DUST Band 2 »Die Gegner Scardeens« von Martin Kay, Alessandra Mancinelli & Thomas Folgmann
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Inhalt
Vorwort der Taschenbuchausgabe Teil 1 Staub zu Staub Teil 2 Die Allianz von Cloudgarden Teil 3 Die Frauen von Cloudgarden Glossar
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Vorwort der Taschenbuchausgabe
Liebe Leser, der Inhalt des vorliegenden Romans markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Handlungsverlauf von DUST. Schon in der ursprünglichen Lose-Blatt-Sammlung von 1988 wurde mit dem fünften Abenteuer die Handlung in den tiefen Raum verlegt, Bündnisse zeichneten sich ab und ein scheinbares Ende der Suche nach dem mysteriösen Planeten Dai Urshar Senakar Tarmalis. Die Heftserie von 2002 ging diesen Schritt jedoch noch konsequenter weiter. Plötzlich erschienen Handlungsstränge, die eigentlich gar nicht geplant waren. Die Story um Harry Thorne und Marshal Ian sowie McLairds Internetbekanntschaft Jeremiah Hurley bekam mehr Gewicht und bereitet den Leser mittlerweile als foreshadowing auf den nächsten Zyklus vor. Auch die Umstände wie Mel Quire mit seiner Frau Natasha nach Cloudgarden kam, die Entdeckung der so genannten Nullsphäre und das Wesen der Aspekte, die in der Serie von 1988 noch »plumpe« Androiden waren, entschied sich erst während des Schreibens der neuen Heftromane. Hinzu gesellte sich ein weiteres Novum: Ich holte mir Verstärkung an Bord. Am vorliegenden Gesamtroman Die Gegner Scardeens schrieben Alessandra Mancinelli und Thomas Folgmann mit. Mein außerordentlicher Dank gilt den beiden für die hervorragende Umsetzung des alten Stoffes in die neue Thematik. Und mein zusätzlicher Dank auch für die Lektoratsarbeiten, die beide für die Heftserie geleistet haben. Des Weiteren sei an dieser Stelle auch ein kleines Geheimnis um die dritte Autorin Celeste Deventer, die an dem Roman Die Frauen von Cloudgarden mit schrieb gelüftet. Hier sprang kurzfristig Christiane Sina, den Lesern als Redakteurin der DUST-Leserseite bekannt, mit zwei Kapiteln ein, damit der Band zeitig fertig werden konnte. In diesem zweiten Band lesen Sie die ursprünglichen Heftromane: Band 5 »Staub zu Staub«, Martin Kay Band 6 »Die Allianz – Cloudgarden«, Alessandra Mancinelli / Martin Kay Band 7 »Die Frauen von Cloudgarden«, Martin Kay / Thomas Folgmann
Gute Unterhaltung wünscht Martin Kay
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Teil 1 Staub zu Staub
Sein Vorgänger war wesentlich unbedarfter, was die Bedienung von technischem Equipment anbelangte. »Wofür gibt es Sekretärinnen?«, hatte er bei der Amtsübergabe gefragt und dabei gelacht. Harry Thorne hatte die Frage nur mit einem Achselzucken quittiert. Er war froh, dass er sich den Umgang mit den meisten technischen Spielereien angeeignet hatte, sonst hätte er die Nachricht, die vor ihm auf dem Bildschirm flimmerte, nicht lesen können, sondern hätte sie von seiner Sekretärin vortragen lassen müssen. Nachdenklich starrte er auf den Monitor und las die E-Mail, die direkt aus dem Weißen Haus kam, noch einmal:
Logfile From:
[email protected] To:
[email protected] Subject: Schatten encrypted message – code confidential Hi Harry, nach unserem letzten Meeting haben wir einiges in Bewegung gesetzt von dem nicht einmal der Präsident erfahren darf. Bisher ist unsere Suche nach den Schatten allerdings negativ verlaufen. Craig hat das Pentagon mit ins Boot gesetzt und eine Staffel F-117A mobilisiert, die uns vielleicht helfen kann. Ich melde mich, sobald ich Informationen habe. Das gilt natürlich auch für Sie. Pamela
Er drückte die Zigarette im Ascher aus und schürzte die Lippen. Möglicherweise war es keine so gute Idee gewesen, die wichtigsten Geheimdienste des Landes ins Boot zu setzen, auch wenn er gegenüber Ian behauptete, dass sie nicht mit sondern eher für sie arbeiteten. Das bedeutete nicht notwendigerweise, dass sie früher oder später an Informationen gelangten, die die NSA besser für sich behielt. Nicht die NSA, korrigierte Harry Thorne sich in Gedanken. Ich! Er drückte eine Taste am Keyboard vor sich auf dem Tisch und löschte Pamela Cords EMail. Φ Der Jäger kippte auf die Seite und flog eine lang gezogene Kurve um das Bergmassiv. Ein Rütteln ging durch die Maschine, doch der Pilot ignorierte es. Nur seine Hände verkrampften sich noch fester um den Steuerknüppel. Zwei, drei Warnleuchten blinkten auf. Eine automatische Stimme aus den Helmlautsprechern sprach geradezu freundlich eine stall warning aus.
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»Sparrow 3-7, hier Nest. Geben Sie Ihren aktuellen Status durch!« Lieutenant-Colonel Rick Delgado fluchte leise in sich hinein. Er wusste, dass er überfällig war und sich vor drei Minuten hätte zurück melden müssen. Aber er glaubte, am Südkamm des Bergmassivs etwas entdeckt zu haben und hatte die Sammelroute verlassen, um sich die Sache noch einmal aus der Nähe anzuschauen. Wer konnte ahnen, dass die Basis gerade jetzt die Funkstille durchbrach? Delgado überlegte zwei Sekunden lang, ob er antworten sollte. Wenn er sich nicht meldete, würde der Stützpunkt ihn mit einem Funkfeuer bombardieren, das ihn für feindliche Einheiten wie einen Weihnachtsbaum erstrahlen ließ. Feindliche Einheiten, dachte er und erschauderte dabei leicht. Auf Heimatboden ... Der U.S. Air Force-Pilot schaltete den elektronischen Störsender hinzu und wählte einen geschützten Kanal, ehe er den Sender aktivierte. »Sparrow 3-7 an Nest. Befinde mich 200 Meilen südlich der Route und habe wohl die Ausfahrt verpasst.« »Lassen Sie die Witze, Delgado«, ertönte eine energische Stimme aus den Helmlautsprechern. Zweifelsohne General Snyder, der Stützpunktkommandant. Er und Delgado konnten sich nicht besonders leiden. Eigentlich überhaupt nicht, seit Delgado sich an die Tochter des Generals herangemacht hatte. Der Alte hielt ihn für ungestüm, eigenwillig und überheblich. Alles Eigenschaften, die sich Delgado vor langer Zeit schon selbst eingestanden hatte. Dennoch kein Grund für Snyder, sich in die Belange Leas einzumischen. Immerhin war sie erwachsen genug, um selbst zu beurteilen, mit wem sie ausging und mit wem nicht. Delgado hatte geglaubt, mürrische Väter, die ihre Töchter vor Verehrern schützen wollten, gab es nur in schlechten Filmen. »Kommen Sie nach Hause, Junge!« »Bei allem Respekt, Sir«, widersprach Rick Delgado ungerührt. »Ich habe Lichtreflexe in einer Bodensenke zwischen Kingston Range und Mesouite Valley entdeckt, etwa zwanzig Meilen südlich der Ortschaft Ripley.« »Lichtreflexe?«, echote General Snyder. »Sir?« »Irgendwelche Farmer oder Wanderer beim nächtlichen Camping, mein Junge. Kehren Sie zum Stützpunkt zurück. Nest Ende und aus.« Delgado biss sich auf die Lippen. Snyder war dafür bekannt, dass er keine Widersprüche duldete oder gar auf Vorschläge seiner Untergebenen hörte. Seine persönliche Fehde mit ihm, machte es nicht gerade leichter. Dennoch dachte der Lieutenant-Colonel nicht daran, einfach aufzugeben. Er wollte der Sache zumindest nachgehen, ganz gleich, was Snyder ihm befohlen hatte. Dabei kamen ihm die Stealth-Eigenschaften der F-117A ganz recht, denn der Stützpunkt konnte seine Flugbewegungen nicht auf dem Radar verfolgen, sondern war auf seine Funkpeilung angewiesen. Der Aufklärungsjäger kippte wieder in die Waagerechte zurück. Delgado behielt das Radar im Auge und drosselte gleichzeitig die Geschwindigkeit. Auf einen Tastendruck hin, aktivierte er die Rumpfkamera und schaltete den Infrarotfilter hinzu. Ein kleiner Monitor am Instrumentenbrett lieferte ein diffuses Bild. Wüstensand und Gebirgskuppen waren auszumachen. Hin und wieder eine staubige Straße, die das Wort gar nicht verdient hatte und ohnehin nicht asphaltiert war. Ein Lichtreflex erregte Rick Delgados Aufmerksamkeit. Er hatte sich beim ersten Überflug nicht getäuscht. Dort unten war jemand. Blieb nur noch die Frage zu klären, ob nicht General Snyder Recht behielt und es sich lediglich um Camper handelte. Delgado drosselte die Geschwindigkeit und kippte die F-177A auf die linke Tragfläche, um sich mit eigenen Augen ein Bild zu machen. Er klappte das Helmvisier herunter und benutzte die neuesten technischen Spielereien, die ihm die Air Force im Tarnkappenjäger installiert
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hatte. Die Innenseite des Visiers erhellte sich in einem gespenstischen Grün, als der eingebaute Restlichtverstärker seine Arbeit aufnahm. Delgado berührte ein seitlich am Helm gelagertes Rädchen und zoomte die Sicht heran. Im ersten Überflug nahm er nur drei, vier schemenhafte Gestalten wahr. Er ging weiter mit der Geschwindigkeit herunter und zog eine enge Kurve. Diesmal peilte er den Fundort direkt mit dem Helmzoom an. Ein halbes Dutzend Uniformierter erschien im Display. Daneben einige Hummer-Jeeps, eine mobile Flugabwehrkanone und Fahrzeuge ohne Räder, die scheinbar in der Luft schwebten. Doch Delgado schob die letztere Entdeckung auf den schnellen Überflug. Er dirigierte den StealthJäger über die Fundstelle hinweg und dachte kurz an seine Missionsziele: Halten Sie nach nicht registrierten, militärischen Einrichtungen Ausschau. Na, wenn das keine Militärs waren, dann weiß ich auch nicht, dachte er und setzte zur Wende an. Er wollte das Gebiet beim zweiten Anflug mit der Kamera aufnehmen und anschließend eine Positionsmeldung für den Satelliten durchgeben. Die Fotos aus dem All würden wahrscheinlich aufschlussreicher sein, als alles, was er mit dem Jet registrieren konnte. Die Wende war halb abgeschlossen, als der Annäherungsalarm dröhnte. »Raketenwarnung!«, verkündete die sanfte Frauenstimme des Bordcomputers aus den Helmlautsprechern. Auf dem Radar erschien ein weißer Punkt, der sich zielstrebig dem Zentrum des Displays näherte. Delgado riss den Steuerknüppel an sich und beschleunigte hart. Der Nachbrenner fauchte auf. Mit einem Ruck schoss die F-117A in den Nachthimmel über der Mojave-Wüste hinaus. Gegenmaßnahmen!, hämmerte es durch seinen Kopf. Er berührte einen Schalter. Drei Magnesiumleuchtkugeln wurden aus dem Rumpf des Jägers katapultiert, sollten die Hitzesensoren der Rakete irritieren und vom Kurs abbringen. Sein Fehler. Die Annahme, dass es sich um ein Hitze suchendes Geschoss handelte, kostete ihn wertvolle Zeit. Die Leuchtkugeln ignorierend blieb die Flugabwehrrakete weiter auf Kurs. »Ferngelenkte Rakete!«, keuchte Rick Delgado. »Verdammte Bastarde! Scheiß Computer!« Er hieb mit der Faust auf das Instrumentenpaneel, als würde dies etwas nutzen. Hektisch drückte er den Steuerknüppel nach vorn, wartete, bis der Bug sich gesenkt hatte, trat das linke Ruderpedal durch und ließ den Jäger wie eine Schraube nach unten stürzen. Die Rakete rauschte über ihn hinweg und detonierte etwa einen Kilometer über dem Wüstensand. Verwundert über die vorzeitige Explosion brachte Delgado den Tarnkappenjäger wieder in die Horizontale. »Nichts wie weg hier!« Ein Aufblitzen erhellte den Nachthimmel. Delgado blieb keine Zeit zur Reaktion. Er sollte nie erfahren, was wirklich mit ihm geschah, als die F-117A in einer grellen Explosion über der kalifornischen Wüste verging. Φ Das Schrillen der Alarmsirenen riss Sherilyn Stone aus dem Schlaf. Ihr müder Blick zur Uhr bestätigte ihre Vermutung, sich erst vor wenigen Minuten hingelegt zu haben. Dennoch schwang sie sich sofort aus dem Bett und konzentrierte sich auf ihre Atmung, um die Müdigkeit zu verdrängen. Der Schalter für die Bordsprechanlage befand sich in Reichweite. Sie drückte ihn. »Stone hier, was ist passiert?« »Die Sensoren der FREEDOM haben einen Kampfflieger geortet. Identifizierung läuft noch.« »Ich bin auf dem Weg.« Rasch schlüpfte Sherilyn in ihre Uniform, kümmerte sich nicht um ihre zerzausten Haare
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oder den zerknautschten Gesichtsausdruck und stürmte aus ihrem Quartier an Bord des erbeuteten scardeenischen Schlachtschiffes, das seit einigen Tagen in einer Bodensenke im Sand der Mojave-Wüste geparkt war. Wenn Sherilyns Informationen richtig waren, würde die FREEDOM spätestens morgen abheben müssen, um die Antischwerkraftgeneratoren, die den zwei Kilometer langen Koloss der Erdanziehung trotzen ließen, wegen des zu hohen Energieverbrauchs zu entlasten. Sherilyn folgte dem Gang von der Kabine bis direkt zur Schiffszentrale. Als sie die Brücke betrat bot sich ihr ein ungewöhnliches Bild. Seit der Übernahme der FREEDOM waren hier ständig Wissenschaftler und Techniker damit beschäftigt gewesen, sich die scardeenische Technologie anzueignen oder die beim Entern entstandenen Schäden zu beheben. Jetzt aber befanden sich nur Offiziere von Shadow Command im Befehlsoval, und jeder von ihnen starrte gebannt auf den Hauptplasmaschirm, der den Überflug einer F-117A zeigte. Sherilyn erspähte Helen Dryer im Kommandosessel. Die ehemalige CIA-Agentin hatte anscheinend wieder die Befehlsgewalt an sich gerissen, obwohl sie rangmäßig nur Sergeant war. Sherilyn nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit dem General über seine liebste Spionin zu reden. »SAM-Abwehrrakete gestartet!«, verkündete ein Waffenoffizier vom Feuerleitstand her. Auf einer Einblendung war der Abschuss eines Flugkörpers von einer mobilen Raketenstellung zu sehen. »Bringen Sie die Lasergeschütze online«, sagte Helen Dryer. »Abbrechen!«, fuhr Sherilyn Stone dazwischen und war mit vier, fünf Schritten bei der Frau im Kommandosessel. »Was?«, fragte Helen mit einem Ausdruck auf der Miene, als zweifle sie am Verstand ihrer Vorgesetzten. »Ich sagte abbrechen! Sie ...,« Sherilyn wandte sich an den Waffenoffizier, »... Selbstzerstörung der SAM-Rakete aktivieren!« Der Angesprochene nickte knapp, da sprang Helen hoch und schob sich zwischen Sherilyn und den Offizier. »Sind Sie noch bei Trost? Wir haben direkte Order jedes feindliche Eindringen in unseren Luftraum sofort mit endgültigen Gegenmaßnahmen zu beantworten.« Sherilyn stemmte die Hände in die Hüften. »Ich widerrufe diesen Befehl, Sergeant Dryer. Da draußen fliegt ein amerikanischer Pilot in einer amerikanischen Maschine, und ich bin nicht bereit für irgendwen auf diesem Schiff oder der Basis das Feuer auf einen unserer Jungs zu eröffnen.« Der Waffensystemoffizier entspannte sich sichtlich. Anscheinend hatte auch er sich in seiner Haut nicht wohl gefühlt. Er tippte etwas in sein Instrumentenpult und gab die Nachricht zur Selbstzerstörung an die mobile Einheit weiter. Nur Sekunden darauf sah es auf dem Bildschirm so aus, als hätte der Pilot des Tarnkappenjägers die Rakete ausgetrickst, da sie vom Kurs abkam und wenig später detonierte. Die F-177A zog eine neue Kurve. Plötzlich rannte Helen Dryer auf den Feuerleitstand zu, rempelte den Offizier dahinter zur Seite und aktivierte die automatische Zielerfassung. »Dryer!«, schrie Sherilyn. In derselben Sekunde zuckten zwei Laserbündel aus einem doppelläufigen Geschütz in den Nachthimmel empor und verwandelten den Jäger in einen Feuerball. Sherilyn Stones Hand fuhr zum Holster, aber ehe sie die Pistole ziehen konnte, flackerte der Bildschirm kurz. Der General erschien übergroß auf dem Display, wie gewöhnlich mit einer glimmenden Zigarre im Mundwinkel. »Beherrschen Sie sich, Major Stone!«, fauchte er. Offensichtlich waren irgendwelche Mikrofone oder gar Kameras auf der Brücke der FREEDOM aktiv, deren Aufzeichnungen direkt an den General weitergeleitet wurden. Sherilyn schwang zum Schirm herum und funkelte den General wütend an. »Ich höre wohl
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nicht richtig.« »Herrgott, schieben Sie Ihre Emotionen und Skrupel endlich beiseite, Major Stone. Sie sind hier nicht mehr bei der U.S. Air Force. Shadow Command vertritt globale Interessen im Schutz gegen eine extraterrestrische Übernahme – wir müssen diese Institution schützen, egal um welchen Preis!« Es war plötzlich eiskalt in der Kommandozentrale geworden. Die Anwesenden wussten, dass mit den Umweltkontrollen des Schiffes alles in Ordnung war, dennoch spürten sie die um sich greifende Kälte, die einzig und allein vom großen Hauptschirm auszugehen schien. Der General nahm die Zigarre und drückte sie auf einem nicht sichtbaren Aschenbecher aus. Langsam blies er den Rauch aus, und einige der Anwesenden in der Zentrale schienen sich zum Husten genötigt zu fühlen, obwohl der Qualm die Brücke nie erreichte. Sherilyn entspannte sich und ließ den Handlaser stecken. Sie dachte über die Worte ihres Vorgesetzten nach und wusste instinktiv, dass er mehr gesagt hatte, als er vor seinen Leuten preiszugeben bereit war. Die Organisationsziele waren klar definiert: Der Erwerb außerirdischer Technologien. Aber die Frage, wem diese Technologien zugute kommen würden, wer letztendlich die Kosten für den riesigen Verwaltungs- und Militärapparat trug, den Shadow Command darstellte, war bisher nie beantwortet worden. Sherilyn Stone kannte nicht einmal den oder die Vorgesetzten des Generals, wusste nicht, wem er zu berichten hatte, wer wirklich die Entscheidungen fällte. Gesichert war lediglich die Erkenntnis, dass die amerikanische Regierung keinen blassen Schimmer davon hatte, dass Shadow Command überhaupt existierte. Bis heute, sagte sie sich, denn der Überflug des Tarnkappenjägers, weitab der üblichen Routen, konnte nur bedeuten, dass die Jagd auf sie eröffnet war. »Wir haben einen amerikanischen Piloten abgeschossen«, sagte Sherilyn leise. »Zu unser aller Schutz«, pflichtete der General ihr bei und zündete sich eine neue Zigarre an. »Ich erwarte Sie in meinem Büro, Major.« Sherilyn atmete tief durch. Sie hatte zum wiederholten Mal die Befehle des Generals vor versammelter Mannschaft in Frage gestellt. Irgendwann ließ er das nicht mehr durchgehen. Vermutlich war jetzt der Zeitpunkt gekommen. Sie fragte sich nur, warum er sie überhaupt noch vom Captain zum Major befördert hatte, wenn sie ihm ohnehin ein Dorn im Auge war. »Major?« Sherilyn nickte. »Ich komme.« Ihr Blick wanderte von Helen Dryer, die unschlüssig am Feuerleitstand ausharrte, zu Lieutenant Sean Harris, der während des Gesprächs mit dem General auf die Brücke gekommen sein musste. »Harris, die FREEDOM gehört Ihnen.« Der Lieutenant nickte kurz. Beiden entging nicht der giftige Blick Helen Dryers, die sich mehr als ungerecht behandelt vorkommen musste. Sie stellte quasi den verlängerten Arm des Generals dar, hatte aus militärischer Sicht allerdings keine Befehlsgewalt über die Soldaten und Agenten Shadow Commands. Als Sherilyn das Deck verließ und an Harris vorbei kam, raunte er ihr zu: »Was immer geschieht, meine Leute stehen bereit, Sie zu unterstützen.« »Danke.« Sherilyn verließ das erbeutete Schlachtschiff mit einem der Schweber. Auf dem Weg zum geheimen Eingang zur Basis erkannte sie eine Reihe von Fahrzeugen, die zur Absturzstelle des Stealth-Jägers fuhren oder flogen, um die Trümmer zu bergen und jegliche Spuren zu verwischen. Das Treffen im Büro des Generals, wenige Minuten später, verlief dann ganz anders, als der Major es sich vorgestellt hatte ... Φ
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Die Enttäuschung stand allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Am meisten jedoch Jee A Maru und Ken Dra. Ein Leben lang war ihr Volk auf der Suche nach dem letzten Relikt ihrer untergegangenen Zivilisation und Religion gewesen. Ein Leben lang hatten sie die Hoffnung, den sagenhaften Planeten Dai Urshar Senekar Tarmalis zu finden, nicht aufgegeben. Nachdem Jee A Maru und Ken Dra endlich die Koordinaten von Simon McLaird aus der großen Pyramide von Gizeh erhalten hatten, bekam ihr Glauben neuen Nährboden. Doch sämtliche Hoffnung wurde jäh zerschlagen, als Prinzessin Tanyas Raumjacht aus dem Hyperraum trat. Dort, wo sich die mythische Welt befinden sollte, herrschte nur gähnende Leere. DUST, wie Simon McLaird den Planeten genannt hatte, war nicht da. Enttäuscht ließ sich Jee A Maru in einen Sessel fallen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Simon trat hinter sie und legte ihr tröstend die Hände auf die Schultern. Er wollte etwas sagen, doch seine Kehle fühlte sich seltsam trocken an. Mehr als ein Räuspern brachte er nicht hervor. Kardina blickte zu ihm herüber und schüttelte langsam den Kopf. Simon biss sich auf die Lippen. Er gab sich selbst die Schuld an dem Dilemma. Schließlich hatte er geglaubt, in der Cheops-Pyramide, die Koordinaten DUSTs erfahren zu haben. Er war es letztendlich gewesen, der sie hierher geführt hatte. Sein Blick wanderte zu Ken Dra, der unablässig auf den Bildschirm starrte. Tränen liefen dem frischgebackenen Schwertträger die Wangen hinunter. Seine Knie zitterten, der Körper bebte sichtlich. Simon hatte das Gefühl, der Mann könne jeden Augenblick zusammenbrechen – und dann zerbrechen. Niemand sprach. Aller Augen waren ausdruckslos auf den Hauptschirm gerichtet. Der Anblick der gespenstischen Leere erfüllte die Brücke. Der ewige Traum schien ausgeträumt zu sein. Φ Sherilyn Stone atmete noch einmal tief durch. Sie warf einen nervösen Blick nach hinten zu den beiden Sekretärinnen, die jedoch seelenruhig ihren Aufgaben nachgingen. Schließlich klopfte sie. Die Tür schob sich beiseite. Wie üblich thronte der General hinter seinem mächtigen Schreibtisch. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt, die Stirn glitzerte vor Schweißperlen, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte Sherilyn vermutet, der Mann wäre gerade nach einem Fünftausend-Meter-Lauf ins Büro zurückgekommen. Sie sah noch, wie er wütend den Hörer eines der unzähligen Telefone auf die Gabel knallte. Eine blaue Dunstwolke stob aus seinem Mund. Die Zigarre war halb abgebrannt. »Major Stone, setzen Sie sich!« »Ich stehe lieber«, entgegnete Sherilyn reserviert. »Ist Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte der General. »Da fragen Sie noch?« Sherilyns Stimme überschlug sich. Sie warf einen Blick zurück und stellte zufrieden fest, dass sich die Tür hinter ihr bereits geschlossen hatte. Der General schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte und stemmte sich aus dem Sessel. Er nahm die Zigarre zwischen zwei Finger und deutete damit auf Sherilyn. »Major Stone, vergreifen Sie sich bloß nicht im Ton. Sie haben bereits zweimal meine direkten Befehle missachtet. Langsam habe ich das Gefühl, dass Sie Ihren Auftrag bei Shadow Command nicht ernst nehmen.« »Und dann haben Sie mich befördert?« »Ein Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Was ist nur los mit Ihnen? Ich bin kurz davor, Sie vor ein Kriegsgericht zu stellen.« Sherilyn hob spöttisch eine Braue. »Ein Kriegsgericht? Welches Militär dieses Landes trägt
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für Shadow Command denn die Verantwortung?« Der General klemmte sich die Zigarre in den Mundwinkel und ballte die Hände zu Fäusten. »Treiben Sie es nicht zu weit, Major, oder ...« »Oder was, General?«, fuhr ihm Sherilyn ins Wort. »Was werden Sie tun? Ich werde es Ihnen sagen: gar nichts. Ich enthebe Sie hiermit Ihrer Befehlsgewalt über diesen Stützpunkt.« Der General runzelte die Stirn. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Sie tun was?« »Ich führe von jetzt ab das Kommando über diese Basis. Sie werden im Namen der USRegierung unter Arrest gestellt!« »Spinnen Sie jetzt total?«, brüllte der General. »Die Regierung hat nicht den blassesten Schimmer, dass wir existieren. Wenn Sie nur ein Sterbenswörtchen an die Außenwelt sickern lassen, dann ...« Sein Gefühlsausbruch war nur Ablenkung. Der General wühlte neben sich in einer Schublade und förderte plötzlich eine Pistole zutage. Sherilyn hatte den Zug vorausgesehen und ihrerseits bereits den Laser gezogen. Sie sprang zur Seite. Ein Schuss peitschte auf. Die Kugel sirrte haarscharf an ihr vorbei. Im selben Moment hatte sie den Laser ausgelöst. Der feine Strahl traf den General direkt in die Stirn. Seine Augen verdrehten sich. Er kippte hinten über. Sein massiger Körper stürzte in den Sessel und schlitterte bis zur Wand zurück, wo er reglos liegen blieb. Sherilyn schluckte. Der Schuss war mit Sicherheit im Vorraum von den Sekretärinnen gehört worden. Im gleichen Moment schrillten die Alarmanlagen los. Dann klingelte das Telefon. Sherilyn Stone musste eine Entscheidung treffen, wenn sie heil aus der Sache herauskommen wollte. Φ Er ließ sich das sanfte Kraulen im Nacken gefallen. Kardinas Finger wuschelten durch sein Haar, die freie Hand massierte ihm die Schultern. Irgendwie war Simon McLaird jedoch nicht bei der Sache. Seine Gedanken wanderten zu Sherilyn Stone, die mit einem Mal auf ihrer Seite zu stehen schien, obwohl sie zu Shadow Command gehörte. Kurz bevor sie sich auf dem Asteroiden Gernah voneinander getrennt hatten, hatte Stone versprochen, die Geheimorganisation auf ihre Seite zu bringen, um mit Jee A Maru und den anderen zusammenzuarbeiten. Simon hatte nicht den blassesten Schimmer, wie sie das anstellen wollte. Er befürchtete eher, dass Stone längst hinter Gittern saß oder gar eliminiert worden war, wenn er zur Erde zurückkehrte. Zur Erde zurück, dachte er verbittert. Will ich das überhaupt? Wenn es Stone nicht gelang, die Führung von Shadow Command zu überzeugen, dass Jee A Maru und ihre Freunde nicht die Feinde der Erde waren, sondern einzig und allein die Scardeener, dann würden er und die anderen immer Gejagte auf der Erde bleiben. Es gab dann keinen Grund für ihn, dorthin zurückzuwollen. Und jetzt besitzt Shadow Command noch ein Raumschiff. Simon glaubte nicht, dass sie ihren Machtbereich ins All ausdehnen konnten. Die Eroberung des Schlachtschiffes war wohl eher ein Glückstreffer gewesen. Sobald die Scardeener merkten, dass Sealdric sich nicht mehr bei ihnen meldete, würden sie Aufklärer oder eine Flotte zur Erde schicken und ihr den Garaus machen. Shadow Command ahnte ja nicht, was sie mit der Kaperung des Schlachtraumers heraufbeschworen hatten. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte Kardina leise. ,,Bist du sicher, dass es die richtigen Koordinaten waren?«, fragte Ken Dra. Der Schwertträger hatte sich ein wenig vom ersten Schock erholt. Im Gegensatz zu Jee A Maru schien er die Enttäuschung schneller verarbeitet zu haben. Sie hatte sich in ihr Quartier
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zurückgezogen. Simon nickte. Er schob Kardinas Hand beiseite und erhob sich aus dem Sessel des CoPiloten. »Ich werde mich eine Weile aufs Ohr hauen. Vielleicht fällt mir ja noch etwas aus der Begegnung mit dem Pyramidenwächter ein, woran ich bisher nicht gedacht habe.« Gerade als er die Brücke verlassen wollte, hielt ihn Ken Dra noch einmal zurück. »He, hau dir nicht zu fest aufs Ohr!« Simon musste grinsen. »Du lernst schnell, Schwertträger. Übrigens war da vorhin ein Anruf für dich.« »Wer?« »Die Zeitansage.« Ken Dra setzte ein gekünsteltes Gähnen auf. »Sieh zu, dass du verschwindest.« Simon verließ die Kommandozentrale. Ein langer, gebogener Korridor schloss sich dahinter an. Er gelangte über einen Lift zu den unteren Decks, auf denen auch die Quartiere untergebracht waren. Ohne Umschweife suchte er seine Unterkunft auf, zog sich Stiefel und Shirt der Drahusem-Uniform aus und streckte sich lang auf dem bequemen Bett aus. Er glitt sofort in einen leichten Dämmerzustand, aus dem er schlagartig gerissen wurde, als der Türsummer aktiviert wurde. »Herein«, murmelte er müde. Jee A Maru betrat die Kabine mit ernstem Gesicht. Als Simon sie sah, bedeutete sie ihm, liegen zu bleiben und hockte sich selbst auf die Bettkante. »Es tut mir leid, Jee«, sagte Simon lahm. Er bereute seine Worte sofort wieder, denn die Enttäuschung war der Schwertträgerin deutlich anzumerken. Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen waren durch Simon zerstört worden. »Es ist nicht deine Schuld«, erwiderte Jee. »Entweder haben wir uns all die lange Zeit geirrt und Dai Urshar existiert nicht, oder wir haben die falschen Koordinaten. Bitte, versuch dich noch einmal daran zu erinnern, welche Koordinaten du gesehen hast.« »Es sind die, die wir in den Bordcomputer eingegeben haben«, beharrte Simon. »Vielleicht ist DUST unsichtbar ... ich weiß es nicht.« Jee überlegte. »Die Idee ist gar nicht mal so verkehrt. Möglich, dass der Planet geschützt ist.« »Vielleicht liegt es an der vierten Koordinate«, meinte Simon. »Oder ein Kraftfeld, eine kosmische Wolke, oder sonst was ...« »Eine vierte Koordinate?«, fragte Jee. Simon grübelte darüber nach, ob er dies wirklich gesagt hatte. Dann erinnerte er sich. Es gab eine vierte Koordinate, die sie bei der Eingabe in den Bordrechner nicht berücksichtigt hatten. »Ja ... eine vierte Koordinate ...« Jee sprang auf, griff ihn bei den Armen und zerrte ihn aus dem Bett. Halb ausgezogen, wie er war, schleifte sie ihn über den Korridor zur Brücke hinauf. »Die vierte Koordinate«, erklärte Jee auf dem Weg, »ist eine Zeitkoordinate. Dai Urshar liegt an einem anderen Ort, nicht hier. Dadurch ist es nie möglich, ihn im Raum direkt anzufliegen. Der Planet könnte sich sogar in einer anderen Galaxis befinden. Bei Eingabe der dreidimensionalen Daten kommt man stets an einem anderen Punkt aus dem Hyperraum heraus.« »DUST befindet sich aber in der Milchstraße«, sagte Simon. »Zwar wohl nicht mehr im Bereich des Scardeenischen Reichs, aber definitiv noch in dieser Galaxis.« Jee A Maru lächelte. »Daran habe ich nie gezweifelt. Ich sagte ja nur, er könnte sich an jedem Ort in diesem Universum befinden.« Sie erreichten die Brücke und riefen auch Tanya hinzu. Ken Dra und Kardina saßen noch vor den Steuerkontrollen der Jacht. Kurz berichtete Jee von der vierten Koordinate und wies
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Simon dann an, diese in den Bordrechner einzugeben. »Ken, wenn die Auswertung da ist, führst du einen neuen Hypersprung durch.« »Mit vier Koordinaten? Ich bezweifle, dass es überhaupt zu einer Auswertung kommt. Wir haben noch nie mit Zeitkoordinaten experimentiert.« »Die Scardeener aber«, warf Tanya ein. »Zwar sind sie nicht weit damit gekommen, aber immerhin ist der Navigationscomputer in der Lage, vier Koordinaten zu berechnen.« Nachdem ein Signal verkündete, dass die Berechnungen für den Sprung abgeschlossen waren, drehte sich Ken Dra achselzuckend zu den Kontrollen um und beschleunigte die Jacht. Kurze Zeit später aktivierte er den Hypergenerator und ließ das Schiff in das übergeordnete Kontinuum eintauchen. Auf dem Hauptschirm erschien ein kurzes Farbflimmern. Danach sternenübersäter Weltraum. Aus all den fernen Lichtern hob sich ein einzelner Planet besonders vom schwarzen Samt des Alls ab. Zusammen mit drei weiteren Planeten umkreiste er eine rote Sonne. »Beim Schwert!«, stöhnte Ken Dra auf. Simon McLaird ging zu der Sensoren-Station und überprüfte die eingehenden Daten. »Der zweite Planet dieses Sonnensystems dürfte DUST sein.« Jubel brandete in der Zentrale auf. Jee sprang auf Simon zu, umarmte ihn vor Freude und küsste ihn. Ken atmete erleichtert auf und lehnte sich entspannt im Sessel zurück. Die Freude, endlich ihr Zielt erreicht zu haben, hatte auch Tanya und Kardina erreicht. Die beiden Amazonen fielen Simon und Jee in die Arme und drückten sich. Die ausgelassene Stimmung verebbte plötzlich, als die anderen Kens Ausruf vernahmen. »Hey, Moment mal. Die Sterne da draußen haben keine Entfernung. Wir sehen sie zwar, aber unsere Sensorenechos werden zurückgeworfen. Wir können nur die Sonne und ihre vier Satelliten anmessen.« »Das könnte mit dem Zeitfeld zusammenhängen«, meinte Jee. »Dai Urshar befindet sich nicht in dem uns bekannten Universum, sondern um einen Frequenzgang davon verschoben. Ich nehme an, dass wir auch nur durch einen erneuten Hyperraumsprung von hier fort kommen.« »Wer immer das erfunden hat«, sagte Simon, »muss mächtig was auf dem Kasten haben. Hoffentlich so mächtig, dass wir damit den Scardeenern in den Hintern treten können.« »Das werden wir bald heraus finden«, fügte Tanya hinzu. »Ken, wie wäre es mit einem netten Ausflug ... sagen wir zum zweiten Planeten?« »Das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen.« Die Raumjacht beschleunigte, kreuzte die Bahn des vierten und dritten Planeten und flog danach direkt auf die Nummer Zwei zu: DUST! Φ Mit vier schnellen Schritten war Sherilyn am Schreibtisch und deaktivierte den Alarm. Das Schrillen des Telefons blieb. Sherilyns Blick fiel kurz auf den toten General. Dann langte sie nach dem Hörer und nahm ab. »Ja?« Die Stimme am anderen Ende war tief. Sie sprach ruhig und besaß eine wohlklingende Resonanz. »Major Stone?« »Ja«, antwortete Sherilyn. »Sie haben etwa zwanzig Sekunden, ehe die Wachen hier sind. Sie können diese Zeit verlängern, wenn Sie die Türblockierung einschalten.« »Wer sind Sie?«
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»Die Zeit läuft. Noch siebzehn Sekunden.« »Wo finde ich die Blockierung?« »Direkt unter der Schreibtischkante befindet sich eine Taste. Drücken Sie diese und lassen Sie sie gedrückt, bis ein leiser Bestätigungston ertönt.« Sherilyn fand den Knopf. Sie zögerte. »Wer sind Sie?« »Elf Sekunden, Major.« Seufzend drückte Sherilyn den Taster. Ein feines Piepen ertönte, dann ließ sie ihn los. Vorn an der Eingangstür erklang ein hartes Klacken. »Gut, wir haben jetzt drei Minuten, ehe die Wachen mit schwerem Gerät die Tür aufbrechen können.« »Dann können Sie mir wohl endlich sagen, wer zum Teufel Sie sind«, knurrte Sherilyn in den Hörer. »Immer hübsch der Reihe nach«, sagte die sonore Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ist der General tot?« »Ich denke, das geht Sie ...« »Haben Sie sich davon überzeugt, dass er tatsächlich tot ist?«, unterbrach der andere sie. Die Schärfe in der Stimme des Fremden alarmierte sie. Sie drehte sich zu der Leiche ihres Vorgesetzten um. Die toten Augen starrten sie anklagend an. Der Laserstrahl war an der Rückseite des Kopfes wieder ausgetreten, wie die geschwärzte Wand zeigte. Der Mann war zweifelsohne tot. Die Frage des Unbekannten am Telefon veranlasste sie jedoch, sich zu vergewissern. Sie beugte sich zum General hinunter und fühlte den Puls. »Er ist mausetot«, sagte Sherilyn in den Hörer. »Beruhigt Sie das jetzt?« »Oh, ich war nicht beunruhigt, aber Sie hätten es sein sollen. Wir haben übrigens noch zwei Minuten.« Draußen vor der Tür war ein Schaben und Kratzen zu vernehmen. Dann schwache Stimmen. Der unbekannte Anrufer hatte Recht. Die Tür würde die Wächter nicht ewig aufhalten. Vermutlich blieben ihr nicht einmal mehr die zwei Minuten. Trotz Harris' Beteuerung, mit seinen Männern auf ihrer Seite zu stehen, machte sich plötzlich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit. Harris hatte nicht alle Mitarbeiter Shadow Commands unter seiner Kontrolle. Und sicherlich gab es auch genügend Anhänger von Helen Dryer, die einen toten General niemals dulden würden. »Eine Minute, dreißig Sekunden, Major. Sind Sie bereit, mir zu vertrauen?« »Ihnen vertrauen?«, hörte sich Sherilyn selbst sagen, obwohl sie die Worte nicht einmal bewusst ausgesprochen hatte. »Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind!« »Rechts von Ihnen an der Wand befindet sich ein Bild, das den General und einen Abgeordneten zeigt«, sagte der Anrufer, Sherilyns Worte ignorierend. »Heben Sie das Bild an. Auf der Rückseite finden Sie eine Keycard.« Seufzend legte Sherilyn den Hörer auf den Tisch. Sie war versucht, den externen Lautsprecher des Telefons einzuschalten, wollte jedoch vermeiden, dass die Sekretärinnen oder die Wächter draußen etwas mitbekamen. Tatsächlich fand sie hinter dem Bild die Keycard. Der Anrufer schien sich in dem Büro auszukennen, als wäre es sein eigenes. Und er wusste offensichtlich alles über Shadow Command, kannte die Reaktionszeiten der Wachen, die Möglichkeiten der Sicherheitssysteme und wusste sogar, dass Sherilyn den General getötet hatte. Auf dem Rückweg zum Schreibtisch suchte der Major den Raum nach versteckten Kameras ab, musste jedoch passen. »Ich habe die Keycard.« »Schön. Sie haben außerdem noch zweiundsechzig Sekunden, ehe die Wachen die Tür aufbrechen. Es wird Sie sicherlich nicht beruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Kollegin Dryer mittlerweile auch draußen steht und nur darauf wartet, Sie in die Finger zu bekommen.
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Und machen Sie sich nicht die Mühe, nach Kameras Ausschau zu halten. Hier sind keine. Ich kann Sie auch nicht sehen.« »Wie beruhigend. Was nun?« »An der gegenüberliegenden Wand hängt ein weiteres Bild mit einem Phi-Symbol. Gehen Sie hinüber und schieben Sie die Keycard in den Schlitz an der rechten Seite des Bildes. Fassen Sie das Bild unter keinen Umständen an, ehe Sie nicht die Karte eingeführt haben.« »Was sonst? Fliegt das Büro sonst in die Luft?« »Der halbe Stützpunkt. Nun beeilen Sie sich. Noch vierundvierzig Sekunden.« Sherilyn ging zur Wand. Sie suchte den rechten Bildrand ab und fand den Schlitz. Ohne Mühe passte die Keycard hinein. Nichts deutete jedoch darauf hin, dass die vermeintliche Bombe auch entschärft worden war. Sherilyn kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm den Hörer auf. »Die Karte ist drin. Ich habe aber keine Bestätigung, dass ...« »Bekommen Sie auch nicht. Das Bild lässt sich seitwärts nach links verschieben. Dahinter befindet sich ein Safe mit Ziffernblock. Die Zahlenkombination lautet 7-4-2-3-6-9. Warten Sie den Signalton ab und geben danach 2-6-6-6-2-6-3 ein. Haben Sie die Ziffern?« Sherilyn setzte gerade die letzte Zahl auf einen Schmierzettel und bestätigte. »Noch achtundzwanzig Sekunden.« Der Major ließ den Hörer förmlich fallen, stürmte zum Bild hinüber, schob es an die Seite und gab die erste Ziffernfolge ein. Zwei, drei Sekunden lang geschah nichts. Dann ein leises Piepen. Hastig drückte Sherilyn die Tasten, um die zweite Kombination einzugeben. Ein Summen ertönte. Kurz darauf schob sich die Safeklappe in eine Seitenfuge und gab den Blick auf das Innere frei: Eine Stahlkassette, mehrere Akten, ein Stapel CDs, ein weiterer Stapel mit Speicherkaten sowie eine Pistole. Sherilyn konnte nicht alles tragen und kehrte daher zum Schreibtisch zurück. »Ist offen. Was soll ich davon nehmen?« »Zwölf Sekunden. Ein brauner Umschlag mit der Aufschrift geheim und vertraulich in blauer Schrift. Es gibt nur den einen. Machen Sie schon.« Nun schwang doch Sorge und ein Hauch von Hektik in der Stimme des unbekannten Anrufers mit. Draußen im Vorzimmer erscholl ein Poltern. Jede Sekunde konnten die Wächter durchbrechen. Sie würden ihr beim Anblick des toten Generals nicht den Hauch einer Chance lassen, noch etwas aus dem Safe zu nehmen oder eine Erklärung abzugeben. In Gedanken zählte Sherilyn die verbleibenden Sekunden herunter. Als sie bei fünf angelangt war, hatte sie das Bild vor den Safe geschoben, war mit der Akte zum Tisch zurückgekehrt und hatte den toten General vom Sessel gestoßen. Sie ließ sich in die Polster fallen, öffnete die Akte und griff nach dem Hörer. »Habe ich.« »Viel Glück«, sagte die Stimme am anderen Ende. Dann wurde eingehängt. Im selben Augenblick donnerte eine C4-Explosion von der Tür her durch das Büro und riss ein Loch in die Wand. Drei Soldaten in Shadow-Command Uniformen sowie Helen Dryer stürmten mit schussbereiten Waffen durch den aufgesprengten Eingang und legten auf Sherilyn Stone an, die noch immer verdutzt den Hörer in der Hand hielt, vor sich die aufgeschlagene Akte, deren erstes Blatt ihren Unglauben ins Unermessliche steigerte. Φ Die rochenförmige Raumjacht Tanyas war in einer riesigen Grasebene des zweiten Planeten im unbekannten Sonnensystem gelandet. Die Amazonenprinzessin war ein wenig überrascht gewesen, überhaupt Grünflächen auf dieser Welt vorzufinden, denn die erste Umrundung im Orbit hatte hauptsächlich das Bild einer Wüstenwelt ergeben. Doch wie es Simon McLaird in
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seiner Vision gesehen hatte, existierten auf DUST in regelmäßigen Abständen gewaltige Oasen von der Größe einer Stadt. Nachdem die Maschinen der Jacht heruntergefahren worden waren, war Jee A Maru nicht mehr aufzuhalten. Noch ehe die Rampe am Ausstieg ganz ausgefahren war, sprang die Schwertträgerin hinunter ins weiche Gras. Unten sog sie die frische, windige Luft ein. Sie war angenehm und schien damit die Wüstengegenden des Planeten verhöhnen zu wollen, wo die Schiffssensoren recht hohe Temperaturen gemessen hatten. Jee A Maru bückte sich und strich sanft über die Grashalme. Simon wartete im Schott und versperrte den anderen den Weg, damit die Schwertträgerin den Augenblick, auf den sie so lange gewartet hatte, voll und ganz für sich auskosten konnte. Nach einer Weile ließ er Ken Dra durch, bedeutete jedoch den beiden Amazonen, noch zu warten. Als die beiden Drahusem sich an dem Anblick der Grasebene satt gesehen hatten, nickte Ken ihnen zu. Simon folgte Tanya und Kardina die Rampe hinunter. »Ist es das, was du erwartet hast?«, fragte er, als er neben Jee stehen blieb. Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich auch immer eine Zivilisation hier vermutet. Gigantische Städte und Raumhäfen. Nachfahren eines alten und mächtigen Raumfahrervolkes. Unsere Vorväter, die den Samen des Lebens in die Galaxis getragen haben und auch für das Leben auf Prissaria verantwortlich waren. Ja, vielleicht habe ich das erwartet und nicht eine Wüstenwelt mit einigen Oasen und einer einzelnen Pyramide.« Simon streckte den Arm in Richtung Oasenrand aus. Dahinter begann direkt die Sandwüste. Dann deutete er auf die hinter ihnen liegende Bergkuppe, über der einige Baumwipfel eines Mischwaldes hinausragten. »Genau so habe ich es in meiner Vision gesehen«, sagte Simon McLaird. »Als ... mein Geist hier war. Aber die Pyramide ist ziemlich weit entfernt von hier. Warum bist du nicht direkt dort gelandet, Ken? Wir hatten sie doch auf unseren Sensoren.« »Vermutlich umgibt eine Art Kraftfeld die Oase mit der Pyramide«, gab der neue Schwertträger zurück. »Obwohl ich den Kurs eingab, gingen wir letztendlich hier herunter.« Jee A Maru sah Simon fragend an. »Hast du eine Ahnung, wie wir von hier aus zur Pyramide gelangen?« Simon nickte. »Ja, der Weg hat sich förmlich in meine Erinnerungen eingebrannt. Das Beste wird sein, ich zeichne eine Karte ... im übrigen hatten wir Glück, dass dein Kraftfeld uns nicht auf einen östlicheren Kurs gebracht hat – die Oasen sind dort eher rar gesät.« »Simon hat Recht«, meldete sich Tanya zu Wort. »Den Schiffssensoren nach gibt es neben der Oase mit der Pyramide nur acht weitere Grünflächen von Stadtgröße. Und die meisten davon befinden sich auf dieser Hemisphäre. Euer DUST besitzt übrigens einen Durchmesser von etwa 40.000 Kilometern.« »Dreimal so groß wie die Erde«, sagte Simon. »Das wären wirklich tolle Aussichten gewesen, wenn wir auf der Rückseite gelandet wären.« Nach einer halben Stunde einigten sie sich darauf, in Zweiergruppen die nähere Umgebung zu erkunden, während Simon an Bord der Jacht die Karte aus seinem Gedächtnis zeichnete. Kurz bevor er der Skizze den letzten Schliff gegeben hatte, kehrten Jee A Maru und Kardina zurück. »Wie weit bist du?«, erkundigte sich die Schwertträgerin. »Fertig, Mädels«, grinste Simon und hielt ihr die Zeichnung direkt unter die Nase. »Das ist DUST! Oder sagen wir der westliche Teil von DUST, auf dem wir uns gerade befinden.« Jee nahm ihm die Karte aus der Hand und studierte sie zusammen mit Kardina. »Welchen Weg?«, fragte Simon. »Hm«, machte Jee. »Warten wir, bis die anderen hier sind.« Kardina verließ kurz die Brücke und kehrte mit einigen nahrhaften Snacks zurück, die sie unter Jee und Simon verteilte. Der Riegel erinnerte Simon an die Kornsnacks von der Erde,
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aber die Amazone hatte ihm versichert, dass sie zu hundert Prozent synthetisch hergestellt wurden und nicht den geringsten Anteil von Korn enthielten. Während sie noch auf die Rückkehr von Ken und Tanya warteten, errichteten Simon und Jee an der Schleuse ein Vordach aus einem großen Stück Tuch, das sie im Frachtraum der Jacht fanden. Als die anderen beiden dann von ihrer Erkundung zurückkehrten, hockten sie sich unter der provisorischen Markise nieder und berichteten von ihrem Ausflug. Sie hatten einige Flüsse und Bäche entdeckt. Die Bäume trugen verschiedene Arten von Früchten, die nach den Scanneranalysen allesamt essbar, nahrhaft und gut verträglich zu sein schienen. Kardina hatte inzwischen eine Mahlzeit aus der Bordküche zubereitet und brachte das Essen nach draußen. Während sie es unter freiem Himmel verspeisten, zog Simon die angefertigte Karte hervor und breitete sie im Gras aus. »Wir befinden uns hier«, erklärte er und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Kreuz im Osten der Karte. »In der Grasebene von Larusem.« »Larusem?«, hakte Ken Dra nach. »Woher hast du den Namen?« Simon zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Als ich die Karte zeichnete, tauchte der Name in meinen Gedanken auf. Ich hab ihn nie zuvor gehört.« »Das ist Alt-Drahusem«, sagte Jee A Maru. »Es bedeutet soviel wie Ausgangspunkt.« »Wie passend«, kommentierte Kardina. Simon widmete sich wieder der Karte und deutete mit dem Finger auf einen anderen Punkt, an dem eine riesige Oase eingezeichnet war. In der Mitte das Symbol einer Pyramide. »Dorthin müssen wir.« »Zu Fuß?«, fragte Ken Dra widerwillig. »Was ist mit Gleitern?« Tanya schüttelte den Kopf. »Wenn das Schiff schon beim direkten Landeanflug abgelenkt wurde, wird mit den Gleitern das Gleiche geschehen. Die Erbauer der Pyramide wissen schon, warum sie diesen Ort hier Ausgangspunkt genannt haben.« Simon verzog den Mund. Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass sie wirklich zu Fuß losmarschieren mussten, doch Tanyas Vermutung war plausibel. »Also Freunde, noch ist Zeit, abzuspringen.« »Wir gehen«, entschied Jee A Maru. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Simon und rollte die Karte zusammen. Anschließend stand er auf und blickte in die Richtung, in die sie gehen würden. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu kommen, wenn es nun in einen Gewaltmarsch ausartete. Zumal sie nicht wussten, welche Gefahren auf DUST lauerten. Was, wenn etwas ganz Profanes geschah und jemand stolperte und sich einen Fuß verstauchte – was, wenn sie jemanden zurücklassen mussten? Simon wollte gar nicht darüber nachdenken ... Φ Nur die beruhigend auf Helen Dryers Arm gelegte Hand, hielt die Ex-CIA-Agentin davon ab, das Feuer zu eröffnen. Sherilyns Blick pendelte zwischen ihrer Gegnerin und den anderen Shadow-Agenten hin und her. Sie war beim gewaltsamen Eindringen in das Büro des Generals ruhig im Polster sitzen geblieben und auf alles gefasst. Selbst auf ihren Tod. Sherilyn sah deutlich, wie Helens Wangenmuskulatur arbeitete und sie sich nur mühsam im Zaum hielt. Einer der Uniformierten Schatten näherte sich dem Schreibtisch mit vorgehaltener Laserpistole. Er verwendete bereits das scardeenische Modell, das dem von Shadow Command entwickelten an Feuerkraft und Ladekapazität um ein Vielfaches überlegen war. Der Agent beugte sich über den General, fühlte den Puls und blickte dann in Richtung seines vorgesetzten Offiziers, ein junger Lieutenant, den Sherilyn nicht kannte. »Ma'am, würden Sie bitte erklären, was hier vorgefallen ist?«, fragte der Offizier.
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»Das sehen Sie doch selbst, oder?«, schnappte Helen Dryer. »Sie hat unseren General umgebracht.« »Vergreifen Sie sich nicht im Ton, Sergeant Dryer«, wies der Lieutenant sie zurecht. Einmal mehr fragte sich Sherilyn, warum Helen Dryer keinen Offiziersrang bekleidete, wenn der General so große Stücke auf sie hielt. Gehalten hat, korrigierte sich Sherilyn in Gedanken. »Also, Major Stone?« Sherilyn blickte genau in die Mündung des Lasers. Wortlos griff sie zu der Akte vor sich auf dem Tisch und schob das oben aufliegende Schreiben in Richtung des Lieutenants. Statt das Blatt Papier selbst aufzuheben, nickte er dem anderen Uniformierten zu, der vorsichtig an den Tisch heran trat und das Dokument an sich brachte, ohne dabei Sherilyn aus den Augen zu lassen. Während der Lieutenant las, fügte Sherilyn erklärend für die anderen hinzu: »Diese Vollmacht bestätigt, dass der General innerhalb der Organisation Shadow Commands eigene Ziele verfolgte und eliminiert werden sollte.« Der Lieutenant nickte. Helen Dryer beugte sich zu ihm hinüber, um selbst etwas von dem Dokument ablesen zu können. »Mit sofortiger Wirkung wird Major Stone das Kommando über den Mojave-Stützpunkt übertragen, bis anderweitige Befehle erlassen oder Offiziere höheren Ranges ihre Position ablösen werden«, las der Lieutenant laut vor. Jegliche Farbe wich aus Dryers Gesicht. Ihre Schusshand zitterte. Sie senkte die Waffe und starrte Sherilyn entgeistert an. »Wer hat das unterzeichnet?« »Ein Admiral Henderson vom Pentagon«, sagte der Lieutenant. »Überprüfen Sie ihn!«, befahl Helen. »Ich habe mich wohl verhört, Sergeant«, gab der Offizier zurück. Helen wollte aufbrausen, doch in dem Moment stürmten weitere Shadow-Agenten heran, unter ihnen auch Lieutenant Harris und Sergeant Tennard. Harris wurde das Schreiben des Pentagons in die Hand gedrückt. Als er den Text las, wurden seine Augen immer größer. Helen Dryer steckte den Laser ein und trat an den Schreibtisch heran. Mit vor der Brust verschränkten Armen giftete sie ihre Widersacherin an. »Schön eingefädelt, wirklich«, fauchte sie. »Und was haben wir jetzt vor, Major Stone?« Sherilyn atmete tief durch, erleichtert darüber, dass Dryer nicht doch noch den Abzug gedrückt hatte. Ihr Blick wanderte von der anderen Frau zu Lieutenant Harris, dessen Miene sich nach der Lektüre des Schreibens sichtlich aufgehellt hatte. Sie hatte sich schon zuvor überlegt, welche nächsten Schritte sie einleiten wollte, doch es gab einiges vorrangig zu erledigen, auch wenn es den anderen nicht passen würde. »Unser erstes Ziel ist es, die Erde zu schützen«, sagt sie langsam und hielt dann inne. Als die anderen, bis auf Helen Dryer, einhellig nickten, fuhr sie fort: »Den Scardeenern wird das Kapern ihres Schlachtschiffes nicht lange verborgen bleiben. Sie werden eine Flotte herschicken, um Sealdric zu befreien, sich ihr Schiff zu holen und die Erde entweder zu vernichten oder in ihr Reich einzuverleiben.« »Das sind ja rosige Aussichten«, kommentierte Harris. »Aber abzusehen«, pflichtete ihm Sherilyn bei. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Helen Dryer. Sherilyn lehnte sich noch tiefer in die Polster des Sessels zurück. Ihr Vorschlag würde niemandem gefallen, aber er war momentan die einzige Alternative, die sie hatten, um die Erde vor den Scardeenern zu schützen. »Shadow Command wird diesen Stützpunkt aufgeben und mit der FREEDOM die Erde verlassen.«
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»Was?«, entfuhr es Helen Dryer. »Das hätte der General niemals angeordnet!« »Ich bin jetzt diejenige, die hier das Sagen hat«, korrigierte Sherilyn. »Nur weil irgendein Penner im Pentagon nicht weiß, was hier abgeht!« Harris trat vor und legte Helen Dryer eine Hand auf die Schulter. Sie wandte sich verwirrt um. Ihre Irritation wurde umso größer, als Harris breit grinste. »Wir gehen jetzt besser«, sagte er. »Wohin?« »In den Sicherheitstrakt der FREEDOM. Sie können Sealdric ein wenig Gesellschaft leisten, vielleicht zerfleischt er Sie dann ja, nach dem Verrat, den sie an ihm begangen haben.« Helen Dryers Gesichtszüge nahmen einen kalkweißen Ton an. Zwei der Uniformierten führten sie unter Protest ab. Ihr Zetern, das sich in Drohungen gegen alle Verräter richtete, hallte noch einige Sekunden über den Gang. Harris und Tennard traten an den Schreibtisch heran. »Was ist das für eine Aktion mit diesem Wisch da?«, wollte der Lieutenant wissen. »Gibt es diesen Admiral Henderson überhaupt?« Sherilyn Stone runzelte die Stirn. Sie nahm das Dokument aus Harris' Hand und las es noch einmal. Es war zweifelsohne auf offiziellem Orderpapier des Pentagons verfasst worden. Das Dienstsiegel wirkte echt. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, gestand Sherilyn ein. »Aber er hat mir wohl das Leben gerettet.« »Major?«, fragte Tennard. »Was genau meinten Sie mit ... die Erde verlassen?« Harris lachte lauthals auf, nach kurzer Zeit stimmte Stone ein, und sie ließen Tennard wie einen begossenen Pudel dastehen. Auf seine fragende Grimmasse hin, deuteten beide nach oben an die Decke. »Wir benötigen Unterstützung«, sagte Sherilyn, während Tennard sich anscheinend nicht wohl in seiner Haut fühlte und ständig zur Decke starrte. »Unterstützung?«, hakte Harris nach. »Von wem?« »Von außerhalb. Ich habe Kontakt mit Simon McLaird und seinen außerirdischen Freunden aufgenommen. Wir werden eine Art Allianz schmieden ... gegen die Scardeener.« Harris pfiff durch die Zähne. »Wissen ... Ihre Vorgesetzten ...« Sherilyn schüttelte den Kopf. Sie erhob sich aus dem Sessel und wies zwei der verbliebenen Agenten an, die Leiche des Generals fortzuschaffen. Als sie mit Harris und Tennard allein war, fuhr sie fort. »Ich kenne nicht einmal meine Vorgesetzten, Lieutenant. Ich weiß weder, woher Shadow Command kommt, von wem es unterstützt wird oder seine Ressourcen bezieht. Alles, was ich weiß ist, dass wir die Erde durch das Kapern des Schlachtschiffes gefährdet haben. Wenn sich überhaupt jemand gegen die Scardeener stellen kann, dann ist es unsere Organisation zusammen mit McLaird und seinen Freunden als Verbündete. Wir müssen handeln, sonst sehen wir uns schon morgen auf einem Friedhof wieder ... oder als Sklaven von Scardeen.« »Was ist mit den zweihundert Scardeenern, die wir gefangen halten?«, fragte Sergeant Tennard. »Wenn wir alles wissen, was notwendig ist, um die FREEDOM sicher zu manövrieren, setzen wir sie in eines der Beiboote und schicken sie per Autopilot auf ihre Heimat zurück.« Sherilyn entließ die beiden Agenten kurze Zeit später. Zwei Techniker brachten eine provisorische Tür vor dem Büro an, obwohl Sherilyn bezweifelte, dass sie sich noch länger als nötig hier aufhalten würde. Die FREEDOM würde ohnedies nur noch für wenige Stunden auf ihren Antigravitationsstelzen ruhen können und musste dann in einen Orbit geflogen werden. Besser, sie gab zeitig das Evakuierungssignal. Sherilyn kehrte zum Schreibtisch zurück und ließ sich in den Sessel fallen. Müde schloss sie die Lider und ließ sich einfach hängen. Zu viel war in den letzten Tagen geschehen, als dass
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sie es ignorieren oder einfach wegstecken könnte. Und noch viel mehr erwartet dich da draußen, dachte sie. Das Telefon klingelte. Sherilyn reagierte nicht sofort. Es dauerte eine Weile, bis sie das Geräusch überhaupt hörte und interpretierte. Als sie den Hörer abnahm, ahnte sie bereits, wer sich am anderen Ende melden würden. »Hallo Admiral Henderson«, sagte sie geradewegs, noch ehe sich der andere gemeldet hatte. Doch statt ihn aus der Reserve zu locken, wurde sie selbst verblüfft. Ein Lachen war am anderen Ende der Leitung zu hören. »Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich wäre Henderson«, sagte die sonore Stimme, die ihr vorhin schon die Tipps gegeben hatte. »So, wer sind Sie dann?« »Vielleicht später einmal.« »Na toll, Sie haben vielleicht Nerven«, knurrte Sherilyn und war versucht, einfach aufzulegen. Ihr Gesprächspartner war jedoch der einzige Kontakt zur restlichen Organisation. Und der andere schien sich dieser Tatsache bewusst zu sein, denn er blieb gelassen. »Sie haben auch Nerven bewiesen, Major Stone. Gratulation.« »Kommen Sie jetzt bloß nicht auf die Tour«, gab Sherilyn gereizt zurück. »Man sagte mir bereits, dass es nicht einfach sein wird mit Ihnen.« »Ach!«, machte Sherilyn. »Wer sagt denn so was?« Wieder ein Lachen am anderen Ende. Dann ein leises Husten und das hörbare Ausatmen von Zigarettenqualm. »Spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass Sie jetzt Ihren Plan durchführen.« Sherilyn knallte den Hörer auf die Gabel und blickte sich suchend im Büro um. Natürlich, der Anrufer hatte lediglich erwähnt, dass keine Kameras im Büro installiert waren. Von Mikrofonen war nie die Rede gewesen. Je schneller sie von dieser Basis wegkamen, desto besser. Es war nur fraglich, ob ihr Team an Bord der FREEDOM sicherer war. Das Telefon klingelte erneut. Sherilyn griff zum Hörer, hob ihn kurz ab und drückte ihn wieder auf die Gabel. Sie wartete. Nichts geschah. Ihr Blick haftete förmlich an dem Telefon, doch selbst nach drei Minuten blieb es noch immer stumm. Hatte sie sich geirrt, und der andere war doch nicht so abhängig von ihr und dieser Basis? Ich habe das Schlachtschiff, dachte sie. Das muss einfach Grund genug sein ... Anscheinend liebte es der mysteriöse Anrufer, Spielchen zu spielen. Nach einer geschlagenen Viertelstunde klingelte es endlich. Sherilyn wartete fünf Töne ab, ehe sie endlich den Hörer abnahm. »Sie sollten wissen, Major Stone, dass Sie keineswegs unersetzbar sind«, brachte der Fremde am anderen Ende der Leitung das Gespräch gleich auf den Punkt. »Und weiter wird es sicherlich von Interesse für Sie sein, dass die Basis in der Mojave-Wüste nicht der einzige Stützpunkt Shadow Commands ist. Ihr Vorteil ist momentan das Schiff der Scardeener, aber glauben Sie mir, wenn Sie nicht mit den Zielen unserer Organisation kooperieren, wird Ihre Karriere ebenso enden, wie die des Generals. Wir werden Ihre Aktionen beobachten, Major, und uns von Zeit zu Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen ... enttäuschen Sie uns nicht.« Das Gespräch war für Sherilyn aus den Bahnen geraten. Sie hatte geglaubt mit dem erbeuteten Schlachtschiff der Scardeener einen Trumpf im Ärmel zu haben, den sie jederzeit gegen Shadow Command ausspielen konnte. Wie sehr sie sich irrte, musste sie jetzt feststellen, als die Stimme des Unbekannten in ihrer sonoren Art die unterschwellige Drohung einer Liquidation aussprach. Sherilyn schluckte und blickte zu der Stelle, an der vor einer guten halben Stunde noch der tote General gelegen hatte. Mit einem Mal war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie tatsächlich aus freien Stücken gehandelt hatte oder in eine Ecke
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gedrängt worden war, ohne es zu merken. Sie hatte die Kontrolle über das Spiel verloren. Andere hielten die Fäden in Händen – andere, von denen sie nicht einmal wusste, wer sie waren ... »Und wie soll ich Sie ansprechen, wenn Sie sich das nächste Mal bei mir melden?«, fragte sie nach einer Weile, nur um etwas zu sagen. Sie hörte wieder das typische Geräusch des Ausatmens von Zigarettenqualm. Der andere ließ sich absichtlich Zeit mit der Antwort. Als er endlich sprach, lief Sherilyn Stone ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. »Nennen Sie mich ... General.« Φ Ein Gurgeln verlor sich in der kahlen Zelle. Geweckt von dem Geräusch rührte sich die auf einer Pritsche liegende Gestalt und richtete sich halb auf. Irritiert blinzelte sie ins helle Licht, das vom Eingang des Zellentraktes kam und rieb sich die Augen. »Wer ist da?«, fragte der Gefangene und stand auf. Langsam schlurfte er zum Ausgang seines Gefängnisses und blieb vor der energetischen Barriere, die jedwede Flucht zum Scheitern verurteilte, stehen. Vorsichtig spähte er durch das flirrende Energiegitter auf den Gang hinaus. Auf der anderen Seite entdeckte er einen leblosen Körper in der Uniform der Shadow-Agenten. Ein weiteres Gurgeln war zu hören. Dann ein dumpfer Aufprall. Die Füße eines Shadow-Agenten wurden über den Boden aus dem Sichtbereich des Gefangenen gezogen. Eine Sekunde darauf, trat eine ihm wohl bekannte Frau an das Energiegitter heran. »Helen Dryer?«, sagte der Gefangene verblüfft und trat instinktiv einen Schritt zurück. »Hallo Sealdric«, erwiderte sie. Ihrer Miene war keine Regung zu entnehmen. Der Blick ernst und gelassen. Sealdric sog scharf die Luft ein. Diese Frau hatte sein Vertrauen erschlichen und dann schändlich missbraucht. Nur ihr war es zu verdanken, dass Shadow Command die SENSOR hatte übernehmen können. Und 5.000 meiner Leute umgebracht haben, vollendete der Rahasara in Gedanken den Satz. Fast war er versucht, einfach loszustürmen, sich auf Helen zu stürzen und sie zu erwürgen. Nur ein kleiner Funken Verstand bewahrte ihn davor, sich nicht in das Energiegitter zu stürzen. »Was willst du?« Sealdric ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte geglaubt, diese Frau stünde auf seiner Seite ... ja, er hatte sich sogar in sie ... verliebt. Rasch schob er den Gedanken daran beiseite. Ein Bewahrer diente der Legion und dem Rat von Scardeen. Liebe machte schwach und verwundbar. Er durfte nicht den eigenen Gefühlen erliegen. Liebe ist etwas für Schwertträger, hatte ihm sein Meister stets eingetrichtert. Vielleicht beneidete er seine direkten Gegner der Drahusem darum. Aber wie schwach sie wirklich waren, hatte er selbst erst kürzlich bewiesen. Sie waren tot ... alle tot. Er hatte sie ausgelöscht. Die Drahusem, ihre Welt, ihre Priester und ihre Schwertträger. Einzig allein Jee A Maru war noch das letzte Relikt einer untergegangenen Religion. »Ich bin hier, um dich zu retten«, sagte Helen Dryer. Sealdric glaubte, sich verhört zu haben. Er überging ihre Antwort und dachte darüber nach, wie er auch Jee A Maru fassen und töten konnte ... da erst erreichte Helens Satz sein Bewusstsein. »Was?« »Ich will dich retten.« Sealdric schüttelte den Kopf. »Ich bin längst verloren. Du hast mich verraten. Selbst wenn
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du jetzt die Barriere senkst, verlangt meine Ehre als Bewahrer, dich auf der Stelle ...« »Vergiss deine Ehre!«, fuhr ihm Helen scharf ins Wort. »Willst du Leben und Rache verüben, oder hier in der Zelle verrotten?« Sealdric trat näher an die flirrenden Energiestäbe heran und verschränkte die Arme vor der Brust. Er musterte Helen, vermochte aber nicht, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Warum sollte ich dir trauen?«, fragte er. »Schließlich warst du es, der eurem Shadow Command mein Schiff in die Hände gespielt hat. Du hast 5.000 Scardeener auf dem Gewissen. Und genau so wie jetzt hat es angefangen. Du spielst mir etwas vor.« Helen seufzte. »Ich hab geahnt, dass es nicht leicht sein wird, dich zu überzeugen. Sieh mal, es hat einige Veränderungen gegeben, die mich möglicherweise umgestimmt haben. Shadow Command ... ist jetzt auch mein Feind!« »Das hast du schon mal behauptet!« »Okay, ich hab Mist gebaut, ja!«, schrie sie plötzlich auf. »Ich weiß, dass es nicht wieder gutzumachen ist. Dennoch biete ich dir diesmal meine Hilfe an. Wenn wir auf deinem Heimatplaneten angekommen sind, kannst du dir noch immer überlegen, ob du mich hinrichten oder am Leben lässt.« »Du meinst das ernst, ja?«, fragte Sealdric verwundert. »Warum fliehst du dann nicht allein, wo du doch weißt, dass ich dich unmöglich am Leben lassen kann?« Nun trat auch Helen dicht an das Energiegitter heran und blickte Sealdric direkt in die Augen. Nur wenige Zentimeter und das flirrende Licht trennten ihre Gesichter voneinander. »Ich kann nirgendwo hin. Shadow Command würde mich überall auf der Erde finden.« Sealdric biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass er Helen Dryer niemals würde vertrauen können, dafür hatte sie ihn zu sehr enttäuscht. Aber er musste zugeben, dass sie momentan die einzige Möglichkeit zur Flucht darstellte. So war seine Entscheidung nur logisch. Töten konnte er sie später immer noch. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Wir schließen einen Waffenstillstand.« Helen tippte einen Code an der Außenseite der Zellenwand ein. Die Energiestäbe verblassten von einem Moment auf den anderen. Sealdric trat über die Schwelle und blickte sich um, während Helen die Waffen der beiden niedergeschlagenen Wächter an sich brachte und eine davon Sealdric reichte. Der Bewahrer war erneut versucht, sie einfach zu erschießen. Sein Blick glitt über die Laserpistole scardeenischer Konstruktion. Es wäre zu einfach gewesen. Aber er wartete. Noch brauchte er Helen Dryer. »Und nun?« »Shadow Command evakuiert die Basis. Im allgemeinen Gedrängel des Aufbruchs werden wir untertauchen können. Ich habe für alle Fälle eine Fähre in einem der unteren Hangars vorbereitet.« Bewaffnet rannten sie durch den Sicherheitstrakt des Schlachtschiffes. Es war so, wie Helen gesagt hatte. Die neue Crew des Raumers befand sich im Aufbruch. Überall wuselte es nur so von Leuten, die mit schwerem Gerät beladen waren. Kleine Transportgleiter jagten durch die schier endlosen Gänge. Offiziere brüllten ihre Befehle. Decksupervisoren quartierten Leute und Material ein. Über Umwege und Versorgungsschächte erreichten sie die unteren Hangars. Zwischenzeitlich wurden sie lediglich von einem Wachtposten angehalten, der sie jedoch aufgrund von Helens höherem Rang passieren ließ. Als sie den gesuchten Hangar erreichten, herrschte auch hier ein reges Treiben. Die beiden huschten geduckt zu einer Reihe Transportcontainern und gingen dahinter in Deckung. Helen deutete auf eine Fährte in unmittelbarer Nähe. »Ich habe sie gestern für einen Blitzstart vorbereitet«, erklärte sie an Sealdric gewandt. »Sie hat genügend Vorräte an Bord, ist aufgetankt und abflugbereit.« »Falls keiner deiner Freunde sie inzwischen für andere Zwecke eingeplant hat«, warf der
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Bewahrer ein. Helen schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Sicherheitscode hinterlegt.« Sie warteten, bis sie sicher waren, dass niemand in ihre Richtung blickte. Dann stürmten sie hinter der Deckung hervor und hielten geradewegs auf den Shuttle zu. Ungesehen erreichten sie das Schott. Hastig tippte Helen eine Zahlen- und Buchstabenkombination in scardeenischer Schrift in ein Tastaturfeld. Nur kurz darauf schoben sich die schweren Metalltüren beiseite und eine Rampe wurde ausgefahren. Helen wartete nicht bis der Vorgang abgeschlossen war. Sie sprang seitwärts auf die Rampe, hetzte über die Schwelle des Schotts und sobald Sealdric ihr gefolgt war, hieb sie im Innern einen Schalter hinunter, der den Shuttle wieder verschloss. »Ich werde uns hier herausfliegen«, sagte Helen Dryer auf dem Weg zum Cockpit. »In der Zwischenzeit musst du den Hyperraumsprung am Nav-Com berechnen, sonst wird das ein ziemlich kurzer Ausflug.« »Du meinst, deine Leute ...« »Es sind nicht meine Leute«, schnitt ihm Helen das Wort ab. »Und ja, sie werden uns ihre Raumjäger auf den Hals hetzten, sobald wir gestartet sind.« »Meine Raumjäger«, korrigierte Sealdric. Helen blieb stehen und fuhr herum. »Ob das jetzt wohl scheißegal ist, wem die Maschinen gehören? Hauptsache, die hängen uns nicht im Nacken und verteilen uns fein säuberlich über den Rest des Sonnensystems, oder?« Sealdric verzog die Mundwinkel nach unten. Sie gingen weiter und erreichten die Zentrale, doch gerade als Helen sich im Sitz des Piloten niederließ, wurde Alarm an Bord der FREEDOM gegeben. Φ Der pelzige Belag auf Simons Zunge wurde immer dicker. Seine Kehle schrie förmlich nach einem Tropfen Flüssigkeit. Er blieb im heißen Wüstensand stehen und blickte hinauf zur blutroten Sonne, die unablässig ihr unbarmherzig siedendes Licht zum Planeten heruntersandte. Simon McLaird sah über seine Schulter zurück, wo sich Jee A Maru, Ken Dra sowie die beiden Amazonen Tanya und Kardina über eine kleine Düne schleppten. Ihnen schien es in keinster Weise besser als ihm zu ergehen. Ihre Bewegungen waren lahm, und die Frauen wirkten erschöpft. Mit einer Handbewegung wischte sich Simon den Schweiß von der Stirn, der in schieren Sturzbächen aus allen Poren trat. Er öffnete die Wasserflasche, hob sie an die eingetrockneten Lippen und wartete darauf, dass kühles Nass seine Kehle herunter rann. Doch nicht ein einziger Tropfen verließ die Falsche. Scheiße, dachte er, jetzt ist es soweit. Er wartete, bis die anderen ihn eingeholt hatten und erkundigte sich, wer von ihnen noch im Besitz von Wasser war. Die Antwort war deprimierend. Sie alle waren trocken. »Game over«, murmelte Simon. »Ich glaube, wir können uns diese Mission wohl abschminken.« »Nicht aufgeben«, sagte Jee A Maru. »Ich bin sicher, dass hinter dem nächsten Hügel die Oase liegt. Wir sind schon viel zu lange durch die Wüste gelaufen.« Ihre Lippen waren aufgesprungen und verkrustet, wie die der anderen auch, doch sie versuchte, sich die Strapazen nicht anmerken zu lassen. »Vielleicht haben wir uns verlaufen«, vermutete Ken. »Oder die Karte ist ungenau.« »Weiter!«, drängte Simon plötzlich und ignorierte damit Kens Bemerkung über die Karte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was war, wenn die Karte tatsächlich keinen oder nur
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einen schwachen Wahrheitsgehalt besaß. Er hatte sie einfach drauflos aus dem Gedächtnis gezeichnet. Aber war er jemals wirklich hier gewesen? War sein Erlebnis in der CheopsPyramide vielleicht das bloße Produkt seiner Einbildungskraft gewesen? Er hatte keine schlüssigen Beweise dafür, dass es wahr war. Die anderen stapften mühsam durch den heißen Sand hinter ihm her. Der nächste Hügel, von dem Jee A Maru gesprochen hatte, hatte es wirklich in sich. Es ging steil bergauf und der Sand war relativ locker, so dass sie mehrere Anläufe unternehmen mussten, um ihn endlich zu erklimmen. Einmal knickte Kardina um und rutschte die ganze Strecke bis zum Anfang nach unten. Fluchend schaffte sie es dann aber doch, den Kamm des Hügels zu erreichen. Als sie vollkommen ausgelaugt oben anlangten, glaubte Tanya, eine Ansammlung von Bäumen auf der anderen Seite zu erkennen. »Die Oase!«, stieß die Amazonenprinzessin aus, überwand ihre Erschöpfung und rannte stolpernd los. Die anderen ließen sich nicht zweimal bitten. Sie stürmten hinter Tanja her. Jegliches Gefühl von Müdigkeit schien ihre geschundenen Körper verlassen zu haben. Nun zählte nur noch das Ziel, die Oase zu erreichen. Unversehens fanden sie sich in einem regelrechten Mischwald wieder. Tanya saß bereits im dichten Gras einer kleinen Lichtung und wartete auf die anderen. Als sie sich zu ihr gesellten, sammelte sie die Wasserflaschen der Gruppe ein und machte sich auf die Suche nach einem Bach. Während Simon und Ken Dra lose Äste und Zweige zusammen trugen, legte Kardina eine Feuerstelle frei. »Das dürfte für die Nacht reichen«, meinte Simon, als er den Holzstapel betrachtete, den sie zusammen aufgeschichtet hatten. Alsbald kehrte auch Tanya zurück und berichtete davon, in der Nähe einen Fluss gefunden zu haben. Sie reichte den anderen ihre Wasserflaschen. Simon trank gierig und hätte sich beinahe verschluckt. Er setzte die Flasche ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete die lodernden Flammen, die Kardina mit einem Schuss aus ihrer Laserpistole entfacht hatte. Er sah sich prüfend um. »Der Lichtschein des Feuers wird meilenweit zu sehen sein«, sagte er. »Vielleicht sollten wir Äste um die Feuerstelle stapeln und mit Laub abdecken.« »Ich glaube nicht, dass wir hier in Gefahr sind«, warf Jee A Maru ein. So verwarfen sie die Idee wieder. Simon half Kardina beim Auspacken des großen Rucksacks, den sie vom Schiff mitgenommen hatten. Er enthielt einige Konserven, Seile, Energiezellen für ihre Waffen, Entgiftungstabletten und Vitaminkapseln. Ein weiterer Rucksack verwandelte sich auf Knopfdruck in ein Zelt. Ein Spezialventil sorgte dafür, dass Luft von draußen angesogen wurde und die Kammern innerhalb des Stoffs aufpumpte. Das fertig aufgeblasene Zelt, bot drei Erwachsenen Platz zum Schlafen, dennoch entschied sich jeder der Gruppe, unter freiem Himmel zu übernachten. Dafür verstauten sie ihre Vorräte in dem Unterschlupf und breiteten Thermoschlafsäcke rund um das flackernde Feuer aus. Die Dunkelheit brach ohne Vorwarnung herein. Kurz nachdem die rote Sonne am Horizont verschwunden war, wurde es schlagartig Nacht. Am fernen Himmel glitzerten Millionen von Sternen. Nach dem Essen teilte Jee A Maru die Wachen ein. Zwar glaubte sie noch immer nicht, dass sie in Gefahr waren, ließ sich jedoch von Simon belehren, dass Vorsicht besser wäre, als im Schlaf überrascht zu werden. Simon mummelte sich in den Schlafsack und drehte sich auf die Seite. Er konnte nicht sofort einschlafen, sondern starrte noch eine Zeitlang in die Flammen des lodernden Feuers. Auf der anderen Seite hockte Ken Dra im Schneidersitz – der Schwertträger hatte die erste Wache übernommen. Irgendwann begannen Simons Lider zu flattern. Er schlief ein und schien beinahe übergangslos wieder wach zu werden, als ihn jemand sanft an der Schulter rüttelte.
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Murrend drehte er sich um und blickte verschlafen in Kardinas Gesicht. »Es tut mir leid, Simon«, sagte die junge Amazone. »Aber du bist an der Reihe.« Er lächelte. Als er sich aufrichtete, merkte er, dass seine Nasenspitze eiskalt war. Fröstelnd schälte er sich aus dem Schlafsack und rieb sich die Hände. Es war wirklich kalt geworden. »Am Feuer ist eine Decke, in die du dich einwickeln kannst«, flüsterte Kardina. Simon nickte dankbar. »Ist irgendetwas besonderes passiert?« »Ich habe nichts bemerkt. Außer dem wolfsartigen Ruf eines Tieres. Aber Ken hat mir gesagt, dass er während seiner Wache ein grünes Licht am Himmel gesehen hätte. Es soll irgendwo im Westen heruntergegangen sein.« Simon runzelte die Stirn. Er beobachtete noch, wie sich Kardina schlafen legte und schlenderte dann zum Feuer. Ein paar Dehnungsübungen brachten seinen Kreislauf in Schwung. Er hockte sich neben der Feuerstelle nieder und zog sich die Decke über die Schultern. Anschließend warf er ein paar Scheite in die Flammen, trank einen Schluck Wasser und kratzte den letzten Rest Paste aus einer Dose, die Kardina wohl angefangen und dann stehen gelassen hatte. Nach der kargen Mahlzeit überprüfte er wie beiläufig den Energiestandsanzeiger seiner Laserpistole, auch wenn er ganz genau wusste, dass er die Waffe noch an Bord von Tanyas Jacht neu aufgeladen und seither keinen Schuss abgegeben hatte. In diesem Augenblick erschien am Himmel über der Lichtung ein grünes Leuchten. Es schien aus westlicher Richtung herzukommen und huschte lautlos in das Sternenmeer hinauf. Nach wenigen Augenblicken war es aus Simons Sichtbereich verschwunden. Wieder dieses Leuchten, dachte er. Was immer es sein mochte, Simon fühlte plötzlich, dass sie nicht allein auf DUST waren. Φ Zwei Laserblitze zerplatzten direkt vor der Cockpitkanzel, als Helen die Fähre mit den Antigravaggregaten in die Luft beförderte. Sie zog an den Kontrollen und drehte das Boot mit dem Bug in Richtung Hauptschleuse. Unmittelbar nach dem Auslösen des Alarms waren die ersten Agenten Shadow Commands mit schussbereiten Waffen in die Bucht gestürmt und hatten das Feuer auf den Shuttle eröffnet. Helen wusste nicht, woher der Alarm rührte. Aber ganz gleich, ob man die bewusstlosen Wächter im Zellentrakt gefunden oder sie gesehen hatte, als sie in das Boot stiegen – es blieb ihnen jetzt kaum noch Zeit, darüber nachzudenken. Wenn sie nicht schleunigst fortkamen, war ihre Flucht zum Scheitern verurteilt, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Sealdric saß vor dem Navigationscomputer, doch er konnte erst außerhalb des Schlachtschiffes aktiv werden und beobachtete daher gespannt Helens waghalsiges Flugmanöver. Die Fähre kippte in Schräglage und rauschte durch den Hangar. Hier und dort wurden Kisten und Schweber gerammt, schlitterten beiseite. Menschen warfen sich in Deckung. Von irgendwoher fauchten weitere Laserwaffen auf. Zwei, drei Blitze prallten am gepanzerten Rumpf der Fähre ab. Mit leichten Handfeuerwaffen würden sie nicht aufzuhalten sein, es sei denn ein Laserstrahl verirrte sich in einer Treibstoffleitung. »Was ist mit den Schotten?« Helen hantierte wie wild an den Reglern und sendete einen Überbrückungscode. Sie blickte wie gehetzt durchs Seitenfenster und sah, wie eine Abwehrkanone aktiviert worden war, die normalerweise dazu diente, Entertrupps den Garaus zu machen. Das zweiläufige Geschütz surrte unter der Hangardecke entlang, richtete sich aus und nahm den Shuttle ins Visier. »Verflucht!«, stöhnte Helen und zündete die Triebwerke. »Im Hangar?«, kreischte Sealdric auf. »Bist du wahnsinnig?« Beide wurden in die Sitze gepresst. Der Zwillingsenergiestoß aus dem Geschütz verfehlte
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den Shuttle knapp und riss hinter ihnen die Hangarwand auf. Vor ihnen schob sich mit einem Mal das Schott beiseite. »Du hast es geschafft!« Helen schüttelte den Kopf. »Das war ich gar nicht. Der Code wurde nicht akzeptiert.« Als sich die Schleusetüren weiter öffneten, erkannten sie den Grund dafür. Von draußen rauschte eine andere Fähre vom Stützpunkt Shadow Commands direkt auf sie zu. Helen riss das Steuer herum. Der Shuttle tauchte unter dem anderen Boot hinweg, legte sich komplett auf die Seite und zog dann in einer Kreisbewegung aus dem Hangar hinaus. »Das war knapp!« Sofort brachte Helen die Triebwerke auf Volllast. Die Aggregate schrien kreischend auf, als sich das Boot in den Nachthimmel über der Mojave-Wüste schraubte. Fast senkrecht zog es nach oben. »Den Kurs!«, fauchte Helen. Sealdric versuchte, sich über die Kontrollen zu beugen, doch der Andruckstart war zu mächtig. Die kleinen Shuttles verfügten nur über unzureichende Absorber. Derartige Manöver verlangte man ihnen normalerweise nicht ab. In den äußeren Atmosphäreschichten verringerte Helen das Tempo. Sealdric gab Daten in den Navigationscomputer ein. Seine Finger rasten über die fremdartigen, scardeenischen Symbole. Helen beobachtete aufmerksam die Sensoren und hielt nach etwaigen Verfolgern Ausschau. »Die Berechnung läuft«, sagte Sealdric. Helen aktivierte die Haupttriebwerke, ohne sie zuvor vorzuwärmen, wie es das scardeenische Protokoll vorschrieb. Mit vollen Schub überwand das Boot die Erdanziehung und jagte in den freien Raum hinaus. Sealdric atmete hörbar aus, doch Helen war auf der Hut. Nur eine Sekunde darauf ertönte ein Piepsen im Cockpit. Die Orter zeigten eine Reihe kleiner Punkte, die ihnen von der Erde aus folgten. »Abfangjäger«, keuchte sie. »Die kleben wir Schmeißfliegen an uns dran.« Auch Sealdric wirkte nun besorgt. Sein Blick pendelte zwischen Ortungsschirm und NavCom hin und her. »Die werden uns kriegen ...« »Was ist mit dem Kurs?«, schrie Helen auf. Die Jäger näherten sich unaufhörlich. Der Computer teilte ihnen mit, dass sie in knapp einer Minute in Schussweite waren. Mit Sicherheit würde sich Shadow Command nicht ein weiteres Mal damit begnügen, Gefangene zu machen. »Die Berechnung läuft noch«, sagte Sealdric mit Panik in der Stimme. »Wohin sollen wir ...?« »Raus hier, einfach nur raus!« Helens Stimme überschlug sich fast, während sie mit vor Panik flackerndem Blick auf den Schirm starrte. In diesem Moment fegten drei rote Blitze am Shuttle vorbei. Der Kommunikationskanal rauschte, als die Jäger versuchten, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Als Helen nicht darauf einging, folgte ein vierter Lichtstrahl – diesmal wesentlich dichter. »Verflucht, die schießen bereits!«, jammerte Sealdric. Doch dann lachte er kurz auf: »Ich hab sie!« »Zu spät!«, stieß Helen hervor, als sie auf dem Schirm das Auslösen einer Jägerkanone registrierte. Der Laserblitz raste auf sie zu ... ... im selben Sekundenbruchteil wurde der Hyperraumantrieb aktiviert, und das kleine Boot tauchte unbehelligt ins übergeordnete Kontinuum ein. Unerreichbar für den Laserstrahl, der harmlos im schwarzen Samt des Alls verging.
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Φ Beim Abbrechen des Nachlagers vernahmen die Gefährten einen schrillen, undefinierbaren Laut. Augenblicklich ließen sie alles stehen und liegen und griffen nach ihren Waffen. Jee A Marus und Ken Dras Ruf nach den mysteriösen Schwertern war kaum verhallt, als die beiden Drahusem schon ins Unterholz stürzten, um die Quelle des Schreis ausfindig zu machen. Tanya und Kardina hatten ebenfalls ihre Breitschwerter gezogen und sicherten das Lager, während Simon den beiden Schwertträgern hinterher eilte. Er sprang über einen umgestürzten Baumstamm und hetzte durch das dichter werdende Unterholz des Mischwaldes. Gerade, als er einem Findling ausweichen wollte und einen Schritt zur Seite machte, stolperte er über etwas Weiches und fiel der Länge nach zu Boden. Simon landete direkt zwischen den beiden Schwertträgern und wollte etwas fragen, als ihm Jee eine Hand auf den Mund legte und leicht den Kopf schüttelte. Wieder ertönte der lang gezogene, fast klagende Laut durch die nasskalte Morgenluft. Ken stieß Simon an und deutete mit dem Finger nach vorne. Keine zwanzig Meter von ihrem Standpunkt entfernt flog ein etwa zwei Meter großer Vogel geschickt um die dichten Baumstämme und weit reichenden Äste herum. Das Tier glich entfernt einem irdischen Falken, war nur ungleich größer. Als es den Schnabel öffnete stieß es erneut den schrillen Schrei aus. »Putziges Kerlchen«, kommentierte Simon McLaird und richtete sich halb auf. »Wir werden uns sowieso irgendwann Nahrung beschaffen müssen, warum nicht gleich damit anfangen?« Er hob den Laser. Doch Jee A Marus Hand legte sich auf seinen Unterarm und drückte ihn sanft in Richtung Boden. »Wir warten damit, bis uns die Konserven ausgegangen sind, ja?«, sagte die Schwertträgerin. »Mir reicht aber eure komische Paste«, knurrte Simon. »Ein ordentlicher Leckerbissen wie dieser da, wäre mir lieber.« »Halt dich zurück, Simon«, mischte sich Ken nun ein. »Wir sind nicht hier, um zu töten. Dies ist Dai Urshar. Alles, was hier geschieht ...« Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Plötzlich schrie der Vogel wieder auf, diesmal jedoch lauter, länger, angstvoller ... Die drei wirbelten herum und sahen gerade noch, wie etwas Langes, Klebriges aus dem Unterholz hervorschoss und sich wie eine Liane um den Vogel wickelte und ihn mitten aus der Luft auf den Boden zog. »Nein!«, schrie Jee A Maru auf und sprintete los. Ken Dra lief rechts an Simon vorbei. Dieser näherte sich von der anderen Seite und schob im Laufen den Energieregler der Pistole auf maximale Leistung. Er sah, wie Jee die Stelle erreicht hatte, an der der Vogel zu Boden gerissen wurde. Prüfend suchte sie das Unterholz nach dem Raubtier ab. Da schnappte plötzlich ein zweiter Fangarm hervor, schlang sich um ihr Bein und zog sie in den dichtbewachsenen Farnteppich hinein. Ken Dra fand den zappelnden Vogel, hob das Schwert und ließ die Klinge auf die klebrige Zunge des Räubers niederfahren. Der Stahl schnitt durch weiches Fleisch und trennte den Fangarm vom Rumpf des Räubers ab. Eine dritte Zunge schoss in die Höhe, doch ehe sie Ken Dra erreichte, jagte ein roter Blitz durch sie hindurch, ließ sie förmlich in der Luft zerplatzen. Der Schwertträger blickte dankbar in Simons Richtung, der mit rauchender Blastermündung etwa zehn Meter von ihm entfernt auf einen sauberen Schuss gewartet hatte. Ken Dra durchkämmte mit dem Schwert das Unterholz, schlug Farne und Gestrüpp beiseite. Er fand eine wabernde Masse, die eine Schleimspur hinter sich her zog. Dann sah er Jee. Mit einer blitzschnellen Bewegung trennte er auch die nächste Zunge des
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unheimlichen Schleimwesens ab. Ein Fauchen ertönte. Jee schrie. Nun war auch Simon zur Stelle. Zuerst wollte er mit einem Schuss nachsetzen, wagte es dann aber doch nicht aus Sorge die Schwertträgerin versehentlich zu treffen. Er steckte den Laser weg, bückte sich und packte den klebrigen Fangarm mit beiden Händen. Mit aller Kraft zog und zerrte er daran. Ken Dra half ihm, und gemeinsam schafften sie es, Jee A Maru aus dem Unterholz zu ziehen. Mit einem schmatzenden Geräusch löste sich die Frau aus einem Loch im Boden, in dem das Schleimwesen wohl seine Beute versteckte. Die Drei fielen von dem Ruck, mit dem sie zogen, zu Boden und landeten direkt auf der merkwürdigen Kreatur, die jedoch ohne die abgetrennten Fangarme wie hilflos dalag. Jee A Maru war über und über mit Schleim bedeckt. Ken Dra bemühte erneut seine Klinge und schnitt den letzten Fangarm, der noch immer die Frau umklammerte in feine Segmente. Als sie endlich frei war, schulterte er ihren Körper und brachte sie mit schnellen Sätzen aus dem Gefahrenbereich. Simon McLaird hatte sich zur Seite gerollt, kam auf die Füße und legte mit dem Laser auf die Schleimbestie an. Drei Schüsse gaben dem Räuber den Rest. Während Ken Dra Jee A Maru ins Gras gebettet hatte und ihr Gesicht säuberte, sah Simon nach dem Vogel. Er fand ihn noch an derselben Stelle, an der er abgestürzt war, musste jedoch feststellen, dass er bereits tot war. So kehrte er zu den beiden Schwertträgern zurück und half Ken, Jee A Maru wieder auf die Beine zu bringen. Simon hatte die junge Schwertträgerin bisher als starke Frau kennen gelernt, die nichts so leicht umhauen konnte, doch das Grauen der Schleimbestie schien selbst ihr mächtig zugesetzt zu haben. Ihr Puls raste, ihr Atem ging stoßweise. Die Augen hatte sie krampfhaft geschlossen. Ken Dra trug die Frau auf seinen Armen zum Flussbett und watete mit ihr ins kühle Wasser. Er wusch ihr den letzten Schleim aus dem Gesicht und vom Körper und sprach beruhigend auf sie ein. Allmählich kam sie wieder zu sich. Der Pulsschlag verlangsamte, ihr Atem wurde ruhiger. Dann begann sie leise vor sich hinzuschluchzen. »Es ... war ... die ... Hölle«, sagte sie. »Es ist vorbei, Jee, es ist vorbei«, flüsterte Ken Dra und drückte sie an sich. Simon hatte am Ufer gewartet und sah sich nach allen Richtungen sichernd um. Das Gefühl, beobachtet zu werden und nicht alleine zu sein, wurde unerträglich. »Soviel dazu, dass euer Dai Urshar frei von Gefahren für uns ist«, sagte er. Φ Die Evakuierung war im vollen Gange. Sherilyn Stone hatte gedacht, dass sie alles sauber über die Bühne bringen würden. Als sie die ersten Hiobsbotschaften erreichten, verlor sie jegliche Hoffnung daran. Nicht nur, dass Helen Dryer und Sealdric die Flucht geglückt war. Nun bekam sie auch eine Meldung aus einer Lazarettstation der FREEDOM. Paul Gossett befand sich nicht mehr im Patientenbereich! Offenbar war der Agent, der im Kampf um das scardeenische Schlachtschiff verwundet worden war, im allgemeinen Chaos der Evakuierung und dem Alarm bei Dryers Flucht ausgebüchst. Da die Stationsschwester vor fünf Stunden das letzte Mal nachgesehen hatte, konnte er längst über alle Berge sein. Sherilyn überlegte, ob es den Aufwand lohnte, nach Gossett zu suchen, entschied sich dann aber dagegen. Selbst wenn er die Behörden alarmierte oder Kontakt zu seinen alten Brötchengebern, der CIA, aufnahm, würde er nichts mehr beweisen können. Bis dahin war die Shadow Command Basis längst an Bord der FREEDOM evakuiert und irgendwo im tiefen Raum, unerreichbar für die CIA oder jedwede andere militärische oder geheimdienstliche Organisation der Erde.
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Diese Basis, korrigierte sich Sherilyn Stone in Gedanken. Wie sie mittlerweile von dem neuen General wusste, war die Einrichtung in der Mojave-Wüste anscheinend nur eine von vielen, die quer über den Globus verstreut waren. Sherilyn ließ Gossett laufen. Es gab Wichtigeres zu tun. Sie kehrte ein letztes Mal in das Büro ihres toten Vorgesetzten zurück. Dem Raum haftete etwas Beklemmendes an. Sie war froh, dass sie sich erst gar nicht hier niedergelassen hatte. Hier hatte er residiert, Entscheidungen über Leben und Tod getroffen ... Jetzt war er selbst tot. Aber er war nicht der Einzige gewesen. Wer waren die Hintermänner? Wer befehligte letztendlich Shadow Command? Wer finanzierte es? Die Fragen nagten an ihr. Sie arbeitete ungern für jemanden, den sie nicht kannte. Zuerst hatte alles so einfach ausgesehen. Sie war bei der U.S. Air Force direkt abgeworben worden. Ein lukrativer Posten bei guter Bezahlung und dem Versprechen nach dem Leitfaden »Suche das Abenteuer, oder das Abenteuer wird dich finden«. Als sie erst einmal dazu gehörte und von den Außerirdischen erfuhr, waren sämtliche bis dahin noch vorhandenen Bedenken über Bord geworfen worden. Aber wo stand sie jetzt? Sie wusste weniger über Shadow Command als vorher. Nur neue Rätsel hatten sich seit dem Tod des Generals aufgetan. Mach dich nicht verrückt, redete sich Sherilyn ein. Wir werden unseren eigenen Weg gehen. Mit der FREEDOM brauchen wir Shadow Command nicht mehr. Instinktiv wusste sie, dass sie sich irrte. Doch sie gestand es sich nicht ein. Sherilyn schob die Gedanken beiseite und machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. Oder vielmehr die Dinge, die zuvor noch ihrem Vorgesetzten gehörten. Ohne Scheu durchsuchte sie die Schubladen des Generals und leerte ihre Inhalte in einen großen Aktenkoffer. Wenn es außer dem Safe noch irgendwelche Geheimfächer gab, so fand sie sie nicht. Zum Schluss begab sie sich zum Wandtresor und räumte auch ihn leer. Sie hatte den Koffer schon fast zugeklappt, als sie nochmals zum Schreibtisch zurückkehrte, sich in den Sessel fallen ließ und die Dokumente aus dem Tresor begutachtete. Die zahlreichen CD-ROMs und Compact-Flash-Karten würde sie zu gegebener Zeit genauer in Augenschein nehmen. Ihre Aufmerksamkeit galt vornehmlich den Unterlagen auf Papier. Sie fand eine weitere Personalakte, allerdings in einer anderen Farbe gekennzeichnet, als jene, die ihr zugespielt worden war. Eileen Hannigan stand auf dem Deckblatt. Sherilyn schlug die erste Seite um. Ein Datenblatt mit Angaben zur Person sowie einem Foto folgte. Demnach stand die Agentin im Rang eines Lieutenants, war gerade erst einmal fünfundzwanzig und trug eine rothaarige Pagenfrisur. Sherilyn blätterte weiter. Der militärische Werdegang wurde aufgelistet. Hannigan hatte nach der High School das College geworfen und war in die Army eingetreten. Sie arbeitete sich rasch hoch, absolvierte die Offizierslaufbahn und nahm an einem militärisch-wissenschaftlichen Experiment namens Misty Hazard teil. Je weiter sich Sherilyn in die Lektüre vertiefte, desto beeindruckter wurde sie ... aber auch ängstlicher. Der Akte waren eine Reihe von Ausweisen beigefügt, die alle das Konterfei Hannigans zeigten, jedoch auf verschiedene Namen ausgestellt waren. Sherilyn pfiff anerkennend durch die Zähne, als sie die Ausweise und ID-Cards näher in Augenschein nahm: CIA, FBI, NSA, Secret Service, Rangers, U.S. Army ... die Palette deckte jede Regierungsinstitution ab, die die Vereinigten Staaten jemals hervor gebracht hatte. Daneben gab es noch internationale Ausweise von europäischen Polizeidienststellen und Geheimdiensten. »Eileen Hannigan«, sinnierte Sherilyn kopfschüttelnd. »Geheimagentin im Auftrag ... ja, von wem nur?« Sie blätterte zurück. Aus der Akte ergab sich, dass Hannigan tatsächlich eine
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Prioritätsmission zu erfüllen hatte. Der Sinn und Zweck war Sherilyn jedoch nicht ganz klar. Und offensichtlich war Hannigan noch nicht aktiviert worden, sondern schob bisher ihren normalen Dienst innerhalb der Organisation. Sherilyn wusste nicht, wie lange sie wirklich auf das Datenblatt der anderen Agentin gestarrt hatte. Als sie den Aktendeckel jedoch zuschlug, hatte sie einen Plan gefasst, der den Drahtziehern von Shadow Command alles andere als gefallen würde. Φ Nachdem Simon zusammen mit Ken und Jee zum Lager zurückgekehrt waren, ließen Tanya und Kardina die Luft aus dem aufblasbaren Zelt und schütten die Feuerstelle mit feuchter Erde zu. Ken berichtete den beiden Amazonen von dem Überfall der Schleimbestie. Sie schlugen vor, mit dem Aufbruch noch ein wenig zu warten, bis Jee A Maru sich einigermaßen gefangen hatte. Doch die Schwertträgerin drängte selbst zum Weitermarsch. Sie füllten ihre Wasserflaschen am nahen Flussbett, schulterten die gepackten Rucksäcke und machten sich auf den Weg nach Westen. Sie marschierten quer durch den Wald. Ein Scanner aus Tanyas Jacht mit den Daten über das planetare Magnetfeld und die Sonnenbewegungen wies ihnen den richtigen Weg. Die Gefahr, sich zu verlaufen, bestand nicht. »Meinst du, das grüne Leuchten heute Nacht hatte etwas mit dem Vogel zu tun?«, fragte Simon Ken Dra. »Kaum«, sagte dieser. »Es muss etwas ganz anderes gewesen sein. Aber wenn ich es mir recht überlege, möchte ich gar nicht wissen was es war.« Die kleine Gruppe bahnte sich ihren Weg durchs Unterholz und erreichte nach einer guten Stunde eine Art Trampelpfad, der mitten durch den Mischwald zu führen schien. »Es muss hier noch jemand anderen außer uns geben«, sagte Tanya, während sie sich in die Hocke niedergelassen hatte und den Weg betrachtete. »So ein Pfad entsteht nicht von allein, und von Tieren stammt er auch nicht.« Simon McLaird nickte zustimmend. Er hatte schon während seiner außerkörperlichen Erfahrung in der Cheopspyramide die Wege und Straßen von DUST gesehen. Die Pyramide, das geheimnisvolle Energiefeld, das eine Landung nur an einer bestimmten Stelle ermöglichte sowie die große Querstraße – all das wies darauf hin, dass es hier intelligentes Leben gab. Der Planet musste einfach bewohnt sein. Sie gingen weiter nach Westen. Irgendwann gegen Abend, als die rote Sonne tief am Horizont stand und noch schwach zwischen den Bäumen leuchtete, erreichten sie das Ende der Oase von Larusem. Der Pfad führte weiter in die Wüste hinein, bis er schließlich in eine breite Straße mündete. »Die große Querstraße«, sagte Simon. »Wir sollten allerdings am Waldrand ein Lager aufschlagen.« Die anderen stimmten ihm zu. Jeden Moment würde die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden sein. Da die Nacht auf DUST schlagartig hereinbrach würde es sofort dunkel werden. In der Nähe rauschte der Ausläufer eines kleinen Baches, der parallel zum Pfad verlaufen war. Sie würden am Morgen noch einmal die Gelegenheit haben, ihre Feldflaschen aufzufüllen, ehe sie den langen Marsch durch die Wüste antreten mussten. Sie teilten sich die Arbeit ein. Diesmal richtete Ken Dra die Feuerstelle her, während Jee und Tanya das Zelt aufbauten und Simon mit Kardina zum Holzsammeln im Dickicht der Bäume verschwand. Sie suchten eine Weile, fanden jedoch hauptsächlich nur feuchte Äste und Zweige und drangen tiefer in den Wald hinein. Schweigend, knapp fünf Schritt voneinander entfernt, klaubten sie das Brennholz auf. Mehr als einmal blickte Simon zurück und versuchte zwischen den Bäumen den Waldrand auszumachen. Dahinter lag nur ... Wüstenstaub.
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Unwillkürlich kam ihm ein Lied in den Sinn, das den sinnigen Titel Dust trug. Simon summte die Melodie vor sich hin und rief sich den Text in Erinnerung: The door slams, dust falls down between the cracks Some ran, some promised they'd be back Saigon all gone ashes to dust A solo dance, a solo dance And when we leave, we leave our dust We slap our clothes, we shake it off Cambodia, Laos, Vietnam Out of the dust reach tiny hands To touch their fathers in other lands. Kardina kam mit einem auf den Armen aufgeschichteten Holzstapel zu Simon herüber. Als sie direkt vor ihm stand, musterte sie ihn aus großen, verträumten Augen. Simon sah sie an und hielt mit dem Summen inne. Doch der Text und das Lied gingen in seinem Kopf unablässig weiter. Gott, wie schön sie ist, dachte er und starrte Kardina intensiv an. Sein Blick schien Aufforderung genug zu sein. Die Amazone ließ ihr gesammeltes Holz fallen und schlang ihre Arme um Simons Hals. Ihre Lippen berührten die seinen. Sie küsste ihn leidenschaftlich und mit einer Gier, die er nie zuvor bei einer Frau erlebt hatte. Die Zeit schien still zu stehen. Simon erwiderte den Kuss, drückte Kardina fest an sich. Aus der anfänglichen Glut entfachten sie ein loderndes Feuer, das ihre Herzen und Gefühle verzehrte. Love is locked in these lost eyes Love is lost in these cold eyes And in these wounds too raw to touch Lie ashes ashes, dust to dust »Ich konnte nicht anders, Simon«, hauchte Kardina, als sie sich kurz voneinander lösten. Sie blickte ihn flehend an, schmiegte sich dann wieder an ihn. »Ich weiß«, gab er leise zurück. »Ich ... brauche dich«, sagte die Amazone fast wimmernd. Simon schüttelte den Kopf, auch wenn sie die Geste nicht sehen konnte. Dann meinte er: »Du brauchst jemanden, nicht mich. Deine Gefühle für einen Mann waren all die Jahre in deinem Körper gefangen. Nun sehnst du dich danach, sie herauszulassen, ihnen nachzugeben ...« Kardina ließ sich auf den moosigen Boden fallen und zog Simon einfach mit sich hinunter. Wieder küssten sie sich – heftiger und länger als vorher. Ihr Verlangen wurde stärker, und auch Simon merkte, wie sich etwas in ihm regte. Er konnte sich nicht länger zurückhalten, sondern ließ es einfach geschehen. Ob moralisch verwerflich oder nicht ... Kardina hatte ein Feuer in ihm entfacht, das sich nur noch auf eine Art und Weise löschen ließ. Sie liebten sich unter dem Nachthimmel des fremden Planeten ... We are free We are not alone Listen to our sound Take these hands of flesh and bone Reaching out for love
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Später am Abend saß Kardina vor dem Lagerfeuer und rieb sich die Hände über den flackernden Flammen. Verträumt starrte sie in die sternklare Nacht hinaus und wartete auf die Wachablösung. In wenigen Minuten würde sie Tanya wecken und sich endlich selbst zur Ruhe legen. Nach dem leidenschaftlichen Liebesakt mit Simon war sie erschöpft gewesen. Er hatte angeboten, ihre Wache zu übernehmen, doch sie hatte dankend abgelehnt. »Psst«, machte jemand. Kardina schwang herum, die Hand auf dem Griff ihres Schwertes. Doch sie entspannte sich wieder, als sie Tanya in den Schatten gewahrte. »Musst du mich so erschrecken?« »Entschuldige«, sagte die Amazonenprinzessin und hockte sich neben Kardina ans Feuer. »Du bist schon wach? Du hättest noch eine Viertelstunde gehabt.« »Ich weiß«, seufzte Tanya. »Aber ich war schon wach und dachte mir, wir könnten noch ein wenig reden.« »Worüber?« Ein Lächeln huschte über Tanyas Lippen. »Über das, was vorhin mit Simon vorgefallen ist.« Kardina errötete und zuckte sichtlich zusammen. »Du weißt ...?« »Als ihr vom Holzsammeln wieder gekommen seid, warst du irgendwie ... verändert. Ich konnte das spüren und fühle es auch jetzt noch.« Kardina schaute bedrückt zu Boden. »Ich hätte es nicht geschehen lassen dürfen.« Tanya legte eine Hand um ihre Schulter. »Wären wir jetzt noch auf Mazoni, würde ich dir bedenkenlos zustimmen. Aber die Regeln, die das Scardeenische Reich für uns aufgestellt hat, gelten schon lange nicht mehr. Wir sollten stets unsere Gefühle unterdrücken, damit wir unsere Aufträge fehlerfrei und ohne Skrupel ausführen konnten. Aber diese Zeiten sind vorbei.« »Sicher?« »Ganz bestimmt«, nickte Tanya. »Und jetzt geh schlafen.« Kardina nickte. Sie erhob sich und schlich zu ihrem Schlafsack hinüber. Kurz verharrte sie neben dem schnarchenden Simon und spielte kurz mit dem Gedanken, zu ihm unter die Decke zu schlüpfen. Sie entschied sich anders und mummte sich in ihren eigenen Schlafsack ein. Φ Am nächsten Morgen sprachen Simon und Kardina kein Wort miteinander. Beide wussten, dass das, was sie getan hatten, sie zu nichts verpflichtete. Es schien, als hätten sie stillschweigend die Übereinkunft getroffen, sich aus dem Weg zu gehen. Die Gruppe war dem Pfad aus dem Wald heraus gefolgt und erreichte nach kurzer Zeit die große Querstraße, die direkt bis zur Silberpyramide führen sollte – wenn Simon Recht hatte. Sie schlugen den Weg Richtung Westen ein und bereiteten sich innerlich auf den langen Marsch bis zur nächsten Oase vor. Aus unerfindlichen Gründen ließ die Morgenhitze nach, als sie die ersten Schritte auf der Straße gingen. Auch nach einer guten Stunde Fußmarsch, war kein nennenswerter Temperaturanstieg zu verzeichnen. Die Luft war nicht so trocken, wie am Vortag. Simon kam nicht umhin, ein wenig zu experimentieren. Während einer Rast entfernte er sich von den anderen, verließ die Straße und stakste ein paar Schritte in den Wüstensand hinaus. Er wurde von der sengenden Hitze fast erschlagen. Die wenigen Meter trieben ihm den Schweiß aus den Poren. Ächzend kehrte er zu den anderen zurück. »Phänomenal«, war alles, was er hervor brachte. »Eine gewaltige Klimaanlage für die Straße?«, fragte Ken Dra und blickte sich suchen um. Was immer die Straße vor der Hitze schützte, blieb vorerst ein Rätsel. »Auf jeden Fall«, schloss Simon, »werden wir dadurch wieder in eine bestimmte Richtung gelenkt. Wir können ja nur auf dieser Straße zur Pyramide gelangen. Das haben die Erbauer
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geschickt eingefädelt. Erst zwingen sie uns zur Landung weit außerhalb des Zielortes, dann müssen wir ihrem Weg folgen.« Als sie nach McLairds Berechnungen etwa ein Drittel des Weges zur nächsten Oase geschafft hatten, brach die Nacht herein. Sie schlugen ihr Lager mitten auf der Straße auf. Jee A Maru übernahm die erste Wache, wickelte sich sitzend in ihren Schlafsack ein und warf sich danach noch die Wolldecke über die Schultern. Mangels Brennholz verzichteten sie diesmal auf ein Feuer, das ohnehin auf der freien Straße meilenweit zu sehen gewesen wäre. »Das wird eine ziemlich kalte Nacht werden«, sagte Simon. »Es sei denn die Erbauer der Klimaanlage haben auch an eine Heizung gedacht.« »Wir haben eine Alternative«, meinte Ken und deutete auf eine Reihe von Findlingen am Straßenrand. »Stapeln wir einige von den Brocken rund ums Lager auf und erhitzen sie von Zeit zu Zeit mit unseren Lasern. Das dürfte genügend Wärme für die Nacht spenden.« »Ken, du bist genial«, grinste Simon. »Aber warum ist Jee nicht auf die Idee gekommen? Ihr hätte ich um den Hals fallen und sie für den Einfall knutschen können.« »Tu dir keinen Zwang an«, gab Ken Dra lachend zurück. »Lieber nicht.« Da Simon als einziger eine Laserpistole trug, überließ er sie dem jeweiligen Wachtposten. Während Jee A Maru bereits die ersten Steine erhitzte, legten sich die anderen schlafen. Die Wärme erreichte die Gefährten in ihren Schlafsäcken und sorgte für eine angenehme Nacht. Am darauf folgenden Morgen war das Energiemagazin der Laserpistole erschöpft. Simon kramte im Rucksack nach einem frischen Akkupack und schob es in den Griff der Waffe. Die Energieanzeige stieg auf Maximum. Zufrieden steckte Simon den Laser ins Holster. Nach dem Verzehr ihrer restlichen Konserven brachen sie auf. Jee hatte sich vorgenommen, bis zum Abend die nächste Oase zu erreichen, damit sie ihre Wasservorräte auffrischen konnten. Noch waren ihre Falschen halb voll, aber selbst bei angenehmen Temperaturen kostete der Tagesmarsch genügend Energie und Körperflüssigkeit. »Schade, dass man uns keine Reittiere geschickt hat«, murmelte Simon und ließ die Schultern schlaff hängen. Ken packte ihn am Arm und zog ihn zu sich heran. Sie ließen sich ein wenig zurück fallen. »Ich habe heute Nacht während meiner Wache wieder dieses grüne Licht gesehen«, sagte er leise, um die Frauen nicht zu beunruhigen. »Es kam direkt aus dem All, fiel wie ein Stein vom Himmel herab und raste dann nach Westen weiter. Dort muss es gelandet sein.« Simon McLaird runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob es mich wirklich beunruhigt. Noch wissen wir zu wenig darüber. Lass uns abwarten. Früher oder später erfahren wir, was es damit auf sich hat.« Wie Jee es geplant hatte, erreichten sie am frühen Abend die ersten Ausläufer der Oase. Genau wie in der ersten, herrschte auch hier ein Mischwald vor. Erschöpft ließ sich die Gruppe direkt bei den ersten Bäumen nieder. Sie verzichteten diesmal darauf, das Zelt aufzubauen und mummelten sich in ihre Schlafsäcke. »Hoffentlich finden wir morgen was Essbares«, murrte Simon, während er sich ans Feuer hockte, um die erste Wache zu halten. »Mir knurrt der Magen.« »Überlass das morgen Kardina und mir«, sagte Tanya schon halb schlafend. Alsbald beruhigten sich die Atemzüge der anderen. Nur Simon saß mit schweren Lidern da und mühte sich, wach zu bleiben, was nach dem Gewaltmarsch des Tages nicht gerade einfach war. Zwei Stunden, dachte er. Du musst nur zwei Stunden wach bleiben ... Es wurden die längsten zwei Stunden seines Lebens. Hin und wieder warf er kleine Holzscheite in die Flammen. Im Westen stieg irgendwann das schon gesichtete grüne Licht auf und schoss in den sternenübersäten Nachthimmel empor. Simon verfolgte den hellen Schein, bis er irgendwo zwischen den Lichtern im All verschwunden war.
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Die Gruppe ritt auf weißen Pferden die große, schier endlose Querstraße entlang. Irgendwo vor ihnen lag die Silberpyramide, doch der Weg dorthin schien nahezu unbezwingbar. Wo sie nur hinkamen, lauerten Gefahren – Gefahren, schlimmer gar als der Tod. Simon trieb sein Pferd an und ritt an Ken Dra vorbei. Er sog den frischen Wind ein, der peitschenartig in sein Gesicht schlug und ihm heulend um die Ohren pfiff. In dem lang gezogenen Geräusch lag eine unfassbare Bedrohung, die Simon die Kehle zuschnürte. Ein Wolf stieß einen Schrei aus, der unheimlich in der Nacht widerhallte. Die Gruppe jagte ihre Reittiere über eine Brücke hinweg. Schneller! Ein mystischer, nicht greifbarer Hauch lag in der Luft. Simon blickte sich nach hinten um, doch seine Freunde waren verschwunden. Einfach fort. Aus Angst hielt er nicht an, sondern gab seinem Pferd die Sporen, trieb es über den feuchten, rutschigen Boden dahin. Der Schimmel stolperte und brach sich einen Knöchel. Mit einem Ruck wurde Simon kopfüber aus dem Sattel geworfen. Er schlug hart auf dem Boden auf, rollte sich über den Rücken ab und kam in einer fließenden Bewegung wieder auf die Beine. Er musste fliehen! Sein Blick war starr in die Leere des flackernden Feuers gerichtet. Nur langsam wurde er sich bewusst, dass er vor sich hinträumte und Gefahr lief, einzuschlafen. Simon gab sich einen Ruck, doch es war schwer, sich von dem geistigen Bild, das er selbst heraufbeschworen hatte, zu trennen. Schließlich gelang es ihm. Er blickte zum Sternenhimmel hinauf ... Und erschrak! Das grüne Leuchten kam zurück und raste in Form einer gewaltigen Kugel direkt auf das Lager zu. Simon riss die Augen auf und starrte das Licht wie gebannt an. Seine Hand wanderte zum Holster, zog die Laserpistole. »Alarm!«, kam es endlich über seine Lippen. Genau in der Sekunde jagte das Leuchten mit einem ohrenbetäubenden Hämmern über das kleine Lager hinweg. Simon ließ sich fallen, rollte auf den Rücken und zog den Abzug der Waffe durch. Gleich ein halbes Dutzend Lichtblitze zuckte in den Himmel hinauf, die das fremde Objekt aber mühelos durchdrangen, ohne es zu stoppen. »Mossar!« Die Stimmen der beiden Schwertträger klangen nahezu synchron auf. Kurz darauf war das Schleifen vom Metall der Amazonenklingen zu vernehmen, die ebenfalls ihre Waffen gezogen hatten. In diesem Moment fegte das grüne Licht ein weiteres Mal auf das Lager zu und hüllte ohne Vorwarnung die Gefährten in einen strahlenden, flimmernden Glanz ein. Simons Denken setzte aus. Er spürte innere Ruhe ... Zufriedenheit. Sein Geist schien auf einem endlosen Ozean purer Energie zu treiben. Ein schwereloses Gefühl erfasste ihn, und er glaubte beinahe, wie vor einigen Wochen in der Cheops-Pyramide, aus seinem Körper gerissen und in die Weiten des Universums geschleudert zu werden. Doch dann war es schlagartig vorbei. Der Spuk verschwand so schnell, wie er gekommen war. Das Licht verblasste einfach, als wäre es nie da gewesen. Simon konnte wieder klar sehen und spürte das Gewicht seines Körpers. Er blickte sich zu den anderen um. Alles schien beim alten zu sein – bis auf die Tatsache, dass niemand mehr von ihnen eine Waffe trug! »Was immer es war, es mochte wohl unsere Waffen nicht«, murmelte Simon und starrte auf seine leere Hand. Selbst die Klingen der Schwertträger waren verschwunden. »Was immer es war, es hat uns nicht getötet«, fügte Jee A Maru hinzu. »Was nicht ist, kann noch kommen«, sagte Simon. »Ein wenig mehr Optimismus wäre wohl angesagt«, meinte Ken Dra. »Jee hat Recht. Man wollte uns nur entwaffnen, nicht verletzten. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen.« Simon machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Na
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toll, ihr vergesst wohl Schleimi aus dem Wald, oder? Und wo befinden wir uns? Wald, richtig. Die nächste Begegnung mit so einem Vieh wird auf jeden Fall anders verlaufen, als wir uns wünschen.« Jee A Marus Miene verfinsterte sich. Sie schien nicht sauer auf Simon zu sein. Ihre Gedanken schweiften zurück an das Erlebte. Sie schüttelte sich angewidert. »Den Kommentar hättest du dir auch verkneifen können«, raunte Ken Dra Simon zu. »Ich wollte euch lediglich daran erinnern, dass es vielleicht keine so gute Idee ist, hier waffenlos herumzutapsen!« Eine Weile standen sie schweigend da und warteten darauf, dass irgendwer eine Entscheidung traf. Zu Simon McLairds Überraschung fasste sich Jee als Erste. »Wir brechen sofort auf und versuchen in der Nacht die Oase zu durchqueren.« »Das schaffen wir nie«, warf Simon ein. »Außerdem sollten wir ausgeruht sein, wenn wir das Ende des Waldes erreichen. Die Querstraße zieht sich noch lang hin. Und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, liegt zwischen dieser Oase und der nächsten ein riesiger Salzsee. Da werden wir Probleme bekommen, unsere Wasservorräte aufzufrischen.« »Wir gehen«, entschloss sich Jee A Maru, Simons Einwände ignorierend. Φ Herzklopfen und ein mulmiges Gefühl im Magen hatten sich in Sherilyn Stone ausgebreitet. Sie wusste, dass ihr Vorhaben moralisch bedenklich war, aber jegliche Moral sollte sie eigentlich beim Beitritt von Shadow Command über Bord geworfen haben. Natürlich wusste sie, dass sie das nicht getan hatte. Sonst wäre der General noch am Leben und die Massentötung der fünftausend Scardeener spurlos an ihr vorüber gegangen. Nein! Es berührte sie, was um sie herum geschah. Ohne Zweifel erfüllte sie ihren Auftrag zum Wohl der Organisation und war bereit dafür auch zum Äußersten zu gehen – aber grundlos Unschuldige abzuschlachten, zählte gewiss nicht dazu. Und jetzt war sie dabei, Shadow Commands Waffen gegen die Organisation einzusetzen. Der Türsummer brummte. Sherilyn blickte auf ihre Armbanduhr. Sie ist pünktlich, dachte sie. »Herein!« Der Stimminterpreter erkannte das englische Wort, das über den Translatorring, den mittlerweile alle Shadow-Agenten trugen, ins Scardeenische übertragen wurde. Leise surrend öffnete sich die Tür zum Arbeitszimmer des Kommandanten an Bord der FREEDOM. Sherilyn Stone war im ersten Augenblick überrascht, als sie die andere Frau auf der Schwelle sah. Fast hätte sie sie nicht wieder erkannt. Sie wirkte im Hinblick auf das Aktenfoto verändert, wobei der Major nicht sofort zu sagen vermochte, worin diese Veränderung bestand. Lieutenant Eileen Hannigan salutierte noch im Türrahmen und wartete auf Stones Aufforderung, das Büro zu betreten. Sherilyn winkte sie hinein und bot ihr den Platz auf der anderen Seite des Arbeitstisches an. »Sie wissen, wer ich bin?«, fragte sie dann. Ein Lächeln huschte über Eileens Lippen. Es hatte etwas Jugendliches an sich. Dennoch zeichneten sich kleine Lachfalten um ihre Augenpartien ab. Nun wusste Sherilyn auch, was sich gegenüber dem Bild in der Akte an ihr verändert hatte. Sie schien älter geworden zu sein. Reifer. Was ihrer Attraktivität allerdings keinen Abbruch tat. »Jeder an Bord des Schiffes kennt Sie, Major«, sagte Eileen Hannigan. »Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?«, hakte Sherilyn nach. »Nicht wirklich, Ma'am. Stützpunktreserve Baton Rouge. Das war vor vier Jahren.« Sherilyn hob die Brauen hoch. Dann nickte sie.
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»Ja, ich erinnere mich ... ich hatte für vier Wochen das Kommando über einen ungepflegten Haufen Reservisten. Aber Sie gehörten nicht zu denen, Lieutenant.« Eileen Hannigan lachte auf. »Nein, wir dürften uns nur einen oder zwei Tage lang über den Weg gelaufen sein. Ich war auf der Durchreise nach Fort Bragg.« Sherilyn lehnte sich im Schalensitz zurück und musterte die andere Frau eingehend. Dann fischte sie die Personalakte vom Tisch, schlug die erste Seite auf und schürzte die Lippen. Hannigan sagte nichts, wartete seelenruhig ab. »Sie haben eine bewegte Karriere bei der U.S. Army hinter sich.« »Das kommt auf den Standpunkt an«, sagte Eileen tonlos. »Nach der Grundausbildung wurden Sie einer Seals-Einheit als Sanitäterin zugeteilt, erwarben den Pilotenschein und flogen Einsätze im Irak. Ausbildung bei den Marines, Auszeichnung mit dem Navy Cross ... das vermisse ich ja nur noch das Purple Heart.« Wieder ein Lächeln. »Das kommt noch.« »Und nicht zuletzt die Teilnahme an einem Geheimexperiment namens Misty Hazard ...« Die Regung war nur minimal. Dennoch nahm Sherilyn sie aus den Augenwinkeln wahr und schaute sofort auf. Für einen Moment war der Schrecken deutlich in Hannigans Augen zu lesen, doch von einer Sekunde auf die andere, hatte sich die junge Frau wieder im Griff und mimte das stets gut gelaunte Mädchen aus der Nachbarschaft. Misty Hazard, dachte Sherilyn. Aus der Akte ging nicht hervor, welcher Art das Experiment gewesen war. Wenn sie nachfragte, machte sie sich als Kommandantin der Shadow Command Einheit unglaubwürdig. Also musste sie durch geschicktes Taktieren an Informationen gelangen. Was immer sich hinter Misty Hazard verbarg, Lieutenant Hannigan schien eine panische Angst davor zu haben. »Nun denn«, sagte Sherilyn und legte die Akte zurück auf den Tisch. »Sie wissen, dass unser ehemaliger Stützpunktkommandant tot ist?« Eileen nickte nur. »Die Interessen unserer Organisation müssen gewahrt bleiben«, fuhr Sherilyn fort. Habe ich das wirklich gerade gesagt? Gott, ich höre mich schon an wie der General. »Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen, Ma'am«, sagte Eileen Hannigan, als Stone kurz innehielt. »Ich bin sicher, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben.« »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Mission«, bat Sherilyn dann. Der Mimik Hannigans sprach Bände. Offensichtlich wusste sie nicht, worauf die Bitte abzielte. Sherilyn glaubte schon, einen Fehler begangen zu haben. »Major?« »Sie sind nicht ganz ... freiwillig hier, Lieutenant«, sagte ihr Sherilyn auf den Kopf zu. »Momentan mögen Sie als Pilotin im Stützpunkt und auf diesem Schiff arbeiten, aber der eigentliche Grund Ihres Hierseins basiert auf einer Spezialmission, die ...« »... mich als Teilnehmerin von Misty Hazard optimal qualifiziert«, unterbrach Eileen Hannigan und senkte bedrückt den Kopf. Ein tiefer Seufzer folgte. Als die junge Frau wieder aufsah, schimmerten ihre Augen leicht feucht. Offenbar hatte Sherilyn eine Saite in ihr zum Schwingen gebracht, die sie lieber in den tiefsten Winkeln ihrer Seele vergraben hätte. »Ja«, sagte Sherilyn einfach, ohne wirklich zu wissen, wovon sie sprach. »Ich benötige von Ihnen den aktuellen Status Ihrer Mission, um weitere Schritte zu planen.« Hannigan runzelte die Stirn. »Ich ...«, begann sie, dann zeichnete sich Erkennen auf ihrem Gesicht ab. »Ich verstehe. Sie hatten keine Gelegenheit mehr, mit dem General zu sprechen.« »Leider nicht.« »Ich kenne die Mission nicht«, sagte Eileen Hannigan. Gut, dachte Sherilyn. Ganz wie aus der Akte hervorging, war die Spezialagentin noch nicht aktiviert worden, sondern stand nur zu besonderer Verfügung bereit. »Dann erhalten Sie jetzt Ihre Einweisung«, meinte Sherilyn.
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Erneut breitete sich Überraschung und ein wenig Erschrecken in Eileens Miene aus, doch sie fasste sich ebenso schnell wieder. »Haben Sie ein Problem damit?« Eileen schüttelte den Kopf. »Nein ... ich hatte nur nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde.« »Verstehe«, nickte Sherilyn, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie würde vorsichtig sein müssen. Hannigan war sicherlich alles andere als dumm, und so lange Sherilyn keinen blassen Schimmer von der Operation Misty Hazard besaß, spielte sie regelrecht mit dem Feuer. Ein Schuss, der jederzeit nach hinten losgehen konnte. »Lieutenant«, begann Major Stone und versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ihre Versetzung zu Shadow Command wurde durch einen Admiral Henderson vom Pentagon veranlasst. Henderson hat undichte Stellen in der Organisationsstruktur entdeckt, von denen unser General nur eine kleine, unbedeutende war. Es haben sich unbekannte Drahtzieher in unsere Führungsebene eingeschlichen und lenken Shadow Command sprichwörtlich aus den Schatten heraus. Henderson will die Sache aufklären und sich Klarheit verschaffen, wer an welcher Stelle falsch spielt.« Sherilyn war überrascht, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen kam. Sie fand, dass sich ihre Ausführungen bisher auch noch plausibel anhörten. Doch der schwierige Teil kam jetzt erst. »Ihre Mission besteht darin, folgende Fakten zu klären: Wer hat sich bis zur Spitze von Shadow Command hochgearbeitet? Woher beziehen wir aktuell unsere finanziellen Mittel, wie erfolgt der Agententransfer von anderen Organisationen, wo befinden sich die Stützpunkte Shadow Commands?« Beinahe unbeteiligt saß Eileen Hannigan da und sah ihre Vorgesetzte aus großen Augen an. Für einen Augenblick war sich Sherilyn nicht sicher, wie ihre Worte bei der anderen angekommen waren. Erst als Hannigan schallend loslachte, wusste sie, dass sie versagt hatte. »Bei ... allem Respekt, Ma'am«, sagte die junge Frau, immer noch lachend, »aber das ist der dickste Bär, der mir jemals aufgebunden wurde. Ich bin ja ein wenig enttäuscht, dass Sie mich für so dumm halten.« Sherilyn hätte es sich denken können. Sie überlegte eine Sekunde lang, ob sie die Vorgesetzte rauskehren und ihr Gegenüber zusammen stauchen sollte, oder ob sie ihr reinen Wein einschenkte. Bevor sie jedoch dazu kam, wischte sich Eileen die Lachtränen aus den Augen und beugte sich bis zum Schreibtischrand vor. »Also reden wir offen, Major. Der General hat falsch gespielt, Sie haben ihn aus dem Verkehr gezogen. Und genauso wenig wie irgendjemand hier, wissen Sie, wer hinter Shadow Command steckt. Mich eingeschlossen. Sicher, ich wurde von Henderson rekrutiert, habe aber nie mit ihm gesprochen oder bin ihm persönlich begegnet. Ich erhielt einen Marschbefehl zum Wright Patterson Stützpunkt und wurde von dort mit einem Humvee abgeholt und zur Shadow Command Basis gebracht. Erst vor Ort erfuhr ich überhaupt, dass sich die Organisation mit Außerirdischen beschäftigt.« Nun lächelte Sherilyn. »Gut kombiniert.« »Das war nun wirklich nicht schwer, Ma'am«, entgegnete Eileen. »Nichtsdestotrotz werde ich den Job übernehmen.« »Sie tun was?«, fragte Sherilyn verdutzt. Abermals lachte Eileen Hannigan auf und breite die Hände aus. »Nach allem, was ich bisher hier gesehen habe, habe ich mich selbst schon gefragt, wer hinter all dem steckt. Unter wessen Befehl stehe ich? Wem diene ich? Für welche Sache arbeite ich ...? – Soldaten wird stets eingetrichtert, dass sie Befehle zu befolgen haben, ohne sie zu hinterfragen. Leider vergessen die Leute, die diese Regeln aufgestellt haben oft, dass auch Soldaten nur Menschen sind und ein Gewissen haben. Also ... bin ich dabei.«
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Sherilyn war noch zu perplex, um direkt antworten zu können. Die Worte der anderen Frau machten Sinn. Doch sollte es wirklich so einfach sein, sie auf ihre Seite zu ziehen? Was, wenn die Hintermänner Shadow Commands genau dies beabsichtigten? »Sie wären bereit, auf sich allein gestellt den Kampf gegen eine Organisation aufzunehmen, von denen nicht einmal unsere Regierung den blassesten Schimmer hat?«, fragte Major Stone schließlich. »Sie wären vollkommen auf sich gestellt, ohne Rückendeckung, ohne Unterstützung. Selbst wenn ich Ihnen helfen wollte, unser Kampf wird woanders ausgetragen.« Sherilyn deutete hinter sich zum Fenster, das nur das All und einen Ausschnitt des irdischen Mondes zeigte. Die FREEDOM hatte ihre Warteposition auf den Antigrav-Landesockeln nicht mehr länger halten können und war direkt nach der Evakuierung des MojaveStützpunktes in einen lunaren Orbit manövriert worden. »Ich wünschte, ich könnte dabei sein, Ma'am«, sagte Eileen, während sie über Sherilyns Schulter hinaus in den Weltraum starrte. »Aber ich fühle, dass diese Mission wichtig ist. Shadow Command ist für uns beide erst aus der Versenkung aufgetaucht, als wäre es gerade erst ins Leben gerufen worden ... dabei ist es vielleicht viel älter, als wir auch nur annehmen können. Und mächtiger. Womöglich stellt es eine Gefahr dar ...« Sherilyn seufzte. »Wenn ich daran denke, wie oft der General über Leichen gegangen ist. Wir haben sogar einen unserer Piloten abgeschossen, nur um unsere Entdeckung nicht zu gefährden. Wenn ein Mann in der Organisation so agiert, wie verhalten sich dann die anderen erst?« »Die anderen ...«, sinnierte Eileen, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. »Sie verbergen sich gut ...« »Noch ein Gefühl?«, hakte Sherilyn nach. Der starre Blick der anderen Agentin fand in die Wirklichkeit zurück und richtete sich auf die Vorgesetzte. »Eine Ahnung ... altes Wissen, nennen Sie es, wie Sie wollen.« »Misty Hazard?« »Möglicherweise.« »Was verbirgt sich dahinter?«, fragte Sherilyn. Eileen Hannigan lachte wieder auf. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie es nicht wissen. Dann sollte ich es auch für mich behalten.« »Ich könnte es Ihnen befehlen.« »Sie könnten mich sogar erschießen«, sagte Eileen plötzlich ernst. Jegliche Spur eines Lächelns war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Ich würde es Ihnen trotzdem nicht sagen. Und glauben Sie mir, es ist besser, nichts darüber zu wissen. Allein schon, dass Sie von der Existenz dieses Projekts erfahren haben, bringt Sie in Gefahr. Und dieses Schiff und seine Mannschaft.« Sherilyn hob die Brauen hoch. Sie wollte noch etwas anfügen, verstummte aber, als Eileen langsam den Kopf schüttelte, mit einem Flehen in ihrem Blick, der nur zu deutlich machte, dass ihre Worte keine leeren Versprechungen waren. Stone nickte schließlich und blätterte einige Seiten in Eileens Akte um, bis sie die Klarsichthülle mit den ID-Karten und Ausweisen in den Händen hielt. Wortlos schob sie die Folie zu der anderen Agentin hinüber. Eileen pfiff anerkennend durch die Zähne. Sie riss die Hülle auf und begutachtete die eingeschweißten Karten eine Zeit lang. »Nicht schlecht«, sagte sie dann. »Da hat jemand saubere Arbeit geleistet. Waren Sie das?« Sherilyn schüttelte den Kopf. »Sie lagen im Tresor des Generals. Was immer Shadow Command mit Ihnen anfangen wollte, sie haben dafür gesorgt, dass Sie jederzeit und überall einsetzbar sind.« Eileen hielt eine silbrig glänzende Karte im Scheckkartenformat hoch. In ihren Augen stand ein eigenartiger Glanz, begleitet von einem breiten Grinsen.
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»Die haben wirklich an alles gedacht.« »Was ist das?«, erkundigte sich Sherilyn. »Eine so genannte Ghostcard«, antwortete Eileen und kam gar nicht mehr aus dem Grinsen heraus. »Eine Kreditkarte. Allerdings keine gewöhnliche. Sie läuft über verschiedene Konten im In- und Ausland und generiert erst bei der Transaktion eine zufällige Nummer. Bezahlungen mit ihr können nicht zurückverfolgt werden. Ich habe bisher erst einmal eine gesehen ... das war im Pentagon, als ich mit dem Navy Cross ausgezeichnet wurde. Damals benutzte ein Admiral diese Karte beim Dinner im Restaurant. Von ihm weiß ich, dass überhaupt solche Karten existieren.« »Er hat Ihnen das freiwillig erzählt?« »Nicht ganz ...« »Misty Hazard?« »Fragen Sie lieber nicht«, entgegnete Eileen. »Aber der Job wird mir jetzt schon gefallen. Mit dieser Karte bin ich finanziell unabhängig und niemand kann mir auf den Leim gehen.« »Denken Sie daran, dass es keine Vergnügungstour sein wird«, gab Sherilyn zu bedenken. Eileen steckte Ausweise und die Ghostcard ein und stand auf. »Ich denke an nichts anderes, Ma'am«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Wie finde ich Sie?«, fragte Sherilyn. »Ich werde Sie finden«, lachte Eileen. Überraschung zeichnete sich auf Sherilyn Stones Gesicht ab. »Wir werden aber wahrscheinlich nicht ... auf der Erde sein.« »Ich weiß. Aber keine Sorge, ich finde Sie schon.« Noch während Stone darüber nachgrübelte, schlich sich wieder ein Begriff in ihre Gedanken: Misty Hazard ... Sie blickte noch lange auf die Stelle, an der Eileen Hannigan gestanden hatte. Lange, nachdem sich der Lieutenant salutierend verabschiedet hatte und auf dem Weg zum Hangar war, um mit einer Fähre zur Erde zurückzufliegen und ihre gefährliche Mission zu beginnen. Φ Der Marsch war eintönig und wenig abwechslungsreich. Mühselig schleppten sich die Gefährten über den scheinbar endlosen Salzsee. Es mochten sechs oder sieben Tage her sein, seit sie die letzte Oase verlassen hatten. Schon nach dem ersten Tagesmarsch mussten sie ihre Vorräte rationieren. Simon spürte kaum noch seine Beine. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Die Wasserflaschen waren fast leer. Ebenso die Behälter aus dem Notgepäck. Früchte und Fleisch, die sie noch in der Oase gesammelt und das sie erlegt hatten, waren heute Morgen aufgebraucht worden. Simons Blick zurück bestätigte ihm, dass es den anderen nicht besser erging. Ihre Kräfte waren erschöpft. Noch einen Tag wie diesen würde keiner von ihnen ohne frisches Wasser und Nahrung überstehen. Sie konnten von Glück sagen, dass sie sich noch immer auf der Großen Querstraße befanden, wo die Temperaturen auf mysteriöse Art oder mit welcher Technik auch immer, niedrig gehalten wurden. Keine zwei Meter vom Straßenrand entfernt kochte der Boden. Länger als zehn Minuten hätte es dort niemand ausgehalten. Der Schweiß tropfte an Simons Brauen herab, rann ihm in die Augen. Er wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und blinzelte nach vorn. Der Salzsee schien sich weiter vorn zu verengen. Simon blieb stehen und holte die schweißdurchtränkte Karte hervor. Nach seiner Zeichnung lief der See in westlicher Richtung spitz zu. Es konnten danach nur noch wenige hundert Meter sein, ehe sie das Ende der kargen Gegend erreichten. Jee A Maru machte neben Simon Halt und lugte ihm über die Schulter. »Haben wir es bald geschafft?«
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Er nickte und deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorn. »Irgendwo da drüben hört der See auf.« Die Schwertträgerin biss sich auf die verkrusteten Lippen und forderte die anderen, die sich schon auf der Straße niederlassen wollten, auf, weiterzugehen. In langsamem Trott erreichten sie das Ende des Sees etwa eine halbe Stunde später. Die letzten Tropfen Wasser verschwanden in ihren Kehlen – jetzt konnten sie nur noch hoffen, die nächste Quelle oder Oase rechtzeitig zu erreichen, ehe sie wirklich verdursteten. Die Große Querstraße machte einen spitzwinkligen Knick nach Süden. Dahinter führte ein wesentlich schmalerer Weg nach Nordwesten; nach McLairds Karte direkt auf eine kleinere Oase zu. Mit sprichwörtlich letzter Kraft erreichten sie das grüne Eiland, betraten eine Wiese und ließen sich im Schatten großer Bäume nieder. Direkt in der Nähe plätscherte ein Bach. Sie robbten die letzten Meter zum Wasser und tauchten ihre Köpfe gierig in den Strom. »Langsam trinken!«, mahnte Jee A Maru. »Sonst trinkt ihr ... den Tod.« Als der erste Durst gelöscht war, lag die Gruppe auf dem Rücken am Ufer und schlief fast sofort vor Erschöpfung ein. Sie dachten nicht einmal daran, eine Wache einzuteilen. Es wäre ohnehin sinnlos gewesen. Niemand hätte sich jetzt noch wach halten können. Ein Kitzeln weckte Simon. Er schlug die Lider auf und schloss sie sofort wieder geblendet. Zwei, drei Sonnenstrahlen hatten sich durch das Blätterdach der Bäume verirrt und leuchteten ihm direkt ins Gesicht. Es ist hell, dachte er. »Wie lange hab ich geschlafen?« »Mindestens zwölf Stunden«, sagte eine Stimme neben ihm. Da erst wurde ihm bewusst, dass er die Frage laut gestellt hatte. Er drehte sich auf die Seite und sah direkt in Kardinas Gesicht. Die Amazone hatte sich an ihn geschmiegt und seine Nase mit einem Grashalm gekitzelt. »Zwölf ...?« Er richtete sich halb auf. »Du ...« Kardina lachte. »Stört es dich?« Im ersten Moment war ihm nicht ganz klar, was sie meinte, doch dann schüttelte er einfach den Kopf. Er küsste sie flüchtig und raunte ihr dann ins Ohr: »Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich ... dich nicht liebe.« »Ich weiß«, meinte die Amazone. »Wir sollten uns aussprechen«, sagte Simon. »Oder ...?« »Nur wenn du willst ... für mich ist eigentlich alles klar. Wir sind Freunde, oder?« McLaird lachte. Er konnte nicht anders und drückte Kardina an sich. »Ja, Freunde.« Um neue Kräfte zu wecken, beschloss Jee A Maru später, den Tag hier am Rand der Oase zu verbringen. Tanya und Kardina bauten sich aus losen Ästen und einem spannbaren Kabel, das Ken Dra im Gepäck mitführte, zwei Langbogen und erlegten reptilienähnliche Wesen, die sie über einem offenen Feuer brieten. Da sie den Laser nicht mehr besaßen, erzeugten sie die Flammen durch ein überladenes Energiemagazin. Am nächsten Morgen zogen Simon und Jee zur Erkundung der näheren Umgebung los und wurden auf einer Lichtung mehr als nur überrascht: Pferde! Etwa zehn weiße Schimmel grasten dort friedlich vor sich hin. Simon hatte nicht erwartet, irdische Pferde auf DUST vorzufinden »Pferde?«, stieß Jee A Maru ebenso erstaunt hervor. »Hier?« »Das kann nicht sein«, meinte Simon McLaird. »Und doch ...« Er dachte an den Traum zurück, kurz vor dem Einschlafen am Lagerfeuer. Darin waren sie auch auf weißen Pferden geritten. Was war das? Eine Art Vorschau? Ein Blick in die Zukunft? Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich Simon, als Jee A Maru auf die Lichtung hinaustrat und
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sich den Tieren näherte. Was, wenn sein Traum eine Vision war und sie tatsächlich verfolgt wurden? Simon hielt unwillkürlich die Luft an, als er beobachtete, wie die Schwertträgerin einen der Schimmel streichelte. Er schien zahm und zutraulich zu sein. Ohne Zögern klammerte sich Jee an seinen Hals und schwang sich auf seinen Rücken hinauf. Willig trabte das Pferd mit Jee zu Simon herüber. »Wahnsinn«, kommentierte McLaird grinsend und kraulte dem Tier die Mähne. Dann suchte er sich ebenfalls eines der Reittiere aus. Gemeinsam ritten sie zurück zum Lager. Der Weg zur Pyramide würde nun um einiges leichter und vor allen Dingen schneller zu bewältigen sein. Φ Der total verstaubte Hummer H2 sprang förmlich aus dem Sand auf den Interstate Highway 15 und schlitterte über den Asphalt. Zwei entgegenkommende Fahrzeuge mussten hart bremsen, ein drittes ausweichen, um nicht mit dem Geländewagen zusammenzustoßen. Der Fahrer des olivgrünen Hummers brachte das Vehikel zum Stehen und blickte sich hektisch auf der Landkarte auf seinem Schoß um. Achtzig Meilen nordöstlich bis Las Vegas. Etwa einhundertundsiebzig Meilen Richtung Südwesten nach Los Angeles. Die Entscheidung wurde ihm leicht gemacht – aber seinen Verfolgern vielleicht auch? Paul Gossett aktivierte die Scheibenwaschanlage des Hummers und spähte nach draußen in die Richtung, aus der er gekommen war. Die anderen hupenden und ausweichenden Wagen des täglichen Pendelverkehrs zwischen Barstow und Las Vegas ignorierend, hielt er nach etwaigen Verfolgern Ausschau. Die Staubwolke, die er nach sich gezogen hatte, legte sich nur langsam. Noch war nichts zu erkennen. Auch der Luftraum blieb sauber. Keine Helikopter oder gar Gleiter aus dem außerirdischen Raumschiff. Gossett presste die Lippen zusammen. Das Schmerzmittel, das er sich selbst verabreicht hatte, ließ bereits nach. Er wäre eigentlich nicht in der Verfassung gewesen, sein Krankenbett zu verlassen. Aber freiwillig hätten sie ihn niemals gehen lassen. Dafür wusste er einfach zu viel. Gott, mit dem Wissen kann ich Millionen verdienen, dachte er. Aber wer würde es ihm abkaufen? Zu seinem alten Brötchengeber konnte er schlecht zurückkehren. Er wusste, was die CIA mit ihm anstellen würde. Besser war, er verzichtete auf Geld und war froh, dass er noch lebte. Wobei er bezweifelte, dass Shadow Command ihn ungeschoren davon kommen ließ. Gossett schlug das Lenkrad hart ein und trat das Gaspedal durch. Mit durchdrehenden, quietschenden Reifen machte der Hummer einen Satz nach vorn und jagte auf die andere Farbahn, sehr zum Leidwesen eines Wohnmobils mit anhängendem PKW. Der Fahrer hupte noch, stieg dann in die Bremsen und verlor die Kontrolle über den Wagen. Er kam von der Straße ab und fuhr zehn, vielleicht zwanzig Meter über unbefestigtes Terrain, ehe er endlich zum Stehen kam. Gossett kümmerte dies nicht. Er beschleunigte das Militärfahrzeug und raste Richtung Vegas los. Eine Zeitlang sah es gut für ihn aus. Er hatte sich abgewöhnt, alle drei Minuten in den Rückspiegel zu blicken und nach Häschern zu suchen. An einer Tankstelle machte er Halt, ließ den Wagen auftanken und besorgte sich Cola und Hot Dogs, die er mit Heißhunger am Straßenrand verschlang. Der Tankwart und die Bedienung im Laden musterten ihn argwöhnisch. Er hatte an Bord der FREEDOM nichts besseres als die Kampfmontur Shadow Commands zum Anziehen gefunden. Die schwarze Feldjacke, grauen Hosen und nachtblauen Springerstiefel mussten befremdlich auf die Leute wirken. Gossett fuhr weiter. Mittlerweile war er sich sicher, die Staatsgrenze nach Nevada ungeschoren zu erreichen. Doch als er das dumpfe Rattern von Rotorblättern wahrnahm, wusste er, dass er einen Fehler begangen hatte.
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Die Kreditkarte!, raste es ihm durch den Kopf. In Ermangelung an Kleingeld, hatte er an der Tankstelle mit seiner Karte bezahlt – und verloren. Wie aus dem Nichts sprangen plötzlich zwei libellenförmige Hueys am Mountain Pass über die Bergwipfel und flogen im steilen Sturzflug genau auf den Highway zu. Gossett bremste. Ein Wagen prallte von hinten gegen seinen Hummer. Der Deserteur wurde heftig in die Gurte gepresst und stieß einen Schmerzensschrei aus. Seine Wunden drohten aufzuplatzen. In seiner Verzweiflung wendete er, schlängelte sich zwischen zwei anderen Fahrzeugen durch und preschte den Weg, den er gekommen war zurück. Das Hämmern der Rotorblätter wurde lauter. Direkt über ihm tauchte eine weitere Maschine auf und setzte sich etwa zweihundert Meter von ihm entfernt in Lauerstellung auf die Straße. Hinter dem Hubschrauber wurde ein Hupkonzert laut und der Verkehr staute sich vor dem jetzt unpassierbaren Pass. Gossett blickte in die mit Raketen bestückten Seitenträger des Helikopters. Sie konnten es jederzeit beenden. Hier und jetzt. Falls sie es vorhatten. Er bremste einhundert Meter vor dem Huey ab und hielt an. Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte ihm, dass auch die beiden Hubschrauber hinter ihm näher herangerückt waren und den Zivilverkehr ausgrenzten. Kein anderes Fahrzeug befand sich zwischen den fliegenden Ungetümen und Gossetts gestohlenem Hummer. Rechts und links neben ihm lagen die unüberwindlichen Berge. Es gab keine Fluchtmöglichkeit mehr. Gossett schlug wütend auf das Lenkrad und schrie danach auf, als ihm ein Stich durch die Brustwunde fuhr. »Verfluchte Kreditkarten!«, zischte er und schalt sich einen Narren. Er als CIA-Agent hätte es wissen müssen und vorsichtiger sein können. Aber nein, er musste auf den alten Trick hereinfallen. Der Hubschrauber vor ihm hob vom Boden ab und blieb etwa zwanzig Meter über der Straße in der Luft stehen. Zuerst dachte Gossett, man würde ihm den Weg frei machen, doch als er die beiden schwarzen Dodge Pick-ups entdeckte, die von vorn auf ihn zurasten, erkannte er seinen Irrtum. Sie kamen, um ihn zu holen. In Sekundenschnelle waren sie heran, stellten sich quer auf die Straße. Die Türen der Wagen schwangen auf und vier, fünf Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen sprangen mit gezogenen Waffen hervor und umzingelten Gossetts Hummer. Der Ex-CIA-Agent legte für alle deutlich sichtbar seine Hände aufs Lenkrad und wartete, bis einer der anderen seine Tür aufriss und ihn aufforderte, auszusteigen. Seufzend gehorchte Paul Gossett und ließ es zu, dass man ihn grob gegen die Motorhaube drückte und ihn nach Waffen abtastete. Anschließend wurde er an den Schultern gepackt, ein Arm auf den Rücken gedreht und zu den Pick-ups geführt. Zwei weitere Männer stiegen aus. Der eine in einem helleren Anzug, der andere trug legere Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd. »Sieh einer an«, sagte der Mann in dem Anzug. Er nahm die Sonnenbrille ab. »Special Agent Paul Gossett, oder sollte ich besser Sergeant Gossett sagen?« »Ist mir egal, was Sie sagen«, entgegnete der Angesprochene. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« »Stellen Sie sich nicht dumm, Gossett!«, fuhr der andere ihn barsch an und klappte dicht vor seiner Nase einen Ausweis auf. »Harry Thorne, NSA. Sie wissen, warum wir hier sind. Jeglicher Versuch, irgendetwas zu leugnen, wird Ihre Lage nur verschlimmern. Wenn Sie kooperieren, Gossett ...« Thorne machte eine Pause, polierte die Gläser der Sonnenbrille und setzte sie berechnend langsam wieder auf, ehe er fortfuhr: »... lasse ich Sie vielleicht am Leben.« Gossett sog scharf die Luft ein. »Ich bin Agent der CIA, ich verlange mit meinem Vorgesetzten zu sprechen, damit diese Angelegenheit fair ...« »Aber, aber, Mister Gossett«, fiel ihm Harry Thorne lächelnd ins Wort. »Sie sind raus aus
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der CIA, als Sie zu einer Organisation namens Shadow Command abkommandiert wurden. Über die wir uns selbstverständlich noch ausführlich unterhalten werden. Und im Übrigen ist Ihr früherer Boss Craig O'Roarke ein guter Bekannter von mir ...« Auf ein Zeichen Thornes wurde Gossett von den anderen Agenten gepackt und in einen der beiden Pick-ups gestoßen. Das Klicken von zuschnappenden Handschellen war zu vernehmen. Thorne und der Mann im Holzfällerhemd nahmen Gossett in ihre Mitte. Kurz darauf fuhren die Pick-ups in Richtung Vegas davon, während sich die Hubschrauber auf drei verschiedenen Routen zerstreuten. »Werden wir die anderen informieren?«, fragte der Mann im Holzfällerhemd während der Fahrt. Gossett horchte auf. Jede Information, die er mitbekam, konnte vielleicht einmal lebenswichtig für ihn sein. Falls er je hoffen konnte, mit heiler Haut aus diesem Schlamassel herauszukommen. Er fragte sich, wie der Mann in Jeans zu der Bande von NSA-Agenten passte. Dass er dem Verein nicht angehörte, drückte sich schon in seiner Kleidung aus. Thorne blickte auf seine Fingernägel, hauchte sie kurz an und polierte sie am Revers seines Sakkos. »Natürlich, Ian. Schließlich sind sie unsere ... Verbündeten.« »Und wer sind Sie?«, fragte Gossett an den Typen im Holzfällerhemd gewandt. »Marshall Ian ...«, antwortete der andere fast automatisch, wurde jedoch von Thorne unterbrochen. »Das hat Sie nicht zu interessieren, Gossett!« Kurz vor der Staatsgrenze zu Nevada bogen die beiden Fahrzeuge nach links in eine unbefestigte Landstraße ab. Harry Thorne kramte etwas aus seiner Jackentasche, setzte es ohne Vorwarnung an Paul Gossetts Hals und drückte ab. Gossett spürte den Einstich der Injektion. Doch ehe er realisierte was geschehen war, tanzten bereits spiralförmige Kreise vor seinen Augen und rissen ihn in eine tiefe Bewusstlosigkeit, aus der er erst Stunden später mit schmerzhaften Nachwirkungen wieder erwachen sollte. Φ Logfile From:
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[email protected];
[email protected] Subject: Re: Schatten encrypted message – code confidential Hallo zusammen, unsere Aktion Nighthawk hat leider nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Wir wissen, dass eine unserer F-117A über der Mojave-Wüste abgeschossen wurde und konnten dreiundzwanzig Stunden nach dem Vorfall eine Terrororganisation arabischen Ursprungs dingfest machen. Anscheinend war die Spur, die wir hier zu Shadow Command vermuteten, falsch gelegt worden. Falls sich etwas Neues ergibt, werde ich mich unverzüglich bei Ihnen melden. Es versteht sich von selbst, dass Sie das Ihrerseits auch tun. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag. Herzlich Harry
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Φ Seit über einer Woche weilten sie bereits auf DUST. Simon McLaird fragte sich, was in der Zeit alles auf der Erde geschehen sein konnte. Hatte es Sherilyn Stone geschafft, Shadow Command auf ihre Seite zu ziehen, oder würden sie bei ihrer Rückkehr erbitterte Feinde sein? Falls wir je zurückkehren, schränkte Simon seine Gedanken ein. Sie waren der Querstraße in südwestlicher Richtung weiter gefolgt, hatten eine neue Oase passiert und ein letztes Mal ihre Vorräte aufgefrischt. Nun ritten sie im schnellen Galopp durch eine Haarnadelkurve, von der aus der Weg nach Soric, der Alten Stadt, führte. Einmal mehr fragte sich Simon, woher ihm all die Namen, die er auf der Karte eingefügt hatte, wusste. Was war wirklich im Innern der Cheops-Pyramide und seinem außerkörperlichen Erlebnis geschehen? Ohne Zwischenfälle passierten die Freunde ein langes, tiefes Tal zu dessen Seiten sich riesige Bergmassive auftürmten. Simon hatte dieses Gebiet auf der Skizze als DUST-Valley verzeichnet. Im Staub des Tales hinterließen die Hufe der Pferde tiefe Abdrücke, doch DUSTValley war kaum als Etappenhürde zu bezeichnen, denn die Schimmel legten die Strecke ohne Probleme zurück. Schließlich führte die Straße nach Norden weiter. Als sich die Sonne dem Horizont entgegen senkte, erreichten die Gefährten die ersten Ausläufer der Oase – das letzte Fleckchen Grün, in dem auch die Silberpyramide untergebracht war. Ihr Ziel! Jee A Maru hielt es für besser, den Rest des Weges zu Fuß anzutreten. Sie trennten sich von den Pferden und ließen sie am Waldrand grasen. Nur Ken Dras Einwand hielt Jee davon zurück gleich jetzt in der Dunkelheit die Oase zu durchkämmen und zur Pyramide zu gelangen. So richteten sie erst ihr Nachtlager her. Die Amazonen sorgten für einen frischen Braten – ein Tier, das eine Mischung aus Hase und Vogel zu sein schien. Simon wandte sich beim Ausnehmen der Kreatur ab, musste aber später feststellen, dass das Fleisch zart war und sehr gut schmeckte. »Bald haben wir es geschafft«, sagte Simon mit vollem Mund, während sie alle um das Lagerfeuer hockten. »Drei oder vier Meilen, dann müssten wir die Pyramide erreicht haben. Die Frage ist nur, wie wir anschließend wieder zu Tanyas Schiff zurückkommen. Den Weg, den wir hergekommen sind, möchte ich ungern noch einmal gehen. Ob mit oder ohne Pferde.« »Möglicherweise benötigen wir das Schiff gar nicht mehr«, räumte Jee A Maru nachdenklich ein. Simon lachte auf. »Ja, weil wir dann vielleicht tot sind. Wer weiß denn schon wirklich, was uns in der Pyramide erwartet?« »Wenn man uns tot sehen wollte, hätte man es auch leichter haben können«, sagte Ken Dra. »Sicher, aber so hat es den Zuschauern sicher mehr Spaß bereitet, wie wir uns mühselig durch die endlose Wüste schleppen.« »Schwachsinn!«, knurrte Ken. In diesem Moment ertönte ein lang gezogenes Pfeifen. Kardina zeigte zum Himmel hinauf. Droben zwischen den Wipfeln leuchtete wieder das grüne Licht auf und huschte in westlicher Richtung über sie hinweg. »Die Pyramide«, sagte Simon. »Ich hab es zwar immer geahnt, aber jetzt sollte es ganz klar sein: Dieses Leuchten landet auf und startet wieder von der Silberpyramide aus!« »Ja, aber durch diese Erkenntnis haben wir noch nichts gewonnen«, meinte Tanya. »Wir sollten uns jetzt schlafen legen. Morgen werden wir sicherlich erfahren, was es damit auf sich hat. So oder so.« Sie folgten dem Vorschlag der Amazone und teilten erneut keine Wache ein. Dazu waren sie noch immer zu erschöpft. Der nächste Morgen begann mit einem grellen Blitz!
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Ein blendendes Leuchten zuckte über den Wald hinweg und weckte die Gruppe. Als sie alle mehr oder weniger wach waren, verschwand der Spuk auch schon wieder, als hätte es ihn nie gegeben. »Was war das?«, fragte Simon. Er erntete nur allgemeines Schulterzucken. »Vielleicht ist es ja doch keine so gute Idee, unbedingt zur Pyramide zu gehen«, murmelte Tanya, während sie den Himmel nach dem Leuchten absuchte. »Nur deswegen sind wir doch hergekommen!«, fuhr Ken Dra auf. »Schon gut, schon gut«, gab Tanya zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Es war nicht so gemeint, ja?« »Wir brechen sofort zur Pyramide auf«, entschied Jee A Maru in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Selbst Simon fügte sich, ohne ihre Worte auf seine sarkastische Art und Weise zu kommentieren. Er erkannte den Ernst in ihrem Blick und respektierte dies. Sie ließen das Lager einfach so zurück und machten sich nicht mal die Mühe, das Zelt abzubauen. Von der Querstraße zweigte ein kleinerer Pfad nach Norden ab. Sie folgten dem Weg in den dichten Wald hinein. Die Bäume schienen hier höher zu wachsen, als in den anderen Oasen – das Blätterdach wurde dichter, die Farne und Sträucher des Unterholzes größer. Erst auf der letzten Meile lichtete sich der Wald wieder, und schon von weitem konnte man das gewaltige Monument erkennen: Eine Pyramide aus reinem Silber, nach Simons Erinnerung dreimal so groß wie die Cheops-Pyramide in Gizeh! Knapp fünfhundert Meter vor dem Bauwerk blieb Jee A Maru plötzlich stehen. Simon musste ausweichen, um nicht gegen sie zu stoßen. Auch die anderen hielten an und starrten zu der Pyramide hinüber. Plötzlich fiel die Schwertträgerin auf die Knie und stimmte einen rituellen Gesang der Drahusem an. Ken Dra tat es ihr nach wenigen Augenblicken gleich. Für die beiden war eine Suche beendet, die vor Äonen begonnen hatte und deren Ende ihr Volk nicht mehr erleben konnte, weil es von den Scardeenern ausgerottet worden war ... Tränen der Ehrfurcht und Freude standen den beiden Schwertträgern in den Augen. Sie schienen wie verzückt von dem Anblick der Pyramide, glitten in eine religiöse Trance hinüber, die im selben Augenblick durch McLairds Worte wieder zerstört wurde. »Nun macht mal halblang ... so toll ist der Bau auch nicht.« Ken Dra sprang verärgert auf, doch bevor er sich auf Simon stürzen konnte, hallte plötzlich eine lautlose Stimme in ihren Gedanken wider. Auch du wirst sehen! Simon wurde mit einem Mal von einem unbeschreiblichen Gefühl der Ehrfurcht gepackt, das ihn schier in die Knie zwang und ihm die Tränen in die Augen trieb. Er musste mit ansehen, dass es Ken, Tanya und Kardina nicht anders erging. Willkommen, Suchende, sagte die telepathische Stimme in Simons Kopf. Sein Körper bebte, war regelrecht ergriffen von der Tiefe der Gedanken, die bis weit auf den Grund seines Ichs führten. Fast schon automatisch erhoben sich die fünf Gefährten und gingen weiter auf das gewaltige Bauwerk zu. Rund herum wucherte der Wald, nur das obere Drittel der Pyramide stach aus den Wipfeln hervor. Vor dem Eingang blieben Simon und die anderen stehen. »Reines Silber«, sagte McLaird und berührte die Außenwand des Gebäudes. »Fass nichts an!«, raunte ihm Ken zu. »Nun hab dich nicht so.« »Könntet ihr bitte mal aufhören zu streiten?«, fuhr Tanya dazwischen. Simon hob abwehrend die Hände und drehte sich demonstrativ von Ken Dra weg. Er betrachtete die Umgebung. Die Farne und Bäume sparten exakt die äußere Form der Pyramide aus. Nicht ein Ast oder gar ein Blatt schien das Silber überhaupt zu berühren. Und der ebenerdige Eingang, der von einem massiven Tor versperrt wurde, war ebenfalls frei von
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Ranken und Farnen. Gerade als Simon den Blick vom Eingang abwenden wollte, begann die Luft davor ohne Vorwarnung zu flimmern. Wie bei einer Fata Morgana, nur manifestierten sich hier aus dem Wabern drei Gestalten in langen, weißen Roben, umgeben von einer milchigen, glitzernden Aura. Ihre Köpfe waren von Kapuzen bedeckt, die Gesichter im Halbschatten nicht erkennbar. Während zwei der sphärischen Silhouetten vor dem Eingang der Pyramide stehen blieben, schwebte die dritte Gestalt auf die Gefährten zu. Auch Jee und die anderen hatten sie bemerkt und betrachteten die Wesen voller Faszination. Eure Suche ist nun beendet, übermittelte die Gestalt auf mentalem Wege ihre Botschaft. Weder aus der Gedankenstimme noch aus dem Körperbau des Wesens ließ sich schließen, ob es männlich oder weiblich war. »Wer ... seid ihr?«, fragte Ken Dra mit vor Ehrfurcht brüchiger Stimme. Er hörte sich an, als hätte er gerade einen Kloß im Hals und konnte nicht schlucken. Wir sind die Wächter! Das Wesen hob die Arme und griff mit beiden Händen an die Kapuze. Mit einer fließenden Bewegung schlug es den Stoff zurück und gab den Blick auf sein Gesicht frei. Es war humanoid, besaß Augen, Ohren, Nase und Mund an den gleichen Stellen, wie ein Mensch ... und dennoch wirkte das Wesen befremdlich. Das Gesicht schien milchig-leuchtend, als sei es aus einer strahlend weißen Wolke geformt und wurde von einer Sonne angestrahlt. Die Pupillen des Wesens besaßen ein klares, reines Blau. Das Licht der Plejaden. Simon wusste nicht, woher der Gedanke kam, ob es sein eigener war, oder ihm von dem fremden Wesen eingetrichtert wurde. Aber der bloße Anblick der lichten Gestalt weckte eine andere Erinnerung in ihm. Etwas, das tief in ihm begraben lag – als hätte er es sein Leben lang mit sich herumgetragen und nur auf den Schlüssel gewartet, es zu öffnen. »Atlantis!«, brach es aus ihm hervor. »Eure Körper ... die Bewohner von Atlantis hatten solche ...« Der Wächter verzog seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. Deine Erinnerung aus dem morphogenetischen Erdfeld trügt dich nicht, echote die telepathische Stimme in seinem Geist. Wir erschufen diese Körper allerdings nur, um euren Augen vertraute Formen zu bieten. In Wahrheit bedarf unser Geist keinen stofflichen Körper mehr. »Seid ihr ... Atlanter?«, fragte Simon. Ein gedankliches Kopfschütteln erfasste ihn. Ihm wurde leicht schwindelig. Nein. Auch wenn die Atlanter so ausgesehen haben mögen ... Der Wächter zog seine Kapuze wieder über den Kopf. Sofort darauf begann sich die menschliche Form zu verformen., zog sich in sich zusammen und bildete nach wenigen Lidschlägen eine leuchtende, grüne Kugel, die vor den Augen der Gefährten in der Luft schwebte. »Das grüne Leuchten«, ächzte Kardina. Ein mentales Lachen erscholl in den Köpfen der anderen. Der Lichtball verharrte eine Weile in der Luft, dann morphte er wieder in menschliche Gestalt zurück. »Wer seid ihr?«, fragte Ken Dra mit leichtem Zittern in der Stimme. Wir waren einst wie ihr. Stofflich. Menschlich. Doch wir haben uns weiter entwickelt und existieren auf einer anderen Stufe dessen, was ihr Bewusstsein nennt. Der Wächter machte einen gleitenden Schritt auf Jee A Maru zu und blieb dicht vor ihr stehen. Simon sah deutlich, wie der Körper der jungen Frau vor Ehrfurcht bebte. Wahrscheinlich wäre sie am liebsten im Boden versunken. Die Worte des Wächters – obwohl für Jee bestimmt – hallten auch in den Köpfen der anderen wider.
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Du hast den Kristall von Dai Urshar Senekar Tharmalis in der Pyramide gesucht, weil du glaubtest, mit ihm den Schlüssel zur Freiheit deines Volkes zu finden. Jee nickte. Ihre Augen schimmerten feucht. Simon betrachtete sie voller Sorge. Er fürchtete, sie könnte jeden Moment einfach zusammenbrechen. Nun, Tochter, ist dein Volk tot. Und trotzdem bist du hier, weil du hoffst, die Kräfte des Pyramidenkristalls könnten deine Feinde besiegen. Jee biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Der Wächter streckte einen Arm aus und legte ihr die leuchtende Hand auf die Schulter. Willenlos ließ sich Jee A Maru von ihm fortziehen – auf den Eingang der Pyramide zu. Simon wollte aufbegehren, fing aber den warnenden Blick Kens auf und verhielt sich ruhig. Er wusste, dass alles, was jetzt geschah in Jees Sinn war. Diesen Augenblick durfte er nicht stören. Φ Mehr als eine halbe Stunde war bereits vergangen, seit Jee A Maru die Silberpyramide betreten hatte. Simon ging in der Zeit auf und ab wie ein nervöser Tiger und blickte immer wieder zum Eingang des Bauwerks hinüber. Auch Kardinas beruhigende Worte halfen nicht, ihm die Nervosität zu nehmen. Die Ungewissheit, was der Wächter mit Jee im Innern der Pyramide anstellte, nagte an Simon. Einmal mehr war er sich bewusst, dass er dabei war, sich in die schöne Außerirdische zu verlieben. Er wünschte nur, sie wäre in jener Nacht an Kardinas Stelle gewesen. Noch während er seinen Gedanken und Wunschvorstellungen nachhing, lösten sich die beiden vor dem Eingang verbliebenen Wächter plötzlich auf. Ihre helle Erscheinung verblasste einfach von einem Moment auf den anderen. Gleich darauf schob sich das massive Tor beiseite. Jee A Maru trat hinaus ins Freie. Sie hatte sich äußerlich verändert und trug statt ihrer Schwertträgerkombination ein langes, graues Gewand. Die Kapuze hatte sie in den Nacken zurückgeschlagen. Langsam schritt sie auf die anderen zu. Ihre Miene war wie in Stein gemeißelt, kaum zu deuten. »Was ...?«, platzte Simon unbeherrscht hervor. »Was, zum Teufel, haben sie dir angetan?« Jee blieb vor McLaird und Ken Dra stehen. Sie bedachte die beiden mit einem seltsamen, langen Blick. Ihre Augen, dachte Simon. Sie schimmern nicht mehr grün, sondern ... Plejadenblau, wisperte eine schwache Stimme aus der Tiefe seines Unbewussten. »Ich habe mich entschlossen, hier zu bleiben«, sagte die Drahusem. Kens fassungsloser Blick ähnelte frappierend dem Simons. »Sie ... sie haben dich gezwungen!« Jee schüttelte langsam den Kopf. »Nein, sie greifen niemals in den freien Willen anderer ein. Es ist mein eigener Entschluss, hier auf Dai Urshar zu bleiben und ... Wächterin der Silberpyramide zu werden.« Ken Dra wankte. Simon trat neben ihn und stützte ihn. »Aber ... was ist mit unseren Plänen?«, fragte der Schwertträger besorgt. »Der Kristall, den Scardeenern ...?« »Es gibt keinen Kristall«, antwortete Jee. »Er war ein Irrglaube der Drahusem. Die Kraft, die wir gesucht haben liegt in uns selbst.« Ken Dra brach in die Knie. Simon konnte ihn nicht länger halten. Er trat an Jee A Maru heran und wollte sie bei den Schultern fassen, um sie zur Besinnung zu bringen. Doch seltsamerweise wagte er es nicht, sie zu berühren. »Jee!«, sprach er sie eindringlich an. »Das ... das kannst du nicht tun. Du kannst uns jetzt
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nicht im Stich lassen. Du bist eine Schwertträgerin.« »O Simon, du weißt es nicht anders. Ich muss einfach hier bleiben und meine Ausbildung beginnen.« »Ausbildung?« »Ich werde eine geistige Entwicklung durchlaufen, wie die anderen Pyramidenwächter zuvor.« »Nur du?«, fragte Simon. »Was ist mit Ken ...?« Mit mir, hatte er fragen wollen, brachte es jedoch nicht über seine Lippen. Aber er war es immerhin gewesen, der die Botschaft in der Cheops-Pyramide empfangen hatte. Hatte nicht auch er das Recht, an dieser Ausbildung teilzunehmen? Jee A Maru ignorierte seine Frage. Stattdessen wandte sie sich um und ging zurück in die Pyramide, ohne ihre Freunde zu verabschieden. Freunde, dachte Simon verbittert. Sind wir das für sie überhaupt noch? Er blickte ihr nach, bis sie im Innern des Bauwerks verschwunden war, und sich das Tor hinter ihr geschlossen hatte. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, und ein seltsames Gefühl der Leere beschlich ihn. Irgendwann beugte er sich zu Ken Dra hinunter und legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen. Die beiden Amazonen standen teilnahms- und ratlos hinter ihnen. Sie begriffen wahrscheinlich noch viel weniger, was eben geschehen war. »Sie ist ... fort?«, fragte Kardina. Simon nickte nur. Er brachte kein Wort hervor. Seine Kehle fühlte sich rau an. Die Tränen waren nicht zu stoppen ... Ihr müsst jetzt gehen, erklang die telepathische Stimme der Wächter in ihren Köpfen auf. Versucht, einen Weg zu finden, den Frieden in dieser Galaxis wiederherzustellen ... Plötzlich verschwamm die Umgebung vor den Augen der Gefährten. Ein kurzes Flimmern, ein Druck auf Simons Stirn, ein leichter Schwindel. Als er wieder klar sehen konnte, befand er sich in einem Sitz der Kommandozentrale von Tanyas Raumjacht. Die Amazonenprinzessin, Kardina und Ken Dra waren ebenfalls anwesend und blickten sich erstaunt um. Als sie zum Hauptschirm sahen, erkannten Sie, dass sie sich weit entfernt von Jee A Maru und DUST befanden. Vor ihnen lag ein kleiner, blau schimmernder Planet namens Erde ...
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Teil 2 Die Allianz von Cloudgarden
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[email protected] Subject: Sorry encrypted message Hallo Jeremiah, tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich werde auch in nächster Zeit kaum dazu kommen, dir zu schreiben. Ich hatte neulich schon einige Veränderungen angedeutet, über die ich mich aber nicht näher auslassen kann. Ehrlich, ich wünschte, ich könnte dir von all dem erzählen, dir würden die Augen übergehen. Aber du würdest mir sowieso nicht glauben. Ich melde mich später noch einmal. Halt die Ohren steif, Junge. Simon Φ 16. Juni 1972 – Lake Perris, Kalifornien Sie waren zu viert auf der Davis Road nach Süden zum See unterwegs. In dem alten Buick saßen die frisch verlobten Poul und Sue und turtelten die ganze Zeit miteinander. Mel Quire beobachtete sie hin und wieder durch den Rückspiegel und lächelte verschmitzt, worauf er sich einen leichten Schlag gegen das Knie von seiner Frau auf dem Beifahrersitz zuzog. Er blickte zur Seite. Sein Lächeln wurde breiter, und ihm wurde warm ums Herz, als er in die grünen Augen seiner geliebten Natasha sah. Vor fast einem Jahr hatten sie sich das Ja-Wort gegeben und waren noch so frisch verliebt wie am ersten Tag, an dem sie sich über den Weg gelaufen waren. Das wiederum war jetzt auch schon drei Jahre her – ein Datum, das er nie vergessen würde, denn es ging mit einem historischen Moment einher. Am 21. Juli 1969 war nicht nur die erste Apollo-Fähre auf dem Mond gelandet, sondern auch Mel und Natasha waren sich in einer Kneipe in Santa Ana begegnet. Beide hatten so versessen auf den Schwarzweiß-Fernseher über dem Tresen gestarrt, um die ersten Bilder von Armstrong und Aldrin auf der staubigen Oberfläche des Mondes zu verfolgen, dass sie sich nicht gesehen hatten und mit jeweils einem Drink in der Hand zusammen stießen. Als Mel in das von flammend rotem Haar umrahmte Gesicht mit den tiefgründigen, wässriggrünen Augen blickte, hatte er Apollo Elf schlicht und einfach vergessen. Und Natasha, die damals noch Roseborough hieß, war es ähnlich ergangen. Sie hatte sich in Mels Blick verloren. Später am Abend folgte der erste Kuss, am nächsten Morgen hatten sie sich bereits geschworen, zu heiraten, wenn es bis dahin auch noch gut zwei Jahre gedauert hatte. Mel bog in eine Seitenstraße ein, die direkt in einen schmalen Pfad mündete, der nur Platz für ein Fahrzeug bot. Natasha beugte sich zu ihm herüber und hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Waren wir auch mal so verliebt?«, fragte sie. »Oh, wir sind es immer noch«, sagte Mel und schaute schnell nach vorn. »Sind wir doch, oder?« Sein linkes Augenlid zuckte nervös und es war ihm immer noch peinlich, obwohl er
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wusste, dass sich Natasha nichts aus dem Tic machte. »Darauf kannst du wetten«, lachte seine Frau. Sie erreichten das Seeufer kurz vor Sonnenuntergang, schnappten sich zwei große Decken, den Picknick-Korb und die alte Gitarre, die Mel in seinem verstaubten Abstellraum gefunden hatte. Am grasigen Ufer des Lake Perris ließen sie sich nieder, köpften eine Flasche Wein und betrachteten die am Horizont versinkende Sonne. Es war warm und gemütlich. Poul erzählte ein paar Witze vom College. Sue blickte ihn nur verträumt an und lachte. Mel hatte seinen Kopf in Natashas Schoß gebettet und ließ sich treiben. Er war jetzt fünfundzwanzig, befand sich mitten in einem viel versprechenden Physikstudium und finanzierte seine Wohnung durch Gelegenheitsjobs. Natasha leistete ihren Beitrag als Sekretärin einer örtlichen Tageszeitung. Allerdings steckte in ihr viel mehr Potenzial, das hatte Mel früh erkannt. Sie hätte ihm in mancher mathematischer und physikalischer Hinsicht das Wasser reichen können, aber für Frauen war es nicht gerade einfach, einen wissenschaftlichen Studienplatz zu ergattern, zumal das Geld vorne und hinten nicht für zwei Stipendien reichte. »Wie sieht es aus, Mel?«, rief Poul. »Willst du nicht mal ein Liedchen anstimmen, wenn du die alte Klampfe schon mitgebracht hast?« Mel erhob sich träge aus Natashas Schoß. Er ließ es sich gerne gefallen als seine Frau ihm über das kurze Haar streichelte und ihm dann aufmunternd auf die Schultern klopfte. Er kroch zu den Picknickkörben hinüber, nahm die daran angelehnte Gitarre und kehrte zu Natasha zurück. Als er die ersten Saiten zupfte, erklangen schräge Töne, die Poul und Sue dazu veranlassten, Grimassen zu schneiden. Mel stimmte das Instrument nach, versuchte es erneut und spielte eine bekannte Melodie aus seinem Beatles-Repertoire. Zuerst summte er nur, doch dann stimmte Natasha mit Gesang ein und nach einer Minute sangen auch die anderen mit. Sie lachten und trällerten zu Nowhere Man und Let it be. Als längst die Sterne am Himmel standen, die Luft etwas kühler wurde und Poul Holzscheite in das eilig angezündete Lagerfeuer warf, versammelten sich andere Pärchen um den kleinen Platz. Angezogen vom Schein der Flammen und den ausgelassenen Klängen, sangen sie klatschend mit und wiegten sich im Rhythmus. Wein und Brot machten die Runde. Ein perfekter Tag, dachte Mel Quire und legte die Gitarre ins Gras, um seine Frau leidenschaftlich zu küssen. »Weißt du was?«, fragte Natasha leise, als sich ihre Lippen voneinander lösten. »Auch wenn es noch weit weg ist ... aber ein Weihnachtslied würde den Tag jetzt wirklich abrunden.« Mel war im ersten Moment verdutzt, doch dann lächelte er. Auf was für absurde Ideen sie immer kam. Aber dafür liebte er sie umso mehr. Er schob sie sanft von sich, räusperte sich laut und stand betont langsam auf. »Mel? Was ist los?«, fragte seine Frau leicht enttäuscht. »Liebes«, sagte er, als würde nun eine überaus wichtige Mitteilung folgen, »auch der ausdauerndste Barde muss mal ... pinkeln.« Die Anwesenden lachten. »Und wieder einmal ist bewiesen, dass Männer keinen Sinn für Romantik haben«, neckte Natasha ihn. »Hey Schatz, halte mir meinen Platz warm, ich bin gleich wieder da. Und dann singe ich dir die romantischste Stille Nacht vor, dass du dich gleich dreimal in mich verlieben wirst.« Mel Quire entfernte sich von der illustren Gesellschaft und steuerte auf einige Büsche zu, die im Schatten des Lagerfeuers lagen. Gerade als er sich die Hose wieder zuknöpfen wollte, erfasste ihn ein grell-heller Lichtschein. »Was zum Teufel ...?«, rief er und wollte sich umdrehen. Da hörte er auch schon aufgeregte Stimmen vom Lagerplatz. Jemand schrie jemand: »Ein UFO! Es ist ein UFO!« Mel rannte los. Er scherte sich nicht um seine offene Hose. Ja, er merkte nicht einmal, dass
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seine Augenlider wieder zuckten. Er kniff sie zusammen, um gegen das Licht etwas zu erkennen. Die Leute rannten schreiend in Panik umher. Der ganze Strand war nun taghell erleuchtet, aber man konnte nicht erkennen wovon. »Natasha!«, schrie er aus Leibeskräften, »Natasha lauf zum Buick! Lauf zum Wagen!« »Mel? Mel, ich bin hier!« Seine Frau fiel ihm in die Arme. »Mel, was ist hier los? Wo kommt das Licht her?« »Ich weiß es nicht, aber lass uns von hier verschwinden!« »Poul und Sue? Hast du sie gesehen?« Mel zog sie kopfschüttelnd zu ihrem alten Wagen und setzte sich hinter das Lenkrad. »Vielleicht sehen wir sie, wenn wir losfahren.« Natasha schirmte ihre Augen gegen das Licht ab und versuchte aus dem Seitenfenster etwas zu erkennen. Dann keuchte sie und ihre Augen wurden vor Angst groß. Sie packte Mels Arm und kniff ihn, so fest sie konnte. Ihr Mann ignorierte den Schmerz und sah nun auch wie gebannt aus dem Seitenfenster. Eine große Gestalt steuerte direkt auf ihren Wagen zu. Sie schien fast durchsichtig zu sein. Durch ihren Körper hindurch, sah man das Lagerfeuer und die inzwischen im Sand heillos durcheinander liegenden Weinflaschen. »Fahr los! Fahr um Himmels Willen los!« Ihre Fingernägel gruben sich noch tiefer in seinen Arm. Mel drehte den Zündschlüssel herum, doch das Getriebe röchelte nur einmal kurz auf. Motor abgewürgt. »Was ist das bloß, Mel? Ein Alien?« Natashas Zähne klapperten aufeinander. »Ich will es gar nicht wissen ...« Wieder drehte er den Schlüssel um und erneut erstarb der Motor. »Bitte, bitte komm schon«, beschwor Mel seinen alten Buick, »nur einmal. Spring nur noch einmal an.« »Mel, er ... er dreht um. Er geht!« Natashas sah, wie die riesige Gestalt auf einen anderen Wagen zusteuerte, hinter dem sich ein Pärchen versteckt hatte. »Jetzt fahr los, schnell!« Plötzlich sprang der Buick an und machte einen Satz nach vorn. Mel fluchte, er hatte vergessen die Kupplung zu treten. Nun hörten sie die spitzen Schreie des anderen Pärchens, das sich hinter dem Wagen geduckt hatte. Der Motor seines Wagens surrte, doch gerade als Mel Gas geben wollte, flüsterte Natasha entsetzt: »Das sind Poul und Sue ...« »Scheiße.« »Wir müssen sie da rausholen.« Mel nickte. Er konnte seine Freunde nicht im Stich lassen. Aber was sollte er tun? Gegen einen Außerirdischen kämpfen? Ihm gegen das Schienbein treten? Hatten Aliens überhaupt Schienbeine? Hilflos schlug er gegen das Lenkrad und traf unabsichtlich die Hupe. Erschrocken hielten sie ihren Atem an und beobachteten, wie die Gestalt kurz zusammenzuckte und sich zu ihnen umdrehte. »Natasha, du drückst jetzt auf die Hupe und lenkst damit dieses ... dieses Ding da ab und ich hole die beiden zu uns rein.« Ehe seine Frau etwas erwidern konnte, erstrahlte der alte Buick in einem grünlichen Licht. Mel und Natasha Quire sackten bewusstlos in ihren Sitzen zusammen. Φ Gegenwart, Mondorbit »Abdrehen!« Ken Dras Stimme gellte durch die Kommandozentrale der kleinen Raumjacht. Simon McLairds Magen krampfte sich zusammen, als er sah, was den Schwertträger zu dem panischen Ausruf veranlasst hatte. Er hielt sich an der Rückenlehne des Kommandosessels fest und bewunderte für einen Augenblick die Schnelligkeit, mit der Kardina am Steuer
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reagierte. Das Bild des Giganten trieb an Backbord vorbei. Ein Rollen ging durch die Jacht, als der Hauptantrieb unter Volllast ächzte. Ungläubig beobachtete Simon auf dem Hauptschirm, wie das riesige Raumschiff wieder in ihr Sichtfeld trieb. Er konnte nicht erfassen, was überhaupt mit ihnen geschah. Noch vor einer Minute hatten sie sich auf dem Planeten DUST befunden und von Jee A Maru Abschied genommen. Kurz darauf fanden sich die Amazonen Tanya, Kardina, der Schwertträger Ken Dra und er selbst an Bord der Raumjacht wieder und erblickten auf dem Bildschirm die Erde. Im selben Moment hatte der Annäherungsalarm angeschlagen. »Identifizierung abgeschlossen«, rief Tanya. »Schlachtschiff des Scardeenischen Reiches. Gegen den Riesen haben wir nicht den Hauch einer Chance!« »Wir fliegen ja immer noch darauf zu!«, stieß Simon hervor. »Die haben uns in ihrem Traktorstrahl«, gab Kardina zurück. »Zwecklos, unsere Triebwerke bringen nicht genug Leistung auf, um denen zu entkommen.« Simon rannte um den Stuhl herum und war mit drei Schritten an der Steuerkonsole. Sein Blick irrte von den Instrumenten zu Ken Dra, aber der Drahusem schüttelte nur den Kopf. »Können wir in den Hyperraum springen?« »Wir sind zu nah am Trabanten deines Planeten«, sagte Kardina. »Der Masseschatten verhindert, eine Raumkrümmung aufzubauen.« »Was heißt das?« »Wenn wir jetzt springen, zieht uns die Gravitation des Mondes in sein Zentrum«, erklärte Ken Dra. Auf dem Hauptschirm war das Schlachtschiff jetzt in seiner Gänze zu bewundern. Knapp zwei Kilometer lang, eiförmig in seiner Grundform mit turm- und pavillonartigen Aufbauten und waffenstarrenden Kuppeln an seiner grauen Oberfläche. Der Koloss besaß genug Feuerkraft, um einen halben Planeten in Stücke zu sprengen. Das stärkste und mächtigste Kriegsgerät, das das Scardeenische Reich in seinem Einflussbereich besaß. Und wir treiben direkt darauf zu, dachte Simon verbittert. Er hielt sich an der Lehne von Kardinas Sessel fest, als er merkte, wie ihm schwindelig wurde. Nach allem, was sie bisher durchgemacht hatten, war es einfach unfair, dass die Scardeener in diesem Sonnensystem auftauchten und Rache forderten. Sie kamen und verleibten sich die Erde einfach in ihr Sternenreich ein. Aufstand wurde nieder geprügelt, Rebellion im Keim erstickt und wer sich nicht fügte, versklavt. Neben Simon seufzte Kardina. Sie fuhr die Triebwerke herunter und schaltete die Energiereserven ab. Es lohnte sich nicht, gegen den Giganten anzurennen. Sie waren ihm hoffnungslos unterlegen. Der Blick der Amazone suchte den Simons. In ihren Augen stand ein Ausdruck der Niedergeschlagenheit. Kardina drückte seine Hand. Er hielt sie fest, während sie gemeinsam zum Bildschirm starrten und sich in ihr Schicksal ergaben. »Ein Funkspruch!«, sagte Tanya plötzlich und drückte eine Taste an ihrer Sessellehne. Kurz darauf war ein Knacken zu hören, ehe klar und deutlich eine Stimme ertönte. »Shadow Command Flugkontrolle an unbekanntes Raumfahrzeug.« »Shadow Command?«, stöhnte Simon auf und blickte ungläubig auf das Schlachtschiff. »Das ist der Raumer, den sie Sealdric abgenommen haben?« Ken Dra zuckte die Achseln. »Sie sind in Sperrgebiet eingedrungen«, tönte es weiter aus den Lautsprechern. »Senden Sie Ihren Erkennungscode, sonst werden wir das Feuer auf Sie eröffnen.« Tanya sah Ken Dra Hilfe suchend an. Der Schwertträger nickte nur, doch gerade als Tanya antworten wollte, fuhr Simon herum und hob einen Finger. »Nicht!« »Warum nicht?«
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»Sie kennen dich nicht, und außerdem müssen sie nicht wissen, wer alles an Bord ist. Lass mich mit ihnen sprechen. Mein Name dürfte denen sowieso geläufig sein.« Tanya nickte, wartete, bis Simon neben ihr stand und drückte dann den Sendeknopf. »Hier spricht Lieutenant Simon McLaird an Bord einer privaten Raumjacht. Wir sind auf Empfehlung von Captain Sherilyn Stone hier.« »Warten Sie, Lieutenant.« Die Verbindung wurde unterbrochen. Nach einer halben Minute verkündete Kardina, dass der Traktorstrahl abgezogen wurde und sie wieder frei fliegen konnten. Gleichzeitig wurde ein Anflugvektor für den Navigationscomputer übermittelt. »Das nenne ich eine Einladung«, kommentierte Simon. »Tja, du musst Eindruck bei der Lady hinterlassen haben«, grinste Ken Dra. Simon McLaird verzog die Mundwinkel. »Hoffentlich nur positiven.« Das Schlachtschiff, das jetzt offensichtlich unter dem Kommando der Schatten stand, meldete sich erneut und wies ihnen einen Anflugkorridor zu. Simon bestätigte die eingehenden Daten und blickte dann seine Gefährten an. »Wir haben eh keine andere Wahl«, versuchte er sie zu beruhigen, als er die Unsicherheit in ihren Augen las. Shadow Command war ihnen auf den Fersen gewesen, zumindest ihm und Ken Dra. Seit dem letzten Gespräch mit Sherilyn Stone auf dem Drahusem Asteroiden Gernah hatte sich jedoch einiges getan – und Simon hoffte inständig, dass Stone es geschafft hatte, die Kontrolle über die ominöse Gruppe an sich zu reißen. Falls sie versagt hatte, dann liefen sie jetzt dem als General bekannten Anführer direkt in die Arme. Bei dem Gedanken breitete sich ein flaues Gefühl in Simons Magengegend aus. Kardina beugte sich über die Kontrollen, strich sich eine Strähne ihres langen, schwarzen Haars aus der Stirn und gab die Anflugkoordinaten in den Bordcomputer der Jacht. Die Triebwerke zündeten kurz, und der Raumer setzte seinen Anflug fort. Auf dem Bildschirm wuchs das gigantische Gebilde bedrohlich an. Erst, als der Koloss das gesamte Blickfeld ausfüllte, sahen sie in der Ferne eine Öffnung im Rumpf. Die Schleusentore zu einem der Hangars schoben sich beiseite. Mit angehaltenem Atem verfolgte Simon McLaird das Annäherungsmanöver. Sie passierten den magnetischen Schirm, der die Hangaratmosphäre im Inneren des Schlachtschiffes hielt, ohne sie entweichen zu lassen. Auf dem Landedeck waren einige Leute im hinteren Bereich mit Fähren und Raumjägern beschäftigt. Vorn, wo das Ende der Navigationsmarkierung aufblinkte, hatten sich ein halbes Dutzend schwarzblau gekleidete Gestalten versammelt. Ihre Köpfe wurden von futuristischen, halboffenen blauen Helmen bedeckt, bei denen ein schmaler Schlitz die Sichtöffnung darstellte – Soldaten Shadow Commands. Simon wusste inzwischen, dass der Schlitz keinen direkten Blick gewährte, sondern eine Projektionseinheit war, die ein dreidimensionales Abbild auf der Innenseite des Helms schuf. Die ShadowAgenten sahen genauso viel, wie ohne Helm – sogar noch mehr, denn verschiedene Filter ermöglichten die Verstärkung von Restlicht, das Abschirmen gegen grelles Licht und eine Sicht im infraroten Bereich. Kardina fuhr die Landestelzen aus und setzte die Raumjacht der Amazonenprinzessin Tanya sanft auf dem metallenen Hangarboden auf. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff, dann verstummte das Brummen der Triebwerke. »Da wären wir«, kommentierte Kardina. »Im Bauch des Wals.« Simon nickte. »Ich hab nicht das beste Gefühl bei der Sache. Also hört zu, Ken und ich gehen erst einmal alleine raus. Abgesehen von Captain Stone kennt Shadow Command nur uns beide. Falls Stone es nicht geschafft haben sollte, die Befehlsgewalt an sich zu reißen ...« Er ließ den Satz unvollendet, winkte Ken Dra zu und wandte sich dem Brückeschott zu. Bevor er den Weg zur Schleuse antrat, hielt er am Waffendepot, legte sich den Brustpanzer einer Drahusem-Kampfausrüstung an, griff nach einem langläufigen Lasergewehr und
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bedeutete Ken Dra, sich ebenfalls zu bewaffnen. »Mossar!« Die ausgeklügelte Technologie im Griff es Schwertes reagierte auf den Befehl und die Stimme des Trägers. Augenblicklich materialisierte die Klinge im Anti-Gravfeld neben Ken Dra. Er brauchte nur danach zu greifen. »Viel helfen wird es uns nichts«, sagte der Schwertträger. »Ich weiß«, gab Simon zu. »Aber wenn es eine Falle ist, will ich so viele wie möglich von denen mitnehmen.« Sie gingen zum Ausgang, blieben vor dem Schott stehen und warteten, bis die Rampe ausgefahren war und sich das äußere Tor geöffnet hatte. Simon presste die Lippen aufeinander, brachte das Gewehr in Anschlag und marschierte zusammen mit Ken durch die Schleuse. Unten am Fuß der Rampe blieben sie stehen und beobachteten den aufmarschierten Trupp Soldaten, der jedoch keinerlei Anstalten machte, sie anzugreifen, wie Simon befürchtet hatte. Aus der Gruppe löste sich ein einzelner Mann, kam auf die beiden zu und blieb keine zwei Meter vor ihnen stehen. »Lieutenant McLaird? Schwertträger Ken Dra?«, fragte der Mann nach. Simon senkte den Lauf des Gewehrs ein wenig, behielt jedoch den Finger am Abzug. »Ganz richtig«, antwortete er und registrierte, dass sich die anderen Soldaten aus dem Empfangskomitee noch immer nicht rührten. Der Mann vor ihnen hob langsam eine Hand und betätigte einen Schalter an der rechten Seite seines Helmes. Sofort schnappte das Visier auf und gab den Blick auf das Gesicht eines Mittdreißigers frei, dessen braune Augen die beiden Ankömmlinge aufmerksam musterten. Seine Oberlippe wurde von einem schmalen Bartstreifen verziert. »Ich bin Lieutenant Sean Harris von Shadow Command«, teilte er ihnen mit und streckte zur Begrüßung eine Hand aus, die Ken Dra nach einigem Zögern als Erster ergriff. »Ich soll sie zu Major Stone bringen«, fuhr Harris fort. »Wenn Sie mir bitte ...« »Major Stone?«, fragte Simon überrascht. Ken schnalzte mit der Zunge. »Die Dame will bei dem Verein noch was werden.« »Der Major wurde vor dem Tod des Generals noch von ihm selbst befördert«, informierte Harris. »Ironie des Schicksals. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen würden.« Ohne darauf zu achten, ob die beiden der Aufforderung nachkamen, drehte Harris sich um und marschierte auf das ferne Ende des Hangars zu. Er gab seinen Leuten ein kurzes Zeichen. Der Truppführer salutierte kurz und ließ die Schatten abrücken. »Sie werden Ihre Waffen hier nicht brauchen«, meinte Harris, als sie die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten. »Soweit sollten Sie uns schon trauen.« Simon sicherte das Lasergewehr und hängte es sich über die Schulter. Gleichzeitig klang Ken Dras Signalruf auf, der das Schwert wieder in einer dimensionalen Falte verschwinden ließ. Am Ende des Hangars passierten sie einen Sicherheitsschirm. Zwei Wächter ließen sie vorbei. Der General ist also tot, dachte Simon. Dann hatte Stone es wirklich geschafft. Er hatte sich in ihr nicht getäuscht, seit er sie damals auf der Air Force Basis kennen lernte. Sie folgten Harris durch einen breiten Korridor, der von Männern und Frauen in Uniformen Shadow Commands und Technikermonturen nur so überlaufen war. »Nettes Schiffchen haben Sie sich mit der SENSOR angeeignet«, kommentierte Simon, der sich zum ersten Mal an Bord eines Scardeenischen Schlachtschiffs befand. »Sie meinen die FREEDOM«, korrigierte Harris amüsiert. »Wir haben sie umgetauft.« »Ah ja, typisch amerikanisch«, grinste Simon. »Unser Präsident wäre stolz auf Sie, würde er je hiervon erfahren.« »Na, er muss ja nicht alles wissen.« Harris' Worte kamen so tonlos über die Lippen, dass McLaird nicht zu deuten wusste, ob sie sarkastisch oder ernst gemeint waren. Sie stiegen in eine Liftkabine, die sie nach oben brachte. Als sie anhielten und Harris vor
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ihnen den Aufzug verließ, raunte Ken Dra Simon etwas zu. »Das ist die Kommandoebene.« »Falls wir in eine Falle rennen, haben wir noch die Amazonen als Rückendeckung«, flüsterte Simon zurück. »Als ob uns das dann noch helfen würde.« Sie bogen in einen Gang ein, der weniger frequentiert wurde, als die anderen. Am Ende hielten sie vor einem Schott an dem zwei Wachen in voller Kampfmontur der Schatten postiert waren. Simon erkannte die scardeenischen Schriftzeichen, die auf das persönliche Quartier des Schiffskommandanten hinwiesen. Hier hatte Sealdric vorher gewohnt. Die Türen öffneten sich. Die Kabine dahinter spottete jedweder Beschreibung und war purer Luxus. Ein verschwenderisch eingerichteter Wohnraum mit Essecke, Schlafzimmer und einem Bad. Der Duft von einem schweren Parfüm lag in der Luft. Der Raum war in trübes, violettes Dämmerlicht getaucht. Er wirkte dadurch einladend und vermittelte eine eher romantische, entspannte Atmosphäre. Stone schien bisher nicht viel verändert zu haben und genoss wohl den Luxus, in dem Sealdric zuvor geschwelgt hatte. »Setzen Sie sich schon einmal«, forderte Harris die beiden auf. »Der Major wird gleich kommen.« Der Lieutenant salutierte kurz und verließ dann das Quartier. Simon und Ken blickten sich an und ließen sich auf einer Polsterbank nahe der Hausbar nieder. »Wie wär's mit einem Whiskey?«, fragte Simon, obwohl er genau wusste, dass der Drahusem keinen Alkohol trank. »Tender, einen Dimple on the Rocks«, rief er scherzhaft. Zu seiner Überraschung öffnete sich am Tresen eine Luke, aus der sich ein Glas über ein Transportband bis an den Rand der Theke schob. Simon stand auf, nahm das Glas und nippte kurz daran. »Das nenn ich eine prompte Bedienung«, meinte er und spülte den kalten Whiskey in einem Zug herunter. Er brannte in der Kehle, tat aber gut, als sich wohlige Wärme in seinem Bauch ausbreitete. »Mmmhh«, machte Simon und wandte sich nochmals an Ken. »Du weißt nicht, was dir entgeht, Junge.« Ehe Ken Dran eine Antwort geben konnte, summte die Eingangstür. Sherilyn Stone betrat ihre Kabine, begrüßte Simon und Ken und setzte sich ihnen gegenüber. Sie trug die militärische Kombination von Shadow Command. Ihr brünettes Haar glänzte im violetten Licht. »Es tut gut, Sie beide lebend wieder zu sehen.« »Das Vergnügen liegt ganz auf meiner ... äh, auf unserer Seite«, sagte Simon mit einem breiten Grinsen und nahm ebenfalls wieder Platz. Sein Blick tastete forschend ihren Körper ab. Die für weibliche Soldaten geschnittene Version der Uniform betonte ihre femininen Vorzüge in jeglicher Hinsicht. »Wenn Sie mit der Fleischbeschau fertig sind, McLaird, können wir vielleicht zur Sache kommen«, sagte Stone kühl. Simon schluckte und merkte erst jetzt, wie er sie unverwandt angestarrt hatte. Dabei war ihm wohl die Kinnlade herunter geklappt und er musste ein selten dämliches Bild abgegeben haben. »Äh ... jederzeit, Major, jederzeit«, erwiderte er. »Zur Sache kommen, meine ich ...« Stone seufzte. »Sie sind sehr direkt, Lieutenant. Ihre Disziplin haben Sie an den Höchstbietenden verkauft, nehme ich an?« »Entschuldigen Sie, aber es ist schon ein Weilchen her, dass ich im militärischen Dienst stand. Und das wissen Sie auch.« »Nichts für ungut, McLaird«, sagte Stone. »Aber wenn wir den Grundstein einer Zusammenarbeit legen wollen, dann sollten Sie sich auch zusammennehmen, oder?«
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Simon verzog die Mundwinkel und nickte schließlich, während sich Ken Dra mit vor der Brust verschränkten Armen auf seinem Platz zurückgelehnt hatte und sich köstlich zu amüsieren schien. Stone berichtete ihnen in knappen Worten von der Übernahme des Kommandos, dem Tod des Generals, der Evakuierung der Basis in der Mojave-Wüste und der Flucht Helen Dryers und Sealdrics. Simon merkte, dass sie versucht war, ein Detail auszulassen, als sie während der Erläuterungen verstohlen zu Boden blickte. Dann schaute sie hoch und ihn direkt an. Der Blick ihrer grünen Augen wirkte wie in weite Ferne gerichtet, aber er klärte sich rasch und fand in die Gegenwart zurück. »Offensichtlich ist das Thema General bei Shadow Command nicht ganz gelöst«, erklärte sie. »Es hat sich bereits ein weiterer Mann mit diesem Rang vorgestellt. Wir werden auf die eine oder andere Art klären, wer sich wirklich hinter der Organisation verbirgt.« »Wie?«, fragte Ken Dra auf seine nüchterne Art. »Ich habe eine Spezialagentin darauf angesetzt. Aber das soll jetzt nicht weiter von Belang sein. Ich glaube nicht, dass die Hand Shadow Commands bis hier herauf reichen wird. Und schon gar nicht bis dorthin, wohin wir gehen werden.« »Was meinen Sie damit?«, fragte Simon. Sherilyn Stone faltete die Hände ineinander und reckte das Kinn vor. »Zuerst sind Sie dran. Was hat sich bei Ihnen getan, seit wir uns auf diesem Asteroiden getrennt haben?« »Wir haben Dai Urshar Senekar Tarmalis gefunden«, sagte Ken Dra. »Allerdings haben wir auch ... Jee verloren.« Stone zog überrascht die Brauen hoch. »Nicht direkt«, beeilte sich Simon richtig zu stellen. »Sie ist dort geblieben.« In groben Zügen schilderte er dem Major, was sie auf DUST erlebt hatten. Als er endete, ließ Sherilyn Stone die Schultern hängen. Simon sah, dass sie anscheinend auf Hilfe von DUST gehofft hatte, so wie die Drahusem auch. »Das ist kein Weltuntergang«, versuchte Simon sie zu beruhigen. Stone lachte rau auf. »Sie haben gut reden. Denken Sie doch einmal drüber nach. Helen Dryer flieht mit dem ehemaligen Commander dieses Schlachtschiffs. Die werden sich nicht zu einem Picknick verabredet haben, oder?« Simon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er nickte, als er verstand worauf der Major hinaus wollte. Sealdric würde eine Flotte zusammenstellen, zur Erde zurückkehren und den Planeten ins Scardeenische Reich einverleiben oder vernichten. »Verdammt«, keuchte McLaird. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« »Vielleicht haben wir eine Möglichkeit, das zu verhindern«, sagte Sherilyn Stone. »Wie denn? Sie haben gut Reden, Herzchen. Dieses Schlachtschiff allein gegen eine ganze Flotte dieser Biester. Die ballern uns den Hintern bis zur Sonne.« Sherilyn Stone erhob sich von der Couch, schlenderte zur Bar und bestellte sich ebenfalls einen Drink. Als sie mit einem gefüllten Glas zurückkehrte, pendelte ihr Blick zwischen Simon und Ken Dra hin und her. »Ich habe damit nicht die FREEDOM gemeint«, erklärte sie. Dann drückte sie einen Knopf an ihrer Armbanduhr und sprach in ein verborgenes Mikrofon. »Bringen Sie Doktor Quire jetzt herein.« Φ Der Schlag kam ansatzlos und tat nicht einmal weh. Nichts tat mehr weh, seit sein Gesicht so geschwollen war, dass er selbst Mühe hatte, etwas zu sehen. Er war längst abgestumpft, und es grenzte an ein Wunder, dass er noch nicht bewusstlos zusammen gebrochen war. Dabei hatten sie inzwischen alle Informationen, die er ihnen geben konnte. Er machte sich
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nicht die Mühe, seinen Peiniger anzuschauen. Sein Blick – wenn man denn noch von einem Blick sprechen konnte – war stur zu Boden gerichtet. Wer ihm durch die Schwellungen in die Augen hätte blicken können, hätte nur Leere und Hoffnungslosigkeit darin erkannt. Obwohl er es nicht sehen konnte, spürte er instinktiv, dass sein Folterknecht zu einem weiteren Hieb ausholte. Aber es kümmerte ihn nicht. Nichts kümmerte ihn mehr. Bringt es doch endlich zu Ende, dachte er. Doch als hätten seine Gegner sogar diesen einen Gedanken aufgefangen, wurde er gleich ins Gegenteil gekehrt, als eine schwache Stimme von weit, weit her an seine Ohren drang. »Lassen Sie es gut sein.« Schritte entfernten sich. Das Geräusch einer zuschnappenden Tür klang wie durch Watte durch seinen Gehörgang. Dann war es still. Einfach still. Paul Gossett ließ sich hängen. Das letzte bisschen Würde und Stolz, das er sich bewahrt hatte, zerfiel in einem Moment der Schwäche und sein vorher noch mit aller Mühe aufgerichteter Körper, klappte einfach in sich zusammen. Seitwärts fiel er vom Stuhl, prallte mit der Schulter auf hartem Boden auf und rollte zwei, drei Meter ehe ihn die kalte Wand des Verhörzimmers stoppte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Kehle, ehe gnädige Bewusstlosigkeit sich wie ein schwarzer Mantel auf seinen Verstand senkte. Φ »Was halten Sie davon?«, fragte der Mann im karierten Flanellhemd, während er durch die verdunkelte Scheibe in den Verhörraum sah. Von der anderen Seite war das Glas verspiegelt, so dass niemand zu ihnen hereinschauen konnte. Der zweite Mann im dunklen Anzug, korrekt sitzender Krawatte und einer Sonnenbrille, die mehr Show war, als einen Zweck erfüllte, trat ebenfalls an die Scheibe heran und sah, wie der Gepeinigte im Verhörzimmer zusammenbrach und sich nach Stunden der Qual von Ohnmacht übermannen ließ. »Mehr kriegen wir nicht aus ihm heraus«, sagte Harry Thorne. Der andere nickte. »Das sehe ich auch so. Er hat uns bereits alles gesagt, nachdem wir ihm das Wahrheitsserum injiziert haben. Ich verstehe nur nicht, warum Sie ihn noch zusammen schlagen ließen.« Ein sardonisches Lächeln umspielte Thornes dünne Lippen. »Wissen Sie, Ian«, sagte er, »manchmal macht es uns einfach Spaß ...« Ian runzelte die Stirn und legte einen Blick auf, als verarbeite er eine neue Information, die er dann zum späteren Abruf in einen entlegenen Winkel seines Gedächtnisses ablegte. Er begnügte sich mit der Tatsache, die Auskunft erhalten zu haben und fragte nicht nach, was denn Spaß daran machte. Schließlich nickte er. »Wir sollten uns beeilen.« »Geht es bei Ihnen immer so hektisch zu?«, wunderte sich Thorne und fingerte eine Packung Marlboro aus seiner Hemdtasche. Er bot Marshal Ian eine Zigarette an. Als dieser mit einer abwehrenden Geste verneinte, zuckte der NSA-Agent die Achseln, schob sich selbst einen Glimmstängel zwischen die Lippen und ließ ein Feuerzeug mit dem Emblem des nationalen Geheimdienstes aufflammen. »Die anderen könnten ebenfalls auf die Idee kommen, selbstständig zu recherchieren«, räumte Ian ein. »Sie mögen zwar der Auffassung sein, dass sie für uns arbeiten, aber nach allem, was ich bisher gesehen habe, werden die sich nicht mit Informationen begnügen, die Sie ihnen zur Verfügung stellen.« Harry Thorne lachte zwischen zwei Zügen auf. Der ausgeblasene Zigarettenrauch hüllte Ians Gesicht in eine blaugraue Wolke ein, doch der Marshal verzog keine Miene, sondern sah sein
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Gegenüber ernst an. Thornes Lachen gefror ihm auf den Lippen. »Na schön, vielleicht haben Sie Recht. Aber ich denke verdammt noch mal, dass Pamela und Craig meine letzte E-Mail geschluckt haben. Und Pete wird sich aus der Sache heraus halten, da bin ich sicher.« »Was macht Sie da so sicher?«, fragte Ian und schaute nochmals durch die Fensterscheibe zum bewusstlosen Paul Gossett hinüber. Offenbar würde dieser nicht so schnell wieder erwachen. Thorne drückte die nicht einmal halb aufgerauchte Zigarette in einem Ascher auf dem Tisch neben sich aus, langte nach seinem Jackett, das über eine Stuhllehne hing und zog es sich über. »Das FBI hat andere Sorgen, als vermeintliche Außerirdische zu jagen. Pete Deighan wird sich mit den Informationen begnügen, die er von mir erhält. Der Secret Service hat in erster Linie die Aufgabe, den Präsidenten und den Kongress zu schützen – Pamelas Leute würden uns ohnehin nur im Weg herumstehen und Craig O'Roarke hat wahrlich genug im Nahen Osten zu tun. Wir sind am Ball, mein Lieber.« »Ich hoffe nur, Sie behalten Recht«, pflichtete Ian bei. »Ich möchte nicht meinen Vorgesetzen berichten müssen, dass unser Abkommen wegen Nachlässigkeit gescheitert ist.« Thorne machte eine wegwerfende Handbewegung. »Seien Sie unbesorgt. Ich halte meine Versprechen, solange Sie Ihre halten. Na schön, trommeln wir ein paar Leute zusammen und sehen, wie wir Gossetts Berichte verwerten können.« Er klopfte Ian auf die Schulter und wandte sich dann ab. Der Marshal folgte ihm kurz darauf. Sie waren keine zehn Schritte durch den angrenzenden Korridor gegangen, als Ian plötzlich stehen blieb und mit den Fingern schnippte. »Was ist?«, fragte Thorne irritiert. »Ich habe meinen ... Organizer im Beobachtungsraum vergessen.« Die seltsame Betonung des Wortes fiel Thorne sofort auf. Er lächelte verstehend. »Ach so, den. Na, dann holen Sie ihn mal fix, man kann nie wissen, wozu wir ihn brauchen. Ich bin in meinem Büro und fordere Helikopter an.« Ian nickte, wartete bis Thorne weiter ging und zog dann einen silbrigen, gerade mal Handteller großen Gegenstand aus der Tasche seines karierten Hemdes hervor. Das Gerät ließ sich aufklappen und entpuppte sich als eines der modernsten Mobiltelefone, die es auf dem Markt gab. Zumindest schien es äußerlich so. Ian tippte auf den Miniatur-Touchscreen, wartete, bis das Herstellerlogo verschwunden war und gab dann eine rasche Zahlenkombination über die Tastatur ein. Statt des Betreiberlogos einer hiesigen Telekommunikationsanstalt flimmerte ein bläulichgelbes Wabern über das Display. »Wir fahren wie besprochen fort«, sagte Ian im Flüsterton und mit den Lippen dicht am Telefon. Er wartete eine Antwort nicht ab, drückte eine Taste und beeilte sich dann, zu Thorne aufzuschließen. Φ Vergangenheit, 1972 – Irgendwo Das Erwachen war nicht schmerzhaft, obwohl er geträumt hatte, er würde mit unsäglicher Pein wieder das Bewusstsein erlangen. Mel Quire schlug die Lider auf und war übergangslos wach. Sein Verstand arbeitete mit einer nie geahnten Präzision, die er sonst nur nach zwei Litern starken Kaffees erlangte – zumindest direkt nach dem Aufstehen. Er richtete sich auf und ließ seinen Blick schweifen. Der Raum, in dem er sich befand, war funktionell eingerichtet. Zwei Schränke, die direkt in die Wände eingelassen waren, dazu ein Tisch mit vier Schalensitzen und zwei Liegen. Er sah auf das zweite Bett, wo seine Frau im selben Moment erwacht war, wie er selbst.
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»O Mel, ich glaub das einfach nicht«, sagte sie. Ihre Worte verrieten ihm, dass sie ebenso wie er wusste was mit ihnen geschehen war. Es gab keine unbeantworteten Fragen, nur Klarheiten. »Tja, wie es aussieht, ist es aber geschehen«, meinte er, schwang die Beine über den Bettrand und stand auf. Er half Natasha von der Liege herunter. Genau wie er selbst trug sie nicht mehr ihre Straßenkleidung, sondern eine eng anliegende, silbrige Kombination aus einem unbekannten Material. »Es kommt mir fast ... wie ein Traum vor«, sagte Natasha und strich sich durch die langen, roten Haare. »Aber es ist alles so deutlich.« »Es war kein Traum«, gab Mel zurück. »Das, was wir draußen am See gesehen haben war ein UFO. Wir sind entführt worden. Poul und Sue und ein paar andere auch, aber sie haben ...« »... sie wieder gehen lassen, ja ich weiß«, vollendete Natasha den Satz. »Aber warum sind wir noch hier?« Ein feines Summen ertönte. Die beiden fuhren herum. Neben den beiden Schränken wurde die Wand plötzlich durchscheinend und bildete einen Ausgang. Drei Gestalten betraten den Raum, eine davon erkannten Mel und Natasha sofort wieder: Der Riese, den sie aus dem Auto gesehen hatten. Inzwischen wussten sie, dass es sich bei ihm nur um eine Maschine handelte. Die anderen zwei wirkten so humanoid wie sie selbst. Wären ihre faltenlosen, wie in Marmor gemeißelten Gesichtszüge nicht gewesen, hätten sie sich kaum von einem Menschen der Erde unterschieden. Beide waren hoch gewachsen, schlank und männlich. Ihre Haut wirkte hell, aber nicht bleich. Die Haarfarbe schwankte zwischen Weiß und feinem Silber. In ihren Augen spiegelten sich Reflexe wider, die an das Funkeln von Sternen erinnerten. »Können wir jetzt gehen?«, fragte Natasha Quire mit einer Spur von Angst in der Stimme. Sie klammerte sich an Mels Arm fest. Er drückte sie und beobachtete die Fremden. Mit einem Gefühl von Ekel und Scham erinnerte er sich an die Untersuchungen, die er und Natasha über sich ergehen lassen mussten. Sie waren in eine Röhre gesteckt worden, Licht hatte sie eingehüllt. Man hatte ihnen geschmacklose Nahrung und eine abgestanden schmeckende Flüssigkeit zum Trinken gegeben. Zu welchem Ergebnis die Untersuchungen die Außerirdischen geführt hatten, wusste Mel nicht. »Sie lassen uns nicht gehen, oder?«, fragte Mel, den eine komische Ahnung beschlich. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen«, antwortete einer der beiden Fremden. »Ihr wollt wissen, warum ihr noch hier seid. Für eine Chance. Eine Möglichkeit, dazuzulernen und euer Wissen zum Wohl eurer Welt anzuwenden.« Mel runzelte die Stirn. »Ihr bietet uns an, mit euch zu kommen?« Der andere Alien nickte. »Aber ... Mel, das geht nicht«, sagte Natasha. Quire drehte sich zu seiner Frau um, fasste sie an den Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Denk nur an all die Möglichkeiten, die sich uns auftun. Du müsstest nicht als Sekretärin verkümmern, sondern kannst dich auf das konzentrieren, was du schon immer tun wolltest – Forschen! Wir würden Dinge sehen, die kein anderer vor uns zu Gesicht bekommen hat.« »Ist es denn das, was du willst?« Ihr Blick war flehend. Sie konnte sich anscheinend nicht mit dem Gedanken anfreunden, ihre Heimat zu verlassen. Jedenfalls nicht so ad hoc. »Weißt du noch damals, wie wir uns kennen gelernt haben?«, fragte Mel. »Die Mondlandung.« »Ja, die Mondlandung«, nickte er. »Was, wenn das ein Zeichen für unsere Zukunft war. Unsere wahre Bestimmung, dass wir beide als erste Menschen zu den Sternen hinauf fliegen – viel weiter als der Mond oder der Mars.« Natashas Augen funkelten. Sie schaute an Mel vorbei zu den Aliens. »Wohin ... wohin
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bringen Sie uns?« Einer der beiden Fremden trat an sie heran, fasste sie an beiden Händen und zog sie mit sich. Sie verließen den Raum, folgten einem runden, tunnelähnlichen Gang, der in einen ovalen Saal mündete. Die kuppelartige Decke war übersät mit Sternen. Zuerst dachte Mel Quire er würde wirklich durch eine transparente Scheibe in den Weltraum hinaus blicken, doch als sich die Sterne bewegten, Muster und Bilder formten, Planeten und Sonnen herangezoomt wurden, wusste er, dass es sich bei dem Sternenhimmel um eine Art Projektion handeln musste. Eine Navigationskarte des Alls. »Unser Flug führt uns nach Chalendur, einer Kolonie im Agares-Sektor«, erläuterte der Fremde. Zuerst konnte Mel mit den Worten des anderen nichts anfangen, doch in seinem Gehirn bildeten sich bereits andere Namen und Entfernungen dafür. Fünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt, eine Doppelsonne namens Scheratan. »Wir unterhalten Handelsbeziehungen zu den Drahusem auf Prissaria«, fuhr der Außerirdische fort. »Sicherlich ergibt sich auch hier die Möglichkeit, weiterführende Forschungen zu betreiben. In ein paar Zyklen könnt ihr zu eurer Welt zurückkehren und eure Rasse von eurem Wissen profitieren lassen. Dies ist ein einmaliges Angebot, ein Geschenk, wenn ihr so wollt.« Mel Quire stieß hörbar den Atem aus. Der Gedanke, dorthin zu gehen hatte gewiss seinen Reiz, aber er wusste nicht, ob er seine Frau davon überzeugen konnte. Wenn sie sich dagegen sträubte, die Erde zu verlassen, dann würde er bei ihr bleiben. Sie bedeutete ihm alles in seinem Leben. Er würde sie nicht verlassen. Niemals. Ganz gleich, wie verlockend ein Angebot sein mochte. Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sie plötzlich sagen: »Wir nehmen das Geschenk an.« Mel drehte sich zu Natasha um und blickte sie fragend an. »Das ist es doch, was du wolltest, oder?«, meinte sie zögernd. »Nur, wenn du es auch willst, Liebes«, sagte er. »Ich bleibe an deiner Seite, Mel, das weißt du doch. Wo du hingehst, gehe ich auch hin. Und wer weiß, vielleicht hast du Recht und die Mondlandung war ein Zeichen für das, was auf uns zukommt.« Sie sahen sich lange an, merkten nicht einmal, wie die Außerirdischen ihre Entscheidung bereits in die Tat umsetzten, sie zu dem Schlafraum zurückführten und auf die Liegen betteten. Mel und Natasha Quire schliefen ein – als sie wieder erwachten, befanden sie sich bereits auf einer fernen Welt, wie sie sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten. Φ Gegenwart, Mondorbit Der trockene Hals erinnerte Simon McLaird daran, dass er sich dringend einen weiteren Dimple an der Bar von Stones Privatquartier bestellen sollte, doch er hing zu gebannt an den Lippen des älteren Herrn, der ihm gegenüber saß. Der Mann mochte Mitte Fünfzig sein. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Das rechte Augenlid zuckte unentwegt, was Simon irritierte. Violettes Dämmerlicht fiel auf seine kahle Stirn. Er hatte sich als Dr. Mel Quire vorgestellt und Simon und Ken Dra eine haarsträubende Geschichte aus den Anfängen der Siebziger aufgetischt. Demnach waren er und seine Frau von einem Raumschiff entführt worden. »Mein lieber Schwan«, sagte Simon. »Haben Sie zu tief ins Glas geschaut, Doc?« »Er sagt die Wahrheit«, mischte sich Ken Dra ein. »Vor dreißig Jahren eurer Zeitrechnung war das Chalendur-System noch unabhängig und hat tatsächlich diplomatische Beziehungen und Handelsabkommen mit Prissaria unterhalten. Erst zehn Jahre später schlossen sie sich
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dem Scardeenischen Reich an.« Simon schüttelte den Kopf. »Trotzdem ... warum sollten die ausgerechnet hierher kommen, ein Pärchen von der Erde entführen und ihnen ihre Technologie offenbaren?« Quire lächelte freundlich. »Wie ich schon sagte, es war ein Geschenk. Außerdem ist es müßig darüber zu diskutieren, warum man uns an dem Wissen teilhaben ließ. Das ist mehr als dreißig Jahre her.« »Ja«, meinte Simon und starrte wieder auf das zuckende Augenlid, »und jetzt sind Sie zurück, um die Erde daran teilhaben zu lassen. Das ist doch verrückt. Warum sind sie nicht vor zwanzig Jahren hier aufgekreuzt?« »Eigentlich wäre ich gar nicht mehr zurückgekommen«, sagte Quire. »Ich verbrachte etwa zwei irdische Jahre auf Chalendur, reiste danach nach Prissaria...« »Sie waren auf Pris?«, platzte Ken Dra dazwischen. Quire nickte. »Etwa ein Jahr. Ich weiß, dass Sie Drahusem sind, Schwertträger. Ich habe viel über Ihre Kaste gehört, aber während meines Aufenthalts auf Ihrer Heimat, ist mir kein Schwertträger begegnet. Ich würde gerne wieder dorthin fliegen, wenn es möglich ist.« »Möglich wäre«, korrigierte Simon und sah das betroffene Gesicht seines Freundes. »Was meinen Sie damit?«, hakte Quire nach. »Die Scardeener haben den Planeten verseucht und alles Leben auf ihm vernichtet.« Quires Augen weiteten sich. Er wurde aschfahl und kämpfte sichtlich mit seiner Beherrschung. Offenbar hatte er die Wahrheit gesagt und sich wirklich früher auf Prissaria aufgehalten. Seine schreckensbleiche Miene sprach jedenfalls Bände. Schließlich vergrub er die Hände in sein Gesicht und begann leise vor sich hin zu schluchzen. »Sie haben es getan«, murmelte er. »Hogas-Bakterien, nicht wahr?« »Woher wissen Sie das?« Ken Dra blickte alarmiert auf. Quire schnäuzte in ein eilig aus seiner Kleidung hervorgekramtes Taschentuch, wischte sich die Tränen beiseite und atmete tief durch. »Nach meinem Aufenthalt auf Prissaria waren mein und Natashas Wissensdurst noch längst nicht gestillt. Wir wollten noch mehr Wunder sehen. Unsere Freunde von Chalendur hatten uns ein hyperraumtaugliches Raumboot zur Verfügung gestellt mit dem wir in die Regionen des Scardeenischen Reiches vordrangen. Dieses Wissenschaftsimperium lockte uns an, wie das Paradies. Hier schien alles möglich zu sein – Menschen haben ihr Leben einzig und allein der Forschung gewidmet.« »Und dem Krieg, der Unterdrückung, der Eroberung ...«, fuhr Simon dazwischen. »Ja ... aber das erfuhren meine Frau und ich erst später, als es fast schon zu spät war. Im Physikgremium auf Scardeen Prime erhielten wir eine Anstellung und arbeiteten an verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsprojekten mit. Ich fürchte, der Energiewerfer dieser Schlachtschiffe ist auf meinem und Natashas Mist gewachsen. Auf einer Konferenz trafen wir mit Wissenschaftlern anderer Abteilung zusammen und erfuhren von den Fortschritten in der biologischen Kriegsführung – und damit von den Hogas-Bakterien.« Er machte eine Pause, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und lehnte sich in den Polstern zurück. Simon sah, dass Sherilyn Stone ebenso gebannt den Schilderungen des Wissenschaftlers lauschte, wie Ken Dra und er selbst. Offenbar hatte sie noch nicht alles von dem erfahren, was Quire ihnen nun erzählte. »Natasha und ich sahen endlich ein, dass unsere Forschungen nur dazu dienten, die Flotte von Scardeen zu stärken, um andere Welten ins Reich zu annektieren, fast immer mit Gewalt. Religionen und Kulturgut wurden gnadenlos ausgelöscht, um die Technokratie in jeder Kolonie durchzusetzen. Wir wussten, dass wir unbeabsichtigt mitgeholfen haben, den Terror in die Milchstraße zu bringen. Von da an bereiteten wir unsere Flucht vor und warteten auf einen günstigen Moment. Wir tarnten einen Forschungsausflug mit unserem privaten Raumboot und sprangen dann so weit durch den Hyperraum, wie wir es ohne
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Navigationskarten wagten. Wir hätten genauso gut in einer Sonne wieder austreten können, aber das Schicksal führte uns nach ... Cloudgarden.« Zwischen Simons Brauen bildete sich eine steile Falte. Als Mel Quire nicht weiter sprach, blickte er verwirrt Ken Dra, dann Sherilyn Stone an, doch beide hoben nur verwirrt die Schultern, während der alte Mann erneut in Tränen ausbrach und mehrmals den Namen seiner Frau murmelte. Φ Die Rotorblätter des Blackhawks wirbelten Unmengen an Staub auf, die den herausspringenden Männern im ersten Moment völlig die Sicht raubten. Auch Harry Thorne kniff unter der Sonnenbrille die Augen zu und verfluchte sich dafür, dass er den Rat des Piloten nicht angenommen und eine Schutzbrille aufgesetzt hatte. Nur Ian schien keine Probleme mit dem Wüstensand zu haben. Ohne zu blinzeln sprang er aus dem Helikopter, rannte aus dem Bereich der Rotorblätter und ließ sich am Rande einer Düne zu Boden gleiten. Die beiden Männer neben ihm hatten offenbar Bedenken, sich mit ihren Anzügen in den Sand zu legen und taten es ihm erst gleich, als auch Thorne Ians Beispiel folgte. Einsatzmonturen wären sinnvoller gewesen, raunte es hinter Thornes Stirn. Aber wann hatte er das letzte Mal so einen Feldeinsatz durchgeführt? Nicht bei der NSA jedenfalls. Es wird Zeit umzudenken. Der Blackhawk hob wieder vom Boden ab und ließ sich nach hinten treiben. Rechts und links neben ihm gingen zwei libellenförmige Apaches in Stellung. Die Hubschrauber waren Leihgaben der U.S. Army. Wenn der zuständige Befehlshaber von Fort Irwin wüsste, dass die NSA militärische Operationen knapp vierzig Meilen von seinem Stützpunkt entfernt durchführte, nur um Außerirdischen nachzujagen, dann konnte sich Thorne auf etwas gefasst machen. Ian tippte dem NSA-Operationschef auf die Schulter und deutete über den Hügelkamm. Thorne nickte kurz und robbte die Düne hinauf, die Flüche seiner beiden Kollegen ignorierend, die verzweifelt versuchten, sich den Staub von den Regierungseinheitsanzügen zu klopfen. Im ersten Moment konnte Thorne nichts erkennen. »Was haben Ihre Adleraugen entdeckt?« Statt einer Antwort reichte Ian ihm ein kleines, silbriges Fernglas. Thorne betrachtete die eigentümliche Bauweise für eine Sekunde, ehe er durch das Binokular spähte. »Wieder ein neues Spielzeug?« »Fragen Sie besser nicht«, gab der Marshal zurück. »Schon gut«, erwiderte Harry Thorne. »Ich hatte versprochen, nicht zu fragen. Zumindest so lange nicht, bis Sie grünes Licht erhalten.« Im ersten Moment sah der NSA-Agent nur eine Farbwolke im elektronischen Display. Gerade, als er einen Einwand vorbringen wolle, schnellte Ians Hand vor und drückte einen Knopf. Sofort lösten sich die bunten Schleier auf und machten einem gestochen scharfen Bild Platz. Erschreckend nahe bewegten sich bewaffnete Gestalten durch den Wüstensand. Ein Spürhund blickte direkt in Thornes Richtung, dass der Agent fast meinte, er könne ihn sehen und jeden Moment losbellen. Doch als er das Glas absetzte, stellte er zu seiner Beruhigung fest, dass zwischen ihm und den anderen eine gute halbe Meile Distanz lag. »Starkes Gerät«, kommentierte Thorne. »Schreiben Sie fünf Dutzend für meine Abteilung auf.« »Vielleicht sollten wir später über die Überlassung von Geräten und Material sprechen und uns den wichtigen Dingen zuerst widmen.« Er deutete wieder nach vorn zu den Soldaten und Hunden. Thorne verdrehte die Augen und blickte erneut durch das Fernglas.
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»Die sind von der Air Force«, stellte er fest. »Suchen die nach ihrer abgestürzten F-117A? Ich dachte, wir hätten alle Spuren beseitigt.« »Sehen Sie genauer hin«, riet Marshal Ian. Ohne großartig suchen zu müssen, erspähte Thorne im Display eine ihm wohlbekannte Gestalt: Craig O'Roarke, den gegenwärtigen Deputy Director der CIA. Thorne schluckte hart. »Ganz fantastisch.« »Soviel zu den Problemen im Nahen Osten, um die sich die CIA kümmert«, kommentierte Ian ungerührt. »Konnte ich das ahnen?«, blaffte Thorne zurück und zuckte zusammen, als O'Roarke im Display direkt in seine Richtung schaute und winkend eine Hand hob. In der anderen hielt er ein Mobiltelefon. Keine Sekunde darauf klingelte Thornes eigenes Gerät mit der unnachahmlichen Indiana Jones Fanfare. Einer seiner Leute neben ihm im Sand schmunzelte, wurde jedoch übergangslos Ernst, als Thorne ihm einen scharfen Blick zuwarf. »Glauben Sie immer noch, dass sie jetzt für uns arbeiten?«, fragte Ian ironisch. »Warum hab ich nur das Gefühl, dass Sie bereits viel zu lange hier sind?«, knurrte Harry Thorne zurück und fingerte sein Telefon aus der Jackettinnentasche hervor. »Ja, Thorne hier?« »Harry!«, rief eine aufgeweckte Stimme am anderen Ende der Leitung. »Nehmen Sie auch ein Sonnenbad in Mojave?« Thorne rieb sich die Schläfe, stand auf und winkte nun ebenfalls in Richtung der Air Force Soldaten, die das Areal hinter dem Hügel abgesperrt hatten. Vier UH1-N Hubschrauber waren im näheren Umfeld gelandet und warteten mit laufenden Rotoren, während zwei weitere Maschinen, mit Waffenträgern ausgestattet, in der Luft patrouillierten. »Nette Show, die Sie da bieten, Craig«, sprach Harry Thorne ins Telefon. »Warum kommen Sie nicht rüber zu unserer Party«, schlug O'Roarke vor und winkte zur Unterstreichung seiner Worte noch einmal. Thorne seufzte. Er beendete die Verbindung, drehte sich um und gab den beiden Apaches das Zeichen für den Abflug. Die Kampfhelikopter schwirrten davon, während sich der Blackhawk näherte, um die NSA-Leute und Marshal Ian an Bord zu nehmen. Keine drei Minuten darauf stand Thorne dem Deputy Director der CIA gegenüber. »Sagen Sie nichts, Harry, ich kenne das Spielchen«, wehrte O'Roarke ab, noch bevor Thorne den Mund aufmachte. Er hatte tatsächlich seine Lüge verteidigen wollen, die er per E-Mail an die Chefs der CIA, dem FBI und den Secret Service geschickt hatte. »Sie haben mir von Anfang an nicht getraut?«, erkundigte er sich dann. »Oh, ich hätte die Sache auf sich beruhen lassen«, meinte O'Roarke grinsend. »Aber die Air Force hat das Wrack ihrer F-117A vermisst. Ganz gleich, was Sie denen erzählen, die wollten die Unfallstelle absichern, Trümmerteile bergen, den Flugschreiber haben, die Erkennungsmarke ihres Piloten, der dummerweise der Schwiegersohn in spe eines Stützpunktkommandanten war ... das volle Programm, Harry.« »Das erklärt aber nicht Ihre Anwesenheit, Craig«, warf Thorne ein. »Die CIA interessiert sich doch sonst nicht für Air Force Maschinen, die auf heimischen Boden herunterkommen.« »Ach wissen Sie, Harry, als mich ein General darüber informierte, dass es kein Wrack des Stealth-Fighters gibt und auch keine Spur zu den mutmaßlichen arabischen Terroristen gefunden wurde, da hab ich mir meinen Teil schon gedacht. Sie verfälschen die Tatsachen ja nicht, weil Sie Spaß daran haben, sondern weil Sie etwas gefunden haben.« »Haben wir das?« Die Frage kam nicht von Thorne, sondern von Ian, der dem Palaver bisher schweigend gefolgt war. Eine Zeitlang starrte Craig O'Roarke den Marshal einfach nur an. Irgendwann senkte der Deputy Director der CIA nervös den Blick und kratzte sich an der Stirn. Ohne wieder
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aufzusehen fragte er: »Wobei mich brennend interessieren würde, was die U.S. Marshals damit zu tun haben.« Thorne wollte etwas einwenden, doch Ian bedeutete ihm mit einer kaum merkbaren Handbewegung, sich herauszuhalten. »Simon McLaird ist zum Staatsverbrecher erklärt worden. Meine Aufgabe besteht darin, ihn vor Gericht zu bringen.« »Sie sind Deputy Marshal, richtig?«, fragte O'Roarke. Thorne sog scharf die Luft ein. »Was wird das jetzt, Craig? Kompetenzgerangel? Ian untersteht dem U.S. Marshal Büro in San Francisco. Ich arbeite schon seit Jahren mit ihm im Hinblick auf terroristische Aktivitäten in Kalifornien zusammen.« O'Roarke hob abwehrend die Hände. »Schon gut, ich wollte Ihnen nicht auf die Füße treten. Vielleicht sollten wir uns jetzt doch dem widmen, was wir hier gefunden haben.« Thorne hob die Brauen. »Ach, Sie haben etwas gefunden?« Der CIA-Agent nickte nur und deutete auf ein Felsmassiv, etwa zweihundert Meter von den gelandeten Helikoptern entfernt. Als Thorne und Ian die Richtung einschlagen wollten, hielt O'Roarke sie jedoch zurück. »Da gibt es nichts Besonderes zu sehen, nur ein eingestürztes Tunnelsystem. Wir vermuten, dass sich im Bergmassiv und unterirdisch eine geheime Basis befunden hat.« »Eine Basis, soso«, meinte Harry Thorne. Genau das hatten sie von Paul Gossett bereits erfahren. Er verfluchte sich im Stillen dafür, dass er nicht auf Ians Rat gehört und eher hier herausgefahren war. »Ja, Shadow Command muss sich hier eingenistet haben«, bestätigte O'Roarke. »Allerdings haben die den halben Berg in die Luft gejagt. Da ist nichts mehr zu machen.« »Der Vogel ist also ausgeflogen«, kommentierte Thorne und tat weiterhin so, als wüsste er von nichts. Gossett hatte ihnen gesagt, dass er während der Evakuierung des Stützpunktes geflohen war. Und nachdem sie von dem Raumschiff erfahren hatten, stand für Ian und ihn fest, dass sie auf der Erde vergeblich nach der geheimen Organisation suchen würden. »Sieht so aus«, nickte O'Roarke. Er führte sie zu einer riesigen Mulde mitten im Sand. Der Boden war hier glatt, nicht körnig. Er wirkte glasiert, als wäre der Sand von unglaublicher Hitze geschmolzen worden und anschließend wieder erstarrt. Wie ... »Silikon«, sprach Ian aus, was auch Thorne im gleichen Moment dachte. »Was bedeutet das?« Die Frage kam von einem der NSA-Agenten, die zusammen mit Harry und Ian im Hubschrauber hergekommen waren. »Reden wir nicht um den heißen Brei herum«, sagte Craig O'Roarke, als Harry Thorne nur die Achseln zuckte. »Sie wissen genauso gut wie ich, dass Shadow Command hier ein außerirdisches Raumschiff geparkt hat. Unser Pilot Rick Delgado hat es aufgespürt, wurde abgeschossen und Sie haben versucht, es zu vertuschen.« Thorne lachte laut auf und schüttelte dabei den Kopf. »Ich weiß nicht, wo Sie Ihre Illusionen hernehmen ...« »Hören Sie auf, mich verscheißern zu wollen, Harry!«, fuhr O'Roarke dazwischen. »Wir kennen uns lange genug, um zu wissen, dass jeder von uns sein eigenes Süppchen kocht. Wenn Sie nicht wollen, dass ich die Sache an die große Glocke hänge, dann kooperieren Sie verdammt noch mal mit uns! Es gibt einige Leute, die schon bei mir Schlange stehen und nach Antworten verlangen. Soll ich der Air Force, der NASA und dem Pentagon von Ihrer Schlappe hier berichten? Wie lange, glauben Sie wohl, dauert es, bis der Präsident dann doch davon erfährt – ganz zu schweigen von Ihren Vorgesetzten. Sie können einpacken, Harry, wenn Sie nicht mit mir zusammenarbeiten.« »Soll das eine Drohung sein?«, fragte Harry lahm, obwohl er wusste, dass er sich nicht mehr herauswinden konnte. Er hatte geblufft, sehen lassen und verloren. Jetzt musste er zusehen, dass er das Beste daraus machte und nicht unversehens noch mehr seiner Geheimnisse Preis
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gab. Sein Seitenblick zu Marshal Ian bestätigte ihm, was der andere von der Sache hielt. Die sonst eher sanftmütigen Augen Ians blitzen in einem unnatürlichen Blau auf. Wenn Blicke töten könnten, dachte Harry Thorne und fühlte einen eiskalten Schauer seinen Rücken herunter laufen. Seine Nackenhaare sträubten sich förmlich. Er atmete tief durch. Ians Blick wanderte zu O'Roarke, und der unheimliche Moment verging. »Also?«, fragte O'Roarke. Thorne schluckte und starrte auf seine Fußspitzen. »Was wollen Sie hören, Craig? Das, was Sie längst schon alles wissen? Sie wollen hören, dass es hier eine Basis von Shadow Command gab, die der Air Force Jet entdeckt hat? Ja. Sie wollen hören, dass Shadow Command ein Alienschiff hier geparkt hat? Ja. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass diese Basis aufgegeben wurde und das Schiff nicht mehr da ist.« Craig O'Roarke verschränkte die Arme vor der Brust. »Und Sie haben nicht zufällig eine Idee, wo die jetzt stecken können?« Thorne musste sich beherrschen, nicht aufzulachen. »Wir haben es schon mit einer Vermisstenmeldung auf Milchtüten versucht«, spöttelte er. Wieder ernst werdend, zeigte er nach unten. »Sehen Sie sich doch diesen Silikonboden an! Was meinen Sie wohl, wie groß dieses Schiff gewesen ist und wie weit man es über die Straße zu einem anderen Ort schaffen könnte, hm?« O'Roarke starrte den NSA-Agenten sprachlos an. Er schüttelte leicht den Kopf, wollte sich an die Stirn tippen, doch er führte die Geste nicht zu Ende. Stattdessen klappte ihm die Kinnlade herunter, seine Augen weiteten sich. Langsam legte er den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel hinauf. Eine Zeitlang stand er einfach da und starrte ins Nirgendwo, und als er endlich die Sprache wieder fand und laut fragte, ob sich Thorne sicher war, erhielt er keine Antwort. Der NSA-Agent, seine Leute und Marshal Ian waren bereits wieder zum Blackhawk zurückgekehrt. Thorne hob zum Abschied spöttisch eine Hand und kletterte dann auf die Rückbank des Helikopters. Nur eine Sekunde darauf klingelte sein Mobiltelefon. Natürlich war O'Roarke am Apparat. »Was wollen Sie noch, Craig? Ich denke, wir sind quitt, was den Informationsaustausch anbelangt.« »Noch nicht ganz, Harry. Ich will Gossett.« Die Aggregate des Hubschraubers summten laut auf. Die Rotorblätter hämmerten. Thorne presste sich ein Finger ans linke Ohr, während er mit der Rechten das Telefon hielt. Mit einem Ruck hob der Blackhawk vom Sandboden ab, zog eine Kurve über das von der Air Force abgeriegelte Areal und flog dann Richtung Westen. Thorne unterbrach die Verbindung, ließ das Mobiltelefon in der Jacke verschwinden und griff nach den von einem seiner Leute dargebotenen Kopfhörern. Als er sie endlich übergestülpt hatte, atmete er erleichtert auf. Der ohrenbetäubende Lärm wurde auf ein erträgliches Maß reduziert. Ein Rauschen drang aus dem Kopfhörer, als sich Ian in die Bordkommunikation einklinkte. »Was wollte er?« »Er weiß, dass wir Gossett haben«, gab Thorne zurück. »Fragen Sie mich nicht, woher, aber wenn wir jetzt nicht nach seiner Pfeife tanzen, kommen wir in arge Schwierigkeiten.« »Sie meinen meinetwegen?«, fragte Ian. Thorne nickte nur. Φ Vergangenheit, 1981 – außerhalb der galaktischen Ekliptik Der Masseschatten des blauen Sterns hatte sie förmlich aus dem Hyperraum gerissen. Keine
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Sekunde zu früh. Nur wenige Augenblicke später, dann wären sie direkt im Herzen des Sterns aus dem übergeordneten Kontinuum gefallen und unweigerlich binnen Sekundenbruchteilen im Atomorkan verpufft. Mel Quire stieß einen überraschten Schrei aus. Seine Frau neben ihm im Sitz ächzte. Sie waren der blauen Sonne gefährlich nahe gekommen. Nur die energetischen Schirme bewahrten sie davor, augenblicklich zu verglühen. Quire programmierte einen Umkehrkurs und gab vollen Schub. Das Raumboot stemmte sich gegen die Gravitationskräfte des unbekannten Sterns, der sie einfach in sich hineinziehen wollte. Im ersten Moment sah es so aus, als würden sie es nicht schaffen, doch dann kamen sie frei und schossen in den freien Raum hinaus. Quire ließ die Triebwerke für gut fünfzehn Minuten auf Volllast laufen und beobachtete dabei besorgt die Treibstoffanzeige. Das Boot war für einige Hyperraumsprünge und Annäherungsflüge im Normalraum ausgerüstet, doch bei diesen extremen Belastungen näherten sich die digitalen Ziffern rasch der Nullmarke. Endlich zeigten die Massensensoren an, dass sie aus dem Schwerefeld des Sterns gelangt waren. Quire deaktivierte den Schub, schaltete die Triebwerke auf Stand-by und atmete tief durch. »Das war verdammt knapp«, presste er atemlos hervor. »Und wir sitzen jetzt hier fest«, fügte Natasha resigniert hinzu. »Wie ...?« Dann sah er, was sie meinte. Sie wären mit der Kraft des Unterlichtantriebs allein nicht der Gravitationsquelle entkommen. Natasha hatte Energien aus den Hyperemittern umgeleitet und sie den Triebwerken zugeführt, um ihnen für kurze Zeit höheren Schub zu geben. Es hatte geklappt, dafür waren die Brennzellen des Hyperkonverters leer. Mel Quire stöhnte leise auf. Er warf einen Blick auf die Navigationsdisplays. Sie hatten keine Sternkarten dieser Region im Computer, ja sie wussten ja nicht einmal, wo genau sie aus dem Hyperraum herausgekommen waren. »Was sagen die Sensoren?«, fragte Mel. Natasha verzog die Mundwinkel und verdrehte die Augen. »Die guten Nachrichten: Dieses Sonnensystem besitzt Planeten. Die schlechte: Es gibt nur einen einzigen. Abstand zum Zentralgestirn knapp 250 Millionen Kilometer. Eine kleine Welt mit 8.342 Kilometern Durchmesser.« »Bewohnbar?« Natasha zuckte die Achseln. »Aus dieser Entfernung noch nicht messbar. Wir müssten näher heran.« »Ich schätze, uns bleibt sowieso keine andere Wahl.« Mel ließ sich die Navigationsdaten auf die Steuerkonsole leiten und setzte einen Kurs zu der unbekannten Welt. Nach einer Stunde eines schweigsamen Flugs erreichten weitere Sensorenwerte das Raumboot. Der Planet besaß eine Umlaufzeit von 702 Tagen um die blaue Sonne. Seine Eigenrotation betrug sechsundzwanzig Stunden und zwölf Minuten. Als Natasha Quire die Daten der Oberfläche ablas, lief ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken. »Jetzt werden wir wohl ein Problem haben«, meinte sie. »Äquatorialtemperaturen bei Minus fünf bis Minus zehn Grad Celsius. An den Polen gegenwärtigen Minus fünfzig Grad, am Südpol sogar Minus einhundert.« »Wie winterlich romantisch«, witzelte Mel. »Lass uns ein Iglu bauen und aneinander kuscheln.« Natasha lachte kurz auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Die Temperaturen sind nicht unser schlimmstes Problem. Auf der Oberfläche toben Stürme von 250 Kilometern pro Stunde. Soweit ich sehen kann, gibt es keine ruhigen Zonen.« »Dann wird es ja richtig lauschig«, kommentierte Mel Quire. »Würdest du bitte mal den Ernst der Lage erfassen«, erinnerte Natasha. »Der Hypergenerator ist ausgebrannt, der einzige Planet dieses Sonnensystems ist lebensfeindlich
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und wir sind ... wir sind ...« Sie blickte auf das Astrogationsdisplay auf dem gerade die Berechnungen des Computers über ihren Zielort eintrafen. Anhand bekannter Sternenkonstellation, der Sprungrichtung und des Austrittsvektors versuchte der Computer ihren gegenwärtigen Standort zu ermitteln. »Großer Gott!«, stieß Natasha Quire hervor. »Wir befinden uns zehntausend Lichtjahre vom äußersten Spiralarm der Milchstraße entfernt, mitten im Leeraum.« »Was? Soweit können wir unmöglich gesprungen sein ...« Mels Augenlid zuckte so stark wie noch nie, als wolle es steppen. Um die Kontrollen besser erkennen zu können, beugte er sich vor und ließ seine Finger fieberhaft über die Tastatur gleiten. Er veranlasste die Sensoren zu einer Rundumabtastung und wartete darauf, dass sie noch andere optische Signale als das des Sterns und seines Begleiters aufnahmen. Als er eine Lichtquelle ortete, projizierte er sie auf den Schirm der Mittelkonsole und hielt wie gebannt den Atem an. Vor dem schwarzen Hintergrund des Weltraums leuchtete die heimatliche Spiralgalaxis, die die Menschen als Milchstraße bezeichneten. Sie wirkte wie auf den astronomischen Fotos des Andromeda- oder Triangulumnebels. Eine Welteninsel mit über 100.000 Lichtjahren Durchmesser, knapp hundert Milliarden Sonnen und unzähligen Sternhaufen. Mel Quire seufzte. Der Anblick hatte etwas Gewaltiges und gleichzeitig Wunderbares an sich. Die Galaxis wirkte einfach schön und erhaben – aus der Ferne betrachtet. Als sich Quire daran erinnerte, dass sie sich momentan zehntausend Lichtjahre vom äußersten Stern des ihnen am nächsten gelegenen Spiralarms befanden, krampfte sich eine eiskalte Hand um sein Herz. Er wusste nicht, ob sie die einzigen Bewohner der Milchstraße waren, die sich je soweit herausgewagt hatten, zumindest waren sie die ersten, die von den bekannten Gebieten des Scardeenischen Reiches bis hierher vorgestoßen waren. Unglaublich dabei war, dass im Leeraum zwischen den Galaxien noch Sterne existierten. Die blaue Sonne, um die der sturmumtobte Planet kreiste, musste sich vor Äonen entweder am Rand der Milchstraße befunden haben und im Laufe der Zeiten hinaus getrieben worden sein, oder sie entstammte einem anderen Mitglied der lokalen Galaxiengruppe und war jetzt in den Gravitationsbereich der Galaxis geraten. »Tja«, meinte Natasha, »wir haben hier eine astronomische Sensation vor uns und niemanden, dem wir von ihr erzählen könnten. Was machen wir jetzt? Hier warten, bis uns die Luft ausgeht oder einen Funkspruch absetzen?« »Würde uns jemand hören?« »Der Hyperfrequenz-Sender funktioniert. Wir sollten ohne Probleme Scardeen erreichen können. Wenn wir denen verklickern, dass wir einem Magnetsturm ausweichen mussten und blindlings in den Hyperraum gesprungen sind, kommen sie uns vielleicht abholen. Immerhin arbeiten wir an wichtigen, militärischen Projekten mit und sind nicht ganz unentbehrlich.« Quire nickte stumm in sich hinein. Natasha hatte Recht. Sie beide waren wichtig für Scardeen. Ihr Wissen und die Fähigkeiten, die sie sich im Laufe der letzten Jahre angeeignet hatten, ließen sie in der vordersten Front der scardeenischen Wissenschaftler rangieren. Aber wenn sie jetzt um Hilfe riefen, hatten sie nichts gewonnen. Wahrscheinlich würde der Wissenschaftsrat sie auf Scardeen festsetzen und ihnen keine Exkursionen mehr außerhalb des Sonnensystems genehmigen, damit sie ihnen nicht noch einmal verloren gingen. Nein, so kamen sie nicht weiter. Schließlich waren sie von Scardeen geflohen, weil sie sich nicht mehr mit ihrer Arbeit identifizieren konnten und wussten, dass sie nur Mittel zu dem Zweck waren, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. »Wir gehen runter«, entschied Mel Quire. »Wie bitte?« Natashas Gesichtszüge entgleisten. »Dort hinunter?« »Wenn wir nicht ersticken wollen, unsere einzige Möglichkeit«, sagte Mel. »Die Luft ist atembar. Vielleicht finden wir ja irgendetwas Brauchbares, das uns weiterhilft, um unseren Hyperantrieb wieder flott zu machen. Es ist allemal besser, als hier oben unseren Sauerstoff
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zu verbrauchen oder zurück nach Scardeen zu kehren.« Natasha Quire sog scharf die Luft ein. Ihr Blick wanderte zu den Anzeigen auf den verschiedenen Monitoren und blieb letztendlich auf der Projektion der Milchstraße haften. Nach einer Weile stimmte sie ihrem Ehemann zu. Mel Quire programmierte einen neuen Kurs, schwenkte in den Orbit des einsamen Planeten ein und begann mit dem Landeanflug. Φ Gegenwart, Vereinigte Staaten von Amerika, Erde. Die Tür würde förmlich aufgerissen. Hektische Schritte klangen auf. Dann das Scheppern von Metall. Paul Gossett bekam nicht einmal bewusst mit, was geschah. Er befand sich in einem Dämmerzustand, hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Die Schmerzen hatten irgendwann wieder eingesetzt. Er litt Qualen, hatte Hunger und Durst. Doch niemand war zu ihm gekommen, um ihn zu versorgen. Schwerer Atem drang an sein Ohr. Er spürte einen Druck auf seiner Brust. Seine Füße stießen gegen etwas. Eine leise Stimme redete auf ihn ein, doch er verstand die Worte nicht. Irgendwann merkte er, dass er sich bewegte. Nicht eigenständig, er wurde getragen oder einfach über den Boden geschleift. Etwas klackte. Ein Stechen in seinem Arm ließ ihn aufstöhnen. Etwas veränderte sich. Seine Augenlider flatterten. Die Trägheit seiner Gedanken wich einer klaren Sicht. Schlagartig erinnerte er sich, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Gossett richtete sich auf und schrie vor Schmerz. Eine kalte Hand legte sich über seinen Mund, drückte fest zu. Jemand drängte ihn gegen die Wand und zischte ihm etwas zu, das er nicht verstand. Der Ex-CIA-Agent und Ex-Shadow-Command-Soldat starrte in die grünen Augen einer Frau, die gerade mal einen Kopf kleiner war als er, ihn aber ohne sichtliche Anstrengung gegen die Wand gepresst hielt. Ihr Blick wirkte gehetzt. Ihr schulterlanges, brünettes Haar war schweißnass. Sie wäre sicher als hübsch zu bezeichnen gewesen, wären da nicht die dunklen Flecken von Anstrengung in ihrem Gesicht gewesen. Täuschte sich Gossett, oder schimmerten grünliche Strähnen durch die schlechte Tönung ihres Haars hindurch? »Wer sind Sie?« Seine Stimme war kaum mehr denn ein Wispern. Paul Gossett spürte ein stechendes Ziehen in der Kehle. Er hätte alles für ein Glas Wasser gegeben, aber seine Peiniger von der NSA hatten ihm während des Verhörs jegliche Flüssigkeit und Nahrung verweigert. Die Frau blickte sich nach links und rechts um. Statt einer Antwort zerrte sie ihn einfach mit sich fort den Gang entlang. Gossett vermochte keinen Widerstand zu leisten. Willenlos ließ er sich von der Fremden bis zu einem Expresslift ziehen. Als sich die Türen öffneten, gewahrte er zwei Männer in der Kabine. Sofort riss ihn die Frau herum und drängte ihn durch den Ausgang zum Treppenhaus, der direkt neben dem Lift lag. Sie ließ die Tür ins Schloss fallen und wartete, während sie Gossett die Hand auf den Mund presste. Gossett bemerkte keine Anzeichen, dass die Männer aus dem Aufzug vorüber gegangen waren, doch die Frau entspannte sich nach wenigen Augenblicken sichtlich. »Können wir jetzt reden?«, nuschelte er zwischen ihren Fingern auf seinen Lippen hindurch. Sie löste die Hand von seinem Mund und trat einen Schritt zurück. Ihre Augen musterten ihn lauernd, als rechnete sie damit, dass er jeden Augenblick einen Fluchtversuch unternehmen könnte. Gossett hätte bei dem Gedanken fast aufgelacht, wenn er es gekonnt hätte. In seinem Zustand käme er keine zwei Meter weit. Allerdings gab er zu, dass er sich weitaus besser fühlte, als noch vor einigen Minuten. Er hatte mittlerweile herausgefunden, dass die Frau ihm etwas injiziert hatte – wahrscheinlich ein Aufputschmittel, das seine Kraftreserven
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mobilisierte und ihn die Schmerzen für eine Weile vergessen ließ. »Also, wer zum Henker sind Sie?«, fragte er noch einmal. »Mein Name ist Liz, das muss vorerst reichen«, sagte sie. »Ich habe die Aufgabe, Sie hier herauszubringen.« »Von wem? Wer ...?« »Später!«, unterbrach sie ihn grob. »Zuerst müssen wir hier hinaus kommen.« Die Frau öffnete die Tür, spähte vorsichtig in den Korridor hinaus und zog Gossett einfach hinter sich her. Er taumelte mehr, als dass er wirklich ging. Was immer sie ihm injiziert hatte, es zeigte nur bedingt Wirkung. Sie verschwanden in der noch wartenden Liftkabine. Gossett lehnte sich ermattet gegen die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Fast drohte er wegzusacken. Er riss die Lider auf und versuchte, die Erschöpfung abzuschütteln. »Halten Sie durch«, sagte die Frau, die sich ihm als Liz vorgestellt hatte. »Ich habe draußen einen Wagen stehen. Wenn wir erst einmal von hier fort sind, können Sie schlafen.« Ein leises Klingeln verkündete, dass der Lift stoppte. Gossett blinzelte zur Anzeige hinauf. Zweites Kellergeschoss. Die Etage, in der sich der Verhörraum befand, lag einige Etagen unter der Erde. Er fragte sich nur, wo er sich befand. Sie hatten ihn mit verbundenen Augen hergeführt. Waren sie vom Bergpass aus nach Las Vegas oder zurück nach Los Angeles gefahren? Gossett wusste nicht, ob die NSA ein Büro in Nevada unterhielt – es war eher wahrscheinlich, dass sie nach Kalifornien zurückgekehrt waren. Seine Überlegungen wurden von der sich öffnenden Lifttür unterbrochen. Eine Frau in dunklem Kostüm mit knielangem Rock betrat den Aufzug. Sie nickte Liz und ihm kurz zu, drückte die Taste für den vierten Stock und sah dann auf ihre Schuhspitzen. Kurz darauf hielt der Lift im Erdgeschoss. Gossett folgte seiner Retterin mit leicht schwankendem Gang. Wir kommen hier nie heil hinaus, dachte er. Tatsächlich kamen sie keine zehn Meter weit, als sie bereits von einem uniformierten Sicherheitsbeamten angehalten wurden. Der Mann hob nur eine Hand und nickte den beiden eher freundlich zu. Anscheinend hegte er noch keinen Verdacht, was sich jedoch rasch änderte, als er Gossetts angeschlagenen Zustand bemerkte. »Ma'am? Sir?« Shit, dachte Gossett und ließ die Schultern hängen. Die Frau neben ihm trat vor und zückte eine ID-Karte, die sie als Besucher des NSAGebäudes auswies. Gleichzeitig zog sie ein ledernes Etui aus ihrer Gesäßtasche, ließ es aufschnappen und hielt es dem Uniformierten unter die Nase. Der Mann warf einen kurzen Blick auf die Ausweise, nickte dann und deutete mit dem Kinn auf Gossett. »Und was ist mit Ihnen?« »Agent Conner«, sagte Liz, ehe Gossett etwas auf die Frage erwidert konnte. »Können Sie sich ausweisen?« »Sie sehen doch, in welchem Zustand sich der Mann befindet«, fuhr Liz an Gossetts Stelle fort. »Wir hatten einen Schusswechsel in den East Docks, haben Conners Aussagen aufgenommen, und ich werde ihn jetzt ins Krankenhaus fahren.« »Ich muss das prüfen«, meinte der Beamte. »Tun Sie, was sie nicht lassen können«, sagte Liz. »Aber ohne uns.« Sie marschierte an dem Uniformierten vorbei, zog Gossett einfach hinter sich her. Der Sicherheitsmann ließ ein empörtes »Hey, Sie können nicht...« vernehmen, doch die Frau reagierte nicht. Gossett war versucht, über die Schulter zurückzublicken, doch das Tempo, das Liz vorlegte und sein eher stolpernder Gang veranlassten ihn dazu, sich auf den Weg vor ihm zu konzentrieren. Sie gelangten in das Foyer. Gut ein Dutzend Leute befanden sich hier. Im Türbereich herrschte ein reges Kommen und Gehen. Mehrere Personen hielten sich im
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Wartebereich auf. Gossett sah auch die beiden Uniformierten, die am Eingang die ankommenden Besucher und Mitarbeiter ebenso kontrollierten, wie die Personen, die das Regierungsgebäude verließen. Das schaffen wir nie! »Warten Sie!« Die Stimme des Uniformierten hinter ihnen wurde lauter. Die beiden Beamten am Eingang fuhren alarmiert herum. Gosset schluckte. Er wollte stehen bleiben, aber die Frau hatte ihn am Ärmel gepackt und zog ihn einfach mit sich. »Das klappt nie«, raunte er ihr zu. »Wir sollten aufgeben.« »Überlassen Sie das mir«, gab Liz zurück. Die beiden Wächter am Eingang bauten sich vor ihnen auf. Gossett blickte zurück und sah, wie der andere Uniformierte irgendetwas in sein Funkgerät sprach. Als er wieder nach vorn schaute, war es bereits zu spät, etwas zu unternehmen. Liz ließ ihn los, hielt den beiden Uniformierten ihren Ausweis unter die Nase und zog in derselben Sekunde eine Waffe unter ihrem Blazer hervor. »Was zum ...?« Gossett vermochte nicht zu sagen, ob einer der Beamten oder er selbst die Worte ausgestoßen hatte. Die beiden Wächter sprangen mit erhobenen Händen zurück. Hinter sich hörte Gossett ein Keuchen. Er wagte nicht, sich erneut umzudrehen, wusste aber, dass der Uniformierte in seinem Rücken im gleichen Augenblick seine Waffe in Anschlag brachte. »Machen Sie keine Dummheiten!«, rief er ihnen zu. Das Klacken des nach vorn schnellenden Verschlussschlittens war deutlich zu vernehmen. Die Besucher und Angestellten im Foyer nahmen endlich die Bedrohung wahr und stoben auseinander. Zwei Leute suchten hinter einer Sitzreihe Deckung. Andere flüchteten in Richtung Aufzug und Toiletten. »Gehen Sie vor«, zischte Liz Gossett zu. Der Angesprochene reagierte nicht. Erst als die Frau ihm einen Schubs versetzte, taumelte er dem Ausgang entgegen und prallte gegen die gläserne Tür. »Ich warne Sie!«, rief der Beamte von hinten noch einmal, während die Blicke der beiden Türwächter auf die Mündung von Liz' Waffe fixiert waren. Die Frau wandte sich nur kurz in seine Richtung um. »Ihre Hand zittert. Sie haben noch nicht auf einen Menschen geschossen.« »Und wenn es so wäre!«, blaffte der andere. Gossett stieß sich vom Türglas ab, schob sich an einem Angestellten vorbei, der sich ängstlich neben die Tür gekauert hatte und drückte den Öffnungsmechanismus. Ein metallisches Schnappen erklang. Die Glastür schob sich mit einem leisen Surren in die Fugen zurück. Warme Luft drang in das klimatisierte Gebäude. »Wenn Sie schießen, treffen Sie mich vielleicht«, sagte Liz. Ihr Blick pendelte zwischen dem Bewaffneten und den anderen beiden Uniformierten hin und her. »Aber höchstwahrscheinlich werden Sie mich nicht tödlich verletzen. Ich habe genug Zeit, erst diese beiden hier«, sie deutete mit der Mündung auf die zwei Beamten, die bei der Geste unwillkürlich einen Schritt zurück traten, »zu erledigen und dann Sie.« Ohne Vorwarnung schwang sie herum und löste die Pistole aus. Ein Schuss donnerte durch das Foyer. Schreie! Die beiden Beamten warfen sich in Deckung. Der Mann mit der Waffe stand noch zwei, drei Sekunden reglos da. Er wirkte wie versteinert. Nur das Einschussloch zwischen den Augen verriet, was mit ihm geschehen war. Seine Pistole rutschte ihm aus den Händen – einen Lidschlag darauf fiel er hinten über. Liz richtete die Waffe auf die beiden Uniformierten und gab zwei schnelle Schüsse ab. Die Kugeln zerfetzten Muskelgewebe und Arterien ihrer Oberschenkel. Einer der Wächter sackte bewusstlos in sich zusammen. Der zweite stöhnte auf und hielt sich das verletzte Bein. Gossett starrte wie gebannt auf die Szene. Er bekam erst gar nicht mit, wie Liz ihn anherrschte und ihn schließlich mit einem Stoß nach draußen beförderte.
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»Wenn wir hier bleiben, haben sie uns gleich!«, schrie sie. Sie bugsierte ihn mehr taumelnd als gehend über den Vorplatz des NSA-Gebäudes. Passanten wichen erschrocken zurück, als sie die Pistole in ihrer Hand sahen. »War es notwendig, den Mann zu erschießen?«, fragte Gossett. Die Worte hatten wütend oder zumindest vorwurfsvoll klingen sollen, doch sie hörten sich selbst in seinen Ohren nur schal und leer an. Statt zu antworten hielt Liz direkt auf den Straßenrand zu. Gossett sah einen feuerroten Dodge Intrepid, neben dem ein Straßenpolizist gerade ein Ticket an die Windschutzscheibe heftete. Mit weit ausgreifenden Schritten war Liz um den schnittigen Viertürer herumgelaufen, schob den Beamten beiseite und drückte den Sensor der Türverriegelung. Ein Zwitschern ertönte, die Blinklichter flammten kurz auf. »Hören Sie mal...«, begann der Polizist und sah erst jetzt die Pistole in der Hand der Frau. Gossett fragte sich, wo Liz auf einmal die vielen Hände hernahm, die notwendig sein mussten, um gleichzeitig die Tür zu öffnen, den Strafzettel von der Scheibe zu reißen, die Pistole im Schulterholster verschwinden zu lassen und dem Polizisten den Ausweis unter die Nase zu halten, mit dem sie schon im Innern des NSA-Gebäudes durchzukommen versucht hatte. Der Beamte warf einen flüchtigen Blick auf Lichtbild und Dienstmarke und nickte dann. »Wollen Sie Wurzeln schlagen?«, fauchte Liz Gossett an, als er unschlüssig neben dem Fahrzeug stehen blieb. Ehe er antworten konnte wurden Rufe vom Eingang des Gebäudes laut. Panische Aufschreie, hektische Schritte. Gossett fuhr herum und erkannte drei Uniformierte des Sicherheitspersonals sowie zwei Field Agents der NSA in ziviler Kleidung. Die Männer hatten bereits ihre Waffen gezogen und hielten sich nicht mit Warnungen auf. Mündungsfeuer blitzte auf, begleitet von lautem Krachen. Etwas sirrte haarscharf an Paul Gossett vorbei. Hinter ihm barst Fensterglas. Ohne zu überlegen wirbelte er herum, riss die Beifahrertür auf und sprang in den Wagen. Nur einen Lidschlag darauf startete Liz den Motor und trat das Gaspedal durch. Die Automatik setzte sofort um und ließ den 250-PS-starken Motor aufheulen und den Intrepid mit einem Satz nach vorne schnellen. Mit quietschenden Reifen fegte der Wagen über den Asphalt und reihte sich auf unkonventionelle Art und Weise in den fließenden Verkehr ein. Noch ein Schuss fiel, schlug irgendwo als Querschläger ins Straßenpflaster ein, ehe die Verfolger das Feuer einstellten. Ein Hupkonzert begleitete die halsbrecherische Fahrt durch die Straßen Los Angeles'. Warme Luft drang durch das geborstene Seitenfenster ins Interieur, so dass die zugeschaltete Klimaanlage kaum Wirkung zeigte. Gossetts Gedanken wirbelten. Er versuchte, sich innerlich zu sammeln, was ihm allerdings kläglich misslang. Zumal ihn heftiger Schwindel erfasste und Übelkeit in ihm aufstieg. Von meinen Kopfschmerzen will ich erst gar nicht sprechen, dachte er bei sich und schloss die Augen. Entweder litt er an Nachwirkungen der Folter im NSA-Keller oder das Aufputschmittel, das Liz ihm gespritzt hatte, verlor bereits seine Wirkung. Mit einem Ruck schreckte er hoch und rang nach Luft. Er versuchte sich anhand von Gebäuden und Straßennamen zu orientieren. Der Intrepid fuhr gerade auf den Zubringer eines Highways, dessen Nummer vor Gossetts Augen verschwamm. Er war eindeutig eingenickt, wie lange, wusste er nicht zu sagen, aber es mochten einige Minuten gewesen sein. »Schlafen Sie«, sagte Liz, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Gossett entging nicht, dass sie unablässig in Rück- und Seitenspiegel schaute. Offenbar traute sie der Ruhe nicht, und wenn Gossett ehrlich war, er auch nicht. Die NSA hatte ihn bereits einmal aufgespürt. Sie würden es wieder schaffen. In der Beziehung waren sie richtige Bluthunde. Nicht umsonst nannte man die National Security Agency den Geheimdienst der amerikanischen Geheimdienste.
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Gossetts Blick wanderte zu Liz. Die Frau wirkte noch erschöpfter als im Halbdunkel des Kellers. Jetzt bei Tageslicht schienen tatsächlich grünblonde Strähnen unter dem Brünett ihres schulterlangen Haares hindurch zu schimmern. »Schauen Sie sich die Gegend an, wenn Sie schon nicht schlafen wollen«, meinte die Frau. »Ich bin bestimmt kein besonders schöner Anblick.« »Ach Quatsch«, wehrte Gossett ab. »Zwölf Stunden Schlaf und eine heiße Dusche, dann gewinnen Sie jeden Schönheitswettbewerb.« Liz blickte irritiert zur Seite. Sie sah Gossett an, als zweifle sie an seinem Verstand. Dann huschte plötzlich der Anflug eines Lächelns über ihre Lippen. »Danke«, sagte sie und schaute wieder nach vorn auf die Straße. Gossett nickte kurz, auch wenn er nicht sicher sein konnte, dass sie seine Geste aus den Augenwinkeln überhaupt wahrnahm. Er wandte seinen Blick ab und verharrte auf einem ledernen Etui, das achtlos auf der Mittelkonsole lag. Gossett griff danach und klappte es auf. Es handelte sich um Liz' Dienstausweis. U.S. Marshal?, las er verwundert. »Ich dachte, Sie wären NSA-Agentin, nach Ihrem Auftritt in dem Gebäude«, sagte er leise. »Das habe ich nie behauptet.« »Dann arbeiten Sie mit diesem ... diesem Marshal Ian zusammen?« »Möglich.« Gossett lachte auf und hustete gleich darauf. Als er sich wieder gefangen hatte, meinte er: »Warum so ausweichend. Erst befreien Sie mich, setzen dabei Ihr Leben aufs Spiel und wollen mich jetzt im Dunkeln tappen lassen?« »Alles zu seiner Zeit«, gab Liz zurück. »Wie Sie meinen«, sagte Gossett kopfschüttelnd. Mit einem Schaudern dachte er darüber nach, dass diese Frau einen Sicherheitsbeamten ohne Skrupel mit einem Kopfschuss getötet hatte. Marshals tun so was nicht, dachte er und starrte Dienstmarke und Ausweis an. Siegel und Marke schienen echt zu sein. Ausgestellt durch das Marshal-Büro von San Francisco, das für den Staat Kalifornien zuständig war. Als Gossett jedoch den Nachnamen der Frau auf dem Ausweis entziffern wollte, geschah etwas, das er nur eine Sekunde darauf nicht mehr beachtete. Er konzentrierte sich auf die Schrift, doch sie erschien ihm verschwommen. Nur der Vorname Liz war deutlich zu lesen, der Rest ... Gossett klappte den Ausweis zusammen und legte ihn zurück in die Mulde der Mittelkonsole. Er machte sich keine Gedanken über den Nachnamen der Frau. Für ihn war sie einfach Marshal Liz – und er war ihr unendlich dankbar dafür, dass sie ihn aus den Fängen der NSA gerettet hatte. Hätte er ihren Seitenblick wahrgenommen und richtig interpretiert, hätte er geahnt, dass etwas nicht stimmte, aber Paul Gossett blickte stur geradeaus und nickte kurze Zeit darauf einfach wieder weg. Φ Vergangenheit, 1981 – außerhalb der galaktischen Ekliptik Das Boot ruhte im Schutz einer Senke. Heftige Stürme fegten mit Geschwindigkeiten, die jenseits von Gut und Böse lagen, über das kleine Raumfahrzeug hinweg. Mel Quire glaubte nicht, dass der Rumpf auch nur zehn Minuten dem Toben standgehalten hätte. Ihr Flug durch die Atmosphäre hatte ohnehin schon einige Schäden angerichtet, die sie nur mit Mühe und Not vor Ort reparieren konnten. Ohne die Schutzschirme wären sie gar nicht bis zur Oberfläche gekommen – zumindest nicht an einem Stück. Von einer Landung mochte Mel auch nicht sprechen. Sie waren relativ hart auf dem mit Eis und Schnee bedeckten Boden aufgekommen, eine halbe Meile gerutscht und hatten es mit
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mehr Glück als Verstand über einen Hügelkamm geschafft, um schließlich in der Bodenmulde zum Stehen zu kommen. Die Windgeschwindigkeiten betrugen hier noch immer knapp 150 Kilometer in der Stunde. Wer vor die Tür ging, wurde einfach mit den Stürmen gerissen. »Der Resttreibstoff reicht nicht aus, um die Anziehung dieses Planeten zu überbrücken.« Natasha hielt sich einen Verband an die Platzwunde an der Stirn, die sie sich bei der Bruchlandung zugezogen hatte. »Wir sitzen hier also genauso fest wie oben im Orbit«, meinte Mel. »Mit einem Vorteil und einem Nachteil«, sagte Natasha. »Hier unten haben wir mehr Atemluft, dafür dringt unser Sendesignal nicht durch die Atmosphäre. Hilfe herbeirufen können wir nicht mehr.« Mel Quire presste die Lippen aufeinander. Der Gedanke, den Rest seines Lebens auf dem Eisklumpen zu verbringen, behagte ihm nicht sonderlich, zumal ihnen ohnehin in drei oder vier Wochen die Lebensmittel ausgingen. Es sah nicht so aus, als würden sie hier Nahrung finden. »Was sagen unsere Sensoren?«, fragte er. »Irgendwelche Anzeichen, woher der Sauerstoff in der Atmosphäre kommt?« Natasha schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Die Messwerte gehen vom Boden aus. Da es hier keine Flora gibt ... möglicherweise Mikrobakterien im Schnee.« »Sonst etwas, was wir gebrauchen können?« »Ich weiß nicht.« Mel runzelte die Stirn und blickte seine Frau an. Sie deutete mit dem Kinn in Richtung des Sensordisplays, drückte zwei, drei Tasten und legte das Bild auf den Hauptschirm der Mittelkonsole. Mel sah eine schematische Darstellung der näheren Umgebung aus der Vogelperspektive. In der Mitte befand sich das Raumboot, drum herum die Werte der Sturmzone in dunkelblauen Wellenlinien dargestellt. Im oberen Bereich entdeckte Mel jedoch einen Bruch in den Linien, gerade so als krümme sich die Luft um einen Bereich herum. Natasha hatte die Stelle mit einem roten Punkt markiert. »Was ist das dort oben?«, fragte Mel. »Ein Hügel oder ein Berg?« Natasha schüttelte den Kopf, legte den Verband beiseite und strich sich eine Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht. »Den Daten zufolge ist da nichts. Der Bereich liegt außerhalb der Senke, dort sollte alles flach sein.« »Aber irgendetwas muss die Luftströmungen doch umleiten«, wandte Mel ein. »Etwas ziemlich Großes sogar, wenn ich mir den Durchmesser des Bereichs anschaue.« Er las die Werte ab. Es waren knapp 150 Meter, allerdings war die Höhe nicht bestimmbar. Mel vermutete, dass es dort irgendein Objekt gab, das die Sensoren nicht erfassen konnten. In dem Fall war es aber wahrscheinlich nicht natürlichen Ursprungs. »Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte Natasha. »Dass sich da draußen etwas befindet, das nicht auf diesen Planeten gehört und das unsere Scanner nicht orten können?« Natasha nickte langsam. »Genau das.« »Eine getarnte Basis?« »Zu klein. Vielleicht eine Art Messstation oder ein Schiff?« »Es gibt keine Energiesignaturen, aber das muss nichts heißen. Wenn ein Tarnfeld dafür verantwortlich ist, werden wahrscheinlich sämtliche Strahlungsemissionen ebenfalls getarnt.« Sie rieten noch eine Weile herum, gingen die Möglichkeiten durch, die ihnen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit der Technologie Scardeens bekannt waren. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie aus der Ferne zu keinem Ergebnis kamen und entschlossen sich, das Objekt oder was auch immer die Sturmverzerrung hervorrief aus der Nähe anzusehen. Sie schleusten eine der ferngesteuerten Sonden aus, doch der Flugkörper schaffte es gerade mal über den Rand des Hügels, ehe die unbändigen Turbolenzen ihn packten und einfach mit sich
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fortrissen. Gerade noch drei Sekunden lang, lieferten die Instrumente Daten, ehe die Schirme schwarz wurden. »Soviel zur Sonde«, kommentierte Natasha. »Wir haben einen Bodenscout an Bord.« »Der bewegt sich auf einem Antigravfeld fort«, räumte Mel ein. »Sobald der den Hügelkamm erreicht, wird er genauso vom Sturm weggefegt wie die Flugsonde. Wir müssten ihm eine bessere Bodenhaftung verpassen. Hm ...« Natasha schnippte mit den Fingern. »Wir kehren die Antigravpolung um und verpassen ihm ein Schwerefeld, das ihn direkt an den Boden presst.« »Und wie sollen wir ihn dann bewegen?« »Wir bauen eines der Triebwerke der Sonden auf seinen Rücken. Der Schub müsste ausreichen, ihn über das Eis gleiten zu lassen.« Mel lächelte über den Einfall seiner Frau. Er wusste längst, dass sie damals auf der Erde ihren Beruf verfehlt hatte und genau wie er in die Physik gehörte. Keine zwei Minuten später befanden sie sich im Frachtraum und hatten den Boden rund um den Scout mit Werkzeugen ausgelegt. Sie bastelten gut drei Stunden an dem Triebwerkaufbau, und als sie endlich fertig waren, war Natasha noch immer nicht zufrieden und schlug vor, auch noch ein zweites Triebwerk zu installieren, nur für den Fall, dass dem Scout auf halber Strecke der Saft ausging und sie dann keine Möglichkeit mehr besaßen, ihn zurückzuholen. Sie verbrachten weitere zwei Stunden mit dem Aufbau und überprüften die Verbindung zu den Energiezellen. »Haben wir alles?«, fragte Mel und rieb sich übermüdet die Augen. »Ich könnte eine Mütze voll Schlaf gebrauchen.« »Du willst doch wohl jetzt nicht aufgeben?« »Wer spricht von aufgeben? Zwei, drei Stunden Schlaf und ich bin wieder fit. Außerdem tun mir die Knochen weh.« »Ja, ja, das Alter«, grinste Natasha und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Hey, ich bin vierunddreißig!«, protestierte Mel. »Noch.« Sie lachte auf. »Na komm, mir tun auch zwei Stunden Schlaf ganz gut. Das, was da draußen ist, wird wohl auch später noch da sein.« »Das will ich wohl meinen. Hoffe ich zumindest.« Sie schliefen ganze sechs Stunden. Als Mel Quire erwachte und schlaftrunken von der Kabine ins Cockpit des Raumbootes schlurfte, stellte er fest, dass draußen die Dunkelheit hereingebrochen war. Jenseits der Fenster befand sich undurchdringliche Schwärze. Nur das Toben der Stürme war durch den Rumpf des Kleinstschiffes zu hören, ein unablässig tosendes Begleitgeräusch, das sich nicht abschalten ließ. Mel überprüfte den Zustand der Außenhülle. Die Winde waren in der Senke schwach genug, dass sie dem Metall nichts anhaben konnten. Ein Großteil des Schnees, den sie aufwirbelten fegte über sie hinweg, so dass sie nicht Gefahr liefen, über Nacht zugeschneit zu werden. Das Sensorecho verriet ihm, dass die Verzerrung noch immer an Ort und Stelle war, aber es würde sinnlos sein, jetzt den Scout in die Dunkelheit hinauszuschicken. Mel kehrte zurück ins Bett, kuschelte sich an seine Frau und schlief fast augenblicklich wieder ein. Am nächsten planetaren Morgen war Natasha bereits vor ihm auf und hatte ein Frühstück aus dem Nahrungsverteiler zubereitet. Dampfender Kaffee, Donuts und Bagels erwarteten ihn, als er den kleinen Speiseraum an Bord betrat. Sie hatten den Lebensmittelsynthetisierer auf irdische Nahrung umprogrammiert. Nach all den Jahren auf Chalendur, Prissaria und Scardeen, gönnten sie sich den Geschmack der alten Heimat. Zumindest für die Dauer ihres Aufenthalts an Bord des Bootes, denn auch die äußerst vielfältige scardeenische Küche hatte ihren besonderen Reiz. »Guten Morgen«, brummte Mel, wie üblich in der morgenmuffeligen Art und Weise, die er schon seit seiner Kindheit an den Tag gelegt hatte. »Gibt es irgendwas Neues?« »Es ist wieder hell«, sagte Natasha, während sie ihm Kaffee einschenkte. »Wenn man hier
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überhaupt von Helligkeit sprechen kann. Und die Messwerte sind unverändert. Wir können den Scout gleich starten.« Eine Viertelstunde später saßen sie beide im Cockpit und starrten wie gebannt auf die Displays und Bildschirme. Der Robotscout schleppte sich mit dosiertem Einsatz der Triebwerke über die eisige Oberfläche. Die Triebwerke mussten gegen zweierlei Kräfte ankämpfen: Zum einen gegen die umgepolte Gravität, die die Sonde zu Boden drückte und zum anderen gegen die infernalen Sturmgewalten, die erst recht Wirkung zeigten, als sich der Scout über den Rand der Senke schob und von der vollen Wucht gepackt wurde. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde das kleine Vehikel das gleiche Schicksal erleiden wie die Flugsonde am Vortag. Das zylinderförmige Objekt rutschte mehrere Meter seitwärts über den Boden, ehe es an einer Schneeverwehung hängen blieb und beide Triebwerke gleichzeitig zündete. »Der Energievorrat erschöpft sich zu schnell«, sagte Natasha mit besorgtem Blick auf die Anzeigen. Lange würden die Brennzellen des Antriebs nicht mehr durchhalten. Auch der Gravitrongenerator im Leib des Scouts arbeitete unter Volllast. Seine Energie erschöpfte sich ebenso schnell. »Er wird es schaffen«, versicherte Mel. »Nur zurück bringen wir ihn nicht mehr.« Der Physiker sollte Recht behalten. Nach etwa einer halben Wegstunde, die der Scout mit quälender Langsamkeit hinter sich gebracht hätte, erreichte er die ersten Ausläufer der Verzerrung, um die sich das Sturmtief noch immer krümmte. »Daten?«, fragte Mel. Natasha schüttelte den Kopf. Und dann war der Scout von einem Moment auf den anderen spurlos von ihren Schirmen verschwunden. Φ Logfile From: mail delivery service <
[email protected]> To:
[email protected] Subject: Delivery Status Notification Die nachfolgenden Empfänger wurden vom Mailserver verarbeitet:
[email protected]; Aktion: undurchführbar; Benutzer unbekannt. Φ Simon wusste es zu schätzen, dass Major Stone ihm, Ken und den beiden Amazonen, die sich während Mel Quires Schilderung ebenfalls in der Privatkabine des Kommandanten eingefunden hatten, je ein eigenes Quartier auf dem Kommandodeck zuwies. Hier schienen vorher, als die FREEDOM sich noch im scardeenischen Besitz befand, die ranghohen Offiziere gewohnt zu haben. Zwar war die Kabine nicht ganz so luxuriös ausgestattet wie die Stones, aber sie übertraf jedes Quartier an Bord eines irdischen Seekriegsschiffs um ein Vielfaches an Geräumigkeit und beinahe verschwenderischer Innenausstattung. Die Scardeener brauchten an Platz nicht zu sparen, davon hatten ihre zwei Kilometer langen Schlachtschiffe reichlich. Quire hatte Müdigkeit angegeben und sich für eine Stunde zurückgezogen, ehe er seine Geschichte beenden konnte. So hatten sie nur noch erfahren, dass er und seine Frau sich im Laufe des weiteren Tages das Phänomen auf dem Sturm umtobten Planeten selbst ansehen wollten. Simon nahm es dem Alten nicht übel. Er wirkte tatsächlich abgespannt und erschöpft.
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Die Pause tat ihm selbst auch gut. Er holte seine klägliche Habe von Bord der Raumjacht und richtete sich ein wenig in dem Quartier ein. Soweit er Sherilyn Stone richtig verstanden hatte, war er jetzt offizielles Mitglied von Shadow Command – zumindest wenn er zusagte und den Anstellungsvertrag unterschrieb, den sie ihm gleich mitgegeben hatte. Er konnte bisher nur einen kurzen Blick darauf werfen. Der Text war über und über mit Verpflichtungserklärungen gespickt, und der Passus über den Sold, den er beziehen sollte, war merkwürdigerweise abgeändert worden. Hier hieß es, dass er keine regelmäßige Zahlung erhalten würde, solange sie sich an Bord der FREEDOM oder im Weltraum aufhielten. Das konnte ihm im Moment herzlich egal sein, da er sowieso nicht dazu kam, hier oben harte Dollars auszugeben. Statt sich den Vertrag weiter durchzulesen oder sich hinzulegen, setzte sich Simon an den kleinen Schreibtisch in der Arbeitsecke und aktivierte das Computerterminal. Ein Bordtechniker, soviel er wusste, einer der überlebenden Scardeener, die sich Shadow Command angeschlossen hatten, hatte ihm erklärt, wie er sich von hier aus in irdische Frequenzen einloggen konnte. Simon startete ein Kommunikationsinterface, das multimediale Eingaben ermöglichte und nahm Kontakt zu seinem Internetprovider auf, um seine E-Mails zu checken. So wie er Stones Absichten erriet, würden sie mit Sicherheit bald mit der FREEDOM zu der Welt aufbrechen, die Mel Quire auf den Namen Cloudgarden getauft hatte. Wobei sich Simon bisher nicht den geringsten Reim darauf machen konnte, was bei einem lebensfeindlichen Planeten mit heftigen Dauerstürmen an einen Wolkengarten erinnern konnte. Dreißig Mails an Werbung, angefangen bei Immobilienverkäufen über Gewinnspiele bis hin zu obszönen Angeboten irgendwelcher Pornoseitenbetreiber. Nicht eine einzige Nachricht war persönlich – dafür war sein Bekanntenkreis zu eingeschränkt gewesen. Auch von Jeremiah gab es keine E-Mail, dafür jedoch einen Zustellhinweis. Als er ihn öffnete, runzelte er die Stirn. Seine letzte Nachricht an den Jungen konnte nicht zugestellt werden, weil der Benutzer unbekannt war. Hatte Jeremiah abermals seine Mailanschrift geändert? Aber dann hätte er ihm sicherlich Bescheid gegeben. Simon kopierte den alten Mailinhalt, fügte noch Text an, dass er für längere Zeit nicht mehr erreichbar sein würde und schickte sie erneut an die gate.com-Adresse in der Hoffnung, dass sie diesmal durchkam. Dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl bei der Sache. Stone hatte ihm offenbart, dass sein Mailverkehr von Shadow Command überwacht worden war und man versucht hatte über Jeremiah an ihn heranzukommen. Er hoffte nur, dass es dem Jungen gut ging und er nicht wieder Zielscheibe einer anderen Geheimorganisation geworden war, nur weil man glaubte, dadurch auch Simon zu fassen zu kriegen. Es summte an der Tür. »Herein!« Simon hatte mit Ken Dra gerechnet, doch statt des Schwertträgers stand Sherilyn Stone auf der Schwelle. »Und?«, fragte sie. »Haben Sie sich entschieden?« Er zuckte die Achseln. »Macht es einen Unterschied, wenn ich den Vertrag unterschreibe?« »Eigentlich nicht«, grinste Stone. »Wie ich Sie kenne, würden Sie sowieso einfach verschwinden, wenn es Ihnen passt. Vertrag oder nicht.« »Eben. Aber wissen Sie was? Ich unterschreibe trotzdem. Denn wenn wir mal wieder hier sind, werde ich mein Konto mit dem dort angesammelten Sold von Shadow Command plündern, mir davon ein Häuschen kaufen und es mir gut gehen lassen.« Sherilyn Stone setzte einen Fuß über die Schwelle, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete bis hinter ihr die Kabinentür zugeglitten war. Simon bot ihr einen Platz an, doch sie lehnte dankend ab. »Das wollen Sie doch gar nicht, McLaird«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Sie haben keine
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Verwandten auf der Erde. Ihr bester und einziger Freund wurde von der NSA ermordet und Sie haben Ihr Leben lang auf eine Chance wie diese gewartet. Sie haben sich doch jetzt schon mit dem Gedanken angefreundet, den Rest Ihres Lebens dort draußen im Weltraum zu verbringen, oder?« Simon runzelte die Stirn und lehnte sich im bequemen Konturensitz weit zurück. Er verschränkte die Hände hinter den Kopf und nickte leicht. »Sie kennen mich eine Spur zu gut, Major. Ja, auf so eine Möglichkeit wie diese hab ich gewartet, aber nicht, dass ich dabei gleich in einen intergalaktischen Krieg hinein gezogen werde. Glauben Sie wirklich, dieser Doktor Quire kann uns helfen?« »Nun, im Gegensatz zu Ihnen kenne ich bereits das Ende seiner Geschichte, nur den Mittelteil noch nicht. Wenn nur ein Bruchteil von dem stimmt, was er mir erzählt hat, dann kann er uns womöglich helfen, den Scardeen-Konflikt zu lösen.« »Und wie?« »Erfahren Sie bald«, vertröstete ihn Stone. »Quire wird uns den Rest seiner Story auf dem Flug erzählen.« »Flug?«, hakte Simon nach. »Sie wollen mit der FREEDOM also tatsächlich zu diesem ... diesem Cloudgarden reisen?« »Ja.« »Sind Ihre Leute von Shadow Command denn so gut, dass sie sich mit dem Kahn hier zurecht finden?« Nun schritt Stone doch weiter in den Raum hinein und ließ sich in die Polster einer Sitzecke sinken, so dass Simon seinen Sessel herumschwingen musste, um sie ansehen zu können. Gerne hätte er mit ihr über andere Dinge gesprochen, als über den alten Wissenschaftler. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, als er Sherilyn da so sitzen sah. Doch einen Dämpfer verpasste er sich selbst, als sich sein Verstand meldete und sich fragte, was er eigentlich wollte. Erst verliebte er sich in die schöne Jee A Maru, die sicherlich ihren exotischen Reiz auf ihn ausgeübt hatte, dann schlief er mit Kardina und jetzt sehnte sich alles in ihm danach, Sherilyn in den Armen zu halten und sie zu küssen. Ich hab einfach zu lange keine Freundin mehr gehabt, sagte er sich. »Wir beschäftigen nur Top-Leute bei Shadow Command«, antwortete der Major und riss damit Simon aus seinen Träumereien. »Außerdem ist der Umgang mit der scardeenischen Technologie wirklich sehr einfach. Alles wurde von Menschen für Menschen entwickelt. Die Instrumente, die Steuerungen alles ist wie auf uns zugeschnitten. Prinzessin Tanya sagte mir, dass Sie auch bereits an den Kontrollen ihrer Raumjacht gesessen haben, dann wissen Sie, wie leicht die Schiffe zu steuern sind. Und wir haben etwa fünfzig scardeenische Techniker, Ingenieure, Ärzte und Offiziere, die zu uns übergelaufen sind.« »Trauen Sie denen?«, fragte McLaird. »Ich meine, welchen Grund sollte es für diese Leute geben, sich Shadow Command anzuschließen. Etwa nur den, weil Sie sie am Leben gelassen und nicht zusammen mit den anderen 5.000 Crew-Mitgliedern in den Raum gepustet haben?« Sherilyn schlug ein Bein über das andere und bereite ihre Arme über die Rückenlehne der Couch aus. »Sie verkennen die politische Situation des Scardeenischen Reichs, McLaird. Wie in den meisten Staatssystemen unserer Welt, gibt es auch dort genügend Bürger, die mit den Erlassen und Gesetzen des Wissenschaftsrats nicht zufrieden sind. Vereinzelt haben sich rebellische und terroristische Gruppierungen gebildet, die bisher jedoch nicht viel ausrichten konnten. Viele Bewohner des Scardeenischen Reiches hoffen schon seit Jahrzehnten auf einen Umschwung. Religionen, Glaubensbekenntnisse, Träumereien, all das wurde per Erlass verboten. Die Sturheit mit der der Rat nur wissenschaftliche Denkrichtungen durchsetzt, hat das Volk unzufrieden gemacht.« »Woher wissen Sie das?«
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»Ich habe in den letzten zwei Wochen genügend Gespräche mit den Scardeenern an Bord geführt«, erklärte Sherilyn Stone. »Natürlich haben wir die Überläufer auf Herz und Nieren geprüft und Lügendetektortests veranlasst.« Simon erhob sich, schlenderte zum Nahrungsverteiler und orderte zwei Gläser Wasser. Ihren Protest ignorierend stellte er Sherilyn ein Glas auf den Tisch und ließ sich ihr gegenüber auf den Sitzpolstern nieder. »Sie meinen also, genug Bewohner Scardeens auf Ihre Seite ... auf unsere Seite ziehen zu können?« Sherilyn seufzte hörbar. »So einfach wird das nicht sein. Das scardeenische Volk und deren Kolonisten leben in ständiger Furcht vor militärischen Vergeltungsschlägen. Solange es keine Macht gibt, die sich der riesigen scardeenischen Flotte entgegenstellt, wird niemand großartig aufbegehren.« »Und Sie meinen, Mel Quire hätte die Macht dazu?« »Das werden wir sehen, sobald wir Cloudgarden erreichen. Wir brechen in einer Stunde auf und verlassen das Sonnensystem.« Sherilyn ließ ihr Glas unangetastet auf dem Tisch stehen, stand auf und wandte sich zum Gehen. »Wie sind Sie eigentlich auf Quire gestoßen?«, fragte Simon. Der Major blieb auf der Schwelle stehen und drehte sich zu ihm um. »Er kam in einer privaten Jacht vor zwei Tagen. Seiner Aussage nach hatte er mit seinem Projekt Cloudgarden ohnehin vorgehabt, dem Scardeenischen Reich die Zähne zu zeigen. Aber er wird nicht jünger und es zog ihn nach all den Jahren zur Erde zurück. Vermutlich hat er sich auch Unterstützung erhofft ... und ein Mittel gegen die Einsamkeit.« »Einsamkeit? Was ist mit seiner Frau?« »Das soll er Ihnen lieber selbst erzählen. Mir würden Sie nicht glauben, wenn ich Ihnen jetzt etwas von Aspekten sage.« »As ...« »Später, McLaird, später.« Simon prostete ihr zu und wartete, bis sie seine Kabine verlassen hatte. Dann rief er Ken Dra, Kardina und Tanya an. Was immer er auch plante und ob er sich entschloss mit Shadow Command zusammenzuarbeiten, er konnte nicht für die anderen drei sprechen und wollte sich mit ihnen beraten. Bevor die FREEDOM aufbrach, waren sie sich einig, dass sie alle an Bord blieben, um sich Mel Quires Sturmplaneten anzusehen und zu prüfen, ob er ihnen wirklich im Kampf gegen das Scardeenische Reich weiterhelfen konnte. Φ Vergangenheit, 1981 – Cloudgarden Dass ihre Nahrungsmittelvorräte nur knapp vier Wochen hielten, wurde auf einmal zu ihrem geringsten Problem. Die Energiezellen ihres Bootes waren dermaßen erschöpft, dass sie nur noch für wenige Stunden genügend Saft lieferten, um die Lebenserhaltung in Gang zu halten. Wenn nicht ein Wunder geschah, würden Mel und Natasha Quire in ihrem Schiff erfrieren. Nachdem der Bodenscout von der seltsamen Verzerrung verschluckt worden war, diskutierte das Ehepaar den nächsten Schritt. Da das Phänomen ihr einziger Anhaltspunkt in der sturmumtosten Schnee- und Eiswüste darstellte, blieb ihnen wohl oder übel keine andere Möglichkeit, als sich die Verzerrung selbst aus der Nähe anzusehen. Fort kamen sie von dem Planeten ohnehin nicht mehr. Sie setzen mit ihrem Manöver alles auf eine Karte, aktivierten die Triebwerke des Raumboots und polten wie schon beim Scout die äußeren Schwerkraftgeneratoren um, damit sie zur Oberfläche des Planeten gezogen wurden. Das Kleinstraumschiff rutschte mit vollem Schub über Eis und Schnee, mühte sich an der
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Steigung über den Rand der Senke und war plötzlich den Sturmgewalten ungeschützt ausgesetzt. »Schutzschirme!«, brüllte Mel Quire, als das dumpfe Hämmern gegen die Außenhaut sich schlagartig in ein ohrenbetäubendes Donnern verwandelte. Gleichzeitig wurde das Boot gepackt und über das Eis geschleudert. Während Natasha die energetischen Schilde aktivierte und die atmosphärischen Kräfte vom Rumpf ablenkte, ließ Mel die Triebwerke heiß laufen. Sie schafften es, die Rutschrichtung zu korrigieren und kämpften sich bis auf fünf Meter an die Verzerrung heran. Mel schaltete die Triebwerke ab, ließ die Gravitationsquelle und Schilde jedoch eingeschaltet, sonst wären sie dem Blizzard hilflos ausgeliefert gewesen. Besorgt warf er einen Blick auf die Energieanzeige, die sich bedrohlich dem Nullpunkt näherte. Lange würden sie ihre Schutzmaßnahmen nicht mehr aufrecht halten können und dann unweigerlich zum Spielball der Naturgewalten werden. »Was jetzt?«, rief Natasha Mel beobachtete die Instrumente. Auf den Sensorendisplays war weiterhin deutlich zu sehen, wie die Luftströmungen von irgendetwas dort draußen abgelenkt wurden. Doch was es war, vermochten die Scanstrahlen nicht zu erkennen, geschweige denn auf den Schirmen darzustellen. Mel beugte sich weit über die Kontrollen und spähte durch das vordere Sichtfenster nach draußen. Doch außer wild dahin fegenden Schneeflocken vermochte er nichts zu erkennen. »Ich schätze, wir müssen da raus«, antwortete er auf die Frage seiner Frau. »Ich hab es befürchtet«, sagte sie nur. »Dann sollten wir uns gut überlegen, wie wir da draußen nicht verloren gehen.« Ihre Mittel waren begrenzt. Es standen ihnen keine Individualschwerkraftgeneratoren zur Verfügung und mit den Beibooten würden sie genauso wenig weiter kommen, wie mit den Sonden. Sie schlüpften in Raumanzüge, klinkten doppelte Sicherheitsleinen an ihren Ausrüstungsgürteln ein und begaben sich zur Schleuse. Als sich die äußere Tür öffnete, peitschte ihnen der Blizzard mit voller Wucht entgegen. Der Sturm riss an ihnen, wollte sie aus der Schleuse hinauszerren und in die Tiefen der Dunkelheit schleudern. Nur die Sicherheitsleinen verhinderten, dass sie von den Gewalten fortgerissen werden konnten. Die beiden tasteten sich an der Wand ihres Raumboots entlang, gingen in die Hocke und legten sich vor der Schwelle des Schotts flach auf den Boden, was im beengenden Raumanzug einem Kunststück gleich kam. »Wir haben Sauerstoff für zwei Stunden!« Mel Quire fasste seine Frau an die Schulter und musste brüllen, damit seine Stimme über den Helmfunk gegen das laute Heulen des Sturms ankam. »Gib mir noch einen Kuss, Mel«, forderte Natasha lächelnd. Doch Quire sah seine Frau nur durch den Helm an und meinte ernst: »Notfalls müssen wir auf dem Rückweg die Ventile unserer Versorgungstornister öffnen und Atemluft aus der Atmosphäre aufnehmen.« »Falls wir je zurückkommen«, rief Natasha. »Das werden wir! Meinst du, ich lasse mir den Kuss entgehen?« Sie brauchten eine gute Viertelstunde, um die Gangway hinunter zu robben und den ersten Meter bäuchlings durch den Schnee zurückzulegen. Die Kraft des Blizzards zerrte und zog unentwegt an ihnen. Hätten sie versucht, aufrecht zu gehen, wären sie schon beim ersten Schritt einfach fortgerissen worden. Mel bezweifelte, dass die Halteleinen dieser Kraft widerstehen konnten. Je weiter sie vorwärts krochen, desto mehr fanden sie in einen sicheren Bewegungsrhythmus und schafften die nächsten zwei Meter in der halben Zeit. Mel spähte angestrengt nach vorn, doch außer den heftig wehenden Schneeflocken vor dem Visier seines Helmes, war nicht
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einmal die Hand vor Augen zu erkennen. Mit einem Kinnschalter regulierte er die Heizleistung des Raumanzugs. Die Kälte war bereits durch den dicken Stoff gekrochen. »Wie weit noch?«, fragte Natasha stöhnend hinter ihm. »Den Sensoren nach nur noch zwei Meter, aber ich kann nicht das Geringste sehen!« Sie robbten weiter. Dann, von einem Moment auf den anderen war plötzlich Stille um Mel Quire. Verwirrt blickte er sich um. Sein Kopf befand sich in einer schnee- und sturmfreien Zone. Als er nach hinten sah, erkannte er, wie der Blizzard einen Bogen um ein unsichtbares Feld machte. Natasha schien es nicht zu merken, wenn sie auch ebenfalls den Bereich passiert hatte. Sie kroch unermüdlich weiter, bis ... ... sie einfach verschwand! »Nein!« Mel blickte sich panisch um, seine Hände tasteten durch die Dunkelheit, klopften den Boden ab, doch von seiner Frau gab es keine Spur. Mehrmals rief er ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Er atmete tief durch, versuchte die Panik aus seinen Gedanken zu verdrängen, aber die Angst um Natasha steigerte sich schier ins Unermessliche. Kurzentschlossen robbte er ebenfalls weiter und wurde von etwas verschluckt, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Φ Gegenwart, Los Angeles – Vereinigte Staaten von Amerika Der Pulk von Polizeiwagen hatte fast die gesamte Straße abgesperrt und den Verkehr umgeleitet. Selbst der schwarze Chevrolet Avalanche hatte mit aufgeschaltetem Rotlicht Probleme von den Beamten durchgelassen zu werden. Alle paar Meter wurde das Fahrzeug angehalten, und seine Insassen mussten sich ausweisen, um durchgewunken zu werden. »Hier ist die Hölle los«, kommentierte der Fahrer kopfschüttelnd. »Haben Sie in der Zentrale nachgefragt?«, hakte Harry Thorne nach, wartete die Antwort jedoch nicht ab, denn im selben Moment trat der Fahrer auf die Bremsen, als ein Polizist direkt vor den Wagen rannte und sie abermals am Weiterfahren hindern wollte. Thorne wurde es zu bunt. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus, dicht gefolgt von Marshal Ian. »Sie können hier nicht durch!«, fuhr der Polizist ihn sichtlich genervt an. Offenbar war der Mann damit überfordert, etwaige Schaulustige zurückzudrängen. »Sagen Sie mir nicht, was ich tun kann und was nicht«, gab Thorne zurück und setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase. In der gleichen Bewegung hielt er dem verdutzten Polizisten seinen Ausweis hin. Eine Entschuldigung murmelnd wollte der Beamte sich wieder abwenden, doch Thorne hielt ihn am Arm fest und zog ihn zu sich heran. »Was ist hier eigentlich los, Officer?« Der Mann runzelte die Stirn und schnaubte vor gekünstelter Anstrengung. »Ich weiß nur, dass es hier eine Schießerei gab.« »Schießerei?«, echote Thorne und drehte sich zu Ian um. Der Marshal verzog den Mund und zuckte die Achseln. Zusammen schritten sie über den Vorplatz auf den Haupteingang des NSA-Bürogebäudes zu. Sie mussten sich vor zwei weiteren Sperren ausweisen, ehe sie bis zum Foyer durchgelassen wurden. Thorne verschaffte sich einen schnellen Überblick. Die Eingangshalle wimmelte nur so von Polizisten des LAPD. Nicht minder war die Anzahl an Sicherheitspersonal und zivilen Feldagenten der NSA. Wer immer hier einen Tumult veranstalten wollte, der hatte jetzt einen. »Ist ja schlimmer als im Hühnerstall«, kommentierte Thorne und suchte sich aus der Menge jemanden heraus, den er kannte. Als er den Chef des Sicherheitsdienstes erspähte, bekam er gerade noch mit, wie ein verletzter Uniformierter auf einer Trage nach draußen befördert wurde.
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»Hey, Moment mal, Ron, was ist passiert?« Der Angesprochene schaute ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Fragen Sie besser nicht«, sagte einer der beiden Sanitäter an der Trage. »Er hat eine Schussverletzung und das Sedativ hat bei ihm nicht angeschlagen.« Ron hob zitternd eine Hand und deutete auf Ian. »Sie!«, stieß er hervor, dann übermannte ihn der Schmerz und zerrte ihn ins Reich der Bewusstlosigkeit. Irritiert blickte Thorne zur Seite. »Was ... was meinte er damit?« Ian zuckte die Achseln. »Kennen Sie sich?«, hakte der NSA-Agent nach. »Ich schätze nicht«, sagte Ian. »Vermutlich hat er halluziniert. Soll bei starken Schmerzen vorkommen.« Der Chief des Sicherheitsdienstes hatte sich einen Weg durch die Mitarbeiter der Polizei gebahnt und baute sich vor Harry Thorne und Marshal Ian auf. »Da sind Sie ja endlich!«, knurrte der Mann ungehalten und verschränkte seine Arme provokativ vor der Brust. »Wo haben Sie gesteckt?« Thorne runzelte die Stirn. »Ich habe keinen geregelten Einsatzplan, Mike, und ich wüsste auch nicht, was es Sie angeht ...« »Der Boss wartet«, unterbrach ihn der Chief grob. »Und ich denke, Sie können sich auf einiges gefasst machen. Diesmal sind Sie zu weit gegangen.« »Bitte was? Ich verstehe nicht ...« »Dann sollten Sie vielleicht mal Ihren Freund fragen, warum seine Kollegen vom U.S. Marshal Service einen unserer Gefangenen entführen und wie wild durch die Gegend ballern. Mein Gott, Harry, es hat Frank Deerfield erwischt!« Thorne starrte den anderen entgeistert an. »Frank? Aber er ist gerade erst Vater geworden ... was, welcher Gefangene?« Ein Verdacht keimte in ihm auf. Der Name Gossett schoss ihm durchs Hirn. Erschrocken drehte sich der NSA-Agent zu Ian um, doch der Marshal stand nicht mehr neben ihm. Hektisch suchend ließ Harry Thorne seinen Blick über die Menge schweifen – von Ian keine Spur. »Wo ist er hin?« Der Chief hob die Schultern. »Keine Ahnung. Mich laust der Affe, er stand gerade noch neben Ihnen!« Thorne atmete tief durch, griff in seine Jackentasche und förderte sein Mobiltelefon zutage. Er drückte eine Sofortwahltaste und hielt sich das kleine Gerät ans Ohr. Mit einer wedelnden Hand kämpfte er sich bis zu den Aufzügen durch und ignorierte die genervten und vorwurfsvollen Blicke, die ihm Polizisten und Mitarbeiter der National Security Agency zuwarfen. Thorne merkte nicht, dass der Chief und zwei seiner Leute ihm bis zum Lift gefolgt waren. Er wartete auf die Verbindung und gestattete sich ein Lächeln, als er das Freizeichen hörte. »Oh, das ging ja doch schneller, als ich dachte«, drang Ians Stimme aus dem Lautsprecher. »Sind Sie eigentlich wahnsinnig geworden? Wer ist dieser andere Marshal, der Gossett herausgeholt hat? Und warum haben Sie das getan?« »Welche der drei Fragen soll ich zuerst beantworten?«, entgegnete Ian ruhig. »Herrgott, Ian, wir kennen uns seit einigen Jahren, was soll der Scheiß?« »Sie hätten keine Spiele mit den anderen Geheimdiensten anfangen sollen«, sagte der Marshal. »Unsere Vereinbarung lautete: unauffällige Operationen.« »Gossetts Entführung und die wilde Schießerei nennen Sie unauffällig?« »Ich rede von Ihren Spionagespielchen mit Craig O'Roarke und den anderen. Harry, die sitzen uns bald im Nacken. Ich musste etwas unternehmen, auch wenn es Sie nun den Kopf
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kosten wird. Tut mir leid. Es war nett Sie kennen gelernt zu haben – und das meine ich auch so.« Es klackte dumpf in der Leitung. Dann war das Besetztzeichen zu vernehmen. Thorne fluchte, fuhr herum und sah direkt in die drei Gesichter der Sicherheitsbeamten. »Aus dem Weg«, knurrte er. »So nicht, Harry«, wehrte der Chief ab. »Wie ich schon sagte, der Boss erwartet Sie.« »Meine Güte, ich muss Marshal Ian finden.« »Oh, keine Sorge, den treiben wir schon noch auf. Genau wie seine Kumpanin. Und dann können die sich auf einiges gefasst machen, Marshal hin oder her.« Harry Thorne ließ die Schultern hängen. Das Gefühl, versagt zu haben, ergriff von ihm Besitz. Er wusste, was ihn beim Boss erwarten würde. Vor Wut ballte er die Hände zu Fäusten und schwor sich mit Ian und seiner Bande abzurechnen – falls er je die Gelegenheit dazu erhalten würde. Widerstandslos ließ sich Thorne von den Beamten in den Fahrstuhl eskortieren. Als sich die Türen vor seiner Nase schlossen und sich die Kabine nach oben in Bewegung setzte, schloss er mit seinem Leben ab. Φ Mel Quires Augen schimmerten feucht, nachdem die letzten Worte über seine Lippen gekommen waren. Er blickte in die Runde in Major Stones Quartier. Außer ihm und der Kommandantin der FREEDOM befanden sich Simon McLaird, Ken Dra, Lieutenant Harris und die beiden Amazonen Kardina und Tanya hier und hatten Quires Erzählung gelauscht. »Spannen Sie uns nicht auf die Folter!«, drängte Simon, als der Doktor nach dem Ereignis im Sturm nicht weiter sprach. »Was ist da geschehen? Was haben Sie gesehen?« »Gib ihm Zeit«, mahnte Ken Dra mit eindringlichem Blick in McLairds Richtung. Mel Quires Kieferknochen mahlten aufeinander. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, langte nach dem Whiskyglas, das Sherilyn ihm auf den Tisch gestellt hatte und kippte den Inhalt mit einem Zug hinunter. Ihm war nicht anzumerken, ob ihm der Alkohol gut tat oder nicht. Sein Blick wurde starr. Das Glas entglitt ihm und fiel zu Boden, wo es in einem Scherbenregen zersprang. Quire zuckte zusammen. »Es ... tut mir leid.« »Schon gut«, sagte Sherilyn Stone. Der alte Wissenschaftler nickte in sich hinein, eher abwesend, als würde er die anderen gar nicht wahrnehmen. Seine Lippen teilten sich, zitterten. Nur schwach kamen seine Worte hervor. »Natasha und ich wurden in diese ... Raumverzerrung gesogen«, berichtete er weiter. »Sie war tot, als ich sie fand.« »Tot?«, fragte Kardina bestürzt. »Aber...« Quire seufzte tief. Obwohl die Sache mehr als zwanzig Jahre her war, fiel es ihm sichtlich schwer, die Vergangenheit vor seinem inneren Auge noch einmal aufleben zu lassen. »Wir dachten, wir hätten es mit einem natürlichen Phänomen zu tun. Eine Dimensionsspalte. So etwas Ähnliches war es auch, nur wie hätten wir ahnen können, dass es lebte...?« Φ Vergangenheit, 1981 – Cloudgarden Der Schmerz schien nicht enden zu wollen. Längst waren die Reserven seines Versorgungstornisters aufgebraucht, und dennoch atmete er. Er wusste nicht, wie lange er bereits da hockte, den leblosen Körper seiner geliebten Frau in den Armen. Es mochten
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Stunden vergangen sein, vielleicht sogar Tage oder Wochen. Die Zeit war bedeutungslos geworden. Im wahrsten Sinne des Wortes sogar, doch das sollte Mel Quire erst später erfahren. Natashas Tod war unsinnig gewesen. Es war nicht einmal ersichtlich, woran sie gestorben war. Wahrscheinlich hätte es Mel selbst erwischt, wäre er der Erste gewesen, der in diese unbekannte Dimension eingedrungen war. Er gab sich selbst die Schuld für den Tod seiner Frau. Hätte er nicht angehalten, würde sie noch leben. Aber du wärst dann an ihrer Stelle tot, wisperte eine feine Stimme in seinen Gedanken, die er aber in seiner Wut und Trauer verscheuchte. Sein Blick wanderte an ihrem Körper entlang und blieb dann an ihrem Gesicht hängen. »Gib mir noch einen Kuss, Mel«, das waren ihre Worte gewesen. Verzweifelt sah er sie an. Natashas Augen waren geschlossen. Sie wirkte friedlich, wie schlafend. Ihr Gesicht war im Tode nicht von Schmerz verzerrt erstarrt. Mel Quire tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie nicht gelitten hatte. Das hat sie nicht. Er brauchte eine Weile, ehe er die Worte als nicht seine eigenen identifizierte. Mel blickte auf und schaffte es endlich, sich umzusehen. Wo immer er sich auch befand, es schien dem Universum, das er kannte, nicht im Entferntesten zu ähneln. Endlose, blauviolette Weiten erstreckten sich so weit das Auge reichte in alle Richtungen – und vermutlich auch noch darüber hinaus. Das kleine Universum, in das er mit seiner Frau übergegangen war, schien nur aus unendlicher Leere zu bestehen. Er hatte das Gefühl zu schweben, doch das tat er nicht. Zusammen mit dem reglosen Körper Natashas hockte er auf dem Boden einer Plattform, die scheinbar haltlos in dem Meer aus Farben dahin trieb. Mel spürte die Wärme, die von außen durch seinen Anzug drang. Ein Blick auf seine Helminstrumente bestätigte ihm, dass er die Umgebungsluft atmen konnte. Er öffnete das Visier. Die Luft schmeckte leicht süßlich und roch nach einem undefinierbaren Obstduft. Vielleicht war dies auch nur Illusion. »Wer ist da?«, rief Mel hinaus. Ein Hall begleitete seine Worte. Es tut mir so unendlich leid, dass dies geschehen ist. Quire spannte sich. Er blickte sich um, konnte doch nirgendwo jemanden erkennen. Fast schon glaubte er, sich die fremden Gedanken in seinem Kopf nur einzubilden. »Wer bist du?« Ich lebe hier. »Das beantwortet nicht meine Frage!«, blaffte Mel und drückte den Körper seiner Frau fester an sich. »Bist du für ihren Tod verantwortlich?« Ja. »Warum?« Der gequälte Schrei hallte mehrfach wider, obwohl es scheinbar nichts gab, an dem er zurückprallen konnte. Es war ein Unfall. Als sie in mich eindrang, wollte ich mich nur verteidigen. Ich wusste nicht, dass ihr Körper so schwach ist, erst als ich sie in mir spürte. Mel Quire verstand nicht das Geringste von den Worten, die sich in seinen Gedanken formierten. Er schrie. Schrie seine ganze Wut, Verzweiflung und Trauer hinaus, solange bis ihm die Stimme vor Heiserkeit einfach den Dienst versagte. Er sackte in sich zusammen, ergab sich einem Heulkrampf und schluchzte lange Zeit in sich hinein. Bis ... eine Hand seine Schulter berührte und ihn sanft rüttelte. Der Wissenschaftler sah aus tränenverschmierten Augen hoch und prallte entsetzt zurück. Vor ihm stand Natasha Quire. Sie lebte, atmete und blickte ihn mit einem warmen Lächeln auf ihren Lippen an. Mel glaubte, komplett verrückt zu werden. Noch immer hielt er ihren Leichnam in Händen und doch stand sie leibhaftig vor ihm. Er streckte eine Hand aus, griff nach ihr, weil erglaubte zu halluzinieren, aber er stieß auf weiches Fleisch. Natasha war real. »Meine Güte ... was ...?«
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Seine Frau beugte sich zu ihm herunter, berührte mit ihren Fingern sanft seine Lippen und küsste ihn dann. Sie war es nicht. Er spürte es sofort. Ihr Kuss war Natasha ähnlich und doch anders. Sie mochte aussehen wie seine Frau, aber sie war es einfach nicht! Mel stieß sie von sich weg, ließ den toten Körper Natashas los und sprang auf. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts und starrte die Kopie seiner Frau aus weit aufgerissenen Augen an. »Wer bist du? Was willst du? Geh weg!« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Lass mich dir alles erklären.« »Du hast sie getötet.« »Ja, aber das war ein Irrtum«, sagte die Fremde, die aussah, wie seine Frau. »Mel, glaub mir, ich wollte das nicht. Ich hatte Angst vor einem Angriff. Schon einmal ist jemand in mich eingedrungen und hat versucht, mich zu vernichten. Ich erkannte erst die Wahrheit, als Natasha schon tot war ... körperlich.« »Körperlich?«, echote Mel ungläubig. »Was meinst du damit?« Die Frau deutete auf die Leiche. »Ihre Hülle ist tot. Aber ihr Wesen ... ihr bezeichnet es als Geist ist in mir aufgegangen, hat sich in ihrem Tod mit mir vereinigt. Natasha lebt in mir weiter. Sie ist jetzt ein Teil von mir – und aus ihren Gedanken und Erfahrungen weiß ich alles, was sie wusste.« Mel war weiter zurückgegangen, stolperte über die eigenen Füße und fiel der Länge nach auf den Boden der Plattform. »Das ... das kann nicht sein«, stammelte er. Die andere Frau kam näher und bot ihm eine Hand dar, um ihm aufzuhelfen. Mel ergriff sie nicht, kroch rückwärts weiter. Sein Blick suchte fieberhaft nach dem Rand der Plattform. Er wollte den Wahnsinn beenden, sich in den Abgrund stürzen und Natasha in den Tod folgen. Doch je weiter er sich bewegte, desto ferner schien das Ende der Plattform. »Mel, es ist wahr«, beharrte die Fremde. »Ich weiß alles. Wie wir uns 1969 in der Bar in Santa Ana über den Weg gelaufen sind, wie wir drei Jahre später von einem Raumschiff entführt wurden, später nach Scardeen reisten und für den Wissenschaftsrat arbeiteten. Ich bin ein Teil von Natasha und sie ein Teil von mir.« »Was bist du?« Die Frau holte ihn ein, fasste ihn an der Schulter, um ihn zu beruhigen. Sie hockte sich neben ihn auf den Boden und seufzte. »Es ist schwer mit Worten zu erklären«, sagte sie. »Aber du bist Wissenschaftler und ein Genie, das weiß ich aus Natashas Gedanken. Ich bin dies alles hier...« Sie beschrieb mit den Armen einen Bogen, der die gesamte Farbdimension umfasste. Mel blickte verwirrt. Das blauviolette Leuchten gewann an Intensität, wie zur Unterstreichung der Worte der Fremden. Dann hörte er wieder die mentale Stimme in seinen Gedanken. Sie hat Recht, Mel. »Sie?«, fragte er nach. »Ich dachte, sie wärst du und umgekehrt.« »Nicht ganz«, antwortete die Frau an seiner Seite. »Es ist ein wenig komplizierter. Ich bin ein Teil des Wesens, in dem der Geist deiner Frau aufgegangen ist. Ich lebe hier schon seit Ewigkeiten, ich bin diese ganze ... Dimension, wie du es nennst. Du befindest dich in mir, in dem, was du als meinen Körper bezeichnen würdest. Aber ich habe keinen Leib, wie du ihn kennst, keine physische Existenz ... ich existiere außerhalb eures Raumzeit-Kontinuums.« »Dann ist der Körper, den du von Natasha nachgebildet hast, nur ein Trugbild?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist real. Er besitzt alle biologischen Funktionen deiner Spezies. Ich bin in der Lage, Materie zu bilden, sie aus meinem Wesen abzuspalten und zu formen.« Ich erschuf diesen Körper für dich, um dir ein vertrautes Bild zu bieten. Sie ist Natasha, sie
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ist ich. Ein Aspekt meiner Selbst und dennoch ein Individuum. Ein Mensch. Mel schluckte und betrachtete die ihm gegenüber hockende Frau. Einmal mehr streckte er die Hand vor, berührte ihre Haut, ihr Haar. Alles fühlte sich echt an – war echt. »Natasha«, flüsterte er. Die Frau nickte. »Ja ... und auch wieder nicht. Ich denke, fühle und handele selbstständig. Ich bin nicht wirklich deine Frau, sehe zwar wie sie aus, aber ich bin eher ihre Zwillingsschwester.« Mel hörte ihre Worte gar nicht. Er setzte sich auf, schlang seine Arme um sie, zog sie zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Natasha erwiderte sein Verlangen. Gemeinsam sanken sie zu Boden, rollten eng umschlungen über die Plattform und rangen um Liebkosungen wie Verdurstende nach einem Tropfen Wasser. Φ Gegenwart, Mondorbit – Sol-System »Ein Aspekt ihrer Selbst«, sinnierte Simon McLaird, als Mel Quire eine Pause machte. »Also ... lebt Ihre Frau in diesem künstlich geschaffenen Wesen weiter?« »Teilweise«, sagte der alte Wissenschaftler. »Aber ihre Persönlichkeit baut nur auf Natashas Intellekt und Wesen auf. Der Charakter formt sich aus einer Artenvielfalt des menschlichen Unterbewusstseins nach dem Zufallsprinzip. Jeder Aspekt ist ein eigenständiges Individuum mit eigenem Charakter ... eben wie Schwestern. Sie kommen vom selben Stammbaum, haben aber unterschiedliche Wesenszüge entwickelt. Ihr Denken verläuft in verschiedenen ...« »Moment mal!«, fuhr Ken Dra dazwischen. »Jeder Aspekt? Verstehe ich das richtig, dass dieses ... dieses multidimensionale Wesen mehr als einen Natasha-Klon geschaffen hat?« »Das Wort Klon trifft die Beschreibung nur vage. Die Aspekte sind nicht genetisch gezüchtet worden und herangereift, sie wurden schlicht aus dem Nullzeitwesen gebildet.« »Nullzeitwesen?«, fragte Simon. »Vielleicht könnten Sie der Reihe nach erzählen, dann wäre es vielleicht einfacher, Ihnen zu folgen.« An Quires Stelle ergriff Sherilyn Stone das Wort, die wohl einen Großteil seiner Geschichte bereits kannte. Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Die fremde Präsenz, in die das Ehepaar Quire geraten ist, existiert in einer multidimensionalen Sphäre, die losgelöst von unserem vierdimensionalen Kontinuum ist. Die Zeitverhältnisse innerhalb des Leibes sind nicht mit denen zu vergleichen, die wir kennen.« »Was bedeutet das im Klartext für einen Laien?«, wollte McLaird wissen. »Wenn Sie ein Jahr der irdischen Zeitrechnung in der Nullsphäre verbringen, dann sind draußen im Universum nur knapp eine bis zwei Minuten vergangen!« »Man altert darin langsamer?« Diesmal sprach wieder Mel Quire. »So ist es. Nur innerhalb dieser Nullsphäre, die eigentlich gar keine Sphäre sondern ein denkendes, intelligentes Wesen ist, war es mir möglich zusammen mit den Aspekten Natashas Cloudgarden aufzubauen. Und ja, Mister Ken Dra, um ihre andere Frage zu beantworten, das Nullzeitwesen hat weitere Aspekte gebildet, eine stattliche Anzahl sogar, um aus Cloudgarden eine für Menschen bewohnbare Welt zu machen.« »Wie viele?«, fragte Kardina dazwischen. »Oh, ich kenne den aktuellen Bevölkerungsstand Cloudgardens nicht hundertprozentig – nach letzten Zählungen dürften es vielleicht fünf Millionen Aspekte sein, die ...« »Fünf Millionen?«, riefen Simon, Ken und Tanya wie aus einem Munde. Mel Quire nickte. Simon hob eine Hand und schüttelte dabei den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört habe. »Moment mal, Momentchen, soll das heißen, dass fünf Millionen Frauen,
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Klone, Kunstwesen oder was auch immer, die alle aussehen wie Ihre vor zwanzig Jahren gestorbene Ehefrau auf diesem von Stürmen geplagten Planeten leben?« Quire runzelte die Stirn. »Ja, so sieht es aus. Aber wie gesagt, es sind weder Klone, noch irgendwelche Maschinen, sondern lebende, fühlende, denkende Menschen wie sie und ich. Sicherlich kam im Laufe der Jahre die Frage auf, ob individuelle Gesichtszüge oder ein gänzlich anderes Aussehen geschaffen werden sollte, doch ... zu dem Zeitpunkt existierten bereits mehrere Tausend Aspekte, also beließ das Nullzeitwesen es bei den körperlichen Merkmalen meiner Frau.« »Doktor Quire hat uns, wie gesagt, seine Hilfe angeboten«, ergriff Sherilyn Stone wieder das Wort. »Mit Cloudgarden als Basis haben wir eine weitaus größere Chance, Scardeen tiefe Wunden beizubringen, als wir es von der Erde aus könnten.« »Selbst fünf Millionen Soldaten helfen uns nicht gegen das gesamte Scardeenische Reich«, räumte Ken Dra ein. »Prissaria konnte alleine nicht gegen die Legion bestehen. Ihr Cloudgarden ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.« »Sie haben nicht zugehört, Schwertträger«, gab Quire zurück. »In der Nullzeit kann quasi ohne Zeitverzögerung alles an Material produziert werden, was wir benötigen. Waffen, Schiffe, selbst Personal, wenn das Nullzeitwesen weitere Aspekte aus einem schier unerschöpflichen Vorrat bildet.« Simon blickte Sherilyn Stone an. »Also? Werden hier Truppen eintreffen, um die Erde zu verteidigen?« Der Major schüttelte den Kopf. »Nein, wir werden mit der FREEDOM nach Cloudgarden fliegen und uns vor Ort alles ansehen.« »Und lassen unsere Heimat schutzlos zurück?«, fragte Simon. »Sie wissen doch, was Sealdric mit Prissaria angestellt hat. Das kann er hier jederzeit wiederholen.« Mel Quire hob eine Hand und räusperte sich. »Ich denke, wir können hier zumindest einigen Schutz garantieren. Wir haben einen Hyperraumverzerrer. Ich habe das Gerät vor einigen Jahren zusammen mit Natashas Wissen entwickelt. Es krümmt den Raum um einen Planeten und verschiebt die Koordinaten, so dass ein direkter Anflug aus dem Hyperraum nicht mehr möglich ist. Damit können wir beispielsweise auch die Erde tarnen.« »So ähnlich wie bei Dai Urshar«, sagte Ken Dra. »Aber wir haben den Planeten auch gefunden.« Quire gab zu, dass die Methode nicht zu hundert Prozent zuverlässig war. Es bestand die Gefahr, dass die Scardeener die Erde trotzdem entdeckten. Doch Quire versicherte, dass er über entsprechende Mittel verfügte, einer feindlichen Flotte zu begegnen und die Erde zu schützen. Simon fühlte sich ein wenig überrumpelt, als Sherilyn Stone wichtige Entscheidungen traf – offensichtlich standen die Befehle schon längst fest, und sie gab ihm und seinen Gefährten nicht die Möglichkeit, die Informationsflut aus Quires Bericht zu verdauen. Auf der anderen Seite verstand er jedoch auch, dass Eile geboten war. Die Flucht Helen Dryers und Sealdrics lag schon zu lange zurück, als dass sie noch länger zögern durften. Eine scardeenische Flotte konnte schon bald das irdische Sonnensystem erreichen. Stone stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe bereits Startvorbereitungen veranlasst. Wir fliegen innerhalb der nächsten Stunde los. McLaird, Ken Dra, Tanya und Kardina ... wenn Sie nicht mitkommen wollen, steht es Ihnen jederzeit frei, die FREEDOM zu verlassen.« McLairds und Ken Dras Entschluss stand bereits seit langem fest. Sie wussten, dass sie allein nicht weiter kamen und waren auf Hilfe von außen angewiesen. Auch die beiden Amazonen entschieden sich für den Kampf gegen das Scardeenische Reich und stellten sich damit endgültig auf die Seite ihrer Gefährten. Die letzte halbe Stunde vor dem Start nutzen Mel Quire und ein Wissenschaftsteam Shadow
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Commands, um den Hyperverzerrer in einem zuvor bereits aufgestellten Fertigbunker am Südpol der Erde zu platzieren. Simon bekam das Gerät nicht zu Gesicht, er hoffte nur, dass es seine Arbeit genauso gut verrichtete, wie die Apparatur, die sich in der Silberpyramide auf DUST befinden musste. Wenn Sealdric einen Weg fand, die Erde zu erreichen, dann sah Simon schwarz für die Zukunft seiner Heimatwelt. Zum verabredeten Zeitpunkt kehrte Doktor Quire mit seinem Team in einem Shuttle von der Erde zurück zur FREEDOM, die sofort darauf Fahrt aufnahm und in den Hyperraum sprang. Ihre nächste Station war Cloudgarden – anscheinend die letzte Hoffnung der Menschheit im Kampf gegen die Legionen von Scardeen. Φ Obwohl sie vorgewarnt waren, zuckte Helen Dryer zusammen, als das Shuttle aus dem übergeordneten Kontinuum in ein für sie unbekanntes Sonnensystem fiel. Die Annäherungssensoren schlugen sofort Alarm. Eine Automatik aktivierte die Schutzschilde und fuhr das Waffensystem, das aus einem kleinen Meteorabwehrlaser bestand, hoch. Die Ortungsschirme waren mit zahlreichen Flecken übersät, die einen Pulk zweier Schiffsverbände darstellten. Zwischen ihnen tobte ein erbitterter Kampf. Helen sah auf den Frontschirm und vergrößerte den Bildausschnitt um einen graubraunen Planeten, in dessen Orbit sich die Schlacht abspielte. Scardeenische Schlachtschiffe, ähnlich dem, das Shadow Command Sealdric abgeluchst hatte, hatten einen gewaltigen Schwarm Raumjäger ausgespien, die sich wie Hornissen auf von der Oberfläche fliehende Boote und Shuttles stürzten. Die schwach geschützten und nur leicht bewaffneten Flüchtlinge waren den Angreifern hoffnungslos unterlegen. Nacheinander gingen über der Planetenkrümmung kleine Miniatursonnen auf, als die Raumboote unter dem Strahlenbeschuss der Scardeener explodierten. Die planetare Abwehr schickte nur vereinzelte Salven aus Plasmageschützen zur Flotte empor, die jedoch harmlos an den Schutzschirmen der Schlachtschiffe verpufften. Die Vergeltungsschläge aus dem Orbit waren dafür umso wirkungsvoller. Energiewerfer entfachten ein Bombardement, das die Oberfläche dieser Welt in einen Glutofen verwandelte. Zuerst wurden die Flakbatterien ausgeschaltet, danach gingen Raumhäfen und Stützpunkte in Flammen auf, ehe die ersten zivilen Ziele Opfer des Angriffs wurden. Die Gegenwehr erlahmte nach und nach, bis es kein Schiff mehr gab, das von der Oberfläche startete. Ein Großteil der Raumjäger kehrte zu ihren Hangars zurück. Die Flotte sammelte sich, um weitere Kontinente des Planeten bombardieren zu können. In aller Seelenruhe hatte Sealdric aus der sicheren Entfernung den Ausgang der Schlacht abgewartet. Helen hatte ihn zweimal gedrängt, endlich Verbindung mit seinen Schiffen aufzunehmen, doch er genoss den Angriff sichtlich. Er meinte nur, die Erde liefe ihm nicht davon. Sobald die Sache hier erledigt wäre, war noch genug Zeit, um sich die gekaperte SENSOR zurückzuholen und den dritten Planeten des Sol-Systems ins Scardeenische Reich einzuverleiben. Ein Funkspruch erreichte das Fluchtshuttle. Sealdric sendete einen Erkennungscode und aktivierte einen freien Kanal. »Rasarah Sealdric, Sie haben Landeerlaubnis auf Deck Vier auf der TORGUT.« Sealdric blickte zur Seite und sah Helen an. »Traust du dir zu, das Shuttle zu landen.« »Ich denke schon.« Helen übertrug den durch die Sensoren aufgenommenen Leitstrahl in die Navigationscomputer und zündete die Triebwerke. Keine fünf Minuten darauf setzte das Shuttle auf einem der Landedecks der TORGUT auf. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen der Wartungscrew stürmte auf sie zu und wartete bei der angewiesenen Parkbucht, zu der ein
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Lotse sie dirigierte. Draußen auf dem Deck begrüßte Sealdric einen Offizier und ließ sich von ihm einen kurzen Bericht über den Verlauf der Schlacht geben. Helen bekam nicht allzu viel davon mit. Ihr Blick wanderte über das gewaltige Areal, das mit Shuttles, kleineren Clippern und Raumjägern nur so voll gestopft schien. Viele der vom Einsatz zurückgekehrten Piloten blieben in ihren Maschinen sitzen und warteten, bis sie aufgetankt und neu armiert waren, um gleich darauf wieder zur Oberfläche zu starten. Helen löste sich von dem beeindruckenden Bild, das sie vage an das Treiben auf einem irdischen Flugzeugträger erinnerte. Sie hatte während eines Außeneinsatzes der CIA im dritten Golfkrieg eine Operation von der U.S.S. NIMITZ aus geleitet und die Gepflogenheiten an Bord eines der Riesen kennen gelernt. Doch selbst ein Flugzeugträger der NIMITZ-Klasse wirkte mit seinen 332 Metern Länge nur wie ein kleiner Fisch gegen die Zwei-KilometerGiganten der Scardeener. Sealdric winkte Helen zu und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Noch wusste sie nicht, was ihr bevor stand. Zwar hatte sie dem Bewahrer zur Flucht verholfen, aber durch ihre Schuld war er ja erst in Gefangenschaft geraten. Und es war auch ihr anzulasten, dass Shadow Command sein Schiff, die SENSOR, erobern konnte. Sealdric hatte während des Flugs Andeutungen gemacht, doch sie wurde nicht schlau daraus. Sie folgte dem Scardeener über mehrere Aufzüge und Gänge bis hinauf zur Kommandoebene. Die Brücke glich einem emsigen Bienenschwarm. Offiziere und Mannschaften standen noch unter Gefechtsalarm. Zwar schien der Kampf im Orbit abgeschlossen zu sein, aber die Schlacht war noch nicht beendet. Ein Mann in grauer Uniformen mit prunkvollen Rangabzeichen schritt auf Sealdric und Helen zu. Er war groß, breitschultrig und trug einen gezwirbelten Schnäuzer. »Rat Sealdric«, sagte er und verneigte sich tief vor dem Bewahrer. »Als wir von der SENSOR hörten, befürchteten wir das Schlimmste. Wie konntet Ihr entkommen?« Sealdric deutete auf Helen. »Diese ... Frau ist Helen Dryer, eine Verbündete von der Erde. Sie half mir bei der Flucht.« Helen schluckte. Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie dabei Sealdrics Gesichtsausdruck sah. Er hatte sie nicht verraten – noch nicht. Das musste nichts heißen. Sicherlich würde er sie beobachten, prüfen, und ob er ihr je wieder Vertrauen schenken konnte, stand ohnehin in den Sternen. Helen hatte sich für Scardeen und gegen die Erde erschienen. Sie würde sich beweisen müssen und versuchen Sealdrics Vertrauen zurückzugewinnen. Der hochdekorierte Mann trat an Helen heran, nickte kurz und bot ihr seine Hand dar. »Willkommen an Bord, Helen Dryer«, sagte er. »Ich bin Captain Bisam, kommandierender Offizier der TORGUT.« Helen war sicher, dass er ein anderes Wort als Captain in seiner Heimatsprache gesagt hatte, doch der Übersetzer hatte einen gebräuchlichen Rang ins Englische übertragen. Bisam ließ ihre Hand los und wandte sich wieder an Sealdric. »Ich nehme an, Ihr übernehmt das Kommando über mein Schiff?« »Ja, die TORGUT wird mein neues Flaggschiff werden. Sie bleiben als ausführender Offizier an Bord.« Sealdric ging auf die Mitte der Brücke zu und ließ sich in einen geräumigen Schalensitz fallen. Er blickte nachdenklich auf den kinoleinwandgroßen Wandbildschirm, der einen Ausschnitt der Oberfläche des Planeten zeigte, den die Scardeener angegriffen hatten. Helen stellte sich neben den Sitz und sah auf die taktischen Displays. Zusammen mit der TORGUT befanden sich noch vier weitere Schlachtschiffe im Orbit. Unterstützt wurden sie von acht Raumern der Zerstörer-Klasse – 650 Meter lange Ungetüme, die Helen Dryer entfernt an überdimensionierte Schildkröten erinnerten.
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»Statusreport der Flotte«, verlangte Sealdric. »Wir bereiten uns auf eine Bodenoffensive vor«, sagte Captain Bisam, beeilte sich aber hinzuzufügen: »Mit Eurer Erlaubnis.« Sealdric schüttelte den Kopf. »Senden Sie eine Nachricht nach Scardeen. Sie sollen andere Schiffe schicken, um das hier zu erledigen. Für unsere Flotte gibt es ein neues Ziel. Ein kleiner Planet am äußeren Rand des Spiralarms.« Der Bewahrer wandte sich dem Kontrollpaneel der Sesselarmlehnen zu und tippte eine Zahlenkombination in das Eingabefeld. Helen, die mittlerweile genug von Astrogation verstand, erkannte, dass es sich dabei um die Koordinaten der Erde im galaktischen Bezugssystem handelte – ausgehend von der Mittelachse der Milchstraße, die mit den Koordinatensatz von vier Nullen trug. »Übermitteln Sie die Sprungdaten an die anderen Schiffe und geben Sie mir eine Übersicht über den aktuellen Zustand.« Captain Bisam leitete die Anfrage an seinen Kommunikationsoffizier weiter und erhielt nur wenige Augenblicke darauf eine Antwort. »Die LURDIG, AASSUM und SAMHOG sind sprung- und gefechtsbereit«, teilte der Mann an der Kommstation mit. »Schlachtschiff MAGIRUNA meldet nur Sprungbereitschaft.« »Geben Sie mir den Kommandanten«, verlangte Sealdric. Auf dem Hauptschirm flimmerte das Bild der Flotte kurz und machte dann dem Gesicht eines ziemlich jungen Mannes Platz. Wie Bisam trug er die Rangabzeichen eines Captains. »Rasarah!«, stieß der Mann auf dem Schirm aus. »Unsere Techniker haben beim Systemcheck einen Defekt an zweien unserer Energiewerfer festgestellt. Sie versuchen gerade, die Waffenphalanxen zu reparieren. Ich bitte daher um eine Sprungverzögerung von einer halben Stunde.« »Abgelehnt, Captain«, sagte Sealdric kalt. »Wir werden unverzüglich starten, ob mit oder ohne Ihre Energiewerfer, ist mir egal.« Er nickte dem Kommoffizier zu und ließ die Verbindung unterbrechen. »Leiten Sie den Countdown ein, Captain Bisam.« Der Angesprochene verneigte sich kurz und drehte sich um, um die Startvorbereitungen an seine Untergebenen weiterzumelden. Sealdric blickte zu Helen auf. In seinen Blicken spiegelte sich unsägliche Kälte wider. Einmal mehr wurde die Ex-CIA-Agentin daran erinnert, mit wem sie sich überhaupt eingelassen hatte. Dieser Mann war für den Tod eines ganzen Volkes verantwortlich. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er Prissaria mit HogasBakterien überzogen und einen Genozid begangen. Dass er sie am Leben ließ, musste nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten. Er konnte seine Entscheidung jederzeit rückgängig machen. Sie war seinem Wohlwollen hilflos ausgeliefert. »Ich hoffe, du fällst mir nicht noch einmal in den Rücken«, zischte er leise, so dass nur Helen es hören konnte. »Ich mag einmal ein doppeltes Spiel gespielt haben, Bewahrer«, erwiderte sie kühl. »Ein zweites Mal würde ich mir das selbst nicht mal mehr abnehmen. Ich stehe auf deiner Seite.« »Wir werden sehen.« Nur wenige Minuten darauf nahm die Flotte Scardeens Kurs auf die Erde, um den Untergang des blauen Planeten zu besiegeln. Φ Das Wispern der Stimmen an seinem Ohr wurde lauter, je mehr er sich darauf konzentrierte. Eine Zeitlang hörte er nur ein unverständliches Gemurmel, bis sich endlich erste verständliche Wortfetzen und dann ganze Sätze herauskristallisierten. Paul Gossett schlug die Augen auf. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Fahrt mit
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Marshal Liz aus Los Angeles heraus. Er musste auf dem Beifahrersitz eingenickt sein. Wie er letztendlich hierher gelangt war, wusste er nicht – ja, er hatte nicht einmal eine Ahnung, wo er sich überhaupt befand. Er stand auf und stellte zu seiner Überraschung fest, dass er in einem Bett gelegen hatte. Prüfend blickte er sich im Halbdunkel des Zimmers um. Definitiv ein Schlafraum. Ein Doppelbett, ein begehbarer Wandschrank, zwei Kommoden und ein flauschiger Teppich zierten das Zimmer. Von der Decke her drang das monotone Summen einer Klimaanlage. Gossett tapste zum nächsten Lichtschalter, drückte ihn und kniff stöhnend die Augen zusammen, als grelles Gelb in seine Augen stach und für einen Moment schmerzte. Als er sich einigermaßen an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah er in den Spiegel vor dem Wandschrank. Beulen und blaue Flecken säumten sein Gesicht, und er erkannte überrascht, dass er einen Pyjama trug. Jemand hatte wohl sorgfältige Arbeit geleistet, als sie ihn hierher brachten. Aber was wollten die U.S. Marshals von ihm? Warum machten sie sich die Mühe, ihn aus den Fängen der NSA zu befreien? Es konnte ihnen doch nicht nur um Informationen über Shadow Command gehen. Dieser Fall fiel nicht einmal in den Zuständigkeitsbereich der Polizeibehörden. Er suchte im Schrank nach seinen Kleidern, fand jedoch nur eine neue Garderobe in seiner Größe. Rasch wusch er sich im angrenzenden Bad und schlüpfte dann in Stoffhosen, Hemd und Schuhe. Er vermied es, noch einmal in den Spiegel zu schauen, da er gewiss keinen besonders schönen Anblick bot, nachdem die NSA-Agenten ihre speziellen Verhörmethoden bei ihm angewandt hatten. Im Schlafraum wandte er sich direkt dem Ausgang zu, legte sein Ohr dicht an die Tür und lauschte. Die Stimmen waren fort. Gossett drehte den Türgriff, zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte nach draußen. Ein kleiner Korridor, der in einen Wohnraum mündete, befand sich dahinter. Er ließ die Tür offen, ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Es war zu dunkel, um draußen irgendetwas erkennen zu können. Nur das leise Rascheln eines Gartensprinklers war zu hören. So kehrte er zur Tür zurück, zog sie ganz auf und trat hinaus. Um sich schauend durchquerte er den Wohnraum, der jedem x-beliebigen eines Einfamilienhauses entstammen konnte. Zwei Sofas, ein Sessel, ein niedriger Tisch, am Ende eine Stereoanlage und ein Fernseher. An einer Wand gab es eine Durchreiche zur Küche und eine gläserne Tür führte nach draußen auf die beleuchtete Terrasse. Gossett ging an das Fenster heran und sah hinaus. Ein Pool mit ruhigem, blauem Wasser schloss an die Terrasse an. Der ganze Bereich war mit Moskitonetzen bedeckt. Grillenzirpen drang von draußen an Gossetts Ohren. Er drehte sich um, durchmaß das Wohnzimmer bis zur nächsten Tür. Als er sie aufzog, traf ihn ein mittelschwerer Schock. Überrascht prallte er zurück, als er hinter dem Ausgang nicht das Draußen sah, sondern einen grauen Korridor, der von einem leicht bläulichen, fluoreszierenden Leuchten beschienen wurde. »Was zum ...?« Gossett blickte zurück. Die Illusion war perfekt. Von jenseits des Zimmers hörte er die Grillen und den Rasensprinkler. Doch wenn er sich auf den Gang konzentrierte hörte er ein dumpfes Dröhnen und vereinzelt ein Fiepen. Entschlossen schritt er über die Schwelle, doch im selben Moment spürte er kaltes Metall an seinem Hals. Aus den Augenwinkeln gewahrte er eine grün gekleidete Gestalt. »Stehen bleiben«, zischte jemand neben ihm. Er fügte sich und hob übervorsichtig die Hände. Der Druck gegen seinen Hals wurde stärker, wie zur Aufforderung, sich in Bewegung zu setzen. Gossett tat seinem Bewacher den Gefallen und wurde durch den Korridor bis zu einer weiteren Tür getrieben. Dahinter befand sich ein Raum, der große Ähnlichkeit mit der Kommandozentrale des scardeenischen Schlachtschiffes besaß. Er war mit Schaltschränken, Terminals und Steuerkonsolen nur so voll gestopft. Das Dröhnen stammte offenbar von den arbeitenden Geräten und Instrumenten. Zwei Gossett bekannte Personen hielten sich hier auf.
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Als sich der Druck der Waffe von seinem Hals löste und sich die Tür hinter ihm schloss, drehten sich die beiden zu ihm um. »Ah, Mister Gossett, Sie sind wach«, eröffnete Marshal Ian und trat an ihn heran. Paul Gossett ignorierte die dargebotene Hand. Sein Blick wanderte zu der Frau mit dem schulterlangen, brünetten Haar, die sich ihm als Marshal Liz vorgestellt hatte. Sie lächelte unsicher. Inzwischen war ihr Gesicht sauber, keine Anzeichen mehr von totaler Erschöpfung – und die vermeintlich grünlich durchschimmernden Strähnen waren dem Ton ihrer übrigen Haarfarbe gewichen. »Was ist das hier?«, fragte Gossett und beschrieb mit einer Hand einen Kreis, der den gesamten Raum umfasste. »Alles zu seiner Zeit, Mister Gossett«, sagte Ian und deutete auf einen der Sitze in der Nähe einer Schalttafel. »Nehmen Sie doch in der Zwischenzeit Platz.« Paul blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Er war allein, unbewaffnet und hatte nicht den blassesten Schimmer, was hier gespielt wurde. Und er musste den Marshals zugute halten, dass sie ihn immerhin aus den Fängen der NSA befreit hatten. Obwohl er gerade diesen Punkt nicht richtig verstand. Immerhin war Marshal Ian bei Harry Thorne gewesen, als sie Paul an der Grenze zu Nevada gestellt hatten. Nachdem sich Gossett in den ihm zugewiesenen Sessel gesetzt hatte, überkam ihn ein Gefühl der Müdigkeit. Seine Glieder fühlten sich schwer wie Blei an. Er konnte sich kaum rühren, fand gerade mal Kraft, zum Blinzeln. Der Wunsch aufzustehen, verblasste innerhalb weniger Augenblicke. Als er merkte, dass es ein Fehler war, sich hier hinzusetzen, war es bereits zu spät. Irgendetwas stimmte mit diesem Stuhl nicht. »Kämpfen Sie nicht dagegen an«, sagte Liz, die wohl die Verwunderung in seinen Augen gelesen hatte. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. So schwieg er einfach und ließ sich hängen. Notgedrungen folgte er dem Gespräch zwischen den beiden Marshals, die sich immer mehr von seiner Vorstellung eines U.S. Justizbeamten entfernten. Er sah Ian und Liz vor einer Wandtafel, die ein beleuchtetes Display der Erde zeigte. Eher ein Hologramm, dachte er und beobachtete fasziniert, wie sich der Blickwinkel des Planeten mit jeder Sekunde änderte. Das Bild zoomte heran, zeigte eine Ausschnittsvergrößerung eines amerikanischen Bundesstaates, den Gossett zwar im ersten Augenblick erkannte, doch dann von einem Moment auf den anderen wieder vergaß. »Wir haben Hurley ausfindig gemacht«, kommentierte Liz und drückte zwei Tasten an dem Paneel vor sich. Ein orangefarbener Punkt flammte inmitten einer großen Metropole auf.« »Als Ziel Eins markieren«, sagte Ian. »Weiter.« »Die Satellitenüberwachung hat das startende Shuttle bis zum Ausgangspunkt zurückverfolgt. Die Raumsensoren haben Sprungaktivitäten geortet. Meiner Meinung nach ist das scardeenische Schlachtschiff in den Hyperraum eingetaucht.« Ian nickte. »Ich glaube nicht, dass sie fliehen. Sie wissen, dass Scardeen mit einer Flotte zurückkehren wird. Vermutlich suchen sie Unterstützung da draußen.« »Bei wem, ist fraglich«, meinte Liz. »Nachdem Prissaria gefallen ist ...« »Weiter.« Gossett hatte Mühe, die Lider offen zu halten. Noch schwieriger fiel es ihm, die Worte, die an seine Ohren drangen auch zu behalten. Sie schienen nur kurz sein Gedächtnis zu berühren und dann wieder zu zerfasern, als lösten sie sich in nichts auf. »Nachdem das Shuttle aus der Antarktis gestartet ist, haben wir ein Aufklärungsteam in die Region geschickt. Das Gerät weist eine Quantendynamik auf und ist darauf ausgelegt, den Hyperraum um die Erde zu verzerren.« Ian zog überrascht die Brauen hoch. »Unsere Freunde von Shadow Command sind doch immer wieder für eine Überraschung gut. Nichtsdestotrotz werden wir unsere Einheiten in
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höchste Alarmbereitschaft versetzen. Falls die Scardeener durchkommen, müssen wir für den Verteidigungsfall bereit stehen.« Gossett sog die letzten Worte des Marshals in sich auf, versuchte sie festzuhalten, zu begreifen, was sie bedeuteten, doch über diesen Gedanken dämmerte er in einen Schlafzustand über. »Was machen wir mit ihm?«, hörte er Liz noch fragen. »Injiziere ihm Dondronium«, antwortete Marshal Ian. »Wenn er uns alles verraten hat, was er über Shadow Command weiß, wird er entweder auf unserer Seite oder auf gar keiner stehen.« Nach dem letzten Wort driftete Gossett endgültig in eine tiefe Bewusstlosigkeit ab. Beim nächsten Erwachen sollte er sich an nichts mehr erinnern – an gar nichts mehr ...
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Teil 3 Die Frauen von Cloudgarden
Es war Zeit zu fliehen. Das dumpfe Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, beschlich ihn schon seit Wochen. Vor wenigen Tagen hatte er erste Konsequenzen daraus gezogen und seinen E-Mail-Account bei Gate.com abgemeldet. Er hoffte nur, dass McLaird nicht versuchte, ihn ausgerechnet jetzt zu erreichen, sonst würde er eine Überraschung erleben. Jeremiah Hurley beschloss, noch an diesem Tag seinen Wohnsitz aufzugeben und unterzutauchen. Er machte so etwas nicht zum ersten Mal, aber nie zuvor waren sie ihm so dicht auf den Fersen gewesen. Dabei war er überaus gründlich darin, seine Spuren zu verwischen – anscheinend nicht gründlich genug. Er verstaute das Notwendigste an Kleidung und Ausrüstung in einem großen Campingrucksack. Als dieser fertig gepackt war, sah es tatsächlich so aus, als wollte Jeremiah auf eine große Bergwanderung. Hosen, T-Shirts, Jacken, Handtücher, Hygieneartikel, eine Iso-Matte und ein Schlafsack fanden sich darin. Dazu allerlei nützliche Gegenstände, die man draußen im Wald oder in den Bergen zum Einsatz bringen konnte. Jeremiah schulterte den Rucksack, blickte sich ein letztes Mal in dem möblierten Zimmer um und wandte sich dann zum Gehen. Es klopfte an der Tür ... Jeremiah erstarrte, zog dann die Hand zurück, die er gerade schon zur Klinke ausgestreckt hatte. Auf Zehenspitzen bewegte er sich zum Fenster hinüber und versuchte durch die Lamellen der Jalousie nach draußen zu blicken. Die eingeschränkte Sicht, ließ ihn nicht viel erkennen, aber er sah deutlich die auf Hochglanz polierte, silberne Limousine auf der anderen Straßenseite. Verflixt, dachte er und trat automatisch einen Schritt vom Fenster zurück. Das Klopfen klang erneut auf. Er hatte das Fahrzeug bereits gestern auf dem Heimweg vom KendoTraining gesehen. Sie beobachteten ihn, soviel stand fest. Nur hatte er noch nicht ganz herausgefunden, wer Sie eigentlich waren. Die Fallen und Irrwege, die er über seinen Namen und die E-Mail-Adresse aufgebaut hatte, hatten die CIA bereits einmal an der Nase herumgeführt. Er glaubte nicht, dass der Geheimdienst inzwischen schlauer geworden war. Eher nahm er an, dass jemand der anderen ihn gefunden hatte. Gar nicht gut. »Hurley? Machen Sie auf!« Die Stimme dröhnte förmlich mit tiefem Bass von draußen durch die geschlossene Tür. Jeremiahs Rechte klammerte sich um den Trageriemen des Rucksacks. Er durchquerte rasch den Wohnraum, betrat das Bad auf der anderen Seite und riss das Fenster auf. Im Vorbeigehen warf er einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Das Bild eines jungen, etwa fünfundzwanzigjährigen Mannes mit blondem Haar blickte ihm entgegen. Natürlich wussten Sie, dass er kein zwölfjähriger Pennäler mehr war, auch wenn er Simon McLaird in den Mails in diesem Glauben ließ. Simon hätte sich nie auf eine Freundschaft mit ihm eingelassen, wenn Jeremiah ihm von Anfang an reinen Wein eingeschenkt hätte. Jetzt war es zu spät für Erklärungen, denn McLaird weilte nicht mehr auf der Erde. Jeremiah wusste jedoch, wo er sich befand – er hatte ihn schließlich erst in diese Lage gebracht, aber auch das musste Simon nicht notwendigerweise wissen. Jeremiah kletterte behände auf den Badewannenrand, warf den Rucksack nach draußen und zog sich dann am Fenstersims hoch. Als er sich durch die Öffnung gezwängt hatte, hörte er
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hinter sich den dumpfen Knall einer aufgestoßenen Tür. Sie waren in seiner Wohnung! Jeremiah kam federnd auf dem Boden auf, langte nach dem Rucksack und lief los. Er rannte quer durch den anschließenden Garten, sprang über einen Zaun und landete in einer Nebenstraße auf der Rückseite des Wohnhauses. Zwei Blocks lang lief er so schnell er konnte. Immer wieder blickte er sich um. Er schien seine Verfolger abgeschüttelt zu haben. In der Zweiunddreißigsten, Ecke Main, stieg er in einen Bus. Als er die Fahrkarte löste und einen Blick aus dem Rückfenster warf, glaubte er für einen Augenblick die silbrige Limousine zu erkennen, doch ein den Bus überholender 387er Peterbilt versperrte für einige Sekunden die Sicht. Als der Bus anfuhr und sich in den fließenden Verkehr einreihte, war die Limousine verschwunden. Nach drei Stationen stieg Jeremiah aus und legte den Rest des Weges zu Tom's Inn, seiner Stammkneipe, zu Fuß zurück. Bevor er endgültig die Stadt verließ, wollte er auch sicher gehen, dass er seine Verfolger abgehängt hatte. Falls sie ihn hier fanden und Ärger machten, hatte er Tom und die üblichen Verdächtigen am Billardtisch im Rücken. Jeremiah nickte den Jungs kurz zu, stellte sich an den Tresen und bestellte bei Candy ein Bier. Das junge Ding mit dem verlebten und mit Piercings übersätem Gesicht schaute nicht mal auf, als sie ihm das frische Budweiser herüber schob. Tom selbst stand an der Kasse und rechnete sein Tagesgeschäft ab, obwohl es dafür noch reichlich früh war. Jeremiah lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen, leerte das Glas zur Hälfte und starrte den Eingang an. Nach dem dritten Bier tat sich noch immer nichts. Offenbar waren Sie ihm nicht gefolgt. Er blickte auf die Uhr. Es war bereits halb Neun – gut zwei Stunden hatte er in der Kneipe zugebracht. »Noch eins?«, quäkte Candy ihn Kaugummi kauend an. Er schüttelte den Kopf, zog eine zwanzig Dollarnote aus der Hosentasche und schob sie über die Theke. »Stimmt so.« Candy nickte nur. Jeremiah ging nach draußen. Die kühle Abendluft stellte eine willkommene Abwechslung zum rauchgeschwängerten Klima der Kneipe dar. Er blickte sich kurz um. Es herrschte wenig Verkehr auf der Straße. Nicht ungewöhnlich für eine Kleinstadt wie Golden, Colorado – zumal die Touristensaison noch lange nicht begonnen hatte. Er bog rechts in die Washington Avenue ein, die sich von den nördlichen City Limits bis fast zur Stadtmitte über zwei Kilometer erstreckte. In der Höhe des einzigen 7-Eleven der Stadt sah Jeremiah einen Reflex in der Fensterscheibe. Eine silberne Limousine! Er verharrte kurz vor dem Eingang. Noch zögerte er, den Laden zu betreten, der sieben Tage in der Woche, rund um die Uhr geöffnet hatte. Der schwarze Verkäufer hinter der Theke sah zu ihm nach draußen. Außer ihm hielten sich nur noch zwei Frauen in dem Shop auf, die sich angeregt in der Nähe der Kühlregale unterhielten. Jeremiah betrat den Laden, ging auf die Verkaufstheke mit der Kasse zu und deutete auf den Hot Dog Grill hinter dem Schwarzen. »Ich nehme einen mit Ketchup«, sagte Jeremiah heiser und lugte über die Schulter des Verkäufers hinweg nach draußen. Die Limousine hatte auf der anderen Straßenseite gehalten. Seinen ursprünglichen Plan, als Anhalter über den Highway 58 nach Denver zu gelangen, hakte er in Gedanken ab. Jeremiah zahlte den Hot Dog, biss zweimal ab und warf den Rest in einen Müllbehälter. Das entgeisterte Kopfschütteln des Verkäufers ignorierte er. Stattdessen nahm er seinen Mut zusammen und verließ den 7-Eleven wieder. Kaum, dass er den Gehweg betreten hatte, fuhr die Limousine mit quietschenden Reifen an und hielt direkt neben ihm. Die Fonttür sprang auf, und zwei fleischige Hände zerrten ihn so
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plötzlich auf die Rückbank, dass an Gegenwehr gar nicht zu denken war. Jeremiah glaubte auch nicht, dass er eine reelle Chance gegen diese Bulldogge gehabt hätte. Die Hände drückten ihm beinahe die Luft ab und pressten ihn in die Polster der Rückbank. Jeremiah krächzte hilflos, aber je mehr er versuchte, sich loszureißen, desto enger umschlang ihn der Kleiderschrank von einem Mann. »Keinen Mucks, Hurley!«, schnappte die Bulldogge. Der Wagen fuhr an. Es ging über die US-40 auf den Highway 74 nach Evergreen, südlich der beiden Routen, die Jeremiah in Betracht gezogen hatte. Ehe sie den Ort erreichten, bogen sie in einen schmalen Waldweg ein. Es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Irgendwann hielt der Wagen an. Die Tür flog auf, und Jeremiah wurde unsanft hinausgestoßen. Er landete auf halb gefrorenem, matschigem Boden. Seine Verfolger stiegen aus und kamen langsam um den Wagen herum. »Soso«, meinte Bulldogge. »Ein Zwölfjähriger, wie?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, behauptete Jeremiah, obwohl er schon ahnte, worauf der andere hinaus wollte. »Was wollen Sie von mir?« »Wie wäre es mit Simon McLaird?«, donnerte ihm die Bulldogge entgegen. Jeremiah versuchte seine Stimme fest klingen zu lassen. »Wen? Was soll das hier? Ich hab nichts getan. Wisst ihr Typen überhaupt, was auf Kidnapping steht?« Der harte Schlag ins Gesicht ließ ihn abrupt verstummen. Seine Wange brannte. »Pass mal auf, Freundchen«, grunzte Bulldogge. »Wir können es auf die harte oder die sanfte Tour versuchen. Den E-Mail-Verkehr zwischen dir und McLaird kennen wir. Also noch einmal: Wo steckt er?« Jeremiah reagierte nicht. »Schön, dann eben auf die harte Tour«, sagte der zweite Mann und gab Bulldogge einen Wink. »John, bring ihn rein.« Der Angesprochene packte Jeremiah und riss ihn aus dem Matsch hoch. Er drehte ihm dabei mit einem schnellen Griff die rechte Hand auf den Rücken und schob ihn so vor sich her auf einen alten Schuppen zu. Die Hütte lag zwischen den Bäumen und im Schutz der Dunkelheit verborgen und war von weitem nur schwer zu erkennen. Das Innere bestand lediglich aus einem großen, fast leeren Raum und einer Art Hinterzimmer. In der Mitte des vorderen Bereichs standen zwei Holzstühle. Jeremiah wurde in Richtung des einen gestoßen. Little John – Jeremiah hatte Bulldogge inzwischen einen anderen Namen verpasst – band ihm die Hände hinter dem Rücken an der Stuhllehne fest. Dann baute er sich zusammen mit dem zweiten Verfolger direkt vor ihm auf. Bevor ihm jedoch einer der beiden eine Frage stellte, schmetterte ein gut platzierter Haken gegen Jeremiahs Kinn. Er schmeckte Blut im Mund. Little John holte zum zweiten Mal aus und schlug zu. Jeremiahs Kopf flog nach hinten. Jetzt schmerzte auch sein Nacken. »Wssss«, presste er zischend hervor. »Was soll das, ihr verdammten...« Der Schmerz des dritten Schlags schoss ihm bis ins Gehirn. Er zerbiss einen Fluch auf den Lippen. »Nun wollen wir uns noch einmal der Frage widmen«, sagte der Schmalere der beiden mit zuckersüßer Stimme. »Wo befindet sich Simon McLaird?« »Ich kenne ... niemanden, der ... McLaird heißt«, stieß Jeremiah hervor und spuckte Blut. Der Schmale schnalzte mit der Zunge und zauberte ein gekünsteltes Bedauern in seine Miene. »Wie kann man nur so unvernünftig sein? John.« Die Bulldogge schlug noch mehrmals zu. In den Magen, ins Gesicht, allerdings mit deutlich weniger Kraft, als bei den ersten Hieben. Sein Kollege wandte sich ab und schlenderte ins Nebenzimmer. Zwischen zwei Schlägen hörte Jeremiah, wie drüben ein Fernseher eingeschaltet wurde. Der CNN-Wetterbericht
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kündigte eine Kaltfront an. Irgendwann hatte Little John aufgehört, ihn zu malträtieren. Jeremiah hing halb bewusstlos, halb vor sich hin dösend auf dem Stuhl und hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als er den ersten bewussten Gedanken fassen konnte. Wie lange war er schon hier? Zwei Stunden oder gar drei? Seine Kehle war ausgetrocknet und rau. Der Schweiß auf seiner Stirn war kalt geworden und ließ ihn frösteln. Sein Körper fühlte sich schlaff und ausgelaugt an. Nebenan lief der Fernseher weiter. Auch Little John war jetzt drüben bei Schmalhans. Jeremiah versuchte nachzudenken, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Sein Kopf dröhnte, als hätte ihn ein Schmiedehammer getroffen. Dennoch ging er einige Möglichkeiten für eine Flucht durch, doch das führte zu nichts. So lange er gefesselt auf dem Stuhl festsaß, blieb ihm keine andere Alternative, als auszuharren. Und auf Hilfe von außen konnte er nicht hoffen. Niemand wusste, dass er hier fest hing. Jeremiah verrenkte sich fast den Hals, um nach hinten in den Nebenraum zu blicken. Little John glotzte mit stumpfem Blick den Fernseher an, während Schmalhans wie gelangweilt die Tasten seines Mobiltelefons drückte. Offenbar spielte er eines der im Gerät eingebauten Spiele. »Ich muss mal aufs Klo«, sagte Jeremiah leise. »Hat der Kleine etwas gesagt?«, brummte John. »Geh du mit ihm!«, befahl Schmalhans, ohne vom Telefondisplay aufzusehen. »Wieso bin ich dran? Du kannst auch mal gehen, Thompson!« Der Schmale blickte nun doch auf und warf John einen bösen Blick zu. Schließlich legte er das Telefon beiseite, erhob sich schwerfällig und kam zu Jeremiah herüber. »Thompson also«, nuschelte dieser zwischen den geschwollenen Lippen hervor. Der Mann sagte nichts, löste ihm die Fesseln und legte ihm stattdessen Handschellen um. Er packte ihn grob bei der Schulter und stieß ihn nach draußen. Der Wetterbericht hatte nicht untertrieben, es war merklich kälter geworden. Vielleicht würde es sogar schneien. »Was ist? Wollen Sie zusehen oder hätten Sie die Güte, sich umzudrehen?«, fragte Jeremiah gereizt. Er blickte sich hastig um und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. »Keine Angst, Freundchen, ich werd' Dir schon nichts weggucken. Brauchst dich nicht zu genieren, ich hab schon so ziemlich alles gesehen, auch so kleine Schwän...« Er kam nicht weiter. Jeremiahs Fuß stieß vor, genau in die Genitalien des anderen. Während Thompson sich vor Schmerz krümmte, sprang Jeremiah hinter ihn und schlang die Handschellen um den Hals des anderen. Ruckartig riss er seinen Kopf zurück und trat ihm gleichzeitig in die Kniekehle. Der Mann röchelte und ächzte, versuchte sich aus dem Griff zu befreien, doch ein zweiter Tritt ließ ihn endlich in die Knie brechen. Jeremiah zerrte heftiger, lockerte dann plötzlich die Umklammerung und versetzte Thompson einen gezielten Schlag gegen die Schläfe. Der Mann kippte zur Seite weg in den Matsch. Rasch beugte sich Jeremiah über ihn und durchsuchte seine Taschen, während er sich immer wieder zur Hütte umblickte. Er wusste nicht, ob John etwas gehört hatte und sollte zusehen, dass er schleunigst von hier fort kam. Jeremiah fand eine Pistole und eine Brieftasche mit Geld, Führerschein und einem Ausweis der Central Intelligence Agency. Die Tatsache, dass der Mann derartige Papiere bei sich trug, verriet zumindest, dass dies ein offizieller Einsatz und keine Undercover-Aktion war. Aber warum hatten die beiden sich nicht vorgestellt? Hatten sie gar nicht vor, ihn wieder lebend zurückzubringen? Jeremiah griff nach den Schlüsseln für die Handschellen. Er schlug dem ohnehin schon Bewusstlosen mit dem Griff der Pistole über den Kopf und tauchte dann im Unterholz des Waldes ab. Φ
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Tiefes Schwarz zeigte sich sowohl auf den Bildschirmen als auch draußen vor den Sichtfenstern. Dunkelheit von einer Art, die einem die Kehle zuschnüren konnte, wenn man sie länger betrachtete. Das scardeenische Schlachtschiff, das nun unter der Flagge Shadow Commands flog, durchquerte den pechschwarzen Raum zwischen den Galaxien. Mit dem Sprung durch den Hyperraum hatte die FREEDOM die heimatliche Milchstraße weit hinter sich gelassen und war in einem Meer der Finsternis wieder aus dem übergeordneten Kontinuum ausgetreten. Hin und wieder ließ Sherilyn Stone die Daten der Achtersensoren auf die Schirme schalten, um der Brückencrew nicht ständig das eher deprimierende Bild des dunklen Ozeans zeigen zu müssen. Dann offenbarte sich die einsame Welteninsel, die wie ein winziges Eiland durch die finstere Unendlichkeit zu treiben schien. Im Moment jedoch zeigten die Monitore und der große Panoramaschirm wieder das Nichts, das vor ihnen lag. »Die Dunkelheit da draußen machen einen ja ganz verrückt«, murrte Simon McLaird. »Wenn Sie nicht gleich wieder das Bild umschalten, Major, dann suche ich mir ein nettes Plätzchen bei den Triebwerken und werfe meine Angel nach hinten aus.« »Viel Spaß, Lieutenant«, konterte Sherilyn Stone ohne aufzusehen. Sie studierte schon seit gut einer Stunde die technischen Berichte des Schiffes aus den einzelnen Abteilungen und hatte dabei nicht einmal hoch geschaut, als sie nach ihrem Kaffeebecher tastete, den eine Ordonanz bereits zum fünften Mal auffüllte. »Wenn ich gewusst hätte, dass unser Flug die Langeweile in Person ist, hätte ich den ollen Vertrag nicht unterschrieben«, brummelte McLaird in sich hinein. Er ließ Stone im Kommandosessel sitzen und ging zu einer der Steuer- und Navigationskonsolen hinüber, um sich auf einen feien Stuhl neben einem schwarzen Sergeant niederzulassen. »Los, schalten Sie auf Heckansicht, sonst werde ich ungemütlich«, raunte Simon dem Mann zu. »Tennard, richtig?« Der Angesprochene nickte und drückte eine Taste am Pult. Der Hauptschirm verwandelte sich schlagartig in eine Lichtflut, als die als Milchstraße bekannte Spiralgalaxie darauf erschien. Im Zentrum gleißten aufgrund der dichten Ansammlung Abermillionen Sterne, deren Leuchten zum Rand in ihren Spiralarmen schwächer wurde. Im äußeren Bereich einer dieser Arme trieb eine schwach leuchtende gelbe Sonne, der man in der galaktischen Bezeichnung den Namen Sol gegeben hatte. Simon dachte wehmütig an die Erde, auch wenn es schon einige Monate her war, seit er sie das letzte Mal betreten hatte. »Na bitte, sieht doch gleich wesentlich interessanter aus«, meinte er, um sich von den Gedanken der Heimweh, die sich bei ihm einschleichen wollten, abzulenken. Obwohl er sein ganzes Leben lang davon geträumt hatte, einmal die Erde verlassen und den Weltraum erforschen zu können, vermochte der bloße Wunsch, wenn er erst einmal Realität geworden war, nicht mit dem Gefühl der Wehmut zu konkurrieren. Manche Dinge ließen sich nicht einfach abstellen. »Sir?«, fragte Sergeant Luis Tennard. »Eine Sache habe ich nicht ganz verstanden. Warum springen wir diesen Planeten Cloudgarden nicht direkt an?« »Haben Sie bei der Einsatzbesprechung geschlafen?« »Äh ... ich war doch gar nicht dabei«, verteidigte sich Tennard. »Ah ja, dann könnte ich Sie jetzt gewissermaßen dumm sterben lassen.« Ein Räuspern ließ Simon sich fast den Hals verrenken, als er nach hinten blickte. Es war Ken Dra, der gerade die Brücke der FREEDOM betreten und ihr Gespräch mitbekommen hatte. »Wieder einen Clown gefrühstückt, Simon?«, fragte er grinsend. »Frühstück? Was ist das?« Ken Dra wandte sich an Tennard. »Sie wissen, was Doktor Quire zum Schutz der Erde zurückgelassen hat?«
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Der Sergeant nickte. »Ein Gerät, das die Erde unsichtbar macht.« »Nicht ganz«, sagte Ken. »Der Hyperverzerrer krümmt das Raumzeitkontinuum um einen Planeten und lässt dadurch jedes Schiff, das die direkten Koordinaten anfliegt, an einem anderen Punkt aus dem Hyperraum treten, nur nicht am Zielpunkt selbst. Laut Doktor Quire schützt ein ähnliches Feld das gesamte Cloudgarden-Sonnensystem.« Tennard deutete an, dass er verstanden hatte und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Kontrollen. Simon überlegte, ob er die Freizeiteinrichtungen der FREEDOM aufsuchen oder sich lieber ins Bett legen sollte, als einer der Ortungsoffiziere einen visuellen Kontakt meldete. Stone blickte auf und ließ das Bild auf den Hauptschirm projizieren. Inmitten der Schwärze des Leerraums war ein winziger Punkt auszumachen. Er wuchs unaufhaltsam, doch selbst bei voller Fahrt des Schlachtschiffs, war erst nach drei Stunden und mit maximaler Vergrößerung zu erkennen, dass es sich bei dem Fleck auf dem Schirm um einen blauen Stern handelte. Erst eine Stunde darauf erfassten die Scanner ein weiteres Objekt, das um das erste kreiste. »Das dürfte Cloudgarden sein«, sagte Ken Dra. »Haben unsere Sensoren schon Daten?«, fragte Sherilyn. Sie hatte sich vom Kommandosessel erhoben und zu Simon, Ken und Luis Tennard gesellt. »Wir bekommen nur unzureichende Messungen herein«, sagte der Sergeant an der Sensorenstation. »Für genauere Daten sind wir noch zu weit entfernt.« Simon lugte Tennard über die Schulter. »Zumindest scheint der Planet das zu sein, was wir von Doc Quire erfahren haben. Eine kalte Schneewelt mit atembarer Atmosphäre.« Sie warteten weitere dreißig Minuten, bis die Daten exakter waren. Der Planet war mit seinen 8.342 Kilometern Durchmesser kleiner als die Erde. Bei einer Umlaufzeit von 702 Tagen um die blaue Sonne, dauerte das Cloudgardenjahr jedoch fast doppelt so lang, wie das irdische. Dafür glich der Tag mit etwas über 26 Stunden, der gewohnten Länge. »Der Planet besitzt einen festen, erkalteten Kern«, las Tennard die Daten von den Displays ab. »Die Oberfläche ist mit Eiskrusten und Schnee bedeckt. Und in der Atmosphäre orten wir große Objekte.« »Was ist mit den Sturmtiefs, von denen Quire gesprochen hat?«, fragte Sherilyn. »Alles ruhig.« »Was?«, riefen Simon und Ken Dra fast synchron. Sherilyn Stone blickte auf die Messergebnisse, um sich von Tennards Meldung selbst zu überzeugen. Simon sah sie erwartungsvoll an. »Er hat Recht. Keine Stürme ... auf dem ganzen Planeten nicht.« »Quire hat uns angelogen«, folgerte Simon. »Und was sind das für Objekte in der Atmosphäre? Schiffe?« Sein Blick traf den Sherilyns. Er las in ihren Augen, dass sie im Moment das Gleiche dachte, wie er selbst. »Sie glauben, Doktor Quire hat uns in eine Falle gelockt?« »Das ist doch hirnrissig«, fuhr Ken Dra auf. »Warum sollte er das tun? Sie haben ihn doch mit Ihren Lügendetektoren überprüft. Und wenn jemand die FREEDOM in seine Gewalt bringen wollte, hätte er das auch einfacher haben können.« Sherilyn verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen aufeinander. Sie schien nachzudenken. Ihr Blick wanderte abwechselnd von den Sensordisplays zum Hauptschirm und blieb schließlich an Simon McLaird haften, der ihre Entscheidung bereits im Voraus ahnte. »Wir geben Alarm für alle Decks«, sagte sie. »Kampfstationen besetzen und Schutzschirme aktivieren.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein, Major!«, schnaubte Ken Dra. »Oh doch, Schwertträger. Wir haben dieses Schiff gerade erst erobert. Ich bin nicht bereit,
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es schon wieder abzugeben.« Sie wandte sich zum Steuermann um. »Berechnen Sie einen Fluchtkurs, der uns in die Milchstraße zurückbringt, falls wir schnell verschwinden müssen.« »Tut mir leid, Ma'am«, sagte der Navigator kopfschüttelnd. »Hier draußen finden sich keine Bezugspunkte für die Computer. Zu wenig Sternenkonstellationen, um nicht zu sagen überhaupt keine.« »Dann benutzen Sie die Erdkoordinaten über die wir hergelangt sind!« »Ja, Ma'am ... äh Ma'am?« »Was?« »Die sind aus dem System gelöscht!« Simon horchte alarmiert auf. Er brauchte sich nicht davon zu überzeugen, dass der Navigator die Wahrheit sprach. Der Verdacht, in eine wohl platzierte Falle zu geraten, verdichtete sich. »Sergeant Tennard«, sagte er zu dem Afroamerikaner. »Suchen Sie Doktor Quire und bringen Sie ihn sofort auf die Brücke.« »Aye, Sir!« Tennard stand auf und ging. Kaum, dass er die Brücke verlassen hatte, verkündete einer der Ortungsspezialisten eine neue Hiobsbotschaft. »Mehrere nicht identifizierte Objekte kommen aus Cloudgardens Atmosphäre direkt auf uns zu.« »Unser Empfangskomitee«, stöhnte Ken Dra. Auf dem Panoramaschirm waren in der Vergrößerung vier pfeilförmige Raumschiffe zu sehen, die direkt auf die FREEDOM zuhielten. Den eingehenden Werten nach besaßen sie eine Rumpflänge von knapp 580 Metern und waren etwa 70 Meter breit. Die Sensoren meldeten aktive Waffensysteme, bestehend aus sechzehn Laserbatterien und acht Torpedoschächten. Dazu ein Dutzend Plasmaflaks und ein Energiewerfer, der die halbe Leistung der ähnlichen Waffen an Bord der FREEDOM erzeugte. »Kleiner als scardeenische Zerstörer«, meldete sich ein Sensorenoffizier. Der Mann trug zwar die Uniform Shadow Commands, aber Simon wusste von Stone, dass sich die Hälfte der Brückencrew aus Scardeenern zusammensetzte. Der Mann wusste offensichtlich wovon er sprach. »Dafür aber besser bewaffnet«, meinte Ken Dra, als er sich die Daten des Empfangskomitees ansah. »Der Energiewerfer ist zweimal stärker als die der scardeenischen Zerstörer.« Sherilyn wandte sich an die Kommstation. »Funken Sie den Verband an und teilen Sie ihnen mit, dass wir nur friedliche Absichten und Doktor Quire an Bord haben.« Die vier Zerstörer lösten sich aus dem Formationsflug und kreisten die FREEDOM ein. Auf dem Schirm konnte Simon erkennen, wie zwei Dutzend kleinerer Objekte aus den Hangars der Raumer schossen. Abfangjäger, die entfernt an die Rochenform von Tanyas Raumjacht erinnerten. Die Maschinen umschwirrten den zwei Kilometer langen Rumpf des Schlachtschiffs wie lästige Insekten. Sie hatten ebenfalls ihre Waffen- und Verteidigungssysteme aktiviert, eröffneten jedoch noch nicht das Feuer. »Sollten wir nicht unsere Jäger ausschleusen?«, fragte Simon. »Das wäre glatter Selbstmord«, antwortete Sherilyn. »Unsere Piloten können zwar die Maschinen fliegen, aber sie haben noch keine Kampferfahrung damit. Sie sind einfach noch nicht so weit.« »Major Stone!«, rief der Mann an der Funkstation. »Ich komme nicht zu denen durch. Entweder empfangen sie auf unbekannten Frequenzen oder sie ignorieren unsere Anrufe absichtlich.« »Versuchen Sie es weiter«, befahl Sherilyn. »Wo bleibt nur Quire?« In dem Moment erreichte sie ein Anruf über Interkom von einem der unteren Decks. Es war
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Sergeant Tennard, der atemlos berichtete, er habe Doktor Quire nirgends finden können. Niemand schien zu wissen, wo sich der Wissenschaftler momentan aufhielt. Zu allem Übel bestätigte die Ortungsstation endgültig, dass hier etwas grundsätzlich schief gelaufen war. »Ma'am, einer unserer Jäger hat unautorisiert das Startdeck verlassen und fliegt in Richtung der feindlichen Zerstörer.« Simon lief es eiskalt den Rücken herunter, als er die Bezeichnung feindlich hörte. Er wollte den Mann an der Station zurechtweisen, doch Sherilyn fiel ihm unabsichtlich ins Wort. »Mel Quire! Er setzt sich ab!« »Also doch eine Falle!«, ächzte Simon. Auf dem Panoramaschirm sahen sie, wie der scardeenische Raumjäger von einem der vier Zerstörer an Bord genommen wurde. »Wirklich sehr schlau von ihm«, kommentierte Ken Dra. »Nur, was bezweckt er damit? Warum musste er uns erst herlocken, wenn er die FREEDOM in seine Gewalt bekommen will? Er hätte genauso gut mit seinen Zerstörern zur Erde fliegen können.« »Ich denke, wir werden es eher herausfinden als uns lieb ist«, meinte Simon, der wie gebannt auf den großen Schirm starrte. Sherilyn gab Befehl alle fünf Energiewerfer auf die Ziele auszurichten und das Feuer zu eröffnen, sobald der Gegner den ersten Schuss abgab. Kurz nach der Anordnung zogen die mantaförmigen Raumjäger wieder ab und kehrten zu den Mutterschiffen zurück. »Was zum Teufel haben die vor?«, fragte Simon. Die Ortungsstation meldete ein neues Objekt, das aus der Atmosphäre des Planeten aufstieg und in ihre Richtung flog. Wenn sie den Massewerten Glauben schenken konnten, dann war der neue Ankömmling größer als die vier Zerstörer und die FREEDOM zusammen. Ein paar Minuten später hatte das fünfte Schiff zum ersten Verband aufgeschlossen und war in voller Größe auf den Schirmen und Monitoren des Shadow Command Schlachtschiffs zu erkennen. Ein Gigant ohnegleichen. Die eingehenden Daten verschlugen der Brückenbesatzung der FREEDOM schier den Atem. Niemand von ihnen hätte gedacht, dass etwas Größeres als die scardeenischen Schlachtschiffe draußen im Weltraum existieren könnte. Das Schiff glich in seiner Form einem titanenhaften, flachen Kreisel, besaß eine Höhe von knapp drei und einen Durchmesser von über sieben Kilometern! Majestätisch und bedrohlich zugleich schwebte der Koloss auf das Schiff Shadow Commands zu. »Das ... das darf doch nicht wahr sein!«, stöhnte Simon auf. »Ortung, sagt mir, dass das eine Projektion oder so was ist, Leute.« »Negativ, Lieutenant. Das Biest ist tatsächlich so riesig – und wenn wir den Energiesignaturen Glauben schenken können, dann hat es genug Feuerkraft, um einen halben Planeten ins Universum zu pusten.« Simon schnürte alleine der Gedanke daran, was ein solches Schiff in einem Sonnensystem anrichten konnte, die Kehle zu. »Es kommt noch schlimmer!«, stieß Tennard plötzlich mit sich überschlagener Stimme hervor. »Die Objekte, die wir in der Atmosphäre Cloudgardens geortet haben, weisen die gleichen Spezifikationen wie dieses Riesenschiff auf. Unsere Sensoren zeigen mindestens neunundvierzig weitere dieser Riesen an!« Eine ganze Flotte, dachte Simon und hielt sich an der Konsole vor ihm fest, als er glaubte vor Schwindel seitwärts vom Sitz zu rutschen. Sie waren Mel Quire auf den Leim gegangen. Jetzt rächte sich ihre Leichtgläubigkeit. Statt einen Verbündeten im Kampf gegen das Scardeenische Reich zu finden, waren sie vom Regen in die Traufe geraten. »Eingehende Nachricht von dem Riesenschiff, Major!«, rief der Funkoffizier. Stone nickte nur. Kurz darauf flackerte das Bild auf dem Hauptschirm einmal auf, dann war das Gesicht Mel Quires in Übergröße darauf zu sehen. Niemand stellte sich in dem Moment die Frage, wie der Wissenschaftler von dem Zerstörer zu dem Giganten gelangt war. Im
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Hintergrund war eine Frau in dunkelblauem, eng anliegendem Overall und mit langem, rotem Haar zu sehen. Der Doktor schien sichtlich vergnügt zu sein, und sein Grinsen zog sich von einem Ohr bis zum anderen. Doch jedermann starrte auf sein zuckendes Augenlid, als erwarte man dort, Quires wahre Absichten zu erkennen. »Hallöchen!«, grüßte er. Sein Lächeln schien dabei noch eine Spur breiter zu werden, obwohl das anatomisch gar nicht mehr möglich war. »Ich hoffe, wir haben euch keinen Schreck eingejagt.« »Mich laust der...«, begann Simon kopfschüttelnd. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen, Doc?« »Lieutenant!«, rief Stone Simon zur Räson. Als sie zum Bildschirm sah, gab sie ihm allerdings mit ihren Worten Recht. »Würden Sie uns bitte erklären, was das zu bedeuten hat, Doktor Quire?« Der Wissenschaftler grinste noch immer als er antwortete: »Oh ... eine kleine Machtdemonstration, die sich sehen lassen kann, oder? Ich habe Ihnen ein wenig über meine Vergangenheit erzählt, aber wirklich verstanden, was ich hier aufgebaut habe, hat doch im Grunde genommen niemand von Ihnen, hm? Vielleicht haben Sie sich gedacht, der alte Quire hat ein paar Schiffe, die sich für Guerilla-Taktiken im Weltraum eignen, um Scardeen hier und dort ein paar Wunden zuzufügen, aber seien Sie ehrlich, mit so einem Baby wie diesem hier haben Sie nicht gerechnet. Neben unseren Raumern der Stadtschiff-Klasse wirken die scardeenischen Schlachtschiffe wie Zwerge, nicht wahr?« »Ihre Demonstration hat etwas für sich«, sagte Sherilyn. Simon sah, wie sich der Major ein wenig entspannte. »Aber wir hätten Ihnen auch geglaubt, wenn Sie es uns ganz normal gezeigt hätten.« »Ich bin ein Freund von Effekten und Kinkerlitzchen, Major Stone«, erwiderte Quire. »Aber als Entschädigung lade ich Sie und Ihre Offiziere gerne heute Abend an Bord meines Flaggschiffes SABER zu einer Dinner-Party ein. Sie können die FREEDOM an der Unterseite der SABER bei den externen Dockbuchten festmachen. Sobald Sie angedockt haben, fliegen wir direkt nach Cloudgarden. Quire, Ende.« Sein Gesicht verschwand vom Schirm. Kurz war das scardeenische Kommunikationssymbol zu sehen, dann wieder der Blick hinaus in den Weltraum und auf die vier Zerstörer und den Riesen, den Mel Quire als Stadtschiff bezeichnet hatte. Φ Er war mehrmals gestolpert und einen Abhang herunter gerutscht. Am Fuß der Straße hatte er sich aufgerappelt und hoffte, dass es nicht dieselbe war, von der sie gekommen waren. Sicherlich gab es hier in den Bergen genügend Möglichkeiten sich zu verstecken, aber er würde nicht ewig aushalten können. Nicht in seinem Zustand. Er kämpfte sich die Straße entlang und fragte sich, wie er diesmal wieder aus dem Schlamassel herauskommen sollte. So wie er aussah, würde ihn bestimmt niemand mitnehmen: Das Gesicht aufgedunsen und geschwollen, blutig. Sein Hemd mit Dreck verschmiert, die Hose teilweise zerrissen und nass. Er wünschte, er wäre in der Kneipe geblieben. Aber er hatte Glück im Unglück, als er nach knapp zweihundert Metern auf eine Telefonzelle am Straßenrand stieß. Gott sei Dank hatten sie ihm sein Geld gelassen. Er förderte zwei Quarter aus der Hosentasche hervor, warf sie in den Münzschlitz und wählte die erstbeste Nummer, die ihm einfiel. Erst als am anderen Ende der Leitung abgehoben wurde, wurde er sich überhaupt bewusst, wen er angerufen hatte. »Ja?«, klang Toms verschlafene Stimme aus dem Hörer. Verdammt, außer dem Barbesitzer kannte er doch kaum jemanden in Golden. Obwohl er seit mittlerweile vier Jahren dort wohnte, lebte er stets zurückgezogen und unauffällig. Die
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einzigen intensiveren Kontakte, die er geknüpft hatte, bestanden aus dem Mailwechsel mit McLaird. »Tom? Ich bin's, Jeremiah. Ich ... ich hab Ärger und brauche Hilfe.« »Mann, Junge! Weißt du, wie spät es ist?« »Tut mir leid, aber es ist dringend.« Jeremiahs Stimme zitterte vor Kälte. Am anderen Ende war ein tiefes Seufzen zu hören. Dann: »Schon okay, wo steckst du?« »Zwischen Golden und Evergreen in der Nähe der 74.« Er beschrieb die Umgebung, und Tom sagte nach einiger Zeit, er wüsste, wo er sich befand. In der Nähe gab es eine Blockhütte in der sich im Sommer die Billard spielenden Jungs aus Tom's Inn mit ihren Harleys trafen, um sich gemütlichen Besäufnissen hinzugeben. Eine knappe Stunde nach dem Telefonat hörte Jeremiah das lautstarke Geräusch eines Motorrads. »Grundgütiger, wie siehst du denn aus?«, fragte Tom, als er ihn erblickte. Spontan reichte er ihm seine Lederjacke und half ihm auf den Rücksitz der Harley. »Wohin fahren wir?«, wollte Jeremiah wissen, als der Barbesitzer die Maschine weiter in den Wald hinein lenkte, anstatt umzukehren und nach Golden zu fahren. »Erstmal zur Hütte rauf. Da wirst du mir hübsch erzählen, was passiert ist.« Sie fuhren auf der Ausfallstraße Richtung Westen, ließen die fernen Lichter Goldens und Evergreens endgültig hinter sich und bogen dann in einen Waldweg ein, der dem, den Jeremiah zusammen mit den CIA-Leuten entlang gefahren war, nicht unähnlich sah. Die Blockhütte lag an einem kleinen See. Jeremiah befand, dass die Harleyfreaks Geschmack besaßen. Im Wald lag bereits Schnee, und Tom hatte einige Mühe, die schwere Maschine im Stockdunkeln den Weg hinauf zu manövrieren. Schließlich erreichten sie das Häuschen – eine Zuflucht, zumindest für die nächsten zwei oder drei Tage, bis Sie ihm nicht mehr auf den Fersen waren. Die CIA also, dachte Jeremiah, während er zusammen mit Tom in die Hütte ging. Irgendwie war der Gedanke nicht ... richtig. Er fühlte sich verkehrt an, als wäre da noch etwas, das Jeremiah nicht wirklich greifen konnte. Die CIA hatte schon einmal versucht, über ihn an Simon McLaird heranzukommen und war gescheitert. Er wusste instinktiv, dass da noch mehr war. Als Tom ihn zur Hütte führte, spürte Jeremiah seine Beine kaum noch. Sein Körper schien unterkühlt zu sein, und er hustete unentwegt. Umstände, die er sicherlich beheben konnte, doch dazu musste er an seinen Rucksack – und er war nicht erpicht darauf, Tom einen Blick dort hinein werfen zu lassen. Der Barbesitzer stützte ihn, als er taumelte. Er bugsierte ihn sicher in die Hütte und kramte von irgendwoher ein paar Decken hervor. Nachdem er im Kamin ein Feuer entfacht hatte, begann er den mit Zähnen klappernden Jungen auszuziehen. »So, mein Freund, jetzt wird's gleich warm. Hier, trink das!« Der Whiskey schmeckte schal und bitter, durchdrang Jeremiahs Körper aber mit wohliger Wärme. Seine Augenlider wurden schwer. »Schlaf dich erst mal aus. Ich werde morgen nach dir sehen und dir ein paar neue Klamotten mitbringen.« Die schwere Tür fiel ins Schloss, und Jeremiah war allein. Er hörte gerade noch, wie das Motorengeräusch von Toms Maschine immer leiser wurde, als er endlich in einen traumlosen Schlaf glitt. Ein Geräusch weckte ihn schneller, als ihm lieb war. Jeremiah blinzelte auf seine Armbanduhr. Acht Uhr vierzig. Draußen war es bereits hell, das Feuer im Kamin längst erloschen. Nur die Decken hielten noch die Körperwärme und ließen ihn nicht frieren. Er streckte sich und stöhnte laut auf. Sämtliche Glieder taten ihm weh. Die Prügel, die er gestern
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bezogen hatte, hatte deutliche Spuren hinterlassen. Jeremiah blieb in die Decken gehüllt und dachte krampfhaft über den gestrigen Abend nach. Er hatte nicht mit der CIA gerechnet, als er sich vornahm, die Stadt zu verlassen. Die Verfolger, die er erwartete waren andere ... Leute von der Sorte, die nicht an Simon McLaird interessiert waren, sondern an ihm selbst. Hatte sein Gefühl ihn getäuscht? Waren Sie ihm doch noch nicht so nah gekommen? Jeremiah machte eine Bestandsaufnahme seiner Verletzungen, indem er die Decken beiseite schlug und fröstelnd seinen Leib begutachtete und vorsichtig abtastete. Die Prellungen im Gesicht schmerzten höllisch, aber er trug zumindest keine dauerhaften Schäden davon. In ein paar Tagen konnte er sich wieder unter Menschen trauen, wenn die blauen Flecke langsam verblasst waren. Pochender Kopfschmerz rührte aus dem Nackenbereich her, den er sich gezerrt hatte, als Little John ihn mit einer Reihe Kinnhaken eingedeckt hatte. Nach einiger Zeit stand er mühselig auf und schlurfte durch die Hütte, um sich nach etwas Essbarem umzuschauen. Sein leerer Magen knurrte bohrend. Das Häuschen verfügte weder über eine Küche, noch über ein Bad. Die Toilette fand er draußen in einem angrenzenden Verschlag. Nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, suchte er in der Hütte den einzigen, niedrigen Schrank ab. Verschiedene Konserven waren darin deponiert: Nudeln in undefinierbaren Saucen, Weiße Bohnen, zwei Dosen mit Sardinen, etwas Speck, Kaffee und eine Packung Zwieback. Es schien fast so, als wäre er nicht der Erste, der sich hier versteckte, wenn es in der Stadt brenzlig wurde. Jeremiah entschied sich für Bohnen und Speck. Er öffnete die Dose mit einem Taschenmesser, das in einer der beiden Schubladen des Schranks lag und leerte den Inhalt in einen kleinen Topf, den er über der Feuerstelle an einem dafür vorgesehenen Haken aufhängte. Danach holte er von draußen Holz und machte Feuer mit den Streichhölzern, die Tom beim Kamin liegen gelassen hatte. »Na bitte, wenigstens ein ordentliches Frühstück haben wir«, brummelte er, während er sich wieder in die Decken hüllte und auf einem Holzschemel vor dem Kamin das Essen umrührte. »Fehlen nur noch Eier, dann gebe ich dem Laden hier drei Sterne.« Nach dem Essen legte er die Beine hoch und döste beim Knistern des Feuers vor sich hin. Draußen hatte es inzwischen wieder zu schneien begonnen. Plötzlich schreckte er hoch. Er musste eingeschlafen sein, aber etwas hatte ihn abrupt geweckt. Da war kein Motorengeräusch, das vielleicht Tom angekündigt hätte, dennoch glaubte er etwas anderes gehört zu haben. Jeremiah schlüpfte in seine Schuhe und ging zum Fenster. Nichts. Nur Schneeflocken, die federleicht zu Boden rieselten. Die kleinen Glasscheiben waren beschlagen und teilweise zugefroren. Draußen erblickte Jeremiah nur das bleiche Weiß des einbrechenden Winters. Das Gefühl, dass jemand oder etwas draußen auf ihn wartete, beschlich ihn von Sekunde zu Sekunde stärker. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er spürte sein Herz schneller schlagen. Rasch kehrte er zum Stuhl zurück, klaubte seinen Rucksack auf und warf sich die mittlerweile getrocknete Jacke über. Mit fast panischem Blick suchte er nach etwas, das er notfalls als Waffe benutzen konnte, da erinnerte er sich an die Pistole Thompsons, die sich noch immer in seiner Jackentasche befand. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn vor Schreck erstarren. Das Szenario kam ihm bekannt vor! Erst gestern war er auf ähnliche Weise aus seiner Wohnung vertrieben worden. Jeremiah drehte sich um. Sein Atem setzte für mehrere Züge aus. Als er sah, wie der Türriegel von außen langsam herumgedreht wurde, stellte er sich abwartend neben den Eingang, die Hand am Griff der Pistole. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit ... Jeremiah wartete erst gar nicht ab, bis der Eindringling ganz im Raum war. Er trat ihm in den Weg und verpasste ihm einen Schlag in den Magen und stieß ihn von sich. Sofort sprang
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er mit einem Satz an dem überraschten Mann vorbei und rannte durch den Schnee in den Wald hinaus. Aus den Augenwinkeln machte er eine zweite Person aus, die gerade um die Hütte gelaufen kam. »Stopp!« Die Stimme schnitt durch die Kälte. Gleich darauf peitschte ein Schuss auf. Direkt neben ihm schlug ein Projektil in den Boden ein. Schnee spritzte hoch. Jeremiah ließ sich fallen und rollte sich zur Seite. Die Schmerzen schienen für den Moment wie weggeblasen. Momentan zählte nur das nackte Überleben. »Er ist in den Wald gelaufen!«, rief jemand. Jeremiah horchte alarmiert auf. Er kannte die Stimme! Er stemmte sich hoch, rutschte im Schnee aus und rollte einen kleinen Abhang hinunter. Ein Baum bremste seinen Fall. Die Luft wurde ihm schlagartig aus den Lungen getrieben, als er mit dem Rücken gegen den Stamm stieß. Jeremiah unterdrückte einen Aufschrei, biss die Zähne zusammen und kam auf die Beine. Halb hinkend lief er weiter, mühte sich durch das tiefer werdende, winterliche Weiß. Er wusste später nicht mehr wie lange und in welche Richtung er gerannt war, sicher war nur, dass er langsamer wurde – und die Stimmen hinter ihm lauter! Jeremiah versuchte an Tempo zu gewinnen, blieb aber jäh an einer Wurzel hängen. Ein Knacks in seinem linken Knie, und er schlug der Länge nach hin. »Scheiße!« Er robbte weiter, versuchte aufzustehen, kam jedoch nur gebückt hoch und musste das Gewicht auf das rechte Bein verlagern. Sein verletztes Knie gab bereits nach einigen Metern auf. Die Glieder rebellierten nach der Anstrengung. Jeremiah versteckte sich hinter dem nächst besten Baum. Schwer atmend ließ er sich fallen. Die Stimmen waren verstummt. Vielleicht hab ich sie doch abgehängt, dachte er. Während er angestrengt lauschte, versuchte er wieder zu Atem zu kommen. Es war nichts zu hören. Er wandte den Kopf nach rechts ... ... wie aus dem Nichts stand plötzlich eine Frau mit schulterlangem, brünetten Haar und gezogener Waffe neben ihm. Wenn sie gerannt war, so merkte man es ihr nicht an. Jeremiah starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er kannte sie. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht, als er ahnte, dass Sie hinter ihm her waren. »Hallo, Jem!«, raunte Marshal Liz ihm zu und neigte dann den Kopf in die Richtung, aus der Jeremiah gekommen war. Von dort kämpften sich zwei weitere Personen durch das verschneite Unterholz. Jeremiah sah einen anderen alten Bekannten: Marshal Ian mit Tom im Schlepptau. »Tom!«, stieß er aus. »Warum?« Der Barbesitzer zuckte die Achseln und schaute unglücklich drein. »Es sind U.S. Marshals, was sollte ich tun?« »Sind sie nicht«, sagte Jeremiah tonlos und ließ die Schultern hängen. Sein verwundetes Knie schmerzte jetzt höllisch. »Was ...?« Tom kam nicht dazu, seine Frage zu beenden. Mit einer schnellen Bewegung schlug ihm Ian den Kolben seiner Waffe in den Nacken. Der Barbesitzer fiel in den Schnee. Ian beugte sich über ihn und setzte einen zylinderförmigen Gegenstand an seinen Hals. Kurz darauf war das Zischen von Druckluft zu hören. Jeremiah wusste, dass Tom die nächsten drei Stunden nicht aufwachte und sich anschließend an nichts mehr erinnern konnte. Wenn er im Schnee überhaupt überlebte. »Jetzt ist Schluss mit den Kindereien, Jem!«, sagte Ian. »Du hast uns lange genug auf Trab gehalten.« Jeremiah grinste schief. »Ach, tatsächlich?« Der Marshal im Holzfällerhemd, der es nicht mal für nötig befunden hatte, sich in der Kälte
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eine Jacke überzustreifen, trat an ihn heran. Eine Weile sahen sich die beiden einfach nur an. Jeremiah verlor das Blickduell und schaute nervös von Ian zu Liz. »Bist du auch der Meinung?« Die Frau runzelte die Stirn. »Die Frage kannst du dir sparen. Du hast uns den ganzen Schlamassel eingebrockt.« »Nur weil ich mit McLaird in Kontakt stand?« Ian lachte rau auf. »Wenn es das nur wäre. Versuch nicht, uns weiter an der Nase herumzuführen. Wir haben deine Sendungen abgefangen. Du bist verantwortlich dafür, dass das Forschungsschiff der Drahusem hier notgelandet ist. Sie wären Lichtjahre entfernt aus dem Hyperraum gefallen, wenn du sie nicht hierher direkt zu deinem so genannten Freund McLaird geführt hättest. Mit ihnen hast du auch die Scardeener zur Erde gelockt – und das ist jetzt unser Problem.« »Ich konnte doch nicht ahnen...« »Ursache und Wirkung!«, schnitt ihm Ian das Wort ab. »Schon vergessen, was du an der Akademie gelernt hast? Das Letzte, was wir gebrauchen konnten, ist eine Organisation wie Shadow Command. Aber das Problem hätte ich noch mit Thorne und der NSA in den Griff bekommen – doch Shadow Command im Besitz eines scardeenischen Schlachtschiffes, dazu eine Flotte Scardeener direkt vor der Haustür, beim Naulokahr, du hast die Konsequenzen nicht abgewogen und einfach nur dein Spiel gespielt.« Jeremiah presste die Lippen aufeinander. Ian hatte Recht mit der Aufzählung der Kausalkette – aber abzusehen war diese Entwicklung nicht gewesen. Im Gegenteil: Jeremiah hatte nie vorgehabt, die Scardeener hierher zu locken, sondern war nur darauf erpicht gewesen, die Menschen vor der Gefahr durch seine eigenen Leute zu warnen. Der Schuss war nach hinten losgegangen. Jetzt hatten sie eine andere Plage am Hals, statt die erste loszuwerden. »Was geschieht jetzt mit mir?« »Deine Cowboy-Spiele sind jetzt vorbei«, sagte Ian bestimmt. »Wir bringen dich nach Hause zurück, wo du keinen Schaden mehr anrichten wirst.« Etwas fiepte leise auf. Jeremiah sah, wie Liz ihren Armbandkommunikator an den Mund hob und leise Worte sprach. Ihre Miene verfinsterte sich bei dem Gespräch zunehmend. »Probleme?«, fragte Ian nach. »Hyperraumaktivitäten in der Nähe des Sonnensystems«, teilte Liz mit. »Die Scardeener!« Φ Das Raum-Zeit-Kontinuum im Bereich der galaktischen Erdkoordinaten krümmte sich, als dreizehn Raumschiffe aus dem übergeordneten Hyperraum fielen. Eine unüberschaubare Anzahl von Angriffsjägern schwirrte aus. Die acht Zerstörer lösten sich aus dem Flottenverband und nahmen eine Verteidigungsposition ein, um die Schlachtschiffe vor einem eventuellen Überraschungsangriff zu schützen. Natürlich rechnete niemand damit, dass sie hier auf Gegenwehr stießen, denn das Sol-System galt nach Sealdrics Angaben als rückständig und besaß nicht einmal eine eigene interstellare Raumfahrt. An Bord des Flaggschiffs TORGUT herrschte dennoch Gefechtsalarm. Auf den Decks bereiteten sich die Crewmitglieder auf den Angriff vor. Unzählige Ingenieure, Techniker, Kanoniere und Sanitäter nahmen ebenso ihre Stationen ein, wie Piloten zu den Hangardecks eilten und Infanteristen der Legion ihre Waffen überprüften. Auch auf der Hauptbrücke bot sich ein Bild geschäftigen Treibens. Kaum eine Station war unbesetzt, selbst die Wachtposten an den Zugängen zur Kommandozentrale waren verstärkt worden, geradeso als erwarte man ein feindliches Enterkommando an Bord. Helen Dryer hielt sich in der Nähe von Sealdrics Sessel auf und warf abwechselnd einen
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Blick zum leeren Hauptschirm, dann zum scardeenischen Bewahrer. Im selben Augenblick bestätigten die Offiziere der Ortungsstation ihren Verdacht, dass etwas nicht so lief, wie es laufen sollte. »Rasarah Sealdric! Unsere Scanner sind leer. Hier ist kein Planet!« »Was?« Der Bewahrer sprang von dem Sessel auf und ging mit energischen Schritten auf die Sitzreihe seiner Leute zu, um sich selbst von der Richtigkeit der Meldung zu überzeugen. Helen folgte ihm einfach und warf einen Blick auf die Displays. Die Sensoren hatten nicht das Geringste übertragen. »Langstreckenabtaster!«, befahl Sealdric mit einer Spur von Zorn in der Stimme. »Nichts, Rasarah. Die Erde ist nicht da!« »Das kann nicht sein«, fuhr Helen dazwischen. »Es sind eindeutig die richtigen Koordinaten, oder?« »Natürlich!«, fauchte Sealdric nun wütender. »Es sind immer noch die gleichen, die wir benutzt haben, als wir mit der SENSOR hier waren. Gibt es astrometrische Messungen von Raumzeitphänomenen? »Nein, Rasarah«, meldete sich ein anderer Offizier zu Wort. »Unser Flug ist problemlos verlaufen.« Helen sah zum Schirm hinaus, der Schwärze und ein paar wenige Sternenkonstellationen zeigte. Sie versuchte, bekannte Formationen oder Sternbilder zu erkennen, doch ihre Kenntnisse in dieser Hinsicht beschränkten sich auf das Erkennen des großen Wagens und des Polarsterns am Nachthimmel über Kalifornien. Von ihrer Warte aus würde jedes Sternbild ohnehin anders aussehen, als auf der Erde. Sie grübelte darüber nach, was schief gelaufen sein könnte und schob das Fehlen der Erde auf einen Fehlsprung durch den Hyperraum. Sicher versagten auch irgendwann die Bordcomputer der Scardeener und berechneten einen Flug über derartige Distanzen falsch. Bestimmt gibt es auch so was wie Microsoft auf Scardeen, tröstete sich Helen und lächelte bei dem Gedanken. Dann zerbrach diese Vorstellung, als einer der Navigatoren verkündete, dass man den Kurs zurück berechnet und ihre galaktische Position bestimmt hatte. Sie befanden sich rein rechnerisch an der Stelle, an der die Erde um eine kleine, gelbe Sonne kreisen musste, doch die Koordinaten im Bezugssystem der Milchstraße wichen um gut zwanzig Lichtjahre von ihrer eigentlichen Sollposition ab. »Zwanzig Lichtjahre?«, fragte Helen verdutzt. »Wie ist das möglich?« »Das frage ich mich auch gerade«, murmelte Sealdric. »Neuen Sprung berechnen. Nehmen Sie unsere jetzige Position als Ausgangspunkt und navigieren über den der Erde nächstgelegenen Stern.« »Alpha Centauri«, meinte Helen, doch Sealdric wehrte ihren Kommentar mit einer barschen Handbewegung ab. »Es ist mir völlig egal, wir ihr das Gestirn nennt«, murrte der Bewahrer. »Hauptsache, wir finden euren verfluchten Planeten.« Helen schluckte eine Antwort herunter und trat instinktiv einen Schritt zurück. Sie fragte sich, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie sich endgültig auf die Seite der Scardeener schlug. Für eine Rückkehr zu Shadow Command oder gar der CIA war es nunmehr zu spät. Sie musste sich Sealdrics Willen beugen und hoffte, dass er sie lange genug am Leben ließ, damit sie sich nach und nach aus seinem Umfeld entfernen konnte. Sie strebte das Kommando über ein eigenes Schiff an, obwohl diese Ambitionen im Moment mehr als illusorisch waren. Nachdem die Nav-Station einen neuen Kurs gesetzt hatte und die Flotte wieder in den Hyperraum sprang, erwartete sie am Ende des Flugs das gleiche Ergebnis. Den Koordinaten zufolge sollten sie die Erde auf den Schirmen sehen, doch dort gähnte nur Leere. Als sie ihre Position bestimmt hatten, mussten sie feststellen, dass ihre Distanz erneut zwanzig Lichtjahre
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von den angenommenen Koordinaten betrug. Sealdric kehrte zu seinem Sitz zurück, stützte die Ellbogen auf die Lehnen und faltete die Hände ineinander. Die Adern unter seinen Schläfen traten deutlich hervor. Er dachte offensichtlich angestrengt über ihre missliche Lage nach. Helen wagte es, ihn zu stören. »Ich würde das Problem anders angehen.« »So?« »Ich glaube nicht an ein natürliches Weltraumphänomen«, behauptete Helen. »Irgendjemand hat dafür gesorgt, dass wir die Erde nicht anspringen können.« »Schwachsinn!«, fiel Sealdric ihr ins Wort. »Als wenn du das beurteilen könntest.« Helen verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Scardeener provozierend an. »Vielleicht ist mein Volk nicht so unterbelichtet, wie du glaubst. Hör dir doch einfach mal meinen Vorschlag an.« Sealdrics Miene verfinsterte sich, dennoch nickte er und bedeutete ihr mit einer laschen Handbewegung, fort zu fahren. »Um nichts zu riskieren, sollte einer der Zerstörer die Aufgabe übernehmen«, erklärte Helen. »Berechnet einen Hypersprung bis zum Rand des Sonnensystems und nicht direkt zur Erde. Dann soll der Zerstörer versuchen, den Planeten mit Unterlichtgeschwindigkeit anzufliegen.« »Das ist dein Plan?«, fragte Sealdric skeptisch. Er tippte etwas in die Tasten an seinen Sessellehnen und runzelte dabei die Stirn. »Weißt du, wie lange es dauert mit vollem Schub von der äußeren Planetenbahn deines Systems bis zur Erde zu fliegen.« Helen schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. »Wochen!«, brüllte ihr Sealdric die Antwort entgegen. »Mit Verlaub, Rasarah«, meldete sich Captain Bisam zu Wort. »Sie hat im Grunde Recht. Wir könnten zumindest versuchen, in die Nähe des nächsten Planeten zu springen und von dort aus mit Sublichtantrieb den Zielplaneten erreichen. Wir berechnen die Koordinaten zur Umlaufbahn des nächstgelegenen Himmelskörpers. Allerdings sollten wir wirklich nicht die ganze Flotte riskieren, sondern erst einen Vorstoß mit einem unserer Zerstörer wagen.« Sealdric atmete tief durch. Er zögerte gute fünf Minuten. In der Zeit sahen ihn die anderen erwartungsvoll an und warteten auf seine Entscheidung. Schließlich nickte er und gab Bisam Anweisung, einen Zerstörer aus der Flotte abzukommandieren. Als der Captain sich entfernt hatte, blickte Sealdric zu Helen auf. »Vielleicht ... bist ja doch noch ganz nützlich und ich sollte dir einen festen Posten an Bord meines Schiffs anbieten.« »Möglicherweise würde ich mich darüber sogar freuen«, antwortete Helen kühl. Innerlich triumphierte sie jedoch. Noch zwei, drei gute Einfälle, und sie rückte ihrem Ziel näher. Φ Nachdem die FREEDOM an der Unterseite des gewaltigen Stadtschiffes angedockt hatte, flog der Riese zurück zum Planeten Cloudgarden. Die Besatzung Shadow Commands blieb an Bord und verfolgte den Zielanflug. Bevor die äußeren Atmosphäreschichten erreicht wurden, maß die Sensorenstation der FREEDOM einen ungewöhnlichen Energieanstieg rund um die SABER, der das scardeenische Schlachtschiff an der Rumpfunterseite mit einschloss. Starke Schutzschirme ließen die Reibungshitze beim Wiedereintritt in die Atmosphäre Cloudgardens wirkungslos vom Leib der beiden Schiffe abgleiten. Das Stadtschiff flog durch dichte Wolkenformationen zu einem scheinbar vorherbestimmten Punkt mehrere Kilometer über der Oberfläche und verharrte dort in einer Schwebeposition. Sergeant Luis Tennard war fast außer sich, als er die eingehenden Daten auf seinen Scannern an Sherilyn und die anderen weiter gab. Sie orteten mittlerweile weit mehr als nur
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die fünfzig Stadtschiffe. Sie konnten zwar die Rückseite des Planeten nicht einsehen, ermittelten aber anhand des Planetenumfangs und den gemessenen Abständen der Riesenschiffe zueinander, dass sich ihre Zahl vermutlich auf insgesamt 104 bezifferte. Eine stattliche Zahl von Schiffen, von denen jedes einzelne in der Lage war, ein ganzes Sonnensystem zu terrorisieren. Simon McLaird fragte sich, warum Mel Quire nicht schon längst das Ruder in dem bekannten Spiralarm der Milchstraße herumgerissen und offen das Scardeenische Reich angegriffen hatte. Das Machtpotenzial dazu besaß er. Wahrscheinlich würde ihm die Legion mit all ihren Schlachtschiffen und Zerstörern nicht einmal ernsthaft etwas entgegenzusetzen haben. Aber anscheinend hielt Quire sich aus irgendeinem Grund zurück. Der alte Wissenschaftler lud Sherilyn Stone, Simon, Ken Dra und die Amazonen Tanya und Kardina zu sich an Bord ein. Die Fünf verließen die FREEDOM über einen Docktunnel und wurden an der Schleuse zum Stadtschiff von drei der Frauen empfangen, die Mel Quire als Aspekte bezeichnet hatte – menschliche Abspaltungen des so genannten Nullzeitwesens, das in einer anderen Dimension außerhalb von Zeit und Raum auf Cloudgarden existierte. Wie Doktor Quire angedeutet hatte, sahen sich die Frauen allesamt ähnlich. Zwar variierten sie den roten Ton ihrer Haare, trugen unterschiedliche Farben von Lippenstift, Rouge und Nagellack, hatten die Augenpartien auf verschiedene Art und Weise dezent geschminkt, doch sie besaßen ausnahmslos die gleichen Gesichtszüge und hätten Schwestern – Mehrlinge – sein können. Im Grunde waren sie das sogar. Jeder weibliche Aspekt stellte äußerlich ein Ebenbild von Mel Quires verstorbener Frau Natasha dar. Allerdings sollten sie sich charakterlich voneinander unterscheiden. Eine der drei Frauen, die in einen dunkelblauen, eng anliegenden Jumpsuit gekleidet waren, trat auf Simon und die anderen zu und reichte als erstes Sherilyn, dann Simon und schließlich den anderen die Hand. »Willkommen an Bord der SABER und auf Cloudgarden«, begrüße sie die Leute Shadow Commands. »Ich bin Natasha Eins.« Simon zog die Brauen hoch und entdeckte den Anhänger an ihrem Halsband auf dem tatsächlich eine Eins prangte. Sein Blick wanderte zu den beiden anderen Frauen, die ähnliche Halsbänder mit verschiedenen Zahlen und Buchstabenkombinationen trugen. Anscheinend ein wichtiges Unterscheidungskriterium. Nachdem Sherilyn sich und die anderen vorgestellt hatte, fragte Simon: »Sie alle heißen Natasha?« Die Frau mit dem hüftlangen, roten Haar nickte lächelnd. »Aha«, machte Simon. »Ich hatte etwas mehr Individualität erwartet, nachdem Doc Quire meinte, jede von Ihnen hätte eigene Charakterzüge entwickelt.« »Letzteres ist auch richtig, Mister McLaird. Aber wir sehen es als Ehre an, uns nach unserer Mutter zu benennen.« Sie machte eine einladende Geste in Richtung Ausgangsschott. Die anderen folgten ihr bis zu einem Lift, dessen Kabine geräumig genug war, fünfzig Personen aufzunehmen. »Sie ... wirken alle gleich jung«, stellte Sherilyn fest. »Altern Sie nicht?« »Nein, tun wir nicht. Dafür sorgt ein Gen in unserer DNS, das das Nullzeitwesen reproduziert hat. Allerdings leben wir dadurch nicht ewig, falls Sie darauf hinaus wollen.« Sie erinnern mich mehr an Maschinen, als an Menschen, dachte Simon. Roboter, Klone, was auch immer. Die Gruppe folgte den Natasha-Aspekten durch wabenförmige Gangkonstruktionen. Der vorherrschende Farbton an Bord des Stadtschiffs war ein angenehmes, leicht milchig wirkendes Weiß. Vom Aufzug aus ging es über einen promenadenartigen Korridor, dessen linke Wandhälfte aus einem etwa zwanzig mal vier Meter messenden Panoramafenster bestand, das einen Blick auf den Wolkenhimmel gewährte, durch den das Stadtschiff trieb.
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Natasha Eins legte ein derartiges Tempo vor, dass Simon kaum eine Chance hatte, die Aussicht zu genießen. Er verstand aber nun, warum Mel Quire diese Welt Cloudgarden genannt hatte. Der Anblick des weißen Meers draußen war atemberaubend schön. Einmal mehr fragte er sich, was aus den Turbolenzen und Stürmen geworden war, von denen Quire berichtet hatte. Hier oben wirkte alles friedlich und ruhig. Von katastrophalen Wetterbedingungen gab es keine Spur. Natasha führte sie von der Promenade in eine kreisrunde Halle, deren Fläche gut und gerne der eines kleinen Fußballplatzes entsprach. Die Decke mochte zehn bis fünfzehn Meter hoch sein. Anhand der unzähligen Monitore und Panoramabildschirme, der nahezu unüberschaubaren Anzahl an Computerterminals und Arbeitsstationen sowie den gut und gerne zwei Dutzend Aspekten, die sich hier aufhielten und ihren Aufgaben nachgingen, schloss Simon McLaird, dass es sich bei dieser riesigen Halle nur um die Kommandozentrale der SABER handeln konnte. Er blickte nach oben und entdeckte etwa drei Meter in der Luft schwebend eine fünf Meter durchmessende Plattform, die sich exakt im Mittelpunkt der Halle befand. Genau in dem Moment, in dem Simons Gruppe die Zentrale betrat, schwebte die runde Scheibe zu Boden. Erst im Näherkommen sah Simon, was sich auf der Plattform selbst befand: Drei Kommandosessel mit Steuerkonsolen und ein Sicherheitsgeländer. In der Mitte der Plattform saß Mel Quire in einem breiten, gut gepolsterten Stuhl. Thronte wäre wohl die treffendere Bezeichnung dafür gewesen. Der alte Wissenschaftler blickte den Neuankömmlingen mit seinem zuckenden Augenlid und einem breiten Grinsen entgegen. Er kann nichts für seinen Tic, dachte Simon, aber mittlerweile hasse ich dieses Gezucke. Es erinnert mich an ... an eine tickende Zeitbombe. »Ah, da sind ja meine verehrten Gäste«, sagte Quire, als sie direkt vor der Plattform stehen blieben. Zwei der Aspekte nickten dem Doktor zu und zogen sich zurück. Nur Natasha Eins blieb bei McLaird und den anderen. »Nochmals Willkommen an Bord«, fuhr Quire fort. »Nette Anlage haben Sie hier, Doc«, gab Simon zu. »Ich bin schon mächtig beeindruckt.« Quire klatschte sichtlich vergnügt in die Hände. »Ja, unser ganze Stolz. Aber vor ein paar Jahren haben wir die Produktion dieser hübschen Schiffe eingestellt.« »Wir haben 104 Stück in der Atmosphäre Cloudgardens geortet«, sagte Sherilyn Stone. »Haben Sie noch mehr?« Quire schüttelte den Kopf. »Nein, das sind alle. Die Rumpfbesatzung liegt bei 30.000 Crewmitgliedern, momentan alle aus Aspekten des Nullzeitwesens bestehend. Allerdings bietet jedes Stadtschiff genug Lebensraum für 70.000 Personen. Obwohl wir ... ausreichend bewaffnet sind, sind diese Riesenraumer eher zivil eingerichtet. Sie werden das noch sehen, wenn ich Ihnen Ihre Unterkünfte zeige. Jedes Besatzungsmitglied besitzt eine Art Apartmentquartier, groß genug für eine Privatsphäre und ausreichend Raum für freizeitliche Aktivitäten. Sie werden beim Anflug sicherlich die Kuppelbauten auf der Spitze der SABER gesehen haben. Jedes Stadtschiff besitzt darunter ein Biotop mit Garten- und Waldanlagen und kleinen Seen und Bächen.« »Sie denken wohl an alles«, kommentierte Sherilyn. »Vor allen Dingen an das Wohl meiner Besatzung«, entgegnete Quire. »In den Gärten wird Obst, Gemüse und Getreide angebaut. Neben synthetischen Lebensmitteln verfügen wir also auch über genügend natürliche Ressourcen, um die Besatzung zu ernähren.« Simon blickte sich in der Zentrale um. Fast alle Stationen waren mit Aspekten besetzt, die in ihre Arbeiten vertieft waren. Hin und wieder sah eine der seltsamen Frauen auf und schaute in seine Richtung. Simon erntete hier und da ein Lächeln, andererseits aber auch den einen oder anderen eher ablehnenden Blick. »Ich denke, Sie sollten sich morgen alles in Ruhe anschauen«, unterbrach Mel Quire Simons Beobachtungen. »In diesem Bereich Cloudgardens bricht ohnehin gleich die Nacht an und...«,
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er blickte lächelnd auf eine antiquierte Armbanduhr, »... in Kalifornien auch. Das passt dann ja. Natasha wird Sie zu Ihren Suiten bringen.« Stone zeigte sich einverstanden und bedeutete den anderen, dem Natasha-Aspekt zu folgen, auch wenn Ken Dra und Tanya erst aufbegehren wollten, dass sie keineswegs müde waren und lieber die Wunder des Stadtschiffs erforschen wollten, statt schlafen zu gehen. Als sie gemeinsam die Kommandozentrale der SABER verlassen hatten, hob Sherilyn einen Armbandsender an ihre Lippen und setzte sich über Funk mit der FREEDOM in Verbindung. Sie gab ihrem Stellvertreter Lieutenant Harris Bescheid, dass ihre Gruppe auf dem Stadtschiff übernachten würde und befahl ihm, die FREEDOM weiterhin in Alarmbereitschaft zu halten. Natasha brachte sie über einen Lift zwei Decks tiefer. Unterwegs begegneten sie weiteren der Frauen, die sich alle ähnelten und doch einen Hauch von Individualität ausstrahlten. Vor einer Doppeltür blieben sie stehen. Natasha berührte ein Sensorfeld neben dem Eingang, woraufhin sich das Schott in die Fugen der Wand zurückschob. Der Aspekt machte eine einladende Geste ins Innere. Sherilyn betrat die Suite als erste, dicht gefolgt von Simon, Ken und den beiden Amazonen. Die Wohnquartiere bestanden aus vier Räumen – einem Schlafzimmer mit breitem Doppelbett und großem Schrank; einem Wohnraum mit Essecke, Bar, gemütlicher Wohnlandschaft und mehreren Sesseln und kleineren Tischen und einer Art Videoschirm. Daneben befand sich ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Computerterminal, einer kleinen Wandbibliothek und diversen Utensilien, die im ersten Moment nicht zuzuordnen waren. Simon hätte sich gerne die Bücher angeschaut, doch Natasha ließ ihm vorerst keine Zeit dazu, sondern führte sie direkt in den nächsten Raum. Ans Schlafzimmer schloss das Bad an, ausgestattet mit einer geräumigen Wanne, die Platz für zwei Personen bot, einer separaten Dusche, WC und Waschmulde sowie einigen Wandschränken. Alle Möbelstücke, der Boden, Wände und die Decke waren weiß lackiert oder gestrichen. Selbst die flauschigen Teppiche im Wohn- und Schlafraum. Versteckte Leuchtstoffröhren verströmten ein helles, indirektes Licht, dass das Weiß der Zimmer verstärkte und unterstrich. »Sehr hübsch«, kommentierte Sherilyn. »Man kommt sich fast wie im Innern einer Wolke vor«, fügte Kardina hinzu. Simon nickte. »Ja ... fast wie im ... Himmel.« »Mel wollte es so«, erklärte Natasha, die ebenfalls die Suite betreten hatte. »Er hatte dabei tatsächlich die alten menschlichen Vorstellungen des Himmels im Sinn, als er die Einrichtungen für unsere Schiffe gestaltete. Das Licht ist übrigens regulierbar, Sie können es nach Belieben dimmen.« Die Frau mit dem roten Haar trat an Simon und den anderen vorbei und ging zur gegenüberliegenden Wand des Wohnraums. »Wir haben gerade noch Zeit, ehe die Sonne in diesem Bereich untergeht«, sagte sie lächelnd und berührte eine Taste an der Wand. »Die Suiten befinden sich an der Außenseite des Stadtschiffs. Falls Sie sich die Frage selbst schon gestellt haben, gibt es hier natürlich auch Fenster.« Die Wand teilte sich. Ein Schott schob sich nach oben fort und ließ milchigweißes Licht ins Innere der Suite. Ein strahlender Glanz erfüllte die gesamte Suite, tauchte sie in reinstes Weiß – und mittlerweile hatten die Anwesenden wirklich das Gefühl, sich auf einer Wolke zu befinden, die im Licht einer Sonne leuchtete. Simon hielt vor Staunen den Atem an. Er spürte, wie Kardina neben ihm nach seiner Hand griff. Für einen Moment ertappte er sich bei dem Gedanken an Sherilyn Stone. Warum wünschte er sich in diesem Moment sie würde an seiner Seite stehen, statt der Amazone? Gemeinsam mit Kardina trat er an das Fenster und blickte nach draußen. Obwohl der Stern, den Cloudgarden umkreiste, blau war, schimmerte draußen alles weiß. Wahrscheinlich wurden die Sonnenstrahlen in der Atmosphäre des Planeten derartig gefiltert, dass es zum Farbwechsel kam. Ob Simon wollte oder nicht, es stellte sich
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ein Gefühl tiefen Friedens und Ruhe ein, dass er kaum zu atmen wagte. Doch seine Haut verwandelte sich in eine Gänsehaut. Ihn fröstelte, weil er immer noch an Quires zuckendes Augenlid denken musste. »In einer halben Stunde wird es dunkel«, teilte Natasha mit. »Die Wolkenformationen lösen sich am frühen Abend auf. Nachts herrscht klarer Himmel. Da es hier draußen aber keine Sterne gibt, ist nicht viel zu sehen – erst wenn die Milchstraße im Rotationsdrift am Horizont aufgeht, können Sie den Anblick des Nachthimmels genießen.« »Fantastisch!«, stieß Simon hervor. Er ließ Kardinas Hand los und legte ihr dafür den Arm um die Schulter. Wieder dachte er dabei an Sherilyn. »Davon hab ich immer geträumt.« »Dann überlasse ich Sie jetzt auch Ihren Träumen«, meinte Natasha. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Wir sehen uns morgen früh.« Ken Dra wandte sich zu Natasha um. »Ich dachte, Doktor Quire wollte uns zum Dinner einladen.« »Möglicherweise hat er das schon wieder vergessen«, erwiderte der Aspekt. »Ich werde ihn daran erinnern. Wenn Sie einen Snack zum Abend wünschen, bedienen Sie sich am Nahrungsverteiler. Sie können sich Ihre Suiten auf dem gesamten Gang aussuchen. Wir haben diese Sektion für Sie reserviert. Und noch eine Bitte: Keine Exkursionen in der Nacht an Bord.« »Ich werde darauf achten, dass niemand Dummheiten begeht«, versprach Sherilyn Stone und sah dabei demonstrativ in Simons und Ken Dras Richtung. Die beiden blickten sich an und zogen Unschuldsmienen. Natasha verließ die Suite. Danach bezog jeder von ihnen eines der Quartiere. Simon überlegte kurz, ob er Kardina zu sich einladen sollte, doch das, was sie auf DUST geteilt hatten, war längst nur noch eine Erinnerung. In ihrer Freundschaft gab es keinen Platz für weitere Bettgeschichten. Simon zog sich aus, ließ die Uniform Shadow Commands achtlos zu Boden und sich selbst ins geräumige Bett fallen. Fast augenblicklich schlief er ein und eine Automatik löschte das Licht in seiner Suite. Φ Mit Höchstgeschwindigkeit flog der Zerstörer KATTHARG aus Richtung Marsbahn auf den dritten Planeten des Sol-Systems zu. Die Langstreckenabtaster hatten die Zielwelt bereits erfasst, doch als Captain Arico seinen Bericht via Hyperfunk an die TORGUT weiterleiten wollte, meldete die Funkstation, dass keine Signale in das übergeordnete Kontinuum vordrangen. Sie waren gezwungen einen normalen Funkspruch mit Lichtgeschwindigkeit auszusenden, doch der würde die Flotte erst in ein paar Tagen erreichen. Bis dahin sind wir längst wieder zurück, dachte Arico und rieb sich die Hände. Immerhin war er es gewesen, der die Erde gefunden hatte. »Anflugvektor konstant«, verkündete der Navigator. »Wir erreichen den Zielplaneten in drei Stunden, Sir.« »Sehr gut, dann freuen wir uns schon mal auf reiche Beute!« Der Erste Offizier trat an Arico heran. »Mit Verlaub, sollten wir nicht erst zur Flotte zurückkehren und Rasarah Sealdric Bericht erstatten?« Arico blickte seinen Stellvertreter missmutig an. Natürlich hatte er Recht, aber warum sollte Sealdric vor dem Wissenschaftsrat das ganze Lob für sich ernten. Die KATTHARG konnte durchaus eine Image-Aufwertung vertragen, nachdem sie beim letzten Bombardement nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Bereits zweimal war ihnen eine Schmugglerbande entkommen. Mit ein Grund, warum man Aricos Schiff jetzt als Vorauskommando zur Erde
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schickte. Wenn ihnen etwas geschah, trauerte Sealdric ihnen keine Träne nach. »Natürlich werden wir uns wieder mit der Flotte vereinen«, sagte Arico. »Aber vorher sollten wir uns schon vergewissern, dass dies auch wirklich der richtige Weg zur Erde ist. Noch befinden wir uns nicht im Orbit des Planeten. Es wäre mehr als blamabel, wenn wir mit der Flotte hierher kommen und nur feststellen würden, dass wir uns geirrt haben.« Der Erste Offizier blickte auf seine Fußspitzen. »Da haben Sie Recht, Captain.« »Nichts für ungut«, sagte Arico und klopfte seinem Gegenüber auf die Schultern. Dann drehte er sich zum Steuer um und ordnete den Weiterflug an. Sie empfingen schwache Radiosignale. Ihre Interpreter identifizierten sie als Kommunikationssignale, die von der Erde abgestrahlt und über Satelliten in andere Bereiche des Planeten gesandt wurden. Je näher sie dem Planeten kamen, desto mehr Sendungen konnten sie herausfiltern. Unterhaltungsprogramme, Nachrichten, Telefonate, militärische Codes, Überwachungssignale und das Funkfeuer eines Spaceshuttles. Dann meldete die Ortung jedoch ein Objekt, das sie in diesem Sektor nicht erwartet hatten. »Captain, großes Objekt voraus!« Arico fuhr aus seinem Sessel hoch. »Wie groß? Ein Planetoid?« »Nein, Sir, ein Schiff«, meldete der Ortungsoffizier. »Genaue Position, Größe und Masse nicht bestimmbar. Sie tarnen sich offenbar.« Arico trat an die Station heran, um sich selbst ein Bild von dem Bericht zu machen. Er ließ die Daten auf den Hauptschirm projizieren, daneben eine visuelle Vergrößerung des Weltraumausschnitts, in dem sich das fremde Schiff befinden sollte. Nur ein verwaschener Schemen war erkennbar, der hin und wieder in eine kuppelförmige Rumpfkonstruktion überging, sich jedoch nicht richtig manifestieren wollte. »Zwei Dutzend kleinere Objekte wurden ausgeschleust!«, rief jemand von der taktischen Station her. »Sind sie erfassbar?«, fragte der Erste Offizier alarmiert. »Ja, scheibenförmige Raumfahrzeuge, der Größe nach zu urteilen mit maximal zwei Mann Besatzung.« »Jagdmaschinen!«, stieß Arico atemlos hervor. »Aber welche uns bekannte Fraktion könnte das sein?« »Großer Rat!« Die Stimme des Ortungsoffiziers überschlug sich nahezu. »Dieses ... dieses Kuppelschiff ist gewaltig. Viel größer, als alles, was ich bisher gesehen habe!« »Nehmen Sie sich zusammen!«, fauchte Arico barsch. Im selben Augenblick erschienen die scheibenförmigen Objekte auf dem Hauptschirm. Sie flogen ohne jegliche Formation, glichen einem wild gewordenen Insektenschwarm, der sich in blinder Aggression auf sein Opfer stürzte. Noch ehe jemand der Anwesenden auf der Brücke der KATTHARG begriff, wer da auf sie zu jagte, blitzten die ersten Waffen auf. Grünes Licht fegte auf den scardeenischen Zerstörer zu. »Gefechtsalarm!«, brüllte der Erste Offizier. »Kampfstationen, alle Schilde hoch. Steuer, Ausweichmanöver. Taktik, Gegenfeuer streuen, alle Jäger ausschleusen!« Kaum, dass der Mann seine Befehle gebrüllt hatte, schlug die erste Angriffswelle in den ungeschützten Leib der KATTHARG ein. Energiesalven unbekannter Art hämmerten über den Rumpf, zerfetzten Aufbauten und brachten Lasergeschütze zur Detonation. Hier und da bohrten sich die konzentrischen Lichtkreise bis tief in die Panzerplatten des Zerstörers und rissen das Schiff an mehreren Stellen einfach auf. Der Dekompressionsalarm heulte durch die Decks, und der Raumer wurde wie von einer mächtigen, unsichtbaren Hand durchgeschüttelt. Trägheitsdämpfer versagten. Die Wucht des Angriffs riss die Mannschaft von den Füßen. Auch Arico segelte mit wild rudernden Armen quer über die Brücke, ehe ihn eine Schaltkonsole stoppte. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Übelkeit wallte in ihm hoch, und er übergab sich direkt auf dem Boden der Kommandozentrale. Er hoffte, dass ihn in
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der allgemeinen Panik niemand bemerkte, doch da spürte er bereits Hände, die ihm unter die Achseln griffen und ihn wieder auf die Füße stellten. Er blickte in das von Schrammen verzierte Gesicht seines Ersten Offiziers. »Geht es, Captain?« »Wird schon«, röchelte er und wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform das Erbrochene von den Lippen. »Wie ist unser Status?« »Wir haben drei Laserbatterien, einen Torpedowerfer und die Backbordschildprojektporen verloren«, teilte der Offizier mit. »Wir versuchen Energie umzuleiten, um unsere Flanke zu schützen, aber wir bleiben dort in jedem Fall verwundbar. Die anderen Schilde sind oben und ...« Eine weitere Erschütterung zwang Arico und seinen Untergebenen, sich an den Wänden festzuhalten. Hinter ihnen ertönten Schreie. Eine explodierende Konsole setzte Teile der Brücke in Brand. Zwei, drei Crewmen versuchten das Feuer zu löschen. Da erwischte eine neue Salve das Schiff. Der Hauptschirm zerfaserte in einem Funkenregen. Stahlsplitter sirrten wie tödliche Klingen über die Kommandozentrale, bohrten sich in die Körper der Brückenbesatzung. Eine Frau an der Kommstation sank getroffen zu Boden. Neben ihr stieß jemand einen gurgelnden Laut aus, als einer der Splitter im Vorbeiflug seine Kehle zerfetzte. Danach fand er sein finales Ziel im Körper einer Sanitäterin, die gerade durch das Schott rannte und abrupt stehen blieb, als ihr der Splitter durch die Stirn getrieben wurde. Der Boden der Zentrale riss auf. Flammenzungen leckten aus den Terminals. Kaum eine Station war nicht betroffen. Der Ortungsoffizier lag reglos über seinem Pult. Die Waffentechniker kämpften hinter einer Feuerwand um ihr Überleben und der Steuermann hing mit blutüberströmtem Gesicht und starrem Blick in seinem Sessel. »Wir müssen die Hilfsbrücke besetzen!«, brüllte der Erste Offizier über das ohrenbetäubende Chaos aus Explosionen, Schreien und gellendem Alarm hinweg. »Hier hat es keinen Zweck mehr.« Er packte Arico an der Uniform und zog ihn einfach mit sich. Der Captain warf einen Blick über die Schulter zurück. Gerade als sich hinter ihm das Brückenschott schloss, barst die Wand hinter dem Hauptschirm. Felsgroße Stücke aus Stahl schossen in den Weltraum hinaus. Nur einen Sekundenbruchteil darauf setzte die Dekompression ein. Die Atmosphäre der Kommandozentrale wurde explosionsartig ins All gestoßen, und alles, was nicht niet und nagelfest war, folgte ihr. Arico sah durch das Schottfenster, wie die Flammen schlagartig erstickten. Die Körper seiner Brückencrew trudelten haltlos umher. Manch einer prallte erst gegen die zerfetzten Wände, ehe ihn die Tiefen des Raumes für immer verschlangen. »Wir müssen weiter, Captain!«, drängte der Erste Offizier. Die Aufzugtüren hatten sich verzogen und hingen schief in ihren Verankerungen. Ohne Zögern zerrte der Offizier seinen Captain hinter sich her. Sie mussten drei Decks tiefer in einen gesicherten Bereich des Schiffes. Dort lag eine wesentlich kleinere Ausführung der Kommandozentrale, die in Notfällen die Manövrierfähigkeit und Kontrolle über das Schiff gewährleistete – sofern das im jetzigen Zustand überhaupt noch möglich war. Die Korridore durch die sie gelangten, waren gesäumt von Toten und Sterbenden. Überall, wo sie hinkamen, waren Wände, Boden oder Decke zum großen Teil aufgerissen, weggesprengt oder hingen wie dünnes Papier in Fetzen. Die Beleuchtung flackerte unentwegt. Das Schrillen der Alarmglocken drang in den Hintergrund, als dumpfe Explosionen abermals den Zerstörer bis in die kleinste Schraube erschütterten. Die Vibrationen rissen Arico und seinen Offizier von den Füßen. Der Captain stieß sich die Stirn an einer hervorstehenden Metallstrebe. Blut rann ihm über das Gesicht. Als er sich vom Boden hochstemmte, war sein Erster Offizier verschwunden! Arico taumelte an der Wand entlang bis zu einem gähnenden Loch im Gangboden. Vorsichtig spähte er hinunter und sah seinen Stellvertreter ein ganzes Deck tiefer in seltsam
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verkrümmter Haltung am Boden liegen. Sein Kopf war unter einer Stahlplatte begraben. Der Captain tastete sich am Rand des Lochs entlang. Als er die andere Seite erreichte, holte ihn ein weiteres Beben von den Füßen. Er robbte weiter, während um ihn herum das Chaos entfesselt wurde. Der nächste Aufzug war ebenso unbrauchbar, wie der erste. Er würde sich durch einen der Wartungsschächte zur Hilfsbrücke begeben müssen. Auf allen Vieren kämpfte er sich bis zur nächsten Einstiegsluke durch. Als er das Gitter öffnete, blickte ihm ein rußgeschwärztes mit blutigen Schnitten übersätes Gesicht entgegen. Arico erkannte die Frau nicht sofort. Erst als er die kaum noch entzifferbaren Rangabzeichen an der zerrissenen Uniform entdeckte, wusste er, dass es sich um den Masterchief handelte. »Captain!«, hustete sie ihm entgegen. »Wo wollen Sie hin?« »Zur Hilfsbrücke, wir müssen das Schiff hier herausbringen.« Sie drückte ihn vom Einstieg fort und mühte sich selbst aus der engen Öffnung. »Keine Chance, Sir. Die unteren Decks sind völlig hinüber. Durch den Verlust unserer Backbordschilde sind wir total ungeschützt. Der Feind hat seine Möglichkeit erkannt und die Angriffe dort konzentriert, wo er uns am schlimmsten treffen kann.« »Große Galaxis!«, rief Arico aus. »Wir müssen etwas tun!« Die Frau, die kaum noch als solche zu erkennen war, schüttelte energisch den Kopf. »Gar nichts können wir tun, Sir«, sagte sie. »Kommen Sie mit, dort hinten ist ein Zugangsterminal zum Hauptrechner.« Er folgte ihr den Korridor entlang. Zwei verwundete Crewmen taumelten ihnen entgegen. Der Schiffsboden bebte. Immer wieder wurde die KATTHARG durchgerüttelt. Lose Energieleitungen hingen von der Decke und versprühten Funken. Ein Legionär in voller Kampfmontur hielt einsam Wache am Terminal. Als er den Captain erkannte, salutierte er kurz und gab den Weg frei. Die Frau an seiner Seite hämmerte ihren Zugangscode in die Eingabefelder und rief einen Schadenbericht auf dem kleinen Monitor auf. Arico schluckte, als er die Auswertungen sah. Der Masterchief hatte Recht, sein Schiff war so gut wie tot. Die dritte Angriffswelle hatte klaffende Löcher in die Backbordseite der KATTHARG gerissen. Sämtliche Geschütze, Quartiere, Frachträume und Stationen, die sich dort befunden hatten, existierten nicht mehr. Aber auch die restliche Rumpfoberfläche war durch das Feuer der Unbekannten in Mitleidenschaft gezogen. Die Energieversorgung für die Waffen war so gut wie lahm gelegt. Gerade einmal zwei Lasergeschütze feuerten noch. Laut Systemlogbuch verzeichnete die KATTHARG jedoch keinen einzigen Treffer, während die Angreifer mit unverminderter Wucht zuschlugen. Der scardeenische Zerstörer war steuerlos und manövrierunfähig. Haupttriebwerke und Hilfsaggregate waren von der Energiezufuhr abgeschnitten. Die Shuttle- und Jägerhangars standen in Flammen; Lazarett und Kombüse waren ausgebombt. Es gab kaum noch etwas, das an Bord funktionierte. Selbst der Bildschirm mit der Schadenanalyse flackerte unentwegt. »Wir müssen das Schiff aufgeben«, schloss der weibliche Masterchief. Aricos Gedanken wirbelten. Er wog die Möglichkeiten zwischen der Schmach, Sealdric vom Verlust eines Zerstörers zu berichten und dem nackten Überleben ab. Schließlich entschied er sich für das Leben. »Kommen wir zu den Hangars?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir in die Fluchtkapseln«, sagte er. Zu Dritt mühten sie sich über den Gang. Immer wieder wurden sie durch Feuersbrünste, Gaswolken und heftige Explosionen gezwungen, die Richtung zu ändern. Letztendlich schafften sie es doch zur Steuerbordaußenwand und erreichten eine intakte Schleuse zu den Rettungskapseln. Der Masterchief loggte sich über ein anderes Terminal erneut in den Hauptcomputer ein, doch der Zustand des Rechners war desolat. In der kurzen Zeit, die sie
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bisher gebraucht hatten, war die Leistung des Kerns auf fünfzehn Prozent abgesunken. Nur noch die Notsysteme schienen zu funktionieren. Die Lebenserhaltung würde das Letzte sein, das der Computer abschaltete. Das Diagnoseprogramm war nicht mehr aufrufbar. Sie erhielten keinen Zugriff auf weitere Schadenberichte. »Schicken Sie eine Funkboje aus und senden Sie einen Spruch in Richtung der Flotte«, befahl Captain Arico. »Bewahrer Sealdric muss erfahren, was hier geschehen ist, ehe er ebenfalls in den Hinterhalt gerät.« »Hinterhalt?«, echote die Frau am Terminal. »Die Flotte besteht aus fünf Schlachtschiffen und sieben weiteren Zerstörern. Das wird ein Kinderspiel, denen den Garaus zu machen.« »Wenn Sie sich da mal nicht irren, Chief«, meinte Arico. »Informieren Sie Sealdric.« »Aye.« Sie waren gerade noch in der Lage, den Funkspruch abzusetzen, ehe das System komplett ausfiel. Arico öffnete die Schleusentür zur Rettungskapsel. Das kleine Gefährt bot Platz für zwei Personen. Er ließ dem Masterchief den Vortritt und drehte sich dann zu dem Legionär um. »Nehmen Sie eine der anderen. Halten Sie Funkstille, wenn wir ausgeschleust wurden.« »Ja, Captain.« Der Soldat verschwand im Dunst des rauchgeschwängerten Korridors zur nächsten Rettungskapsel. Arico stieg gebückt durch die Luke und ließ sich im beengten Innern in den zweiten Polstersitz fallen. Hinter ihm schloss sich das Schott, und der Masterchief hämmerte auf den Knopf, der die Verankerung löste und die Kapsel in den Weltraum hinauskatapultierte. Die beiden Insassen wurden vom Andruck in die Sitze gepresst. Mit zunehmender Beschleunigung rasten sie vom brennenden Mutterschiff fort. Arico projizierte die Heckansicht auf einen der kleinen Bildschirme und konnte sich nun auch optisch das Ausmaß der Schäden an seinem Schiff ansehen. Die KATTHARG war ein Trümmerhaufen, der stellenweise auseinander brach. Explosionen erschütterten das Schiff, Flammen brachen zig Meter weit aus dem Rumpf hervor, ehe das Vakuum des Alls sie erstickte. »Wir hätten die Selbstzerstörung aktivieren sollen«, meinte die Frau neben Arico. Der Captain schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, die haben gar nicht vor, das Schiff in ihre Hand zu bekommen. Sehen Sie, die sind nur auf Vernichtung aus, sonst hätten sie uns nicht derartige Schäden zugefügt.« In dem Moment schob sich ein Objekt von gigantischem Ausmaß in den Aufnahmebereich der Heckkameras. Die kuppelförmige Konstruktion war identisch mit jener, die sie auf der Brücke erfasst haben. Diesmal jedoch gab es keine Fluktuationen des Bildes. Der Riese war in seiner furchteinflößenden Gänze zu bestaunen – zumindest für wenige Sekunden. Als grünes Licht in konzentrischen Kreisen aus dem Rumpf des Kuppelschiffs auf die angeschlagene KATTHARG zujagte, zerschnitt ein grellweißer Blitz das Schwarz des Weltraums und ließ die Kamerasensoren praktisch erblinden. Arico kniff die Augen zusammen und stöhnte auf. Die Lichtflut durchdrang die Sichtscheiben der kleinen Kapsel und tauchte das Innere in ein Gleißen, das selbst durch die geschlossenen Lider drang und die Netzhäute bis aufs Äußerste reizte. Vor Aricos Augen tanzten noch immer helle Flecken, als das Licht draußen im All längst verblasst und die KATTHARG nur noch aus Millionen winziger Atome bestand, die in alle Richtungen des Universums auseinander stoben. Der Captain stieß den angehaltenen Atem aus, ließ die Schultern hängen und sank tief in die Polster des Sessels. Sein Kopf war leer. Der Verlust seines Schiffes schmerzte, doch das Gefühl zu atmen, zu leben, stand in diesem Moment im Vordergrund. Er konnte jetzt nicht nachdenken. Irgendwie würde er Sealdric schon beibringen können, dass sie nicht die geringste Chance gegen den unheimlichen Gegner hatten und Arico nicht für die Zerstörung der KATTHARG verantwortlich gemacht werden
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konnte. Wichtig war jetzt, erst einmal aus diesem Sektor zu kommen. Soweit er wusste, gab es außer der Erde keine bewohnbaren Planeten, auf der die Rettungskapsel landen konnte. Sie würden unweigerlich auf das Eintreffen der Flotte warten müssen, aber es konnte Tage dauern, ehe der Notruf sie erreichte. »Verdammt!« Der Ausruf des Masterchiefs riss ihn aus seinen Überlegungen. Er blinzelte und starrte durch die Sichtfenster nach draußen ins All. Direkt vor ihnen schwebte einer der diskusförmigen Raumjäger. »Seine Waffen sind aktiv!«, schrie die Frau neben Arico. »Er wird ...« Grüne Lichtkreise lösten sich aus den Bordwaffen, fegten an der Rettungskapsel vorbei und trafen auf ein Ziel hinter Arico und der Frau. Auf dem Überwachungsschirm explodierte etwas. Eine Sekunde darauf erhielt Arico die Bestätigung, dass es eine weitere Fluchtkapsel war, vermutlich jene, die der Legionär nach ihnen genommen hatte. Der Diskus vor ihnen drehte sich. Seine Geschützrohre zeigten jetzt eindeutig in ihre Richtung. »Funken Sie ihn an!«, rief Arico vor Furcht aus. »Los doch!« Der Masterchief sendete einen Spruch auf allen bekannten Frequenzen. Ob er von den Fremden überhaupt aufgefangen wurde, sollten sie nie erfahren. Die nächste Welle an kreisförmiger Lichtenergie zerfetzte die Fluchtkapsel. Φ Nach außen wirkte er in dem dunklen Anzug vollkommen ruhig. Aber sein zu Boden geneigter Kopf und die hängenden Schultern belehrten einen oberflächlichen Beobachter eines Besseren und zeugten eher von einem geschlagenen Mann. Die Sand- und Staubspuren auf dem Anzug und den Schuhen trugen das Ihrige dazu bei, diese Wirkung zu verstärken. Ein Mann, geschasst und von vermeintlichen Freunden verraten – jetzt auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Ein Mann der aufgegeben hatte. Im Langzeitplan war diese Entwicklung sicherlich nicht vorgesehen, aber Harry Thorne begrüßte sie im Moment dennoch. Durch die dunklen Brillengläser beobachtete er den fluchenden Chief des Sicherheitsdienstes, der immer wieder versuchte Funkkontakt mit seinen Untergegebenen in der Halle zu bekommen. Das Chaos dort unten in den Griff zu bekommen wäre seine vordringlichste Aufgabe gewesen. Wie sollte er dort für Sicherheit sorgen, wenn er stattdessen einen NSA-Agenten zu seinem Boss zu bringen hatte? Und warum mussten die verdammten Aufzüge so gut abgeschirmt sein, dass er kein Signal empfangen oder senden konnte? Thorne konnte sich an den Nachnamen des Chiefs nicht erinnern. Er kannte ihn nur als Mike, und es schien dem Mann zu genügen, von jedem nur mit Vornamen angesprochen zu werden. Während Mike weiter vor sich hin brummelte und Thorne kaum beachtete, war die Aufmerksamkeit der zwei anderen Beamten voll auf den Agenten gerichtet. Die beiden waren nervös, sie schwitzten. Anscheinend waren sie noch nicht lange dabei und dementsprechend unerfahren. Thorne unterdrückte ein Lächeln. Ein kurzer Blick auf das Display über der Aufzugtür verriet ihm, dass ihm nur noch wenige Augenblicke blieben. »Zigarette?« Der NSA-Agent sah wie seine drei Begleiter zusammenzuckten. Er erkannte in der fahrigen Bewegung eines der Sicherheitsbeamten, dass dieser ein Schulterholster trug. Idiot! Damit wäre er nie schnell genug. Der andere kämpfte nur kurz mit dem Revers seines Jacketts, hatte dann seine Hand aber schon auf dem Kolben seines Revolvers liegen. Schnellverschluss am Holster. Möglicherweise eine oder zwei Sekunden Zeitgewinn für Thorne.
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Mike nahm sein Funkgerät vom Ohr und warf Harry Thorne einen bösen Blick zu. Kein Zweifel, wem er die Mitschuld am Tod mindestens eines seiner Beamten gab. Er mit der freien Hand auf ein Schild an der Rückwand des Aufzugs. Die beiden anderen Beamten entspannten sich sichtlich. Ihre Blicke wanderten von Thorne zu ihrem Chief. »Hier nicht! Sie werden Ihre letzte Zi...« Mehr war nicht notwendig! In einer fließenden Bewegung griff Thorne nach dem ausgestreckten Arm des Chiefs und schleuderte ihn mit einem kräftigen Ruck Hüftholster entgegen. Die Enge der Aufzugkabine ermöglichte es Thorne nicht, wirklich Schwung in den Angriff zu legen, aber es war genug, um die beiden Männer zu Boden gehen zu lassen. Dass der Kopf des Chiefs dabei unliebsame Bekanntschaft mit dem Kinn seines Untergebenen machte, war nur eine weitere unerwartete, aber ebenso willkommene Überraschung. Thorne vollendete seine Drehbewegung und knallte seinen rechten Ellbogen Schulterholster ins Gesicht. Die Hand nicht frei genug, um sich damit abfangen zu können, prallte der Beamte mit voller Wucht gegen die Schalterkonsole des Aufzugs. Harry Thorne riss den Kopf des Manns zurück und drückte auf STOPP. Keine Sekunde zu früh! Zwei Stockwerke vor ihrem Ziel kam der Lift mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck zum Stehen. Ohne zu zögern wählte Thorne die nächstliegende Etage als Ziel und startete den Aufzug wieder. Der Mann, der neben ihm am Boden lag, rührte sich nicht. Harry konnte und wollte sich angesichts der Tatsache, dass es um sein eigenes Leben ging nicht weiter darum kümmern. Er wandte sich den beiden Männern in der gegenüberliegenden Ecke des Aufzugs zu. Auch dort war der jüngere Beamte offenbar nicht mehr bei Besinnung. Zusammengekrümmt lehnte er in der Ecke und konnte nur dem Chief beim Aufstehen als Stütze dienen. Der Sicherheitschef lehnte sich stöhnend an die Kabinenwand und betrachtete seine blutige linke Hand. Das Funkgerät hatte dem Aufprall nicht standgehalten und war in seiner Faust zersplittert. Dunkle Plastiksplitter ragten aus der Handfläche. Anklagend deutete er auf Harry Thorne ... der die offene Handfläche packte, seine rechte Hand darum legte und wiederum eine Faust ballte. Der Schrei, der sich aus der Lunge des Chiefs hervorquälen wollte, wurde nicht mehr laut. Thorne quetschte ihm die eigene Faust in den weit aufgerissenen Mund und ein sofort folgender Hieb gegen die Schläfe ließ den Chief wieder zu Boden sinken. Die Türen öffneten sich. »Verdammt!«, entfuhr es Thorne. Nur eine Etage unter der Führungsebene. Er hatte zwar diese drei Trottel überwältigt, aber das hieß noch lange nicht, dass nicht hier weitaus fähigere und somit gefährlichere Kollegen auf ihn warten konnten. Ex-Kollegen! So oder so, er war zu nachlässig gewesen. Aber der Gang vor dem offenen Fahrstuhl war leer. Er betätigte erneut den Stopp-Schalter, und ohne einen Blick zurückzuwerfen trat Thorne aus der Kabine. Die Türen schlossen sich hinter ihm, aber der Aufzug setzte sich nicht wieder in Bewegung. Harry Thorne war lange genug bei der NSA, um zu wissen wann ein Spiel zu Ende war. Und seines war es offensichtlich in dem Moment als sich zwei seiner Trümpfe einfach aufgelöst hatten. Dieser verfluchte Marshal! Und das Chaos unten im Gebäude? Es deutete alles darauf hin, dass jemand sein eigenes Spiel aufmachen wollte. Und dazu keine Partner benötigte – dafür aber Gossett. Welcher andere Gefangene sollte es sonst gewesen sein, der da befreit worden war? Thorne schüttelte den Kopf, strich sich durchs Haar und griff dann in seine Hemdtasche. Langsam zog er eine Zigarette aus der zerknautschten Schachtel und drehte den Glimmstängel
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fast versonnen zwischen den Fingern während er mit der anderen Hand nach seinem Feuerzeug suchte. Er sog den Rauch genüsslich tief in die Lungen und überlegte seine nächsten Schritte. Dank Gossetts Befreiung konnte er davon ausgehen, dass noch nicht alle über seinen Ruhestand informiert worden waren. Aber es wäre sicher nicht klug, wenn er sich weiterhin in diesem Gebäude aufhielt. Es wurde definitiv Zeit zu verschwinden! Thorne durchquerte die Etage, passierte Großraumbüros und Aufenthaltsräume als wäre nichts geschehen. Und, soweit es die Angestellten, die ihn sahen anging, war das auch der Fall. Sie folgten ihrem reglementierten Tages- und Arbeitsablauf und kümmerten sich nicht um den einen oder anderen Agenten, der sie mit ihrer Anwesenheit beehrte. Harry Thorne erreichte die Aufzüge am anderen Ende der Etage und fuhr unbehelligt bis ins erste Untergeschoss. Dort angekommen durchmaß er die hell erleuchtete Tiefgarage, in der die übliche Hektik herrschte. Fahrzeuge aller Art wurden geparkt, gewartet und für neue Einsätze vorbereitet. Niemand kümmerte sich um den Ex-Agenten. Thorne gewann immer mehr den Eindruck, dass er, seit er mit den Sicherheitsbeamten in den Aufzug gestiegen war, zu einem Unsichtbaren mutiert war. An seinem Fahrzeug überlegte er kurz, ob es wirklich sinnvoll war, mit dem eigenen Wagen das Gebäude zu verlassen. Andererseits wäre das Entleihen eines anderen, sei es eines dienstlichen oder privaten Fahrzeugs eines Ex-Kollegen, weitaus auffälliger gewesen. Es spielte keine Rolle. Thorne setzte sich in seinen alten Ford Mustang und startete den Motor. Mit einem satten Brummen sprang dieser sofort an. Langsam fuhr Thorne aus der Parkbucht und steuerte auf die Hauptausfahrt zu. Als er an das auf dem Vorplatz vermutlich immer noch hohe Polizeiaufkommen dachte, bremste er ab, um kurz darauf in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Es gab mehr als eine Ausfahrt aus dem Gebäude der NSA, und Harry wollte das unverschämte Glück der letzten Minuten nicht unnötig strapazieren. Er erreichte die Ausfahrt, die auf eine kleine Nebenstraße führte, und hielt zum Öffnen des Tores seine Code-Karte an das Lesegerät. Gleich wäre er frei, so frei ein NSA-Agent auf der Flucht vor den eigenen Kollegen sein konnte. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf der kleinen Konsole auf. »Verdammt!« Thorne sah zu dem kleinen Pförtnerbüro auf seiner rechten Seite. Ein eher desinteressierter Mann blickte zu ihm herüber. Thorne zuckte mit den Schultern und gestikulierte zu dem Lesegerät. Der Pförtner kontrollierte offensichtlich einen Bildschirm und winkte ihn zu sich. Er murmelte einen Fluch, stieg aus und ging zu der Pförtnerloge. Dort erblickte er neben der großen Scheibe eine nur angelehnte Tür. Er trat in den spärlich eingerichteten Raum und wurde von einem mürrischen »Ihre Karte ist abgelaufen! Sie müssen sie im Sekretariat verlängern lassen. Ohne gültige Karte kann ich Sie nicht hier ausfahren lassen.« begrüßt. »Das kann nicht sein! Die Karte wurde erst vor ein paar Tagen neu ausgestellt. Ich fahre tagtäglich hier ein und aus. Bisher gab es noch nie Probleme. Wahrscheinlich stimmt irgendwas mit dem Leser nicht. Das kommt doch immer wieder vor!« Offensichtlich war Thorne jedoch an einen bürokratischen Beamtensturkopf geraten. Der Mann schüttelte nur langsam den Kopf und begann erneut: »Ihre Karte ist abgelaufen. Hier«, er deutete auf den Monitor vor sich, und Harry nahm das als Einladung, sich näher zu dem Mann zu begeben, »steht ja groß und deutlich auf dem Bildschirm: ›Diese Karte ist ungültig‹. Ich riskiere doch nicht meinen Job, nur weil Sie so vergesslich sind.« »Du riskierst weitaus mehr als deinen verdammten Job, wenn du mich nicht fahren lässt«, murmelte Thorne, und noch bevor der Pförtner darauf antworten konnte, hatte der Ex-Agent
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dessen Kopf gepackt und ihn viermal mit voller Wucht gegen das Monitorglas gerammt. Rote Schlieren breiteten sich über dem grünen Leuchten aus, und als Thorne den Mann von der Konsole zurückriss, um freien Zugang zu den Schaltflächen zu haben, erkannte er an den gebrochenen Augen in dem blutverschmierten Gesicht, dass dieser Pförtnerposten neu ausgeschrieben werden musste. »Ihr Leben ist abgelaufen, es ist ungültig ...«, sagte Thorne und trat die Leiche beiseite. Es berührte ihn nicht. Er verschaffte sich einen kurzen Überblick über die verschiedenen Tasten und Knöpfe auf der Konsole und fand den richtigen. Ein kurzer Druck und langsam schob sich das Tor – das Tor zur Freiheit – auf. Ohne Gefühlsregung verließ Harry Thorne die Pförtnerloge und stieg wieder in sein Auto. Als das Tor sich ganz geöffnet hatte, fuhr er gemächlich auf die unbelebte Straße und ließ die NSA hinter sich zurück. Es würde nicht einfach werden. Die Voraussetzungen für seine Jagd auf Shadow Command waren nicht optimal. Doch er war lange genug Agent gewesen, um den einen oder anderen Trick aus dem Ärmel zaubern zu können. Φ Ob ein Geräusch ihn geweckt oder er schlecht geträumt hatte, vermochte Simon nicht zu sagen, als er plötzlich die Augen aufschlug und hellwach war. Er richtete sich im Bett auf und schaute sich um. Zuerst hatte er Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Die Umgebung schien ihm fremd und unwirklich. Er glaubte in seinem alten Apartment in Los Angeles zu sein, doch es war bei weitem nicht so geräumig wie diese Suite. Nicht einmal das großzügige Quartier, das man ihm an Bord der FREEDOM zugewiesen hatte, erreichte die Dimensionen der kleinen Wohnung, in der er übernachtete. Dabei handelte es sich nicht einmal um ein Gästequartier, sondern um die Standardunterkunft an Bord eines Stadtschiffs. Stadtschiff, dachte er und fand in die Wirklichkeit zurück. Er schwang die Beine über den Bettrand, stand auf und knipste das Licht an. Der Schlafraum wurde in ein gedämpftes Weiß getaucht, das nicht mal in seinen Augen wehtat. Simon schlurfte zum Fenster, drückte die erstbeste Taste, die er am Panel fand und ließ die schweren Abdeckschotten auffahren. Draußen herrschte finstere Nacht, wie Natasha versprochen hatte. Doch von der Milchstraße war zumindest von seinem Standpunkt aus nichts zu sehen. Vielleicht sollte er zur Promenade in der Nähe der Kommandozentrale gehen, um einen besseren Ausblick zu bekommen. Simon schlenderte in den Nachbarraum der Suite, begab sich zur Bar und durchstöberte die Getränkeflaschen in den Regalen und das Datenterminal am Nahrungsverteiler. Einige irdische Spirituosen fanden sich darunter. All die schönen Worte mit W, dachte er grinsend und las die Namen einiger Whiskey-, Wodka- und Weinbrandsorten. Der Großteil der Getränke bestand jedoch aus Marken, die Simon noch nie zuvor gehört hatte. Vermutlich Alkoholika aus scardeenischen Beständen. »Sawolk, Psukar, Dfulsfen«, versuchte er laut zu lesen und verhaspelte sich mehrmals bei den Zungenbrechern. Schließlich tippte er am Terminal wahllos auf eine Taste. Kurz darauf schob sich eine Klappe des Nahrungsverteilers beiseite. Auf einem kleinen Tablett wurde eine Flasche mit einer hellvioletten Flüssigkeit heraus geschoben. »Ah, die Tuntenvariante«, lachte Simon, langte nach der Flasche und goss sich ein Glas von dem Inhalt ein. Er verfluchte sich im selben Moment dafür, das Getränk in einem Zug herunter gespült zu haben. Es schmeckte wie ein Gemisch aus Benzin, Milch und Orangensaft und zog sich quälend langsam durch seine Eingeweide. »Bah!«, stieß Simon mit vor Ekel verzogenem Gesicht hervor. Im selben Augenblick stellte er jedoch fest, dass das Getränk auch seine wohltuende Wirkung tat und ihm einen gehörigen Auftrieb gab. Er fühlte sich von einer Sekunde auf die andere unbeschwert und irgendwie ...
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leicht. »Wow!«, rief er. »Nicht zu verachten, das Gesöff! Das hätte der alte Henry Foster erleben müssen.« Hitze stieg ihn ihm auf. Er machte einen Schritt zur Seite und torkelte mehr, als dass er wirklich ging auf das Sofa auf der gegenüberliegenden Seite der Bar zu. Er ließ das Glas auf den Teppichboden fallen. Es zerbrach nicht, aber sein Inhalt sickerte rasch in den Stoff und hinterließ einen dunklen Fleck im Gewebe. Nur mit der Flasche in der Hand landete Simon auf der Couch und las endlich, was auf dem Etikett stand. Der Schriftzug war auf Scardeenisch abgefasst, aber er konnte die Buchstaben entziffern und las den Rest laut vor, so dass der Translator gleich die Übersetzung dafür lieferte. Drabitsch, der Löwenmordende. Nur mit Verdünner zu genießen. »Oh-oh«, säuselte Simon bereits angetrunken. »Des ... war wohl nix.« Als er sich auf dem Sofa bewegte, erfasste ihn ein leichter Schwindel, der sich schnell zu einem Gefühl extremer Haltlosigkeit steigerte. Simon hatte das Gefühl in einen Schlund zu fallen. Trotzdem schaffte er es, die Flasche auf dem Beistelltisch abzustellen, sich halbwegs aufzurichten und sich den Waffengurt, den er achtlos auf der Couchlehne abgelegt hatte, über Boxershorts und Unterhemd zu schnallen. Er hob die Hand mit dem Armbandkommunikator an den Mund und öffnete einen Kanal zur FREEDOM. »Ssss is' Luutennt MäcLärt, kommen bidde«, lallte er mittlerweile sturzbetrunken ins Mikro. Der Alkohol in seinem Blut schien erst jetzt seine volle Wirkung zu entfachen. Vorausgesetzt, es handelte sich bei Drabitsch überhaupt um Alkohol. »Hier Corporal O'Ryan, Sir«, meldete sich eine weibliche Stimme aus dem Kom. »Was kann ich für Sie tun?« Simon wippte vor und zurück. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. Die Wände schienen inzwischen meilenweit von ihm entfernt zu liegen. »Gem Sie mir Luutennt Härrisch, bidde, Luutennt Härrisch. Unnen Kusch willich.« Simon hickste als er dem Mikro einen Kuss aufdrücken wollte. »Schulligung.« »Sir?«, fragte die Shadow-Agentin nach. »Ist Ihnen nicht gut?« Simon grinste blöde, auch wenn die Frau am anderen Ende der Leitung das nicht sehen konnte. Er fühlte sich noch leichter, als einen Augenblick zuvor. Fast glaubte er, einfach vom Boden abheben zu können. »Bessns, mir'ehts bessens, Suckepubbe, bessns... un' wassissnu mit nem Kusch...? Kusch mich.« Dann fiel Simon einfach um und spürte nichts mehr. Φ Linda O'Ryan rief noch mehrmals den Namen Simon McLairds, doch sie erhielt zur Antwort nur ein leises Schnarchen. »Kusch?«, fragte sie und merkte nicht, dass sie das Wort laut ausgesprochen hatte. Verwirrt schaute sie sich in der Kommandozentrale um und begegnete dem fragenden Blick Sergeant Tennards. »Was gibt es denn?« »Lieutenant McLaird wollte Lieutenant Harris sprechen«, erklärte sie. »Dann erwähnte er einen Kusch. Was auch immer das sein mag ... und jetzt ... hören Sie selbst.« Das Schnarchen drang nun wie eine ganze Infanterie Kettensägen aus den Lautsprechern. Tennard unterdrückte ein Auflachen und strich sich scheinbar nachdenklich über den feinen Oberlippenbart. Dann drehte sich der Schwarze um, stand auf und ging in Richtung Ausgangsschott los. Verdutzt starrte ihm Linda O'Ryan hinterher. »Sir?« »Ich treffe mich mit Lieutenant Harris in McLairds Quartier«, rief er über die Schulter
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zurück. »Aber wehe Sie geben davon auch nur ein Wort zu Protokoll.« »Und was soll ich machen, wenn ein Offizier auf der Brücke auftaucht?« »Sagen Sie, ich wäre kurz pinkeln oder eine Raucherpause machen«, grinste Tennard. Dann hatte er die Brücke der FREEDOM verlassen und rief über das Armbandkom Harris an. »Ja, Harris hier«, klang eine verschlafene Stimme auf. »Sean, hier ist Lou. Ich glaube McLaird hat ein kleines Problem.« »Wo steckt er denn?«, fragte Harris. »An Bord der SABER.« Ein Seufzen war zu hören. »Wir haben keine Erlaubnis, das Stadtschiff zu betreten.« »Wir wissen noch immer nicht, ob wir diesem Quire trauen können«, gab Luis Tennard zu bedenken. »Vielleicht ist McLaird und den anderen drüben etwas passiert.« Noch ein Seufzer. »Na schön, ich bin dabei. Wir treffen uns am Docktunnel.« Tennard musste fünfzehn Minuten warten, ehe Harris endlich mit zerknitterter Uniform und ebenso dreinschauendem Gesicht aufkreuzte. Offenbar war er aus dem tiefsten Schlummer geweckt worden. Die beiden nickten sich kurz zu und öffneten die Schleuse. Sie passierten den kurzen Docktunnel, der die FREEDOM mit dem Stadtschiff verband und traten am anderen Ende auf das Deck der SABER. »Halt!«, rief jemand, kaum dass sie den Boden berührten. Neben dem Ausgang standen zwei der Natasha-Aspekte von denen Quire berichtet hatte. Tennard klappte die Kinnlade herunter, als er sah, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen. Harris fluchte leise, versuchte aber seine Überraschung zu überspielen. »Schauen Sie, Ladies, ich weiß, dass Sie ein Problem haben, aber...« Er verstummte mitten im Satz. Seine Faust schoss hervor und traf die ihm am nächsten Stehende direkt unters Kinn. Die Frau taumelte zurück und schrie auf. Harris fiel in den Schrei ein, als er sich die schmerzende Hand rieb. Seine Fingerknöchel waren beim Aufprall abgerutscht. Er kniff die Augen zusammen und biss die Zähne aufeinander, doch der Schmerz wollte nicht weichen. Tennard überwand sein Erstaunen und riss den Handlaser aus dem Holster. Mit einer flinken Bewegung regulierte er den Energieausstoß auf ein Minimum und schoss. Ein blassblauer Lichtstrahl erwischte die zweite Frau direkt in der Brust. Sie krümmte sich und ging zu Boden. Der andere Aspekt federte ab und sprang Tennard an. Die Frau umschlang seine Hüfte und riss ihn einfach mit sich. Beide rollten über das Deck. Tennard schrie – und verstummte, als eine schnelle Rechts-Links-Kombination ihn ins Reich der Träume beförderte. Harris zog seinen eigenen Strahler mit links, wechselte ihn in die noch schmerzende Rechte und gab einen Schuss ab. Mit maximaler Energieleistung jagte der Blitz durch den Körper der Frau. Sie wurde von der Wucht des Stoßes zurückgeschleudert, schlitterte einige Meter über den Boden und blieb dann reglos liegen. Ihre Lider flatterten kurz, ehe sie ganz zufielen. Feiner Rauch stieg aus dem gähnenden Loch in ihrer Brust auf. Der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft. »Scheiße!«, stöhnte Harris auf und blickte sich hektisch in der Dockhalle um. Es war niemand zu sehen. Doch das bedeutete nicht, dass die Energiestöße einen stummen Alarm ausgelöst haben konnten. Seine Gedanken rotierten um die Frage, was eigentlich geschehen war. Wieso hatte er so aggressiv reagiert? Das hier war keine militärische Operation gewesen, sie wollten lediglich nach McLaird sehen. Es hatte nicht den geringsten Grund für den Gewaltausbruch gegeben – und jetzt stand er wahrscheinlich als Mörder da. Mit wackeligen Knien näherte er sich Tennard, bückte sich und klatschte seinem Freund zweimal ins Gesicht. »Lou, wach auf! Wir müssen hier verschwinden.« Tennard rührte sich nicht. In diesem Augenblick vernahm Harris das Zischen einer sich
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öffnenden Tür. Ganz in der Nähe des Docktunnels stürzten mehrere Aspekte aus einem anderen Gang und liefen direkt auf ihn und den Bewusstlosen zu. Harris schwang herum und hob den Laser. Doch ehe er abdrücken konnte, richtete eine der Frauen ihren Arm auf ihn. Ein feiner Lichtstrahl jagte aus ihrem Armband und schnitt in Harris' Handgelenk. Siedender Schmerz durchfuhr den gesamten Arm bis hinauf zum Hals. Der Lieutenant ließ die Laserpistole fallen. Panisch sah er sich nach allen Seiten um, konnte jedoch keinen Ausweg erkennen. Die Aspekte kreisten ihn und Tennard ein. Alle hatten ihre Arme erhoben und zielten mit den in den Armbändern verborgenen Lasern auf ihn. Harris seufzte. Ich wäre besser im Bett liegen geblieben, als mich in diese Scheiße reinzureiten. Er blickte zu der Frau, die ihm den Laser aus der Hand geschossen hatte. Um ihren Hals prangte ein feines Band mit silberner Plakette in die eine Buchstaben- und Nummernkombination eingraviert war: NAT 312-Alpha A. »Was haben Sie hier zu suchen, Lieutenant?«, fragte sie in ruhigem Tonfall, der nicht verriet, ob sie wütend darüber war, dass er eine der ihren getötet hatte. Harris schluckte und flüchtete sich in eine banale Ausrede. »Wir ... wir sind einem Hilferuf gefolgt.« »Mitkommen!« Der Tonfall ihrer Stimme war nun schärfer. Sie bedeutete den anderen Aspekten sowohl Tennard, als auch die beiden am Boden liegenden Frauen mitzunehmen. Φ »Was denken Sie eigentlich, was Sie hier tun, Major Stone?«, fragte Mel Quire aufgebracht. »Mister McLaird ist stockbesoffen und lockt zwei Ihrer Soldaten an Bord meines Schiffes, die daraufhin meine Aspekte angegriffen haben. Grundlos, um das noch mal zu betonen!« Wäre sein Lidzucken ein Maß für seine Wut, dann stand er jetzt kurz vor der Explosion. Sherilyn atmete tief durch, als sie die Standpauke über sich ergehen ließ. Gleich nach dem Vorfall am Docktunnel hatte Quire sie und die anderen Mitglieder Shadow Commands wecken und in sein Büro in der Nähe der Kommandozentrale zitiert. Am Eingang und hinter Quire standen jeweils zwei der Natashas, um ihren Mentor notfalls vor weiteren Übergriffen schützen zu können. »Es tut mir leid, Doktor«, sagte Sherilyn lahm. »Wie geht es den Verwundeten?« Quire marschierte unruhig in seinem Büro auf und ab. Die Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. »NAT 143 ist wohlauf, sie hat sich vom Betäubungsstrahl erholt. NAT 6-Omega befindet sich auf der Intensivstation, aber die Ärzte sagen, sie sei außer Lebensgefahr.« Sherilyn stieß die Luft hörbar aus. Sie hatte bereits schlimmeres befürchtet. Nach erster Auskunft war der Aspekt mit voller Energie eines Handlasers in die Brust getroffen worden. Ein Mensch hätte das nie und nimmer überlebt. Sie sprach Quire darauf an. »Die Aspekte verfügen über hohe regenerative Fähigkeiten«, antwortete der Wissenschaftler. »Sie halten schon einiges mehr aus, als wir, aber das hätte genauso gut schief gehen können. Ihr Lieutenant Harris hatte nur Glück, dass keine lebenswichtigen Organe verletzt wurden.« »Ich werde disziplinarische Maßnahmen einleiten, um Harris, Tennard und auch McLaird zur Rechenschaft zu ziehen«, versprach Sherilyn. »Aber bedenken Sie, dass meine Leute einem Irrtum aufgesessen sind. Sie befürchteten, McLaird wäre in Gefahr. Und nach all Ihrer Geheimnistuerei und Ihren Machtdemonstrationen, was diese Schiffe hier betrifft, ist es nicht verwunderlich, dass wir eine Falle vermuteten.« Quire blieb stehen und starrte den Major ausdruckslos an. »Eine Falle«, sinnierte er. »Ja ... ja, natürlich. Für Sie und Ihre Leute muss das alles noch sehr befremdlich sein. Sie haben gerade erst einen Schritt in die galaktischen Weiten getan und werden gleich in einen Konflikt
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hineingezogen. Ich bin schon zu lange hier draußen und vergesse wohl leicht die Rückständigkeit der Erde und ihrer Bewohner in dieser Sache.« Sherilyn machte einen Schritt auf den Doktor zu. Sofort kam Bewegung in die Wächter, doch Quire hob beschwichtigend eine Hand, so dass sich die Frauen am Eingang und hinter ihm wieder beruhigten. »Lassen Sie uns noch einmal von vorn anfangen«, bat Major Stone. »Wir hatten einen schlechten Start. Und trotz Ihres Hyperverzerrers liegt noch immer die Bedrohung der Erde durch Scardeen in der Luft. Wir können nicht sicher sein, ob Sealdric nicht doch mit einer Flotte bei unserer Heimatwelt auftaucht und ihre Bevölkerung auf dieselbe Art ausrottet, wie die Drahusem auf Prissaria.« »Natürlich«, entgegnete Quire gelassen, und auch sein Tic hatte sich wieder beruhigt. »Die Gefahr der Entdeckung bleibt bestehen.« Er marschierte zum Fenster und starrte in den strahlenden Glanz des Wolkenmeers hinaus. »Ich werde ...«, begann Sherilyn, doch der Wissenschaftler schnitt ihr das Wort mit einer raschen Geste ab. »Sie werden die drei unter Arrest stehenden Männer freilassen, Major«, sagte Quire bestimmt. »Sie haben Recht. Wir werden neu anfangen. Bringen Sie Ihre Kommandooffiziere um Null-Neunhundertdreißig in den großen Konferenzraum neben der Brücke. Einer der Aspekte wird Ihnen den Weg zeigen. Wir werden einen Weg für ein gemeinsames Bündnis ebnen.« »Ich werde dort sein«, sagte Sherilyn Stone. Sie verabschiedete sich von Quire und trommelte ihre Leute zusammen. Φ Er war allein und fühlte sich schäbig und elend. Jeder Schritt auf dem weißen Korridor schien seinen Körper schwerer und schwerer werden zu lassen. Das Gewicht zog ihn förmlich nach unten. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften ein paar Stunden zurück zum Kampf am Docktunnel. Vor seinem inneren Auge sah er das Gesicht der Frau, die er einfach ohne zu zögern erschossen hatte. In der Arrestzelle hatte er darüber nachgedacht, was in ihn gefahren war, so drastisch zu handeln. Tennard hatte wenigstens soviel Geistesgegenwart besessen, den Laser auf Betäubung zu justieren. Aber er? Sean Harris bewegte sich die letzten Meter bis zum Lazarett kaum von der Stelle. Er fühlte sich schuldig. Der einzige Umstand, der sein Nervenkostüm ein wenig beruhigte, war die Tatsache, dass die Frau noch lebte und sich außer Gefahr befand. Aber würde er ihr je in die Augen blicken können, ohne an diesen Tag zu denken? Dabei zu spüren, wie sie ihm Vorwürfe machte, dass er sie fast grundlos umgebracht hätte? Er hatte sich nicht im Einsatz befunden, es gab keinen Krieg zwischen Shadow Command und Cloudgarden, und es war nicht einmal Notwehr gewesen. Verdammt! Die Tür vor ihm öffnete sich. Mit hängenden Schultern und trübem Blick betrat Harris eine der Krankenstationen an Bord des Stadtschiffes. Er sah hoch. Zwei der Natasha-Aspekte, die weiße Kittel über ihre engen, dunkelblauen Overalls gestreift hatten, blickten kurz von ihrer Arbeit auf und widmeten sich dann einem Datenschirm. Eine andere Frau trat an Harris heran. Sie trug ebenfalls den weißen Kittel – offensichtlich eine Eigenart des medizinischen Personals der Aspekte. Harris vermutete, dass die Frauen unterschiedliche Qualifikationen besaßen, wenn sie aus dem Nullzeitwesen schlüpften. Wie er sich das genau vorzustellen hatte, wusste er noch immer nicht. Dazu schien ihm der Vorgang einfach zu abstrakt zu sein. Vielleicht musste man die Geburt eines Aspekts mit eigenen Augen miterleben, um sich überhaupt ein Bild zu den Vorgängen machen zu können.
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»Lieutenant Harris?«, fragte die Rothaarige, als sie direkt vor ihm stand. Er nickte knapp. »Folgen Sie mir bitte«, bat sie. »NAT 6-Omega hat starke Medikamente bekommen und braucht viel Ruhe, um sich zu erholen. Also schonen Sie sie bitte. Keine unnötigen Aufregungen. Wenn der Statusmonitor eine beschleunigte Pulsfrequenz zeigt, werden wir Sie aus dem Lazarett entfernen.« »Verstanden«, sagte Harris. Die Ärztin ließ ihn allein am Krankenbett stehen. Er hatte damit gerechnet, die Verwundete mit Schläuchen und Kanülen versehen, intubiert und an unzählige Apparaturen angeschlossen ans Bett gefesselt zu sehen. Doch Natasha lag ohne jegliche sichtbare Instrumente einfach in den weißen Laken und hatte die Augen geschlossen. Als sich Harris näherte, hob sie die Lider und blinzelte ihn an. »Ich ...«, begann Harris. »Ich bin ...« »Har-ris«, kam es schwach über ihre Lippen, dann wurde ihre Stimme lauter und kräftiger: »Lieutenant Sean Harris, Shadow Command, Dienstnummer 48327-H-16031965. Ich weiß, wer Sie sind.« Harris presste die Lippen aufeinander. Er atmete tief durch. Als Natasha ihn direkt ansah, wich er ihrem Blick aus und starrte auf seine Fußspitzen. »Für das«, sagte er mit heiserer Stimme, »was ich getan habe, gibt es keine Erklärung und keine Entschuldigung. Ich habe nicht nachgedacht, nur gehandelt, so wie es meine Ausbildung als Soldat verlangt. Auch das ist keine Entschuldigung. Und ich kann nur sagen, dass ich froh darüber bin, dass Sie einigermaßen wohlauf sind und Sie nicht ... nicht ...« »Gestorben bin?«, half sie ihm aus. Die Röte schoss Harris ins Gesicht. Genau das hatte er gedacht, es aber nicht aussprechen wollen. Er war peinlich berührt und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. »Harris?«, fragte Natasha. Der Lieutenant zuckte zusammen und merkte erst jetzt, dass er schon mehrere Minuten geschwiegen hatte. Er schaute hoch und blickte in die jadegrünen Augen der Frau. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Ich glaube Ihnen«, sagte sie. »Ich werde wahrscheinlich nie vergessen könne, dass Sie mich fast getötet hätten ... aber ich verzeihe Ihnen. Natasha Eins hat mir gesagt, dass Doktor Quire sehr spärlich mit Informationen umgegangen ist, um den Überraschungseffekt auszukosten. Ich kann nachempfinden, dass Sie besorgt um ihren Freund waren ... und dass Sie unsicher waren, nicht doch auf Cloudgarden in eine Falle zu tappen.« »Dennoch rechtfertigt es nicht das, was ich getan habe«, räumte Sean Harris ein. »Sie haben es selbst gesagt: Sie sind Soldat. Es liegt in Ihrer Art zu denken und zu handeln. Sie hatten gar keine andere Wahl.« Harris schluckte. Die Worte der Frau verklangen dumpf und mit einem schalen Beigeschmack. Er wusste nicht, ob sie ihn wirklich beruhigten oder erleichterten – zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht später einmal, aber die Erinnerung an seine Tat würde noch einige Zeit lebhaft in ihm bleiben. Er trat dicht an das Bett heran und streckte Natasha seine Hand hin. »Ich danke Ihnen für Ihre Worte und dafür, dass Sie bereit sind, mir zu verzeihen.« Der Aspekt griff nach der Hand und drückte sie kurz und schwach. »Ich kann nicht erwarten, dass wir Freunde werden«, fuhr Harris fort, »aber ich möchte Ihnen zumindest in die Augen schauen können, falls wir uns hier an Bord über den Weg laufen sollten.« Er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt noch gehört hatte. Ihre Augenlider schlossen sich, der Atem beruhigte sich. Sie war eingeschlafen. Harris betrachtete sie eine Weile und hielt noch immer ihre Hand, als sich jemand hinter ihm räusperte. Er wandte den Kopf und sah die
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Ärztin, die ihn hergeführt hatte. Obwohl die Aspekte sich alle ähnelten, musste er nicht extra auf das Halsband mit der eingravierten Nummer sehen, um sie auseinander halten zu können. Die Unterscheidungsmerkmale in Haarfarbton, die dezent geschminkten Bereiche um Augen, Wangen und Mund machten es leichter. »Das reicht für heute«, sagte die Ärztin. »Ja«, meinte Harris und ließ die Hand der Patientin los. »Ja, sicher.« »Sie werden im Briefing-Raum auf der Kommandoebene erwartet.« Harris runzelte die Stirn. Es hatte ihn niemand angefunkt. Als er den Natasha-Aspekt darauf ansprach, lächelte die Frau. »Wir haben unsere Wege, um Ihre Frequenzen zu stören«, erklärte sie. »Ich wollte nicht, dass Sie mitten im Gespräch mit meiner Patientin abkommandiert werden. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Besuch NAT 6-Omega gut getan hat und ihre Genesung fördern wird.« »Gut getan?«, echote Harris. »Sie ... sie wird mich hassen, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt. Vielleicht hat sie mir gerade im Delirium verziehen.« Das Lächeln der Ärztin wurde breiter. »O nein, die Sache mit den Medikamenten war ein kleiner Schwindel von mir. Sie war bei vollem Bewusstsein.« »Oh«, machte Harris. Φ »Junge, Junge, du machst Sachen«, grinste Ken Dra kopfschüttelnd. Zusammen mit Simon McLaird, Tanya, Kardina und Sherilyn Stone saß er in dem großen Konferenzsaal direkt neben der Hauptbrücke des Stadtschiffs. Der Raum maß knapp zwanzig Meter in der Länge und sechs in der Breite. Die Decke mochte vier Meter hoch sein. Ein Großteil des Platzes wurde von einem gewaltigen Tisch okkupiert. Zu beiden Seiten reihten sich jeweils vierundzwanzig schalenförmige Konturensessel auf, die sich den Körperformen des Sitzenden automatisch anpassten. Vor Kopf stand ein imposanter Einzelsessel, der in seinen Dimensionen eher als Thron bezeichnet werden konnte. »Hör bloß auf«, gähnte Simon McLaird. »Ich hab Kopfschmerzen.« »Wer nicht hören will, muss fühlen, oder?«, stichelte Ken Dra weiter. Kardina, die neben Simon saß, stieß ihn sanft in die Seite. »Er hat Recht. Ich wusste gar nicht, dass du so ein Säufer bist.« »Ich bin kein Säufer«, grunzte Simon zurück und fuhr sich dabei mit einer Hand durchs Gesicht. Er fühlte sich wirklich nicht gut. Seinen Zustand einen Kater zu nennen, wäre jedoch reinste Untertreibung gewesen. Er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht, in seine Bestandteile zerlegt und anschließend wieder unprofessionell zusammengesetzt. Selbst der härteste Whiskey hatte nie solche Nachwirkungen gehabt. Besser, er ließ in Zukunft die Finger von dem Zeug. »Schhht!«, machte Tanya und deutete zum Eingang. Die schweren Flügeltüren hatten sich gerade nach innen geöffnet und Mel Quire betrat in Begleitung eines halben Dutzend seiner Natasha-Aspekte den Konferenzraum. Ihnen folgte Lieutenant Harris, den Sherilyn Stone ebenfalls zum Briefing hatte rufen lassen. Simon fand, dass der Soldat einen unglücklichen Eindruck machte. Sherilyn hatte ihm von dem Vorfall an der Dockbucht erzählt – er mochte nicht in seiner Haut stecken. Harris nickte Simon und Stone zu und setzte sich ihnen direkt gegenüber. Wie zu erwarten, nahm Mel Quire auf dem thronartigen Gebilde am Ende des Tisches Platz, während sich die Aspekte auf die Sessel zu beiden Seiten des Tisches verteilten. »Guten Tag, meine Damen und Herren«, begrüßte Dr. Quire die Runde und presste dabei die Lippen aufeinander. »Wir hatten leider einen schlechten Start. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass wir einige Missverständnisse aus der Welt schaffen und interne
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Streitigkeiten beilegen können. Ich möchte auf die Vorfälle im Einzelnen nicht eingehen. Bei dieser Besprechung fangen wir einfach bei Null an. Irgendwelche Einwände?« Niemand meldete sich. Quire räusperte sich. »Wenn jemand etwas zu trinken möchte, brauchen Sie nur im Steuerpaneel der Sessellehnen das Glas-Symbol zu drücken und verbal das Getränk zu benennen.« Er machte es ihnen vor und bestellte ein Glas Wasser. Prompt klappte eine im Tisch eingelassene Luke auf und ein großes Glas wurde über einen Mechanismus nach oben geschoben. Die Klappe schloss sich wieder, als Quire nach dem Gefäß griff und es anhob. »Nett«, kommentierte Simon, runzelte aber die Stirn, als er sich einen giftigen Blick Major Stones einfing. Sie hatte ihm eine Standpauke über seine Volltrunkenheit und die Konsequenzen, die er dadurch verursacht hatte, gehalten. Er hatte zwar nicht ahnen können, welche Wirkung dieses Drabitsch auf seinen Metabolismus hatte, aber eine Mitschuld an Harris' und Tennards Verhalten kreidete er sich selbst an. Er beschloss, es vorerst nicht auf die Spitze zu treiben und hielt sich mit einer Getränkebestellung zurück, obwohl er just in diesem Moment seine Kehle rau werden fühlte. Mel Quire wartete, bis auch einige der anderen sich etwas bestellt hatten. »Sicherlich haben Sie sich schon gefragt, was ich mit all dem hier bezwecke«, sagte er dann. »Nun, am Anfang ging es nur darum, eine neue Heimat zu finden und ungestört ohne das wachsame Auge Scardeens forschen zu können. Als die Zahl der Stadtschiffe und unserer Zerstörerflotte dann beständig anstieg, die Massen der Aspekte exponential in die Höhe schossen, da wurde mir bewusst, welche militärische Streitmacht wir gleichzeitig erschaffen hatten.« »Wir?«, fragte Sherilyn Stone nach. »Das Nullzeitwesen, die Aspekte und meine Wenigkeit«, antwortete Quire. »Allein die Stadtschiffe stellen ein Machtpotenzial dar, das es ohne Probleme mit der halben scardeenischen Flotte aufnehmen kann.« »Sind Sie denn daran interessiert, einen Krieg zu führen?« Tanya hatte sich vorgelehnt und die Hände auf den Tisch gestützt. Sie konnte von allen wohl am ehesten nachvollziehen, was es bedeutete, sich gegen das eigene System aufzulehnen. Sie hatte sich von den AmazonenAssassinen auf Mazoni abgewandt, aber nie mit dem Gedanken gespielt, sich mit ihren Rebellen offen gegen ihre Königin zu stellen. Zu Kämpfen war es erst gekommen, als McLaird, Jee A Maru und Ken Dra um Hilfe ersucht hatten. »Ich bin Wissenschaftler, kein General«, sagte Mel Quire mit Nachdruck. »Mein Bestreben gilt der Forschung. Aber auf der anderen Seite kann ich es nicht zulassen, dass eine Horde selbst ernannter Forscher ganze Welten unterjocht und ihnen ihren Sinn für Technokratie aufzwingt, statt ihnen ihren Glauben zu lassen. Glauben Sie mir, ich habe mit genügend Bewohnern Scardeens oder eingegliederten Planeten gesprochen, um sagen zu können, dass die Masse unzufrieden ist. Sie leben in ständiger Angst. Und wären da nicht die Bewahrer und ihre Legionen, wäre es längst zu einem offenen Aufstand oder einem Bürgerkrieg gekommen. Aber die Flotte steht auf der Seite des Rates. Selbst einzelne Schiffskapitäne würden sich niemals öffentlich gegen den Rat wenden. Einen Militärputsch könnte man nur wagen, wenn man mit genügend Feuerkraft im Rücken auf der Bildfläche erscheint, um abtrünnige Schiffskapitäne für unsere Ziele zu mobilisieren. Diese Leute müssen sehen, dass es Sinn macht, gegen die Bewahrer zu kämpfen.« »Hört sich vernünftig an«, unterbrach Simon, der langsam wieder klarer denken konnte. Er wartete darauf, dass Sherilyn ihn wieder mit einem bösen Blick bedachte, doch der Major nickte ihm sogar zu und forderte ihn damit auf, weiterzureden. »Warum haben Sie es dann nicht längst getan? 104 Stadtschiffe, fünf Millionen Aspekte. Im Nu hätten Sie ein paar scardeenische Welten befreit und die lokalen Garnisonen und Flottenverbände auf Ihre Seite gezogen, um sich so Schritt für Schritt der Hauptwelt zu
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nähern.« Ein verlegenes Lächeln huschte über Quires Lippen. »Wie gesagt, ich bin Wissenschaftler, kein großer Stratege. Und die Aspekte Natashas profitieren zwar von unerschöpflichem Wissen, aber das basiert auf den Kenntnissen und Erfahrungen meiner verstorbenen Frau und dem Nullzeitwesen. Niemand hat je wirklich einer Schlacht beigewohnt oder militärische Strategien ausgearbeitet – sei es für einen Großangriff oder eine Guerilla-Taktik. Wir sind sozusagen blutige Anfänger in diesem ... Geschäft.« Simon lehnte sich im Sessel zurück. Er öffnete den Mund, doch Ken Dra kam ihm zuvor. »Soll das heißen, dass all diese Aspekte nur für wissenschaftliche Forschungen geeignet sind, im Kampf aber versagen würden?« Quire schüttelte den Kopf. »Nein, das habe ich nicht gesagt. Die Aspekte haben ein spezielles Training durchlaufen und sind fit im waffenlosen Kampf sowie ausgebildet an jeder Waffe, die es im scardeenischen Reich gibt. Und sie sind lernfähig. Sie können sich das Wissen über Militärstrategie ebenso aneignen wie über Botanik, Astrophysik, Politik oder was auch immer. Nur fehlt es an entsprechenden Lehrmeistern, die ich nun hoffe gefunden zu haben.« »In uns?«, fragte Sherilyn Stone. »Richtig. Sie und Ihre Organisation sind in der Lage, das Training der Aspekte zu vervollkommnen. In wenigen Jahren werden wir einsatzbereit sein und können gegen Scardeen vorgehen. Vorausgesetzt natürlich, Sie stimmen meinen Vorschlägen zu.« Simon lehnte sich übertrieben weit nach rechts über die Sessellehne hinaus und stupste Kardina an. Die Amazone blickte in seine Richtung, und als sie erkannte, dass er ihr etwas sagen wollte, beugte sie sich zu ihm herüber. »Was denkst du?«, raunte er ihr leise zu. Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Klingt logisch, was er sagt, oder?« »Schon. Vielleicht kommt ihr auch besser damit zurecht. Aber ich knacke noch an Dingen wie Nullzeitwesen, Aspekten und Riesenraumschiffen von sieben Kilometern Durchmesser...« »Das ist für uns auch neu, Simon«, behauptete Kardina. Quire erhob sich von seinem Sitz und schlenderte mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Tisch entlang. Einige der anderen verrenkten sich fast den Hals, als sie versuchten, den Alten im Blick zu behalten. »Welche Vorschläge?« Sherilyns Frage knüpfte an Quires letzte Worte an. Der Wissenschaftler blieb abrupt stehen und ruckte hoch, als wäre er so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er die Anwesenheit der anderen schlicht vergessen hatte. »Einen Bund zwischen Cloudgarden und Shadow Command. Oder sehen Sie es so: Die Eingliederung Shadow Commands in Cloudgarden. Cloudgarden als neue Operationszentrale, als Ausbildungscamp und Machtzentrum, um Scardeen die Stirn zu bieten. Unten auf der Oberfläche, dort wo Natasha und ich die Dimensionsverschiebung zum Nullzeitwesen fanden, ist inzwischen eine gewaltige Stadt entstanden. Wir haben sie Cloud City genannt – eine Stadt im ewigen Eis des Planeten. Momentan wird sie von den Natasha-Aspekten bevölkert, aber ich hoffe, dass in naher Zukunft die Agenten Shadow Commands dort wohnen werden. Zusammen mit ihren Familien, die wir von der Erde zu uns holen wollen, natürlich.« »Den Familien?«, echoten Sherilyn, Simon und Harris gleichzeitig. Quire begann auszuschweifen, wie wunderbar es doch wäre, die Frauen und Kinder der Shadow Command Agenten – sofern vorhanden – nach Cloudgarden zu holen. Die Einwände, welche Einschnitte dies in den Leben der Leute bedeuten würde, wischte er mit den Argumenten weg, dass die Väter und Mütter, die im Dienste Shadow Commands standen, diesen Schritt ja schon begangen wären. Zum Schluss versprach Sherilyn Stone, über diese Option nachzudenken, ihrer Crew zu offerieren, die Familienmitglieder auf einen fremden
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Planeten zu holen. »Die Sache hat natürlich einen Haken.« Simon war überrascht, diesen Satz von Major Stone, statt von Mel Quire zu hören. Er selbst, Ken Dra, die beiden Amazonen und sogar Lieutenant Harris horchten auf. »Ich kann nur für die Mitglieder Shadow Commands sprechen, die sich an Bord der FREEDOM befinden«, sagte Sherilyn. »Ich dachte, das wäre das gesamte Personal Ihrer Basis in der Mojave-Wüste.« »Das ist richtig, Doktor. Aber ... nun ja, es gibt mehr als nur dieses eine Shadow Command. Weitere Basen wie die unsere sollen quer über den Erdball verteilt existieren. Und ich habe nicht den blassesten Schimmer, wer sie koordiniert, wem sie unterstehen, wer im Hintergrund die Fäden zieht. Deshalb schickte ich eine Agentin aus, die genau das herausfinden soll. Allerdings hat sie sich bisher nicht gemeldet – und ich weiß nicht, wie ich sie erreichen kann.« Simon schluckte. »Das ist schon hart, Major. Ich hab einen Vertrag bei Ihnen unterschrieben, Sie erinnern sich? Ich weiß also nicht mal, woher ich meinen Sold bekomme, für wen ich hier eigentlich den Kopf hinhalte?« »Nehmen Sie's locker, McLaird«, meinte Sherilyn. »Sie sind genauso schlau, wie ich selbst.« Ken Dra erhob sich von seinem Platz. »Das ist doch nicht länger relevant. Shadow Command hin oder her, Ihre Leute, Stone, sind hier auf Cloudgarden. Sie dienen niemandem mehr, außer sich selbst. Wenn die Crew der FREEDOM und meinetwegen auch deren Familien auf Cloudgarden ein neues Zuhause finden, welche Verpflichtungen gegenüber Shadow Command haben Sie dann noch? Sie sind nicht auf die Organisation angewiesen. Nicht länger.« »Da hat er verdammt noch mal Recht, Major!«, rief Simon und schnippte laut mit den Fingern. »Sie brauchen keine Befehle mehr von anderen entgegen zu nehmen. Sie sind jetzt der Boss.« »Sie vergessen eines, McLaird«, warf Sherilyn ein. »Wir haben immerhin noch eine Verpflichtung gegenüber unserer Heimatwelt. Doktor Quires Hyperverzerrer in allen Ehren, aber ich traue dem Gerät nicht. Wir werden die Erde mit allen Mitteln schützen und zwangsläufig hin und wieder zu ihr zurückkehren. Der General sagte ... ich wäre ersetzbar und sie würden wissen, wo ich zu finden bin, falls ich nicht in ihrem Interesse handele.« »Der General?«, fragte Harris. »Sie haben ihn doch erschossen.« Sherilyn nickte. »Einen ... aber es gibt einen anderen. Ich weiß nicht, ganz gleich, was wir hier auf Cloudgarden planen, wir müssen die Erde und Shadow Command in diese Pläne einbeziehen. Die Organisation kann uns vielleicht auch helfen. Sie sagten selbst, Quire, dass Sie auf uns gewartet haben – aber wir sind wenige, gerade einmal dreitausend Mitglieder der Mojave-Basis. Vielleicht brauchen wir mehr Personal. Dann sollten wir auf Shadow Command nicht verzichten.« Quire gab ihr Recht. Er bat sie und Ken Dra, sich wieder zu setzen, ging mit gutem Beispiel voran und ließ sich in dem großen Thronsessel vor Kopf des Tisches nieder. Sie diskutierten gut zwei Stunden darüber, wie die Eingliederung Shadow Commands in das Cloudgardenprojekt durchgeführt werden könnte. Zum Schluss waren sie sich einig, dass die Natasha-Aspekte automatisch den Status von Shadow-Agenten erhielten. Diejenigen, die bisher mit Kommandoaufgaben betraut waren, wurden in den Offiziersstand erhoben. Die verschiedenen Aufgabenbereiche wie Medizin, Technik, Waffensysteme, Piloten, Wartungspersonal und so fort blieben erhalten. Mel Quire selbst forderte, als Kommandant des Stadtschiffes SABER eingesetzt zu bleiben. Zusammen mit seiner Ernennung zum Bürgermeister von Cloud City war dies die einzige Bedingung, die er stellte. Während des Briefings, das mittlerweile zu einer langen Konferenz ausartete, bestellten sie
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sich über den automatischen Nahrungsverteiler Speisen und Getränke. Nun machte auch McLaird nicht mehr Halt davor und orderte etwas. Die Besprechung dauerte bis in die späten Abendstunden an. Weit nach Sonnenuntergang hatten sie die wichtigsten Punkte, was Gesetzesstruktur und politisches System auf Cloudgarden betraf, geklärt. Sie waren sich einig darin, dass hier kein Militärstaat, sondern eine Demokratie entstehen sollte, auch wenn die Allianz von Cloudgarden aus einem militärischen Übel heraus Bestand hatte. Nachdem Mel Quire gegangen war, saßen die anderen noch einige Zeit vor ihren Getränken am Tisch und unterhielten sich über diverse Einzelheiten, die sie schriftlich festhielten. Die Natasha-Aspekte, die der Konferenz beigewohnt hatten und hohe Offiziere an Bord der anderen Stadtschiffe darstellten, beteiligten sich rege. Als sich dann auch diese Versammlung so nach und nach auflöste und jeder nur noch den Wunsch nach seinem Bett verspürte, war Simon beinahe der Letzte, der sich aus dem Konferenzraum entfernte. Nur Ken Dra und die Frau, die ihnen als Natasha Eins bekannt war, hielten sich noch mit ihm hier auf. Simon rieb sich müde über die Augen. »Ich glaub, wir sollten auch so langsam mal. Brauchen Sie keinen Schlaf?« »Doch, sicher«, sagte Natasha. »Aber wir kommen mit wesentlich weniger aus als sie. Sie haben jedoch Recht, es ist schon spät.« »Eine kleine Frage hab ich da noch.« »Ja?« »Als Doc Quire uns davon berichtete, wie er Cloudgarden gefunden und auf das Nullzeitwesen gestoßen ist, da sprach er von extremen atmosphärischen Bedingungen auf der Oberfläche. Von Stürmen ist jetzt aber nichts mehr zu sehen. Tagsüber ein friedliches Wolkenmeer, nachts ein ... äh ... galaxisklarer Himmel. Was ist passiert?« Natasha strich sich eine Strähne des langen, roten Haares aus dem Gesicht. »Ach das ... damals erfuhren wir vom Nullzeitwesen von den Gravitationspunkten auf diesem Planeten. Es gibt insgesamt 104 davon. Ja, Ihnen kommt diese Zahl bekannt vor. Unsere 104 Stadtschiffe sind exakt über diesen Gravitationspunkten ausgerichtet und kanalisieren die atmosphärischen Energien, sie saugen sie förmlich auf und wandeln sie in nutzbare Energie für die Schiffe selbst und für Cloud City um. So haben wir die jetzigen lebensfreundlichen Bedingungen auf Cloudgarden geschaffen.« »Sie meinen ...«, begann Simon, wurde jedoch sofort durch Ken Dra unterbrochen. »Aber das bedeutet ja, dass die Stadtschiffe nie als Flotte starten können!«, rief der Schwertträger überrascht aus. Natasha nickte betrübt. »Ja, das ist wahr. Wir können eins, maximal zwei Stadtschiffe gleichzeitig von den Gravitationspunkten entfernen, um das momentane Klima beizubehalten. Zögen wir mehr Schiffe ab, würden die Stürme wieder einsetzen und Cloudgarden in das Chaos stürzen, das es einmal war. Cloud City hätte vermutlich keine Überlebenschancen, wenn wir nicht starke Energieschilde hätten, die im Falle eines Kollapses die Stadt schützen.« Simon schüttelte den Kopf. Er hatte sich längst zum Gehen erhoben, ließ sich jetzt aber auf der Tischkante nieder. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Mel Quire absichtlich vergessen hatte, dieses kleine Detail zu erwähnen. Ihre Chancen gegen Scardeen schrumpften wieder auf ein Minimum, wenn sie lediglich zwei der gewaltigen Stadtschiffe effektiv einsetzen konnten. »Ich glaube, wir müssen mal ein dringendes Wörtchen mit dem Doc reden«, meinte er. »Aber morgen. Heute krieg ich nichts mehr in den Schädel.« Doch seine diesbezüglichen Sorgen wurden am nächsten Morgen erst einmal in den Hintergrund verdrängt, als der Alarm ihn weckte. Eine Kommunikationsboje hatte via Hyperfunk einen scardeenischen Flottenverband in der Nähe der Erde gemeldet. Φ
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Das Trommeln Sealdrics Finger auf der Armlehne seines Sessels machte Helen Dryer nervös. Sie hatte bereits mehrmals darum gebeten, sich von der Brücke der TORGUT entfernen zu dürfen, doch er hatte ihr den Wunsch verwehrt. Seit gut und gerne dreizehn Stunden warteten sie nun auf eine Nachricht der KATTHARG. Die Analysten hatten diverse Szenarien entworfen, was geschehen sein konnte, jedoch beinhaltete keines die Annahme, dass der Captain des Zerstörers auf eigene Faust den ersten Schlag gegen die Erde führen könnte, um den Ruhm zu ernten. Als Helen Dryer diese Alternative vorbrachte, hatte Sealdric sie eine Närrin genannt und ihr verboten, solch abstruse Behauptungen überhaupt in Betracht zu ziehen. Seine Schiffskapitäne wären ihm gegenüber absolut loyal und würden entsprechend ihrer Befehle handeln. Helen hatte dabei nur skeptisch die Stirn gerunzelt und lachte sich jetzt still ins Fäustchen, je mehr Zeit verstrich. Sie rechnete fest mit einer Nachricht über Hyperfunk, aber dazu musste die KATTHARG den Generator, der das Hyperverzerrungsfeld projizierte, finden und vernichten. Mit einer solchen Siegesmeldung würde der Captain der KATTHARG seinen Bewahrer Sealdric ziemlich dumm dastehen lassen. »Noch immer nichts?«, brummte Sealdric zwischendurch. Captain Bisam wandte sich an die Ortungs- und Kommunikationsstation, doch die Offiziere schüttelten nur mit dem Kopf. »Nein, Rasarah. Wir müssen davon ausgehen, dass Captain Arico bisher noch keinen Erfolg gehabt hat. Falls er die Erde findet, würde er sofort zu seinen Sprungkoordinaten zurückkehren und zu uns kommen.« »Ist es möglich, dass sein Hypersprung ebenfalls umgelenkt wurde?«, fragte der erste Offizier, ein schlaksiger Hüne, dem die graue Dienstuniform mehr schlecht als recht saß. »Möglich schon«, sagte Bisam, »aber dann hätte uns die KATTHARG via Hyperfunk kontaktiert. Dass sie es nicht tut bedeutet, dass sie sich innerhalb des Verzerrungsfeldes befinden muss.« »Wenn ich ...«, fing Helen an und sah sofort Sealdrics Hand hochschnellen, um ihr Einhalt zu gebieten, doch dann blickte er sie scharf an, schien es sich anders zu überlegen und nickte knapp. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, begann Helen von vorn. »Nur um alle Eventualitäten auszuschließen, könnte man doch ein kleineres Erkundungsboot hinterher schicken. Es soll zu dem Punkt springen, an dem die KATTHARG ausgetreten ist. Von dort könnte es auf Unterlichtfrequenzen versuchen, mit dem Zerstörer Kontakt aufzunehmen. Aufgrund der wesentlich geringeren Distanz zur KATTHARG wird man ohne nennenswerte Verzögerung eine Funkverbindung herstellen können. Sobald das Boot Antwort hat, springt es wieder zurück zur Flotte und erstattet Bericht.« Helen sah, wie sich Bisams Gesicht bei ihrem Vorschlag erhellte, doch als er Sealdrics Blick begegnete wurde er übergangslos Ernst und straffte sich. »Na schön«, sagte Seladric langsam. »Schicken Sie eines unserer Boote aus.« »Aye-aye, Rasarah!« Keine Stunde darauf war der Erkundungsraumer bereits wieder zurück. Er sprang gerade aus dem Hyperraum, als sich die Ereignisse überschlugen. Während die Kommstation einen eingehenden Funkspruch des Raumbootes meldete, riefen die Ortungsoffiziere etwas von einer Objektpeilung. »Unidentifiziertes Schiff aus dem Hyperraum ausgetreten!«, schrie jemand. »Die LURDIG meldet fremdes Objekt auf Koordinaten 75-03-68. Es ist noch zu weit entfernt für visuelle Erfassung, nähert sich nach den Sensoren jedoch mit hoher Geschwindigkeit der Flotte.« »Kann es die KATTHARG sein?« »Negativ!«, brüllte ein anderer Offizier von der Ortung. »Zu groß, viel zu groß!« »Verdammt, präzisieren Sie!«
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Der Erste Offizier trat an Sealdric heran und sprach so leise, dass nur der Bewahrer, Captain Bisam und Helen Dryer etwas verstehen konnten. »Unsere taktischen Sensoren haben das Objekt gescannt, Rasarah. Es besitzt eine Kreiselform und einen Durchmesser von über sieben Kilometern. Den Energieortungen nach verfügt es über genügend Feuerkraft, es mit unserer gesamten Flotte aufnehmen zu können.« »Was?«, stieß Sealdric hervor. Einer der Funker trat unaufgefordert an den Bewahrer heran und wedelte mit einer Datenfolie. »Rasarah, hier ist die eingegangene Meldung vom Erkundungsboot.« »Später!«, wehrte Sealdric ab und wollte den Mann fortscheuchen, doch Helens Hand schnellte vor und riss dem Mann die Folie einfach aus der Hand. Als sie einen Blick darauf warf, weiteten sich ihre Augen. »Das gibt es doch nicht. Das Boot hat einen Sublichtfunkspruch der KATTHARG aufgefangen, den wir hier wahrscheinlich erst in ein paar Wochen hereinbekommen hätten. Captain Arico meldet, totalen Schiffsverlust. Sie wurden von einem gigantischen Raumschiff und deren Jägergeschwader angegriffen.« »Dieses Schiff?«, fragte Captain Bisam und deutete hinter sich auf den Hauptschirm, obwohl dort noch nicht das Geringste zu sehen war. Helen schüttelte leicht den Kopf. »Das glaube ich nicht. Arico spricht von einem Raumer in Kuppelform mit knapp fünf Kilometern Durchmesser. Das Schiff, das wir geortet haben ist kreiselförmig und größer.« »Wir können hinterher immer noch rätseln, welches Schiff woher stammt und ob die beiden identisch sind oder von unterschiedlichen Fraktionen ausgesandt wurden«, warf Sealdric barsch ein. »Wichtig ist die Verteidigung unserer Schiffe.« Er drehte sich zu dem Funker um. »Flottenverbindung!« Der Mann schrak zusammen, nickte dann eifrig und kehrte zu seiner Station zurück. Kurz darauf gab er ein Zeichen, dass die Verbindung stand. Sealdric wandte sich an Bisam. »Captain, die Schlachtschiffe sollen ihre Energiewerfer auf das anfliegende Objekt ausrichten. Die Zerstörer unterstützen uns mit ihren Torpedos. Feuerbefehl abwarten!« Bisam bestätigte und drehte sich um, um die Befehle weiterzugeben. In diesem Moment zuckte ein greller Blitz vor den Panoramasichtfenstern der TORGUT auf. Einige Besatzungsmitglieder schlossen geblendet die Augen, ehe die automatische Tönung die transparente Titaniumlegierung verdunkelte. Kurz darauf erfasste ein leichtes Beben das Schlachtschiff und schüttelte es leicht durch. Hier und da fielen Crewmitglieder zu Boden und lose Gegenstände flogen über die Brücke. »Was war das?«, brüllte Sealdric. Seine Leute arbeiteten fieberhaft an den Konsolen und versuchten die Ursache des Blitzes und des Gravitationsbebens zu finden. Eine junge Frau an der taktischen Konsole blickte mit aschfahlem Gesicht hoch. Ihre Lippen teilten sich, doch sie brachte kein Wort hervor. Sie sackte ohnmächtig in sich zusammen. Statt ihr hoch zu helfen lehnte sich ein Offizier derselben Station über die Instrumente und las die Werte ab, die der Frau schlichtweg das Bewusstsein geraubt hatten. Auch er wurde bleich und brachte nur stotternd seine Meldung hervor. »Rasarah! Einer ... einer unserer Zerstörer ist ... er ist einfach explodiert!« »Schnell, Schirmansicht!«, rief der Bewahrer. Augenblicklich flimmerte der große Sichtschirm auf und zeigte ein Meer aus Explosionswolken und auseinander gesprengten Trümmerteilen. Von der Grundform des Zerstörers war nichts mehr zu erkennen. Was auch immer das Schiff getroffen hatte, es war dadurch praktisch zerrissen und wortwörtlich in tausend Stücke gesprengt worden. Ehe sich die Brückenbesatzung der TORGUT von dem Anblick erholen konnte, gleißten
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drei weitere Blitze durch das All. Gravimetrische Druckwellen ließen das Schlachtschiff erbeben. Diesmal wurde die TORGUT so heftig durchgeschüttelt, dass sich zwei Sitze aus ihren Verankerungen lösten und eine Monitorwand barst. Funkenregen stob auf eine wissenschaftlicher Station und deren Personal nieder, das eilig versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Helen hielt sich krampfhaft an der Sessellehne des Kommandositzes fest. Mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen und arbeitete sich bis zur Ortungsstation vor. Als die Erschütterungen nachließen, war sie am Pult und ließ sich in einen freien Sitz gleiten. Rasch überflog sie die eingehenden Daten auf den Displays und glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. »Meint Gott! Drei weitere Zerstörer sind auseinander gesprengt worden. Totaler Verlust, keine Schiffsstruktur mehr erkennbar, nur Trümmerteile.« »Völlig unmöglich!«, stieß Sealdric hervor, doch die Anzeige auf dem Hauptschirm belehrte ihn eines besseren. Drei Glutbälle standen an der Stelle des Weltraums, an der vorher noch ebenso viele Zerstörer weilten. »Können wir etwas anpeilen?«, rief Captain Bisam der Taktik zu. »Wir haben eine Energieortung, ausgehend von dem fremden Objekt.« »Auf diese Entfernung?«, kreischte Sealdric. »Welche Waffen kommen zum Einsatz?« Zwei weitere Blitze. Die TORGUT erzitterte. Ein Feuer brach an der Funkkonsole aus. Jemand schrie panisch auf. Irgendwo explodierte ein Terminal, und beißender Rauch stieg auf. Helen hielt die Luft an und wartete, bis die automatische Entlüftung den Qualm absog. Ihr Blick hing wie gebannt auf den Ortungsdisplays. Das fremde Kreiselschiff befand sich noch immer außerhalb der Reichweite ihrer Energiewerfer – und dennoch verfügte es über Waffen, die über diese Entfernung die Schilde der Zerstörer einfach durchschlugen, als existierten sie nicht. Schlimmer noch, sie vaporisierten gleich die über 650 Meter langen Schiffe, als wären sie nur Pappmaché. »Steuermann!«, blaffte Sealdric. »Kurs nach Scardeen setzen und auf mein Kommando in den Hyperraum springen. Captain Bisam, die LURDIG soll mit voller Kraft auf das fremde Objekt zufliegen und ihre Sensordaten an uns übermitteln. Ich muss wissen, um was für ein Schiff es sich dabei handelt.« »Aber das wäre glatter Selbstmord!«, rief Bisam bestürzt aus. »Die LURDIG hat Feuererlaubnis beim Anflug«, entgegnete Sealdric, als wäre damit alles gesagt. Helen sah an Bisams unverändertem Gesichtsausdruck, dass der Befehl dem Todesurteil des Schlachtschiffs gleich kam. Möglicherweise hielt die LURDIG dem unbekannten Angreifer länger stand, als ein Zerstörer. Vielleicht vermochte sie mit ihren Energiewerfern sogar Schaden anzurichten, aber auf sich allein gestellt war sie dem Sieben-Kilometer-Koloss einfach unterlegen. Die Außenkameras und Sensorenphalanx der LURDIG übertrugen die Daten des Anflugs direkt zur Brücke der TORGUT. Die Kreiselform des Unbekannten wuchs auf dem Hauptschirm beständig an, doch ein klares Bild sollten sie nie erhalten. Plötzlich schoss ein grüner Blitz auf die LURDIG zu. Von einem Moment auf den anderen wurde das Bild dunkel. »Sensorphalanx und sämtliche Kameras ausgefallen!«, rief ein Offizier. »Die LURDIG wird angegriffen, aber ihre Schilde halten noch.« »Na bitte, unsere Schlachtschiffe sind aus einem anderen Holz geschnitzt, als die Zerstörer, Captain Bisam«, sagte Sealdric mit einem zufriedenen Lächeln. Der Navigator schaltete die Bildübertragung auf Außenansicht bei maximaler Vergrößerung. Im Vordergrund war die eiförmige Konstruktion der LURDIG zu sehen, weit dahinter der gigantische Kreisel. Atemlos beobachtete die Brückencrew, wie ein zweiter gleißender Lichtblitz aus den Waffenrohren des Angreifers das Schlachtschiff traf. Dann ein dritter, der
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die Bugschilde durchschlug. Energiefinger züngelten über die Oberfläche der LURDIG. Hier und dort stoben Explosionswolken auf, als Kommandotürme und Energieverteiler von den Energien erfasst wurden. Der vierte Blitz brannte sich regelrecht durch den Leib des Schlachtschiffs und sprengte es von innen heraus auseinander. Die LURDIG verging in einer schillernden Detonation, die für mehrere Sekunden eine kleine Sonne im All entstehen ließ, ehe Flammen vom Vakuum erstickt und Explosionsherde ihre Energien vergeudet hatten. Von dem riesigen Schlachtschiff waren nur noch Trümmerteile übrig, von denen kaum eins größer als eine menschliche Hand war. »Das ...« Sealdric sog scharf die Luft ein. Ein weiterer Energiestoß vernichtete ohne Vorwarnung den letzten Zerstörer. »Kurs nach Scardeen ist eingegeben«, verkündete der Navigator in diesem Augenblick. »Wir sind sprungbereit, Rasarah«, fügte der Steuermann hinzu. Helen sah, wie Sealdrics Finger sich in den Armlehnen seines Sessels verkrampften. Sein Augäpfel waren unnatürlich weit aus ihren Höhlen hervorgetreten. Für ihn musste die Zerstörung eines Schlachtschiffes einen heftigen Schlag unter die Gürtellinie darstellen. Soweit Helen wusste, hatte es bisher nichts gegeben, was der Macht eines scardeenischen Schlachtschiffes etwas entgegenzusetzen hatte. Für Sealdric musste gerade das Weltbild des unangreifbaren Scardeenischen Reichs erschüttert werden. »Der Feind nähert sich weiter«, rief der Erste Offizier. »Wir bekommen jetzt eine Vergrößerung auf den Schirm.« Kaum, dass die Ansicht herangezoomt worden war, spie der Koloss eine weitere, schnelle Blitzfolge tödlichen Grüns aus seinen Waffensystemen aus und vernichtete das Schlachtschiff AASSUM auf die gleiche Art und Weise wie zuvor die LURDIG. Nur winzige Trümmerwolken blieben von dem Raumer übrig. »Hypersprung!«, keuchte Sealdric. »Schnell, Steuermann, bringen Sie uns raus hier!« Der Angesprochene bestätigte und führte den Befehl aus. Die TORGUT beschleunigte. Ihre Schwesterschiffe folgten. Helen Dryer behielt die taktischen Displays im Auge. Während die drei Schlachtraumer Fahrt aufnahmen, näherte sich das Kreiselschiff beständig und spie seine todbringenden, grünen Strahlen aus. Die Schilde der SAMHOG glühten auf, als sie versuchten den Ansturm an Energien zu absorbieren. Weitere Blitze prasselten auf den Rumpf. »Sprunggeschwindigkeit!«, verkündete der Steuermann. Im selben Augenblick flimmerten die Monitore kurz. Zeigten sie vorher noch den leeren Raum und das angreifende Kreiselschiff, so war jetzt in der Ferne die Hauptwelt Scardeens zu sehen. Die taktischen Sensoren zeigten nur ein weiteres Schiff an, das zusammen mit der TORGUT den Hyperraum verlassen hatte. Es war die MAGIRUNA. »Rasarah Sealdric, wir haben keine Spur von der SAMHOG«, meldete die Ortung. »Sie ist nicht mit uns gesprungen.« »Der Kreiselraumer hat sie vernichtet«, behauptete Helen. Sealdric schlug wütend auf die Armlehne seines Sessels und sprang auf. Im ersten Moment sah es so aus, als würde er sich auf das nächst beste Mannschaftsmitglied stürzen, um es zu verprügeln, doch kurz vor dem Ersten Offizier seines Flaggschiffs machte er Halt und bezähmte seinen Zorn zumindest dem äußeren Anschein nach. Helen fühlte förmlich, dass er innerlich kochte. »Was nun?«, fragte sie vorsichtig nach. Sealdric wandte sich zu ihr um. Seine Miene war finster, aber Helen hielt seinem Blick stand, obwohl er ihr durch Mark und Bein ging. »Ich muss dem Rat Bericht erstatten. Es ist unvorstellbar, dass es eine Macht in diesem
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Bereich der Galaxis gibt, von der wir nichts wussten und die unseren Schlachtschiffen gewachsen ist.« »So ein Schiff habe ich noch nie zuvor gesehen, Bewahrer«, sagte Captain Bisam. »Vielleicht stammt es aus einem anderen Spiralarm oder einem der Sternhaufen.« »Ganz gleich, woher es kommt«, meinte Sealdric, »wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es auch das scardeenische Reich angreifen könnte. Und wenn noch mehr von der Sorte existieren ...« Er vollendete den Satz nicht, sondern wandte sich zum Gehen. »Ich gehe nicht davon aus, dass das Kreiselschiff die KATTHARG vernichtet hat«, rief Helen ihm hinterher. »Im Funkspruch war von einem Kuppelraumer die Rede. Besser, du erwähnst das auch.« »Das lass meine Sorge sein«, fauchte Sealdric. »Wenn ich zurück an Bord komme, will ich dich nicht mehr sehen. Captain Bisam, sorgen Sie dafür, dass diese Frau mit dem nächsten Shuttle nach Scardeen gebracht wird. Geben Sie ihr etwas Geld und besorgen Sie ihr eine Unterkunft.« Helen schnappte nach Luft. Sie wollte protestieren, doch Sealdric war bereits über die Schwelle des sich öffnenden Schotts getreten. Vermutlich war es ohnehin das Beste, das ihr passieren konnte. Sealdric traute ihr wegen ihres Doppelverrats nicht, auch wenn sie ihn letztendlich befreit und ihm das Leben gerettet hatte. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum er sie nicht töten ließ, auch wenn er vor ein paar Stunden noch davon geredet hatte, ihr eventuell einen Posten an Bord der TORGUT zu verschaffen. Sie musste wohl oder übel sein Angebot annehmen und sich vorerst auf Scardeen niederlassen. »Tut mir leid«, sagte Captain Bisam neben ihr. »Sie hatten einige gute Ideen da draußen.« »Danke.« »Ich würde Sie gerne als Offizier an Bord meines Schiffes haben, aber der Bewahrer hat anders entschieden. Schade drum.« »Es ist eine ... sagen wir persönliche Sache zwischen ihm und mir«, erklärte Helen. »Ich werde ein paar Sachen aus meinem Quartier zusammensuchen und dann im Hangar auf meinen Abflug warten.« Bisam nickte. »Machen Sie es gut.« Helen verließ die Brücke mit gemischten Gefühlen. Sie wusste nicht, was sie auf Scardeen erwartete. Der Planet war die erste fremde Welt, die sie betrat. Bisher hatte sie sich nur an Bord von Sealdrics Schiffen aufgehalten. Sicherlich gab es das Eine oder Andere zu entdecken, aber wie lange würde das Geld, das Sealdric ihr zur Verfügung stellte, reichen? Früher oder später musste sie sich einen Job suchen, um sich über Wasser zu halten. Ihr Aufenthalt auf Scardeen würde alles andere als ein Touristenausflug auf einen fremden Planeten werden. Φ Als sich das Stadtschiff DEVIL'S EYE wieder auf Cloudgarden zurückmeldete, erhob sich Mel Quire vom Befehlssitz auf der Flugschreibe, die mitten in der Brücke der SABER schwebte, und lehnte sich über das Geländer. »Mel?«, fragte einer der beiden Natasha-Aspekte, die vor den Kontrollen saßen. »Ist dir nicht gut?« »Alles in Ordnung«, gab er zurück. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass niemand von Shadow Command hier herumstreunt. Die müssen nicht gleich alles erfahren.« Die Frau nickte knapp und wandte sich wieder ihrer Konsole zu. Quire kehrte zum Sessel zurück und ließ sich einfach in die Polster fallen. Dann aktivierte er den Komm-Kanal zur DEVIL'S EYE und legte das Gespräch auf seinen kleinen persönlichen Monitor direkt neben dem Sessel. Das Gesicht von Natasha Eins erschien auf dem Schirm. 134
»Ist alles glatt gelaufen?«, fragte Quire. »Irgendwelche Verluste?« »Keine auf unserer Seite. Wir haben die scardeenische Flotte überrascht und sieben ihrer Zerstörer und drei Schlachtschiffe vernichtet, ehe die restlichen beiden Schlachtschiffe in den Hyperraum entkommen konnten.« »Sehr gute Arbeit«, gratulierte Quire. »Die wissen nicht, was sie getroffen hat und werden sich so schnell nicht mehr in der Nähe der Erde blicken lassen. Aber wieso sieben Zerstörer? Wir haben doch acht geortet.« »Bevor wir angriffen, haben wir einen Funkspruch von einem Erkundungsboot an das Mutterschiff abgefangen. Offensichtlich hat einer der Zerstörer versucht, die Erde mit Unterlichtgeschwindigkeit zu erreichen und ist von einem unbekannten Angreifer vernichtet worden.« »Unbekannter Angreifer?«, echote Quire fassungslos. »Aber wer könnte einen scardeenischen Zerstörer vernichtet haben? Die FREEDOM war doch hier und keine Macht der Erde ...« »Im Funkspruch wurde ein Kuppelschiff mit einem Durchmesser von fünf Kilometern erwähnt«, unterbrach Natasha ihn. »Und diskusförmige Raumjäger.« Quire schürzte die Lippen. Außer Scardeen war ihm im hiesigen Sektor des Alls keine andere Fraktion bekannt, die nicht dem Reich angehörte – und schon keine, die derartige Schiffe konstruierte und die Scardeener angriff. Sie mussten es hier mit einer völlig neuen Gruppierung zu tun haben, möglicherweise sogar mit einer anderen Intelligenz. Dass der Kuppelraumer den Zerstörer vernichtet hatte, bedeutete nicht notwendigerweise, dass sie der Erde freundlich gesonnen waren. Er fragte sich nur, warum das Gerät, das er zusammen mit dem Hyperverzerrer am Südpol platziert hatte, nicht die Ankunft eines fremden Raumschiffs in Erdnähe gemeldet hatte. Quire entschied sich, Patrouillenflüge Richtung Erde zu schicken, um weiterhin nach dem Rechten zu sehen. Doch davon brauchten Major Stone und ihre Leute von Shadow Command vorerst nichts zu wissen. Sie würden sich nur unnötige Sorgen um ihre Heimat machen und versuchen, dorthin zurückzukehren. Er brauchte sie aber hier. »Ich lasse das analysieren, Natasha«, sagte Mel und verabschiedete sich von der Frau. Φ Simon McLaird stand allein auf einer der Aussichtsplattformen auf der SABER. Er wäre zu gerne bei dem Einsatz in sein Heimatsonnensystem dabei gewesen, doch Mel Quire hielt es für besser, die Menschen der Erde vorerst da herauszuhalten und nur eine Crew der Aspekte mit einem Stadtschiff zu schicken. Der alte Wissenschaftler hatte am frühen Abend bestätigt, dass die scardeenischen Schiffe entweder vernichtet oder vertrieben worden seien. Die Aufzeichnungen, die Quire den Shadow-Command-Mitgliedern vorführte, sprachen für sich. Sealdrics Flotte hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Doch Simon teilte nicht Quires Optimismus, dass sich die Scardeener aufgrund dieses Vorfalls vorerst nicht mehr um die Erde reißen würden. Er wusste von Kardina, wie groß das Reich des Wissenschaftsrats war, über welches Potenzial seine Flotte verfügte – ein Stadtschiff allein, mit dem Überraschungsmoment auf seiner Seite, hatte vielleicht sieben Zerstörer und drei Schlachtschiffe mit Leichtigkeit zerstören können, aber der fünf- oder gar zehnfachen Übermacht würden sich auch die Riesenschiffe Quires beugen müssen. Zumal nur zwei der Giganten gleichzeitig die Atmosphäre verlassen konnten, wenn Cloudgarden nicht wieder im Chaos versinken sollte. Wir werden noch hart an den Plänen arbeiten müssen, wenn wir Scardeen die Stirn bieten wollen, dachte Simon, während er sich aufs Geländer stützte und in den Himmel blickte, in dem sich die Wolkenformationen nach und nach verflüchtigten. Ein kühler Wind umwehte ihn. Er fröstelte leicht. Trotzdem dachte er nicht daran, wieder hineinzugehen, weil er sich an diesem Abend vorgenommen hatte, das Naturschauspiel des Sonnenuntergangs zu genießen. Der blaue Stern stand tief am Horizont und schickte seine letzten Strahlen durch die 135
Wolken. Ein einzelnes Skybike – ein fliegendes Motorrad – flog das Stadtschiff an und landete ein paar Decks unter Simons Standort auf einer Hangarplattform. Von einem Moment auf den anderen verschwand die Sonne am Himmel, und es wurde rapide dunkel. Die Außenlichter des Stadtschiffes und das Leuchten hinter den Fenstern von Quartieren schienen einfach von der Finsternis verschluckt zu werden. Simon sah um sich herum nur Schwärze. Es wurde kälter. Dennoch harrte er geduldig aus und beobachtete den dunklen Rand des Horizonts, den er mit bloßem Auge kaum sehen konnte. Sein Warten wurde belohnt. Ein feiner Lichtschein schob sich am Firmament empor. Zuerst war nur ein dünnes Band zu sehen, das aber von Minute zu Minute breiter und heller wurde, bis ein Spiralarm der Milchstraße darin zu erkennen war. Myriaden von Sternen schoben sich langsam über den Horizont. Dann folgte ein zweiter Arm, ein dritter – bis schließlich der gesamte Sternenhaufen mit seinen über hundert Milliarden Sonnen am Nachthimmel über Cloudgarden stand. Ein Gleißen und Funkeln ließ die Galaxis wie ein Juwel erstrahlen. Das Licht der Welteninsel tauchte die Atmosphäre Cloudgardens in einen bläulichen Glanz, der es zwar nicht taghell werden ließ, aber ausreichend Licht spendete, um genügend sehen zu können. »Überwältigend, nicht wahr?« Eine Hand legte sich auf Simons Schulter. Er drehte sich zur Seite, wo Sherilyn Stone neben ihn getreten war. »Ja ... einfach atemberaubend«, sagte McLaird. »Ein schöner Anblick.« Sie standen eine Weile einfach da und betrachteten die ferne Milchstraße, die langsam über das Firmament kroch. »Woran denken Sie, Simon?«, fragte Sherilyn irgendwann. »An alles Mögliche«, antwortete er. »Aber auch an Jee A Maru. Sie ist jetzt irgendwo da draußen auf DUST.« Er hob einen Finger und deutete auf einen unbestimmten Punkt der Galaxis. »Sie ... mögen sie«, stellte Sherilyn fest. Simon seufzte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Die Kälte ließ ihn zittern. Er sah, dass auch Stone fror. Spontan zog er seine Uniformjacke aus, legte sie über ihre Schultern. Sherilyn schenkte ihm einen dankbaren Blick. Sie sahen sich eine Zeitlang an. Schließlich wanderten Simons Augen wieder zur aufgehenden Galaxis. Sherilyn, dachte er und fragte sich, warum ihr Name plötzlich so deutlich in seinem Kopf stand. Warum er ihn nicht mehr wegdenken konnte ... Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, sah sie verstört an. Sherilyn senkte die Lider und schaute auf ihre Fußspitzen. »Jee A Maru ist eine gute Freundin«, sagte er dann. »Sie hat mich aus dem trostlosen, irdischen Alltag in eine neue Welt entführt. So gesehen, schulde ich ihr meinen ewigen Dank. Das hier ist das, was ich mir ein Leben lang erträumt habe.« Wieder der lange Blick, der ihn förmlich elektrisierte. Sherilyns Name hämmerte in seinem Kopf, jagte ihm wohlige Schauer über den Rücken. Warum war er auf einmal so nervös? Als er sah, wie sie noch immer zitterte, legte er scheu einen Arm um Sherilyn und zog sie sanft zu sich heran. Ohne Gegenwehr schmiegte sich die Frau an ihn. Gemeinsam betrachteten Sie die Welteninsel und gingen erst ins Innere des Stadtschiffs zurück, als sie halb durchgefroren waren.
ENDE
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DUST erscheint bei story2go Verlag Thomas Knip, Pestalozzistr. 57A, 10627 Berlin. © Copyright 2009 der eBook-Ausgabe bei story2go. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Verlag gestattet. Cover: Thomas Knip Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
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Glossar Amazonen Gruppe von weiblichen Assassinen auf der Welt Mazoni Angel Eigenname des Natasha-Aspekts NAT 6-Omega. Aspekte menschliche Klone von Natasha Quire. Bewahrer Angehöriger eines scardeenischen Ordens, vergleichbar dem irdischen Rittertum. Bisam Scardeenischer Captain an Bord der TORGUT. Bluebook geheimes Projekt der U.S. Air Force für UFO-Sichtungen. Candy Bedienung in Tom's Inn in Golden, Colorado. Chalendur Stern im Agares-Sektor. Irdische Bezeichnung Scheratan, fünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt. CIA Central Intelligence Agency. Amerikanischer Geheimdienst, 1947 von Präsident Truman gegründet und nur dem jeweilige US-Präsidenten gegenüber verantwortlich. Cloud City Die Ewige Stadt auf der Eisoberfläche Cloudgardens. Cloudgarden Eiswelt außerhalb der galaktischen Ekliptik. Sitz der Allianz von Cloudgarden. Cord, Pamela stellvertretende Leiterin des United States Secret Service. Dai Urshar Senekar Tarmalis sagenumwobener Planet der Drahusem. Von Simon McLaird nur DUST abgekürzt. Deighan, Pete Stellvertretender Direktor des FBI Dondronium Wahrheitsdroge.
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Drahusem ausgerottetes Volk des Planeten Prissaria. Die letzten Drahusem sind Ken Dra und Jee A Maru. Dryer, Helen Ehemalige CIA-Agentin. Jetzt Bewahrerin der Scardeener. DUST McLaird Abkürzung des Planeten Dai Urshar Senekar Tarmalis Fassiet Stern im äußeren Spiralarm der Milchstraße. FBI Federal Bureau of Intelligence. Amerikanische Bundespolizei. Foster, Henry Freund Simon McLairds, von Shadow Command getötet. FREEDOM früheres scardeenisches Schlachtschiff namens SENSOR. Von Shadow Command gekapert und umbenannt. Garijos-Spacelines drittgrößte Raumfluggesellschaft im Scardeenischen Reich. Garik, Tina Corporal von Shadow Command. General Anführer Shadow Commands. Ghost Card Kreditkarte aus hohen Regierungskreisen der USA. Gernah Asteroid in der Nähe von Prissaria. Hier befand sich die Weihestätte der Schwertträger. Gossett, Paul ehemaliger CIA- und Shadow Command-Agent. Geriet in die Fänge von Marshal Ian. Gussara Wüstenplanet in den Randzonen. Habrice Captain eines Postschiffs. Hannigan, Eileen Lieutenant bei Shadow Command.
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Harris, Sean First Lieutenant bei Shadow Command. Henderson Admiral im Pentagon. Hogas-Bakterien Killerbakterien. Löschten alles Leben auf Prissaria aus. Hurley, Jeremiah E-Mail-Freund McLairds, der zu Marshal Ians Volk gehört. Hyperraum übergeordnetes Kontinuum, das den zeitlosen Flug zwischen zwei Punkten im All ermöglicht. Ian Marshal. Jee A Maru letzte weibliche Angehörige der Drahusem. Schwertträgerin und nun Adeptin der Pyramidenwächter. Joey ein Kumpel McLairds und Nashs. Jones, Ben Sergeant bei Shadow Command. Kardina junge Amazone, die Shadow Command unterstützt. Findet in Mel Quire ihren Vater wieder. Ken Dra letzter männlicher Angehöriger des Drahusem-Volkes. Schwertträger. Korana IV Scardeenische Welt, berüchtigt für ihren Sklavenmarkt. Kor'sen LaMal Erster Vorsitzender des Ur-Wissenschaftsrates auf Scardeen. Begründer der Technokratie im Scardeenischen Reich Kossik Planet im Randsektor des Scardeenischen Reiches. Lasaria gegenwärtige Königin der Amazon auf Mazoni.
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Liz Deputy Marshal von Marshal Ian. Lodge, Harvey Wirt eines Pubs in Cloud City. Lucas, Mitch Corporal bei Shadow Command. Mazoni ein Waldplanet. Heimatwelt der Amazonen. McLaird, Simon Thomas Held wider Willen. Gerät unabsichtlich in den galaktischen Konflikt zwischen Scardeen und den Drahusem. Mossar Verbales Kommando zum Aktivieren des Schwerts der Schwertträger Mossar-re Verbaler Befehl, um das Schwert eines Schwertträgers zu deaktivieren. Nash, Calvin Freund von Simon McLaird. Wurde von NSA-Agenten getötet. Nash, Harriet Ehefrau von Calvin Nash. Von der NSA ermordet. Nasuut Industrieplanet der Scardeener. Natasha 1 Erster Aspekt, der aus der Nullsphäre geboren wurde. Stellvertreterin Mel Quires. Natasha 3 Aspekt der wissenschaftlichen Abteilung. Natasha 12 Sekretärin Mel Quires. Natasha 2-B Brückenoffizierin an Bord der DEVIL'S EYE Natasha 6-Omega von Sean Harris fast getötet, mittlerweile sind sie gute Freunde. Wird von Harris liebevoll Angel genannt. Nullsphäre Zeitlose, mehrere Lichtjahre durchmessende Blase auf Cloudgarden.
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NSA National Security Agency – innerstaatlicher Geheimdienst der Vereinigten Staaten mit Hauptsitz in Fort Meade, Virginia. O'Roarke, Craig Stellvertretender CIA-Direktor O'Ryan, Linda Corporal bei Shadow Command Phi 21. Buchstabe des griechischen Alphabets und das Symbol der Organisation Shadow Command. Prissaria Vierter Planet des Zerum-Systems, frühere Heimat des ausgerotteten Volkes der Drahusem. Preston Lieutenant an Bord der DEVIL'S EYE. Pyramiden Die geheimnisvollen Bauwerke finden sich nicht nur auf der Erde wieder. Quire, Hal Sohn von Mel und Natasha Quire. Quire, Mel Wissenschaftler, der Cloudgarden entdeckte. Quire, Natasha Ehefrau Mel Quires, verstarb in der Nullzeit. Rasarah Scardeenische Bezeichnung für Bewahrer. Ri'ta Alte religiöse Lehre der Drahusem. Rem Ko Schwertträger. Wird bei der Verseuchung Prissarias durch die Hogas-Bakterien getötet. Scardeen Zentralwelt des Scardeenischen Reiches. Schwertträger Das Gegenstück der scardeenischen Bewahrer. Ein Ritter Prissarias. Sealdric Bewahrer und Ratsmitglied des scardeenischen Wissenschaftsrates.
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SENSOR früheres Flaggschiff Sealdrics. Shadow Command Geheime Organisation, die außerirdischer Technologie hinterher jagt. Die eigentlichen Drahtzieher sind unbekannt. SOLARIA McLairds Raumjacht. Solarion-Torpedos Raumgeschosse mit enormer Sprengkraft. Stone, Sherilyn Major von Shadow Command. Tanya Amazonenprinzessin. Formelle Tochter Königin Lasarias. Tennard, Luis Sergeant bei Shadow Command. Stirbt auf Maisuht bei der Befreiung von Hal Quire. Thorne, Harry Executive Operations Agent bei der NSA. Übersetzungsring fängt Gedankenmuster auf und übersetzt sie für den Träger in verständliche Sprache. USSS United States Secret Service. Von Abraham Lincoln ins Leben gerufener Geheimdienst, der sich heute um den Schutz des Präsidenten, der Kongressabgeordneten und Falschgeldverbrechen kümmert. Wright Patterson Stützpunkt der U.S. Air Force zu dem angeblich die Überreste eines in der Mojave-Wüste abgestürzten UFOs gebracht wurden. Wyman, Karen Second Lieutenant bei Shadow Command.
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