Die Grusel-Tour von Schreckenstein
Sieges-Streß
"Ihr braucht euch gar nicht zu lockern, ihr verliert sowieso!" sagte ...
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Die Grusel-Tour von Schreckenstein
Sieges-Streß
"Ihr braucht euch gar nicht zu lockern, ihr verliert sowieso!" sagte Florian während der
Startvorbereitungen zum 400-m-Lauf.
Das alljährliche Kräftemessen zwischen Schreckenstein, der Ebert- und der Franz-Joseph-Schule aus
Neustadt fand diesmal auf dem Sportplatz der Burg statt.
"Angeber!" brummten Andi und Klaus nach einer Pause. Florians Bemerkung befremdete die beiden Schreckensteiner Läufer. Woher nahm er diese Sicherheit? Oder war es nur Einschüchterungstaktik? Gewiß, der lange Franz-Joseph-Schüler würde schwer zu schlagen sein, zu oft ' hatte er schon gewonnen, doch seine Worte empfanden sie als ausgesprochen unsportlich. Nun hatten die Schreckensteiner überhaupt ihre eigenen Ansichten. "ldiotenritter!" zischte Jerry, der die Ebert-Schule vertrat, weil die Schreckensteiner den ehemaligen Burgbewohnern, den Rittern, nacheiferten. Und er bemühte sich, besonders verächtlich dreinzuschauen. "Wenn dir vor Neid die Tränen kommen, laß ich dich gewinnen!" alberte Klaus und entschärfte damit die Lage. Die Läufer konzentrierten sich wieder. jeder Platz zählte, denn obwohl sich der Wettkampf dem Ende zuneigte, lagen die drei Mannschaften leistungsmäßig dicht beisammen. Die Ritter vermißten das gewohnte, beruhigende Punktepolster. Nur ein einziger Zähler trennte sie zu diesem Zeitpunkt von der Ebert-Mannschaft. Auf der Tribüne konnte man, neben dem Ächzen des Holzgerüsts, die Spannung förmlich knistern hören. Aus Neustadt hatten sich zahlreiche Schlachtenbummler eingefunden, auch Schreckensteiner Eltern. Dort waren die Ritter zur Schule gegangen, bevor sie wegen Platzmangels "ausgesiedelt" wurden und mit Sack und Pack auf der Burg einzogen, weil der Schulweg zu weit gewesen wäre. Nahezu vollzählig eingefunden hatten sich die Mädchen des Internats Schloß Rosenfels, das der Burg gegenüber auf der anderen Seite des Kappellsees lag. Ohne Ermüdungserscheinungen feuerten sie die Athleten an. Nicht nur die von der Burg. Ihre Sympathien waren ziemlich gleichmäßig verteilt. Sophie brüllte "Ottokar! Ottokar!", wenn der Schreckensteiner Schulkapitän sich über die Hochsprunglatte wälzte. Sein Freund Stephan, einer der führenden Ritter auch er, konnte beim Diskuswerfen und Kugelstoßen der Anfeuerung von Beatrix sicher sein, wenn sie nicht gerade fotografierte; Dampfwalze, das Kraftgebirge der Burg, lauschte bei den Wurfdisziplinen und insbesondere beim Kugelstoßen auf Ingrids Stimme, allerdings ohne sie verläßlich zu hören. Seine Leistungen schmälerte die Ungewißheit indes nicht. Der Muskelprotz mit Spatzenhirn, wie böse Zungen ihn nannten, landete auch ohne Anfeuerung jeden Stoß im Bereich der Traumgrenze. Allein Stephan konnte sich in seiner Nähe halten. Eine große Anhängerschaft bei den Mädchen hatte auch Florian. Trotz Jerry, der sich neuerdings mehr auf den Weitsprung verlegte und hier Ottokar davongehüpft war. Ingrids Beifall zu seinem siegbringenden Satz hatte Dampfwalze ein trotziges Knurren entlockt. "Was soll denn das, blödes Huhn?" Sofort hatte ihn Kampfrichter Mücke mit spitzem Bleistift in den Bizeps gepiekst, über den Rand seiner Brille an ihm hinaufgeschaut und im Tonfall von Schießbude, dem jüngsten und kleinsten Lehrer - kaum größer als er selbst-. Gehöhnt: "Aber junge, wie sprichst du denn von meinem Fräulein Schwester?" Der Muskelprotz bekam noch einmal Gelegenheit, sich über Ingrid zu wundern. Auf ihrem Sitz stehend, feuerte sie Jerry über die gesamte 400-m-Strecke an, daß er Florian kurz vor dem Ziel einholte und überspurtete. Martina neben ihr filmte. Klaus, der als letzter ankam, nahm's gelassen. Keuchend, aber vergnügt, wandte sich der Witzbold an Florian. "Ätsch! Versager! Du hast auch nicht gewonnen. "Das wußte ich", antwortete der, ohne jede Gemütsbewegung. "Und ich weiß noch was: Der Gesamtsieger wird diesmal nicht Schreckenstein heißen. Jerry grinste hämisch. Das ging Andi zu weit. "Sag mal, findest du deine Miesmacherei nicht selber unsportlich?" fragte er Florian.
"Seit wann ist Wissen unsportlich?" fragte der dagegen. "Ihr sagt hier doch angeblich immer die
Wahrheit? Dann müßt ihr sie auch hören können. Diesmal schafft ihr es nicht. Und wenn ihr euch noch
so anstrengt. Es kommt etwas dazwischen."
Andi und Klaus wechselten einen Blick und ließen ihn stehen. Für sie war klar: Florian wollte sie nur herausfordern. Die Schreckensteiner Ehrlichkeit war den Neustädtern ebensowenig geheuer, wie die Tatsache, daß die Ritter Zigaretten und Alkohol blöd fanden und abträglich für die Kondition. Vielleicht machte das ihre Überlegenheit aus? "Psychologische Unterwanderung. Nicht mit uns!" meinte Klaus außer Hörweite. "Ein hundsgemeiner Trick!" pflichtete ihm Andi bei. Es sah in der Tat nicht gut aus für die Ritter. Durch Jerrys Erfolg lag nun die Ebertschule vorn. Und weil Florians Worte die beiden doch mehr bewegten, als sie sich eingestehen wollten, besprachen sie den Vorfall mit Kampfrichter Mücke, einem der hellsten Köpfe auf der Burg. "So ein Blödmann!" brummte der. "Sieges-Streß bringt nichts! Nur ruhig Blut! Wir haben ja noch die Staffel. Da sind wir unschlagbar. . "Beschrei's nicht!" unterbrach ihn Andi. "Nachher kommt wirklich was dazwischen!" "Genau das will er euch suggerieren!" zischte Mücke, weil Ottokar und Stephan in der Nähe Lockerungsübungen machten. Vergeßt es schnellstens! Und Schnauze! Sonst läßt womöglich einer beim Wechsel den Stab fallen." Klaus schaute besorgt drein. Er würde das Holz von Stephan übernehmen, es eingangs der Zielkurve Andi übergeben und der hundert Meter weiter an Ottokar. Mücke hatte recht. Vergessen! Entschlossen ballte Andi seine Fäuste. "Wir müssen gewinnen! Und wenn wir auf dem Zahnfleisch über die Ziellinie robben!" "Interessante neue Sportart!" alberte der Kampfrichter. "Und entschieden lustiger!" meinte Klaus. »wo ist denn das noch Sport, wenn die einem psychologisch die Muskeln schlappmachen und man nicht mal mehr lachen darf, weil ein offener Mund den Luftwiderstand vergrößert?" Sie setzten sich auf den Rasen und begannen ihre Beine zu massieren. Beatrix kam und schoß ein Foto. "Öl?" Pummel, der über 1500 Meter Zweiter geworden war, stand in der Nähe und hielt eine kleine Flasche hoch. Klaus schüttelte den Kopf. "Bei uns läuft's auch ohne Schmierung wie geschmiert", sagte er, um sich und Andi Mut zu machen. Es war wahnsinnig schwer, nicht an den blöden Satz von Florian zu denken. Da wetzte Stephan vorbei. Er übte schnelle Antritte, bis Ottokar, der seine Schultern lockerte, Ihm zurief: " Stopp, Mann! Du bist sowieso übertrainiert. "Du vielleicht nicht?" gab sein Freund zurück. Der Schulkapitän hob die gelockerten Schultern und lächelte, ein wenig verkrampft, wie es schien. "Wir wollen ja wieder gewinnen. Mann, das wäre das vierte Mal. Hintereinander!" Stumm sahen Klaus und Andi einander an. Sollte der Bazillus schon weiter um sich gegriffen haben? Gegenüber der Tribüne, auf der auch der Burgherr, Graf Schreckenstein, genannt "Mauersäge", der Rex und Fräulein Doktor Horn, die Leiterin von Rosenfels, saßen, stellte sich Musterschüler Strehlau mit der Lautsprechertüte in Positur und verkündete: "Achtung! Achtung! Die Teilnehmer der 41mal 100-Meter-Staffel auf Ihre Plätze, bitte. In drei Minuten wird gestartet." Die Spannung machte sich nicht nur in Raunen Luft. Die vier Miniritter Herbert, Kuno, Eberhard und Egon hüpften auf der Stelle, andere Bliesen mit Zwischenrufen Dampf ab; Doktor Waldmann, einer der beliebtesten Lehrer auf der Burg, und seine Tochter Sonja, die netteste Lehrerin von Rosenfels, hatten die Programmzettel so zusammengerollt, daß sie wie Staffelhölzer aussahen, und drehten sie nervös in den Händen. Erst jetzt, bei der letzten Disziplin, würde die Entscheidung fallen. Jede Mannschaft konnte noch gewinnen. Dampfwalze hatte die Chancen auf einem Zettel ausgerechnet, Hans-Jürgen, der Dichter, im Kopf: Werden wir Erste und die Ebertschule Dritte, haben wir's geschafft. Gewinnt die Franz-Joseph-Schule und wir werden Dritte, haben die's. Sonst die Ebertschule. "Immer dieser Mangel an Langeweile! " witzelte Beni und machte dabei ein grimmiges Gesicht. Bei Start und Ziel hob Kampfrichter Mücke die Pistole. Mit dem Schuß setzten sich nicht nur die Beine der Läufer in Bewegung, sondern auch die der Zuschauer, die aufsprangen oder, wenn sie standen, in die Höhe hüpften, dabei mit den Armen fuchtelnd, lauthals ihren Favoriten einheizten, als hinge von diesem Lauf das weitere Schicksal ab. Stephan war gut weggekommen und übergab mit deutlichem Vorsprung den Stab an Klaus, der hinschaute, um ihn ja nicht zu verfehlen und dadurch Zeit verlor. Auf der Gegengeraden führte ein Ebert-Mann, dem er nur zentimeterweise näher kam. Eingangs der Zielkurve wiederholte sich der zeitraubende Wechsel. Andi schaute zurück, statt mit ausgestreckter Hand loszurennen. So kam auch der Franz-Joseph-Läufer an ihm vorbei. "Andi! Andiiii!" brüllten die Ritter. Am Ziel schüttelte Mücke den Kopf. Total siegesgestreßt!" brummte er vor sich hin.
Immerhin gelang es Andi, in der Kurve einige der verlorenen Meter aufzuholen, und Ottokar behielt die Nerven. Er lief nicht zu früh an, faßte den Stab ohne Blick und legte dann los, wie ein Rennpferd unter Mauleseln. "Otto-kar! Otto-kar! überbrüllten die Ritter rhythmisch die anderen Anfeuerungsrufe, und tatsächlich, schon nach fünfzig Metern zog der Schulkapitän an seinen Konkurrenten vorbei, dem sicheren Sieg entgegen. Plötzlich ein Aufschrei aus hundert Kehlen. Was geschah da? Hatte Ottokar seine Kräfte überschätzt? Ungefähr zwanzig Meter vor dem Ziel wurde er langsamer, verließ die gerade Bahn, wankte aufs Gras, wo er vorgebeugt stehenblieb, während im jubel der Gäste ein anderer gewann. Wer - war den Rittern gleichgültig. Sie liefen zu Ottokar, umdrängten ihn wie eine Jahrmarktsattraktion. Dampfwalze, der als einer der ersten bei ihm gewesen war, ruderte gegen die Menge und verkündete mit der wichtigen Miene des Arztes, der als einziger Bescheid weiß: "Herzinfarkt!" "Blödmann!" schimpfte Mücke hinter ihm. "Bevor du Fremdwörter gebrauchst, schlag erst mal nach, was sie bedeuten. " "Also, was hat er?" fragte Andi barsch. "Insuffizienz", erwiderte Mücke, als Chefredakteur der Schulzeitung Wappenschild wortgewandt wie sonst keiner. Stephan übersetzte die Diagnose. "Eine Herzschwäche. " Und für Sophie, die mit ihrem Fotoapparat dazukam, ohne bis zu Ottokar vordringen zu können, wurde er noch deutlicher: "Schwindelig ist ihm geworden. Weil er total übertrainiert ist." "Das mußte ja mal so kommen!." bestätigte Fritz, der Seltenfröhlich. Stumm sahen Klaus und Andi einander an. "Es passiert etwas!" hatte Florian gesagt. Wie konnte er das gewußt haben? Mücke gesellte sich zu ihnen. "Es lag in der Luft - wie man so sagt", dachte er laut vor sich hin. "Dann passiert halt was Unvorhergesehenes. Das hat auch der Flori gespürt und damit geblufft. " Klaus nickte. "Die Zeit war einfach reif. jetzt ist die Luft raus, Gott sei Dank! Wir waren ja total siegverkrampft." "Genau!„ stimmte Andi ihm bei. "Hauptsache, Ottokar fehlt nichts Ernsthaftes. " Der Kreis um den Schulkapitän hatte sich gelichtet. Offenbar fühlte er sich besser. Er saß am Boden und machte nicht den Eindruck, als habe er Schmerzen oder werde von Schwindel geplagt. Ruhig saß er da. Sophie und Stephan standen vor ihm mit verschränkten Armen; Sportlehrer Rolle kniete neben ihm, die Hand an seinem Puls, den Blick auf der Stoppuhr. "Schlägt völlig normal. So kurz nach der Anstrengung ein sehr gutes Zeichen", sagte er zum Rex, der gerade dazugekommen war. "Ich hatte plötzlich irres Herzstechen. Jetzt ist es weg." Es klang zaghaft, entschuldigend. Bei Ottokar ein ungewohnter Ton. "Morgen lassen wir einen Test machen." Der Rex sah sich um. "Wenn's geht, komm zur Siegerehrung. Du weißt ja ... Mehr brauchte Direktor Meyer nicht zu sagen. Die Neustädter würden ihre Schadenfreude nur mühsam verbergen können, samt ihren Eltern. Auch Fräulein Doktor Horn von Rosenfels würde in die Litanei mit einstimmen. Die Ritter hörten sie schon: "Da sieht man's wieder mal! Diese Schreckensteiner, die immer etwas Besonderes sein wollen! Angeblich rauchen und trinken sie nicht, um die sportliche Leistung zu steigern. Dafür trainieren sie bis zum Kollaps, und niemand ist da, der sie daran hindert. Diese Schule gehört verboten!" Ohne ein Zeichen von Schwäche sprang Ottokar auf. In einigem Abstand, damit es nicht aussehe, als habe man ihn geholt, folgte er dem Rex und Rolle zur Tribüne. "Los!" raunte Mücke, der als Chefredakteur allen Ereignissen nachspürte, Andi und Klaus zu. Jetzt sagen wir's ihm!" Vereint weihten sie Ottokar und Stephan in ihre Vermutungen ein. ,Nir haben natürlich die Schnauze gehalten, um den Sieg nicht zu gefährden", erklärte er. "Aber jetzt sag du! Hast du's vielleicht doch gespürt?" Stephan lachte. "Mann, das fällt ja unter außersinnliche Wahrnehmungen!" Martina ließ ihre Filmkamera surren. Ottokar blieb zunächst stumm. "Hin, ich weiß nicht", sagte er nach längerem Überlegen. Nenn alle Wünsche wie Bazillen durch die Gegend sausen würden, dann müßten bei so einem Wettkampf alle krank werden. Es will doch jede Mannschaft gewinnen!" "Vielleicht sind wir alle schrottreif und wissen's nur nicht, alberte Klaus. "Und der einzig Gesunde bist du! Weil dein Herz rechtzeitig die Notbremse gezogen hat." "Witzbold!" sagte Sophie. "Aber das gibt's. Vor schweren Klassenarbeiten krieg ich manchmal Fieber, damit ich im Bett bleiben kann. Echt!"
Die Ritter lachten. Bis auf Andi. Der schaute nachdenklich drein. "Flori wär ein guter Schauspieler! Wie der das gesagt hat. Richtig überzeugend . . . " "Ich hab's beim Wechsel gemerkt!" lästerte Mücke. "In dem Tempo reicht ein Metzger die Wurst übern Ladentisch. Von der Tribüne gab's Beifall für Ottokar. Die Zuschauer waren erleichtert, ihn wohlauf zu sehen. Graf Schreckenstein, der schon zur Siegerehrung bereitstand, kam dem Schulkapitän sogar entgegen, den von ihm gestifteten Pokal in der Hand. "Sieht aus, als hätten wir doch gewonnen", alberte Klaus. "Achtung! Gleich schaltet er!" Damit machte Mücke auf eine immer wieder vergnügliche, gräfliche Eigenheit aufmerksam. Die stattliche, dabei extrem schmale Nase hatte dem Burgherrn nicht nur den Spitznamen Mauersäge eingebracht. Ein Konstruktionsfehler der Natur behinderte das Einatmen durch dieselbe, was den Eigner zwang, beim Sprechen in Abständen kurz und kräftig Gegenluft zu geben, um die Leitung offenzuhalten. Das merkwürdige Geräusch, das solches Tun begleitete, erinnerte die Ritter an Übersetzungswechsel beim Auto. Ja. . . ks ... Ottokar! Gott sei ... ks ... Du bist wieder wohlauf!" schaltete der Burgherr und hätte ihm fast den Pokal gegeben, wäre nicht Fräulein Doktor Horn dazugekommen. Mit einer ähnlichen Nase, jedoch ohne Konstruktionsfehler, war sie bei solchen Anlässen immer in Mauersäges Nähe zu finden. Ihm zu Gefallen wollte sie, nachdem er sich erleichtert gezeigt hatte, auch etwas Positives sagen. Doch es geriet ihr spitz. "Na, das ging offenbar noch mal gut." "Sie übernimmt sich wieder an Herzlichkeit", flüsterte Sophie. Strehlau bat mit der Radautüte um Ruhe, der Rex dankte allen für ihre hervorragenden Leistungen, auch was den Beifall betreffe. Den Zwischenfall bei der Staffel spielte er herunter. Vielleicht habe Ottokar im Eifer des Endspurts falsch geatmet oder sei durch einen Muskelkrampf aus dem Rhythmus gekommen - er lege sich da nicht fest -, gerade das Unvorhergesehene aber mache Wettkämpfe spannend. Schon hier brachen die Ebertschüler in Freudengeheul aus, das sich noch steigerte, als Mauersäge ihrem Mannschaftskapitän Jerry den Pokal überreichte. Nun klatschten alle mit. Dampfwalze schaute zu Ingrid hinüber. Diesmal beteiligte sie sich nicht, sie fotografierte Martina, die sie 1 1 filmte. Da klopfte ihm auf die Schulter und sagte "Auf Wiedersehn!" Pummel war's, in Blödellaune, denn jetzt verabschiedeten sich die Mannschaften voneinander, und zwar durch Handschlag. In diesem Gedränge kam Sonja Waldmann zu Ottokar. Seit einem denkwürdigen Streich war sie mit ihm und Stephan befreundet. "Ist noch was?" fragte die junge Musiklehrerin. "Du wirkst so abwesend. Ich beobachte dich schon die ganze Zeit." Auch Beatrix, die mit ihr gekommen war, fand, irgend etwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Doch sie sagte es nur zu Stephan. »Quatsch", meinte der. "Enttäuscht ist er. Ist doch klar 1 Das mochte stimmen. Ohne Sieg war Ottokar der Wirbel um seine Person ausgesprochen lästig. Wortlos zog er die Schultern hoch und ging davon. Plötzlich trat ihm Florian in den Weg. "Auf Wiedersehn. Und mach dir keine Sorgen. Dir fehlt nichts." "Weiß ich selber. Wiedersehn", antwortete Ottokar und ließ ihn stehen. Martina filmte die Szene aus einiger Entfernung. ,Auf Wiedersehn!" Das kam von hinten. Florian drehte sich um. Da stand Mücke und schaute prüfend-spöttisch an ihm hinauf. "Was dir fehlt, weiß ich noch nicht genau", sagte er. "Vielleicht nur eine kleine Schraube. Sonst hättest du sicher gewonnen. Oder?" Florian grinste. "Das war heut nicht drin." Auch Mücke grinste. "Wie wir mittlerweile wissen." "Ich wußt es schon vorher!" trumpfte Florian auf. "Ich weiß." Mücke lächelte, weil er ihm so schön auf den Leim ging. "Ich weiß, daß du so getan hast, um unsere Kampfmoral zu untergraben. Eine ziemlich unsportliche Taktik. Findest du nicht auch?" "Hatte ich vielleicht nicht recht?" begehrte Florian auf. "Zufall'«, antwortete Mücke ruhig. "Ewig kann Schreckenstein ja nicht gewinnen. Ist doch klar." jetzt lachte Florian. "Sehr komisch. Genau das hat meine Tante auch gesagt.'« "So ein Zufall!" mischte sich Andi ein. "Meine Tante meint, daß du überhaupt nie mehr einen Lauf gewinnst." "Irrtum. Nächstes Mal bin ich wieder dran." Jetzt grinste Florian wieder überlegen und besserwisserisch, wie vor dem 400-m-Lauf.
"Einverstanden!" Stephan war mit Klaus dazugekommen. "Du machst die 400 Meter, und wir werden Gesamtsieger. Wie meistens. " Todernst, als habe er nicht gemerkt, wie das gemeint war, antwortete Florian. "Das kann ich feststellen." "Wo erfährt man denn so was? Hast du da eine Quelle?" erkundigte sich Klaus sachlich wie ein Wissenschaftler. "Du wirst lachen, ja!" Florian sagte es verschmitzt und druckste ein wenig verlegen herum. "Es klingt vielleicht angeberisch, aber ich hab ... ich hab eine Tante, die ist ... ob ihr's glaubt oder nicht, die ist ... Hellseherin. " "Mann!" platzte Klaus heraus. "Und ich hab einen Onkel, der ist bei der Post!" ,Nein, im Ernst, sagte Florian, so ruhig, daß man ihm glauben mußte. "Ich war im Training hundsmiserabel. Menschenskind, ich bin Zeiten gelaufen wie im Vorschulalter. Da dachte ich, ich frag mal meine Tante, ob das besser wird, oder ob's keinen Sinn hat, überhaupt weiterzutrainieren. "Und?" Mücke wollte endlich Tatsachen. "Da hat sie mir gesagt, daß ich diesmal nicht gewinnen werde. Ihr aber auch nicht. Insofern sind wir Leidensgefährten. Bei euch kommt etwas dazwischen - hat sie gesagt. Ihr wärt zwar schwer in Ordnung, aber ewig kann Schreckenstein nicht gewinnen. Ist doch klar." Jerry kam grinsend vorbei. Unter den Rittern hatte die Stimmung umgeschlagen. Nachdenklich standen sie um Florian herum. "Also doch der Sieges-Streß!" brummte Mücke, und Florian fragte, was er damit meine. Doch Klaus kam einer Antwort zuvor. "Muß ja ein toller Dampfer sein, deine Tante! Kannst du sie uns nicht mal ausleihen? Fragen hätten wir genug." Florian grinste. .,Menschenskind, das könnt ihr gar nicht bezahlen. Auch nicht, wenn ihr zusammenlegt." "Na Ja, dir zuliebe macht sie uns vielleicht einen Sonderpreis «', versuchte Andi zu handeln. "Wo wir doch Leidensgefährten sind. « "Daß wir schwer in Ordnung sind, wissen wir auch ohne Hellseher!" alberte Klaus. "Aber bis wann man das in Neustadt merkt -, das zum Beispiel hätten wir gern gewußt." Nachdenklich wiegte Florian den Kopf hin und her. "Sie sagt nicht gern was über die Zukunft. Sie gibt hauptsächlich Ratschläge für die Gesundheit, warnt vor Katastrophen, ohne sie beim Namen zu nennen. Der Mensch soll nicht wissen, was kommt, sonst wüßte er's - sagt sie immer. Menschenskind, aber einen von ihren Vorträgen könnte sie bei euch halten. Das wär vielleicht drin!" "Die Tante muß her!" Andi sah von einem zum andern. ,Wir müssen unbedingt wissen, was man da macht, wenn was in der Luft liegt." "Da ist man ferngesteuert, wie euer Ottokar", versicherte Florian. "Und gibt das Staffelholz weiter, wie ein Metzger die Wurst, lästerte Mücke. "Hin. " Stephan kratzte sich am Kopf, als müsse er einen Gedanken freilegen. "Vielleicht ist das der Gewinn des heutigen Tages?"
Es liegt in der Luft Die Gäste waren fort, die Niederlage verschmerzt, auf der Burg herrschte wieder Normalbetrieb. Mit dem Ruf "Aufstehen! Dauerlauf!« ging Ralph, in dieser Woche Wecker vom Dienst, durch Süd-, Westund Nordflügel. Die Ritter sammelten sich am Durchgang zum Sportplatz und trabten los. Auch Ottokar war dabei, als sei nichts geschehen. Nach gewohnt reichlichem Frühstück begann der Unterricht, um zehn Uhr von einer größeren Pause unterbrochen. Um Mittag betätigte der kleine Egon den Gong. Die Ritter begaben sich in den Eßsaal und setzten sich auf ihre Plätze. Es gab Kräftiges. Zuerst Rindfleischsuppe, dann hartgekochte Eier in Senfsoße mit Kartoffeln. Während des Nachtischs - heute Apfelmus - läutete der Rex mit dem silbernen Glöckchen die Schweigezeit ein. Alle Gespräche verstummten. Minuten später trat Ottokar, in seiner Eigenschaft als Schulkapitän, ans Schwarze Brett, läutete mit der Kuhglocke und sagte das Programm für den Nachmittag an. Für alle: Abbau der Tribüne und Sportplatzpflege unter Leitung von Dampfwalze. Auch verlorene, beziehungsweise gefundene Gegenstände zählte er auf und fragte, wer etwas darüber wisse. Anschließend läutete der Rex. Die Mahlzeit war beendet. Wie auf einen Startschuß setzte das Gerede wieder ein, unterstrichen von Stuhlrücken. "Wie viele Eier hast du verdrückt?" wollte der kleine Herbert von Ottokar wissen, weil der zur Zeit den Eierrekord hielt. "lch glaub sechs", antwortete der Schulkapitän und fügte, als der Miniritter ein
enttäuschtes Gesicht zog, noch hinzu: "Ich muß jetzt zum Arzt. Da kann ich nicht mit vollem Wanst antanzen." Auf dem Weg über die kleine Treppe zu seinem Zimmer im Nordflügel trat Mücke in die Telefonzelle. Andi und Klaus stellten sich davor, um Mithörer abzuwimmeln. Schalldicht war der Kasten nämlich nicht, und was sie vorhatten, sollte eine Überraschung werden. Kaum drin, kam Mücke wieder heraus. "Der ist nicht da, der Unzuverläßling!" schimpfte er. "Vielleicht ist er zu ihr rausgefahren?" vermutete Klaus. "Und ruft uns an, wenn er sie gefragt hat, spann Andi den Gedanken weiter. In diesem Augenblick läutete das Telefon. Mücke flitzte hinein, nahm den Hörer ans Ohr und ließ ihn enttäuscht sinken. "Beatrix!" "Stephan!" brüllte Klaus um die Ecke in den Südflügel. Er hatte ihn gerade vorbeigehen sehen. "Du wirst aus Rosenfels verlangt. Ich glaub, die Horn ist es." "Gehen wir", sagte Andi. "Das dauert jetzt." Kamen sie mit ihrer eigenen Überraschung nicht weiter, sollten sie doch eine andere erleben. Nach Sportplatzpflege und Arbeitsstunde gongte der kleine Egon zum Abendessen. Heißhungrig stürzten sich die Ritter auf die Dampfnudeln mit Vanillesoße. Hier stand der Rekord bei zwanzig Stück. Während der Essenszeit verdrückt, wohlbemerkt, nicht über den ganzen Tag verteilt. "Ende!" japste Pummel nach der zwölften. Sein Freund Eugen legte nach zehn die Gabel weg. Ihn schmerzte der Fuß, den er sich beim 1500-mLauf verknackst hatte. Ottokar versagte völlig. Er schaffte gar nur drei. "Nanu, liegt dir der Arzt im Magen?« wunderte sich Eugen. Der Schulkapitän schüttelte den Kopf. "Alles in Ordnung. Er hat zwar erst gemeint, daß mir irgendwas aufs Herz drückt. Aber das waren nur die sechs Eier in Senfsoße. Und die fünf Kartoffeln." Dampfwalze warf die Serviette bei der neunten. Bein bei der siebten. Strehlau, Hans-Jürgen, Werner, Walter, Fritz, Emil und der vorsichtige Dieter brachten es nur auf sechs. " Ich weiß nicht, sagte Mücke nach der vierten zu Andi, der gerade an Nummer fünf kaute. Irgendwas liegt in der Luft. Der Siegesstreß ist es nicht, eher ein Appetitzügler. " Weitere Kommentare zu den schwachen Leistungen unterband der Rex mit dem silbernen Glöckchen. Stumm vor sich hin stierend mampften die Ritter weiter. Ansagen des Schulkapitäns gab es abends nur, wenn eine Änderung im Unterrichtsplan für den nächsten Morgen bekanntzugeben war, oder ein wichtiges, die Gemeinschaft betreffendes Ereignis eine sofortige Schulversammlung erforderlich machte. Letzteres stand zu erwarten, wenn Ottokar, wie jetzt, ohne Notizzettel zum Schwarzen Brett ging. Obwohl sie sich nicht durch Worte verständigen konnten, reckten die Ritter gespannt die Hälse. Was war geschehen? Ottokar läutete mit der Kuhglocke. Doch statt des erwarteten Satzes "Gleich nach Tisch ist Schulversammlung im Wohnzimmer!" sagte er: "Ich habe euch etwas mitzuteilen. In eigener Sache. Ich habe euch belogen!" Sofort stoppten sämtliche Kaubewegungen. Das war ungeheuerlich. Das konnten die Ritter nicht stumm verkraften. Raunen wurde laut im Saal, es klang gequält, als sei auf Schreckenstein eine Welt zusammengebrochen. Ausgerechnet der Schulkapitän sollte die oberste Ritterregel gebrochen haben, die da lautet:
Ich will auf Schreckenstein allzeit fair und ehrlich sein Ausgerechnet Ottokar, der gerade dabei war, eine andere Ritterregel zu erfüllen, indem er öffentlich für seine Tat einstand, denn er fuhr fort: Ja, ich habe euch getäuscht. Ich weiß selbst nicht, wie es dazu kam. Drum hab ich's auch nicht gleich gesagt. Ich mußte mir erst selber klarwerden über mein Verhalten. Ich habe bei der Staffel Herzstechen gespürt - das stimmt -, aber nicht so, daß ich nicht die zwanzig Meter hätte weiterlaufen können, um den Sieg für uns zu retten. Doch ich hatte plötzlich keine Lust mehr, der ganze Kampf kam mir so sinnlos vor, so dumm. Immer diese Gegnerschaft zu den Neustädter Schulen, immer diese Auflage, wieder und wieder gewinnen zu müssen. Wozu denn? Damit sie uns weiterhin beneiden, weiterhin unsere Gegner bleiben, die uns nicht verstehen und abfällig über uns reden? Ich fand das plötzlich so idiotisch, daß meine Beine zu laufen aufgehört haben. Ich hab's gar nicht gleich gemerkt. " "Der Streß!" brummte Klaus. Es klang entdeckerfreudig. An Schweigezeit war nach dieser Eröffnung nicht mehr zu denken.
"Wenn du keinen Sinn im Wettkampf siehst, ist das deine Sache!" rief Eugen, die Hand auf dem verknacksten Fußgelenk. "Aber nicht, wenn du andere mit reinziehst, die sich einsetzen bis zum Umfallen." "Bravo!" brüllte Dampfwalze. Einige klatschten. Jetzt haben wir zwei Lager!" flüsterte Mücke. "Auch das noch!" Ottokar schluckte, vom Beifall sichtlich betroffen. "Ich sag ja, ich hab's selber nicht gleich gemerkt, mir die Folgen nicht bewußtgemacht!" fuhr er fort. Jetzt denke ich genau wie du. Aber passiert ist passiert. Und weil ich Schreckenstein um den Sieg gebracht habe, lege ich hiermit mein Amt als Schulkapitän nieder." Nun schlugen die Wogen hoch. Diejenigen, die Ottokars Verhalten verurteilten, fanden, das sei noch das wenigste, was er tun könne, die andern, denen seine Überlegungen einleuchteten, ohne daß sie die Art und Weise seines Handelns guthießen, drängten, das Thema zu Ende zu diskutieren, und zwar hier, sofort, damit keine Kluft entstehe. »Ottokar hat den Sieg eigenmächtig verschenkt", stellte sein Freund Stephan fest. "Aber das ist nicht allein seine Schuld. Es lag in der Luft. Wir haben dreimal hintereinander gewonnen, da ist die Zeit reif, den ganzen Siegesstreß mal neu zu überdenken. Immer gewinnen - da geb ich Ottokar recht - bringt außer dem Spaß nur üble Nachrede.'« "Die Dummen schimpfen immer auf die Klügeren!" tönte Dampfwalze. "Du mußt es Ja wissen!" schoß Mücke, gleichsam lässig aus der Hüfte und hatte viele Lacher auf seiner Seite. Obwohl mit dem Herzen im anderen Lager, setzte sich Rennradgefährte Andi für Dampfwalze ein, indem er das Thema abbog. "Es ist was dran: Wir haben uns selber verrückt gemacht vor lauter Training. Wir konnten ja schon gar nicht mehr lachen. Es hat auch nicht so geklappt wie sonst. Aber was jetzt? Sagen wir den nächsten Wettkampf ab, heißt's, wir kneifen. Trainieren wir weniger und verlieren wieder, heißt's: die sind auch nicht mehr, was sie mal waren!" "Ja und?" warf Stephan ein. "Hauptsache, wir bleiben, wie wir sind." Laute Stimmen machten deutlich, daß sich die Kluft vertiefte. Still und sehr nachdenklich saß der Rex auf seinem Platz am Mitteltisch. Auch die Lehrer am Lehrertisch verfolgten die Spaltung mit besorgten Mienen. "Moment!" unterbrach Ottokar. "Stimmen wir ab. Wer soll neuer Schulkapitän werden?" Da kletterte Mücke auf seinen Stuhl. Nie immer in solchen Fällen gibt's Pro und Contra. Das ist normal. Nur darf dadurch keine Kluft entstehen. Wir haben eine neue Situation. Daran ist nichts mehr zu ändern. Es lag in der Luft. Nicht immerzu Schreckenstein-Siege . . . " "Aber auch keine Niederlagen durch Eigentor!" widersprach Eugen und erntete Beifall. Mücke blieb unbeeindruckt. "Anders hätte keiner gemerkt, worum es geht. Sport muß wieder Spiel werden und darf nicht in gesundheitsschädigenden Ehrgeiz ausarten. An diese manchen vielleicht* unbequeme Tatsache wurde Ottokar durch Herzstiche erinnert." „Quatsch mit Soße!" rief Dampfwalze dazwischen. Ottokar hat die oberste Ritterregel verletzt. Er hat sich, statt für die Gemeinschaft zu kämpfen, für persönliche Schlappheit entschieden und damit Schreckenstein verraten. " "Ich geh ja!" rief der Beschuldigte in den Tumult, den diese Anschuldigung auslöste. "Ich will das Amt übergeben. Also einigt euch! Wer soll Schulkapitän werden?" "Dampfwalze!" brüllte Eugen, wie aus der Pistole gefeuert. "Dampfwalze!" brüllten Pummel und die vier Minis hinterher. Ihre schnelle Reaktion wirkte ansteckend. Bis die Gründlichen, die erst überlegen wollten, sich entscheiden konnten, waren sie überstimmt. "Ihr habt gewählt", sagte Ottokar mit steinerner Miene. "Dampfwalze ist neuer Schulkapitän." Die Entscheidung wurde nach Ritterart durch Schweigen gewürdigt. Kein Murren oder Raunen der Überstimmten war zu hören. Erst als der alte Schulkapitän dem neuen die Hand reichte, kam Beifall auf. Während Ottokar an seinen Platz zurückkehrte, begab sich Dampfwalze mit gewichtigen Schritten zum Schwarzen Brett. Er läutete mit der Kuhglocke und verkündete in amtlicher Eigenschaft: "Die Diskussion ist beendet. " Darauf begab er sich gewichtig zum Rex. Auch der drückte ihm die Hand. Vor allem die Minis klatschten Beifall, und in kleinen Gruppen, die neue Lage besprechend, verließen die Ritter den Eßsaal. Ottokar blieb auf seinem Platz sitzen und wartete ab. Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter. Stephan stand hinter ihm. "War richtig so", sagte er. "Du hattest keine andere Wahl." Gefaßt sahen sie den Rittern und Lehrern nach. Der Rex nickte herüber, zustimmend und zuversichtlich, als wolle er sagen: Wird schon wieder werden!
Da slalomte Andi gegen den Strom von der Tür zurück. "Schönen Gruß von Dampfwalze. In einer Viertelstunde ist Ritterrat in der Folterkammer. Du sollst auch mitkommen, Ottokar." Der abgewählte Schulkapitän schüttelte den Kopf. "Klar kommen wir", antwortete Stephan für beide. In einem Punkt herrschte bei den Rittern Eintracht: die Diskussion im Eßsaal war spannender gewesen als der ganze Wettkampf. Ansonsten aber gingen die Ansichten um so weiter auseinander, je mehr die Sache beredet wurde, und sie wurde reichlich be-, ja zerredet an diesem Abend. Überall in den Zimmern, in Fensternischen der Korridore saßen und standen Ritter mit roten Ohren, in das offenbar unerschöpfliche Thema vertieft. "jetzt möchte ich Maus sein!" sagte Mücke auf dem Weg zur Folterkammer, "und einen Lauschangriff durch die Burg starten!" "Mücke-Maus!" alberte Klaus. Das Maus-Dasein beziehungsweise -Dabeisein wäre für den Chefredakteur sehr aufschlußreich gewesen. »Ottokar muß auch aus der Mannschaft raus!" befand der kleine Eberhard im Zimmer der Minis im Westflügel. "Er ist jetzt ein Sicherheitsrisiko. " "Wir sollten Ottokar in Ruhe lassen", meinte Werner nebenan. Schließlich war er ehrlich. Nur mit Zeitzünder!" "Es ist nicht mehr wie früher!" klagte Seltenfröhlich Fritz, Ottokars Zimmerkamerad im Südflügel. "Dampfwalze hat die Chance verdient. Seine Argumente waren gut", meinte Strehlau im Nordflügel. "Aber ich glaube, er wird sich wundern." "Der Wechsel lag in der Luft!" befand Armin zwei Türen weiter. "Obwohl, eigentlich haben beide recht." Für Oskar stand fest: "Ottokar muß Dampfwalze zu einem Boxkampf fordern - so wie der ihn beleidigt hat!" Ralph sah das völlig anders. "Bei Ottokar liegt Übertreibung nach der einen Seite in der Luft, bei Dampfwalze nach der andern. Wir hätten Stephan wählen sollen. Oder Mücke. . . " Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Ritterrat bereits in der Folterkammer versammelt. Dampfwalze lag nicht, wie gewohnt, auf der Streckbank, sondern thronte auf dem kniehohen Sockel im mittleren der drei Richtersessel hinter dem steinernen Tisch. Neben ihm Klaus und Andi. Mücke und Hans-Jürgen saßen auf der Tischplatte, Dieter lehnte an der Eisernen Jungfrau, Stephan an dem Bock mit den Daumenschrauben. Auf der Streckbank lagerte Ottokar. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, den Blick auf den schwarzen Kasten an der Wand gerichtet, gab er sich wie einer, der nur zufällig im gleichen Raum anwesend ist, zu den andern aber nicht gehört. Nach der gnädigen Einladung ahnte er wohl, was Dampfwalze vorhatte. Es lag in der Luft. Das spürten alle. Niemand sprach, niemand lachte. Der Muskelprotz räusperte sich, sog endlos Luft in seine riesigen Lungen, als wolle er tauchen und so bald nicht wieder an die Oberfläche kommen. ,Wir müssen etwas besprechen", begann er schließlich. "Wie geht das jetzt im Ritterrat weiter, nachdem Ottokar als Schulkapitän zurückgetreten ist? Muß er auch hier seinen Rücktritt erklären, oder ist er automatisch draußen?" "Weder - noch", erklärte Hans-Jürgen prompt. Wie immer schrieb er das Sitzungsprotokoll. Schulkapitän ist ein Amt in der Gemeinschaft, unser Ritterrat ein freiwilliger Zusammenschluß." "Mit ziemlich Einfluß!" bekräftigte Andi. "Genau!" Dampfwalze sog wieder eine große Portion Sauerstoff aus dem Raum. "Damit wir uns einig sind -, das geht nicht gegen Ottokar. Ich finde nur, wenn er den einen Einfluß aufgibt, den andern aber behält, was sagt da die Ritterschaft?" , Müssen wir die fragen?" wunderte sich Klaus. "Sollen sie abstimmen", schlug der vorsichtige Dieter vor. "Mann!" Mücke tippte sich an die Schläfe. "Du kannst doch nicht in einem Land wählen, dessen Staatsangehörigkeit du nicht hast!" "Dann stimmen eben wir ab", sagte Dampfwalze. Gelangweilt sah Hans-Jürgen ihn an. "Wenn du unbedingt ein Problem erfinden willst, bitte. " "Wir können ja abstimmen, ob wir abstimmen", meinte Klaus todernst. "Moment!" unterbrach da Stephan. jm Ritterrat sind alle gleichberechtigt. Auch Ottokar. Hören wir uns an, was er dazu meint." "Macht, was ihr wollt!" tönte es von der Streckbank herüber. "Gut." Dampfwalze erhob sich und schaute in die Runde. "Dann frage ich euch jetzt im Interesse der Gemeinschaft: Wer ist dafür, daß Ottokar aus dem Ritterrat ausscheidet?" Niemand atmete mehr, jeder sah von einem zum andern, keiner hob die Hand. Sekundenlang stand Dampfwalzes Mund offen, doch heraus kam nichts.
Bis Mücke ihn fragte: "Was ist mit dir? Bist du dafür?" Mit einem Ruck wandte sich der Muskelprotz ihm zu. "liii ... nein. . . " Hans-Jürgen grinste. "Sonst hättest du nämlich die Hand heben müssen. Wie beim Kugelstoßen. Ich stelle also fest: Bei uns bleibt alles beim alten. Erledigt und vergessen. "Erledigt und vergessen!" wiederholten die Ritter. Ottokar beteiligte sich nicht. Doch er starrte auch nicht mehr auf den schwarzen Kasten, der sich in diesem Augenblick quietschend öffnete. Paule, der Knochenmann, neigte sich mit erhobener Sense heraus. Mücke hatte nicht widerstehen können, auf die Leiste im Boden zu treten und den Mechanismus auszulösen, mit dem ehedem die Gefangenen erschreckt und geständig gemacht worden waren. "Paule ist dafür!" rief Mücke, trat hinzu, um das staubige Skelett wieder in den Kasten zu schieben. "Du kommst zu spät, Paule! Außerdem wärst du überstimmt!" Alle lachten erleichtert. Auch Dampfwalze und Ottokar. Witzbold Klaus drohte Paule mit dem Finger. "Ich hab doch die ganze Zeit gespürt, daß was in der Luft fiegt."
Nacht der Blitze Nach außen entsprachen die Schreckensteiner ihrem Ruf. Sie waren eine Gemeinschaft, die sich selbst verwaltet, nach selbstgewählten, manchmal ungewöhnlich streng erscheinenden Regeln, an die sie sich eisern hielten. Der Zwischenfall beim Sportfest war durch die Neuwahl des Schulkapitäns erledigt und vergessen. Dampfwalze besorgte die Ansagen, als habe er das schon immer gemacht, Ottokar nahm weiterhin am Training der Leichtathletikmannschaft teil, und niemand machte sich darüber lustig. Trotzdem hatte Fritz recht: Es war nicht mehr wie früher. Wer die Verhältnisse auf der Burg genauer kannte, dem mußte der Riß auffallen, der durch die Ritterschaft ging. Zwar wurden Dampfwalze und Ottokar von niemandem geschnitten, doch zeigten viele, dem einen oder dem andern gegenüber, je nach Ansicht, deutliche Zurückhaltung. Ritter gingen weg, wenn der andere sich zu einer Gruppe gesellte, oder hatten es plötzlich eilig, falls er ein Gespräch mit ihnen anfangen wollte. Trotz je einer Schar von Getreuen, sahen sich die beiden zunehmend isoliert. Und noch etwas kam dazu. Ottokars Geständnis, der Einsatz für Schreckenstein sei ihm plötzlich idiotisch vorgekommen, rüttelte, bei aller Einsicht, daß der Sport zunehmend übertrieben worden war, an den Ritterregeln. Nicht nur das. Er regte - was schlimmer war - zur Nachahmung an. Ohne bestimmte Absicht, mehr spielerisch, um auch mal zu sehen, wie das ist, wenn man sich querlegt. Immerhin gehört ja Schneid dazu. Den ersten Versuchsballon in dieses Neuland startete, nach dem Motto - Was die Großen können, kann ich auch!, der kleine Kuno. Mitten im Lateinunterricht bei Doktor Schüler stand er auf und erklärte, diese tote Sprache weiter zu lernen, komme ihm idiotisch vor, da werde er sich lieber im Burghof in die Sonne setzen. "Wenn du meinst - bitte. " Doktor Schüler wußte, woher der Wind wehte, und da die Schreckensteiner Lehrer sich nicht in Angelegenheiten der Gemeinschaft mischen, ließ er ihn gehen. Beni hatte sich in Wampoldsreute eine Zigarre gekauft und zündete sie während der Teepause im Eßsaal an. "Ich muß mal feststellen, ob unsere Nichtraucherei nicht idiotisch ist, wenn wir's mit dem Sport jetzt nicht mehr so ernstnehmen." Keiner sagte etwas. Die Rauchprobe scheiterte auch so. Während der Arbeitsstunde wurde es Beni so schlecht, daß er beim Abendessen fehlte. Und noch ein Stuhl blieb leer. Gegen Ende der Mahlzeit nutzte Armin die Gelegenheit, einmal richtig aufzufallen. Mit einer Flasche in der Hand torkelte er in den Eßsaal und mußte sich, gespielt oder echt, am Lehrertisch festhalten. Kunsterzieher Gießkanne nahm ihm mit dem Ausruf "Das ist ja meine!" die Flasche aus der Hand. Darauf hielt ihn Armin am Ohr fest und lallte: "Frag mich nicht, ich lüge nämlich auch. Wahrheit finde ich idiotisch. " Gießkanne ging nicht darauf ein. Er löste die Hand von seinem Ohr und wandte sich ab. Der Rex schaute gar nicht hin. Wer platzte, war Schulkapitän Dampfwalze. Sofort nach dem Läuten mit dem silbernen Glöckchen trommelte er den Ritterrat zusammen. Mücke, der zusammen mit Andi, Hans-Jürgen und Strehlau eine Redaktionskonferenz für die nächste Schulzeitung abhalten wollte, mußte dem Musterschüler absagen. Die beiden andern gehörten ja zum Ritterrat, und der ging jetzt vor. "Klarer Fall", meinte Strehlau. "Wir brauchen Taten, keine Buchstaben. Geh ich eben Klavier üben."
In der Folterkammer war der Riß durch die Gemeinschaft am deutlichsten zu spüren. Scharf griff der neue Schulkapitän seinen Vorgänger an. "Alles allein deine Schuld! Deine idiotischen Ansichten. Laß dir was einfallen, damit Schreckenstein wieder in Ordnung kommt. Sonst mußt du gehen. Dafür werd ich sorgen. Für Zersetzer ist hier kein Platz." "Locker, Sportsfreund!" spottete Stephan. "Das sind doch alberne Mutproben." "Die machen sich einen Sport draus!" pflichtete ihm Dieter bei. "Zwergenaufstand!" meinte auch Klaus. "Eine Gegenaktion, bei der sie reinfallen, und der Quatsch hört auf." "Dann laß dir eine einfallen!" herrschte der Muskelprotz Ottokar an. "Und zwar schnellstens." "Du solltest dir auch schnellstens was einfallen lassen!" ging Hans-Jürgen auf Dampfwalze los. "Und zwar einen anderen Ton. Hier werden keine Feindschaften ausgetragen. Die alte Sache ist erledigt und vergessen. Verstanden?" Dampfwalze glotzte wie ein Karpfen in die Runde. Der Rat schwieg einstimmig. "Gehen wir", sagte Mücke endlich, zog an der eisenbeschlagenen Tür und stieg die stelle Treppe zum Kreuzgewölbe hinauf. Fünf Ratsritter folgten. Ottokar blieb auf der Streckbank sitzen und boxte sich gegen die Stirn. "Ich Idiot!'« "Komm jetzt!" sagte Stephan, schon auf der Treppe. Wenn nicht gerade ein Vortrag stattfand, eine Schulversammlung oder ein Fußballspiel übertragen wurde, hielt sich nach dem Abendessen selten jemand im Wohnzimmer auf. Hier würden Stephan und Ottokar ungestört miteinander reden können, auch wenn klassische Musik im Crescendo ankündigte, daß Strehlau auf dem Flügel übte. ,Was? Schon fertig?" Der Musterschüler unterbrach sein Spiel, als sie eintraten. "Dann muß ich zur Redaktionskonferenz! " Feierlich schloß er den Deckel, grinste aber dabei. "Ich hab da durch Zufall was läuten hören: die Minis machen heut nacht einen Streich gegen Rosenfels." "Wird auch Zeit, daß wieder mal was Lustiges passiert!" meinte Stephan lässig. Strehlau verstand ihn, er nickte und verschwand. Die beiden Freunde lasen einander von den Augen ab, was sie dachten, und merkten, daß es das gleiche sein mußte, als sie beide auf ihre Uhren schauten. "Geht noch", sagte Ottokar. Sie stiegen die kleine Treppe hinunter, quetschten sich in die Telefonzelle und wählten eine Nummer. Internatsschule Rosenfels", meldete sich eine scheppernde Stimme. "Die Horn?" fragte Stephan, der mithörte. Ottokar senkte die Augendeckel und meldete sich mit vollem Namen. Säuselnd bat er um Entschuldigung, falls er gestört haben sollte - solche Floskeln liebte sie -, zu spät sei es wohl noch nicht, betonte er und fragte, ob er ausnahmsweise Beatrix oder Sophie sprechen dürfe. Wegen eines Fotowettbewerbs, fügte er hinzu. Ihrer Neugier zuliebe. "Das ist mal eine gute Idee!" lobte die Leiterin durch die Leitung. "Warte, ich ruf sie dir!" Und sie hörten am Hall, wie sie durch den Korridor jodelte. "Sei vorsichtig, die bleibt daneben stehen!'« warnte Stephan. So geschah es. Beatrix, die sich meldete, sprach völlig unnatürlich. Ottokar begann unverfänglich, damit sie laut antworten konnte, ohne Verdacht zu erwecken. Sie schien ihn sofort zu verstehen. Es lag wohl in der Luft. "Ein Fotowettbewerb, o fein! Da machen wir gern mit. Ingrid, Bettina, Sabine haben sehr gute Apparate und können damit umgehen." "Ihr habt doch auch Sofortbildkameras?" erkundigte sich Ottokar. Ja. Ich und Sophie. Und Esther'~, antwortete sie. "Wir haben tolle Bilder vom Sportfest." "Die brauchen wir", sagte Ottokar zweideutig und verlor sich in fototechnische Einzelheiten, die Beatrix staunend wiederholte, um das Interesse der Leiterin abzulenken. Zwischendurch sagte er den entscheidenden Satz. Beatrix antwortete in Unverfängliches verpackt: "Das geht in Ordnung. Wir haben genug Blitze. Wir nehmen Blitzlicht gern bei Architekturaufnahmen, damit auch kleine Konturen gut herauskommen. Es gibt sogar einige Handlampen bei uns, und Martina hat noch die Filmkamera von Jerry. " Um die Täuschung vollkommen zu machen, fügte sie hinzu. "Also gut, am Sonntag fangen wir an. Wir freuen uns. Bis dann!" "Gute Nacht, Beatrix. Und schlaf recht gut'«, schloß Ottokar. Stephan klopfte ihm auf die Schulter. "Der Fotowettbewerb ist nicht mal geschwindelt. Wir sehen ihn nur anders. " Die beiden Freunde hatten die Telefonzelle gerade verlassen und befanden sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer, da kam Mücke aus der Redaktion, drehte sich zu Andi um, der an der Tür stand, und sagte-. "Ich rufe Florian an. Wir müssen endlich Bescheid wissen." "Liegt ja einiges in der Luft, meinte Ottokar und konnte endlich wieder lachen.
Vor ihren Schränken im Korridor stehend, legten sie sich die Streichkleidung zurecht: Trainingsanzug, Sprungseil, Taschenlampe, Dietriche, Wollmütze, falls es galt, das Gesicht zu verbergen, und die leisesten aller Schuhe. Wie alle andern putzten sie sich vor dem Schlafengehen im Duschraum die Zähne; Strehlau wünschte eine angenehme Ruhe. Im Zimmer klappten sie ihre Betten herunter. Walter und Fritz lagen schon unter der Decke und lasen mit aufgestützten Köpfen in dicken Büchern. Auf den letzten Schlag der Uhr verlöschten in der Burg die Lichter, verstummten die Radios, und niemand fand es idiotisch. Mit Fachkenntnis und Kleintellen aus dem Elektrogeschäft seiner Eltern hatte sich Ottokar einen Spezialwecker gebastelt. Flach wie eine Armbanduhr, auch nicht größer. Unter das Kopfkissen gelegt und über eine Schaltuhr mit dem Stromkreis verbunden, fing er zur eingestellten Zeit heftig, aber geräuschlos zu vibrieren an. Nach Mitternacht rüttelte der Gehirnerschütterungswecker seinen Erfinder wach. Der weckte Stephan, und unter den gleichmäßigen Atemzügen von Walter und Fritz verließen sie das Zimmer, vor ihren Schränken zogen sie sich um. Vorbei am Zimmer der Minis im West-, um die Ecke durch den Nordflügel, eilten sie die Freitreppe in den Burghof hinunter. Da sie nicht wußten, was Klein Eberhard, Klein Kuno, Klein Herbert und Klein Egon vorhatten, gründete ihr Plan auf Mutmaßungen. Wahrscheinlich würden die vier drüben etwas oder jemand entführen wollen. Das bedeutete: sie würden rudern. Also nahmen Ottokar und Stephan, um sie drüben in Ruhe empfangen und beobachten zu können, die Räder. Damit waren sie schneller und beweglicher. Den Weg kannten sie im wahrsten Sinn des Wortes im Schlaf. Wie oft hatten sie ihn schon zurückgelegt und vor allem nachts! Ohne Licht fuhren sie über die Zugbrücke hinaus, zu Drei Tannen hinauf, mit voller Beleuchtung hinunter nach Wampoldsreute, die Steigung durch den Wald zum Hochufer hinauf und bogen, als die Straße wieder eben wurde, zum Schloß ab. Die Nacht war sternenklar, aber kühl. Doch die lange Steigung hatte ihnen eingeheizt. Um ganz sicher zu gehen, versteckten sie die Räder im Holzschuppen neben dem alten Wirtschaftsgebäude. Aufrecht gingen sie zum Haupteingang auf der vom See abgewandten Seite des Schlosses. "Halli!" flüsterte eine Stimme. Beatrix und Sophie traten aus dem Mauerschatten. "Hallo, Fotofreunde!" antwortete Stephan. "Du hast mich also verstanden." Beatrix lachte. "Ein irres Telefonat." Die Tatsache, daß die Mädchen sie empfingen, besagte, daß sie die ersten waren. Sie gingen ins Schloß und stiegen im Schein einer abgeblendeten Taschenlampe die breite Treppe hinauf, ohne Slalom um besonders knarrende Stellen. Fundamental, bei euch mal nicht leise sein zu müssen!" freute sich Ottokar, wieder ganz der alte. Am Glasverschluß zum mittleren Korridor erwartete sie Esther. Je schöner der Abend, desto später die Gäste! Kommt in mein Zimmer. Ich mach uns erst mal heiße Bouillon. " "Und wenn sie kommen?" fragte Stephan. "Martina und Ingrid sind drunten am Hafen. Constanze und Fides beobachten aus dem Wirtschaftsgebäude die Straße", beruhigte ihn Sophie. An Streicherfahrung standen die großen Mädchen den Rittern kaum nach. Im Zimmer hatte Bettina schon den Tisch gedeckt. Gemütlich, mit Salzstangen, bei gedämpftem Licht, saßen sie zusammen, knabberten, schlürften Bouillon, auch nicht gerade leise, erzählten von den Begebenheiten auf der Burg und den idiotischen Folgen. Über das Staunen der Mädchen konnten sich die Ritter nur wundern. Demnach hatte sich Dampfwalze bei Ingrid noch nicht mit seinem neuen Amt gebrüstet. Das sprach für ihn. Jetzt aber zu unserem Fotowettbewerb!" sagte Ottokar nach der dritten Tasse. Die beiden Ritter begutachteten die Kameras und erläuterten dabei ihr Vorhaben. "Ist ja Styropor!" alberte Wuschelkopf Beatrix und konnte kaum noch stillsitzen. "Das gibt Pluspunkte für dich!" meinte die besonnene Sophie und griff Ottokar ins Haar. Kratzbürste Esther feixte. "Mit Rittern gegen Ritter- mal ganz was Neues!" Gemeinsam mit den Mädchen entwickelten und verwarfen sie Ideen, wie am besten vorzugehen sei, ohne auf eine vierte und fünfte Tasse zu verzichten. Als Bettina Wasser für weitere Stärkungen holen wollte, kam Ingrid atemlos herein. "Das Kleingemüse ist im Anmarsch!" Die Bouillonrunde stob auseinander, jeder auf seinen Platz. "Laßt euch Zeit!" keuchte Ingrid. "Der Weg vom Hafen rauf ist steil, und die müssen schleichen." Bettina mit dem leeren Wasserkessel in der Hand, weihte sie ein. Ingrid riß die Augen auf. "Potz Horn und Rosenfels!" Wenn sie lachte, sah sie ihrem Bruder Mücke täuschend ähnlich. "Da kann ich endlich verwirklichen, was ich schon lange mal möchte!" Ohne Eile schob sie ein Bündel Salzstangen zwischen ihre Zerkleinerer und verließ den Raum. "Die gehen wie auf Spiegeleiern!" flüsterte Ottokar an einem Fenster Sophie ins Ohr, als die Minis unten durch die klare Nacht zum Haupteingang schlichen. Eine seltene Perspektive. Stephan und
Beatrix konnten diesen Anblick nicht genießen. Sie warteten im Erdgeschoß unter der Treppe auf das Geräusch des Dietrichs im Türschloß. Geschickt stellten sich die vier an. Ein paar Bewegungen, schon ächzten leise die Scharniere und dann noch einmal. Es war ja stockfinster. Vorsicht! Alle hinter mir gehen!" flüsterte eine Stimme. Der Treppenslalom um die schlimmsten Knarzstellen war auf der Burg bekannt. Die Lauernden verließen ihr Versteck. Stephan schlich sich ans Ende des Gänsemarschs und stapfte einfach mit. Beatrix stellte sich auf die erste Stufe, wie abgemacht. Absichtlich löste Stephan ein lautes Knarzen aus. "Idiot! " flüsterte der Mini vor ihm. Da packte Stephan zu und ließ sich mit seiner Beute die Stufen hinunterkugeln, Beatrix blitzte mit ihrer Sofortbildkamera. Das Geräusch des Bildauswerfers ging im Gepolter unter, dann herrschte Grabesstille. Die Minis auf der Treppe fürchteten, in eine Falle geraten zu sein. Starr vor Schreck blieben sie stehen, wo sie waren, und wagten kaum zu atmen. Stephans Gefangener hatte überhaupt Schwierigkeiten mit der Luftzufuhr. Wortwörtlich mundtot steckte er im eisernen Schwitzkasten, unfähig zu Widerstand. Sein Orientierungssinn hatte Nachholbedarf. Den drei Minis auf der Treppe mußte die Stille wie eine Ewigkeit vorkommen. "Ssst!" machte Stephan auf sich aufmerksam, und weil Flüsterstimmen kaum zu unterscheiden sind, flüsterte er dreist als Mini. "Das war'n Kurzschluß! Ich bin gegen einen Schaltkasten gebrummt. Alles okay. Komm gleich nach, muß nur erst meinen Schuh suchen." "Flasche!" flüsterte ein Mini von oben. Gleich darauf verriet leises Knarzen, daß die Täuschung gelungen war. Übrigens gerade rechtzeitig. Der Kleine im Schwitzkasten erholte sich von seinem Schreck, wie zunehmender Widerstand bewies. Mit einem Schal, stramm über dem Mund verknotet, sorgte Stephan für Ruhe und mit dem Sprungseil um Hand- und Fußgelenke für Ordnung. Ein Eisenring an der Mauer verhinderte unerwünschte Platzwechsel. Beatrix half geschickt, trotz völliger Dunkelheit, sprach jedoch, wie abgemacht, kein Wort. An den Schultern steuerte Stephan sie zur Treppe. Sie eilten hinauf und ließen die Stufen ordentlich knarzen. "Spinnst du?" empfing sie ein Flüstern am Glasverschluß. Ist ja Styropor! hätte Stephan am liebsten ausgerufen, nicht nur, weil ihm der Ausdruck von Beatrix gefiel. Das ließ sich ja fabelhaft an! "Was ist denn?" fragte er im Flüsterton. "Wir müssen außen rum! Links stehen irgendwelche Möbel im Weg. Kuno wär fast reingerumpelt", kam die Antwort. Außen rum bedeutete, durch den Ost-, Nord- und Westkorridor um den Innenhof herum. Den direkten Weg zur nächsten Treppe hatte Ottokar verrammelt, um gleich Bescheid zu wissen, wohin das Unternehmen zielte. "Geh vor!" flüsterte Stephan und tastete mit der Hand hinter sich nach Beatrix. Sie folgten dem Mini. Nach ein paar Schritten drückte Stephan ihren Arm und blieb stehen. Im Lichtblitz der Kamera nahm er seine zweite Beute wahr und stürzte sich auf sie. "Spinnst du? Das bin doch. . ." konnte der Mini noch flüstern, dann war Beatrix mit dem nächsten Schal zur Stelle. Auch hier gelang die Überwältigung wortlos und in völliger Dunkelheit. Stephan hatte vorher sämtliche Sparbirnen abgeschaltet. Die Minis sollten zunächst nicht erfahren, wer dahintersteckte. Später konnte man's ihnen, falls nötig, ja sagen. Wie einen großen Hund nahm er den Gefesselten unter den Arm, trug ihn zur Treppe zurück, wo er ihn an einem der eichenen Baluster des Geländers festband. Beatrix war weitergegangen, um nachzuschauen, ob Ottokar und Sophie die restlichen beiden Minis auch schon versorgt hatten. Sie sollten nach demselben Rezept verfahren: mitlaufen, mitflüstern, dann Blitz und Schwitzkasten. Ottokars erstes Opfer stöhnte bei seinem Zugriff. Darauf floh der Gefährte in ein Lehrerbad, wo er von Sophie, Bettina und Kratzbürste Esther überwältigt wurde. ,Nenn wir sie haben, trinken wir erst mal Bouillon und sehen uns die Bilder an." So waren Stephan und Ottokar mit den Mädchen verblieben. Der Streich sollte die Fotodokumentation eines Streichs werden. Als die Ritter auf der Burg am nächsten Morgen in den Eßsaal kamen, hingen die Bilder, mit erläuternden Unterschriften versehen, am Schwarzen Brett. Schon beim Dauerlauf, vor allem aber durch das Ausbleiben des Gongs zum Frühstück, war aufgefallen, daß die Minis fehlten. "Streich mit Bild! Das hatten wir noch nicht", meinte Walter. Mit vornedran in der Traube um das Schauobjekt stand auch Stephan und lachte laut. "Ist ja Styropor! Ob das die Mädchen allein gemacht haben?" Die Betonung des Zweifels sollte ablenkend und anregend wirken. Die Fotos waren sehr komisch. Ebenso die Unterschriften.
Vier freche Miniritter machen einen Streich, da blitzt es, und der vierte fehlt, doch merken sie's nicht gleich. Drei freche Minis meinen, er sei noch dabei, ein Blitz im Dunkeln und ein Schreck da sind es nur noch zwei. Zwei Minis schleichen an die Speisekammer ran, ein Blitz -, da merkt's der letzte endlich: Jetzt bin ich wohl dran! "Beneidenswert saubere Reportage!" lobte Chefredakteur Mücke. "Die müssen sich oberdämlich angestellt haben!" raunzte Pummel. Nenn da nicht andere dahinterstecken!" gab Eugen zu bedenken, und Stephan nickte. Ottokar sah ihn an. Ein Zwinkern, dann lachten sie wieder mit. Vor allem die Bilder nach der Überrumpelung begeisterten die Ritter. Zum Beispiel: Beatrix, Sophie, Ingrid und Esther, jede mit einem in Bettlaken gehüllten Mini auf dem Arm. Darunter die Zeile: Viele Grüße vom Muttertag! Die Minis auf dem Boden nebeneinander liegend. Constanze und Fides, je mit zwei Gießkannen, besprengen ihre Köpfe. Bildunterschrift: Das neue Universalmittel gegen Schuppen, Pickel, Karies und schlechten Atem! Miniritter Egon sitzt in einer Gefriertruhe. Der Deckel drückt auf seinen Kopf, er schaut verzweifelt. Unterschrift: Ich finde Streiche idiotisch! Miniritter Egon liegt auf einem Tisch. Ingrid beugt sich über ihn. In der Hand hält sie ein langes Küchenmesser schnittbereit über seinen Bauch. Bildunterschrift: Sie können auch ein halbes Marzipanschwein haben! Schließlich: Die vier lehnen an der Wand. Über jeden ist ein Sack gestülpt, aus dem nur die Beine herausschauen. In der Mitte sind die Säcke zugebunden und mit je einer großen farbigen Schleife versehen. Bildunterschrift: Marzipanschweine versandfertig nach Burg Schreckenstein! Die Ritter brüllten vor Lachen. So eine Stimmung herrschte schon lang nicht mehr. Nur einer widersteht der allgemeinen Heiterkeit - Dampfwalze. "Lassen die sich so drankriegen! Eine Schande. Und woher wußten das die Hühner?" "Frag doch Ingrid", empfahl Mücke todernst. Dampfwalze ballte die Fäuste. "Da stecken Ritter dahinter! Die Bildunterschrift, daß Streiche idiotisch seien. . "Gut möglich", räumte Strehlau ein. "Vielleicht haben die Minis einen Mädchenstreich gestört." "Und wie kommen die Bilder hierher?" fragte Beni. In diesem Augenblick fiel draußen ein Schuß. jedenfalls hörte es sich so an. Die Ritter eilten vom Schwarzen Brett an der Burghofseite zu den Fenstern an der Westseite. "Da!" Adlerauge Ralph deutete zum Bootshaus hinunter. Auf dem Steg daneben bot sich das letzte Foto in natura dar: die versandfertigen Marzipanschweine. "Marzipan zum Frühstück - nicht schlecht", witzelte Klaus. "Da!" brüllte Dampfwalze. Draußen im See tuckerte das neue Rosenfelser Elektroboot voll winkender Mädchen davon. "Los! In die Boote! Die müssen wir noch kriegen!" Die Stimme des neuen Schulkapitäns drohte überzuschnappen. Ritter und Lehrer verließen in bester Laune mit mäßiger Eile den Saal. Ottokar stand noch da und gähnte die Spannung hinaus. "Meinst du, das wirkt?" "Styropor!" versicherte Stephan. "Aber komm jetzt. Wir sind doch auch überrascht. "
Geister lieben Altbauten Die Fotodokumentation eines Streichs hatte Mücke nicht ruhen lassen. Drei Tage danach schleppten Andi und Strehlau während des Mittagessens einen Wäschekorb in den Eßsaal und verteilten die neueste Ausgabe der Schulzeitung Tappenschild. Sie enthielt neben der laufenden Chronik von Strehlau, die alle Ereignisse aufführte, ohne sich in Kommentare zu verlieren, witzige Anekdoten von Hans-Jürgen dem Dichter, eine Reportage: Tatsachen und Meinungen von Andi, sowie Mückes Leitartikel. Der hatte es, unter der Überschrift Zur Sache, wieder einmal in sich. Da hat einer am falschen Platz etwas Unerwartetes getan und damit der Gemeinschaft geschadet. Als er seinen Fehler einsah, hat er ihn sofort zugegeben, öffentlich darüber nachgedacht und die Konsequenz gezogen. Nach unseren Vorstellungen ein ritterliches Verhalten. jeder macht schließlich mal einen Fehler. Die Sache wäre erledigt und vergessen, hätte nicht gerade dieser Fehler Schule gemacht. Auch am falschen Platz. Allerdings, ohne
gedacht zu haben oder nachher Konsequenzen zu ziehen. Einfach so. Völlig idiotisch. Inzwischen hat ein Streich auf diese Fehlentwicklung aufmerksam gemacht. Dummerweise sind die neuen Fehler verständlich. Sie lassen sich als Protest auslegen. Wie aber kommt ein Protest zustande? Er setzt zwei Gruppen voraus, die verschiedener Meinung sind und diese mit Gewalt durchsetzen wollen. Kein sehr ritterliches Verhalten. Das heißt: Die Ritterschaft hat das Unerwartete nicht verkraftet und gibt sich auch keine Mühe. Statt sich mit den Ursachen gemeinsam auseinanderzusetzen, hat sie sich darüber gespalten. Das ist der Fehler der Ritterschaft. Es wird Zeit, ihn einzusehen und die Konsequenz zu ziehen. Macht ruhig lange Gesichter, wenn ihr das gelesen habt! je länger, desto erfolgversprechender, Mückes Artikel war ein Blattschuß mit der Feder. Schon in der Schweigezeit wurde das spürbar. Der Wunsch, wieder eine geschlossene Gemeinschaft zu sein, lag in der Luft, daß Witzbold Klaus pantomimisch schnupperte. Doch der Wunsch allein genügte nicht. Da mußten noch Schatten übersprungen werden, Schatten, die der eigene Dickkopf warf. Ottokars Verhalten bei der Staffel blieb vielen nach wie vor unverständlich; die vier Marzipanschweinchen sannen blind auf Rache, obwohl niemand sie hänselte – das war erledigt und vergessen -, und Dampfwalze suchte gleichsam mit der Nase am Boden nach den Spuren der Helfershelfer bei der Fotodokumentation. In seiner Verbohrtheit hatte er tatsächlich Ingrid angerufen und sich scheinheilig erkundigt, wer denn die Fotos gemacht habe, er wolle Kopien nachbestellen für sein privates Album. Bei Mückes Schwester war er jedoch an die falsche Adresse geraten. "Deine Frage ist idiotisch!" sagte sie. "Bei Polaroid gibt's kein Negativ. Die Information steckt sicher irgendwo in deiner langen Leitung." Und, was selten vorkam, Ingrid verständigte ihren Bruder umgehend von dem Gespräch. Auch die andern Mädchen hielten dicht. Sie standen alle auf Ottokars Seite. Seine Tat fanden sie ... einen erfrischenden, längst fälligen Protest gegen die sture Muskelprotzerei! Wäre es nach ihnen gegangen, sie hätten nie zugelassen, daß er das Amt des Schulkapitäns niederlegte. Der Rex sagte zu Mückes Artikel nichts. Er beschränkte sich darauf, Ottokar wieder einmal aufmunternd zuzublinzeln. Um so voller des Lobes war Doktor Waldmann. "Warum schreibst du bei mir nicht solche Aufsätze? So klar und überzeugend. Ich würde dich mit Einsern bombardieren. " Artikel und Streich bewirkten immerhin, daß niemand mehr auf die Idee kam, Nützliches oder Erprobtes plötzlich idiotisch zu finden. Die Kluft zwischen den zwei Lagern schien schmäler zu werden. Doch sie bestand noch. Es lag etwas in der Luft. Während der Ritterrat tagte - Dampfwalze wollte Rosenfels auf den Kopf stellen, weil das Boot, mit dem die Minis hinübergerudert waren, noch immer drüben lag -, erhob sich Ottokar von der Streckbank und sagte: "Entschuldige. Mücke, Stephan und ich müssen jetzt zum Rex. Was Offizielles. " Dampfwalze witterte eine Verschwörung gegen sich, was sein Karpfenblick verriet, antwortete aber nur: "Dann haut endlich ab!" Die Ungewißheit, was sie beim Rex zu suchen hatten, verschaffte ihm wohl eine schlaflose Nacht, jedenfalls gähnte er am nächsten Tag im Unterricht wie ein satter Saurier. Beim Mittagessen legte ihm Ottokar einen Zettel für die Ansage hin, den er als letzten verlas: "Morgen abend findet im Wohnzimmer ein Vortrag über Hellsehen statt. Es spricht die berühmte Hellseherin Madame Thekla." Ritterburg und Hellsehen - die Kombination versprach so viel Nervenkitzel, daß trotz Schweigezeit ein Summen freudigen Erwartens durch den Eßsaal waberte. Auch ohne Hellseher zu sein, stand für Ottokar nach Dampfwalzes Gesichtsausdruck beim Verlesen fest, was er dachte:. Die Tante frag ich, wer den Hühnern geholfen hat! Am Abend vor der Fotodokumentation war Mücke aus der Redaktionssitzung zum Telefon gegangen und hatte Florian endlich erreicht. Die Tante sei einverstanden! erfuhr er. Der Rex möge sich mit ihr in Verbindung setzen. Gestern abend gab dieser den dreien grünes Licht. Und stellte eine unerwartete Frage: "Fräulein Doktor Horn hat mich angerufen, was denn mit dem Fotowettbewerb sei?" "Mannometer!" fiel es Ottokar ein. "Den müssen wir noch nachziehen! Die Reportage war ja nur die Generalprobe!" "Interessant. So ist das also." Der Rex schmunzelte. Ihn als Mitwisser zu haben, stellte kein Risiko dar. Und Mücke sowieso nicht. Im Wohnzimmer waren die Stühle aufgereiht, Mauersäge war verständigt und wollte kommen, das Abendessen wurde um eine halbe Stunde vorverlegt. Zur gleichen Zeit wartete Emil, ersatzweise mit dreistöckigem Wurst-Käse-Brot als Empfangskomitee auf der Freitreppe. Die Idee stammte von Dampfwalze. "Sie kommt bestimmt früher, weil sie als Hellseherin den Weg ja sofort findet", hatte er kombiniert.
Tatsächlich. Die Ritterschaft löffelte gerade Tabletten in Schaumstoff, eine dicke Suppe mit Wursträdchen, da kam Emil in den Eßsaal gestürzt. "Seit wann ist denn die Horn Hellseherin?" rief er. "Und ihren ganzen Hühnerhof hat sie mitgebracht, zwei Busse voll." Die Nachricht wurde unterschiedlich aufgenommen, zwischen Null-Begeisterung und SpitzenGleichgültigkeit. Nicht nur die Minis fragten sich: Woher wissen die das schon wieder? Dampfwalzes Nahrungsaufnahme war jedenfalls beendet. Er mußte umorganisieren. Lässig öffnete er mit seinem privaten Schlüssel die einzige Verbindungstür zwischen Schule und Mauersäges Wohnteil und ließ die Mädchen in den Rittersaal. Hier war Platz für alle. Von da ging er weiter, die Erlaubnis einzuholen. Wie erwartet, zeigte sich der Burgherr sofort einverstanden. Emil hatte Dampfwalzes Teller ausgelöffelt und war an seinen Komiteeplatz zurückgekehrt. Auch der Rex hatte den Eßsaal verlassen. Fräulein Doktor Horn erforderte immer eine Sonderbehandlung. Im Rittersaal gab es die gewohnte spitzenreiche Begrüßung zwischen Schreckensteinern und Rosenfelserinnen. Diesmal unter Berücksichtigung der Hellseherei. "Ihr wollt wohl wissen, ob ihr den nächsten Wettkampf gewinnt?« "Und ihr, wann wir den nächsten Streich gegen euch machen!" "Heut kommt alles auf den Tisch, was in der Luft liegt!" witzelte Hans-Jürgen, während er sich einen Platz suchte. Sonja Waldmann und Sophie nahmen Ottokar demonstrativ in ihre Mitte. Doktor Waldmann, Beatrix, Stephan, Ingrid, Klaus, Esther, Mücke, Bettina und Andi vervollständigten die Reihe. Wie sich herausstellte, wußten die Mädchen schon seit Tagen von dem Vortrag. Durch Jerry. Mit dem Motorrad hatte er sich bei Martina seine Kamera abgeholt. Es gab großen Andrang um gute Plätze. Dampfwalze hatte Pummel gebeten, ihm den Stuhl hinter Ingrid freizuhalten, weil er als Schulkapitän an der Verbindungstür stand, um den Gast hereinzugeleiten. Ottokar und Stephan grinsten. "Der will sie gleich fragen, wer bei dem Fotostreich dabei war!" "Dreht euch mal um", flüsterte Sophie. Während Dampfwalze auf der einen Seite Ausschau hielt, kam der Gast auf der andern herein. Burgherr Mauersäge hatte es sich nicht nehmen lassen, die Hellseherin mit einem Begrüßungstrunk in seiner Bibliothek zu empfangen. Der Rex und Fräulein Doktor Horn waren dabeigewesen. Mit Umgangsformen dieser Art hatte der Muskelprotz nicht gerechnet. Mädchen und Ritter klatschten, als die vier nach vorn kamen, und hatten viel zu tuscheln. Sah die Hellseherin aus wie eine Hellseherin? Wenn ja, wie sieht eine Hellseherin überhaupt aus? Sie war eine rundliche Frau mit auffallend grünen Augen. Ihr Blick verwirrte jeden. Eine gewisse Erwartungshaltung spielte dabei gewiß ihre Rolle. Man wußte ja um ihre übersinnlichen Fähigkeiten und hoffte auf Kostproben. Doch es war nicht nur das. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft, wie ein Gewitter am fernen Horizont, das sich Zeit läßt. Dampfwalzes Begrüßung blieb Fehlanzeige. Er schloß zuerst den Mund, dann die Verbindungstür und schlich auf seinen Platz, denn der Rex klatschte in die Hände. Sofort trat Ruhe ein. Mauersäge sprach Begrüßungsworte. Dabei schaltete er so wenig, daß Eugen sich wunderte. "Mann! Wie macht der das heut? Alles im direkten Gang." Fräulein Doktor Horn spendete als erste Beifall, andere folgten. Mauersäge geleitete den Gast zu dem kleinen Podest, auf dem ein Tisch, dahinter ein Stuhl standen. Sie setzte sich, sah lange in die Menge, durch sie hindurch oder über sie hinweg, bis es mucksmäuschenstill war im Saal. Doch sie fing nicht zu sprechen an, schaute weiter in die Menge, durch sie hindurch oder über sie hinweg. Es blieb still. Alle warteten gespannt darauf, daß sie anfangen möge zu sprechen. Dieses Schweigen, dieser seltsame Blick erregte die Gemüter. "Das war die Sprache vor der Sprache", begann sie endlich mit leiser, klarer Stimme. "Unsere persönlichen Schwingungen haben sich miteinander bekannt gemacht. So verständigen sich Tiere und sogenannte Wilde, die außerhalb unserer Zivilisation leben, wenn sie einander begegnen. Sie wissen sofort, ob Freund oder Feind. Die Schwingungen, die sie aussenden, können nicht lügen. Wir können das. Mit den Wörtern unserer Sprachen. Wir haben uns abgewöhnt, wahrzunehmen, was in der Luft liegt. Wir haben unsere natürlichen Antennen durch künstliche ersetzt. Wir hören Radio, telefonieren, sehen fern, lesen Barometer und Seismographen ab. Zum Glück verlassen wir uns nicht nur auf Geräte, wir bleiben aufeinander angewiesen. Was viele Menschen denken, glauben, für falsch oder für richtig halten, was sie fürchten oder sich wünschen, hat seine eigenen, intensiven Schwingungen. Sie bereiten neue Entwicklungen vor, wie alle geistige Kraft. Sensible Menschen nehmen sie auf und teilen sie mit. Man nennt das neue Ideen'. Kommen sie zu früh, werden sie abgelehnt. Sie müssen im richtigen Augenblick kommen. Manches, das schon reif wäre, kann noch nicht gesagt werden, ohne Empörung auszulösen und völlig idiotische Nebenerscheinungen. Aber das Neue kommt dann doch.
Das ist immer so, in jeder Gemeinschaft. Am Neuen muß sich das Alte bewähren, ob es noch trägt oder nur mehr Gewohnheit ist. Solchen Bewährungsproben sind Gemeinschaften immerzu ausgesetzt. Wert hat, was sich bewährt, obwohl oder weil es ständig in Frage gestellt wird. „ Die Hellseherin schloß den Mund, ihre grünen Augen schauten in die Menge, durch sie hindurch oder über sie hinweg. An Schwingungen fehlte es nicht. Der Saal war voll davon. Keiner konnte sich ihnen entziehen. Ottokar beugte sich vor und sah Stephan an. Sophie drückte seine Hand, in der Reihe dahinter gab Dampfwalze einen jaulenden Ton von sich, starr, mit offenen Mündern, saßen die Minis da, und Witzbold Klaus neigte sich zu Ingrid. "Ganz schöner Berg, was da auf einmal in der Luft liegt!" Nach dieser Einleitung war auch dem letzten Zweifler klar, daß er's mit einer Hellseherin zu tun hatte. Treffender, dabei ganz unverfänglich verpackt, konnte die innere Verfassung der Ritterschaft nicht geschildert werden. Mücke und Strehlau machten sich eifrig Notizen. Was da gesagt worden war, durfte nicht verlorengehen, auch nicht der Seitenhieb mit den, idiotischen Nebenerscheinungen'. "Wie mir eure Schwingungen sagen, haben wir uns verstanden", fuhr die Hellseherin fort. "Nicht nur die Schreckensteiner, die tatsächlich nicht lügen, obwohl das immer wieder angezweifelt wird." Von vielen Mädchen kamen freudige Schwingungen. Beatrix gab Stephan einen Rippenstoß, "Das ging gegen die Horn!" In den grünen Augen blitzte es schalkhaft. "Eure Ritterregeln, die ihr euch selber ausgedacht habt und beherzigt, sind in Ordnung. jede Gemeinschaft braucht ihre Spielregeln. Laßt euch da nicht irremachen!" Sie hob den Kopf zur Seite, als lausche sie einer Einflüsterung und gab sofort Antwort. "Bei Rosenfels ist das etwas anders. Das Mädcheninternat ist den Neustädter Schulen ähnlicher. Trotz dem sehe ich Schreckenstein und Rosenfels als Einheit. Ihr gehört zusammen, weil ihr euch gegenseitig in Frage stellt. Deswegen ergänzt ihr euch so gut. Besonders nachts." Eine Woge der Heiterkeit brandete um das kleine Podest. Der Rex rieb sich vergnügt die Hände, Mauersäge nickte vor sich hin, und die Leiterin hatte dieser Ansicht nur ein Lächeln entgegenzusetzen, zu eindeutig lag die Gemeinsamkeit in der Luft. "Styropor!" jubelten Stephan und Beatrix gleichzeitig. Dampfwalze raunzte und bewegte sich hin und her, wie ein unschlüssiges Walroß. Wieder drehte die Vortragende den Kopf gleichsam lauschend zur Seite und sagte. "Ich empfange da eine Schwingung. Von einem bärenstarken Ritter in der dritten Reihe. Er hat eine Frage, weiß aber nicht, ob er sie schon stellen soll. . ." Ritter und Mädchen, Lehrerinnen, Lehrer und Mauersäge lachten schallend. "Die Frage lautet", sprach sie weiter, "Wie wird man Hellseher? Und die Antwort lautet: Sehr einfach. Indem man die Zeit aufhebt. Dann sind Vergangenheit und Zukunft wie Gegenwart. Man erlebt alle drei gleichzeitig. Auch die nächste Frage dieses Ritters, wie man die Zeit aufhebt, ist einfach zu beantworten: Man zieht sich in den Geist zurück. Denn nur der Körper ist an Zeit gebunden. Er wird älter. Geist ist zeitlos." Jetzt platzte die aufgestaute Spannung wie ein Luftballon. Bei Schreckensteinern und Rosenfelserinnen überstürzten sich die Fragen. Durcheinander und gleichzeitig. Vergangenheit wie Zukunft betreffend. Keiner verstand mehr ein Wort. Viele fragten drei-, viermal hintereinander, um doch noch gehört zu werden. Belustigt schauten die grünen Augen in die Runde, bis alle eingesehen hatten, daß es so nicht ging. Erst als wieder völlige Stille herrschte, sprach sie weiter. Man müsse unterscheiden zwischen lebenswichtigen Fragen und schierer Neugier. Beides sei hier vertreten. Um jedoch alle zu beantworten, würde sie Tage brauchen. Hellschen sei anstrengender als Brezeln zu backen, obendrein zeitraubender. Das Aufheben der Zeit koste Zeit. Die erforderliche Konzentration auf Person und Lebensumstände des Fragenden sei kräfteraubend, insbesondere der Wechsel von einem Fragesteller zum nächsten. In der Regel gebe sie nur medizinische Ratschläge; man dürfe mit der Gabe des Hellsehens nicht leichtfertig umgehen. Eine Frage habe sie aus dem Durcheinander jedoch mehrfach herausgefühlt und die wolle sie beantworten, weil sie alle betreffe. Es handle sich um die Frage, ob es Geister gebe. Vor allem in alten Gemäuern. Niemand im Saal atmete mehr. Die Spannung stand wie Aspik in der Luft. "Selbstverständlich", kam die Antwort. Es handle sich dabei um die Seelen Verstorbener, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht von der Welt der Menschen trennen können. Zwar seien sie nicht in der Lage, Lebende zu berühren, so daß diese es merken, noch ihnen etwas zuzuflüstern, als Schwingung aber könnten sie sich fühlbar machen und im wörtlichen Sinn manches bewegen, also spuken. Auf Schreckenstein, fuhr sie fort, habe es bis vor ungefähr hundert Jahren einen Geist gegeben, Theobald mit Namen. "Mein Ur ... ks ... Ur-Urgroßvater!" rief Mauersäge erstaunt. "In der Familie ... ks ... heißt es, daß er nochweiter ... ks ... spukt
"An hartnäckigen Gerüchten ist meist etwas dran", bestätigte die Hellseherin. "Zumal wenn sie geglaubt werden. Bei einem labilen Geist genügt es, sich vor ihm zu fürchten, um ihn herbeizurufen. Mit Theobald war es damals anders. Er fand keine Ruhe, weil seine Frau ihn verwünscht und damit nicht losgelassen hat. Erst ein späterer Graf Schreckenstein hat Theobald erlöst, indem er mit ihm sprach. Nachts, allein, im dunklen Burgfried wohlbemerkt. Dazu gehört eine gute Portion Mut." Nach Schreckenstein gab sie über die Lage auf Schloß Rosenfels Auskunft. Auch dort sei derzeit kein Geist am Werk. Erst späteren Generationen werde wieder einer zu schaffen machen, und sie würden ihn Die gelbe Frau nennen. Ein Gedanke lag in der Luft. Wer ihn aufschnappte, dem trieb es das unterdrückte Lachen zur Nase hinaus. Auch Lehrkräfte kämpften vergebens dagegen an. Sonja Waldmann flüsterte Ottokar ins Ohr: "Das Lieblingskleid von unserer Chefin ist gelb!" Mauersäge rettete die Situation, indem er sich über die zahlreichen Geister in seiner Familie verbreitete. Skandalös - wie er sagte - sei's mit den Geistern auf dem Schloß seiner Schwester. Dort zähle man wenigstens drei, weil sie oft gleichzeitig Türen öffnen, Gegenstände umkippen und Bilder von der Wand fallen lassen würden. Niemand wage es mehr, als Gast über Nacht zu bleiben. Seine Schwester selbst werde erstaunlicherweise nie behelligt. Ob es da kein Mittel gebe, diesen Zustand abzustellen? Versonnen lächelte die Hellseherin. Sie nahm sich wieder viel Zeit bis zur Antwort. "Eine Sache für Feiertage", sagte sie leichthin und ließ sich durch noch so fragende Blicke keine näheren Angaben entlocken. Alsbald beschloß sie den Abend mit einem Appell an alle, ihre Wahrnehmungen für das zu schärfen, was in der Luft liegt, und eine Warnung vor gewissen Hellsehern, die gegen Bezahlung alle Fragen beantworten. Die Anwesenden dankten mit stürmischem Beifall und blieben, teils nachdenklich, teils redselig, noch lang im Saal, als müßten sie die ungewohnten Eindrücke erst verdauen. "Mann!" Schnuppernd drehte sich Klaus zu Dampfwalze UM. Was liegt denn bei dir in der Luft?" jede Menge Schlaf!" brummte der Schulkapitän. "Dabei bin ich wach wie eine Mokkabohne. " "Ich auch!" pflichtete ihm Mücke bei. "Unser neuester Super-Streß heißt wohl Hellsehen." Ingrid gähnte, daß die Hand, die sie vorhielt, drei Nummern zu klein war. Ottokar saß noch und stierte in die Ecke. Was meinte sie nur mit dieser Sache für Feiertage?" dachte er laut. Sophie grinste. "Wenn du die Horn meinst, dann ist es der Fotowettbewerb."
Unfug der Sonderklasse Wer der Ritterschaft etwas mitzuteilen hatte, der gab dem Schulkapitän beim Mittagessen einen Zettel mit entsprechendem Text für die Ansage. Nach der Suppe trabte Oskar zu Dampfwalzes Tisch, legte ihm ein Blatt mit dem Briefkopf Schule Burg Schreckenstein neben den Teller und sagte: "Hier! Vom Rex." Während der Schweigezeit, die auch dazu diente, die einzelnen Punkte der Ansage verläßlicher aufzunehmen, verlas Dampfwalze die Nachricht als letzte. "Auf Rosenfels findet am Sonntag ein Fotowettbewerb statt. Beginn 14 Uhr. Wer Lust und eine Polaroidkamera hat - die's auch zu leihen gibt -, kann mitmachen. Es winken schmackhafte Preise aus Rosenfelser Marzipan. Die Leitung der Veranstaltung sowie der Jury hat Fräulein Doktor Horn." Über den Tisch hinweg sahen Ottokar, und Stephan einander an. Das war typisch Rex. Auf diese Weise erfuhr niemand, daß sie dahintersteckten. Was die Leiterin in die Hand nahm, das führte sie durch, als sei es ihre ureigenste Idee. Darauf konnten sich der Rex und die beiden Ritter erfahrungsgemäß verlassen. Zwar schaute Dampfwalze nach der Ansage leicht argwöhnisch aus seinem alten Hemd. Doch die Züge glätteten sich im Aufwind seiner Gedanken: Wenn die Horn dahintersteckt - so dachte er -. dann haben das die Mädchen schon lang gewußt und sind wohl durch sie auf den Fotostreich gekommen??? Ähnlich äußerten sich auch viele Ritter nach dem Läuten des silbernen Glöckchens. "Wenn das die Horn erfunden hat, müssen wir hin!'« meinte Beni. Die Leiterin von Rosenfels war den Rittern Reizsubjekt Nummer eins. Sie garantierte für Unfug der Sonderklasse. "Wir sind auf jeden Fall dabei!" entschied Miniritter Eberhard. Die vier witterten eine Gelegenheit, ihr Mütchen für die erlittene Schlappe zu kühlen. "Ihr bringt vor allem das Boot zurück!" erinnerte sie Dampfwalze an den schwarzen Tag. Am Sonntag mittag näherten sich zu Wasser und zu Land Ritter über Ritter dem rosa Schloß. Doch es gab auch Fotomuffel, die lieber auf der Burg blieben, wie Eugen, der sein immer noch schmerzendes
Bein schonen wollte. Sie versprachen erhöhte Wachsamkeit zu üben. Der Fotowettbewerb konnte eine Falle oder mit einem Streich verbunden sein. "Sonst stellen die unsere Burg in Frage, wo wir doch zusammengehören!" alberte Mücke mit den Worten der Hellseherin. Er blieb, um in Ruhe für die Schulzeitung zu schreiben, so lang ihm der Vortragsabend noch gegenwärtig war. Man nennt das journalistische Sorgfaltspflicht, meinte er. Das Wetter zeigte sich fotofreundlich. Auf dem Rasen an der Seeseite des Schlosses kam es zu den üblichen Frotzeleien. "Na, was liegt denn heut in der Luft?" fragte Esther ausgerechnet Dampfwalze. "Bis jetzt nur deine blöde Frage", antwortete der. "Du vergißt deine Humorlosigkeit", fuhr Beatrix dazwischen. Wortlos wandte sich der Muskelprotz ab. Es schien, als habe er seit dem Vortrag der Hellseherin das Lachen verlernt. Zusammen mit Fräulein Böcklmeler und Sonja Waldmann von Rosenfels und dem Schreckensteiner Kunsterzieher Gießkanne nahte die Leiterin. "Die Jury!" sagte Sophie. jetzt geht's los." Fräulein Doktor Horn betätigte ausnahmsweise ihre Lachmuskeln. "Guten Tag! Ich muß sagen, ich bin hocherfreut über das große Interesse an unserer Veranstaltung. Laßt uns abzählen, wie viele wir sind." Dabei stellte sich heraus, daß nur ein Dutzend am Wettbewerb teilnehmen wollten. "Und was seid ihr?« fragte die Leiterin die Mehrheit der Schreckensteiner. Hans-Jürgen, als Dichter immer um das treffendste Wort bemüht, zögerte. "Ich überlege grade, wie man Schlachtenbummler beim Fotowettbewerb nennt. . ." "Unterbelichtete!" rief Ingrid dazwischen und sorgte für Unruhe. Doch nachdem auch bei den Mädchen die absolute Mehrheit dazugehörte, waren die Ritter mit der Bezeichnung einverstanden. Bettina verteilte Blätter, auf denen die zu fotografierenden Motive aufgeführt waren, und die Leiterin verlas sie laut. "Erstens: Zweitens: Drittens: Viertens: Fünftens Sechstens: Siebtens:
Blume in Vase oder im Garten. Porträt von vorn oder Profil, Person nach freier Wahl. Figur stehend oder sitzend in beliebiger Pose. Architektur. Treppe, Fenster, Fassade, de koratives Detail am Schloß. Bewegung. Mensch im Lauf, Sprung, bei Tätigkeit oder Gebärde. Tierstudie. Stimmung. Ausschnitt aus der Natur, Still leben, Teller mit Früchten, Brot und Speck auf einem Holzbrett - ihr könnt dazu in die Küche gehen.
Bei allen Motiven kommt es hauptsächlich auf drei Dinge an: Komposition - wie das Motiv im Bild steht Auffassung und Beleuchtung. Von jedem Motiv darf nur eine Aufnahme gemacht werden. jeder hat sieben Bilder. Filme gibt's bei der Jury. Kameras sind genug vorhanden. Die Reihenfolge der Aufnahmen bleibt jedem überlassen. Ihr habt eine Stunde Zeit. Ein Gongschlag bedeutet: Abgabe bei der Jury in meinem Zimmer. Und bitte: Bei jedem Bild Nummer und Namen nicht vergessen. Das ist das wichtigste! Sodann, es kann beginnen!" Vom Schloß kamen der Rex und Mauersäge. Die Leiterin ging ihnen entgegen. Andi nahm Strehlau die Sofortbildkamera aus der Hand und schoß hinterher. "He he!" maulte der Musterschüler. "Nummer fünf!" Grinsend nahm Andi das Bild aus der Kamera und steckte es ein. "Unwahrscheinliche Bewegungsstudie!" Die Teilnehmer schwärmten aus, in kleinen Gruppen mit Kometenschweifen von Unterbelichteten hinter sich. Der Jury folgte nur ein winziges Schweifchen: Gießkanne suchte wieder einmal Sonjas Nähe. Doch sie hatte keine Zeit und ließ ihn bei den Unterbelichteten zurück. Die Teilnehmer entwickelten zusehends Eile und Heimlichgetue. "Ich weiß, wo ein Kätzchen ist!" flüsterte Sophie und zog Ottokar mit sich fort. Beatrix und Stephan entwischten zu gegenseitigen Porträts ins Schloß. Dampfwalze folgte Ingrid und Esther in den Garten. Als Klaus sich ihnen anschloß, maulte der Schulkapitän: "Was willst du denn da? Kannst du nicht woanders hin?"
Klaus blieb lässig. "Ich brauch deine Birne zur Beleuchtung. " Nicht nur hier gab es rüde Töne. "Schleicht euch, ihr seid im Bild!" "Ihr macht Schatten. Haut ab!" "Ruhe. Ich komponiere!'« und andere Zurechtweisungen mußten sich die Unterbelichteten gefallen lassen. Da die Teilnehmer ihre Fotos vor ihnen verbargen, wurde das Mitlaufen langweilig. So kam es alsbald auf der großen Wiese zu zwei Volleyballspielen mit viel zu großen Mannschaften und obendrein überkreuz - ein lautstarker Spaß, von der Jury belächelt, die, um Rex und Mauersäge verstärkt, in Fräulein Doktor Horns Zimmer Kaffee trank. jetzt hatten die Fotofreunde ihre Ruhe. Die brauchten sie auch. Sechzig Minuten sind für sieben Motive nicht viel, zumal wenn man sie erst suchen muß. Doch die Zeit reichte. Sonja wollte gerade zum Gong greifen, da gaben Beni und Martina als letzte ihre Bilder ab. Die Jury zog sich zurück, die Fotofreunde gesellten sich zum Spiel der Unterbelichteten. "Weg mit euch!" riefen die. "Wir sind eh schon zu viele." "Retourkutsche", maulte Andi. Unschlüssig zogen sich die Lichtbildner auf und um die Bank am Hochufer zurück. Und weil sie nicht wußten, was sie tun sollten, fragten sie einander, was der andere aufgenommen, wie er komponiert habe, mit welcher Auffassung. Bald bogen sie sich vor Lachen, schlugen sich auf die Schenkel, einander auf die Schulter, Japsten nach Luft und konnten sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Sie verbreiteten so viel ansteckende Laune, daß die Unterbelichteten ihr Volleyballspiel aufgaben und herüberkamen. "Was wollt ihr denn?" preßten die Fotofreunde unter Gelächter hervor. Für euch gibt's hier nichts zu lachen. Da müßt ihr auf die Jury warten." Und sie lachten und lachten weiter, kaum noch fähig, zwischendurch Luft zu holen. Ingrid liefen die Tränen herunter, Dampfwalze hatte seinen Karpfenblick, Ottokar lag zuckend am Boden, und der kleine Egon sah mit seiner blauroten Gesichtsfarbe gefährdet aus. "Styro ... styro . . . " Mehr brachte Stephan nicht heraus. Die Unterbelichteten wurden unruhig, weil sie den Grund nicht kannten. Plötzlich klatschte jemand in die Hände. Moment mal!" rief Gießkanne und mußte selber grinsen. "Alles zur Preisverteilung in den Innenhof. " Und mit Kopfschütteln zu den Fotofreunden fügte er noch hinzu: "Ihr ... ihr Wahnsinnskünstler!" Quer über den Innenhof trennten zwei nebeneinanderstehende, lange Tische das letzte Fünftel von den andern vier. Auf den Tischen nebeneinander in je einer vertikalen Reihe die Werke der Fotofreunde. Unter Glasplatten. Jeder Teilnehmer soll sich hinter seine Bildreihe stellen!" rief Sonja. Auch sie konnte nur mit Mühe ernst bleiben und schüttelte den Kopf. In einer Ecke diskutierte Fräulein Doktor Horn mit dem Rex, Mauersäge und Fräulein Böcklmeler. Dabei fuchtelte sie wild mit den Armen herum. "Windstärke sieben!" meinte Pummel und begab sich mit den anderen Fotofreunden hinter die Tische. Davor drängten sich die Unterbelichteten. Sie staunten nicht schlecht, deuteten auf Bilder und brachen in schallendes Gelächter aus. Ottokar faßte Sonja am Arm und fragte mit einer Kopfbewegung zur Leiterin. "Na, was sagt sie?" "Diesmal habt ihr sie geschafft", antwortete die junge Lehrerin. "Sie weiß nicht, was sie sagen soll und will's nicht zugeben. " Der Rex klatschte in die Hände. Das Gelächter ebbte ab, bis Stille herrschte. Fräulein Dr. Horn trat neben ihn und begann ungewohnt sanft: "Ich habe mir meinen Fotowettbewerb eigentlich ernsthafter vorgestellt - aber bitte. Da sich nicht alle um künstlerische Gestaltung wirklich bemüht haben, können nur wenige gewertet werden. . . Unwillen wurde laut. Unartikuliert aber deutlich. "Manche Auffassung haben wir vielleicht nicht verstanden", schränkte sie ein, "oder sie ist überhaupt nicht erkennbar. Hier sollten wir vorab Klarheit schaffen. Es sind auch falsche Nummerierungen dabei." Sie wandte sich an Beni. "Bei dir zum Beispiel: Blume in Vase oder im Garten hieß das Motiv Nummer zwei. Statt dessen hast du einfach nackte Erde aufgenommen." Beni schüttelte den Kopf. "Das ist eine Rose." "So? Eine Rose? Und woran sieht man das?" fragte sie spitz. "Das kann man noch nicht sehen", erklärte Beni seelenruhig. "Es ist eine Babyrose. Sie hat die Erdkruste noch nicht durchbrochen." Für diese Antwort erntete er Gelächter und Beifall. Da auch Mauersäge mitklatschte, strengte Fräulein Doktor Horn ihre Lachmuskeln an und ging zum nächsten Fall über. Er betraf den langen Strehlau, wie sie von ihrer Liste ablas: "Motiv drei - ganze Figur - hieß die Aufgabe. Warum hast du da zwei Knaben aufgenommen? Zwei von den Kleinen? Das versteh ich nicht. "
"Reine Rechenaufgabe", antwortete der Musterschüler respektvoll. "Zwei Minis geben eine ganze Figur." Diesmal tat sich die Leiterin mit dem Lachen leichter. Auch die Betroffenen lachten mit. Die nächste Unklarheit betraf Ingrid. "Eine Konservenbüchse ist doch kein Stilleben!" rügte die Leiterin. Ingrid winkte ab. "Sie müssen lesen, was draufsteht: Linsen mit Würstchen! Es dürfen ja Eßwaren sein, haben Sie gesagt." "Aber nicht in der Dose!" begehrte die Leiterin auf. "Warum nicht? Da halten sie doch viel länger. " Ingrid schaute sich unschuldsvoll um und hatte die Lacher auf ihrer Seite. Ein Flüchtigkeitsfehler wurde Dampfwalze bescheinigt. Er habe zwei Porträts aufgenommen. Eins von Ingrid, eins von Ottokar. "Beim zweiten steht eine falsche Nummer drunter", rügte Fräulein Doktor Horn. "Ottokar ist schließlich keine Tierstudie. "Doch", brummte Dampfwalze trotzig. "Ein blöder Hund. " Vereinzelte Lacher gingen in lautem Murren unter. "So eine Gemeinheit", flüsterte Sophie. Ottokar winkte ab, und Stephan sagte: "Das laß mal unsre Sorge sein." Die Leiterin sprach rasch weiter. "Nun kommen wir zu einem Witzbold. " Sie trat neben Klaus und deutete auf seine Bilderreihe. "Dieser Künstler hat statt der Motive, deren Nummern, das heißt die Ziffern, die jeder dazuschreiben sollte, fotografiert. Und zwar nur die Ziffern. Von eins bis sieben, eine nach der andern. Findest du das sehr witzig?" Todernst schüttelte Klaus den Kopf. "Überhaupt nicht. Ich wär da auch nie drauf gekommen, wenn Sie nicht ausdrücklich gesagt hätten, die Nummern seien das wichtigste!', Schlagartig hatten die Unterbelichteten überentwickelte Stimmbänder. Sie brüllten los, klatschten und trampelten vor Vergnügen und ein bißchen gegen den Mißton, der durch Dampfwalze beinah hereingekommen wäre. Das nächste Bild, das Fräulein Doktor Horn nicht verstand, stammte von Pummel. "Daß du alle Motive von oben aufgenommen hast, will ich noch gelten lassen", sagte sie. "Aber daß dadurch überall deine Füße mit im Bild sind ... Selbst beim Porträt umrahmen deine Schuhe Bettinas Kopf wie ... wie abstehende Ohren! Das finde ich ... also das finde ich ... geschmacklos. " Die Unterbelichteten konnten das Lachen kaum noch zurückhalten. Doch sie warteten auf Pummels Antwort. Ungerührt schüttelte der den Kopf. "Verzeihung. Ich wollte nur meinen Standpunkt deutlich machen. Und ich finde, das ist mir, dank Schuhgröße vierzig, gelungen.'« jetzt brach die Lachsalve los. Auch die Jury konnte nicht ernst bleiben. Samt der Leiterin. Sie lenkte sich mit ihrer Liste ab, auf der nun Ottokar an die Reihe kam. Bei ihm beanstandete sie Motiv Nummer fünf: Bewegung. ,Was hast du da aufgenommen?" fragte sie. "Dampfwalze am Küchenherd, wie er den Kochlöffel in einen Topf hält. Und wo bleibt die Bewegung?" "Er rührt, antwortete Ottokar. "Das sieht man aber nicht, hielt sie entgegen. "Dann liegt's am Apparat. Ich hab gesehen, daß er gerührt hat. " Im aufkommenden Gelächter wandte er sich versöhnlich an den Muskelprotz. "Stimmt's~" Doch der blieb stur, zog die Schultern hoch und brummte. "Ich hab nicht gesehen, daß du mich fotografiert hast." "Kein Wunder bei deinem Spatzenhirn!" rief ausgerechnet Ingrid, und die Mädchen jubelten, als sei das der größte Witz. Fräulein Doktor Horn war neben Andi getreten und fuhr mit erhobener Stimme fort. "Da ist noch einer, bei dem überhaupt kein Motiv stimmt. Unter der Nummer von Porträt hat er ein Fahrrad, unter Ganze Figur eine große Fliege, unter Stimmung eine Fastnachtsmaske, und unter Tierstudie ein Bild von mir." Viele hatten Mühe ernst zu bleiben, und sie sah sehr streng in die Runde, bevor sie fortfuhr. "Kannst du mir sagen, was das soll?" Andi nickte. "Das ist ein Bilderrätsel für Amateurhellseher. " "Ach so", sagte sie spitz, lächelte aber dabei. "Man kann das demnach beliebig auslegen?" "Soll man sogar meinte Andi. Lauernd sah sie ihn von der Seite an. Mit anderen Worten: Du hast dir etwas dabei gedacht?" "Ich kam nicht drum herum." "Und wolltest, daß sich auch der Betrachter etwas dabei denkt?"
Andi nickte. "Sonst wär's ja kein Rätsel."
"Und was wolltest du, daß er sich bei meinem Bild unter Tierstudie denkt?"
"Dumme Gans!" flüsterte Esther. Martina wandelte einen Lachanfall in Niesgeräusche um. Alle kostete es enorm Muskelkraft, hier ernst zu bleiben. "Was soll er sich denken?" wiederholte die Leiterin. Andi zog die Schultern hoch. "Genau weiß ich das auch nicht. Ist ja ein Rätsel. Vielleicht, daß es zu Bewegung gehört, oder zu Ganze Figur. . . " Sofort kam die Fangfrage. "Und was wär dann die Tierstudie?" "Das Fahrrad", antwortete Andi völlig unbefangen. ,Soso, das Fahrrad!" wiederholte sie auf böse Art zufrieden. "Das Fahrrad als Tierstudie!" Beklemmung lag in der Luft. Niemand lachte mehr. Besorgt sahen Ritter und Mädchen zu Andi hinüber. Wie wollte er da wieder rauskommen? Zuerst grinste er - eine bekannte Reaktion bei Verlegenheit - und sagte dann: "Lesen Sie mal die Marke, die draufsteht!'« Von der Seite beugte sich die Leiterin über das Foto und buchstabierte laut "Ga-zel-le." Die Spannung schlug in Begeisterung um, auch die Jury atmete sichtlich auf. Nur Fräulein Doktor Horn stand starr, einem ausgestopften Vogel nicht unähnlich. "Sty-ro-Por!" buchstabierte Beatrix ihr nach, und Andi fügte, gleichsam entschuldigend, hinzu: "Es soll ja ein scherzhaftes Bilderrätsel sein." Fast alle klatschten Beifall und drängten sich, da die Leiterin nicht weitersprach, um die Bilder, wo es noch manchen Scherz zu entdecken gab. Stephan und Beatrix hatten sich gleichzeitig fotografiert, wie sie einander fotografieren; bei Martina stand hinter jedem Motiv ein Spiegel, in dem zusätzlich ein anderes zu sehen war, etwa: Rose in Vase mit nasebohrendem Ritter; Hans-Jürgen hatte unter dem Motiv Architektur in einer Dachrinne entlang fotografiert, daß sie aussah, wie Eisenbahnschlenen, die im Hintergrund zusammenlaufen; Sophies Katze war eine Kaffeekanne aus Porzellan, und bei Esther saß in jedem Bild ein kleiner Bär dabei - ihr Talisman - oder anders gesehen: der Bär saß vor wechselndem Hintergrund. Nach kurzer Besprechung der Jury verkündete Fräulein Doktor Horn: "Wir haben uns für zweierlei Preise entschieden, einen ernsthaften, von der Jury, und einen scherzhaften, den ihr vergebt." Lautstark bekundeten Teilnehmer wie Unterbelichtete ihr Einverständnis. Den ernsten Ersten, eine übergroße Kamera aus hausgemachtem Marzipan, bekam der kleine Egon. Er hatte nicht nur alles brav nach Vorschrift, sondern auch besonders schön fotografiert. Stolz, als wären sie seine Eltern, standen die andern drei Minis neben ihm. Mit diesem Sieg auf Rosenfels war die Schlappe für sie erledigt und vergessen. Zweite ernste wurde Bettina. Den dritten Platz belegte zu allgemeinem Erstaunen Doris. Bisher war sie vornehmlich als Kratzbürste aufgefallen. Die Bestimmung der Sieger bei den Unernsten versackte im allgemeinen Unernst. Ritter und Mädchen verblödelten in Superlaune jeden Vorschlag. Zwar einigten sie sich rasch, daß nur Klaus, Ingrid, Pummel und Andi für Spitzenplätze in Frage kamen, doch die Abstimmung über die Reihenfolge scheiterte an nicht mehr zu dämpfender Albernheit. Schlug Hans-Jürgen mit Kürzeln die Reihenfolge: Schuhe - Nummern - Fahrrad vor, widersprach Esther: "Fahrradschuhnummer!" "Konservendose!" trat Dampfwalze trotz allem für Ingrid ein. Doch wie das so geht, war es der bisher nur unangenehm aufgefallene Muskelprotz, der die rettende, alle begeisternde Idee brachte. "Schluß mit dem Quatsch! Machen wir, statt drei dämliche Preise zu verleihen, lieber einen Tanzabend. Mit Marzipan für alle!"
Sache für Feiertage Welch nachhaltigen Eindruck die Worte der Hellseherin auf Mauersäge gemacht hatten, ahnte die Ritterschaft zunächst nicht. Haben doch gerade sehr alte Familien eine besonders starke Beziehung zu Geistern, weil diese zum Spuken ihre Schlösser und Burgen erfahrungsgemäß jedem Neubau vorziehen. Dieser Umstand, durch die Hellseherin ins Gedächtnis zurückgerufen, regte Mauersäge zu seltsamen Gedanken an. Eines Abends erschien er im Eßsaal. Die Ritter, vollauf mit dem Einwerfen von Apfelkuchen mit Sahne beschäftigt - Andis Rekord steht immerhin bei strammen fünfundzwanzig Stück
-, bemerkten ihn zunächst gar nicht. Mit vollen Backen erhob sich der Rex und. ging dem unerwarteten Gast entgegen. Nach kurzer Verständigung nickte er, deutete zum Schwarzen Brett und kehrte an seinen Platz zurück. "Mauersäge als Schulkapitän!" alberte Mücke, weil der Burgherr nach der Kuhglocke griff und um Aufmerksamkeit bimmelte. Dann schaltete er erst einmal. "Ks ... Gleich darauf noch einmal. "Aha!" brummte Klaus. "Hat den Rückwärtsgang erwischt. "Ich habe ... ks ... eine Idee", begann Mauersäge. "Der nächste Freitag ist ein Feier ... ks . . . tag und der Sonntag, wie allgemein bekannt ... ks ... auch. Wenn ihr euer Samstagsprogramm irgendwie nachholt ... ks . . ., hätten wir drei Tage für eine kleine Reise nach ... ks ... nach ... ks. . ."Aha! In die Berge", flachste Klaus. "Er kommt nicht rauf. " ". . . nach ... ks ... zu meiner Schwester auf das Schloß. Die. . . ks ... Rosenfelserinnen können auch mitkommen. . ." "Styropor!" riefen mehrere, weil ihnen der neue Ausdruck gefiel, und sie lachten und spendeten Beifall. Dampfwalze klatschte mit der Gabel in die Sahne. "Dann machen wir den Tanzabend dort." Ausgerechnet Witzbold Klaus lachte nicht mit. "Da liegt noch was in der Luft, meinte er. "Die Sache für Feiertage!" sagte Mücke ungeniert laut. Andi begriff. "Mann ja! Der will uns als Geisterfeuerwehr!" "Hast du etwa Angst?" fragte Eugen. Fröhlich grinsend deutete Mauersäge auf Mücke. "Sehr richtig! Die ... ks ... für Feiertage. Vielleicht kriegen wir raus, was die Hellseherin damit ... ks ... gemeint hat. Ist nur ein Vorschlag. Überlegt es euch ... ks. " Er ging zum Rex, drückte ihm die Hand, winkte dem Ritter zu und verließ den Eßsaal. Mit dem silbernen Glöckchen läutete der Rex die Schweigezeit ein. Die Stille wirkte klärend. Hätten sonst alle erst einmal durcheinander geredet, ohne viel zu denken, nahmen sie statt dessen auf, was in der Luft lag. So gab es nach dem Ende der Mahlzeit kein Hin und Her mehr. Für alle, einschließlich der Lehrer, stand fest: Wir fahren! Und die Hühner sollen auch mit. Mauersäge muß die Horn anrufen. Dann kann sie nicht nein sagen. Augenzwinkernd meinte der Rex:. "Abwechslung kann der Gemeinschaft zur Zeit nur guttun!" Mittel für kleinere, lehrreiche Ausflüge während des Trimesters waren in beiden Schulen vorgesehen, und jeder besaß einen Schlafsack samt Unterlage. Außerordentlich wendig zeigten sich die Lehrer. Nach einer Idee von Doktor Waldmann verteilten sie den Samstagsunterricht in gestraffter Form auf Hin- und Rückfahrt. Die Sitzordnung in den Omnibussen erfolgte klassenweise. Da gab's hinten Latein, in der Mitte Geschichte und vorn wurde gerechnet. Nach Ablauf der Stunden hielten die Fahrer, und Lehrer stiegen um. So wurde es auch in den Rosenfelser Wagen gemacht, die den Schreckensteinern hinterherfuhren. "Gong!" rief Ralph um Punkt eins im ersten Bus. "Mittagessen!" Alle packten die mitgebrachten Brote und Bananen aus. Die Lateiner winkten damit durch die Heckscheibe dem nächsten Wagen. Heim, der Koch, hatte, wie immer, reichlich vorgesorgt. Da bimmelte mitten im genüßlichen Kauen Dampfwalze mit der Kuhglocke, die er eigens eingesteckt hatte, und sagte an: "Nach Tisch ist Landschaftsbetrachtung bis zur Ankunft." Er bat den Fahrer anzuhalten, um die Ansage im nächsten Wagen wiederholen zu können. ,Langsam scheint er wieder normal zu werden", flüsterte Stephan seinem Freund Ottokar ins Ohr. Die Unversöhnlichkeit des Muskelprotzes belastete die Ritterschaft. Der Ex-Schulkapitän schien dem Frieden noch nicht zu trauen. Er sagte nichts, zog nur die Schultern hoch und schaute zu einer Dachluke des Omnibusses hinaus. Heinis reichliche Verpflegung sowie die lange Fahrt wirkten sich dämpfend aus. Mit begrenzter Wahrnehmung, wie satte Kleinkinder, schaukelten die Ritter durch die Gegend. Sie wurden immer stiller. Manchen fielen die Augen zu. Vor allem den Lehrern. Schießbude sägte leicht an der Schnarchgrenze. Musterschüler Strehlau bildete die Ausnahme. Er hielt sozusagen Wache. Vorn beim Fahrer, wo er saß, speicherte er jede Beobachtung in sein Computergehirn ein. "Oh, kariertes Schneewittchen!" Mit diesem Ausruf rüttelte er die Dösköpfe wach. Sein Zeigefinger deutete durch die Windschutzscheibe auf einen düsteren Bau, halb Schloß, halb Burg, mit Türmen, Erkern, Nischen, spitzen Ecken und Winkeln unter einer Unzahl verschieden hoher Dächer, deren Firste in alle nur möglichen Richtungen zeigten. Merkwürdig beeindruckt starrten die Ritter das Gebäude an. "Unser Tanzschuppen!" brummte Beni. "Hab ich mir eigentlich lustiger vorgestellt." "Verwunschen!" sagte Hans-Jürgen mit seiner Spürnase für das treffendste Wort.
Diesmal wurde er von Miniritter Kuno übertroffen. "Mann!" rief der. "Da spukt's ja schon am helllichten Tag." Durch ein enges Tor fuhren die Busse in einen düsteren Hof. Die teils vor-, teils zurückspringenden Bauteile wirkten drohend. "Mein sterbender Schwan! Was da in der Luft liegt, haut dem stärksten Faß die Kuhhaut aus dem Anzug", scherzte Klaus gequält. Ritter und Mädchen stiegen aus, sahen sich um, sahen einander an, bewegten die Arme, das Kreuz, die Schultern, wie man das nach langer Fahrt tut. Doch das war nicht der Grund. Vielmehr hatten sie das Gefühl, sich bewegen zu müssen gegen eine unerklärliche Kälte, die an ihnen hinaufkroch. Nur Dampfwalze streckte sich betont und gähnte unüberhörbar. "Allerliebstes Eigenheim." Bettina klapperte mit den Zähnen und schüttelte sich. Einer der Busfahrer meinte: "Da ist mir mein Fertigbungalow lieber!" Er schloß die Kofferklappe auf, wo die Schlafsäcke und die Riesentöpfe mit vorbereitetem Essen verstaut waren. Einige drehten erschreckt die Köpfe. Irgendwo knarzte etwas. Langsam ging das Geräusch in Quietschen über, dann in Krächzen. "Willkommen auf Schloß Rülpshorst!" Aus einem spitzbogigen Portal kam ihnen eine Gestalt entgegen, der nur die Eule auf der Schulter fehlte, um die Hexe komplett zu machen: Irmintraut von Schreckenstein, die Schwester des Burgherrn. Obwohl die meisten sie kannten, blieb ihnen in dieser Umgebung der Gruß im Hals stecken. Stumm nickend starrten sie ihr entgegen. Wieder einmal schaltete Mückes Verstand am schnellsten. "Sieht aus wie eine Tochter von Mauersäge und der Horn, die älter ist als ihre Eltern." Da brach Ottokar das peinliche Schweigen. "Guten Tag, Gräfin!" sagte er laut. "Guten Tag, Gräfin." Doktor Waldmann trat vor und verpaßte ihr einen Handkuß. Gießkanne, Schießbude, Fräulein Böcklmeier, Sonja und Sportlehrer Rolle beließen es beim Handschlag. Auf einmal war der Spitzname Rülpshexe da. Die Rülpshexe redete wie ein Wasserrohrbruch von der Freude über den Besuch, der eine Seltenheit sei in dem verwunschenen Gemäuer, das sich seit 800 Jahren im Besitz der Familie befinde und heute kaum noch zu erhalten sei. Plappernd schritt sie voraus durch gruftkühle Korridore mit Treppchen und dunklen Nischen, an den Wänden Waffen und ausgestopfte Großwildköpfe, an denen Spinnen ihre Netze befestigt hatten. Feuchtkalt kroch es allen an den Beinen hoch, da öffnete sie eine Doppeltür. Das Feuer drinnen im offenen Kamin hob die Stimmung etwas. "Bibliothek,', stellte Strehlau fest. " Dachtest du, ein Kassettenlager aus dem 12. Jahrhundert?" schoß Ingrid ihn an. Auf einem Sofa neben dem Kamin saßen bereits der Rex, Mauersäge und in der Mitte Fräulein Doktor Horn. Sie waren mit dem Privatwagen vorausgefahren. ,Bedient euch!" Der Rex hatte vorgesorgt. Ein Riesenkübel mit Tee stand am Feuer. Auf einem Tischchen türmten sich Pappbecher, jetzt genau das richtige. Dazu gab es, auf einem langen Tisch, meterweise Streuselkuchen. Die Rülpshexe verschwand mit den Lehrern, um ihnen ihre Zimmer zu zeigen. Kaum war sie draußen, spielte sich die Horn mächtig auf. "Ihr werdet in zwei Sälen schlafen. Im grünen und im roten. Der Festabend findet im blauen oder Tanzsaal statt. Dort steht auch das Buffet, das wir auf Rosenfels vorbereitet haben." Klaus wackelte mit dem Kopf. "Die spielt wohl Reserve-Gräfin?" "Und wir die Geisterfeuerwehr", sagte Andi. "Das steht für mich fest." Er sollte recht behalten. Mauersäge stoppte den Redefluß der Reserve-Gräfin und startete eine schaltreiche Ansprache, voll mit merkwürdigen Fragen: Ob sich denn alle hier wohl fühlten? Ob sich alle auf den Abend freuten? Ob jemand lieber anderswo übernachten wolle? Oder ob man nicht glaube, daß es hier spuken könne? jedenfalls solle niemand zu etwas gezwungen werden, das ihm nicht passe. "Wir sind alle gegen Geister geimpft", verkündete Dampfwalze. "Als Schulkapitän kann ich das auch für die Mädchen sagen. . . " "Das sagen wir schon selber!" fuhr Sophie dazwischen. "Dazu brauchen wir keinen Angeber." Laut buhten die Rosenfelserinnen. "War schließlich meine Idee!" verteidigte sich der Muskelprotz und bestätigte damit den Vorwurf der Angeberei. Sonst sagte niemand ein Wort, aber die Laune, schon ein Opfer der kriechenden, feuchten Kühle, war nun vollends getrübt. Da kam die Rülpshexe zurück und ließ die Katze aus dem Sack. Eine pechschwarze Katze. "Ich habe euch ja schon erzählt, daß ich sehr selten Gäste habe. Niemand traut sich, über Nacht hierzubleiben. Der Grund ist, wie ihr wißt, sehr einfach: Wir haben Geister. Alle aus der Familie. Mir tun sie nichts. Der jeweilige Besitzer bleibt verschont. Das ist Famillentradition. Aber Gäste ... ? Ihr werdet
es erleben! Noch jeder, der behauptet hat, es gebe keine Geister, das seien Hirngespinste, Halluzinationen, ist hier kuriert worden. Psychologen, Christen, Atheisten. Auf Rülpshorst liegt ein Fluch - sagt man in der Umgebung. Seit hier ein Hochzeitspaar ermordet wurde - vor mehr als 500 Jahren. Und an diesen obskuren Ort lade ich beziehungsweise mein Bruder euch ein!" Mit einem Kopfrucken sah sie in die Runde. Andi nickte, weil er recht behalten hatte. "Als Geisterfeuerwehr! " "So ungefähr. " Die Rülpshexe lachte mit langen Zähnen. "Bitte - niemand muß hier übernachten! Ihr könnt nach dem Tanz ins Dorfgasthaus gehen, in den oberen Saal. Alle. Aber nachdem ihr so besonders beherzt sein sollt und in nächtlichen Unternehmungen erfahren, wäre es nützlich, wenn einige hierbleiben würden ... " "Ehrensache! " unterbrach Dampfwalze. "Aufgeben ist ja idiotisch!" Mücke trat ihn in die Kniekehle. "Muß das sein?" Rülpshexe Irmintraut lächelte dem Muskelprotz zu. Jii der Familie gibt's eine Legende", fuhr sie fort und schaute sanft irre in die Runde. "Sie besagt: Wenn viele junge Leute, die unerschütterlich glauben, daß es Spuk und Geister nicht gibt, eine Nacht lang das Schloß mit Tanz und heiterer Laune füllen, ziehen sich die unsichtbaren Störenfriede für immer zurück. Vielleicht lacht ihr mich jetzt aus, daß ich so was glaube. Aber ich muß alles versuchen. Um das Schloß halten zu können, möchte ich ein Hotel draus machen. Und das geht nur ohne Geister. Die Hellseherin hat mir da einen Hoffnungsschimmer gebracht. Wenn ihr es nicht schafft mit eurer unbeschwerten Fröhlichkeit, bleibt, nach der Legende, noch die große Mutprobe: ein Mann muß 13 Stunden allein im Hungerturm oder im tiefen Verlies ausharren. Ohne Licht. Auch dann sollen die Geister verschwinden. Aber nach dem Mann suche ich seit dreißig Jahren. Ein Vetter hat's mal probiert. Nach einer Stunde stand er schlotternd wieder da. Ihr seht, diese ererbte Pracht, um die uns viele Menschen beneiden, ist eine rechte Last." Sie lachte und zuckte mit einer Gesichtshälfte. "Also: Wer bleiben will, mag sich häuslich einrichten. Noch bevor es dunkel wird, sollte der Tanz beginnen." Ja", meinte Mücke und dachte an den Streich, den sie gemacht hatten, als Mauersäge den Schreckenstein in ein Hotel umwandeln wollte. "An sich sind wir Ja Spezialisten für Verhinderung von Hotels in alten Gemäuern. Aber vielleicht gelingt es uns auch mal andersrum." Unvermittelt begann die Rülpshexe Beifall zu klatschen, wobei sich ihre Handflächen nicht immer trafen. "Die hat sie nicht alle", flüsterte der kleine Herbert. "Alles halb so wild", meinte der kleine Eberhard. Beatrix drückte Stephans Arm. "Ich hab jetzt schon Gänsehaut. " "Ich auch", bekannte Ottokar. "Der Laden ist so gemütlich wie ein Brunnenschacht." "Dann wartet mal ab!" meinte Stephan. "Die Horror Rock Band wird euch schon einheizen!" Schreckensteiner und Rosenfelserinnen holten ihre Schlafsäcke und Unterlagen. Die Bandmitglieder wollten Schlagzeug, Baßgeige und die Instrumentenkoffer erst später holen. Die Fahrer der Busse aber hatten mit Mauersäges Diener Jean die Fressalien ausgeladen und wollten in ihr Quartier im Dorfgasthof. Dorthin sollte Jean sie mit dem Geländewagen bringen. Kurz entschlossen bat Sportlehrer Rolle, der seine empfindliche Baßgelge nicht unnötig in dem feuchten Schloß lagern wollte, sie um die Schlüssel. "Nur die Türschlüssel", sagte er. "Am besten von allen Bussen. Falls jemand was holen oder wegsperren will. Hier spukt's nämlich." Den Eindruck hatten die Fahrer auch und gaben ihm die gewünschten Schlüssel. Neben der Bibliothek lag der Festsaal. Strehlau und Fräulein Böcklmeler probierten die beiden Konzertflügel Gleichzeitig. Hans-Jürgen wackelte mit den Ohren ,Nenn das vierhändig sein soll - für mich ist das höchstens vierbeinig!" Die feucht-modrige Luft war den Instrumenten nicht bekommen. Hinter dem Festsaal lagen der grüne, nach der Doppeltür der rote Saal, die beiden Lagerstätten für die Nacht. Im Parkett fehlten Stücke oder es hatte sich zu Hügeln aufgeworfen; an den Wänden hingen verblaßte Bilder, darunter standen einige baufällige Stühle. Mehr nicht. ',Das Bad befindet sich hinter dem Kornspeicher!" erklärte die Rülpshexe mit Komfort in der Stimme und bog über einen schmalen Korridor in den nächsten Flügel ab An einem Fenster blieb sie stehen und deutete hinaus. Auf dieser Seite grenzte das Schloß an einen düsteren See. "Das Wasser ist erfrischend kalt und sehr tief!" fuhr die Rülpshexe fort. "Die Treppe da vorn führt direkt hinaus. " "Hätt ich das gewußt, hätt ich meinen Tauchsieder mitgenommen!" flüsterte Klaus. Streicherfahren, wie sie waren, wollten die Ritter alles sehen. Gerade bei alten Gemäuern ist genaue Ortskenntnis vonnöten. Auch Mädchen schlossen sich an, die Laune hob sich, und die Besitzerin sagte ein ganzes Geschichtsbuch auf.
Durch düstere Gänge ging's, größtenteils ohne elektrische Beleuchtung, Spinnweben an Türklinken, Sessel mit zerfetzten Polstern, blinde Spiegel, zersplitterte Fensterscheiben, durch die der Wind pfiff, aus den Angeln gerissene Türen lehnten schief im Stock. "Das Werk unserer Geister", erläuterte die Rülpshexe. "Sie zerstören alles. In den oberen Geschossen sieht's noch schlimmer aus. Doch das werdet ihr ändern, nicht wahr? Mit eurer lauten Fröhlichkeit. " Und sie zeigte ihre langen Zähne. Manches Gesicht wurde lang und länger. Niemand wollte versprechen, besonders lustig zu sein. Um so entspannter gab sich Dampfwalze. Er müsse unbedingt den Hungerturm sehen. Sie führte ihn auf einen Balkon, die andern drängten nach. Der klebte wie ein Runderker, mit eigenem Spitzdach, an einer Fassade neben dem See. Im Boden war eine Holzklappe zu sehen, an der Mauer lehnte eine ungefähr sechs Meter lange, windschiefe Leiter. Manche Sprosse fehlte. "Der einzige Zugang!" verkündete die Rülpshexe und zuckte wieder mit einer Gesichtshälfte, was bei der Zugluft niemanden mehr erstaunte. "Ähnlich ist es beim tiefen Verlies." Es ging abwärts. Aus einem Halter an der Wand nahm sie eine Fackel, zündete mit dem Feuerzeug zuerst einen Span an und stieg voran in ein modriges Kellergewölbe. Drunten, in der Mitte des leeren Raumes, ragte der Mauerrand eines Brunnenschachts heraus. An der Innenseite sahen Ritter und Mädchen - nur wenige waren mitgekommen - im Fackelschein eine eiserne Leiter. "Zwanzig Meter geht's hinunter. Dann kommt kurz vor dem Wasser das Verlies. Wer da drin saß, ward nie mehr gesehen!" Die Stimme der Rülpshexe hallte gänsehautfördernd in dem Schacht. " Sache für Feiertage." Ingrids Spott klang nachdenklich und ziemlich kleinlaut. Sophie, Beatrix, Martina und Esther schwiegen. Auch von den Rittern sagte niemand ein Wort. Alle beeilten sich, aus dem stickigen Loch herauszukommen. Sie hatten endgültig genug gesehen und schnappten nach frischerer Luft. Beni mußte husten, bevor er sprechen konnte. "Auch wenn der Laden von allen bösen Geistern verlassen ist, wird das nie ein Hotel!" "Rheumafabrik!" bestätigte Mücke. Im grünen Saal, wo die Ritter ihre Schlafsäcke entrollten, stand der Rex. Für die Nachzügler wiederholte er noch einmal: "ich hab's mir weniger feucht vorgestellt. Zieht euch warm an! Wer nicht genug dabei hat, soll lieber ins Gasthaus. Zwingt euch zu nichts, was eurem Gefühl, eurer Überzeugung widerspricht. Auf gar keinen Fall! Das wäre wirklich idiotisch. " Die Ritter wechselten Blicke. Dem Rex war's offenbar auch schon mulmig - eine seltene Erscheinung. Nebenan im roten Saal schlug Fräulein Doktor Horn ähnliche Töne an. Sonja war herübergekommen. Sie suchte "Kartoffelsalatstemmer" für den Aufbau des Buffets. "Ich hab dich schon fröhlicher gesehen!" raunte Stephan ihr zu. "Da bin ich nicht allein", antwortete sie. "Die Chefin würde am liebsten sofort zurückfahren. Aber sie traut sich nicht, wegen Mauersäge." "Und was sagt dein Vater?" fragte Ottokar. "Er meint, morgen wüßten wir, wozu's gut war." Die beiden Freunde sahen einander an. Ottokar schüttelte zuerst den Kopf, dann gab er einen knappen Lachstoß von sich. "Komisch. Keiner glaubt im Ernst an Geister, jeder ist überzeugt, daß die Hexe spinnt. Trotzdem -irgendwas liegt hier in der Luft. Und es ist nicht nur Modergeruch. . ." Eindringlich sah Sonja die beiden an. "Ihr habt euch seit dem Vortrag der Hellseherin das Herumschnuppern ganz schön angewöhnt!" "Schon vorher", verbesserte Stephan. "Und nicht zu unserem Vorteil", fügte Ottokar hinzu.
Nacht der Gänsehäute Seit Oskar mit seiner Gitarre dabei ist, klingt die Horror Rock Band anders. Wie von selbst haben sich neue Möglichkeiten des Zusammenspiels ergeben. Strehlau am Klavier, Rolle am Baß und Ottokar am Schlagzeug bilden nach wie vor die Rhythmusgruppe. Zu ihr gesellt sich Oskar, wenn er nicht grade mit Hans-Jürgens Flöte und Stephans Akkordeon im Satz spielt, während Andi mit der Trompete die Melodie führt, bis ihn Flöte, Gitarre oder Akkordeon mit Soloeinlagen ablösen. Dann wieder machen alle rhythmisch-harmonischen Hintergrund, und Strehlau läßt die Finger laufen, daß die Tasten staunen, Rolle zupft und streicht, dreht die Baßgeige wie eine Tanzpartnerin oder läuft drum herum, bis Ottokar mit Klöppeln, Besen und Stöcken auf Häuten und Becken ein Feuerwerk entfacht, als habe er zweifelsfrei sechs Arme. Stillsitzen kann da niemand. "Ich hab keine Lust mehr. " Mitten im stampfenden Rhythmus der Band bleibt Beatrix stehen.
"Essen wir was", schlägt Klaus vor. Doch dazu hat sie auch keine Lust und er noch weniger. Dabei ist das Rosenfelser Buffet von gewohnter Qualität. Auch das berühmte Marzipan fehlt nicht. Doch niemand drängt sich um die Köstlichkeiten. Die Säfte-Bar von Constanze und Isabell findet überhaupt keinen Zuspruch. Mit einer Decke um die Schultern lehnt Doris an der Wand und starrt vor sich hin. Ähnlich geht es den Erwachsenen nebenan in der Bibliothek. Starr wie Schachfiguren sitzen sie um das Kammfeuer. ,Ihr bewegt euch wie vollgefressene Flußpferde!" rügen die vier Minis die Tanzbemühungen von Dieter, Mücke, Emil, Renate, Eva und Irene. "Atmet mal kräftig aus, damit's wärmer wird", empfiehlt Dolf und macht Freiübungen, als sei er auf dem Sportplatz. Pummel und Eugen sitzen beinebaumelnd mit verschränkten Armen auf dem verstimmteren der beiden Flügel, ihre Strickmützen tief in die Stirn gezogen. "Wozu das Gehopse?" Martina und Beni hören auf. "Idiotisch!" brummt Bettina und latscht mit Werner und Fritz weg. "Irgendwie ist mir schwindelig." "jawohl, Stimmung!" Die Rülpshexe steht unterm Türstock und klatscht in die Hände. "Bitte noch viel, viel lauter!" Armin macht mit dem Finger die bekannte Schraubbewegung an der Schläfe mit dem dazugehörigen Pfiff durch die Zähne. Esther hebt eine Kerze auf, die aus einem Wandleuchter gefallen ist. Die elektrische Leitung hat von Anfang an die Beleuchtung des Saals verweigert. Die Kerzen in den paar Wandleuchtern auf der einen Seite zaubern gespenstische Riesenschatten der Tanzenden auf die andere. "jetzt bleib endlich zu!" Schon ein dutzendmal hat Ralph den Fensterflügel geschlossen und immer wieder schwenkt er herein, kalten Wind im Gefolge. Sonja singt mit der Band - gewöhnlich ein lebhaft beklatschter Höhepunkt -, heute kommt nichts dergleichen. Allein Schießbude starrt sie an, die Hände in den Taschen vergraben. Seit einer Stunde plagt sich die Horror Rock Band um Fröhlichkeit. Aber weder Tempo noch Lautstärke haben bisher zum Erfolg geführt. "Schluß jetzt!" Ingrid steht auf einem der Hügel, die die Feuchtigkeit im Parkett aufgeworfen hat, und herrscht Dampfwalze an, der noch tanzt. "Deine dauernde Motzerei paßt mir nicht. Wenn du was für die Stimmung tun willst, dann setz dich in den Hungerturm. ja los, Abmarsch!" Das ist selbst dem Muskelprotz zuviel. Wortlos dreht er sich um und geht an den staunenden Minis vorbei hinüber In den grünen Saal. "ldiotenritter!«' mault Ingrid ihm nach. Mit einem Beckenschlag von Ottokar endet das Stück. "Meine Stimme! Ich muß was Warmes trinken!" sagt Sonja und geht in die Bibliothek, wo Jean Glühwein serviert hat. Die wenigen Tänzer bewegen sich auch ohne Rhythmus weiter. Hans-Jürgen schüttelt den Kopf. "Ein Fest wie Kunsthonig!" Stephan schaut auf seine Uhr. "Und erst halb zehn. " "Was ganz Schnelles!" rufen Wolf und Rolf herüber. "Genau richtig", meint Rolle. "je wilder, desto wärmer. Sie einigen sich auf ein Stück, das sie an diesem Abend schon einmal gespielt haben. Andi schmettert los, Ottokar trommelt wie ein Preßluftbohrer, Wolf und Rolf tanzen aber nicht, sondern drehen Runden im Laufschritt. Pummel und Eugen haben den verstimmten Flügel verlassen und sich in den grünen Saal verzogen. In ihre Schlafsäcke gekuschelt spielen sie bei Kerzenlicht eine Partie mit dem taschenbuchgroßen Steckschach. Auch Dampfwalze hat sich in seinen Schlafsack verkrochen und zur Seite gedreht. Da kommt, mit Schlafsack, Luftmatratze und einem Buch, Ingrid aus dem roten Saal herüber. "Ich komm zu euch", sagt sie. "Drüben find ich nicht mal eine Kerze." Quer legt sie sich vor die beiden Schachspieler und schlägt das Buch auf. Nach Sekunden schält sich Dampfwalze geräuschvoll aus seiner Wärmetüte, legt sie sich um die Schulter und verschwindet in den roten Saal. Mit einem Beckenschlag Ottokars hat ein ganzes Potpourri von Stücken geendet. Die Läufer auf der Tanzfläche traben weiter; Stephan schaut auf seine Uhr, Andi liest mit ab: "Zwanzig vor zehn!" Die Musikanten legen ihre Instrumente weg, um zu verschnaufen. Aus dem Halbdunkel tauchen Schreckensteiner und Rosenfelserinnen auf, umdrängen die Band. Sie soll weiterspielen. Strehlaus Einwand, sie würden ja doch nicht tanzen, beantwortet Elke. "Ohne Musik krieg ich hier Gänsehaut." Und sie schüttelt sich. Die Kühle, die Zeit, Ritter und Mädchen, alles schleicht. Und weil nichts zu erwarten ist, was Stimmung machen könnte, fangen die ersten an, sich für die Nacht einzurichten.
Neben dem Buffet hocken Bettina und Irene in ihren Schlafsäcken auf einer quergelegten Luftmatratze. Die zweite steht als Rücklehne an der Wand. "Wir bleiben hier!" sagt Irene. "Drüben ist es uns zu unheimlich ohne Licht." Mit besorgten Gesichtern kommen der Rex und Fräulein Doktor Horn. "Möchte jemand doch lieber im Dorfgasthaus übernachten?" fragt die Leiterin. Manchen ist anzusehen, daß sie möchten. Sie sagen es aber nicht, wegen der andern, die's auch nicht sagen, dabei nicht weniger möchten. "Wer in seiner Miefwurst noch friert, kann sich ja rüber vors Kaminfeuer legen", meint Witzbold Klaus. Fräulein Doktor Horn schenkt ihm ein beruhigtes Lächeln, obwohl ihr die Bezeichnung Miefwurst für Schlafsack äußerst mißfällt. Der Rex hat sich weiter umgesehen und kommt aus dem grünen Saal zurück. "Wo ist denn Dampfwalze?" "Der motzt irgendwo rum", erklärt ihm Fritz. "Das Tanzglück war ihm nicht hold", fügt Mücke gespreizt hinzu. Da schmunzelt der Rex. Er weiß bei wem und wendet sich mangels Schulkapitän an dessen Vorgänger. "Wir ziehen uns jetzt zurück", flüstert er Ottokar zu. "Am besten ihr geht in die Bibliothek und heizt ordentlich ein. Sollte irgendwas sein, weckt mich!" Ottokar nickt verständig. Für den Rex liegt auch was in der Luft. Die beiden Schulleiter trinken nebenan ein letztes Glas Glühwein. Strehlau klimpert weiter, nur von Oskar begleitet. Wie ein Geisterpaar schweben Mauersäge und Fräulein Doktor Horn tanzend herein und wieder hinaus. Nicht weniger unwirklich steht auf einmal die Rülpshexe da und krächzt: "Wir gehen jetzt schlafen! Und ihr dürft feiern. Die ganze Nacht. So laut ihr wollt!" ,Na ... ks ... ist das ein ... ks ... Angebot?" Auch Mauersäge wirkt nicht unbedingt wie ein zeitgenössisches Wesen. Er hebt die Hand. "Sodann ... ks ... angenehme Unruhe!" "Keine Müdigkeit. Sonst kommen sie!« warnt die Rülpshexe, bevor sie mit ihm entschwebt. Kaum hat sich die Glühweinrunde verzogen - Sonja und Schießbude sitzen noch auf dem Sofa -, bemächtigen sich die Minis des offenen Kamins, in dem es bald brennt wie das Feuer unter dem Kessel eines alten Dampfschiffs bei der Fahrstufe Äußerste Kraft voraus. Pummel, Eugen, Ingrid sind herübergekommen, Ritter und Mädchen werkeln wie die Wühlmäuse. jeder möchte sich in der Bibliothek einrichten. Doch ohne Festsaal kommen sie nicht unter, so eng sie zusammenrücken. Ihre Stimmung ist merkwürdig gereizt. "Nicht drängeln!" sagt Mücke. "Die Geister kommen zu jedem." Niemand denkt mehr an Tanzen oder Essen. Wie Hunde sich verkriechen, sucht jeder im Schlafsack Schutz vor der schleichenden Kühle. Dabei ist es gar nicht kalt. "Ich hab nicht verstanden", sagt Sophie plötzlich. "Ich hab nichts gesagt, antwortet Ottokar. "Komisch", sagt sie. "Mir war so." Beni, Esther, Andi, Martina und Dieter rollen sich zusammen, schließen die Augen, versuchen abzuschalten, die Umwelt auszuklammern - vergeblich. Die Unruhe kommt von innen. Und von außen. Zwar hat Ralph einen Sessel mit hoher Lehne vor das klappernde Fenster geschoben. Aber da sind noch andere Geräusche, Knarzen, Fauchen, Ächzen, Bersten, dumpfes Stoßen, und sie kommen nicht nur aus dem Kamin. Wer ins Feuer schaut, dem dreht sich alles, er denkt, das ganze Schloß brenne. Und hinten läuft's ihm eiskalt den Rücken hinunter. Besonders, wenn er auf die Geräusche achtet. War das eben nicht wie fernes Gelächter mit Widerhall? Die Rülpshexe? Nein, es kam von der anderen Seite! Was zischt da? Bewegt sich die Tür? Oder der ganze Saal? Wieso schwebt der Mini vor dem Feuer? Da sticht mich doch was? "Macht Musik!" bittet Beatrix. Stephan nimmt sein Akkordeon und begleitet Hans-Jürgens Flötenspiel. Leise singt Sonja mit. Rolf und Wolf traben auf der Stelle. Im Festsaal veranstaltet das Feuer Schattenspiele, daß sich Bettina an die Nase faßt, um festzustellen, ob sie noch bei Sinnen ist. Wird noch geredet oder horchen alle? Spielt noch Musik? War da wieder dieses ferne Lachen mit Hall? Die sonst so kesse Ingrid liegt händchenhaltend neben Klaus. Sie muß einfach jemand fühlen, als Erdkontakt gewissermaßen, um nicht wegzuschweben. "Dein Puls ist eine Geschwindigkeitsübertretung!" scherzt der Witzbold und. hat selber an Schlagzahl zugelegt.
Jetzt spielen Oskar und Rolle zusammen. Stephan hat das Akkordeon weggestellt und wärmt seine Finger am Feuer. Sonja summt die Melodie mit, Schießbude neben ihr auf dem Sofa summt kreuzfalsch hinterher. Doch das ist besser als gar nichts. "Alle mitsingen!" schlägt Stephan vor und stimmt an. Viele folgen seinem Beispiel. Da kracht es plötzlich, als stürze das Schloß ein. In den Hälsen bleiben die Töne stecken, in den Lungen die Luft. Bettina faßt sich wieder an die Nase. ja, sie ist noch da. Vor ihr aber, keinen halben Meter vor ihren Füßen, ist der Türflügel heruntergekracht. Den oberen Kloben hat's aus der Wand gerissen. Er ist Werner an die Schulter geflogen. "Wir hätten Paule mitbringen sollen", meinte Mücke trocken. Er bleibt ohne Antwort. Wind fährt in den Schornstein, drückt die Riesenflamme aus dem Kamin, daß sie für Sekunden meterhoch über den Sims züngelt. Ungewollt wird wieder gelauscht. Sägt da jemand? Oder ist es ein Stöhnen? Dort zischt etwas? "Laßt euch von der Bruchbude nicht fertigmachen!" rät Ottokar. Im Herzen ist er noch Schulkapitän, der sich für alles verantwortlich fühlt. "Sonst werden wir den Geistern mal den Marsch blasen!" Andi hat die Trompete angesetzt und schmettert los. "Endlich was Positives!" raunt Pummel seinem Freund Eugen zu. "Das sind nur die Hühner, die hier die Angstfrequenz reinbringen. " Licht flackert, es regnet Funken und poltert. Bebt der Boden? Oder ist nur ein brennendes Scheit aus dem Kamin gekullert? Mancher Ritter kneift die Augen zusammen, als traue er seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr. Mittendrin hat Andi die Trompete wieder abgesetzt. Ich blas mir doch nicht die Lungen aus dem Leib, bloß weil die Rülpshexe Gespenster sieht. . . Ist da wieder dieses Lachen mit Hall? "ist das Dampfwalze, der uns erschrecken will?" fragt Ingrid. "Was?" Ralph sieht sie groß an. "Du hörst wohl schon Gespenster?" "Doch!" Esther deutet nach oben. "Das Pfeifen kam von da!" "Du meinst das Poltern?" Klaus deutet zum grünen Saal. "Das kam von hier!" "Spinnst du? Drüben hat's geknirscht!" Miniritter Kuno deutet in Richtung Hungerturm. "Nun macht euch nicht verrückt!" warnt Sonja. "Ihr hört nur alles mögliche, weil ihr drauf wartet." Stephan hat sich sein Akkordeon wieder vorgebunden und deckt die Besorgnis mit Rhythmus zu. Rolle greift nach seiner Hundehütte am Stiel und zupft mit. "Musik!" sagt er. "Das hilft." Obwohl Sonja mitsingt, können sie nicht zudecken, was in der Luft liegt, ein Platschen, als ob ein Felsbrocken ins Wasser klatscht. Diesmal haben es alle gehört, alle dasselbe Platschen. Sie wollen es nicht, doch sie lauschen, an nichts anderes können sie mehr denken, als zu warten auf das nächste Geräusch in diesem verhexten Laden. Was war das? Ein Ächzen? Ein neues Platschen? Stöhnen? Schritte? Rolle, Sonja, Stephan haben ihr Spiel unterbrochen. Mit schräg geneigten Köpfen sitzen sie da, auf Empfang geschaltet. Eine Türangel quietscht, naß wie ein Schwamm wankt Dampfwalze herein, schleppt sich bis zum Kamin, wo er zusammensackt. Rolle drückt Sonja die Hundehütte am Stiel in die Hand und eilt zu ihm. Er, der Sportlehrer und Trainer, weiß am besten, was da zu tun ist. Zuerst hebt und senkt er Dampfwalzes Arme, drückt ihm auf die Brust, fühlt den Puls. Alle lauschen weiter gespannt. Sie hören nicht mehr das Knirschen, Poltern, Klirren, Fauchen und Dröhnen. Sie warten auf einen Laut, auf eine Regung des Kraftgebirges, das daliegt mit geschlossenen Augen. Dampfwalze holt Luft, der mächtige Brustkorb dehnt sich, dehnt sich, dehnt sich. "Mann!" Schwer richtet er sich auf. "Bist du verletzt?" fragt Rolle. Mit seinem Kopfschütteln schleudert der Triefende einen Tropfenregen rund um sich. "Wo warst du denn?" will Pummel wissen. Da muß der Muskelprotz husten. An seiner Stelle antwortet Ingrid. Jin Hungerturm. Wo ich ihn hingeschickt hab." Dampfwalze nickt. "Ich ... ich ... wollte ... mal ... nachsehen. . ." preßt er unter Husten hervor. "Mann! Da war. . . vielleicht was ... los!" "Geister?" fragt der kleine Egon. Müde winkt Dampfwalze ab. "Frag mich nicht. Aber hier spukt's, das steht fest! Da brauchst du dich nur fünf Minuten in den Turm zu setzen. Und ich war viel länger dort. Ich wollt's genau wissen. Wie ich
runter bin, ist erst eine Sprosse gebrochen, dann hab ich deutlich gespürt, wie eine Kraft die Leiter von
der Wand wegkippt. .
Erschöpft legt er sich zurück.
Alle schauen betreten. Gleichsam zur Bestätigung hören sie wieder Geräusche. Bei dem Lachen mit Nachhall breitet sich Gänsehaut aus wie eine Epidemie. Und diesen unberechenbaren Kräften hat Dampfwalze sich ausgesetzt, ganz allein! Der nasse Held wankt hinüber in den grünen Saal, um sich umzuziehen. volldreiste Solotour!" schwelgt Martina. Nicht alle verdrehen vor Bewunderung die Augen. Trotzdem: Für Angeberei war der Alleingang zum Hungerturm zu kühn. "Unheimlich unheimlich!" Renate schüttelt sich. Dampfwalzes Bericht hat aller Ahnungen erhärtet. Was in der Luft lag, sitzt jetzt unter der Haut. Es genügt nicht mehr, wenn Bettina sich an die Nase faßt. Sie ist sich nicht sicher, ob sie sie spürt in dieser unwirklichen Wirklichkeit. Wo auf keine Wahrnehmung mehr Verlaß ist, ob nur der Kopf wackelt oder doch die Wand, sind auch ritterliche Tugenden keine Hilfe. ,jetzt versteh ich dich!" flüstert Sophie im Schlafsack neben Ottokar. "Was du denkst, was du tust oder nicht tust, ist plötzlich egal, idiotisch. Aber du kannst nicht raus aus dir, du bist wie ferngesteuert. " "Spielt weiter!" ruft Sonja, als wär sie in Eile. Schießbude neben ihr auf dem Sofa hat einen ferngesteuerten Unterkiefer. Der klappert. Rolle tritt zu den beiden, redet auf sie ein. Stephan, Oskar, Strehlau, Hans-Jürgen und Andi muslzieren weiter, Rolf und Wolf machen Laufschritt auf der Stelle. Vielleicht ist Bewegung richtig? Pummel holt Bettina und fegt mit ihr durch den Festsaal, Klaus und Ingrid folgen. Sie lösen eine Kettenreaktion aus. Bald hüpft alles wild herum. Es ist ein Geistersabbat zwischen Feuer und Schatten, Ekstase ohne Stimmung, ferngesteuert. Da kommt im Trainingsanzug mit geschulterter Miefwurst der starke Mann zurück. Er kriecht weder hinein, noch nimmt er am Veltstanz teil. Vors Feuer tritt er, wärmt Körperteil um Körperteil in wechselnden Posen, wie ein Mister Muskel. ,Was ist das? Mir dreht sich alles!" Beatrix hält sich an Stephans Akkordeon fest, Eugen schlägt lang hin, zwei Minis wanken zur Saftbar und trinken hastig. "Vorsicht!" schreit Hans-Jürgen mitten im Flötensolo. Der zweite Türflügel kippt. Werner, Ralph und Dieter reagieren blitzschnell. Sonst hätte er Esther getroffen. "Mann, du hast recht, Dampfwalze!" ruft Beni. Mücke schaut auf seine Uhr. "Geisterstunde", sagt er. Was tut Dampfwalze? Blicke haken sich am starken Mann vor dem Feuer fest. Der hat sich von Rolle einen kleinen Schlüssel geben lassen, schultert seine Miefwurst wieder und geht zur Tür, die auf den Korridor führt. "Wo willst du hin?" ruft ihm Irene nach. ja, wohin?" wollen auch Constanze und Armin wissen. "Raus aus dem Laden!" antwortet der Muskelprotz. "Ich leg mich in den Bus." Diesmal ist es sein Handeln, das die Gemeinschaft spaltet. jäh endet der Tanz, Wind heult, überall klopft und knirscht es. Diejenigen, die lieber ins Gasthaus gegangen wären, atmen auf. Dampfwalzes Beispiel zu folgen - das trauen sie sich. Rolle, Schießbude und Sonja diskutieren heftig. "Wir bleiben!" erklärt Miniritter Eberhard mit geisterverscheuchender Miene. "Sonst wird das nie ein Hotel!" bekräftigt Oskar. Rolle sieht sich umdrängt und geht mit den Umsteigern. Die Dableiber rücken ums Feuer zusammen. Klaus, Andi, Pummel, Beni und Mücke stemmen die herausgebrochenen Türflügel hoch und lehnen sie gegen die Kühle aus dem Festsaal an den Stock. Da! Geister! Ganz in Weiß, kommen sie durch die Seitentür herein. Fräulein Doktor Horn, Doktor Waldmann und Fräulein Böcklmeier in Bademänteln, mit gequälten Blicken. Sie können in ihren Zimmern nicht schlafen. "Grauenhaft!" klagt die Leiterin. Mücke erklärt ihnen die Lage. Waldmann nimmt auf dem Sofa seine Tochter Sonja in den Arm. Stephan legt frische Scheite ins Feuer, Beatrix rutscht noch näher an seinen Schlafsack heran. Die Geräusche haben nicht nachgelassen. Fräulein Böcklmeier hält sich die Ohren zu. "Ich möchte heim! Ich möchte heim!" jammert sie.
"Wir begeben uns auch in den Bus!" entscheidet Fräulein Doktor Horn. "Sie passen hier auf, Doktor Waldmann." Strehlau führt die weißen Lehrkörper hinaus. Mit einem Ruck setzt sich Sophie in ihrem Schlafsack auf. "Wo ist Ottokar?" "Bei den Buspennern!" antwortet Miniritter Herbert möglichst verächtlich. "Das hätte er mir gesagt und mich mitgenommen!" widerspricht sie ihm. Stephan sieht sie an, sieht Beatrix an und wieder Sophie. "Vielleicht ist er zum Rex."
Miefwurstgeraschel Da liest man oft in Büchern, wie sich Menschen unter extremen Bedingungen verhalten, wie sie Gefahren, Nöte, Anstrengungen gemeistert haben. Wenn man das ungestört, in bequemer Lesehaltung aufnimmt, kann man sich richtig reinsteigern, daß die Spannung nur so knistert, kann mitempfinden oder sich vorstellen, man wär derjenige selber, der zuerst schier Unvorstellbares durchmachen muß, schließlich aber doch mit allen Bedrohungen fertig wird, weil er wußte, daß er's schaffen würde, denn er mußte. Ihm blieb keine andere Wahl. Hat man das Buch dann weggelegt und denkt noch ein wenig über die Geschichte nach, deren Ausgang man jetzt kennt, wird es schwieriger, sich in der Rolle des Beschriebenen zu sehen. Plötzlich begreift man: Ich bin anders als der. Ich würde mich anders verhalten. Dies oder das, was er kann, könnte ich nicht, würde ich nicht aushalten. Oder vielleicht doch? Mit dieser Frage kann das eigene Abenteuer beginnen. jetzt will man wissen, wie man selber ist. Fehlen nur noch die Umstände, es zu erfahren. Dann findet man auf einmal allein schon den Gedanken daran höchst überflüssig. Wozu sich selber in Schwierigkeiten versetzen? Wär doch idiotisch! Andererseits lockt es wieder. Sich vor sich selber beweisen, daß man so was schafft. Eine Ahnung sagt einem, wie gut man sich danach fühlen würde. Schließlich gerät die Geschichte in Vergessenheit. Bis man etwas Ähnliches erfährt und sei's nur vom Hörensagen. Seit seinem Aufgeben bei der Staffel, über dessen Grund er sich noch nicht restlos klargeworden ist, hat Ottokar auf eine Gelegenheit gewartet, etwas zu tun, das ihn wieder ins Gleichgewicht bringt. Mit sich und bei den andern. Sie müssen wissen, daß sie sich auf ihn verlassen können. Vertrauen anderer ist für das Selbstbewußtsein ein wichtiges Grundnahrungsmittel. "Ich geh!" hat er kurz nach Mitternacht zu Stephan gesagt. Sein Freund hat ihn sofort verstanden. Auffällig hat er seinen Schlafsack ausgeschüttelt, ihn unauffällig verschwinden lassen und ist mit seiner Taschenlampe, ohne die kein Ritter die Burg verläßt, losgezogen. Langsam ist er gegangen durch die verwinkelten Gänge, verfolgt von unheimlichen Geräuschen und dem beklemmenden Gefühl, nicht allein zu sein. Oft war ihm, als fühle er den Atem von Unsichtbaren. Mit Geistern hab ich nichts zu tun! hat er stumm vor sich hin gesagt, den ganzen Weg lang, bis hinunter in den Gewölbekeller. Dort hat er seinen Gürtel wie einen Sturmriemen um den Kopf gebunden, an der Schläfe die Taschenlampe dazwischengeklemmt, den Schlafsack auf dem Rücken unter die Reißverschlußjacke gestopft und ist über den Brunnenrand auf die Eisenleiter geklettert. Wie zum Tauchen, hat er noch einmal tief Luft geholt. Dann ist er hinuntergestiegen, im Hall des eigenen Atems und dem Quietschen der Gummisohlen auf den ,glitschigen Sprossen. Er hat die Nähe des Wassers gespürt, wie die Nähe der Unsichtbaren. jetzt noch deutlicher. Dann hat seine Lampe das Loch in der Schachtwand erfaßt. Durch das offene Gitter ist er hineingestiegen in die feucht-stickige Felshöhle. Ohne weiter herumzuleuchten, hat er sich auf einem erhöhten Gesteinsbrocken in seinen Schlafsack verkrochen. So ist das, wenn man's nicht im Buch liest! ist ihm eingefallen, und was die Hellseherin gesagt hat: Geister können dich nicht anfassen, So daß du's merkst. Aber bei einem labilen Geist genügt es, sich vor ihm zu fürchten, um ihn herbeizurufen. Dann zeig jetzt mal, zu was du fähig bist! hat er zu sich selber gesagt und die Taschenlampe ausgeschaltet. In der Bibliothek haben die vier Minis abwechselnd das Feuer gefüttert und Kerzen ersetzt. Ohne Licht hätten die gedrängt liegenden Ritter und Mädchen noch mehr an ihren fünf Sinnen gezweifelt. Geräusche und Trugbilder hörten nicht auf. Sophie, von Stephan eingeweiht, weil Ottokar nicht zurückgekommen ist, hat kein Auge zugetan und trotzdem den Mund nicht auf. Es hätte nichts genützt. Zu sehr war jeder mit sich selbst beschäftigt. Gelang es einem einzuschlafen, schreckte er beim nächsten Geräusch wieder hoch, um auf die Frage, was das Jetzt wieder gewesen sei, ob am Ende der ganze Laden einstürze, festzustellen, daß er das offenbar nur in seiner Einbildung gehört hatte. Nicht anders erging es den Buspennern. Auch sie schreckten immer wieder durch Geräusche auf, die es für andere nicht gab. Und nicht nur durch Geräusche.
Mit leisem Schrei fuhr Fräulein Doktor Horn hoch und stammelte im Halbschlaf: "Der Milchmann brennt! Ich hab den Schuß gehört." "0 ja. Es riecht nach angebrannter Milch!" brummte Emil völlig verdöst und todmüde. Das nächste Geräusch, einen gewaltigen Urlaut, hörten alle. Dampfwalze schälte sich aus seiner Miefwurst und schimpfte: "Das ganze Schloß liegt in einem Spannungsfeld, wie von einem Störsender, der uns alle verrückt macht!" Mit dieser Verkündung kletterte er wieder aus dem Wagen. Draußen stand Klaus, um einzusteigen. Auch er schimpfte: In der Bibliothek machen sie sich gegenseitig verrückt!" Das Kommen und Gehen riß in dieser Nacht nicht ab. Wer Ruhe suchte, wurde die Unruhe nicht los. Es war zwischen drei und vier, Stephan hatte gerade auf die Uhr geschaut, als ein ausnahmsweise roter Geist um das stark geschrumpfte Massenlager vor dem Kamin schlich, mit stierem Blick und tonlosen Lippenbewegungen, wie einer, der vor sich hin zählt - der Rex. Und er schwebte hinaus auf den Korridor. Von dort hörte man das Krachen eines Balkens. Oder war es ein helles Knirschen? Es dauerte nur eine winzige Ewigkeit in dieser endlosen Nacht, und er schwebte wieder herein. Im Gefolge den weißen Geist von Rosenfels, der gleichfalls tonlos die Lippen bewegte, bis ein Aufschrei sie weit auseinanderriß. "Mein Gott! Das ist ja grauenhaft! Wo sind sie? Wo sind sie?" Der Rex, auch er seit Stunden von Trugbildern am Schlaf gehindert, hatte sich, seinem Instinkt gehorchend, aufgemacht, die Häupter der Schreckensteiner und Rosenfelserinnen zu zählen. Im letzten Bus war er zu Tode erschrocken. Ungefähr die Hälfte fehlte. Doch weil er seinen Sinnen auch nicht mehr traute, hatte er die Leiterin zur Gegenkontrolle mitgenommen. Auf ihren Schrei reagierte Mücke, wie meistens, als erster. "Die andern sind Buspenner!" erklärte er. "Eben nicht!" widersprach der Rex. "Weg sind sie. Weg!" Da raschelten die Miefwürste. Doch in die gute Absicht, nach den Verschollenen zu suchen, mischte sich alsbald Zähneklappern. "Sicher hat sie ein Geist weggelockt! " meinte Renate. "Es gibt nämlich Geister, die sind magnetisch, hab ich mal gelesen. Da muß man einfach mit." "Genau", bestätigte der kleine Kuno. "Haben wir in Schottland alles erlebt!" Die Erinnerung an den Besuch der Schreckensteiner auf Duncraig Castle war bis zu diesem Augenblick mangels beruhigender Elemente erfolgreich verdrängt worden. Jetzt kam sie gerade richtig. Die Ritter konnten auf ihre Erfahrungen zurückgreifen. "Alle zusammenbleiben!" rief Hans-Jürgen. Andi und Beni holten die letzten Buspenner herein, Stephan erklärte, wie vorzugehen sei. "Wir bilden eine Kette. Wir halten uns alle an den Händen fest. So durchkämmen wir das Schloß!" Der Rex nickte; die Leiterin bewegte noch immer stumm die Lippen, bis zu der Frage: "Sollten wir nicht die Gräfin wecken?" "Die hat uns das ja eingebrockt!" widersprach Sophie entschieden, weil sie hauptsächlich an Ottokar dachte. jeder Ritter steckte sich seine Taschenlampe in den Gürtel, der eine nach rechts, der andere nach links. Stephan, von Mücke an einem Sprungseil gehalten, ging mit freien Händen und nach allen Seiten leuchtend voran, Rolle bildete den Schluß der Schlange. Die übrigen Lehrkräfte blieben beim Feuer. Unternehmungen ins Unberechenbare brauchen einen zentralen Punkt, von dem sie ausgehen, zu dem jeder zurückkehren kann. Im Schein der wackelnden Lampen, von Geräuschen, Schwindelgefühlen und Trugbildern genarrt, bewegte sich der Gänsemarsch wie eine Geisterbahn mit freiem Eintritt, aber ungewissem Ausgang, durch das verwunschene Schloß. Wie immer hatte Stephan seine Dietriche mitgenommen. Keine Tür blieb ungeöffnet. Da lag Mauersäge in einem alten Prunkbett auf dem Rücken, die messerscharfe Nase unter der Decke hervorgereckt. Sein Schnarchen zersägte Mauern, so tief und friedvoll war sein Schlaf. "Mann!" staunte Klaus. "Wie gegen Geister geimpft!" Die Rülpshexe im Zimmer daneben fuhr in ihrem noch prunkvolleren Bett sofort in die Höhe. Erstaunt über den Besuch war sie keineswegs. Als Stephan ihr die Lage schilderte, lachte sie sogar. "Charmant, charmant! Laßt euch von dem Pack nichts gefallen. Ich fühle, ihr seid auf dem richtigen Weg. Ihr schafft es! Geistmanns Hell!" Über einen Treppenturm schlängelte sich der Suchtrupp ins Obergeschoß. Das war wohl seit Jahren unbewohnt; nur eine Ratte flitzte aus dem Lichtkegel. Die Spinnweben sahen im Lampenschein wie Segel aus. Auf Bilderrahmen, Schränken und Kommoden lag der Staub zentimeterdick. Und es knirschte, fauchte und hallte wider, daß sich die Hände von selbst fester ineinander verkrallten. "Wenn jemand einen Sog irgendwohin verspürt - sofort sagen!" flüsterte Mücke. "Kannst ruhig laut reden!" meckerte Klaus.
Da krachte, sei es durch die Schwingung seiner Stimme oder durch eine andere Vibration ausgelöst, ein Gemälde von der Wand. Aufgewirbelter Staub tanzte im schwankenden Licht, viele hielten den Atem an und schlossen die Augen. Stephan machte zwei tastende Schritte nach vorn. Dabei stieß er an einen Pfosten, daß ihm die Taschenlampe entfiel. Sofort bückte er sich, um sie aufzuheben, griff jedoch ins Leere. Sie war nicht aufgeschlagen, sondern fiel noch immer. Mücke leuchtete von hinten und zog, wie ein Kutscher die Zügel, das Sprungseil an. "Halt!" Stephan stand unter einem Galgen, am Rand einer offenen Falltür, unter der im nächsten Geschoß wohl eine weitere folgte, denn erst jetzt schlug die Taschenlampe tief unten auf. "So 'ne Art Aufzug", meinte Hans-Jürgen ungerührt. Sie kamen zur nächsten Wendeltreppe. Im Dachstuhl, wo der Wind durch die Ziegel pfiff, wurde es vielen Mädchen unheimlich. "Hilfe, ich schwebe!" rief Constanze. Sie bremste in der Schlange, daß die Ritter ziehen mußten. Dabei stolperten sie über Hindernisse, die überall herumlagen. "Da sind sie!" Miniritter Eberhard ließ Renate los und leuchtete unter die Dachschräge. Doch es lagen nur gefüllte Säcke nebeneinander, keine Miefwürste. Noch mulmiger wurde es in der stickigen Kühle der Keller, in die viele steile Treppen hinunterführten, da die Räume nicht miteinander verbunden waren. "Jetzt reicht es!" preßte Sophie an der Treppe zum großen Gewölberaum mit dem Brunnenschacht hervor. "Mir auch!" pflichteten andere ihr bei. "Der Sog ist zu stark. " Den spürte auch Stephan. Vielleicht war es die Sorge um seinen Freund Ottokar, die ihn hinuntertrieb. Doch er zügelte sie und begnügte sich damit, von einer der ersten Stufen aus durch den Raum zu leuchten und festzustellen: "Da sind sie auch nicht!'« Ob Ottokar ihn hörte? Wenn er da war? "Wo könnten sie denn noch sein?" fragte Beatrix. Und sie suchten die Antwort in der alten Schloßküche, im Kutschen-und im Roßstall. Ein Gänsemarsch durch den Burghof blieb ebenso erfolglos wie die Runde außen um die Burg herum. Im See schwamm die Leiter, von der Dampfwalze gekippt war; am Horizont zog der Tag herauf. In der Bibliothek brannte noch das Feuer. "Meine Mädchen! Meine Mädchen!" klagte Fräulein Doktor Horn, ohne Gedanken an die fehlenden Ritter. Sie hatte sich angezogen, war nicht mehr weißer Geist, nur noch blasses Gespenst. Der Rex, wieder im gewohnten Aufzug auch er, spielte mit seiner Krawatte. "Bleibt nur noch, daß Dampfwalze sie überredet hat, ins Dorfgasthaus zu marschieren . . "Sähe ihm ähnlich", meinte Sonja. Ihr Vater dachte genauer nach. "Eine gute halbe Stunde Weg, in der Finsternis, durch unbekannte Gegend ... ?" "Dampfwalze ist ein listiger Bursche!" tönte Miniritter Egon. Die meisten Mädchen und auch einige Ritter hatten nach der Gruseltour endgültig genug und krochen in ihre Schlafsäcke. jetzt, da der Tag anbrach, wollten sie endlich ein wenig schlafen. Stephan, Mücke und Klaus verständigten sich mit einem kurzen Blick. Wir sehen nach", sagte Stephan. "Ich komme mit!" entschied Sonja, ihrer Chefin zuliebe. Weit brauchten sie nicht zu gehen. Bei Helligkeit schrumpfen die Wege der Nacht. Gedrängt, wie Schafe im Pferch, lagen die Gesuchten in die Schlafsäcke eingepuppt auf ihren Luftmatratzen in einer windgeschützten Wiesenmulde. Mittendrin als höchste Erhebung Fräulein Böcklmeier, vornedran Leithammel Dampfwalze. Ein Bild des Friedens nach dieser Nacht. "Lassen wir die Herde schlafen", meinte Mücke. "Hauen wir uns endlich selber aufs Ohr. " Ihre Rücksicht wurde schlecht belohnt. Gegen Mittag, von der Sonne geweckt, polterten die Freiluftschnarcher in die Bibliothek, daß kein Auge geschlossen blieb. Noch bevor Fräulein Doktor Horn und der Rex dazu kamen~ die Häupter zu zählen, stürzte die Rülpshexe mit dem Ausruf "0 nein, wie furchtbar! 0 nein, wie furchtbar!" herein, Draußen tuckerte ein Motor, Ritter und Mädchen folgten ihr, mehr oder weniger schnell. . In Millimeterarbeit schob sich ein riesiger, gelber Radlader, wie ihn Straßenbautrupps verwenden, durch das Tor. Vorn in der breiten Schaufel lag ausgestreckt auf ihrer Luftmatratze, den Kugelbauch im Schlafsack, Fräulein Böcklmeler. Sie rührte sich nicht. Trotz der Komik verschlug es allen die Sprache. Erste-Hilfe-Spezialist Rolle war noch vor Fräulein Doktor Horn bei ihr. "Gehört die Dame Ihnen?" fragte der Fahrer des Radladers. "Nicht persönlich", antwortete Rolle, die Hand am Puls der runden Kollegin.
"Sie lag auf meinem Arbeitsplatz und war nicht wachzukriegen!" erklärte der Fahrer.
"Sie lebt!" rief Rolle.
"Sie nimmt immer Schlafmittel", wußte Sonja.
"Dann kann ich abladen", freute sich der Fahrer. Sachte senkte er die hydraulischen Arme und zog,
mit viel Gefühl auf dem Kupplungspedal, die Schaufel im Rückwärtsgang unter der Luftmatratze heraus. "Die Erde hat sie wieder!" alberte Klaus, und als sich Fräulein Böcklmeler wie ein erwachender Säugling zu bewegen begann, klatschten alle Beifall. "Na, Gott sei Dank!" krächzte die Rülpshexe. Heftig mit einem Auge zuckend sah sie in die Runde. "Das hätte noch gefehlt, wo ihr so kläglich versagt habt. . . " "Moment mal!" polterte Dampfwalze los. Doch bevor ihm die richtigen Worte einfielen, kam der Rex dazwischen und fragte. "wo ist eigentlich Ottokar?"
Minimumspitze Das Gespräch zwischen dem alten und dem neuen Schulkapitän sollte Rittern wie Rosenfelserinnen unvergeßlich bleiben. Nicht nur, weil Mücke es mitgeschrieben und später in der Schulzeitung abgedruckt hatte. Unter der Überschrift Ultrastyropor hieß es da: In der Stunde größter Sorge um den letzten noch fehlenden Ritter ist plötzlich ein zähneklappernder Geist in der Bibliothek erschienen und hat sich bei der Gräfin zurückgemeldet. "Dreizehn Stunden und dreizehn Minuten war ich im Verlies." Da ist uns allen noch einmal die Gänsehaut aufgestanden. Die Gemeinschaft war vom Geisterstreß geplagt und hatte versagt. Ottokar hat die Aufgabe allein gemeistert. Nach unseren Vorstellungen und dem Mut, der dazugehört, ein besonders ritterliches Verhalten. Damit sollte der Schaden, den er der Gemeinschaft beim Sportfest zugefügt hat, endgültig erledigt und vergessen sein. Doch wie sich beim Tanzabend nach der Geisternacht gezeigt hat, ist die Spaltung der Ritterschaft noch immer nicht restlos überwunden. Und das trotz absoluter Maximalstimmung! Wann je zuvor hätte Fräulein Doktor Horn mit den Minis Schuhplattler getanzt? Wann je zuvor wäre unser Burgherr als Steptänzer aufgetreten? Wann je zuvor hat Strehlau Fräulein Böcklmeler mit dem Schleudergriff auf den Flügel gewuchtet? Wann je zuvor hat Andi in zehn Minuten drei Barren Rosenfelser Marzipan verdrückt? Oder Esther eine Viertelstunde auf einem Bein getanzt? Der Abend war schlicht ultrastyropor! Und kein Geist hat uns in der Nacht mehr gestört. Wir haben geschlafen wie bei einem Festvortrag. Das war kein Zufall. Das war Ottokars Verdienst. Er allein hat das Hotel ermöglicht. Der Kuß, den er von der Gräfin dafür bekommen hat, reicht als Anerkennung nicht aus. Die sind wir ihm noch schuldig. Leider gibt es Leute, die versuchen, an seiner Leistung herumzumäkeln. Ein während des Tanzabends mitstenografiertes Gespräch beweist die traurige Kluft. Hier ein Auszug: "Styroporer Abend! Die Stimmung beweist wieder mal, was Voreingenommenheit ausrichten kann. Nicht ein Geist stört uns!" "Voreingenommenheit sagst du? Vergiß nicht, was du uns aus dem Hungerturm erzählt hast!" "Genau das, was man sich einbildet, wenn man voreingenommen ist!" Jür Voreingenommenheit warst du aber ganz schön geschafft." "Du vielleicht nicht?" "Dann setz dich mal runter in das Felsloch! Da merkst du, daß du nicht allein bist. Da spürst du den Luftzug, wenn jemand vorbeischwebt. Und die Geräusche! Mein lieber Mann, da vergeht dir jede Voreingenommenheit. Da mußt du sehen, wie du das verkraftest. Der Psychoterror ist schlimmer als im schlimmsten Gruselkino." »Warum bist du dann dort geblieben? Hat kein Schwein von dir verlangt." "Ich mußte es tun. Es war meine Überzeugung. Wo ich die hab, steh ich's auch durch. Und ich habe ja Schottlanderfahrung. " "Ziemlich idiotische Überzeugung. "Du hast ja aufgegeben. Und dich noch mit den Geistern gebrüstet."
Jn dem Turm zu bleiben wär gegen meine Überzeugung gewesen. Und das ist idiotisch. Hat der
Rex selber gesagt. " "Richtig. Und wer hat gesagt, aufgeben sei idiotisch? Etwa nicht du?" "Mann! Ich hab nicht aufgegeben. Ich hab mich nur informiert. Ich wollte eure Voreingenommenheit testen. "
"Dummerweise hast du allen gezeigt, was diese Voreingenommenheit aus dir gemacht hat -, einen nassen Sack, den geheimnisvolle Kräfte von der Leiter gestoßen haben." "Bei dir war's natürlich wie auf dem Sportfest. Du hattest plötzlich keine Lust mehr, aus dem Loch wieder rauszukommen! Ich sag dir, wie's war- Du konntest nicht! Weil du vor Angst unfähig Warst, dich zu bewegen. Dreizehn Stunden lang. Vielleicht saß eine Ratte vor dem Eingang. . . " Jetzt hab ich wirklich keine Lust mehr, mit dir zu reden. Deine Voreingenommenheit ist mir zu idiotisch." Dazu kann die Redaktion nur sagen: Schade. Hämisches Nachgerede, um eine Leistung mieszumachen, paßt zu keinem von uns. Von Ritterlichkeit gar nicht zu reden. Solche Töne müssen ganz schnell wieder verschwinden, doch darüber wollen wir uns gemeinsam einigen. Schließlich geht es um unsere Burg Schreckenstein. Der Artikel schlug ein wie ein Meteor. Schon öfter hatte die Schulzeitung durch genaue Berichterstattung auf Entwicklungen aufmerksam gemacht. Darin sah sie ihre Hauptaufgabe. Der Hinweis auf mögliche oder nötige Folgen machte jedem den Ernst der Lage deutlich. Und weil sich)eder mit den beiden Hauptereignissen des Trimesters beschäftigte, verstanden immer mehr Ritter Ottokars gewandelte Einstellung zum Sport. Rolle entwickelte daraus eine neue Trainingsmethode. "Immer Vollgas ist nicht nur für einen Motor schädlich", verkündete er. "Ihr sollt grad so schnell laufen, daß ihr noch leicht lauft. Dann habt ihr Spaß an der eigenen Kraft. Wer mit dieser Einstellung trainiert, kommt weiter, als wenn er sich ständig an der Grenze seiner Möglichkeiten plagt. Keiner kann mehr hergeben, als er hat. Er verkrampft und ärgert sich nur. Verbissenheit führt letzten Endes zu gesundheitlichen Schäden. Aber Spaß an der Sache ist eine moralische Kraft, die die Muskelkraft steigert. Man bleibt locker, leicht, lustig. Also Freunde -. Nicht Vollgas, sondern Minimumspitze!" Auch bei dem andern Hauptereignis erwies sich Rolles Minimumspitze als Schlüssel zur Erkenntnis. Sind Meinungsverschiedenheiten entstanden, heißt es genauso locker zu bleiben, Ansichten, die man nicht teilt, gelten zu lassen. Wer da mit Verbissenheit einen andern fertigmachen will, macht sich selber fertig. Es lag in der Luft. Nicht nur, weil Dampfwalze beim Essen eine Filmvorführung im Rittersaal angesagt hatte. Das kam gelegentlich vor. Meist im Wohnzimmer. Rittersaal bedeutete einen größeren Zuschauerkreis, nicht nur die Schreckensteiner. "Ist ja wie auf Rülpshorst!" alberte Hans-Jürgen, als sich die Ritter durch die Verbindungstür in Mauersäges Burgteil begaben. Im Rittersaal saßen die Rosenfelserinnen vollzählig. "Was grinst ihr denn so?" Diese Frage richtete nicht nur Stephan an Beatrix. Es war zu auffällig. Lediglich Dampfwalze merkte davon nichts. Ingrid hatte ihm den Platz neben sich freigehalten. Esther, die auf der andern Seite von ihm saß, konnte ihr Lachen kaum beherrschen. Am Filmprojektor machten sich Doktor Waldmann und Tochter Sonja zu schaffen, Rolle und Martina stellten die Leinwand auf. "Merkwürdiges Filmteam?" wunderte sich Andi. Von der andern Seite kamen Mauersäge, der Rex und die Leiterin herein. Sie hatten sich wohl in der Bibliothek für die Vorführung gestärkt. Der Rex bat um Ruhe. Mauersäge sprach: "ich begrüße alle ... ks ... zu unserem Filmabend. Mehr ... ks ... weiß ich auch nicht. Es scheint sich um eine Über ... ks ... zu handeln. Lassen wir uns über ... ks. . ." Martina schaltete das Licht aus. "Wir sehen einen Stummfilm mit Ton!" sagte sie. Von irgendwoher schallte Klaviermusik durch den Saal, auf der Leinwand erschien der Titel-. Sport Spuk Spaß, und schon ging es los, mit schallendem Gelächter über Dampfwalzes gequältes Gesicht beim Kugelstoßen auf dem Sportfest. Darauf strahlende Gesichter von Jerry und Florian nach Siegen, dann wieder Dampfwalze völlig verbissen beim Diskuswerfen. "Minimumspitze!" rief Klaus dazwischen, und wieder lachten alle schallend. Bis auf Dampfwalze.
"Gefällst du dir?" fragte ihn Esther.
Auf der Leinwand warf Dieter den Speer, auch viel zu verkrampft, wie die Ritter jetzt sahen, ein muffiger Ottokar übersprang die Hochsprunglatte, Pummel und Eugen keuchten auf der 1500-mStrecke, Klaus und Andi beim 800-m-Lauf, Fritz am Wassergraben auf der Hindernisbahn. "Mann! Wir müssen tatsächlich umlernen", brummte er. Dazwischen wieder strahlende Neustädter Sieger. Dann kam die Staffel. Das Klavierspiel hörte auf, nur der Projektor surrte. Dampfwalze setzte zu einem Grinsen an, Sophie legte ihre Hand beruhigend auf Ottokars Arm. Mücke lachte beim Stabwechsel. "Der Metzger reicht die Wurst übern Ladentisch."
Ungeduldig rutschten die Ritter auf ihren Sitzen herum.
Jetzt Übergabe an die Schlußläufer! Ottokar kämpft, er kommt nach vorn, dann ist er auf einmal aus dem Bild. Die Kamera bleibt auf dem Sieger. Kein Ritter macht eine Bemerkung. Die Sache ist tatsächlich erledigt und vergessen. Trotzdem atmete Ottokar auf. "So ein Mist!" schimpfte Dampfwalze vor sich hin. Bilder von der Siegerehrung folgten, klatschende Zuschauer, die Neustädter Direktoren beim Abschied vom Rex. Nach einer Szene, wie Fräulein Doktor Horn gerade Mauersäge anhimmelt, erschien eine Texttafel-. Ist er nicht zauberhaft? Das Gelächter ließ die Rüstungen im Saal klirren. Kein Bild von Ottokar am Boden, nur noch eins vom Schluß, wie er enttäuscht weggeht und Florian ihm in den Weg tritt. "Das war Martina. Ich weiß es noch", raunte Mücke dem langen Strehlau zu. Auf der Leinwand schwenkte die Kamera über die Fotos mit den gefangenen Minis und den treffenden Texten am Schwarzen Brett. Dann Dampfwalze am Schwarzen Brett bei der Ansage als Schulkapitän. "Mlnimumspitze!" alberte Ingrid unüberhörbar. Und schon wieder Dampfwalze. Diesmal auf Rosenfels, wie er Ingrid mit verklärtem Blick betrachtet. Schon folgte die Texttafel: Ist sie nicht zauberhaft~ jetzt wackelte die Burg. Nicht unkomisch waren auch einige Aufnahmen von Aufnahmen beim Fotowettbewerb, etwa wie Stephan und Beatrix sich gegenseitig fotografieren, oder die Leiterin mit mißbilligendem Gesicht vor den ausgelegten Bildern im Innenhof. "ist sie nicht zauberhaft?" flötete Mücke hemmungslos. Im Gelächter darüber näherte sich bereits Schloß Rülpshorst mit seinen Dächern und Türmen. "Mann, und wir haben von der Filmerei nichts gemerkt wunderte sich Ralph und mußte schon wieder lachen. Diesmal über die Rülpshexe mit ihren langen Zähnen und dem irren Blick. Nach einigen Ansichten des düsteren Schlosses, darunter auch die beiden Schlafsäle, sah man die Horror Rock Band in voller Aktion zu Klavierbegleitung, sowie die stimmungslose Tanzerei mit Wolf und Rolfs Dauerlauf. "Minimumspitzel" kommentierte der kleine Kuno und sah sich gleich darauf beim Kaminheizen. Da kam schon wieder Dampfwalze, wie er noch tanzte und Ingrid ihn gerade beschimpfte. "Wer hat denn das gedreht?" fragte Ottokar im lauten Gelächter. "Sonja", antwortete Sophie. "Und ich hab bei der Gestaltung ein bißchen mitgemischt. Und überhaupt." "Prost!" rief Armin, als die Lehrer vor dem Kamin beim Glühwein erschienen. "Ich frier jetzt noch!" klagte Fritz angesichts der Schlafsackidylle in der Bibliothek. "Minimumhitze!" kalauerte Klaus. "Sieh da, ein Nassauer!" Auf der Leinwand triefte Dampfwalze nach seinem Sturz von der Leiter und erzählte augenrollend von den Geistern im Turm. Ein Zwischenschnitt auf die schallend lachende Ingrid löste erneut Heiterkeit aus, die sich bei Fräulein Doktor Horn im weißen Bademantel noch steigerte. Zumal über die folgende Texttafel - Wenn hier Jemand spukt, dann ich! Es folgte das Schlaflager in der Wiese in frühem Morgenlicht, die Leiter vom Hungerturm im See schwimmend, und in Großaufnahme der gähnende Dampfwalze. Zur Einfahrt des Radladers, mit Fräulein Böcklmeler in der Schaufel, spielte das Klavier den Trauermarsch von Chopin, dann, als sie sich bewegte, Hoch soll sie leben. Und weiter ging's mit Tanzmusik. Nach einem Schwenk über das reichhaltige Buffet folgten Ausschnitte vom zweiten Abend, und das Gelächter riß nicht mehr ab. Da zeigte sich Schießbude auf der Tanzfläche bei einer Wurf nummer mit Sonja, Strehlau mit Fräulein Böcklmeler beim Ringelreigen, Pummel mit Bettina in Phantasieverrenkungen, die Rülpshexe stocksteif mit dem Rex, Mauersäge in klassischen Tanzpaarposen mit Fräulein Doktor Horn, danach die Texttafel: Ein zauberhaftes Paar! Mauersäge mit Strohhut und Stöckchen als Stepptänzer. jetzt schaltet er auch mit den Füßen!" freute sich Beni, und wieder klirrten die Rüstungen. Besonders bei Ottokars Gesicht, als die Rülpshexe ihm einen Kuß gab. Beim abschließenden Schuhplattler der Leiterin von Rosenfels mit den Minis vom Schreckenstein drohte der Saal einzustürzen. Und begeistert wie Mauersäge, die Rülpshexe, der Rex, Sonja, Fräulein Böcklmeier, Doktor Waldmann und Schießbude auf der Filmleinwand, klatschten alle im Saal. Auch Dampfwalze. "Maximumspitze!" befand Eugen. Auf einem langen Tisch hinter den Stuhlreihen hatte Diener Jean unbemerkt Säfte und Gebäck in Schreckensteiner Mengen bereitgestellt. Fröhlich schwatzend wurde zugegriffen. Stephan ging zu Sonja. "Da hast du aber mitgedreht!" Sie nickte. "Und mein Vater und ... " Stephan lachte. Jngrid und Sophie nicht zu vergessen!"
Die Redaktionsmitglieder standen zusammen. Gegen diesen Film sind wir mit unserer Schulzeitung blasse Geister", meinte Strehlau bekümmert. "Aber beide Medien zusammen geben einen ganz schönen Zeitzünder!" freute sich Mücke und schaute zu Dampfwalze hinüber. Der stand leicht betreten bei den Minis. jetzt kamen Ingrid und Esther zu ihm. "Na, wie hat's dir gefallen? Du hast gar nichts gesagt. " Ihr müßt schwerhörig sein", erwiderte der Muskelprotz. "Sonst hättet ihr mein schallendes Gelächter gehört. " Mücke nickte anerkennend. Leicht betreten in der allgemeinen Fröhlichkeit wirkte auch Ottokar. "Ihr habt es gut gemeint", sagte er zu Sonja, Beatrix und Sophie, "aber ich glaube, ich muß ihm sagen, daß ich mit dem Film nichts zu tun habe." "So weit kommt's noch!" widersprach Stephan. "Das ist unter Rittern doch selbstverständlich." "Völlig richtig", bestätigte auch Doktor Waldmann. Da klopfte jemand ans Glas. "Otto ... ks . . . " rief der Burgherr. Für dich habe ich noch eine Überraschung! Meine ... ks ... Schwester läßt dir sagen, daß du nicht umsonst in dem ... ks ... Rattenloch . . . ks ... Sie hat inzwischen sieben Logiergäste gehabt, und alle haben ... ks ... störungsfrei geschlafen . . . " Vor allem die Mädchen klatschten wild Beifall, "Nächsten Sommer ist das Hotel fertig", fuhr Mauersäge fort. "Zum Dank wirst du mit deinen Eltern vierzehn Tage Gast auf Hotel Rülpshorst sein." "Ein Danaer-Geschenk!" meinte der gebildete HansJürgen. "Was für'n Ding?" fragte Dieter. "Das ist wie das Schwert des Sophokles. Nur nicht so grün!" erklärte Andi todernst. Als Ottokar sich mit Handschlag bedankte, drohte ihm Mauersäge belustigt mit dem Zeigefinger. "Du mußt allerdings damit rechnen, daß sie dich noch mal ... ks ... küßt!" "Wir bedanken uns für Ihre großzügige Gastfreundschaft, Graf!" tönte Fräulein Doktor Horn. Beim Handkuß, den er ihr gab, verdrehte sie die Augen. Und Pummel feixte. "Mann! Heut läßt sie ihre Glotzebällchen eiern wie der, Osterhase an Weihnachten!" "So friedlich wie in diesem Trimester waren wir eigentlich noch nie miteinander", stellte Beatrix beim Abschied fest. "Das läßt sich bis zu den Ferien ändern!" versicherte Mücke. Anderntags in der Schweigezeit gegen Ende des Mittagessens schloß Dampfwalze seine Ansage mit einem Punkt in eigener Sache. "Nachdem die Minimumspitze allgemein anerkannt ist, sollten wir den Schulkapitän neu wählen. Wie soll er heißen?" "0-T-T-O-K-A-R!" brüllten die Ritter. Der alte neue Schulkapitän stand auf und drückte dem neuen alten die Hand. "Styropor!" Mücke rieb sich die Hände. Jetzt sind wir wieder eine Gemeinschaft. " Im Getrampel der Ritter trat der Rex zu den beiden und sagte. "Das nenne ich eine Schreckensteiner Lösung!"