Helen Perkins Band 4
Die Gefangene in der Abtei von Helen Perkins Ihre Herkunft war ein Rätsel - ihre Schönheit einzi...
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Helen Perkins Band 4
Die Gefangene in der Abtei von Helen Perkins Ihre Herkunft war ein Rätsel - ihre Schönheit einzigartig.
Es war eine stürmische Herbstnacht im Jahre 1650, in der die Kü chenmagd Cecil nicht schlafen konnte. Der Herbstwind grollte und stöhnte, pfiff um die Ecken von Fulton-Castel, griff mit kalten, unsicht baren Händen in die kahlen Kronen der Pappeln und Espen, die nahe dem Burggraben hoch aufragten und brachte scheinbar jeden Balken und jede Steinmauer innerhalb des mächtigen mittelalterlichen Ge mäuers zum Vibrieren. Immer wieder strich ein unheimlicher Hauch über das runde Gesicht des einfachen Mädchens, das schon auf Ful ton-Castle, nahe Edinburgh, geboren worden war und hinderte Cecil am Einschlafen. Das einfältige Ding malte sich allerlei Gruseliges aus, während es in seiner kleinen Kammer auf der mit Stroh gefüllten Bett statt lag und die vom Sturm gepeitschten dunklen Regenwolken an dem hohen vergitterten Fenster vorbei fliegen sah. Sicher waren dies Dämonen des Windes, oder vielleicht sogar der Teufel höchstpersön lich, der auf der Suche nach verlorenen Seelen durch den Nachtwind ritt. Cecil stöhnte bei diesem Gedanken gequält auf. Wie gerne hätte sie den Kerzenstummel neben ihrem Bett in Brand gesteckt, um zu mindest den hauchdünnen Trost der gelblichen Flamme zu spüren. Doch Mrs. Halloway, die strenge Köchin, würde sie mit dem Stock trak tieren, wenn herauskam, dass sie mitten in der Nacht Licht angemacht hatte, anstatt zu schlafen. Cecil hätte viel darum gegeben, endlich schlafen zu können. Das fünfzehnjährige Mädchen, uneheliche Tochter einer Magd aus dem Schloss und eines Bauern aus der Umgebung, hatte von klein auf in der Küche von Fulton-Castle kräftig mit anpacken müssen. Die Herr schaft war mildtätig, kein Kind, woher es auch stammte oder wie zwei felhaft seine Herkunft sein mochte, wurde einfach seinem Schicksal überlassen. Lord und Lady Thornton waren vornehme Menschen mit einer eben solchen Gesinnung. Doch ihr Edelmut kannte durchaus auch Grenzen. Denn sie dachten nicht daran, diese Kinder aus reiner Milde aufzuziehen. Sie mussten arbeiten, sobald sie konnten, sich ih ren Lebensunterhalt selbst verdienen. So war es auch Cecil ergangen. Ihren Vater kannte sie nicht und die Mutter kümmerte sich kaum um sie. Sie war bald sich selbst überlassen gewesen und hatte sich dem strengen Regiment der Köchin unterordnen gelernt. Bis ihr dies ge 4
lungen war, hatte es viele Hiebe gehagelt. Aber mittlerweile stellte die Küchenmagd sich recht geschickt an, war fleißig und tat folgsam, was Mrs. Halloway ihr anschaffte. Am Abend eines jeden Tages fühlte Cecil sich allerdings nur noch müde und ausgelaugt. Dann fiel sie wie ein Stein in ihr einfaches Bett und war meist im gleichen Moment eingeschlafen. Dass dies ausge rechnet in dieser Nacht nicht funktionierte, ärgerte das Madchen sehr. Denn der nächste Tag war ein Sonntag. Und da gab es in der Küche stets besonders viel zu tun. Die Köchin würde sie schelten, wenn sie aus Übermüdung einen Fehler machte. Und vermutlich bekam sie dann auch wieder den Stock zu spüren. Bei diesem Gedanken zuckte Cecil leicht zusammen. Wie schön wäre es, nicht mehr geschlagen zu wer den, ganz in Ruhe seine Arbeit tun zu können und... Die Gedankenkette der Magd riss ab, als sich in das monotone Heulen des Windes ein anderer Laut mischte. Etwas, das in der Stille und feuchten Kälte der Herbstnacht nicht das Geringste zu suchen hatte. Und doch war es da. Cecil lauschte angestrengt. Hatte sie sich getäuscht, war es nur Einbildung, hatte sie vielleicht sogar geschlafen, ohne es zu merken, oder... Sie hielt automatisch den Atem an, um ganz genau lauschen zu können. Und da war es wieder. Ein jammer volles, hohles Wimmern, von Mauern und Gängen seltsam verzerrt, entstellt und kaum noch als das zu erkennen, was es in Wirklichkeit war: das Weinen eines Kindes. Doch Cecil kannte diesen Laut nur zu gut. Wenn sie im Dorf Lebensmittel holen musste, schallte er ihr aus jeder Kate, jeder Hütte entgegen, das hungrige, hoffnungslose Weinen der Kinder, die nie genug zu essen bekamen, weil ihre Eltern es kaum schafften, sich selbst bei Kräften zu halten. Die Landbevölkerung in diesem Teil von Schottland war arm, im mer arm gewesen. Und Cecil konnte sich nicht vorstellen, dass dies jemals anders werden würde. Doch darüber machte sie sich mo mentan keine weiteren Gedanken. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt dem Geschrei des Kindes, das ganz offensichtlich vor dem Burgtor nach Hilfe rief. Es waren aber keine verständlichen Worte, es war nicht das Jammern eines Menschen, der schon über Sprache und Verstand verfügte. Die Küchenmagd fuhr leicht zusammen, als sie begriff, dass 5
so nur ein Baby schrie. Und das konnte nur eines bedeuten: Jemand hatte das Kind vor dem Schloss ausgesetzt, in der Hoffnung, dass es hier Aufnahme, Nahrung und Wärme, kurzum die Rettung vor dem si cheren Tod finden würde, der ihm in dieser Sturmnacht dort draußen ganz allein drohte. Cecil biss sich auf die Lippen. Was sollte sie tun? Mrs. Halloway wecken? Sie schlief nur zwei Türen weiter. Aber gewiss würde die Kö chin es sehr übel nehmen, wenn man sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss. Während das Mädchen noch überlegte, steigerte sich das Weinen des verlassenen Kindes zu einem erbarmungswürdigen Dis kant. Es hallte Cecil in den Ohren und ihr einfaches, aber gutes Herz erinnerte sich daran, dass sie selbst hier einst Aufnahme und Fürsorge gefunden hatte. Da zögerte sie nicht länger. Rasch kleidete sie sich an, warf noch ein wollenes Tuch um ihre Schultern, denn die Herbstnächte in Midlothian waren schon empfindlich kühl, vor allem, wenn der Wind von Nord her wehte und tappte dann etwas unbeholfen über den Steinboden ihrer Kammer zur Tür. Diese ließ sich nur mit einem lang gezogenen Quietschen öffnen. Cecil hoffte sehr, dass Mrs. Halloway nicht schon von diesem Geräusch geweckt wurde. Doch gerade als sie an dem einfachen Eisenring zog, der die Tür bewegte, brauste der Sturm besonders laut durch den Burggraben, schüttelte die Bäume und rüttelte am Tor. So wurden alle Geräusche, die das Mädchen ver ursachte, sicher überdeckt. Cecil traute sich nicht, einen der Kerzenständer zu nehmen, die auf dem Gang standen, um den Weg zu erleuchten. Für die Kerzen hier galt das gleiche wie für die in ihrer Kammer. Nur Mrs. Halloway oder eines der Stubenmädchen durften sie benutzen, um zu Beginn ihrer Arbeit einen Raum zu erhellen oder einen Ofen in Gang zu set zen. Cecil fürchtete sich davor, den langen dunklen Gang bis zur Trep pe ganz allein hinter sich zu bringen. Denn wenn sie das geschafft hatte, musste sie noch einen Fußweg von beinahe zehn Minuten be wältigen, um zum Burgtor zu gelangen. Zwischen den hohen Stein wänden seufzte und stöhnte es unheimlich, der Sturm fand durch die Ritzen und Unebenheiten im Fels hindurch und sorgte auch drinnen für 6
manch kalten Zug, den das einsame Mädchen in seiner angsterfüllten Einfalt durchaus für einen bösen Spuk hielt. Doch obwohl Cecil am liebsten in ihre Kammer zurückgekehrt wä re, dachte sie an das Weinen des Kindes und nahm ihr Herz in beide Hände, als sie so schnell sie konnte den Gang hinter sich ließ. Keu chend und völlig außer Atem erreichte sie den Burghof. Der Nachtwind fuhr ihr mit kalten, eisigen Fingern durchs Haar und ließ die Magd schaudern. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, mitten in der Nacht hierher zu kommen? Und was sollte sie überhaupt tun, wenn vor dem Burgtor tatsächlich ein Findelkind lag? Sie überlegte krampfhaft, ohne zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen und beschloss, erst einmal nachzusehen. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt, vielleicht hatte der Sturm ihr bloß einen Streich gespielt... Cecil hoffte es beinahe, als sie sich dem Burgtor näherte. In den mächtigen, mehrere Meter hohen Toren, die aus massiven Eichebalken bestanden, befanden sich auch kleinere Durchgänge, eben hoch genug für einen Menschen. Diese wurden nach Sonnenuntergang benutzt, wenn die großen Tore geschlossen waren. Das Küchenmädchen traute sich kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Sturm zerr te an ihren Haaren und ihrem Wollschal, ließ sie frösteln und zugleich war es Cecil, als liege in diesem Sturm etwas Unheimliches. Als sie gerade ihre Hand nach dem Knauf ausstrecken wollte, fing das Baby auf der anderen Seite des Tors wieder an zu weinen. Dieser Laut, plötzlich so nah und zugleich Mitleid erregend, gab den Ausschlag, dass Cecil die Tür öffnete. Hektisch schaute sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Vor dem Tor lag der Burggraben, über den eine steinerne Brücke führte. Zu beiden Seiten wurde das Wasser des Grabens vom Sturm aufgewühlt, so dass es beinahe aussah wie ein reißender Fluss. Dahinter rauschte der Tannenwald. Dunkel, unheim lich drohend erschien Cecil diese hohe Mauer aus Bäumen. Sie wollte die Tür gerade wieder schließen, denn sie konnte das Kind nirgends ausmachen, als der Sturm die schweren Wolken zerriss und ein Strei fen bleichen, silbernen Mondlichts zur Erde schickte. Und da sah das Mädchen das Baby. Es lag, ganz nah am Tor, in einem Weidenkorb und regte sich nicht. Cecil zögerte nur kurz, dann trat sie nach drau 7
ßen, um den Korb an sich zu nehmen. Ihre Hände zitterten und für einen Moment fürchtete sie, die Tür würde vom Sturm zugeschlagen und sie müsse den Rest der Nacht im Freien, den tauben Winden aus geliefert, verbringen. Aber sie hatte Glück. Als sie den Korb gegriffen hatte, konnte sie unbehelligt in den Burghof zurückkehren. Sie wollte die Tür gerade hinter sich schließen, als ein unerwartetes Geräusch an ihr Ohr drang; es klang wie Pferdegetrappel. Obwohl Cecil sich fürch tete, lugte sie doch noch einmal nach draußen, denn ihre Neugier ü berwog. Sie konnte einen Reiter ausmachen, der vom Waldrand aus davon sprengte. Es musste sich um einen vornehmen Herren handeln, nach Mantel, Hut und Pferd zu urteilen. Aber noch ehe Cecil Gelegen heit hatte, genauer hinzusehen, zogen wieder Wolken vor den Mond und die Nacht wurde pechschwarz. Zudem gab das Kind in dem Korb leise Laute von sich, die Cecil mehr faszinierten. Was es mit dem heim licher Beobachter ihrer Rettungsaktion auf sich hatte, danach fragte das Küchenmädchen nicht einmal. Mit raschen Schritten kehrte sie in ihre Kammer zurück, dieses Mal noch mehr darauf bedacht, nieman den zu wecken und keinem aufzufallen. Das Kind in ihrem Arm, als ahnte es, was es galt, schwieg ebenfalls. Cecil lächelte ein wenig. Sie beschloss, niemandem von dem kleinen Schatz zu berichten, den sie ganz allein gefunden hatte. Sie würde das Kleine behalten, es sollte ihr allein gehören. Als sie die Kammertür behutsam hinter sich geschlossen hatte, wagte Cecil es, doch die Kerze neben ihrer Bettstatt zu entzünden. Ihre Neugierde war einfach zu groß, sie musste das Kind sehen, um zu wissen, ob es aus dem Dorf stammte, von den Bauern, oder viel leicht... Erschrocken zuckte das Küchenmädchen zurück, als es im gel ben Schein der Kerze die rosa Seidendecke gewahrte, die das Kind bedeckte. Sie war aus feinstem Stoff und Cecil wagte es kaum, sie auch nur anzufassen. Ganz ähnlich erging es dem einfachen Geschöpf mit dem Kind, das sie nun klug und groß ansah. Dass es nicht aus dem Dorf kam, sah sogar Cecil auf den ersten Blick. Das fein geschnittene Gesichtchen, die blonden Locken und die tiefblauen Augen machten aus dem Kind einen wahren Engel. Das Küchenmädchen erinnerte sich, einmal in der Kirche eine goldene Putte gesehen zu haben. Eben 8
so fein und reich erschien ihr nun dieses kleine Wesen, das ganz of fensichtlich schon völlig allein auf der Welt stand. »Wer bist du nur«, murmelte sie ratlos. »Woher magst du kom men?« Behutsam schlug sie das Deckchen vor und griff nach dem Kind. Cecil sah nun, dass die Kleine auch seidene Wäsche trug. Und neben ihr, an den Rand des Korbs gerutscht, lag ein versiegelter Um schlag. Cecil kümmerte sich nicht darum, schließlich konnte sie nicht lesen. Ihr ganzes Interesse galt dem Kind, das sie nun vorsichtig, wenn auch ein wenig ungeschickt in den Arm nahm. Der Kleinen schien das zu gefallen. Und das einfache Mädchen, das nie etwas wie Nestwärme erfahren hatte, genoss das Gefühl, solch ein kleines Wesen in seinen Armen wiegen zu dürfen. »Wer du auch bist«, murmelte sie leise. »Ich werde dich bei mir behalten und großziehen. Das verspreche ich dir!« * Mrs. Halloway, die resolute und tüchtige Köchin von Fulton-Castle, wunderte sich nicht schlecht, als Cecil am nächsten Morgen eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit erschien und dabei auch noch in einem fort gähnte. Sie dachte bereits an den Stock, um das faule Ding wieder einmal Mores zu lehren, als das zweite Küchenmädchen Lissy erschien und behauptete: »Cecil hat ein Kind bekommen. Ich habe es schreien gehört. Na, wer war denn der Glückliche, der bei dir Erfolg hatte, hm?« Sie lachte das unscheinbare Ding aus, das rot wurde und sich schnell abwandte. Die Köchin warf Lissy einen strengen Blick zu und mahnte: »Halte deinen vorlauten Mund, du dummes Gör! Los, an die Arbeit, wir haben eine Menge zu tun heute.« Lissy wollte widersprechen, aber da der Stock, wie stets, in greif barer Nähe stand, zog sie es vor, zu schweigen. Sie streckte Cecil nur die Zunge heraus und drohte: »Die Herrschaft wird dein Geheimnis schon noch erfahren, warte nur ab!« Die Köchin hatte es wohl gehört. Sie hielt Cecil an diesem Tag noch strenger im Auge als sonst. Und dabei fiel ihr durchaus auf, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte. Es schien ständig mit den Ge 9
danken woanders zu sein, wirkte nervös und fahrig. Dabei war das gar nicht Cecils Art, die sonst eher bedächtig und etwas langsam war. Mrs. Halloway fragte sich, ob vielleicht doch etwas dran war an den An schuldigungen von Lissy. Zwar wäre es ihr gewiss aufgefallen, wenn Cecil in andere Umstände gekommen und ein Kind zur Welt gebracht hätte. Sie traute dem Küchenmädchen nicht genug Raffinesse zu, um so etwas zu verheimlichen. Doch es gab ja auch noch andere Möglich keiten, an ein Kind zu gelangen. Und die Köchin hatte in der vergan genen Nacht geglaubt, ein Baby schreien zu hören. Durch den Herbststurm hatte sie schlecht geschlafen und war immer wieder auf geschreckt. Sie hatte sogar eine Weile in die Nacht gelauscht, war a ber wieder eingenickt. Sollte sie sich doch nicht getäuscht haben? Wenn Cecil jedoch ein Kind aufgelesen hatte, konnte sie es un möglich behalten. Schließlich hatte das Mädchen keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet. Mrs. Halloway dachte angestrengt nach, während sie das Dessert zum Diner richtete. Sollte ihre Vermutung zutreffen, dann musste sie nachsehen. Cecile, das dumme Ding, würde ein Findelkind vermutlich wie eine Puppe behandeln, die sie nie gehabt hatte. Und was dabei herauskam, war nicht schwer zu erraten... »Mach dich an den Abwasch«, forderte die Köchin wenig später streng. »Ich werde mich eine halbe Stunde ausruhen. Dann sehe ich wieder vorbei. Und wehe, es blitzt nicht alles!« Sie deutete auf den Stock, der neben dem Herd stand. Cecile duckte sich und machte sich geschwind an die Arbeit. Die rundliche Alte war zufrieden. Nun hatte sie genügend Zeit, um in Ruhe nachzusehen, was es mit diesem Kind auf sich hatte... * Lady Lydia Thornton küsste ihre Ältere zärtlich und versprach: »Wenn du brav bist, Ethel, wird die Nanny dir noch eine Geschichte vorlesen.« Das etwas blasse aschblonde Mädchen hielt die Hand der Mutter im festen Griff seiner kleinen Rechten. »Nein, bitte, Mutter, bleibe du bei uns und lies die Geschichte. Das ist viel schöner!« Das schmale 10
Gesicht des fünfjährigen Kindes bekundete bereits einen ausgeprägten Willen und eine gewisse Durchsetzungskraft, die einem Kind dieses Alters sonst eher fremd war. Doch Miss Ethel hatte den starken Cha rakter des Vaters geerbt und wusste stets zu bekommen, was sie woll te. Ihre etwas nachgiebige, ruhige Mutter ließ sich allerdings nie zwin gen. Mit ihrer stillen Art verband sich eine Unnachgiebigkeit, die der ih res Mannes durchaus Paroli bieten konnte. Und auch Miss Ethels klei ner Hitzkopf holte sich an dieser kühlen Mauer leicht Beulen. »Ich sagte, wenn du lieb bist, mein Kind«, erinnerte sie die Kleine reserviert und erhob sich. »Leider ist dies nicht der Fall. Also, gute Nacht. Schlaft süß.« Sie strich leicht über Ethels Stirn, die diese zornig abwandte und lächelte der kleinen Sophie, die erst im dritten Lebens jahr stand, ruhig zu. Dann ging Lady Lydia, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Herrin von Fulton-Castle war eine schlanke, stolze Erschei nung. Ihr etwas blasses Gesicht wurde von großen, hellen Augen be herrscht, in denen sich die Noblesse und die emotionale Kühle einer langen, edlen Ahnenreihe widerspiegelte. Die Lady hatte Lord Thorn ton nie geliebt, ihre Ehe war ein Zweckbündnis, wie es im siebzehnten Jahrhundert in den Kreisen des Adels üblich war. Sie waren einander mit Respekt und Wohlerzogenheit begegnet, doch tiefe Gefühle hatten sich in ihrer Ehe nicht entwickelt. Lord John war ein temperamentvoller Schotte, der seiner Gattin in einem schwachen Moment schon vorge worfen hatte, so kalt zu sein wie die Schlossmauern im Winter. Er lieb te seine Frau, doch er hatte es bislang mit seinem rustikalen Charme nicht geschafft, ihr Herz zu erringen. Als Lady Lydia nun in den kleinen Salon zurückkehrte, wo sie die Abende zusammen mit ihrer Gesellschafterin zu verbringen pflegte, näherte sich ihr der Butler und ließ sie mit einer tiefen Verbeugung und eben solcher Konsternierung wissen: »Mrs. Halloway wünscht Euch zu sprechen, My Lady.« »Die Köchin? Was hat sie auf dem Herzen?«, wunderte die Lady sich, bat dann: »Sie möchte hereinkommen.« Gleich darauf erschien die Angestellte, verschämt den Blick zu Bo den gesenkt, in beiden Armen hielt sie einen Korb mit einem Kind. Da 11
erübrigte sich natürlich jede Frage nach ihrem Begehr. Lady Lydia trat an die Frau heran, ein leiser Laut der Überraschung entrang sich ihren blassen Lippen und sie murmelte, mehr zu sich selbst: »Wie eigenar tig... Mrs. Halloway, woher kommt dieses Kind?« Die Köchin erwiderte mit gesenktem Kopf: »Eines der Kü chenmädchen hat es letzte Nacht vor dem Tor gefunden. Das nichts nutzige Ding wollte das Kind behalten. Nur durch Zufall habe ich davon erfahren und es in Sicherheit gebracht. Ganz verhungert war es schon, hatte sogar leichtes Fieber. Milch habe ich ihm gegeben und ein paar Kräuter. Jetzt lacht es wieder.« »Vor dem Tor, sagen Sie? Wer brachte es? Wie heißt es denn?« Lady Lydia schien in seltsamem innerem Aufruhr. »Mag sein, dass ein dummer Bauer uns eines vor das Tor legt, weil seine Frau es nicht nähren kann. Aber das... seidene Decken...« »Verzeiht, My Lady, aber ich kann euch nicht mehr sagen als das, was ihr schon hörtet. Das Mädchen, ein einfältiges Kind, wusste sonst keine Auskunft zu geben.« »Gut, stellen Sie den Korb ab, Sie können gehen. Ich denke, wir werden verfahren wie üblich. Das Kind bleibt in unserer Obhut, wir werden es auf ziehen, sobald feststeht, dass es elternlos und damit Waise ist.« Die Köchin tat, wie geheißen und verließ dann rasch den Salon. Lady Lydia schickte auch ihre Gesellschafterin fort. Sie ahnte, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen war. Das Kind, das nun friedlich schlief, war von hoher Herkunft, darüber gaben nicht nur Korb und Kleidung eindeutig Auskunft. Die Gesichtszüge und das goldene Haar erschienen der Lady seltsam vertraut. Doch sie vermochte nicht zu bestimmen, woher. Vorsichtig durchforschte sie das Körbchen, stets darauf bedacht, den Schlaf des Kleinen nicht zu unterbrechen. Und es dauerte gar nicht lange, bis sie fündig wurde. Der pergamentene Umschlag mit der dicken Versiegelung Wog schwer in ihrer Hand. Ein ungutes Gefühl beschlich die Lady, eine Ah nung nur, die sie wie ein kalter Hauch anwehte. Sie klingelte dem But ler und wies ihn an, ihren Mann zu verständigen. Bereits kurze Zeit später erschien Lord John. Er war groß und kräftig, hatte eher die Sta 12
tur eines Bauern, denn eines Edelmannes. In seinem markant ge schnittenen Gesicht fielen gleich die tiefbraunen Augen auf, die ebenso energisch wie streng in die Welt blickten. Er warf seiner Frau einen knappen fragenden Blick zu, bemerkte dann den Korb und stellte fest: »Wieder einmal ein Findling?« »Ich fürchte, dieses Mal ist es anders.« Sie reichte ihm den Brief. »Bitte, lies das, John.« Er nahm den Umschlag, stutzte kurz, als er das Siegel gewahrte und erbrach es dann mit einem energischen Ruck. Lady Lydia hatte sich abgewandt. Ihr Blick streifte das schlafende Kind, das in seiner Reinheit und Unschuld der übrigen Welt und ihrem gewissenlosen Treiben enthoben schien. Und doch war es bereits Teil all dessen, was nun scheinbar auch den Weg bis ins abgelegene Fulton-Castle gefun den hatte... Eine Weile las Lord John schweigend. Als er den Brief schließlich sinken ließ, war seine Miene ebenso fassungslos wie ernst. Seine Frau forschte vorsichtig: »Stammt der Brief aus London?« Der Burgherr nickte. »Es ist schwer zu begreifen. Und ich denke, man sollte es auch nicht laut aussprechen. Deshalb möchte ich dir nur soviel sagen: Der Name des Kindes ist Josefine Banks. Alles Weitere entnimm bitte diesem Brief.« Er wollte ihr die Depesche reichen, doch sie lehnte ab. Einem inneren Impuls folgend bat die Lady: »Behalte du die eigentümlichen Umstände dieses Fundes im Gedächtnis. Ich möch te mich nicht damit belasten. Das Kind ist also Waise?« »Es hat weder Mutter noch Vater, steht völlig allein auf der Welt. Und der Schreiber dieser Zeilen vertraut uns das Leben des Kindes an. Du wirst annehmen?« »Sicher. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschieht.« Sie bemerkte, dass er ihr widersprechen wollte und fuhr entschieden fort: »Mag sein, dass die Umstände dieses Mal abweichen. Doch davon möchte ich nichts wissen. Hier ist ein Kind, das Schutz und Fürsorge braucht. Und ich werde mich persönlich darum kümmern, dass es die se auch erhält.« Lord John trat näher an seine Gemahlin heran und mahnte mit ge senkter Stimme: »Du ahnst nicht, auf was du dich einlässt, Lydia. Hier 13
spielen Ränke und Intrigen, die sich mit dem höchsten Hause des Lan des verbinden, hinein. Und niemand vermag zu sagen, warum man ausgerechnet uns ausgewählt hat, um diesen seltsamen Findling auf zuziehen.« Das blasse Gesicht der Lady blieb unbeweglich, als sie erwiderte: »Meine Gedanken gelten dem Kind. Alles andere willst du bitte in dei nem Herzen verschließen, John. Du weißt, ich bitte selten, doch dieses Mal tue ich es. Befreie mein Gewissen von jeglicher Ahnung um die Umstände und Hintergründe dieses Fundes. Josefine soll unbeschwert und ohne Bedrückung in unserem Hause aufwachsen.« Der Burgherr musterte seine Frau nachdenklich. Es war viel, was sie verlangte und er ahnte, dass es ihm nicht leicht fallen würde, ein solches Geheimnis, wie die Depesche es enthielt, mit keiner anderen Seele teilen zu können. Doch brachte ihn dieser kleine Dienst dem Herzen seiner Trau auch nur eine Spur näher, wollte er ihn freudig auf sich nehmen. »Ich will tun, was du wünschst«, versprach er deshalb knapp, ver beugte sich angedeutet und verließ dann den kleinen Salon. Lady Ly dia wandte sich wieder dem Kind zu, das noch immer schlief wie ein kleiner Engel. Nachdenklich betrachtete sie das fein geschnittene Ge sicht und überlegte dabei, wem es wohl glich. Die Ähnlichkeit mit einer Person, die sie kannte, war verblüffend und doch fand die Lady nicht heraus, wer dies wohl sein mochte. Schließlich läutete sie nach der Kinderfrau und wies diese an, das Kleine unter ihre Fittiche zu neh men. »Das Kind soll Miss Ethel und Miss Sophie gleichgestellt werden«, unterstrich sie mit Nachdruck. »Wir werden es behandeln, als sei es unser eigenes.« Die Nanny war wohl verblüfft von den Worten ihrer Herrin, wäre aber nie auf den Gedanken verfallen, diese zu hinterfragen. Sie nickte stumm, knickste und verließ dann mit dem Korb den kleinen Salon. Lady Lydia vermutete, dass sich von nun an einiges in Fulton-Castle ändern würde. Wie sehr, das ahnte sie allerdings nicht einmal... * 14
Das geheimnisvolle Findelkind sorgte bald für Gesprächsstoff auf Ful ton-Castle und auch über die Burgmauern hinaus. Im Dorf machte man sich allerlei Gedanken über die Herkunft des Kleinen. Manch einer behauptete, in besagter Nacht einen königlichen Depeschenreiter ge sehen zu haben, der von Fulton-Castle gekommen war. Wilde Spekula tionen blühten rasch auf, wurden aber angesichts der täglichen Mühsal und des ständig drohenden Hungers bald wieder vergessen. Das kleine Mädchen wuchs und gedieh in der Obhut der Kinder frau und zeigte sich ebenso gesund wie liebreizend. Lady Lydia ver brachte viel Zeit im Kinderzimmer, beinahe mehr als vor Jahren mit ihren eigenen Töchtern. Das Kleine übte einen schwer zu be schreibenden Reiz auf sie aus, selten konnte sie sich an dem bezau bernden Wesen satt sehen und es geschah des öfteren, dass sie bei nahe den ganzen Tag mit der kleinen Josefine verbrachte. Miss Ethel beobachtete dies mit wachsender Eifersucht. Der kleine Wirbelwind liebte seine Mutter abgöttisch und mochte sie mit niemandem teilen. Selbst die eigene Schwester sah sie als Konkurrenz an. Das Findelkind aber wurde in ihren selbstgerechten Augen alsbald zum Todfeind stili siert. Und es dauerte nicht lange, bis das Mädchen einen perfiden Plan ersann, um sich des unerwünschten Eindringlings so rasch und nach haltig wie irgend möglich zu entledigen. In der Zwischenzeit war es Winter geworden. Ende November lag bereits eine dünne Schneeschicht auf dem gefrorenen Boden, des Nachts heulte ein eisiger Nordwind und machte es jedem, der zu spä ter Stunde noch einen Gang im Freien zu tun hatte, schwer, sein Ziel zu erreichen. Miss Ethel und ihre kleine Schwester spielten wohl behü tet in ihrem Kinderzimmer. Der große Kamin mit den knackenden Holzscheiten und den lustig tanzenden Flammen verbreitete Behag lichkeit. Miss Sophie beschäftigte sich in phantasievoller Unschuld mit ihrer Puppe, während die große Schwester hinter dem Fenster stand und in den Winterabend hinaus starrte. Ein übler Plan hatte hinter der klaren Stirn des Kindes Gestalt angenommen. Und an diesem eisigen Abend sollte er in die Tat umgesetzt werden... 15
Als die Nanny erschien, um die Kinder ins Bett zu bringen, wun derte sie sich ein wenig, dass sogar Miss Ethel ohne Murren folgte. Sonst bettelte das Kind meist ausdauernd, um eine halbe Stunde län ger aufbleiben zu können. »Sind Sie krank, Miss Ethel?«, fragte die Kinderfrau besorgt und legte ihre kühle Rechte kurz auf die Stirn des Kindes. Dieses verneinte. »Nur müde. Wir haben heute viel gespielt.« Die Nanny schien dies nicht ganz glauben zu wollen, murmelte dann aber: »Nun gut, legt euch beide geschwind nieder, die Frau Ma ma wird bald zu euch kommen.« Sie verließ den Raum, um nach Jose fine zu sehen, deren Bettchen nebenan stand. Während Sophie bereits die Augen zufielen, wurde ihre Schwester erst wieder richtig munter, nachdem die Kinderfrau das Zimmer verlassen hatte. Denn nun würde es nicht mehr lange dauern, bis sie ihren perfiden Plan in die Tat um setzen konnte... Miss Ethel lächelte bei dieser Vorstellung. Seit Josefine da war, hatte die Mutter kaum noch Zeit für sie. Fast immer hielt sie sich bei dem kleinen Wurm auf, der sie doch eigentlich gar nichts anging. Sie herzte das Kind, als wäre es ihr eigenes, sie war voller Aufmerksamkeit und Zuneigung. Und die kleine Ethel stand mit glühender Eifersucht im Herzen abseits, ohnmächtig und unfähig, etwas dagegen zu unter nehmen. Das glaubten zumindest die Erwachsenen. Doch sie würden schon sehen, was alles passieren konnte, was möglich war... Als die Tür nebenan geöffnet wurde, hörte Miss Ethel die Stimme ihrer Mutter. Sofort schoss wieder das Gefühl des Hasses in ihr auf wie eine lodernd helle Flamme. Denn die Mutter kam nicht zuerst zu ihr, sondern ging zu diesem Findelkind. Ethel ballte die kleinen Hände zu Fäusten und flüsterte: »Ich werde es dir zeigen, du wirst hier nicht bleiben, du nicht...« »Was hast du denn, Ethel?«, fragte Miss Sophie die Schwester und schaute sie dabei groß und verständnislos an. »Nichts, schlaf«, erwiderte die Große unwirsch. Sie musste noch einmal ihren Plan durchdenken und konnte dabei keine Störungen gebrauchen. Doch Sophie ließ sich nicht so schnell einschüchtern. Sie besaß zwar nicht den festen Willen ihrer Schwester, verfügte aber über 16
eine gewisse Unbekümmertheit, die ihr half, leichter durchs Leben zu gehen. Und nun beharrte sie: »Du hast doch was. Sag es mir! Oder ich melde es der Nanny.« »Ach, du dummes Baby. Du hast ja gar keine Ahnung, was hier schon sehr bald geschehen wird.« »Was denn?« Die Kleine setzte sich im Bett auf und machte ein neugieriges Gesicht. »Sag es mir, Ethel, oder ich verrate dich an die Nanny!« »Was willst du denn verraten, wenn ich es dir vorher nicht sa ge?«, spottete die ältere Schwester und brachte die Kleine damit kurz aus dem Konzept. Doch es dauerte nicht lange, bis Miss Sophie nach legte: »Dann erfinde ich eben etwas!« Noch ehe Ethel sie wieder zurechtweisen konnte, wurde leise die Tür geöffnet und Lady Lydia erschien. Die Kinder schlossen sofort die Augen und taten so, als ob sie schliefen, aber die erfahrene Mutter durchschaute ihren Trick sogleich und mahnte: »Ihr sollt doch kein Theater spielen. Warum seid ihr denn noch wach? Es ist schon spät.« »Wir haben auf dich gewartet, Mama«, erklärte Ethel mit ernster Miene. »Liest du uns heute eine Geschichte vor?« Gespannt wartete das Mädchen auf die Antwort der Mutter. Wenn sie blieb, wenn sie nur so viel Zeit aufwandte, wie sie dieser Josefine ohne zu zögern schenk te, dann... Aber die Hoffnung des Mädchens sollte sich nicht erfüllen. Lady Lydia erwiderte kühl: »Ihr solltet längst schlafen. Für eine Geschichte ist es zu spät.« Damit verließ sie den Raum. Sophie schloss die Augen, sie war wirklich sehr müde. Aber ihre Schwester dachte nicht an Schlaf. Für sie zählte nur eines: Sie würde dieses Kind, das nicht nach Fulton-Castle gehörte, das ihr die Mutter stahl und in deren Leben eine unverschämt wichtige Rolle spielte, ein für alle Mal beseiti gen! Miss Ethel wartete, bis sie die gleichmäßigen Atemzüge ihrer klei nen Schwester gewahrte, dann erst verließ sie das Bett. Sie wusste, dass die Nanny bald noch einmal nach ihnen sehen würde. Aber bis dahin war sicher schon alles erledigt... Auf nackten Füßen schlich das Mädchen sich an die Verbindungs tür zum Nebenraum. Normalerweise war diese stets verschlossen, 17
doch seit dieses Findelkind nebenan schlief, ließ die Nanny sie offen, um leichter nach Josefine sehen zu können. Josefine... Allein der Name war Ethel verhasst. Sie wünschte sich, ihn niemals gehört zu haben. Warum hatte dieses dumme Küchenmädchen das Kind auch mitten in der Nacht entdecken müssen? Wieso war es nicht einfach erfroren? Miss Ethel streckte die Hand nach dem Türknauf aus. Sie zitterte leicht, aber das war auch kein Wunder. Immerhin stand das Kind im Begriff, eine schlimme Schandtat zu begehen. Und sein kleines Herz schlug wie wild gegen die Rippen. Ethel besaß zwar einen starken Wil len und auch eine gewisse Kaltblütigkeit, doch sie fürchtete sich auch. Nicht nur vor Entdeckung, sondern und vor allem vor der Tat, die sie so sorgfältig geplant hatte. Aber es musste sein! Erst wenn Josefine verschwunden war, würde die Mutter wieder ganz ihr gehören. Und ein klein wenig auch Sophie... Miss Ethel öffnete die Verbindungstür. Sie spähte zunächst vor sichtig ins Nebenzimmer, bevor sie es betrat. Mitten im Raum stand eine Wiege, in der das Baby schlief. Es gab keinen Laut von sich, schien tief und fest zu schlummern. Das sollte dem kleinen Eindring ling nur recht sein. Auf Zehenspitzen schlich Ethel zum gegenüberlie genden Fenster. Sie hatte es fast erreicht, als das Kind in der Wiege ein leises Glucksen von sich gab. Ethel schloss kurz die Augen und verhielt sich ganz still. Sie konnte nur hoffen, dass dieses dumme Baby nun nicht anfing, zu schreien. Dann war ihr Plan gescheitert, sie würde entdeckt werden und... Aber nein, es blieb still. Das Mädchen stand noch ein paar Augenblicke reglos auf dem Fleck. Dann, als es sicher sein konnte, dass das Baby weiter schlief, öffnete Miss Ethel mit einer kurzen Handbewegung das bleiverglaste Fenster weit. Beinahe augen blicklich strömte eisige Nachtluft in den Raum. Der heimliche Eindring ling eilte, so schnell es ging, hinaus. Behutsam schloss das Mädchen die Verbindungstür und legte sich wieder ins Bett. Und schon kurze Zeit später war Ethel mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen... * 18
Spät in der Nacht, der Morgen graute bereits mit einem schmalen Streifen tiefvioletten Lichts im Osten, verließ ein Reiter in höchster Eile Fulton-Castle. Sein Ziel war Edinburgh, die nahe Stadt, in der vielleicht noch Rettung zu finden war. Vor Stunden hatte die verstörte Kinder frau das Waisenkind in einem eisigen Zimmer wimmernd und schrei end und blau gefroren vorgefunden. Sie hatte sich vergeblich bemüht, es durch Wärme und gutes Zureden zur Ruhe zu bringen. Der Burg herr und seine Frau waren in höchster Erregung gewesen, nicht min der quälend hätte die schmerzliche Sorge sein müssen, wenn dieses schlimme Los eines ihrer leiblichen Kinder getroffen und es fast aus dem Leben gerissen hätte. Lord Thornton hatte schließlich einen Boten nach dem königlichen Leibarzt geschickt, versehen mit einer versiegel ten Depesche, die diesem zu jeder Stunde jede Tür öffnen konnte. In der Zwischenzeit hatte die Lady sich des Kindes angenommen, um die quälende Spanne des Wartens nicht tatenlos verbringen zu müssen. Das Kleine war mittlerweile in einen lethargischen, leichten Schlaf gefallen, der jedoch nichts von Wohlbefinden wusste. Lady Ly dia mochte es nicht begreifen, doch sie ahnte, dass das Kind um sein Leben kämpfte. Und es schien viel zu schwach, sich gegen den mächti gen Schatten des Sensenmannes zu wehren. Lord John ließ die Kinderfrau einem strengen Verhör unterziehen und sorgte schließlich dafür, dass sie im Morgengrauen die Burg ver ließ. Sie war als die einzig Schuldige ausersehen, nach den immer glei chen, unerbittlichen Fragen verunsichert, hatte sie nicht mehr sagen können, ob die Fensterknäufe tatsächlich alle fest geschlossen gewe sen waren. So forderte Miss Ethels heimlicher Anschlag auf das Leben der verhassten Nebenbuhlerin ein unschuldiges Opfer, ohne dass die Wahrheit ans Licht gekommen wäre. Denn Ethel schwieg, wohl wis send, was ihr blühte, wenn sie gestand. Und die Kinderfrau war zu ersetzen, so fand jedenfalls die kleine Miss... Endlich erschien der Arzt, in höchster Eile, die Kutschpferde trof fen vor Schweiß. Er blieb lange bei dem Kind, konnte den Zieheltern schließlich aber nur wenig Hoffnung machen. 19
»Es ist nicht mehr viel Leben in dem kleinen Wesen«, konstatierte er beklommen. »Haltet es warm, nährt es reichlich, mag sein, dass es überlebt. Aber eine Garantie kann ich nicht geben.« »Aber etwas müssen Sie doch tun können!«, beharrte Lady Lydia. »Es tut mir leid, My Lady. Das Kind ist halb erfroren, da gibt es nichts, was helfen könnte, keine Medizin. Haltet Euch an meine Emp fehlung, mehr ist in diesem Fall nicht zu tun.« Nachdem der Arzt gegangen war, sank Lady Lydia der Mut. Sie hatte so gehofft, dass er würde helfen und heilen können. Doch seine wenig erfreuliche Prognose erschien ihr nun wie ein Todesurteil für die unschuldige Kinderseele, die noch keinem Menschen auf der Welt et was Böses angetan hatte und doch schon so viel zu leiden hatte... »Was sollen wir tun?«, fragte sie ihren Gatten, aber auch der schien ratlos. Er empfahl ihr, das Schicksal des Kindes in die erfahre nen und mütterlichen Hände der Köchin zu legen, die es schon einmal aufgepäppelt und zu Kräften gebracht hatte. Lady Lydia zeigte sich schließlich einverstanden. Und so verschwand die kleine Josefine Banks, ganz wie Miss Ethel es sich gewünscht hatte, aus dem Neben zimmer und blieb, zumindest für eine ganze Weile, drunten im Küchen trakt, wo sie, wie Ethel fand, auch hingehörte... Wochen vergingen, in denen das winzige Kind dahin schwand, die einst runden und rosigen Wangen eingefallen und fahl, kaum mehr als nur die Erinnerung an jenes zauberhafte Geschöpf, das Fulton-Castle für kurze Zeit mit seinem glockenhellen Schein erfüllt hatte. Mrs. Hal loway gab sich alle Mühe, dem Kind zu helfen. Sie kochte nur Nahrhaf tes, mischte es in pflaumenzarten Brei und zeigte sich unendlich ge duldig beim Verabreichen der Nahrung, die das geschwächte Baby kaum annehmen wollte. Und als der Winter sich schließlich verabschiedete, das erste zarte Grün in den Bäumen schimmerte, ging es allmählich bergauf mit der kleinen Josefine. Lady Lydia hatte, entgegen den Hoffnungen der klei nen Attentäterin, sehr viel Zeit bei dem Kinde verbracht, es gewiegt und getröstet, geherzt und gewärmt. Mittlerweile hatte die sonst so kühle Lady das Kleine fest ins Herz geschlossen und es bedeutete ihr 20
das größte Glück, als Josefine nicht nur genas, sondern auch endlich wieder anfing, zu wachsen und zu gedeihen wie vor dem ›Unfall‹. Miss Ethel wollte dies gar nicht gefallen. Die brennende Eifersucht war nicht aus ihrem Herzen gewichen, sie empfand auch keine Schuld mehr. Geblieben war nur der Wunsch, die verhasste Stiefschwester, wie alle das Findelkind nun nannten, endlich zu vertreiben. Doch eine Gelegenheit wie in jener eisigen Winternacht sollte sich ihr nicht mehr bieten. Die neue Kinderfrau war jung und streng und verbat sich eben so Widerspruch wie ein allzu überbordendes Temperament, das sie mit sehr schmerzhaften Schlägen einer kleinen, aber scharfen Rohr peitsche zu quittieren pflegte. Miss Sophie kam gut aus mit der Neuen, doch Ethel hatte viel zu leiden und manchmal war ihr Hinterteil so ver schwollen von den strafenden Schlägen, dass sie kaum mehr sitzen konnte. All dies schürte nur weiter den Hass auf Josefine, die nun sogar ›Miss‹ genannt wurde, was für Ethel der Gipfel von Verrat und Unge rechtigkeit bedeutete. Nach wie vor brütete sie über kleinen, gemeinen Schlägen, die sie der Verhassten heimlich zufügen konnte und brachte es in dieser niederträchtigen Kunst bald zur trauriger Meisterschaft. Die Jahre vergingen. Josefine wuchs heran und entwickelte sich zu einem gesunden Mädchen von engelsgleicher Anmut und Schönheit. Miss Ethel blieb blass und schoss hoch auf. Sophie dagegen, gemütlich und still wie sie war, ging schon früh in die Breite. Mit Schönheit waren die Töchter aus dem Hause Thornton kaum gesegnet. Diese allerdings entwickelte ihre Stiefschwester in überreichem Maße. Und so gab sie, neben ihrem sanften, aufrichtigen Charakter, allein durch ihr Auftreten stets neuen Anlass zu neidischen Blicken und gehässigen Reden. Nein, eine schöne Jugend hatte Miss Josefine auf Fulton-Castle nicht verlebt. Und doch sollte diese ihr wie eine schöne, wehmütige Erinnerung er scheinen, gemessen an ihrem weiteren Schicksal... * Beinahe zwanzig Jahre waren vergangen seit jener stürmischen
Herbstnacht, in der das Küchenmädchen Cecil ein Findelkind vor dem
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Tor von Fulton-Castle entdeckt hatte. Man schrieb das Jahr 1669. Seit neun Jahren regierte nun Charles II. aus dem Hause Stuart und seine Bemühungen um ein Bündnis mit Frankreich, seine Annäherung an die Politik Ludwigs XIV. stieß nicht überall auf Gegenliebe oder Unterstüt zung. Das Land war uneins, politisch waren die Zeiten schwankend bis unsicher. Die starken Mauern von Fulton-Castle schienen seine Be wohner vor diesen Unbilden zu schützen, denn hier, in der schotti schen Grafschaft Midlothian, gingen die Uhren wohl noch ein wenig langsamer als anderswo. Doch auch an diesem Ort nahm das Leben seinen Lauf. Cecil, das einfältige Küchenmädchen, war vor einem Jahr eine Kellertreppe hinab gestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Mrs. Halloway wunderte sich gar nicht darüber, hatte sie Cecil doch schon immer als besonders ungeschickt bezeichnet. Die betagte Köchin arbeitete längst nicht mehr, stand sie doch bereits hoch in den Achtzigern. Zusammenge sunken saß sie nun meist hinter dem wärmenden Ofen und ihre von Gicht gekrümmten Hände ruhten im Schoß. Allerdings dachte niemand daran, ihre noch immer respektierte Stellung im Haushalt anzu zweifeln. Seit sie die kleine Josefine aufgepäppelt hatte, hielt die Burg herrin große Stücke auf sie. Lady Lydia hatte sich in den vergangenen Jahren nicht zu ihrem Vorteil verändert. Sie war noch immer stolz und untadelig in Auftreten und Benehmen. Doch ihre kühle Art hatte sich in wahre mitmenschli che Kälte verwandelt, die hauptsächlich Lord John zu spüren bekam. Seit ein paar Jahren litt der Landadlige finanzielle Not, die Einkünfte flossen spärlicher, denn der Boden rund um Fulton-Castle war er schöpft, die Bauern erwirtschafteten immer weniger. Viele gingen fort, um sich im Süden als Tagelöhner zu verdingen und damit ihre Familien zumindest vor dem Hungertod zu bewahren. Der Lord konnte diese Entwicklung nicht stoppen, ebenso wenig wie er die Reserven zurück zuholen vermochte, die in den fetten Jahren sinnlos verprasst worden waren. Lady Lydia schien ihrem Mann daraus einen stummen Vorwurf zu machen. Doch sie sprach nie aus, was sie dachte, ließ ihren Gatten lieber an dem Unausgesprochenen leiden, das zwischen ihnen stand. 22
So trieb sie Lord Thornton nur immer mehr in Trunksucht und Karten spiel, die einzigen Vergnügen, denen er nicht widerstehen konnte. Miss Ethel war in der Zwischenzeit verheiratet worden. Da die fi nanzielle Lage der Thorntons kein Geheimnis geblieben war, hatte sie sich mit einem einfachen Landadligen begnügen müssen, der im Hoch land ein altes Herrenhaus bewohnte. Ethel war unglücklich, das Einzi ge, was reichlich gedieh, waren ihre Schwangerschaften. Sie hatte ihrem Mann nach fünf Jahren Ehe bereits vier Kinder geboren und litt unter dem trübseligen Leben mit Steckrübensuppe und Hafergrütze. Oft schrieb sie der Mutter jammervolle Briefe, aus denen nichts mehr von jenem Hochmut und Durchsetzungsvermögen der frühen Jahre sprach. Manchmal fragte sie in diesen Briefen auch nach Josefine und Neid klang zwischen den Zeilen an. Die noch Unverheiratete, die Schönheit, um die sich die hochgestellten Verehrer rissen, sie hatte die Auswahl zwischen beinahe alle Galanen des Landes. Lady Lydia küm merte das Gejammer ihrer ältesten Tochter kaum. Auch sie hatte zu leiden, war zudem nie glücklich gewesen in ihrer Ehe. Der einzige Rat, den sie Ethel gab, war, sich zu bescheiden. Miss Sophie hingegen jammerte nie, das war nicht ihre Art. Sie hatte keinen Mann gefunden und ebenso unstandesgemäße wie prak tische Eigenschaften entwickelt. Sie kochte gern und aß noch lieber. Nachdem sie die Zwanzig überschritten hatte, war sie vollends in die Breite gegangen und ihre Mutter gab selbst den verzweifelten Gedan ken auf, sie mit dem Dorfpfarrer zu vermählen. Sophie schien voller Gemütsruhe und Freundlichkeit. Doch dies täuschte. Sie hatte im Cha rakter viel Ähnlichkeit mit ihrer Schwester entwickelt und verstand sich hervorragend aufs Intrigieren. Allerdings ging sie nie direkt auf ihr Ziel los, sondern agierte lieber im Verborgenen. All ihr Neid, ihre Minder wertigkeitsgefühle und der Hass, der daraus resultierte, richteten sich auf ihre Stiefschwester, die ihr stets mit Freundlichkeit begegnete. Nach außen hin tat Miss Sophie es ihr gleich. Doch ihr Herz war voller Rachegelüste und sie wartete nur auf eine Gelegenheit, um Josefine zu vernichten. Diese sollte sich ihr nun sehr bald bieten. Noch ahnte sie nichts davon, als sie an diesem sonnigen Sommermorgen aus ihrem 23
Fenster spähte und Josefine dabei beobachtete, wie sie im Kräutergar ten werkelte. Das wohlgeratene Mädchen war nicht nur äußerlich von großer Schönheit, auch sein Wesen zeichnete sich durch Bescheidenheit und eine natürliche Freundlichkeit aus, die nichts Ungekünsteltes hatte. Josefine liebte es, im Garten mit Pflanzen und Erde zu arbeiten, sie war sehr tierlieb und dazu praktisch veranlagt, was die Führung eines Haushalts anging. Klug und gebildet, wie sie war, wusste sie sich auch bei einem offiziellen Anlass zu benehmen. Es gab nichts an ihr auszu setzen, nichts zu beanstanden. Und eben das machte Miss Sophie ra send. Wie oft hatte sie schon versucht, am Verhalten ihrer Stief schwester Anstoß zu nehmen. Wenn sie wie jetzt im einfachen Ge wand im Garten arbeitete, sah Sophie dies als unstandesgemäße Ent gleisung an, die sie der Mutter sofort berichten musste. Allerdings war Lady Lydias Reaktion meist ablehnend. Sie liebte das Findelkind noch immer wie am ersten Tag. Und Sophie hatte bald eingesehen, dass daran nichts zu ändern war. Zumindest nicht auf direktem Weg. Nun wartete sie ab, bis Josefine Fulton-Castle endlich verlassen würde. Und sie sehnte den Tag herbei, wenn sie die gehasste Feindin nicht mehr ständig sehen und an ihrer Schönheit Anstoß nehmen musste. Miss Josefine ahnte nichts von den finsteren Gedanken und bösen Absichten, die sich hinter der Stirn der scheinbar gutmütigen Dicken verbargen. Sie war ganz in ihre Gartenarbeit vertieft und fühlte sich dabei sehr wohl. Das schöne, junge Mädchen hatte die goldblonden Locken unter einer einfachen Haube verborgen, wie Bäuerinnen sie trugen. Sie umgab mit grobem Stoff ein Gesicht von seltenem Liebreiz. Die hohe, klare Stirn, die zierliche Nase und die rosigen, zarten Lippen fügten sich zu einem Bild von jungmädchenhafter Anmut, das von gro ßen, tiefblauen Augen überstrahlt wurde, wie der Himmel von den Sternen. Die Schönheit, die bereits dem Baby eigen gewesen war, hat te sich im Laufe der Jahre noch weiter vertieft und verfeinert. »Dummes Ding«, murmelte Miss Sophie missgünstig und wandte ihren bohrenden Blick vom Fenster ab. Sie stellte fest, dass der Teller mit dem Hafergebäck, der neben ihr stand, leer war. Mit einem übel 24
launigen Schnaufen beschloss sie, sich Nachschub zu besorgen und verließ ihr Zimmer. In der Halle vergaß sie jedoch ihre Absicht, denn sie hörte die El tern in einem der Salons streiten. Das kam in letzter Zeit immer häufi ger vor. Und Sophie wusste auch, worum es bei den Auseinan dersetzungen ging: Geld. Immer wieder warf Lady Lydia ihrem Mann vor, das Vermögen der Thorntons verprasst zu haben, meist war die Rede von Kartenspiel und Alkohol. Miss Sophie trat mit neugierig glit zernden Augen hinter die Tür und lauschte. Das war, neben Essen, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Eine Weile hörte sie zu, wie die Eltern sich gegenseitig beschuldigten, die angespannte Finanzlage ver schuldet zu haben. Dann aber wandte sich das Gespräch einem ande ren Thema zu. Einem Thema, das Sophie weitaus mehr interessierte: Josefine. Angestrengt lauschte sie, denn sie wollte unter allen Um ständen wissen, was die Eltern für die verhasste Stiefschwester plan ten. Und was sie dann zu hören bekam, war kaum zu fassen. »Ich bitte dich, John, wir können sie nicht diesem Huddelton ge ben. Du weißt so gut wie ich, dass er einen mehr als schlechten Ruf genießt«, stellte die Lady abweisend fest. Doch ihr Mann schien in diesem Punkt anderer Meinung zu sein. »Huddelton ist der fünfte Lord of Newstead«, erinnerte er sie. »Er steht in einer Ahnenreihe mit dem Hause Tudor. Sein Besitz ist enorm, er ist reich. Eine bessere Partie können wir Josefine nicht zuführen«, behauptete er. »Das Brautgeld wird sich sehen lassen können, warte es nur ab...« »An etwas anderes kannst du wohl gar nicht mehr denken«, warf sie ihm ärgerlich vor. »Wenn die Schulden drücken, greift man nach jeder helfenden Hand, meine Liebe. Du solltest nicht vergessen, dass Josefine uns ihr Leben verdankt. Und es ist nun an der Zeit, einen kleinen Teil ihrer Schuld abzutragen.« »Aber Huddelton ist ein gewissenloser Mensch. Seine erste Frau starb unter mysteriösen Umständen, niemand weiß, was dort in Newstead vor sich gegangen ist. Ich könnte keine Nacht mehr ruhig 25
schlafen in dem Wissen, dass Josefine diesem Individuum ausgeliefert ist.« »Vielleicht wird es dein Gewissen ein wenig beruhigen, wenn ich dir sage, dass das Brautgeld uns in Zukunft ein sorgenfreies Leben bescheren wird. Während wir im anderen Fall über kurz oder lang ge zwungen wären, Fulton zu veräußern...« Lady Lydia musterte ihren Mann ein paar Augenblicke lang schweigend. Sie schien nicht glauben zu können, was sie da eben ge hört hatte. Schließlich fragte sie kühl: »Ist das auch wahr? Oder sagst du das nur, um deinen Willen durchzusetzen, John? Ich bitte dich, sei ehrlich zu mir. Du darfst mich in dieser wichtigen Entscheidung nicht beschwindeln.« »Das tue ich nicht, bei Gott«, murmelte er mit belegter Stimme und wich ihrem Blick aus. Er schämte sich, die traurige Wahrheit so offen aussprechen zu müssen, doch Lydia hatte ihm ja keine andere Wahl gelassen. »Also schön, wenn dies stimmt, bleibt uns nichts anderes übrig, als Huddelton in die engere Wahl zu ziehen. Allerdings lehne ich es ab, ihm Josefine sofort zuzuführen. Wir haben noch weitere Bewerber um ihre Hand, die durchaus in Frage kommen.« Sie nahm eine kleine Lis te, auf der sich ein gutes Dutzend Namen befanden und reichte sie ihrem Mann. »Bitte, lies dies und sage mir dann, ob es außer Huddel ton keine andere Möglichkeit gibt.« Lord John überflog die Namen. Er kannte sie alle, die jungen Ga lane aus den ersten Familien des Landes. Aber keiner war darunter, der in Ansehen und Vermögen mit dem fünften Lord of Newstead hät te konkurrieren können. »Shrewsburry übernimmt mit seiner Volljährigkeit die Ländereien in Eastwick«, hörte er seine Frau sagen. »Josefine hätte dort ein an genehmes Leben, zumal sie sehr erdverbunden ist...« »Der Wycount hat nicht genügend Vermögen«, warf Lord John ein. »Und Bounsley? Sein Vater verkehrt im Königspalast.« »Lydia, ich bitte dich...« Der Burgherr ließ die Liste sinken und musterte seine Frau streng. Diese senkte den Blick und seufzte be 26
kümmert. »Ja, ich weiß, du wirst es dumm und einfältig finden, doch ich versuche nur, Josefine ein Leben an der Seite von Huddelton zu ersparen. Es muss doch einen Weg geben, der uns hilft und sie nicht vollkommen unglücklich macht.« »Wer sagt dir denn, dass sie unglücklich werden wird? Ich denke, wir sollten Huddelton einladen, damit sie ihn kennen lernen kann. Viel leicht geschieht ja etwas, womit wir alle nicht gerechnet haben und sie findet Gefallen an ihm. Wenn nicht, muss sie sich fügen. Uns bleibt nicht viel Zeit, um Besitz und Namen vor dem Untergang zu bewah ren...« Miss Sophie, die noch immer vor der Tür stand und lauschte, be kam bei dieser letzten Bemerkung ihres Vaters doch einen Schreck. Sie war auf Fulton-Castle geboren und aufgewachsen, sie kannte nichts anderes. Die Burg war ihre Heimat, der einzige Platz, an dem sie leben wollte und konnte. Unter gar keinen Umständen würde sie von hier fortgehen. Dass Josefine Sir William Huddelton heiraten sollte, konnte Sophie nur recht sein. Er war überall für seine üblen Angewohnheiten und seine rauen Sitten verschrien. Die feine Gesellschaft schnitt ihn. Und doch war er immens reich. Sophie lächelte kalt. Wenn das nicht die ideale Lösung war, die der Vater da gefunden hatte: Josefine würde endlich verschwinden, sie bekam einen schrecklichen Ehemann und dieser zahlte ein Brautgeld, das ihnen allen ermöglichte, weiterhin ihr Leben so zu führen, wie sie es gewöhnt waren. Die intrigante, junge Frau beschloss, dem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen... * »Ist er wirklich so kultiviert und feinfühlig, wie du sagst?« Miss Josefi ne hatte ihr schönstes Kleid angezogen, Fontange und Glockenrock aus feinster Musseline schimmerten zart in golddurchwirkten Grüntö nen und ließen sie wie eine wahre Prinzessin auftreten. Sophie fühlte sich an diesem Tag noch hässlicher als sonst neben Josefine. Doch sie wusste, dass sie sehr bald Genugtuung für all ihr ›Leiden‹ erfahren würde. In den vergangenen Tagen hatte sie Josefine beständig er 27
zählt, wie liebenswürdig, wohlerzogen und von welch blendender Er scheinung der Edelmann sei, der nun kam und um ihre Hand anhalten wolle. Josefine hatte ihr in naiver Gutgläubigkeit jedes Wort abgenom men und zeigte sich bereits sehr gespannt auf den hoch gelobten Frei er. »Natürlich ist er das«, bestätigte Sophie mit Nachdruck. Sie konn te sehr überzeugend lügen. »Du wirst von ihm begeistert sein. Ich hörte Mama sagen, dass er wunderbare Ländereien besitzt, wo du schalten und walten kannst, wie du willst.« Sie seufzte leise. »Ach ja, wenn man schön ist, steht die Welt einem offen. Ethel hatte leider nicht so viel Glück wie du.« »Sie tut mir leid«, erklärte Josefine gutherzig. »Sie hat es nicht verdient, in Armut zu leben. Gerne würde ich ihr helfen, doch wie?« »Ach, sie kommt schon zurecht«, wiegelte Sophie ab und dachte dabei gehässig: Du hilfst schon uns, das genügt... Als eine Kutsche in den Burghof fuhr, war die beleibte Tochter von Lord Thornton als erste am Fenster. Sie starrte neugierig auf das dunkle, düster wirkende Gefährt, dessen Türen vornehme Wappen zierten. Auf dem Bock saß ein dürrer Kutscher, der mit hellem, ste chendem Blick auf das Fenster schaute, hinter dem Miss Sophie sich die Nase platt drückte. Beinahe hätte sie einen erschrockenen Schrei ausgestoßen, besann sich dann aber eines Besseren, wandte sich vom Fenster fort und riet Josefine, ihre Toilette zu beenden. »Dein Verehrer ist gerade eben angekommen.« Das schöne Mädchen errötete leicht. »Wie sieht er aus?« »Ich weiß es nicht. Und es gehört sich auch nicht, heimlich zu spitzen. Du wirst ihn ja gleich kennen lernen.« »Ach, Sophie, ich bin wirklich aufgeregt«, bekannte Josefine da. »Du hast mir schon so viel von ihm berichtet. Ich meine fast, ich ken ne ihn, ihm jetzt gegenüberzutreten, sollte eigentlich keine Überra schung mehr bergen. Und doch klopft mein Herz so ungestüm in der Brust...« »Vielleicht wird euer Kennen lernen ja doch eine Überraschung«, merkte Sophie gehässig an. »Nun komm. Rasch!« Sie nahm die Hand des schönen Mädchens und zog es eilig hinter sich her. Hektische, rote 28
Flecken hatten sich auf Sophies Hals gebildet, sie konnte es kaum noch abwarten, die beneidete Stiefschwester erbleichen zu sehen... Sir William Huddelton, der fünfte Lord of Newstead, hielt sich be reits im Empfangszimmer auf. Der Hausherr hatte ihn förmlich begrüßt und er lehnte einen Willkommenstrunk nicht ab. Lady Lydia stand am Fuß der Freitreppe, die die Mädchen nun hinunter kamen. Ihr sowieso meist blasses Gesicht hatte noch einen Hauch mehr Farbe verloren und in ihren hellen Augen leuchtete ein geisterhaftes Licht. Miss Jose fine konnte sich nicht erklären, was geschehen war. In solch seltsamer Verfassung hatte sie ihre Ziehmutter noch niemals zuvor erlebt. Da sie aber von klein auf gelernt hatte, einen gewissen, respektvollen Ab stand zu Lady Lydia zu halten, wagte sie nicht, nach dem Grund ihrer offensichtlichen inneren Erregung zu fragen. »Mein Kind, du sollst nun deinen zukünftigen Bräutigam kennen lernen«, sagte sie mit ruhiger Stimme, die in keinem falschen Ton ver riet, wie es ihr wirklich ums Herz war. Nach außen hin blieb Lady Lydia beherrscht wie stets, doch sie bereute schon jetzt, dieses zauberhafte Geschöpf des schnöden Mammons wegen so zu verschachern. »Wir haben dich Manieren und Anstand gelehrt. Und ich muss dich gewiss nicht daran erinnern, wie eine Dame von Stand und Herkunft sich zu betragen hat. So komm nun, man wartet bereits auf dich.« Sie nahm Josefines Hand, winkte Miss Sophie, die folgen wollte, zurück und be trat dann zusammen mit dem schönen Mädchen das Empfangszimmer. Sir William unterhielt sich mit dem Burgherren und drehte ihr im ersten Moment den Rücken zu. Als Lord John den Blick wandte, drehte auch der Gast sich um. Er kam ein paar Schritte näher, schaute Miss Josefi ne an - und diese hatte das Gefühl, dass dies nur ein schlechter Scherz sein konnte. Verwundert blinzelte sie, noch ganz ungläubig, aber zu gleich schlich sich bereits die Erkenntnis in ihr Herz, dass der Mann, der hier vor ihr stand, nicht im Geringsten den Lobeshymnen nahe kam, die Miss Sophie gesungen hatte. Sir William war groß und massig. Weder die Eleganz der Hof schranzen, noch der rustikale Charme des Landadligen waren ihm zu eigen. Er wirkte unbeholfen, das Sherryglas in seiner groben Hand schien brechen zu müssen, wenn er die Finger auch nur einen Zoll 29
fester schloss. Sein Haar war von einem blassen Rot, bereits an vielen Stellen gelichtet und struppig. Seine Kleidung, teuer und kostbar, wirk te doch vernachlässigt und in keiner Weise einem solchen Besuch an gemessen. Sein massiger Schädel mit dem Stiernacken aber gab ihm ein ebenso brutales wie gemeines Aussehen. Die kleinen hellblauen Augen starrten das schöne Mädchen listig an, die Nase war knollig und vom übermäßigen Alkoholkonsum bereits rot verfärbt. Der schmale Mund sprach von Unehrlichkeit. Nein, dieser Mann war weder kulti viert, noch feinfühlig. Er machte einen verheerenden Eindruck auf Jo sefine. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre davon gelaufen, nachdem sie den ersten Schrecken verwunden hatte. Doch sie wusste, was man von ihr erwartete. Sie durfte Sir William, der doch Gast auf Fulton-Castle war, nicht so offensichtlich brüskieren. Zugleich spürte sie auch die strengen Blicke ihrer Zieheltern. Also gab sie sich einen Ruck, streckte ihre zierliche Rechte aus und erklärte: »Ich bin geehrt, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen, Sir William. Und ich kann nur hoffen, dass Ihr Euch auf Fulton wohl fühlen und Euren Aufenthalts genießen werdet.« Das grobe Gesicht des Adligen entspannte sich, er lächelte sogar ein wenig, als er erwiderte: »Dessen bin ich ganz sicher, jetzt, da ich Euch kennen lernen durfte, Miss Josefine.« Lord John atmete hörbar auf und schlug vor: »Wir wollen noch ei nen Schluck unter Männern trinken und uns ein wenig unterhalten. Wäre Euch das angenehm, Sir William?« Man sah ihm an, dass er seine Zeit lieber in Gesellschaft von Jo sefine verbracht hätte, doch er stimmte zu, denn trotz seines wenig einnehmenden Äußeren gab auch Sir William viel auf Anstand und Eti kette. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, die Tochter des Hauses zu bitten: »Werdet Ihr mir die Ehre erweisen, beim Diner meine Tisch dame zu sein, so würde ich mich überaus glücklich schätzen.« Das schöne Mädchen nickte stumm und mit niedergeschlagenem Blick, eh es den Raum an der Seite der Ziehmutter verließ. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, bat Miss Josefine mit ersti ckender Verzweiflung: »Bewahrt mich vor diesem Mann, liebste Mut 30
ter, er ist mir widerlich! Lieber würde ich eine Natter an meinem Busen nähren, als ihm angehören zu müssen!« Lady Lydias Miene verschloss sich. Mochte sie bis gerade eben mit ihrem Gewissen gerungen und noch immer nach einem Ausweg ge sucht haben, niemals wäre sie fähig gewesen, dies ihrer Ziehtochter gegenüber zuzugeben. Der Entschluss war gefasst. Und Josefine hatte sich zu beugen. Dies war der Lauf der Welt. »Ich muss dich bitten, zu schweigen«, mahnte sie daher mit gleichgültiger Stimme. »Sir William ist einer der reichsten Männer des Landes, die beste Partie, die ein Kind deines Standes und deiner Her kunft nur machen kann. Da ist es in der Tat völlig unpassend, deine kindischen Vorbehalte in dieser übertriebenen Weise vorzubringen.« »Aber, My Lady, bitte...« Sie verstummte, denn ein Blick aus den kalten Augen der Ziehmutter bedeutete ihr kompromisslos, dass Bitten und Flehen hier nicht auf Erhörung hoffen konnten. »Kehre auf dein Zimmer zurück und warte, bis man dich ruft«, wies Lydia sie bestimmt an. »Du wirst Sir William beim Diner ein wenig besser kennen lernen.« Und etwas milder fügte sie noch hinzu: »Si cherlich werden deine kindischen Bedenken dann von ganz allein schwinden.« * Miss Sophie gab sich ahnungslos. »Woher sollte ich denn wissen, dass Sir William nicht deinem Geschmack entspricht? Ich habe bloß wieder holt, was ich hörte. Und man redet überall nur in höchster Anerken nung von ihm. Oder willst du mich eine Lügnerin nennen?« »Nein, natürlich nicht. Ich vertraue dir, Sophie«, erwiderte Jose fine bekümmert. »Doch der Augenschein weicht so vollkommen von dem ab, was ich nun erlebt habe. Ein unsympathischer, ein widerlicher Mensch...« Sie seufzte zittrig. »Und die Eltern scheinen ihn ganz an ders zu sehen als ich. Was soll ich nur tun, wenn sie mich zwingen, seine Frau zu werden?« Sophie hätte jubilieren mögen bei dieser Vorstellung. Aber sie schaffte es hervorragend, ihre wahren Gefühle zu verschleiern, be 31
hauptete scheinbar sehr mitfühlend: »Wenn Sir William tatsächlich ein so unangenehmer Mensch ist, wie du sagst, wird dich gewiss niemand zwingen, ihn zu heiraten. Die Eltern schon gar nicht. Was für einen Grund sollten sie haben, dein Unglück zu wollen? Das ist ganz ausge schlossen. Warte nur ab, es wird sich gewiss alles aufklären und zum Guten wenden.« »Du hast so viel Hoffnung, die mir nach dieser ersten Begegnung ganz fehlt«, stellte Miss Josefine gramvoll fest. »Was, wenn mich kei ner versteht, wenn ich doch...« »Du solltest aufhören, dir so viele Gedanken zu machen«, riet So phie ihr nachdrücklich. »Kleide dich lieber um, bald wird gegessen. Und man erwartet uns pünktlich im Speisesaal.« Josefine nickte angedeutet. Sie verspürte keinerlei Neigung, zum gemeinsamen Abendessen zu erscheinen. Doch sie wusste, was man von ihr erwartete und dass sie die Zieheltern nicht enttäuschen durfte. Trotzdem graute ihr bereits vor dem Wiedersehen mit dem Mann, den sie heiraten sollte... Sir William hatte in der Zwischenzeit reichlich dem Alkohol zuge sprochen. Er war ein geübter Trinker, denn es gelang ihm mit Leich tigkeit, den Burgherren in Menge und Trinkfestigkeit zu überflügeln. Während Lord John dann beim Diner mit seinem labilen Zustand zu kämpfen hatte und schweigend aß, bestritt Sir William beinahe die gesamte Konversation und schäkerte mit Josefine, der dies mehr als peinlich war. Der fünfte Lord of Newstead schien ein unmäßiger und hemmungsloser Mensch zu sein, sonst wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, sich im Hause seiner zukünftigen Braut bereits am ersten Abend zu betrinken. Dass weder Lord John, noch Lady Lydia an sei nem Verhalten Anstoß nahmen, konnte Josefine nicht begreifen. Und es machte ihr zudem Angst. Wenn beide schwiegen, alles hinnahmen, was der Gast tat, dann konnte dies eigentlich nur eines bedeuten: dass sie mit allem einverstanden und Sir William gegenüber völlig kritiklos waren. Das schöne Mädchen verstand nicht, wie dies hatte geschehen können. Sie kannte die Thorntons als kultivierte und vornehme Men schen. Nie und nimmer hätte sie sich vorstellen können, dass diese mit einem Mann wie diesem Huddelton auch nur ein Wort wechseln wür 32
den. Geschweige denn, ihn in ihr Haus einzuladen, zu bewirten und daran zu denken, ihm die Hand ihrer Ziehtochter zu geben. Das war ebenso unfassbar wie schrecklich für Josefine. »Mein schönes Kind, Ihr seid so schweigsam«, stellte der Besu cher nun, an sie gewandt, fest. »Ich kann nicht abstreiten, dass ein schweigsames Weib damit auch einen großen Vorzug besitzt. Doch in der jetzigen Situation würde es mir schmeicheln, Eure süße Stimme ein wenig öfter zu vernehmen.« Miss Josefine lächelte schwach. »Mir ist nicht ganz wohl, Sir, bitte entschuldigt deshalb meine Schweigsamkeit.« Sir William lachte dröhnend. »Wir sprachen dem Wein zu und der kleinen Lady ist nicht wohl. Köstlich, nicht wahr, mein lieber Thorn ton?« Der Lord wollte etwas erwidern, aber sein Gast hörte gar nicht hin. Er begann, von seinem Anwesen in Nottinghamshire zu berichten und endete schließlich mit der Feststellung: »Es wird Euch dort gewiss gefallen, meine kleine Josefine. Ich werde Euch jeden Wunsch von den Augen ablesen und Euch ein Leben bieten, von dem Ihr nicht einmal träumen könntet.« Er legte seine große Hand auf ihre schmale Rechte und lächelte ihr vertraulich zu. Josefine hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Die Nähe des Mannes, der ihr auf Anhieb so zuwider gewesen war, brachte sie fast aus der Fassung. Doch sie spürte die warnenden Blicke von Lady Lydia und bemühte sich deshalb, die Form zu wahren. Mit leicht zitternder Stimme, aber äußerlich gefasst erwiderte sie: »Ihr schmeichelt mir, Sir William. Aber ich muss Euch trotzdem bitten, mich jetzt zu entschuldi gen. Wie gesagt, mir ist nicht wohl und ich werde mich leider niederle gen müssen.« »Ach, wie schade. Nun, dann wünsche ich rasche Genesung. Ich hoffe sehr, wir sehen uns morgen wieder!« »Gewiss«, beeilte Lady Lydia, zu versichern. Sie erhob sich eben falls, um Josefine nach draußen zu begleiten. Miss Sophie, die neugie rig die sich ihr bietende Szene verfolgt und dabei sogar das Essen ver gessen hatte, lächelte Sir William errötend zu. Dieser kümmerte sich allerdings nicht um die pummelige Tochter der Thorntons, sondern 33
fragte den Hausherrn ohne Zögern: »Wie wäre es zum Abschluss des Mahls mit einem kräftigen Schluck, mein Lieber? Sicher könnt Ihr auch einen vertragen!« Lord John seufzte leise und lächelte bekümmert. »Sicher...« Während die Herren noch lange dem Trunk zusprachen, lag Jose fine weinend in ihrem Bett und vermochte nicht, sich zu beruhigen. Die Begegnung mit Sir William hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Noch schlimmer als die Enttäuschung über das wenig angenehme We sen ihres Bräutigams aber war die Reaktion ihrer Zieheltern für sie gewesen. Dass diese es scheinbar ganz normal fanden, sie diesem widerlichen Menschen zur Frau zu geben, konnte und wollte sie nicht begreifen. Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung, um wenigstens verstehen zu können, was hier vor sich ging. Doch es gab keine, zu mindest keine, die sich ihr offenbart hätte. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als Josefine ihr Bett ver ließ. Sie fand einfach keinen Schlaf, hoffte, in einem der Salons noch jemanden wach zu finden, mit dem sie sprechen konnte. Sie wusste, dass Lady Lydia in letzter Zeit recht spät zu Bett ging. Auch wenn die Ziehmutter ihr nicht erklären wollte, was sie dazu bewog, Sir William als geeigneten Ehemann anzusehen, so würde sie vielleicht zumindest ein wenig Trost bei der Frau finden, die ihr trotz aller Herzenskälte doch keine schlechte Mutter gewesen war. Miss Josefine befand sich in einem nervlich überaus angespannten Zustand. Was seit der Ankunft des Gastes geschehen war, hatte ihr sehr zugesetzt. Sie sehnte sich nach einem Menschen, mit dem sie offen sprechen konnte, der ihre Nöte verstand. Ob Lady Lydia dieser Mensch sein konnte, wagte sie jedoch zu bezweifeln. Doch sie musste es versuchen... Auf leisen Sohlen schlich die Schlaflose die Freitreppe hinunter, durchquerte die Halle. Eine bleierne Stille lag über Fulton-Castle, die Menschen schliefen. Doch nicht alle, wie Josefine gleich darauf fest stellen konnte. Aus einem der Salons drangen noch gedämpft Stimmen und Geräusche. Nach kurzem Zögern beschloss sie, dort ihr Glück zu versuchen. Langsam näherte Josefine sich der Tür, die nur angelehnt war. Drinnen unterhielten sich zwei Männer, die offensichtlich betrunken 34
waren. Ihre Stimmen klangen müde und unsicher, doch was sie spra chen, erschreckte die junge Frau zutiefst. »Es ist nicht richtig, das weiß ich genau. Und doch kann ich nichts dagegen tun«, sagte der Hausherr gerade und seufzte dabei zutiefst bekümmert auf. Sir William lachte, doch es war kein gutes Lachen. Hinterhältig pflichtete er dem Hausherren bei: »Ihr habt es erfasst, es gibt nichts, was Ihr dagegen tun könnt. Morgen werdet Ihr die Verlobung aus sprechen. Ich dringe auf eine rasche Hochzeit, damit ich bald nach Newstead zurückkehren kann.« »Aber könnten wir denn nicht...« »Was wollt Ihr? Mich übers Ohr hauen? Ich habe bereits das Brautgeld bezahlt. Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, wie dringend Ihr des sen bedürft? Ihr, My Lord, steht vor dem Ruin. Und ich bin der einzige Riegel, der die Tür zum Abgrund für euch verschließen kann. Also fügt Euch, wie es abgesprochen war!« »Was erdreistet Ihr Euch? Ich...« »Schweigt endlich!« Josefine zuckte bei diesen derben, respektlosen Worten er schrocken zusammen. Was hatte das Verhalten Sir Williams nur zu bedeuten? Wer gab ihm das Recht, so mit ihrem Ziehvater zu spre chen? Am liebsten hätte sie diese Frage jetzt und auf der Stelle an ihn gerichtet. Doch sie schwieg und blieb unentdeckt, denn sie ahnte, dass dies das Beste für sie war. »Es war falsch, sich an Euch zu wenden«, murmelte Lord John nach einer Weile bedrückt. »Ihr, Sir, seid kein Mann von Ehre. Und ich fange langsam an, mein Weib zu verstehen, das eine Bindung an Euch für Josefine spontan ausgeschlossen hat.« Sir William lachte und die heimliche Lauscherin hatte das unange nehme Gefühl, dass er Lord John auslachte. »Moralische Bedenken sind in diesem Fall ohne Bedeutung. Ihr wisst genau, worum es geht. Und ich spreche nicht von Euren Schulden oder dem erbärmlichen Ver such, den Schein zu wahren. Eure Ziehtochter gehört mir, Sir und ich werde sie mit mir nehmen. Mit oder ohne den Segen der Kirche!« 35
Bei dieser harschen Drohung wich Josefine zurück, wandte sich ab und huschte, so schnell die Füße sie trugen, zurück in ihr Zimmer. Erst nachdem sie die schwere Tür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, wurde sie ein wenig ruhiger. Ihr Herz aber pochte noch eine ganze Weile in heißer Empörung über die Worte des Gastes. Er hatte gespro chen wie ein Dieb, ein Verbrecher, der sich gewissenlos nahm, was Recht und Gesetz ihm verweigerten. Hatte es noch eines letzten Be weises bedurft, dass dieser Mann keinen Charakter und Anstand be saß, nun wusste Josefine es gewiss. Zugleich aber glomm ein leiser Hoffnungsfunke in ihrem Innern verhalten auf. Nach diesen offenen Worten konnte Lord John sie nicht mehr dem Mann überlassen, der so verderbt und charakterlos war. Gewiss würde Sir William bereits am nächsten Morgen abfahren und nie wieder nach Fulton-Castle zurück kehren. Mit dieser heimlichen Hoffnung im Herzen gelang es Josefine schließlich doch noch, einzuschlafen. * Früh am nächsten Morgen, Miss Josefine lag noch in einem leichten, erschöpften Schlummer, hielt Sophie sich bereits bei ihrer Mutter auf. Sie half Lady Lydia bei der Morgentoilette, da diese sich seit einer Wei le keine eigene Zofe mehr leisten konnte. Miss Sophie nutzte die Gele genheit, um weiter in ihrem Sinne gegen Josefine zu intrigieren. »Sir William scheint ja großen Eindruck auf sie gemacht zu ha ben«, sagte sie nun gerade mit ehrlich wirkender Überzeugung. »Na türlich tut Josefine so, als könne sie ihn nicht leiden. Aber ich weiß, dass das Gegenteil der Fall ist.« Mit geschickten Fingern flocht sie das lange Haar der Mutter zu einer ansprechenden Hochfrisur. Lady Lydia musterte ihre Tochter im Spiegel misstrauisch. »Wie kommst du zu diesem Schluss, Sophie?« »Nun, ganz einfach: Josefine sagt eigentlich nie direkt, was sie denkt. Ich weiß, sie versteht es hervorragend, sich einen offenen und ehrlichen Anstrich zu geben. Doch in Wahrheit verschließt sie ihre Ge fühle in ihrem Herzen. Sie ist schüchtern und ängstlich, möchte nicht, dass man über sie lacht.« 36
»Und dir gegenüber ist sie offen? Ich hatte eher den Eindruck, dass ihr beide euch nicht gut versteht.« »Oh, das gehört der Vergangenheit an. Ethel war es, die immer auf Josefine neidisch war. Seit sie fort ist, kommen wir eigentlich recht gut miteinander aus. Und deshalb hat sie mir auch anvertraut, dass Sir William einen ganz eigenen Reiz auf sie ausübt. Freilich würde sie dies nie offen zugeben. Aber die Vorstellung, seine Frau zu werden, nun, die gefällt ihr durchaus.« Die Lady sagte zunächst nichts, doch ihre nachdenklich geworde ne Miene bewies Sophie, dass ihre Worte auf fruchtbaren Boden ge fallen waren. Also legte sie gleich noch nach. »Ich würde mir ja selbst einen Ehegemahl wie Sir William wün schen. Doch leider hätte der kaum ein Auge für mich, fürchte ich. Jo sefine hat es da sehr viel besser...« »Sie tat gestern so, als sei Sir William ihr sehr zuwider. Und ich kann mir nicht denken, dass sie ihre wahre Gesinnung dermaßen gut zu verbergen versteht. Gewiss hast du etwas falsch verstanden, So phie.« »Oh, nein, das habe ich nicht!«, beharrte sie mit Nachdruck. »Jo sefine ist in Sir William verliebt.« »Nun gehst du aber wirklich zu weit mit Spintisieren«, rügte die Mutter und erhob sich mit einem Ruck. »Lass mich jetzt allein, So phie.« »Jawohl, Mutter.« Das rundliche Mädchen zog hinter dem Rücken der Lady einen Flunsch. Wie es schien, schlug Lydias Herz noch immer für Josefine. Doch das würde ihr auch nichts nützen. Sophie wusste schließlich aus erster Hand, dass der Handel mit Sir William gar nicht mehr zu lösen war... Als Miss Josefine eine Weile später hoffnungsfroh zum Frühstück erschien, prallte sie in der Tür zum Speisezimmer erschrocken zurück. Was war das? Sir William saß mit den Eltern am Tisch, als sei nichts geschehen und alles in bester Ordnung? Das konnte, das durfte nicht sein! Sie spürte, wie sich alle Augen auf sie richteten und ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass es zu spät war, sich heimlich davon zu stehlen, um ihrer Bestürzung Herr zu werden. Zu allem Überfluss kam 37
auch noch Sir William auf sie zu, lächelte einnehmend und verbeugte sich galant. Von dem desolaten Zustand, in dem er sich noch vor wenigen Stunden befunden hatte, war nichts mehr zu ahnen. Doch Josefine wusste, was sich im kleinen Salon abgespielt hatte, die Worte klangen ihr noch in den Ohren. Und sie konnte dem Gast nicht in die Augen sehen, ohne vor Scham zu erröten. »Meine Liebe, ich bin glücklich, Euch wieder wohlauf zu sehen«, sagte er freundlich und nahm ihre Rechte. Sie wollte sich ihm entzie hen, doch sein Griff war fest und unter der Larve von Freundlichkeit warnten seine hellen, kalten Augen sie deutlich davor, ihm nicht zu folgen. »Euer Vater hat eine Erklärung abzugeben. Doch zuvor lasst mich euch dies geben, es sei das Zeichen unserer Verbundenheit und meiner großen Wertschätzung für Eure Schönheit und Euren unüber botenen Liebreiz.« Er steckte ihr einen prächtigen Ring an den Finger, der Miss So phie entzückt aufseufzen ließ, noch ehe sie recht wusste, was sie tat. Schließlich hätte diese Reaktion doch eher der Braut zugestanden, die der Ring aus Miss Josefine machte. Aber sie starrte nur ungläubig und wie im Schock auf den tiefrot schimmernden Karfunkelstein, der, in warmes Gold gebettet, von allerlei kleineren Juwelen begleitet wurde. Es war ein Schmuckstück, würdig einer Königin. Doch dem jungen Mädchen erschien der Ring wie das Siegel seines Verderbens. Wie gerne hätte Josefine ihn von sich geschleudert, sich endlich gegen dieses böse Spiel gewandt, in dem ganz offensichtlich alle nur ihr Un glück wollten. Doch da hörte sie den Lord auch schon sagen: »Ich spreche hiermit Eure Verlobung aus, Miss Josefine Banks, mit dem ehrenwerten Sir William Huddelton, dem fünften Lord of Newstead.« »Nein!«, wollte sie schreien, doch über ihre Lippen kam nur ein Hauch, den Sir William mit einem jovialen Lächeln kommentierte. »Meine wunderbare kleine Braut, wie bezaubernd Ihr seid, gerade jetzt...« Er küsste ihre Hand und schaute ihr dabei forschend in die Augen. Seine Stimme klang wohlwollend, doch vor seinem Blick schauerte Josefine zurück. So viel Kälte und Verschlagenheit drückte 38
sich in diesen Augen aus, die wohl schon allerlei Böses gesehen, aber nur sehr wenig Gutes bewusst wahrgenommen hatten. »Die Hochzeit wird auf den vierzehnten Mai dieses Jahres festge setzt«, fuhr Lord John fort. »Bis dahin steht es dem Bräutigam frei, sich hier auf Fulton-Castle aufzuhalten oder seinen Geschäften bis zu diesem Termin nachzugehen.« Sir William lächelte charmant. »Ich bleibe selbstverständlich. Es sind ja nur noch ein paar Tage...« * Die Zeit bis zur Vermählung verging für Josefine viel zu schnell. Sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg, sie dachte in ihrer Angst sogar daran, fortzulaufen und irgendwo Unterschlupf zu suchen, selbst wenn es in der ärmsten Hütte des kleinsten Bauern gewesen wäre. Alles erschien ihr besser, als diesen ihr zutiefst verhassten Mann heiraten zu müssen. Doch nichts half. Kein Ausweg tat sich der Verzweifelten auf, keine helfende Hand streckte sich ihr entgegen. In der Nacht vor der Hochzeit schlich Miss Josefine sogar zu der alten Köchin und bat sie, ihr etwas über die Nacht zu erzählen, als sie gefunden wurde. Mrs. Halloway berichtete wahrheitsgemäß, was sie wusste und endete, wie stets mit dem Satz: »Die Depesche, die Aus kunft über Euer Herkommen geben sollte, hat der gnädige Herr an sich genommen. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen und weiß, bei Gott, nicht das Geringste über ihren Inhalt.« »Gibt es denn sonst keinen Menschen, den ich fragen könnte?«, sinnierte Josefine. Sie war am Ende ihrer Weisheit und es schien nun tatsächlich so, als könne nichts und niemand sie mehr vor ihrem fins teren Schicksal bewahren. »Warum fragt Ihr nicht den gnädigen Herren? Er hat sie gewiss aufbewahrt. Und nun, da Ihr im Begriff steht, Euch zu vermählen, wird er wohl keine Einwände haben, sie Euch zu übergeben.« »Ja, vielleicht sollte ich das tun«, murmelte die schöne Braut be klommen. »Ich danke dir.« 39
»Keine Ursache. Und Gottes Segen.« Die Alte drückte ihr herzlich beide Hände, ihr guter Wunsch war ernst gemeint, doch auch er konn te gegen die Unbill, die sich am Horizont zusammenballte wie schwere Gewitterwolken, nichts ausrichten. Am nächsten Morgen, in aller Frühe, erschienen Dienerinnen, die der Braut bei den Vorbereitungen für das große Fest behilflich sein sollten. Auch Lady Lydia war da, um alles zu überwachen. Bevor Jose fine aber Hand an sich legen ließ, bat sie die Ziehmutter nachdrücklich um eine kurze Unterredung. Die Lady war davon wenig begeistert, der Zeitplan drängte, die Hochzeitsmesse in Edinburgh sollte pünktlich beginnen. Doch die Braut ließ nicht mit sich handeln und so beugte Lydia sich schließlich ihrem Begehr. »Ihr wisst, dass ich Sir William verabscheue und die Vermählung gegen meinen Willen geschieht«, erklärte sie dann gefasst und wählte dabei bewusst die distanzierte Anrede. »Da ich aber offensichtlich nichts dagegen tun kann, will ich mich fügen. Warum Ihr mein Unglück wünscht und wissentlich herbeiführt, weiß ich nicht, doch diese Schuld wird allein Eure Seele belasten. Bevor ich aber tue, was Ihr verlangt, stelle ich eine Forderung, die Ihr als Voraussetzung für mein Wohlver halten ansehen mögt.« »Du hast nichts zu fordern, Josefine«, erwiderte Lady Lydia kalt. »Wir haben dich am Leben gehalten, haben dafür gesorgt, dass du nicht im Winter erfroren bist. Du verdankst uns alles. Und ich sehe es als kleine Gefälligkeit an, wenn du dich jetzt in unsere Wünsche fügst. Nicht mehr. Denn die Heirat mit Sir William ist durchaus nicht das Mär tyrerstück, das du hier aufführst. Er ist einer der reichsten und ange sehensten Männer des Landes. Du kannst dich glücklich schätzen, dass er unter allen Jungfrauen Schottlands dich gewählt hat. Also schweige nun und höre auf, wichtige Zeit zu vergeuden, die für die Vorberei tungen benötigt wird. Komm.« Sie streckte ihre blasse schmale Hand aus, doch Josefine hatte sich noch nicht ergeben. In einem letzten Anflug von Auflehnung forderte sie zu wissen: »Was steht in der Depesche, die einst in meinem Babykorb lag?« 40
Lady Lydia erschrak sichtlich, fing sich aber sofort wieder. Ge fährlich leise forderte sie zu erfahren: »Wer sprach dir davon? Wie kannst du dies erfahren haben?« »Ich weiß es. Genügt dies nicht? Jetzt, da ich erwachsen genug bin, zu heiraten, möchte ich sie lesen.« Die Burgherrin lachte abfällig. »Ich warne dich, Miss Josefine, hüte deine Zunge und erwähne diese Depesche nie wieder. Und nun füge dich. Oder aber ich werde dafür sorgen, dass du es tust.« Sie starrte das junge Mädchen so kalt und zwingend an, dass es schließlich resig nierte. Mit niedergeschlagenem Blick folgte Josefine der Ziehmutter, um sich für die Hochzeit herrichten zu lassen. Sie tat es mit kaltem Herzen und sinkendem Lebenswillen. Viel hätte sie darum gegeben, all dies niemals mitmachen zu müssen. Zum ersten Mal, seit Josefine be wusst denken konnte, wünschte sie sich, das einfältige Küchenmäd chen Cecil hätte in jener Nacht vor vielen Jahren einen besseren Schlaf gehabt und wäre nicht auf ihr Weinen vor dem Burgtor aufmerksam geworden. Wie viel wäre ihr dann erspart geblieben... * Der jubilierende Schall des Domgeläutes verbreitete die Kunde einer hochadeligen Hochzeit bis in die letzte Gasse von Edinburgh. Doch es war keine frohe Kunde, zumindest nicht für die Braut, die im kostbaren Seidengewand und tief verschleiert in die von sechs weißen Pferden gezogene, prunkvolle Kutsche stieg und der das frohe Vivat von Neu gierigen und Zaungästen wie Hohn in den Ohren klang. Sir William zeigte sich überaus zufrieden. Aus dem aufgezwunge nen Bräutigam war ein Angetrauter geworden, die abweisende Braut sollte sein werden. Als er nun neben ihr in der Kutsche saß und die Fahrt rasch voran ging, sprach Josefine kein einziges Wort. Ihr Herz schien kaum noch zu schlagen, sie war wie erstarrt und ihre schmalen Hände krallten sich eisig in den kostbaren Stoff des Hochzeitskleides. »Habe nur keine Furcht, meine Kleine«, mahnte William sie mit aufgesetzter Freundlichkeit. »Du wirst bei mir nicht nur ein neues Da heim finden, sondern auch dein Lebensglück.« 41
Die junge Braut schwieg noch immer. Ihr schönes Gesicht wirkte wie eine Maske, während die Gedanken wie irre gewordene Wolken durch ihren Kopf hasteten, ohne dass sie einen hätte festhalten und zu Ende denken können. Der Abschied von Fulton-Castle kam ihr in den Sinn, der letzte Blick auf das trutzige Gemäuer, das ihr doch Heimstatt gewesen war, weil sie von keiner anderen gewusst hatte. Die Ziehel tern waren seltsam fremd und kühl, nur Miss Sophie hatte sie herzlich umarmt. Doch die Tränen, die ihr über die runden Wangen gerollt wa ren, hatten mehr wie Freudentränen ausgesehen... Josefine versuchte, diese düsteren Dinge von sich zu schieben, sich innerlich zu wappnen vor dem Neuen, was auf sie wartete. Und sie gab sich alle Mühe, leidlich freundlich zu ihrem angetrauten Ge mahl zu sein, auch wenn ihr das kaum gelingen wollte. William war ihr mehr denn je zuwider und die Vorstellung, ihm angehören zu müssen, peinigte ihre reine Seele. Die Fahrt nach Newstead dauerte beinahe den ganzen restlichen Tag. Sir William ließ gegen Mittag bei einer Schenke halten, wo man ein einfaches Essen verzehrte. Der Kutscher, ein düsterer, dürrer Kerl, dessen stechender Blick Lady Josefine Angst einjagte, hielt sich stets abseits von der Herrschaft. Als sie ihren Mann auf den seltsamen Kauz ansprach, lachte der aber nur. »Hotchkins ist eine treue Seele, ihn brauchst du nicht zu fürchten. Er diente schon meinem Vater. Mag sein, seine Art stößt manchen vor den Kopf. Aber man kann ihm trauen, sich auf ihn verlassen. Und das weiß ich zu schätzen.« Er bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »All mein Personal ist loyal mir gegenüber. Keiner würde gegen eine mei ner Anordnungen verstoßen. Das wagt niemand.« Josefine senkte den Blick, nicht zum ersten Mal fürchtete sie sich vor dem Mann, dem sie doch vor Gott angetraut worden war. Er schien ihre Regung zu erahnen, denn er strich kurz über ihre Hand und versicherte: »Du bist nun mein Weib, aber gewiss nicht meine Leibeigene. Fürchte dich nicht, Josefine. Nicht vor mir.« Am späten Abend erreichten sie Newstead Abbey, unweit von Ra venshead in der Grafschaft Nottinghamshire. Es dämmerte, aber die Dunkelheit hatte noch nicht vollends von dem landwirtschaftlich ge 42
prägten Landstrich Besitz ergriffen, so dass Lady Josefine durchaus einen ersten Eindruck ihrer neuen Heimat mit sich nahm. Die Land schaft war lieblich, geschützte Täler, grüne Felder, von Feldsteinmau ern umgeben, große alte Bäume, schmale Alleen prägten die Umge bung. Das Anwesen selbst lag eingebettet in einem Tal, das von der übrigen Landschaft so verschieden war wie der Tag von der Nacht. Kaum näherte sich die Kutsche Newstead Abbey, hatte Josefine das Gefühl, schwerer zu atmen. Die Luft, die eben noch klar und rein gewesen war, würzig und voller Sommerdüfte, legte sich hier schwer und feucht auf die Lungen. Nur wenige Bäume standen neben dem Weg, viele waren abgestorben. Und an einem hing noch ein halb ver faulter Strick, dessen erahnte Bedeutung der jungen Lady einen Schauer über den Rücken jagte. »An diesem Baum pflegte mein Großvater Verräter aufzuknüp fen«, erzählte Sir William mit schmunzelndem Vergnügen. Seine auf gesetzte Fürsorglichkeit hatte grober Missachtung Platz gemacht. Er schien vergessen zu haben, wer neben ihm saß, behandelte Josefine wie einen Trinkbruder oder einen Diener. »Mag sein, dass ich diese Sitte irgendwann wieder einführe.« Er lachte dröhnend. Dieses Geräusch, das die junge Lady in den Ohren schmerzte, be gleitete wie eine schaurige Untermalung den ersten Blick auf das Her renhaus, dem die Kutsche sich nun näherte. Josefine hatte mit vielem gerechnet; hiermit allerdings nicht. Was sie sah, war kaum zu glauben und schwer zu fassen. Und es passte nicht im geringsten in das Bild, das Sir William auf Fulton-Castle von sich gezeichnet hatte. Das Haus war lang gestreckt, drei Fensterreihen liefen auf der Mauer entlang wie bleiverglaste Bänder. Hinter der Frei treppe führte ein hohes Tor ins Haus. Breite, quadratische Beete um rahmten die Kieswege, von mit Efeu bewachsenen, niedrigen Mauern eingefasst. Alles wirkte unbeschreiblich verwahrlost, ja beinahe unbe wohnt. Hinter den Fenstern schien sich dunkle Leere zusammenzubal len. Nur im Erdgeschoß brannte vereinzelt dünnes Licht. Die Beete waren voller Unkraut, Formschnittgehölze völlig ausgewachsen, als hätten sie nie die Schere eines Gärtners gesehen. Eine alte Zeder rag te wie ein groteskes Gespenst neben dem Eingang in die Höhe. 43
Sir William kümmerte sich nicht um seine Frau. Er wies den Kut scher an, das Gepäck ins Haus bringen zu lassen und verließ dann die Kutsche. Lady Josefine folgte ihm rasch, denn um nichts in der Welt mochte sie mit dem Kutscher allein sein. Die Halle war kaum erleuchtet. Im schwachen Schein einiger Ker zen erkannte die junge Frau eine Reihe gerahmter Porträts, vermutlich alles Vorfahren von Sir William. Am Fuß der Freitreppe, die in den ers ten Stock führte, stand eine dürre Person im schwarzen Kleid. Ihr er grautes Haar verschwand zum größten Teil unter einer einfachen Hau be. Als sie näher kam, schrak Josefine zurück, denn die Frau starrte sie aus dunklen Augen unangenehm stechend an. Sie wollte ihrem Mann folgen, doch die Frau sprach sie an. Ihre Stimme klang wie ra schelndes Papier und passte genau zu dem unangenehmen Eindruck, den sie bereits auf die junge Lady gemacht hatte. »Lady Josefine, ich bin Mary, Eure Zofe. Bitte, folgt mir«, bat sie mit scheinbarer Unterwürfigkeit, die aber nichts Freundliches an sich hatte. »Es ist alles gerichtet.« »Ich würde lieber...« Sie deutete auf die Tür, hinter der Sir Wil liam verschwunden war, denn sie hatte doch erwartet, dass er ihr zu mindest persönlich das Haus zeigte. Die alte Zofe ging nicht auf ihre Worte ein, stur wiederholte sie: »Folgt mir.« Also tat Josefine, was die Frau wollte, auch wenn sie sich nur zö gernd von Sir William entfernte. Nicht, dass sie ihn vermisste oder seine Gesellschaft herbeisehnte. Doch er war der einzige Mensch, den sie hier kannte. Und die Umgebung erschien der jungen Lady ebenso furchteinflößend wie diese seltsame, alte Frau, die vorgab, nun ihre Zofe zu sein. Mary führte Lady Josefine die Treppe hinauf zu mehreren Räumen am Ende des Gangs, die sie von nun an bewohnen sollte. Sie wunderte sich beim Eintreten darüber, dass die Zimmer sauber und heimelig wirkten und so gar nicht zum übrigen Eindruck passten, den das An wesen machte. Das Schlafzimmer war sogar hochherrschaftlich, das Bett mit Baldachin und seidenen Decken einer Königin würdig. Josefine betrachtete es mit gemischten Gefühlen. 44
Mary stand plötzlich hinter ihr und säuselte: »Ein Bad ist vorbe reitet. Danach helfe ich Euch beim Auskleiden, My Lady.« »Sir William...« Die alte Zofe lächelte verschlagen. »Keine Angst, er wird diese Räume nicht betreten.« Sie sagte dies mit einer Selbstverständlichkeit, die Wissen, ja Geheimwissen suggerierte. Welche seltsamen Ge heimnisse barg dieses Haus, das Josefine auf den ersten Blick Angst eingejagt hatte? Sie hätte Mary gerne gefragt, aber etwas in den dunklen Augen der Alten warnte sie vor allzu großer Neugierde. Nachdem die junge Lady gebadet hatte und sich zu Bett begeben wollte, wurde verhalten an ihre Tür geklopft. Sie erschrak. Hatte Mary sie beschwindelt? Kam Sir William nun, um einzufordern, was der Bi schof ihm vor Gott übergeben hatte? Dieser Gedanke war Josefine ebenso widerlich wie beängstigend. Sie reagierte nicht auf das Klop fen, in der Hoffnung, ihren Mann so zu entmutigen. Und es schien zu funktionieren, denn das Geräusch wiederholte sich nicht mehr. Nach einer Weile wagte Josefine es schließlich, einen Blick aus der Tür zu werfen. Sehr vorsichtig öffnete sie, doch draußen war niemand. Nur auf dem Boden, direkt vor der Zimmertür, lag eine einzelne tiefrote Rose... * Als Lady Josefine am nächsten Morgen aus wirren Träumen und einem überaus unruhigen Schlaf erwachte, wusste sie im ersten Moment gar nicht, wo sie sich befand. Blinzelnd betrachtete sie den Baldachin, der das Bett beschirmte und dessen dunkelroter Samt im Licht des frühen Tages wie erstarrtes Blut wirkte. Durch das gegenüberliegende Fenster schien eine makellose Sonne und vertrieb allmählich den Dunst der vergangenen Nacht. Josefine schlug die Decken zurück und erhob sich. Sie fühlte sich noch ganz zerschlagen nach der langen Reise und der unruhigen Nacht, die sie in ihrem neuen Zuhause verbracht hatte. Ihr neues Zuhause! So fremd und seltsam erschienen ihr diese Worte, mit denen sich noch kein richtiges Gefühl für sie verband. Sie 45
dachte flüchtig an Sir William. Die Vorstellung, ihm beim Frühstück zu begegnen, war ihr alles andere als angenehm. Doch sie musste sich wohl damit abfinden, schließlich war er nun ihr Gemahl... Das Geräusch einer Kutsche, die sich vom Haus entfernte, zog die Aufmerksamkeit der jungen Lady auf sich. Sie trat hinter das Fenster und spähte nach draußen. In diesem Moment erschien Mary und wünschte ihr einen guten Morgen. »Welches Kleid möchtet Ihr heute tragen, My Lady?« »Ich weiß nicht... Wer ist denn da eben fortgefahren?« »Der gnädige Herr.« Die Zofe verschwand nebenan, um die Toi lette ihrer jungen Herrin zu richten. Josefine folgte ihr. »Weißt du auch, wohin er gefahren ist, Mary?«, fragte sie, erhielt aber nicht gleich eine Antwort. Und als die Zofe schließlich den Mund aufmachte, merkte sie lediglich ironisch an: »Er wird schon ein Ziel haben.« Lady Josefine musterte die Bedienstete ärgerlich. »Was ist denn das für eine Antwort? Nun sag mir, was du weißt. Dir ist sicher be kannt, dass ich hier noch ganz fremd bin. Und da mein Gemahl es nicht für nötig hält, mich in alles einzuweihen, was das Leben in Newstead Abbey betrifft, muss ich mich eben an dich halten, verstan den?« Die alte Zofe nickte unterwürfig. »Gewiss, My Lady. Fragt nur, ich werde Euch nach bestem Wissen und Gewissen antworten.« »Schön. Also, wohin fährt mein Gemahl zu dieser noch sehr frü hen Stunde?« »Der gnädige Herr macht jeden Tag seine Inspektionsfahrten. Ich weiß nicht genau, wohin er da fährt und was er tut. Manchmal bleibt er über Tage oder sogar Wochen fort. Nur Hotchkins, der Kutscher, ist dann bei ihm.« »Und was geschieht in der Zwischenzeit hier? Ich meine, wenn der Herr so lange abwesend ist?« »Nun, nichts...« Mary biss sich auf die welken Lippen. »Wir war ten, bis er zurückkehrt.« Josefine konnte sich auf die Worte der Alten noch keinen rechten Reim machen. Doch sie ahnte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Kein Wunder, dass das Anwesen so verwahrlost war, wenn 46
sein Besitzer ständig in der Welt herumkutschierte, anstatt daheim nach dem Rechten zu sehen. Die junge Lady beschloss, einmal offen mit ihrem Gemahl zu sprechen. Hatte er schon kein Interesse an Newstead, sie würde den Haushalt gerne in ihre Hände nehmen und dafür sorgen, dass alles wieder auf Vordermann gebracht wurde. Die schöne junge Lady verspürte nämlich wenig Neigung, in einem derma ßen heruntergekommenen Haus zu leben. »Du führst mich nun durch die Räume und zeigst mir alles Wichti ge«, wies sie ihre Zofe nach dem Frühstück an. »Ich werde ent scheiden, wo und was zu ändern ist.« Mary zögerte. Und als Josefine sie nach dem Grund dafür fragte, erklärte diese: »Wir dürfen nichts verändern, nur, wenn der gnädige Herr dies angeordnet hat.« »Aber er kümmert sich ja um nichts. Und ich möchte so nicht hier leben«, hielt die Lady ihr entgegen. »Sicher wird er nicht böse sein, wenn ich bereits einiges zum Guten ändere. Außerdem werde ich gleich mit ihm darüber reden, sobald er zurückkommt.« Mary war noch immer skeptisch. Aber da ihre neue Herrin auch streng sein konnte, beugte sie sich schließlich deren Anweisungen. Den Rest des Tages verbrachte Josefine damit, das Personal auf Trab zu bringen. Niemand in Newstead schien es gewohnt zu sein, fleißig in die Hände zu spucken. Und ganz normale Arbeiten wie das Putzen von Treppen oder Böden waren hier offensichtlich unbekannt. Die junge Lady konnte sich nur wundern. Wozu hielt Sir William sich so viele Be dienstete, wenn sie doch nichts zu tun hatten? Sie begriff das nicht. Als sie endlich gegen Abend auch noch einen Gärtner anwies, die Formschnittgehölze wieder auf Vordermann zu bringen, näherte sich die Kutsche von Sir William dem Haus. Josefine war müde aber zufrie den mit ihrem Tagewerk. Und sie glaubte fest, dass ihr Gemahl sich über all die Neuerungen freuen würde, die sie bereits durchgesetzt hatte. Allerdings sollte sie sich in diesem Punkt sehr irren. Sir William war übellaunig, sein Atem roch nach Alkohol. Er hörte seiner Frau nur mit halbem Ohr zu, packte sie schließlich grob am Arm und herrschte sie an: »Wer hat dir erlaubt, hier nach Gutdünken zu schalten und zu 47
walten? Dies ist mein Haus, hier geschieht nur, was ich anordne. Und diesen Zirkus habe ich gewiss nicht angeordnet!« Lady Josefine erschrak über diese heftige Reaktion, fing sich aber rasch wieder und entgegnete mutig: »Du warst nicht da und niemand konnte mir sagen, wann du zurückkehren würdest.« »Na und? Ist das vielleicht ein Grund, mein Haus auf den Kopf zu stellen? Ich verbiete dir, eigenmächtig zu handeln. Ein für alle Mal, verstanden!« »Aber du kannst mir nicht zumuten, in einem völlig verwahrlosten Haus zu leben«, wagte sie noch, einzuwenden, doch er hörte ihr gar nicht mehr zu, sondern packte sie bei den Oberarmen, starrte ihr kalt in die Augen und drohte: »Noch eine solche Eigenmächtigkeit und du wirst es sehr bereuen. Denk an den Verräterbaum. Er steht noch dort draußen und wartet...« Josefine erbleichte, sie konnte nicht fassen, wie rücksichtslos und gemein ihr Mann sich ihr gegenüber benahm. Zugleich spürte sie, dass seine Worte keine leere Drohung waren. Er meinte es ernst. Und das war kaum zu begreifen. Sir William lächelte kalt. »Du hast mich also verstanden, gut. Und nun geh mir aus den Augen, Weib.« Er stieß sie von sich, dass sie taumelte. Dann verließ er mit polterndem Schritt den Raum. Josefine blieb wie betäubt zurück. Eine kalte, hoffnungslose Verzweiflung über kam sie. All ihre schlechten Ahnungen, ihre Abneigung diesem Mann gegenüber schienen sich nun zu bewahrheiten. Zugleich fragte sie sich, warum Sir William sie überhaupt geheiratet hatte. Er schien nichts für sie zu empfinden, ja er sah sie sogar als Störenfried in sei nem Haus an. Sie hatte ihn fragen wollen, wo er gewesen war, doch nicht einmal das traute sie sich nun noch. Zutiefst bekümmert stand sie hinter dem Fenster und blickte hinaus in den sonnigen Sommertag. In ihrem Herzen aber herrschte tiefster Winter, ein Winter der Trostlo sigkeit. Ohne dass Josefine es bemerkte, trat Mary zu ihr und bat unter würfig: »Folgt mir auf Euer Zimmer, My Lady. Der gnädige Herr hat angeordnet, dass Ihr für eine Weile dort bleiben sollt.« »Aber warum, ich...« 48
»Bitte, tut, was er sagt. Er wird sonst sehr böse...« Die junge Lady nickte ergeben. »Also schön, ich komme.« Sie ver ließ nur zögernd den Salon, wo sie sich mit Sir William gestritten hatte. Der Gang zu ihren Räumen erschien ihr wie der Antritt einer Gefan genschaft. Und ganz unrecht sollte sie mit dieser Einschätzung leider nicht haben... * Ein halbes Jahr war vergangen, der November überzog das Land mit Nebel und kühler Nässe. Trüben, grauen Tagen folgten lange, schon empfindlich kalte Nächte. Lady Josefine hatte in diesen Monaten viel Schweres durchmachen müssen und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Das schöne, ebenmäßige Gesicht der jungen Lady war schmal geworden, unter den einst strahlenden Augen hatten sich dunkle Schatten eingegraben, die von vielerlei Schrecken in ungezählten, schlaflosen Nächten sprachen. Um ihren Mund lag ein bitterer Zug. Und stets lief sie leicht geduckt herum, als sei sie auf der Flucht. In gewisser Weise stimmte dies ja auch, denn wenn Sir William in ihre Nähe kam, dann hatte Josefine keine frohe Minute. Der Hausherr von Newstead Abbey tyrannisierte seine Frau mit maßloser Ausdauer. Seit ihrer Vermählung hatte sie keine glückliche Stunde in seinem Hause verlebt. Sein Versprechen, sie gut zu behan deln und ihr ein zufriedenes Leben an seiner Seite zu scharfen, schien vergessen. Josefine war stets erleichtert, wenn ihr Mann das Haus verließ und in der Kutsche davonfuhr. Kehrte er heim, erfassten sie Angst und Zittern. Denn kein Tag verging, an dem Sir William Josefine nicht schlug, beschimpfte oder in anderer Art und Weise demütigte. Er schien sie zu hassen und doch wusste sie nicht, warum. An diesem düsteren Novembermorgen fuhr der Edelmann bereits sehr zeitig mit der Kutsche davon, die Lady lag noch in unruhigem Schlummer. Als sie schließlich erwachte, stand Mary an ihrem Bett und schlug vor: »Ihr könntet heute ausreiten, My Lady. Der gnädige Herr wird für einige Tage fortbleiben.« 49
Josefine hatte der Zofe gegenüber anklingen lassen, dass sie Pfer de liebte und früher oft Ausritte rund um Fulton-Castle unternommen hatte. Allerdings verspürte sie nun weder Kraft noch Neigung, Marys Vorschlag in die Tat umzusetzen. »Mag sein, aber ich fühle mich viel zu schwach für solch ein Un ternehmen«, wehrte sie deshalb mit müder Stimme ab. »Lieber ver weile ich noch im Bett und ruhe mich aus...« »Das könnt Ihr auch später noch. Aber ein Ausritt wird Euch gut tun, glaubt mir«, versicherte die Zofe beinahe beschwörend. »Er stärkt die Lebensgeister und sorgt dafür, dass Ihr gesund bleibt, My Lady!« »Nun gut, wenn du darauf bestehst...« Mit müder Geste verließ die junge Lady ihr Bett. Sie hatte das Gefühl, als sei alle Kraft aus ihr gewichen, die vergangenen Monate hatten ihr einfach zuviel abver langt. Die unglücklichen Lebensumstände, das abweisende und teil weise auch brutale Verhalten ihres Mannes, der nie ein liebes Wort für sie hatte, all das setzte ihr zu und sorgte dafür, dass sie sich beinahe ganz aufgegeben hatte. Die alte Zofe schien zu ahnen, wie es ihrer Herrin ums Herz war. Dass sie nun aber Mitleid und auch Fürsorge zeigte, war neu und berührte Josefine angenehm. Würde Mary viel leicht zur ersten Verbündeten, die sie in diesem Haus hatte? Nach einem kleinen Frühstück machte Lady Josefine sich dann auf den Weg. Ein Stallbursche brachte ihr die zahmste Stute und half ihr beim Aufsitzen im Damensattel. Noch ein wenig ungewohnt nach der langen Zeit war diese Position. Doch als das zahme Tier sich dann in Bewegung setzte, Josefine die frische, klare Morgenluft tief einatmete, die Weite des Landes ahnte und den Wind in ihrem Gesicht spürte, da beschlich sie beinahe zaghaft ein leises Wohlgefühl, das sie lange ver misst hatte. Sie sah nicht mehr, wie die Zofe in den Hof trat und ihr mit einem kalten, höhnischen Gesichtsausdruck hinterher starrte... Die junge Lady begann, ihren Ausflug zu genießen. Je weiter sie sich von Newstead Abbey entfernte, desto leichter wurde ihr das Herz. Sie hatte sogar das Gefühl, unbeschwerter atmen zu können. Und im stillen dankte sie Mary, die sie ja quasi zu diesem Ausritt gedrängt hatte. 50
Josefine wusste nicht, wie lange sie bereits unterwegs gewesen war, als das Wetter sich immer weiter verschlechterte. Der Wind frischte auf, es begann, aus den tief hängenden Wolken leicht zu reg nen und die Temperaturen fielen. Die einsame Reiterin wollte nach Newstead zurückkehren, doch sie musste erkennen, dass sie den Weg nicht wusste. Sie blickte sich hektisch um, saß überall nur kahle Felder, über die nun der Nebel kroch, blätterlose Bäume und einen Himmel, der mit dem Horizont verschmolz. Ihr blieb nur eines: Sie musste dem Pferd die Zügel lassen und hoffen, dass es von allein nach Hause zurückfand. Doch die betag te Stute wollte lieber äsen, statt sich auf den Heimweg zu machen. Lady Josefine trieb sie leicht mit ihrer Reitpeitsche an. Dies allerdings konnte das Tier gar nicht leiden, es reagierte überaus unwillig. Schnaubend und wie wild wiehernd setzte es sich in Bewegung, ver harrte abrupt und ging sogar kurz auf die Hinterläufe. Damit hatte die ungeübte Reiterin nicht gerechnet; sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Urplötzlich kam der Boden rasend schnell auf Josefine zu, im nächsten Augenblick spürte sie einen harten Aufschlag und meinte, Knochen brechen zu hören. Benommen blieb sie liegen, registrierte nur unterbewusst, dass ihr Pferd sich davon machte. Der Regen hatte noch an Intensität zugenommen, hing wie ein dichter Perlenvorhang über dem Land und durchnässte die Kleidung der Gestürzten rasch. Josefine versuchte, sich aufzusetzen, aber ein schlimmer Schwindel zwang sie, in ihrer liegenden Position zu verhar ren. Sie spürte, wie sich Tränen der Verzweiflung aus ihren Augen lös ten, denn ihre Lage schien aussichtslos. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren, weit und breit war niemand, der ihr hätte helfen können. Ihre einzige Hoffnung war die Stute. Kehrte sie reiterlos nach New stead zurück, würde man unverzüglich nach ihr suchen. Die junge Lady versuchte, an nichts zu denken, die Panik, die in ihr aufstieg, so zu vertreiben. Doch das war angesichts ihrer prekären Lage alles andere als einfach. Sie erinnerte sich dunkel, dass sie bei ihrer Ankunft diesen Weg mit der Kutsche genommen hatten. Was, wenn Sir William früher als beabsichtigt heimkehrte und sie hier so 51
fand? Gewiss würde er ihr die schlimmsten Vorhaltungen machen und sie sicher auch züchtigen. Sie fürchtete sich mittlerweile sehr vor sei nen Schlägen und seiner zügellosen Brutalität. Schläge schienen das einzige zu sein, was er neben Beschimpfungen noch für sie übrig hat te. Und das ganz ohne Grund. Was, wenn sie ihm erst einen Anlass für seinen Zorn lieferte? Josefine mochte sich das nicht einmal vorstellen. Ganz vorsichtig hob sie ein wenig den Kopf, gerade soviel, dass es nicht schmerzte und sie die Umgebung ein wenig besser sehen konn te. Ein kurzer Blick in die Runde genügte, dann ließ sie den Kopf wie der mutlos sinken. Hier gab es weit und breit keinen Unterschlupf, nichts, was sie vor dem Regen oder den forschenden Blicken vorbeikommender Fremder geschützt hätte. Sie war allem ausgeliefert, konnte nur hoffen, dass die Stute bald ihren Stall erreichte und man sich dann auf die Suche nach ihr machte. Hätte Josefine auch nur geahnt, dass ihr Pferd keineswegs nach Hause trabte, sondern seinen eigenen Ausflug unternahm, gewiss wä re sie vollends verzweifelt... Die junge Lady vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit das Pferd sie abgeworfen hatte. Sie spürte nur, dass der Re gen ihre Kleidung mittlerweile völlig durchnässt hatte, bis auf die Haut. Josefine fror erbärmlich, der Schmerz in ihrem Kopf hatte sich zu ei nem dumpfen Pochen abgeschwächt, das aber jederzeit wieder grell aufflammen konnte, wenn sie sich unvorsichtig bewegte. Unvermittelt hörte sie etwas. Zunächst noch weit entfernt und kaum einzuordnen. Doch es kam rasch näher. Und dann wurde ihr auch klar, was es war: Pferdegetrappel! Da kam jemand, ein einzelner Reiter. Josefine wusste nicht, ob sie sich nun freuen oder fürchten sollte. Schließlich konnte es durchaus sein, dass der Reiter ihr Böses wollte. Nicht jeder Mensch war dem anderen wohl gesonnen, dies war wohl eine Binsenweisheit, die Gül tigkeit hatte, solange es Menschen gab. Doch die junge Frau hatte nun keine andere Möglichkeit, als auf ihr Glück zu vertrauen. Schließlich konnte sie nicht ausweichen, sich nicht verstecken. Wer immer dort kam, er würde sie finden. 52
Das Geräusch der Hufe, die den bereits durchnässten Boden auf rissen, wurde immer lauter. Die junge Lady meinte, schon das Schnauben des Pferdes zu hören. Furcht überfiel sie. Und so sehr sie sich gerade eben noch nach Rettung gesehnt hatte, so groß war nun ihre Angst vor der Begegnung mit dem Fremden. Sie hörte, wie der Reiter sein Tier mit einem kurzen Kommando zum Stehen brachte. Im nächsten Moment sprang er aus dem Sattel und näherte sich ihr. Sie sah einen Rappen, mit silbernem Rüstzeug, wie es nur einem hochgestellten Herren gebührte. Dann beugte der Fremde sich über sie. Er trug Leibrock und Kniehosen eines Gentle mans, darüber einen vom Regen nass glänzenden, weiten Reiseman tel. Seinen Kopf bedeckte ein dunkler Dreispitz. Josefine atmete ein wenig auf, als sie begriff, dass sie es mit einem Ehrenmann zu tun hatte. Sie durfte auf seine Hilfe rechnen, auf seinen Anstand hoffen. Zudem wirkte er sympathisch. Er hatte ein offenes, markant männli ches Gesicht mit klaren, rehbraunen Augen, die sie nun ebenso mitlei dig wie besorgt musterten. Und als er das Wort an sie richtete, be merkte sie, dass seine Stimme warm und angenehm war. »My Lady, was ist Euch widerfahren? Ihr wurdet doch hoffentlich nicht das wehrlose Opfer eines ruchlosen Überfalles?« »Nein, ich... bin gestürzt. Mein Pferd ist auf und davon. Leider bin ich nicht fähig, mich aus eigener Kraft aus dieser hilflosen Lage zu befreien«, gestand sie ihm verschämt ein. »Ein starker Schwindel er fasst mich jedes Mal, wenn ich versuche aufzustehen...« »Bitte, bewegt Euch nicht«, bat der Fremde. Er zog seinen Mantel aus, deckte Josefine damit zu und versprach: »Ich werde in kurzer Frist eine Kutsche holen und zurückkehren. Damit wird der Transport gewiss gelingen. Doch Ihr müsst mir versprechen, es nicht noch ein mal selbst zu versuchen. Schwindel mag ein Zeichen für allerlei ernst hafte Verletzungen sein. Ihr könntet mit Eurem Leben spielen...« »Seid Ihr Arzt?«, fragte sie überrascht. Er verneinte. Dann stellte er sich mit einer angedeuteten Ver beugung vor: »Mein Name ist Alexander deMoin, ich bin sozusagen Euer Nachbar, My Lady. Denn ich gehe davon aus, dass Ihr Lady Jose fine seid, die Gattin von Sir William Huddelton.« 53
»Ja, die bin ich tatsächlich. Aber woher wisst Ihr... Wir wurden uns schließlich nie vorgestellt.« Er lächelte angedeutet und schwang sich auf sein Pferd. »Nach richten reisen schnell auf dem Land. Schneller manchmal, als einem lieb sein kann. Bitte, verhaltet Euch ruhig bis zu meiner Rückkehr. Ich werde eilen!« Er gab seinem Pferd die Sporen und war bereits im nächsten Moment auf und davon. Lady Josefine wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Sir Alexander war ihr nicht unsympathisch. Doch sie hatte nicht einmal etwas von seiner Existenz gewusst. Und dass er ausgerechnet jetzt, da sie dringend Hilfe brauchte, wie aus dem Nichts auftauchte, erschien ihr recht seltsam. Die junge Lady be schloss, vorsichtig zu sein. Doch was sollte auch groß geschehen? Er würde sie heimbringen. Und gewiss sahen sie einander dann nie wie der... * Sir Alexander hielt Wort. Kaum eine halbe Stunde war vergangen, als die Kutsche, die er selbst mit großer Vorsicht steuerte, vor dem Portal seines Herrenhauses anhielt. Lady Josefine war von der trotz allem wackligen Fahrt über aufgeweichte Wege so mitgenommen, dass sie zunächst gar nicht gewahrte, wo sie sich befand. Erst als ihr Retter sie auf den Armen ins Haus trug, entfuhr ihr ein leiser Laut der Überra schung und sie murmelte: »Sir Alexander, Ihr werdet mich doch nicht entführen wollen! Ich bitte Euch, bringt mich heim nach Newstead. Oder wollt Ihr mich kompromittieren?« »Es tut mir leid, My Lady, wenn ein falscher Eindruck entsteht. Ich nannte mich zwar draußen auf dem Weg Euer Nachbar, doch der Aus druck ist in diesem Fall weit gespannt. Mein Anwesen liegt beinahe einen Stundenritt von Newstead entfernt, während es nur einen Kat zensprung zu der Stelle ist, an der ich Euch fand. Und in Eurem deso laten Zustand wollte ich Euch die weite Fahrt nicht zumuten.« Josefine schwieg. Es mochte stimmen, was Sir Alexander sagte. Doch es war durchaus auch möglich, dass er sie beschwindelte, dass seine Absichten keineswegs so ehrenhaft waren, wie es schien. 54
Als habe er ihre Gedanken erraten, fuhr er nun besonnen fort, während er sie in einem der Salons auf eine Chaiselongue bettete: »Ich habe bereits den Arzt verständigt. Er ist ein persönlicher Freund von mir und wird ebenso zu Eurer Heilung eilen, wie ich es zu Eurer Rettung tat. Leider steht durchaus nicht fest, dass Euch die gleiche Hilfe auf Newstead zugute gekommen wäre.« »Was wollt Ihr damit sagen, Sir?« »Nun, dass der Arzt nicht dorthin kommt, ebenso wenig wie alle anderen anständigen Menschen in diesem Landstrich...« »Sir, Ihr beleidigt mich aufs Schwerste!«, empörte Josefine sich und wollte aufstehen, doch stechende Schmerzen hinter ihrer Stirn verhinderten das Unterfangen restlos. Der junge Edelmann senkte bekümmert den Blick. »Ich muss Euch um Verzeihung bitten, My Lady. In diesem Haus gibt es kein weibliches Wesen von Stand und Bildung. Möglich, dass ich ob dieses Mangels selbst ein wenig an Manieren und Anstand eingebüßt habe. Wenn dem so ist, so seht es mir bitte nach. Es lag mir mehr als fern, Euch zu be leidigen. Newstead Abbey jedoch ist ein Ort, der keinen guten Ruf be sitzt. Die Menschen meiden diesen Besitz und das vor allem wegen des Hausherren, der...« »Bevor Ihr weiter sprecht, bedenkt, dass Ihr von meinem Gemahl redet. Und jedes abwertende Wort, das Ihr über ihn verlauten lasst, trifft somit auch mich«, mahnte Josefine ihn streng. Sir Alexander schwieg. Man sah ihm an, dass ihm vielerlei durch den Sinn ging, doch er mochte und konnte ihr diese Gedanken nicht anvertrauen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Wenig später erschien der Arzt. Er war noch jung, ebenso wie Sir Alexander und die beiden gingen in der Tat wie gute Freunde mit einander um. Der Mediziner untersuchte die Gestürzte gründlich, stell te ihr viele Fragen und gelangte schließlich zu der Feststellung: »Der Kopf wurde in Mitleidenschaft gezogen, das Gehirn ist erschüttert. Ich rate zu einigen Tagen Bettruhe, leichter Kost und keinerlei Aufregung. Danach sollten die Schmerzen von selbst wieder verschwinden.« 55
»Aber ich kann doch nach Hause fahren, nicht wahr?«, vergewis serte die junge Lady sich erschrocken. »Es wäre ganz undenkbar, dass ich hier...« »Sie lebt in Newstead Abbey«, ließ Sir Alexander seinen Freund daraufhin wissen. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, der Weg ist zu weit. Ich würde keine Garantie übernehmen...« »Die brauche ich nicht, ich muss heim!«, beharrte Josefine er schrocken. Allein der Gedanke, dass Sir William vor ihr zurückkam, sie im Hause eines anderen fand, ließ ihr den Angstschweiß ausbrechen. Der Doktor widersprach ihr nicht, er murmelte nur: »Es ist Eure Ent scheidung, My Lady. Aber ich stehe nicht an, Euch eindringlich vor einer so langen Kutschfahrt zu warnen.« Nachdem der Arzt gegangen war, hatte Lady Josefine bereits ver sucht, aufzustehen. Es gelang ihr nicht. Und Sir Alexander bat sie er schrocken, sich sofort wieder hinzulegen. Er sah die Angst in ihren Augen und ahnte, was in ihrem Herzen vor sich ging. Beruhigend ver sicherte er: »Sir William wird verstehen, was Euch zugestoßen ist. Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, ich erkläre ihm alles.« »Aber er wird es nicht glauben, er...« Sie verstummte er schrocken. Wie kam sie dazu, diesem Fremden gegenüber so von ih rem Gemahl zu sprechen? Sir Alexander nahm behutsam ihre Hand und erklärte: »Ich kenne Euren Gemahl. Zwar war es mir bislang nicht vergönnt, Eure Bekannt schaft zu machen, doch ich wage zu behaupten, dass dieser Mann keine Frau wie Euch verdient, wenn er ihr nicht blind vertraut!« Sie senkte verlegen die Lider, murmelte: »Ich bitte Euch, nicht so vertraulich zu werden, Sir Alexander. Wir wurden einander nicht ein mal vorgestellt. Das Schicksal oder vielleicht nur meine eigene Unge schicklichkeit haben mich in Euer Haus gebracht. Und wenn der Arzt sagt, ich darf es erst in einer Frist von Tagen wieder verlassen, werde ich dies hinnehmen müssen. Doch ich muss Euch strikt ersuchen, die Distanz zu wahren, die der Anstand gebietet.« »Gewiss, My Lady.« Er trat einen Schritt zurück und ließ sie wis sen: »Ich sende noch heute einen Boten nach Newstead, um die Lage zu erklären. Selbstverständlich steht es Eurem Gemahl offen, Euch hier 56
zu besuchen. Und ich werde mich Euch in keiner Weise nähern, sofern Ihr meine Gesellschaft nicht ausdrücklich wünscht. Dies sollte dem Anstand durchaus Genüge tun.« Er verbeugte sich knapp und verließ dann den Raum. Josefine hatte den Eindruck, als fühle er sich durch ihre Worte in seiner Ehre verletzt und bereute, so deutlich geworden zu sein. Doch die Angst vor Sir William wog nun einmal leider schwerer als die Dankbarkeit, die sie ihrem Retter ohne Zweifel ent gegenbrachte. * Lady Josefine verbrachte eine unruhige Nacht im Hause von Sir Ale xander. Das lag weniger an der fremden Umgebung oder ihrem schmerzenden Kopf, als an der Angst vor Sir Williams Rückkehr. Sie zermarterte sich das Hirn nach einer Möglichkeit, vor ihrem cho lerischen Ehemann heimzukommen, gelangte aber zu keinem Schluss. Der Sturz erschien ihr wie die Strafe für ihren heimlichen Ausflug und sie bereute zutiefst, Marys Rat gefolgt zu sein. Wäre sie im Bett geblieben, wie sie selbst es gewollt hatte, niemals hätte sie in eine solch ausweglose Lage geraten können. Und nun blieb ihr anscheinend nichts weiter übrig, als hilflos abzuwarten, was geschah... Der nächste Morgen war sonnig und mild. Josefine erwachte spät, fühlte sich aber noch immer zerschlagen und matt. Sir Alexander ließ sie wie einen hoch geschätzten Gast bedienen und umsorgen. Gegen Mittag erschien der Arzt wieder, um sie zu untersuchen. Er zeigte sich mit ihrem Zustand zufrieden, riet aber davon ab, das Bett zu verlas sen. Von einer Kutschfahrt nach Newstead ganz zu schweigen. Sir Ale xander ließ sich nicht blicken. Erst als der Tag sich seinem Ende zu neigte, klopfte er kurz an ihre Tür und fragte von draußen nach ihrem Befinden. »Ihr dürft eintreten, wenn Ihr wollt«, ließ sie ihn freundlich wis sen. Ein wenig schämte sie sich für ihre abweisende Art am Vortag. Schließlich hatte Sir Alexander ihr das Leben gerettet. Und bislang ver hielt er sich ihr gegenüber ebenso fürsorglich wie untadelig. Er hatte es nicht verdient, nur auf Misstrauen und Ablehnung zu stoßen. 57
»Ich möchte Euch nicht kompromittieren«, erklärte er mit deutli cher Zurückhaltung, die darauf hinwies, wie ihre Worte ihn gekränkt hatten. »Doch es ist mir wichtig, zu hören, wie Ihr Euch fühlt. Schon ein wenig besser?« »Ein wenig, ja. Der Doktor rät mir allerdings noch davon ab, das Bett zu verlassen«, erzählte sie wahrheitsgemäß. »Nun, Ihr habt hier alles, was nötig ist. Die Nachricht, die ich an Euren Gemahl sandte, ist allerdings ohne Antwort geblieben. Es scheint, dass er sich ebenfalls nicht in Newstead aufhält. Von Eurem Verschwinden wusste niemand.« »Das begreife ich nicht. Das Pferd ist doch gewiss ohne mich heimgekehrt. Man hätte nach mir suchen müssen...« Sir Alexander musterte seinen Logiergast auf eine Weise, die sehr eigentümlich war. Er schien mehr zu wissen, als er sagen konnte oder wollte. Lady Josefine erwiderte seinen Blick fragend. »Ihr habt mir noch mehr zu berichten?« »Nun, vielleicht... Doch ich möchte Euch nicht aufregen, My Lady. Das könnte Eurem Zustand abträglich sein. Und ich weiß auch nicht, inwiefern Ihr mir Glauben schenken werdet.« »Das käme auf den Versuch an, denke ich. Zudem sehe ich keinen greifbaren Grund, Euch nicht zu vertrauen. Ihr habt mein Leben geret tet.« Er lächelte verschämt. »Jeder andere hätte das gleiche getan. Zu dem möchte ich lieber gleich offen zu Euch sein, eh Ihr von dritter Seite Dinge über mich erfahrt, die Euch bedrücken.« »Ich verstehe nicht...« Der junge Edelmann erklärte freimütig: »Mein Ruf in dieser Ge gend ist nicht der beste. Die einfachen Menschen hier sehen in mir einen Filou und Charmeur, einen Verderber der Mädchen, einen Ver führer und bösen Buben, der nur darauf ausgeht, die Unschuld der Töchter des Landes zu rauben.« »Gewiss ist kein Wort davon wahr«, warf Lady Josefine mit leiser Ironie ein. Sir Alexander lächelte angedeutet. »My Lady, Ihr besitzt Scharf sinn. Ich kann nicht verhehlen, dass ich in meinen sehr jungen Jahren 58
den schönen Dingen des Lebens übermäßig zugesprochen habe. Mein Vater ist ein Vertrauter des Königs, meine Mutter; sie kam aus Frank reich und war von großer Schönheit, starb früh. Ich lernte die Vorzüge weiblicher Zuneigung schon als Knabe kennen, doch ich wage zu be haupten, dass mir das Leben bei Hofe keinen bleibenden, charakterli chen Schaden zugefügt hat. Allerdings zog es mich vor einigen Jahren aufs Land. Ich sehnte mich nach dem einfachen Leben, nach sinnvoller Beschäftigung. Der Erwerb dieses Besitzes markierte einen Wende punkt in meinem Leben. Noch vor meinem dreißigsten Jahr habe ich es geschafft, mein Dasein mit Sinn zu erfüllen. Und was die Damen welt angeht; nun, ich lebe in Tamworth House auch unbeweibt recht glücklich und zufrieden.« Lady Josefine hatte seiner Schilderung aufmerksam gelauscht, nun lächelte sie traurig und murmelte: »Wer vermag das schon von sich zu behaupten...« Die eben noch entspannte Miene des jungen Mannes verfinsterte sich, mit erzwungener Ruhe merkte er an: »Euer Gemahl mag von Stand und großem Reichtum sein. Aber Ihr, My Lady, verzeiht meine Offenheit, seht nicht wie eine glückliche Frau aus.« Eine Bemerkung, die Josefine am Vortag noch erbost zurückge wiesen hätte, die sie nun aber nur betroffen machte. Sir Alexander schien ein feines Gespür für menschliche Beziehungen und die Regun gen im Herzen einer Frau zu besitzen. Und Josefine hatte das deutliche Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte. »Ich habe Sir William nie geliebt und wollte auch nicht seine Frau werden«, gestand sie zögernd und zutiefst verlegen ein. »Doch die Situation zwang mich, ich konnte nicht ablehnen, was für mich be stimmt war.« »Verzeiht, aber ich verstehe nicht...« Sie zögerte nur kurz, eh sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählte. Obwohl sie den jungen Mann kaum kannte, eigentlich nur sehr wenig von ihm wusste, hatte sie doch das deutliche Gefühl von Zutrauen, das sich für sie mit ihm verband. Im Gegensatz zu Sir William war Alexan der ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen. Und die junge Lady war sicher, ihrem Gefühl in diesem Fall trauen zu können. Sie 59
berichtete offen von ihrer ungeklärten Herkunft, der Depesche, die vielleicht Licht ins Dunkel hätte bringen können, aber von ihrem Zieh vater peinlich unter Verschluss gehalten wurde, von den Jahren der Demütigungen und der Kälte in einem Kreis von Menschen, der sie nur geduldet hatte. Erst bei diesem Bericht wurde Josefine so recht klar, wie freudlos ihren Jugend gewesen war. Und dass die aufgezwungene Heirat mit einem verhassten Mann darin nur den logischen Endpunkt bildete. Sir Alexander hörte ihr ebenso aufmerksam wie betroffen zu. Und als sie schließlich verstummte, nahm er spontan ihre Rechte, drückte sie leicht und versicherte: »Ihr habt es nicht verdient, so zu leiden. Lasst mich Euch helfen, My Lady! Ich will Euch aus den Fesseln dieser unglückliche Ehe befreien und...« »Nein, das geht nicht!« Josefine entzog ihm erschrocken ihre Hand. »Ihr habt mich ganz falsch verstanden. Nie habe ich daran ge dacht, zu fliehen, mich schuldig zu machen vor Gott und den Men schen.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich hätte nicht zu Euch darüber sprechen dürfen. Doch mein Zustand mag meine Unvorsichtigkeit ent schuldigen.« »Ihr fürchtet Euch vor dem Falschen«, behauptete Sir Alexander nachdrücklich. »Ich bin es nicht, der Euch schaden will, im Gegenteil. Euer Gemahl jedoch ist kein Mann von Ehre. Lasst mich ganz offen sprechen: Sir William ist der Schrecken aller Menschen hier im Land strich. Er haust nach Gutdünken, lässt rauben, bedrohen und sogar töten, wenn es nicht nach seinem Willen geht. Newstead Abbey ist kein guter Ort. Ihr solltet nicht dorthin zurückkehren, wo man Euch nur Böses will.« »Der Verräterbaum«, murmelte Lady Josefine mit steifen Lippen. »Sagt, was wisst Ihr über das Anwesen? Es ist verwahrlost und un heimlich. Ich fürchte mich, solange ich dort sein muss. Seine Be wohner scheinen von einem unsichtbaren Band zusammengehalten zu werden. Kein Außenstehender ist dort wirklich willkommen.« »Ihr beschreibt es recht treffend«, lobte Sir Alexander. »Newstead Abbey wurde meines Wissens nach im zwölften Jahrhundert als Mönchskloster errichtet. Vierhundert Jahre später löste der König es auf und schenkte es der Familie Huddelton als Beweis seiner Dankbar 60
keit für treue Dienste. Man sagt, dass das Anwesen nicht geheuer ist, dass eine Aura des Bösen dort herrsche, die auch seine Bewohner infi ziert habe. Ich kann Euch nicht sagen, inwieweit dieses Gerede nur auf Aberglauben beruht. Doch eines steht fest: Die Familie Huddelton hat hier schon seit Jahrhunderten rücksichtslos gehaust, die Menschen in der Umgebung unterdrückt und ausgebeutet. Sir William ist der Schlimmste von allen. Durch seine enge Beziehung zum Königshof in London kann er sich alle Freiheiten nehmen. Niemand traut sich, ihn aufzuhalten, keiner stellt sich gegen ihn. Er ist hier der ungekrönte König und nutzt dies weidlich aus.« Josefine seufzte leise. Alles, was Sir Alexander ihr erzählt hatte, passte in das Bild des Mannes, den sie zu hassen gelernt hatte. Es war kaum neu für sie, obwohl sie doch nicht gewusst hatte, wie verderbt ihr Gemahl in Wahrheit war. Zugleich aber regte sich die Verzweiflung neu in ihrem Busen. Und die Vorstellung, nach Newstead zurückkehren zu müssen, machte ihr das Herz zentnerschwer. »Ich hoffe, ich habe Euch mit meinem offenen Worten nicht er schreckt«, sagte Sir Alexander in ihre düsteren Gedanken hinein. »Als Ihr ankamt, ging ein Raunen durch diesen Landstrich. Niemand hätte glauben mögen, dass der grobe Kerl in der alten Abtei einen solchen Engel heimführen würde. Und dass Ihr gestürzt seid, ich Euch fand, sehe ich nun als Wink des Schicksals, das mich auserkoren hat, Euch aus den Händen Huddeltons zu befreien...« * Lady Josefine fasste in den nun kommenden Tagen zusehends Ver trauen zu Sir Alexander deMoin. Hatte sie dem Edelmann zunächst noch distanziert gegenüber gestanden, so entstand nun eine zaghafte Freundschaft, die der jungen Lady ein wenig Lebensfreude zurückgab und dafür sorgte, dass sie nicht vollends verzweifelte. Je länger sie sich in Tamworth House aufhielt, desto unwirklicher wurden ihr die Leiden, die sie in den vergangenen Monaten durchlebte hatte. Und sie fühlte sich auch nicht mehr so vollkommen ausgeliefert und allein. 61
Dass all ihr Hoffen und Wünschen aber auf Sand gebaut war, zeig te sich schon kurze Zeit später. Gegen Ende der Woche erschien Sir William im Hause des Halbfranzosen. Sein Auftritt ließ vom ersten Moment an keinen Zweifel daran, dass er erbost und bis aufs Äußerste gereizt war vom Verhalten seiner Ehefrau. Während Sir Alexander die Form wahrte und versuchte, mit ruhi ger Freundlichkeit die Situation zu erklären, ging sein Nachbar bereits verbal auf ihn los und beschimpfte ihn in übelster Weise. Sir William war es gewohnt, sich so gehen zu lassen. Wie überrascht zeigte er sich allerdings, als sein Gegenüber ihn warnte: »Hütet Eure Zunge, Sir. Ich bin nicht gewillt, mir noch weitere Beschimpfungen von Euch bieten zu lassen, ohne Genugtuung zu fordern!« »Was? Ihr wagt es...« »Ich habe das Recht auf meiner Seite«, parierte der junge Adlige kühn. »Eure Gemahlin hat einen Unfall erlitten, ich fand und rettete sie. Dass sie verletzt und elend nicht den langen Weg nach Newstead antreten konnte, sollte selbst Euch sofort einleuchten. Sie fand Auf nahme und Pflege in meinem Haus. Und dieser Umstand berechtigt Euch gewiss nicht, mich in unflätiger weise zu beschimpfen.« Sir William starrte seinen Gegner eine Weile an, schließlich for derte er kalt: »Bringt mich zu meinem Weib. Ich sehe, Sir, Ihr seid kein Mann von Ehre. Jede weitere Wortfechterei wäre sinnlos.« »Wie Ihr wünscht.« Der junge Mann lächelte abfällig. »Folgt mir. Doch ich will Euch gleich noch einmal warnen: Wahrt Ihr im Umgang mit Lady Josefine nicht die Form, werde ich dies in meinem Hause nicht dulden.« »Darüber wird noch zu sprechen sein«, drohte Sir William dumpf und knirschte dabei mit den Zähnen. Nie zuvor hatte jemand es ge wagt, ihm dermaßen besonnen Paroli zu bieten. Er war entschlossen, sich dies nicht bieten zu lassen, schwieg nun aber, da die offensichtli che Lage es ihm nicht erlaubte, Sir Alexander die passende Antwort zu geben. Doch er würde dem unverschämten Kerl zurückzahlen, was dieser ihm gerade vorgegeben hatte. Denn Sir William ließ sich von niemandem den Schneid abkaufen... 62
Lady Josefine erbleichte, als ihr Mann so plötzlich vor ihr stand und forderte: »Mache dich reisefertig, Josefine, ich dulde es nicht, dass du auch nur noch eine Stunde länger in diesem Hause verweilst.« Sie senkte den Blick und nickte wortlos, doch Sir Alexander warf ein: »Es mag nicht meine Angelegenheit sein, aber ich würde doch dazu raten, vor der Abreise noch einmal den Doktor zu konsultieren.« Er warf seinem Gast einen kühlen Blick zu, dem bereits wieder die Zor nesader schwoll. »Ich gehe davon aus, dass es auch Euch am Herzen liegt, Eurer Gemahlin keinen weiteren körperlichen Schaden zuzufügen als den, den sie bereits hat erleiden müssen.« »Was wollt Ihr damit sagen?«, brauste Sir William auf, doch sein Gegenüber betonte sachlich: »Ich habe lediglich auf den Reitunfall angespielt.« »Sie hat sich alles selbst zuzuschreiben, denn es war ihr nicht er laubt, auszureiten«, erwiderte der Lord of Newstead knapp, dann ver langte er zu erfahren, ob Josefine reisefertig sei. Rasch versicherte sie, dass man jederzeit aufbrechen könne, doch ihre Augen, die den Blick Sir Alexanders suchten, sagten etwas ganz anderes. Der junge Adlige mochte sie nicht gehen lassen, allerdings wusste er auch, dass er kei ne Handhabe gegen den verhassten Nachbarn hatte. So wich er ihren bittenden Blicken aus und fühlte sich zugleich wie ein Schuft. Lady Josefine aber verlor rasch wieder allen Mut. Sie hatte so sehr gehofft, dass ihr Martyrium in Newstead Abbey nun endlich ein Ende finden würde. Sie hatte sogar heimlich davon geträumt, nie wieder in das verhasste Haus zurückkehren zu müssen. Doch ihre Hoffnungen und Träume waren auf Sand gebaut, das musste sie nun bitter begrei fen. Sir Alexander konnte ihr nicht helfen, wollte er sich nicht selbst ins Unrecht setzen. Und William würde sie niemals gehen lassen. Sie hatte zu erdulden, was kam. Und sie wusste, es kam Schlimmes auf sie zu... Während der Fahrt nach Newstead sprach Sir William kein Wort mit seiner Frau. Er schwieg verbissen und es schien ihm zudem völlig einerlei, dass sie noch zu leiden hatte, denn die Folgen ihres Reit unfalls waren längst nicht überwunden. Daheim angekommen zerrte er sie brutal aus der Kutsche und trieb sie mit Stößen und Tritten ins Haus. Niemand ließ sich blicken, 63
während Sir William seine hilflose Gemahlin in übelster Weise be schimpfte und sie schließlich sogar ins Gesicht schlug. Weinend stürzte Josefine zu Boden, ihr schwindelte, für kurze Zeit versank die Welt um sie herum hinter einem schwarzen Vorhang. Sie hörte nur ihren Mann, der fluchte wie ein Bierkutscher und ihr die schlimmste nur mögliche Vergeltung für ihre angebliche Verfehlung androhte. Josefines reine Seele begriff erst langsam, was der Wüterich ihr unterstellte. Und als sie es verstand, stiegen Empörung und Wut wie eine helle Flamme in ihr auf. »Wie könnt Ihr es wagen, mich in dieser Weise zu verdächtigen?«, herrschte sie ihren Mann an und starrte ihm mit heiligem Zorn in die Augen. »Sir Alexander rettete mein Leben, er ließ mich gesund pfle gen. Nichts und niemand gibt Euch das Recht, mit diesem Akt der Barmherzigkeit solch schmutzige Gedanken zu verbinden!« »Schweig, Weib! Hast du nicht genug gesündigt?«, schrie Sir Wil liam hemmungslos. »Soll zu all deinen Verfehlungen auch noch die der Lüge hinzutreten? Ich werde dich lehren, mein Wort zu respektieren und zu tun, was ich sage. Komm her!« Er packte sie grob am Arm und zerrte die Widerstrebende hinter sich her, die Freitreppe hinauf. Lady Josefine wehrte sich nach Leibeskräften, doch sie war ihrem Mann unterlegen, den zudem Jähzorn und blanker Hass anstachelten. Er riss die Tür zu ihren Gemächern auf und schleuderte sie nach vorne. Josefine konnte nichts dagegen tun, sie taumelte in den Raum, stolperte und fiel. Ihr Kopf schmerzte, Schwindel ergriff sie und mach te es ihr unmöglich, zu reagieren. »Hier bleibst du, bis ich es für richtig halte, dich wieder heraus zu lassen«, erklärte Sir William kalt. Noch ehe sie etwas sagen oder bitten konnte, war die Tür geschlossen worden, der Schlüssel drehte sich im Schloss. Josefine kroch auf allen Vieren nach vorne, denn sie schaffte es einfach nicht, auf die Füße zu kommen. Die stechenden Schmerzen hinter ihrer Stirn ließen sie gepeinigt aufstöhnen. Schlimmer noch war aber das, was William ihr angetan hatte. Endlich erreichte sie die Tür, reckte sich nach dem Knauf. Sie drehte ihn, in der wahnwitzigen Hoffnung, das alles nur geträumt zu haben. Doch es war geschehen, nichts davon hatte sie sich einge 64
bildet. Ihr eigener Gemahl hatte sie eingesperrt wie eine Gefangene. Und es sollte von seinem Gutdünken abhängen, wann sie diese Räume wieder verlassen konnte. Nun war Lady Josefine also die Gefangene von Newstead Abbey, dieser verfluchten Abtei der unheimlichen Schrecken... * Mitten in der Nacht erwachte Lady Josefine aus einem unruhigen, von wirren Traumbildern voll gestopften Schlaf. Sie schlug ruckartig die Augen auf und starrte in die Dunkelheit, die sich im Zimmer ballte. Ihr Herz raste, sie war in Schweiß gebadet und eine kaum fassbare Panik schnürte ihr die Kehle zu. Doch warum? Was war geschehen, das sie so schrecklich ängstigte? Sie wusste es nicht. Eine Weile lauschte Josefine in die Stille und versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihr nur ganz allmählich. Ihre Gedanken kehrten zum Morgen zurück. Wieder sah sie die hässliche Szene vor sich, die William ihr im Hause von Sir Alexander deMoin ge macht hatte. An das, was dann gefolgt war, verbot sie sich, zu den ken. Die junge Lady fühlte sich schrecklich unglücklich und einsam. Niemand war hier, der ihr helfen, ihr beistehen konnte. Alexander war weit fort. Und er hatte ihr deutlich gezeigt, dass er nichts mehr für sie tun konnte. Es gab keine Seele, die ihr zumindest zuhören und ihren Kummer teilen würde. Nicht einmal Mary, ihre Zofe, hatte sie seit ihrer Rückkehr nach Newstead zu Gesicht bekommen... Leise Geräusche ließen Lady Josefine aus ihren düsteren Ge danken aufschrecken. Draußen vor dem Haus waren Stimmen zu hö ren, das Schnauben von Pferden. Mitten in der Nacht, was hatte das zu bedeuten? Obwohl die Lady sich schrecklich schwach fühlte und ihr Kopf noch immer schmerzte, schaffte sie es, ihr Bett zu verlassen. Sie ahn te, dass dort draußen Unlauteres vorging. Und sie wollte, sie musste wissen, was es war. Nach allem, was Sir Alexander ihr erzählt hatte, musste sie ihrem Gemahl das Schlimmste zutrauen. Vorsichtig trat 65
Josefine ans Fenster, achtete peinlich darauf, nicht gesehen zu wer den. Sie spähte nach unten und erkannte drei dunkle Gestalten, die im Hof beieinander standen. Ihre Pferde schnaubten müde wie nach ei nem langen Ritt. Josefine konnte keinen der Männer erkennen, doch sie öffnete das Fenster sehr behutsam einen Spalt breit, um zumindest hören zu können, was sie sprachen. Und es dauerte nicht lange, bis sie unter den drei Stimmen die ihres Mannes erkannte. Sir William sagte gerade: »Der König darf von alledem nicht das Geringste erfahren. Macht Euch einer Indiskretion schuldig und ich werde dafür sorgen, dass dies Euer letzter Botenritt war.« Der heimlichen Lauscherin schauderte bei diesen Worten, wusste sie doch, dass ihr Mann es ernst meinte. Er zögerte nicht, über Leichen zu gehen, wenn es seinem Vorteil diente. Die beiden Männer versi cherten rasch, dass sie ihren Auftrag ordnungsgemäß ausführen wür den. »Ich erwarte Euch in höchstens zwei Tagen zurück. Und merkt Euch: Wenn sie tot ist, wird das auch Euer Schade nicht sein.« Josefine wich vom Fenster zurück. Sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und das Herz pochte ihr im Halse. Was mochten die Worte ihres Gemahls bedeuten? Wer war die Bedauernswerte, die er für einen seiner perfi den Pläne opfern wollte? War sie es am Ende selbst? Ging er darauf aus, sie zu beseitigen, um nach einer neuen Braut zu suchen? Josefine hätte schreien mögen vor Panik bei diesem Gedanken, doch sie zwang sich selbst zur Ruhe. Es wäre nicht abwegig gewesen, dies anzunehmen. Schließlich hatte Sir William sie seit ihrer Ankunft in Newstead unaussprechlich schlecht behandelt. Er schien sie zu hassen, anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Und was lag da näher, als die Ungeliebte ganz ele gant zu beseitigen? Josefine kroch zurück in ihr Bett, denn sie fror erbärmlich. Schlaf fand sie in dieser Nacht allerdings keinen mehr. Das kurze Gespräch, das sie heimlich belauscht hatte, machte ihr immer mehr Angst. Und die Vorstellung, dass William in ihr Zimmer kam und selbst Hand an sie legte, ließ die junge Lady nicht mehr los. 66
Welch grausames Schicksal hatte ihr nur auferlegt, so schrecklich zu leiden? * Sehr früh am nächsten Morgen erschien Mary in Lady Josefines Zim mer. Die zutiefst Verängstigte freute sich wie ein Kind, eine zumindest halbwegs vertraute Seele zu sehen. Doch die Zofe mahnte: »Wir ha ben keine Zeit für lange Reden, My Lady. Ihr müsst Euch ankleiden, dann helfe ich Euch, von hier fort zu kommen.« »Aber, Mary, was...« »Fragt mich nicht!« Die Alte schlug die Bettdecke zurück und reichte ihrer Herrin die Hand. »Kommt, rasch.« Josefine zögerte. Sie wusste durchaus nicht, ob sie Mary noch ver trauen konnte. Immerhin war diese ihrem Herren treu ergeben, das hatte sie mehr als einmal betont. Und die junge Lady verspürte wenig Neigung, sich in eine neuerliche Falle locken zu lassen. Mary schien zu ahnen, was los war. Vorsichtig schob sie einen Schal, den sie um den welken Hals trug, ein wenig beiseite und deutete auf die dunklen Fingerspuren: »Er hat versucht, mich zu erwürgen. Aber ich bin zäh.« Sie lachte glucksend und warf Josefine einen solch seltsamen Blick zu, dass diese zurück zuckte. »Nun kommt schon, Ihr müsst Euch beeilen, bevor er zurück kehrt...« »Ich werde nirgendwohin gehen«, widersprach die Lady ihrer Zofe da entschieden. »Wer weiß, wohin du mich führst. Vielleicht mitten in Sir Williams Arme? Ich habe nicht vergessen, dass du es warst, die mich zu einem Ausritt gedrängt hat. Und dieses Pferd, das man nicht antreiben konnte, ohne dass es scheute...« »Es war nicht meine Absicht, Euch zu schaden. Niemals!«, be teuerte Mary, nun sehr ernst. »Ich habe nur gehofft... Aber lassen wir das. Es hat keinen Sinn, darüber zu schwatzen. Ihr müsst fort. Wärt Ihr doch bloß in Tamworth House geblieben!« »Woher weißt du davon? Sprich!« 67
»Der Bote, der von Sir Alexander kam, hat uns erzählt, was ge schehen ist. Und auch, dass Ihr nicht reisen dürft. Ich habe gebetet, dass der Franzose Euch schützt...« »Was weißt du, Mary?« Lady Josefine suchte den Blick der Alten, der nun wieder ganz klar war. »Du hast Kenntnis von Dingen, die du nicht wissen solltest.« »Ich weiß gar nichts. Nur, dass Euer Leben in Gefahr ist, wenn Ihr nicht schnell flieht. Der gnädige Herr hat Boten nach London geschickt. Glaubt mir, sie werden bald zurück sein. Und, welchen Befehl sie auch mitbringen werden, seid gewiss, der gnädige Herr führt ihn blind aus. Er tut alles, um seinen König zu schützen und vor Schaden zu bewah ren.« »Aber bin ich denn eine Gefahr für den König?« Josefine begriff überhaupt nichts mehr. »Wenn du sagst, die Order der Boten bringt mich in Gefahr, würde das ja bedeuten, dass ich dem König schaden kann. Wie ist das möglich?« Die Alte wollte eben etwas erwidern, als Pferdegetrappel im Hof laut wurde. Josefine eilte erschrocken zum Fenster, doch gleich zeigte sich ein freudiges Lächeln auf ihrem schönen Gesicht. »Es ist Sir Ale xander. Bei Gott, er kommt tatsächlich her! Rasch, Mary, hilf mir, mich anzukleiden!« Alexander deMoin hatte gezögert, Lady Josefine zu folgen, dann aber war sein Beschützerinstinkt doch stärker gewesen. Sein Gewissen gab es nicht zu, dass er sie in den Händen des Schurken Huddelton einfach im Stich ließ. Zudem war sein Herz in ihrer Gesellschaft nicht unberührt geblieben. Obwohl Sir Alexander dem höfischen Leben und allem Liebesgetändel abgeschworen hatte, konnte er doch nicht um hin, sich einzugestehen, dass er in die schöne, edle Lady mit dem traurigen Schicksal verliebt war. Er wollte, er musste ihr helfen. Und er war fest entschlossen, sich Sir William, wenn nötig, im Zweikampf zu stellen, um Josefine endlich aus ihrem Ehemartyrium zu befreien. Als er nun Einlass begehrte, erschien sogleich der Hausherr mit wütender Miene. »Was wollt Ihr hier, Sir? Ich muss Euch dringend ersuchen, sofort zu gehen! Euer Besuch wird weder erwünscht, noch geduldet!«, drohte er düster. 68
Sir Alexander blieb ruhig. »Eure Gemahlin wird dies sicher anders sehen. Ich begehre Sie zu sprechen, um zu erfahren, wie es um sie steht. Und ich denke, diese Bitte könnt Ihr mir nicht ohne triftigen Grund abschlagen.« »So, glaubt Ihr?« Der Herr von Newstead Abbey lachte dröhnend. »Ihr seid nichts weiter als ein Wurm, den ich zertrete, wenn es mir passt. Nur meinem Anstand verdankt Ihr, dass Ihr noch frei seid und nicht gebunden in einem der Kellerverliese liegt. Doch ich warne Euch nur noch dieses eine Mal: Verschwindet! Verlasst meinen Besitz, bevor Ihr es nicht mehr könnt...« »Mit Drohungen werdet Ihr nichts erreichen, Sir«, prophezeite der junge Edelmann abfällig. »Ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich komme wieder!« »Das möchte ich Euch nicht raten!«, schrie Sir William hinter ihm her, als deMoin sein Pferd umdrehte und langsam davon ritt. Josefine sah es von ihrem Fenster aus und hätte weinen mögen. Doch sie riss sich zusammen, wahrte Haltung. Was hatte sie schließlich erwartet? Dass William den Besucher höflich hereinbat? Das war sicher keine wirklichkeitsnahe Vorstellung. Immerhin hatte ihr Ehemann sich dem Halbfranzosen gegenüber schon einmal alles andere als höflich be nommen. Er schien in Sir Alexander seinen größten Feind zu sehen. Und daran würde sich kaum etwas ändern, selbst wenn der Besucher noch so freundlich und höflich auftrat... Als Schritte erklangen, die sich ihren Räumen näherten, ahnte Jo sefine, was nun geschehen würde. Und sie sollte sich nicht irren. Ihr Mann machte ihr den Besuch des unerwünschten Gastes zum Vorwurf. Und wieder einmal sparte er nicht mit üblen Beschimpfungen und nie derträchtigen Verleumdungen. »Du hast meinen Namen in den Schmutz gezogen, Josefine Banks!«, herrschte er sie böse an. »Dafür wirst du mir büßen! Denke an das, was ich dir einst sagte: Der Verräterbaum wartet. Und ich warne dich nur dieses eine Mal: Er wartet auf dich!« * 69
Die Zofe Mary fand ihre Herrin später am Tag weinend auf dem Boden ihres Schlafzimmers vor. Blaue Flecke an ihren Armen und eine hässli che Wunde über dem Auge zeugten von den Misshandlungen, die sie wieder einmal über sich hatte ergehen lassen müssen. »Oh, My Lady, wo soll das nur enden? Er wird Euch noch um bringen«, seufzte die Alte bekümmert, während sie Josefine aufhalf. »Er sagt, der Verräterbaum wartet auf mich«, murmelte die junge Lady mit dumpfer Stimme. »Du weißt, was das bedeutet...« »Nein!«, entfuhr es Mary bestürzt. »Soweit darf es nicht kommen. Ihr müsst zuvor fliehen. Ich will Euch helfen!« Die Junge Frau blickte ihre Zofe lange an. In diesem Blick drück ten sich alles Leid, alle Verzweiflung aus, die ihr junges Herz bereits hatte erfahren müssen. Und als sie dann zu Mary sprach, forderten ihre Worte nur eines: die Wahrheit. »Willst du mir wirklich helfen? Kannst du es schwören, auf die Bi bel? Noch einmal ertrage ich Sir Williams Zorn nicht, das würde mein Ende bedeuten. Wenn du also nicht wirklich zu mir stehst, Mary, dann geh jetzt bitte und lass mich allein. Lieber will ich mich mit meinem Schicksal abfinden und mit meinem irdischen Dasein abschließen, als noch einmal durch eine solche Hölle zu gehen.« Die Alte senkte betroffen den Blick, ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augen, als sie murmelte: »Ich schwöre es beim Grab meiner Mutter. In diesem Haus herrscht schon viel zu lange das Böse. Es kriecht aus den Wänden und befällt die Bewohner wie eine üble Krankheit, der sich niemand entziehen kann. Damit muss es endlich ein Ende haben. Ihr sollt leben, My Lady, denn Ihr seid gut und rein. Nichts Übles beschattet Eure Seele. Was mit mir geschieht, ist einerlei. Deshalb will ich Euch helfen und wenn es mein Leben kostet.« »Ich danke dir, Mary. So höre mir nun gut zu. Sir Alexander ist gewiss noch in der Nähe. Dass er den langen Weg macht, nur um un verrichteter Dinge wieder abzuziehen, ist nicht zu denken. Versuche, ihn zu finden. Und dann bitte ihn, in der Nacht zurückzukehren. Er möge unter dem Balkon auf mich warten. Wir werden versuchen, so zu entkommen.« »Ist denn das nicht zu gefährlich? Die Hunde...« 70
»Es gibt keine andere Möglichkeit. Sir William war heute wie von Sinnen. Ich traue ihm alles zu und gebe nichts für mein Leben, wenn ich morgen noch in diesem Hause sein sollte.« Die Zofe nickte zustimmend. »Ja, Ihr habt recht.« Sie überlegte kurz und entschied dann: »Ich will versuchen, den Schlüssel für den Hundezwinger zu verstecken. Und dann suche ich ein starkes Seil.« Sie lächelte flüchtig. »Vielleicht wird noch alles gut... Aber Ihr dürft Euch nicht aus diesem Zimmer wagen, nicht eher, bis Euer Retter wieder hier ist!« »Ich bleibe hier, geh du nur. Und möge Gott dich belohnen für deine selbstlose Hilfe, meine gute Mary.« »Oh, My Lady, wenn Ihr wüsstet...« Rasch schlüpfte die Alte aus dem Zimmer und Lady Josefine blieb allein zurück... Die Zofe huschte aus dem Haus, hielt sich stets in der Nähe von Büschen und Bäumen, um im Notfall dort ein Versteck zu finden. Ihr Herz pochte wie wild und zugleich beherrschte sie die Angst vor ihrem Brotherren. Wenn er erfuhr, was sie tat, würde es ihr schlecht erge hen. Noch einmal konnte sie seinen Mörderhänden gewiss nicht ent gehen. Doch das sollte ihr einerlei sein. Nun ging es nur darum, ein unschuldiges Leben zu retten. Schon einmal hatte sie schweigend mit angesehen, wie Sir William zum Mörder wurde, wie eine reine Seele seinem Irrsinn zum Opfer fiel. Dies sollte sich nicht wiederholen, dafür wollte sie sorgen und wenn es das letzte war, was sie tat... Nachdem Mary den Zwingerschlüssel an sich gebracht hatte, ver ließ sie eilig das Areal von Newstead. Sie hielt sich nahe dem Weg, der von hier fort führte, in der Hoffnung, so Sir Alexander zu begegnen. Und sie hatte Glück: Gut zwei Meilen von der alten Abtei entfernt la gerte er und schien auf die Dunkelheit zu warten. Als er die Alte be merkte, verschloss sich seine Miene. Sie trat demütig auf ihn zu, er wollte ihr eine Münze geben, schien sie für eine Bettlerin zu halten. Doch Mary beachtete das Geldstück nicht, erklärte statt dessen mit vernehmlicher Stimme: »Ich bin die Zofe von Lady Josefine. Sie schickt mich mit einer Nachricht zu Euch, Sir.« 71
Der junge Edelmann horchte auf, blieb aber vorsichtig. »Lady Jo sefine schickt dich? Woher weiß ich, dass dies die Wahrheit ist? Sprich, was sie dir aufgetragen hat, dann werde ich erkennen, ob dir zu trau en ist, Weib.« Die Zofe nickte mit gesenktem Blick. »Die Lady hat Euch im Ge spräch mit ihrem Gemahl gesehen und hofft, dass Ihr gekommen seid, um ihr zu helfen. Entspricht dies den Tatsachen?« »Und wenn es so wäre?« »Nun, dann bittet Lady Josefine Euch, in der Nacht nach Newstead zurückzukehren. Sie will versuchen, über den Balkon zu ent kommen. Sir William zeigte sich heute wie von Sinnen. Ich fürchte, ihr Leben ist ernstlich in Gefahr.« Sir Alexander zuckte bei diesen letzten Worten unmerklich zusam men. Er schwieg eine Weile, entschied schließlich: »Ich werde da sein! Richte deiner Herrin aus, dass ein zweites Pferd für sie bereit stehen wird. Sie mag Vertrauen in mich haben, ich werde es nicht enttäu schen.« »Ich danke Euch, Sir und werde die Botschaft sofort überbrin gen.« Rasch machte Mary sich auf den Rückweg. Wie es schien, war auf den Franzosen Verlass. Die Zofe konnte nicht verstehen, warum er einen so schlechten Ruf genoss. Vermutlich fußte dieser nur auf Neid und schlechter Nachrede. Ihr zumindest kam es so vor, als sei dieser Mann genau der Retter, den Lady Josefine nun so dringend benötigte, um dem grausamen Schicksal, das Sir William ihr zugedachte hatte, noch zu entgehen... Die Zofe hatte ihr Ziel fast erreicht, huschte eben in die Halle von Newstead, als der Hausherr ihr unvermittelt den Weg vertrat. Sie schrak zusammen, wich einen Schritt zurück und fühlte sich zugleich grob am Kragen gepackt. Sir William starrte sie böse an. »Wo kommst du jetzt her? Raus mit der Sprache!« »Ich habe einen Spaziergang unternommen«, behauptete Mary kaltblütig. »Was erregt dabei Euer Missfallen, Sir?« »Einen Spaziergang, so, so...« Er ließ sie los und musterte sie ab fällig. »Du hast wohl heute morgen noch nicht genug bekommen. 72
Wenn dem so ist, sage es nur. Ich presse dir gerne eigenhändig die Seele aus dem Leib. Falls du überhaupt so etwas besitzen solltest...« »Meine Seele und mein Gewissen sind eins, Sir. Könnt Ihr das auch von Euch behaupten?«, fragte Mary mutig. Sir William knurrte verächtlich. »Geh mir aus den Augen, alte Ne belkrähe. Dein Anblick widert mich an.« »Vielleicht weil ich Euch an die alte Schuld erinnere, die Ihr auf Euch geladen habt? Denkt Ihr noch manchmal an Lady Godiva? Sie war schön und rein, kein böser Gedanke verfinsterte ihre klare Stirn. Sie wollte sich Euch nicht beugen, sich nicht brechen lassen. Da habt Ihr sie getötet...« »Es war ein Unfall«, behauptete der Lord of Newstead grollend. »Das weißt du ganz genau, also versuche nicht, mir ein schlechtes Gewissen einimpfen zu wollen.« »Ein Unfall? Ja, gewiss.« Die alte Zofe lächelte hinterhältig. »Sie stürzte über die allzu lange Schleppe ihres Kleides. Und Ihr gingt nur ganz zufällig an ihrer Seite, nicht wahr?« »Schweig endlich! Mir scheint, du lebst schon viel zu lange in die sem Haus. Dinge, die du nicht verstehst, sind dir zu Kopf gestiegen und haben deine einfältigen Sinne benebelt. Vielleicht wäre es besser, du verlässt Newstead. Und zwar noch heute...« Mary lächelte schmal. »Ich gehe mit Vergnügen. Denn ich möchte nichts mehr zu tun haben mit Euren bösen Bubenstücken.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand rasch über die Freitreppe nach oben. Sir William starrte ihr misstrauisch hinterher. Er wurde den Eindruck nicht los, dass die Alte etwas im Schilde führte. Doch was? Er beschloss, sie genau im Auge zu behalten. In den vergangenen Jahren hatte der Hausherr sich hundertprozentig auf die Alte verlassen kön nen. Sie war ihm treu ergeben wie alle anderen Bediensteten auf Newstead Abbey. Doch seit sie sich um Josefine kümmerte, war er sich ihrer Loyalität nicht mehr wirklich sicher. Er musste sehr vorsichtig sein, denn gerade jetzt durfte ihm niemand in die Quere kommen, der seine Pläne vielleicht im letzten Moment noch vereiteln konnte. Das würde er mit allen Mitteln verhindern, wenn es sein musste bis hin zur letzten Konsequenz... 73
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Lady Josefine wartete ungeduldig. Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen, die Dunkelheit legte sich nur ganz allmählich und zögernd über das Land. Mary hatte ihr von dem kurzem Gespräch mit Sir Ale xander berichtet und sie damit für einen Moment in eine wahre Hoch stimmung versetzt. Doch diese konnte nicht lange anhalten. Die Angst vor William, davor, dass er ihre Flucht bemerkte und im letzten Mo ment vereitelte, machte es ihr unmöglich, sich zu entspannen. Der Hausherr hatte sich nicht mehr gezeigt, doch Josefine wusste, dass er zu Hause war. Was werden sollte, wenn er Sir Alexander zur Unzeit stellte, wusste sie nicht. Doch sie ahnte, dass es nur diesen einen Weg gab. Wenn sie nun nicht versuchte, zu fliehen, dann war ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert. »Ihr solltet Euch niederlegen«, riet die Zofe ihr schließlich beson nen. »Ich werde wachen und Euch Bescheid geben, wenn Sir Alexan der erscheint.« »Aber ich kann jetzt nicht schlafen«, widersprach Josefine aufge regt. Das Herz klopfte ihr im Halse und sie war kaum in der Lage, ei nen klaren Gedanken zu fassen. »Ruht zumindest ein wenig. Vor Euch liegt ein Weg voller Gefah ren, Ihr werdet all Eure Kraft brauchen«, mahnte Mary sie besonnen. »Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie legte sich im Reisemantel auf das Bett, blickte eine Weile mit offenen Augen auf den Baldachin, der ihr im spärlichen Licht der Dämmerung furchteinflößend düster und drohend erschien. »Es will mir nicht gefallen, dich hier zurückzu lassen, Mary. Sir William wird seinen Zorn an dir auslassen. Und ich möchte nicht, dass du für mich leiden musst.« Die Alte spähte aus dem Fenster und schüttelte ein wenig den Kopf. »Sorgt Euch nicht um mich, My Lady. Ich kann schon auf mich selbst acht geben. Wenn Ihr erst fort seid, wird Sir William anderes im Sinn haben, als sich an mir zu rächen.« Eine Weile herrschte Schweigen, schließlich fragte die junge Lady: »Hast du Sir Williams erste Frau gekannt, Mary?« 74
»Oh ja. Sie war ein wahrer Engel. Wunderschön und von einem Charakter ohne jeden Tadel. Ihr gleicht ihr sehr.« »Wie ist sie ums Leben gekommen? Ich hörte darüber sprechen, konnte mir aber kein rechtes Bild machen.« »Sie ist die Freitreppe heruntergestürzt. Es war am Abend ihres Geburtstages.« Mary seufzte bekümmert auf. »Sir William hatte ein großes Fest für sie gegeben. Damals war das Haus noch nicht so ver wahrlost. Gäste kamen und gingen, manchmal weilten sogar Mitglieder der Hofes hier. Lady Godiva war ihr bewunderter Mittelpunkt. Ihre Eltern stammten aus den ersten Familien des Landes. Sir William schmeichelte es, eine solche Partie ergattert zu haben. Er hütete sie eifersüchtig, sah bald überall Nebenbuhler. Es dauerte nicht lange, bis er anfing, ihr Untreue vorzuwerfen. Er wurde jähzornig und brutal. Die Lady hatte viel zu leiden, doch das muss ich Euch nicht erzählen. Ihr selbst habt Schlimmes mitmachen müssen. An jenem Abend nun, das Haus war voller Gäste, brach Sir William einen schlimmen Streit vom Zaun. Wieder beschuldigte er sie, ihn betrogen zu haben. Sie stritt ab, was ja auch nicht stimmte. Als sie dann das Bankett eröffnen sollte, schritt er neben ihr die Freitreppe hinab. Lady Godiva trug ein sehr aufwendiges Kleid mit langer Schleppe. Schon nach wenigen Stufen strauchelte sie plötzlich und stürzte, schneller, als Sir William reagieren konnte. Sie brach sich das Genick und war auf der Stelle tot.« »Ein schrecklicher Unfall«, murmelte Lady Josefine betroffen, doch die Alte wiegte nur den Kopf hin und her. »Du bist anderer Meinung, Mary?« »Niemand, der Zeuge des Geschehens gewesen ist, konnte später genau sagen, wie es geschah. Die Schleppe des Kleides hatte sich an scheinend um ihre Füße geschlungen. Doch als sie am Fuß der Treppe lag - da sehe ich sie noch heute manchmal - war ihr Kleid wie ein Fä cher um sie gebreitet. Und nichts zerrissen, nichts zerknautscht, es schien ein Rätsel...« Josefine blickte unbehaglich zu der Alten herüber. Sie hatte das Gefühl, als rieselten Eiskörner über ihren Rücken, als sie fragte: »Du denkst, Sir William hat sie gestoßen?« 75
Mary sagte nichts. Doch ihr Schweigen war bedeutsam genug, um daraus die richtigen Schlüsse zuziehen... Die junge Lady war leicht eingenickt, als unvermittelt die Zofe ne ben ihr stand, sie an der Schulter berührte und flüsternd wissen ließ: »Sir Alexander ist hier. Kommt, rasch...« Noch ein wenig benommen erhob Josefine sich und folgte Mary zum Balkon. Der junge Adlige winkte ihr kurz zu. Sie zögerte nicht, griff nach dem Seil, das die Zofe besorgt hatte und lächelte dieser noch einmal zu. »Danke, Mary. Ich werde nicht vergessen, was du für mich getan hast. Lebe wohl und Gott schütze dich.« Die Alte schluckte. »Gott schütze Euch auf dem schweren Weg, der nun vor Euch liegt.« Josefine kletterte ein wenig mühsam über das Geländer und ließ sich dann langsam nach unten gleiten. Sie hatte wenig Übung in solch sportlicher Betätigung, doch sie schaffte es leidlich, den Boden zu er reichen. Dass ihre Handinnenflächen aufgeraut und blutig waren, merkte sie kaum. Sir Alexander half ihr wortlos aufs Pferd. Und schon wenige Au genblicke später stoben beide im Galopp davon. Der Edelmann trieb die Pferde an, bis sie sich auf einige Meilen von Newstead entfernt hatten. Dann aber gönnte er den Tieren eine Verschnaufpause. An einem Wegkreuz standen sie still. Nun erst wandte Sir Alexander sich an seine Begleiterin. Er sprach mit ruhiger Stimme, doch was er sagte, war für Josefine kaum zu be greifen. »Wir werden nicht nach Tamworth reiten, das hätte wenig Sinn. Ich bringe Euch nach London, My Lady.« »Nach London?« Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Was soll ich dort? Ich kenne keine Menschenseele in London.« »Oh doch, es gibt jemanden, der Euch kennen lernen möchte. Ei ne Person, die Euch schon lange vermisst und der auch Ihr nicht gleichgültig gegenüberstehen werdet.« »Und wer sollte das sein?«, wunderte sie sich. Sir Alexander zögerte kurz mit einer Antwort, doch als er dann sprach, hatte seine Stimme beinahe einen feierlichen Klang. »Es ist niemand anders als Eure Mutter, My Lady...« 76
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Sir William erfuhr erst am nächsten Morgen von der Flucht seiner Ge mahlin aus ihrer Gefangenschaft. Er hatte am Vorabend zu sehr dem Alkohol zugesprochen, um noch zu begreifen, was in seiner Umgebung vorging. Auch nun war er nicht ganz auf der Höhe. Doch er ahnte, dass es nur eine Schuldige gab, an der er nun seiner Rache freien Lauf lassen konnte. Die alte Zofe schrak nicht einmal zusammen, als ihr Brotherr in ih rer Kammer erschien und sie anbrüllte: »Nun gut, sprich: Wo ist mein Weib? Ich gebe dir noch eine Möglichkeit, dein erbärmliches Leben zu retten, wenn du nun ganz offen gestehst. Reize nicht weiter meinen Zorn, oder aber du wirst es bitter bereuen!« Mary lächelte müde. Sie war es lange leid, unter dem Regiment eines Tyrannen zu leben. Und sie war nach wie vor fest entschlossen, Lady Josefines Geheimnis zu wahren. Ihr eigenes Leben bedeutete ihr nicht mehr viel. »Nun, was ist? Mach endlich den Mund auf, oder...« »Euer Drohen schreckt mich nicht mehr«, erklärte sie mutig. »Die junge Lady ist fort. Und ich bete zum Allmächtigen, dass sie nie wieder in diese verfluchten Mauern zurückkehren wird.« »Du weißt ja nicht, was du redest«, rief Sir William verächtlich. »Josefine hätte Newstead nie verlassen dürfen. Gelingt es ihr, nach London zu gelangen, wird der Thron vielleicht stürzen. Und das nur wegen einer einfältigen Magd, die nichts begreift.« »Lady Josefine hat es nicht verdient, das Schicksal von Lady Godi va zu teilen«, entgegnete Mary entschieden. »Deshalb habe ich ihr geholfen zu fliehen. Und ich bereue es nicht!« »Dummes Ding! Du hast mir zum letzten Mal Arger gemacht«, drohte der Hausherr erbost, packte die Alte am Arm und zerrte sie aus der Kammer. »Was nun geschieht, hast du nur dir selbst zu zuschreiben!« Kaum eine Stunde später verließ auch Sir William Newstead. Sein Ziel war London und er hoffte sehr, nicht zu spät zu kommen. Denn 77
dann war auch sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er hatte ver sagt, hatte Josefine entkommen lassen. Und das konnte ihn Kopf und Kragen kosten. Am Wegkreuz, unweit von der alten Abtei, zog der Lord kurz am Zügel und ließ sein Pferd stehen. Sein Blick streifte düster über die dürre Gestalt, die dort am Verräterbaum hing. Dann gab er seinem Pferd wieder die Sporen. Mary, die alte Zofe, hatte ihren Verrat mit dem Leben bezahlt. Und wenn es nach Sir William ging, dann sollte auch Lady Josefine nicht ungestraft entkommen. * Zwei Tage später erreichten Lady Josefine und Sir Alexander deMoin London. Sie waren nur im Schutz der Dunkelheit geritten, hatten sich über Tag in Wäldern aufgehalten oder in verfallenen, aufgegebenen Katen. Die junge Lady hatte ihrem Begleiter immer wieder die gleichen Fragen nach ihrer Herkunft gestellt, doch der Edelmann blieb schweig sam. Wie es schien, wollte er der leiblichen Mutter nicht vorgreifen. Als sie nun aber die Königsstadt erreichten, ließ Josefine sich nicht länger vertrösten. »Sir Alexander, Ihr wisst, dass ich Euch vertraue. Trotz aller Un wägbarkeiten und sehr großer Ungewissheit bin ich Euch nach London gefolgt und wäre durchaus auch bereit, weiter an Eurer Seite zu blei ben, wohin Ihr mich auch führt«, versicherte sie ihm nachdrücklich. »Aber Ihr spracht von meiner Mutter. Und ich kann nicht umhin, zu gestehen, dass das Verlangen, endlich meine Herkunft zu kennen, kaum noch zu stillen ist. Deshalb muss ich Euch nun auffordern, mir alles zu sagen, was Ihr wisst. Im anderen Fall werde ich nicht länger in Eurer Gesellschaft verharren.« Sie schaute ihn ebenso entschlossen wie bittend an. »Habt doch Erbarmen mit meinem einsamen Herzen und sagt mir, wohin es gehört!« Der junge Mann nahm spontan ihre Rechte, drückte sie leicht und versicherte mit tiefer Inbrunst: »Ich wünschte, ich könnte sagen, Ihr gehört zu mir, süße Josefine, denn mein Herz schlägt längst für Euch. Doch ich bin auch nur eine Figur in diesem Spiel, das anderen zu spie 78
len vorbehalten ist. Wenn ich bis jetzt geschwiegen habe, was Eure Herkunft angeht, dann nur, um Euch zu schützen. Und auch jetzt ist dies noch nötig und von Vorteil. Ich muss Euch bitten, mir einfach zu glauben. Nichts liegt mir so fern, als Euch zu beschwindeln.« Sie senkte errötend die Lider, murmelte: »Bitte, vergesst trotz al lem nicht, dass ich verheiratet bin, Sir Alexander. Nicht die Gefühle dürfen uns nun leiten, es muss der Verstand sein.« »Ich will Euch nicht in Verlegenheit bringen, doch ich ahne, dass Eure Ehe nur eine Farce ist. Huddelton hat an Euch als Frau nie wah res Interesse gezeigt, nicht wahr?« »Woher wisst Ihr...« »Es ist eine verzwickte Geschichte. Aber ich verrate Euch kaum zuviel, wenn ich behaupte, dass dieser Mann, ein verderbter und von Grund auf böser Charakter, nur die Rolle des Wächters übernommen hat. Er sollte Euch daran hindern, eine andere Partie zu machen, viel leicht einen Gentleman zu heiraten, der bei Hofe verkehrt. Das wäre absolut nicht im Sinne seines Auftraggebers gewesen.« »Ich verstehe nicht...« »Habt noch ein wenig Geduld. Bald werden sich die Schleier lüften und ein klares Bild entstehen lassen. Und nun kommt, wir werden in dieser einfachen Schenke einkehren. Morgen in aller Frühe werdet Ihr im Königspalast erwartet. Keine Angst, ich begleite Euch. Es ist für mich kein fremder Ort. Und ich kann Euch zudem versichern, dass auch Ihr ihn bald als Euer Zuhause ansehen werdet.« Alexanders Worte hatten Josefine in noch größere Verwirrung ge stürzt. Während sie in der Nacht in der kleinen einfachen Kammer auf und abschritt, denn an Schlaf war nicht zu denken, versuchte sie ver geblich, ihre Gedanken zu ordnen, um hinter das Geheimnis zu kom men, das auch ihr Begleiter so hartnäckig hütete. War es denn mög lich, dass sie von so hoher Abstammung war? Dass am Ende eine ver wandtschaftliche Beziehung zum Königshaus bestand? Josefine konnte und wollte dies nicht glauben. Sie hatte sich bei den Thorntons zwar stets ein wenig wie das Aschenputtel gefühlt. Aber dass aus diesem nun eine Prinzessin wurde, erschien ihr ebenso unglaublich wie ab surd. Und doch regte sich Unruhe in ihrem Herzen und sie wünschte 79
beinahe, Newstead Abbey nicht verlassen zu haben. Das Schicksal, das sie dort erwartete, war klar in seiner Grausamkeit. Doch was würde sie in London erleben? Welche Abgründe sollten sich hier vor ihr auftun? Die junge Lady fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Immer wieder kehrten ihre Gedanken auch zu ihrem Begleiter zurück. Sir Alexander hatte ihr an diesem Tag seine Liebe gestanden. Und auch ihr Herz blieb in seiner Nähe nicht stumm. Dass es jedoch eine Erfüllung für diese Sehnsucht geben könnte, schien unwahrscheinlich. Auch wenn sie Sir William verlassen hatte, blieb sie doch seine angetraute Ehe frau. Und Sir Alexanders Ruf war nicht der beste, was Frauen betraf. Lady Josefine fühlte sich völlig verunsichert und ratlos. Sie sehnte sich nach einem Menschen, bei dem sie sich aussprechen konnte, einem Menschen wie die gute, alte Mary. Wie es ihr wohl ergangen war? Die junge Frau hoffte sehr, dass sie nicht unter ihrer Flucht zu leiden hat te. Aber ob Sir William einmal Milde hatte walten lassen, war mehr als ungewiss... Sehr zeitig am nächsten Morgen kleidete Lady Josefine sich sorg fältig an. Sie fühlte sich übernächtigt und ganz zerschlagen. Zugleich aber klopfte ihr das Herz vor Aufregung im Halse. Schließlich sollte sie nun bald ihrer leiblichen Mutter gegenüberstehen - zum ersten Mal im Leben! Sir Alexander holte sie pünktlich ab. Auch er schien nicht eben gut geschlafen zu haben. Und als sie beim Frühstück saßen, ließ er sie wissen: »Sir William ist auf dem Weg nach London. Wie es scheint, sind wir keine Sekunde zu früh aufgebrochen.« »Er kommt her?« Sie war blass geworden. »Aber wenn er mich findet, dann...« Josefine versagte die Stimme, Tränen der Panik stie gen in ihr auf. Ihr Begleiter beruhigte sie. »Er ist weit hinter uns. Ihr braucht Euch nicht zu fürchten. Sehr bald schon wird er Euch nichts mehr an haben können. Glaubt mir.« Sie wollte ihm gerne glauben, aber die Angst war einfach zu groß. Und so zeigte Josefine sich auch erst einigermaßen beruhigt, als sie die Schenke verließen und den Rest des Weges hinter sich brachten. 80
Der Königspalast lag inmitten der Stadt an der Themse. Lady Jo sefine konnte sich nicht erinnern, jemals ein so prachtvolles Gebäude erblickt zu haben. Und dabei stand der Prunk der Einrichtung dem äu ßeren Erscheinungsbild in nichts nach. Nachdem sie das hohe, ge schmiedete Tor passiert hatten, führte ein livrierter Diener sie in einen Nebenflügel des Palastes. Sir Alexander erklärte seiner Begleiterin, die stumm vor Ehrfurcht war: »In diesen Räumen ist man völlig ungestört. Es gibt einen Nebeneingang, der in eine ruhige Seitenstraße führt. Sollte es Euch danach verlangen, das Gespräch zu beenden, gebt mir ein Zeichen, ich werde Euch dann hinaus begleiten.« Lady Josefine nickte schweigend. Sie betraten einen kleinen Salon, der mit verspielten Möbeln in Seegrün und Gold eingerichtet war. Die beiden hohen Fenster gingen auf einen Park hinaus, in dem mächtige Baumriesen standen. Es war ganz still, kein Laut des Lebens ringsum schien in diesen besonderen Bereich der Macht vorzudringen. So kam es, dass Josefine auch die Schritte hörte, die sich ihnen bald näherten. Eine Tür im hinteren Teil des Salons wurde geöffnet, zwei elegante Hofdamen erschienen. Und ihnen folgte niemand anders als die Frau des Königs von England. Lady Josefine senkte rasch das Haupt, ihr Herz schlug zum Zer springen und sie meinte sich einer Ohnmacht nah. Die edle Dame winkte ihre Begleitung mit einer kurzen Handbewegung hinaus. Dann bat sie Sir Alexander: »Ihr dürft bleiben, aber schweigt über jedes Wort, das wir an die junge Dame richten werden.« »Sehr wohl, Majestät«, entgegnete der junge Herr höflich. Die Königin wandte sich nun an Josefine. »Setz dich zu mir, mein Kind. Ich möchte dich betrachten«, forderte sie in vertraulichem Ton fall. »Fürchte dich nicht, es liegt kein Grund vor, zu zögern. Gewiss hat Sir Alexander dir bereits erzählt, wie die Dinge nun einmal liegen.« »Nein, ich... weiß nichts, Majestät«, murmelte sie tonlos. Die Königin warf dem jungen Edelmann einen irritierten Blick zu, fuhr dann fort: »Nun, wenn es so steht, werde ich dir alles sagen, was du wissen musst. Aber ich muss auch dich zum Stillschweigen ver pflichten. Würde auch nur ein Wort dessen, was hier gesprochen wird, an die Öffentlichkeit dringen, könnte das unser Land ins Chaos, in ei 81
nen Bürgerkrieg stürzen. Du, Josefine Banks, bist meine leibliche Toch ter. Nun höre die Geschichte, die die deine ist und verurteile mich nicht eher für meine Taten, bis du alle Fakten kennst.« Die junge Dame war wie erstarrt. Sie konnte nicht glauben, was sie da eben vernommen hatte. Und doch wagte sie in keinem Moment, an den Worten der Königin zu zweifeln. Das war ganz undenkbar. Ge bannt lauschte sie auf diese Stimme, die nun ihr ganzes Schicksal vor ihr auszubreiten begann. »Es liegt weit zurück, über zwanzig Jahre und ich war noch nicht lange die Gemahlin des Königs. Damals, ein törichtes Ding voller Gril len und Albernheiten, träumte ich von Liebe und Romantik. Etwas, das wohl jedes junge Mädchen kennt. Charles nahm mich nicht ernst, er war älter als ich und trug bereits die Bürde der kommenden Regent schaft auf seinen Schultern. Bei ihm fand ich nicht, was ich suchte. Aber in den Armen eines anderen. Sir Hannibal Banks, ein verwegener Abenteurer, Entdecker und Seefahrer, der am Hof seine Aufwartung machte. Er erfüllte alle Vorstellungen von Weite und Unbekanntem, von fremden Ländern, Menschen und unaussprechlichen Wundern, die eine Prinzengemahlin im nebligen London niemals leibhaftig zu Gesicht bekommen würde. Und er war überaus charmant, verstand es, ein Frauenherz zu erobern. Naiv und verliebt wie ich war, ließ ich mich auf eine kurze Affäre mit ihm ein. Bald schon stach er wieder in See - und kehrte niemals zurück. Ich war vor Unglück lange krank. Charles kümmerte sich in dieser Zeit rührend um mich. Er hatte wohl begrif fen, dass zu einer Ehe mehr als Respekt und Disziplin gehörte. Dass er mir anstandslos meinen Fehltritt verzieh, der zudem nicht ohne Folgen geblieben war, rechnete ich ihm hoch an. So seltsam es klingen mag, aber gerade diese Krise war es, die unsere Ehe zu dem machte, wor auf wir auch heute noch bauen können.« Sie schwieg kurz, schien ihre Gedanken zu ordnen und fuhr dann fort: »Das Kind wurde in aller Heimlichkeit geboren. Natürlich war es undenkbar, es als ehelich zu behalten. Es war der schwerste Moment meines Lebens, als ich dieses zauberhafte, winzige Geschöpf in einen Weidenkorb legte und einer meiner Hofdamen anvertraute. Ich hatte noch lange danach Alpträu me, Schuldgefühle quälten mich. Doch man versicherte mir, dass das 82
Kind in guten Händen sei und ein angemessenes Leben würde führen können.« »Habt Ihr nie daran gedacht, es zurück zu holen?«, warf Sir Alex ander Anteil nehmend ein. »Oh doch, mehr als nur einmal. Auch nachdem ich dem König Kinder geboren hatte, blieb immer ein Platz in meinem Herzen für die ses arme Geschöpf, das allein durch meine Schuld nicht den Platz im Leben einnehmen durfte, der ihm eigentlich zustand.« »Die Thorntons nahmen mich auf und behandelten mich leidlich«, murmelte Lady Josefine mit dumpfer Stimme. Was sie gerade erfahren hatte, wollte erst einmal begriffen werden. Ihr Herz war in Aufruhr, zugleich beherrschten sie Freude und Trauer, Erleichterung und Empö rung. »Doch ich verstehe nicht, warum sie mich mit Gewalt Sir William zur Frau gaben. Wussten sie denn...« Alexander deMoin versicherte: »Die Königin ist über all diese Win kelzüge nicht informiert. Auch ich weiß nicht alles, was unter der Hand vorging. Eines aber ist mir bekannt: Gewisse Kreise bei Hofe drängten vom ersten Tag an darauf, das unstandesgemäße Kind endgültig zu beseitigen. Andere, darunter mein Vater, bemühten sich Euer Leben zu schützen, Josefine. Die Thorntons kannten Eure Abstammung. Und als Sir William erschien, sich als Retter in finanzieller Not ausgab, wussten sie wohl nicht, welche Absicht er in Wirklichkeit verfolgte. Sie sahen die gute Partie, das hohe Brautgeld. Ich glaube nicht, dass Lady Lydia ihren Besitz durch Euer Leben erkaufen wollte.« »Aber wer steckt hinter diesen Intrigen?«, wollte die Königin auf gebracht wissen. »Ihr beschuldigt doch nicht meinen Gatten?« »Das läge mir fern, Majestät. Ich bin vielmehr der Auffassung, dass Euer Gemahl von diesen Winkelzügen ebenso wenig weiß wie Ihr. Bestimmte Hofschranzen, die Unheil vom Thron abzuwenden suchten, waren wohl der Auffassung, dass Josefine lebend einfach eine zu gro ße Gefahr darstellte. Hätten oppositionelle Kreise von ihrer Existenz erfahren, wäre vielleicht die Regierung ins Wanken geraten. Man be schloss, den lebenden Beweis für die eheliche Untreue der Königin zu beseitigen. Sir William, der mittlerweile längst nicht mehr so reich ist, wie er uns alle gern glauben macht, übernahm gegen gute Bezahlung 83
diese Aufgabe. Nun, da Josefine fliehen konnte, ist er selbst in Le bensgefahr geraten.« Die Königin schwieg eine Weile betroffen. Schließlich murmelte sie: »Ich habe gehofft, dass mit unserem Zusammentreffen meine alte Schuld abzutragen sei. Doch leider muss ich nun erkennen, dass dies unmöglich ist. Du darfst nicht hier bleiben, mein Kind, Das Klügste wäre, gleich wieder zu scheiden. Doch ich bringe es nicht übers Herz, so rasch...« »Ich glaube nicht, dass Josefine sich nun noch in Gefahr befin det«, widersprach Sir Alexander entschieden. »Der Schwindel ist auf geflogen, ihre Identität aber bleibt verborgen. Die Intriganten haben nichts erreicht.« »Was sagst du dazu, mein Kind?« Die junge Lady hatte die ganze Zeit geschwiegen, nun versicherte sie mit schwacher Stimme: »Mir liegt sehr viel daran, meine wahre Herkunft zu kennen. Ich spüre, dass es mit hilft, endlich den Platz im Leben zu finden, an den ich gehöre. Und ich sehe nun auch, dass dies nicht dieser Palast ist. Ihr mögt mich geboren haben, Majestät, doch mein Leben verbrachte ich bei den Thorntons. Sie sind meine Eltern und werden es für mich auch bleiben. Verzeiht, wenn dies respektlos klingt...« »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, Josefine. Ich habe dir sehr viel abzubitten, mehr als ein Menschenleben Zeit bietet. Es wird nicht möglich sein, etwas wieder gut zu machen, denn die Jahre, die wichtig waren, sind verflossen. Trotzdem ein Vorschlag zur Güte: Verweile etwas in meiner Nähe, mein Kind, gib uns beiden die Gele genheit, einander zumindest jetzt kennen zu lernen. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du würdest auch mich damit glücklich machen.« »Ich bleibe gern«, entgegnete Lady Josefine. »Es ist mir eine Eh re, in Eurer Nähe verweilen zu dürfen, Majestät.« Die Königin lächelte mild und verließ dann den Salon. Sir Alex ander gab Josefine Zeit, über das nachzudenken, was gerade ge schehen war. Als er sie dann nach draußen führte, bat sie ihn leise: »Ihr werdet doch auch in London bleiben, nicht wahr?« 84
»Selbstverständlich. Ich kann Euch nicht allein lassen, Josefine. Ganz besonders jetzt nicht.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Die Lage ist keineswegs so ungefährlich, wie ich sie eben der Königin gegenüber schilderte. Sir William wird weiterhin versuchen, Euch zu finden. Der Schnitzer, der ihm unterlaufen ist, muss wieder gutgemacht werden, sonst könnte es ihn Kopf und Kragen kosten.« »Ihr meint...« »Ich will Euch nicht ängstigen, Josefine. Doch Euer Leben ist nach wie vor in Gefahr. Aber ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist, dass ich Euch vor aller Unbill bewahren werde.« Sie schaute ihn fragend an, lächelte dann ein wenig. In seiner Nä he fühlte Josefine sich stets sicher und geborgen. Das war schon vom ersten Moment an so gewesen, als er sie verletzt am Wegesrand ge funden und seinen Mantel über sie gebreitet hatte. »Ich vertraue Euch«, sagte sie leise und legte ihre Hand in seine. »Aber ich weiß nicht, was nun werden soll. Was ich heute erfahren habe, wirft mein Weltbild und alles, woran ich glaube, völlig durchein ander.« »Ihr werdet Zeit brauchen, um wieder zu Euch selbst zu finden«, meinte der junge Mann verständnisvoll. »Doch ich bin überzeugt, dass Euch das irgendwann gelingen wird.« * Sir William war Tag und Nacht geritten und am Nachmittag des glei chen Tages in London angekommen. Sofort hatte er im Palast vorge sprochen. Doch schlechte Neuigkeiten reisen bekanntlich schnell und so war er nicht einmal vorgelassen worden. Unverrichteterdinge mietete er sich in einer kleinen Pension ein, gar nicht weit von dem Haus entfernt, wo Lady Josefine und Sir Ale xander wohnten. Der Lord of Newstead war ebenso verzweifelt wie ratlos. Ihm wurde klar, dass er selbst sich nun in höchster Gefahr befand. Die Per sonen, in deren Auftrag er gehandelt hatte, verstanden keinen Spaß. Und sie verziehen vor allen Dingen keine Fehler. Noch immer konnte 85
Sir William nicht begreifen, wie es seiner Frau gelungen war, zu flie hen. Er hatte weder sie noch diesen Halbfranzosen für so clever gehal ten und war anscheinend zu sorglos gewesen. Das rächte sich nun bitter. Aber noch war er nicht gewillt, aufzugeben. Er wollte ein paar Detektive engagieren und mit ihrer Hilfe Lady Josefine aufspüren. Selbst wenn er sie eigenhändig ins Jenseits befördern musste, er wür de vor nichts zurückschrecken, um sein eigenes Leben zu retten. Skru pellos und gefühlskalt war Sir William schon immer gewesen. Nun aber hatte er alle Hemmungen verloren und schreckte auch vor den ge meinsten Taten nicht zurück, wie der feige Mord an der alten Mary be reits bewiesen hatte. Und dabei ahnte er nicht, dass selbst die größte Schandtat ihn nicht mehr vor der gerechten Strafe bewahren konnte... Am frühen Morgen durchbrach unvermittelt Radau die Stille des Gasthauses. Noch ehe der Wirt in der Lage war, die Tür zu öffnen, war sie eingeschlagen, Soldaten drängten ins Haus. Der verängstigte Besit zer, der sich keines Vergehens bewusst war, bat den obersten Ker kermeister von London, der die Männer anführte, sein Begehr zu nen nen und versicherte zugleich, ein ehrenwerter Bürger zu sein, der sich kaum je eines harmlosen Vergehens schuldig gemacht hatte. Der Herr in schwarzer Kleidung warf ihm einen scharfen Blick zu und fragte dann: »Weilt ein Sir William Huddelton in diesem Haus? Sprich, Mann, unser Auftrag lässt uns keine Zeit, zu verweilen und zu schwatzen.« »Sir William, ja, ja, der wohnt hier«, dienerte der Mann beflissen. »Droben, in der ersten Kammer. Ihr könnt es nicht verfehlen. Ist er denn ein Verbrecher? Er machte einen so noblen Eindruck...« Der Wirt hörte keine Antwort, statt dessen wurde er zur Seite geschoben und die Männer drängten die schmale Holztreppe nach oben. Sir William wusste kaum, wie ihm geschah, als man ihn im Halbschlaf ergriff und fortschleifte. »Was soll das? Wer seid Ihr? Lasst mich sofort los, das werdet Ihr noch bitter bereuen!«, schrie er erbost, doch niemand schenkte ihm Beachtung. Der Kerkermeister bedachte ihn lediglich mit einem abfälli gen Blick und versicherte: »Ihr werdet sehr bald Antwort auf all Eure Fragen erhalten. Bis dahin bescheidet Euch und schweigt, wollt Ihr dem Knebel entgehen.« 86
Diese deutlichen Worte ließen den Wüterich tatsächlich verstum men und machten ihm zugleich deutlich, dass er nun nichts weiter als ein Gefangener der Krone war, ohne Rechte, dem preisgegeben, was andere für ihn bestimmten. Im festen Griff zweier Soldaten verließ Sir William das Gasthaus. Draußen lag bereits ein erster Widerschein von Licht am noch dunklen Himmel, die Luft war feucht und kalt. Die Fahrt ging zügig zum Tower von London, wo alle hochrangi gen Delinquenten verwahrt wurden. Als der Gefangene dies sah, rief er empört: »Ich begreife nicht, was das zu bedeuten hat. Solange ich lebe, habe ich der Krone und meinem König treu gedient. Nie machte ich mich eines Vergehens schuldig. Was wirft man mir nun vor, das eine Verbringung hierher rechtfertigt?« Der Kerkermeister zeigte sich unbeeindruckt von seinen Worten. »Ihr werdet, wie bereits erwähnt, bald erfahren, was man Euch vor wirft. Ich habe nur die Aufgabe, Euch in Gewahrsam zu nehmen. Alles weitere liegt bei einem anderen...« Die Kutsche stoppte vor dem Haupteingang des Tower, wieder wurde Sir William zu beiden Seiten eskortiert, als sei er ein Schwerver brecher. Bis gerade eben war ihm das Ganze wie ein schlechter Traum erschienen. Nun aber schlich sich allmählich Todesangst in sein Herz und er begann zu ahnen, dass er für sein Versagen nun den Preis zah len musste... Der Kerkermeister brachte den Gefangenen in einen winzigen Raum, der kein Fenster besaß und auch nicht möbliert war. Nur an beiden Wänden waren eiserne Armringe angebracht, die an kurzen Ketten hingen. Sir William fragte ungläubig: »Ihr werdet mich doch nicht anketten wollen wie einen Hund?« »Verhaltet Euch ruhig, dann will ich Euch dies ersparen.« Die Tür fiel hinter dem Kerkermeister schwer und dumpf ins Schloss. Er hatte die Laterne, die er bei sich führte, wieder mitgenommen. Und so blieb Sir William in völliger Dunkelheit und Stille allein zurück. Nur der Schlag seines Herzens hallte ihm in den Ohren und die Angst vor dem, was ihn erwartete, machte ihn halb irre. Der Mann, der so lange ge 87
quält und getötet hatte, wie es ihm in den Sinn gekommen war, ahnte, was auf ihn zukam. Und eben deshalb war seine Furcht so groß... Sir William wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er Ge räusche vernahm. In dieser dunklen Stille verlor man rasch den Sinn für Zeit und Raum. Doch das Rasseln des Schlüssels an der Tür sagte ihm, dass seine Isolation hier und jetzt endete. Was folgte, würde aber keineswegs angenehmer sein, das ahnte er. Der Kerkermeister erschien in Begleitung zweier Soldaten und ei nes Edelmanns, bei dessen Anblick Sir William aufatmete. »Roderick, wie froh bin ich, Euch zu sehen! Gewiss seid Ihr ge kommen, mich zu befreien, nicht wahr? All dies hier kann doch nur ein schrecklicher Irrtum sein!«, rief er hoffnungsvoll. Doch der hoch gewachsene Gentleman im dunklen Leibrock mus terte ihn mit abweisender Miene. Ehe er sprach, machte er seinen Be gleitern ein Zeichen, ihn mit dem Gefangenen allein zu lassen. Und was er dann sagte, nahm auf einen Schlag jeden Funken Hoffnung für Sir William fort. »Ich komme keineswegs zu Eurer Rettung, Sir. Eure Verhaftung geschah vielmehr auf meine Anordnung. Und ich stehe nicht an, zu erklären, dass Euer Leben verwirkt ist. Dass ich nun hier bin, wollt Ihr als letzten Akt einer freundschaftlichen Gesinnung be trachten, die nun endet.« Sir William erbleichte. »Ihr wollt mich opfern, mich zum Sün denbock stempeln? Aber da spiele ich nicht mit! Ich habe Euch ebenso in der Hand, wie es umgekehrt der Fall sein mag. Und ich werde nicht schweigen, wenn es um mein Leben geht.« »Ihr scheint Euch Eurer Lage nicht recht bewusst zu sein. Doch ich helfe Euch gerne ein wenig auf die Sprünge«, erwiderte der Besu cher unbeeindruckt. »Ihr, Sir, habt Euch vieler Vergehen schuldig ge macht. Blut klebt an Euren Händen, das letzte bedauernswerte Opfer Eures Wahnsinns war eine harmlose, alte Zofe, die Ihr zu Eurem schändlichen Vergnügen einfach aufknüpfen ließet. Doch damit ist nun Schluss. Das Land wird von Eurem ruchlosen Treiben befreit. Und nie mand wird auch nur einen Finger rühren, wenn man Euch zum Scha fott führt.« 88
»Ihr...« Sir William drehte sich ruckartig um und ballte dabei die Hände zu Fäusten. Ihm wurde klar, dass er tatsächlich machtlos war. Er hatte sich auf ein gefährliches Spiel mit hohem Risiko und eben solchem Gewinn eingelassen und haushoch verloren. »Wie gesagt, Euer Leben ist verwirkt. Doch ich denke an die Dienste, die Ihr mir ohne Zweifel des öfteren erwiesen habt und biete Euch deshalb einen Ausweg. Nehmt diesen Gifttrank zu Euch, er wird einen sanften Tod bringen und Euch die Schmach der öffentlichen Hin richtung ersparen.« Der Besucher hielt dem Gefangenen ein kleines, schwarzes Fläschchen hin, doch dieser lachte nur dröhnend und irre. »Es könnte Euch so passen, dass ich einfach sang- und klanglos von der Bildfläche verschwinde. Aber diesen Gefallen werde ich Euch nicht tun, seid ge wiss! Noch auf dem Schafott werde ich Euer schäbiges Tun in die Welt hinaus rufen. Und nichts und niemand kann mich davon abhalten.« »Schön, wie Ihr wollt.« Das Fläschchen verschwand, der Edel mann wandte sich zum Gehen. »Ihr werdet nichts erreichen, denn die Öffentlichkeit erfährt zuvor von Eurem Wahnsinn. Niemand wird Euch glauben. Und selbst der niedrigste Tagelöhner wird vor Euch ausspu cken. So lebt nun wohl, Ihr habt es nicht anders gewollt!« »Ich hoffe, der Thron wird stürzen«, giftete Sir William hinter dem Besucher her. »Ihr Gauner und Schurken habt es nicht anders ver dient!« Der Edelmann drehte sich noch einmal um und lächelte abfällig. »Der Fehler eines Halunken wird ein ganzes Königreich nicht ins Wan ken bringen. Ihr seid bereits Geschichte, Sir William. Doch diese wird in keinem Buch jemals zu lesen sein!« * »Josefine, habt Ihr schon die Neuigkeiten gehört?« Sir Alexander trat zu der jungen Lady, die mit gedankenverlorener Miene hinter dem Fenster ihres Hotelzimmers stand und geistesabwesend nach draußen in den trüben Wintertag starrte. 89
»Neuigkeiten?«, wiederholte sie schließlich lahm. »Was meint Ihr damit?« »Sir William wurde angeklagt und verurteilt des Landesverrates. Er soll dieser Tage öffentlich hingerichtet werden. Sein Besitz wurde kon fisziert, der König selbst will ein Exempel statuieren.« Josefine senkte den Blick. »Mein Gott, er tut mir trotz allem leid. Was für ein schreckliches Ende...« »Aber begreift Ihr denn nicht, was dies bedeutet?«, fragte der junge Herr eindringlich. »Die Personen, die Euch Böses wollen, verwi schen alle Spuren. Das heißt, Euer Leben ist noch immer in Gefahr. Ihr dürft nicht länger in London weilen!« »Macht es denn einen Unterschied, wo ich bin? Man wird mich si cher überall verfolgen. Ich selbst weiß ja nicht mal mehr, wer ich bin und wohin ich gehöre.« Seit der Begegnung mit der Königin wusste Lady Josefine nicht mehr, was sie noch glauben, wem sie noch trauen konnte. Alles war plötzlich anders. Sie fühlte sich förmlich aus ihrem eigenen Leben herausgerissen und entwurzelt. »Josefine, ich bitte Euch!« Sir Alexander nahm ihre Hände in seine und suchte ihren Blick. In seiner Nähe wurde ihr Herz ruhig, doch die Ungewissheit blieb. »Ihr gehört zu mir, das wisst Ihr doch. Meine Lie be zu Euch ist grenzenlos. Ich möchte Euch behüten und glücklich machen. Deshalb habe ich entschieden, dass wir nach Frankreich ge hen. Meine Familie besitzt ein Chalet in der Dordogne. Wir können dort ungestört leben, niemand wird es noch wagen, Euch zu nah zu treten. Was sagt Ihr?« Sie lächelte schwach. »Ich möchte gerne mit Euch kommen. Aber ich fühle mich auch hier noch zugehörig, trotz allem. Und ich will das Land nicht verlassen, ohne zu wissen, dass ich das Richtige tue.« »Ihr wollt noch bleiben? Es könnte gefährlich werden...« »London zu verlassen, wird mir nicht schwer fallen. Gewiss wird die Königin mich noch einmal sehen wollen. Aber ich habe in den ver gangenen Tagen begriffen, dass das Wissen um meine Herkunft mein Leben nicht wirklich verändert hat. Allerdings würde es mir am Herzen liegen, die Thorntons noch einmal zu besuchen. Ich kann nicht ganz ohne Abschied fortgehen.« 90
Der junge Mann nickte. Er verstand, was seine Liebste bewegte und schlug deshalb vor: »So lasst uns schon bald aufbrechen und nach Fulton-Castle reisen. Doch dies soll unsere letzte Station vor dem Weg nach Frankreich sein. Ich will Euch nicht unnötig weiter in Gefahr brin gen, Josefine. Vor den Intrigen und Komplotten der Hofschranzen kann Euch nicht einmal die Königin selbst schützen. Die Zeiten sind unruhig. Und ich möchte nun kein Risiko mehr eingehen.« Lady Josefine zeigte sich damit einverstanden. Und so kam es, dass sie bereits am nächsten Tag London verließen, noch bevor Sir William seinem Schicksal ins Auge blicken musste... Die Königin bedauerte den kurzen Abschied, doch sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie es bereute, ihre Tochter nicht wirklich kennen gelernt zu haben. Sie schenkte Josefine ein kostbares Medail lon mit den Bildern des Herrscherpaares und ließ sie wissen: »Wann immer du in eine schwierige Lage kommen solltest, mein Kind, zeige dieses Medaillon vor. Es wird dir in allen Teilen des Königreiches Schutz und sicheres Geleit garantieren.« Sie küsste Josefine auf die Stirn und lächelte ihr noch einmal zu. Seltsam berührt fühlte die junge Lady sich von diesem Ausdruck der Zuneigung einer Frau, die ihr doch fremd geblieben war. Eines aber schien sicher: Durch ihre gefahrvolle Reise nach London hatte Lady Josefine endlich erfahren, woher sie kam. Die Wurzeln, die bis dahin im Dunkeln gelegen hatten, waren nun offenbar geworden und halfen der jungen Frau, sich im Leben ein wenig besser zurecht zu finden. Die Reise nach Schottland unternahmen die beiden jungen Men schen in einer stabilen Kutsche. Der Winter war nun gekommen, Kälte und Schnee machten das Reisen beschwerlich. Und manches Mal hatte Josefine Alexander gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn auch noch genötigt hatte, nach Schottland zu fahren. Allerdings wollte und konnte sie ihr Heimatland nicht für immer verlassen, ohne sich von ihren Zieheltern zu verabschieden. Und ihr Begleiter schien dafür durchaus Verständnis zu haben. Drei Tage später erreichten die Rei senden Fulton-Castle. Erinnerungen wurden in Josefine wach, als die prägnanten Türme der Burg vor ihnen in der Ferne auftauchten. Ein wenig Wehmut stieg in ihr auf, aber sie bemühte sich auch, die nega 91
tiven Geschehnisse nicht zu vergessen. Ob sie überhaupt willkommen waren auf Fulton? Lord John zeigte sich sehr überrascht, als seine Ziehtochter eine Weile später vor ihm stand. Er hatte sich kaum verändert in den ver flossenen Monaten. Nur sein Gesicht war noch um eine Nuance mehr gerötet, was auf seinen Zuspruch zu Wein und Bier zurückzuführen war. Etwas unbeholfen bot er seinen Gästen Platz an und fragte als erstes: »Wie kommt es, dass du in Begleitung dieses Gentleman hier her zurückkehrst, Josefine? Weiß dein Mann von dieser Reise?« »Sir William wartet in London auf seine Hinrichtung. Er wurde des Landesverrates überführt«, erzählte Lady Josefine scheinbar reglos. »Sir Alexander hat mir beigestanden in dieser schweren Zeit. Er war in Newstead unser Nachbar. Aber das ist eine lange und recht verworre ne Geschichte. Ich fürchte, uns bleibt nicht die Zeit, darüber zu spre chen. Bitte, Vater, sagt mir, wie es der Familie geht. Ich stehe im Beg riff, England für immer zu verlassen, wollte aber nicht gehen, ohne Euch Adieu zu sagen.« Lord John war blass geworden. »Huddelton - ein Verräter? Wie ist denn das möglich. Er war doch der Königstreuen erster Mann. Das hat er mir vor eurer Heirat versichert, sonst hätte ich doch nie...« Er ver stummte betroffen. Sir Alexander fragte: »Ihr wusstet von den Plänen der Royalisten? Ich will Euch nicht zu nahe treten, Sir, doch wenn dem so ist, müsste ich Euch vorwerfen, bewusst den Tod Josefines in Kauf genommen zu haben.« »Sir!« Lord John war aufgesprungen, seine Augen schienen wü tende Funken zu schlagen, als er drohte: »Ich lasse mich in meinem eigenen Hause nicht beleidigen. Mäßigt Euch, oder aber ich muss Euch die Tür weisen!« »Alexander sagt die Wahrheit, nicht wahr?« Josefines Stimme klang unendlich traurig. »Ich wollte es nicht glauben. Bitte, Vater, zeigt mir das Dokument, das Euch schon sehr früh über meine Her kunft informiert hat.« »Es ist verbrannt«, behauptete der Burgherr stur. »Du hattest kein Recht, hierher zu kommen und uns anzuklagen, Josefine. Deine 92
Mutter ist sehr krank, sie darf ihr Bett nicht mehr verlassen. Das Ge wissen lahmt ihren Lebenswillen und macht es ihr unmöglich, zu ver gessen, was geschehen ist. Ethel starb vor wenigen Wochen im Kind bett. Und Sophie ist närrisch geworden, sie schleicht umher wie ein Geist. Mangel und Armut haben auf Fulton Einzug gehalten. Und das alles kam nur mit dir!« »Wie könnt Ihr so reden!« Sir Alexander empörte sich: »Josefine ist eine reine Seele, nie hat sie einem Menschen wissentlich geschadet und wurde doch von klein auf zum Spielball unbekannter, finsterer Mächte. Niemand anders ist an Eurem Elend schuld, als nur Ihr selbst.« »Alexander, bitte...« Die junge Lady hatte Mühe, die Fassung zu wahren. »Darf ich Lady Lydia sehen? Noch ein einziges Mal?« »Wenn es sein muss, soll es mir recht sein. Aber rege sie nicht auf, hörst du? Ihr Herz könnte es nicht überleben.« Die Burgherrin lag blass und reglos in ihrem Bett. Ihr schönes Ge sicht war nur noch ein schmaler Schatten seiner selbst. Und als Jo sefine sich über die Kranke beugte, schien diese sie nicht einmal zu erkennen, murmelte wirr: »Ethel, bist du das?« »Nein, Mutter, ich bin es, Josefine. Ich wollte dich noch einmal se hen, bevor ich das Land verlasse.« »Josefine?« Sie schien diesen Namen noch nie gehört zu haben. »Josefine, deine Ziehtochter. Erinnerst du dich nicht an mich?«, fragte die junge Lady betroffen. »Ich kenne dich nicht«, beharrte die Kranke, ihre Miene wurde abweisend. »Geh, lass mich in Ruhe. Du bist nicht meine Tochter.« »Kommt, lasst uns gehen«, bat Sir Alexander, der sich etwas im Hintergrund hielt, aber Josefine mochte ihm noch nicht folgen. Der Zustand ihrer Ziehmutter schnitt ihr ins Herz und machte sie zutiefst betroffen. Was war nur geschehen in den vergangenen Monaten, das ihr so sehr zugesetzt hatte? »Mutter, bitte sieh mich an. Du kennst mich gewiss«, versuchte sie noch einmal, zu der Kranken vorzudringen. Und dieses Mal hatte sie tatsächlich Glück. Lady Lydia blickte sie für ein paar Sekunden ganz klar an und murmelte mit spröden Lippen: 93
»Josefine, mein Kind, wie froh ich bin, dass es dir so gut geht. Nicht wahr, es war doch kein so großer Fehler, dich mit diesem Mann zu vermählen?« »Nein, es war kein Fehler«, versicherte sie beruhigend und merk te, wie die Kranke sich ein wenig entspannte. »Oh, dann bin ich froh. Du nimmst mir eine große Last von den Schultern. John allein wusste um deine Herkunft. Ich bat ihn damals, mir nichts zu sagen, denn ich wollte mein Gewissen nicht belasten. Doch wir ahnten, dass du in Gefahr bist, als dieser Sir William auf tauchte. Wäre nur ein wenig mehr Geld da gewesen, wir hätten ihn nie als deinen Bräutigam akzeptiert. Aber wir waren arm, verzweifelt...« Sie fing an, leise zu weinen. »Das liegt alles hinter uns«, erinnerte Josefine die Ziehmutter be gütigend und hatte dabei selbst Tränen in den Augen. »Denke nicht mehr daran, meine gute Mutter. Ich habe dir nichts vorzuwerfen und wünsche dir nur eine baldige Genesung.« Sie beugte sich über die Kranke, küsste deren kühle Stirn und wandte sich dann rasch ab, denn sie spürte, dass sie die Fassung nicht mehr lange bewahren konnte. Sir Alexander folgte ihr auf den Korridor. Eine Weile standen sie nur da, er hielt ihre Hände tröstend und zeigte ihr so auch ohne Worte, dass er für sie da war. »Wir hätten nicht herkommen sollen«, murmelte Josefine nach ei niger Zeit zutiefst bedrückt. »Die Vergangenheit ist tot. Ich habe hier nichts mehr zu suchen.« »Ihr musstet Fulton Adieu sagen«, erinnerte der junge Edelmann sie einfühlsam. »Nur so konntet Ihr begreifen, dass dieser Abschnitt Eures Lebens endgültig vorbei ist.« »Ja, wahrscheinlich habt Ihr recht. Doch nun lasst uns abfahren. Ich möchte so schnell wie möglich von hier fort.« Sie lächelte schwach. »Nach Frankreich, wo es keine Vergangenheit für mich gibt.« »Aber eine Zukunft«, versicherte er und erwiderte ihr Lächeln vol ler Zuneigung. * 94
Bereits am gleichen Tag verließen Lady Josefine und ihr Begleiter Schottland und setzten ihren Weg Richtung Frankreich fort. Die junge Frau gab sich schweigsam, schien in tiefe Gedanken versunken. Sir Alexander ließ ihr Zeit, mit dem Erlebten fertig zu werden. Erst nach einer ganzen Weile brach sie von sich aus das Schweigen, um ihre Ge danken in Worte zu fassen. »Es hat mich sehr berührt, Lady Lydia in solch schlechter Verfas sung wieder zu sehen«, vertraute sie Alexander an. »Sie war, solange ich zurückdenken kann, eine stolze und sehr beherrschte Dame. Dass sie nun so sehr zu leiden hat, schmerzt auch mich.« »Ihr seid gewiss nicht der Grund für ihre Erkrankung«, unterstrich der junge Edelmann mit Nachdruck. »Mag sein, dass das Schicksal ihr einfach zu sehr zugesetzt hat. Ihre Töchter tot und dem Wahnsinn verfallen, ihr Mann gibt sich der Trunksucht hin. Das Haus Thornton scheint dem Untergang geweiht.« »Es ist tragisch, dies mit ansehen zu müssen, ohne etwas daran ändern zu können«, sinnierte Josefine und spielte gedankenverloren mit dem Medaillon, das die Königin ihr geschenkt hatte. Sir Alexander musterte sie verwundert. »Ihr habt bei Gott nicht viel Gutes von diesen Leuten erfahren und wollt ihnen trotzdem hel fen?« »Sie haben mein Leben gerettet, mich aufgezogen«, hielt sie ihm entgegen. »Vielleicht habe ich nicht die Liebe erhalten, die ihre leibli chen Töchter genossen. Doch ich habe nie wirklich etwas vermisst. Und, wer weiß was ohne ihre Fürsorge aus mir geworden wäre...« »Das mag wohl wahr sein. Doch Ihr dürft nicht vergessen, dass Euer Ziehvater wusste, was gespielt wird, zumindest in groben Zügen. Sein Verhalten war unverantwortlich. Niemals hätte er Euch Sir William anvertrauen dürfen.« »Ja, das stimmt wohl. Trotzdem schlägt mein Herz noch in FultonCastle. Die Menschen dort werden stets meine Familie bleiben. Die Königin ist da sehr weit weg...« »Es ist gut, wenn wir England verlassen«, sinnierte Sir Alexander. »Die Vergangenheit mag in Frankreich noch präsent sein. Doch sie wird Euch nicht mehr so quälen wie hier...« 95
Als sie zwei Tage später wieder London erreichten, sprach man in den Straßen und auf den Plätzen noch immer von der Hinrichtung, die erst vor kurzem stattgefunden hatte. Sir Alexander gab sich Mühe, Josefine von dem Tratsch und der sensationslüsternen Gier der Masse zu schützen, doch ganz wollte ihm dies nicht gelingen. Noch einmal wurde die junge Lady aufs Hässlichste an das erinnert, was hinter ihr lag. Kurz vor Plymouth konnte der Kutscher mit Mühe und Not einem Raubüberfall entkommen, indem er den Pferden das Letzte abverlang te. Es war eine wahrlich abenteuerliche Reise, die von einer Passage übers stürmische Wintermeer bis nach La Rochelle schließlich beendet wurde. Lady Josefine kam nicht mehr dazu, noch einen Gedanken an das zu verschwenden, was hinter ihr lag. Und als sie schließlich am Arm ihres Begleiters ›La Lune‹, das Anwesen betrat, das sie von nun an bewohnen sollte, erschien ihr dies beinahe nur wie ein schöner Traum. Das große Herrenhaus, aus dem Naturstein der Umgebung ge baut, stand inmitten eines weitläufigen Grundstücks mit altem Baum bestand. Früher einmal hatte der Garten aus kunstvollen Parterre de Broderie bestanden. Doch mangels Pflege waren die exakten Beete, die sonst wie gestickt wirkten, verwildert und unansehnlich geworden. Josefine malte sich bereits im Geiste aus, wie man dies alles mit Herz und Verstand in ein kleines Paradies verwandeln konnte. Der Blick aufs Meer hinaus war atemberaubend. Die junge Lady genoss die wunder bare Umgebung, in der sie seit langem wieder frei atmen konnte. Und sie bereute es nicht, Sir Alexander nach Frankreich gefolgt zu sein. »Gefällt es Euch?«, fragte er schließlich, als sie ihren Rundgang beendet hatten. Sie nickte mit einem seligen Lächeln. »Sehr. Es ist herrlich. Viel schöner als ich es mir erträumt habe.« »Nun, Josefine, dann muss ich Euch jetzt eine Frage stellen«, er klärte Alexander mit ernster Miene. »Ich weiß, Euer Gemahl ist noch nicht lange verschieden. Und eigentlich verlangt der Anstand ein Trau erjahr, eh Ihr Euch wieder dem Leben zuwendet. Doch wir beide wis sen es besser. Und deshalb bitte ich Euch hier und jetzt um Eure 96
Hand. Werdet meine Frau, ich will Euch glücklich machen, süße Josefi ne, denn mein Herz gehört nur Euch!« Sie erwiderte seinen Blick ebenso ernsthaft, das Herz schlug ihr im Halse und zugleich durchströmte sie ein ungekanntes Glücksgefühl. Endlich, am Ende eines abenteuerlichen und auch gefährlichen Weges voller Ungewissheiten und Fragen stand sie hier dem Menschen ge genüber, der ihr alles sein konnte. Sie spürte, dass sie Alexander liebte und sie spürte auch die Liebe, die er für sie im Herzen trug. Mit Dank barkeit und Demut erkannte Josefine, dass das Schicksal ihr doch noch ein Glück schenken konnte, das alle dunklen Stunden ihres Leben wettmachen sollte. Und sie war mehr als bereit, dieses besondere Ge schenk anzunehmen. Mit einem strahlenden Lächeln erwiderte sie: »Ich nehme Euren Antrag an, Alexander, denn ich fühle wie Ihr.« »Mein geliebter Engel«, nannte er sie da voller Inbrunst und ver schloss ihre süßen Lippen mit einem unendlich zärtlichen Kuss, der zugleich ein Versprechen war: Das Versprechen, sie ein Leben lang auf Händen zu tragen. Und genau das wollte Sir Alexander tun, denn sein Herz hatte bei Lady Josefine eine Heimat gefunden und das Glück war darin zu Hause. Ende
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