Gerd Hafner
Die goldenen Nadeln Inhaltsangabe Als Opfer einer Flugzeugentführung liegt Dr. Heidmann mit unmenschlichen...
144 downloads
669 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gerd Hafner
Die goldenen Nadeln Inhaltsangabe Als Opfer einer Flugzeugentführung liegt Dr. Heidmann mit unmenschlichen Schmerzen in einer Urwaldhütte. ›Ausgedehnte Bauchfellentzündung‹ lautet Dr. Bruckners Diagnose. Die Instrumente für eine Notoperation sind vorhanden – aber ein Narkosemittel fehlt. »Ich will es versuchen«, flüstert Bruckner und setzt entschlossen das Skalpell auf den Leib des Freundes. Da schreit dieser auf. Er umklammert verzweifelt mit beiden Händen die Hand, die das Messer führt. »Das halte ich nicht aus …« Alles scheint verloren, als ein fremder Fluggast lächelnd an das Schmerzenslager tritt. »In China wir brauchen keine Narkose. Können mit Akupunktur Gefühllosigkeit erzielen, daß jeder Chirurg schmerzfrei operieren kann.« »Helfen Sie mir!« röchelt der Todkranke …
Dr. Thomas Bruckner Roman Nr. 114
© Copyright 1972 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch. Gladbach Printed in Western Germany Einbandgestaltung: Eva Braunova-Kokstein Titelfoto: LUTETIA Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-404-00029 3 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
I
U
nd Sie glauben wirklich, daß es ein durchgebrochener Appendix ist?« Oberarzt Dr. Wagner rieb sich die Augen. Er schloß noch die letzten Knöpfe seines Kittels, was er in der Eile vorhin vergessen hatte, und sah verschlafen Professor Bergmann an, der ihm in seinem Zimmer gegenübersaß. »Es tut mir leid«, begann der Professor, »daß ich Sie aus dem Schlaf geholt habe. Drei Uhr morgens ist schließlich eine Zeit, zu der man ungern aufsteht. Aber in diesem Falle bin ich Ihnen doch sehr dankbar, daß Sie gekommen sind.« Oberarzt Wagner unterdrückte mannhaft ein Gähnen. Er nahm seine Brille von der Nase, putzte sie an einem Kittelzipfel, schaute prüfend hindurch und setzte sie wieder auf. »Aber das ist doch selbstverständlich, Herr Professor!« Er drückte seine Brille auf den richtigen Platz. »Dafür bin ich schließlich Arzt, daß ich zu jeder Zeit meinen Patienten zur Verfügung stehe.« Er sprach mit einem gewissen Pathos, das Professor Bergmann lächelnd zur Kenntnis nahm. »Ärzte sind auch Menschen!« Er erhob sich und trat vor den Schreibtisch. »Ich hätte Sie bestimmt nicht belästigt, wenn es sich nicht um einen besonderen Fall handeln würde. Der Patient ist Diplomat. Seine Botschaft hat mich angerufen. Er muß jeden Augenblick hier sein.« »Ein Diplomat?« Oberarzt Wagner konnte die freudige Überraschung, die er bei dem Wort empfand, nicht ganz verbergen. »Das ist ja wunderbar! Aus welchem Land kommt er denn?« Professor Bergmann nahm seinen Krückstock, den er quer über die Tischplatte gelegt hatte, und ging zur Tür. »Das ist mir nicht ganz klargeworden. Es muß irgendein kleiner Staat in Südamerika sein. Ich 1
habe den Namen jedenfalls noch nie gehört. Nun –«, er legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten, »wir werden es ja erleben. Der Krankenwagen ist bereits unterwegs. Ich nehme an, daß er bald hier sein wird.« Der Klinikchef war auf den Flur hinausgetreten und ging zum Fahrstuhl. Oberarzt Wagner begleitete ihn. »Sie sagten, es sei ein perforierter Appendix?« Der Professor nickte. »So lautete jedenfalls die Diagnose, die man mir übermittelte.« Die beiden Ärzte hatten den Fahrstuhl betreten und fuhren ins Erdgeschoß. Schweigend gingen sie dann den langen, nur dürftig erhellten Gang entlang bis zum äußersten Ende. Hier befand sich die Poliklinik. Oberarzt Wagner öffnete die Tür und ließ den Professor vor sich eintreten. Als er folgen wollte, hob der alte Herr die Hand und legte seinen Zeigefinger an den Mund. »Schauen Sie einmal dort!« flüsterte er. Dr. Wagner schüttelte den Kopf. »Das ist doch unerhört!« entfuhr es ihm. Professor Bergmann schüttelte den Kopf. »Psst!« machte er. »Die Schwester ist müde. Es tut mir leid, sie wecken zu müssen.« Schwester Angelika saß zurückgelehnt im Sessel neben dem Schreibtisch. Ihre Haube war verrutscht. Ein Arm baumelte herab, und der Kopf lehnte an dem Nackenpolster des Sessels. Ihr Mund war halb geöffnet, leise schnarchend ging ihr Atem in regelmäßigen Zügen. Professor Bergmann trat an sie heran und legte seinen Arm leicht auf ihre Schulter. Die Schwester seufzte ein paarmal tief. Dann erschrak sie und öffnete die Augen. Sie starrte den Professor wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. Dann sprang sie erschrocken auf. »Entschuldigen Sie, Herr Professor!« »Sie können doch in der Dienstzeit nicht schlafen!« Oberarzt Wagner war neben sie getreten. Mißbilligend schüttelte er den Kopf. »Das ist gegen alle Dienstvorschriften. Sie haben Nachtdienst!« Schwester Angelika ordnete erschrocken ihre verrutschte Haube. »Es tut mir leid, Herr Professor«, brachte sie schließlich hervor. »Ich war zu müde. Gestern ist es spät geworden.« 2
»Machen Sie sich keine Gedanken, Schwester Angelika!« tröstete der Professor sie. »Das kann jedem von uns passieren. Unser Oberarzt war auch nicht gerade der munterste, als ich ihn eben weckte. Außerdem hätten Sie das Telefon ja ohne weiteres gehört, nicht wahr?« Schwester Angelika nickte. »Selbstverständlich! Deswegen habe ich mich ja an den Schreibtisch gesetzt.« »Es ist alles in Ordnung!« winkte der Professor ab. »Wir sind nicht gekommen, um Sie zu kontrollieren. Es geht nur darum, daß wir heute noch einen Patienten erwarten. Er muß jeden Augenblick hier sein. Der Konsul eines südamerikanischen Staates mit einem perforierten Appendix; so behauptet jedenfalls der behandelnde Arzt.« Schwester Angelika griff nach dem Telefon. »Soll ich Dr. Bruckner wecken?« Fragend schaute sie den Professor an. »Er hat heute zum letzten Mal Nachtdienst!« Professor Bergmann nickte. »Wecken Sie ihn. Es tut mir zwar auch leid«, wandte er sich an den Oberarzt, der gegen die Wand lehnte, »schließlich fliegt er abends nach Südamerika.« »Das ist doch kein Hinderungsgrund!« entgegnete Dr. Wagner. »Wenn er schon so eine weite Reise auf Staatskosten macht, dann kann er schließlich auch etwas dafür tun. Meinen Sie nicht auch?« Professor Bergmann blickte seinen Oberarzt vorwurfsvoll an. »Ich verstehe Ihre Einstellung nicht ganz. Schließlich fliegt Dr. Bruckner im Auftrage der Klinik. Er hält auf einem internationalen Ärztekongreß einen Vortrag. Halten Sie das nicht für etwas Wichtiges? Oder sind Sie etwa neidisch?« Auf Schwester Angelikas Gesicht erschien ein Grinsen, das Oberarzt Wagner wohl bemerkte. Er rückte nervös an seiner Brille. »Ich hätte gar nicht fliegen können, auch wenn ich gewollt hätte. Schließlich gibt es hier soviel zu tun, daß wir die Klinik nicht vollkommen von Ärzten entblößen können. Einer muß ja schließlich auch die niedere Arbeit verrichten!« Schwester Angelika hatte die Nummer Dr. Bruckners gewählt. »Herr Dr. Bruckner? Sie möchten bitte in die Poliklinik kommen. Herr Professor und der Oberarzt sind schon hier!« 3
Sie nickte und legte den Hörer auf. »Er kommt sofort.« »Das will ich auch hoffen!« konnte Oberarzt Wagner sich nicht enthalten einzuwerfen. Das Telefon läutete und die Schwester nahm den Hörer ab. »Es ist der Pförtner!« wandte sie sich an den Professor. »Ihr Patient ist gekommen.« »Er soll gleich hierhergebracht werden!« ordnete der Klinikchef an. Die Schwester gab den Auftrag weiter.
* Thomas Bruckner hatte Dr. Heidmann telefonisch geweckt. »Wir müssen sofort in die Poliklinik. Schwester Angelika hat angerufen.« »Ich komme sofort!« erklang die verschlafene Stimme Johann Heidmanns. »Warten Sie auf mich?« »Ja, vor dem Ärztehaus!« Dr. Bruckner ließ kaltes Wasser in das Waschbecken fließen und hielt sein Gesicht darunter. Er hatte gerade im tiefsten Schlaf gelegen, als das Telefon ihn weckte. Rasch kleidete er sich an. Sein Blick fiel auf den Koffer, der schon gepackt neben der Tür stand. Er gähnte herzhaft und blickte auf seinen Schreibtisch. Dort lag ein Zettel, auf dem er die Flugzeiten notiert hatte. Um zwanzig Uhr fünfundvierzig ging das Flugzeug von Frankfurt nach Rio de Janeiro. Er mußte also kurz nach dem Mittagessen losfahren, um pünktlich in Frankfurt zu sein. Der Gedanke, daß er auf dem ›Internationalen Medizinerkongreß‹ einen wissenschaftlichen Vortrag halten sollte, zu dem Dr. Heidmann kurz Stellung zu nehmen hatte, ließ ihn die Müdigkeit, die ihn immer noch umfangen hielt, vergessen. Er zog sich einen weißen Mantel über und ging zum Ausgang. Heidmann wartete bereits auf ihn. Bruckner meinte kurz: »Sie sind so blaß, ist Ihnen das Wecken nicht bekommen?« Dr. Heidmann zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein leichtes Übelkeitsgefühl. Wahrscheinlich habe ich irgend etwas gegessen, was mir 4
nicht bekommen ist!« Sie hatten den Weg zur Klinik eingeschlagen. Dann und wann warf Bruckner einen Blick auf seinen jungen Kollegen. »Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes?« Seine Stimme klang beunruhigt. »Vielleicht können Sie nicht mitfliegen?« Dr. Heidmann wehrte erschrocken ab. »Natürlich komme ich mit. Ich sagte schon, eine leichte Unpäßlichkeit! Etwas Leibschmerzen – das wird rasch vorübergehen. Machen Sie sich bitte keine Gedanken.« Er schritt schneller aus, wie um zu beweisen, daß ihm nichts Ernsthaftes fehle. Sie hatten die Poliklinik erreicht. Der alte Krankenpfleger Chiron schob gerade eine Trage durch den Eingang zur Klinik. Als er die beiden sah, winkte er ihnen zu. »Wir kommen alle gerade zur rechten Zeit. So früh am Morgen macht das Arbeiten noch keinen Spaß.« Dr. Bruckner faßte an der Trage mit an, um dem alten Mann zu helfen. Schwester Angelika hatte bereits die Tür zur Poliklinik geöffnet und stand auf dem Flur. »Da ist ja unser Patient. Ist niemand mitgekommen?« »Doch!« Chiron blickte zurück. »Die Begleiter müssen gleich erscheinen. Da sind sie schon!« Zwei Herren kamen durch die Tür. Der ältere von beiden ging auf Dr. Bruckner zu. »Sind Sie Professor Bergmann?« Thomas Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein – ich bin sein Assistenzarzt. Professor Bergmann befindet sich dort in der Aufnahme.« »Ich heiße Dr. Jeres. Ich bin Botschaftsarzt.« Oberarzt Wagner hatte das Gespräch gehört. Er öffnete die Tür und kam auf den Flur hinaus. »Guten Tag, Herr Kollege. Oberarzt Dr. Wagner! Bitte, kommen Sie herein!« Die Trage mit dem Kranken war inzwischen in den Untersuchungsraum gefahren worden. Chiron hatte sie dicht an den Untersuchungstisch gestellt. Fragend sah er Professor Bergmann an. »Soll ich den Kranken auf den Untersuchungstisch heben?« Der Professor schüttelte den Kopf. »Lassen Sie ihn zunächst auf der Trage liegen. Ich kann ihn dort untersuchen. Wenn es notwendig wird, müssen wir ihn gleich in den Operationssaal bringen.« 5
Er blickte zur Tür hin, durch welche nun auch der Botschaftsarzt eingetreten war. Oberarzt Wagner machte ihn bekannt. »Ich habe den perforierten Appendix soeben erst diagnostiziert!« Dr. Jeres sprach ein einwandfreies Deutsch. Man hätte ihn ohne weiteres für einen Deutschen halten können, wenn nicht ein ganz leichter Akzent vorhanden gewesen wäre. »Ich hätte Sie nicht um diese Zeit belästigt, wenn ich nicht für das Leben des Konsuls hätte fürchten müssen.« »Warum haben Sie uns den Patienten nicht früher gebracht?« Dr. Wagner sah den Botschaftsarzt vorwurfsvoll an. »Man braucht doch nicht zu warten, bis ein Appendix perforiert!« »Der Konsul hatte so viel zu tun, daß er glaubte, er könne nicht abkommen«, setzte sich der Botschaftsarzt zur Wehr. »Es gibt eben manchmal politische Komplikationen, die es unmöglich machen, auf die Gesundheit Rücksicht zu nehmen!« Professor Bergmann wandte sich jetzt an den Konsul, der mit zusammengebissenen Zähnen schweigend dalag. Man merkte es am Krampf seiner Gesichtsmuskulatur, wie stark die Schmerzen sein mußten, die er auszuhalten hatte. »Sprechen Sie deutsch?« wandte sich der Professor an den Kranken. Der Konsul nickte. »Wann hat es angefangen?« »Ich habe schon ein paar Tage lang eine gewisse Unpäßlichkeit bemerkt.« Der Konsul sprach in einem gewählten Schriftdeutsch. »Aber ich habe die ganze Sache nicht weiter beachtet. Wenn man so in der Arbeit steckt, dann unterdrückt man seine Schmerzen. Man kann schließlich nicht wegen jeder Kleinigkeit gleich zum Arzt gehen. Unser Botschaftsarzt war in Urlaub, er ist erst gestern zurückgekommen!« Professor Bergmann hatte vorsichtig seine Hände auf den entblößten Leib des Patienten gelegt. Kaum berührte er die Bauchdecke, da stöhnte der Kranke laut auf und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Er versuchte, die Hände des Professors festzuhalten. »Bitte«, seine Stimme klang flehend, »tun Sie das nicht. Es schmerzt entsetzlich!« 6
Professor Bergmann erhob sich. Er deckte den Leib des Patienten zu. »Ich fürchte, wir werden gleich aufmachen müssen!« Er wandte sich an den Botschaftsarzt: »Ich stimme mit Ihrer Diagnose überein. Wir werden sofort operieren müssen. Sie sind einverstanden?« Er war noch einmal an die Trage getreten und hatte die Hand des Patienten ergriffen. Dann winkte er Chiron. »Bringen Sie den Patienten sofort in den OP!« Fragend sah er Schwester Angelika an. »Haben Sie Schwester Euphrosine schon benachrichtigt?« »Noch nicht, aber ich kann es sofort machen.« Professor Bergmann nickte. »Bereiten Sie alles für einen Eingriff vor. In einer Stunde –«, er blickte auf seine Armbanduhr, »das heißt, um fünf Uhr, werden wir mit dem Eingriff beginnen. Sehen Sie zu, daß bis dahin alles klar ist.« Er ging auf den Botschaftsarzt zu, der sich im Hintergrund aufgehalten hatte und reichte ihm die Hand. »Sie können dabeisein, Herr Kollege. Ich werde selber operieren!«
* »Es lohnt sich kaum noch, daß wir in das Ärztehaus zurückgehen!« Dr. Bruckner sah auf die Uhr im Dienstzimmer, dann auf Schwester Angelika. »Was halten Sie davon, wenn Sie uns eine starke Tasse Kaffee aufbrühen würden? Ich glaube –«, er schaute Dr. Heidmann fragend an, »daß wir den gebrauchen können. So ganz richtig wach bin ich immer noch nicht!« Dr. Heidmann nickte. »Eine gute Tasse Kaffee macht müde Chirurgen munter!« Er ging auf Schwester Angelika zu und legte ihr seinen Arm um die Schulter. »Wenn die Verwaltung die ungeheuren Unkosten nicht tragen will, dann bin ich selbstverständlich bereit, den Kaffee aus meiner eigenen Tasche zu bezahlen!« Schwester Angelika nahm seine Hand von ihrer Schulter: »Einmal sind wir im Dienst, da ist das Berühren weiblicher Figuren durch die Herren Ärzte strengstens verboten – es sei denn, Sie benutzen Ihre Hände zu irgendeiner Untersuchung! Und zweitens werde ich es doch 7
wohl noch verantworten können, meine Herren, vor einem Eingriff um diese ungewöhnliche Morgenzeit einen aufmunternden Trank zu brauen!« Sie ging zur Tür. »Es wird einen Augenblick dauern. Ich gehe rasch in die Stationsküche.« Sie verließ das Dienstzimmer. Heidmann und Bruckner setzten sich an den runden Tisch, der in einer Ecke des Raumes stand. Fragend blickte der jüngere Arzt seinen älteren Kollegen an. »Ich verstehe nicht, warum der Professor ausgerechnet uns beide zu dieser Operation eingeteilt hat. Es wäre doch logisch, wenn der Oberarzt die erste Assistenz gemacht hätte. Ich bin überzeugt, er ärgert sich fuchsteufelswild, daß er nun nicht bei diesem Konsul –«, er zog das Wort in einer spöttischen Weise in die Länge, »assistieren darf. Unser Oberarzt gehört doch zu den Männern, die vor jedem Titel zusammenzucken und bereits im Geiste eine tiefe Verbeugung vollführen.« »Vielleicht weiß der Chef das? Deswegen hat er möglicherweise uns eingesetzt. Ich muß gestehen, daß es mir heute gar nicht so gut paßt. Wenn wir morgen fliegen, sind wir müde.« Dr. Heidmann schnupperte in der Luft. »Ich wittere Kaffeeduft!« Er lachte. »Ich glaube, da kommt unsere liebe Schwester Angelika mit dem Mokka.« Die Tür öffnete sich. Schwester Angelika kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Kanne und zwei Tassen standen. »Nur zwei Tassen?« Dr. Bruckner war aufgestanden und nahm die Tassen und die Kanne vom Tablett herunter. »Trinken Sie nicht mit?« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Mein Nachtdienst in der Poliklinik ist in einer halben Stunde vorbei, dann möchte ich etwas schlafen. Wenn ich um diese Zeit noch starken Kaffee trinke, dann klappt das nicht mehr. Schließlich bin ich ja keine Maschine, sondern nur ein Mensch. Und da braucht man gelegentlich etwas Ruhe.« Sie setzte sich zu den beiden Ärzten. »Aber wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen Gesellschaft leisten.« Sie nahm die Kaffeekanne und füllte die beiden Tassen. »Nun trinken Sie! Sie müssen ja sowieso gleich in den Operationssaal hinauf und sich waschen. Aber zuvor –«, sie setzte sich 8
wieder und zog ihren Stuhl an den Tisch heran, »erzählen Sie mir etwas von Ihrer bevorstehenden Reise. Wir haben ja bisher keine Gelegenheit gehabt, auch nur einen Augenblick miteinander zu plaudern.« Dr. Bruckner griff nach der Zuckerdose, die noch auf dem Tablett stand, und süßte seinen Kaffee. Er trank einen kleinen Schluck, dann blickte er Schwester Angelika bewundernd an. »Da haben Sie sich ja mal wieder selbst übertroffen. Das ist ja ein doppelter Mokka!« »Ich glaube, den können Sie auch gebrauchen. Wann fliegen Sie denn?« »Ursprünglich wollten wir mit der Bahn nach Frankfurt fahren, aber inzwischen habe ich es mir anders überlegt. Es gibt einen LufthansaFlug um neunzehn Uhr fünf von Köln. Diese Maschine hat Anschluß nach Rio.« »Und wann halten Sie den Vortrag?« Dr. Bruckner nahm wieder seine Tasse auf und trank den Inhalt leer. »Am Donnerstag!« Er hielt seine leere Tasse der Schwester hin. »Wenn Sie noch etwas Kaffee haben, dann können Sie mir bitte noch eine Tasse geben!« »Aber selbstverständlich!« Schwester Angelika füllte seine leere Tasse erneut. »Ich habe für jeden zwei Tassen aufgebrüht. Mehr habe ich absichtlich nicht gemacht. Sie sollen mir nachher keine Vorwürfe machen, daß ich Ihren Herzen Schaden zugefügt habe! Worüber sprechen Sie denn in Rio?« »Sie wissen, daß ich eine Methode der Stereo-Röntgenaufnahme bei Bronchogrammen entwickelt habe. Darüber will ich berichten. Kollege Heidmann wird anschließend in einem Kurzreferat auf einige prinzipielle Fragen eingehen.« »Haben Sie keine Angst vor dem Fliegen?« Schwester Angelika füllte Dr. Heidmanns Tasse, die dieser inzwischen auch geleert hatte. Dr. Bruckner mußte laut lachen. »Ich bin in meinem Leben so oft geflogen, daß ich in einem Flugzeug ruhiger bin als in einem Auto oder im D-Zug. Ich muß sagen, daß ich mich schon auf den Flug freue.« An der Tür war ein Geräusch zu hören. Es hörte sich an, als ob jemand draußen stand. Schwester Angelika schaute kopfschüttelnd zu 9
der Tür hin, die einen Spalt breit offenstand. »Ich habe die Tür nicht richtig geschlossen. Anscheinend lockt der gute Kaffeeduft noch einige ungebetene Gäste an.« »Ich glaube auch, daß es besser ist, wenn Sie die Tür zumachen!« Schwester Angelika erhob sich, ging zur Tür, faßte die Klinke an und stutzte. Anstatt die Tür zu schließen, öffnete sie sie weit. »Was machen Sie denn hier?« Sie blickte zu Dr. Bruckner zurück. »Der Patient King ist da. Wollten Sie zu Herrn Doktor?« fragte sie den jungen Mann, der jetzt in das Zimmer eingetreten war und an der Tür stehenblieb. Er mochte etwa Ende der Zwanzig sein. Sein Alter war schwer zu schätzen. Ein wirrer, ungepflegter Bart verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Auch sein Haupthaar war alles andere als gepflegt. »Ach – unser Anarchist!« Dr. Bruckner erhob sich und ging auf den jungen Mann zu. »Was wollen Sie um diese ungewöhnliche Zeit hier auf Station?« Der junge Mann schaute zu Schwester Angelika hin. »Ich werde ja nun heute entlassen.« Er hob seinen Arm hoch. »Da wollte ich Sie bitten, noch einmal nach meiner Wunde zu schauen!« »Um diese Zeit?« Schwester Angelika hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Wissen Sie, wie spät es ist?« Sie zog an der goldenen Kette, die sie um den Hals trug, und holte ihre daran hängende Uhr hervor. »Es ist halb fünf – nachtschlafende Zeit!« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »So nachtschlafend ist die Zeit nun auch wieder nicht. In wenigen Minuten kommt die Nachtschwester und weckt uns zum Fiebermessen!« gab er zurück. »Da bin ich etwas eher aufgestanden. Ich hörte Dr. Bruckners Stimme.« »Kommen Sie heute früh wieder. Dann ist Zeit genug.« Schwester Angelika wollte ihn aus dem Dienstzimmer schicken, aber Dr. Bruckner winkte ab. »Wenn er schon einmal hier ist, kann ich ihn mir auch gleich ansehen. Wer weiß, wie lange unser Eingriff dauert.« Er winkte dem jungen Mann, näher zu treten. »Zeigen Sie mir Ihren Arm!« 10
Der junge Mann rollte seinen Ärmel auf. Dr. Bruckner hob den Verband, der um den Unterarm gewickelt war, hoch. Dann nickte er. »Es ist ja alles bestens verheilt. Wollen Sie uns immer noch nicht verraten, wie Sie zu diesen Schußverletzungen gekommen sind?« Der junge Mann sah erst auf die verheilte Wunde, dann auf den Arzt. »Sie scheinen mir nicht zu glauben, daß ich mich selbst in den Arm schoß, als ich eine Pistole reinigte?« Dr. Bruckner legte den Verband wieder um den Arm und schaute den jungen Mann zweifelnd an. »Wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich gestehen, daß ich kein Wort von dem glaube, was Sie da erzählen. Wenn man sich selbst verletzt, sieht der Einschußkanal anders aus. Aber, nun ja –«, er gab dem Patienten einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, »es ist nicht meine Sache. Ich bin weder Ankläger noch Richter. Wohin gehen Sie, wenn Sie heute entlassen werden?« »Das weiß ich noch nicht!« Der junge Mann streifte seinen Ärmel wieder über den Arm, ging zur Tür, blieb dort aber stehen und machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. »Sie müssen jetzt gehen!« ermahnte Schwester Angelika Dr. Bruckner. Sie hatte das Geschirr auf das Tablett gestellt. »Ich bringe das Zeug nur rasch in die Küche. Gehen Sie lieber, sonst gibt es noch Ärger mit dem Chef!« »Wir gehen schon. Also –«, Dr. Bruckner streckte dem jungen Mann die Hand entgegen, »dann können wir uns gleich verabschieden. Ich werde Sie heute früh ja wohl nicht mehr sehen. Wenn unsere Operation lange dauert, dann werden Sie fort sein, bis wir fertig geworden sind.« Schwester Angelika winkte von der Tür her. »Wir sehen uns nachher noch. Ich muß Ihnen Ihre Entlassungspapiere fertigmachen!« Sie verschwand auf dem Korridor. Es schien, als habe der junge Mann nur auf den Abgang der alten Schwester gewartet. Er kam noch einmal in das Zimmer zurück. »Sie fliegen heute mit der Maschine um zwanzig Uhr fünf und vierzig von Frankfurt nach Rio?« Dr. Bruckner schaute ihn verblüfft an. »Woher wissen Sie das?« »Ich habe es eben gehört, als ich vor der Tür stand und einen Augenblick wartete!« 11
»Sie haben gehorcht?« Dr. Heidmann grinste. »Haben Sie die Absicht, uns mit einer Bombe zu erfreuen?« Über das Gesicht des Patienten lief ein ärgerliches Zucken. »Muß man denn, wenn man einen Bart trägt und jung ist, gleich ein Bombenwerfer sein!« verteidigte er sich. Er ging wieder zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Es sah aus, als ob er das, was er eben noch zu sagen beabsichtigt hatte, nun doch lieber für sich behalten wollte. »Entschuldigen Sie!« Heidmann war zu ihm getreten. »Sie dürfen nicht so empfindlich sein. Wir lieben hier manchmal derbe Scherze. Ich glaube, Sie haben in der ganzen Zeit an unserer Behandlung gemerkt, daß wir keinen Unterschied zwischen Bartträgern und Bartlosen machen. Für uns gibt es nur den Patienten, den Menschen. Wie er aussieht, das ist uns völlig wurscht!« »Sie haben recht. Ich möchte Ihnen auch von ganzem Herzen für alles danken. Ich glaube, das wäre an keinem anderen Krankenhaus so geschehen. Ich danke Ihnen vor allem für Ihre Diskretion.« »Es lag ja kein polizeilicher Haftbefehl gegen Sie vor. Und wenn Sie mir sagen –«, über Dr. Bruckners Gesicht lief ein Schmunzeln, »daß Sie sich selbst in den Arm geschossen haben, dann muß ich es so hinnehmen.« Er ging zur Tür. »Aber nun entschuldigen Sie uns, wir müssen –«, er schaute auf seine Armbanduhr, »rasch in den Operationssaal. Sonst gibt es Ärger. Unser Chef ist immer sehr pünktlich. Er hat es nicht gern, wenn man zu spät kommt!« »Können Sie kein anderes Flugzeug nehmen?« Der junge Mann war Dr. Bruckner auf den Flur hinaus gefolgt. »Nein –«, Dr. Bruckner beschleunigte seine Schritte. Der junge Mann wich nicht von seiner Seite. Vor dem Fahrstuhl blieb er neben dem Arzt stehen. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Sie ein anderes Flugzeug nehmen würden«, wiederholte er seinen Satz. »Warum?« Dr. Bruckner hatte den Knopf gedrückt, der den Fahrstuhl herbeiholte. »Sind Sie etwa Hellseher?« »Glauben Sie an Astrologie?« Dr. Heidmann konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. »Als Anarchist darf man nicht an Sterne 12
glauben! Anarchisten glauben doch an nichts. Oder haben Sie Ihren Glauben durch Aberglauben ersetzt?« Der Fahrstuhl hielt. Dr. Heidmann öffnete die Tür. Er wartete, bis Dr. Bruckner eingestiegen war. Es sah aus, als ob der junge Mann auch in den Fahrstuhl steigen wollte, aber Dr. Bruckner hielt ihn zurück. »Machen Sie, daß Sie auf Ihr Zimmer kommen!« verwarnte er ihn gutmütig. »Den Operationstrakt dürfen Sie sowieso nicht betreten. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihren gutgemeinten Rat. Wenn sich an Ihrem Arm in unserer Abwesenheit irgend etwas zeigen sollte, was Sie beunruhigt, dann rufen Sie nur hier an und verlangen Sie Dr. Rademacher. Er wird mich in meiner Abwesenheit vertreten. Auf Wiedersehen!« Bevor der verdutzte Patient noch etwas sagen konnte, hatte Dr. Heidmann schon die Tür des Fahrstuhls zugezogen. Er drückte den Knopf, der den Fahrstuhl zur Operationsabteilung brachte. Der Riegel, der die Tür verschloß, schob sich automatisch vor. Man hörte noch, wie der junge Mann versuchte, die Tür rasch zu öffnen, bevor der Fahrstuhl abfuhr, aber es war schon zu spät. Die Tür war bereits verriegelt. »Ich verstehe nicht, was dieser gute King damit gemeint hat?« Fragend schaute Dr. Heidmann Dr. Bruckner an. »Er wirkte mit seiner Warnung doch eigentlich recht seriös!« Dr. Bruckner nahm seine Pfeife aus der Tasche. Er steckte sie sich in den Mund, ohne sie zu stopfen und anzuzünden. »Ich weiß es auch nicht. Ich habe das Gefühl, daß er sich irgendwie anbiedern wollte. Es gibt ja eine bestimmte Gruppe junger Männer, die sich wichtig machen will und aus diesem Grunde alle möglichen Geschichten erfindet. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er uns hätte weismachen wollen, daß sich an Bord der Maschine eine Bombe befände. Sie haben ihm ja praktisch den Anlaß dafür gegeben.« »Ich?« Erstaunt blickte Heidmann den Freund an. »Wieso ich?« Der Fahrstuhl hielt. Dr. Bruckner öffnete die Tür und sie betraten den Vorraum des Operationstraktes. »Sie haben ihm den Beinamen ›Anarchist‹ gegeben.« Dr. Bruckner ging auf den Umkleideraum zu. »Und nun fühlt er sich quasi verpflich13
tet, auch die Rolle eines solchen zu spielen. Wenn wir morgen –«, er wandte sich abrupt um und schaute zur Treppe hin. Jemand war leisen Schrittes die Stufen hinaufgekommen. Er schaute um die Ecke. Als er sah, daß der Flur nicht leer war, wollte er wieder rasch die Treppe hinuntergehen, aber Bruckner und Heidmann waren schneller als er. »Was suchen Sie hier? Wer sind Sie?« Dr. Heidmann starrte das Gesicht des völlig verblüfften Mannes an. Er war ein Asiate, hatte Schlitzaugen und im Oberlid fehlte die europäische Falte. Der Mann hatte den anfänglichen Schrecken rasch überwunden. Er lächelte nun über sein ganzes gelbes Gesicht, das sich in tausend Falten legte. »Entschuldigen Sie!« Er sprach mit einer sanften Stimme. »Ich habe gehört, daß hier ein Konsul eingeliefert wurde. Ich bin ein Bekannter von ihm. Ich wollte nur einmal schauen, wie es ihm geht!« »Ein Bekannter?« Dr. Bruckner schaute den seltsamen Besucher skeptisch an. »Haben Sie sich denn nicht unten in der Aufnahme gemeldet?« »Nein!« Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes vertiefte sich. Es erschienen noch mehr Falten, so daß man sich wundern mußte, wie alle diese Falten in dem Gesicht Platz fanden. »Ich bin dort einfach vorbeigegangen.« Niemand hatte gemerkt, daß der Fahrstuhl fortgeholt worden war und jetzt zurückkam. Als die Tür sich öffnete, trat Oberarzt Wagner heraus. Strafend blickte er Dr. Bruckner und Dr. Heidmann an. »Es ist höchste Zeit, daß Sie sich waschen! Der Chef ist schon dabei. Die Assistenten sollen immer vor dem Chef im Waschraum sein.« »Wir sind nur noch einmal zurückgegangen, weil dieser Herr hier –«, Dr. Bruckner schaute sich um. Die Verblüffung auf seinem Gesicht war enorm. »Welcher Herr?« Oberarzt Wagner sah Dr. Bruckner mit einem seltsam prüfenden Blick an, als zweifle er an der Zurechnungsfähigkeit des Assistenzarztes. »Eben war doch noch jemand hier. Ein Chinese. Haben Sie ihn nicht gesehen?« mischte sich nun auch Heidmann in das Gespräch. 14
Oberarzt Wagner kniff die Augen zusammen. Noch einmal wanderte sein Blick mißtrauisch zwischen Dr. Bruckner und Dr. Heidmann hin und her. Dann schnupperte er in der Luft. »Ich habe den Eindruck, Sie haben etwas zuviel getrunken, meine Herren. Das kommt davon, wenn man seinen Abschied feiert. Sie wußten doch, daß Sie operieren müssen. Hier war kein Chinese. Sie standen ganz allein da. Mit so dummen Ausreden brauchen Sie mir wirklich nicht zu kommen!« Oberarzt Wagner redete sich in Ärger. »Machen Sie, daß Sie in den Operationssaal kommen. Sie können dankbar sein, daß der Professor Sie überhaupt bei diesem Eingriff assistieren läßt!« »Also doch neidisch!« brummte Heidmann; aber der Oberarzt konnte es nicht mehr hören. »Wir haben keinen Tropfen Alkohol getrunken!« glaubte Dr. Bruckner den Oberarzt aufmerksam machen zu müssen. »Wir haben nur jeder zwei Tassen Mokka getrunken!« »Auch Koffein kann einen Rausch verursachen! Wenn man solchen starken Kaffee auf nüchternen Magen trinkt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn man Halluzinationen hat. Ein Chinese!« Oberarzt Wagner ging leise schimpfend hinter den beiden her. »Wie soll ein Chinese in die Klinik kommen? Dann hätte doch der Pförtner auf jeden Fall etwas gemeldet.« Dr. Bruckner und Dr. Heidmann betraten den Umkleideraum. Dr. Wagner folgte ihnen nicht. »Wir können doch nicht beide spinnen!« Johann Heidmann wechselte das Hemd, schlüpfte in eine frischgewaschene weiße Hose und setzte sich den Kopfschutz auf. »Das Ganze wird mir allmählich unheimlich!« Dr. Bruckner hatte sich inzwischen ebenfalls umgekleidet. Kopfschüttelnd sah er Dr. Heidmann an. »Sie haben doch keine Angst, heute mitzukommen, wie?« Heidmann stand in der Tür, die zum Waschraum führte. »Mein Intellekt sagt mir natürlich, daß das alles Unsinn ist, was ich mir einbilde. Andererseits aber –«, er band sich den Mundschutz vors Gesicht, 15
»habe ich ein ungutes Gefühl. Ich glaube, ich werde heute nicht ganz so leichten Herzens in das Flugzeug steigen wie sonst. Zuerst dieser Herr King, unser Anarchist, der uns warnt. Dann kommt auch noch plötzlich ein Chinese ins Krankenhaus. Er kann doch nicht einfach so hereingekommen sein, ohne etwas zu wollen.« Er schaute auf. »Da ist übrigens der Botschaftsarzt. Vielleicht sollten wir ihn fragen. Wenn der Chinese zum Konsul wollte, müßte er ihn doch kennen.« Er trat in den Waschraum. Professor Bergmann saß vor einem Waschbecken und war bereits dabei, sich die Hände zu schrubben. Mit ernstem Gesicht schaute er Dr. Bruckner an. »Es geht dem Patienten nicht gut. Hoffentlich übersteht er die Operation. Ich habe den Herrn Kollegen Dr. Jeres bereits darauf aufmerksam machen müssen, wie gefährlich diese Operation sein wird.« »Kennen Sie einen Chinesen, der mit dem Konsul bekannt ist?« Dr. Bruckner hatte sich einen Schemel an das Waschbecken herangezogen und sich gesetzt. Fragend schaute er den Botschaftsarzt an, der daneben stand. Es sah aus, als ob über das Gesicht des fremden Arztes ein Erschrecken flöge. Es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete: »Nein! Ich kenne keinen Chinesen. An unserem Konsulat sind keine Asiaten beschäftigt.«
II
H
alt!« Der alte Pförtner kam verschlafen aus seiner Loge heraus. Er streckte seinen Arm aus, als sich der Besucher unbemerkt an seinem Häuschen vorbeistehlen wollte. »Wo kommen Sie denn um diese Zeit her?« Der alte Mann schaute auf seine Armbanduhr. »Was haben Sie in der Klinik gemacht?« Er war halb in der Tür stehengeblieben. Er schien Furcht vor dem Fremden zu haben, der nun langsam auf ihn zukam. 16
Der Mann, den er aufgehalten hatte, sah wirklich in dem Neonlicht, das den Eingang der Klinik erleuchtete, ein wenig furchterregend aus. Das unnatürliche Licht verstärkte noch das Gelbe seines Gesichts und ließ die Augen grünlich aufleuchten. Als er nun vor dem Pförtner stand und seinen Mund zu einem Lachen verzog, das sich über das ganze Gesicht ausbreitete und eine Unzahl von feinen Falten hervorzauberte, wich der Pförtner noch mehr in das Innere seiner Loge zurück. Er stellte sich neben den kleinen Tisch, auf dem sich ein Alarmknopf befand. Man hatte diese Alarmvorrichtung vor kurzem in die Pförtnerloge eingebaut, als einmal ein betrunkener Randalierer mitten in der Nacht den Pförtner belästigt und fast zusammengeschlagen hätte. Der Chinese wollte dem Alten in die Loge folgen, aber da streckte der Pförtner beide Arme aus. »Draußen bleiben!« Seine Stimme keuchte vor Erregung. »Bleiben Sie draußen! Das Betreten des Pförtnerhauses ist nur Befugten gestattet.« Dann fiel ihm ein, daß der Fremde vielleicht gar kein Deutsch konnte und so reckte er die rechte Hand in einer gebieterischen Gebärde aus, während sein linker Zeigefinger auf dem Alarmknopf blieb. »Nix hier Eintritt!« fügte er in jenem seltsamen Deutsch hinzu, das die meisten Menschen anwenden, wenn sie mit einem Ausländer sprechen, als könnten sie ihm das Verstehen der Sprache durch eine kindische Ausdrucksweise erleichtern. Das Lächeln verschwand einen Augenblick. Der Chinese wich einen Schritt zurück. »Ich war eben bei dem Patienten, der hier eingeliefert worden ist. Bei dem Konsul!« fügte er hinzu. Er blieb noch einen kurzen Augenblick in der Türöffnung stehen. Dann wandte er sich um und verschwand. Sein Schritt war nicht zu hören. Der Pförtner hatte den Eindruck, daß der merkwürdige Besucher vom Erdboden verschluckt worden wäre. Er spähte die Straße hinunter, aber er konnte den Fremden nirgendwo mehr entdecken. Den alten Pförtner überfiel ein kaltes Grauen. Er bekreuzigte sich, machte kehrt und schloß die Tür der Loge hinter sich. Er überlegte, ob 17
er jemand zu Hilfe rufen sollte, aber es war ja niemand da, gegen den er Hilfe erbitten konnte. Die Straße war und blieb leer. Einmal noch huschte ein Schatten vorbei, und er nahm schon den Telefonhörer ab; da sah er, daß es nur eine Katze war, die draußen herumstrich und in den Lichtkegel der Lampe geraten war. Seufzend drehte er den Lehnstuhl so um, daß er den Eingang zur Klinik im Auge behalten konnte. Er versuchte, die Augen aufzuhalten, aber je mehr er gegen den Schlaf ankämpfte, desto müder wurde er. Schließlich sank ihm der Kopf auf die Brust. Eine abrupte Bewegung weckte ihn wieder auf, erschrocken fuhr er zusammen und richtete den Kopf in die Höhe. Aber es dauerte nicht lange, bis der Kopf wieder nach vorn sank. Schließlich war die Müdigkeit des Pförtners so groß geworden, daß ihn auch der heruntergesunkene Kopf nicht mehr aufweckte. Er schnarchte leise vor sich hin. Er hätte auch nicht wach zu sein brauchen. Der Fremde kam nicht wieder. Der Morgen graute schon, als der alte Mann schließlich erwachte und erschrocken zusammenfuhr. Zunächst glaubte er, er habe alles nur geträumt. Aber als er dann sah, daß sein Sessel in eine verkehrte Richtung gedreht war, wurde ihm klar, daß er die Begegnung mit dem Chinesen nicht geträumt hatte, sondern daß sie wahrhaftig stattgefunden haben mußte. Es schauderte ihm erneut bei dem Gedanken an das Gesicht des Fremden, an das Grinsen, an das spurlose Verschwinden. Er beschloß, keinem davon zu erzählen. Man würde ihn nur auslachen, wenn er behauptete, daß ein Mensch sich vor seinen Augen in Luft aufgelöst hatte … Und er war sicher, daß das geschehen war.
* Professor Bergmann stand auf der rechten Seite des Operationstisches, Dr. Heidmann hatte den Platz zu seiner Linken eingenommen, während sich Dr. Bruckner als erster Assistent auf die gegenüberliegende Seite begeben hatte. Der Botschaftsarzt stand, gleichfalls mit einem 18
grünen Kittel bekleidet und mit Mund- und Kopfschutz versehen, hinter dem Professor. »Schläft er?« Professor Bergmann wandte sich an Dr. Phisto, der – wie gewöhnlich – die Narkose machte. Dr. Phisto erschrak. Der Professor schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang vorwurfsvoll: »Ich spreche nicht wie der Alte Fritz. Wenn ich ›Er‹ sage, meine ich nicht Sie, sondern den Patienten.« »Entschuldigen Sie, Herr Professor. ›Er‹ schläft. Sie können anfangen!« Professor Bergmann griff nach dem Skalpell, das ihm Schwester Euphrosine reichte. Unwillig blickte er hoch, als sich die Tür ungestüm öffnete. »Was gibt es?« Oberarzt Wagner war eingetreten. »Gar nichts, Herr Professor. Ich bin nur gekommen, um der Operation beizuwohnen.« »Dann kommen Sie das nächste Mal gefälligst etwas leiser herein!« Der Professor hatte das Skalpell sinken lassen und schaute den Oberarzt vorwurfsvoll an. »Sie wissen doch, daß in einem Operationssaal absolute Ruhe zu herrschen hat. Sie können den Operateur ganz gewaltig erschrecken, wenn Sie mit einem solchen Krach hereinstürzen.« Er hob das Skalpell wieder und fühlte mit dem Zeigefinger der linken Hand auf dem Leib nach, um die Stelle festzustellen, an der er die Bauchdecken eröffnen wollte. »Ich fürchte –«, er hielt einen Augenblick inne, wandte sich um und schaute den Botschaftsarzt an, der dicht hinter ihm stand, »daß wir den Appendix heute nicht entfernen können. Nach allem, was wir festgestellt haben –«, er zeigte auf die Kurve des Patienten, die Dr. Phisto in der Hand hielt, »ist der Wurmfortsatz durchbrochen. Wir werden vermutlich auf einen Abszeß treffen. Das plötzlich ansteigende Fieber und der rasche Pulsschlag deuten darauf hin.« »Neununddreißig fünf!« las Dr. Phisto die Temperatur vor, die auf der Kurve notiert war. Professor Bergmann hob erneut das Skalpell. »Ich werde einen Pararectal-Schnitt anlegen!« erklärte er weiterhin dem Botschafts19
arzt. »Vielleicht besteht doch die Möglichkeit, daß wir den Wurmfortsatz herausnehmen können. Eine leise Hoffnung habe ich immer noch.« Er tastete noch einmal die Bauchmuskulatur ab. »Glücklicherweise ist der Patient nicht zu dick«, erklärte er, »ich kann den äußeren Rand des geraden Bauchmuskels ausgezeichnet fühlen.« Er senkte die Schneide des Messers auf die mit dem Zeigefinger markierte Stelle der Haut. Sie lag rechts neben und etwas unterhalb vom Nabel. Das Messer fuhr auf der Haut nach unten und hinterließ einen roten Streifen. Gelbes Fettgewebe wurde in der Tiefe sichtbar. Eine Blutfontäne sprang auf. Dr. Bruckner hielt bereits eine Klemme in der Hand. Er setzte ihre Schnauze an das durchschnittene Gefäß. Die Blutung stand. Dr. Heidmann hielt die Nadel des Diathermiegerätes an die Klemme, die Dr. Bruckner anhob. Es zischte. Dr. Bruckner nahm die Klemme ab. Die Blutung stand nun vollkommen. Die durchtrennte Ader war mittels des elektrischen Stromes zugelötet. Professor Bergmann klemmte an die durchtrennten Hautränder grüne Tücher. Dann reichte Schwester Euphrosine Dr. Heidmann scharfe Haken. Der junge Arzt setzte ihre umgebogenen Spitzen in die Hautränder ein und zog sie nach außen. Die derbe Muskelhülle wurde sichtbar. Man konnte durch sie hindurch den äußeren Rand des geraden Bauchmuskels schimmern sehen. Professor Bergmann setzte die Schärfe seines Messers etwa einen Zentimeter vom äußeren Rand des Muskels auf die derbe Hülle auf. Er durchtrennte sie rasch von oben nach unten. Der rote Muskel kam zum Vorschein. »Stumpfe Haken!« ertönte die Stimme des Professors. Dr. Heidmann nahm die scharfen Haken aus der Wunde heraus und reichte sie Schwester Euphrosine. Die Schwester reichte ihm schaufelförmig umgebogene Haken, deren Spitzen stumpf waren, damit sie das Gewebe nicht verletzten. Professor Bergmann nahm Heidmann einen der Haken aus der Hand und setzte ihn in den äußeren Rand des Schnittes ein, den er in 20
die Muskelhülle gelegt hatte, und zog kräftig daran. Der Muskelrand kam zum Vorschein. Der Operateur nahm nun Dr. Heidmann den zweiten Haken aus der Hand und zog mit ihm den Muskelrand zur Mitte hin, so daß der untere Teil der Hülle, in welche der Muskel gewissermaßen eingepackt war, erschien. »Halten Sie die Haken bitte so!« Dr. Heidmann übernahm beide Haken und zog so kräftig er konnte. »Ich eröffne jetzt die Bauchhöhle!« wandte sich Professor Bergmann an Dr. Phisto. Dr. Bruckner packte mit seiner Pinzette die Muskelhülle. Professor Bergmanns Pinzette packte einen Zentimeter daneben. Er durchtrennte mit dem Messer die Gewebebrücke, die sich zwischen den beiden Pinzetten bildete. »Bauchhöhle ist eröffnet!« meldete er dem Anästhesisten. Dr. Phisto machte sich eine Notiz. »Ich danke!« Professor Bergmann steckte den Zeigefinger in das Loch, das er mit dem Messer geschnitten hatte. Im Schutze des Fingers trennte er das Gewebe in der ganzen Ausdehnung auf. Man sah im hellen Schein der Operationslampe jetzt die Därme schimmern. »Licht nachstellen!« Chiron war schon bei der Lampe und schob sie so zurecht, daß das Licht genau den Operationsbereich beleuchtete. »So ist es gut!« lobte der Professor. »Die Bauchhöhle sieht ja ganz sauber aus!« Der Botschaftsarzt hatte sich so weit nach vorn gebeugt, daß es fast aussah, er würde das Gleichgewicht verlieren und auf das Operationsgebiet fallen. »Warten Sie nur ab!« dämpfte Professor Bergmann seine Zuversicht. »Hier sieht es noch ganz sauber aus. Glücklicherweise hat der Körper anscheinend noch genug Kraft gehabt, den Abszeß einzukapseln. Wenn das nicht geschehen wäre, dann hätte der Patient jetzt eine diffuse Peritonitis. Und dann wäre, trotzdem wir ihn vor der Operation massiv unter Antibiotika gesetzt haben, die Prognose äußerst ungünstig.« 21
Er streckte seine Hand aus. »Tücher, bitte!« Schwester Euphrosine reichte ihm feuchte Kompressen, die sie zuvor in warme Kochsalzlösung getaucht hatte. Der Professor stopfte sie vorsichtig nach allen Seiten in die Bauchhöhle hinein, so daß nur ein kleiner Zugang in die Tiefe offenblieb. »Ich ergreife diese Vorsichtsmaßnahme, damit Eiter, wenn er austreten sollte, nicht gleich die ganze Bauchhöhle verschmiert.« Er blickte zu Dr. Heidmann hin. »Halten Sie bitte den Sauger bereit!« Der alte Pfleger stellte den Motor der Pumpe an. Heidmann nahm das Ende des Schlauches, der in einem Glasrohr endete, und hielt prüfend den Finger vor die Öffnung, um festzustellen, ob die Motorpumpe genügend stark saugte. »Es ist alles bereit!« ertönte die Stimme Dr. Bruckners. »Sie können weitermachen!« Professor Bergmann nickte. Er versuchte, die Darmschlinge, die zuoberst lag, aus der Wunde herauszuholen, aber es gelang ihm nicht. Sie saß zu fest. Es war, als sei sie angelötet. »Ich muß etwas tun, was mir eigentlich zuwider ist.« Der Operateur steckte seinen Zeigefinger in die Wunde hinein und versuchte, ihn zwischen zwei Darmschlingen, die hier zusammengeklebt waren, in die Tiefe zu drücken. »Ich muß die Verwachsungen im Innern des Leibes lösen.« Es war totenstill im Operationssaal geworden. Das monotone Brummen der. Motorpumpe unterstrich die Stille sogar noch. Auf der Stirn des Professors standen kleine Schweißtropfen. Sein Finger arbeitete sich immer weiter vor und löste vorsichtig die Verwachsungen. Es geschah alles so langsam, daß man den Fortgang überhaupt nicht verfolgen konnte. Es sah aus, als ob der Finger keinen Millimeter vorwärts käme. Johann Heidmann stand mit gespanntem Gesicht da. Er hielt das Glasrohr seines Saugers so dicht an die Wunde, daß er fast Professor Bergmann bei der Arbeit behinderte. Dr. Bruckner hielt einen Tupfer an einer Klemme in der Hand. Aller Augen starrten auf das Operationsfeld. 22
Professor Bergmann hielt einen Augenblick inne. Er nahm seine Hand aus der Wunde und bewegte die Finger ein paarmal hin und her. »Von diesem angestrengten Bohren bekommt man direkt einen Krampf in der Hand!« Eine Schwester wollte ihm den Schweiß von der Stirn wischen, aber er wehrte ab. »Warten Sie noch einen Augenblick! Ich muß gleich am Unruheherd sein.« Er senkte seine Hand erneut in die Wunde und drückte den Finger in die Tiefe. Jetzt erst sah man, daß die Darmschlingen schon zu einem großen Teil von ihren Verklebungen gelöst waren. Mit einem Mal rutschte der Finger aus. Erschrocken wollte ihn der Professor zurückziehen –, aber in diesem Augenblick quoll schon aus der Tiefe eine gelblich-grüne Masse. Ein penetranter Geruch verbreitete sich, so daß Schwester Euphrosine, die schon allerhand gewöhnt war, erschrocken ihren Kopf zurückzog. »Das stinkt ja pestilenzialisch!« bemerkte sie.
* »Haben Sie mich aber erschreckt!« Schwester Angelika fuhr auf. Vorwurfsvoll sah sie den jungen Mann an, der im Eingang des Dienstzimmers stand und nun langsam auf sie zukam. »Was wollen Sie schon um diese Zeit hier?« »Ich habe Ihnen ja schon vorhin gesagt, daß ich entlassen werden möchte.« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Aber doch nicht um diese Zeit! Ihre Entlassungspapiere liegen bei der Verwaltung. Und die arbeitet nicht so früh. Vor neun Uhr ist da nichts zu machen. Gehen Sie wieder auf Ihr Zimmer zurück!« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen freundlichen Ton zu geben. »Außerdem habe ich jetzt keine Zeit. Sie haben doch vorhin gehört, daß ich Nachtdienst hatte und daß ich mich jetzt einen Augenblick hinlegen möchte!« Sie klappte das Buch zusammen, in dem sie ihre letzten Eintragungen gemacht hatte, und erhob sich. 23
»Kommen Sie in zwei Stunden wieder, Herr King! Dann wird die Zweitschwester hier sein, und die wird Ihnen Ihre Papiere aushändigen.« Sie wollte an dem Patienten vorbeigehen, aber der junge Mann hielt sie fest. »Ich werde trotzdem gehen. Die Papiere kann ich ja später abholen. Ich habe noch allerhand zu erledigen. Im übrigen –«, er begleitete Schwester Angelika über den Flur, als diese keine Anstalten machte, stehenzubleiben, »habe ich eine große Bitte an Sie.« Sie waren vor dem Fahrstuhl angelangt. Schwester Angelika blieb stehen. »Und was möchten Sie?« Der junge Mann sah sich verstohlen um, als fürchtete er, daß jemand ihn hören konnte. Dann senkte er seine Stimme zu einem Flüstern. »Versuchen Sie, Herrn Dr. Bruckner zu überreden, daß er morgen – oder vielmehr heute –«, er schaute verlegen lächelnd auf seine Uhr, »ein anderes Flugzeug nimmt! Es ist besser, wenn er seinen Flug verschiebt.« »Ich werde es kaum schaffen, ihn davon zu überzeugen. Warum soll er denn seine Reise verschieben?« Sie schaute den Patienten erstaunt an. »Ich kann es nicht sagen. Ich möchte ihn aber bitten, daß er es tut!« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Dr. Bruckner ist ein intelligenter Mensch!« Sie drückte jetzt den Kopf, der den Fahrstuhl herbeiholte. »Und er wird auf jeden Vorschlag eingehen, vorausgesetzt, daß er logisch begründet ist. Wenn jemand aus einer reinen Gefühlsduselei heraus einen Vorschlag macht, weil er vielleicht Unheil in den Sternen gelesen hat, werden Sie bei Dr. Bruckner auf taube Ohren stoßen.« Der Fahrstuhl war angekommen. Schwester Angelika öffnete die Tür. »Wenn Sie Dr. Bruckner sprechen wollen, dann warten Sie halt, bis er mit dem Operieren fertig ist. Sagen Sie ihm dann den Grund, weshalb er ein anderes Flugzeug nehmen soll. Wenn es etwas Wichtiges sein sollte, werden Sie es ihm doch sagen können!« Jemand klopfte oben gegen die Fahrstuhltür. »Ich komme schon!« rief Schwester Angelika. »Sie hören, daß der Fahrstuhl gebraucht wird. Sie entschuldigen mich, ich muß mich wirklich hinlegen. Ich bin zu 24
müde. Auf Wiedersehen!« Bevor King noch etwas antworten konnte, hatte Schwester Angelika schon die Tür hinter sich zugezogen. Der Fahrstuhl fuhr langsam nach oben. Es sah aus, als ob der junge Mann die Treppe hinauflaufen wollte, um Schwester Angelika noch einmal zu stellen. Aber dann zuckte er mit den Schultern und ging zurück in sein Zimmer. Er nahm seinen Koffer, winkte den Stubengenossen zu, die ihn erstaunt-fragend anschauten, und verließ das Krankenzimmer.
* »Da haben wir den Abszeß!« Professor Bergmann hatte nach einem Tuch gegriffen, das ihm Schwester Euphrosine reichte. Er bemühte sich, den herausströmenden Eiter mit dem Tuch aufzufangen. Dr. Heidmann hielt die Spitze des Saugers in die herausquellende Masse, die wie das Magma eines ausbrechenden Vulkans aussah. Der Eiter war so zähflüssig, daß die Öffnung des Sauggerätes ihn kaum aufnehmen konnte. Der Zufluß schien nicht aufhören zu wollen. Immer neue Ballen stiegen aus der Tiefe auf. »Nun halten Sie schon den Sauger in die Mitte!« Des Professors Stimme klang ungehalten. Ärgerlich sah er Dr. Heidmann an, der einen Augenblick lang den Sauger aus der herausquellenden Masse genommen hatte. »Ist Ihnen nicht gut?« Professor Bergmann bemerkte, daß sich die Stirn des jungen Assistenten mit Schweißtropfen bedeckt hatte. Der Streifen Gesichtshaut, den man durch die Operationsverkleidung erkennen konnte, war blaß – fast grau. »Das ist doch komisch!« ertönte die Stimme des Oberarztes. »Sie sind doch nun schon einige Jahre an der Bergmann-Klinik. Da darf Ihnen das bißchen Eiter doch nichts ausmachen. Oder stört Sie etwa der Geruch?« »Nein!« Dr. Heidmann hielt den Sauger wieder in den Eiter hinein. »Im Grunde genommen stört er mich nicht. Mir ist nur einen Augenblick lang schlecht geworden. Aber es ist schon wieder vorbei.« 25
Der Sauger war verstopft. Schwester Euphrosine bemerkte es. Sie hielt ihm eine Schale mit Kochsalzlösung hin. »Zum Durchspülen!« Heidmann hielt den Sauger in die Kochsalzlösung. Schlürfend reinigte sich das Glasrohr von dem zähflüssigen gelben Eiter. »Fehlt Ihnen wirklich nichts?« Nun klang des Professors Stimme besorgt. Er schaute seinen Assistenten an. »Vielleicht sollten Sie sich jetzt wirklich etwas zurückhalten. Ich kann es verstehen, daß dieser Geruch einem zusetzt.« Dr. Heidmann antwortete nicht. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete er weiter. Er spürte tatsächlich eine Übelkeit in sich, die durch den Geruch noch verstärkt worden war. »Dem Kollegen Heidmann geht es nicht gut!« erklärte Dr. Bruckner. »Er hat mir schon vorhin erklärt, daß er Leibschmerzen habe!« »Das wäre ja peinlich – dann könnten Sie nicht fliegen!« Die Stimme des Oberarztes klang erfreut. »Ich werde Sie nachher einmal anschauen!« Professor Bergmann schnitt die Unterhaltung kurz ab. »Geben Sie mir jetzt einen Stieltupfer!« Schwester Euphrosine reichte ihm den Tupfer an einer langen schmalen Klemme. Der Operateur führte ihn vorsichtig in das Loch ein, aus dem der Eiter gequollen war. Er saugte mit der Gaze den letzten Rest des Eiters in der Tiefe auf. »Ich glaube, wir werden hier nichts weiter machen. Den Appendix kann ich vorläufig nicht herausnehmen. Was meinen Sie, Herr Kollege …« Er wandte sich um. Kopfschüttelnd betrachtete er den Botschaftsarzt. »Können Sie denn alle Blut und Eiter nicht mehr vertragen?« Seine Stimme klang ein wenig ungehalten. »Man glaubt ja, man habe es mit Kindern zu tun, die noch niemals einer Operation zugesehen haben.« Der Botschaftsarzt Dr. Jeres lehnte gegen eine Wand. Der alte Chiron stand mit einer Brechschale daneben. »Führen Sie den Kollegen doch nach draußen!« rief Professor Bergmann dem Oberarzt zu, der sich jetzt um den Botschaftsarzt bemühte. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe!« Die Stimme des Botschaftsarztes 26
klang leise. Er wollte zunächst den Arm, den ihm der Oberarzt anbot, zurückweisen und allein aus dem Zimmer gehen, aber dann stützte er sich doch darauf. »Geht es Ihnen auch wieder besser?« Bergmann sah Heidmann an, der sich gefangen zu haben schien. »Es geht mir gut!« Die Stimme klang zuversichtlich. Professor Bergmann schaute ihn noch einmal prüfend an, dann machte er sich erneut an die Operation. »Botschaftsärzte sind es anscheinend nur gewohnt, sich gesellschaftlich zu betätigen. In dem Augenblick, in dem es ernst wird, kippen sie um.« Professor Bergmann führte seinen Zeigefinger in die Höhlung ein, die nach dem Ausfluß des Eiters entstanden war. Sorgfältig tastete er die Wände ab. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er den Finger herauszog. »Es hat sich eine gut abgekapselte Abszeßhöhle gebildet!« erklärte er. »Da wäre es falsch, wenn ich versuchen wollte, den Wurmfortsatz um jeden Preis herauszunehmen. Das bringt den Kranken allenfalls in Lebensgefahr. Wir werden es bei der Inzision belassen. Geben Sie mir ein dickes Dränagerohr!« Schwester Euphrosine hielt ihm drei verschieden dicke Gummischläuche hin. Professor Bergmann wählte die mittlere Stärke. »Wir werden diesen in die Abszeßhöhle stecken. Dann kann der Eiter, der sich möglicherweise noch bildet, ohne Schwierigkeiten abfließen.« Er wandte sich um, als eine Tür ging. Oberarzt Wagner war in den Operationssaal zurückgekommen. Fragend sah der Professor ihn an. »Wie geht es dem Herrn Kollegen?« »Er hat sich hingelegt. Es war zuviel für ihn, außerdem ist der Konsul ein Verwandter von ihm. Das habe ich eben draußen erfahren.« »Vetternwirtschaft!« brummte Dr. Phisto. »Wenn er sich erholt hat, dann können Sie ihm ja berichten, was wir hier gemacht haben: Ich habe den Abszeß inzidiert und die Abszeßhöhle dräniert.« Er schaute sich suchend auf dem Instrumententisch um. »Geben Sie mir doch bitte Streptomycin. Ich werde es in die Wunde instillieren!« 27
Schwester Euphrosine brach einer Ampulle den Hals ab, zog den Inhalt in eine Spritze auf und reichte diese dem Professor. Professor Bergmann spritzte die gelbe Flüssigkeit in die Wundhöhle. »Naht, bitte!« verlangte er dann. Schwester Euphrosine gab ihm den mit einer Nadel bestückten Halter. Professor Bergmann nahm den stumpfen Haken, der den Muskelbauch zur Mitte hin verzog, heraus. Der Muskel legte sich sofort über die Öffnung zur Bauchhöhle, nur der Schlauch ragte noch an einer Stelle heraus. Der Operateur stach in die Muskelhülle ein, die er durchtrennt hatte, und nähte die Ränder sorgfältig aneinander. »Hautnaht!« Schwester Euphrosine reichte ihm den Nylonfaden. Der Professor vernähte die Haut. Dann führte er die Nadel durch den Gummischlauch hindurch. »So –«, verkündete er, als er den Knoten gelegt hatte, »jetzt kann der Schlauch weder heraus- noch hineinrutschen.« Er trat vom Operationstisch zurück. »Halten Sie den Patienten weiterhin unter Streptomycin.« Er deckte einen Verband über die Wunde und klebte ihn mit Pflasterstreifen auf der Haut fest. »Jetzt können wir nur hoffen, daß der Patient alles gut übersteht. Wir haben unser Bestes getan.« Er winkte Dr. Bruckner und Dr. Heidmann zu. »Und Sie machen, daß Sie in die Betten kommen. Versuchen Sie, noch ein bißchen Schlaf zu bekommen, bevor Sie Ihre große Reise antreten. Es tut mir leid, daß Sie sich am letzten Tag noch anstrengen mußten, aber Sie können ja heute abend den Schlaf im Flugzeug nachholen.« Er trat vom Operationstisch zurück und ging in den Waschraum. Bruckner und Heidmann folgten ihm. »Dürfen wir uns gleich von Ihnen verabschieden, Herr Professor!« Dr. Bruckner reichte Professor Bergmann die Hand. Dieser aber winkte ab. »Noch nicht! Ich möchte Herrn Oberarzt bitten, daß er sich unseren Kollegen Heidmann einmal anschaut. Sie gefielen mir vorhin bei der Operation gar nicht. Ich habe fast das Gefühl, Sie leiden auch an einer beginnenden Blinddarmentzündung?« Fragend schaute er Dr. Heidmann an. 28
Oberarzt Wagner stand in der Tür und hatte das Gespräch mitgehört. »Ja!« bestätigte er, als er näher trat. »Ich habe auch den Eindruck, daß Sie krank sind. Es wäre verantwortungslos, Sie fliegen zu lassen, wenn Sie eine beginnende Appendizitis haben. Nachher passiert Ihnen drüben genau das, was dem Konsul hier widerfahren ist. Und man weiß nie, in welches Krankenhaus man im Ausland gerät. Krankenhäuser sind in jedem Fall Glückssache.« »Eine Krankenhauseinweisung ist eine Art russisches Roulett!« ertönte Dr. Phistos Stimme, der ebenfalls in den Waschraum gekommen war. »Und das nicht nur im Ausland! Es ist schließlich auch bei uns nicht ganz gleichgültig, ob ein Professor oder ein Oberarzt einen untersucht und behandelt.« »Wollen Sie damit sagen, daß ich von Medizin nichts verstehe?« Dr. Wagner regte sich sofort auf. Seine Brille war auf die Nasenspitze gerutscht, und er drückte sie mit einer charakteristischen Handbewegung an die richtige Stelle zurück. »Oder weshalb diese Rangordnung?« »Weil Sie beide gerade in voller Lebensgröße vor mir stehen!« Dr. Phisto wandte sich um und verließ den Waschraum. »Ich muß mich um den Patienten kümmern!« »Ich fühle mich schon wieder ganz wohl!« protestierte Dr. Heidmann. »Ich glaube, es ist durchaus nicht nötig, daß Sie mich untersuchen!« Er blickte Dr. Bruckner an, als könnte ihn dieser vor der Untersuchung bewahren. »Ich glaube, daß der Herr Professor durchaus recht hat!« machte Bruckner die Hoffnung Dr. Heidmanns, von ihm Hilfe zu bekommen, zunichte. »Ich halte es ebenfalls für sehr wichtig, daß Sie sich vor dem Flug untersuchen lassen. Sie wissen genau, daß durch das Fliegen in einer großen Höhe Entzündungsherde plötzlich akut werden können. Das erlebt man ja nicht nur bei kranken Zähnen, auch Gallenblasen und Blinddarmentzündungen flackern auf. Und es wäre peinlich, wenn wir in Rio landen und Sie sich gleich einer Appendektomie unterziehen müßten!« »Wenn Sie meinen!« Johann Heidmanns Stimme klang kleinlaut. Man merkte es ihm an, daß er nicht sehr begeistert von dem Gedan29
ken an eine Untersuchung war. »Wenn es sein muß!« Er zuckte mit den Schultern, warf noch einen vorwurfsvollen Blick auf Dr. Bruckner und verschwand dann im Nebenzimmer. Dort legte er sich auf den Untersuchungsdiwan und machte den Leib frei. Oberarzt Wagner setzte sich zu ihm auf den Rand der Couch. Er schaute zur Tür hin, durch die Professor Bergmann eintrat. Der Chef stellte sich neben ihn. »Nun –?« Fragend schaute er Oberarzt Wagner an. »Dann fangen Sie mal an.« Dr. Wagner begann mit der üblichen Untersuchung. Er drückte den Bauch zunächst auf der linken Seite ein und spielte sich dann langsam auf die rechte Seite hinüber. Immer wieder drückte er, und immer wieder blickte er auf Dr. Heidmanns Gesicht. »Tut es nirgends weh?« Er schien erstaunt zu sein, daß Dr. Heidmann keine Schmerzäußerungen von sich gab. »Nein!« Heidmann zeigte auf den Magen. »Ich habe hier etwas Beschwerden, aber ich sagte schon, daß ich mir wahrscheinlich den Magen verdorben habe. Ich futtere schon ordentlich Desinfektionsmittel, damit die Geschichte bald in Ordnung kommt. Sie meinen doch auch, daß ich heute reisen kann?« Er richtete sich auf und warf einen flüchtigen Blick zur Tür hin, von der ein Hüsteln ertönte. Dr. Bruckner stand da. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Ich denke schon, daß Sie fahren können!« Dr. Wagner ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. »Es scheint sich tatsächlich nur um eine leichte Magenverstimmung zu handeln. Eine isolierte Resistenz über dem Mac-Burney habe ich nicht feststellen können. Mir schien eher der ganze Leib etwas empfindlich zu sein.« »Na, dann fliegen Sie mal los!« Professor Bergmann reichte Dr. Heidmann die Hand. »Und passen Sie mir ja auf –«, wandte er sich an Thomas Bruckner, »daß unserem Junior nichts passiert. Stecken Sie sich ein scharfes Taschenmesser ein, damit Sie zur Not im Flugzeug die Appendektomie vornehmen können!« Er klopfte Heidmann lächelnd auf die Schulter und verließ dann gemeinsam mit Oberarzt Wagner den Raum. 30
III
D
r. Bruckner war aus dem Zubringerbus ausgestiegen, der vor dem Flughafen Köln-Wahn hielt. Kopfschüttelnd schaute er zu, wie nach ihm Dr. Heidmann ausstieg. Man merkte es ihm an, daß es ihm schwerfiel, den Koffer zu tragen. »Ich glaube, Sie hätten wirklich lieber daheim bleiben sollen.« Er nahm den Koffer, den Heidmann auf den Boden gestellt hatte, und trug ihn selbst in das Flughafengebäude hinein. »Lassen Sie nur!« wehrte er ab, »man merkt es Ihnen doch an, daß Sie sich nicht wohl fühlen. Und mir macht es nichts aus, einen zweiten Koffer zu tragen – im Gegenteil!« Sie wurden am Eingang zur Flughalle aufgehalten und mußten ihre Flugkarten vorzeigen. »Für mich ist es sogar als Balance angenehmer, wenn ich beide Koffer trage.« Er steckte die Flugkarten wieder ein und ging auf den Abfertigungsschalter zu, der für den Flug nach Frankfurt zuständig war. Besorgt blickte er Dr. Heidmann an. »Sie haben doch heute, als der Oberarzt Sie untersuchte, dissimuliert, nicht wahr?« Er stellte seinen Koffer auf die Waage. Dr. Heidmann zuckte mit den Schultern. »Vielleicht habe ich ein bißchen dissimuliert. Aber schließlich –«, er hob seinen Koffer auf und stellte ihn mühevoll auf die Plattform der Waage, »kann ich mir doch diesen wunderbaren Flug nicht entgehen lassen. Wann kommt man schon mal auf Staatskosten nach Rio! Außerdem sind meine Beschwerden wirklich nicht so schlimm. Das ist ein Irrtum.« Sein Aussehen strafte seine Worte Lügen. Er merkte den besorgten Blick, den Dr. Bruckner ihm zuwarf. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Aber es wirkte nicht frei – man merkte es ihm allzu deutlich an, wie sehr er sich damit quälen mußte. 31
Dr. Heidmann nahm die Bordkarte entgegen, wandte sich um und strebte einer Bank zu. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich darauf fallen. »Wenn Sie mich etwa fortschicken wollen, dann werde ich Ihren Anordnungen diesmal nicht folgen. Es geschieht nicht oft, daß ich das, was Sie sagen, nicht tue, aber heute würde ich Ihnen nicht gehorchen. Im übrigen –«, er holte ein Glasröhrchen aus der Tasche, schüttete eine weiße Tablette in seine hohle Hand und schluckte sie, »futtere ich schon die ganze Zeit Penizillin. Ich bin überzeugt, daß das eine eventuell beginnende Blinddarmentzündung sicherlich zum Stillstand bringt.« Als er glaubte, daß Dr. Bruckner ihn noch immer vorwurfsvoll anblickte, fügte er hinzu: »Im übrigen trage ich die Verantwortung für mich selbst. Ich reise außerdem in eigener ärztlicher Begleitung! Was kann da schon viel passieren? Sie werden verstehen«, er legte seine Hand auf Dr. Bruckners Unterarm, »daß ich eine Reise, auf die ich mich schon so lange gefreut habe, nun nicht plötzlich absagen kann.« Thomas Bruckner wurde ungehalten. »Ich verstehe, daß man gern an einer solchen Reise teilnimmt. Aber wenn die Umstände gegen einen sind, dann darf man sich nicht wie ein kleines Kind benehmen, das alles haben möchte, was es sieht. Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie uns dann ja allen lästig fallen. Wenn etwas passiert, trage ich ebenfalls die Verantwortung für Sie.« »Das habe ich nicht bedacht!« Es sah aus, als ob Heidmann sofort aufstehen und den Flug rückgängig machen wollte. Aber bevor er noch etwas Weiteres sagen konnte, wurde schon der Flug nach Frankfurt ausgerufen. Dr. Bruckner nahm kopfschüttelnd Heidmanns Koffer und folgte der Schar von Fluggästen, die zum Eingang drängte. Johann Heidmann überlegte krampfhaft, was er unternehmen sollte. Noch bestand die Möglichkeit, auf den Flug zu verzichten und zur Klinik zurückzukehren. Er fühlte sich wirklich nicht wohl, und er hatte sogar das Gefühl, daß es ihm jetzt noch schlechter ginge als morgens. Die Übelkeit hatte zugenommen, und wenn er heimlich gegen die rechte Bauchwand drückte, denn spürte er dort einen stechenden Schmerz. Er hatte ihn schon heute morgen bei der Untersuchung 32
durch den Oberarzt gemerkt, aber da er um jeden Preis nach Rio fliegen wollte, hatte er dem Oberarzt diesen Schmerz verheimlicht. Es war ihm nicht leicht gefallen, diese Komödie zu spielen, denn als der Oberarzt an den rechten Unterbauch faßte und dort die Stelle, an welcher sich der Blinddarm befand, tief eindrückte, hätte er vor Schmerzen aufschreien können. Er hatte wirklich alle Kraft zusammennehmen müssen, um die Bauchmuskeln nicht anzuspannen. Er mußte versuchen, Dr. Bruckner klarzumachen, daß er bestimmt nicht in böser Absicht gehandelt hatte. »Ich werde Ihnen auf keinen Fall –«, begann er, aber er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen. Dr. Bruckner hatte plötzlich seinen Arm ergriffen und drückte ihn. »Da – schauen Sie mal nach vorn«, flüsterte er erregt, »der Fluggast, der eben das Flugzeug besteigt!« Johann Heidmann konnte nicht sofort erkennen, wen sein Freund meinte. Die übrigen Fluggäste versperrten ihm die Sicht. Aber als er sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellte und es ihm nun gelang, einen Blick zum Eingang des Flugzeuges zu werfen, stieß er einen Pfiff aus. »Glauben Sie, daß das unser Chinese war?« »Der Mann sah jedenfalls so aus!« Thomas Bruckner nickte der Stewardeß zu, die am Eingang des Flugzeuges stand und den Fluggästen einen guten Abend wünschte. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Chinesen sehen für uns Europäer ja alle gleich aus. Ich habe Sie nur darauf aufmerksam gemacht, weil ich es doch reichlich seltsam finde, daß wir schon wieder einem Chinesen begegnen. Es sieht so aus, als ob wir von ihnen verfolgt würden.« Sie hatten das Flugzeug betreten. Die vorderen Sitze waren zum größten Teil belegt. In der Mitte des Flugzeuges fand Dr. Bruckner noch zwei nebeneinanderliegende Plätze. »Hier fliegt man wenigstens ruhig!« glaubte er Heidmann trösten zu müssen. »Außerdem fliegen wir ja in der Nacht. Da können wir sowieso nichts erkennen.« Sie hatten Platz genommen und schnallten sich an. Heidmann hatte über der Aufregung, den Chinesen wiederzusehen, seine Schmerzen vollkommen vergessen. »Er ist es wirklich!« erklärte er. 33
»Und woher wollen Sie das wissen?« Bruckner sah Heidmann erstaunt fragend an. »Haben Sie sich in letzter Zeit mit Sinologie befaßt, daß Sie die verschiedenen chinesischen Typen auseinanderhalten können?« »Das nicht, aber er hat denselben Schlips an, den er heute morgen trug. Er fiel mir nämlich auf, weil er ein solches Muster an Scheußlichkeit ist und in keiner Weise mit der Farbe des Anzugs harmoniert. Ich vermute, daß ein Farbenblinder den Schlips ausgesucht hat.« »Warum soll er nicht farbenblind sein? Auch Chinesen können daran leiden«, versuchte Thomas Bruckner einen Scherz zu machen. »Ich muß gestehen, daß ich mich nicht sehr wohl fühle!« Johann Heidmann rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Ich habe wirklich das Gefühl, daß es besser gewesen wäre, wenn wir eine andere Maschine genommen hätten. Jetzt fällt mir zum Überfluß auch noch die Warnung unseres Patienten King ein!« Er blickte Dr. Bruckner an. »Er riet uns doch, ein anderes Flugzeug zu nehmen. Ob er irgend etwas von der Geschichte ahnt? Vielleicht steckt er sogar mit diesem Chinesen unter einer Decke?« »Möglich ist natürlich alles.« Bruckner nahm aus der Hand der Stewardeß eine Tageszeitung entgegen. »Aber ich kann es mir schlecht vorstellen. Ich fürchte, Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch.« Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme: »Bitte, schnallen Sie sich an, und stellen Sie das Rauchen ein. Die Maschine wird in wenigen Minuten starten.« Es entstand eine Pause. Die Düsenaggregate hatten bereits angefangen zu arbeiten. Da wurde im letzten Augenblick die Kabinentür noch einmal aufgerissen. Ein verspäteter Fluggast wurde in das Flugzeug eingelassen. »Der kommt aber reichlich spät!« bemerkte Dr. Heidmann. Thomas Bruckner entgegnete: »Bei den heutigen Verkehrsverhältnissen kann es durchaus vorkommen, daß jemand unterwegs steckenbleibt und sich nur mit Mühe und Not im letzten Augenblick zum Flughafen begeben kann. Ich meine –«, er packte erregt Dr. Heidmanns Arm, »jetzt werde ich bald selbst abergläubisch! Schauen Sie mal – wissen Sie, wer das sein könnte?« 34
Johann Heidmann betrachtete den Passagier, der jetzt rasch an ihnen vorbeiging und den Blick zur anderen Seite wandte. »Nein, wer soll es denn sein?« Heidmann beugte sich zurück, um dem verspäteten Fluggast nachschauen zu können. »Ich kenne ihn nicht!« Dr. Bruckners Stimme klang aufgeregt: »Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber ich habe das Gefühl, das war unser Patient King.« »Aber der hatte doch einen Bart!« Noch einmal wandte sich Heidmann um und versuchte, nach hinten zu schauen; aber er konnte den Passagier nicht mehr erspähen. Er hatte wohl bereits in einer Sitzreihe Platz genommen. Die Düsenaggregate heulten auf. Die Maschine fuhr langsam über die Rollbahn, schwenkte nach rechts ein, fuhr weiter, und dann begannen die Aggregate erneut aufzuheulen. Der Körper des Flugzeugs erzitterte. Die Maschine gewann so rasch an Geschwindigkeit, daß die Körper der Fluggäste gegen die Rückenlehnen gepreßt wurden. »Wir sind schon in der Luft!« bemerkte Bruckner, der zum Fenster hinausgeschaut hatte. Man merkte es am dumpfen Druck im Ohr, daß die Maschine rasch an Höhe gewann. Die beiden Ärzte saßen schweigend da, bis die Schriftzeichen erloschen und sie sich wieder abschnallen konnten. Dr. Bruckner löste seinen Gurt. »Ich habe vorhin meinen Satz nicht beendet. Das Startmanöver regt mich doch immer noch so auf, daß ich solange für nichts anderes Interesse habe, bis sich das Flugzeug in der Luft befindet. Ich meinte nur –«, er stand auf und schaute hinter sich. Aber er suchte vergeblich nach dem letzten Passagier … »Ich kann ihn nicht sehen! Wahrscheinlich hält er seinen Kopf so tief, daß er von der Lehne des Vordermannes verdeckt wird. Ich wollte vorhin nur sagen –«, spann er seinen unterbrochenen Gedankenfaden weiter, »daß es durchaus möglich ist, einen falschen Bart zu tragen. Den kann einem jeder Friseur so fachgerecht ankleben, daß er von einem echten nicht zu unterscheiden ist. Und wenn er echt war – nun, dann hat ihn Herr King eben abrasiert.« 35
»Aber warum sollte er heute in diesem Flugzeug sein?« dachte Johann Heidmann laut nach. »Und warum sollte er uns gewarnt haben, dieses Flugzeug zu nehmen? Wenn er nun wirklich ein Bombenleger ist!« Dr. Heidmanns Stimme klang so entsetzt, daß Dr. Bruckner lachen mußte. »Das glaube ich kaum. Sonst wäre er ja nicht selbst mit an Bord. Aber wenn Sie mich fragen –«, er zuckte mit den Schultern, »so kann ich Ihnen auch auf diese Fragen keine Antworten geben. Wir werden es schon während des Fluges merken. Vielleicht –«, er nahm den Prospekt über die ›Sicherungsvorschriften an Bord‹ aus der Tasche, die sich an der Rücklehne des Vordersitzes befand, und öffnete ihn, »ist alles nur ein großer Zufall. Wir versuchen, etwas in diesen Zufall hineinzugeheimnissen, was gar nicht vorhanden ist. Was macht Ihr Blinddarm?« wechselte er abrupt das Thema. »Die Übelkeit ist vergangen, und auch Schmerzen spüre ich so gut wie gar nicht mehr.« »So ein bißchen Aufregung tut doch ganz gut!« bemerkte Thomas Bruckner. »Es lenkt jedenfalls ungeheuer ab. Wenn wir Glück haben, ist durch die Aufregung Ihre Entzündung verschwunden. So etwas soll vorkommen. Der Glaube, beziehungsweise der Geist, herrscht oft genug über den Körper. Man hat es deutlich gesehen, wenn während des Krieges Soldaten trotz schwerster Verletzungen weiterkämpften, ohne irgend etwas zu merken. Erst wenn sie die Strapazen des Gefechtes hinter sich hatten, merkten sie, daß sie verwundet waren. Und dann traten auch die Schmerzen auf. Hoffentlich –«, Dr. Bruckner schaute ein wenig besorgt auf den Kollegen, »wird das bei Ihnen nicht auch der Fall sein!«
* »Kommen Sie –«, Professor Bergmann faßte den Arm des Oberarztes, den er gerade auf dem Flur traf, »wir wollen noch einmal kurz nach unserem prominenten Patienten sehen. Haben Sie ihn schon besucht?« »Ich hatte bisher noch keine Zeit dazu. Sie dürfen nicht vergessen, 36
daß zwei Kollegen fehlen: Dr. Bruckner und Dr. Heidmann!« Er machte hinter den beiden Namen eine kleine Pause und sah Professor Bergmann bedeutungsvoll an, als wollte er ihm klarmachen, daß die Abwesenheit der beiden ihm eine gewaltige zusätzliche Arbeit aufgeladen habe. Als der Chef nicht darauf reagierte, fuhr er fort: »Das bedeutet natürlich Mehrarbeit für jeden einzelnen. Und da ich nicht möchte, daß sich die Kollegen überarbeiten, habe ich die Arbeit eben selbst übernommen.« Im Gesicht des Professors zuckte es. Er verhielt einen Moment seinen Schritt, als wollte er dem Oberarzt eine Antwort erteilen, aber dann setzte er seinen Weg fort. »Dann ist es ja gut, daß ich mich jetzt etwas um ihn kümmere.« »Wenn etwas Bemerkenswertes aufgetreten wäre –«, Oberarzt Wagner riß die Tür, die zur Privatstation führte, vor dem Professor auf, »dann hätte man mich schon benachrichtigt. Das hatte ich angeordnet!« Wieder zuckte es im Gesicht des Professors. Wieder schien er dem Oberarzt etwas klarmachen zu wollen, aber wieder unterließ er es. Er ging auf das Zimmer zu, in dem der Konsul lag. »Der Patient liegt doch hier, nicht wahr?« Er legte die Hand auf die Klinke, als Oberarzt Wagner nickte. Schwester Angelika hatte die beiden Herren kommen hören. Sie kam aus ihrem Dienstzimmer und ging auf den Professor zu. »Ich dachte mir schon, daß Sie kommen würden.« Sie hielt bereits die Kurve des Patienten in der Hand. »Es geht ihm den Umständen entsprechend recht gut!« Sie sprach flüsternd, damit man ihre Stimme nicht im Innern des Zimmers hörte. Professor Bergmann nahm die Aufzeichnungen aus ihrer Hand entgegen. Er zeigte auf einen fast senkrechten Strich. »Nach dem Eingriff ist ein ausgesprochen starker Fieberabfall aufgetreten. Das ist ja sehr günstig. Nun –«, er klopfte an die Tür. Bevor man von innen ›Herein‹ sagen konnte, hatte er die Tür schon geöffnet. Fragend schaute er den Besucher, der sich bereits im Zimmer befand, an. »Ich bin Dr. Jeres.« Der Besucher kam auf Professor Bergmann zu. »Ich war bei der Operation zugegen!« 37
Professor Bergmann reichte ihm die Hand. »Jetzt erkenne ich Sie, Entschuldigung!« Er trat an das Bett und nahm die Hand des Konsuls. »Wie geht es Ihnen?« »Sehr gut!« Der Patient schien sich vollkommen von dem Eingriff erholt zu haben. Nur seine Stimme klang noch ein wenig matt. »Ist jetzt alles überstanden?« Sein Blick ruhte fragend auf dem Gesicht des Professors. »Für's erste ja!« Professor Bergmann setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Sie hatten – ich nehme an, daß es Ihnen Ihr Botschaftsarzt schon erzählt hat – einen durchgebrochenen Wurmfortsatz. Das hat zu einem Abszeß geführt, und den haben wir entfernt.« »Ich konnte dem Herrn Konsul noch nichts Genaueres mitteilen!« mischte sich der Botschaftsarzt in das Gespräch. »Schließlich mußte ich ja –«, er senkte seine Stimme und warf einen flüchtigen Blick auf den Konsul, »während des Eingriffes den Operationssaal kurz verlassen.« »Ja – das war merkwürdig!« mischte sich Oberarzt Wagner ein. »Es ist mir unbegreiflich, wie man als Arzt …« »Lassen wir das!« erklang die Stimme des Professors ziemlich scharf. »Ich hatte Herrn Dr. Jeres gebeten, rasch etwas für mich zu besorgen.« Professor Bergmann merkte, daß es dem Arzt peinlich gewesen wäre, wenn der Konsul den wahren Grund erfahren hätte. Er fing einen dankbaren Blick des Botschaftsarztes auf. »Sie wissen, daß wir einen ziemlichen Personalmangel haben!« führte Professor Bergmann seinen Satz zu Ende. »Wir werden in vier bis sechs Wochen noch einmal operieren müssen!« lenkte der Professor nun das Thema auf das Hauptgebiet. Als er den erstaunten Blick des Konsuls bemerkte, fuhr er erklärend fort: »Wir konnten Ihren Appendix nicht sofort entfernen. Es hatte sich eine Abszeßhöhle gebildet, das heißt, der Körper hatte den Krankheitsherd gegen die Bauchhöhle vollkommen abgeriegelt. Wenn ich versucht hätte, den Blinddarm freizulegen, dann hatte ich diesen Schutzwall an irgendeiner Stelle durchbrechen müssen, und dann hätte es mit größter Wahrscheinlichkeit eine Infektion der ganzen Bauch38
höhle gegeben. Die wollten wir vermeiden. In vier bis sechs Wochen ist die Infektion abgeklungen. Dann hat der Körper die eingedrungenen Bakterien getötet, und wir können in einem sterilen Gebiet operieren.« »Ist es denn notwendig, daß man dann den Blinddarm noch herausnimmt, auch wenn er keine Beschwerden mehr verursacht?« Die Stimme des Konsuls klang ein wenig vorwurfsvoll. »Es ist leider notwendig«, erwiderte der Professor. »Denn schließlich ist der Blinddarm –«, er verbesserte sich lächelnd, »da sage ich auch schon Blinddarm, wie alle Laien es tun, und meine den Wurmfortsatz! Der Wurmfortsatz ist krank. Wenn wir ihn nicht entfernen, besteht die große Gefahr, daß Sie in Kürze wieder eine Appendizitis bekommen. Und man weiß nie, wie die dann ausgeht. Sie hätten eher kommen sollen. Ich habe schon gehört, daß Sie zuviel Arbeit hatten, aber schließlich geht Krankheit vor Arbeit. Sie versäumen ja viel mehr, wenn Sie sich nicht rechtzeitig behandeln lassen, weil dann das Krankenlager wesentlich verlängert wird!« Professor Bergmann bemerkte, daß der Konsul einen fragenden Blick mit dem Botschaftsarzt wechselte. »Ich glaube, wir können den Herren unsere Beweggründe ruhig mitteilen!« meinte der Botschaftsarzt. »Wir Ärzte dürfen ja Geheimnisse, die man uns anvertraut, nicht weitergeben. Und ich bin überzeugt, daß dem Herrn Professor eine Erklärung zusteht!« Der Konsul versuchte sich aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er wieder in die Kissen zurück. »Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie erst heute vormittag operiert wurden!« bemerkte der Professor. »Das vergißt man zu schnell. Besonders, wenn es einem wieder gutgeht.« Der Konsul seufzte und drückte die Hand auf die Stelle des Leibes, an der er operiert worden war. Fragend blickte er dann den Botschaftsarzt an. »Bitte, entlasten Sie mich und erzählen Sie dem Professor, was mich bewogen hat, die Krankheit so lange zu ertragen, bis der Durchbruch erfolgt war!« »Gern.« Der Botschaftsarzt stand auf. Er ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, als müßte er erst seine Gedanken ordnen, als müßte 39
er sich zuvor überlegen, was er dem Professor anvertrauen durfte und was nicht … »Sie wissen vielleicht aus der Zeitung«, begann er dann, »daß unsere Republik noch sehr jung ist. Sie wurde gerade vor knapp zwei Jahren gegründet. Natürlich –«, er war an das Bett herangetreten und hatte sich so auf die Bettkante niedergesetzt, daß er den Konsul anschauen konnte. Es schien, als wollte er sich keine Regung auf dem Gesicht seines Vorgesetzten entgehen lassen, um nicht mehr zu sagen, als er sagen durfte. »Es ist leider so, daß man gleich von vornherein versucht hat, unsere junge Republik kaltzustellen. Mehr als einmal ist der Versuch unternommen worden, durch einen Putsch den jetzigen Präsidenten zu stürzen. Der Konsul ist ein naher Verwandter von ihm. Sein Leben ist nun besonders gefährdet, weil er der unmittelbare Nachfolger des Präsidenten sein wird, falls diesem etwas passiert. Deswegen hat man versucht, beide – den Präsidenten und den Konsul – gleichzeitig in das Jenseits zu befördern. Eine Reihe ausländischer Staaten haben ihre besten Agenten aufgeboten, um den Umsturz herbeizuführen. Ich möchte keine Namen nennen. Das wäre unklug, nicht wahr, Herr Konsul?« »Nein, keine Namen, bitte!« antwortete der Konsul. »Wir können nur so viel sagen, daß ein ostasiatischer Staat das größte Interesse daran hat, unsere Regierung zu stürzen.« »Ist ein Chinese daran beteiligt?« Oberarzt Wagner war plötzlich ein Gedanke gekommen. Er rückte aufgeregt an seiner Brille. »Wie kommen Sie darauf?« Erstaunt schaute Professor Bergmann ihn an. »Bevor die Kollegen Heidmann und Bruckner abgefahren sind, behaupteten sie, in unserer Klinik einen Chinesen gesehen zu haben. Ich habe es ihnen nicht abgenommen. Denn als ich dazukam, war dieser –«, er hüstelte, »imaginäre Mann aus dem Osten verschwunden. Aber heute nachmittag hat mir der Pförtner etwas Ähnliches erzählt. Es sei im Morgengrauen ein Chinese aus dem Krankenhaus geschlichen. Er glaubte jedenfalls, daß es ein Chinese war!« Wagner hatte sich in Aufregung geredet. Fragend blickte er erst auf den Konsul, 40
dann auf den Botschaftsarzt. »Stimmt es, daß ein Chinese beteiligt sein kann?« Es entging ihm nicht, daß die beiden Diplomaten einen Blick miteinander wechselten, der mehr aussagte, als alle Worte es getan haben könnten. Dr. Jeres wollte antworten, aber der Konsul hob die Hand. »Gerade über diesen Punkt möchte ich nicht sprechen. Sie werden verstehen, daß ich Ihnen keine Geheimnisse anvertrauen möchte, die Sie unter Umständen einfach nicht für sich behalten dürfen. Das werden Sie verstehen, nicht wahr?« Professor Bergmann erhob sich. »Natürlich verstehen wir das. Es ist schon ein großer Beweis von Vertrauen, daß Sie uns Dinge erzählt haben, die eigentlich einer politischen Schweigepflicht unterworfen sind. Im übrigen –«, er blieb noch neben dem Bett stehen, »möchte ich Ihnen wünschen, daß Sie sich recht bald erholen. Wurden Sicherheitsvorkehrungen für Ihren Aufenthalt im Krankenhaus getroffen?« Der Konsul nickte. Erneut sah er den Botschaftsarzt an. »Sie werden verstehen, daß ich Sie mit diesen Dingen nicht behelligen wollte, aber wir haben natürlich Detektive eingesetzt, die darauf achten, daß kein Unbefugter zu mir vordringen kann. Sie brauchen sich keine Sorge zu machen«, wandte er sich lächelnd an den Oberarzt, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, »daß hier etwa Unruhe entstehen könnte. Sie werden unsere Leute überhaupt nicht bemerken. Sie sind so geschickt getarnt, daß ich selbst manchmal Schwierigkeiten habe, zu wissen, ob es sich um einen Detektiv oder um einen harmlosen Besucher handelt. Aber«, er schaute lächelnd den Botschaftsarzt an, »wie heißt doch das erste deutsche Sprichwort, das ich als Diplomat gelernt habe?« »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!« beantwortete Dr. Jeres höflich lächelnd die Frage des Konsuls. Der Professor reichte dem Konsul die Hand. »Wenn etwas sein sollte, dann brauchen Sie nur zu klingeln. Sie wissen, daß Sie sich jederzeit auf uns verlassen können. Ich werde Ihnen helfen, soweit es in meiner Macht steht. Sie glauben also nicht, daß ich die deutsche Polizei verständigen soll?« 41
Der Konsul hob erschrocken die Hand. »Bitte, nein! Wir möchten aus dieser Angelegenheit keine Staatsaktion machen. Und das wäre leicht der Fall, wenn wir alles an die große Glocke hängen würden. Ich möchte Sie nur um eines bitten –«, wieder wechselte er einen Blick mit dem Botschaftsarzt, »über das, was Sie eben gehört haben, absolutes Stillschweigen zu bewahren!« Schwester Angelika, die sich in einer Ecke aufgehalten hatte, kam hervor. »Mir fällt da etwas ein.« Dr. Jeres sah sie fragend an. »Das gilt natürlich auch für Sie, Schwester«, glaubte er bemerken zu müssen, »auch Sie dürfen niemandem von dem, was hier gesprochen wurde, ein Sterbenswörtchen sagen.« »Das ist doch selbstverständlich!« Schwester Angelika schien über diese – wie ihr schien, überflüssige – Mahnung empört zu sein. »Es ist etwas ganz anderes, was ich bemerken wollte.« Sie trat an das Bett des Konsuls und stand nun zwischen ihm und Professor Bergmann. »Ich weiß natürlich nicht, ob meine Beobachtung etwas mit dieser Angelegenheit zu tun hat.« »Wahrscheinlich hat sie nichts damit zu tun!« Oberarzt Wagner schien ärgerlich zu sein, daß Schwester Angelika es wagte, sich einzumischen. Der Konsul jedoch war anderer Meinung. »Ich glaube, auch der kleinste Hinweis kann uns nützlich sein. Bitte –«, wandte er sich an Schwester Angelika, die inzwischen verärgert die Türklinke ergriffen hatte, um das Krankenzimmer zu verlassen, »erzählen Sie uns, was Sie beobachtet haben.« Als er glaubte, ein verächtliches Zucken auf dem Gesicht des Oberarztes zu sehen, erklärte er: »Sie ahnen nicht, mit welchen Mitteln unsere Feinde arbeiten, Bitte –«, wandte er sich noch einmal an die alte Schwester. Diese zögerte. Es sah aus, als ob sie jetzt keine Lust mehr habe, über das zu sprechen, was sie bewegte. »Ich weiß nicht –«, sie schaute den Oberarzt an, der mit verkniffenem Gesicht dastand, »wahrscheinlich hat die ganze Angelegenheit nichts mit Ihrer Geschichte zu tun … Es war so!« erzählte sie nun aber doch. »Dr. Bruckner und Dr. Heid42
mann wurden gewarnt, das Flugzeug heute abend zu benutzen. Ein bereits entlassener Patient schien Befürchtungen zu haben. Er wollte jedenfalls Dr. Bruckner überreden, eine andere Maschine zu nehmen.« »War das der Patient, der die Schußverletzung am Arm hatte?« fragte der Professor. »Eine Schußverletzung am Arm?« Der Konsul richtete sich mit einem Schwung im Bett auf. Einen Augenblick lang schien er die Schmerzen zu vergessen, die zweifelsohne bei dieser abrupten Bewegung in seiner Operationswunde aufgetreten sein mußten. Es dauerte einen Augenblick, bis die Reaktionsfähigkeit so weit einsetzte, daß er sich stöhnend an die Wunde faßte und sich in die Kissen zurückfallen ließ. »War das ein junger Mann, und ist er etwa vor zehn Tagen eingeliefert worden?« Schwester Angelika schaute betreten Professor Bergmann an. »Darf ich das sagen?« »Das dürfen Sie sagen!« ermunterte sie Professor Bergmann. »Aber ich kann genausogut antworten. Ich kenne den Fall sehr gut. Es ist tatsächlich vor zehn Tagen geschehen. Der Patient wurde an einem Mittag eingeliefert …« Er hielt plötzlich inne. Der Botschaftsarzt hatte erschrocken den Arm des Professors angefaßt. »Hieß dieser Mann King?« Er verstärkte den Druck. »John King?« Dann ließ er den Arm los. »Sie brauchen mir nichts mehr zu sagen. Das Gesicht Ihres Oberarztes verrät mir, daß ich recht habe. Und dieser Patient ist entlassen?« Er stand an der Tür und wollte auf den Flur hinausgehen. Schwester Angelika wußte überhaupt nicht mehr, was hier vor sich ging. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie antworten konnte. »Er ging heute morgen in aller Frühe. Er hat nicht einmal gewartet, bis ich ihm die Papiere fertiggemacht habe. Er behauptete, er habe noch sehr viel zu erledigen!« Der Konsul stöhnte. »Warum haben Sie ihn nicht festgehalten?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Wieder sah es aus, als ob er sich auf43
richten wollte, aber diesmal schien der Schmerz in der Operationswunde so stark zu sein, daß er liegenblieb. »Dieser King ist der Anführer einer Bande, die gegen uns arbeitet. Er ist es, der versucht hat, den Konsul umzubringen!« erklärte Dr. Jeres, der sich als erster gefaßt hatte. Seine Stimme klang aufgeregt. Er hielt immer noch die Hand auf der Klinke, als könnte er es noch versuchen, den Schuldigen zu erwischen. »Und Sie sagen, er sei nicht mehr in der Klinik? Sind Sie sich dessen auch ganz sicher?« »Ich bin meiner Sache ganz sicher!« Schwester Angelikas Stimme klang beleidigt. »Ich habe doch kein Interesse, Ihnen einen Bären aufzubinden. Der Kerl kam mir schon immer so unheimlich vor.« Sie schüttelte sich. »Wenn ich bedenke, daß ich einen Menschen gepflegt habe, der zum Mörder werden wollte, dann bekomme ich noch nachträglich Angst!« »Hier!« Der Botschaftsarzt schob seinen Ärmel hoch, krempelte das Hemd auf und zeigte auf einen Verband. »An dieser Stelle hat er mich angeschossen, als ich das Leben des Konsuls rettete. Er ist ein ganz gefährlicher Bursche.« »Und Sie haben keine Angst gehabt?« Oberarzt Wagner schaute den Botschaftsarzt so entsetzt an, daß dieser laut lachte. »Warum soll ich denn Angst gehabt haben?« »Weil Sie vorhin –«, er sah einen warnenden Blick des Professors auf sich gerichtet, »weil ich dachte, daß so etwas doch eine gefährliche Angelegenheit ist«, führte er den Satz – nicht ganz logisch – zu Ende. Der Botschaftsarzt begann jetzt zu verstehen. Er lachte noch immer. »Jetzt weiß ich erst, worauf Sie hinauswollen und was die Andeutungen vorhin bedeuteten.« Er trat an das Bett zum Konsul. »Ich hatte es Ihnen noch nicht erzählt, weil ich es für belanglos hielt. Aber Sie kennen mich ja so gut, daß Sie verstehen, wie mir so etwas passieren konnte.« Er schaute mit einem wehmütigen Lächeln den Oberarzt an. »Sie können es ruhig aussprechen: Ich bin vorhin, als Sie operiert wurden, fast ohnmächtig geworden!« Auch der Konsul lachte, faßte sich aber sofort mit der Hand an die Wunde. »Das Lachen tut weh!« erklärte er. »Aber ich mußte einfach la44
chen. Ich kenne Dr. Jeres seit Jahren. Er hat nie Blut sehen können. Er gehört zu jenen Menschen, die keiner Fliege ein Leid antun können. Aber das ist ja auch verständlich. Er ist Internist. Chirurgen hat er immer für grausam gehalten. Aber –«, er streckte seinem Leibarzt impulsiv die Hand hin, »wenn es darum geht, seinen Mann zu stehen, dann kann man sich auf Dr. Jeres verlassen.« Er lächelte fein. »Er ist übrigens nicht der einzige, der ein solches differenziertes Gemütsleben hat. Es wird beispielsweise von einem ganz bekannten Diktator erzählt, daß er einmal von einer Hinrichtung kam. Da überfuhr sein Chauffeur eine Katze, die über den Weg lief. Der Diktator ließ den Wagen sofort anhalten, sprang hinaus, nahm die Katze in den Arm und ließ sie gesundpflegen. Diejenigen, die dabei waren, behaupteten, er habe sogar Tränen vergossen.« »So etwas soll es geben!« Professor Bergmann stützte sich auf seinen Krückstock. »Die Geschichte kennt eine ganze Reihe solcher gespaltener Persönlichkeiten.« Oberarzt Wagner hatte die Tür vor Professor Bergmann geöffnet. »Es tut mir leid, daß wir keine volle Klarheit in diese Angelegenheit bringen konnten«, sagte der Klinikchef, »aber zu unser aller Glück hat der Attentäter nicht gewußt, daß Sie in unsere Klinik eingeliefert wurden. Sonst hätte er doch mit großer Wahrscheinlichkeit seine Tat hier erneut versucht. Also –«, er trat auf den Flur hinaus, »ich wiederhole, was ich Ihnen vorhin schon sagte: Wenn irgend etwas geschieht, klingeln Sie! Dann werden entweder der Oberarzt oder ich mich um Sie kümmern. Auf Wiedersehen!« »Halt!« Schwester Angelikas Stimme ließ Professor Bergmann herumfahren. »Was gibt es noch?« »Ich habe Angst um Dr. Bruckner und Dr. Heidmann!« Schwester Angelikas Stimme klang besorgt. Sie war noch einmal an das Bett des Konsuls zurückgetreten. »Was kann passieren, wenn Dr. Bruckner das Flugzeug doch genommen hat?« Oberarzt Wagner war ungehalten. »Das kann doch der Konsul nicht wissen! Kommen Sie, wir wollen den Patienten nicht länger aufregen. Er braucht jetzt Ruhe.« 45
Der Konsul wehrte ab. »Sicher brauche ich Ruhe, aber ich kann die Erregung der Schwester verstehen. Schließlich bin ich selbst aufgeregt.« Er nahm ein Taschentuch aus der Brusttasche des Schlafanzuges und wischte sich die Stirn ab. »Ist es etwa die Maschine, die heute um zwanzig Uhr fünfundvierzig von Frankfurt nach Rio fliegt?« »Das ist sie. Was ist damit?« Schwester Angelika stand jetzt ganz nahe neben dem Bett des Konsuls. In der Aufregung hatte sie seinen Arm ergriffen und hielt ihn fest. »Was kann da passieren?« Der Konsul wechselte erneut mit seinem Arzt einen Blick. »Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht sagen!« begann er nach einer kleinen Pause. »Aber es ist gut, daß Sie mir das erklärt haben. Sie werden sofort –«, wandte er sich an den Arzt, der, als ahnte er, was er zu tun hatte, bereits zur Tür gegangen war, »alles Notwendige in die Wege leiten und dem Präsidenten telegrafisch mitteilen, daß sich der Attentäter King höchstwahrscheinlich an Bord dieser Maschine befindet. Vielleicht kann man noch etwas unternehmen.« Er wartete, bis Dr. Jeres das Krankenzimmer verlassen hatte, dann begann er zu sprechen: »An Bord dieser Maschine befindet sich nämlich die Familie des Präsidenten: seine Frau, seine Tochter und sein Sohn. Ich kann natürlich nicht wissen, was die Attentäter mit dieser Familie vorhaben. Ich glaube kaum, daß sie sie ermorden wollen oder das Flugzeug zum Absturz bringen!« wandte er sich beruhigend an Schwester Angelika, die vor Aufregung am ganzen Körper zitterte. »Aber es besteht die Möglichkeit, daß der Attentäter versuchen wird, die Maschine irgendwohin zu entführen, um die Angehörigen des Präsidenten als Geiseln zu benutzen. Der Präsident hängt sehr an seiner Familie. Das ist allgemein bekannt. Es ist anzunehmen, daß sich King dieses Wissen zunutze machen und zu irgendwelchen Erpressungsmanövern schreiten wird.« Er hatte sich wieder aufgerichtet. Professor Bergmann trat an das Bett und drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »Sie werden jetzt liegenbleiben. Sie dürfen sich nicht aufregen. Sie schaden sich damit selbst, bitte.« Seine Stimme klang wie ein Befehl. »Ich werde Ihnen eine Beruhigungsspritze geben lassen, damit Sie diese Nacht durchhalten.« 46
»Nein!« Die Lippen des Konsuls waren zu zwei schmalen Strichen geworden. »Das darf nicht sein. Ich muß heute nacht klar bleiben. Unter Umständen hängt das Schicksal unserer jungen Republik davon ab, ob ich richtig handle oder nicht. Und ich kann nur dann richtig handeln, wenn ich klar entscheiden kann. Haben Sie bitte Verständnis dafür, daß mir das Wohl meines Landes über meine Gesundheit gehen muß!« Professor Bergmann seufzte. »Nun gut – Sie werden nichts als die üblichen Medikamente bekommen. Ich gebe Ihnen kein Mittel, das Ihren Sinn verwirren wird.« Er reichte dem Konsul die Hand. »Das verspreche ich Ihnen. Aber nun versuchen Sie zu schlafen.« Er ging zur Tür, wandte sich noch einmal um und winkte dem Konsul zu. »Wenn Sie ein Schlafmittel brauchen, dann klingeln Sie bitte.« Er verließ mit Dr. Wagner und Schwester Angelika das Krankenzimmer. Als er ein paar Schritte über den Flur gegangen war, blieb er stehen. »Geben Sie ihm auf jeden Fall eine Tablette Librium. Sie können ihm dann sogar ruhigen Gewissens sagen, daß es kein Schlafmittel ist. Aber etwas ruhigstellen muß ich ihn. Sonst fürchte ich, daß der Erfolg der Operation in Frage gestellt wird!« »Und was wird aus Dr. Bruckner?« Es schien, als ob Schwester Angelika nur an ihren Stationsarzt dächte. »Ihm wird doch hoffentlich nichts passieren?« Professor Bergmann stützte sich schwer auf seinen Krückstock. »Ich weiß es nicht, Schwester Angelika. Wir können nur hoffen, daß dieser King nicht verrückt spielt und eine Katastrophe heraufbeschwört. Eine kleine Entführung –«, er schaute Oberarzt Wagner mit einem Lächeln an, »könnte für den Kollegen Bruckner sogar ganz amüsant sein. Wie ich ihn kenne, wird er so etwas sogar mit Humor tragen!« »Aber Dr. Heidmann war doch krank!« gab Schwester Angelika zu bedenken. »Ich hatte das Gefühl, daß er wirklich eine Appendizitis hatte und es nur nicht zugeben wollte, um die Reise nicht zu gefährden.« »Um so schlimmer!« Oberarzt Wagner drückte seine Brille auf den Nasenrücken zurück. »Warum verheimlicht er seine Krankheit? Als 47
Arzt sollte er am besten wissen, was passiert, wenn man sich nicht rechtzeitig operieren läßt.« Er redete sich in Ärger. Die Gläser seiner randlosen Brille zitterten. »Er hat ja gesehen, was passiert, wenn ein Mann seine Appendizitis vernachlässigt. Der Konsul ist das beste Beispiel dafür.« Professor Bergmann legte ihm die Hand auf die Schulter. Kopfschüttelnd sah er ihn an. »Sie brauchen sich nicht wegen eines Kollegen aufzuregen, Herr Oberarzt!« Durch seine Stimme klang leiser Spott. »Ich bin überzeugt, daß Sie nicht geflogen wären, wenn Sie auch nur den geringsten Anflug eines Leidens bei sich bemerkt hätten. Dafür lieben Sie Ihren Körper viel zu sehr. Ich kann es verstehen, daß ein junger Mensch wie Dr. Heidmann es vorzieht, eine Reise anzutreten, die ihm vielleicht nie wieder im Leben geboten wird, anstatt sich ins Bett zu legen und seinen Blinddarm zu pflegen.« »Aber wenn etwas passiert!« Theo Wagner hatte sich immer noch nicht beruhigt. »Das wird er auch allein ausbaden müssen.« »Schließlich hat er Dr. Bruckner bei sich!« versuchte Schwester Angelika einen Einwand. »Was kann der machen!« Oberarzt Wagner ließ sich nicht überzeugen. »Man sagt zwar immer: Praesente medico nihil nocet …« »Und was bedeutet das auf deutsch?« Schwester Angelikas Stimme klang vorwurfsvoll. »Sie brauchen mir nicht klarzumachen, daß ich kein Latein kann!« »Sinngemäß: In der Gegenwart eines Arztes kann man machen, was man will!« übersetzte Professor Bergmann lächelnd den lateinischen Spruch seines Oberarztes. »Aber in diesem Falle nützt selbst die Anwesenheit Ihres Wunderarztes –«, er warf einen abfälligen Blick auf Schwester Angelika, »nichts! Wenn etwas passiert, kann Dr. Bruckner auch nichts machen. Und wenn in dem Flugzeug eine Borne explodiert –«, Oberarzt Wagner kostete die Wirkung seiner Worte voll aus, »ist Dr. Bruckner genauso hilflos wie jeder andere Sterbliche!« 48
IV
D
as sind ja tolle Geschichten, die man da hört!« Oberarzt Wagner stand mit Professor Bergmann auf dem Flur der Privatstation. Er hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit einem Zipfel seines weißen Mantels. Prüfend blickte er durch die Gläser, entfernte noch einen kleinen Fleck, den er erst jetzt bemerkte, und setzte sie dann wieder auf. »Meinen Sie nicht, daß man die Polizei benachrichtigen müßte?« Professor Bergmann stützte sich auf seinen Krückstock und schaute durch die Fensterscheiben in den Garten. »Was für einen Zweck sollte das haben?« Er sah Oberarzt Wagner nicht an, als er sprach. Es hörte sich an, als ob er ein Zwiegespräch mit sich selbst hielt, um alle Punkte dieses Problems zu diskutieren. »Vielleicht könnte man auf internationaler Ebene etwas ausrichten!« Oberarzt Wagner begann, sich in Eifer zu reden. »Man kann doch die beiden Kollegen nicht einfach so in das Ungewisse fliegen lassen. Es muß doch etwas geschehen!« Professor Bergmann wandte sich langsam um. Sein Gesicht sah müde aus. »Es müßte etwas geschehen!« korrigierte er den Oberarzt. »Aber vorläufig kann gar nichts geschehen. Selbst wenn wir die Polizei benachrichtigen würden, hätte sie keine Möglichkeit, einzugreifen. Oder glauben Sie, es gelingt ihr, ein in der Luft befindliches Flugzeug herunterzuholen?« fügte er nicht ohne einen Anflug von Ironie hinzu. »Soweit sind wir noch nicht. Außerdem –«, er stieß sich vom Fensterbrett ab und ging den Korridor entlang zum Fahrstuhl, »ist es ja noch nicht einmal sicher, ob mit dem Flugzeug irgend etwas passiert. Vielleicht ist das Ganze auch nur eine Finte, ein Reklametrick. Die Leute kommen ja heute auf die verrücktesten Ideen, wenn sie auf sich aufmerksam machen wollen.« 49
Er war vor dem Fahrstuhl angelangt und blieb stehen. »Jetzt können Sie froh sein, daß wir nicht Sie geschickt haben, nicht wahr?« Oberarzt Wagner rückte nervös an seiner Brille. »Natürlich bin ich froh, daß nicht ich derjenige bin …« »Im übrigen –«, Professor Bergmann öffnete die Tür des Fahrstuhls, der in diesem Augenblick angekommen war, »bin ich davon überzeugt, daß der Konsul und sein Land alles nur Erdenkliche unternehmen werden, um die Gefahr für die Familie des Präsidenten abzuwenden. Etwas Besseres könnten wir uns im Grunde genommen gar nicht wünschen!« Er öffnete die Tür und betrat den Fahrstuhl. Oberarzt Wagner wollte folgen, doch der Professor wehrte ab. »Sie brauchen mich nicht zu begleiten. Ich kann meinen Weg allein finden. Ich glaube, Sie werden hier nötiger gebraucht als oben bei mir.« Er nickte dem verdutzten Oberarzt zu und schloß die Tür. Dr. Wagner sah, wie der beleuchtete Fahrstuhl langsam nach oben entschwebte. Er blieb noch eine ganze Weile vor der Fahrstuhltür stehen. Er fand einfach nicht den Schwung, fortzugehen. Seine Gedanken befaßten sich mit Dr. Bruckner und Dr. Heidmann. So wenig er die beiden auch sonst schätzte, weil sie so grundverschieden von ihm waren, so leid tat ihm jetzt Dr. Bruckner, wenn er bedachte, daß er vielleicht das Opfer einer Bombe oder einer Entführung sein könnte. »Ist der Fahrstuhl außer Betrieb?« Eine Stimme ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um. Dr. Phisto stand hinter ihm. »Aber er fährt doch. Gestatten Sie –«, er drückte auf den Knopf, der den Fahrstuhl herbeiholte. Dr. Phisto öffnete die Tür. Mit einer einladenden Handbewegung und einer deutlich ironischen Verbeugung wollte er den Oberarzt als ersten in den Fahrstuhl einsteigen lassen, aber dieser wehrte ab. »Ich wollte gar nicht mit dem Fahrstuhl fahren!« Er kam sich mit einem Mal albern und lächerlich vor. »Sie wollten gar nicht mit dem Fahrstuhl fahren?« Die Stimme Dr. Phistos klang aufreizend. Es schien, als habe er jetzt eine wunde Stelle beim Oberarzt gefunden, auf die er einhacken konnte. »Sie stehen aber doch schon eine ganze Weile hier.« 50
Es fuhr Oberarzt Wagner durch den Kopf, ob er nicht Dr. Phisto in das, was geschehen war oder was möglicherweise in diesem Augenblick geschah, einweihen sollte. Es würde ihm leichter fallen, wenn er einen Menschen hatte, mit dem er seine Sorgen besprechen konnte. Aber als er das spöttische Grinsen auf dem Gesicht des rothaarigen Anästhesisten sah, zog er es doch vor, zu schweigen. »Steigen Sie nur ein! Sie haben es anscheinend eilig. Wir sehen uns morgen früh bei der Visite.« Bevor Dr. Phisto noch Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, hatte sich Dr. Wagner schon umgedreht und war mit raschen Schritten entschwunden.
* »Ich habe selten einen so schönen und ruhigen Flug erlebt wie heute!« Dr. Heidmann räkelte sich bequem in seinem Sitz der Maschine nach Rio, in die sie in Frankfurt umgestiegen waren. »Und auch die Stewardessen in diesem Flugzeug sind von einer außerordentlichen Liebenswürdigkeit.« Er lächelte der attraktiven jungen Frau zu, die gerade durch den Mittelgang schwebte und die Fahrgäste fragte, ob sie irgendwelche Wünsche aus der Bar hätten. Dr. Heidmann hatte die Getränkekarte hervorgeholt und studierte die Preise. »Donnerwetter – das ist aber alles ziemlich preiswert! Ich glaube, man könnte sich ruhig einen Schnaps genehmigen.« Er wollte der Stewardeß winken, die gerade vorbeigegangen war, aber Thomas Bruckner hielt seine Hand fest. »Ich würde mit dem Trinken vorsichtig sein. An Bord eines Flugzeuges wird zwar immer sehr viel Alkohol angeboten, aber Sie trinken doch sonst keine harten Sachen!« »Wenn man an Bord einer Maschine sitzt, hat man das Gefühl, alles sei anders und deshalb etwas Besonderes. Aus diesem Grunde möchte ich mir eben heute einen echten französischen Kognak genehmigen!« Er sah sich nach der Stewardeß um, die nach hinten gegangen war. Erschrocken fuhr er herum und packte Dr. Bruckners Arm. »Schauen Sie nur –«, er deutete mit dem Kopf nach hinten, »es ist wirklich un51
ser entlassener Patient! Ich habe den Eindruck, daß er sich besonders für uns interessiert.« Dr. Bruckner wandte sich um. Er neigte sich ein wenig aus der Sitzreihe, um den Gang besser übersehen zu können. Dann sagte er: »Er scheint sich nicht nach uns umzusehen, sondern die Toiletten zu suchen. Da –«, er stieß Heidmann an, »nun ist er verschwunden. Ich habe das Gefühl, daß wir schon Gespenster sehen, aber das ist ja auch kein Wunder. Bei den vielen Flugzeugentführungen, die sich immer wieder ereignen, wartet man ja praktisch nur darauf, auch entführt zu werden. Da ist ja auch unser Chinese! Merkwürdig! Er hat die Toilette auf der anderen Seite betreten.« Die Stewardeß kam nach vorn. Dr. Bruckner winkte ihr. »Bringen Sie uns bitte zwei Gläser Kognak!« »Wünschen Sie eine bestimmte Marke?« fragte die Stewardeß zurück. »Zwei Martell!« antwortete Dr. Heidmann, der die Getränkekarte noch aufgeschlagen hatte. »Zwei Martell!« wiederholte die Stewardeß und ging nach vorn. Es dauerte nicht lange, bis sie mit zwei gefüllten Gläsern zurückkam und sie auf die Tische stellte, die Dr. Bruckner und Dr. Heidmann bereits heruntergeklappt hatten. »Ich glaube, ich kann ihn gut gebrauchen!« Dr. Heidmann nahm das Glas und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. »Mir ist wieder ziemlich mies.« Er drückte seine Hand auf den Leib. »Die Übelkeit ist stärker geworden. Ich hatte einen Augenblick lang vollkommen vergessen, daß mit mir was nicht stimmt. Aber jetzt –«, er drückte auf seinem Bauch herum, »fängt es wieder an – schlimmer als vorher.« Dr. Bruckner hatte an seinem Glas nur genippt. Er sah Heidmann besorgt an. »Machen Sie nur keine Dummheiten. Ich kann Sie jetzt schlecht untersuchen!« Er schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es würde komisch aussehen, wenn ich Sie bitten würde, sich freizumachen, und wenn ich Ihnen dann auf dem Bauch herumdrückte. Haben Sie denn starke Schmerzen?« Johann Heidmann horchte in sich hinein. »Schmerzen habe ich ei52
gentlich nicht«, meinte er. »Was mich am meisten beunruhigt, ist dieses Übelkeitsgefühl. Ich habe den Eindruck, daß ich jeden Augenblick brechen müßte.« Er griff in die Tasche, die an der Rücklehne des Vordersitzes angebracht war, und nahm eine jener Tüten heraus, die dort steckten. »Es ist besser, wenn ich die Tüte bereithalte. Man kann nie wissen.« »Vielleicht gehen Sie lieber gleich zur Toilette. Man bekommt doch manchmal eine gewisse Erleichterung, wenn man den Finger in den Mund steckt. Vielleicht haben Sie wirklich nur etwas gegessen, was Ihnen nicht bekommen ist?« Thomas Bruckner versuchte, gegen seine bessere Einsicht, ein plausibles Argument zu finden. Dr. Heidmann erhob sich und blickte nach hinten, wo sich die beiden Toiletten befanden. »Unsere beiden scheinen sie besetzt zu halten.« Er zeigte auf die roten Lichter, die andeuteten, daß die Kabinen nicht frei waren. »Es müssen die beiden sein; ihre Plätze sind leer.« Er setzte sich rasch wieder und stellte die Lehne so, daß sie nach hinten überkippte und er eine halb liegende Stellung einnahm. »Wenn ich stehe, geht es mir schlechter. So fühle ich mich etwas wohler.« Dr. Bruckner betrachtete ihn besorgt. Er wollte ihn nicht erschrecken und ihm das mitteilen, was er beobachtete: Dr. Heidmanns Gesichtsfarbe hatte sich so verändert, daß Dr. Bruckner größte Befürchtungen kamen. Die geröteten Wangen hatten einen grau-grünlichen Ton angenommen. Bruckner glaubte zunächst, daß das Licht der Kunststoffröhren daran schuld sei; denn das kalte Licht, das sie erzeugten, konnte durchaus die Farbe so verändern. Er hatte einmal in einem billigen Lokal in London, das mit Neonröhren beleuchtet war, Pommes frites bestellt. Die gerösteten Kartoffelschnitzel sahen nicht goldbraun aus, wie man es erwartete, sondern sie hatten einen blaß-gelben Farbton angenommen. Sie sahen aus, als wären sie nicht durchgebacken. Bruckner entsann sich, daß ihm die Kartoffeln nicht schmeckten, weil die Augen dem Gehirn etwas anderes mitteilten als die Zunge. Um zu prüfen, inwieweit die veränderte Hautfarbe seines Freundes durch das Licht bedingt war, hielt er seine Hand dicht neben Heidmanns Gesicht. Jedoch die Farbe seiner Hände wurde durch das Licht 53
nicht verändert. Es schien, als ob der Vergleich sogar noch mehr zu ungunsten der Hautfarbe Heidmanns ausfiel. Sie wirkte noch grünlicher, noch grauer als eben ohne diese Vergleichsmöglichkeit. »Was machen Sie da mit Ihrer Hand?« wunderte sich Heidmann. Er wollte sich aus seiner halb liegenden Haltung aufrichten, aber dann ließ er sich wieder in das Rückenpolster zurückfallen. Mit einem Stöhnen faßte er auf seinen Leib. »Ich habe das Gefühl, daß mir der ganze Bauch weh tut. Und nun –«, er richtete seinen Oberkörper vorsichtig auf und schaute nach hinten, »müßte ich aber wirklich einmal verschwinden. Die beiden scheinen da Dauersitzungen zu veranstalten. Es ist furchtbar!« Dr. Heidmann stöhnte leise, und Dr. Bruckner bemerkte mit Besorgnis, daß sich auf seiner Stirn winzige Schweißperlen bildeten. Sie liefen ineinander und überdeckten das Gesicht mit einem feuchten, glänzenden Film. Thomas Bruckner griff nach Heidmanns Handgelenk und fühlte nach dem Puls. Sein Blick ruhte auf der Armbanduhr. Er verglich den Sekundenzeiger mit dem Pulsschlag. Heidmann schaute vor sich hin. Es sah aus, als habe er jedes Interesse an sich oder an dem, was Dr. Bruckner tat, verloren. »Sie haben Fieber!« Dr. Bruckner sah besorgt seinen jüngeren Kollegen an. »Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß Sie nun doch eine Appendizitis haben.« Er seufzte. »Sie hätten wirklich nicht mitkommen sollen!« Seine Stimme klang ärgerlich. »Wir haben immerhin noch einige Zeit zu fliegen.« »Ich halte schon durch! Haben Sie etwas Penizillin dabei? Ich habe dummerweise die Antibiotika, die ich als Vorrat mitgenommen habe, in dem aufgegebenen Koffer gelassen.« Dr. Bruckner griff unter seinen Sitz und holte einen kleinen Aktenkoffer hervor. »Glücklicherweise habe ich immer das Wichtigste bei mir.« Er öffnete den Koffer. »Ich habe sogar ein Notfallbesteck da.« Er zeigte auf ein kleines Metallkästchen. »Skalpell, zwei Pinzetten und etwas Nahtmaterial ist drin. Ich könnte also sogar einen kleinen Eingriff vornehmen. Allerdings eine Appendizitis könnte ich nicht operieren.« Er kramte in dem kleinen Köfferchen. »Ich habe vergessen, 54
mir ein Lokal-Anästhetikum einzustecken. Und eine Narkose kann ich schon gar nicht machen – nicht einmal eine Holzhammernarkose. Denn auch dieses Instrument habe ich nicht dabei.« Er versuchte einen Scherz zu machen, um Dr. Heidmann ein wenig abzulenken, aber seine Worte kamen nicht recht an. Heidmann hatte die Augen geschlossen. Mit halbgeöffnetem Mund lag er da. Die Lippen waren trocken und rissig. »Antibiotika habe ich leider auch nicht in diesem kleinen Koffer, die habe ich dummerweise auch in meinen großen Koffer getan. Ich weiß gar nicht, warum ich auf den Gedanken kam, dieses Besteck hier einzupacken. Es ist wahrscheinlich einfach eine Routinemaßnahme gewesen. Nun –«, er ließ die Schlösser des Köfferchens zuschnappen, »ich glaube kaum, daß ich mit diesem Not-Instrumentarium bei Ihnen den Appendix herausnehmen muß.« Er hatte ein kleines Röhrchen in der Hand behalten. »Schmerztabletten habe ich da. Möchten Sie eine?« Heidmann schüttelte sich. »Der bloße Gedanke, irgend etwas schlucken zu müssen, verursacht sofort wieder dieses Brechgefühl.« Er versuchte sich aufzurichten, aber gab es gleich wieder auf. »Wenn ich mich hinsetzen will, schmerzt es hier …« Er tastete über den rechten Unterbauch. Dr. Bruckner nickte. »Das ist ein weiteres Zeichen für eine beginnende Appendizitis. Ich glaube, ich brauche Sie gar nicht zu untersuchen. Wenn man sich aufrichtet, spannt man die Bauchmuskeln an. Und die drücken dann auf den Leib, als wenn ich mit der Hand dagegen drücken würde. Nur daß dieser Druck wesentlich zarter ausfällt. Ich kannte einen alten Stabsarzt, der bei seinen Visiten im Lazarett zur Untersuchung die Soldaten sich einfach aufrichten ließ, ohne daß sie ihre Hände zu Hilfe nehmen durften. Damit konnte er auf eine einfache Art und Weise bereits feststellen, ob eine Blinddarmentzündung vorlag.« Johann Heidmann hatte die Tüte, die er immer noch in der Hand hielt, rasch vor sein Gesicht gehalten. Jedoch er konnte nicht erbrechen. »Mir ist speiübel.« Er zuckte resignierend mit den Schultern, als er sein Gesicht wieder hob. »Und ich möchte so gern brechen, weil ich 55
das Gefühl habe, dann würde es besser, aber es geht nicht.« Er rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Dr. Bruckner schaute auf die Uhr. »Es wird noch viele Stunden dauern, bis wir in Rio landen. Aber dann stecke ich Sie sofort in ein Auto und schleppe Sie in das erste beste Krankenhaus.« »Aber Sie operieren mich selbst, nicht wahr?« Heidmann hatte sich wieder zurückgelegt. Aus halbgeschlossenen Lidern schaute er Dr. Bruckner an. »So selbstverständlich ist das nicht!« Dr. Bruckner seufzte. »Ich glaube kaum, daß ein deutscher Chefarzt es gestatten würde, daß ein klinikfremder Arzt plötzlich eine Operation an seinem Krankenhaus durchführt. Das haben die Herren nicht gern. Ich nehme an, daß die Mentalität der Ärzte in Rio nicht anders sein wird. Leider kenne ich dort niemand. Dann wäre es vielleicht einfacher. Aber –«, er legte tröstend seine Hand auf Dr. Heidmanns Arm, »ich werde versuchen, was ich tun kann. Auf jeden Fall wird mir der Kollege erlauben, bei der Operation zugegen zu sein. Ich nehme an, daß das schon eine gewisse Beruhigung für Sie ist, nicht wahr?« »Lieber wäre es mir, Sie würden mich operieren. Aber wenn es nicht geht –«, er vollendete seinen Satz nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern. Dr. Bruckner hatte sich erneut erhoben und schaute über die Reihen der Sitze nach hinten. »Die beiden scheinen immer noch ihre Dauersitzungen fortzusetzen!« kommentierte er. »Es haben sich schon zwei Passagiere vor den Toiletten aufgestellt und machen böse Gesichter. Ich möchte zu gern wissen, was das zu bedeuten hat. Am liebsten würde ich nachschauen, was da los ist.« Dr. Heidmann winkte matt ab. »Mein Brechreiz hat jetzt nachgelassen. Ich glaube, ich brauche gar nicht mehr hinzugehen. Im Augenblick fühle ich mich einigermaßen wohl!« Er sprach langsam und abgehackt. Seine Stimme strafte seine Worte Lügen. Dr. Bruckner zog es vor, nichts dazu zu sagen. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen, soweit man die Stellung, in der Sie sich augenblicklich befinden, als Liegen bezeichnen kann, und entspannen Sie sich. Das ist die 56
einzige Möglichkeit, die wir im Augenblick haben. Es ist zu dumm – man müßte jetzt operieren. Sie wissen ja selbst, wie rasch ein Appendix zu einem der bösartigsten Organe werden kann. Es braucht sich manchmal nur um Stunden zu handeln, bis eine Perforation eintritt. Beim Konsul war es ja so ähnlich … Ich weiß etwas!« Er stand auf. Dr. Heidmann wollte ihn fragen, was er vorhatte, aber Bruckner war so rasch nach vorn gegangen, daß Heidmann keine Gelegenheit fand, ihn aufzuhalten. Er schloß die Augen. Irgendwie war es ihm auch völlig egal, was geschah. Er hatte nur den einen Wunsch: zu schlafen und alles zu vergessen. Die Umgebung interessierte ihn nicht mehr. Wenn er die Augen öffnete, nahm er alles wie durch einen Schleier wahr. Er hörte ein Dröhnen. Er fragte sich, ob es das Dröhnen des Flugzeugkörpers war, das er verspürte, oder ob es das Rauschen des Blutes in seinen Ohren war, das er hörte. Einmal schaute er noch nach vorn. Er sah Dr. Bruckner mit einer der beiden Stewardessen verhandeln. Er sah, wie sie in der kleinen Küche verschwand, wie sie mit einem Päckchen wiederkam, das sie Dr. Bruckner in die Hand drückte. Er sah dann noch seinen Kollegen und Freund Thomas Bruckner langsam, sich an den Lehnen der Sitze festhaltend, zu ihm zurückkommen. Dann fielen ihm die Augen zu. Er hatte das Gefühl, daß er in einen Abgrund absackte. Nun fühlte und hörte er nichts mehr – bis er durch ein Rütteln an der Schulter wieder in die Gegenwart zurückgerufen wurde. Dr. Bruckner beugte sich über ihn …
57
V
N
anu, Herr Oberarzt!« Schwester Angelika blieb stehen und schaute Oberarzt Wagner erstaunt an. »Noch so spät? Ist etwas passiert?« Oberarzt Wagner rückte nervös an seiner Brille. »Passiert ist eigentlich nichts. Ich bin nur ein wenig in Sorge um Dr. Bruckner …« Er hielt erstaunt inne, denn Schwester Angelika hatte laut losgelacht. »Sie sind um Dr. Bruckner besorgt?« Dr. Theo Wagner nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. Man merkte es ihm an, daß er diese Bewegung nur ausführte, um Zeit zu gewinnen. »Natürlich bin ich besorgt!« Er setzte die Brille auf. »Schließlich kann das jedem von uns passieren. Außerdem ist Dr. Bruckner ja unser Mitarbeiter. Da muß man sich doch um ihn kümmern.« Schwester Angelika verschluckte eine Bemerkung, die ihr auf der Zunge schwebte. »Nun wollen Sie sich wahrscheinlich den Konsul noch einmal ansehen, nicht wahr?« schnitt sie jedes weitere Wort ab. »Allerdings! Ist er allein?« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Nein. Dr. Jeres ist noch bei ihm.« »Wissen Sie, ob man schon etwas in der Angelegenheit unternommen hat?« Oberarzt Wagner war vor der Tür des Zimmers stehengeblieben, in dem der Botschafter lag. »Ich habe nicht gefragt!« Schwester Angelika klopfte an die Tür. »Der Herr Oberarzt!« meldete sie das Erscheinen Dr. Wagners an. Sie warf einen neugierigen Blick in das Zimmer, als Oberarzt Wagner zum Konsul hineinging. Der Botschaftsarzt saß neben dem Bett des Konsuls. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich. 58
Erschrocken fuhr der Konsul zusammen, als Oberarzt Wagner das Zimmer betrat. Schwester Angelika konnte die Tür nicht länger offenhalten, wollte sie nicht neugierig wirken. Seufzend schloß sie die Tür. Sie hätte so gern gewußt, ob vielleicht schon irgend etwas bekanntgeworden war, aber sie wagte nicht zu fragen. 5ie blieb einen Augenblick vor der Tür stehen, um vielleicht doch noch etwas von dem Gespräch mitzubekommen, aber die Doppeltüren ließen keinen Laut nach außen dringen. Sie resignierte und ging in ihr Dienstzimmer zurück. Insgeheim hoffte sie, daß Oberarzt Wagner ihr etwas erzählen würde … Mit Leichenbittermiene trat Dr. Wagner an das Bett des Konsuls. »Haben Exzellenz schon etwas erfahren?« Der Konsul blickte unwillig hoch. »Ich habe nicht die Berechtigung, den Titel Exzellenz zu führen. Der steht einem Botschafter zu, und der bin ich nicht – jedenfalls noch nicht!« stellte er die Anrede des Oberarztes richtig. »Haben Sie schon etwas von Ihrem Kollegen gehört?« Oberarzt Wagner schüttelte den Kopf. »Ich glaubte vielmehr, von Ihnen etwas Näheres zu erfahren. Deswegen bin ich hier. Sie wissen also auch noch nichts?« »Ich weiß absolut nichts!« bekannte der Konsul. »Herr Dr. Jeres hat wohl mit unserer Regierung Verbindung aufgenommen, aber man ist dort genauso machtlos wie Sie und ich. Zwar sind alle diplomatischen Möglichkeiten eingeschaltet worden. Man wird das Flugzeug unter Bewachung halten, aber es besteht keine Möglichkeit, etwas Wesentliches zu unternehmen. Wir müssen abwarten!« »Ja, wir müssen abwarten, Herr Kollege!« Dr. Jeres war aufgestanden. Er ging im Zimmer auf und ab. »Und das ist es gerade, was so zermürbt, dieses Warten! Wenn man handeln könnte, wäre es einfacher und leichter für uns alle. Sie werden verstehen, daß in unserer Regierung größte Aufregung herrscht. Man hat natürlich noch nichts offiziell verlauten lassen, man kann es ja auch noch nicht tun. Denn noch ist dem Flugzeug nichts geschehen. Aber bei uns steht alles gewissermaßen Gewehr bei Fuß. Irgendwann wird sich diese Spannung ja so oder so lösen.« 59
»Und wenn dieser Mann an Bord des Flugzeuges nun mit seinem Coup Erfolg hat?« Oberarzt Wagner mußte seine Brille von neuem putzen. »Dann kann es einen Bürgerkrieg geben!« Der Konsul hatte sich aufgerichtet. Die Erregung hatte ihn die Schmerzen vergessen lassen. »Es ist schlimm, wenn man mit gebundenen Händen dasitzen muß …« »Ist der Kapitän des Flugzeuges wenigstens informiert?« Dr. Wagner setzte seine geputzte Brille auf. Mit kurzsichtigen Augen blinzelte er den Konsul an. »Ich glaube, man wird sich hüten, eine solche Warnung auszusprechen. Das wäre zu gefährlich. Man würde damit nur den Kapitän unsicher machen und unter Umständen ein Unglück heraufbeschwören. Außerdem muß die ganze Geschichte geheim bleiben. Wenn der Kapitän gewarnt wird, nimmt sich die Presse der Angelegenheit an. Und von diesem Augenblick an, ist es aus mit der Geheimhaltung dieser hochpolitischen Affäre!« »Und dieser King, was ist das für ein Mann?« »Einer der gefährlichsten, kaltblütigsten Verbrecher, die auf dieser Welt herumlaufen. Er macht den Eindruck eines Biedermannes, aber in Wirklichkeit schreckt er vor nichts zurück.« »Wir haben ihn doch hier erlebt!« Oberarzt Wagner konnte nicht begreifen, was ihm der Konsul sagte. »Hier wirkte er doch ganz manierlich, bis auf seinen ungepflegten Bart.« »Das ist es ja gerade! Im privaten Bereich ist er ein Mann, der keiner Fliege ein Leid tun kann. In der Politik aber ist er ein solcher Fanatiker, daß Menschenleben ihm nichts bedeuten. Er riskiert es und läßt die ganze Maschine zu Bruch gehen, einschließlich sich selbst, wenn er damit das Ziel erreicht, an das er glaubt.« »Und warum will er den Präsidenten stürzen?« Die Frage des Oberarztes klang so naiv, daß der Konsul den Botschaftsarzt anschaute, als zweifle er an der Zurechnungsfähigkeit dieses deutschen Arztes. »Ärzte verstehen von der Politik im allgemeinen wenig!« kam Dr. Jeres seinem Kollegen Dr. Wagner zu Hilfe. »Ich bin da vielleicht eine 60
Ausnahme. Aber schließlich«, ein halb entschuldigender Blick traf Dr. Wagner, »bin ich auch kein guter Arzt. Sonst hätte ich bestimmt den Konsul bewogen, seine Wurmfortsatzentzündung eher operieren zu lassen, als er es getan hat.« Das Telefon auf dem Nachttisch schellte. Auf dem Gesicht des Konsuls erschien ein gespannter Ausdruck. Er griff nach dem Hörer und meldete sich. Neugierig beobachtete der Oberarzt die Reaktion des Konsuls. Aber der Staatsbeamte hatte sein Gesicht in guter Kontrolle. Kein Muskel seines Gesichtes verriet, was er zu hören bekam. Er legte schließlich den Hörer auf die Gabel zurück. »Es ist noch nichts geschehen. Meine Regierung hat die verschiedenen Bodenstationen benachrichtigt. Überall, wo das Flugzeug landen könnte, ist man gewappnet. Sobald der Pilot auf einem Flughafen landet, wird die Maschine durch Polizei gesichert.« »Aber wenn die Piraten sich irgendwelche Passagiere als Geiseln herausgreifen und sie bedrohen –, dann ist die Polizei doch machtlos!« »Sie denken da an Ihre Kollegen«, nahm der Botschaftsarzt das Wort. Mit einem Achselzucken schaute er den Konsul an. »Die Politik kann auf private Interessen leider keine Rücksicht nehmen.« »Aber sagten Sie nicht vorhin, daß Ihre Regierung die Sache vorläufig noch geheimhalten will, um keine Unruhe in das Volk zu bringen?« »Das war meine Meinung, aber anscheinend ist der Präsident nun doch um das Wohl seiner Familie so besorgt, daß er von dieser Regel abgegangen ist.« Er schaute auf seine Uhr. »Würden Sie uns bitte jetzt allein lassen!« bat er Oberarzt Dr. Wagner. »Dr. Jeres und ich haben noch einige wichtige Dinge zu besprechen.« Oberarzt Wagner ging nur widerwillig zur Tür. Er hätte zu gern noch mehr erfahren, am liebsten hätte er sogar dem Kollegen verboten, weiter bei dem Konsul zu bleiben, indem er ihn auf die Krankenhausordnung hinwies. Aber dann zog er es doch vor, zu verschwinden. »Auf Wiedersehen – und –«, er schaute auf seine Uhr und sah den Botschaftsarzt vorwurfsvoll an, »dehnen Sie bitte Ihren Besuch nicht über Gebühr aus. Es könnte sonst Ärger mit dem Chef geben!« 61
Er verließ das Krankenzimmer, bevor der Konsul noch etwas antworten konnte. »Nun?« Schwester Angelika schaute gespannt hoch, als Wagner das Dienstzimmer betrat. »Was ist los? Gibt es etwas Neues?« Oberarzt Wagner biß sich auf die Lippen. Er überlegte. »Etwas Neues –«, wiederholte er Schwester Angelikas Worte, um Zeit zu gewinnen. »Im Grunde genommen, ja.« »Und was ist es?« Schwester Angelika ärgerte sich über die Art, mit der sich – wie sie glaubte – der Oberarzt wichtig tun wollte. »Ich darf es leider nicht sagen!« Oberarzt Wagner rückte seine Brille zurecht. »Es ist leider Staatsgeheimnis. Ich mußte versprechen, zu niemand darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Auch nicht zu Ihnen.« Er lächelte zufrieden, ging zur Tür und verließ das Dienstzimmer.
* Dr. Heidmann nahm Dr. Bruckner wie durch einen Schleier wahr. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht!« Selbst seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Heidmann hielt krampfhaft die Augen auf, seine Lider waren wie aus Blei. Er hob eine Hand, aber die Gebärde fiel ihm schwer. »Ich möchte nichts trinken!« Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Wenn ich etwas trinke, muß ich bestimmt brechen. Wir sind doch bald da?« »Leider nicht. Ich habe Ihnen auch nichts zu trinken mitgebracht. Da …« Er hielt einen Plastikbeutel in die Höhe. »Können Sie sich nicht denken, was das ist?« Als er die Anstrengung bemerkte, die Dr. Heidmann aufbringen mußte, um sich konzentrieren zu können, fügte er hinzu: »Ich darf Sie ja in Ihrem jetzigen Zustand nicht examinieren. Aber normalerweise würden Sie sich denken können, was man bei einer akuten Appendizitis macht, wenn man nicht gleich operieren will oder kann?« »Man legt einen Eisbeutel auf!« Dr. Heidmann versuchte zu lächeln. Seine Hand griff matt nach dem Plastikbeutel, den Thomas Bruck62
ner hochhielt. »Und nun haben Sie mir auch einen Eisbeutel gebracht, nicht wahr?« »Ja! Ich möchte gern, daß wir den akuten Verlauf etwas hinauszögern. Es fiel mir im letzten Augenblick ein, daß man in diesen Düsenmaschinen ja doch sicherlich einen Eisschrank hat. Und es war nicht schwer, die Stewardeß zu bewegen, mir etwas Eis zu geben.« Er blickte hoch. Die Stewardeß war an die Sitzreihe getreten. »Alles in Ordnung?« fragte sie. »Es ist alles in bester Ordnung!« versuchte Dr. Bruckner sie zu beruhigen. »Ich hoffe sehr, daß mein Kollege solange durchhält, bis wir landen. Wie lange dauert es noch?« Die Stewardeß schaute auf die Uhr. »Wir werden in fünf Stunden in Rio landen. Ich habe eben mit dem Kapitän gesprochen. Das Wetter ist ausgezeichnet. Turbulenzen sind nicht zu erwarten. Wir haben selten eine so gute Wetterlage wie heute. Da können Sie von Glück sagen!« beruhigte sie Dr. Bruckner. »Wenn man in ein Schlechtwettergebiet gerät, kann ein Flugzeug schon gewaltig hin und her gerüttelt werden. Und ich glaube kaum, daß das für einen Kranken besonders gut wäre.« Sie blickte auf die Tüte, die Dr. Heidmann immer noch in der Hand hielt. »Geht es Ihnen sehr schlecht?« fragte sie teilnahmsvoll. Johann Heidmann versuchte sie anzulächeln. »Danke, es geht mir schon wieder einigermaßen. Der Gedanke, daß ich bald einen Eisbeutel bekomme, wirkt schon fast wie ein kleines Wunder!« »Da vergessen wir über unserem Gerede völlig den Patienten!« Dr. Bruckner drückte Dr. Heidmann die Plastikblase mit den Eisstückchen in die Hand. »Legen Sie den Beutel bitte selbst auf die schmerzende Stelle. Am besten öffnen Sie den Gurt und schieben sich den Beutel darunter. Ich habe das Eis so eingepackt, daß, auch wenn es schmilzt, das Wasser nicht aus dem Beutel herauslaufen kann.«
* »Das ist ja furchtbar!« Yvonne Bergmann schaute ihren Mann erschrocken an. »Glaubst du wirklich, daß so etwas passieren kann?« 63
Professor Bergmann füllte sein leeres Glas aus der Weinflasche, die im Silberbehälter auf dem Tisch stand. Er nahm einen Schluck. »Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur das sagen, was mir der Konsul erzählt hat. Er schien die ganze Angelegenheit für sehr ernst zu halten.« »Das beste, was passieren könnte, wäre also eine Entführung. Nun –«, Yvonne Bergmann hob ihr Glas ebenfalls. Sie versuchte jetzt, die Angelegenheit zu bagatellisieren: »Wie ich Dr. Bruckner kenne, wird er das Ganze für ein willkommenes Abenteuer nehmen. Er liebt doch solche kleinen Kitzel, die abseits des grauen Alltags liegen. Manchmal habe ich das Gefühl, er sucht direkt die Gefahr, um der Monotonie des Alltags zu entgehen. Hier hat er doch jetzt die beste Gelegenheit dazu!« Professor Bergmann trank sein Glas leer. Er wiegte bedächtig sein Haupt. »Es mag ja alles stimmen, was du sagst, aber eine solche politische Angelegenheit ist etwas ganz anderes. Da handelt es sich nicht um harmlose Abenteuer, aus denen man meist mit heiler Haut herauskommt. Niemand kann sagen, wie so etwas endet. Und dann –«, er griff erneut nach der Flasche und füllte sein Glas, »ist da noch Dr. Heidmann. Er hatte eine Blinddarmreizung, als er abflog. Kollege Wagner hat ihn zwar untersucht und festgestellt, daß eigentlich nichts sei, aber ich habe Heidmanns Gesicht genau beobachtet. Er dissimulierte. Er wollte einfach mit. Das war eindeutig zu sehen.« »Und du hast ihn fliegen lassen?« Yvonne Bergmann schaute ihren Mann vorwurfsvoll an. »Du hättest ihn zurückhalten sollen. Wenn nun etwas passiert, machst du dir die schwersten Vorwürfe!« Professor Bergmann stellte sein Glas zurück. Er nickte. »Die Vorwürfe mache ich mir schon die ganze Zeit. Ich wollte nur dem jungen Mann nicht die Freude verderben. Du weißt doch, wie selten man in seinem Leben eine solche große Reise unternehmen kann. Wer konnte auch voraussehen, daß sich aus der ganzen Angelegenheit eine hochpolitische Sache entwickeln würde?« Yvonne Bergmann war aufgestanden. Sie ging im Zimmer auf und ab, schließlich blieb sie neben ihrem Mann stehen. »Und was kann man nun machen?« Sie legte ihren Arm um seinen Nacken. »Du kennst doch so viele Leute. Läßt sich da gar nichts unternehmen?« 64
Der Professor zuckte resignierend mit den Schultern. »Es gibt eben Dinge, wo auch die besten Beziehungen nichts nützen. Wir können nichts weiter tun als abwarten. Abwarten und auf das sprichwörtliche Glück Dr. Bruckners hoffen! Selbst wenn die Maschine entführt wird, besteht für Dr. Heidmann eigentlich keine Gefahr. Wo immer er auch landet – es gibt Ärzte, es gibt Krankenhäuser. Und die Operation einer typischen Appendizitis ist auf der ganzen Welt gleich. Bei einigen anderen Krankheiten würden sich die Gelehrten ja noch streiten, aber bei der sogenannten Blinddarmentzündung ist man sich über die Operation allerorts einig.« »Ich habe eben die Nachrichten gehört.« Yvonne Bergmann setzte sich auf ihren Stuhl zurück. »Da kam nichts von einer Flugzeugentführung durch.« Professor Bergmann füllte das leere Glas seiner Frau. »Ich nehme auch beinahe an, daß wir uns unnötige Sorgen machen. Wahrscheinlich –«, er lächelte seiner Frau beruhigend zu, »wird der Konsul wieder einmal die berühmten Flöhe husten gehört haben. Also –«, er hob sein Glas und trank ihr zu, »trinken wir auf das Wohl Dr. Bruckners und Dr. Heidmanns – und daß beide glücklich in Rio ankommen mögen!«
* Schwester Angelika war vor Übermüdung in ihrem Sessel eingeschlafen. Sie fuhr zusammen, als ihr Kopf auf die Brust sackte und sie fast vom Stuhl gefallen wäre. Sie hatte geträumt, daß Dr. Bruckners Flugzeug abgestürzt war. Er und Heidmann waren die einzigen, die sich retten konnten. Im Traum hatte sie gesehen, wie die beiden durch den Urwald irrten, wie sie von wilden Tieren verfolgt wurden, wie sie vor Erschöpfung zusammenbrachen … Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in die Gegenwart zurückgefunden hatte. Sie sprang auf und sah in den Spiegel. Ein übernächtigtes Gesicht unter einer verrutschten Haube blickte ihr entgegen. Sie ging zur Tür. Es war höchste Zeit, daß sie ins Bett kam. Sie hatte keinen Dienst, aber sie wußte genau, daß man darauf keine Rücksicht 65
nahm. Wenn sie sich auf Station aufhielt, dann war es selbstverständlich, daß man sie auch holte, wenn irgend etwas geschah. Sie rückte ihre Haube zurecht, ordnete ihre Kleidung und ging hinaus, um ihr Zimmer aufzusuchen. Auf dem Flur machte sie halt. Ihr war ein Gedanke gekommen. Sie änderte die Richtung, verließ die chirurgische Klinik und nickte dem Pförtner zu, der aus seiner Loge herausgekommen war und sich offensichtlich mit ihr unterhalten wollte. »Gute Nacht!« tat sie ihn kurz ab. Sie ging durch den Garten bis zu der kleinen Kapelle, die hinten in einer Ecke des Geländes stand. Vor der Tür zögerte sie, aber dann drückte sie kurzentschlossen die Klinke herunter. Der kleine Raum war unverschlossen. Sie knipste das elektrische Licht an. Es war kalt in dem Raum; ihr schauderte. Sie hatte das Gefühl, daß der Tod nach ihr faßte. Der Gedanke war nicht einmal absurd, schließlich befand sich die Leichenhalle gleich daneben. In diesem Raum fanden die Totenfeiern für diejenigen statt, die in der Klinik gestorben waren. Mit kleinen Schritten ging sie nach vorn bis zum Altar. Lange stand sie dort, bis sie nach einer Kerze griff, die in einem Kästchen lag. Sie steckte die Kerze auf die Halterung neben dem Altar und zündete den Docht an. Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Ärzten hin, die jetzt irgendwo durch die Lüfte flogen. Dann kniete sie vor dem Altar nieder, faltete ihre Hände und betete. Danach stand sie beruhigt auf, blieb aber noch vor dem Altar stehen. Ihre Blicke gingen zu der Kerze hin, die ganz ruhig brannte. Da faltete sie noch einmal die Hände. Sie hatte das Gefühl, daß jetzt alles gutging. Sie hatte für die beiden gebetet, nun nahm sie die ruhige Flamme als sichtbares Zeichen dafür, daß ihr Gebet erhört worden war. Erleichtert atmete sie auf und wollte sich schon zum Gehen wenden, da fing die Kerze plötzlich an zu flackern. Dicke Wachstropfen liefen zu beiden Seiten herunter. Ein Windzug hatte die Flamme gepackt. Erschrocken stellte sich die alte Schwester vor die Kerze, als könnte sie dadurch das Verlöschen des Lichtes verhindern. 66
Hinter ihr ertönte ein Geräusch. Die Tür war leise geöffnet worden. Sie stand ganz still und wartete, wer da wohl kommen mochte. Es war ungewöhnlich, daß um diese Zeit jemand die kleine Kapelle aufsuchte. Im allgemeinen war sie auch abgeschlossen … Der Ankömmling schien genauso erschrocken zu sein wie sie, als er nun in das Halbdunkel der Kirche trat. Schwester Angelika konnte nicht erkennen, wer es war, das Licht von der Tür war zu ungewiß. »Was machen Sie hier, Schwester Angelika?« fragte eine männliche Stimme. Schritte kamen näher. Jetzt erkannte Schwester Angelika den Ankömmling. »Sie?« Die Stimme klang so erstaunt, daß der nächtliche Besucher lachen mußte. Aber er brach das Lachen sofort ab. Eine nächtliche Kapelle war nicht der richtige Ort, um laut loszulachen. »Herr Dr. Phisto!« Schwester Angelika schien sich immer noch nicht beruhigen zu können. »Was führt Sie denn hierher?« Dr. Phisto grinste. »Vermutlich das gleiche, was Sie auch hierhergeführt hat.« »Sie wollen doch nicht etwa beten?« Schwester Angelikas Stimme klang noch entsetzter. »Trauen Sie mir so etwas nicht zu?« Dr. Phisto lächelte von neuem. »Haben Sie mich eigentlich immer für einen Heidenknaben gehalten?« »Ich habe nie darüber nachgedacht.« Schwester Angelika zeigte auf die Tür. »Aber machen Sie bitte die Tür zu. Meine Kerze geht sonst aus, und das darf nicht geschehen.« Dr. Phisto ging sofort zum Eingang und schloß die Tür. Als er zurückkam, zeigte Schwester Angelika traurig auf die Kerze. »Der Luftzug hat sie völlig verbogen.« »Aber sie brennt noch!« glaubte Dr. Phisto die alte Schwester trösten zu können. »Ich nehme an, Sie haben die Kerze für unsere beiden Flieger aufgesteckt, nicht wahr?« Schwester Angelika nickte. »Das habe ich getan. Und Sie –«, Schwester Angelika sprach nicht weiter. Sie hatte das Gefühl, daß ihr die Tränen kamen. »Aber sie brennt doch weiter! Und schauen Sie nur –«, er ging an die 67
Kerze heran, drückte ein wenig an ihr herum, bis sie fast so gerade war wie zuvor, »sie sieht auch wieder manierlich aus!« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Man kann Ihnen einfach nicht böse sein. Aber im Grunde –«, sie warf noch einen Blick auf die Kerze, die jetzt wieder ruhig brannte, »freue ich mich doch, daß Sie gekommen sind, auch wenn Sie mir fast meine Kerze ruiniert hätten.« Dr. Phisto nahm ihren Arm. »Na, dann wollen wir mal allmählich schlafen gehen!« Er zog sie, die sanft widerstrebte, zum Ausgang hin. »Am Ende kommt Oberarzt Wagner auch noch her. Und das wäre Ihnen, wie ich Sie kenne, doch sicherlich weniger angenehm, oder?« Schwester Angelika mußte nun auch lachen. »Nein!« bekannte sie freimütig. »Das wäre mir bestimmt nicht angenehm. Aber wie kommen Sie darauf?« Erschrocken blieb sie stehen und schaute Dr. Phisto fragend an. »Glauben Sie wirklich, daß der Oberarzt hierherkommen könnte?« Dr. Phisto zog die alte Schwester aus der Kapelle, nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür ab. »Ich glaube, daß wir uns in diesem Punkt keine Gedanken zu machen brauchen. Obwohl man ja nie etwas genau weiß, es geschehen auch heute noch Zeichen und Wunder!« Er begleitete Schwester Angelika durch den dunklen Garten. Sie schwieg. Vor dem Schwesternhaus angekommen, reichte Dr. Phisto der Schwester die Hand. »Sie sollten doch wissen, daß unser Oberarzt nicht nur böse ist. Dieses Ereignis scheint ihm wirklich ziemlich nahegegangen zu sein.« Schwester Angelika hatte ihren Hausschlüssel aus der Tasche geholt, steckte ihn in das Schloß, drehte ihn aber noch nicht herum. »Vielleicht tut er nur so besorgt, damit man ihm später nicht nachsagen kann, er habe sich um das Schicksal der beiden nicht gekümmert. Ich traue unserem Oberarzt nicht so recht. Aber, wem erzähle ich das!« Sie drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. »Ich hoffe nur, daß alles gutgeht und daß die beiden heil und gesund zurückkommen.« »Ich hoffe genau das gleiche, liebe Schwester Angelika. Sobald ich etwas Neues erfahren sollte, werde ich Ihnen Bescheid geben. Man soll68
te heute wirklich den Radioapparat eingeschaltet lassen. Dann erfährt man am ehesten, ob etwas passiert ist!« »Man erfährt es zwar«, Schwester Angelika machte ein sorgenvolles Gesicht, »aber was nützt das alles. Helfen kann man doch nicht.« Sie blieb noch in der Tür stehen und es schien, als ob sie noch etwas sagen wollte. Aber dann nickte sie Dr. Phisto nur kurz zu und schloß die Tür hinter sich. Der Narkosearzt ging gedankenverloren zum Ärztehaus. Er hatte es noch nie erlebt, daß sich eine ganze Menschengruppe über ein Ereignis aufregte, das noch nicht einmal geschehen war.
VI
D
r. Bruckner blickte seinen Kollegen Heidmann an, der zurückgelehnt neben ihm saß. Er hatte die Schmerzen anscheinend noch nicht ganz überwunden, denn sein Gesicht zeigte jenen gespannten Ausdruck, den man bei Menschen antrifft, die versuchen, ihre Beschwerden vor der Umwelt zu verheimlichen, um diese nicht unnötig zu beunruhigen. Selbst bei dem ungewissen Licht, das im Flugzeug herrschte, konnte man erkennen, daß seine Haut leichenblaß war. Dann und wann lief ein Zucken über sein Gesicht. Einmal knirschte er mit den Zähnen, als die Schmerzen so stark wurden, daß er sie nicht unterdrücken konnte. Er merkte, daß Thomas Bruckner ihn betrachtete. Er öffnete die Augen und versuchte, den Freund anzulächeln, aber er brachte nur eine schmerzverzerrte Grimasse zustande. »Wie geht es Ihnen?« Bruckner hatte nach Heidmanns Hand gegriffen und fühlte den Puls. Johann Heidmann mußte an dem Erschrecken, das Dr. Bruckner nicht verbergen konnte, erkennen, daß es nicht besonders gut um ihn stand. »Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, 69
mir ginge es gut. Ich habe nie gewußt, wie stark Schmerzen sein können. Man sollte als Arzt wirklich einmal schwer krank gewesen sein, um mit den Patienten fühlen zu können. Man ist viel zu leicht geneigt, die Beschwerden des anderen als Bagatelle abzutun und zu behaupten, er übertreibe.« Er machte zwischen den einzelnen Worten längere Pausen und man merkte ihm die Mühe an, die ihm das Sprechen bereitete. »Tut der Eisbeutel wenigstens etwas gut?« fragte Thomas Bruckner, um überhaupt etwas zu sagen. Heidmann nickte. »Seitdem Sie mir den Eisbeutel aufgelegt haben, sind die Schmerzen etwas erträglicher geworden. Die Kühle hilft. Aber –«, er fühlte nach dem Plastikbeutel, »ich glaube, ich könnte schon wieder etwas Eis gebrauchen. Ob Sie mir wohl noch etwas besorgen können?« Er schaute zum Cockpit, in dem die Stewardessen saßen. Sie hatten sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Anscheinend benutzten sie die kleine Pause, die ihnen die Passagiere ließen, um sich von den Strapazen des Fluges ein wenig auszuruhen, bevor die nächste Mahlzeit serviert wurde. Dr. Bruckner streckte seine Hand aus. »Geben Sie mir den Plastikbeutel!« Heidmann holte ihn hervor und reichte ihn ihm. Thomas Bruckner betrachtete den Beutel kopfschüttelnd. »Von Eis ist da ja keine Spur mehr! Das ist nur noch Wasser – und das ist auch schon lauwarm geworden. Sie haben mindestens vierzig Grad Fieber. Ich werde versuchen, neues Eis zu bekommen.« Heidmann zeigte auf einen Knopf, der sich über dem Sitz befand und der mit der Bezeichnung ›Steward‹ versehen war. »Vielleicht brauchen Sie nur zu klingeln? Dann kommt jemand«, schlug er vor. Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe nach vorn und wecke eine der beiden Stewardessen. Wenn ich klingele, kommen vielleicht beide – oder gar keine!« fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Das ist ja kein Klingel-, sondern nur ein Leuchtknopf. Ich weiß nicht, ob die Damen das Lichtsignal vorn sehen werden, wenn sie so halb im Schlaf sind, wie es den Anschein hat.« 70
Er ging den Mittelgang hinunter, und Dr. Heidmann sah, wie er eine der beiden Stewardessen an die Schulter faßte. Die Stewardeß fuhr zusammen. Es schien, als habe sie Dr. Bruckner aus einem tiefen Traum geweckt. Erschrocken starrte sie ihn an. Es dauerte eine Weile, bis sie sich in die Gegenwart zurückgefunden hatte. Dr. Heidmann sah, wie Dr. Bruckner auf ihn zeigte. Die Stewardeß setzte ihr Routinelächeln auf, nickte und nahm den Plastikbeutel aus Dr. Bruckners Hand entgegen. Die zweite Stewardeß war ebenfalls aufgewacht. Sie sah gleichfalls Dr. Bruckner an, auch auf ihrem Gesicht erschien das Lächeln, das sie laut Dienstvorschrift aufzusetzen hatte, wenn sie mit Passagieren sprach. Dieses Spiel hätte Heidmann amüsiert, wenn er keine Schmerzen gehabt hätte, aber unter den jetzigen Umständen hätte ihn auch die Fliege an der Wand geärgert. Er hörte ein Geräusch im Mittelgang. Schritte kamen von hinten nach vorn. Unter anderen Umständen wäre er neugierig gewesen, hätte sich umgedreht, denn es war ungewöhnlich, daß jemand nach vorn zum Cockpit ging. Die Waschräume befanden sich im hinteren Teil des Flugzeugs. Es waren – wie er deutlich ausmachen konnte – die Schritte zweier Personen. Sie verhielten kurz hinter der Reihe, in der er saß. Wahrscheinlich, sagte sich Dr. Heidmann, wollten die beiden zu den Stewardessen, und sie warteten nun, bis Dr. Bruckner fertig war und die Stewardessen frei waren. Es beunruhigte ihn nicht weiter. Auch als er ein Flüstern hörte, drang es kaum in sein Bewußtsein. Sein Blick war nach vorn gerichtet. Er hing an dem kleinen Vorhang, der den Raum, in dem sich die Stewardessen aufhielten, vom übrigen Flugzeug verdeckte, und der jetzt zugezogen worden war, so daß er auch Dr. Bruckner nicht sehen konnte. Um sich die Zeit des Wartens ein wenig zu vertreiben, betrachtete er die Passagiere, die vor ihm im Blickfeld waren. Fast alle schliefen. Die Köpfe lagen teilweise seltsam verrenkt oder stützten sich an der Rückenlehne auf. Bei einem Passagier war der Kopf zur Seite gesunken und hing halb in den Mittelgang hinein, jener dort hatte sich ein Tuch über die Augen gelegt. 71
Johann Heidmann wurde sich erst jetzt bewußt, welche Geräusche in dem schlafenden Flugzeug herrschten. Es war eine Mischung aus tiefen Atemzügen, leichten Schnarchgeräuschen bis zum handfesten Sägen eines Baumstammes. Das Beobachten hatte ihn ein wenig von seinen Schmerzen abgelenkt. Sie machten sich erst wieder bemerkbar, als der Vorhang zur Seite gezogen wurde und Dr. Bruckner mit dem gefüllten Plastikbeutel in der Hand im Eingang erschien. In diesem Augenblick ertönte hinter ihm eine scharfe Stimme: »Achtung – jetzt!« Heidmann fuhr zusammen, wandte sich um, schrie vor Schmerzen auf, weil die plötzliche Bewegung ihn hatte vergessen lassen, daß er die Bauchmuskeln nicht anspannen durfte. Ihn durchfuhr ein Schmerz, als ob ihm jemand mit einem Dolch in die Eingeweide stieße. Doch wieder vergaß er den Schmerz. Was sich nun ereignete, nahm seine ganze Aufmerksamkeit so gefangen, daß er an nichts anderes denken konnte. Er hatte das Gefühl, sich in einem aufregenden Wildwestfilm zu befinden, in dem er nicht nur Zuschauer, sondern gleichzeitig handelnde Person war. Er wollte aufspringen, aber er vermochte es nicht. Als er sich aufgerichtet hatte, sank er sofort wieder in seinen Sitz zurück. Er hielt sich mit beiden Händen an den Lehnen fest. Ein schwarzer Schleier legte sich vor seine Augen, durch den er flüchtig noch etwas wahrnehmen konnte. Zwei Männer waren nach vorn gestürzt. Er erkannte sie beide. Der eine war der ›Chinese‹, der andere jener Passagier, den sie für den entlassenen Patienten King gehalten hatten. Es spielte sich alles so plötzlich ab, daß es nur langsam in sein bereits gestörtes Bewußtsein drang. Beide hatten Maschinenpistolen in der Hand. King hatte sich an den Stewardessen vorbeigedrückt und richtete den Lauf auf die völlig verstörten Frauen, auf Dr. Bruckner und gleichzeitig damit auf die Passagiere im Flugzeug. Der Chinese war weitergelaufen, hatte die Tür zum Pilotenstand aufgerissen und verschwand im Innern der Kabine. »Bitte, bleiben Sie ganz ruhig!« ertönte jetzt die Stimme Kings. »Es 72
geschieht Ihnen nichts, wenn Sie keine Dummheiten machen, und wenn Sie sich vor allem nicht von Ihren Plätzen bewegen. Jeder bleibt an seinem Platz. Die Stewardessen –«, er machte mit der Spitze seiner Maschinenpistole eindeutige Zeichen, »setzen sich auf die Plätze, auf denen sie vorher gesessen haben. Und Sie, Dr. Bruckner –«, die Pistole richtete sich auf den deutschen Arzt, »werfen das, was Sie in der Hand haben, weg, und kehren auf Ihren Platz zurück.« Durch das vom Fieber angeschlagene Gehirn Dr. Heidmanns dämmerte es: Dieser Mann war wirklich der entlassene Patient! Man hätte ihn doch der Polizei übergeben sollen, dachte er. Er hörte, wie Dr. Bruckner King bat: »Das ist nur ein Eisbeutel. Es ist keine Plastikbombe, wie Sie vielleicht annehmen. Mein Kollege Heidmann, den Sie ja auch kennen, hat eine akute Blinddarmentzündung. Er braucht das Eis. Es geht ihm nicht gut.« Er hielt wie zur Inspektion den Plastikbeutel in die Höhe. Mißtrauisch betrachtete King den durchsichtigen Beutel, streckte schließlich die Hand aus und fühlte daran. Dann nickte er. »Gehen Sie zu Ihrem Platz zurück.« Das Zittern seiner Stimme verriet, wie aufgeregt er war. Die Mehrzahl der Passagiere war inzwischen wach geworden. Diejenigen, die der Tumult nicht geweckt hatte, wurden jetzt von erregten Nachbarn wachgerüttelt. Alle starrten nach vorn. Mit angsterfüllten Gesichtern betrachteten sie die Maschinenpistole, deren Mündung drohend auf sie gerichtet war. Ganz hinten ertönte ein Schrei. Eine Frau war aufgesprungen. Sofort richtete sich die MP Kings auf sie. »Setzen Sie sich hin!« schrie er. Dann versuchte er, höflicher zu sein und sagte: »Hágame el favor de sentarse.« Bitte, setzen Sie sich! übersetzte Heidmann in Gedanken die Aufforderung des Luftpiraten. »Das ist eine Entführung!« Die Stimme Kings klang mit einem Mal merkwürdig ruhig. Es schien, als ob der Zwischenfall mit der nervösen Frau ihn selbst ruhiger gemacht hätte. »Ich versichere Ihnen, daß Ihnen kein Haar gekrümmt wird. Sie wer73
den lediglich ein paar Tage in Kuba zubringen. Von dort wird man den meisten von Ihnen die Heimreise ermöglichen. Wir werden gleich landen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich bei dem leisesten Versuch einer Unbotmäßigkeit von meiner Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch mache. Gehen Sie!« Die Mündung der MP richtete sich gegen Dr. Bruckner, der seinen Eisbeutel hoch in der Hand hielt, als trage er eine Trophäe, und der nun durch den Mittelgang auf Dr. Heidmann zuging. Die ganze Zeit über war der Lauf der Maschinenpistole auf den Rücken des Arztes gerichtet. Heidmann war der sicheren Auffassung, daß jeden Augenblick etwas geschehen müsse. Er kannte Dr. Bruckner, und er war überzeugt, daß sich dieser bereits einen Plan ausgedacht hatte, um die beiden Luftpiraten auf irgendeine Weise unschädlich zu machen. Das Flugzeug legte sich auf die Seite. Es änderte seine Richtung. Anscheinend hatten die Piloten von dem ›Chinesen‹ Anweisung erhalten, einen neuen Kurs einzuschlagen. Die Stille, die sich nun über das Flugzeug legte, glich der Stille eines Friedhofs. Die Geräusche, die Heidmann eben noch zu analysieren versucht hatte, waren erloschen. Niemand schnarchte mehr – niemand atmete tief. Fast alle Passagiere hatten ihre Sitze geradegestellt und starrten in die Mündung der Maschinenpistole, die sich ihnen entgegenstreckte. Dann und wann ertönte ein Schluchzen, ein Seufzen, um aber sofort zu ersterben und dieser unheimlichen Lautlosigkeit zu weichen. »Hier ist Ihr Eisbeutel!« Dr. Bruckner sprach so laut, daß die Passagiere ihn erschrocken anstarrten, als verletze er ein Tabu. »Danke!« Heidmann griff nach dem Plastikbeutel, den ihm Bruckner reichte, und legte ihn auf den Leib. Die Kühlung tat gut, aber unter diesen Umständen wäre nicht einmal eine Morphiumspritze nötig gewesen. Die Aufregung und Spannung, die von ihm Besitz genommen hatten, waren so groß, daß er alle körperlichen Schmerzen darüber vergaß. Das Flugzeug setzte seinen Kurs in der neuen Richtung fort. Es begann zu rütteln. »Schnallen Sie sich bitte an!« Der Luftpirat hatte die 74
Rolle der Stewardessen übernommen. »Wir werden gleich landen. Da wir nicht auf einem Flughafen, sondern auf freiem Feld niedergehen, kann es unangenehm werden, wenn man nicht angeschnallt ist.«
* Es dauerte eine Weile, bis Schwester Angelika gemerkt hatte: Sie träumte nicht, es war tatsächlich ihr Telefon, das läutete. Sie griff schlaftrunken nach dem Hörer und meldete sich. Kaum hatte sie gehört, was gesagt wurde, richtete sie sich ruckartig im Bett auf, mußte sich aber sofort wieder hinlegen, weil ihr infolge der plötzlichen Lageänderung schwindlig wurde. »Ich komme sofort!« Sie richtete sich jetzt langsam auf und schlüpfte dann in ihre Kleider. Sie ließ kaltes Wasser über ihr Gesicht laufen, um die letzten Spuren der Müdigkeit zu verjagen. Es wollte ihr nicht recht gelingen. Immer wieder führte sie den Waschlappen mit dem eiskalten Wasser an ihre Augen, um den Schlaf zu vertreiben. Vor dem Spiegel setzte sie sich ihre Haube auf und lief, so schnell sie konnte, aus dem Schwesternhaus, durch den Garten, zur chirurgischen Klinik. Sie nahm nicht den Fahrstuhl, damit das Geräusch nicht die Kranken weckte, sondern lief die Treppen hinauf. Als sie die Tür zu ihrer Station öffnete, kam ihr schon die Nachtschwester entgegen. »Sie müssen entschuldigen, Schwester Angelika, daß ich Sie mitten in der Nacht störe, aber es blieb mir keine andere Wahl. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Kommen Sie!« Sie trippelte mit kleinen Schritten den Flur hinunter und blieb vor der Tür am Ende des Ganges stehen. »Er will nicht auf mich hören. Ich hätte eigentlich gleich den Chef benachrichtigen sollen, aber das habe ich mich nicht getraut.« Sie klopfte an die Tür und stieß sie auf. Der Konsul saß angezogen auf einem Stuhl neben dem Bett. Dr. Jeres stand neben ihm. Er ging auf Schwester Angelika zu und reichte ihr die Hand. »Es tut mir sehr leid, daß wir Sie aus dem Schlaf geholt haben, aber der Herr Konsul hat sich entschlossen, die Klinik sofort zu verlassen.« 75
»Aber das geht doch nicht! Er trägt doch noch einen Drän. Wenn nun was passiert!« Schwester Angelika stand ratlos neben dem prominenten Patienten, der sich mühsam aus seinem Sessel erhoben hatte. Er preßte seine Hand gegen die Wunde. »Es muß gehen, liebe Schwester. Ich brauche Ihnen ja nicht zu erzählen, was geschehen ist. Sie haben den größten Teil unserer Unterhaltung mitgehört, als ich mit Ihrem Chef sprach.« Sein Blick ging zu der Nachtschwester, die auf der Schwelle stehengeblieben war und keine Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen. »Können Sie uns einen Augenblick allein lassen?« bat er sie. Die Nachtschwester ging achselzuckend zur Tür hinaus. Sie schloß die Tür ein wenig lauter, als es notwendig gewesen wäre, aber niemand im Raum bemerkte es. »Es ist etwas geschehen, das mich veranlaßt hat, sofort meine Botschaft aufzusuchen. Von dort kann ich Verbindung mit der Heimat aufnehmen. Wir haben soeben einen Anruf bekommen. Das Flugzeug …« Schwester Angelika faßte den Konsul impulsiv am Arm. »Ist dem Flugzeug etwas passiert? Da sind doch auch Dr. Bruckner und Dr. Heidmann an Bord.« Sie hatte die Farbe gewechselt. Es sah aus, als ob sie sich an dem Konsul festhalten mußte, damit sie nicht umfiele. »Dem Flugzeug selbst ist noch nichts passiert, – und wir hoffen –«, er wechselte einen Blick mit dem Botschaftsarzt, »es wird ihm auch nichts passieren.« »Hat man es entführt?« Die Stimme Schwester Angelikas klang belegt. Hilflos blickte sie von einem zum anderen. »Das wäre ja furchtbar. Unser armer Dr. Bruckner.« Der Konsul hatte sich gesetzt. »Entschuldigen Sie, wenn ich Platz nehme. Das Stehen bekommt mir doch noch nicht.« Er machte eine Pause vor Erschöpfung. »Wir hoffen, daß dieser Streich mißlingt. Schließlich befindet sich an Bord der Maschine die Familie unseres Präsidenten. Sie werden verstehen, daß wir außerordentliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben, aber Sie werden auch verstehen, daß meine Anwesenheit in der Botschaft jetzt wichtiger ist als hier. Vom Kranken76
haus aus kann ich nicht so ungestört und frei disponieren wie von meinem Schreibtisch aus, wo ich alles Notwendige zur Verfügung habe.« Schwester Angelika schien gar nicht recht zuzuhören, was der Konsul sagte. »Was wollen Sie denn nun machen?« Sie war zur Wand gegangen und lehnte sich dagegen. »Wollen Sie ein Flugzeug nehmen und hinterherfliegen?« Der Konsul mußte über die naive Vorstellung der Schwester lächeln. »Wenn das so einfach wäre, hätten wir es bereits getan. Es ist unmöglich, ein einzelnes Flugzeug irgendwo am Himmel zu suchen, wenn man nicht weiß, in welcher Richtung es fliegt und wo es sich etwa aufhält. Die Funkverbindung war abgerissen, als man mich anrief. Deswegen können wir nichts unternehmen, aber es sind einige Dinge zu klären, die meine Anwesenheit erforderlich machen. Das werden Sie verstehen. Würden Sie mich bitte beim Professor entschuldigen?« »Aber wie kommen Sie nach Hause?« Schwester Angelika schien immer noch nicht ganz begriffen zu haben, was eigentlich vorgefallen war. »Soll ich einen Krankenwagen bestellen – oder ein Taxi?« »Wir haben schon unseren Wagen bestellt. Er muß jeden Augenblick hier sein. Es ist besser, wir nehmen einen Wagen mit kugelsicherem Glas. Der Kreis derjenigen, die gegen unsere junge Republik konspirieren, ist groß. Es wäre durchaus möglich, daß man uns ein Taxi schickt, in dem einer der Revolutionäre den Chauffeur spielt. Nein –«, er erhob sich wieder und stützte sich auf den Arm des Botschaftsarztes, »da ist es schon besser, wir verlassen uns auf uns selbst.« Er schaute auf seine Uhr. »Der Wagen müßte eigentlich schon dasein. Wollen wir gehen?« »Aber ich muß doch den Chef vorher benachrichtigen!« Schwester Angelika ging aufgeregt zur Tür. »Oder wenigstens den Oberarzt. Wenn ich das nicht tue, bekomme ich den größten Ärger!« Dr. Jeres nahm den Arm der Schwester. »Der Herr Konsul geht auf jeden Fall. Da ist es völlig gleichgültig, ob die Herren es morgen erfahren oder ob sie es heute schon wissen. Ich würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, bis morgen früh warten. Das hat den Vorteil, daß Sie niemand aus dem Schlaf zu wecken brauchen. Im übrigen –«, er zeigte auf einen Briefumschlag, der auf dem Nachttisch lag, »haben wir vor77
gesorgt. Der Herr Konsul hat an den Professor einen Brief geschrieben, in dem er seine Beweggründe darlegt. Warum wollen Sie den alten Herrn aus dem Schlaf wecken? Morgen ist auch noch ein Tag. Und ich hoffe, daß wir alle morgen etwas mehr wissen.« Auf dem Flur ertönten Schritte, sie hielten vor der Tür. »Das wird der Chauffeur sein. Kommen Sie!« Schwester Angelika öffnete die Tür. Erstaunt erkannte sie Oberarzt Dr. Wagner. »Sie sind hier?« »Die Nachtschwester hat mich angerufen.« Er führte wieder einmal den Kampf mit seiner widerspenstigen Brille, die nicht auf der Nase bleiben wollte. »Sie gehen, Herr Konsul?« Der Konsul nickte. »Ich habe Schwester Angelika alles Notwendige erklärt. Im übrigen liegt dort –«, er zeigte auf den Nachttisch, »ein Brief an Ihren Chef. Sie können unbesorgt sein –«, fügte er hinzu, als er an Oberarzt Wagner vorbei auf den Flur hinausging, »daß ich alles tun werde, um meine Gesundheit zu erhalten. Vielleicht können Sie oder der Herr Professor morgen früh zu mir in die Botschaft kommen? Dort können Sie mich ja auch verbinden. Die Hauptgefahr ist doch wohl vorbei?« Oberarzt Wagner schüttelte unwillig den Kopf. »Die Gefahr ist erst dann vorbei, wenn wir wissen, daß der Körper den Schutzwall aufrechterhält. Es kann passieren, daß Sie durch Ihr zu frühes Aufstehen die Verwachsungen, die den Eiterherd gegen den Körper abschirmen, durchbrochen haben. Dann kann es eine Bauchfellentzündung geben.« »Nun gut –«, der Konsul machte eine wegwerfende Handbewegung, »dann gibt es eben eine Bauchfellentzündung. Die werde ich auch noch überstehen. Ich bin aber Staatsbeamter, und muß als solcher alles daransetzen, meine Pflicht zu erfüllen. Sie sind doch auch Beamter, nicht wahr?« Oberarzt Wagner nickte. »Und als Beamter habe ich die Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie sich in Lebensgefahr begeben, wenn Sie uns in diesem Zustand verlassen.« »Und ich muß Ihnen als Staatsbeamter erklären, daß mein Land in Gefahr gerät, wenn ich mich jetzt nicht sofort dahin begebe, wo 78
ich meines Amtes in Ruhe und Umsicht walten kann. Ich danke Ihnen!« Er schritt am Arm des Botschaftsarztes den Korridor entlang zum Fahrstuhl. Dieser brachte die beiden Herren nach unten zur Aufnahme. Der Chauffeur wartete bereits. »Buenas noches!« begrüßte er die beiden. Eine große schwarze Limousine stand unmittelbar vor dem Eingang. Der Chauffeur legte seine Hand an die Mütze und riß den Schlag auf. Der Doktor half dem Konsul beim Einsteigen. Schwer atmend ließ sich der Konsul in die Polster fallen. »Es tut doch verdammt weh! Am liebsten wäre ich ja in der Klinik geblieben, aber ich glaube, es ist besser, ich nehme den Platz an meinem Schreibtisch ein. Ich bin nur gespannt, ob unsere Gegenmaßnahmen Erfolg haben.« »Ich weiß nicht, was passieren sollte. Unser Agent an Bord des Flugzeuges hat sicherlich bereits die Situation in die Hand bekommen. Ich würde mich nicht wundern, eine gute Nachricht vorzufinden, wenn wir in der Botschaft ankommen. Es dürfte unserem geschulten Agenten doch nicht schwerfallen, eine solche – heute nicht einmal ungewöhnliche – Situation zu meistern!« Das Auto hielt. Sie waren vor dem Botschaftsgebäude angekommen. Der Chauffeur sprang aus dem Wagen. Der Konsul ging mit langsamen Schritten – leicht gebückt – auf die Villa zu. »Wir dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben«, meinte er, als er die Freitreppe hinaufstieg.
79
VII
A
n Bord des Flugzeugs herrschte eine seltsame Spannung. Es war nicht gerade eine Panik, es sah vielmehr aus, als ob die Flugpassagiere sich mit ihrem Schicksal abgefunden hätten. Die meisten von ihnen hatten sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Luftpiraterien gehören heute zur Tagesordnung!« flüsterte Dr. Bruckner Dr. Heidmann zu. »Im Jahre neunzehnhunderteinundsechzig hat man in den Vereinigten Staaten das erste Flugzeug entführt. Seitdem sind Luftumleitungen so aktuell wie Verkehrsunfälle auf der Straße.« Johann Heidmann antwortete nicht. Er schien Thomas Bruckner gar nicht zuzuhören. »Geht es Ihnen besser?« fragte Bruckner teilnehmend. »Die Schmerzen haben etwas nachgelassen!« Heidmann wandte den Kopf zur Seite. »Aber ich wage es nicht, mich zu bewegen. Wenn ich ganz ruhig liege, dann ist es auszuhalten. Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange; ich fürchte, es wird höchste Zeit, daß ich unter das Messer komme!« »Bitte, stellen Sie die Unterhaltung ein!« Die Maschinenpistole des Piraten richtete sich auf Dr. Bruckner. »Sie können sich nachher, wenn wir gelandet sind, so viel unterhalten, wie Sie wollen!« Dr. Bruckner hatte das Gefühl, daß die Stimme des Mannes versöhnlich klang. Er wußte, daß es keinen Zweck hatte, angesichts der drohend auf ihn gerichteten Pistole auch nur das geringste zu unternehmen. Selbst wenn der Mann der Patient war – und Bruckner war ziemlich sicher, daß er es sein mußte –, würde seine Dankbarkeit für die Behandlung nicht so weit gehen, daß er seine Aufgabe vernachlässigte. Diese Aufgabe bestand offensichtlich darin, das Flugzeug nach Kuba zu entführen. 80
Dr. Thomas Bruckner hätte unter anderen Umständen eine solche Entführung als kleine Abwechslung aufgefaßt. Normalerweise geschah den Passagieren ja bei diesen Luftpiraterien nichts. Sie hatten nur die Unannehmlichkeit in Kauf zu nehmen, daß sie das geplante Reiseziel nicht erreichten und daß sie sich auf einige Tage Abwesenheit von ihrer Heimat gefaßt machen mußten. Aber – Dr. Bruckners Blick streifte wieder seinen jungen Kollegen – in diesem Falle konnte die erzwungene Verzögerung todbringend sein. Sein erfahrener Blick erkannte, daß es höchste Zeit war, die Operation vorzunehmen, sollte das Leben Dr. Heidmanns nicht in allergrößte Gefahr geraten. Er hätte am liebsten die Operation im Flugzeug vorgenommen. Er hatte ein Notbesteck in seiner kleinen Tasche, aber daran, auch nur die geringste Menge irgendeines örtlichen Betäubungsmittels einzustecken, hatte er leider nicht gedacht. Heidmann stöhnte leise. Das Flugzeug hatte einen Satz in der Luft gemacht. Der bisher ruhige Flug änderte sich. Winde schüttelten die Maschine, sie wackelte hin und her wie ein Schiff, das plötzlich aus einer Windstille in ein wildbewegtes Meer gerät. Heidmanns Gesicht verzerrte sich. Jede Erschütterung schmerzte. Er hatte das Gefühl, daß jemand mit Nadeln in seinem Leib herumsteche. Der Pirat wurde unruhig. Immer wieder warf er nervöse Blicke hinter sich zum Cockpit. Als einer der Passagiere sich erheben wollte, brüllte er ihn an: »Sitzenbleiben!« Wild fuchtelte er mit seiner Maschinenpistole in der Gegend herum. »Stürzen wir ab?« fragte Heidmann. Seine Stimme klang nicht einmal besorgt. Bruckner hatte das Gefühl, daß er einen Absturz herbeisehnte, um seinen Schmerzen ein Ende zu bereiten. »Nein!« Thomas Bruckner bemühte sich, seine Lippen beim Sprechen nicht zu bewegen. Er flüsterte nur, damit der Luftpirat nicht noch weiter beunruhigt wurde. Es bestand sonst die Gefahr, daß er vielleicht die Nerven verlor und wirklich wild um sich schoß. »Ich habe das Gefühl, daß wir landen. Bisher ist die Düsenmaschine in einer großen Höhe geflogen, dort gibt es kaum Luftströmungen. Jetzt aber ist sie auf einige tausend Meter heruntergegangen. Sie befin81
det sich in einer etwas turbulenten Zone, in der stärkere Winde auftreten.« Seine Prognose wurde bestätigt. Die Tür zum Cockpit öffnete sich. Der Chinese erschien. »Wir landen!« Er kümmerte sich nicht weiter um die Piloten. Es war auch nicht nötig; denn sie konnten jetzt während der Landung nichts unternehmen. Er brauchte sie nicht zu bedrohen. Draußen war es heller Tag, aber keiner der Passagiere schaute aus dem Fenster, wie man es sonst tut, wenn eine Maschine landet. Die Lethargie, die eben noch geherrscht hatte, war geschwunden. Die Passagiere hatten sich angeschnallt, obgleich die Lichtzeichen nicht aufleuchteten, die sonst dazu aufforderten. Sie starrten auf die beiden Maschinenpistolen, die die Piraten auf sie gerichtet hatten. Dr. Bruckner versuchte, in den Augen Kings zu lesen, aber dieser vermied es, die deutschen Ärzte anzusehen. Der dumpfe Druck in den Ohren kündete an, daß die Maschine tiefer ging. Draußen schossen Bäume vorbei. Das Flugzeug mußte jeden Augenblick aufsetzen. Dr. Bruckner schaute wieder besorgt auf Dr. Heidmann, der mit zusammengebissenen Zähnen neben ihm saß und den Augenblick der Landung fürchtete. Die Räder setzten auf. Dr. Heidmann stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Die Landung war unsanft erfolgt. Die Maschine hoppelte über eine nicht asphaltierte Landebahn. Man hatte das Gefühl, daß die Räder über Schlaglöcher hinwegrollten. Man schien auf einem Acker gelandet zu sein. Thomas Bruckner bemerkte, daß jeder Stoß der Räder, der sich der Maschine mitteilte, dem Kollegen starke Schmerzen verursachte. Heidmann hatte Bruckners Hand ergriffen und hielt sie fest. Der Druck war manchmal so stark, daß er Dr. Bruckner Schmerzen bereitete, aber dieser ließ ihn gewähren. Er wußte, daß ein solcher Druck das Ertragen von Schmerzen oftmals erleichtert. Dr. Bruckner warf dann und wann einen Blick zum Fenster hinaus. Die Bewegung der Bäume, die eben noch wie rasend am Fenster vor82
beischossen, verlangsamte sich. Das Hoppeln beruhigte sich, die Maschine rollte aus und kam zum Stillstand. Sonst löst sich die Spannung, die sich beim Landemanöver eines Flugzeuges auf einen großen Teil der Passagiere legt, – sobald die Maschine aufgesetzt hat. Doch hier war das nicht der Fall. Die Spannung wuchs eher noch. Die Passagiere schauten sich an. Einige wollten aufstehen, aber die harte Stimme Kings ließ sie in ihre Sitze zurückgleiten. »Es bleibt alles sitzen. Und jeder bleibt angeschnallt!« kamen präzise seine Befehle. Dr. Bruckner erhob sich trotz der Drohung. »Dürfen wir erfahren, was jetzt mit uns geschieht?« Er deutete auf Dr. Heidmann, der apathisch im Sitz lag und beide Hände auf den Leib drückte. »Der Herr neben mir ist schwerkrank. Er braucht unbedingt ärztliche Betreuung. Sein Leben ist in höchster Gefahr. Bitte, erklären Sie mir, was los ist und was Sie vorhaben!« »Krank?« Die Stimme Kings wurde heiser. »Ist es eine Infektionskrankheit?« »Nein!« Dr. Bruckner schüttelte energisch den Kopf: »Es ist eine Blinddarmentzündung.« »Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen! Setzen Sie sich.« Die Pistole Kings richtete sich auf Dr. Bruckner. »Ich kann leider keine Extrawurst für Sie braten. Sie werden schon sehen, was mit Ihnen geschieht. Fragen haben keinen Zweck. Und machen Sie keinen Versuch, etwas zu unternehmen. Sie verschlechtern damit nur Ihre Lage.« Und als Dr. Bruckner keine Anstalten machte, sich zu setzen, fuchtelte King mit der Pistole in der Luft herum. »Bitte, reizen Sie mich nicht! Ich könnte mich sonst vergessen!« Dr. Bruckner warf einen verzweifelten Blick auf Dr. Heidmann. Dann beschloß er, der Aufforderung Folge zu leisten und sich zu setzen. Er fürchtete, daß der Mann sonst wirklich seine Nerven verlieren könnte. Einer der Piloten erschien am Eingang. »Was geschieht nun?« King schaute zum Fenster hinaus. Er drehte sich herum. Fragend 83
blickte er auf den Chinesen. »Wo sind wir gelandet?« Die Maschinenpistole richtete sich drohend auf den Piloten. »Das ist doch hier kein Flughafen. Wo sind wir?« Der Chinese ging einen Schritt zurück. Er brachte die Maschinenpistole in Stellung und richtete sie auf King. »Wir sind irgendwo im Urwald gelandet. Das Spiel ist aus, King. Ergeben Sie sich! Werfen Sie Ihre Pistole fort!« Während er sprach, hatte der Pilot den Arm Kings ergriffen und wollte ihm die Pistole aus der Hand schlagen, aber King reagierte blitzschnell. Er versetzte dem Piloten einen Kinnhaken, daß dieser zu Boden ging, schlug dem Chinesen die Maschinenpistole aus dem Arm und richtete nun den Lauf seiner Pistole auf die Brust des Chinesen. »Was bedeutet das?« Dann schien es ihm zu dämmern. »Sie sind also ein Agent der Regierung.« Ein seltsames Lächeln spielte um seinen Mund. »Jetzt begreife ich alles. Sie wollten versuchen, mich hier unschädlich zu machen, um dann weiterzufliegen, aber das wird Ihnen nicht gelingen. Ich will keine Menschen töten, das liegt nicht in der Absicht der Revolution. Es soll alles ohne Blutvergießen geschehen.« Er warf einen flüchtigen Blick nach draußen. Das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich. »Wo befinden wir uns?« Der Pilot, den er zu Boden geboxt hatte, war wieder zu sich gekommen. Er erhob sich langsam, hielt sich aber noch an der Wand fest, um nicht umzukippen. »Wo sind Sie mit uns gelandet?« »Ich weiß es nicht …« Der Pilot versuchte, eine ausweichende Antwort zu geben. »Sie wissen es nicht?« Die Pistole richtete sich nun auf den Piloten, der angsterfüllt in die Mündung der Waffe schaute. »Sagen Sie sofort, wo wir uns befinden.« Er hatte die Maschinenpistole, die er dem Chinesen aus der Hand geschlagen hatte, mit dem Fuß in eine Ecke gestoßen und den Fuß darauf gestellt. »Wo sind wir genau?« »Irgendwo in Peru. Da drüben –«, er hob den Arm und zeigte in eine Richtung, »liegen die Anden.« »Dann haben Sie also von vornherein den Kurs geändert!« King dachte nach. »Wo wir gelandet sind, müssen wir auch wieder aufstei84
gen können. Werden Sie es fertigbringen, die Maschine wieder hochzubekommen?« Der Pilot warf einen fragenden Blick auf den Chinesen. King bemerkte es. »Lassen Sie sich nicht beeinflussen! Ich verspreche Ihnen, daß ich in diesem Fall meinem Prinzip untreu werde und einige Geiseln erschieße, wenn Sie nicht wieder aufsteigen. Sie müssen aufsteigen!« Er wandte sich dem Chinesen zu. »Und Sie –«, ein bösartiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, »werden jetzt aussteigen. Ich werde Sie hier zurücklassen. Ich glaube, das ist die gerechte Strafe für Ihr Verbrechen. Der Urwald hier ist besonders gefährlich.« Er deutete mit dem Lauf der Pistole auf die Kabinentür. »öffnen Sie die Tür, und steigen Sie aus!« Dr. Bruckner sprang auf. »Das dürfen Sie nicht tun! Sie können einen Menschen in der Hölle des Urwalds nicht allein lassen. Er kommt um!« »So, er kommt um?« Die Stimme Kings klang seltsam gepreßt. »Ich kann ihn also nicht allein im Urwald lassen. Nun –«, seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen, »wie wäre es, wenn Sie ihm Gesellschaft leisteten? Ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, daß ich Ihnen nicht trauen kann. Ich hatte Sie ja gewarnt, mit dieser Maschine zu fliegen. Sie haben es trotzdem getan. Ich hätte ihre Komplottbereitschaft spätestens in dem Augenblick merken müssen, als Sie den Konsul in Ihrem Krankenhaus aufnahmen. Los!« Seine Pistole richtete sich auf Dr. Bruckner. »Sie steigen also mit aus. Sie können dem Chinesen Gesellschaft leisten, dann ist er nicht so allein. Und zu zweit ertragen sich die Strapazen leichter.« Dr. Bruckner merkte, daß es keinen Zweck hatte, mit dem Mann vernünftig zu reden. In seinen Augen flackerte das Feuer des Irrsinns. Dr. Bruckner hatte schon während der Behandlung im Krankenhaus manchmal den Verdacht gehabt, daß dieser Mann nicht ganz richtig im Kopf war, aber er hatte es damals auf den Schock durch die Schußwunde zurückgeführt. Jetzt wurde ihm klar, daß seine damalige Vermutung nicht ganz zu Unrecht bestanden hatte. 85
»Los!« Die Stimme Kings überschlug sich. Er fuchtelte mit seiner Pistole in der Gegend herum, daß die Passagiere erschrocken aufschrien, als fürchteten sie, er könnte jeden Augenblick abdrücken und eine Salve auf sie abfeuern. »Aussteigen!« Es sah aus, als ob der Chinese sich wieder auf ihn stürzen wollte, aber King kam ihm zuvor. Er landete einen wohlgezielten Fußtritt in den Leib des Chinesen, daß sich dieser vor Schmerz zusammenkrümmte. »Die Tür auf! Wird es bald?« herrschte er jetzt die Stewardeß an, die neben dem Ausgang saß. Die Stewardeß schaute auf den Piloten. Der nickte. Da drückte die Stewardeß den großen Verschlußhebel der Kabinentür herunter und stieß sie nach außen auf. »Los, aussteigen!« kommandierte King von neuem. »Hier ist eine Strickleiter!« Der Pilot schien seine Ruhe wiedergefunden zu haben. Er zeigte auf einen Wandschrank. »Es ist zu hoch, um sich von der Kabine auf die Erde hinabzulassen. Benutzen Sie die Strickleiter!« Der Chinese schaute noch einmal zu King hin, aber dieser beachtete seine Blicke nicht. Schweigend stand er da und starrte vor sich hin. »Bitte!« Es war das erste, was der Chinese sagte. »Lassen Sie mich allein aussteigen. Ich glaube, es ist besser, wenn sich der Doktor um seinen kranken Freund kümmert. Sie haben gehört, daß er ärztliche Behandlung braucht!« King schüttelte den Kopf. »Er ist ja selber Arzt. Er kann ja seinen kranken Kollegen mitnehmen. Das ist überhaupt die Lösung! Sie steigen alle drei hier aus! Am Ende leidet der junge Mann an einer ansteckenden Krankheit, und die bekomme ich dann auch. Nein –«, er deutete gebieterisch auf Dr. Heidmann, »Sie steigen mit aus!« »Können Sie es verantworten, ein Menschenleben so in Gefahr zu bringen?« Dr. Bruckner hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen. »Das ist Mord, was Sie vorhaben! Wir, als Gesunde, können uns vielleicht noch retten, aber Dr. Heidmann ist so schwer krank, daß er praktisch nicht laufen kann. Er muß unbedingt operiert werden. Ich habe es Ih86
nen doch schon einmal gesagt.« Seine Stimme klang bittend. »Nehmen Sie uns mit, und setzen Sie uns in der Nähe einer Stadt aus, so daß Hilfe herbeigeholt werden kann. Denken Sie daran, daß wir Sie im Krankenhaus auch gesund gepflegt haben. Niemand hat gefragt, woher Sie Ihre Schußwunde haben. Wir haben nicht die Polizei benachrichtigt, obgleich wir dazu berechtigt gewesen wären. Nun wollen Sie uns nicht den kleinen Gefallen tun, dem Mann, der Ihnen ja letzten Endes während Ihres Krankenhausaufenthaltes auch geholfen hat, zu helfen?« Man merkte es King an, wie er mit sich kämpfte. »Nein!« entschied er schließlich. »Das kommt nicht in Frage. Steigen Sie mit aus! Das ist die einzige Chance, die ich Ihnen geben kann.« »Und was wird mit uns?« erklang die gequälte Stimme einer Dame. »Können wir nicht auch aussteigen?« »Um Gottes willen nicht!« rief der Pilot entsetzt. »Wir sind hier in einem Gebiet, in dem niemand überlebt. Der Dschungel ist voller gefährlicher Tiere. Hier hat niemand eine Chance, durchzukommen. Dieser Dschungel ist …« Er unterbrach sich mitten im Satz. Sein Blick ging zu Dr. Bruckner hin. »Entschuldigen Sie –«, er wollte auf den Arzt zugehen, aber da brüllte ihn King an: »Halt! Bewegen Sie sich nicht! Bleiben Sie stehen!« Er schaute zu, wie der Chinese die Strickleiter am Ausgang befestigte. »Jetzt haben Sie erfahren, was Ihnen bevorsteht. Los!« Er zeigte auf die Kabine. »Machen Sie, daß Sie da hineinkommen!« herrschte er den Piloten an. »Und halten Sie die Maschine startklar. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren.« »Wollen Sie uns wirklich hier aussetzen?« Dr. Bruckner versuchte noch einmal an das Gewissen des anderen zu appellieren. »Sie machen sich schuldig …« »Nein!« King stampfte wie ein kleiner Junge mit dem Fuß auf. »Ich will Sie nicht mehr sehen. Nun machen Sie schon!« Er gebärdete sich wie ein Mann, der jeden Augenblick die Nerven verliert. »Wenn Sie nicht rasch machen, schieße ich!« Die anderen Passagiere nahmen jetzt eine drohende Stellung gegen 87
Dr. Bruckner ein. Die Androhung, daß King schießen wollte, ließ die Sympathie ersterben. Dr. Bruckner hatte das Gefühl, daß sie mithelfen würden, ihn hinauszuwerfen, wenn der Luftpirat es von ihnen verlangte, so sehr waren alle auf ihre eigene Sicherheit bedacht. »Werden Sie laufen können?« Dr. Bruckner wandte sich an Dr. Heidmann. Er sprach so laut, daß die anderen es hören mußten. Er hoffte, auf diese Weise vielleicht doch noch Sympathien zu wecken. »Ich werde es versuchen!« Johann Heidmann stützte sich auf die Lehnen des Sessels, in dem er saß. Langsam richtete er sich auf. In gebückter Haltung blieb er stehen. Bruckner stützte ihn. Langsam gingen sie durch den Mittelgang zum Ausgang, durch den der Chinese bereits verschwunden war. »Ich werde vorangehen. Versuchen Sie, mir zu folgen!« Dr. Bruckner erklomm die ersten Stufen der Strickleiter. Auf halbem Wege blieb er stehen und schaute zurück. Heidmann hatte seinen Fuß auf die erste Sprosse gesetzt. Unschlüssig schaute er nach unten. Die Tiefe machte ihn schwindlig. Er hatte das Gefühl, daß der Erdboden unendlich weit entfernt war. »Kommen Sie nur! Ich passe auf. Es wird Ihnen nichts geschehen«, erklang Dr. Bruckners Stimme beruhigend herauf. Er selbst fühlte sich nicht sehr wohl. Die Strickleiter schwankte, und er hatte das Gefühl, sie würde jeden Augenblick mit ihm hinunterfallen. Plötzlich fühlte er, wie die Strickleiter sich straffte. Als er vorsichtig nach unten blickte, sah er, daß der Chinese unten angelangt war und mit beiden Händen die Enden festhielt. »Klettern Sie ruhig weiter …«, erklang die Stimme aus der grünschimmernden Tiefe. Dr. Heidmann faßte Mut. Während er Sprosse um Sprosse langsam nach unten klomm, stieg auch Dr. Bruckner im gleichen Tempo nach unten. Es schien unendlich lange zu dauern, bis beide endlich den Erdboden erreicht hatten. Dr. Bruckner fing den völlig erschöpften Kollegen auf und legte ihn auf den Boden. Als er nach oben blickte, war die Strickleiter bereits eingezogen. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die Tür des Flugzeugs. Fast im sel88
ben Augenblick begannen die Düsenaggregate zu arbeiten. Der Lärm war so gewaltig, daß sich Dr. Bruckner die Ohren zuhielt. Langsam begann das Flugzeug zu rollen; es hoppelte über die Lichtung, beschrieb einen Halbkreis, blieb einen Augenblick stehen, als müsse es vor dem Abflug Kräfte sammeln … Dann bewegte es sich. Langsam zunächst, dann immer schneller werdend – fuhr es an den drei Menschen vorbei, die der Maschine nachstarrten. Das Flugzeug raste über den unebenen Boden. Manchmal sah es aus, als würde es von einen Schlagloch in die Luft geschleudert und zerbrechen, aber dann erhob es sich doch. Kurz bevor es das Ende der Schneise erreicht hatte, stieg es in einem steilen Flug himmelwärts. Dr. Bruckner sah hinter der Maschine her, wie sie über dem Dschungel dahinflog, einen Kreis beschrieb, als grüße sie noch einmal die Zurückgebliebenen, und dann in der Ferne entschwand. Dr. Heidmann lag am Boden. Seine Stirn war schweißbedeckt. Sein Atem ging röchelnd. Dr. Bruckner faßte nach dem Puls. Er raste, und war dabei doch so schwach, daß man ihn kaum fühlen konnte. Unaufgefordert steckte Heidmann seine Zunge heraus. Sie war trocken, als sei jeder Speichelfluß im Munde versiegt. »Ich glaube, das ist das Ende!« erklang Heidmanns matte Stimme. »Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben!« Thomas Bruckner hatte sich über ihn gebeugt. »Ich habe meine kleine Tasche dabei.« Er zeigte auf das schwarze Köfferchen, das er neben sich gestellt hatte. »Ich werde Ihnen eine Injektion geben, dann lassen die Schmerzen vielleicht etwas nach.« »Können Sie mich nicht operieren?« Dr. Bruckners Blick ging zu seiner Tasche hin. »Theoretisch könnte ich Sie operieren, aber ich habe keine Möglichkeit, Ihnen eine Narkose zu geben. Ich kann doch Ihren Leib nicht ohne Betäubung aufschneiden.« »Warum versuchen Sie es nicht? So muß ich sterben, aber wenn Sie den Versuch einer Operation unternehmen, dann habe ich doch vielleicht eine Chance, am Leben zu bleiben.« Dr. Bruckner schaute sich um. Die Landschaft sah nicht so aus, als 89
ob sie auch nur einen von ihnen am Leben lassen würde. Er glaubte förmlich die Schlangen zu sehen, die im Dickicht des Dschungels auf sie zukrochen. Insekten schwirrten um sie herum. Alles, was er in der Schule gelernt hatte, fiel ihm ein: Hier gab es Taranteln, deren Stich tödlich ist. In diesem Gebiet der Welt leben Spinnenarten, denen man nicht ohne Lebensgefahr begegnet … »Ich werde Ihnen zunächst eine Spritze geben. Das wird Sie etwas beruhigen. Und dann –«, er schaute von neuem in den Dschungel; die verschiedenen Laute, die feindselig aus dem Dickicht zu hören waren, wurden ihm schmerzhaft bewußt, »dann werden wir weitersehen.« »Sie werden mich operieren?« Johann Heidmann hatte Dr. Bruckners Hand ergriffen und hielt sie fest. »Versprechen Sie es mir?« Dr. Bruckner wußte nicht, was er sagen sollte. Er war sich sicher, daß er ohne Betäubung diesen Eingriff niemals zu Ende führen könnte. Selbst wenn er Heidmanns Leib aufschneiden konnte; es wäre unmöglich, die Operation am Darm durchzuführen, denn der Zug am Bauchfell, den er dabei ausüben mußte, wäre zu schmerzhaft. »Ja, ich werde Sie operieren!« log er, nur um den Freund zu beruhigen. »Ich danke Ihnen!« Die Stimme Heidmanns klang so matt, daß Thomas Bruckner sie kaum verstehen konnte. »Ich wußte ja, daß Sie mir helfen würden. Vielen, vielen Dank!« Dr. Bruckner nahm aus seiner kleinen Arzttasche ein Kästchen heraus, in dem er eine sterile Spritze aufbewahrte. Dann holte er eine Ampulle Dolantin hervor, sägte ihr den Hals ab und zog den Inhalt in die Spritze auf. Johann Heidmann verfolgte jede seiner Bewegungen. Als er hochschaute, sah er einige große Vögel über der Lichtung kreisen. »Geier!« Es war das erste Wort, daß der Chinese seit der Landung sprach. »Die warten darauf; daß wir zugrunde gehen. Geier sind kluge Vögel. Sie können den Tod auf Meilen wittern.« Dr. Bruckner streifte Heidmanns Ärmel in die Höhe. »Soll ich stauen?« Der Chinese bückte sich und drehte Dr. Heidmanns Ärmel so zusammen, daß er den Oberarm abschnürte und die Vene dick und blau in der Ellenbeuge hervortrat. 90
Auf das erstaunte Gesicht Dr. Bruckners hin erklärte er: »Ich habe mich etwas mit Medizin befaßt. Ich war nicht immer Agent in Staatsdiensten.« Dr. Bruckner fragte nicht weiter. Er desinfizierte die Haut der Ellenbeuge nicht mit Alkohol, wie er es in der Klinik getan hätte. Mit einem geübten Schwung stach er die Nadel in die Vene ein, zog am Spritzenstempel, bis rotes Blut den wasserklaren Inhalt verfärbte und drückte dann langsam das Dolantin in die Vene hinein. »Das tut gut!« Dankbar lächelte Heidmann den älteren Kollegen an. »Jetzt können Sie mich operieren. Ich habe so gut wie keine Schmerzen mehr!« »Es geht leider noch nicht!« wich Dr. Bruckner aus. »Das Dolantin lindert zwar die Schmerzen, aber leider kann es nicht die Schmerzen der Operation nehmen. Dazu brauchen wir stärkere Mittel, und die habe ich nicht bei mir.«
VIII
D
er Konsul hatte sich eine Couch in sein Arbeitszimmer stellen lassen. Das Telefon stand neben ihm auf einem kleinen Tisch. »Immer noch keine Nachricht von dem Flugzeug!« Er legte den Hörer auf und wandte sich Dr. Jeres zu, der im Zimmer auf und ab ging. »Wir hatten geglaubt, alle Möglichkeiten einkalkuliert zu haben, und nun ist doch dieses Unvorhergesehene geschehen. Ich hätte unseren Agenten für klüger gehalten.« Er trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. »Die Folgen sind nicht auszudenken …« »Dazu kommt noch der seltsame Umstand, daß ausgerechnet die beiden Ärzte der Bergmann-Klinik an Bord des Flugzeuges sind. Manchmal kommt aber auch wirklich alles zusammen.« Dr. Jeres schien mehr 91
an den Kollegen interessiert zu sein als an der Familie des Staatsoberhauptes. Das Telefon läutete. Dr. Jeres verharrte in der Stellung, in der er sich befand, als ob ihn ein Zauber getroffen hätte. Der Konsul riß den Hörer von der Gabel. »Ja?« Dr. Jeres trat an den Schreibtisch heran und blieb neben der Couch stehen, auf der der Konsul lag. Vergeblich versuchte er, etwas von dem Gespräch mitzubekommen, aber umsonst – die Stimme im Apparat war zu leise. Er versuchte, im Gesicht des Konsuls zu lesen, was geschehen sein mochte, aber auch das gelang ihm nicht. Der geschulte Diplomat war es gewöhnt, sich mit keiner Miene zu verraten. Endlich legte er den Hörer auf. Er zeigte auf den Schrank. »Bringen Sie mir bitte einen Kognak. Ich habe ihn dringend nötig.« Dr. Jeres nickte. Er ging mit betont langsamen Schritten zu dem Schrank hin, in dem sich die Alkoholika befanden, und öffnete ihn. »Ein großes Glas?« fragte er. »Ja – ein großes Glas! Und nehmen Sie sich auch eines. Sie werden es gleichfalls gebrauchen können!« Er wartete, bis der Botschaftsarzt die großen Kognakschwenker fast bis zur Hälfte gefüllt hatte und ihm einen reichte. Dann trank er einen großen Schluck daraus, schüttelte sich und stellte das Glas auf den Schreibtisch zurück. »Wir haben das größte Glück, das man sich denken kann!« Er wischte den Mund ab, nahm das Kognakglas erneut in die Höhe und trank noch einen Schluck. »Das Flugzeug ist gelandet.« »Auf dem Flughafen der Hauptstadt?« Dr. Jeres stellte das Glas, aus dem er gerade einen Schluck nehmen wollte, zurück. Er blickte den Konsul so erstaunt an, daß dieser laut lachte. »Nein – das wäre zuviel des Glückes. Das Flugzeug ist in Rio gelandet.« »Darauf muß ich noch einen trinken!« Der Arzt trank sein Glas leer und füllte es wieder. »Möchten Sie auch noch einen Schluck?« Der Konsul schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« »Aber nun erzählen Sie. Es ist ja aufregender als ein Kriminalroman. Dann hat unser Agent also doch gespurt?« 92
Der Konsul schüttelte den Kopf. »Der Agent nicht! Daß das Flugzeug heil und gut gelandet ist, und zwar genau an dem Ort, an den es hinfliegen sollte, hat es einem der Co-Piloten zu verdanken. Dem ist es gelungen, den Piraten in einem unbeobachteten Moment zu überwältigen und unschädlich zu machen. Dem Mann gehört ein Orden!« »Ich könnte mir denken, daß ihm zehntausend Dollar lieber wären. Aber Orden sind ja für den Staat immer eine preiswerte Art, seine Verpflichtungen loszuwerden!« bemerkte Dr. Jeres bitter. Seine Hand fuhr unwillkürlich an ein Ordensbändchen, das er im Knopfloch trug. »Jedenfalls sind fast alle wohlauf. Die Hauptsache ist, was mich betrifft, daß die Familie des Präsidenten außer Gefahr ist.« »Sie sagten, daß fast alle Passagiere wohlauf seien. Wem ist denn etwas zugestoßen?« »Es ist wie eine Ironie des Schicksals, daß unser Agent und die beiden Ärzte nicht mit gelandet sind.« »Wo sind sie geblieben?« Der Arzt schaute den Konsul verblüfft an. »Man hat sie doch sicherlich nicht mit dem Fallschirm abspringen lassen.« Der Konsul griff nach seinem Glas. »Sie können mir doch noch einen kleinen Schluck geben. Ich muß mich von dieser Aufregung erholen. Außerdem soll Alkohol ein gutes Mittel gegen meine Infektion im Leibe sein.« »Die Mengen Alkohol, die selbst bei Volltrunkenheit im Blut kreisen, reichen nicht aus, um irgendwelche Infektionserreger abzutöten. Das ist leider ein Irrtum.« »Trotzdem tut er gut! Ich fühle mich schon wesentlich besser.« »Das ist sicherlich eine mittelbare Wirkung des Alkohols. Alkohol euphorisiert. Deswegen fühlt man sich wohler – man fühlt sich auch dann wohler, wenn es einem in Wirklichkeit schlechter geht.« »Nun, sei es, wie es wolle: Als der Pirat merkte, daß der Chinese zu uns gehörte, wurden die drei – er und die beiden Ärzte – an Land gesetzt. Das jedenfalls war die Version, die ich eben telefonisch durchgesagt bekam.« Der Arzt ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, dann blieb er 93
kopfschüttelnd vor dem Konsul stehen. »Wo hat man sie denn abgesetzt?« »Irgendwo im Dschungel von Peru.« »Aber das ist ja furchtbar!« Dr. Jeres schien erst jetzt die ganze Schwere und Tragweite dieser Landung klarzuwerden. »Das bedeutet doch, daß alle drei verloren sind. Im Dschungel kommt man nicht weiter, wenn man sich nicht auskennt. Ich kann ein Lied davon singen. Ich habe einmal vor Jahren an einer Expedition teilgenommen. Wir hatten den Weg verloren. Es ist nur einem ungeheuer großen Glückszufall zuzuschreiben, daß wir gerettet wurden. Die Opfer, die der Dschungel einmal gepackt hat, gibt er nicht wieder heraus.« »Man wird wahrscheinlich eine Suchaktion starten. Ich bin überzeugt, daß einige Hubschrauber das Gebiet durchkämmen werden.« »Aber das wird sich doch einige Zeit hinziehen.« Der Arzt griff nach der Kognakflasche, als müsse er sich über das, was er eben gehört hatte, mit Alkohol hinwegtrösten. »Können wir nicht veranlassen, daß die Hubschrauber sofort losfliegen? Es besteht dann vielleicht eine Chance, daß man sie findet – obgleich diese Chance sehr gering ist. Es bedeutet nur, daß man versucht, um sich gewissermaßen ein reines Gewissen zu verschaffen, alles Menschenmögliche zu tun.« »So leicht ist das leider nicht. Sie wissen, daß erst einmal zwischen den einzelnen Regierungen Verhandlungen geführt werden müssen, damit einer in das Hoheitsgebiet des anderen einfliegen kann.« »Aber hier geht es doch um Menschenleben!« »In der Politik spielen Menschenleben kaum eine Rolle. Sie sind doch nun lange genug bei uns an der Botschaft, um das zu wissen. Nur Kinder und unrettbare Idealisten glauben daran, daß die Politik, die die Staatsmänner machen, dem Wohl des einzelnen diene. Sie dient nur ihrem eigenen Wohl. Jeder versucht zu seinen Regierungszeiten, sich soviel wie möglich von dem großen Kuchen abzuschneiden.« »Da kann man also gar nichts machen?« Die Stimme des Botschaftsarztes klang verzweifelt. »Doch!« 94
Der Botschaftsarzt war neben der Couch stehengeblieben, auf der der Konsul lag. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter.« »Das einzige, was wir tun können, ist abwarten!« »Das ist nicht viel. Und damit kann man keine Menschenleben retten!« Enttäuscht ließ sich Dr. Jeres in einen Sessel fallen. »Durch Warten ist schon manches Unheil angerichtet worden.« »Mir sind die Hände gebunden. Im übrigen bin ich aber doch heilfroh, daß sich die Lage für unser Land gebessert hat und daß keine Komplikationen aufgetreten sind. Es wäre unvorstellbar gewesen, wenn vielleicht durch diese Angelegenheit ein neuer Krieg ausgebrochen wäre.« »Aber Dr. Bruckner, und unser Agent – und Dr. Heidmann …?« Der Botschaftsarzt nannte die Namen, wie sie ihm einfielen. »Die müssen nun selbst zusehen, wie sie fertig werden.«
* »Am besten ist es, Sie lassen mich hier liegen und versuchen, sich zu retten!« Dr. Heidmann lag auf einem Lager aus Laub, das ihm Dr. Bruckner zurechtgeschüttet hatte. »Unser Chinese hat schon das Weite gesucht. Warum sollen Sie bei mir bleiben und ebenfalls umkommen? Es hat keinen Zweck. Lassen Sie mir ein paar Ampullen Dolantin und die Spritze hier. Wenn meine Schmerzen zu stark werden, kann ich mir ja selbst eine Injektion geben. Es ist doch Unsinn, daß zwei Menschen umkommen, wenn einer von ihnen eine Chance hat, sich retten zu können.« Thomas Bruckner schüttelte den Kopf. »Einmal ist es ja noch nicht gesagt, daß wir nicht gefunden werden. Warum sollten nicht Hubschrauber kommen und uns suchen?« Dr. Heidmann lachte bitter trotz seiner Schmerzen. »Ich habe fast das Gefühl, Sie glauben noch an Wunder. Ich wüßte nicht, wie uns ausgerechnet in diesem Gebiet ein Hubschrauber finden sollte. Es müßte ja ein Zufall sein, wenn man diese Schneise entdeckte.« 95
»So klein ist sie nicht. Sie ist immerhin groß genug gewesen, daß ein Düsenflugzeug landen konnte. Und das braucht ja, wie Sie wissen, kilometerlange Landebahnen. Die Schneise erstreckt sich hier am ganzen Fluß entlang. Ich könnte mir vorstellen, daß man uns zunächst am Fluß suchen wird.« Dr. Bruckners Stimme klang nicht sehr überzeugt oder gar überzeugend. Dr. Heidmann hob die Hand. »Sie brauchen mir keine Märchen zu erzählen. Ich bin mir des Ernstes der Lage durchaus bewußt.« »Vielleicht kann ich aber, wenn sich am Ende aus Ihrem Appendix ein Abszeß entwickelt, doch noch mit meinem Messer die Bauchdecke aufmachen und wenigstens den Eiter ablassen, so wie wir es bei diesem Konsul getan haben. Das könnte Ihnen das Leben retten.« Dr. Heidmann lachte weiter. »Das Leben retten – wozu? Damit uns die wilden Tiere auffressen oder die Mücken und Fliegen uns mit Krankheiten überschütten? Ich glaube, Sie reden sich da etwas ein, an das Sie selbst nicht glauben. Nein –«, er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber er sank sofort mit einem Schmerzensschrei zurück; »gehen Sie bitte! Vielleicht finden Sie irgend jemand, der Ihnen helfen kann. Machen Sie es wie unser Chinese. Gehen Sie davon und versuchen Sie, von irgendwoher Hilfe zu bekommen.« Dr. Thomas Bruckner schüttelte ernst den Kopf. »Ich tue es nicht. Vielleicht weil ich zu feige dazu bin.« »Wieso sind Sie feige, wenn Sie gehen?« »Weil ich allein Angst habe. Wenn wir zu zweit wären, gäbe es ein anderes Bild. Aber allein durch den Dschungel zu gehen ist Selbstmord!« »Ich möchte nur wissen, wo der Chinese hingegangen ist?« Heidmann schaute sich um, als könnte er den Entschwundenen irgendwo entdecken. »Er hätte uns doch wenigstens etwas davon sagen können, daß er gehen will. Ich finde es nicht schön, einfach so davonzulaufen!« Dr. Bruckner zuckte mit den Schultern. »Es ist sicherlich keine feine Art, sich so von jemandem zu verabschieden. Aber schließlich glaubt er wahrscheinlich auch, daß er sich selbst der nächste sei. Er hätte uns zudem hier ja auch nicht helfen können.« 96
»Wie spät ist es?« Heidmann schaute auf seine Armbanduhr. »Meine Uhr ist stehengeblieben.« »Es ist zwölf Uhr!« »Zwölf Uhr?« Dr. Heidmann sah Dr. Bruckner verwundert an. »Es kommt mir viel früher vor.« »Hier besteht ja auch eine Differenz von etwa vier bis fünf Stunden. Meine Uhr zeigt noch die deutsche Zeit. Bei uns setzt man sich jetzt zum Mittagstisch. Hier dagegen ist es erst etwa acht Uhr. Genau sagen kann ich es Ihnen auch nicht!« Es blieb einen Augenblick ganz still. Die beiden schwiegen. Aus dem Urwald, der rechts und links neben dem Fluß lag, erklangen Stimmen von Vögeln, die ihnen unbekannt waren. Moskitos schwirrten durch die Luft. Die Sonne schien sehr heiß von einem wolkenlosen Himmel herab. Sie brachte eine seltsame Schwüle mit sich, die sich lähmend auf den Körper und auf den Geist der beiden legte. Selbst das Denken wurde in diesem Augenblick zur Qual. »Und oben warten die Geier auf uns!« Johann Heidmann zeigte in die Luft. Die großen Vögel zogen dort ihre Kreise, als wüßten sie, daß die Menschen da unten nicht mehr lange zu leben hatten und daß ihnen keine Hilfe zuteil werden würde … Plötzlich horchte Dr. Bruckner. Dann packte er Dr. Heidmann am Arm und rüttelte ihn wach. Heidmann war eingeschlafen. Das Dolantin hatte seine Sinne gelähmt. Er schlug langsam die Augen auf. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Doch als er die Augen umherschweifen ließ und sah, wo er sich befand, verschwand das Lächeln. »Ich habe eben geglaubt, ich sei in Köln!« »Hören Sie!« Dr. Bruckners Stimme klang aufgeregt. Er war aufgesprungen und lauschte nach oben. »Da scheint ein Hubschrauber zu kommen. Es sieht aus, als ob man uns sucht!« Dr. Heidmann schüttelte resignierend den Kopf. »Wer soll uns suchen? Etwa der Luftpirat?« Dr. Bruckner legte den Finger auf die Lippen. »Unsinn!« Seine Stimme klang ungehalten. »Wir müssen uns bemerkbar machen.« 97
Er stellte sich dicht neben den Fluß und versuchte, das Geräusch zu orten. »Da fliegt er!« Er deutete auf den Himmel, an dem tatsächlich ein großer Hubschrauber langsam dahinflog. Heidmann richtete sich ebenfalls auf. Die Aufregung, daß man sie vielleicht entdecken könnte, ließ ihn seine Schmerzen vergessen. Dr. Bruckner riß seine Jacke vom Leib, zog sein Hemd aus und winkte damit in der Luft. »Hallo!« rief er immer wieder. »Hallo-Hallo!« Aber sein Rufen war vergeblich. Der Pilot des Hubschraubers hörte ihn nicht. Er setzte seine Richtung fort, ohne auch nur ein einziges Mal abzudrehen oder anzudeuten, daß er irgend etwas auf der Erde entdeckt habe. »Sie sehen –«, Dr. Bruckner jagte die Fliegen und Moskitos fort, die sich auf seinem nackten Oberkörper angesammelt hatten, und zog sich das Hemd wieder über. »Es hat keinen Sinn.« Er ließ sich neben Heidmann am Boden nieder. »Was macht der Leib?« »Im Augenblick gar nichts.« »Darf ich einmal nachsehen?« »Bitte sehr!« Dr. Bruckner faßte vorsichtig auf den Leib, aber schon die geringste Berührung tat so weh, daß Heidmann vor Schmerzen aufschrie. »Es tut mir leid!« glaubte er sich entschuldigen zu müssen, »aber ich konnte den Schmerz wirklich nicht aushalten.« Er hätte nicht einmal Dr. Bruckners besorgtes Gesicht ansehen müssen, um zu wissen, wie schlecht es um ihn stand. »Diffuse Peritonitis?« fragte er selbst. Thomas Bruckner antwortete nicht. Sein Blick war nach oben gerichtet. Die Geier, die verschwunden waren, als der Hubschrauber über sie hinweggeflogen war, hatten sich wieder versammelt und umkreisten die Stätte, an der die beiden Ärzte saßen.
* 98
»Was ist denn mit Ihnen los?« Schwester Angelika schaute ärgerlich den Oberarzt an und hob eine Flasche auf, die bei dem ungestümen Eintritt Dr. Wagners umgefallen war. »Sie ruinieren die ganze Wirtschaft. Wer hat denn nun schon wieder etwas ausgefressen?« »Niemand hat etwas ausgefressen.« Dr. Wagner versuchte seiner Stimme einen ruhigen Ton zu geben. »Ich wollte Ihnen eigentlich eine freudige Nachricht erzählen, aber wenn Sie sie nicht hören wollen, kann ich es ja auch sein lassen!« Er machte Anstalten, das Dienstzimmer wieder zu verlassen. Nun war Schwester Angelika neugierig geworden. »Sie wollten mir eine gute Nachricht bringen?« Ihre Stimme klang zunächst noch ungläubig. Am liebsten hätte sie eine bissige Bemerkung gemacht, aber sie schluckte sie hinunter. »Ich war ja nur wütend, weil Sie die Flasche umgekippt haben!« versuchte sie, eine Erklärung für ihr barsches Wesen zu geben. »Wenn die ausläuft, bekomme ich Ärger. Das ist eine ganz teure Medizin!« »Ist schon gut!« Oberarzt Wagner kam wieder in das Dienstzimmer zurück. »Ich dachte nur, daß ich Ihnen eine Freude machen kann.« »Was haben Sie mir denn nun Schönes mitzuteilen?« »Ich habe im Rundfunk eben Nachrichten gehört. Und da wollte ich Ihnen nur mitteilen, daß Ihr Liebling gerettet ist!« »Mein Liebling?« Schwester Angelika begriff nicht sofort, aber sie brauchte nicht lange, bis es ihr dämmerte. »Sie meinen, daß Dr. Bruckner wieder aufgetaucht ist?« »Wenn ich die Nachrichten richtig verstanden habe, dann ist das der Fall!« Dr. Wagner zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Schreibtisch. »Ich habe zwar nur einen Teil der Nachrichten mitbekommen, aber es wurde gesagt, daß das Flugzeug, das man entführen wollte, wohlbehalten in Rio gelandet sei. Da bin ich gleich hergeeilt, um Ihnen das zu sagen. Es interessiert Sie doch sicher, wie?« »Und ob mich das interessiert!« Sie ging zum Schrank und kam mit 99
ihrer grünen Likörflasche zurück. »Ich habe es nur nicht glauben wollen, daß ausgerechnet Sie mir diese Nachricht überbringen.« »Sie glauben immer, ich sei ein schlechter Mensch!« Oberarzt Wagner schaute auf die Flasche, die Schwester Angelika auf den Tisch stellte. »Aber so ist das auch nicht. Sie sehen ja, daß ich schnurstracks zu Ihnen gekommen bin, um Ihnen diese Nachricht mitzuteilen.« Er zeigte auf den Likör. »Und nun wollen Sie mir als Überbringer einer guten Nachricht sicherlich eine Belohnung eingießen?« »Das will ich allerdings!« Schwester Angelika nahm zwei Medizingläser aus ihrem Schrank und füllte sie. »Sie mögen doch meinen Schnaps, nicht wahr?« Oberarzt Wagner griff nach dem gefüllten Glas. Er betrachtete den Inhalt. »Ich komme ja selten in den Genuß, von Ihnen einen Schnaps zu bekommen. Deswegen kann ich Ihre Frage, ob ich den Schnaps mag, auch nicht hundertprozentig beantworten.« »Wenn Sie mir öfter solche guten Nachrichten bringen würden, dann könnten Sie auch öfter von mir einen Schnaps haben!« Schwester Angelika hob ihr Glas. »Prosit! Ich denke, wir trinken darauf, daß die beiden nun doch noch glücklich in Rio gelandet sind. Wollen wir es nicht wenigstens Professor Bergmann sagen?« Schwester Angelika nahm den Hörer ab. »Er ist ja auch ein –«, ein Schmunzeln erschien auf ihrem Gesicht, »Geheimnisträger! Vielleicht hat er die Nachrichten heute mittag nicht gehört?« »Das ist ein guter Gedanke! Daß ich nicht selbst darauf gekommen bin!« Er nahm den Hörer aus Schwester Angelikas Hand entgegen und wählte die Nummer des Chefs. Die Sekretärin meldete sich. »Verbinden Sie mich bitte sofort mit Herrn Professor Bergmann.« »Der spricht gerade.« »Mit wem?« entfuhr es dem Oberarzt. »Mein Anruf ist ungeheuer wichtig. Können Sie das Gespräch nicht unterbrechen?« »Natürlich kann ich das nicht tun. Er spricht mit dem Konsul, der gestern entlassen wurde.« »Ach so!« Dr. Wagner legte den Hörer auf die Gabel zurück. Erklä100
rend wandte er sich an Schwester Angelika: »Anscheinend hat der Konsul ihm bereits von dem Ereignis Nachricht gegeben. Dann brauche ich es nicht zu tun. Im Grunde genommen bin ich doch ganz froh, daß die beiden wieder aufgetaucht sind.« Oberarzt Wagner leerte sein Likörglas. Schwester Angelika schaute ihn erstaunt an. »Das sagen Sie?« »Natürlich sage ich das. Ich freue mich wirklich. Ich muß gestehen, daß er mir doch etwas naheging, als ich hörte, sie seien vielleicht entführt worden. Man weiß ja nie, was bei einer solchen Entführung herauskommt. Weiß Gott, wem sie in die Hände gefallen wären. Es ist ja heute leider an der Tagesordnung, sich für alles mögliche Geiseln zu nehmen und diese am Ende zu erschießen, wenn man nicht das erreicht, was man erreichten wollte. Denken Sie nur an die Katastrophe bei der Olympiade!« »Kommen Sie –, trinken Sie noch einen.« Schwester Angelika füllte das Glas des Oberarztes zum zweiten Male. »Schließlich müssen wir ja auf zwei trinken: Dr. Bruckner und Dr. Heidmann!« Sie genehmigte sich ebenfalls noch ein zweites Glas. »Der Volksmund sagt mit Recht, daß man auf einem einzigen Bein nicht stehen kann.« Sie kippte den zweiten Likör herunter. Es sah aus, als ob sie noch einmal nach der Flasche greifen und sich ein drittes Glas einfüllen wollte, aber da hob der Oberarzt die Hand. »Schwester Angelika!« Seine Stimme nahm einen offiziellen Ton an. »Trinken Sie bitte nicht mehr. Sie sind im Dienst. Sie wissen, daß der Chef es nicht gern hat, wenn im Dienst Alkohol getrunken wird!« »Sie haben recht!« Schwester Angelika nahm die Flasche und versteckte sie in ihrem Medikamentenschrank hinter den anderen Flaschen. »Wenn Sie wieder mal ein Likörchen haben wollen, dann brauchen Sie nur vorbeizukommen.« Sie schaute immer wieder den Oberarzt an und schien es nicht begreifen zu können, daß dieser plötzlich ein solches Interesse an Dr. Bruckner zeigte. »Na, dann auf Wiedersehen, liebe Schwester!« Wagner ging zur Tür und winkte ihr noch einmal zu. »Wenn Sie etwas Näheres von den beiden hören sollten, dann sagen Sie mir doch bitte Bescheid, nicht wahr?« 101
»Selbstverständlich, Herr Oberarzt!« Schwester Angelika begleitete den Oberarzt zur Tür. »Ich werde Sie sofort anrufen!« Das Telefon schellte. Sie nahm den Hörer ab. »Herr Oberarzt!« rief sie hinter Dr. Wagner her, der bereits auf dem Flur stand. »Ein Gespräch für Sie!« »Für mich?« Oberarzt Wagner kam zurück. Er nahm den Hörer aus Schwester Angelikas Hand und meldete sich. »Ich wollte den Chef sprechen?« Er schaute verwundert vor sich hin. »Ach so – natürlich! Aber das hat sich erledigt. Sie brauchen mich nicht zu verbinden.« Er wollte den Hörer wieder auflegen. »Nun habe ich Sie bereits angemeldet. Jetzt müssen Sie auch sprechen!« erklang die Stimme der Chefsekretärin verärgert zurück. Es knackte im Apparat. Dann meldete sich der Professor: »Sie wollten mich sprechen?« Schwester Angelika stand dicht neben dem Oberarzt. Sie konnte jedes Wort mithören, das gesprochen wurde. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß heute in den Nachrichten eine interessante Meldung durchgekommen ist: Das Flugzeug, mit dem Dr. Bruckner und Dr. Heidmann nach Rio geflogen sind, ist wohlbehalten gelandet. Es ist den Piloten gelungen, den Luftpiraten unschädlich zu machen. Damit sind wir auch die Sorge um das Schicksal unserer beiden Kollegen los.« »Die Nachrichten habe ich auch gehört!« sagte der Professor. »Verschwiegen wurde nur, daß Dr. Bruckner und Dr. Heidmann sich nicht mehr im Flugzeug befanden. Man hat sie unterwegs ausgesetzt, wie ich von dem Konsul leider erfahren mußte.« Es dauerte eine ganze Weile, bis der Oberarzt begriff, was er eben gehört hatte. »Man hat Bruckner und Heidmann vorher ausgesetzt?« »Ja, sie befanden sich nicht mehr an Bord der Maschine, die in Rio gelandet ist. Vermutlich stecken sie irgendwo im peruanischen Urwald.« Die Stimme Professor Bergmanns klang besorgt. Oberarzt Wagner suchte nach Worten. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Erst als das Klicken des Telefons anzeigte, daß der Professor aufgelegt hatte, fuhr er aus seiner Erstarrung auf. 102
»Dr. Bruckner und Dr. Heidmann sind verschwunden!« Schwester Angelika nickte. »Ich habe alles mitgehört. Es ist entsetzlich.« Sie ging zum Schrank, holte ihre Flasche wieder heraus und füllte die beiden Gläser. »Ich glaube, niemand kann es uns übelnehmen, wenn wir uns auf diese Nachricht hin noch einen genehmigen!«
IX
T
homas Bruckner erschrak. Er war vor Erschöpfung ein wenig eingeschlummert, und ein Geräusch hinter ihm hatte ihn aufgeweckt. Er mußte einen kurzen Augenblick überlegen, wo er sich befand. Ein Traum hatte ihn genarrt: Er war in Köln, stand im Operationssaal und operierte Dr. Heidmann an seiner Appendizitis … Johann Heidmann lag vor ihm. Er stöhnte ununterbrochen. Er war nicht eingeschlafen. Die Spritze hatte anscheinend ihre Wirkung inzwischen verloren. Die Schritte kamen näher. Dr. Bruckner saß wie gelähmt da. Er fürchtete sich. Er verspürte die Angst, die jemand empfindet, wenn er genau weiß, daß der Tod auf ihn zukommt, er aber nicht den Mut aufbringt, dem Tod ins Auge zu sehen. Die Schritte verhielten dicht hinter ihm. Jetzt berührte ihn jemand an der Schulter. Eine Hand legte sich darauf. Erst als eine Stimme ertönte, wachte er aus seinem Bann auf. »Ich habe eine Hütte entdeckt.« Dr. Bruckner sprang auf. Er starrte in das lächelnde Gesicht des Chinesen. »Sie sind nicht ausgerückt?« Das Lächeln auf dem Gesicht des anderen erstarb einen kurzen Augenblick, aber es kehrte sofort wieder. »Warum sollte ich ausrücken? Ich habe nur irgend etwas gesucht, wo man –«, sein Blick ging zu Dr. Heidmann, der mit geschlossenen Augen und leise stöhnend dalag, 103
»Ihren Kollegen hinbringen könnte. Die Sonne wird gleich unerträglich heiß werden.« Er zeigte auf den glühenden Sonnenball am Himmel, der durch den Dunst, der in der Luft lag, zu flackern schien. »Es ist eine kleine Schilfhütte. Sie muß von Eingeborenen zum Schutz aufgerichtet worden sein. Vielleicht kommt jemand bald dorthin zurück. Es ist besser, wir transportieren Ihren Kollegen in diese Hütte. Da sind wir vor den Feinden, die uns hier umgeben, etwas sicherer.« Sein Blick ging nach oben zu den Geiern, die tiefer heruntergekommen waren. Ein Teil dieser abschreckend häßlichen Vögel hatte sich in den Kronen einiger Bäume niedergelassen. Sie äugten nach unten, als besichtigten sie bereits die Beute, die ihnen sicher war. Heidmann hatte die Augen geöffnet. Er fragte leise: »Haben Sie Menschen gefunden?« Der Chinese schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Spuren von Menschen. Und da, wo man Spuren findet, kann man auch mit einiger Sicherheit darauf rechnen, daß diejenigen, die die Spuren gemacht haben, irgendwann einmal zurückkommen!« »Irgendwann«, stöhnte Johann Heidmann. »Dann ist es vielleicht zu spät.« »Wollen wir ihn in die Schilfhütte bringen?« Der Chinese stellte sich zu Füßen Dr. Heidmanns auf. »Wir können ihn tragen. Es ist nicht weit von hier. Ich habe einen Trampelpfad im Dschungel entdeckt. Da kommen wir bequem durch. Die Eingeborenen müssen sich diesen Weg mit einer Machete vor kurzem erst gebahnt haben, denn er ist noch nicht wieder zugewachsen.« »Ich werde meinem Kollegen vorher eine Spritze geben, sonst hält er den Transport nicht aus.« Thomas Bruckner öffnete seine Tasche und nahm aus dem Besteck eine zweite Ampulle heraus. »Ich habe nur drei Stück mit. Wir haben also noch eine in Reserve. Das ist alles«, flüsterte er dem Chinesen zu. Er sägte der Ampulle den Hals ab, saugte den wasserklaren Inhalt in seine Spritze hinein und beugte sich zu Dr. Heidmann hinunter, der bereits den Arm entblößt hatte. Der Chinese stellte sich auf die andere Seite. Er packte den hochgeschlagenen Ärmel und drehte ihn ober104
halb des Ellenbogengelenkes so zusammen, daß dieser wie ein Knebel das Blut staute und daß die Venen im Ellenbogen dick hervortraten. »Die Schmerzen werden gleich nachlassen!« Bruckner tröstete Heidmann, der gespannt zuschaute, wie der Freund die Nadel in die Ellenbogenvene stieß, wie er Blut ansaugte, um sich zu vergewissern, daß die Nadel auch in der Ader steckte und er nicht danebengestochen hatte, wie er langsam den Spritzenstempel in den gläsernen Mantel hineindrückte und dabei Heidmanns Gesicht beobachtete. Er spritzte sehr langsam. Es dauerte Minuten, bis er den Inhalt vollkommen in das Blut Dr. Heidmanns entleert hatte. Zusehends veränderten sich die angespannten und schmerzverzerrten Gesichtszüge des Kranken. Sie lockerten sich auf. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Danke!« Seine Stimme klang etwas kräftiger. »Meine Schmerzen sind so gut wie verschwunden.« Dr. Bruckner zog die Kanüle mit einem Ruck aus der Vene und winkelte Heidmanns Arm im Ellenbogengelenk an. Fragend blickte er den Chinesen an. »Wo ist die Hütte?« Der Chinese zeigte in das Dickicht, das die lange und breite Schneise an einer Seite begrenzte. »Dort drüben!« »Ich glaube, es ist besser, ich trage meinen Kollegen allein. Ich glaube, daß der Transport dann schonender ausfallen wird, als wenn wir es beide im verschiedenen Schrittrhythmus versuchen.« Bruckner beugte sich zu Heidmann hinunter. Er packte ihn wie ein kleines Kind und hob ihn in die Höhe. Trotz der übergroßen Vorsicht, die er walten ließ, konnte er es nicht verhindern, daß Heidmann vor Schmerzen stöhnte. »Es tut mir leid.« Thomas Bruckner folgte langsam dem Chinesen, der schon einige Schritte vorausgegangen war. »Die Spritze wirkt leider nur bedingt. Jede Erschütterung, die ja zu Zerrungen am Bauchfell führt, ruft neue Schmerzen hervor. Können Sie sie ertragen?« Er bemühte sich, so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu gehen, aber er konnte es nicht verhindern, daß er dann und wann mit dem Fuß in ein Loch hineinglitt, das von üppig wachsenden Pflanzen bedeckt 105
war und sich den Blicken entzog. Der Stoß, der sich dann jedesmal dem Körper Dr. Heidmanns mitteilte, ließ diesen schmerzvoll stöhnen. Der Chinese war am Anfang des Dschungels stehengeblieben. Er zeigte auf eine Lichtung, die man auf den ersten Blick sicherlich nicht erkannt hätte. »Hier hinein! Ich werde vorangehen und die Zweige so weit wie möglich aus dem Wege schaffen.« Einen Augenblick lang zögerte Dr. Thomas Bruckner. Wollte dieser Mann ihn in eine Falle locken? Aber dann ließ ihn ein Blick auf das Gesicht Heidmanns jede Bedenken über Bord werfen. Es mußte einfach sein. Es blieb ihm nichts weiter übrig. Schließlich hatte er hier eine Chance, dem Freund und Kollegen zu helfen, und er durfte diese Chance nicht vertun. »Folgen Sie mir doch!« ertönte etwas ungeduldig die Stimme ihres Führers aus dem Dickicht. »Hier geht es entlang!« Thomas Bruckner packte Heidmann fester und schritt rascher aus. Nach einigen Schritten sah er, daß sich der Dschungel etwas gelichtet hatte und daß hier ein echter Pfad vorhanden war. Anscheinend hatten die Eingeborenen den Weg so zu tarnen versucht, daß er nicht sofort entdeckt werden konnte. Eine seltsame Dämmerung herrschte hier. Die überhängenden Zweige, die üppige Vegetation, die den Himmel fast verdeckte, ließen nur ein gedämpftes Licht hindurchfallen. Trotzdem war es unerträglich heiß. Die Hitze schien sich in diesem natürlichen Dom zu fangen. Thomas Bruckner trat der Schweiß auf die Stirn. Er hatte das Gefühl, sich in einem überheizten Dampfbad vorwärts zu bewegen. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er wußte nicht, wie lange er noch imstande war, den Kollegen zu tragen, dessen Gewicht von Schritt zu Schritt schwerer zu werden schien. Immer häufiger mußte er stehenbleiben, mußte Luft schöpfen … »Da vorn ist die Hütte schon!« Der Chinese war stehengeblieben. Mitleidig sah er Dr. Bruckner an. »Soll ich Ihnen den Kranken einmal abnehmen?« Dr. Bruckner war zu ihm gekommen. Er blickte dem weisenden Fin106
ger des Chinesen nach. »Wo ist die Hütte?« Er konnte absolut nichts entdecken, was Ähnlichkeit mit einer Behausung hatte. »Sehen Sie den Laubhaufen dort? Das ist die Hütte. Sie ist gut getarnt.« Dr. Bruckner nickte, machte ein paar Schritte, blieb dann aber erneut stehen. Der Chinese trat zu ihm. »Ich werde Ihnen Dr. Heidmann abnehmen.« Dr. Bruckner wollte sich zunächst weigern, aber da mischte sich Heidmann selbst ein. »Lassen Sie nur. Sie können doch nicht mehr. Vielleicht sollte ich sogar versuchen, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.« Der Chinese schüttelte den Kopf. Er trat dicht an Dr. Bruckner heran, der ihm Heidmann in die Arme gleiten ließ. »Es ist besser, Sie werden getragen. Sonst passiert am Ende tatsächlich noch etwas.« »Ob es nun hier geschieht oder später …« Johann Heidmann führte den Satz nicht zu Ende. Er schaute nach oben. »Die Geier sind uns nicht gefolgt?« Der Chinese folgte seinen Blicken. »Die kommen nach! Vielleicht ist es auch der Hubschrauber, der sie vertreibt.« Am Himmel ertönte wieder das brummende Geräusch eines Hubschraubers, aber man konnte ihn nicht erkennen. »Vielleicht hatten wir doch lieber am Fluß bleiben sollen!« Bruckner ging mit müden Schritten hinter dem Chinesen her, der Heidmann mit einer Leichtigkeit trug, als habe er gar kein Gewicht. Der Chinese schüttelte den Kopf. »Das wäre Wahnsinn gewesen. Am Fluß sammeln sich die Tiere, die uns gefährlich werden können. Warum, glauben Sie, bauen sich Eingeborene Schilfhütten weit weg vom Fluß?« »Und wenn wir dem Fluß gefolgt wären?« »Dann hätten wir Kilometer gehen können und hätten uns doch nur hundert Meter entfernt. Die Flüsse hier fließen nicht gerade wie in Europa. Sie fließen in Wellenlinien und in Bögen, so daß man stundenlang gehen kann, um dann plötzlich nach einer erschöpfenden Fußtour zu merken, daß man fast an den Ausgangsort zurückgekehrt ist. 107
Im Augenblick ist doch die Hauptsache, daß der Kranke Ruhe bekommt.« Er war stehengeblieben. »Hier sind wir!« Er ging um das Gebilde herum, vor dem sie standen. »Hier ist der Eingang. Beleuchtung gibt es drinnen nicht.« »Ich habe eine kleine Taschenlampe bei mir.« Thomas Bruckner griff in die Tasche und holte eine jener Dynamolampen hervor, die man mit pumpenden Bewegungen in Betrieb setzt. »Soll ich als erster hineingehen und Ihnen leuchten?« »Tun Sie das! Ich habe vorhin schon alle ungebetenen Gäste ausquartiert.« »Ungebetene Gäste?« »Ja, man muß hier aufpassen, daß man nicht mit Taranteln, Schlangen oder der Schwarzen Witwe in Berührung kommt. Die Schwarze Witwe gehört zu jenen Spinnen, deren Biß absolut tödlich ist. Es ist drinnen alles frei. Sie können ohne Sorge hineingehen.« Dr. Bruckner schauderte es doch etwas, als er durch das enge Loch kroch, den Lichtstrahl der Lampe das Innere abtasten ließ und zuschaute, wie der Chinese Dr. Heidmann mit unendlicher Vorsicht hineinpraktizierte. »Jetzt sind wir fürs erste sicher.« »Wie wollen Sie aber auf uns aufmerksam machen?« Thomas Bruckner schien immer noch nicht so recht mit seinem Schicksal einverstanden zu sein. »Hier findet uns bestimmt niemand.« »Ich werde versuchen, Rauchsignale loszulassen. Wenn die Eingeborenen, die diese Hütte gebaut haben, in der Nähe sind, werden sie zurückkehren. Dann haben wir eine Chance, daß man uns in den nächsten größeren Ort bringt.« »Und wie soll sich das hier im Dschungel vollziehen?« Skeptisch schaute Dr. Bruckner den Chinesen an. »Die Eingeborenen haben Kanus. Sie werden uns auf dem Fluß befördern. Am wichtigsten aber –«, seine Blicke trafen besorgt Dr. Heidmann, dem der Transport anscheinend nicht gut bekommen war, »ist der Kranke! Er muß sich erholen.« 108
»Sie sollten meinen Leib aufschneiden!« stöhnte Dr. Heidmann. »Versuchen Sie es doch einfach! Vielleicht bekomme ich dann Erleichterung.«
* »Packen Sie mir bitte Verbandszeug zusammen!« Oberarzt Wagner war in die Operationsabteilung gestürmt. Schwester Euphrosine saß an einem Tisch und säuberte ihre Instrumente, um sie in den Sterilisationsapparat zu legen. Erstaunt schaute sie auf. »Um diese Zeit?« Vorwurfsvoll sah sie auf ihre Uhr. »Ich habe jetzt Mittagspause. Sie hätten es mir doch auch eher sagen können. Wenn Sie auswärts verbinden, dann wissen Sie es doch wenigstens ein paar Stunden vorher!« Sie machte keine Anstalten, sich zu erheben, sondern fuhr seelenruhig fort, ihre Instrumente zu putzen. In Oberarzt Wagner stieg die Wut hoch. Er ärgerte sich, daß die Schwester seinen Auftrag nicht sofort ausführte. »Der Chef hat es angeordnet!« Er versuchte ruhig zu bleiben, um die alte Schwester nicht noch mehr zu erzürnen. Er wußte genau, daß nicht gut Kirschen essen mit ihr war, und daß er letzten Endes in einem Streit mit ihr doch den kürzeren ziehen würde. »Auch Chefs müssen sich an Dienstvorschriften halten!« Schwester Euphrosine ließ sich nicht beirren. »Warum ruft der Chef denn nicht selber an, wenn es so dringend ist?« Oberarzt Wagner schnappte nach Luft. Er hätte am liebsten der Schwester die Instrumente aus der Hand gerissen und sie auf den Boden geworfen. Seine Brille war nach vorn gerutscht. In der Aufregung vergaß er, sie an den richtigen Platz zurückzubefördern. »Rufen Sie ihn doch an!« bellte er Schwester Euphrosine an. »Er wird es Ihnen sicherlich sagen. Aber –«, er versuchte einzulenken, »er hat es auch eben erst erfahren. Eigentlich wollte er ja selbst zum Konsul fahren, aber die Ereignisse der letzten Zeit …« »Sie sollen den Konsul verbinden?« Schwester Euphrosine ließ die Zange, die sie gerade in der Hand hielt, sinken. Fragend schaute sie 109
den Oberarzt an. »Ist das der Konsul, der mit dem Verschwinden Dr. Bruckners zusammenhängt?« »Das wissen Sie auch schon?« entfuhr es Oberarzt Wagner. »Es sollte geheim bleiben.« »Was bleibt in einem Haus wie diesem schon geheim!« Schwester Euphrosine legte die Zange auf den Tisch zurück und erhob sich. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Sie müssen wir aber eines versprechen –«, sie blieb stehen und schaute fragend den Oberarzt an. »Wenn es nichts Unmögliches ist, will ich es gern tun.« Oberarzt Wagner war ein Stein vom Herzen gefallen. Er hatte sich in Gedanken schon auf einen längeren Streit eingestellt. »Sie müssen mir sagen, was man von Dr. Bruckner weiß. Wir sind alle so beunruhigt! Wenn Sie etwas von dem Konsul über das Schicksal Dr. Bruckners erfahren, dann berichten Sie es mir bitte, ja?« Oberarzt Wagner fühlte erneut Ärger in sich aufsteigen. Er konnte nicht begreifen, daß man um Dr. Bruckner soviel Aufhebens machte und ihn gar nicht beachtete. Er wollte schon mit einem krassen ›Nein!‹ antworten, aber dann unterließ er es. »Wenn ich nicht den ausdrücklichen Auftrag erhalte, daß es sich um ein Geheimnis handelt, das nicht jedem preisgegeben werden darf, werde ich Ihnen davon berichten.« »Ich bin nicht jeder!« Es sah aus, als ob Schwester Euphrosine wieder böse werden wollte. »Aber –«, sie wandte sich um und ging an ihren Schrank, »ich will Ihnen geben, was Sie brauchen. Da –«, sie nahm ein zusammengeschnürtes Paket heraus, »haben Sie alles, was Sie für einen Verbandswechsel brauchen. Ich hoffe, es geht dem Konsul gut?« Fragend blickte sie den Oberarzt an. Dieser nickte. »Soweit ich telefonisch Bescheid bekommen habe, liegt kein Grund zu einer Klage vor. Die frühzeitige Entlassung scheint ihm im Gegenteil sogar recht gutgetan zu haben. Also –«, er reichte Schwester Euphrosine die Hand, »ich melde mich nachher bei Ihnen und erzähle Ihnen, was ich erfahren habe. Haben Sie herzlichen Dank für die schnelle Bedienung!« fügte er mit einem Anflug von Spott hinzu. Er drückte seine Brille auf der Nase zurecht, wandte sich um und verließ die Operationsabteilung. 110
Rasch ging er zum Treppenhaus, nahm den Fahrstuhl und fuhr nach unten. Er hatte seinen Wagen bereits vor der Tür geparkt. Er stieg ein und fuhr davon. In Gedanken beschäftigte er sich immer wieder mit Dr. Bruckner. Er konnte ja wirklich froh sein, daß er seinen Wunsch, ebenfalls nach Rio zu fliegen, nicht durchgesetzt hatte. Sonst wäre er vielleicht anstelle von Dr. Bruckner irgendwo im Urwald von Peru verschwunden. Jetzt, wo der Kollege soweit fort war und sich in einer mißlichen, wenn nicht aussichtslosen Lage befand, empfand er sogar Mitleid mit ihm. Es wäre schlimm, wenn er nicht wiederkommen würde. Er nahm sich vor, in Zukunft gegenüber Dr. Bruckner etwas freundlicher zu sein. Hinter ihm hupte es ein paarmal. Er drehte sich ärgerlich um. Der Fahrer des Wagens, der hinter ihm hielt, hupte noch einmal und zeigte auf die Verkehrsampel. Er rief etwas, was Dr. Wagner nicht verstand. Erst jetzt bemerkte er, daß die Ampel schon lange auf Grün umgesprungen war und er über seinem Nachdenken vergessen hatte, abzufahren. Gerade wollte er den ersten Gang einlegen, als die Ampel bereits auf Gelb und dann auf Rot schaltete. Der Fahrer hinter ihm sprang aus seinem Wagen heraus. Aufgeregt stand er neben dem Wagen des Oberarztes. Er schimpfte. Oberarzt Wagner zog es vor, die Scheibe nicht herunterzudrehen. Er hatte gehört, daß Menschen im Straßenverkehr plötzlich die Nerven verlieren und auf einem anderen Verkehrsteilnehmer so herumprügeln, daß nicht nur schwere Verletzungen, sondern manchmal sogar der Tod die Folge sein konnte. Das wollte er nach Möglichkeit vermeiden. Als der fremde Fahrer merkte, daß Oberarzt Wagner keinerlei Anstalten machte, ihn anzuhören, schlug er mit der Faust gegen die Karosserie des Wagens. Inzwischen zeigte die Ampel Grün. Oberarzt Wagner legte den ersten Gang ein. Ruckartig fuhr er an. Im Rückspiegel sah er, daß der Mann mitten auf der Straße stehengeblieben war und hinter ihm mit erhobener Faust herdrohte. Mit Freuden nahm er wahr, daß die anderen Autos, die jetzt ihrerseits von dem stehengebliebenen Wagen behindert wurden, ein Hupkonzert veranstalteten. 111
Dr. Wagner bog um eine Ecke und verlor so die Sicht nach hinten. Er stellte sich vor, daß jetzt alle behinderten Fahrer aus ihren Autos heraussprangen und sich gegenseitig eine Prügelei lieferten. Der Gedanke vertrieb seinen Ärger. Er hatte die Innenstadt verlassen und fuhr auf der großen breiten Ringstraße zu dem Haus, in dem sich die Botschaft befand. Er war zwar noch niemals dagewesen, aber er hatte sich auf seiner Karte den Weg genau angesehen, so daß er jetzt ohne Verzögerung fahren konnte. Die Gegend wurde immer vornehmer. Die tristen Reihenhäuser der Innenstadt verschwanden mehr und mehr. Dafür traten schöne einzelstehende Häuser mit großen Vorgärten ins Bild. Dr. Wagner verlangsamte sein Tempo. Ganz vorn sah er eine größere Villa. Er versuchte, die Hausnummer zu erkennen, aber sie war so klein, daß er so gut wie nichts sehen konnte. Er hielt vor der großen Villa. Der Name der Botschaft stand auf einer großen Messingtafel neben dem Eingangstor. Dr. Wagner nahm seine Tasche, in der er die Verbandsinstrumente hineingetan hatte, schloß seinen Wagen ab und ging langsam über den kiesbestreuten Weg bis zum Haus. Er blieb vor der Tür stehen und vergewisserte sich noch einmal am Klingelschild, daß er am richtigen Ort war. Dann hob er seine Hand und drückte auf den Klingelknopf. Die Tür wurde fast augenblicklich geöffnet. Anscheinend hatte man ihn kommen sehen. Ein livrierter Diener ließ ihn ein. »Professor Bergmann?« fragte er. Oberarzt Wagner schüttelte ein wenig verärgert den Kopf. »Mein Name ist Wagner, Oberarzt Dr. Wagner. Sagen Sie bitte dem Herrn Konsul, daß der Herr Professor nicht kommen konnte. Er hat mich gebeten.« »Ich werde Sie melden.« Der Diener ging mit langsamen, gravitätischen Schritten aus dem Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis er wiederkam. »Der Herr Konsul lassen bitten.« Er schritt dem Oberarzt voraus durch eine Zimmerflucht. Vor der letzten Tür blieb er stehen und klopfte an. »Herr Oberarzt Dr. Wagner ist da!« meldete er. 112
»Seien Sie willkommen, Herr Kollege!« Der Botschaftsarzt Dr. Jeres kam Wagner entgegen und reichte ihm die Hand. »Der Herr Konsul läßt Sie bitten, ihn in seinem Arbeitszimmer zu verbinden.« Oberarzt Wagner trat ein. Der Konsul winkte ihm zu. »Sie entschuldigen, wenn ich nicht aufstehe, aber die Wunde schmerzt etwas. Hoffentlich ist nichts passiert.« »Hoffentlich nicht!« Oberarzt Wagner war über den – wie er glaubte – kühlen Empfang verärgert. Er zog sich einen Stuhl herbei und bat den Konsul, den Leib freizumachen. Während er seine Instrumente zurechtlegte, fragte er: »Haben Sie schon etwas über das Schicksal meiner Kollegen Dr. Bruckner und Dr. Heidmann gehört?« Das Gesicht des Konsuls wurde ernst. »Leider nicht! Wir wissen eigentlich nicht mehr, als was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe. Das einzige, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß meine Regierung einige Hubschrauber losgeschickt hat. Sie sollen den Urwald durchkämmen. Aber –«, er zuckte zusammen, als Oberarzt Wagner ihm das Pflaster von der Haut abzog, »viel Erfolg haben solche Suchaktionen nicht. Wen der Urwald einmal geschluckt hat, den gibt er nicht wieder her. Es gibt ja keine Orientierungsmöglichkeiten. Die Piloten können nichts weiter tun, als den Dschungel nach Planquadraten abzufliegen. Wenn sie Glück haben, finden sie etwas.« »Und wenn sie kein Glück haben?« Oberarzt Wagner hatte den Schlauch aus der Wunde genommen. Er warf ihn in eine Schale, die mit einer desinfizierenden Flüssigkeit gefüllt war, und reinigte ihn. »Sie können natürlich jedes Planquadrat nur ein einziges Mal abfliegen. Wenn es den Menschen dann nicht gelingt, sich bemerkbar zu machen, ist kaum noch Hoffnung vorhanden, daß sie gefunden werden.« Er versuchte, einen Blick von der Wunde zu erhaschen. »Wie sieht es aus?« fragte er. »Gut, die Wunde reinigt sich gut. Hoffentlich geht es unseren Kollegen Dr. Heidmann und Dr. Bruckner genausogut.« Er steckte den Schlauch wieder in die Wunde hinein und stach an seinem äußersten Ende eine Sicherheitsnadel durch, damit der Schlauch nicht in der Wunde verschwand. 113
»Wie meinen Sie das?« Der Konsul horchte auf. »Weil wir den Verdacht hatten, daß bei dem Kollegen Heidmann auch eine Appendizitis im Anzug sei. Er ist aber trotzdem geflogen. Er hat sich einfach nicht überreden lassen, zurückzubleiben.« »Glauben Sie, daß ich schon etwas aufstehen kann?« Der Konsul sah zu, wie Oberarzt Wagner die Wunde verband und die Mull-Lagen mit Heftpflaster festklebte. »Mit dem Schlauch im Bauch würde ich das nicht riskieren.« Oberarzt Wagner hatte sich erhoben. Suchend schaute er sich um. »Die Hände können Sie sich nebenan waschen. Dort, die kleine Tür!« Dr. Jeres führte Oberarzt Wagner zum Bad. »Aber sonst sieht doch alles gut aus, nicht wahr?« fragte er. Oberarzt Wagner nickte. »Die Wunde sieht gut aus. Alles andere aber nicht …« »Wie meinen Sie das?« Dr. Jeres verstand nicht sofort. »Ich meine damit die schreckliche Situation, in der sich unser Kollege Bruckner befindet. Kann man gar nichts machen?« Oberarzt Wagner war wieder in das Zimmer zurückgekehrt, in dem der Konsul auf der Couch lag. Der Konsul schüttelte ernst den Kopf. »Man kann leider gar nichts machen. Man kann nur hoffen, daß das Schicksal Ihren Kollegen genauso freundlich gesonnen ist wie der Familie meines Präsidenten. Die befindet sich jetzt gerade im Flugzeug von Rio zur Hauptstadt. Ich habe vorhin die Nachricht bekommen.« Dr. Wagner packte die Instrumente, die er zum Verbinden gebraucht hatte, in seine Tasche zurück. »Ich möchte Sie im Namen meines Chefs bitten, uns auf dem laufenden zu halten, sobald Sie irgend etwas Näheres über das Schicksal meiner Kollegen erfahren sollten. Sie werden verstehen, daß wir uns alle um sie sehr große Sorgen machen.« »Sie können sich darauf verlassen, daß wir Sie sofort anrufen, wenn wir auch nur das geringste erfahren sollten.« Er klingelte. Der Diener erschien. »Bringen Sie bitte Herrn Oberarzt Wagner zu seinem Wagen!« 114
X
B
itte, operieren Sie mich!« Dr. Heidmanns Stimme klang verzagt. »Versuchen Sie, ob es nicht ohne Narkose geht. So halte ich es nicht aus!« Dr. Bruckner faßte nach seinem Puls. Er raste nur so dahin. Heidmanns Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt. »Versuchen Sie es doch!« bat er. »Wenn es so schlimm wird, daß ich es nicht aushalte, sage ich es Ihnen. Man hat im Mittelalter ja auch Beine amputiert, ohne den Patienten eine Narkose zu geben, weil man damals noch keine kannte!« Thomas Bruckner zog den kleinen Kasten mit den Instrumenten zu sich heran. Heidmann atmete erleichtert auf. Ihm war jetzt wirklich alles gleich. Die Schmerzen, die ihm das Messer Dr. Bruckners bereiten würden, konnten nicht schlimmer sein, glaubte er. Er machte bereitwillig seinen Leib frei. Dr. Bruckner holte das kleine Fläschchen mit Jodtinktur hervor, tropfte die dunkelbraune Flüssigkeit auf den Leib und verrieb sie mit den Fingern. Dann klappte er den Kasten auf, in dem sich die sterilen Instrumente befanden. Er nahm das Skalpell zur Hand. »Ich weiß nicht, ob ich es tun soll!« Er hatte sich neben Heidmann gekniet, um besser operieren zu können. »Es widerstrebt mir, einen Menschen bei vollem Bewußtsein zu operieren.« »Es bleibt uns aber keine andere Wahl!« Heidmann griff nach Dr. Bruckners Hand und zog sie herab. Es sah aus, als wollte er ihm das Skalpell aus der Hand nehmen und selbst den Eingriff bei sich durchführen. »Da kommt ein Hubschrauber!« Der Chinese war am Eingang der Hütte erschienen. Er blickte hinein. »Sie wollen operieren?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Warten Sie einen Augenblick! Ich will 115
versuchen, dem Hubschrauber ein Rauchsignal zu geben. Vielleicht entdeckt er es und kommt herunter.« Er war schon aus der Hütte verschwunden. Man hörte das Brummen des Riesenvogels, der in nicht allzu großer Höhe über der Hütte hinwegfliegen mußte. »Fangen Sie an!« Heidmann wollte sich nicht darauf verlassen, daß vielleicht Hilfe aus der Luft kam. »Ich glaube nicht dran, daß uns hier jemand findet.« Draußen brüllte der Chinese. Er hoffte, den Piloten des Hubschraubers auf sich aufmerksam machen zu können, aber das Geräusch entfernte sich. Das Brummen wurde immer leiser, bis es schließlich gänzlich erstarb. Der Chinese kam herein. Auf seinem Gesicht lag immer noch das unergründliche asiatische Lächeln. Er kniete sich neben Dr. Bruckner nieder. »Man hat mich nicht gehört. Es ist mir nicht gelungen, so rasch ein Feuer anzumachen. Jetzt brennt es –«, er zeigte auf den Eingang zur Hütte, »man riecht den Rauch. Aber ich glaube kaum, daß der Pilot noch einmal zurückkommt.« Dr. Heidmann schaute noch einmal zu Dr. Bruckner hin. »Sie hätten längst anfangen sollen. Je länger Sie warten, desto mehr schwindet mir der Mut. Bitte –«, er bat wie ein kleines Kind, das von einem älteren einen Gefallen erhofft. »Ich will es versuchen!« Bruckner biß die Zähne zusammen. Er senkte das Skalpell auf den Leib, aber er drückte nicht zu. Der Eingriff, den er bereits Hunderte von Malen ausgeführt hatte, war ihm mit einem Male schrecklich und unmöglich. »Los!« Heidmanns Stimme klang erregt. »Worauf warten Sie?« Er hatte seine Lippen fest zusammengekniffen. Man hörte das Knirschen der Zähne. Seine Augen waren geschlossen. Er wartete darauf, daß Dr. Bruckner mit dem Eingriff begann. Er fürchtete sich wohl vor den Schmerzen, die kommen mußten, aber die Schmerzen, die er im Augenblick erdulden mußte, die Angst, an einer Bauchfellentzündung zugrunde zu gehen, wenn nicht etwas geschah, gaben ihm übernatürliche Kräfte. Dr. Bruckner blickte auf Heidmanns Gesicht, um sich keine Re116
gung entgehen zu lassen. Er markierte mit dem Finger die Stelle, an welcher er mit dem Messer eindringen mußte. Aber er merkte am Verkrampfen der Gesichtsmuskeln, daß bereits die Berührung der Haut sehr stark schmerzen mußte – so stark, daß Dr. Heidmann seine ganze Willenskraft zusammennehmen mußte, um nicht aufzuschreien. »Der Wind treibt den Qualm Ihres Feuers direkt hier herein!« stöhnte Dr. Bruckner und senkte das Skalpell auf den Leib. Aber in diesem Augenblick schrie Heidmann auf. Er umklammerte mit beiden Händen die Hand Dr. Bruckners, die das Messer führte. »Ich halte es nicht aus!« Dr. Bruckner nahm das Skalpell weg. Verzweifelt sah er den Chinesen an. Er hatte lediglich die Haut etwas eingeritzt; selbst das konnte Heidmann nicht ertragen. »Es geht nicht!« Durch Dr. Bruckners Stimme klang Resignation. Er griff nach seinem Taschentuch, um sich den Schweiß, der ihm in tausend Perlen auf die Stirn getreten war, abzuwischen. »Nun ist alles verloren!« stöhnte Johann Heidmann.
* »Was gibt es Neues?« Professor Bergmann empfing den Oberarzt in seinem Zimmer. »Haben Sie etwas vom Konsul erfahren?« Dr. Wagner schüttelte den Kopf. »Man ist dort vollkommen ratlos. Der Konsul sagte, daß man Hubschrauber aussendet, um zu versuchen, die beiden im Urwald zu finden. Aber er meinte, daß das fast aussichtslos wäre.« »Kann man denn gar nichts weiter unternehmen?« Professor Bergmann nahm den Telefonhörer ab. »Verbinden Sie mich bitte mit dem Konsul!« bat er seine Sekretärin. »Man kann doch nicht einfach zwei Menschen im Urwald umkommen lassen.« Das Telefon schellte. Der Professor nahm den Hörer ab. »Herr Konsul?« fragte er. »Ich wollte mich zunächst erkundigen, wie es Ihnen geht – aber das weiß ich bereits. Oberarzt Wagner hat mir berichtet. 117
Aber er hat mir auch berichtet, daß die Suche nach meinen beiden Assistenten bisher vergeblich verlaufen sei. Haben Sie in der Zwischenzeit vielleicht etwas Neues gehört?« Er schaltete den Kleinlautsprecher ein, der neben dem Telefon stand und der es Oberarzt Wagner gestattete, mitzuhören. »Ich habe in diesem Augenblick gerade mit meinem Präsidenten gesprochen!« klang die Stimme des Konsuls deutlich aus dem Lautsprecher. »Er hat mir berichtet, daß das Hubschrauber-Einsatzkommando beendet ist. Man hat den Urwald nach Planquadraten durchkämmt, aber es war nichts von Ihren beiden Assistenten dort zu sehen. Ich habe ja bereits Ihrem Oberarzt angedeutet, daß eine solche Suche im Urwald im allgemeinen wenig Erfolg verspricht.« »Und werden Sie die Suche wiederholen?« »Das lohnt sich nicht. Der Kostenaufwand einer solchen Suchaktion steht in keinem Verhältnis zu den Chancen, die wir dabei haben. Ich fürchte, wir können die beiden Herren als verloren ansehen. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß sie sich durch den Urwald lebendig durchkämpfen können, besonders wenn sie keine Erfahrung haben. Einen kleinen Trost kann ich Ihnen allerdings geben.« Der Konsul machte eine Pause, als ob er seine Worte besser wirken lassen wollte. »Einer unserer besten Agenten ist bei ihnen. Dieser Mann kennt sich im Urwald aus. Von der Seite aus haben wir eine gewisse Chance, daß am Ende doch noch alles gutgeht.« Professor Bergmann legte den Hörer auf. Ernst sah er den Oberarzt an. »Sie sehen, es hat alles wenig Zweck. Es erscheint einem fast undenkbar, daß es in der heutigen Zeit noch Stellen auf der Welt gibt, die einfach jedem menschlichen Zugriff trotzen, und in denen wir selbst mit den modernsten Mitteln unserer modernen Zivilisation nichts ausrichten können.« Er erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Man hat das Gefühl, man müßte selbst hinfliegen, um nach dem Rechten zu sehen. Es ist einfach unverständlich, daß es nicht möglich sein soll, zwei Menschen zu finden.« Er begleitete den Oberarzt zur Tür und öffnete sie. »Sie halten mich 118
auf dem laufenden, sobald Sie etwas Weiteres in dieser Angelegenheit erfahren sollten.«
* »Und Sie meinen, es besteht gar keine Hoffnung mehr?« Dr. Jeres ging im Zimmer des Konsuls auf und ab. »Sie kennen die Gegend ja besser als ich. Und Sie meinen, es läßt sich auch keine Expedition organisieren, die die drei vielleicht aufspüren kann?« Der Konsul schüttelte ernst seinen Kopf. »Das ist unmöglich. Ich habe dem Professor noch etwas Hoffnung gelassen, aber ich glaube kaum, daß auch nur die geringste Aussicht besteht. Der Agent hätte sich schon längst irgendwie bemerkbar gemacht, wenn die Möglichkeit bestanden hätte.« »Aber der Pirat, hat er nichts aussagen können?« Der Konsul schüttelte ernst den Kopf. »King war sich gar nicht bewußt, in welcher Gegend das Flugzeug landete. Und der Pilot wird mit größter Wahrscheinlichkeit den Ort auch nicht wiederfinden. Es hat alles keinen Zweck. Es tut mir sehr leid um die beiden Ärzte – und natürlich auch um unseren Agenten. Aber ein Agent, der sich so das Heft aus der Hand nehmen läßt, muß eben für seine Fehler bezahlen.« Das Telefon schellte. Der Konsul nahm den Hörer ab und meldete sich. »Der letzte Hubschrauber hat seinen Einsatz beendet!« wiederholte er, was er im Telefon hörte. »Das bedeutet also, daß die drei im Dschungel jetzt verloren sind.« Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Dann bleibt uns nichts weiter übrig, als zu resignieren!« Dr. Jeres hatte wieder seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer des Konsuls aufgenommen. »Es trifft einen natürlich besonders hart, wenn es sich um Kollegen handelt.« Der Konsul nickte. »Das kann ich verstehen, aber es nützt alles nichts. Wir können auch Ihren Kollegen nicht helfen. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit für die Zukunft: Luftpiraterie muß so schwer bestraft werden, daß niemand mehr auf den Gedanken kommt, sie zu versuchen.« 119
* Das Schweigen, das in der Schilfhütte herrschte, wurde nur durch Heidmanns Stöhnen unterbrochen. Seine Schmerzen waren nach dem Versuch, den Eingriff ohne Narkose vorzunehmen, noch stärker geworden. Zusätzlich zu den Schmerzen, die er schon hatte, tat nun auch der Schnitt weh, den Dr. Bruckner gelegt hatte. Auch wenn dieser Schnitt nur klein war, so genügte er doch, die Schmerzen zu verstärken. Ab und zu raschelte es draußen im Laub. Jedoch die Hoffnung, die sich anfänglich auf Dr. Bruckners Gesicht gezeigt hatte, wich sofort wieder, als er feststellen mußte, daß es sich nur um ein Tier handelte, das vorbeigehuscht war. »Ich wüßte eine Möglichkeit, vielleicht zu helfen!« Der Chinese hatte Dr. Bruckner, der vor sich hin starrte und in ein lethargisches Nachdenken versunken war, leicht am Arm berührt, so daß dieser erschrocken auffuhr. »Sie wissen eine Möglichkeit, hier fortzukommen?« Dr. Bruckner schaute den Chinesen skeptisch an. »Die ist Ihnen erst eben eingefallen?« Seine Stimme klang fast mitleidig. Er hatte das Gefühl, daß der Chinese einfach etwas sagte, nur um die Stimmung zu verbessern, die im Augenblick ihren Tiefpunkt erreicht hatte. Sein Blick ging zu Dr. Heidmann, der bei der Bemerkung des Chinesen aufgehorcht hatte. »Ich meinte nicht, daß wir fortgehen. Ich meinte, daß wir Dr. Heidmann operieren!« »Dr. Heidmann operieren?« Thomas Bruckner betrachtete das blutige Skalpell, das er eben benutzt hatte. »Sie haben doch vorhin gesehen, daß es nicht geht!« Er blickte zu Dr. Heidmann hin, der immer noch leise stöhnte. »Kein Mensch kann das aushalten, wenn man ihm bei vollem Bewußtsein den Leib öffnet. Ich muß gestehen, daß ich es auch nicht durchhalten würde.« Seine Stimme klang aufgeregt. Er war so gereizt, daß ihn jede Bemerkung erregte. Hätte nicht Heidmann stöhnend dagelegen, er hätte dem Chinesen wahrscheinlich eine noch lautere und schärfere Antwort erteilt. Zwar tat es ihm sofort leid, kaum daß er es ausgespro120
chen hatte, aber der Versuch, sich zu entschuldigen, erstarb ihm auf der Zunge. Es gelang ihm einfach nicht, die Worte über die Lippen zu bringen. Außerdem regte ihn das ewige Lächeln des Chinesen auf. Er hätte ihn am liebsten gebeten, ein ernstes Gesicht zu machen und dieses entsetzliche Lächeln abzustellen. »Ich möchte Dr. Heidmann eine Anästhesie verpassen!« begann der Chinese nach einem kurzen Schweigen. »Ich möchte Ihnen versprechen, daß Sie dann ohne Schmerzen operieren können!« Dr. Bruckner lag es auf der Zunge, sich diese Albernheiten zu verbitten. »Woher wollen Sie denn ein Betäubungsmittel bekommen?« »Ich brauche kein Betäubungsmittel.« Das Lächeln stand unverändert im Gesicht des Chinesen. »Wir haben eine alte chinesische Überlieferung. Ich habe dieses alte Wissen studiert. Wenn Sie wollen, bin ich bereit, die Methode bei Ihrem Kollegen anzuwenden.« Wieder lag es Dr. Bruckner auf der Zunge, dem anderen eine Zurechtweisung zu erteilen, und ihn zu bitten, diese Albernheiten zu unterlassen. Aber ein Blick auf Heidmann bewog ihn, auf den Vorschlag des anderen einzugehen. »Erzählen Sie uns, was ist das für eine Methode?« Die mühsam gesprochenen Worte Dr. Heidmanns taten Dr. Bruckner weh. Seine Stimme hatte jeden Ton verloren. Der Mund war absolut ausgetrocknet, so daß er Mühe hatte, die Worte zu formulieren. »Bitte, wenn Sie mir helfen können!« Seine Blicke hingen gläubig an dem Gesicht des Chinesen, der sich nun wieder Dr. Bruckner zuwandte. »Haben Sie schon einmal etwas von der Akupunktur gehört?« »Sie meinen jene alte chinesische Heilmethode, die auf philosophisch-religiöser Grundlage aufgebaut ist?« Der Chinese nickte. »Genau die meine ich. Es ist eine alte Volksweisheit, die zweitausend Jahre alt ist. Sie beruht auf der Vorstellung, daß im menschlichen Körper zwei gegensätzliche Spannungssysteme wirksam sind, ein positives und ein negatives; Yin und Yang, wie wir sie nennen. Bei jeder Krankheit geraten diese Systeme durcheinander. Wenn man an bestimmten Stellen des Körpers kleine Nadeln ein121
sticht, kann man das Gleichgewicht wiederherstellen. Dann wird der Kranke auch gesund.« »Ich weiß, ich weiß!« unterbrach ihn Dr. Bruckner. Er trommelte nervös mit den Händen auf dem kleinen Koffer herum, den er neben sich stehen hatte. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie mit dieser philosophischen Methode eine echte Appendizitis heilen können – oder gar schon eine beginnende Peritonitis, wie in diesem Falle!« Wieder vertiefte sich das Lächeln des Chinesen. »Ich habe ja auch nicht gesagt, daß ich Dr. Heidmann durch die Akupunktur heilen will. Das kann ich nicht. Aber ich kann mit der Akupunktur eine Gefühllosigkeit erreichen. In China führen wir Operationen damit durch. Wir brauchen keine Narkose. Der Akupunkteur kann allein durch das Einstechen von Nadeln an bestimmten Körperstellen erreichen, daß der Patient vollkommen schmerzfrei wird, und daß der Chirurg operieren kann, ohne daß der Kranke irgend etwas merkt.« Zum erstenmal schwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er sah ernst aus, griff nach Heidmanns Hand und fühlte nach dem Puls. »Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, daß wir hier etwas unternehmen. Sind Sie einverstanden, daß ich den Versuch der Akupunktur-Anästhesie mache?« Als Dr. Bruckner nicht sofort antwortete, fügte er eindringlich hinzu: »Wir können ja nichts verderben. Es ist letzten Endes eine Art Versuch. Ich möchte fast garantieren, daß er gelingt. Bitte –«, er sah jetzt so ernst aus, daß Dr. Bruckner seinen Worten allmählich Glauben zu schenken begann, »ich möchte doch nur Herrn Heidmann helfen. Lassen Sie es mich versuchen.« »Bitte, Herr Dr. Bruckner!« sprach jetzt auch Heidmann. »Es muß etwas geschehen. Sie haben nur noch eine einzige Spritze Dolantin. Wenn die verspritzt ist, muß ich die Schmerzen ertragen. Deswegen ist es doch wirklich besser, wenn Herr –«, er schaute fragend auf den Chinesen, »wir kennen nicht einmal Ihren Namen!« »Es tut mir leid!« Der Chinese verneigte sich vor Dr. Bruckner, dann vor Dr. Heidmann. »Entschuldigen Sie, daß ich mich nicht früher vorgestellt habe. Mein Name ist Li Hong-Tsin.« »Aber brauchen Sie nicht für die Akupunktur goldene Nadeln?« 122
Ratlos schaute Dr. Bruckner den Chinesen an. »Oder führen Sie Ihre Akupunkturnadeln immer bei sich, wie ich mein chirurgisches Besteck?« Die Spannung auf dem Gesicht des Chinesen legte sich. Das Lächeln trat wieder auf sein Gesicht. »Nein –«, er schüttelte den Kopf, »ich habe natürlich nicht meine Nadeln bei mir. Aber man braucht dazu keine goldenen Nadeln – auch keine silbernen, wie es immer behauptet wird. Das ist Aberglaube. Damit haben wir heute aufgeräumt. Wir verwenden heute Nadeln aus rostfreiem Stahl.« »Und woher wollen Sie die nehmen?« Li Hong-Tsin zeigte auf den Koffer Dr. Bruckners. »Ich habe vorhin gesehen, daß Sie darin eine ganze Menge Injektionskanülen haben. Darunter sind auch einige sehr dünne. Wenn Sie mir die zur Verfügung stellen, dann will ich versuchen, bei Dr. Heidmann die Anästhesie vorzunehmen. Ich habe es zwar noch niemals mit Kanülen getan, aber ich sehe nicht ein, warum es nicht gehen soll. Nun?« wandte er sich an Heidmann. »Wollen wir es wagen?« Dieser nickte. »Es wird mir nichts anderes übrigbleiben. Machen Sie mit?« Er sah Dr. Bruckner fragend an. »Natürlich mache ich mit.« Thomas Bruckner erhob sich. Er nickte Li Hong-Tsin zu. »Dann wollen wir uns an die Arbeit machen.« Er nahm das Skalpell auf, das noch die Blutspuren vom vergeblichen Versuch der Operation ohne Betäubung aufwies. »Sie sagen mir bitte, wenn es weh tut!« wandte er sich an Dr. Heidmann, der die Augen wieder geschlossen hatte und mannhaft versuchte, seine Schmerzen zu verbeißen. Mit einem »Entschuldigen Sie?« ging der Chinese an das Kästchen mit den Kanülen und suchte sich die dünnsten Nadeln heraus. »Sie behaupten also wirklich, daß es Ihnen gelingt, mit Hilfe der Akupunktur eine vollkommene Schmerzlosigkeit zu erzielen?« »Ich kann Ihnen nur sagen, was wir Hunderte von Malen in China erreicht haben – und was auch heute noch im sogenannten aufgeklärten China ausgeübt wird. Es gibt kaum Versager bei dieser Methode.« »Und wie erklären Sie sich die anästhesierende Wirkung Ihrer Me123
thode?« Dr. Bruckner hatte Skalpell, Pinzetten sowie Nähgarn und Nadeln bereitgelegt. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann es Ihnen genausowenig sagen, wie Sie mir als westlicher Mediziner beschreiben können, wie genau – zum Beispiel – ein Beruhigungsmittel wirkt. Sie können mir sagen, daß es wirkt, weil es sich bereits in Millionen Fällen bewährt hat, aber Sie können mir nicht sagen, wie der Mechanismus der Wirkung ist.« »Und wo wollen Sie die Nadeln einstechen?« Thomas Bruckner schaute immer noch skeptisch auf die Reihe von Nadeln, die der Chinese in einer Reihe aufgebaut hatte. »Am Ohr. Ich werde die Nadeln in beide Ohren einstechen.« »Und Sie wollen behaupten, daß Sie einfach vom Ohr her eine Betäubung des Bauches erzielen?« Dr. Bruckner legte das Messer, das er schon in die Hand genommen hatte, noch einmal zurück. »Das ist doch unmöglich!« Über das Gesicht des Chinesen flog ein Schatten. »Sie glauben es nicht, weil Sie noch niemals eine Akupunktur erlebt haben. Aber Sie werden gläubig, wenn Sie die Wirkung erlebt haben. Ich glaube, es ist die letzte Chance, die wir Herrn Heidmann geben können. Soll ich anfangen oder nicht?« Das asiatische Gesicht sah ohne das Lächeln, das sonst immer darauf lag, mit einem Male so fremd aus, daß Dr. Bruckner am liebsten gebeten hätte, von dem Eingriff doch Abstand zu nehmen. Aber als er das stumme Flehen im Gesicht Heidmanns wahrnahm, und als dieser ihn noch einmal bat: »Bitte, es ist die einzige Chance, die uns bleibt!« nickte er. »Dann wollen wir es versuchen!« Er wandte sich festen Blickes an Johann Heidmann, aus dessen Gesicht die Angst verschwunden war und einem gläubigen Hoffen Platz gemacht hatte. »Gut! Wollen Sie mit der Anästhesie beginnen, Herr Li Hong-Tsin?« »Ich werde beginnen.« Er nahm eine von den Nadeln, stach sie von innen in die Ohrmuschel ein, nahm eine zweite und stach sie daneben. Dann begann er mit einer unglaublichen Geschicklichkeit bei124
de Nadeln zu manipulieren, daß sie sich um die eigene Achse drehten und dabei gleichzeitig millimeterweise auf und ab gezogen wurden. Li Hong-Tsin machte jetzt den Eindruck eines Geschicklichkeitskünstlers, der zur Verblüffung der Zuschauer Tricks vollführt, die diese nicht nachvollziehen können. »Tut es weh?« fragte Dr. Bruckner Dr. Heidmann, der mit geschlossenen Augen dalag und die Prozedur über sich ergehen ließ. »Nein –, es tut nicht weh. Es hat vorhin nur ein ganz klein wenig gestochen, aber das war alles.« »In China drehen wir die Nadeln nicht mehr. Das ist noch die alte Methode. Wir verwenden heute den elektrischen Strom. Wir schließen diese Nadeln einfach an eine normale Batterie an und können damit ebenfalls den Reiz setzen, der notwendig ist, um die Betäubung einzuleiten. Das entlastet den Akupunkteur. Es ist ziemlich anstrengend, diese Wirbelbewegungen durchzuführen; und nicht jeder beherrscht sie. Es gehört schon eine Menge Feingefühl dazu.« »Ich werde aber noch gar nicht müde!« Dr. Heidmann schaute den Chinesen skeptisch an. »Dauert es lange, bis man eingeschlafen ist?« »Sie werden überhaupt nicht einschlafen.« Li Hong-Tsin ließ sich in seiner Tätigkeit nicht stören. Seine Hände wirbelten unablässig beide Nadeln, bewegten sie auf und ab, arbeiteten, als gehe es darum, einen Geschicklichkeitsrekord aufzustellen. »Es wird nur Ihr Leib betäubt. Sie werden während der ganzen Operation bei Bewußtsein bleiben, werden aber keinerlei Schmerzen empfinden.« »Bei vollem Bewußtsein?« Dr. Bruckner schaute den Chinesen irritiert an. »Wissen Sie auch, was Sie da sagen?« Wieder verschwand das Lächeln auf dem Gesicht des Chinesen. »Natürlich weiß ich sehr wohl, was ich sage, aber ich kann es auch verstehen, daß Sie skeptisch sind. Ich war früher, als ich mit der westlichen Medizin zum erstenmal in Berührung kam, auch skeptisch, aber ich habe mich überzeugen lassen. Es kommt immer darauf an, daß man den Erfolg sieht.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ich muß etwa zehn Minuten lang auf dieser Seite die Manipulation durchführen. Dann nehme ich 125
mir das andere Ohr vor. In einer halben Stunde werden Sie mit dem Eingriff beginnen können.«
XI
E
in Herr möchte Sie sprechen!« Professor Bergmann schaute auf seine Uhr. »Um diese Zeit? Was will er denn – ist es ein Patient?« »Ich weiß es nicht. Er sagt, es sei dringend.« Die Chefsekretärin hielt die Hand über die Sprechmuschel und schaute den Besucher an. »In welchem Auftrag kommen Sie?« »Es handelt sich um einen ganz dringenden Fall!« Der junge Mann im Sportanzug trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »Sagen Sie bitte Ihrem Professor, es gehe um Leben und Tod!« »Ich habe mitgehört!« ertönte die Stimme des Professors aus dem Telefon. »Schicken Sie mir den jungen Mann herein!« Seufzend erhob er sich aus seinem Sessel und blickte zur Tür hin. »Mein Name ist Stanko!« Der junge Mann streckte dem Professor ungeniert die Hand entgegen. »Ich möchte einige Fragen an Sie stellen!« Er stellte einen Koffer neben sich auf den Boden, nahm ein Mikrofon heraus und hielt es hoch. »Zwei Ärzte aus Ihrer Klinik sind verschwunden, Dr. Bruckner und Dr. Heidmann, nicht wahr?« Professor Bergmanns Stirn umwölkte sich. Ärgerlich schaute er auf das Mikrofon. »Sie sind doch wohl nicht nur gekommen, um mir das zu erzählen. Das weiß ich bereits …« »Ich komme von der ›Großen Glocke‹. Wir sind daran interessiert, die erste Reportage über diesen Fall zu bringen …« Professor Bergmann hieb mit der Hand auf den Tisch. »Eben haben Sie doch meiner Sekretärin gesagt, es gehe um Leben und Tod …« »Das stimmt doch auch!« Der junge Mann sah Professor Bergmann 126
mit einem gespielt-naiven Ausdruck an. »Es geht um das Leben zweier Männer. Unsere Leser interessiert …« »Machen Sie, daß Sie rauskommen!« Professor Bergmann deutete mit einer unmißverständlichen Geste auf die Tür. »Ich habe keine Zeit für solches Geschwätz. Und ich bin absolut dagegen, daß Sie aus dem schweren Schicksal zweier Menschen eine Sensationsstory machen, die die Spalten Ihrer Zeitung füllt.« »Aber ich bitte Sie, Herr Professor!« Der junge Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »So etwas interessiert doch immerhin einen großen Leserkreis. Schließlich gehört Dr. Bruckner mit zu den prominentesten Ärzten dieser Stadt. Jeder kennt ihn. Jeder will wissen, was …« »Ich habe Sie schon einmal gebeten, zu verschwinden! Sie stehlen mir meine Zeit. Machen Sie sich keine Mühe. Außerdem könnte ich Ihnen – selbst wenn ich wollte – nichts sagen. Ich weiß genausoviel wie Sie. Wahrscheinlich wissen Sie mehr als ich.« »Aber wir können doch etwas über Dr. Bruckner erfahren. Das interessiert unsere Leser.« Er wich vor dem Professor, der ihn zur Tür drängte, immer weiter zurück. »Sie wollen mir also gar nichts sagen?« »Das einzige, was ich sage, ist: Hinaus!« Die Stimme des Professors wirkte so ehrfurchtsgebietend, daß der junge Mann sein Mikrofon wieder einpackte. »Entschuldigen Sie nur!« Im Nu war er aus dem Chefzimmer verschwunden. Er wollte sich anscheinend noch mit der Sekretärin unterhalten, aber der Professor erschien in der Tür. Er wartete, bis der Reporter das Sekretariat verlassen hatte. »Manche dieser Reporter haben Manieren wie Staubsaugervertreter. Vorn schmeißt man sie 'raus, hinten kommen sie wieder herein. Lassen Sie den Kerl nicht wieder in mein Zimmer!« Die Tür flog mit einem lauten Knall zu. Kaum war sie geschlossen, öffnete sich die Tür zum Chefsekretariat wieder. Der Reporter stand in der Tür. »Ist der Chef weg?« »Ja, aber von mir erfahren Sie auch nichts.« »Kann ich Ihren Oberarzt sprechen? Sie haben doch sicher einen. Ich kann es verstehen –«, er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche 127
und hielt sie der Sekretärin hin, die durch ein Kopfschütteln ablehnte, »daß ein Chef kaum Zeit hat, sich mit einem Zeitungsmann zu unterhalten. Aber ich könnte mir denken, daß Ihr Oberarzt etwas mehr Zeit hat. Schließlich geht es um das Ansehen Ihrer Klinik. Eine Notiz in der Zeitung ist die beste Reklame, die Sie sich denken können!« Er nahm kein Auge von der Tür zum Chefzimmer, um sich rechtzeitig zurückziehen zu können, falls der Chef doch noch einmal erscheinen sollte. »Der Oberarzt?« Die Sekretärin schaute unschlüssig auf das Telefon. »Der Chef hat mir nicht verboten, Sie mit dem Oberarzt zu verbinden. Nun gut –«, sie nahm den Hörer auf, wählte eine Nummer und wartete. »Hier ist ein Reporter von –«, fragend schaute sie ihr Gegenüber an. »– von der ›Großen Glocke‹«, ergänzte dieser. »Von der ›Großen Glocke‹!« berichtete die Sekretärin. »Er möchte Sie sprechen.« Sie nickte. »Jawohl, ich werde ihn zu Ihnen schicken.« Sie legte den Hörer auf, erhob sich und ging zur Tür. »Wenn Sie dort den. Gang entlanggehen, dann finden Sie links eine Tür. Es steht ›Oberarzt‹ darauf. Sie können sie nicht verfehlen.«
* »Sie können mit dem Eingriff beginnen. Ich glaube, es ist soweit!« Der Chinese Li Hong-Tsin hatte die Nadeln auch in das linke Ohr gesteckt und sie wieder in jene wirbelnden Bewegungen versetzt, wie er sie schon beim rechten Ohr vorgenommen hatte. »Versuchen Sie es!« Seine Stimme klang nicht mehr so demütig und unterwürfig wie eben. »Fangen Sie nur an!« Es klang wie ein Befehl. Dr. Bruckner zögerte noch ein wenig und sah Heidmann fragend an. »Soll ich es wagen?« »Bitte, es ist meine letzte Chance!« Thomas Bruckner beugte sich über Heidmanns Leib. Er griff nach dem Messer und zögerte. »Es widerstrebt mir eigentlich –«, er versuch128
te noch einmal, in dem Gesicht des Chinesen eine Bestätigung zu erhalten. Er wollte sich vergewissern, ob dieser nicht vielleicht irrsinnig geworden war und nun etwas behauptete, was er nicht erfüllen konnte, weil es absurd war. »Fangen Sie schon an!« mahnte ihn die Stimme des Asiaten, der sich immer noch mit dem linken Ohr abmühte. »Die Anästhesie hält einige Stunden an. Ich weiß ja nicht, wie lange Ihr Eingriff dauern wird.« »Normalerweise fünfzehn Minuten. Aber unter diesen Bedingungen –«, Dr. Bruckner vollendete seinen Satz nicht. Er drückte mit dem Finger auf den Leib – vorsichtig und zart –, und als Dr. Heidmann keinerlei Schmerzäußerung von sich gab, drückte er tiefer ein. »Es tut nicht weh?« Dr. Heidmann schaute erstaunt auf. »Was soll weh tun?« »Ich drücke doch die ganze Zeit den Leib ein. Das haben Sie vorhin nicht ausgehalten.« »Ich merke nichts. Die ganze Gegend ist wie tot.« Er blickte hoch, schaute auf den Finger Dr. Bruckners, den dieser tief in den Leib eingedrückt hatte. »Das grenzt ja an Wunder!« »Es ist wirklich ein Wunder!« Thomas Bruckner schaute ehrfürchtig den Chinesen an, in dessen Gesicht sich keine Miene regte. »Warum wissen wir in Europa nichts von dieser Möglichkeit?« »Weil man in Europa alles ablehnt, was nicht einer exakten Wissenschaft entstammt. Aber, nun fangen Sie an!« Dr. Bruckner schaute noch einmal zu Li Hong-Tsin hin, dann drückte er das Messer auf den Leib. Er schnitt zunächst ganz vorsichtig und nur einige Millimeter weit. Als Dr. Heidmann jedoch keinerlei Schmerzen äußerte, wurde er mutiger. In kniender Stellung arbeitete er, legte den Schnitt auf der rechten Bauchseite und führte ihn senkrecht am Rande des langen Bauchmuskels entlang, der deutlich zu erkennen war. Es blutete. Dr. Bruckner nahm eine Klemme und verschloß die durchtrennte Ader. Er hatte die Haut durchschnitten. Die Muskelhülle kam zum Vorschein. Immer wieder wanderten seine Blicke zwischen 129
dem Operationsfeld und Dr. Heidmanns Gesicht hin und her. Die anfängliche Skepsis schwand mehr und mehr. »Ich danke Ihnen!« rief er Li Hong-Tsin befreit zu, der sich auf die andere Seite Dr. Heidmanns gekniet hatte und nun ebenfalls nach einer Klemme griff, als eine neue Blutung auftrat. »Haben Sie etwa auch Medizin studiert?« Li Hong-Tsin nickte. »Aber nicht die moderne Medizin. In China gibt es zwei Möglichkeiten. Wir können die traditionelle Medizin studieren; das habe ich getan. Aber ich bin schon älter. Heute wird beides gelehrt – die Tradition und die moderne Medizin. Einer lernt vom anderen, und einer befruchtet den anderen!« Er assistierte Dr. Bruckner so geschickt, daß dieser ihm bewundernd zurief: »Man hat den Eindruck, daß Sie mehr von der modernen Medizin als von der traditionellen verstehen!« Li Hong-Tsin lächelte wehmütig. »Ich habe leider die Medizin aufgeben müssen. Ich habe mich der Politik zugewandt. Es waren persönliche Gründe dafür maßgebend …« Dr. Bruckner hatte inzwischen den Muskel gelöst. »Würden Sie bitte den Muskelbauch beiseite halten? Ich habe keine Haken. Wir müssen improvisieren.« »Aber selbstverständlich!« Li Hong-Tsin krümmte seine Finger so, daß er unter den Muskel greifen und ihn zur Seite ziehen konnte. Dr. Bruckner packte mit der Pinzette die Faszie, ritzte sie mit dem Skalpell an, drückte etwas tiefer, bis er die derbe Gewebehülle durchtrennt hatte und ein Zipfel des großen Netzes zu sehen war. Dr. Thomas Bruckner steckte den Finger in das Loch. Auf dem Finger schnitt er sorgfältig das Bauchfell in breiter Ausdehnung auf. »Es tut nicht weh?« Seine Stimme klang erstaunt. Fragend schaute er Dr. Heidmann an, der zufrieden dalag. »Ich merke, daß Sie etwas mit mir machen, aber ich habe keine Schmerzen.« »Ich kann es immer noch nicht glauben!« Dr. Bruckner griff vorsichtig in die Tiefe der Wunde hinein und tastete die Bauchhöhle aus. Sein Gesicht wurde ernst. »Das fühlt sich nicht sehr gut an.« Er erweiterte den Schnitt ein wenig nach oben und unten. Mit dem 130
hakenförmig gekrümmten Finger griff er in die Tiefe und zog langsam. Er hielt seinen Blick dabei auf Dr. Heidmanns Gesicht gerichtet, um sich keine Bewegung entgehen zu lassen. Nur einmal verzog der Patient sein Gesicht. Der Chinese mischte sich ein: »Der Zug am Peritoneum kann mitunter schmerzhaft sein!« erklärte er. »Können Sie es aushalten?« Dr. Heidmann nickte. »Es wird gehen.« Aus der Wunde kam ein dickes, grünlich-gelbes Paket hervor, das in sich zusammengebacken war. Mit unendlicher Sorgfalt brachte Dr. Bruckner es vor die Wunde. »Da hat die Natur sich selbst geholfen! Sie hat den Appendix vollkommen mit einem Schutzwall versehen und ihn abgekapselt.« Dr. Bruckner löste mit den Fingern vorsichtig die Verwachsungen. »Da ist der Übeltäter!« Dick geschwollen, grünlich-gelb lag der Wurmfortsatz mitten in dem zusammengebackenen Gewebe. Dr. Bruckner legte eine Klemme an die Basis. Der Wurmfortsatz war so morsch, daß die Klemme ihn einfach durchschnitt. »Ich muß die Umgebung auf den Stumpf aufnähen!« Thomas Bruckner griff nach der eingefädelten Nadel, klickte sie in den Nadelhalter ein und legte eine kreisförmige Naht in weiter Entfernung durch das Gewebe, das den verrotteten Wurmfortsatz umgab. Mit einer Pinzette griff er dann nach dem Übeltäter. Er schnitt ihn an der bereits vorhandenen durchquetschten Stelle ganz ab und zog die Naht langsam zusammen. Der Stumpf des Wurmfortsatzes verschwand in der Tiefe. Der abgeschnittene Wurmfortsatz selbst lag auf dem Boden, wo ihn Dr. Bruckner hingeworfen hatte. Der Chinese verzog die Nase. »Er stinkt!« kommentierte er den Zustand des kranken Wurmfortsatzes. »Kein Wunder, daß es Ihnen so schlecht ging.« »Nun ist alles in Ordnung!« Dr. Bruckner nahm einen Tupfer aus dem Notfallkästchen, zog ihn zu einem Streifen auseinander, legte das eine Ende auf die Nahtstelle und das andere auf die Bauchhaut. »Ich habe keinen Drän da. Ich hoffe, daß dieser Streifen ausreichen wird, um eventuellen Eiter nach außen zu leiten.« 131
Während er sprach, hatte er mit ein paar Stichen die derbe Gewebehülle zusammengenäht. Die Haut wurde geschlossen. Nur der Streifen ragte noch aus der Wunde hervor. »Zum Glück ist kein Faden gerissen!« Dr. Bruckner warf erleichtert den Nadelhalter in den Kasten zurück. »Sonst hätte ich mit der Naht nicht ausgereicht. Es war genausoviel Nahtmaterial da, wie ich brauchte, um die Operation zu beenden.« Er klebte Heftpflaster über die Wunde. »Und nun werde ich Ihnen die letzte Spritze Dolantin geben, damit kein Wundschmerz auftritt!« Dr. Bruckner griff nach der Ampulle. Aber Li Hong-Tsin hielt seinen Arm fest. »Das brauchen Sie nicht! Die Schmerzfreiheit nach einer Akupunktur-Anästhesie hält einige Stunden an. Und das ist gerade die Zeit, in die der Wundschmerz fällt.« »Die Operation haben wir hinter uns.« Der Chinese half Dr. Bruckner, die Instrumente in dem Kästchen zu verstauen. »Nun bleibt uns nur noch die Hoffnung, daß wir hier gefunden werden, sonst …« »… war die Operation unnötig!« vollendete Johann Heidmann leise den Satz.
XII
I
ch habe eben mit Herrn Professor Bergmann gesprochen!« Der Reporter der ›Großen Glocke‹ ging mit ausgestreckten Händen auf den Oberarzt zu. »Und er hat mich an Sie verwiesen.« Dann holte er von neuem sein Mikrofon heraus. »Würden Sie uns wohl bitte etwas über das tragische Schicksal Ihrer Kollegen Dr. Bruckner und Dr. Heidmann sagen. Wir haben erfahren, daß keine Hoffnung mehr für sie besteht. Ich habe bereits den Herrn Konsul interviewt. Ich möchte jetzt noch, um das Lebensbild Dr. Bruckners abzurunden, etwas über ihn wissen. Was war er für ein Mensch?« 132
Er richtete das Mikrofon auf Dr. Wagners Mund. »Dr. Thomas Bruckner –«, Oberarzt Wagner rückte nervös an seiner Brille, »war immer ein treuer und ausgezeichneter Mitarbeiter. Sein Ruf als Chirurg ist sehr groß. Wir haben bestens miteinander gearbeitet. Ich könnte mir keinen besseren Mitarbeiter vorstellen. Man hat Ihnen gesagt, daß keine Hoffnung auf Rettung besteht?« Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Zipfel seines weißen Mantels. »Nein, die Suchaktionen sind abgebrochen. Wir bringen es ganz groß als Schlagzeile heute abend. Wir sind die ersten, die darüber berichten. Darf ich Sie bitten, sich einmal dort hinzustellen!« Der Reporter hatte einen Fotoapparat aus seiner Tasche herausgenommen und schob Dr. Wagner in eine Ecke. »So – und nun senken Sie den Kopf ein wenig –, noch ein wenig mehr –, so ist es recht!« Es klickte ein paarmal. »Es tut mir leid, das mit den beiden Kollegen.« Er packte seine Sachen ein. »Ich werde Ihnen ein Exemplar unseres Blattes schicken. Es wird Sie doch sicher interessieren. Man steht ja nicht jeden Tag in der Zeitung!« Bevor Dr. Wagner noch etwas sagen konnte, hatte der Reporter schon seine Tasche geschultert und war verschwunden. Schwester Angelika kam aus dem Nebenzimmer. Sie schüttelte den Kopf. »Man sollte meinen, daß Sie und Dr. Bruckner die besten Freunde gewesen seien.« »Das waren wir im Grunde genommen ja auch!« Oberarzt Wagner ging zur Tür. »Es tut mir nur leid für Sie. Sie müssen sich nun an einen neuen Stationsarzt gewöhnen. Ich weiß –«, er kam noch einmal zurück und legte seine Hand auf die Schulter der alten Schwester, »daß Sie wohl am meisten darunter leiden; aber es hilft ja nichts, so spielt halt das Schicksal.«
* »Wovon können wir uns ernähren? Ich kenne die Früchte des Urwaldes nicht. Da besteht doch immer die Gefahr, daß man irgend etwas zu sich nimmt, das giftig ist.« 133
»Das stimmt. Im Grunde genommen weiß ich auch nicht viel darüber«, erwiderte Li Hong-Tsin. »Ich hatte eigentlich vor, an dem Fluß entlang zu wandern, aber vielleicht sollte ich lieber hierbleiben und –«, er unterbrach sich. Draußen ertönten Stimmen. Er lief zum Eingang der Schilfhütte und schaute hinaus. »Es sind tatsächlich Indios!« verkündete er. Er rannte hinaus. Dr. Bruckner folgte ihm. »Ich glaube, wir sind gerettet.« Er stutzte. »Oder doch nicht?« »Wieso?« Johann Heidmann hatte sich halb aufgerichtet. Besorgt schaute er Dr. Bruckner an. »Sie laufen wieder weg. Sie schreien. Es sieht aus, als hätten sie Angst. Unser Chinese läuft ihnen nach. Er ruft ihnen etwas zu …« Er berichtete so, wie ein Sportreporter im Radio über den Verlauf eines Spieles berichtet, das die Hörer nicht sehen können. »Er spricht mit ihnen, anscheinend versteht er ihre Sprache. Sie kommen auf uns zu. Ich glaube, wir haben alles überstanden.« Er trat zur Seite, um den Chinesen in das Innere der Hütte zu lassen. »Die Indios wurden auf uns aufmerksam, als ich vorhin mein Rauchzeichen losließ, um den Hubschrauberpiloten zu benachrichtigen. Er hat es nicht gesehen, aber sie haben den Rauch bemerkt und sind hergekommen. Dann hat also dieser Versuch doch etwas Gutes gehabt. Sonst –«, er seufzte tief auf, »wären wir wahrscheinlich verloren gewesen.«
* Die Indios trugen Johann Heidmann vorsichtig zu einem Kanu, das sie im Schilf versteckt hatten. In einem Geleitzug fuhren sie dann den Fluß hinunter, bis sie zu einer Missionsstation kamen. Die Missionare staunten, als sie die drei Männer erblickten. Sie setzten sich mit der Hauptstadt in Verbindung. Ein Hubschrauber kam und brachte die drei wiedergefundenen Männer nach Rio. »Ein Pech haben wir –«, Dr. Bruckner saß neben dem Bett Dr. Heid134
manns, den man in ein Krankenhaus gebracht hatte, »denn wir haben unsere Vorträge nicht halten können. Es ist eigentlich schade. Nun, vielleicht ein andermal!« Er erhob sich, als der Stationsarzt das Zimmer betrat. Anerkennend klopfte er Dr. Bruckner auf die Schulter. »Sie haben eine wunderbare Arbeit geleistet. Ich habe es selten erlebt, daß eine Appendektomie, die unter so primitiven Verhältnissen vorgenommen werden mußte, so erfolgreich verlaufen ist.« Dr. Bruckner wies bescheiden auf Li Hong-Tsin. »Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich nicht operieren können. Ich danke Ihnen noch einmal von ganzem Herzen.« Das Lächeln auf dem Gesicht des Chinesen vertiefte sich. »Machen Sie unsere Methode in Europa bekannt. Ich glaube, man sollte Ihre Studenten zu uns schicken, damit sie auch die traditionelle chinesische Medizin erlernen. Eins schließt das andere nicht aus. Sie vereinen ja auch die sogenannte Schulmedizin mit der überlieferten Medizin. Ihre Ärzte führen die Kuren des Pfarrers Kneipp durch. Sie machen Schrotkuren – und der Erfinder war doch nur ein Fuhrmann. Und sie behandeln nach Prießnitz, der auch niemals Medizin studiert hatte. Aber davon können wir später reden. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht!« Er reichte Dr. Bruckner eine Zeitung. »Ich fand sie heute morgen am Kiosk des Hauptbahnhofs. Da, kennen Sie diesen Herrn?« »Dr. Wagner!« riefen beide wie aus einem Mund. Ein Oberarzt trauert um den Tod seines besten Freundes! stand als Text unter dem Foto. Dr. Heidmann und Dr. Bruckner schauten sich verblüfft an. »Dann hält man uns also für tot?« »Und für solch gute Menschen, wie es keine zweiten auf der Welt mehr gibt!« führte der Chinese den Satz zu Ende. »Sie sehen, man muß erst einmal tot sein, um zu wissen, wie gut man eigentlich ist!« »Aber inzwischen weiß man doch, daß wir leben!« »Selbstverständlich, aber die Zeitung ist ja auch schon zwei Tage alt. Schneller kommen die Zeitungen aus Übersee nicht hierher!« 135
* »Man könnte meinen, Sie bereiten eine Hochzeit vor!« Oberarzt Dr. Wagner stand kopfschüttelnd im Dienstzimmer der Station, über welche Schwester Angelika regierte. »Es ist mehr als eine Hochzeit. Wenn jemand von den Toten auferstanden ist, muß man das entsprechend feiern. Da –«, sie hielt Oberarzt Wagner eine Liste hin, »– Sie haben sich noch nicht eingetragen.« »Eingetragen?« Kopfschüttelnd nahm Oberarzt Wagner den Zettel entgegen. »Wofür?« »Für eine Spende. Die Blumen sind von den Kollegen gekauft. Jeder hat einen Betrag gegeben. Wir haben Sie bisher noch nicht gefragt, aber ich bin überzeugt, daß Sie ebenfalls …« Oberarzt Wagner griff in die Tasche. »Wenn es sein muß!« Er nahm sein Portemonnaie heraus. Einen Augenblick lang zögerte er, dann reichte er Schwester Angelika einen Schein. »Ich kann aber nicht herausgeben.« Oberarzt Wagner rückte nervös an seiner Brille. »Das sollen Sie auch nicht. Kaufen Sie dafür eine besonders schöne Pflanze. Vielleicht irgend etwas, was man aufbewahren kann. Eine Topfpflanze. Vielleicht eine kleine Palme – als Erinnerung an den Urwald?« »Fünfzig Mark?« Schwester Angelika schaute immer noch ungläubig auf den Geldschein. »Sie wissen doch, daß Sie mir einen Fünfzigmarkschein gegeben haben?« »Aber natürlich! Letzten Endes freue ich mich ja, daß Dr. Bruckner und Dr. Heidmann noch am Leben sind.«
* »Man kann Sie beide auch wirklich nirgendwo hinschicken. Immer passiert etwas!« Professor Bergmann empfing Dr. Bruckner und Dr. Heidmann, als diese in die Klinik zurückkehrten. »Aber nun, meine ich, haben Sie 136
erst einmal ein paar Tage Urlaub verdient. Nach diesen Anstrengungen ist das notwendig. Nur habe ich Sorgen, Sie in Urlaub zu schicken. Ich bin überzeugt, es passiert wieder etwas!« »Vielleicht fahren wir nur in die Eifel. Da sind wir vor größeren Abenteuern sicher!« Es klopfte. Eine Schwester trat ein. Sie schaute erschrocken Professor Bergmann an. »Ich wußte nicht, daß Sie hier sind, Herr Professor, entschuldigen Sie!« »Das macht nichts. Oder haben Sie Angst, ich beiße?« »Nein, das nicht. Aber –«, sie schaute verlegen auf ein Kästchen, das sie in der Hand hielt, »ich sollte das abgeben. Ein Bote hat es gebracht. Es ist für Dr. Bruckner!« fügte sie hinzu. Thomas Bruckner nahm das Pappkästchen entgegen. Kopfschüttelnd betrachtete er es. »Es wird doch hoffentlich keine Bombe sein? Nach dieser Flugzeugentführung bin ich auf alles vorbereitet.« »Halten Sie es doch mal ans Ohr, ob es tickt!« schlug Oberarzt Wagner vor, der neugierig nähergetreten war. »Es tickt nicht!« Als er das neugierige Gesicht des Oberarztes sah, steckte Bruckner das Kästchen ein. »Dann kann ich es ja beruhigt in die Tasche stecken und nachher öffnen.« Professor Bergmann mischte sich ein: »Unser Oberarzt ist ja so neugierig, was da drin ist. Ich übrigens auch! öffnen Sie es nur.« »Nun – meinetwegen!« Bruckner öffnete betont langsam die Verpackung. Dr. Wagner war ganz nahe an den Tisch herangetreten, über dem Thomas Bruckner das Kästchen öffnete. »Das sind ja Nadeln!« Er faßte nach seiner Brille. »Wozu schickt man Ihnen Nadeln?« »Das sind Akupunkturnadeln«, erklärte Dr. Bruckner. »Ich erzählte Ihnen ja, daß wir Heidmanns Operation unter einer Akupunktur-Anästhesie durchgeführt haben.« »Ach, das ist doch nur Einbildung!« Wagner regte sich sofort wieder auf. »Sie können mir doch nicht weismachen, daß man durch Einstechen von Nadeln ins Ohr den Bauch schmerzfrei kriegt! Machen Sie mir das einmal vor! Dann glaube ich es.« 137
Dr. Bruckner betrachtete versonnen die goldenen Nadeln, die in dem Kästchen lagen. Dann klappte er den Deckel zu. »Ich beherrsche die Methode leider nicht, aber hier ist ein Brief.« Er faltete ihn auseinander, las ihn und reichte ihn dann Professor Bergmann. »Es sieht so aus, als ob wir die Methode auch bei uns einführen können. Herr Dr. Li Hong-Tsin will in der nächsten Zeit nach Deutschland kommen und sie bei uns vorführen.« »Aber er ist doch kein approbierter Arzt!« regte sich der Oberarzt auf. »Und es ist nach unserer Standesordnung streng verboten …« Professor Bergmann unterbrach den Redefluß und reichte Dr. Bruckner lächelnd den Brief zurück. »Schreiben Sie ihm, daß ich mich freue, ihn zu empfangen.« Dann schaute er über seine Brille den Oberarzt an. »Sie sollten wirklich manchmal darauf verzichten, Kollege Wagner, alles allzu wörtlich auszulegen. Ein Genie setzt sich über Vorschriften dann hinweg, wenn sie unsinnig sind. Das trifft sicher für diesen Fall zu. In der Volksmedizin liegen noch viele Geheimnisse, die ihrer Lösung harren. Wir können sie aber nur lösen und für unsere sogenannte Schulmedizin dienstbar machen, wenn wir ihnen aufgeschlossen gegenübertreten. Wir dürfen uns nicht ablehnend verhalten. Ich bin überzeugt davon, daß manches Kräuterweiblein uns noch einiges lehren könnte.«
138
Der Fachmann schreibt: Die Akupunktur der Chinesen ist eine traditionelle Heilmethode, die sich aus religiös-philosophischen Vorstellungen entwickelt hat. Sie ist etwa zweitausend Jahre alt und basiert auf der Vorstellung, daß in jedem Menschen zwei Gegensätze wirksam sind: Yin und Yang = positiv und negativ. Gesundheit besteht immer dann, wenn beide Pole sich die Waage halten, sich also im Gleichgewicht befinden. Krankheit entsteht durch Verschiebung eines der beiden Pole nach einer Seite hin, so daß einer von ihnen das Übergewicht bekommt. Mit Hilfe der Akupunktur gelingt es nun, das Gleichgewicht und damit die Gesundheit wiederherzustellen. Die Akupunktur wird mit feinen Nadeln aus Gold, Silber und neuerdings auch aus rostfreiem Stahl durchgeführt. Das Material ist nicht ausschlaggebend. Der Arzt sticht sie einige Millimeter tief in die Haut, an ganz bestimmten, traditionell festgelegten Punkten ein und läßt sie dort etwa zehn bis dreißig Minuten lang stecken. Die alten chinesischen Ärzte wollen mit dieser Methode alle möglichen Leiden geheilt haben. Die westliche Medizin hat die Akupunktur fast allgemein abgelehnt. Laien haben sich deshalb bei uns ihrer angenommen und sie ausgeübt. Aber da sie beim Einstechen der Nadeln in die Haut nicht immer die notwendige Sauberkeit walten ließen, entstanden manchmal Infektionen, die in einigen Fällen den Kranken sogar das Leben gekostet haben. Neben dieser traditionellen Akupunktur zu Heilzwecken haben die Chinesen nun neuerdings ein System der Akupunktur entwickelt, das es gestattet, selbst größere Operationen ohne Betäubung auszuführen, wie es in diesem Roman geschildert wird. Amerikanische nüchterne Wissenschaftler haben sich von der Wirksamkeit dieser Methode überzeugen können. Es gelang tatsächlich, einen Menschen mit der Akupunktur örtlich so zu betäuben, daß er die Operation ohne jegliche Schmerzen überstand. Bei dieser Methode werden die Nadeln
nicht einfach eingestochen und liegen gelassen. Der Anästhesist läßt sie in schnellem Tempo nach dem Einstechen rotieren, oder er schließt sie der Einfachheit halber an eine schwache elektrische Batterie an. Die Einstichstellen der Nadeln entsprechen den traditionellen Akupunkturstellen. Zur Operation einer Schilddrüse beispielsweise stach man die Nadeln in den Unterarm und in das Handgelenk; beim Eingriff am Magen in beide Ohrmuscheln. Die Betäubung war so vollkommen, daß die Patienten vom Eingriff nichts verspürten und sich sogar angeregt mit ihren Chirurgen unterhielten. Auch der Nachschmerz blieb aus; die Akupunkturbetäubung hält noch einige Stunden nach beendeter Operation an. Wie die Akupunktur wissenschaftlich zu erklären ist, weiß man nicht. Man weiß nur, daß sie wirksam ist; denn man hat sie bei über eintausendfünfhundert Patienten mit Erfolg angewendet. Wahrscheinlich geht die Wirkung von den Nervenenden aus, die in den Akupunkturstellen liegen; denn betäubt man die entsprechenden Hautstellen vor dem Einstechen der Akupunkturnadeln mit Novokain, so bleibt die Betäubung im gewünschten Gebiet aus, weil das Novokain ja die Nervenleitung unterbrochen hat. Dr. med. Peter Sebastian
Medizinisches Wörterbuch: Abszeß
Eiteransammlung in einer nicht vorgebildeten Körperhöhle Akupunktur alte chinesische Heilmethode akut unvermittelt auftretend Ampulle geschlossenes Glasröhrchen mit keimfreien Lösungen zum Einspritzen Anästhesie Betäubung Anästhesist Facharzt für Betäubungen Antibiotikum Mittel gegen Infektionen (s. d.) Appendektomie operative Entfernung des Wurmfortsatzes Appendix Wurmfortsatz (»Blinddarm« gen.) Appendizitis Entzündung des Wurmfortsatzes approbiert bestätigt, zugelassen Bakterie einzelliges Lebewesen (Spaltpilz), oft Krankheitserreger Bronchogramm röntgenologische Darstellung der Luftrohrenäste Desinfektion Vernichtung von Krankheitserregern diagnostizieren eine Krankheit erkennen, bestimmen Diathermie Wärmeerzeugung durch elektrischen Strom für medizinische Zwecke diffus ungeordnet, zerstreut dissimulieren eine Krankheit vertuschen Dolantin starkes Schmerzmittel Dränage Ableitung von Flüssigkeitsansammlungen im Körper mittels Gummi- oder Glasröhrchen (Drän) euphorisieren in eine glückliche Stimmung versetzen Faszie derbe Gewebeplatte Infektion Ansteckung, Entzündung Injektion Einspritzung instillieren einträufeln
Inzision Einschnitt isolieren absondern, getrennt halten Kanüle Röhrchen, auch Hohlnadel Librium Beruhigungsmittel Lokal-Anästhetikum örtliches Betäubungsmittel MacBurney eine nach dem amerikanischen Arzt MacBurney (1845 – 1913) genannte druckempfindliche Stelle im rechten Unterbauch bei Appendizitis Novokain wichtiges Mittel zur örtlichen Betäubung pararectal neben dem geraden Bauchmuskel gelegen Penizillin Antibiotikum (s. d.), meist aus Pilzkulturen gewonnen Perforation, perforieren Durchbruch, durchbrechen Peritoneum Bauchfell Peritonitis Bauchfellentzündung Pinzette Greif-, Federzange Prognose Voraussage über den Verlauf einer Krankheit Resistenz Widerstandsfähigkeit Sinologie Chinakunde Skalpell feststehendes chirurgisches Messer steril keimfrei Streptomycin Antibiotikum gegen bestimmte Erreger