon blickte nervös nach vorne. Nur noch drei Trauergäste standen vor ihm, dann konnte er Elias Ziegler endlich nach dem Gebet von vorhin fragen. In der Aufregung fiel es ihm schwer, sich auf die Worte Augustin Bonenmayrs zu konzentrieren. Der Steingadener Abt nahm den Kneifer ab und putzte ihn mit einem Spitzentaschentuch. »Glaubt Ihr immer noch an einen Giftmord?«, fragte er leise. »Vielleicht hat der gute Koppmeyer tatsächlich nur etwas Falsches gegessen. Oder zu viel, es war ja bekannt, dass er den weltlichen Genüssen nicht abgeneigt war. Wenn es allerdings wirklich ein Mord gewesen sein sollte...« Er rieb weiter an seiner Brille, obwohl die Gläser längst so durchscheinend waren wie frisches Wasser. »Habt Ihr Euch eigentlich mal gefragt, wer von Koppmeyers Tod am meisten profitiert? Soviel ich weiß, hatte er nur eine Verwandte, nämlich seine Schwester.« Der Abt wandte sich ab. »Einen schönen Tag noch, Gott behüte Euch.« 271
Simon starrte ihm mit offenem Mund hinterher, die Worte Bonenmayrs klangen in seinen Ohren nach. Benedikta, eine Giftmischerin? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch zum weiteren Nachdenken blieb keine Zeit, denn in diesem Moment war er endlich am Sarg angelangt. Darin lag mit zusammengefalteten Händen, ein Kruzifix haltend, Andreas Koppmeyer, das Gesicht wächsern und friedlich. In dem schmalen Holzkasten wirkte er plötzlich viel kleiner, als er zu Lebzeiten gewesen war. Simon fand, dass er bereits einen leicht aufgedunsenen Eindruck machte. Trotz der Kälte wurde es offensichtlich höchste Zeit, ihn unter die Erde zu bringen. Simon nickte Benedikta zu, die noch immer neben dem Sarg stand und Beileidsbekundungen entgegennahm; der Medicus murmelte einige teilnahmsvolle Worte, dann wendete er sich an den Pfarrer. »Eine schöne Predigt, Hochwürden«, flüsterte er. » So mitfühlend.« »Danke.« Pfarrer Elias Ziegler lächelte. »Besonders die Schlussworte haben mir gefallen. Dieses Gebet, in dem es um das größte Wunder der Menschheit ging. Als es noch keine Erde, keinen Himmel und keinen Baum gab ... Woher stammt es noch mal?« »Ach, das Wessobrunner Gebet.« Der Pfarrer nickte verständnisvoll. »Es gilt als das älteste deutsche Gebet überhaupt. Wusstet Ihr das? Es hat, wie ich finde, einen ganz besonderen Zauber. Freut mich, wenn es Euch gefällt. Ich habe es schon lange nicht mehr in einer Predigt verwendet.« Simon nickte. »Das Wessobrunner Gebet«, murmelte er. »Warum heißt es so?« 272
Der Pfarrer zuckte mit den Schultern. »Nun, weil es seit vielen Jahrhunderten in Wessobrunn aufbewahrt wird. In einem Kloster, nur eine Tagesreise von hier. Die Mönche hüten es in einem Schrein, wie eine Reliquie.« Simons Mund war plötzlich trocken. »Ist dieses Gebet mehr als dreihundert Jahre alt?«, fragte er mit belegter Stimme. »Sicher. Sogar noch viel älter.« Elias Ziegler blickte plötzlich besorgt. »Ist Euch nicht gut? Ihr seid so blass.« »Doch, doch, es ist nur …« Benedikta lächelte den Pfarrer mitfühlend an. »Er hat meinen Bruder sehr gemocht, müsst Ihr wissen. Es ist wohl alles ein wenig viel für ihn in letzter Zeit.« Elias Ziegler nickte andächtig. »Für wen gilt das nicht?«, sagte er. Dann wandt er sich den nächsten Kondolenzgästen zu. Simon blieb noch kurz neben Benedikta stehen. »Das Wessobrunner Gebet«, zischte er. »Ich hätte es wissen müssen! Also befindet sich der Schatz im Kloster Wessobrunn.« »Oder das nächste Rätsel«, flüsterte Benedikta, während sie den Kopf weiter geradeaus hielt und tröstende Worte der Trauergäste entgegennahm. »Auf alle Fälle müssen wir nach Wessobrunn. Ich hoffe, Ihr könnt mittlerweile ein wenig besser reiten.« Ein Schmunzeln ging über ihr Gesicht. »Sonst werden wir wohl niemals erfahren, ob es den Schatz dieses Templers wirklich gibt.« Simon lächelte zurück, doch in seinem Inneren blieb ein schales Gefühl. Der Steingadener Abt hatte einen Verdacht gesät, der in ihm Wurzeln schlug. Mit einem Kopf273
nicken verabschiedete er sich und verließ die kalte Basilika. Der Junge führte Magdalena durch die engen Gassen Augsburgs hinunter ins Weberviertel. Kleine vereiste Kanäle zogen sich am Rand der gepflasterten Straßen entlang. Immer wieder waren Mühlräder zu sehen, die die Webstühle der Weber in der wärmeren Jahreszeit antrieben, nun aber, übersät mit Eiszapfen, starr aus der Eisdecke der verzweigten Bäche ragten. In den meisten Häusern befanden sich keine Fenster, sondern nur winzige Luken; Magdalena hatte das Gefühl, das aus jeder von ihnen ein Augenpaar hinter ihnen herstarrte. Jetzt nach Einbruch der Dunkelheit war sie mit dem Jungen alleine auf den Straßen unterwegs. Immer wieder blickte sie sich um, ob die beiden Schläger nicht hinter der nächsten Ecke auftauchten. Endlich hatten sie ein größeres Haus erreicht, das direkt an die Stadtmauer grenzte. Mit seiner weiß getünchten Steinmauer, den grünen Fensterläden und der wuchtigen Holztür wirkte es neben den windschiefen Baracken der Weber fast elegant, wenn es auch lange nicht so prächtig war wie die dreistöckigen Paläste in der Nähe des Rathauses. Magdalena konnte kaum glauben, dass dies das Haus des Henkers sein sollte, doch der Junge blieb stehen und klopfte. Schon nach kurzer Zeit waren Schritte zu hören, eine Luke neben der Tür öffnete sich. Das bärtige Gesicht eines Mannes war zu sehen. Als er mit einer Laterne nach draußen leuchtete, konnte Magdalena einen rotblonden Vollbart und zwei im trüben Licht glitzernde Augen er274
kennen. Misstrauisch blickte der Mann auf Magdalena und den Jungen hinunter. »Keine Kundschaft mehr heut«, brummte er. »Kommt’s morgen wieder, wenn’s nicht am Verrecken seid’s.« Der Junge schlug ein Kreuz, murmelte ein kurzes Stoßgebet und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit. Magdalena starrte den Henker an, der noch immer hinter der Luke stand. Er schien sie noch nicht erkannt zu haben. »Bist du taub, oder was?« Die Stimme des Mannes bekam etwas Drohendes. »Verschwinden sollst, aber schnell, sonst mach ich dir Beine, verruchte Dirn!« Er wollte die Luke schon wieder schließen, als Magdalena das Wort an ihn richtete. »Ich bin’s, die Kuisl-Magdalena aus Schongau. Erkennst mich nicht?« Die Augen des Henkers blitzten vor Erstaunen auf, dann öffnete er die Tür. Licht fiel aus der Stube auf seinen mächtigen Körper. Philipp Hartmann war beinahe so groß wie der Schongauer Henker. Er hatte eine rotblonde Mähne, die gemeinsam mit dem Bart ein zerfurchtes Gesicht umrahmte. Seine Arme waren breit wie Buchenstämme, und er schob einen gewaltigen Bauch vor sich her. Man hätte ihn für einen Tagelöhner oder einen gedungenen Schläger halten können, doch sein Hemd, unter dem sich die dichten Brusthaare kräuselten, war aus feinstem Barchent, und der schwarze Rock darüber zeigte keinen einzigen Flicken. Philipp Hartmanns Augen waren kleine schmale Schlitze, die ihr Gegenüber sehr genau musterten. Die Augen eines klugen, aber auch äußerst ehrgeizigen Mannes. 275
Endlich verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. »Tatsächlich, Magdalena Kuisl! «, rief er, und sein Bass tönte durch die Straßen. »Was für eine Überraschung! Komm herein, oder willst du dir vor dem Henkershaus den Tod holen?« Seine Hand umklammerte ihre Schulter, er schob Magdalena in die warme Stube. Ein Kachelofen bullerte leise vor sich hin, auf dem Tisch befanden sich noch die Reste des Abendbrots. Gerösteter Fasan, ein halber Laib Käse und eine aufgeschnittene Schinkenkeule. Daneben stand ein Krug Wein und eine Schale mit Weißbrotscheiben. Magdalena lief das Wasser im Mund zusammen, ihr fiel ein, dass sie seit gestern Abend nichts Anständiges mehr gegessen hatte. Philipp Hartmann bemerkte ihren Blick und machte eine einladende Handbewegung. »Setz dich und iss, für einen ist’s ohnehin zu viel.« Magdalena nahm Platz und griff zu. Das Brot war noch warm, sie biss in die Fasankeule und genoss das feine, weiße Fleisch. Es schmeckte wie Ostern und Kirchweih am gleichen Tag. Ein Essen wie dieses konnten sich die Kuisls nur nach größeren Hinrichtungen leisten, und auch nur dann, wenn die Bezahlung angemessen gewesen war. Philipp Hartmann musterte sie wie ein schönes Tier, ansonsten schwieg er. Plötzlich war von oben Füßetrappeln zu hören, die Tür quietschte, und herein blickte ein etwa fünfjähriges Mädchen im Nachthemd mit rotblonden Zöpfen. »Geh wieder nach oben, Barbara«, sagte der Henker. »Wir haben Besuch bekommen. Die Magdalena bleibt sicher über Nacht, dann kannst morgen noch mit ihr spielen. « Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, eine Mimik, 276
die ihm offenbar nicht leichtfiel. »Vielleicht bleibt sie sogar länger.« Magdalena schluckte den Bissen Fasan hinunter, mit einem Mal erschien ihr das Fleisch fad und trocken. Das Mädchen nickte, musterte die Henkerstochter noch einmal neugierig und verschwand dann wieder nach oben. »Kannst gern noch mehr haben«, sagte Philipp Hartmann und goss ihr einen weiteren Becher Wein ein. »Hab auch noch Nüsse und Spezereien. Ist hier nicht wie bei armen Leuten.« Magdalena schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick über die weiß getünchten Wände, die sauber gescheuerten Kupferkessel und die emaillierten Krüge und Teller gleiten. Dafür, dass Philipp Hartmanns Frau nun schon seit über einem Jahr tot war, befand sich die Stube in einem bemerkenswert guten Zustand. Binsen und Stroh auf dem Fußboden rochen frisch, Magdalena konnte keine einzige Spinnwebe in den Ecken entdecken. Im Herrgottswinkel hing ein offenbar frisch gerahmtes Madonnenbild in Öl, direkt neben dem polierten Richtschwert. Eine Truhe aus Nussholz stand darunter, auf ihrem messingbeschlagenen Deckel stapelten sich frisches Linnen und bunte Kleider. Magdalena nickte insgeheim. Ihr Vater hatte recht gehabt, der Henker von Augsburg wäre tatsächlich eine feine Partie. Doch das änderte nichts daran, dass sie nicht im Traum daran dachte, ihn zu heiraten. Philipp Hartmann setzte sich jetzt neben sie, goss sich einen Becher Wein ein und prostete ihr zu. »Und jetzt verrat mir , was du um diese Jahreszeit in Augsburg zu suchen hast. Eigentlich ist’s doch der Mann, der seiner Auserwählten einen Freiersbesuch abstattet, oder macht ihr 277
das in Schongau anders?« Wieder versuchte er ein Lächeln. »Es ... ist nicht ganz so, wie du denkst«, begann Magdalena zögernd. Der Besuch war ein Fehler, das wusste sie. Ihr Erscheinen hier weckte falsche Hoffnungen, aber was blieb ihr anderes übrig? Bis nach Schongau hatte sich herumgesprochen, dass die Frau des Augsburger Henkers letztes Jahr an der Schwindsucht gestorben war. Seitdem suchte Philipp Hartmann für sich ein neues Weib und für seine kleine Barbara ein gute Mutter. Für ihn als Scharfrichter kam dafür nur die Tochter eines Abdeckers oder Henkers in Frage. Drei Monate war es nun her, dass Philipp Hartmann den Kuisls einen Besuch abgestattet hatte, um sich Magdalena näher anzusehen. Die Männer waren sich schnell einig gewesen, und ihr Vater hatte ihr das Leben als Augsburger Henkersbraut in bunten Farben ausgemalt. Im Gegensatz zum Schongauer Scharfrichter war Philipp Hartmann vermögend. Zwar war auch er ein sogenannter Ehrloser, dem man aus dem Wege ging, doch mit Fleiß und Ehrgeiz hatte es Hartmann in den letzten Jahren zu etwas gebracht. Er galt als erfahrener Henker, aber vor allem als ausgezeichneter Heiler, zu dem sowohl die einfachen Leute als auch höhergestellte Bürger kamen, um sich kurieren zu lassen. Handwerker, Händlerstöchter, ja sogar Patrizier waren bereits in seiner Stube zu Gast gewesen. Und alle hatten sie einen anständigen Batzen Geld dagelassen. Stundenlang hatte ihr Vater damals auf sie eingeredet, hatte versucht, ihr klarzumachen, dass eine Ehe mit Simon niemals in Frage kommen würde, dass alles, was sie damit erreichen würde, Spott und im schlimmsten Fall die 278
Verbannung aus der Stadt wäre, doch zwecklos. Schließlich musste Philipp Hartmann unverrichteter Dinge wieder abreisen; seine Mitgift, wohlverwahrt in einer kleinen Truhe, nahm er mit nach Augsburg. Und jetzt saß Magdalena hier bei ihm, aß von seinem Fasan und seinem Weißbrot und bat um eine Bleibe für die Nacht. Sie fühlte sich schmutzig und schlecht, nur stockend berichtete sie, was ihr passiert war. Der Henker hörte ihr schweigend zu. Als sie geendet hatte, nickte er. »Also doch kein Freiersbesuch ... « Er machte eine lange Pause, und Magdalena spürte einen großen Stein in ihrem Bauch. »Nun, wie auch immer …« Er stand auf und schürte draußen im Gang nach. »Dein Geld ist jedenfalls weg«, rief er in die Stube hinein. »Ich kenn die zwei Burschen, das sind üble Gesellen, hab sie schon mal am Pranger gehabt und auch öffentlich mit Ruten ausgehauen. Die dürfen eigentlich schon lang nicht mehr in der Stadt sein. Das Aug hab ich dem Großen ausgestochen, weil er sich in Augsburg noch einmal hat blicken lassen. Das nächste Mal hängen sie.« Er kam zurück in die Stube und wischte sich die rußigen Pranken an einem feinen weißen Leintuch ab. »Was hätt’st denn für deinen Vater und die Hebamme besorgen sollen?« Aus dem Kopf zählte Magdalena die einzelnen Kräuter und Zutaten auf. Schon seit jeher besaß sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Der Henker nickte. »Melisse, Sonnentau und auch die meisten anderen Kräuter hab ich hier«, sagte er nachdenklich. »Das Mutterkorn bekommst du in der Apotheke.«
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»Aber ich hab doch kein Geld!« Magdalena schlug die Hände über dem Gesicht zusammen. »Zwanzig Gulden, woher soll ich so viel Geld nehmen!« Philipp Hartmann zögerte, dann ging er zur Truhe in der Ecke und öffnete sie mit einem Schlüssel, der bislang an einem Bund an seinem Gürtel gehangen hatte. Magdalena hörte es klimpern, schließlich kam der Henker zurück und öffnete die Hand. Zehn glitzernde Gulden rollten über den Tisch und blieben vor ihr liegen. »So viel wirst du für die Apotheke brauchen«, sagte Hartmann. »Den Rest bekommst du von mir.« Magdalena sah ihn ungläubig an. »Aber ... «, begann sie. Etwas anderes rollte auf sie zu. Es war eine schwarz glänzende Kugel, so groß wie eine Kinderfaust, aus einem ihr unbekannten, fremdartigen Material. Als Magdalena sie in die Hand nahm, rasselte etwas im Inneren. »Ein Bezoar«, sagte der Henker. »Wenn du mich fragst, ein unnützes Zauberding für abergläubische Weiber. Behalt es, ich habe ohnehin keine Verwendung mehr dafür.« »Ich werde dir das nie wieder zurückzahlen können«, flüsterte Magdalena. Der Henker zuckte mit den Schultern. »Als Mitgift hättest du das Fünfzigfache bekommen. Ich bin keine arme Kirchenmaus wie dein Vater. In ein paar Jahren will ich mir das Bürgerrecht kaufen. Und wer weiß ... « Er versuchte, freundlich auszusehen, aber sein Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Grimasse. »Vielleicht überlegst du dir es doch noch mal. Ich bin keine schlechte Partie, und die Barbara braucht dringend eine Mutter.« Er richtete sich auf und ging zur Tür. »Du kannst hier in der Stube 280
auf der Bank schlafen. Morgen gehst zur Apotheke, und dann schaust du dir ein wenig Augsburg an. Du wirst sehen, es lebt sich hier nicht schlecht.« Magdalena hörte seine schweren Schritte auf der Stiege nach oben. Ihr Bauch fühlte sich an, als hätte sie den Bezoar verschluckt. Der Fuhrmann lag auf dem Bett aus Stroh und schrie wie am Spieß. Erschrocken zog Bonifaz Fronwieser seine Hand weg, die eben noch die Bauchdecke abgeklopft hatte. »Hm, hier tut es also weh«, sagte der ältere Medicus und blickte seinen Sohn vielsagend an. Neben den beiden Ärzten kniete Anton Steingadeners Frau und wischte ihrem Gatten den Schweiß aus der Stirn, um die Finger ihrer linken Hand wand sich ein Rosenkranz. Vor einer Stunde war das alte Ehepaar im Haus der Fronwiesers erschienen, wo sich seit der Mittagszeit schon einige Patienten eingefunden hatten. Die meisten litten unter dem Fieber, das seit Wochen in Schongau umging. Doch dieser Fall erschien Simon, falls das überhaupt möglich war, ernster. Eigentlich war er sich jetzt schon sicher, dass er tödlich ausgehen würde. »Herr Doktor, was hat er?«, jammerte Agathe Steingadener. »War es das Essen? Unser Brot ist nicht das beste, ich weiß. Wir backen gemahlene Eicheln mit ein, weil’s alle Tag an Mehl fehlt. Aber diese Schmerzen ... Was hat er nur?« »Wie lange geht das schon?«, fragte Bonifaz Fronwieser, während er die Augen von Anton Steingadener mit einer geschliffenen Linse näher untersuchte. Sie waren 281
geweitet und glasig, der Mann war vor Schmerzen nicht mehr ganz bei Sinnen. »Seit... seit drei Tagen, glaub ich«, sagte Agathe Steingadener. »Könnt ihr ihm nicht helfen?« Bonifaz Fronwieser trat einen Schritt zurück und überließ es seinem Sohn, die Bauchdecke noch einmal abzutasten. Sie war knochenhart, mit einer Schwellung oberhalb des Beckens. Simon drückte nur leicht darauf, und der Mann schrie erneut auf, als würde er gepfählt. »Mein Gott, was hat er? Was hat er nur?« Die Hand von Agathe Steingadener krallte sich um den Rosenkranz. »Ist es der Teufel, der in ihn eingefahren ist? So wie beim Altenstadter Pfarrer?« Sie fing zu weinen an. »Heilige Jungfrau Maria! Der Teufel fährt in die armen Seelen und macht nicht mal vor Pfarrern und frommen Bürgern halt! Jeden dritten Tag ist mein Mann in der Mess gewesen, wie oft haben wir zu Hause gemeinsam gebetet ...« »Dein Mann hat ein Geschwulst im Leib«, unterbrach Simon ihre Litanei. »Mit dem Teufel hat das nichts zu tun. Aber Beten kann nicht schaden.« Er verschwieg der Frau, dass Beten vermutlich das Einzige war ,was ihren Gatten noch retten konnte. Simon wusste, dass man in den großen Universitäten solche Geschwulste manchmal entfernen konnte. Aber hier in Schongau hatten sie weder das Wissen noch die Mittel, eine derartig komplizierte Operation durchzuführen. Simon fluchte, während er in den Regalen im Apothekerschrank nach dem Mohnsaft suchte und dabei ein paar kleinere Phiolen umstieß. Sie würden dem Mann nur einen Teil der Schmerzen nehmen können; ein langsames 282
Dahindämmern, das war alles, was sie garantieren konnten. Für den Rest musste der liebe Herrgott sorgen. Endlich hatte Simon die Flasche mit dem Mohnsaft gefunden, als er hinter sich plötzlich eine Bewegung ausmachte. Die Finger des Vaters schlossen sich um sein Handgelenk. »Bist du wahnsinnig?«, zischte ihm Bonifaz Fronwieser ins Ohr, so dass es die Frau des Fuhrmannes nicht hören konnte. »Weißt du, wie teuer dieses Mittel ist? Das wird die Steingadenerin niemals bezahlen können!« »Sollen wir ihren Mann vielleicht wie ein Stück Vieh verrecken lassen?«, flüsterte Simon zurück. »Er hat große Schmerzen. Wir müssen ihm helfen!« »Dann schick ihn doch zum Henker«, sagte sein Vater immer noch leise. »Der wird ihm eines seiner Tränklein geben, dann ist er ohnehin hinüber! Wird Zeit, dass der Lechner diesem Quacksalber endlich das Kurieren verbietet, bevor er mit seinen Kräutersäften noch die halbe Stadt vergiftet.« »Die halbe Stadt ist jedenfalls schon bei ihm gewesen. Davon kannst du nur träumen!«, entgegnete Simon, mittlerweile mit lauterer Stimme. Er entriss seinem Vater die Flasche mit Mohnsaft und reichte sie der Steingadenerin. »Hier, gib deinem Mann jeden Tag zwei Löffel davon, in einem Glas Wein«, sagte er in beruhigendem Ton. »Der Trank wird das Geschwulst nicht wegmachen, aber wenigstens werden die Schmerzen erträglicher sein.« »Wird er wieder gesund?«, fragte die Frau ängstlich und sah auf ihren Gatten hinunter. Josef Steingadener schien 283
vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein; er zitterte und warf sich hin und her, ansonsten war er ruhig. Simon zuckte mit den Schultern. »Das weiß nur der liebe Herrgott. Wir werden dir jetzt helfen, ihn heimzubringen.« Bonifaz Fronwieser schaute seinen Sohn immer noch feindselig an. Trotzdem half er ihm dabei, den schweren Fuhrmann durch die Tür zu schleppen und auf das Fuhrwerk zu hieven. Agathe Steingadener gab ihnen ein paar Münzen, dann setzte sie sich auf den Kutschbock und fuhr los. Die Frau des Fuhrmanns winkte nicht zum Abschied. Vermutlich dachte sie bereits darüber nach, wie sie ohne ihren Gatten über die Runden kommen würde. Simon und sein Vater hatten an diesem Tag noch drei weitere Patienten, die alle wegen des Fiebers zu ihnen gekommen waren. Es waren gutbetuchte Bürger, und Bonifaz Fronwieser verschrieb ihnen Theriak, ein sündhaft teures Zaubermittel aus Mohnsaft und Angelikawurzel, das vermutlich nichts half, aber wenigstens die Kranken nicht weiter vergiftete. Simon wusste, dass dies nicht auf alle Medikamente seines Vaters zutraf. Während der junge Medicus die Patienten abhusten ließ, ihren Auswurf und ihren Urin betrachtete, kehrten seine Gedanken immer wieder zum Schatz des Templers zurück. Ob er in Wessobrunn versteckt war? Oder wartete dort auf sie nur ein weiteres Rätsel? Wie auch immer, er hatte beschlossen, gleich morgen mit Benedikta aufzubrechen, obwohl die Worte des Steingadener Abts noch immer an ihm nagten. Was hatte dieser Bonenmayr bei der Totenmesse doch gleich gesagt? 284
Habt Ihr Euch eigentlich mal gefragt, wer von Koppmeyers Tod am meisten profitiert? Eines war Simon klar: Er würde Benedikta von jetzt ab genauer beobachten. Auch wenn er sich die fröhliche, aufgeweckte Händlerin so gar nicht als Giftmischerin vorstellen konnte. Gerne hätte Simon morgen den Henker an seiner Seite gehabt. Doch Jakob Kuisl würde nicht mitkommen können, er musste sich wegen des anstehenden Prozesses zur Verfügung halten. Überhaupt war der Schongauer Scharfrichter, als ihm Simon gleich nach der Messe aufgeregt von ihrem Erlebnis berichtet hatte, merkwürdig kurz angebunden gewesen. So, als wäre sein Interesse an den Rätseln plötzlich erloschen. Als der Medicus ihm erzählt hatte, dass er mit Benedikta morgen nach Wessobrunn aufbrechen wolle, schüttelte er nur den Kopf. »Wenn du da nur keinen Fehler machst«, knurrte er. »Aber die Strecke ist doch sicher!«, entgegnete ihm Simon. »Jetzt, da Ihr die Räuber gefangen habt.« »Haben wir sie wirklich alle gefangen?«, fragte Kuisl und wandte sich wieder dem Mörsern einiger getrockneter Kräuter zu. Danach war aus ihm nichts mehr herauszubringen, der Henker hüllte sich in seinen Pfeifenrauch und zerrieb mit kräftigen Stößen das Kraut zu Pulver. Schulterzuckend war Simon nach oben in die Stadt gegangen, wo er seitdem seinem Vater bei der Arbeit half. Gerade wollte er sich einem weiteren hustenden Patienten zuwenden, einem dürren, schwindsüchtigen Bauern aus dem benachbarten Peiting, als vom Lechtor her Schreie und Rufe ertönten. Es klang ganz danach, als wäre etwas Schlimmes passiert. Schnell zog Simon seinen 285
Mantel über und eilte die Straße hinunter, um nach dem Rechten zu sehen. Etliche Menschen hatten sich bereits am Tor versammelt, sie starrten alle auf einen Ochsenwagen, der soeben über die vereiste Straße in die Stadt rumpelte. Oben auf dem mit Stroh gefüllten Wagen sah Simon zwei verkrümmte Körper liegen. Es waren junge Schongauer Fuhrleute, die der Medicus von seinen häufigen Besuchen in den Wirtshäusern hinter dem Rathaus her kannte. Soweit er sich erinnern konnte, waren sie bei Matthias Holzhofer im Dienst, dem Zweiten Bürgermeister und einem der einflussreichsten Händler im Ort. Beide Männer trugen um Kopf und Brust notdürftig gewickelte, blutdurchtränkte Verbände. Ihre Gesichter waren blass, sie schienen schon fast nicht mehr von dieser Welt. Der Bauer, der die Ochsen mit einem Stock antrieb, hatte Mühe, mit seinem Wagen voranzukommen. »Macht Platz!«, rief er. »Ein neuer Überfall! Gefunden hab ich sie, in ihrem Blut liegend, gleich oben an der Hohenfurcher Steige. Verruchte Marodeure, der Teufel hol sie alle!« Dann fiel sein Blick auf Simon, der neben dem Wagen herlief. Der Bauer blieb stehen und sprach ihn an: »Der Himmel schickt dich! Sieh zu, was du machen kannst.« Er drückte dem Medicus die Zügel in die Hand. »Fahr die Verletzten zu deinem Vater. Der Henker wär mir als Heiler zwar lieber, aber ich glaub, der wird jetzt woanders gebraucht.« Gefolgt von kläffenden Hunden, Kindern und jammernden Weibern, brachte Simon das Fuhrwerk mit den beiden Ochsen bis zum Haus seines Vaters. Als sein Blick noch einmal zu den beiden blassen, stöhnenden Fuhrleuten 286
ging, über das blutgetränkte Stroh und die schmutzigen Verbände, verfluchte er sich, dass er vorhin die ganze Flasche Mohnsaft weggegeben hatte. Auch hier konnte vermutlich nur noch der liebe Herrgott helfen. Gerichtsschreiber Johann Lechner trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte und wartete darauf, dass das Getuschel aufhörte. Die Ratsherren machten allesamt einen nervösen Eindruck. Die Ratsversammlung im ersten Stock des Ballenhauses war in aller Eile anberaumt worden, so dass die edlen Patrizier nicht mehr genug Zeit gehabt hatten, sich standesgemäß anzuziehen. Ihre Pelzkappen saßen schief auf den teils barhäuptigen Köpfen, die Gesichter waren rot vor Aufregung. Der eine oder andere hatte unter dem schweren Mantel aus gefärbter Wolle noch den Hausrock an. Am aufgeregtesten wirkten die Mitglieder des Inneren Rates, der auch die vier Bürgermeister stellte. In ihrer Mitte saß Matthias Holzhofer und schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf, sein rundes, sonst so fröhliches Gesicht war blass und eingefallen. Tiefe Ringe hatten sich ihm unter die Augen gegraben. »Meine wertvollste Fuhre!«, rief er und schlug mit der Faust auf den polierten Eichentisch. »An die tausend Gulden! Tücher, Barchent, Silberbesteck, von den Gewürzen will ich gar nicht reden! Wie kann das sein? Verdammt, ich dachte, der Henker hat diese verfluchte Räuberbande ausgeräuchert!« Die Ratsmitglieder murrten, und Johann Lechner ermahnte sie zu schweigen, indem er mit seinem Siegelring gegen ein gefülltes Portweinglas klopfte. »Meine Herren, ich habe den Rat einbestellt, um allen hier eine wichtige 287
Neuigkeit mitzuteilen. Silentium!« Er schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ruhe, Herrgott noch einmal!« Sofort hörte das Tuscheln auf, die Augen aller waren jetzt auf den Schreiber gerichtet. Als Stellvertreter des Kurfürsten in Abwesenheit des Pflegverwalters hätte Lechner im städtischen Rathaus zwar nichts verloren gehabt. Trotzdem hatte es sich so ergeben, dass er mittlerweile die Sitzungen leitete. In den Zeiten des Großen Krieges war man froh gewesen um eine starke Hand, und seitdem hatte es keinen Grund gegeben, das Bewährte wieder zu ändern. »Eigentlich wollte ich diese Ratsversammlung einberufen, um Euch mitzuteilen, dass die Räuberbande endlich gefasst ist und der Warentransport weitergehen kann«, sagte der Schreiber, als endlich wieder Stille eingekehrt war. »Der Henker und auch viele ehrenwerte Bürger der Stadt haben ganze Arbeit geleistet« »Ganze Arbeit, das kann man wohl sagen«, murmelte der Patrizier Jakob Schreevogl. »In Blut gewatet sind die ehrenwerten Bürger!« Doch keiner achtete auf ihn, alle Augen waren auf den Schreiber gerichtet, der mit ernster Miene weitersprach. »Die Sache stellt sich nun anders dar. So leid’s mir tut, es scheint noch eine zweite Räuberbande zu geben. Der Scharfrichter hat den arretierten Räuberhauptmann Scheller bereits dazu befragt.« Sofort setzte wieder Gemurmel ein. »Hoffentlich hat der Kuisl den Galgenvogel das glühende Eisen spüren lassen!«, meldete sich Michael Berchtholdt zu Wort, der als Bäcker im Äußeren Rat saß. »Jeden Knochen einzeln soll er ihm brechen!« 288
»Nun, der Henker hat seine ... eigenen Mittel angewandt«, sagte Lechner. Auf dem Gesicht Michael Berchtholdts, aber auch auf dem einiger anderer Ratsmitglieder zeigte sich ein Ausdruck von Befriedigung. Es war gut, einen wie Jakob Kuisl zu haben, der die Drecksarbeit erledigte. »Eine zweite Räuberbande!«, jammerte Matthias Holzhofer. »Hat denn dieses Rauben nie ein Ende?« »Meister Holzhofer, verzeiht mir die Frage«, mischte sich nun der junge Jakob Schreevogl ein. Als Besitzer von Schongaus größter Hafnerei saß er erst seit kurzem im Inneren Rat. »Ist es nicht mehr als riskant, in solch unruhigen Zeiten eine derartig wertvolle Fuhre nach Füssen zu schicken? Ob nun eine oder mehrere Räuberbanden, Ihr fordert das Unglück ja geradezu heraus!« Matthias Holzhofer zuckte mit den Schultern. »Es hieß, die Scheller-Bande sei gefangen, und nebenbei, wer jetzt seine Wagen losschickt, erzielt die besten Preise.« Er grinste und zwirbelte sich den gestutzten Knebelbart. »Die Konkurrenz ist nicht besonders groß bei der Saukälte. Außerdem ... « Er zögerte, bevor er weiterredete. »Wir sind über die kleinen Dörfer gefahren. Das dauert zwar länger, dafür meidet man die großen Straßen, wo sich die Halsabschneider gern im Gehölz verstecken. Wer konnte schon ahnen, dass auch dort ... « Er brach ab und schüttelte den Kopf. Gerichtsschreiber Johann Lechner räusperte sich, bevor er wieder das Wort ergriff. »Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass eine Bande abseits der Hauptstraße zuschlägt«, begann er. »Der Augsburger Händler Leonhard Weyer , der vor ein paar Tagen den Marodeuren zum Opfer fiel, 289
hatte den gleichen Plan. Zufällig war ich am Abend zuvor im Semer-Wirt, als er mir davon erzählte, dass er auf der alten Weidenstraße nach Füssen wollte.« Bürgermeister Karl Semer, dem das Wirtshaus am Marktplatz gehörte, unterbrach ihn. Er atmete schwer unter seinem roten Samtrock, die Augen traten ihm vor Aufregung hervor. »O Gott, auch zwei meiner Fuhrleute haben mir in den letzten Tagen erzählt, dass sie eine andere Route als sonst üblich nehmen wollten«, keuchte er. »Wenigstens einer von ihnen ist uns als vermisst gemeldet. Von dem anderen hab ich bislang noch nichts gehört ... « Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm einen tiefen Schluck Portwein. Obwohl es draußen bitterkalt war, herrschte in der Ratsstube neben dem gewaltigen grünen Kachelofen eine fast unerträgliche Hitze. In den hinteren Reihen, wo die Mitglieder des Äußeren Rats und die einfachen Gemeindemitglieder saßen, erhob sich jetzt aufgeregtes Gemurmel. Fast jeder von ihnen hatte in den letzten Tagen und Wochen Fuhrleute mit Waren in andere bayerische Städte geschickt. Wer nicht die Route über den Fluss nehmen konnte, der war auf die Schongauer Rottleute angewiesen, die sich mit den Augsburgern seit jeher einen erbitterten Konkurrenzkampf lieferten. Was, wenn auch noch weitere Fuhrwerke überfallen worden waren? »Einen Augenblick!«, erhob Jakob Schreevogl jetzt seine Stimme. »Wenn ich das recht verstehe, haben all diese Fuhrleute sich für eine ungewöhnliche Route entschieden. Trotzdem sind sie überfallen worden. Das bedeutet entweder, dass zurzeit an allen Straßen Wegelagerer sitzen, was ich bezweifele, oder aber ... « Sein Blick glitt über die 290
Mitglieder des Rates. »Irgendjemand hat im Vorfeld die Routen ausspioniert und die Marodeure gezielt dort hingeschickt.« »Wer sollte das sein?«, unterbrach ihn Matthias Holzhofer. »Meine Männer haben sich nur mit mir abgesprochen.« »Und meine auch«, meldete sich Bürgermeister Semer zu Wort. »Und diesen Augsburger Weyer , den kannte hier doch keiner. Wem soll der schon was gesagt haben?« »Vielleicht sind’s ja die Augsburger selbst gewesen, die unsere Leute abgestochen haben!«, rief der Bäcker Michael Berchtholdt von hinten in die Runde. »Denen sind unsere Rottleute doch schon lange ein Dorn im Auge. Wenn’s nach denen ginge, dann würden nur sie selbst auf unseren Straßen die Waren aus Venedig und sonstwoher transportieren!« »Unsinn«, erwiderte Jakob Schreevogl. »Der Weyer war doch selbst ein Augsburger. Die bringen doch nicht ihre eigenen Leute um.« Berchtholdt zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war er ein Abweichler, wer weiß? Einer, mit dem andere Augsburger noch eine Rechnung offen hatten? Verdammtes Schwabenpack! « Es erhob sich beifälliges Gemurmel. Gerichtsschreiber Johann Lechner klopfte wieder mit dem Siegelring gegen sein Weinglas. »Ruhe! So kommen wir nicht weiter!«, rief er. »Wir können nur hoffen, dass die beiden verletzten Fuhrleute uns Auskunft geben können über die Wegelagerer. Vielleicht erfahren wir so, wer dahintersteckt.« Er sah jedes Ratsmitglied einzeln prüfend an, bevor er weiter fortfuhr: »Unser aller Anliegen muss doch sein, auch dieser ande291
ren Räuberbande das Handwerk zu legen. Ich schlage deshalb vor, den Henker noch einmal mit einem Trupp Männer loszuschicken.« »Noch einmal den Henker als Anführer ehrenwerter Männer?« Bürgermeister Semer schüttelte ungläubig den Kopf. »Mein Sohn hat mir von der Hatz erzählt. Es ist ein Unding, dass ein Scharfrichter braven Bürgern anschafft. Verbrecher jagen und hinrichten, das ist Sache von Henkern, Bütteln und Gerichtsdienern. Wenn man in München oder Landshut davon Wind bekommt, sind die Teilnehmer einer solchen Jagd schnell ihre Bürgerrechte los...« »Sie sind ihre Bürgerrechte los, wenn sie entgegen anders lautender Anweisungen ein Gemetzel anrichten und die Bande samt Frauen und Kindern über den Haufen schießen«, unterbrach ihn Jakob Schreevogl. »Euer Sohn und der Filius vom Berchtholdt haben Blut gesoffen, so viel sieht der Henker in seinem ganzen Leben nicht!« »Eine dreiste Unterstellung!«, schrie Berchtholdt. »Mein Sohn hat Schlimmeres verhindert. Der Scheller und seine Bluthunde waren drauf und dran, den Unseren die Gurgel durchzuschneiden!« »Ruhe, Himmelherrgott noch einmal!«, rief Johann Lechner lauter als gewohnt. Sofort kehrte Stille ein; es war selten, dass der Schreiber die Contenance verlor. Schon nach wenigen Augenblicken hatte er sich jedoch wieder gefangen. Er atmete tief durch. »Zwist und Händel bringen uns nicht weiter«, sagte er schließlich. »Ich werde den Henker ein weiteres Mal losschicken. Er hat gezeigt, dass er etwas von seinem Handwerk versteht. Aber diesmal werden nur Männer mit ihm 292
gehen, die dafür auch tatsächlich geeignet sind.« Er sah den Bürgermeister von der Seite an. »Euer Sohn und der Sohn des Bäckermeisters sind das beileibe nicht, das haben sie bereits bewiesen. Was die Scheller-Bande betrifft ... « Lechner machte eine Pause, als müsste er nachdenken. »Hans Scheller hat die Taten bereits gestanden. Eine weitere Folter ist deshalb meiner Meinung nach nicht nötig. Wenn der Rat damit einverstanden ist, kann ich als Stellvertreter des Kurfürsten den Prozess schon in den nächsten Tagen einleiten. Die Hinrichtung erfolgt dann kurz darauf. Je eher, desto besser, schon allein als Abschreckung von weiteren Räuberbanden.« Die Ratsherren nickten. Wie so oft kamen ihnen die Ausführungen ihres Gerichtsschreibers logisch und stichhaltig vor, sofort stellte sich bei allen ein Gefühl der Beruhigung ein. »Ihr werdet sehen«, sagte Johann Lechner und packte Gänsekiel und Tintenfass in seine mitgebrachte lederne Aktentasche. »Spätestens wenn der Scheller oben am Galgenbichl baumelt, herrscht wieder Ruhe in der Stadt. Darauf habt Ihr mein Wort.«
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Am folgenden Tag fegte über den ganzen Pfaffenwinkel ein Schneesturm, als wollte der liebe Herrgott alles Leben unter einer weißen Schicht begraben. Die Menschen blieben in ihren Häusern und Katen, und wenn sie kurz nach draußen sahen, murmelten sie ein Stoßgebet und schlossen wieder die Türen, an denen der Wind rüttelte. Sowohl der Floßverkehr wie auch der Transport auf den Straßen kamen zum Erliegen, und so mancher Fuhrmann, der vom Schnee überrascht wurde, starb einsam beim Versuch, seine Pferde aus meterhohen Schneewehen zu befreien. Erst Tage später fand man die Männer steif gefroren neben ihren Wagen; manche von ihnen hatten bereits die Wölfe zerrissen, die Pferde hatte das weiße Land verschluckt. Auch über Augsburg wütete der Schneesturm. Am Tag nach ihrer Ankunft hatte Magdalena das Haus des Henkers nicht eine Minute verlassen können. Doch Zeit spielte keine Rolle, sie wusste, dass ein Stadtbummel ohnehin sinnlos gewesen wäre. Die Apotheke hatte bei solch einem Wetter mit Sicherheit geschlossen, und der nächste Handelstross, der nach Schongau ging, würde abwarten müssen, bis sich das Wetter wieder gebessert hatte. Auf eigene Faust zu reisen, das wusste Magdalena, wäre einem Selbstmord gleichgekommen. So freundete sie sich den Tag über mit der kleinen Barbara an, die die Henkerstochter schnell ins Herz schloss. 294
Magdalena schnitzte ihr eine Holzpuppe und sang mit ihr am Ofen die Kinderlieder, die sie auch zu Hause den Zwillingen vorsang. Deutlich spürte sie, dass das Mädchen eine Mutter brauchte. Mit großen Augen starrte Barbara sie an, fuhr ihr mit den Händchen über die Wangen und schrie immer wieder »Nochmal!«, wenn Magdalena des Singens müde wurde. Oft musste Magdalena daran denken, dass die kleine Barbara eine Henkerstochter war wie sie selbst, nur ohne Geschwister und vor allem ohne Mutter. Wie oft mochte sie vor langer Zeit genauso auf dem Schoß ihres Vaters Jakob Kuisl gesessen haben? Wie oft hatte ihre eigene Mutter sie mit den gleichen Kinderliedern in den Schlaf gesungen? Ringelringelreie, sind der Kinder dreie. Sitzen unterm Hollerbusch … Philipp Hartmann arbeitete währenddessen in der Kammer nebenan. Er band Kräutersträuße, flocht neue Hanfstricke und destillierte nebenbei in rußigen Kolben einen Kräuterschnaps, so dass aromatische Schwaden von Alkohol durch die Stube zogen und Magdalena fast ein wenig betrunken machten. Gelegentlich kam der Henker hinüber und fuhr seiner Tochter über das Haar oder schenkte ihr und Magdalena eine getrocknete Zwetschge oder einen Dörrapfel. Er vermied es, die Schongauer Henkerstochter zu berühren oder ihr ungehörige Avancen zu machen, trotzdem spürte Magdalena seine Blicke in ihrem Rücken. Dann wurde ihr trotz der Wärme in der Stube plötzlich kalt, sie fröstelte. Philipp Hartmann war bestimmt ein braver Mann und ein guter Vater und außerdem vermögend. Aber sie liebte eben einen anderen. 295
Wobei, liebte sie Simon wirklich noch? Nach der Sache mit Benedikta war ihr Gefühl merklich abgekühlt, ob vor Zorn oder Enttäuschung, konnte sie nicht sagen. Es würde Zeit brauchen, bis ihr Herz sich wieder erwärmte, das spürte sie. Der Schneesturm wütete auch noch am nächsten Tag und flaute erst am Abend ab, die Läden blieben deshalb geschlossen. Erst am dritten Morgen nach ihrer Ankunft konnte Magdalena endlich zur Apotheke gehen. Auf dem Weg dorthin passierte sie den gewaltigen Augustusbrunnen, an dem nun meterlange Eiszapfen hingen. Zu ihrer Linken thronte das vierstöckige Rathaus. Magdalena blickte daran empor und erschauerte. Wie konnten Menschen nur so riesige Gebäude errichten? Aus dem Eingangstor des Rathauses strömten dickvermummte Patrizier mit Pelzmänteln, vertieft in ernste Gespräche. Noch immer lag der Schnee kniehoch, doch die städtischen Wachen hatten auf dem Rathausplatz und in den umgebenden Straßen bereits begonnen, mit Schaufeln schmale Gassen frei zu räumen. Aus den Häusern und Geschäften drängte das Leben. Zwei Tage waren die Menschen eingesperrt gewesen, jetzt konnten sie wieder ihren Besorgungen nachgehen; sie kauften frisches Brot und Fleisch oder holten sich beim Wirt eine Kanne schäumendes, braunes Bier. Magdalena bahnte sich ihren Weg zwischen schimpfenden Köchinnen, die für ihre Herrschaften noch einen Hasen oder Fasan besorgen mussten, und einer Gruppe lärmender Chorknaben auf dem Weg zum Augsburger Dom. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Vorne an der Ecke zwischen der Maximilianstraße und der prächtigen St.296
Moritz-Kirche befand sich die Marienapotheke, die älteste Apotheke Augsburgs. Philipp Hartmann hatte Magdalena am Morgen noch erzählt, dass der Besitzer Nepomuk Biermann die am besten sortierte Auswahl an Kräutern und Ingredienzien in der Stadt habe und außerdem eng mit ihm zusammenarbeite. Der Scharfrichter kaufte bei ihm das eine oder andere Mittelchen, das er nicht selbst herstellen konnte, dafür bezog Nepomuk Biermann von ihm Menschenfett und Menschenleder gegen Gelenkschmerzen und Verspannungen. »Er ist zwar ein bisschen seltsam, dieser Biermann«, hatte Philipp Hartmann gesagt. »Aber er kennt sich wirklich aus, und er versucht dich nicht über den Tisch zu ziehen. Sieh zu, dass du die Kräuterkammer zu sehen bekommst, die ist wirklich gewaltig.« Das Haus von Nepomuk Biermann war ein schmaler, dreistöckiger Giebelbau, der einen neuen Anstrich gebraucht hätte und zwischen all den Patrizierhäusern wie ein vernachlässigtes Stiefkind wirkte. Magdalena zog eine schmale, aber solide Tür auf, über der in geschwungenen Lettern der Name der Apotheke geschrieben war. Sofort hüllte sie eine Duftwolke von getrockneten Kräutern und exotischen Gerüchen ein, die sie an den eigenen Apothekerschrank zu Hause in der Kammer erinnerten. Die Henkerstochter schloss die Augen und sog die fremdartigen Aromen ein. Hinter vielen dieser Düfte steckten Pflanzen und Gewürze, die von weit her über das Meer gekommen waren, aus einer anderen Welt, aus Urwäldern mit Löwen und anderen Ungeheuern, von fernen Inseln, bevölkert mit Kopffüßlern und Menschenfressern. Es roch nach Zimt, Muskat und schwarzem Pfeffer. 297
Als Magdalena die Apothekentür hinter sich zuschlug, ertönte eine feine Klingel, und nur wenig später tauchte ein kleiner gebeugter Mann auf. Er hatte einen Haarkranz wie ein Mönch und ein Okular auf der Nase, durch das er die Henkerstochter missmutig anstarrte. Er schien gerade mit etwas Wichtigerem beschäftigt gewesen zu sein als mit dem niederen Dienst des Verkaufs. »Ja?«, fragte er und musterte sie wie ein lästiges Insekt. »Womit kann ich dienen?« »Mich schickt Philipp Hartmann«, sagte Magdalena. »Ich soll ein paar Kräuter abholen.« Sofort änderte sich der Gesichtsausdruck des Männchens. Sein zahnloser Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Der Hartmann, hä? Hat der Augsburger Henker nun doch noch ein Weibsbild abgekriegt.« »Ich ... helfe ihm zurzeit aus«, stammelte Magdalena und reichte Nepomuk Biermann die Liste mit den Ingredienzien. Der Apotheker klemmte sich das Okular unter die Nase und begann, das Pergament zu studieren. »So, so«, brummte er. »Mutterkorn und Artemesia, außerdem Seidelbast, Tollkirsche und Stechapfel. Was hast du vor? Willst du den Henker ins Jenseits befördern oder mit dem Besen davonreiten?« »Ich ... ich … « Magdalena rang nach Worten. »Eine schwere Geburt steht an«, sagte sie schließlich. »Das Kind will nicht kommen, und die Mutter hat schwere Schmerzen.« »So, so, schwere Schmerzen«, sagte Nepomuk Biermann und hielt das Glas wieder vor die Augen. »Dann pass nur auf, dass du ihr nicht zu viele der Kräutlein auf 298
einmal verabreichst, sonst hat die gute Frau bald gar keine Schmerzen mehr. Nie mehr.« Er grinste und zwinkerte mit dem rechten Auge, das hinter dem Okular wie das Auge eines riesigen Fisches aussah. »Du weißt, dosis sola venenum facit. Allein die Dosis macht das Gift. Das wusste schon der alte Paracelsus. Hat dich der Henker schon den Paracelsus gelehrt, hä?« Magdalena nickte schnell, und das Männlein ließ es dabei bewenden. Nepomuk Biermann ging zu einer niedrigen Tür, die hinter der Ladentheke zum rückwärtigen Teil des Hauses führte, und winkte ihr, ihm zu folgen. »Komm schon, Mädchen, kannst mir wenigstens helfen, die Kräutlein zusammenzuklauben.« Magdalena eilte ihm nach und stand plötzlich in einer Kammer, die bis zur Decke mit Regalen und Schubläden vollgestellt war. Verteilt über den Raum, ragten in regelmäßigen Abständen hölzerne Wände hoch, in denen sich wiederum Regale befanden. Nepomuk Biermann huschte wie ein Derwisch durch die schmalen Gänge und zog hier und da einige beschriftete Schubladen auf. Dabei glich er den Inhalt der jeweiligen Schublade mit den Aufzeichnungen auf der Liste ab, holte mit einem Löffel eine Portion heraus und wog sie auf einer Waage, die in der Mitte auf einem Tisch mit Marmorplatte stand. »Mutterkorn, Artemesia … «, murmelte er. »Wo hab ich nur den verdammten Seidelbast ...? Ah, hier ist er ja.« Als Biermann sah, wie Magdalena mit großen Augen zwischen den mannshohen Regalen stand, musste er lächeln. »Na, so was hast du noch nicht gesehen, nicht wahr?« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Das ist die größte Kräutersammlung von hier bis ins ferne 299
München, das kannst du mir glauben. Nicht mal der ehrwürdige Paracelsus hat vermutlich so eine Apotheke gehabt.« Gerade hatte er eine neue Schublade aufgezogen, als wieder die feine Klingel im vorderen Ladenbereich ertönte. Verärgert hielt Biermann inne. »Du entschuldigst mich«, sagte er zu Magdalena, drückte ihr den Beutel mit den bereits abgewogenen Kräutern in die Hand und eilte mit krummem Buckel hinaus. »Ich bin gleich wieder da.« Die Henkerstochter blieb zurück und schaute verwundert auf das Labyrinth aus duftenden Gängen. Es war die Stimme, die sie aufhorchen ließ. Eine befehlsgewohnte und deutlich verärgerte, männliche Stimme. Im Raum nebenan sprach jemand mit dem Apotheker, und es war kein freundliches Gespräch. Aus purer Neugierde trat sie neben die Tür zum Ladenbereich, so dass sie das Gespräch belauschen konnte. »Ich brauche noch einmal das Gleiche, das ich schon einmal bei Euch bekommen habe«, zischte der Fremde. »Das ... das Gleiche?«, fragte Nepomuk Biermann. »Ihr wisst, es ist schwer zu bekommen. Und eigentlich darf ich es gar nicht verkaufen. Das ... es kann mich mein Geschäft kosten.« Magdalena spürte, dass der Apotheker Angst hatte. Vorsichtig presste sie sich an die Wand, um besser hören zu können. »Ich zahle gut«, sagte der Mann. Das Geräusch klimpernder Münzen war zu hören. »Ich verlasse mich allerdings darauf, dass es diesmal richtig wirkt. Das letzte Mal trat der Tod viel zu schnell ein. Diesmal muss es langsam geschehen, man darf nichts merken, sonst ...« 300
»Ihr dürft es nur in kleinen Dosen verwenden« ,versicherte Nepomuk Biermann. »Nur in kleinen Dosen, dann wird niemand Verdacht schöpfen, das schwör ich bei Gott!« »Dann schwört auf den Heiland«, sagte der Fremde und gab ein krächzendes Lachen von sich. »Deus lo vult. « Es waren diese letzten Worte, die Magdalenas Atem einen Moment lang aussetzen ließen. Die gleichen Worte, die der Mann in der Krypta zu ihrem Vater gesagt hatte, kurz bevor sie ihn niederstachen. War es etwa auch der gleiche Mann? Magdalena wusste, dass es gefährlich war. Trotzdem schob sie ihren Körper immer näher an die Türöffnung heran. Als sie direkt danebenstand, drehte sie langsam den Kopf und spähte in den vorderen Ladenbereich. Von hier aus sah sie zwar nur einen winzigen Ausschnitt genau über der Theke, doch das reichte, um ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Magdalena erhaschte einen Blick auf eine schwarze Kutte, über der an einer goldenen Kette ein goldenes Kreuz mit zwei Querbalken baumelte. Jetzt erst merkte sie, dass sich über all die exotischen Gerüche in der Apotheke ein neuer gelegt hatte. Der Geruch von Veilchen. »Ich brauche noch etwas anderes«, sagte der Fremde und kratzte sich ausgiebig an der Brust. »Quecksilber. So viel, wie Ihr beschaffen könnt.« Nepomuk Biermann nickte. »Ich ... verstehe. Gebt mir bis morgen Zeit. Morgen ...« »Ich werde morgen früh wieder hier sein«, unterbrach ihn der Mann. »Das andere Mittel nehme ich gleich mit.« 301
Der Fremde griff nach dem kleinen Beutel aus Seide, den ihm der Apotheker reichte, und schritt ohne ein weiteres Wort auf den Ausgang zu. Die Tür schloss sich krachend. Magdalena zögerte kurz, dann raffte sie die Kräuter zusammen, die Biermann bereits für sie herausgesucht und abgepackt hatte, und stopfte sie in den mitgebrachten Leinensack. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch noch andere Kräuter auf dem Tisch lagen. Mit einer raschen Armbewegung wischte sie auch diese Kräuter in den Beutel. Wer weiß, für was ich sie noch brauchen kann, dachte sie. Mit dem Sack in der Hand eilte sie in den Verkaufsraum und dort zur Tür. »He! «, rief ihr Nepomuk Biermann hinterher, das Gesicht bleich und mit Schweißperlen auf der Stirn. »Was tust du? Du musst noch bezahlen! Bleib hier, dieser Mann ist gefährlich! Du verstehst nicht …« Die weiteren Worte gingen im Lärm auf der Straße unter. Vorbei an Schneewehen und verdutzten Passanten eilte Magdalena dem Mörder des Altenstadter Pfarrers hinterher. Sie hatte keinen Plan, aber sie wollte nicht Kuisl heißen, wenn sie sich diese Chance entgehen ließ. Auch in Schongau tobte der Schneesturm, die Bürger blieben in ihren warmen Stuben und hofften, dass ihnen das Brennholz nicht ausging. In den Wäldern ringsum war vereinzelt das Heulen von Wölfen zu hören, auf den Dächern türmte sich der Schnee und ließ die Balken ächzen. Es war ein Sturm, wie ihn selbst die Alten selten erlebt 302
hatten, und bestimmt der schlimmste seit Ende des Großen Krieges. Die Straßen und Gassen der Stadt waren menschenleer, bis auf eine einzelne Gestalt, die sich durch das dichte Schneegestöber vom Gerberviertel hoch in Richtung Fronfeste kämpfte. Jakob Kuisl hielt mit der rechten Hand seinen Schlapphut fest, die linke schirmte die Augen ab, um in dem Chaos vor ihm überhaupt etwas zu erkennen. Er sah aus wie ein schwarzer Riese in einem Meer aus Weiß. Leise fluchte er vor sich hin, weil ihm im Sturm die Pfeife ausgegangen war. Er würde vermutlich lange brauchen, um das nasse Ding wieder zu entzünden. Dabei hatte er den Rauch zum Nachdenken gerade jetzt bitter nötig. Gleich nach der Ratsversammlung hatte Johann Lechner dem Henker mitgeteilt, dass er ihn noch einmal auf Räuberjagd schicken werde, um auch die zweite Bande zu erwischen. Diesmal dürfe er sich seine Mitstreiter aber selbst aussuchen. Der Henker entschied sich, den Verfolgertrupp eher kleinzuhalten. Aus dem Bericht des Räuberhauptmanns wusste er, dass es wahrscheinlich nur vier Banditen waren, die dort draußen herumstreiften, aber die waren umso erfahrenere Kämpfer. Sie hatten auf bisher unbekannte Weise die geplanten Routen einzelner Händler herausgefunden. Dabei schworen die Betroffenen, sie hätten, wenn überhaupt, nur im Kollegenkreis von ihren Absichten erzählt. Gab es also eine undichte Stelle unter den Schongauer Patriziern? War vielleicht einer von ihnen selbst in die Raubzüge verwickelt? Man hatte die verletzten Fuhrleute des Händlers Matthias Holzhofer vernommen, doch das Ergebnis war dürftig gewesen. Die Angreifer seien vermummt gewesen, 303
hieß es, eingehüllt in schwarze Mäntel und ausgerüstet mit Armbrüsten, Musketen und Gewehren. Es handelte sich offenbar um eine kleine, aber ziemlich schlagkräftige Truppe, die den sonst üblichen Wegelagerern weit überlegen war. Um noch mehr über diese mysteriöse Bande herauszubekommen, hatte der Henker beschlossen, trotz des Schneesturms nach oben zur Fronfeste zu gehen. Er wollte Hans Scheller einen weiteren Besuch abstatten. Am Tor des bulligen Turms stand keine Wache. Jakob Kuisl vermutete, dass der Büttel entweder im Wirtshaus oder im Inneren der Feste war. Wer konnte ihm das bei einem solchen Wetter verdenken? Der Henker klopfte zweimal fest gegen das eisenverstärkte Holz, dann waren von innen Schritte zu hören. »Wer da?«, fragte eine Stimme. »Ich bin’s, der Kuisl Jakob. Mach auf, bevor mich der Sturm wegbläst.« Ein Schlüssel drehte sich knirschend, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Dazwischen lugte das verkniffene Gesicht des Stadtbüttels Johannes heraus. »Was willst, hä? Dein letzter Besuch hat mich acht Kreuzer Strafe und einen Tag zusätzlichen Wachdienst gekostet. Der Lechner mag’s nicht gern, wenn man ihn hintergeht.« »Lass mich noch einmal mit dem Scheller reden.« Der Henker schob die Tür so entschlossen auf, dass der Büttel einfach zur Seite gedrängt wurde. »He, Kuisl, das geht so nicht!« Jakob Kuisl warf ihm einen kleinen Beutel zu. »Nimm das und gib Ruh.« 304
Der Büttel warf einen neugierigen Blick hinein. »Was ist das?« »Kautabak. Aus Westindien, dort, wo die Schlangen dick wie Eichenstämme sind. Kau, aber schluck ihn nicht. Er macht dich wach und warm.« Johannes zog sich mit seinem Bestechungsgeschenk zu einem Schemel in der Ecke zurück und schnüffelte an dem getrockneten Kraut. »Kauen, hm?« Noch einmal sah er den Henker an. »Aber zerquetsch dem Scheller nicht auch noch die andere Hand. Sonst verreckt er uns noch in der Feste, und ich bin schuld.« »Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.« Der Henker näherte sich den hinteren Zellen, wo die Räuber einquartiert waren. Im Gegensatz zu seinem letzten Besuch machten sie diesmal einen apathischen Eindruck. Die Männer und Frauen kauerten in den Ecken auf fauligem Stroh, sie hatten ihre löchrigen Mäntel über sich gebreitet und versuchten sich in der Januarkälte gegenseitig zu wärmen. Zwischen ihnen lag der fiebernde Knabe, er zitterte am ganzen Leib. Der Wind pfiff durch das vergitterte Fenster hinter ihnen. Neben den Räubern lag eine Schüssel mit verschimmeltem Brot und ein offenbar leerer Krug Wasser. Der Eimer mit der Notdurft stank so stark, dass Jakob Kuisl unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Hans Scheller blickte ihn aus leeren Augen hinter den Gitterstäben an, sein kleiner rechter Finger sah aus wie ein Stück aufgeblasener Schafsdarm. »Du schon wieder«, flüsterte er. »Was willst denn noch?« Der Henker wandte sich plötzlich um. »Was ist das denn für ein Saustall hier!«, fuhr er den Stadtknecht Jo305
hannes an, der immer noch in das Studium des exotisch riechenden Krauts vertieft war. »Diese Menschen haben weder etwas zu essen noch zu trinken. Außerdem fehlen Decken und frisches Stroh! Willst du, dass sie vor der Hinrichtung verrecken?« Der Büttel zuckte mit den Schultern. »Du siehst doch selbst, was draußen für ein Wetter ist. Hab schon zweimal um Verpflegung gebeten, aber es kommt halt keiner.« »Dann gehst eben selbst.« »Jetzt?« Johannes machte ein verdutztes Gesicht. »Aber der Sturm ...« »Sofort.« Der Henker trat auf ihn zu und hob ihn am Kragen vom Schemel hoch, so dass der Büttel mit den Füßen in der Luft baumelte. Johannes’ Gesicht schwoll puterrot an, die Augen traten ihm aus dem Gesicht. »So wird sich der Scheller bald fühlen«, zischte Jakob Kuisl. »Und ich schwör bei Gott, du auch, wenn du nicht sofort tust, was ich sage. Frisches Wasser ,Brot, warme Decken. Hast du verstanden?« Der Büttel nickte, und Kuisl ließ ihn wieder herunter. »Und jetzt lauf.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, eilte Johannes nach draußen. Durch die geöffnete Tür der Feste drangen Schnee und Wind. Als der Henker sie wieder schloss, wurde es fast ruhig. Nur das leise Wimmern des Säuglings und das ferne Blasen des Sturms waren zu hören. Erstaunt blickte der Räuberhauptmann Jakob Kuisl an. Gerade wollte er zu einer Frage ansetzen, als ihn der Henker unterbrach. »Das Mittel für den Jungen, hat’s gewirkt?« 306
Scheller nickte, noch immer sprachlos über das, was er gesehen hatte. »Warum machst du das?«, fragte er schließlich. Jakob Kuisl ging darauf nicht ein. »Ich hab mit dem Lechner geredet«, sagte er. »Kein Rädern, ein sauberes Erhängen. Die Frauen und Kinder gehen frei.« Auf Schellers Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, doch schon bald wurde er wieder ernst. »Wie lange noch?«, fragte er. Jakob Kuisl zog an seiner kalten Pfeife. »Wenn’s das Wetter zulässt, ist der Prozess schon in ein paar Tagen. Danach sind’s noch drei weitere Tage, so ist es der Brauch. Der Semer-Wirt stiftet die Henkersmahlzeit. Speck, Knödel, Kraut und jedem von euch einen Krug Muskateller, der euch auf dem letzten Gang wärmt.« Hans Scheller nickte. »Eine gute Woche also noch.« Er machte eine Pause. »Ist gut, dass es ein Ende hat«, sagte er schließlich. »War doch kein Leben mehr.« Der Henker ging darauf nicht ein und wechselte das Thema. »Ich muss dich noch was wegen der anderen Räuberbande fragen. Du hast gesagt, es seien vier gewesen. Vier Teller, vier Becher, vier Messer ...« Hans Scheller nickte. »Wie gesagt, der Vierte war vermutlich gerade im Wald beim Bieseln.« »Aber das vierte Geschirr«, fragte der Henker weiter. »War es schmutzig, sah es gebraucht aus?« Der Räuberhauptmann machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn du mich so fragst, eigentlich nicht. Du hast recht. Drei benutzte Teller waren ums Feuer verteilt, der vierte war mit einem sauberen Becher in einer der Satteltaschen verstaut.« 307
Jakob Kuisl kaute an seiner kalten Pfeife und fluchte noch einmal insgeheim, dass sie ihm ausgegangen war. »Das heißt, der vierte Mann war schon länger nicht mehr bei den anderen gewesen. Vielleicht war er ja in der Stadt.« Hans Scheller zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert’s schon, wo der vierte Mann war? Vielleicht hat er sich schon vorher aus dem Staub gemacht.« Der Henker erzählte ihm vom Verdacht des Schreibers, dass irgendjemand die geheimen Routen der Händler ausgekundschaftet hatte. Der Räuberhauptmann nickte. »Ich verstehe. Der vierte Mann treibt sich oben in der Stadt herum und berichtet seinen Kameraden nach und nach von den Routen. Die brauchen sich dann nur noch bedienen. Schließlich sind die Fuhrwerke nur schlecht bewacht, und die Händler befürchten nichts. Kein schlechter Plan.« Er grinste, und Kuisl sah, dass ihm die obere Reihe Zähne fast zur Gänze fehlte. »Könnte von mir sein.« Plötzlich hielt er inne. »Da fällt mir etwas ein.« »Was?« »Neben der Ledertasche, die du jetzt hast, lag an der Feuerstelle noch etwas anderes. Ein Fläschchen aus blauem Glas, sah recht vornehm aus. Als wir es öffneten, roch es wie der ganze verdammte französische Königspalast.« Jakob Kuisl vergaß, weiter an seiner Pfeife zu ziehen. »Ein Parfum, meinst du?« Scheller nickte. »Ja, genau, stank wie eine Blumenwiese im Frühling.« »Und dieses Parfum ... « Der Henker wählte seine Worte vorsichtig. »Roch es vielleicht nach ... Veilchen?« 308
Scheller zuckte mit den Schultern. » Kenn mich mit diesem Zeugs nicht aus. Wir haben es über unsere Pferde gegossen, das Fläschchen hat der Springer am nächsten Tag in der Höhle zerdeppert, der blöde Esel.« Jakob Kuisl dachte noch einmal nach, dann wandte er sich zum Gehen. »Hab Dank, Scheller. Du hast mir sehr geholfen. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werd ich dafür sorgen, dass es schnell geht. Versprochen.« »Kuisl. « Hans Scheller hatte etwas Träumerisches in der Stimme. Der Henker drehte sich noch einmal um. »Was ist, Scheller?« Es schien, als würde der Räuberhauptmann nach Worten ringen. Schließlich fing er an zu sprechen. »Weißt du eigentlich, was ich gelernt hab, Henker?« »Sag’s mir.« »Ein Zimmermann bin ich gewesen. Ein guter, unten in Schwabmünchen. Aber dann haben die Schweden meine Frau geschändet und ihr den Hals aufgeschnitten. Meinen Bub haben sie mit dem Schädel gegen die Tür geschlagen, und das Haus haben sie mir angezündet. Ich bin in die Wälder gegangen. Und jetzt endet’s hier.« Er versuchte ein Lächeln. »An meiner Stelle, sag, was hätt’st du gemacht, Henker?« Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. » Du hattest immer die Wahl.« Er ging zur Tür, wandte sich aber noch einmal um. »Das mit deiner Frau und dem Buben tut mir leid. Wenigstens seid’s bald wieder zusammen.« Die Türe schloss sich, und Scheller blieb alleine mit seinen Gedanken. Hätte er es nicht vor langer Zeit verlernt, er hätte geweint wie ein Kind. 309
Draußen fegte Jakob Kuisl der Schneesturm mit spitzen Eiskörnern ins Gesicht. Er zog den Hut tiefer und stapfte gegen die weiße Wand an. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, als würde auch in seinem Inneren ein Sturm toben. Ein Parfum, das stinkt wie eine Frühlingswiese … Hatte der Mann mit dem Veilchenduft den Räubern einen Besuch abgestattet? Oder war er der vierte Mann? Magdalena hatte ihm erzählt, dass der Fremde gemeinsam mit seinen Kameraden im Altenstadter Wirt gesessen habe. Hatten sie dort die Routen der Händler ausgekundschaftet? Aber, selbst wenn das stimmte, wie passte das alles mit dem Templerschatz zusammen? Der Henker fluchte, er brauchte endlich Klarheit. Es sollte noch ein weiterer Tag vergehen, bis ihm der Herrgott jemanden schickte, der ihm half, wenigstens eines der Rätsel zu lösen. Der Schneesturm brachte neue Kranke, so dass Simon tagsüber kaum dazu kam, sich über die Templer , geschweige denn über das Wessobrunner Gebet Gedanken zu machen. Von den zwei Fuhrleuten des Ratsherrn Matthias Holzhofer , die den Überfall überlebt hatten, hatten er und sein Vater nur einen retten können, der andere war ihnen noch am Abend unter der Hand weggestorben. Auch sonst kamen sie kaum zur Ruhe. Die Stunden vergingen mit dem Anrühren neuer Arzneien, mit Aderlass und Urinbeschau. Neben den Opfern des »Schongauer Fiebers«, wie die Seuche mittlerweile hieß, gab es noch einen mit blauen Furunkeln übersäten Tischlergesellen, 310
einen zerquetschten Fuß, über den ein Ochsenwagen hinweggefahren war, und einen Fuhrmann mit Erfrierungen in den Händen. Der Mann hatte versucht, am ersten Tag des Sturms mit seinem Wagen von Schongau nach Landsberg zu gelangen, und war nur eine Meile von der Stadt entfernt in einem Graben liegend aufgefunden worden. Er hatte sich vergeblich bemüht, den Karren aus dem Schnee zu ziehen, bis ihn schließlich die Kälte übermannte. Simon und sein Vater waren sich einig, dass dem Mann drei Finger der linken Hand amputiert werden mussten; eine Arbeit, die Bonifaz Fronwieser seit seiner Zeit als Feldscher zu seinen Spezialgebieten zählte. Gemeinsam mit seiner Familie war der alte Fronwieser im Großen Krieg mit den bayerischen Landsknechten umhergezogen und hatte unzählige zerschossene Arme und Beine abgesägt und die Stümpfe ausgebrannt. Seine Frau war während dieser Zeit gestorben, und Bonifaz Fronwieser hatte sich nach dem Krieg gemeinsam mit seinem Sohn in Schongau niedergelassen. Dass der Filius vor einiger Zeit das teure Medizinstudium in Ingolstadt aus Geldmangel, aber auch aus Mangel an Interesse, abgebrochen hatte, konnte ihm der Alte noch immer nicht verzeihen. Schon damals waren Simon die neueste Mode und das eine oder andere Würfelspiel wichtiger gewesen als Hippokrates, Paracelsus und Galen. Noch schlimmer wog für seinen Vater, dass Simon mittlerweile mit dem Schongauer Henker umherzog, sich von ihm medizinische Bücher auslieh und dem Scharfrichter bei Behandlungen immer öfter über die Schulter schaute. Seine neuen Kenntnisse ließ er dann in die tägliche Arbeit im Hause Fronwieser einfließen. 311
Auch bei der Amputation der drei Finger, eine Operation, die Bonifaz Fronwieser im Schlaf beherrschte, hatte Simon etwas zu bemängeln. Sie hatten den Fuhrmann mit einer Flasche Branntwein ruhiggestellt und ihm ein Brett zwischen den Zähne geschoben. Als der alte Medicus mit der Chirurgenzange die schwarzen Stumpen, die einst Finger gewesen waren, abzwicken wollte, wies Simon auf die rostigen Scherblätter. »Du musst sie vorher säubern«, raunte er seinem Vater zu. »Die Wunde wird sich sonst entzünden.« »Unsinn«, sagte Bonifaz Fronwieser. »Wir werden die Stellen nachher mit siedendem Öl ausbrennen. So hab ich’s von meinem Vater gelernt, und so ist es vernünftig.« Simon schüttelte den Kopf. »Die Wunde wird sich entzünden, glaub mir.« Bevor sein Vater etwas erwidern konnte, hatte er die Zange genommen und sie in einem Topf mit kochendem Wasser, der auf dem Herd stand, gereinigt. Erst dann fing er mit der Operation an. Sein Vater sah ihm schweigend zu, musste aber innerlich zugeben, dass Simon seine Sache gut und schnell machte. Der Junge war ohne Zweifel talentiert. Warum nur hatte er das Studium in Ingolstadt hingeworfen! Es hätte ein großer Arzt aus ihm werden können! Kein dahergelaufener Feldscher wie er selbst, sondern ein studierter Physikus, ein gelehrter, angesehener Bürger, den die Leute respektierten, den sie mit silberner Münze bezahlten und nicht mit rostigen Kreuzern, Hühnereiern und madenzerfressenem Pökelfleisch. Ein Doktor Fronwieser, der erste in der Familie … Missmutig nickte der Alte, als Simon schließlich den weißen Leinenverband festzurrte. 312
»Keine schlechte Arbeit«, knurrte er. »Aber was machst du jetzt mit der schmutzigen Zange? Wirfst du sie weg und kaufst eine neue?« Simon schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich werde sie wieder in kochendem Wasser waschen und wieder und wieder. Der Henker macht’s genauso, wenn er einem Dieb den Daumen oder den Zeigefinger abzwickt. Und ihm ist noch keiner verreckt.« Er kontrollierte den Atem des Fuhrmanns. »Erst vor kurzem hat mir der Kuisl von einem alten Rezept erzählt. Er schmiert Schafdung und Schimmel auf die Wunde. Er sagt, es gibt nichts Besseres gegen Entzündungen. Der Schimmel ... « Er hielt inne, weil er merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das Gesicht seines Vaters lief rot an. »Hör mir auf mit deinem verdammten Henker und seiner Dreckapotheke!«, rief Bonifaz Fronwieser. »Nichts als Flausen setzt er dir in den Kopf. Das Handwerk sollte man ihm verbieten! Schimmel und Schafscheiße, pah! Dafür hab ich dich nicht studieren lassen!« Er ging hinüber in die Kammer und schlug die Tür hinter sich zu. Achselzuckend sah Simon seinem Vater hinterher ,dann goss er einen Eimer Wasser über das Gesicht des Fuhrmanns und brachte ihn so zurück zu den Lebenden. Es vergingen noch einige Stunden, bis Simon endlich Zeit fand, sich in die Welt der Templer und in das Wessobrunner Rätsel zu vertiefen. Pünktlich mit dem Sechsuhrläuten schloss er die Stube ab und begab sich zum Marktplatz. Er hatte sich mit Benedikta im »Stern« verabredet. Als der Medicus die Tür öffnete, schlugen ihm Wärme und der muffige Gestank feuchter Kleider entgegen. Jetzt am 313
Abend war der Wirtsraum voll mit Fuhrleuten und Händlern, die wegen des Sturms festsaßen und sich die Zeit mit Würfeln und Trinken vertrieben. In dem niedrigen Schankraum tummelten sich ungefähr ein Dutzend Männer, die meisten in ernste, gedämpfte Gespräche verwickelt. Die Händlersfrau saß an einem Tisch ganz hinten in einer Nische über ein Pergament gebeugt. Als Simon sich näherte, rollte Benedikta das Schriftstück zusammen und blickte ihn lächelnd an. Simon deutete auf die Rolle. »Und? Macht Ihr Euch schon Notizen wegen der verdammten Rätsel?« Benedikta lachte. »Nein, furchtbar langweilige Bilanzen sind das nur! Das Geschäft in Landsberg läuft weiter, auch wenn es stürmt und schneit. Glaubt mir, das Leben einer Händlerwitwe ist ein ziemlich langweiliges. Und leider habe ich noch keinen neuen Mann gefunden, der adrett und liebevoll ist und sich gleichzeitig mit diesem staubtrockenen Kram auskennt.« Sie zwinkerte Simon zu. »Alle bisherigen Freier konnten entweder nur das eine oder das andere.« Benedikta steckte die Pergamentrolle in eine Tasche am Fuße des Tisches und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. »Aber Schluss mit diesem traurigen Kapitel. Ich bin sicher, Ihr habt wieder in diesem Templerbuch gestöbert?« Simon nickte. »Ich habe mir tatsächlich ein paar Gedanken gemacht.« Er zog das kleine Brevier aus seinem Rock und fing an zu blättern. Mit einem Fingerschnippen und einem Augenaufschlag Richtung Schankwirt orderte Benedikta derweil zwei Becher Gewürzwein. 314
»Der Orden der Templer wurde gegründet von einem gewissen ... Hugues de Payens, einem normannischen Ritter«, begann der Medicus und ließ seinen Zeigefinger über die krakeligen Zeilen gleiten. Eine kleine Talgkerze am Tisch spendete ein so trübes Licht, dass Simon Mühe hatte weiterzulesen. »Am Anfang waren es nur neun Männer, eine kleine Bruderschaft, aber schon bald breitete sich der Orden aus, zuerst im Morgenland und dann in ganz Europa. Italien, Frankreich, England, entlang der Straßen nach Jerusalem...« »Und in den deutschen Ländern?«, unterbrach ihn Benedikta. Simon zuckte mit den Schultern. »Dort eher weniger. Bei uns hatten die sogenannten Deutschritter das Sagen, eine Organisation, die noch immer im Osten Europas mit Feuer und Schwert versucht, die Heiden zu bekehren ... « Er schüttelte den Kopf. Der Medicus hatte noch nie viel davon gehalten, jemand mit der Waffe in der Hand vom rechten Glauben zu überzeugen. Simon setzte mehr auf die Kraft der Worte als die des Schwertarms. »Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »es hat auch deutsche Templer gegeben und natürlich deutsche Komtureien, also Templersiedlungen, auch in Bayern. Zum Beispiel in Augsburg, Bamberg oder Moosburg. Zur Moosurger Komturei muss wohl die Altenstader Niederlassung gehört haben.« Er seufzte. »Die kleine Lorenzkirche ist jedoch alles was davon übrig geblieben ist.« »Und ein gewisser Friedrich Wildgraf, kein Geringerer als der deutsche Meister des Templerordens, verkauft diese Siedlung samt Ländereien und Lorenzkirche im Jahre 1 289 an das Kloster Steingaden«, fuhr Benedikta fort. »Jah315
re später ,als die Templer in ganz Europa verfolgt werden, versteckt er hier einen Schatz ... « Sie hielt kurz inne, als eine Magd zwei Becher Gewürzwein brachte und Simon verliebt von der Seite ansah. Es war Teresa, die wie viele andere Mädchen den jungen Medicus anschmachtete. Erst als sie gegangen war, sprach Benedikta weiter. »Also gut, nehmen wir einmal an, dieser Schatz liegt wirklich irgendwo hier in der Gegend. Dann müsst Ihr mir aber noch eines erklären: Warum ist das Grab dieses Friedrich Wildgraf in Altenstadt zu finden, wenn den Templern hier in der Gegend doch nichts mehr gehörte?« Sie schüttelte den Kopf. »Auf der Grabplatte an der Altenstadter Basilika steht als Todesjahr 13 29. Also lange nachdem das Gut verkauft war. Das ergibt doch keinen Sinn.« Simon zuckte mit den Schultern. »Vielleicht doch. Stellen wir uns einfach mal vor, Friedrich Wildgraf verkauft für die Templer diese Siedlung, weil sie einfach zu abgelegen ist. Zu weit weg von der Route nach Jerusalem. Zu wenig Erträge, die Niederlassung wirft nicht genug ab. Zwanzig Jahre später werden die Templer in ganz Europa verfolgt. Friedrich Wildgraf erinnert sich an diese kleine, abgelegene Komturei …« »Und beschließt, sich dort zu verstecken!«, unterbrach ihn Benedikta aufgeregt. »Natürlich! Vermutlich gab es von früher noch Mitstreiter, hörige Dienstboten; Friedrich Wildgraf kannte die Ratsleute im Ort und die einflussreichen Bürger, vermutlich waren sie ihm immer noch wohlgesonnen. Selbst die Templerkirche existierte noch. Ein perfektes Versteck! Für sich selbst und den Schatz!« 316
Simon nickte. »Wahrscheinlich ist er zu dieser Zeit nicht mehr als Templer aufgetreten. Vielleicht als Händler oder als Pfarrer im Ort, wer weiß? Doch er hat etwas nach Schongau mitgebracht, etwas sehr Wertvolles. Und als er merkt, dass es ans Sterben geht, beschließt er, es so aufzubewahren, dass nur eine Gruppe Auserwählter es finden kann ...« »Den Schatz der Templer«, murmelte Benedikta. »So könnte es gewesen sein. Vermutlich wussten nur ein paar Eingeweihte, dass er überhaupt existierte! Als ehemaliger deutscher Ordensmeister könnte dieser Wildgraf in Paris davon erfahren haben. Vielleicht hat man ihn ja beauftragt, ein geeignetes Versteck zu finden. Er war bereits untergetaucht, die Häscher hatten seine Spur verloren ...« Der Medicus lächelte grimmig. »Friedrich Wildgraf hat sich tatsächlich alle Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Nur eine kleine Grabplatte an der Altenstadter Kirche kündet von seinem Tod.« Er nippte an dem starken Gewürzwein, der nach Pfeffer, Nelken und Zimt schmeckte, bevor er leise weitersprach. »Doch das eigentliche Grab Wildgrafs befindet sich unter der ehemaligen Templerkirche. Und hier hinterlässt Friedrich Wildgraf ein Rätsel. Er wählt christliche Symbole, um zu vermeiden, dass der Schatz in falsche Hände gerät. Vielleicht gab es einen festen Zeitpunkt, zu dem das Grab geöffnet werden sollte? Vielleicht ist dieser Zeitpunkt in Vergessenheit geraten, aber vielleicht sollten die Rätsel auch erst am Jüngsten Tag gelöst werden. Wir werden es nie erfahren ...« Benedikta runzelte die Stirn. »Schließlich findet mein Bruder bei Bauarbeiten die verschlossene Krypta, öffnet 317
sie und benachrichtigt mich und den Bischof«, sagte sie gedankenverloren. Simon stutzte. »Den Bischof?« »Hatte ich das nicht erwähnt?« Benedikta sah ihn irritiert an. »Mein Bruder hat in seinem Brief an mich geschrieben, dass er auch den Augsburger Bischof benachrichtigen würde. Schließlich war er ja sein Vorgesetzter.« Der Medicus runzelte die Stirn. »Hat er einen Boten zum Bischof geschickt oder auch einen Brief geschrieben?« »Ich ... ich weiß es nicht.« Der Wind rüttelte an den Fenstern des SemerWirtshauses, Simon krallte seine Hände um den Weinbecher, um sich zu wärmen. »Vielleicht ist der Bote ja abgefangen worden und jemand hat auf diese Weise von dem Schatz erfahren«, murmelte er und blickte sich vorsichtig um. »Gut möglich, dass uns auf dem Weg zur Altenstadter Basilika und zur Schlossruine jemand beobachtet hat. « Er beugte sich vor zu Benedikta und sprach im Flüsterton. »Umso wichtiger ist es, dass keiner erfährt, wohin wir als Nächstes aufbrechen. Denn dass das nächste Rätsel in Wessobrunn zu finden ist, ist bislang nur uns bekannt. Wir müssen hier weg, ohne dass es jemand merkt!« Benedikta lächelte ihn an. »Das lasst nur meine Sorge sein. Geheimnisvolles Verschwinden ist meine Spezialität. Neben dem Prüfen von Bilanzen …« Simon lachte, und die düsteren Gedanken verschwanden für einen Moment. Dann fiel ihm ein, dass er seit gestern nicht mehr an Magdalena gedacht hatte. Er seufzte still und spülte sein schlechtes Gewissen mit dem mittler318
weile lauwarmen Wein hinunter. Nun, wenigstens war sie weit weg von den möglichen Gefahren, die einem hier in Schongau drohten. Er grinste. Davon abgesehen konnte eine Kuisl immer noch hervorragend auf sich selbst aufpassen. Magdalena rannte auf die Straße und sah, wie der Fremde nach links abbog. Fast spielerisch schwenkte er den Seidenbeutel mit Gift in der Hand und ging mit langen Schritten die große, breite Hauptstraße entlang. Die Henkerstochter sah ihn nun zum ersten Mal in voller Größe. Der Mann war hager, seine Arme und Beine wirkten auf fast unnatürliche Art zu lang für den Körper, der in einem schwarzen Mantel und einer weißen Tunika steckte. Er ging leicht gebückt, so als drückte ein unsichtbares Gewicht auf seine Schultern. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, mit krummem Rücken und pendelnden Armen wirkte er wie ein eifriger schwarzer Käfer, der seinem Bau entgegenkrabbelte. Der Mann war ohne Zweifel ein Mönch, wenngleich Magdalena auch nicht sagen konnte, von welchem Orden. Vorsichtig heftete sie sich an seine Fersen. Wegen des Schnees war der einzig begehbare Weg ein Trampelpfad, auf dem gerade einmal zwei Menschen nebeneinander Platz hatten. Der Fremde hatte es eilig, er überholte vermummte Ratsherren und Mägde mit gefüllten Körben; einmal versetzte er einem Bauern, der einen störrischen Ochsen zum Metzger zerrte, einen Schubs, so dass dieser fluchend neben dem Tier im Schnee landete. Ohne weiter auf ihn zu achten, ging der Fremde weiter. Magdalena hatte Mühe zu folgen, auch sie drängelte sich 319
an schimpfenden Menschen vorbei oder wich links und rechts der Schneise in den kniehohen Schnee aus. Bald waren ihre Schuhe und Strümpfe durchweicht. Gerne hätte sie das Gesicht des Mannes gesehen, doch er trug noch immer seine Kapuze und drehte sich auch kein einziges Mal zu ihr um. Im Grunde ihres Herzens hoffte Magdalena, dass er niemals seinen Kopf zu ihr wenden würde. Wahrscheinlich wäre dies sonst ihr sicherer Tod gewesen. Weiter vorne am Marktplatz wurden die Wege breiter. Marktfrauen, gehüllt in dicke Schichten aus Unterröcken, bauten Stände für den Wochenmarkt auf. Der Mönch marschierte zwischen ihnen hindurch, ohne nach links und rechts zu sehen. Schließlich konnte Magdalena erkennen, worauf er zusteuerte. Auf die Domburg. Die Henkerstochter runzelte die Stirn. Philipp Hartmann hatte ihr gestern während des Schneesturms kurz die Geschichte der Reichsstadt und damit auch der Domburg erzählt. Das Zentrum Augsburgs war eine eigene kleine Stadt, umgeben von einer Mauer mit Toren. Früher war dort die erste Siedlung der Römer gewesen, die in der Nähe des Lechs ein Militärlager errichtet hatten. Mittlerweile standen an jener Stelle die Gebäude des Bischofs, der Dom, der Bischofspalast – aber auch die Häuser der wohlhabenderen Handwerker hatten hier ihren Platz. Was konnte Koppmeyers Mörder dort verloren haben? Links und rechts des Tores lehnten gelangweilt zwei in teure Tücher gehüllte Wachen des Bischofs, mit Hellebarden bewaffnet. Als der Mönch an ihnen vorüberschritt, salutierten sie kurz und träumten dann weiter von Ge320
würzwein und warmen Lebkuchen. Magdalena hielt inne. Der Mann hatte die Domburg betreten, ohne angehalten zu werden! Fast hatte es so ausgesehen, als würden ihn die Wachen erkennen. War das möglich? Sie hatte keine Zeit, weiter nachzudenken. Wenn sie den Fremden nicht aus den Augen verlieren wollte, musste auch sie an den Wachsoldaten vorbei. Sie schloss kurz die Augen, schlug ein Kreuz, dann näherte sie sich mit breitem Lächeln dem Tor. Die beiden Büttel sahen sie misstrauisch an. »Wohin?«, brummte der eine. Es klang nicht wirklich interessiert, eher so, als wäre er verpflichtet, diese Frage zu stellen. Lächelnd hob Magdalena den Beutel mit Kräutern, den sie noch immer unter ihrem Mantel verwahrte, und zeigte ihm der Wache. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte sie, dass auch das kleine Ledersäckchen mit den Gulden des Augsburger Henkers noch an ihrer Seite hing. Sollte sie die Spur des Fremden verlieren, hatte sie immerhin ein gutes Geschäft gemacht. Geschah diesem gnomenhaften Apotheker nur recht! Was musste er auch Gift an Meuchelmörder verkaufen? »Kräuter vom Apotheker Biermann«, sagte sie in Richtung der Wachen und zog einen Schmollmund. »Salbei und Kamille. Der Prior hustet sich die Seele aus dem Leib.« Der Soldat warf einen kurzen Blick in den Beutel, dann ließ er sie mit einem Kopfnicken passieren. Erst als Magdalena an ihm vorüber war, stutzte er. »Merkwürdig«, wandte der Soldat sich an seinen Kollegen. »Dabei hat der Prior doch heute früh noch kerngesund ausgesehen. Für eine Strafpredigt hat’s allemal ge321
reicht. He, Mädchen!« Doch als er sich umwandte, war die Henkerstochter bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Magdalena hatte Mühe, den Fremden wiederzufinden. Die Gassen, in denen sich die Häuser der Gold- und Silberschmiede an die der Graveure und Tuchhändler reihten, waren schmaler und verwinkelter als im unteren Teil von Augsburg. Einer Eingebung folgend, wandte sie sich nach rechts, nur um kurz darauf in einer Sackgasse zu landen. Sie kehrte um, rannte diesmal in die andere Richtung und stand plötzlich vor dem mächtigen Dom, ein Gebäude bestimmt dreimal so hoch wie die Schongauer Kirche. Glockenschläge hallten über den Vorplatz, Pilger und Betende strömten aus dem mächtigen Portal, andere kamen ihnen entgegen. Lumpige Bettler saßen auf den Stufen und hielten jammernd die Hand auf. Es sah aus, als wäre gerade eine Messe zu Ende gegangen. Magdalena hielt den Atem an. Wie viele Menschen mochten nur in dieses gewaltige Gewölbe passen? Sie blickte sich hastig um, sah aber nur ein Wirrwarr unbekannter Gewänder und Gesichter. Der Fremde war verschwunden. Schon wollte sie aufgeben, als sie zwischen den Kirchgängern und Bettlern auf der breiten Portalstreppe etwas Goldenes blitzen sah. Sie rannte die Stufen empor und konnte gerade noch erkennen, wie der Mann im Inneren des Doms verschwand. Das Kreuz an seiner Kette funkelte noch einmal kurz in der Sonne, dann hatte ihn das mächtige Gebäude verschluckt. Mit flinken Schritten lief Magdalena ihm nach. 322
Als die Henkerstochter den Dom betrat, blieb sie unwillkürlich stehen. Es war, als wäre sie in eine andere Welt getaucht, noch nie hatte sie ein so imposantes Bauwerk gesehen. Als sie weiterlief, glitt ihr Blick über turmhohe Säulen, Balustraden und buntfunkelnde Kirchenfenster, durch die die Morgensonne hineinstrahlte. Von überall starrten Engel und Heilige von den üppig bemalten Wänden auf sie herunter. Der Mönch durchquerte den Dom und wandte sich schließlich nach links in den hinteren Teil des Seitenschiffs. Hier kniete er vor einem Steinsarg nieder, neigte sein Haupt und betete. Magdalena verbarg sich hinter einer Säule und holte zum ersten Mal seit langem wieder Atem. Ein Mörder, der betete … War er vielleicht gekommen, um seine Sünden zu beichten? Nach kurzem Überlegen verwarf Magdalena diesen Gedanken. Schließlich hatte der Fremde gerade ein neues Gift gekauft. Ein reuiger Sünder sah anders aus. Gerne hätte sie einen Blick auf sein Gesicht geworfen, doch der hagere Mönch hatte die Kapuze nicht abgestreift, nur seine spitze Nase ragte darunter hervor. Noch immer baumelte der Beutel mit dem Gift an seinem Handgelenk, das Kreuz hing schwer wie ein Vorhängeschloss um seine breiten Schultern. Magdalena konnte nicht erkennen, vor wessen Sarg der Mann kniete. Verborgen hinter der Säule, beobachtete sie ihn ungeduldig. Als sie merkte, dass das Gebet länger dauern würde, blickte sie nach oben, um noch einmal die Ausmaße des Doms zu bewundern. Sie betrachtete die Säulen und Seitenaltäre, die vielen verwinkelten Nischen 323
und Treppen, die nach oben in die Höhe führten, aber auch in die Tiefe. Links schien es über abgetretene, steinerne Stufen in eine Krypta zu gehen, weiter hinten zweigte eine Art Kreuzgang ab. Zu ihrer Rechten, oberhalb des Steinaltars, vor dem der Fremde betete, war eine Reihe von Gemälden angebracht. Darauf waren verschiedene alte Männer mit Mitra und Umhang abgebildet. Jeder von ihnen hatte einen Hirtenstab in der Hand, milde schauten sie auf die Gläubigen herab. Magdalena ließ ihre Augen über die Bilder schweifen. Die Gemälde oben links waren alt und verblichen, die Menschen darauf sahen seltsam grau aus, wie Boten aus einer fernen Zeit. Je weiter sie nach rechts unten kam, desto neuer und farbiger wirkten die Gemälde. Jahreszahlen waren unter jedem einzelnen angebracht. Magdalena erkannte, dass es die Bildnisse sämtlicher Augsburger Bischöfe waren. Auf dem letzten Bild in der untersten Reihe war ein erstaunlich junger Mann zu sehen, mit schwarzem dünnem Haar, einer Hakennase und einem seltsam stechenden Blick. Sie las den Namen darunter. Bischof Sigismund Franz. Ernannt 1646. Fast kam es ihr vor, als würde der Bischof sie von dort oben prüfend betrachten. Seine Augen hatten etwas Unangenehmes, Bohrendes, sie schienen tief in ihr Inneres zu blicken. Plötzlich hielt Magdalena inne. Irgendetwas an dem Gemälde irritierte sie. War es das schwarze, fast ärmlich wirkende Gewand? Der stechende Blick? Die ungewöhnliche Jugend im Kreise alter Männer? Als Magdalena es schließlich erkannte, brauchte sie eine Zeit, um zu akzeptieren, was sie dort sah. 324
Um den Hals des Bischofs hing eine goldene Kette mit einem Kreuz. Ein Kreuz mit zwei Querbalken. Genauso eines, wie der Mönch trug. Beinahe hätte Magdalena laut aufgeschrien. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, doch sie hatte keine Zeit, sie zu ordnen. Der Mönch war mit seinem Gebet fertig. Er stand auf, schlug ein Kreuz und verbeugte sich. Schließlich ging er in Richtung des Kreuzganges und verschwand durch ein steinernes, uralt wirkendes Portal. Kein einziges Mal hatte er sich umgeblickt. Magdalena warf einen letzten Blick auf den jungen Bischof direkt über ihr, dann folgte sie dem Fremden. Sie hatte das Gefühl, als würden sich die Augen von Bischof Sigismund Franz direkt in ihren Rücken bohren. Es war früh am Morgen, als es an der Tür von Jakob Kuisl so heftig klopfte, als sollte der Henker selbst zur Hinrichtung geführt werden. Draußen herrschte noch stockfinstere Nacht, die Hähne hatten gerade erst geschrien, und Kuisl lag neben seiner warmen, weichen Frau, die sich beim dritten energischen Pochen verschlafen und mit blinzelnden Augen zu ihrem Gatten umdrehte. »Egal, wer es ist, dreh ihm den Hals um«, murmelte sie und steckte ihren Kopf wieder unter das Daunenkissen. »Worauf du dich verlassen kannst.« Der Henker schwang sich ächzend aus dem Bett und wäre beinahe die Stiege hinuntergefallen, als das Klopfen zum vierten Mal ertönte. Nebenan wachten die Zwillinge auf und fingen an zu plärren. »Ja doch!«, brüllte der Henker. »Ich komm ja schon!« 325
Während er barfuß und nur mit dem Nachthemd bekleidet die eiskalte Treppe nach unten stolperte, schwor er sich zum wiederholten Mal, dem Störenfried mindestens Daumenschrauben anzulegen. Wahrscheinlich würde er ihm auch noch brennende Schwefelhölzer unter die Fingernägel schieben. »Ja doch!« Jakob Kuisl hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Zuerst hatten die Kleinen gehustet zum Gotterbarmen und waren auch durch heiße Milch mit Honig nicht zu beruhigen gewesen. Als Georg und Barbara endlich eingeschlafen waren, hatte sich Kuisl noch stundenlang im Bett gewälzt und an die zweite Räuberbande gedacht. Beim Grübeln über den mysteriösen vierten Mann war er schließlich eingeschlafen. Nur um gefühlte fünf Minuten später von irgendeinem Trottel, der ihm die Tür einschlug, wieder aufgeweckt zu werden. Wutschnaubend erreichte Jakob Kuisl den Eingang. Er schob den Holzriegel zurück, riss die Tür auf und brüllte sein Gegenüber an, so dass dieser beinahe in einen dahinterliegenden Schneehügel kippte. »Was um alles in der Welt fällt dir Sauhund von einem Bauernschädel ein, mich mitten in der Nacht …« Erst viel zu spät bemerkte er, dass vor ihm Bürgermeister Karl Semer stand. »Kreuzkruzitürken ... «,murmelte Kuisl. Erschrocken blickte der Patrizier zu dem Henker empor, der ihn um gut einen Kopf überragte. Augenringe hatten sich in Semers bleiches Gesicht gegraben, die linke Backe war stark angeschwollen. 326
»Verzeih die frühe Störung, Kuisl«, flüsterte er und deutete auf die Backe. »Aber ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Die Schmerzen ...« Der Henker runzelte die Stirn, dann hielt er die Tür auf. »Kommt erst einmal rein.« Er führte den Bürgermeister ins Haus und entzündete in der noch warmen Glut des Herdfeuers ein paar Kienspäne, die er in Haltern auf dem Tisch befestigte. Im trüben Licht betrachtete Karl Semer die Stube des Henkers. Das Richtschwert neben dem Herrgottswinkel, die grobbehauenen Schemel, der abgewetzte, massige Tisch, die Galgenleiter in der Ecke. Auf dem Tisch lagen ein paar aufgeschlagene Bücher. »Du liest ... ? «, fragte der Bürgermeister. Der Henker nickte. »Das Werk des Dioscurides. Ein alter Schinken, aber es gibt nichts Besseres, wenn du etwas über Kräuter wissen willst. Und das hier ... « Er hielt ein ziemlich neu aussehendes Buch in die Höhe. »Athanasius Kircher. Ein verdammter Jesuit. Doch was der über die Pest schreibt, allerhand! Kennt Ihr ihn?« Der Bürgermeister zuckte mit den Schultern. »Nun, offen gestanden ... Ich lese meist Bilanzen.« An einem der Kienspäne entzündete der Henker seine Pfeife, dann fuhr er fort: »Kircher glaubt, dass die Pest von winzigen geflügelten Tierchen übertragen wird, die er mit einem sogenannten Mikroskop gesehen hat. Keine Ausdünstungen der Erde oder weiß der Kuckuck, was die Quacksalber sonst noch schwadronieren, sondern kleine, mit dem bloßen Auge nicht sichtbare Tierchen, die von Mensch zu Mensch überspringen ... « Kuisls schwärmerische Ausführungen wurden vom Greinen seiner Kinder 327
unterbrochen. Auch seine Frau war jetzt lautstark von oben aus der Bettkammer zu hören. »Was in drei Teufels Namen ist da unten los?«, fluchte sie. »Geht’s zum Saufen doch zum Semer-Wirt, verdammt noch mal, und lasst die Kinder hier in Ruhe schlafen!« »Anna«, zischte Jakob Kuisl. »Hier unten steht der Semer-Wirt.« »Was?« »Der Bürgermeister steht hier unten und hat Zahnweh.« »Zahnweh oder nicht, seid’s gefälligst leise, Himmelherrgott!« Eine Tür fiel krachend zu. Der Henker sah Karl Semer an und rollte die Augen. »Weiber«, flüsterte er, aber so leise, dass es seine Frau nicht hören konnte. Schließlich wurde er wieder ernst. »Also, was führt Euch zu mir?« »Meine Gattin meint, du bist der Einzige, der mir helfen kann«, sagte der Bürgermeister und deutete auf die geschwollene Backe. »Die Zahnschmerzen trag ich nun schon seit Wochen mit mir herum, aber diese Nacht ... « Er schloss die Augen. »Mach, dass sie weggehen. Ich zahl jeden Preis.« »Nun, dann wollen wir mal sehen.« Jakob Kuisl drückte den Bürgermeister auf einen der Schemel. »Macht den Mund auf.« Mit einem brennenden Kienspan leuchtete er in den Rachen. »Kann ihn schon sehen, den Hundling«, murmelte er. »Tut das weh?« Er tippte mit seinem Finger auf einen schwarzen Stumpen weit hinten im Mundraum. Der Bürgermeister zuckte zusammen und schrie laut auf. »Psst«, sagte Kuisl. »Denkt an meine Frau. Die versteht keinen Spaß.« 328
Er ging hinüber in die Kammer und kam bald darauf mit einem kleinen Fläschchen wieder zurück. »Was ist das? «,murmelte der Bürgermeister ,vom Schmerz noch halb benommen. »Nelkenöl. Das wird die Schmerzen lindern.« Der Henker gab ein paar Tropfen auf ein Tuch und tupfte damit auf den wunden Zahn. Karl Semer stöhnte erleichtert auf. »Tatsächlich, der Schmerz lässt nach. Was für ein Zaubermittel!« Jakob Kuisl grinste. »Ich kann Schmerzen zufügen, ich kann sie aber auch nehmen. Alles hat seinen Preis. Hier, nehmt!« Er reichte dem Bürgermeister das kleine Fläschchen. »Ich überlass Euch die Tinktur für einen Gulden.« Kuisl goss dem Bürgermeister einen Schnaps ein, den dieser auf einen Schluck austrank. Auch den zweiten nahm er dankend an. Die beiden Männer saßen sich eine Zeitlang schweigend gegenüber. Neugierig geworden, ließ Semer schließlich seinen Blick noch einmal durch die Stube gleiten, er blieb an der Galgenleiter hängen. »Wir werden dem Scheller voraussichtlich schon morgen den Prozess machen«, sagte der Bürgermeister und deutete auf die Leiter. Befreit von Schmerzen, fühlte er sich jetzt wunderbar entspannt, sogar im Haus des Henkers. »Dann kannst du in drei Tagen an die Arbeit gehen.« Zornig fuhr Semer hoch. »Diese verdammte zweite Räuberbande! « Er schlug mit der Hand auf den Tisch, so dass Schnaps aus dem Glas schwappte. »Wenn’s die nicht gäb, könnte ich wunderbar meinen Muskateller nach Landsberg und weiter schaffen. Den Schwaben dürstet’s nach Wein, und ich kann nicht liefern!« 329
»Vielleicht doch.« Der Henker schenkte sich jetzt selbst ein großes Glas Schnaps ein und nippte daran. Karl Semer sah ihn verwundert an. »Wie meinst du das? Red keinen Unsinn! Solange wir nicht wissen, wer unsere geheimen Routen verrät, ist’s dort draußen mehr als gefährlich. Soll’s mir so ergehen wie dem Holzhofer und den anderen?« Jakob Kuisl grinste. »Ich kenn Wege, die kennen nicht mal die Strauchdiebe. Mit einem Pferdeschlitten wär’s ein Leichtes, dort durchzukommen. Außerdem könnt ich Euch auf den ersten Meilen Geleitschutz geben. Mit meinen Männern bin ich in den nächsten Tagen sowieso draußen auf Räuberjagd.« »Geleitschutz, hm? « Der Bürgermeister runzelte die Stirn. »Und was soll mich das kosten?« Jakob Kuisl kippte den Schnaps herunter, als wäre er Milch. »Fast nichts«, sagte er. »Nur eine kleine Auskunft.« Er beugte sich über den Tisch. »Alles, was ich will, ist, dass Ihr auf Eurem Weg nach Schwaben für mich etwas nachfragt. Für einen Mann wie Euch ist das, was ich wissen will, leicht zu bekommen.« Er nannte dem Bürgermeister seine Bitte. Dieser hörte sie sich aufmerksam an und nickte dann. »Ich weiß zwar nicht, für was das gut sein soll, aber bitte schön, wenn’s weiter nichts ist. Und wir könnten morgen schon aufbrechen?« Der Henker zuckte mit den Schultern. »Sobald der Schneesturm aufgehört hat. Aber bis dahin ... « Er deutete auf die Backe seines Gegenübers. »Ich würd mit so einem Zahn jedenfalls keine große Fahrt machen.« 330
Der Bürgermeister erbleichte. »Aber der Schmerz hat doch aufgehört. Und ich habe das Nelkenöl …« »Das hilft immer nur eine Zeitlang. Glaubt mir, der Schmerz wird wiederkommen, schlimmer als vorher, und irgendwann bringt auch das Öl nichts mehr.« »O Gott, was soll ich tun?« Karl Semer fasste sich, von plötzlicher Panik erfasst, an die Wange und sah den Henker fast flehend an. »Was soll ich nur tun?« Jakob Kuisl ging zu einer Truhe in der Kammer nebenan und kam mit einer armlangen Kneifzange zurück, die er sonst bei der Folter einsetzte. »Wir werden ihn wohl ziehen müssen«, sagte er. Karl Semer war der Ohnmacht nahe. »Jetzt gleich?« Der Henker schenkte dem Bürgermeister einen Bierkrug mit Schnaps ein. »Warum nicht? Meine Frau muss ohnehin aufstehen.« Der bald darauf folgende Schrei weckte nicht nur Anna Maria Kuisl und die Zwillinge, sondern das gesamte Gerberviertel auf. Immer wieder hinter den Säulen Schutz suchend, verfolgte Magdalena den schwarzgewandeten Mönch durch den Augsburger Dom. Direkt vor ihr war er im Kreuzgang verschwunden. Als die Henkerstochter durch das Portal kam, das den Dom mit dem Atrium verband, sah sie den Mann gerade noch an einer Holztür vorbeischreiten und hinter einer Biegung verschwinden. Zwei Messdiener kamen ihr entgegen und musterten sie neugierig. Sie mäßigte ihren Schritt und ging lächelnd an ihnen vorbei, wobei sie den Beutel mit den Kräutern auffällig schwenkte. Die beiden pickligen Jünglinge starrten auf ihr Dekolleté, als 331
hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Im Kreuzgang kommt das wohl auch selten vor, dachte Magdalena und lächelte stoisch weiter. Endlich waren die Messdiener verschwunden, sie lief wieder schneller, bog um die nächste Ecke … Und blickte in einen leeren Gang. Magdalena murmelte einen derben Henkersfluch. Der verdammte Mönch war ihr schon wieder entwischt! Sie rannte weiter, einmal rund um das Atrium, bis sie wieder am Portal stand, das in den Dom führte. Wie war das möglich? Der Mann konnte unmöglich wieder durch das Portal verschwunden sein. Sie hätte ihn sehen müssen! Vom Kreuzgang aus blickte sie in den säulenumsäumten Innenhof, in dem ein kleiner Kräutergarten neben niedrigen Büschen unter einer Schneedecke ruhte. Auch hier war kein Mensch zu sehen. Es schien, als hätte sich der Fremde einfach in Luft aufgelöst. Noch einmal ging sie den Kreuzgang ab. Vielleicht war ja irgendwo eine Tür, die sie übersehen hatte, eine Öffnung, eine versteckte Nische? Jetzt erst hatte Magdalena Zeit, sich genauer umzusehen. Die Wände zur Linken waren übersät mit Grabplatten aus den verschiedensten Epochen. Ritter in altmodischen Rüstungen, grinsende Skelette und hakennasige Bischöfe blickten ihr entgegen. Aber da war keine weitere Tür. Sie hatte den Mann verloren. Erschöpft lehnte sie sich gegen eine Grabplatte und atmete durch. Wenigstens wusste sie jetzt, dass Koppmeyers Mörder zum Dunstkreis des Domes gehörte. Die Wachen am Tor hatten ihn gegrüßt, er kannte sich im Dom offensichtlich aus, und er trug das gleiche Kreuz, das 332
auch dieser junge Bischof auf dem Bild drüben im Seitenschiff trug. Ein Kreuz mit zwei Querbalken. Das gleiche Kreuz ... Ein Gedanke kroch in ihr hoch, so schrecklich und absurd, dass sie ihn zuerst nicht wahrhaben wollte. Konnte es sein, dass dieser Mönch und der Bischof die gleiche Person waren? Noch bevor sie sich ausmalen konnte, was diese ungeheuerliche Idee bedeutete, begann die Grabplatte hinter ihr zu sprechen. Magdalena machte einen Satz nach vorne, der Beutel mit den Kräutern entglitt ihr, und sie starrte den steinernen Mann auf der Platte an. Es war ein Ritter in Harnisch und geöffnetem Helm, ein Breitschwert lehnte an seiner Seite, zwei spielende Hunde tummelten sich zu seinen Füßen. Er glotzte sie mit hohlen Augen an. Magdalena hielt den Atem an und lauschte. Aus dem zum stummen Schrei geöffneten Mund des Ritters drang ein leises, fast nicht zu vernehmendes Murmeln und Zischen. Vorsichtig näherte sie sich wieder dem steinernen Relief. Als sie ihre Ohren an die kalte Platte presste, konnte sie dahinter ein Summen hören. Ein durchgehender klagender Ton. Magdalena schloss die Augen und lauschte nur auf den Ton. Es war keine einzelne Stimme, sondern der dumpfe Chor vieler Männer, der gedämpft durch die Steinplatte drang. War das möglich...? Magdalena drückte mit beiden Händen gegen die Steinplatte, doch die gab keinen Spaltbreit nach. Sie suchte nach einer Ritze an der Seite, in die sie ihre Finger hätte 333
schieben können, tastete nach einem versteckten Mechanismus. Vergeblich. Schließlich fiel ihr Blick auf zwei handtellergroße Weihwasserbecken, die zu beiden Seiten der Grabplatte etwa in Hüfthöhe angebracht waren. Zwei grinsende steinerne Totenschädel, in der Kopfmitte jeweils eingedrückt zu einer Schale. Das Weihwasser in den Schalen war gefroren, die Schädel sahen alt und verwittert aus. Magdalena betrachtete sie genauer. Der rechte Totenschädel stand ein wenig schief, mit geneigtem Kopf sah er Magdalena neckisch grinsend von unten an. Wie ein armer Sünder, dem mein Vater den Hals gebrochen hat, dachte sie. Magdalena griff nach dem Schädel und versuchte ihn zu drehen. Er bewegte sich. Knirschend klappte die schwere Steinplatte nach innen und gab den Blick frei auf eine steile, ausgetretene Steintreppe, die in die Dunkelheit führte. Magdalena hielt den Atem an und lauschte. Tief unten war das Singen von Männern zu hören, ein klagender Choral, lateinische Wortfetzen wehten zu ihr herauf. Mors stupebit et natura, cum resurget creatura ... Deus lo vult... Confutatis maledictis, flammis acribus addictis … Deus lo vult … Deus lo vult. Gott will es. Da war er wieder, dieser merkwürdige lateinische Satz, von dem auch ihr Vater erzählt hatte. Der gleiche Satz, der beim Altenstadter Wirt zwischen den lateinisch sprechen334
den Fremden gefallen war. Der gleiche Satz, den die Meuchler in der Altenstadter Krypta gemurmelt hatten. Gott will es … Es war Zeit, nach unten zu gehen. Sie stopfte den Beutel mit den Kräutern unter ihren Rock und machte sich auf den Weg. Vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen setzend, stieg Magdalena die steile Treppe hinab. Die Stufen wanden sich um eine verwitterte Säule, das Singen kam näher und näher. An der Wand waren jetzt immer wieder eingeritzte Zeichen zu sehen, krakelig gezeichnete Fische, bisweilen die Buchstaben P und X. Nischen tauchten auf, in denen flackernde Öllampen standen, die Magdalena den weiteren Weg wiesen. Sie hatte das Gefühl, dass diese Treppe viel älter war als der gesamte Dom über ihr. Endlich war das Ende der Stufen erreicht. Ein schmaler, kuppelförmiger Gang führte auf den Gesang zu, weiter vorne war der Schein einer größeren Lichtquelle zu erkennen. Magdalena tastete sich in dem dunklen Gang nach vorne, als ihre Hand an etwas Glattes, Staubiges stieß, das eine mehlige Schicht auf ihren Fingern hinterließ. Sie zog die Hand zurück und blickte auf einen ordentlich gestapelten Haufen von Totenschädeln am Boden neben ihr. Sie hatte genau in das Auge eines der Schädel gelangt. An der rechten Wand stapelten sich Knochen, aufgetürmt bis unter die Decke. Das Singen tönte jetzt ganz nahe. Iudex ergo cum sedebit, quidquid latet apparebit ... Deus lo vult …
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Magdalena sah, dass sie das Ende des Ganges erreicht hatte. Sie kniete sich hinter die kleine Pyramide aus Schädeln und lugte von dort aus um die Ecke. Der Anblick ließ sie erstarren. Vor ihr befand sich ein Gewölbe von den Ausmaßen einer mittleren Kirche. Überall in die Wände waren bis zur Decke grobe Nischen gehauen, in denen Knochen und Schädel lagerten. Am Kopfende der Halle stand ein steinerner Altar, hinter dem ein verwittertes Kreuz an der Wand lehnte. Fackeln beleuchteten eine Gruppe von mindestens zwei Dutzend Männern in Mönchskutten und Kapuzen, die sich teils kniend, teils stehend um das Kreuz versammelt hatten und ihren Choral sangen. Alle trugen sie über ihren schwarzen Kutten weiße Umhänge, auf denen ebenfalls ein Kreuz zu sehen war , von gleicher Form und Farbe wie das hinter dem Altar. Es hatte zwei Querbalken und war blutrot gestrichen. Tuba mirum spargens sonum, per sepulcra regionum … Deus lo vult … Nach einer Ewigkeit beendeten die Männer ihren Gesang. Magdalena spürte, wie ihr die Füße einschliefen. Trotzdem verharrte sie hinter der Schädelpyramide und beobachtete, was weiter geschah. Einer der vermummten Männer trat nach vorne zum Altar und hob die Hände zum Segen. Auch er hatte wie alle anderen die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mit einer halbkreisförmigen Bewegung wandte er sich an die Umstehenden. Seine Stimme klang laut und hallend bis zu Magdalena herüber. »Liebe Mitbrüder«, begann er. »Ehrenwerte Bürger, Geistliche und einfache Prediger, die ihr von weit her gereist seid. Unsere Bruderschaft hat es sich seit jeher zur 336
Aufgabe gemacht, sämtliche Ketzer zu vernichten und die Ausbreitung der verfluchten Lutheraner zu verhindern!« Zustimmendes Gemurmel drang hinter den Kapuzen hervor, doch der Mann brachte die anderen mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ihr wisst, dass wir auch versuchen, die Schätze unseres Herrn vor der Zerstörung durch die Ketzer zu retten. Vieles kehrte seitdem in den Schoß der Heiligen Römischen Kirche zurück. Der einzigen Kirche!« Er machte eine dramatische Pause, bevor er weitersprach. »Ich habe dieses Treffen anberaumt, um euch eine frohe Botschaft zu verkünden. Es ist uns gelungen, den größten Schatz der Christenheit zu bergen!« Aufgeregtes Getuschel erhob sich unter den Maskierten. Ihr Anführer erhob erneut beschwichtigend die Hände. »An einem Ort nicht weit von hier haben ihn die unseligen Templer vor langer Zeit versteckt. Doch in seiner unendlichen Güte schickte Gott uns ein Zeichen, so dass wir nun kurz davorstehen, mit diesem Schatz in den Heiligen Krieg zu ziehen! Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses lutherische Gesindel weiterhin den Namen unseres Heilands beschmutzt. Hier, in dieser Stadt, fing das Ketzertum an, sich über die deutschen Lande auszubreiten. Hier wird es sein Ende finden. Ich bin gewiss, mit diesem Schatz wird der Große Krieg weitergehen! Nieder mit den Ketzern! Der Sieg ist unser!« »Deus lo vult! Deus lo vult! «, riefen einige der Umstehenden. Andere fielen auf die Knie, fingen an zu beten oder schlugen sich mit ihren Mönchskordeln auf den Rücken. Wieder bat der Anführer um Ruhe. 337
»Auch wenn die meisten von euch bereits wissen, um welchen Schatz es sich handelt, wird euch Bruder Jakobus, ein treuer Diener unserer Bruderschaft, nun Genaueres mitteilen. Ich brauche nicht zu betonen, dass alles, was er uns berichtet, strengster Geheimhaltung unterliegt. Verräter werden dem Feuer übergeben.« »Tod den Verrätern!«, ertönte eine Stimme. »Tod den Ketzern und Lutheranern!« Andere fielen in den Ruf ein. Magdalena schluckte und kauerte sich noch tiefer als zuvor hinter den Schädelhaufen. Einer der Männer in Kutte und Umhang trat nun hervor. Als er zu sprechen anfing, lief es der Henkerstochter kalt den Rücken herunter. Es war der Fremde aus der Apotheke! Irgendwo hier unten in diesem Gewölbe musste er sich einen der weißen Mäntel mit dem merkwürdigen Kreuz übergezogen haben. Doch an der Stimme erkannte sie ihn. »Mitbrüder! Mein Vorredner spricht Wahres. Der Sieg ist nahe!« Seine Stimme zischte leise, trotzdem verstand Magdalena jedes Wort. »Es ist ein Wunder, glaubt mir! Nur wenige Meilen von hier haben die verfluchten Templer vor langer Zeit den größten Schatz der Christenheit vergraben. Diese Ketzer haben ein paar kindische Rätsel gesponnen, um das Geheimnis vor uns zu verbergen, aber wir sind kurz davor...« Viel zu spät bemerkte Magdalena, dass sie sich immer weiter über den Schädelhaufen gebeugt hatte. Mit dem rechten Ellenbogen stieß sie an einen der Totenköpfe, der Schädel löste sich aus der Pyramide und fiel polternd zu Boden, wo er Richtung Gewölbe rollte. 338
Bruder Jakobus unterbrach seine Rede und schaute argwöhnisch in Magdalenas Richtung. Schon wollte er in seiner Rede fortfahren, doch in diesem Moment bewegten sich auch die anderen Schädel. Mit hektischen Bewegungen versuchte Magdalena sie aufzuhalten, doch es war hoffnungslos. Die jahrhundertealte Balance war durcheinandergebracht worden, nun purzelten die Totenköpfe mit Scheppern und Krachen in alle Richtungen davon. Nur kurze Zeit später stand Magdalena ohne Deckung im Gang. Die Zeit schien einen Moment lang stillzustehen. »Ergreift sie! «, kreischte der Anführer seinen Mitstreitern zu, die genauso erstarrt waren wie Magdalena. Die Kapuze des Mannes war nach hinten gerutscht, Magdalena blickte in ein hasserfülltes, geiferndes Gesicht. Es war das Gesicht des Mannes, das sie oben auf dem Gemälde gesehen hatte. Das Gesicht des Bischofs. Im Bruchteil einer Sekunde wurde Magdalena klar, was dies bedeutete: Der Augsburger Würdenträger war nicht der Mörder von Andreas Koppmeyer, nein, er war der Anführer dieses wahnsinnigen Haufens! Ein Haufen, der vermutlich noch viel schlimmerer Verbrechen fähig war – und der sie, wenn nicht ein Wunder geschah, wie eine Hexe foltern, erdrosseln und verbrennen würde. Wenn sie Glück hatte, rissen sie sie schon vorher in Stücke. Bruder Jakobus erwachte als Erster aus der Versteinerung, er hastete auf die Henkerstochter zu. Magdalena lief durch den Gang davon, stolperte über ein paar Knochen, kam wieder auf die Füße und rannte die Treppe hinauf nach oben. Hinter ihr hallten die Schritte des Mönchs. Sie 339
rannte und rannte, immer wieder im Kreis, wie in einem alptraumhaften Karussell, die Wendeltreppe nach oben, bis sie endlich die Tür erreicht hatte. Erst jetzt stellte sie fest, dass sich innen keine Klinke befand. Schwer atmend warf sie sich gegen den Stein. Es war, wie gegen eine Mauer zu laufen, die Tür gab keinen Spaltbreit nach. Sie hämmerte dagegen und trat mit dem Fuß gegen die Steinplatte. »Hilfe!«, schrie sie. »Hört mich einer dort draußen? Helft mir!« Lächelnd kam Bruder Jakobus auf sie zu, die Hände wie zum Segen erhoben. Erst im letzten Moment erkannte Magdalena den Krummdolch in seiner rechten Hand. »Ich werde dich nur ritzen, versprochen«, flüsterte er. »Wie deinen Vater. Du wirst schlafen wie der steinerne Ritter hinter dir.« Er täuschte eine Bewegung von oben an, um im letzten Moment den Stich von unten zu führen. Magdalena griff nach seiner Hand, aber der Mann war schneller. Die Klinge sauste auf sie zu. Es gelang ihr zwar ,den Oberkörper zur Seite zu drehen, doch sie spürte, wie ihr die Klinge in den Oberarm drang, den sie zum Schutz erhoben hatte. »Was für eine göttliche Fügung, die dich hierher zu uns geführt hat«, murmelte Bruder Jakobus. »Ich kenne deinen Namen, Maria Magdalena. Du Hure Christi. Du bist viel zu kostbar, um dich dem Feuer zu übergeben. Ich habe Großes mit dir vor.« In Magdalenas Körper breitete sich eine Starre aus. Als die Taubheit ihre Beine erreichte, rutschte sie an der 340
Grabplatte herunter und blieb mit angstgeweiteten Augen am Boden liegen. Weit entfernt hörte sie Orgelspiel. Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn, in Freuden und Leiden ihr Diener ich bin... Drüben im Dom, nur wenige Meter entfernt, hatte die Messe begonnen.
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F
rüh am nächsten Morgen machten sich Simon und
Benedikta zu Pferde auf nach Wessobrunn. Sie mieden die große Straße, die entlang des Lechs nach Norden führte und möglicherweise von Räubern beobachtet wurde. Stattdessen ritten sie über die Lechbrücke nach Peiting und dann direkt auf den Hohen Peißenberg zu, der wie ein Riese in der sonst flachen Landschaft über den Dörfern und Weilern der Gegend thronte. Nach dem Schneesturm der vergangenen Tage war die Luft klar und rein. Die Sonne stach so hell vom blauen Himmel, dass Simon die Augen schließen musste, wenn er zu lange auf die schneebedeckten Felder und Bäume sah. Inder letzten Stunde hatte sich der Medicus häufig umgesehen. Immer wenn er und Benedikta eine der Rodungen verließen und ein weiteres Mal in die unendlichen Wälder rund um den Berg eintauchten, beschlich ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war wie ein Jucken zwischen den Schulterblättern, Simon erwartete jeden Moment, das Sirren einer Bogensehne oder das Rasseln eines Säbels zu hören. Doch immer wenn er hinter sich blickte, war da nichts außer undringlichem Tannendickicht. Gelegentlich schreckten sie einen Vogel auf, der krächzend davonflog; Schnee rieselte von den Ästen herunter, ansonsten herrschte Stille.
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Der Sturm hatte an vielen Stellen die Bäume wie Schilfstengel umgeknickt. Vom Sattel aus ließ Simon seinen Blick schweifen über leergefegte Schneisen, die tief in den Wald hineinreichten. Nun, wenigstens würden die Bauern in diesem Winter nicht über einen Mangel an Brennholz zu klagen haben. »Zieht nicht so ein mürrisches Gesicht!«, rief ihm Benedikta zu. »Das passt nicht zu Euren hübschen Augen. Wenn Räuber unterwegs sind, dann eher am Lech, nicht hier. Was gibt’s auf dieser Straße schon groß zu holen?« Im Gegensatz zu Simon machte die Händlerin einen sorglosen Eindruck. Sie summte irgendein französisches Lied und trieb ihr Pferd auf den ausgedehnten Lichtungen zum Galopp an. Simon hatte Mühe, ihr zu folgen. Für ihren Ritt nach Wessobrunn hatte er sich wieder die alte Mähre des Henkers ausgeliehen. Walli schien sich ein wenig an ihn gewöhnt zu haben, doch noch immer blieb sie mitten im Trab stehen, wenn am Wegesrand etwas Grün unter der Schneedecke hervorlugte. Dann war sie selbst mit Tritten nicht dazu zu bewegen, weiterzulaufen. Gelegentlich schnappte sie auch nach Simon oder versuchte ihn abzuwerfen, doch der Medicus war fest entschlossen, dem Biest Manieren beizubringen. Gerade eben wieder blieb das Pferd stocksteif stehen und zupfte ungerührt ein Kraut aus dem Schnee. Verzweifelt zerrte Simon an den Zügeln und bohrte seine Fersen in Wallis dürren Leib, doch genauso gut hätte er auf einem Stein sitzen können. Benedikta sah seinen Bemühungen grinsend zu, dann steckte sie zwei Finger in den Mund und pfiff. »Allez hop, viens par ici!« 343
Als hätte das Pferd auf Benediktas Ruf gewartet, setzte es sich in Bewegung. »Wo habt Ihr nur gelernt, so gut mit Pferden umzugehen? «, fragte Simon, während er Walli auf die Hinterbacken schlug und versuchte aufzuholen. »Meine Mutter kommt aus einer Hugenottenfamilie, die vor den französischen Katholiken geflohen ist.« Benedikta ließ ihr Pferd schneller traben. »Ein angesehenes Geschlecht aus der Gegend von Paris, mit Gutshaus und Ländereien. Sie hat als Kind das Reiten geliebt, und diese Liebe hat sich wohl auf mich übertragen. Je suis un enfant de France!« Sie lachte und sprengte davon. Simon schlug Walli die Hacken in die Seite, um Benedikta einzuholen. Kurz ritten sie nebeneinanderher. »Frankreich muss wunderschön sein!«, rief er ihr zu. » Paris! Notre-Dame! Die Mode! Ist es wahr, dass die Stadt nachts von tausend Laternen beleuchtet wird?« »In Eurem Schongau würde ich mich schon über ein Dutzend Laternen freuen. Außerdem riecht man in Paris besser.« Sie gab ihrem Pferd einen Klaps. »Aber jetzt Schluss mit der Schwärmerei. Wer als Letzter am Waldrand ist, spendiert dem anderen in Wessobrunn einen Krug Muskatellerwein! Allez hue, Aramis!« Ihr Fuchs machte einen Satz und raste auf den Wald zu. Walli zockelte hinterdrein, offenbar in der Hoffnung, am Waldrand auf ein paar wohlschmeckende Gräser zu stoßen. Sie ließen den Peißenberg rechts liegen und wandten sich nach Norden. Nach weiteren zwei Stunden Ritt durchquerten sie einen dichten Wald, in dem zwischen den Tannen immer wieder dunkelgrüne Eiben standen. 344
»Passt auf Euer Pferd auf, dass es nichts von den Eiben frisst«, warnte Benedikta. »Die Bäume sind hochgiftig. Der Henker dreht Euch sonst den Hals um!« Simon nickte. Er mochte sich nicht vorstellen, was Jakob Kuisl mit ihm machen würde, wenn er seinem eigenen toten Pferd die Haut abziehen musste. Vermutlich würde er Simon bis zum Hals in ein Fass mit Gerbsäure tunken. Während der Medicus noch darüber nachdachte, wie viel er dem Henker mittlerweile schon verdankte, verspürte er plötzlich ein dringendes Bedürfnis. »Benedikta, verzeiht. Aber ich ... « Er lächelte verschämt und deutete auf die Eiben zur Linken. »Es dauert nur einen Moment.« »Tut, was Ihr nicht lassen könnt.« Sie zwinkerte ihm zu. »Aber lasst Euch nicht mit heruntergelassener Hose von den bösen Räubern erwischen.« Simon betrat das Eibendickicht und zwängte sich an den piksenden Ästen vorbei. Im Schutz der Bäume öffnete er die Knöpfe von Rock und Hose und erleichterte sich. Als er fertig war, hielt er noch kurz inne, um die Ruhe des Waldes zu genießen. In diesem Moment spürte Simon ganz deutlich, dass ihn jemand beobachtete. Es war wie ein Brennen in seinem Rücken, nur einen Augenblick später ließ ihn ein Knacken hinter ihm erstarren. Er schloss langsam die Knöpfe seiner Hose und tauchte wieder ein ins Eibendickicht. Doch anstatt wieder zurück auf die Straße zu gehen, bog er links ab. Ein Graben tat sich längs vor ihm auf, er sprang hinein und schlich in seinem Schutz parallel zur Straße. Im Laufen griff er sich einen vom Sturm abgebrochenen Ast, der die 345
Länge eines Knüppels hatte. Schließlich durchquerte er wieder ein Dickicht und näherte sich in einem Bogen der Stelle, an der er vorher gestanden hatte. Vorsichtig, den Knüppel fest umklammert, setzte er einen Fuß vor den anderen und versuchte dabei, jedes Geräusch zu vermeiden. Hinter einem umgestürzten Baumriesen blieb er stehen. Vor ihm, nur ungefähr zehn Schritt entfernt, lehnte ein Mann an einem Baum. Er trug die rote Pluderhose eines Landsknechts, darüber einen grauen Rock, an dem ein Säbel und ein Pulverhorn hingen. In seiner rechten Hand hielt er wie einen Wanderstab eine Muskete. Er blickte nach vorne auf die Straße, dorthin, wo Benedikta wartete. Plötzlich richtete der Mann sich auf, führte seine Hand zum Mund und ließ das täuschend echte Krächzen eines Eichelhähers ertönen. Ein weiteres Krächzen antwortete ihm, dann noch eines; der Mann nickte befriedigt, zog einen Dolch aus dem Gürtel und begann sich in aller Seelenruhe die Fingernägel zu putzen. Dabei ließ er die Straße nicht aus den Augen. Simons Faust umklammerte den Knüppel, so dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er hatte Mühe zu schlucken. Ein Hinterhalt! Den Signalrufen nach zu urteilen, waren es mindestens drei Männer. Der Medicus ließ den Blick über die Büsche und Eiben schweifen, konnte aber keinen weiteren entdecken. Vermutlich hatten sie sich auf der anderen Seite der Straße versteckt. Simon richtete sich vorsichtig auf und sortierte seine Gedanken. Er musste Benedikta warnen und dann mit ihr so schnell wie möglich davonreiten! Sie konnten nur hoffen, dass die Wegelagerer keine Pferde hatten. 346
So leise wie möglich schlich Simon zurück durch das Eibendickicht. Das Knacken jedes noch so kleinen Zweigs kam ihm vor wie Donnerhall. Endlich hatte er den Wegrand erreicht. Als der Medicus mit Zweigen im Haar und vom Schnee nasser Hose aus dem Graben auftauchte, blickte Benedikta amüsiert auf ihn hinunter. »Habt Ihr Euch ein Dachsloch als Abort ausgesucht? Wegen mir hättet Ihr auch im Graben bleiben können.« Dann bemerkte sie den besorgten Ausdruck in seinem Gesicht und wurde sofort wieder ernst. »Was ist geschehen?« Mit seinen Lippen formte Simon fast lautlose Worte. »Räuber«, zischte er. »Zu beiden Seiten der Straße. Wir müssen weg.« Wieder war der Ruf eines Eichelhähers zu hören, ein zweiter folgte. Benedikta zögerte kurz. »Habt keine Angst«, flüsterte sie schließlich. »Solange wir auf den Pferden sitzen und uns in Bewegung halten, können sie uns nichts anhaben.« Sie grinste und deutete auf ihre Rocktasche. »Vergesst nicht, ich bin nicht ganz unbewaffnet. Allez!« Mit einem Satz galoppierte sie davon, und zu Simons großer Erleichterung folgte Walli dem anderen Pferd ohne großes Zögern. Der Medicus glaubte noch, hinter den Bäumen eine Bewegung auszumachen. Er wartete auf das Krachen eines Schusses, das Pfeifen der Kugel, auf den Schmerz, wenn das Blei seine Schulter durchschlug, doch nichts passierte. Offenbar hatten sie die Räuber abgehängt. Wie war das möglich? Sollte er sich getäuscht haben? Er hatte mindestens damit gerechnet, dass sie ihnen mit 347
Musketen oder Armbrüsten hinterherschießen würden. Doch für ausführliche Überlegungen blieb keine Zeit. Die Pferde rasten dahin, und das Lachen von Benedikta, die weit vor ihm bereits in ein neues Waldstück eintauchte, vertrieb auch seine trüben Gedanken. Vermutlich hatten die Wegelagerer einfach entschieden, auf einen größeren Fang zu warten. Schon nach kurzer Zeit verließen sie den Eibenwald. Vor ihnen tat sich eine weite Rodung auf, zur Linken und Rechten der steil ansteigenden Straße war eine Reihe von Häusern zu sehen. Simon atmete erleichtert auf. Sie hatten das Dorf Gaispoint erreicht. Über ihnen auf einem Hügel ragte das Kloster Wessobrunn auf. Als der Medicus sich umblickte, fiel ihm sofort der gute Zustand der Häuser auf; viele von ihnen waren aus Stein erbaut und hatten den Krieg offenbar ohne große Schäden überstanden. In Gaispoint hatten sich viele Stukkateure niedergelassen, die von der regen Bautätigkeit der umliegenden Kirchen und Klöster profitierten. Der Medicus hatte gehört, dass die Arbeit der Gaispointer Kunstgipser in Venedig, im fernen Florenz und sogar in Rom geschätzt wurden. Doch zurzeit waren die Stukkateure vor allem damit beschäftigt, das benachbarte Benediktinerkloster wieder in altem Glanz erstrahlen zu lassen. Auch wenn die Schweden das Dorf fast unberührt gelassen hatten, im Kloster selbst hatten sie geplündert und gebrandschatzt. Als Simon und Benedikta über eine schmale Brücke auf den Pfarrhof zuritten, wirkte die Anlage im Licht der untergehenden Sonne düster. Teile der Umfassungsmauer waren eingefallen, viele Nebengebäude hatten die marodierenden Soldaten offenbar niedergebrannt, Putz bröckel348
te von den Wänden der Kirche. Vom Dach des Brunnenhauses war nur noch das Balkengerüst übrig; krächzend erhoben sich Krähen von der dicken Eisschicht, die auf den Wasserbecken lag. Nur der bullige Glockenturm, der ein wenig abseits hinter der Pfarrkirche stand, schien die unruhigen Zeiten gut überstanden zu haben. Als Benedikta an die schwere Tür des Haupthauses geklopft hatte, dauerte es eine Weile, bis ihnen jemand öffnete. Ein kahlköpfiger Mönch blickte ihnen durch den schmalen Türschlitz misstrauisch entgegen. »Ja?« Benedikta setzte ihr süßestes Lächeln auf. »Wir sind einen weiten Weg geritten, um dieses berühmte Kloster zu sehen. Es wäre eine große Ehre für uns, wenn der Abt …« »Abt Bernhard ist jetzt nicht zu sprechen. Begebt Euch in die Taverne neben dem Kloster. Vielleicht ist morgen …« Simon schob seinen Fuß in den Türschlitz und drückte die Pforte ein Stück weit auf, der Mönch wich erschrocken zurück. »Meine Gefährtin ist den ganzen Weg von Paris hierhergereist, um das berühmte Wessobrunner Gebet in Augenschein zu nehmen«, sagte der Medicus in Befehlston. »Madame Lefèvre ist es nicht gewohnt zu warten. Vor allem dann nicht, wenn sie darüber nachdenkt, dem Kloster eine nicht unerhebliche Summe zu spenden.« Benedikta sah ihn einen kurzen Moment verdutzt an, dann ließ sie sich auf das Spiel ein. » C’est vrai«, hauchte sie. »Je suis très fatiguée ... « Der Mönch sah einen Moment verwirrt aus, schließlich winkte er die beiden in den Vorraum. 349
»Wartet einen Augenblick«, sagte er und verschwand durch ein Portal. »Eine nicht unerhebliche Summe?«, flüsterte Benedikta. »Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Ich verfüge über keine nicht unerhebliche Summe!« Simon grinste. »So weit muss es ja gar nicht kommen, Madame Lefèvre. Alles, was wir wollen, ist doch, dieses Gebet zu sehen. Ich glaube, dass wir bereits morgen sehr überstürzt wieder abreisen müssen. Compris?« Benediktas Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Simon Fronwieser«, flüsterte sie. »Mir scheint, ich habe Euch bislang unterschätzt.« Da öffnete sich eine Seitentür, und ein hagerer, großgewachsener Mönch in schwarzem Gewand und mit stechendem Blick stand ihnen gegenüber. Mit dem Ärmel wischte er sich über den Mund, an dem noch Brotkrümel klebten. Offenbar hatten sie Hochwürden beim Abendessen gestört. »Ich bin Abt Bernhard Gering«, sagte er und blickte hinunter auf Simon, den er um fast zwei Köpfe überragte. »Was kann ich für Euch tun?« Der Abt zog die Augenbrauen hoch, als musterte er eine Schabe in der Klosterküche. Pater Bernhard war offenkundig hungrig und dementsprechend in schlechter Laune. Seine ausdrucksstarke Nase erinnerte Simon ein wenig an die des Henkers. »Ah, frère Bernhard«, seufzte Benedikta und reichte ihm die Hand. »Comme c’est agréable de faire la connaissance de l’abbé de Wessobrunn!« Pater Bernhard stutzte, dann verzog sich sein Mund zu einem schmalen Lächeln. » Ihr kommt aus Frankreich?«, 350
sagte er mit nun wesentlich weicherer Stimme, während er Benediktas Hand schüttelte. Benedikta lächelte zurück. »De Paris, pour être précis. Geschäfte in Augsburg haben mich in Ihre schöne, einsame Gegend verschlagen.« Sie zeigte auf Simon. »Mein charmanter Führer hat sich angeboten, mir den Weg zu Ihrem Kloster zu zeigen. In Paris habe ich von dem berühmten, comment diton ... Wessobrunner Gebet gehört, und nun brenne ich darauf, es zu sehen.« Plötzlich war der Abt Feuer und Flamme. »Aus Paris, sagt Ihr? Ich habe einen Teil meiner Jugend an der Sorbonne verbracht! Was für eine wunderbare Stadt! Parlezmoi de Paris! J’ai appris que le Cardinal Richelieu a fait construire une chapelle à la Sorbonne.« Simon schloss die Augen und schickte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Er hörte Benedikta in reinstem Pariser Französisch mit dem Abt parlieren und öffnete die Augen wieder. Pater Bernhard nickte und lächelte, nur gelegentlich stellte er eine interessierte Zwischenfrage. Er wirkte um Jahre verjüngt, als hätte ein Zauber von ihm Besitz ergriffen. Schon nach kurzer Zeit führte Bernhard Gering sie in seine Privatgemächer, wo ein ausgezeichneter französischer Rotwein und ein zartes Huhn auf sie wartete. Der Medicus grinste. Erstaunlich, wie einem eine fremde Sprache die Türen öffnen konnte. Dann ließ er sich den Coq au vin schmecken. Draußen vor den Toren des Klosters drückten sich zwei Mönche in eine Nische, um dem Wind weniger Widerstand zu bieten. Der erneut einsetzende Sturm zerrte an 351
ihren schwarzen Kutten. Auf den Rücken der Pferde, die neben ihnen standen, hatte sich eine dünne Schneeschicht gebildet. Sie waren keine Benediktiner wie die Mönche von Wessobrunn; und wenn sie ehrlich waren, verachteten sie ihre Brüder dort drinnen sogar, auch wenn sie dies niemals offen zugeben würden. Benediktiner beteten, fraßen und soffen. Sie steckten den Zehnten in Stuck und Blattgold und ehrten Gott, indem sie ihn in Prunk badeten. Ihnen fehlte der klare Blick auf das Wesentliche, die harte Hand, die manchmal nötig war, um die Rose Gottes von wucherndem Gestrüpp zu befreien. Die beiden Mönche gehörten einem Orden an, der sich als Elite der Christenheit fühlte. Seit Jahrhunderten kämpften diese Brüder an vorderster Front gegen die Ausbreitung des Ketzertums. Sollten die anderen Mönche ruhig ihre Klostergärten bestellen und ihre Kirchen schmücken, sie waren für höhere Aufgaben bestimmt! Ihr dritter Mann war zurück nach Augsburg geritten, und nun warteten sie hier in der Kälte, um gemäß dem Auftrag die beiden Schnüffler nicht aus den Augen zu lassen. Sie waren die Hunde Gottes, und sie folgten unbeirrt ihrer Spur, auch wenn sie dafür Sturm und Schnee trotzen mussten. Sie merkten nicht, dass sie selbst beobachtet wurden. »Hier oben?« Simon blickte die schmale Stiege hinauf, die in den Speicher des Glockenturms führte. Durch das Treppenhaus pfiff der Wind und rüttelte an dem Holzgerüst, so dass der Medicus sich mehr als einmal krampfhaft am Geländer festhalten musste. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte der Abt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er blieb kurz stehen, um 352
wieder zu Atem zu kommen. »Während des Großen Krieges haben wir alle Bücher des Klosters auf den Dachboden des Turms geschafft. Dieser Ort ist im weiten Umkreis der sicherste, der Turm ist uralt und so massiv wie eine Burg.« Ächzend stieg er weiter, Simon und Benedikta folgten ihm. Im Schein der mitgebrachten Laterne blickte der Medicus auf meterdicke, unverputzte Mauern, die nur gelegentlich von schmalen Schießscharten unterbrochen wurden. Während des Essens hatte die Händlerin dem Abt Bernhard noch einmal von ihrem Wunsch erzählt, dass Wessobrunner Gebet sehen zu dürfen. Ihr aus Deutschland stammender Vater habe ihr in Paris immer wieder von dem ältesten Gebet in deutscher Sprache erzählt, von seiner schlichten und doch anrührenden Sprache. Als sie nun wegen einiger Geschäfte nach Augsburg reisen musste, habe sie beschlossen, einen Abstecher nach Wessobrunn zu machen und dem Kloster eine Summe zur Erhaltung seiner Bibliothek zu stiften. Mit der Aussicht auf den bevorstehenden Geldsegen war es ein Leichtes gewesen, den Abt dazu zu bewegen, ihnen noch in der Nacht das Gebet zu zeigen. Nach einigen weiteren Treppenwindungen in dem engen Glockenturm hatten sie endlich den Speicher erreicht. Eine Luke führte nach oben unter das Dach. Als Simon den Kopf durch die Öffnung steckte und die Laterne kreisen ließ, sah er Berge von Büchern, die in Stapeln und Kisten den gesamten Dachboden ausfüllten. Sie lagen zwischen Balken, Truhen und mottenzerfressenen Stoffbündeln. 353
Mit einem leisen Aufschrei der Begeisterung stürmte der Medicus auf den erstbesten Haufen zu und begann zu blättern. Das Buch in seiner Hand war eine vergilbte Abschrift von Senecas De vita beata. Gleich daneben lag eine Ausgabe von Paracelsus’ Großer Wundarzeney, die mit detailgenauen Stichen und leuchtenden Anfangslettern versehen war. Simon wühlte sich durch den Stapel. Weiter unten fand er eine fenstergroße bebilderte Bibel und gleich darauf gebündelte Schriften von Aristoteles, die er das letzte Mal in der Ingolstädter Universität in den Händen gehalten hatte. Allerdings als billigen Druck und nicht wie hier handkopiert, mit schwungvollen, lateinischen Anmerkungen am Rand. Als der Medicus danach griff und die Schleife öffnete, wirbelte eine Wolke Staub auf. Er musste niesen, und das Licht der Laterne begann zu flackern. »Passt nur ja mit dem Feuer auf«, murmelte der Abt, der hinter ein paar hohen Kisten in einer Ecke des Raumes verschwunden war. »Eine falsche Bewegung, und die gesamte Kultur des Abendlands geht in Flammen auf!« Vorsichtig stellte Simon seine Laterne auf einem Bücherturm ab, ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und tauchte ein in die Welt der Buchstaben. Er spürte weder die Kälte noch den Wind, der zwischen den losen Ziegeln hindurchpfiff. Es war Benedikta, die ihn an der Schulter rüttelte und aus seinen Träumen aufschreckte. »Vergesst die Bücher, wir haben keine Zeit!«, zischte sie. »Wenn wir den Schatz in Händen halten, könnt Ihr meinethalben diese ganzen Bücher kaufen und Euch damit 354
für den Rest Eures Lebens einschließen. Aber jetzt kommt!« Der Abt hatte in der Zwischenzeit aus dem hinteren Teil des Dachbodens eine kleine Truhe hervorgeholt, die mit einem schweren Vorhängeschloss versehen war. Mit einem Schlüssel, den er unter seiner Kutte hervorkramte, öffnete Bernhard Gering die mit silbernen Beschlägen verzierte Kiste. Sie war mit rotem Samt ausgeschlagen, auf der Deckelinnenseite prangte ein schlichtes Kreuz. Am Boden der Truhe lag ein einzelnes, in helles Kalbsleder gebundenes Buch. Mit spitzen Fingern öffnete der Abt die beiden goldenen Schnallen am Rand, dann blätterte er die brüchigen Seiten aus Pergament um, bis er in der Mitte auf eine bestimmte Stelle stieß. Simon beugte sich über die Seite. Einige der Buchstaben waren rot geschrieben, so dass sie nun im Licht der Laterne wie getrocknetes Blut leuchteten. Die anderen Lettern waren in feinen, dunkelbraunen Schnörkeln gemalt und kaum vergilbt; trotz ihres Alters konnte Simon sie gut lesen. »Das Wessobrunner Gebet«, flüsterte er. Abt Bernhard nickte. »Es ist viele hundert Jahre alt«, sagte er und strich über die Seite. »Ein Schatz, den wir Benediktiner hüten wie keinen zweiten. Niedergeschriebene Worte, gesprochen zu einer Zeit, als das Deutsche Reich noch ein Urwald war, bevölkert von Heiden und wilden Tieren. Ihr Klang ist wie der einer Zauberformel ... « Er seufzte und zitierte mit geschlossenen Augen den Anfang des Gebets. 355
»Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes. Dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum, noch Berg nicht war, nicht noch irgendetwas, noch die Sonne nicht schien, noch der Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer...« Hastig überflog Simon die Zeilen, konnte aber nichts Auffälliges erkennen, das ihnen weitergeholfen hätte. Schließlich räusperte er sich und unterbrach den Monolog des Abtes. »Ein, äh, wunderschönes Gebet, Euer Exzellenz. Wo wurde es vorher aufbewahrt?« Abt Bernhard hielt inne und blickte ihn verwundert an. »Vorher?« »Ja, nun, bevor es im Großen Krieg in diesem Turm gebracht wurde.« Bernhard Gering lächelte. »Ach, das meint Ihr. Nun, in einer kleinen Kapelle im Pfarrhof. Wir haben die Schrift gerade noch in Sicherheit bringen können. Nur wenige Tage später kamen die Schweden. Sie raubten und brandschatzten, auch die Kapelle brannte vollständig ab.« Simon musste schlucken. Auch Benedikta neben ihm sah plötzlich noch blasser aus als sonst. »Vollständig?«, fragte sie. »Ja, vollständig. Die niedergebrannten Mauern haben wir abgetragen. Jetzt ist an dieser Stelle im Sommer ein kleines Kräutergärtlein. Aber was habt Ihr?« Abt Bernhard sah besorgt auf Simon und Benedikta. »Es war doch nur eine kleine Kapelle. Ohne Reliquien und Kirchenschätze, und das Gebet haben wir, wie gesagt, retten können. Kanntet Ihr das Kirchlein vielleicht von früher?« 356
Benedikta sprang Simon zur Seite. »Mein Führer hat … dort wohl als Kind öfter gebetet.« Sie wandte sich dem Abt zu. »Wurde außer dem Wessobrunner Gebet denn noch etwas aus der Kirche gerettet? Ein Bild? Eine Statue? Eine Grabplatte vielleicht?« Der Abt schüttelte den Kopf. »Leider nein. Alles wurde zerstört. Und Grabplatten befanden sich in der Kapelle keine. Wollt Ihr nun ein wenig beten?« Simon nickte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatten so darauf gehofft, durch das Gebet einen Hinweis auf den Schatz zu erhalten. Aber alles, was sie vorfanden, war ein uralter, auf Pergament geschriebener Spruch, der ihnen nicht weiterhalf. War das das Ende der Suche? War das Geheimnis des Templerschatzes mit der Zerstörung der Wessobrunner Kapelle für immer begraben worden? Noch einmal strich Simon über die Zeilen und murmelte lautlos den Vers vor sich hin. Dass Erde nicht war, noch oben der Himmel, nicht Baum … Simon verstummte. Sie hatten etwas übersehen. Baum … Das Wort war im Gegensatz zu den Zeilen in der Krypta der Schlossruine nicht großgeschrieben. Sollte also vielleicht hier und nicht in Peiting ein bestimmter Baum stehen …? Es war Benedikta, die das Schweigen unterbrach. Auch sie schien den Unterschied bemerkt zu haben. »Gibt es in der Gegend eigentlich einen Baum, der etwas Besonderes darstellt?«, fragte sie und setzte dabei ein 357
Gesicht auf, als wäre diese Frage in keiner Weise ungewöhnlich. »Etwas Besonderes?« Die Miene des Abtes wurde immer verwirrter. »Wie meint Ihr ... ? « »Ah oui, excusez-moi «, unterbrach ihn Benedikta. »Dies ist ein Gebet über die wunderbaren Kräfte der Natur. Den Himmel, Berge, Bäume ... Ich bin ein gläubiger Mensch und suche einen kraftvollen Ort für mein Gebet. Vielleicht ein Baum?« Das Gesicht Bernhards hellte sich auf. »Ach so, natürlich. Die alte Tassilolinde südöstlich des Klosters! Ein uralter Baum und von Gott gesegnet! Herzog Tassilo soll dort dereinst von den drei Quellen geträumt haben, die diesen Ort später berühmt gemacht haben. Ein vorzüglicher Ort zum Beten!« »Wie alt ist diese Linde?«, fragte Simon. »Bestimmt viele hundert Jahre alt. Vier ineinander verwachsene Stämme. Es gibt Leute, die halten sie für ein Symbol der vier Elemente. Die Tassilolinde ist der berühmteste Baum hier in der Gegend.« »Euer Exzellenz«, unterbrach ihn Benedikta. »Könntet Ihr uns einen Gefallen tun?« »Aber natürlich.« »Würdet Ihr uns morgen früh diesen Baum zeigen? Ich glaube, dies wäre genau der richtige Ort, um mich im Morgengrauen ganz dem lieben Herrgott hinzugeben.« Sie lächelte den Abt an. »Sicherlich fällt mir dort auch ein, welche Summe ich dem Kloster letztendlich spenden möchte.« »Unter diesen Umständen«, sagte der Abt, »werde ich dafür sorgen, dass Ihr dort morgen von niemandem gestört 358
werdet. Schließt doch bitte auch das Kloster in Eure Fürbitten mit ein.« Simon nickte. »Das werden wir tun. Euer Exzellenz?« »Ja, mein Sohn?« »Dürfte ich einige der Bücher hier bis morgen früh ausleihen?« Der Abt lächelte. »Aber sicher doch. Es freut mich, wenn sie wieder einmal gelesen werden.« Simon raffte einen Stapel Bücher zusammen und schwankte damit die Treppe hinunter. Es würde eine lange Nacht werden. Magdalena lag im Bauch eines Schiffes und wurde sanft hin und her geschaukelt. Wellen schlugen gegen den Rumpf, das Plätschern und das stetige Auf- und Abwiegen schläferten sie ein; sie hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Plötzlich aber zog draußen ein Sturm auf, das Schaukeln nahm zu, bis sie in ihrem kleinen Schiff herumrollte wie ein unvertäutes Fass. Sie musste nach oben an Deck und sehen, was dort los war. Also stand sie auf. Ihr Kopf schlug an eine Holzwand, mit einem Schmerzensschrei sank sie wieder zurück. Der Schmerz half ihr aufzuwachen, der Traum glitt wie eine Wolke davon, und sie merkte, dass sie sich nicht auf einem Schiff, sondern im Inneren einer schmalen Holzkiste befand. Das Schaukeln rührte daher, dass die Kiste offenbar auf einem Wagen lag. Magdalena hörte das Schnauben von Rössern und ein monotones Zischen. Erst mit der Zeit erkannte sie, dass es das Schaben von Kufen über Schnee war. Es war also kein Karren, sondern ein Schlitten, der sie in der Kiste irgendwohin zog. Jetzt spür359
te sie auch die Kälte, die durch die Holzlatten hereinwehte. Zwischen den Ritzen drang ein Streifen Licht hindurch, zu wenig, um draußen mehr als einige vorbeihuschende Schemen zu erkennen. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie ein ganzes Weinfass alleine ausgetrunken. Mit den Händen und Füßen maß Magdalena den engen Raum um sich herum ab. Schnell merkte sie, dass die Kiste genau die Größe eines Sarges hatte. War sie etwa gestorben und nun wieder aufgewacht? Brachte sie jemand zum Friedhof, um sie lebendig zu begraben? Oder war das der Tod? »Hilfe! Ist da jemand?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Keuchen. »Ich bin nicht tot! Holt mich hier raus!« Der langgezogene Ruf eines Kutschers war zu hören, dann hielt der Schlitten an. Das Schaukeln hörte endlich auf, und Schritte, die im Schnee knirschten, näherten sich der Kiste. Magdalenas Herz schlug wie wild. Man hatte sie gehört, sie war gerettet! Gleich würde der Totengräber seinen Irrtum einsehen und den Sarg aufbrechen. Sie würde ihm ins Gesicht lachen und erklären, wie … »Halt dein gottverfluchtes Maul, Henkerstochter, sonst schaufel ich dich zu! Sechs Fuß unter der Erde, so wie man’s früher mit dem liederlichen Weibsvolk gemacht hat.« Magdalena verstummte. Sie erkannte die Stimme sofort. Es war der Mann, der ihr den Dolch in den Arm gestochen hatte. Der Mann, den die anderen Bruder Jakobus genannt hatten. Mit dem Namen kehrte die Erinnerung zurück. Der Dom, das Kreuz um den Hals des Bischofs, das unterirdische Gewölbe, die Versammlung ... An der Spitze des 360
Dolchs musste ein Gift gewesen sein, das sie gelähmt und schließlich ohnmächtig gemacht hatte; das gleiche Gift, dem auch schon ihr Vater zum Opfer gefallen war. Dieser Bruder Jakobus schaffte sie nun offenbar fort. Nur wohin? »Hör zu, wir werden bald einen Posten passieren.« Die Stimme des Mannes klang jetzt etwas versöhnlicher. »Keinen Mucks, verstehst du? Keinen Laut! Ich will dich nicht töten, wir brauchen dich noch. Aber wenn es sein muss, dann stirbst du. Hat dir dein Vater mal erzählt, wie lange das Ersticken dauert, wenn man lebendig begraben wird?« Bruder Jakobus wartete die Antwort nicht ab, sondern kletterte, den Geräuschen nach zu urteilen, wieder vorne auf den Kutschbock. Ein Peitschenknallen, dann ging die Fahrt weiter. Magdalena versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Mönch kannte sie und ihren Vater! Vermutlich war er der Mann mit dem Veilchenparfum, der sie die ganze Zeit über in Schongau und Altenstadt beobachtet hatte. Durch einen Zufall war sie ihm in Augsburg wieder über den Weg gelaufen. Er war offensichtlich hinter diesem Schatz aus der Lorenzkirche her, und so wie es aussah, waren noch weitaus mehr Menschen an diesem Plan beteiligt. Magdalena durchfuhr ein Schauder. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie den Bischof unter den Maskierten erkannt hatte. Es sah ganz danach aus, als ob er der Anführer dieses wahnwitzigen Komplotts war. Der Bischof hatte von einer Bruderschaft geredet. Welchen Orden konnte er gemeint haben? Und welchem Schatz waren diese Männer auf der Spur? Was für ein Schatz war so mächtig, dass er 361
gläubige und einflussreiche Christen zu unbarmherzigen Mördern werden ließ? Magdalenas Überlegungen wurden unterbrochen, als der Schlitten plötzlich wieder anhielt. Stimmen waren zu hören, offenbar ein Wachposten. »Wohin mit dem Sarg, Pfaffe? Wir brauchen keine Pesttoten in der Stadt!« »Keine Sorge, mein Sohn. Ein Mitbruder ist im hohen Alter zu Gott gegangen. Ich bringe ihn in seine Heimatstadt.« Kurz war Magdalena versucht zu schreien. Aber dann erinnerte sie sich, was der Mönch gesagt hatte. Hat dir dein Vater mal erzählt, wie lange das Ersticken dauert, wenn man lebendig begraben wird? Sie hielt still. Schließlich ließ sie der Posten passieren, und der Schlitten glitt weiter. Von draußen waren Schritte, Gelächter und vereinzelte Stimmen zu hören. Irgendjemand pries in schwäbischen Worten heiße Kastanien an. Wo war sie? Wo brachte der Mann sie hin? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie unter der Wirkung des Gifts geschlafen hatte. Einen Tag? Zwei? Ein weiteres Mal hielt der Schlitten an. Gedämpft war die Stimme von Bruder Jakobus zu hören. Er schien sich mit jemandem zu unterhalten, doch das Gespräch war zu leise, um etwas zu verstehen. Plötzlich begann die Kiste zu schaukeln, Magdalena wurde hochgehoben und offenbar eine Treppe nach unten getragen. Gefangen in ihrem Sarg, rutschte sie von einer Seite auf die andere. »Vorsichtig, vorsichtig!«, mahnte Bruder Jakobus. »Habt doch Ehrfurcht vor den Toten!« 362
»Dort, wo dein Bruder ist, stört ihn das sicher nicht mehr«, erklang eine tiefe, dumpfe Stimme. Dann fiel der Sarg mit Krachen zu Boden, Magdalena unterdrückte einen Schmerzensschrei. Münzen wechselten klimpernd den Besitzer, schließlich tappten schwere Schritte nach oben. Es folgte Stille. Magdalena wartete einen Moment, dann tastete sie nach den Latten über sich. Bruder Jakobus wollte offenbar rasten, vermutlich hatte er sich in irgendeiner Herberge einquartiert. Vielleicht gelang es ihr ja in der Zwischenzeit, die Bretter ein wenig zu lockern? Von ihrem Vater wusste sie, dass Särge oft nur sehr notdürftig zusammengenagelt wurden. Schließlich rechnete keiner damit, dass die Toten aus ihrer letzten Ruhestätte wieder herauswollten. Gerade hatte sie mit beiden Händen gegen den Sargdeckel gedrückt, um die Festigkeit der Bretter zu prüfen, als ein reißendes Geräusch sie innehalten ließ. Jemand machte sich am Sarg zu schaffen! Kurze Zeit später fiel blendendes Licht durch einen Spalt im Deckel, ein Kopf mit Mönchstonsur tauchte direkt über ihr auf. Bruder Jakobus hatte die mittlere der Latten entfernt und leuchtete nun mit einer Fackel ins Innere. Sein Gesicht war nur eine Handbreit von ihrem entfernt; trotzdem konnte sie nicht danach greifen, da ihre Arme noch unter dem Deckel gefangen waren. Der Geruch von Veilchen stieg ihr in die Nase. »Nun, Henkerstochter? «, fragte Bruder Jakobus und strich ihr fast mitleidig über die Wange. »Wie gefällt dir dein Bett? Lässt es dich denken an den Jüngsten Tag? Überkommt dich das Greinen und Zittern? Die Strafe des Herrn ereilt jeden früher oder später.« 363
Statt einer Antwort spuckte Magdalena ihm mitten ins Gesicht. Der Mönch wischte sich den Speichel von der Wange, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Doch dann lächelte er. »Liederliches Weib. Ihr Frauen habt die Sünde unter uns Menschen gebracht, ewig sollt ihr dafür büßen!« Er schloss kurz die Augen. »Aber auch ihr seid Teil des göttlichen Plans. Bis es allerdings so weit ist ... « Kurz verschwand er aus Magdalenas Blickfeld, um Sekunden später mit einem getränkten Schwamm in der Hand wieder aufzutauchen. »Bis es soweit ist, muss ich dir dein freches Schandmaul stopfen. Unsere Reise ist noch nicht zu Ende. Dein Schreien könnte die Sache am Ende verraten.« Bei den letzten Worten drückte er Magdalena den Schwamm direkt aufs Gesicht. »Und ich will mich ihrer Kinder nicht erbarmen, denn sie sind Hurenkinder ... «, flüsterte der Mönch. Die Henkerstochter wand sich hin und her und versuchte vergeblich, um Hilfe zu rufen. Doch gefangen unter den Holzlatten, gelang es ihr nicht, den Kopf wegzuziehen. Wimmernd hielt sie den Atem an, während ihr Bruder Jakobus den Schwamm fester und fester ins Gesicht presste. Mit zum Himmel erhobenem Haupt murmelte er weiter vor sich hin. »Ihre Mutter ist eine Hure, und die sie getragen hat, treibt es schändlich. Darum siehe, ich will ihr den Weg mit Dornen versperren und eine Mauer ziehen, dass sie ihren Pfad nicht finden soll …« Schließlich wurde Magdalenas Drang zu atmen übermächtig. Sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei 364
und schmeckte den bitteren Saft, der ihr nun in die Kehle lief. Mohn und den Duft von Kräutern roch sie, Pflanzen, die auch ihr Vater verwendete, wenn er armen Sündern den letzten Gang erleichtern wollte. Einbeere, Hahnenfuß, Eisenhut ... Nur noch von fern drang die Stimme des Mönchs zu ihr, die mittlerweile in einen monotonen Singsang übergegangen war. »Mein ist die Rache, spricht der Herr ... « Dann kam die Schwärze, sie sank zurück in die Kiste, die sich jetzt anfühlte wie ein Bett aus weichem Linnen. Das Letzte, was Magdalena wahrnahm, war das Geräusch eines Hammers, der auf Holz schlug. Der Tod klopft an die Pforte... Sie holen mich zum Jüngsten Gericht … Mit kräftigen Schlägen hämmerte Bruder Jakobus neue Nägel in den Sarg. Simon erwachte durch die hellen Glockenschläge, welche die Laudes, das Morgengebet der Benediktiner, einläuteten. Er hatte bis spät in die Nacht in den Büchern aus der Wessobrunner Klosterbibliothek gelesen, trotzdem war er nun hellwach. Schnell wusch er sich Gesicht und Hände mit dem eiskalten Wasser aus der Waschschüssel neben dem Bett und steckte sich ein Stück trockenes Brot in den Mund. Dann eilte er nach draußen. Benedikta erwartete ihn schon im Klosterhof, sie hatte sich von Abt Bernhard den Weg zur Tassilolinde beschreiben lassen. Gemeinsam durchschritten sie den Torbogen neben der Pfarrkirche, zu ihrer Linken lagen die drei vereisten Quellen und das Brunnenhäuschen. Außen an der Mauer des Klosters entlang führte ein Pfad hinunter ins Tal. Schon nach kurzer Zeit löste sich der Pfad von der Klostermauer, und sie be365
traten einen verschneiten Laubwald; der Weg wurde rutschig und eisig. Ein paarmal wäre Simon beinahe ausgeglitten, fluchend hielt er sich an Zweigen der eng beieinanderstehenden Bäume fest. Eine kleine Treppe mit ausgetretenen Stufen führte weiter in die Tiefe. Schließlich erreichten sie eine schattige Lichtung, in deren Mitte ein so gewaltiger Baum stand, wie sie ihn vorher noch nie gesehen hatten. Ehrfürchtig blieben sie davor stehen. »Die Tassilolinde«, flüsterte Simon. »Das Wort ›Baum‹ im Wessobrunner Gebet! Es muss dieser Baum sein! Jedenfalls ist er ohne Zweifel der älteste und markanteste hier in der Gegend, wenn nicht im ganzen Pfaffenwinkel.« Die Linde bestand aus vier Stämmen, die einem Zentrum entsprangen und nach oben auseinanderliefen. Bis in die höchsten Wipfel maß sie sicher über zwanzig Schritt. Jetzt im Winter, so ganz ohne Blätter, sah der Baum aus wie die dürre Hand einer riesigen Hexe, die ihre Finger krallenartig nach oben zum Himmel hin ausstreckte. Simon sah sich um. Genauso wie gestern im Eibenwald hatte er plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Er ließ seinen Blick über das Dickicht des Waldes ringsumher schweifen, konnte aber zwischen den Bäumen nichts erkennen. In der Ferne ragte das Kloster auf, irgendwo plätscherte das Rinnsal eines vereisten Baches. Eine einsame Krähe krächzte wütend; als Simon den Kopf hob, konnte er sie oben in den Ästen der Linde erkennen. Sie erhob sich und flatterte davon. Mit einem Mal legte sich eine gespenstische Stille über die Lichtung. »Es muss hier irgendwo einen Hinweis geben!« Benedikta brach das Schweigen und schritt auf die Linde zu. Dabei legte sie den Kopf in den Nacken. »Vielleicht wei366
ter oben. Ich schlage vor, ich suche hier unten, und Ihr klettert hinauf in die Kronen.« »In die Kronen?« Simon folgte ihrem Blick nach oben. »Das sind gut und gern vierzig Fuß! Ich werde mir den Hals brechen.« »Ach was!« Benedikta schüttelte den Kopf. »Ihr müsst ja nicht ganz nach oben. Schließlich ist es schon einige hundert Jahre her ,dass dieser Templer hier etwas versteckt hat. Damals war der Baum noch nicht so hoch. Also, allez hop!« Gebückt begann sie, die Wurzel- und Astlöcher am Grund der Linde abzusuchen. Simon stand noch einen Moment unschlüssig herum, schließlich machte er sich seufzend daran, einen Einstieg in den Baum zu finden. Die Rinde war vereist und glitschig, immer wieder glitt er ab. Doch endlich hatte er Halt zwischen den Stämmen gefunden. Er zog sich hoch und hangelte sich dann vorsichtig von einem Ast zum nächsten, wobei er immer wieder Rast machte, wenn er auf ein Astloch traf. Während er sich mit einer Hand festhielt, tastete er mit der anderen das Innere des Lochs ab. Er stieß auf nasses, glitschiges Laub, auf Eicheln und Bucheckern, die Eichhörnchen als Wintervorrat dort abgelegt hatten, und auf eine Handvoll schleimiger Pilze. Sonst fand er nichts. Die Krähe war wieder aufgetaucht. Sie hatte sich auf einem nahen Ast niedergelassen und beobachtete von dort aus neugierig den Zweibeiner, der offenbar in den Astlöchern nach Futter suchte. Simon kam sich vor wie ein kleiner Bub, dem Spielkameraden einen Schatz verspro367
chen hatten und der jetzt merkte, dass er hereingelegt worden war. »Das führt doch zu nichts!«, rief er nach unten. »Selbst wenn der Templer hier etwas versteckt haben sollte, dann haben das längst Raben oder Elstern mitgenommen!« Er blickte nach unten, wo Benedikta weiter den Boden absuchte. »Schaut auch bei den anderen Stämmen!«, rief sie hoch zu ihm. »Wir dürfen nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben!« Simon seufzte. Warum ließ er sich nur immer von den Weibern herumkommandieren? Schließlich hangelte er nach einem armdicken Ast, der hinüber zum zweiten Stamm führte. Er griff danach und schob sich langsam vorwärts. Benedikta kam ihm plötzlich sehr weit weg vor ,ein kleiner bunter Punkt unter ihm, fast verschluckt vom Weiß des Schnees. Simons Hände krallten sich fester um den vereisten Ast. Wenn er jetzt fiel, würde sein Kopf unten aufschlagen und zerplatzen wie ein nasser Schneeball. Endlich hatte er den zweiten Stamm erreicht. Von hier aus ging es höher in die Krone. Die Äste machten einen starken Eindruck, er kletterte weiter nach oben, so weit, bis er schließlich das gesamte Tal überblicken konnte. In der Ferne leuchtete der Ammersee, dahinter konnte er auf einem Hügel ganz winzig das Kloster Andechs erkennen. Auf der anderen Seite ragte der Hohe Peißenberg aus der flachen Landschaft hervor, ein Vorbote der Alpen, die weit entfernt zwischen den Wolken nur gelegentlich kurz aufschimmerten. Simons sah wieder hinüber zum Kloster und schließlich über den Klosterwald. Entlaubte 368
Buchen, schneebedeckte Tannen, ein Mann in den Zweigen … Ein Mann? Simon blinzelte, doch er hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Ast einer Tanne, nur zwanzig Schritt entfernt, saß ein Mann und beobachtete ihn. Auf den Oberschenkeln des Fremden lag eine gespannte Armbrust. Er trug einen Schlapphut und einen ledernen Waffenrock, an dem ein schwerer Dolch oder Hirschfänger baumelte. Als er Simons Blick bemerkte, tauchte er ein ins Gestrüpp und war verschwunden. Simon war so perplex, dass es ihm zunächst die Stimme verschlug. Kurz glaubte er, ein Gespenst gesehen zu haben. Als er sich wieder beruhigt hatte, beugte er sich so weit wie möglich nach unten. »Benedikta, dort vorne! Ein Mann in den Zweigen! Wir werden be...« Der Ast unter Simon brach wie ein morscher Knochen. Er spürte, wie Zweige an seinem Gesicht vorbeistrichen, sein Herz machte einen Sprung. Erst mit einiger Verzögerung realisierte er, dass er tatsächlich fiel. Er griff wild um sich, in der Hoffnung, irgendeinen Ast zu erwischen. Die Welt um ihn herum war ein wirbelndes Chaos aus Himmel, Erde und peitschenden Zweigen. Plötzlich ertönte ein reißendes Geräusch, und Simons Sturz wurde abrupt aufgehalten. Gut zehn Fuß über dem Erdboden hing er fest, baumelnd wie eine Marionette. Als Simon nach oben blickte, sah er, dass ein spitzer Ast seinen Rock von der Taille bis fast zum Kragen aufgeschlitzt hatte. Unter ihm stand Benedikta und starrte ihn mit offenem Mund an. »Mein Gott, Simon! Was macht Ihr da?« 369
»Was wohl? Ich stürze mich zu Tode! Außerdem habe ich da drüben in den Bäumen einen Mann mit einer Armbrust gesehen, der uns beobachtet und ...« »Simon, beruhigt Euch erst einmal! Versucht, neben Euch einen Halt zu finden.« Benedikta deutete auf einen armdicken Ast, der im rechten Winkel von der Linde wegragte und einen stabilen Eindruck machte. Simon versuchte ihn zu erreichen, doch er kam um eine Handlänge nicht heran. Vorsichtig begann er zu schaukeln, der Ast kam näher und näher. Über ihm riss sein Rock ein Stück weiter ein. Endlich bekam er in letzter Sekunde den Ast zu fassen, bevor sich mit einem lauten Knall der Rock endgültig in zwei Hälften teilte. Simon spürte ein Rucken, er fiel eine Handbreit, dann klammerte er sich mit beiden Armen am Ast fest. Mit den Beinen in der Luft hing er da und wusste nicht mehr weiter. In diesem Moment erblickte er genau vor sich auf Augenhöhe die goldene Tafel. Sie war nur etwa handtellergroß, an den Rändern hatte sich bereits die Rinde wie eine wulstige Lippe darübergeschoben. Es sah aus, als hätte sich der Baum die Goldplatte in den letzten Jahrhunderten Stück für Stück einverleibt. Doch die Mitte der Tafel war noch gut zu erkennen, dort prangte ein ins Gold geprägter Spruch. Wind, Schnee, Regen und Hagel hatten ihm nichts anhaben können. Immer noch am Ast hängend, murmelte Simon die eingravierten lateinischen Zeilen, während sich die Krähe wieder flatternd neben ihm niederließ und neugierig über seine Schulter äugte. 370
IN GREMIO MARIAE ERIS PRIMUS ET FELICIANUS. FRIDERICUS WILDERGRAUE ANNO DOMINI MCCCX XVIII. Trotz seiner prekären Lage musste Simon lauthals lachen. »Ha! Dieser verdammte Templer«, schrie er, so dass es im ganzen Wald zu hören war. »Der alte, schlaue Fuchs! Er hat die Botschaft tatsächlich hier versteckt! Ihr habt recht gehabt!« »Was redet Ihr?« Benedikta reckte sich, um mehr erkennen zu können. »Was ist dort oben? Sprecht!« Simon hörte zu lachen auf. Mittlerweile begannen seine Arme zu schmerzen, außerdem hatte er das Gefühl, dass wie unter der Folter große, schwere Steinbrocken an seinen Beinen zerrten. »Eine goldene Platte, hier oben...«, ächzte er. »Von Friedrich Wildgraf ein Jahr vor seinem Tod. Dazu ein Spruch …« »Was für ein Spruch?« »Verdammt! Lasst mich doch erst einmal von dort oben runterkommen!« Benedikta grinste ihn an. »Was haltet Ihr davon, wenn Ihr Euch einfach fallen lasst?« »Fallen lassen? Das sind mindestens zwölf Fuß!« »Ach was, höchstens zehn. Was ist? Soll ich Euch etwa auffangen?« Simon schloss die Augen und zählte langsam bis drei. Dann ließ er los. Mit einem heiseren Schrei stürzte er strampelnd in einen weichen Schneehügel am Fuße der Linde. Der Aufprall war angenehm weich. Kurz hielt Simon inne, um zu überprüfen, ob etwas gebrochen war. Doch sämtliche Glied371
maßen schienen heil geblieben zu sein. Was man von seinem Rock nicht behaupten konnte. »Verdammt, Benedikta! «, fluchte er, während er sich mit beiden Händen aus dem Schneehaufen befreite. »Wer hatte nur den vernagelten Einfall, auf so einen Baum hochzuklettern ohne ein einziges Seil? Ich hätte mir den Hals brechen können!« Benedikta zuckte mit den Schultern. »Zumindest hat es etwas gebracht. Und nun erzählt! Was steht dort oben auf der Tafel?« Gerade wollte Simon anfangen zu berichten, da fiel ihm plötzlich der Mann in der Tanne wieder ein. Mit einem verzweifelten Satz sprang der Medicus aus dem Schneehaufen. »Wir müssen weg! Schnell!« Humpelnd und mit flatterndem Rock eilte er den Pfad entlang. »Dieser Mann im Baum war bewaffnet! Und bestimmt lauern noch andere hier im Wald. Wir müssen zum Kloster! Folgt mir!« Benedikta seufzte, dann lief sie ihm nach. Vierzig Fuß über ihnen sah ihnen der Fremde mit der Armbrust hinterher. Er formte die Hände zu einer Muschel und ahmte das Krächzen eines Eichelhähers nach. Der Schreiber Johann Lechner saß in der Amtsstube und kaute an seinem Federkiel. Schon zum zweiten Mal war er die Rechnungen der Stadt durchgegangen, und auch diesmal war das Ergebnis verheerend. Die ständigen Überfälle in der letzten Zeit hatten den Handelsverkehr fast zum Erliegen gebracht. Alle Waren, die auf den großen Straßen von Augsburg über den Brenner oder über den Fernpass gingen, mussten in Schongau zwischengelagert werden. 372
Auf jeden einzelnen Ballen erhob die Stadt eine saftige Steuer. Doch das Ballenhaus und auch der Zimmerstadel unten am Lech waren praktisch leer, der Schneesturm in den letzten Tagen hatte ein Übriges getan. Schongau blutete aus, und der Schreiber wusste nicht, wo er das Geld für längst fällige Ausgaben hernehmen sollte. Johann Lechner seufzte. Der Rat hatte ihm heute Vormittag noch mal die Hölle heißgemacht. Die Patrizier achteten ihn, allerdings nur so lange, wie er ihre Schäfchen ins Trockene brachte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Lechner, warum er sich das eigentlich antat. Die täglichen Auseinandersetzungen mit diesen fetten, aufgeblasenen Popanzen, die nichts anderes im Kopf hatten als ein gutes Glas Wein und ihre nächste Fuhre Salz oder Wolle, all der kleine Schreibkram, der täglich anfiel; die anstrengenden Kutschfahrten nach München und Augsburg. Die Stadt war ein Uhrwerk, das er täglich aufzog. Wäre er einmal nicht mehr, würde Schongau zu einem kleinen Provinznest erstarren, da war sich Lechner sicher. Umso wichtiger war es, in den nächsten Tagen ein Exempel zu statuieren. Ein Exempel, das den Leuten zeigte, dass diese Stadt sich von keinem in die Suppe spucken ließ. Schon gar nicht von einer Schar zerlumpter, dreckiger Wegelagerer und Halsabschneider. Es klopfte an der Tür. Lechner zog einen dicken Strich unter die letzte Summe und schob seine Pelzkappe zurecht, dann bat er den Besucher mit lauter Stimme herein. Jakob Kuisl musste sich bücken, um nicht am niedrigen Holm der Tür anzustoßen. Sein mächtiger Körper füllte den gesamten Rahmen aus. »Ihr habt’s mich rufen lassen, Exzellenz?« 373
»Ah, Kuisl! «, sagte Johann Lechner und wies dem Henker einen Stuhl zu. »Wie merkwürdig, gerade hab ich an dich gedacht. Nun, wie war dein Ausflug mit Bürgermeister Semer?« »Ihr wisst ...?« »Natürlich weiß ich. Wir haben in der Ratsversammlung darüber gesprochen. Die anderen Herren sind nicht gerade erfreut, dass der Semer von dir eine Extrabehandlung bekommt. Nun macht er das große Geschäft, und der Rest schaut ins Ofenrohr. Oder seid ihr etwa überfallen worden?« Jakob Kuisl schüttelte den Kopf. »Nein, kein Strauchdieb weit und breit. Wir haben allerdings auch keinem gesagt, welche Straße wir nehmen.« Der Schreiber runzelte die Stirn. »Du glaubst also auch, dass im Rat jemand sitzt, der die anderen aushorcht und ihnen dann ein paar Schurken hinterherschickt?« Johann Lechner lächelte und spielte mit dem Gänsekiel. »Frei heraus, wen hast du im Verdacht? Den ehrgeizigen Schreevogl, einen der vier Bürgermeister oder etwa mich? Spannst du mich noch heute auf die Streckbank?« Jakob Kuisl ging auf den Spott nicht ein. »Die Ratsversammlung ist der Ort, wo die hohen Herren ihre Geschäfte besprechen«, sagte er stattdessen. »Wer lauschen möchte, tut’s am besten dort. Also sind alle Patrizier gleichermaßen verdächtig.« Der Schreiber drohte amüsiert mit dem Finger. »Die Ratsversammlung ein Mörderhaufen? Kuisl, Kuisl ... Behalt das lieber für dich. Es sind Scharfrichter schon für weit geringere Verdächtigungen am eigenen Galgen gelandet. Außerdem vergisst du den Augsburger Händler, 374
diesen Weyer. Der war ja wohl nicht auf der Versammlung. Trotzdem liegt er jetzt unter der Erde.« Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Es wird sich zeigen, wie das alles zusammenpasst. Der Semer jedenfalls hat mit keinem getratscht und ist nun wohlbehalten in Landsberg angekommen.« »Es heißt, du hättest den Bürgermeister um einen Gefallen gebeten«, wechselte Johann Lechner abrupt das Thema. »Er soll für dich eine Erkundigung einholen.« Der Schreiber blickte gespielt entrüstet zur Decke auf. »Der Bürgermeister als Bote des Henkers, o tempora, o mores! Wo soll das noch hinführen? Darf man erfahren, was so wichtig ist, dass du’s unbedingt wissen musst, Kuisl? « »Nein.« Der Schreiber hielt verdutzt inne. »Wie meinen?« Jakob Kuisl zuckte mit den Schultern. »Das ist meine Sach. Ich lass es Euch wissen, wenn ich Nachricht bekomm.« Johann Lechner schwieg einen Moment, dann nickte er. »Wie du meinst.« Er räumte die Pergamente vor sich zur Seite und zog aus einem Seitenregal eine große Kladde hervor. »Kommen wir nun zu dem, warum ich dich hergebeten habe.« Er schlug das Heft auf und begann darin zu blättern, während er weitersprach. »Wir haben heute dem Scheller und seiner Bande den Prozess gemacht, und ... « »Ihr habt’s was? « Jakob Kuisl saß plötzlich kerzengerade auf seinem Stuhl. »Unterbrich mich bitte nicht«, sagte Lechner und blickte den Henker vorwurfsvoll an. »Wie gesagt, wir haben 375
der Bande heute Vormittag im Ballenhaus den Prozess gemacht. Eine Sache von einer Viertelstunde. Deine Anwesenheit war nicht nötig.« »Und Bürgermeister Semer?« »War unterrichtet und mit der Prozedur einverstanden. Die Hinrichtung ist auf den kommenden Samstag festgesetzt, also in drei Tagen.« Lechner räusperte sich. »Leider habe ich mich mit der von dir vorgeschlagenen Hinrichtungsart nicht durchsetzen können. Du wirst den Scheller wohl doch rädern müssen.« Jetzt hielt es Jakob Kuisl auf dem Schemel nicht mehr aus. »Aber Ihr habt’s mir Euer Wort gegeben!« Er sprang so heftig auf, dass der Stuhl krachend nach hinten umfiel. »Ich steh beim Scheller in der Schuld!« Der Schreiber schüttelte den Kopf, als würde er mit einem kleinen Buben reden. »Ich bitte dich, Kuisl! In der Schuld, bei einem Räuberhauptmann!« Er deutete auf den umgefallenen Stuhl. »Jetzt setz dich gefälligst wieder hin. Es gibt noch einiges zu besprechen.« Jakob Kuisl atmete tief durch und blieb mit verschränkten Armen stehen. »Glaub mir«, fuhr Lechner fort. »Es ist für die Stadt das Beste. Wir müssen ein Exempel statuieren. Sämtliche Räuberbanden von hier bis Landsberg werden den Scheller schreien hören. Das wird ihnen eine Lehre sein. Außerdem ... « Er klopfte mit dem Gänsekiel auf die Pergamentseiten. »Die Hinrichtung wird wieder Geld in den Schongauer Stadtsäckel spülen. Wir werden ein Fest ausrichten, mit Tanz, Musik, Glühwein und gebrannten Nüssen. Die Leute brauchen eine Abwechslung nach den kalten Tagen und der Angst vor diesen Überfällen.« Er blät376
terte in den Seiten der Kladde. »Du siehst, es gibt einiges zu tun. A priori muss der Hinrichtungsplatz gereinigt werden, ein Balken ist morsch, ich hab das schon überprüft. Außerdem brauchen wir unten am Platz Galgen, mindestens drei. Und überdachte Bänke für die Patrizier, damit sich die hohen Herren nicht den Hintern abfrieren. Ich fürchte, die Jagd auf die andere Räuberbande wird noch ein wenig warten müssen.« Der Henker hatte den Ausführungen Lechners stoisch zugehört, erst jetzt rührte er sich wieder. »Was ist mit den Kindern und den Frauen?«, fragte er. Der Schreiber Lechner nickte. »Kommen frei, wie versprochen. Wir hängen nur die Männer und jungen Burschen, der Scheller wird gerädert. Glaub mir, es gab durchaus Leute im Rat, die auch die Frauen und Kinder hängen wollten.« Er lächelte Kuisl an. »Du siehst, ich komme dir entgegen. Und jetzt mach dich an die Vorbereitungen. Bis Samstagmittag muss alles fertig sein.« Mit einem Kopfnicken entließ er den Henker, der wie in Trance auf den Ausgang zusteuerte. Als Jakob Kuisl die Tür hinter sich geschlossen hatte, seufzte der Schreiber. Er würde diesen Sturkopf Kuisl nie verstehen! Das Rädern brachte dem Scharfrichter gut und gern dreißig Gulden ein, trotzdem machte er ein Gesicht, als müsste er seine eigene Tochter zum Schafott führen. Lechner blickte der großen Gestalt vom Fenster aus nach. Ein seltsamer Mann, dieser Henker, dachte er. Stark, mit kristallklarem Verstand, aber für seinen Beruf viel zu rührselig. Und eindeutig zu neugierig. 377
Noch einmal zog Lechner den Brief aus feinstem Bütten unter dem Tisch hervor. Das Schreiben war heute früh gekommen, und das Siegel zeigte ihm, dass der Bote vor einigen Tagen tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte. Jemand sehr Mächtiges wollte den Henker mit allen Mitteln von seinen Erkundigungen in Altenstadt abhalten. Johann Lechner warf noch einen letzten Blick auf das Siegel, um seine Echtheit zu überprüfen, dann hielt er den Brief über eine Kerze auf dem Tisch. Flackernd fraßen sich die Flammen durch das dünne Papier, bis nur noch Asche übrig war. Die Anweisungen im Brief waren klar gewesen. Keine Beweise, keine schriftlichen Unterlagen, nichts sollte übrig bleiben, was den Auftraggeber hätte verraten können. Johann Lechner zählte die frisch geprägten Münzen ab, die mit dem Brief gekommen waren. Das Geld würde der Stadt guttun, genauso wie die Hinrichtung. Wieder einmal war der Schreiber mit sich und der Welt im Reinen. Simon und Benedikta erreichten Schongau am frühen Abend. Auf dem gesamten Rückweg hatten sie sich Gedanken gemacht über den seltsamen Spruch, aber auch über den Mann, der sie von der Tanne aus beobachtet hatte. War er Teil einer Bande, die ihnen schon auf dem Weg nach Wessobrunn aufgelauert hatte? Aber warum hatten die Räuber sie dann nicht angegriffen? Was sollte dieses Beobachten und Verfolgen? Simon brachte Benedikta zurück zu ihrem Quartier ins Semer-Wirtshaus, wo er sich noch zu einem Schoppen Wein überreden ließ. 378
»Könnte es nicht sein, dass diese Männer die gleichen sind, die sich schon vor ein paar Tagen hier in der Gegend herumgetrieben haben?«, fragte Simon. »Die gleichen, die dem Henker in der Krypta aufgelauert haben? Magdalena hat ihrem Vater von ein paar schwarzgekleideten Fremden erzählt, die sich im Strasser-Wirt in Altenstadt auf Lateinisch unterhalten haben. Vielleicht sind sie uns die ganze Zeit gefolgt und ...« »Eure Magdalena ist ein kleines Mädchen, das vermutlich keinen Brocken Lateinisch kann«, unterbrach ihn Benedikta. »Vielleicht waren es einfach nur reisende Benediktiner , die vor dem Essen gebetet haben!« Sie zwinkerte ihm zu. »Ihr beginnt ja bereits in jedem Fremden einen Meuchelmörder zu sehen.« Die Händlerin legte ihre Hand um Simons Arm, doch er zog ihn schnell weg. »Spürt Ihr denn nicht, dass wir auf Schritt und Tritt beobachtet werden?«, fragte er aufgebracht. »Ein Wegelagerer, der uns nicht angreift, der Mann auf dem Baum ... Das kann doch alles kein Zufall sein!« »Ich glaube, Ihr seht bereits Gespenster!« Benedikta lachte. »Nun erzähle ich Euch, was ich denke. Der Mann, den Ihr gestern im Eibenwald gesehen habt, war tatsächlich ein Wegelagerer. Wir sind ihm entkommen, gut. Und der Mann auf der Tanne ist nichts weiter als eine Ausgeburt Eurer Phantasie. Ihr könnt ihn ja nicht einmal richtig beschreiben.« »Ich weiß, was ich gesehen habe.« Es entstand eine lange Pause. Endlich ergriff Simon wieder das Wort. Er hatte beschlossen, die Karten offen auf den Tisch zu legen. 379
»Ihr habt recht«, sagte er. »Vielleicht ist das alles Unsinn. Vielleicht ist Andreas Koppmeyer ja aus einem ganz anderen Grund ermordet worden. Sagt, Benedikta, was steht eigentlich in dem Testament, das Euer Bruder ja sicherlich hinterlassen hat?« Benedikta sperrte den Mund auf und holte tief Luft. »So ist das also!«, rief sie schließlich. »Ihr verdächtigt mich, meinen Bruder umgebracht zu haben! Wahrscheinlich tragt Ihr diesen Verdacht schon die ganze Zeit mit Euch herum. Ist es nicht so?« »Was steht in dem Testament?«, beharrte Simon. Benedikta sah ihn zornig und mit verschränkten Armen an. »Das kann ich Euch sagen. Ich erbe von meinem Bruder eine ledergebundene Bibel, einen alten Lehnstuhl und ein von ihm selbst verfasstes Kochbuch. Außerdem vierzig Gulden, die wohl kaum die Verluste aufwiegen, die ich zurzeit mit dem Weingeschäft mache.« Sie beugte sich zu Simon vor. »Das sind seine persönlichen Hinterlassenschaften. Alles andere bekommt nämlich die Kirche!« Der Medicus zuckte zusammen. Er hatte bei all seinen Überlegungen tatsächlich vergessen, dass der Besitz des Pfarrers nach dessen Tod zu großen Teilen an die Kirche ging. Vermutlich hatte Benedikta wirklich nur diese paar wertlosen Dinge geerbt. »Und überhaupt!« Die Händlerin war mittlerweile so in Wut geraten, dass sich andere Gäste nach ihr umdrehten. »Warum sollte ich mich in Altenstadt aufhalten, in der Nähe des Tatorts? Ich hätte meinen Bruder doch vergiften, unbemerkt nach Landsberg reiten und dort auf die Todesnachricht warten können. Keiner hätte Verdacht geschöpft!« Sie stand schnell auf und warf dabei ihren Stuhl 380
um. »Simon Fronwieser, Ihr seid eindeutig zu weit gegangen.« Benedikta eilte nach draußen und schlug die Tür krachend hinter sich zu. »Na, Fronwieser? Wieder Ärger mit den Weibern?« Es war der Brauergeselle Konstantin Kreitmeyer, der zu ihm herübergrinste. »Bleib bei deiner Henkerstochter, die ist schon verrückt genug.« Andere Brauergesellen an Kreitmeyers Tisch lachten und machten ein paar obszöne Gesten. Simon spülte seinen Wein hinunter und stand auf. »Ach, haltet doch alle euer Maul!« Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und verließ, begleitet von weiteren derben Sprüchen, das Wirtshaus. Anstatt in die Hennengasse einzubiegen und nach Hause zu gehen, stapfte Simon Richtung Lechtor. So, wie er sich jetzt fühlte, konnte er unmöglich schlafen. Er hatte sich Benedikta gegenüber wie ein Narr benommen! Wie konnte er nur annehmen, dass sie ihren eigenen Bruder vergiften würde? Außerdem hatten ihn die Worte der Gesellen wieder an Magdalena denken lassen. Ob sie schon auf dem Heimweg von Augsburg war? Vielleicht hatte ihr Vater ja Nachricht von ihr. Außerdem sehnte Simon sich nach einem Becher starken Kaffees. Zu Hause warteten auf ihn nur Arbeit und ein nörgelnder Vater, der von den ständigen Ausflügen seines Sohnes langsam die Nase voll hatte. Simon hatte Anna Kuisl beim letzten Besuch ein kleines Säcklein Kaffeebohnen dagelassen. Vielleicht würde die Henkersfrau ihm ja sein Lieblingsgetränk brauen? Simon beschloss, den Schongauer Scharfrichter aufzusuchen. 381
Schon nach kurzer Zeit stand der Medicus unten im Gerberviertel vor dem Haus der Kuisls. Er klopfte an die Tür. Als ihm Anna Kuisl öffnete, sah er sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Gesicht der sonst so lebhaften Frau war bleich und eingefallen. »Gut, dass du kommst«, sagte sie und winkte Simon herein. »Vielleicht kannst du ihn ja ein wenig aufmuntern. Er fängt mal wieder mit dem Saufen an.« »Warum?« Simon zog seinen klammen Mantel und den zerrissenen Rock aus und hängte beides neben den Ofen zum Trocknen. Anna Kuisl musterte schweigend das ruinierte Gewand, dann suchte sie in der Tischschublade nach Nadel und Faden. »Der Lechner sagt, dass mein Mann den Scheller rädern muss«, sagte sie, während sie anfing, den Riss zu nähen. »Schon in drei Tagen soll’s so weit sein. Dabei hat der Jakob dem Räuberhauptmann sein Wort gegeben! Eine Saubande ist das dort oben! Haben Geld wie andere Leute Heu und scheren sich trotzdem einen Dreck um Ehre und Anstand!« Der Medicus nickte. Mittlerweile kannte er die Saufexzesse des Henkers. Regelmäßig vor den Hinrichtungen begann Kuisl, sich hemmungslos zu betrinken. Bei der Urteilsvollstreckung war er dann erstaunlicherweise wieder komplett nüchtern. Simon ließ Anna Maria Kuisl weiterschimpfen und ging hinüber in die Kammer, wo der Henker mit glasigen Augen an der Galgenleiter lehnte und vor sich hin brütete. Der süße Geruch von ausgeschwitztem Alkohol waberte durch den Raum. Auf dem Tisch lagen ein paar aufgeschlagene Bücher neben einer offenen Flasche Brann382
twein, in einer Ecke der Kammer glitzerten die Scherben eines zerschlagenen Bierkrugs. Matter Feuerschein beleuchtete das düstere Gesicht Jakob Kuisls, der gerade wieder zu einem gewaltigen Schluck ansetzte. »Sauf mit oder lass mich allein«, sagte er und donnerte die Flasche zurück auf den Tisch. Simon führte das dickbauchige, tönerne Gefäß zum Mund und nippte daran. Er schmeckte Hochprozentiges, das der Henker wohl aus den vergorenen Äpfeln und Birnen seines Obstgartens gewonnen hatte. Vermutlich waren auch noch einige Kräuter darin, von denen der Medicus lieber nichts wissen wollte. »Wir haben ein neues Rätsel in Wessobrunn gefunden«, sagte Simon unvermittelt. »Einen Spruch in einer Linde. Ich dachte, dass Ihr Euch vielleicht darauf einen Reim machen könnt.« Jakob Kuisl rülpste laut und wischte sich über den Mund. »Wen schert’s? Aber sei’s drum, kannst ihn ja ohnehin nicht für dich behalten, deinen Spruch. Also spuck ihn schon aus.« Simon lächelte. Er kannte die Neugierde des Henkers, auch im besoffenen Zustand. »Er lautet: ›In gremio Mariae eris primus et felicianus.‹ Jakob Kuisl nickte, dann übersetzte er laut. »Im Schoße Mariens wirst du der Erste und auch ein Glücklicher sein.« Er lachte laut auf. »Ein frommes Sprüchlein, mehr nicht! Das kann nicht der Hinweis sein.« Mit stierem Blick griff der Riese erneut zur Flasche. Ein Anblick, den Simon nur schwer in Einklang bringen konnte mit der anderen, der feinfühligen, gebildeten Seite Kuisls. Es gab immer wieder Leute, die erstaunt waren, dass der Scharfrichter auch im volltrunkenen Zustand 383
noch Latein konnte. Sie wären noch erstaunter gewesen, hätten sie einen Blick in die Bibliothek des Henkers geworfen, wo neben deutschen und lateinischen sogar griechische Werke standen. Einige davon stammten von Gelehrten, die den meisten Universitäten hierzulande gänzlich unbekannt waren. »Aber es muss das nächste Rätsel sein!«, warf Simon ein. »Er hat seinen Namen daruntergeschrieben. Friedrich Wildgraf, Anno Domini 13 28. Also ein Jahr vor seinem Tod!« Jakob Kuisl rieb sich die Schläfen, um kurzzeitig nüchterner zu werden. »Es ist jedenfalls kein Bibelsprüchlein, das ich kenne«, knurrte er. »Und ich kenn die meisten. Du glaubst gar nicht, wie fromm die Leut werden, wenn’s ans Sterben geht. Alles hab ich schon gehört, aber diesen Spruch nicht.« Simon schluckte, bevor er weitersprach. Vor Jakob Kuisl war dessen Vater der Henker im Ort gewesen und davor sein Großvater; eine wahre Dynastie von Scharfrichtern, die sich mittlerweile über eine ganze Reihe bayerischer Ortschaften erstreckte. Die Kuisls hatten zusammen vermutlich mehr gewinselte fromme Sprüche gehört als der Papst persönlich. »Wenn es kein Bibelspruch ist, dann vielleicht eine versteckte Botschaft«, sagte Simon und wiederholte den Satz. »Im Schoße Mariens wirst du der Erste und auch ein Glücklicher sein. Was kann das bedeuten?« Der Henker zuckte mit den Schultern, bevor er wieder zur Flasche griff. »Hol’s der Teufel, was geht’s mich an?« Er setzte zu einem Schluck an, so lange, dass Simon befürchtete, er könnte daran ersticken. Endlich stellte Jakob 384
Kuisl die Flasche wieder ab. »Ich für meinen Teil werd den Scheller am Samstag rädern, ich kann euch ohnehin nicht weiterhelfen. Bis dahin gibt’s noch viel zu tun. Die Leut wollen was zum Gaffen haben.« An den rotgeäderten Augen des Henkers erkannte Simon, dass der Schnaps wohl langsam zur Neige ging. Jakob Kuisl wippte auf seinem Schemel immer weiter nach vorne. Eine ganze Flasche Branntwein schien offenbar selbst für einen sechs Fuß großen, breitschultrigen Mann ein wenig zu viel. »Ihr werdet eine Medizin brauchen«, sagte Simon seufzend. »Sonst habt Ihr morgen keinen klaren Kopf.« »Brauch keine Medizin von euch gottverdammten Quacksalbern. Ich mach meine Medizin selbst.« Der Medicus schüttelte den Kopf. »Diese Medizin gibt es nur bei mir.« Er stand auf und ging hinüber in die Stube, wo Anna Maria Kuisl am Tisch saß und noch immer den Riss in seinem Rock nähte. »Macht Eurem Mann einen Becher starken Kaffee«, sagte er. »Aber spart nicht an den Bohnen. Gut ist er erst, wenn der Löffel im Becher nicht mehr umfällt.« Magdalena wurde durch ein monotones Gemurmel geweckt, das ihren Kopf immer mehr ausfüllte, bis sie glaubte, er müsste platzen. Die Kopfschmerzen waren noch stärker als beim letzten Erwachen. Ihre Lippen waren trocken und spröde; wenn sie mit der Zunge darüberstrich, fühlten sie sich an wie die Borke einer Eiche. Sie öffnete die Augen, und helle Lichtblitze blendeten sie. Nach einiger Zeit hörte das Funkeln auf, ihr Blick wurde klarer, und sie schaute ins Paradies. 385
Kleine, dicke Engel umschwirrten einen umkränzten Heiland, der mitleidig von seinem Kreuz auf sie hinuntersah. Die Evangelisten Lukas und Johannes hielten an den Rändern eines Sternenhimmels Wache, tief unten krümmte sich die Schlange Luzifer, durchbohrt von der Lanze des Erzengels Michael, während die zwölf Apostel auf luftigen Wolken thronten. Alle Figuren erstrahlten in leuchtendem Gold, hellem Silber und in allen schillernden Farben des Regenbogens. Noch nie hatte Magdalena eine derartige Pracht gesehen. War sie im Himmel? Wenigstens liege ich nicht mehr in einem Sarg, dachte sie. Das ist auf alle Fälle schon mal eine Verbesserung. Als sie den Kopf drehte, erkannte sie schnell, dass sie sich nicht im Himmel, sondern in einer Art Kapelle befand. Sie lag mit dem Rücken auf einem steinernen Altar, umgeben von vier brennenden Kerzen. Die Wände des weiß gekalkten Raums waren gepflastert mit pompösen Ölgemälden, die verschiedene Bibelszenen zeigten. Es waren so viele Bilder, dass kaum Platz zwischen ihnen blieb. Durch ein winziges Fenster im Osten schien die Sonne herein, trotzdem war es auf dem steinernen Untergrund so kalt, dass Magdalenas Muskeln sich anfühlten wie Eis. Das Gemurmel kam von der Seite. Magdalena drehte den Kopf noch ein Stück und sah Bruder Jakobus, der, gekleidet in ein schlichtes schwarzes Gewand, vor einem kleinen Marienaltar kniete und mit gesenktem Haupt leise betete. Das goldene Kreuz mit den zwei Querbalken baumelte vor seiner Brust. 386
»Ave Maria, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes Jesu …« Magdalena versuchte sich vorsichtig aufzurichten. Vielleicht war es ihr ja möglich zu fliehen, ohne dass der Mönch es merkte? Nur ein paar Schritte hinter ihr befand sich eine niedrige Holztür mit einer vergoldeten Klinke. Wenn sie diese erreichte … Als sie sich aufstützen wollte, merkte sie, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtung. Christi, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt... In Erinnerung an den Bibelspruch stieg Panik in Magdalena hoch. Was hatte dieser Wahnsinnige vor? Wollte er sie auf dem Altar opfern? Waren deshalb die Kerzen entzündet? Eine weitere Bibelstelle fiel ihr ein. Gott sprach zu Abraham: Nimm deinen Sohn Isaak, den du liebst, und bring ihn auf dem Berge als Opfer dar... Der monotone Gesang des Mönchs schwoll an und erreichte eine höhere Tonart, er intonierte jetzt in einer kreischenden Fistelstimme. Magdalena kämpfte die Furcht in sich nieder und zwang sich, ruhig zu atmen. Vielleicht konnte sie es ja auch kriechend durch die Tür schaffen? Robbend, kriechend, hüpfend – egal, nur weg von hier. Mit rollenden Bewegungen schob sie sich auf die linke Seite des Altars zu. Nur noch wenige Zentimeter, dann hatte sie es geschafft. Sie spürte die Kante bereits unter sich, sie kippte, sie fiel … Und streifte mit den Füßen einen der großen Kerzenständer , der laut scheppernd zu Boden stürzte. 387
Der Gesang hörte abrupt auf. Schritte ertönten, nur einen Moment später stand Bruder Jakobus mit gezücktem Dolch über ihr. Magdalena schrie, als der Dolch niederfuhr. »Halt deinen Mund, dummes Weib. Keiner tut dir was.« Der Mönch schnitt ihre Handfesseln durch und trat einen Schritt zur Seite. »Wenn du versprichst, still zu sein, schneide ich dir auch die Fußfesseln durch. Versprichst du das?« Magdalena nickte, nur kurze Zeit später war sie frei. Mit wackligen Beinen stand sie auf und bewegte ihre Gliedmaßen, doch schon bald merkte sie, dass sie zum Stehen noch zu schwach war. Ihr wurde schwarz vor Augen. Schwer atmend ließ sie sich auf einer der Kirchenbänke nieder. »Das macht das Gift«, sagte Bruder Jakobus und setzte sich in die Bank daneben. »Eine Mischung aus Schlafmohn und ein paar seltenen Nachtschattenpflanzen. Du wirst dich noch eine Weile schwach fühlen, doch das geht vorüber.« »Wo ... wo bin ich?« Magdalena rieb ihre Handgelenke, in denen sich ein stechendes Kribbeln wie von Ameisen breitmachte. »Das hat dich nicht zu interessieren«, sagte der Mönch. »Dies ist ein Ort, an dem uns sicher keiner stören wird. Die Wände sind dick, und durch das Fenster dringt kein Laut nach draußen. Ein wunderbarer Ort, um zu Gott zu finden.« Er ließ seinen Blick über das prächtige Deckengemälde schweifen. »Aber keine Angst, zurzeit bist du nur unsere Sicherheit, dass dein Vater uns nicht ins Handwerk pfuscht, und später ... « Er sah ihr direkt ins Gesicht. Seine 388
Augen bekamen plötzlich etwas Weiches, wieder wehte der süße Duft von Parfum zu ihr herüber. »Magdalena ... «, seufzte er. »Ich verbinde viel mit diesem Namen.« Eine lange Pause trat ein. »Du kennst doch Maria Magdalena, die Frau an der Seite des Heilands?«, fragte er unvermittelt. »Die Heilige der Huren und Ehebrecherinnen, eine Aussätzige wie du …« Sie nickte. »Mein Vater hat mich nach ihr benannt.« Ihre Stimme klang vom langen Schweigen seltsam fremd und krächzend. »Dein Vater ist ein kluger Mann, Magdalena. Ein ... Prophet, möchte man meinen.« Bruder Jakobus lachte und kam näher. Sein hagerer, krummer Körper neigte sich nach unten wie eine Vogelscheuche im Wind, mit langen Fingern strich er an ihrem Gewand entlang. Magdalena sah, dass seine Hände so feingliedrig waren wie die einer Frau. »Heilige Maria Magdalena ...«, flüsterte der Mönch. »Du bist tatsächlich wie deine Namenspatronin. Schön und klug, aber verstoßen. Eine dreckige Henkerstochter, der Abschaum der Stadt. Eine Hure, keusch im Gebet, die sich heimlich den fleischlichen Lüsten hingibt.« »Aber …« »Schweig!« Mit einem Mal wechselte die Stimme des Mönchs wieder in eine schrille Lage. »Ich kenne Weiber wie dich nur zu gut! Und hab ich dich nicht mit diesem Medicus gesehen? Also lüg nicht, Evastochter!« Er schloss die Augen und atmete tief durch, schließlich hatte er sich wieder beruhigt. »Aber du bist gläubig, das spüre ich«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Stirn, als wollte er sie segnen. »In 389
dir steckt ein guter Kern, ihr Weiber seid nicht alle schlecht. Sogar Maria Magdalena ist zu einer Heiligen geworden. Und auch du kannst gerettet werden.« Er sprach jetzt sehr leise, so dass Magdalena Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. »Kennst du die Bibel, Henkerstochter?« Noch immer hielt er seine Hand auf ihrer Stirn. Magdalena beschloss zu schweigen, der Mönch redete weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Lukas, Kapitel 8, Vers 1. Jesus reiste mit einigen Frauen, die er von bösen Geistern geheilt hatte, darunter Maria Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren. Sieben Dämonen ... « Die Augen des Mönchs funkelten im Licht der Kerzen. »Auch in dir sind sieben Dämonen, Magdalena. Und ich werde sie dir austreiben, später, wenn deine Aufgabe hier erfüllt ist. Und dann wirst du rein sein und gut. Eine keusche Maid. Sei unbesorgt, wir werden einen Platz für dich im Kloster finden.« Er ging auf den Ausgang zu. Noch einmal drehte er sich zu ihr um. »Ich werde dich retten, Magdalena.« Der Mönch lächelte zum Abschied, dann öffnete er die Tür und verschwand. Mit einem Knirschen drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Schritte wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Die Henkerstochter bleib alleine mit den Engeln, den Evangelisten und einem Heiland, an dessen Kreuz zwei Frauen knieten und weinten. Simon sah in die starren Augen des Mannes, der vor ihm auf dem Bett lag, und stellte seine Arzttasche zur Seite. 390
Der Medicus musste nicht mehr am Herzen horchen, den Puls fühlen oder einen Spiegel unter die Nasenlöcher halten, er wusste auch so, dass der Mann tot war. Sanft drückte er dessen Augen zu, dann wandte er sich an die Frau des Alten, die wimmernd neben ihm stand. »Ich komme zu spät«, sagte Simon. »Euer Gatte ist bereits an einem besseren Ort.« Die Bäuerin nickte und sah ihren Ehemann an, als könnte allein ihr Blick ihn wieder lebendig machen. Simon schätzte die Frau auf Mitte vierzig, doch die harte Arbeit auf dem Feld, die jährlich wiederkehrenden Geburten und das schlechte Essen hatten sie früh altern lassen. Ihr Haar war grau und zerzaust, tiefe Falten hatten sich um ihre Mundwinkel und Augen gegraben. Einige schwarzgelbe Zahnstummel schauten zwischen den spröden Lippen hervor. Simon fragte sich, ob Magdalena in zwanzig Jahren auch so aussehen würde. Die ganze Nacht hatte er an die Tochter des Henkers gedacht. Wie es ihr in Augsburg wohl erging? Ihr Vater hatte bisher keine Nachricht von ihr erhalten, jeden Tag erwartete er sie zurück. Aber durch den Schneesturm in den letzten Tagen war es durchaus möglich, dass sich ihre Rückkehr noch weiter verzögern würde. Vermutlich wartete Magdalena darauf, sich einer Gruppe Händler anschließen zu können, die auf besseres Wetter hofften. Und auf ein Ende der Überfälle … Das Greinen eines Kindes schreckte Simon aus seinen Gedanken auf. Ein etwa vierjähriges Mädchen betatschte das Gesicht seines toten Vaters, im Hintergrund der Stube standen mit gesenktem Haupt sechs weitere Kinder der Bauernfamilie. Zwei von ihnen husteten stark, und der 391
Medicus betete, dass nicht auch sie das Fieber erwischt hatte. In den letzten zwei Wochen waren in Schongau über dreißig Menschen an der mysteriösen Krankheit gestorben, die meisten davon Alte und Kinder. Auf dem Sebastiansfriedhof an der Stadtmauer ging langsam der Platz aus, man fing bereits an, alte Gräber mit früheren Pesttoten umzuschichten. Simon und sein Vater hatten alles versucht. Sie hatten zur Ader gelassen, Klistiere verabreicht, einen Sud aus Lindenblüten und wildem Majoran gebraut; sogar in den Büchern der sogenannten »Dreckapotheke« hatte Bonifaz Fronwieser geblättert, auf der Suche nach einem Zaubertrunk gegen das Fieber. Als sein Vater anfing, getrocknete Kröten in Essig einzulegen und Mäuseköttel zu Pulver zu zerreiben, war Simon schimpfend aus der Krankenstube gelaufen. »Es ist der Glaube, der hilft!«, hatte ihm sein Vater hinterhergerufen. »Der Glaube! Mehr können wir ohnehin nicht ausrichten!« Schon der Gedanke an das Treiben seines Vaters ließ Simon leise fluchen. Mäusescheiße und getrocknete Kröten! Demnächst würden sie noch Pentagramme an die Türe der Kranken malen. Wenn er doch nur noch etwas von dem Jesuitenpulver hätte! Die Arznei, gewonnen aus der Rinde eines Baums in Westindien, würde das Fieber schnell senken, da war sich der junge Medicus sicher. Doch Simon hatte sein letztes bisschen Jesuitenpulver längst verbraucht, und die nächsten venezianischen Händler wurden frühestens im März erwartet, wenn die Passstraßen wieder offen waren. 392
Noch einmal wandte er sich der Bäuerin und ihren hustenden Kindern zu. »Es ist jetzt wichtig, dass du deinen Mann so schnell wie möglich begräbst«, sagte Simon. »Vielleicht ist etwas in ihm, was auch dich und deine Kinder krank macht.« » Ein ... Geist?«, fragte die Bäuerin ängstlich. Der Medicus schüttelte resigniert den Kopf. »Nein, kein Geist. Stell dir ganz kleine Tierchen vor, die ...« »Kleine Tierchen?« Das Gesicht der Frau wurde noch eine Spur blasser. »In meinem Alois?« Simon seufzte. »Vergiss es und begrab ihn einfach.« »Aber der Boden ist gefroren, wir werden warten müssen, bis ...« Es klopfte. Simon blickte sich um und sah einen kleinen verdreckten Jungen in der Tür stehen, der ihn mit einer Mischung aus Angst und Respekt ansah. »Seid Ihr der Schongauer Medicus? «, fragte er schließlich. Simon nickte. Insgeheim freute er sich über die Anrede, denn für die meisten Bürger war er noch immer nichts weiter als der verwöhnte Sohn des hiesigen Arztes, ein Geck und Schönling, dem das Geld auf der Ingolstädter Universität ausgegangen war. »Die ... die Schreevogls schicken mich«, sagte der Junge. »Die Clara hustet und spuckt Rotz und Schleim, soll ich sagen. Ihr möchtet so schnell als möglich vorbeikommen. « Simon schloss die Augen zu einem stummen Gebet. »Nicht die Clara«, murmelte er. »Mein Gott, nicht die Clara!« Er griff nach seiner Arzttasche und eilte, nachdem er sich mit kurzen Worten von der Bauersfamilie verab393
schiedet hatte, dem Jungen hinterher. Auf dem Weg zum Marktplatz, wo die Schreevogls wohnten, musste Simon immer wieder an Clara denken. So viel war in den letzten Tagen geschehen, dass er sie ganz vergessen hatte! Üblicherweise stattete er seiner kleinen Freundin mehrmals wöchentlich einen Besuch ab. Und jetzt war sie krank, vielleicht hatte sie auch dieses verfluchte Fieber! Maria Schreevogl erwartete ihn bereits unten am Eingangsportal. Wie so oft machte sie einen blassen, aufgeregten Eindruck. Simon hatte nie verstehen können, was der Patrizier an dem bigotten, manchmal etwas hysterischen Weibsbild fand; der Medicus vermutete, dass bei der Heirat auch finanzielle Interessen im Spiel gewesen waren. Maria Schreevogl war eine geborene Püchner und kam damit aus einem alten einflussreichen Schongauer Ratsherrengeschlecht. »Sie liegt oben in ihrem Zimmer!«, klagte die Patriziergattin. »Jungfrau Maria und alle Heiligen, lasst es nicht dieses Fieber sein! Nicht bei meiner Clara!« Simon eilte die breite Treppe nach oben und betrat das Zimmer des kranken Mädchens. Clara lag hustend in ihrem Bett, ihr blasses Gesicht schaute unter einer dicken Daunendecke hervor. Neben ihr am Bettrand saß mit besorgtem Blick ihr Stiefvater Jakob Schreevogl. »Gut, dass Ihr so schnell kommen konntet, Fronwieser«, sagte er und stand vom Bett auf. »Wollt Ihr etwas trinken, vielleicht einen Kaffee?« Simon schüttelte den Kopf und blickte besorgt auf den Patrizier, der ihn mit leeren Augen anstarrte. Der Ratsherr wirkte wie in Trance. Erst gestern Abend war er mit dem Henker von ihrem gemeinsamen Begleitzug für Karl Se394
mer zurückgekommen. Die Nachricht von der Krankheit seiner Tochter hatte ihn sichtlich erschüttert. Simon beugte sich zu Clara hinunter. »Clara, ich bin’s, der Simon«, flüsterte er. Doch Clara zeigte keine Reaktion, ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging schnell. Im Schlaf gab sie gelegentlich ein rasselndes Husten von sich. Der Medicus legte ein Ohr auf ihre Brust und horchte auf den Rhythmus ihrer Atemzüge. »Wie lange hat sie das schon?«, fragte Simon und versuchte, das Weinen und Wimmern der Ratsherrin zu übertönen, die mit ihm ins Zimmer gekommen war. Ihre Finger betasteten unablässig einen Rosenkranz. »Seit gestern erst«, sagte Jakob Schreevogl. »Das Fieber kam am Abend, sehr schnell. Seitdem ist sie nicht mehr ansprechbar. Herrgott, Weib, sei doch endlich still!« Die Gebete von Maria Schreevogl verstummten. »Hat sie das Fieber, Simon?«, fragte sie mit überschlagender Stimme. »Ihr wißt es doch! O gütiger Herrgott, hat sie es?« Sie sah den Medicus mit großen Augen an. Simon zögerte. Der schnelle Ausbruch der Krankheit, der rasselnde Husten, das hohe Fieber. Alles deutete darauf hin, dass Clara sich tatsächlich mit der Seuche angesteckt hatte. Zum wiederholten Mal verfluchte der Medicus sich, dass er Magdalena nicht hatte bitten können, ihm einige Ingredienzien in Augsburg zu besorgen. Vielleicht hätten die Apotheken dort sogar das Jesuitenpulver gehabt! Aber dafür war es jetzt zu spät. Als Simon weiter schwieg, war das für die Patrizierin ein Zeichen.
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»Heilige Barbara, ich werde sie verlieren!«, jammerte sie. »Heiliger Quirin, hilf!« Sie fiel auf die Knie und fing wieder an, den Rosenkranz zu beten. Ihr Mann versuchte sie zu ignorieren. Seine Stimme klang ernst, als er mit Simon sprach. »Was können wir tun?« Simon hatte Mühe, ihm in die Augen zu sehen. »Ich will ehrlich mit Euch sein, Schreevogl«, sagte er. »Ich kann ihr Wickel machen und einen Tee, aber das ist auch schon alles. Ansonsten können wir nur warten und beten.« »Heiliger Primus, heiliger Felicianus, helft uns bei Not und Krankheit!« Maria Schreevogls Stimme bekam etwas Schrilles. Sie zog eine Kette mit Heiligenamuletten hervor und legte sie Clara um den Hals. »Das wird sie auch nicht gesund machen, Weib«, sagte Jakob Schreevogl. »Koch lieber einen Tee mit Lindenblüten. Ich glaube, die Köchin hat noch welche in der Küche.« Maria Schreevogl eilte klagend nach draußen, und Simon beugte sich wieder über Clara. »Ich werde ihre Brust mit einer Salbe einreiben«, sagte er. »Ein Rezept des Henkers. Bergminze, Rosmarin und Gänsefett. Das wird wenigstens den Husten lindern.« Er machte Claras Brust frei und fing an, sie mit der Salbe einzustreichen. Die Kette mit den Heiligenbildern ließ er an ihrem Platz, schaden konnte sie in keinem Fall. Während er Clara einrieb, fiel Simons Blick auf die einzelnen Anhänger an der Kette, silberne Münzen, auf denen jeweils eine Figur und ein Name eingraviert waren. Wie in der Altenstadter Basilika waren auf den Amuletten verschiedene Schutzheilige abgebildet. Die heilige Barba396
ra, der heilige Quirin, der heilige Georg und natürlich die heilige Walburga, die Schutzpatronin der Kranken und Wöchnerinnen. Aber auch eher unbekannte waren darunter. Simon las den Namen des heiligen Ignatius, der über die Kinder wachte und bei schweren Geburten half. Außerdem gab es noch den heiligen Primus und den heiligen Felicianus, zu denen Maria Schreevogl vorher gebetet hatte. Plötzlich hörten Simons Hände auf, sich zu bewegen. Er rieb nicht mehr Claras Brust ein, sondern griff nach den beiden Amuletten an der Kette vor ihm und starrte auf die Namen. Heiliger Primus, heiliger Felicianus … Kalt wie Eisklumpen lagen die Amulette in seiner Hand. Wie hatten sie nur so blind sein können? Mit belegter Stimme wendete er sich an Jakob Schreevogl. »Könnten wir uns einen Augenblick in Euere Bibliothek zurückziehen?« Der Patrizier zog die Augenbrauen hoch. »Glaubt Ihr, dort auf eine Arznei gegen die Krankheit zu stoßen? Ich muss Euch enttäuschen. Mein Sortiment an medizinischen Büchern ist leider begrenzt.« Simon schüttelte den Kopf. »Ich suche eher ein Heiligenbrevier.« »Ein Heiligenbrevier?« Jakob Schreevogl sah ihn erstaunt an. »Ich glaube, meine Frau hat so etwas. Aber warum …« »Lasst uns in die Bibliothek gehen«, sagte Simon. »Hier können wir im Moment ohnehin nichts mehr tun. Sollten meine Überlegungen stimmen, dann kaufe ich Clara schon bald die beste Medizin im ganzen Pfaffenwinkel. Und 397
Euch einen in Blattgold gefassten Paracelsus. Darauf habt Ihr mein Wort.« Jakob Kuisl trat einen schweren Gang an, fast kam er sich vor wie ein armer Sünder auf dem Weg zum Schafott. Der gestrige Kaffee hatte ihn zwar über den schlimmsten Kater hinweggeholfen, trotzdem fühlte sein Kopf sich noch immer an wie ein mit Steinen gefüllter Mehlsack. Aber es waren nicht die Kopfschmerzen, die ihn am meisten zu schaffen machten. Es war sein gebrochener Eid. Als der Büttel Johannes sah, in welcher Stimmung sich Kuisl befand, machte er freiwillig Platz und ließ den Henker in die Fronfeste. »Ein Haufen Arbeit, was?«, rief er ihm hinterher. »Wird ein blutiges Schauspiel, das Rädern am Samstag. Ich hoff, die Leut kriegen was zu sehen! Brich ihm jeden Knochen, ja, Henker? Ich hab zwei Heller gewettet, dass der Scheller noch am nächsten Tag schreit.« Jakob Kuisl ignorierte ihn und stapfte direkt auf die Zelle des Räuberhauptmanns und seiner Bande zu. Ein kurzer Blick genügte ihm, um festzustellen, dass im Gegensatz zum letzten Mal Decken, Wasser und frisches Brot vorhanden waren. Auch der kranke Junge machte heute einen besseren Eindruck, die Medizin schien geholfen zu haben. Hans Scheller stand mit verschränkten Armen direkt hinter den Gitterstäben. Als sich der Scharfrichter näherte, spuckte der Räuberhauptmann ihm mitten ins Gesicht. »Galgen, hä?«, knurrte er. »Eine saubere, schnelle Sach, pah! Von wegen! Schön langsam wird’s gehen, ein Schlag nach dem anderen. Und dir hab ich vertraut, einem dreckigen Henker!« 398
Jakob Kuisl wischte sich langsam die Spucke aus dem Gesicht. »Es tut mir leid, das kannst du mir glauben oder nicht«, sagte er ruhig. »Ich hab’s versucht, doch die hohen Herren wollen dich nun mal schreien und jammern sehen. Sei’s drum ... « Er trat jetzt ganz nahe an Scheller heran. »Aber wir können diesen Pfeffersäcken immer noch ein Schnippchen schlagen«, flüsterte er so leise, dass ihn keiner der Umstehenden hören konnte. Hans Scheller sah ihn ungläubig an. »Was hast du vor?« Jakob Kuisl blickte sich um, ob jemand lauschte. Doch die anderen Räuber waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und der Büttel Johannes hatte es vorgezogen, draußen zu warten. Schließlich zog der Henker ein kleines Leinensäckchen unter seinem Mantel hervor. Als er es öffnete, rollte eine einzige braune Kugel in seine schrundige Hand, eine Pille, nicht größer als eine Kindermurmel. »Ein Biss, und du bist beim lieben Herrgott«, sagte Kuisl. Er hielt die Kugel hoch wie eine wertvolle Perle. »Ich hab sie extra für dich gedreht. Du wirst keine Schmerzen haben. Steck sie in den Mund, und wenn ich zuschlag, dann beiß drauf.« Hans Scheller nahm die Pille mit spitzen Fingern entgegen und sah sie sich genauer an. »Keine Schmerzen, sagst du?« Kuisl schüttelte den Kopf. »Keine Schmerzen. Verlass dich drauf, auf Schmerzen versteh ich mich.« »Und was ist mit dem Spektakel?«, flüsterte Scheller. »Die Leut werden enttäuscht sein. Ich hab davon gehört, dass sie den Henker manchmal selbst hängen, wenn’s nicht so läuft wie geplant. Sie werden glauben, du hättest deine Arbeit nicht anständig gemacht.« 399
»Das lass meine Sorge sein, Scheller. Nimm das Gift nur nicht jetzt schon. Die Ratsherren könnten sich sonst an den anderen rächen wollen. Nachher muss ich noch den Jungen rädern.« Der Räuberhauptmann schwieg lange, bevor er sich wieder an den Scharfrichter wandte. »Dann stimmt es also, was man über dich sagt, Kuisl.« »Was?« »Dass du ein guter Henker bist.« »Ich bin ein Henker, aber kein Mörder. Wir sehen uns am Samstag.« Jakob Kuisl wandte sich um und verließ die Fronfeste. Noch lange rieb Hans Scheller die kleine Pille zwischen den Fingern. Er schloss die Augen und bereitete sich auf seine Reise ins Dunkle vor. Sie fanden das Heiligenbrevier ganz hinten im Regal, zwischen den Werken Platons und einem zerfledderten Bauernkalender , von dem Jakob Schreevogl sich nicht erklären konnte, wie er in sein Haus geraten war. Vermutlich hatte ihn seine Frau bei einem umherziehenden Devotionalienhändler erworben, ebenso wie das Gotteslob, die acht Pfund schwere Hausbibel und eben das Heiligenbüchlein. Mit dem Brevier in der Hand, erzählte Simon dem Patrizier in aller Kürze, was er und der Henker in der Krypta gefunden hatten; er berichtete von den Rätseln, von seinem Gefühl, ständig beobachtet zu werden, und von dem letzten Fund gemeinsam mit Benedikta an der Tassilolinde nahe Wessobrunn. 400
»Wir sind fest davon überzeugt, dass uns all diese Rätsel zu einem Schatz der Templer führen!«, beendete Simon seinen Bericht, während er die übrigen Bücher wieder in die Regale der Hausbibliothek räumte. »Einen Schatz, den der deutsche Tempelmeister Friedrich Wildgraf damals absichtlich fern der großen Städte versteckt hat. Nicht in Paris, nicht in Rom, nur hier in der bayerischen Provinz glaubte er wohl, dass der französische König den Schatz niemals finden würde. Die Rätsel sind so gewählt, dass sie im Grunde nur Einheimische lösen können!« Jakob Schreevogl hatte sich in der Zwischenzeit auf die Kante des Tisches gesetzt und folgte immer aufmerksamer den Ausführungen des Medicus. » Gut möglich, dass Friedrich Wildgraf sein Wissen an seine Söhne und Enkel hier in Schongau weitergegeben hat«, fuhr Simon fort. »Vermutlich ist diese Linie irgendwann ausgestorben, und damit ging auch das Wissen um den Schatz und um die Rätsel verloren.« »Und wie lautet nun das nächste Rätsel?«, fragte Jakob Schreevogl. Simon sah schnell aus dem Fenster, ob sie jemand beobachtete. Erst dann sprach er leise weiter. »Es lautet: ›In gremio Mariae eris primus et felicianus‹«, flüsterte der Medicus. »Also übersetzt in etwa: ›Im Schoße Mariens wirst du der Erste und auch ein Glücklicher sein.‹ Ich habe lange geglaubt, dass es sich um einen frommen Bibelspruch handelt.« »Und was ist es eigentlich?« »Das sage ich Euch, wenn ich in diesem Büchlein die richtige Stelle gefunden habe.« Simon begann, in dem He401
ligenbrevier zu blättern. Bei einer bestimmten Seite hielt er inne und begann zu lesen. »Ich hatte recht!«, rief er schließlich, bevor seine Stimme wieder in ein Flüstern überging. »Es ist kein Bibelspruch, sondern ein Satz, in dem zwei Namen versteckt sind. Primus und Felicianus. Übersetzt lauten sie tatsächlich der Erste und der Glückliche, aber es sind eben auch zwei Heilige aus dem alten Rom. Hier!« Er tippte auf die aufgeschlagene Seite, auf der zwei nackte, gefesselte Männer zu sehen waren, die von einigen Henkersknechten auf Streckbänken gefoltert wurden und trotzdem lächelten, als würden sie gerade den Heiland erblicken. »Primus und Felicianus waren zwei christliche Römer, die auf Befehl des Kaisers Diokletian gemartert und schließlich enthauptet wurden«, fuhr Simon aufgeregt fort. »Zuvor sollen sie laut diesem Büchlein allein durch ihre Standhaftigkeit noch Tausende Römer bekehrt haben.« »Aber das war in Rom!«, warf Jakob Schreevogl ein. »Habt Ihr nicht eben selbst gesagt, dass sich dieser Templer statt der großen Städte absichtlich unsere Provinz ausgesucht hat? Das kann also nicht die Lösung des Rätsels sein.« Der Medicus grinste und wedelte mit dem Brevier. »Nicht so voreilig, Euer Ehren. Primus und Felicianus wurden zwar in Rom begraben, aber irgendwann hat man ihre Überreste an einen anderen Ort gebracht, wo sie heute noch verehrt werden.« Jakob Schreevogl war mittlerweile aufgestanden. »Und wo ist das?«, fragte er. »Nun macht es nicht so spannend!« 402
Simon schlug das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. »Es ist das Benediktinerkloster Rottenbuch, nur wenige Meilen von hier.« Der Patrizier sah ihn ungläubig an. »Rottenbuch? « Simon nickte. »Ein Kloster, das nebenbei der Heiligen Jungfrau Maria geweiht ist. Primus und Felicianus im Schoße Mariens. Das ist die Lösung!« Er schlug sich an die Stirn. »Ich bin so dumm! Als Kind habe ich sogar mal an einer Wallfahrt zu Ehren der beiden Heiligen teilgenommen, aber ich hatte es vergessen!« Der Patrizier lächelte. »Wie ich Euch kenne, werdet Ihr wohl nun eine weitere Wallfahrt dorthin unternehmen.« Simon war schon an der Tür der Hausbibliothek, als er plötzlich stehen blieb. Er wirkte mit einem Mal nachdenklich. »Ich gehe erst, wenn es Clara bessergeht«, sagte er. »Euer Mädchen wiegt kein Schatz der Welt auf.«
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er Zustand Claras blieb auch am kommenden Tag
derselbe. Sie fieberte und hustete, und Simon verabreichte ihr einen Sud aus Lindenblüten und Rosmarin, vermengt mit dem letzten Honig, den er zu Hause noch finden konnte. Wieder einmal verfluchte er sich dafür, im Sommer nicht mehr von diesem Jesuitenpulver gekauft zu haben; doch die Arznei, die der sarazenische Kaufmann feilgeboten hatte, war teuer gewesen – zu teuer für einen kleinen Schongauer Stadtmedicus, um sie in größeren Mengen zu erwerben. Jeweils vormittags und nachmittags stattete Simon Clara Schreevogl einen Krankenbesuch ab, er horchte ihre Brust ab und sprach dem vor sich hin dämmernden Kind gut zu. Benedikta sah er in dieser Zeit kein einziges Mal. Der Medicus spürte, dass er ihr insgeheim aus dem Weg ging. Bei ihrer letzten Begegnung war irgendetwas zwischen ihnen zerbrochen. Vermutlich war es die abfällige Bemerkung der Händlerin über Magdalena gewesen, die ihn hatte aufhorchen lassen. Eure Magdalena ist ein kleines Mädchen, das vermutlich keinen Brocken Lateinisch kann … In diesem Moment hatte er gespürt, wie sehr er Magdalena vermisste. Was er bis vor kurzem noch für eine Schwäche der Henkerstochter gehalten hatte – ihr aufbrausendes Temperament, ihre mangelhafte Erziehung, 404
ihre Bauernschläue, die so unendlich weit entfernt von der französischen Etikette und Finesse einer Benedikta war –, all das machte Magdalena nun wieder unvergleichlich und damit einzigartig. Simons Gedanken an sie wurden wie schon so oft von einer langen, rasselnden Hustenattacke Claras unterbrochen. Der Brustkorb des Mädchens hob und senkte sich, sie spuckte zähen, grünen Schleim. Simon war erleichtert, als er sah, dass der Auswurf nicht rot eingefärbt war. Roter Schleim, das wusste er, bedeutete in den meisten Fällen den sicheren Tod. Während er Clara die Hand hielt und den Hustenanfall abwartete, überlegte der Medicus, warum er sich gerade um dieses eine Mädchen so teilnahmsvoll kümmerte, wo doch in Schongau zurzeit beinahe jeden Tag Leute in ihren Betten starben. Aber mit Clara verband ihn eben eine väterliche Liebe, gewachsen in den Abenteuern, die sie vor nun fast einem Jahr gemeinsam erlebt hatten. Er hatte dieses Mädchen aus der Hand eines Teufels befreit, er hatte sie schon einmal von schwerem Fieber geheilt – sollte er jetzt tatenlos zusehen, wie sie ihm unter der Hand wegstarb? Ein paarmal öffnete sie auf dem Krankenbett kurz die Augen. Als Clara ihn sah, lächelte sie und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf, dann dämmerte sie wieder weg. Simon wechselte die Quarkwickel an Claras Füßen und strich ihr den Schweiß von der Stirn, ansonsten saß er abwechselnd mit den Schreevogls an ihrem Bett. Maria Schreevogl betete derweil ohne Unterlass einen Rosenkranz nach dem anderen. Ave Maria, der Herr ist mit dir … 405
Am zweiten Tag schien sich Claras Zustand etwas gebessert zu haben. Simon wusste aus Erfahrung, dass der Höhepunkt der Krankheit nach etwa zwei Tagen eintrat. Dass das Fieber jetzt zurückging, war ein gutes Zeichen. Es war Jakob Schreevogl, der ihn schließlich aufforderte, etwas Abwechslung zu suchen. »Ich glaube, Ihr könnt hier nichts mehr tun, Simon«, sagte er, während er gemeinsam mit dem Medicus auf dem Bettrand saß. »Meine Frau und ich danken Euch für Eure Anteilnahme. Ihr solltet jetzt nach Rottenbuch reiten, wie Ihr es geplant hattet.« Er stand auf und streckte sich. »Aber nehmt besser den Henker mit. Nach allem, was Ihr erzählt habt, seid Ihr dort draußen nicht alleine.« Simon schüttelte den Kopf. »Ihr vergesst, dass der Scheller morgen seinen großen Tag hat. Der Kuisl muss ihn rädern, und bis zur Hinrichtung sind wir sicher nicht zurück.« Er erhob sich mit steifen Gliedern und sah aus dem Fenster des Krankenzimmers in das leichte Schneetreiben, das die Stadt seit heute früh wieder hinter einer weißen, wirbelnden Wand verschwinden ließ. »Eigentlich wäre ich froh, wenn ich an einem solchen Tag nicht in Schongau sein muss«, sagte er. »Wir können nur hoffen, dass das Wetter schlecht bleibt. Das würde dem Lechner einen Strich durch die Rechnung machen, denn dann fällt wenigstens sein Fest aus.« Jakob Schreevogl blickte nun ebenso in das Weiß draußen vor dem Fenster. »Ihr wisst, ich habe mich im Rat gegen das Rädern ausgesprochen. Es ist ... bestialisch, ein Überbleibsel aus einer Zeit, von der ich dachte, das wir sie hinter uns gelassen haben. Aber der Krieg hat uns offenbar wieder zu Tieren werden lassen.« Er seufzte. »Als 406
Ratsherr muss ich leider der Hinrichtung beiwohnen, wahrscheinlich bin ich einer der wenigen, denen das Spektakel keine Freude bereitet.« Der Patrizier winkte Simon aus dem Zimmer, wo neben Claras Krankenbett immer noch die betende Maria Schreevogl kniete. Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt der Ratsherr Simon noch einmal an der Schulter fest. »Ich habe über das nachgedacht, was Ihr mir erzählt habt. Auch über diesen Spruch, den die Männer in der Krypta geflüstert haben. Dieses›Deus lo vult‹. Lange habe ich überlegt, woher ich diesen Spruch kenne.« »Und?«, fragte Simon. »Gestern Nacht ist es mir wieder eingefallen. Es ist der Spruch, mit dem die Kreuzritter damals in den Krieg zogen. Ihr Kampfruf in der Schlacht gegen die Ungläubigen. ›Gott will es.‹ Damit entschuldigten sie all ihre Massaker an den Sarazenen. Weil Gott es so wollte …« Simon schüttelte den Kopf. »Ein alter Kreuzfahrerspruch auf den Lippen von Meuchlern und Banditen. Was für Verrückten sind wir da nur auf der Spur?« Er zögerte. »Kennt Ihr eigentlich den Augsburger Bischof? «, fragte er schließlich. »Den Augsburger Bischof?« Der Ratsherr runzelte die Stirn. »Nun, ich habe ihn ein- oder zweimal in der Reichsstadt bei größeren Empfängen gesehen. Ein junger ehrgeiziger Mann, sagt man. Sehr bibeltreu soll er sein, manche bezeichnen ihn sogar als bigott.« Schreevogl lächelte leise. »Der Papst wird schon wissen, warum er gerade nach Augsburg, in diesen Sündenpfuhl voller Protestanten, einen seiner strengsten Hirten schickt. Aber warum fragt Ihr?« 407
Simon zuckte mit den Schultern. »Nichts. Eine Ahnung, nichts weiter. Vermutlich ist es kompletter Unsinn.« Jakob Schreevogl drückte ihm fest die Hand. »Seid auf alle Fälle wachsam. Und da ist noch etwas …« »Ja?« »Dieser Friedrich Wildgraf. Irgendwo habe ich seinen Namen schon einmal gelesen.« Der Patrizier biss sich auf die Lippen. »Wenn ich nur wüsste, wo!« Simon nickte. »Mir geht es ähnlich. Es ist, als würde ein Gespenst durch meinen Kopf spuken. Aber immer wenn ich versuche, es festzuhalten, löst es sich in Rauch auf. Ich glaube, es hat etwas mit diesem kleinen Büchlein über die Templer zu tun, das Ihr mir gegeben habt. Könnt Ihr es noch zwei Tage entbehren?« »Sicher«, sagte der Patrizier. »Wenn nur meine Clara wieder gesund wird.« Sie waren mittlerweile unten an der Tür angelangt. Schneeflocken trieben über die Schwelle ins Innere des Hauses. »Ich wünsche Euch viel Glück. Geht mit Gott!« Jakob Schreevogl sah Simon noch einmal fest in die Augen und schloss dann die Tür. Der Medicus wandte sich zum Gehen. Plötzlich stutzte er. Unten auf der Straße stand Benedikta. Sie hatte ihr Pferd bepackt und aufgezäumt und winkte wie zum Abschied. Magdalena starrte nach oben zum gütig blickenden Jesus an der Decke, aber der konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Die Zeit zerrann wie zähes Pech. Seit drei Tagen war sie nun in dieser Kapelle eingesperrt. Drei Tage des Wartens, Fluchens und gelegentlichen Weinens. Am Anfang hatte 408
sie ständig über Flucht nachgedacht, doch das einzige Fenster, drei Schritt über dem Altar, war nur handtellergroß und außerdem aus einer Art durchsichtigem Stein gefertigt. Magdalenas anfängliche Schreie waren ungehört an den Wänden der Kapelle verhallt. Die Tür erwies sich als massiv, ausgestattet mit einem Schloss und einem zusätzlichen Riegel. In Kopfhöhe befand sich eine Luke, durch die ihr Kerkermeister, der Mönch, in regelmäßigen Abständen einen Blick warf. Überhaupt war Bruder Jakobus der einzige Gesprächspartner, den sie in diesen drei Tagen hatte. Er brachte ihr Essen und Trinken, versorgte sie mit Decken, und er schaffte auch täglich den Eimer weg, in den sie in einer Ecke unter den Augen aller Erzengel und Evangelisten ihre Notdurft verrichten musste. Bevor Jakobus die Kapelle betrat, öffnete er jedes Mal die Luke in der Tür. Magdalena musste sich in Sichtweite in eine der Gebetsbänke setzen, erst dann schob er den Riegel beiseite. Auf diese Weise sollte es ihr unmöglich sein, ihn beim Eintritt in das Gewölbe zu überwältigen. Den Plan, den Mönch später in der Kapelle anzugreifen, hatte sie bald wieder verworfen. Der Mönch war hager, aber ausgesprochen zäh und muskulös. Außerdem trug er immer den Dolch an seiner Seite, von dem Magdalena vermutete, dass er vergiftet war. Anfangs hatte sie sich geweigert, mit ihm mehr als nur ein paar Worte zu wechseln, obwohl Bruder Jakobus mehrmals versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch mit der Zeit war ihr in der zugigen Kapelle immer langweiliger geworden. Sie kannte mittlerweile die Deckengemälde auswendig; sie wusste, wie viele Schritte es 409
vom Altar zur Tür und von dem Marienschrein zum Altar waren. Das einzige Buch, das ihr zur Verfügung stand, war ein zerfleddertes Gotteslob mit katholischen Kirchenliedern, das sie bereits anfing, auswendig zu lernen. Am zweiten Tag ließ sie sich schließlich auf die meist endlosen bigotten Ausführungen des Mönchs ein, die vor Zitaten aus der Bibel strotzten. Bruder Jakobus begegnete ihr mit einer Mischung aus Verachtung, Hass und... ja, Verehrung. Eine Mischung, die Magdalena mehr und mehr verwirrte. Oft strich Jakobus ihr durchs Haar, um im nächsten Moment wieder wütend zwischen den Kirchenbänken auf und ab zu marschieren. Mehr als einmal hatte sie Angst gehabt, er könnte ihr in einem Anfall plötzlichen Wahnsinns die Kehle durchschneiden. »Es wart ihr Frauen, die das Übel über die Welt gebracht haben!«, dozierte er mit erhobenem Zeigefinger. »Ihr aßt den Apfel, seitdem leben wir in Sünde!« »Ach, und Adam stand nur dabei und sah zu?« Magdalena konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. Doch schon im nächsten Moment bereute sie es. Bruder Jakobus trat nahe an sie heran und fasste ihren Kopf wie einen reifen Kürbis zwischen beide Hände, als wollte er ihn zerquetschen. » Sie hat ihn überredet, verstehst du?«, murmelte er. »Adam war nur einen Moment lang schwach, doch Gott duldet keine Schwäche. Nicht für einen Augenblick. Er hat uns alle bestraft! Uns alle!« Wieder konnte sie sein süßliches Parfum riechen. Erst jetzt fiel Magdalena auf, dass hinter dem Duft von Veilchen noch ein anderer Geruch lag, ein fauler, penetranter Odem. Der ganze Körper des Mönchs roch wie ein Stück 410
verrottetes Fleisch. Bruder Jakobus stank aus dem Mund wie eine Kloake, schwarze Stummel standen schräg im eitrigen Zahnfleisch; auf seiner weißen Tunika, die er unter dem schwarzen Kapuzenmantel trug, zeichneten sich nasse Flecken ab, die, wie sie irgendwann begriff, von Geschwüren herrühren mussten. Magdalena sah, dass Jakobus’ Tonsur nicht von Hand geschnitten war; dem Mönch waren schlicht die Haare in der Mitte der Kopfhaut ausgefallen. Bruder Jakobus schien sich von innen her aufzulösen. Die Henkerstochter erinnerte sich, dass sie diese Merkmale schon einmal bei einem Genueser Händler gesehen hatte, der ihren Vater vor einigen Jahren aufgesucht hatte. Unter offenbar grauenhaften Schmerzen war der Mann in das Schongauer Henkershaus getaumelt; die Haare hatte er gleich büschelweise verloren, wie Wollflusen, die von einer Spindel wehten. Jakob Kuisl hatte von der französischen Krankheit gesprochen und den merkwürdig zuckenden Händler mit einer Phiole Quecksilber und einem Trank aus Schlafmohn, der die Schmerzen lindern sollte, weggeschickt. Als Magdalena wissen wollte, ob der Händler geheilt werden könne, hatte ihr Vater nur den Kopf geschüttelt. »Er ist schon zu lange krank«, hatte er damals gesagt. »Wenn er Glück hat, stirbt er, bevor der Wahnsinn ihn ganz in seinen Klauen hält.« Hielt der Wahnsinn auch Bruder Jakobus in seinen Klauen? Magdalena fragte sich, was der Mönch mit ihr vorhatte. Es gab Momente, in denen er ihr sanft über den Kopf streichelte oder beinahe liebevoll durchs Haar fuhr; sein Geist schien dann auf Reisen zu gehen. Bei einem dieser 411
Zwischenfälle hatte Bruder Jakobus ihr sein Herz ausgeschüttet. »Als ich noch jung war, liebte ich einmal ein Mädchen wie dich«, flüsterte er. »Eine... Hure, sie hieß Magdalena. Sie hat Verderben über sich und über mich gebracht. Ich war ein lüsterner Geck, ein betrunkener Narr, der durch Augsburg taumelte, immer auf der Suche nach dem nächsten Vergnügen. Aber dann schickte Gott mir ein Zeichen. Er strafte mich mit dieser Krankheit, und ich brach zusammen vor der Dominikanerkirche Sankt Magdalena!« Er kicherte leise. »Sankt Magdalena, was für eine göttliche Ironie!« Das Kichern ging in ein rasselndes Husten über, es dauerte eine ganze Weile, bevor er weitersprechen konnte. »Seitdem habe ich mein Leben ganz in den Dienst des Ordens gestellt. Und nun gibt Gott mir die Möglichkeit, das Vergangene wiedergutzumachen. Magdalena ... « In Erinnerungen schwelgend strich er ihr über die Wangen. »Meine Magdalena ist tot. Aber du kannst geheilt werden. Ich werde die Dämonen aus dir heraustreiben wie Rauch und Gestank aus einer stickigen Bauernstube.« Magdalena schloss die Augen. Sie ließ ihn weiter aus der Bibel zitieren und dachte währenddessen krampfhaft über einen Ausweg nach. Ihre Ausgangslage war mehr als ungünstig. Die Tür war unüberwindbar, das Fenster zu klein. Sie wusste weder, wo sie sich befand, noch, wie viele weitere Wachen Bruder Jakobus zur Seite standen. Außerdem war sie unbewaffnet. Geschätzte zwei Tage war Magdalena im Sarg unterwegs gewesen, bei ihrem letzten Halt hatten die Menschen schwäbisch gesprochen. War sie also schon 412
jenseits der bayerischen Landesgrenzen? Oder vielleicht wieder irgendwo in Augsburg? War sie mit einem Schiff weggeschafft worden? Alles, was sie wusste, war, dass sie sich in der Nähe einer großen Kirche befinden musste. In regelmäßigen Abständen läuteten die Glocken, es waren große, schwere Glocken, wie sie sich nur eine reiche Kirchengemeinde leisten konnte. Zum hundertsten Mal verfluchte sie sich für ihre Dummheit. Warum hatte sie keinen benachrichtigt, bevor sie in das verborgene Gewölbe unter den Dom gestiegen war! Ihre Gefangennahme war für Jakobus und seine Komplizen ein Glücksfall sondergleichen gewesen. Offenbar waren Magdalena, ihr Vater und Simon einer großen Verschwörung auf der Spur, mit dem Augsburger Bischof an der Spitze! Mit der Henkerstochter als Faustpfand konnten die Verschwörer nun dafür sorgen, dass dieser mysteriöse Templerschatz nicht in falsche Hände fiel. Magdalena war sich sicher, ihr Vater und auch Simon würden alles tun, um sie zu befreien. Simon … Der Gedanke an ihn verursachte ihr ein Kribbeln in der Magengegend. Gemeinsam wäre ihnen sicher eine Lösung eingefallen, um aus diesem Verlies zu entkommen. Es war seine Klugheit, was ihr an dem jungen Medicus immer am meisten gefallen hatte. Simon war schlau, humorvoll, wissenshungrig und – nun, vielleicht ein winziges bisschen zu klein geraten. Magdalena lächelte, wenn sie an ihre gemeinsamen Erlebnisse dachte. An Gewitztheit nahm es Simon sogar mit ihrem Vater auf, und das wollte etwas heißen. Auch das Rätsel unten in der Krypta der Lorenzkirche hatte der Me413
dicus allein gelöst. Aber dann hatte sich diese verfluchte Benedikta zwischen sie gestellt, dieses vornehme, blasierte Weibsbild aus Landshut! Sogar hier unten in ihrem Verlies trieb der Gedanke an Simon und Benedikta Magdalena die Zornesröte ins Gesicht. Der Sauhund sollte ihr nur in die Finger kommen! Dann fiel ihr wieder ein, dass sie zurzeit andere Probleme hatte. Um sich abzulenken, dachte sie noch einmal über das Gespräch nach, das sie gestern mit Bruder Jakobus geführt hatte. Es war um den Schatz gegangen. Mehrmals hatte sie den Mönch gefragt, was dieser Schatz denn nun sei und ob es sich dabei wirklich um das Vermächtnis der Templer handelte, doch Jakobus war all ihren Fragen ausgewichen. »Es ist ein Schatz, der über die Zukunft der Christenheit entscheidet«, sagte er und richtete den Blick zum Heiland an der Decke. »Mit IHMwerden wir die Heere der lutherischen Ketzer endgültig schlagen! Sobald unser Meister dem Papst von IHM berichtet hat, wird auch er sich dem Glaubenskampf anschließen und die protestantischen Fürsten aus dem Deutschen Reich vertreiben. Der Meister weiß, dass der Große Krieg noch nicht zu Ende ist!« »Wer ist dein Meister?«, unterbrach ihn Magdalena. »Der Augsburger Bischof?« Bruder Jakobus lächelte. »Wir sind viele.« Die Nächte waren klamm. Auch unter den Wolldecken und im warmen Schein der Kerzen, die der Mönch immer wieder erneuerte, fror sie. Ihr Glieder waren steif und kribbelten, weil es ihr an Bewegung fehlte. Ob es Tag war oder Nacht, erkannte sie nur an dem kleinen blinden Fens414
ter, das einen schmalen Streifen Licht hereinließ. Oft dämmerte sie auch tagsüber dahin. Sie war verzweifelt. Der dritte Tag brachte die Wende. Es war gegen Mittag. Sie döste gerade auf einer der Kirchenbänke, um nicht mehr auf dem kalten Steinboden liegen zu müssen. Doch im Halbschlaf rollte sie von der schmalen Bank. Fluchend richtete Magdalena sich zwischen den Decken auf, als sie unter der Bank ein kleines Bündel bemerkte. Sie stutzte, dann griff sie eilig danach. Es war der Beutel mit den Kräutern, den sie seit ihrem Besuch des Augsburger Apothekers vor vier, fünf Tagen bei sich getragen hatte. Das Säcklein musste sich wohl irgendwann von ihrem Rockbund gelöst haben und war dann unter die Bank gerutscht. Magdalena hatte es einfach vergessen. Vorsichtig löste sie die Schnur und blickte in den Beutel. Ein würziger Duft nach Kräutern stieg ihr in die Nase. Noch immer befanden sich alle Ingredienzien darin, die sie beim Augsburger Apotheker Nepomuk Biermann hastig hineingeschaufelt hatte. Ein wenig zerkrümelt zwar, aber immer noch verwendbar. Magdalena rieb die getrockneten Kräuter nachdenklich zwischen den Fingern. In ihr reifte ein Plan. Simon sah vom erhöhten Portal des Schreevogl-Anwesens auf Benedikta hinunter, die in kompletter Reisemontur am Fuß der Treppe stand. In ihrer Hand führte sie das Halfter ihres gesattelten Pferdes. Nervös tänzelte der Fuchs hin und her , an beiden Seiten des Sattels waren prall gefüllte Taschen befestigt. 415
»Ich habe Euch gesucht«, sagte Benedikta und tätschelte beruhigend ihr Pferd. »Man hat mir gesagt, dass ich Euch hier antreffe. Ich möchte mich verabschieden.« »Verabschieden?« Simon sperrte den Mund auf. Die Händlerin schwang sich in den Sattel. »Nach unserer letzten Begegnung habe ich das Gefühl, dass es besser ist, wenn ich gehe. Und wenn ich ehrlich bin, mag ich diesem ganzen Geraune von Schätzen und Meuchlern immer noch nicht so recht glauben. Meinen Bruder bringt das auch nicht wieder zurück. Ich wünsche Euch also viel Glück!« »Benedikta, wartet!« Simon eilte die Treppenstufen hinab auf sie zu. »Ich hab das nicht so gemeint vor zwei Tagen im Wirtshaus. Ich war wohl etwas zu harsch. Es ist nur …« Er stockte. Sein Blick fiel auf die vornehme Dame aus Landsberg, die in ihrem Pelzmantel mit bauschendem Rock und Kapuze so anders aussah als all die Schongauer Frauen, die ihm nur zu gerne den Hof machten. Ein Besuch aus einer andere Welt, der jetzt wieder verschwand und ihn in dem dreckigen kleine Provinznest zurückließ. »Was ist, Medicus? « Sie sah ihn abwartend an. »Es tut mir leid, ich war ein Narr. Ich ... ich würde mich wirklich freuen, wenn Ihr mir bei der weiteren Suche behilflich sein würdet.« Simon sprach, ohne nachzudenken, die Worte flossen nur so aus ihm heraus. »Es ist sogar gut möglich, dass ich Euer selbstbewusstes, bürgerliches Auftreten noch einmal dringend brauche! Der Rottenbucher Propst wird sich von einem kleinen Feldscher vermutlich wenig sagen lassen. Aber von Euch …« 416
»Rottenbuch? «, warf Benedikta neugierig ein. »Das Rätsel führt nach Rottenbuch?« Simon seufzte. Ohne es zu merken, hatte er bereits eine Entscheidung getroffen. »Lasst uns im Semer-Wirtshaus in eines der ruhigen Nebenzimmer gehen«, sagte er. »Dort werde ich Euch alles Weitere erklären. Wir sollten noch heute aufbrechen.« Benedikta lächelte und blickte auf den Medicus hinab, der versuchte, ihrem nervösen Pferd auszuweichen. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Ich bleibe. Aber diesmal leihen wir uns für Euch ein Pferd aus, hier in der Poststation. Ein gehorsames und schnelles. Es kann ja sein, dass wir vor irgendwelchen Räubern fliehen müssen, nicht wahr?« Das Rottenbucher Kloster befand sich nur zehn Meilen von Schongau entfernt und war zu Pferde in weniger als zwei Stunden zu erreichen. Benedikta ritt so schnell und anmutig, dass Simon Mühe hatte, hinterherzukommen und dabei nicht aus dem Sattel zu fallen. Die verschneiten Bäume rasten nur so an ihnen vorbei. Im leichten Schneegestöber musste Simon oft blinzeln oder kurz die Augen schließen. Dann überließ er dem Pferd ganz die Führung, es schien besser als er zu wissen, wohin die Reise ging. Sie hatten sich in der Poststation des Semer-Wirts für ein paar Silberpfennige einen jungen Schimmel ausgeliehen. Benedikta hatte gezahlt, und es war Simon ein wenig peinlich gewesen, als sie ihre Börse zückte und dem Postmeister die Münzen in die Hand drückte. Nun musste der Medicus unwillkürlich grinsen. Diese Frau ließ sich 417
von einem Mann nichts befehlen, und sie nahm auch nichts von einem Mann. In diesen Punkten, dachte Simon, glichen sich Benedikta und Magdalena aufs Haar. Vielleicht waren sie ja doch nicht so verschieden. Vielleicht hätte aus Magdalena unter anderen Umständen auch eine Benedikta werden können. Nach nicht einmal zwei Stunden hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Wald tat sich auf, und vor ihnen erstreckte sich eine weite, schneebedeckte Fläche, auf der sich Häuser, Kirchen, Mauern und Torbögen als bunte Punkte hervorhoben. Im Umkreis von einer Meile hatte der Mensch der umliegenden Wildnis ein Stück Land abgetrotzt, in dessen Mittelpunkt sich das Rottenbucher Kloster erhob. Auf einer Straße, die aus den gegenüberliegenden Wäldern kam, erblickte Simon eine Gruppe schweigender Mönche, die einem jammernden Bettler ein Almosen gaben. Ein Bauer mit einem Kälbchen an der Leine überquerte die gepflasterte Hauptgasse. An vielen der noch unverputzten Gebäude lehnten Leitern und Baugerüste; Handwerker mit Eimern, Schaufeln und Kellen hasteten an ihnen vorbei. Ebenso wie in Steingaden waren die Menschen hier offenbar damit beschäftigt, die Trümmer des Krieges beiseitezuschaffen und ein neues, größeres, noch schöneres Kloster zu bauen. Simon und Benedikta ritten durch einen Torbogen auf den weitläufigen Vorplatz des Augustinerchorherrenstifts. Ein gewaltiger Glockenturm ragte vor ihnen empor, links befand sich die Kirche, daneben das Klostergebäude, das im Gegensatz zu den anderen Häusern bereits in frischem Putz erstrahlte. Nachdem sie ein Quartier gefunden und 418
die Pferde im angrenzenden Stall abgestellt hatten, machten sie sich auf die Suche nach dem Propst. Simon setzte eine wichtige Miene auf und wendete sich an einen der Chorherren, die gerade auf dem Weg in die Kirche waren. »Bruder, auf ein Wort! Wir suchen den ehrwürdigen Vorsteher dieses wunderschönen Klosters. Könnt Ihr uns weiterhelfen?« »Unseren hochwürdigsten Bruder, Propst Michael Piscator? Da habt Ihr Glück.« Der Mönch zeigte auf einen älteren, etwas dicklichen Mann in der typischen weißen Albe der Augustinerchorherren, der nur unweit zwischen einigen Handwerkern stand. Offenbar war er damit beschäftigt, den Baumeistern die heutigen Aufgaben mitzuteilen. »Ihr findet ihn wie so oft bei seiner Lieblingsbeschäftigung«, sagte der Chorherr und zwinkerte. »Dem Kirchenbau. Für ihn die höchste Form der Anbetung Gottes.« Grinsend verschwand er unter dem Klosterportal. Simon musste an den Steingadener Abt Augustin Bonenmayr denken, der sich ebenso wie der Rottenbucher Propst offenbar ganz dem Neubau seines Klosters verschrieben hatte. Wenn die Kirchenoberen so weitermachten, würden im Pfaffenwinkel, da war sich Simon sicher, bald die schönsten Klöster Bayerns stehen. »Euer Gnaden?« Benedikta ging auf die Gruppe zu und machte vor dem Propst einen Knicks. Wie so viele Mönche schien Bruder Michael dem weiblichen Geschlecht nicht unbedingt abgeneigt zu sein. Er stutzte, dann machte er eine leichte Verbeugung und reichte Benedikta seine mit dem Siegelring des Klosters geschmückte Hand. 419
»Meine Verehrung, schöne Dame. Wie kann ich Euch dienen?« Die Handwerker und Architekten packten enttäuscht ihre Pläne weg, während Benedikta den Siegelring küsste. Simon sprang ihr zur Seite und zog seinen Hut; sie spielten das gleiche Stück, das schon in Wessobrunn Erfolg gehabt hatte. »Erlaubt mir, die Dame vorzustellen. Vor Euch steht keine Geringere als Madame de Bouillon, die Hofschneiderin der Mätresse des französischen Königs«, erklärte der Medicus. »Sie ist den weiten Weg von Paris gereist, um in Rottenbuch die berühmten Reliquien der Heiligen Primus und Felicianus zu sehen.« Simons Stimme ging in ein Flüstern über, er beugte sich zum Propst vor. »Sie hat ein Gelübde abgelegt, nicht eher wieder das Bett mit ihrem Mann zu teilen, bis sie die Gebeine der Märtyrer geküsst hat.« Benedikta sah ihn verdutzt von der Seite an, doch Simons Blick blieb ernst. »Der arme Ehemann«, seufzte Bruder Michael. »Was für eine Verschwendung! Darf ich fragen, warum sich die Dame genau diese beiden Heiligen für ihre weite Pilgerfahrt erwählt hat?« »Sie hat ihren neugeborenen Zwillingen die Namen Primus und Felicianus gegeben«, erläuterte Simon mit fester Stimme. »Doch sie sind schwer erkrankt, und nun erhofft sie sich durch die Pilgerfahrt, von unserer lieben Jungfrau Maria erhört zu werden.« »Zügelt euch, verdammt!«, flüsterte ihm Benedikta ins Ohr. »Ihr tragt zu dick auf. Das glaubt uns doch kein Mensch!« 420
Doch der Propst nickte mitfühlend. »Was für ein Unglück! Ich werde Euch persönlich zu den Reliquien begleiten. Folgt mir!« Simon grinste Benedikta verstohlen an, dann folgten sie Bruder Michael, der schnaufend mit kleinen Schritten auf die Kirche zusteuerte. Dabei deutete er auf die Handwerker, die auf Baugerüsten balancierten und gerade die alten, zerbrochenen Kirchenfenster gegen neue, bunte Gläser auswechselten. »Dieses Kloster wird in ein paar Jahren ein Juwel in Bayern sein, glaubt mir!«, rief der Propst nach hinten. »Eine Pilgerstätte ohnegleichen! Wir beherbergen hier nicht nur die Reliquien des heiligen Primus und des heiligen Felicianus, sondern auch zwei Zähne der heiligen Binosa, einige Haare der Jungfrau Maria, ein Fingerknöchelchen des heiligen Blasius, den Schädel des heiligen Laurentius sowie ein Schlüsselbein der heiligen Brigida, um nur die wichtigsten zu nennen.« Er öffnete die Türe zur Kirche, und Simon erblickte eine Pracht, die für die einfachen Menschen der Gegend wie der Himmel auf Erden sein musste. Leuchtende Malereien von Engeln und Heiligen ließen die Decke unendlich hoch erscheinen, marmorne Grabplatten zeugten von früheren Rottenbucher Pröpsten; eine gewaltige Orgel mit mannshohen Orgelpfeifen thronte über dem Portal. An der gegenüberliegenden Ostwand befand sich ein Hochaltar, der gewiss vier Schritt in die Höhe reichte. In der Mitte war die Himmelfahrt Mariens dargestellt, flankiert von den Aposteln Petrus und Paulus. Daneben standen aufrecht in gläsernen Särgen zwei Skelette. Jedes der Gerippe hatte 421
ein Schwert in der Hand und einen Lorbeerkranz auf dem kahlen Schädel. »Die Heiligen Primus und Felicianus ... «, hauchte Bruder Michael und deutete auf die Skelette. »Sind sie nicht wunderschön? Wir haben sie zum Zeitpunkt der Einweihung unseres neuen Altars an diese Stelle gebracht. Schützend und wohlwollend blicken sie auf uns herab!« Er wandte sich ab. »Ich lasse Euch jetzt mit den Reliquien alleine.« »Äh, verzeiht«, flüsterte Simon. »Aber Madame de Bouillon hat versprochen, dass sie die Gebeine der Heiligen küsst.« »Küsst?« Der Propst sah ihn entgeistert an. »Ah oui! «, mischte sich Benedikta mit französischem Zungenschlag ein. »Ich muss mit den Lippen ihre heiligen Knochen, wie sagt man ...em brasser ... küssen! Nur dann ist das Gelübde erfüllt.« »Ich bin untröstlich, Madam, aber das ist unmöglich.« Der Propst deutete zum Hochaltar. »Ihr seht selbst, die Gebeine befinden sich dort oben, außerhalb unserer Reichweite. Außerdem sind die Särge verschlossen. Schickt einen Kuss mit Eurer Hand hinauf. Ich bin sicher, Gott wird es verstehen.« »Mais non! «, rief Benedikta. »Ich muss sie küssen. Mes enfants ... Meine Kinder ... « Sie fasste sich ans Dekolleté. »Sie werden sonst nie wieder gesund!« Doch Bruder Michael ließ sich nicht erweichen. »Glaubt mir , es ist unmöglich. Aber ich werde Eure Kinder in die Fürbitten meiner Abendmesse einschließen. Sagt mir nur ihre Namen, und ich …« 422
»Liebster Bruder Michael! Die Handwerker haben mir gesagt, dass ich Euch hier antreffen werde. Was für wunderbare Fenster Ihr doch einbauen lasst!« Die Stimme kam aus Richtung des Kirchenportals. Als Simon sich dorthin wendete, blieb ihm fast das Herz stehen. Mit eiligen Schritten, die Arme zum Gruß ausgebreitet, näherte sich Augustin Bonenmayr, der Steingadener Abt. Jetzt erkannte auch Michael Piscator seinen Kollegen aus dem Prämonstratenserkloster. »Hochwürden, was verschafft mir die Ehre?« Bonenmayr schüttelte dem Steingadener Propst überschwenglich die Hände. »Ich habe einige Besorgungen in Schongau und Peißenberg zu machen. Die neue Kapelle, oben auf dem Aichanger, ist in einem grauenhaften Zustand! Und wer muss sich mal wieder darum kümmern?« Er seufzte. »Ich hatte gedacht, dass ich auf dem Weg dorthin bei Euch eine Rast einlege. Es gibt so viel zu besprechen, was den Umbau unserer Kloster angeht. Ihr müsst mir unbedingt Euren Glaser nennen. Venedig? Florenz?« Bruder Michael lächelte. »Das werdet Ihr nie erraten. Versprecht mir, dass Ihr über Nacht bleibt, dann verrate ich Euch vielleicht den Künstler.« »Wenn Ihr darauf besteht ... « Erst jetzt bemerkte der Steingadener Abt Simon und Benedikta, die soeben versuchten, unbemerkt hinter den Säulen zu verschwinden. »Was für ein Zufall, die junge Witwe aus Landsberg! «, rief er ihnen hinterher. »Und Simon Fronwieser! Nun, seid Ihr bei den Erkundigungen wegen des Giftmords schon 423
vorangekommen? Oder bewerbt Ihr Euch in Rottenbuch um eine Stelle als Medicus?« Michael Piscator blickte von Bonenmayr hin zu Benedikta und Simon, die wie vom Blitz getroffen zwischen den Säulen stehen geblieben waren. »Landsberg? Giftmord ... ? «, fragte der Propst verwirrt. »Danke. Wir ... wir ... Es hat sich alles geklärt«, stotterte Simon. »Aber nun wollen wir die hohen Herren nicht länger stören. Hochwürden haben sicher einiges zu bereden.« Er zog Benedikta mit sich und ließ die beiden Herren alleine in der Kirche stehen. Draußen auf dem Vorplatz fing Simon lauthals zu fluchen an, so dass sich einige Chorherren nach ihnen umblickten. »Kruzitürken! Was für ein Pech! Der Steingadener Abt wird Bruder Michael sicher erzählen, wer wir eigentlich sind, und dann fliegt unsere ganze Maskerade auf!« »Eine Maskerade, mit der Ihr angefangen habt!«, erwiderte Benedikta schnippisch. »Ach, und was hätten wir denn in Wessobrunn und hier in Rottenbuch erzählen sollen? Guten Tag, wir suchen den Schatz der Templer. Dürfen wir Eure Reliquien schänden?« Simon redete sich in Rage. Mittlerweile drehten sich immer mehr Mönche nach ihnen um, einige fingen bereits an zu flüstern. Benedikta lenkte schließlich ein. »Wie dem auch sei, der Propst wollte uns die Särge ohnehin nicht öffnen lassen. Auf seine Hilfe können wir also getrost verzichten.« »Umso schlimmer«, zischte Simon. »Dann werden wir nie erfahren, ob in den Reliquien eine Botschaft versteckt ist. Was jetzt?« 424
Benediktas Blick glitt über die nackten Fensteröffnungen der Kirche, in die Handwerker soeben die neuen Gläser einsetzten. Die Männer standen auf einem wackligen Baugerüst und hoben die bunten Scheiben vorsichtig mit einem Flaschenzug empor. Simon war sich sicher, dass jedes einzelne dieser Fenster ein Vermögen kostete. »Wenn uns der Propst die Särge nicht öffnet, müssen wir sie eben selber aufbrechen«, sagte Benedikta. »Primus und Felicianus können sicher ein wenig Frischluft vertragen.« »Und wie wollt Ihr das anstellen?« Benedikta deutete noch einmal auf die Fensteröffnungen. »Wir werden den beiden verstaubten alten Herren kommende Nacht einen Besuch abstatten«, sagte sie. »Die Glaser werden heute sicher nicht mit ihrer Arbeit fertig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kirche bewacht wird. Vermutlich denkt der Propst, dass jeden Grabräuber ohnehin der Blitz trifft.« »Wieso seid Ihr Euch so sicher, dass uns nicht der Blitz trifft?«, flüsterte Simon. »Der Raub von Reliquien ist ein Frevel, der ... « Doch die Händlerin war bereits vorausgeeilt. Keiner von beiden bemerkte die zwei Gestalten, die sich zwischen den anderen Mönchen verborgen hatten. Wie lange Schatten glitten sie nun aus der Gruppe hervor und nahmen wieder ihre Spur auf. In seiner Zelle in der Schongauer Fronfeste drehte der Räuberhauptmann Scheller die Giftpille zwischen den Fingern und schaute auf das Schneetreiben vor seinem vergitterten Fenster. Hinter ihm dösten manche seiner 425
Kumpane bereits ihrem Tod entgegen, die Weiber greinten, Väter verabschiedeten sich flüsternd von ihren Kindern. Sie erzählten ihnen von einem Paradies, das auch Räubern und Huren offenstand und wo sie sich alle wieder begegnen würden. Sie sprachen von einem besseren Leben in einer anderen Welt und ließen den zehnjährigen kranken Knaben beim lieben Herrgott und der Jungfrau Maria schwören, ein anständiges Leben zu führen. Sie hatten geraubt und getötet, doch jetzt wurden die meisten von ihnen zu reuigen Sündern. Einige beteten. Morgen würde der Stadtpfarrer kommen und ihnen die letzte Beichte abnehmen. Hans Scheller starrte die kleine Kugel an und dachte zurück an sein bisheriges Leben. Wie hatte es nur so weit kommen können? Er war ein Zimmermann in Schwabmünchen gewesen, er hatte ein Weib und ein Kind gehabt. Als kleiner Bub hatte er der Hinrichtung des berüchtigten Frauenmörders Benedikt Lanzl beigewohnt, der unter den Hieben des Henkers zwei Tage lang geschrien hatte. Geflochten auf ein Rad, war der Straßenräuber und Brandstifter der Mittelpunkt eines Spektakels gewesen, wie es der kleine Hans bisher noch nie gesehen hatte. Das Schreien dieses Benedikt Lanzl hatte den Knaben noch bis in den Schlaf verfolgt. Manchmal hörte Hans Scheller es heute noch. Niemals hätte er gedacht, dass auch er einst dort oben auf dem Holzpodest stehen würde. Aber Gottes Wege waren unergründlich. Hans Scheller seufzte, schloss die Augen und ließ die Erinnerungen in sich hineinströmen. Ein lachender, mit Brei verschmierter Kindermund... Sein Weib gebückt über 426
dem Waschtrog... Ein Gerstenfeld im Sommer, ein gutes Glas Bier... Der Geruch von frisch geschnittenem Fichtenholz... Es war viel Schönes dabei gewesen, er konnte mit leichtem Herzen gehen. Aber er war dem Henker noch einen Gefallen schuldig. Gestern Nacht war ihm etwas eingefallen, eine Winzigkeit, die er früher nicht weiter beachtet hatte. Aber jetzt, nach all dem, was Jakob Kuisl ihm erzählt hatte, erschien es ihm plötzlich wichtig. Er würde es dem Henker morgen auf dem Schafott erzählen. Hans Scheller lehnte sich an die eiskalte Wand der Zelle, drehte die kleine Pille zwischen den Fingern und pfiff ein altes Kinderlied. Er war schon fast zu Hause. Er hieß Bruder Nathanael. Diesen Namen hatte ihm vor langer Zeit der Orden gegeben, seinen richtigen Namen hatte er irgendwann vergessen. Dort, wo er herkam, brannte die Sonne heiß vom Himmel herab, eine flirrende, nie enden wollende Hitze, und so erschien ihm der Schnee, der nun in weichen Flocken zur Erde fiel, wie ein persönlicher Abgesandter der Hölle. Unter seiner dünnen Tunika und dem schwarzen Kapuzenmantel fröstelte er. Nathanael biss die Zähne zusammen, doch er klagte nicht. Sein früherer Meister hatte ihn ausgebildet, hart zu sein. Er war ein Hund des Herrn, und sein Befehl lautete, der Frau und dem Mann zu folgen. Sollten die beiden den Schatz finden, dann würde er sie schnell und lautlos töten, den Schatz bergen und 427
der Bruderschaft Bericht erstatten. So lautete sein Auftrag. Zitternd vor Kälte, spielte er mit dem Dolch in seiner Hand und drückte sich an die mit Frost überzogene Klostermauer. Schneeflocken schmolzen auf seinem braungebrannten, vernarbten Gesicht. Er war in Kastilien geboren, nahe der prächtigen Stadt Salamanca; der jetzige Auftrag erschien ihm wie eine Prüfung Gottes. Der Herr selbst hatte ihn in diese unwirtliche, abgelegene Gegend geschickt, und er hatte ihn zusätzlich mit Bruder Avenarius gestraft. Der feiste, kleingewachsene Schwabe, der neben ihm an der Mauer seine Gebete murmelte, war ihm und Bruder Jakobus in Augsburg vom Meister persönlich zur Seite gestellt worden. Bruder Avenarius kannte sich in der Schrift aus wie kein Zweiter, er wusste alles über den Schatz, er war der Rätsellöser , aber als Kampfgefährte war er ungefähr so brauchbar wie ein altes Weib. Gerade jetzt fing er zum wiederholten Mal zu jammern an. »Jesusmaria! Warum können wir nicht zurück in unser Quartier?« Avenarius sprach breitestes Schwäbisch, das alleine trieb Bruder Nathanael manchmal zur Weißglut. »Wer kann schon sagen, ob die beiden wirklich heute Nacht in die Kirche einbrechen?«, klagte der Schwabe. »Und selbst wenn sie’s tun, dann müssen wir uns ihnen morgen doch nur wieder anschließen! Also, was soll das?« Nathanael ließ den Dolch durch seine Finger gleiten. Vom Zeigefinger zum Mittelfinger, zum Ringfinger und wieder zurück. Eine Übung, die er stundenlang betreiben konnte. Sie beruhigte ihn. 428
»Ich habe es dir schon mehrmals gesagt«, presste er hervor. »Wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen! Die Sache ist zu wichtig. Und überhaupt, hättest du die Rätsel schon vor ihnen gelöst, könnten wir längst wieder in Augsburg sein!« Bruder Avenarius blickte betreten zu Boden. »Ich gebe zu, ich habe den Medicus unterschätzt«, murmelte er. »Dass es sich bei den Wortenprimus und felicianus um die zwei Heiligen handelt, wer hätte das geahnt! Nun, wenigstens habe ich vor ihm herausgefunden, dass es sich bei der Inschrift um das Wessobrunner Gebet handelt.« »Und? Was hat es uns gebracht?« Nathanael ließ den Dolch schneller zwischen den Fingern hin und her gleiten. »Das Buch war imGlockenturm! Das ganze verdammte Kloster haben wir abgesucht!« »Aber das konnte ich doch nicht wissen«, jammerte Bruder Avenarius. Sein Weggefährte schickte einen Fluch gen Himmel und widmete sich weiter seinem Dolch. Währenddessen überlegte er, was sie falsch gemacht hatten. Die Dinge waren nicht so verlaufen wie geplant. Dabei hatte alles zunächst so einfach ausgesehen. Knapp zwei Wochen war es jetzt her, dass der Provinzmeister ihn und Bruder Jakobus zu sich gerufen hatte. Er hatte ihnen erzählt, dass der größte Schatz der Christenheit gefunden sei, und zwar nicht an einem fernen Ort, sondern ganz in der Nähe, ein Zeichen Gottes! Er war ein Auserwählter! Niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass der Herrgott ihn für diese Aufgabe bestimmen würde. In diese Welt geworfen als dreckiges kleines Waisenkind, hatte Nathanael bei den Dominikanern in Salamanca eine Bleibe ge429
funden. Dort war man schon bald auf seine besonderen Fähigkeiten aufmerksam geworden. Nathanael war schlau und belesen, aber er hatte sich von seiner Zeit auf der Straße eine Zähigkeit und Geschicklichkeit bewahrt, die den anderen Mönchen fehlte. Bald war die Bruderschaft auf ihn zugekommen. Sie brauchten Leute wie ihn, schon oft hatten sie aus den Reihen der Dominikaner Glaubenskämpfer rekrutiert. Doch Nathanael war etwas Besonderes, eine Mischung aus Mönch und Krieger, so wie die Templer , die einst die größten Feinde der Bruderschaft gewesen waren. Es gab in den spanischen Provinzen viele Ungläubige, die es zu bekämpfen galt; und auch die Kirche brauchte ab und zu Leute, die die Drecksarbeit erledigten. Dafür war Nathanael zuständig. Vor einigen Jahren nun war er nach Augsburg, in den deutschen Ordenssitz der Bruderschaft, abberufen worden. Seit das Deutsche Reich zu weiten Teilen den Lutheranern in die Hände gefallen war, waren viele Kirchenschätze und Reliquien von Plünderung und Schändung bedroht. Altäre und Schreine wurden eingeschmolzen, Statuen zertrümmert; in Konstanz hatten Ketzer sogar die Gebeine der Heiligen Konrad und Pelagius in den Rhein geworfen! Bruder Nathanaels Aufgabe war es, für die Bruderschaft diese bedrohten Schätze in den Schoß der Heiligen Römischen Kirche zurückzuführen. Eine Aufgabe, bei der neben Fingerspitzengefühl gelegentlich auch sein Dolch verlangt war. Vor einigen Jahren hatte er dabei Bruder Jakobus kennengelernt, die rechte Hand des deutschen Provinzmeisters in Augsburg. Jakobus war ein eitler, aber überaus 430
gläubiger Mann, der wie er selbst keine Kompromisse machte und nur ein Ziel kannte: die Verteidigung des rechten Glaubens. Gemeinsam hatten sie viele Heiligtümer der Kirche vor ihrer Zerstörung bewahren können. Reliquien, Heiligenbilder, Marienstatuen … Doch niemals hätte Nathanael gedacht, dass nach all den Jahren des Betens und Wartens sie die Auserwählten sein sollten, den größten Schatz der Christenheit zu bergen. Einen Schatz, den die Templer vor fast fünfhundert Jahren an sich gerissen hatten und der für immer verloren schien. Und dann war ihnen dieser verdammte Henker mit seiner Tochter dazwischengekommen. Die beiden Kuisls, und natürlich der neunmalkluge Medicus! Seitdem ging alles den Bach hinunter. Neben ihm murmelte Bruder Avenarius weiter seine Gebete und umklammerte das Kreuz mit den zwei Querbalken, das an seiner Brust hing und ihnen als Erkennungszeichen diente. Der feiste Schwabe schien sich damit abgefunden zu haben, noch ein paar Stunden im Schneetreiben zu stehen. Mit geschlossenen Augen rezitierte er das Gebet der Selbstbeherrschung aus der Heiligen Schrift. » Wer setzt eine Wache vor meinen Mund, vor meine Lippen ein kunstvolles Siegel? Wer hält eine Peitsche bereit für mein Denken und eine Zuchtrute für mein Herz«? Nathanael seufzte. Zunächst war es ihm durchaus passend erschienen, dass ihnen der schwäbische Mönch an die Seite gestellt wurde. Nach allem, was der Meister aus dem Brief des gutgläubigen Altenstadter Pfarrers erfahren hatte, hatten es ihnen die Templer nicht gerade leichtgemacht. Friedrich Wildgrafs ketzerischer Orden war be431
kannt für seine Chiffren und Rätsel. Und Bruder Avenarius galt als ausgezeichneter Kenner der Bibel, ein Bücherwurm, der auch noch die kleinsten Textstellen parat hatte und mit der Geschichte der Reliquien vertraut war wie kein Zweiter. Doch bislang war er ihrer Gemeinschaft keine große Hilfe gewesen, im Gegenteil. Nach Beendigung des Auftrags würde Nathanael dem Meister empfehlen, den Schwaben zu entfernen. Aber noch brauchte er ihn. Vor allem jetzt, da Bruder Jakobus nach Augsburg aufgebrochen war, um dem Meister Bericht zu erstatten und neues Gift zu besorgen. Zum wiederholten Mal fragte sich Nathanael, warum sein Mitbruder so schnell bereit gewesen war, die weite Reise auf sich zu nehmen. Vielleicht hatte es etwas mit den nässenden Ausschlägen zu tun, die ihn seit einigen Wochen quälten? Überhaupt hatte sich Jakobus in letzter Zeit doch sehr verändert. Diese plötzlichen Wutausbrüche, die erstickten Schmerzensschreie in der Nacht, das schütter werdende Haar ... Traurig, wenn ein einst tapferer Weggefährte sich so gehenließ. Aber am Ende war man doch immer allein. Vorsichtig blickte Nathanael sich nach allen Seiten um. War dort ein Geräusch gewesen? Seit einigen Tagen beschlich ihn das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden. Nur, von wem? Gab es noch jemanden, der an dem Schatz interessiert war? Jemand, von dem sie bislang nichts wussten? Ein kurzer, aber deutlich vernehmbarer Wutschrei riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Gestalten näherten sich gebückt der Kirche. Der Schnee lag knöcheltief auf dem Vorplatz und schluckte ihre Schritte, nicht aber das leise 432
Fluchen, das eine der beiden von sich gab. Nathanael grinste. Dieser neunmalkluge Medicus würde es nie lernen, lautlos zu schleichen. Umso besser. Jetzt waren der Medicus und seine Dirne an der rechten Kirchenseite unter einem Baugerüst angelangt. Nathanael gab Bruder Avenarius ein Zeichen und setzte den beiden nach. Plötzlich zögerte er. Es war zunächst nur eine kleine Bewegung gewesen, die er mit dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Doch als er genauer hinblickte, sah er es ganz deutlich. An der linken Kirchenseite, dort, wo die Grabplatten eingemauert waren, lösten sich drei Schatten von der Wand. Wie Geister glitten sie an der Kirche entlang und näherten sich dem Medicus und seiner Begleiterin. Nathanael zog sich die Kapuze über, steckte den Dolch in die Kordel und wurde eins mit dem Schnee. Sein Gefühl in den letzten Tagen hatte ihn nicht getäuscht. Sie wurden verfolgt. Es war an der Zeit herauszufinden, mit wem sie es zu tun hatten. Simon sah an dem vereisten Baugerüst empor und warf Benedikta einen skeptischen Blick zu. »Da sollen wir hinauf? Wir werden abrutschen und ... « Doch die Händlerin hatte sich bereits auf die unterste Ebene des Gerüsts gehievt. Wieder einmal war der Medicus erstaunt, wie geschickt sie sich bewegte. Er wollte ihr noch etwas nachrufen, doch dann ergab er sich in sein Schicksal, zog sich ächzend hoch, um von dort auf das nächste und gleich darauf auf das übernächste Stockwerk 433
des Baugerüsts zu klettern. Von hier oben konnte er schließlich den gesamten verschneiten Klosterhof überblicken. In einigen Fenstern der gegenüberliegenden Gebäude brannte noch Licht, ansonsten war es stockfinster. Für einen Moment glaubte Simon, eine Bewegung auf dem Vorplatz zu erkennen, aber in der Dunkelheit und dem Schneetreiben sah er nicht gut genug. Schließlich wendete er sich der Fensteröffnung zu, durch die Benedikta bereits in die Kirche geklettert war. Ihr Plan schien aufzugehen. Die Handwerker hatten ihre Arbeit bis zum Abend nicht beenden können, in einigen der Fenster fehlten noch die neuen Gläser. Nun saß Simon mit baumelnden Beinen in der Fensteröffnung und beobachtete, wie Benedikta ein Seil an einer der Querstreben befestigte und sich nach unten in die Kirche hangelte. Der Medicus schlug ein Kreuz und tat es ihr nach. Schon bald berührten seine Füße den kalten Steinboden, und er konnte sich umsehen. Obwohl die Kirchentüren über Nacht verschlossen waren, hatten die Mönche einige der Altar- und Opferkerzen brennen lassen. Ihr flackerndes Licht verlieh dem Raum etwas Gespenstisches. Vom Hochaltar starrten die Skelette der Heiligen Primus und Felicianus in ihren gläsernen Särgen auf die beiden Eindringlinge herunter, in der Hand das Schwert und den Lorbeerkranz auf dem nackten Schädel. Jetzt in der Nacht ging keine Heiligkeit mehr von ihnen aus, nichts Salbungsvolles, Beschützendes. Simon hatte eher das Gefühl, dass die Gerippe jeden Moment heruntersteigen könnten, um die Kirchenfrevler mit ihren dünnen Knochenfingern zu erdrosseln. Aber sie blieben dort 434
oben stehen, die entblößten Zähne zu einem Grinsen eingefroren, die Augenhöhlen schwarz und tot. »Welcher von beiden ist es wohl?« »Was?« Simon war so in den grauenvollen Anblick versunken gewesen, dass er Benedikta zunächst nicht gehört hatte. »Ich meine, in welchem der Heiligen könnte eine Botschaft versteckt sein?«, hakte Benedikta nach. »Wir werden vielleicht keine Zeit haben, beide Särge zu öffnen.« »In welchem ... ? « Simon dachte nach. »Wir nehmen Felicianus«, sagte er schließlich. »Er ist der Glückliche. Glücklich ist auch der Finder des Schatzes. Und außerdem, heißt es bei Matthäus nicht: Die Ersten, also primi, werden die Letzten sein?« Benedikta sah ihn skeptisch an. »Euer Wort in Gottes Ohr.« Sie näherten sich dem Hochaltar, bis sie direkt unter dem Sarg des Felicianus standen. »Wenn Ihr mich auf die Schultern nehmt, kann ich den Sarg vielleicht erreichen«, sagte Benedikta. »Ich werde dann versuchen, ihn vorsichtig herunterzuheben.« »Aber er ist viel zu schwer«, flüsterte Simon. »Ihr werdet ihn sicher fallen lassen!« »Ach was, er ist schließlich nur aus Glas. Und das Gerippe darin wiegt so viel, wie ein paar alte staubige Knochen eben wiegen.« »Und wenn er doch herunterfällt?« Benedikta grinste. »Dann werden wir den alten Felicianus eben wieder zusammensetzen müssen. Ihr seid doch der Mediziner!« 435
Seufzend kniete sich Simon nieder, so dass die Händlerin auf seine Schultern klettern konnte, dann hob er sie unter einigem Schwanken in die Höhe. Als der Medicus Benediktas Schenkel an seinen Wangen spürte, durchströmte ihn ein angenehmes Kribbeln. Na wunderbar, dachte er. Wir entweihen die Gebeine eines Heiligen, und ich träume gleichzeitig von nackten Frauenschenkeln. Zwei Todsünden auf einmal … Endlich konnte Benedikta den Sarg mit beiden Händen umklammern. Sie reichte gerade an den unteren Rand der gläsernen Kiste heran. »Lasst mich jetzt runter«, flüsterte sie. »Aber langsam!« Simon ging Stück für Stück in die Knie, während Benedikta den wertvollen Behälter weiterhin festhielt; der Sarg wankte hin und her, schabte am Sockel des Hochaltars entlang, bis er schließlich den Boden berührte. Leichtfüßig sprang Benedikta von Simons schmerzenden Schultern. »Und jetzt öffnen wir ihn.« Die Händlerin legte den Sarg vorsichtig auf den Boden und untersuchte den Deckel. Die Glasränder waren mit einer Goldlegierung verlötet. Sie zückte ihr Messer und begann, die Naht fein säuberlich zu lösen. »Benedikta«, rief Simon mit heiserer Stimme. »Seid Ihr sicher, dass wir das wirklich tun sollten? Wenn man uns erwischt, dann droht uns ein Prozess – dagegen ist das Rädern vom Scheller der reinste Osterspaziergang!« Benedikta sah nur kurz von ihrer Arbeit hoch. »Ich bin nicht den ganzen Weg bis hierher gekommen, um jetzt aufzugeben. Also helft mir schon!« 436
Simon nahm sein Chirurgenstilett, das er immer bei sich führte, und trieb es in den verlöteten Schlitz. Zentimeter für Zentimeter trennte er die Naht auf. Die Legierung war weich und brüchig, so dass sie schon nach kurzer Zeit den Deckel öffnen konnten. »Heiliger Felicianus, verzeihe uns! «, murmelte Simon, obwohl er nicht glaubte, dass sein Gebet im Himmel auf großes Verständnis stoßen würde. »Wir tun es nur zum Wohle der Kirche!« Aus dem geöffneten Sarg stieg ihnen ein muffiger Geruch entgegen. Angewidert blickte Simon auf die teilweise schon grünlich verfärbten, modrigen Gebeine. Die Knochen waren durch dünne Drähte miteinander verbunden und zusätzlich an der hinteren Seite des Glassargs aufgehängt. Auf dem Kopf des Heiligen saß ein trockener Lorbeerkranz, der ihm mittlerweile schief über die Stirn gerutscht war. Zwischen den knochigen Fingern seiner rechten Hand hielt Felicianus ein verrostetes Schwert. »Schwert und Lorbeerkranz«, flüsterte Simon. »Zeichen des Martertods und des Sieges.« Benedikta hatte in der Zwischenzeit angefangen, die Knochen zu untersuchen. Mit dem Zeigefinger stocherte sie in den Augenhöhlen und untersuchte das Innere des Schädels. »Irgendwo hier muss doch eine Botschaft versteckt sein«, murmelte sie. »Ein Papier, eine Notiz. Verdammt, Simon, helft mir doch suchen! Wir haben nicht ewig …« Plötzlich war ein Klappern hinter ihnen zu hören. Simon drehte sich um, konnte aber in der dunklen Kirche nichts weiter erkennen. Schatten waberten zwischen den 437
Säulen, die von den flackernden Kerzen auf einem Marienaltar beleuchtet wurden. »Habt Ihr das auch gehört?«, fragte Simon. Benedikta untersuchte in der Zwischenzeit den leicht verschimmelten Brustkorb. »Eine Ratte, ein Windstoß, was weiß ich! Jetzt helft mir endlich!« Noch einmal ließ Simon den Blick über das Hauptschiff der Kirche schweifen. Die Säulen, der Marienaltar, die flackernden Kerzen … Der Medicus zuckte zusammen. Flackernde Kerzen...? Die Flammen waren die ganze Zeit über ruhig gewesen. Wenn sie jetzt flackerten, dann … »Simon, Simon! Ich habe es gefunden! Ich habe die Botschaft gefunden! Seht doch!« Benediktas Schrei riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Ihre Augen strahlten, sie deutete auf das Schwert. Mit einem Messer hatte sie einen Teil des Rosts von der Klinge entfernt. »Es war unter dem Rost!«, rief sie. »Ihr hattet recht!« Simon trat näher und beugte sich über das Schwert. Unter dem Rost der Klinge tauchte eine eingravierte Inschrift auf. Bislang konnte er nur einige wenige Worte lesen. Heredium in … Eilig machte er sich daran, mit seinem Stilett auch den Rest der Schrift freizukratzen. Buchstabe für Buchstabe. Wort für Wort. Heredium in baptistae … Schon während des Kratzens übersetzte Simon flüsternd den lateinischen Vers. »Das Erbe in des Täufers ... « 438
Weiter kam er nicht, denn im gleichen Moment brach um sie herum die Hölle los. Zur gleichen Zeit klopfte es bei Jakob Kuisl leise an der Tür. Es war ein Bote von Bürgermeister Karl Semer, sein persönlicher Schreiber, der nun mit blassem Gesicht und schlotternden Knien draußen in der eiskalten Nacht stand. Das Zittern war nicht nur auf die Kälte zurückzuführen. Der Bote schlug ein Kreuz, als er das Haus des Henkers betrat, den von Kuisl angebotenen Wein lehnte er ab. Nervös blickte er auf das Richtschwert, das über dem Herrgottswinkel in der Ecke hing. Es brachte sicher Unglück, wenn man so kurz vor einer Hinrichtung das Haus des Henkers aufsuchte! Noch dazu in einer Nacht, in der die Wölfe um die Stadt strichen und die Kälte einem den Rotz in der Nase gefrieren ließ. Doch was half’s? Der Schreiber hatte Befehl, dem Henker noch in dieser Nacht Meldung zu machen. Bürgermeister Karl Semer war von seiner Handelsreise zurückgekehrt, nun hielt er sein Versprechen und lieferte Jakob Kuisl die so lange ersehnten Informationen. »Und, was habt Ihr herausgefunden?«, fragte Kuisl und saugte an seiner kalten Stielpfeife. »Kannst auch gern zum Fenster reinsprechen oder dir die Augen verbinden, wenn’s dir dann leichter fällt.« Der Bote schüttelte beschämt den Kopf. »Also, spuck’s schon aus!« In hastigen Sätzen und mit gesenktem Blick berichtete der Schreiber, was Bürgermeister Semer auf seiner Reise erfahren hatte. Jakob Kuisl stopfte derweil seine Pfeife, entzündete sie am Ofenfeuer und blies Wolken zur Decke, 439
dass dem Boten angst und bange wurde. Ein befriedigtes Grinsen zog sich über das Gesicht des Henkers. Er hatte recht gehabt. Simon wusste nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Mit einem gewaltigen Scheppern, das durch die ganze Kirche dröhnte, fiel die hohe Marienstatue am Rand der Apsis zur Seite und zerbarst in Hunderte Einzelteile. Gleichzeitig tönten Schreie aus dem rechten Seitenflügel. Der Medicus erkannte einen schwarzgewandeten, sehnigen Mönch, der mit gezücktem Dolch durch die Luft wirbelte. Der Fuß des Mönchs traf den Kopf eines weiteren Mannes, der krachend zwischen die Kirchenbänke stürzte. Von irgendwoher erklang ein Jammern und ein fast kindliches Kreischen. Ein zweiter, dicklicher Mönch tauchte keuchend hinter dem Marienaltar auf, gefolgt von zwei Männern, von denen einer eine gespannte Armbrust in den Händen hielt. Sie trugen die abgewetzten Hosen von Landsknechten, lange Mäntel und Schlapphüte mit bunten Federn. Der Mann mit der Armbrust blieb kurz stehen, zielte und drückte den Abzugshebel. Mit einem Gurgeln fiel der feiste Mönch nach vorne in das Taufbecken. Der andere Mönch wandte sich nun um, er wich einem geworfenen Kerzenständer aus, unterlief die Deckung des Mannes mit der Armbrust und stieß ihm mit einer schnellen, fast nicht wahrnehmbaren Bewegung seinen Krummdolch tief in die Brust. Kurz taumelte der Landsknecht und versuchte, die Klinge wieder herauszuziehen, dann fiel er gegen eine Grabplatte in der Wand und rutschte daran herunter. Eine breite Blutspur zog sich von der Platte bis zum Boden. 440
Die beiden anderen Landsknechte zogen jetzt ihre Säbel und liefen auf den Mönch mit dem Dolch zu. Dieser schien kurz zu überlegen, ob er den Kampf aufnehmen sollte, entschied sich dann aber anders. Er rannte auf das Seil zu, das noch immer aus einer der Fensteröffnungen baumelte. Den blutigen Krummdolch zwischen den Zähnen, zog er sich mit atemberaubender Geschwindigkeit hoch. Einen Moment lang waren noch seine Beine zu sehen, dann war er im oberen Dunkel der Kirche verschwunden. Alles war so schnell gegangen, dass Simon dem Geschehen nur mit offenem Mund hatte folgen können. Endlich raffte er sich auf. »Benedikta! Raus hier!« »Simon, bleibt ruhig!«, versuchte Benedikta zu beschwichtigen. »Wir müssen ...« Doch der Medicus rannte schon auf den Ausgang zu. Plötzlich blieb er wie versteinert stehen. Er hatte etwas vergessen … Das Schwert! Sie durften die Waffe mit der Inschrift auf keinen Fall in der Kirche lassen! Simon hatte einige der Männer erkannt. Der Fremde mit der Armbrust war derjenige gewesen, der in der Nähe des Wessobrunner Klosters auf einem Baum gesessen hatte! Der andere hatte ihnen im Eibenwald aufgelauert. Bestimmt waren sie hinter dem Templerschatz her. Und die Mönche? Vermutlich hatten die Rottenbucher Augustiner in der Kirche Licht gesehen, wollten nach dem Rechten schauen und hatten dabei die Fremden überrascht. 441
Aber trugen Augustinerchorherren nicht weiße Kutten? Und wieso hatte der Mönch den Landsknecht wie ein Schwein abgestochen? Simon hatte keine Zeit, länger nachzudenken. Er drehte auf der Stelle um, rannte zurück und riss dem heiligen Felicianus das Schwert aus der knochigen Hand. Es knirschte leise, Fingerknöchel fielen wie Würfel zu Boden, dann schwang Simon die fast brusthohe Waffe in den Händen. Sie war erstaunlich schwer. Neben dem Medicus stand Benedikta, die sich noch immer nicht rührte. Unverändert starrte sie auf die zwei Männer, die, offenbar ebenso unentschlossen zu ihnen herüberblickten. Simon wollte ihnen keine Gelegenheit geben, es sich anders zu überlegen. »Benedikta, folgt mir! Jetzt!« Das Schwert wie ein tollwütiger Berserker durch die Luft schwingend, rannte der Medicus auf den Ausgang zu, vorbei an der umgestürzten Marienstatue und dem toten Mönch, der kopfüber im Taufbecken hing. Wie in Trance sah Simon eine Blutwolke, die sich im Weihwasser langsam nach allen Richtungen hin ausbreitete. Er lief weiter, genau auf die zwei Männer zu, die angesichts des wild schreienden, einen gewaltigen Zweihänder schwingenden Medicus zur Seite sprangen. Nur noch wenige Schritte, dann war er an der Kirchentür angelangt! Als Simon endlich das breite Portal erreicht hatte, rüttelte er daran. Natürlich war es verschlossen. Verdammt, deshalb hatten sie doch den Weg durch das Kirchenfenster gewählt! Panisch sah Simon sich nach allen Seiten um. Was nun? Mit dem Schwert in der Hand 442
würde er niemals das Seil hochklettern können. Die zwei Männer hinter ihm kamen langsam näher. Da entdeckte er plötzlich im Seitenflügel ein buntes Glasfenster , das eine schwebende, von kleinen Engeln umflatterte Maria auf dem Weg in den Himmel zeigte. Im Gegensatz zu den anderen neuen Fenstern weiter oben reichte es bis auf Brusthöhe herab. Ohne zu zögern, lief Simon darauf zu und zerschlug mit dem Schwert die liebevoll bemalte Scheibe. Das Fenster zersplitterte in tausend Scherben, und Simon warf sich mit dem Kopf voran nach draußen, wo er auf den verschneiten Pflastersteinen des Vorplatzes landete. Seine Schulter schmerzte, er tastete sich ab. Überall an seinem Gewand, in seinen Haaren, auch in seinem Gesicht hingen kleine Splitter. Blut tropfte in den weißen Schnee. Jetzt erst sah er sich um. War Benedikta ihm gefolgt? Tatsächlich tauchte ihr Kopf jetzt in der zerborstenen Fensteröffnung auf. Wie eine Katze sprang sie hindurch, rollte sich ab und richtete sich sofort wieder auf. Mit einer gewissen Befriedigung sah Simon, dass nun auch die Händlerin Zeichen von Angst zeigte. »Schnell, lasst uns zur Herberge laufen!«, rief sie. »Dort sind wir vorläufig in Sicherheit!« Sie eilten über den Vorplatz, an dem vereisten Brunnen, dem Glockenturm und dem Klostergarten vorbei, durchquerten das offenstehende Eingangsportal und erreichten schließlich ihr Nachtquartier. Nach dem dritten Klopfen öffnete ihnen ein verschlafener Wirt. »Was um alles in der Welt ... ? «, fragte er verdutzt. 443
»Eine Keilerei auf der Straße.« Simon drückte sich mit seinem gewaltigen Breitschwert an dem beleibten Mann vorbei. Feine Blutfäden rannen über das Gesicht des Medicus, er sah aus wie ein etwas zu klein geratener, aber sehr zorniger Kneipenschläger. »Nicht einmal auf dem Klostergelände ist man sicher. Gut, dass ich immer eine Waffe bei mir führe.« Ohne ein weiteres Wort eilte er mit Benedikta nach oben in sein Zimmer und ließ den verblüfften Wirt stehen. Erst als Simon die Tür hinter ihnen verriegelt und einen prüfenden Blick durch das Fenster geworfen hatte, fühlte er sich sicher. Keuchend ließ er sich aufs Bett sinken. »Was oder wer um alles in der Welt war das?« Benedikta setzte sich neben ihn. »Ich... ich weiß es nicht. Aber demnächst werde ich mit meinem Spott über mögliche Wegelagerer ein wenig vorsichtiger sein. Versprochen.« Simon fing an, sich die winzigen Glassplitter aus dem Gesicht zu entfernen. Benedikta zog ihr weißes Taschentuch hervor und tupfte die Wunden ab. »Ihr seht aus wie …« »Wie jemand, der betrunken durch ein Wirtshausfenster gefallen ist. Danke, ich weiß.« Simon stand auf und griff nach dem Breitschwert, das neben dem Bett lehnte. »Auf alle Fälle ist es gut, dass wir das Schwert mitnehmen konnten«, sagte er. »Ich bin sicher, diese Männer sind uns schon länger auf den Fersen. Sie suchen diesen Schatz genauso wie wir.« Er fuhr mit der Hand über die Klinge. Dann begann er, mit seinem Stilett den restlichen Rost herunterzukratzen, bis er die ganze Schrift freigelegt hatte. Es waren einzelne 444
Wörter , die in weiten Abständen über der Klinge verteilt waren. Heredium in baptistae sepulcro … »Das Erbe im Grab des Täufers«, übersetzte er laut. »Man kann nicht behaupten, dass die Rätsel einfacher werden.« »Und? Könnt Ihr Euch einen Reim darauf machen?«, fragte Benedikta. Simon überlegte. »Das Erbe könnte der Schatz sein. Der Täufer ist vermutlich Johannes der Täufer. Das ist leicht. Aber sein Grab ...?« Er runzelte die Stirn. »Ich kenne kein Grab von Johannes dem Täufer. Ich vermute, es liegt irgendwo im Heiligen Land.« »Aber wir sind hier im Pfaffenwinkel«, unterbrach ihn Benedikta. »Es muss etwas anderes bedeuten. Überlegt noch einmal!« Simon rieb sich die Schläfen. »Gebt mir etwas Zeit. Der heutige Tag war etwas zu viel für mich ... « Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, betrachtete er lange das Schwert auf dem Bett. »Im Sarg von Friedrich Wildgraf unter der Lorenzkirche befanden sich zwar seine Knochen, aber kein Schwert«, bemerkte er nachdenklich. Mit den Fingern fuhr der Medicus an der Klinge entlang. Nun, nachdem der Rost weggekratzt war, glänzte sie wie gestern geschmiedet. Der Knauf war in Silber gefasst, die Parierstange zeigte einige kunstvoll verzierte Gravierungen. Simon sah sie sich genauer an. Es waren Templerkreuze. »Vielleicht ist das ja das Schwert des deutschen Tempelmeisters Friedrich Wildgraf«, sagte Simon. »Seine 445
Waffe als Rätsel. Das würde zu ihm passen. Groß genug ist es.« »Aber das löst leider noch nicht unser Problem, was dieser verdammte Spruch bedeutet! Wir sollten gleich morgen...« Benedikta wurde unterbrochen von einem Klopfen. »Wer kann das sein?« Simon stand auf und ging zur Tür. »Vielleicht der Wirt ... Ich werde ihm sagen, dass alles in Ordnung ist.« Als er öffnete, stand vor ihm nicht der Wirt, sondern jemand, mit dem er um diese Zeit und an diesem Ort sicher nicht gerechnet hatte. Bruder Nathanael fluchte nicht zum ersten Mal in seinem Leben, doch wie immer bat er Gott sofort um Verzeihung. Er rieb sich die linke Schulter, von der er kurzzeitig gedacht hatte, sie wäre ausgekugelt. Sie tat höllisch weh, schien aber noch im Gelenk verankert zu sein. Als er den Fremden mit dem Fuß im Gesicht getroffen hatte, war er auf eine der Kirchenbänke gefallen. Das Klettern am Seil mit nur einem gesunden Arm hatte ihm den Rest gegeben. Trotz der Schmerzen lächelte Nathanael. Wenigstens hatte er einen dieser ketzerischen Bastarde in die Hölle geschickt. Nun stand er in einer dunklen Ecke des Klosterplatzes und murmelte das Confiteor. »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa ...« Der Mord war, wie so viele, die er schon begangen hatte, nötig gewesen. Verübt im Namen der Kirche. Trotzdem war er natürlich eine Todsünde. Noch heute Nacht würde Nathanael sich dafür geißeln. 446
Von seinem Platz aus beobachtete der Mönch das Treiben auf dem Platz. Der Lärm in der Kirche hatte sehr schnell einige der Augustinerchorherren angelockt, die wegen der Vigilgebete bereits wach gewesen waren. Mittlerweile war trotz der späten Stunde eine ziemlich große Menge zusammengelaufen, darunter Handwerker, Bauern und der Propst des Klosters, der mit einigen Mitbrüdern auf die Kirche zueilte. Einige riefen bereits: »Der Teufel! Der Teufel geht in Rottenbuch um!« Auch wurde gemunkelt, Gott selbst hätte ein Zeichen wider den Bauwahn des Propstes setzen wollen. Als die Gruppe um Michael Piscator die Kirche betreten hatte, ertönte lautes Rufen und Wehklagen. Nathanael vermutete, dass die Mönche soeben auf den geöffneten Sarg des heiligen Felicianus gestoßen waren. Wahrlich kein schöner Anblick, wie er selbst zugeben musste. Soweit Nathanael es gesehen hatte, war das Gerippe des Märtyrers in seine Einzelteile zerfallen. Eine Schändung, die vermutlich nicht einmal der Papst rückgängig machen konnte. Vielleicht bezog sich das Klagen der Chorherren aber auch auf die zerstörte Marienstatue, die umgeworfenen Kirchenbänke, die zerbrochenen Kirchenfenster oder den erdolchten Landsknecht. Und dann lag da natürlich noch Bruder Avenarius. Nathanael war sich sicher, dass er tot sein musste. Kein Mensch überlebte einen Armbrustbolzen in den Rücken, noch dazu, wenn er danach kopfunter in einem Taufbecken schwamm. Bruder Nathanael verspürte eine gewisse Erleichterung. Ohne den fetten Avenarius konnte er sich schneller und unauffälliger bewegen. Und als Rätsellöser war der Mönch sowieso keine große Hilfe gewe447
sen. Nathanael beschloss, dass es ab jetzt am einfachsten war, dem Medicus und seiner Dirne einfach zu folgen. Sie würden das Rätsel lösen, und dann würde er zuschlagen. Blieben nur diese Fremden … Nathanaels Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Sie waren tatsächlich beobachtet worden. Dass ihm das nicht früher aufgefallen war, ärgerte ihn maßlos. Andererseits waren diese Männer eben gut. Schnell im Kampf, lautlos, skrupellos. Und sie waren offenbar wie er hinter dem Schatz her. Er würde sich von nun an in Acht nehmen müssen, auch wenn sie nur noch zu zweit waren. Noch einmal überlegte er, wie es überhaupt zu dem Kampf gekommen war. Als Nathanael beobachtet hatte, wie die drei Männer in die Kirche kletterten, war er mit Avenarius hinterhergeeilt. Doch der fette Mönch war kaum das Baugerüst hochgekommen, und so hatten sie die Fremden im Dunkel des Kirchenschiffs aus den Augen verloren. Es war Bruder Avenarius gewesen, der sie schließlich auf seine ihm eigene Art wieder entdeckt hatte. Er war einem der Männer hinter einem Vorhang auf die Füße getreten! Danach war alles sehr schnell gegangen. Nun erlebte Rottenbuch den schwärzesten Tag seit dem Einfall der Schweden, und Bruder Avenarius schwamm mit durchschossener Lunge im Taufbecken. Die Klosterglocken begannen Sturm zu läuten. Nathanael wandte sich ab von der aufgeregten Menge auf dem Vorplatz, der mittlerweile mit Fackeln hell erleuchtet war. Kurz überlegte er, ihr Quartier aufzusuchen, das nur unweit der Herberge von Simon und Benedikta lag. Er und Avenarius hatten sich als wandernde Dominikaner ausge448
geben und so von den Augustinern zwei Betten im Kloster zugewiesen bekommen. Doch jetzt, da Avenarius für alle sichtbar tot in der Kirche lag, wäre eine Rückkehr ins Kloster wohl zu riskant gewesen. Also suchte Nathanael eine Scheune in der Nähe auf, wo er im warmen Stroh auf den morgigen Tag warten wollte. Als er gerade im Begriff war, durch die schmale Türöffnung ins Innere der Scheune zu schleichen, sah er draußen etwas, das sein Herz schneller schlagen ließ. Hilfe war nah! Er sandte ein Stoßgebet gen Himmel und küsste das goldene Kreuz an seiner Brust. Gott hatte ihn nicht im Stich gelassen. »Ihr seid mir eine Erklärung schuldig«, sagte Augustin Bonenmayr. Der Steingadener Abt trug seinen Kneifer auf der Nase und blickte wie ein erzürnter Schullehrer auf Simon herab, der mit offenem Mund vor ihm stand. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, betrat der Abt das Herbergszimmer und schloss die Tür hinter sich. Benedikta saß betreten auf dem Bett. Draußen begannen die Glocken zu läuten. »Als mir der Propst nach Eurem eiligen Verschwinden von der armen Madame de Bouillon erzählte, deren Kinder unheilbar erkrankt seien, habe ich mich verständlicherweise sehr gewundert!«, sagte Augustin Bonenmayr. Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich fragte mich, warum eine Landsberger Händlerin, deren Bruder gestorben ist, plötzlich eine solche Geschichte erzählt.« Er wandte sich Benedikta zu. »Oder seid Ihr etwa diese Madame de Bouillon und Ihr habt mich damals angelogen? Sprecht!« Benedikta schüttelte nur schweigend den Kopf. 449
»Hochwürden, lasst Euch erklären ... «, begann Simon, wurde aber sofort wieder von Bonenmayr unterbrochen. »Mein Erstaunen ging über in Misstrauen, als vor einer halben Stunde die Gebeine des heiligen Felicianus auf derart teuflische Art und Weise geschändet wurden, wie es diese Welt noch nicht gesehen hat!« Der Abt schüttelte den Kopf, als hätte er soeben in den Schlund der Hölle geschaut. »Die Schändung von ebenjenen Gebeinen, die Madame Bouillon und ihr treuer Begleiter noch heute Vormittag besichtigen wollten. Was für ein verblüffender Zufall!« Bonenmayr sah von einem zum anderen. »Sagt also, was für ein Spiel wird hier gespielt? Raus damit, bevor ich vergesse, dass unser aller Heiland Liebe und Vergebung gepredigt hat!« Simon schluckte. Krampfhaft überlegte er, wie sie sich aus dieser Schlinge wieder herauswinden konnten. Wahrscheinlich standen unten schon die Rottenbucher Büttel und warteten darauf, sie ins Verlies zu sperren. Was dann folgte, war so sicher wie das Amen in der Kirche, nämlich Folter und eine Hinrichtung, die der von Hans Scheller in nichts nachstand. Schändung von Reliquien! Vermutlich würde ihnen der Henker den Bauch aufschneiden, die Eingeweide vor ihren Augen herausziehen und ihre Körper hinterher bei lebendigem Leib verbrennen. Im gleichen Moment fiel Simon ein, dass dieser Henker wohl Jakob Kuisl sein würde! Seit dem Tod des alten Rottenbucher Scharfrichters war der Schongauer Henker auch für diesen Distrikt zuständig. Kuisl würde sie beide mit leeren, traurigen Augen ansehen, vielleicht noch den Kopf schütteln und sie dann wie einen Haufen Schlachtabfälle in einer Tierhaut zum Scheiterhaufen zerren. 450
Und Magdalena würde zusehen … Doch vielleicht gab es ja doch einen Ausweg. Der Medicus beschloss, alle Karten auf den Tisch zu legen. Er sah zu Benedikta hinüber, die noch immer auf dem Bett saß. Sie nickte fast unmerklich. »Es ist anders, als Ihr denkt«, begann er. »Diese Frau hier ist wirklich die Schwester von Andreas Koppmeyer. Ihr Bruder hat eine Entdeckung gemacht, die ihm vermutlich das Leben gekostet hat...« Dann erzählte Simon dem Steingadener Abt die ganze Geschichte. Er fing beim Tod des Altenstadter Pfarrers an, berichtete von der Krypta und den Rätseln und äußerte seinen Verdacht, dass sie dem sagenhaften Schatz der Templer auf der Spur waren. Er schüttete dem Abt sein Herz aus und legte seine Zukunft in dessen Hände. Bonenmayr setzte sich während der Erzählung auf den einzigen Schemel im Zimmer und hörte aufmerksam zu. Als Simon geendet hatte, sagte er lange Zeit nichts. Draußen läuteten noch immer die Glocken. Schließlich wandte Bonenmayr sich an den Medicus. »Rätsel, die zu einem Schatz führen sollen, der seit Jahrhunderten gesucht wird!« Er schüttelte den Kopf. »Simon, entweder Ihr seid verrückt oder das ist die größte Lüge, die je aus dem Mund eines überführten Ketzers gekommen ist.« »Es ist alles wahr!«, rief Simon. »So wahr mir Gott helfe!« Zum Beweis nahm er das Schwert vom Bett und reichte es Bonenmayr. Dieser ließ die Klinge durch seine Finger gleiten und las die Inschrift. »Heredium in baptistae sepulcro ... «, murmelte der Abt. »Das Erbe im Grab des Täufers ...« 451
Er sah auf. »Das beweist noch nichts. Ein Sinnspruch auf einem Schwert, mehr nicht. Und überhaupt, wer sagt mir, dass dies tatsächlich das Schwert des heiligen Felicianus ist? Es könnte auch Euer eigenes sein.« »Fragt Michael Piscator! «, mischte sich Benedikta jetzt ein. »Er wird Euch bestätigen können, dass dies das Schwert ist, das sich zusammen mit den Gebeinen im Sarg befand!« »Dafür müsste ich Euch allerdings den Augustinerchorherren ausliefern«, sagte Bonenmayr nachdenklich. »Die Schändung von Reliquien ist eines der schlimmsten Verbrechen der Christenheit. Man wird Euch bei lebendigem Leib die Haut abziehen ...« »Ich mache Euch einen Vorschlag!«, rief Simon schnell. »Wir finden gemeinsam diesen Schatz! Wenn wir Erfolg haben, ist das der Beweis, dass wir nicht lügen. Wir spenden alles Geld dem Steingadener Kloster ,und niemand wird je erfahren, wer die Gebeine des heiligen Felicianus geschändet hat.« Augustin Bonenmayr runzelte die Stirn. »Ich soll mich auf einen Pakt mit Ketzern und Kirchenschändern einlassen?« »Zum Wohle der Kirche!«, warf Simon ein. »Ihr verliert schließlich nichts. Wenn wir keinen Schatz finden, könnt Ihr uns immer noch ausliefern.« Der Abt dachte lange nach. Draußen waren weiter die Kirchenglocken und von fern Geschrei zu hören. Offenbar glaubten die Rottenbucher immer noch, der Teufel ginge im Kloster um. Hoffentlich suchen sie ihn nicht hier in der Herberge, dachte Simon verzweifelt. 452
Schließlich räusperte sich Bonenmayr. »Also gut. Ich will das Wagnis eingehen. Unter einer Bedingung.« »Jede«, sagte Simon. »Ihr beide steht ab sofort unter meiner Bewachung. Hier in Rottenbuch seid Ihr ohnehin nicht mehr sicher. Bruder Michael ist nicht dumm. Er wird schon bald nach einer französischen Dame und ihren Begleiter suchen lassen. Wir fahren deshalb auf der Stelle nach Steingaden. « Er nahm das Schwert und öffnete die Tür. Erst jetzt sah Simon zwei kräftig aussehende Mönche, die dort draußen gewartet hatten. Als der Abt Simons Blick bemerkte, lächelte er. »Bruder Johannes und Bruder Lothar«, stellte er die beiden vor. »Beide sind Novizen, die noch kein Ordensgelübde abgelegt und sich deshalb auch nicht der Gewaltlosigkeit verschrieben haben. Sie verfügen über viel ... Erfahrung von früher her.« Er ging die Treppe nach unten. »Oder dachtet Ihr, ich würde mich ohne Schutz in das Gemach zweier gesuchter Kirchenschänder und Verbrecher begeben?« Simon und Benedikta folgten dem Abt, dicht hinter ihnen die beiden grimmig blickenden Mönche. Draußen wartete ein überdachter Schlitten mit vier angespannten Rappen. Simon sah, dass irgendjemand bereits Benediktas und sein Pferd hinten an den Schlitten angebunden hatte. Sie würden verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Gemeinsam mit den schweigsamen Mönchen und dem Abt nahmen sie auf den gepolsterten Bänken Platz. Die Augen der beiden hünenhaften Novizen waren teilnahmslos in die Nacht gerichtet, doch Simon war sich sicher, dass die mit Kutten bekleideten Schläger beim geringsten Fluchtversuch entschlossen zupacken würden. 453
Eine Peitsche knallte, dann setzte sich der Vierspänner in Bewegung. Kurz bevor der Wagen um die Ecke verschwand, tauchte eine Gestalt auf und sprang hinten auf. Lautlos kletterte sie nach oben aufs Dach und legte sich dort auf den Bauch, um dem kalten Wind keinen Widerstand zu bieten.
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D
ie Hinrichtung war auf Samstag, Punkt zwölf Uhr
mittags festgesetzt. Schon seit den frühen Morgenstunden strömten die Leute aus den umliegenden Ortschaften herbei. An den Ständen rund um den Marktplatz boten Händler fetttriefende Würste und kochend heißen Gewürzwein an, der den Leuten rote Backen und einen funkelnden Blick ins Gesicht zauberte. Ein Scherenschleifer zog mit seinem Schleifstein schreiend die Münzgasse hinunter, in den am Vorabend hastig zusammengezimmerten Holzbuden lagen Kupfertöpfe, Tonschüsseln und verschrumpelte Äpfel zum Verkauf aus. Es roch nach Holzkohle, nach Pferdeschweiß und zertretenen Kuhfladen. Die Leute lachten und schwatzten, und nur gelegentlich warf einer einen verstohlenen Blick in Richtung Fronfeste, wo noch immer die Wachen links und rechts des Eingangs standen. Endlich, gegen halb zwölf, fing die Totenglocke zu läuten an, ein hoher klagender Laut, der die Menge verstummen ließ. Jetzt richteten sich aller Augen auf das Tor der Feste, das sich quietschend öffnete und eine kleine Gruppe zerlumpter Gestalten ausspie. Die Schongauer lachten und johlten, sie deuteten mit den Fingern auf den sich langsam nähernden Tross. Dieses Häuflein Elend sollte die berüchtigte Scheller-Bande sein? Gestern Abend noch war einer der Räuber an Kälte 455
und Entkräftung gestorben. Die fünf restlichen Männer taumelten mehr, als sie gingen, die Augen starr geradeaus gerichtet, das Gesicht blau geschlagen und schmutzig, die Hände mit Stricken gebunden. Die zwei Maß Wein, die jedem Verurteilten am Hinrichtungstag zustanden, hatten sie in wenigen Zügen geleert, so dass sie sichtbar Mühe hatten, aufrecht zu gehen. Die Beichte, die ihnen der Pfarrer heute früh abgenommen hatte, war dementsprechend lallend und stockend gewesen. Weiter hinten liefen die Weiber der Räuber, eine trug ihren schreienden Säugling in einem Sack auf dem Rücken, die andere schob einen weinenden Buben vor sich her, der versuchte, die Hand seines betrunkenen Vaters zu erreichen, von den Bütteln aber immer wieder weggestoßen wurde. Vorneweg ging der Henker. Trotz der Kälte trug er über seinem Hemd aus Leinen nur einen Lederkoller; die Hände waren in Handschuhe gehüllt, die nach der Exekution sofort verbrannt werden würden. Auf den sonst üblichen Schlapphut hatte er heute verzichtet, so dass sein langes schwarzes Haar und der zottige Bart im Wind wehten. In der rechten Hand schwang Jakob Kuisl wie einen Wanderstock eine lange, schwere Eisenstange. Mit dieser würde er dem Räuberhauptmann Hans Scheller in einer guten halben Stunde die Knochen brechen. Die Menge johlte und warf mit Schneebällen, abgenagten Knochen und schimmligen Brotresten nach den Räubern. In der Mitte der Verurteilten ging Hans Scheller. Er machte einen gefassten Eindruck, den Kopf trug er aufrecht über der breiten Brust. Trotz der Wunden und blauen 456
Flecke hatte sein Gesicht beinahe etwas Erhabenes. Die Leute spürten das und versuchten, ihm Angst einzujagen. »Na, Scheller! «, rief einer. »Tun dir die Knochen weh vom faulen Rumliegen? Werden bald noch mehr weh tun!« »Er soll mit den Beinen anfangen! Kuisl, fang mit den Beinen an! Dann kann er nicht mehr weglaufen!« Die Schongauer lachten, doch Jakob Kuisl würdigte sie keines Blickes. Mit seinen sechs Fuß Körperlänge überragte er sie wie ein Turm. Wenn ihm die Masse zu nahe kam, ließ er die Stange durch die Luft zischen, als wollte er ein paar kläffende Köter vertreiben. Am Marktplatz trafen sie auf die Ratsherren und den Gerichtsschreiber Lechner, der als Stellvertreter des Kurfürsten die Hinrichtung leiten würde. Er ließ seinen Blick über den zerlumpten Haufen Räuber schweifen, nickte Jakob Kuisl zu, dann zogen sie durch das Hoftor die Altenstadter Straße entlang, eine sich windende, lärmende Schlange von Menschen in der schneeweißen Landschaft. Ein Gaukler sang, begleitet von einer Fiedel, seine eigenen Reime auf eine uralte Melodie. »Dem Scheller Hans, dem Scheller Hans, dem brechen’s heut die Knochen ganz ...« Als sie die Köpfstatt erreichten, betrachtete Johann Lechner anerkennend das weite, vom Schnee freigeräumte Feld. Der Henker hatte in den letzten Tagen ganze Arbeit geleistet. Neben dem zwei Schritt hohen Holzpodest, auf dem das Rädern stattfinden würde, hatte Jakob Kuisl drei Pfosten in den gefrorenen Boden geschlagen, die jeweils mit einem Querbalken zu einem Dreieck verbunden waren. Hier würden die übrigen vier Räuber gehängt werden. 457
In vorderster Reihe waren Bänke für die Ratsherren aufgestellt, der Rest der Bürgerschaft musste sich mit Stehplätzen begnügen. Noch immer läutete die Totenglocke. Als sich alle auf dem Feld eingefunden hatten, stieg der Gerichtsschreiber die schmale Treppe zum Holzpodest empor und hielt mit beiden Händen einen dünnen, schwarzen Holzstab in die Höhe. Für einen kurzen Moment herrschte trotz der vielen Menschen absolute Stille. Nur die Glocke und das Brechen des Stabs waren zu hören. Dann rief Johann Lechner: »Im Namen des mir verliehenen Amtes und als Stellvertreter seiner hochwohlgeborenen Majestät Ferdinand Maria verkünde ich hiermit, die Hinrichtung möge beginnen!« Die Menge johlte, und der Moment der Stille war vorüber. Die Frauen der Räuber duckten sich, als erneut Schneebälle flogen. Mit den Kindern zogen sie sich hinter den Galgen zurück, durch zwei Büttel von den wütenden Schongauern abgeschirmt. Der Rat hatte den Räuberweibern erlaubt, alle ihre Männer bis auf Hans Scheller zu bestatten. Eine Gnade, die sie dem guten Zureden des Henkers zu verdanken hatten. Eigentlich hätte Jakob Kuisl Anspruch auf Kleider und Leichen gehabt. Mit Menschenfett, Menschenleder und dem Verkauf von immerhin acht Diebesdaumen hätte sich ein gutes Geschäft machen lassen. Immer heftiger brandete die Menge gegen den mit Seilen nur notdürftig umzäunten Hinrichtungsplatz an. Jakob Kuisl sah in geifernde, von Hass verzerrte Münder, er blickte in vom heißen Gewürzwein gläserne, gierige Augen. Ich schau in einen Abgrund, dachte er. 458
Noch immer wurden Schneebälle und Eisbrocken geworfen. Ein Brocken traf einen der Räuber im Gesicht, so dass die Haut aufplatzte und helles Blut in den Schnee sickerte. Der Räuber schien den Schmerz nach den zwei Krügen Wein nicht mehr zu spüren, er schwankte nur leicht, und auch das Plärren seines kleinen Sohnes schien ihn nicht mehr in diese Welt zurückzuholen. »Mach schon«, zischte Johann Lechner dem Henker ins Ohr, der neben dem Holzpodest Stellung bezogen hatte. »Die Leut wollen Blut sehen. Wenn du dich nicht beeilst, wird’s dein eigenes sein.« Kuisl nickte, es war tatsächlich schon öfter vorgekommen, dass die Menge den Henker lynchte, wenn die Hinrichtung nicht ordnungsgemäß verlief. Patzte der Scharfrichter, schlug er daneben oder richtete er in der Aufregung ein Massaker an den Verurteilten an, hing er schnell am nächsten Baum. Oder selbst am Galgen. Jakob Kuisl ballte seine Faust und ließ die Knochen knacken; ein Ritual, mit dem er jede Hinrichtung begann. Dann zog er seine Handschuhe fest, schritt auf den Galgen zu und begann mit der Arbeit. Das Erhängen der vier verurteilten Räuber ging schnell und geräuschlos vonstatten. Der Henker erledigte seine Aufgabe, als würde er ein Dach decken oder einen Tisch zimmern. Jakob Kuisl stieg mit jedem der Delinquenten die Galgenleiter hoch, knüpfte ihm die Schlinge um den Hals, zurrte das Hanfseil am Querbalken fest, stieg wieder hinunter und zog die Leiter weg. Die Männer zappelten kurz, feuchte Flecken zeichneten sich auf ihren Hosen ab, dann schwankten sie wie Strohpuppen im Wind hin und her. Nur der vierte Räuber tanzte 459
zur Erheiterung der Schongauer ein wenig länger, doch schließlich war es auch mit ihm vorbei. Für die Menge war das nicht neu, so etwas sahen sie jedes Jahr mindestens einmal. Doch das war nur das Vorspiel, jetzt erst folgte die Hauptattraktion. Der Henker sah Hans Scheller an, und der Räuberhauptmann ballte die Faust und nickte unmerklich. Dann stieg er die Treppe hoch auf das Holzpodest. Ein langgezogener Schrei der Verzückung ging durch die Masse, als Hans Scheller nun dort oben stand und noch einmal seinen Blick über die Landschaft schweifen ließ. Die Berge, die Wälder, die weichen Hügel. Er schloss kurz die Augen und atmete den kalten Januarwind ein. Es gibt schlimmere Ort zum Sterben, dachte der Henker. Ein Schlachtfeld zum Beispiel. Mit der Eisenstange in der Hand betrat Kuisl nun das Holzpodest und wies den Scheller an, sich hinzulegen. In einer Ecke lag ein schweres, mit Eisen ummanteltes Wagenrad, auf das der Räuberhauptmann später geflochten werden sollte. Auf dem Boden des Podests waren in regelmäßigen Abständen Holzkeile angebracht, so dass Schellers Gliedmaßen nicht flach auflagen. So brachen die Knochen leichter. Der Henker würde an den Unterschenkeln beginnen und sich dann langsam nach oben arbeiten. Der letzte Schlag war der sogenannte Gnadenstoß und traf die Halswirbel. Bei besonders verabscheuungswürdigen Verbrechern verzichtete man auf diesen Stoß und ließ den Verurteilten, geflochten auf das Rad, unter freiem Himmel langsam krepieren. 460
»Einen Augenblick noch, Kuisl«, sagte Hans Scheller oben auf dem Podest. »Ich möcht dir danken, dass du …« Der Henker winkte ab. »Lass gut sein. Nimm das Gift und halt dein Maul.« Scheller schüttelte den Kopf. »Da ist noch etwas, das du wissen sollst. Als wir diese anderen drei Wegelagerer überrascht haben, da hab ich nicht nur ein Parfum gefunden, sondern auch etwas anderes. Ich hatt’s vergessen, aber gestern Nacht ist’s mir wieder eingefallen.« Der Scharfrichter wandte seinen Blick von Scheller ab und sah auf die wogende Masse unter ihm. Die Leute wurden langsam ungeduldig. » Kuisl, was ist los da oben?«, riefen einige. » Die Knochen sollst ihm brechen, nicht ihm die Beichte abnehmen!« Die ersten Eisbrocken trafen den Henker. Jakob Kuisl wischte sich den Schneematsch aus dem Gesicht und sah den Räuberhauptmann ungeduldig an. »Spuck’s schon aus, wenn’s dir auf dem Herzen brennt. Aber mach schnell!« Hans Scheller verriet dem Scharfrichter, was er am Lagerfeuer der Wegelagerer gefunden hatte. Der Henker hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. Für die Leute musste es so aussehen, als würde der Räuberhauptmann ein letztes Mal um Gnade winseln. Als er geendet hatte, neigte Scheller sein Haupt und flüsterte ein kurzes Gebet. » Ich dank dir«, sagte Jakob Kuisl leise. »Wenn’s einen gerechten Gott gibt, dann werden euch bald andere nachfolgen. Und jetzt mach ein Ende.« Hans Scheller öffnete die Faust, steckte die kleine Giftpille in den Mund und biss drauf. 461
Ein leises Knacken nur. Er schaffte es gerade noch, sich hinzulegen, bevor die Dunkelheit wie ein Sommergewitter auf ihn zuraste. Magdalena schob das seidene Altartuch beiseite und schüttete den Inhalt des Lederbeutels aus. Vor ihr lag ein buntes Sammelsurium aus schwarzen und roten Beeren, gebundenen Kräutersträußchen und gepressten Blüten. Sogar der Bezoar hatte die lange Reise überlebt! Das Säcklein war durch den Transport unter ihrem Rock allerdings feucht und zerdrückt, und auch die Kräuter im Inneren des Bündels sahen nicht mehr sehr brauchbar aus, manche hatten bereits zu schimmeln begonnen. Trotzdem hoffte Magdalena, dass sie für ihre Zwecke noch taugten. Im Grunde brauchte sie sowieso nur zwei bestimmte Zutaten. Als sie den Beutel unter der Kirchenbank gefunden hatte, war ihr wieder eingefallen, was der Augsburger Apotheker Nepomuk Biermann alles für sie zusammengesucht hatte, kurz bevor Bruder Jakobus aufgetaucht war. Das meiste hatte sie noch einstecken können, darunter auch einige Kräuter, die offenbar für einen anderen Kunden auf dem Ladentisch gelegen hatten. Magdalena versuchte sich zu erinnern. Welche Pflanzen hatte Biermann bereits für sie in den Beutel gepackt? Mutterkorn, Artemesia, Johanniskraut, Seidelbast, Tollkirsche und Stechapfel … Tollkirsche und Stechapfel. Nur wenig später entdeckte sie zwischen zwei Kräutersträußchen die kleinen getrockneten Beeren. Klein und tödlich. Magdalena grinste. Sowohl Tollkirsche als auch 462
Stechapfel waren unter den Hebammen und Henkern als sicheres Gift, aber auch als Heilmittel bekannt. Der Besitz war strafbar , da die Arzneien angeblich für die berühmte Hexensalbe Verwendung fanden, die die Gespielinnen des Satans auf ihre Besen strichen. Ob das stimmte, wusste Magdalena nicht, doch ihr war bekannt, dass beide Pflanzen böse Träume und Wahnvorstellungen auslösten. Wer davon aß, konnte vermutlich tatsächlich fliegen. Leider war vor allem der Stechapfel schwer zu dosieren. Nicht wenige hatten nach seiner Einnahme deshalb ihre letzte Flugreise gemacht. Magdalena fiel wieder ein, was Paracelsus schon vor über hundert Jahren gesagt hatte. Die Dosis macht das Gift... Sie nickte grimmig. Bruder Jakobus würde eine Dosis bekommen, die ihn direkt in die Hölle fliegen lassen würde. Mit spitzen Fingern klaubte Magdalena die getrockneten Tollkirschen auf und die Stechapfelsamen, die ein wenig an schwarze Mäuseköttel erinnerten. Immer wieder blickte sie dabei zur Tür, ob Bruder Jakobus ihr vielleicht einen unangekündigten Besuch abstattete. Doch alles blieb ruhig. Als Magdalena alles aufgesammelt hatte, sah sie sich nach einem provisorischen Mörser um. Ihr Blick fiel auf eine kleine bronzene Jesusstatue, die den Altar zierte. Sie drehte sie um und zerstieß mit dem Kopf des Heilands die Beeren und Samen zu einem schwarzbraunen Pulver. Die Henkerstochter war sich sicher, dass Gott ihr diesen Frevel verzeihen würde. Ob er ihr auch den Mord verzieh? 463
Aber vielleicht würde Bruder Jakobus ja gar nicht sterben, sondern nur in eine Art Starre verfallen. Bei der von ihr vorgesehenen Dosis wagte Magdalena dies zu bezweifeln. Auf dem Altar stand der Kelch mit dem Messwein. Jakobus hatte sich angewöhnt, mit Magdalena einmal täglich die heilige Kommunion zu feiern. Anfangs hatte sie sich geweigert, doch schließlich ergab sie sich achselzuckend in ihr Schicksal. Zu den Mahlzeiten brachte ihr der Mönch ausschließlich Brot, Wasser und eine dünne, geschmacklose Mehlsuppe. Der Wein weckte wenigstens Magdalenas Lebensgeister , außerdem wollte sie Jakobus nicht über die Maßen reizen. Die Henkerstochter war sich mittlerweile sicher, dass der Mönch wahnsinnig war. Sein Verhalten musste mit seiner Krankheit zusammenhängen, auf alle Fälle war er unberechenbar. Die Tür immer im Blick, schüttete Magdalena das Pulver in den Wein. Dann rührte sie mit ihrem Zeigefinger um, den sie danach gründlich am Altartuch abstreifte. Das Gebräu enthielt jetzt zehn Tollkirschen und ebenso viele Samen des Stechapfels. Sie hatte nicht gewagt, mehr zu nehmen, aus Angst, Bruder Jakobus könnte das Gift sonst herausschmecken. Schließlich kniete sie sich in eine Kirchenbank, faltete die Hände zum Gebet und wartete. Pünktlich zum Mittagsläuten öffnete sich die Tür. »Ich sehe, du betest, Magdalena. Das ist gut, das ist sehr gut«, sagte Bruder Jakobus. »Wenn du dich selbst zu Gott bekennst, werden die Dämonen umso leichter aus dir herausfahren.« 464
Magdalena schlug die Augen nieder. »Ich spüre Gott schon ganz nah. Sagt, Bruder Jakobus, darf ich auch heute wieder die heilige Kommunion empfangen?« Jakobus lächelte. »Du darfst. Aber vorher wollen wir beten.« Magdalena ließ das lateinische Gemurmel wie einen warmen Sommerregen über sich ergehen. Sie wartete nur darauf, dass sie endlich zum Altar schritten. Würde Jakobus das Gift herausschmecken? Und wenn, wie würde er reagieren? Würde er sie dann zwingen, den Wein selbst zu trinken? Endlich war das Gebet zu Ende. Sie knieten sich vor den Altar, und Bruder Jakobus leitete die heilige Kommunion ein. Er hielt eine Hostie und den Kelch in die Höhe und murmelte die Worte der Wandlung. »Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes. Mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis.« Er führte den Becher zum Mund und trank in tiefen Schlucken daraus. Wie in Trance sah Magdalena, dass kleine Tropfen aus seinen Mundwinkeln liefen, über sein unrasiertes, pickliges Kinn rollten und schließlich auf den Altar tropften. Jakobus wischte sich über den Mund und reichte den Kelch weiter an Magdalena. Er hatte nichts gemerkt. Die Henkerstochter blickte ins Innere des Bechers und erstarrte. Das Pulver hatte sich nicht richtig aufgelöst! Ein trüber Bodensatz war auf dem Grund des Gefäßes liegen geblieben, außerdem hatte Jakobus den Wein nur zur Hälfte ausgetrunken! Würde die Dosis trotzdem reichen? 465
Magdalena lächelte dem Mönch zu, nahm den Kelch und tat so, als würde sie daran nippen. »Du trinkst heute so zögerlich, Henkerstochter«, sagte Jakobus. »Was ist mit dir?« »Ich... ich habe Kopfschmerzen«, stammelte Magdalena und stellte den Becher zurück auf den Altar. »Der Wein macht mich müde. Und ich brauche heute einen klaren Kopf.« »Warum das?« »Ich will beichten.« Der Mönch blickte erstaunt und gleichzeitig erfreut. »Jetzt gleich?« Magdalena nickte. Die Idee mit der Beichte war ihr spontan gekommen. Aber im Grunde war es genau das Richtige. Sie musste Jakobus noch mindestens eine halbe Stunde in der Kapelle festhalten. Was nutzte es ihr, wenn der Mönch zusammenbrach, nachdem er ihren Kerker verlassen hatte? Wenn sie Pech hatte, würde sie hier unten langsam verdursten und verhungern. Unbemerkt, ungehört, vor der Tür eine verwesende Leiche. »Wir haben keinen Beichtstuhl«, sagte Jakobus. »Aber das ist auch nicht nötig. Ich werde dir einfach hier in der Kirchenbank die Beichte abnehmen.« Er setzte sich so dicht neben sie, dass sie unter dem Veilchenparfum den Gestank seiner schwärenden Wunden riechen konnte. »Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit ... «, begann Bruder Jakobus.
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Magdalena schloss die Augen und konzentrierte sich. Sie hoffte, dass ihr genügend Sünden einfielen, bis die Wirkung des Giftes einsetzte. »Du hast mich reingelegt, Kuisl! «, schrie Johann Lechner und bohrte seinen Zeigefinger in die breite Brust des Henkers. »Und nicht nur mich! Jeden einzelnen Schongauer hast du an der Nase herumgeführt! Das wird ein Nachspiel haben!« Jakob Kuisl sah mit verschränkten Armen auf den kleinen Gerichtsschreiber herab. Er überragte den zeternden Mann um fast zwei Köpfe. Doch an Wut und Durchsetzungskraft konnte es Lechner mit jedem beliebigen Bürger aufnehmen. Der Gerichtsschreiber hatte Kuisl gleich nach der Hinrichtung zu sich ins Schloss zitiert. Noch immer war er außer sich über die missglückte Räderung. Der Räuberhauptmann Hans Scheller hatte oben auf dem Holzpodest keinen Mucks mehr getan, kein noch so leiser Schrei war über seine Lippen gekommen. Und das, obwohl der Henker ihm jeden einzelnen Knochen gebrochen hatte! Lechner hatte es krachen und splittern hören, erst ganz zum Schluss hatte der Henker die Halswirbel zertrümmert. Die Menge war außer sich gewesen. Sie hatte ein blutiges Spektakel erwartet, und alles, was sie geboten bekam, war ein gelangweilter Henker, der auf einen leblosen Leib eindrosch. Der Gerichtsschreiber hatte ganz vorne in der ersten Reihe gesessen und so das leichte, fast spöttische Lächeln auf den Lippen des Räuberhauptmanns sehen können. Schellers Augen waren wie im Schlaf geschlossen gewesen, die Glieder merkwürdig schlaff, beinahe ent467
spannt. Der Verurteilte war seiner gerechten Strafe entkommen, und Lechner war sich sicher, dass der Henker seine Finger dabei im Spiel gehabt hatte. »Ich kann dir im Augenblick nichts beweisen«, zischte der Schreiber und ging zurück zu seinem Schreibpult. »Aber sei gewiss, ich finde es heraus, und dann gnade dir Gott! Ich hol den Augsburger Henker, und der soll dich rädern! Aber diesmal richtig!« »Euer Exzellenz, ich weiß nicht, von was Ihr redet.« Jakob Kuisl blieb ruhig, und nur wer sehr genau hinsah, konnte ein feines Lächeln in seinem Gesicht erkennen, kleine Grübchen, verborgen hinter dem dichten Vollbart. »Es kommt öfter vor, dass die Verurteilten vor Angst und Schmerz ohnmächtig werden. Es liegt nicht in meiner Macht, das zu ändern.« »Ach was, du hast ihm ein Mittel gegeben! Gib’s doch zu!« Johann Lechner saß inzwischen wieder hinter seinem Tisch, der Gänsekiel bohrte sich in ein Pergament vor ihm. »Wird Zeit, dass ich dir deine verdammten Tiegel, Tränke und Salben endlich wegnehme. Du weißt, ich kann das.« Seine Stimme bekam etwas Drohendes. »Du hast kein Recht, die Leut zu kurieren. Das darf nur der Medicus. In anderen Städten hätten sie dir schon lang die Erlaubnis entzogen.« »Dann werd ich leider auch nicht mehr den Trank brauen können, den Exzellenz bei mir angefordert hat. Zu Haus werd ich den Schlafmohn gleich in den Lech schütten.« » Hör schon auf.« Der Schreiber schien sich wieder ein wenig beruhigt zu haben. »So war’s ja nicht gemeint. Sorg lieber dafür, dass dieses verdammte Fieber in der Stadt 468
aufhört. Wenn dir das gelingt, kannst du meinetwegen Liebestränke, Kröteneier und Galgenstricke verkaufen, bis du schwarz wirst. Und jetzt schleich dich, ich hab zu tun!« Jakob Kuisl verbeugte sich schweigend und verschwand durch die niedrige Tür. Lechner blickte ihm noch lange nach. Was für ein Sturschädel! Sah einfach nicht, was der Stadt diente und was nicht! Der Schreiber rieb sich die Schläfen und betrachtete den Brief vor sich, der heute früh gekommen war. Darin wurde er noch einmal aufgefordert, dafür zu sorgen, dass der Henker sich ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern habe. Lechner fluchte leise. Was zum Kuckuck bildete sich dieser Herr Briefeschreiber eigentlich ein! Dass er wie eine Amme über Jakob Kuisl wachte? Und überhaupt, was hatte der Mann in seiner Stadt Befehle zu geben? Befehle nahm Lechner aus München, vom Kurfürsten persönlich oder vom kurfürstlichen Pflegverwalter entgegen, aber doch nicht von irgendeinem geistlichen Würdenträger! Er nahm das Kuvert und blickte auf das kirchliche Siegel. Dann schaute er zum wiederholten Mal ins Innere des Kuverts. Geldmünzen oder ein Wechsel wie das letzte Mal waren auch nicht dabei! Er zerriss den Brief in kleine Fetzen und warf ihn ins Kaminfeuer. Sollte der hohe Herr doch selbst den Henker gängeln. Er hatte Wichtigeres zu tun. Kurze Zeit später betrat Jakob Kuisl sein Haus im Gerberviertel. Am Küchentisch saß seine Frau Anna Maria und rieb sich die Augen. »Was hast, Weib?«, fragte der Henker. »Ist es wegen der Zwillinge?« Er legte ihr beruhigend die Hand auf die 469
Schultern, mit einem Mal spürte er den Alkohol und den fehlenden Schlaf. »Reiß dich zusammen. Es wird schon nicht das Fieber sein.« Anna Maria Kuisl seufzte. Tatsächlich hatte sie in dieser Nacht kaum Ruhe gefunden. Immer wieder war sie vom Husten ihrer beiden Kleinsten geweckt worden, aber auch sie glaubte, dass es nur ein einfacher Katarrh war, der die beiden plagte. Viel mehr als die Kinder hatte ihr der eigene Mann Sorgen gemacht, der, wie so oft vor Hinrichtungen, noch bis früh am Morgen gesoffen hatte. Die Henkersfrau hatte ihn die ganze Nacht murmeln und fluchen hören über die Schlechtigkeit der Welt und die Schlechtigkeit der Schongauer im Besonderen. Anna Maria Kuisl wusste, dass sie ihrem Mann in solchen Stunden nicht helfen konnte. Also war sie wach gelegen und hatte über Magdalena nachgedacht. Magdalena, ihre Älteste. Ihr Juwel. Störrisch und zügellos wie ihr Vater. Und noch immer nicht aus Augsburg zurück. Anna Maria Kuisl saß am Stubentisch und brachte vor Kummer keinen Bissen hinunter. Das Brot vor ihr war unberührt, auch ihr Mann konnte sie jetzt nicht trösten. Die Sorge um ihre Tochter ließ sie älter aussehen als ihre vierzig Jahre. Die ersten grauen Strähnen durchzogen das lange schwarze Haar, auf das sie schon als Mädchen stolz gewesen war und das sie ihrer Tochter vererbt hatte. »Eine Woche ist die Magdalena schon weg«, klagte sie, während ihr Mann immer noch ihre Schultern hielt. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
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»Ach was«, knurrte der Henker. »Amüsieren wird sie sich in Augsburg, so sieht’s aus. Wenn sie nach Hause kommt, setzt’s eine Tracht Prügel, und damit ist’s gut.« Anna Maria Kuisl wischte die Hände ihres Mannes fort und stand abrupt vom Tisch auf. »Ich bin mir sicher, es ist ihr etwas zugestoßen! Eine Mutter spürt das.« Sie gab dem Schemel einen Stoß, dass er krachend in der Ecke landete. »Und dich lässt der Lechner im Wald die Räuber fangen, anstatt dass du dich um deine Tochter kümmerst! Hat er denn keine Büttel?« Jakob Kuisl schwieg. Wenn seine Frau einmal in Fahrt kam, gab es kein Halten mehr. Am einfachsten war es dann, den Sturm einfach vorüberziehen zu lassen, anstatt sich gegen ihn zu stellen. Die Henkersfrau tobte und klagte dann oft stundenlang, doch diesmal ging ihr recht schnell die Luft aus. »Reicht schon, wenn du für den Lechner und seine fetten Bürgermeister die Leut hängst und räderst«, schrie sie. »Drecksarbeit! Sollen sich die hohen Herrschaften doch selber die Finger blutig machen!« Jakob Kuisl grinste. Er liebte seine Frau, auch für ihr Temperament. »Beim Rädern wenigstens hab ich ihnen sauber in die Suppe gespuckt.« Er goss sich einen Humpen Dünnbier ein und leerte ihn auf einen Zug. »Und wegen der Magdalena, da mach dir keine Sorgen. Die kann gut auf sich selbst aufpassen.« Mit seinem behaarten breiten Handrücken wischte er sich den braunen Schaum von den Lippen. »Im Gegensatz zum Simon. Der ist in großer Gefahr, und er weiß noch nicht einmal was davon.« Die Henkersfrau schnaubte. »Red doch nicht so siebengscheit daher. Woher willst denn das so genau wissen?« 471
Jakob Kuisl griff sich den Laib Brot vom Tisch und wandte sich zum Gehen. »Ich weiß es halt.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte er hinaus in den Schnee. »Ich muss den Simon vor einer Dummheit retten. Das bin ich ihm schuldig.« Der Henker stapfte hinunter zur Lechbrücke und ließ seine zeternde Frau zurück. »So ist’s recht!«, rief sie ihm hinterher. »Den feinen Herrn Medicus retten, aber seine eigene Tochter ist ihm wurscht! Scher dich doch zum Teufel, querschädliges Mannsbild!« Doch Jakob Kuisl hörte nichts mehr, er war bereits hinter der nächsten Schneewehe verschwunden. Bei jedem Schritt klopften die Kopfschmerzen an seinen verkaterten Schädel. Leise fluchend hoffte er, dass es für den Medicus noch nicht zu spät war. Simon beugte sich über die mit bunten Bildern illustrierte Bibel und stieß dabei seinen Becher mit Kaffee um. Ein brauner Schwall ergoss sich über den Tisch aus Nussbaumholz und floss auf den polierten Parkettboden. »Oh, verdammt!«, rief er. »Verzeiht. Ich werde wohl langsam müde.« »Flucht nicht. Gott straft jede Lästerung, auch die kleinen. Selbst dann, wenn es durchaus Anlass zum Fluchen gäbe.« Augustin Bonenmayr sah den Medicus vorwurfsvoll durch die Gläser seines Kneifers an. »Die Bibel vor Euch ist viele hundert Gulden wert. Also geht gefälligst achtsam damit um.« 472
Simon nickte und wischte mit einem von ihm vollgekritzelten Pergament vorsichtig den Kaffeesee vom Tisch. Seit heute früh saßen er und Benedikta in der Steingadener Klosterbibliothek, die sie schon von ihrem ersten Aufenthalt her kannten. Gemeinsam hatten sie Bibelstellen und Ortsbeschreibungen des Pfaffenwinkels studiert, immer auf der Suche nach der Lösung des Rätsels, das sie in Rottenbuch gefunden hatten. Um sie herum türmten sich auf zusammengeschobenen Tischen Bücher, Folianten und Pergamentrollen, sogar die Verkaufsurkunde von Friedrich Wildgraf hatte sich Simon noch einmal genauer angesehen. Doch bislang hatten sie nichts entdeckt, was ihnen weiterhalf. Immer wieder war Augustin Bonenmayr in die Bibliothek gekommen, um nach dem Rechten zu sehen; beim letzten Mal hatte er Simon sogar den Gefallen getan und in der Küche aus den schwarzen Bohnen des Medicus einen Kaffee brauen lassen. Doch während das schwarze Gebräu sonst Simons Gedanken auf die Sprünge half, blieb es diesmal wirkungslos. Dass der Medicus sich schlecht konzentrieren konnte, hatte auch mit den beiden Mönchen Lothar und Johannes zu tun, die zu ihrer Bewachung abgestellt waren und ihren Posten vor der Bibliothekstür nicht einmal verließen. Der Steingadener Abt hatte seine Drohung wahr gemacht, er ließ Simon und Benedikta nicht mehr aus den Augen. Mit dem Pferdeschlitten waren sie bei völliger Dunkelheit nach Steingaden gefahren, dann hatten sie die Nacht in zwei von außen verschlossenen Mönchszellen im Steingadener Kloster verbracht. Simon wusste, dass er und Bene473
dikta für den Abt so lange Kirchenschänder blieben, bis sie ihn vom Gegenteil überzeugt hatten. Um nicht zum Tode verurteilt und gevierteilt zu werden, musste er dieses verdammte Rätsel lösen! Noch einmal schaute er auf den Spruch, den er vor sich auf ein Stück Pergament gekritzelt hatte. Heredium in baptistae sep ulcro … »Das Erbe im Grab des Täufers ... «, murmelte er. »Das bringt uns nicht weiter. Ich kenne kein Grab von Johannes dem Täufer. Und Ihr?« Er wandte sich an Augustin Bonenmayr, der neben ihm stand und sich über Simons Notiz beugte. Der Abt runzelte die Stirn. »Es soll im Heiligen Land tatsächlich Orte geben, die auf ein Grab schließen lassen. Aber …« »Das würde uns auch nichts nutzen«, unterbrach ihn Benedikta. »Der Schatz muss hier im Pfaffenwinkel sein, nicht im Heiligen Land! Gibt es denn in der Gegend nicht irgendetwas, das man als ›Grab des Täufers‹ bezeichnen könnte?« Augustin Bonenmayr dachte nach. »Kein Grab, nein. Nur ein paar Kapellen und Taufbecken, die dem heiligen Johannes geweiht sind. Aber die stehen im Grunde in jeder Pfarrkirche. Das kann es also nicht sein.« Er griff zum Schwert, das in einer Ecke des Raums stand, und fuhr mit den Fingern über die rostige Inschrift. »Vielleicht ist ja irgendwo auf dem Schwert noch eine zweite Botschaft verborgen.« Simon schüttelte resigniert den Kopf. »Ich habe das Schwert schon dreimal untersucht. Nichts. Keine zweite Inschrift, kein verstecktes Geheimfach, und der Griff ist 474
auch nicht hohl. Die Lösung muss in dieser einen Inschrift liegen!« Er seufzte und rieb sich die Augen. »Ich bin mit meinem Latein am Ende!« »Dann werde ich Euch wohl der Rottenbucher Justiz übergeben müssen«, sagte Augustin Bonenmayr und wandte sich zur Tür. »Schluss mit diesem Possenspiel! Ich habe Wichtigeres zu tun.« »Einen Augenblick!«, rief Benedikta. »Darf ich das Schwert noch einmal haben?« Der Steingadener Abt zögerte. Schließlich drehte er sich um und reichte ihr die Klinge. Aufmerksam betrachtete Benedikta die einzelnen Worte darauf. »Etwas ist merkwürdig«, sagte sie. »Die Wörter sind nicht so zusammengeschrieben, wie man es erwarten könnte. Zwischen ihnen sind jeweils große Abstände.« Simon zuckte mit den Schultern. »Die Schrift sollte sich vermutlich über das ganze Schwert ziehen. Also hat man eben Platz dazwischen gelassen.« »Möglich«, sagte Benedikta. »Aber die Abstände sind nicht gleich groß. Warum? Vielleicht ... « Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Vielleicht weil etwas dazwischen gehört...?« Simon sprang so unvermittelt auf, dass der Becher mit Kaffee beinahe noch einmal umgefallen wäre. »Wörter!«, rief er. »Das ist es! Es gehören Wörter in die Zwischenräume. Natürlich, das ist die Lösung!« Er setzte sich wieder und starrte auf das vollgekritzelte Blatt vor ihm. »Bleibt zu klären, wo sich diese anderen Wörter befinden...« »Ich glaube, wir wissen es beide«, sagte Benedikta leise. »Wir wollen es nur nicht wahrhaben.« 475
Simon blies leise die Luft durch die Nasenlöcher und schob das Pergament von sich weg. Es entstand eine lange Pause, bevor er antwortete. »Auf dem zweiten Schwert, dem Schwert des heiligen Primus, dort sind die anderen Wörter eingraviert. Von beiden Heiligen war im letzten Rätsel die Rede, also ist auf beiden Schwertern die nächste Botschaft zu finden. Wie konnten wir nur so blöd sein!« Augustin Bonenmayr nahm Benedikta wieder das Schwert aus der Hand. »Ich glaube kaum, dass Ihr Eure Vermutung jetzt noch nachprüfen könnt«, sagte er bedauernd. »Die Rottenbucher Reliquien sind vermutlich jetzt besser bewacht als die Gebeine der Heiligen Drei Könige zu Köln.« »Ihr habt recht«, seufzte Simon. »Aber vielleicht kommen wir ja auch so weiter. Jetzt, da wir wissen, dass jeweils das zweite Wort fehlt.« Er trank einen großen Schluck Kaffee und griff dann nach Pergament und Gänsekiel. Dann schrieb er den Spruch des ersten Schwerts noch einmal auf, diesmal in richtigen Abständen. Heredium in baptistae sepulcro »Gehen wir einmal davon aus, dass heredium das erste Wort ist. Dann würde das bedeuten, das Erbe von irgendetwas ist in irgendetwas, das dem Täufer gehört und mit einem Grab zusammenhängt.« »Die erste Verbindung ist leicht«, sagte Benedikta. »Vermutlich heißt es heredium templorum, also ›Erbe der Templer‹.« Simon nickte. »Vermutlich. Aber was gehört dem Täufer? Und vor allem, welches Grab kann gemeint sein?« 476
Benedikta beugte sich über die Zeilen. »Das berühmteste Grab der Christenheit ist das Grab unseres Heilands«, bemerkte sie nachdenklich. »Dem Abstand zwischen den Wörtern nach zu urteilen, könnte das letzte Wort hinter sepulcro tatsächlich Christi sein. Aber damit drehen wir uns im Kreis, denn auch dieses Grab liegt sicher nicht im Pfaffenwinkel. Es sei denn, ich habe in der Bibel eine wichtige Stelle übersehen ... Hochwürden?« Benedikta sah zu Augustin Bonenmayr hinüber, dem plötzlich kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Sein Gesicht war blass, aufgeregt fing er an, seinen Kneifer zu putzen. »Was habt Ihr?«, fragte Simon. »Kennt Ihr etwa ein solches Grab?« »Redet schon!«, rief Benedikta. Der Steingadener Abt sah nicht auf, während er weiter an den Gläsern seiner Brille rieb. »Es mag ein Zufall sein«, sagte er. »Aber tatsächlich gibt es hier in Steingaden einen Ort, der ... nun, der der Grabeskirche in Jerusalem nachempfunden ist. Eine Kapelle, sie ist schon sehr alt.« Simon spürte, wie sein Mund trocken wurde. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen. »Und wie heißt diese Kapelle?«, flüsterte er. Der Abt setzte seinen Kneifer wieder auf. Kleine, wache Augen blitzten dahinter. »Das ist eben das Merkwürdige«, sagte er und spielte mit dem goldenen Siegelring an seinem Finger. »Die Kapelle heißt Johanneskapelle. Sie steht direkt neben unserer Kirche.« 477
Simon stöhnte laut auf. Die Johanneskapelle! Sie waren noch heute früh daran vorübergegangen; nicht im Traum wäre ihnen eingefallen, die kleine, unscheinbare Kapelle könnte vielleicht einen Schatz beherbergen! Noch einmal gingen ihm die eingravierten Worte durch den Kopf. Nun konnte er sich endlich vorstellen, was der Spruch in Verbindung mit den Worten auf dem anderem Schwert bedeutete. Leise flüsterte er den lateinischen Satz, den vermutlich beide Klingen ergaben. »Heredium templorum in domu baptistae in sepulcro Christi.« Das Erbe... der Templer... im ... Haus... des Täufers ... im... Grab... Christi ... Ungefähr so musste der Spruch lauten! Der Schatz der Templer befand sich in der Johanneskapelle, die der Grabeskirche in Jerusalem nachempfunden war! Wenn man wusste, dass die beiden Inschriften zusammengehörten, erschloss sich einem das Rätsel sofort. Simon musste grinsen. Wie genau hatte Friedrich Wildgraf seine Rätsel geplant! Auch das Templersiegel in der Peitinger Schlossruine zeigte zwei gerüstete Ritter auf einem Pferd. Zwei Ritter. Zwei Schwerter. Sie waren immer zu zweit gewesen. Simon sprang von seinem Stuhl auf und eilte zur Tür. Sie waren ganz nah dran! Schon bald würde er den Schatz der Templer in den Händen halten! Der Steingadener Abt würde sie laufenlassen, vielleicht würde er ihnen noch ein wenig Geld überlassen, eine wertvolle Brosche, einen goldenen Becher ... Schließlich hatten sie ihm bei der Lösung des Rätsels geholfen und … 478
Erst jetzt bemerkte er, dass Augustin Bonenmayr bereits vor ihm zur Tür gegangen war. »Mein Kompliment! Ihr habt Eure Sache wirklich gut gemacht«, sagte der Abt lächelnd. In der rechten Hand trug Bonenmayr das Templerschwert, seine rotgeäderten Augen funkelten hinter den polierten Gläsern wie nach einem guten Witz. »Es ist an der Zeit, dass ich Euch einen treuen Diener vorstelle. Vielleicht habt Ihr ihn schon einmal gesehen?« Er öffnete die Tür. Simon zuckte zusammen. Vor ihnen stand ein schwarzgekleideter Mönch. Es war derselbe Mönch, der erst gestern im Rottenbucher Kloster den Landsknecht wie einen Weinbeutel aufgeschlitzt hatte. In seinem Gürtel steckte ein Krummdolch, um seinen Hals hing ein schweres, goldenes Kreuz. »Deus lo vult«, flüsterte Bruder Nathanael. »Gott selbst hat euch hierhergeführt.« Als der Steingadener Abt dem schwarzen Mönch die Hand reichte, erkannte Simon, dass auf Bonenmayrs Siegelring das gleiche Kreuz abgebildet war wie an der Kette des Mönchs. Ein Kreuz mit zwei Querbalken.
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A
uch habe ich gesündigt, als ich dem feschen Peter
vom Huber-Bauern hinterhergeschaut habe, und erst letzte Woche hab ich den Rahm von der Milch abgetrunken ... und ... und dem alten Berchtholdt hab ich als Kind mal einen Pferdeapfel nachgeworfen, das hab ich noch nie gebeichtet...« Magdalena rang nach Worten. Langsam gingen ihr die Sünden aus, und Bruder Jakobus zeigte noch immer keinerlei Vergiftungserscheinungen. Neben ihr in der Kirchenbank sitzend, hielt er den Kopf gesenkt, nur gelegentlich nickte er oder murmelte sein »Ego te absolvo«. Der Mönch zeigte keinerlei Regung; ob Magdalenas Sünden nun groß oder klein waren, schien ihn nicht zu interessieren. Er hielt die Augen geschlossen, gefangen in seiner eigenen bigotten Welt, und nahm ihre Vergehen wie ein trockener Schwamm auf. »Außerdem hab ich erst vorletzten Sonntag in der Kirche geträumt und dem Simon schöne Blicke zugeworfen, und beim Singen hab ich nur die Lippen bewegt ...« Die Henkerstochter fluchte innerlich, während sie weiter beichtete. Waren die Stechapfelsamen und getrockneten Tollkirschen vielleicht zu alt gewesen? Waren sie wirkungslos? Oder hatte dieser Mönch einfach die Konstitution eines Pferds?
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Dies war ihr letzter Plan. Wenn er scheiterte, wusste sie nicht mehr weiter. Der Mönch nickte und murmelte unablässig seine frommen Gebete. »Dominus noster Jesus Christus te absolvat, et ego auctoritate ipsius te absolvo ...« Plötzlich schien mit Bruder Jakobus eine Veränderung vor sich zu gehen. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, er leckte sich über die trockenen Lippen. Jakobus rieb seine Beine aneinander, als würde zwischen ihnen ein Feuer brennen, das man austreten musste. Schließlich warf er Magdalena einen Blick zu, der ihr Blut gefrieren ließ. Seine Augen waren große, schwarze Löcher; die Pupillen geweitet, so dass er aussah wie ein geschminktes altes Weib. Speichel troff ihn von den Mundwinkeln, er griff nach ihren Schenkeln. »O Magdalena, die Sünde!«, flüsterte er. »Die Sünde kommt wieder über mich. Hilf mir, heilige Jungfrau Maria! Hilf mir, dass ich stark bleibe! Die Sünde!« Magdalena schob seine Hand zurück, doch sofort war sie wieder da. Sie krabbelte wie eine fette Spinne von ihren Schenkeln hoch zu ihren Brüsten. Jakobus’ ganzer Körper fing nun an zu zittern. »O Magdalena! Die Dämonen fahren in mich ein. Es sind zu viele. Sie streicheln mich an unkeuschen Stellen, sie lecken mich, sie küssen mich mit feuchten Lippen, sie streichen über meine nackte Haut. Heilige Jungfrau Maria, hilf mir. Hilf mir! « Mit einem lauten Schrei fiel der Mönch über Magdalena her. Er warf sich auf sie, erst im letzten Augenblick gelang es ihr, von der Kirchenbank aufzuspringen. Jakobus riss die Bank um und stürzte mit ihr zu Boden. Wie ein 481
brünstiger Stier rieb er seine Schenkel an dem polierten Holz. Dann stand er plötzlich auf, unter der Kutte sah Magdalena eine mächtige Schwellung. Seine Augen glitzerten wie die eines Tieres. Magdalena trat vorsichtig ein paar Schritte zurück. Verdammt, ich hätte weniger Tollkirsche und mehr Stechapfel nehmen sollen! Leise fluchte sie über ihren Fehler, sie hätte es besser wissen müssen! Sowohl ihr Vater als auch die Hebamme Martha Stechlin hatten Tollkirsche schon öfter für Liebestränke verwendet. Mit einer so heftigen Wirkung hatte Magdalena allerdings nicht gerechnet. Jakobus war mittlerweile schweißgebadet, er atmete schwer, die Worte fielen wie Brocken aus seinem Mund. »Magdalena ... bist du’s wirklich? Deine Brüste ... deine weiße Haut ... Ich folge dir, egal wohin ...« Der Mönch lächelte, während ihm dicke Tropfen über das bleiche Gesicht rollten. Magdalena hatte das Gefühl, dass er jemand ganz anderen vor sich sah. »Das Weiberhaus in Augsburg ... «, flüsterte er. »Ich zahl der fetten Agnes einen Batzen Geld, damit sie dich laufenlässt. Wir ... gehen weit weg. Nach Rom ... nach Westindien ... dein Körper soll keinem anderen mehr gehören ... Nur noch mir!« Mit einem heiseren Aufschrei stürzte er sich auf Magdalena. So gebannt hatte sie seinen Worten gelauscht, dass sie von seinem plötzlichen Angriff überrascht war. Wie ein Derwisch flog der Mönch durch die Luft und warf sie zu Boden. Seine dünnen, tastenden Finger schienen überall gleichzeitig zu sein, sie krochen zwischen ihre Schenkel und in ihr Mieder ,sie drückten sie zu Boden, 482
während sein Mund den ihren suchte. Schreiend drehte Magdalena den Kopf hin und her, der Geruch von fauligem Fleisch ließ sie fast ohnmächtig werden. In aller Deutlichkeit sah sie dicht vor sich die schwärende Wunde, die sich von Jakobus’ Brust bis hoch zu seinem Kinn zog, ein nasser, stinkender Fleck, der schwer auf ihren Busen drückte. »Magdalena ... «, keuchte Jakobus. »Die Sünde... Wir... können... eins ... sein ...« Plötzlich ging ein Zucken durch seinen Körper, ein rasendes Zittern, als würden ihn mehrere Teufel gleichzeitig schütteln. So schnell, wie es gekommen war, hörte es wieder auf, und Jakobus blieb wie ein nasser Sack auf ihr liegen, die Arme weit von sich gestreckt. Eine fast lautlose Stille herrschte. Nur Magdalenas eigenes Keuchen tönte durch das Gewölbe. Die Henkerstochter zögerte einen Moment, dann schob sie den schlaffen Körper angeekelt von sich weg. Jakobus rollte zur Seite und blieb auf dem Rücken liegen, die Augen starr nach oben gerichtet, auf den Lippen ein letztes verzücktes Lächeln. Ein feuchter Fleck breitete sich unten auf seiner Kutte aus. »Drecksau! Drecksau! Drecksau!« Wie besessen schlug Magdalena auf den Mann am Boden ein. Helles Blut floss aus seiner Nase und aus seinem Mund. Plötzlich fiel ihr ein, dass Jakobus vermutlich tot war. Hektisch suchte sie in seiner Kutte nach dem Schlüssel. Dann eilte sie zur Tür und rannte nach draußen. Ein dunkler Gang tat sich vor ihr auf. Sie lief weiter, immer weiter, nur weg von diesem Mann. 483
In der unterirdischen Kapelle starrte Bruder Jakobus mit eingefrorenem Grinsen hinauf zur Decke, auf der ein paar nackte, dicke Englein nur für ihn zu einer himmlischen Musik tanzten. Mit pochenden Kopfschmerzen eilte der Henker auf dem schnellsten Weg nach Rottenbuch. Er mied die Hauptstraße; zu groß war die Gefahr, dass er dort auf Menschen traf, die ihm nach der heutigen Hinrichtung nicht unbedingt wohlgesonnen waren. Kuisl wusste, dass er ihnen allen gründlich die Feier verdorben hatte. Andere Scharfrichter waren schon für weitaus geringere Vergehen an der nächsten Eiche aufgehängt worden. Kuisls Gedanken kreisten während seines Marschs nur kurz um Hans Scheller und die vier Komplizen, die er gehängt hatte. Der Schongauer Scharfrichter hatte keine Gewissensbisse. Das Henken war sein Beruf, und er tat es schnell und so schmerzfrei wie möglich. Er wusste, dass alle fünf Verurteilten selbst getötet hatten, wahrscheinlich auf weit bestialischere Art als er. Jetzt waren sie alle an einem besseren Ort, und Kuisl hatte dafür gesorgt, dass sie nicht unnötig hatten leiden müssen. Doch das Rädern war ihm immer zuwider, und so freute er sich diebisch, dass er Johann Lechner und den Schongauer Patriziern einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Auf schmalen Pfaden stapfte er durch den verschneiten Wald, den Schlapphut gegen Wind und Kälte tief ins Gesicht gezogen, den löchrigen Mantel dicht um sich gewickelt. Er ging so zielsicher wie ein Raubtier auf seiner Fährte. In Schongau hatte der Henker erfahren, dass Simon und seine Begleiterin gestern gegen Mittag Richtung 484
Rottenbuch aufgebrochen waren. Dass sie bis jetzt nicht zurückgekommen waren, musste nichts bedeuten; trotzdem war er beunruhigt. Kuisls Sorgen wurden größer, als er am Rottenbucher Kloster eintraf. Sofort merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Tür zur Kirche war mit einem breiten Riegel verschlossen und wurde von grimmig aussehenden Bütteln mit Hellebarden bewacht. Auf dem Vorplatz standen Gruppen von tuschelnden Mönchen und Handwerkern. Erst jetzt fiel dem Henker auf, dass niemand arbeitete. Die Baugerüste waren leer, keiner der Männer auf dem Platz hielt einen Eimer mit Mörtel oder auch nur eine Kelle in der Hand. Als Kuisl an einigen wild gestikulierenden Augustinern vorbeiging, lauschte er ihren Gesprächen. »Ich sage euch, es war der Leibhaftige ... « – »Nein, die Protestanten waren’s, der Krieg geht weiter, und sie rauben uns unsere letzten Kirchenschätze ... « – »Der Teufel oder die Protestanten, das ist doch alles das Gleiche! Jedenfalls ist der Jüngste Tag nicht mehr fern!« Jakob Kuisl hielt kurz inne. Er vermutete, dass Simon und Benedikta in einer Herberge in Rottenbuch abgestiegen waren; vielleicht wusste man dort, wo sie sich aufhielten. Schon beim ersten Wirtshaus, gleich vor dem Durchgang zum Klosterplatz, hatte er Erfolg. Nach mehrmaligem Klopfen öffnete ihm ein verschwitzter Schankwirt mit Stiernacken und einem Bauch wie ein Bierfass. Als Kuisl ihm den Medicus und seine Begleiterin beschrieb, sah ihn der feiste Mann mit schmalen Augen an. »So ein kleiner Stutzer und eine vornehme Rothaarige, hä? Was willst du denn von denen?« 485
Jakob Kuisl wurde vorsichtig, der Wirt schien ihm etwas zu verschweigen. »Suchen tu ich sie halt. Also, was ist? Waren die bei dir?« Der Wirt stutzte, dann grinste er. »Ich kenn dich. Du bist doch der Schongauer Henker! Hätt nicht gedacht, dass es mit den zwei Kirchenschändern so schnell geht. Na ja, im ganzen Ort spricht man ja von nichts anderem.« Er linste an Kuisl vorbei. »Wo sind denn dein Schwert, deine Stricke und Zangen, hä? Werden die beiden in Rottenbuch verbrannt oder bei euch in Schongau?« Jakob Kuisl dämmerte, dass Simon in weit größeren Schwierigkeiten steckte, als er befürchtet hatte. Er beschloss, sich auf das Spiel einzulassen. »Sag bloß, die beiden sind dir ausgebüxt«, knurrte er. »Wirst ihnen doch nicht bei der Flucht geholfen haben?« Der Wirt wurde kreideweiß. »Nix hab ich! Die sind doch gestern Nacht schon weg. Bei der Heiligen Jungfrau, es ist alles so, wie ich es dem ehrwürdigen Propst bereits gesagt hab! Mit dem Schlitten vom Steingadener Kloster sind sie weg, und der Abt war auch dabei!« »Der Abt?« Der Wirt nickte beflissen. »Augustin Bonenmayr höchstselbst. Ich hab gesehen, wie Hochwürden mit den beiden die Stiege heruntergekommen ist. Ha!« Wieder grinste er, so dass seine schwarzen Zahnstummel hervorlugten. »Wahrscheinlich bringt er sie zum Steingadener Henker, und du bleibst auf deinen Stricken und Zangen sitzen! Ein hübscher Batzen Geld, der dir da entgeht.« Mit seinen kurzen dicken Fingern begann er aufzuzählen. »Das Zwicken, das Strecken, vermutlich werden sie ge486
henkt, gerädert und erst dann verbrannt. Oder vielleicht in Öl gesotten? Das macht alles in allem …« Doch der Henker hörte schon nicht mehr zu. Er war bereits auf der Straße nach Steingaden. Am Schuppen gegenüber dem Wirtshaus schälten sich zwei Gestalten aus dem Schatten und setzten Jakob Kuisl nach. Die beiden Männer in Landknechtstracht waren beunruhigt. Mehr noch, zum ersten Mal seit langer Zeit spürten sie eine leichte Panik in sich aufsteigen. Der Medicus und die rothaarige Frau waren ihnen irgendwie entwischt, sie hatten einen der ihren im Kampf gegen diesen verdammten schwarzen Mönch verloren, und ihre Tarnung war aufgeflogen! Nun schien dieser riesige, schwerfällige Henker ihre letzte Hoffnung zu sein. Mit tief ins Gesicht gezogenen Schlapphüten mischten sie sich unter die immer noch lamentierenden Augustiner und Handwerker und folgten Jakob Kuisl, der auf der von Pferdeschlitten und Handkarren bevölkerten Straße dem Wald zustrebte. Vielleicht würde auch er sie zu ihrem Ziel führen. Augustin Bonenmayr schloss die Tür und wies Simon mit einer Handbewegung an, sich zu setzen. Der Medicus ließ sich willenlos auf einen Schemel plumpsen; so groß war der Schock, dass er einen Moment lang sprachlos blieb. Mit schreckensgeweiteten Augen betrachtete er den schwarzen Mönch, der noch immer am Türrahmen lehnte und mit seinem Dolch spielte. Ein feines Lächeln kräuselte sich um NathanaelsLippen, das goldene Kreuz an der Kette wippte wie ein Pendel leicht hin und her. 487
Der Steingadener Abt ließ sich Simon und Benedikta gegenüber nieder und faltete die Hände wie zum Gebet. Mit seinem Kneifer, dem grauen Haar und dem verkniffenen Mund sah er aus wie ein mitleidiger Schullehrer, der zu einer Strafpredigt ansetzen musste, obwohl es ihm selbst nicht behagte. »Es tut mir leid, dass es so kommen musste«, begann er. »Doch offenbar hat Gott Euch für diese Rolle auserwählt.« Er nahm den Kneifer ab und begann schon wieder die Gläser zu putzen; dabei vermied er es, Simon oder Benedikta ins Gesicht zu sehen. »Ihr habt uns tatsächlich zum Schatz der Templer geführt, die Christenheit wird Euch dafür ewig dankbar sein. Aber Ihr werdet verstehen, dass Euer Weiterleben zu riskant ist. Keiner darf erfahren, dass der Schatz über Jahrhunderte in der Hand von Ketzern war. Auch dass wir ihn mit Blut erkauft haben, ist …« Er sah Bruder Nathanael tadelnd an. »... nun, mehr als bedauerlich. Es würde sich nicht gut machen, wenn solche Vorkommnisse an die Öffentlichkeit geraten. Alles in allem …« »Ihr habt es die ganze Zeit gewusst!«, unterbrach ihn Simon, der mittlerweile seine Sprache wiedergefunden hatte. »Schon von Anfang an waren wir nur Eure dummen Lakaien, die für Euch den Schatz finden sollten. Ihr habt uns damals absichtlich die Verkaufsurkunde hier im Kloster gezeigt, damit wir selber unsere Schlüsse ziehen!« Der Abt zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich wusste, dass Ihr schlau und neugierig seid, Simon Fronwieser. Ihr habt mit dem Henker den Eingang zur Krypta gefunden, und Ihr habt schon des Öfteren bewiesen, dass Ihr schneller denkt als die meisten; wie ein junger Hund, 488
der einen Knochen sucht, schnüffelt und stöbert Ihr in allen Ecken herum. Ich weiß das zu schätzen.« Bonenmayr lächelte milde, bevor er fortfuhr: »Als Ihr nach Steingaden kamt, habe ich kurz überlegt, Euch die Urkunde zu verweigern. Aber dann dachte ich mir, warum sollte ich ihn nicht nach seinem Knochen graben lassen? Meine Mitbrüder waren immer unbemerkt in Eurer Nähe. Nur der Henker war mir zu gefährlich. Also habe ich dafür gesorgt, dass er mit anderen Dingen beschäftigt war.« Simon stöhnte. »Ihr also habt den Gerichtsschreiber Lechner beauftragt, Jakob Kuisl auf Räuberjagd zu schicken!« »Nicht direkt. Aber das Ergebnis lässt doch nichts zu wünschen übrig, nicht wahr?« Der Abt sah befriedigt durch die nun kristallklaren Linsen seines Kneifers. »Die Räuber sind auf dem Schafott, wir haben den Schatz, und die Stadt hat auch noch ein wenig dran verdient.« Nun hatte sich offenbar auch Benedikta von ihrem Schrecken erholt. »Euer Besuch bei der Beerdigung meines Bruders ... «, sagte sie und sah den Abt zornig an. »Ihr wart nur da, um zu überprüfen, wie weit wir mit der Rätselsuche sind. Mein Bruder hat Euch einen Dreck geschert!« Der Abt wirkte fast ein wenig traurig. »So ist es nicht. Der Tod Eures Bruders war, wie gesagt, bedauerlich. Ich wollte ihm die letzte Referenz erweisen, er hatte es verdient.« Er lächelte. »Außerdem dachte ich, ich könnte Simon ein wenig von unserem Treiben ablenken, indem ich Koppmeyers Schwester zur Hauptverdächtigen mache.« Benedikta sprang auf, als wollte sie dem Abt an die Kehle. »Ihr gottverdammter ...!« 489
Simon zog sie wieder auf den Stuhl, bevor Bruder Nathanael mit erhobenem Dolch einschreiten konnte. »Die Intrige ist Euch fast gelungen«, stellte der Medicus fest, nachdem er sicher war, dass sich die Händlerin beruhigt hatte. »Tatsächlich habe ich Benedikta eine Weile verdächtigt, ihren Bruder umgebracht zu haben. Wie hätte ich ahnen können, dass der Steingadener Abt dahintersteckt!« Augustin Bonenmayr schüttelte bedauernd den Kopf. »Der Befehl, den Pfarrer der Lorenzkirche als gefährlichen Mitwisser zu beseitigen, kam aus Augsburg, von ganz oben. Nicht von mir! Als Andreas Koppmeyer bei den Umbauten der Kirche auf die Krypta stieß, schrieb er einen Brief an den Bischof. Erst so erfuhren wir, dass der Schatz wieder aufgetaucht war! Ich hätte vielleicht einen anderen Weg gewählt, aber der Bischof hielt es für das Beste, für absolutes Stillschweigen zu sorgen. Koppmeyer war ein guter Pfarrer, aber leider auch ein Schwätzer. Die Gefahr, dass auch andere dem Geheimnis auf die Spur kommen, war zu groß. Schließlich hatte Koppmeyer auch schon seine Schwester ins Vertrauen gezogen. Wir mussten diesem Treiben ein Ende machen. Versteht doch!« »Wer steckt hinter alledem?«, fragte Simon mit belegter Stimme. »Der Bischof? Oder sind es auch noch andere?« Bonenmayr lachte leise. Die Augen hinter den Brillengläsern funkelten wie kleine, kalte Diamanten. »Wir sind viele. In allen christlichen Ländern, vom einfachen Mönch bis hinauf zum Bischof. Nicht einmal der Papst kennt unsere Namen, und doch sitzen wir bis in den oberen Rängen des Vatikans. Wir kämpfen gegen das sich 490
ausbreitende Ketzertum, und wir retten die Schätze der Christenheit vor ihrer Zerstörung. Viel zu lange schon haben wir zugesehen, wie die Lutheraner, Calvinisten, Zwinglianer, Hussiten und wie sie alle heißen, unsere heiligen Orte entweihen und unsere Reliquien schänden!« Er sprang auf und wanderte an den mit Büchern und Pergamenten vollgestellten Regalen entlang. »Dieses Geschmeiß! Sie berufen sich auf das erste der Zehn Gebote, aber im Grunde sind sie nichts weiter als ein Haufen Verbrecher! Jünger Satans, die geweihtes Gold zu Münzen schmelzen, auf Altären herumtrampeln und die Knochen unserer Heiligen verbrennen!« Sein Gesicht war krebsrot angelaufen, die Brille drohte zu beschlagen. Bonenmayr schloss die Augen und atmete tief durch. Schließlich breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Dass wir so plötzlich Kunde vom größten Schatz der Christenheit bekamen, noch dazu durch den Brief eines einfältigen kleinen Pfarrers, ist ein Zeichen Gottes. Er will, dass wir schon bald in den größten aller heiligen Kriege ziehen. Der Schatz ist hier! Hier direkt vor unseren Augen!« Bonenmayr blieb stehen und reckte die Arme in den Himmel. »Er wird diese Kirche schmücken, Pilgerströme werden sich endlich wieder nach Steingaden ergießen! Ein zweites Santiago de Compostela wird hier im Pfaffenwinkel entstehen! Ich habe vom Bischof bereits die Zusage, dass wenigstens ein Teil des Schatzes hier aufbewahrt wird.« Lächelnd näherte er sich Simon und Benedikta, die Hand zum Segensgruß ausgestreckt. »Ihr habt uns geholfen, ihn wiederzufinden und in den Schoß der Kirche zurückzuführen«, flüsterte er. »Dafür 491
gebührt Euch ewiger Dank. Ich bin sicher, Gott hat im Himmel einen ganz besonderen Platz für Euch vorgesehen.« »Fahrt Ihr meinetwegen zur Hölle, ich will noch nicht in den Himmel!«, rief Benedikta und rannte zur Tür. Sie riss sie auf, stürmte nach draußen und prallte direkt gegen die beiden stämmigen Novizen, die dort noch immer Wache hielten. Die muskulösen Finger Bruder Nathanaels krallten sich von hinten in Benediktas Schulter und zogen sie zurück in die Bibliothek. Der Dolch des Mönchs kratzte an ihrer Kehle, so dass ein dünner Blutfaden ihren Hals hinunterrann. »Soll ich ... ? «, fragte Nathanael, doch Bonenmayr schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich möchte zuerst den Schatz in den Händen halten. Wir lassen sie hier in der Bibliothek. Die Fenster sind zu klein, um zu entkommen, und die Tür hat ein massives Schloss. Wir werden uns ihnen später widmen.« Simon setzte zu einem letzten verzweifelten Versuch an. »Hört, Hochwürden! Ihr macht einen großen Fehler. Man wird uns vermissen. Sicher ist der Schongauer Henker bereits auf der Suche nach uns, und ...« »Der Schongauer Henker?«, unterbrach ihn Bonenmayr und lachte leise. »Das glaube ich kaum. Niemand weiß, dass Ihr hier seid. Und selbst wenn ... « Er schien nachzudenken. »Wer weiß, vielleicht übergebe ich Euch auch den Rottenbucher Augustinern. Dann kann dieser Kuisl Euch wegen Kirchenschändung vierteilen und rädern. Eine gerechte Strafe für die Zerstörung der Reliquien des heiligen Felicianus, findet Ihr nicht?« 492
»Wir können schweigen!«, rief Benedikta. »Und was den Templerschatz angeht, behaltet das Geld! Wir wollen es ohnehin nicht, es klebt zu viel Blut daran.« »Geld?« Der Steingadener Abt sah sie verwundert an. »Glaubt Ihr wirklich, wir sind auf Geld aus?« Er schüttelte fast bedauernd den Kopf. »Ich hatte Euch für klüger gehalten. Ihr enttäuscht mich.« Immer noch kopfschüttelnd, verließ Bonenmayr gemeinsam mit Bruder Nathanael die Bibliothek. Krachend fiel die Tür ins Schloss, und Simon und Benedikta starrten auf meterhohe Regale, vollgestopft mit verstaubten Büchern, Folianten und Pergamenten. Mein Grab, dachte Simon. Dann überlegte er, was Augustin Bonenmayrs letzte Bemerkung bedeutet hatte. Glaubt Ihr wirklich, wir sind auf Geld aus...? Tief in seinem Inneren klopfte etwas an eine Tür. Simon war sich plötzlich sicher, dass er alle Mosaiksteine in den Händen hielt. Nun musste er sie nur noch richtig zusammensetzen. Ein zweites Santiago de Compostela ... Pilgerströme nach Steingaden... die Schätze der Christenheit... »Natürlich! Das muss die Lösung sein!« Der Medicus sprang auf und fing an, in den endlosen Regalen nach einem bestimmten Buch zu suchen. Wenn er schon sterben sollte, dann wollte er wenigstens wissen, warum. Bereits kurz hinter Rottenbuch spürte Jakob Kuisl, dass er verfolgt wurde. Er war von der breiten Straße in einen Wald abgebogen und hatte sich für einen schmalen Pfad 493
entschieden, der nur wenigen Einheimischen bekannt war. Trotzdem war er nicht alleine. Es war das bekannte Gefühl zwischen den Schulterblättern; hinzu kamen ein leises, immer wiederkehrendes Rascheln in den Zweigen und das dumpfe Platschen kleiner Schneelawinen von Tannen, die er nicht berührt hatte – all das zusammen ließ seine Instinkte hellwach werden. Die Männer hinter ihm waren gut, aber sie waren nicht gut genug. Abrupt verließ der Henker den Pfad, ging auf ein vertrocknetes, vom Schnee niedergedrücktes Brombeergebüsch zu und verschwand darin. Ein Wildwechsel tat sich vor ihm auf, der von außen nicht zu sehen gewesen war. Kuisl kauerte sich zwischen die Sträucher und erstarrte. Die Jahre des Umherstreifens im Wald, auf der Jagd oder bei der Suche nach Kräutern, hatten ihn gelehrt, eins mit seiner Umgebung zu werden. Wenn der Wind gut stand, konnte er auf diese Weise einen Rehbock an sich vorüberziehen lassen und ihm mit der Handkante das Genick brechen. Ein Knistern zeigte ihm an, dass sich die Männer näherten. Sie verständigten sich offenbar lautlos; nur die leisen Schritte verrieten, dass einer von ihnen das Gebüsch betrat, während der andere einen Bogen darum machte. Er würde also einen nach dem anderen zur Strecke bringen können. Der Henker grinste. Ein Vorteil für mich … Jakob Kuisl griff nach dem polierten Knüppel aus Lärchenholz, den er immer bei sich führte, und wartete darauf, dass der erste Mann an ihm vorüberschlich. Endlich sah er ihn. Der Fremde ging gebückt den Wildwechsel 494
entlang, wachsam nach allen Seiten Ausschau haltend, in der rechten Hand eine geladene Pistole. Der Schlapphut mit den Federn und der bunte Rock unter dem zerschlissenen Mantel gaben ihn als ehemaligen Söldner zu erkennen. Ein bärtiger Kriegsveteran, gestählt in unzähligen Kriegen, ausgestattet mit der Kraft und Geschicklichkeit eines Kerls, der das Töten von klein auf gelernt hatte. Ein Mann, wie Kuisl selbst einer gewesen war. Der Henker wartete, bis der Landsknecht an ihm vorbeiging, dann schlug er mit dem Knüppel nach dessen Hand. Der Mann war schnell. Im letzten Moment musste er die Bewegung an seiner Seite aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben. Fluchend rollte sich der Söldner zur Seite und zielte gleichzeitig mit der Pistole in Richtung des Henkers. Ein Schuss peitschte durch die Stille, Jakob Kuisl spürte ein heißes Brennen auf der Wange, doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Brüllend stürzte er sich auf den Mann, der die nun nutzlose Pistole zur Seite warf und seinen Degen zog. Doch in dem dichten Gebüsch konnte er mit der Waffe nicht ausholen. Der Söldner stach ein paarmal nach dem Henker, dann hechtete er aus dem Gebüsch heraus. Jakob Kuisl versetzte ihm noch einen leichten Schlag mit dem Knüppel zwischen die Schulterblätter, bevor der Mann gänzlich verschwunden war. Der Henker fluchte. Sein Vorteil war dahin; jetzt standen beide Söldner vor dem Gebüsch, während er selbst wie ein in die Enge getriebener Keiler in seinem Versteck hockte. Er hörte die Männer draußen keuchen, ihre Gestalten waren umrisshaft zwischen den Zweigen auszumachen. Ein Schnappen verriet ihm, dass einer von ihnen 495
seine Armbrust durchlud, der andere schien die Pistole erneut mit Pulver zu stopfen. Muss ihnen zuvorkommen. Sonst knallen sie mich ab wie einen tollwütigen Hund … Ohne weiter nachzudenken, lief Jakob Kuisl brüllend aus dem Gebüsch heraus. Mit blutigem Gesicht und zerrissenem, mit Schlamm bespritztem Mantel hatte er jetzt tatsächlich etwas von einem zornigen Keiler. Sein wüstes Geschrei ließ die Männer kurz erstarren. Eine Schrecksekunde, die Kuisl zugutekam. Der Mann mit der Pistole warf die Waffe fort und griff hektisch nach seinem Degen. Der andere schaffte es nicht mehr rechtzeitig, die Armbrust hochzuziehen, so dass der Bolzen schnarrend in den Waldboden fuhr. Dort nagelte er den Stiefel des Henkers fest, was Jakob Kuisl noch lauter brüllen ließ. Er riss sich los und rammte dem einen Wegelagerer den Knüppel in die Magengrube; der Mann kippte vornüber wie ein gefällter Baum. Kuisl holte aus und ließ den Prügel auf den Kopf des Mannes niederfahren. Ein Krachen war zu hören, als würde man eine Walnuss knacken. Jakob Kuisl wandte sich dem zweiten Mann zu, der versuchte, den Henker mit seinem Degen auf Distanz zu halten. Zischend fuhr die Waffe durch die Luft. Der Mann tänzelte hierhin und dorthin, stach zu und zog sich wieder lauernd zurück. Bei einem seiner Ausfälle erwischte er Kuisl am Oberarm und ritzte ihm den Mantel auf, doch der Henker ging rechtzeitig in Deckung. Als der Mann das nächste Mal nach vorne stieß, duckte sich Kuisl, unterlief den Degen und stand plötzlich direkt vor seinem Angreifer. 496
»Sauhund, verdammter, führst mich nicht mehr an der Nase rum.« Der Henker versetzte dem Mann zwei solch gewaltige Maulschellen, dass dieser wie ein Bündel trockenes Holz in sich zusammenfiel. Gefesselt und mit pochenden Kopfschmerzen kam der Fremde kurze Zeit später wieder zu sich und sah Jakob Kuisl ein paar Schritt entfernt an einem kleinen Feuer kauern. Die züngelnden Flammen tauchten den Kopf des Scharfrichters in einen rötlichen Schimmer. Blut floss in breiten Bahnen über seine rechte Gesichtshälfte, während er sich mit zusammengebissenen Zähnen die Schusswunde an seiner Wange nähte. Als der Henker bemerkte, dass der Mann zu ihm herübersah, grinste er ihn an. »Wird eine schöne Narbe geben«, sagte er. »Aber das ist nichts gegen die Narben, die dir bleiben, wenn’st nicht auf der Stelle ausspuckst.« Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er auf das Lagerfeuer. Der Blick des Mannes wanderte über die Flammen und blieb an einem gewaltigen Hirschfänger hängen, dessen Klinge zwischen den Scheiten glühte. Der Mann beschloss zu reden. Magdalena rannte aus der unterirdischen Kapelle hinaus, den dunklen Tunnel entlang, der über mehrere Stufen leicht bergauf führte. Plötzlich kam sie an eine Kreuzung und blieb abrupt stehen. Links und rechts zweigten weitere, schulterhohe Gänge ab; vereinzelte, flackernde Fackeln verloren sich in der Dunkelheit. Wo war sie? Welchen Gang sollte sie nehmen? 497
Spontan beschloss sie, sich nach links zu wenden. Der Gang krümmte sich und endete schon nach wenigen Schritten in einer steinernen Kammer. Zwei Sarkophage standen in der Mitte eines annähernd würfelförmigen Raums, der aus groben Quadern erbaut war; auch hier hingen brennende Fackeln an den Wänden. Auf den Grabplatten war jeweils ein Ritter mit Schwert und vollem Harnisch abgebildet. Vorsichtig näherte sich Magdalena den tonnenschweren Särgen. War sie etwa in einem weiteren Templergrab gefangengehalten worden? Sie bemerkte die Marmortafel, die am Fuß des Grabmals eingelassen war, erst, als sie mit den Zehen dagegenstieß. Leise fluchend hüpfte sie ein paarmal im Kreis. Als der Schmerz endlich nachließ, übersetzte sie ein wenig mühsam das verschnörkelte, leicht antiquiert klingende Latein auf der Tafel vor ihr. Unter dieser Platte sind verborgen die kostbaren Gebeine der erhabenen und mächtigen Fürsten von Bayern, des Vaters Welf VI. und des dem Vater an Tugend gleichen Sohnes Welf VII. Magdalena hielt den Atem an. Offenbar befand sie sich in der Krypta der Welfen! Einem, soviel sie wusste, mächtigen Adelsgeschlecht, das vor langer Zeit über Bayern geherrscht hatte. Ihr Gefängnis, die Kapelle, musste demzufolge die dazugehörige Grabkapelle sein! Doch sie hatte keine Ahnung, wo sich das Grabmal der Welfen befand. In München? In Nürnberg? Vielleicht... in Augsburg? Jetzt erst bemerkte sie das leise Summen, ein Raunen und Singen, ähnlich dem, das sie unter dem Augsburger 498
Dom gehört hatte. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie einen leichten Schimmer an der Decke der Kammer ausmachen. Licht fiel durch Ritzen, die den Umriss einer rechteckigen Platte bildeten. Von dorther kamen die Töne. Magdalenas Herz begann zu klopfen. Nur wenige Meter über ihr waren Menschen, die ihr helfen konnten! Mönche vielleicht, die einen Choral anstimmten, oder die Besucher einer Messe bei ihrem Abschlusslied. Sie wollte schon um Hilfe schreien, doch dann hielt sie plötzlich inne. Was, wenn das über ihr nur eine weitere Versammlung dieser Wahnsinnigen war? Das geheime Treffen dieses Ordens von Mördern und Fanatikern, an dessen Spitze offenbar der Augsburger Bischof stand? Magdalena entschied sich zu schweigen und zunächst die anderen Gänge abzusuchen. Als sie zurück an die Kreuzung kam, hörte sie zum ersten Mal das Geräusch. Es klang wie ein Schlurfen von der Kapelle her, ein kaum wahrnehmbares Schleifen und Schaben. Magdalena erschrak. War Bruder Jakobus doch nicht tot? War das vielleicht sein Geist, ein Racheengel, der ihr hinterherschlich? Die Henkerstochter schüttelte sich wie nach einem bösen Traum. Du siehst bereits Gespenster, das ist alles … Diesmal nahm sie den rechten Gang. Er führte nach einigen Windungen zu einer steinernen Wendeltreppe, die sich steil nach oben schraubte. Wieder erklang dieses Schlurfen hinter ihr. Sie beschloss, es nicht weiter zu beachten, und eilte die Treppe hinauf, wobei sie jeweils mehrere Stufen auf einmal nahm. 499
Der Gang endete vor einer fleckigen Holzwand. War sie in eine Sackgasse geraten? Magdalena stand da und lauschte. Wieder war da dieses Geräusch, sie konnte es jetzt ganz deutlich hören. Unter ihr kroch etwas die Treppe hoch, ein Schleifen und Ziehen, ein abgehacktes Keuchen wie von einem großen, schweren Tier. Verzweifelt presste sie sich an die Holzwand. Dahinter waren gedämpft Stimmen zu hören. Sollte sie klopfen? Um Hilfe schreien? Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Magdalena so viel Angst gehabt. Vor ihr warteten vermutlich diese Wahnsinnigen auf sie, und hinter ihr kroch etwas Keuchendes, Schleifendes die Treppe hinauf. In ihrer Verzweiflung machte sie sich ganz klein und drückte sich gegen die Holzwand, als könnte sie darin verschwinden. Ein Klicken ertönte. Die Bretterwand kippte quietschend nach vorne, und Magdalena stürzte unter lautem Getöse in den dahinterliegenden Raum. Holzsplitter und ziegelförmige Brocken regneten von der Decke. Als der Staub sich schließlich gelegt hatte und Magdalena den Kopf hob, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. gale entlangschritt. Seine Augen glitten über die unzähligen Bände der Klosterbibliothek. »Ich suche ein Buch.« »Na wunderbar! Der Steingadener Abt stellt uns vor die Wahl, von seinen Schergen erdolcht oder vom Schongauer Scharfrichter gerädert zu werden, und der Herr Medicus sucht ein Buch!« 500
Simon hielt kurz inne. »Ich suche nicht irgendein Buch, sondern ein ganz bestimmtes. Ich habe einen Verdacht. Wenn wir endlich wissen, hinter was dieser Abt eigentlich her ist, haben wir zumindest die Möglichkeit ... Ah, hier ist es!« Er zog einen ledergebundenen Wälzer aus einem der unteren Regale. »Ich wusste, dass ein Kloster wie das der Prämonstratenser ein derartiges Werk besitzen muss. Nun wollen wir mal sehen, ob ich recht hatte ... « Benedikta blickte ihm neugierig über die Schulter. »Darf ich erfahren, was Ihr sucht?« Simon blätterte schnell durch die Seiten, während er sprach. »Dies ist ein Standardwerk über die Geschichte des Heiligen Kreuzes. Das De Sancta Cruce des Jesuiten Francisco de Borja. In der Bibliothek von Jakob Schreevogl befindet sich auch ein Exemplar. Ich bin sicher, dass wir in dem Buch fündig werden …« Er blätterte zu einer fleckigen Seite, auf der unterschiedliche Kreuze abgebildet waren. Benedikta erkannte das byzantinische Kreuz, das schräggestellte Andreaskreuz und das Malteserkreuz mit den acht Spitzen. Sogar das Templerkreuz war darunter. Ganz unten war noch ein Kreuz abgebildet. Als Benedikta es erkannte, hielt sie den Atem an. Das Kreuz hatte zwei Querbalken. Der obere Querbalken war kürzer als der untere. Es war exakt das Kreuz, das Bruder Nathanael an einer Halskette und der Steingadener Abt als Siegelring mit sich führten. »Das Kreuz von Caravaca«, flüsterte Simon. »Auch spanisches Kreuz oder Patriarchenkreuz genannt. Der obere Querbalken steht für das INRI-Schild auf dem Kreuz 501
Jesu. Es wird getragen von Erzbischöfen und soll einst im Kampf gegen die Mauren von zwei Engeln vom Himmel heruntergebracht worden sein.« Benedikta nickte aufgeregt. »Es ist eindeutig das Zeichen dieses merkwürdigen Ordens. Aber warum?« Über Simons Gesicht zog sich ein breites Grinsen. »Ah, jetzt kommen wir zum interessanten Teil! Das echte Kreuz von Caravaca soll nämlich einen Splitter des Kreuzes Christi enthalten. Ich habe mich gefragt, warum sich der Orden genau dieses Erkennungszeichen gewählt hat. Und ich kam zu dem Schluss, dass es eigentlich nur eine Erklärung geben kann …« »Sie suchen das Kreuz Christi«, hauchte Benedikta. »Natürlich! Der Abt und seine Jünger suchen das Heilige Kreuz! Der größte Schatz der Christenheit! Kein Gold, kein Silber, keine Juwelen ... nur ein verfluchtes, morsches altes Holzkreuz.« Enttäuschung zeigte sich auf dem Gesicht der Händlerin. »Wenn ich mich nicht irre, gibt es Hunderte von Splittern, die angeblich vom Heiligen Kreuz stammen sollen. Jede zweite Dorfkirche hat so ein Holzstück, eine ganze Stadt könnte man damit bauen! Dieses vergammelte Kreuz wird nur eines von vielen sein.« Sie seufzte. »Wir hätten uns die ganze Suche sparen können.« Simon schüttelte den Kopf und blätterte auf eine weitere Seite im Buch des Jesuiten. »Das glaube ich nicht. Ich habe dieses Buch schon einmal bei den Schreevogls in der Hand gehabt. Eine bestimmte Stelle ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Seht hier ... « Er deutete auf einen bestimmten Abschnitt, der mit Illustrationen versehen war, bevor er mit heiserer Stimme vorlas. »Helena, die Mutter von Kaiser Konstantin, fand das Heilige Kreuz und 502
ließ es in Jerusalem aufstellen. Doch das Kreuz wurde von den Sassaniden gestohlen und kehrte erst viele Jahre später in die Heilige Stadt zurück. Seit dieser Zeit wurde das Kreuz in allen Schlachten gegen die Ungläubigen mitgeführt. Und es gab eine bestimmte Gruppe, die diese mächtige Reliquie vor einem weiteren Raub schützen sollte ...« »Die Templer! «, rief Benedikta. »Das Kreuz ist der Schatz der Templer! « Sie zögerte. »Aber warum glaubt Ihr, dass unser Kreuz wirklich das echte ist? Es könnten doch ebenso gut zwei morsche Holzbalken sein, wie so viele andere Fälschungen auch.« Simon blätterte eine Seite weiter. Sie zeigte ein buntes Bild, auf dem jeweils zwei Ritter auf einem Pferd in eine Schlacht ritten. Ganz vorne trug jemand ein großes Kreuz vor den Kämpfern her. Der Medicus deutete auf das Bild. »Die Schlacht von Hattin«, flüsterte er. »Auch hier war das Kreuz mit dabei. In jener Schlacht im Jahre 1187 unseres Herrn siegte der Sarazenenfürst Saladin über die Heere der Kreuzfahrer. Zehntausende Christen starben, Hunderte Templer fanden den Tod. Man zog den Gefangenen bei lebendigem Leib die Haut ab …« Von irgendwoher war ein Pochen zu hören. Simon hielt kurz inne, doch das Geräusch war schon wieder verstummt. Nach kurzem Zögern sprach er weiter. »Die Schlacht von Hattin war der Anfang vom Ende des Kreuzfahrerreiches. Noch im gleichen Jahr fiel Jerusalem. Das Schlimmste aber war, dass in dieser Schlacht das Heilige Kreuz verlorenging! Es heißt, einige Templer hätten das Kreuz während der Schlacht im Sand vergraben, um es später wieder zu holen. Doch es wurde nie mehr gefunden.« 503
»Und Ihr glaubt, die Templer haben dieses Kreuz damals versteckt?«, fragte Benedikta. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Simon grinste. »Seit Tagen habe ich schon gerätselt, wo ich den Namen des deutschen Tempelmeisters Friedrich Wildgraf schon mal gelesen habe. Als jetzt vom Heiligen Kreuz die Rede war, ist es mir plötzlich wieder eingefallen.« »Und?«, fragte Benedikta. »Redet schon!« Simon klappte mit Genugtuung den großen Wälzer zu und zog unter seinem Rock das kleine Büchlein über die Templer hervor, das ihm der Patrizier Jakob Schreevogl geliehen hatte. »Auch im Buch Wilhelm von Sellings wird die Schlacht von Hattin erwähnt«, flüsterte er und blätterte eine fleckige Seite auf, die mit Kritzeleien versehen war. »Es ist nur eine Randnotiz, die mir zunächst gar nicht weiter aufgefallen war. Sie bezieht sich auf einige Kämpfer der Schlacht. Wie es in jedem Heer einen Bannerträger gibt, so gab es auch bei den Templern einen einzelnen, der das Heilige Kreuz in den Kampf trug.« Er grinste und machte absichtlich eine lange Pause, bevor er weitersprach. »Bei der Schlacht von Hattin war das kein anderer als ein gewisser Carolus Wildgraf. Ich gehe jede Wette ein, dass Friedrich Wildgraf ein direkter Nachfahre vom damaligen Träger des Heiligen Kreuzes ist.« Nur einen Augenblick später brach krachend das Regal über ihnen zusammen. Simon sah eine Woge von Büchern auf sich niederrauschen, dann traf ihn ein besonders dickes Exemplar an der Stirn, und er stürzte zu Boden. Weitere Bücher prasselten auf ihn, bis die Welt um ihn nur noch aus Schwärze und Buchstaben bestand. 504
Magdalena taumelte durch die plötzlich entstandene Öffnung und stürzte mit den Händen voran ins Ungewisse. Ein Krachen, Scheppern und das dumpfe Geräusch fallender Gegenstände waren zu hören. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie vor sich einen großen Raum, der bis zur Decke mit Bücherregalen vollgestellt war. Ein Teil der Regalwand war samt Inhalt nach vorne gekippt und hatte die Öffnung dahinter frei gemacht. Staub sank in dicken Wolken zu Boden, dahinter wurde ein Berg heruntergefallener Bücher in der Mitte des Raumes sichtbar. Der Berg bewegte sich. Magdalena griff nach einem besonders schweren Folianten und machte sich auf das Äußerste gefasst. Wer auch immer aus dem Bücherberg hervorkriechen würde, sie würde ihn mit Platons Symposion ins sichere Jenseits befördern. Zwei Köpfe schoben sich aus dem Haufen. Magdalena schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ich träume ... Das alles ist ein Traum … Vor ihr wühlten sich Benedikta und ein kreidebleicher Simon aus dem Bücherberg. Ein feines Rinnsal Blut floss dem Medicus von der Stirn her übers Gesicht. Mit Staub, Gips und kleinen Pergamentfetzen bedeckt, sahen die beiden aus wie zwei Wiedergänger aus der Unterwelt. Das Symposion glitt Magdalena aus den Händen, ihre Knie wurden weich, sie musste sich an der Regalwand festhalten. Als Simon die Henkerstochter schließlich in der Wandöffnung entdeckte, blieb ihm der Mund offen stehen. Eine ganze Weile sagte keiner etwas. 505
»Du ... ? «, brach es schließlich aus Simon heraus. Magdalena richtete sich mühsam auf, musterte die beiden zornig und stellte sich dann mit verschränkten Armen vor den Bücherberg. »Ja, ich. Und was, bittschön, hast du mit dem Weibsbild hier zu schaffen?« Magdalena hatte Gefangenschaft, Gift und einen wahnsinnigen Mönch überlebt. Sie war durch dunkle Gänge geflohen und als lebende Leiche in einem Sarg befördert worden. Ihr Leben war in den letzten Tagen gehörig aus den Fugen geraten. Der wankende, mit Pergamentfetzen übersäte Simon vor ihr war das Wirklichste, was ihr in der letzten Zeit begegnet war. Sie vergaß alle überstandenen Schrecken und richtete ihren ganzen Zorn gegen den Medicus und Benedikta. »Was ihr beiden hier treibt, möcht ich wissen!«, schrie sie. »Da ist man einmal von zu Hause weg, und schon amüsierst du dich hinter meinem Rücken mit diesem Landsberger Flittchen!« »Magdalena«, sagte Simon so leise und beruhigend wie möglich. » Benedikta ist kein Flittchen, und wir amüsieren uns auch nicht. Ganz im Gegenteil. Wir sind hier in der Steingadener Bibliothek eingesperrt, haben Reliquien geschändet und werden demnächst entweder erdolcht oder von deinem Vater gerädert. Also würdest du mir bitte auf der Stelle verraten, was du hier machst!!!« Simons Stimme war zum Schluss immer lauter geworden. Magdalena sah ihn mit großen Augen an, nur langsam drang die Wirklichkeit zu ihr durch. »Die ... Steingadener Bibliothek, sagst du?« 506
Benedikta nickte. »Wir sind im Steingadener Kloster gefangen.« Sie deutete auf die Öffnung hinter Magdalena. »Aber so wie es aussieht, haben wir jetzt zumindest einen Fluchtweg. Wir sollten so schnell wie möglich …« »Einen Augenblick noch«, sagte Simon. »Ihr seht doch, dass sie eine Weile Ruhe braucht. Außerdem müssen wir von ihr wissen, was uns dort erwartet.« Der Medicus ging auf Magdalena zu und drückte ihre Hand. Er spürte ihren Puls rasen, nur langsam ließ das Zittern nach, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Die Henkerstochter ließ sich auf einen Bücherhaufen sinken und atmete tief durch. Dann begann sie zu erzählen.
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it großen Schritten hastete Jakob Kuisl auf das
Kloster zu. Der Söldner hatte schnell gestanden; es war deshalb nicht nötig gewesen, ihm mit dem glühenden Hirschfänger den Rücken zu gerben. Der Henker hatte ihm einen Galgen in die rechte Wange gebrannt und ihn dann mit einem Tritt in den Hintern zum Teufel gewünscht, den anderen Söldner hatte er mit zerbrochener Schädeldecke den Tieren zum Fraß gelassen. Noch einmal dachte Kuisl darüber nach, was ihm der Mann am Feuer mit angstgeweiteten Augen und überschnappender Stimme erzählt hatte. Im Grunde hatte der Henker durch die Berichte des Bürgermeisters und des Räuberhauptmanns ohnehin schon alles gewusst. Einige Details waren noch unklar gewesen, doch jetzt fügte sich alles zu einem Bild zusammen. Jakob Kuisl begann zu rennen. Simon war in Gefahr, er musste dieses neunmalkluge Doktorenbürschlein so schnell wie möglich warnen! Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Während er auf der schmalen Straße an im Schneematsch steckengebliebenen Karren und dick vermummten Wanderern vorbeieilte, überlegte er, was in Rottenbuch wohl geschehen war und welche Rolle Simon und Benedikta dabei gespielt hatten. Wie hatte der Abt die beiden mitnehmen können? Rottenbuch gehörte nicht zum Bezirk der Prämonstratenser. Sollten der Medicus und die Händ508
lerin sich einesVerbrechens schuldig gemacht haben, dann mussten sie dort auch bis zum Prozess bleiben. Aber offenbar verfügte dieser Bonenmayr über die notwendigen Mittel, seinen Willen durchzusetzen. Als Jakob Kuisl hinter einem letzten Waldstück endlich das Steingadener Klostergelände erreichte, hatte schon die Dämmerung eingesetzt. Schnee fiel in dicken, weichen Flocken vom Abendhimmel. Ebenso wie in Rottenbuch standen hier turmhohe, vereiste Gerüste mit Flaschenzügen; die Baugruben waren hüfttief mit Schnee gefüllt, nur vereinzelt liefen dem Henker ins Gebet versunkene Chorherren entgegen. Mit ihren weißen Tuniken wirkten sie im Schneetreiben fast unsichtbar. Die Prämonstratenser eilten der Vesper entgegen, die durch tiefe Glockenschläge angekündigt wurde. Seit dem großen Schneesturm vor einigen Tagen schienen die Bauarbeiten zu ruhen. Ein Blick auf die nackten Dachbalken des zukünftigen Wirtshauses zeigte Kuisl, dass Simon und Benedikta wohl, wenn überhaupt, im Kloster nebenan untergebracht waren. Er beschloss, an die Klosterpforte zu klopfen, vielleicht wusste der Cellerar ja mehr. Gerade ging Kuisl auf das mehrstöckige, weiß getünchte Gebäude zu, als sich nur wenige Schritte rechts von ihm eine Tür im Seitenflügel öffnete. Einige Gestalten traten heraus, die in dem mittlerweile sehr dichten Schneetreiben nur schwer zu erkennen waren. Der Henker blieb stehen, um die Prozession in einiger Entfernung an sich vorbeiziehen zu lassen. Er kniff die Augen zusammen, konnte aber im dämmrigen Licht die Männer nur schemenhaft ausmachen. Der vorderste schien 509
Augustin Bonenmayr zu sein. Jakob Kuisl erkannte ihn an dem purpurnen Gürtel, der ihn als Abt kennzeichnete. Im Gegensatz zu den anderen trug er einen weißen Hut auf dem Kopf, den er mit einer Hand vor dem Wind schützte. Die ihm nachfolgenden zwei breitschultrigen Mönche waren ebenso wie der Abt nach Art der Prämonstratenser weiß gekleidet. Der dritte jedoch trug im Gegensatz zu den anderen eine schwarze Kutte mit Kapuze. Sein Gang war leicht und federnd, unter dem Stoff zeichneten sich trotz seiner geringen Körpergröße feste Muskelpakete ab. Die Art, sich zu bewegen und sich gleichzeitig wachsam umzusehen, erinnerte Jakob Kuisl an ein Frettchen. An ein sehr böses, sehr gefährliches Frettchen, dachte er. Der Henker erkannte mit dem Blick des Kämpfers, dass dieser Mann sein Leben nicht nur mit Beten und Bücherkopieren verbracht hatte. Als der schwarze Mönch nur wenige Schritte entfernt an Jakob Kuisl vorbeiging, wendete er sich plötzlich mit heiserer Stimme an den Abt. »Wir hätten sie beseitigen sollen. Dieser Medicus ist ein schlauer Fuchs, der immer wieder ein Schlupfloch findet. Und diese Schlampe …« »Schweig«, unterbrach ihn Augustin Bonenmayr. »Öffne dein Herz lieber für den größten Schatz der Christenheit. Bald schon stehen wir vor ihm. Alles andere kann warten.« Kuisl zuckte zusammen. Er kannte die Stimme dieses Mönchs! Damals in der Krypta der Lorenzkirche hatte er sie nur kurz gehört; dieser merkwürdige, fremdländische 510
Akzent, das heisere Keuchen. Doch es hatte gereicht, um die Stimme für immer in sein Bewusstsein zu brennen. Jakob Kuisl versuchte, eins mit seiner Umgebung zu werden, er duckte sich hinter eine niedrige Schneewehe. Doch er war groß, sein Schlapphut ragte noch hervor. Plötzlich wandte sich der schwarzgekleidete Mönch in Kuisls Richtung. Er schien auf der Stelle zu verharren und seinen Blick in das Schneetreiben vor ihm zu bohren. Langsam drehte der Henker sich zur Seite und hoffte, dass die Sicht für die Mönche genauso schlecht war wie für ihn selbst. Schritte im Schnee entfernten sich knirschend, die murmelnden Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Jakob Kuisl wartete einen Moment, dann setzte er der Gruppe nach. Eine dünne Schneeschicht bedeckte mittlerweile seinen Mantel, und so bemerkten die Mönche nicht den weißen, fast unsichtbaren Koloss, der ihnen auf leisen Füßen durch die Dunkelheit folgte. Als Magdalena ihre Erzählung beendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen. »Der Augsburger Bischof als Anführer eines geheimen Ordens, der über Leichen geht und Kirchenschätze raubt.« Simon schüttelte den Kopf. »Und an seiner Seite der Steingadener Abt. Das glaubt uns kein Gericht auf der Welt!« Sein Blick ging zu dem kleinen, vergitterten Fenster, hinter dem bereits Dämmerlicht herrschte. »Sei’s drum, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Vermutlich ist Bonenmayr schon in der Johanneskapelle, um seinen größten 511
Traum wahr werden zu lassen. Und danach macht dieser schwarze Mönch mit uns kurzen Prozess …« Kurz berichtete er Magdalena, was sie herausgefunden hatten. Schließlich deutete er auf den steinernen Torbogen, der hinter der umgestürzten Bücherwand aufgetaucht war. »Vermutlich ein alter Geheimgang, der vom Kloster in die Gruft der Welfen führt«, sagte er. »Er ist offenbar schon lange nicht mehr benutzt worden. Es muss noch einen anderen Ausgang geben, sonst hätte dieser Mönch dir nicht täglich etwas zu essen bringen können.« Er sah Magdalena an und deutete auf den Eingang. »Und du glaubst, dort unten lauert etwas?« Magdalena nickte und blickte noch einmal zu der Öffnung in der Bücherwand. Kalte, modrige Luft blies ihnen entgegen; noch einige Stufen der Wendeltreppe waren zu erkennen, dann herrschte Dunkelheit. »Und wenn sich dort unten der Leibhaftige herumtreibt«, sagte Benedikta. »Wir müssen trotzdem hinunter. Es gibt keinen anderen Weg hinaus!« Sie zog eine kleine Pistole unter ihrem Kleid hervor und begann sie mit Pulver zu stopfen. »Wenigstens hat mir der fromme Abt nicht unter den Rock geschaut. So haben wir immerhin einen Schuss frei.« Sie grinste und zielte mit der geladenen Pistole in Magdalenas Richtung, bevor sie die Waffe wieder unter dem Gewand versteckte. Simon trat an die Stelle, wo der Geheimgang in die Tiefe führte. »Gibt es dort unten Fackeln? Ich kann nichts erkennen.« Magdalena stellte sich neben ihn. »Merkwürdig«, murmelte sie. »Eigentlich müsste man von hier wenigstens 512
eine Fackel sehen. Sie sind in regelmäßigen Abständen an der Wand befestigt. Jemand muss sie gelöscht haben ...« »Oder der Wind hat sie ausgeblasen«, sagte Benedikta und sah sich um. »Wie auch immer, wir sollten auf alle Fälle ein paar von denen mitnehmen.« Sie griff nach ein paar besonders dicken Büchern in ihrer Nähe. »Was habt Ihr vor?«, rief Simon. »Ihr werdet doch nicht...« »Diese Pergamentseiten sind Jahrhunderte alt. Sie werden ausgezeichnet brennen«, unterbrach ihn Benedikta. »Wenn man sie unten am Einband anfasst, geben sie hervorragende Fackeln ab.« Simon zeigte entsetzt auf ein Buch in Benediktas Hand. »Aber das sind die Confessiones von Augustinus! Samt Kommentaren! Es ist eine Sünde, ein solches Buch zu verbrennen!« Benedikta warf ihm das mehrere hundert Seite dicke Werk zu und klemmte sich vier weitere Bücher unter den linken Arm. »Das sollte reichen. Ihr könnt natürlich auch gerne im Dunkeln herumtappen und Euch hinterrücks die Kehle durchschneiden lassen.« Sie trat auf die Öffnung zu. »Und jetzt folgt mir. Bevor der Abt zurückkommt.« Mit den nächsten Schritten verschwand sie in der Dunkelheit. Augustin Bonenmayr war mit den Nerven am Ende. Zum wiederholten Mal nahm er seinen Kneifer von der Nase und putzte ihn hektisch. »Es muss hier sein! Sucht weiter!« Er zwinkerte mit seinen kleinen Augen, als könnte er so mehr in der Dun513
kelheit erkennen. »Das Kreuz liegt irgendwo vor unseren Füßen!« Gemeinsam mit Bruder Nathanael und den beiden Novizen Johannes und Lothar war der Abt sofort von der Bibliothek hinüber in die Johanneskapelle geeilt, um nach einem Hinweis, nach einer geheimen Kammer, nach irgendetwas zu suchen, das sie zum Kreuz Christi führte. Seit einer Stunde klopften sie nun schon die Wände ab und hielten nach Zeichen Ausschau, doch bislang waren sie nur auf kalte, nackte Wände gestoßen. Augustin Bonenmayr sah sich noch einmal nach allen Seiten um, ob sie irgendetwas vergessen hatten. Die Kapelle war ein kleiner, aus Sandsteinquadern errichteter Raum, an dessen Ostseite ein kleiner Marienaltar stand. Die kreisrunde Form der Kapelle, die ihr von außen das Aussehen eines bulligen Wehrturms gab, sollte an die Grabeskirche in Jerusalem erinnern. Über dem Eingangsportal thronte Christus zwischen Maria und Johannes, neben der Tür kauerten auf Steinplatten zwei lauernde Löwen. Ansonsten war der Raum kahl. Kahl und leer. Ein leiser Fluch kam über Bonenmayrs Lippen. Unter seiner Anleitung hatten die Mönche bereits versucht, die Heiligenfiguren zu bewegen und die Platten mit den Löwen auszuhebeln. Sie hatten die Wände auf Geheimtüren abgeklopft und den Boden nach Falltüren abgesucht. Selbst unter der gewölbten Kapellendecke hatten sie nachgesehen. Mittlerweile fingen sie wieder von vorne an.
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Der Abt schrie und schimpfte, er stieß mit den Füßen gegen den Altar, doch es half nichts. Die Johanneskapelle gab ihr Geheimnis nicht preis. »Das Erbe der Templer im Haus des Täufers im Grab Christi«, flüsterte Bonenmayr erregt. »Die Lösung des Rätsels ist hier! Sie muss hier sein, in der Johanneskapelle! Diese verfluchten Templer ... « Er biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. »Wir brechen den Boden auf«, sagte er schließlich. Bruder Johannes hörte mit dem Abklopfen der Mauern auf und sah seinen Abt mit großen Augen an. »Aber Hochwürden!«, rief er. »Dies ist ein heiliger Ort!« »Dieser Ort ist ein Versteck der verdammten Templerbande! «, brüllte Bonenmayr. »Ich lasse mich von diesen Ketzern nicht mehr länger an der Nase herumführen, nicht auf meinem eigenen Grund und Boden! Wir brechen den Boden auf! Holt Spitzhacken, sofort!« Simon und Magdalena folgten Benedikta die steile Wendeltreppe hinunter in die Dunkelheit. Schon bei der nächsten Biegung wusste der Medicus, dass Magdalena recht gehabt hatte. Er langte mit dem Finger kurz an die Spitze einer Fackel und spürte, dass sie noch heiß war. Jemand musste sie erst vor kurzem gelöscht haben. Die Öffnung über ihnen war nur noch ein fahler Lichtschein, der nach der nächsten Kurve gänzlich verschwunden war. Benedikta blieb stehen, holte ein Zunderkästchen hervor ,und schon bald zeigte ein Flackern vor ihnen an, dass die Händlerin eines der mitgebrachten Bücher in Brand gesteckt hatte. Simon spürte einen Stich in der 515
Herzgegend; er wollte nicht wissen, welches Buch gerade eben den Feuertod starb. Aristoteles? Thomas von Aquin? Descartes? Unsicher blickte er auf Augustinus’ Confessiones in seiner Hand. Noch war er nicht so weit, das brillante Werk anzuzünden. Mit dem brennenden Buch wies ihnen Benedikta die Richtung. Am Fuß der Treppe führte der Gang zurück zu der Kreuzung, wo Magdalena nicht einmal eine Stunde zuvor den Weg nach draußen gesucht hatte. »Wohin?«, flüsterte die Händlerin. Magdalena sah sich um. »Die Kapelle, in der ich eingesperrt war, ist links. Geradeaus geht es in die Krypta der Welfen, aber dort führt kein Weg hinaus. Lasst uns also nach rechts gehen.« Auch die Henkerstochter hatte mittlerweile ein Buch entzündet und trat neben Benedikta in den engen Gang, der noch ein wenig schmaler war als die vorherigen. Kurz hatte Simon die Vision, im Schein der Flammen zwei Schwestern vor sich zu sehen. Die eine älter, mit zum Dutt hochgesteckten roten Haaren und einem mit Pelz verstärkten, feingewebten Mantel; die andere zottig, schwarzhaarig, im von der langen Gefangenschaft zerfetzten Kleid und mit dem zornigen Blick der Jugend. Beide zeigten die gleiche Entschlossenheit. Magdalena schien mittlerweile ihre alte Selbstsicherheit wiedergefunden zu haben. Misstrauisch sah sie die Händlerin von der Seite an. »In dem schweren Mantel bist du gerade mal so schnell wie ein fetter Bär im Winterschlaf«, flüsterte sie. »Am besten, du lässt mich vorangehen. Ich bin jünger und flinker.« 516
»Petite garce! «, zischte Benedikta. »Ich glaube kaum, dass du uns retten kannst, wenn wir plötzlich angegriffen werden. Du vergisst, dass ich unsere einzige Waffe habe.« Sie holte die Pistole hervor und trat einen Schritt voraus. Die Henkerstochter sah spöttisch auf die kleine Handfeuerwaffe. »Ein Weiberfurz, mehr nicht. Damit schießt du nicht einmal ein Huhn vom Misthaufen. Solltest mal die Waffen sehen, die mein Vater aus dem Krieg mitgebracht hat.« »Aber dein Vater ist leider nicht hier, um sein geliebtes Töchterlein zu beschützen!« Simon hob beschwörend die Hände. »Meine Damen, ich bitte euch! Lasst uns erst einmal hier rauskommen. Dann könnt ihr euch immer noch die Köpfe einschlagen.« Benedikta warf einen abschätzigen Blick nach hinten, wo der Medicus stand. »Ihr habt ausnahmsweise recht, wir haben schon genug Zeit verschwendet.« Dann setzte sie sich schweigend an die Spitze der kleinen Gruppe. Magdalena und Simon folgten ihr den schmalen Gang entlang. Erloschene Fackeln in rostigen Haltern hingen in regelmäßigen Abständen an der Wand, in einer Ecke stand ein rußiger, leerer Pecheimer, der wohl zur Herstellung weiterer Fackeln gedient hatte. Immer wieder tauchten links und rechts Nischen und kleinere Gänge auf, doch sie hielten sich an den Hauptgang. Plötzlich prallte Magdalena gegen Benedikta, als diese an einer Abzweigung abrupt stehen blieb. Zwei gleich große Gänge führten von hier weg. »Und wohin jetzt, Madame Siebengscheit?«, flüsterte die Henkerstochter. 517
Benedikta hielt ihr zur Hälfte abgebranntes Buch in die Höhe. Ein dünner Rauchfaden zog an ihrem Gesicht vorbei, die Flamme neigte sich nach links. »Der Gang rechts scheint ins Freie zu führen«, sagte sie. »Wenigstens kommt von dort ein Luftzug. Wir sollten also …« In diesem Moment ertönte wieder das Schlurfen und Keuchen. Es war jetzt ganz nah. Aus irgendeiner der Nischen in der Nähe klang es zu ihnen herüber. Oder war es doch weiter entfernt? Ein Prasseln kleiner Steine folgte. Dann herrschte wieder Ruhe. Benedikta zielte mit ihrer Pistole in die Dunkelheit. »Wer oder was du auch immer bist, komm raus!«, rief sie. »Ich hab hier eine nette Überraschung für dich. Hol sie dir!« Jemand kicherte. Simon und die beiden Frauen hielten den Atem an. Das Kichern hallte durch die Gänge, so dass nicht zu erkennen war, woher es genau kam. Ein weiteres Geräusch ertönte. Das Schaben von Schuhen über Stein. »Verdammt, zeig dich!«, schrie Benedikta. »Verfluchter Dreckskerl, ich schneid dir die Eier ab! Je te coupe les couilles, fils de pute!« Trotz des Schreckens wunderte sich Simon, dass die Händlerin plötzlich fluchte wie ein Pariser Bierkutscher. Wo hatte sie nur diese Worte gelernt? Doch seine Überlegungen wurden unterbrochen, als eine krächzende, sich überschlagende Stimme durch die Gänge hallte.
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»Die Dämonen, Magdalena. Die Dämonen. Sie sind jetzt in mir. Sie... fressen sich ... durch mich hindurch ... Kannst du die Dämonen sehen, Magdalena?« »O, Gott, es ist Bruder Jakobus! «, flüsterte Magdalena. »Er ist noch nicht tot!« »Oder vielleicht doch«, sagte Benedikta. »Diese Stimme klingt jedenfalls nicht mehr sehr ... lebendig.« Plötzlich roch Simon etwas, zuerst nur leicht, dann immer stärker. Es war der Geruch nach scharfem Rauch, nach brennendem Teer, ein ätzender Gestank, der in seine Nase drang. Er kam von vorne, dort, wo der Luftzug gewesen war. Schwarze, zähe Rauchschwaden zogen wie kleine Gewitterwolken an der Gruppe vorbei. Die Stimme war jetzt viel lauter, ein Windrauschen, das auf sie zustürmte. »Die Dämonen, Magdalena. Sie ... fressen ... mich ... Kannst du sie sehen? KANNST DU SIE SEHEN?« Bei den letzten Worten tauchte zu ihrer Rechten ein kleiner , flackernder Ball auf, der ihnen schneller und schneller entgegenrollte und dabei immer größer wurde, bis er schließlich den ganzen Gang ausfüllte. »KANNST DU SIE SEHEN, HENKERSTOCHTER?« Magdalena war wie die anderen vor Schrecken wie erstarrt. Viel zu spät erkannte sie, dass die Feuerkugel die brennende Kutte des Mönchs war. Die Flammen fraßen sich von den Rändern ins Innere, eine lebende Fackel raste auf sie zu. Dann warf sich Bruder Jakobus wie ein brennender Nachtmahr ihnen entgegen.
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Wie Totengräber schlugen die Mönche ihre Hacken in den Boden der Kapelle. Schweiß stand ihnen auf der Stirn, als sie die Bodenplatten in Stücke hackten und mit dem Spaten herausbrachen. Verwitterte Grabplatten, mit Kreuzen verzierte Fliesen, eingelassene Mosaike, alles wurde zu Schutt geschlagen und landete auf einem Haufen draußen neben der Kapelle. Unter den Platten kam nackte Erde zum Vorschein. »Grabt weiter!«, schrie der Abt. »Vielleicht ist es ja irgendwo in der Erde versteckt! Es muss hier sein!« Keuchend hieben die Mönche die Hacken in das harte Gestein. Die Erde war durchsetzt mit kiesigem Geröll, was das Graben besonders mühsam machte. Trotz der eisigen Temperaturen bildeten sich feuchte Flecken auf ihren Tuniken. Die weiße Farbe des Stoffs wurde mehr und mehr von schmutzigem Braun durchzogen. Die Prämonstratenser ächzten und stöhnten, so schwere Arbeit waren sie nicht gewohnt. Bruder Nathanael hatte anfangs noch mitgegraben, mittlerweile stand er neben dem Abt. Der Dominikaner deutete auf die Grube, in der der Boden immer steiniger wurde, je tiefer die Mönche gruben. »Der Medicus muss sich getäuscht haben. Das Kreuz ist hier nicht!« Bonenmayr sah sich hektisch in der Kapelle um, die mittlerweile einem Trümmerfeld glich. Wo hatten sie noch nicht gegraben? Was hatten sie ausgelassen? Sein Blick blieb an dem einzigen Gegenstand hängen, der noch nicht in Stücke gehauen war. Der Altar. 520
Bruder Johannes bemerkte den Blick seines Abts. »Hochwürden, nicht den Altar!«, stöhnte er. »Er ist geweiht und...« »Red nicht, pack lieber mit an.« Augustin Bonenmayr schritt auf den steinernen weißen Quader zu, an dessen Vorderfront ein schlichtes Kreuz als Relief prangte. Er riss den schmutzigen roten Samt zur Seite, der den Altar nach wie vor bedeckte, dann drückten sie alle gemeinsam gegen die Querseite. Mit lauter Stimme gab der Abt den Befehl. »Eins, zwei, drei – jetzt!« Mit einem Knirschen neigte sich der Block nach vorne und fiel schließlich unter lautem Krachen um. Eine Staubwolke breitete sich aus. Als sie sich verzogen hatte, blickte Bonenmayr gespannt nach unten. Nackte Erde. Fast bis zur Ohnmacht erschöpft, sanken die Mönche zu Boden. Der Abt atmete tief durch und setzte sich auf den umgestürzten Altar. Schweiß war über seine Brillengläser gelaufen, so dass er die Umgebung nur noch schemenhaft wahrnahm. Er setzte den Kneifer ab und putzte ihn. Irgendetwas hatte er vergessen. Nur was? Die Lösung des Rätsels stimmte, davon war er überzeugt. Wenn die Lösung stimmte, aber am erwähnten Ort trotzdem nichts zu finden war, konnte das eigentlich nur eins bedeuten: Der Ort hatte sich verändert. Sein Blick glitt über das Deckengewölbe und blieb am Schlussstein ganz oben in der Mitte hängen. Eine Zahl 521
war dort eingeritzt. Er setzte die Brille wieder auf und las sie mit zusammengekniffenen Augen. MDXI. Augustin Bonenmayr stieß einen leisen Schrei aus und ballte die Fäuste. Wie konnte er nur so dumm sein! Die Johanneskapelle, in der sie sich befanden, war erst 151 1 erbaut worden. Dies hier konnte gar nicht der richtige Ort sein! Doch der Abt wusste aus den jahrhundertalten Aufzeichnungen des Klosters, dass in Steingaden schon zuvor eine Johanneskapelle gestanden hatte. Nur wo...? Bonenmayr schloss die Augen und konzentrierte sich, nach einiger Zeit stieg eine Erinnerung in ihm auf. War das möglich? War er tatsächlich schon so nahe dran gewesen? Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Legt die Hacken weg!«, befahl er den Mönchen. »Wir suchen an einem anderen Ort!« Er stapfte hinaus in die Dunkelheit. »Und diesmal finden wir dieses verdammte Kreuz! Und wenn ich das ganze Kloster in Schutt und Asche legen muss!« Starr vor Entsetzen spürte Magdalena, wie sich Bruder Jakobus mit seinem ganzen Gewicht auf sie warf. Sie roch das Feuer, das seine Tunika in eine gigantische Fackel verwandelt hatte. Verzweifelt versuchte sie, den brennenden Leib von sich wegzustoßen, doch die Hände des Mönchs nagelten sie auf dem Boden fest. Aus dem Augenwinkel sah die Henkerstochter eine zähe, klebrige Masse, die in langen Fäden auf sie heruntertropfte. Bruder Jakobus musste sich mit dem Pech aus dem Eimer im 522
Gang eingerieben haben. Flammen tanzten über seine Tunika, eine knisternde Hitze, die sie fast ohnmächtig werden ließ. Der Kopf des Mönchs war jetzt ganz nah über dem ihren; das Feuer hatte seine Haare, seine Augenbrauen und seine Wimpern weggefressen. Sein Gesicht war ein schwarzes Etwas mit zwei weißen, vor Wahnsinn funkelnden Augen und einem Loch, das einmal sein Mund gewesen war und aus dem nun ein hoher, fast kindlicher Schrei drang. »Komm zurück, Magdalena ...!« Verzweifelt drehte Magdalena den Kopf zur Seite und erblickte Benedikta, die mit ihrer Pistole auf den brennenden Mönch zielte und versuchte, dabei nicht dessen Opfer zu treffen. Die Pistole schwankte hin und her, während Jakobus Magdalena noch immer am Boden festhielt. Die Mönchskutte hatte sich in Fetzen von ihm gelöst, an einigen Stellen klebte sie am Körper und brannte sich in die Haut ein. Die Henkerstochter spürte, wie die Flammen nun auch an ihrem Gewand nagten. Ein Schuss hallte durch den Gang. Direkt neben Magdalena spritzte Gestein auf, doch Jakobus blieb weiter auf ihr sitzen. Magdalena hörte, wie Benedikta fluchte. Offenbar hatte sie danebengeschossen. Der Henkerstochter wurde allmählich schwarz vor Augen. Der ätzende Rauch brannte in ihren Lungen, ein stechender Schmerz lief wie eine Horde Ameisen über ihre Beine, dort, wo ihr Kleid Feuer gefangen hatte. Wieder öffnete sich der rote Schlund im verbrannten Gesicht des Mönchs. »MARIA MAGDALENA, VERLASS MICH NICHT! BLEIB BEI ... « 523
Augustinus’ Confessiones trafen Bruder Jakobus seitlich am Kopf, ein gewaltiger, mit zwei Händen geführter Schlag, der den Mönch wie mit einem Ziegelstein niederstreckte. Simon hob das schwere Buch erneut und ließ es wieder und wieder auf den verkohlten Körper herabsausen. Das Buch fing Feuer, doch der Medicus schlug wie von Sinnen weiter auf den Mönch ein. Eine rußige Hand zuckte nach oben. Sie packte Simons Handgelenk und zog ihn unerbittlich zu Boden. Der Medicus taumelte und stürzte, nur einen Augenblick später war der brennende Mönch über ihm. Mit Entsetzen starrte Simon in das zu einem schwarzen Klumpen zerronnene Gesicht, in dem immer noch die weißen Augen funkelten. Verkohlte Finger legten sich um seinen Hals und drückten zu. Mein Gott, wie kann er noch leben? Das Gesicht des Mönchs kam näher und näher. Seine Hände waren wie glühende Eisenstangen, die Simons Kehle zuschnürten. Die Augen traten ihm vor. Er bringt mich um ... Ein Toter bringt mich um ... Oh, mein … Plötzlich durchlief ein Zucken den Körper des Mönchs. Sein Blick ging ins Leere, und mit einem letzten leisen Zischen, wie wenn man eine Flamme löscht, kippte er langsam zur Seite. Der Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, dann herrschte Stille. Hinter dem Mönch stand Magdalena, in der rechten Hand einen blitzenden silbernen Gegenstand, von dem Blut zu Boden tropfte. Die Henkerstochter sah das Ding an, als würde ihr erst jetzt klarwerden, mit was sie eigentlich zugestochen hatte. 524
»Ein ... Siegelöffner«, sagte sie schließlich. »Ich habe ihn aus der Bibliothek mitgenommen. Ich dachte, ich könnte ihn vielleicht noch ... brauchen.« Sie warf ihn zu Boden und streifte sich die Hände an ihrem rußigen Kleid ab. Simon richtete sich keuchend auf und sah sie an. Magdalenas Rock war am Saum verbrannt, auch am Mieder zeigten sich Brandlöcher, das volle schwarze Haar war an einigen Stellen angekokelt. Ein leises Zittern ging durch ihren Körper, ihr Blick schweifte ins Leere. Doch dann schien sie ihre Fassung zurückzugewinnen. Simon empfand fast ein wenig Stolz, dass er dieses Mädchen lieben durfte. Sie ist eine echte Kuisl, dachte er. Einfach nicht kleinzukriegen … Mit dem Fuß stieß Magdalena das verkohlte Bündel, das einmal Bruder Jakobus gewesen war, beiseite. » Er hatte irgendeine Krankheit, die ihn langsam wahnsinnig gemacht hat«, flüsterte sie. »Was für eine grausame Art zu sterben …« »Nicht grausamer als das, was dein Vater mit mir und dem Medicus anstellt, wenn er uns wegen Reliquienschändung auf dem Scheiterhaufen verbrennt«, sagte Benedikta. »Und jetzt weiter.« Noch immer standen sie an der Abzweigung. Simon sah sich nach allen Seiten um. »Wohin?«, fragte er. Benedikta blickte prüfend nach rechts. »Dieser Mönch hat dem Mädchen jeden Tag zu essen und zu trinken aus dem Kloster gebracht. Bestimmt wollte er auch jetzt dor525
thin fliehen und hat sich dann anders entschieden. Lasst uns nach rechts gehen.« Sie folgten ihr den schmalen Gang entlang, der über breite Stufen langsam anstieg. Schon nach kurzer Zeit standen sie vor einer massiven Holztür. Benedikta grinste und machte eine leichte Verbeugung. »Voilà, der Eingang zum Kloster!« Dann drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür war verschlossen. Nachdem sie ein paarmal gerüttelt hatte, warf sie sich schließlich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Die Tür ächzte und zitterte, doch sie hielt. »Seid Ihr wahnsinnig!«, zischte Simon. »Ihr weckt ja das ganze Kloster auf! « Benedikta sah ihn zornig an. »Ach? Habt Ihr eine bessere Idee, um hier rauszukommen?« »Lasst uns zunächst den anderen Gang untersuchen«, warf Magdalena ein. »Wir können dann immer noch hierher zurückkommen und versuchen, die Tür einzuschlagen.« Benedikta nickte. »Kein schlechter Vorschlag, Henkerstöchterlein. Also los!« Sie liefen den Gang zurück, an der Abzweigung vorbei, in die andere Richtung. Im Gegensatz zu vorher wand sich der niedrige Tunnel diesmal schier endlos durch die Dunkelheit. Simon brachte es immer noch nicht übers Herz, eines der Bücher zu entzünden; die Zerstörung derConfessiones war das Äußerste, wozu er fähig gewesen war. So folgte er den beiden Frauen, die ihm mit brennenden Pergamentseiten den Weg wiesen. Wenn er vorhin richtig hingesehen hatte, gingen soeben Aristoteles und Thomas 526
von Aquin in Flammen auf. Aber so genau wollte er es eigentlich gar nicht wissen. Schließlich endete der Gang an einer niedrigen, mit rostigen Eisenspangen beschlagenen Tür. Sie sah sehr viel älter aus als die Tür am anderen Ende des Ganges. Klinke und Schloss waren mit Grünspan überzogen und schienen schon seit langer Zeit nicht mehr angerührt worden zu sein. »Und?«, fragte Benedikta und machte eine einladende Handbewegung zu Simon hin. »Wollt Ihr diesmal Euer Glück versuchen?« In diesem Moment hörten sie hinter der Tür Stimmen. Auf der anderen Seite näherte sich jemand. Das Komödienhaus stand direkt an der Ostseite der Mauer, die das Klostergelände umgab. Es war noch nicht ganz fertig, trotzdem konnte man jetzt schon erkennen, wie es wohl einmal aussehen würde. Es hatte zwei Stockwerke; an den Ecken befanden sich turmähnliche Erker, an denen Wasserspeier mit dämonischen Fratzen angebracht waren. Über dem Hauptportal prangten das Wappen des Klosters und ein Relief, das eine lachende und eine weinende Maske zeigte. Augustin Bonenmayr stapfte mit weit ausholenden Schritten auf das Gebäude zu, so dass die anderen Mönche Schwierigkeiten hatten, ihm zu folgen. Das Theater war eines seiner ehrgeizigsten Projekte, er hatte lange gebraucht, es gegenüber seinen Mitbrüdern durchzusetzen. Ebenso wie die Jesuiten wollte der Steingadener Abt die Menschen mit Licht, Musik und farbigen Kulissen für den rechten Glauben gewinnen. Theater war eine göttliche 527
Waffe im Kampf gegen die nüchterne, sinnesfeindliche Reformation, doch noch brauchte es viel Vorstellungskraft, um Bonenmayrs Traum vom göttlichen Theater mit Leben zu füllen. Ohne in seinem schnellen Gang innezuhalten, drückte der Abt gegen das zweiflüglige Portal und betrat das Innere des Komödienhauses. Die Fackeln, die die Mönche mitgebracht hatten, tauchten den Zuschauerraum in ein fahles Licht, Schatten tanzten über die nackten Wände und Galerien. Vorne befand sich eine fast zwei Schritt hohe Bühne aus gehobeltem Fichtenholz, vor der ein leerer Orchestergraben gähnte. Statt Kulissen lagen Stoffbündel und Bretterhaufen herum, Seile und Flaschenzüge baumelten von der unverputzten Decke. Augustin Bonenmayr sah sich nach seinen Gefolgsleuten um, während er die schmale Treppe zur Bühne hocheilte. »Schneller! Bei Gott, schneller! Wir sind gleich da!« Der Abt schob ein Stoffbündel zur Seite und trat auf ein hölzernes Quadrat in der Mitte der Bühne, das fast unsichtbar im Boden eingelassen war. Dann deutete er auf einen der vielen Flaschenzüge, die an der Wand entlangliefen. »Der rechte Hebel!«, rief er Bruder Johannes zu. »Leg ihn um und lass das Seil langsam herab.« Während die anderen sich mit ihm auf das Quadrat stellten, rollte Bruder Johannes vorsichtig das Tau ab. Ratternd und ächzend versank die Plattform mit dem Abt und den anderen in der Tiefe. »Eine Falltür, mit deren Hilfe der Teufel, die Engel oder auch der Heiland selbst auftauchen oder verschwinden können«, erklärte Bonenmayr Bruder Nathanael, der sich anerkennend umblickte. Das Gesicht des Steingadener 528
Abts bekam einen verträumten Ausdruck. »Ich habe überall Flaschenzüge einbauen lassen. Es wird Seitenkulissen geben, aufrollbare Vorhänge und sogar eine Wolkenmaschine! Schon bald werden die Menschen, wenn sie hier nach der Vorstellung in die Welt hinausgehen, das Gefühl haben, Gott begegnet zu sein! Das Paradies auf Erden sozusagen! Ecce homo, wir sind da ...« Knirschend setzte die Plattform auf dem Steinboden des Kellers auf. Der dunkle Raum, in dem sie sich nun befanden, schien aus unzähligen Nischen und Ecken zu bestehen; überall ragten Säulen auf, die in regelmäßigen Abständen die niedrige Decke stützten, verwitterte Grabplatten bedeckten Wände und Boden. Die tatsächliche Größe des Gewölbes ließ sich nur erahnen, da es vollgestellt war mit modrigen Kisten, Regalen und Truhen. Eine morsche Marienfigur lehnte gleich neben dem Flaschenzug an der Wand, von der Zeit und vom Taubenkot zerfressene steinerne Putten und Wasserspeier lagen verstreut über den Boden. Dazwischen standen einige merkwürdige Apparate, deren Funktion sich auf den ersten Blick nicht erschloss. »Wir haben diesen Keller bei den Bauarbeiten für das Komödienhaus gefunden«, sagte Bonenmayr, während ihm Bruder Lothar eine Fackel reichte. »Ein altes Kirchengewölbe, das im Großen Krieg wohl als Versteck diente und dann vergessen wurde. Zuerst wollte ich die Gräber auf den Friedhof überführen und den Keller zuschütten lassen. Doch dann dachte ich mir, ich könnte ihn für die Bühnenmaschinerien und als Lagerraum für die Kostüme nutzen. Und jetzt ... « Er trat an eine Grabplatte 529
und strich darüber. »Ich spüre, dass wir fast am Ziel sind«, flüsterte er. »Dies soll die alte Johanneskapelle sein?«, fragte Bruder Nathanael skeptisch. »Warum seid Ihr Euch so sicher? Das Steingadener Kloster ist uralt. Es könnte doch genauso gut irgendeine andere vergessene Krypta sein.« Der Abt schüttelte den Kopf und wies auf die Grabplatten. »Seht euch die Inschriften an! «, flüsterte er. »Das sind die Gräber von Äbten und anderen geistlichen Würdenträgern des Klosters. Ich habe mir die Sterbedaten bereits genauer angesehen, der jüngste Eintrag ist von 1 503. Die Johanneskapelle neben der Kirche wurde aber 151 1 erbaut! Also nur acht Jahre später. Das kann kein Zufall sein! Ich bin sicher, wir stehen hier in der Krypta der ehemaligen Johanneskapelle. Sie ist in all den Jahren, in denen hierzulande Krieg herrschte, schlicht vergessen worden!« Er fing an, die Grabplatten abzuklopfen. »Jetzt brauchen wir nur noch den Eingang zum Versteck finden. Ich schlage vor...« Ein leises Knarzen über ihnen ließ den Abt aufhorchen. Dann erklang ein Rumsen, als würde ein schwerer Sack zu Boden fallen. »Bruder Johannes!«, rief Bonenmayr. »Was in aller Welt machst du dort oben?« Der Mönch über ihnen gab keine Antwort. »Verdammt noch mal, Johannes, ich habe dich etwas gefragt!« Wieder blieb es still. Der Abt wandte sich an Bruder Nathanael. »Ich möchte, dass du dort oben nach dem Rechten siehst. Wir haben keine Zeit für derlei Kinderkram.« 530
Nathanael nickte, dann nahm er den Dolch zwischen die Zähne und hangelte sich am Seil des Flaschenzugs zur Bühne empor. Augustin Bonenmayr schritt derweil die Grabplatten ab. Sie zeigten gekreuzte Knochen und Totenschädel, gelegentlich war ein Mönch mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen zu sehen, römische Jahreszahlen wiesen jeweils auf den Zeitpunkt des Todes hin. An einer besonders verwitterten Platte blieb Bonenmayr plötzlich stehen. »Merkwürdig, diese Inschrift ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen«, sagte er und tippte mit spitzen Fingern auf die Platte. »Ein Abt mit diesem Namen ist mir unbekannt.« Er beugte sich mit dem Kneifer ganz nah darüber. »Und auch die Jahreszahlen können so nicht stimmen. « Er wischte den Staub von der Inschrift, so dass die Buchstaben unter den gekreuzten Knochen gut leserlich waren. H. Turris. CCXI. »Was soll das bedeuten?«, murmelte Bonenmayr. »Vielleicht ein ehrenwerter Horazio Turris, gestorben im Jahre 211 des Herrn ...? Ein römischer Offizier, der hier die letzte Ruhe fand?« Bruder Lothar nickte beflissen. »Ihr sagt es, Hochwürden.« »Dummkopf!« Der Abt sah den Mönch streng von der Seite an. »Dieses Kloster ist alt, aber so alt nun auch wieder nicht.« »Womöglich ist ja nur das M für die Zahl Tausend zu sehr verwittert«, warf Bruder Lothar schnell ein, um seinen Fehler wiedergutzumachen. »Könnte es nicht MCCXI, also Anno Domini 1211, heißen?« 531
Der Abt schüttelte nachdenklich den Kopf. »Dann wären auch die anderen Zahlen verwittert. Nein, da steckt etwas anderes dahinter. Gib mir deine Fackel, schnell!« Der verdutzte Mönch sah zu, wie Bonenmayr die Fackel nahm und mit ihr die Inschrift noch einmal in den staubigen Steinboden zeichnete. »H. Turris CCXI«, murmelte der Abt und blickte konzentriert auf den Namen und die daruntergekritzelte Jahreszahl. Plötzlich schien ihn ein Gedanke zu packen. Wild fing er an, Buchstaben in den Staub zu schreiben und wieder wegzuwischen, immer und immer wieder. Bruder Lothar sah ihm verwirrt zu. »Hochwürden, was um Himmels willen …!« »Halt den Mund und gib mir lieber mit der anderen Fackel dort drüben Licht«, knurrte Bonenmayr. Schweigend hielt der Mönch die Fackel, die Nathanael unten gelassen hatte, und beobachtete, wie die Buchstaben durch die Hand des Abts im Staub erschienen und sofort wieder verschwanden. Schließlich hielt Augustin Bonenmayr inne. Das Gesicht nur spärlich beleuchtet, die Augen hinter dem Kneifer zu schmalen Schlitzen verengt, grinste er wie ein Schulbub und deutete auf die Buchstaben am Boden. Unter dem Namen und dem Todesjahr standen nun zwei neue Wörter. Es waren zwei sehr bekannte Wörter. Crux Christi … »H. Turris CCXI wird zu Crux Christi. Das Kreuz Christi«, murmelte Bonenmayr. »Ein Anagramm. Sie haben einfach die Buchstaben vertauscht ... Diese verdammten Templer und ihre Rätsel! Aber jetzt ist 532
Schluss damit.« Er deutete auf die Grabplatte. »Schlag endlich die Platte ein.«
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D
ie Stimmen tönten gedämpft durch die Tür, wurden
lauter und lauter, bevor sie plötzlich verstummten. Simon hielt den Atem an. Er war sich sicher, dass er den Steingadener Abt gehört hatte. Waren sie etwa über einen Geheimgang zur Johanneskapelle gelangt? Aber der Weg war ihm viel länger vorgekommen ... Der Medicus hatte jegliche Orientierung verloren. Mit dem Finger vor dem Mund bedeutete er den beiden Frauen, sich still zu verhalten. Nach einer Weile drang das Geräusch einer Hacke zu ihnen hinüber. Jemand schien in dem Raum hinter der Tür gegen eine Steinplatte zu schlagen. Simon drückte vorsichtig die verrostete Klinke. Wider Erwarten öffnete sich die mit Grünspan überzogene Pforte einen Spaltbreit, dann klemmte sie. Der Medicus blickte durch den Schlitz, konnte aber nicht mehr erkennen als ein paar unförmige Trümmer, die ihm die weitere Sicht versperrten. Mit der Schulter drückte er gegen die niedrige Holztür, quietschend öffnete sie sich Stück für Stück. Das Hacken auf der anderen Seite ging weiter. Jetzt konnte Simon ganz deutlich die Stimme des Abts hören. »Schneller, schneller! Dahinter ist eine Öffnung! Verdammter Esel, mach schon!« Plötzlich war von weiter oben ein gewaltiges Krachen zu hören. Irgendetwas Großes, Schweres musste in einem Raum über ihnen zu Boden gefallen sein. Die Stimme 534
Augustin Bonenmayrs setzte einen Moment lang aus, dann erhob sie sich nur umso lauter: »Meinethalben geht dort oben die Welt unter. Das darf uns jetzt nicht aufhalten. Mach weiter!« Endlich war der Spalt breit genug, dass Simon und die beiden Frauen hindurchschlüpfen konnten. Unweit der Tür stand ein gewaltiges morsches Regal, hinter dem sie sich verbergen konnten. Als der Medicus genauer hinsah, stutzte er. In den Fächern stapelten sich Masken mit krummen Nasen, verstaubte Perücken, falsche Bärte und von Motten angefressene Kleider. Daneben erblickte er einen merkwürdigen Apparat, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Auf einem kleinen Wägelchen war waagrecht eine Tonne aufgehängt, aus der eine Kurbel ragte. Die Tonne selbst war mit einer Stoffbahn umwickelt. Simon rieb sich die Augen. Wo waren sie hier nur hereingeraten? Dies konnte unmöglich die Johanneskapelle sein. Oder doch? Vorsichtig lugte der Medicus hinter dem Regal hervor. Er erblickte ein unübersichtliches, unterirdisches Gewölbe mit einer schmalen Öffnung ungefähr in der Mitte der Decke, durch die senkrecht Seile gespannt waren; sie führten zu einer Holzplatte am Boden. In einer Ecke erkannte Simon einen der beiden Mönche aus der Bibliothek, der mit einer Hacke auf eine Grabplatte einschlug. Daneben stand Augustin Bonenmayr und räumte hektisch die Steinbrocken zur Seite. Als das Loch groß genug war, raffte der Abt seine weiße Kutte und kroch hindurch. »Gib mir die Fackel, schnell!« Der Mönch reichte Bonenmayr die Fackel. Nur kurze Zeit später ertönte ein Schrei hinter der Grabplatte. 535
»Heilige Jungfrau Maria, wir haben es gefunden! Wir haben es wirklich gefunden!« Der Steingadener Abt begann hysterisch zu kichern. Neugierig kletterte Bruder Lothar seinem Vorgesetzten hinterher. Als der Mönch in dem Loch verschwunden war, gab Simon den Frauen ein Zeichen, und sie schlichen gemeinsam hinüber zur aufgebrochenen Grabplatte. Zentimeter für Zentimeter schob Simon seinen Kopf bis zum Rand der Öffnung. Endlich wagte er einen Blick. Den Dolch zwischen den Zähnen, hievte sich Bruder Nathanael aus der Bodenluke auf die Bühne, nur um oben fluchend festzustellen, dass er seine Fackel unten vergessen hatte. Im Theaterraum war es dunkel wie im Arsch des Teufels! Bruder Johannes hatte eine Laterne bei sich gehabt, doch die war verschwunden, ebenso wie der Mönch selbst. »Bruder Johannes!«, rief Nathanael. »Bist du hier irgendwo?« Seine Stimme verhallte in dem zugigen Gebäude, niemand antwortete. Nathanael erinnerte sich, vorhin in einigen Nischen am Bühnenrand Kerzenständer gesehen zu haben. Fast blind tappte er in Richtung der Nischen, bis seine Hand einen bronzenen Kandelaber umklammerte. Mit vor Kälte starren Fingern zog er unter seiner Kutte das kleine Zunderkästchen hervor, das er immer mit sich führte, und entzündete die fünf Kerzen. Es dauerte einige Zeit, doch schließlich konnte er, wenn auch nur schemenhaft, die Bühne und den Zuschauersaal erkennen. Bruder Johannes war nirgendwo zu entdecken. 536
Mit dem Kerzenleuchter in der Hand überquerte Nathanael die Bühne und blieb neben einem Haufen achtlos zusammenknüllten Vorhangstoffs stehen. Gerade wollte er über die Treppe hinunter in den Orchestergraben steigen, als er am Boden etwas Glänzendes bemerkte. Er hielt den Kandelaber tiefer und erkannte eine kleine Pfütze, die sich am Rand des Stoffbündels ausbreitete. Es war Blut. »Was zum Teufel ... « Nathanael schlug den Stoff zur Seite und erblickte Bruder Johannes, der mit zerschlagenem Gesicht wie eine weggeworfene Puppe unter dem Haufen lag. Der Mönch stöhnte leise. Das Blut rann ihm aus der Nase und aus einer Wunde am Hinterkopf, wo sich bereits eine stattliche Beule gebildet hatte. Oberflächlich untersuchte Nathanael die Wunde, bevor er dem Mönch zornig einen Tritt in die Seite versetzte. Bruder Johannes würde noch ein paar Tage einen Brummschädel haben, doch er würde es überleben; jetzt ging es vor allem darum, zu erfahren, wer ihnen auf den Fersen war. »Steh gefälligst auf und sag mir, wer …« In diesem Moment ertönte ein feines Surren, so leise, dass es einem ungeübten Ohr nicht weiter aufgefallen wäre. Doch Nathanael hatte nicht die Attacken von einem halben Dutzend Meuchelmörder in den spanischen Provinzen überlebt, um jetzt in einem Theater im beschaulichen Pfaffenwinkel sein Ende zu finden. Mit voller Wucht warf er sich nach vorne, gerade noch rechtzeitig, bevor der zentnerschwere Bühnenvorhang von der Decke auf ihn herabrauschte. Donnernd fiel der Stoff zu Boden und 537
begrub Kerzen, Kandelaber und den Kopf von Bruder Johannes, dessen Stöhnen abrupt verstummte. Nathanael sprang auf und blickte zur Decke. Seine Augen wanderten über die Galerien und Seitentreppen, die nach oben führten; nervös spielte er mit dem Dolch in seiner Hand. »Komm raus, wer immer du auch bist!«, rief er. »Feiger Hund, du! Kämpf wie ein Mann!« Plötzlich sah der Mönch aus dem Augenwinkel eine kleine Flamme hell auflodern, die schnell größer wurde. Nathanael fluchte. Offenbar hatten die heruntergefallenen Kerzen den Vorhang in Brand gesetzt! Schon wollte er die Flamme austreten, als hinter ihm das Rattern einer Seilwinde ertönte. Der Mönch drehte sich um und sah eine massige Gestalt, die sich mit der linken Hand gemächlich an einem Bühnenseil von der Decke gleiten ließ. In der Rechten schwang sie einen kurzen, aber sehr massiv aussehenden Holzknüppel. »Keiner nennt mich einen feigen Hund«, knurrte der Henker. »Vor allem du nicht. Ihr habt’s mich damals zu dritt in der Dunkelheit überwältigt. Aber für dich brauch ich keine Dunkelheit. Dich windigen Schwarzkittel mach ich auch so kalt.« Mit einem weiten Schritt stieg Jakob Kuisl über den brennenden Vorhang. Die Flammen tauchten die Bühne in ein zuckendes Licht, als der Henker sich mit erhobenem Knüppel dem abwehrbereiten Mönch näherte. Simon schob seinen Kopf an der Wand entlang, bis er einen Blick hinter die zerborstene Grabplatte werfen konnte. Der niedrige Raum dahinter war nur einige Schritt lang 538
und breit, ein modriger Geruch drang daraus hervor. Vom Fackelschein erleuchtet, knieten der Abt und sein Gehilfe an der gegenüberliegenden Seite vor einem schlichten Steinaltar, über dem ein einfaches Holzkreuz hing. Es war etwa schulterhoch und sah alt und sehr verwittert aus. Rostige Nägel hielten es nur notdürftig zusammen, es wirkte schief und krumm, und an einigen Stellen schien es verkohlt zu sein. Trotzdem neigte Augustin Bonenmayr sein Haupt, als würde die Mutter Maria leibhaftig vor ihm stehen. Nach einer Weile beendete er sein Gebet, hob die Reliquie behutsam von der Wand und küsste sie. »Das Kreuz Christi«, flüsterte er. »Dieses Holz hat einst der Heiland berührt. Sieh selbst ... « Er zeigte auf eine Stelle am rechten Seitenbalken; beflissen beugte Bruder Lothar sich darüber, um mehr zu erkennen. »Hier, das Loch!«, sagte der Abt. »Seine Hand muss dort festgenagelt gewesen sein!« »Hochwürden ... «, flüsterte Bruder Lothar so leise, dass ihn Simon kaum noch verstehen konnte. »Das Kreuz ... ich dachte immer, es wäre viel größer ...« »Trottel!« Augustin Bonenmayr gab seinem Gehilfen einen Stoß vor den Kopf. »Dies ist nur ein Teil des wahren Kreuzes. Der Rest ist zerstört! Es war die Aufgabe der Templer, das Kreuz Christi während der Kreuzzüge in jeder Schlacht mitzuführen und zu beschützen. Doch bei Hattin haben sie versagt! Das Kreuz gelangte in die Hände der Feinde und wurde fast vollends zerstört. Der Kreuzträger war ein Vorfahr dieses elenden Friedrich Wildgraf!« Die Hände des Abts krallten sich um das verwitterte Holz. »Er hat einen Teil retten können und für sich behalten. Seitdem galt das Kreuz als verschollen. Doch nun 539
ist es wieder aufgetaucht, hier bei uns in Steingaden. Wer hätte das gedacht?« Bonenmayr streichelte die zwei morschen Querbalken wie eine lang vermisste Geliebte. Simon spürte, wie sich Magdalena hinter ihm drängte, um auch etwas sehen zu können. Ihr weicher Körper schob sich ganz nahe an seinen heran, er spürte ihren warmen, leicht sauer riechenden Atem auf seinem Hals. »Simon, red schon!«, flüsterte sie. »Was geht dort vor?« Sie drückte sich noch enger an ihn, zu eng, denn plötzlich spürte Simon, wie er das Gleichgewicht verlor. Er fiel nach vorne, und mit einem knirschenden Geräusch stürzte er auf die Trümmer der Grabplatte. Augustin Bonenmayr fuhr herum, sein Gesicht verzog sich zu einer Maske des Hasses. »Fronwieser! «, zischte er. »Ich hätte Euch gleich beseitigen lassen sollen! Nun denn, es ist noch nicht zu spät. Bruder Lothar!« Er deutete auf den Mönch, der einen Steinbrocken vom Boden hob und sich dem Medicus bedrohlich näherte. »Tu es für Gott! Deus lo vult!« »Das lasst Ihr besser bleiben.« Benedikta trat in die Öffnung, in der Hand die kleine Pistole, mit der sie schon auf Bruder Jakobus geschossen hatte. Simon war sich nicht sicher, ob sie die zierliche Handfeuerwaffe in der Zwischenzeit wieder geladen hatte, aber die Pistole verfehlte zumindest nicht die gewünschte Wirkung. Bruder Lothar blieb stehen und blickte unschlüssig zu seinem Abt hinüber. Auch Magdalena tauchte nun in der Öffnung auf. Kurz wirkte Augustin Bonenmayr beim Anblick der drei Gestalten verunsichert, doch dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er schien seine Taktik zu ändern. 540
»Ah, ich sehe, die Liebenden haben sich wiedergefunden. Wie schön!« Der Steingadener Abt ging einen Schritt auf Simon zu. »Wobei deine Magdalena ja ein ziemliches Biest sein soll, wie mir Bruder Jakobus gesagt hat. Aber was versteht ein Mönch schon von Frauen ... « Er grinste, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht. »Was für eine göttliche Fügung jedenfalls, dass ihm die Kleine just in Augsburg über den Weg lief! Bei Gott, wir hätten ihr kein Haar gekrümmt. Sie war nur eine ... Sicherheit, dass sich ihr Vater aus der Sache heraushält, falls es brenzlig wird. Wie geht es eigentlich Bruder Jakobus?« »Euer ganzes verdammtes Kloster könnt Ihr mit dem beleuchten«, zischte Magdalena. Brennen tut er, als ob ihm mein Vater selbst eingeheizt hätt. « Der Abt schüttelte milde den Kopf. »So viel Hass! Ich mache Euch einen Vorschlag.« Mit dem Kreuz in der rechten Hand trat er einen weiteren Schritt auf die drei zu, doch Benedikta zielte mit der Pistole auf sein Gesicht. »Keinen Schritt weiter«, flüsterte sie. »Oder Blut wird über dieses Kreuz fließen.« Der Abt hob entschuldigend die Hände. »Wir wollen nicht streiten. Wenn ich mich recht entsinne, werdet Ihr in Rottenbuch noch immer als Reliquienschänder gesucht. Ich habe Eure Namen bereits an Bruder Michael, den Rottenbucher Propst, weitergegeben. Glaubt mir, der sieht Euch lieber heute als morgen brennen. Aber ich könnte mich ja auch getäuscht haben und die wahren Täter sind irgendwelche dahergelaufenen Strauchdiebe. Ein Wort von mir ...« »Das ist eine dreckige Lüge, fils de pute! «, knurrte Benedikta. 541
Der Abt zuckte mit den Schultern. »Lüge oder nicht, wollt Ihr das Wagnis eingehen? Eure Zukunft ist in meiner Hand. Bringt mich um, und Ihr könnt als Vagabunden und Vogelfreie durch Bayern fliehen. Lasst mich mit dem Kreuz ziehen, und Ihr seid frei.« »Wie sollen wir sichergehen, dass Ihr uns nicht doch noch ausliefert?«, fragte Simon. Bonenmayr lächelte und legte seine Schwurfinger auf das verwitterte Holz. »Ich schwöre beim wahren Kreuz Christi. Gibt es einen stärkeren Schwur?« Benedikta sah Simon und Magdalena lange an. Eine ganze Weile herrschte Schweigen in der Grabkammer. Schließlich seufzte die Händlerin. »Ich für meinen Teil kann mit diesem Angebot leben. Ich hatte mit einem echten Schatz gerechnet, einem rubingeschmückten, vergoldeten Kruzifix vielleicht, einer mit Samt ausgeschlagenen Silbertruhe, was weiß ich! Aber dieses morsche Kreuz ist nicht mehr wert als all die anderen tausend Splitter, die vom vermeintlich echten Kreuz existieren. Ich kann es nicht zu Geld machen, also behaltet es!« »Benedikta hat recht«, wandte sich Simon an den Abt. »Wie wollt Ihr all den Gläubigen klarmachen, dass dies das echte Kreuz ist?« »Das hier ist das echte Kreuz!«, beharrte Bonenmayr. »Zumindest ein Teil davon. Die verdammten Templer haben die Kirche immer spüren lassen, dass es noch in ihrem Besitz ist. Lange hat der Heilige Stuhl deshalb seine schützenden Hände über die Ketzer gehalten, auch als er merkte, dass die Templer ihre eigenen Wege gingen und immer eingebildeter und selbstsüchtiger wurden. Als der 542
französische König schließlich kurzen Prozess mit ihnen machte, hoffte die Kirche, das Kreuz würde wieder auftauchen. Viele Templer wurden der heiligen Inquisition übergeben, doch sie schwiegen unter der Folter – und die Reliquie blieb verschollen. Unsere Gemeinschaft hat seit Jahrhunderten danach gesucht! Viele andere Reliquien konnten wir retten vor all den Ketzern, die mittlerweile wie giftige Pilze aus dem Boden schießen, doch das wahre Kreuz war wie vom Erdboden verschwunden! Jetzt kehrt es zurück in den Schoß der heiligen katholischen Kirche. Alles wendet sich zum Guten! Der Augsburger Bischof wird dem Papst von unserem Fund berichten, und Seine Heiligkeit wird die Echtheit des Kreuzes bestätigen.« »Glaubt Ihr das wirklich?«, fragte Simon. Augustin Bonenmayr nickte eifrig. »Mit dem Segen des Papstes wird dieses Kreuz zur wichtigsten Reliquie der Christenheit werden! Die Menschen werden von weit her zu uns pilgern. Ich habe bereits Pläne für eine prächtige Wallfahrtskirche in der Nähe des Wiesbauernhofs ...« »Herrgott, Sakrament, an diesem Kreuz klebt Blut!«, unterbrach ihn Magdalena. Sie deutete auf Benedikta. »Das Blut ihres Bruders und noch vieler anderer! Fast verreckt wär ich wegen dem vermaledeiten Kreuz!« Sie ging bedrohlich auf den Abt zu. »Wenn du glaubst, du kannst hier so mir nichts, dir nichts rausgehen und weiter deinen Schmarren predigen, dann hast du dich sauber geschnitten. Meinen Vater werd ich dir auf den Hals hetzen. Der bricht dir mit deinem Kreuz sämtliche Knochen!« »Magdalena, beruhige dich!«, sagte Simon. »Der Vorschlag des Abts ist so schlecht nicht. Die Toten sind tot und...« 543
»Einen Augenblick!«, unterbrach ihn Benedikta. »Riecht ihr das auch?« Simon schnupperte, ein beißender, brandiger Geruch drang in seine Nase. Noch schwach, aber trotzdem deutlich wahrnehmbar. Er kam aus dem größeren Raum hinter ihnen. »Feuer!«, schrie Benedikta. »Alle raus hier!« Gemeinsam stürmten sie zurück in das Gewölbe, wo dicke Wolken von Qualm durch die Bühnenluke nach unten drangen. Nur kurze Zeit später war die gesamte Decke wie an einem trüben Novembertag hinter einer wabernden, grauen Schicht verborgen. Auf den Trümmern der Grabplatte stand der Abt und presste das Kreuz gegen seine Brust, als könnte er es mit seinem dürren Körper gegen die Flammen schützen. Seine Lippen murmelten ein leises Gebet. Oben auf der Bühne fraßen sich die Flammen durch den trockenen Brokatstoff wie durch Stroh. Sie kletterten an den Vorhängen hinauf bis zur Decke, wanderten die Galerien entlang und hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Schon bald war der gesamte Zuschauerraum in ein leuchtendes Rot getaucht. Trotz der Januarkälte herrschte im Theatersaal eine schier unerträgliche Hitze. Henker und Mönch umkreisten sich wie zwei lauernde Wölfe, jeder wartete, dass der andere den entscheidenden Fehler machte. Schließlich wagte Bruder Nathanael einen Ausfall. Er täuschte rechts an und warf sich dann mit dem Dolch von links auf den Henker. Jakob Kuisl wich aus und versetzte dem Mönch einen Stoß mit dem Ellbogen, so dass dieser nach vorne fiel. Ehe er in die brennenden 544
Vorhänge stürzte, rollte sich Nathanael ab, kam wie eine Katze wieder auf die Füße und griff erneut an. Mit einem so schnellen Gegenangriff hatte der Henker nicht gerechnet. Der Dolch schabte über seinen rechten Oberarm, wo ihn heute Mittag schon das Messer des Wegelagerers erwischt hatte. Kuisl unterdrückte ein Stöhnen und holte mit dem Knüppel aus, traf Nathanael aber nur leicht an der Schulter. Der Mönch wirbelte in einem Halbkreis herum, duckte sich plötzlich und hieb mit dem Dolch nach den Kniekehlen des Henkers. Mit einem beherzten Sprung zur Seite brachte sich Kuisl in Sicherheit. Viel zu spät sah er im dichten Qualm den Vorhangstoff vor sich am Boden liegen, der mittlerweile lichterloh brannte. Um nicht mitten in die Flammen zu springen, änderte er noch im Sprung die Richtung. Er taumelte, fiel vornüber und konnte sich gerade noch an einer bemalten Kulisse festhalten, die einen Himmel mit weißen Wölkchen und einen alles überragenden Herrgott zeigte. Als der Henker sich an der Kulisse hochzog, kippte die zentnerschwere Wand plötzlich nach vorne um. Gemeinsam mit dem Allmächtigen stürzte Kuisl zu Boden und wurde unter der Leinwand begraben. Mit Donnern und Scheppern fielen noch weitere Kulissen auf ihn herab. Einen Augenblick lang herrschte Stille, nur das Prasseln der Flammen und die zischende, fremdartig klingende Stimme des Mönchs waren zu hören. »Ich bin in Salamanca mal einem Mann wie dir begegnet«, flüsterte er. »Groß und stark, aber sehr dumm. Ich hab ihm die Kehle aufgeschnitten, während er noch mit seinem Zweihänder nach mir ausholte. Er hat mich ungläubig angesehen, bevor er nach vorne kippte.« 545
Jakob Kuisl versuchte, die mit Leinwand beklebten, sperrigen Holzgerüste von sich wegzuschieben. Doch irgendwo schienen sie sich verklemmt zuhaben. Sosehr er auch drückte, sie bewegten sich kaum einen Fingerbreit. Schritte tappten an den umgefallenen Kulissen vorbei. Der Henker hörte, wie der Dolch kratzend über die Leinwand fuhr. Nathanael schnitt den dünnen Stoff der Länge nach auf. Bald würde er am Hals des Henkers angelangt sein. »Die Kirche ist keine sanftmütige Gemeinschaft von Lämmern, die zur Schlachtbank gehen«, sagte der Mönch, während er weiterarbeitete. »Die Kirche hat immer auch solche wie mich gebraucht. Nur so ist sie so alt geworden. Sie muss strafen und vernichten, so wie es bereits Johannes der Täufer über unseren Heiland prophezeit hat. Kennst du den Bibelvers, Kuisl? Er muss die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen. Die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.« Der Dolch verharrte in Höhe der Kehle des Henkers. »Und du bist nun die Spreu, Kuisl.« Plötzlich schoss die Faust des Scharfrichters durch die Leinwand, dort, wo der sorgenvolle Mund des Heilands aufgemalt war. Finger krallten sich um die Hand, die den Dolch hielt, und zogen Bruder Nathanael nach unten. Der Mönch verlor das Gleichgewicht und stürzte keuchend in die Kulisse, klirrend fiel der Dolch zu Boden. Eine zweite Hand bohrte sich durch den Stoff und umklammerte Nathanaels Hals. Wie ein Schraubstock drückte sie zu, während der Mönch verzweifelt versuchte, Halt zu bekommen. Nun fasste auch die andere Hand des Henkers um seine Kehle. Nathanael zappelte wie ein Fisch an Land, seine Finger stießen durch die Kulisse, doch sie konnten 546
den Mann darunter nicht greifen. Der Mönch zuckte und ruderte mit den Armen. Die Bewegungen wurden schwächer und schwächer, bis Nathanael schließlich mit der Stirn voran auf die Leinwand sank. Fast sah es aus, als küsste er den Heiland aus Stoff auf den Mund, dann rollte er zur Seite und blieb mit offenen Augen auf der Bühne liegen. Jakob Kuisl kroch unter dem Gerüst hervor und warf einen letzten, fast bedauernden Blick auf den toten Dominikaner. »Warum müsst’s auch immer so viel reden«, sagte er, während er sich seine klobigen, rußigen Hände am Rock abwischte. »Wennst töten willst, tu es und red nicht lang rum.« Erst jetzt schien er das Inferno um sich herum zu bemerken. Die Flammen hatten mittlerweile die Stuhlreihen in der Mitte des Theaters erreicht. Selbst die Kulissen vor Kuisls Füßen fingen bereits Feuer. Die ersten Balken stürzten krachend von den Galerien zu Boden. Von der Luke im Bühnenboden war vor lauter Rauch nichts mehr zu sehen. Der Henker hustete und stieg die Treppe hinunter zum Hauptportal, um nach draußen zu gelangen. Ein letztes Mal sah er sich kopfschüttelnd um. Wer sich jetzt noch in dem Keller unter der Bühne befand, war dem Tode geweiht, falls es keinen anderen Ausgang gab. Es wäre jedenfalls Wahnsinn, dort noch hinunterzusteigen. Er war schon in der Mitte des Theaterraums angelangt, als er das Quietschen des Flaschenzugs hörte.
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Der Qualm unten in der Krypta war mittlerweile so dicht, dass vom oberen Drittel des Raumes nichts mehr zu sehen war; die Seile des Aufzugs endeten irgendwo im grauen Nichts. Simon überlegte hastig. Der Tunnel, der sie hierhergeführt hatte, war vermutlich bereits voller Rauch. Der einzige Weg hinaus führte also nach oben. Der Medicus rannte auf die heruntergelassene Plattform zu und hielt Ausschau nach dem Mechanismus, der sie in Bewegung setzte. »Es muss einen Flaschenzug hier geben!«, rief er Benedikta und Magdalena zu. »Einen Hebel, eine Kurbel, irgendwas! Helft mir suchen!« Aus dem Augenwinkel sah Simon, dass Augustin Bonenmayr immer noch mit dem Kreuz in der Hand in der Öffnung zum Grabraum stand. Der Steingadener Abt starrte auf die Flammen, die sich von oben durch den Bühnenboden fraßen. Das flackernde Licht spiegelte sich in seinem schief auf der Nase sitzenden Kneifer. Bonenmayrs Murmeln schwoll jetzt zu einer Litanei an, während über ihnen bereits der Theatersaal einzustürzen drohte. »Und der erste Engel blies seine Posaune«, intonierte der Abt. »Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land ... « »Wo ist der verfluchte Flaschenzug?«, brüllte Simon in das Ohr von Bruder Lothar, der steif vor Schreck auf die Qualmwolke an der Decke blickte. »Wenn du hier lebend rauskommen willst, mach endlich das Maul auf!« Bruder Lothar deutete stumm auf eine unscheinbare Kurbel mit einer Winde, die rechts neben einem der Kostümregale angebracht war. Ohne weiter nachzufragen, rannte Simon darauf zu und begann zu drehen. 548
»Schnell!«, rief er den beiden Frauen zu. »Steigt auf die Plattform! Ich fahre euch hoch. Wenn ihr oben seid, lasst den Aufzug wieder herunter. Nun macht schon!« Magdalena und Benedikta zögerten kurz, dann rannten sie auf die Plattform zu. Simon drehte weiter an der Kurbel, endlich setzte sich der Aufzug quietschend in Bewegung. In letzter Sekunde sprangen die Frauen auf. »Pass auf, Simon! «, schrie plötzlich Magdalena. »Hinter dir!« Ein dumpfer Schlag traf den Medicus am Hinterkopf. Noch im Taumeln sah er den Abt mit erhobenem Kreuz über sich stehen. »Ihr habt dieses Feuer gelegt, nicht wahr?«, flüsterte Bonenmayr. »Ihr wollt dafür sorgen, dass das Kreuz verbrennt. Aber das wird euch nicht gelingen! Wer bist du, Simon Fronwieser? Ein Lutheraner? Ein Calvinist? Was hast du mit der Templerbrut zu schaffen?« »Hochwürden, kommt zu Euch!«, keuchte Simon. »Warum sollten wir dieses Feuer legen? Wir verbrennen doch selbst, wenn wir uns nicht beeilen. Wir müssen gemeinsam …« Das Kreuz rauschte ein zweites Mal auf ihn herab. Es gelang Simon gerade noch, die Hände vors Gesicht zu reißen. Trotzdem war der Schlag so heftig, dass ihm einen Moment lang schwarz vor Augen wurde. Das Krachen einer Pistole ließ den Medicus wieder zu sich kommen. Offenbar hatte Benedikta ihre Waffe in der Zwischenzeit wieder laden können. Der Abt stand noch immer über ihm, das Kreuz zum letzten, diesmal tödlichen Schlag erhoben. Doch nun griff er an die Seite seiner weißen Tunika, wo sich ein roter Fleck langsam ausbreitete. 549
Fast erstaunt blickte er auf das frische Blut an seiner Hand. »Die gleiche Stelle, an der die Lanze des römischen Soldaten unseren Heiland traf«, murmelte Bonenmayr und blickte verzückt hoch zur Decke. »Nun gibt es keinen Zweifel mehr. Gott hat mich ausersehen!« Simon versuchte aufzustehen, doch die Beine knickten ihm weg. Auf dem Boden liegend, musste er zusehen, wie Augustin Bonenmayr trotz des Bauchschusses auf die beiden Frauen zurannte, das Kreuz wie einen Knüppel schwingend. »Verfluchte Ketzerbrut! «, schrie der Abt. »Das Kreuz kehrt zurück in den Schoß der Kirche! Gott hat es mir in die Hand gegeben, um diesen Ort zu weihen! Ihr werdet mich nicht daran hindern!« Benedikta duckte sich, als der Abt erneut ausholte, und stellte ihm ein Bein. Bonenmayr stolperte, seine Brille fiel zu Boden; er taumelte der gegenüberliegenden Wand entgegen, wo es ihm gelang, sich wieder abzufangen. Erschöpft stützte er sich auf das Kreuz. Blut tropfte unter seiner Tunika hervor, doch er schien nicht sonderlich geschwächt. »Verdammt, Bruder Lothar!«, sagte er keuchend zu seinem Gehilfen, der Tränen in den Augen hatte und wie ein kleines Kind zitterte. »Reiß dich zusammen. Vor dir stehen Feinde der Kirche. Ketzer! Tue das, was ich dich gelehrt habe! Deus lo vult!« Der letzte Satz riss den Mönch aus seiner panischen Starre. Er straffte sich, das Zittern verschwand, dann stürzte er sich mit lautem Schreien auf Magdalena, die soeben Simon zu Hilfe eilen wollte. Die Henkerstochter 550
hatte schon des Öfteren frechen Handwerksburschen eine Maulschelle verpasst, doch Bruder Lothar war ein anderes Kaliber. Er maß fast sechs Fuß, hatte breite Schultern und muskulöse Oberarme wie ein Augsburger Rottflößer. Mit Händen groß wie Kornscheffel stürmte er auf sie zu. Magdalena schlug einen Haken und lief hinter eines der Regale. Sie hatte keinen Plan, sie wusste nur, dass sie dem Mönch auf jeden Fall entkommen musste. Vielleicht fiel ihr ja beim Laufen etwas ein. Magdalena schlug einen weiteren Haken, doch Bruder Lothar blieb ihr auf den Fersen. Sie tauchte unter Regalen durch und sprang über blecherne Apparaturen, deren Sinn sie nicht verstand; sie kletterte über Steinsarkophage und Steinhaufen. Zu ihrer Rechten tauchte plötzlich ein gewaltiger Schrank auf, vollgestopft mit Kostümen. Schnell schlüpfte Magdalena hinein und hoffte, dass der schwerfällige Mönch daran vorbeilaufen würde. Sie roch Staub und den muffigen Geruch von Kleidern, die zu lange an einem feuchten Ort gelagert hatten. Mit einem Mal spürte die Henkerstochter, dass sie nicht allein war. Neben ihr atmete jemand, es roch nach fremdem Schweiß. Als sie ein silbernes Engelskostüm zur Seite schob, kauerte vor ihr Benedikta. Die Händlerin führte den Finger an den Mund und bedeutete ihr, still zu sein. Nur wenige Zentimeter trennten die beiden Frauen. So nah war Magdalena ihrer Nebenbuhlerin noch nie gewesen. Auch in Benediktas Gesicht war jetzt nackte Angst zu lesen. All das vornehme Gehabe, die guten Manieren und das französische Parlieren 551
waren verschwunden. Schweiß stand auf ihrer Stirn, das Haar fiel ihr wirr ins Gesicht, das vornehme Kleid mit den teuren Spitzen hing rußig und in Fetzen an ihr. Doch hinter alldem erblickte Magdalena noch etwas anderes, etwas, das offenbar erst jetzt zum Vorschein gekommen war. In Benediktas Augen glomm ein wildes Feuer; die Henkerstochter erkannte darin die Bereitschaft zu kämpfen, einen unbeugsamen Willen und eine innere Stärke, die die Landsberger Händlerin vielen Männern ohne Zweifel überlegen machte. Magdalena hatte solche Augen schon einmal gesehen. Im Spiegel. Einige Sekunden starrten sich die beiden Frauen an. Dann schreckte sie ein knirschendes Geräusch aus ihren Gedanken. Magdalena blickte erschrocken zur Seite, als sie spürte, wie der Schrank kippte. »Benedikta, pass auf! « Durch die Rückwand hörte Magdalena das Schnaufen Bruder Lothars, der sich offenbar dagegenstemmte. Kurz stand der Schrank schräg auf der hinteren Kante, dann wurden die beiden Frauen unter dem schweren Möbelstück und den staubigen Kostümen begraben. Außerdem roch es ganz in der Nähe verbrannt, irgendwo neben ihnen musste der Kostümstoff Feuer gefangen haben. Verzweifelt drückte Magdalena gegen die Schranktür, doch diese war blockiert. Der Rauch wurde immer stärker, neben sich hörte sie Benedikta husten. In ihrer Panik schlug die Henkerstochter wild um sich. Plötzlich sah sie einen Streifen von Licht durch eine Ritze im oberen Teil des Schranks schimmern. Sie drückte mit den Armen gegen das Oberteil, das sich schließlich mit einem Knarzen 552
löste und krachend zu Boden fiel. Licht und Luft drangen in das stickige Innere. Als die beiden Frauen hustend herauskrochen, sahen sie gerade noch, wie der Steingadener Abt samt Kreuz mit dem Aufzug in die Höhe fuhr. Unten in der Krypta stand Bruder Lothar und drehte wie ein Besessener an der Kurbel. »Das Kreuz! Es ist gerettet!«, schrie Augustin Bonenmayr und blickte von seiner Plattform hinauf zur Öffnung. »Es steigt hinauf in den Himmel, während die Ketzer zur Hölle fahren! Schade, dass dieses Stück nie zur Aufführung kommt. Es hätte wirklich Zuschauer verdient!« Mit diesen Worten verschwand der Abt in den schwarzen Rauchwolken. Erste Teile des Bühnenbodens begannen auf die Eingeschlossenen herabzuregnen. Kurz vor dem Hauptportal wandte sich Jakob Kuisl noch einmal um und sah eine in einen weißen Talar gehüllte, blutbefleckte Gestalt aus der Tiefe der Bühne auftauchen. Sie hielt ein etwa schulterhohes Kreuz in der Hand und rief etwas, was Kuisl wegen des stetig zunehmenden Feuerprasselns nicht genau verstehen konnte. Die Worte Himmel und Hölle schienen darin vorzukommen. Der Henker war kein sonderlich gläubiger Mensch, doch einen Augenblick lang glaubte er wirklich, den Heiland zu sehen, der mit Blut und Feuer auf die Erde kam, um über die Menschen zu richten. War etwa das Jüngste Gericht angebrochen? Jakob Kuisl blinzelte, jetzt erst erkannte er in der weißen Gestalt den Steingadener Abt, der, offenbar verletzt, über die brennende Bühne taumelte. Bonenmayr suchte einen Weg hinunter in den Zuschauersaal, doch die Trep553
pe stand bereits in Flammen. Der Henker stutzte. Was in Dreiherrgottsnamen war dort unter der Bühne geschehen? Gerade erst hatte Kuisl einen Schuss gehört, es schien einen Kampf gegeben zu haben. Doch mit wem? Mittlerweile hatte Augustin Bonenmayr den Henker hinter dem Rauch erkannt. Der Abt kreischte, mit seinen dünnen Fingern deutete er auf Jakob Kuisl. »Du wirst mich auch nicht aufhalten können!«, schrie er. »Der Teufel hat dich geschickt, Kuisl! Doch Gott ist auf meiner Seite!« Mit dem Kreuz in der Hand eilte Bonenmayr zur linken Seite der Bühne, wo eine schmale Wendeltreppe in die oberen Galerien führte. Das obere Drittel der Stufen war bereits zu einem glühenden Gerippe verkohlt, doch der Abt ließ sich davon nicht aufhalten. Er setzte zu einem gewaltigen Sprung an, und tatsächlich gelang es ihm, sich mit der Linken an der Balustrade festzuhalten. Das Kreuz noch immer unter den rechten Arm geklemmt, baumelte er mit nur einer Hand am Geländer über dem brennenden Zuschauersaal. »Kruzitürken, werft endlich das verdammte Kreuz weg!«, schrie Kuisl. »Sonst steht Ihr Gott gleich leibhaftig gegenüber!« Doch der Abt nahm ihn in dem tosenden Inferno nicht mehr wahr, er war gefangen in einer Welt aus Feuer, Hass und Wahnsinn. Verzweifelt versuchte er sich samt dem schweren Holzkreuz über die Brüstung der Galerie zu ziehen. Wie ein großes Pendel hing er dort und schlug mit den Beinen nach links und rechts gegen die Balustrade. Plötzlich gab das brennende Geländer nach, es zerbrach in funkensprühende Stücke, und mit einem ungläubigen 554
Aufschrei stürzte Bonenmayr kopfüber in die Flammen, die sich unter ihm durch die Zuschauerbänke fraßen. Das Kreuz schien einen Augenblick lang in der Luft zu hängen, bevor es schließlich mit einem berstenden Geräusch auf den Steingadener Abt fiel. Kurz glaubte Kuisl noch, eine Hand hinter den Zuschauerbänken herausragen zu sehen, die Finger schienen verzweifelt nach etwas zu greifen; dann prasselte ein Hagel von glühenden Trümmern hernieder, und von Augustin Bonenmayr war nichts mehr übrig als eine Erinnerung. Der Henker stand im geöffneten Portal und sah dem Feuer bei seiner Arbeit zu. Das ganze Theater war ein einziger, großer Scheiterhaufen. Ein Regen aus glimmenden Holzstücken und zu Asche verbrannten Vorhangfetzen hüllte Simon und die beiden Frauen ein. Die Luft war so heiß, dass das Atmen immer schwerer fiel; hinzu kam der Qualm, der in den Augen und der Lunge brannte. Das Feuer arbeitete sich von der Bühne langsam durch die Decke in den Kellerraum. Nachdem der Abt mit dem Aufzug in die Höhe gefahren war ,hatte Bruder Lothar versucht, die Plattform wieder nach unten zu kurbeln. Doch die Seile hatten bereits Feuer gefangen, die Platte war daraufhin ächzend zu Boden gerauscht und dort in ihre Einzelteile zerschellt. Nun blickte der Mönch sich panisch um, er war mit jenen Menschen eingeschlossen, die er soeben noch versucht hatte umzubringen. Würden sie über ihn herfallen? Warum hatte ihn der Abt im Stich gelassen? Simon war mittlerweile wieder auf die Beine gekommen. Sein Kopf schmerzte, Blut floss ihm aus der Nase 555
und aus einer Wunde an der Schläfe, doch wenigstens konnte er wieder laufen. »Wir müssen durch den unterirdischen Gang hinaus«, krächzte er. »Zu der verschlossenen Klostertür von vorhin. Schnell, bevor hier alles zusammenstürzt!« Ohne den Mönch weiter zu beachten, liefen die drei geduckt auf die niedrige Tür zu, während um sie herum immer mehr brennende Deckenteile zu Boden regneten. Bruder Lothar stand wie ein Fels im Raum, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Schließlich riss er sich los und eilte den anderen nach. Doch der Qualm war mittlerweile so dicht, dass er nicht mehr erkennen konnte, wohin sie gegangen waren. Wie im Nebel irrte der Hüne hustend durch das Gewölbe, stieß an die Regale und warf brennende Heiligenfiguren um. »Wartet auf mich!«, keuchte er. »Wo seid ihr? Wo seid ... « In diesem Moment löste sich ein besonders großes Stück der Decke und rauschte direkt über dem Mönch zu Boden. Bruder Lothar hatte gerade noch Zeit, entsetzt aufzublicken, bevor ihn die brennenden Balken begruben. Schon nach kurzer Zeit verstummten seine Schreie. Simon und die beiden Frauen hatten mittlerweile die Tür geöffnet, durch die sie vorher in die Krypta eingedrungen waren. Erleichtert stellte der Medicus fest, dass der Qualm im dahinterliegenden Tunnel nicht so dicht wie erwartet war. Die Tür hatte ihn offenbar weitgehend aufgehalten. Sie rannten den Gang entlang, an der Kreuzung vorbei, bis sie schließlich wieder den Eingang zum Kloster erreichten. Wie beim letzten Mal warf sich Benedikta 556
dagegen, doch das hölzerne Portal hielt auch diesmal stand. Fluchend rieb sie sich die Schulter. »Lasst mich einmal versuchen!«, sagte Simon. Er nahm Anlauf und trat mit aller Macht gegen das massive Holz. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Bein, aber die Tür zitterte nicht mal in den Angeln. Hinter ihnen füllte sich der Gang plötzlich mit schwarzen Rauchschwaden. »Ihr habt doch hoffentlich den Eingang zur Krypta wieder zugemacht?«, fragte Simon ein wenig verunsichert. Benedikta zuckte mit den Schultern und deutete auf Magdalena. »Ich dachte, sie hätte …« »Ach, das wird ja immer schöner!«, entgegnete die Henkerstochter. »Erst den Abt nicht richtig treffen und jetzt die Schuld auf andere schieben!« »Du warst doch die Letzte, törichtes Weibsbild!«, schrie Benedikta. »Ruhe! «, rief Simon. »Wir haben keine Zeit für eure Streitereien! Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, ersticken wir hier wie der Fuchs im Bau. Ich muss diese verdammte Tür aufbekommen!« Er nahm einen noch längeren Anlauf als beim letzten Mal und rannte schreiend auf das Portal zu. Viel zu spät bemerkte er, dass sich die Tür lautlos geöffnet hatte und ihn ein entgeisterter Mönch entgegenstarrte. »Was in aller Welt ...« Simon taumelte im vollen Lauf auf den Mönch zu und riss ihn zu Boden. »Verzeiht die Störung«, keuchte der Medicus und richtete sich schnell wieder auf. »Aber das ist ein Notfall. Euer Kloster brennt!« 557
Der Gesichtsausdruck des Mönchs wechselte von Verwunderung zu Entsetzen. »Feuer im Kloster? Das muss ich sofort dem Abt melden!« Simon lief bereits hinter den beiden Frauen her, die eine schmale Steintreppe emporeilten. »Ich fürchte, das ist kein guter Gedanke«, rief er dem Mönch nach. »Hochwürden hat zurzeit sehr viel zu tun!« Sie rannten die Treppe hinauf, bis sie an eine weitere Tür kamen. Im Gegensatz zu der vorigen ließ sich diese problemlos öffnen. Sie traten hinaus, und Simon sah, dass sie wieder in dem Kreuzgang standen, wo er und Benedikta vor einer Ewigkeit Augustin Bonenmayr zum ersten Mal begegnet waren. Eine Gruppe weißgekleideter Prämonstratenser kam ihnen aufgeregt entgegengelaufen, doch zu Simons Überraschung beachteten sie die Eindringlinge kaum, sondern eilten zum hinteren Ausgang des Kreuzganges. Von fern begann eine Glocke schrill zu läuten. »Feuer! Feuer!«, ertönte es plötzlich von allen Seiten. »Das Komödienhaus brennt!« Das allgemeine Chaos nutzend, rannten die drei den Mönchen hinterher. Als sie ins Freie hinauseilten, sahen sie hinten an der Mauer des Klostergeländes einen hellen Schein. Flammen züngelten in den Nachthimmel, Menschen liefen schreiend hin und her. »Das Komödienhaus!«, schrie Benedikta. »Das Kreuz war offenbar gar nicht in der Johanneskapelle, sondern im Theater! Der unterirdische Gang muss von dort bis zum Kreuzgang führen. Was für ein Labyrinth!« 558
Schnell erkannte Simon, dass für das brennende Gebäude jede Rettung zu spät kam. Von dem zweistöckigen Haus war nur noch ein glühendes Gerippe übrig. Soeben fiel das Dach berstend in sich zusammen. Kopfschüttelnd blickte der Medicus auf das Inferno. Das Komödienhaus! Irgendetwas hatte er bei der Lösung des letzten Rätsels übersehen. Doch im Grunde war das jetzt alles egal. Simon fragte sich, ob es der Abt noch aus dem Theater herausgeschafft hatte oder ob er im Inneren verbrannt war. Und mit ihm das Kreuz Christi … Plötzlich fühlte er sich schwer wie Blei, die ganze Last der vergangenen Tage brach über ihn zusammen. Auch Magdalena und Benedikta wirkten müde und leer. Gemeinsam schleppten sie sich zu einem kleinen, verschneiten Friedhof in der Nähe des brennenden Gebäudes und beobachteten von dort aus den gewaltigen Scheiterhaufen. »Die ganze Sucherei für die Katz!«, fluchte Simon schließlich. Er warf einen Eisbrocken hinaus in die Nacht. »Aus der Traum vom großen Geld! Nun werd ich wohl doch als armer Schongauer Stadtmedicus enden …« Benedikta sagte nichts. Ihre Hand krallte sich um einen Schneeball, bis ihr das Wasser über die Finger lief. »Ob dieser wahnsinnige Bonenmayr davongekommen ist?«, fragte Magdalena. Simon starrte weiter auf den Brand. »Ich weiß nicht. Wenn nicht, befinden wir uns jedenfalls in großen Schwierigkeiten. Falls der Abt die Wahrheit gesagt hat, dann weiß jetzt alle Welt, dass Benedikta und ich die Rottenbucher Reliquien geschändet haben. Bonenmayr ist der Einzige, der uns hätte helfen können.« 559
Benedikta spuckte auf den Boden, offenbar hatte sie ihre Stimme wiedergefunden. »Glaubt Ihr allen Ernstes, das würde er tun, falls er noch lebt? Ich sage Euch, was er tun wird. Er nimmt das Kreuz und schaut genüsslich zu, wie uns der Henker einzeln die Knochen bricht.« »Ich brech schon keine Knochen«, tönte es plötzlich hinter ihnen. »Jedenfalls nicht die vom Simon.« Die drei fuhren herum und sahen den Schongauer Henker rittlings auf einem verwitterten Grabstein sitzen. Er hatte den Kragen seines Mantels gegen die Kälte hochgeschlagen, sog an seiner Pfeife und ließ kleine schwarze Wolken in die kalte Januarnacht steigen. Simon starrte Jakob Kuisl an wie einen Geist. »Wie ... wie kommt Ihr hierher ... ? «, stotterte er. »Das wollte ich grad meine Tochter fragen«, sagte der Henker und wandte sich Magdalena zu. »Hast es wohl nicht mehr ausgehalten in Augsburg, hm? Hast zu deinem Liebsten wollen?« Er schmunzelte. »Ihr Weiber seid’s doch alle gleich.« »Ganz so ... ist es nicht gewesen, Vater«, erwiderte Magdalena. »Ich bin …« »Das kannst mir später erzählen«, unterbrach sie Jakob Kuisl und sprang vom Grabstein herunter. »Jetzt sagt ihr mir erst mal, warum der Steingadener Abt dort drinnen zu Asche verbrannt ist.« Er deutete auf das prasselnde Feuer hinter ihm, dessen Schein sein Gesicht rot erleuchtete. »Ich spür in meinen Knochen, dass ihr damit was zu schaffen habt. Hab ich recht?« »Bonenmayr ist also wirklich tot?«, fragte Simon. Der Henker nickte. »So tot wie eine Hex auf dem Scheiterhaufen. Also, was ist? Rückt’s schon raus.« 560
»Es ging immer um das Kreuz«, fing Simon an. »Der Templer hatte das Kreuz Christi unter dem Komödienhaus versteckt. Die Rätsel haben uns hierhergeführt ... « Er berichtete in kurzen Worten, was sich seit ihrer letzten Zusammenkunft zugetragen hatte. Jakob Kuisl hörte schweigend zu. Als Simon geendet hatte, stieß der Henker eine große Rauchwolke aus. »Die ganze Sucherei nur für ein altes morsches Kreuz«, knurrte er. »Und jetzt ist dieses vermaledeite Kruzifix auch noch verbrannt. Ich hab’s deutlich gesehen. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Wahrscheinlich ist es das Beste so. Dieses Kreuz hat nichts als Tod und Unglück gebracht.« »Lasst uns von hier weggehen«, sagte Benedikta und stand von ihrem Schneehügel auf. »Bevor die Mönche noch auf uns aufmerksam werden.« »Du gehst nirgendwohin, Mädchen«, erwiderte der Henker plötzlich. »Höchstens auf den Galgenbichl.« »Was redet Ihr da?« Simon sah Jakob Kuisl erstaunt an. »Diese Frau ist eine anständige Dame aus Landsberg. So spricht man nicht ...« »Einen Dreck ist sie.« Kuisl klopfte seine erkaltete Pfeife am Grabstein aus. »Sie ist keine anständige Dame und sie kommt auch nicht aus Landsberg.« Eine Zeitlang sagte keiner etwas. Schließlich ergriff Magdalena zögernd das Wort. »Nicht aus Landsberg? Ich versteh nicht ... « Doch ihr Vater unterbrach sie sofort wieder. »Vielleicht will sie uns ja selber sagen, wie sie wirklich heißt. In Augsburg war sie Isabelle de Cherbourg, in München Charlotte Le Mans und in Ingolstadt Katharine 561
weiß der Kuckuck! Aber ich glaub kaum, dass einer davon ihr richtiger Name ist.« Drohend näherte der Henker sich der Händlerin, nur einen Schritt vor ihr blieb er stehen. »Kruzifix, deinen richtigen Namen will ich wissen! Auf der Stelle! Oder ich steck dir glühende Kienspäne unter deine sauber lackierten Fingernägel, bis du wimmerst!« Simon und Magdalena blickten beide Benedikta an, die sich mit beiden Händen an einen Grabstein klammerte. Mit funkelnden Augen und zusammengebissenen Lippen fuhr sie den Henker an: »Wie könnt Ihr es wagen, mich derart zu verleumden! Würde mein Bruder noch leben, dann …« »Schweig, du verludertes Frauenzimmer!«, herrschte Jakob Kuisl sie an. » Du hast den guten Namen unseres Pfaffen lang genug besudelt! Ich hab die Brieftasche des Kuriers gefunden, von da an musst ich nur ein bisserl nachbohren. Jetzt ist es aus, verstehst du! Aus!« »Welche... Brieftasche denn?«, warf Simon ein. Der Henker sog an seiner kalten Pfeife. Erst als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, fuhr er fort: »Beim Ausräuchern vom Scheller und seiner Bande hab ich bei der Beute in der Höhle eine Ledertasche gefunden. Sie hat einem der Kuriere gehört, die die Briefe zu uns in die Gegend bringen. Der Scheller hat mir dann erzählt, dass sie die Tasche einer anderen Räuberbande abgenommen haben.« Wieder machte er eine lange Pause, um seine Pfeife neu zustopfen. Simon wollte gerade etwas sagen, da sprach der Henker weiter: »Ich hab mir die Briefe angesehen, besonders das Datum. Sie sind alle zu einer Zeit geschrieben worden, in der auch der fette Koppmeyer 562
den Brief an seine ach so geliebte Schwester Benedikta geschrieben haben muss. Wenn diese Briefe allerdings allesamt gestohlen wurden ...« »Dann kann Benedikta in Landsberg auch keinen Brief von ihrem Bruder erhalten haben!«, stöhnte Simon. »Aber wie hat sie dann...?« »Ein dummer Zufall, weiter nichts«, sagte Benedikta und lächelte Simon an. »Ihr glaubt doch nicht …« »Ich will euch sagen, wer diese siebengscheite Dame wirklich ist«, unterbrach sie Jakob Kuisl. »Unter falschem Namen gibt sie sich in bayerischen Städten als Händlerin aus. Sie spioniert die Fahrtwege der anderen Händler aus, und dann steckt sie es ihren Komplizen, damit sie die Fuhrleute ausrauben können.« »Wie kommt Ihr auf so einen Unsinn?«, fuhr ihn Benedikta an. »Einer deiner Gesellen hat’s mir selber gesagt.« »Schwachsinn!«, blaffte Benedikta. » C’est impossible!« »Glaub mir«, sagte der Henker und zündete seine Pfeife mit einem glimmenden Kienspan an. »Irgendwann redet bei mir jeder.« Er paffte, bis die Pfeife Zug bekam. »Und danach nie wieder.« Benedikta starrte ihn einen Augenblick entsetzt an. Dann warf sie sich auf den Henker und trommelte mit ihren Fäusten auf seine breite Brust ein. »Du hast sie umgebracht!«, schrie sie. »Du Scheusal hast sie umgebracht!« Jakob Kuisl packte sie an den Händen und stieß sie von sich weg, so dass sie wie eine Puppe gegen einen Grabstein prallte. 563
»Es waren Räuber und Mörder«, sagte er. »Genau wie du.« In dem Schweigen, das eintrat, waren nur das ferne Prasseln des Feuers und die Schreie der Mönche zu hören, die verzweifelt versuchten, wenigstens die umliegenden Gebäude zu retten. Ungläubig musterte Magdalena die vermeintliche Händlerin, die immer noch keuchend neben dem Grabstein kauerte und sie mit kalten, hasserfüllten Augen ansah. »Ihre Bande hat den Kurier ausgeraubt und den Brief gelesen!«, rief Magdalena. »So muss es gewesen sein! Sie hat gelesen, dass der fette Koppmeyer was Wertvolles gefunden hat, und dann hat sie sich als seine Schwester ausgegeben, um uns hinterherschnüffeln zu können.« »Nicht nur sie, ihre ganze Bande hat uns verfolgt.« Simon fasste sich an den Kopf und stöhnte leise. »Es waren Eure Komplizen, die ich im Wessobrunner Wald gesehen hatte, nicht wahr? Und Eure Komplizen waren es auch, die im Rottenbucher Kloster den Kampf mit den Mönchen anfingen. Wie konnte ich nur so dumm sein!« Die Frau, die kurze Zeit zuvor noch Benedikta Koppmeyer gewesen war, lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. Alle Kampfeslust schien plötzlich von ihr abzufallen. Sie lehnte an dem Grabstein wie eine leere Hülle. »Sie sollten uns beschützen«, sagte sie leise. »Nicht nur mich, auch dich, Simon. Wir wussten früher als ihr, dass auch andere hinter dem Templerschatz her waren. Wir wussten, dass mit ihnen nicht zu spaßen war.« »Damals im Wald auf dem Weg nach Steingaden, als wir von Wegelagerern angegriffen wurden«, murmelte Simon. »Es waren Eure Freunde, die mir wieder aufs 564
Pferd halfen. So war es doch, oder? Ich habe gedacht, es wäre ein Traum gewesen, doch die Männer waren wirklich da.« Die Frau, die ihm gegenüberstand, nickte. »Sie haben immer auf uns aufgepasst.« »Schmarren!«, blaffte der Henker. »Sie waren da, damit ihnen die Beute nicht durch die Lappen geht. Simon, sei gscheit! Wenn ihr den Schatz gefunden hättet, hätten dir ihre Spießgesellen ohne Zögern die Kehle durchgeschnitten, und sie hätte dabei zugesehen. Deshalb bin ich nach Steingaden gekommen – um dich vor diesem Weibsbild zu warnen! « Simon sah die rothaarige Frau mit den feinen Gesichtszügen an, die er so lange für das Ideal gebildeter Weiblichkeit gehalten hatte. »Ihr seid also gar nicht aus Frankreich?«, fragte er leise. Sie lächelte kurz, und für einen Moment blitzte die alte Benedikta Koppmeyer wieder auf. »Doch. Ich stamme tatsächlich von einer Hugenottenfamilie ab. Aber ich habe mich schon als Kind für das Leben auf der Straße entschieden. Ich wollte frei sein und nicht als brave Ehefrau an der Seite irgendeines fetten, selbstzufriedenen Händlers enden.« »Mord, Täuschung und Totschlag, dafür hast du dich entschieden!«, knurrte der Henker. »Ich hab den Herrn Bürgermeister auskundschaften lassen, wie toll es dieses Weibsbild getrieben hat. Die Spur ihrer Bande zieht sich durch ganz Bayern. München, Augsburg, Ingolstadt... Immer hat sie sich als feurige Händlerin ausgegeben und den Pfeffersäcken im Wirtshaus ihre Routen aus der Nase gezogen. Später ist dann einer ihrer Komplizen ins Wirts565
haus gekommen und hat sich von ihr alles erzählen lassen. Und wenn Madame Lust hatte, ist sie sogar selbst mit auf Raubzug gegangen.« Jakob Kuisl trat auf die vermeintliche Händlerin zu. »Wie oft warst du wohl in Schongau mit von der Partie? Einmal? Zweimal? Sag selbst, wie viel Leut du auf dem Gewissen hast! Den Weyer aus Augsburg? Die Knechte vom Holzhofer?« Die Frau schwieg, und der Henker fuhr fort: »In Landsberg gibt’s nebenbei wirklich eine Benedikta Koppmeyer. Sie lebt dort in aller Bescheidenheit. Vom Tod ihres Bruders hat sie erst durch den Bürgermeister Semer erfahren.« »Es war also Karl Semer, der Euch den entscheidenden Hinweis gab?«, hakte Simon nach. »Ich hätte es schon früher wissen können«, sagte Jakob Kuisl. »Der Scheller hat mir von einem Parfum erzählt, das er bei der anderen Bande gefunden hatte. Ich hab damals den Mönch mit seinem Veilchenduft im Verdacht gehabt. Erst später auf dem Schafott ist dem Scheller eingefallen, dass noch etwas anderes auf der Lichtung lag.« »Was denn?«, wollte Magdalena wissen. Der Henker grinste. »Eine Haarspange. Ich kenne keinen Mann, der so etwas trägt.« Simon ließ sich auf einen Schneehügel plumpsen. Noch immer konnte er kaum glauben, dass er auf eine Hochstaplerin hereingefallen war. »Was für ein grandioser Plan«, stöhnte er, nicht ohne eine Spur von Bewunderung in der Stimme. »Die Frau von Welt kundschaftet in den Wirtshäusern die Wege der Fuhrleute aus. Sie weiß, wo sie fahren und welche Fuhren 566
weniger bewacht sind. Und ihre Komplizen brauchen bloß an der richtigen Weggabelung stehen und die Hand aufhalten. Und dann, mehr durch Zufall, erfahren sie etwas von einem gewaltigen Schatz …« »Wir haben den Kurier ausgeraubt, weil wir hofften, etwas Wertvolles in der Tasche zu finden«, flüsterte die rothaarige Frau. »Einen Wechsel, ein paar Goldmünzen, aber dann waren es doch nur Briefe! Ich habe ein paar von ihnen aus purer Neugier gelesen, und plötzlich halte ich dieses sagenhafte Schreiben in den Händen! Darin stand etwas von einem Templergrab und einem Rätsel. Die Templer waren bei uns in der Familie schon immer Stoff für Gespräche und Geschichten. Bereits als Kind in Frankreich hat mir mein Vater von diesem legendären Schatz erzählt. Es hätte unser letzter großer Coup werden sollen...« Sie stand auf und streifte sich den Schnee von ihrem verbrannten Kleid. »Was habt Ihr nun mit mir vor?« »Erst mal kommst du nach Schongau in die Fronfeste«, sagte Jakob Kuisl. »Dann sehen wir weiter. Gut möglich, dass sie dir in München den Prozess machen.« Die Frau ohne Namen bückte sich, um auch den Saum ihres Kleides vom Schnee zu säubern. »Wirst du mir weh tun in der Feste?«, fragte sie leise, während sie nun auch ihre Stiefel vom Schnee befreite. »Simon hat mir von Zangen und Glutpfannen erzählt …« »Wenn du gestehst, werd ich dafür sorgen, dass dir bis zum Prozess kein Haar gekrümmt wird«, knurrte Kuisl. »Darauf hast du mein Ehren...« Plötzlich fuhr die zierliche Frau hoch und warf dem Henker mit beiden Händen eine volle Ladung Schnee ins 567
Gesicht. In der nächsten Sekunde rannte sie zwischen den verwitterten Grabsteinen davon. »Bleib stehen, du Mistluder!«, brüllte Jakob Kuisl und wischte sich den Schnee aus den Augen. Dann sah er Simon und Magdalena an, die verdutzt neben ihm standen. »Was stiert ihr wie zwei Hornochsen? Ihr nach! Ihre Komplizen haben auch Schongauer auf dem Gewissen!« Mit großen Schritten setzte der Henker der Fliehenden nach. Simon erwachte aus seiner Versteinerung und rannte dem Henker hinterher. Noch einmal sah er einen rothaarigen Schopf hinter einem Grabstein auftauchen, dann war die Frau plötzlich verschwunden. Der Medicus entschied sich, nach links abzubiegen und am Rande der kleinen Friedhofsmauer entlangzulaufen. So hoffte er, ihr den Weg abzuschneiden, falls sie durch das Gatter entkommen wollte. Er lief bis zum Ende der Mauer, weiter rechts konnte er den Henker erkennen, der zwischen den schiefen Grabsteinen hindurchhastete. Von Magdalena war weit und breit nichts zu sehen. Als Simon am Ende des Friedhofs angelangt war, blickte er sich nach allen Seiten um. Die Frau, die er als Benedikta gekannt hatte, war wie vom Erdboden verschluckt! Er drehte um und ging langsam zurück, nicht ohne noch einmal hinter den Grabsteinen Ausschau zu halten. Aber ohne Erfolg. Vielleicht ist es auch besser so, dachte er. Plötzlich hörte Simon von rechts ein leises, unterdrücktes Keuchen. Auf Zehenspitzen schlich er in einen schmalen, verschneiten Seitenpfad, der zu einer kleinen Familiengruft führte. Über einem Torbogen wachte die Jung568
frau Maria milde lächelnd über die Toten, vereister Efeu umrankte zwei Säulen. Hinter einem verrosteten Gitter führte eine Treppe nur ein paar Stufen nach unten vor eine Marmorplatte, die den Eingang zum Grab versperrte. Simon blickte vor sich auf den Boden. Auf den Stufen waren im Schnee ganz deutlich frische Fußspuren zu erkennen. Es waren kleine, zierliche Fußspuren. Als er über das Gitter stieg, sah er sie. Dort unten, am Fuße der Treppe, kauerte die Frau, die eine Woche lang die reiche Landsberger Händlerin Benedikta Koppmeyer gewesen war. Sie hatte die Arme um ihre angezogenen Beine geschlungen. Zitternd vor Kälte, die Haare wirr im Gesicht, die Schminke verschmiert, blickte sie hoch zu Simon, der unschlüssig am oberen Ende der Treppe stand. In den Augen der Frau schimmerte ein stummes Flehen, ihre Lippen formten ein schmales Lächeln, fast wie bei einem Kind, das um Verzeihung bittet. Lange sah Simon sie an. Hinter dem vornehmen Schein, der Eitelkeit, der Skrupellosigkeit und der Gier tauchte plötzlich der nackte Mensch auf. Er glaubte zu erkennen, wer sie wirklich war. »Und?«, tönte es von fern zu ihm herüber. Es war die Stimme des Henkers. »Hast du sie gefunden?« Noch einmal schaute Simon der rothaarigen Frau ins Gesicht. Dann wandte er sich um. »Nein. Hier ist sie nicht!«, rief er. »Lasst uns dort drüben nachsehen.« Nach einer weiteren halben Stunde erfolglosen Suchens trafen sich die drei schließlich wieder am Friedhofsgatter. Es stellte sich heraus, dass nicht nur Benedikta, sondern 569
auch ihr Pferd verschwunden war. Der Hochstaplerin war ganz offensichtlich die Flucht gelungen. Magdalena hatte sich an der Jagd nicht beteiligt, sondern währenddessen, an einem Grabstein gelehnt, auf die zwei Männer gewartet. »Ich mag so eine Hatz nicht«, sagte sie. »Auch wenn ich sie nie hab leiden können, das hat sie nicht verdient.« »Blödes Huhn!«, schimpfte Jakob Kuisl. »Dieses Weibsbild hat dafür gesorgt, dass wenigstens ein Dutzend Männer kaltblütig umgebracht worden sind! Sie ist eine Mörderin, geht das in dein Hirnkastel nicht rein?« »Uns gegenüber war sie keine Mörderin«, sagte Simon. »Im Gegenteil. Damals im Wald hinter Peiting hat sie mir sogar das Leben gerettet.« Der Henker sah ihn lange prüfend an. »Bist du sicher, dass du sie nicht doch irgendwo auf dem Friedhof gesehen hast?«, fragte er schließlich. »Ich dachte, ich hätte sie gesehen«, sagte Simon. »Aber ich habe mich getäuscht.« Dann stapfte er durch den Schnee auf das dunkle Kloster zu.
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ie verbrachten den Rest der Nacht bei einem Groß-
bauern in der Gegend von Steingaden. Der alte Hans Haldenberger schlug drei Kreuze, als der Schongauer Henker plötzlich vor ihm stand, doch er wagte nicht, den bärbeißigen Hünen mit der Naht im Gesicht und dem blutigen Verband am Oberarm abzuweisen. So blieben sie bis zum Morgengrauen in der warmen Stube des Bauernhauses. Simon kauerte die ganze Nacht neben Magdalena auf der schmalen Ofenbank. Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen, und das lag nicht nur an dem trompetenhaften Geschnarche des Henkers unter ihnen auf dem Fußboden, sondern auch daran, dass ihm zu viele Gedanken durch den Kopf wirbelten. Wie hatte er sich in Benedikta nur so täuschen können! Sie hatte ihn benutzt, und er war ihr wie ein treues Hündchen nachgelaufen. Doch Benediktas Blick am Ende, dort unten auf den Stufen der Gruft, hatte etwas anderes erzählt. Hatte sie vielleicht doch etwas für ihn empfunden? So oder so, nun wurde er gemeinsam mit ihr als flüchtiger Reliquienschänder gesucht! Noch hatte Simon keine Ahnung, wie er seinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehen sollte. Außerdem hatte er für den flüchtigen Traum vom Glück in Reichtum und Wohlstand seine Beziehung mit Magdalena aufs Spiel gesetzt! Steif wie eine Tote lag die Henkerstochter nun neben ihm. Als er sie einmal zaghaft berührte, drehte sie 571
sich nur zur Seite und zeigte ihm die kalte Schulter. Doch er spürte, dass auch sie nicht schlief. Kurz vor Tagesanbruch fuhr Magdalena schließlich hoch und sah ihn mit zornig funkelnden Augen an wie eine Furie. Stroh hing in ihren verfilzten Haaren, eine steile Furche zog sich quer über ihre Stirn. »Sag’s endlich«, zischte sie. »Hast du mit ihr was gehabt? Spuck’s schon aus, du ausgschamter Haderlump!« Mit schmalen Lippen schüttelte Simon den Kopf. Er war sich sicher: Hätte er genickt, hätte Magdalena ihn vermutlich auf der Stelle mit einem glühenden Holzscheit erschlagen. »Es war nichts«, flüsterte er. »Glaub mir.« »Schwör’s! Bei allen Heiligen!« Simon lächelte. »Lass uns die Heiligen raushalten. Die sind zurzeit nicht gut auf mich zu sprechen. Ich schwöre bei unserer Liebe, reicht das?« Magdalena zögerte einen Moment, dann nickte sie ernst. »Bei unserer Liebe. Aber du musst mich um Verzeihung bitten. Jetzt.« Simon schloss demutsvoll die Augen. »Ich bitte dich um Verzeihung. Ich war ein verstockter Trottel, und du hast es von Anfang an besser gewusst.« Sie lächelte und ließ sich wieder neben ihm auf das mit Stroh gefüllte Kissen fallen. Simon spürte, dass ihr Körper jetzt nicht mehr ganz so steif war, sanft strich er ihr durchs Haar. Eine ganze Weile sagten sie nichts, nur das rasselnde Schnarchen des Henkers unter ihnen war zu hören. »Ich hätt den Philipp Hartmann haben können«, sagte Magdalena schließlich leise. »Den reichen Augsburger Henker. Ein Leben in Saus und Braus hätt ich führen kön572
nen. Und was mach ich stattdessen? Ich verlieb mich in einen dürren Quacksalber, der mit anderen Mädchen rumpoussiert und den ich ohnehin nicht heiraten kann...« Sie seufzte. »So damisch muss man erst mal sein.« »Ich versprech dir, wir werden irgendwann heiraten«, flüsterte Simon. »Auch ohne diesen Schatz. Wir gehen in eine andere Stadt, wo keiner weiß, dass du die Tochter des Schongauer Henkers bist. Ich werd ein angesehener Arzt, und du hilfst mir bei den Kräutern und Arzneien und ... « Plötzlich drückte sie seine Hand so fest, dass er vor Schreck fast aufschrie. »Was hast du?«, fragte er. »Nichts«, sagte sie. »Red weiter. Red, bis ich anfang zu träumen.« Er hielt sie im Arm und fuhr fort, ihr neues gemeinsames Leben zu schildern. Nach einiger Zeit spürte er, dass seine Hand nass von ihren Tränen war. Sie brachen früh am nächsten Morgen bei strahlend blauem Himmel auf. Obwohl es noch mitten im Januar war, begann es plötzlich zu tauen. Wasser tropfte von den Dächern der Bauernhäuser am Rande der Straße; die Sonne schien mild, und das Zwitschern von Buchfinken und Rotkehlchen war aus den Wäldern zu hören. Simon wusste, dass dieser Hauch von Frühling vermutlich nur einen Tag anhalten würde, umso mehr genoss er ihn und hielt das Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen. In Schongau kamen die Leute gerade aus der sonntäglichen Morgenmesse. Misstrauisch blickten sie auf die drei Gestalten, die über den Marktplatz schlenderten; Getuschel war zu hören. Der Sohn vom Medicus gemeinsam mit den Kuisls! So manches alte Weib war sich sicher, 573
dass die Henkerstochter der Untergang des jungen Fronwieser war. Ein so hübscher Bursche, aber die Kuislhex hatte ihn verzaubert, so viel war klar. Die drei ließen sich von den bohrenden Blicken nicht beirren, sondern begaben sich die Münzgasse hoch zum Schloss. Jakob Kuisl hatte darauf bestanden, dass Simon gemeinsam mit ihm dem Schreiber einen Besuch abstattete. Den Grund dafür wollte er ihm nicht verraten. »Frag ned immer so viel«, hatte er nur gebrummt. »Deine Fragerei bringt dich noch einmal ins Grab.« Dann hatte er mit den Augen gezwinkert und Simon mit seiner Neugier allein gelassen. Der Gerichtsschreiber Johann Lechner saß wie so oft an seinem abgenutzten, massiven Holztisch in der Schreibstube im oberen Stockwerk des Schlosses und blätterte in irgendwelchen Kladden. Er blickte erstaunt auf, als die drei gemeinsam vor ihn traten. »Wenn du kommst, um dich für die missratene Hinrichtung zu entschuldigen, Kuisl, dann muss ich dich enttäuschen. « Der Schreiber wendete sich wieder seinen Dokumenten zu. »Das Ganze wird noch ein Nachspiel haben. Ich hab gehört, dass der zweite Sohn des Memminger Scharfrichters eine Stelle sucht. Nur weil deine Familie hier seit Generationen henkt, heißt das nicht, dass das so bleiben muss.« Jakob Kuisl ging nicht auf die Drohung ein. Stattdessen ließ er sich auf den gegenüberliegenden Schemel fallen. »Es gibt keine zweite Räuberbande mehr«, sagte er. »Was?« Der Schreiber blickte nun doch wieder auf. »Ich hab gesagt, es gibt keine zweite Räuberbande mehr. Ich hab ihr vor Steingaden den Garaus gemacht. 574
Nur die Anführerin konnte fliehen, aber ich bin sicher, dass die sich so schnell hier nicht mehr blicken lässt.« »Aber du warst doch alleine«, bemerkte der Schreiber. Jakob Kuisl zuckte die Achseln. »Es waren nur vier. Erfahrene Söldner zwar, aber ich hab sie einen nach dem anderen erwischt. Ihr könnt die Händler also jetzt wieder in die Städte schicken. Es gibt keinen mehr, der ihre Routen auskundschaftet.« »Kuisl, Kuisl ... « Johann Lechner schüttelte grinsend den Kopf. »Du bist doch immer für eine Überraschung gut. Nun spann mich schon nicht länger auf die Folter! Was ist geschehen? Wie hat die Bande es angestellt?« Der Henker erzählte ihm von der falschen Benedikta Koppmeyer und davon, wie sie die Händler und Fuhrleute ausspioniert hatte. Er berichtete von seinem Kampf mit den Räubern im Steingadener Wald. Dabei vermied er es, eine genaue Zahl der Wegelagerer zu nennen, und auch die Begebenheiten im Komödienhaus ließ er weg. Der Schreiber hörte derweil gebannt zu. »Tatsächlich«, sagte Lechner schließlich. »Diese Frau saß des Öfteren bei den Händlern im Semer-Wirtshaus drüben. Sie hat sich gelegentlich nach geeigneten Fuhrwegen erkundigt. Wer hätte geahnt, dass sie mit der Räuberbande unter einer Decke steckt!« »Und nicht nur das«, sagte Jakob Kuisl. »Das ausgschamte Weibsbild hat mit ihrer Bande wohl auch die geweihten Gebeine zweier Rottenbucher Heiligen rauben wollen. Im Kloster haben sie zuerst rumspioniert und sich dann mit den Mönchen angelegt. Einer der Banditen sah übrigens fast so aus wie unser junger Fronwieser …« 575
Verdutzt schaute Simon den Henker von der Seite an. Was hatte Jakob Kuisl vor? »Wie der junge Fronwieser? «, fragte Lechner verwirrt. »Ich kann’s bezeugen«, sagte Kuisl. »Hätt ihn fast selbst für den Simon gehalten. Die Crux ist nun, dass die Rottenbucher glauben, unser Medicus hätte was mit der Sach zu tun. Vierteilen und verbrennen wollen sie ihn, lieber heut als morgen.« Johann Lechner lachte. »Simon Fronwieser ein Reliquienschänder? Der schändet eher unsere Jungfrauen.« Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Was für eine hanebüchene Vorstellung. Ich werde dem Rottenbucher Propst ein Schreiben zukommen lassen, dass ein Irrtum vorliegt. Damit sollte der Fall erledigt sein.« Er griff zu Pergament und Gänsekiel und begann, eine kurze Nachricht aufzusetzen. Verstohlen lächelte Simon dem Henker zu. Einmal mehr hatte ihm Jakob Kuisl aus der Patsche geholfen. »Habt Dank, Exzellenz«, sagte er und machte eine leichte Verbeugung in Richtung des Schreibers. »Ein bedauernswertes Versehen. Ich weiß selbst nicht, wie ...« »Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn der Schreiber. »Dankt lieber mit Taten. Wir brauchen schließlich unseren Medicus, damit er mit diesem leidigen Fieber fertig wird, nicht wahr? Die Krankheit hat seit Eurer Abreise drei weitere Tote gefordert. Euer Vater ist, gelinde gesagt, nicht sonderlich gut zu sprechen auf Euch.« Siedend heiß fiel Simon ein, dass er seit seiner Ankunft weder bei seinem Vater gewesen war noch der kleinen Clara einen Besuch abgestattet hatte. 576
»Ihr habt recht«, entgegnete er kleinlaut. »Ich sollte mich sofort wieder an die Arbeit machen.« Er verabschiedete sich hastig und rannte zum Haus der Schreevogls am Marktplatz. Durch die leidige Sucherei nach dem Templerschatz hatte er völlig verdrängt, was für eine schlimme Krankheit Schongau immer noch heimsuchte! So viele Menschen waren gestorben, während er einem Traum hinterhergejagt war. Sogar Clara hatte er eine Weile lang vergessen gehabt. Schon nach kurzem Klopfen am Haus der Patrizierfamilie öffnete ihm Maria Schreevogl mit blassem Gesicht und einem Rosenkranz zwischen den dürren Fingern. »Gut, dass Ihr wieder da seid«, flüsterte sie. »Unserer Clara geht es wieder schlechter. Seit gestern ist sie nicht aufgewacht, sie trinkt nichts und hustet roten Auswurf zum Gotterbarmen! Mein Mann ist oben bei ihr. Ave Maria, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Weibern ...« Ohne weiter auf die betende Patrizierin zu achten, eilte Simon die Treppe hoch und kniete sich am Krankenbett neben Jakob Schreevogl, der die glühend heiße Hand seiner Stieftochter hielt. Der Ratsherr sah nur kurz auf, dann fuhr er fort, Clara den Schweiß von der Stirn zu wischen. Das Mädchen atmete flach und hektisch wie ein kleiner Vogel, gelegentlich drang ein Röcheln aus seinem trockenen Mund. Der Medicus erkannte sofort, dass Clara nicht mehr lange zu leben hatte, falls sich ihr Zustand nicht schnell besserte. Schon zu oft hatte er in Schongau in letzter Zeit die gleichen Symptome gesehen. Wenn die Kranken erst einmal Blut spuckten, ertönten bald die Himmelsfanfaren. 577
»Ich hoffe, Eure Reise war von Erfolg gekrönt«, sagte Jakob Schreevogl leise, ohne seine Augen von Clara abzuwenden. »Wenngleich mir auch alles Gold der Welt zurzeit nichts bedeutet. Clara ist unser Augenstern. Wenn sie stirbt, stirbt auch ein Teil von mir …« Simon schüttelte den Kopf. »Unsere Suche ist gescheitert. Aber das ist jetzt nicht weiter wichtig. Wichtig ist nur, dass Eure Tochter geheilt wird. Kein Templerschatz kann sie wieder gesund machen. Und so wie es aussieht, auch ich nicht. Das kann nur Gott.« »Gott!« Der Patrizier schloss die Augen. »Ihr redet wie meine Frau! Immer verlassen wir uns auf Gott, und dann lässt Gott uns im Stich! Gibt es nicht irgendein Mittel, irgendeine bislang unerprobte Arznei, die meine Clara retten könnte?« »Ich kenne keine.« Simon stand auf. »Das Jesuitenpulver könnte vielleicht helfen. Aber davon hab ich nichts mehr, und der venezianische Händler kommt nicht vor April über die Pässe. Vielleicht dass es in Augsburg noch etwas ... « Er stockte, als ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss. Jesuitenpulver … Hatte der Henker nicht erzählt, Magdalena wäre nach Augsburg geschickt worden, um Kräuter und Arzneien zu kaufen? Wie hatte er das nur vergessen können! Vielleicht waren darunter auch einige Ingredienzien, die ihm jetzt helfen konnten! »Entschuldigt mich«, sagte Simon und stand von Claras Krankenbett auf. »Aber ich muss etwas nachprüfen. Vielleicht gibt es doch noch ein Mittel, das Eurer Tochter helfen kann.« 578
Jakob Schreevogl sah ihn hoffnungsvoll an. »Dann lauft! Jeder Augenblick ist kostbar.« Simon rannte zurück auf den Marktplatz und traf dort auf die verdutzte Magdalena, die nach ihrer Zusammenkunft bei Johann Lechner noch dem Schmied einen Besuch abgestattet hatte. Die mürrische Wally brauchte nach den Ausflügen mit Simon dringend neue Hufeisen. »Magdalena«, keuchte er. »Die Arzneien, die du in Augsburg besorgen solltest. Hast du sie noch?« Die Henkerstochter sah ihn erstaunt an. »Schon. Ich hab sie sogar bei mir, aber ...« »Dann lass uns schnell zu mir nach Hause gehen«, rief Simon und wandte sich bereits ab. »Ich will mir ansehen, ob etwas dabei ist, was vielleicht gegen das Fieber helfen könnte.« »Simon, warte, ich ...« Doch der Medicus war schon in die Weingasse gelaufen, auf das Haus seines Vaters zu. Clara brauchte Hilfe, sofort! Jede Verzögerung konnte ihren Tod bedeuten! Es war, als ob seine Unfähigkeit, die Menschen von dem Fieber zu heilen, sein schlechtes Gewissen, weil er in den letzten Tagen nicht geholfen hatte, sich urplötzlich in diesem einen kleinen Menschen bündelte. Wenn er bei Clara versagte, das spürte er, dann würde er nie mehr ein Arzt sein können, der diese Bezeichnung verdiente. Er würde sein wie … Sein Vater? Bonifaz Fronwieser riss die Haustür auf, noch bevor Simon sie öffnen konnte. »Ach, ist der Herr Sohn auch mal wieder im Lande?«, schnarrte er. »Die Menschen sterben mir weg wie die 579
Fliegen, aber du musst ja mit schönen Damen durch die Welt ziehen und die Klöster der Gegend bewundern.« Simon machte den Mund auf, doch sein Vater ließ sich in seinem Monolog nicht unterbrechen. »Lüg mich nicht an! So was spricht sich schnell rum in einer Stadt wie Schongau. Zuerst diese liederliche Henkersdirn und dann auch noch ein dahergelaufenes Flittchen aus Landsberg. Schande bringst du über mich und den Namen Fronwieser!« Hinter Simon tauchte nun keuchend Magdalena auf. »Simon, ich muss dir etwas sagen ... «, flüsterte sie, doch sofort begann Bonifaz Fronwieser wieder zu schimpfen. »Da ist sie ja! Kaum spricht man vom Teufel, schon steht er vor einem! Lass die Finger von meinem Sohn, verstehst du? Auf der Stell! Wir sind anständige Leut, wir haben mit euch Henkersgesindel nichts zum Schaffen!« »Ach du, halt endlich dein gottverdammtes Schandmaul«, schrie Simon plötzlich. »Ich kann dein Gekeife nicht mehr länger ertragen, du Quacksalber!« Im gleichen Moment erschrak er vor seinen eigenen Worten. Er war eindeutig zu weit gegangen! Auch Bonifaz Fronwieser zuckte zusammen. Die Kinnlade fiel ihm herunter, sein Gesicht verlor alle Farbe; in den umliegenden Häusern sah Simon den einen oder anderen Bürger neugierig hinter den Fensterläden stehen und zu ihnen herunterstarren. Schließlich straffte sich der hagere Alte, knöpfte schweigend seinen Rock zu und tappte davon Richtung Marktplatz. Simon wusste, dass sein Vater vermutlich eines der dortigen Gasthäuser ansteuern würde, um seinen Groll auf den missratenen Sohn mit einigen Humpen Bier hinunter580
zuspülen. Kopfschüttelnd betrat der junge Medicus das Fronwieser-Haus. Nie würde er seinem Vater genügen können! Nicht als Sohn, und schon gar nicht als Arzt! Aber das war jetzt unwichtig. Er musste Clara helfen, das war alles, was zählte. »Schnell, Magdalena! Zeig mir, was du mitgebracht hast!« Simon eilte in die Stube und steuerte den breiten, abgewetzten Apothekertisch am Fenster an, auf dem allerlei Tiegel und Mörser standen. »Vielleicht ist ja etwas dabei, das uns nutzen kann. Hast du Jesuitenpulver? Sag schon, hast du Jesuitenpulver?« Schweigend zog Magdalena die kleine Leinentasche unter ihrem Rock hervor und leerte den Inhalt auf den Tisch. Simon blickte auf eine zusammengedrückte weißlichgrüne Masse, über die sich graue, dünne Fäden zogen; ein feuchter, undefinierbarer Klumpen, mehr nicht. Es roch scharf nach Fäulnis, vermischt mit dem aromatischen Duft unterschiedlichster Kräuter. »Was ... was ist das?«, fragte Simon entsetzt. »Die Kräuter, die ich aus Augsburg mitgenommen habe«, sagte Magdalena. »Mutterkorn, Artemesia, Seidelbast … Ich hab auch noch ein paar andere Kräuter eingesteckt, die ich gar nicht kannte. Aber das ganze Zeug ist verschimmelt! Ich hab es wohl zu lange unter meinem Rock getragen. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, aber du hast ja nicht zugehört!« Stumm starrte Simon auf den schimmligen Haufen vor sich auf den Tisch. Die Kräuter aus Augsburg waren seine letzte Hoffnung gewesen. »Es ... ist gut, Magdalena«, sagte er schließlich. »Wir haben es immerhin versucht.« 581
Schon wollte er die feuchten Krümel mit der Hand auf den Boden wischen zu den Binsen, als er noch einmal innehielt. Er durfte Jakob Schreevogl nicht enttäuschen! Simon hatte die Hoffnung in den Augen des Patriziers schimmern sehen, als er von einer möglichen Arznei gesprochen hatte. Wenn er jetzt mit leeren Händen zurückkam, würden die Schreevogls vor Kummer zerbrechen, noch bevor ihr Stiefkind tatsächlich gestorben war. Simon wusste aus Erfahrung, wie wichtig es für Kranke und ihre Familien war, dass sie an die Heilung glaubten. Glaube war manchmal die beste Medizin. Und oft die einzige, dachte Simon. Also warf der Medicus die schimmligen Körner in einen Mörser und zerrieb sie zu feinem Pulver. »Was tust du da?«, fragte Magdalena. »Die Kräuter sind verdorben! Sie können nicht mehr wirken!« »Clara soll ihre Arznei bekommen«, murmelte der Medicus, während er monoton den Stößel in den Mörser stieß. »Der Rest liegt nicht mehr in meiner Hand.« Nach einer Weile gab Simon Honig und Hefe zu den zerstampften Kräutern und rollte daraus kleine Pillen, die er in einem Tiegel über dem Feuer trocknete; Magdalena sah ihm derweil stirnrunzelnd zu. Schließlich füllte der Medicus mit der fertigen Arznei ein poliertes Kästchen aus Kirschholz, auf dem einige alchimistische Symbole abgebildet waren. Er schloss das Kästchen, strich mit den Fingern darüber und murmelte ein leises Gebet. »Schließlich soll unsere Arznei ja auch etwas hermachen«, sagte Simon mit einem traurigen Lächeln, fast so, als fühlte er sich ertappt. »Sonst wirkt sie nicht.« 582
Magdalena schüttelte den Kopf. »Verschimmelte Kräuter als Medizin. Wer hat so was schon mal gehört! Lass das bloß nicht meinen Vater wissen.« Dann drückte sie ihm ganz plötzlich einen Kuss auf die Wange. »Und das lass nicht deinen Vater wissen.« Simon spürte, wie ein warmes Gefühl von seinem Bauch bis in die Haarwurzeln hochstieg. Er würde dieses Mädchen ewig lieben, egal was ihre beiden Väter und die übrigen Schongauer davon hielten! Sanft fuhr er ihr durchs Haar und zog sie an sich, sie roch nach Schweiß und kalter Asche. Doch Magdalena stieß ihn wieder weg. »Ich glaub, der Herr Medicus hat jetzt keine Zeit für so etwas.« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Aber er kann mich gern heut Nacht an meinem Fenster besuchen ...« Simon seufzte und nickte resigniert. Er strich Magdalena ein letztes Mal durch die Haare, stopfte das Kirschholzkästchen in seine Manteltasche und begab sich auf dem schnellsten Weg zu den Schreevogls, die seine Rückkehr sehnsüchtig erwarteten. »Mein Mann hat mir bereits von Eurem Wundermittel erzählt!«, rief Maria Schreevogl schon in der Tür, immer noch mit dem Rosenkranz in der Hand. »Der Herr sei gepriesen! Vielleicht ist doch noch Hoffnung!« »Ich kann Euch nicht versichern, dass es wirkt«, wandte Simon ein. »Es ist ... eine neuartige, äußerst kostbare Arznei aus China. Die Ärzte dort sind sehr belesen, sie nennen sie ... äh, Schimmel, der auf Kräutern wächst.« »Schimmel, der auf Kräutern wächst?« Die Patrizierin sah ihn irritiert an. 583
»Ich selber bevorzuge die Bezeichnung fungus herbarum«, warf Simon schnell ein. Maria Schreevogl nickte. »Das gefällt mir besser. Es klingt mehr nach einer Medizin.« Mehrere Treppenstufen auf einmal nehmend, eilte der Medicus in das obere Stockwerk. Im Krankenzimmer kniete Jakob Schreevogl immer noch am Bett, ganz so, wie Simon ihn verlassen hatte. Das Gesicht des Patriziers war beinahe ebenso grau und eingefallen wie das seiner Stieftochter. »Habt Ihr die Medizin?«, fragte der Ratsherr leise. Simon nickte, öffnete vorsichtig das kleine Kästchen und steckte drei der kleinen Pillen in den ausgetrockneten Mund von Clara, deren Lippen schmal und hart wie Leder waren. Dann gab er ihr aus einem Becher ein wenig zu trinken und strich ihr über die schweißnasse Stirn. »Mehr kann ich nicht tun«, flüsterte er. Jakob Schreevogl neigte demütig den Kopf und schloss die Augen. Simon hatte das Gefühl, als wäre der Ratsherr in den letzten Stunden um Jahre gealtert; feine, graue Strähnen zogen sich durch sein sonst blondes Haar, Falten kräuselten sich um seine schmalen Lippen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fiel der Medicus neben dem Patrizier auf die Knie und faltete die Hände. »Lasst uns beten«, sagte er leise. Erst zögerlich, dann immer schneller murmelten sie gemeinsam die Worte, die sie beide von Kindheit an als Worte des Trostes kennengelernt hatten und die ihnen in dieser Stunde wieder in den Sinn kamen.
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»Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führet mich zu stillen Wassern ... « Es war das erste Gebet, das Simon nach langer Zeit zu Gott schickte. Er war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen, doch plötzlich spürte er, dass etwas in ihm glauben wollte. Ein nie da gewesenes Gefühl von Sehnsucht durchströmte ihn. Gott hatte schon so viele schlimme Dinge zugelassen, der Schrecken musste doch einmal ein Ende haben! »O Gott, wenn es dich wirklich gibt, hilf diesem kleinen Mädchen ... Nach Altötting will ich gehen zur schwarzen Madonna, barfuß im Winter, wenn du sie leben lässt!« Als der Medicus nach einiger Zeit wieder zu Clara blickte, glaubte er, auf ihren Lippen plötzlich ein leichtes Lächeln zu erkennen. Ihr Atem schien ruhiger und regelmäßiger zu gehen, das Flattern der Lider hatte aufgehört. Simon stockte in seinem Gebet, er beugte sich über das Bett und fühlte Claras Puls. Er schlug sanft und langsam wie bei einem gesunden, schlafenden Mädchen. Das ist nicht möglich ... Oder doch? Erst jetzt erkannte Simon, dass an der kahlen Wand direkt vor ihm ein Gegenstand hing. Das Ding war so alltäglich, dass es ihm erst jetzt auffiel. Fast so, als wäre es vorher gar nicht da gewesen. Über Claras Bett hing ein kleines, unscheinbares Holzkreuz.
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Epilog
D
ie Glocken der Altenstadter Basilika dröhnten wei-
thin hörbar über das Schongauer Land, und die Bürger strömten in Scharen in die geräumige Kirche, um am zweiten Februar des Jahres 1 660 Mariä Lichtmess zu feiern. Drüben in Schongau auf dem Marktplatz standen bereits die Buden bereit, die Auslagen gefüllt mit fetten, nach Holzkohle duftenden Würsten, gerösteten Nüssen und weißen, armlangen Kerzen, die an diesem Tag gesegnet wurden. Sogar eine Gauklergruppe aus München hatte sich angekündigt. Mariä Lichtmess läutete nach altem Brauch das Ende des Winters ein. Von weit her kamen die Leute aus den entfernten Dörfern, um in der größten Kirche des Umlands gemeinsam die Messe zu begehen. Und auch wenn es in der Basilika noch zum Gotterbarmen kalt war, so wirkten die Menschen in ihren Feiertagsröcken und bunten, sauberen Kleidern doch fröhlicher und leichter als noch vor einigen Tagen. Das hing vor allem damit zusammen, dass das furchtbare Fieber, das die Stadt so lange heimgesucht hatte, nun endlich verschwunden schien. In allen Gassen erzählte man sich von dem jungen Schongauer Medicus und seinem Wundermittel, diesem fungus herbarum oder, wie die meisten hinter vorgehaltener Hand sagten, dem Chinaschimmel. Kleine, runde Pillen aus dem fernen 586
Land hatte der Medicus den Krankengegeben, und schon nach kurzer Zeit waren sie geheilt gewesen! Seither begegnete man dem Fronwieser-Sohn auf den Straßen mit Respekt; man zog den Hut vor ihm, und nur die wenigsten lästerten noch über seine Buhlschaft mit der Henkerstochter unten aus dem Gerberviertel. Tatsächlich überlegte sich der eine oder andere Ratsherr ,ob dieser Fronwieser nicht doch eine gute Partie für sein Töchterlein wäre, jetzt, wo er doch schon bald in die Fußstapfen seines Vaters treten und sicherlich ein reicher und angesehener Arzt werden würde. In seinen in Augsburg geschneiderten Röcken und mit dem perfekt geschnittenen Knebelbart machte der Medicus durchaus etwas her, und über seine geringe Körpergröße und die niedere Herkunft konnte man ja großzügig hinwegsehen … Simon saß in einer der hinteren Reihen der Altenstadter Basilika und blickte über die Schultern der Ratsherren und ihrer Familien, die vor ihm Platz genommen hatten. Auch die Schreevogls und die wieder genesene Clara waren darunter. Unweit von ihnen thronte das große Holzkreuz, das über dem Altar von der Decke hing. Seit Urzeiten schon sah der Große Gott von Altenstadt milde auf die Kirchgänger hinunter. Der Medicus fiel ein in den gewaltigen Choral der Gläubigen und genoss es, wie seine Stimme sich beim Vaterunser mit den anderen zu einer einzigen großen Stimme verband. Seit seinem Erlebnis bei Clara vor gut zwei Wochen hatte Simons Verhältnis zu Gott sich geändert. War es ein Wunder gewesen, dem er hatte beiwohnen dürfen? Oder hatten tatsächlich die Pillen bewirkt, dass Clara und auch die anderen wieder vollständig genesen waren? Bis heute 587
wusste der Medicus jedenfalls nicht, warum die verschimmelten Kräuter gewirkt hatten. Der Schongauer Henker hatte ihm erzählt, dass Schimmel Entzündungen hemmen konnte. Gelegentlich legte Jakob Kuisl deshalb schimmlige Lappen auf die Wunden seiner Patienten, aber dass die weißen Fäden gegen Fieber und Auswurf halfen, war auch dem Henker neu. Die Wunderpillen waren mittlerweile aufgebraucht. Seitdem löcherte Simon Magdalena mit Fragen, welche Kräuter genau in dem Beutel gewesen waren, den sie aus der Augsburger Apotheke mitgenommen hatte. Doch die Henkerstochter konnte es beim besten Willen nicht mehr sagen. Simon seufzte. Vermutlich würde es ihm nie wieder gelingen, solche Pillen herzustellen. Nun, wenigstens war auf diese Weise sein Ansehen in Schongau und auch bei seinem Vater merklich gestiegen. Bonifaz Fronwieser saß neben ihm und murmelte mit krächzender Stimme das Paternoster. Er roch noch nach dem Branntwein vom gestrigen Abend, aber immerhin war er mit Simon gemeinsam in die Kirche gegangen, etwas, das sie schon sehr lange nicht mehr getan hatten. Simon sah aus den Augenwinkeln nach rechts, wo Magdalena bei den Frauen in der hintersten Kirchenbank kniete. Die Henkerstochter hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Als hätte sie seinen Blick gespürt, wendete sie sich plötzlich zur Seite und zwinkerte ihm zu. Sofort fuhr ein Kribbeln durch den Bauch des Medicus. Vielleicht würde sich ja heute auf dem abendlichen Lichtmess-Fest die Gelegenheit ergeben, mit Magdalena ein wenig allein zu sein … 588
»Pass bloß auf, dass dir nicht die Augen ins Gotteslob fallen«, brummte eine dunkle Stimme neben ihm. »Wenn ich dich heut Nacht mit der Magdalena erwisch, hilft dir auch ein Vaterunser nichts.« Grinsend schob sich der Henker neben ihm in die Kirchenbank. Üblicherweise war sein Platz ganz hinten in der Kirche, doch heute an Lichtmess sah der Pfarrer offenbar nicht so genau hin. »Wann wirst denn deine Wallfahrt antreten?«, fragte der Henker so laut, dass sich einige Bürger nach ihm umdrehten. »Wennst bis zum Sommer wartest, ist’s barfuß eher ein Spaziergang. Ich glaub, der Herrgott will dich schon ein bisserl leiden sehen.« Zum wiederholten Mal verfluchte sich Simon, dass er dem Henker von seinem Versprechen damals an Claras Krankenbett erzählt hatte. »Es gibt noch zu viel zu tun hier«, flüsterte er. »Meine Patienten … « »Um die kann sich dein Vater kümmern«, unterbrach ihn der Henker. »Ich hab dem Lechner schon erzählt, dass du die kommenden Wochen unterwegs bist.« »Ihr habt was … ? « Simon wurde jetzt so laut, dass sich sogar der Pfarrer vorne am Altar räusperte. »Aber…« »Die Magdalena hat das auch nicht gut gefunden«, seufzte Jakob Kuisl und senkte seine Stimme wieder. »Sie traut dir immer noch nicht über den Weg. Also hab ich ihr versprechen müssen, dass sie dich nach Altötting begleiten darf. Ihr reist über München, dort besorgt ihr mir ein paar Kräuter und einige Bücher. Dieser Athanasius Kircher hat ein neues Werk verfasst. Über die Pest und wie man sie besiegen kann ... « Ein Grinsen zog sich wie eine Narbe über das Gesicht des Henkers. »Wenn du nicht 589
schön artig bist in den nächsten Tagen, überleg ich’s mir noch und fahr mit.« Simon konnte sein Glück kaum fassen. Mehrere Wochen würde er mit Magdalena zusammen sein können, weit weg von dem Ort, an dem sie als Henkerstochter gebrandmarkt war! Keiner würde sie kennen! »Kuisl, wie kann ich Euch danken ... ? «, flüsterte er. »Dankt nicht mir. Dankt dem da oben.« Der Henker sah zum Großen Gott von Altenstadt hinauf. »Er hat mich überredet. Jetzt hab ich ihm schon zwei Gefallen getan.« »Zwei Gefallen ...?«, fragte Simon irritiert. Jakob Kuisl saugte an seiner kalten Pfeife, als wäre er zu Hause und nicht in der Kirche. »Das Lärchenholz in seinem Rücken war morsch und faul«, begann er. »Der Zimmermann Balthasar Hemerle hat den Heiland vorgestern für Mariä Lichtmess wieder herrichten sollen. Und es hat ihm ein Stück gutes Holz gefehlt. Altes, festes Holz, das schon über 1 600 Jahre auf dem Buckel hat … « Langsam dämmerte in Simon eine Erkenntnis. »Das Kreuz Christi aus Steingaden ... «, begann er. Der Henker klopfte die Pfeife auf der Kirchenbank aus. »Ich hab ein kleines Stück aus dem Feuer retten können. Als Erinnerung meinethalben. Es hat genau in den Rücken vom Heiland gepasst.« Simon blickte hinauf zum Großen Gott von Altenstadt. Plötzlich hatte er das Gefühl, im Gesicht des holzgeschnitzten Jesus ein Schmunzeln zu sehen. Aber das war natürlich eine Täuschung.
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Ein paar Worte zum Schluss Vor einiger Zeit war ich in Hohenschäftlarn, um meine mittlerweile 85-jährige Großmutter zu besuchen. Sie lebt dort in einem ehemaligen Bauernhaus mit über zwanzig Zimmern, voll mit alten Möbeln, Gemälden und allerlei Krimskrams, den sie in den letzten Jahrzehnten auf bayerischen Flohmärkten zusammengetragen hat. Zu dem Anwesen gehören ein verwunschener Garten, ein tiefer, dunkler Keller und ein zugiger Speicher, wo ich früher gemeinsam mit meinem Cousin unter dicken Daunendecken schlief. Jedes Zimmer, jedes Ding in diesem Haus erzählt eine eigene Geschichte. In der großen Küche, in der ich als Kind unter dem Tisch immer Comics gelesen habe, saßen meine Großmutter und ich, und sie erzählte mir den ganzen Abend lang von unseren Vorfahren, den Kuisls: von meinem sturschädligen Ururgroßvater Max Kuisl, der mit seiner ganzen Familie in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach Brasilien ausgewandert ist, von meinem Urgroßonkel Eduard, der Märchen schrieb und dem ich so ähnlich sein soll, von meiner Urgroßtante Lina, die an der Münchner Kunstakademie studiert hat und sich dann Hals über Kopf in einen französischen Maler verliebte, von all den vielen Ahnen, die ich nur von verblichenen Fotos und Gemälden her kenne. Meine Großmutter erzählte und erzählte, bis mir schwindlig war vor lauter Menschen, Geschichten und Anekdoten.
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Seit meinem ersten Buch Die Henkerstochter ist meine Familie auf seltsame Weise ins schier Unendliche gewachsen. Immer wieder erhalte ich Anrufe oder Briefe von Menschen, die auch zur großen Sippe der Kuisls gehören. Sie wollen von einem entfernten Urgroßonkel wissen oder von einer verschollenen Tante, sie gehen mit mir die Ahnenreihe zurück, viele Jahrhunderte lang, und irgendwann stoßen wir dann auf unseren gemeinsamen Urahn, den Henker Jakob Kuisl. Was für ein Mensch dieser Jakob Kuisl genau war, werden wir niemals erfahren. Alles, was ich von ihm mit Sicherheit weiß, ist, dass er im 17. Jahrhundert in Schongau als Scharfrichter tätig war, einer der ersten in einer langen Reihe von Kuisl-Henkern in Bayern. Insgesamt habe ich bislang vierzehn Scharfrichter in unserer Familie gezählt. In den Schongauer Stadtarchiven ist über diesen Jakob Kuisl nur wenig vermerkt. Es wird berichtet, dass er einmal einen Wolf erlegt hat; in den Akten findet sich außerdem eine Tochter mit Namen Magdalena, auch Kuisls Frau Anna Maria und die Zwillinge Georg und Barbara sind dort notiert. (Es gab noch zwei weitere Kinder, die ich aber aus dramaturgischen Gründen weggelassen habe.) Stattliche 8 2 Jahre ist Jakob Kuisl alt geworden; erst im Alter von 36 Jahren hat er die Schongauer Scharfrichterstelle übernommen, die vorher schon sein Vater und Großvater innehatten. Was er davor gemacht hat, ist unbekannt. Gut möglich also, dass sich mein Urahn als Söldner durch die Wirren des grausamsten aller deutschen Kriege schlug. Seine Frau starb nur zwei Monate nach ihm. Ich stelle mir vor, dass sie eine lange und glückliche Ehe führten. Aber hier beginnt die Phantasie. 592
Jedes Buch findet sein Thema selbst. Mein zweiter Roman ist, ohne dass ich es zunächst beabsichtigte, auch ein Buch über Religion geworden. Über ihren Irrsinn, über den Wahn, den sie stiften kann, aber auch über den Trost und die Zuflucht, die sie bot in einer Zeit, in der die Menschen eigentlich an Gott verzweifeln mussten. Vermutlich kann man über eine Gegend wie den Pfaffenwinkel mit seinen vielen Klöstern und Kirchen, seinen frommen Menschen und seiner göttlich schönen Landschaft nur ein solches Buch schreiben. Und manchmal ist die Wirklichkeit bizarrer als jegliche Vorstellung. Viele Dinge, wie etwa die unzähligen makabren Reliquien im Rottenbucher Kloster, habe ich nicht erfinden müssen; sie haben nur darauf gewartet, dass man von ihnen erzählt. Ebenso wie auch die Geschichte meiner Familie ja schon lange vor mir da war. Ich musste sie nur ein wenig ausschmücken und niederschreiben. An dem Abend bei meiner Großmutter in Hohenschäftlarn ging ich mit meinem Sohn und meiner Tochter noch zum Kuisl-Grab, das oben auf einem Hügel direkt neben dem Eingang der Dorfkirche liegt. Ich deutete auf von Efeu überwucherte Namen, wir standen ganz still, während es um uns dunkler wurde. Seit jeher versuche ich, bei meinen Kindern ein Bewusstsein zu schaffen, dass eine Familie mehr ist als nur Vater und Mutter, dass sie eine große Gemeinschaft sein kann, ein Hort der Geborgenheit – und ein unendlicher Fundus von Geschichten. Später saß ich noch bis tief in die Nacht unten in der Küche und korrigierte die erste Fassung dieses Buches. Es 593
war ein seltsames Gefühl, in jenem Haus zu sitzen, in der Stube, in der vor mir schon so viele meiner Ahnen gelebt, gearbeitet, gelacht und vor sich hin gebrütet hatten. Fast kam es mir vor, als würden sich ihre Schatten über mich beugen, umzusehen, was ihr Nachfahre über ihre große, alte Sippe schreibt. Ich hoffe, sie sind damit zufrieden. Die Geschichte, die Sie in diesem Buch lesen können, entstand während langer Wanderungen und Radtouren und wurde genährt von den Ideen und Informationen vieler Menschen. Ich kann hier leider nicht alle aufzählen. Aber besonders möchte ich dem Schongauer Kreisheimatpfleger Helmut Schmidbauer danken, der mir von den Altenstadter Templern erzählte und ohne dessen umfangreiches Wissen der erste und auch dieser zweite Roman nie hätten geschrieben werden können. Vielen Dank auch an Wiebke Schreier, die mir Augsburg zeigte und zudem so viele Ideen lieferte, dass es für drei Bücher reichen würde. Prof. Manfred Heim hat hoffentlich die meisten meiner Fehler ausmerzen können, was die bayerische Kirchengeschichte angeht. Außerdem ist er ein exzellenter Lateinlehrer! Meine Wissenslücken bei den Templern in Bayern schloss Dr. Claudia Friemberger von der Universität München, und Matthias Mederle von der Deutschen Flößervereinigung wusste, wie schnell ein Floß ist und zu welchen Jahreszeiten es auf den Flüssen fährt. Eva Bayer hat mein klägliches Französisch verbessert und die richtigen Pariser Schimpfwörter gewusst. Der Apotheker Rainer Wieshammer ist ein hervorragender Kenner alter Arz594
neien und besitzt in seinem Rottaler Vierseithof außerdem eine grandiose Sammlung von Breverln, jener mit Sprüchen und Bildern versehenen Faltzettel, denen bis ins 20. Jahrhundert Schutz- und Heilwirkung zugesprochen wurde. (Magdalenas Fraisenkette sieht übrigens fast genauso aus wie diejenige, die Rainer Wieshammer dem MüllnerPeter-Museum in Sachrang zur Verfügung gestellt hat. Vielleicht kommen Sie ja mal in die Gegend.) Mein gesamtes Wissen über die Scharfrichterei geht auf das gewaltige Archiv meines verstorbenen Verwandten Fritz Kuisl zurück, aus dessen Fundus ich bis heute schöpfen darf. Danke auch an meine Lektorin Uta Rupprecht, die die Idee mit dem Antibiotikum »Fungus Herbarum « hatte, meinem Agenten Gerd Rumler für ein klasse Essen beim Italiener, bei dem ein paar neue Romanideen geboren wurden. Und last, but not least meiner ganzen großen Familie: meiner Frau, meinen Kindern, meinen Eltern, Brüdern und meiner Großmutter, all den Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, die mich umgeben und die wie ein dichtes Flechtwerk zusammenhalten. Ohne euch, eure Geduld, eure Geschichten, euren Stolz und euren Zuspruch hätte es diese Bücher nie gegeben. Oliver Pötzsch, September 2008
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Reiseführer durch den Pfaffenwinkel Wenn Sie wie ich zu den Menschen gehören, die bei einem Roman gern das Nachwort als Erstes lesen, dann sollten Sie jetzt damit aufhören. Denn dieses Buch ist eine Rätselreise, die Sie zu einigen der schönsten Orte in Bayern führt. Und welchen Spaß macht es schon, über Rätsel zu lesen, wenn man ihre Lösung schon kennt? Also: Aufhören zu lesen! STOPP!!! Wenn Sie den Roman allerdings bereits zu Ende gelesen haben, dann lehnen Sie sich jetzt gemütlich zurück. Anhand der folgenden Seiten können Sie Ihren nächsten Urlaub im Pfaffenwinkel planen, meiner absoluten Lieblingsgegend im Voralpenland. Müsste ich einem Außerirdischen erklären, was Bayern ist, wie es riecht, wie es sich anfühlt, ich würde ihn einfach auf den Hohen Peißenberg stellen und bitten, sich einmal um sich selbst zudrehen. Er würde eine Landschaft erblicken, bunt wie ein deftiges bayerisches Barockgemälde – mit Klöstern, Kapellen, Seen, sanften Hügeln und den Gipfelketten der Alpen, die bei Föhnwind so aussehen, als würden sie direkt hinter der nächsten Kuhwiese beginnen. Die Menschen hier sind zwar alle ein wenig so geartet wie mein Vorfahr Jakob Kuisl, also sturschädlig, brummig und maulfaul. Aber wenn Sie sich ihnen in Demut nähern, den lieben Herrgott grüßen und in der Kirche immer 596
schön den Hut abnehmen, wird Ihnen schon nichts passieren. Nur Mut! Alle Orte in meinem Roman können Sie bis heute auf der Landkarte finden. Was läge also näher, als der Reise in Ihrem Kopf eine tatsächliche Reise folgen zu lassen, bei der Sie alle Rätsel auf ihre historische Wirklichkeit abklopfen können? Um sich am besten in Kuisls Epoche zu versetzen, sollten Sie ebenfalls zu Fuß gehen oder allenfalls mit dem Fahrrad unterwegs sein, denn die Zeiten damals waren nicht so schnell wie heute. Außerdem habe auch ich mir bei der Recherche für dieses Buch die Hacken krumm gelaufen und mich mehrere Male in der Ammerschlucht verirrt. Warum sollte es meinen Lesern besser ergehen? Genug geredet, packen Sie nun diesen Roman, ein Paar guter Wanderschuhe, eine Wasserflasche und eine Landkarte mit großem Maßstab in Ihren Rucksack und begleiten Sie mich als Erstes zum … Altenstadter Lorenzkirchlein Um den Ausgangspunkt meiner Geschichte zu finden, musste ich verdammt lange suchen. Die ehemalige Lorenzkirche liegt am äußersten Rand von Altenstadt, am Ende der Sankt-Lorenz-Straße. Sie stammt zwar aus dem 1 2. Jahrhundert, wurde jedoch dummerweise bereits 181 2 zum Bauernhaus umgebaut. Bei meiner ersten Recherchereise ging ich deshalb zweimal daran vorbei und verirrte mich schließlich auf dem Parkplatz einer benachbarten Firma, bis ich endlich erkannte, dass das efeuumrankte alte Gebäude am Ortsrand tatsächlich einmal eine Kirche 597
gewesen war. Nur die mächtigen Tuffsteinquader und der einschiffige Bau zeugen von der Zeit, als dicke Pfaffen wie Andreas Koppmeyer hier ihren Schäflein predigten. Das Plätschern der Schönach gleich neben dem Haus, das schilfbewachsene Flusstal und die Allee von Ebereschen lassen aber vor meinem inneren Auge immer noch jenen vergangenen Ort erstehen. Ich bin sicher, Ihnen gelingt das ebenso. In der Römerzeit und auch später im Mittelalter muss Altenstadt ein wichtiger Handelsumschlagplatz gewesen sein. Hier kreuzten sich die Via Claudia Augusta, die größte römische Straße diesseits der Alpen, und die mittelalterliche Salzstraße, die vom Berchtesgadener Land ins Allgäu führte. Doch die zahlreichen Händler und Reisenden lockten auch Räuber und feindliche Heere an, und so beschlossen die Bürger im 13. Jahrhundert, lieber ein paar Meilen weiter auf einen geschützten Hügel zu ziehen. Das war die Geburtsstunde von Schongau; Altenstadt – die »Alte Stadt« – fiel bis heute in einen Dornröschenschlaf. Es heißt, man habe beim Umbau der Lorenzkirche im 19. Jahrhundert eine Gruft mit ungewöhnlich großen Menschenknochen gefunden. Ob es sich dabei um eine Krypta der Templer handelte, ist nicht erwiesen. Doch dass der Ritterorden hier aktiv war, steht außer Frage. Ganz in der Nähe des ehemaligen Kirchleins befindet sich noch heute eine »Templerstraße«. Auch der Kaufvertrag zwischen den Prämonstratensern und einem gewissen » Fridericus Wildergraue, Magister Domus Templi in Alemania et in Sclavis « aus dem Jahre 1 289 existiert tatsächlich. Der Vertrag ist einer der wenigen Belege dafür, dass die Templer auch in Bayern Niederlassungen hatten. 598
Als ich eine Abschrift davon zum ersten Mal in den Händen hielt, wusste ich, dass dies der Anfang eines neuen Romans war. Folgen Sie mir nun bitte zur Ortsmitte an die … Basilika St. Michael in Altenstadt In Sichtweite zum früheren Templergrundstück erhebt sich meine Lieblingskirche im Pfaffenwinkel. Zwischen all dem barocken Prunk der Gegend gleicht die Basilika St. Michael in ihrer Schlichtheit und Größe, mit ihren zwei bulligen Türmen, der wuchtigen Außenmauer und den Rundbögen eher einer romanischen Burg als einem sakralen Bau. Über dem Hauptportal befindet sich ein Relief, das den Kampf zweier Ritter mit einem Drachen zeigt und das mir als zweites Rätsel diente. Die Vermutung, dass es sich bei den Kämpfenden um Henoch, den Sohn Kains, und den Propheten Elias handelt, habe ich ungeprüft vom Kreisheimatpfleger Helmut Schmidbauer übernommen. Und dessen Worte, bei Gott, sind heilig! Wer will, kann gerne mal versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Dann stößt er auf bayerisch-pfaffenwinklisches Sturschädeltum, ganz wie bei Jakob Kuisl. Der »Große Gott von Altenstadt«, das gewaltige Kruzifix im Inneren, ist um 1 200 entstanden und weit über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt. Wenn ich davorstehe und in das grobgeschnitzte, gleichzeitig traurige und gütige Antlitz des Heilands schaue, ergeht es mir jedes Mal wie Simon, der als eigentlich aufgeklärter Mensch plötzlich von Glauben erfüllt wird. Für mich ist es ein schöner 599
Gedanke, dass im Inneren dieses schlichten Kruzifixes ein Stück des wahren Heiligen Kreuzes verarbeitet ist – nur leider gibt es dafür keinen einzigen Beleg. Von dem Fresko der vierzehn Nothelfer im nördlichen Seitenschiff ist nur noch ein Fragment zu sehen. Man kann mir also nicht beweisen, dass sich dort nicht auch einmal ein heiliger Fridericus befunden haben könnte. Was die Grabplatte draußen an der Kirchenwand angeht, so gestehe ich freimütig, dass ich sie einfach erfunden habe. Machen wir uns jetzt auf den Weg hinunter nach … Schongau Eigentlich kein Rätselort, ist Schongau jedoch der Mittelpunkt meines ersten und auch dieses zweiten Romans. Ein kleines beschauliches Städtchen mit einem mittelalterlichen Wehrgang und vielen historischen Gebäuden, die sich zum Großteil auch in Jakob Kuisls Abenteuern wiederfinden. Hier mein Vorschlag für einen Stadtspaziergang auf den Spuren meines Vorfahren: Beginnen Sie Ihren Ausflug, ganz wie der Kaffeeliebhaber Simon, mit einer Tasse schwarzem Espresso auf dem Marienplatz und betreten Sie dann das Ballenhaus, das an seinem weißen Treppengiebel leicht zu erkennen ist. Hier, im ehemaligen Rathaus, können Sie im ersten Stock das Sitzungszimmer besichtigen, wo der Schreiber Johann Lechner und die Schongauer Patrizier das Schicksal der Scheller-Bande besiegelten. Die prächtig geschnitzte Decke stammt noch aus dem 1 6. Jahrhundert; 600
der grüne Kachelofen spielt in meinem ersten Roman eine kleine, aber nicht unwesentliche Rolle. Neben dem Ballenhaus stand früher das Wirtshaus »Zum Goldenen Stern« der Semer-Familie, das Benedikta als Nachtquartier diente. Mittlerweile ist hier die Musikschule untergebracht. Der reiche Stuck und die ehemalige Hauskapelle im Inneren lassen aber immer noch erahnen, dass im »Stern« einst nur die feineren Herrschaften abstiegen. Simon und auch Jakob Kuisl werden sich wohl eher im schäbigen Wirtshausviertel hinter dem Ballenhaus herumgetrieben haben. Gehen Sie von dort am »Alten Einlass« durch ein Tor in der Stadtmauer und wenden Sie sich nach rechts. Hier stand früher der »Hexenturm«, in dem im berüchtigten Schongauer Hexenprozess über sechzig Frauen auf ihre Hinrichtung warten mussten. Vom »Alten Einlass« nach links geht es zum Lechtor und auf der leider etwas belebten Lechbergstraße zum ehemaligen Gerberviertel an der Floßlände, wo jetzt die Brücke hinüber nach Peiting führt. Hier außerhalb der Stadt, wo die Gerber ihr stinkendes Handwerk betrieben, befand sich das Haus des Scharfrichters Jakob Kuisl. Leider ist davon nichts mehr erhalten. Aber der Lech fließt noch genauso träge dahin wie damals, als Magdalena mit dem Floß nach Augsburg aufbrach. Gehen Sie wieder in die Stadt hinauf und marschieren Sie ein Stück auf dem Wehrgang in Richtung des Friedhofs St. Sebastian, vor dessen unheimlicher Kulisse Jakob Kuisl und der junge Medicus Simon Fronwieser in Die Henke rstochter Kinderleichen ausgraben müssen. Daneben befanden sich einst die Fronfeste und die Folterkam601
mer der Schongauer Scharfrichter. Noch bis vor kurzem wirkten hier Recht und Gesetz, heutzutage aber glücklicherweise durch die Polizei. Nur ein wenig weiter befindet sich das Landratsamt. An diesem Platz stand früher das herzogliche Pflegschloss, wo der Schreiber Johann Lechner mit Jakob Kuisl die Jagd auf die Räuber plante. Gehen Sie nun am mittelalterlichen Maxtor vorbei und betreten Sie zum Abschluss das wirkliche empfehlenswerte Schongauer Stadtmuseum, das in einer ehemaligen Spitalkirche untergebracht ist. Suchen Sie das Richtschwert, das Gemälde des Vaters von Johann Lechner und den Kuisl-Schrank, der meinen Vorfahren als Apotheke diente. Fertig? Dann haben Sie sich jetzt ein Abendessen verdient, und am nächsten Tag machen wir uns auf zur … Peitinger Schlossruine Peiting ist das Dorf auf der anderen Seite des Lechs. Seien Sie nicht enttäuscht, von der ehemaligen Welfenburg oben auf dem Schlossberg sind nur noch ein paar Trümmer übrig. Trotzdem lohnt der kurze Spaziergang hinauf auf den Hügel, wo man bis hinüber zum Hohen Peißenberg sehen kann. Eine hüfthohe Wiese bedeckt das Fundament der einst herrschaftlichen Burganlage, im Wald kann man noch die Eichen der früheren Schlossallee erkennen. 1155 besuchte Kaiser Barbarossa höchstselbst den Welfenherzog hier auf seiner Festung. Später ging die Burg in den Besitz der Staufer und dann der Wittelsbacher über. 602
Ein Erdbeben ließ die Gemäuer 1348 teilweise einstürzen, nach und nach verlor die Festung schließlich an Bedeutung. 1632 wurde sie im Dreißigjährigen Krieg geschleift, so dass bei Simons und Benediktas Ankunft im Winter 1 660 wohl tatsächlich nur noch eine Ruine dort stand. Wie sie ausgesehen hat, das bleibt Ihrer und meiner Phantasie überlassen. Halten Sie sich gut fest, denn jetzt geht es gleich hinter Peiting hinunter in die Ammerschlucht. Dort warten die … Schleyerfälle Als ich die Schleyerfälle das erste Mal suchte, musste ich umkehren, weil ich merkte, dass ich an einer völlig falschen Stelle losgegangen war. Beim zweiten Mal bog ich vor statt hinter der Ammerbrücke ab und stapfte auf der verkehrten Seite des Flusses immer tiefer ins Dickicht, bis ich plötzlich am Rande einer steilen Schlucht stand. Dreißig Meter unter mir toste die Ammer. Ein Schritt weiter, und dieses Buch wäre nie geschrieben worden ... Verschwitzt und unterzuckert wollte ich nicht glauben, dass ich mich verirrt hatte, und stiefelte planlos weiter ,bis ich schließlich auf einer idyllischen Blumenwiese landete. Leider habe ich Heuschnupfen. Weit und breit gab es keinen Wasserfall, dafür aber ein paar hilfsbereite Radfahrer ,die mir zwar nicht den Weg zu den Schleyerfällen, aber wenigstens zurück zu meinem Ausgangspunkt weisen konnten. Die Schleyerfälle wurden im Laufe meiner Recherche zu einer Obsession. Als ich sie schließlich fand, war ich 603
ein bisschen enttäuscht. Vermutlich hatte ich nach all diesen Strapazen mindestens die Niagarafälle erwartet. Doch die Schleyerfälle sind eher klein, über moosbewachsene Kalkfelsen fließt das Wasser in einem feinen Schleier, so dass sich silberne Vorhänge aus reiner Gischt bilden. Wer Glück hat und außerhalb der Saison kommt, ist hier ganz allein; dann fühlt man sich ein wenig wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Die ganze Gegend ist zudem durchwachsen von Höhlen, in denen sich ganze Legionen von Banditen verstecken könnten, und damit genau der richtige Ort für ein verräuchertes Räubernest wie in meinem Roman. Für alle, die sich nicht wie ich heillos verirren wollen, hier nun die Wegbeschreibung für die schönste Route: Von Bad Saulgrub kommend, steigen Sie zur Ammer hinunter. Nach der Brücke geht es wieder hoch, am Kraftwerk vorbei und dann scharf rechts. Nach gut zwanzig Minuten schlängelt sich der Weg wieder hinunter ins Flusstal, bis Sie schließlich vor den Schleyerfällen stehen. Legen Sie dort eine kleine Gedenkminute für mich ein und folgen Sie mir dann weiter ins … Kloster Wessobrunn Wessobrunn liegt ein wenig abseits der übrigen Rätselorte. Am besten sollten Sie daher das Auto nehmen oder Sie machen daraus eine eigene Radtour, entweder von Schongau oder vom Ammersee aus. Wer sich wie ich mit dem Rad von Dießen her nähert, muss allerdings zunächst eine lange Steigung bewältigen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich wäre zu Fuß schneller gewesen. Aber ich bin 604
kein einziges Mal abgestiegen – machen Sie mir das erst einmal nach! Umso schöner ist dann die Rast an den drei Quellen direkt neben dem ehemaligen Benediktinerkloster, das auf einer Anhöhe südlich des Ammersees thront. Einst waren hier im Umkreis einige der besten Stukkateure Europas zu Hause, heute wirken Kloster und Dorf ein wenig verschlafen. Fremde sieht man sich hier erst mal vom Gartenzaun aus an. Als ich bei einem älteren Wessobrunner um ein Zimmer für die Nacht fragte, wurde ich zunächst misstrauisch beäugt. Am Frühstückstisch wusste ich dann bereits seine ganze tragische Lebensgeschichte und den besten Fahrradweg nach Schongau. Der Pfaffenwinkler braucht eben seine Zeit. An den Haustüren des Orts hängen teilweise noch die Namensschilder einst großer Künstlerfamilien. Wer will, lässt sich im Gasthof zur Post den Tanzsaal zeigen, dessen Decke noch aus der ruhmreichen Vergangenheit stammt. Östlich an das Dorf grenzt der Eibenwald, durch den in meinem Roman Simon und Benedikta reiten und auf vermeintliche Wegelagerer stoßen. Einige Schwestern des Klosters bieten Ausflüglern eine lohnenswerte Führung durch das Innere des Gebäudes an. Wer die prunkvollen Stuckarbeiten an den Decken betrachtet, versteht, warum Wessobrunner Handwerker bis nach Venedig bekannt waren. Die Flure und Räume dienten mir übrigens als Vorbild für die Bibliothek in Steingaden. Der alte Römerturm, in dem Simon und Benedikta auf wertvolle Bücherschätze stoßen, steht am Rande der Anlage. Ob das Gebäude je als Bibliothek benutzt wurde, ist 605
mir nicht bekannt. Als massiver Wehrturm könnte er im Dreißigjährigen Krieg jedoch gut Schutz geboten haben. Das sogenannte Wessobrunner Gebet, eines der ältesten Gebete deutscher Sprache, befand sich zur Zeit von Simons und Benediktas Reise tatsächlich hier im Kloster. Mittlerweile ist es in der Bayerischen Staatsbibliothek. Wenn man das Kloster verlässt, sich nach rechts wendet und dann immer an der Klostermauer entlanggeht, kommt man nach ungefähr zehn Minuten zur berühmten Tassilolinde, wo sich Simon fast den Hals bricht. Wer überprüfen möchte, ob tatsächlich irgendwo ein Rätselschild verborgen ist, der sei gewarnt. In der Linde befindet sich ein Hornissennest! Also lieber weiter zum … Kloster Rottenbuch Ja, es gibt die Reliquien von Primus und Felicianus! Allerdings nicht, wie zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, aufrechtstehend mit Schwert und Lorbeerkranz, sondern fast unsichtbar in reichgeschnitzten Schreinen vorne im Altarraum. Versuchen Sie einmal, die beiden zwischen all den Putten, dem Stuck und den Statuen zu finden! Ich selbst habe mehrere Minuten und die Hilfe einer gütigen Nonne gebraucht. Auch alle übrigen Reliquien, die ich Propst Michael Piscator aufzählen lasse, waren damals im Besitz des Klosters. Die Zähne der heiligen Binosa, Haare und Gewandstücke der heiligen Maria, außerdem Reliquien der Heiligen Pankratius, Blasius, Valerius, Virgilius, Johannes, Philippus, Bartholomäus, Thekla, Brigida ... Und das ist nur ein Bruchteil der Schätze. 606
Wer sich von der ganzen barocken Pracht, all dem Gold und Gips der ehemaligen Augustinerchorherrenkirche wie erschlagen fühlt, für den habe ich einen Tipp: Lassen Sie die Kirche rechts liegen und gehen Sie durch das kleine Tor im hinteren Teil der Anlage. Von dort aus können Sie wunderbar zur Ammerschlucht wandern, vorbei an Bäumen, Kühen und kleinen Kapellen. Gott wohnt nämlich überall im Pfaffenwinkel. Oder Sie folgen mir weiter zum … Steingadener Prämonstratenserkloster Der Showdown! Eigentlich wollte ich den letzten Akt ja an den Schleyerfällen spielen lassen, aber dann fiel mir ein alter Plan des Klosters aus dem Jahre 1803 in die Hände, auf dem ein Komödienhaus verzeichnet war. Ein Komödienhaus in einem Kloster! Seitdem ließ mich der Gedanke nicht mehr los, meinem Bösewicht im wahrsten Sinne des Wortes noch einen letzten großen Auftritt zu verschaffen. Das Komödienhaus befindet sich mittlerweile in Privatbesitz und hat mit meiner Vorstellung eines Klostertheaters nicht mehr viel gemein. Und auch die Bibliothek und die unterirdischen Geheimgänge samt Magdalenas Kerker in der Kapelle habe ich mir nur ausgedacht. Tut mir leid. Am besten trinken Sie ein Weißbier in dem kleinen Lokal vor dem Klostergelände, schließen die Augen und stellen sich den Rest einfach vor. Was ich Ihnen bieten kann, ist der von der Kirche abzweigende romanische Kreuzgang, in dem Simon zum ersten Mal auf den Abt Augustin Bonenmayr trifft. (Der damalige Abt hieß tatsächlich so! Die 607
richtige Schreibweise seines Nachnamens hat mich wie ein später Fluch verfolgt.) Auch die Johanneskapelle gibt es, die tatsächlich zunächst an einer anderen Stelle stand. Und natürlich die Welfengruft direkt unter der Kirche. Eine dicke Grabplatte mit der von mir zitierten Grabinschrift ziert den Eingang. Ich habe nicht gewagt, sie anzuheben. Wer weiß, vielleicht befindet sich dort unten doch der eine oder andere Geheimgang. Die zu Steingaden gehörige Wieskirche suchen Sie in meinem Roman übrigens vergeblich. Bayerns Barockperle wurde erst im 18. Jahrhundert gebaut. Besuchen sollten Sie das Prunkstück natürlich trotzdem. Noch ein Tipp: Zwischen Peiting, Rottenbuch und Steingaden verläuft ein wunderschöner Radweg abseits der großen Straßen. Eine Tagestour, die ich jedem nur ans Herz legen kann. Besser können Sie den Pfaffenwinkel nicht kennenlernen. Auf meinen Recherchereisen mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder zu Fuß bin ich noch auf unzählige weitere Orte und Plätze gestoßen. Auf schiefe Wegkreuze, verfallene Kapellen, undurchdringliche Wälder, tiefe Schluchten und stolze Kirchen, auf Steinmännchen, Kreuzwege und einsame Weiler. Jeder dieser Orte hat seine eigene Geschichte zu erzählen, aber die haben leider nicht mehr in meinen Roman gepasst. Aber wer weiß, vielleicht finden sie sich ja in einem der folgenden. Viel Spaß beim Lesen und Reisen wünscht Oliver Pötzsch 608
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