KLEINE B I B L I O T H E K DES WISSENS LUX-LESEBOGEN NATUR- UND K U LT U R K U N D LI C H E HEFTE
OTTO ZIERER
DIE GRO...
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KLEINE B I B L I O T H E K DES WISSENS LUX-LESEBOGEN NATUR- UND K U LT U R K U N D LI C H E HEFTE
OTTO ZIERER
DIE GROSSE MAUER DAS GEWALTIGSTE BAUWERK DER GESCHICHTE 2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK- BASEL
Der „Erste erhabene Herrscher" Um die Zeit, als der karthagische Feldherr Hannibal mit Elefanten, Reiterscharen und zahlreichem Fußvolk über Spanien und Südfrankreich gegen die Alpenpässe vorrückte, um Rom von Norden her anzugreifen, regierte weit im Osten Kaiser Shi-huang-ti, der „Erste erhabene Herrscher". Nach dem Willen des Kaisers sollte im „Reich der Mitte" endlich das Zeitalter der „Zehntausend Generationen" beginnen. Shi-huang-ti schien alle Aussicht zu haben, das stolze Bild, das ihm vorschwebte, zu verwirklichen; die Götter und Ahnen hatten ihn zum Herrn eines Landes gemacht, das sich von Nordkorea über Zentralasien bis nach Annam in Indochina erstreckte. Huang-tis Reich war umfangreicher, bevölkerter und wohlhabender als das Weltreich Alexanders des Großen, der vor hundert Jahren zu Babylon gestorben war, ohne daß mehr als ein dumpfes Gerücht von seinen Taten und von seinem Tode nach China gedrungen wäre. Die Residenz Kaiser Huang-tis war die im Tale des Flusses Wei-ho, zu Füßen des Hsi-ngan-Gebirges, erbaute Stadt Changan, das heutige Sianfu. Hier, abseits von dem Gewirr schilf-und strohgedeckter Hütten, dem Gewühl bunter, orientalischer Märkte und dem Hafenbetrieb, war ein Palastbezirk von phantastischer Pracht und ungeheuren Maßen entstanden. Meilenweit dehnten sich inmitten zauberhaft angelegter Parkanlagen die steinernen Schloßbauten. Huang-ti hatte nach dem siegreichen Ende seiner Eroberungsfeldzüge die Pläne der Paläste, in denen seine einstigen Gegner gewohnt hatten, nach Changan bringen lassen und seinen Architekten Befehl gegeben, all diese Prunkbauten 2
auf dem Boden seiner Hauptstadt neu erstehen zu lassen. Durch überdachte Gänge und Galerien wurden die Bauten miteinander verbunden. Der Herrscher mochte, wenn er sich in seiner Sänfte durch die Palaststadt tragen ließ, in dem Hochgefühl schwelgen, durch alle Paläste seiner ehemaligen Feinde zu wandern. Er liebte solch plumpe Bezeugungen seiner Macht und Tyrannei. Da diese Geschichte anhebt, weilte der „Erste erhabene Herrscher" nicht in Changan, sondern einige Meilen stromauf in dem Sommerpalast O-pang, der über den Steilufern des Wei-ho erbaut war, auf den Hügeln der Schwarzen Pferde. Auch zu diesem Märchenschlosse waren die Edelhölzer, die seltenen Steine und das kostbarste Metall aus allen Provinzen des Riesenreiches herangeschafft worden; in den Marställen scharrten die feurigsten Rosse aus Baktrien und Turkestan, das Frauenhaus barg die schönsten Frauen der Welt. Zarte Musik, mit Klangsteinen, Saiteninstrumenten, Bambusflöten und Silberglöckchen hervorgebracht, erfüllte unablässig die Hallen unter dem bemalten Gebälk. Der Palast galt als das Herz der sechsunddreißig Provinzen, die dem Himmelssohn tributpflichtig waren. Zum O-pang-Palast flogen die Gedanken, Hoffnungen und Ängste von Millionen, die in den großen Stromebenen, in den Gebirgstälern und an der Meeresküste ihr Leben fristeten. Die Sorgen des Kanzlers Li Szu Der Kanzler Li Szu, ein bleicher Hofmann von etwa vierzig Jahren, war einstmals Erzieher des Kaisers gewesen, als dieser noch Prinz Chang geheißen und noch nicht den Thron der Chin bestiegen hatte. Herr Li Szu erfreute sich höchster Gunst. Als er aus dem Palastflügel der Kaiserstadt Changan trat, in dem das Ministerium und Kanzleramt untergebracht war, fielen die im Innenhof weilenden Beamten und Diener zu Boden, verbargen ihr Antlitz und flüsterten Segenswünsche. Li Szu galt nicht nur als einflußreicher Staatsmann, sondern auch als ein Gelehrter, der nicht ohne Grund den Purpurmantel aus Schantung-Seide und die schwarze Satinkappe mit dem Korallenknopf trug. Erst kürzlich war er durch die Reform der „Großen Siegelschrift" hervorgetreten; zusammen mit seinem hochgebildeten Sekretär Liu Pang hatte er die mehr als fünf3
rigtausend Symbolzeichen der altchinesischen Schrift vereinfacht und auf etwa dreißigtausend verringert. Auch befaßte er sich mit der Aufsicht über Erziehung und Literatur. Eigentlich gab es keine Frage im Reich, die nicht mit dem Mandarin des höchsten Ansehens, Herrn Li Szu, verknüpft war. Der Minister klatschte in die Hände. Acht Kulis hasteten mit ihrer Sänfte aus dem Portal des Hauses der Goldenen Muschel, und Li Szu bestieg das enge Gehäuse. Stockträger liefen über den Platz und begannen ihr monotones Geschrei: „Platz für den hohen Herrn! Macht Platz für den Beamten des Kaisers!" Die in grüne Seide gekleideten Diener, auf deren dunkelhäutigen Schädeln spitzkegelige Strohhüte saßen, benutzten eifrig die langen Bambusstöcke. Wer auch daherkam, Beamter oder Bittsteller, Soldat oder Lieferant — sie trieben ihn beiseite, und niemand nahm Anstoß daran. Die Sänfte, hinter deren perlenglitzernden Vorhängen verborgen Herr Li Szu unsichtbar thronte, durchquerte das holzgefügte Palasttor, über dem das Schriftzeichen ,Li' dem Passanten Glück, reiche Ernte und Segen versprach. Aus dem Torhäuschen trat die Leibwache der Schwertlanzenträger in gesteppten Panzerröcken und ordnete sich zum Geleit. Unter ihrem Schutz durcheilte der Sänftenzug die menschenüberfüllten Straßen. Als der Trupp das östliche Stadttor Changans hinter sich gelassen hatte, begann die „Kaiserstraße des Ersten Ranges". Überall in den sechsunddreißig Provinzen hatte Kaiser Huang-ti unter Aufbietung Hunderttausender von Bauern „Rennwege" oder „Kaiserstraßen" anlegen lassen. Dem hochgespannten Willen des Herrschers entsprechend verliefen die auf weiten Strecken gepflasterten Reichsstraßen in schnurgerader Richtung. Der Kaiser hatte Berge durchbrechen und Täler auffüllen lassen. Nicht einmal mit der Natur wollte Huang-ti Kompromisse schließen. Jede Straße war fünfzehn Meter breit und am Rande mit Fichten bepflanzt. Das gewöhnliche Volk hatte keinen Nutzen von diesen Verkehrswegen; sie waren den reisenden Beamten, den Kurieren und den Postreitern vorbehalten oder dienten in Gefahr- und Kriegszeiten als Vormarschwege der Truppen.Die Kolonnen der Bauernkarren, die beladenen Kamele und Yakochsen, die über Ghangan zur Seidenstraße hinüber ins Nanschan-Gebjrge streb4
tcn oder von dorther kamen, mühten sich durch den aufgewühlten Staub rechts und links der Fahrbahn. Wenn Li Szu den Vorhang zurückschlug und in die Landschaft spähte, sah er unten das breite glänzende Band des Wei-ho, durch dessen träges Wasser die schwerbäuchigen Handelsdschunken gezogen wurden. Halbnackte Kulis stemmten sich in die aufgefächerten Schlepptaue und keuchten unter melancholischem Sing-Sang auf den Treidelpfaden stromauf. Doch solche Bilder berührten Herrn Li Szu kaum von der menschlichen Seite. Er dachte an die Sorgen, die seit kurzem der Warenverkauf auf der Karawanenlinie der Seidenstraße bereitete. Wenn der Himmelssohn Zuchtpferde aus Ferghana, Goldsand aus den AltynTagh-Tälern, Jade aus den Drachentorbergen oder Glasgefäße aus den fernen Westländern begehrte, war er auf den Handel über Mittelasien angewiesen. Dort aber rührten sich seit neuestem wieder die „West-Dämonen" — die Hsiung-Nu, die Hunnen. Allzuviel wußte man nicht über die Hsiung-Nu. Sie zogen als Reiternomaden hinter ihren Herden über die öden Hochebenen, durch die Steppen, Gebirge und Wüsten, die den Raum ganz Zentralasiens bedeckten. Es gab dort drüben keine Siedlungen oder Städte, sondern nur Lager aus Jurten, Lederzelten und flüchtig aufgeschlagene Laubhütten. Die Hsiung-Nu kleideten sich in enge Fellhosen und knappsitzende Felljacken und trugen Pelzmützen. Sie waren als gierige Kopfjäger gefürchtet. Beim Siegesmahl schlürften sie den Met aus Bechern, die aus den Schädeln ihrer Feinde geformt waren. Ihre Helden begruben sie unter so vielen Steinplatten, wie die Zahl der von ihnen erlegten Gegner betrug. Sie saßen nicht frei im Sattel, sondern wußten dem Körper mit Steigbügeln festeren Halt zu geben und waren dadurch im Reiternahkampf weit überlegen. Ihr Anführer hieß Chenglikutu-Schanyu, sie selber nannten ihn Chan. Da sie schon als Kinder reiten lernten und — wie man sagt — eher galoppieren als laufen konnten, da sie zudem die besten Bogenschützen der Welt waren und so schnell auftauchten wie sie verschwanden, waren sie äußerst lästige Nachbarn für ein Bauernvolk wie die Chinesen. Solange es geschichtliche Erinnerungen im Lande der gelben' Erde gab, wurde von Einfällen der Hunnen berichtet. Immer wieder bra5
chen aus dem brodelnden Völkerkessel Innerasiens die heimtückischen Horden hervor und fielen plündernd und brandschatzend über die Dörfer her, die in ihre Reichweite gerieten. Am Ordosbogen — einer gewaltigen'Schleife, in welcher der Hoangho weit nach Norden ausgreift War es in den letzten Jahren besonders schlimm zugegangen. Aber wie sollte man dem ewigen Unheil begegnen? Kanzler Li Szu glaubte nicht, daß Feldzüge, wie sie von Zeit zu Zeit in die Aufmarschgebiete der Hunnen erfolgten, von dauernder Wirkung sein könnten. Vor kurzem war wieder einmal Marschall Meng Tien mit einer gutausgerüsteten Armee ari die Westgrenze des Reiches geschickt worden, um die wilden Steppenstämme zu züchtigen, aber was hatte er schon erreicht? Die Wölfe waren zurückgewichen. Wenig versprach Li Szu sich auch von den Festungswällen, wie sie einzelne Fürsten der Grenzstaaten, die von Han, Lu, Wei und Yen, und die Herren der Chao und Chi seit mehr als hundert Jahren angelegt hatten, um ihre Länder und ihre Bevölkerung gegen die Hsiung-Nu abzuriegeln. Auch diese Wehranlagen hatten nicht im geringsten geholfen. Die Horden der Steppenreiter brachen durch die vorhandenen Lücken, umgingen die Truppenlager und Bastionen, raubten, mordeten und brannten im Hinterland und zogen sich eilends und unbehelligt zurück, sobald Gefahr im Verzuge war. Nun, man würde bei der bevorstehenden Audienz in O-pang sehen, was der Himmelssohn über die Lage dachte. Der Befehl des Kaisers Im „Saal der tausend Erwartungen" drängen sich die Würdenträger des Reiches. Es knistert von Seide, es rauscht von Brokat, es klirrt von metallenem Schmuck. Ziervoll gesticktes Schuhwerk schleift über den Boden aus poliertem Marmor, in den breitflächige Ornamente aus bunten Steinen eingelassen sind. Als der Kanzler den Saal betritt, verneigen sich die Mandarine und Generale; Untergebene geringerer Würde erweisen ihm die Ehre des Kotaus. Die Rangstufen der Hofleute sind — je nach den Prüfungen, die der einzelne abgelegt hat und je nach der Gunst, deren er sich bei dem Sohne des Himmels erfreut — deutlich erkennbar. Auf den weiten, breitärmeligen, am Halse hochgeschlossenen Gewändern sieht man 6
unterscheidende Zeichen aufgestid«: Fasan, Pfau, Gans, Pelikan, Ente oder Wachtel; die militärischen Ränge geben sich in den Bildern des Einhorns, des Drachens, Tigers, Bären oder Panthers kund. Auch die runden Satinkappen sind in die Würdeskala einbezogen und lassen an den Zierkugeln Amt und Ehrenstellung genau erkennen. Kugeln aus Smaragd, Gold, Bergkristall, oder — wie bei Herrn Li Szu — aus Koralle entsprechen je einer der Leitersprossen im Auf und Ab der Hofordnung. Der Anblick der Würdenträger ist belebt durch vielerlei krause Glückssymbole und Ornamente, mit denen Seiten und Rücken der Gewänder überzogen sind: eingewebte und eingearbeitete Blütenranken, Schmetterlinge, Fledermäuse, Flammen, Sonnen- oder Mondbilder und das immer wiederkehrende Glückszeichen Fu. Wenn sich die Männer bewegen, so ist es wie flattern tropischer Falter. Die bronzenen Gongs dröhnen, die gelackten Flügeltüren sdiwingen auf, die Hellebardenträger lassen ihre Waffen niederklirren. Wie hingeweht sinken die Kammerherren, Minister und Heerführer zu Boden. Am Eingang erscheint, von sechzehn in die gelbe Glücksfarbe gekleideten Trägern gehalten, die Sänfte des Himmelssohnes, ein mit Purpurseide überdachter Tragstuhl, über dessen Rüdtwand ein Fächer weißer Pfauenfedern gebreitet ist. Kaiser Huang-ti sitzt steif aufgerichtet, die starre Kleiderpracht läßt kaum eine Bewegung zu. „Er ist ein Mann mit stark gebogener Raubvogelnase, mit der Stimme eines Schakals, der Brust eines Geiers und den eng beieinanderliegenden Augen einer Schlange. Man sagt von ihm, er kenne weder Dankbarkeit noch Zuneigung, er habe das Herz eines Tigers oder Wolfes. Wenn er sich auch gewöhnlich gut gegen seine Diener benimmt, so sind sie doch — sobald er vom Erfolg berauscht oder von Zorn erfüllt ist — nur seine Opfer. Sein Hochmut kennt keine Grenzen, und sein Ziel ist es, die ganze bekannte Welt zu beherrschen . . ." (Aus einer chinesischen Chronik). Die Träger senken die Kaisersänfte auf eine erhöhte, von einem Bronzegitter umrandete Tribüne. Auf ein Zeichen Huang-tis erheben sich die Anwesenden. Der Blick der schwarzen Schlangenaugen schweift kalt über die Versammlung, ruht kurz und in einem wärmeren Schimmer aufglühend auf dem Kanzler Li Szu, der dem Kaiser am nädisten steht, und wendet sich General Chao-Cho zu, dem Abgesandten Marschall Meng Tiens. 7
„Ihr habt die Hsiung-Nu am Ordonsbogen geschlagen", krächzt die Schakalstimme. „Berichtet, General!" Der hohe Offizier mit dem Abzeichen des Tigers wirft sich dreimal nieder, bevor er zu sprechen beginnt. Es war wie immer geschehen: Vor den in geschlossenen Blöcken heranrückenden kaiserlichen Lanzenträgern, den dichtgeballten Massen der Schwertkämpfer und der gepanzerten Reiterei hatten sich die losen Horden der Steppenreiter bald aufgelöst und waren unter Hinterlassung von zahllosen Toten, Beutekarren, Packpferden und von Massen bereits gefesselter Gefangener über den Hoangho zurückgeflutet. Marschall Meng Tien hatte sie an der Furt des Stromes noch einmal gestellt und ihnen erneut schwerste Verluste beigebracht. Aber was nützte das alles, wenn Zehntausende dennoch entkommen waren! In ein paar Jahren würden sie stark genug sein wiederzukehren. Zehntausende Gefangene seien eingebracht worden, berichtet Meng Tiens Beauftragter, doch die Menschenverluste in den betroffenen Gebieten betrügen mehrere Hunderttausend. Dörfer lägen in Schutt und Asche, Städte seien erstürmt und ausgeplündert, der Handel auf der Seidenstraße drohe zu erlahmen. Die Hunnen hätten ihre Steppen wieder erreicht, aus deren Tiefen immer neue raubgierige Scharen emporsteigen könnten. Als General Chao-Cho auf des Kaisers Frage, ob die Schlacht am Ordosbogen Triumph oder Niederlage sei, keine Antwort weiß, herrscht eine Weile die Stille eines Grabhauses. Jäh erhebt sich der Kaiser, fordert die Räte, Minister, Generale, den Kanzler auf, zu sagen, was zu tun sei. Doch keiner kann eine befriedigende Lösung nennen. „Ich werde euch zeigen, wie man diesen Dämonen der Steppe den Atem abwürgt", faucht Huang-ti seine Räte an. „Ich werde ihnen den Weg verlegen, vom östlichen Meere bis dorthin, wo die Seidenstraße Mentschang, dem „Südgebirge", am nächsten kommt. Gegen Mitter-, nacht wird ein einziger Wall- und Mauerriegel das heilige China vor diesen Steppenräubern verschließen. Die schon bestehenden Wehrbauten meiner Grenzfürsten, die seit einem Jahrhundert vergebens Einhalt geboten, werden mit diesem Mauerbau zusammenwachsen wie benachbartes Strauchwerk, dessen Gezweig sich ineinander verfilzt." Ein Raunen wie Erschrecken und Unverständnis geht durch die Halle. 9
Die Hofleute und Generale sehen sich an. Unbegreiflich, wie dieser Traum Wirklichkeit werden könnte. Die Endpunkte des Riesenbaus, die der Kaiser genannt hat, liegen überschlägig dreizehntausend Li, mehr als zweieinhalbtausend Kilometer, auseinander. Dazwischen hohe Gebirgskämme, wasserarme Steppen, Wüsten, Sümpfe, Ströme und Talschluchten. Wie sollen Menschen damit fertig werden? Shi-huang-ti winkt den Kanzler heran und befiehlt ihm, sofort mit den Vorbereitungen zu beginnen. Die Hunderttausende auf den Baustellen sollen die ersten Grenzwächter sein, in der einen Hand das Schwert, in der anderen Hacke oder Kelle. Wanlitschang-tscheng, die „Mauer der zehntausend Meilen", muß stehen, bevor die Woge der Steppenwölfe zurückbrandet. Gestörte Harmonie Das Reich des Kaisers der Chin ist nicht nur flächenmäßig von ungeheurer Gewalt, und es hält in seinen Grenzen nicht nur eine Millionenbevölkerung gebannt, es ist auch auf eine Weise organisiert, die es fähig macht, beinahe das Unmögliche zu vollbringen. Die Gründe, die der Dynastie Chin den Aufstieg erleichtert haben, sind vor allen darin zu suchen, daß sie sich gänzlich von der überkommenen, auf einer moralischen Ordnung aufgebauten Staatsauf fassung des vorausgegangenen Chou-Reiches abgewandt hat. Die großen Sittenlehrer der Vergangenheit, der erhabene Konfuzius, die tiefgründigen Philosophen Meng-tse, Mo-ti oder der lebensweise Lao-tse, sind im Gegensatz zum Denken der abendländischen Weisheitsforscher jener Zeit weniger von göttertümlichen, halbreligiösen oder rein wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgegangen, sie haben sich vornehmlich mit den Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt befaßt. In diesem Sinne ist die Harmonie zwischen den Herrschern und ihren Untertanen, der Gleichklang unter Mitgliedern und den Häuptern der Großfamilien, das Einvernehmen zwischen Eltern und Kindern, die Ausgeglichenheit zwischen dem Menschen als Einzelwesen und dem Volke Hauptgegenstand des Nachdenkens und der Unterweisung jener großen Lehrer Chinas gewesen. Wenn die vielfältigen Beziehungen zwischen Himmel, 10
Erde und Menschen geordnet sind, wenn das Chaos durch die sinnvolle Harmonie gebändigt und die klare Vernunft das Maß der Dinge ist, läuft das Leben nach der Lehre dieser Weisen in der rechten Bahn, die zur Glückseligkeit führt. Diesen Harmoniegedanken, diese Ordnung des Ausgleichs, diese Lebensführung aus Vernunft und Rechtssinn hat die Dynastie Chin mit gepanzerten Faust beiseite gewischt und durch andere Grundsätze er• setzt. An die Stelle der von den alten Philosophen empfohlenen Herrschaft durch Güte und Erziehung ist die Herrschaft der brutalen Macht, der Staatswillkür und der "unerbittlichen Gesetze getreten; hatte Konfuzius die rechtliche Gesinnung als das Unterpfand eines harmonischen Familien- und Gemeinschaftslebens gepriesen, so vertrauen die Chin auf die Furcht vor Strafe oder die Hoffnung auf Belohnung. Sie locken die Menschen durch die Aussicht auf Rangabzeichen, Beförderung, Geschenke, klingenden Lohn und drohen den Gleichgültigen oder Widersetzlichen mit schrecklichen Strafen. Die Chin haben den perfekten Polizeistaat errichtet. Das Volk ist in Fünfer- und Zehnergruppen eingeteilt, damit keiner unbeobachtet bleibt, und jeder hat die Pflicht, jedermann zu beaufsichtigen. Wer es verabsäumt, der Obrigkeit von Verfehlungen eines anderen Kenntnis zu geben, wird dem Henker überantwortet. Die Großfamilien, die als Hort des Widerstandes gegen die Staatsallmacht und als Schutzstätten gelten, wohin sich der einzelne zurückziehen könnte, sind aufgelöst; wer sich nicht fügt, wird doppelt und dreifach besteuert. Verdienste werden mit Ämtern, Orden, durch Landzuweisung oder durch die Zuteilung von Sklaven belohnt. Nach dem Willen des Staates steht die Erzeugung von Korn und Seide allem voran; deshalb wird der Besitz der Händler, Künstler, Gastwirte, Privatgelehrten und Lehrer enteignet, sie selber werden versklavt und zu öffentlichen Arbeiten gepreßt. Der Boden wird neu verteilt. Die Bauern werden in Kollektive gezwungen, die gemeinsam wirtschaften und unter der Leitung staatlicher Aufseher stehen. Das öffentliche und private Leben ist staatlich gelenkt. Maße, Gewichte und Geld sind genormt, selbst die Spurweite der Karren ist vereinheitlicht, die Kleidung, die Dorfsitten und Volksbräuche werden von Büttehi des Kaisers überwacht. 11
Im Frondienst des Kaisers So sieht der Staat aus, der darangehen will, sich mit einer Mauer von unvorstellbarer Ausdehnung zu umgürten und das größte Bauwerk der Menschheitsgeschichte aus dem Boden zu stampfen. In den folgenden Jahren ist es, als kröche ein menschenfressender, ungeheurer Lindwurm über die Gebirge im Nordwesten und Norden. Der Kaiser der Chin baut die Große Mauer. Zehntausende von Kriegsgefangenen aus den Hunnenkämpfen und den Feldzügen im tiefen Süden, unübersehbare Massen von Sklaven, aber auch die Armen ohne Land und das Heer der Kleinbauern werden unter militärischer Bedeckung an die tausend Baustellen getrieben. Als das Riesenwerk noch immer zu langsam voranschreitet, wird auch die siegreiche Armee der „Dämonenschlachten" — dreihunderttausend Mann stark — zur Arbeit am Grenzwall kommandiert. Unablässig wandern über die kaiserlichen Rennwege die Kolonnen mit Verbrechern aus den Gefängnissen, Scharen von Beamten, die in Ungnade gefallen sind, und Zwangsausgehobene, die von Polizeiaufgeboten in den Dörfern zusammengetrieben worden sind. Hier und dort sieht man auch würdige, langbärtige Gestalten im Zug der Verdammten. Es sind Gelehrte, Anhänger des Konfuzius, die sich geweigert haben, ihre kostbaren Bücher abzuliefern, wie es das neueste Edikt des Kanzlers Li Szu befohlen hat. Der Wille dieses diktatorischen Staatswesens hat auch die Gleichschaltung des Denkens verfügt. Im Reiche Shi-huang-tis geht es nicht nur um den Bau einer steinernen Mauer gegen die fremden Stämme jenseits der Grenzen. Um für „zehntausend Generationen" die Herrschaft der Chin-Dynastie zu festigen, hat der Kaiser befohlen, auch den Geist gegen die Vergangenheit abzumauern, einen Wall des Nichtmehrwissens zwischen der geistigen Überlieferung und der von ihm erdachten Zukunft zu errichten. Deshalb müssen die Zeugen der großen philosophischen und politischen Vergangenheit zum ewigen Schweigen gebracht werden. Der Kaiser hat verkündet, daß alle Gelehrten des Landes ihre Bücher — jene köstlichen, auf zusammenklappbare Bambustäfelchen oder lange Seidenrollen gepinselten Dokumente der Vorzeit — abzuliefern hätten, auf daß sie verbrannt würden. ........... 12
Im ganzen Lande flammen die Scheiterhaufen auf und türmen sich die Bücherberge, die Aufzeichnungen über die Lehren des Meisters Konfuzius, seiner Schule und der nachfolgenden Philosophen, die Chroniken der früheren Dynastien: der Hsia, Schang und Chou, die klassischen Schriften der Sittenlehrer, Staatslehrer und Dichter. Der Geist des alten China fährt in Feuerstößen gen Himmel, damit auf der gelben Erde der Staat eines Tyrannen gedeihe. Doch es gibt überall opfermutige Gelehrte, die einzelne Stücke der kostbaren Schriften verbergen, um sie für die künftigen Geschlechter zu retten. Bibliothekare in den Städten, Eremiten der Gebirge und hohe Beamte der Provinzen entziehen einen Teil ihrer verbotenen Bücherschätze dem Zugriff der Polizei. Im kleinen Städtchen Lu in der Provinz Schantung, wo immer noch die Familie des hochverehrten Meisters Konfuzius den uralten Familien-Kang bewohnt und fest zusammenhält — trotz der neuen Steuergesetze —, mauern die Freunde einen großen Teil der wertvollen, handgemalten und teilweise noch vom Meister selbst stammenden Bibliothek ein und schützen sie durch eine Doppelwand: Schi-king, das Buch der Lieder; Schu-king, das Buch der Urkunden; Si-ki, die Aufzeichnungen über Riten und Musik; Tschuun-tsiu, die Frühlings- und Herbstchronik von Lu. Aber auch die vier klassischen Schriften der konfuzianischen Schule müssen verborgen werden: das Lun-yü oder die Lehrgespräche des Konfuzius, das Ta-hüo oder die große Lehre der Alten, das Tschung-yung oder das Innehalten in der Mitte — es ist von einem Enkel des Konfuzius verfaßt —, und endlich die Bücher des Schülers Meng-tse. Einzig Meister Konfuzius' Buch der Wandlungen, Lking, darf noch gelesen werden; denn es enthält geheimnisvoll zauberische Gedanken; der abergläubische Kaiser hat alle Bücher über Magie, Orakel, Wahrsagekunst, Astrologie von seinem Verbot ausgenommen'. Zweihundert Jahre jiach Shi-huang-ti, als das alte Haus der Familie Kung in Lu bei einem Erdrutsch in Trümmer fällt, wird man die eingemauerten Bücher wiederentdecken.
Aber nicht alle Gelehrten sind so glücklich, daß ihr Ungehorsam sich lohnt. Viele werden verhaftet, weil sie sich weigern, ihre Schriften 13
auszuliefern; andere erleben die Haussuchung der Polizei und sehen sich als Widersetzliche entlarvt. Von Glück darf reden, wer zur Zwangsarbeit begnadigt wird. So kommt es, daß in den grauen Kolonnen der Werkleute, die zur Fronarbeit ausziehen, auch die hoheitsvollen Gestalten der Lehrer, Philosophen und Bücherliebhaber mitwandeln. Die Ebenen und Berge der endlosen Baustelle überziehen sich mit dem Gewimmel eines Ameisenvolkes. Es gibt keine Maschinen. Was getan werden soll, wird mit Körben, Karren, Schaufeln und bloßen Händen getan. Ein Paar Arme heben einen Stein, aber Millionen Arme heben Millionen Steine; in einer Stunde tragen sie nur eine niedere Steinschidit zum Wall, aber in Monaten und Jahren wird der Wall zur Mauer.Und zehntausend Karren schütten die Erde auf; hunderttausend Körbe wandern in endloser Kette bergauf und bergab, und es türmt sich der Damm über Gestein und Pfählen. An wichtigen Punkten, beherrschenden Gipfeln, Flußübergängen oder Talengen, wachsen Zitadellen, Kasernen und Türme aus dem Boden. Der hohe Kamm des Walls bedeckt sich mit Steinplatten, die wie Schuppen gefügt sind, und streckt die spitzen Schanzpfähle empor, die wie Stacheln erscheinen: Die Große Mauer droht wie ein Drache ins Land. Tag für Tag wächst die Mauer, und Tag um Tag verschlingt sie Menschenleben; ihre Fundamente stehen auf den Knochen namenloser Zwangsarbeiter, ihr Leib aus Erde und Bruchstein ist gemörtelt mit Blut und Tränen. Ein großes Klagen geht durch die Provinzen Chinas. Noch in späten Zeiten werden die Bauern sagen, wenn der Wind über die Große Mauer weht, man höre in seinem Sausen die Seufzer der Toten und derer, die um sie weinten. „Meine Sehnsucht wandert gen Süden" Aus dem Herzen des Volkes steigen Lieder, Legenden und rührende Geschichten auf, die von Heimweh, Qual und verlassenem Sterben beim Bau der Großen Mauer erzählen. Eine der ergreifendsten Volkserzählungen ist die Geschichte der Frau Meng-Chiang. Der junge Bauer Meng-Chao lebt friedlich in seinem Gehöft in der Meerprovinz Kuangtung am Perlstrom. Hier haben schon seine Vor14
fahren gesessen, ihre Grabhügel -wölben sich draußen inmitten des Familienackers. Das Leben strömt im uralten Rhythmus des chinesischen Daseins dahin. Die Dorfbewohner bilden „Feldbrunnengemeinschaften", denen je acht Großfamilien angehören. Der Name stammt noch aus den Tagen des großen Herzogs von Chou. Die Aufteilung und Anordnung der Felder der Brunnengemeinschaften entspricht dem chinesischen Schriftzeichen für Brunnen, das durch zwei Doppelstriche dargestellt wird, die von zwei anderen Doppelstrichen gekreuzt werden. So entstehen acht Abschnitte, die sich um einen neunten gruppieren. Ein Achtel ist das Land einer Familie; das mittlere neunte Feld aber gehört dem Staat. Die acht Bauern müssen es gemeinsam bestellen, abernten und pflegen, der Ertrag ist die Steuer, die sie dem Kaiser entrichten. Eng in den Pulsschlag der Jahreszeiten geschlossen, in Einigkeit mit den unterirdischen Erdkräften, dem Weben der Himmelsmächte und dem Gang der Feste, die wie Blumen im Jahreslauf aufblühen, bebauen die Bauern die Erde. Die Feldraine sind mit Obst- und Maulmeerbäumen bepflanzt, unter den Strohhütten der lehmummauerten Höfe sitzen in der Regenzeit die Weiber und spinnen die Kokons der Seidenraupen zu Fäden, während die Webstühle klappern und die Lieder der Mägde und Töchter erklingen. Draußen gehen unter Bastumhängen und kegeligen Strohhüten die Männer hinter Hakenpflügen und Wasserbüffeln und ziehen die Furchen für die kommende Aussaat. Bauer Meng-Chao fährt, wenn ihn die Lust überkommt, mit den Genossen im Kahn den Perlstrom hinab in die Meeresbucht, Pechpfannen lodern am Heck des Bootes und locken die Fische an, die mit Netzen gefangen werden. Im Frühjahr hat der junge Meng-Chao die Tochter eines Nachbarn geheiratet, die ihm sein Vater gekauft hat. Das erste und wichtigste Ereignis im Leben, das von der Familie mit Spannung erwartet wird, scheint nach der gebotenen Zeit Wirklichkeit zu werden; die junge Frau erwartet ihr erstes Kind. Ein Sohn ist der Inhalt des Daseins, nur Söhne tragen das Bluterbe der Familie in die Zukunft. Aber bevor das Kind geboren wird, kommen die Soldaten in das Dorf über dem Perlstrom und befehlen dem Dorfschulzen, die Männer zusammenzurufen. Als sie in ihren bescheidenen Leinenkitteln und unter den wettergebleichten Strohhüten auf dem Dorfplatz stehen, 15
Mongolische Krieger mit Ihrer Kampfrüstung beginnen die Schergen die kräftigsten auszusuchen, zuhauf zu treiben und mit Stricken zu binden. Großes Wehklagen erhebt sich, aber die Soldaten senken drohend die Schwerthellebarden und führen die Gefangenen fort. Der Kaiser braucht Arbeitskräfte für die Baustellen am Nordwall. Unter denen, die weggeschleppt werden, ist auch der Bauer Meng-Chao. Seither ist Meng-Chao verschollen. Der namenlose Strom, der unablässig nach Norden treibt, hat ihn mit sich gerissen. * Der Sohn Meng-Chaos wird geboren, aber die Familie weiß nicht, wo der Vater weilt und ob er noch lebt. Es gibt viele Familien, deren Männer verschleppt worden sind, es wachsen viele Kinder heran, deren Väter irgendwo an den Fronplätzen entlang der Großen Mauer stehen. Das Dorf am Perlstrom ist nur eines von tausend, die voller Klagen und Tränen sind. Die Jahre gehen dahin wie schwarze Regenwolken, die fern über den Kiefernhügeln herniederstürzen. 16
Die Kolonne, mit der Meng-Chao fortgezogen ist, hat nach wochenlangem Marsch die Gegend des Chingan-Gebirges nahe der Stadt Kaigan erreicht und arbeitet hart unter der Aufsicht der Soldaten. Welch ein trostloses Land! Im Sommer brennt die Sonne glühend über den kahlen Berghängen und steinigen Gipfeln; im Winter bläst der Eiswind aus Sibirien Schnee in die Täler und läßt alles Leben erstarren. In diesem harten Klima leiden die Leute aus dem warmen Süden am meisten. Wo Meng-Chao aufgewachsen ist, wachsen öl- und Pfirsichbäume, die Dorfstraßen bekränzen sich mit rotem und weißem Oleander und purpurnem Hibiskus, in den Hausgärten wuchern Lilien, Glyzinien und Rosen. Der Regen, der manchmal vom Meer hereintreibt, ist warm, und mild sind die Lüfte. In den rauhen Nordbergen beginnt Meng-Chao zu husten und Blut zu spucken. Doch die Aufseher kennen nur das vorgeschriebene Arbeitsmaß, können keine Rücksicht auf Kranke und Schwache nehmen. Unbarmherzig lassen sie auch die Siechen die Körbe mit Erde schleppen, lassen sie in den Steinbrüchen arbeiten, durch die vom Schneeregen verschlammten Pfade die Karren ziehen und hetzen sie Tag um Tag zwölf Stunden lang ans Werk. An allen Hängen, in allen Tälern, auf allen Höhen das gleiche Bild und das gleiche Leid. Wenn dann die Dämmerung gnädig hereinbricht und Hornrufe das Ende des Arbeitstages verkünden, schleppen sich die Ausgezehrten in ihre aus Schilf und Geäst gefügten Hütten und an das wärmende Lagerfeuer. Ach, wäre nicht der gewaltige Schmied Hsiang-Yü, „ein Mann wie ein Berg, der den tausend Pfund schweren Dreifuß hebt", Meng-Chao wäre längst nicht mehr unter den Lebenden. Doch der Schmied.nimmt dem kleinen Bauern einen Teil seiner Arbeit ab, er hat ihm auch den wärmenden Schafpelzmantel verschafft, in den Meng-Chao sich hüllt, wenn er völlig erschöpft am Feuer kauert. Auch Frauen sind im Lager der Fronarbeiter. Die schöne Yü ist ihrem Freunde, dem Schmied, an die Große Mauer gefolgt. Sie kocht für die Männer und teilt ihr Los. Während sich ringsum die Hänge und Täler des Chingan mit den glühenden Punkten der zehntausend Lagerfeuer bedecken, schlägt 17
einer der Männer das Saiteninstrument und stimmt die Töne ab. Hsiang-Yü, der Schmied, will das „Lied der Großen Mauer" singen. Hsiang-Yü wirft das Schaffell locker zurück und weitet die breite Brust: „Ich tränke mein Roß in den Pfützen, Die sich unterhalb der Großen Mauer spiegeln ... O grün, so grün ist das Gras am Ufer der Flüsse! Und weit, so weit geht mein Herz über die Straßen, All meine Sehnsucht wandert gen Süden, So weit die Füße nur tragen ..." Schwermütig sind die Strophen. Es wird still im Lager, und die Männer von den Nachbarfeuern treten stumm herzu. So stehen sie in der Dunkelheit und lauschen dem Lied ihrer Sehnsucht —, denn sie alle haben Frauen, Kinder und Eltern zuhause. Meng-Chao, von Fiebern geschüttelt, senkt sein Haupt schluchzend bis auf die Knie: „Nie mehr, o Hsiang-Yü, nie mehr werde ich am Perlstrom fischen! Nie mehr mein Dorf und meine Familie sehen. Zu Füßen der Mauer werdet ihr mich begraben ..." * Nach Jahr und Tag kommt ein zerlumpter Invalide die Straße zum Dorf am Perlfluß herauf und fragt nach dem Kang der Familie Meng. Als man ihn dorthin weist, berichtet er, daß sein Gefährte MengChao im Chingan-Gebirge beim Bau der Großen Mauer gestorben sei. Schmied Hsiang-Yü und andere hätten ihn dort oben begraben. Auf der abgehärmten Frau Meng-Chiang lastet nicht nur der Tod ihres Gatten, sondern auch die Sorge um sein jenseitiges Wohl. Der Geist des Toten wird keine Ruhe finden, bevor sein Leib nicht nach dem Brauch der Väter in der heimatlichen Erde bestattet ist. Und eines Tages macht sich Frau Meng-Chiang, die Getreue, auf, den Leib ihres toten Mannes zu suchen, um ihn heimzuholen zum Acker der Familie. Notvoll ist die Wanderung nordwärts. Sie zieht mit den Kolonnen der Zwangsarbeiter, kocht für die Ärmsten und schleppt die Bündel 18
der Kranken. Auf Flößen überqueren sie die riesigen Ströme Jangtsekiang und Hoangho; in himmelhohe Staubwolken gehüllt, wandern sie durch die Lehmebenen und über die Hügel von Schansi, gelangen in die bergige Landschaft Ho-peis und sehen endlich die blauen Bergkämme des Chingan emporwachsen. An der Großen Mauer werken Hunderttausende. Der Wall kriecht schon über vierhundert Grate und Hänge, steigt über Täler fort zu steilen Bergflanken und senkt sich jenseits wieder herab. Wo soll hier eine arme Frau ein Grab finden, das Grab eines Mannes, der nur ein Sandkorn war in dem Meer der Menschen. Die Befragten weisen in das Gebirge oder auf die Mauer: „Dies Land ist ein einziger Friedhof, es gibt keine Totenbretter mit dem Namen der Opfer." Da entsinnt sich Frau Meng-Chiang des Schmiedes Hsiang-Yü, von dem der Invalide gesprochen hatte, und so sucht sie nach Hsiang-Yü. Als sie ihn findet, steht ihr die letzte Enttäuschung bevor. Auch Hsiang-Yü kann nur in die Ferne deuten: „Irgendwo dort unten im Tal, wo sich der Wall hinzieht."
In der Geschichte von der liebenden Frau Meng-Chiang, wie sie im „Tung-Ming-Chi" — den Aufzeichnungen von Merkwürdigkeiten der Chin- und Han-Zeit — aufgeschrieben ist, wird dann erzählt, Frau Meng-Chiang habe sich weinend am Fuße der Großen Mauer niedergelassen und durch ihre Tränen den Wall unterhöhlt, und er sei eingestürzt, genau an der Stelle, wo die Überreste des Toten lagen. Mit Hilfe der Freunde sammelte Frau Meng-Chiang die Gebeine ihres Gatten in ein Tuch und machte sich auf den Weg nach dem Süden, um die sterblichen Reste auf dem Acker der Ahnen zu bestatten. Der Tod ist auf fahlem Roß unterwegs So berühmt wurde dieses Zeugnis von Liebe und Gattentreue, daß immer wieder Dichter sich der Meng-Chiang-Legende annahmen und das Volk die rührende Geschichte für immer im Gedächtnis behielt. Bald danach war auch Kaiser Shi-huang-ti, der Fronvogt der Gro19
ßen Mauer, dem Tode verfallen. Was nützte es ihm, daß er seine Gelehrten beauftragte, ihm das Elixier des ewigen Lebens zu beschaffen, daß er eine Expedition nach Korea aussandte, die Wunderwurzel des weißen Ginseng zu holen, die Unsterblichkeit verleiht. Aber kein Zaubermittel konnte ihm helfen, und auch Flucht konnte ihn nicht erretten. Eine alte chinesische Sage weiß zu berichten, der Herr des Himmels habe seinen Diener Tod zu sich gerufen und also zu ihm gesprochen: „Gehe hin, mein Diener, und bringe mir den Kaiser der Chin, der im weißen Schloß der Drachentorberge haust!" Der Tod erwiderte: „Du irrst, Herr des Himmels, der Kaiser wohnt nicht im weißen Dradienschloß. Er lebt im O-pang-Palast am Hügel der Schwarzen Rosse!" Aber der Himmelsherr befahl: „Tu, wie ich dir gesagt habe!" - Um diese gleiche Stunde stellten die Astrologen Kaiser Shi-huangti das Horoskop und glaubten, daß seine Lebensjahre gezählt seien. Sie sagten zu ihm: - » 20
„Göttlicher Herrscher! Der Tod auf fahlem Roß ist unterwegs, dich zu holen! Fliehe!" Und der Kaiser befahl: „Wir wollen sofort aufbrechen und für einige Zeit in das weiße Schloß der Drachenberge gehen, das sehr verborgen liegt." Hier starb Shi-huang-ti, an jenem Platz, den der Himmelsherr für ihn bestimmt hatte, und in eben der Stunde, die für ihn vorgesehen war. Doch der Bau der Großen Mauer wurde fortgesetzt, auch unter seinem Sohn und Nachfolger, Er Shi-huang-ti, der ein Schwächling und Narr war. Als das Leid der Menschen kein Ende nahm, brachen Unruhen aus. Generale erhoben sich wider den Kaiser, unter den Zwangsarbeitern im Norden stand ein Rebell auf, sein Name war Hsiang-Yü. Auf seinem grauen Roß Chui ritt der Schmied, gefolgt von seiner schönen Geliebten Yü, gegen die Feldherrn der Chin. Der einstige Sekretär des Kanzlers Li-Szu, Herr Liu Pang, stellte ein Bauernheer im Süden auf. Der Kanzler selber fiel einer Palastrevolution zum Opfer. Von allen Seiten brach das Unheil über Changan herein. Nur fünfzehn Jahre hatte die Ewigkeit der „Zehntausend Generationen" gedauert, dann kam das Ende. Als auch der heldenhafte Schmied gefallen war, gründete Liu Pang ein neues blühendes Herrscherhaus, das er nach seinem Heimatlande Dynastie der Han nannte. Die Große Mauer — als Erd- und Steinwall erbaut — war vollendet, für lange Zeit hielt der Damm gegen die Völker der Steppe. Die große Mauer erschüttert Europa Nur mit Abscheu schrieben die Chronisten der Han-Zeit über den Tyrannen Shi-huang-ti, den sie den „Verbrecher der zehntausend Generationen" nannten. China kehrte zu den Lebenslehren seiner Ahnen zurück, Handel und Gewerbe blühten wie nie zuvor. Ein einziges Erbe hatte Shi-huang-ti hinterlassen, das sich als Segen erwies. Es war die Große Mauer. Gestützt auf die dreizehntausend Li des befestigten Walles und Mauerwerks vermochten die Heere der Han die Steppenvölker für lange Zeit im Zaum zu halten. Bald schon stießen die Streitkräfte 21
Chinas sogar nach Zentralasien vor und steckten die Grenzpfähle i bis zum sechstausend Meter hoch aufragenden Altyn-Tagh, dem mittleren Teil des Kuenlun-Gebirges, des längsten Gebirges Innerasiens, und darüber hinaus bis an den Rand der Wüste Gobi und im Süden bis an die „Himmelsmauern", die Tibet von Indien scheiden. Als die Han-Kaiser in wuchtigen Schlägen die Steppenfürsten niedergeworfen und sich gefügig gemacht hatten, suchten sie die Eroberungen durch Heiraten zu festigen. Immer wieder berichten die Reichschronisten vom opfervollen Zug chinesischer Prinzessinnen und von Damen des kaiserlichen Frauenhauses nach Westen, wo sie mit wilden Chanen der Hunnen vermählt wurden. Ergreifend vor allem ist die Erzählung von der anmutigen Chao-chün, die als „Dame Schön" in die chinesische Geschichte eingegangen ist. Diese zauberhaft schöne Nebenfrau eines Han-Kaisers liebte ihren Herrn so sehr, daß sie zur Erhaltung des Friedens das Opfer auf sich nahm, für ihn nach dem Westen ging und die Werbung eines barbarischen Hunnenfürsten annahm. Jahrzehntelang erhielt sie den Frieden, indem sie allein durch ihren Liebreiz die Wildheit der Steppenstämme zügelte. Noch weiter dringen die chinesischen Eroberer in den Kontinent vor. Einer von ihnen und wohl der berühmteste ist General PanChao, der unter der Rückendeckung der Bastionen und Garnisonen der Großen Mauer seine Heere weit hinaus in die Einöden führt, den Lobnor, den „Wandernden See" erreicht und in West-Turkestan ein chinesisches Vizekönigreich gründet. Dieser westlichste Vorposten des Reiches der Mitte und die starke Sicherungslinie der Großen Mauer vor den inneren Provinzen Chinas ermöglichen es, daß nun die alte Handelsstraße über Turkestan, Persien — die als Seidenstraße berühmt ist — wieder auflebt. Karawanen ziehen zwischen Ost und West und stellen die Verbindung zwischen dem kulturell stark erblühten chinesischen Kaiserreich und dem Römerreich her. Als Pan-Chao sein westturkestanisches Vize-Königreich gesichert hat, regieren in Rom die Flaviakaiser Vespasian, Titus und Domitian des ersten Jahrhunderts n. Chr. Auf den römischen Märkten tauchen in dieser Zeit Seide, Jade und Nephrit aus China auf; ägyptisches Glas, phönikischer Purpur und syrischer Brokat kommen im Tauschhandel nach dem Fernen Osten. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. unter den römischen Kaisern Antoninus Pius und Marc Aurel, er22
scheinen wiederholt chinesische Handelsmissionen in dem römischen Welthandelsplatz Antiochia in Kleinasien und in den römischen Provinzstädten am Euphrat und Tigris. Ferner Westen und Ferner Osten reichen sich die Hand. Aber die Große Mauer und die auf sie gestützte Sicherung der Handelswege quer durch Asien haben noch eine andere Wirkung. Allmählich geraten die Nomaden der Steppen in Unruhe und neue Wanderbewegung. Da China, das einstmals bevorzugte Raub- und Plündergebiet der Hunnen, sich mit Wall und Mauer umwehrt hat und unangreifbar scheint, wenden die Chane ihre Rosse gen Westen. Im Jahre 375 n. Chr. Geburt erreicht die hunnische Völkerwoge die K aspische Pforte und bricht verheerend auf die Vorposten der gotischen Völkerwanderung, die Alanen, nieder, die im Kaukasusvorland siedeln. Von dort stürzt sich das Verhängnis auf die Ostgoten und Westgoten; eine aufgestaute Flut von entwurzelten Völkern schiebt sich gegen das Abendland. Die Völkerwanderung nimmt ihren Anfang, zerschlägt mit ihrem Anprall die „Große Mauer des Westens", den Limes, und brandet über alle Grenzen ins Römerimperium. Als Roms Pracht dahinsinkt, die Provinzen verlorengehen und das Abenteuer der Völkerwanderung verebbt, weiß niemand im abendländischen Bereich, daß die fernste Ursache dieser Katastrophe ein Wall aus Erde und Stein gewesen ist, geschichtet auf den Knochen hunderttausender Kulis, eine Grenzwehr, die ein großes Reich im Osten für lange bewahrt und ein anderes großes Reich im Westen dem Untergang entgegengeführt hat. Die Mongolen durchbrechen den Grenzwall In der folgenden Zeit ist die Große Mauer noch immer die unüberwindliche Sperre gegen die Steppe; aber selbst die chinesischen Chronisten sind s'ich nicht einig darüber, ob die Tatsache, daß China nun für Jahrhunderte von verheerenden Einbrüchen zentralasiatischer Völker verschont bleibt, dem Vorhandensein der Mauer oder der Verschiebung der Steppenvölker nach dem Westen zuzuschreiben ist. Aber schon die Zeiten der „Nördlichen Dynastien" im vierten bis sechsten Jahrhundert und der sogenannten Wu-Tai, der „Fünf Dynastien", im zehnten Jahrhundert beweisen, daß die Große Mauer 23
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• allein nicht eine gute Politik zu ersetzen vermag. Der Schutz, den sie zu bieten hat, ist nur so viel wert, wie die Regierung des hinter ihr liegenden Landes oder wie die Heeresmacht, die zu ihrer Verteidigung aufgeboten wird. Die Mauer ist nur eine Anhäufung von Erde und Stein, Politik aber bedeutet Leben und Bewegung. Unter den späten Sung-Kaisern, vom zwölften Jahrhundert an, wird es noch deutlicher, daß die Mauer ihren Schatten nicht nur in die Steppe, sondern auch auf die chinesische Seite wirft und daß sie dem Gedeihen des Reiches abträglich zu werden beginnt. Im Vertrauen auf das Vorhandensein der gewaltigen Befestigungslinie läßt die Aufmerksamkeit der Sung-Dynastie für den Norden und Nordwesten nach; im Heereswesen reißen Korruption und Verweichlichung ein; man glaubt sich gegen alle Möglichkeiten durch die Mauer gesichert. China wiegt sich in einer Sicherheit, die es auf dieser Weh niemals und auch nicht inmitten einer noch so starken Festung geben kann. Die Provinzstatthalter der Grenze erhalten vom Kaiserhofe kaum noch die Mittel, um den Zustand der Mauer zu verbessern und die dort stationierten Truppen zu erhalten. Der große Wall verliert allmählich seine Bedeutung; durch Unterwanderung in kleinen Gruppen, später in ganzen Heerscharen kommen aus den nördlichen Gebieten, die vor der Mauer liegen, zuerst die Kitan, später die Chin •— ein stammverwandtes, aber barbarisches Volk, das sich zu Herren Nordchinas aufwirft. • So zerfällt das Riesenreich China trotz Mauer und Wall in einen nördlichen Chin-Staat und das südliche China der Sung. Hinter der Festungslinie herrschen zwei tödlich verfeindete Dynastien, der Verfall schreitet fort, Bestechlichkeit und Käuflichkeit verhindern die notwendige Erneuerung des Heereswesens, das Volk seufzt unter willkürlicher und härtester Besteuerung. Die Zustände im Chin-Staat des Nordens wie im Sung-Reich des Südens fordern erneut das Schicksal heraus. In dieser Zeit ist in den Steppengebieten Zentralasiens abermals eine bedeutende Macht emporgewachsen. Temudschin, der Chan der Orchon-Mongolen, hat mit Feuer und Schwert die Einigung und Gleichrichtung der Völker zwischen Tibet und Sibirien, Turkestan und der Großen Mauer vollzogen. Er bat den Namen Dschingis-Chan ange25
nömmen, „Fürst aller Fürsten", und wendet seine Rosse gegen Osten, dem Wall der Chinesen entgegen. * In der Gegend hinter dem Nordbogen der Mauer und in den Provinzen, die sich jenseits des Walles zur Halbinsel Lian-tung und nach Nordkorea erstrecken, beginnt der Aufruhr. Hierhin ist bei der Eroberung des Landes durch die Chin ein größerer Teil der Kitan zurückgewichen, Menschen, die nicht vergessen können, daß sie besiegt worden sind. Es geht das Gerücht, geflüchtete Stammesbrüder — die Kara-Kitan —,die längst in Dschingis-Chans Reich aufgegangen sind, lebten gut und seien mit ihren mongolischen Herren zufrieden. Im Staate der Chin aber gibt es kaum noch Zufriedene. Nur die Beamten, die Höflinge und hohen Offiziere fühlen sich einigermaßen geborgen. Von den ausgepreßten, mit Steuern und öffentlichen Dienstleistungen überhäuften Bauern sagen viele: „Mögen die Mongolen kommen, uns können sie nichts mehr fortnehmen. Wenn sie unsere ungerechten Herren züchtigen, so soll uns das recht sein." Angesichts der mongolischen Bedrohung läßt der Oberbefehlshaber an der Großen Mauer, General Chu-sha-Chu, in Eile Bauern ausheben und von der Frühjahrsbestellung fortholen, um die jahrelang vernachlässigten Wälle auszubessern. Das Hauptaugenmerk richtet der General auf den Wall, der gegenüber der Stadt Kaigan und im Chingan-Gebirge liegt — jenes Stück, an dem vor unendlich langer Zeit der Bauer Meng-Chao und der Schmied Hsiang-Yü gearbeitet haben. Nach Kuriermeldungen hat einer der Feldherren des Mongolenchans mit fünfzigtausend Reitern bereits die Pässe des Chingan-Gebirges erreicht. Dschingis-Chan hat diese Gerüchte verbreiten lassen, um die Aufmerksamkeit Chu-sha-Chus auf diese Stelle zu lenken; fast unbemerkt hat sich der Großchan selber mit hundertfünfzigtausend Berittenen, denen dreihunderttausend Reservepferde folgen, durch die Wüste Tsachar genähert und durchquert mit höchster Geschwindigkeit das Vorland der Großen Mauer an einer anderen Stelle. Seine Späher haben ihm hinterbracht, daß dort der Große Wall durch Erdbeben, Regengüsse und ständige Vernachlässigung in äußerst 26
fragwürdigen Zustand geraten ist. Zudem wird die Mauer hier von Söldnertruppen aus dem Stamme der Onguten verteidigt. Die Onguten aber stehen seit kurzem im Lager des Mongolenchans. So sprengen die Steppenreiter wie eine schwarze, drohende Gewitterwolke durch die mondlose Nacht. Das Herannahen der Reiterflut ist nicht mehr zu überhören. Hunderttausend Hufe klappern, das Rasseln der Schwerter, das Stoßen und Pochen der Lederschilde, das Klirren der Wehrgehenke wird zu einer gefährlich tosenden Brandung. Der Großchan, umringt von einem halben Dutzend seiner Oelök, reitet selbst an der Spitze. Dschingis Chan hat alles auf eine Karte gesetzt: auf den überraschenden Sieg. Die hundertfünfzigtausend wilden Krieger in seinem Gefolge würden bei einer Niederlage sofort wieder in die Splitter auseinanderfallen, aus denen er sie zusammengeschmiedet hat. Was bedeutet ein Reich wie China für den Großchan der Steppe? Für ihn ist dieses Reich hinter der Mauer verhaßtes Bauern- und Bürgerland, angefüllt mit Schätzen, eine Scheuer, die nach Leerung ruft, ein Stapelplatz aller Herrlichkeiten der Welt. Er wird dieses Land von seinen Wilden plündern lassen, wird die Ernte einbringen, den Boden mit Blut tränken, und die Äcker in eine Schafweide verwandeln. Die Beute aus China soll seine Macht höher türmen und sein Ansehen festigen. Der Überfall kann nicht mißlingen! Schon lange vorher und ohne daß die Beamten des Kaisers es bemerkt haben, sind Dschingis-Chans Agenten durch die Nordprovinzen gestreift. Sie haben nicht nur alle Festungen, den Verlauf der Straßen, Wälle und die Verteilung der Truppen erkundet, sondern auch heimliche Verbindungen geknüpft. Unzufrieden sind die von den Chin besiegten Fürsten der Kitan, tödlich verfeindet sind die im Norden regierenden Kaiser der Chin mit den südlichen Sung. In den Gebirgen gibt es Partisanentrupps vom Geheimbund der „Roten Kopftücher", in einzelnen Abschnitten der Großen Mauer stehen Truppen im Solde der Mongolen. Die Boten, die Dschingis-Chan zu diesen Söldnern entsendet, sind Onguten. Die Onguten auf der Mauer werden nicht gegen Onguten kämpfen. . 27
zu einer hochragenden Mauer aus Stein oder Ziegelwerk, je nach den Baustoffen der Landschaften, wird. Über mehr als 2500 Kilometer zieht die Mauer nun vom Golf Liau-tung quer durch Ebenen, über Gebirgskämme und Ströme bis in die Gegend des Nephrittors an der Seidenstraße im NanschanGebirge. Sie wird gebaut mit Brustwehr, Wehrgängen und flankiert von zweistöckigen Türmen, die einander im Abstand von hundert bis zweihundert Metern folgen. An Pässen, Straßen- oder Flußdurchgängen erstehen gewaltige Tore mit flankierenden Wehrbauten. Die Höhe beträgt bis zu sechzehn, die Fußbreite bis zu acht und die Kronenbreite bis zu fünf Meter, so daß Wagen darüber hin und aneinander vorbeifahren können. Hinter der Mauer liegen in geplanten Abständen Militärstationen, die im Durchschnitt mit hundert Bewaffneten besetzt sind. Fünfundzwanzigtausend Stationen verteilen sich entlang des Mauerzuges. Trotz ihrer gewaltigen Verstärkung bietet die Große Mauer in der jüngeren Geschichte des chinesischen Reiches aber keine sichere Garantie mehr gegen politische oder militärische Katastrophen. Als in der Mitte des 17. Jahrhunderts Überschwemmungen und Dürre die Bevölkerung zum Aufstand treiben und das gealterte Reich der Ming nicht mehr die Kraft besitzt, sich der inneren Gegner zu erwehren, dringen — von einem Rebellengeneral gerufen — die tungusischen Mandschu ein, die vom Amur, dem Hauptstrom Ostsibiriens, stammen, sich in der Mandschurei festgesetzt und hier mit der Hauptstadt Mukden ein Kaiserreich gegründet haben. Die Ming verlieren die Entscheidungsschlacht zu Füßen der Großen Mauer und geben sich geschlagen. Über den unverteidigten Grenzwall hinweg erobern die • hochgewachsenen, kämpf geübten Mandschukrieger in schweren Kämpfen das Reich der Mitte. Seit der Mandschu-Dynastie, die bis 1911, bis zum Untergang des Kaisertums über China, herrscht, hat die Große Mauer ihre geschichtliche Rolle ausgespielt, mehr und mehr wird sie zur Ruine, zum Steinbruch und zur Sehenswürdigkeit. Nur vereinzelt dient sie seitdem noch zur Abwehr äußerer Feinde. Zunehmend wird sie für China zur lastenden Fessel. 30
Die Große Mauer von heute Der Sperrwall ist in all den Jahrhunderten seines Bestehens Ausdruck der chinesischen Einstellung zur Umwelt gewesen. China gewöhnte sich daran, sich abzuschließen, für sich allein zu leben und sich selbst genug zu sein. Groß genug dazu war das Reich. Als mit dem Auftauchen der Europäer im 16. Jahrhundert die westliche Welt nicht nur die Lehren des Christentums und der Menschlichkeit und den wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch Kanonen, Pulver, Blei, Piratentum, Ausbeutung und schließlich Rauschgift und Verderbnis ins Land brachte, umgab sich China auch am Ozean mit einem Wall der Abwehr. Alles Fremde und Ausländische wurde zum Teufelswerk. Zwar erzwangen die starken Flotten und modernen Kampfmittel Europas die Öffnung der Häfen und den Abschluß von Handelsverträgen, aber die innere Abwehrstellung blieb. China zog sich seelisch hinter die Verteidigungslinie einer noch größeren Mauer zurück. Doch ebensowenig wie die Mauer aus Erde und Stein das Reich auf die Dauer vor Eroberungen zu bewahren wußte, so wenig konnte die geistige Mauer verhindern, daß das Denken des Westens auch von China Besitz ergriff. Der erschütterndste Umbruch einer dreitausendjährigen Geschichte nahm 1911 seinen Anfang und führte über Jahrzehnte innerer Kämpfe, ausländischer Einmischung, nationaler Katastrophen zum China von heute, das von der Gedankenwelt radikalster westlicher Ideologien geprägt wird. Das Reich, das man heute im Westen als „Rot-China" zu bezeichnen pflegt, ist immer noch das größte der Erde und umfaßt über 650 Millionen Menschen. Sie leben hinter einer stärkeren Mauer als je zuvor, hinter dem Eisernen Vorhang des Ostblocks. Mit gigantischen Anstrengungen sucht das „Rote China" Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen, sich zu modernisieren, zum Industriestaat zu werden und jenen Platz unter den Völkern der Erde einzunehmen, auf den es Anspruch hat kraft seiner uralten, hohen und bewundernswerten Kultur und seiner Bevölkerungszahl. China anerkennt heute nicht mehr die Linie der Großen Mauer, es greift nach all jenen Provinzen, die jemals in den dreitausend Jahren seiner Geschichte chinesisch gewesen sind: nach Indochina, Korea, Laos, Tibet und Malaiia. 31
Wenn ein Reisender aus dem Westen Gelegenheit hat, Rot-China zu besuchen und Augenzeuge der unermeßlichen Anstrengungen wird, mit denen das gelbe Volk in wenigen Jahrzehnten nachzuholen sucht, was der Westen in zwei industrialisierten Jahrhunderten erreicht hat, so sieht er Bilder, die ihn an den Bau der Großen Mauer zur Chin- oder Ming-Zeit erinnern. Wieder wimmeln unermeßliche Arbeitermassen mit Körben, Spaten und Karren über weite Berghänge, schleppen in ruhelosen Tag- und Nachtschichten Steine, Erde und Baumaterial zu Talsperren; sie tragen Berge ab und türmen Hochwasserdämme; sie leiten Ströme um, bauen Industriewerke und schmelzen Erz in hunderttausend winzigen Hochöfen in ihren Städten und Dörfern. Ohne Bagger, Traktoren und Rammen, nur mit den Millionen Händen des geduldigen, ungeheuer fleißigen Volkes bauen sie das erhoffte Reich der Zukunft. Als Shi-huang-ti zu Hannibals Zeiten die Große Mauer begann, legte er den Grund zu fernen, welterschütternden Ereignissen und stieß den Stein an, der Jahrhunderte später die Völkerwanderung des Westens und den Untergang des Römerimperiums herbeiführte. Wer kann heute sagen, was uns Menschen der westlichen Welt morgen aus China entgegenwächst?
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bildnachweis: Ullstein-Bilderdienst, Archiv Lux Verlag L u x - L e s e b o g e n 3 1 1 (Geschichte) H e f t p r e i s 25Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (viertel] ährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München.