Das neue Abenteuer 049
Peter Kast: Die entscheidende Nacht
Verlag Neues Leben, Berlin 1954
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 049
Peter Kast: Die entscheidende Nacht
Verlag Neues Leben, Berlin 1954
V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/224/54) Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark) Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
Wer an stillen Abenden auf der Bank saß, die sich um den Stamm des Birnbaums zog, vernahm das dumpfe Brausen der Küstenbrandung, bei Westwind zuweilen auch den Geschützdonner der flandrischen Front. Es war der höchste Baum aller Gehöfte an der Blankenberghe-Brügger [Blankenberghe, Brügge = Städte in Belgien] Chaussee. Manch stürmischer Nordwest wollte ihn stürzen. Oft versuchten Blitze ihn mit kurzen, harten Beilhieben zu fällen. Aber erst im Frühjahr 1918 gelang es menschlicher Niedertracht, seine Krone in den Staub der Landstraße zu legen.
Zuerst erschienen Landvermesser. Sie steckten auf der Weide jenseits der Chaussee ein riesiges Quadrat ab. Den Besitzer der Wiese beachteten sie nicht. Er stand unter dem Birnbaum und starrte zu ihnen hinüber. Eine Woche später stellten Matrosen in feldgrauer Uniform am Rande des Quadrats Wohnbaracken und Zelte aus Leinwand auf, wovon jedes wie ein kleiner Zirkus aussah. Zu stolz, um die Landesfeinde zu fragen, was man mit seiner Wiese vorhabe, verfolgte der Bauer Jeff Kortryk von weitem ihr rätselhaftes Treiben. Und hier unterm Birnbaum näherte sich ihm eines Nachmittags einer der Arbeitsmatrosen mit qualmender Pfeife im Mund. Ob er mit dem Besitzer spräche, wollte der Deutsche nach kurzem Gruß wissen. Jeff Kortryk blieb stumm. Der Matrose legte das Schweigen als Bejahung aus und sagte, er habe einen Befehl vom Kommandanten auszurichten. Jeff sah den Deutschen an, sagte aber immer noch nichts. "Ach so, du verstehst kein Deutsch?" mutmaßte der Ma-
trose. Im Bestreben, sich den Auftrag leicht zu machen, nickte er dem Bauern zu, ruhig einzugestehen, daß ihm die Sprache unverständlich sei. Wider Erwarten ging Jeff nicht darauf ein. Unbeholfen im Ausdruck versicherte er, zur Not ganz gut Deutsch zu verstehen. "Na, dann hilft uns nichts", seufzte der Deutsche und übermittelte dem Flamen den Befehl, das Pferd anzuspannen und die Wiese zu schleifen. Erschreckt fuhr der Bauer zurück. "Ich soll meine Wiese mit eigenem Pferd schleifen?" Der Befehlsübermittler zuckte die Schultern. Jeff überwältigte der Zorn. "Was wollt ihr Deutschen mit meiner Weide? Ist unser Flandern [Landschaft am Kanal, teils belgisch, teils holländisch, teils französisch] noch nicht genug zerstört?" Der Matrose nahm die Pfeife aus dem Mund. "Ja, Bauer, hat man dir denn nichts gesagt?" fragte er. Kopfschüttelnd, aber sichtlich erleichtert, den Befehl an den Mann gebracht zu haben, wollte er sich schon verabschieden, als Antje Kortryk das Wohnzimmerfenster aufriß und fragte, was es gäbe. Vater Kortryk sagte ihr auf flämisch, was ihm soeben bestellt worden war. In ihrer Bestürzung stieß sie einen Schrei aus, verschwand vom Fenster und stand bald darauf vor den Männern. Allem Anschein nach kam sie vom Waschtrog. Während die blanken Augen im erhitzten Gesicht den Deutschen anfunkelten, trocknete sie sich mit der Schürze die Hände ab. "Fragen Sie Ihren Offizier", forderte sie den Matrosen in
reinem Schuldeutsch auf, "wie wir unseren Pflichtabgaben in Milch an das Hilfslazarett in Blankenberghe nachkommen sollen, wenn uns die Wiese genommen wird." Der Deutsche, vom Anblick des Mädchens verwirrt, begann hilflos zu lächeln, womit er gleichsam seine Anwesenheit hier unterm Baum und überhaupt in Flandern entschuldigen wollte. Stockend gab er zurück: "Fragen und Eingaben werden wenig nützen, Fräulein. Unser Kommandant ist kein Bauer." "Und Sie?" Der Ton ihrer Stimme verriet Enttäuschung, doch klang dahinter der Wille, alles aufzubieten, die Zerstörung der Wiese zu verhindern. Der Gefragte schüttelte den Kopf. "Als ob es auf mich ankäme!" Dennoch gestand er, auf einem Hof an der ostfriesischen Küste als Zweitältester geboren und von seinem sechzehnten Jahr an zur See gefahren zu sein, bis ihn gleich zu Anfang des Krieges die kaiserliche Marine "geschnappt" hätte. In Antjes Gesicht trat Hoffnung. Sie sah den Matrosen an und sagte: "Ein Bauernsohn muß Bauernnot verstehen. Sie werden mich zum Kommandanten führen." Als Jeff Kortryk auffahren wollte, hob sie die Hand: "Bitte, Vater, die deutsche Sprache verstehe ich besser als du." Und wieder zu dem Matrosen gewandt, fragte sie: "Können wir gleich gehen?" Der Deutsche zögerte. Seine Augen glitten über Antjes wohlgeratene Gestalt. Sie bemerkte den Blick und rannte verletzt ins Haus zurück. Inzwischen untersuchte der Matrose seine Pfeife, die arg verstopft zu sein schien. Zu Jeff aufblickend, meinte er verlegen: "Hat alles keinen Zweck, Bauer, du riskierst
bloß, daß deiner Tochter etwas passiert." Vater Kortryk riß die Augen auf. Daran hatte er in seiner Angst über den drohenden Verlust nicht gedacht. Betroffen stammelte er: "Mein Gott, was macht man da?" Der Matrose zuckte wieder mit den Schultern. "Das klügste ist, wenn du nichts machst." Warnend setzte er hinzu: "Und laß schon gar nicht deine Tochter zum Kommandanten. Gibt sie dem Mädchenjäger einen Korb, sorgt er am Ende dafür, daß dir auch noch die Kühe weggenommen werden, weil für sie ohne Weide das Futter fehlt." Der Bauer atmete schwer auf. "Dank dir für den Rat, Deutscher", sagte er bedrückt. "Meine Tochter wird nicht zu eurem Kommandanten gehen." Er reichte ihm zögernd die Hand und ging schwerfällig dem Hause zu.
Wie das Frühlingsgrün in der Küstenlandschaft, so rasch wuchs in den nächsten Wochen die Marine-LandfliegerStation. Feldgraue Matrosen errichteten am Rande des Startfeldes immer mehr Baracken, Werkstätten, Betonunterstände und unterirdische Kammern für Benzin, Öl und Munition. Als drüben im Vorgarten des Bauernhofes der Birnbaum in voller Blüte prangte, landeten die ersten Flugzeuge, wo vorher das saftige Grün der Wiese geleuchtet hatte. Die Monteure trafen an demselben Tage auf der Station ein. Als bislang reklamierte Spezialisten waren sie im Eiltempo militärisch gedrillt worden und fühlten sich in der Uniform "wie Piefkes in Flandern". Nur wenn sie in den Werkstätten die Motoren zerlegten oder auf dem Stand in den donnernden Flugzeugen saßen, gewannen sie ihre Sicherheit zurück. Der Kommandant jedoch, Husaren-
Oberleutnant Friedrich Wilhelm von Blacha, behandelte diese technisch hochqualifizierten Handwerkersoldaten ebenso hochmütig wie seine ehemaligen Bauernjungen aus Hinterpommern. Der belgischen Bevölkerung trat er noch herrischer entgegen. Wer von den Zwangsarbeitern mit ihm sprechen mußte, hatte die Mütze abzunehmen. Behielt sie einer auf, kreischte er ihn mit überschnappender Stimme an. Jeff Kortryk war gleich zu Anfang mit ihm zusammengestoßen. Der Bauer, zu stolz, die Wiese selbst glattzuwalzen, hatte die Arbeit dem Knecht übergeben, der infolge einer schlecht verheilten Hüftgelenkentzündung lahmte. Durch seinen schweren Gang behindert, rollte die Walze wie von Schnecken gezogen über die Weide. Außer sich vor Wut befahl von Blacha, den Besitzer selbst herzuholen. Man mußte ihn lange suchen. Ruhig und selbstbewußt trat er vor den Offizier. Kreischend drohte dieser, ihn vor das Kriegsgericht zu bringen, wenn nicht schneller gearbeitet würde.
Hein Simmering saß mit nacktem Oberkörper am geöffneten Fenster der Wohnbaracke und "entbiente" sein Flanellhemd, als der Kommandant vorübergestelzt kam. Sofort riß Hein die Pfeife aus dem Mund und stand stramm. "Was haben Sie während des Dienstes im Wohnquartier zu suchen?" herrschte ihn der Offizier an. "Mein Flugzeug ist mit Herrn Leutnant Wagner gestartet. Da habe ich Zeit, um mich vom Ungeziefer zu reinigen, Herr Oberleutnant." "So, so, Flöhe hat der Kerl ." Von Blacha klemmte sich das Einglas ins Auge und trat näher. "Äh, tätowiert ist der
Bursche auch!" Hochmütig wies er mit seinem Reitstöckchen auf die Matrosenbrust. "Was soll diese blöde Zeichnung darstellen?" Simmering gab kalt zurück: "Das Kreuz bedeutet Glaube, das Herz Liebe, die aufgehende Sonne Hoffnung, das sinkende Schiff Seemannsgrab. Zusammen: Glaube, Liebe, Hoffnung übers Grab hinaus, Herr Oberleutnant." Verächtlich schüttelte der Offizier den Kopf. "Kerl müßte ins Loch wegen Beschädigung kaiserlichen Eigentums." Hein Simmering, aufs tiefste verletzt, haßte von nun an den Kommandanten wie die Pest.
Es war ein für diese frühe Jahreszeit ungewöhnlich linder, vom Mondlicht schwach erhellter Abend. Antje Kortryk saß auf der Bank unterm Birnbaum und träumte. Von Blankenberghe her drang das Brausen der Küstenbrandung an ihr Ohr. Das Donnergrollen der Front war verstummt. Mit einemmal fuhr sie zusammen. Ein Schatten kam auf den Baum zu. Sie sprang auf, um ins Haus zu fliehen, da erkannte sie den Näherkommenden. Es war jener Matrose, der ihrem Vater den Befehl überbracht hatte, die Wiese zu schleifen. "Ich möchte den Bauern sprechen, Fräulein", entschuldigte er sich leise. Antje erwiderte, ihr Vater wäre noch nicht zurück. Sie erwartete ihn jeden Augenblick und fragte beunruhigt, ob wieder etwas Wichtiges zu bestellen sei. Statt einer Antwort setzte sich Hein Simmering auf die Bank. Sie nahm zögernd ihren Platz wieder ein. Eine Weile saßen beide stumm nebeneinander. Dann
sagte Hein, auf die Brandung horchend: "Die Stille . das Meer . wie bei uns im Dorf ." Antje lauschte den Worten nach. Daß der Deutsche wie sie aus einem Ort unmittelbar von der Küste stammte, erwärmte ihr Gefühl für ihn. Doch ließ sie sich von ihren Empfindungen nichts merken und gab bitter zurück: "Werden bei Ihnen im Dorf die Leute ebenfalls gleich erschossen, wenn aus ihren Häusern des Nachts Licht nach außen dringt?" "Na, na, na", versuchte Simmering zu beschwichtigen. "So schnell schießen die Preußen nicht!" "Das weiß ich besser", widersprach Antje. "Einen Vetter von mir, auch ein kleiner Bauer, sein Hof steht eine Meile von hier an der Chaussee nach Brügge, den haben die Deutschen vor fünf Wochen als Spion erschossen. Er soll englischen Fliegern, die über Brügge waren, Lichtsignale gegeben haben. Und wissen Sie, was wirklich geschehen ist? Seine Kuh hatte des Nachts gekalbt. In der Aufregung vergaß er, den Stall abzublenden." Darauf wußte Hein nichts zu erwidern. Sich als Deutscher an dem Mord mitschuldig fühlend, murrte er: "Der verdammte Krieg!" Wiederum schwiegen sie. Drüben auf der Station waren die letzten Stimmen verklungen. Nur das Rauschen des Meeres blieb hörbar. An der Küste suchte ein Scheinwerfer den Himmel ab. Antje wartete beklommen, daß der Matrose endlich sagen würde, warum er gekommen sei. Statt dessen fragte er: "Brauchen Sie Licht, Fräulein? Ich kann Ihnen eine Benzinlampe besorgen. Brennstoff liefere ich Ihnen dafür, soviel Sie wollen." Antje, mehr noch von dem zutraulichen Ton als von dem Angebot selbst bewegt, spürte darin eine Werbung voller
Mitleid und Achtung. Seine Absicht, ihr das kriegsverdunkelte Leben am Abend zu erhellen, ließ das in ihr aufkeimende Vertrauen zu ihm rascher wachsen. Aber ihr Stolz duldete es nicht, von einem Deutschen beschenkt zu werden. Sie sagte darum weder ja noch nein. Hein erriet unklar den Grund ihrer Zurückhaltung. "Warten Sie", bat er und verschwand. Die Lampe mußte nicht allzuweit fort gestanden haben. Knapp zwei Minuten später überreichte ihr Simmering das Geschenk. Umständlich Handhabe und Pflege der nicht ganz ungefährlichen Konstruktion erklärend, rückte er ihr im Eifer näher. Sogar ihre Hände berührten sich einmal, worauf Antje bedächtig wieder den Abstand herstellte. Nachdem über die Lampe genug geredet war, schwiegen sie erneut. Es begann schon unerquicklich zu werden, da tat Hein einen tiefen Atemzug und stammelte: "Ich dürfte es Ihnen eigentlich nicht sagen . Aber weil ich ein Bauernjunge bin, weiß ich, wie das ist ." Antje Kortryk überfiel ein Zittern. Kam es jetzt, das erwartete Unheil von jenseits der Chaussee? Sollten ihnen als Bauern ohne Weide die letzten Kühe genommen werden? Drohte dem Vater, ihr und dem Knecht die Vertreibung vom Hof? War ihnen das Schicksal der nach Deutschland deportierten Zwangsarbeiter zugedacht? Simmering beugte sich zu ihr hin, raunte dicht an ihrem Ohr: "Unser Kommandant schickt den Bauern morgen früh mit Pferd und Wagen nach Brügge. Er soll für die Station Proviant holen. Und während er unterwegs ist, müssen wir den Birnbaum fällen." Antjes Brust senkte sich erleichtert. Sie vernahm aus der Warnung zunächst nur, daß sie auf dem Hof bleiben durften. Dann aber fiel ihr der drohende Verlust des in voller
Blüte stehenden Baumes um so schwerer aufs Herz. Verhaltener Zorn bebte in ihrer Stimme, als sie sagte: "Wissen Sie, daß die Birnen seit dreißig Jahren und mehr zu Weihnachten an Brügger Waisenkinder verschenkt werden?" In unbeherrschter Entrüstung packte sie seinen Arm. "Sagt mir, Deutscher, warum führt ihr gegen Birnbäume Krieg? Man zerstört doch nichts ohne Sinn und Verstand?" Hein, der sich nie ohnmächtiger als gerade jetzt der verhaßten Kriegsmaschine ausgesetzt fühlte, entgegnete kläglich: "Hat der elende Krieg für unsereinen überhaupt nur die Spur von Sinn?" Das Mädchen brachte ihn mit ihren Fragen in Bedrängnis. Auf Verrat militärischer Geheimnisse an Belgier stand Kriegsgericht, drohte Todesstrafe. Antje gab ihm mit einer heftigen Bewegung die Lampe zurück. "Da, ich will nichts von Deutschen geschenkt haben!" Klirrend fiel sie zu Boden. Vom Ausbruch ihres Hasses erschrocken, hatte Hein Simmering nicht gleich zugegriffen. Doch als Antje aufspringen wollte, hielt er sie fest. "Hören Sie, Fräulein, mir dürfen Sie keine Schuld geben! Ich bin ja selbst vom Bauernhof. Ich hab' doch gezeigt, daß ich euch helfen will. Ich weiß zu genau, wie das ist ." Und flüsternd berichtete er ihr, daß der Kommandant am Nachmittag von Leutnant Wagner wissen wollte, ob ihn der Birnbaum beim Start nicht hindere. Wagner, der wohl ahnen mochte, wohin die Heimtücke zielte, habe als anständiger Kerl geantwortet, daß ihm im Gegenteil der Baum beim Landen als Richtpunkt nütze. "So, so, merkwürdig", hätte darauf von Blacha gesagt, "mich stört er empfindlich. Direkt nervös wird man beim Start, ob man die Kiste früh genug vor ihm hoch kriegt."
Und mit seinem Reitstöckchen einige Blütenköpfe auf dem Startfeld absäbelnd, habe er noch hinzugesetzt: "Er muß weg! Schon wegen der Großflugzeuge, die demnächst hier stationiert werden sollen." "Und dann", schloß Simmering, "hat von Blacha unserem Flugobermaat [Obermaat = Feldwebel bei der deutschen Kriegsmarine] Befehl gegeben, den Bauern morgen früh wegzuschicken und abends vor die vollzogene Tatsache zu stellen." Er nahm die vor seinen Füßen liegende Lampe auf, putzte ihren Docht und sagte traurig: "Tja, Fräulein, dann muß ich die Funzel wohl wieder mitnehmen." Müde stand er auf. Da erhob sich auch Antje und nahm ihm die Lampe ab. "Ich wollte Sie nicht kränken", versicherte sie stockend. "Ich weiß, Sie sind ein guter Mensch. Ich danke Ihnen ." "Hein Simmering ist mein Name", unterbrach er sie in der bescheidenen Hoffnung, von nun an in ihren Gedanken persönlicher zu leben. Leise nannte sie ihren Namen. Ein Händedruck, dann stand er allein unterm Baum. "Antje", flüsterte Hein versonnen.
Soeben war die Frühlingssonne aufgegangen und nahm den Tau von Gräsern, Sträuchern und Bäumen. Wohlig entfalteten sich die Blumen und Blüten auf den Wiesen, in den Feldern und am Chausseerand. Die Vögel erwachten und erfüllten trotz Grollen der fernen Front die Luft mit ihrem Gezwitscher. Wie immer rauschte die Brandung hinter Blankenberghe. In schwerfällig-breitem Seemannsgang näherte sich Flugobermaat Timpe der Matrosenbaracke und stieß dort ein spaltweit geöffnetes Fenster ganz auf. An seine Ohren
drangen die Atemzüge vieler Schläfer. Gleichmütig setzte er seine Bootsmannspfeife an und begann mit einem langgezogenen Triller die Stille zu zerreißen. Zehn Jahre hatte Obermaat Timpe auf diese Weise Matrosen der verschiedenen Kriegsschiffe aus dem Schlaf gescheucht. Zwei Jahre trieb er nun schon feldgraue Marinesoldaten damit aus den Kojen. Vor der zweiten Baracke, dem Quartier der Flugzeugmonteure, Artillerie-Mechaniker und anderer Handwerkersoldaten, pfiff er nur einmal kurz und brüllte: "Aufstehen!" Für die "Schlossergesellen" brachte er weniger Sympathie auf. Das waren ja weder Seeleute noch Soldaten, das waren einfach verkleidete Fabrikarbeiter. Leider hing es von ihnen ab, ob alles "ohne Reibsand in den Maschinen" weiterlief. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, ging er in die Wachstube zurück, sich keinen Augenblick darum kümmernd, ob sein Wecken befolgt würde. Trotzdem trat die Mannschaft pünktlich zum Morgenappell an: rechts die Matrosen, links die Monteure, Maate vor der Front. Obermaat Timpe erstattete Meldung. Leutnant zur See Wagner als Offizier vom Dienst ließ gleich rühren. Wie jeden Morgen begann die Arbeitsverteilung. Als die Monteure, lasch wie immer, abtraten, um ihre Werkstätten aufzusuchen, steckte Timpe seine Nase ins Notizbuch. Auch Leutnant Wagner übersah die Disziplinlosigkeit. Timpes Baß grollte über das zurückgebliebene Häufchen der morgensauer dreinblickenden Matrosen, als sollte eine Division die Ohren spitzen: "Mal herhören! Der Kommandant hat befohlen, den Birnbaum als Starthindernis umzulegen. Wer im Fällen Praxis hat, vortreten!"
Wie am Schnürchen gezogen, ruckten die Matrosenköpfe in Richtung des zum Tode verurteilten Baumes. Seine schneeweiße Pracht erschien ihnen schöner als je. An Vortreten dachte niemand. Timpe hatte nichts anderes erwartet. Lauernd nahm er sich jeden einzelnen aufs Korn, bis sein Blick am rechten Flügelmann hängen blieb. "Na, Simmering, wie wäre es mit uns? Als Landwirt und Seemann können wir doch mit Axt und Säge umgehen?" Simmering erschrak. Er nahm Haltung an und schluckte seine Hemmungen hinunter. "Bei uns im Dorf fällt man keine Obstbäume, die im Saft stehen, Herr Obermaat. Und dann bin ich als abgelöste Nachtwache dienstfrei." Timpe blinzelte zu Leutnant Wagner hin, ob dieser die vorlaute Bemerkung vernommen habe. Da dies anscheinend nicht der Fall war, ging er auf Simmering zu und pfiff ihn an: "Bei euch im Dorf ist auch kein Krieg, Idiot!" Doch zu müde, den Konflikt auf die Spitze zu treiben, lenkte er wieder ein: "Also dann nicht. Dafür wird der Herr Matrose seinen dienstfreien Morgen opfern müssen, um den Bauern zum Proviantfassen nach Brügge zu begleiten. Los, sause ab!" Vor Freude, daß er an dem Baumfrevel nicht teilzunehmen brauchte, fiel Heins Kehrtwendung exakter aus als beim Exerzieren.
Jeff Kortryk hatte schon angespannt. Wie schlafend saß er auf dem Bock des Wagens, die Zügel in der Hand. Mit ernstem Kopfnicken dankte er auf des Matrosen Gruß und lud ihn ein, neben ihm Platz zu nehmen. Hein zauderte, verkramte umständlich die Proviantpapiere, wobei seine Augen im Hof nach Antje suchten. Doch
sie war nirgendwo zu entdecken. Enttäuscht kletterte er auf den Bock. Als aber der Wagen das Vorderhaus passierte, sah er sie hinterm Fenster in der großen Stube. Ihre Hand streichelte - wenigstens schien es ihm so - die auf der Fensterbank stehende Lampe, während ihr Blick sekundenlang auf ihm ruhte. Vor Freude vergaß er zu grüßen. Im Zuckeltrab polterte der Wagen über die Chaussee. An der Straßenbiegung wandte Jeff den Kopf noch einmal um. Eine Gruppe Matrosen näherte sich dem Birnbaum. In Simmerings Mundwinkeln zuckte es. "So schnell legen sie ihn nicht um", meinte er und lachte in sich hinein. Jeff Kortryk hob den Kopf. Ihm war, als habe in den Worten des Matrosen, aber mehr noch in dessen Lachen, heimlicher Triumph geklungen. Inzwischen kämpfte der Matrose neben ihm innerlich einen Kampf aus, ob hier Schweigen klüger als Schwätzen sei. Er kam zu dem Ergebnis, daß man Antjes Vater wie ihr selbst Vertrauen schenken müsse und gestand, in der vergangenen Nacht auf Wache sich ein bißchen die Sägen und Äxte angesehen zu haben. Bedächtig schloß er: "Ich glaube, Bauer, kein Weihnachtsbäumchen ist mehr damit umzulegen." Jeffs hageres Gesicht belebte ein Schimmer von Hoffnung, der jäh wieder verlosch. "Sie werden sich von der Kommandantur neue besorgen." Im Proviantamt herrschte Hochbetrieb. Auf dem Hof des Güterbahnhofes warteten Soldaten und Unteroffiziere aller möglichen Truppengattungen mit ihren Bauernkarren oder Lastwagen auf Abfertigung. Jeff lenkte sein Pferd an das Ende der langen Reihe und übergab Simmering die Zügel: "Ich will einen Vetter von
mir in der Stadt besuchen", eröffnete er ihm und versprach, rechtzeitig zurückzukommen.
Des Bauern Vetter mußte eine Respektsperson von Ansehen sein. Bevor Jeff die Klingel am Eingang der Klostermauer zog, nahm er die Mütze ab und strich sich sein Haar glatt. Ein Mönch in weißer Kutte öffnete, hob segnend die Hände und ließ Jeff eintreten, der in anerzogener Demut im Kabinett den Segen des Priors entgegennahm. "Das heiße ich eine Überraschung, Jeff Kortryk aus Zynkeerke [Dorf in Belgien]!" Mit leisem Humor versuchte der Prior zu scherzen: "Will uns der Herrgott zur Kriegszeit nun auch im Frühjahr Birnen bescheren?" Der Bauer blieb ernst und sagte: "Nein, Hochwürden. Ich werde den Waisenkindern nie mehr Weihnachtsbirnen schenken können." "Was sagst du?" Der weißgekleidete Greis hinter dem Schreibtisch blickte überrascht auf. "Ein schöner Brauch, dreißig und mehr Jahre gottwohlgefällig geübt, soll gebrochen werden? Warum, mein Sohn?" Der Bauer schlug die Augen nieder. "Sehr einfach, Vater Erasmus. Während ich hier sitze, ist der Deutsche dabei, den Baum zu fällen." Der Prior, sogleich erkennend, was dieser Frevel für den Bauern bedeutete, hob die Hand. In seinen klugen Augen blitzte Haß auf. "Und warum fällt der Deutsche den Baum?" fragte er. Jeff reckte sich. "Die Wiese gegenüber meinem Haus ist als ." " .Flugplatz beschlagnahmt worden. Ja, ja, mein Sohn, ich weiß." Der Mönch nickte. "Wir wissen, Jeff
Kortryk, was in unserm schwergeprüften Vaterland vor sich geht. Doch was hat das mit deinem Baum zu tun? Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, steht er vor deinem Hause dem neuen Flugplatz gegenüber?" "Mein Birnbaum, hochwürdiger Vater", gab Jeff zur Antwort, "soll seiner Höhe wegen abgeschlagen werden. In nächster Zeit werden auf der Station Großflugzeuge untergebracht. Dann stört mein Baum beim Aufsteigen und Landen." "Und woher weißt du das von den Flugzeugen, Jeff?" Spannung lag in der Stimme des Greises. "Ein deutscher Matrose, ein guter Mensch, den zu segnen ich Hochwürden bitte, hat es mir gesagt. Er ist auf jener Station beschäftigt." Jeffs Bitte, Simmering zu segnen, schob der Prior mit ungeduldiger Hand beiseite. Er schien jetzt Wichtigeres zu tun zu haben. Fest sah er den Bauern an. "Beschreibe mir die Lage deines Hofes", befahl er. "Aber genau. Es ist wichtig!" Als Jeff nicht gleich antwortete, setzte Pater Erasmus bedeutungsvoll hinzu: "Wenn es notwendig werden sollte, was Gott verhüten möge, werden wir nach dem Krieg den Hof neu einrichten." Und Jeff verstand. Er gab präzise Zahlen und nannte eine Menge örtlicher Anhaltspunkte. "Wir werden dich rechtzeitig benachrichtigen, mein Sohn", schloß der Prior die Unterredung. Er hob ein wenig die Hände zum Segen.
Im Korridor der "Fliegervilla", eines der beschlagnahmten Häuser Blankenbergher Bürger, klingelte das Telephon. " . Leutnant Wagner, Flugplatz? . Jawohl, Herr Leut-
nant . Nein ." Ruffenach, der Bursche Oberleutnant von Blachas, griente in die Sprechmuschel. "Aber Herr Leutnant wissen doch . Er hatte Besuch, eine Dame . Zu Befehl: Herrn Oberleutnant sofort wecken und bitten, sich zur Station bemühen zu wollen. Mit dem Fällen des Birnbaumes gibt es Schwierigkeiten." Schadenfrohen Gesichts klopfte der Bursche an die Schlafzimmertür des Kommandanten und übermittelte ihm die soeben erhaltene Nachricht. Von Blacha fluchte, dann rief er nach seinen Sachen.
Leutnant zur See Wagner, bei aller Duldsamkeit gegenüber der Mannschaft doch stets auf Rückendeckung bedacht, glaubte in diesem Falle, den Kommandanten persönlich bemühen zu müssen. Gewiß vertuschte er einiges im vierten Kriegsjahr. Selbst Disziplinarvergehen, die dem Flugobermaat Timpe immer noch den Atem verschlugen, ließ er, wenn irgend möglich, durchgehen. Aber was heute morgen geschehen war, mußte schon als Meuterei gewertet werden. Ja, wenn es sich noch um die Monteure, die verkleideten Fabrikarbeiter, gehandelt hätte! Aber ausgerechnet die Matrosen . Mit knappen Worten berichtete er im Fliegersalon der Station dem Kommandanten das Vorgefallene. Unter Aufsicht von Obermaat Timpe hätten sich die Matrosen befehlsgemäß angeschickt, das Starthindernis zu beseitigen. Man habe in dreiviertel Höhe des Baumes einen Strick befestigt, um damit später seine Fallrichtung zu dirigieren. Dann erst wären die Matrosen Büssenschütt und Behrends ans Werk gegangen, den Stamm anzusägen. Allerdings ohne Erfolg. Ob es an den offensichtlich störrisch gesinnten Matrosen oder an deren Sägen gelegen
habe, sei vorerst unklar geblieben. Büssenschütt und Behrends jedenfalls versicherten, das Sägeblatt wäre unbrauchbar. Von einem zweiten und dritten Blatt behaupteten sie nach Erprobung dasselbe. "Nun, und was weiter?" Ungeduldig schlug sich von Blacha mit dem Reitstöckchen gegen die Ledergamaschen. "Mit den drei oder vier Äxten erging es uns nicht besser." Leutnant Wagner sah durchs Fenster und warf einen vorwurfsvollen Blick auf die Blütenpracht des Birnbaums. "Kein Spänchen ließ sich damit vom Stamm abschlagen. Obermaat Timpe, der Sägen und Äxte vom Flugmechaniker Hellberg untersuchen ließ, erstattete mir daraufhin Meldung, daß die Werkzeuge ausgeglüht worden wären." "Herr!" Der Kommandant rang nach Luft. "Herr Leutnant, das ist Sabotage!" Mit überschnappender Stimme schrie er diese Worte Wagner ins Gesicht, um dann giftig hinzuzusetzen: "Darauf steht Kriegsgericht!" Der Leutnant nickte trübsinnig. ,.Wenn es nur dabei geblieben wäre, Herr Oberleutnant", bedauerte er sich und die ganze kaiserliche Heeresmacht. "Wie wir aber noch unterm Baum beraten, erscheint die Bauerntochter und beginnt uns anzuflennen, ihn doch um Himmels willen stehen zu lassen. Obermaat Timpe versucht auf meinen Befehl, das übrigens recht hübsche Ding zu beruhigen und, als alles Zureden nicht hilft, mit sanfter Gewalt wegzuführen. Da umklammert die Aufgeregte den Stamm und heult, als ginge es ihr ans Leben. Von ihrem Geschrei angelockt, kommt noch der Krüppel von Knecht angewatschelt und barmt unsere Matrosen an, als ob sie zu befehlen hätten." Leutnant Wagner, die Schultern hochgezogen, schloß mit finsterer Miene: "Eine scheußliche Situation, Herr Oberleutnant!"
"Flausen!" Verächtlich winkte von Blacha ab. "Gefühlsduselei, Herr Leutnant!" Mit schneidender Stimme verlangte er zu wissen, wie es jetzt um den Baum stehe. Leutnant Wagner strich sich über die Stirn. "Die Matrosen gingen auf das Eingreifen des Mädchens und des Knechts geschlossen in die Wohnbaracke zurück." "Und der Stehimwege?" "Steht noch. Leider, Herr Oberleutnant." Des Leutnants Blick schweifte erneut durchs Fenster auf die sieghaft weiße Blütenpracht. Fassungslos starrte der Kommandant in das Gesicht seines Untergebenen. "Ist das alles, Herr Leutnant?" brach es dann gellend aus ihm heraus; und als der Gefragte dazu genickt hatte, kreischte er ihn wie den erstbesten Rekruten an: "Da haben wir das Resultat Ihrer seemännischen Schlappschwänzigkeit in Fragen der Disziplin. Unerhörte Schweinerei! Sabotage und Meuterei! Und ausgerechnet auf meiner Station. Das werden Sie mir verantworten müssen, Herr Leutnant." Er klemmte das Einglas ein und blitzte den Baum an, als wollte er ihn selbst umlegen. Ihm wurde klar, daß es zu einer Kraftprobe kommen müsse. Der unpreußische Marinegeist, diese verfluchte Mischung von Salz-, Teer- und Fabrikdunst mußte ausgelüftet werden. Mißgünstig sah er auf seines Leutnants dekorierten Fliegerrock. Da hingen die Schnallen vom Eisernen Kreuz I. Klasse, vom Oldenburgischen Verdienstkreuz, daneben steckte der Rote Halbmond in Rot und Gold und schräg darüber das silberne Kampffliegerabzeichen. Ein Rätsel, dieser hagere, lange Seeoffizier mit dem leicht gerundeten Buckel. Fliegt seinen Einsitzer wie der Teufel und läßt sich von seiner täglich rebellischer werdenden Mannschaft auf der Nase herumtanzen. Höch-
ste Zeit, daß ihm der Husarenoffizier eine Attacke vorreitet . "Herr Leutnant?" "Herr Oberleutnant befehlen?" "Für Mannschaft und Unteroffiziere ist jeder Ausgang gesperrt. Die Kerle, die das Werkzeug unbrauchbar machten, haben zwei Stunden Bedenkzeit. Erfolgt bis dahin keine Selbststellung, fordere ich Feldgendarmerie an. Punkt zwölf Uhr heute mittag erwarte ich Ihre Meldung, daß mein Befehl ausgeführt wurde. Verstanden?" "Zu Befehl, Herr Oberleutnant."
Von Blacha nahm die Untersuchung des Falles sogleich in seine Hand. Während als erste Maßnahme Flugzeugmechaniker Hellberg nach Blankenberghe geschickt wurde, um einige Sägen und Äxte zu besorgen, ordnete er für alle Matrosen und Monteure, einschließlich Köche, Büroschreiber und Postordonnanzen "scharfen Infanteriedienst" an. Eine halbe Stunde überwachte von Blacha selbst die Durchführung seiner Anordnungen. Ließ Flugobermaat Timpe, der es mit der Mannschaft nicht verderben wollte, mal rühren, damit die Gehetzten verschnaufen konnten, gellte sofort von irgendwoher die verhaßte dünne Stimme: "Weitermachen, Timpe, weitermachen!" Als die Gruppe nach endlos langem Dauerlauf rings um den Flugplatz wieder einmal vor den Baracken anlangte, war ihr Quälgeist verschwunden. Timpe fragte Leutnant Wagner als Stellvertreter des Kommandanten, ob nun endlich eine Pause eingelegt werden dürfe. Dieser gewährte sie, bat aber, unverzüglich weiterzuexerzieren, wenn von Blacha in Sicht käme. Er deutete hinüber zum Bauernhof, um die Richtung zu bezeichnen, aus der die
Gefahr drohe.
Während die Matrosen und ihr Obermaat im Schatten der Baracke Ausguck hielten, mußte sich Antje Kortryk in der Wohnstube mit dem Feind herumschlagen. Ohne anzuklopfen war von Blacha bei ihr eingedrungen. Er hielt es nicht einmal für notwendig, seine Mütze abzunehmen. Das Monokel eingeklemmt, das Reitstöckchen gegen seine ledernen Waden knallend, überfiel er das Mädchen mit der Frage: "Sind Sie das Mensch, das meine Matrosen aufgeputscht hat?" Die Beleidigung stieß ins Leere. Antje stand gefaßt vor ihrer Nähmaschine und stellte, ihre Empörung bezwingend, in reinstem Schuldeutsch die Gegenfrage, ob sie die Ehre hätte, den Kommandanten der Flugstation begrüßen zu dürfen. Von Blacha stutzte, wie von einer Dame aus seinen Kreisen zurechtgewiesen, lachte sich gleichsam wegen dieses rasch erkannten Irrtums mit schrillem Kickser selbst aus und höhnte: "Nun sagen Sie bloß noch, der liebe Nachbar wäre zum Anstandsbesuch gekommen!" Antje, nunmehr völlig ruhig, dachte an die Macht, die diesem offenbar eitlen Menschen gegeben war. Sich ihrer Verantwortung gegenüber dem Vater, dem Hof und dem Knecht bewußt, überhörte sie den Hohn und versicherte: "Ich weiß, Herr Offizier, im Krieg lassen sich Anstandsregeln nicht immer befolgen. Ich danke Ihnen deshalb für Ihren Besuch. Gewiß wollen Sie mir mitteilen, daß Sie gezwungen sind, unseren Birnbaum zu fällen." In vollendet gespielter Hilflosigkeit die Stimme senkend, schloß sie leise: "Es ist mir, müssen Sie wissen, sehr schrecklich." Von Blacha wollte zunächst erneut sein schrilles Aufla-
chen anstimmen. Doch reichte sein Spott nur zu einer Grimasse. Von ihrer Ruhe bezwungen, nahm er sogar den Scherben aus dem Auge und druckste hervor: "Erlauben Sie! Das ist eine militärische Anordnung." Gleich darauf bäumte sich sein Junkerdünkel gegen die "eingebildete Bauerntrine" auf, wie er sie für sich nannte. "Wie sprechen Sie überhaupt mit mir?" legte er hitzig los. "Wenn es mir notwendig erscheint, lasse ich nicht nur den Baum umlegen, sondern auch Ihr Haus als Starthindernis sprengen." Diese Drohung war zuviel für Antjes Beherrschung. Das Gesicht wie erstarrt auf den Peiniger gerichtet, die Hand gegen das schmerzhaft pochende Herz gepreßt, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Lange suchte sie nach Worten. In ihrer Erregung fand sie keine. Stolz schritt sie an ihm vorüber zur Tür, öffnete sie und sagte: "Bitte." Von Blacha klemmte sich erneut das Glas ins Auge, starrte sekundenlang in Antjes Gesicht und rief wie der Schwerenöter eines preußischen Offizierskasinos: "Alle Wetter, mein Leutnant hat recht! Sie sind ja ein verteufelt reizendes Ding." Unternehmend stelzte er auf sie zu und hob ihr das Kinn. Antje, die Türklinke in der Hand, duldete die Zudringlichkeit wie eine Marmorstatue. Erst als seine Hände ihre Hüften umfassen wollten, wehrte sie ihn ab und sagte nochmals: "Bitte." Von Blacha ließ von ihr. Doch dachte er nicht daran, hinauszugehen. Im Gegenteil, ihr ungewöhnlich apartes Wesen verstärkte nur seine Begehrlichkeit. Während er einige Male gesenkten Kopfes im Zimmer hin- und herging, wurde ihm klar, daß dieses Bauernmädchen nicht so leicht zu haben sei.
Ohne Antje zu fragen, setzte er sich auf den Stuhl vor der Nähmaschine. Immerhin nahm er seine Mütze ab und begann manierlich zu begründen, warum er den Baum beseitigen lassen müsse, und bat sie, diese Maßnahme auf "Konto Krieg" zu buchen. Hier machte er eine Pause und forderte das Mädchen auf, das an der offenen Tür stehengeblieben war, sie doch wieder zu schließen, da noch weitaus Wichtigeres zu besprechen sei. Antje, von neuem für Vater, Knecht und Hof bangend, folgte. Da sie durchs Fenster einen zweiten Offizier gesehen hatte, der anscheinend ebenfalls zu ihr kommen wollte, befürchtete sie für sich nicht mehr allzuviel. Von Blacha ahnte noch nichts von der bevorstehenden Störung. Die Knie übereinandergeschlagen, spann er sein Verführungsgarn weiter und ließ durchblicken, daß er sich nach weiterem Ausbau seiner Station eines Tages veranlaßt sähe, wenn auch nicht, wie vorhin dahergeredet, das Haus als Starthindernis zu sprengen, so doch räumen zu lassen. "Beachten Sie wohl, Kleines", setzte er selbstgefällig hinzu, sich ihr wieder nähernd. "Wie die Dinge liegen, hängt alles von mir und einiges ." Er riß sie mit unvermutetem Griff an sich, " . von dir ab." Die Stimme Leutnant Wagners im Flur des Hauses brachte ihn, wie er sich einbildete, um den raschen Sieg. Wütend ließ er von der Halbohnmächtigen ab und riß die Tür auf. "Ein Telephonat vom Armeeflugplatz Gent, Herr Oberleutnant", meldete Wagner ahnungslos. Er bekam die eiskalte Antwort, einen Augenblick draußen zu warten. Von Blacha knallte die Tür hinter ihm zu, behielt aber die Klinke in der Hand. "Du hast verstanden?" raunte er Antje zu und gab ihr einen unverschämten Klaps.
Schon halb draußen, flüsterte er zurück: "Mein Bursche sagt dir, wann du mich besuchen darfst." Kaum allein, brach Antje auf dem Stuhl vor der Nähmaschine zusammen. Ein Weinkrampf schüttelte ihren Körper.
Die Rückfahrt von Brügge auf dem hochbeladenen Bauernwagen wurde gemütlicher als die Hinfahrt. Hein Simmering hatte im Proviantamt über die Anforderung hinaus etwas Schnaps, Zigaretten und eine Schlackwurst beschafft. Jeff Kortryk, der anfänglich nichts annehmen wollte, verlor erst nach einem nur dem Deutschen zuliebe getrunkenen Schnäpschen seine patriotischen Bedenken. Die fettige Offizierswurst tat das ihrige; es blieb nicht beim Anstandsschluck, und so waren der Flame und der Deutsche bald ein Herz und eine Seele. Sie rückten sich auf dem Bock näher und verfluchten in immer stärkeren Ausdrücken den Krieg. In der Kurve vor Zynkeerke kam durch die Bäume der Hof in Sicht. Die leicht verglasten Augen des Bauern suchten den Baum. Sie suchten vergebens. Wie eine hohe Schneewehe lag er im Sonnenlicht quer über der Chaussee. Ein Trupp Matrosen war gerade dabei, ihn in den Graben zu ziehen. Hein ächzte vor Zorn. "Hat der Monokelhund doch seinen Willen durchgesetzt." Jeff blieb gefaßt. Wie um den Deutschen an seiner Seite und sich selbst zu trösten, sagte er: "Böse Freude, kurze Freude, Kamerad."
In den nächsten Tagen stieg der Haß zwischen Mannschaft und Kommandant bis zur Siedehitze. Da die "Kerle,
die das Werkzeug zerstörten", nicht daran dachten, sich zu melden, blieb für alle der Urlaub gesperrt. Seine Drohung, Feldgendarmerie anzufordern, hatte von Blacha ebenfalls wahrgemacht. Indessen mußten die beiden "Kettenhunde" [Soldatischer Schimpfname für Feldgendarme, anspielend auf deren Messingschilder, die sie an Halsketten vor der Brust trugen] erfolglos wieder abziehen. Jeden Tag überwachte der Kommandant persönlich den Infanteriedienst. Er gebrauchte dabei Schikanen, die besonders die Handwerkersoldaten empörten. Oft war dieser oder jener Monteur nahe daran, dem "Monokelhund" mit dem Gewehrkolben den Schädel einzuschlagen. Doch dann kam gerade ein viertelstündiges "Stillgestanden", in dessen Stille die flandrische Front warnend hineingrollte. Da erinnerte sich jeder, erst in der Vorhölle des Krieges zu schmoren, und bezwang seine Wut. Der Arbeitsdienst wurde zur Erholung. Die Monteure begannen um so oberflächlicher die Maschinen zu pflegen, je mehr sie über das Startfeld gejagt wurden. Die Störungen an den Motoren häuften sich, ohne daß jemandem vorsätzliche Schuld nachzuweisen gewesen wäre. Es waren einfach Folgen unkontrollierbarer Nachlässigkeit. Unterdessen wurde die Flugstation aktiv. Die Etappe des Aufbaus und der Übungsflüge war beendet. Zu den Fokker-Kampfeinsitzern hatten sich noch Beobachtungsflugzeuge gesellt. Die Leinwandzelte waren durch eine stabile Halle ersetzt. "Der Ernst des Lebens beginnt, Richard", scherzte Leutnant Wagner zu seinem Monteur, als er zum ersten Frontflug aufstieg. "Herr Leutnant werden's schon schaffen", erwiderte Monteur Richard Kummer und wünschte Wagner "Hals-
und Beinbruch". Auch von Blachas Fokker stand startbereit auf dem Feld. Er wollte gleich nach Wagners Rückkehr an die Front fliegen. Sein Monteur Max Salewski saß im Führersitz und ließ den Rotationsmotor zur Probe donnern. Hinten, im Propellerluftzug stand Simmering und drückte den Flugzeugschwanz nach unten, damit es keinen Kopfstand gäbe. Als Salewski den Motor ausgeschaltet hatte, kletterte Hein zu ihm hinauf und ließ sich die Bedienung der Maschine erklären. Er fragte dies und das und schließlich, ob es stimme, daß eine Prise Feilspäne genüge, um "dem Monokelfritzen mit seiner Maschine das Wiederkommen zu versalzen?" Salewski blinzelte den Fragenden verständnisinnig an, dann tupfte er ihn mit dem Zeigefinger vor die Stirn: "Auf was so ein oller ehrlicher Seemann kommt, wenn man ihn triezt!" Und sich umblickend, ob keiner zuhöre, bestätigte er ihm, daß wirklich nur ein bißchen Metallstaub ausreiche, von Blacha auf die Verlustliste zu setzen. "Aber ." Salewskis Miene verdüsterte sich, "jede Kiste, die auf den Pinsel fällt, wird untersucht, warum sie abgetrudelt ist. Und findet man etwas Verdächtiges, heißt es, wo ist der Monteur?" "Wenn sie aber hinter der Front abstürzt?" Simmering sah den Kameraden groß an. "Der Franzmann, der Tommy werden den Deutschen kaum melden, warum ." "Genau so, wie sich das ein Laie vorstellt", schnitt ihm Salewski das Wort ab. "Nein, mein Junge, ein präpariertes Flugzeug kommt von hier aus erst gar nicht zur Front. Und überhaupt, was hast du davon? Ein Schinder geht hops, ein anderer tritt an seine Stelle. Nein, nein, Seemann, da mußt
du dir schon etwas Klügeres ausdenken!" "Was, zum Beispiel, Max?" Simmering, in seine haßerfüllten Gedanken verbohrt, ließ sich nicht abweisen. Da steckte Salewski den Kopf über den Rand des Führersitzes, und seine Stimme zum Raunen dämpfend, sagte er: "Was sich die revolutionären Matrosen Max Reichpietsch und Alwin Köbes bei euch in der Flotte, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin und die Bolschewiken in Rußland ausgedacht haben, begriffen?" Hein verzog sein Gesicht. "Das ist Politik", wehrte er ab. "Wie weit man damit kommt, haben wir erlebt. Reichpietsch und Köbes sind erschossen, Liebknecht und Luxemburg sitzen im Zuchthaus; der Krieg geht weiter." "Aber sie und die Russen haben uns gezeigt, wie man mit den Menschenschindern Schluß macht ." Der im Fliegerdreß heranstakende Kommandant hinderte Salewski daran, ausführlicher zu werden. Er sprang aus dem Führersitz und meldete die Maschine startbereit. Von Blacha dankte kaum, stellte einige sachliche Fragen, ohne den Monteur eines Blickes zu würdigen; dann stieg er ein. Das Flugzeug erhob sich über der Stelle, wo einst der Birnbaum gestanden hatte. "Daß dich der Tommy löchert wie ein Kaffeesieb", murrte Salewski dem nach Westen verschwindenden Flugzeug nach. "Na also, Max", lachte Hein. "Dann sind wir uns ja wieder einig." "In dem Punkt schon", räumte der Monteur ein und hob warnend den Finger: "Aber nur in dem Punkt, Hein. Denk daran!" Allmählich sickerte es durch, daß man höheren Orts nie
daran gedacht hatte, Großflugzeuge knapp dreißig Kilometer hinter Ostende, dem letzten größeren Etappenort vor der Front, zu stationieren. Somit war der Baum sinnlos geopfert worden. Der Schuldige, bisher gehaßt, verfiel der allgemeinen Verachtung. Selbst Leutnant Wagner mied von Blacha, wenn er nur konnte. Er verbarg kaum seine Befriedigung über den neuen Streich aus dem Dunkel brodelnder Heimlichkeit. Da stand eines Morgens, an den Stumpf des Baumes genagelt, ein Kreuz. Die Inschrift, unbeholfen mit roter Farbe gemalt, leuchtete zur Chaussee hin: Der Birnbaum, der hier stand, der fiel von Lumpenhand.
Oberleutnant von Blacha tobte, verschärfte den Infanteriedienst durch nächtliche Probealarme, verlängerte die Ausgangssperre und gab der Schreibstube Anweisung, nicht eher Anträge auf Heimaturlaub entgegenzunehmen, bis sich zu den Saboteuren die Schmieranten gemeldet hätten. Nach Anbruch der Dunkelheit brachte Hein Simmering das zwar befehlsmäßig abgebrochene, aber nicht vernichtete Kreuz zu Antje Kortryk. "Verwahre es als Erinnerungsstück an den Krieg, an den Baum und . an mich." Antje wollte es nicht haben. Sie sagte, ihr Vater befürchte eine plötzliche Haussuchung, und wenn man etwas Belastendes fände, wäre es mit dem Hof vorbei. Aber trotzdem danke sie ihm für alles, was er für sie getan habe. Seitdem es vor dem Haus am Baum keine Bank mehr gab, saßen sie fast alle Abende mal zu dritt mit dem Bauern, mal ohne ihn hinten im Hof auf der neugezimmerten
Bank. Heute traf es sich, daß Vater Kortryk noch im Stall beschäftigt war. Simmerings Besuche hatten sich nicht von selbst ergeben. Angeblich konnte er das Benzin für die geschenkte Lampe stets nur in kleinen Mengen nachliefern. Hingegen war das Du zwischen den beiden nach dörflicher Art wie von allein gekommen. Als Antje ihm gedankt und die Hand gegeben hatte, hielt er sie fest wie für immer. Schmerzlich wurde ihm bewußt, daß er sie als Deutscher nur als Lohn für eine große Liebestat behalten dürfe. "Ich habe meinem Vater bisher noch nichts gesagt", gestand Antje. "Er hat übergenug Sorgen. Und dir wollte ich es auch verschweigen. Aber ich weiß mir keinen Rat mehr." "Sprich dich ruhig aus", ermunterte Hein sie. "Du weißt, mit mir kannst du Pferde stehlen." Antje ging auf den Ton nicht ein. "Am Tage, als der Baum gefällt wurde, als Vater mit dir in Brügge war, kam der Kommandant zu mir ." "Also doch!" unterbrach sie Hein dumpf. "Die Kameraden sprachen davon. Aber weil du nie davon anfingst, glaubte ich, er wäre nur um das Haus herumgestrichen." "Nein, er ist ohne anzuklopfen zu mir in die Stube eingedrungen." "Der Klotz!" Hein ächzte vor Haß und Zorn. "Was wollte er", fragte er, sich zur Ruhe zwingend. "Mich ." Scheu zog sie ihre Hand aus der seinen. Was er aus Liebe ohne Ermunterung nie gewagt hätte, geschah jetzt impulsiv. Er zog Antje an sich, preßte sein Gesicht an ihre Wange und drohte: "Solange ich lebe, wird ."
"Willst du dich und uns unglücklich machen?" flüsterte sie, von seiner Entschlossenheit erschrocken. "Ich will dich, Antje, so wie ich dich jetzt festhalte." Er bog ihren Kopf zurück und küßte sie das erste Mal. Antje rang um ihren Atem. "Hein ." Nie vorher hätte sie geglaubt, daß dieser fremde Name ihr so leicht über die Lippen gehen würde. Aber vielleicht war es immer so mußte der Mund erst willig geküßt werden. "Antje, Liebes, lange kann es nicht mehr dauern mit dem Krieg ." Während einiger Pulsschläge horchte sie wie im Traum auf sein Raunen nahe ihrem Ohr. " . und wenn Friede ist!" Mit einem unterdrückten Schrei wehrte sie ihn ab. "O Gott", kam es wie ein Seufzer über ihre Lippen, "das kam zu früh." "Besser zu früh, als gar nicht", lachte Hein selig und stolz. Sie ordnete ihr Haar. "Aber ich wollte es wirklich nicht", beteuerte sie dabei. "Was wird Vater dazu sagen?" "Amen", meinte er schlagfertig und wollte sie erneut umarmen. Weich, aber bestimmt entzog sie sich ihm. "Du gehörst zu den Menschen von jenseits der Chaussee, Hein." Da war sie wieder, die Gegenwart mit der gestohlenen und geschleiften Wiese, mit dem gefällten Baum und dem Kommandanten, der ihm das Mädchen nehmen wollte. "Ja, Antje", beteuerte er tief nachdenklich, "ich gehöre zu den Leuten von drüben. Aber zu denen, die selbst im Krieg anständig geblieben sind, hoffe ich. Hab' ich dir . hab' ich es euch nicht bewiesen?" "Würde ich dich sonst ." Verschämt das Geständnis ihrer Liebe zurückhaltend, begann sie noch einmal: "Wür-
de ich sonst neben dir hier auf der Bank sitzen?" "Antje!" Ihr Name klang diesmal wie ein Gelöbnis. "Ich werd's weiterhin beweisen, daß es gute Deutsche gibt." Nahende Schritte ließen ihn verstummen. "Da ist jemand", raunte er aufspringend. Auch Antje schnellte von der Bank hoch, lauschte in die Dunkelheit und umklammerte seinen Arm. "Er kommt schon wieder", stöhnte sie. "Wer, der Kommandant?" "Sein Bursche. Gestern mittag hat er ihn zum ersten Male zu mir geschickt." "Was soll er?" "Mich holen." Hein stieß einen Fluch durch die Zähne, ergriff das unter der Bank liegende Kreuz, riß die Querlatte mit der Inschrift ab und wollte schon damit um die Ecke des Hauses stürmen. Antje hielt ihn fest. "Bleib!" befahl sie in Herzensangst um ihn. "Du machst alles noch schlimmer." Sie drängte den widerstrebend Gehorchenden in den Hausflur. " . Wenn ich heute abend allein zurückkomme, glaubt er, Sie wollen ihn überhaupt nicht besuchen", hörte Hein gerade den Burschen sagen. "Ja, aber, mein Gott", stotterte Antje, seine Antje, mit rührend kleinem Stimmchen, "wenn ich doch krank bin ." "Kommen Sie mit und sagen Sie es ihm selbst", drängte Ruffenach darauf so widerlich einschmeichelnd, daß Simmering mit den Zähnen knirschte. Einige Atemzüge lang blieb es am Vordereingang still. Dann hörte der Lauscher Papier rascheln und Ruffenach sagen: "Kavalier, wie er ist, hat er mir für Sie etwas Feines
mitgegeben. Hier, riechen Sie mal! Seife, prima parfümiert. Die gibt's in ganz Belgien nicht mehr." Dieses Angebot war zuviel für Simmerings Beherrschung. Er sprang auf den Burschen los, schlug ihm mit der Latte den Seifenkarton aus der Hand und packte ihn am Kragen. "Du schmieriger Knecht", drohte er außer sich, "dir werde ich's zeigen, ein anständiges Mädchen zu beleidigen! Nicht genug, daß ihr es in euren Fliegerharem verschleppen wollt, soll's auch noch parfümiert sein." Er schüttelte den Burschen wie einen Hund und hob schon die Faust mit der Latte, um sie auf seinen Kopf niedersausen zu lassen, als Antje ihm in den Arm fiel. "Hein!" Ihre Stimme war jetzt messerscharf. "Schlägst du zu, hol' ich den Vater! Und dann ist alles aus." Es war mehr der Ton als ihre Worte, die ihn zur Besinnung brachten. Er ließ den Burschen los und schleuderte das Holzstück von sich. Antje nahm Hein beiseite, flüsterte ihm hastig ins Ohr: "Mir hilft nur, Zeit zu gewinnen." Und zu Ruffenach gewandt, bat sie, er möchte ihr zuliebe seinem Herrn nichts davon berichten, was hier geschehen sei. Der Bursche versprach es ihr mit scheuem Seitenblick auf Simmering und fragte, nicht weniger in Angst vor seinem Herrn, was er bestellen solle. "Was ich Ihnen schon sagte", erwiderte Antje. "Entschuldigen Sie mich mit Krankheit." Rasch hob sie den Seifenkarton von der Erde auf und drückte ihn Ruffenach in die Hand. "Für Ihre Mühe", sagte sie und verschwand ins Haus. In grollendem Schweigen verließen die beiden Matrosen den Hof. Bevor sie sich auf der Chaussee trennten, stieß Hein den anderen mit dem Ellenbogen in die Seite. "Denk
dran, was dir Antje gesagt hat. Ein Wort zuviel von heute abend zum Knallkopp, und du siehst die Heimat nicht wieder." Er hielt inne, wie um seine Drohung wirken zu lassen und schloß: "Schließlich wird's Zeit, daß auch du dich als Offiziersbursche darauf besinnst, wohin du gehörst."
Eine von der Decke herabhängende Glühbirne beleuchtete trüb die Wohnbaracke. Drei Matrosen spielten Sechsundsechzig, ein vierter stopfte seine Strümpfe, und einige andere lagen in den Kojen und plauderten. Simmering saß am Tisch beim Abendbrot. Mit einmal horchte er auf. Einer der Matrosen berichtete von einem Frontflug, den er als gelegentlicher Beobachter mitgemacht haben wollte. " . Ja, und dann fängt auf dem Rückflug plötzlich der Motor an zu spucken. Der Tourenzähler geht zurück, und bevor mein Pilot das Gas wegnehmen kann, steht der Propeller wie ein Brett. Die Maschine trudelt im Korkenzieher herunter, und knapp hinter unseren Linien gibt's eine Notlandung mit Kopfstand. Mein Pilot untersucht den lahmen Vogel, entdeckt ein paar Wassertropfen, und wie er der Spur nachgeht, kommt's heraus. Die Gummistutzen an der Verbindung der Kühlwasserleitung sind wie Zunder zerfressen. Und unsereiner wunderte sich, daß kein Kühlwasser da war. Fünf Minuten früher das Malheur, wären wir prompt beim Franzmann gelandet." "Tja, so geht's zu im Krieg", knurrte einer der Zuhörer. "Ein fauler Gummiring, und schon stehst du in der Heldenliste." "Und weißt nicht, warum und wofür", beendete der dritte die Unterhaltung.
Um sich kein Wort entgehen zu lassen, hatte Simmering zu essen aufgehört. Jetzt kaute er gedankenschwer weiter. Gleich nach dem Abendbrot legte er sich nieder. Die Augen gegen die Bretter der oberen Koje gerichtet, kreisten seine Gedanken um das soeben Gehörte, verdichtete sich in ihm aus Haß und Liebe der Plan zur großen Bewährung, wie er sie begriff. Als man ihn kurz vor Mitternacht zur Ablösung für den Wachdienst in die Flugzeughalle holte, stand sein Entschluß fest. Auf dem Wege zur Halle begegnete er Max Salewski, der mit Richard Kummer von unerlaubtem Ausgang zurückkam. Max drückte ihm ein bedrucktes Papier in die Hand. "Damit dir auf Wache die Zeit nicht lang wird, Hein." Nur spärlich beleuchteten drei Notlampen die nach außen hin abgeblendete Halle. In diesem Licht ähnelten die in zwei Reihen ausgerichteten Flugzeuge gespensterhaften Riesenvögeln. Hein Simmering, vom Eingang durch die vordere Reihe der Flugzeuge gedeckt, starrte beim Schein seiner Taschenlampe auf das hektographierte Flugblatt des "Spartakusbundes". Der Sinn des Aufrufs an die Soldaten, endlich mit dem Krieg Schluß zu machen, wurde ihm jedoch nicht klar. Seine Gedanken blieben bei der einmal gefaßten Absicht. Mit dem Vorsatz, es Salewski zuliebe später sorgfältig zu lesen, faltete er das Blatt zu einem schmalen Streifen und versteckte es hinter dem Schweißleder seiner Mütze. Nachdem er noch einmal im Mittelgang hin- und hergewandert war, stockte sein Fuß vor dem Einsitzer des Kommandanten. Die Maschine stand unter der mittleren Notlampe.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er in die Öffnung der Blechverkleidung griff. Mit der Lampe in die Maschine hineinlangend, knipste er erst drinnen das Licht an. Zunächst verwirrte ihn das in sich verschlungene Durcheinander von Stahl, Aluminium und Kupfer. Die gewundenen Rohre, die Laschen und Versteifungen, die Drähte, die Stangen, Hebel, Steuerungszüge, Kränchen und Schmiertöpfe machten ihn unsicher. Doch hatte er nicht umsonst alles darangesetzt, um in das Geheimnis der Flugmechanik einzudringen. Allmählich enthüllte sich ihm Sinn und Zweck dieses oder jenes Teils, und bald betastete seine Hand das, was er suchte. Sein erster Versuch mißlang. Stramm, wie angegossen, saß der Gummistutzen dort, wo die beiden Rohre der Kühlwasserleitung zusammenstießen. Ihn ohne Werkzeug abzunehmen war unmöglich. Der Widerstand begann ihn zu reizen, entflammte den glimmenden Haß auf den, der ihn und seine Kameraden wie Dreck behandelte und der sein Mädchen verderben wollte. Jetzt völlig zur Tat entschlossen, überlegte er kühl und sachlich. Ihm fiel als Ausweg Max Salewskis Werkzeugkasten ein. Nachdem er mit der Klinge seines Bordmessers das Schloß geöffnet hatte, sah er in der Schublade zwischen allen möglichen Werkzeugen den Universalschlüssel. Aber er entdeckte gleichzeitig drei alte Gummistutzen, die ihm für seine Absicht passend erschienen. Er nahm den schlechtesten an sich, zog dessen Altersrisse mit der Messerspitze nach, um ihn in einen noch hinfälligeren Zustand zu versetzen, und begann sein heimliches Werk. "Du, Max", flüsterte zur gleichen Zeit in der Monteurba-
racke Richard Kummer seinem Freund Salewski zu: "Bist du sicher, daß dieser Simmering mit unserem Flugblatt vorsichtig umgeht?" Max wiegte den Kopf. "Ein guter Kamerad ist er schon, der ostfriesische Dickschädel", gab er leise zurück. "Aber ob Hein weiß, wie viele Jahre Zuchthaus darauf stehen, wenn das Flugblatt bei ihm gefunden wird, weiß ich nicht." "Dann sag's ihm", entschied Richard Kummer. "Noch heute nacht. Am besten gleich, Max!" Salewski nickte, zog sich seinen Rock wieder an und ging nach draußen. Vor der Flugzeughalle angekommen, öffnete er behutsam die kleine Tür im großen Schiebetor und trat hinein. Wachposten Simmering war nirgends zu sehen. Auf den Fußspitzen schlich Max in den Mittelgang. Ein leises metallisches Geräusch drang an sein Ohr. Zugleich durchfuhr ihn ein eisiger Schreck: Simmering hantierte in der Nähe der Maschine, für die er, Monteur Max Salewski, verantwortlich war. "Nanu, Hein, pfuschst du mir ins Handwerk?" Mit diesen Worten ging Salewski auf den Überraschten zu, der sich erschrocken umsah. Außerstande, auch nur ein Wort zu stammeln, blickte Hein ihn mit rotem Kopf an. Max nahm dem Willenlosen einen Gummiring aus der Hand, betrachtete ihn und pfiff durch die Zähne. Ihm war das Gespräch mit Hein eingefallen, er wußte nun, was der andere vorgehabt hatte. "Zurück das Ganze", kommandierte er mit unheimlicher Ruhe, nahm Heins Taschenlampe an sich und leuchtete in den Flugzeugrumpf. Während mit geübter Hand die Rohrleitung wieder in
Ordnung gebracht wurde, stand Simmering daneben; er hielt den Kopf gesenkt. Schließlich brach es aus ihm heraus: "Wirst du mich melden, Max?" Salewski antwortete nicht. Er winkte dem Ertappten zu, ihm zu folgen. Immer noch schweigend, legte der Monteur das Werkzeug sowie die alten rissigen Gummistutzen in den Kasten zurück und brachte das auf gebrochene Schloß des Werkzeugkastens wieder zum Schließen. Erst jetzt, nachdem keine Spur der nächtlichen Arbeit mehr sichtbar war, sagte er: "Wo hast du das Flugblatt?" Der Gefragte tippte an seine Mütze. "Hab's unterm Schweißleder versteckt." "Also noch nicht gelesen?" Und als Hein es stumm zugegeben hatte, fügte Max hinzu: "Was frage ich noch? Wenn du es Zeile für Zeile studiert hättest, wäre dein Kopf jetzt klarer." Er legte seine Hand auf des anderen Schulter und sagte eindringlich: "Hein, alter Dickschädel, begreife doch, was ich dir damals sagte. Es nützt dir und uns einen nassen Dreck, wenn du einen Monokelfritzen hopsgehen läßt. Wir müssen alle zusammen die ganze adlige Bande, dazu die industriellen Großverdiener mitsamt ihrem Kaiser als Kriegsmacher auf die Verlustliste setzen. Ist das so schwer zu begreifen, Hein?" Simmering nickte zum Zeichen, daß er begriffen habe. Dann aber fragte er gleich zum zweitenmal, ob ihn Max melden würde. "Bin ich blöd?" erwiderte Salewski rauh. "Wenn's losgeht . und allzulange dauerte nicht mehr . brauchen wir jeden Mann mit Mumm in den Knochen und Grips im Kopf." In heiß aufsteigender Dankbarkeit fiel Hein Simmering
dem Monteur um den Hals. "Max", stieß er überglücklich hervor, "das werde ich dir nie vergessen." "Papperlapapp", schnitt Salewski ihm kühl das Wort ab. "Vergiß lieber nie meine Worte und ." Erschreckt hielt er inne. Draußen näherten sich Schritte. Die Tür wurde geöffnet und herein trat ein Fähnrich. Der Offizier vom Dienst. "Posten Flugzeughalle meldet: Alles in Ordnung." Der junge Beobachtungsflieger dankte Simmering und sah den Monteur an: "Na, Salewski, noch nicht in der Koje?" "Ich war schon, Herr Fähnrich. Aber die Sorge um meine Kühlwasserleitung hat mich nicht schlafen lassen." "Gute Dienstauffassung", lobte ihn der Fähnrich, grüßte und stolzierte hinaus. Die beiden Freunde sahen sich mit verschmitztem Lächeln an.
Jeff Kortryk, Antje, der Knecht und Simmering saßen beim sonntäglichen Mittagsmahl. Es gab Stampfkartoffeln mit Milch. Der Bauer, der sich an Heins Klage über den "elenden Stationsfraß" erinnerte, hatte ihn persönlich eingeladen. Seine Hungerklage stellte sich indessen als Übertreibung heraus. Kaum, daß er einen Teller leer aß, geschweige, daß er Antjes Drängen nachkam, sich noch zu bedienen Auf ihre teilnehmende Frage, ob ihm etwas fehle, schüttelte er jedoch nur den Kopf und beteuerte: "Die Wache heute nacht ist mir ein bißchen schwergefallen." Gerade erhob der Bauer sein Gläschen heimlich gebrannten Kartoffelschnaps, um mit dem Gast auf baldigen Frieden anzustoßen, als seine Augen abglitten und durchs
Fenster starrten. Gemessenen Schrittes näherte sich draußen ein Mönch in weißer Kutte. Verwirrt eilte der Hausherr hinaus, gefolgt von dem hinkenden Knecht. Antje hatte sich erhoben. "O Gott", seufzte sie. "Jetzt kommt die Trennung!" Hein sprang erschrocken auf, riß das sich nur schwach widersetzende Mädchen in seine Arme. "Nach der Nacht, die hinter mir liegt, Antje", raunte er ihr zu, "kommt eine Trennung zwischen uns nicht mehr in Frage. Rede nie mehr davon." "Was hast du wieder angestellt?" stieß sie angstvoll hervor. "Sprich, bevor der Vater zurückkommt." Er schüttelte den Kopf. "Vielleicht erfährst du alles später mal, nach dem Krieg." An dem Ton seiner Beteuerung merkte Antje, daß weitere Fragen zwecklos waren. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und sagte, auf die Tür deutend, hinter der unverständliches Gemurmel laut wurde: "Vater sprach davon, daß wir mit den Kühen auf das Klostergut ziehen, das neben dem Hof meines erschossenen Vetters liegt. Sicherlich bringt der Mönch die Entscheidung darüber." Hein hatte die Worte förmlich von ihren Lippen abgelesen. Jetzt atmete er auf und versicherte: "Eine Meile zwischen dir und mir ist keine Trennung. Die bezwinge ich noch alle Abende." "Ich komme dir auf halbem Wege entgegen, Hein", versprach sie und bot ihm den Mund. Jeff Kortryk kehrte in die Stube zurück. Mit verlegenem Lächeln sich an Simmering wendend, bat er, ihn zu entschuldigen. Aber wie der Gast sähe, sei unerwarteter Besuch gekommen. Nun müsse angespannt werden. Die Kinder des Brügger Waisenhauses hätten schon seit Tagen
keine Kartoffeln mehr zu essen. Simmering verstand. Das war eine Ausladung gewesen, die zudem mit Antjes Erklärung von vorhin nicht recht übereinstimmte. Aber steckte er selbst nicht gleichfalls voller Geheimnisse? Er nickte, gab Antje mit festem Druck die Hand und ging hinaus. Jeff begleitete ihn. In der Haustür schien er noch etwas sagen zu wollen. Er tat es nicht. Dafür aber drückte er dem Deutschen die Hand so fest, daß dieser ihm forschend in die Augen sah. Anderthalb Stunden später sah Hein vom Fenster der Wohnbaracke aus den Karren in Richtung Brügge abfahren. Auf dem Bock saßen Jeff Kortryk und Antje. Der Knecht ließ die Beine vom Wagen baumeln. Die beiden Kühe trotteten am Strick hinterdrein. Der weiße Mönch ging neben dem hochbeladenen Wagen her. Wiederum einige Stunden später. Das Sonntagsessen der Flugstation - Dörrgemüse mit zähen Rindfleischfasern, ohne Saft und Kraft gekocht - war in gewaltigen Mengen verschlungen worden. Jetzt rächte sich der Körper. Alles lag in bleischwerem Schlaf in den Kojen. Da schrillte in der Halle, in allen Baracken, Werkstätten und Lagerräumen das Alarmwerk. Nervenzerrend bohrte sich der grelle Ton in das Bewußtsein der Aufgeschreckten. Mit hundertmal geübten Bewegungen rannte jeder auf seinen Posten. Kaum, daß ein Wort fiel, höchstens hier und dort ein Fluch. Die Bereitschaftswache riß die Schiebetore der Halle auf. Heraus rollten, von den Matrosen gezogen, die Flugzeuge auf das Startfeld. Das Rattern der Motoren, das Donnern der Propeller begann. In zwei Autos rasten auf der Chaussee der Kommandant und die Piloten herbei. Auf der Fahrt von der Fliegervilla zum Flugplatz kleideten
sich die Offiziere vollends an. Vor knapp sieben Minuten hatte die Alarmglocke angeschlagen, und schon kreisten die ersten Fokker über der Station. Simmering half am linken Flügel, die Maschine des Kommandanten in Startrichtung zu dirigieren, am rechten keuchte Max Salewski. Während Hein im Halbbogen über die Rollbahn lief, blickte er von Blacha, der bereits im Führersitz hantierte, unverwandt an. Wollte er sich dieses hochmütige, verlebte Offiziersgesicht für immer einprägen? Oberleutnant von Blacha startete als letzter der Kampfstaffel. Er nahm auch diesmal sein Glücksmaskottchen mit, ein indisches Göttermännlein aus Ebenholz. "Außerdem", sagte Max Salewski später, "glänzten von Blachas Augen, als ob er sich eine doppelte Dosis Morphium genehmigt hätte ." Die Kampfstaffel Zynkeerke, mit dem Flugzeug des Kommandanten an der Spitze, donnerte westwärts, verfolgt von den Blicken des Bodenpersonals. In die wiedereingekehrte Ruhe der sommerlichen Küstenlandschaft grollte die flandrische Front unheimlicher als je.
Des Engländers Schwäche, den Sonntag auch im Krieg durch die Ruhe zu "heiligen", war von den Deutschen häufig zu plötzlichen Überfällen ausgenutzt worden. Zwar wurde durch diesen Trick im Endeffekt kaum noch ein Frontabschnitt ausgebuchtet oder aufgerollt. Aber es machte sich immer noch gut, wenn im Hinterland die am Krieg Verdienenden in den Zeitungen lesen konnten, daß es unseren heldenhaft vorgehenden Truppen da und dort gelungen sei, unter Führung des Generals von Sowieso Terrain zu gewinnen.
Mehr war im vierten Kriegsjahr selbst unter rücksichtslosestem Einsatz von Menschen und Material nicht herauszuholen. Zwar wollte die oberste Armeeführung das auf keinen Fall wahrhaben; doch das "Fünfte Matrosenregiment" zum Beispiel, in das alle politisch unzuverlässigen Matrosen der kaiserlichen Flotte gesteckt wurden, wußte es bis auf den letzten Mann. Um sie noch aus den Gräben nach vorn in den Tod zu locken, bedurfte es dreierlei: Schnaps als Offensivgeist, Artillerievorbereitung und während des Sturmangriffs Fliegerunterstützung. Auf die Artillerievorbereitung mußte an diesem Sonntag verzichtet werden. Überfälle meldet man nicht vorher an. Den Schnaps hatten die feldgrauen Matrosen getrunken, und die Flieger aller Stationen in Belgien waren alarmiert. Da dröhnten sie im Rücken der Feldgrauen heran. Die Grabenoffiziere gaben das Zeichen zum Sturm. Zögernd kletterten sie auf die Böschungen. Die erste Infanterie-Fliegerkette brauste in fünfzig Meter Höhe über ihre Köpfe. Eine zweite, breit auseinandergezogene Flugzeugkette folgte in derselben Höhe, während die erste bereits von oben die englischen Gräben mit MG-Feuer eindeckte. Doch der Tommy, erbost über die sonntägliche Ruhestörung, erholte sich rasch vom ersten Schreck. Zornig begannen seine Maschinengewehre zu rattern. Bald folgte mit wütendem Bellen seine Artillerie, seine mörderische Flak. Und in diesem sich steigernden Weltuntergangslärm wurde immer wieder dicht über den Köpfen der Vorstürmenden das blitzschnell anschwellende und ebenso rasch verhallende Dröhnen der eigenen Infanterieflieger laut. Über diesen Wellen kreisten die Schlachtflugzeuge, bereit, sperberartig hinunterzustoßen, wenn sich ein feindlicher
Tank zeigen sollte. In tausend Meter Höhe kurvten die Artillerieflieger, deren Beobachter die Geschützstellungen des Gegners auszukundschaften suchten. Nun setzten die Engländer, die Amerikaner, die Franzosen an Flugzeugen ein, was sie hatten. Die dröhnenden Schwärme rasten näher und näher, jagten mit unwiderstehlicher Wucht die dünnen Staffeln der Deutschen zurück. Hier und da kam es zu einem Luftgefecht, dessen Ausgang in Kurven, Korkenziehern und Trudeln ungewiß blieb. Brennend sank das erste Flugzeug mit gebrochenen Tragflächen wie Blei in die Tiefe. Ein zweites fiel, seitlich über den Flügel rutschend, zu Boden. Ein drittes verbiß sich im Todeskampf in seinen Gegner, ihn mit ins Verderben reißend. Der stürmende Feldgraue, wieder einmal aufblickend, sah seine Luftfront in Unordnung wenden. Da wendete auch er und begann um sein Leben zu rennen. Hatte er unterwegs Pech, starb er hilflos und verlassen zwischen den Linien - unter mehr oder weniger Qualen. Es kam auf einen nicht an . Auch nicht auf Oberleutnant Friedrich Wilhelm von Blacha. Obwohl in seinem Fall gleichzeitig ein Kampfeinsitzer modernster Konstruktion ausschied. Die Kampfstaffel Zynkeerke kam ohne ihren Kommandanten zurück. Unter Führung Leutnant Wagners landeten die Flugzeuge knapp vor Anbrach der Dunkelheit. An allen Tragdecks flatterten die Bespannungsfetzen. Kein Flugzeug war ohne Löcher geblieben. Die Flieger wankten in ihre Salons. Kraftlos ließen sie sich dort auf Stühle und Kojen niederfallen. Sie schnappten nach Luft, wie die Fische auf dem Trockenen. Einige
zitterten immer noch. In den Augen aller stand das Grauen des Erlebten. "Dagegen kann man nicht mehr an", klagte der lange ordengeschmückte Wagner. Ein Weinkrampf schüttelte ihn. In der Flugzeughalle nahm Max Salewski, der Monteur ohne Maschine, den Birnbaumzweig von seinem Arbeitsplatz. Gegen Tote protestiert man nicht mehr. Er hielt den Zweig noch unschlüssig in der Hand, da begann die Alarmglocke aufs neue zu schrillen. Gleichzeitig ging das Licht aus. "Feindliche Maschinen im Anflug!" Im Dunkeln stürzten alle in den Betonunterstand.
Gleich nach der Landung der Flugzeuge war Hein Simmering quer übers Startfeld in Richtung Brügge verschwunden. Erst hinter der letzten Biegung wagte er sich auf die Chaussee. Und hier kam ihm, wie versprochen, Antje auf halbem Wege entgegen. Stumm nahm sie die Nachricht vom Ende des Kommandanten entgegen. Auf seine Bitte, wieder nach Zynkeerke zurückzukehren, da sicherlich Leutnant Wagner das Kommando bekäme und von ihm nichts Kränkendes zu befürchten sei, schüttelte sie den Kopf. Erst als er ihr mitteilte, nur fünf Minuten Zeit zu haben, umschlang sie seinen Hals und bat ihn, noch zu bleiben. "Wenn ich vermißt werde, setzt es Arrest", gab er in schwacher Abwehr zu bedenken. "Trotzdem, Liebster", beharrte sie, auf eine besondere Weise schmeichelnd, "bleib heute nacht bei mir." Antje führte ihn im fahlen Licht der Mondsichel durch Wiesen und über Äcker hin zum Bahndamm, der als hohe Böschung das Flachland durchschnitt. Vor einem jetzt
stillgelegten Stellwerkhäuschen fand sich eine Bank. Engumschlungen, Wange an Wange, träumten sie vom Frieden, vom gemeinsamen Glück. Ihre Blicke ruhten versonnen auf den dunklen Schatten der Stationsgebäude in der Ferne. Erst das anschwellende Rauschen des geflügelten Todes brachte sie in die Wirklichkeit zurück.
In dieser Nacht zeigte die vereinigte englisch-amerikanisch-französische Luftflotte noch einmal den Deutschen ihre Überlegenheit. Unbekümmert um Scheinwerferlicht, Leuchtkugeln und Flak kurvte sie über den Kriegszentren des Feindes. Man kannte die Punkte genau. Sie standen eingezeichnet in Spezialkarten, die ständig durch einen Nachrichtendienst ergänzt wurden, an dem viele belgische Patrioten heimlich mitarbeiteten. Wie zum Beispiel der Mönch in weißer Kutte, der die Familie Kortryk aufs Klostergut brachte . Die Zeebrügger Mole, als stark befestigter U-Boothafen, war eine besonders sorgfältig ausgewählte Stelle. Auch die weitläufige Kriegswerft am Rande Brügges wurde zum Bombenziel eines Geschwaders. Zwei Lichtstrahlen von der Küste, drei von der holländischen Grenze und ein Arm aus dem Innern des Landes bündelten sich jetzt, strahlten eine "Metallmotte" an, die in wilden Spiralen vergeblich zurück ins Dunkel zu kommen suchte. "Ich glaube", sagte Leutnant Wagner vor dem Eingang des Betonunterstandes zu Obermaat Timpe, "diesmal sind wir gemeint." Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie im Scheinwerferkegel vier, fünf, sechs silberne Unheiltropfen fallen, dann sprangen beide in den schützenden Keller, schon das
Dröhnen der Explosionen in den Ohren. Max Salewski überraschte es draußen auf dem Weg zum Unterstand. Den Birnbaumzweig noch in der Hand, warf er sich in den Schlamm des Chausseegrabens. Dort zwängte er seinen zitternden Körper unter den Stamm des gefällten Baumes. Nach jeder Explosion bohrte sich sein Kopf tiefer in den Morast. Der Birnbaum dröhnte von niederprasselnden Eisenbrocken. Als er sein maskengleich beschmiertes Gesicht wieder erhob, stand die Flugzeughalle, standen die Flugzeuge in hellen Flammen. Auch Jeff Kortryks Haus leuchtete wie eine Fackel weit ins Land hinein.
Hein hielt das lautlos weinende Mädchen umschlungen, während sein Blick starr auf das Flammenmeer in der Ferne gerichtet blieb. "Antje", begann er nach langem Schweigen, "ich muß zu den Kameraden. Ich will wissen, ob Max Salewski es überlebt hat." Sie nickte in seinem Arm. "Das mußt du wohl", kam es über ihre Lippen. "Wie ich in dieser Stunde beim Vater sein muß." Hein suchte nach Worten, stotterte: "Wird er nach dieser Nacht einwilligen, daß du einen Deutschen ." Hoffnungslos traurig verschluckte er das Ende des Satzes. Antje streichelte ihn, damit gleichsam ihre Liebe versichernd. "Überlasse alles mir, der Zeit und dem Frieden", sagte sie mit fester Stimme. Er riß sich los, stürmte die Böschung hinunter und rief im Laufen über die Schulter nach oben: "Morgen abend wieder hier, Antje!" "Ich erwarte dich!" Und leise für sich flüsterte sie: "Ja,
Lieber, ich warte auf dich ." Im Widerschein der Flammen von Zynkeerke fand sie den Weg zurück auf die Chaussee. Das dumpfe Grollen der fernen flandrischen Front hatte aufgehört. Nur das Brausen der Küstenbrandung blieb hörbar wie immer.
Atemlos kam Hein Simmering auf der in Flammen stehenden Station an. Die Flieger, Monteure und Matrosen standen in Gruppen auf der Chaussee und starrten tatenlos ins Feuer. Zu retten war nichts mehr. Aus Richtung Blankenberghe raste ein Auto heran und hielt. "Telephonspruch an Leutnant zur See Wagner", rief jemand aus dem Fond des Wagens in die Gruppe der Offiziere. Hein drängte sich näher. Er sah Wagner die Meldung im Schein des Feuers lesen, dann hörte er ihn zu den Offizieren sagen: "In einer Stunde trifft unser neuer Kommandant, Oberleutnant Graf von Schlettwitz ein." Ein Matrose neben Simmering raunte einem anderen zu: "Von Blacha hat uns getriezt. Der neue wird uns zwiebeln. Ich kenne Schlettwitz von meinem früheren Kommando." Hein Simmering, von diesen Worten seltsam ergriffen, wandte sich gedankenschwer ab. Da stieß er auf Max Salewski, der hinter ihm gestanden hatte. "Na, Hein", fragte er flüsternd, "wer hat nun recht?" "Du natürlich", gestand Simmering beschämt. "Ein Monokelfritze ist hops, ein anderer kommt. Der Krieg geht weiter." "Nicht mehr lange, mein Junge!" Der Monteur nahm des anderen Arm, zog ihn mit sich fort und sagte zuversichtlich: "Wenn wir uns einig sind . einig bleiben . wird dieser Krieg sogar der letzte gewesen sein."