Die gläserne Oase Maddrax Band 65 von Ronald M. Hahn
Juli 2518 Juneau, die alte alaskanische Hauptstadt, lag nun so we...
21 downloads
659 Views
505KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die gläserne Oase Maddrax Band 65 von Ronald M. Hahn
Juli 2518 Juneau, die alte alaskanische Hauptstadt, lag nun so weit hinter ihnen, dass die Erinnerung an sie schon verblasste. Rechts und links breiteten sich scheinbar endlose Schneeflächen und steinige Erhebungen aus. Die grelle Sonne ließ die Kristalle glitzern, sodass Matt, Aiko und Aruula gezwungen waren, ihre Augen mit dunklen Brillen zu schützen. Der stromlinienförmige, ultraleichte Eissegler, mit dem sie seit Wochen im hohen Norden unterwegs waren, jagte auf knirschenden Kufen dahin. Es war wie auf einer Rennbahn; sie brauchten nur selten einem Hindernis auszuweichen. Unter ihnen glitzerte das spiegelglatte Eis des einst mächtigen Yukonstroms, der kurz hinter dem kanadischen Lake Lindeman entsprang und durch eine zerklüftete, fantastische Landschaft bis an die Beringstraße führte.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt. Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde. Der Wettlauf zum Kometenkrater, wo sich laut der ISS-Daten vielfaltiges Leben entwickelt haben soll, hat begonnen! Doch Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko sind nicht die Einzigen, die sich auf den Weg machen! Der sogenannte Weltrat (WCA) ist der Nachfolger der US-Regierung. Doch Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow setzen ihre Ziele unerbittlich durch, indem sie barbarische Völker unterstützen, die andere Zivilisationen ständig angreifen und so klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA- Expedition, begleitet von Professor Dr. Jacob Smythe, der mit Matt Drax aus der Vergange nheit kam, wahnsinnig wurde und Allmachtsfantasien entwickelte. Auch Matts Freund, der Barbarenhäuptling Pieroo hat sich aus finanziellen Gründen dem Unternehmen angeschlossen. Die zweite Fraktion, die ebenfalls von Washington aus aufbricht, ist eine Rebellengruppe namens
Running Men, die gegen den Weltrat kämpft Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Mit dabei sind u. a. Philipp Hollyday, der eine Gedächtnis-Kopie Professor Dave McKenzies in sich trägt, eines alten Kameraden von Matthew Drax, und Merlin Roots, der früher als WCA-Agent das Nordmann-Projekt m Skandinavien leitete. Matt, Aruula und Aiko machen sich von Los Angeles aus mit Magnetgleitern auf den Weg. Durch ein Experiment hat Aruula ihre telepathischen Kräfte eingebüßt - was bei den Gefahren, denen sich die Gruppe stellen muss, nicht hilfreich ist. Im versunkenen San Francisco treffen sie auf Menschen und Hydriten, die eine neue Spezies entstehen lassen: die mental begabten Mendriten. In Portland versagen wegen der Nähe zum magnetischen Pol die Gleiter; man steigt auf ein Schiff zur Eisgrenze um, wo ein mitgeführter Eissegler zusammengesetzt wird. Nach einigen gefahrvollen Zwischenstationen fahren die Freunde nun an der Westküste der ehemaligen USA entlang hinauf nach Alaska. *** Commander Matthew Drax, vor etwas mehr als fünfhundert Jahren Pilot der US Air Force, schaute durch die gebogene Frontscheibe ins Freie und stieß einen leisen Seufzer aus. »Müde?« Aiko Tsuyoshi, dessen schlanke bionische Finger das Gefährt lenkten, drehte den Kopf und schenkte seinem Begleiter auf dieser Expedition einen kurzen Blick. Aruula saß mit angezogenen Knien auf dem hintersten dritten Sitz und musterte die Landschaft. Sie war Schnee und Eis schon von früher gewohnt. Als Matt sie kennen gelernt hatte, war sie mit einer barbarischen Horde in den Schweizer Alpen unterwegs gewesen. Mit Sicherheit hatte sie sich damals nicht träumen lassen, einen anderen Kontinent zu besuchen. Wenn man es
genau nahm, hatte sie nicht mal von der Existenz anderer Erdteile gewusst. »Müde? Nein.« Matt schüttelte den Kopf. »Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie diese Landschaft im Sommer aussieht.« Er verbesserte sich: »Wie sie im Sommer ausgesehen hat - vor mehr als fünf Jahrhunderten.« »Du warst schon mal hier?« Aiko wandte sich wieder nach vorn, denn so selten Hindernisse hier auch waren - im Bett des Yukon gab es zahlreiche, oft felsige Inseln, und deren Spitzen ragten auch heute noch aus dem Eis hervor. »Ja... ich war neunzehn oder so.« Matt erinnerte sich an fantastische Farben, an das im Herbst vorherrschende Rotbraun, an Elche mit gigantischen Geweihen, an voluminöse Bären, putzige kleine Füchse und majestätisch in den Lüften kreisende Weißkopfadler. Nun wirkte ihre Umgebung tatsächlich wie tot, in ewigem Schnee und Eis erstarrt. Die weiten kanadischen Wälder waren verschwunden. Nichts regte sich mehr. Außer der Luft. Mit einem Sommer war hier nicht mehr zu rechnen. Nach dem katastrophalen Aufschlag des Kometen »Christopher-Floyd« im Jahre 2012 hatten sich die irdischen Polkappen verschoben. Der Nordpol befand sich nun in der Gegend von Edmonton. Matt fragte sich, ob Edmonton selbst noch existierte. Die Stadt lag, von ihrer momentanen Position aus gesehen, tief im Südwesten. Aber die Chancen waren gering: Die permanente Dunkelheit, die sich nach der Kometenkatastrophe ungezählte Jahre über die Erde gesenkt hatte, musste den größten Teil des menschlichen und das gesamte tierische Leben vernichtet haben. Bei der Vorstellung, er hätte nach dem entsetzlichen Geschehen aus einem Bunker kriechen und feststellen müssen, dass die Sonne nicht mehr aufging, schüttelte er sich. Als Mensch, der diesem Desaster auf wundersame - und noch immer nicht hundertprozentig geklärte - Weise entgangen war, konnte er sich nur schwer vorstellen, wie er auf diese Erkenntnis
reagiert hätte. Unglaubliche Dinge mussten sich damals abgespielt haben. Wahrscheinlich hatte nur einer von tausend Menschen überlebt. Natürlich hatte es immer Menschen gegeben, die mit Kriegen gerechnet und sich dementsprechend vorbereitet hatten. Doch was nützte einem der schönste Schutzbunker unter dem Eigenheim, wenn man irgendwann zur Kenntnis nehmen musste, dass das Dunkel vielleicht dreißig Jahre dauerte? Kein Tier, kein Baum, kein Weizenkorn konnte eine solche Zeitspanne überleben. Matt dachte an Kannibalismus. Und schüttelte sich erneut. ›Denk lieber an was anderes...‹ Er richtete den Blick nach vorn. Der Eissegler fegte am alten Klondike Highway entlang. Von der betonierten Straße war zwar nichts mehr zu sehen, aber Matthew Drax kannte ihre Position. Es würde nicht mehr lange dauern, dann mussten sie an die Stelle kommen, an der der Stewart River in den Yukon mündete. Dort bog auch der Silver Trail Highway ab. Er führte nach Nordosten und endete in Mayo. Dass Mayo noch existierte, war nicht anzunehmen; das Dorf hatte schon in Matts jungen Jahren nur aus einigen Dutzend ein- und zweistöckigen Holzhäusern bestanden. Früher hatte man in der Umgebung von Mayo, Keno und Elsa reichlich Beeren sammeln können. Heute sagten sich dort vermutlich nur noch mutierte Schneehasen gute Nacht. Auch die größeren Orte, an denen sie in den vergangenen Tagen vorbeigekommen waren, hatten die Jahrhunderte nicht überstanden: Skagway, Ende des 19. Jahrhunderts das Tor zu den Goldfeldern des Nordwest-Territoriums, war - abgesehen von der Ruine des Rathauses, einem der wenigen Steingebäude ebenso von der Landkarte gefegt, wie Jahrzehnte vor der Katastrophe Dyea. Whitehorse, die Hauptstadt des Territoriums, eine Stadt mit immerhin fünfundzwanzigtausend Einwohnern, war ein von rostzerfressenen Auto- und Buswracks umgebenes
Trümmerfeld. Carmacks, zu Anfang des 21. Jahrhunderts kaum mehr als eine Raststätte für Elchjäger und Touristen, war der nächste Punkt auf Matts geistiger Landkarte, doch er rechnete nicht damit, auf mehr als ein paar Balken, Bretter und rostige Ölfässer zu stoßen. Ebenso wenig rechnete er damit, in dieser Gegend Motorengebrumm zu hören. Doch er hörte es, und zwar eindeutig. Sein Kopf ruckte hoch. Aruula regte sich hinter ihm. Aiko schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. Seine mandelförmigen Augen blickten ebenso verdutzt wie die der Barbarin, die instinktiv nach der langen Klinge tastete, mit der sie Matt schon mehr als einmal aus einer gefährlichen Situa tion gerettet hatte. »Was ist das?«, hauchte Aruula aufgeregt. »Ein Tier?« Matt spitzte die Ohren und schaute aufs Ostufer des Yukon, sah jedoch nichts. Auch an der westlichen Seite dehnten sich Eis und Schnee in endlose Weiten. Aiko brummte: »Eine Maschine...?« War es tatsächlich möglich? Matts Blick wanderte aufgeregt zum Ostufer zurück. In Vancouver waren sie einem Trupp deutscher Soldaten begegnet; Nachfahren einer Anfang des 21. Jahrhunderts im kanadischen Nordwesten stationierten KSKEinheit. Er wusste, dass sie aus dem Norden stammten und ihre Ahnen die letzten Jahrhunderte in einer unterirdischen Anlage namens Camp Bismarck verbracht hatten. Leider hatte er nicht in Erfahrung bringen können, wo Oberst Hartwig und seine Deserteure genau herkamen. Ihne n war nicht daran gelegen, dass ihre ehemalige Führung erfuhr, wo sie nun ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Hartwig und sein Verband hatten über Kettenpanzer verfügt. Und Panzer wurden nun mal von Motoren angetrieben. Also... »Maddrax! Da!« Aruulas Rechte berührte Matts Schulter. Er fuhr herum und folgte ihrem Blick. Die schwarzhaarige Frau
deutete mit ausgestrecktem Arm... nach oben! Ihr Mund stand offen; ihr Blick zeigte höchste Überraschung. Auch Matt riss verblüfft die Augen auf. »Was ist es?«, fragte Aiko. Er wagte den Blick nicht zur Seite zu wenden und zu heben, aber sein rechter Fuß betätigte schon das Pedal, das dafür sorgte, dass sich am Heck des Eisseglers breite Krallen aus der Karosserie senkten und ins Eis griffen. Hinter ihnen knirschte und ratschte es. Millionen winziger Eissplitter stoben in die Luft. Der Segler verlangsamte, doch bei dem Tempo, das er vorlegte, und bei der glatten Oberfläche, über die er raste, würde er fünfhundert Meter brauchen, bis er zum Stehen kam. »Das ist ein...« Matt schluckte. Er hätte beinahe Zeppelin gesagt, doch in letzter Sekunde fiel ihm ein, dass Kinder dieser Zeit, wie Aiko und Aruula es nun einmal waren, mit diesem Begriff sicher nicht viel anfangen konnten. »... ein Luftschiff!« »Ein was?«, erwiderten Aiko und Aruula wie aus einem Munde. Matthew Drax war nicht weniger erstaunt als sie, doch als im 20. Jahrhundert geborener Mensch war ihm der Anblick silbergrauer Riesenzigarren vertraut, die sich scheinbar schwerelos unter dem Himmel bewegten. In seiner Zeit hatten diese Giganten vorwiegend als Werbeträger gedient, sodass er das Ding spontan mit Namen wie Goodyear und Fuji in Zusammenhang brachte. Das Luftschiff schwebte rechter Hand unter einem fast hellblauen arktischen Himmel dahin. Seine Höhe war nicht zu schätzen, doch die silberne Gondel, die unter dem wulstigen Leib klebte, wirkte aus der Ferne winzig klein. Erst jetzt nahm Matt die Aufschrift wahr, die die Hülle zierte: DE BROGLIE ENTERPRISES. Darunter stand noch eine Zeile, doch in viel kleinerer Schrift, und das Luftschiff war zu weit entfernt, um sie zu entziffern.
De Broglie?! In Matts Bauch machte sich ein mulmiges Gefühl breit. Ihm war, als hätte er den Namen schon einmal gehört. Doch wo? Eigenartigerweise brachte er ihn mit unguten Erinnerungen in Zusammenhang; wenn nicht gar mit völlig absurden. War ihm ein Mensch dieses Namens nicht schon mal begegnet? Als es ihm einfiel, entfuhr ihm der zweite Seufzer dieses Tages. Kschschsch... Der Eissegler blieb auf dem Eis des Yukon stehen. Aiko atmete erleichtert auf, als hätte er gerade noch einen Auffahrunfall verhindern können. Als Matts Blick nach vorn fiel, sah er, dass etwa zehn Meter von ihnen eine Felseninsel aus der Eisecke ragte. »De Broglie!«, stieß er hervor. »Ich fass es nicht!« »Wie? Was?« Aiko öl ste die Hand vom Steuerknüppel und beugte sich nach Steuerbord hinüber. »Wo ist es?« Während Aruula ihm das mysteriöse Fluggerät zeigte, das nach Nordwesten zog, lehnte Matthew Drax sich zurück und griff sich an den Kopf. Es war in Zürich gewesen - beziehungsweise in »Züri«, wie die Stadt in der Schweiz jetzt hieß. Dort hatten Aruula und er die Bekanntschaft Claude De Broglies gemacht. Der milliardenschwere Kanadier war schon vor dem Weltuntergang häufig in die internationalen Schlagzeilen geraten hauptsächlich wegen der Widerborstigkeit, die er den Finanzämtern entgegen gebracht und der mehrheitlich hirnrissigen Erfindungen, in die große Geldsummen investiert hatte. Eine dieser Erfindungen, ein Kälteschlaftank, war immerhin so erfolgreich gewesen, De Broglie - wenn auch mit ungünstigen Folgen für seine geistige Gesundheit - über fünfhundert Jahre in die Zukunft zu katapultieren... Matt erinnerte sich nur ungern an den Mann. De Broglie hatte in seiner mentalen Verwirrung beinahe dazu beigetragen, den beinharten Schweizer Agenten
Sepp Nüssli, Aruula und ihn in die Ewigen Jagdgründe zu befördern... De Broglie hatte sein Vermögen hauptsächlich in Kanada beziehungsweise Kanda, wie man nun sagte - angelegt. War sein Name in diesen Breitengraden zu einem Mytho s geworden? DE BROGLIE ENTERPRISES... Matt schüttelte den Kopf. Er konnte sich darunter nichts vorstellen. Während Aiko mit verdutzter Miene der silbergrauen Hülle des majestätischen Luftschiffes hinterher starrte, tastete Matt nach dem Fernglas. Nun erkannte er auch den Rest der Aufschrift: CITYSPHERE 01. Und: LZ N08. LZ war, dies wusste er, in Deutschland die übliche Bezeichnung für »Luftschiff Zeppelin« gewesen. Wie sonderbar, dass sich ein einheimisches Produkt eine solche Bezeichnung zulegte. Andererseits waren die Deutschen stets die Meister des Luftschiffbaus gewesen. Vielleicht war die silbergraue Zigarre ja in Deutschland gefertigt worden. Und auch die Bezeichnung »Citysphere« sagte ihm etwas. Hatte es da nicht dieses Bauprojekt gegeben, einige Jahr e vor der Katastrophe...? »Faszinierend«, murmelte Aiko auf dem Pilotensitz. »Nach welchem Prinzip funktioniert dieses Fahrzeug? Und wer steuert es?« »Luftschiffe sind leichter als Luft«, hörte Matt sich antworten. »Sie werden durch ein Gas getragen. Sie bewegen sich mittels Luftschrauben und werden durch bewegliche Steuerflächen gelenkt. In einem starren Gerüst aus Leichtmetall sitzen mit Wasserstoff oder Helium gefüllte Traggaszellen.« Er ließ das Fernglas sinken. »In den letzten Jahrzehnten meiner Zeit verwendete man nur noch Helium, weil es nicht brennbar ist.« »Faszinierend«, sagte Aiko noch einmal. Er klappte den Ausstieg an seiner Seite auf und sprang aufs Eis. Mörderische Kälte schlug Matt so heftig entgegen, dass er nach Luft schnappte. Der blauschwarze Zopf seines asiatisch aussehenden,
doch durch und durch kalifornischen Begleiters flatterte im Wind, als dessen optimierte Cyborg-Augen das entschwindende Luftschiff in Augenschein nahmen. »Ich kann rechteckige, leicht abgerundete Fenster erkennen... und mehrere Köpfe dahinter«, murmelte er vor sich hin. Auch Aruula stieg nun aus. Matt folgte ihnen. Zwar bewegte auch ihn die Frage, wer an einem von Gott, den Menschen und allen Tieren verlassenen Ort wie diesem über die Technik längst vergangener Jahrhunderte gebot, aber irgendwie schwante ihm auch Unheil: Claude De Broglie war nicht nur steinreich gewesen, sondern auch ein eifriger Verfechter der Meinung, der Mensch müsse danach streben, alles, aber auch wirklich alles in die Tat umzusetzen, was sich die fleißigen Autoren utopischer Romane und TV-Serien seiner Jugend ausgedacht hatten. Vielleicht hatten seine zukunftsbejahende Einstellung und sein grenzenloser Reichtum nicht nur zur Verwirklichung eines halbwegs funktionierenden Kälteschlaftanks geführt... Wer wusste schon, auf welche irren Erfindungen er die DE BROGLIE ENTERPRISES sonst noch angesetzt hatte? Irgendwie war es Commander Matthew Drax nicht ganz geheuer, dem Namen dieses Mannes in diesem Jahrhundert noch einmal zu begegnen. Und dann noch am eiskalten Allerwertesten der Welt. »Da!«, schrie Aruula plötzlich. Ihr Arm zuckte hoch. »Was machen sie jetzt?« Matt hob den Kopf. Der Boden, auf dem sie standen, war rutschig wie eine Speckschwarte. Im gleichen Moment, in dem sich in der Luftschiffgondel eine Tür öffnete und zwei Gestalten in ihrem Rahmen sichtbar wurden, glitt er aus und fiel auf den Hintern. Wenn das kein böses Omen ist. Matt fluchte unterdrückt, doch Aruula und Aiko nahmen ihn nicht war. Der Grund dafür war ein trockenes Knattern, das in der kalten Luft des Nordens sehr dünn klang. Es war das Geräusch einer
Maschinenwaffe, und man brauchte kein Fernglas, um zu erkennen, dass die Gestalten in der offenen Gondeltür auf etwas schossen, das sich irgendwo unter ihnen bewegte. Während Matt aufsprang, ging Aruula instinktiv in die Hocke. Aiko zog den Kopf ein. »Sie schießen auf etwas!« ›Oder auf jemanden‹, dachte Matt. Gleich darauf ertönte irgendwo am Boden ein monströses Brüllen. Die Schützen feuerten eine erneute Salve ab, und Sekunden später erblickte Matt im Weiß der Schneewüste das gelbliche Fell eines Wesens, das ihn zwar an einen Eisbär erinnerte, aber keiner war. Ein Izeekepir? Matt kniff die Augen zusammen. Das bärenartige Wesen jagte geduckt vor dem Luftschiff dahin. Hinter ihm spritzten Schneefontänen auf. Das dumpfe Dröhnen der Luftschiffmotoren wurde höher und singender. Das Gefährt nahm die Verfolgung auf, ging tiefer. Wieder ratterte eine hohl klingende Salve über die weiße Ebene. Das Monstrum blieb gegen alle Vernunft stehen, richtete sich auf, drosch mit den Vorderläufen wie ein Gorilla auf seinen mächtigen Brustkorb ein und röhrte seinen Zorn hinaus. Sekunden später erblühten auf seiner Oberpartie ein Dutzend roter Blumen. Es flog zurück, als wäre es von einer Lokomotive getroffen worden, landete rücklings im Schnee und verschwand aus Matts Blickfeld. In der offenen Luftschiffgondel wurde Triumphgeschrei laut. Das Fahrzeug ging tiefer, bis Matt, der das Fernglas nun wieder vor seine Augen hob, mehrere Gestalten erkennen konnte. Sie gestikulierten freudig und aufgeregt. Dann öffnete sich unter dem Gefährt eine Luke und spuckte mehrere dicke Taue aus, die sich lautlos bis zum Boden abrollten. »Es sind Jäger, Maddrax, nicht wahr?«, fragte Aruula. Matt drehte sich zu ihr um. Er wollte eigentlich skeptisch die Achseln heben, doch Aruula hatte das mysteriöse Luftschiff schon wieder im Blickfeld und beobachtete mit großen Augen
die eilig hantierenden Gestalten in der Gondeltür. Es war in der Tat faszinierend: Als die silbergraue Zigarre ungefähr dort schwebte, wo das bärenartige Geschöpf seinen letzten Schnaufer getan hatte, seilten sich wieselflink drei Gestalten ab. Zwei von ihnen hielten das Luftschiff in Position. Der dritte ging in die Hocke. Matt erkannte durch den Feldstecher, dass sich ein hagerer Mann mit wehender blonder Mähne aus der Gondel heraus beugte und den Ausgestiegenen Anweisungen zu schrie. Die Entfernung war aber zu groß, um ihn zu verstehen; außerdem übertönten die Motoren seine Stimme. Es dauerte nicht lange, dann richtete sich die geduckte Gestalt wieder auf und winkte dem Befehlshaber zu. Der Mann aktivierte offenbar einen Flaschenzug, denn kurz darauf kam die Beute der Jäger ins Blickfeld: Das Seil war um die Hinterläufe des erlegten Tiers geschlungen. Der Flaschenzug hievte das monströse Wesen schnell nach oben, und auch der Außentrupp wurde an den beiden verbliebenen Seilen in die Höhe gezogen und tauchte in der Gondel unter, während der Izeekepir darunter baumeln blieb. Das Dröhnen der Motoren wurde dumpfer. Das Gefährt drehte ab und fuhr langsam in Richtung Silver Trail Highway davon. ›De Broglie‹, dachte Matt. ›Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir bald wieder in irgendwelche Schwierigkeiten geraten...‹ *** Während sich seine Vettern schnaufend ihrer dicken Schutzkleidung entledigten, hob Neero De Broglie den Feldstecher an die Augen und richtete ihn auf das merkwürdige bootsähnliche Ding, das Icaar, der an den Kontrollen saß, kurz nach dem Abdrehen der N08 erspäht hatte. »Drei Personen, meldete er seinem Piloten und Bruder. »Zwei Männer, eine Frau.« Er schnalzte mit der Zunge. »Eine sehr ansehnliche Frau.« Sie ähnelte auf frappierende Weise Jodee Blackfeather.
Die Frau drehte sich nun zur Seite, und Neero sah, dass sie ein langes Schwert in der Hand hielt. Eine primitive Waffe, für die er nur Verachtung empfinden konnte. Hinter dem merkwürdigen Gefährt erblickte er eine mehrere hundert Meter lange, ins Eis des Yukon gekratzte Schleifspur. Sie sagte ihm, aus welcher Richtung die Fremden gekommen waren und wohin sie vermutlich wollten. »Sonstige relevante Erkenntnisse?« Icaar De Broglie, von Maman und den Vettern neuerdings gern »Icarus« genannt, seit er die Jahrhunderte alten Baupläne der N08 gefunden und die im Lagerschuppen IV unter einem Wust von Tand und Kram verborgenen Motoren und sonstigen technischen Anlagen ausgegraben hatte, drehte sich nicht einmal um: Ansehnliche Frauen interessierten ihn weniger. Stattliche Männer waren sein Pläsier. Icaars Blick war starr auf die Instrumente gerichtet, die er beherrschte wie kein zweiter. Neero schnaubte leise. »Sie kommen eindeutig aus dem Süden.« Oder aus dem Norden? Er hielt es weniger mit der Geographie als mit den Frauen. Der Nordpol, hatte Icaar ihm verdeutlicht, hatte früher mal an der Nordspitze der Erde gelegen. Nun lag er weiter im Süden, weil die Erde irgendwie gekippt war. Vom alten Nordpol aus betrachtet hatte auch ihre Heimat im Süden gelegen. Doch das war nun irgendwie anders; wie, war ihm nicht ganz klar. Der neue Nordpol lag jedenfalls hinter ihnen. Die Reise hatte sie zuerst nach Norden geführt, über den Pol hinweg und dann nach Mont'raal. Nun befanden sie sich auf der Rückfahrt. Der Pol lag wieder hinter ihnen. Also bewegten sie sich jetzt nach Süden. Demgemäß waren die drei Gestalten aus dem Norden gekommen. Oder? ›Ach, Merde.‹ Neero fluchte leise. Wen interessierte das schon? Es genügte, wenn Icaar es wusste. Er war nicht nur ein gewiefter Waffenschmied, sondern auch ein genialer Techniker. Wenn er einen Blick auf Blätter mit Krakelstrichen warf, kannte
er sofort die Absichten desjenigen, der sie gezeichnet hatte. Viele Bewohner der Citysphere 01, besonders Maman und die Vettern, faszinierte sein Talent: Immerhin verdankten sie es Icaars Kenntnissen, dass die gefährlichen Zeiten bald enden würden. Ihr Flug über den Pol nach Süden hatte sie über viertausendfünfhundert Kilometer bis an den Rand des Schneelandes geführt, ins Reich eines jungen, agilen Herrschers, mit dem sie ein Abkommen geschlossen hatten. Maman würde sich gewiss freuen, wenn sie davon erfuhr; der Rest der Verwandtschaft aber nicht unbedingt... »Stellen sie eine Gefahr dar?« Icaar schaute sich kurz um. Neero schnaubte geringschätzig, ließ das Fernglas sinken und musterte die stattlichen Züge seines Bruders. Icaar war mit seinen sechsund zwanzig Lebensjahren zwei Jahre älter als er. Sein Gesicht unter dem halbkugelförmigen Funkhelm war von der Sonne gebräunt. Seine blauen Augen funkelten wie Kristalle; seine makellosen Zähne blitzten. Obwohl er seit zwei Tagen Pillen schluckte, die ihn wach hielten, wirkte er wie das blühende Leben. Er war Mamans Liebling. Neero wusste es genau. Deswegen hasste er ihn ebenso wie seine dummdreisten parasitären Vettern, die glaubten, ihnen stünden aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen besondere Privilegien zu. »Natürlich nicht. Es sind eindeutig Primitive.« »Primitive, die ein so fortschrittliches Fortbewegungsmittel bauen?« Icaar schaute nun wieder nach vorn, wo sich das unendliche Weiß bis an den Horizont ausdehnte. »Vielleicht haben sie es gefunden oder gestohlen. Ihre Waffen sind jedenfalls primitiv«, erwiderte Neero. Er lachte leise und bösartig. »Schwerter... Pah!« Er nahm neben seinem Bruder auf dem Sitz des Kopiloten Platz. Icaar räusperte sich. »Wo, glaubst du, wollen sie hin?«
Neeros Blick fiel auf das Ledergeschirr, das sich um die breite Brust seines Bruders schlang. Sein Interesse galt der darin steckenden großkalibrigen Waffe. Wenn er Icaar glauben durfte - und er hatte keinen Grund, es nicht zu tun -, war sie ein besonders subtiles Tötungsinstrument. »Dorthin, wo alle hinwollen. In die Wärme. Fort vom Eis, fort vom Schnee. Fort von der Kälte.« Obwohl es im Inneren der NO 8 nicht kalt war, musste er sich schütteln. Icaar nickte kaum merklich. »Jaaa...« Seine Augen blitzten auf. Neero zweifelte nicht daran, dass vor seinem geistigen Auge nun die fantastische Festungsstadt am Rand des Schneelandes auftauchte. Hinter ihr breitete sich sattes Grün aus. Dort stand die Sonne nicht nur am Himmel und sorgte für Licht, dort wärmte sie auch; fast so wie das Öl, das die Citysphere heizte. In Mont'raal konnte man sich im Freien aufhalten, ohne Frostbeulen zu riskieren. Wenn man dort auf der Straße stand und sich mit jemandem unterhielt, entstanden vor dem Mund der Menschen keine Atemwölkchen. Toll! Sie hatten die Stadt erst vor zwei Tagen verlassen, doch schon sehnte Neero sich nach ihr zurück. In Mont'raal hatte er von weiteren Städten erfahren; von größeren Städten, die noch weiter im Süden lagen; in einem Land, das Meeraka hieß und von Völkern bewohnt wurde, die ihre Sprache verstanden... Maman hatte bestimmt nichts dagegen, wenn sie Mont'raal zum Ausgangspunkt einer noch weiter nach Süden führenden Emigration machten. Die N08 konnte - dies behaupteten jedenfalls die von Icaar entdeckten Pläne - für noch längere und weitere Reisen modifiziert werden. Die Bibliothek der Citysphere sprach von wundersamen Ländern im Süden. Man musste sie gesehen haben. Vielleicht, dachte Neero, lassen sie sich sogar erobern. Kurz vor der Abfahrt hatte er die primitiven Waffen der Mont'raaler in Aktion gesehen. Diese Leute hatten den von Icaar konstruierten Schießeisen nichts entgegenzusetzen. Wenn
Armbrüste, Schwerter und Lanzen die Waffen der schneefreien Länder waren, bestand Grund zu der Annahme, dass entschlossene Männer wie er dort unten Imperien erobern konnten. Wenn die N08 erst in vollem Umfang funktionierte... Wenn sie erst über die Fähigkeiten verfügte, die Icaar ihr zuschrieb ... Das Luftschiff war erst seit wenigen Monaten in ihrem Besitz. Sie hatten bisher nur Test- und Suchfahrten durchgeführt, um die Funktion der alten Motoren und der Steuerungsmechanik zu prüfen. Die N08 war eine Konstruktion ihrer Ahnen. Laut den historischen Unterlagen hatten die Gründer der Citysphere 01 das Luftschiff vor der »Christopher-Floyd«-Katastrophe als Nutzfahrzeug eingesetzt. Die endlose Nacht hatte seinen Einsatz offenbar später verhindert, sodass man es zerlegt und eingemottet hatte. Die Hülle war zwar im Lauf der Jahrhunderte verrottet, doch die Citysphere-Werkstätten hatten nicht lange gebraucht, um eine neue herzustellen - inklusive der an der ihren Ahnen Claude De Broglie gemahnenden Originalbeschriftung. Die Einzelteile wieder zusammenzufügen, war unter Icaars Leitung eine Kleinigkeit gewesen. »Jaaa...«, wiederholte Icaar begeistert. »Dorthin, wo es warm ist...« Er wandte sich kurz um und warf einen Blick auf die Vettern, die in den blauen Ledersesseln saßen und aus den großen Kunststofffenstern in die weiße Unendlichkeit stierten. Dann zwinkerte er seinem jüngeren Bruder lis tig zu. »Die wollen bestimmt auch dahin«, sagte er so leise, dass Neero sich angesichts des Dröhnens der drei Zweihundert-PS-Motoren vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Neero nickte, dann grinste er und dachte an ihren Pakt mit dem agilen Herrscher von Mont'raal. Zugegeben, der Mann war ein raffgieriger Lump, aber er selbst hätte in seiner Position wahrscheinlich ebenso gehandelt. Die Bewohner der Citysphere waren in Not; aber das Gesetz des Nordens war nun mal hart
und der Anspruch auf eine kostenlose Mahlzeit war ein Mythos des 20. Jahrhunderts. Natürlich zeugte es nicht von einer sozialen Einstellung, die Notlage anderer eiskalt auszunutzen, aber wer weiterkommen wollte, musste nun mal zuerst an sich selbst denken. ›Wenn jeder an sich selbst denkt‹, dachte Neero, ›ist schließlich an alle gedacht.‹ Leider war der Herrscher von Mont'raal ihm zu ähnlich, sodass er ihn nicht ausstehen konnte. Deswegen hatte er sich vorgenommen, ihn bei der erstbesten Gelegenheit zu beseitigen vorausgesetzt, dass die Putschisten, die nach dem Start der NO 8 versucht hatten, seinen Palast zu stürmen, ihn nicht vorher in Stücke rissen. Neero seufzte leise. Bevor sie emigrierten, würde es unerlässlich sein, eine weitere Fahrt in die Stadt an der Schneegrenze zu unternehmen. Sie mussten wissen, wie die Revolution ausgegangen war. Er zweifelte nicht daran, dass der Herrscher siegen wurde: Auf seiner Seite kämpfte ein Heer entschlossener Soldaten. »Die werden sich noch wundern«, raunte er seinem Bruder zu und deutete über die Schulter kurz auf ihre Vettern. »Es wird sie fraglos böse machen«, murmelte Icaar. »Aber ich werde mich beizeiten um sie kümmern.« Er deutete auf das Tötungsinstrument in seinem Schulterholster. Er hatte es noch nie auf einen Menschen abgefeuert. Die Abschreckung hatte bislang immer gereicht. Neero erinnerte sich an Icaars genüsslich vorgetragene Worte: »Das Geschoss explodiert nicht sofort. Es wühlt sich in deine Eingeweide, sodass du noch genug Zeit hast, um zu begreifen, dass du krepierst. Dann reißt es dich auseinander und verteilt deine Überreste im Umkreis von hundert Schritten...« ***
Das Grollen näherte sich auf Samtpfoten, sodass Jodee Blackfeather, die nackt auf ihrer Koje lag, es anfangs für einen natürlichen Bestandteil ihres Traumes hielt. Dann krachte es so heftig, dass sie aus dem Schlaf hochfuhr und sich benommen umschaute. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie Übelkeit empfand und zwanzig Sekunden brauchte, um zu erkennen, dass der rechts von ihr zum mattgrauen Himmel hochragende Feuerschein real war. Verflucht! Sie sprang auf, griff nach ihren unordentlich am Boden verteilten Kleidern und eilte an das mannshohe Fenster. Die kleine Wohnung, die Maman De Broglie ihr vor einem knappen Jahr aufgrund ihrer Verdienste um die Sicherheit der Citysphere zugewiesen hatte, befand sich im neunundzwanzigsten Stock, weswegen ihr Blick in weite Fernen reichte. Da man in diesen Breitengraden kaum von Nächten sprechen konnte - es war Mitternacht, doch so hell wie an einem sommerlichen Morgen um 4:30 Uhr -, konnt e man an klaren Tagen kilometerweit sehen. Das, was Jodee sah, erfreute sie nicht. Noch bevor sie in ihre Beinkleider geschlüpft war und das Baumwollhemd zugeknöpft hatte, heulten die Sirenen. Ihr Komkator piepste wie verrückt. Es fiel Jodee nicht leicht, den Blick von der Rauch- und Feuersäule abzuwenden, die nicht fern von der transparenten Kuppel der Stadtsphäre in die Luft ragte, aber sie biss die Zahne zusammen und eilte fluchend und auf nackten Füßen zur Koje, neben der das Gerat auf einem Nachttisch aus Glas und Chrom lag. »Blackfeather.« »Verzeihung, Inspektorin.« Es war der kleine Constable Malenkov. Sie erkannte seine Stimme. Im Hintergrund brauste ein Feuersturm. Malenkov hustete heftig; er schien sich also in unmittelbarer Nahe des Feuerteiches und seiner giftigen Dämpfe aufzuhalten. »Aber hier ist...«
»Es ist unübersehbar«, erwiderte Jodee knapp. Sie klemmte sich den Komkator unters Kinn, sank auf die Koje, griff nach den Socken, streifte sie über und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Wo, beim heiligen Mukluk, waren ihre scheiß Stiefel? Warum hatte sie sich dazu breitschlagen lassen, mit Maman und ihren engsten Mitarbeitern auf die Rückkehr ihrer Söhne und der N08 anzustoßen, wo sie doch wusste, dass Alkohol nur die allerschrecklichsten Auswirkungen auf indianische Gene hatten? »Wie weit ist er von uns entfernt?« »Ich schätze... ein Kilometer.« Einen Kilometer?! So nahe? Jodee empfand ein starkes Schwindelgefühl, sodass sie beinahe auf die Nase gefallen wäre, als sie endlich ihre Stiefel erspähte und sich in Richtung der Fundstelle in Bewegung setzte. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte Constable Malenkov. Irgendwo in seiner unmittelbaren Umgebung war ein aufgeregtes Stimmengewirr zu vernehmen. Das Brüllen einander warnender Männer. Starke Störgeräusche überlagerten Malenkovs Worte, und Jodee glaubte plötzlich das Quaken von Enten wahrzunehmen. Absurd! »Malenkov?!« schrie sie. »Sind Sie noch da?« Quak. Quak. Jodee schaltete den Komkator ab, schlüpfte in die Stiefel, eilte zur Tür, riss ihren scharlachroten Parka an sich und warf im Flur einen kurzen Blick in den Spiegel. Ihr sonst schmales, gebräuntes Gesicht wirkte totenbleich; ihre schwarzen Augen hatten einen fiebrigen Glanz. ›Nie wieder!‹, schwor sie sich. ›Nie wieder!‹ Dann war sie draußen, in einem endlosen Korridor. Das Heulen der Sirene brach ab. Erst als sie mit dem Aufzug nach unten raste, kam sie wieder einigermaßen zu Sinnen. Ein neuer Feuerteich! Und dann auch noch so nahe! Es war schrecklich. Wo sollte das enden?
In der Empfangs halle des Central Tower wurde sie von gähnender Leere empfangen. Früher, vor der blutigen Revolution von 2498, sollte es hier von Menschen gewimmelt haben. Früher hatten angeblich über fünftausend Menschen in der Citysphere gelebt. Doch das war lange her. Die Stadt war nicht mehr das, was sie einst gewesen war. Jodee stürmte auf die Central Plaza hinaus und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Kein Wunder zu dieser Stunde. Da und dort erspähte sie hinter den Scheiben der umliegenden Hochhäuser die kleinen Gesichter von Menschen. Die Manifestation des Feuerteiches musste sie geweckt haben. Sie schauten ausnahmslos verschlafen aus der Wäsche. Es würde bestimmt noch eine Weile dauern, bis sie begriffen, was eigentlich passiert war. Jodee sah zur Schleuse hin, in die Gegend, in der sich, wie sie aus dem Geschichtsunterricht wusste, vor mehr als fünfhundert Jahren eine kleine Ortschaft namens Mayo befunden hatte. Das Tor stand offen. Draußen, im Schnee, der die gigantische Kuppel der Citysphere umgab, wartete ein Snowcart. Zwei Gestalten, aus der Ferne nicht zu erkennen, winkten ihr zu. Jodee setzte sich in Bewegung. Der Central Tower lag genau im Mittelpunkt der einen Kilometer durchmessenden Glassitkuppel. Sie brauchte nicht lange, um das Tor zu erreichen, doch als sie ankam, war ihr speiübel und das Herz schlug ihr bis zum Halse. »Du siehst grauenhaft aus«, sagte Constable Farrell. Sie war ein Jahr jünger als Jodee, also zwanzig, aber sie durfte sich derartige Kommentare erlauben, denn sie waren um zwei Ecken miteinander verwandt. Sie wirkte stark übermüdet und nicht weniger aufgeregt als ihre Vorgesetzte. »Was hast du getrieben?« »Erinnere mich bloß nicht daran.« Jodee winkte dem Torwächter kurz zu, dann eilte sie mit Farrell in die beißende Kälte hinaus und bestieg den Snowcart.
»Fahr du...« Farrell schwang sich mit gerunzelter Stirn hinters Steuer. Rrrr... Krack! Der Motor sprang an, das Schneemobil fuhr los. Jodee, noch immer leicht zitternd, hielt den Blick unverwandt auf die zum arktischen Himmel hinauf brüllenden Flammen gerichtet. Hundert Meter? Höher? Der Krater, der sich einen knappen Kilometer vor der Citysphere gebildet hatte, war nicht der erste, den sie sah. Seit etwa zwei Jahren bewegte sich ein unterirdischer Lavastrom auf die alte Stadt zu, ließ hier und da die Erde aufplatzen, brachte in einer Umgebung von mehreren hundert Metern Schnee und Eis zum Schmelzen und führte kurzfristig zum Erblühen von Pflanzensamen, der seit Generationen im frostigen Boden konserviert war. Bisher hatte der Sicherheitsdienst sieben solcher Feuerteiche gezählt. Sie durchmaßen in der Regel dreihundert Meter, spuckten vier bis fünf Tage lang Flammen, Lava und übel riechende Dämpfe aus und versiegten dann. Das Grauenhafte war, dass sich der Abstand zwischen ihnen bei jedem weiteren Mal um die Hälfte verkürzte. Schon jetzt war abzusehen, wie lange es noch dauern würde, bis sich ein Feuerteich mitten in der Stadt manifestierte. Dies war auch der Grund, aus dem Mamans Söhne seit Monaten fast ständig mit dem Luftschiff unterwegs waren. ›Unsere Tage sind gezählt‹, dachte Jo-dee. ›Unsere Zivilisation kann in diesen Breitengraden nicht mehr existieren.‹ Als der Snowcart mit einem Motorenrülpser neben einem anderen Gefährt anhielt, fiel Jodees Blick auf drei dick vermummte, aufgeregt agierende Männer in den scharlachroten Parkas des Sicherheitsdienstes. Malenkov war nicht dabei. ›Wo ist er?‹ Jodee schluckte. Farrell riss die Seitentür auf, und sie sprangen ins Freie. Die Feuerlohe brüllte zwar noch immer zum Himmel hinauf, war aber nur noch etwa zehn Meter hoch,
Tendenz abnehmend. Rings um Jodee herrschte eine mörderische Hitze. Die sie umgebende Landschaft im Umkreis von fünfhundert Metern war schneefrei, der Boden aufgeweicht. Es plitschte und platschte bei jedem Schritt, als sie sic h zu dem Trio durchschlug, das hinter dem anderen Snowcart in Deckung gegangen war und das Phänomen im Auge behielt. »Wo ist Malenkov?«, fragte Jodee und packte eine der vermummten Gestalten am Arm. »Wo steckt er, verdammt?« »Ich... ähm...« Der Mann - Constable Lafayette - war so bleich wie ein Skelett. »Ich... weiß nicht.« »Du weißt es nicht?!« Jodee war außer sich. Farrell runzelte die Stirn. Die beiden anderen Männer - ein Neffe und ein Schwager Lafayettes - schauten betreten drein. Nein, nicht betreten... Sie schauten drein wie jemand, der ein leibhaftiges Gespenst gesehen hat, sich aber nicht traut, es seinem Vorgesetzten zu melden - aus Angst, zur Untersuchung seines Geisteszustandes irgendwo eingewiesen zu werden. »Heraus damit!«, schrie Jodee. Ihr war wirklich speiübel. Ihre Knie zitterten, und die ungewohnte Hitze ließ den Schweiß in Sturzbächen über ihre Stirn auf ihre Wangen rinnen. Ohne Lafayette aus den Augen zu lassen, griff sie zu ihrem Komkator, gab mit einem Tastendruck Malenkovs Nummer ein und lauschte. Nichts. Tot. Kein Geräusch. Malenkovs Komkator existierte nicht mehr. Jodees Blick richtete sich auf Lafayette und die beiden anderen Männer. »Was ist hier vorgefallen?« Die Constables schauten sich an, Verlegenheit im Blick. Lafayettes Neffe biss heftig auf seine Unterlippe. Die Augen des Schwagers glitzerten irgendwie irr. »Da war...« Lafayette schluckte, richtete sich auf und deutete mit einer fahrigen Bewegung auf die inzwischen auf fünf Meter
zusammengesunkene Feuersäule. »Da ist irgendwas rausgekommen«, sagte er, »und hat sich Malenkov geschnappt.« Jodee und Farrell starrten ihn an, als sei ihm ein Geweih gewachsen. »Ich weiß, dass es« - Lafayette hüstelte - »eigenartig klingt, Inspektorin, aber...« Er deutete auf seine Gefährten. »Die Jungs haben es auch gesehen.« »Yeah.« Der Schwager nickte. »Es hat sich Malenkov gegriffen. Es hat ihn am Hals gepackt und ist dann wieder da drin verschwunden.« Er deutete auf das Feuer, das nun völlig zusammensackte. Die mörderische Hitze nahm schlagartig ab. Eine kühle Brise wehte heran und stoppte den Schweißfluss der Zuschauer. Jodee hob den Kopf und deutete auf den brodelnden Lavasee. Er war vielleicht hundert Meter entfernt, aber sie war davon überzeugt, dass man auf den etwa zehn Meter entfernten Steinen, die die Hitze freigelegt hatte, Eier braten konnte. »Da drin«, wiederholte Jodee. Sie schaute Farrell an. Deren Augen waren rund. Aber sie kannte Lafayette und die anderen ebenso gut wie jeden anderen in der Citysphere und wusste, dass sie keine Fantasten waren. Nicht jedem Blödian war es vergönnt, Angehöriger des Sicherheitsdienstes zu werden. Wer in dieser Truppe diente, war nicht durch exzentrisches Verhalten oder ein Übermaß an Fantasie aufgefallen. »Damit ich euch nicht missverstehe, Jungs«, sagte Jodee mit einem schweren Seufzer und deutete noch einmal auf den Feuerteich. »Irgendetwas ist aus diesem höllischen Schlund da hervorgekrochen, hat Malenkov getötet und ist dann wieder in ihm verschwunden.« »Nicht gekrochen«, sagte Lafayette blass. »Geflogen.« »Oh«, sagte Jodee. »Geflogen.« ›Einer von uns‹, dachte sie, ›hat hier einen heftigen Dachschaden. Aber wenn ich nach dem Dröhnen in meinem Kopf urteile, bin ich mir nicht ganz sicher, wer es ist...‹
»Ich hab so was noch nie gesehen, Inspektorin«, sagt e Lafayette. »Und die anderen auch nicht. Wir hatten gerade darüber gesprochen, als Sie und Farrell kamen. Wir haben so was wirklich noch nie gesehen, deshalb... können wir es auch nicht beschreiben.« Jodee spürte, dass ihr schwindlig wurde. »Aber es war ein Lebewesen?« Lafayette nickte. »Es hat sich bewegt. Es hatte... wie nennt man das?« »Schwingen«, sprang sein Neffe ihm bei. »Ein Vogel?« fragte Farrell verdutzt. »Ich weiß nicht, ob's ein Vogel war.« Lafayette zog verlegen die Achseln hoch. »Das Ding hatte keine Federn. Aber es hatte ein Maul. Und es hatte riesige Krallen.« Er breitete die Arme aus und schüttelte sich. »Und es sah zum Kotzen schrecklich aus.« Sie lebten auf einer Zeitbombe. Jodee wusste es. Es war nicht zu übersehen. Nur Blinde oder jene, die es tunlichst vermieden hatte, nach der achtklassigen Cityschule die Nase je wieder in ein Buch zu stecken, hofften vielleicht noch, der Spuk werde irgendwann von allein aufhören. Dummköpfe glaubten vielleicht, die Wissenschaft könne einen Ausweg aus dem Dilemma finden. Aber in der Citysphere gab es keine ernsthaft betriebene Wissenschaft mehr, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass gegen vulkanische Aktivitäten ein Kraut gewachsen war. Jodee Blackfeather war zwar noch jung, aber weder blind noch dumm. Sie war nicht umsonst in der Hierarchie so hoch aufgestiegen. Sie hatte schon immer Engagement gezeigt, sich stets für die Belange des Gemeinwesens interessiert. Und für seine Historie. Sie wusste, dass Claude De Broglie, der Erbauer der Kuppelstadt, vor fünfhundert Jahren wegen seiner fantastischen Ideen verlacht worden war. Sie wusste, welche Katastrophe die Erde heimgesucht und ihr eine Jahrhunderte
währende Eiszeit beschert hatte. Ihr war nicht unbekannt, wie die Menschen vor »Christopher-Floyd« gelebt hatten - in ungeschützten und unbedachten, wie Krebsgeschwüre wuchernden Monsterstädten, durch die sich endlose Blechlawinen wälzten. De Broglie hatte die - seinen Zeitgenossen gewiss skurril erscheinende - Vision autarker Biosphären in die Tat umsetze n wollen, weil er geglaubt hatte, man werde sie bald brauchen, damit Raumfahrt-Expeditionen in der Lage waren, auch der lebensfeindlichsten planetaren Umwelt zu trotzen. Im Jahr 2007 hatte der Bau der Kuppel, des Lufterneuerungssystems und des dreißig Stockwerke hohen Central Tower begonnen. Und sein Traum hatte sich verwirklicht. Film- und Fotoaufnahmen der ersten Bauphase waren erhalten. Jodee hatte sie gesehen: Sie erinnerte sich an ein riesiges Baumateriallager, an Kisten- und Säckestapel, die alles enthielten, was Menschen benötigten, die bereit waren, sich an einem lebensfeindlichen Ort anzusiedeln. Die Urväter des Experiments hatten alles herangekarrt, was eine Biosphäre brauchte, um wirklich unabhängig zu sein: Saatgut, Pflanzen, Zuchttiere, Menschen aller möglichen Berufsgruppen, Kulturgüter aller Art. Der Aufprall des gigantischen Kometen, von dem die Aufzeichnungen ihrer Ahnen berichteten, hatte dann aus dem Rest der Welt das gemacht, was man in der Umgebung der Citysphere längst gewohnt war: eine endlose Eislandschaft. Doch im Gegensatz zum Rest der Welt waren die Teilnehmer des Experiments auf alles Mögliche vorbereitet gewesen. Die Ölquelle, die sie mit Energie und Wärme belieferte, bis die Biosphäre mit Sonnenenergie betrieben werden konnte, hatte verhindert, dass Mensch, Tier und Saat erfroren. Ihre Zivilisation hatte sich über mehr als fünfundzwanzig Generationen erhalten. Sie hatte keine Bücher verbrennen müssen, um sich Wärme zu erkaufen. Sie hatten nichts vergessen. Und das sollte nun alles zu Ende sein...?
Jodee seufzte. Auf der gesamten Rückfahrt wälzte sie finstere Gedanken über die Zukunft, in denen brodelnde Lava eine tragende Rolle spielte. Als sie aus dem Snowcart stieg, das Farrell vor dem Tor parkte, war die Stadt erwacht. Auf der Central Plaza war nahezu jeder versammelt, der nach den großen Fluchtwellen der letzten Feuerteiche unter der schützenden Kuppel geblieben war. Es sind nicht mehr viele, dachte Jodee, als ihr Blick auf die Menschen fiel, die am Fuße der Freitreppe des Central Tower standen und den Worten Neeros lauschten, der sich gerade dazu herabließ, sie über das zu informieren, was sie als seine Stellvertreterin ihm kurz zuvor über ihren Komkator mitgeteilt hatte: dass höchste Gefahr für die Citysphere 01 bestand, dass sie ihre Sachen packen sollten und - dies war wohl die positivste Nachricht - dass es nicht mehr lange dauerte, bis der geniale Icaar De Broglie das Luftschiff so weit modifiziert hatte, dass drei bis vier Flüge genügten, um die verbliebenen zweihundert Stadtbewohner in eine gefahrenfreie Zone auszufliegen. »Mein Bruder und ich sind gestern Abend nach einer anstrengenden Reise in die Stadtsphäre zurückgekehrt«, sagte Neero und schaute sich mit einem Blick um, der von Triumph und Entdeckerstolz kündete. »Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass es uns gelungen ist, am südlichen Rand des Eislandes auf ein Reich zu stoßen, dessen Herrscher...« Blah, blah, blah. Jodee hatte all dies schon am gestrigen Abend in Maman De Broglies Gemächern erfahren, deswegen konnte sie es sich ersparen, sich den Schmus noch einmal anzutun. Sie nickte ihrem Chef kurz zu, dann stieg sie, von allen anderen ungesehen, die Treppe hinauf, durchquerte die leere Empfangshalle und begab sich ins Sicherheitsbüro, das im Parterre lag. Kur z darauf ertönte auf der Plaza heftiger Applaus. Die Menschen jubelten ihrem jungen Retter zu. Die Menge löste sich auf und ging, offenbar beruhigt und voller Zuversicht, ihrer Wege.
Jodee nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Sie stützte ihr Kinn müde auf die Hände und betrachtete durch das riesige Fenster einen Teil der vierzig Hochhäuser, welche die Plaza umgaben. Niemand, auch kein Milliardär wie Claude De Broglie hätte das Geld, geschweige denn die Zeit gehabt, ein solches Gemeinwesen allein zu finanzieren. Abgesehen vom Central Tower, den Viehställen, den flachen Werkstätten, den Treibhäusern und der Vegetation war die Citysphere im Jahre 2012 nicht viel mehr als ein potemkinsches Dorf gewesen. Sie bestand zum größten Teil aus Fassaden, die in einfachster Fertigbauweise entstanden waren, um weiteren Geldgebern ein beeindruckendes Panorama zu bieten. Die Bevölkerungszunahme hatte im Lauf der Jahrhunderte den Ausbau einiger der Hochhaus-Attrappen nötig gemacht, doch das mangelhafte Baumaterial führte dazu, dass ihre oberen Etagen längst baufällig geworden und oftmals eingestürzt waren. Die meisten Häuser standen leer; ihre Bewohner hatten sich nach der Manifestation des dritten Feuerteiches - als festgestanden hatte, welchen Verlauf der unterirdische Lavastrom nahm - Gott weiß wohin verzogen. Jodee schauderte, als sie sich ausmalte, was wohl aus all diesen Menschen geworden war. Laut Icaars Forschungsflügen existierte im Umkreis von Tausenden Kilometern nichts, mit dem sich ein aus mehreren tausend Köpfen bestehendes und an Zivilisation gewöhntes Volk nähren und wärmen konnte. Natürlich waren die Bewohner der Stadtsphäre nicht die einzigen Lebewesen in diesem riesigen Land; doch das, was außer ihnen hier existierte, war in der Regel mutiert. Auch gelegentliche Begegnungen mit Nachfahren der an Eis, Schnee und Kälte gewohnten Inuit hatten die De Broglies nicht weiter gebracht: Die Ureinwohner hegten großen Argwohn gegenüber den Weißen, Tlingit und den Nachfahren ihrer Artgenossen, die sich an die Methoden der Eroberer angepasst hatten.
Wo, wie und wovon sie lebten, war bisher nicht eruiert worden. Die Aufzeichnungen längst vergangener CitysphereGenerationen sprachen von unterirdischen Reichen, in denen es heiße Quellen gab. Doch dies war nicht bewiesen, und in fünfhundert Jahren war noch keine Expedition in eins dieser mythischen Paradiese vorgedrungen. In diesem Augenblick vernahm Jodee das Scharren von Füßen und ein leises Hüsteln. Ihr Kopf zuckte hoch. »Farrell?« Es war nicht Farrell. Es war Neero mit der wallenden blonden Mähne, der jüngere Sohn Mamans; das sich für unwiderstehlich haltende, doch völlig ungenießbare Produkt der Verbindung der Maa'oress mit einem direkten Nachfahren des genialen Ingenieurs Jules De Broglie. Jules war der jüngere Bruder des Stadtgründers gewesen; ein Mann, der sich zweifellos hohe Verdienste um die Menschheit erworben hatte. ›Warum‹, dachte Jodee, ›muss sein letzter Nachfahr nur so ein Kotzbrocken sein?‹ Nun war Neero De Broglie alles andere als ein hässlicher Mann. Im Gegenteil, er war der attraktivste in dieser Stadt nach Icaar, der aber leider andere Neigungen hatte. Das Problem mit Neero bestand darin, dass er um sein gutes Aussehen wusste und es ständig nutzte, um oberflächlich denkende, nur auf Äußerlichkeiten reagierende Dummchen aufs Kreuz zu legen. Was er mit welchem Dummchen machte, um es anschließend wie einen alten Lappen zur Seite zu legen, war Jodee normalerweise schnuppe - doch sie empfand es als Beleidigung, dass dieser Mann es wagte, ihr nachzustellen, denn das konnte nur eines bedeuten: Er ging davon aus, dass die gesamte Weiberwelt aus Dummchen bestand. »Ich habe mit Maman gesprochen...« Neero schwang sich mit dem Hintern auf eine Ecke ihres Schreibtischs und schob sich irgendeine Süßigkeit in den Mund, die das chemische Labor seines Onkels produziert hatte. »Ich hab ihr von dem Ding
erzählt... von dem Ding, das Malenkov angeblich verschlungen hat.« Jodee seufzte. »Was heißt hier angeblich?« Neero lächelte. Ihr fiel auf, dass sein Blick nicht bei der Sache war, denn er haftete auf ihrem - zugegeben - recht voluminösen Busen. Wahrscheinlich schwafelte er nur. Wahrscheinlich war nur gekommen, um in ihrer Nähe zu sein; um sie mit seinem Kretin-Charme zu überspülen. Jodee spürte, dass heiße Wut in ihr aufstieg. Der Arsch war leider nicht nur ihr Vorgesetzter; er war auch Mamans Nesthäkchen und verfügte über viele Privilegien. »Na, hör mal«, sagte Neero und stand auf. »Du musst doch zugeben, dass diese Geschichte klingt wie...« »Sie klingt so dämlich«, hörte Jodee sich sagen, »dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass sie sich jemand ausgedacht hat.« Ihre Augen blitzten. »Angenommen, Lafayette und seine Sippschaft haben ihn umgebracht?« »Klar.« Jodee nickte. »Und um die Tat zu verschleiern, erfinden sie irgendein abstruses Lava-Ungeheuer und behaupten, es hätte ihn gefressen.« Der Kerl war so dämlich, dass es wehtat. »Wäre es nicht einfacher gewesen zu behaupten, der Feuerteich hätte sich unter ihm aufgetan?« »Ich mein ja nur...«, murmelte Neero. »Maman ist mit deiner Erklärung jedenfalls nicht zufrieden.« Er rutschte von der Tischkante und kam einen Schritt näher. Jodee wurde das Gefühl nicht los, dass er sie gleich anfassen würde. »Sie will es aus deinem eigenen Mund hören. Du sollst es ihr erklären. Vielleicht glaubt sie dir ja, wenn du ihr mit deinen Worten erzählst.« Sein Blick wanderte nun zu Jodees Hals hinauf, und in seinem Blick war irgendeine vampirische Gier. Er würde sie doch nicht beißen? Jodee seufzte. »Wann erwartet sie mich?« »Jetzt gleich.«
Jodee stand auf. Als sie an Neero vorbeigehen wollte, streckte er plötzlich die Arme aus, umschlang ihre Taille und zog sie an sich. »Ich würde dich auch mal gern zu einer Privataudienz empfangen«, keuchte er, als ihre Nasenspitzen nur noch einen Zentimeter voneina nder entfernt waren. »Besuch mich doch mal im dreißigsten Stock...« Jodees Muskeln spannten sich; auch ihr rechtes Bein, das es offenbar kaum erwarten konnte, Neeros Hoden zu rammen. »Lass mich los, Neero...« Jodee wand sich in seinem Griff, gewahrte das gierige Glitzern in seinen Augen und fragte sich, ob sie es riskieren sollte, dem zweiten Kronprinzen der Maa'oress Saures zu geben. Sie hätte am liebsten gekotzt, denn wenn ihr irgendetwas zuwider war, dann Annäherungsversuche einer Art, die sie auf die schiere Lusthöhle reduzierten. »Ich an deiner Stelle wäre nicht so kratzbürstig«, raunte Neero, ohne die Festigkeit seines Griffs um ihre Taille zu lockern. »Immerhin habe ich die Macht, über das Vorrecht mitzubestimmen, wer als erster mit dem Luftschiff nach Mont'raal fliegt.« Es war eine offene Drohung, die Jodee fast den Atem raubte. Wie viele andere Bewohner der Citysphere hoffte natürlich auch sie, dass ihr ein viereinhalbtausend Kilometer langer Marsch durch die Eiswüste erspart blieb. Die Vorstellung, einen riesigen Proviantschlitten hinter sich herzuziehen, ließ sie erschauern. Natürlich wollte auch sie so schnell wie möglich ausgeflogen werden - bevor der nächste Feuerteich zu ihren Füßen aus dem Boden brach. Aber wollte sie es zu diesem Preis? Als Neero sich vorbeugte, um sie zu küssen, wich Jodee zurück. Ihr rechtes Bein fing unkontrolliert an zu zucken, doch bevor es ausschlug und ihr die Zukunft vermasselte, ertönten draußen auf dem Gang Schritte, und Farrell rief, noch ehe sie das Büro betrat: »Bist du da, Jodee?« Neero ließ Jodee blitzschnell los und trat zurück.
Während Jodee nach Luft rang und Farrell eintrat, zischte er leise und drohend: »Wir sprechen uns noch.« Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und stolzierte hinaus. *** Auch Arelle De Broglie - von der Allgemeinheit »Maman« genannt -, residierte im inzwischen weitgehend menschenleeren Central Tower. Ihr Refugium befand sich im dreißigsten Stock, etwa hundert Meter unter dem höchsten Punkt der gläsernen Kuppel, über der der ebenfalls mit Glassitplatten verkleidete Luftschiffhangar aufragte. In ihm ruhte die am vergangenen Abend zurückgekehrte N08. Mit dem Glassit hatten die Entwickler der Biosphäre einen genialen Baustoff entwickelt: hart wie Panzerglas, aber doch so nachgiebig, dass er nicht in Vibrationen versetzt werden konnte und sich Verspannungen anpasste. Ein Korb konnte vom Hangar auf das Dach des Tower herabgelassen werden; hauptsächlich um Lasten für das Luftschiff zu transportieren. Doch Jodee hätte nicht gezögert, auch selbst in dieses wacklige Konstrukt zu steigen. Die einzige Alternative, zum Hangar zu gelangen, bestand nämlich aus einer Treppe, die sich an der Kuppel-Innenwand nach oben schraubte und von einer transparenten Röhre umgeben war. An ihrem Fuß befand sich eine Stahltür, die sich durch einen Kode öffnen ließ, der nur der Luftschiff-Mannschaft und der Leitung des Sicherheitsdienstes bekannt war. Eine feste Verbindung vom Dach des Central Tower zum Hangar war über diese Entfernung aus statischen Gründen offenbar nicht möglich gewesen. Als der Aufzug sie im dreißigsten Stockwerk ausspuckte, fand Jodee sich in einem großen, holzgetäfelten Empfangsraum wieder. Er war normalerweise von zwei Leibwächtern und der
Sekretärin der Maa'oress besetzt. Diesmal war er leer, denn die Leibwächter - dumme Jungs in Jodees Augen - hatten sich einer zweifellos zum Untergang verurteilten Schlittenexpedition angeschlossen, um sich zur Beringsee abzusetzen. Die Sekretärin, eine Cousine Neeros und Icaars, war nun allein und erledigte vermutlich gerade irgendwelche Botengänge oder ein menschliches Bedürfnis. Jodee blickte sich in der leeren Halle um. Die größte von mehreren Türen führte in Mamans Gemächer. Als ihr einfiel, dass auch Neeros Räume an diese Zimmerflucht grenzten, schauderte sie. ›Vergiss ihn‹, dachte sie. ›Denk an etwas anderes.‹ Sie näherte sich dem metallenen Schreibtisch, hinter dem die Sekretärin für gewöhnlich saß, und warf einen Blick auf den in die Platte eingelassenen Monitor. Er zeigte das Innere der leeren Aufzugkabine. Auch ohne Leibwächter war Maman hier oben vor Attentätern sicher, denn die Hallentür ließ sich von diesem Schreibtisch aus verriegeln. Außerdem gab es in der Stadt niemanden mehr, der ihr Böses wollte, denn wie jeder wusste, tat Arelle De Broglie alles, um ihr Volk vor einer großen Gefahr zu retten. Früher, in den Jahrzehnten vor Jodees Geburt, hatte es in der Citysphere hin und wieder heftige Machtkämpfe mit zahlreichen Opfern gegeben. Doch nun hatten auch die letzten Aufrührer die Kuppel verlassen. Arme Irre, die glaubten, aufs Geratewohl in die Ferne und eine Ungewisse Zukunft zu ziehen, sei allemal besser als hier zu bleiben und auf eine Problemlösung zu warten. Vermutlich ruhten ihre Gebeine längst unter einer dicken Schneedecke. Als Jodee sich über den Schreibtisch beugte, um in einem Anfall von Ordnungssinn eine dicke Staubflocke von der Monitorscheibe abzuwischen, fiel ein Schreibstift aus der Brusttasche ihres Baumwollhemdes und landete mit einem leisen Klacken auf irgendeiner Einstelltaste.
Es verging keine Sekunde, dann hörte sie eine Stimme, von der sie wusste, dass sie Icaar De Broglie gehörte. »... die Bedingungen hart sind, ist mir natürlich bewusst, Maman«, sagte sein sanfter Bariton, »aber natürlich fragen Neero und ich uns auch, wem es einen Nutzen bringt, wenn wir den hier verbliebenen Pöbel über viereinhalbtausend Kilometer nach Süden transportieren.« Er räusperte sich. »In Mont'raal herrschen ganz andere Zustände... Wenn wir erst mal eingebürgert sind, wären diese Leute nicht mehr unsere Untertanen, sondern die des örtlichen Despoten. Außerdem kann das Luftschiff nicht mehr als zweitausend Kilogramm transportieren; das wären höchstens fünfundzwanzig Personen. Bei den hier verbliebenen zweihundert Leuten müsste ich die Strecke also acht, neun Mal hin und her fliegen! Und dann hätten sie nicht mehr als das nackte Leben und das gerettet, was sie auf dem Leib tragen.« Jodees Kopf ruckte hoch. Sie traute ihren Ohren nicht. »Was ist mit der Modifikation der N08?«, erwiderte die reichlich gelangweilt klingende Stimme Arelle De Broglies. »Du hast doch gemeint, du könnest die Ladekapazität des Luftschiffes verdoppeln.« »Das kannst du vergessen, Maman.« Icaar schnaubte geringschätzig. »Dazu haben wir einfach keine Zeit mehr! Wenn man von dem ausgeht, was unsere so genannte, schon vor Monaten emigrierte Wissenschaft sagt, kann sich der nächste Feuerteich schon in einer Woche auf tun - und zwar mitten in der Stadt! Ich schlage vor, dass wir unser Zeug so schnell wie möglich packen und das Gold in den Hangar hinauf schaffen, um für eine problemlose Einreise in die Festung Mont'raal zu sorgen.« Jodee zuckte zurück. Das Entsetzen fuhr ihr dermaßen in die Glieder, dass sie am ganzen Leibe zitterte. Was beredeten die beiden da? Wer war der Pöbel, von dem sie sprachen? Etwa die
Bewohner der Citysphere? Was redeten sie von Gold? Wollte sich der Herrscher von Mont'raal etwa an ihrer Not bereichern? Sie schaute sich rasch um, doch sie war noch immer allein. Jodee hörte die Maa'oress seufzen. »Na schön, du hast mich überzeugt...« Ihre Stimme klang nun ganz anders, überhaupt nicht wie Maman. Sie klang kalt und distanziert, als sei sie völlig desinteressiert an den Menschen, die hier geblieben waren, um den Betrieb so lange aufrecht zu erhalten, bis Icaar und Neero sie aus ihrer gefährlichen Lage befreiten. Viele der Zurückgeblieben hatte man zum Bleiben überreden müssen, denn Städte funktionierten nun mal nicht von allein, und ohne die städtischen Bediensteten wäre längst alles zusammengebrochen. »Unter diesen Umständen«, sagte nun Icaar, »können wir natürlich nur den engsten Familienkreis mitnehmen.« Er hüstelte. »Wir überlassen dir gern die Auswahl.« »Na schön«, erwiderte Maman. »Dann schlage ich Onkel Pjeer und seine Familie vor.« Onkel Pjeer war ihr Bruder, der Süßwarenproduzent. Icaar kicherte. »Einverstanden. Da er unser Vermögen verwaltet, können wir ohnehin nicht auf ihn verzichten. Ich schlage vor, du setzt ihn sofort ins Bild. Sag ihm, er und seine Jungs sollen sich bereithalten, damit wir das gehortete Zeug im Hangar schnellstens verladen können. Wir werden es brauchen, wenn wir in Mont'raal ein sorgenfreies Leben führen wollen.« Jodees Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war entsetzt. Jetzt verstand sie endlich. Die Maa'oress wollte sich mit ihren Söhnen und ihrer engsten Verwandtschaft absetzen! Sie, Jodee Blackfeather, und der Rest der Stadtbewohner waren der Pöbel, mit dem man sich nicht belasten wollte. Sie wurden verarscht! Die De Broglies dachten nicht daran, sie auszufliegen. Sie horteten im Hangar hoch über der Kuppel im
Verein mit ihrer Sippschaft Vorräte, Waffen und Wertgegenstände. Die Familie De Broglie bestand aus mehr als dreißig Personen. Sie hatten also vor, auch einen großen Teil ihrer eigenen Sippe zu betrügen. ›Ich muss... Ich muss es den Leuten sagen‹, dachte Jodee mit hämmernden Schläfen. ›Ich muss den Leuten sagen, dass Maman vorhat, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Aber... wird man mir glauben?‹ *** ›Schau mal einer an‹ dachte Neero De Broglie, als er in seiner Zimmerflucht vor den za hlreichen Spy-Monitoren stand, die die ganze Wand einnahmen. Aus dem Nebenraum - dem Sekretariat - wurden gerade die deutlichen Stimmen Icaars und seiner Mutter übertragen, die sich mit den üblichen Floskeln von einander verabschiedeten. Und Jodee Blackfeather, das kleine Biest, das sich ihm mit konsequenter Bosheit verweigerte, stand da und lauschte. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie der Blitz getroffen. Neero hatte zwar keine Ahnung, was sie gerade gehört hatte, doch in ihm keimte sofort der Verdacht, dass es etwas Ungutes gewesen war. Jodee erwachte nun aus ihrer Starre; ihre Rechte druckte blitzschnell eine Taste, dann trat sie einige Schritte zurück. Icaars und Mamans Stimmen waren verstummt. Dann öffnete sich die Tür zu den Gemächern der Maa'oress und sein Bruder trat in den Empfangssaal. Er nickte Jodee jovial zu, gab ihr zu verstehen, dass sie nun eintreten könne und verschwand im Aufzug. Die Tür zu Mamans Gemächern schloss sich hinter Jodee. Neero zog eilig seinen Komkator aus der Jackentasche und wählte Icaar an. Er meldete sich aus dem Lift.
»De Broglie.« »Hier ist Neero. Was hast du ihr gerade mit Maman besprochen?« »Warum fragst du?«, kam Icaars Antwort. Er klang erheitert. »Hast du uns diesmal etwa nicht belauscht?« Neero errötete, doch zum Glück konnte sein Bruder ihn nicht sehen. »Halt mich nicht Geschwafel auf«, zischte er. »Ich hab Grund zu der Annahme, dass Jodee mitgehört hat.« »Au Backe«, sagte Icaar, der altertümliche Redensarten mochte. Er hüstelte dezent. »Wir haben alles besprochen, was sie nicht hören darf.« »Na, dann gute Nacht.« Neero räusperte sich. Dann sagte er: »Was schlägst du vor?« »Frag Maman.« »Wenn Sie Besucher empfängt, geht sie nicht ran, das weißt du doch.« »Dann denk dir selbst was aus«, erwiderte Icaar lässig. »Du warst doch immer schon ein kreativer Geist.« ›Ja‹, dachte Neero. ›Das kann man wohl sagen.‹ »Aber es muss wie ein Unfall aussehen«, überlegte er. »Und so was muss man vorbereiten.« »Du hast keine Zeit für Vorbereitungen.« Icaar lachte leise. Es schien ihm sehr zu gefallen, seinen kleinen Bruder in der Zwickmühle zu sehen. »Lass sie schnell erledigen, bevor sie mit irgendjemandem darüber reden kann.« Neero kappte die Verbindung. In seinem Hirn war Chaos. Sein Blick fiel auf einen anderen Monitor, der das Innere von Mamans Audienzkammer zeigte. Seine rothaarige, gepflegt aussehende Mutter saß huldvoll auf einem plüschigen Sofa und hörte Jodee zu, die ihr vermutlich gerade die unglaubliche Geschichte von dem Ungeheuer erzählte, das aus der Lava geflogen und sich den armen Malenkov geschnappt hatte. Hoffentlich hielt Maman sie noch eine Weile auf - bis ihm etwas eingefallen war.
Neero ging in seinem Büro auf und ab. Er dachte nach. Welchem seiner parasitären Vettern konnte er am ehesten eine Schandtat zutrauen? Er ging sie der Reihe nach durch. Raoul. Raoul war der richtige Mann. Er war stark, schnell und skrupellos. Außerdem wohnte er im 29. Stock, war also nicht weit entfernt. Er konnte schnell handeln. Neero aktivierte erneut den Komkator. »Raoul?« »Ja?« Raoul lag, von der langen Luftschiffreise noch immer erschöpft, im Bett und gaffte an die Decke. »Lass sofort alles stehen und liegen«, sage Neero. »Ich habe einen Auftrag für dich.« Er erläuterte Raoul die Angelegenheit in einem Satz und gab ihm zu verstehen, wie lebenswichtig die Ausführung für sie alle war. Raoul bekundete Überraschung. Aber er war wirklich ein Nichtsnutz, wenn auch von hellem Verstand. Das Hemd war ihm schon immer näher gewesen als die Jacke. Und natürlich wollte auch er unter allen Umständen überleben. Neero kappte auch diese Verbindung. Sein Blick fiel wieder auf den Spy-Monitor. Jodee stand in der Audienzkammer auf und deutete eine Verbeugung an. Maman gab ihr mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass sie sich entfernen durfte. Jodee ging hinaus. Als sie durch die Empfangshalle schritt und auf den Aufzug wartete, mit dem Icaar nach unten gefahren war, wählte Neero den Komkator seiner Mutter an. Er meldete sich nicht mit seinem Namen, denn Maman erkannte ihn sofort. »Jodee ist ein Risikofaktor«, sagte er rasch. »Sie kennt vermutlich unseren Plan.« »Oh«, sagte Maman. »Das ist aber schlecht. Ich schlage vor, du unternimmst etwas, damit sie ihn nicht ausplaudern kann.« »Schon geschehen«, erwiderte Neero stolz. Ha, nun würde ihn bestimmt mehr lieben als den Fatzke, der sich sein Bruder nannte. ***
Nach der Audienz bei der Maa'oress fuhr Jodee mit dem Aufzug erst einmal ins Kasino hinunter. Ihr Magen knurrte. Die Manifestation des Feuerteichs hatte sie kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf gerissen. Inzwischen waren knappe sechs Stunden vergangen. In der Citysphere war wieder Ruhe eingekehrt. Auch im Kasino war nicht viel los: Ein halbes Dutzend Nachtschichtler hatten sich an einem Tisch versammelt, verzehrten Sojabrote und Salat sowie Eier aus eigene m Zuchtbetrieb. Jodee stopfte sich ein paar belegte Brote hinein und dachte dabei fieberhaft über das unfreiwillig belauschte Gespräch nach. Was sollte sie unternehmen? Wer würde ihr glauben, dass die von allen geschätzte Maman zu so einer Schandtat fähig war? Am besten redete sie erst einmal mit Farrell. Farrell war klug. Vielleicht fiel ihr etwas ein... Jodee fuhr mit dem Aufzug zurück in den 29. Stock. Sie hatte nur zwei Stunden geschlafen und sah furchtbar aus. Eine kalte Dusche würde ihre Lebensgeister wieder in Schwung bringen. Schon als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, wurde ihr klar, dass hier etwas nicht stimmte. Ihre Nasenflügel bebten. Sie witterte einen Fremden. Einen möglicherweise - nein, mit Sicherheit - ungewaschenen Fremden. Sie spannte ihre Muskeln an, spreizte leicht die Beine. Dummerweise bewahrte sie ihre Dienstwaffe immer in einer Schublade im Büro auf. Der Geruch erinnerte sie an jemanden. Es war ein maskuliner Geruch. Doch der Name des Mannes fiel ihr nicht auf Anhieb ein. Sie dachte auch nicht lange darüber nach, denn als sie geduckt ins Wohnzimmer vordrang und den eisernen Leuchter ins Auge fasste, den sie als Waffe missbrauchen wollte, teilte sich rechts von ihr der Vorhang, der in die Kleiderkammer führte. Eine schlanke Gestalt flog ihr entgegen, beide Arme ausgestreckt. In
der rechten Hand des Unbekannten blitzte ein beidseitig geschliffenes Messer von der Länge eines Unterarms auf. Jodee duckte sich instinktiv. Ein leiser Schrei entfuhr ihrer Kehle, der jedoch von schmerzhaften Jaulen des Angreifers übertönt wurde, als dieser das Gleichgewicht verlor und mit den Knien gegen die Steinplatte des Wohnzimmertisches knallte. Jodee setzte zu einem Hechtsprung an. Ihre Hand erwischte den Leuchter, umklammerte ihn. Sie fuhr herum - gerade im rechten Moment, um dem Meuchelmörder ins Auge zu schauen. Es war der neunzehnjährige Raoul De Broglie, einer der zahlreichen Neffen Mamans. Jodee wusste nicht viel über ihn, und nach dem, was er sich jetzt und hier leistete, hatte sie auch nicht das Verlangen, mehr über ihn zu erfahren. Raouls Rechte, in der die Klinge blitzte, zuckte vor, zielte auf ihren Brustkorb. Jodee warf sich nach links, in die Mitte des Raumes hinein. Das Messer zerfetzte ihren Ärmel, wurde blitzschnell zurückgerissen und holte zum nächsten Stich aus. Jodee nutzte ihre Chance. Ihr rechter Fuß zuckte hoch und traf mit voller Wucht die linke Kniescheibe des jungen Mannes. Raoul brüllte auf und war blöd genug, den Blick auf sein Bein zu richten, was Jodee die Möglichkeit einräumte, den Leuchter gegen seinen Schädel zu schlagen. Raoul grunzte und wankte, doch seine Hand führte einen wüsten Rundschlag mit dem gefährlichen Messer aus. Es ratschte seitlich über Jodees Brust und schlitzte ihr Hemd auf. Sie wollte nach hinten ausweichen, doch da bekam Raoul den Gürtel ihrer Hose zu fassen. Sein Arm holte aus... Jodees Rechte riss blitzschnell den Leuchter hoch. Sie legte die ganze Kraft in den Hieb, der auf den Kopf des Angreifers zielte. Blut spritzte. Raoul stöhnte dumpf und verdrehte die Augen. Seine Messerhand sank herab. Die andere Hand ließ Jodees Gürtel los, dann plumpste er wie ein nasser Sack zu Boden. Seine Augen brachen.
Jodee trat entsetzt zurück. Sie hatte ihn nicht töten wollen, aber es war geschehen. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. Der Raum kreiste um sie. Ihr war entsetzlich übel. Doch sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Jetzt nicht. Sie musste die Sicherheit alarmieren. Farrell... *** Das Verrückte an dieser Gegend war, dass die Sonne im Sommer praktisch nie unterging. Nun ja, während der Nachtperiode gab es schon mal zwei Stunden, in denen man sie nicht sah, aber das tat der Tageshelligkeit kaum Abbruch. Dennoch muss der Mensch schlafen. Und da er daran gewöhnt ist, dies während der Nacht zu tun, schlägt seine innere Uhr automatisch an und ermahnt zur Ruhe. Wem es dann schwer fällt, in der Helligkeit Schlaf zu finden, muss sich eben behelfen. Aruula löste dieses Problem gewöhnlich, indem sie ihr Gesicht mit einem Umhangzipfel verhüllte. Aiko Tsuyoshi manipulierte einfach seine bionischen Cyborg-Augen, bis es für ihn dunkel genug war. Commander Drax hingegen brauchte keinerlei künstliche Hilfsmittel: Als erfahrener Soldat konnte er - genügend Erschöpfung vorausgesetzt - problemlos an jedem beliebigen Ort in Tief schlaf verfallen, sobald die Umstände es erlaubten. Dazu war er schon in der Grundausbildung in der Lage gewesen. Momentan schlief Matt im Gegensatz zu seinen Gefährten jedoch nicht. Im Gegenteil war sein Blick seit der Sekunde, in der das fantastisch Bauwerk in der Ferne aufgetaucht war, selten so klar gewesen: Rechterhand ragte eine gigantische, schätzungsweise zweihundert Meter hohe Halbkugel aus Glas in die Luft. Ihre Oberfläche wirkte facettenartig und bestand aus Tausenden Fensterelementen, die im Licht der nun wieder langsam sichtbar werdenden Sonne glitzerten und funkelten.
Citysphere 01! Der Name auf dem Zeppelin war ihm gleich so bekannt vorgekommen; nun konnte er ihn auch zuordnen. Matt, der das Steuer des Eisseglers vor vier Stunden von Aiko Tsuyoshi übernommen hatte, holte das Segel mit einem Knopfdruck ein, dann trat er auf das Pedal, das die Heckkrallen aktivierte. Hinter ihm wurde ein gewaltiges Rauschen hörbar. Das Eis spritzte in Fontänen hoch in die kalte Luft. Pure Neugier hatte Matt vor einiger Zeit dazu verleitet, vom Yukon auf den Stewart River abzubiegen. Ihn interessierte nicht nur, ob von Mayo und Keno noch etwas übrig war; er hatte auch nicht vergessen, dass das mysteriöse Luftschiff diesen Kurs eingeschlagen hatte. Auch wenn der Name De Broglie nicht unbedingt freudige Erinnerungen in ihm weckte: Er fragte sich, welche Art von progressiver Zivilisation ausgerechnet hier, am Rande der Welt, existierte. Ihn interessierte, wer fünfhundert Jahre nach dem Weltuntergang Zeppeline bauen konnte, und er zweifelte nicht daran, dass die Konstruktion eines solchen Gefährts Intelligenz und eine gewisse Kultiviertheit voraussetzte. Die rechte bionische Hand des aus dem Schlaf erwachten Cyborgs krallte sich in die Rückenlehne vom Matthews Sitz. »Bei den bleichen Gebeinen des legendären Hikaru Sulu«, keuchte Aiko plötzlich. Er klang fassungslos. »Was um alles in der Welt ist das?« Matt fuhr kurz herum. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seit er vor Wochen einmal die Holodeck-Technik von Star Trek erwähnt hatte, wurde Aiko nicht müde, ihn über die Serie auszufragen. Der Eissegler kam hoppelnd zum Stehen. Nun erwachte auch Aruula. Sie schaute sich um, entdeckte den Grund für Aikos Erstaunen und öffnete den Mund zu einem lautlosen »O«. Matt wandte sich wieder nach vorn und wartete ab, bis das Gefährt ganz zur Ruhe kam. »Das muss Citysphere 01 sein«,
sagte er dann. »Eine Biosphäre, die kurz vor dem Kristofluu erbaut wurde.« »Biosphäre?« Matt konnte Aruulas Gesicht zwar nicht sehen, wusste aber, dass es in diesem Augenblick große Ähnlichkeit mit einem Fragezeichen hatte. »Biosphäre nennt man einen von Lebewesen bewohnten Raum«, erläuterte Aiko. »Ach, wirklich?«, sagte Aruula. »Wir nennen es einfach die Welt.« »Zu meiner Zeit«, sagte Matt, tastete nach dem Fernglas und hob es an die Augen, »gab es einige Versuche, künstliche Lebensräume zu erzeugen. Man wollte eine eigene, in sich funktionierende Welt in der normalen Welt erschaffen...« »Warum?«, fragte Aruula. »War euch die normale Welt nicht mehr gut genug?« »Doch, sicher.« Matt atmete tief durch. Wie erklärte man einer Barbarin den Sinn einer Biosphäre? »Der Plan war, eines Tages auf anderen Planeten Fuß zu fassen. Auf Planeten, auf denen Menschen ohne eine künstlich erzeugte Umwelt nicht existieren können.« »Warum sollte jemand auf einem solchen Planeten leben wollen?«, fragte Aruula weiter. »Nun... ähm... es ist ein alter Menschheitstraum.« Eigentlich, dachte Matt, war es weniger ein alter Menschheitstraum, als vielmehr der reichlich blödsinnige Traum einiger Romanautoren und Wissenschaftler. Aber immerhin hatte die Citysphere 01 die Kometenkatastrophe überstanden; also war ihr Bau doch zu etwas nütze gewesen. Aruula schwieg jetzt. Fremde Welten und Raumfahrt waren nicht ihr Ding. Obwohl sie mit Matt im All gewesen war und sich an Bord der Raumstation ISS ganz wacker geschlagen hatte, waren ihr die Ziele der Menschen seiner Zeit nicht ganz geheuer.
Aiko öffnete unvermittelt das Cockpit und schwang sich ins Freie. Eiskalte Luft wehte ins Innere des Seglers. Aruula schüttelte sich. Matt, der nach den langen Stunden hinter dem Steuer eine leichte Müdigkeit empfunden hatte, wurde auf der Stelle wieder munter. Die beiden stiegen ebenfalls aus. Matt hob das Fernglas; Aiko dagegen nahm das wundersame Bauwerk in der Ferne ohne äußerlich erkennbare Hilfsmittel in Augenschein. »Es ist riesig«, meldete er kurz darauf. »Ich schätze seine Höhe auf hundertachtzig Meter und seinen Durchmesser auf mindestens einen halben Kilometer. Ich erkenne hohe Bauwerke darin. Und...«, er hielt inne, »... Wärmesignaturen. Die Sphäre wird beheizt.« Matt erblickte hinter den Scheiben nur dunkle Schatten. »In einem solchen Iglu können Tausende von Menschen leben«, sagte Aruula. »Doch wovon ernähren sie sich?« Sie schaute sich um und deutete auf die tote Landschaft. »Hier wächst doch nichts.« »Deshalb heißt es ja Biosphäre«, erklärte Matt, ohne sich umzudrehen. »Da drinnen gibt es eine eigene kleine Welt mit allem, was man zum Leben braucht.« »Dann sollten wir reingehen und uns mit Vorräten eindecken!«, sagte Aruula begeistert. »Wir hatten schon lange kein frisches Fleisch mehr!« »Oben auf der Kuppel befindet sich ein länglicher Bau«, warf Aiko ein. »Mich würde nicht wundern, wenn da drin das Luftschiff untergebracht ist, das wir gesehen haben.« Matt regulierte die Schärfe des Fernglases nach. Ja, es war eindeutig ein Hangar. An der ihnen zugewandten Seite war eine abgerundete Öffnung zu erkennen, hinter der man den silbergrauen Bug des Luftschiffes sah. »Ich habe Durst.« Aruula wandte sich vom Anblick der Kuppel ab, tauchte im Eissegler unter und kramte im Ladesegment am Heck herum, wo ihre Vorräte lagerten. Während Matt sich mit
Aiko weiter über die Sphäre unterhielt, trug Aruula den kleinen Gaskocher ins Freie, baute ihn auf der glatten Eisfläche des Stewart River auf und marschierte mit einem Eimer in der Hand in Richtung Ufer, um ihn mit Schnee zu füllen. Seit dem Verlassen von Juneau hatte sich Aruulas Wasserbedarf verdreifacht; sie nutzte jede Gelegenheit, Schnee zu tauen und in sich hinein zu schütten. Matt wunderte sich zwar über diese Anwandlung, aber da sie keinerlei Symptome einer Krankheit zeigte und man eigentlich nie zu wenig Wasser zu sich nehmen konnte, hielt er sich mit Kommentaren zurück. Sicher würde sich ihr Verhalten wieder ändern, wenn sie diese polare Region verlassen hatten. »Sollen wir die Gelegenheit für ein Frühstück nutzen?« Matt schaute sich um. Ein paar Meter vom rechten Ufer des Stewart River entfernt ragte eine zwanzig Meter hohe Felseninsel aus dem Eis und bildete einen guten Schutz vor dem Wind. »Da vorn?« Aiko nickte. »Einverstanden.« Die beiden Männer legten sich ins Zeug und schoben den Eissegler bis an den geschützten Rand des Flussbettes. Als die rechte Kocherflamme Schnee zu Wasser schmolz und in der runden Pfanne der linken drei Schnitzel brutzelten, die sie aus Vancouver mitgenommen hatten, sagte Aiko: »Ich bin gespannt, was uns in der Sphäre erwartet. Wäre doch schön, in dieser Wildnis kultivierten Menschen zu begegnen.« »Glaub ich nicht«, erwiderte Aruula knapp. Matt schaute sie an, und obwohl es ihm nicht vergönnt war, Gedanken zu lesen, wusste er genau, was seine Gefährtin dachte: ›Die meisten zivilisierten Menschen, denen ich bisher begegnet bin, haben sich als Schweinebacken entpuppt.‹ Natürlich hatte sie Recht. Aber der Grimm und die Reizbarkeit, die sie seit einiger Zeit zur Schau stellte, hatte noch einen anderen Grund: Vor mehreren Monaten hatte sie sich auf ein Experiment der WCA eingelassen, um ihren Lauschsinn zu
steigern. Das war auch gelungen. Bis er unkontrollierbar geworden war und sie die Gedanken sämtlicher Lebewesen im weiten Umkreis wahrgenommen hatte. Die einzige Chance, sie vor dem Wahnsinn zu bewahren, war ein mentaler Blocker gewesen. Mit der Folge, dass ihre telepathischen Fähigkeiten lahmgelegt wurden. Seither fühlte sie sich taub und konnte sich nur noch auf ihre Intuition verlassen. Ihr Vertrauen in die Wissenschaftler des Weltrats - auch so eine Bande zivilisierter Schweinebacken - war dabei nicht gerade gewachsen. *** Offenbar war Jodee doch für kurze Zeit ohnmächtig geworden, denn als sie die Augen öffnete, wimmelte es in ihrer Wohnung von Angehörigen ihrer Truppe. All ihre Untergebenen waren da - Farrell, Lafayette und sieben andere. Die meisten standen um Raoul De Broglies Leiche herum, fassten sich ans Kinn, murmelten leise Worte und schüttelten den Kopf. Farrell kniete neben Jodee, die auf dem Sofa saß und dem Flattern ihrer Nerven lauschte. Ihr Blick war einfühlsam. Sie hielt Jodees Hand und redete beruhigend auf sie ein. Neero De Broglie, der Sicherheitschef, schien die Ermittlungen übernommen zu haben. Er untersuchte das lange Messer, das der Tote noch immer in der Hand hielt, und betastete Raouls blutigen Schädel. »Was war hier los?«, fragte Farrell, als sie den Eind ruck hatte, Jodee sei nun wieder bei sich. »Er hat mir aufgelauert«, erwiderte Jodee Blackfeather. Ihr Kinn zitterte. Sie schaute zur Tür. »Als ich rein kam, hat er sich mit dem Messer auf mich gestürzt. Ich musste mich verteidigen und hab ihn erschlagen. Das war alles.« Sie schüttelte sich und
wünschte, dass die anderen die Leiche endlich von hier fort brachten. Sekunden später, als hatte irgendeine Gottheit sie erhört, signalisierte Neero seinen Untergebenen, dass der Tote zu entfernen sei. Lafayette und sein Schwager, die beide ziemlich übernächtigt wirkten, führten seinen Befehl aus. Der Rest der Truppe folgte ihnen. Neero gesellte sich zu Farrell und Jodee. »Hat er dich...?« Er war geschmacklos genug, den Daumen der rechten Hand zwischen seinen Zeige- und Mittelfinger zu schieben. Jodee hätte ihm gern ins Gesicht gekotzt, aber sie riss sich zusammen und schüttelte den Kopf. »Wie kommst du darauf?«, fragte Farrell. Neero zuckte die Achseln. »Na ja...« Die Verlegenheit, die er zur Schau stellte, stand ihm ganz und gar nicht. »Raoul hat hin und wieder erwähnt, dass er...« Er schaute Jodee an. »Dass du ihm gefällst.« Er räusperte sich. »Er hat auch mal gesagt, er wurde dich irgendwann bestimmt... na ja... rumkriegen.« »Er hat mich nie auch nur angesprochen«, erwiderte Jodee. Sie wusste nicht, was sie von Neeros Behauptung halten sollte. Jedenfalls hatte sie kein Verständnis für junge Männer, denen sie angeblich gefiel und die statt mit Blumen mit einem Schlachtermesser in ihrer Wohnung aufkreuzten. »Weißt du genau«, fragte Neero und starrte auf ihren Busen, »dass ihr nicht miteinander geturtelt habt - und die Sache dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen ist?« Farrell sprang auf und maß ihn mit entrüsteten Augen. Auch Jodee war schockiert. »Er hat keinen Annäherungsversuch gemacht. Er wollte mich ermorden.« Sie erdolchte Neero mit einem Blick. »Was versuchst du hier zu konstruieren? Die alte Geschichte von der verdorbenen Schlampe, die einen naiven jungen Mann bis zum Äußersten aufgeilt und ihm dann, wenn er auf achtzig ist, einen Tritt verpasst?«
»Nein, nein...« Neero hob abwehrend die Hände. »Ich glaub dir schon, was du sagst.« Er drehte sich zu der Stelle um, an der Raouls Leiche gelegen hatte. »Wahrscheinlich ist er einfach nur durchgedreht. Vielleicht haben wir ihn alle gar nicht richtig gekannt.« Er wandte sich wieder Jodee zu. »Obwohl ich im Moment weiß Gott genug zu tun habe, übernehme ich die Ermittlungen.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich bin ebenso entsetzt wie du, wirklich, aber... Ich bin nun mal der Sicherheitschef und kann es mir nicht leisten, Gefühle zu zeigen.« ›Du hast doch gar keine, du Arsch‹, sagte Farrells Blick. »Hör zu«, fuhr Neero fort. »Ich halte es nach diesem Schock für das Beste, wenn du eine Aufgabe übernimmst, die dich für ein paar Stunden an die frische Luft bringt. - Lüfte dein Gehirn aus, Jodee. Komm auf andere Gedanken.« Er seufzte, als trüge er eine unendlich schwere Last. »Ich muss jetzt Raouls Eltern beibringen, was passiert ist. Meinem Onkel und meiner Tante... Besser, wenn du ihnen heute nicht über den Weg läufst.« Als er das wütende Aufblitzen in Jodees Augen sah, fügte er hastig an: »Bitte, versteh mich... Trotz allem, was du Raoul zur Last legst, bleibt er doch ihr Sohn. Es wird nicht einfach für sie sein, dir zu glauben.« »Na schön«, hörte Jodee sich sagen. Eigentlich war es ihr ganz recht, wenn sie eine Weile aus der Kuppel heraus kam. Um, wie Neero gesagt hatte, ihr Gehirn zu lüften. »Stell dich unter die Dusche«, sagte Neero. »Du bist voller Blut. Dann zieh dich um.« Er deutete zum Fenster. »Als wir mit der N08 aus Mont'raal kamen, haben wir vor der Stewart-RiverMündung auf dem Yukon ein merkwürdiges Gefährt mit drei Personen an Bord gesichtet. Maman möchte wissen, woher es kommt, wer es steuert und was die Le ute hier wollen.« ›Könnte dieser dringende Auftrag‹, dachte Jodee plötzlich, ›damit zusammenhängen, dass du rausgekriegt hast, dass ich
irgendwas weiß, und du verhindern willst, dass ich Gelegenheit habe, dieses Wissen weiterzugeben?‹ In ihrem Hirn machte es »Klick«. Ihr wurde schlagartig klar, warum Raoul De Broglie sich in ihre Wohnung geschlichen hatte. Aber wie sollte sie es beweisen? »In Ordnung«, sagte sie. »Du hast Recht.« Neero hob triumphierend den Kopf. Dann wandte er sich zum Gehen. Als er an der Tür stand, schien ihm noch etwas einzufallen, denn er blieb stehen und drehte sich um. »Komm mit, Farrell«, sagte er im Befehlston. »Ich brauch dich anderswo.« Farrell warf Jodee einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihm hinaus. Nun war Jodee alles klar. Der Kretin wusste wirklich Bescheid. Sie eilte in die Duschkabine und spülte sich Raouls Blut vom Körper. Das Wasser machte sie wach, stabilisierte ihren Kreislauf. Ja, sie war froh, dass sie sich erst mal aus der Citysphere entfernen und darüber nachdenken konnte, wie sie nun verfahren sollte. Hier stand sie zu deutlich sichtbar auf dem Präsentierteller... *** Neero De Broglie hatte das Sicherheitsbüro kaum betreten, als er Farrell den Befehl gab, den Beobachter am jüngsten Feuerteich abzulösen. Er ignorierte ihr Stirnrunzeln ebenso wie ihren Einwand, dass der betreffende Mann den Posten erst vor zwei Stunden übernommen hatte. »Ich will jemanden dort, auf den ich mich verlassen kann«, fauchte er und deutete hinaus. Farrell zog eine Schnute, wandte ihm den Rücken zu, verdrehte die Augen und ging hinaus. Sie hatte das Büro kaum verlassen, als Neero zum Komkator griff und Icaar anrief. Er
hielt sich hoch über der Kuppel im Hangar auf und nahm einige Feineinstellungen an den Motoren der NO 8 vor. »Es ist in die Hose gegangen«, meldete Neero zähneknirschend. »Sie hat den Blödian Raoul umgelegt. Jetzt darf ich Onkel Armaad und Tante Sylvii beibringen, dass ihr geliebter Schatz in die Wiederverwertungsanlage kommt. Es ist wahrlich keine schöne Aufgabe.« Er seufzte. Icaar kicherte. »Raoul war schon immer ein Dummkopf.« Dann änderte sich seine Laune. Seine Stimme wurde finster. »Was wirst du jetzt tun?« Neero berichtete von dem Auftrag, den er Jodee Blackfeather gegeben hatte, um sie erst einmal aus dem Verkehr zu ziehen. Dann sagte er: »Ich schlage vor, du läufst so schnell wie möglich zu einer Testfahrt aus und folgst ihr.« Er räusperte sich. »Wenn du weit genug von der Citysphere entfernt bist, verpasst du ihr eins mit dem hübschen Ding, das du immer so protzig mit dir herum trägst - und verstreust ihre Einzelteile in alle Winde.« »Keine üble Idee«, sagte Icaar. »Es wäre ohnehin an der Zeit, dass ich die Waffe mal an einem lebenden Objekt teste. Aber leider...« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, sodass Neero annahm, dass er nicht allein war. »Leider hab ich den Motor, an dem ich gerade arbeite, in sämtliche Einzelteile zerlegt. Es würde einen halben Tag dauern, ihn wieder zusammenzufügen und am Gestänge anzubringen.« Neero stieß einen lästerlichen Fluc h aus. »Hat sich denn heute alles gegen mich verschworen?!« »Du bist doch ein heller Kopf«, erwiderte Icaar leutselig. »Dir fällt bestimmt etwas ein. Da bin ich mir ganz sicher.« Die heiße Woge aufsteigender Wut drohte Neero zu ersticken. ›Wenn wir hier fe rtig sind, du Klugscheißer‹, dachte er. ›Wenn wir hier raus und in Sicherheit sind, wird mir auch für dich etwas einfallen, du selbstgefälliger Schweinehund. Und wenn du tausendmal Mamans Liebling bist.‹
»Verlass dich drauf.« Er kappte die Verbindung, stie rte zehn Sekunden ins Leere und aktivierte das winzige Gerät erneut. »De Broglie«, meldete sich eine schnarrende Stimme. Sie war typisch für einen von zwei Brüdern. »Pascal?« »Nein, Luc.« Auch gut. »Wo seid ihr?« »Auf der Südpatrouille. Östlich vom Stewart River.« »Hör zu, Vetter«, sagte Neero mit einschmeichelnder Stimme. »Ich habe einen Auftrag für euch. Er ist von äußerster Wichtigkeit. Es geht um Sein oder Nichtsein unserer Familie...« *** Matt und Aiko waren gerade im Begriff, den Eissegler zurück in die Mitte des zugefrorenen Flusses zu ziehen, als ein leises Brummen an ihre Ohren drang. »Gefahr!« Aruulas Hand zuckte automatisch hinter ihre Schulter. Eine Sekunde später reflektierte der Stahl ihres langen Schwertes, das sie in einer Rückenhalterung trug, das Licht der Sonne. Matt und Aiko schauten sich kurz an. Dann fuhr Matts Hand zum Driller, während Aiko ins Innere des Seglers hechtete, sich über den Pilotensitz beugte und seine Tak 02 Maschinenpistole an sich raffte. Als er kniend neben dem Eissegler in Stellung ging und sein Blick von einem Flussufer zum anderen flog, um die Quelle des Geräuschs zu finden, erspähte Matthew Drax in der Richtung, in der die Stadtsphäre aufragte, ein gedrungenes dunkelblaues Kufenfahrzeug, das übers Eis auf sie zufuhr. Sie brauchten also nicht mit einem Izeekepir oder anderen Mutationen zu rechnen. Sie erhielten kultivierten Besuch. Die drei Gefährten blieben kampfbereit. Matt hob das an einer Lederschlaufe um seinen Hals hängende Fernglas und richtete es
auf das näher kommende Fahrzeug. Der ihm unbekannte Schneemobil- Typ wurde von einer dunkelhäutigen Gestalt mit schulterlangem Haar gelenkt. Eine Frau? Das Fahrzeug schien nicht bewaffnet zu sein. Matt konnte weder Kanonenrohre noch MG-Läufe erkennen. »Scheint friedlich zu sein«, rief er Aiko und Aruula zu. »Nehmt die Waffen runter!« Sie bleiben trotzdem wachsam. Aiko ließ die Tak 02 am Tragegurt über seiner Schulter baumeln, und Aruula senkte ihr Schwert nur, ohne es in die Halterung zurückzustecken. Matt steckte den Driller ein, hob eine Hand und winkte der Lenkerin des Schneemobils zu, die noch knapp zweihundert Meter von ihnen entfernt war. Als er sein gewinnendstes Lächeln aufsetzte, um der Unbekannten schon aus der Ferne ihre friedlichen Absichten zu signalisieren, geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Etwa hundert Meter vor dem Eissegler fegte vom rechten Uferrand her urplötzlich ein zweites, ebenfalls blaues Schneemobil auf die Eispiste - und zwar mit einem solchen Tempo, dass es zu einer Katastrophe kommen musste, wenn die Pilotin des ersten Fahrzeugs nicht sofort reagierte. Als die Frau erkannte, in welcher Gefahr sie schwebte, war sie noch zwanzig Meter von dem kreuzenden Mobil entfernt. Plötzlich zerriss ein hohles Rattern die Luft. Kunststoffsplitter spritzten in alle Richtungen. Die linke Seite des ersten Gefährts wurde von den Schüssen einer Maschinenwaffe durchlöchert. Was ging hier vor? Matt warf sich zu Boden und holte seinen Driller wieder hervor. Auch Aiko und Aruula tauchten ab. Das von Schüssen zersiebte Schneemobil brach nach links aus, konnte so dem Kamikazefahrer ausweichen und fegte mit tief ins Eis greifender Krallenbremse an ihnen vorbei. Gewaltige Eissplitterfontänen
wurden in die Luft geschleudert. Das Fahrzeug hob sich auf eine Kufe, knallte aufs Eis zurück und drehte sich im Kreis. Dem zweiten Gefährt - aus dem, wie Matt annahm, die Schüsse gekommen waren - gelang ein atemberaubender Schwenk, der es zum Eissegler hin ausrichtete. Auch sein Fahrer rammte die Bremskrallen ins Eis. Das Schneemobil verlangsamte und kam zum Stehen. Das getroffene Fahrzeug drehte sich unterdessen auf den Felsen zu, hinter dem Matt und seine Gefährten noch vor wenigen Minuten gerastet hatten. Krach! Der Bug splitterte. Eine Gestalt wurde aus dem Cockpit geschleudert. Langes blauschwarzes Haar wirbelte. Die Frau - Matt konnte sie nun deutlicher erkennen - rutschte bäuchlings übers Eis. Ihre Rechte umklammerte einen dunklen Gegenstand, möglicherweise ein Schießeisen. Aus dem zweiten Fahrzeug sprangen zwei behelmte Gestalten, die langläufige Gewehre schwangen. Sie knieten sich vor ihr Gefährt und nahmen die gesamte Breite des Flussbettes unter Feuer. Noch vor einer Sekunde hatte Matthew Drax sich gefragt, ob es sinnvoll sein könne, sich in dieser undurchschaubaren Angelegenheit zu engagieren - wer konnte schließlich wissen, ob die Frau nicht eine Verbrecherin war und von Gesetzeshütern verfolgt wurde? -, doch nun, als ihm das Blei der fremden Schützen um die Ohren flog, wusste er die Antwort: Wer auf Unbeteiligte schoss, musste damit rechnen, dass er selbige gegen sich aufbrachte. Aiko musste zum gleichen Schluss gekommen sein, denn er nahm die beiden Behelmten unter Feuer. Matt konnte sie fluchen hören. Sie sprangen auf, um hinter ihrem Schneemobil in Deckung zu ge hen. Matt nutzte die Feuerpause, rannte geduckt übers Eis und warf sich in die Felsnische, hinter der die Frau aus dem Wrack Deckung gefunden hatte. Ihr Gesicht war
schmal und hübsch, ihre Haut von der arktischen Sonne tief gebräunt; sie wirkte indianisch oder inuitisch. »Ihr seid unwillkommene Zeugen«, keuchte sie, als Matt sich den unbekannten Schützen zuwandte und seinen Driller sprechen ließ »Sie werden nicht zögern, euch zu erledigen » »Wir werden es ihnen nicht leicht machen«, knirschte Matt »Wer sind diese Typen?« »Erzähl ich Ihnen später.« Die Frau lachte. Matt fiel auf, dass sie britisches Englisch sprach. Er fragte sich, wer ihre Vorfahren gewesen waren. Als er sich den Angreifern wieder zuwandte, nahm er eine Veränderung an ihnen wahr. Ihre unteren Gesichtshälften waren von einer Art Schutzvorrichtung bedeckt. Einer der beiden Manner sprang aus der Deckung hervor, holte mit dem rechten Arm aus und schleuderte einen an eine Handgranate erinnernden Gegenstand. Gütiger Gott! Matt zog instinktiv den Kopf ein. Die Granate segelte Aiko und Aruula entgegen. Matt schwante Fürchterliches. Sie prallte einige Meter vor dem Bug des Seglers aufs Eis, erzeugte jedoch keine Explosion. Sie zischte nur. Dann spuckte sie ein nebelhaftes, übel riechendes Gas aus. Aiko wich zurück, wankte. Die Maschinenpistole entfiel seinen Händen und schlitterte langsam davon. Er griff sich an den Hals und würgte. Aruula erging es nicht besser. Ihr Schwert klirrte auf das Eis. Die Behelmten johlten triumphierend, dann rückten sie vor. Sie waren vor dem Gas geschützt, es konnte ihnen nichts anhaben. Matt legte auf sie an, doch schon wurden die Kerle von den Nebelschwaden verschluckt. Sie würden seine hilflosen Freunde in kürzester Zeit erreichen. Wenn sie wirklich die unliebsamen Zeugen eines Mordkomplotts waren, würden sie sie töten und sich dann ihn, Matthew Drax, und die Lenkerin des Schneemobils vornehmen. Das musste er verhindern.
Matt sprang auf, atmete tief ein und stürzte mit Todesverachtung in die Richtung, in der Aruula und Aiko noch kurz zuvor zu sehen gewesen waren. Ein würgendes Gurgeln war im Nebel unüberhörbar. Matt hob den Driller, als vor ihm eine wankende Gestalt sichtbar wurde. Doch es war nur Aruula. Sie schien benommen zu sein, presste eine Hand auf ihren Mund und taumelte an ihm vorbei - zum Glück in die richtige Richtung, dem rechten Ufer entgegen. Wo war Aiko? Und noch viel wichtiger: Wo waren die beiden Schützen? Matt schaute sich um. Die fremde Frau war gleich hinter ihm. Dann stieß er mit einer anderen Gestalt zusammen. Aiko? Irrtum. Etwas metallisch Hartes krachte von unten gegen Matts Kinn. Im gleichen Augenblick tauchte vor ihm eine kreisende Galaxis mit Millionen funkelnder Sterne auf. Seine Knie gaben nach, er sackte nach unten weg. Zum Glück! Ein Schuss, der seinem Kopf gegolten hatte, zischte über ihn hinweg. Matts Rechte, die den Driller fest umklammert hielt, zuckte im Reflex hoch. Ein tödliches Geschoss durchbohrte die Brust seines behelmten Gegners, der mit ungläubigem Blick nach hinten fiel und neben dem Segler aufs Eis krachte. Seine Beine zuckten im Todeskampf. Die Waffe entglitt seinen Händen, dann erschlaffte er. Mittlerweile hatte der Wind den Rauch zerfasert. Matt wagte es, endlich die verbliebene Luft auszustoßen und wieder einzuatmen. Er hörte ein Keuchen in unmittelbarer Umgebung. Hinter der schlanken Karosserie des Seglers tauchte das grünliche Gesicht Aikos auf. Er hatte offensichtlich eine volle Ladung des Gases abbekommen. »Matt!« Der Cyborg deutete fahrig in die Richtung, aus der Matthew gekommen war. Als Matt aufsprang und herumfuhr, lag Aruula rücklings auf dem Eis. Sie war offenbar wieder klar, denn ihre Hände
umschlangen die Kehle des auf ihrer Brust hockenden zweiten Behelmten, der sein langläufiges Schießeisen an beiden Enden hielt und es auf ihre Kehle drückte. Schon wollte Matt losstürmen, da nahm ihm die Fremde - der Anlass der rätselhaften Auseinandersetzung - die Arbeit ab, Aruula zu retten. Sie stand nur wenige Schritte von den Kämpfenden entfernt. Ehe Matt reagieren konnte, richtete sie eine Pistole auf den Kopf des jungen Angreifers und drückte ab. Der Bursche kippte zur Seite. Aruula richtete sich ruckartig auf, griff sich an die Kehle und hustete. »Tenk fa tuu...«, stieß sie in der Sprache der Wandernden Völker hervor. »Was sagt sie?« Die Unbekannte runzelte die Stirn. »Herzlichen Dank«, übersetzte Matt. »Von mir übrigens auch.« Er steckte seine Waffe ein und musterte die beiden Toten. »Wer sind diese Kerle? Und warum wollten sie dir ans Leben?« Die Fremde trat an die reglosen Gestalten heran, beugte sich über sie und riss ihnen die Atemmasken vom Gesicht. »Pascal und Luc De Broglie«, sagte sie leise. »Ich hab's doch geahnt...« *** Die Grotte lag zwei Kilometer vom Ostufer des Stewart River entfernt und war nur durch einen meterbreiten Spalt zu erreichen, sodass sie den Eissegler und das Schneemobil der Attentäter im Freien lassen mussten. Natürlich war der Raum im Inneren des Felsenhügels zu groß, als dass ihr bescheidener Gasbrenner ihn hätte erwärmen können. Aber im Moment war es eh wichtiger, vor dem Schneesturm geschützt zu sein, der kurz nach der Auseinandersetzung das Yukon-Becken hinauf gezogen war. Draußen wirbelten große Schneeflocken. Man konnte die Hand kaum vor den Augen sehen. Die Fahrzeuge verschwanden in wenigen Minuten unter einer dicken Schneedecke. So waren sie
nicht einmal mehr aus der Luft sichtbar - für den Fall, dass man im Zeppelin nach ihnen suchte, was bei diesen Wetterverhältnissen unwahrscheinlich war. Matthew Drax wärmte seine kältestarren Finger an der kleinen Blechtasse, in der heißer »Tee« schwappte, den Aiko Tsuyoshi angerührt hatte. Matt war eigentlich eher ein Freund schwarzen Kaffees, aber er brach sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er Teein statt Koffein schlürfte. Schon immer hatten die Japaner als wahre Künstler der Teezubereitung gegolten. Schade nur, dass der durch und durch amerikanisch geprägte Aiko von dieser Kunst nicht mal etwas ahnte. Na ja, man konnte nicht alles haben. Aruula starrte mit stoischem Gleichmut in die Flämmchen des Kochers und genehmigte sich schon den dritten Becher. Jodee Blackfeather, die neben ihr auf einem abgeflachten Stein saß, benutzte - wie Matt - das bittere Gesöff eher zum Händewärmen als zum Trinken und massierte ihren leicht verstauchten linken Unterarm. Die Frau war nicht nur schön, sie hatte auch Bildung. Ihre Erläuterungen hatten Matt an einen Artikel aus dem Jahr 2005 erinnert, in der es um das Biosphärenprojekt De Broglies in der kanadischen Wildnis gegangen war. Leider hatte er den Artikel nicht in einem populärwissenschaftlichen Magazin gelesen, sondern bei seinem Friseur in Berlin-Köpenick in einem Blatt der Yellow Press. Er erinnerte sich sogar noch an den Titel: »Sex in der Biosphäre – Wie sich das Leben auf begrenztem Raum auf den Orgasmus auswirkt«. Jodee hatte seine Vermutung bestätigt: Die gigantische Kuppelstadt hatte die »Christopher-Floyd«-Katastrophe relativ unbeschadet überstanden. Die zur dieser Zeit dort anwesenden Architekten, Ingenieure und Techniker hatten die Beschädigungen repariert und die Biosphäre auch in der finsteren Epoche der nuklearen Eiszeit in Betrieb gehalten. Man hatte Gemüse, Obst und Getreide unter dem Licht starker
Halogen-Lampen angebaut, Vieh gezüchtet und die RecyclingProzesse optimiert. Über fünfhundert Jahre hatte die so genannte Citysphere 01 überlebt, stets beherrscht von einer Oligarchie: den Nachkommen von Claude De Broglies Bruder Jules, der sich im Gegensatz zu ihm weniger für SF als vielmehr für ernsthafte Weltraumforschung interessiert hatte. »Der verstorbene Mann der jetzigen Maa'oress stammte in direkter Linie von ihm ab«, hatte Jodee gesagt. »Bis gestern habe ich Arelle für eine ehrenwerte Frau gehalten, aber nun...« Auch Commander Matthew Drax war in seinem Leben schon auf Leute hereingefallen, die ehrenwert und integer gewirkt hatten. Doch spätestens seit ihn die Kometenkatastrophe auf rätselhafte Weise fünfhundert Jahre in die Zukunft geschleudert hatte, war er so vorsichtig geworden, niemandem mehr zu trauen, der ihm nicht wenigstens ein Mal uneigennü tzig aus der Patsche geholfen hatte. Sich darüber zu wundern, dass die Welt noch immer von Existenzen wimmelte, die ihr eigenes Wohl über das aller anderen stellten, wäre Naivität in Reinform gewesen. Trotz aller Besserungsversuche durch Theologen, Philosophen und Ideologen wurde diese Erde heute mehr denn je von schmarotzenden Banden beherrscht, die Mittel und Wege fanden, ihre Untertanen mit Brosamen abzuspeisen, während sie selbst in gegorenem Brabeelensaft und Deerfilet schwelgten. Wenn Jodee die Wahrhe it sprach, schwebte die uralte Kuppelstadt in einer schrecklichen Gefahr. Der unterirdische Lavastrom, der sich ihr näherte, war eine Bedrohung ersten Ranges. Die seit über zwanzig Generationen an der Macht befindliche Oligarchie bereitete elegant ihren Ab gang vor; der Pöbel sollte untergehen. »Pascals und Lucs Überfall hat mir klar gemacht, dass auch der Angriff durch Raoul De Broglie keinen privaten Hintergrund hatte«, sagte Jodee nun. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Neero
mich beim Lauschen beobachtet hat. Man sagt ihm nach, dass er überall im Central Tower Spion-Kameras installiert hat.« »Und trotzdem willst du in die Stadt zurück?«, fragte Aruula. Jodee hob in einer verlegenen Geste die Schultern. »Ich habe Freunde dort«, sagte sie. »Würdet ihr sie an meiner Stelle nicht auch warnen?« ›Ja, das ist die Frage‹, dachte Matt. ›Ebenso wichtig wäre es vielleicht zu verhindern, dass die Lumpen ihren Plan in die Tat umsetzen können und sich bei Nacht und Nebel davon schleichen.‹ Er empfand plötzlich Sympathie für einen gewissen Mr. Black, der seit Jahren seine ganze Kraft - und sein Leben - einsetzte, um den Weltrat zu bekämpfen, der auch nur auf seine eigene Macht bedacht war und andere schamlos ausnutzte - ihn eingenommen. »Natürlich bin ich nach den beiden Attentaten in der Stadt nicht mehr sicher«, fuhr Jodee fort. »Mein Bauch sagt mir: Verschwinde.« Sie schaute sich um. »Doch wohin soll ich gehen? Mont'raal ist über viertausend Kilometer von hier entfernt, und der Aktionsradius eines Snowcart beträgt gerade mal knapp vierhundert Kilometer. Außerdem habe ich keinen Proviant und keine Ausrüstung.« Aruula legte einen Arm um Jodees Schulter. Als Matt die beiden nebeneinander sah, fiel ihm auf, wie ähnlich sie sich sahen, auch wenn Jodees Haut dunkler war. Er schüttelte sich. In seinem Herzen tobte ein heftiger Zwiespalt. Was sollten sie nur tun? Einerseits verlangte ihn nicht danach, sich in die Belange einer ihm fremden Gemeinschaft einzumischen, doch andererseits... Es widerstrebte ihm, die Frau, die Aruula das Leben gerettet hatte, ihrem Schicksal zu überlassen, indem er ihr die Hand drückte und seiner Wege ging. ›Das verfluchte soziale Gewissen‹, dachte er. Man konnte ihm nicht entrinnen.
Was hätte er an Jodees Stelle getan? Natürlich wäre er in die Kuppelstadt zurückgekehrt und hätte seine Freunde über die selbstsüchtigen Pläne der De Broglies informiert. Was hätte Aruula getan? Mit Sicherheit das Gleiche. Und Aiko? Na schön, so lange kannte er den Cyborg noch nicht, aber dass er jederzeit wie ein Samurai für seine Freunde einstand, hatte er mehr als einmal bewiesen. I'll stick my neck out for nobody. Wer hatte das vor Jahrhunderten gesagt und trotzdem immer das Gegenteil getan? Rick Blaine. Matt seufzte. Wenn man so zur Welt gekommen war wie er, konnte man es zwar immer wieder mal versuchen, aber am Ende zeigte sich dann doch, dass man es nicht anders machen konnte. Jodee brauchte Schutz. Er würde seine verdammte Rübe auch diesmal hinhalten. Und seine Freunde mit Sicherheit auch. In der ersten Dämmerstunde der arktischen »Nacht« legte sich der Sturm. Sie packten ihre Sachen und wagten sich wieder nach draußen. Nachdem sie die Fahrzeuge frei geschaufelt hatten, bemannten Matthew Drax, Aiko Tsuyoshi und Aruula den kalten Eissegler. Jodee Blackfeather klemmte sich hinter das Steuer des Attentäter-Snowcart, winkte ihren neuen Freunden kurz zu und startete den Motor. Das Fahrzeug setzte sich leise brummend in Bewegung, umkurvte die Ansammlung der großen Findlinge, hinter denen Pascal und Luc De Broglie vor dem Angriff Deckung gesucht hatten, und fand schließlich auf das Eis des Stewart zurück. Jodees Wrack war, ebenso wie die beiden Leichen, unter einer Schneedecke verborgen. Der Himmel war grau und bedeckt, aber die weithin sichtbare Kuppel auch aus der Ferne unübersehbar. Mayo existierte, wie Matt vermutet hatte, nicht mehr. Auch von Keno war kein Stück Holz mehr zu erblicken. Die »Feuerteiche«, von denen Jodee gesprochen hatte, mussten
weiträumig umfahren werden, da der Schnee in ihrem Umkreis getaut war und der Eissegler stecken geblieben wäre. Je näher sie der Kuppel kamen, desto riesiger und beeindruckender wurde sie. Sie war ein Bauwerk von wahrhaft gigantischen Ausmaßen, und als Matt nahe genug heran war, um durch die gewaltigen Scheiben zu blicken, stockte ihm der Atem. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit Hochhäusern am Polarkreis. Er fragte sich automatisch, wieso es nötig gewesen war, unter der Kuppel Häuser zu errichten, da sie doch selbst eine Art Haus war. Dann wurde ihm klar, dass der Mensch Privatsphäre brauchte. An Orten, deren Grenzen fest umrissen waren, musste man halt in die Höhe bauen, wenn die Bevölkerung sich vermehrte. In fünfhundert Jahren konnten aus einigen Dutzend Menschen leicht einige Zehntausend werden. Am Tor - einer etwa vier Meter hohen Schleuse, die wie ein langer Rüssel aus dem gewaltigen Bauwerk heraus ragte wurden die beiden Fahrzeuge von einem Trupp Kapuzen tragender Bewaffneter in scharlachroten Parkas empfangen. An ihrer Spitze stand ein junger Mann mit wehendem blonden Haar, der Matt irgendwie bekannt vorkam. Er schien hier den Ton anzugeben. Er stapfte durch den Schnee auf den Snowcart zu, in dem Jodee saß. Matt hatte den Eindruck, dass es ihn überraschte, sie zu sehen. Aiko, dessen bionische Augen ungleich mehr registrierten als gewöhnliche, beugte sich von hinten über Matts Schulter. »Der Mann aus dem Luftschiff, der die anderen befehligt hat.« »Neero De Broglie«, gab Matt ebenso leise zurück. Jodee hatte ihn nicht nur äußerlich, sondern auch charakterlich beschrieben. Nun, als Matt ihn musterte, hatte er das Bild eines mit kochendem Wasser gefüllten Kessels vor Augen, dessen Deckel jede Sekunde abspringen konnte. Der junge blonde Mann stand unter Druck, das sah ein Blinder. Sein Wortwechsel mit Jodee wurde laut, war aber aufgrund der Entfernung nicht zu
verstehen. Urplötzlich bellte er den Bewaffneten einen Befehl zu und zerrte Jodee aus dem Snowcart. Matt hörte die Frau schreien. Er betätigte einen Knopf und das Cockpit des Eisseglers öffnete sich. Als Matt ins Freie sprang und aus den Augenwinkeln sah, dass Aiko und Aruula es ihm gleichtaten, bohrte eine vermummte weibliche Gestalt den langen Lauf einer Waffe in seine Hüfte. »Keine Bewegung!« Matt blickte zur Seite. Es war eine junge Frau; auf der rechten Seite ihres Parka war ein Stoffschild mit der Aufschrift »Farrell« aufgenäht. Ihre Lider flatterten. Sie schien sich ihrer Sache nicht ganz sicher zu sein. Vor ihnen wehrte sich Jodee Blackfeather mit Händen und Füßen gegen die Vermummten, die sie gepackt hatten. »Was hat das zu bedeuten?!«, schrie Matt. Er wollte sich in Bewegung setzen, aber die Blonde mit dem wehenden Haar verstärkte den Druck ihrer Waffe. Drei der Wachen wandten sich der Besatzung des Eisseglers zu. Matt und seine Gefährten waren im Nu umzingelt. »Was werfen Sie ihr vor?«, rief Matt, der nun vor Wut kochte. »Mord!«, schrie der Blonde zurück. »Auch wenn es Sie einen Scheißdreck angeht!« Mord? Matt schaute seine Gefährten verdutzt an. Aiko musterte den Anführer der Bewaffneten mit einem ungläubigen Blick. Aruula öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen. »Vielleicht haben Sie die Güte, uns mal zu fragen, was da draußen« passiert ist!«, rief Matt. »Könnte doch sein, dass wir eine wichtige Zeugenaussage zu machen haben!« Die Vermummten fesselten Jodees Hände. Man behandelte sie wie eine Schwerverbrecherin. In ihrem Blick war ein Anflug von Panik. Wie hatte man überhaupt in der Stadt von der Schlacht auf dem Stewart River erfahren - und wie legte man sie aus?
Der Blonde ließ Jodee stehen und kam auf den Eissegler zu. Matt schaute ihm in die Augen und erblickte ein Flackern, das ihm ganz und gar nicht geheuer war. So wie der junge Mann schauten nur professionelle Rechthaber in die Welt, die der Meinung waren, alles und jedes habe nach ihrer Pfeife zu tanze n. »Wer sind Sie?«, schnauzte der Blonde. Matthew Drax nannte seinen Namen und stellte seine Gefährten vor. »Wo kommen Sie her?« »Aus dem Norden.« Matt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Vom Pol aus ging es auf der Erdkugel immer nur »abwärts«, also nach Süden; folglich musste er aus dem Norden kommen. »Was wollen Sie hier?« »Man hat uns überfallen«, sagte Matt, ohne dem Blick seines Gegenübers ausuweichen. »Zwei Männer namens Pascal und Luc De Broglie. Sie wollten Miss Blackfeather und uns töten. Wir haben uns gewehrt.« Er sah, dass der Blonde kurz zusammenzuckte. »Wir dachten, es sei für Miss Blackfeather ganz hilfreich, wenn unsere Zeugenaussage ihre Schilderung des Tathergangs bestätigt.« »Deswegen sind wir hier«, warf nun Aiko ein. »Aus diesem und keinem anderen Grund.« Die Bewaffneten, die Matt und seine Gefährten in Schach hielten, schauten sich an und murmelten vielsagend. Offenbar konnten sie Jodee besser leiden als ihren Vorgesetzten. Ihr widerborstig wirkendes Verhalten schien Neero zwar nic ht zu gefallen, aber offenbar war es ihm nicht gegeben, Matts und Aikos Aussage mit einer bloßen Handbewegung abzutun. »Na schön«, sagte er und fasste sich ans Kinn. »Aber das wäscht sie noch nicht von dem Vorwurf rein, in dieser Stadt einen Menschen umgebracht zu haben.«
»Was?!« Matt zuckte zusammen. Aiko und Aruula schauten sich an. »Was wollen Sie damit sagen?« Sein Blick suchte Jodee, doch die wurde nun von zwei Bewaffneten durch das Tor und den Rüssel in die Stadt geführt. Er sah nur noch ihren Rücken. »Bevor Sie die Citysphere verließ«, führte Neero De Broglie mit einem süffisanten Grinsen aus, »hat sie sich die Freiheit genommen, ihren Liebhaber umzubringen und diese Bluttat als Notwehr hinzustellen.« ›Ich glaub dir kein Wort‹, dachte Matt. Doch wie er von Jodee wusste, verkörperte sein Gegenüber die Staatsgewalt des hiesigen Gemeinwesens, deswegen hielt er es für unklug, ihm seine wahren Gedanken mitzuteilen. »Ich halte diesen Vorwurf für höchst zweifelhaft«, sagte er deswegen. »Miss Blackfeather hat mit uns über diesen Fall gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass sie unschuldig ist.« Er schaute dem Blonden fest in die Augen. »Und ich hoffe, dass eine Zivilisation wie die Ihre über eine Justiz verfügt, die in der Lage ist, dies zu erkennen.« Neero De Broglies Augen blitzten auf. Matt hatte den Eindruck, dass der Mann die in seinen Worten enthaltene Drohung wohl verstanden hatte: Wenn sie mit Jodee gesprochen hatten, wussten sie auch von den geheimen Plänen der Familie De Broglie. Und wenn das der Fall war, würde ein vorzeitiges Ableben Jodees »durch einen unglücklichen Unfall«, wie es vielleicht geplant gewesen war, hinfällig. Wollte er herausfinden, wie viel sie wussten, kam Neero nicht darum herum, die drei Fremden ebenfalls in die Citysphere zu holen. Matt war bewusst, dass er mit dem Feuer spielte. Aber die Alternative war, abgewiesen zu werden, während Jodee hinter den gläsernen Mauern der Stadt still und heimlich beseitigt wurde.
»Natürlich funktioniert unsere Justiz«, sagte der De-BroglieSpross glatt. »Wir alle kennen Jodee Blackfeather als engagierte Angehörige unserer Gemeinschaft. Niemanden hat die Vorstellung, sie könnte eine Mörderin sein, mehr entsetzt als mich.« Matt hatte den Eindruck, dass seine Worte mehr den Wachen galten als ihm und seinen Begleitern. »Ich verspreche Ihnen, mich so schnell wie möglich für eine Audienz bei Maman... ähm, ich meine bei der Maa'oress einzusetzen.« »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Matt höflich. »Sie sind ein wahrer Gentleman.« Neero De Broglie nickte, dann gab er den Bewaffneten ein Zeichen, das sie die Waffen senken ließ. »Und nun«, sagte er und deutete auf den langen, ins Stadtinnere führenden Schleusenrüssel, »heiße ich Sie in der Citysphere 01 herzlich willkommen.« ›Du mich auch‹, dachte Matt finster. ›Und zwar kreuzweise.‹ Er bedankte sich noch einmal, dann ging er seinen Gefährten zügig voran. »Haben Sie denn eine Bleibe für die Nacht?«, rief ihnen der Blonde hinterher, überrumpelt von dem schnellen Aufbruch. Matt wandte sich nur halb um. »Danke, wir kommen zurecht!« Dass ihnen Neero De Broglie daraufhin zwei Wachen an die Fersen heftete, war nicht zu übersehen. Matt war es egal. Er hatte nicht vor, Kontakte zu Stadtbewohnern zu knüpfen, bevor sie nicht mit Jodee und der Maa'oress gesprochen hatten. Die Stadt nahm sie auf. Früher, vor Jahrhunderten - vielleicht auch noch vor Jahrzehnten - musste die Citysphere einen prächtigen Anblick geboten haben. Doch als die drei Besucher in ihren Rund eintauchten, bemerkten sie überall Spuren von Verfall. Fast alle Hochhäuser, vor denen sie staunend standen, zeigten starke Beschädigungen: Der Putz bröckelte in Massen von den Außenwänden; viele obere Stockwerke waren eingestürzt. Da es hier weder Wind noch Regen gab, war dies wohl auf die
Verwendung minderwertigen Baumaterials zurückzuführen. Andererseits kam Matt sich vor wie in einem Park aus alter Zeit. Unter der Kuppel gab es jede Menge Vegetation. Sie gingen an Treibhäusern vorbei, in denen Obst und Gemüse wuchs, und erblickten grüne Koppeln, auf denen Vieh herum tollte, das in den meisten Teilen der Welt längst ausgestorben war. Aruula und Aiko blieb der Mund offen stehen angesichts der vielfältigen und für sie fremdartigen Fauna. In der Mitte der gläsernen Oase ragte ein dreißig Etagen hohes Haus auf - der Central Tower. Dort lag ihr Ziel. Jodee hatte sie nämlich eingeladen, bei ihr zu wohnen, und Aruula bereits einen Zweitschlüssel ihrer Wohnung gegeben. Diese Voraussicht zahlte sich nun aus. Sie brauchten ein Quartier, in dem sie die nächsten Schritte planen konnten. Außerdem waren sie nach all der Action rechtschaffen erschöpft und benötigten dringend Schlaf. In der riesigen Halle des Hochhauses wurden sie von gähnender Leere empfangen, und es war kein Problem, einen Aufzug zu finden. Im 29. Stock angekommen, sanken Matt und Aiko, kaum dass Jodees Wohnungstür hinter ihnen zugefallen war, erschöpft auf ein Sofa und streckten die Beine aus, Aruula, wieder von heftigem Durst geplagt, folgte dem Geräusch eines tröpfelnden Wasserhahns in die Küche. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, begrüßte sie ein leises Schnarchen aus zwei Männerkehlen. *** Kleider machen Leute, dachte Matthew Drax, als er am nächsten Tag in Begleitung seiner Gefährten in der 30. Etage aus dem Aufzug stieg und sich in einer holzgetäfelten Empfangs halle wiederfand. Aber eine heiße Dusche und ein ausgiebiges Frühstück können aus einem müden Krieger einen Helden machen.
Sein Blick fiel auf einen metallenen Schreibtisch, hinter dem eine rothaarige junge Frau vom Typ Sekretärin saß. Nicht weit von ihr entfernt, vor einer Tür, deren Dimensionen andeuteten, dass sie mitnichten in eine schäbige kleine Abstellkammer führte, standen Neero De Broglie und ein stattlicher, gebräunter Mann mit leicht femininen Zügen. Er sah Neero so ähnlich, dass es sich nur um seinen Bruder Icaar handeln konnte, den Piloten des Luftschiffs. Beide trugen die offenbar in der Citysphere übliche dunkelblaue Kleidung und unterhielten sich in gedämpfter Tonlage. Dass sie irgendeine Schweinerei ausheckten, verriet ihr Verhalten, als sie bemerkten, dass sie nicht mehr allein waren: Beide fuhren herum, wandten sich den Ankömmlingen zu und setzten eine bewusst unschuldige Miene auf. »Ah, Mr. Drax!« Neero breitete die Arme aus. »Darf ich Ihnen meinen Bruder Icaar vorstellen?« Über Icaars beeindruckend breiter Brust spannte sich ein Ledergeschirr, in dem eine gefährlich aussehende Kanone steckte. Matthew hatte so ein Ding noch nie gesehen, nahm sich aber vor, es im Auge zu behalten. Icaar schüttelte ihm und seinen Begleitern freundlich die Hand und gab ihnen mit sympathischer Baritonstimme zu verstehen, Maman beziehungsweise die Maa'oress - werde sie gleich empfangen. »Auch ich würde Jodee niemals einen kaltblütigen Mord zutrauen«, sagte Icaar. »Meine Vermutung geht dahin, dass ihr jemand diese Schweinerei anhängen will.« Ein feines, fast spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen, und er bedachte seinen jüngeren Bruder mit einem hämischen Blick. »Leider sprechen die Fakten eine andere Sprache«, sagte Neero hüstelnd. »Es gibt einen Augenzeugen. Er hat Jodee mit Raoul turteln und die beiden Arm in Arm ihre Wohnung betreten sehen. Ich fürchte, damit ist der Beweis erbracht, dass sie ein Verhältnis miteinander hatten.« Er schaute Matt mit
zerknirschter Miene an. »Und es wird die Geschworenen gewiss nachdenklich machen, dass Miss Blackfeather bisher immer das Gegenteil behauptet hat.« ›Ich gehe jede Wette ein‹, dachte Matt, ›dass dieser Zeuge nach deiner Pfeife tanzt.‹ In diesem Moment meldete sich die Sekretärin zu Wort: »Maman bittet darum, dass Sie eintreten, meine Herrschaften.« Icaar De Broglie öffnete die Tür. Neero ging als erster hinein, Matt und seine Freunde folgten ihm. Der Zeppelin-Pilot bildete den Abschluss. Sie kamen in einen von verblasster Eleganz geprägten Raum, der sich Mühe gab, den Luxus des einundzwanzigsten Jahrhunderts widerzuspiegeln. Die Maa'oress erwartete die Bittsteller an einer für sechs Personen gedeckten Tafel und begrüßte sie auf das Höflichste. Matt empfand großes Erstaunen, als er die gepflegte Erscheinung der frisierten und manikürten Lady sah. Obwohl er ihre Söhne auf Anfang bis Mitte zwanzig schätzte, wirkte sie keinen Tag älter als fünfunddreißig. »Nehmen Sie doch Platz.« Maman winkte einem halben Dutzend männlicher und weiblicher Diener, die an den holzgetäfelten Wänden standen und die Gäste, sobald diese saßen, eifrig umschwirren, um ihre Teller und Gläser mit auserlesenen Speisen und Säften zu füllen. Aruula, die das unglaubliche Gebaren der Lakaien verfolgte, wirkte fassungslos. Dann sichtete sie eine große Kristallkanne mit klarem Wasser, und ihre Augen blitzten durstig auf. Matt fühlte sich an einen NATO-Generalsball in Berlin erinnert, bei dem die Kellner vornehmer gewesen waren als die uniformierten Gäste und ihre Damen. Die Angelegenheit war ihm schon bald auf den Keks gegangen, und so hatte er sich mit dem ebenso zynischen wie trinkfreudigen schwedischen Major Swägenseydt in seine Stammkneipe verzogen, um mit ihm über Gott, die Welt und das Universum zu philosophieren. Sie waren
zu keinem verwertbaren Ergebnis gekommen, aber der wackere Major hatte zumindest einen denkwürdigen Satz geprägt: »Das Warten auf das nächste Bier ist wie das Rinnen der Zeit im Stundenglas der Ewigkeit.« Was auch immer das bedeuten mochte... »Sie sind also davon überzeugt, dass Jodee Blackfeather einer Intrige zum Opfer gefallen ist«, sagte Maman zu Matt, nachdem die Gesellschaft einen Großteil der aufgetragenen Speisen vertilgt hatte und Aruula dazu ansetzte, das sechste Glas Wasser zu leeren. »So ist es, Maa'oress«, erwiderte Matt. »Und was bringt Sie zu dieser Annahme?« Nun hieß es vorsichtig zu taktieren. Matt konnte schlecht antworten: »Weil Raoul im Auftrag ihrer Sippschaft Jodee ermorden wollte und sie ihm zuvorkam, Mrs. DeBroglie.« Er schilderte, unter welchen Umständen sie mit Jodee zusammengetroffen waren, breitete das sonderbare Verhalten der Attentäter Pascal und Luc in allen Einzelheiten vor ihr aus und log dann: »Wir haben ihr angeboten, sie auf unserer Reise zur Beringstraße mitzunehmen, aber sie wollte unbedingt in die Stadt zurück. - Halten Sie es für möglich, dass jemand, der damit rechnen muss, als Mörder entlarvt zu werden, ein solches Angebot ablehnt?« Arelle De Broglie schaute ihre Söhne an. Wenn sie nicht als dämlich dastehen wollte, musste sie ihm zustimmen. Allerdings brauchte sie ziemlich lange dazu, um den Kopf zu schütteln. »Eigentlich nicht.« »Ich auch nicht«, fiel Icaar ein. »Ich glaube, sie ist in eine gemeine Intrige geraten.« Erneut warf er seinem Bruder ein spöttisches Lächeln zu. »Womöglich hat jemand seine Finger im Spiel, dem sie die kalte Schulter gezeigt hat.« »Aber der Augenzeuge!«, sagte Neero, der nun so aussah, als wollte er Icaar am liebsten an die Gurgel springen. »Er ist
absolut vertrauenswürdig!« Er sah seine Mutter an. »Es handelt sich um Vetter Xaavir.« »Vielleicht hat er Raoul mit einem anderen Mann verwechselt«, sagte Maman mit gerunzelter Stirn. Neero zuckte die Achseln. Er wirkte tatsächlich leicht zerknirscht. »Ich sollte ihn noch mal befragen.« »Tu das, mein Sohn.« Maman tätschelte seine Hand. Dann wandte sie sich Matt und seinen Freunden zu. »Ich verspreche Ihnen, dass ich den Fall noch einmal genauestens prüfen lasse... Obwohl ein Verwandter den Tod gefunden hat, ist meine Sympathie, ehrlich gesagt, auf Jodees Seite.« Sie lächelte. »Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Xaavir sich geirrt hat. Er ist...« Sie hüstelte vornehm. »Eigentlich sollte man es ja nicht in der Öffentlichkeit sagen, aber er ist sozusagen das schwarze Schaf unserer Familie.« ›Wie Raoul‹, dachte Matt. ›Wie Pascal. Wie Luc.‹ Die Wogen der Sympathie, die der gegenwärtig in irgendeiner Zelle hockenden Jodee in diesem Raum und an diesem Tisch entgegen schlugen, waren kaum erträglich. Wenn die Führung der Citysphere Jodee Blackfeather keinen Mord zutraute, warum hatte man sie eingesperrt? Natürlich um sie erst einmal aus dem Verkehr zu ziehen. Und diese Farce hier? Warum hatte man Aruula, Aiko und ihn als Bittsteller in den 30. Stock vorgelassen, wenn ohnehin keiner der Machthaber an Jodees Schuld glaubte? Natürlich um... Matts Herz setzte einen Schlag aus. Sie mussten hier raus, so schnell wie möglich. Doch bevor er Aruula und Aiko ein Zeichen geben konnte, schaute Arelle auf eine hinter Matt hängende Uhr und sagte: »Herrje, ich wollte ja eigentlich noch gern etwas über Sie und Ihre Pläne erfahren, meine Herrschaften, aber leider... mich rufen die Termine.« Sie stand auf. »Bitte entschuldigen Sie mich.«
Matt stand ebenfalls auf. »Aber natürlich, Maa'oress.« Er verbeugte sich. Aiko tat es ihm gleich; Aruula leerte flink ihr siebtes Wasserglas und stibitzte einen Fasanenschenkel. »Ich wüsste auch gern mehr über die Lebensmöglichkeiten in den südlichen Gefilden«, sagte Maman. »Aber vielleicht heben wir uns das für einen anderen Tag auf, ja?« Sie nickte Matt und Aiko zu, schenkte Aruula, die mit der Fasanenkeule in der Hand da stand, einen pikierten Blick und rauschte durch eine schmale Tür hinaus. Matt nickte Icaar und Neero zu und trat den Rückzug an. Als die Empfangshalle hinter ihnen lag und sie sich im Aufzug befanden, deutete Aiko an die Decke und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er nichts sagen sollte. Matts Blick fiel beiläufig nach oben und entdeckte das winzige Objektiv einer Kamera. Als sie ausgestiegen waren, flüsterte Aiko: »Jodee soll noch heute Nacht Selbstmord begehen.« »Ich wusste gar nicht, dass du Gedanken lesen kannst«, gab Matt schockiert zurück. »Kann ich auch nicht«, raunte der Cyborg. »Aber meine Ohren sind besser als deine. Ich habe Neero belauscht, als er mit Icaar im Vorzimmer geflüstert hat. Der Kerl ist ein Ausbund an Verschlagenheit.« »Sein Bruder übrigens auch«, ließ Aruula sich vernehmen. Sie schwenkte die erbeutete Fasanenkeule. »Auch wenn er einfach süß aussieht.« »In einem gesunden Körper steckt eben doch nicht immer ein gesunder Geist«, sagte Matt. Er schaute Aiko an. »Wir müssen Jodee befreien, Partner. Und zwar so schnell wie möglich.« Der Cyborg nickte. »Nach Möglichkeit sollten wir auch den Zündschlüssel des Luftschiffs klauen, falls es einen hat«, erwiderte er. »Damit die De Broglies erst mal hier festsitzen.« Als Aruula die Tür zu Jodees Apartment aufschloss, erkannten die drei, warum man sie zur Audienz bei der Maa'oress gebeten hatte: um sie aus der Wohnung zu locken.
Ein dunkelhaariger, pockennarbiger Mann, dessen breite Schultern durchaus bedrohlich wirkten, fuhr bei ihrem Eintreten erschreckt von zwei an der Wand stehenden Kastenregalen zurück, zwischen deren Ritzen er gerade einen Bogen weißen Papiers hatte verschwinden lassen. ›Mit Sicherheit gefälschtes Beweismaterial, das Jodee belastet‹, zuckte es durch Matts Hirn. In der gleichen Sekunde flog eine große Blumenvase an seinem Schädel vorbei und zerschellte auf der anderen Seite des Korridors. Dummerweise hatten sie ihre Waffen zu der Audienz bei Maman nicht mitgenommen. Dies rächte sich nun. Aruula ließ sich zu Boden fallen. Aiko flog wie ein dunkler Schatten durch den Raum. Der Pockennarbige griff sich an die Hüfte. Gleich darauf zuckte sein Arm in die Höhe, an dessen Ende die Hand ein schallgedämpftes Schießeisen umklammerte. Bevor er abdrücken konnte, krachte Aikos ausgestreckter Körper gegen den Schützen. Er taumelte zurück. Pitsch! Der Schuss ging in die Decke und löste eine Handvoll Putz, der herab wölkte und ihnen die Sicht nahm. Blind fuhr die Schusshand des Fremden durch die Luft Pitsch! Pitsch! -, doch bevor er etwas anderes als die Wände und Schränke treffen konnte, war Aruula heran und rammte dem Unbekannten ihren Stiefel in den Magen. Der Mann ächzte, griff sich an den Bauch und stolperte weiter zurück. Im nächsten Moment traf Matts rechte Faust sein Kinn. Der Pockennarbige knallte mit dem Hinterkopf gegen ein Regal und versetzte es in Vibration, sodass drei hübsch geformte, kinderkopfgroße Lavasteine - Matt nahm an, dass Jodee sie im Umkreis der Feuerteiche gesammelt hatte - auf seinen Schädel und seinen Brustkorb prasselten. Der Bursche schrie, gab aber nicht auf. Er rollte sich blitzschnell zur Seite und warf sich auf die entfallene Pistole.
Im nächsten Moment jaulte er auf, als sich Aikos Fuß auf die Waffe inklusive seiner Hand senkte und beide am Boden festnagelte. Seine Augen drohten aus ihren Höhlen zu quellen. »Drück noch ein bisschen mehr«, sagte Aruula grimmig. Wenn sie in Rage war, vergaß sie schon mal, was sie im Laufe der letzten zweieinhalb Jahre an Matts Seite in Sachen Kultur gelernt hatte. Doch Aiko hatte Erbarmen. Als das Jaulen in ein Winseln überging, hob er den Fuß. Der Bursche zog die Hand an seine Brust und barg sie in der Linken. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er würde die nächsten Woche n wohl kein Klavier mehr spielen können. Wenn er es je gekonnt hatte. »Tut ganz schön weh, was?« Matt hatte seinen Driller geholt und funkelte den Eindringling über den Lauf der Waffe an. »Und jetzt raus mit der Sprache. Wer ist dein Auftraggeber?« Der Fremde ächzte, stöhnte und wimmerte. Er war augenscheinlich noch nicht in der Lage zu antworten. Aruula und Aiko nutzten die Zeit. Während Aruula zur Wohnungstür eilte, um sie zu schließen, rückten Aikos Bärenkräfte die beiden Regale auseinander, zwischen denen der Pockennarbige das Papier hatte verschwinden lassen. Es sah nach einem Briefbogen aus. Aiko warf einen Blick darauf. Es handelte sich um ein Schreiben, in dem Jodee Blackfeather einem gewissen Raoul ankündigte, sie werde ihn, falls er es noch einmal wagte, sie mit einer anderen Frau zu betrügen, aus dieser in die nächste Welt schaffen. Matt kannte zwar Jodees Handschrift nicht, war aber trotzdem davon überzeugt, dass der Wisch eine Fälschung war. Doch wenn man ihn nach Jodees »Selbstmord« fand, würde er vielleicht ausreichen, um der Bevölkerung der Citysphere begreiflich zu machen, dass die mörderisch eifersüchtige Inspektorin Raoul De Broglie auf dem Gewissen hatte und man nun endlich zur Tagesordnung übergehen konnte.
Matt wiederholte seine Mutmaßung für seine Freunde, und sie nickten. Zu seiner Überraschung nickte auch der Pockennarbige. Offenbar begriff er, dass ihn nun auch sein Auftraggeber nicht mehr schützen konnte: Man hatte ihn auf frischer Tat ertappt. »Wie heißt du?«, fuhr Matt ihn an. »Xaavir«, presste der Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Xaavir De Broglie.« »Der Augenzeuge!« Matt schaute Aiko und Aruula an. »Das wird ja immer schöner!« Er schnaubte. »Aiko, kannst du bitte die Sicherheit anrufen? Constable Farrell!« »Halt, wartet«, keuchte Xaavir und hob abwehrend eine Hand. »Ich weiß, dass ich im Dreck stecke. Neero verzeiht mir das nie...« »Du gibst also zu, in seinen Diensten zu stehen?« Xaavir nickte. Er schaute bittend von einem zum anderen. »Was soll ich denn jetzt mache n? Ich hab doch keine andere Wahl. Wenn Farrell von der Sicherheit mich in die Finger kriegt... Sie ist Jodees beste Freundin!« Er schüttelte sich. »Und wenn Neero davon erfährt... er ist der Chef der Truppe... der findet eine Möglichkeit, um mich auszuschalten. Vielleicht können wir uns anders einigen...« Seine Augen spiegelten echte Panik wider. »Zum Beispiel?« Matt trat näher an ihn heran, senkte den Driller aber nicht. Der Pockennarbige kannte die Waffe nicht und konnte nicht ahnen, dass Matt sie gesichert hatte. »Ich weiß nicht...« Xaavir hustete. Er war blass und grau und bebte am ganzen Leib. »Sagt mir, was ihr haben wollt... was ich tun soll.« Er schaute aufgeregt von einem zum anderen. Seine Angst vor Neero schien sehr groß zu sein. »Ich weiß, wer ihr seid. Ihr seid die Fremden, die Jodee mitgebracht hat... Ich helfe euch, sie zu befreien. Dann vergesst ihr, dass wir uns hier begegnet seid, und verschwindet einfach mit ihr...« »Gar keine so schlechte Idee, Xaavir«, sagte Matt nonchalant. Seine Augen verengten sich. »Aber wer sagt uns, dass wir dir
trauen können?« Er setzte eine böse Miene auf. »Sogar Maman sagt, du bist das schwarze Schaf der Familie.« »Hat sie das wirklich gesagt?« Xaavir errötete; er wirkte irgendwie beschämt. »Das ist natürlich maßlos übertrieben.« Er schaute Matt an. »Darf ich aufstehen?« Matt nickte. »Setz dich in den Sessel da.« Aiko und Aruula spannten argwöhnisch ihre Muskeln, doch Matt glaubte nicht, dass Xaavir sich noch einmal zur Wehr setzen würde. Nicht mit einer zerquetschten Hand. »Ich muss dir etwas erzählen, Xaavir«, sagte er. »Es wird dir die Schuhe ausziehen...« Matt atmete er tief durch, dann weihte das schwärzeste aller schwarzen Schafe der Familie De Broglie in die Hintergründe der Verschwörung ein, die Jodee Blackfeather das Leben kosten sollte - in einen Plan, der leider auch nicht vorsah, schwarze Schafe in rettende, wärmere Gefilde auszufliegen. *** Dass es in diesem Teil der Welt zu dieser Jahreszeit keine Nacht gab, die ihren Namen wirklich verdiente, war der Unternehmung nicht sehr dienlich. Dafür kannte sich Xaavir aus leidvoller eigener Erfahrung - in der Abteilung bestens aus, in der Inspektorin Jodee Blackfeather jetzt schmachtete. Unter dem Sicherheitsbüro lagen, wie Xaavir mitteilen konnte, vier Zellen. Sie waren aufgrund des starken Bevölkerungsrückgangs seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Dass sie nun ausgerechnet der stellvertretenden Leiterin der Sicherheit als Heimstatt dienten, war eine besondere Ironie der Geschichte. Matthew Drax, Aiko Tsuyoshi und Xaavir De Broglie hatten die große Halle des Central Tower so beiläufig durchquert, als hätten sie ganz normale Geschäfte im Sinn.
Als sie den Haupteingang des Sicherheitsbüros passierten, stießen sie mit Constable Farrell zusammen - und das wortwörtlich. Sie schrie leise und erschreckt auf, als sie gegen Aiko prallte, der voraus ging. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, griffen seine Plysterox-Arme zu, hielten sie fest und drängten sie in den Gang zurück. Das schwarze Schaf der Familie De Broglie, von seiner Profession her Chemielaborant, bohrte schnell die Nadel einer Hochdruckspritze in Farrells Arm. Auch wenn die junge Frau Jodees Freundin war - sie hatten jetzt keine Zeit, ihr die Aktion zu erläutern. Außerdem wussten sie nicht, ob sie bereit sein würde, gegen die Führung der Stadt zu meutern. Farrell erschlaffte mit einem Seufzer. Sie würde für die nächste halbe Stunde außer Gefecht sein. Aiko ließ sie vorsichtig zu Boden sinken. »Weiter!«, drängte Aiko. »Wir dürfen keine Zeit verlieren!« »Moment.« Matt kniete nieder und tastete die Uniformtaschen der bewusstlosen Farrell ab. Im nächsten Moment zog er triumphierend einen Schlüssel hervor. »Ich wette, der öffnet uns Jodees Zelle!« Sie eilten weiter. Hinter dem nächsten Knick zweigten etliche Türen beiderseits vom Gang ab. Sie waren mit lateinischen Nummern beschriftet. Aiko vernahm leises Gemurmel und stieß ein warnendes Zischen aus. Matthew und Xaavir verharrten und lauschten. Hoffentlich kam keiner von Farrells Kollegen auf die Idee, ausgerechnet jetzt Jodee in ihrer Zelle zu besuchen: Aruula und fünf von Xaavirs über den Verrat der Herrschersippe informierte Freunde deckten dem Befreiungskommando in der Halle des Central Tower nämlich den Rücken: Sie hielten sich hinter den spaltbreit geöffneten Türen unbewohnter Räume versteckt und ließen den Eingang des Sicherheitsbüros nicht aus den Augen. Das Gemurmel verstummte nicht. Also hatte man sie auch nicht gehört.
Aiko nickte seinen Begleitern zu. Das Trio huschte lautlos weiter. Xaavir war diszipliniert und konzentriert bei der Sache. Es war eine gute Idee gewesen, ihn in die Pläne der Machthaber einzuweihen: Kein Mensch hörte sich gern an, dass er für seine mächtige Verwandtschaft nur Abschaum war; unwürdig, am großen Ausflug nach Mon'traal teilzunehmen. Im Augenblick der Wahrheit hätte Xaavirs Wut Brände legen können. Er fühlte sich - zu Recht - ausgenutzt und verraten. Matt hatte ihn nur mit Psychologie daran gehindert, auf der Stelle in den 30. Stock und Maman an die Gurgel zu gehen. Nun war er ihr Verbündeter. Sein Hass richtete sich - ebenso wie der seiner Freunde - gegen die Inhaber der Macht. Verständlicherweise wollte keiner von ihnen, wenn das letzte Stündlein der Kuppelstadt schlug, untergehen und verrecken. Es gab nur eine Chance, der Stadt zu entkommen und auch die restlichen Bewohner zu evakuieren: Sie mussten das Luftschiff in ihre Gewalt bringen. Der Weg dorthin - die zum Kuppeldach führende Treppenröhre - war jedoch verschlossen. Den Kode, um das Schloss zu öffnen, kannten nur wenige Menschen. Einer davon war die stellvertretende Sicherheitschefin Jodee Blackfeather. Ein Grund mehr, sie zu befreien. Das Gemurmel war nun unüberhörbar. Aiko Tsuyoshi verharrte vor der ersten Tür und hob warnend eine Hand. Matt lauschte. *** Der Raum, in dem Jodee Blackfeather die letzte Nacht verbracht hatte, war ein langer, aus zwei Teilen bestehender Schlauch. Die hintere Hälfte, in der sie auf einer Pritsche geschlafen hatte, maß etwa drei mal vier Meter. Sie wurde von der vorderen durch eine Gitterwand getrennt, in der sich eine schmale Tür befand.
Die Gittertür stand nun offen. Die vordere Raumhälfte war kahl und leer. An ihrer rechten Seite befand sich der Einstieg zu einem Ein-Personen-Lift, der es den Angehörigen des Sicherheitsbüros gestattete, Gefangene zu versorgen, ohne Treppen steigen zu müssen. Die Tür des Expresslifts stand ebenfalls offen. Neero De Broglie hatte den Aufzug, kurz nachdem Farrell Jodee Mut zugesprochen hatte und gegangen war, benutzt, um ihr einen Besuch abzustatten. Jodee stand mit dem Rücken an der Wand. Neero ragte dicht vor ihr auf. Seine Augen glitzerten. Seine rechte Hand war geschlossen. Sie schien etwas zu verbergen, das er ihr bestimmt gleich zeigen würde. Jodees Herz pochte heftig. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube, denn sie spürte ganz deutlich, dass er etwas Hinterhältiges vorhatte. »Nimm es nicht persönlich«, hörte sie Neero aalglatt sagen. Er zuckte fast bedauernd die Achseln. »Aber leider muss ich mich nach den Umständen richten - und die werden nun mal von der hohen Politik diktiert.« Er räusperte sich. »Der Herrscher von Mont'raal ist ein gieriger Mensch. Ich wette, irgendeine höhere Macht wird ihn eines Tages für seine Gier bestrafen.« Er kicherte leise. »Du bist eine intelligente Frau, Jodee. Du hast bestimmt Verständnis dafür, dass es uns wichtiger ist, seine Forderungen und unsere Bedürfnisse zu erfüllen, statt den kostbaren Laderaum unseres Luftschiffs mit Nichtsnutzen zu belasten.« »Ich habe immer gewusst, dass du eine Ratte bist«, spie ihm Jodee entgegen. »Außerdem ist es nicht euer Luftschiff, sondern das Luftschiff der Bewohner dieser Stadt.« »Es ist unser Luftschiff«, sagte Neero. »In dieser Stadt gehört uns alles. Wir sind die De Broglies. Unser Ahnherr Claude hat die Citysphere finanziert, und Jules hat sie gebaut. Hier gehört uns jeder Nagel, jeder Grashalm, jeder Baum und jede Straße.
Die Stadt war und ist Privatbesitz ; der Mob hat hier gar nichts zu sagen.« »Claude würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, welche Typen der Samen seines Bruders in die Welt gesetzt hat.« Neeros Augen flackerten, dann lachte er. Der Gegenstand, den er in der rechten Hand hielt, wechselte in die Linke. Er musste sehr klein sein, denn Jodee konnte ihn nicht sehen. Was hatte De Broglie vor? »Wärst du netter zu mir gewesen, hätte ich vielleicht etwas gedeichselt, um dich mitzunehmen.« Neero beugte sich noch weiter vor, und Jodee versteifte sich, als sich sein rechter Arm quer auf ihre Kehle legte. »Aber nein«, fauchte er jäh. »Unser hübsches Liebchen gehört ja zu denen, die sich von einer hohen Geburt nicht beeindrucken lassen.« Jodee rang nach Atem. Ihr Mund öffnete sich automatisch. Neeros Linke zuckte hoch. Seine Hand flog an ihre Lippen. Ehe Jodee den Mund wieder schließen konnte, spürte sie, dass eine kleine Kapsel auf ihrer Zunge gelandet war. Panik breitete sich in ihr aus. »Schlucken!«, keuchte Neero und gab kurz ihre Kehle frei. »Du nimmst dir jetzt das Leben!« Jodee nutzte die Gelegenheit, um ihm die Kapsel ins Gesicht zu spucken. In der gleichen Sekunde zuckte ihr Knie hoch, um Neero zwischen die Beine zu treffen. Er war jedoch geistesgegenwärtig genug, ihr auszuweichen, sodass sie nur seine Leiste traf. Neero verzog das Gesicht und fluchte; dann schaute er zu Boden. Sein flackernder Blick suchte die Kapsel. Er wollte sie ermorden! Vergiften! Jodee sprang zur Seite und huschte an der kahlen Wand entlang. Die Lifttür stand offen. Sie brauchte nur in die Kabine zu flüchten und den Knopf zu drücken, dann...
Neeros Hände packten von hinten ihren Hals. Jodee, die nun genau in der Zellentür stand, schrie auf. Im gleichen Moment ertönte ein Quietschen, als sich ein Schlüssel im Schloss der Tür drehte, die zum Kellergang hinaus führte. Neero ließ Jodee los, stieß einen weiteren Fluch aus und schaute hektisch um sich. Wenn man ihn hier mit einer Giftkapsel bei der Angeklagten fand, war sie aus dem Schneider und er in einer argen Zwickmühle. Die Tür schwang nach innen. Noch war nicht zu sehen, wer davor stand. Neero griff an seine Hüfte und zückte sein Schießeis en. Dann überlegte er es sich anders und hechtete zur Seite - in die offene Liftkabine hinein. Als Jodee die Gesichter Matts, Aikos und eines Tagediebes erkannte, schloss sich die Kabine gerade. Hätte Neero gesehen, wer da in den Kerker stürmte, hätte er wahrscheinlich doch noch das Feuer eröffnet. Die Lifttür schloss sich mit einem Zischen. Dann deutete ein hohes Singen an, dass die Kabine sich nach oben in Bewegung setzte. Aiko nahm die am ganze Leibe zitternde Jodee in seine starken bionischen Arme, während Matthew Drax mit dem Driller den Zellentrakt sicherte. Es war niemand sonst hier unten. »Er wollte mich umbringen«, stammelte Jodee fassungslos. »Neero wollte mich vergiften!« Sie deutete auf die am Boden liegende Kapsel. »Wir wissen Bescheid...« Aiko ließ sie los. »Wir müssen schnellstens hier raus!«, keuchte Xaavir. »Es kostet Neero nur einen Anruf mit dem Komkator und wir haben seine ganze irregeleitete Sippe am Hals!« Offenbar zählte er sich selbst schon nicht mehr zur Familie. Nun ja, wenn die Familie ihn kalt lächelnd opfern wollte...
Sie verließen die Zelle und eilten durch den Gang der Treppe entgegen. Sie waren noch nicht oben angekommen, als sie die ersten Schüsse hörten. Aus einem der Empfangshallen-Aufzüge hatte sich ein Dutzend Bewaffneter ergossen und war hinter dem Mobiliar in Deckung gegangen, als Aruula und der Rest der Rückendeckung sie unter Feuer nahmen. Matt und seine Begleiter nutzten den Umstand, dass die Aufmerksamkeit der Wachen der Gegenrichtung galt, und eilten geduckt hinter dem unbemannten Empfangstresen durch die Halle. Hinter einem riesigen Steinkübel, in dem drei Meter hohe Fichten wuchsen, stießen sie auf Aruula, die ihr Schwert umklammerte. Blei flog ihnen um die Ohren. Als Matt sich kurz umdrehte, um zu sehen, ob seine Be gleiter unverletzt waren, stellte er fest, dass Xaavir De Broglie fehlte. Dann sah er ihn zehn Meter entfernt hinter einem umgestürzten Sessel hocken und seinen Freunden lauthals Befehle erteilen. »Matt...« Aiko deutete auf die Glasfront vor der großen Freitreppe des Central Tower. Auf dem obersten Treppenabsatz gingen gerade vier weitere Wachen in Position und hoben ihre Waffen. De Broglies Leute bekamen Verstärkung. Eine Salve krachte. Die Glaswand zerbrach in einem Scherbenregen. Das Klirren riss an den Trommelfellen. Da und dort wurden Schreckensschreie laut. »Raus hier...!« Jodee Blackfeathers Hand krallte sich in Matts Arm. Sie deutete zurück. »Durch den Hinterausgang. Kommt mit.« Sie sprang auf und rannte geduckt hinter dem Empfangstresen her. Matt, Aiko und Aruula folgten ihr. Sie bogen in einen schmalen Gang ab und erreichten kurz darauf unbehelligt eine kleinere Tür, die ins Freie führte. Sie waren nun auf der Rückseite des mitten auf der Central Plaza stehenden Wolkenkratzers. Draußen herrschte heillose Verwirrung. Menschen liefen hin und her. Andere duckten sich ängstlich hinter Bäume und Sträucher und fragten sich, was im
Tower vor sich ging. Rufe schallten hin und her. Man hörte das Klirren von Glas und das Peitschen von Schüssen. Während Jodee die kleine Gruppe durch ein gepflegtes Parkgelände in Richtung Kuppelrand leitete, setzte Matthew sie über die Pläne der Rebellen in Kenntnis. »Ihr wollt... das Luftschiff besetzen?« Jodee musterte ihre Retter fassungslos. »Damit sich Maman und ihre auserwählte Sippe nicht absetzen können«, bekräftigte Matt. »Kennst du den Kode für den Treppenaufgang zum Hangar?« Jodee nickte. »Natürlich, aber... aber Icaar ist der Einzige, der mit dem Schiff umgehen kann.« Matt grinste. »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Er wies auf den Cyborg. »Aiko und ich sind schon mit ganz anderen Kisten geflogen.« Aruula schaute sich um. »Wo bleiben Xaavir und seine Leute? Sie sollten eigentlich zu uns stoßen.« Das Feuergefecht im Parterre des Central Tower nahm noch erbittertere Formen an; sie glaubten das Krachen einer Handgranate zu hören. »Sieht so aus, als hätten sie erst mal zu tun. Wir müssen die ›Aktion Zeppelin‹ wohl allein durchziehen.« »Schaffen wir das ohne sie?« Aiko hockte mit verkniffener Miene hinter einem steinernen Blumenkübel und deckte ihnen mit der Tak 02 vorsichtshalber den Rücken. »Tja...« Matt warf einen zweifelnden Blick auf das Gebäude, dem sie gerade entkommen waren. »Neeros Helfer dürften Xaavirs Truppen noch eine Weile in Atem halten... Haben wir eine Wahl?« Sein Blick richtete sich auf die gläserne Kuppelwand und saugte sich an der transparenten Treppenröhre fest, die sich zum Mittelpunkt hinauf wand. Hoch oben waren hinter dem Kunstglas einige sich schnell bewegende dunkle Punkte zu erkennen.
»Schaut mal...« Matt streckte den freien Arm aus. Jodee und Aruula folgten seinem Blick. Aiko kniff die Augen zusammen. Die Optik, die seine Sehschärfe optimierte, zoomte die Szene heran. »Ich erkenne eine Frau«, murmelte er. »Aber es ist nicht Arelle. Bei den anderen ha ndelt es sich... um drei Männer. Sie sind schwer beladen.« »Vermutlich Arelles Bruder und seine Familie«, knirschte Jodee. »Maman und ihre Brut sind bestimmt längst oben.« Sie ballte wütend die Fäuste. Aiko schaute seine Gefährten an. »Die bereiten ihre Flucht vor. Wir müssen schnell handeln!« Matt deutete auf die Treppenröhre. Der Einstieg war nur noch hundert Meter entfernt. »Los!« *** Der Ausbruch der Revolte war für die De Broglies völlig unerwartet gekommen. Bestimmt hatten sie noch allerhand zu verladen, bevor sie aufbrechen konnten. Zudem mussten sie sich in der luftigen Höhe absolut sicher fühlen: Das Kuppelglas war schussfest, und nicht mal ihre Angehörigen ahnten, dass sie schon im Begriff waren, das sinkende Schiff zu verlassen. Die Gefährten jagten mit langen Sätzen durch den Rest des Parks, vorbei an Passanten, die sich immer lautstarker miteinander unterhielten, ohne sie zu beachten. Matt verstand die Worte »Verrat!« und »Betrug!«, und er begriff, dass es Xaavirs Freunden offenbar gelungen war, durch Mundpropaganda einen großen Teil der Stadtbewohner vom Vorhaben der De Broglies zu unterrichten. Vermutlich würden etliche wütende Bürger in den Kampf im Central Tower eingreifen. Endlich erreichten sie die Kuppelwand und blieben vor der verschlossenen Tür stehen. Während Jodee Blackfeather mit
fliegenden Fingern den Kode ins Türschloss eingab, nahm Matt mit Erstaunen zur Kenntnis, dass offenbar viele Bürger der Citysphere 01 über Schusswaffen verfügten. Neeros irregeleitete und ihm verwandtschaftlich verbundene Truppen, die die Empfangshalle des Central Tower mit der Inbrunst auserwählter Fanatiker verteidigten, waren für das Geschrei der entrüsteten Bürger taub. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen. Die Metalltür ging zischend auf. Vor Matt und seinen Gefährten wurde eine schmale Treppe sichtbar, die sich in endlose Höhen schraubte. Sie hatten gerade die ersten zehn Meter hinter sich gebracht, als der Boden unerwartet unter ihnen zu grollen begann. Der kollektive Aufschrei, den Matt vernahm, kam auch aus seiner Kehle. Er konnte gerade noch verhindern, dass er auf die Nase fiel, und als er herumfuhr, sah er, dass seine Gefährten sich mit bleicher Miene an den Wänden der Röhre festklammerten. »Was war das?«, ächzte Aruula. Ein erneuter Erdstoß sandte heftige Vibrationen durch Matts Hand, die sich flach an die Gangwand drückte. Ein Erdstoß! Unverkennbar! Jodees Augen waren groß und zeigten unverhüllte Angst. »Ein Erdbeben!« Aiko deutete nach unten. Die Schießerei hatte wie auf Kommando aufgehört. Aus der Ferne drangen schrille Schreie an ihre Ohren. Matt bemühte sich, sein Zittern zu unterdrücken. Als er mit der Waffe nach oben deutete, brach unter ihnen die Erde auf und eine brüllende Hitze breitete sich aus. »Lauft!« Er rannte los, nahm bei jedem Schritt zwei Stufen, bis seine Schläfen hämmerten. Er brauchte nicht in die Tiefe zu schauen, um zu wissen, was sich unter ihnen abspielte: Das rote Flackern in seinen Augenwinkeln kündete von Feuer und Lava. Die gesamte Vegetation des Parks, die paradiesisch gepflegte
Anlage, die sie erst vor ein paar Minuten durchquert hatten, ging wie trockenes Reisig in Flammen auf. Glühendes Gestein flog hoch in die Luft. Die Scheiben der Gebäude zerbrachen, fielen aus den Rahmen und ließen einen Scherbenregen auf die Straßen niedergehen. Mitten in der Stadt bildete sich einer der Feuerteiche, von denen Jodee ihnen in der Grotte so anschaulich berichtet hatte. Er manifestierte sich mitten im Stadtpark, wurde rasch größer und dehnte sich in Richtung Central Tower aus. Ein kurzer Seitenblick durch die Transparenzwand der Röhre ließ Matt erkennen, dass ein Teil der Bürgerschaft den Weg zum Schleusenrüssel einschlug. Die Menschen flohen aus der Stadt. Er konnte ihnen nur wünschen, dass sie es schafften. Andere, deren Fluchtwege von dem in mehrere Richtungen fließenden Feuerteich abgeschnitten wurden, eilten in die Häuser zurück, als könnten sie dort Schutz finden. Matt konnte sie nur bedauern: Vulkanausbrüche verbreiteten nicht nur unerträgliche Hitze, sondern auch hochgiftige Dämpfe. Als ihn nur noch ein paar Dutzend Stufen vom Kuppeldach trennten, warf er einen letzten Blick ins Innere der Citysphere. Viele Menschen, denen die Flucht nicht geglückt war, befanden sich auf den Hausdächern und feuerten in blinder Wut zum Kuppeldach hinauf. Der von Xaavir und seinen Genossen aufgedeckte Betrug hatte sich allem Anschein nach schnell herumgesprochen: Die Bürger, die nun wussten, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte, wollen Arelle De Broglie und ihre Söhne nur noch an der Flucht hindern. *** Das feurige Glosen, das aus den Tiefen der gläsernen Oase an Neero De Broglies Augen drang, erfreute sein Herz. Nun war er sich sicher, dass Jodee Blackfeather und die verwünschten
Fremden, die die naseweise Inspektorin in die Citysphere gebracht hatte, bald ins Gras beißen würden. Im Gegensatz zu ihm. Er und Icaar, der sich schon in der Gondel befand, waren abmarschbereit. Neero stand breitbeinig unter dem Flaschenzug vor dem oben abgerundeten Hangareinstieg und ließ sich den eiskalten Wind um die Nase wehen. Vor wenigen Sekunden erst hatte er Onkel Pjeer, Tante Octaya und deren Söhnen aus dem Korb geholfen. Sie waren zusammen mit den Goldbarren heraufgezogen worden, die sie dem habsüchtigen und mächtigen Despoten der Festungsstadt Mont'raal in den Rachen werfen mussten, um ihn noch mächtiger zu machen. Neero ging jedoch nicht davon aus, dass dieser Mann das Gold lange behalten würde, denn er hatte vor, ihn von seinem Thron zu stoßen, sobald sie in seinem Reich heimisch geworden waren und eine gewisse Machtposition errungen hatten. Jetzt fehlte nur noch Maman, die im obersten Stock des Central Tower ihre letzten Schmuckschatullen zusammengesucht hatte. Während Onkel Pjeer und seine Familie zur Gondel eilten, um die Barren mit Icaars Hilfe zu verstauen, betätigte Neero die Sondertaste seines Komkators und strahlte das Signal ab. Über seinem Kopf ertönte ein Klicken und Surren, dann ließ der an der vorderen Hangarwand angebrachte Flaschenzug den großen Korb hinab. Vor Neeros Füßen teilte sich der Boden. Der Korb schnurrte in die Tiefe und senkte sich schnell auf das hundert Meter tiefer aufragende Dach des Central Tower hinab, auf dem Maman, von den heftigen Winden umweht, die der Feuerteich erzeugte, hustend auf ihn wartete. Als Arelle De Broglie in den Korb gestiegen war, gab Neero ein erneutes Signal. Das Seil wickelte sich auf - und stoppte, als Neero die Taste erneut drückte, bevor er den Mechanismus weiterlaufen ließ. Dabei kicherte er lautlos, denn es machte ihm
Spaß, sie ein bisschen zu quä len. Immerhin war nicht er ihr Liebling, sondern Icaar. Während seine Mutter in die Höhe gezogen wurde, genoss er den Anblick des tosenden, am Boden der Kuppelstadt wogenden Feuers. Der Pöbel hatte sich auf die Dächer geflüchtet, aber er würde dennoch brennen. Erst dann vernahm er das Knattern von Waffen, deren schlecht gezielte Geschosse wie Mückenstiche von der so festen wie nachgiebigen Glassitwand abprallten. »In Deckung, Maman!«, brüllte er. »Der Mob schießt auf dich!« Sekunden später war der Korb oben. Neero half seiner Mutter ritterlich ins Freie. Sie bedankte sich dafür mit einer Ohrfeige. »Warum hast du mich so lange warten lassen?«, kreischte sie aufgebracht. »Ich bin in dem Rauch fast erstickt!« Bevor Neero zu einer Antwort ansetzen konnte, gewahrte er zweierlei: Vor der Hangaröffnung, ziemlich genau dort, wo sich der Eingang der Treppenröhre befand, ragte plötzlich eine Gestalt auf, die er gut kannte. Matthew Drax! Hinter ihm drängten sich drei weitere Personen: Jodee Blackfeather, die langhaarige Schwertträgerin Aruula und der mandeläugige Asiate, dessen muskulöse Arme ihm schon bei ihrer ersten Begegnung Respekt eingeflößt hatten. Das weitaus Schrecklichere jedoch waren die Schusswaffen in den Händen zweier der vier Eindringlinge. Zeppelinhüllen waren ein empfindliches Material. Das kleinste in sie hinein perforierte Loch konnte dazu führen, dass der Wind es während einer Fahrt aufriss und dermaßen vergrößerte, dass an einen sicheren Weiterflug nicht mehr zu denken war. Wenn die Eindringlinge die Absicht hatten, ihr Fluchtfahrzeug zu beschießen, war es aus mit ihnen. Dann konnten sie die geplante Emigration in warme Gefilde vergessen und sich zu jenen gesellen, die inzwischen von tosender Lava, brüllender
Hitze und den unter dem Kuppeldach wogenden Giftdämpfen verzehrt wurden. »Was jetzt?«, fauchte Maman. Neero nahm mit Erstaunen zur Kenntnis, dass Matthew Drax, der sich kurz umschaute, offenbar zum gleichen Schluss gekommen war wie er: Er steckte seine Waffe ein, und sein bezopfter Begleiter tat es ihm gleich. Dies konnte nur eins bedeuten: Sie hatten den Ernst der Lage erkannt. Sie wussten, dass es nur eine Möglichkeit gab, von hier zu verschwinden, bevor die katastrophalen Auswirkungen des Feuerteichs zum Einsturz der Kuppel führten. Dass es irgendwann dazu kommen musste, stand außer Frage. Viele der Häuser waren baufällig und säumten den Kuppelrand. Wenn sie einstürzten, würde weder das Stahlgerüst noch das Glassit sie aufhalten. Während Neero noch da stand, hörte er hinter sich das Trappeln von Schritten. Er brauche sich nicht umzudrehen. Er wusste auch so, dass Icaar und Onkel Pjeer mit den seinen anrückten, um die N08 zu verteidigen. Dennoch wagte er einen raschen Seitenblick und sah erfreut, dass auch sein Bruder fähig war, den richtigen Schluss zu ziehen: In seiner Hand blitzte nicht die schreckliche, mit Zeitverzögerung arbeitende Schusswaffe auf, sondern eine riesige Zange. Onkel Pjeer schwang eine Eisenstange. Seine Söhne reckten drohend die Fäuste. Neero grinste triumphierend. Vier Männer gegen zwei Männer und zwei Frauen. Und nur eine der Frauen war ernstzunehmend bewaffnet. Wenn Icaar und Onkel Pjeer sich dieser Aruula zugleich annahmen, war sie bestimmt leicht auszuschalten. »Geh an Bord, Maman«, raunte Neero seiner Mutter zu. »Geh zu Tante Octaya. Wir kümmern uns um die Sache.« »Macht sie nieder.« Arelle De Broglie nickte ihm zu und verschwand. Sie hatte die Gondel kaum betreten, als der Hangarboden erneut heftig bebte und Onkel Pjeer und seine
Söhne ins Wanken gerieten. Neeros Blick fiel auf das makabre Schießeisen in Icaars Schulterholster. Er hätte es liebend gern in Aktion gesehen, aber das war in dieser Umgebung einfach zu gefährlich. Er selbst hatte leider nur ein Messer bei sich. Wer hatte denn auch ahnen können, dass diese Außenweltler so hartnäckig waren, wenn es ums Überleben ging...? Drax und seine Leute standen abwartend da. Aruula warf einen Blick durch die Öffnung im Boden und wich schaudernd zurück. Neero hatte keine Ahnung, was sich dort unten in der Tiefe abspielte, aber er vermutete, dass es nichts Erfreuliches war. Das Tosen nahm zu. Sie mussten die Sache nun schnell hinter sich bringen. »Ihr habt keine Chance gegen uns«, sagte er kalt. »Wir machen euch nieder.« »Hauptsache, keiner von uns setzt eine Schusswaffe ein«, erwiderte Drax. Seine Gesichtszüge wirkten angespannt. »Jeder Treffer oder Querschläger wäre tödlich für das Luftschiff, und dann käme keiner von uns hier raus.« »Das wissen wir selbst, du Schlaumeier«, sagte Neero zähneknirschend. »Die kleinste Beschädigung reicht aus und -« Er hatte gar nicht vor, den Satz zu beenden. Mit einem Sprung katapultierte er sich vorwärts, hoffte die Gegner damit zu überrumpeln. Als Drax' einen Schritt zurück wich und seine eisenharte Faust auf Neeros Kinnspitze explodierte, schwante ihm, dass der Fremde sich nicht so einfach überrumpeln ließ. Er flog nach hinten gegen Onkel Pjeer, und der ältere Mann ging sofort zu Boden. Als Neero sich wankend bemühte, die vor ihm kreisenden Sterne wegzublinzeln, traf ihn der nächste Schwinger, und die Dämonen in ihm setzten zu einem wütenden Kreischen an. Es gelang ihm zwar, wieder zu Sinnen zu kommen, doch als der erste klare Gedanke in seinem Schädel kreiste, fand er sich mit dem Rücken an einer Innenwand des Hangars wieder.
Er hob abwehrend die Hände, bemühte sich, sein Kinn zu schützen und nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass sich Tante Octaya wie eine Furie aus der Luftschiffgondel stürzte und auf Jodee Blackfeather warf, der es gelungen war, einem ihrer verweichlichten Söhne einen Haken zu verpassen, der ihn mit einem schrillen Entsetzensschrei durch die Bodenöffnung in die flammende Tiefe stürzen ließ. Octaya verkrallte sich kreischend in Jodees Haar, trat gegen ihr Schienbein und fiel mit ihr zu Boden. Onkel Pjeer und sein ältester Sohn range n mit dem überraschend starken Asiaten und erhielten Verstärkung durch Maman. Icaar kämpfte mit Aruula - die lange Zange, die er in der Hand hielt, parierte erstaunlich gut die Hiebe ihres Schwertes, sodass Neero einmal mehr heftige Eifersucht auf seinen ihm in jeder Lebenslage überlegenen Bruder empfand. Als Tante Octaya plötzlich einen schrillen Gesang anstimmte und über die am Boden liegende Jodee Blackfeather hinweg flog, um sich durch die Öffnung zu ihrem jüngeren Sohn zu gesellen, erfasste Neero blanker, animalischer Zorn und mehrte noch einmal seine Kräfte. Seine Fäuste krachten in Drax' Seiten. Der Mann wich mit einem überraschten Schnaufen zurück. Neero setzte sofort nach. Er duckte sich, rammte Drax den Kopf in den Magen und brachte ihn zu Fall. Neben ihm stürzte sich nun Maman auf die sich aufrappelnde Jodee und schnappte mit den Zähnen nach dem Hals ihrer Gegnerin. Jodee fiel nach hinten, und Neero, der inzwischen auf Drax' Bauch hockte, registrierte triumphierend, dass sie bereits hart am Rand der Bodenöffnung lag. Ihr Geschrei hallte wie Musik in seinen Ohren, doch dann fing er sich von Drax schon wieder einen Schwinger ein, der ihn auf den Rücken warf und sein linkes Auge zu allem Übel auf der Stelle zuschwellen ließ. Jodees helle Stimme schrie verzweifelt um Hilfe.
Neeros Kopf ruckte benommen hoch, und er sah, dass Drax aufsprang und sich zu ihr umwandte. Es war Maman zwar tatsächlich gelungen, ihre Gegnerin in die Bodenöffnung zu stoßen, doch Jodee Blackfeather hielt sich am Leben fest: Ihre Rechte umklammerte in Panik eine Stahlschiene, während die Linke sich in Mamans Lockenpracht krallte. Drax stürzte zu Jodee und bückte sich, um ihren Arm zu packen und sie hochzuziehen. Maman trat nach ihm, ohne in ihrem Hass auf die eigene Sicherheit zu achten. Sie traf sein linkes Bein. Drax knickte ein, hielt Jodee aber fest. Und Arelle De Broglie rutschte, vom eigenen Schwung getragen, über den Rand der Öffnung! Die Schreie, die Neeros Mutter ausstieß, waren entsetzlich. Sie suchte verzweifelt Halt - und bekam Jodees Bein zu fassen. Mit einem Ruck wurde die junge Frau nach unten gerissen, verlor den Halt an der Stahlschiene - und glitt eine Zehntelsekunde später auch aus Matthew Drax' Griff. Matt schrie auf, aber er konnte es nicht verhindern. Maman riss Jodee Blackfeather mit sich in den Tod. Sich mehrfach überschlagend, stürzten die beiden Frauen der einstürzenden Stadt und der brodelnden Lava entgegen. Matthew Drax stand da wie vom Schlag getroffen. Für Sekunden konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Neben Neero schepperte etwas Metallisches zu Boden. Seine rechte Hand griff zu und erwischte die große Zange, die Aruula seinem Bruder aus der Hand geschlagen hatte. Neero sprang auf und ließ das Werkzeug von hinten auf den Schädel des wie gelähmt da stehenden und in die flammende Tiefe starrenden Matt Drax krachen. Die Beine seines Gegners knickten ein. Drax brach in die Knie, kämpfte darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Neero schaute sich wild um. Icaar tänzelte wie ein Boxer vor der langmähnigen Furie herum, die nichts unversucht ließ, ihn auf die Spitze ihres Schwertes zu spießen. Onkel Pjeer lag
besinnungslos - oder tot - am Boden; sein Ältester rang mit den Asiaten. Er wirkte, als müsse er in wenigen Sekunden das Handtuch werfen. Es sah nicht gut aus für den kläglichen Rest der Familie. Neero ließ die Zange fallen und zückte sein Messer. Sein Arm zuckte vor; er kappte das Seil des Flaschenzugs. Der Korb fiel wie ein Stein in die Tiefe und fing noch im Flug Feuer. Schon war der Komkator in Neeros Hand. Ein Knopfdruck genügte. Das Seil sank tiefer herab. Neero verknotete es um Drax' Handgelenke. Dann versetzte er dem Benommenen einen Tritt. Mit einem triumphierenden Lachen sah Neero, wie Matthew Drax fiel und brutal gestoppt wurde, als das Seil sich straffte. Etwa zwei Meter unter der Bodenöffnung kam er abrupt zum Stillstand und pendelte hin und her. Sein Gesicht war eine Maske des Schreckens. Als Neeros Kopf zu den Kämpfenden herum flog, hatten Icaar und Aruula die Positionen getauscht. Sein Bruder stand jetzt, aus mehreren Wunden blutend, mit dem Rücken an der Hangarwand; Aruulas Rücken war der Bodenöffnung zugewandt. Schlagartig wurde Icaar bewusst, dass er aus dieser Position das Luftschiff nicht beschädigen konnte, wenn er auf seine Gegnerin schoss. Seine rechte Hand fuhr ans Schulterholster und zog die großkalibrige Waffe hervor. »Stirb!« fauchte er. Aruula warf sich aus der Schusslinie. Das Explosivgeschoss zischte um Haaresbreite an ihrer Schulter vorbei und verschwand durch die Öffnung. In derselben Bewegung holte Aruula zu einem wirbelnden Schlag aus. Die flache Seite ihres Schwertes krachte gegen Icaars Gelenk und ließ die Spezialwaffe davon wirbeln. Matt hatte ebenfalls Glück im Unglück - auch ihn verfehlte das Geschoss. Er sah, wie es ins Ze ntrum einer der flexiblen Glassitscheiben einschlug und stecken blieb.
»Gebt auf!«, brüllte Neero De Broglie. »Gebt auf, oder euer Freund stirbt!« Die Kämpfenden hielten inne und drehten sich um. Neero stand, das Messer in der Hand, an der Bodenöffnung, in der Matt Drax an den Händen gefesselt über der tosenden Lava baumelte. Aruula erbleichte, als sie Matts verzweifelte Lage erkannte, und ließ widerwillig ihr Schwert zu Boden fallen. Der Mandeläugige - sein Name war Aiko, wie Neero nun einfiel ließ seinen Vetter los, der besinnungslos neben dem reglosen Onkel Pjeer auf den Hangarboden sank. Nun steht es zwei zu zwei, dachte Neero, doch was könnt ihr jetzt noch tun? Er lachte hämisch, als plötzlich ein Donnern, das nicht vom Feuerteich stammte, in nächster Nähe erklang. Eine Druckwelle fuhr durch die Bodenöffnung und ließ Neero taumeln. Das Geschoss aus Icaars Waffe war mit Zeitverzögerung explodiert. Winzige Glassitscherben sausten durch die Luft. Eine der großen Fensterplatten hatte der Detonation nicht standgehalten. Neero fand sein Gleichgewicht wieder und fuchtelte mit dem Messer herum, als Aruula Anstalten machte, zur Öffnung zu laufen. »Bleib, wo du bist!«, warnte er. Dann wandte er sich an Icaar: »Nimm das Schwert und halt sie in Schach!« Sein Bruder hob die Waffe der Barbarin auf und nahm hinter ihr Aufstellung. »Und nun du.« Neero deutete mit dem Kinn auf Aiko. »Stell dich neben sie, Gesicht zu mir! Oder euer Freund stirbt!« Er griff mit der Linken nach dem Seil und hob das Messer. Aiko fügte sich mit geballten Fäusten. Neero deutete eine Verbeugung an. »Ihr könnt ja ganz folgsam sein, wenn man euch gut zuredet«, spottete er. »Aber wenn ihr glaubt, ihr hättet Drax damit gerettet, seid ihr schief gewickelt. -
Ihr habt meine Mutter auf dem Gewissen, und ich bin sehr rachsüchtig.« Aruula und Aiko erstarrten, als er das Messer zum Seil führte. Doch noch bevor er die in den Citysphere-Werkstätten rasiermesserscharf geschliffene Klinge ansetzen konnte, riss ein plötzlicher Ruck das Seil zur Seite. Neero taumelte und vernahm seinen eigenen Entsetzensschrei. Dann riss er die Augen auf und blickte in die Tiefe. Das Seil war gerissen - Drax war fort! Wie war das möglich? Als er sich seinem Bruder zuwandte, fiel ihm auf, dass sich der Rand der Bodenöffnung eigentümlicherweise in Augenhöhe befand. Er fiel! Die Erkenntnis ließ einen Schrei aus seiner Kehle aufsteigen, der fast den ganzen Sturz über anhalten sollte. Aruula und Aiko sprangen zum Rand der Öffnung, und Icaar war zu perplex vom plötzlichen Verschwinden seines Bruders, als dass er sie hätte aufhalten können. Aruulas Gesicht war grau; nur ihre Augen schienen zu leben. Um ihre Mundwinkel zuckte es, als ihr bewusst wurde, was geschehen war. »Wo ist er?!«, stieß Aiko aus. »Sein Blick suchte den Luftraum unter ihnen ab, aber er konnte nur den fallenden, um sich schlagenden Neero De Broglie erkennen. Matt schien verschwunden zu sein. Oder war er bereits in der Lava verschwunden? Nein, unmöglich... Ein Schatten wuchs hinter ihnen auf. Aiko und Aruula erkannten gleichzeitig die Gefahr und wichen gedankenschnell nach links und rechts aus. Das Schwert der Barbarin durchschnitt die Luft, wo gerade noch ihre Köpfe gewesen waren. Icaar De Broglie kam noch dazu, sich zu wundern, dass er sie verfehlt hatte. Der Schwung ließ ihn einmal um die eigene Achse kreisen. Mit dem Rücken zur Bodenöffnung kam er zum Stehen.
»Das gehört mir!« Mit tödlich blitzenden Augen wuchs Aruula vor ihm auf, ergriff die Klinge des Schwerts mit bloßer Hand und setzte ihre Faust mitten in Icaars Gesicht. Der ließ den Schwertgriff los und machte einen Schritt zurück, um das Gleichgewicht zu behalten. Sein Fuß trat ins Leere. Für Neero De Broglie, den Sicherheitschef der Citysphere 01, endete in diesem Moment der kurze, heiße Abstieg in den brodelnden Feuerteich. Die unmenschliche Hitze und die giftigen Dämpfe hatten gnädigerweise dafür gesorgt, dass er tot war, bevor er unten ankam. So konnte er nicht mehr sehen, wie Icaar ihm auf dem selbem Weg folgte. Zumindest im Tod waren die beiden ungleichen Brüder einig... *** Zwei Minuten zuvor Commander Matthew Drax wähnte sich im schlimmsten Albtraum seines an Albträumen wahrlich nicht armen Lebens: Er hing, an den Händen gefesselt, in einer Höhe von schätzungsweise hundertachtzig Metern über der Stadt. Unter ihm war ein gewaltiger Feuerteich, der nicht nur auf der Central Plaza brodelte, sondern auch zwischen den Häusern ihrer Umgebung. Auf den Dächern erblickte er die ameisengroßen Gestalten von Menschen. Doch nur die wenigsten hielten sich noch auf den Beinen. Das Dröhnen von Explosionen ließ seine Trommelfelle vibrieren. Am Rand der Kuppel stürzte das erste Haus ein. Eine riesige Staubwolke breitete sich aus und verhüllte die Menschen, für die es keine Rettung mehr gab. Es stank zwar penetrant nach Schwefel, aber noch hatten die giftigen Dämpfe die Decke der Kuppel nicht erreicht. Wie viel Zeit blieb ihm noch?
Er schaute nach oben und erkannte einige hin und her huschende Schatten, die er nicht identifizieren konnte. Dann fiel ihm Jodee Blackfeather ein, und ihm wurde übel. Ein schreckliches Schicksal hatte sie abberufen, aber vielleicht hatte sie in den letzten Sekunden ihrer Existenz noch eine gewisse Zufriedenheit aus dem Wissen gezogen, dass sie ihr Bestes für die Stadt gegeben hatte. Matt verdrängte die Gedanken. Andere Dinge waren jetzt wichtiger - überlebenswichtig! Bestand vielleicht die Möglichkeit, dass er sich an dem Seil nach oben zog? Matt machte einen Versuch, doch mit den Fesseln um die Gelenke war es unmöglich. Ein heißer Aufwind richtete seine Aufmerksamkeit auf die tief unter ihm wogende Glut. Als er die brodelnde Lava betrachtete, riss er die Augen auf: Aus dem rotflüssigen Gestein löste sich etwas Dunkles, wie ein aus den Tiefen des Meeres kommender Rochen, und bahnte sich einen Weg an die Oberfläche! Matts Augen weiteten sich in purem Entsetzen, als ein riesiger Leib die Oberfläche des Feuersees durchstieß und sich in die Lüfte schwang. »Gütiger Himmel...« Es musste das Ding sein, von dem Jodee Blackfeather gesprochen hatte! Das unbeschreibliche Biest, das Constable Malenkov ergriffen und verschlungen hatte! Matt krallte sich verzweifelt in das Seil und machte einen erneuten Versuch, sich nach oben zu schwingen. Der finstere Schatten, der über der gepeinigten Stadt kreiste, jagte ihm so heilloses Entsetzen ein, dass er keinen Gedanken an die Frage verwandte, ob in Lavaströmen überhaupt Leben existieren konnte. Die unfassbare Bestie, die an einen monströsen prähistorischen Flugdrachen erinnerte, war jedenfalls äußerst real. Jetzt kreiste sie, grelle Schreie ausstoßend und allem Anschein nach einen Ausgang aus der Stadt suchend, über den Dächern, fegte die wenigen dort Schutz suchenden Überlebenden mit ihren
knochigen Schwingen zu Boden und krachte immer wieder gegen die Kuppelscheiben der Biosphäre, die den Attacken jedoch standhielten. In diesem Moment zischte etwas über Matt schräg durch die Bodenöffnung nach unten, schlug in eine der Scheiben ein und blieb darin stecken. Als Matt ein Explosivgeschoss erkannte, vermutlich aus Icaars Waffe abgefeuert, stockte ihm der Atem. Verzweifelt versuchte er sich so zu drehen, dass zumindest sein Gesicht geschützt war. Von oben ertönte Neero De Broglies Stimme: »Gebt auf! Gebt auf, oder euer Freund stirbt!« Sekunden später explodierte die Ladung. Winzige Glassplitter prasselten auf seinen Rücken und in sein Haar, aber keiner verletzte ihn. Für einige Sekunden schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann wurde über ihm eine Hand sichtbar, die ein Messer hielt und damit auf das Seil zielte. Matt hörte Stimmen, aber durch das Klingeln in seinen Ohren konnte er sie nicht zuordnen. Die Splitter der riesigen Scheibe regneten in die Tiefe; kalter Wind fauchte herein. Das monströse Biest hatte die Explosion registriert und richtete den Kopf nach oben. Vielleicht spürte es auch den frischen Luftzug, denn es schoss wie eine Rakete zum höchsten Punkt der Kuppel empor. Matt blickte in tückische Augen. Das Ungeheuer hatte nicht nur die Fluchtmöglichkeit erkannt, sondern auch den hilflos über ihm hängenden Menschen. Matt schloss die Augen, und der Film seines Lebens spulte sich vor ihm ab. Eine brausende Luftwoge kam auf ihn zu, dann fuhr ein schrecklicher Ruck durch seinen Körper. Urplötzlich wurde das Gewicht von seinen Handgelenken genommen. Knochige Klauen hatten ihn im Vorbeiflug gepackt und vom Seil gerissen.
Der Schmerz war so groß, dass in seinem Hirn Blitze zuckten und sich ein endloser Schacht vor ihm auftat. Dass der thermophile Drache nach einem weiteren Kreis unter der Kuppel mit einem urgewaltigen Schrei durch das Loch in der Citysphere brach und in die eisige Welt hinaus raste, nahm er nicht mehr wahr. *** Aruula schrie auf. Aiko fuhr herum. Durch die gläsernen Wände des LuftschiffHangars starrte die Barbarin fassungslos nach draußen. Dort war ein fliegendes Monstrum aufgetaucht, das wohl unterhalb des Hangars durch die Hülle der Citysphere gebrochen war und sich jetzt rasch von der Stadt entfernte. »Was um alles in der Welt...«, stieß der Cyborg hervor. Dann hörte er den zweiten Schrei seiner Begleiterin - und sah es im nächsten Moment selbst: In den gewaltigen gebogenen Krallen der unglaublichen Bestie ruhte Matthew Drax' erschlaffter Körper! War er tot, oder hatte er nur das Bewusstsein verloren? »Maddrax!«, schrie Aruula. »Maddrax!« Das fliegende Ungeheuer bemerkte sie nicht einmal. Es stieß einen triumphierenden Schrei aus und schwang sich in die Lüfte. Erneut bebte die Kuppel unter Aikos Füßen, doch er nahm es kaum zur Kenntnis. Sein Blick haftete wie hypnotisiert am Leib der Bestie, die mit dem Tempo eines Gleiters davon brauste Matthew Drax in den Klauen. »Maddrax!« Als Aruula aus dem Hangar stürmen wollte, als könne sie durch die Luft hinter dem Monstrum herlaufen, packte Aiko sie, riss sie herum und deutete auf das Luftschiff. »Wir folgen ihm!« Aruula nickte schnell. Dann nahmen sie die Beine in die Hand. Die Tür der Gondel stand zu ihrem Glück offen.
Als Aiko das Cockpit betrat und sich mit gesträubten Nackenhaaren fragte, wie er eine Maschine fliegen sollte, deren Prinzipien er nicht einmal ansatzweise kannte, sank sein Mut. Er warf sich in den Sitz des Piloten und musterte die Schalter. Sie waren vorapokalyptisch, aber zum Glück nicht allzu zahlreich. Als erstes drückte er auf einen Knopf mit der Bezeichnung »Hangar«. Eine gute Wahl. Sekunden später fuhr das Dach der Halle langsam zurück. Nun musste er nur noch den Motor starten. »Aiko!«, fauchte Aruula ungeduldig neben ihm. »Tu was!« Aiko schaute aus dem Frontfenster nach unten und registrierte, dass der silbergraue Leib der Riesenzigarre vom Wind gemächlich aus dem Hangar getrieben wurde. Die Aussicht war fantastisch. Sie schwebten über der Kuppel der Citysphere und schauten nach Osten, wo der Lava-Drache jetzt nur noch als mittelgroßer Punkt zu erkennen war. Unter ihnen begann ein ohrenbetäubendes Krachen, dem ein unerträgliches Quietschen und Klirren folgte. Die Kuppel brach zusammen! Ihr Gerüst verbog sich. Die Scheiben barsten und prasselten in die tosende Glut hinab. Wer bis jetzt noch überlebt hatte - nun endete sein Leben. Doch Aiko und Aruula hatten keine Muße, den Toten zu gedenken. Die Blicke des Cyborgs huschten über die Armaturen, bis er sich für einige Knopfe und Schalter entschieden hatte, die sie weiterbringen könnten. Er probierte sie aus, und tatsächlich erwachten die drei Motoren nacheinander zum Leben. Aiko drückte den Schubregler ganz nach vorn und umfasste das Steuer. Nun fühlte er sich schon wesentlich besser. Hauptsache, die Kiste flog; Lenken war für ihn kein Problem. »Ich sehe das Untier nicht mehr«, sagte Aruula. Ihre Stimme zitterte leicht.
»Wir kennen die Richtung, in die es fliegt«, entgegnete Aiko zuversichtlicher, als er sich fühlte. »Wir werden Matt finden, das verspreche ich dir.« Eine ganze Weile sagte Aruula nichts. Und schließlich, ganz leise: »Wenn er dann noch lebt...« ENDE
Der Preis des Überlebens von Jo Zybell Verloren in einer schier unendlichen Eiswüste, der Witterung und der unmenschlichen Kälte schutzlos ausgesetzt. Keine menschliche Siedlung in hundert Meilen Umkreis, keine Rettung in Sicht. Ein Todesurteil, sogar für einen Mann, der fünfhundertacht Jahre überlebt hat ... um jetzt auf dem gefrorenen Great Bear Lake zu erfrieren? Matthew Drax gibt die Hoffnung nicht auf. Doch wenn er überleben will, muss er Prioritäten setzen, Risiken eingehen und Entscheidungen treffen, die fatal enden können - mit dem Tod anderer. Manchmal ist der Preis des Überlebens zu hoch, um ihn gegen sein Gewissen zu zahlen ...
Das MADDRAX Autorenporträt: RONALD M. HAHN Schon als Sechsjähriger verbrachte der 1948 geborene Wuppertaler seine Freizeit mit Büchern, Heftromanen und Comics, die er querbeet las, ohne auf qualitative Unterschiede zu achten: Jack London, Ernest Hemingway, Billy Jenkins, Tom Prox, Nick, der Weltraumfahrer - alles war ihm Recht, wenn’s nur unterhaltsam war. 1961 fiel ihm der erste SF-Roman in die Hände. Fortan gab es in seiner Nachbarschaft niemanden, der eifriger für alte Damen einkaufen ging, um die paar Groschen abzustauben, die man für den Erwerb der Heftchen brauchte. Hahn, schon als Elfjähriger fest entschlossen, irgendwann Bücher zu schreiben, machte eine Schriftsetzerlehre, röhrte in der Rock-Band »The Snobs«, verbrachte den Wehrdienst an exotischen Orten wie Budel (NL) und Porz-Wahn und wagte sich 1969 an einen ersten SF-Roman, eine Space Opera, in der die Fetzen flogen. Glücklicherweise konnte ihn sein nach der Lektüre frühzeitig ergrauter erster Lektor daran hindern, das Ding auch noch an andere Verlage zu schicken ... 1971 kriegte der junge Autor endlich die Kurve. Seither publiziert er regelmäßig in den einschlägigen SF-Verlagen. 1972-1974 war Hahn Herausgeber der SF-Reihe eines großen Taschenbuchverlags. 1977 mußte er sich entscheiden: entweder Freizeitautor mit Magengeschwür oder freiberufliche Tätigkeit, ewige Gesundheit, Ruhm und Reichtum. Die Wahl fiel ihm nicht schwer. Ansonsten arbeitete Ronald Hahn als Redakteur bzw. Herausgeber für die Zeitschrift Science Fiction Times, eine weitere SF-Taschenbuchreihe in einem noch größeren Verlag und war Mitautor der SF-Serien Raumschiff Promet, T.N.T. Smith, Commander Scott und Die Terranauten.
Neben Dutzenden von Jugendbüchern, SF-Romanen, Kurzgeschichten, Literatur- und Filmlexika sowie Presse- und Rundfunkarbeit hat er ca. 150 Übersetzungen publiziert. Einige seiner Romane und Storys erschienen in Polen, der CSSR, in Ungarn, Holland, Frankreich, Italien, den USA und der UdSSR. Außerdem wurde Ronald M. Hahn sechsmal mit dem von den deutschen SF-Profis verliehenen Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Jetzt schreibt er MADDRAX. Roman-Nachweis: MADDRAX: Heft 5, 8, 23, 31, 39, 43, 61, 65