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Über dieses Buch: Stimmt es eigentlich, dass Menschen über festgefügte Persönlichkeitseigenschaften wie Intelligenz, Angst oder Gedächtnis verfügen? Legen die ersten Lebensjahre wirklich fest, wie sich ein Mensch in seiner Kindheit und Jugend, aber auch später im Erwachsenenalter entwickelt? Orientieren wir uns vornehmlich am Lustprinzip bzw. daran, was uns Erfolg bringt? Das vorliegende Buch, das die Früchte der lebenslangen Forschung eines der Begründer der Entwicklungspsychologie zusammenfasst, geht den einflussreichen Annahmen nach, die hinter solchen psychologischen Konzepten stehen, und zeigt auf, dass sie falsch sind. Indem er einen eindrucksvollen Bogen von kulturgeschichtlichen und philosophischen Überlegungen hin zur psychologischen Erforschung des Menschen spannt, kommt Jerome Kagan auf der Grundlage einer Fülle von empirischen Untersuchungen zu Schlussfolgerungen, die das gewohnte Ideengebäude der Sozialwissenschaften zum Einsturz bringen. Der Autor: Jerome Kagan, seit 1964 Professor an der Harvard University, gilt als einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen unserer Zeit. Einen Namen machte er sich zu Beginn der 60er-Jahre, als er am Fels Research Institute in Yellow Springs das Datenmaterial einer groß angelegten Längsschnittstudie analysierte. Die Forscher hatten Kinder von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter begleitet und festgestellt, dass nicht das Erziehungsverhalten der Mütter über den intellektuellen und emotionalen Werdegang der Kinder entschied. Ausschlaggebend war vielmehr die soziale Schicht, aus der die Familien stammten. Heute gilt Kagans Forschungsinteresse vor allem den Temperamenteigenschaften, wobei er insbesondere die psychischen Auswirkungen untersucht, die sich zwischen gehemmten und impulsiven Kindern finden lassen.
Jerome Kagan
Die drei Grundirrtümer der Psychologie Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Three seductive ideas
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.beltz.de 2. Auflage Beltz Taschenbuch 49 ©1998 by The President and Fellows of Harvard College © der deutschsprachigen Ausgabe: 2000 Beltz Verlag,Weinheim und Basel Lektorat: Claus Koch Umschlaggestaltung: Federico Luci, Köln Umschlagabbildung: Sebastian Picker, The Monument Courtesy of the artist and Arden Gallery Satz: Satz- und Reprotechnik GmbH, Hemsbach Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach Printed in Germany ISBN 3 407 22049 9
unverkäuflich v. 29.8.2005
Inhalt Prolog 7 Kapitel 1 Die Leidenschaft zur Abstraktion 27 Kapitel 2 Der Reiz des Kindheits-Determinismus 153 Kapitel 3 Das Lustprinzip 271 Epilog 349
Anmerkungen 359 Danksagung 381 Personenregister 383
Lasst jeden Forscher der Natur dies als seine Regel nehmen: Wobei immer der Geist mit besonderer Befriedigung verweilt, werde mit Argwohn betrachtet. Francis Bacon, Novum Organum, 1620
Prolog Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind. A. N. Whitehead, 1929
Wenn wir Ende des 15. Jahrhunderts in Europa gelebt hätten, dann wären wir davon überzeugt gewesen, dass Hexen Krankheiten verursachen, dass Kinder durch harte Strafen zum Gehorsam erzogen werden und dass häufiger Geschlechtsverkehr die Lebenskraft des Mannes schwächt und ihm den Weg ins Himmelreich versperrt. Heute, fünf Jahrhunderte später, neigen die noch jungen Wissenschaften vom menschlichen Verhalten zu einer Reihe ähnlich trügerischer Überzeugungen. Dieses Buch prüft kritisch drei dieser potenziell irreführenden Vorstellungen und versucht Gründe dafür zu finden, warum sie sich bleibender Beliebtheit erfreuen. Der erste Irrglaube ist, dass sich die meisten psychischen Prozesse beliebig verallgemeinern lassen. Daher meinen viele, es sei nicht sonderlich wichtig, den untersuchten Forschungsgegenstand – sei es Ratte, Affe oder Mensch – zu spezifizieren oder das Umfeld zu berücksichtigen, in dem das Subjekt handelt – sei es Labor, natürlicher Lebensraum, Arbeitsplatz oder Zuhause –, denn verallgemeinernde Schlüsse lassen sich unabhängig von 7
Forschungsgegenstand und Umfeld ziehen. Beispiele für solch schludriges Denken lassen sich in jeder Fachzeitschrift, insbesondere aber in populärwissenschaft lichen Büchern finden. Beispielsweise wird der Begriff der Intelligenz unterschiedslos auf Tiere, Kinder, Studenten und Software-Programme angewandt. Auf das Vorhandensein dieser Eigenschaft wird geschlossen, wenn Ratten aus Irrgärten herausfinden, wenn Arten überleben, Kinder neue Bilder anschauen, wenn jemand einen großen Wortschatz besitzt, schnell entscheidet, sich lange Zahlenreihen merken und logische Regeln richtig anwenden kann. Dass ein einziger mentaler Prozess für so viele verschiedene Phänomene herhält, muss die Vorstellungskraft des flexibelsten Geists überfordern. Diese freizügige Haltung ist weit verbreitet. Wenn ein Mann sich in einer Schlange rücksichtslos vordrängelt, dann halten wir ihn allgemein für aggressiv und glauben, dass er sich auch zu Hause, im Büro und bei Familienpicknicks ähnlich unleidlich aufführt. Es dürfte kaum überraschen, dass wir sehr viel zurückhaltender urteilen, wenn wir selbst das Gleiche tun. Wenn ich mich in einer Schlange am Flughafen vordrängle, dann werde ich meine Unhöflichkeit als eine untypische Verhaltensweise erklären, die von besonderen Bedingungen verursacht wurde – der ärgerlichen Inkompetenz des Schalterangestellten oder dem Verkehrschaos im Flughafentunnel oder einem plötzlichen medizinischen Notfall zu Hause. Sozialpsychologen bezeichnen diesen Typus asymmetrischer Logik, anderen umfassende konstante Merkmale zuzuschreiben, während das eigene Verhalten auf mo8
mentane Einflüsse zurückgeführt wird, als fehlerhafte Attribuierung. Unsere Vorliebe für umfassende Begriffe wird unübersehbar, wenn wir konkrete Dinge in der Welt benennen. Eine Mutter zeigt auf einen großen, rotblättrigen Ahornbaum und sagt: »Schau mal den Baum an«, nicht: »Schau mal den großen, farbigen Ahornbaum an«. Die Neigung, ein Ereignis möglichst wenig in seiner Eigenart aufzufassen und es deshalb übermäßig zu verallgemeinern, wurzelt wahrscheinlich in der biologischen Natur des menschlichen Bewusstseins und gehört zu den ältesten und bekanntesten Phänomenen in der psychologischen Forschung. Wenn einer Ratte oder einem Menschen ein rotes Lichtsignal geboten wird, dem eine Sekunde später eine Zuwendung folgt – Futter für die Ratte und vielleicht Geld für den Menschen –, wird jeder der beiden Versuchsteilnehmer auf eine Reihe verschiedener Rottöne mit einer konditionierten Erregung reagieren, auch wenn sie nicht genau der Wellenlänge des Rot der ursprünglichen Konditionierung entsprechen. Das menschliche Gehirn – nicht anders als das Gehirn der Ratte – ist ursprünglich darauf gerichtet, Allgemeines statt Besonderes zu beachten. Erst die Erfahrung stutzt unser ursprüngliches Verstehen zurecht. Diese Feinabstimmung ist eines der vielversprechendsten Projekte der empirischen Wissenschaften. In den letzten fünfhundert Jahren verdankt sich ein Großteil des Erfolgs in den Naturwissenschaften dem Umstand, dass Forscher abstrakte Begriffe analysierten und durch 9
Gruppen verwandter, aber voneinander unterschiedener Kategorien ersetzten. Der Kosmos, wie wir jetzt wissen, enthält nicht nur sichtbare Sterne in Galaxien, sondern ebenso die geheimnisvolle undurchdringliche »schwarze Materie«, die sie umgibt. Bei manchen Arten vollzieht sich die Fortpflanzung geschlechtlich, bei anderen ungeschlechtlich und bei wenigen auf beide Weisen. Viren werden von Retroviren unterschieden und Haie sind keine engen Verwandten der Wale. Die Wissenschaft ler haben gerade erst begonnen, die Vorteile der Analyse für kognitive Phänomene fruchtbar zu machen. Zum Beispiel wird die ganzheitliche Kompetenz, die Psychologen einfach als Gedächtnis betrachteten, heute als Summe einer Gruppe von bestimmten Prozessen verstanden, die von verschiedenen Hirnregelkreisen vermittelt werden. Doch trotz dieser wenigen Siege halten zu viele Sozial- und Verhaltenswissenschaft ler an ihrer tiefen Liebe zu umfassenden Begriffsmodellen fest, die da heißen: Lernen, Angst, Depression, Kommunikation, Liebe und Bewusstsein. Und sie vertrauen darauf, dass jeder dieser Begriffe eine kohärente Situation beschreibt, die in der Natur allgemein vorfindlich ist. Das erste Kapitel meines Buches beschäftigt sich eingehend mit diesem Problem, indem es vier populäre Begriffe analysiert, die so unspezifisch gebraucht werden, dass sie nahezu nutzlos sind: Angst, Bewusstsein, Intelligenz und Temperament. Eine zweite verführerische Grundannahme, die unter Forschern des menschlichen Verhaltens verbreitet ist, beruht auf dem Kindheits-Determinismus, der be10
hauptet, dass bestimmte Erfahrungen der ersten beiden Lebensjahre für immer bewahrt bleiben. Eines der bedeutendsten Momente in der kindlichen Entwicklung findet in der Mitte des zweiten Lebensjahres statt: Das kleine Kind sieht, wie ein Erwachsener ein Spielzeug unter einer Decke versteckt hat, es sucht danach und kann es nicht finden. Es sucht unter der Decke und drum herum. Wenn das Spielzeug vor wenigen Sekunden unter der Decke war, und das Kind hat nicht gesehen, wie es wieder weggenommen wurde, dann weiß das Kind, dass es irgendwo sein muss, denn die Dinge verschwinden nicht einfach. Dieses universelle Ereignis, das Jean Piaget »Konstanz der Gegenstände« genannt hat, setzt im menschlichen Bewusstsein den Glauben voraus, dass die Dinge nicht einfach verschwinden, es sei denn, irgendjemand oder irgendwelche Kräfte hätten eingegriffen. Einmal die Universalität dieses Glaubens unterstellt, nimmt es nicht Wunder, dass er sich oft auf psychische Ereignisse in den ersten Jahren des Lebens bezieht: Dinge – in diesem Fall Produkte der frühesten kindlichen Erfahrung – verschwinden nicht so einfach. Für die meisten Menschen erscheint die Grundannahme vernünftig, dass die ersten mentalen Strukturen, die durch Erfahrung gewonnen werden, sich wie ein tiefer Kratzer auf einem Tisch endlos erhalten. Doch in Wahrheit verlieren sich viele frühe Vorstellungen und Verhaltensweisen oder unterliegen einer solchen Verwandlung, dass sie im späteren Leben nicht mehr nachvollzogen werden können – ebenso wenig wie die ersten Pinselstriche eines Seestücks im fertigen Gemälde. 11
Die innere Neugestaltung von Bildern und Vorstellungen, die sich über die Jahre der Entwicklung ergibt, ist den Forschern unzugänglich. Das Gesicht der Mutter verwandelt sich in der Wahrnehmung des Kindes mit jedem Jahr, sodass kein Heranwachsender die frühesten Bilder seiner Ernährerin mehr heraufrufen kann. Ebenso verschwindet das Schreckensgeschrei, das das neunmonatige Baby noch von sich gab, wenn ein Onkel es auf seinen Arm nahm, im zweiten Lebensjahr spurlos. Diese frühen mentalen Ereignisse verlöschen wie die Schriftzüge im Meeressand, wenn die Flut kommt. Wie das zweite Kapitel darlegen wird, ist das Verschwinden frühester Strukturen ebenso wahrscheinlich wie ihr Erhalt, und dies gilt für die Evolution, das psychische Wachstum und die Sprache. Drei Autoren haben vor sechzig Jahren den Eltern weisgemacht, dass der Schönheitssinn der Erwachsenen im ersten Lebensjahr entscheidend vorgeprägt würde. Andere Autoren rieten Eltern, ihre Kinder bloß nicht mit ins Kino zu nehmen, wenn sie denn nicht wollten, dass die Kinder Schäden davontrügen. Leser, die solche Anschauungen für überholt halten, sollten die Ausgabe des Time-Magazins vom 3. Februar 1997 lesen. Die Titelgeschichte, »Wie sich das Gehirn eines Kindes entwickelt«, hat wahrscheinlich viele berufstätige Eltern beunruhigt, denn darin wurde behauptet, dass eine Mutter, die nicht zu Hause bleibt, um mit ihren Kindern zu spielen, die zukünftige seelische Unversehrtheit ihrer Kinder aufs Spiel setze. »In einer Zeit, in der die Eltern zunehmend unter Zeitdruck stehen …, lassen neuere Forschungser12
gebnisse es riskant erscheinen, Kinder in frühestem Alter in die Obhut anderer zu geben. Denn die wissenschaft lichen Erfahrungswerte unterstreichen die Bedeutung der Nähe zu den Eltern: Zeit zum Schmusen mit dem Baby zu finden, mit dem Kleinkind zu reden, die Kinder anzuregen.«1 Den gleichen Rat predigten schon vor zweihundert Jahren die Pfarrer sonntags in amerikanischen Kirchen, und er ist immer noch geeignet, vollkommen kompetenten Eltern Angst und Unsicherheit einzujagen. Natürlich sind Kinder, die vernachlässigt oder missbraucht werden, mit denen nur selten gespielt wird, in ihrer psychischen Entwicklung ernsthaft zurückgesetzt oder behindert. Ob die Behinderung oder Spätentwicklung bestehen bleibt, auch wenn das soziale Umfeld sich verändern sollte, ist schon weniger klar. Doch die meisten Eltern, die ihr Kind verwahrlosen lassen oder es gar missbrauchen, lesen nicht Time, während die überwältigende Mehrheit, die das Magazin liest, ihren Kindern die nötige Liebe und Anregung zukommen lässt. Es ist verlogen, ihnen in einer Sciencefiction-Sprache zu erzählen, dass jedes Mal, wenn das Baby in ihre lächelnden Gesichter aufschaut, »kleine elektrische Ströme durch ihr Hirn schießen, die Neuronen zu unveränderlichen Netzen verknüpfen, nicht anders als Informationsschaltkreise in Silikon-Chips eingeprägt werden«. Obwohl der Artikel schließlich zugeben musste, dass Kinder sehr wohl mit den Jahren neue Prägungen erfahren, lag das übertriebene Gewicht des Textes vor allem auf dem, was wir genügsam kennen. 13
Es gibt gute Gründe, warum viele an die Erhaltung früher Strukturen glauben. Erstens führt der KindheitsDeterminismus die Illusion des Mechanischen mit sich. Es ist einfacher, eine kausale Erklärungskette zu behaupten, wenn jede neue Qualität auf etwas aufbaut, das ihr vorhergeht und substanziellen Anteil an ihr hat, als wenn ein neues Verhalten plötzlich auftaucht, hervorgerufen durch ein traumatisches Erlebnis oder Reifungsschritte im Gehirn. Zweitens folgt aus dem Glauben an einen Kindheits-Determinismus, dass das, was Eltern im Frühstadium des Kindes tun, Sinn und Nutzen für später hat. Wenn die Eigenschaften des Erwachsenen erst in der späteren Kindheit angelegt werden, dann erscheinen die ersten Lebensjahre ohne besonderen Zweck. Doch ein dritter und vielleicht der gewichtigste Grund, warum Amerikaner an die Erhaltung der frühen Strukturen glauben, hat damit zu tun, dass diese Auffassung sich im Einklang mit dem Gleichheitsprinzip befindet. Jede historische Periode wird von einem bestimmten philosophischen Grundsatz beherrscht, von einem intellektuellen Zaun eingegrenzt, an dem die meisten Forscher nicht rütteln wollen. Vom frühen Mittelalter bis ins achtzehnte Jahrhundert haben sich Philosophen und Naturforscher vor Schlussfolgerungen gehütet, die der Bibel widersprachen. Zwar machen sich nur noch wenige zeitgenössische Wissenschaft ler Gedanken darüber, welche Implikationen ihre Arbeit für die christliche Glaubenslehre hat, aber eine Mehrheit beschäftigt sich sehr wohl damit, welche Folgen ihre Entdeckungen für das ethische Gleichheitsprinzip haben, und insbeson14
dere auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung lässt diese Furcht die Doktrin vom Kindheits-Determinismus attraktiv erscheinen. Wenn die Gesellschaft für alle Kinder wachstumsfördernde Bedingungen organisieren könnte und wenn die daraus resultierenden psychologischen Erfolge sich trotz der Fallschlingen und Gefährdungen des späteren Lebens konservieren ließen, dann würden wir uns vielleicht dem Ideal einer Gesellschaft von Gleichen annähern. Doch wenn andererseits trotz einer behüteten Kindheit die Zurücksetzung durch Armut oder Vorurteile in der Adoleszenz psychische Brüche zur Folge hat, so wird dadurch das Gleichheitspostulat infrage gestellt. Auf diese Weise fördert der Gedanke an eine funktionierende Gemeinschaft, der sich um die Idee der Gleichheit rankt, jene Grundannahme einer frühkindlichen Bestimmung. Eine gewisse Treue zur Doktrin vom Kindheits-Determinismus wird auch durch die Vielschichtigkeit des Phänomens begünstigt, das wir erklären wollen. Solange erwachsene Eigenschaften, die (so die Annahme) von kindlichen Erfahrungen determiniert werden, allgemein gefasst bleiben – wie »gut angepasst« oder »geistig gesund« –, können wir der Behauptung nichts entgegensetzen, dass frühkindliche Erfahrungen mitverursachend sind. Solange die Anhänger des Kindheits-Determinismus unfähig sind, ein spezifisches Ergebnis als Folge einer bestimmten Klasse von Kindheitserfahrungen anzugeben – sagen wir Tierphobie, Introversion, Selbstmord, Drogenmissbrauch oder Schulversagen –, ist es außerordentlich schwer, die Hypothese zu überprüfen. 15
Biologen gehen in der Regel den umgekehrten Weg. Sie beginnen mit stabilen, beobachtbaren Ergebnissen und versuchen sie dann zu erklären. Das Verhältnis von runzligen zu glatten Erbsen in Mendels Herbarium führte zu der Idee von den Genen als Träger der Vererbung. Schlecht gewordener Wein war ein Faktum, welches Pasteur die Existenz von Mikroben postulieren ließ. In diesen und anderen Beispielen gingen die Tatsachen den Erklärungsmodellen voraus. Zu viele Forscher, die sich mit der menschlichen Entwicklung beschäftigen, kehren diese Reihenfolge um, indem sie für etwas Gründe postulieren – wie das Spiel mit einem Kind –, bevor sie spezifizieren, was sie eigentlich damit erklären wollen. Kein ernsthafter Forscher auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklung wird an der Feststellung zweifeln, dass die sozialen Erfahrungen in den ersten beiden Lebensjahren zu einem gewissen Grade den Charakter des Kindes prägen, das wir an seinem zweiten Geburtstag sehen. Kinder, die vernachlässigt wurden, sind offensichtlich nicht so aufgeweckt, der Sprache mächtig und begeisterungsfähig wie diejenigen, die mit verlässlicher Liebe, Zuwendung und spielerischen Anregungen aufgewachsen sind. Doch das Profil, das uns bei einem Zehnjährigen begegnet, ist das Resultat eines ganzen Jahrzehnts von Erfahrungen und nicht nur der ersten beiden Jahre. Wenn zweijährige Kinder, die in weniger stimulierenden Umwelten leben, sich plötzlich in entwicklungsfördernde Familien versetzt finden, erweitert sich ihr Bewusstsein schnell. Es ist ungerecht, ungebildeten Müttern, die in Armut leben, einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie nicht so oft 16
mit ihren Kindern spielen und sprechen, wie sie es sollten. Wenn diese Mütter wüssten, dass sie mit ihrem Verhalten ihrem Kind Schaden zufügen, würden sie es ändern. Das Problem ist ihr mangelndes Bewusstsein dafür, dass sie sich tätig am Wachstum ihrer Kinder beteiligen können; viele von ihnen überlassen alles dem Schicksal. Ihnen ist besser geholfen, wenn man ihren Fatalismus dämpft, statt ihren Charakter in Zweifel zu ziehen. Das zweite Kapitel stellt den Glauben an den Kindheits-Determinismus infrage und beschreibt drei bedeutende Einflüsse, die erst in der Spätphase der Kindheit eine Rolle spielen. Das letzte Kapitel des Buchs widmet sich der – unter Psychologen und Ökonomen verbreiteten – Annahme, dass die meisten menschlichen Handlungen sinnliche Befriedigung zum Ziel haben. Philosophen dagegen geben einem anderen Motiv den Vorrang – dem universellen Wunsch des Menschen, dass das Selbst gute Eigenschaften besitze. Es sind mehr philosophische Bücher über Moral geschrieben worden als über jedes andere Thema, weil sie ein einzigartiges und unvergleichliches Charakteristikum unserer Spezies ist. Jede Spezies ererbt Entwicklungsmöglichkeiten, welche die Aneignung spezifischer Fähigkeiten besonders leicht machen. So entsteht das Sprechen bei den Menschen von selbst, während das Lesen in der Regel einer besonderen Anleitung bedarf. Ebenso leicht fällt den Menschen die Anwendung der symbolischen Begriffe »gut« und »schlecht« auf Erfahrungen und diese Disposition prägt unsere Handlungen, Überzeugungen und Empfindungen. Jemand, der gefragt wird, warum er Schokoladenku17
chen bestellt, wird vielleicht das angenehme Geschmackserlebnis beschreiben, das dieses Dessert ihm bereitet, doch wenn er gefragt wird, warum er seine Ferien abgebrochen hat, um seine Mutter im Krankenhaus zu besuchen, enthält seine Antwort »weil ich musste« keinerlei Bezug auf irgendein sinnliches Vergnügen. Diejenigen, die nur minimale Schuldgefühle empfinden, erkennen, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist. Eine Mörderin, die auf Bewährung haftentlassen war, berichtete einem Interviewer: »Ich hatte nie ein sonderlich starkes Gefühl zu sündigen … irgendwie wurde ich, als die Schuld verteilt wurde, wohl ausgelassen.«2 Das einzige konkurrierende Motiv, das Wissenschaftler gegen die Empfindung eines moralischen Imperativs ins Feld führen, ist, dass alle vom Willen gesteuerten Handlungen entweder auf die Maximierung von Lust oder die Minimierung von Schmerz abzielen. Indem der Behaviorismus und die Psychoanalyse Anhänger gewannen, wurde der Glaube des 19. Jahrhunderts, dass ein Kind zwischen Recht und Unrecht unterscheiden und mit seinem Willen Ersteres vermehren könne, durch die Vorstellung ersetzt, dass alle moralischen Werte konditionierte, durch Lob und Strafe erworbene Verhaltensweisen seien. Demnach hatten die Menschen weniger Entscheidungsfreiheit, als sie glaubten. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die meisten wissenschaft lichen Erklärungen des moralischen Verhaltens von dieser deterministischen Philosophie beherrscht. In der Antike hätte man eine solch düstere, roboterhafte Definition des menschlichen Gewissens nicht verstanden. 18
Obwohl jedermann zur Gruppe der »Gutmenschen« gehören will, je nachdem was er darunter versteht, ist dieses Streben durchaus für dunkle Mächte anfällig. Philosophen, Romanciers und Dramatiker, die diese Anfälligkeit darstellen oder ergründen wollten, stießen regelmäßig auf die Schwierigkeit, die richtige Balance zwischen dem Löwen und dem Lamm in jedem Menschen zu finden. Sozialwissenschaftler haben auf den Willen, eigene Interessen durchzusetzen, und auf den Drang nach sinnlicher Befriedigung zu viel Nachdruck gelegt und das universelle Bedürfnis nach Freundlichkeit, Treue und Güte zu wenig beachtet. Dieses Kapitel möchte nicht mit philosophischen Werken in Wettstreit treten, indem es eine Art von Ethik gegen die andere ausspielt, vielmehr gehe ich nur der Frage nach, warum Menschen überhaupt ethische Positionen vertreten. Jedes Kapitel illustriert ein grundlegendes psychologisches Prinzip. Der leitende Gedanke in Kapitel 1 heißt zusammengefasst, dass alles Verhalten des Einzelnen von seiner psychischen Konstruktion der unmittelbar gegebenen Situation abhängt, welche wiederum von den Objekten und Personen im Wahrnehmungsfeld beeinflusst wird und von Erinnerungen sowohl der nahen wie der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Zum Beispiel wird, wenn ein College-Student in einem Fragebogen gefragt wird: »Sind Sie glücklich?« eine zustimmende Antwort wahrscheinlicher sein, wenn er nicht kurz zuvor gefragt wurde: »Wie oft haben Sie sich im letzten Monat mit einer Frau getroffen?« Ein Kind, das vor einem fremden Erwachsenen schüchtern ist, amüsiert sich spontan mit 19
fremden Kindern. Das erste Kapitel behauptet, dass einige Sozialwissenschaftler durch das Absehen von spezifischen Einflüssen auf das Verhalten dazu verführt werden, psychische Prozesse so zu beschreiben, als seien sie wie die Finger oder Zehen, die jedermann von einer Situation in die nächste mitnimmt. Kapitel 2 geht von der Überlegung aus, dass Ereignisse, die sich deutlich von der bisherigen Erfahrung abheben oder von dem, was erwartet wurde, die wichtigsten Anlässe für Gedanken, Gefühle und Handlungen sind. Überraschungen rufen Interpretationen hervor, und Interpretationen sind die entscheidenden Determinanten dafür, was gefühlt, erinnert und unternommen wird. Ein Kind, das ständig wegen seines Schreiens ausgeschimpft wird, gewöhnt sich an diese Art der Strafe; ein Kind, das die meiste Zeit nicht geschimpft wird, reagiert viel empfindlicher darauf, wenn die Eltern es unerwartet wegen seines Zulautseins schelten. Menschen vergleichen sich fortwährend mit anderen und die Ergebnisse dieser Vergleiche prägen ihre Ansichten über sich selbst. In einer Stadt, in der jeder bettelarm ist, hat Armut sehr viel weniger ernste psychische Folgen als in einer Stadt, in der nur eine Minderheit davon betroffen ist. Dieses Prinzip hat Einfluss auf den Kindheits-Determinismus, denn Kinder vergleichen ihre persönlichen Eigenschaften nicht systematisch mit denen anderer, bevor sie fünf oder sechs Jahre alt sind. Diese Tatsache ist ein wichtiger Grund dafür, warum Ereignissen in den ersten beiden Lebensjahren weniger Bedeutung zukommt als Psychologen oder die Medien behauptet haben. Und 20
im Fortgang späterer Erfahrungen prägen verschiedenste Ereignisse kontinuierlich das psychische Profil der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen. Die Einsicht, die Kapitel 3 zugrunde liegt, besagt, dass Menschen eher dazu neigen, die verschiedenen negativen Gefühle zu vermeiden, die einem Verlust folgen, als die verschiedenen Glücksgefühle zu erlangen, die mit dem Erreichen eines erwünschten Ziels verbunden sind. Schlicht gesagt, die meisten Menschen scheuen das Risiko. Anleger halten gewöhnlich viel zu lange ihre an Wert verlierenden Aktien fest und ziehen Investitionen, in denen das Verlustrisiko gering ist, solchen vor, die große Gewinne versprechen. Wenn Menschen zu wählen haben zwischen der Vermeidung zukünftiger Traurigkeit, Angst, Scham oder Schuld oder dem Erlangen solcher Glücksgefühle, wie sie mit dem Besitz von Macht, Reichtum oder sexueller Befriedigung einhergehen, entscheiden sich die meisten, was nicht hinreichend gewürdigt wird, für das Erstere, denn die Dysphorie hält in der Regel länger an als das Lust- oder Glücksgefühl. Das Vermeiden von Verhaltensweisen, die Schuld oder Scham zur Folge haben, leistet einen Grundbeitrag – Thomas von Aquin nennt es ein Vermögen – zur Tugend, auf der die menschliche Moral beruht. Die drei Kapitel vertreten gemeinschaftlich die Ansicht, dass der Homo sapiens über eine kleine Anzahl einzigartiger Eigenschaften verfügt, die sonst in keinem Tier gefunden werden können. Einzigartigkeit ist in der Biologie nichts Ungewöhnliches. Schlangen häuten sich, Hunde nicht; Bären halten Winterschlaf, Katzen nicht; Affen bil21
den hierarchische Gemeinschaften, Mäuse nicht. Menschen können Schuld, Scham und Stolz empfinden, sie antizipieren Geschehnisse, die in ferner Zukunft liegen, sie erfinden Metaphern, sprechen Sprachen, denen eine Grammatik zugrunde liegt, und denken über hypothetische Umstände nach. Kein anderes Tier, auch nicht der Affe, besitzt diese Kombination von Fähigkeiten. Wie dem auch sei, ein großer Teil wichtiger, informationsträchtiger Forschung wird an Tieren durchgeführt, und die Wissenschaft ler spüren einen beträchtlichen gesellschaftlichen Druck, die Erkenntnisse, die sie an Tieren gewonnen haben, verallgemeinernd auf den Menschen anzuwenden. Diese Strategie ist bei vielen Phänomenen Erfolg versprechend. Gesicht und Gehör sind zum Beispiel bei Affen und Menschen sehr ähnlich. Doch ähnlich gesicherte Verallgemeinerungen taugen durchaus nicht für alle menschlichen Eigenschaften. Nur Menschen entfalten symbolische Rituale, wenn sie einen der Ihren begraben, zeichnen auf Höhlenwände, vertreten verschiedene Ansichten über das Selbst und den Ursprung der Welt und machen sich Gedanken über die Treue zu ihrer Familie. In diesem Sinne ist es notwendig, die Verallgemeinerbarkeit verschiedener geläufiger psychologischer Konzepte zu überprüfen, die in erster Linie auf Tierforschung beruhen, um zu entscheiden, welche Extrapolationen zu weit gegangen sind. Ich habe den Verdacht, dass viele dieser Extrapolationen sich als bedenklich unzutreffend erweisen werden, nicht anders als Don Quijotes Überzeugung, dass er gegen Riesen und nicht gegen Windmühlenflügel kämpfte. 22
Obwohl bereits die alten Griechen und Römer darüber nachdachten, welche Eigenschaften das menschliche Wesen definieren, ist der systematische Empirismus in der Psychologie nur knapp über hundert Jahre alt, und das Verstehen steckt notwendigerweise noch in den Kinderschuhen. Wenn wir Galileos Entdeckungen als den Beginn des systematischen Experimentierens in den Naturwissenschaften gelten lassen wollen, dann hinken die Sozial- und Verhaltenswissenschaften um dreihundert Jahre hinterher und befinden sich vergleichsweise dort, wo die Physik im siebzehnten Jahrhundert stand. Robert Boyles »Der skeptische Chymist«, geschrieben 1661, kritisierte eingehend die wissenschaft lichen Vorstellungen seiner Zeit. Boyle erkannte zum Beispiel eines Tages, dass die Asche, die von einem Holzscheit übrig bleibt, nachdem es verbrannt ist, nicht in ihm vorhanden war, bevor er in den Kamin gelegt wurde. »Drei Grundirrtümer der Psychologie« wurde mit Boyles’ Skeptizismus geschrieben. Meine Schlussfolgerungen – dass viele psychische Prozesse nicht für umfassende Verallgemeinerungen taugen; dass die meisten Eigenschaften von Erwachsenen nicht durch Erfahrungen der ersten beiden Lebensjahre determiniert sind; und dass die überwiegende Mehrheit unserer täglichen Entscheidungen mit dem Ziel getroffen wird, ein Gefühl der Tugendhaftigkeit zu erlangen oder zu erhalten – fordern Grundannahmen heraus, die bis zu den philosophischen Voraussetzungen der zeitgenössischen Sozial- und Verhaltenswissenschaften reichen. Dass ich diese drei Themen ausgewählt habe, sollte nicht überraschen. Ich bin 23
ein Entwicklungspsychologe, und abstrakte Begriffe wie Temperament, Angst, Zuneigung und Intelligenz sind in der Forschung der Kindheitsentwicklung weit verbreitet. Mehr noch nimmt in diesem Fachgebiet die Diskussion über die deterministische Rolle der frühkindlichen Erfahrungen einen zentralen Raum ein. Und schließlich ist das universelle Auftreten eines moralischen Wertebewusstseins im zweiten Lebensjahr für alle, die Kinder erforschen, so unübersehbar, dass man es schwerlich ignorieren kann. Ein Wissenschaft ler, der nur College-Studenten untersucht, würde vielleicht mit der Aussage von Van Quine, einem der weltweit anerkanntesten Philosophen, übereinstimmen, dass das menschliche Bewusstsein wesentlich ein gesellschaftliches Produkt ist, das sich mittels Zuckerbrot und Peitsche entwickelt. Doch niemand, der die Nervosität im Gesicht eines Dreijährigen gesehen hat, der an einer schwierigen Aufgabe scheitert, oder ein kleines Kind vor einem schmutzigen Kleidungsstück auf dem Laborfußboden »Pfui« sagen gehört hat, wird diese Behauptung überzeugend finden. Eine Infragestellung dieser drei Prämissen muss starke Widerstände überwinden. Vier Bedingungen sind es, die die Bindung an einen bestimmten Glauben begünstigen. Die unmittelbar einleuchtendste ist der Fundus an schlicht unbestreitbaren Tatsachen, die durch Beobachtung und Experiment gewonnen wurden. Newtons Zeitgenossen wussten, dass ein Stein umso weiter fliegt, je größer die Kraft ist, mit der er geworfen wird. Infolgedessen erfuhr Newton, als er die Gleichung aufstellte, die dieses unbestreitbare Faktum auf eine Formel brachte, 24
wenig Widerstand. Ebenso zwingend ist die Kraft der logischen Argumentation. Eltern akzeptierten die Impfung ihrer Kinder mit einem Bakterium oder Virus als prophylaktische Maßnahme, nachdem ihnen die Logik der Antigen-Antikörper-Interaktion sinnvoll erklärt worden war. Die Leichtigkeit, mit der sich jemand eine Erklärung bildlich vorstellen kann, unterstützt die Aufnahmefähigkeit. Dass die Nahrungsmittel, die wir zu uns nehmen, unsere Stimmung beeinflussen können, ist leicht vorzustellen, aber davon, dass unsere Gene dasselbe tun, kann man sich viel schwerer ein Bild machen. Und schließlich sind wir alle für Erklärungen dankbar, die mit unseren ethischen Grundüberzeugungen übereinstimmen – was wir für wahr und richtig halten wollen. Die Portugiesen, die im sechzehnten Jahrhundert Sklaven von Westafrika nach Brasilien verschifften, beruhigten ihr Gewissen mit dem Glauben, dass Gott die europäischen Christen zivilisierter und tugendhafter erschaffen hätte als die Schwarzen, die sie ausbeuteten. Eine Kritik der Vorstellungen, die sich in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften großer Beliebtheit erfreuen, kann aus den ersten beiden Bedingungen keinerlei Honig saugen und wird von den beiden letzteren schwer an ihrer Entfaltung gehindert. Es gibt keinen großen Fundus an einwandfreien und in Wechselbeziehung stehenden Tatsachen auf dem Gebiet menschlicher Gefühle, frühkindlicher Erfahrungen und moralischer Verhaltensweisen, der sich zu kraft vollen logischen Argumenten verdichten lässt. Überdies entziehen sich psychische Prozesse wie die Gleichungen der Quantenme25
chanik jeder Bildlichkeit. Konfrontiert mit dem Mangel an Tatsachen, an eingängiger Logik und Visualisierbarkeit fallen Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler gleichermaßen auf bequeme Erklärungen zurück, die ihren ethischen Standards entsprechen. Der Erfolg des Kindheits-Determinismus basiert zum Beispiel nicht auf Logik oder einer reichen Basis von Fakten, sondern vielmehr darauf, dass er mit den bestehenden moralischen Ansichten bestens übereinstimmt. Eine Kritik jener drei Konzepte ist notgedrungen philosophischer Natur. Leider haben philosophische Argumente im letzten halben Jahrhundert an Überzeugungskraft verloren, da technisch komplexe und ausdrücklich nicht-intuitive Entdeckungen in den Naturwissenschaften, in denen eine Explosion von Informationen mit historischen und kulturellen Umwälzungen einherging, Zweifel an der Möglichkeit objektiven Erkennens geweckt haben. Als Folge davon sind viele Leute Pragmatiker geworden. Was immer am besten funktioniert – und das heißt zumeist, was für das Gefühl am besten ist –, wird gewöhnlich der philosophischen Kritik als Entkräftung entgegengehalten. Doch die Sozial- und Verhaltenswissenschaften haben nicht die dramatischen theoretischen und methodischen Fortschritte erlebt, die die beiden letzten Jahrzehnte in der Biologie, Chemie und Astrophysik kennzeichnen, und infolgedessen haben sie auch nicht solche Erfolge vorzuweisen. Ein Grund für ihre Erstarrung ist der Widerstand dagegen, sich kritisch mit den drei Fragen auseinander zu setzen, die Gegenstand dieses Buches sind.
Kapitel i Die Leidenschaft zur Abstraktion Wenn ein Mensch, ein Teller oder eine Pappel zu Boden stürzt, ist unsere sprachliche Beschreibung des Vorgangs normalerweise korrekt, und fast jeder, der uns zuhört, versteht, was wir sagen wollen. Aussagen wie »Mary hatte Streit mit ihrer Schwiegermutter« sind weniger klar, denn der Grund und die Intensität des Streits bleiben unbekannt; trotzdem werden die meisten Erwachsenen eine ähnliche Vorstellung davon haben, was vorgefallen ist. Doch das gemeinsame Verstehen lässt schnell nach, wenn es um unsichtbare Eigenschaften geht, die großen Gruppen von Menschen, Tieren oder Gegenständen zugeschrieben werden. Dies sind die Aussagen, mit denen die Wissenschaft operiert. Was die wissenschaft liche Sprache von der gewöhnlichen Kommunikation unterscheidet, ist der Gebrauch von Begriffen, die hypothetische Ereignisse beschreiben, welche nicht unmittelbar stattfinden, aber zur Erklärung tatsächlicher Ereignisse herangezogen werden. Schwierigkeiten tauchen indessen auf, wenn Psychologen, Soziologen, Ökonomen und andere aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften abstrakte Begriffe für verborgene psychologische Prozesse verwenden. Oft geben die Begriffe keinen präzisen Aufschluss über das handelnde Subjekt, über die Situation, in der es handelt, und über
die Quelle der Erkenntnis, die eine solche Zuschreibung veranlasst. Alle drei sind für das Verstehen wesentlich. Ob es sich bei dem Phänomen um Lernen, Kommunikation, Depression, Externalisierung, Extraversion, Kooperation, Vermeidung, Angst, Regulierung oder Erinnerung handelt, neigen Wissenschaft ler, die tierisches und menschliches Verhalten studieren, zum Gebrauch von Begriffen, die nahe legen, dass ein psychologischer Prozess im Wesentlichen gleich abläuft, unabhängig davon, dass es um verschiedene Subjekte in voneinander abweichenden Situationen geht. Und sie weigern sich strikt, den einzelnen abstrakten Begriff durch eine Reihe von zusammenhängenden, aber spezifischen Begriffen zu ersetzen, die der Natur genauer entsprechen. Beispiele für diese Leidenschaft zur Abstraktion gibt es in Hülle und Fülle, in populärwissenschaft lichen Werken nicht anders als in der Fachliteratur. Zum Beispiel geht ein neues Buch über Kooperation davon aus, dass Insekten, Fische, Vögel, Affen und Menschen alle ein bestimmtes Verhaltensmuster (»Kooperation«) aufweisen, das sich aus einem gemeinsamen evolutionären Mechanismus herleitet. Ähnlich kamen die Autoren eines Aufsatzes, der kürzlich in einer der führenden psychologischen Zeitschriften zu lesen stand, aufgrund einer Laboruntersuchung von Studenten, die um Geld spielten, zu dem Schluss, dass »die Leute den Einsatz wählen, der am wenigsten negative Gefühle auszulösen verspricht«.1 Eine solche leichtfertige Feststellung ignoriert das Alter, den sozialen und ethnischen Hintergrund der Untersuchungspersonen, die spezifische Spielsituation, die
Künstlichkeit der Laborbedingungen und die jeweiligen Emotionen der Studenten. Durch den Gebrauch des Adjektivs »negativ« scheinen die Autoren uns sagen zu wollen, dass es von keiner sonderlichen Bedeutung sei, ob die Spieler Schuld, Scham, Angst, Ärger, Beklemmung oder Langeweile empfanden. Die entgegengesetzte Ansicht, die von Alfred North Whitehead und Ludwig Wittgenstein vertreten wurde, hält es für unabdingbar, dass jede Beschreibung eines Phänomens sowohl das Ereignis selbst als auch die Bedingungen, unter denen die Beobachtung zustande kam, berücksichtigen muss. Whitehead warnte davor, dass es keine Garantie dafür gebe, dass ein bestimmter Begriff immer »den unmittelbaren Ausdruck einer Erfahrung« darstelle. Die psychische Verfassung einer fliehenden Maus, eines grimassierenden Affen und eines verunsicherten College-Studenten sind verschieden genug, um uns vor der Annahme zu hüten, dass sich alle drei in einer ähnlichen psychischen Situation befänden. Wittgensteins Metapher für den ungenauen Gebrauch der Sprache war die von einem Paar zu enger Schuhe, die das Objekt deformieren, dem sie eigentlich passen sollten.2 Dieses Kapitel untersucht vier verbreitete, wenngleich strittige psychologische Begriffe, die jene Gewohnheit der ehrgeizigen Verallgemeinerungen illustrieren. Es sind dies Angst, Bewusstsein, Intelligenz und Temperament – hinter jedem dieser Wörter verbirgt sich eine ganze Gruppe verschiedener Phänomene, die sich besser mit Familien von zusammengehörigen, aber klar vonei29
nander geschiedenen Begriffen beschreiben ließen. Ich wähle diese vier Oberbegriffe aus einer viel größeren potenziellen Menge aus, weil zwei davon – Angst und Bewusstsein – erst vor kurzem Gegenstand eingehender Forschungen von Neurologen bzw. Neuropsychologen geworden sind, die den alten Wörtern eine neue Bedeutung zu geben versuchen. Die anderen beiden – Intelligenz und Temperament – habe ich ausgesucht, weil sie sich gegenwärtig im Zentrum intensiver Debatten in der akademischen Welt wie auch außerhalb davon befinden. Nach einer kurzen Zeit relativer Stille um die Wichtigkeit des IQ provozierte die Veröffentlichung der Autoren Richard Herrnstein und Charles Murray The Bell Curve 1994 eine breite gesellschaft liche Diskussion über den Sinn und Unsinn dieses Konzepts. Ähnlich ist nach siebzigjähriger Abwesenheit der Begriff des Temperaments zu neuen Ehren gekommen und fordert ältere Theorien der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie heraus, die den Einfluss der Biologie auf die Persönlichkeit leugnen. Alle vier Begriffe beziehen sich auf Phänomene, die heute von wesentlichem Interesse sind. Doch weil jedes der Worte ohne Spezifizierung – sei es der Art des untersuchten Gegenstands, sei es des Kontexts der Manifestation – benutzt wird, kann es nur partielle Einsicht in die Phänomene gewähren, die wir verstehen wollen.
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Furcht und Angst Stellen Sie sich einen Psychologen vor, der 1.000 Menschen zwei Dutzend Fragen beantworten lässt, die ihre Ängste, Befürchtungen und Sorgen betreffen. Die Themenpalette reicht von Geld, Status, Freunden, Gewalt, öffentlichem Reden, Fremden über Krankheit, Tod und Albträume bis zu Unwettern, Tieren und der Zukunft der Kinder. Zu jeder Frage kann man Ja oder Nein ankreuzen. Über zwei Drittel der Teilnehmer bejahen weniger als drei Fragen, aber 15 Prozent geben bei mehr als zehn Fragen eines der genannten Gefühle zu. Diese 150 Personen unterscheiden sich in Alter, Geschlecht, sozialem Herkommen, ethnischer Zugehörigkeit und aktueller Lebensbelastung und sie machen sich wegen verschiedener Dinge Sorgen. Eine der Befragten ist unverheiratet, arm, 35 Jahre alt, allein erziehend, Mutter von drei Kindern und wohnt in einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate in einer Großstadt; ein anderer Befragter ist 45 Jahre alt und hat Magenkrebs; und eine Dritte, eine 25-jährige Frau aus wohlhabender Familie, hat soeben ihren Universitätsabschluss in Jura gemacht. Die Bedingungen ihres Lebens könnten verschiedener kaum sein, doch die verschiedenen Motive, die ihren Ängsten und Besorgnissen zugrunde liegen, gehen verloren, wenn der Psychologe alle drei als »ängstlich« einstuft. Fast die Hälfte der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung berichtet wenigstes einmal in ihrem Leben von Depressionen, Angst, Alkoholsucht oder Drogenmissbrauch, 31
und diese psychischen Probleme treten am meisten bei Eltern auf, die mit kleinen Kindern in wirtschaftlicher Not leben. Es bedarf keiner sonderlichen Weisheit, um verstehen zu können, dass sich diese Erwachsenen begründete Sorgen über die Zukunft ihrer Familien machen und dass einige von ihnen zeitweise Depressionen bekommen oder zu Alkohol greifen, um mit dem Druck in ihrem Alltagsleben fertig zu werden.3 Sozialphobien sind ebenfalls unter denen besonders verbreitet, die ein geringes Einkommen und wenig Zugang zur Bildung haben. Ein Psychologe diagnostiziert dann Sozialphobie, wenn ein Patient sich unter Fremden so unwohl fühlt, dass er gesellschaftliche Treffpunkte wie etwa Restaurants meidet, wo Fremde sein Verhalten beobachten und bewerten können. Arme, wenig gebildete Frauen aus ländlichen Gegenden würden sich sehr wahrscheinlich in ähnlicher Weise beschreiben, sodass die Diagnose einer »Sozialphobie« auf sie angewendet werden könnte.4 Dennoch kann es kaum jemanden überraschen, wenn eine zwanzigjährige Schulabbrecherin, die sich ihrer mangelnden Bildung, ihres Aushilfsjobs und ihrer sozialen Stellung schämt, Menschen, die mehr Geld und Bildung besitzen, aus dem Weg geht. Eine Ärztin hingegen, die sich vor Fremden fürchtet, wird wahrscheinlich eine andere Geschichte und einen anderen psychischen Hintergrund aufweisen; doch wird beiden Frauen die gleiche Diagnose gestellt. Die Bedeutung des Wortes »ängstlich« ist nicht die gleiche wie die des Adjektivs »blauäugig«, denn seine Bedeutung kann variieren, wenn es auf Menschen verschiedener ethnischer oder nationaler Zu32
gehörigkeit angewendet wird, die unter verschiedenartigen Verhältnissen gelebt haben. Die meisten Forscher, die »Angst« (anxiety) oder »Furcht« (fear) untersuchen, benutzen Antworten auf standardisierte Fragebögen oder Antworten auf Fragen, die ein Interviewer gestellt hat, um zu entscheiden, welche ihrer Untersuchungspersonen ängstlich sind oder Furcht haben. Eine kleinere Zahl von Wissenschaft lern macht sich die Mühe, bei nahen Freunden und Verwandten nachzufragen, um herauszufinden, wie ängstlich die untersuchte Person wirklich ist. Eine noch kleinere Gruppe misst den Herzschlag, den Blutdruck, die galvanische Hautreaktion, den Kortisolspiegel im Speichel. Unglücklicherweise stimmen diese drei Informationsquellen selten überein. Viele Erwachsene, die eine deutliche Zunahme der Herzfrequenz und Schweißausbrüche auf den Handinnenflächen zeigen, während ihnen Dias von gefahrvollen Szenen gezeigt werden, bestreiten, dass sie beim Ansehen der Bilder Angst oder Furcht empfinden. Und viele, die von Freunden als ängstlich eingestuft werden, zeigen keinerlei Zunahme der Herzfrequenz oder Schweißausbrüche auf den Handinnenflächen, wenn sie Bilder von gefährlichen Szenen anschauen. Jede Art des Zugangs zur Frage: »Wer hat Angst?«, zeitigt andere Ergebnisse. Die historische Entwicklung hat eine früher übliche Unterscheidung zwischen Furcht und Angst untergraben. Der Unterschied zwischen beiden lässt sich am besten herausarbeiten, wenn wir zwei emotionale Zustände miteinander vergleichen: den beim Versagen der Brem33
sen, wenn man mit 80 Stundenkilometern auf einen Lastwagen zubraust, der vor einer roten Ampel steht, mit dem, der einem wichtigen Vorstellungsgespräch vorhergeht, das in der nächsten Wochen stattfinden wird. Beide Gefühle weichen nicht nur in der Intensität und Qualität voneinander ab, sondern auch im gedanklichen, auf die Zukunft gerichteten Inhalt. Die Auflösung der semantischen Grenze zwischen Furcht und Angst hat eine komplexe Geschichte. Furcht hatte im christlichen Europa des Mittelalters einen größeren Stellenwert im Gefühlshaushalt, da man des Zorns Gottes gewärtig war. Der hl. Augustinus nannte die Furcht eine grundlegende Empfindung, doch unterschied er zwischen der Furcht davor, für eine Sünde bestraft zu werden, sei es durch Gott in diesem oder durch den Teufel im nächsten Leben, und der Sorge, verlassen zu werden, sei es von einem geliebten Menschen oder von Gott (was in etwa in der Mitte zwischen Schuld und der Angst vor sozialer Ablehnung angesiedelt sein dürfte). Augustinus betrachtete die Furcht vor göttlicher Strafe als eine Gnade, denn sie half den Menschen, sich moralisch zu verhalten, und noch John Bunyan, der mehr als tausend Jahre später schrieb, beteuerte, dass es die Furcht vor Gott sei, die die Liebe zur Gottheit hervorbringe. Demgegenüber geht die moderne Lebensansicht davon aus, dass Furcht der Liebesfähigkeit eher hinderlich ist. Wir müssen in diesem Zusammenhang Freud unseren Dank abstatten, denn er war es, der zwischen der Furcht, die durch eine augenblickliche Gefahr ausgelöst wurde, und der Angst, die eine mögliche Gefahr anti34
zipierte, unterschied und Letztere für die neurotische Erkrankung verantwortlich machte. Neurotische Symptome sind – nach Freud und seinen Anhängern – angenommene Verhaltensweisen, deren Ziel es ist, die aus Sexualkonflikten resultierende Furcht möglichst klein zu halten. Indem Freud argumentierte, dass die Angst überwunden werden könnte, wenn man nur das Unbewusste von seinen unterdrückten Wünschen erlösen würde, behauptete er zugleich, dass Angst kein notwendiges Gefühl sei und dass jeder möglicherweise davon befreit werden könne. Wie angenehm, sich vorzustellen, wir alle könnten uns mit einer gewissen Anstrengung dieses Feindes unserer Heiterkeit entledigen! Wer würde eine solche Lebensaussicht nicht begrüßen? Ein weiterer wichtiger Strang in der verworrenen Beziehungsgeschichte von Furcht und Angst war Darwins Rückführung der menschlichen Gefühle auf die Natur, wie er sie in seinem Buch The Expression of the Emotions in Man and Animal (1872) darlegte. In den folgenden Jahren sahen die Wissenschaft ler im tierischen Zustand den natürlichen gegenüber dem menschlichen; und Tiere, so beobachteten sie, verhielten sich, als ob sie sich fürchteten. Da eine unmittelbare Bedrohung sowohl in Tieren wie in Menschen spezifische Reaktionen hervorruft (Primaten und Menschen zeigen bei Gefahr sogar den gleichen Ausdruck in Gesicht und Körperhaltung), wurde Furcht als ein inhärenter Teil des menschlichen Wesens angesehen und von seinen alten moralischen Konnotationen befreit. Viel weniger offensichtlich schien, dass Tiere ängstlich werden können, denn sie scheinen unfä35
hig, sich über eine fernere Zukunft zu beunruhigen. Auf diese Weise wurde Furcht – im Gegensatz zur Angst – dem Naturbereich zugeschlagen. Unsere Auffassung, ob Furcht funktional oder dysfunktional ist, unterlag sogar noch im 20. Jahrhundert Veränderungen. Während der dreißig Jahre, in denen sich der Behaviorismus in der amerikanischen Psychologie durchsetzte – etwa von 1930 bis 1960 –, wurde Furcht als ein lästiger, aber natürlicher Zustand angesehen, der aus Schmerzerfahrungen resultierte, aber nichtsdestoweniger das Erlernen neuer, oft angepasster Verhaltensweisen motivierte. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten, seit Neurowissenschaft ler die Gehirnaktivitäten untersuchten, die Furcht regeln und vermitteln, und private Lebensversicherungen sich zunehmend für mentale Krankheiten zu interessieren begannen, wurde Furcht wieder zur bösartigen Ursache psychischer Erkrankungen und als solche mit dem Stigma der Anormalität bedacht. Wenn – wie in Augustinus’ Zeitalter – die Aufgabe des Lebens darin gesehen wird, hedonistische Wünsche zu disziplinieren, ist Furcht eine verbündete und keine feindliche Kraft. Doch wenn heutzutage proklamiert wird, möglichst viele Freunde zu haben, Geliebte zu verführen und für Ansehen und materiellen Gewinn keine Risiken zu scheuen, dann ist Furcht der Feind. In dem Maße wie die Geschichte das Drehbuch für das tägliche Leben umschrieb, wurde die Furcht und nicht mehr das Verlangen das Gefühl, das es zu unterdrücken gilt. Wenn die Menschen ihre Habgier, Lust, Konkurrenzneigung und Aggression zügeln müssen, dann ist Selbstbeherr36
schung in der Form des Willens eine Grundvoraussetzung. Doch der individuelle Wille ist schwächer, wenn Furcht der Dämon ist, der gezähmt werden soll, denn es ist weitaus schwieriger, sich von Furcht frei zu machen als eine Handlung zu kontrollieren, die auf die Herbeiführung eines wünschenswerten Zustands abzielt. So hat die Geschichte den Willen auf den gleichen Haufen abgehalfteter Ideen geworfen, wo Newtons Äther liegt und Staub ansetzt. Der Glaube, dass Menschen frei von Angst sein sollten und könnten, ist eine der hervorstechenden Illusionen im westlichen Denken des 20. Jahrhunderts. Zeitgenössische Neurowissenschaft ler glauben gerne, dass sie schließlich die neurale Basis für Furcht entdecken werden, um sie dann mit pharmakologischen Mitteln aus dem menschlichen Erfahrungsschatz ausmerzen zu können. Diese Forscher setzen ebenso voraus, dass neurotische Symptome – zum Beispiel obsessive Gedanken oder die Vermeidung von Menschenkontakten – unmittelbare Reaktionen auf den Zustand der Furcht selber sind und keinerlei therapeutischer Maßnahmen bedürfen. Den Kontrast zwischen dieser und der älteren Ansicht spiegelt die neue Überzeugung, dass biologische Prozesse – seien es genetische oder zerebrale – unmittelbare Auswirkungen auf das Verhalten haben, die nicht von der Geschichte oder kulturellen Rahmenbedingungen reguliert werden. Die Behauptung, dass das Vermeidungsverhalten eines Menschen, der nicht auf Partys geht, direktes Produkt seines zerebralen Zustandes ist, unterscheidet sich von der älteren Behauptung, dass er Partys deswe37
gen zu vermeiden lernte, weil er, wenn er zu Hause blieb, weniger Angst empfand. Psychiater und Psychologen beobachten fortgesetzt das besonders häufige Auftreten menschlicher Angst anlässlich öffentlichen Redens, Schwindel erregend hoher Plätze, großer Tiere oder des Weggehens von zu Hause unter der Prämisse, dass Angst etwas Unnatürliches und Ungesundes sei. Doch seltsamerweise sammeln sie keine vergleichbaren Informationen über das häufige Auftreten menschlicher Wut gegen Freunde, Arbeitgeber, Verwandte, Autofahrer, Polizisten oder Politiker, weil sie vermutlich der stillschweigenden Überzeugung sind, dass Wut natürlich und vielleicht sogar gesund sei. Im Gegensatz dazu wurde Wut bei den alten Griechen ernster genommen als die Angst, weil sie den sozialen Frieden störte.6 Die moderne Ansicht, dass Angst abnorm und eine Fehlanpassung sei, muss falsch sein. Das Gefühl von Nervosität und Sorge, bevor man zu einer großen Gruppe von Fremden spricht, ist so natürlich und typisch menschlich wie die Wut, wenn man auf einer Kreuzung von einem Autofahrer geschnitten wird. Wir müssen also fragen, warum die modernen Psychiater und Psychologen zwar die Angst, aber nicht die Wut, als potenzielles Zeichen einer mentalen Erkrankung ansehen. Ein Teil der Antwort liegt darin, dass Angst, und insbesondere Sozialangst, in der heutigen Gesellschaft eine größere Belastung darstellt als Wut; sie steht der Anpassung in einer Welt im Wege, in der das Eingehen von Risiken und das Zusammenkommen mit Menschen für den beruflichen Erfolg oft von entscheidender Bedeutung sind. Ein schlecht 38
gelaunter Angestellter mag es nicht so weit bringen wie sein ausgeglichener Kollege, doch werden wahrscheinlich beide sich besser stellen als jemand, dem es schwer fällt, mit Fremden zu sprechen. Andere Ereignisse haben im 20. Jahrhundert dazu beigetragen, die Begriffe von Furcht und Angst ineinander zu verschränken. Die Welt hat fast fünfzig Jahre lang in der chronischen Sorge gelebt, dass es zwischen Amerika und der Sowjetunion zu einem Schlagabtausch nuklearer Sprengköpfe kommen könnte, der die Zivilisation auslöschen würde. War die Sorge über diese schreckliche Möglichkeit ein Beispiel für Furcht oder für Angst? Die Frage ließ sich nicht eindeutig beantworten. Die Medien warnten die Öffentlichkeit überdies vor den Gefahren der Überbevölkerung, vor Aids, verseuchtem Wasser, vergifteter Nahrung, Luft verschmutzung, Zigarettenrauch und dem Treibhauseffekt. Rufen diese Gefahren einen Zustand der Furcht oder der Angst hervor? Endlich erwiesen sich Sedativa und Antidepressiva wie Valium und Prozac als wirkungsvoll, gleichgültig ob man sich davor fürchtete, über lange Brücken zu fahren oder im Restaurant beobachtet zu werden. Wenn Furcht und Angst exakt voneinander geschiedene Zustände wären, sollten die Tabletten nicht beidem abhelfen können. Vielleicht handelte es sich in der Tat um den gleichen Zustand. Autoren von verbreiteten Persönlichkeitsfragebögen, die glaubten, sie hätten endlich die Grundlagen der menschlichen Persönlichkeit entdeckt, warfen die verschiedenen Formen von Furcht und Angst in einen einzelnen Faktor zusammen, den sie Emotionalität nannten. 39
Die Laborforschung mit Tieren hat die Vorstellung, dass Furcht und Angst eng verwandt sind, weiter unterstützt. Ausgeklügelte Experimente mit Mäusen und Ratten haben jetzt die neuralen Netze identifiziert, die aktiviert werden, wenn ein Tier konditionierte Furcht bei einem Ton erlebt, der in der Vergangenheit einen schmerzhaften elektrischen Schlag ankündigte. Folglich werden körperliche Furchtreaktionen wie Erstarren oder die Erhöhung der Herzschlagfrequenz, wenn der Ton gehört wird, als Zeichen eines erreichten Angstzustands interpretiert, der ursprünglich durch die enge zeitliche Verknüpfung von Ton und Stromschlag hervorgerufen wurde. Weil nur wenige Wissenschaft ler bereit waren, Ratten die Erfahrung der Angst zuzubilligen – in dem Sinne, dass sie zukünftigen Schmerz antizipierten –, wurde es leichter, sowohl die Bedeutung dieses Zustands für Menschen herunterzuspielen als auch, ohne genauere Begründung, zu unterstellen, dass die Furcht einer Maus mit der Angst eines Menschen in engem Zusammenhang stehe. Es ist jedoch vernünftig, sich zu fragen, ob Ratten, die plötzlich erstarren, wenn sie einen Ton hören, der in der Vergangenheit einen schmerzhaften Stromstoß ankündigte, sich in dem gleichen mentalen Zustand befinden wie ein Flugreisender, dem mitgeteilt wird, dass das Flugzeug in wenigen Minuten eine Notlandung auf dem Wasser machen wird. Ratten erstarren auch bei einem Ton, der in der Vergangenheit statt eines Stromstoßes lauten Lärm angekündigt hat.8 Gewiss erzeugt die Antizipation eines lauten Geräuschs einen anderen Zustand als 40
den, der von der Androhung eines schmerzhaften Stromschlags ausgeht; doch die Reaktion des Tieres – Erstarren – ist die gleiche. Ein guter Grund, zwischen Mensch und Ratte zu unterscheiden, wenn es um ihren Zustand nach einem schmerzhaften Stromschlag geht, ist der, dass Menschen einen sehr viel größeren vorderen Stirnlappen haben. Wenn Menschen einen Ton hören, der mit Stromschlägen verbunden gewesen ist, werden die Frontallappen aktiviert, und das Individuum gewinnt schnell Kontrolle über die biologischen Anzeichen der Furcht, nämlich nach nur zweimaligem Hören des Tons. Dieses Phänomen ist bei Ratten nicht zu beobachten. Pawlow konditionierte Hunde zum Speichelfluss, indem er nach einem Geräusch Futterpulver in ihre Mäuler einführte. Doch Pawlow behauptete keineswegs, dass das Geräusch einen Hungerzustand hervorief, der durch den Speichelfluss bei den konditionierten Hunden angezeigt wurde. Analog dazu erlebten Frauen, die erotische Filme anschauten, als konditionierte Körperreaktion oft ein Anschwellen der Vaginalwand, doch der Grad der Anschwellung stand in keinem direkten Zusammenhang mit der Intensität der sexuellen Erregung, die sie fühlten. Viele Frauen berichteten, dass sie keinerlei Erregung spürten, als die Schwellung eintrat.9 Der weithin erwiesene Einfluss der Amygdala (oder des Mandelkerns, Corpus amygdaloideum) auf emotionale Prozesse legt den Schluss nahe, dass diese Nervenstruktur, die sich in der Seitenmitte des Schläfenlappens befindet, durch verschiedene Anlässe aktiviert wird, die Psychologen aversiv nennen – zum Beispiel elektrische 41
Schläge oder sehr laute Geräusche –, und eine Reihe von Reaktionen wie Erstarren, Rückzug, Beißen, eine erhöhte Herzfrequenz sowie die Ausschüttung chemischer Substanzen, unter anderem von Kortisolen und Opiaten, hervorruft. Doch es ist nicht klar, ob diese Ereignisse im Gehirn immer einen Zustand der Furcht anzeigen oder hervorrufen, wenn wir unter Furcht eine unangenehme Empfindung verstehen, die sich von den Empfindungen, die unmittelbar durch den Stromschlag oder den Lärm verursacht wurden, unterscheidet. Als Erwachsene in sehr kurzem Abstand (alle 3 Hundertstel Sekunden) auf einer Leinwand mit Bildern von Gesichtern konfrontiert wurden, die entweder einen Ausdruck von Furcht oder Freude zeigten, und diese wiederum unmittelbar von einer längeren Darstellung eines Gesichts mit neutralem Ausdruck abgelöst wurden, berichteten die meisten der Versuchsteilnehmer nur von Letzterem und nichts von Furchtempfindungen in den Phasen, als ihnen die für sie wegen der kurzen Zeitspanne unsichtbaren ängstlichen Gesichter gezeigt wurden. Nichtsdestoweniger ergab sich bei der Messung der Hirnströme eine deutliche Zunahme der Mandelkern-Aktivität, wenn die Furcht zeigenden Gesichter auf der Leinwand erschienen.10 Es ist deshalb vielleicht ein konzeptueller Irrtum zu unterstellen, dass der jeweilige Regelkreis, der die Erwerbung einer konditionierten Reaktion wie Erstarren, Speichelfluss oder Anschwellen der Vaginalwand vermittelt, identisch mit dem Regelkreis ist, der bewusste emotionale Zustände wie Furcht, Hunger oder sexuelle Erregung vermittelt. Ich bin sicher, dass niemand glaubt, lei42
denschaft liche Liebe bestehe nur aus einem Regelkreis, an dem der Hypothalamus, das autonome Nervensystem und die geschwollenen Kreislaufgefäße in den Genitalien beteiligt sind. Es ist keineswegs evident, aus dem konditionierten Erstarren eines Tieres auf seinen Angstzustand rückzuschließen. Die Naturwissenschaft ler, die Tiere darauf trimmen, auf einen Ton hin zu erstarren, betrachten Furcht als etwas Gegebenes, ähnlich wie die Physiker im 19. Jahrhundert Raum, Zeit und Materie als etwas Gegebenes betrachteten. Ich schlage vor, dass wir die Frage »Was sind die Grundlagen für Furcht im Gehirn?« durch die Frage ersetzen: »Wie reagieren verschiedene Spezies, im Gehirn und im Körper, auf Ereignisse, die Gefahr signalisieren?« In der Zeit zwischen den Weltkriegen dachten Psychologen, dass die Untersuchung hungriger Ratten, die lernen mussten, ein Labyrinth zu überwinden, um an Nahrung zu kommen, ein gutes Modell für die Erforschung der menschlichen Intelligenz wäre. Diese Annahme hat sich nie bestätigt, denn die Phänomene, die mit den kognitiven Fähigkeiten des Menschen zusammenhängen, sind zu verschieden von jenen, mit deren Hilfe eine Ratte die richtigen Abzweigungen in einem Labyrinth erlernt. Ich fürchte, es ist ebenso sinnlos zu glauben, das Erstarren einer Ratte beim Hören eines Tons, der sich mit einem Stromschlag verbindet, sei ein nützliches Modell für die Sorge eines Menschen, der sich vor dem Verlust einer geliebten Person, vor dem Versagen in der Prüfung, dem Konkurrenzdruck durch einen Mitarbeiter oder vor 43
einem Knoten in der Brust fürchtet. Richard Feynman hat einmal gesagt, dass niemand die Quantenmechanik verstehe; ich behaupte ebenso, dass niemand die Furcht versteht, zumindest noch nicht jetzt. Immer wenn Forscher glauben, endlich ein eindeutiges biologisches oder Verhaltenskennzeichen für Furcht oder Angst gefunden zu haben, wird ihr Optimismus von darauf folgenden Untersuchungen untergraben. Vor fünfundzwanzig Jahren glaubten viele Psychologen, die galvanische Hautreaktion – d. h. die Aktivität der Schweißdrüsen – sei ein Maßstab für menschliche Angst. Es stellte sich jedoch heraus, dass fast jede Veränderung in der Umgebung oder jeder bedrängende Gedanke diesen Reflex auslöste. Die Erhöhung der Herzfrequenz, des Blutdrucks oder des Kortisolspiegels angesichts drohender Gefahr erfreuten sich ebenfalls kurze Zeit großer Beliebtheit, bis sich – wie bei der Hautreaktion – durch weitere Untersuchungen herausstellte, dass ihre Aussagekraft als Angstindikatoren höchst unzulänglich war. In vergleichsweise kurzer Zeit wurde die potenzierte Schreckreaktion als Kandidat auserkoren, um diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.11 Der Grund dafür, dass die Wahl auf diese Reaktion fiel, verdankte sich Tierversuchen. Eine Ratte, die einem unerwarteten, kurzen, lauten Geräusch ausgesetzt wird, zeigt eine körperliche Schreckreaktion von einer gewissen Stärke. Die Ratte wird einer Reihe von konditionierenden Versuchen unterzogen, in denen das Aufleuchten eines Lichts einen schmerzhaften Stromstoß ankündigt. Es wird angenommen, dass nach vielen solcher Versuche das Aufleuchten 44
des Lichts schließlich in dem konditionierten Tier einen Zustand der Furcht hervorruft, wie auch der Umstand belegt, dass die Ratte erstarrt und eine Erhöhung der Herzfrequenz zeigt, wenn das Licht aufleuchtet. Wenn Ratten, die auf diese Weise konditioniert wurden, einem Licht ausgesetzt werden, dem drei Sekunden später ein lautes Geräusch folgt, ist ihre Schreckreaktion stärker als vor der Konditionierung – zum Beispiel statt der ursprünglichen vier Einheiten, waren es jetzt sechs. Dieses handfeste Ergebnis wurde nun als Beweis dafür interpretiert, dass das Licht einen Zustand der Furcht hervorruft, der das Erschrecken noch einmal potenziert. Wenn diese Hypothese zuträfe, dann könnte dies heißen, dass eine Person, die angesichts eines unerwarteten und unangenehmen Stimulus mehr als gewöhnlich erschrickt, sich in der Tat zuvor in einem Zustand der Furcht befand. Die Einsichtigkeit dieser aufregenden Idee veranlasste die Forscher, an dem Versuchsaufbau für die Tiere zwei Veränderungen vorzunehmen.12 Ein unwillkürliches Augenzwinkern, das einem plötzlichen lauten Geräusch folgt, ist ein wesentlicher Bestandteil jedes körperlichen Erschreckens und ist überdies leicht zu messen, indem man Elektroden unter dem Auge anbringt, um die Stärke der Muskelkontraktion festzustellen. Weil Menschen aber keinerlei Neigung haben, sich Stromschlägen zu unterziehen (nicht einmal für den Fortschritt der Wissenschaft) ersetzten Bilder mit sehr unangenehmen Darstellungen jene Kombination von Licht und Stromstößen. Man ging davon aus, dass ein Erwachsener, der einen blutenden Soldaten sieht, sich in einem analogen Zustand zu dem 45
der Ratte befindet, die ein Licht sieht, das sich mit einem Schlag verbindet. Es stellte sich heraus, dass die ZwinkerReflexe bei Erwachsenen stärker werden, wenn das laute Geräusch ertönt, während die Person ein grässliches Bild betrachtet – verglichen mit den Reflexen, die beim Betrachten eines neutralen oder schönen Bildes auftreten. Diese Tatsache war ermutigend, und es sah so aus, als ob die Wissenschaft ler endlich einen Weg gefunden hätten, wie sich menschliche Furcht messen ließe. Doch mit den Jahren erging es damit nicht anders als mit dem galvanischen Hautreflex, der Herzfrequenz und dem Kortisolspiegel, und der Traum begann zu verblassen. Zunächst ergaben Experimente, dass hungrige CollegeStudenten, wenn sie Bilder mit Essen anschauten, stärkere Zwinker-Reflexe zeigten als ihre nichthungrigen Kommilitonen. Es scheint etwas gewagt zu behaupten, dass eine hungrige zwanzigjährige Frau, die ein Bild mit Eiscreme betrachtet, sich in einem Angstzustand befindet, vielmehr liegt die Vermutung näher, dass ein Bild mit Essensdarstellungen in einem hungrigen jungen Menschen Gedanken an Essen erweckt. Andere Versuche wiesen darauf hin, dass das Augenzwinkern stärker war, wenn das laute Geräusch zehn Sekunden nach dem unangenehmen Bild auf der Leinwand ertönte, als wenn es nur zwei Sekunden später ertönte.13 Wenn das Bild eines blutenden Soldaten Furcht erregt, dann sollte es das schnell tun und nicht zehn Sekunden dafür benötigen. Diese Fakten legten den Schluss nahe, dass der Zwinker-Reflex vielleicht umso stärker ausfiel, je mehr ein Versuchsteilnehmer von Gedanken in Anspruch genommen war; 46
wir wissen aus der Alltagserfahrung, dass Menschen am leichtesten über ein unerwartetes Geräusch erschrecken, wenn sie am Schreibtisch in einer geistigen Aufgabe vertieft sind. Diese Annahme könnte erklären, warum die Stärke des Augenzwinkerns größer war, als hungrige Erwachsene Bilder mit Essensdarstellungen sahen oder der Lärm erst zehn Sekunden nach dem Erscheinen eines unangenehmen Bildes ertönte. Diese Möglichkeit wird von einer Untersuchung gestützt, in der Erwachsenen gesagt wurde, dass auf der Leinwand eine Reihe von Kreisen oder Ellipsen erscheinen würde. Sie sollten die Kreise ignorieren, aber die Momente zählen, in denen eine Ellipse relativ lange auf der Leinwand erschien. Auf diese Weise waren die Erwachsenen wahrscheinlich gedanklich mehr bei der Sache, wenn Ellipsen gezeigt wurden. Es zeigte sich, dass die Schreckreaktion bei den Ellipsen stärker war als bei den Kreisen. Eine Person, die versucht, sich die Anzahl der Momente einzuprägen, in denen eine Ellipse mehrere Sekunden auf der Leinwand sichtbar ist, befindet sich in einem Zustand des Nachdenkens und nicht der Furcht. Offensichtlich sind kognitive Zustände geeignet, in Menschen die Schreckreaktion zu verstärken.14 Ein wichtiger Grund, warum kein einzelnes Verhaltensmerkmal, einschließlich der potenzierten Schreckreaktion, als Index für den Furchtzustand eines Menschen (oder Tieres) taugt, liegt darin, dass jede Reaktion von mehreren Hirnmechanismen gelenkt wird und mehr als nur ein Motiv haben kann. Als kleine Totenkopfäffchen von ihrer Mutter getrennt wurden, ließ sich 47
keine plausible Verbindung zwischen der Änderung in ihrem Verhalten und der Änderung des Kortisolspiegels im Blut feststellen. Meistens ist die Beziehung zwischen der angenommenen Intensität eines Furchtzustands und der Stärke einer spezifischen Reaktion nicht linear. Zum Beispiel zeigten Ratten eine potenzierte Schreckreaktion auf ein Licht, das mit einem mittelstarken Stromschlag einherging, aber sie zeigten eine geringere potenzierte Schreckreaktion, als dem Licht ein Stromstoß von sehr hoher Intensität folgte. Wenn die Stärke einer Schreckreaktion als Index für die Intensität der Furcht taugen soll, dann müsste die Schreckreaktion natürlich bei einem Licht stärker sein, das mit einem sehr schmerzhaften Stromstoß verbunden ist. Jedoch wurde das Gehirn der Säugetiere nicht dazu erfunden, um Naturwissenschaftlern das Handwerk zu erleichtern. Es zeigt sich, dass im Falle eines moderaten Stromschlags die Aktivierung der ventralen periaquäduktalen Grauen Substanz – einer Gruppe von Neuronen, die Axone zum Hirnstamm senden – zu einem überwachsamen Zustand führten, der das Tier auf die Möglichkeit der Gefahr vorbereitet. Die potenzierte Schreckreaktion ist eine Komponente des Zustands, zum Teil weil der zentrale Nukleus der Amygdala Projektionen über die ventrale Graue Substanz zum Kern des Hirnstamms aussendet, welcher den motorischen Teil der körperlichen Schreckreaktion stimuliert. Doch wenn der Stromstoß, der in der Konditionierung verwendet wird, stark ist, wird die dorsale periaquäduktale Graue Substanz – eine andere Gruppe von Neuronen – aktiviert, 48
und als Folge wird der überwachsame Zustand und das ihm entsprechende Verhalten durch Reaktionen ersetzt, die sich eher auf eine unmittelbar bevorstehende Gefahr beziehen. Es scheint, dass die potenzierte Schreckreaktion teilweise nachlässt, weil die dorsale Graue Substanz möglicherweise den Mandelkern hemmt. Menschen berichten von größerer Furcht und zeigen zugleich eine geringer potenzierte Schreckreaktion, wenn sie einen höheren Grad an Schmerz erwarten. Vielleicht erklären diese Erkenntnisse, warum siebenjährige Kinder, die sich als Zweijährige durch ein ängstliches Temperament auszeichneten, kaum mehr zwinkerten, wenn ein lautes Geräusch ertönte, während sie ein unerfreuliches Erlebnis erwarteten – in diesem Fall einen Luftstoß an den Hals. Dieselben Kinder hatten auch keine Mühe, die Bedeutung von Bildern, die Furcht symbolisierten, zu ignorieren – zum Beispiel das Bild einer Schlange –, wenn sie aufgefordert wurden, die Farbe der Zeichnung zu benennen. Umgekehrt waren die Kinder, die die größte Schreckreaktion zeigten, wenn sie den unangenehmen Luftstoß erwarteten, am wenigsten fähig, die Bedeutung des Bildes zu übergehen, wenn sie die Farbe der Zeichnung schnell benennen sollten. Und diese Kinder waren in ihrer frühen Kindheit nur minimal ängstlich gewesen, wenn sie mit Unbekanntem oder Herausforderungen konfrontiert wurden.15 Also sehen wir uns mit einem Paradox konfrontiert. Kinder, deren normales Verhalten ein hohes Furchtpotenzial aufwies, reagierten in zwei Laborversuchen, in denen es um die Messbarkeit von Furcht ging, als ob sie 49
nicht sonderlich furchtsam wären, während Kinder, deren Verhalten in der Welt nicht ausgeprägt furchtsam war, sich in den Versuchen so verhielten, als wären sie furchtsam. Es drängt sich unausweichlich die Schlussfolgerung auf, dass das Wort Furcht verschiedene Bedeutungen haben muss. Ein plötzliches, unerwartetes Geräusch – ein Grizzlybär, der einen aus zweihundert Meter Entfernung anstarrt – der Bär, der einem an die Kehle fährt – ein Licht, das man mit einem Stromstoß verbindet – die Sorge, seinen Job zu verlieren, während man im Sonnenschein über eine weite Wiese schlendert – all diese Dinge beanspruchen wahrscheinlich verschiedene Hirn-Regelkreise und repräsentieren damit verschiedene psychische Zustände, die man nicht auf einem Kontinuum mit dem Namen Furchtintensität ansiedeln sollte. Analog weicht der psychische und körperliche Zustand einer Person, die seit zwölf Stunden nichts gegessen hat, von dem Zustand eines Menschen ab, der seit vier Tagen nichts gegessen hat. Letzterer ist nicht nur einfach hungriger. Ein weiterer Grund, warum ein einzelnes Kriterium nicht hinreicht, entweder die Qualität oder Intensität der Furcht – oder schließlich jeder Emotion – genau zu erfassen, liegt darin, dass Menschen und Tiere, von Spezies zu Spezies und von Individuum zu Individuum, genetisch in dem Stärkegrad der Reaktion, in dem Furcht gemessen wird, voneinander abweichen. Zum Beispiel zeigte ein Stamm von Mäusen, der »DBA« genannt wurde, eine größere potenzierte Schreckreaktion als ein verwandter, »C57« genannter Stamm, obwohl beide Stäm50
me auf gleiche Weise konditioniert wurden.16 Ähnlich wichen verschiedene Affenspezies in ihrem Stressverhalten voneinander ab, wenn sie von ihren Gruppen getrennt wurden; Meerkatzen reagierten beispielsweise deutlich sensibler als Rhesus-Affen. Wir finden kein Mittel, die Intensität von Furcht oder Angst zu messen, weil wir noch nicht erkannt haben, dass es sich dabei um eine ganze Familie von Zuständen handelt und dass nicht ein Einzelner dieser Zustände stellvertretend für alle anderen Mitglieder der Familie aussagekräftig ist. Tatsächlich gehen Psychiater und Psychologen heute davon aus, dass jede der so genannten Angststörungen einen genetisch uneinheitlichen Hintergrund hat. Wenn es offensichtlich verschiedene Formen von menschlicher Angst gibt, dann kann die konditionierte Furcht in Tieren kein Modell für Angstzustände im Menschen sein. Das zentrale Problem besteht darin, dass das Wort Furcht auf zwei verschiedene Weisen gebraucht wird. Die meisten Menschen gebrauchen das Wort, um eine bewusste subjektive Erfahrung auszudrücken. Im Gegensatz dazu benutzen die meisten Wissenschaftler das Wort als hypothetischen Begriff, um eine empirisch nachgewiesene Beziehung zwischen einem auslösenden Ereignis (wie das Licht, das mit einem Stromstoß verbunden wird) und irgendeiner Reaktion (wie körperliches Erstarren oder Erhöhung der Herzfrequenz) zu erklären. Beide Ereignisse bedürfen verschiedener Begriffe. Wenn ein Individuum seine Gefühle als Furcht bezeichnet, ist das ein Ereignis in der Natur, das wir zu ver51
stehen suchen; es ist keineswegs nur eine Begleiterscheinung der Stimulierung eines zerebralen Regelkreises unter Beteiligung des Mandelkerns. Der wissenschaftliche Begriff von Furcht bezeichnet hingegen eine hypothetische Reihe von Prozessen, die eine Beziehung zwischen realen Ereignissen erklären soll, bis der Begriff durch einen besseren ersetzt werden kann. Die Verwirrung setzt ein, wenn wir diesen Annäherungsbegriff von Furcht auf emotionale Vorgänge anwenden, die zum bewussten Erleben einer Person gehören. Ich würde wenigstens drei Quellen für jene Zustände, die wir bislang Furcht nennen, vorschlagen, und jede unterscheidet sich von den Quellen eines Zustands, den wir Angst nennen können. Eine Quelle von Furcht, die von Verhaltensforschern gern genannt wird, besteht aus der biologisch in jedem Wirbeltier angelegten Bereitschaft, angesichts einer überschaubaren Gruppe von Ereignissen, die mögliches Unheil ankündigen, zu fliehen, anzugreifen, zu erstarren oder einen Notschrei auszustoßen, und zwar selbst dann, wenn kein vorhergehender Konditionierungs- oder Lernprozess stattgefunden hat. Zum Beispiel lässt ein Kopf mit Augen, in denen das Verhältnis von Pupille zu Auge über 0,5 beträgt, Küken regungslos verharren.17 Eine länger dauernde Bestrahlung mit hellem Licht verstärkt in Ratten die Schreckreaktion auf ein lautes Geräusch. Ein bedrohlich näher rückender Gegenstand bringt Kleinkinder zum Weinen. Die verschiedenen Stimuli, denen eine solche Macht zukommt, Reaktionen unabhängig von Lernprozessen hervorzurufen, werden angeborene Auslöser oder manch52
mal auch evolutionär signifikante Stimuli genannt, und man geht davon aus, dass sie in Tieren zahlreicher vorhanden sind als in Menschen. Diese Ereignisse weisen Merkmale auf, die mit der Struktur des Nervensystems der jeweiligen Spezies in Wechselwirkung treten und Erstarren, Erschrecken, Notschreie oder Flucht hervorrufen, ohne dass diesem Verhalten ein Erfahrungswissen vorausginge. Eine zweite Quelle für Furcht besteht in diskrepanten Ereignissen – solchen, die vertrauten Ereignissen ähneln, aber nicht sofort assimiliert werden können. Ebenso wie die Fähigkeit, die Kraft eines Lichts oder einer Berührung zu spüren, im Lauf der Evolution bei Mäusen und Menschen erhalten blieb, so auch die Fähigkeit zu erkennen, dass ein Vorfall oder Sachververhalt sich von einem soeben – sagen wir in den letzten paar Sekunden – wahrgenommenen unterscheidet, oder einen Gegenstand zu erkennen, der die Transformation eines vertrauten Bildes darstellt, das in der fernen Vergangenheit erworben wurde. Ein Gesicht mit nur einem Auge erfüllt uns wahrscheinlich mit Furcht, weil es eine diskrepante Transformation eines menschlichen Gesichts ist; wir bezeichnen eine solche Kreatur als Ungeheuer. Manche Tiere und Kinder, die in eine unvertraute Umgebung versetzt werden, erstarren oder zeigen ein Rückzugsverhalten. Als vier verschiedene Hunderassen – Labrador Retriever, Collie, Boxer und Deutscher Schäferhund – mit verschiedenen Umgebungen konfrontiert wurden, unterschied sich ihr Verhalten am deutlichsten im Vermeiden unbekannter Objekte auf einer belebten Straße. Deutsche 53
Schäferhunde zeigten das ausgeprägteste Vermeidungsverhalten; Labradore das Geringste.18 Tibetanische Dorfbewohner glauben, dass die Furcht, die von einem diskrepanten Ereignis ausgelöst wird, gefährlich ist, denn sie kann bewirken, dass die Seele den Körper verlässt und damit Lethargie und den Verlust der Lebenskraft zur Folge haben. Ein ähnlicher Glaube wurde von vielen europäischen Ärzten im 19. Jahrhundert geteilt. Ein Arzt in Glasgow schickte einer medizinischen Zeitschrift eine kurze Mitteilung, in der er eine Frau beschrieb, die aus dem Fenster schaute, als ein Mann die Straße überquerte und »einen abgesengten Schafskopf nah ans Fenster hielt. Sie schrie auf, worauf ihre Mutter herbeieilte, die, nachdem sie sie beruhigt hatte, ihren Geist in vollendeter Verwirrung fand. Und in diesem Zustand blieb die Frau seit jenem Tag.«19 Bei der Geburt gibt es keine Furcht vor dem Unbekannten, denn das Neugeborene hat noch keine Kenntnisse erworben und also auch keine Erwartungen an das, was normal ist. Furcht vor diskrepanten Ereignissen tritt bei jungen Hunden erst im Alter von etwa sechs bis sieben Wochen auf, bei Vögeln mit zwei bis vier Tagen und bei Menschen im Alter von sieben bis zehn Monaten. Das ist der Grund, warum Furcht vor Fremden und Furcht vor Trennung von der primären Bezugsperson gegen Ende des ersten Lebensjahres einsetzt. Manchmal, wie in der Furcht vor Schlangen, genügt ein geringfügiges Maß an Erfahrung, um einen Zustand der Furcht hervorzurufen, vielleicht weil die Gestalt der Schlange und die Art ihrer Bewegung ungewöhnlich und deshalb diskrepant 54
sind. Isaac Marks, ein britischer Psychiater, der ein aufschlussreiches Buch über Furcht geschrieben hat, erinnert sich an eine Begebenheit mit seinem zweieinhalb Jahre alten Sohn:
Er hatte noch nie Schlangen gesehen, noch kannte er ihren Namen. Ich trug ihn bei Ebbe über eine steinige Fläche vom Auto zum Strand. Auf dem trockenen Sand lagen wohl Tausende getrockneter Stränge braunen und schwarzen Tangs, die etwa einen Fuß lang waren und wie Unmengen toter Aale oder winziger Schlangen aussahen … Sowie der Junge den getrockneten Tang auf dem Sand sah, schrie er vor Entsetzen auf und klammerte sich an mich und wollte auf keinen Fall, dass ich mich auf den Sand setzte. Als ich den Tang anfasste, schrie er erneut und weigerte sich, es auch zu tun … Am nächsten Tag war er bereit, den Tang zu berühren, aber er fürchtete sich offensichtlich immer noch. Eine Woche später war er dann fähig, die Pflanzen wegzuwerfen, aber er behielt sie ungern in der Hand. Schrittweise verlor er seine Furcht, indem er sich der Furcht erweckenden Situation stetig aussetzte.20 Die Fähigkeit, eine Diskrepanz wahrzunehmen, hat offensichtliche Vorteile für die Evolution, denn Inkongruenzen von Vergangenheit und Gegenwart enthalten oft Hinweise auf eine gefährliche Situation oder auf eine Gelegenheit, wünschenswerte Ressourcen zu gewinnen. 55
Jedes Säugetier hat die Fähigkeit, solche Inkongruenzen zu entdecken, und meist verbindet sich damit eine wertvolle neue Information über die Welt. Einige Neuronen im Kortex und auch im Hirnstamm sind nur dazu da, diese Inkongruenzen zu entdecken. Eine wichtige Funktion von einer Gruppe von Neuronen im Hirnstamm, die oberer Colliculus heißt, ist es, die Augenbewegungen zu initiieren, die einem beweglichen Ziel folgen. Man denke an einen Tennisspieler, der die Flugbahn eines Balls beobachtet, der auf seine rechte Seite geschlagen wurde. Die Neuronen im oberen Colliculus erlauben dem Spieler, seine Fixierung auf den fliegenden Ball aufrechtzuerhalten, indem sie eine Diskrepanz zwischen dem Ort, auf den die Augen zentriert sind, und der sich ändernden Position des Balls feststellen. Diese Neuronen veranlassen die Augen nicht, sich zu bewegen; sie stellen lediglich fest, dass eine Diskrepanz stattfindet, und geben die Information an andere Neuronen weiter, die für eine Korrektur der Augenbewegung sorgen.21 Diese Erkenntnis impliziert, dass die Feststellung von Unterschieden in den ältesten und grundlegenden Strukturen des Gehirns angesiedelt ist. Eine dritte und die bekannteste Quelle von Furcht stammt aus der klassischen Konditionierung. 1920 kamen John Watson und seine Assistentin Rosalie Rayner zu Ruhm, als sie berichteten, dass es ihnen gelungen sei, ein Kind so zu konditionieren, dass es weinte, wenn ihm eine Ratte gezeigt wurde, indem jedes Mal, wenn die Ratte erschien, gleichzeitig ein sehr lauter Ton erklang. Die beiden Wissenschaftler spekulierten sogar ernsthaft über 56
die freien Assoziationen, die das Kind 25 Jahre später seinem Psychoanalytiker mitteilen würde.22 Konditionierte Furcht-Reaktionen werden von einem genau beschriebenen neuralen Regelkreis erworben, der den Thalamus, basolaterale und zentrale Bereiche des Mandelkerns sowie Projektionen vom Mandelkern auf Zielfelder umfasst, die sowohl motorische Reaktionen wie auch vegetative Furchtreaktionen auslösen. Manche Neurowissenschaftler glauben, dass dieser Regelkreis das biologische Fundament für alle Furchtzustände bildet, einschließlich jener, die auf angeborene Auslöser, diskrepante Ereignisse und klassische Konditionierung zurückgehen. Dieser Anspruch erinnert an Pawlows Hypothese, dass der konditionierte Speichelfluss-Reflex ein gutes Modell für einen Großteil des erlernten menschlichen Verhaltens sei. Wahrscheinlich aber werden diese drei verschiedenen Furchtzustände von verschiedenen biologischen Strukturen und Regelkreisen vermittelt. Zum Beispiel hängt die verstärkte Schreck-Reaktion, die eine Ratte bei einem Lichtsignal zeigt und die ein konditionierter Stimulus für Schmerz geworden ist, von dem zentralen Nukleus des Mandelkerns ab. Doch die verstärkte Schreck-Reaktion, die eine Ratte nach zwanzigminütiger Bestrahlung mit grellem Licht zeigt, hat mit diesem Nukleus nichts zu tun, sondern mit einer anderen Struktur, die Bett-Nukleus genannt wird.23 Wenn Mäuse fünf verschiedenen Reizen ausgesetzt werden, die normalerweise Erstarren hervorrufen – zum Beispiel einem unbekannten Objekt, einer unbekannten Umgebung oder einem hellen Licht in einer dunklen Höhle –, ist es nicht 57
gesagt, dass Tiere, die auf einen dieser Reize mit Erstarren reagiert haben, auf die anderen ebenso reagieren. Die fünf Situationen, die einen gleichen Furchtzustand erwecken sollten, lösten in den Tieren nicht das gleiche Verhalten aus. Diese Tatsache legt den Verdacht nahe, dass jede Situation einen anderen Zustand hervorrief.24 Das gleiche Ziel verfolgte ein Experiment, in dem sechs Inzuchtstämme von Ratten verschiedenen diskrepanten Situationen ausgesetzt wurden (zum Beispiel die Verbringung auf ein neues, offenes Feld oder in ein Labyrinth mit offenen und geschlossenen Abzweigungen), darunter auch die Konfrontation mit unbekannten Tieren. Wie die Mäuse verhielten sich die Stämme in diesen Situationen unterschiedlich. Ein Stamm, der das offene Feld erforschte (ein Anzeichen für geringe Furcht), vermied die unbekannten Ratten (was auf große Furcht hindeutet).25 Ein Experiment untermauert auf überzeugende Weise die Ansicht, dass es keinen einzelnen Furchtzustand gibt. Ratten, die in ein Labyrinth gesetzt wurden, das einige hell erleuchtete Gänge enthielt, zogen dunklere vor, vermutlich weil das Licht Furcht hervorrief. Sie vermieden ebenso ein Objekt, das bei Berührung einen Stromstoß aussendete. Auch hier vermuten wir, dass die Vermeidung in Furcht gründet. Die Vermeidung der hellen Gänge beansprucht jedoch eine Hirnstruktur, die Septum genannt wird, aber nicht den Mandelkern. Die Vermeidung des Objekts, das einen Stromstoß aussendet, beansprucht den Mandelkern, aber nicht das Septum. Auch wenn die Ratten sowohl die erleuchteten Gänge als auch das Objekt, 58
das einen Stromstoß gab, vermieden, waren die Hirn-Regelkreise, die diese Verhaltensweisen vermittelten, nicht die gleichen. Als Ratten, deren Mandelkern entfernt worden war, in einer Umgebung ausgesetzt wurden, in der sie zuvor Stromschläge bekommen hatten, zeigten sie in ihrem Verhalten geringere Zeichen von Furcht, doch zugleich eine höhere Ausschüttung von Plasma-Kortikosteronen – einem Hormon, das oft Furchtzustände begleitet – als Ratten, deren Mandelkern unversehrt war. Ähnlich zeigten junge Rhesusaffen, deren Mandelkern entfernt worden war, ein geringeres Vermeidungsverhalten in unvertrauten Situationen, aber eher eine größere als geringere Scheu vor fremden Affen als Rhesusaffen, deren Mandelkern nicht entfernt worden war.27 Das Ergebnis legt den Schluss nahe, dass der jeweilige Hirnstatus, der die Furcht vor unvertrauten Umgebungen vermittelt, nicht der gleiche ist, der Furcht vor anderen Tieren vermittelt – zumindest bei Affen. Diese Möglichkeit hat eine starke reale Basis, denn Ratten brauchen ihren Hippocampus nicht, um auf ein Geräusch hin zu erstarren, dem ein Schlag folgt, vielmehr brauchen sie diese Struktur, um an dem Ort zu erstarren, wo sie den Schlag erhielten. Die Erwerbung einer konditionierten Erstarrung wegen eines Tones oder eines Ortes sind die Funktionen verschiedener Hirnstrukturen. Als Wissenschaft ler feststellten, dass Ratten hell erleuchtete Orte meiden, setzten sie diese Beobachtung mit der Tatsache in Zusammenhang, dass Menschen, die Orte meiden, dies oft mit Furcht erklären. Damit nahmen die Rattenforscher an, dass Ratten in einem hell erleuchteten 59
Gang ebenso von Furcht erfüllt sein müssten. Doch der Umstand, dass zwei Phänomene ein einzelnes Merkmal teilen – in diesem Fall das Meiden einer bestimmten Örtlichkeit –, ist eine unzureichende Basis für die Annahme, dass beide Phänomen von ein und demselben Prozess vermittelt würden. Diese Kritik behält Gültigkeit, ob wir zweijährigen Kindern Depressionen oder Tieren Bewusstsein zuschreiben. Darwin legte größten Nachdruck darauf, dass eine Spezies nicht durch ein einzelnes Merkmal bestimmt werden könnte. Das Modell eines einzelnen Furchtzustands sollte daher durch eine Familie von Begriffen für verwandte, aber unterschiedliche Zustände ersetzt werden, wovon jeder Zustand seine eigene Klasse von Anreizen, neurophysiologischen Profilen und motorischen Reaktionen besitzt, und jeder sollte eindeutig von menschlicher Angst unterschieden werden. Sätze, die den Begriff Furcht beinhalten und die weder die Entstehungsbedingungen noch die spezifischen Reaktionen des Tieres (oder des Individuums) berücksichtigen, sind wenig hilfreich. Unsere Position gleicht ein wenig Sartres Entwurf einer Theorie der Emotionen, in welcher der Sinn emotionaler Worte, die kein Ziel spezifizieren, verworfen wird.28 Wissenschaftler, die mit Tieren arbeiten, und Psychiater, die Patienten behandeln, schließen von sehr verschiedenen Anhaltspunkten auf einen Furchtzustand. Erstere beziehen sich auf Hirnzustände und Verhaltensmuster, während Letztere die Berichte von Personen über ihre Gefühle zugrundelegen und ihr eigenes Urteil, inwieweit der Patient seiner Lebensumwelt in ausgewogener Weise angepasst ist. 60
Beide Beweisführungen sind so grundsätzlich verschiedener Natur, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie sich auf den gleichen natürlichen Tatbestand beziehen. Um eine Idee von Hilary Putnam abzuwandeln: Die Psychologie (wie die Philosophie) muss, sofern sie Kenntnisse vermitteln will, von einer globalen auf eine lokalere Ebene hinabsteigen.29 Gesellschaften haben Wörter erfunden, um sinnvoll über Geschehnisse des Alltags kommunizieren zu können. Wenn ich einem Freund sage: »Ich bin wütend«, wird er daraus entnehmen, dass kürzlich etwas geschehen ist, das meine Hemmschwelle für aggressives Verhalten herabgesetzt“ hat. Diese knappe Äußerung reicht für den praktischen Umgang miteinander, aber sie erlaubt es dem Zuhörer nicht zu unterscheiden, ob meine Wut sich gegen einen Dieb richtet, der mein Auto gestohlen hat, oder gegen mich selbst, weil ich meinen Schlüssel verloren habe. Ähnlich ist meine Überraschung über eine Bisamratte in meiner Küche eine andere, als wenn ich feststelle, dass ein Kollege sehr viel jünger ist, als ich vermutet hatte. Die erstgenannte Überraschung stammt daher, dass die Erwartung einer bestimmten Wahrnehmung enttäuscht wird. Die zweite gründet in der Nichtbestätigung einer gedanklichen Struktur. In Alltagsgesprächen stecken Wörter ungleichartige Phänomene aus Gründen der Effizienz in die gleichen Schubladen. Im Gegensatz dazu macht die Wissenschaft Fortschritte, wenn die Schubladen geöffnet und die verschiedenen Objekte darin separiert werden. Der Begriff der »Furcht« bedarf dringend einer solchen 61
Differenzierung. Wenn jemand liest, dass »Furcht von einem neuralen Regelkreis abhängt, der die Unversehrtheit des Thalamus und des Mandelkerns voraussetzt«, wird er dieser Feststellung eine Bedeutung entnehmen; doch leider sind die Bedeutungen, die sich daraus entnehmen lassen, verschieden. Neurowissenschaft ler denken dabei an Ratten, die bei Erschallen eines Tons, der mit Schmerzempfinden verbunden ist, erstarren. Klinische Psychologen und Psychotherapeuten denken an Patienten, die von ihrer Furcht berichten, ein Restaurant zu besuchen. Die Vieldeutigkeit wird um ein beachtliches Maß verringert, wenn wir den ersten Satz ersetzen durch: »Wenn eine Ratte eine konditionierte Erstarrungs-Reaktion auf einen Ton erwirbt, der mit einem elektrischen Schlag verbunden ist, so beansprucht dies den Thalamus, den Mandelkern und die zentrale Graue Substanz.« Jetzt erst wird der Wahrheitswert für uns ermittelbar. Das Problem bei sehr vielen Werken wissenschaftlicher Literatur ist, dass die Gelehrten öfter Sätze des ersten Typus als des zweiten formulieren. Selten spezifizieren sie die Versuchsteilnehmer (Ratten), den Kontext (den Vorgang der Konditionierung im Labor) und die Quelle der Evidenz (Erstarren aufgrund eines Geräuschs). Wahrscheinlich kann eine Reihe von Geschehnissen, seien sie aversiv oder diskrepant, den Thalamus, den Mandelkern und ihre Projektionen aktivieren, auch wenn das Resultat dieser Aktivierung keineswegs immer ein Furchtzustand sein muss. Ein Mensch wird sich wohl fürchten, wenn ein großes Tier im Begriff ist, ihn anzugreifen, aber er wird vom Lärm eines Pressluft hammers 62
belästig sein, angeekelt von einem scheußlichen Geruch und aufgeregt, wenn er gleich seinen ersten Fallschirmsprung wagt. Der Thalamus, der Mandelkern und ihre Projektionen können bei all diesen vier Zuständen beteiligt sein. Vor vielen Jahren glaubten die meisten Psychologen, dass bestimmte Kerne im Hypothalamus der Sitz des Hungers seien, weil Tiere fraßen, wenn diese Neuronen stimuliert wurden, auch wenn sie keinen Nahrungsmangel litten und das Essen ihnen wahrscheinlich keine Befriedigung bereitete. Doch neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Neuronen in Wirklichkeit die Basis für einen diffuseren Zustand sind, der zu verschiedenen Verhaltensweisen führt, die jeweils vom unmittelbaren Kontext abhängen. Wenn Futter vorhanden war, aßen die Tiere; wenn ihnen Wasser angeboten wurde, tranken die Tiere; und wenn kleine Holzstückchen auf den Käfigboden gelegt wurden, holten die Tiere sie.30 Ich vermute, dass es mit dem Mandelkern eine ähnliche Bewandtnis hat. Vergegenwärtigen Sie sich ein Experiment, in dem der Mandelkern männlicher Ratten stimuliert wird: Der Kontext besteht dabei entweder aus sexuell empfänglichen Weibchen, einem Eindringling oder einer perzeptuellen Aufgabe, in der die Ratten zwischen einem großen Rechteck und einer kleinen Kugel unterscheiden müssen, um einen Futterhappen zu bekommen. Sollten die stimulierten Tiere ein stärkeres Paarungsverhalten zeigen, aggressiver auf den Eindringling reagieren und schneller die Formen unterscheiden – alles Möglichkeiten bei nicht zu 63
intensiver Stimulierung –, dann müssen wir feststellen, dass der Mandelkern wie der Hypothalamus an verschiedenen Zuständen teilhat und verschiedene, vom Kontext abhängige Verhaltensweisen vermittelt. Wie bei der Aktivierung des Hypothalamus muss auch die Stimulation des Mandelkerns keineswegs Furchtzustände hervorrufen. Die Pheromone, die von Schafen in der Brunst ausgeschüttet werden und die Nervenbahnen des Geruchssinns anregen, erregen ebenso den Mandelkern von Widdern, und Projektionen vom Mandelkern zum Hypothalamus führen zu hormonalen Veränderungen, die sexuelle Begierde wecken und keine Furcht.31 Die Erkenntnis der wichtigen Rolle von lokalen Kontexten kann die Neurobiologie und die Psychologie vielleicht näher zusammenbringen. Die kürzliche Wiederannäherung von Evolutions- und Entwicklungsbiologie, die über ein Jahrhundert voneinander getrennt waren, liefert hierfür ein verheißungsvolles Beispiel. Die Erstere beschäftigt sich mit den zahlreichen Vorgängen, die an der Evolution der Tausenden von Spezies beteiligt waren, welche die Vielfalt des Lebens ausmachen, während Letztere sich mit den Prozessen befasst, die mit der präund postnatalen Entwicklung des Individuums zusammenhängen. Der Evolutionsforscher weiß, dass Genmutationen für die Entstehung neuer Arten von zentraler Bedeutung sind, während der Entwicklungsforscher bis vor kurzem noch Gene als stabile Moleküle ansah, die gleichzeitig im gesamten körperlichen Gewebe wirksam sind. Diese ältere Vorstellung war unvereinbar mit den dramatischen Veränderungen im Gehirn und im Verhal64
ten, die die individuelle Entwicklung kennzeichnen. Als jedoch Molekularbiologen entdeckten, dass Gene nicht immer in allen Zellen gleichzeitig aktiv sind, sondern wahlweise nach einem zeitlich dynamischen Muster aktiviert und deaktiviert werden, wurde es klar, dass Gene sowohl zur Evolution wie zur Entwicklung beitrugen. Heute besteht eine ungelöste Spannung zwischen Neurobiologen, die davon ausgehen, dass Körper- und Hirnstrukturen die Zahl und Art der menschlichen Gefühlszustände bestimmen, und jenen Sozial- und Geisteswissenschaft lern, die glauben, dass die Kultur wesentlich zur Vermehrung oder Verringerung der Anzahl wie der Varietät von psychischen Zuständen beiträgt. Niemand zweifelt daran, dass das visuelle System des Menschen die Wellenlängen determiniert, die der Mensch wahrnehmen kann. Gleichwohl kann ein Maler eine Vielzahl von verschiedenen Schattierungen für jede der sichtbaren Farben schaffen. Das Gleiche lässt sich über Gefühle wie die Furcht sagen. Kulturforscher sind davon beeindruckt, welche unterschiedlichen Gefühlsformen und Bewältigungsstrategien es bei denen gibt, die sich vor Krankheit, Tod, Hexen, Ablehnung, Gott, gefährlichen Tieren und Versagen fürchten. Eine nützliche Maxime in den Naturwissenschaften lautet: Wenn du auf einen Widerspruch stößt, differenziere. Eine Kompromissposition argumentiert, dass die Aktivierung eines besonderen Hirn-Regelkreises, die einen bestimmten körperlichen Zustand hervorruft, die biologische Grundlage einer Familie von verbundenen, aber nichtdestoweniger verschiedenen menschlichen Gefüh65
len ist. Das Gehirn beschränkt die Menge und die Art der möglichen menschlichen Gefühle, doch hängt kein Hirnstatus deterministisch mit einem speziellen menschlichen Gefühl zusammen. Die Ereignisse aus der Vergangenheit des Individuums und der gegenwärtige Kontext können verschiedene psychische Erfahrungen, Gedanken und Handlungen in zwei Individuen hervorrufen, die sich für einen Zeitraum von mehreren Sekunden im gleichen Hirnstatus befinden. Diese Möglichkeit ist analog zu isometrischen Kristallen, die genau die gleiche chemische Zusammensetzung haben, aber verschiedene Eigenschaften. In gewisser Hinsicht erinnert die Schwierigkeit, zwischen Gefühlen und Verhaltensweisen einerseits und Zuständen des Gehirns andererseits eine Verbindung herzustellen, an die frustrierenden Erfahrungen der Physiker, die versuchen, den Zusammenhang zwischen Newtons Gesetzen der Mechanik und den elektrodynamischen Prozessen herzustellen, die auf subatomischer Ebene stattfinden. Ein großer Teil des Verhaltens ist punktuell, zielorientiert und von Gefühlen bestimmt. Keines dieser Merkmale trifft auf Neuronen oder Regelkreise zu. Neuere Entdeckungen in der molekularen Evolution erweisen sich als wichtig für die Diskontinuität von Phänomenen, die im Gehirn und in der Psyche angesiedelt sind. Es scheint, dass viele kleine Änderungen in DNASequenzen keinerlei funktionale Folgen für die Physiologie oder Anatomie der Tiere haben.32 Analog könnte man annehmen, dass viele spontane Änderungen in synaptischen Konfigurationen ohne funktionale Auswirkungen 66
auf die Gefühle, Gedanken und Handlungen eines Individuums sind. Sollte sich diese Vermutung bewahrheiten, müssen wir eine theoretische Kluft zwischen Gehirn und Bewusstsein annehmen wie die zwischen den DNA-Sequenzen, die das Genom umfassen, und den Eigenschaften des Phänotyps. Kein Physiologe würde den Zucker- oder Fettsäurespiegel des Blutes, die beide Hunger anzeigen, mit der subjektiven Erfahrung des Hungrigseins verwechseln. Ebenso würde niemand annehmen, dass die neuralen Regelkreise, die mit dem bewussten Gefühl der Furcht in Beziehung stehen – und vielleicht sogar notwendig dafür sind –, identisch mit der subjektiven Erfahrung der Furcht sind oder sie allein begründen. Furcht ist mehr als das Bewusstwerden einer Entladung des limbischen Systems. Die Biologie des Gehirns stellt den grundlegenden Rahmen für eine Reihe von psychischen Geschehnissen zur Verfügung, gerade so wie ein großes Freiluftgehege die Tiere in einen bestimmten Raum zwingt, ohne damit irgendeine Art der Gruppierung unter den Tieren zu bedingen. Der psychologische Prozess, der von einem bestimmten Hirnstatus aktualisiert wird, ist eine Funktion dessen, was Philosophen Grenzbedingungen nennen. Die Gedanken einer Person, die vollkommen ruhig in einem Computertomographen liegt, lassen sich nicht nach dem Muster der Stoff wechselaktivität voraussagen, weil Grenzbedingungen, psychologisch gesprochen, die Gedanken determinieren, die gedacht werden. Der psychische Vorgang hat eine Struktur, die sich von der Struk67
tur von Gehirnvorgängen ableitet, aber sich zugleich davon unterscheidet. Mehr noch, ein bestimmter Hirnstatus – zum Beispiel die Aktivierung des Mandelkerns, des Sympathikus und der zentralen Grauen Substanz – können die Grundlage für mehr als nur einen psychischen Zustand sein, so wie ein bestimmtes Gen zu mehr als nur einer körperlichen Eigenschaft oder einem physiologischen Prozess beitragen kann. Die Wissenschaft ler, die glauben, dass ein Furchtzustand jedes Mal eintritt, wenn ein bestimmter Hirn-Regelkreis aktiviert wird, vernachlässigen zu sehr den Einfluss des unmittelbaren Kontexts und des biografischen Hintergrunds der Person. Die Tagebücher von John Cheever, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts starb, und das Tagebuch und die Briefe von Alice James, der Schwester von William und Henry James, die etwa hundert Jahre früher starb, legen die Vermutung nahe, dass beide Autoren eine ähnliche, wenn nicht sogar identische Neigung zu einer chronisch dysphorischen, melancholischen Gefühlslage hatten.33 Doch Cheever, dessen Vorstellungen über die menschliche Natur geformt wurden, als die freudschen Theorien auf dem Vormarsch waren, ging davon aus, dass seine Anfälle von Depression mit Kindheitserlebnissen zusammenhingen, und er nahm Tabletten und suchte psychotherapeutische Hilfe, um die Konflikte zu überwinden, die seiner Ansicht nach seine Familie geschaffen hatte. Cheever deutete seine Depression als eine Folge seiner vergangenen Erfahrungen. »In Wahrheit habe ich wegen der Geschäftstätigkeit meiner Mutter und meiner Vernachlässigung immer überemp68
findlich auf Frauen reagiert, die nicht fürsorglich genug waren … Ich will mich selbst heilen, nicht die Welt, und doch habe ich – vielleicht zu Unrecht – das Gefühl, dass einige meiner Ängste darauf zurückzuführen sind.« Im Gegensatz dazu glaubte Alice James, die im Sommer 1848 geboren wurde, wie die überwältigende Mehrheit ihrer Zeitgenossen, dass sie ihr nervöses, mürrisches Temperament geerbt hatte und dass ihre Kindheitserlebnisse nichts dazu beitrugen. Die öffentliche und medizinische Meinung ging davon aus, dass Frauen – und insbesondere gebildete Frauen – anfällig für Neurasthenie und Depressionen waren, weil sie über ungenügende psychische Energie verfügten. Nachdem Alice James mit neunzehn Jahren einen ernsten Zusammenbruch hatte, schrieb sie: »Ich sah so deutlich, dass es einfach ein Kampf zwischen meinem Körper und meinem Willen war … Wenn man als moralische und natürliche Ausrüstung ein Temperament hat, das einem verbietet, auch um nur einen Zentimeter zu weichen oder einen Muskel zu entspannen, dann ist es ein unablässiger Kampf … In diesem Totsein, das Leben genannt wird, liegt das Lebendige, das schöpferische Ringen im Würgegriff des Ererbten.« Da Miss James ihr genetisches Erbe nicht ändern konnte, entschied sie sich nach zehn Jahre währendem Leiden für den Freitod. Die kulturellen Kontexte, in denen beide Autoren lebten, beeinflussten zutiefst ihr Verständnis für ihre Gefühlsdisposition und wie sie damit umgingen – und damit ihr privates Gefühlsleben. Selbst wenn Cheever und James exakt die gleiche genetische Anlage zur Schwermut geerbt hätten, wären ihre 69
Gefühlszustände keineswegs identisch gewesen, weil sie in verschiedenen historischen Epochen und Erfahrungszusammenhängen lebten. Alle Beschreibungen setzen unausgesprochene Kontraste voraus. Die Einsicht der Relativitätstheorie war, dass man die Geschwindigkeit eines Objekts erst feststellen kann, wenn man einen Bezugsrahmen dafür gewählt hat. Als Cheever über die Gründe seiner Depression nachdachte, wählte er als Kontrast eine familiäre Lebenswelt, in der die seelischen Bedürfnisse von Kindern befriedigt werden. Für Alice James bestand der Kontrast in der Ererbung eines heiteren Temperaments. Beide wählten einen verschiedenen Bezugsrahmen für ihre Gefühlssituation, und ebenso verschieden war beider Zugang zu ihrer Arbeit, zu ihren menschlichen Beziehungen und zu ihrer Zukunft. Das Kontrastprinzip gilt für alle Erklärungen von Ereignissen, bis hin zu einem so schlichten Geschehen wie dem Fliegen eines Ahornblatts im Wind. Die Annahme, dass das Blatt sich aufgrund der Abnahme von Licht und Wärme im späten September vom Zweig löst und im Wind fliegt, setzt als Kontrast den Zustand des Baums im Juli voraus. Wenn allerdings das Blatt an einem stürmischen Tag im Mai vom Baum gerissen wird, ist der zutreffende Kontrast ein milder Tag, und die Erklärung basiert statt auf Abnahme der Licht- und Wärmezufuhr auf Luftströmungen. Die Spezifizierung des Kontexts liefert den notwendigen Kontrast und vermindert die Mehrdeutigkeit. Jede kausale Begründung eines psychischen Prozesses hat mindestens eine andere kontrastierende und ver70
nünftige Begründung zur Seite. Denken Sie an einen älteren Collegestudenten, der häufige Anfälle von Apathie, Schlafprobleme, schlechte Noten, keine befriedigenden Hobbys oder sportlichen Ehrgeiz hat und auch keine Freundin. Sucht dieser junge Mann eine psychologische Beratungsstelle der Universität auf, wird er wahrscheinlich als depressiv eingestuft in der Annahme, dass sein emotionaler Zustand die Hauptursache seiner Probleme ist. Andernorts oder zu einer anderen Zeit hätte ein Beobachter vielleicht seine schlechten Noten, seinen Mangel an Hobbys oder die Abwesenheit einer Freundin für seine emotionalen Probleme verantwortlich gemacht. Jede Klassifizierung führt natürlich bereits eine eigene Heilungsstrategie mit sich. Wenn der Psychologe sein Augenmerk auf das subjektive Angstgefühl des Patienten lenkt, wird er Medikamente verschreiben oder eine Therapie vorschlagen, um die emotionale Befindlichkeit zu ändern. Doch wenn er in den schlechten Noten das vordringliche Problem sieht, wird er einen Tutor empfehlen, und wenn er das unausgefüllte Liebesleben am wichtigsten erachtet, wird er den jungen Mann ermutigen, eine Partnerin zu finden. Unsere heutigen Kategorien der menschlichen Persönlichkeit basieren auf Kontrasten, die in diesem historischen Moment für nordamerikanische und europäische Psychologen gültig sind. Der Begriff der Persönlichkeit hat keine universelle Geltung und kann sie vielleicht auch nicht haben, denn die historischen und kulturellen Bedingungen entfalten wichtige Einflüsse auf die Verhaltensweisen und Gefühlswelten, nach denen sich die Mit71
glieder einer bestimmten Gemeinschaft am besten voneinander unterscheiden lassen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen Charaktere wie der hysterische oder der neurotische Typus stellvertretend für Profile, die Freud in bestimmten Kindheitskonflikten angelegt sah. Nachdem Freuds Theorie an Glanz verlor, bezogen Psychologen die Definition der Persönlichkeit nunmehr auf Typen sozialen Verhaltens und Empfindens, wie sie für Nordamerika und Europa wesentlich waren. Heute beziehen sich die so genannten primären Persönlichkeitstypen auf die feststehenden Eigenschaften von Extroversion (versus Introversion); Pflichtbewusstsein (versus Rücksichtslosigkeit); Liebenswürdigkeit (versus Reizbarkeit); Neurotizismus (versus emotionale Stabilität); und Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen (versus einem Mangel an intellektueller Neugier). Diese schmale Auswahl blendet nicht nur den Kontext aus, sondern sie übersieht eine große Zahl von Persönlichkeitstypen, die nicht so häufig auftreten. Zum Beispiel ist eine kleine Gruppe von Erwachsenen durch einen extremen Grad an Narzissmus, Größenwahn und minimale Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer charakterisiert. Diese Erwachsenen lassen sich kaum einer der oben angeführten Hauptkategorien einverleiben. Die Persönlichkeitsbegriffe der Chinesen in der MingDynastie hätten wahrscheinlich auch Verschiedenheiten im Verfolgen sinnlicher Freuden berücksichtigt – eine Kategorie, die unter den gegenwärtig gehandelten Persönlichkeitstypen nicht vorkommt. Die Spartaner im alten Griechenland hätten den Mut für eine der wichtigsten 72
Eigenschaften der Persönlichkeit gehalten und die Hebräer des Alten Testaments hätten vielleicht gern das Mehr oder Weniger an Götzenanbetung als Maßstab berücksichtigt gewusst. In gewisser Hinsicht gleichen Persönlichkeitstypen dem Wetterbericht. Die Art, wie das Wetter in Neuengland wiedergegeben wird – Sturm, Regen, bewölkt, kalt, sonnig – lässt sich kaum auf das Wetter anwenden, das an den meisten Tagen in der Sahara herrscht. Vielleicht werden eines Tages Psychologen menschliche Eigenschaften entdecken, die die gleiche Mischung von biologischen und erfahrungsmäßigen Einflüssen in allen Kulturen aufweisen – ein ähnlich universal gültiges Paradigma wie die Lichtgeschwindigkeit. Doch dieser Tag, wenn es ihn denn je geben wird, liegt noch in ferner, ferner Zukunft.
Bewusstsein Die gegenwärtige Flut von Schriften über das Bewusstsein lässt es als lohnend erscheinen, an diesem Thema die Probleme aufzuzeigen, die aus einem ungenauen Gebrauch von Begriffen resultieren. Obwohl die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Stimmungen aus Prozessen herrühren, die nie unser Bewusstsein erreichen, ist eine seiner Aufgaben, die Flut von Informationen zu interpretieren, die schließlich zur Wahrnehmung vorstößt. Dass es im Vokabular der alten Griechen kein einzelnes Wort für Bewusstsein gab, deutet vielleicht darauf hin, dass sie bereits erkannten, dass kein einzelner Begriff eine 73
solche Vielfalt von Phänomenen abdecken kann, wie wir sie etwa in unserem Wort zusammenfassen. Die Tatsache, dass hirngeschädigte Patienten verschiedene Figuren unterscheiden können, während sie gleichzeitig sagen, dass sie nichts sehen können – sie nehmen nicht bewusst wahr, was sie ganz richtig tun –, verleiht dem Begriff der Bewusstheit eine besondere Bedeutung.34 Ein weiteres Beispiel stammt aus der Untersuchung eines hirngeschädigten Erwachsenen, der verschiedene Farbtafeln erkennen, aber ihnen keinen Farbbegriff zuordnen konnte, das heißt, ihm war die Bedeutung des Begriffs nicht bewusst. Nichtsdestoweniger zeigte er, wenn ein Farbbegriff in davon abweichender Farbe abgedruckt war – zum Beispiel »Rot« in blauen Lettern – und der Patient die Farbe der Buchstaben nennen sollte, ohne die Bedeutung des Wortes zu berücksichtigen, das gleiche Zögern wie normale Individuen, was den Schluss nahe legt, dass auf einer unbewussten Ebene die Bedeutung des Farbbegriffs verstanden wurde.35 Die derzeitige philosophische Diskussion dreht sich darum, ob das Bewusstsein nur ein spezieller hirnphysiologischer Zustand ist oder ob Bewusstsein oder eher seine verschiedenen Ausformungen eine Erscheinung mit autonomen Prinzipien und psychologischen Merkmalen ist. Daniel Dennett schlägt als Lösung für das schwierige Problem der Beziehung zwischen psychologischer und physiologischer Auffassung vor, dass Bewusstsein nicht an irgendeinem Ort im Gehirn angesiedelt ist, sondern das Ergebnis einer Reihe von wetteifernden Hirn-Regelkreisen ist. Während diese Idee uns zu der fruchtbaren 74
Annahme drängt, dass es vielfältige Zustände von Bewusstsein gibt, kommt sie zur gleichen Zeit der Auffassung sehr nahe, dass das Bewusstsein nicht mehr als ein besonderes Profil neuraler Aktivität darstellt. Bewusstsein ist dann immer schlicht und einfach nichts anderes als ein Regelkreis, der sich durchsetzt. Dieser Schluss versäumt nicht nur zu erklären, was wir gern verstehen möchten – dass wir ein Bewusstsein von unseren Gefühlen und Gedanken haben –, er versäumt es auch, die psychologischen Merkmale zu spezifizieren, welche die verschiedenen Formen des Bewusstseins von anderen Produkten der Hirnaktivität unterscheidet wie Überraschung, Verstehen oder Apathie, die nicht gleichbedeutend mit Bewusstsein sind.36 Dennett sieht in der Sprache die zukunftsweisende Fähigkeit, die den Menschen ihre biologische Überlegenheit verlieh, und außerdem die natürliche Gabe, die für das Bewusstsein unerlässlich ist. Gerald Edelman, der ebenfalls die Rolle der Sprache betont, unterscheidet zwischen primärem Bewusstsein, das die Gegenwart kategorisiert und mit Vergangenem vergleicht, und einem Bewusstsein höherer Ordnung, das Sprache beinhaltet. Letzteres bedarf des primären Bewusstseins, fügt aber einen Akt der Selbstreflexion hinzu. Edelman glaubt wie Dennett, dass wir das Bewusstsein oder seine vielfältigen Formen nicht verstehen können, wenn wir keine wesentlichen Einsichten in die Entwicklung und neurophysiologischen Funktionen des Gehirns gewinnen, insbesondere in die reziproken Beziehungen unter verschiedenen Gruppen von Neuronen.37 75
Die Tatsache, dass das menschliche Bewusstsein aufgrund evolutionärer Veränderungen im Gehirn möglich wurde, meint keineswegs, dass alle wahren oder theoretisch sinnvollen Aussagen über das Bewusstsein Beschreibungen über Hirnkonfigurationen beinhalten müssen. Boyles Gas-Gesetze beschreiben exakt die Beziehungen zwischen Druck, Volumen und Temperatur eines Luftbehältnisses ohne die geringste Bezugnahme auf die Gesetze der Quantenmechanik. Sowohl Gottlob Frege wie Bertrand Russell mussten nach Jahren zugeben, dass ihr Versuch, die Mathematik auf eine Anzahl von logischen Sätzen zurückzuführen, gescheitert war. Die Mathematik bleibt ein autonomer Bereich des Wissens, nützlich und schön, aber ohne eine offenbare Grundlage in der elementaren Logik. Bewusstsein lässt sich am besten als ein System von emergenten Phänomenen beschreiben, die bestimmte Hirnprozesse benötigen, mit denen sie aber nicht identisch sind. Die Wahrnehmung eines Kindes, wie eine Möwe in einem Bogen zum Meer hinuntertaucht, ist nicht identisch mit einer Beschreibung der neuralen Regelkreise, die diese Wahrnehmung möglich machen. Die für die Atome und Moleküle verantwortlichen Kräfte agieren, um sie zu erhalten und um eine Änderung des Status quo zu verhindern. Doch Lebewesen, die aus diesen Atomen und Molekülen hervorgehen, entwickeln sich exakt wegen ihrer Fähigkeit, sowohl interne wie externe Veränderungen zu erkennen und darauf zu reagieren, indem sie ihren Zustand ändern.38 Neuronen reagieren auf Änderungen in der Neurotransmitter-Konzentration, in76
dem sie ihre Aktivität ändern; Regelkreise reagieren auf Änderungen im sensorischen Input, indem sie ihre projizierten Ziele ändern; Organismen reagieren auf Änderungen der Energie in der Umwelt, indem sie ihr Verhalten ändern. Die Sensibilität für Veränderungen ist der Schlüssel zum Überleben eines Organismus, und doch ist diese wesentlichste Eigenschaft den Atomen und Molekülen, die den Organismus konstituieren, nicht inhärent. Es ist wahrscheinlich, dass das Bewusstsein so vollständig von der Aktivität in neuralen Regelkreisen abhängt wie die Regelkreise selbst von den Atomen und Molekülen abhängen, aus denen sie gebaut sind. In einer gelungenen Versuchsreihe, die die partielle Unabhängigkeit von Hirnprozessen und Bewusstheit aufzeigen wollte, wurde Erwachsenen ein emotional abstoßender Film gezeigt, und zwar mithilfe eines Apparats, der dem Forscher erlaubte, den Film entweder der rechten oder der linken Gehirnhälfte der Versuchsperson zu zeigen. Es war bereits bekannt, dass bei einer Konfrontation der rechten Gehirnhälfte mit emotional aversivem Material – indem die Informationen im linken Gesichtsfeld gezeigt werden – der Kortisolspiegel und der Blutdruck, die physiologische Anzeiger für erhöhten Stress sind, höher steigen als wenn die Informationen dem rechten Gesichtsfeld gezeigt werden. Die Versuchspersonen in dieser Untersuchung zeigten wie erwartet höhere Kortisolwerte, wenn der Film mehr der rechten als der linken Gehirnhälfte gezeigt wurde. Als die Erwachsenen jedoch den Grad ihrer emotionalen Erregung angaben, zeigten sie sich nicht stärker emotional betroffen, wenn 77
der Film der rechten statt der linken Gehirnhälfte dargeboten wurde. Das heißt, dass der bewusste emotionale Zustand mit den physiologischen Hirnreaktionen keinerlei Verbindung aufwies.39 Trotz ähnlicher Ergebnisse, welche die partielle Unabhängigkeit von bewusster Wahrnehmung und Hirnstatus belegen, schreiben einige Neurophysiologen so, als ob Sätze, die den neurophysiologischen Zustand des Gehirns beschreiben, genauer wären als solche, die einen psychologischen beschreiben, und daher an deren Stelle treten sollten. Eine Gruppe von drei Forschern verwendete die Formulierung von »befriedigenden Ereignissen« für die Erreichung aller erwünschten Ziele, als ob Essen, Sex, Sicherheit und Wärme den gleichen neurobiologischen Regeln folgten, nur weil die neuronalen Stränge, die Dopamin als primären Transmitter benutzen, an wünschenswerten Ereignissen beteiligt sind. Doch neuere Erfahrungen deuten eher darauf hin, dass Dopamin mehr mit der Konzentration auf ein neues oder herausragendes Ereignis zu tun hat als mit den Glückszuständen, die das Ereignis hervorruft.40 In einem anderen Experiment wurden Erwachsene gebeten zu entscheiden, ob ein Wort, das auf einem Bildschirm erscheint, zu einem Lebewesen gehört oder nicht. Das Profil der Gehirnaktivität änderte sich je nachdem, ob die Person, die ihre Entscheidung traf, diese laut aussprach, durch einen Knopfdruck bekundete oder still für sich dachte. Die verschiedenen Formen, in denen die Versuchspersonen ihre Aufgaben zu lösen versuchten, beeinflusste ihren Hirnstatus. Das Muster von Muskel78
spannung, Herzfrequenz, Gehirnwellen, Hautleitvermögen, Temperatur und Atem variiert ebenso mit der spezifischen Aufgabe, je nachdem ob eine Person sprach, sich konzentrierte oder ein Bild ansah, das Furcht, Ärger oder Freude hervorrufen sollte. Und es gab keine Beziehung zwischen dem Grad der Erweiterung der Blutgefäße im Gesicht, wenn eine Person errötete, und ihrer Auskunft darüber, wie verlegen sie im Moment war.41 Keines dieser Ergebnisse hätte sich zeigen können, wenn die bewussten Gedanken oder Gefühle einer Person in sklavischer Weise von den Vorgängen in ihrem Gehirn determiniert gewesen wären. Dramatische Fortschritte in der Neurowissenschaft haben viele Forscher mit der Überzeugung erfüllt, dass psychische Phänomene schließlich – und vielleicht vollständig – in biologischen Begriffen erfasst werden können. Der gegenwärtige Enthusiasmus, mit dem das Bewusstsein auf neurale Prozesse reduziert wird, erinnert an eine ähnliche Stimmungslage Ende des 19. Jahrhunderts, als verblüffende Fortschritte in der Physiologie die bedrohliche Metapher vom Menschen als Maschine in Umlauf brachten. Die Macht dieser Idee beruhte auf wissenschaft lichen Fortschritten, die eine materialistische Anschauung der menschlichen Moral und den Verfall der Ordnungsstrukturen in den Städten im Gefolge der Industrialisierung förderten. Manche Wissenschaftler behaupteten, dass der menschliche Geist schließlich auf die Aktivität von Atomen und Molekülen reduziert werden könnte. Anne Harrington hat dargelegt, dass diese Haltung als Gegenreaktion eine holistische Bewegung inner79
halb der deutschen Biologie, Physiologie und Neurologie ins Leben rief.42 Der Biologe Hans Dreisch bestätigte die Hoffnungen der Holisten, indem er zeigte, dass bei einem Schnitt durch ein befruchtetes, zweizeiliges Seeigel-Ei beide Hälften sich unabhängig voneinander zu einem ganzen Organismus entwickelten. Eine Maschine kann ein solches Wunder nie vollbringen. Heute nähren die außerordentlichen Entdeckungen von Neurowissenschaft lern und Molekularbiologen erneut die kleine Flamme einer holistischen Rebellion, die an die Gestalt-Psychologie Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland erinnert. David Magnusson und Robert Cairns, führende Vertreter der neuen Bewegung, haben zwei Prämissen in die Debatte eingeführt, die auf Gestaltprinzipen von Max Wertheimer und Wolfgang Köhler zurückgehen.43 Die erste Prämisse besagt, dass die zu analysierende Einheit – dasjenige, das erklärt werden soll – eine Person in einem Kontext sein muss und nicht eine isolierte Eigenschaft dieser Person wie Erinnerungsvermögen, Gefühl, Glaube, Motiv, weil jede Eigenschaft alle anderen affiziert. Situative Reaktionsprofile, nicht einzelne, isolierte Prozesse, sind die Einheiten, die entweder bewahrt werden oder sich mit der Zeit ändern. Zweitens bestehen die neuen Anhänger des Holismus, auch wenn sie den wichtigen Einfluss von Genen und physiologischen Tatbeständen einräumen, darauf, dass das Verhalten eines Organismus nicht von seinen Genen festgelegt wird. Eine bestimmte Rattenart zum Beispiel besitzt Gene, die die Tiere zur Entwicklung eines erhöhten Blutdrucks 80
prädisponieren. Doch zu dieser Hypertonie kommt es nur, wenn das Junge von seiner leiblichen Mutter aufgezogen wird. Wird es von einer Ersatzmutter aufgezogen, bei der die genetische Anlage zur Hypertonie fehlt, entsteht das Symptom nicht. Eine vergleichbare Illustration geben Stämme von Mäusen, die eher zum Erstaren als zum Angriff neigen, wenn sie mit einer unbekannten Maus konfrontiert werden. Doch das Erstarren bestimmt nur das Verhalten der Mäuse, die isoliert aufgezogen werden. Wenn diese Mäuse in ihrer frühen Entwicklung auch nur kurz mit anderen Mäusen in Kontakt kommen, erstarren sie nicht mehr und greifen manchmal sogar ein unbekanntes Tier an, das in ihr Territorium eindringt.44 Die Gene, die diese Tiere zum Erstarren bringen, bedürfen einer spezifischen Umwelt bei der Aufzucht der Jungen. Verändert man die Umwelt, ändert sich das Ergebnis. Es gibt kein überzeugenderes Beispiel dafür, dass viele Fähigkeiten in den Genen eines Organismus angelegt sind und dass diejenigen, die ausgebildet werden, davon abhängen, welche besonderen Prozesse im Lebensverlauf stattfinden. Es wird die Geschichte eines Königs erzählt, der seinen Herolden den Auftrag gab, sämtliche Bücher des Königreichs in seinen Palast zu bringen. Die Bücher nahmen über die Hälfte des Palasts ein, und nachdem der König sie über mehrere Jahre hin studiert hatte, rief er seine weisesten Räte und Schriftgelehrten zu sich und forderte sie auf, die ganze Weisheit all dieser Bücher in einem einzigen Buch zusammenzufassen. Sie protestierten, dies sei unmöglich, doch als er es ihnen befahl, gingen sie 81
an die Arbeit. Etwa zehn Jahre später brachten sie dem König ein Buch von 600 Seiten, das, so behaupteten sie, die Weisheit all jener Bücher enthielte. Der König las es durch und rief danach die Räte und Schriftgelehrten erneut in den Thronsaal und sagte ihnen, er wolle, dass sie den Inhalt des Buches auf eine Seite brächten. Wiederum protestierten sie, aber schließlich gaben sie dem Wunsch des Königs nach. Fünf Jahre später überbrachten sie ihm eine einzige Seite. Er las die Seite durch, rief die Räte und Schriftgelehrten zu sich und befahl ihnen, die Seite in einem Wort zusammenzufassen. Sie murrten wie zuvor, aber beugten sich seiner Weisung. Einen Monat später übergaben sie dem König ein Stück Papier, auf dem das Wort stand: »Vielleicht.« Nach allem, was wir wissen, besteht eine partielle Autonomie von psychologischen und biologischen Vorgängen. Egal wie effektiv die Computertomographen in der Zukunft werden, den Wissenschaft lern wird es nie gelingen, den spezifischen Inhalt des menschlichen Denkens zu bestimmen, weder die mathematische Gleichung, die jemand löst, noch die Melodie, an die sich jemand erinnert – auch wenn die Forscher fähig sein mögen, von einer Person, die still im Computertomographen liegt, zu sagen, ob sie eher an Mathematik oder an Melodien denkt. Doch der Inhalt der Gedanken eines Menschen wird immer eine gewisse Unvorhersehbarkeit behalten, weil die Analyse auf jeder Ebene einer Grenze begegnet, hinter der kein Wissenschaft ler den nächsten Schritt vorhersagen kann. Dies ist der Grund, warum notwendig ein Stück Unsicherheit bestehen bleibt, wenn aufgrund der 82
Veränderungsrate der elektrischen Aktivität in den Neuronen, die für Augenbewegungen verantwortlich sind, vorausgesagt wird, wie schnell ein Affe mit seinen Augen einen Lichtpunkt verfolgen wird. Und warum eine Katze nach nur wenigen Vorführungen aufhört, ihren Kopf einem diskrepanten Ton zuzuwenden, obwohl Neuronen in ihrem Hippocampus unverändert reagieren, wenn der Ton überraschend erklingt.45 In beiden Beispielen besteht eine Dissoziation zwischen den Hirnprozessen und dem Verhalten der Tiere. Einige Wissenschaft ler geben sich mit diesem Grad an Unsicherheit nicht zufrieden, denn sie sind auf Fakten aus, die sich nicht widerlegen lassen. Sie gleichen Jägern, die, nachdem sie ein Geheimnis der Natur erlegt haben, es für immer unverrückbar als Trophäe an der Wand hängen haben wollen. Andere Wissenschaft ler sind wie Schachspieler, denen es Spaß macht, die komplexen Regeln ihrer Wissenschaft zu befolgen – die korrekten Zuordnungen zu Subjekten, die richtige Gewichtung der Verhältnisse, die angemessenste statistische Analyse. Die Schmetterlingsjäger – eine dritte Gruppe – arbeiten jahrelang auf einen ästhetischen Augenblick hin, der einer Entdeckung folgt, gleichgültig wie selten oder flüchtig er ist. Diese Forscher akzeptieren die zeitliche Begrenztheit aller wissenschaft lichen Verallgemeinerungen und werden von der Bescheidung »Vielleicht« am wenigsten getroffen. Einstein beschrieb Niels Bohr als einen solchen Mann, weil er »seine Ansichten wie jemand äußert, der immer auf der Suche ist, und nicht wie jemand, der glaubt, im Besitz der letzten Wahrheit zu sein«46. 83
Bewusstseinszustände lassen sich nicht auf die Sprache der Neurophysiologie reduzieren, sie müssen vielmehr in psychologischer Sprache beschrieben werden. Die Begriffe und Prinzipien, die schließlich Bewusstheit erklären können, werden sich von denen unterscheiden, die Hirn-Regelkreise beschreiben, welche die verschiedenen Formen begleiten, die das Bewusstsein annimmt. Diese Auffassung wurde abwertend als »dualistisch« bezeichnet; Dualisten, so wird behauptet, sind vom Teufel besessen, weil sie insgeheim an zwei verschiedene Ereignisse glauben, und zwar an geistige und körperliche. Aber Biologen werden nicht Dualisten genannt, wenn sie von Proteinen statt von DNS-Basispaaren reden, um die Baustoffe eines befruchteten Eis zu beschreiben. Ebenso wenig gelten Physiker als Dualisten, wenn sie ein mit Wasser gefülltes Gefäß mit den Begriffen des spezifischen Gewichts, der Oberflächenspannung und des Gefrierpunkts beschreiben, das individuelle Wassermolekül jedoch mit dem Begriff des Molekulargewichts. Wenn jemand einen Wasserfleck auf dem Tischtuch entdeckt, wäre es dann vernünftig, ihm zu sagen, dass, da weder Wassernoch Sauerstoff auf einem Tuch einen Flecken hinterlassen können, seine Wahrnehmung falsch sein muss? Ich wundere mich über diejenigen, die sich nicht mit der Notwendigkeit abfinden wollen, dass es eine Sprache für Gehirnprozesse und eine andere Sprache für psychologische Vorgänge gibt. Es lassen sich nicht alle Naturphänomene in einer Sprache beschreiben. Wissenschaft ler, für die das Bewusstsein nur ein biologischer Vorgang ist, wie die Übertragung einer Reihe 84
elektrischer Impulse von der Retina zum visuellen Kortex, wollen, dass das Buch des Verhaltens in einer einzigen Sprache geschrieben wird. Die Vorstellung, dass ein begriffliches System alle Hirnprozesse und psychologischen Prozesse erfasst, hat großen ästhetischen Reiz. Es ist in diesem Zusammenhang lohnend, Vernon Mountcastle zu zitieren, der von Neurophysiologen als einer ihrer bedeutendsten Kollegen angesehen wird: »Jeder mentale Prozess ist ein Hirnprozess, doch deswegen ist noch lange nicht jeder Satz, der von einem mentalen Prozess handelt, mit einem neurophysiologischen Satz identisch.«47 Keine Sprache kann jeden Aspekt im Naturgeschehen erfassen. Die Sprache kann meine Wahrnehmung der Seine an einem Sommermorgen nicht vollständig widergeben; das ist einer der Gründe, warum ich Monet schätze und Farbfotographien mache. Es besteht eine bleibende Kluft zwischen dem wahrgenommenen Phänomen und den Sätzen, die es beschreiben wollen, selbst wenn wir die Wahrnehmung auf eine einzelne sensorische Modalität beschränken. Wenn wir zu der Seine-Ansicht noch die sinnlichen Daten der Geräusche und Gerüche hinzunehmen, wird die Schwäche der Sprache noch offensichtlicher. Aussagen, die Wörter wie Fühlen, Hoffen, Bewegen, Schlagen und Essen enthalten, lassen sich nicht vollständig in Aussagen übersetzen, die Wörter wie NMDS-Rezeptoren, Glutamat, Synapse, Regelkreis, Impuls und dopaminerge Stränge enthalten, ohne beträchtlich an Sinn einzubüßen, auch wenn wir viele Korrespondenzen zwischen beiden Aussagen feststellen werden. Als sich die naturwissenschaft lichen Disziplinen in den letzten an85
derthalb Jahrhunderten ausbildeten, wendete sich jede einem anderen Aspekt der Natur als ihrem zentralen Forschungsgebiet zu. Chemiker, die Wälder verstehen wollten, studierten die Photosynthese der Pflanzen; Evolutionsbiologen untersuchten das Entstehen neuer Arten; Verhaltensbiologen erforschten das Verhalten von Raubtieren in dieser besonderen Nische. Sie alle sind Teilaspekte des Waldes, und es ist nicht möglich, sie in einer einzigen Sprache zu beschreiben. Es ist deswegen im Kern ein Streit zwischen Sprachpuristen, denen mehrere Sprachen als eine anstößige Unordnung erscheinen, und Pluralisten, die ohne größeres Unbehagen die Tatsache akzeptieren, dass kein einzelnes Begriffssystem alles abdecken kann, was wir beobachten oder zu erklären versuchen. Die Prozesse, die heute unter den Begriff des Bewusstseins fallen, werden sich einst verschiedenen Konzepten zuordnen lassen und verschiedene Begriffe erheischen. Ein Merkmal, das immer dem Bewusstsein zugeschrieben wird, ist die Bewusstheit gegenwärtig-sinnlicher Empfindungen, sei es außerhalb oder innerhalb des Körpers. Wir nehmen den süßen Geschmack von Schokolade, die Weichheit von Samt und den berauschenden Duft von Parfüm ebenso wahr wie Eindrücke, die im Körper selbst ihren Ursprung haben (das Gefühl der Entspannung nach einer sportlichen Betätigung oder quälende Magenkrämpfe). Diese Kategorie des Bewusstseins, die man sinnliche Bewusstheit nennen könnte, beruht auf einem speziellen Hirnstatus, in dem Edelman das primäre Bewusstsein sieht; Ned Block nennt es P-Bewusstsein (P-conscious86
ness).48 Wenn Erwachsene zwei verschiedenen Tönen ausgesetzt werden – einem 80 Prozent der Zeit, dem anderen 20 Prozent der Zeit –, zeigte ihr sympathisches Nervensystem nur dann Reaktionen, wenn sie bewusst auf die Töne achteten, nicht wenn sie ihnen keine Beachtung schenkten. Gleichwohl wurde die akustische Energie der Töne vom Gehirn aufgenommen, ob die Versuchsteilnehmer sich auf sie konzentrierten oder nicht.49 Wenn ein Stromschlag von niedriger Spannung auf die Haut geleitet und stufenweise erhöht wird, ist die Spannung, bei der eine Person sagt »Ich spüre etwas«, von Individuum zu Individuum in den verschiedensten Laboratorien bemerkenswert übereinstimmend. Doch wenn im Gegensatz dazu die Person sagen soll, ab wann die elektrische Stimulierung schmerzt, gibt es nur noch eine minimale Übereinstimmung von Individuum zu Individuum und von Laboratorium zu Laboratorium, und zwar deswegen, weil die Entscheidung, ob etwas Schmerz bereitet, einen höchst komplexen Urteilsprozess voraussetzt. Anscheinend ist ein Teil des Gehirns, der die vordere Hirnrinde des Cortex genannt wird, an diesem Urteilsprozess beteiligt, während der sinnliche Anteil des Schmerzempfindens von sensorischen Bereichen des Gehirns vermittelt wird.50 Ein Fußballer, der sich in einem Bundesligaspiel einen Knochen bricht, kann möglicherweise weiterspielen, ohne irgendeinen Schmerz zu empfinden, bis das Spiel vorbei ist. Ähnlich nehmen dreimonatige Kinder schwierige visuelle Unterscheidungsakte vor, obwohl sie keinerlei Ahnung davon haben, was sie tun. Dies ist der Grund, warum es unnötig ist, Tie87
ren Bewusstsein zuzuschreiben, denn sie handeln adaptiv mit offensichtlichen perzeptuellen und motorischen Fähigkeiten. Eine Unterscheidung zwischen sensorischer und kognitiver Bewusstheit – der Reflexion über eigene Erfahrungen oder Gedanken – ist analog zum Unterschied zwischen der unmittelbaren Erfahrung selbst und ihrer narrativen Beschreibung. Die Bewusstheit, dass wir uns an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in der Vergangenheit auf bestimmte Weise verhalten haben, ist, wie Endel Tulving glaubt, ein ausschließlich menschliches Charakteristikum.51 Kognitive Bewusstheit kann an Bilder gebunden sein, aber öfter beruht sie auf Wörtern. Sinnliche Bewusstheit aber bedarf keiner Symbole. Ein Wort, eine Wendung oder ein Satz verzerren die Erfahrung, indem sie jene Merkmale in einem Ereignis hervorheben, die eine semantische Bedeutung besitzen, während andere Merkmale, die nicht begrifflich erfassbar sind, unter den Tisch fallen. Die kognitive Bewusstheit einer »Belästigung« kann von einem Presslufthammer, einem tropfenden Hahn im Hotel, Zigarrenrauch in einem Warteraum oder grellem Scheinwerferlicht ausgehen, obwohl diese Ereignisse sehr verschiedene Formen sinnlicher Bewusstheit hervorbringen. Ähnlich erregt lautes Klopfen an der Schlafzimmertür intensiv verschiedene Stadien kognitiver Bewusstheit je nachdem, ob das Klopfen um neun Uhr morgens in einer Familienpension auf dem Lande oder um drei Uhr nachts in einem Hotel in Moskau ertönt. 88
Der Unterschied zwischen sinnlicher und kognitiver Bewusstheit lässt sich im Labor dingfest machen. Bei Erwachsenen, die eine Reihe von Bildern ansahen, die Gefahr, Tod und Krankheit symbolisierten, verstärkte sich zunehmend die Muskelspannung über den Augen, was anzeigte, dass sie sich kognitiv der Tatsache bewusst waren, dass wiederholt unerfreuliche Bilder gezeigt wurden. Doch zur gleichen Zeit nahmen bei diesen Erwachsenen die Leitfähigkeits-Reaktionen der Haut ab, denn der Überraschungspegel senkte sich, als die Reihe mit unerwarteten Bildern fortgesetzt wurde.52 Anders als die sinnliche Bewusstheit braucht die kognitive Bewusstheit keinen Stimulus von außen. Individuen können sowohl den Fluss wie die Logik und den Zusammenhang eines Gedankengangs wahrnehmen. Zukunftspläne gehören zu dieser Kategorie des Bewusstseins. Die menschliche Fähigkeit, Vorstellungen von etwas zu entwickeln, das erst Jahre später Wirklichkeit wird, mag erklären, warum wir die einzige Spezies sind, die sich so sehr über die Welt ausgebreitet hat. Vermutlich brachen die ersten Hominiden zu ihren Wanderungen auf, weil sie sich einen besseren Ort zum Leben vorstellen konnten. Das Hirnprofil, das sich ergibt, wenn ein Ereignis in seiner Bedeutung eingeordnet wird, ist wahrscheinlich ein anderes als das Profil, das die Basis der sinnlichen Bewusstheitskomponenten einer Erfahrung bereitstellt. Also scheint eine Unterscheidung zwischen sensorischer und kognitiver Wahrnehmung vernünftig zu sein, auch wenn die beiden fast gleichzeitig stattfinden. Eine dritte Form des Bewusstseins beinhaltet die be89
wusste Fähigkeit, sich für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden und die eigenen Handlungen und Gefühle zu kontrollieren. Der aufgeregte Jugendliche auf der Bühne des Schultheaters, der sich zwingt, keine äußeren Zeichen von Furcht zu zeigen, ist ein Beispiel dafür. Individuen erkennen die Möglichkeit verschiedener Verhaltensweisen, mit denen sich auf gegebene Situationen reagieren lässt, reflektieren über die Vor- und Nachteile einer jeden und wählen eine der Alternativen. Wir können diesen Aspekt des Bewusstseins Bewusstheit der Kontrolle oder Kontrollbewusstsein nennen; für die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts war dies der »Wille«. Kontrollbewusstsein wird, anders als kognitive Bewusstheit, häufig von einem Gefühl der Dringlichkeit hervorgerufen, das der kognitiven Bewusstheit fehlt, oder auch von einer Lage, in der verschiedene Zwänge miteinander konkurrieren. Ein Gefühl der Wut drängt zu einer Reaktion, der Wunsch, eine Tätlichkeit zu unterdrücken, zu einer anderen. Schließlich sind sich die Individuen gewisser symbolischer Kategorien bewusst, die zum Selbst gehören. Viele Psychologen nennen diesen Prozess Selbstbewusstsein; ich ziehe die Formulierung Bewusstheit von Selbstmerkmalen vor. Auch wenn die meisten Menschen nicht alle ihre Eigenschaften kennen, sind sich die meisten ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer Gesundheit, ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer Begabungen und Gefühlsneigungen bewusst. Das Nachdenken über jede dieser Kategorien wird nicht notwendig von einem Gefühl, einem Drang zu handeln oder einem Plan gefolgt. 90
Diese vier Formen des Bewusstseins entwickeln sich wahrscheinlich nicht gleichzeitig. Schimpansen sind sich wohl des Geschmacks bestimmter Früchte und der schwankenden Licht- und Schattenmuster auf dem Waldboden sinnlich bewusst, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie die drei anderen Bewusstseinsformen besitzen. Ich bezweifle, dass Affen sich einer fernen Zukunft bewusst sind, über die Vergangenheit nachdenken und sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie eine angstgetriebene Flucht vor einer zukünftigen Drohung unter Kontrolle halten wollen. Weiskrantz bemerkt, dass »die Fähigkeit, etwas zu kommentieren, das ist, was man darunter versteht, sich über etwas bewusst zu sein, und solches Bewusstsein hervorbringt«53. Ich glaube, dass Affen keine Kommentare abgeben können. Es ist auch von Bedeutung, dass die vier Bewusstseinsformen nicht zur gleichen Zeit in der Entwicklung des menschlichen Individuums hervortreten. Sinnliche Bewusstheit ist bei der Geburt noch nicht vorhanden, aber sicher vor dem Ende des zweiten Geburtstags etabliert. Dagegen treten die kognitive Bewusstheit und das Kontrollbewusstsein nicht vor dem vierten oder fünften Lebensjahr in Erscheinung. Zweijährige können sich nicht daran erinnern, wo sie sich vor einer Woche aufgehalten und was sie dort beim Mittagessen getan haben. Überdies sind die meisten kleinen Kinder bis zu ihrem sechsten oder siebten Lebensjahr unfähig, eine halbwegs konsistente Kontrolle über ihre Angst und Wut auszuüben, und die meisten der wichtigen symbolischen Kategorien, zu denen sie gehören, werden 91
ihnen nicht vor ihrem neunten oder zehnten Lebensjahr bewusst. Wie jede Bewusstseinsform hervortritt und sich im Laufe ihrer Entwicklung vervollkommnet, verleiht sie den menschlichen Funktionen eine neue Qualität, so wie die Sprache das Denken um ein spezifisch neues Element bereichert. Eine Person ohne symbolische Sprache empfindet den süßen Geschmack von Schokolade und die Wärme des Kaminfeuers, doch diese Empfindungen bleiben isoliert. Eine Person, die über Sprache verfügt, ordnet beide sinnlichen Erfahrungen als gut ein. Die Anwendung dieses kategorialen Begriffs verändert die Repräsentation des Geschmacks und der Wärmeempfindung, da sie sich beide um eine mit anderen geteilte symbolische Qualität gruppieren. Keine der Empfindungen war vor dem Entstehen der Sprache gut; beide sind es danach. Das symbolische Bezeichnen von Erfahrungen trägt wesentlich zu der Wahrscheinlichkeit bei, dass man sich an vergangene Ereignisse erinnern kann. Als Erwachsene nach ihren frühesten Erinnerungen gefragt wurden, konnten nur wenige sich an Erlebnisse vor ihrem zweiten Geburtstag erinnern.54 Die überwältigende Mehrheit erinnerte sich an Ereignisse nach dem dritten Lebensjahr. Diese Tatsache deutet daraufhin, dass das wahrnehmende Bewusstsein nach dem zweiten Geburtstag, wenn die Sprache sich eingestellt hat, sich qualitativ von den Bewusstseinsstadien während der beiden vorhergegangenen Jahre unterscheidet. Haben diese vier Formen des Bewusstseins eine ausrei92
chend große Anzahl von Merkmalen gemeinsam, um es zu rechtfertigen, dass wir das Bewusstsein als ein einheitliches Phänomen betrachten, oder ist es vielmehr sinnvoll, sie als qualitativ voneinander verschieden zu betrachten? Die Antwort hängt von unserem Erklärungsinteresse ab. An der Wahrnehmung von Farbe, Gestalt und Bewegung sind verschiedene Teile des Gehirns beteiligt. Die Neuronen, die aktiviert werden, um einen himmelwärts aufsteigenden roten Luftballon zu sehen, sind nicht die gleichen wie diejenigen, die aktiviert werden, wenn man einen feststehenden Lichtpunkt ins Auge fasst. Diese Tatsache legt eine Unterscheidung zwischen zwei Arten visueller Erfahrung nahe, auch wenn die Aktivierung des Thalamus und des Bereichs VI des visuellen Kortex allen Sehvorgängen gemeinsam ist. Stellen Sie sich ein isoliertes Land vor, dessen Bürger nichts über die biologischen Ursachen von Erkrankungen wissen. Es gibt keinerlei Kenntnis von Viren, Bakterien, Gefäßverengungen oder Krebs. Die Erwachsenen dieser Gemeinschaft wissen, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung gelegentlich über Niedergeschlagenheit, Müdigkeit, Schmerzzustände und mangelnde Spannkraft klagt, und sie nennen diesen Zustand Krankheit. Sie wissen, dass diese Kranken Ruhe brauchen, Zuwendung und Erholung, doch sie glauben, dass alle Krankheiten eine einzige Ursache haben, nämlich verdorbenes Essen. In diesem Erklärungsrahmen erscheint Krankheit als eine Einheit, obwohl sie in verschiedenen Gestalten auftritt. Wir wissen jedoch, dass Menschen für alle möglichen Krankheiten empfänglich sind, die verschiedenste Ursachen, Körper93
zustände, Prognosen und Funktionsstörungen aufweisen. Diese Unterschiede sind so hervorstechend, dass wir uns klugerweise darauf geeinigt haben, den Begriff der Krankheit in qualitativ verschiedene Zustände zu gliedern. Eine ähnliche analytische Strategie hilft uns auch bei dem Verstehen des Bewusstseins weiter. Wie bei dem Begriff der Furcht wird das Votum für verschiedene Formen des Bewusstseins von neueren Entdeckungen in der Neurowissenschaft gestützt. Der Zustand erhöhter Aufmerksamkeit, der einem unerwarteten Ereignis folgt – das kreischende Bremsen eines Autos oder Geräusche auf dem Dach –, wird zum Teil von norepinephrinhaltigen Axonen vermittelt, die im Locus ceruleus entstehen und zum Kortex projizieren. Im Gegensatz dazu wird der länger anhaltende Konzentrationszustand, den das Erlernen von Vokabeln einer Fremdsprache erfordert, hauptsächlich durch Azetylcholin-Projektionen zum Kortex vermittelt. Und die Konzentration einer Person, die Klavier spielt, wird in erster Linie von Dopamin-Projektionen zu den motorischen Zentren vermittelt. Die Menschen mögen sagen, dass sie sich in allen drei Situationen »aufmerksam« fühlen, aber ich nehme doch an, dass sie zwischen dem bewussten Wahrnehmungszustand, der einem nächtlichen Geräusch auf dem Dach folgt, und dem Gefühl unterscheiden können, das mit dem Erlernen russischer Vokabeln verbunden ist. Und physiologische Messungen würden wahrscheinlich zwei verschiedene Profile ergeben. Wenn die verschiedenen Formen des Bewusstseins in der Tat auf verschiedenen neurochemischen Strukturen basieren, dann ist 94
es vernünftig, davon auszugehen, dass es nicht nur ein Bewusstsein gibt.
Intelligenz Jede Gesellschaft erfindet Wörter, um die Variation in den Begabungen zu beschreiben, die sich zu ihrer Zeit besonderer Wertschätzung erfreuen. Dies ist der Grund, warum sich für die Annahme eines umfassenden Intelligenzbegriffs keine Entstehungszeit angeben lässt. Allerdings werden die beiden Behauptungen, dass Intelligenz erblich ist und objektiv gemessen werden kann – wie Körpergröße oder Gewicht –, gewöhnlich Darwins Vetter Francis Galton und seinem Buch Hereditary Genius aus dem Jahre 1869 zugeschrieben, obwohl Galton eher von »allgemeiner Fähigkeit« (general ability) als von Intelligenz spricht.55 Wie so oft im Fall von psychologischen Vorstellungen machten historische Bedingungen es unausweichlich, im Begriff der Intelligenz Differenzierungen vorzunehmen. Fast alle Kinder und Erwachsenen in dörflichen, landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften können die zum Überleben notwendigen Aufgaben meistern – pflanzen, ernten, kochen, waschen und Kinder großziehen. Deswegen ist es ziemlich unerheblich, mit welcher Schnelligkeit oder welchem Eifer die Aufgaben erlernt oder ausgeführt werden, und es gibt keinen zwingenden Grund, dem besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Doch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert schuf 95
ein spezielles Umfeld von Lebensbedingungen. Manche Aufgaben erforderten plötzlich mehr Fähigkeiten als pflanzen, kochen oder waschen, und in den europäischen Städten lebte eine große Zahl von Menschen, die nicht darauf vorbereitet war, in einen technisch organisierten Arbeitsprozess einzutreten. Die Bürger erkannten – wie wir heute auch –, dass für die meisten Kinder eine gute schulische Ausbildung notwendig war. Doch Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen ist für Kinder mitnichten so natürlich wie Holz zu sammeln oder auf kleinere Geschwister aufzupassen, und als man versuchte, den Kindern schulische Fertigkeiten beizubringen, zeigten sich außerordentliche Unterschiede in ihren Fähigkeiten. Die überraschende und unübersehbare Tatsache brauchte einen Namen und die westlichen Gesellschaften fanden dafür den Begriff der Intelligenz. Die Tests über allgemeine Fähigkeiten, die Galton erfand – gutes Seh- und Hörvermögen und die Fähigkeit, schnell auf einen Reiz zu reagieren –, enthielten keinerlei Voraussage über den Lebenserfolg. Beinahe vor einem Jahrhundert wies ein amerikanischer Psychologe nach, dass ein unterschiedliches Abschneiden in diesen Tests nichts darüber aussagte, welche Noten die Studenten an der Columbia University erhielten, und keines von Galtons Kriterien wird in modernen Intelligenztests mehr angewandt. Dieser Misserfolg hätte dem Begriff der Intelligenz ein Ende bereiten sollen, aber dazu kam es nicht, weil die Gesellschaft ein Erklärungsmuster brauchte, mit dem sich verstehen ließ, warum manche Kinder mühelos Lesen und Rechnen lernten, während andere größte 96
Schwierigkeiten damit hatten. Dieses hartnäckige Faktum ließ sich nicht aus der Welt schaffen.56 Der französische Psychologe Alfred Binet erkannte, dass Tests, die Gedächtnis-, Lern- und Denkleistungen untersuchten, welche eher schulische Fähigkeiten forderten, besser zu Voraussagen darüber taugten, wem wissenschaft liches Arbeiten schwer fallen würde. Er hatte Recht. Die Testaufgaben, die Binet 1905 zusammen mit Theodore Simon entwickelte, liegen auch dem modernen Intelligenztest zugrunde. Binet und Simon konstruierten kein komplexes theoretisches Gebäude über den Erblichkeitsfaktor von Intelligenz. Sie waren mit der pragmatischen Lösung zufrieden, dass eine Reihe von Aufgaben mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad das von ihnen angestrebte Ziel erreichte: vorauszusagen, wie leistungsfähig ein Kind unter schulischen Bedingungen sein würde. Die Zusammenfassung des Wetterberichts auf der ersten Seite der Zeitung sagt das Wetter von morgen in der Regel zutreffender voraus als bloßes Raten es vermöchte, und die meisten von uns machen sich keine Gedanken darüber, warum die knappe Formulierung im Allgemeinen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Doch spätere Wissenschaft ler machten sich Gedanken über Funktion, Sinn und Entstehung des Phänomens, das in Intelligenztests gemessen wurde. Zwei der wichtigsten Forscher auf diesem Gebiet waren Charles Spearman und L. L. Thurstone, die vor über siebzig Jahren tätig waren.57 Spearman glaubte, dass eine einheitliche Qualität des logischen Denkens das wesentliche Merk97
mal der Intelligenz sei. Thurstone, der weniger einer allgemeinen Fähigkeit vertrauen mochte, vertrat die Ansicht, dass Individuen sich in sieben kognitiven Fähigkeiten unterschieden, welche sind: perzeptuelle Analyse, Umgang mit Zahlen, verbales Verständnis, räumliches Vorstellungsvermögen, Erinnerung, Induktion und deduktives Schließen. Die dadurch ausgelöste Kontroverse veranlasste Psychologen zu untersuchen, ob Ratten über eine einzige allgemeine Lernfähigkeit oder über verschiedene verfügten. Robert Tryons Ratten schienen eine generelle Intelligenz (g genannt) zu besitzen, Frederick Motes Ratten hingegen nicht.58 Trotz der Einsichtigkeit von Thurstones Argument haben seine Ideen nie das einfachere Konzept von einer allgemeinen Intelligenz ablösen können, auch wenn Howard Gardners populäres, 1983 erschienenes Buch Frames of Mind, das in vielem auf Thurstones Schriften zurückgeht, zahlreiche Anhänger gewann.59 Die Befürworter einer allgemeinen Intelligenz wollen wie jene, die an einen einzigen Zustand der Furcht oder an ein einziges Bewusstsein glauben, nicht wahrhaben, dass Organe und physiologische Systeme sich unabhängig voneinander entwickeln. Kein einziger allgemeiner Faktor kann die Wachstumsraten verschiedener Arten von Zellen, Geweben und Organen in Tieren und Menschen umfassend repräsentieren. Das Attribut »intelligent« wird oft gebraucht, ohne differenziert auf das Alter und den Hintergrund der Person (oder manchmal der Tierspezies) oder die Grundlage für die Evidenz einer solchen Zuschreibung im Minde98
sten einzugehen. Die Feststellung »Intelligenz ist erblich« wird in der psychologischen Literatur in Bezug auf Ratten, auf einjährige Kinder oder auf Achtzigjährige gebraucht, selbst wenn sie völlig verschiedene Tests durchlaufen haben. Die folgenden drei Aussagen finden sich in vielen Lehrbüchern: 1) Intelligenz lässt ein erfolgreiches Studium vorhersagen. 2) Intelligenz macht verschiedene Entwicklungsphasen durch. 3) Intelligenz nimmt mit der Phylogenese (Stammesgeschichte) zu. Der Begriff der Intelligenz hat in all diesen drei Sätzen eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung, weil er sich auf verschiedene Subjekte in unvergleichbaren Kontexten bezieht, die eine jeweils andere Verhaltensevidenz hervorbringen. Satz 1 wäre zutreffender, wenn er lautete: »Ein hoher Punktwert in IQ-Tests und gute Schulnoten bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und neunzehn Jahren lassen ein erfolgreiches Studium vorhersagen«, und eine klarere Version von Satz 3 würde lauten: »Wenn wir die Erinnerungsfähigkeit von Säugetieren testen und vergleichen, stellen wir fest, dass diese Fähigkeit von Mäusen über Affen zu Menschen zunimmt.«60 Der nicht genau spezifizierte Begriff der Intelligenz ist irreführend, weil er Lesern erlaubt, Sätze, in denen er vorkommt, verschieden zu interpretieren. Warum ist es so schwierig, den Begriff der Intelligenz aus unserem Wortschatz zu entfernen? Die Antwort ist, dass Tatsachen Begründungen verlangen, und es ist zum Beispiel eine unübersehbare Tatsache, dass Kinder, die früh und problemlos in der zweiten Schulklasse Lesen, Rechnen und Schreiben lernen, bessere Noten auf dem 99
Gymnasium und an der Universität erreichen als Zweitklässler, denen diese Aufgaben schwer fallen, sodass erstere später Berufe mit höherem Sozialstatus und größerem Einkommen ausüben. Diese Tatsache gilt für die USA und für jede andere Nation, in der es diesbezügliche Studien gab. Wir können uns für mehrere Erklärungsmodelle entscheiden. Eines ist, dass Familien schulische Leistungen unterschiedlich fördern; Kinder, die früh gefördert wurden, zeigen in ihrer Schullaufbahn eine deutlich höhere Motivation. Diese Erklärung würde auf die meisten Daten zutreffen, wenn es nicht die weitere Tatsache gäbe, dass die IQ-Zahlen umso ähnlicher werden, je enger zwei Menschen miteinander verwandt sind. Eineiige Zwillinge weisen ähnlichere IQ-Zahlen auf als zweieiige Zwillinge oder zwei Geschwister verschiedenen Alters. Diese nicht zu widerlegende Beobachtung bedeutet, dass mehr als nur familiäre Förderung am Werk ist und dass dieses Etwas mit der Biologie des Kindes zu tun hat. In einer Studie über Zwillingspaare, die achtzig Jahre alt und älter waren, kamen Wissenschaft ler zu dem Schluss, dass es erbliche Auswirkungen auf »allgemeine kognitive Fähigkeiten« gäbe, obgleich nur sieben Tests mit den eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren durchgeführt wurden: Verstehen von Wortbedeutungen, faktisches Wissen, Wiedererinnern von zuvor gesehenen Bildern, Behalten einer Zahlenreihe, Herausfinden einer Figur aus fünf ähnlichen Figuren, Zusammensetzen von farbigen Würfeln, sodass sie einem Muster auf einer Karte gleichen, und schließlich die Schnelligkeit, mit der die Versuchspersonen eine Zahl einer geometrischen Figur 100
zuordnen konnten. Ob es den Personen leicht fiel, neue Informationen aufzunehmen, neue Strukturen zu erkennen, Schlüsse zu ziehen oder die Qualität von Entscheidungen zu bewerten, war nicht Gegenstand des Tests. Noch überraschender ist, dass die Autoren nichts über die Hör- und Sehfähigkeit der Testpersonen aussagten. Gene affizieren die Intaktheit der Sinne, und Einschränkungen im Hören oder Sehen, die in höherem Alter verbreitet sind, könnten von Einfluss auf die Testresultate gewesen sein, wenn einige der älteren Testpersonen die Instruktionen nicht deutlich gehört oder das, was sie anschauen sollten, nicht genau gesehen haben.61 Ebenso seltsam mutet es an, dass die Erblichkeitsfaktoren für die Fähigkeit, aus bunten Klötzen ein Muster herzustellen und eine Figur darin zu erkennen, relativ niedrig waren, während die Erblichkeitsfaktoren für das Verstehen von Wortbedeutungen und allgemeines Faktenwissen hoch waren. Dieses Muster begegnet uns in den meisten Untersuchungen über Erwachsene, aber nicht in denen über Zweijährige. Verbale Fähigkeit und Faktenwissen sind bei Erwachsenen in der Regel erblicher als andere kognitive Eigenschaften; in der Tat besteht zwischen der Größe des Wortschatzes eines Erwachsenen und seiner Gesamt-IQ-Zahl – und damit seiner »allgemeinen« Intelligenzleistung – die engste Verbindung. Hingegen ist die Zahl der Wörter, die zweijährige Zwillinge verstehen, nicht sehr erblich bedingt; bei ihnen zeigen Interesse an Bildern und motorische Fähigkeiten größere Erblichkeitsfaktoren.62 Diese Tatsachen lassen die Folgerung zu, dass Intelligenz bei Kindern und Erwachsenen nicht 101
das Gleiche bedeutet. Wenn dies zutreffen sollte, kann der biologische Beitrag zur Intelligenz über die Lebensspanne hin nicht gleich bleibend sein. Mit meinem Urteil, dass die genaue Art des biologischen Anteils an Intelligenztests zurzeit im Tiefdunklen liegt, stehe ich nicht allein. John Carroll, ein angesehener Psychologe, der in diesem Zusammenhang keiner Parteinahme verdächtig ist, schrieb 1982: »Ich fand es immer höchst problematisch, genetische Einflüsse in Punktzahlen nachweisen zu wollen, die Funktionen von so spezifischen Lernerfahrungen sind wie die typischen IQ-Tests … Bei der Schwierigkeit, die Einflüsse der Lebensumwelt zu kontrollieren, wird es wahrscheinlich sehr problematisch, überzeugende Indizien für genetische Einflüsse selbst in Zwillings- oder Familienuntersuchungen zu finden.«63 Die Behauptung, dass unterschiedliche Intelligenz zum großen Teil erblich bedingt ist, beruht auf der Anwendung der »Vererbungs-Gleichung«, die davon ausgeht, dass die Einflüsse von relevanten Genen, von Erfahrungen in der Lebensumwelt, der Interaktion von Genen und Erfahrungen sowie der Interaktion der Gene des Individuums untereinander sich addieren: Je mehr relevante Gene für die kognitiven Fähigkeiten vorhanden sind und je günstiger die Erfahrungen in der Umwelt sich gestalten, umso intelligenter wird das Individuum schließlich sein. Leider wird diese Annahme von den Biowissenschaften selten bestätigt. Genetisch unterschiedliche Mäusestämme unterscheiden sich im Grad ihres Erkundungsver102
haltens, doch sind diese Unterschiede in den Interaktionen von Genen an verschiedenen Orten begründet und nicht in additiven genetischen und umweltbedingten Faktoren.64 Auch widersprechen EEGs von ein- und zweieiigen Zwillingen der These von der Additivität. Die Profile der Hirnwellen lassen sich ebenfalls am besten durch die Interaktion der Gene im Individuum – Epistasis genannt – erklären und nicht durch sich addierende genetische und umweltbedingte Faktoren.65 Wenn dieser Index der Hirnaktivität mit der Annahme der Additivität nicht übereingeht, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass der genetische Einfluss auf die Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten additiv sein sollte. Die meisten Leser von Zeitungsberichten über die Vererbbarkeit der Intelligenz wissen vielleicht nicht, dass die Statistik – h2 genannt –, die für die Bestimmung des Erblichkeitsfaktors herangezogen wird, in erster Linie den Grad misst, in welchem hohe oder niedrige IQZahlen teilweise von genetischen Faktoren beeinflusst werden. Das heißt, dass die Erblichkeit umso stärker ist, je weiter das untersuchte Merkmal auseinander driftet. Bei minimaler Variabilität – zum Beispiel: mit fünf Fingern geboren werden – fällt die Erblichkeit notwendig gering aus. Auf diese Weise fällt die Erblichkeit des IQ hoch aus, wenn die Auswahl von Individuen, die untersucht wird, einige Individuen enthält, deren Punktzahl niedrig ist, und andere, bei denen sie hoch ist. Die nachweisliche Erblichkeit wird niedrig ausfallen, wenn jeder in der Auswahl einen IQ zwischen 95 und 105 hat. Die103
se Tatsache führt uns zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Wenn, was wahrscheinlich ist, die biologische Basis für niedrige IQs (unter 80) sich von der biologischen Basis für hohe IQs (über 120) unterscheidet, dann würde dies bedeuten, dass verschiedene Gruppen von Genen für verschiedene Grade von Intelligenz verantwortlich sind. Wir wissen, dass dies für Kinder zutrifft, die mit dem Down-Syndrom geboren wurden. Ein wesentlicheres Problem ist, dass die Forscher selten die Interaktion zwischen genetischen und Umweltfaktoren gewichten, weil es sehr schwierig ist; also sind sie genötigt, sie für gering zu erachten. Doch die meisten Ergebnisse in der Natur sind von Interaktionen zwischen der Biologie des Tieres und dem Kontext, in dem es lebt, beeinflusst. Wenn Haussperlinge und Feldsperlinge im Labor gezüchtet werden, dann zeigen erstere ein deutlich größeres Ausweichverhalten gegenüber unbekannten Objekten als die Letzteren, während beide Arten, in ihren natürlichen Umwelten großgezogen, keine Unterschiede mehr im Ausweichverhalten aufweisen.66 Der Kontext, in dem ein Lebewesen aufwächst, hat eine dramatische Wirkung auf alle genetisch beeinflussten Verhaltensweisen. Kinder, die mit Genen geboren werden, welche einen hohen Punktwert in Intelligenztests vermuten lassen, die aber in abgelegenen ländlichen Bereichen ohne Schule groß werden, erreichen deutlich geringere Testwerte als Kinder, die mit den gleichen Genen in mittelständischen Familien in wohlhabenden Vororten amerikanischer Städte groß werden und eine sehr gute Schulausbildung erhalten. Der Grundsatz, dass die Ergeb104
nisse aufgrund des Zusammenhangs verschiedener kausaler Bedingungen enorm variieren, gilt für alle psychologischen Eigenschaften einschließlich der Intelligenz. Leichtfertige Schlussfolgerungen auf die Wirkung der Gene, die zu hohen oder niedrigen IQ-Werten beitragen sollen, werden ebenso von der bloßen Logik infrage gestellt. Die Zahl der Gene, die die Flügelform der Fruchtfliege Drosophila bestimmen, ist sehr viel kleiner als diejenige, welche die kognitiven Fähigkeiten des Menschen bestimmt. Gleichwohl entwickeln Fliegen, die ein Paar von Genen besitzen, das zu kurzen, verkümmerten Flügeln führt, wenn die Insekten in einer normalen Labortemperatur von 20° aufwachsen, fast normal große Flügel, wenn sie in einem wärmeren Umfeld von etwa 30° aufwachsen.67 Wenn bereits die Differenz von 10° Raumtemperatur die Ausbildung eines wesentlichen Körperglieds beeinflussen kann, das nur von einem Gen-Paar bestimmt wird, müssen die sozialen Bedingungen, unter denen Kinder groß werden, eine grundlegende Einwirkung auf die intellektuellen Fähigkeiten haben, die von sehr viel mehr Genen beeinflusst werden. Dies ist der Grund, warum Biologen darin übereinstimmen, dass Rückschlüsse auf die Wirkung jedweder Gene sowohl die genetische Gesamtkonstitution des Individuums wie auch die Bedingung seines Heranwachsens berücksichtigen müssen. Denn bevor weder das eine noch das andere für irgendeinen Aspekt der menschlichen Bewusstseinsentwicklung wirklich verstanden wurde, sind laut tönende Feststellungen über genetische oder soziale Bedingungen der kognitiven Kompetenzen voreilig. Es stellt 105
hohe Anforderungen an unsere Glaubensbereitschaft anzunehmen, dass die Erblichkeit, die sich in den Antworten eines Individuums auf Fragen von Intelligenztests, mithin kulturellen Konstrukten, niederschlägt, einem schlichten additiven Modell entspreche. Eine wichtige Quelle für Argumente dagegen, dass es »die« Intelligenz gibt, liefert eine einfallsreiche Untersuchung, die kürzlich mit Kindern durchgeführt wurde, die an einer Erbkrankheit mit dem Namen PKU leiden. Diese Kinder – etwa ein Fall unter 10.000 Geburten – können eine Aminosäure, das so genannte Phenylalanin, das in den meisten Nahrungsmitteln vorkommt, nicht in eine Aminosäure mit Namen Tyrosin metabolisieren. Als Folge davon liegt der Tyrosinspiegel im Gehirn niedriger, als er sollte, und unterliegt öfteren Schwankungen. In den USA werden fast alle Fälle von PKU bei der Geburt diagnostiziert, und die Kinder werden auf eine spezielle Diät gesetzt, die nur geringe Dosen von Phenylalanin enthält. Da die meisten Kinder, die diese Diät befolgen, normale IQ-Werte erreichen, sagen Kinderärzte den Eltern, dass alles in Ordnung sei. Doch Adele Diamond und ihre Kollegen fanden heraus, dass diese beruhigende Aussage nicht immer richtig ist, wenn nämlich der Phenylalanin-Spiegel im Blut auf die fünf- bis sechsfache Höhe des normalen Werts steigt.68 Tyrosin wird gebraucht, um den Neurotransmitter Dopamin zu erzeugen, und Dopamin ist insbesondere für das Funktionieren des präfrontalen Kortex wichtig, weniger dagegen für die Funktion psychischer Prozesse, die von Schläfen- und Seitenlappen vermittelt werden. 106
Also müssten Kinder mit PKU, die ihre Diät befolgen und angemesse IQ-Werte erreichen, bei Tests, die den präfrontalen Kortex in seiner Gesamtheit beanspruchen, schlechter als normale Kinder, aber angemessen bei solchen Tests abschneiden, die eine Beteiligung des präfrontalen Kortex nicht erfordern. Die Aufgaben der ersten Kategorie verlangen von den Kindern, dass sie zwei oder mehr Ereignisse im »Arbeitsgedächtnis« verknüpfen und eine falsche Reaktion, die automatisch erfolgt, unterdrücken. Zum Beispiel bittet der Tester ein fünfjähriges Kind, drei Klötzchen in der Reihenfolge rot, grün, gelb anzutippen, obwohl die Klötze vor dem Kind in der Reihenfolge grün, gelb, rot angeordnet sind. So muss das Kind sich an die Instruktion erinnern und der natürlichen Neigung widerstehen, die Klötzchen in der vorliegenden Reihenfolge zu berühren. In einer anderen Aufgabe, an der sowohl Gedächtnis wie Widerstand beteiligt sind, geht es darum, dass das Kind »Nacht« sagt zu einem Bild, auf dem die Sonne, und »Tag« sagt zu einem Bild, auf dem der Mond abgebildet ist. Das Kind muss die Instruktion im Gedächtnis behalten und der natürlichen Neigung widerstehen, Nacht zum Mond und Tag zur Sonne zu sagen. Tag zu einem Bild und Nacht zu einem anderen Bild zu sagen bedeutet andererseits nicht, dass man einer automatischen falschen Reaktion widersteht. Die Kinder mit PKU, die nach der verschriebenen Diät lebten und höhere Werte von Phenylalanin im Blut hatten, als zuträglich ist, schnitten in beiden Tests, die den präfrontalen Kortex beanspruchten, schlecht ab. Sie schnitten genauso gut wie norma107
le Kinder in Tests ab, die den präfrontalen Kortex nicht in seiner Ganzheit beanspruchten. Einen ähnlichen Schluss legt eine Untersuchung über unterprivilegierte schwarze Stadtkinder nahe, deren Mütter Kokain nahmen. Die Werte bei einem Intelligenztest für Kleinkinder, der Bayley Scales heißt, konnten keinen Unterschied zwischen den Kindern feststellen, deren Mütter schwer kokainabhängig waren, und denen, deren Mütter nur geringe Mengen Kokain nahmen. Doch die Kinder der ersteren Gruppe waren vergleichsweise unfähig, eine Reihe von Bildern wieder zu erkennen, die sie zu einem früheren Zeitpunkt gesehen hatten.69 Ein drittes Beispiel: Die Lesefähigkeit der Kinder von Eltern mit schlechter Schulbildung, die in wirtschaftlich bedrängten Verhältnissen leben, liegt bei Schulanfang in der Regel weit hinter der von Kindern aus der Mittelschicht zurück. Und sie erreichen normalerweise geringere IQ-Werte. Die geringe Lesefähigkeit wird gewöhnlich ihrer niedrigen Intelligenz zugeschrieben. Als ein Indiz für ihre beeinträchtigte intellektuelle Fähigkeit gilt die Tatsache, dass diese Kinder verschiedene Buchstabenreihen nicht schnell lesen können, wenn sie dazu aufgefordert werden. Manche Pädagogen haben dieses Versagen auf ein allgemeineres Defizit zurückgeführt, den Mangel nämlich, Informationen in einer automatischen, effektiven Weise zu verarbeiten. Doch eine Untersuchung an Kindern in Boston und in Indien hat die überraschende Tatsache zu Tage gefördert, dass die meisten Kinder, die als Schulanfänger Leseschwierigkeiten aufwiesen, Farbund Bilderreihen von bekannten Gegenständen ebenso 108
schnell lesen konnten wie Kinder, die sehr gute Leser waren. Das schleppende Lesen trat nur im Zusammenhang mit Buchstaben auf. Diese Kinder hatten kein allgemeines intellektuelles Defizit; vielmehr hinderte sie die mangelnde Übung im Umgang mit Gedrucktem daran, Buchstaben schnell und fließend zu lesen.70 Diese Ergebnisse stellen den Begriff der allgemeinen Intelligenz infrage. Die PKU-Kinder schnitten bei manchen schwierigen mentalen Aufgaben gut, bei anderen schlecht ab; kokainexponierte Kinder zeigten ein geringes Wiedererkennungs-Gedächtnis, waren aber sonst in ihren kognitiven Fähigkeiten nicht eingeschränkt; und unterprivilegierte Kinder, die nicht lesen können, sind nur langsam im Aussprechen von Buchstabenreihen, nicht von Farbreihen. Die Entscheidung, den Durchschnitt von Leistungen bei einer weit gefächerten Reihe von Tests zu ermitteln, die verschiedene Fähigkeiten beanspruchen, um daraus einen Wert mit dem Namen Intelligenz zu destillieren, entbehrt der Logik. Einen Durchschnitt kognitiver Leistungen zu ermitteln, die verschiedene Teile des Gehirns beanspruchen, verzerrt das Wesen kognitiver Fähigkeiten und ist ein fehlgehendes Mittel, um das Profil der geistigen Begabungen eines Individuums zu beschreiben. Es steht außer Zweifel, dass Kinder verschiedene gehirnphysiologische Profile erben, die Einfluss auf mentale Funktionen haben. Genetische Faktoren beeinflussen in der Tat psychische Faktoren. Doch Intelligenz ist nicht der passende Begriff, um die komplexen Produkte erblicher biologischer Prozesse zu beschreiben. Es gibt eine Kor109
relation von 0,4 zwischen der Dauer der Aufmerksamkeit, die ein sechsmonatiges Kind einem neuen Stimulus widmet, und dem IQ-Wert des sechsjährigen Kindes.71 Einige Psychologen haben diese Tatsache dahingehend interpretiert, dass eine abstrakte Qualität der Intelligenz über fünf Jahre erhalten bleibt. Die zutreffendere Feststellung ist, dass etwa 10 bis 20 Prozent der Kinder, die einem neuen Stimulus keine dauernde Aufmerksamkeit schenken, geringere IQ-Werte aufweisen als die Mehrheit der Kinder, die dem Neuen eine angemessene Aufmerksamkeit zuwenden und normale IQ-Werte erreichen, wenn sie älter werden. Diese schlichte Veränderung in der Beschreibung gibt der ursprünglichen Schlussfolgerung ein bemerkenswert anderes Gesicht. Kognitive Funktionen umfassen, als mindeste Basis, perzeptuelle Wiedererkennung und Unterscheidung und verschiedene Arten der Erinnerung und des Schlussfolgerns, des Urteilens und der Reflexion. Dass eine begrenzte Auswahl von Genen – diejenigen, die erklären sollen, warum genetisch verwandte Kinder einen annähernd gleichen IQ-Wert aufweisen – all diese kognitiven Prozesse in annähernd gleicher Weise beeinflussen, ist unwahrscheinlich. Es ist ein theoretischer Irrtum, den Begriff von Intelligenz zu verwenden, wenn das Profil kognitiver Begabungen jedes Indiviuums repräsentiert werden soll. Der verbreitetste Intelligenztest ist die Wechsler Intelligence Scale for Children. Er bewertet eine kleine Zahl von mentalen Fähigkeiten, darunter den Umfang des kindlichen Wortschatzes, das Kurzzeitgedächtnis für Zahlen, 110
die Fähigkeit, aus Bildern Schlüsse zu ziehen, und die Fähigkeit, Puzzles zu ergänzen. Wenn Intelligenz eine einheitliche Kompetenz wäre, dann müssten die Korrelationen zwischen den Werten bei diesen vier Tests sehr hoch sein, aber sie sind es nicht. Der Test, der das Kurzzeitgedächtnis nach Standard-Intelligenztests misst, hat eine geringe Korrelation zum gesamten IQ-Wert. Wenn man Tests für sehr verschiedene intellektuelle Begabungen unter 1.000 Kindern durchführt, wobei jeder Test auf eine andere kognitive Fähigkeit abzielt, sind die Korrelationen unter den Werten bescheiden, gewöhnlich unter 0,4. Diese Tatsache widerspricht der Behauptung, dass Intelligenz ein einheitliches Merkmal sei. Es gibt guten Grund anzunehmen, dass sprachliche Fähigkeiten dem IQ-Wert förderlicher sind als Gedächtnis- oder Wahrnehmungsfähigkeiten. Die meisten Kinder mit niedrigen IQ-Werten verfügen über einen geringen Wortschatz, aber sie zeigen keine Beschränkung in der Fähigkeit, Formen, Farben oder Töne zu unterscheiden oder sehr feine Unterschiede in der Wahrnehmung vorzunehmen. Ein kleiner Anteil von Jungen, die nicht vor dem vierten oder fünften Lebensjahr zu sprechen beginnen, erweisen sich als musikalisch und mathematisch sehr begabt, wenn sie älter werden. Im Gegensatz dazu kann eine kleine Zahl von Kindern, die am Williams-Syndrom leidet, einer Erbkrankheit, die einmal unter 20.000 Geburten auftritt, eine große Begabung zum Sprechen haben.72 Trotz extrem geringer räumlicher Denkfähigkeiten und niedriger IQ-Werte erzählen sie Erwachsenen lange, zusammenhängende Geschichten. Die111
se großen Unterschiede zwischen verbalen und nonverbalen Fertigkeiten stellen den Begriff einer allgemeinen Intelligenz infrage. Es ist wahrscheinlich, dass die unbekannten genetischen Faktoren, die zu hohen IQ-Werten beitragen, zum Teil auf biologische Unterschiede in der Sprachbegabung zurückgehen. Doch auch die Sprachbegabung ist unter Zweijährigen keine einheitlich feststellbare Fähigkeit, denn die Quantität an gesprochener Sprache ist erblicher als die Zahl der Wörter, die das Kind am Ende des zweiten Lebensjahres versteht.73 Jedenfalls besagen die Aussagen »Marie hat eine biologische Anlage geerbt, die ihr ein frühes (oder spätes) Sprechen ermöglichte« oder »Marie hat ein ausgeprägtes verbales Verhalten« etwas anderes als »Marie ist intelligent«. Die letztere Feststellung beinhaltet einen breiten biologischen Einfluss auf alle kognitiven Funktionen. Gerd Gigerenzer hat ein überzeugendes Beispiel dafür geliefert, dass die Qualität der Schlussfolgerungen eines Individuums von einer so einfachen Bedingung abhängt wie der Art, in der ein Problem in Worte gefasst wird.74 Menschen können die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nur schlecht beurteilen, wenn das Problem in Prozenten ausgedrückt wird, und kommen zu deutlich besseren Resultaten, wenn das gleiche Problem in Begriffen der Häufigkeit dargestellt wird. Stellen Sie sich zum Beispiel das folgende, in Prozenten ausgedrückte Problem vor: »Während der meisten Jahre herrschen in Neuengland an 10 Prozent der Tage vom 1. Juni bis zum 31. August sowie an einem Prozent aller anderen Tage Temperaturen von über 32 Grad.« Wenn nun gefragt wird: 112
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tag, an dem eine Temperatur von über 32 Grad herrscht, ein Tag im Juni, Juli oder August ist?«, lautet bei den meisten die unrichtige Antwort »10 Prozent«. Die Menschen antworten um ein Beachtliches richtiger, wenn die Frage als Häufigkeitsproblem formuliert wird. Auf die Frage »Wenn vom 1. Juni bis zum 31. August an 10 von 90 Tagen über 32 Grad herrschen und an weiteren drei der restlichen 275 Tage eine ebenso hohe Temperatur herrscht, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass im Juni, Juli und August eine Temperatur von über 32 Grad erreicht wird?« teilen die meisten in Gedanken 10 durch 10 + 3 und antworten zutreffend, dass die Wahrscheinlichkeit eines so warmen Tages in einem dieser drei Sommermonate bei 0,7 liegt. Philosophen und Wissenschaft ler, die sich mit dem Erkenntnisvermögen beschäftigen, haben in zahlreichen Büchern und Essays darüber diskutiert, ob Menschen rationale oder irrationale Wesen sind. Doch Menschen denken in einigen Kontexten rational und in anderen nicht. Sinnvolle Fragen nach der menschlichen Rationalität lassen sich erst stellen, wenn wir den Kontext spezifiziert haben. Zum Beispiel schwankt die Gehirnaktivität je nach der spezifischen Versuchsanordnung im Labor außerordentlich. Als Erwachsene, die zuvor eine bestimmte Liste mit Wörtern gesehen hatten, mit einer Reihe bekannter Wörter konfrontiert wurden, denen eine Reihe Wörter folgt, die sie noch nie gesehen hatten, unterschied sich ihre Gehirnaktivität bei den bekannten und den neuen Wörtern. Dies bedeutet, dass ein bestimmter Hirnstatus 113
erzeugt wird, wenn eine Person mit einem bekannten oder neuen Wort konfrontiert wird. Doch eine einfache Veränderung in dem Versuchsablauf führte zu einer völlig anderen Schlussfolgerung. Als die bekannten und die neuen Wörter gemischt wurden und die Person gebeten wurde, bei jedem der Wörter zu sagen, ob es bekannt sei, war der Hirnstatus bei bekannten und neuen Wörtern durchaus ähnlich.75 Wie in Gigerenzers Untersuchungen beeinflusste die spezifische Form, in der eine Frage gestellt wurde, die Gehirnreaktion. Wissenschaftler, die weiter an den Nutzen eines einheitlichen Intelligenzbegriffs glauben, sind von diesem Nachweis nicht überzeugt und wenden ein, dass es eine Kernfähigkeit gäbe, die sich – zusammen mit einer kleinen Zahl spezifischerer Fähigkeiten – in allen Intelligenztests messen lassen müsse. Wenn ein Kind reichlich über die Kernfähigkeit verfügt, müsste es in allen Tests gut abschneiden. Diese Position basiert auf Ergebnissen eines Verfahrens, das Faktorenanalyse genannt wird und das diese Kernfaktoren ausfindig machen soll. Wenn Werte aus verschiedenen Tests mit diesem statistischen Verfahren analysiert werden, tritt gewöhnlich ein erster Faktor in Erscheinung, den die Forscher als allgemeine Intelligenz bezeichnen. Doch der erste Faktor hätte ebenso verbale Fähigkeit genannt werden können, denn die Werte aus Wortschatztests sind die besten Indikatoren für den gesamten IQ-Wert, und die Erblichkeit der »Intelligenz« nimmt auff ällig zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr zu, wenn verbale Fähigkeiten wesentliche Teile des Tests ausmachen. Der erste Faktor könnte ebenso den 114
Ehrgeiz reflektieren gut abzuschneiden, verbunden mit geringen Versagensängsten; beide Merkmale führen bei allen kognitiven Tests zu höheren Werten. Damit erweist es sich als fraglich, ob allgemeine Intelligenz die zutreffende Bezeichnung für den ersten Faktor ist. Stellen Sie sich eine analoge Situation bei Krankheiten vor. Eine Faktorenanalyse der zwölf häufigsten Symptome, die mit Krankheiten in Verbindung stehen, unter denen die meisten Menschen leiden – sowohl bewusst geschilderte Symptome wie solche, die in Laboruntersuchungen festgestellt werden –, würde einen ersten Faktor zutage fördern, der in hohem Maße mit Patientenklagen über Müdigkeit und Unwohlsein verbunden wäre. Doch Müdigkeit und Unwohlsein haben außerordentlich verschiedene biologische Ursachen, darunter Viren, Bakterien, Tumore, Verletzungen, Störungen im chemischen Haushalt des Körpers und geplatzte Blutgefäße. Diese Vielfalt ist der Grund, warum ein Biologe nie auf die Idee kommt, dass Menschen eine genetische Anlage zu Müdigkeit und Unwohlsein hätten, sondern vielmehr feststellt, dass Personen verschiedene genetische Bereitschaften für sehr spezifische Krankheiten erben. Diese Analogie ist deswegen aussagekräftig, weil die Anfälligkeit für die meisten Krankheiten wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes im umgekehrten Verhältnis zur sozialen Klassenzugehörigkeit stehen – und darin dem IQ gleichen.76 Personen mit geringerer Schulbildung und niedrigen Einkommen sind für die meisten Krankheiten anfälliger als Personen mit guter Schulbildung und besserem Einkommen. Doch Wissenschaft ler 115
ziehen daraus nicht den Schluss, dass arme Menschen aufgrund ihrer Gene anfälliger für Krankheiten sind als wohlhabende Menschen. Sondern sie erkennen die wichtige Rolle an, die persönliches Verhalten, Ernährungsgewohnheiten, Zugang zu medizinischer Versorgung und psychologische Mechanismen spielen, die mit dem Sozialstatus der Person zu tun haben. Die Eigenschaft, die Führungsqualität genannt wird, gibt uns ein weiteres Beispiel für die Verwirrung, die entsteht, wenn man den jeweiligen Kontext außer Acht lässt. Die vielen Bücher, die sich der Beschreibung von Führungsqualitäten widmen, räumen ein, dass jeder »Führer« eine große Zahl von Personen braucht, die ihm zu folgen bereit sind. Damit ist das Bewusstsein der Gemeinschaft eine wesentliche Determinante dafür, wer ein »Führer« wird. Sigmund Freud hatte Persönlichkeitsmerkmale, die ihn für eine Führungsrolle prädestinierten – besondere verbale Fähigkeiten, große Energie und Mut. Doch wenn der junge Freud Ende des 19. Jahrhunderts in Kalkutta aufgewachsen wäre, wo andere Vorstellungen von der Beziehung zwischen Sexualität und Angst herrschten als in Wien, hätte er die Idee einer unterdrückten Libido, die eine Pferdephobie verursachte, nicht entwickelt. Und wenn er sie doch entwickelt hätte, hätte die indische Gesellschaft sie ignoriert. Mendels Entdeckungen über die Genetik der Erbse lagen mehrere Jahrzehnte lang im Verborgenen, weil die Biologen seiner Zeit nicht so weit waren, sie zu akzeptieren. Der Begriff der Führungsqualität gleicht daher mehr einem Adjektiv wie »schön« als einem Adjektiv wie »som116
mersprossig«. Die letztere Eigenschaft gehört zu einem Individuum, vollkommen unabhängig davon, wo es lebt; das Erstere beschreibt die Beziehung zwischen einer Person und der sie umgebenden Gemeinschaft. Sartres existenzialistische Philosophie, die großen Nachdruck auf die Gegenwart legte und zu einer Abkehr von der Vergangenheit aufrief, enthielt eine Botschaft, die die französische Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg gerne hören wollte, denn viele Bürger empfanden Scham wegen der Kollaboration ihres Landes mit den Nazis. Die gleiche philosophische Aussage wäre in der Volksrepublik China 1955 verspottet worden; Mao erinnerte die chinesischen Kleinbauern immer wieder daran, dass sie nie ihre bittere Vergangenheit vergessen dürften. Manche mögen antworten, dass Sartres verbale Fähigkeit und sein Ehrgeiz, wenn er in Beijing gelebt hätte, zu einer anderen Philosophie geführt hätten, vielleicht zu einer, die mit den Grundsätzen der chinesischen revolutionären Gesellschaft in Einklang gestanden hätte; aber er wäre immer noch als kreativer Denker anerkannt worden. Doch gibt es zu viele Beispiele von Männern und Frauen, die Sartres Fähigkeiten und Energie besaßen, von ihrer Gesellschaft jedoch nicht gefeiert wurden, einfach weil ihre Ansichten mit denen der Gesellschaft zu wenig übereinstimmten. Raymond Cattell ist ein brillanter und extrem fleißiger amerikanischer Psychologe, der nun pensioniert ist und der seine Karriere der faktorenanalytischen Erforschung der Persönlichkeit widmete. Doch da diese Ideen in den fünfziger Jahren, als er seine wichtigsten Arbeiten schrieb, wenig populär waren, wurden 117
Cattells Werke von den meisten Psychologen übergangen. Sein Forschungsansatz fand in den letzten zehn Jahren größeren Widerhall; wenn er also ein halbes Jahrhundert später gearbeitet hätte, wäre Cattell vielleicht von den meisten seiner Zeitgenossen mit großer Bewunderung wahrgenommen worden.77 Neuere Untersuchungen über menschliche Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen geben überzeugende Beispiele dafür ab, welcher Fortschritt eintreten kann, wenn der Glaube an eine einheitliche kognitive Eigenschaft aufgegeben wird. In den siebziger Jahren wurde das menschliche Gedächtnis als einzelner Prozess aufgefasst. Individuen wurde ein gutes, durchschnittliches oder schlechtes Gedächtnis zugeschrieben, unabhängig davon, was sie behalten mussten. Einige klinische Psychologen verlangen immer noch von Kindern und Erwachsenen, eine Reihe von Zahlen zu wiederholen, die ihnen von einem Prüfer vorgelesen wird. Wenn ein achtjähriges Kind eine Reihe von vier Zahlen nicht behalten kann, kommt der Psychologe zu dem Schluss, dass das Kind ein eingeschränktes Gedächtnisvermögen hat. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass ein Kind, das keine vier Zahlen behalten kann, sich ebenso wenig an Wörter, Szenen, Witze, Fakten und die Namen seiner Freunde erinnern kann. Wir wissen jetzt, dass diese Annahme falsch ist. Sie ist nicht nur ein wenig unrichtig, sie ist grob falsch. Wissenschaft ler haben entdeckt, dass Gedächtnis keine einheitliche Fähigkeit ist, sondern die Summe einer Vielzahl von verschiedenen psychologischen Prozessen. 118
Ein Prozess bezieht sich auf die bewusste Erinnerung an Fakten – wie die Hauptstadt von Rumänien heißt, was ein Schilling ist, wer Gewinner der letztjährigen Fußballmeisterschaft war – und wird deklaratives Gedächtnis genannt. Innerhalb der Kategorie solch feststellenden Gedächtnisses gibt es eine wichtige Unterscheidung zwischen dem bewussten Erinnern von isolierten Tatsachen oder Ereignissen – semantisches Gedächtnis genannt – und dem bewussten Erinnern an Ort oder Zeit, als das Faktum gelernt oder das Ereignis wahrgenommen wurde, dem episodischen Gedächtnis. Das semantische und episodische Gedächtnis werden von unterschiedlichen neuralen Regelkreisen vermittelt. Bei Erwachsenen, deren Hippocampus geschädigt ist, ist das episodische Gedächtnis ernsthaft beeinträchtigt, doch sie können sich an Sprache erinnern, erfolgreich lernen und sich Fakten ins Gedächtnis zurückrufen.78 Eine zweite Gedächtnisform ist die Fähigkeit, sich an alte motorische Abläufe zu erinnern wie Fahrradfahren, sie wird prozedurales Gedächtnis genannt. Wenn man sich an den Namen seines Erstklasslehrers erinnert – ein Beispiel für deklaratives Gedächtnis –, wird dies von Netzwerken im mittleren Schläfenlappen vermittelt, die nicht beteiligt sind, wenn sich jemand daran erinnert, wie man Fahrrad fährt. Ein dritter Typus heißt implizites Gedächtnis. Einige Menschen mit beschädigtem mittleren Schläfenlappen, die amnesisch genannt werden, verfügen über ein sehr schlechtes deklaratives Gedächtnis. Ein Aphasiker, der gerade eben eine Liste mit zwei bekannten Wörtern gese119
hen hat, ist unfähig, sich an sie zu erinnern. Doch wenn dem Patienten eine Liste mit unvollständigen Wörtern gezeigt wird, wie __g_n für Wagen oder K_ns_ für Kunst, die er kurz zuvor gesehen hat, und dies zusammen mit anderen Wortfragmenten, die er nicht gesehen hat, und man fragt ihn, welches Wort am ehesten mit dem Fragment gemeint sein könnte, gibt der Patient für solche Wörter, die er kurz zuvor gesehen hat, eher die richtige Antwort, auch wenn er nicht weiß, dass seine Antwort richtig ist. Als Schulkindern Fotos von Kindern gezeigt wurden, mit denen sie vor vier Jahren im Kindergarten gespielt hatten, erkannten sie ihre ehemaligen Spielkameraden nicht wieder – ihr deklaratives Gedächtnis war schlecht. Doch als das Hautleitvermögen gemessen wurde, zeigten die Kinder erhöhte Schweißausbrüche in den Handinnenflächen, wenn sie Fotos von Kindern sahen, mit denen sie früher gespielt hatten – ein Beispiel für implizites Langzeit-Gedächtnis. Schließlich ist eine Unterscheidung zwischen Kurzzeitund Langzeit-Gedächtnis wichtig. Im Kurzzeit-Gedächtnis behält das Individuum die Information für eine kurze Zeitspanne, gewöhnlich weniger als dreißig Sekunden. Ein typisches Beispiel ist das Behalten einer neuen Telefonnummer so lange, dass man sie wählen kann. Das Langzeit-Gedächtnis bezieht sich auf die Erinnerung an Informationen, die in der ferneren Vergangenheit erworben wurden. Unter Amnesie Leidende haben ein schwer geschädigtes Kurzzeit-Gedächtnis, können sich aber an viele Dinge aus länger vergangenen Zeiten erinnern. Angesichts dieser Erkenntnisse aus dem letzten Vier120
teljahrhundert wird kein zeitgenössischer Psychologe von einer Person behaupten, sie habe »ein gutes Gedächtnis«, ohne genauer anzugeben, ob die Untersuchung sich auf das deklarative, prozedurale oder implizite Gedächtnis, auf isolierte Tatsachen oder Zusammenhänge, auf das Kurz- oder Langzeit-Gedächtnis bezog; an welche Informationsformen sie sich erinnerte, an Wörter, Zahlen, Szenen, Melodien oder Albträume. Es sollte festgehalten werden, dass der Standard-Intelligenztest nur das deklarativ-semantische Gedächtnis für Fakten ermittelt und keine Aussagen zum episodischen, impliziten oder prozeduralen Gedächtnis trifft. Der Begriff der Aufmerksamkeit ist ebenfalls als ein einheitlicher Vorgang betrachtet worden, bis Wissenschaft ler herausfanden, wie wichtig die Unterscheidung ist zwischen der ersten Hinwendung zu einem Ereignis, der nachfolgenden perzeptuellen Analyse des Ereignisses, der ersten Interpretation und schließlich der motorischen Bereitschaft zu reagieren. Diese Prozesse werden von verschiedenen neuralen Netzwerken vermittelt. Die Aktivität in den Netzwerken des präfrontalen Kortex, die auf den Neurotransmitter Norepinephrin angewiesen sind, begleiten wahrscheinlich die Hinwendung zu einem unerwarteten Ereignis, während hauptsächlich Azetylcholin die perzeptuelle Analyse überwacht und Dopamin zur motorischen Bereitschaft beiträgt. Des Weiteren ist die Entscheidung darüber, wo ein Ereignis im Raum stattfindet, etwas anderes als die Entscheidung, um welches Ereignis es sich handelt. Wenn eine Person zu entscheiden versucht, aus welcher Richtung eine Stimme kommt, 121
werden andere neurale Regelkreise aktiviert, als wenn sie versucht, in der Dämmerung eine undefinierbare Form, die auf der Straße liegt, einzuordnen. Wenn Gedächtnis und Aufmerksamkeit, die beide wesentliche Bestandteile der kognitiven Fähigkeiten sind, in verschiedene Kompetenzen aufgegliedert werden müssen, kann Intelligenz kein sinnvolles Konzept sein. Solange es keine große Zahl von Individuen gibt, die in allen Bereichen von Sprache, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Denken gleich begabt, gleich mittelmäßig oder gleich minderbemittelt sind, solange wird die spezifische Intelligenz eines Individuums vollständig verzerrt, wenn man sie aus einem begrenzten Ausschnitt dieser kognitiven Talente hochrechnet. Wenn also mit dem Begriff Intelligenz kein Naturphänomen bezeichnet wird, dann sind Aussagen über ihre genetischen Grundlagen von unsicherem Wert. Die diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen, wie sie von verschiedenen Forschungsrichtungen vertreten werden, spiegeln die bewegte Diskussion über die Gründe für die Unterschiede in der Intelligenz. Neurowissenschaft ler demonstrieren die dramatischen Folgen von Erfahrungen auf das formbare junge Gehirn und damit auf die kognitiven Fähigkeiten des Kindes. Ein Team französischer Wissenschaftler entdeckte eine große Zahl von Arbeiterfamilien, die eines ihrer Kinder während des ersten Lebensjahres zur Adoption durch eine Familie der gehobenen Mittelschicht freigegeben hatten. Die IQWerte und schulischen Leistungen der adoptierten Kinder unterschieden sich deutlich von den Geschwistern, 122
die zu Hause bei ihren Eltern geblieben waren.79 Die Unterschiede in den IQ-Werten waren genauso groß wie jene, die zwischen Arbeiter- und Mittelschichtskindern in Frankreich oder in den USA üblicherweise vorgefunden werden. Diese Tatsachen machen es schwer, die Behauptung zu verteidigen, dass die meisten Kinder mit einem Gehirn geboren werden, das dafür Sorge trägt, ob sie Genies, intelligent, durchschnittlich oder sogar dumm werden, und zwar unabhängig von der Umwelt, in der sie aufwachsen. Entwicklungspsychologen bestätigen das Ergebnis der französischen Wissenschaftler, indem sie wiederholt den nachhaltigen Einfluss von abstumpfenden oder anregenden häuslichen Umwelten auf das Abschneiden der Kinder bei Intelligenztests nachweisen. Und doch kam eine Gruppe angesehener Verhaltensgenetiker überraschend zu einem scheinbar entgegengesetzten Schluss. Nach der Feststellung, dass es zwischen den IQ-Werten adoptierter Kinder und denen ihrer Adoptiveltern keine Korrelation gebe, schrieben sie im Ernst, obwohl Eltern die Fähigkeiten ihrer Kinder beeinflussten, hätten »Umweltfaktoren, die mit den kognitiven Fähigkeiten der Eltern zusammenhängen, keine konsistenten Langzeitwirkungen, welche die kognitive Entwicklung des Kindes eines bestimmten Ehepaars von der kognitven Entwicklung der Kinder anderer Familien unterscheiden würde«80. Man denke einmal sorgfältig über diese Schlussfolgerung nach. Es wird darin behauptet, wenn man ein Paar eineiiger Zwillinge bei der Geburt trennen würde und 123
einen von Eltern großziehen ließe, die einen IQ unter 85 und nie eine höhere Schule besucht haben, den anderen Zwilling aber von Eltern mit IQs über 120, dann wären sie im Alter von zehn Jahren in den IQ-Werten nicht von den verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten der beiden Elternpaare beeinflusst, sondern eher durch andere elterliche Eigenschaften. Diese Anschauung unterstellt, dass die Intelligenz von Eltern eine Eigenschaft ist, die sich von ihren Motiven, Wertmaßstäben und Erziehungsmethoden getrennt betrachten lässt. Solche unversöhnlichen Ansichten über die Rolle der Umwelt zeigen bereits, dass mit dem Begriff der Intelligenz etwas Grundlegendes nicht stimmt. Stellen Sie sich einen undurchsichtigen Zylinder mit Zwischenböden vor, die Löcher verschiedener Form und Größe aufweisen. Gegenstände verschiedener Gestalt und Größe werden in den Zylinder gesteckt und fallen in eine offene Schale unter dem Zylinder, wo ein Beobachter nur kleine Kugeln ankommen sieht. Der Beobachter fragt sich – er kann es nicht wissen –, ob die Eigenschaft, die den Gegenständen erlaubt, durch den Zylinder hindurchzugelangen, ihre Form oder ihre Größe ist, während in Wahrheit eine Kombination von beidem, die passende Größe und die Kugelförmigkeit, entscheidend ist. Ebenso sind der Sozialstatus der Eltern und der IQ-Wert der Kinder immer miteinander und mit dem beruflichen Erfolg in unserer Gesellschaft verbunden und beide Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. In der Tat sagt der Sozialstatus des Vaters mehr über die berufliche Zukunft des Kindes aus als sein IQ-Wert im Alter von vier Jahren.81 Doch die 124
Verteidiger einer allgemeinen Intelligenz äußern sich so, als ob nur der IQ-Wert wichtig wäre, als ob für das erfolgreiche Durchkommen des Gegenstandes durch den Zylinder nur die Größe verantwortlich wäre. Die relative Bedeutung der sozialen Klassenzugehörigkeit und der kognitiven Fähigkeiten für den späteren Erfolg des Erwachsenen variiert mit dem Lebensumfeld der Adaptation, auch wenn der IQ eines Kindes nur 10 Prozent der Varianz im beruflichen Erfolg in den Vereinigten Staaten ausmacht. Die soziale Klassenzugehörigkeit ist für ein Kind in Nordamerika und in Europa wichtiger als in kleinen, abgelegenen Dörfern in Brasilien, wo Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten größere Bedeutung haben können, weil es weniger Klassenunterschiede gibt. Ernst Mach hatte Recht: »Kein Gesichtspunkt hat absolute dauernde Gültigkeit. Jeder hat nur Bedeutung für einen begrenzten Zweck.«82 Wenn eine Wissenschaft noch jung ist – und die Psychologie gehört zu den jüngsten –, dann sind diejenigen, die sie ausüben, nicht selten anfällig für Denkweisen, die dem menschlichen Bewusstsein attraktiv erscheinen, die aber leider kaum mit der Natur übereinstimmen. Drei der zähesten Vorlieben gehören Ideen, die unveränderliche, symmetrische und einfache Inhalte postulieren. Der Begriff einer allgemeinen Intelligenz bedient alle drei. Das menschliche Bewusstsein neigt zu der Überzeugung, dass die Welt aus einmal festgelegten Anordnungen stabiler Elemente zusammengesetzt ist, welche das Wesen der Dinge ausmachen. Die klassischen griechischen Philosophen Thaies, Plato und Demokrit nahmen nicht 125
zur Kenntnis, dass, obwohl ihre Ideen sich um den Begriff des innersten Wesens rankten, die Natur dieser Ansicht keineswegs entsprach, und sie setzten das Wesen an den Beginn aller Materie in der Welt. Auch wenn die scharfen Kanten eines Felsens abgetragen werden, brennendes Holz zu Asche wird, Blätter welken und Tiere wachsen und sterben, bestehen wir nichtsdestoweniger darauf, dass die oberflächliche Verwandlung unsichtbare Schichten unveränderlicher Formen verbirgt, die darunter liegen. Der Biologe Ernst Mayr ist gegen diese Idee des Essenzialismus zu Felde gezogen, teilweise weil sie mit der Evolution nicht übereinstimmt. Vor Darwin wurde allgemein geglaubt, dass jede Spezies einen ursprünglichen Fundus von Eigenschaften besitzt, die ihr Wesen ausmachen. Darwins große Einsicht war es, dass es keinen vollendeten Hund gibt, sondern nur Generationen von Tieren, die sich mit der Zeit, obzwar sehr langsam, verändern. Der Begriff der allgemeinen Intelligenz wird wie ein Wesensbegriff verwendet; Profile kognitiver Fähigkeiten lassen sich auf diese Weise nicht beschreiben. Die Idee einer allgemeinen Intelligenz erfüllt auch den Wunsch nach Symmetrie. Obwohl die alten Griechen und Römer symmetrische Ornamente bevorzugten und Kinder symmetrische Muster länger anschauen als asymmetrische, kommt Symmetrie in der Alltagserfahrung nur selten vor. Die Wolkenformationen am Himmel, Bäume im Wald, Kühe auf einer Weide, Gänseblümchen auf einer Wiese und Wasserlilien auf einem Teich, sie alle sind asymmetrisch verteilt. Doch wenn ein einführendes Lehrbuch uns die symmetrische Verteilung von IQ126
Punkten zeigt, mit einem Durchschnittswert von 100 und ungefähr gleichen Zahlen unter und über diesem willkürlich festgesetzten Wert, überzeugt uns die Symmetrie der glockenförmigen Kurve von der Richtigkeit des Gesagten. Die Erkenntnis einer menschlichen Eigenschaft, die symmetrisch über alle Völker der Welt verteilt ist, muss die Empfindung wecken, dass Wissenschaft ler endlich einem Stückchen von Gottes Plan auf die Spur gekommen sind. Schließlich ist die Idee einer allgemeinen Intelligenz die Einfachheit selbst. Die Zahl der menschlichen kognitiven Fähigkeiten, vermutlich so groß wie die Zahl der Krankheiten, die wir bekommen könnten, beinhaltet die Wahrnehmung in verschiedenen Sinnesmodalitäten, verschiedene Erinnerungsprozesse, Phantasie, Schlussfolgern, Deduktion, Bewertung und Erwerbung von neuem Wissen. Diese ganze außerordentliche Vielfalt fällt unter den Tisch, wenn man sich auf das Konzept einer allgemeinen Intelligenz festlegt. Biologen sind weniger töricht. Sie behaupten nicht, dass Menschen sich genetisch in einer Eigenschaft unterscheiden, die »allgemeine Gesundheit« heißt, und dass Menschen eine große, mittlere oder geringe Anfälligkeit für alle bekannten Krankheiten erben. Genetische Auswirkungen auf Lebensfunktionen sind in den meisten Fällen äußerst spezifisch. Gleichwohl halten einige Psychologen an der Idee fest, dass jedes Individuum eine Eigenschaft erbe, die darüber entscheide, ob es eine hohe, mittlere oder geringe Intelligenz besitzt. Ein weiterer Beleg dafür, dass es sich bei der allgemei127
nen Intelligenz eher um ein erfundenes als um ein natürliches Phänomen handelt, ist die Tatsache, dass die Testwerte, die diese stabile Eigenschaft messen sollen, über den Zeitraum der letzten sechzig Jahre in Nordamerika und Europa angestiegen sind. Wenn amerikanische Zehnjährige von heute sich dem IQ-Test aus dem Jahre 1932 unterziehen würden, dann würde ein Viertel – zehnmal so viele wie 1932 – Werte erreichen, die eine hohe Intelligenz anzeigen. Und wenn Kinder, die 1932 zehn Jahre alt waren, den IQ-Test von heute machen würden, erwiese sich ein Viertel als intellektuell minderbegabt. Der Beschreibung »hoch intelligent«, führt Neisser aus, liegt ein Vergleich zugrunde zwischen einer bestimmten Person und allen anderen Personen im gleichen Alter, die der gleichen Kultur angehören und die in der gleichen geschichtlichen Ära getestet wurden.83 Diese Zuschreibung ist nicht vergleichbar mit der Aussage »Marie hat braune Augen« oder »Maries Körpertemperatur beträgt 36,6 Grad Celsius«. Die Intelligenz, die in einem IQ-Test gemessen wird, hat nur dann eine kohärente Bedeutung, wenn sie auf Individuen angewandt wird, die der gleichen Altersklasse zugehören und die die Sprache der Test-Fragen verstehen. Es lässt sich überhaupt nichts über die Intelligenz eines zehnjährigen Kindes sagen, das in einem abgelegenen Dorf in Tibet lebt, taubstumme Eltern hat und nie in seinem Leben zur Schule ging. Aber es lässt sich sagen, welche Augenfarbe das Kind hat, wie hoch seine Körpertemperatur ist und wie viel es wiegt. Die Beliebigkeit von IQ-Werten macht folgendes Gedankenexperiment deutlich: Wenn eine mysteriöse Kraft 128
den IQ von jedem Menschen in der Welt um zehn Punkte reduzieren würde, blieben die Erblichkeits-Koeffizienten und die Korrelation zwischen IQ und schulischen Leistungen exakt so, wie sie vor dem Eingriff waren. Ein gleiches Ergebnis wäre für ein natürliches Phänomen unmöglich. Wenn die menschliche Widerstandskraft gegen Krankheiten durch eine Reduzierung der zytotoxischen TZellen um 10 Prozent verändert würde, hätte dies schwerwiegende Folgen für die Gesundheit aller Menschen. Ich bezweifle nicht die Tatsache, dass ererbte biologische Faktoren, welche die Hirnphysis beeinflussen, zu den ähnlicheren Werten in Intelligenztests beitragen, die eineiige im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen und Geschwister im Vergleich zu nichtverwandten Individuen aufweisen. Der Kern des Streits geht um den Schluss, den wir aus diesen harten Fakten ziehen. Dies ist keine unwichtige Frage. Ptolemäus und Kepler nahmen die gleichen Tatsachen in den Stern- und Planetenverläufen wahr, doch der Erstere schloss daraus, dass die Sonne sich um die Erde drehte, während der Letztere behauptete, dass die Erde sich bewege. Bei der unterschiedlichen Schlussfolgerung handelt es sich nicht um einen Streit, der nur die akademische Welt beträfe. Im 15. Jahrhundert wurden einige Menschen von der Pestseuche angesteckt; im 20. Jahrhundert haben sich einige Menschen an Aids angesteckt. Die Ersteren glaubten, dass der Grund ihrer Krankheit eine Hexe sei; moderne Menschen glauben, dass der Grund für Aids ein Virus ist. Individuen unterscheiden sich in ihren Leistungen bei kognitiven Tests und in ihrer Hirnphysis. Es wäre 129
von äußerster Bedeutung, wenn der Grund für diese Unterschiede eine besondere Gruppe von Genen wäre, die manche Individuen bei allen Tests kompetenter machen würde. Wenn dies unwahrscheinlich ist, spiegelt sich in dem Konzept der allgemeinen Intelligenz kein natürliches Phänomen, sondern – wie in Newtons Äther – ein Hemmnis des theoretischen Fortschritts. Dies ist der Grund, warum zumindest eine Gruppe von Wissenschaft lern, die von der American Psychological Association gebeten wurde, eine objektive Bewertung des Konzepts der allgemeinen Intelligenz vorzunehmen, zu folgendem Schluss kam: »Standardisierte Tests erfassen nicht alle Formen der Intelligenz … das Studium der Intelligenz … bedarf der Selbstbeschränkung, der Reflexion und sehr viel mehr Forschung.«84 Es ist nicht unwichtig, dass die Idee der Intelligenz starke ethische Konnotationen hat. Individuen, die über eine geringe Intelligenz verfügen, haben es schwerer, sich in unserer Gesellschaft anzupassen. Diese Tatsache heißt für manche Beobachter, dass geringe Intellige*nz zugleich einen Mangel in der biologischen Ausstattung beinhaltet. Wenn eine Idee einmal einen moralischen Nebensinn erworben hat, wird es schwierig, die Logik ihrer Anwendung zu kritisieren, denn sie erfüllt eine wichtige Funktion in der Erklärung von Anpassungsfehlern. Eine zu kritische Analyse ihrer Bedeutung gefährdet ihre praktischen und ethischen Vorteile und zerstört das Gefühl der Gewissheit, das sie für Kritik unantastbar macht. Das Attribut »intelligent« wird oft in vergleichbarer Weise gebraucht wie Biologen »Überlebensfähigkeit« 130
für eine Tierspezies verwenden. Doch Evolutionsbiologen wissen, dass die relative Überlebensfähigkeit eines individuellen Tieres von der spezifischen ökologischen Nische abhängt, in der es lebt. Das Vorhandensein von Nahrung und der Wettstreit mit anderen um diese Nahrung beeinflussen die Überlebensfähigkeit aller Tiere, die in diesem örtlichen Bereich leben. Diejenigen, die dem Konzept der Intelligenz anhängen, haben gegen die Idee einer relativen Überlebensfähigkeit nichts einzuwenden, aber sie lehnen die Einschränkungen ab, die mit dieser Vorstellung einhergehen. Vor allem scheinen diese Wissenschaft ler sich nicht des Werturteils bewusst zu sein, das mit der Hervorhebung verbaler Fähigkeiten verbunden ist, welche allen Intelligenztests zugrunde liegt. Trotz der vielen begründeten Kritik an dem umstrittenen Buch The Bell Curve ging es den meisten Kritikern nicht darum, dem Begriff der Intelligenz wissenschaftlichen Nutzen abzusprechen.85 Die meisten fanden die Folgerungen des Autors fehlerhaft, aber sie stellten nicht das Konzept selbst infrage. Doch David Wechsler, der Erfinder des am häufigsten durchgeführten Intelligenztests, hat erklärt, dass die Intelligenz eines Individuums immer in seinem besonderen kulturellen Kontext verstanden werden müsse; Menschen, die in einer Gesellschaft als »intelligent« gelten, werden in einer anderen Gesellschaft vielleicht anders beurteilt. Diese weise Warnung wurde ignoriert zugunsten der weit verbreiteten Überzeugung, dass jeder Mensch – vom Kind bis zum Achtzigjährigen – über ein relativ feststehendes Kontingent von komplexen mentalen Eigenschaften verfügt, 131
die – wie Galens mysteriöse schwarze Galle – ein fester, unzerstörbarer Teil seiner Persönlichkeit sind. Da keine andere psychologische Eigenschaft dieses Merkmal teilt, ist diese Prämisse wahrscheinlich falsch.
Temperament Der Glaube, dass Kinder physiologische Eigenschaften erben, die sie dahingehend lenken, besondere psychische Profile zu entwickeln, beruht auf drei Beobachtungen. 1) Geschwister, die von den gleichen Eltern im gleichen Haushalt und in der gleichen Nachbarschaft großgezogen werden, weisen gewöhnlich Unterschiede in ihren Motiven, Gefühlslagen und Fähigkeiten auf. 2) Eineiige Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden und in verschiedenen Familien aufwuchsen, gleichen einander in ihren Motiven, Gefuhlslagen und Fähigkeiten mehr, als man erwarten sollte. 3) Korrelationen zwischen spezifischen emotionalen und Verhaltenseigenschaften auf der einen Seite und physiologischen Merkmalen wie Herzfrequenz, Blutdruck, Augenfarbe, Körperbau auf der anderen Seite implizieren den Einnuss von Genen auf die psychischen Eigenschaften eines Individuums. Die wissenschaft liche Literatur über die Temperamente der Kinder ist voll von Begriffen wie scheu, meidend, kontaktfreudig, aktiv, reaktiv, selbstregulierend und reizbar. Keines dieser Worte sagt etwas über das spezifische Alter oder die Vorgeschichte des Kindes oder den Kontext, in dem das Kind beobachtet wird. 132
Viele kleine Kinder sind in Gegenwart unbekannter Erwachsener anfänglich still und zurückhaltend. Doch die meisten dieser Kinder zeigen keinerlei Scheu, wenn sie mit unbekannten Kindern zusammen sind. Nur etwa 10 Prozent der Zweijährigen zeigen in beiden sozialen Situationen das gleiche stille und zaghafte Verhalten und nur etwa 15 Prozent sind in den meisten unvertrauten Situationen gleichermaßen kontaktfreudig. Diese beiden kleinen Gruppen unterscheiden sich im Temperament voneinander und von denen, die sich in den verschiedenen Kontexten jeweils anders verhalten. Mehr noch, jeder Typus entwickelt seine besonderen Merkmale in der frühen Kindheit.86 Ein ähnlicher Grad an Spezifität findet sich bei Fischen. Ein Team von Wissenschaft lern beobachtete das Verhalten junger Sonnenfische, wenn ihnen ein Stab mit roter Spitze entgegenbewegt wurde – also bei einem bedrohlichen Ereignis – und wenn unbekanntes Futter in dem dafür vorbestimmten Aquariumsteil eingeführt wurde. Manche Fische wichen dem Stab aus, näherten sich aber dem neuen Futter, während andere sich umgekehrt verhielten. Nur eine sehr kleine Anzahl mied sowohl den Stab wie das Futter.87 Wie bei Kindern kann Schüchternheit oder Furchtlosigkeit kontextspezifisch sein. Gesunde, muntere vier Monate alte Kinder, die interessanten visuellen, akustischen und Geruchs-Stimuli ausgesetzt werden, zeigen verschiedene Reaktionsmuster. Eine Gruppe, etwa 20 Prozent, zeigt kräftige motorische Aktivität – Strampeln mit Armen und Beinen –, während sie gleichzeitig weinen, was darauf hindeutet, dass sie von 133
der Stimulation leicht erregt und auch geängstigt werden.88 Eine größere Gruppe, etwa 40 Prozent, zeigen nur geringe motorische Aktivität und keine Verängstigung, was darauf hindeutet, dass sie von der gleichen Stimulation nicht leicht erregt werden. Diese beiden Typen, die hoch bzw. niedrig reaktiv genannt werden, erben wahrscheinlich verschiedene neurochemische Eigenschaften in den limbischen Systemen, die Vermeidungs-Reaktionen vor Unbekanntem auslösen, insbesondere im Mandelkern und seinen Projektionen auf die motorischen Bereiche, in den Stirnlappen, im Hypothalamus und dem vegetativen Nervensystem. Als die hoch und niedrig reaktiven Kinder vierzehn Monate alt waren und man sie mit unvertrauten Ereignissen, Personen und Räumen konfrontierte, waren die Ersteren sehr viel ängstlicher als die Letzteren. Etwa 60 Prozent der hoch Reaktiven weinten und wurden ungewöhnlich scheu und ängstlich, während etwa 60 Prozent der niedrig Reaktiven furchtlos, spontan und kontaktfreudig wurden. Als die gleichen Kinder wiederum im Alter von 21 Monaten beobachtet wurden, war nur etwa ein Drittel der hoch Reaktiven ängstlich und scheu, und ein Drittel der niedrig Reaktiven war noch furchtlos und kontaktfreudig. Als die Kinder viereinhalb Jahre alt waren, wurden sie von einer unbekannten Frau befragt, und danach spielten sie mit fremden Kindern. Jetzt hielten nur noch 13 Prozent der hoch reaktiven Kinder den durchgehend furchtsam-scheuen Charakter aufrecht, den sie in allen Kontexten mit 14 und 21 Monaten und mit viereinhalb Jahren zeigten. Diese Kinder kann man 134
mit Grund »gehemmt« nennen. Jedoch zeigte nicht ein hoch reaktives Kind Furchtlosigkeit und auff ällige Kontaktfreudigkeit zwischen dem Alter von 14 Monaten bis zu viereinhalb Jahren – ein Profil, das für das »nicht-gehemmte« Kind charakteristisch wäre.89 Welchen Begriff sollen wir wählen, um die beträchtliche Gruppe jener hoch reaktiven Kinder zu beschreiben, die als ältere Kinder nicht durchgehend als gehemmt gelten? Zur Erinnerung: Wenn ein eineiiger Zwilling psychotische Symptome entwickelt und der andere nicht, dann fassen wir sie nicht unter der gleichen psychiatrischen Kategorie zusammen, trotz der Tatsache, dass sie die identischen Gene haben. Die hoch reaktiven Kinder, die nicht durchgehend gehemmt sind, haben möglicherweise ein Potenzial, um als Jugendliche furchtsam und schüchtern zu werden. Ihre Ängstlichkeit kann sich »in Remission« befinden, also vorübergehend abgeklungen sein. Wenn Psychiater diese Bezeichnung auf ihre Patienten anwenden, wollen sie damit nicht sagen, dass die schizophrenen Symptome nie mehr zurückkehren, sondern dass Patienten mit Remission von denen unterschieden werden müssen, die Symptome zeigen. Gehemmtheit als Eigenschaft wird von biologischen Ursachen und einer individuellen Erfahrungsgeschichte geprägt. Sie ist bei der Geburt nicht vorhanden. Es ist wichtig, das Alter des Kindes zu spezifizieren, wenn man ihm Temperamentseigenschaften zuschreibt. Die meisten Vierjährigen, die niedrig reaktive Kinder gewesen waren, verhielten sich dem fremden Prüfer gegenüber sehr spontan. Sie redeten, lächelten, lachten und 135
wirkten entspannt und aufgeweckt. Doch ein Reifeschritt, der bei allen Kindern mit fünf oder sechs Jahren eintritt, lässt sie soziale Situationen nachdenklicher erleben und die Beurteilungen durch die erwachsenen Interviewer genauer wahrnehmen. Folglich ist die Mehrzahl der Siebenjährigen, einschließlich der niedrig reaktiven Kinder, zurückhaltender gegenüber dem fremden Erwachsenen, als sie es drei Jahre zuvor waren. Sie fingen im Interview später an zu sprechen, lächelten und lachten weniger oft. Solches gedämpfte Verhalten ist eben ein Merkmal der meisten Siebenjährigen und hat mit der Entwicklung einer neuen kognitiven Kompetenz zu tun. Also hat das Attribut »gehemmt gegenüber einem fremden Erwachsenen« eine bestimmte Bedeutung, wenn es auf Vierjährige, und eine andere Bedeutung, wenn es auf Siebenjährige angewandt wird, weil die Gründe für das scheue Verhalten nicht die gleichen sind. Darum muss die Geschichte des Individuums in der Beschreibung immer berücksichtigt werden. Wir haben kürzlich beobachtet, wie zwei siebenjährige Jungen sehr verhalten gegenüber einer weiblichen Prüferin reagierten. Einer von ihnen war ein hoch reaktives Kind gewesen; der andere niedrig reaktiv. Keiner der Jungen sprach spontan, sie beantworteten nur die gestellten Fragen und jeder lächelte nur einmal während des ganzen Tests. Doch der Junge, der als Kind hoch reaktiv gewesen war, schaute die Prüferin anfangs gar nicht an, sprach mit sehr leiser Stimme, dachte über schwierige Aufgaben lange nach und hatte hohen Blutdruck. Der Junge, der niedrig reaktiv gewesen war, wirkte ent136
spannt, sah die Prüferin oft an und hatte einen geringen Blutdruck. Obwohl beide Jungen gehemmt auf die Prüferin reagierten, machten sich die verschiedenen Temperamente, die sie als Kinder gezeigt hatten, auf andere Weise bemerkbar.90 Die gleiche Schlussfolgerung ergibt sich aus dem Vergleich zweier Gruppen von vier bis fünf Jahre alten Kindern. Eine Gruppe hatte einen Elternteil, der unter Panikanfällen litt, während die Eltern der anderen Gruppe keinerlei psychische Störungen aufwiesen. Obgleich ein größerer Anteil der ersten Gruppe sich reserviert und ernst gegenüber dem Prüfer verhielt, war auch eine kleine Zahl der Kinder mit gesunden Eltern emotional gehemmt. Wenn man den Blick nur auf das zurückgenommene Verhalten der Kinder gegenüber dem Prüfer richtete, wirkten diese beiden Gruppen gleich. Doch unterschieden sie sich in anderen Merkmalen. Diejenigen, deren Eltern unter Panikattacken litten, waren schüchterner, wenn man sie in einen fremden Raum brachte, und zeigten zusätzlich eine größere Reaktion des sympathischen Nervensystems. Vermutlich hätten sie andere Profile gezeigt, wenn man sie früher beobachtet hätte.91 Peter Kosso führt für diese Kontroverse ein gutes Beispiel an.92 Wir nennen die Farbe von Espenblättern im Sommer grün, im Oktober gelb, denn dies sind die Farben, die wir sehen. Doch die Blätter gehören zum gleichen Baum und besitzen daher die gleiche grundlegende Biologie. Also wäre es nicht irrational, die Espenblätter die ganze Zeit »grülb« zu nennen, was einschließt, dass die Blätter eine Zeit lang grün und eine andere Zeit lang 137
gelb sind. Trotz der Änderung in der Erscheinung behalten alle Blätter die einzigartige genetische Struktur, die für Espenblätter bestimmend ist. Wenn wir diese Vorgehensweise übernehmen, dann könnten wir kontaktfreudige Kinder, die hoch reaktive Kleinkinder gewesen waren, »scheunichtscheu« nennen, während hoch reaktive Kleinkinder, die scheu geworden waren, »scheu« und kontaktfreudige Kinder, die nicht hoch reaktiv gewesen waren, »nichtscheu« genannt werden könnten. Die Entscheidung, wie wir Kinder nennen wollen, die ihr äußeres Profil verändern, hängt von der Position ab, die wir in der Debatte über Erscheinung und Wirklichkeit einnehmen. Einige Wissenschaft ler behaupten, dass wir nie wissen werden, was tatsächlich in der Natur vor sich geht. Niels Bohr äußerte sich skeptisch über unsere Fähigkeit, zu begreifen, was als Ganzes hinter dem Beobachfeten verborgen liegt, auch wenn er einräumte, dass es notwendig sei, Wörter als Hilfskonstruktionen zu benutzen, um die unsichtbaren Prozesse zu beschreiben. Doch diese Wörter seien Vermutungen, um Verständnis und Kommunikation zu unterstützen. Wenn ein sechsjähriges Kind kontaktfreudig und mutig ist, dann können wir es nicht als gehemmt bezeichnen, nur weil es in seinen ersten Lebensjahren hoch reaktiv war. Andere Wissenschaft ler, für die Einstein der Prototyp ist, glauben daran, dass man versuchen muss, den entscheidenden Prozess zu folgern, auch wenn die Ereignisse für Geräte und menschliche Sinne unsichtbar sind. Einstein vertraute auf die Fähigkeit des menschlichen 138
Geists, die Ereignisse zu erfassen, die hinter den Messwerten lagen. Diese Wissenschaft ler würden argumentieren, dass sie keine Regeln verletzen, wenn sie spekulieren, dass aufgeschlossene, mutige Kinder, die in ihren ersten Jahren hoch reaktiv gewesen sind, sich von gleich aufgeschlossenen Kindern unterscheiden, die nicht hoch reaktiv gewesen sind. Die Ersteren haben vielleicht ein größeres Potenzial, in der Zukunft scheu und zurückhaltend zu werden. Ich stehe aufseiten von Bohr. Ratten erstarren, wenn sie ein Licht sehen, das zuvor einen Stromschlag angekündigt hat. Achtzigjährige sagen, dass sie sich vor einem langsamen Tod fürchten. College-Studenten in einem PETScanner (PET = Positronen-Emissions-Tomographie) zeigen eine hohe Stoff wechselaktivität im limbischen System, wenn sie eine Spinne sehen. Wissenschaft ler, die glauben, dass das Wort Furcht alle drei Ereignisse genau beschreibt, sollen diesen Begriff verwenden. Doch sie sollten sich nicht vormachen, dass in diesen genannten Beispielen die gleichen unsichtbaren Prozesse ablaufen. Denn damit begingen sie den Fehler, der Furcht eine platonische Wirklichkeit zuzuschreiben – die eines »Dings an sich« –, was reine Fiktion ist. Hilary Putnam geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, dass wir nicht wissen, was wir sagen, wenn wir vom »Ding an sich« sprechen.93 Die erstarrte Ratte, der Achtzigjährige und der CollegeStudent im Scanner sind drei verschiedene Fäden, die Wissenschaft ler zu einem dickeren Strick zusammenzuflechten versuchen. Zurzeit sind die dünnen Fäden, die die Begriffe der Sozialwissenschaften umfassen, viel zu 139
getrennt voneinander. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Zeit geben wird, in der all diese Fäden, das heißt jedes belegte empirische Beispiel eines Begriffs, ineinander greifen werden. Wenn dies stattfindet, wird die Bedeutung des Begriffs sich in allen Fäden wieder finden, so wie es heute mit dem Begriff der Spezies in der Biologie der Fall ist. Es steht zu hoffen, dass diese Zeit nicht in zu ferner Zukunft für jene Ideen liegt, die die Verhaltenswissenschaften am Leben erhalten. Der Sinn eines Wertes, bezogen auf eine einzelne Variable, zum Beispiel eine Geschwindigkeit von 5 km/h, ist ohne die Spezifizierung des handelnden Objekts und des Kontexts vieldeutig. Ist es ein Auto am Strand oder eine Kuh auf der Weide? Extrem ängstliche, stille, unter Spannung stehende Kinder haben häufig die gleiche Herzfrequenz wie furchtlose, spontane Kinder, wenn beide auf einem Stuhl sitzen, bevor irgendein anstrengender Test mit ihnen durchgeführt wird. Doch nach einer Stunde der Anforderung haben mehr Kinder der ersten Gruppe eine höhere Herzfrequenz als Kinder der zweiten Gruppe. Stephen Stich illustriert eindrucksvoll, auf welche Weise die Geschichte eines Ereignisses wesentlicher Bestandteil seiner Bedeutung ist.94 Stellen Sie sich einen Fälscher vor, der eine Hundert-Dollar-Note hergestellt hat, die sich in nichts von dem Geldschein unterscheidet, der von der staatlichen Notenbank der USA ausgegeben wird. Die ungleiche Herkunft der Geldscheine macht ihren Wert jedoch sehr verschieden. Das Gleiche gilt für die Kopie eines Monet-Bildes von der Seine. 140
Der signifikante Beitrag der Geschichte einer Person zu jedem sie beschreibenden Begriff in der Psychologie steht im Gegensatz zu der relativen Unwichtigkeit dieses Beitrags in Physik und Chemie. Jedes Gramm Eisen ist gleich, unabhängig davon, wo es gefunden oder ausgeschmolzen wurde. Ein sich bewegender Magnet mit einem feststehenden Leiter gilt als äquivalent zu einem feststehenden Magneten mit sich bewegendem Leiter, wenn die gleiche Stromspannung erzeugt wird. Doch die Tatsache, dass die vorausgehende Geschichte eines Individuums (oder Tieres) auf wesentliche Weise an seinen gegenwärtigen Funktionen teilhat, unterscheidet die Biowissenschaften von der Physik. Zwei Flusskrebse, die sich gegenüberstehen und für einen Beobachter absolut gleich aussehen, reagieren auf die gleiche Injektionsmenge von Serotonin verschieden. Der eine Krebs zeigt eine Hemmung in dem Reflex, den Schwanz aufzustellen, während der andere diesen Reflex verstärkt zeigt. Der Grund des entgegengesetzten Verhaltens liegt darin, dass das erstere Tier früher einmal von dem Letzteren besiegt worden ist. Man muss die Geschichte dieser Tiere kennen, um ihr gegenwärtiges Verhalten verstehen zu können.95 Eine von Darwins zwingenden Erkenntnissen lautete, dass die Geschichten zweier Tierspezies wichtiger für ihre Klassifikation sind als ihre gegenwärtige Ähnlichkeit. Wale und Haie sehen sich ähnlich, aber sie besitzen verschiedene phylogenetische Geschichten; Wale und Mäuse sehen sich wenig ähnlich, aber sie haben eine ähnlichere Herkunft. Eine Gruppe von einhundert Erwachsenen, die durch ihre Antworten in einem Persönlichkeitstest alle der Ka141
tegorie »extrovertiert« zugehörig scheinen, sind deshalb nicht gleich, denn sie haben verschiedene vergangene Geschichten, die die Bedeutung dieser und aller anderen beschreibenden Kategorien in der Psychologie affizieren. Die Unterscheidung zwischen dem, was ein Gebilde im Augenblick der Beobachtung ist und dem, was es in der Vergangenheit war oder was es in der Zukunft sein wird, wird von allen Biowissenschaften respektiert. Psychologen sind eine Ausnahme, da sie so oft mangelhaft epigenetische Stadien berücksichtigen. Psychische Eigenschaften sind keine stabilen Strukturen, die tief im Innersten des Menschen verborgen liegen. Einige Merkmale wie die heutigen Kleidungsgewohnheiten können sich morgen schon ändern. Die ersten Wörter, mit denen natürliche Phänomene benannt werden, sind immer zu allgemein. Luft, Feuer, Wasser und Erde, die als Elemente verstanden wurden, sind nicht die vier grundlegenden Formen der Materie. Darwins Idee der natürlichen Auslese unterschied nicht ausreichend zwischen Merkmalen, die über Generationen erhalten blieben, weil sie adaptiv waren, und Merkmalen, die erhalten blieben, weil sie der Adaptivität nicht im Wege standen. Auch machte Darwin keinen Unterschied zwischen einem schrittweisen Aussterben, welches die Folge von ererbten maladaptiven Eigenschaften ist, und einem plötzlichen Aussterben, das aufgrund eines unvorhergesehenen ökologischen Ereignisses eintritt wie einer langen Dürreperiode oder eines großen Asteroiden, der auf der Erde einschlägt. 142
Der Glaube an uneingeschränkt gültige Wörter für Prozesse begann zu wanken, als Anfang des 18. Jahrhunderts Mediziner, also Vertreter einer induktiveren Wissenschaft als Physik und Astronomie, feststellten, dass alle Aussagen probabilistisch sind. Danach enthielten die Beziehungen zwischen den beobachteten Zeichen und nicht die interessanteren unsichtbaren Vorgänge die Informationen, mit denen die damaligen Gelehrten ihre Theorien aufbauten. Doch Mitte des 19. Jahrhunderts wurde klar, dass jede Beobachtungsmethode zu einer anderen Art Probabilität führte; dadurch wurde der Glaube an platonische Abstraktionen erschüttert. Die Philosophie der Verhaltenswissenschaften ist von dieser Einsicht noch nicht hinreichend durchdrungen. Die modernen Physiker wissen, dass Licht sich wie eine Welle oder wie ein Teilchen verhalten kann je nach der Messmethode. Doch einige zeitgenössische Psychologen äußern sich, als ob diese Maxime nicht für Bewusstsein, Intelligenz oder Angst gelten würde. Man kann diese Idee auch anders formulieren. Die Sätze, mit denen Natur beschrieben werden soll, werden aus einem Fundus grundlegenderer Repräsentationen gebildet, von denen nur einige sich unmittelbar von wahrgenommenen Ereignissen ableiten. Der Student, der zwar die Frage »Was ist Rost?« zutreffend beantworten kann, aber noch nie ein Stück rostiges Eisen gesehen hat, unterscheidet sich qualitativ von demjenigen, der die Frage ebenfalls richtig beantwortet, aber schon rostige Nägel, Schlösser, Rohre und Schrauben gesehen hat. Der Letztere hat eine besondere Kenntnis davon, was Rost ist. Frank 143
Jackson hat das Gleiche im Sinn, wenn er das Beispiel des Experten der Farbphysik anführt, der sein ganzes Leben in einer schwarz-weiß-grauen Welt zugebracht hat. Wenn er zum ersten Mal eine reife Tomate sähe, würde er eine neue und wichtige Erfahrung machen.96 Zu viele Sätze, die psychologische Prozesse beschreiben, sind ungenügend mit gemessenen Tatsachen verknüpft, und folglich sind die Begriffe in den Sätzen zu ungenau. Die meisten Begriffe sind einerseits mit anderen Begriffen, andererseits mit Phänomenen verbunden. Die Basis für die Verbindung von einem Begriff zu einem anderen ist gewöhnlich ein einzelnes Merkmal, das beide teilen; eine solche schmale Grundlage gilt nur noch höchst selten für die Verbindung eines Begriffs mit einem Phänomen. Dadurch ist es für das Bewusstsein leicht, ein Netzwerk von untereinander verbundenen Begriffen zu schaffen, wo jedes Paar nur durch ein gemeinsames Merkmal zusammenhängt. Denken Sie an den Begriff der Regulierung, der in der Persönlichkeits- und Temperamentsforschung eine Rolle spielt. Diese Idee ist mit dem Begriff der Impulskontrolle verbunden; Impulskontrolle ist mit dem Begriff der Bewältigung (coping) verbunden; und Bewältigung ist mit Adaptation verbunden. Keiner dieser Begriffe wird durch einen Handelnden oder durch eine Situation spezifiziert. Der einflussreiche Theoretiker Jeffrey Gray schreibt, dass die Gehirne von Tieren und Menschen über ein »behavioral approach System (BAS)« verfügen, das die Handlungen organisiert, die darauf gerichtet sind, einen erwünschten Zustand zu erreichen.97 Die Idee eines 144
einzigen Gehirnsystems für alle erwünschten Zustände setzt voraus, dass sich in den Gehirnen von Ratten, Affen und Menschen ein System von Netzwerken vorfindet, das das Werben, Paaren, Jagen, Essen, Trinken, das Beschützen der Jungen und die Vorbereitungen für den Schlaf organisiert, obwohl diese Vorgänge sich im Anreiz und der Dauer des dafür relevanten Aktes unterscheiden und an verschiedenen Stellen im Gehirn entstehen. Auch wenn eine Beschädigung des Geruchssystems eine Ratte an der Paarung hindert, bleiben Schlaf, Trinken und Ruhephasen davon unberührt. Umgekehrt stellt sich der Wissenschaft ler, der automatisch den Weg vom Begriff zum Phänomen zurückverfolgt, konkrete Kontexte vor, in denen eine bestimmte Art von Handelnden sich einem ersehnten Objekt nähert. Ein solches Denken wird ein Kind, das ein Spielzeug ergreift, nicht mit einem Adoleszenten gleichsetzen, der ein Liebesobjekt umarmt. Noch wird es ein zweijähriges Kind, das sich das Weinen verbeißt, wenn es in einer Kindertagesstätte abgegeben wird, das Weinen also reguliert, damit vergleichen, dass ein verwahrloster Jugendlicher es sich verkneift, seine Wut an einem parkenden Auto auszulassen, also seinen Vandalismus reguliert. Sozialwissenschaftler sind Anhänger solcher unspezifizierter Prozesse, denn der kreative Teil ihrer Forschung beginnt oft damit, dass Hypothesen aus abstrakten Begriffen entwickelt werden statt aus Begriffen, die eng an beobachtete Phänomene gebunden sind. Ich kenne Psychologen, die über die Vererbbarkeit von IQ-Werten schreiben, obwohl sie selbst noch nie einen Intelligenztest 145
durchgeführt oder auch nur bei einem zugesehen haben. Manche Wissenschaftler, die über die Mutterbindung des Kleinkinds schreiben, haben nie ein Kind mit einer Mutter beobachtet – die einzige diesbezügliche Erfahrung war vor vielleicht 25 Jahren, als sie ihrem Geschwisterchen beim Stillen zugesehen haben. So basiert in den Sozialwissenschaften zu viel Theorie auf Aussagen, die so außerordentlich vage sind, dass sie die breitesten Verallgemeinerungen zulassen. Sozialwissenschaft ler ziehen philosophisch reiche Begriffe beobachtbaren Tatbeständen vor. Sie benutzen einzelne Wörter für dynamische Prozesse, als seien es ganze Sätze, als ob das einzelne Wort »beißen« eine völlig klare, unzweideutige Aussage über den Handelnden, das gebissene Objekt, das Ziel und den Anlass beinhalten würde. Ich habe nichts gegen vereinheitlichende Prinzipien und deren Notwendigkeit für den Fortschritt der Wissenschaft; Psychologie bildet da keine Ausnahme. Die Naturwissenschaft ler halten die Suche der Physiker nach einer umfassenden einheitlichen Theorie der vier Grundkräfte in der Natur zurecht in Ehren; dabei wissen sie, dass die Begriffe Neutron, Proton und Meson erfunden wurden, um beobachtete Energieprofile zu erklären. Ich bewundere alle, die nach diesen großen Ideen suchen. Ich bin nur kritisch gegenüber den vielen populären synthetischen Modellen in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Psychologie, die Lebensalter, Geschlecht, Spezies und Kontext ignorieren. Kulturanthropologen wären gewiss unter den ersten, die auf den Vorwurf einer übertriebenen Verallgemeine146
rung »Nicht schuldig!« rufen würden. Denn in der Tat herrscht unter den Kulturanthropologen derzeit eine partikularistische Tendenz vor, die sich dagegen wehrt, dass eine Tatsache, die für eine Kultur belegt ist – zum Beispiel dass Europäer und Amerikaner Gefühle nach ihrer Valenz und Intensität klassifizieren –, wahrscheinlich auch für alle anderen Kulturen gültig sei. Doch vor den sechziger Jahren neigten die Kulturanthropologen genauso zu hoch abstrakten Modellen wie Psychologen und Soziologen heute. Die ungebrochene Anziehung, die von abstrakten Eigenschaften – wie furchtsam, ängstlich, bewusst, intelligent oder scheu – ausgeht, bezieht ihre Kraft aus einer historisch einflussreichen philosophischen Prämisse, die Bertrand Russell vertrat, wonach jedes Objekt und folglich jede Person als isolierte Einheit betrachtet werden kann, die über eine Reihe von wesentlichen Merkmalen verfügt, welche unabhängig von den Umständen, in welchen das Objekt oder die Person beobachtet wird, fortbesteht.98 Ein Stein behält seine Gestalt und Härte, ob er auf einem Weg oder am Grund eines Sees liegt. Man nimmt an, dass eine Frau ihre Intelligenz und ihre Ängstlichkeit beibehält, wann und wohin immer sie gehen mag. Es ist dennoch notwendig, zwischen Wörtern zu unterscheiden, die die physischen Merkmale eines einzelnen Objekts beschreiben – zum Beispiel die Größe, Form und Farbe eines Steins –, und Wörtern, die abstrakte Qualitäten benennen sollen. Obgleich die Gestalt, Farbe und Größe eines Steins auf einem Weg sich nicht ändern, gehört der Stein zugleich zur Kategorie der »po147
tenziell gefährlichen Objekte«. Wenn jemand über den Stein stolpert oder ihn in ein Fenster wirft, wird der Stein ein gefährliches Objekt. Doch die Qualität des »Gefährlich-Seins« ist nicht augenfällig, wenn der Stein auf dem Weg oder am Grund eines tiefen Sees liegt. Die Zugehörigkeit zur funktionalen Kategorie »gefährlich« ändert sich mit dem Kontext. Diese Beobachtung führt uns zu einem wesentlichen Punkt. Alle Wörter für kognitive, emotionale und VerhaltensProzesse sind funktionale Kategorien, so wie potenziell gefährliche Steine. Somit ist es ein Irrtum, in einer Art und Weise zu schreiben, als ob »intelligent« und »furchtsam« inhärente Eigenschaften einer Person seien, die sich nicht mit ihrem Umfeld oder über längere Zeitabschnitte ändern könnten. Manche Kinder machen rasche Fortschritte im Lesen, Schreiben und Multiplizieren. Doch der Begriff für die dazugehörige Eigenschaft, die viele »Intelligenz« nennen, ist nur für Kinder zutreffend, die sich in spezifischen Umwelten entwickelt haben und sich in definierten Situationen verhalten. Ein wichtiger Grund dafür, warum unspezifizierte Begriffe so fest in den Sozialwissenschaften verankert sind, ist der, dass manche Wissenschaft ler glauben wollen, dass die meisten psychologischen Prozesse bei Individuen mit verschiedener Biologie, Geschichte und unterschiedlichen Lebensumständen identisch ablaufen. Zum Beispiel wehren sie sich dagegen, verschiedene Begriffe für das deklarative Gedächtnis von Dreijährigen, Zwanzigjährigen und alternden Erwachsenen zu verwenden. Doch wenn wir davon ausgehen, dass die Vertrautheit 148
mit der Information, die abgerufen werden soll, die Genauigkeit der Erinnerung beeinflusst, dann besteht die Möglichkeit, dass das deklarative Gedächtnis in diesen drei Gruppen durchaus nicht das Gleiche ist. Stellen Sie sich eine Gruppe von Erwachsenen vor, die mit mathematischen Gleichungen, mit Gemälden oder mit Titeln von Romanen aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert werden. Derjenige, der sich zufällig in einem dieser Gebiete besonders gut auskennt, wird die Beispiele daraus auf der Basis begrifflicher Ähnlichkeiten gut einordnen können und ein hervorragendes deklaratives Gedächtnis zeigen. Der Mathematikstudent wird die Gleichungen gut behalten können; ein Künstler die Gemälde; und ein Student der englischen Literatur wird sich vermutlich mit den Romantiteln leicht tun. Der Erinnerungsprozess ist anders bei den Leuten, die mit den Informationen mehr oder weniger vertraut sind. Unter solchen Bedingungen sollte der untersuchende Wissenschaftler eine Erklärung über die Vorbildung der Test-Teilnehmer hinzufügen. Biologen sind sich der Tatsache bewusster, dass jeder Prozess mit einer spezifischen Auswahl von Bedingungen verbunden ist. Naturwissenschaftler unterstellen eine vorrangige Verbindung zwischen einem Prozess und bestimmten Objekten. Biologen, Chemiker und Physiker sind es zum Beispiel gewohnt, Gegenstände zusammen mit ihren Funktionen zu denken, und nicht eine Funktion, die von einem Gegenstand abgelöst wäre. Die Chemiker des 17. Jahrhunderts erkannten die Notwendigkeit, sowohl die Substanzen wie die Bedingungen zu spezifizieren, um das Ergebnis einer Mischung von zwei 149
Substanzen voraussagen zu können. Kein Naturwissenschaft ler sieht in Strahlung, Präzession, Crossing-over oder Ionisierung allgemeine Prozesse, die sich auf verschiedene Dinge in der Welt anwenden lassen. Sowohl die Lunge wie die Blutgefäße dehnen sich aus und kontrahieren, doch weil die Lunge und die Arterien in ihrer Struktur und Funktion verschieden sind, benutzen Biologen die Begriffe »erweitern und verengen« für die Blutgefäße und »ausdehnen und kontrahieren« für die Lunge. Sie erkennen den Wert einer genauen Sprache, um zwischen ähnlichen Prozessen in verschiedenen Organen zu unterscheiden. Wenn Biologen über den Begriff »bleichen« schreiben, wissen ihre Kollegen, dass es sich dabei um eine Veränderung im Pigment der Rezeptor-Zellen in der Netzhaut als Reaktion auf Lichtphotonen handelt. Sie würden das Wort bleichen nicht auf jedes Gebilde anwenden, das farblich heller wird. Gelegentlich machen sich auch Biologen der Benutzung übermäßig abstrakter Begriffe schuldig, die sie zumeist den Sozialwissenschaften entlehnen, und versäumen, die Spezies genau zu bestimmen. Schlagende Beispiele hierfür sind u. a. Altruismus innerhalb der Sippe, reziproke Kooperation und Versklavung. Diese Konstrukte werden verwendet, als ob es keinen Unterschied machte, ob es sich bei dem Tier um eine Biene, eine Fledermaus oder einen Pavian handelt. Unter diesen Bedingungen verfahren Biologen nicht anders als jene Psychologen, die Begriffe wie anhänglich, ambivalent, furchtsam oder kontaktfreudig Paarverhältnissen zuordnen, zu denen ein Junge und ein Mädchen, Mann 150
und Frau, Mutter und Kind oder Großvater und Enkel gehören können. Diese Praxis verstößt gegen das Prinzip, dass die Grundstruktur in der wissenschaft lichen Beschreibung ein vollständiger Gedanke ist und nicht ein isoliertes Prädikat. Viele Philosophen, doch vor allem Gottlob Frege, haben darauf bestanden, dass eine vollständige Aussage mit handelndem Subjekt, Verb und Ziel das signifikante Element in der wissenschaftlichen Prosa darstellt.99 Denn ein Teil (zum Beispiel ein Wort für einen Prozess) kann nie mit dem Ganzen gleichgesetzt werden, an dem es teilhat (die vollständige Aussage), es besteht immer die Gefahr der irrtümlichen Annahme, dass ein gegebener Prozess bei verschiedenen handelnden Subjekten oder Kontexten identisch verläuft. Es wäre schön, wenn Wörter sich unseren idealistischen Wünschen anbequemen würden, aber gewöhnlich tun sie das nicht. Frege machte weiter geltend, dass wissenschaft liche Aussagen zugleich aus abstrakten Funktionen und einer Reihe spezifischer Argumente bestehen. Eine Funktion ist ein Satz der Art »X furchtet Y«, in dem „Subjekte, Ziele und Kontexte unspezifiziert sind. Eine Funktion kann sehr verschiedene Bedeutungen annehmen, wenn die Subjekte X und Y genau benannt und eine Zahl verschiedener Argumente vorgebracht werden. Die Behauptungen »Jungen fürchten autoritäre Väter«, »Studenten fürchten Prüfungen«, »Frauen fürchten sich vor dem Altern« und »Männer fürchten Krieg« haben zutiefst verschiedene Bedeutungen. Psychologie, Soziologie und Anthropologie unterschei151
den sich in ihrer Erkenntnistheorie nicht grundlegend von der Biologie und die Geschichte der Biologie enthält eine Lehre für diese jüngeren Sozialwissenschaften. Nur bei Chromosomen gibt es das Crossing-over; nur Keimzellen unterziehen sich der Reduktionsteilung (Meiose); nur Neuronen leiten ihre Erregung über Synapsen weiter; nur Pigmentzellen in der Netzhaut bleichen. Doch Lernen, Kommunizieren, Töten, Annähern, Vermeiden, Regulieren und Paaren sind Aktivitäten, die wir bei Ameisen, Fröschen, Eidechsen, Vögeln, Ratten, Katzen, Schimpansen und Menschen antreffen. Die physiologischen und psychologischen Prozesse, welche die Bezugsgrößen für diese Prädikate sind, können nicht durch all diese Spezies hindurch identisch sein. Wenn wir aussagekräftigere Sätze über das Verhalten formulieren wollen, dann müssen wir das handelnde Subjekt und die Situation spezifizieren, die an diesen und so vielen anderen psychologischen Prozessen beteiligt sind.
Kapitel Der Reiz des Kindheits-Determinismus Wie weit nach vorn kann die ferne Vergangenheit ihre Hand ausstrecken? Physiker glauben, dass die gegenwärtige Temperatur im Universum – etwa drei Grad Kelvin – unausweichlich aus der Streuung der intensiven Strahlung folgte, die vom Urknall ausging. Keine andere wissenschaft liche Disziplin erklärt mit solcher Zuversicht so viel aus einem Erstereignis, das zeitlich so weit zurückliegt. Unter Psychologen besteht sehr viel weniger Einverständnis über das Primat früher Ereignisse. Stellen wir uns einen Zwanzigjährigen vor, der große Versagensangst vor einer Prüfung hat, einen Vierzigjährigen, der von der Polizei inhaftiert wurde, oder einen Sechzigjährigen, der sich in einer suizidalen Depression befindet. An welcher Stelle der Entwicklung stieg die Wahrscheinlichkeit jedes dieser Ereignisse signifikant über die bloße Möglichkeit hinaus und welche Erfahrungen waren für diese höhere Wahrscheinlichkeit verantwortlich? Jede Gesellschaft spekuliert über die Gründe der Varianz unter ihren Mitgliedern. Manche messen dem Geburtsdatum oder dem Einfluss von Hexen bzw. Zauberern besondere Macht zu. Andere Kulturen sehen materialistischere Faktoren am Werk wie das Klima, die Ernährungsweise und die individuelle Biologie. Eine sehr 153
viel kleinere Zahl von Gesellschaften, zu der auch unsere gehört, hat sich entschieden, in den Erfahrungen der ersten Lebensjahre (insbesondere in der liebevollen Sorge der leiblichen Mutter für ihr Kind und dem interaktiven Spiel beider) die mächtigste lebensformende Kraft zu sehen. Europäische und amerikanische Schriftsteller beharren seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts darauf, dass Eigenschaften und Gewohnheiten, die von Vorfällen in der Kindheit geprägt wurden, nicht aufgehoben werden können. Rousseau stellte die übertriebene Behauptung auf, dass Mütter für die Gesundheit ihrer Gesellschaft verantwortlich seien. »Wenn jedoch die Mütter sich dazu verstehen, ihre Kinder selbst aufzuziehen, dann werden sich die Sitten von selbst erneuern und in allen Herzen wieder die natürlichen Empfindungen erwachen … Würden die Frauen wieder zu Müttern, würden die Männer wieder zu Vätern und Gatten.«1 Diese Ansichten fanden vor allem in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts Anklang. Ein Kommentator schrieb 1929: »Die große Bedeutung der intellektuellen Prozesse – Wahrnehmung, Phantasie, Denken und ihre sozialen Folgen in der Wissenschaft, Kunst und Philosophie – haben ihre ersten Wurzeln in den besonderen menschlichen Strukturen des drei Monate alten Kindes … Alle Phänomene des erwachsenen Lebens müssen sich historisch bis zur Geburt zurückverfolgen lassen.«2 Einige selbst ernannte Fachleute warnten sogar vor »öffentlich dargebotener Unterhaltung«, da sie ein gefährliches Gift für das kindliche Bewusstsein darstellte. »Es 154
ist nicht nur der Ungebildete, der sein Baby in Kinos und Bilder-Shows oder zu anderen Belustigungen mitnimmt, man findet sie auch in Konzerten und Lesungen, deren Publikum meist hoch kultiviert ist. Das kleine Kind mag vielleicht keine Unruhe zeigen und sich so lieb verhalten, wie Sie wollen, oder den verlorenen Schlaf am nächsten Tag nachholen, und trotzdem kann es Schaden davongetragen haben. Es mögen keine unmittelbaren Symptome einer nervösen Überreizung sichtbar werden, doch eines Tages werden die Folgen sich zeigen – es kann zwanzig oder vierzig Jahre dauern, bis dafür bezahlt werden muss, doch dann wird die ganze Summe in Rechnung gestellt.«3 Der Anthropologe Geoffrey Gorer formulierte in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die allgemeine Übereinstimmung sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, als er zum einen feststellte, dass alle Verhaltensweisen sich durch ein System von Belohnung und Strafe bilden, und zweitens die Rolle der frühkindlichen Erfahrung unterstrich: »Das Verhalten, das sich früh im Leben eines Individuums herausbildet, beeinflusst das gesamte nachfolgende Lernen. Deshalb sind die frühkindlichen Erfahrungen von überragender Bedeutung.«4 Neuere Lehrbücher über Kindesentwicklung bestehen unverändert darauf, dass Eltern »damit beginnen, dem Kind so viel Verlässlichkeit und soziale Interaktion zu vermitteln wie möglich«, um die Zukunft des Kindes vorteilhaft zu beeinflussen.5 Zwei so angesehene Autoren wie Michael Lamb und Marc Bornstein informieren Studenten wie folgt: »Ereignisse in der Kindheit sind wichtig, weil sie eine Vielzahl von 155
Entwicklungsprozessen auslösen … Die Kindheit wird eine manifeste und unvermeidliche Wirkung auf die Entwicklung haben … Wenn wir uns der Erforschung der Kindheit widmen, lernen wir über Prozesse und Erfahrungen, welche die psychische Entwicklung nachhaltig beeinflussen.«6 Woher kommt es, dass so viele Menschen von der nicht nachlassenden psychologischen Wirkung der frühen Lebensjahre ausgehen? Ein Schlüssel lässt sich im Europa des 18. Jahrhunderts finden, wo eine wachsende Zahl von Ehefrauen, die Kaufleuten und Handwerkern den Haushalt führten, langsam von solchen Pflichten wie dem Holzsammeln, Beerenpflücken, dem Versorgen der Haustiere und dem Pflegen von Gemüsebeeten befreit wurden. Die Gesellschaft wies diesen Frauen, die durch historische Veränderungen ihrer Arbeit enthoben waren, die Aufgabe zu, sich um die Zukunft ihrer Kinder zu kümmern. Ein perfekt großgezogenes Kind, das sich vorteilhaft verheiratete oder aufgrund seiner Fähigkeiten eine angesehene Position in der größeren Gemeinschaft erwarb, erhöhte den Familienstatus. Nachdem die Kinder des Bürgertums ihren unmittelbaren wirtschaft lichen Nutzen verloren hatten, wurden sie zu Investitionen in die Zukunft der Familie, und Eltern fingen an, sie als Objekte ihres Gefühlslebens und der Freude wahrzunehmen. Die europäische Gesellschaft im 18. Jahrhundert war mobiler geworden, und es war nun für den Sohn eines Schneiders oder Schmieds möglich, in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen, so wie es für den Sohn eines Pfarrers oder Großgrundbesitzers möglich war zu 156
fallen. Der Wechsel der sozialen Klassen stellte gleichzeitig eine Hoffnung und eine Bedrohung dar und war deshalb auch eine Quelle der Unsicherheit für Familien, die auf den mittleren, höchst gefährdeten Sprossen der Klassenleiter angesiedelt waren. Wenn Unsicherheit das Bewusstsein breiter Schichten der Gesellschaft durchdringt, dann wird nach einer Erklärung gesucht, die sowohl vernünftig klingt als auch Maßnahmen empfiehlt, mit denen man das Unbehagen dämpfen kann. Die verbreitete Ansicht, dass bestimmte elterliche Verhaltensweisen die Entwicklung von Charaktereigenschaften garantierten, die für eine erfolgreiche Zukunft notwendig erschienen und deshalb die Familie vor einem sozialen Abstieg bewahrten, rationalisierte rituelle Praktiken, die einige der Sorgen beiseite wischten. Doch bedeutete diese Idee zugleich, dass die umgekehrte Hypothese ebenso richtig sein musste: Wenn Mütter ihre Kinder nicht angemessen großzogen, waren ihre Kinder bedroht von Dumpfheit, Aufmüpfigkeit und einer abwärts weisenden Lebensspirale. So war es die moralische Pflicht der Eltern, ihren Kindern so früh als möglich die besten Erziehungsmethoden angedeihen zu lassen. Irgendwo in den USA heute spielt eine werdende Mutter ihrem Unterleib eine Kassette mit einer Beethoven-Sonate vor, in der Hoffnung, dass ihr ungeborenes Kind auf diese Weise für gute Musik sensibilisiert wird. Eine andere Frau liest in guter Hoffnung laut aus Keats und Dickens, damit ihr Fötus genug Wörter aufschnappen mag, um im Kindergarten den anderen Kindern voraus zu sein. Manche Mütter bestehen auf dem Hautkontakt mit ihrem 157
Neugeborenen während der ersten Stunde nach der Geburt, um eine emotionale Bindung sicherzustellen, von der sie glauben, dass sie für die langfristige seelische Gesundheit des Kindes notwendig ist. Diese Eltern, die die Schriften von John Bowlby und Erik H. Erikson verinnerlicht haben, sind davon überzeugt, dass die Zukunft ihres Kindes auf eine ernst zu nehmende Weise von Ereignissen in den ersten Stunden, Wochen und Monaten des Lebens vorbestimmt wird.7 Die Rituale, die von dieser Überzeugung ausgehen, saugen die Ängste wie ein Schwamm auf. Wenn das Glück, die Begabung und der Erfolg der Zukunft in den ersten Lebensjahren präformiert wird und wenn eine liebevolle Konzentration auf dieses erste Stadium einen Ausbruch erfreulicher Ergebnisse zur Folge hat, dann brauchen Eltern, die den Pflichten gegenüber ihrem Kind ausreichend nachkommen, sich keine Sorgen zu machen. Die vergleichsweise unkritische Zustimmung zu dieser Annahme setzt einen tiefen Glauben an die ungebrochene Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart voraus und die Ansicht eines jeden Lebens als einer Straße, die den ersten mit dem letzten Tag verbindet. Diese Auffassung von Entwicklung beruht auf der Vermutung, dass jede Erfahrung eine permanente physische Veränderung im zentralen Nervensystem zur Folge hat und dass daher die frühesten Eindrücke das Gerüst für das zukünftige Bewusstsein und Verhalten des Kindes bilden. Entwicklung wird analog zu dem Bau eines Hauses gesehen: Genauso wie die Form und Qualität des Fundaments die Stabilität des darauf errichte158
ten Rahmens bedingen, bestimmen die frühen Erfahrungen in überwältigendem Maße Form und Qualität des emotionalen und mentalen Lebens des reifen Erwachsenen. Das unbespielte Tonband, eine Metapher für das Bewusstsein des Kindes, wird ständig durch jede neue Erfahrung verändert, und diese aufgezeichneten Botschaften werden für einen unbegrenzten Zeitraum treu bewahrt. Hingegen gibt es Biowissenschaft ler, die eine ganz andere Geschichte erzählen. Die Evolutionsforscher Niles Eidrege und Stephen Gould riefen einen kleinen Aufruhr unter einigen ihrer Kollegen hervor, als sie die Behauptung aufstellten, dass eine neue Spezies innerhalb einer relativ kurzen Zeit entstehen kann. Die Evolution braucht nicht, wie Darwin glaubte, die Produktion von englischen Landeiern nachzuahmen.8 Die Verwandlung eines befruchteten Eis in einen Embryo mit Rumpf und Gliedmaßen, der Ausbruch einer Grippe-Epidemie im Winter und die Paralyse infolge eines schweren Gehirnschlags sind diskontinuierliche Ereignisse, die das, was vorher war, auf dramatische Weise verändern. Ebenso stellen neue Erkenntnisse der Genetik die Prämisse des Kindheits-Determinismus infrage. Eine pragmatische Philosophie, die quasi nach dem Motto »Spare in der Zeit, so hast du in der Not« nichts vegeudet wissen wollte, war vor nur zwanzig Jahren noch Teil des genetischen Credos. Wie kann es eine Mutation geben, so fragten Biologen, die nicht irgendwelche Folgen hat, sei es zum Guten oder Bösen? Doch wir wissen heute, dass die meisten Aminosäure-Substitutionen, die von Muta159
tionen bewirkt werden, keine Konsequenzen für die Vitalität oder Lebensfähigkeit des Organismus haben.9 So nahmen auch psychologische Deterministen an, dass jeder Kuss, jede Zärtlichkeit, jedes Schlaflied oder Schimpfen das Gehirn des Kindes in einer Weise verändert, die auf seine Zukunft Einfluss hat. Doch wenn geringe Veränderungen in den Synapsen, ähnlich wie AminosäureSubstitutionen, ohne funktionale Folgen sind, dann kann man nicht glauben, dass jede Freundlichkeit gegenüber einem Kind wie auf einem Bankkonto angespart wird und psychische Zinsen bringt. Der Glaube an die Verbundenheit ging mit der Vorstellung einher, dass es kritische Entwicklungsphasen gibt. Dieses Modell, das vor fünfzig Jahren weit verbreitet war, doch seither an Attraktivität verloren hatte, beginnt sich in manchen Bereichen zurückzumelden. Die Idee einer kritischen Entwicklungsphase hat bei Tieren eine klare Bedeutung. Die frühe Prägung von Nestflüchtern liefert hierfür ein gutes Beispiel. Es gibt eine Zeit nach dem Schlüpfen, in der ein Enten- oder Gänseküken dem ersten sich bewegenden Objekt folgt, das es sieht. Meistens ist es die Mutter. Mehrere Tage später, nachdem das Gehirn gewachsen ist, vermeidet der junge Vogel unbekannte Objekte. Als Folge davon erfährt das Tier eine Mutterprägung oder, wenn es im Labor aufwächst, eine Prägung durch die erste sich bewegende Person oder das erste sich bewegende Objekt, die oder das es sieht.10 In einem wichtigen frühen Lebenszeitraum können bestimmte Erfahrungen das zukünftige Verhalten des Tieres dauerhaft beeinflussen. 160
Die Neurowissenschaftler David Hubel und Torsten Wiesel fanden ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für eine kritische Phase, diesmal in der Entwicklung der Sehfähigkeit. In einer Reihe von Experimenten schlossen die Forscher ein Auge von neugeborenen Katzen, sodass nur eine Seite des visuellen Kortex visuelle Stimulation erfuhr. Wenn das Auge einer kleinen Katze für eine kurze kritische Zeit von vierzehn bis dreißig Tagen geschlossen wird, während die Neurochemie des visuellen Kortex sich in einem speziellen Stadium befindet, wird die Anatomie in diesem Teil des Gehirns dauerhaft beeinflusst, und die Katze ist auf einem Auge funktionell blind. Doch bei einer Katze, deren Auge einen Monat nach der Geburt geschlossen wird, hat dies keine Veränderung des Gehirns zur Folge, und das Tier kann, wenn das Auge wieder geöffnet wird, normal damit sehen. Hubel und Wiesel kamen zu dem Schluss, dass in einem kurzen kritischen Zeitraum beide Seiten des visuellen Kortex der gleichen visuellen Stimulation bedürfen. Wenn sie unterbleibt, hat dies dauerhafte Folgen für die Sehfunktion.11 Die Idee von kritischen Phasen erregte die Phantasie vieler Entwicklungspsychologen, die annahmen, dass es solche Phasen auch in der menschlichen Entwicklung geben muss. Die Wissenschaft ler haben darüber spekuliert, ob diese Phasen bei der Erwerbung der Sprache und der emotionalen Bindungen zu den Eltern bestehen, wobei Letztere als analog zur Prägung der Entenküken gesehen wurde. Marshall Klaus und John Kennell behaupteten vor fünfundzwanzig Jahren, dass die mütterliche Bindung zum Kind in den ersten kritischen 161
Stunden nach der Geburt entstehen muss, wenn die Entwicklung des Kindes sich normal vollziehen soll. Diese gewagte Feststellung, die jene vielen Mütter in Angst und Schrecken stürzte, die keine solche Erfahrung hatten machen dürfen, basierte auf einer Studie von 28 armen, unverheirateten Frauen – kaum eine Auswahl, die zu einem so provozierenden Schluss berechtigte.12 Zur Enttäuschung vieler stellte es sich als schwierig heraus, kritische Phasen in der menschlichen Entwicklung zu finden, die so eindeutig waren wie die Beobachtungen an Entenküken und kleinen Katzen. Die Waisen aus dem 2. Weltkrieg und dem Koreakrieg, die in ihren ersten Lebensjahren nur mangelhafte Bindungen an Erwachsene gehabt hatten, entwickelten sich nach der Adoption durch fürsorgende Pflegeeltern gut.13 In einer Studie wurde eine Gruppe von ängstlichen, stillen zwei- bis vierjährigen Kindern, die in einem überfüllten Heim mit zu wenig Personal aufgewachsen waren, in regelmäßigen Spielstunden mit Erwachsenen und Kindern zusammengebracht. Der Schleier der Indifferenz lüftete sich nach weniger als zwei Jahren und die typische Lebendigkeit von Vierjährigen kam zum Vorschein. Einer der Forscher, der mit einer so dramatischen Veränderung nicht gerechnet hatte, schrieb:
Wir hatten nicht erwartet, dass die älteren Kinder, die über einen Zeitraum von 2½ bis 4 Jahren Deprivationen ausgesetzt waren, eine schnelle Reaktion auf eine fördernde Behandlung zeigen würden. Dass sie es taten, erstaunte uns. Diese gänzlich un162
terentwickelten Kinder, die in ihrem Leben keine Bindungen aufgebaut hatten, die unmotiviert waren und sich auf nichts konzentrieren konnten, hatten mehr einer Tierhorde geglichen als einer Gruppe menschlicher Wesen … Als wir mit den Kindern arbeiteten, wurde sichtbar, dass ihre Unzulänglichkeit nicht das Ergebnis einer Schädigung war, sondern vielmehr am Mangel an normalen Erfahrungen lag, ohne die eine Entwicklung von menschlichen Qualitäten unmöglich ist. Nach einem Jahr der Zuwendung zeigten viele dieser älteren Kinder eine vertrauensvolle Anhänglichkeit an das Team von freiwilligen Mitarbeitern und … Selbstständigkeit im Spiel und bei den täglichen Verrichtungen.14 Diese Beweise der Formbarkeit in der Entwicklung veranlasste Psychologen, den Begriff der kritischen Phase durch den offeneren Begriff der sensitiven Phase zu ersetzen. Dieses Modell beinhaltet, dass es für jede wichtige menschliche Funktion einen optimalen Zeitraum gibt, in dem Erfahrungen auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Ein Kind kann eine spezifische Fähigkeit entwickeln, auch wenn es die dafür relevante Erfahrung nicht gemacht hat, doch die erwachsene Funktion könnte dadurch gefährdet sein. Die Idee einer sensitiven Phase wirkt unmittelbar einleuchtend und ist so gut wie unmöglich zu widerlegen und in Bezug auf Sprache mag sie sich tatsächlich als gültig erweisen. Wenn ein Kind in den ersten drei Lebensjahren keinerlei gesprochene Sprache kennen lernt, wird dies die zukünftige lingu163
istische Kompetenz zu einem gewissen Grad beeinträchtigen. Obwohl einige Evidenz dafür spricht, ist diese Hypothese schwer zu beweisen, denn es ist überaus schwierig, ein Kind zu finden, das in den ersten drei Lebensjahren keine menschliche Rede gehört hat. Und diejenigen, die man gefunden hat, können auch anderweitig in ihrer Entwicklung gestört sein, verursacht durch die gleichen Umstände, die auch die sprachliche Deprivation mit sich brachten. Der Begriff der kritischen Phasen lebt im Bereich der Pädagogik wieder auf, doch die Gründe dafür sind mehr politischer als wissenschaft licher Natur. Viele Kinder armer Familien in den Städten sind unzureichend auf den Schulbesuch vorbereitet. Manche kennen keinerlei Buchstaben; manchen ist nie eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen worden. Viele dieser Kinder haben große Probleme mit dem Lesenlernen, und diejenigen, die es bis zur fünften Klasse nicht gelernt haben, stehen in der Gefahr, als Jugendliche straff ällig zu werden. Jeder stimmt der Notwendigkeit zu, dass zum Nutzen dieser Kinder eingegriffen werden sollte, lange bevor sie zur Schule kommen, und eine Strategie, die sich anbietet, ist, die Mütter davon zu überzeugen, die regelmäßigen Gewohnheiten von Mittelklasse-Eltern zu übernehmen, insbesondere mit ihren Kindern zu spielen und zu sprechen, ihren Dreijährigen vorzulesen und die Wichtigkeit des Erfolgs bei schulischen Aufgaben zu vermitteln.15 Doch wie überzeugt man sie? Soll man sie beschämen wegen ihrer Versäumnisse, in der Hoffnung, dass die daraus resultierenden Gefühle das gewünschte Verhalten 164
bewirken? Diese Strategie ist aus mehreren Gründen wenig attraktiv. Erstens haben Scham- und Schuldgefühle in diesem Jahrhundert deutlich an Wirkungskraft verloren, zum Teil weil es keine einheitlichen Verhaltensstandards unter den Amerikanern verschiedener ethnischer Gruppen gibt. Viele Amerikaner tolerieren heute individuelle Neigungen und verurteilen nicht mehr so schnell andersartige familiäre Verhaltensweisen. Zweitens reagieren Mütter, die in wirtschaftlich bedrängter Situation leben und sich von der Gesellschaft ausgegrenzt fühlen, entweder mit Wut, Fatalismus oder beidem. Es ist nicht leicht, Schuldgefühle in einer Mutter zu wecken, die auf den Rat gebenden Eindringling aggressiv reagiert oder ohnehin nicht glaubt, dass sie das Leben ihrer Kinder ändern kann. Doch vor allem impliziert die Entscheidung, Scham- oder Schuldgefühle zu erregen, das unausgesprochene Urteil, dass arme Mütter moralisch versagt hätten. Die meisten Erwachsenen aus der Mittelschicht scheuen verständlicherweise davor zurück, diesen Opfern Vorwürfe zu machen, sie würden sich nicht genug um das Wohlergehen ihrer Kinder kümmern. Also erkennt eine wohlwollendere Herangehensweise an, dass diese armen Mütter ihre Kinder lieben, aber die grundlegenden Erfordernisse der menschlichen Entwicklung nicht kennen. Wenn sie wüssten, wie wichtig es für ihre Kinder ist, dass sie mit ihnen spielen, sprechen und ihnen vorlesen, würden sie diese Rituale sofort einführen. Um diese Botschaft mit größerem Nachdruck zu vertreten, haben Pädagogen das gegenwärtige Prestige der 165
Neurowissenschaften in Dienst genommen und den Eltern erzählt, dass die ersten beiden Lebensjahre eine kritische Phase in der Entwicklung ihres Kindes darstellen; wenn Eltern während dieser Zeit ihre Kinder nicht entsprechend anregen, werden sie dauerhafte Schäden davontragen. Diese Strategie wurde auch in der Titelgeschichte des Time-Magazins vom 3. Februar 1997 verfolgt, wo schlicht behauptet wurde, dass jedes Mal, wenn eine Mutter oder ein Vater ins Gesicht ihres kleinen Kindes schauen, sich neue Synapsen bilden und das Gehirn seiner Perfektion einen Schritt näher kommt. In dem Artikel wird ein Kinderpsychologe zitiert: »Die Erfahrungen des ersten Jahres legen den Grund für die neuralen Netzwerke, die uns in all den folgenden Jahren befähigen, intelligent, kreativ und anpassungsfähig zu sein.«16 Solche Erklärungen sind keineswegs neu. Eine Regierungs-Broschüre für Mütter aus dem Jahr 1914 enthielt genau die gleiche Warnung mit noch geringerer wissenschaft licher Grundlage. »Die ersten nervlichen Impulse, die durch die Augen des Babys, durch seine Ohren, Finger oder seinen Mund zum empfänglichen Gehirn geleitet werden, schaffen sich selber ihre Bahn; das nächste Mal reist ein anderer Impuls die gleiche Bahn und vertieft den Eindruck des Ersten.«17 Der Ratschlag – ob 1914 oder 1997 gegeben – erfolgt in guter Absicht. Kinder, mit denen regelmäßig gespielt wird, sind kognitiv weiter entwickelt als diejenigen, die vernachlässigt werden. Dennoch ist es ein wenig unehrlich, so zu tun, als ob arme Eltern, die mit ihrem Kind spielen und sprechen, das Kind dadurch vor zukünftigem 166
Scheitern in der Schule beschützen und seinen Lebenserfolg garantieren könnten. Die Qualität der Schule, die Motivation der Lehrer, die Wertvorstellungen der Gleichaltrigen, der Sittenkodex der Nachbarschaft und die Identifikation des Kindes mit seiner sozioökonomischen Herkunft haben großen Einfluss auf die Jahre der Kindheit. Ja, natürlich sollten Eltern liebevoll, spielbereit und kommunikativ mit ihren Kindern umgehen, aber daraus folgen keine Garantien. Jedes Kind, das 1998 in den USA zur Welt kam, wird mit über drei Millionen anderen Kindern im gleichen Alter in die Grundschule eintreten. Von der ersten Klasse bis zum Abschluss an der High School wird die relative Fähigkeit, verschiedene Lernaufgaben zu lösen, mit all den anderen aus dieser gewaltigen Gruppe verglichen werden und auf wesentliche Weise seine Zukunft mitgestalten. Die frühkindlichen Erfahrungen repräsentieren nur einen der vielen Faktoren, die zur sozialen Stellung des Heranwachsenden beitragen. Bildung und Einkommen der Eltern, Wohnort, Werte von Gleichaltrigen und die Qualität der besuchten Schule gehören zu den wesentlichen Determinanten des späteren schulischen und akademischen Erfolgs. Eine berühmte Längsschnitt-Studie von Kindern, die auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden und aufwuchsen, ergab, dass etwa 15 Prozent der untersuchten Gruppe ernste lern- und verhaltensbedingte Schwierigkeiten während der Adoleszenz hatten. Der zutreffendste Voraussage-Faktor, nach dem Kinder die genannten Probleme entwickelten, war die soziale Klasse ihrer Familie – über 80 167
Prozent der Kinder mit Problemen kamen aus der ärmsten Schicht der Stichprobe und nur ein Kind aus einer Familie der gehobenen Mittelschicht entwickelte ein psychisches Problem.18 Es ist um ein Beträchtliches teurer, die Qualität des Wohnens, der Bildung und Gesundheit der annähernd eine Million Kinder in den USA zu verbessern, die heute in Armut leben, als ihre Mütter zu motivieren, sie regelmäßig zu küssen, mit ihnen zu sprechen und zu spielen. Obwohl eine diesbezügliche Veränderung im mütterlichen Verhalten vorteilhafte Folgen hätte, wären diese Wirkungen geringfügig im Vergleich zu der Wirkung, die eine Veränderung der gegenwärtigen Sozialpolitik hätte. Man stelle sich Folgendes fiktive Experiment vor. Eine Gruppe von fünfhundert Müttern mit unzureichender Schulausbildung, die in Armut leben, sprechen und spielen vier Stunden am Tag mit ihren Kindern, während eine Gruppe von fünfhundert berufstätigen Müttern, die eine höhere Schulausbildung haben und in wirtschaftlichem Wohlstand leben, nur zwanzig Minuten am Tag mit ihren Kinder spielen und sprechen. Ich bin mir sicher, dass mehr Kinder aus der ersten Gruppe den Schulabschluss nicht schaffen oder eine Zeit im Gefängnis verbringen werden, während mehr Kinder aus der zweiten Gruppe sich beruflich qualifizieren werden. Sollte diese Voraussage zutreffen, so ist damit nicht gesagt, dass das frühe Spielen von Eltern mit ihren Kindern keine fördernde Wirkung hätte; die richtige Schlussfolgerung müsste eher lauten, dass andere Bedingungen, die mit der sozialen Schicht zusammenhängen, größeren Einfluss auf die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs und die Berufswahl haben. 168
Das entwicklungsbiologische Modell von der relativen Überlebensfähigkeit geht davon aus, dass der Erfolg eines jeden Individuums oder einer jeden Spezies nicht nur von den Genen und biologischen Verhaltensmerkmalen abhängt, sondern ebenso von den Fähigkeiten der anderen Individuen oder Spezies, die in der gleichen ökologischen Nische leben und mit ihm oder ihr konkurrieren. Dunkelflügler unter den Motten haben sich deshalb in englischen Industriegebieten vor Hellflüglern durchgesetzt, weil ihre dunkle Farbe sie besser vor den Vögeln schützte, wenn sie sich auf den rußgeschwärzten Bäumen niederließen. Doch in ländlichen Gebieten, wo kein Ruß auf den Bäumen lag, zeigte sich das umgekehrte Überlebensmuster.19 Ebenso ist die Wahrscheinlichkeit, einmal einen anspruchsvollen Beruf mit Prestige und wirtschaft licher Sicherheit auszuüben – analog einer Motte, die sich vor Vögeln schützt – größer für ein Kind, das in einem Haushalt mit studierten Eltern aufwächst, als für eines, dessen Eltern ohne Schulabschluss sind, und dies gilt unabhängig von frühen Kindheitserfahrungen. Unglücklicherweise braucht jede Gesellschaft nur eine kleine Zahl von Anführern, aber jede Menge Fußvolk. Das erinnert mich an die Geschichte von einem älteren Professor und einem Studenten, die beide vor einem Bären davonlaufen. Der Student schreit dem Professor, der vor ihm rennt, zu: »Der Bär wird uns kriegen, wenn wir nicht schneller rennen.« Der alte Mann antwortet: »Ich muss nicht schneller als der Bär rennen, sondern nur schneller als du.«
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Bindung und Unsicherheit Dass heutzutage die Elternbindung des Kindes eine so große Rolle spielt, setzt einen starken Glauben an Beziehungszusammenhänge, sensitive Phasen und die Bedeutung früher sozialer Bindungen voraus. Obwohl die modernen Amerikaner glauben, dass die Liebe zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson für eine gesunde Entwicklung absolut unerlässlich ist, sind die Beobachter von Kindern nicht immer zu einem so eindeutigen Schluss gekommen. Die alten Griechen und Römer haben sich größere Sorgen um die Qualität der Ammenmilch gemacht als um ihre Zuneigung für das Kind. Montaigne und Darwin haben beide über das menschliche Kind geschrieben, aber keinem von ihnen fiel es ein, der emotionalen Bindung zur Mutter sonderliche Bedeutung einzuräumen. Ein wohlhabender Florentiner aus dem 15. Jahrhundert, Leon Battista Alberti, hielt es für unwichtig, ob die Mutter oder eine Amme sich um das Kind sorgte, denn es hing allein von der Umsicht und dem vorbildlichen Verhalten des Vaters ab, ob aus dem Kind ein tüchtiger Erwachsener wurde.20 Im 17. Jahrhundert war der holländische Pfarrer John Robinson davon überzeugt, dass ein Kind eher der elterlichen Strenge als der Zuneigung bedürfe; deswegen hätten Väter einen wesentlicheren Einfluss auf ihre Kinder als Mütter. »In der Brust der meisten Eltern wallt eine starkes Gefühl elterlicher Liebe für … ihre Kinder … welches immer gefährlich und auch von Übel ist.«21 Francis Wayland, ein früher Präsident der Brown Uni170
versity, veröffentlichte 1835 eine psychologische Schrift mit dem Titel The Elements of Moral Science, die in über 75.000 Exemplaren verkauft wurde. Der Teil, der sich mit den Pflichten der Eltern befasst, macht ihnen zur Aufgabe, die Kinder am Leben zu erhalten, für ihre Gesundheit, geistige Regsamkeit und, vor allem, ihre moralische Festigkeit zu sorgen. Nirgendwo erwähnte Mr. Wayland die Pflicht, sie zu lieben.22 Diese Auffassungen von vermutlich klugen, nachdenklichen Autoren legen den Schluss nahe, dass unser heutiges Bild von liebevollen Müttern, die ihre lachenden Kinder mit zärtlichen Küssen bedecken, das Ergebnis besonderer historischer Bedingungen ist. Eine dieser Bedingungen ist die in den amerikanischen Mittelschichten verbreitete Sorge über die große Zahl von berufstätigen Müttern. Die Vorstellung, dass bezahlte Fremde sich um schutzlose Kinder kümmern sollen, weicht von der Art des Familienlebens ab, wie es in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts üblich war, und widerspricht der Vorstellung, dass Kinder von ihren leiblichen Müttern aufgezogen werden sollten – wozu sie, wie manche sagen würden, ein Recht haben. Einige Kommentatoren glauben, dass ein Abweichen davon der mentalen Gesundheit des Kindes Schaden zufügen kann. John Bowlby nährte diese Ängste in den sechziger Jahren: »Immerzu nagende Unsicherheit über das verlässliche Zur-Stelle-Sein von verständnisvollen Bezugspersonen ist ein wesentlicher Grund für die Entwicklung einer unstabilen und ängstlichen Persönlichkeit.«23 Bowlbys Bekräftigung des Glaubens, dass die sichere Bindung des Kindes an seine Mut171
ter die Zukunft des Kindes beeinflusst, eroberte die Köpfe und Herzen von Eltern und Psychologen. Die zunehmende Leidenschaft für die Bindungstheorie war zum Teil auch eine verständliche Reaktion auf die exzessiven Grausamkeiten des 2. Weltkriegs. Die Gräuel erweckten unter Psychologen und Psychiatern den Wunsch nach einem Modell der menschlichen Natur ohne den dunklen, freudschen Pessimismus. Erik H. Eriksons kreative Intuition, Freuds orale Phase durch eine Phase des Vertrauens zu ersetzen, befriedigte dieses Bedürfnis nach einem humaneren, weniger egoistischen Kind, das für elterliche Liebe empfänglich war und sie brauchte. Doch Wirtschafts- und Politikwissenschaft ler formulierten ihren Abscheu vor den Kriegsgräueln in einer ganz und gar gegensätzlicher Weise. Sie erfanden die Theorie von der rationalen Wahl (rational choice theory), die davon ausging, dass das Handeln der Menschen immer auf die Maximierung ihrer persönlichen Befriedigung abzielte. So nötigte der 2. Weltkrieg die westlichen Intellektuellen, sich mit der menschlichen Bereitschaft zur Grausamkeit auseinander zu setzen. Psychologen wehrten sich gegen diese brutale Tatsache, indem sie das Bedürfnis nach Vertrauen und Liebe auf das unschuldige Kind projizierten; und Ökonomen begegneten der traurigen Einsicht, indem sie die Selbstsucht auf Erwachsene projizierten. Schließlich macht die ökonomisch parasitäre Rolle der modernen Kinder sie der Versicherung bedürftiger, dass sie geliebt werden, als Kinder, die täglich ihre Arbeitspflichten erfüllen. Der Zehnjährige, der im 15. Jahrhundert auf dem Dorf lebte, wusste um seinen eigenen Wert, 172
denn er sah, dass seine Arbeit zum Auskommen der Familie beitrug. Der zehnjährige Sohn eines mittleren Beamten im London des 18. Jahrhunderts, der nicht auf ein gepflügtes Feld oder auf einen hohen Holzstapel zeigen und damit seinen Wert herausstellen konnte, war sich seines Wertes weniger sicher und daher abhängiger von symbolischen Zeichen der Zuneigung, die ihm seine bevorzugte Stellung in den Augen seiner Eltern bewiesen. Bowlbys Entscheidung, den Begriff der Sicherheit ins Zentrum der Beziehung des Kindes zu seinen Betreuern zu setzen, wurde von den gleichen historischen Bedingungen diktiert, die den englischen Dichter Wystan Hugh Auden dazu veranlassten, das 20. Jahrhundert das Zeitalter der Angst zu nennen. Nachdem die Bedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Schlaf und Schmerzlinderung befriedigt sind, bezeichnet Unsicherheit die Stelle, an der der ruhelose Geist sich entzündet. Im Europa des 15. Jahrhunderts und auch heute noch in vielen Dörfern der Dritten Welt ist die Hauptunsicherheit die Frage, ob das Kind überlebt. Diese Sorge ist in den industrialisierten Gesellschaften, wo wir reineres Wasser und wirkungsvolle Impfstoffe haben, in den Hintergrund getreten und von der Sorge um die psychische Vitalität des Kindes ersetzt worden. Ein Zustand der Unsicherheit – Benjamin Franklin benutzt das Wort Unbehagen – entsteht aus unerwarteten oder ungewohnten Ereignissen, die sich keinem leichten oder schnellen Verständnis erschließen. Die dauernde Präsenz der Mutter zu Hause, loyale Freunde, verlässliche Arbeitgeber und treue Ehepartner, Lebensmerk173
male, die im 19. Jahrhundert eher die Regel waren, haben in diesem Jahrhundert einen Teil ihrer Sicherheit eingebüßt. Erwachsene wussten nicht, wem sie vertrauen sollten, wenn sie in eine neue Stadt neben Nachbarn zogen, die sie vielleicht nie kennen lernen würden. Die zusätzlichen Bedrohungen durch Weltkriege, nukleare Zerstörung, Straßengewalt, Luft- und Wasserverschmutzung und Belastung der Nahrungsmittel machten es notwendig, die Unsicherheit der Erwachsenen zu dämpfen. Bowlby spürte, dass die Angst seiner historischen Ära sich aus dem Aufbrechen der familiären und sozialen Bindungen speiste, und er nahm an, dass die sichere Bindung eines Kinds an seine Eltern (oder an einen Elternteil) es vor Furcht schützen und gegen späteres Unbehagen immun machen würde. Im 17. Jahrhundert wollten europäische Eltern ebenso, dass ihre Kinder mit der Angst fertig würden, aber sie waren sich sicher, dass es der Widerstandskraft des Kindes nützlicher sei, wenn man es zwang, mit Schwierigkeiten selbst fertig zu werden, als es mit zärtlicher Liebe zu umhegen und Sorgen von ihm fern zu halten. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen andere Quellen der Unsicherheit zum Tragen. Die Grausamkeiten des 2. Weltkriegs und des Vietnamkriegs, zunehmende Gewalt und die Bereitschaft einer Mehrheit, das Verfolgen hedonistischer Eigeninteressen als ethische Haltung zu akzeptieren, haben den »Menschen als Maschine« mit dem bedrückenderen Bild des »Menschen als Gorilla« vertauscht. Wir würden gerne glauben, dass die menschliche Verwilderung, deren Zeuge wir ringsum 174
werden, mit Liebe zu zähmen wäre, doch wir haben die Hoffnung aufgegeben, dass Einfühlung und Verständnis genügen. Die Idee der auf Zuneigung basierenden Bindung hat die gleiche therapeutische Funktion wie die Philosophie des Holismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Diese Feststellung heißt nicht, dass beide Ideen wertlos wären. Aber sie heißt, dass der Erfolg des Bindungs-Modells auf sehr viel mehr beruht als auf wissenschaft lichen Beweisen. Er beruht auf der tiefen Überzeugung, dass Menschen mehr als jede andere Nahrung Liebe brauchen, und auf der Illusion, dass wir Menschen daran hindern können, sich gegenseitig umzubringen, wenn wir ihnen nur als kleine Kinder genug Liebe geben. Die japanische Plünderung von Nanking 1937, die Kulturrevolution in China in den späten sechziger Jahren, die Massenmorde in Bosnien und die Schlächterei in Ruanda straften diese Hoffnung teilweise Lügen. Ich vermute, dass die meisten Männer, die diese schrecklichen Gräuel begingen, in ihrer Kindheit liebevolle Eltern hatten. Wie ich im ersten Kapitel festgestellt habe, teilen unvertraute oder diskrepante Ereignisse einige Elemente mit Bekanntem, aber unterscheiden sich doch genug, um einen in Alarmzustand zu versetzen. Während der Depression in den dreißiger Jahren gab es nur wenige reiche Familien und Hollywood nutzte die natürliche Neugier ihnen gegenüber aus und drehte Filme über die Begüterten. Im letzten Jahrzehnt gerieten arme schwarze Familien als diskrepante Minderheit ins Blickfeld, und Hollywood macht Filme über diese benachteiligten Ju175
gendlichen in der Erwartung, dafür das Interesse der Zuschauer zu finden. Die gefeiertsten Künstler einer jeden historischen Ära sind diejenigen, die Themen antizipieren, die kurz darauf Knotenpunkte der Unsicherheit in der übrigen Gesellschaft werden. Die Gefühlslage der Entfremdung in T. S. Eliots Waste Land, die sich unter Europäern nach dem 1. Weltkrieg breit machte, ist so vorherrschend geworden, dass das Gedicht etwas von seiner ursprünglichen Kraft eingebüßt hat. Ein inzestuöses Verhältnis zwischen einem treu sorgenden kaukasischen Vater aus der Mittelschicht mit seiner halbwüchsigen Tochter hätte das amerikanische Publikum vor dem 2. Weltkrieg mit Entsetzen erfüllt. Doch die Angst, die sich um 1984 mit diesem Thema verband, war zahm genug geworden, um einem der großen Fernsehsender zu erlauben, Millionen von Zuschauern mit dem einstündigen Film »Something about Amelia« an die Fernsehapparate zu locken. Und als 1955 Lolita in Paris erschien, wurde es im darauf folgenden Jahr in Frankreich verboten. Als es 1958 in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde, fand es der Rezensent der New York Times abstoßend. 43 Jahre später wurde es zum zweiten Mal in Hollywood verfilmt. Shakespeare ist selten langweilig, weil seine Stücke universelle diskrepante Themen behandeln – Eifersucht, die zur Ermordung der Geliebten führt, Inzest und Verrat. Wie ein Schmetterling, der von Blume zu Blume hüpft, entdeckt der Geist/das Herz über Zeiträume hinweg eine neue Atypizität, die Aufmerksamkeit und Gefühle wieder erweckt. Eine dieser neuen Atypizitäten ist das Interesse an der 176
Spiritualität. Ich habe den Verdacht, dass das gegenwärtige Interesse an diesem Thema sowohl bei Wissenschaftlern wie beim allgemeinen Publikum teilweise damit zu tun hat, dass die meisten neuen Fakten die Gefühle nicht mehr in einem Maß zu erregen vermögen, wie es noch vor einem halben Jahrhundert der Fall war. Vor dem 2. Weltkrieg und unbestreitbar vor der Jahrhundertwende, als es noch kein World Wide Web und sehr viel weniger Doktortitel gab, tauchten neue Fakten mit umfassender Bedeutung deutlich seltener auf; dadurch konnte jede Entdeckung eher Staunen, Schrecken oder Freude erregen. An jenem Tag, als die großen Zeitungen 1919 weltweit berichteten, dass Arthur Eddington und sein Forschungsteam entdeckt hatten, dass das Sternenlicht, wenn es die Sonne streifte, sich offenbar krümmte, und damit eine der wesentlichen Voraussagen der Relativitätstheorie bestätigten, wurde Einstein einer der berühmtesten Männer der Welt. Die Erscheinungsrate ähnlich verblüffender Fakten hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drastisch zugenommen. Das Publikum von heute wird jede Woche mit dramatischen wissenschaft lichen Entdeckungen bombardiert, von Bildern der Marsoberfläche bis zum geklonten Schaf. Ebenso gibt es Zurücknahmen älterer Darstellungen; Kosmologen berichten fröhlich von neuen Belegen dafür, dass das Universum älter ist als seine ältesten Sterne, während sie noch vor wenigen Jahren von Hinweisen beunruhigt waren, die das Gegenteil nahe legten. Amerikaner, die immer noch mehr wissen wollen, können im Web surfen, bis sie vollkommen zufrieden gestellt sind. Doch die Wirkung einer 177
neuen Tatsache hängt davon ab, ob sie einen winzigen Gefühlsschock auslösen kann. Die schiere Menge an neuem Wissen sorgt beinahe mit Sicherheit dafür, dass – außer für eine kleine Zahl von Wissenschaft lern, die auf dem betreffenden Gebiet arbeiten – die meisten neuen Fakten bei der Mehrheit der Bürger keine Gefühlsreaktionen hervorrufen. Die Weltraummissionen der NASA sind fast zur Routine geworden, und es ist unwahrscheinlich, dass auch nur 5 Prozent der Öffentlichkeit den Namen eines der Mitglieder der letzten Apollo-Mission zum Mond kennen. Doch nach wie vor bleiben die Menschen von Ideen angezogen, die sie aufrütteln können. Eine der Ursachen für das neue Interesse an menschlicher Spiritualität ist ihre Verwurzelung in der Intuition, womit sie sich grundlegend von dem rationalen, eng faktizistischen Charakter der Wissenschaft unterscheidet und daher Gefühle hervorruft. Eine zweite, davon unabhängige historische Entwicklung, die zu der wieder erwachten Neugier gegenüber dem spirituellen Antlitz der Menschheit beiträgt, ist, dass viele Entdeckungen in der Molekularbiologie und den Neurowissenschaften vordergründig menschliche Prozesse wie Fortpflanzung und Bewusstsein zu mechanisieren und jener Geheimnisse zu entkleiden scheinen, auf denen ihre emotionale Kraft beruht. Wenn eine gespendete Eizelle von Mary Smith in einer Petrischale mit einem Spermium von Richard Jones befruchtet und dann in den Uterus der Leihmutter Ruth Williams transplantiert werden kann, sodass Richard Jones’ Frau neun Monate später Mutter ist, hat der Begriff der Elternschaft eine so 178
nachdrückliche Verwandlung erfahren, dass viele Bürger empfinden, das Geheimnis der menschlichen Existenz verschwinde und mit ihm das Gefühl der Agape, die dem Begriff des Menschlichen einen heiligen Rang verleiht. Ist es daher verwunderlich, wenn die Gemeinschaft sich danach sehnt, dass wieder ein Gefühl der Besonderheit in das menschliche Leben zurückkehrt, und auch ein bisschen Ehrfurcht, die man beim Surfen im Internet nicht empfindet. Reihenweise aufgeführte Fakten können das Gefühl nicht erzeugen, das die Entdeckung einer unerwartet einfachen Erkenntnis begleitet und das Auskosten jenes ästhetisch berauschenden Augenblicks, den Einstein als sein größtes Glück ansah. Eine unselige Konsequenz der sich überstürzenden neuen Fakten ist die Versuchung für einige wenige Wissenschaft ler, eine empirische Entdeckung aufzublasen, um sich so bei dem allgemeinen Lärm bemerkbar zu machen. Darwin brauchte nur zu flüstern; zeitgenössische Wissenschaft ler müssen brüllen, um sich Gehör zu verschaffen. Die Medien, von Natur aus der Übertreibung zugeneigt, haben mitgespielt und berichtet, dass Kleinkinder einfache arithmetische Aufgaben lösen könnten, dass Risikofreudigkeit erblich sei und dass Menschen bald geklont würden. Eine zweite Folge der Informationsflut ist ein nachlässigerer Umgang mit der empirischen Wahrheit. Wenn die Menge neuer Fakten jede einzelne wertloser und zugleich ein wenig unmenschlicher macht, dann verlieren auch die Genauigkeit und Authentizität einer wissenschaft lichen oder historischen Entdeckung an Stellenwert. Weil es unmöglich ist, genau zu wissen, 179
was in der fernen Vergangenheit geschah, haben einige Historiker sich überraschenderweise dafür entschieden, dass es die moralische Selbstbeschränkung nicht verletzt, wenn man die Phantasie ein bisschen spielen lässt, insbesondere dann nicht, wenn erfundene Zutaten das Interesse am Text erhöhen oder soziale Spannungen lösen. Diese Gelehrten würden einen ebenso nachlässigen Umgang mit Fakten bei ihrem Arzt, Architekten oder dem Piloten, der sie in den Urlaub fliegt, keineswegs tolerieren, auch wenn die Funktion eines jeden Gehirns, Dachstuhls oder Flugzeugs von einer Aureole der Unsicherheit umgeben ist.
Das Maß der Bindung Die beliebteste Methode, die Bindungsqualität bei einbis zweijährigen Kindern zu messen – »Die fremde Situation« genannt –, basiert auf Bowlbys Annahme, dass es die wesentliche Funktion der Eltern oder der fürsorgenden Bezugsperson ist, die Furcht des Kindes abzubauen. In diesem Experiment kommen Mutter und Kind in einen unbekannten Laborraum und sollen sich erst einmal eingewöhnen. Die Mutter geht dann fort und kehrt in Abständen von drei Minuten zurück. Wenn das Kind beim Fortgehen der Mutter etwas beunruhigt reagiert, aber bei ihrem Wiedererscheinen schnell wieder getröstet ist, dann spricht man bei dem Kind von einer »sicheren Bindung«. Wenn aber das Weggehen der Mutter das Kind nicht weiter berührt und ebenso ihr Wieder180
erscheinen keine Reaktion auslöst oder wenn das Kind sehr aufgeregt reagiert und nach der Rückkehr nur noch schwer zu trösten ist, dann spricht man bei dem Kind von einer »unsicheren Bindung«, und man geht davon aus, dass etwas mit der Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht stimmt. Es gibt verschiedene Gründe, diese Schlussfolgerungen zu hinterfragen. Zunächst basierte die ursprüngliche Studie, die eine Beziehung zwischen mütterlicher Sensibilität und sicherer Bindung bei dem Kind nachzuweisen suchte, auf 23 Kindern, von denen nur sieben mit einer unsicheren Bindung klassifiziert wurden. Zweitens variieren die Bindungs-Klassifikationen über so kurze Zeiträume wie sechs Monate. Drittens widerspricht der Test jeder Vernunft. Die Mutter und das Kind, die über ein Jahr zusammen gewesen sind, haben zusammen Schmerz, Lust, Freude und Leid erlebt, und die Repräsentationen der Mutter durch das Kind und sein Verhalten ihr gegenüber müssen Aspekte all dieser Erfahrungen enthalten. Ist es vernünftig zu glauben, dass ein halbstündiger Ausschnitt aus dem Verhalten unter ungewohnten Laborbedingungen die Geschichte all der Erfahrungen mit der Mutter enthüllen kann? Kann irgendeine dreißigminütige Beobachtung psychische Ergebnisse aufdecken, die in über sechstausend Stunden der Interaktion zwischen beiden Partnern entstanden sind? Aber es gibt noch andere Probleme. Wenn eine Mutter ihr Kleinkind an einem unbekannten Ort verlässt, neigen 15 bis 20 Prozent der Kinder von ihrem Temperament her zu großen Furchtreaktionen, insbesondere wenn sich 181
ein Fremder im Raum befindet. Diese extrem von Furcht erfüllten Kinder lassen sich nicht leicht beruhigen, wenn die Mutter zurückkehrt und werden als Kinder mit »unsicherer Bindung« bezeichnet, auch wenn sie möglicherweise eine sensible, verlässliche Mutter haben. Sie neigen schlicht von ihrem Temperament her zu großer Furchtsamkeit, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreten. In Mary Ainsworth’ ursprünglicher Untersuchung ließ eine gereizte Atmosphäre zu Hause am ehesten eine resistentunsichere Bindung erwarten. Außerdem sind Kinder, die von frühem Alter an Kinderkrippen besucht haben, daran gewöhnt, von ihrer Mutter an einem fremden Ort zurückgelassen zu werden, und werden wahrscheinlich nicht mehr weinen, wenn ihre Mutter sie verlässt. Weil sie während der Abwesenheit ihrer Mutter nur wenig Furcht empfinden, spielen sie auch weiter, wenn die Mutter wiederkehrt. Doch auch sie fallen unter die Kategorie der unsicheren Bindung. Ein Forscher, der Mutter-Kind-Paare während des ersten Jahres in ihrem Zuhause beobachtete, fand heraus, dass das Verhalten der Kinder in der fremden Situation – ob mit sicherer oder unsicherer Bindung – nicht von der Sensibilität der Mutter, sondern vom Temperament des Kindes abhing. Extrem irritierbaren, furchtsamen Kindern wurde meist eine resistent-unsichere Bindung zugeordnet, während diejenigen, die mit der Situation leicht zurechtkamen, als in sicherer Bindung befindlich klassifiziert wurden. Tatsächlich war für diesen Typus von Bindung das Fremdeln der beste Anzeiger.25 Ein weiterer Grund, der Skepsis angeraten erscheinen 182
lässt, ist der, dass einschneidende Unterschiede in den Erziehungsformen nicht immer das kindliche Verhalten in der fremden Situation beeinflussen. Etwa zwei Drittel von über tausend getesteten Kindern aus zehn verschiedenen Städten verhielten sich in der fremden Situation, als ob sie eine sichere Bindung hätten. Doch überraschenderweise spielte es dabei keine Rolle, ob sie den größten Teil des Tages zu Hause, in einer Kinderkrippe oder bei einer Verwandten zubrachten.26 Das Ergebnis widerspricht deutlich der Annahme, dass dieses LaborExperiment die Qualität der kindlichen Bindung an ihre Mütter – ob sensibel und verlässlich oder nicht – messen würde. In der Tat hat über die Hälfte einer großen Anzahl von Untersuchungen, die von Wissenschaft lern in verschiedenen Städten durchgeführt wurden, keine signifikante Beziehung zwischen der Fürsorglichkeit der Mutter und der Sicherheit der kindlichen Bindung zutage gefördert.27 Robert Le Vine, ein Kulturanthropologe, vermutet, dass das Verhalten eines Kindes in einer fremden Situation das Ergebnis der Sozialisation während der zurückliegenden Lebensmonate sein kann. Zum Beispiel glauben Mütter in einer bestimmten Stadt in Norddeutschland, die ihre Kinder lieben, gleichwohl, dass ihre Kinder lernen müssen, selbstständig zu sein, und achten darauf, sie nicht zu sehr zu verwöhnen. (Deutsche Eltern im 16. Jahrhundert vertraten eine ähnliche Ansicht, denn zehnund elfjährige Söhne von wohlhabenden Familien wurden oft zur Lehre in weit entfernt lebende Familien geschickt, um sie auf das Leben vorzubereiten.)28 Diese 183
deutschen Mütter gehen normalerweise nicht ins Kinderzimmer, wenn das Kind aufwacht, damit es lernt, sich selbst zu trösten. Die Mütter lassen ihre Kinder auch für ein oder zwei Stunden allein, wenn sie einkaufen gehen oder etwas erledigen; eine Praxis, die im Übrigen von niemand kritisiert wird. Solche Erfahrungen lehren Kinder, dass keine Katastrophe eintritt, wenn ihre Mutter weg ist; daher unterdrücken die meisten Kinder ihre Neigung zu weinen, wenn die Mutter abwesend ist. Es dürfte deshalb nicht überraschen, dass etwa die Hälfte dieser Kinder unter dem Typ »A – unsichere Bindung« klassifiziert wurden – während nur 25 Prozent amerikanischer Mittelschichtskinder unter diese Klassifikation fallen. Wenn wir die zum Typ »C – unsichere Bindung« gehörigen Kinder zum Typ A hinzufügen, wären zwei Drittel der deutschen Kinder in dieser Stadt bindungsunsicher, während es in den USA nur ein Drittel der Kinder ist. Es scheint unwahrscheinlich, dass zwei Drittel dieser deutschen Kinder Gefahr laufen, wegen ihrer unsicheren Bindung in der Zukunft Angstsymptome oder mangelnde Anpassungsfähigkeit auszubilden. Deshalb ist die Behauptung, dass bindungsunsichere Kinder wegen ihrer unsensiblen Mütter psychisch gefährdet seien, ein moralisches Werturteil darüber, welche mütterlichen Verhaltensweisen und kindlichen Reaktionen auf elterliche Abwesenheit für richtig angesehen werden.29 Es gibt also viele Gründe, die Behauptung anzuzweifeln, dass das Verhalten eines Einjährigen in einer fremden Situation die Komplexität der emotionalen Beziehung des 184
Kindes zu seinen Eltern in den ersten zwölf Monaten akkurat wiedergibt. Diese skeptische Folgerung bringt Psychologen in die unangenehme Lage, zwar das Konzept der Mutterbindung hochzuhalten, aber über kein vernünftiges Mittel zu verfügen, wie man sie messen kann. Dieser Stand der Dinge spiegelt eine Wahrheit, die für alle Wissenschaften gilt; nämlich dass Fakten, Theorien und Methoden unentwirrbar ineinander verschlungen sind. Einige ein oder zwei Jahre alte Kinder weinen nicht, wenn ihre Mutter sie verlässt, und beachten ihre Rückkehr wenige Minuten später nicht sonderlich. Dieser Umstand lässt verschiedene Interpretationen zu. Wenn der Kontext ein fremder Laborraum ist, dann behaupten die Psychologen, die der Bindungs-Theorie anhängen, dass sich im Verhalten des Kindes die Geschichte der unsensiblen elterlichen Betreuung spiegelt. Diese Behauptung macht nur Sinn, wenn das beobachtete Verhalten als Teil des weiter oben bereits erwähnten Verfahrens »Die fremde Situation« auftritt. Wenn wir den Kontext der Beobachtung in das Zuhause verlegen oder die Theorie dahingehend ändern, dass sie elterliche Verhaltensweisen berücksichtigt, die ein Kind befähigen, mit einer zeitlich begrenzten Trennung umzugehen, wäre eine andere, nicht weniger vernünftige Interpretation möglich. Manche Psychologen sind heute der Überzeugung, dass sich das Wesen der kindlichen Bindung mit der Zeit in einen Fundus von Glaubensannahmen verwandelt, das als working model (Arbeitsmodell) dient und dadurch herausgefiltert wird, dass man Erwachsene bittet, sich an ihre Kindheit zu erinnern.30 Der Glaube, dass die kohä185
rente Erzählung der Kindheitserinnerungen einer Frau Transformationen der Erfahrungen enthält, die in ihrer frühesten Kindheit stattfanden, und dass diese Erzählung umgekehrt ein nützliches Werkzeug ist, um vorauszusagen, wie diese Frau sich ihrem Kind gegenüber verhalten wird, hat nur geringfügigen Widerspruch erfahren, weil das Bindungsmodell so attraktiv ist. Doch kein Wissenschaft ler würde nach Residuen der Ein-Wort-Aussagen achtzehnmonatiger Kinder in der sprachlichen Kompetenz von Erwachsenen suchen. Noch würden die meisten Psychologen behaupten, dass die Vorstellung von Freundschaft bei Erwachsenen Derivate ihrer Erfahrungen in der Kinderkrippe seien. Und doch wird die Vernünftigkeit jener Annahmen über working models selten hinterfragt. Nur wenige Forscher haben sich die Frage vorgelegt, ob die verbale Ausdrucksfähigkeit der Mutter, ihr Temperament, ihre Entspanntheit oder Anspannung dem fremden Interviewer gegenüber die Form ihrer Erzählung beeinflusst. Diese Frage wurde übergangen, weil man glauben wollte, dass die Qualität der mütterlichen Erinnerungen eine tiefe Einsicht in ihre gegenwärtige Persönlichkeit und in ihren Umgang mit ihrem Kind gewähren würde. Diese spekulative Hypothese erfordert erstens, dass die zu einem Interviewer gesprochenen Sätze eng mit den psychischen Strukturen korrespondieren, die ihrer Persönlichkeit zugrunde liegen. Diese Voraussetzung erregt unsere Skepsis. Die meisten Sätze, ob gesprochen oder geschrieben, sind neu und aus Bestandteilen zusammengesetzt, deren Form uns noch unbekannt ist. Ausnahmen 186
sind solche routinemäßigen Floskeln wie »Danke schön« oder »Wie geht es Ihnen?« oder Sätze, die auswendig gelernt wurden wie »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Doch die meisten Sätze, in denen eine Person sich an die Vergangenheit erinnert, sind Neuschöpfungen. Es gab sie nicht, bevor sie ausgesprochen wurden, und sie setzen sich aus psychischen Strukturen zusammen, die keine Ähnlichkeit mit den Strukturen der gesprochenen Sätze haben. Zudem dürfte bekannt sein, dass manche Erwachsene in der Darstellung der bedrückenden und dysphorischen Qualitäten ihrer Vergangenheitserlebnisse zu Übertreibungen neigen. Solche hartnäckigen Melancholiker werden sich an eine weniger schöne Kindheit erinnern, aber das sagt nichts darüber aus, ob ihre Familien tatsächlich weniger liebevoll mit ihnen umgingen. Die Wörter allein, ohne die zusätzliche Information über Ton und Stimme, Gesichtsausdruck und Körperhaltung, enthalten keine klare, unzweideutige Aussage. Aus diesem Grunde fügen Romanciers diese Informationen hinzu. Man stelle sich Anna Karenina nur als eine Reihe von gesprochenen Aussagen der Figuren vor. Kein gedruckter Text eines bedeutenden Theaterstücks kann die vollständige Intention des Schriftstellers vermitteln – deshalb gehen wir ins Theater. Wenn jemand von seiner Vergangenheit erzählt, so lassen sich daraus nicht immer die mentalen Zustände entnehmen, die die Geschichte hervorbringen. Ludwig Wittgenstein formulierte die beiden tiefen Einsichten, dass nicht in jeder Äußerung eine komplexe Bedeutung stecken und dass nicht jeder Satz sich auf eine Erfahrung 187
beziehen muss. Nehmen wir als analoges Beispiel den Gesichtsausdruck. Das Stirnrunzeln einer Mutter, das Missbilligung gegenüber ihrem Kind ausdrücken soll, ist das Produkt von Änderungen der Neuronen des motorischen Kortex, die den Gesichtsnerv aktivieren, der wiederum die Gesichtsmuskeln zur Kontraktion bringt. Die Absicht, eine Missbilligung auszudrücken, fehlt bei der neuroanatomischen und neurophysiologischen Beschreibung des Gesichtsausdrucks. Ebenso ist es nicht verbürgt, dass die Gedanken, die solchen Sätzen wie »Meine Mutter war zärtlich« oder »Ich war ein sehr ängstliches Kind« zugrunde liegen, wirklich Erinnerungen an die Vergangenheit sind oder die momentanen Empfindungen der Person spiegeln. Wir geben zu, dass Demagogen und Politiker schmeichlerische Sätze von sich geben, die weder mit ihren wahren Absichten noch mit ihren Gefühlen übereinstimmen. Freundliche Eltern werden einem Kind, das zum wiederholten Mal bei einer Aufgabe scheitert, zulächeln und gut zureden, obwohl ihr erster Impuls sie zur Kritik anhalten wollte und sie eher traurig sind. Wir nehmen das Flattern einer Fahne im Wind als Einheit wahr, doch die Neurowissenschaft ler haben herausgefunden, dass Form, Farbe und Bewegung der Fahne ursprünglich in verschiedenen Teilen des Gehirns verarbeitet werden. Ähnlich entstehen die expliziten Bedeutungen, impliziten Assoziationen und Gefühle, die mit den Worten eines Satzes zusammenhängen, wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Gehirns/Bewusstseins. Sätze lassen ihren psychischen Ursprung nicht erkennen. Wenn eine 25-jährige Frau sagt: »Meine Mutter hat lo188
yal zur ganzen Familie gestanden«, kann der Interviewer nicht wissen, welche Gefühle mit dem Satz verbunden sind oder welche Assoziationen die Frau mit dem Begriff »loyal« verbindet, noch ob der Satzteil »zur ganzen Familie« sich auf die Kinder und den Ehemann bezieht oder vielleicht auf die gesamte Verwandtschaft der Mutter. Wenn Letzteres gemeint ist, will die Sprecherin vielleicht ausdrücken, dass ihre Mutter sich zu viel um ihre Eltern und Geschwister und zu wenig um ihre eigenen Kinder gekümmert hat. Wissenschaft ler, die sich nur auf verbale Evidenz verlassen, sind schlicht ohne jeden Beweis davon ausgegangen, dass die psychologische Bedeutung von Sätzen transparent sei. Eine der wenigen Untersuchungen, die eine große Gruppe von weißen Mittelschichts-Kindern von der Kindheit bis zum achtzehnten Lebensjahr begleitete, bestätigt unsere Skepsis. Einjährige Kinder wurden in der fremden Situation beobachtet und danach eingeordnet, ob sie eine sichere oder unsichere Bindung zu ihren Eltern hatten. Als diese Kinder achtzehn Jahre alt waren, sollten sie sich an ihre Kindheit erinnern, und ihre Berichte wurden für das working model des Jugendlichen ausgewertet. Zwei wichtige Ergebnisse traten zutage. Erstens ließ die Sicherheit der kindlichen Bindung keinerlei Voraussage auf die Qualität des Berichts der jungen Erwachsenen zu; bindungssichere Achtzehnjährige hatten keineswegs besonders kohärent ausgebildete Erinnerungen an eine heitere, liebevoll umhegte und von Verlässlichkeit geprägte Kindheit. Doch wenn die Eltern in der späteren Kindheit geschieden worden waren – was 189
bei 16 Prozent der Kinder der Fall war –, offenbarte der Bericht der Achtzehnjährigen Unsicherheit, und sie beschrieben sich selbst als ängstlich. Damit waren die belastenden Erfahrungen in der späteren Kindheit die vorrangigen Determinanten der Erinnerung der jungen Erwachsenen und nicht die Sicherheit ihrer Bindung im Alter von einem Jahr.31 Die Forscher, die Eltern von ihrer Vergangenheit erzählen lassen, glauben, dass die Erinnerungen mit psychischen Strukturen korrelieren, die den Umgang der Eltern mit ihren Kindern prägen. Diese Prämisse ähnelt dem Glauben, den Psychologen in den fünfziger Jahren vertraten, nämlich dass ein Patient, der auf Karte 10 des Rorschach-Tests weibliche Genitalien erkennt, schizophren sei. Alter, Schichtenzugehörigkeit, ethnische Abstammung, Temperament und verbale Ausdrucksfähigkeit der Eltern, so wird ohne Grundlage angenommen, haben nur geringen Einfluss auf die Erinnerung der Mutter – ein eklatantes Beispiel für eine unspezifizierte Behauptung. Das lässt mich an einen Harvard-Studenten denken, der sich 1964 in New York um die Zulassung zum Medizinstudium bewarb. Er erzählte mir, dass das Fakultätsmitglied, von dem er interviewt wurde, ihn bat, einen Menschen zu zeichnen. Er konnte den Grund dafür nicht einsehen und überlegte, welche Art Zeichnung den Interviewer am meisten beeindrucken würde. Er erinnerte sich aus einem Kurs für Studienanfänger in Psychologie, den er vor vier Jahren belegt hatte, an eine Prozedur, die Goodenough Draw-A-Man-Test hieß. Unglücklicherweise hatte er vergessen, dass es sich um einen Test 190
zur Messung kindlicher Intelligenz handelte, der für Erwachsene ungeeignet war. Er erinnerte sich nur daran, dass die Person umso intelligenter war, je mehr Details auf dem Bild untergebracht waren. Also packte er alles in die Zeichnung hinein, was ihm einfiel – Zähne, Schnurrbart, Brille, Gürtelschnalle, Hosenträger, Schuhbändel – , und verstand nicht, warum der Interviewer ihn so besorgt ansah, als er ihm die Zeichnung überreichte. Der Student hatte nicht bemerkt, dass das Fakultätsmitglied ihm den Machover Draw-A-Person-Test gegeben hatte, bei dem eine Ansammlung von vielen Einzelheiten als Ausweis einer ernsten Neurose gilt. Einige Bindungs-Theoretiker räumen ein, dass der Status der sicheren oder unsicheren Bindung bei einem einjährigen Kind sich durch neue Erfahrungen ändern kann. Alan Sroufe stellt fest: »Wir erwarten nicht, dass ein Kind für immer von frühen Erfahrungen verletzt wird oder aber immer von Verletzungen durch die Lebensumwelt verschont bleibt. Frühe Erfahrungen können nicht mehr Gewicht haben als spätere Erfahrungen und das Leben in einer sich wandelnden Umwelt sollte die Qualität der kindlichen Adaptation verändern.« Doch an anderem Ort schreiben Sroufe und Elizabeth Carlson, dass die verschiedenen Muster der kindlichen Bindung Einfluss auf die spätere Selbstregulierung der Gefühle haben können: »Was von den frühen Betreuungserfahrungen internalisiert wird, sind keine spezifischen Verhaltensweisen, sondern die Qualität und Gestaltung der Beziehungen, die durch Affekte vermittelt werden.« »Der Aufbau der Bindung ist … ein System innerer Strukturen …, die mit 191
der Entwicklung hervortreten und den Grund für das Funktionieren der Persönlichkeit legen.«32 Diese beiden letzten Feststellungen nehmen ein wenig von dem Glauben an die Formbarkeit im ersten Zitat zurück. Zugleich sind solche Widersprüchlichkeiten durchaus verbreitet in wissenschaft lichen Gebieten wie der Psychologie, deren Beweisführung auf schwachen Füßen steht. Die Biologen an der Wende zum 20. Jahrhundert glaubten sowohl an die Lokalisierung der Hirnfunktionen wie an den Holismus.
Die Schwierigkeit, vom Determinismus Abschied zu nehmen Die Wissenschaften unterscheiden sich in der Tragfähigkeit ihrer Grundannahmen und der auf empirischer Basis gewonnenen Prinzipien. Die Physik wird immer als Vorbild einer exakten Wissenschaft angesehen. Wenn der Mond sich in den nächsten sieben Nächten von seiner errechneten Position entfernt, dann würde damit die universelle Gültigkeit des inversen QuadratGesetzes infrage gestellt. Wenn Wasser, das eine Stunde lang im Kessel über einem Feuer hängt, wider Erwarten nicht zu kochen beginnt, dann müssten die Gasgesetze neu überdacht werden. Hunderte von weiteren Abweichungen, wenn sie denn beobachtet würden, müssten die Fundamente der Naturwissenschaften erschüttern. Selbst in den Biowissenschaften, in denen universelle Gesetze eine geringere Rolle spielen, würden gewisse 192
Vorfälle uns alle zutiefst verunsichern. Wenn eine Katze Ferkel zur Welt brächte, würden wir natürlich die genetische Grundlage der Vererbungslehre in Zweifel ziehen; wenn eine Person nicht altern würde, würden wir die Theorie des Zellstoff wechsels verwerfen. Wenn wir aber die gleiche Frage in Bezug zur Psychologie aufwerfen, dann sehen wir mit Unbehagen, wie wenig die fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft von Abweichungen berührt zu werden scheinen. Das Modell der Konditionierung gehört zum festen Bestand der Psychologie. Doch es gibt Tiere, die sich nicht so leicht konditionieren lassen. Manche Verhaltensweisen lassen sich nicht konditionieren und die Konditionierung des motorischen Verhaltens und der Herzfrequenz folgt nicht dem gleichen Zeitverlauf. Wenn also ein Wissenschaftler entdeckte, dass ein bestimmter Stamm von Mäusen nicht dahingehend konditioniert werden kann, dass die Tiere bei einem Ton erstarren, der zuvor mit einem Stromschlag verbunden war, würde doch niemand auf die Idee verfallen, die Prinzipien der Konditionierung als wertlos zu betrachten. Man würde einfach nur eine Ausnahme von der Regel konstatieren. Viele Wissenschaft ler wären überrascht, wenn ihnen jemand berichten würde, dass eine bestimmte Reaktion im Fötus kriminelles Verhalten im Erwachsenenalter voraussagen lasse. Doch diese Behauptung würde mit keiner der derzeit verbreiteten Grundannahmen kollidieren. Leider würde es auch die gegenteilige Behauptung nicht tun – dass keine fötale Reaktion eine solche Voraussage zulasse. Das Problem ist, irgendein menschliches Ver193
halten zu finden, das die Psychologen nötigen könnte, eine ihrer Prämissen zu hinterfragen. Ich kann mir nur eine sehr kleine Zahl von Phänomenen der menschlichen Wahrnehmung und des Erinnerungsvermögens vorstellen, die dies zu leisten vermöchte. Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann ist die Psychologie in einem Maße unreif, dass ein Theoretiker ohne Skrupel erklären kann, dass die Vorgänge im ersten Lebensjahr einen bleibenden Einfluss auf die Zukunft des Kindes haben werden. Das Fehlen eines Konsenses über eine kleine Gruppe von psychologischen Ergebnissen, die wir erklären wollen, macht es leicht, frühen Erfahrungen Einfluss zuzumessen. Naturforscher im 19. Jahrhundert stimmten darin überein, dass es wichtig war, die gewaltige Vielfalt unter Pflanzen und Tieren zu verstehen. Das war das Problem, das Darwin zu lösen versuchte. Kein vergleichbares Einverständnis wurde bezüglich der Folgen früher Erfahrungen erreicht, und doch müsste ihm die höchste Priorität gegeben werden. Sind es spezifische kognitive Fähigkeiten, psychiatrische Symptome, Ruhm, Reichtum, eine gute Ehe, elterlicher Erfolg, ein befriedigendes Sexualleben, Liebesfähigkeit, sinnvolle Arbeit, treue Freunde oder nur ein subjektives Gefühl des Wohlbefindens? Der Mangel an Übereinstimmung bei Klinikern, Geistes- und Naturwissenschaft lern darüber, welche Eigenschaft – oder Eigenschaften – den engsten Bezug zu frühen Erfahrungen hat, macht es ebenso unmöglich, die Behauptung der Deterministen als falsch zurückzuweisen wie ihre Richtigkeit zu beweisen. Psychologen befinden sich in der unglücklichen Position, einerseits anzunehmen, dass sich 194
das Profil des Erwachsenen teilweise bis zu den ersten Jahren zurückverfolgen lässt, und zugleich nicht zu wissen, welche Aspekte des Profils die engsten Verbindungen zur Vergangenheit haben. Die Abwesenheit aller konkreten Bezüge erlaubt es, die Behauptung: »Frühe Erfahrungen beeinflussen die Zukunft des Erwachsenen«, als Wahrheit zu handeln. Das überzeugendste Indiz für den Kindheits-Determinismus stammt aus Experimenten mit Labortieren. Wenn eine neugeborene Ratte in den ersten vierzehn Tagen jeden Tag für ein paar Minuten von ihrer Mutter getrennt wird, wird der Hippocampus auf Dauer verändert, und das ausgewachsene Tier wird von neuen Umgebungen weniger verunsichert als Ratten, die immer bei ihrer Mutter gelassen wurden.33 In einem anderen Experiment bestrichen Wissenschaftler die Zitzen der säugenden Ratten mit einem bestimmten Orangenduftöl, sodass die Jungen den Geruch mit dem Gefühlszustand, der die Nahrungsaufnahme begleitet, assoziierten. Als diese Ratten geschlechtsreif wurden und mit empfängnisbereiten Weibchen zusammenkamen, die mit dem gleichen Duftöl bestrichen waren, waren sie sexuell erregter als Männchen, die von Muttertieren ohne Geruchsapplikation gesäugt worden waren.34 Erneut beeinflusste eine frühe Erfahrung die Zukunft auf messbare Weise. Doch diese Ratten lebten in Käfigen in ruhigen Laborräumen, mit regelmäßiger Zufuhr von Nahrung und Wasser und ohne Feinde. Sie wurden vor Ereignissen geschützt, die in ihrem natürlichen Lebensraum zur Normalität gehört hätten. Wenn die Ratten in ihre natürliche 195
Umwelt zurückverbracht worden wären, hätte sich vielleicht die Prägung durch ihre Kindheitserfahrung nicht erhalten; künstliche Bedingungen können künstliche Tatsachen schaffen. Bei den Menschen lassen sich gleich starke Verbindungen zwischen frühen kindlichen Erfahrungen und späteren Folgen viel schwieriger aufzeigen, weil Kinder nicht in einem solchen Maß experimenteller Kontrolle unterworfen werden können. Doch manche lebensweltlichen Experimente sind überzeugend. Zum Beispiel folgen viele Mütter in Teilen Hollands, die der Mittelschicht angehören, dem Rat ihrer Ärzte und legen ihre stramm gewickelten Kinder ohne Spielzeug in Zimmer mit geschlossenen Türen, weil sie davon ausgehen, dass eine karge Umgebung einen guten Charakter schafft. Obgleich die Einjährigen, die unter solchen Bedingungen aufgewachsen waren, im Erreichen der Meilensteine kindlicher Entwicklung ein bisschen langsamer waren als Kinder in anderen Teilen des Landes, die eine andere Behandlung genossen hatten, konnte im Alter von fünf Jahren keinerlei psychische Wirkung der frühen Erfahrung mehr nachgewiesen werden.35 Eine Gruppe von Heimkindern in Iowa wurde im ersten Lebensjahr vor ihrer Adoption von über zwei Dutzend Erwachsenen betreut. Gleichwohl unterschieden sich die Kinder nicht von solchen, die normal aufgewachsen waren, als man beide Gruppen im Alter zwischen acht und siebzehn Jahren beurteilte. Zudem erschienen Kinder, die in einer anregungsarmen Heimumwelt ohne stabile Bindung groß wurden, aber vor ihrem 196
zweiten Geburtstag adoptiert wurden, in ihrer weiteren Entwicklung normal. Ebenso wurden Kinder, die im 2. Weltkrieg Waise geworden waren, von Angehörigen der amerikanischen Mittelschicht adoptiert. Als Psychiater und Psychologen sie später untersuchten, nachdem sie schon einige Jahre in ihren neuen Familien zugebracht hatten, waren die meisten angstfrei und glichen normal aufgewachsenen amerikanischen Kindern. »Am meisten beeindruckt, dass sie, mit nur wenigen Ausnahmen, nicht unter erstarrten Emotionen oder der unterschiedslosen Freundlichkeit zu leiden schienen, die Bowlby beschreibt … Die Beziehungen zu ihren Adoptiv-Familien waren voller Zuneigung … Die vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass für ein Kind, das einen schweren Verlust erleidet, die Chancen einer Wiederherstellung viel größer sind, als bisher angenommen wurde.«36 In neuerer Zeit wurde eine Gruppe von Kindern, die ihr erstes Lebensjahr in rumänischen Waisenhäusern verlebt hatten, von fürsorglichen britischen Eltern adoptiert. Als sie in London ankamen, waren sie ausgezehrt und psychisch zurückgeblieben, wie nach ihren harten Erfahrungen nicht anders zu erwarten war. Dennoch zeigte eine Untersuchung mehrere Jahre nach ihrer Adoption, dass eine Mehrheit, wenn auch nicht alle, im intellektuellen Profil durchschnittlichen britischen Kindern ähnelten.37 Sprechen schon die Beweise keineswegs für die These vom Kindheits-Determinismus, so müsste ein Appell an die Vernunft ebenfalls überzeugen. Die Tausende von 197
Kindern, die heute überall in der Welt geboren werden, sind in den ersten beiden Lebensjahren höchst verschiedenen Umwelten ausgesetzt. Manche werden in Kibbuzim von Ersatzeltern großgezogen; manche von Großmüttern oder älteren Schwestern; manche besuchen Kinderkrippen; manche bleiben zu Hause bei ihren Müttern. Manche haben viel Spielzeug, manche gar keins. Manche werden ihr erstes Jahr in einer dunklen, stillen Hütte verbringen, eingewickelt in alte Lumpen; andere wiederum werden in hellen Zimmern voller Spielsachen, Bilderbücher und Fernsehbilder herumkrabbeln. Doch trotz dieser außerordentlichen Unterschiede der frühen Erfahrungen werden mit Ausnahme der kleinen Gruppe von hirn- oder gengeschädigten Kindern die meisten von ihnen vor dem zweiten Geburtstag sprechen, mit drei Jahren sich ihres Ichs bewusst und mit sieben Jahren in der Lage sein, erste familiäre Pflichten zu übernehmen. Die psychischen Unterschiede zwischen diesen Kindern fallen gegenüber der langen Liste an Ähnlichkeiten kaum ins Gewicht. Das Auftreten ernster mentaler Störungen wie Schizophrenie und Depression ebenso wie die weniger beeinträchtigenden Angststörungen ist auf der Welt erstaunlich gleichförmig verteilt, obwohl die Kinder in so unterschiedlichen Umwelten aufwachsen. Diese Tatsache stimmt nicht mit der These von der Bedeutung der ersten beiden Lebensjahre überein, zumindest nicht was die Entwicklung dieser besonderen Symptome anbetrifft. Alle Tiere besitzen eine mächtige, genetisch bedingte Triebkraft, die Verhaltensweisen auszubilden, die für ihre Spezies charakteristisch sind. Es ist schwierig, wenn auch 198
möglich, die frühen Lebensbedingungen so umzugestalten, dass ein Vogel sein charakteristisches Lied nicht singt oder ein Affe sich nicht paart. Menschen sind durch ihre biologische Verfassung darauf eingerichtet, Freundschaften zu schließen, sich zu verlieben, mit Furcht fertig zu werden und immer wieder zu versuchen, sich ihren ersehnten Zielen anzunähern trotz aller frühen Erfahrung, die diesen Dingen entgegenstehen mag. Diese Neigungen lassen sich nur außerordentlich schwer unterdrücken. Doch die Verfechter des Kindheits-Determinismus beharren auf ihrer Meinung, dass eine zeitliche Abfolge bestimmter Entwicklungsergebnisse mit relativ weit gefassten Übergangsphasen zwischen den Entwicklungsstufen zu spezifischen Folgen in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter führt. Bindungs-Theoretiker vertreten die Ansicht, dass bei Kleinkindern mit unsicherer Bindung eine mehr als nur zufällige Wahrscheinlichkeit besteht, ein ängstliches dreijähriges Kind zu werden; und ein furchtsames dreijähriges Kind hat mehr als nur zufällige Aussichten, mit sieben Jahren scheu und gehemmt zu werden. Denn dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Strukturen, die auf der ersten Entwicklungsstufe erworben wurden, die folgenden Stufen beeinflussen. Wenn die erste Phase anders wäre, würde das Ergebnis notwendig ein anderes sein. Doch für viele Abläufe in der Natur gilt, dass die erste Stufe geändert werden kann, ohne dass das Ergebnis dadurch notwendig ein anderes würde. Ein befruchtetes Ei entwickelt sich normalerweise in dem Mutterleib, in dem es befruchtet wurde. Aber wir 199
wissen, dass ein Ei, das außerhalb des Uterus befruchtet und dann einer Frau (und nicht immer der Frau, von der das Ei stammt) implantiert wurde, zum gleichen Ergebnis – einem gesunden Fötus – führt, als wenn die erste Stufe die traditionelle gewesen wäre. Nehmen wir einmal an, dass die Behauptung der Bindungs-Theoretiker richtig ist und eine Mutter, die auf die Bedürfnisse ihres Kindes nicht eingeht, ein Einjähriges mit unsicherer Bindung aufzieht. Es folgt daraus aber nicht, dass die unsichere Bindung im ersten Jahr für die Schwierigkeiten in der Adoleszenz verantwortlich ist. Man sollte annehmen, dass Mütter, die ganztags arbeiten müssen, um ihre Familie zu ernähren, Mütter, die kein Kind wollen, und Mütter, die an Depressionen leiden, weniger auf ihre Kinder eingehen und dadurch eher bindungsunsichere Kinder aufziehen. Wenn die Kinder dieser verschiedenen Muttertypen in ihrer leiblichen Familie bleiben, was normalerweise der Fall ist, sind sie fortgesetzt einer überforderten, ablehnenden oder deprimierten Mutter ausgesetzt, und die gleich bleibende Umwelt kann ein ängstliches, gehemmtes älteres Kind hervorbringen. Doch schuld daran ist eine lange Serie sich wiederholender Erfahrungen, nicht nur die Ereignisse des ersten Lebensjahres. Das Bewusstsein enthält perzeptuelle Repräsentationen von Erfahrung, die sich durch neue Ereignisse leicht verwandeln lassen, und symbolische Konzepte, die schwieriger zu ändern sind. Ein Vierjähriger braucht nur ein einziges Mal seinen früher bartlosen Onkel mit Bart zu sehen, und er wird daraufhin seine perzeptuelle Reprä200
sentation des älteren Mannes ändern. Doch der Glaube, dass Schnee weiß ist, lässt sich bei dem Vierjährigen nicht dadurch verändern, dass man hundertmal sagt: »Schnee ist rot.« Kleinkinder verfügen, anders als Vierjährige, über kein symbolisches Konzept wie »Schnee ist weiß«. Sie besitzen nur perzeptuelle Repräsentationen, die Veränderungen zugänglich sind.38 Obwohl nur sehr wenige prospektive LängsschnittStudien Kleinkinder bis ins Erwachsenenalter begleitet haben, konnten die Forscher, die über diesen Zeitraum ihre Vergleichsbeobachtungen anstellten, keine überzeugenden Indizien für einen frühen Determinismus finden. Eine Gruppe von Wissenschaft lern begleitete 89 Mittelschichts-Kinder, die im Südosten Ohios wohnten. Die Kleinkinder und Kinder wurden zu Hause, in der Schule und unter Laborbedingungen beobachtet. Die kleine Zahl von Erwachsenen, die später im Leben ernste psychische Symptome entwickelte, zeigte in den ersten beiden Jahren keine Verhaltensauffälligkeiten. Ein Mädchen, das einen schizophrenen Zusammenbruch erlitt, als sie ins College ging, unterschied sich in den ersten drei Lebensjahren nicht von den anderen Kindern.39 Bei einer Gruppe von über sechshundert Kindern, die auf der Insel Kauai geboren und bis über das dreißigste Lebensjahr hinaus beobachtet wurden, ließen sich psychische Probleme am ehesten für diejenigen vorhersagen, die kontinuierlich in armen Familienverhältnissen lebten, verbunden mit Frühgeburt oder anderen biologischen Stressfaktoren bei der Geburt. Doch da selbst diese Kombination hinsichtlich zukünftiger Symptome nicht 201
sehr aussagekräftig war, schrieben die Autoren: »Indem wir beobachteten, wie aus diesen Säuglingen Erwachsene wurden, mussten wir die selbstregulierenden Kräfte in ihnen bewundern, die unter allen außer den anhaltend widrigsten Umständen eine normale Entwicklung durchsetzten.«40 Eine Gruppe von 42 Erwachsenen war in den ersten beiden Lebensjahren in britischen Kinderheimen aufgewachsen. Manche wurden nach dem zweiten Geburtstag in relativ stabile, fürsorgliche Familien aufgenommen, während andere zu ihren leiblichen Eltern zurückkehrten. Als Jugendliche und junge Erwachsene zeigten die adoptierten Kinder eine geringere Neigung zu kriminellem Verhalten als diejenigen, die zu ihren leiblichen Eltern zurückgekehrt waren. Da beide Gruppen ähnliche Erfahrungen während der ersten zwei Jahre gemacht hatten, ist der Schluss angemessen, dass die Erfahrungen nach dem zweiten Geburtstag mehr Einfluss auf das kriminelle Verhalten hatten als Ereignisse in den ersten beiden Lebensjahren.41 Eine ebenso klare Sprache spricht eine Studie über eine große Zahl Schweizer Kinder, deren Eltern unverheiratete, unausgebildete Immigranten waren. Sie verbrachten ihr erstes Lebensjahr in einem schlecht ausgestatteten Kinderheim, wo es nur wenig Anregung gab und die fürsorgenden Bezugspersonen oft wechselten – Risikofaktoren, die man mit unsicherer Bindung und späteren psychischen Problemen in Verbindung bringen sollte. Die 137 Kinder wurden erneut untersucht, als sie vierzehn Jahre alt geworden waren. Obgleich die mei202
sten Jugendlichen eine durchschnittliche Intelligenz besaßen und beliebt bei ihren Freunden waren, war eine unerwartet große Zahl von ihnen extrem empfindlich, dysphorisch oder ängstlich im Vergleich zu den meisten Jugendlichen, die in der gleichen Stadt wohnten. Doch diese affektiven Symptome traten am häufigsten bei denen auf, die körperlich misshandelt worden waren oder die Jahre nach dem Heim bei Stiefeltern oder leiblichen Eltern verbracht hatten, bei denen es oft zu Auseinandersetzungen gekommen war. Die Kinder, die das erste Lebensjahr in dem gleichen Kinderheim verbracht hatten, doch danach in liebevolle Familien kamen, zeigten weder Dysphorie noch Angst, welche die andere Gruppe kennzeichneten, und waren der Mehrheit schweizerischer Kinder gleich, die von Geburt an bei verantwortungsbewussten Eltern groß wurden.42 Also kann die Ausbildung von Angst und Depressionen bei manchen der Jugendlichen mit Erfahrungen zusammenhängen, die nach dem Heimaufenthalt gemacht wurden, das heißt nachdem die frühe Kindheit vorüber war. Dieses Ergebnis veranlasste den Autor zu der Feststellung, dass Pessimismus in Bezug auf die Zukunftsaussichten eines Kindes, das sein erstes Lebensjahr in einer alles anderen als optimalen Umwelt zugebracht hat, unbegründet ist. Selbst Freud musste die Widerstandskraft vom »kleinen Hans« – dem Jungen mit der Pferde-Phobie – einräumen. Als er Hans etwa zwölf Jahre später wieder traf, lernte Freud einen ausgeglichenen jungen Mann von neunzehn Jahren kennen, der weder unter übermäßigen Konflikten noch unter Hemmungen litt. 203
Jean MacFarlane, die eine Längsschnitt-Langzeitstudie mit Kindern aus Berkeley, Kalifornien, durchführte, stellte fest, dass ihre Voraussagen über die Persönlichkeit der Erwachsenen aufgrund der charakteristischen Merkmale der Kinder zumeist unzutreffend waren. Sie kam zu der Schlussfolgerung: »Es ist klar, dass wir die schwierigen und pathogenen Aspekte überbewerteten und die Elemente, die Reife induzierten, unterbewerteten … wir hatten nicht gemerkt, dass die durchgehenden Muster modifiziert oder aber fast in das gegensätzliche Merkmal verkehrt wurden.«43 Der Kinder-Psychiater Michael Rutter stimmt zu: »Die negativen Auswirkungen früher Traumata sind keineswegs unvermeidlich oder unwiderruflich … offenkundige Belege widersprechen deutlich Ansichten, dass frühe Erfahrungen die persönliche Entwicklung unwiderruflich verändern.«44
Die kindliche Interpretation der Erfahrung Kein Wissenschaft ler hat auch nur mit, sagen wir, 20prozentiger Wahrscheinlichkeit beweisen können, dass bestimmte Erfahrungen in den ersten beiden Lebensjahren ein bestimmtes Ergebnis im Erwachsenen zeitigen. Kinder, die eine Kinderkrippe besuchen, entwickeln sich nicht sonderlich verschieden von denen, die zu Hause aufwachsen und den gleichen sozialen und ethnischen Hintergrund haben. Die wenigen erfolgreichen Voraussagen einer erwachsenen Psychopathologie hängen enger mit der Biologie des Kindes und der dauerhaften 204
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht zusammen als mit spezifischen Erfahrungen in der frühen Kindheit. Zum Beispiel entdeckte Barbara Fish eine kleine Zahl von Kindern, die früh im ersten Lebensjahr ein seltenes Profil schlechter motorischer Koordination und emotionaler Labilität zeigten. Etwas weniger als die Hälfte dieser Kinder entwickelte im jungen Erwachsenenalter Schizophrenie.45 Doch lässt sich dieses Profil wahrscheinlich eher der inhärenten kindlichen Konstitution als einer besonderen Behandlung durch die Eltern zuschreiben. Selbst der Verlust beider Eltern, wie er im Krieg vorkommt, birgt für eine Mehrheit der Waisen kein Risiko für ernste mentale Störungen und begünstigt auch nicht die Entwicklung spezifischer Persönlichkeitsmerkmale. Demnach müssen wir fragen: Welche Mechanismen führen dazu, dass frühkindliche Erfahrungen das spätere emotionale und mentale Profil eines Menschen beeinflussen? Eine nahe liegende Antwort lautet, dass frühe Erfahrungen eine Erwartung der Zuwendung oder Vernachlässigung etablieren sowie konditionierte emotionale Reaktionen, die erwachsenen Zuständen von Furcht, Wut, Apathie und Frustration einerseits und Zuständen von Erregung und Lust andererseits ähneln, aber nicht mit ihnen identisch sind. Ich zweifle nicht daran, dass solche Erwartungen und konditionierten Reaktionen etabliert werden. Kinder, die liebkost und angelächelt werden, mit denen gespielt und gesprochen wird, sind lebendiger und artikulationsfähiger, sie lachen freier und öfter als Kinder, denen solche angenehmen Erfahrungen vorenthalten 205
bleiben. Niemand bestreitet, dass kindliche Erfahrungen Einfluss haben. Kontrovers ist nur die Unabänderlichkeit dieser ersten Profile. Die Befürworter eines Zusammenhangs glauben, dass eine Reihe jener frühen Erwartungen und emotionalen Reaktionen durch nachfolgende Ereignisse weder verändert noch ausgelöscht werden kann. Das ist die strittige Frage. Die Wissenschaftler, die sich mit der Unsicherheit, welche die menschliche Entwicklung kennzeichnet, schwer abfinden können, möchten sie gern eliminieren, indem sie die Hauptbürde der Gegenwart der fernen Vergangenheit anlasten. Die gleiche Lösungsstrategie wurde von Naturforschern im 17. Jahrhundert gewählt, die nicht verstanden, wie neugeborene Säuglinge zu ihrer Anatomie kamen. Sie lösten das Problem mittels der Vorstellung, dass alle Organe in winziger Gestalt schon im ursprünglichen Ei oder Spermium vorhanden gewesen seien. Einiges von dem Beweismaterial, das von Neurowissenschaftlern erbracht wurde, spricht für Vergänglichkeit. Als Ratten, die in leeren Käfigen großgezogen wurden, in weiten Lebensräumen mit Seilbrücken und attraktiven Gegenständen ausgesetzt wurden, begannen winzige »Stacheln« auf den Dendriten der Neuronen in ihrem Hirn zu wachsen. Die stimulierendere Umwelt führte zu einer physischen Veränderung ihres Hirns. Doch diese Veränderungen waren nicht dauerhaft. Wenn die Ratten in ihre reizlosen Käfige zurückgebracht wurden, verkümmerten die Stacheln nach einer Weile, und ihr Hirn wurde dem der Tiere wieder gleich, die nie eine stimulierende Umwelt kennen gelernt hatten.46 In einer anderen 206
Untersuchung schnitten Kinder, die im Alter von einem Jahr abnorm hohe Phenylanalin-Werte im Blut hatten, jedoch niedrige Werte im Alter von fünf Jahren, bei Tests, die kognitive Fähigkeiten prüften, so gut ab, als ob der hohe Wert in der frühen Kindheit keine langfristigen Schädigungen verursacht hätte.47 Wenn physische Veränderungen des Hirns aufgrund von Erfahrungen oder des Aminosäure-Stoff wechsels sich nicht immer erhalten, dann erscheint es unwahrscheinlich, dass die Veränderungen, die durch Liebkosen, Spielen oder Lächeln bewirkt wurden, unabhängig von den unwägbaren Geschehnissen bestehen bleiben sollten, die nach dem zweiten Geburtstag eintreten. Bindungs-Theoretiker behaupten, dass ein einjähriges Kind, das in den ersten zwölf Monaten eine einfühlsame, liebevolle, verlässliche Mutter hatte, die permanente Erwartung erwirbt, dass Erwachsene sich um es kümmern werden, wenn es ein Bedürfnis danach hat. Doch in manchen entlegenen Dörfern in Guatemala werden die meisten Kinder auf Verlangen gestillt, und sie erleben eine Folge homogen gleich bleibender Tage, in denen ihre Erfahrungen und Erwartungen nicht enttäuscht werden. Gleichwohl sind die Erwachsenen argwöhnisch, ängstlich, aggressiv und voller Misstrauen gegeneinander. Wie kann ein so unglückliches Profil in jenen Gemeinschaften entstehen, wenn die sichere Bindung des ersten Lebensjahres erhalten geblieben wäre? Vor vielen Jahren analysierte ich das reiche Material von Längsschnitt-Daten über Kinder aus dem südlichen Ohio, die zwischen 1929 und 1939 geboren und von der 207
Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter hinein begleitet worden waren.48 Das Forschungsteam besuchte die Familien und beobachtete, wie die Mütter sich zu ihren Kindern verhielten. Das mütterliche Verhalten variierte stark, doch diese Unterschiede ließen keine Voraussage auf Unterschiede der Gefühlszustände und des Verhaltens zu, als diese Kinder erwachsen wurden. Die soziale Schichtenzugehörigkeit der Mutter war der entscheidende Faktor, um schulischen Erfolg vorauszusagen, und nicht die Unterschiede in der Behandlung der Kinder. Mütter, die eine College-Ausbildung hinter sich hatten, waren gegenüber ihren zur Schule gehenden Töchtern kritischer als gegenüber ihren Söhnen; weniger gebildete Mütter waren gegenüber ihren Söhnen kritischer als gegenüber ihren Töchtern. Doch sowohl Söhne wie Töchter von Müttern mit College-Ausbildung zeigten in der Schule bessere Leistungen als die Söhne und Töchter von weniger gebildeten Müttern. Die Mütter wurden auch nach dem Grad beurteilt, wie sie ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren beschützten. Der Unterschied hierin war ebenfalls dramatisch, hatte aber keine offenbaren Folgen für den Grad der Abhängigkeit des Erwachsenen von seiner Ehefrau, seinem Geliebten oder seiner Familie, und er sagte auch nichts über die schulischen Leistungen aus. MittelschichtsMütter beschützten ihre Söhne mehr als Mütter aus der Arbeiterklasse und wiederum waren die Söhne der Ersteren besser in der Schule. Dagegen beschützten Mittelschichts-Mütter ihre Töchter weniger als Mütter aus der Arbeiterklasse und wiederum waren die Töchter der 208
Ersteren besser in der Schule. Eine Menge von Erfahrungen, die mit der Schichtenzugehörigkeit der Familie korrelierten, und nicht das Verhalten der Mutter erwiesen sich als signifikante Determinanten für die späteren schulischen Leistungen der Kinder. Ein wichtiger Grund, warum eine lange andauernde Bewahrung früher Merkmale unwahrscheinlich ist, liegt darin, dass das Gehirn während der ersten zwei Lebensjahre noch wächst. Die Frontallappen, die Informationen aus der Umwelt und dem Körper verwerten, sind in diesen frühen Jahren besonders unentwickelt. Emotionale Erfahrungen werden noch nicht voll realisiert und viele frühe Erinnerungen können verloren gehen. Wenn sie ihre früheste Erinnerung benennen sollen, können sich die meisten Erwachsenen an nichts erinnern, was vor ihrem dritten Geburtstag geschah.49 In einer Untersuchung drei Monate alter Kinder wiederholten die Mütter zwei Wochen lang mehrere Male täglich ein bestimmtes Wort. Als die Forscher 24 Stunden, nachdem die Mütter aufgehört hatten, das Wort auszusprechen, zurückkehrten und das Wort vor den Kindern wiederholten, zeigten die meisten Babys eine mimische Reaktion, die darauf hindeutete, dass sie das Wort wieder erkannten. Doch nach drei Tagen waren alle Anzeichen des Wiedererkennens verschwunden. Ohne zusätzliche Wiederholungen des Wortes wurde es von den sehr kleinen Kindern vergessen.50 Wenn kleine Kinder ein Ereignis nicht wieder erleben, geht es verloren.51 Wenn einem viermonatigen Kind ein attraktives Spielzeug gezeigt wird, das ihm zehn Sekunden später zusammen mit 209
einem neuen Spielzeug gezeigt wird, sieht das Kind das neue Spielzeug länger an, was so viel heißt, dass es sich an das alte erinnert. Doch wenn wir zwanzig Minuten warten, bevor wir dem Kind das neue Spielzeug zeigen, wird es dieses nicht länger als das andere ansehen, und das heißt, dass es sich nicht daran erinnert, das ältere vor zwanzig Minuten schon gesehen zu haben. Das schwerwiegendste Argument gegen die Doktrin vom Kindheits-Determinismus entspringt der Hypothese, dass Kinder, nicht anders als Erwachsene, hauptsächlich von Ereignissen beeinflusst werden, die sich von der gewöhnlichen Erfahrung unterscheiden – oder diskrepant sind –, und nicht von bestimmten Handlungen der Erwachsenen. So mögen Kinder, die nie geküsst werden, sich nicht anders entwickeln als jene, die jede Stunde geküsst werden, wenn alle anderen Aspekte der Umwelt identisch sind. Der Kuss hat großen Einfluss, wenn er unregelmäßig oder unerwartet gegeben wird, denn das Überraschungsmoment fördert das Erlernen emotionaler Reaktionen. Das Kind, das von seiner Mutter nach ärztlicher Vorgabe alle vier Stunden gefüttert wird – wie in den dreißiger Jahren die Empfehlung von Kinderärzten lautete –, wird sich, wenn alles andere gleich ist, von anderen Kindern kaum unterscheiden, die gefüttert werden, wann immer sie schreien. Doch das Kind, das unregelmäßig gefüttert wird – manchmal, wenn es schreit, und manchmal, wenn es still ist –, wird andere Gewohnheiten entwickeln. Acht Monate alte Kinder sind so aufnahmefähig für Diskrepanzen, dass es sie überrascht, wenn nach zwei 210
Minuten der Wiederholung von drei Nonsenswörtern (jedes drei Silben lang) die Silbenfolge in einem der Wörter verändert wird – die Kinder hatten zwei Minuten lang »bidaku« gehört und dann plötzlich »kudabi«.52 Elaborierte Untersuchungen einzelner Neuronen zeigen, dass unbekannte Stimuli einen großen Zuwachs an Projektionsaktivität erzeugen, die deutlich nachlässt, sowie der Stimulus vertraut ist.53 Die Veränderungen, die ein Ereignis diskrepant machen, hängen von dem größeren Ganzen ab, zu dem es gehört. Ein Gesicht wird durch die Hinzufügung eines schwarzen Flecks diskrepant. Doch an einem Baumstamm hat der Fleck keine vergleichbare Wirkung. Das Auftauchen eines Dreiecks auf einem Computerbildschirm ist erst dann diskrepant, wenn zuvor nur andere geometrische Figuren zu sehen waren. So ist Diskrepanz keine Eigenschaft irgendeines einzelnen Ereignisses; sie ist immer eine Eigenschaft, die der Beziehung zwischen Ereignissen angehört. Menschen bewerten ständig die Beziehung zwischen einem Ereignis, das momentan ihre Perzeption gefangen nimmt, und dem, was vor kurzem, vor Wochen, vor Jahren geschah. Diskrepante Ereignisse werden im dritten und vierten Lebensjahr entscheidend wichtig, wenn die Kinder anfangen, ihre Erfahrungen zu interpretieren. Ein Kind interpretiert vielleicht die strenge Strafe dafür, dass es sein Zimmer nicht aufgeräumt hat, als Feindseligkeit seiner Eltern, während ein anderes darin eher ein Zeichen der Fürsorge seiner Eltern sieht, die es zu rechtem Verhalten erziehen wollen. Als Teil der oben erwähnten Längsschnitt211
Untersuchung in Ohio fragte ich 25-Jährige nach ihren familiären Kindheitserinnerungen. Eine kleine Zahl von Erwachsenen, die ungewöhnlich strenge Eltern hatte (nach den detaillierten Familienbeobachtungen in ihrer Kindheit), sagte, sie hätten zwar ihre Eltern als streng in Erinnerung, aber sie seien froh über diese Art von disziplinierender Erziehung. Diese Erwachsenen glaubten, dass ihr Leben, das glücklich und zielgerichtet war, das Ergebnis der Strenge ihrer Eltern sei. Frank McCourt, der Verfasser von Die Asche meiner Mutter, erinnerte sich an drei Väter: den einen, der an kalten Wintermorgen das Feuer im Kamin anzündete und Tee machte, den anderen, der ihm Gute-Nacht-Geschichten vorlas, und den dritten, der freitagabends betrunken nach Hause kam, nachdem er seinen ganzen Wochenlohn in Pubs ausgegeben hatte.54 Der junge McCourt wird seinem Vater das verantwortungslose Verhalten zum Teil verziehen haben, weil er den Tee und die Geschichten als Zeichen dafür interpretierte, dass sein Vater ihn liebte. Ein Vater oder eine Mutter muss überaus eigensüchtig und grausam sein, bevor ein Kind zu dem schrecklichen Schluss kommt, dass er oder sie ohne jede Tugend ist. Die Mehinaku-Indianer in Zentralbrasilien, die ansonsten extrem nachsichtig mit ihren Kindern umgehen, bestrafen Ungehorsam, indem sie das Kind am Handgelenk fassen, einen Schöpflöffel Wasser über die Beine schütten und die Waden und Oberschenkel kräftig mit einem Fischzahn-Schaber aufschürfen, wobei das Kind vor Schmerz schreit. Doch da die Strafe vorhersehbar ist 212
und als gerecht empfunden wird, sind die Erwachsenen in dieser Gemeinschaft nicht aggressiver, duckmäuserischer oder ängstlicher als Erwachsene aus Kulturen, die eine solche raue Praxis nicht kennen. Tutsi und Hutu sind um ein Beträchtliches freundlicher zu ihren Kindern, doch diese Kinder wurden jene Erwachsene, die Mitglieder des anderen Stammes brutal umbrachten. Die Versuche zu verstehen, inwieweit das menschliche Bewusstsein durch Erfahrungen verändert wird, schwanken zwischen zwei Extrempositionen hin und her. Am einen Ende steht John Locke, für den die sinnliche Erfahrung das Primat hat, während das kindliche Bewusstsein ein nachrangiges Aufnahmeorgan für Ereignisse ist, mit einer minimalen Anzahl von Transformationen, um sie assimilierbar zu machen. Am anderen Ende steht Immanuel Kant, für den die Person das Primat hat, während die Ereignisse eine nachrangige passive Galerie bilden, aus denen das Bewusstsein das auswählt, was ihm der Befassung wert erscheint. Das Bewusstsein nimmt schwerwiegende Eingriffe an ausgewählten Ereignissen vor, bevor es sie einer oder mehreren symbolischen Kategorien unterordnet. John Watson und Sigmund Freud sind an die Stelle von Locke und Kant getreten. Der Behaviorist Watson hat das Bewusstsein fast auf ein Nichts minimiert, dem eine überwältigende Umwelt wie eine riesige Maschine gegenübersteht, die Verhaltensweisen aufprägt, denen sich niemand entziehen kann. Das Kind, das ein Lächeln auf dem Gesicht seiner Mutter sah, als es einen Löffel zum Essen seines Haferbreis in die Hand nahm, würde für immer und 213
ewig seinen Löffel benutzen, wenn eine Schüssel mit Haferbrei vor ihm steht. Freud, im Gefolge von Kant, ging davon aus, dass das Bewusstsein zuinnerst ein Knäuel von Wünschen und Ängsten ist. Jede Reaktion der Eltern auf ein Kind muss zunächst diesen dichten Dschungel aus Gedanken und Gefühlen durchqueren, bevor ihr irgendeine Bedeutung zugeordnet wird. Amerikanische Psychiater und klinische Psychologen waren Freud bis zu den sechziger Jahren gewogen, als historische Ereignisse den Enthusiasmus für seine Erklärungen minderten. Obwohl sexuelle Vorstellungen und sexuelles Verhalten freier wurden, verschwanden die neurotischen Symptome nicht, wie Freud vorausgesagt hatte. Das Fehlen einer starken empirischen Grundlage für die psychoanalytische Theorie trotz jahrzehntelanger Forschung machte Freud sehr viel weniger attraktiv für eine neue Generation von Studenten und das Kantsche Modell verlor an Überzeugungskraft. Außerdem begannen die westlichen Gesellschaften sich über die Folgen von Erfahrungen Gedanken zu machen, die für alle Kinder als traumatisch angesehen wurden (insbesondere Scheidung, sexueller Missbrauch und Ersatzbetreuung), deren Häufigkeit nach dem 2. Weltkrieg stark zunahm. Wissenschaft ler waren der Überzeugung, dass diese von außen aufgezwungenen Erfahrungen tief greifende Einflüsse auf die meisten Kinder haben müssten, gleichgültig welche symbolischen Transformationen ein bestimmtes Kind daran vornehmen würde. Der Aufstieg der Molekularbiologie, die positivistische Standards vertritt, motivierte Entwicklungsfor214
scher schließlich, mit objektiven Messungen zu arbeiten, die frei von Mehrdeutigkeit waren. Da die Tatsache einer Scheidung für die Forscher gewisser ist als die möglicherweise bedrohliche Interpretation, die das Kind ihr gibt, wurde Erstere der bevorzugte Forschungsgegenstand und Letztere, die potenziell unzuverlässige Rückschlüsse erforderte, wurde übergangen. Diese vier voneinander unabhängigen Faktoren kamen zusammen, um Entwicklungsforscher zurück auf John Lockes Seite der ideologischen Wasserscheide zu führen, obwohl nicht alle Kinder eine Scheidung, Ersatzbetreuung oder Armut in derselben Weise interpretieren. Ich habe einmal ein dreizehnjähriges Mädchen interviewt, die ich zuerst als Zweijährige kennen lernte, nachdem die Polizei sie aus einem Zimmer geholt hatte, in dem sie seit ihrer Geburt eingesperrt gewesen war. Sie wurde von einer fürsorglichen Familie adoptiert, wo sie immer noch lebte, als ich sie im adoleszenten Alter befragte. Sie erinnerte sich an ihre Gefangenschaft, und als ich sie fragte, warum ihre Mutter sie in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, antwortete sie, ihre Mutter sei von den anderen Kindern zu Hause überfordert gewesen, und deshalb machte es die Sache für die Mutter einfacher, wenn sie ihre kleinste Tochter ins Zimmer sperrte. Ich stellte keine Wut in ihrer Antwort fest und konnte sogar ein bisschen Mitleid mit ihrer überforderten Mutter heraushören. Als ich vor vielen Jahren einen sechsjährigen Jungen beobachtete, der an der John Hopkins University in Baltimore getestet wurde, sah ich, wie seine arme, ungebildete Mutter ihn kräftig ohrfeigte, als er 215
eine Frage nicht beantworten konnte. Als der Test vorüber war, fragte ich die Mutter, warum sie ihren Sohn so hart geschlagen hatte. »Ich will, dass er ein guter, tüchtiger Junge wird«, antwortete sie und fügte hinzu: »Ich muss ihm beibringen, wie er sich zu benehmen hat, er weiß, dass ich ihn liebe.« Eine erwachsene Freundin floh als Elfjährige mit ihrer Mutter vor den Nazis aus Lettland. Sie verlor ihre Mutter in der damaligen Tschechoslowakei und fand sie erst einen Monat später wieder. Ihre Erinnerung an dieses Erlebnis war nicht angefüllt mit Furcht, sondern eher mit einem Gefühl der Erregung und Zuversicht, dass sie ihre Mutter irgendwann wieder sehen würde. Viele Beispiele ähnlich überraschend strukturierter Erlebnisse widerlegen die Idee einer festen Beziehung zwischen Ereignis und Ergebnis. Diese Schlussfolgerung besagt nicht, dass traumatische Erlebnisse keine Bedeutung oder niemals unglückselige Folgen hätten. Aber sie besagt, dass das Bewusstsein wie ein guter Schauspieler immer die Zeilen interpretiert, die ihm gegeben werden. Puritanische Eltern in Neuengland wandten sehr strenge Erziehungsmethoden an, doch die meisten Kinder entwickelten anpassungsfähige Persönlichkeiten, vermutlich weil die Kinder in den Strafen die Sorge ihrer Eltern um ihre Charakterbildung sahen. Eine ähnlich harte Bestrafung durch moderne neuenglische Eltern würde heute als ungerecht oder grausam interpretiert und große Empörung hervorrufen. John Stuart Mill beschrieb seinen Vater als distanziert, hart und gefühllos, doch – anders als ein heutiger amerikanischer Sohn – interpretierte er 216
diese Eigenschaften nicht als Zeichen mangelnder väterlicher Liebe. »Ich war ihm treu ergeben … Ich kann nicht recht sagen, ob ich aus seiner Strenge mehr Nutzen oder mehr Ungemach zog.«56 Ein japanischer Arzt und Romancier erinnerte sich an die Gefühle seinem Vater gegenüber, der ein berühmter Arzt und Dichter war. »Mein Vater war vor allem ein Furcht einflößendes, erschreckendes Wesen. Er war oft außer sich vor Wut. Wenn er wütend wurde, so mit seiner ganzen körperlichen und geistigen Kraft. Selbst wenn ich nur hörte, wie mein Vater im Nebenzimmer jemanden zurechtwies, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter, zu schweigen von den Malen, als ich gezüchtigt wurde … und doch, er war mir eine große Hilfe, als ich aufwuchs.«57 George Bernard Shaw liefert ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der subjektiven Interpretationen, die ein Kind vornimmt. Shaw lebte in armen Verhältnissen, sein Vater war Trinker, seine Mutter gleichgültig, und für seine Lehrer in der Schule war er nur ein miserabler Schüler. Shaws objektive Entwicklungsbedingungen hätten ihn zerstören müssen, wenn nicht als Kind, dann fünfzehn Jahre später, nachdem seine ersten Romane von Verlegern abgewiesen wurden. Aber er musste etwas Bedeutendes tun, und er glaubte daran, dass es ihm gelingen würde, denn er hielt durch, bis der Ruhm ihm Recht gab. Vielleicht war es sein Wissen, dass es zweihundert Jahre früher einen Verwandten gegeben hatte, der seinen Kommandeur in einer Schlacht gerettet und dafür ein großes Stück Land in Kilkenny bekommen hatte, was den jungen Shaw überzeugt sein ließ, er 217
sei Teil einer tugendhaften, tüchtigen Ahnenreihe.58 Oft genügt ein solcher Glaube. Die Praxis der Klitoridektomie oder Zirkumzision an Adoleszenten gibt ein ähnlich beredtes Beispiel. Die Jugendlichen in Kulturen, wo dieses Ritual durchgeführt wird, interpretieren die schmerzhafte Prozedur als Eintritt ins Erwachsenenleben. Die gleiche Praxis, an amerikanischen oder europäischen Kindern verübt, würde als grausam oder illegal angesehen. Inuit-Großmütter, die in der Hudson Bay leben, necken ihre Enkelkinder auf eine Weise, wie sie sonst in amerikanischen Familien kaum vorkommen dürfte. Eine Großmutter schlug ihrer sechsjährigen Enkelin, die ihren kleinen Bruder in einem Tuch trug, vor, das Baby aus dem Tuch zu kippen und fallen zu lassen. Das Mädchen wusste, dass dies nur als Spaß gemeint war.59 Amerikanische Kinder würden einen solchen Vorschlag nicht verstehen und Angst bekommen. Eine kleine, isoliert lebende Gruppe auf Neu Guinea glaubt, dass Männer unfruchtbar geboren werden. Also müssen sich alle Jungen Sperma erwerben, wenn sie in der Zukunft ein Kind zeugen wollen. Diese Kultur erfand ein Ritual, um dieses Ziel zu erreichen. Die präadoleszenten Jungen werden auf eine abgelegene Lichtung gebracht und die älteren Männer tanzen Flöte spielend um die Jungen herum. Von dieser Zeit bis zur späten Adoleszenz praktizieren die Jungen Fellatio an älteren, noch unverheirateten Adoleszenten, um sich Samen zu beschaffen. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren endet diese Praxis. Die Jungen interpretieren dieses Verhalten 218
nicht als Zeichen der Homosexualität oder des sexuellen Missbrauchs, sondern als Ritual, das ihnen ermöglicht, Väter zu werden.60 Während der chinesischen Kulturrevolution wurden politische Gegner oft damit bestraft, dass man sie in tiefe Brunnen einsperrte, manchmal länger als ein Jahr. Europäer gingen grausam mit ihren Feinden um, aber diese Form der Strafe wendeten sie selten an. Der kulturelle Unterschied wird verständlich, wenn wir uns klar machen, dass die Chinesen emotional enge Beziehungen mit anderen für eine conditio sine qua non des Menschseins halten. Somit ist der Ausschluss einer Person von allen Sozialkontakten eine extrem schmerzhafte, demütigende Erfahrung. Die individuelle Autonomie, die im Wertekatalog der amerikanischen und europäischen Gesellschaft eine so große Rolle spielt, betont die Fähigkeit des Einzelnen, allein mit dem Leben fertig zu werden. Die Vorstellung, dass soziale Isolation unerträglich sei, erscheint in unserer Kultur weniger plausibel. Millionen von chinesischen Kindern waren unter Maos Herrschaft an sieben Tagen der Woche zehn bis zwölf Stunden täglich in Kindertagesstätten untergebracht. Ich vermute, dass die meisten von ihnen diese Lebensweise für normal gehalten und daraus nicht den Schluss gezogen haben, ihre Mütter liebten sie nicht. Doch in Gemeinschaften, wo nur wenige Kinder in Tagesstätten kommen, können Kinder sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass ihre Eltern nicht genügend Liebe für sie aufbringen, um sie in ihren ersten Lebensjahren zu Hause zu behalten. Die Interpretation, die das Kind vornimmt, und nicht die 219
Tatsache des Besuchs einer Kindertagesstätte, ist für die Entwicklung von größerer Bedeutung. Wenn die nachhaltige psychische Wirkung einer Erfahrung mit ihrer Interpretation verknüpft ist und nicht mit Erfahrung-qua-Erfahrung, dann haben spezifische Ereignisse in den ersten beiden Jahren keine umfassenden Konsequenzen, weil so kleine Kinder ihre Erfahrung nicht interpretieren. Stellen Sie sich zwei Lichtflecken vor, A und B, die objektiv gleiche Mengen Lichtenergie abgeben. Wenn der Lichtfleck A von einem hellgrauen Hintergrund und B von einem dunklen Hintergrund umgeben ist, wird B wegen des Kontrasts zwischen dem Lichtfleck und dem Hintergrund im Vergleich zu A als heller empfunden. Überraschender ist, dass von zwei objektiv gleich hellgrauen Oberflächen einer dunkler oder heller erscheinen kann je nach den anderen Oberflächen in der nächsten Umgebung – das heißt, durch Änderung des Hintergrundkontextes.61 Ebenso verhält es sich mit den Kindern. Die Interpretation einer Erfahrung, die ein Kind vornimmt – sagen wir, es wird geschimpft, weil es ein Glas zerbrochen hat –, hängt immer von den Hintergrundbedingungen ab, insbesondere von der Art der Beziehung zu dem Erwachsenen, von Erwartungen und vergangenen Erfahrungen. Ein Beobachter kann zu dem Zeitpunkt eines Ereignisses nicht wissen, welche symbolische Konstruktion das Kind vornehmen wird. Doch diese symbolischen Konstruktionen von Erfahrungen sind die wichtigsten Determinanten für das individuelle Niveau der Angst, Depression, Apathie und Wut. Die palästinensischen Jugendlichen, die Steine auf israe220
lische Soldaten werfen, glauben, dass die israelische Regierung sie zu Unrecht unterdrückt. Die Gründe für ihre Gewalttätigkeit lassen sich nicht auf das Verhalten ihrer Eltern während ihrer ersten Lebensjahre zurückführen. Ähnlich weiß kein glücklicher afroamerikanischer Zweijähriger von rassistischen Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft oder von der Geschichte der Unterdrückung, die Schwarze erleiden mussten. Die Erkenntnis, dass es Vorurteile gibt, wird sich nicht vor dem sechsten oder siebten Lebensjahr manifestieren. Überdies ist die Beurteilung des Rassismus in unserer Gesellschaft durch Kinder, die einer Minderheit angehören, vom Kontext abhängig: Der Glaube, dass die Gesellschaftsmehrheit sie am Lebenserfolg hindert, wird von den in den USA geborenen Minderheitsangehörigen stärker vertreten als von Einwandererkindern. Die grundlegenden Motive eines jeden Individuums stammen aus den chronischen Ungewissheiten etwa der ersten zwölf Lebensjahre, nicht nur des ersten oder der ersten beiden Jahre. Diese gefühlsgeladenen Ideen entstehen aus der Erkenntnis einer Kluft zwischen einem wahrgenommenen Zustand und einer Konstruktion, die das Ideal repräsentiert. Den Unterschied zwischen zwei Ereignissen – Ideen sind Ereignisse – zu entdecken gehört zu den am weitesten entwickelten Fähigkeiten unserer Spezies. Manche Kinder sind sich nicht sicher, ob die Mutter oder der Vater sie liebt. Andere zweifeln, ob ihre Altersgenossen sie akzeptieren. Wiederum andere empfinden Unsicherheit bezüglich der ökonomischen Situation ihrer Familie, ihres Aussehens, ihrer sozialen Klas221
senzugehörigkeit, ihrer Fähigkeit, sich gegen Bevormundung zu wehren, oder ihres Charakters. Obgleich viele Kinder mit mehr als nur einer dieser Sorgen leben, pflegt doch meist eine davon zu dominieren. Das sechsjährige Kind, das sich von den Gleichaltrigen abgelehnt fühlt, erlebt einen Moment der Unsicherheit, wenn es den Unterschied feststellt zwischen dem, was ist, und dem, was es sich wünscht. Eine regelmäßige Wiederkehr dieser Unsicherheiten, Tag für Tag, kann eine dauerhafte Bereitschaft für diese Empfindung schaffen – so wie der gespannte Abzug eines Gewehrs, der bei der leisesten Berührung den Schuss abfeuert. Der springende Punkt ist, dass diese Unsicherheiten nicht vor der Spätphase der Kindheit eintreten. Keine davon ist in der frühen Kindheit möglich. Ein Hauptgrund dafür, warum viele Amerikaner, sowohl Psychologen wie Laien, an den Kindheits-Determinismus glauben, ist, dass wir uns leicht ausmalen können, welche Wirkung das Verhalten von Eltern auf Kinder haben kann. Wir haben beobachtet, wie Kinder nach einer Bestrafung weinen, nach einem Kuss lächeln, einer freundlichen Bitte Folge leisten und einer unfreundlichen sich widersetzen. Leicht lässt sich eine Menge ähnlicher Interaktionen zwischen Eltern und Kindern vorstellen, und deshalb gehen wir ohne jeden Beleg von der Festgelegtheit der psychischen Ergebnisse solcher Interaktionen aus. Im Gegensatz dazu ist es schwieriger, sich die Interpretation des Kindes, den entscheidenderen Vorgang, vorzustellen. Die Neigung, prominente Ereignisse mit Be222
deutung zu versehen, führt uns oft zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich Ursache und Wirkung. Dies wird sehr schön von den Untersuchungen an Rattenbabys illustriert, die wir schon erwähnt haben. Als die Wissenschaft ler neugeborene Ratten während der ersten beiden Lebenswochen jeden Tag für mehrere Minuten von ihrer Mutter trennten, zeigten diese Jungen – als sie ausgewachsen waren – weniger Emotionalität in einer neuen Situation als ausgewachsene Tiere, die als Junge normal aufgezogen worden waren. Andere Wissenschaft ler entdeckten später, dass die Rattenjungen, die von der Mutter getrennt worden waren, eine dauernde Veränderung in der Hirnphysis davontrugen. Der Hippocampus dieser Tiere hatte eine größere Anzahl von Rezeptoren für Glukokortikoide als bei normal großgezogenen Tieren. Diese Entdeckung war eine so überwältigende Bestätigung der Rolle von frühkindlichen Erfahrungen, dass sie sich in beinahe jedem psychologischen Lehrbuch wieder fand. Sie schien zu beweisen, dass der frühkindliche Stress, der durch die Trennung von der Mutter ausgelöst wurde, eine permanente Wirkung auf die sich entwickelnden Neugeborenen hatte, wahrscheinlich auch bei Menschen. Doch zur Überraschung vieler ergaben spätere Untersuchungen, dass der Hauptgrund für den veränderten Hippocampus nicht der Stress war, den die Trennung von der Mutter in den Jungen erzeugte, sondern die Neigung der Mutter, ihre Jungen, wenn sie zurückgebracht wurden, kräftiger zu lecken und zu massieren, als sie es sonst tat. Der Grund für dieses Muttertierverhalten lag in der niedrigeren Temperatur der Jungen, die die Mut223
ter alarmierte. Die kräftige taktile Stimulation erhöhte das Serotonin im Gehirn der Kleinen, das wiederum zu einer erhöhten Zahl von Glukokortikoid-Rezeptoren im Hippocampus führte, die schließlich eine Abnahme der Aktivität in den Kernen des Hypothalamus bewirkte, in denen Glukokortikoide produziert werden. Als Folge dieser Sequenz reagierten die ausgewachsenen Ratten weniger emotional, wenn sie in eine ungewohnte Umgebung kamen, als Ratten, die nicht so oft von ihren Müttern geleckt und massiert worden waren. Die kräftige taktile Stimulation des Rattenjungen und nicht der Stress, von der Mutter weggenommen zu werden, erzeugten eine andere Hirnanatomie und ein besonderes Verhalten des ausgewachsenen Tieres.62 Diese wissenschaft liche Anekdote illustriert, wie leicht es ist, offensichtlichen Ereignissen kausale Einflüsse unterzuschieben, und wie schwierig, die feineren und oft unsichtbaren Geschehnisse zu erkennen, die von größerer Wichtigkeit sind. Viele Psychologen und Psychiater hatten angenommen, dass die kleine Zahl von Kindern, die Nahrung verweigern und abnehmen, damit auf die emotionale Abwehr ihrer Mutter reagieren. Doch heute wissen wir, dass ihre Nahrungsverweigerung mit Faktoren im Kind zusammenhängt, die niemand für möglich gehalten hatte, insbesondere eine mangelnde Koordination der Muskeln, die für das Schlucken notwendig sind, ein schneller Würgreflex und eine Beeinträchtigung der sensorischen Prozesse, die zum Geschmacksempfinden gehören. Ein ähnlich dramatisches Beispiel ist die Debatte, die 224
Etienne Geoffroy Saint-Hilaire und Georges Cuvier, zwei der führenden französischen Biologen ihrer Zeit, 1830 führten. Geoffroy behauptete, alle Tiere teilten einen grundlegenden Körperbauplan, auch wenn die Idee nicht sonderlich einleuchtet, wenn man Bienen und Bären vergleicht. Cuvier machte sich über diese spekulative Idee lustig und erinnerte Geoffroy daran, dass sie auf keinerlei Fakten beruhte. Doch einhundertfünfzig Jahre nach ihrem Streit bestätigen neuere Entdeckungen Geoffroys These, denn es stellt sich heraus, dass ein Set von Genen, HOX genannt, das den körperlichen Bauplan eines Tieres determiniert, von Bienen über Bären bis zu Pavianen erhalten geblieben ist.63 Dreißig Jahre nach der Cuvier-Geoffroy-Debatte erkannte Darwin, dass die größte Schwäche seiner Theorie darin lag, dass noch niemand Versteinerungen von einer der vielen Zwischenformen, sagen wir zwischen Fisch und Frosch, entdeckt hatte, wie sie für eine schrittweise Evolution notwendig gewesen wären. Darwin war es klar, dass es ohne diese Evidenz den meisten Naturforschern schwer fallen musste sich vorzustellen, wie im Laufe von vielen tausend Generationen eine Spezies aus einer anderen Spezies hervorgegangen war. »Der Geist kann unmöglich die volle Bedeutung des Begriffs von einer Million Jahren erfassen; er kann nicht die vollen Auswirkungen der vielen geringfügigen Veränderungen addieren, die sich während einer fast unendlichen Zahl von Generationen angesammelt haben.«64 Wir betrachten Newton als ein Genie, weil er zutreffend vermutete, dass die Planeten von unsichtbaren Gra225
vitationskräften in ihren Umlaufbahnen gehalten werden. Eine von Einsteins Einsichten war, dass die Energie der Elektronen, die emittiert werden, wenn Licht auf eine Metallfläche projiziert wird, keine Funktion der Lichtintensität ist, die deutlich sichtbar ist, sondern der Frequenz des Lichts, die in manchen Bereichen unsichtbar ist. Ein Grund, warum es so lange dauerte, bis Viren und Bakterien entdeckt wurden, lag darin, dass es bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Wissenschaft ler schwierig war, sich ein Bild von ihnen zu machen. Die Hypothese, dass manche Krankheiten die Folge von unsichtbaren infektiösen Erregern sind, wurde erst akzeptiert, nachdem Pasteur Schafe mit einem Impfstoff gegen Anthrax impfte und sie erfolgreich vor der Krankheit schützte. Die meisten Physiker, die in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts arbeiteten, zogen für subatomische Phänomene die Bildlichkeit von Schrödingers Wellengleichungen den unanschaulichen mathematischen Lösungen Heisenbergs vor. Doch heute geben die Physiker zu, dass Heisenbergs Gleichungen, die keine Entsprechungen in der Alltagserfahrung haben, die Quantenphänomene vollständiger erklären. Das Modell von Ptolemäus, nach dem die Sonne sich um eine ruhende Erde dreht, kam der unmittelbaren Wahrnehmung eher entgegen als die heliozentrischen Sichtweisen von Kepler und Galileo, die bestreiten, dass jeden Tag die Sonne über den Himmel wandert. Die meisten wichtigen Erklärungsmodelle in der Biologie, Physik und Neurowissenschaft – die DNS-Helix, 226
Mesonen und chemische Synapsen – waren im 19. Jahrhundert undenkbar, obwohl brillante Forscher ausgiebig über Themen wie Evolution, Materie und Gehirn nachdachten. Diese fruchtbaren Modelle unterschieden sich zu sehr von dem, was bekannt war, und sie blieben dem Denken über zugrunde liegende Mechanismen schlichtweg verborgen. Psychologen sprechen Schlägen, Strafen, Umarmungen und Küssen eine beträchtliche Wirkungsmacht zu, weil es sich um perzeptuell hervorstechende Vorgänge handelt. Ich vermute jedoch, dass die inneren Interpretationen des Kindes von diesen Ereignissen den signifikanteren Einfluss darstellen. Pawlow hätte diese Position ärgerlich gefunden, denn er schrieb in seinen Lectures on Conditioned Reflexes, dass wir eine »außerordentliche Kontrolle über das menschliche Verhalten [erlangen werden], wenn das … menschliche Bewusstsein sich nicht von innen, sondern von außen betrachtet.«65 Wenn sich die inneren Interpretationen des Kindes, die für Beobachter unzugänglich und für Veränderung offen sind, wenn sich diese Interpretationen von Erfahrungen als der wichtigste Faktor in der Entwicklung herausstellen, ist das Tonbandgerät in der Tat eine armselige Metapher für Entwicklung. Sie will uns glauben machen, dass keine Erfahrung verloren geht und dass die Seele für unbegrenzte Zeit getreue Abbildungen dessen bewahrt, was einst perzeptiv aufgenommen wurde. Ich habe des Öfteren die Erfahrung gemacht, dass ich einen Film, den ich vor 35 oder 40 Jahren gesehen hatte, wieder sah und keine Szene wieder erkannte. Es war für mich, als ob ich den Film noch nie gesehen hätte. Das magne227
tische Material auf einem Tonband hält eine Cello-Suite von Bach nur auf eine einzige Weise fest. Doch die kindlichen Seelen sind keine Tonbänder; sie gewinnen ihren Erlebnissen, oft unbewusst, verschiedene Gehalte ab. Weil dieser Prozess sowohl geheimnisvoll als auch unanschaulich ist, verkennen wir seine Macht. Der Gegensatz zwischen der formativen Wirkung von äußeren Erlebnissen und von Konstruktionen, die das Bewusstsein an ihnen vornimmt, ist ein Beispiel für die größere Debatte, die in anderen Wissenschaften stattfindet. Immunologen räumen zum Beispiel mittlerweile die Möglichkeit ein, dass die Eigenschaft, ein fremdes Molekül in einem Körper zu sein, nicht von der inhärenten chemischen Struktur des Moleküls abhängt, sondern von der Reaktion des Körpers auf das Molekül. Das heißt, der physiologische Kontext trägt zu der Wahrscheinlichkeit bei, dass das Immunsystem eine spezifische Substanz als fremd behandelt.66 Die Annahme, dass die vom Kind vorgenommenen Interpretationen von Erfahrungen und Erlebnissen der Schlüssel zur Formierung seines Charakters und seiner Persönlichkeit ist, ist analog zu Whiteheads nachdrücklicher Behauptung, dass jedem Symbol eine Idee zugrunde liegt, welche die Basis seiner Bedeutung ausmacht. Das Stirnrunzeln des Vaters, das schlicht eine muskuläre Veränderung im Gesicht anzeigt, erhält ihr Gewicht durch die Tatsache, dass Kinder den Gesichtsausdruck als Symbol der Missbilligung interpretieren. Wenn wir Eltern beobachten, die mit ihren Kindern spielen, scheint es offensichtlich zu sein, dass Kinder durch die erwachse228
nen Verhaltensweisen geformt werden; in diesem Rahmen bildet das Verhalten der Eltern das feste Bezugssystem, innerhalb dessen sich das Kind bewegt. Doch diese Vorstellung unterschlägt die vielen Situationen, in denen Eltern strafen und Kinder sich nicht fügen, oder die Situationen, in denen Eltern Höflichkeit honorieren, die Kinder aber ungehobelt sind. In diesem Rahmen ist das Bewusstsein des Kindes der stabile Ort, um den sich die Außenwelt dreht. Selbst wenn manche der frühkindlichen Gefühlsreaktionen anderen gegenüber sich ein Jahrzehnt lang erhalten sollten, müssten die Anhänger des Kindheits-Determinismus argumentieren, dass spätere Erfahrungen diese ersten Emotionen nicht transformieren können. Solch eine Behauptung wirkt seltsam. Jeden Tag helfen Therapeuten erwachsenen Patienten, ihre Furcht vor Schlangen oder Brücken abzulegen. Die meisten Erwachsenen erleben mit der Zeit einen schrittweisen Verlust starker Gefühlsreaktionen, sei es Furcht vor einem Tier, Trauer über den Tod eines Elternteils, Wut auf einen Rivalen oder intensive sexuelle Erregung beim Anblick eines anderen. Es fällt schwer zu glauben, dass Kinder Ausnahmen von diesem universellen Aspekt der menschlichen Natur sind und emotionale Reaktionen, die sie in den ersten beiden Lebensjahren erwarben, nicht verlieren sollten. Zwischen sechs und zehn Monaten entwickelt fast jedes Kind eine Furchtreaktion vor Fremden, manche Kinder stärker, manche weniger stark. Ein Kind, das seinen Großvater nur selten sieht, kann in dieser kurzen Entwicklungsphase intensive Furcht vor ihm 229
zeigen. Doch Dank der kognitiven Entwicklung und angenehmer Interaktionen mit dem Erwachsenen ist die Furcht ein Jahr später verschwunden. Nichts in dem Verhalten des Vierjährigen deutet auf eine Bewahrung der früheren Furcht hin. Wir können diese Frage auch auf andere Weise betrachten, indem wir uns vier Grundklassen menschlicher Repräsentationen und deren Anfälligkeit für Veränderungen anschauen. Die kleinste Klasse, die wahrscheinlich am wenigsten einer Revision zugänglich ist, bezieht sich auf logische Strukturen, die es einer Person erlauben, schlüssig zu argumentieren und Ungereimtheiten im Denken anderer zu entdecken. Zum Beispiel glaubt ein Fünfjähriger, dass ein Objekt nicht gleichzeitig zwei verschiedene Dinge oder in zwei verschiedenen Zuständen sein kann. Ein trauriges Kind kann nicht fröhlich sein, auch wenn es nach dem Weinen fröhlich werden kann. Diese logische Überzeugung lässt sich nur schwerlich ändern, und sie ist im ersten Lebensjahr noch nicht vorhanden. Eine zweite Klasse von Repräsentationen, die schwer zu ändern ist, sind semantische Assoziationen, die die meisten Mitglieder einer Kultur teilen. Amerikanische Kinder stellen implizit Assoziationen zwischen den Begriffen »female« (weiblich) und »natural« (natürlich) her. Die meisten Amerikaner und Europäer stellen starke semantische Assoziationen unter den Begriffen Teufel, Sünde, männlich und böse her sowie unter den Begriffen Engel, Liebe, weiblich und gut. Mexikaner assoziieren Sonne, männlich und Kraft; für Hindus bestehen starke seman230
tische Verbindungen zwischen den Begriffen Fleisch, heiß und sexuelle Begierde. Dylan Thomas’ berühmte Zeile »And death shall have no dominion« (Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben) ist deswegen poetisch so wirkungsvoll, weil alle Leser darin die überwältigende Macht der Idee des Todes erkennen. Dramatiker, Dichter, Romanciers und Werbetexter beziehen sich auf diese impliziten semantischen Strukturen, um Einfluss auf unsere Gefühle und Neigungen zu nehmen. Nur wenige dieser semantischen Netzwerke, wenn überhaupt welche, sind in den ersten beiden Lebensjahren vorhanden. Eine dritte Struktur besteht aus den affektiven Reaktionen auf die Bedeutung spezifischer Ereignisse – zum Beispiel die Traurigkeit angesichts des Todes eines Freundes, Abscheu gegenüber einer brutalen Vergewaltigung und Stolz, wenn ein Sohn oder eine Tochter einen Preis gewonnen hat. Keine dieser drei Klassen von Repräsentationen ist in den ersten zwei Lebensjahren vorhanden. Jede erfordert das kognitive Wachstum, das in den Vorschuljahren einsetzt. Die vierte Klasse von Repräsentationen bezieht sich auf das Wissen über die Geschehnisse in der Welt, einschließlich der Fakten, die Relationen von Ursache und Wirkung beschreiben. Dieser Bereich beginnt mit der Geburt des Kindes zu wachsen und ist zugleich derjenige, der am anfälligsten für Veränderungen ist. In der Tat handelt es sich bei dieser Annahme um eine wissenschaft liche Maxime. Die meisten Tatsachen-Überzeugungen des zweijährigen Kindes sind durch neue Erfahrungen veränderbar. Das Kind lernt zum Beispiel, dass gewisse Nahrungsmittel, 231
die gut schmecken, ungesund sind, gewisse Aktivitäten, die Spaß machen, gefährlich und gewisse Redeweisen in bestimmten Umgebungen verboten. So sind Repräsentationen, die in den ersten beiden Lebensjahren erworben wurden, am alleroffensten für Veränderungen, während diejenigen, die veränderungsresistenter sind, nach der frühen Kindheit erworben werden. Einige der psychologischen Produkte der ersten beiden Jahre können erhalten bleiben, doch nur wenn die Umwelt sich weiterhin gleich verhält, und nicht weil die ursprüngliche Reaktion aus sich selbst heraus stabil bleibt. Kinder, die in Armut aufwachsen, leiden öfter an Erkältungen und Durchfall als Kinder, die in wohlhabenden Familien leben. Erwachsene, die in Armut aufgewachsen sind und in armen Verhältnissen weiterleben, haben ein höheres Risiko, einen Herzinfarkt, Tuberkulose, sexuell übertragene Krankheiten zu erleiden und früher zu sterben als diejenigen, die sich eines Lebens im Mittelstand erfreuen.67 Doch die Gründe für eine erhöhte Erkrankungsziffer im Alter und für eine frühere Sterblichkeit unter Armen sind nicht die Folge von mehr Erkältungsund Durchfallerkrankungen in den ersten beiden Lebensjahren. Vielmehr ist der Grund dafür in der Kontinuität schlechter Ernährung, größerer Lebensbelastung und unzureichender medizinischer Versorgung zu suchen. Diejenigen, die den Kindheits-Determinimus vertreten, berücksichtigen zu wenig die Macht der Ereignisse in der späteren Kindheit und Adoleszenz, von denen viele mit der sozialen Klassenzugehörigkeit verbunden sind. Eines der wenigen empirisch erhärteten Fakten in den 232
Sozialwissenschaften ist der voraussagbare Zusammenhang zwischen der sozialen Klassenzugehörigkeit eines Individuums und der Wahrscheinlichkeit des Schulversagens, krimineller Handlungen, der Berufswahl sowie körperlicher und mentaler Symptome. Die meisten Kinder, deren Eltern keinen Schulabschluss gemacht haben, erleben eine andere Sozialisation als diejenigen, deren Eltern einen College-Abschluss haben, und manche Wissenschaft ler gehen davon aus, dass das unterschiedliche Verhalten von Erwachsenen aus zwei verschiedenen sozialen Klassen in erster Linie das Ergebnis ihrer Umwelten in den ersten beiden Lebensjahren ist. Kinder, die nachlässige oder gleichgültige Eltern haben, stehen in der Gefahr, in der Schule zu versagen und in der späteren Kindheit beeinträchtigende Symptome auszubilden. Doch die meisten dieser Kinder blieben in ihrer familiären Umwelt oder kamen in Pflegefamilien, die sich nicht um ihre Entwicklung kümmerten. Wenn ein Erwachsener beeinträchtigende Symptome hat, ist es vernünftiger, sie dem kontinuierlichen Einfluss einer widrigen Umwelt zuzuschreiben, als zu folgern, dass die Symptome die unveränderten Spuren früher Vernachlässigung darstellen. Kinderärzte, die in Städten mit hoher Luft verschmutzung praktizieren, sind sich darüber im Klaren, dass die asthmatischen Symptome, die sie behandeln, nicht inhärente stabile Eigenschaften der Kinder darstellen, sondern eine Reaktion auf die vergiftete Umwelt sind, in der die Patienten leben. Auch wenn die Evolution des Homo sapiens das Erscheinen des Fisches Millionen von Jahren davor voraussetzt, ist eine Erklärung seines erfolgreichen 233
Überlebens, die mit den Worten beginnt: »Es waren einmal Fische«, nicht sonderlich informationsträchtig. Aussagen, die erwachsenes Verhalten auf frühkindliche Erfahrungen zurückführen, sind ähnlich uninformativ. Des Weiteren enthält die Überzeugung der Kindheits-Deterministen, dass eine ursprüngliche Ursache in der tiefen Vergangenheit unbegrenzt Einfluss ausübt, eine moralische Nebenbedeutung. Jede Gesellschaft braucht einige transzendentale Prinzipien, denen sich ihre Bürger verbunden fühlen können. Gott, das Streben nach Weisheit und die Heiligkeit der treuen, romantischen Liebe gehörten in der Vergangenheit zu den am meisten verehrten Ideen in Amerika. Leider haben die Tatsachen des modernen Lebens es für viele schwierig gemacht, diesen ethischen Standards fraglos treu zu bleiben. Die Heiligkeit der Mutter-KindBeziehung und damit die psychologische Bedeutung der Bindung eines Babys zu seiner Mutter gehören zu den hartnäckigsten Werten aus unserem schwindenden Fundus rein gebliebener ethischer Grundüberzeugungen. Die Sorge über die große Zahl von Müttern, die ihre Kinder in Ersatzpflege geben und damit die natürliche Bindung zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Säugling verletzen, ist weit verbreitet. Wenn Kinder bei jedem fürsorgenden Erwachsenen gedeihen können, wäre die biologische Mutter entbehrlich, und einer unserer letzten moralischen Imperative wäre nicht mehr als eine konventionelle Anschauungssache. Die unkritische Akzeptanz einer strengen Form des Kindheits-Determinismus kommt dem verständlichen 234
Bedürfnis entgegen, die Komplexität jedes individuellen Entwicklungsgangs zu vereinfachen. Die außerordentlichen Unterschiede in den psychologischen Profilen Erwachsener bleiben ein Geheimnis; also sind wir empfänglich für voreilige Antworten, die etwas von der Unsicherheit beseitigen. Die alten Mesopotamier sahen in den regelmäßigen Veränderungen des Mondes ein Mysterium. Da der 28-tägige Mondzyklus deutlich erkennbar aus vier verschiedenen Formen zu bestehen schien, die etwa alle sieben Tage wechselten, wurde die Zahl Sieben als heilig angesehen und durch den hebräischen Sabbat und begleitende Rituale geehrt, die nicht entweiht werden durften.68 Die Wissenschaften haben den Himmelserscheinungen, Geburt, Krankheit und Tod so viele Geheimnisse entrissen, dass man sich fragen kann, welche Naturereignisse noch in der Lage sind, im modernen Menschen ein Gefühl des Mysteriums zu erwecken. Was geheimnisvoll bleibt, sind, wie ich glaube, die Unterschiede in den Begabungen, in der geistigen Gesundheit und in den Fähigkeiten zu intensiver Liebe, Trauer, Freude und Hass. Unsere klügsten Kommentatoren stehen zum Beispiel ratlos vor der hohen Rate an Jugendkriminalität, Selbstmorden und Schulversagen, ebenso wie vor dem Verhalten von Müttern wie Susan Smith, die ihre Kinder im See ertränkte. Frühkindliche Erfahrungen, die Müttern von kleinen Kindern eine tief greifende formative Macht zubilligen, sind eine populäre Erklärung für diese traurigen Ergebnisse. Eine Mutter, die den Imperativ der Kindesliebe verletzt und infolgedessen ein bindungsunsicheres 235
Kind schafft, gleicht einem Menschen, der die Sabbat-Rituale entweiht. Die amerikanische Gesellschaft hat Frauen mit einem Ansehen ausgestattet, das seinesgleichen nicht in vielen Ländern der Welt hat. Carl Degler hat die Vermutung geäußert, dass ein Grund für dieses Ethos in der gegenseitigen Abhängigkeit von Mann und Frau im 19. Jahrhundert zu suchen sei, als sie gemeinsam das Land westlich der Appalachen besiedelten. Als Folge davon bekam die Liebe einer Frau zu ihrem Mann und zu ihren Kindern eine außerordentliche heilende Qualität zugeschrieben.69 Die Überzeugung, dass die hingebende Liebe von Müttern zu ihren Kindern Folgen hat, die weit in die Zukunft reichen, führt zu dem Umkehrschluss, dass ein Kind, das von dieser Lebensquelle ausgeschlossen ist, notwendig weniger tüchtig werden muss. Doch die Doktrin vom Kindheits-Determinismus ignoriert die vielen mächtigen Einflüsse, die das Profil von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen nach dem zweiten Geburtstag prägen. Dazu gehören jüngere und ältere Geschwister, die gefühlsmäßige Identifikation mit der Familie, Klasse, Ethnie und wesentlichen historischen Ereignissen, die die Gesamtgesellschaft betreffen. Ich möchte diese Einflüsse nun im Einzelnen betrachten.
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Geburtsreihenfolge, Identifikation und historische Ära Die Stellung in der familiären Geburtsfolge, insbesondere wenn der Abstand zu dem nächstälteren oder -jüngeren Kind weniger als vier Jahre beträgt, berührt einige wenige psychische Eigenschaften.70 Die auff älligste betrifft die Haltung zur Autorität. Erstgeborene Kinder – etwa 40 Prozent der Amerikaner – stehen meist der Autorität wohlwollend und respektvoll gegenüber. Später Geborene machen sich dagegen eher einen skeptischen, manchmal zynischen Begriff davon. Folglich ist das älteste Kind in einer Familie am ehesten geneigt, die Werte der Eltern zu übernehmen. Wenn diese Werte zugleich die der Mehrheitskultur sind, wird der oder die Erstgeborene für die herrschenden Standards der Gesellschaft empfänglicher sein und fester zu ihnen stehen als später geborene Geschwister. Erstgeborene aus amerikanischen Mittelschichts-Familien erreichen bessere Noten und sind öfter die Klassenbesten in der High School, fallen durch eine spezifische Begabung auf und werden eher im amerikanischen Who’s Who aufgenommen.71 Sie neigen auch mehr als später Geborene juristischen, medizinischen oder unternehmerischen Berufen zu, die unter Mittelschichts-Familien, Freunden und Lehrern als sozial erstrebenswert gelten. Diese Berufswahl ist vernünftig für Menschen, deren Haltung gegenüber legitimer Autorität lautet: »Was wollt ihr, dass ich tue?« Im Gegensatz dazu entscheiden sich mehr später Gebo237
rene für Berufsbereiche, die weniger soziales Prestige genießen wie Theater, Literatur, Gesang oder Photographie – Berufe, die oft weniger in eine hierarchische Organisation, verbunden mit einem Statusgefälle, eingebettet sind.72 Die verschiedenen Konstruktionen, die Kinder in verschiedenen Geburtspositionen vornehmen, helfen zu erklären, warum es später Geborenen etwas leichter fällt, dem sozialen Druck zu widerstehen, der von den Erwartungen der Eltern und Lehrer ausgeht. Stellen Sie sich als hypothetisches Beispiel zwei Jungen aus der Mittelschicht vor, die gebildete, in vernünftigem Maß fürsorgliche, liebevolle und gerechte Eltern haben. Das erste Konzept von erwachsener Autorität, das sich ein Kind macht, basiert auf der Kategorisierung der Eltern, die für den erstgeborenen Achtjährigen erstrebenswerte Eigenschaften besitzen, insbesondere die psychische Macht, über die das Kind gern verfügen würde. Wenn die Eltern Konformität zu ihren Werten loben und Abweichungen bestrafen, wird es für den Erstgeborenen schwer, sich diesen Imperativen zu entziehen und die Ethik von Höflichkeit und Leistung abzulehnen.73 Doch der fünfjährige Junge mit einem achtjährigen Bruder lebt in einer anderen Welt. Auch wenn der ältere Bruder von ihm als kleine Autorität angesehen wird, so ist er doch viel weniger fürsorglich als die Eltern. Er hänselt den später Geborenen, nimmt ihm das Spielzeug weg und erinnert den Jüngeren fortwährend an seine Unterlegenheit. Diese täglichen Vorfälle berühren das Bild des später Geborenen von denen, die älter sind. Die Vorfälle können ein niedriges, aber chronisches Niveau des Un238
muts gegenüber denen zur Folge haben, die über Autorität verfügen, und den später Geborenen zu der Überzeugung bringen, dass er für viele der von der Familie geschätzten Fertigkeiten weniger begabt ist. Leider sind Fünfjährige noch nicht reif genug, die Unterschiede an Kraft und Können auf das Alter zurückzuführen. Dadurch sind später Geborene anfälliger für Selbstzweifel als ältere Geschwister. Die Eltern tragen zu dieser Dynamik bei, indem sie dem Ältesten Privilegien einräumen, die sie dem Jüngeren verweigern, einschließlich größerer Freiheiten, längeren Aufbleibens und kostspieligerer Geburtstagsgeschenke. Dem später Geborenen erscheinen die Eltern oft ungerecht und also mit menschlichen Schwächen behaftet; dadurch wird der Imperativ, ihren Wünschen zu entsprechen und ihre Werte zu übernehmen, mit weniger Dringlichkeit empfunden. Schließlich hat der später Geborene oft gar nicht so viele Möglichkeiten, eigene Fertigkeiten auszubilden, die ihn irgendwo dem Erstgeborenen überlegen sein lassen. Wenn der Erstgeborene sich als Hauptbetätigungsfeld den schulischen und intellektuellen Erfolg gewählt hat, dann kann es sein, dass der später Geborene, der erkennt, dass er nicht so fehlerfrei lesen kann wie sein älterer Bruder, sein Heil nicht in schulischen, sondern in sportlichen Leistungen sucht. Wenn der Erstgeborene gut im Basketball ist, zieht der später Geborene vielleicht Fußball vor. Wenn der Erstgeborene leidlich Klarinette spielt, entscheidet sich der später Geborene vielleicht fürs Schlagzeug. 239
Um ein Profil zu entwickeln, das sich von dem des Erstgeborenen unterscheidet, aber ebensolche Kompetenz besitzt, muss der später Geborene sich mit dem bescheiden, was übrig ist. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass später Geborene weniger stark motiviert sind, sich in der Schule hervorzutun, öfter antisoziales Verhalten an den Tag legen und, wenn sie einst Wissenschaft ler werden, eher mit radikal neuen theoretischen Konzepten sympathisieren, die die hochgehaltenen Positionen der wissenschaft lichen Autoritäten auf dem Gebiet der Entdeckungen umstürzen. Frank Sulloway hat für diese letzte Behauptung erstaunliches Belegmaterial zusammengetragen. Die meisten erstgeborenen Naturwissenschaft ler, die sich zwischen 1860 und 1875 zur Evolution äußerten, lehnten Darwins revolutionäre Ideen ab; unter denen, die sich ihm anschlossen, war der Anteil der später Geborenen dreimal so hoch.74 Charles Darwin und Alfred Rüssel Wallace, die unabhängig voneinander die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese entwickelten, waren beide später Geborene. Die ideologische Unabhängigkeit der später Geborenen klingt in Darwins Autobiographie in folgender Bemerkung an: »So weit ich es beurteilen kann, bin ich nicht dazu geschaffen, mich blind dem Niveau anderer Leute anzupassen … Das hat mich von selbst dahin geführt, dem deduktiven Denken in den gemischten Wissenschaften mit tiefem Misstrauen zu begegnen.«75 Doppelt so viele später Geborene wie Erstgeborene haben bei 28 verschiedenen innovativen wissenschaftlichen Ideen das jeweils neue Konzept dem Status quo vorgezo240
gen. Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Ergebnis sich von verschiedenen Arten der Kinderbetreuung oder sicheren beziehungsweise unsicheren Bindungen herleitet. Der Jüngste in der Familie erlebt oft weniger strenge, sondern vielmehr nachsichtige Eltern, was eher zu einer sicheren Kindheit beitragen sollte. In einer Studie über eine große Auswahl von Mittelschichts-Kindern, die in Zwei-Eltern-Familien lebten, fand ich keine signifikanten Unterschiede im Verhalten, Gefühlstonus oder in der Physiologie zwischen zweijährigen Erst- und später Geborenen. Die Konsequenzen aus der Geburtsfolge haben für die Bindungs-Debatte Bedeutung, denn die verschiedenen Konstruktionen der Erst- und später Geborenen sind in den ersten beiden Lebensjahren noch nicht vorhanden. Die kognitive Unreife des Zweijährigen hindert ihn an der Schlussfolgerung, dass er weniger kompetent ist als sein älteres Geschwister. Die wichtigen psychologischen Konsequenzen der Geburtsreihenfolge müssen warten, bis die Kinder in der Lage sind, ihre Beziehung zu einem Bruder oder einer Schwester einzuschätzen und über die verschiedene Haltung der Eltern zu jedem einzelnen Mitglied der Familie nachzugrübeln. Wissenschaft liche Fortschritte sind gekennzeichnet durch aufschlussreiche Vermutungen über den zugrunde liegenden Mechanismus eines Phänomens, die oft nur auf wenigen Fakten basieren. Zum Beispiel beruht der feste Glaube der Physiker an den Urknall auf den Implikationen von drei Beobachtungen: 1) die Rotverschiebung des Sternenlichts, die dahingehend interpretiert 241
wird, dass die Galaxien sich in einer Geschwindigkeit proportional zu ihrem Abstand voneinander entfernen und dass das Universum sich ausdehnt, wie man es nach einer ursprünglichen Mega-Explosion erwarten würde; 2) der Hintergrund der kosmischen Temperatur von drei Grad Kelvin, die mit der vorausgesagten Abkühlungsrate des Universums übereinstimmt, wenn es einen Urknall gegeben hätte; und 3) das Vorherrschen der leichteren Elemente Wasserstoff und Helium im Kosmos, deren Proportionen (fast 75 beziehungsweise 25 Prozent der Masse des Universums) nah an den theoretischen Voraussagewerten liegen, die auf einer anfänglichen Explosion beruhen. Diese drei Fakten nähren die Vorstellung von einem Urknall. Ähnlich beruhte Darwins Hypothese von der Evolution durch natürliche Auslese auf drei Beobachtungen: 1) dass auf einander benachbarten Galapagos-Inseln mit ähnlicher Vegetation Tiere derselben Spezies verschiedene anatomische Merkmale aufweisen; 2) dass die Merkmale einer Spezies durch selektive Zuchtverfahren verändert werden können, wie durch die künstliche Selektion von Tierzüchtern erwiesen ist; 3) dass Spezies sehr viel mehr Nachkommen produzieren, als die Ressourcen in ihrer Umwelt ernähren können (eine Idee, die Darwin von Malthus übernahm). Aus diesen Fakten folgerte Darwin, dass der Konkurrenzkampf der Individuen um die begrenzten Ressourcen zu einer »natürlichen Auslese« adaptiver Merkmale führt. Mit der Zeit und mithilfe geographischer Isolation bewirkt dieser Prozess das Entstehen neuer Arten. 242
Die Triftigkeit der Idee, dass die Identifikation mit einer sozialen Klasse oder ethnischen Gruppe die psychische Entwicklung nach dem Kleinkindalter beeinflusst, basiert ebenfalls auf drei Beobachtungen: 1) dass die ethischen Werte, die von den meisten Heranwachsenden vertreten werden, eher denen ihrer Eltern und anderer Erwachsener, die sie kennen und respektieren, gleichen als denen von zufällig ausgewählten Erwachsenen aus der Gesellschaft; 2) dass Kinder und Erwachsene Gefühle wie Stolz oder Scham empfinden, wenn sie von Erlebnissen einer anderen Person oder Gruppe erfahren, mit der sie gemeinsame Merkmale zu teilen glauben; 3) dass die Intensität dieser mit- oder nachempfundenen Gefühle mit der Unverwechselbarkeit der geteilten Eigenschaften verbunden ist. Die kindliche Scham, die Frank McCourt empfand, als er seinen Vater betrunken in einer Kneipe vorfand, ist ein Beispiel für diese Identifikation. Die überschäumenden Gefühle unter amerikanischen Juden nach dem Sieg Israels im Sieben-Tage-Krieg ist ein anderes. Diese drei Fakten laden zu Spekulationen darüber ein, welcher psychologische Prozess für diese Phänomene verantwortlich ist – Identifikation ist der am meisten benutzte Begriff dafür. Das menschliche Gehirn bereitet kleine Kinder darauf vor, unter einer Reihe von Objekten oder Ereignissen Ähnlichkeiten zu suchen und zu entdecken. Die meisten Zweijährigen, denen vier rote Würfel und vier gelbe Kugeln vorgelegt werden, berühren nacheinander die Objekte mit der gleichen Farbe und Form. Viele zweijährige Kinder nennen das erste Pferd, das sie sehen, »Hund«, 243
weil das größere Tier bestimmte Merkmale mit den zahlreichen Hunden teilt, die sie beobachtet haben. Doch das Zweijährige ist nicht reif genug, um eine Kategorie zu bilden, die auf Ähnlichkeiten im Verhalten, im Glauben oder in Gefühlen basiert. Kinder müssen mindestens fünf Jahre alt sein, um anhand dieser Qualitäten Ähnlichkeiten zwischen sich selbst und anderen zu vergleichen und zu folgern, dass manche der Eigenschaften anderer auf sie selbst übertragbar sind. Zum Beispiel glauben die meisten fünfjährigen Mädchen, dass sie mehr Eigenschaften mit ihren Müttern als mit ihren Vätern teilen, und deswegen folgert vielleicht eine Fünfjährige, die sieht, dass ihre Mutter sich bei Gewitter fürchtet, dass diese Furcht auch zu ihr gehört. Auf der anderen Seite neigt ein Mädchen, das seine Mutter als furchtlos und couragiert, dem Vater ebenbürtig und beliebt bei Freunden erlebt, vielleicht zur Annahme, dass es selbst einige dieser erstrebenswerten Eigenschaften besitzt. Diese glücklichere Schlussfolgerung ist schwieriger, weil Fünfjährige selten furchtlos und couragiert sind. Es ist leichter für ein Mädchen anzunehmen, dass es Eigenschaften mit einem ängstlichen Elternteil als mit einem mutigen teilt. Doch diese Neigung wird sich später verändern. Die Identifikation des Kindes mit seinem Geschlecht kann symbolisch kreativ sein. Die Kategorien männlich und weiblich sind im Bewusstsein von Kindern und Erwachsenen mit anderen Vorstellungen assoziiert, die auf den ersten Blick nichts mit dem Geschlecht zu tun zu haben scheinen. Zwischen sieben und acht Jahren wird 244
der Begriff »weiblich« unbewusst mit dem Begriff »natürlich« verbunden. Alle Kulturen betrachten das Gebären und das Großziehen von Kindern als Prototypen des Natürlichen. Also müsste der Begriff »weiblich« semantisch dem Begriff »natürlich« näher stehen als der Begriff »männlich«. Dieser Schluss wird von einer Studie an siebenjährigen amerikanischen Kindern bestätigt. Während der ersten Sitzung sensibilisierte der Psychologe die Kinder für den Unterschied zwischen natürlichen und hergestellten Objekten, indem er ihnen Bilder beider Kategorien zeigte und sie fragte, welches der beiden Nonsenswörter (Gip oder Lum) am besten zu den Bildern passte. Die Kinder lösten die Aufgabe schnell und binnen weniger Minuten benannten sie alle natürlichen Gegenstände auf den Bildern mit dem einen Wort und alle hergestellten Gegenstände mit dem anderen. Eine Woche später kehrte der Psychologe zurück und sagte den Kindern, dass sie das gleiche Spiel wiederholen würden, doch mit anderen Bildern und anderen Nonsenswörtern (Dep und Tas). Anfänglich zeigten die Bilder dem Männlichen und Weiblichen zuweisbare Objekte wie eine Pfeife, einen Herrenanzug, eine Handtasche und Damenschuhe. Als die Kinder richtig differenzierten, führte der Psychologe neue Bilder von natürlichen und hergestellten Dingen ein. Sowohl die Jungen wie die Mädchen verwendeten das Wort, das zuvor symbolisch mit den weiblichen Objekten verbunden war, für die Bilder mit natürlichen Abbildungen (Pflanze, Seemuschel, Wolke, Baum, See, Rotkehlchen, Blatt) und das Wort, das symbolisch für männliche Objekte stand, für 245
Abbildungen mit hergestellten Gegenständen (Straßenschilder, Segelboot, Fernsehgerät, Kugelschreiber, Tisch, Flasche und Uhr). 91 Prozent der Kinder nannten eine Pflanze ein weibliches Objekt und 91 Prozent nannten das Straßenschild männlich.76 Diese interessante Tatsache impliziert, dass Mädchen glauben, sie ständen symbolisch einer Kategorie näher, die natürliche Phänomene repräsentiert, als Jungen. Vielleicht ist einer der Gründe, warum die Pythagoräer die Zahl zwei als weiblich und die Zahl drei als männlich ansahen, dass mehr Naturphänomene in Paaren als in Trios auftreten. Identifikation ist nicht nur eine kognitive Überzeugung. Eine Identifikation verlangt sowohl einen Glauben an gemeinsame Eigenschaften wie auch die Erfahrung mit- oder nachempfundener Emotionen. Nicht jede Kategorie, die eine Person auf sich selbst für anwendbar hält, muss mit einer Emotion verbunden sein. Wenn ein Kind glaubt, dass seine Zugehörigkeit zu einer Kategorie sich nicht leicht ändern lässt – was offensichtlich beim Geschlecht zutrifft –, dann kann es mitempfinden, wenn eine Person, die zu derselben Kategorie gehört, etwas Angenehmes oder Unangenehmes erlebt. Wenn ein Mädchen Stolz empfindet, wenn der Vater die Mutter lobt, Anspannung, wenn die Mutter bedroht wird, oder Traurigkeit, wenn die Mutter weint, können wir davon ausgehen, dass eine Identifikation mit der Mutter etabliert wurde. Doch die emotionale Reaktion des kleinen Kindes bezieht sich eher auf Personen als auf Gruppen. Das fünfjährige Mädchen empfindet nicht mit, wenn ein unbekanntes Mädchen gelobt wird, denn noch ist die ab246
strakte Kategorie »weiblich« keine Basis für eine Identifikation. Menschen neigen dazu, die Kategorien, die von ungewöhnlichen Eigenschaften definiert werden, besonders hervorzuheben. Das ist einer der Gründe, warum Dinosaurier, Schildkröten, Elefanten und Schlangen Kinder so interessieren. Es erklärt auch, warum Menschen Objekte, die ein spezifisches Merkmal haben, häufig für gefährlich halten und sich von ihnen fern halten. Mary Douglas hat die Vermutung geäußert, dass das alte hebräische Verbot, Muscheln zu essen, teilweise damit zusammenhängt, dass die meisten zur Nahrung dienlichen Meererestiere, die die Hebräer kannten, Schuppen hatten. Ähnlich hat das Verbot, Schweinefleisch zu essen, vielleicht zum Teil damit zu tun, dass das Schwein ein ungewöhnliches Tier ist. Obwohl ein Paarzeher, ist es kein Wiederkäuer. Rotes Haar war im europäischen Mittelalter etwas Seltenes, und viele Europäer glaubten, dass eine rothaarige Person von seiner Mutter während der Menstruation empfangen wurde – was der Verletzung eines Tabus gleichkam.77 Je charakteristischer die Eigenschaften sind, die Kind und Vater oder Mutter teilen, desto stärker ist die Identifikation. Mit einem Vater, der lang und dünn ist und außerdem noch rotes Haar und Sommersprossen hat, wird ein Sohn, der diese vier Eigenschaften teilt, sich stärker identifizieren als einer, der klein, untersetzt und braunhaarig ist und keine Sommersprossen hat. Die markanten Merkmale, die während der Kindheit am häufigsten eine Identifikation hervorrufen, werden 247
durch die Wahrnehmung von Lob und Strafe, die den Angehörigen der eigenen Kategorie widerfahren, noch einmal verstärkt. Geschlecht, Ethnie und Religion sind einschlägige Kriterien, doch nicht Gehweise oder Augenfarbe. Bereits fünfjährige Kinder sind davon überzeugt, dass Rassenmerkmale unveränderlich sind.78 Angehörige von Minderheitengruppen identifizieren sich in jeder Gesellschaft mehr mit ihrer Gruppe als diejenigen, die Mehrheiten angehören, insbesondere wenn erstere markante äußere Unterscheidungsmerkmale aufweist. Das ist der Grund, warum weiße Südafrikaner sich stärker mit ihrer ethnischen Gruppe identifizieren als Weiße in England oder in den Vereinigten Staaten. Die markanten Gesichtszüge, Speiseverbote und religiösen Rituale der Juden im mittelalterlichen Europa garantierten eine starke Identifikation mit dieser Kategorie. Ein grundlegendes Prinzip der menschlichen Wahrnehmung besteht darin, dass das Bewusstsein von jenem Ort in einer Ansammlung von Dingen angezogen wird, der sich vom Übrigen unterscheidet. Wir entdecken eine einzelne gelbe Blume inmitten einer großen grünen Wiese; ein Blatt auf dem leer gefegten Dach eines Hauses; ein westeuropäisches Gesicht inmitten einem Meer von Japanern in einem Stadtteil von Kyoto. Das ist der Grund, warum es sich nicht verhindern lässt, dass ein Kind sich selbst in Bezug auf sein Geschlecht kategorisiert und, wenn seine ethnische Gruppe äußerlich markante Merkmale hat, auch in Bezug auf seine Ethnie. Das Kind kommt notwendig zu der Schlussfolgerung, dass markante Unterscheidungsmerkmale bedeutungsvoll sind. 248
Ein zweites unbestrittenes Wahrnehmungsprinzip besagt, dass Elemente, die nahe nebeneinander stehen, verbunden sind oder ein gleiches Schicksal haben, so zusammenhängen, dass sie ein einziges Objekt darstellen. Die Kohärenz zwischen den physischen Elementen eines Objekts ist analog zur Konsistenz der symbolischen Bedeutungen, die Kategorien zugeschrieben werden. Wenn ein Mädchen in Montana sich selbst als Vietnamesin klassifiziert, verlangt die begriffliche Konsistenz, dass sie sich auf eine Weise verhält, die sich in Übereinstimmung mit ihrem Verständnis typisch vietnamesischer Kinder befindet. Ein Abweichen davon beschädigt das Prinzip der Konsistenz und führt folglich zu einem Gefühl der Unsicherheit. Für Heranwachsende sind die Kategorien von Menschen nicht weniger wirklich als greifbare Gegenstände. Wenn ein Stein plötzlich seine Farbe änderte oder weich würde, wäre der Beobachter überrascht und verunsichert. Ähnlich wird ein Jugendlicher, der sich den Kategorien spanisch, katholisch und männlich verbunden weiß, Unsicherheit empfinden, wenn er sich auf eine Weise verhält, die diesem Trio von Kategorien nicht entspricht. Er hat nicht die Freiheit, sich zu entscheiden, ob er die Implikationen dieser Kategorien-Zuschreibung akzeptieren oder ablehnen will. Die Wahrnehmungs- und Begriffssysteme des Menschen unterliegen dem Imperativ, Abweichungen festzustellen sowie Kohärenz und Konsistenz zu respektieren. Die größere intellektuelle Reife des Jugendlichen erlaubt, dass abstraktere Merkmale wie Religions- und Klassenzugehörigkeit zur Basis von Identifikationska249
tegorien werden. Viele muslimische und christliche Jugendliche in Sarajewo identifizieren sich mit der Religion ihrer Familien, obgleich sich die beiden Gruppen physisch kaum, wenn überhaupt, voneinander unterschieden. Erwachsene können zu dem Schluss kommen, dass eine Identifikation während der Kindheit zu Ängsten führt, und versuchen, ihre Zugehörigkeit zu einer Kategorie zu ändern. Es gibt Juden, die ihren Familiennamen ändern, Mexikaner, die ihre Hautfarbe aufzuhellen versuchen, wie es Richard Rodriguez in seinen bewegenden Erinnerungen erwähnt, und Afroamerikaner, die ihr Haar glätten.79 Doch solche Versuche, die ethnische Identifikation zu löschen, können Schuldgefühle erzeugen, denn die Person glaubt weiterhin, dass die ursprüngliche Katgeorie die wahre ist. Versuche, sie zu ändern, werden als Akte der Illoyalität gegenüber den anderen Angehörigen der Kategorie gedeutet und können ähnliche emotionale Konsequenzen haben wie ein Bruch mit der Familie. Manche farbige Jugendliche in den USA, die sich mit ihrer ethnischen Kategorie identifizieren, insbesondere solche, die dort geboren sind, glauben, dass Weiße aufgrund ihrer Vorurteile, Habgier und Heuchelei moralisch tiefer stehen und daher wenig attraktive Rollenmodelle abgeben. Zu oft hat dieser Glaube bei den Jugendlichen die traurige Folge, dass sie in der Schule nicht mitarbeiten, weil diejenigen, die sie unterrichten und auf Universität und Beruf vorbereiten wollen, Angehörige der weißen Mittelschicht sind, mithin als Feinde angesehen werden. Die ethnische Identifi kation vereitelt so manchmal Verhaltensweisen, die den afroamerikanischen oder hi250
spano-amerikanischen Jugendlichen auf lange Sicht Nutzen bringen würden. Die Medien fördern unwissentlich die Abneigung dieser Jugendlichen gegen die Werte der weißen Mehrheit. Film und Fernsehen kehren mit Nachdruck die Verschiedenheit der ethnischen Gruppen und die vorurteilsgeladenen Haltungen der Weißen hervor. Die Vereinigten Staaten waren um 1900 zu 90 Prozent weiß und christlich. Heute gehören weniger als zwei Drittel zu diesen beiden Kategorien und die restlichen Amerikaner gehören zu vielen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. Auf diese Weise ist die Kategorie »Amerikaner« unscharf geworden und die Identifikation mit ihr problematischer. Tatsächlich glauben viele mexikanische Einwanderer, die seit zwei oder mehr Jahrzehnten in den USA leben, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend ist und sie irgendwann in ihr Heimatland zurückkehren werden. Die Menschen aus der Dominikanischen Republik haben dafür einen treffenden Ausdruck: »Un pie aqui, un pie allá« (Ein Fuß hier, ein Fuß dort). Die Merkmale, die im Unterschied zur ethnischen Zugehörigkeit soziale Klassen definieren, sind weniger offensichtlich und weniger stabil. Zu den Zeichen, aus denen Kinder diese Kategorie konstruieren, gehören die Wohnqualität, das Wohnviertel und materieller Besitz wie das Auto der Eltern oder die Zahl ihrer Computerspiele. Die meisten Siebenjährigen haben keine Mühe, Zeichnungen von Häusern zu unterscheiden, in denen Arme und Reiche wohnen, doch Eltern weisen ihre Kinder gewöhnlich nicht auf ihren sozialen Status hin, und 251
weder besondere Rituale noch Feiertage definieren die Klassenzugehörigkeit. Daher ist das Herausbilden eines Bewusstseins für die eigene soziale Klasse für Kinder konzeptuell schwierig, uneinheitlich und unübersichtlicher und es tritt nicht vor dem siebten oder achten Lebensjahr oder sogar noch später ein. Frank Manuel weist darauf hin, dass Karl Marx die Klasse in einen höheren Rang der psychischen Identifikation erheben wollte als Ethnie oder Religionszugehörigkeit.80 Der gewaltfreie Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der Sowjetunion im Gegensatz zum Unfrieden in Bosnien, Irland, Israel und Ruanda zeigt allerdings, wie schwierig es ist, diese Prioritäten umzukehren. Die Anzahl der armen Familien in einer Stadt hat Einfluss auf die Identifikation mit einer Klasse. Der Status der Armut ist besonders markant in Gesellschaften, wo viele im Wohlstand leben wie in den meisten modernen westlichen Staaten. In zahlreichen entlegenen Dörfern der Dritten Welt mit weniger als tausend Einwohnern sind hingegen über 90 Prozent der Menschen absolut arm. Doch existieren dort weniger Kriminalität und Hoffnungslosigkeit, weil die Menschen sich weniger des Unterschieds bewusst sind zwischen ihrem ökonomischen Status und dem derjenigen, die Hunderte von Kilometern entfernt in großen Städten leben. Absolute Armut hat keine einheitlichen psychologischen Wirkungen, aber viele bekannte unselige Folgen resultieren aus der Erkenntnis der eigenen relativen Armut. Viele Amerikaner glauben, dass harte Arbeit und In252
telligenz genügen, um Reichtum zu erwerben, der in diesem Jahrhundert ein vorrangiges Merkmal des persönlichen Werts geworden ist. Folglich beinhaltet die Klassenzugehörigkeit in den USA ein größeres Potenzial für Scham als in vielen anderen Ländern der Erde. Zehnjährige, die sich mit ihren armen Familien identifizieren, können sich leicht beschämt und machtlos fühlen, wenn sie darüber nachgrübeln, ob ihre Eltern faul oder dumm sind. Charakterliche Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Ausdauer oder Treue sind vom ethisch neutralen und leichter messbaren Kriterium des materiellen Wohlstands verdrängt worden. Der Vorteil dieses Wertewechsels liegt darin, dass er es allen amerikanischen Bürgern unabhängig von ihrer Hautfarbe, nationalen oder religiösen Herkunft theoretisch möglich macht, einen höheren Sozialstatus zu erwerben. Doch der Preis dieses Wechsels in der sozialen Werteordnung ist Narzissmus, Selbstsucht, Illoyalität und eine stete Bereitschaft zur Scham, die für Angehörige der armen Schichten schwer zu rationalisieren ist. John Updike hat gestanden, dass ihn Nervosität plagt und er gelegentlich ins Stottern kommt, wenn er mit Mitgliedern der alteingesessenen führenden Bostoner Familien zusammen ist. Updike hat seine Identifikation mit der Herkunft aus einer Arbeiterfamilie nicht aufgegeben.81 Der britische Literaturkritiker Frank Kermode, ebenfalls Sohn armer Eltern, bekennt, dass er sich wie ein Außenseiter fühlt: »Die Rolle zu spielen, der ich nicht ganz gewachsen bin, scheint mir recht gut zu gelingen.«82 In seinem Vorwort zu Philosophical Explanations fragt 253
sich Robert Nozick, ein herausragender amerikanischer Philosoph aus einer Einwandererfamilie, welches Recht er habe, sich zu tiefen menschlichen Themen zu äußern: »Ist es nicht absurd für jemanden, der gerade eine Generation vom Schtetl entfernt ist, einen Fischer aus Brownsville und East Flatbush in Brooklyn, die Gegenstände der großen Denker auch nur zu berühren?«83 Es ist unwahrscheinlich, dass Montaigne, Kant, Russell oder Whitehead unter solchen Selbstzweifeln gelitten haben. Die Identifikation mit einer sozial niederen Klasse kann andererseits auch gegen Scham- oder Schuldgefühle schützen, wenn der Jugendliche Gründe für den Sozialstatus der Familie findet, die einen Teil der Verantwortung von ihr abwälzen. Zu diesen schützenden Überzeugungen gehört die Feststellung, dass die Reichen korrupt und ohne Moral, dass sichere Jobs in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft selten sind und dass Arbeitgeber Vorurteile gegen Arme haben. Jede dieser Interpretationen erlaubt dem Jugendlichen, der mit einer unterprivilegierten Klasse identifiziert ist, Dysphorie zu dämpfen. Doch funktioniert dieser Schutzmechanismus immer schlechter, da die amerikanische Gesellschaft versucht, Vorurteile zu bekämpfen und den Armen mehr Chancen zu vermitteln. Da der psychische Schutz wegfällt, werden Jugendliche aus armen Familien ohne heilende Rationalisierungsmöglichkeiten mit ihrem Status konfrontiert. Vielleicht wird zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte das Armsein von vielen Jugendlichen als ernstes Stigma angesehen. Da die Identifikation mit einer armen Familie Scham, 254
Schuld und Wut hervorrufen kann, ist es ebenso möglich, dass sie physischen Stress hervorruft, der vielleicht zur geringeren Gesundheit der ökonomisch Benachteiligten beiträgt. Obwohl die Armen nur eingeschränkt an der medizinischen Versorgung teilhaben, glauben Experten nicht, dass dies der einzige Grund für die größere Erkrankungsziffer ist, die von Arthritis über Herzerkrankungen bis zu Gallensteinen alles umfasst. Vielleicht fördert der Seelenzustand, der die chronische Identifikation begleitet, eine Anfälligkeit für Krankheiten. Die Klassenzugehörigkeit der Eltern kann ihre bevorzugten Erziehungsmethoden beeinflussen. In den achtziger Jahren hörten in einer Untersuchung Eltern der Arbeiter- und der Mittelschicht die Aufnahme eines kurzen Essays, in dem der Wert einer strengen Erziehungsstrategie mit einer eher nachsichtigen verglichen wurde. Jeder der Erwachsenen sollte so viel von dem Essay zu behalten versuchen wie möglich. Die Mütter aus der Arbeiterschicht erinnerten sich vor allem an die Teile des Essays, die vor einer allzu strengen Erziehung warnten, da sie die Kinder äußerst furchtsam machen könnte. Die Erinnerung der Mittelschichts-Mütter drehte sich um die Warnung, dass Nachlässigkeit bei ihren Kindern zu Delinquenz und schlechten Schulleistungen führen könnte.84 Was erklärt diesen Unterschied? Amerikanische Mütter aus der Arbeiterschicht, denen ihre unsichere ökonomische Lage Sorgen macht, wollen verhindern, dass ihre Kinder Risiken fürchten, weil dies zu einer ökonomischen Benachteiligung für sie führen könnte. Also befürworten sie eine eher nachsichtige 255
Erziehung. Mütter der Mittelschicht hingegen sind besorgter über das schulische Abschneiden ihrer Kinder und über ungute Einflüsse asozialer Freunde. Also neigen sie der strengeren Haltung zu. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs war die Erziehung durch Mittelschichts-Mütter streng und die durch Mütter der Arbeiterschicht weniger streng, eine Umkehrung der Erziehungsstile, die von diesen Schichten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts praktiziert wurden. Die Entwicklung von Kindern verschiedener sozialer Klassen oder Schichten ist analog zur Entwicklung einer kleinen Embryozelle, deren Schicksal von ihrer Ausgangsposition determiniert wird. Ob eine bestimmte Zelle schließlich eine Sehne oder ein Knorpel wird, hängt davon ab, wo im sich entwickelnden Embryo sie sich befindet und welche Zellen in ihrer nächsten Nachbarschaft sind. Ähnlich wird das psychische Profil des Jugendlichen zum großen Teil von der Ausgangsposition seiner Familie in der gesellschaft lichen Hierarchie bestimmt. Doch eine Identifikation mit dieser Kategorie findet erst nach der Kindheit statt. Geographische Grenzen, die verhindern, dass sich Mitglieder einer Spezies vermischen, sind ein wesentlicher Faktor in der Schaffung neuer Spezies, denn indem kleinere Untergruppen einer Spezies sich untereinander vermehren, werden ihre charakteristischen Merkmale verstärkt. Ernst Mayr gebührt das Verdienst, diesen wichtigen Sachverhalt der geographischen Speziation (Artenbildung) am deutlichsten formuliert zu haben.85 Es ist wahrscheinlich, dass verschiedene soziale Klassen – 256
so wie Gebirgsketten Tiere der gleichen Spezies voneinander trennen – Kinder mit ähnlichen Eigenschaften in Familien, Nachbarschaften und Schulen vereinen, die spezifische Werte und Möglichkeiten unterstützen und spezifische Chancen eröffnen. Heiraten zwischen der gehobenen Mittelschicht und der Arbeiterklasse sind unüblich; die meisten Erwachsenen heiraten innerhalb ihrer sozioökonomischen Klasse oder jemanden aus einer benachbarten Klasse. Also haben sich Kinder aus der Arbeiter- und der gehobenen Mittelschicht bereits mit sieben Jahren oder noch früher in psychologisch distinkte Gruppen auseinander entwickelt und als Jugendliche haben sie unterschiedliche Ansichten über sich selbst und die Gesellschaft. Wie der Einfluss der Geburtsfolge entwickelt sich die Identifikation mit einer ethnischen oder sozialen Gruppe nach dem sechsten oder siebten Lebensjahr. Damit genießt das Kleinkind, das in eine arme hispano-amerikanische Familie mit liebevollen und fürsorglichen Eltern geboren wird, keinen unbegrenzten Schutz vor den Selbstzweifeln, die mit der Identifikation mit einer benachteiligten Gruppe oder einer unterprivilegierten ethnischen Gruppe einhergehen. Der afroamerikanische Romancier John Wideman hat einen jüngeren Bruder, der eine lebenslängliche Haftstrafe für Mord verbüßt. Der jüngere Bruder hat aller Wahrscheinlichkeit nach die gleiche elterliche Fürsorge genossen, wie sein älterer Bruder, aber er war ein Jugendlicher im Pittsburgh der sechziger Jahre, als sich der große Zorn der Schwarzen gegen den Rassismus der Amerikaner entlud, und diese Erfahrung 257
hat sicherlich sein Verhalten beeinflusst.86 Elterliche Fürsorge ist keine Garantie für ein erfülltes, glückliches Erwachsenenleben. Ein Kleinkind, das in eine weniger fürsorgliche weiße Familie der gehobenen Mittelschicht geboren wird, kann vielleicht einen Teil der psychischen Belastungen seiner Kindheit damit kompensieren, dass es seiner privilegierten sozialen Stellung inne wird. George Homans, ein einflussreicher Soziologe aus Harvard, bemerkte in einer Denkschrift, die er kurz vor seinem Tod verfasste, dass er mit seinen intensiven Kindheitsängsten wegen schlechter Schulnoten und mangelnder Beliebtheit bei seinen Altersgenossen fertig wurde, indem er sich daran erinnerte, dass er seine Vorfahren auf John Adams zurückführen konnte.87 Darwins Beschreibung seines Vaters glüht vor Ehrfurcht vor seines Vaters Intelligenz, Zuneigung, Großmut, Liebenswürdigkeit und Geschäftstüchtigkeit. Es ist der reinste Lobgesang. Charles kannte die Macht der Vererbung durch seine Freundschaft mit Tierzüchtern, und vielleicht hatte er das Gefühl, dass er seine eigenen kognitiven Fähigkeiten von Geburt an besaß. Ich vermute, dass jedes Kind von Geschichten beeindruckt wird, in denen Familienangehörige eine heroische Rolle spielen und Eigenschaften wie Kraft, Mut, Mitgefühl oder ungewöhnliche Intelligenz zeigen. Jüdische Eltern, die während der spanischen Inquisition verfolgt wurden, erzählten ihren Kindern wahrscheinlich, dass sie, auch wenn ihr Leben unsicher war, ihre religiöse Identität bis auf die Patriarchen des Alten Testaments zurück258
führen konnten. Frank McCourts chronisch arbeitsloser Vater erinnerte ihn daran, dass er, ein Sohn Irlands, den Mut und die Tapferkeit derer besitze, die vor ihm gelebt hatten. Solche Familienmythen können Kindern helfen, mit Furcht, Angst, Scham- oder Schuldgefühlen umzugehen. Doch die Mythen entfalten ihre Wirkung erst im Alter von sechs oder sieben Jahren, wenn die kognitive Entwicklung den Kindern erlaubt, ihre Bedeutung zu erfassen. Schließlich kann die historische Ära, in der die Adoleszenz verlebt wird, einen nachhaltigen Einfluss auf die späteren Werte des Erwachsenen haben. Auch wenn die Jahre zwischen fünf und acht wichtig sind für das Etablieren von Identifikationen, sind Achtjährige noch zu jung, um die tief greifenden Voraussetzungen ihrer Gesellschaft zu verstehen. Im 17. Jahrhundert durchdrang religiöse Frömmigkeit jeden Lebensbereich in Neuengland. Die Kinder, die in dieser Zeit lebten, konnten nicht wissen, dass der Teufel keine Tatsache, sondern eine Glaubensprämisse ist. Die wichtigen Fortschritte in der intellektuellen Entwicklung, die mit dreizehn und vierzehn Jahren eintreten, veranlassen die Jugendlichen, über ihre Glaubensannahmen zu reflektieren, da ihre Erfahrungen nicht mit den Vorstellungen ihrer Kindheit übereinstimmen. Der Jugendliche fragt sich, warum, wenn es Gott gibt, so viele Menschen leiden müssen. Warum ist es schlecht zu masturbieren, wenn sexuelle Stimulierung solchen Spaß macht? Doch zu unvorhersehbaren Zeiten, ausgelöst durch historische Ereignisse wie Krieg oder wirtschaft liche Depression, kommt es zu Veränderungen der Ideologie, indem 259
der Jugendliche die Überzeugungen, die er vor dem Ereignis hatte, mit denen kontrastiert, die von den neuen sozialen Bedingungen ausgelöst werden. Heranwachsende, die beginnen, die Grundüberzeugungen auszubilden, auf die sie sich für den Rest ihres Lebens berufen werden, sind überaus empfänglich für historische Geschehnisse, die bestehende Ansichten infrage stellen. Stellen Sie sich einen Sechzehnjährigen 1970 in Moskau vor, der ein karges, eingeschränktes, doch dafür in geordneten Bahnen verlaufendes Leben ohne Straßenkriminalität oder Korruption akzeptiert, dafür umgekehrt einen sicheren Arbeitsplatz, eine staatlich finanzierte Ausbildung und Gesundheitsversorgung erhält. Ein sechzehnjähriger Moskowiter konnte 1998 die ältere Konzeption nicht mehr vereinbaren mit dem wachsenden Abgrund zwischen Arm und Reich, der zügellosen Kriminalität und der Unmöglichkeit, ohne Bestechung ein Auto zuzulassen. Diese schreienden Widerlegungen des vorherigen Selbstverständnisses des Jugendlichen führen zu der zynischen Grundannahme, dass die meisten Menschen egoistisch sind und der Staat korrupter und schwächer ist, als er gedacht hatte. Die Jugendlichen, die diese Ansicht akzeptieren, sind auf eine ernste Weise betroffen. Wenn die Millionen von russischen Jugendlichen, die diese Ideen entwickeln, in einem oder zwei Jahrzehnten verantwortliche Positionen einnehmen, wird sie diese harsche Grundeinstellung zur täglichen Arbeit begleiten. Die heutigen Jugendlichen in Sarajewo wurden Zeugen von Grausamkeiten, die diese Generation zutiefst zu Skeptikern machen werden. Für eine Achtzehnjähri260
ge in Sarajewo macht es kaum einen Unterschied, ob sie eine fürsorgliche Mutter gehabt hat oder nicht, wenn sie durch eine Hölle von Vergewaltigung, Luftgranaten und dem sinnlosen Tod ihrer Freunde und Angehörigen gegangen ist. Diese skeptische Haltung war in ihren ersten beiden Lebensjahren nicht vorhanden. Die wirtschaft liche Depression in den USA, die von 1930 bis 1940 dauerte, ließ ein Drittel der amerikanischen Familien mit chronischen Geldsorgen zurück. Kinder wurden täglich ermahnt, auf ihre Kleidung aufzupassen, und Mütter knauserten mit dem Essen, während Väter schrottreife Autos fuhren. Fünfjährige Kinder waren nicht reif genug, um die Familienangst zu empfinden, doch die Jugendlichen, die täglich an die ökonomische Randlage ihrer Familie erinnert wurden, entwickelten ein Unsicherheitsgefühl in Bezug auf Geld, das sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen sollte. Ein großer Teil der Amerikaner, die damals adoleszent waren und heute in ihrem siebenten Lebens Jahrzehnt stehen, sparten mehr Geld als die Generation vor oder nach ihnen und verbrachten ihr Leben mit einer fortwährenden, nagenden Furcht vor finanziellen Verlusten.88 Eines der besten Beispiele für den Einfluss der Geschichte ist der ideologische Umbruch, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Zentraleuropa vonstatten ging. 1894, als Max Weber dreißig Jahre alt war, befand sich die liberale Tradition in Deutschland im Niedergang. Die zunehmende Bürokratie schien dem Geist des Individualismus den Boden zu entziehen und die Ideen von Karl Marx forderten die ethischen Grundlagen des Kapitalis261
mus heraus.89 Als Webers schöpferischer Geist mit diesen neuen Ideen in Berührung kam, entstand das einflussreiche Buch Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Der falsche Idealismus, die pathetische Sprache, Oberflächlichkeit und Aberglaube und das Ableugnen der Korruption, die am Ende der Habsburger Monarchie offensichtlich geworden war, wurden von den älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen am deutlichsten wahrgenommen, die, entlastet von alten Vorstellungen, eine neue Philosophie formulieren konnten. Es war kein Zufall, dass Wittgenstein, Freud und Mahler als junge Erwachsene in dieser Zeit des Übergangs lebten. Als junger Mann war Samuel Beckett Zeuge der Anarchie, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Irland zerriss. Er hatte vielleicht die Kindheitserinnerung vom sinnlosen Oster-Aufstand vor Augen, als er einem der beiden Vagabunden in Warten auf Godot die Worte in den Mund legte: »Nun wird es wirklich sinnlos«, und der andere antwortet: »Noch nicht genug«. Diese Ereignisse können, wie ein Sturm über Neuengland, das Denken einer Generation verändern. Der Protest gegen den Vietnamkrieg Ende der sechziger Jahre kehrte eine große Zahl privilegierter Jugendlicher gegen die Werte der etablierten Autorität. College-Studenten besetzten Verwaltungsgebäude und teilten in unbeheizten Wohngemeinschaftsräumen ihre Sexualpartner. Oberschüler verließen trotzig den Unterricht, um an Protestmärschen gegen den Krieg teilzunehmen, und es wurde ihnen nachgesehen. Es ist berauschend für einen Sechzehnjährigen, sich gegen staatliche Regeln durchzusetzen 262
und ungestraft davonzukommen. Für viele Jugendliche führten diese Erfahrungen dazu, dass es ihnen egal war, ob sie erst um zehn statt um neun Uhr zur Arbeit kamen und um vier statt um fünf Uhr gingen. Viele dieser Mittelschichts-Jugendlichen forderten die Autorität des Staates heraus, weil sie während einer schmalen Zeitspanne geboren worden waren, als Teile der amerikanischen Gesellschaft sich unsicher waren, welche Handlungsweisen legitim waren. Wenn die Geschichte in das Gewebe der gemeinschaftlich vertretenen Grundüberzeugungen ein Loch reißt, dann fliegt der Geist hindurch in einen Raum, der frei von altersbeladenen Mythen ist, und erfindet eine neue Konzeption des Selbst, der Moral und der Gesellschaft. Die Konsequenzen, die sich aus Geschwisterfolge, Identifikation und historischer Ära ergeben, welche jede das Verhalten und den Glauben tief greifend beeinflussen, haben kaum oder gar keine Bedeutung während der ersten beiden Lebensjahre. Doch jede kann eine scharfe Diskontinuität in der Entwicklung bewirken und die Verbindungen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter verwandeln. Aus diesem Grunde schrieb William Greenough, einer der führenden Neurowissenschaft ler: »Sich allein auf die drei ersten Jahre zu konzentrieren und die nachfolgenden Jahre herunterzuspielen erscheint weder im Lichte der humanen Verhaltensforschung noch der Neurowissenschaft gerechtfertigt.«90 Also ist es nützlich zu fragen, warum die Idee des Kindheits-Determinismus so erfolgreich der Kritik widersteht. Ich denke, der Hauptgrund für ihre Zähigkeit 263
liegt darin, dass sie eine Empfindung von Stimmigkeit erzeugt, die sich aus unseren moralischen Wertvorstellungen herleitet. Die Überzeugungskraft, die von Ideen in der Mathematik, Physik und in gewissem Maße auch in der Chemie ausgehen, hat mit der ästhetischen Natur des erklärenden Arguments zu tun. Eine Gruppe von Gleichungen, die einen Aspekt der Natur einfach, elegant und mit weitreichender Gültigkeit beschreibt, vermag in denjenigen, die Mathematik verstehen, ein subtiles Gefühl – ein »Erschauern« – zu erzeugen. Dirac beharrte darauf, dass die Schönheit einer Gleichung mehr für ihre Stimmigkeit spreche als ihre empirische Evidenz. Ideen ohne Schönheit, so glaubte er, seien wahrscheinlich falsch. Psychologie, Soziologie und Anthropologie sind weit davon entfernt, ein formales Wissen hervorzubringen, das die meisten zu der Aussage verleiten könnte: »Diese Idee ist schön.« Dennoch werden auch Sozialwissenschaft ler von Erklärungen berührt, die Gefühle erwecken, und sie neigen dazu, ihnen Glauben zu schenken. Doch gewöhnlich beruht diese emotionale Reaktion eher auf der Verbindung zu einer ethischen Prämisse als auf ihrer formalen Schönheit. Eine Mehrheit von Amerikanern und Europäern ist moralisch davon überzeugt, dass die Fürsorge der leiblichen Mutter für ihren Säugling besser ist als die jeder anderen erwachsenen Person. Das Bild einer Mutter, die ihr kleines Kind zur Kinderkrippe bringt, scheint für viele gegen ein Naturgesetz zu verstoßen. Wenn Wissenschaft ler daher sagen, dass es am besten ist, wenn Mütter für ihre eigenen Kinder sorgen, haben die mei264
sten das Empfinden, dass dies wahr ist. Wenn wir noch die Attraktivität hinzunehmen, die von den Annahmen ausgeht, dass Bindung (Verbundenheit) eine große Rolle spielt und physische Veränderungen im Hirn des Kleinkindes durch Erfahrungen ausgelöst werden, wird die Schlussfolgerung, dass die stimulierende Fürsorge der Mutter für ihr Kind dessen Entwicklung im Guten wie im Bösen entscheidend bedingt, beinahe unabweisbar. Diese Idee erzeugt ein so starkes Gefühl der Stimmigkeit, wie Kopernikus es empfand, als er über die Schönheit der kreisförmigen Planetenlaufbahnen nachdachte. Doch wenn man aus dem Bauch heraus über die Richtigkeit einer Idee urteilt, ist man nicht unbedingt der Wahrheit auf der Spur. Keplers Gleichungen, die eliptische und nicht kreisförmige Bahnen voraussetzten, kamen dem Naturplan näher. Die Gleichungen der Quanten-Elektrodynamik, die Einstein für hässlich erachtete, haben sich als richtig erwiesen – zumindest für hier und heute. Es wäre erfreulich, wenn mütterliche Fürsorge in den ersten beiden Lebensjahren die Zukunft des Kindes maßgeblich bestimmen könnte. Doch ich fürchte, dass diese emotional anziehende Hypothese ähnlich wie die schönen Kreisbahnen des Kopernikus sich zu sehr von den Fakten entfernt. Zum Zweiten wollen so viele Menschen lieber an einen Kindheits-Determinismus glauben, weil er erlaubt, von der starken Macht der sozialen Klassenzugehörigkeit abzusehen. Obwohl der soziale Hintergrund eines Kindes die verlässlichsten Voraussagen über seinen schulischen und akademischen Erfolg, seine berufliche Zukunft und 265
psychische Gesundheit zulässt, möchten die Amerikaner glauben, dass ihre Gesellschaft offen und egalitär ist, ohne rigide Klassenschranken. Die Macht der Klassen anzuerkennen bedeutet, diese ethische Grundüberzeugung infrage zu stellen. Drittens lässt die Doktrin vom Kindheits-Determinismus dem Zufall weniger Raum und Amerikaner finden diese Vorstellung angenehm. Und viertens ist der Determinismus materialistisch, denn er geht davon aus, dass die durch früheste Erfahrungen bedingten Veränderungen im Gehirn nicht mehr verschwinden. Und schließlich ist es nur sehr schwer nachzuvollziehen, wie ältere Kinder ihre Erfahrungen für sich interpretieren. Auch wenn alle Eltern in den ersten zwölf Lebensjahren ihrer Kinder deutliche Veränderungen im Verhalten feststellen und deshalb der Doktrin vom Kindheits-Determinismus kritisch gegenüberstehen müssten, behindern die genannten Faktoren diese Einsicht. Das gemeinsame Motiv, das die drei Kraftfelder der Geburtsfolge, der Identifikation mit ethnischen oder sozialen Gruppen und der historischen Ära miteinander verbindet, ist die Neigung, Diskrepanzen wahrzunehmen und zu interpretieren. Später Geborene können nicht umhin, Unterschiede in Kraft und Geschicklichkeit zwischen sich und ihren älteren Geschwistern festzustellen, noch können sie übersehen, wie unterschiedlich ihre Eltern auf jedes Kind in der Familie reagieren. Ebenso reflektieren Kinder, die einer spezifischen Klasse oder ethnischen Gruppe angehören, die Unterschiede zwischen sich und anderen und kommen oft zu dem Er266
gebnis, dass die Kategorie des anderen für sie ungeeignet ist. Adoleszente Jugendliche, die Krieg, wirtschaft licher Not und Revolutionswirren ausgesetzt sind, müssen die Unvereinbarkeit ihrer vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen zu verstehen versuchen. Und häufig müssen sie dabei zu dem Schluss kommen, einige oder alle der alten Grundüberzeugungen aufzugeben. Manchmal genügt ein einzelnes Ereignis, um im Jugendlichen eine dramatische Wendung in seiner Selbsteinschätzung oder der Einschätzung anderer auszulösen. In Arthur Millers Drama Tod eines Handlungsreisenden verändert sich Bills Persönlichkeit deutlich in dem Augenblick, als er seinen Vater, den er bewundert, bei einer Prostituierten entdeckt. Miller erinnert uns mit dieser Szene daran, dass gelegentlich Teile unserer Einschätzung der Vergangenheit in einem Nu ausgelöscht werden können. Hätte Darwins Onkel nicht die Fahrt von dreißig Meilen auf sich genommen, um Charles’ Vater davon zu überzeugen, dass er seinem Sohn die Reise auf der »Beagle« erlauben solle, wäre dem jungen Darwin das prägende Erlebnis seines Lebens entgangen. Diejenigen, die darauf beharren, dass manche der psychischen Strukturen, die in den ersten beiden Lebensjahren erworben werden, vor späteren Erfahrungen geschützt sind, hängen einer wahrhaft ungewöhnlichen Betrachtungsweise der Natur an, indem sie zu viel Gewicht auf eine kohärente, verbundene Geschichte legen. Für moderne Gesellschaften ist der Begriff der Kontinuität wichtig. In die biologische Gedankenwelt übersetzt heißt dieser Begriff, dass jede neue Tierspezies die 267
meisten Strukturen und Funktionen der Vorgängerart beibehält, aus der sie hervorgegangen ist; damit sind die Unterschiede zwischen den verwandten Spezies minimal. Die psychologische Bedeutung der Kontinuität ist, dass jede neue Entwicklungsstufe die meisten Strukturen und Dispositionen bewahrt, die auf einer vorhergehenden Stufe erworben wurden. Damit gewinnen Erklärungen, die gegenwärtige Erscheinungen auf eine erste Ursache zurückführen, eine große Anziehungskraft. Doch Biologen erkennen ebenso das Entstehen neuer Strukturen und Funktionen. Die kleinen Knochen im menschlichen Mittelohr, die das Hören ermöglichen, entwickelten sich aus einer Gruppe von Knochen, die zum ersten Mal vor Millionen von Jahren in sehr frühen Säugetieren als Scharnier zwischen Unterkiefer und Schädel auftauchten. Wirbelsäule, Lunge und innerkörperliche Befruchtung waren neue Ereignisse in der Evolution, so wie Schlussfolgern, Nachdenken, Schuld- und Eifersuchtsempfinden neue Entwicklungsschritte im Menschen darstellen. Diese Tatsachen fordern das Dogma einer kontinuistischen Philosophie heraus und vergrößern die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um dazwischen einen großen Bereich des Lichts zu offenbaren, wo Veränderungen stattfinden. Stellen Sie sich einen Wettbewerb vor, in dem ein erfahrener Psychologe die genaue Beschreibung von einhundert Kindern im Alter von zwei Jahren erhält. Die Beschreibung enthält die Erfahrungen, die die Kinder mit ihren Eltern gemacht haben, ihr Temperament, ihre sprachlichen Fähigkeiten, Beziehungsmuster und Verhal268
tensweisen anderen gegenüber, doch sonst nichts. Ein anderer Psychologe erhält Informationen über Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Ethnie und Geburtsfolge jedes Einzelnen, doch weder Auskunft über frühe Erfahrungen noch ihren Entwicklungsstand mit zwei Jahren. Beide Psychologen sollen Voraussagen treffen, wie die Profile bezüglich kognitiver Fähigkeiten, Persönlichkeit, Unsicherheiten, beruflicher Zufriedenheit und Ehestand bei den 25-Jährigen aussehen. Ich bin mir sicher, dass der zweite Psychologe sehr viel besser abschneiden wird als der Erste, weil die Informationen, über die er verfügt, deutlich weniger der Veränderung während der Kindheit unterliegen. Die Langzeitstudien von Kindern bestätigen diese Vermutung. Die soziale Klasse, zu der die Familie des Kindes gehört, gibt bessere Anhaltspunkte für die Berufswahl des Erwachsenen und seine Charakterzüge als das psychische Profil, das er im Alter von zwei Jahren hatte. Ich glaube, dass eine Voraussage erwachsener Stimmungslagen, Symptome, Persönlichkeitsmerkmale und Begabungen aufgrund des Profils am zweiten Geburtstag ebenso unmöglich ist wie die Vorhersage von Erdbeben. Geologen kommen immer mehr zu der Ansicht, dass es von so vielen Einzelheiten in der physischen Beschaffenheit großer Gebiete abhängt, ob eine spezifische Faltung in der Erdrinde sich zu einem großen Erdbeben auswächst, dass einzelne Erdbeben wahrscheinlich inhärent unvorhersagbar sind.91 Diese Tatsache besagt nicht, dass die Ereignisse in den ersten beiden Lebensjahren keine Wirkung entfal269
ten würden. Sie besagt nur, dass ein furchtsames, stilles, gehemmtes zweijähriges Kind, das einer unsicheren Umwelt ausgesetzt war, formbar bleibt, wenn sich günstige Veränderungen ergeben – ebenso wie ein fröhliches, bindungssicheres, aufgewecktes zweijähriges Kind nicht vor Furchtsamkeit gefeit ist, wenn sich seine Lebensumstände nachteilig entwickeln sollten. Sowohl Wissenschaft wie Autobiographien stimmen darin überein, dass die Wandlungsfähigkeit ebenso wesentlich zur menschlichen Entwicklung wie zur Entwicklung neuer Spezies gehört. Die Ereignisse in den ersten Lebensjahren bringen das Kleinkind auf einen bestimmten Weg, doch es ist ein Weg mit einer außerordentlich großen Zahl von Abzweigungen und Kreuzungen.
Kapitel Das Lustprinzip Wenn eine Person bewusst eine Handlung einer anderen vorzieht – am Wochenende zum Skifahren geht statt einen kranken Freund zu besuchen –, welches Ziel verfolgt sie dabei? Zwei deutlich verschiedene psychologische Aussagen wurden darüber getroffen. Einige Wissenschaft ler argumentierten, dass das Hauptziel ein Zustand bewussten Wohlbefindens ist, das aus Veränderungen in einer oder mehreren sinnlichen Modalitäten resultiert – manchmal eine Reizzunahme wie bei Geschmack und Berührung, manchmal eine Reizminderung wie beim Schmerz.1 Das zweite, qualitativ andersartige Ziel hat nicht so sehr im sinnlichen Empfinden als vielmehr im Denken seinen Ursprung. Der erwünschte Zustand ist eine konzeptuelle Übereinstimmung zwischen einer Idee, Standard genannt, und einer gewählten Handlung. Wenn diese Übereinstimmung erreicht wird, empfindet die betreffende Person augenblicklich ein Wohlgefühl, weil ihr Verhalten mit einem Standard übereinstimmt, den sie als gut kategorisiert hat. Seltsamerweise hat die englische Sprache kein präzises Wort für dieses Gefühl; virtue (Tugend, Tugendhaftigkeit oder das deutsche »mit sich selbst im Reinen sein« A. d. Ü.) kommt der Sache nah. Menschen essen Kuchen, um den Geschmack sinnlich zu genießen, doch manchmal lehnen sie ihn auch ab, weil sie mit 271
einem Standard übereinstimmen wollen, der zum Verzicht auf zu viele Kalorien nötigt.2 Die Art und Dauer des Zustands, den die Erregung der Sinne hervorruft, wird von niemandem mit dem Zustand verwechselt werden, den die Erkenntnis auslöst, dass eine bestimmte Handlung, ein bestimmter Gedanke oder ein bestimmtes Gefühl mit der Repräsentation dessen in Einklang steht, was eine Person für gut befunden hat. Darwin hat auf diesen entscheidenden Unterschied hingewiesen. Am 5. Mai 1839 schrieb er in eines seiner Tagebücher, dass Menschen das Gefühl haben, sie sollten bestimmten Verhaltensrichtlinien folgen. Der Mensch müsse lernen, dass »es in seinem Interesse ist, sie zu befolgen … Mit Interesse meine ich nicht irgendein kalkuliertes Vergnügen, sondern die Befriedigung des Bewusstseins.« Neun Monate zuvor hatte er für sich erkannt, dass Glück darin bestehe, Gutes zu tun und vollkommen zu sein.3 Die Unterscheidung zwischen sinnlichen Freuden und solchen, die aus der Übereinstimmung mit einem Standard resultieren, geht auf eine anhaltende philosophische Diskussion über die Grundlage von Glaubensüberzeugungen zurück. Wenn ein Glaube sich auf ein Ereignis in der Natur bezieht, so ist die bevorzugte Grundlage die wissenschaft liche Evidenz, die auf sinnlicher Erfahrung beruht. Doch die Grundlage jener Überzeugungen, die zugleich ethische Standards sind, ist oft eine emotional gefärbte Intuition, die sich nicht leicht auf sinnliche Erfahrung zurückführen lässt. Ökonomen ignorieren die Unterscheidung zwischen der Lust der Sinne und der Lust der Tugend, weil sie 272
sich der Quantifizierung entzieht. Ohne einen tieferen Grund dafür anzugeben, erklären sie einfach, dass alle ökonomischen Entscheidungen auf dem Wunsch beruhen, Befriedigung zu maximieren. Sie überlassen es der Allgemeinheit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit »Befriedigung« gemeint sei. Doch die evolutionäre und persönliche Entwicklung, die Anreize, Gehirnprofile und die psychischen Zustände, die sinnliche Befriedigung im Vergleich zum Erreichen von Tugendhaftigkeit definieren, sind so verschieden, dass es ein schwerwiegender konzeptioneller Irrtum ist zu behaupten, dass Menschen von einem einheitlichen Wunsch getrieben werden, ihre Lust zu maximieren. Kein einzelner biologischer Status definiert Lust, weil es sich dabei letztlich um ein Urteil handelt. Laboruntersuchungen bestätigen, dass die Lust selbst bei Tieren eine vieldeutige Angelegenheit ist. Forschungen über die so genannten Lustzentren im Hirn, die zuerst von James Olds und Peter Milner entdeckt wurden, gehen davon aus, dass das Hirn der Säugetiere Gruppen von Neuronen enthält, die, wenn sie erregt werden, einen Zustand der sinnlichen Lust erzeugen. Ratten drücken fortwährend auf eine Taste, wenn eine elektrische Stimulierung des mittleren VorderhirnFascilus, einem der Lustzentren im Hirn, erfolgt. Doch überraschenderweise ignorieren sie die Taste, wenn sie nach nur einer Stunde Abwesenheit in den Versuchsraum zurückgebracht werden. Wenn die Stimulierung so reich an sinnlicher Lust war, würde man annehmen wollen, dass die Ratten sofort zu der Taste laufen und sie mit Inbrunst zu drücken beginnen. Neuere Untersu273
chungen legen den Schluss nahe, dass die elektrische Stimulierung lediglich die Aufmerksamkeit der Ratte auf die Taste lenkt und sie besonders interessant erscheinen lässt, statt winzige Stöße sinnlicher Lust zu erzeugen. Dies ist vielleicht der Grund, warum Charles Gallistel im Verein mit den griechischen Kynikern meint, dass »Lust keine Erfahrung für sich allein ist«4. Der Philosoph Alasdair Maclntyre erinnert uns: »Wenn jemand uns im Geiste von Bentham und Mill vorschlägt, wir sollen unsere Entscheidungen danach ausrichten, ob sie uns in der Zukunft Lust und Glück bringen, lautet die angemessene Antwort darauf: »Aber an welche Lust, an welches Glück soll ich mich dabei halten?« Denn es gibt zu viele verschiedene Arten lustvoller Betätigung, zu viele verschiedene Wege, wie Glück erreicht werden kann … Verschiedene Lust- und Glückszustände sind in hohem Maß inkommensurabel: Es gibt keine Maßeinheiten der Qualität öder Quantität, mit denen man sie messen könnte. Folglich sagt eine Berufung auf Lustkriterien nichts darüber aus, ob ich trinken oder schwimmen soll, und eine Berufung auf Glückskriterien hilft mir nicht zu entscheiden, ob ich das Leben eines Mönchs oder das eines Soldaten führen soll.«5 Die Behauptung, das menschliche Verhalten diene oft der Verstärkung von Gefühlen, mit sich im Einklang zu stehen, wird von der empirischen Beobachtung gestützt, dass Kinder und Erwachsene einen Großteil ihrer Zeit damit verbingen, ihre Tüchtigkeit unter Beweis zu stellen. Ich habe meine fünfjährige Enkelin dabei beobachtet, wie sie aus einem Wasserhahn außerhalb des Hauses 274
einen Eimer füllte, mit dem Eimer eine Gießkanne füllte und dann das Gras damit goss. Nachdem sie diese mühsame Prozedur fünfmal sorgfältig wiederholt hatte, ohne sich oder das Haus nass zu machen, wich der Ernst in ihrem Gesicht einem breiten Lächeln, und sie rief: »Ist das nicht toll!« Freud hätte diesem Moment des Stolzes, den meine Enkelin erlebte, keinen unabhängigen Status zugebilligt, sondern geglaubt, dass sie lächelte, weil sie ihre unterdrückten libidinösen Instinkte sublimierte. Kinder bauen Sandburgen und Erwachsene klettern auf schroffe Berge, weil es ebenso zur biologisch angelegten Disposition gehört, Handlungen auszuführen, die sich an einer Idee der Vollkommenheit orientieren, wie süße Geschmackserlebnisse zu suchen und körperlichen Schmerz zu vermeiden. Nachdem wir uns gegen akute oder mögliche Gefahren gewappnet haben, erhält das Streben nach Tugendhaftigkeit an den meisten Tagen den Vorrang gegenüber dem Streben nach sinnlicher Lust. Das Erstreben und mögliche Erreichen von Macht, Status, Wohlstand, erfülltem Liebesleben und zehn Jahre altem Cognac, die in der heutigen westlichen Gesellschaft mit sinnlicher Lust oder sinnlichem Vergnügen identifiziert werden, können sehr wohl Strategien sein, um die eigene Tugend zu bestätigen. In Gesellschaften, in denen ein eher asketisches Lebensmodell gepriesen wird wie im puritanischen Neuengland, verbergen die Menschen ihren Wohlstand. In den USA von heute, wo Wohlstand ein unbestrittenes Zeichen für eine Tugend ist, fühlt man sich verpflichtet, ihn zur Schau zu stellen. Winterferien in der Karibik folgen ebenso oft dem Wunsch, 275
etwas zu tun, »weil es angemessen ist«, wie dem Motiv, gefährlichen Schneestürmen auszuweichen. »Ich mache nur, was ›man‹ tut« ist häufig die leise Stimme hinter der lauteren Erklärung: »Ich tue, was mir Spaß macht.« Was wie ein Streben nach sinnlicher Lust aussieht, verbirgt manchmal ein Streben nach Stimmigkeit, ein Bemühen, »korrekt« zu handeln. Gewiss wird die Maxime »Lebe für den Augenblick« als moralischer Imperativ von denen angesehen, die nicht recht wissen, was sie nach dem Frühstück tun sollen. Und der Menschenandrang, der Lärm, die von keinem Strauch und Baum gemilderte Hitze und Dürre von Las Vegas strahlen an und für sich kein sinnliches Glücksversprechen aus. Die Anziehungskraft dieser Stadt muss daher teilweise auf der ethischen Überzeugung beruhen, dass man neue Erfahrungen sammeln sollte. Dieser Imperativ, der ein integraler Bestandteil der amerikanischen Lebensphilosophie ist, lässt den Besuch in der »Stadt der Sünde«, wie sie einst genannt wurde, als ethisch motivierten Akt erscheinen. Die Verteidiger des Kapitalismus im 17. und 18. Jahrhundert behaupteten, dass eine leidenschaftliche Hingabe an das Geldverdienen nicht nur Aggressivität, Fresslust und Hurerei ersetzen, sondern ebenso die despotischen Launen der Herrscher zähmen und Zivilität in die Gesellschaft bringen würde.6 Hören wir, was John D. Rockefeiler in einem Interview 1905 sagte: »Ich glaube, die Fähigkeit, viel Geld zu verdienen, ist eine Gabe Gottes … Es ist meine Pflicht, Geld zu verdienen.« Reich zu werden war ein moralisches Unterfangen. Doch das wachsende Elend und die zunehmende Gesetzlosigkeit unter 276
den landflüchtigen Stadtbewohnern, wie sie der zügellose Kapitalismus mit sich brachte, veranlassten viele dazu, den ethischen Heiligenschein, den dieses Ziel trug, zu überdenken. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben gesetzliche Beschränkungen gegenüber skrupellosen Kapitalisten – bei gleichzeitigem Mangel an anderen attraktiven Tugenden, die sich hätten anpreisen lassen – der Akkumulation von Reichtum den tugendhaften Anschein zurückerstattet. Der Versuch unserer Regierung, kleine Gewerbe in die Ghettos zu bringen, um anhand von Arbeitsmöglichkeiten für Sozialhilfeempfänger die Kriminalitätsrate zu senken, ist ein modernes Beispiel für Adam Smiths Überzeugung, dass Arbeit aus Menschen bessere Bürger macht. Doch diese Strategie kann nur funktionieren, wenn die Armen selbst davon überzeugt sind, dass sie durch Arbeit mehr im Reinen mit sich sind. Smith wäre verwundert von der schamlosen Zurschaustellung der Armut Obdachloser, die vor Banken die eintretenden Kunden anbetteln. Er war sich sicher, dass mit einer solchen Demonstration des Elends eine tiefe Demütigung verbunden sein müsste.7 Montesquieu und Smith hatten Recht, was die Basis des aufkommenden Kapitalismus anbetrifft, doch nicht, weil der Wunsch nach Geld Faulheit, Fresslust und Raubgier ersetzte. Sondern vielmehr, weil das Erwerben von Wohlstand moralische Autorität gewonnen hatte. Ein Händler, der seine Waren so niedrig anbietet, dass er kaum Gewinn hat, wird sich unbehaglich fühlen, weil er sich nicht so verhält, wie er sich verhalten sollte. Nur wenige 277
Lebensziele, wenn überhaupt welche, entziehen sich einer moralischen Wertung. Von Zynismus geprägte Artikel im New Yorker, die besagen, dass jeder, der Vertrauen in die Ehrlichkeit von Politikern setzt, ein Dummkopf ist, erklären damit zugleich, dass der skeptische Umgang mit öffentlichen Reden eine moralisch schätzenswerte Haltung sei. Obwohl die jeweiligen moralischen Standards stets an Zeit und Ort gebunden bleiben, ist der Wunsch, an ein ethisch wertvolles Selbst zu glauben, ebenso universell wie die Fähigkeit, Sprache zu verstehen. Die Menschen sind die einzige Spezies, die symbolische Bewertungen wie gut und böse an Handlungen, Gedanken, Gefühlen und Charaktereigenschaften vornimmt und kontinuierlich versucht, sich für Handlungen zu entscheiden, die es leichter machen, das Selbst als gut anzusehen. Sowohl Darwin wie Linné, der große Taxonom, waren sich dieser Wahrheit bewusst. Darwin schrieb: »Ich unterschreibe ganz und gar das Urteil jener, die behaupten, dass von allen Unterschieden, die es zwischen dem Menschen und den niedrigeren Tieren gibt, das moralische Empfinden oder Bewusstsein mit Abstand der wichtigste ist.« Linné bemühte sich zunächst, die Menschen zu klassifizieren, doch er erkannte schließlich, dass das moralische Empfinden sie zu etwas Einzigartigem machte: »Ich weiß wohl, welch enormer Unterschied zwischen einem Menschen und einer Bestia besteht, wenn ich sie aus dem Blickwinkel der Moral betrachte.«8 Die alte Unterscheidung zwischen Körper und Seele erkennt diese spezifisch menschliche Eigenschaft an. Leider hat der konzeptio278
nelle Fehler, den Ursprung der Seele als qualitativ verschieden von dem des Körpers zu behandeln, ein umfassenderes Verständnis der menschlichen Natur blockiert. Ein moralischer Antrieb und die damit zusammenhängenden Emotionen sind so offenbar ein Produkt der biologischen Evolution wie Verdauen und Atmen. Manche Anthropologen definieren Kultur als eine Gruppe, die moralische Werte teilt. Die Tatsache, dass jede Gesellschaft über einen moralischen Code verfügt, zeigt, dass eine Beschäftigung mit gut und böse ein biologisch angelegtes Charakteristikum ist. Der spezifische Inhalt dieses Codes wird von historischen, religiösen und ökonomischen Faktoren beeinflusst. Zwar verbieten manche Kulturen das Essen von Schweinen und andere das Essen von Kühen, doch alle Kulturen haben Tabus, die, wenn sie verletzt werden, den Täter als weniger tugendhaft erscheinen lassen. Eine kinderlose Frau in der Volksrepublik China, die ihren Mann verloren hat, erwirbt sich Ansehen, wenn sie Selbstmord begeht, um damit ihre Treue zu demonstrieren.9 Die beiden Sätze, die die alten Griechen auf das Orakel von Delphi schrieben – Erkenne dich selbst und Nichts im Übermaß – waren moralische Gebote, keine mathematischen Lehrsätze. Die alten Griechen schätzten die rationale Kontrolle von natürlichen Impulsen, insbesondere der erotischen Lust. Ein Junge, der sich von seinem Tutor umarmen ließ oder Sexualverkehr zwischen seinen Schenkeln zuließ, verletzte kein moralisches Gebot. Doch wenn der gleiche Junge durch die Umarmung erregt wurde oder dem älteren Mann eine anale Penetration erlaubte, hätte er das Ethos 279
der Gemeinschaft verletzt und Scham empfunden.10 Die Erfahrungen, die der Anthropologe Richard Shweder in einer indischen Tempelstadt sammelte, zeigen die Macht kultureller Tabus selbst bei Erwachsenen, die nicht im gleichen Glauben aufgewachsen sind. Shweder und seine amerikanische Ehefrau hatten ein paar Mitglieder der Gemeinschaft zum Essen eingeladen. Da die drei Gäste einen verschiedenen gesellschaftlichen Status bekleideten, war es wichtig, Speisen anzubieten, die jeder ungestraft essen konnte. Eine zulässige Speise war eine Schüssel mit Reis und Gemüse, die als Gabe an einen der Götter in den Tempel gestellt worden war. Der Anthropologe ging in den Tempel und bat den Brahmanen um eine Speiseschüssel, von der ein Gott seinen Geist bereits abgezogen hatte. Die Einladung wurde ein Erfolg, aber es war eine beträchtliche Menge Reis übrig, als die Gäste aufbrachen. Shweders Frau schnitt noch ein bisschen Hühnerfleisch in die Schüssel und brachte sie auf den Tisch. Shweder empfand plötzlich Widerwillen, da das Hühnerfleisch ein lokales Tabu verletzte. Er konnte es nicht essen. Shweder und seine Kollegen haben die Ansicht vertreten, dass die meisten moralischen Standards einer von drei großen kategorialen Gruppen zugeordnet werden können. Die erste, in Nordamerika und Europa prävalente Gruppe hält die Autonomie des Individuums für unantastbar. Niemand darf in die Freiheitsrechte eines anderen eingreifen. Eine zweite Gruppe hält das soziale Gewebe, in dem ein Mensch lebt, für unantastbar und nötigt ihn zu Loyalität und Fürsorge für Verwandte, Freunde und die Gemeinschaft. Die dritte Kategorie 280
verbietet die Verletzung der natürlichen oder göttlichen Ordnung; die Schändung eines menschlichen Körpers und der Inzest sind offensichtliche Beispiele.11 Die spezifische Moral einer Gemeinschaft wechselt im Lauf der Zeit häufig. Wenige heutige Väter in den USA würden der Erziehungspraxis aus dem 17. Jahrhundert folgen und ihre neunjährigen Töchter dazu drängen, demütig, bescheiden, still und sparsam zu sein.12 Thomas Hobbes, der meinte, dass Moral zur Zivilität beitragen könne, erklärte im 17. Jahrhundert, dass die Bürger ihre Autonomie teilweise an ihren Souverän abtreten sollten. John Rawls schrieb über dreihundert Jahre später, dass die gemeinschaft liche Sorge für ökonomisch Benachteiligte in den Vordergrund treten sollte. Diese letztere Ansicht ist frei von der leibnizschen elitären Losung, nur die Weisen wüssten, für wen zu sorgen sei. Die meisten Moralisten, die am Ende des 20. Jahrhunderts schreiben, fordern nur Toleranz, die als Haltung leichter einzunehmen ist, da sie weder Empathie noch Mitleid erfordert.13 Es geht mir hier nicht um bestimmte moralische Maximen. Ich habe nicht vor, bestimmte Intentionen, Gefühle oder Handlungen als besonders wertvoll anzupreisen, auch wenn die menschliche Biologie es leicht macht, eine kleine Anzahl von Standards zu erwerben. Vielmehr geht es mir darum, die Psychologie des menschlichen Triebes und des universellen Bedürfnisses zu verstehen, das Selbst als gut anzusehen und infolgedessen so zu handeln und zu denken, dass diese Wertung bestärkt statt unterminiert wird. Ich möchte der Ansicht auf den Grund gehen, dass Moral immer schon ein vorrangiges 281
Beschäftigungsfeld der Menschen war, und mich gleichzeitig solcher Urteile wie »gut, besser, am besten« enthalten. Ich neige sogar der These zu, dass das kontinuierliche Streben, seine eigene Tugend zu beweisen, ähnlich wie Darwins natürliche Auslese zu den wichtigsten Bedingungen gehört, die den Charakter jedes Einzelnen über sein Leben hin formen. Die Entwicklung des Homo sapiens war gekennzeichnet durch das Entstehen der symbolischen Kategorien von gut und böse – deren Verständnis zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag einsetzt –, die bereits von Kindern auf die eigenen Handlungen, Gedanken und Gefühle angewandt werden. Jede Information, die sich dahingehend interpretieren lässt, ob ein Mensch gut oder schlecht ist, hat für diesen einen hohen emotionalen Stellenwert. Die Tat als solche ist weit weniger wichtig als ihre symbolische Bewertung. Töten aus Gründen der Selbstverteidigung ist akzeptabel; die gleiche Tat von einem Räuber in der Nacht begangen ist es nicht. Anders als jedes andere Tier beurteilen Menschen fortwährend die moralischen Implikationen ihrer Wünsche, Gefühle und Verhaltensweisen. Erfahrungen, die sich einer solchen moralischen Prüfung entziehen, sind schwer vorstellbar. Der Historiker Hayden White bemerkt, dass die Rekonstruktion irgendeines geschichtlichen Vorgangs ohne moralische Bewertung nahezu unmöglich ist.14 Romane, Kritiken, Theaterstücke, Autobiographien, historische Abhandlungen und Essays in sozialwissenschaft lichen Zeitschriften setzen immer stillschweigend voraus, dass be282
stimmte Zustände gut und andere schlecht sind. Wer glaubt, dass aller Moral sinnliche Lust zugrunde liegt, argumentiert gewöhnlich wie die Behavioristen vor fünfzig Jahren, dass das Kind, das sich erwachsenen Forderungen fügt, eine Abnahme der Furcht und damit eine Zunahme an sinnlichem Wohlbefinden erlebt. Mit der Zeit werde die Anpassung an die Familie und an Standards der Gemeinschaft dann zur Gewohnheit. Dieses Argument ist zutiefst unsinnig. Viele weiße Kinder, die nach 1950 in den amerikanischen Südstaaten auf dem Land groß wurden, hatten liebevolle Eltern, die rassistische Ansichten vertraten. In den sechziger und siebziger Jahren, als sie heranwuchsen, ließ sich die Mehrheit auf das unangenehme Gefühl ein, das einer Kritik an den Eltern meistens folgt, indem sie deren Vorurteile ablehnten und eine tolerantere Haltung annahmen. Diese Adoleszenten waren bei der Definition, welche Haltungen ein Gefühl dafür, »mit sich im Reinen zu sein« mit sich brachten, offen für umfassendere kulturelle Standards. Aus dem gleichen Grund gehen junge Erwachsene aus wohlhabenden Familien, die eine lukrative Karriere als Geschäftsleute, Rechtsanwälte oder Mediziner in komfortablen Großstadtbüros machen könnten, als Freiwillige in arme Dörfer in Südamerika, Indien, Indonesien oder Afrika. Die traditionelle These, dass moralische Standards letzten Endes in sinnlicher Lust oder in der Vermeidung von Schmerz wurzeln, erklärt nicht die universelle Tatsache, warum Menschen aggressiv werden, wenn sie sehen, dass andere Standards verletzen, an deren Richtig283
keit sie glauben. Warum erfüllt es uns mit Wut, wenn wir sehen, wie ein Fremder einen Touristen belügt oder sich in einer Schlange vordrängt, selbst wenn wir davon nicht betroffen sind? Eine Erklärung ist, dass solche asozialen Handlungen eines Fremden gegenüber einem anderen die umstehenden Zuschauer nötigt, die Richtigkeit ihrer eigenen moralischen Überzeugungen zu überprüfen. Weil diese Überzeugungen an jedem Tag bei Entscheidungen und Verhaltensreaktionen eine wesentliche Rolle spielen, bedroht ihre Verletzung selbst durch einen Fremden das rationale Gerüst des ethischen Codes des Zuschauers. Nicht einmal der intelligenteste Affe kann dahingehend konditioniert werden, dass er wütend wird, wenn er sieht, wie ein Tier einem anderen das Futter raubt. Überraschung oder Furcht vielleicht, aber Wut ist unmöglich. Die populären Schriften von Albert Camus und Jean Paul Sartre fangen die Mischung aus Angst und Zorn ein, die die Europäer nach dem Krieg empfanden, als sie erkannten, dass das Leben absurd sei, wenn es keine Basis für moralische Wertungen gibt. Obgleich Evolutionsbiologen darauf beharren, dass das Auftreten des Menschen sich einem verrückten Wurf der genetischen Würfel verdankt, lehnt unsere Spezies es ab, so zu handeln, als ob Gut und Böse eine willkürliche Wahl ohne jede natürliche Signifikanz darstellten.
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Die kontinuistische Prämisse Während viele Philosophen die Macht moralischer Beweggründe anerkannt und viele Dramatiker und Romanciers sie zum zentralen Thema ihrer größten Werke gemacht haben, sind Sozialwissenschaft ler und Biologen sehr viel zurückhaltender, ihnen einen nennenswerten Einfluss zuzubilligen. Ethische Wahrheiten scheinen, wie der Philosoph Robert Nozick feststellt, in der heutigen naturwissenschaft lichen Weltanschauung keinen Platz zu haben.15 Der allgegenwärtige Einfluss der Evolutionstheorie ist einer der Gründe, warum moralische Motive und Empfindungen in der Biologie und in den Sozialwissenschaften relativ geringe Beachtung finden. Die meisten Naturwissenschaft ler, auch wenn sie ihn nicht gelesen haben, würden mit T. H. Huxley darin übereinstimmen, dass es keine klare Trennungslinie zwischen Tieren und Menschen gibt, und daher wollen sie dem Menschen keine Eigenschaften zuschreiben, die ihn biologisch andersartig erscheinen lassen.16 Als im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Darwins Ideen immer mehr Anhänger fanden, begannen die Wissenschaft ler Tiere zu studieren, um damit die condition humaine zu erhellen in der Annahme, dass sich für jede psychische Funktion des Menschen irgendeine Kontinuität zumindest einer Tierspezies herstellen ließe. In Jenseits des Lustprinzips wies Freud zum Beispiel mit Nachdruck darauf hin, dass das menschliche Streben, eine Begabung zu vervollkommnen, keinen Vorgang beinhalte, 285
der nicht auch bei Tieren vorhanden ist. Aber diese Aussage trifft noch nicht einmal auf die menschliche Sexualität zu. Denn während ein Jahr im Leben eines Schimpansen sich aus den natürlichen Zyklen von Licht und Dunkel, Regen und Sonne, Essen und. Schlaf, Kämpfen und Körperpflege, Kopulieren und Aufzucht der Jungen zusammensetzt, besteht das Jahr eines Menschen aus Handlungen, welche die Familieneinheit erhalten, Begabungen fördern und zum Erreichen eines bestimmten Status dienen sollen, sowie aus Entscheidungen, welche Gedanken, Handlungen und Menschen gut oder schlecht sind. Das Herstellen moralischer Wertbezüge und die Einteilung von Erfahrungen in symbolische Kategorien gehören zu hervorstechenden Merkmalen der menschlichen Existenz. Ich vermute, dass der Erfahrungshorizont von Bergschafen und Elefanten trotz ihrer unterschiedlichen ökologischen Lebensbedingungen einander ähnlicher ist als der von Menschen und Primaten. Darwin schrieb Die Abstammung des Menschen zehn Jahre nach der Entstehung der Arten, zum Teil deswegen, weil er erklären wollte, wie sich die menschliche Moralität, die seiner Ansicht nach kein sonderlich angepasstes Verhalten des Individuums darstellte, aus dem Tierverhalten heraus entwickelt haben könnte. Darwin hatte den Verdacht, dass das Gewissen ein Derivat des sozialen Verhaltens von Säugetieren war, auch wenn er dreißig Jahre vorher in sein Tagebuch geschrieben hatte, dass der Ursprung der Sozialinstinkte bei Mensch und Tier gesondert betrachtet werden müsste. Die Evolution der Hominiden fügte diesem Sozialinstinkt noch 286
die Fähigkeit hinzu, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken und folglich einen Konflikt zu empfinden zwischen dem Befolgen momentaner Gelüste und der Antizipation der Konsequenzen dieser Handlungen für andere wie für sich selbst. Wenn Menschen verschiedene Verhaltensmöglichkeiten zur Wahl stehen, ist es nützlich, eine Regel zu haben, nach der man sich entscheiden kann. Moralische Standards lösen das Problem von Wahlmöglichkeiten, indem sie eine Handlung als moralisch besser bewerten als eine andere. Darwin spiegelte die Vorurteile seiner Zeit, und statt Schuld und Scham als wesentlich für das menschliche Gewissen zu erklären, nannte er Sprache und Vernunft als die entscheidenden Charakteristika der Moral. Ein ähnliches Vorurteil verleitete Thomas von Aquin zu der Behauptung, dass die Vernunft die Grundlage der Moral sei, und ließ Kant Gefühle als Basis der Rechtfertigung eigener Standards verwerfen. Kant glaubte nicht, dass ein so unvorhersagbarer Prozess die Basis für sozial angemessenes Verhalten sein könne. Menschen sollten die Wahrheit sagen, so argumentierte Kant, unabhängig davon, wie sie sich fühlten, denn das war ihre Pflicht. Ich glaube hingegen mit Huxley, dass Gefühle für die Moral eine größere Rolle spielen als Sprache und Vernunft. Jede Tierfamilie erbt eine spezifische Konstellation von Fähigkeiten, die ihr Vorteile in ihrer Nische sichert. Die meisten Vögel fliegen anmutig und schnell, während sie sich am Boden nur ungeschickt bewegen. Menschen haben Arme und Hände geerbt, mit denen sich sehr gut Speere herstellen und werfen lassen, um große Tiere zu 287
töten, die aber weniger taugen, um sie zu erwürgen. Menschen sind wie Schimpansen soziale Tiere, die Gesichtsausdruck und Sprache zum Zweck eines speziesdefinierenden Motivs der Zusammengehörigkeit einsetzen. Es liegt jedoch keineswegs auf der Hand, warum Vernunft der Erhaltung sozialer Bindungen wirkungsvoller dienen sollte als Scham oder Schuld. Ich vermute, dass die Entscheidung vieler europäischer Philosophen, die Moral auf Sprache und Vernunft statt auf Gefühle zu gründen, damit zu tun hat, dass es relativ einfach ist, die Richtigkeit, Kohärenz und logische Stimmigkeit eines Vernunftarguments zu überprüfen. Doch weil Gefühle sich diesen Urteilen entziehen, haben die meisten westlichen Philosophen versucht, uns davon zu überzeugen, dass unsere Entscheidungen von übergeordneten rationalen Prozessen bestimmt werden. Diesen Widerstand gegen Gefühle treffen wir in vielen anderen kulturellen Traditionen nicht an und auch John Dewey teilte ihn nicht. Er erkannte vielmehr das Wesen der menschlichen Erfahrung darin, dass Assoziationen und Erinnerungen durch ein »Sieb der Phantasie gefiltert werden, um den Forderungen der Emotionen zu genügen«17. Am Ende des Films The Return of Martin Guerre wird ein Hochstapler, der sich als heimkehrender Ehemann einer Frau ausgibt, die er vor Jahren verlassen hatte, für schuldig befunden und gehängt. Der Priester, der in dem Prozess eine Schlüsselrolle spielt, fragt die Frau, warum sie diesen Mann in ihr Bett gelassen habe, wenn sie doch gewusst habe, dass er nicht ihr Mann war. Die Frau antwortet: »Wir waren gut zusammen.« 288
Obwohl Freud einer kontinuistischen Ansicht aufgeschlossen gegenüberstand und über die Wichtigkeit des Geruchs sowohl für die tierische wie die menschliche Sexualität schrieb, sind seine wichtigsten Konzepte nur auf unsere Spezies anwendbar. Die Ideen vom Ich, Überich, von Abwehr, Verdrängung und oral-anal-phallischer Fixierung haben keine offenbaren Entsprechungen bei den Affen. Ebenso sind die Gedankenmodelle und Verfahrensweisen, die die meisten derzeitigen Forschungen zur menschlichen Persönlichkeit und Entwicklung definieren, nur in Anwendung auf den Menschen sinnvoll. Zwar leisten viele Wissenschaft ler Lippenbekenntnisse zur kontinuistischen Prämisse, doch ihre tägliche Arbeit wird von dieser Idee nicht eingeengt. Die meisten Psychologen gehen davon aus, dass das menschliche Verhalten ein evolutionäres Derivat von Neigungen ist, die man bei Affen beobachten kann, während sie über Eigenschaften schreiben, die sich bei keinem Tier wiederfinden, wie deduktives Schließen, Planen über einen längeren Zeitraum hinweg, Lernstörungen, Extroversion, Obsessionen, Schizophrenie und Anorexie. Dieser Stand der Dinge erinnert an Cranlys Rat für Stephen Daedalus in Joyces Jugendbildnis des Dichters. Cranly empfiehlt Stephen, er solle, auch wenn er den Glauben an die symbolische Bedeutung der Ostermesse verloren habe, trotzdem zur Kirche gehen, um seiner Mutter eine Freude zu machen. Die Erfindung wirkungsvoller Methoden, um psychische Derivate von Genen und die Hirnphysiologie bei Tieren zu studieren, hat Biologen ermutigt, auf der Gültigkeit der kontinuistischen Prämisse, wie sie in der dar289
winschen Theorie angelegt ist, zu beharren.18 Die strengen positivistischen Standards in den biologischen Disziplinen erfordern ein Maß an experimenteller Kontrolle, das sich nur mit Tieren erreichen lässt. Folglich haben Untersuchungen von Furcht, Wahrnehmung, Gedächtnis und Konditionierung, die alle an Tieren studiert werden können, ein Übergewicht gegenüber der Erforschung von moralischen Beweggründen und Gefühlen, für die es keine offenkundige Entsprechung bei Tieren gibt. Keine Maus kann als Modell für menschlichen Stolz, menschliche Scham oder Schuld dienen. Somit befinden sich Wissenschaft ler, die das Verhalten studieren, in einem Dilemma. Auf der einen Seite ist der wissenschaft liche Erfolg wahrscheinlich größer, wenn aussagekräftige experimentelle Methoden verwendet werden. Auf der anderen Seite tragen manche der Phänomene, die mit diesen präzisen Methoden herausgefunden werden, wenig oder nichts zum Verständnis der menschlichen ethischen Wahl bei. Eine Problematik, die sowohl im Zentrum einer Debatte stand, die unter Verhaltensforschern im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geführt wurde, als auch einen Leitartikel von 1992 in Science prägt, wo die Verwendung von InzuchtRattenstämmen zur Bestimmung der karzinogenen Wirkung gewisser Nahrungsmittel für den Menschen infrage gestellt wurde.19 Worte wie Kooperation, Kommunikation, Diebstahl, Mord und Selbstsucht wurden vor Tausenden von Jahren erfunden, um menschliches Verhalten zu beschreiben, und Sinn und Bedeutung dieser Worte beziehen sich 290
allein auf den Menschen. Die Tatsache, dass zwei Affen sich verhalten, als ob sie kooperieren würden, einfach weil beide Tiere von der Interaktion profitieren, ist von wissenschaftlichem Interesse und bedarf der Erforschung und Erklärung. Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass dieses Verhalten die Definitionsmerkmale menschlicher Kooperation aufweist, nämlich die gleichzeitige Bewusstheit beider, den anderen zu brauchen, begleitet von dem Vertrauen in seine Fähigkeit und dem Pflichtgefühl zu helfen. Eine Biene »kooperiert« nicht mit einer Pflanze, wenn sie deren Pollenstaub zu einer anderen Blume trägt. Eine einzelne objektive Ähnlichkeit zwischen einem kooperativen, aggressiven oder egoistischen Verhalten bei Menschen und einer Aktion einer anderen Tierart ist sehr leicht herauszufinden. Doch wenn die psychologischen Fundamente des tierischen und menschlichen Verhaltens verschieden sind, sollten wir gründlich nachdenken, bevor wir dafür das gleich Wort benützen. Evolutionsbiologen bedienen sich freizügig der Begriffe, die zur Beschreibung menschlichen Verhaltens dienen, und wenden sie auf Tiere an. Ich habe den Verdacht, dass es sie ärgern würde, wenn Forscher des menschlichen Verhaltens ein Rhesusweibchen, das in einer Stunde mit vier Männchen kopuliert hat, untreu nennen würden. Wenn ein Mann ein Messer auf seine Frau wirft, nennen wir diese Handlung aggressiv. Aber wir sehen dies anders, wenn ein sechsmonatiges Kind denselben Gegenstand auf seine Mutter wirft, weil wir wissen, dass im letzteren Fall keine Verletzungsabsicht besteht. Die große Mehrheit der Tierspezies – vielleicht alle – hat keine be291
wussten Intentionen. Aus diesem Grund ist es irreführend und eine gedankliche Regression, tierisches Verhalten mit Begriffen zu beschreiben, deren Hauptmerkmal Intentionalität ist. Andernfalls wäre unser Rhesusweibchen in der Tat ein Flittchen. Diese Problematik ist nur ein weiteres Beispiel für die Spannung, die in allen Wissenschaften besteht zwischen dem Nachdruck, der auf qualitative Unterschiede zwischen Phänomenen gelegt wird, und der Betonung von gemeinsamen Merkmalen, die Kontinuität implizieren. Manche Forscher sind »Teiler«, die die Analyse bevorzugen; andere sind »Häufler«, die für Einheit votieren. Aristoteles, den die Einzigartigkeit, die er in der Welt des Lebens sah, faszinierte, war so ein »Teiler«; Galileo, der erfolgreich nach universellen Gesetzen in der physischen Welt suchte, war ein »Häufler«. Die Begründer der Immunologie beteiligten sich ebenfalls an dieser Kontroverse.20 Robert Koch, der Vater der Bakteriologie, war beeindruckt von den strukturellen Unterschieden, die er in verschiedenen Bakterienstämmen sah, welche unterschiedlichste Krankheiten verursachten. Karl Landsteiner hingegen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeitete, favorisierte Kontinuität unter den Stämmen, da er die Größe der Antikörper-Reaktionen quantifizierte, die von verschiedenen bakteriellen Gruppen ausging. Ratten, Katzen, Affen und Menschen teilen viele wichtige Strukturen und Funktionen, die eine beachtliche Kontinuität in der Evolution bezeugen, doch diese Tatsache heißt nicht, dass einige Spezies nicht eine oder mehrere qualitativ andersartige Funktionen besit292
zen können, die keine offenbaren Merkmale mit ihren phylogenetischen Verwandten teilen. Die heutige Suche nach frühen Vorformen eines Gewissens bei Primaten könnte aus den Diskussionen lernen, die im 19. Jahrhundert über die Entstehung von Wirbeltieren geführt wurden. Einige Naturforscher erkannten Ähnlichkeiten zwischen Spinnen und dem ersten Tier mit einem Rückgrat; andere sahen größere Ähnlichkeiten mit dem Seestern. Doch alle stimmten darin überein, dass die ersten Chordaten sich deutlich sowohl von Spinnen wie Seesternen unterschieden. Auch wenn die Froschbeine Derivate der Brustflossen von Fischen sind, weichen die beiden Körperteile in Struktur und Funktion stark voneinander ab. Das Gleiche gilt für das menschliche Gewissen. Die Unterscheidung von richtig und falsch und die damit einhergehenden Gefühle haben wahrscheinlich einen fernen Ursprung in der steten Wachsamkeit des Affen gegenüber den Aktionen, Grimassen und Schreien der anderen. Doch das menschliche Moralempfinden weicht, wie die Froschbeine, so dramatisch von der älteren phylogenetischen Kompetenz ab, dass es ein Irrtum ist, das eine als ein Derivat des anderen anzusehen. Die menschliche Sensibilität gegenüber Änderungen im Gesichtsausdruck und in den Gebärden eines anderen mag ein Kontinuum der Disposition sein, die wir in unseren Primaten-Vorfahren antreffen. Doch das menschliche moralische Motiv ist qualitativ anders, denn es enthält symbolische und emotionale Elemente, die uns bei keinem Primaten begegnen. Viele Autoren folgen Darwin und verknüpfen die Ur293
sprünge des menschlichen Gewissens mit dem sozialen Austausch. Dabei beharren sie darauf, dass kein Individuum handelt, bevor es nicht einen äußeren Preis winken sieht.21 Dieses Prinzip mag für Tiere zutreffen; es trifft nicht immer auf Menschen zu. Die symbolische Selbstversicherung, dass man tugendhaft sei – vom Ich dem Ich mitgeteilt –, ist ein attraktiver Lohn, den Menschen erstreben. Ein solcher Drang ist selbst bei den kooperativsten nonhumanen Spezies nicht vorhanden. Weil alle Theorien mehr implizieren, als bekannt ist, überrascht es nicht, dass wir über ein Jahrhundert, nachdem Über die Entstehung der Arten das biblische Dogma von der Einzigartigkeit des Menschen infrage stellte, an jene durch natürliche Auslese erhaltenen menschlichen Eigenschaften erinnert werden müssen, die in keinem anderen Tier gefunden werden. Ein moralisches Motiv, das einen scharfen Bruch mit unserer phylogenetischen Vergangenheit darstellt, ist nicht einfach nur eine komplexe Version dessen, was eine Arbeitsbiene tut, wenn sie zum Überleben des Bienenstocks beiträgt, oder was ein Schimpanse macht, der stumm mit gebeugtem Kopf über einem toten Mitglied seiner Sippe steht. Der Unwille, das menschliche moralische Motiv als einzigartig anzuerkennen, ist ein wenig merkwürdig, denn Biologen kennen einzigartige Eigenschaften in einer großen Zahl von Spezies. Die Netze der Spinnen, das Echolot der Fledermäuse und die Prägung von Nestflüchtern sind beschränkt auf besondere Arten oder Spezies. Einzigartige Charakteristika sind mit Darwins Theorie vollkommen vereinbar. 294
Nichtsdestoweniger gibt es einen unerklärlich hartnäckigen Widerstand, irgendeine menschliche Eigenschaft als einzigartig anzusehen. Wenn ein Linguist behauptet, dass nur Menschen eine Sprache mit Grammatik haben, antworten einige Wissenschaftler, dass Schimpansen beigebracht werden könne, mithilfe von Plastikstücken zu kommunizieren. Jane Goodalls Entdeckung, dass Schimpansen Werkzeuge benutzen, wurde deshalb mit solcher Begeisterung aufgenommen, weil sie impliziert, dass mein Gebrauch des Hammers, um das jüngste Gemälde meiner Enkelin an die Wand zu hängen, sich nicht grundlegend davon unterscheidet, wenn ein Schimpanse mit einem Zweig nach Termiten bohrt. Die moderne Synthese in der Evolutionsbiologie fordert nicht, dass jede Eigenschaft, die einen besonderen Stamm, eine Klasse, Familie, Gattung oder Spezies definiert, eine homologe Struktur oder Funktion in einer verwandten Klasse aufweisen muss. Der Embryo eines Kükens erlaubte außergewöhnliche Einsichten in die embryonale Entwicklung, die durch das Studium von Froschlarven nicht möglich gewesen wären.22 Das Echolot der Fledermäuse kennt kein homologes Organ bei den Bibern; die Arbeitsteilung in einem Bienenstock ist nicht homolog zu der in einer Biberkolonie; und der Bau eines Spinnennetzes hat keine Homologie bei den Krebsen. Wissenschaft ler arbeiten mit Tierversuchen, um Alkoholismus, Angst, Dyslexie, Depression und Aggression zu erforschen, und dabei benutzen sie invasive Techniken, die sich bei Kindern oder Erwachsenen nicht anwenden lassen. Ein berühmtes Beispiel ist die Untersuchung der 295
Reaktion eines kleinen Affen, der von seiner Mutter oder anderen Affen getrennt wird. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Zustand, der durch die Trennung hervorgerufen wird, analog zu der Angst von Kindern ist, die einer Reihe von Stress-Reizen ausgesetzt werden. Diese sorgfältige Untersuchung erfordert den Glauben daran, dass der Forscher Fakten ermittelt, die uns über die Verfassung eines Menschen Aufschluss geben; ihr Wert wäre gefährdet, wenn die verschiedenen Formen menschlicher Angst nicht analog zu dem Zustand wären, der in dem kleinen Affen durch die Trennung von seiner Mutter hervorgerufen wird. Und doch ist eben diese Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen. Kleine Affen, die nur mit in Fell eingewickelten Plastikpferden großwerden, bekommen eine Bindung zu ihnen und verhalten sich wie kleine Kinder, die mit lebenden Hunden groß werden. Dieses überraschende Ergebnis brachte die Forscher zu folgendem Schluss: »Die verschiedenen Wirkungen von unbelebten Bezugsfiguren sind für den Bindungsprozess von Rhesusaffen weniger spezifisch und folgenreich als für die Entwicklung ihrer individuellen Reaktionsfähigkeit gegenüber der Umwelt.«23 Menschliche Kleinkinder, die in einem Raum mit nichts als einem Plastikspielzeug großgezogen würden, würden ein profund anormales Sozialverhalten entwickeln. Kinder bewerten die Trennung von ihren Eltern und ihr Urteil verbindet die Bedeutung dieser Trennung mit ihrem Tugend-Begriff. Erwägen wir das folgende fiktive Experiment: Zwei fünfjährige Kinder aus verschiedenen Familien werden in Pflegefamilien gegeben. In dem ei296
nen Fall kamen die Eltern bei einem Autounfall ums Leben, im anderen ließen sich die Eltern scheiden und keiner wollte das Kind haben. Wenn alle anderen Bedingungen gleich sind, wird die emotionale Gesundheit des Kindes von den geschiedenen Eltern sehr viel gefährdeter sein als die der Waise, und zwar wegen der Implikationen, die die elterliche Abweisung für das Kind mit sich bringt. Im Gegensatz dazu werden Affen nur unter dem Verlust der Eltern leiden; sie sind unfähig, die Ursachen des Verlusts symbolisch zu bewerten. Also hat Trennung von den Eltern bei Affen gleichförmigere Folgen als bei Menschen. Es drängt sich keineswegs auf, warum irgendein Tier ein nützliches Modell dafür sein soll, die menschlichen Gefühle der Schuld und Scham zu verstehen. Um die hierarchischen Machtstrukturen bei Affen zu verstehen, forscht man am besten bei Affen nach; um das moralische Motiv und die es begleitenden Gefühle beim Menschen zu verstehen, forscht man am besten bei Menschen nach – Abkürzungen gibt es da nicht. Ich will damit nicht sagen, dass Forschung an Tieren sinnlos ist. Die Tierforschung hat uns eine klarere Einsicht in unseren 24-Stunden-Rhythmus und in die genetische Grundlage vieler Erkrankungen gebracht. Tiere und Menschen teilen in der Tat viele Eigenschaften. Aber sie teilen nicht alle. Die Bereiche mit der geringsten Gemeinsamkeit umfassen Intentionen, Werte und Verhaltensweisen, die mit Angst, Scham, Schuld und Stolz zusammenhängen. Die Forschung an Tieren erhellt diese menschlichen Gefühlszustände nur recht wenig. Ein Leitartikel im Economist, 297
der zu jüngsten Fortschritten in der Evolutionsbiologie Stellung nahm, kritisierte die imperialistische Attitüde derer, die steif und fest behaupten, dass sich der größte Teil menschlicher Lebensäußerungen mit tierischem Verhalten erklären ließe: »Darwinismus – schön und gut«, schrieb der Autor, »aber so gut nun auch wieder nicht.«24 Moralvorstellungen und das Maß an Zivilität, das in einer Gesellschaft herrscht, hängen zusammen. Die brutalen Zustände im Europa des 17. Jahrhunderts veranlassten Hobbes dazu, einen autoritären Staat zu fordern, um der menschlichen Habgier, der Aggressivität und Mordlust Herr zu werden. Die Engländer waren bis zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts etwas friedfertiger geworden, als John Stuart Mill die moralische Priorität der persönlichen Freiheit hervorhob. Nach Ansicht vieler hat die amerikanische Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einen neuen Rekordstand an Unzivilität erreicht; wir haben ein Maß an Unehrlichkeit, Betrug, Narzissmus und sinnloser Gewalt erlebt, das geeignet ist, den Durchschnittsbürger zu bedrohen. Als Reaktion darauf haben einige Naturwissenschaft ler, die als Berufsgruppe philosophische Fragestellungen eher langweilig finden, ihr Interesse der Moral zugewendet, um uns zu versichern, dass moralisch gutes Verhalten nichts ist, was jeder Generation erneut beigebracht werden muss, sondern ein der Spezies innewohnender Bestandteil. Zu diesen Wissenschaft lern gehören Richard Alexander, E. O. Wilson, Frans de Waal, James Q. Wilson und Ernst Mayr.25 De Waal führt viele Anekdoten aus dem Verhalten von Schimpansen an, um die Leser davon zu überzeugen, dass 298
diese anziehenden Tiere Lebensregeln haben und diejenigen ihrer Artgenossen bestrafen, die sie brechen. De Waal gibt allerdings zu, dass er noch nie einen Schimpansen gesehen hat, der Schuldgefühle gezeigt hätte. Er wird nie einen sehen, denn Schuldempfinden setzt ein Subjekt voraus, das gleichzeitig weiß, dass ein Akt des freien Willens jemand anderen verletzt hat und dass er vermeidbar gewesen wäre. Es ist möglich, dass Schimpansen die Not eines anderen Tieres erkennen und auf eine primitive Weise wissen können, dass eine Aktion, die von ihnen ausging, diese Not verursacht hat. Doch wie Yerkes und Köhler vor siebzig Jahren feststellten, können Schimpansen über diese Abfolge nicht nachdenken und den Schluss ziehen, dass stattdessen etwas anderes hätte geschehen können.26 Schuldfähigkeit setzt das Vermögen voraus, sich in andere hineinzuversetzen, über eine vergangene Handlung nachzudenken, die Ergebnisse dieses Gedankengangs mit erworbenen Standards zu vergleichen, zu erkennen, dass eine bestimmte Handlung, die einen Standard verletzte, hätte verhindert werden können und schließlich sich selbst infolge dieser Verletzung zu bewerten. Schuld ist für Schimpansen kein möglicher Zustand. Diese Tiere sind sogar schon zu sehr viel einfacheren Folgerungen nicht fähig. Zum Beispiel entgeht ihnen, dass ein erwachsenes Tier mit verbundenen Augen ihre Handlungen nicht sehen kann.27 Auch hat noch kein Wissenschaftler einen Schimpansen in seiner natürlichen Lebensumwelt gesehen, der vor einem anderen Schimpansen auf ein weiter entfernt liegendes Objekt gezeigt hätte, was 299
den Schluss nahe legt, dass sie keine Vorstellung davon haben, ein anderes Individuum könne durch ihre Handlungsweise etwas lernen. Darüber hinaus können Schimpansen, wenn eine Person auf einen Ort zeigt, wo soeben ein begehrtes Objekt versteckt wurde, nicht zu dem Schluss kommen, dass sie diesen Ort aufsuchen sollten. Zweijährige Menschen ziehen diesen Schluss sofort. Überzeugender noch ist ein Experiment, in dem eine große und eine kleine Menge schmackhaften Futters vor einem Schimpansen abgestellt werden. Wenn er zuerst nach der kleineren Menge greift, erhält er die auch größere Menge, wenn er zuerst nach der größeren greift, darf er gar nichts essen. Es fällt Schimpansen sehr schwer herauszufinden, wie sich verhalten sollen, um an die größere Menge Futter zu kommen.29 Ein dreijähriges Kind lernt die richtige Reaktion innerhalb von ein bis zwei Minuten, weil es die neue Regel herausbekommt, nach der der Prüfer vorgeht. Die Fähigkeiten, auf die Intentionen, Gedanken und Gefühle eines anderen – sei es Tier oder Mensch – zu schließen, sind unvergleichliche Innovationen des hominiden Geschlechts, die wir weder mit Schimpansen noch unserem gemeinsamen Vorfahren teilen. Diejenigen, die vorbringen, dass die Ursprünge der menschlichen Moral bereits in tierischem Verhalten gefunden werden können, geben uns keine Antwort darauf, an welche Spezies wir uns dabei halten sollen. Gibbons gehen eine feste Paarbindung ein, Schimpansen nicht. Rhesusaffen leben in Horden, Orang-Utans leben einzeln. So ist also nicht klar, ob Menschen eine Prädisposition haben, treu oder promiskuitiv zu leben, in einem sozialen 300
Verband oder allein. Nichtsdestoweniger lesen wir allzu gern Bücher über einen ethischen Sinn bei unseren behaarten Verwandten, weil sie uns dessen versichern, dass es sich bei der Anpassung an soziale Normen nicht um ein willkürliches Verhalten handelt, auf das man leicht verzichten kann. Die Tierbeobachtungen werden dahingehend interpretiert, dass die menschliche Achtung vor Regeln als eine so grundlegende Eigenschaft unserer Entwicklung erscheint, dass es durchaus vernünftig ist, sich gesetzeskonform zu verhalten und sich unwohl zu fühlen, wenn man ein Gesetz übertritt. Die Medien erinnern uns täglich an verlogene Politiker, unehrliche Wissenschaftler, mordlustige Schulleiterinnen, betrügerische Ärzte, sich bereichernde Bankleute und Mathematiker, die Briefbomben versenden. Sind wir, die wir das Gesetz befolgen, eine seltsame, abweichende Gruppe, die nicht weiß, dass es unsere natürliche Bestimmung ist zu lügen, zu betrügen und zu töten? De Waal versichert uns zurecht, dass die Gesetzesbrecher und nicht wir die Anomalen sind. Wenn wir pünktlich zur Arbeit kommen, unsere Rechnungen bezahlen und anderen Leuten über die Straße helfen, dann verhalten wir uns weder abweichend noch spießig, sondern in Übereinstimmung mit unserer Primatennatur. Diese beruhigende Aussage stillt vorübergehend unsere Zweifel und erlaubt uns, unseren moralischen Weg in der Überzeugung weiterzugehen, dass es Gerechtigkeit in der Welt gibt und dass zu großer Egoismus schließlich seinen Preis haben wird.30 Die gegenwärtige Unsicherheit bezüglich eines biologisch angelegten moralischen Empfindens, die Plato nicht 301
verstanden hätte, erfüllt diejenigen, die soziale Regeln schwer verletzen, mit einem angenehmen Kitzel. Das Interesse von Menschen wird von Ideen und Ereignissen erregt, die vom Gewohnten und Bekannten etwas abweichen. In einer Gesellschaft, wo die meisten Menschen glauben, dass die Mehrheit gesetzestreu lebt und keine Einbrüche, Vergewaltigungen, Morde oder Kindesmisshandlungen im Schilde führt, lösen Gedanken an solche asozialen Taten eine gewisse Beängstigung aus, und wir verweilen nicht lange bei ihnen. Hollywood stellt keine teuren Filme über Kannibalismus oder Sodomie her, weil solche Szenen die meisten Amerikaner abstoßen würden. Doch Unehrlichkeit, Folter, Mord, Hochmut, Betrug und Narzissmus, die uns ständig umgeben, sind von der ursprünglichen moralischen Abscheu etwas gereinigt. Das Vorherrschen dieser Verhaltensweisen hat es den Amerikanern ermöglicht, über diese Handlungen nachzudenken und von einem Zustand der Ablehnung, der Angst oder des Ekels in einen Zustand neugierigen Interesses überzugehen. Diese Themen befinden sich in einem schmalen Bereich, der durch Unsicherheit gekennzeichnet ist. Sie erregen uns in einer Weise, wie Filme mit Sexszenen es in den sechziger Jahren taten. Eine erfreuliche Voraussage wäre die, dass wir mit der Zeit von diesen Dingen gelangweilt werden, weil sich ihr Neuigkeitswert abgenutzt hat. Da Ehrlichkeit, Höflichkeit und Selbstbeherrschung in den amerikanischen Städten im Rückzug begriffen sind, werden sie vielleicht demnächst zu den Hauptthemen unserer Theaterstücke, Bücher und Filme, weil sie dann jenen Grad an Sonderbar302
keit besitzen, den die sinnlose Gewalt heute hat. Vielleicht ist der gegenwärtige Erfolg der Filme, die auf den Romanen von Jane Austen und Henry James basieren, und Fernsehspiele über Engel ein erstes Anzeichen für das Eintreffen dieser Voraussage.
Der Ursprung des Moralempfindens Das menschliche Vermögen für moralisches Handeln und die damit verbundenen Emotionen hat von unseren Primaten-Vorfahren eine genaue Wahrnehmungsgabe für Stimme, Gesicht und Handlungen anderer übernommen, fügte aber fünf neue Fähigkeiten hinzu: 1) sich in die Gedanken und Gefühle anderer hineinzudenken, 2) sich selbst wahrzunehmen, 3) die Kategorien gut und böse auf Ereignisse und auf sich selbst anzuwenden, 4) über vergangene Handlungen nachzudenken und 5) zu wissen, dass eine bestimmte Handlung sich hätte unterdrücken lassen. Die Kombination dieser fünf Fähigkeiten schuf ein neues System, das bei Kindern erst im zweiten Lebensjahr erscheint und in den darauf folgenden zehn Jahren zur Reife kommt. Menschen, die in verschiedenen voneinander isolierten Gesellschaften leben, sind sich darüber einig, dass Kinder im Alter von zwei Jahren wissen, welche Handlungen entschiedenen Widerwillen der Erwachsenen erregen. Manche Kulturen interpretieren diese neue Stufe als das Ergebnis eines kognitiven Fortschritts, der den Zweijährigen erlaubt, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Eltern 303
aus diesen Gesellschaften vertreten die Meinung, dass das neue Wissen des Kindes von der Entwicklung her unvermeidbar war und ohne direkte Belehrung entstand. Es ist wahrscheinlich, dass der menschliche Geist prädisponiert ist, Wörter zu lernen, die Gefühle benennen, welche das Fundament der symbolischen Kategorien gut und böse bilden. Diese Kompetenz ist der Neigung des drei Monate alten Kleinkindes vergleichbar, Dinge in Bewegung und klar konturierte, kreisförmige rote Gegenstände länger zu betrachten, aufmerksamer auf eine Abfolge von Lauten zu hören als auf einen durchgehenden Ton und lieber auf eine harmonische als auf eine dissonante Melodie. Die Annahme, dass es sich bei der menschlichen Moralität um eine biologisch angelegte Fähigkeit handelt, ist analog zu der Position mancher Mathematiker und Philosophen, dass die Idee der Zahl und der arithmetischen Regeln keine beliebigen Erfindungen sind und deshalb intuitiv leicht zu erfassen seien. Die entgegengesetzte Position, Formalismus genannt, behauptet dagegen, dass die Mathematik schlicht aus einem Regelgebäude besteht, das die Menschen erfunden und an ihre Kinder weitergegeben haben. Ebenso hätten andere Regeln entwickelt und auf die physikalische Welt angewandt werden können. Manche Moraltheoretiker vertreten die Ansicht, das Wissen, dass die Zerstörung fremden Eigentums moralisch falsch ist, sei universell. Andere wiederum behaupten steif und fest, diese moralische Aussage und eine Menge anderer seien kulturelle Erfindungen, und es sei leicht, Kindern beizubringen, dass die Zerstörung fremden Eigentums ein absolut akzeptables Verhalten ist. 304
Die beginnenden Anzeichen moralischer Kompetenz lassen sich in jeder Familie mit Kindern beobachten. Ein zweijähriges Kind sieht argwöhnisch seine Eltern an, nachem es Saft auf den Boden geschüttet hat. Das Gesicht und die Haltung des Kindes verraten, dass es weiß, dass es etwas Unrichtiges getan hat. Einjährige, die Saft verschütten, zeigen keinerlei Erwartung elterlichen Missfallens, auch wenn die Eltern sie dafür schon geschimpft haben. Einjährige lernen bei vielen Gelegenheiten, dass Handlungen, die das Eigentumsrecht anderer verletzen, nicht akzeptabel sind, aber ihre kognitiven Fähigkeiten sind einfach noch nicht ausgebildet genug, um die symbolische Bedeutung ihres Handelns mit der erwachsenen Missbilligung in Zusammenhang zu bringen. Etwas geschieht mit dem Bewusstsein/Gehirn von Kindern im zweiten Lebensjahr, das sie für die Schicklichkeit ihres Verhaltens sensibel macht. Ich glaube, dass die psychischen Veränderungen, die zwischen dem ersten und zweiten Geburtstag eintreten, ähnlich tief greifend sind wie jene, die stattfanden, als die hominide Linie sich von den nächstverwandten Primaten-Vorfahren löste. Alle Tiere sind biologisch darauf eingestellt, auf gewisse Ereignisse in spezifischer Weise zu reagieren. Menschen sind wie andere Primaten darauf eingerichtet, außerordentlich aufmerksam auf kleinste Veränderungen im Gesicht, in der Stimme und in den Gesten anderer zu reagieren. Das Kind ist besonders sensibel für das Gesicht und die Stimme seiner Eltern. Die meiste Zeit des Tages ist das Gesicht der Mutter emotional neutral und Rhythmus, Timbre und Lautstärke der Stimme bleiben 305
sich in etwa gleich. Die meisten Zweijährigen haben eine bestimmte Repräsentation von Gesicht und Stimme des Vaters oder der Mutter erworben, wenn diese zu ihnen sprechen. Doch manchmal erscheint im Gesicht der Mutter ein Ausdruck der Missbilligung, und ihre Stimme nimmt an Intensität zu, wenn sie sagt: »Nein, das darfst du nicht.« Dieses diskrepante Ereignis ist nicht unmittelbar verständlich und erzeugt Unsicherheit. Ein zweijähriges Kind hat gerade die Decke vom Küchentisch gezogen und zwei volle Milchgläser damit zu Boden gerissen. Die Mutter reagiert aufbrausend: »Also, ich hab dir doch gesagt, du sollst aufpassen!« Das Kind ist durch diese Reaktion überrascht, denn es verbindet sie anfänglich nicht mit seinem vorhergehenden Verhalten. Wenn das Kind die Reaktion des Erwachsenen nicht innerhalb von einer oder zwei Sekunden versteht, wird es kurzzeitig Furcht empfinden. Es bedarf nicht viele solcher Erfahrungen, damit der Zweijährige lernt, die überraschende Reaktion der Mutter mit seiner vorhergehenden Handlung zu verknüpfen und sich unsicher zu fühlen, wenn es an die Ausführung einer ähnlichen Handlung denkt. Sowie diese Verknüpfung erlernt wurde, ist der Gedanke an ein ähnlich verbotenes Verhalten konditioniert, einen Zustand der Unsicherheit auszulösen. Adam Smith glaubte, dass diese spezielle Form der Unsicherheit über die Bewertung durch andere die Grundlage der erwachsenen Moral bilde. Zwei Probleme bleiben. Warum dauert es annähernd zwei Jahre, bis diese Fähigkeit sich entwickelt? Und warum fängt das Kind an, eine Bewertung gut/böse nicht 306
nur bei Handlungen vorzunehmen, die gleich bestraft wurden, sondern auch bei Verhaltensweisen, die noch keine Strafe nach sich zogen? John Lockes Ansicht, dass die gesamte Moral gelehrt werden muss, ist falsch. Zwar kennt das einjährige Kind die Veränderungen im Gesicht und in der Stimme, die elterliches Missfallen ausdrücken, doch es ist noch nicht reif genug zu folgern, dass das Zerstören von Gegenständen, Beschmutzen von Kleidungsstücken und Schreien am Mittagstisch, die stets von Missfallensäußerungen gefolgt sind, zu einer einheitlichen Kategorie »schlechter Handlungen« gehören. Um die Kategorie ungehöriger oder schlechter Handlungen zu erfassen, muss das Kind die Zusammenhänge zwischen drei verschiedenen Vorgängen entdecken – seiner Handlung selbst, dem Resultat dieser Handlung und insbesondere der darauf folgenden Reaktion der Mutter oder des Vaters. Das Entstehen dieser Kategorie dauert länger, weil die Fähigkeit, aus einer zeitlichen Abfolge komplexer Ereignisse Schlüsse zu ziehen, im ersten Lebensjahr noch nicht stabil ist. Das junge Bewusstsein ist schlicht noch nicht reif genug, um einen so fortgeschrittenen Gedankengang wie »strafwürdiges Verhalten« auszubilden. Doch diese neue und durch Reife erworbene Kompetenz erklärt nicht, warum Kinder das symbolische Attribut gut/böse auf bestrafte Handlungen anwenden, bei denen es sich meist um Aggressionen gegenüber anderen, Zerstörung fremden Eigentums, fortgesetzte Unfolgsamkeit oder darum handelt, sich ständig schmutzig zu machen. Eine Antwort auf diese Frage zwingt uns zu wei307
ter gehender Spekulation. Ein Zustand der Unsicherheit gegenüber diskrepanten Ereignissen, die wir nicht verstehen können, ist eine biologisch angelegte Reaktion, die gegen Ende des zweiten Lebensjahres, wenn Kinder ihre Gefühle wahrzunehmen beginnen, nach einem Namen verlangt. Wenn das Gefühl der Unsicherheit in den Bereich der Wahrnehmung tritt, wird das Kind veranlasst, es zu benennen. Der symbolische Begriff, den das Kind verwendet, ist in seiner Bedeutung wahrscheinlich sehr nahe an dem, was die Erwachsenen unter dem Wort »schlecht« verstehen. Mit dem zweiten Geburtstag ordnen viele Kinder solche Handlungen als »schlecht« ein, auf die die Erwachsenen mit Anzeichen der Missbilligung reagieren. Kinder bilden außerdem Repräsentationen der normalen Erscheinungsweise von Gegenständen aus und bemerken Abweichungen davon. Ein Kind, das ein zerbrochenes Spielzeug sieht, geht davon aus, dass die Handlung eines anderen den Schaden herbeigeführt haben muss. Weil das Zerstören eines Spielzeugs schlecht ist, ist auch das kaputte Spielzeug schlecht. Aus dem gleichen Grund sind ein Häufchen Salz auf dem Tisch und ein Hemd ohne Knöpfe schlecht. Die Bezugsgröße des Begriffs schlecht ist deshalb eine große Familie von Ereignissen, zu deren Hauptmerkmalen die Unsicherheit des Kindes angesichts des erwachsenen Missfallens gehört, diskrepante Erfahrungen, die sich nicht verstehen lassen, körperlicher Schmerz, Verlust eines Objekts oder einer Person, an denen das Kind hängt, Frustration und die Antizipation eines Übels. Die Gefühle, die von diesen 308
Ereignissen ausgehen, sind erkennbar verschieden. Kein zweijähriges Kind verwechselt das Gefühl der Frustration über den Verlust eines Spielzeugs mit einem Magenkrampf, einer strengen Verwarnung oder einem Hemd, an dem die Knöpfe fehlen. Doch weil das Kind jedes dieser Gefühle vermeiden möchte, sind sie alle Beispiele der neuen Kategorie »schlecht«. Ähnlich repräsentiert eine Familie von Gefühlen die komplementäre Kategorie »gut«. Dazu gehören Ereignisse, die angenehme Geschmacks-, Geruchs- und Berührungsempfindungen auslösen; Lob von Erwachsenen; Objekte oder Menschen, zu denen das Kind eine enge Verbindung hat; das Erreichen eines Ziels, nachdem man sich große Mühe gegeben hat; die Assimilation eines diskrepanten Ereignisses. Jede dieser Erfahrungen verbindet sich mit einem spezifischen Gefühl, doch alle teilen das Faktum, dass sie von Kindern erstrebt werden, und deshalb wird jeder Fall dieser Kategorie als »gut« angesehen. Die Grundlage für die Kategorien gut oder schlecht beziehungsweise böse ist kein einzelnes spezifisches Gefühl und kein einzelner Gefühlszustand repräsentiert den Durchschnitt aller. Es gibt nur besondere emotionale Bezüge zu jedem Mitglied der beiden Kategorien. Diese Situation unterscheidet sich nicht von unserer Auffassung der symbolischen Kategorie »stark«. Menschen sind stark, wenn sie schwere Gegenstände hochheben können; Ideen sind stark, wenn sie ein Gefühl evozieren können; Bäume sind stark, wenn sie sich nicht leicht versetzen lassen; und ein Geschmack ist stark, wenn er intensiv ist. Menschen, Ideen, Bäume und Geschmack sind jeweils 309
auf ihre eigene Art stark. Die Begriffe gut und schlecht, die im zweiten Lebensjahr auftauchen, sind ähnliche Erfindungen. Die Fähigkeit, mit einem anderen, der unglücklich ist, Mitgefühl zu empfinden – sie tritt ebenfalls erst im zweiten Lebensjahr auf –, hat unmittelbare Bedeutung für die Moralität. Zwei Jungen, beinahe sechzehn Monate alt, stritten sich um ein Spielzeug. Als der eine zu weinen begann, ließ der andere das Spielzeug los; doch als der Junge mit dem Spielzeug weiterweinte, rannte der andere in einen anderen Raum, holte das Lieblingsspielzeug des weinenden Kindes und brachte es ihm. Diese Handlungsabfolge erforderte die Erkenntnis, dass das weinende Kind verzweifelt war und getröstet werden konnte. Im Gegensatz dazu reagierten die Schimpansen im Gombe National Park auf einen Artgenossen, der durch Polio gelähmt war, mit Furcht und später mit Aggressionen. Zweijährige Kinder haben die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten, und zeigen Zeichen innerer Spannung, wenn jemand verletzt ist, oder von Reue, wenn sie jemandem Leid zugefügt haben. Folglich führt die Absicht, einen anderen zu verletzen, zu einer Antizipation der unangenehmen Gefühle, die der andere erleben wird, und meist zur Unterlassung der asozialen Handlung. Diese Entwicklungstatsache stimmt nicht mit der verbreiteten Ansicht überein, die Philosophen wie David Hume oder Biologen wie Jacques Monod vertreten, dass sich moralische Werte nicht aus objektivem Wissen gewinnen lassen.31 Die Entwicklung von Mitgefühl bei allen Kindern am Ende des zweiten Lebensjahres impli310
ziert, dass Zweijährige biologisch darauf vorbereitet sind, das Verletzen von anderen als böse zu betrachten – das heißt als Verstoß gegen die Moral. Die meisten Zweijährigen sind sich auch der Tatsache bewusst, dass sie Individuen mit spezifischen Eigenschaften, Gefühlen und Intentionen sind. Wenn dieser Aspekt der Selbsterkenntnis auftaucht, wenden Kinder die Begriffe von gut und schlecht auf sich selbst an, so wie sie es in den letzten sechs Monaten für Objekte und Handlungen taten. Wenn das Selbst ein böses Objekt ist, dann ist das Kind anfällig für die gleichen Gefühlszustände, die sich mit den Handlungen verbinden, die als böse klassifiziert sind. Wenn das Kind erkennt, dass eine dieser Beschreibungen auf es selbst zutrifft, wird es zu vermeiden versuchen, dass noch mehr dafür sprechen könnte, dass böse ein angemessenes Attribut für es ist. Es beginnt zu verstehen, dass es in anderen unangenehme Gefühle erregt, wenn es böse ist, genauso wie böse Objekte oder Handlungen unangenehme Gefühle in ihm selbst erregen, und es zieht daraus den Schluss, dass andere es deshalb meiden werden. Diese Einsicht ist ein wesentlicher Grundstein des moralischen Motivs, auch wenn sie nicht die einzige Basis für die Moralität in späteren Jahren darstellt. Der Wunsch, zu vermeiden oder zu verleugnen, dass man als schlecht gilt, wird mit zunehmender Reife des Kindes intensiver; eines Tages wird es die Furcht vor Missbilligung oder Bestrafung als Richtschnur des Verhaltens ablösen. Freud erkannte die Wichtigkeit dieses Fortschritts, wollte aber die theoretische Beziehung zwischen Es und Ich nicht 311
preisgeben. Also erklärte er einfach, dass das Überich – das für Freud den Widerstand des Ichs gegen Handlungen repräsentierte, die das Selbstbild der Person als böse oder schlecht erscheinen lassen – sich bei allen Kindern als Nebenprodukt des Wachstums entwickelt. Die meisten vierjährigen Kinder zögerten, wenn sie gebeten wurden, Saft auf den Labortisch zu schütten. Sie waren sich bewusst, dass diese Handlung einen Standard verletzen würde, den sie zu Hause gelernt hatten. Einjährige zögerten nicht. Vierjährige wurden auch gebeten, ein Farbfoto zu zerreißen, von dem die Prüferin dem Kind sagte: »Das ist mein Lieblingsbild. Zerreiße mein Lieblingsbild.« Ein paar Kinder gaben das Bild der Prüferin zurück und sagten: »Nein, das ist Ihr Lieblingsbild.« Diese Kinder konnten sich nicht sicher sein, dass sie nicht geschimpft würden, weil sie die Bitte der Prüferin nicht befolgten – sie hatten mehrere Minuten lang einer ganze Reihe von solchen Bitten entsprochen. Doch diese Kinder empfanden die Bitte, das Foto zu zerreißen, als eine zu ernste Verletzung dessen, was sie für richtig ansahen, und deshalb riskierten sie einen Tadel, indem sie sich weigerten. Die Kinder suchten die subjektive Unsicherheit zu vermeiden, die eingetreten wäre, wenn sie der Bitte entsprochen hätten.32 Obwohl dreijährige Kinder sich dessen bewusst sind, dass Objekte, Ereignisse, Handlungen und das Selbst gut oder böse sein können, bleiben sie von dem Gefühl der Schuld verschont, das der Erkenntnis folgt, dass sie eine Handlung, die einen persönlichen Standard verletzte, hätten unterdrücken können. Diese Erkenntnis erfor312
dert eine spätere Stufe des Bewusstseinswachstums. Für Kinder unter fünf Jahren ist es noch schwierig, die eigenen Handlungen zu kontrollieren. Als Kinder verschiedenen Alters gebeten wurden, »Nacht« zu einem Bild von der Sonne zu sagen und »Tag« zu einem Bild vom Mond, hatten die Drei- bis Vierjährigen große Mühe, ihre natürliche Neigung zurückzuhalten, »Nacht« zum Mond und »Tag« zur Sonne zu sagen. Dagegen fanden Sechs- bis Siebenjährige die Aufgabe sehr leicht.33 Wenn Vierjährige viele ihrer einfachen Handlungen noch nicht kontrollieren können, dann ist es unwahrscheinlich, dass sie sich wegen vieler ihrer Fehler Vorwürfe machen. Die Zweijährigen wissen, dass es falsch ist, eine Vase kaputtzumachen, haben aber keine Vorstellung davon, dass die Handlung, die zur Zerstörung der Vase führte, vermeidbar war. Das sechsjährige Kind kann hingegen die Handlungsfolge mental rekonstruieren und entscheiden, ob der Schaden hätte verhindert werden können. Wenn es glaubt, dass es den Unfall hätte vermeiden können, wird es wahrscheinlich Schuld empfinden.34 Der Vater eines scheuen fünfjährigen Mädchens, das sich des Wunsches seiner Eltern bewusst war, sie möge ihre Schüchternheit ablegen, berichtete, dass das Mädchen, als sie zusammen eine unbekannte Straße entlanggingen, zu ihm sagte: »Wir tun jetzt so, als ob du ein Fremder wärst, und ich gehe vor dir her. Ich muss üben, mutig zu sein.« Die geistige Reife, die dem Sechsjährigen den Schluss erlaubt, dass, wäre er nicht ins Wohnzimmer gerannt, die Vase nicht zu Bruch gegangen wäre, und dass er deshalb für den Unfall verantwortlich ist, beinhaltet die Fähigkeit, 313
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer bruchlosen Struktur zu verknüpfen. Diese Gabe, die Piaget Reversibilität nannte, ist das Herzstück der Entwicklungsstufe, die er »konkrete Operationen« nannte. Ein biologisches Fundament für das menschliche Moralempfinden zu postulieren heißt nicht, dass ein bestimmtes ethisches System natürlicher wäre als ein anderes, ebenso wenig wie das Postulat einer biologischen Fundierung der Sprache die Bevorzugung einer bestimmten Grammatik beinhaltet. Recht und Unrecht ist wegen der Grundstruktur des menschlichen Gehirns für Kinder eine leicht zu lernende Klassifikation, doch die spezifischen Handlungen, die für moralisch erachtet werden, schwanken mit den kulturellen Bedingungen, die jenseits des Einflusses des Genoms liegen. Vertrauen, Misstrauen, rücksichtslose Offenheit, Höflichkeit, Verteidigung der Familienehre und das Hinhalten der anderen Wange standen zu verschiedenen Zeiten als überzeugende moralische Verhaltensmuster hoch im Kurs. Obwohl die moralischen Wahlmöglichkeiten aufgrund unserer biologischen Natur begrenzt sind, gibt es doch mehr ethische Möglichkeiten als viele annehmen. Der Schriftsteller Louis Menand macht uns darauf aufmerksam, dass jeder für sich selbst herausfinden muss, was er tun soll und was nicht: »Fragt ruhig eure Gene, was ihr tun sollt. Ebenso gut könnt ihr Zeus fragen.«35
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Identifikation, Selbstachtung und Tugend Obwohl Scham und Schuld biologisch angelegt sind und zu einem festgelegten Zeitpunkt in der Entwicklung auftauchen, gibt es, was die Häufigkeit und Intensität dieser Seelenzustände anbetrifft, beträchtliche Unterschiede von Individuum zu Individuum und von Kultur zu Kultur. Die Mehrheit der modernen Europäer und Nordamerikaner glaubt, dass ihr Status, ihr Erfolg und Wohlstand in erster Linie das Resultat ihrer persönlichen Leistung sind. Folglich sind sie anfällig für Scham- oder Schuldgefühle, wenn sie die soziale Position, die Fertigkeit oder den materiellen Wohlstand, die sie sich als Lebensziel gesetzt haben, nicht erreichen. Im Gegensatz dazu ging die bäuerliche Bevölkerung im mittelalterlichen Europa davon aus, dass ihr sozialer und wirtschaft licher Status durch relativ strenge Klassengrenzen bedingt sei; daher hatten sie weniger Grund, über ihren Status als Erwachsene Schuld zu empfinden. Auch bei Erwachsenen, die in Gesellschaften leben, wo an Zauberei, Hexen oder Dämonen geglaubt wird, wiegt die Bürde der Schuld nicht so schwer. Schuldgefühle können auch durch die Identifikation mit der eigenen Familie oder sozialen Gruppe verstärkt werden. Wenn sich ein Kind mit einem Elternteil identifiziert, der etwas Schlechtes getan hat – zum Beispiel wurde die Mutter von einem Nachbarn kritisiert, weil sie ein Haustier grausam behandelt hat –, ist das Kind versucht zu folgern, dass es selbst ebenfalls diese ungute Eigenschaft hat. Wenn das Kind zusätzlich die Gefühle des 315
Elternteils stellvertretend mitempfindet, wird die Schlussfolgerung noch schmerzhafter sein. Seit die amerikanische Gesellschaft mehr Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten und religiösen Gruppierungen aufbringt, haben die sozialen Kategorien etwas von dem Stigma verloren, das ihnen noch vor dem 2. Weltkrieg anhaftete, und dafür haben andere soziale Kategorien eine größere Bedeutung erlangt. Armut, die in Amerika ein deutlich hervortretendes Merkmal ist, hat für Kinder von heute eine größere psychologische Bedeutung als während der Depression in den dreißiger Jahren, als ein Drittel der Amerikaner arm war und die Wohlstandsschere zwischen oberem und unterem Drittel der Bevölkerung nicht so weit auseinander klaffte. Der Zwölfjährige, der in einer armen Familie lebt, kommt leicht zu dem Schluss, dass seine Familie über ungute Eigenschaften verfügt, die sie daran hindern, größeren Wohlstand zu erwerben. Wenn ein armes Kind so glücklich ist, dass ihm schützende Kategorien zur Verfügung stehen, kann die Scham gemildert werden. Frank McCourt erinnerte sich, dass das Überleben seiner Familie von der Wohlfahrt abhing. Doch McCourt erinnerte sich auch daran, wie sein Vater ihm erzählte, dass seine Vorfahren mutige, katholische Männer gewesen seien, die ehrenhaft für Irlands Freiheit gegen die Briten gekämpft hätten. Zu viele der amerikanischen armen Kinder können weder religiösen, nationalen noch ethnischen Stolz ins Feld führen, um die Scham über ihre Armut abzumildern. Auch wenn es den Heranwachsenden helfen mag, die Verantwortung für die Armut ihrer Familie auf die Gesellschaft 316
abzuwälzen, haben viele Jugendliche, die in Armut groß werden, kaum die Chance, Gefühlen der Erniedrigung, Frustration und des Neids gegenüber der wohlhabenden Mehrheit aus der Mittelschicht zu entgehen. Afroamerikaner, die in wirtschaft lich bedrängten Verhältnissen leben, sind auf zweierlei Weise verletzlich: Sie sind arm und sie sind schwarz. Wenn Michael Jordan als einer der begabtesten Athleten des Landes verehrt wird, empfinden afroamerikanische Kinder einen Moment des Stolzes. Doch wenn die Medien über einen Afroamerikaner berichten, der wegen eines brutalen Mords im Gefängnis sitzt, kann das Selbstwertgefühl mancher afroamerikanischen Kinder leiden. Vergleichbare Folgen für weiße Kinder sind deutlich weniger intensiv. Auch wenn es dem Selbstwertgefühl des schwarzen Adoleszenten hilft, einen Teil der Verantwortung für das Armutsstigma auf die Gesellschaft zu schieben, so ist es schwer, dies vollständig zu tun. Daher empfinden viele Wut auf die Mehrheit der Mittelschicht, die als Ursache für einen Zustand angesehen wird, der zugleich frustrierend und erniedrigend ist. Die Wut mancher Afroamerikaner und die Furcht und Gegenwut mancher Weißer stellen das schwerwiegendste Problem in den USA dar. Sie beeinflussen die Politik, die Bildungsinstitutionen und die Gemütslage des Landes und sie müssen bereinigt werden. Es ist ein rätselhaftes Phänomen, dass eine breite moralische Entrüstung in der Mittelschicht über die beeinträchtigte Gesundheit und psychische Situation so vieler armer Kinder völlig ausbleibt und dass kaum jemand 317
öffentliche Unterstützung für Hilfsmaßnahmen fordert. Wenn Menschen mit einem moralischen Empfinden ausgestattet sind, warum fühlt sich dann die Mehrheit angesichts dieser Lage der Dinge nicht hinreichend schuldig, um eine Veränderung zu verlangen? Ein Grund dafür ist, dass die Mehrheit der Amerikaner auch einen ethischen Standard vertritt, der besagt, dass jeder kognitiv fähige Erwachsene für seine Handlungen verantwortlich ist. Wenn ein Individuum nicht verantwortungsbewusst handelt, obwohl es die Wahl dazu hat, dann, so würde Plato argumentieren, versagt es moralisch. Ein siebzigjähriger Patient, der an Alzheimer leidet, ist für ein solches Versagen natürlich nicht verantwortlich; deshalb ist die Gemeinschaft bereit, öffentliche Gelder für seine Pflege auszugeben. Bei Zehnjährigen, die nicht lesen können, sind die Amerikaner schon etwas weniger sicher, aber die meisten Bürger sind bereit, diesen Kindern eine Chance zu geben, und treten für die Kosten ein, die eine zusätzliche schulische Betreuung verursacht. Doch eine Mutter, die darin versagt, ihr Kind zu versorgen und ihm zivile Umgangsformen beizubringen, wird einer anderen Kategorie zugerechnet, unabhängig von ihrer wirtschaft lichen Situation. Die meisten Amerikaner glauben, dass sie eine Wahl hatte, werfen ihr einen Mangel an gutem Willen vor und sind deswegen nicht bereit, ihr zu helfen. Weil das Mitgefühl der Gemeinschaft für diese Kinder auf der Richtigkeit dieser Schlussfolgerung beruht, ist es wichtig zu fragen: Sind die meisten Mütter, die in Armut leben und keinen Schulabschluss haben, in der Lage, ih318
ren Willen zu verwirklichen, ihr Kind zu versorgen und so zu sozialisieren, dass dies seinem psychischen Wachstum zugute kommt? Auch wenn die wissenschaft liche Antwort darauf immer noch unsicher ist, haben viele Bürger der amerikanischen Gesellschaft entschieden, dass die Antwort Ja lautet. Leider führt dieses moralische Urteil und nicht materielle Hartherzigkeit zur Lähmung des natürlichen Mitgefühls für die Kinder der Armen. Viele Lehrer glauben, dass Kinder, die aggressiv, psychisch labil oder ängstlich sind, sich aus Gründen der geringen Selbstachtung so verhalten. Der Begriff der Selbstachtung wurde entwickelt, um bei einer Person die Zuversicht oder den Mangel daran zu erklären, mit der oder dem sie sich den Anforderungen des Alltags stellt und mit ihnen fertig wird. Der Begriff impliziert, dass jedes Individuum unbewusst die durchschnittliche Entfernung zwischen jeder seiner wichtigen Eigenschaften und dem damit verbundenen Ideal berechnet. Die Selbstachtung soll diesen Durchschnitt repräsentieren. Man kann jedoch Kinder, die wütend, emotional labil oder ängstlich sind, genauer beschreiben, als es in der Aussage geschieht, sie hätten eine geringe Selbstachtung. Viele dieser Individuen erkennen unbewusst, dass sie jene Eigenschaften nicht erreicht haben, die sie für gut erachten. Ihr geschwächtes Selbstwertgefühl motiviert die äußeren Verhaltensmuster, welche die Merkmale der mangelnden Selbstachtung definieren. Ein ernsthaftes Problem, das mit dem Begriff der Selbstachtung zusammenhängt, ist der Glaube, dass diese Qualität den Individuen bewusst sei; also geht man davon aus, 319
dass ihre Antworten auf direkte diesbezügliche Fragen korrekt ausfallen. Die verbreitetste Methode, um Selbstachtung zu messen, ist, die Menschen nach ihren persönlichen Eigenschaften zu befragen. Doch manche Kinder mit Lebensgeschichten, die eine niedrige Selbstachtung vermuten ließen (zum Beispiel adoleszente Jungen, die keine Freunde haben und in der Schule versagen), widersprechen dieser Zuschreibung heftig, wenn sie direkt gefragt werden. Obwohl der Begriff der Selbstachtung nur einen geringen theoretischen Wert hat, besitzt er doch einigen praktischen Nutzen. Er vermeidet die Bezugnahme darauf, dass eine Person weder ihre eigenen Standards noch die der Gemeinschaft erfüllt, und behauptet stattdessen, dass Unsicherheit, Angst und Scham daraus resultieren, wie eine Person von anderen behandelt worden ist. Geringe Selbstachtung, so wird angenommen, wird eher durch ablehnende Handlungen anderer bewirkt als durch die Bewertung der moralischen Schwächen, die das Kind selbst vornimmt. Wenn Kinder Minderheiten angehören, lautet die Annahme, dass die Vorurteile einer Mehrheit diesen seelisch prekären Zustand auslösen. Ein zweiter praktischer Grund, warum an dem Begriff der Selbstachtung festgehalten wird, ist der, dass er Hoffnung auf eine günstige Veränderung anbietet. Er gründet in dem Glauben, dass einer großen Zahl ängstlicher, leistungsunfähiger, scheuer oder aggressiver Kinder und Adoleszenter mit einer genügenden Dosis wohltuender Erfahrungen geholfen werden könnte. Eine Betonung der Selbstachtung erlaubt es amerikanischen Sozialwissen320
schaft lern, den Ursprung der Merkmale einer Person in die Handlungen anderer zu verlegen und zu argumentieren, dass wir das Individuum verändern können, wenn wir seine sozialen Bedingungen verändern. Lehrer vertreten nachdrücklich die Ansicht, dass, gleichgültig wie die Vergangenheit einer Person auch aussehen mag, wir nie die Möglichkeit einer besseren Zukunft ausschließen dürfen. Sie weisen uns auf Lincolns Armut, Roosevelts Kinderlähmung und Helen Kellers beeinträchtigte Wahrnehmungsfähigkeit hin. Wenn diese Menschen die Bürden ihrer Vergangenheit überwinden konnten, dann kann es jeder andere auch.
Körpertonus und Selbstwertgefiihl Die Eigenart des persönlichen Körpertonus, der von ererbten Temperamentseigenschaften beeinflusst wird, unterliegt einem recht subtilen Vorgang, der auf das individuelle Selbstwertgefühl einwirken kann. [Anm. d. Übs.: der englische Begriff virtue, der hier mit Selbstwertgefühl übersetzt wird, heißt eigentlich Tugend. Das deutsche Wort Tugend hat aber eine zu eng moralische und zu wenig psychologische Signifikanz. Um die Intention des Autors nicht misszuverstehen, sollte der Leser hier und im Folgenden, wenn er »Selbstwertgefühl« liest, eine Grundierung dieses Begriffs durch Tugend mitdenken.] Die unwillkürliche Aktivität in Muskeln, Herz, Arterien, Verdauungstrakt und Haut wird vom Körper zum Gehirn übertragen. Die sensorische Information, die von 321
diesen Körperregionen ausgesendet wird, wandert zuerst durch das Rückenmark, wo Neuronen mit opioiden Rezeptoren die Intensität des Signals dämpfen können. Diese Information wird zum Mandelkern (Amygdala) gesandt und von dort zu einem Teil des Stirnlappens, dem ventromedialen präfrontalen Kortex. Wenn die Information ins Bewusstsein eintritt, ruft sie eine Interpretation der Gefühlsveränderung hervor. Wenn der ventromediale präfrontale Kortex beschädigt ist oder aus medizinischen Gründen entfernt wurde, informiert das Herz den Kopf nicht mehr über seine moralischen Imperative, und das Verhalten kann seine frühere Zivilität einbüßen. Es gibt Gründe anzunehmen, dass die rechte Hemisphäre für diese Körperinformation empfänglicher ist als die linke, und ängstliche Erwachsene erkennen genauer als die meisten anderen die Zahl der Herzschläge in einem bestimmten Zeitintervall.36 Die verbreitete und intuitiv vernünftig scheinende Ansicht über die Beziehung zwischen Denken und Schuld geht davon aus, dass eine Person über eine Handlung (oder eine Vorstellung) nachdenkt, die einen Standard verletzt, und folglich einen Augenblick der Schuld oder Scham empfindet. Daraus folgt, dass diejenigen, die regelmäßiger oder intensiver Schuld empfinden, öfter persönliche Standards verletzt haben müssen, sei es in Taten oder in Gedanken. Diese Interpretation stimmt mit unserer subjektiven Erfahrung überein – eine Untat kann binnen weniger Sekunden Schuldgefühle auslösen – und hat deshalb Theoretiker veranlasst, in ihr die einzige Abfolge zu sehen. Doch diese Ansicht wird höchst problema322
tisch, wenn wir die vielen zivilen, loyalen, gesetzestreuen Individuen betrachten, die sich chronisch schuldig fühlen, während viele andere, die brutal, feindselig und aggressiv erscheinen, nicht die geringsten Gewissensbisse kennen. Eine spekulative, aber interessante Hypothese besagt, dass Individuen, die bedingt durch ihren Körpertonus häufig Gereiztheit, Spannung, Besorgnis, Angst, Vigilanz oder Unbehagen empfinden, dadurch motiviert werden, den Grund für ihre Gefühle verstehen zu wollen. Häufig wird, vor allem in unserer Gesellschaft, als erster Grund des Unbehagens genannt, dass die betreffenden Personen wahrscheinlich ihre eigenen ethischen Standards verletzt hätten. Die Person macht sich Gedanken darüber, ob sie einen Freund grob behandelt, eine Notlüge erzählt, einem Vorurteil nachgegeben oder wieder einmal erkannt hat, dass sie nicht genug aus ihrem Leben gemacht hat. Die Liste möglicher moralischer Verfehlungen ist so lang, dass nur wenige Menschen Probleme haben werden, irgendeinen Schwachpunkt bei sich zu finden, der das unwillkommene Gefühl erklärt, und sie werden infolgedessen einen Moment der Schuld empfinden. Hingegen haben die glücklichen Erwachsenen, die einen weniger dysphorischen Körpertonus besitzen oder einen mit gedämpfter Intensität, weniger Grund darüber zu grübeln, dass sie den Pfad der Tugend kurzfristig verlassen haben, und empfinden daher eine geringere Schuld und insgesamt ein größeres Selbstwertgefühl. Ebenso wird es auch Mitgliedern von Kulturen ergehen, die Hexen und Zauberern oder dem Klima und der Ernährung Macht zuschreiben. 323
Depression wird oft von bewussten Schuldgefühlen begleitet, den eigenen Maßstäben nicht gerecht zu werden. Doch da die meisten depressiven Patienten nicht öfter oder schwerer gegen persönliche Maßstäbe verstoßen als gesündere Erwachsene, ist es möglich, dass die Hirnphysiologie, die ursächlich zur Gemütskrankheit beitrug, auch den dysphorischen Körpertonus verursacht. Der Patient, der seine Dysphorie zu verstehen versucht, wird ihren Grund in vergangenen Sünden finden – Untreue, Illoyalität, unvollkommene Ausführung einer Aufgabe, Scheitern im sozialen Aufstieg oder Ablehnung durch einen anderen aufgrund enttäuschter Erwartungen. Diese moralischen Fehltritte werden von jedem begangen, aber nur eine kleine Zahl von Menschen bekommt deshalb Depressionen. Also könnte ein wichtiger Grund für die Schuldgefühle, die manchen Depressionsanfällen vorausgehen, eher im dysphorischen Körpertonus als in schweren moralischen Verfehlungen liegen.37 Diese Hypothese ähnelt der Einschätzung der Emotionen, die von William James und Carl Lange vertreten wurde, die unabhängig voneinander die Hypothese entwickelten, dass jeder Mensch ein sensorisches Feedback von seinem Körper nutzt, um zu entscheiden, welches Gefühl er gerade empfindet.38 Studenten wird das Beispiel von dem Wanderer gegeben, der einen Bären sieht, losrennt und aus dem Feedback seiner Flucht schließt, dass er Angst hat. Es war vielleicht eine Unterlassungssünde von James und Lange, diese konstruktive Idee nicht auch auf Schuldgefühle anzuwenden. Ein Depressionszustand muss nicht immer die Folge schwerer Verstöße gegen 324
persönliche Standards sein, sondern er entsteht manchmal aus einer Suche nach dem Grund chronisch dysphorischer Gefühle. Die Suche kann zu dem Schluss führen, dass die bedrückte Stimmung daran liegt, dass man seinem persönlichen Maßstab nicht gerecht wird. Ich behaupte nicht, dass diese Abfolge in allen oder auch nur in den meisten Fällen von Depression vorliegt. Bei manchen Patienten ist es zunächst ein schwerer Verlust oder Misserfolg, der von einer Depression gefolgt wird. Wir wissen heute noch nicht, welcher proportionale Anteil von Patienten zu diesen verschiedenen ätiologischen Gruppen gehört. Die akute Depression, die ein paar Monate dauert, wird öfter von einem Verlust oder Versagen ausgelöst, während der chronisch Depressive eher zur ersteren Gruppe gehört, wie bereits Robert Burton vor über dreihundert Jahren in seiner klassischen Anatomie der Melancholie andeutete. Diese Vermutung bleibt Spekulation, weil es keine hinreichend feinen Methoden gibt, um die Qualität des Körpertonus zu messen. Doch der Glaube, dass Gene die Entwicklung des Embryos steuern, war um 1900 ebenfalls Spekulation. Biologen mussten fast achtzig Jahre auf die Entwicklung von Methoden warten, die die Richtigkeit dieser Idee nachwiesen. Viele gehemmte Kinder, die unbekannte Menschen und Situationen vermieden, haben als Adoleszente berichtet, dass es ihre größte Furcht sei, von anderen kritisiert zu werden. Diese Kinder, von denen viele einen hohen sympathischen Tonus hatten, zeigten oft eine extrem emotionale Reaktion, wenn sie von ihren Eltern für kleineres 325
Fehlverhalten gerügt wurden. Der Körpertonus dieser Kinder war vielleicht ähnlich dem von Mary Summer, einem amerikanischen Mädchen aus dem 18. Jahrhundert, das über ihre Fehler genau Buch führte. In einem Sommermonat verlegte sie die Schärpe ihrer Schwester, verschüttete Sahne auf dem Boden, sprach zu hastig mit ihrer kleinen Schwester, ließ ihre Haarbürste auf dem Stuhl liegen, war in der Schule nicht fleißig genug, vertrödelte ihre Zeit und verlor ihre Nähnadel durch Fahrlässigkeit.39 Denken wir noch einmal an Cranly zurück, der in Joyces Jugendbildnis des Dichters der Hauptfigur des Romans, Stephen Dedalus, sagt, er solle die Tatsache, dass er seinen Glauben an die katholische Kirche verloren habe, einfach ignorieren und seiner Mutter zuliebe an der Ostermesse teilnehmen. Der Leser mag sich fragen, warum Stephen, den Joyce als sensiblen, für Ängste und dysphorische Körperempfindungen empfänglichen jungen Mann beschreibt, unfähig ist, dem Rat seines Freundes zu folgen. Warum macht ihm seine Unfähigkeit, an der Messe teilzunehmen, so zu schaffen? Wenn Stephen ein erzählerisches Beispiel für die Art von Personen ist, die ihren dyphorischen inneren Tonus als Folge einer moralischen Verfehlung interpretieren, dann ist er klug beraten, Handlungen zu unterlassen, die zusätzliche Zeichen moralischen Versagens wären. Wenn er als Ungläubiger zur Ostermesse geht, verletzt er seinen Standard bezüglich der Heuchelei, und er wird zusätzliche Schuld empfinden. Stephen gesteht Cranly die vielen Dinge, vor denen er sich fürchtet – Hunde, Pferde, Gewitter –, »aber 326
mehr als das fürchte ich die chemische Aktion, die in meiner Seele durch eine falsche Huldigung an ein Symbol hervorgebracht würde, hinter dem zwanzig Jahrhunderte der Autorität und Verehrung stehen«. Stephen schützt sich vor weiterer Schuld, indem er seine Überzeugungen analysiert und sich vergewissert, dass sie vernünftig sind.40 Ludwig Wittgenstein teilte Stephens Imperativ zur rücksichtslosen Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Wittgenstein war ein schmerzhaft scheues Kind, das in fremder Umgebung unter einer geradezu pathologischen Spannung stand, und er wurde ein melancholischer Erwachsener, der vergeblich versuchte, eine Dysphorie loszuwerden, die ihm intensives Leiden bescherte. Schuldgefühle wegen seiner Unfähigkeit, diese Schwermut durch seine Willenskraft allein zu überwinden, Scham wegen seiner Familie, die einen jüdischen Verwandten abgelehnt hatte, und das Bedauern darüber, dass er einen seiner Schüler geschlagen hatte, mögen ihn dazu veranlasst haben, einen Großteil des Geldes, das er von seiner wohlhabenden Familie geerbt hatte, fortzugeben. Die Juden werden in der Geschichte, so notierte er in seinen Notizbüchern, »wie eine Art Krankheit wahrgenommen … und niemand will eine Krankheit auf die gleiche Ebene wie das normale Leben stellen«. »Ich bin zu weich, zu schwach und darum zu faul, um irgendetwas Bedeutendes zu erreichen.« »Es kam mir heute in den Sinn, als ich über meine philosophische Arbeit nachdachte und zu mir sagte: Ich zerstöre, ich zerstöre, ich zerstöre.« »Ich glaube, dass meine Originalität eher eine 327
Originalität des Bodens als der Saat ist.« Am 1. April 1942, als er 53 Jahre alt war, bekannte er: »Es ist, als ob ich nur eine lange Strecke lebenden Totseins vor mir hätte. Ich kann mir für mich nur noch eine scheußliche Zukunft vorstellen. Ohne Freunde und Freude.«41 Auch der Dichter und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat vielleicht häufige Anfälle von Dysphorie gehabt, die er als Folge davon interpretierte, dass er seine Standards hinsichtlich der Zivilcourage verletzte. Milosz schrieb mit siebenundsiebzig Jahren ein Tagebuch mit dem Titel Das Jahr des Jägers. Eine Eintragung lautet: »Der höfliche Junge in mir war brav, fleißig, abergläubisch, konservativ, immer aufseiten der Autorität und gegen Anarchie. Ich war unfähig, zum Zentrum meiner Verdrängungen vorzudringen und sie mir energisch zunutze zu machen … Statt zu sagen: ›Ja, das bin ich, so bin ich, und so ist das nun mal‹, fühlte ich mich beschämt von meiner mangelhaften Tugend.«42 Viele Schriftsteller sind nicht couragierter als Milosz, doch durch ein anderes Temperament werden sie nicht von beständigen Zweifeln an ihrer Tugendhaftigkeit geplagt. Leo Tolstoi, der sich immer wieder der Eitelkeit, der Faulheit und der Ausbeutung von Frauen in frühen Jahren bezichtigt, hat möglicherweise ebenfalls mit einem chronisch dysphorischen Tonus gelebt. Er litt an Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und einer Reihe von körperlichen Beschwerden, die wahrscheinlich zu der Gemütslage beitrugen, die er dem Nicht-Schreiben am vorigen Tage, dem Mangel an Mitgefühl für das Unglück der Kleinbauern und seiner Ruhmsucht zuschrieb. Das Tagebuch, das er 328
in seinem achtzehnten Lebensjahr begann, setzt mit einer Selbstkritik ein, die er für den Rest seines Lebens beibehalten sollte: »Der Hauptvorteil aber besteht darin, dass ich klar erkannt habe, das liederliche Leben, welches ein Großteil der höheren Gesellschaft als eine Folge der Jugend betrachtet, ist nichts anderes als eine Folge früher Verderbtheit der Seele.« An manchen Tagen war der seelische Schmerz bedrängend: »Ich bin ein wertloses, bemitleidenswertes, unnötiges Geschöpf.« Selbst nach der öffentlichen Anerkennung seiner Romane, in seinem siebten Lebensjahrzehnt, fährt er fort, sich selbst zu kritisieren: »Was für ein wertloses Geschöpf ich sein muss. Ich kann diese ganzen scheußlichen Spinnweben, die mich festhalten, nicht auseinander reißen. Und nicht, weil ich keine Kraft habe, sondern weil ich moralisch dazu nicht fähig bin … Der Hauptgrund ist der, dass ich nicht gut bin.«43 Das Tagebuch von Athol Fugard, dem südafrikanischen Dramatiker, der wahrscheinlich die gleichen Standards bezüglich Wahrhaftigkeit und Müßiggang hatte wie Tolstoi, steht nicht unter dem Zeichen einer solchen moralischen Angst, wie sie Tolstois Aufzeichnungen durchzieht. Fugard erwähnt auf seinen 230 Bekenntnisseiten kaum je irgendwelche Schuldgefühle; er begründete Momente der Niedergeschlagenheit mit Geldmangel oder seinem Writers block.44 Ich nehme an, dass Fugard mit einem deutlich anderen Temperament gesegnet war als dem, das Wittgenstein, Milosz oder Tolstoi geerbt hatten.
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Evolution, Furcht und Schuld Im Verlauf der Evolution wurde der zentrale Nukleus des Amygdala-Mandelkerns – eine wichtige Struktur für die Erwerbung von Furcht – zunehmend kleiner, während der basolaterale Nukleus und der präfrontale Kortex wuchsen und die Verbindungen zwischen beiden sich ausgestalteten. Als diese evolutionären Veränderungen in der Hirnanatomie vor sich gingen, wurden aller Wahrscheinlichkeit nach die Furcht vor Angriffen und körperlicher Verletzung, die für Affen und Menschenaffen primäre Zustände sind, der Scham oder Schuld untergeordnet. Vielleicht ist dies der Grund, warum Hippokrates, Galen und Burton den Begriff der Melancholie dem der Angst vorzogen, um das Syndrom zu benennen, das am häufigsten die menschliche Zuversicht und Heiterkeit zerstört. Und vielleicht ist es auch der Grund, warum einige Frauen, die im 15. Jahrhundert als Hexen angeklagt wurden, ihre Schuld gestanden und warum Passagiere auf einem sinkenden Schiff, die von ihrem bevorstehenden Tod überzeugt sind, ihre vergangenen Sünden noch einmal durchleben. Die Evolution hätte die Menschen mit einem extremen Grad an Wachsamkeit oder Vorsicht in Gegenwart Fremder ausstatten können – wie es für die Affen zutrifft –, aber es ist nicht geschehen. Eher wurden Schuldgefühle, andere zu verletzen, ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Verhaltensrepertoires, vielleicht weil wir eine der wenigen Spezies sind, die in der Lage ist, zu jeder Zeit große Zahlen ihrer Art zu töten. Ein ge330
wisser Schutz vor dieser chronisch gefährlichen Disposition wäre adaptiv. Ein amerikanischer Offizier mit zwanzigjähriger militärischer Praxis hat behauptet, dass Soldaten eine natürliche Hemmung haben, den Feind von Angesicht zu Angesicht zu töten. »Es gibt in den meisten Menschen einen intensiven Widerstand dagegen, andere Menschen zu töten. Ein Widerstand, der so stark ist, dass … Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben, bevor sie ihn überwinden.«45 »Wer tötet, muss jeden dissonanten Gedanken daran unterdrücken, dass er etwas Falsches tut … seine mentale Gesundheit hängt ganz und gar von dem Glauben ab, dass das, was er getan hat, gut und richtig ist.« Für jeden Vietnamesen, der von einem amerikanischen Soldaten getötet wurde, sind 50.000 Kugeln verschossen worden. Annähernd 90 Prozent der Musketen, die auf dem Schlachtfeld von Gettysburg gefunden wurden, waren geladen, aber nicht abgefeuert worden, und nur 20 Prozent der Soldaten im 2. Weltkrieg schossen im Gefecht auf den Feind; die meisten schossen in die Luft oder gar nicht. William Manchester, der Marinesoldat im 2. Weltkrieg war, erinnert sich daran, wie er sich fühlte, nachdem er einen japanischen Soldaten getötet hatte: »Ich kann mich erinnern, wie ich sinnlos ›Es tut mir Leid‹ vor mich hin flüsterte und mich einfach erbrach … Es war ein Verrat an dem, was man mir von Kindesbeinen an beigebracht hatte.«46 Wenn das Töten aus der Distanz geschieht, per Artilleriebeschuss oder Bombenabwurf aus großer Höhe, bewahrt dies die Soldaten davor, ihre Opfer zu sehen, und folglich fühlen sie weniger Schuld. Was wahrscheinlich 331
auch der Grund dafür ist, warum Opfer Kapuzen übergezogen bekommen, bevor sie hingerichtet werden. Der Hauptgrund für einen psychischen Zusammenbruch im Krieg – posttraumatic stress disorder oder PTSD genannt – ist weniger die Furcht davor, umgebracht zu werden, als ein Schuldgefühl wegen Illoyalität gegenüber Kameraden, dem Überleben eines Gefechts, in dem Freunde starben, dem Beobachten oder der Teilnahme an einer grausamen Handlung oder dem Töten eines Feindes, dessen Gesicht man sah. Israelische Soldaten mit PTSD litten mehr an Depressionen als an Angst, was darauf hindeutet, dass eher Schuld als Furcht die Basis ihrer Erkrankung war.47 Frauen, die vergewaltigt wurden, entwickeln eher PTSD als Frauen im gleichen Alter und aus der gleichen sozialen Schicht, die mit vorgehaltener Pistole ausgeraubt oder mit dem Tod bedroht wurden. Ein Vergewaltigungsopfer, das sich die Frage stellt, ob irgendetwas in ihrem Verhalten den Täter animiert hat, ist eher Schuldgefühlen ausgesetzt als eine Frau, die beraubt, von einem Hund angegriffen oder als Beifahrerin in einen Autounfall verwickelt wird. Nathan McCall erinnert sich in seiner Autobiographie Makes Me Wanna Holler (Da möchte ich am liebsten schreien) an sein Mitleid mit einem Mädchen, das von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt wurde. Dann war er an der Reihe. »Nach ein paar grässlichen Minuten stand ich auf und gab dem Nächsten das Zeichen, dass er dran sei … Ich zog mich in eine Ecke zurück und jemand flüsterte: »Das ist verdammt gut, was?« Ich sagte: 332
»Yeah, das ist verdammt gut.« Tatsächlich fühlte ich mich angewidert und schmutzig.« Im Herbst 1991 fuhr ein Mann in einer kleinen Stadt in Texas mit seinem Pickup zur Mittagessenszeit in ein Café und begann aus kürzester Entfernung auf die Gäste zu schießen. Nachdem er 23 Menschen erschossen hatte, brachte er sich selbst um. Ein Jahr später interviewten Psychologen 136 Überlebende dieses traumatischen Vorfalls. Jeder Sechste litt an PTSD, doch diese Erwachsenen hatten schon vor dem Trauma Symptome von Angst oder Depression gezeigt. Diejenigen, die vor diesem grauenhaften Ereignis psychisch gesund gewesen waren, zeigten auch danach keine Symptome, was die Vermutung nahe legt, dass ein furchtbares Erlebnis gewöhnlich nicht PTSD hervorrufen muss. Vielleicht ist das auch der Grund, warum weniger als ein Drittel der israelischen Bevölkerung in den ersten Monaten des Jahres 1991 keine chronische oder schwere Angst entwickelte, als der Irak mit dem Abfeuern von Raketen auf israelische Städte drohte.50 Ich glaube, dass die zurzeit umgehende Furcht vor Vergewaltigung, Raub, Verletzung oder Mord von den gegenwärtigen Weltereignissen befördert wird. Als im 19. Jahrhundert sexuelle Motive durch historische Bedingungen teilweise von der Verdrängung befreit wurden, maß Freud der Sexualität eine privilegierte Rolle zu und behauptete, dass sie ihre Wurzeln in der Biologie der Primaten habe. Heute erfüllen uns die Metzeleien in Bosnien und Ruanda, die grundlosen Morde in städtischen Ghettos und die Bomenattentate in den Straßen von London und Belfast mit großem Unbehagen. 333
Wissenschaft ler erklären unsere Angstgefühle damit, dass sie der Furcht vor Angriffen eine vorrangige Rolle in der menschlichen Psyche einräumen. Einige Primatologen haben sogar behauptet, dass der Grund für die starken sozialen Bindungen des Menschen darin liege, dass sie uns vor der primordialen Furcht vor Angriffen schützen, die wir von unseren Primaten-Vettern geerbt hätten. Doch die Gefühle und die Physiologie, die von der Erwartung eines aggressiven Angriffs ausgehen, unterscheiden sich stark von denen, die der Verletzung eines moralischen Standards folgen, etwa wenn man einen Freund bestohlen hat. Jeder, der diese beiden Gefühlszustände in eine übergreifende Kategorie zusammenzwingt, würde wahrscheinlich auch einen verhungernden Flüchtling und einen Mönch, der wegen religiöser Verfolgung in den Hungerstreik getreten ist, als gleichartige Phänomene behandeln. Die populärpsychologische Ansicht der menschlichen Beweggründe geht davon aus, dass unser tierisches Erbgut uns mit einem unwiderstehlichen Drang nach Macht, Ruhm, Sex und Eigentum und einem leicht erregbaren Zorn ausgestattet hat. Wenn diese Triebkräfte Teil unserer Evolution sind, lautet das Argument, so sollten sie als akzeptabel angesehen werden. Diese Verzerrung von Darwins Ansichten übersieht die Tatsache, dass Menschen ebenso des Mitgefühls, der Scham und der Schuld fähig sind. In der Tat haben einige israelische Journalisten die Medien des Landes während des Golfk riegs dafür kritisiert, dass sie der Öffentlichkeit suggerierten, es sei vollkommen natürlich, sich eher um sich selbst zu 334
kümmern als um den Nachbarn, als irakische Raketen auf Tel-Aviv niedergingen. Ein aufgebrachter Kommentator meinte, dass Israel mehr Moralphilosophen und weniger Psychologen brauchte.51 Historisch neu, wenngleich nicht einzigartig, in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft ist, dass das eindimensionale Streben nach Macht, Prestige, Reichtum und sexuellem Vergnügen, das in den früheren Jahrhunderten als unmoralisch geächtet wurde, sich für viele in einen modernen ethischen Code verwandelt hat, der als »gut« angesehen wird. Es ist nicht ohne Ironie, dass die unvorhergesehenen Folgen der kreativen Fortschritte in der modernen Biologie der Rationalisierung von Motiven Vorschub geleistet hat, die, ins Extreme gesteigert, selbstzerstörerisch sind. Gelehrte von Aristoteles bis Kant waren der Ansicht, dass jedes Subjekt die Fähigkeit hat, durch seinen Willen eine rationale Kontrolle über seine Leidenschaften auszuüben. Obwohl Autoren im 19. Jahrhundert einräumten, dass unsere Spezies Merkmale mit Primaten gemeinsam hat, nahmen sie dennoch an, dass nur der Mensch die Fähigkeit beherrscht, sich zwischen moralischem und unmoralischem Verhalten zu entscheiden. Doch das Jahrhundert, das auf Die Entstehung der Arten folgte, brachte eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern hervor, die dieses Argument ablehnten und behaupteten, dass Menschen nicht mehr als unbehaarte Gorillas seien. Die Attraktivität dieser Betrachtungsweise beruht zu einem Teil auf unserem Bedürfnis, die Bedingungen unseres Alltagslebens zu rationalisieren. Die ethischen 335
Grundprinzipien einer Gesellschaft müssen sich ein wenig dem Verhalten angleichen, zu dem die meisten Menschen gezwungen sind. Wenn nicht, wird jeder Mensch täglich schrecklichen Spannungen ausgesetzt. Eine Mehrheit von Amerikanern, die in Großstädten lebt und arbeitet, geht mit Fremden um, von denen sie wenig Gutes erwartet. Diese Fremden blockieren den Übergang an überfüllten Kreuzungen, belästigen einen mit Zigarettenrauch im Restaurant und drängeln sich in langen Schlangen vor. Jeder muss einen schnellen Zugang zu moralischer Entrüstung haben, wenn er solche Belästigungen abwehren und sein Eigentum und seine Würde schützen will. Viele Fernsehfilme zeigen, wie leicht Zorn aufsteigt und normalerweise vernünftige Leute zu Verhaltensweisen motiviert, die sie später bereuen werden, auch wenn ihnen, vorausgesetzt ihre Absicht war nicht abgrundtief böse, schließlich verziehen wird. Um die Flut von Gewalt, Habgier, Verrohung und Unehrlichkeit in der heutigen Gesellschaft zu rationalisieren, haben wir uns auf die Annahme verständigt, dass es nicht immer möglich oder der Situation angemessen ist, Zorn, Begierde, Rivalität und Eifersucht zu unterdrücken. Diese Rationalisierung dämpft Schuldgefühle und nimmt der fortwährenden Verantwortung, Mitmenschen nicht zu verletzen, den Stachel. Obwohl die Bevölkerungsdichte in Japan sehr viel größer ist als in den USA, glauben die Japaner, dass jedes Individuum in der Lage ist, seinen Zorn zu beherrschen, und der Unterschied in der Häufigkeit von Gewalttaten in den beiden Ländern ist enorm. In den USA werden auf die Bevölkerung hoch336
gerechnet fünfmal so viel Gewaltverbrechen im Jahr gezählt wie in Japan. Wenn Menschen also glauben, sie könnten ihre Triebregungen bändigen, dann halten sie sich auch daran. Der Glaube, dass Zorn, Eifersucht, Egoismus und Rivalität nicht unterdrückt werden sollten, weil sie natürliche Gefühle seien, hat Vorteile in einer Gesellschaft, in der eine große Zahl von Fremden um eine kleine Zahl von Positionen konkurrieren muss, die sozialen Status und ökonomische Sicherheit versprechen. Unter solchen Bedingungen hilft es, auf Eigennutz aus zu sein, und es ist hinderlich, wenn man zu kooperativ, zu loyal, zu selbstlos oder zu zurückhaltend ist, um gegen einen unrechtmäßigen Vorteil zu protestieren, den sich ein anderer verschafft hat. In dem Film El Norte wird ein junger Guatemalteke, der sein Indio-Dorf verließ, um in einem Restaurant in Los Angeles zu arbeiten, von einem mexikanischen Kollegen belehrt, dass in den USA die Leute zuerst für sich selbst sorgen. Doch anstatt zuzugeben, dass die Struktur unserer Gesellschaft jeden von uns nötigt, das Eigeninteresse allem anderen voranzustellen, finden viele Amerikaner es attraktiver zu glauben, dass dieser Modus zusammen mit Eifersucht, sexueller Ausbeutung, Hass und Gewalt ein unvermeidlicher Überrest unseres tierischen Erbes sei – und zwar eines, mit dem wir uns abfinden müssen. Eine beträchtliche Zahl von Büchern, die in den letzten zwanzig Jahren publiziert wurden, haben – direkt oder indirekt – behauptet, dass der menschliche Egoismus angesichts unserer Evolutionsgeschichte zu erwar337
ten gewesen sei. Nach dem Hinweis auf Beispiele egoistischen Verhaltens bei einer ganzen Reihe von Tierspezies kommen die Autoren zu dem Schluss (als ob die Beschreibung des Tierverhaltens genügen würde), dass die Menschen sich ihres Narzissmus und ihrer Habgier vielleicht nicht so sehr schämen sollten, da das selbstbezogene Verhalten in der ganzen Natur sichtbar sei. Das Verführerische dieses Gedankens erinnert an die Vorstellung aus dem 17. Jahrhundert, dass ein winzig kleiner Körper in jedem Ei ruhe. Die frühen Naturforscher standen staunend vor dem Rätsel des vollkommen ausgebildeten Neugeborenen und schlugen eine Lösung vor, die jedem einleuchtend erschien. Heutige Wissenschaftler sind ähnlich frustriert von der außerordentlichen Vielfalt des menschlichen Sozialverhaltens. Sie haben dieses Problem zu lösen versucht, indem sie behaupteten, unsere störenden Neigungen seien bereits in unserer phylogenetischen Vergangenheit angelegt gewesen – eine Art Präformierung des Verhaltens. Die Schwächen dieser Argumentionsweise liegen auf der Hand. Jeder, der auch nur über bescheidene Kenntnisse des Tierverhaltens und über geringfügigste Fähigkeiten zum logischen Denken verfügt, kann Beispiele finden, um beinahe jede ethische Botschaft nach Wunsch zu untermauern. Diejenigen, die der Ehe das Wort reden möchten, können auf die Paarbindung der Gibbons verweisen; diejenigen, die für die Untreue als natürlichere Verhaltensweise votieren, auf die Schimpansen. Wenn man glaubt, Menschen seien von Natur aus sozial, nimmt man die Paviane als Beispiel; wenn man glaubt, sie seien eher Einzel338
gänger, verweist man auf Orang-Utans. Wenn man glaubt, dass Sex Aggressivität ersetzen sollte, verweist man auf Bonobo-Schimpansen. Wenn man will, dass Mütter für ihre Kinder sorgen, verweist man auf die Rhesusaffen; wenn man lieber den Vater als Babysitter sieht, verweist man auf die Springaffen. Wenn man glaubt, dass eine Ersatzfürsorge natürlicher ist, verweist man auf Löwinnen. Wenn man davon überzeugt ist, dass Männer über einen Harem schöner Frauen herrschen sollten, verweist man auf See-Elefanten; wenn man glaubt, dass Frauen eine dominierende Rolle spielen sollten, verweist man auf Elefanten. Die Natur hat eine genügend große Auswahl, um annähernd jeden moralischen Geschmack zu befriedigen. Die meisten Individuen brauchen Hilfe, um die Tatsache zu rationalisieren, dass sie durch soziale Gegebenheiten gezwungen werden, exzessiv einen oder mehrere ihrer ethischen Standards zu verletzen. Als die Zugänglichkeit von Verhütungsmitteln die sexuelle Aktivität außerhalb der Ehe sicherer machte, wollten Amerikaner und Europäer hören, dass unerlaubte Sexualkontakte moralisch nicht verwerflich seien. Freud erhörte ihr Bitten und naturalisierte das Sexualverhalten. Als Amerikaner mit Abscheu von den Grausamkeiten japanischer und deutscher Soldaten während des 2. Weltkriegs erfuhren und sich fragten, ob es noch irgendeine Humanität in unserer Spezies gebe, erinnerte sie Erik H. Erikson daran, dass kleine Kinder ihrer innersten Natur nach vertrauen und lieben. Heute sorgt das Konkurrenzwesen der Industriegesell339
schaften dafür, dass exzessiver Egoismus über Loyalität gestellt wird, und manche Wissenschaft ler, unterstützt von cleveren Journalisten, geben zu verstehen, dass wir uns wegen solch narzisstischen Verhaltens nicht sonderlich zu schämen oder Schuld zu empfinden brauchen, da ja das gleiche Verhalten jeden Tag im Tierreich zu beobachten sei. Selbst Adam Smith wird wieder zum Leben erweckt, um das Argument genießbarer zu machen. Aus Eigeninteressen, so notierte Smith, entstünden harmonische Gesellschaften. Obwohl nur in unserer Spezies Zweitheiraten mit Stiefkindern vorkommen, haben manche Evolutionsforscher behauptet, dass die Misshandlung von Stiefk indern zum Teil mit unserer evolutionären Vergangenheit zu tun habe. Das Verhalten von Bienen wird oft als Erklärung für ein verbreitetes Bedürfnis herangezogen, nur mit denen freundlich umzugehen, die unsere Gene teilen. Diese Autoren übersehen die Tatsache, dass eine große Mehrheit von Stiefk indern mit Liebe großgezogen wird. Noch wichtiger, diese Autoren lassen sich auch durch die Tatsache nicht stören, dass die Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Stiefk ind keinerlei Analogie unter Affen, Schimpansen oder Gorillas hat. Die richtigere darwinistische Schlussfolgerung aus dieser sozialen Tatsache ist, dass Menschen sich von ihren Vorfahren qualitativ unterscheiden, denn sie sind die einzigen Primaten, die sich fürsorglich um Junge kümmern, die keine genetische Verbindung mit ihnen haben. Die Logik der Entwicklungspsychologie – dass das, was heute existiert, wahrscheinlich an einem gewissen Zeitpunkt 340
unserer Primatengeschichte einen biologischen Vorteil darstellte – kann die kleine Zahl der Misshandlungen gegenüber Stiefk indern nicht erklären, so wenig wie sie andere eher seltene menschliche Phänomene erklären kann wie Fallschirmspringen, Masochismus, Selbstmord und Hyperaktivität. Die Schlagworte von den »egoistischen Genen« und die Rede davon, jeder müsse ständig »fit« sein, implizieren die irreführende Ansicht, dass nahe liegende Gründe weniger interessant oder wichtig seien als evolutionäre. Doch mein Verständnis, warum ein achtzehnjähriges Mädchen in Bangkok, die als Straßendirne arbeitet, ihren Verdienst an ihre Eltern schickt, die sie an einen Prostitutionsring verkauft haben, wird dadurch nicht sonderlich vertieft, wenn man mir mitteilt, dass sie so handelt, um die reproduktive Überlebenskraft derer zu vermehren, die ihre Gene teilen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass jede menschliche Ethik sich eindeutig von irgendeinem tierischen Verhalten herleiten ließe. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts argumentierten Eugeniker, dass die Tatsachen der Evolution ethische Implikationen hätten; in diesem Fall war ihr Motiv, die Reproduktion derer zu verhindern, die weniger begabt waren oder gefährliche Neigungen hatten. Heute werden evolutionäre Argumente verwendet, um Habgier, Promiskuität und die Misshandlung von Stiefk indern von moralischen Makeln zu säubern. Auch wenn diese Haltung liberaler erscheint, so ist sie noch lange nicht korrekt. Die Beschäftigung mit Recht und Unrecht, die Kontrolle von Schuld und der Wunsch, 341
sich tugendhaft zu fühlen, ist wie die Bildung der Milch bei Säugetiermüttern ein einzigartiges Geschehen, diskontinuierlich gegenüber dem Vorhergegangenen. Es ist unmöglich, in Fischen, Fröschen, Eidechsen oder Vögeln eine Basis für die Tatsache zu finden, dass Säugetiermütter Organe entwickelten, die Milch produzieren, um ihre Jungen zu ernähren. Der stete Wunsch, das Selbst als gut anzusehen, ist ein nur dem Homo sapiens eigenes Merkmal. Zwar hat er eine sichere Fundierung im menschlichen Genom, doch er geht offensichtlich nicht auf Kompetenzen zurück, die wir bei Affen und Menschenaffen kennen. Sollte sich diese These als zutreffendi erweisen, dann ist die Erklärung menschlicher Eigensucht oder Selbstlosigkeit durch tierisches Verhalten ein Ammenmärchen. Jeder Mensch besitzt eine Reihe von ethischen Überzeugungen, die ihm ohne großen Zeitaufwand die Entscheidung erlauben, welche Handlung er ausführen und welche er unterlassen soll, wenn er die Wahl hat. Doch die meisten von uns wären stumm, wenn man von uns verlangte, die Begründung für solche Überzeugungen zu benennen. Die Unfähigkeit, unsere tiefsten moralischen Standards mit mehr als einem »Es kommt mir richtig vor« zu rechtfertigen, ist eine Quelle des Unbehagens. Infolgedessen wird jede Person oder jede Gruppe, die verheißt, sie könne auf die Frage »Warum glauben Sie, dass dies richtig ist?« eine Antwort geben, hoch gerühmt. Die Kirche war über fünfzehn Jahrhunderte für Europäer eine wirkungsvolle Quelle der Rechtfertigung, bis die Wissenschaft um diese Rolle zu konkurrie342
ren begann und schließlich führend wurde. Viele heutige Bürger erwarten von der »Natur«, wie sie von Wissenschaftlern interpretiert wird, rationale Argumente für eine humane Ethik. Menschen sind selbstsüchtig und edelmütig, distanziert und mitfühlend, hasserfüllt und liebevoll, verlogen und ehrlich, untreu und treu, grausam und freundlich, überheblich und bescheiden; doch die meisten fühlen etwas Schuld, wenn sie das erste dieser sieben Begriffspaare allzu sehr ausleben. Die daraus resultierende unangenehme Dysphorie ist wiederum nur den Menschen eigen und sie streben nach einer Besserung des Gefühlszustandes. Für manche ist Beichten oder Psychotherapie ein wirksames Mittel, insbesondere wenn der Priester oder der Therapeut Ansehen genießt. Ich habe den Verdacht, dass manche Menschen sich besser fühlen, wenn sie erfahren, dass ihre weniger sozialen Neigungen nur die natürlichen Folgen ihrer phylogenetischen Geschichte sind. Das derzeitige hohe Ansehen der Bio-Wissenschaften hat es Evolutionsforschern möglich gemacht, zu Therapeuten der Allgemeinheit zu werden. In dem letzten Teil eines kürzlich erschienenen Buches, das eine evolutionäre Darstellung des menschlichen moralischen Verhaltens versucht, wirft der Autor überraschend alle Beispiele des Tierverhaltens, die er in den vorangegangenen zwölf Kapiteln angeführt hatte, über Bord und plädiert für eine Ethik, die sich nur in Menschen entwickelt haben kann. »Wir müssen den sozialen und natürlichen Austausch zwischen Gleichen ermutigen, denn dies ist das Rohmaterial des Vertrauens, und 343
Vertrauen ist das Fundament der Tugend.«52 Sehr wahr! Obwohl ich an der grundsätzlichen Richtigkeit der modernen Evolutionstheorie nicht zweifle, übernehmen manche Amerikaner meines Erachtens zu bereitwillig die Ansicht, dass Menschen von ihrer niederen Abkunft einen unauslöschlichen Stempel aufgeprägt bekommen hätten. Eine unkritische Haltung gegenüber dieser These könnte aus ihr eine self-fulfilling prophecy machen. Jedes Mal wenn ein Richter eine aggressive Gewalttat von einem geistig gesunden Adoleszenten durchschnittlicher Intelligenz damit entschuldigt, dass er unter schweren Bedingungen aufgewachsen ist, erklärt das Gericht im Namen von uns allen, dass kein Mensch, der extreme Grausamkeit oder Erniedrigung erlitten hat, gezwungen werden kann, das universelle Wissen anzuwenden, dass das Böse falsch ist. Der biologische Imperativ lautet für alle Tiere, dem Hunger und Schmerz zu entgehen und sich zu vermehren, und das ist genau das, was erwachsene Schimpansen die meiste Zeit über tun. Doch die Menschen in den antiken Gesellschaften gründeten Städte, schrieben Gesetze, in denen verschiedene Verhaltensweisen verboten „wurden, bauten Schiffe, trugen Schmuck, beuteten Sklaven aus, besuchten Schauspiele und bewunderten Dinge wie den griechischen Parthenon. Das biologisch Einzigartige unserer Spezies ist eine stete Aufmerksamkeit für Gutes und Schönes und ein Widerwille gegen alles Hässliche und Schlechte. Diese biologisch angelegten Neigungen machen die menschliche Erfahrung mit der jeder anderen Spezies inkommensurabel. 344
Die Attraktion, die von Ideen aus der Evolutionsbiologie und von Entdeckungen in der Genetik und der Molekularbiologie ausgehen, haben viele davon überzeugt, dass ein Funktionieren im Dienst des Reproduktionserfolgs die einzig legitime Definition der Adaptation darstelle. Wenn das Überleben der eigenen Gene und der Gene der nächsten Verwandten als das zukunftsweisende Merkmal der Adaptation angesehen wird, dann ist natürlich die Maximierung der Nachkommenschaft in der nächsten Generation das einzig richtige Kriterium. Doch »psychische Adaptation« weist eine Reihe von anderen Merkmalen auf und hat daher eine andere Definitionsgrundlage. Es lässt sich leicht behaupten, dass ein subjektives Gefühl von Tugendhaftigkeit psychologisch adaptiv sei, weil es stressverringernd wirkt und der Gesundheit, Lebensdauer und dem Wohlbefinden förderlich ist – drei Qualitäten, die für die psychologische Adaptation wesentlich sind. Doch die meisten Erwachsenen, die einem moralischen Standard folgen, der die Würde und den Willen eines anderen respektiert, werden andere sexuell weniger ausnützen und daher auch weniger fruchtbar sein als diejenigen, die sich sexuell mit jedem einlassen, den sie verführen können. In diesem Fall sind die Kriterien für die biologische und psychologische Adaptation unvereinbar. Doch solche Inkonsistenzen kommen in der Natur oft vor. Rote Blutkörperchen mit Sichelform sind nicht die geeignetsten zur Sauerstoffaufnahme, aber sie schützen vor Malaria, was in manchen Teilen der Welt adaptiv ist. Ein moralischer Beweggrund und die mit ihm verbundenen Emotionen sind psychisch adaptive Merk345
male einer Spezies, die in Gruppen lebt und anderen Angehörigen der Spezies Schaden zufügen kann, auch wenn diese Merkmale nicht zur Maximierung der reproduktiven Überlebensfähigkeit beitragen, deren Bedeutung von Evolutionsbiologen hervorgehoben wird. Die Zahl der brutalen Übergriffe – sei es grobes Verhalten, Vandalismus, Diebstahl, Misshandlung, Vergewaltigung oder Mord –, die gestern in der ganzen Welt stattfanden, ist verschwindend gering, wenn man sie mit der Gesamtzahl der Möglichkeiten vergleicht, in denen Erwachsene sich in einer dieser Weisen hätten verhalten können. Das Verhältnis asozialer Handlungen zur Summe der Möglichkeiten tendiert jeden Tag gegen null. Wir sind, wie William Blake schrieb, Löwe und Lamm in einem. Diese Einsicht sollte uns keineswegs gegenüber unserer Fähigkeit zu Hass, Grausamkeit und Narzissmus gleichgültig stimmen, aber es ist nicht nur unrichtig, sondern auch gefährlich, die einzigartigen moralischen Gefühle zu bestreiten, die durch zufällige Mutationen vor über 100.000 Jahren ermöglicht wurden. Unser moralisches Empfinden ist »kein dünnes Makeup, das ein wildes und egoistisches Wesen überschminkt«53, sondern eine notwendige Eigenschaft einer Spezies, die über einen so großen frontalen Hirnlappen verfügt, dass jedes ihrer Mitglieder in der Lage ist, Groll, Neid, Eifersucht und Feindschaft über einen langen Zeitraum zu bewahren, nachdem die akute Ursache für den Ärger längst vorbei ist. Vielleicht ist das der Grund, warum es adaptiv ist, dass die ersten moralischen Empfindungen sich so früh in der 346
Entwicklung zeigen, sechs Jahre bevor die Grammatik der jeweiligen Muttersprache gemeistert wird und zehn bis zwölf Jahre vor der Geschlechtsreife. Es ist wahrscheinlich, dass ein frühes Verständnis für Recht und Unrecht ebenfalls nötig gewesen ist, um die Abneigung eines älteren Geschwisters gegenüber einem Neugeborenen in der Familie unter Kontrolle zu halten. Jedes vierjährige Kind ist eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die das neue Kleinkind genießt, das zur Familie dazugekommen ist, und jedes vierjährige Kind hat sowohl genug Gelegenheit wie die erforderliche Kraft, um einen Säugling zu verletzen. Doch die Häufigkeit solch schwerwiegender Gewalttaten ist so gering, dass jeder derartige Vorfall sofort als riesige Balkenüberschrift auf der Lokalzeitung erscheint. Der brutale Mord 1998 an dem zweijährigen James Bolger durch zwei zehnjährige Liverpooler Schuljungen provozierte ganze Bücher, die sich nur mit diesem Fall befassten, weil er so außerordentlich und selten war; der Mord an Schulkindern und einem Lehrer in Jonesboro, Arkansas, wird aus dem gleichen Grund eine Reihe von Büchern zur Folge haben. Der moralische Sinn des Menschen ist – wie das Spinnennetz – eine einzigartige Hervorbringung der Evolution, die sich erhalten hat, weil sie unser Überleben sichert.
Epilog Ein König ließ einst verkünden, dass derjenige seiner Untertanen, der die außerordentlichste Leistung vollbringen würde, die Prinzessin zur Frau erhalten sollte. Ein Herold brachte diese Botschaft in alle Teile des Königreichs, und nach lokalen Ausscheidungswettbewerben wurden schließlich drei Kandidaten ausgewählt, die ihre kreativen Bemühungen vorstellen sollten. Als der erste Bewerber ein mit eigenen Händen gebautes Cembalo vorführte, erklärte der König, es sei ein außergewöhnlicher Gegenstand von großer Schönheit. Als der zweite Kandidat den Wald hinter dem Schloss auf eine Leinwand malte, erklärte der König, dies sei ein noch ungewöhnlicheres Kunstwerk als das Cembalo. Als der letzte Bewerber eine Uhr aus Porzellan vorstellte, war der König von diesem auserlesenen Gegenstand so überwältigt, dass er es für das Außerordentlichste erklärte, was er je gesehen habe. Er wollte seine Tochter dem Uhrmacher übergeben, doch da sprang ein junger Mann im Publikum auf, nahm einen Hammer und zertrümmerte die Uhr, sodass sie in tausend Stücke zersprang. Dem König verschlug es den Atem, und als er sich gefasst hatte, erklärte er: »Das ist das Außerordentlichste, was ich je gesehen habe!«, und gab die Prinzessin dem Aggressor zur Frau. Auch wenn die wissenschaft liche Sicht der menschlichen Natur wie ein Spiegel ist, der alle zwei, drei Ge349
nerationen zerspringt, möchte ich doch nur ungern als der Mann mit dem Hammer gelten. Vielmehr möchte ich denjenigen, die auf dem Feld der Sozial- und Verhaltenswissenschaften arbeiten, vier konstruktive Vorschläge unterbreiten. Der erste ist ein Plädoyer für ein Moratorium für solche allgemeinen und vagen Begriffe wie Furcht, Lernen, Annäherung, Altruismus, Vermeidungsverhalten und Verhaltensregeln, bei denen – ohne Spezifikation der Beobachtungssituation – das handelnde Subjekt eine Schlange, eine Maus, ein Affe oder ein College-Student sein kann. Ich bin mir der Tatsache bewusst – und durch sie beunruhigt –, dass die Strenge dieses Vorschlags mich mehr wie Georges Cuvier denn wie Geoffroy Etienne Saint-Hilaire in ihrer berühmten Auseinandersetzung in der Französischen Akademie 1830 erscheinen lässt. Geoffroy ging weit über die Fakten hinaus, als er behauptete, dass allen Tieren ein zugrunde liegender Körperbauplan gemeinsam sei. Cuvier, der konservative Empiriker, hatte die allgemein anerkannten Tatsachen auf seiner Seite und machte sich über Geoffroys wilde Spekulation lustig, dass Fliegen und Affen irgendwelche Aspekte der Körperarchitektur teilen sollten.1 Es ist möglich, dass das konditionierte Erstarren einer Ratte bei einem Ton, der mit einem Stromstoß verbunden war, wichtige Elemente mit dem Schuldgefühl der Mutter gemeinsam hat, die zwei Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes zur Arbeit zurückkehrt. Doch im Moment bin ich noch auf der Seite von Cuvier. Der Imperativ, Subjekt und Situation zu spezifizieren, sollte vor allem von denen beachtet werden, die behaupten, 350
dass Eigenschaften von Erwachsenen Teilprodukte früher Erfahrungen sind. Bevor diese Wissenschaft ler nicht detaillierter als bisher die spezifische Art der Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart darlegen, ist es angebracht, die generelle Annahme in Zweifel zu ziehen, dass frühe Erlebnisse Konsequenzen in der Zukunft haben müssen. Als Psychologen, die das menschliche Erinnerungsvermögen erforschten, genau spezifizierten, was das erinnernde Individuum tat, und zwischen deklarativem, episodischem, implizitem und prozeduralem Gedächtnis unterschieden, waren weit reichende Erkenntnisse die Folge. Es ist wahrscheinlich, dass durch die Anwendung einer gleichen analytischen Strategie für viele Modelle in den Sozialwissenschaften ein ähnlich überraschender Fortschritt erreicht wird. Diese Maxime, die im Detail in Kapitel 1 entwickelt wurde, könnte heißen: Vollständige Sätze, bitte. Die zweite Maxime fordert eine Vielzahl von Erhebungsverfahren. Sozial- und Verhaltenswissenschaft ler hängen von drei Informationsquellen ab, um über Verhalten, Gefühle und Bewusstseinsinhalte zu urteilen: 1) verbale Äußerungen, darunter Selbstaussagen und Beschreibungen von Informanten; 2) beobachtetes Verhalten im Labor oder in natürlicher Umgebung und 3) Messungen der zentralen und peripheren Physiologie. Jede Quelle kann zu einem anderen Ergebnis führen. Die Beschreibungen einer Person, die nur auf verbaler Information beruht – von der Person selbst oder von anderen –, kann kohärent sein, wird sich aber von der Beschreibung unterscheiden, die sich auf die Beobachtung der Person 351
und auf physiologische Informationen stützt. Wenn wir uns auf eine Informationsquelle beschränken, bezahlen wir den Preis eingeschränkter Erkenntnisse. Ein ernstes Problem in den gegenwärtigen Forschungen über die menschliche Persönlichkeit besteht darin, dass die Grundlagen für die fünf so genannten Hauptpersönlichkeitstypen nicht Beobachtungen von Verhalten und Gefühlslagen sind, wie die meisten Laien annehmen, sondern Antworten auf Fragebögen. Die Fragen untersuchen keine psychologischen Prozesse, die nicht bewusst sind, und natürlich übergehen sie vollkommen die Physiologie, die zur Vielgestaltigkeit der menschlichen Stimmungen und Handlungen beiträgt. Kein Biologe würde sich auf die verbalen Berichte von Wanderern, Jägern und Forstbeamten verlassen, um Zahl und Art der vorhandenen Tierspezies festzusetzen. Es sollte für die Sozialwissenschaft ler kein Anlass zu Stolz sein, dass sie mit Vorliebe verbale Beschreibungen einer Person zur Evaluierung von Handlung, Stimmung und Physiologie benutzen. Diese Strategie lässt den epistemologischen Unterschied außer Acht, der zwischen den Sozialwissenschaften auf der einen und der Biologie und Chemie auf der anderen Seite besteht. Eher spiegelt sich darin ein Mangel an Einsicht, dass es tiefes Verstehen aufgrund von nur einer Informationsquelle nicht geben kann. Fortschritte entstehen nur, wenn verschiedene Quellen kombiniert werden. Obgleich die Bedeutung der gegenwärtigen psychologischen Begriffe durch die neuen Fakten aus der Hirnforschung sowohl eine Veränderung wie Bereicherung erfahren wird, werden die psychologischen Bedeutungen 352
nicht vollkommen durch die biologischen Begriffe ersetzt werden. In einem Buch mit dem Titel Conversations on Mind, Matter, and Mathematics führen Pierre Changeaux, ein Biologe, und Alain Connes, ein Mathematiker, ein Gespräch über die Beziehung zwischen mentalen Hervorbringungen und ihren biologischen Ursachen.2 Der Mathematiker überraschte und frustrierte den Biologen, indem er darauf beharrte, dass jede mathematische Gleichung, die in einem Bewusstsein gedacht wird, ein genauso wirkliches, natürliches und autonomes Geschehen ist wie Neurotransmitter-Moleküle, die in eine Synapse freigesetzt werden. Der Mathematiker meinte damit, dass Neurowissenschaft ler im Prinzip niemals in der Lage sein werden, den Inhalt eines Gedankens auf ein neurales Profil zu reduzieren. Das mentale Ereignis wird immer eine gewisse ontologische Unabhängigkeit von seiner neurophysiologischen Grundlage bewahren, genauso wie Kopfschmerzen oder die Gefühlslage nach sportlicher Betätigung nicht vollständig durch die zugrunde liegende Physiologie erklärt werden, wie umfassend die physiologische Beschreibung auch immer sein mag. Die ersten drei Sätze der Gettysburg-Rede von Abraham Lincoln lösen verschiedene Arten von Aktivität in den Rezeptoren auf der basilaren Membran des inneren Ohres aus wie auch in der Neuronengruppe im Gehörkortex. Doch die Bedeutung jener Sätze lässt sich aus der Art der neuralen Aktivität nicht erschließen. Bedeutung transzendiert ihre elementaren Grundlagen. Trotz dieser inhärenten Grenzen der physiologischen Messungen glaube ich, dass eine Erweiterung der psy353
chologischen Information um biologische Evidenz neue, fruchtbare Modelle schaffen wird, die anstelle von phänomenologischen Behauptungen nützlichere Konzepte setzen, die näher an der Natur sind. Einen ähnlichen Fortschritt gab es in der Physik, als die Entdeckung der Radioaktivität vor fast einem Jahrhundert Wissenschaft ler dazu anregte, nach den Bestandteilen dessen zu forschen, was sie bis dahin für unteilbare Atome gehalten hatten. Wenn Psychologen relevante physiologische Informationen über jene Erwachsenen besäßen, die wir heute extrovertiert nennen (aufgrund ihrer Antworten zum Fragebogen), würden sie mehrere verschiedene Typen entdecken. Keines der heutigen Persönlichkeitskonzepte wird das nächste halbe Jahrhundert überleben; jede Persönlichkeit ist heterogen in ihrer Geschichte und Physiologie und deshalb ist jede ein potenzieller Kandidat für eine fruchtbare Analyse. Eine dritte Maxime lautet: Beachte Kategorien. Statt alle individuellen Unterschiede als quantitative Variationen zu betrachten, die auf einem Kontinuum angeordnet sind (zum Beispiel von niedriger zu hoher Soziabilität, von niedriger zu hoher Aggressivität oder von niedriger zu hoher Impulsivität), sollten wir die potenzielle Nützlichkeit qualitativer Kategorien beachten, die Individuen an den Extremen einer Dimension repräsentieren, oder jene, die eine besondere Kombination von Eigenschaften besitzen. Einige extrem soziable Erwachsene sind qualitativ, nicht quantitativ, verschieden von solchen, die nur leicht extrovertiert sind. Erwachsene, die sowohl extrovertiert 354
als auch in Krisenzeiten nachdenklich sind, sind qualitativ verschieden von Extrovertierten, die zu Impulsivität neigen. Nur sehr wenige nützliche biologische Kategorien werden von einer Eigenschaft oder Dimension allein definiert. Kategorien von Menschen sind analog zu nahe verwandten Spezies, wobei jede Spezies durch eine in Wechselbeziehung stehende Gruppe von Merkmalen definiert wird. Jeder gegenwärtige Persönlichkeitstyp sollte durch eine Familie von Kategorien ersetzt werden, die das Temperament, die Entwicklungsgeschichte und die erwachsenen Charakteristika berücksichtigt. Ein Verstehen solcher Klassen von Personen erfordert vielfältige Perspektiven. Die letzte Maxime geht dahin, dass der Mensch ein bewusstes Wesen ist und fordert diejenigen auf, die Menschen erforschen, danach zu fragen, wie die Person ihre Erfahrung interpretiert. Die meisten Sozialwissenschaftler untersuchen den Einfluss von Ereignissen, die sich leicht quantifizieren lassen – Gewalt im Fernsehen, elterliche Bestrafungen oder Scheidungen –, weil sie nicht über Methoden verfügen, die Einsicht in die inneren Konstruktionen von Kindern oder Erwachsenen gewähren. Wir müssen neue Methoden entwickeln, um die große Zahl stillschweigender, aber informativer Assoziationen offen zu legen, die Menschen haben, insbesondere jene, die sich von Identifikationen mit Geschlecht, Familie, Klasse und ethnischen Gruppen herleiten. Es gibt keine Gruppe zuzuordnender Ereignisse, die ein Beobachter filmen könnte, welche die Existenz der eng verbundenen semantischen Assoziation bei Kindern zwischen 355
der Kategorie »weiblich« und der Kategorie »natürlich« aufzeigte. Die dramatischen Fortschritte in Biologie, Chemie und Physik in diesem Jahrhundert hätte es ohne die Entwicklung neuer Methoden nicht gegeben, sei es die DNS-Technologie oder die Radioastronomie. Die Sozialwissenschaften müssen neue Mittel erarbeiten, mit denen sich Dinge nachweisen lassen, wenn ihre Disziplinen Fortschritte machen sollen. Die Maxime, dem Bewusstsein der Menschen seinen ihm gebührenden Platz einzuräumen, enthält zwei sich wechselseitig bedingende Implikationen. Die erste, die in den Kapiteln 1 und 2 entfaltet wurde, besagt, dass das Bewusstsein der Menschen die meiste Zeit von Diskrepanzen oder relativen Unterschieden geweckt wird und nicht so sehr von einem einzelnen Ereignis, das absolut gesetzt wird. Hungergefühle entstehen, wenn sich der Zuckerspiegel im Blut ändert und nicht bei irgendeiner spezifischen Zuckerkonzentration im Blut. Das Erscheinen einer Rose auf einem Bildschirm löst nur dann eine spezifische Hirnwelle – P300 genannt – aus., wenn zuvor viele andere Bilder, die keine Rosen zeigen, zu sehen waren und also eine Diskrepanz vorliegt. Ein Überraschungszustand provoziert automatisch den Versuch einer Interpretation, die der wichtigste Lenker des Verhaltens ist. Es ist keine Bescheidenheit, wenn manche Psychologen mit Ratschlägen, wie sich Eltern ihren Kindern gegenüber verhalten sollen, zurückhaltend sind, vielmehr ist es die Erkenntnis, dass nicht irgendein spezielles Handeln der Eltern die Entwicklung des Kindes prägt, sondern die Interpretation, die das Kind daran vornimmt. Ob es gute 356
oder schlechte Folgen hat, wenn ein Kind einen Klaps bekommt, weil es den Nachtisch eines Geschwisters aufgegessen hat, hängt davon ab, ob das Kind diese Maßnahme als gerecht oder als ungerecht interpretiert. Menschen interpretieren Veränderungen in komplexer, symbolischer Weise – Tiere tun das nicht –, und eine der ersten Interpretationen einer Erfahrung ist die, ob die Veränderung gut oder schlecht ist: für uns selbst und für diejenigen, die uns wichtig sind. Kein Tier ist einer solchen Überlegung fähig. Die Serben, die unschuldige Nachbarn ermordeten, lassen sich nicht mit Tigern vergleichen, die Gazellen töten. Die Menschen töteten, weil sie ihren Glauben an ihren eigenen Wert bedroht fanden; die Tiger, weil sie hungrig waren. Anstrengungen, die unternommen werden, um asoziale Jugendliche zu bessern, sollten deren Definition guter Eigenschaften verändern und nicht allein auf Bestrafung Nachdruck legen. Die Jugendlichen von heute erkennen den tiefen Zynismus, der unsere Gesellschaft durchdringt, und sehnen sich nach mehr Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Verantwortung und Loyalität. Bewunderer des Romanciers Isaac Bashevis Singer werden sich daran erinnern, dass die stets unehrliche und treulose Frau Gimpels des Narren in dem Moment, da sie erfährt, dass er von seinem altmodischen Moralkodex abweichen will, von den Toten zurückkehrt, um ihrem immer verzeihenden und vertrauensseligen Mann zu sagen, dass er es war, nicht sie, der den besseren Weg gewählt hatte.
Anmerkungen
Prolog 1. J. M. Nash, »Fertile Minds«, Time, 3. Februar 1997, 51, 55. 2. T. Parker, The Violence of Our Lives (New York: Holt, 1995).
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den Schimpansen, der ein Stück Futter versteckt – erst dann kann man in allen drei Fällen von Bewusstsein sprechen. Doch funktionale Unterschiede sind theoretisch oft gefährlich. Ein zu exzessiver Alkoholgenuss, eine Gehirnerschütterung, das Spritzen von Heroin und die Alzheimersche Krankheit zeichnen sich alle durch eine starke Beeinträchtigung des deklarativen Gedächtnisses aus. Dennoch würden nur wenige behaupten, dass diese vier Zustände den gleichen psychologischen Zustand oder den gleichen Hirnstatus darstellen. Auf funktionale Definitionen wird immer dann zurückgegriffen, wenn Wissenschaft ler die Struktur eines bestimmten Gebildes nicht verstehen, sei es Gen, Hirnmolekül oder Hirnregelkreis. Siehe J. Searle, »Consciousness and the philosophers«, New York Review of Books, 6. März, 1997, 43–50. G. M. Edelman, The Remembered Present (New York: Basic Books, 1989). V. Mountcastle, »The evolution of ideas concerning the function of the neo-cortex«, Cerebral Cortex 5 (1995): 289–295; E. Mayr, Toward a New Philosophy of Biology (Cambridge: Harvard University Press, 1988). W. Wittling, »Brain asymmetry in the control of autonomic physiologic activity«, in: R. J. Davidson und K. P. Hugdahl, Hrsg., Brain Asymmetry (Cambridge: MIT Press, 1995): 305– 357. W. Schultz, P. Danyan und P. R. Montague, »A neural Substrate of prediction and reward«, Science 275 (1997): 1593– 1599; I. Wickelgren, »Getting the brain’s attention«, Science 278 (1997): 35–37. J. M. Jennings, A. R. Mclntosh, S. Kapur, E. Tulving und S. Hule, »Image subtractions do not always add up: the interaction between semantic processing and response modes«, in: A. W. Toga, R. S. I. Frackowiak und J. C. Maziotta, Hrsg., Second International Conference on Functional Mapping of the Human Brain (Boston: Academic Press, 1996): S 226; G. Stemmler, Differential Psychophysiology (New York: Springer Verlag, 1992); T. W. Smith, J. B. Nealey, J. C. Kircher und J. P.Limon, »Social determinants of cardiovascular reactivity«, Psychophysiology 34 (1996): 65–73; P. D. Drummond, »The effect of adrenergic blockade on blushing and facial flushing«, Psychophysiology
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ihrer Mutter mit extremer Angst. Sie saugte stundenlang an ihrer Hand oder saß einer Wand zugekehrt. Eine der Psychologinnen, die in dem Heim arbeitete, verfolgte die Entwicklung des Kindes und baute eine Beziehung zu ihr auf. Als das Mädchen erwachsen wurde, wohnte sie bei der Psychologin, während sie in London nach einem Job suchte. Die Psychologin hatte den Eindruck, dass die junge Frau auf gesunde Weise angepasst war, ohne ernste innere Konflikte oder pathologische Züge. Die längere Trennung von der Mutter und die begleitende Angst, »hatte weder die weitere Entwicklung unterbrochen noch in ihrem erwachsenen Leben eine negative Spur hinterlassen«. I. Hellman, »Hamstead nursery follow-up studies«, Psychoanalytic Study of the Child 17 (1962): 159–174. D. E. Eyer, Mother-Infant Bonding (New Haven: Yale University Press, 1992). Time, 3. Februar 1997, 221. Die gleiche Warnung fand sich in der NewYork Times vom 17. April 1997. M. West, Infant Care, Ser. 2, Bureau Publication 8 (Washington, D. C: U. S. Government Office, 1914): 59. E. E. Werner und R. S. Smith, Vulnerable But Invincible (New York: McGrawHill, 1982). H. B. D. Kettlewell, »A resume of investigations on the evolution of melanism in the Lepidoptera«, Proceedings of the Royal Society B145 (1956): 297–303. C. B. Alberti, Della Famiglia, trans. G. A. Guarrino (Lewisberg, PA: Buckneil University Press, 1971). J. Robinson, »New essay«, in: R. Ashton, Hrsg., The works ofJohn Robinson, Pastor of the Pilgrim Fathers, Bd. 1 (Boston: Doctrinal Tractand Book Society, 1851): 242–250. F. Wayland, The Elements of Moral Science (1835; Cambridge: Harvard University Press, 1963). J. Bowlby, »Separation, anxiety, and anger«, in: Bowlby, Attachment and Loss, Bd. 1, 321. M. D. S. Ainsworth, M. C. Blehar, E. Waters und S. Wall, Patterns of Attachment (Hillsdale, NJ: Erlbaum, 1978). R. Seifer, M. Schiller, A. J. Sameroff, S. Resnick und K. Riordan, »Attachment, maternal sensivity, and infant temperament during the first year of life«, Developmental Psychology
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culture«, American Journal of Orthopsychiatry 28 (1958): 408– 415. Wayne Dennis berichtet von dem ungewöhnlichen Experiment, das er vor fünfzig Jahren durchführte und das heute als unethisch empfunden würde. Dennis und seine Frau zogen zwei Zwillingsmädchen in den ersten sieben Lebensmonaten bei sich zu Hause unter Bedingungen auf, die die meisten als Deprivation bezeichnen würden. Die kleinen Kinder blieben in einem Zimmer, mit ihnen wurde weder gespielt noch gesprochen, es sei denn dies war Teil der Fürsorge-Routine. Nichtsdestoweniger machten beide Kinder die üblichen Reifeschritte in den dafür erwarteten Zeiträumen. Dennis kam zu dem Schluss: »Normale Verhaltensentwicklung kann bei manchen Kleinkindern auch dann stattfinden, wenn sie im ersten Lebensjahr nur minimaler sozialer Stimulation und sehr wenig körperlicher Praxis ausgesetzt sind.« W. Dennis, »Infant development under conditions of restricted practice and of minimum social Stimulation«, Journal of Genetic Psychology 53: 149–157. M. Rutter, persönliche Mitteilung. J. Kagan, The Nature of the Child (New York: Basic Books, 1984). J. Kagan und H. A. Moss, Birth to Maturity (New York: John Wiley, 1962). Werner und Smith, Vulnerable But Invincible, 159. A. M. Clarke und A. D. B. Clarke, Early Experience: Myth and Evidence (London: Open Books, 1976). C. Ernst, »Are early childhood experiences overrated?«, European Archives of Psychiatry and Neurological Science 237 (1988): 80–90. M. C. Jones, N. Bayley, J. W. MacFarlane und M. P. Honzik, Hrsg., The Course of Human Development (Lexington, MA: Xerox, 1971). Siehe auch: D. S. Pine, D. Gurley, J. Brook und Y. Ma, »The risk of early adulthood anxiety and depressive disorder in adolescents with anxiety and depressive disorders«, Archives of General Psychiatry 55 (1998): 56–64. M. Rutter, »Continuities and discontinuities from infancy«, in: J. D. Osofsky, Hrsg., Handbook of Infant Development, 2. Aufl. (New York: John Wiley, 1987): 1256–1296.
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Kapitel 3: Das Lustprinzip 1. Auch wenn Freud sich nicht festlegte, ob die Erregungszunahme nur einen sensorischen Ursprung habe, erklärte er sehr bestimmt – und war im Irrtum –, dass Lust eine Minde-
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rung und Unlust eine Zunahmeder Erregungsquantität bedeute. S. Freud, Jenseits des Lustprinzips (Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1920). Bertrand Russell argumentierte in »The Elements of Ethics«, dass der Begriff »gut« nicht durch eine bestimmte Handlung definiert werden kann. Eine Handlung ist moralisch gut, schrieb Russell, wenn der Handelnde ihr subjektiv zustimmt. B. Russell, Philosophical Essays(New York: Simon and Schuster, 1966). Einer der neuen chinesischen Unternehmer, der eine Bar und einen Massagesalon in Peking betreibt, hat den Unterschied zwischen Sinneswahrnehmung und Bewusstsein erfasst. Nachdem er dem Interviewer mitgeteilt hat, dass er sein Geschäft hasse, weil es gegen seine moralischen Überzeugungen verstoße, fügte er hinzu: »Meine Haltung ist die: Wenn meine Augen es nicht sehen, dann macht es meinem Bewusstsein nichts aus.« J. Spence und A. Chin, »Deng’s heirs«, New Yorker, 10. März 1997, 76. C. Darwin, »Notebooks«, in: H. E. Gruber, Darwin on Man (London: Wildwoood House, 1974): 400. J. Olds und P. Milner, »Positive reinforcement produced by electrical Stimulation of septal areas and other regions of rat brain«, Journal of Comparative and Physiological Psychology 47 (1954): 419–427; C. R. Gallistel, »Selfstimulation«, in: J. A. Deutsch, Hrsg., Physiological Basis of Memory (New York: Academic Press, 1983): 265–349; I. Wickelgren, »Getting the brain’s attention«, Science 278 (1997): 35–37. A. Maclntyre, After Virtue (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1981): 61–62. A. O. Hirschman, Passions and Interests (Princeton: Princeton University Press, 1977). A. Smith, The Theory of the Moral Sentiments (New Rochelle: Arlington House, 1959): 84. C. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (London: Murray, 1871); G. Broberg, »Linnaeus’s classification of man«, in: T. Frangsmyr, Hrsg., Linnaeus: The Man and His Work (Berkeley: University of California Press, 1983): 167. S. Lee und A. Kleinman, »Mental illness and social change in China«, Harvard Review of Psychiatry 5 (1997): 43–6.
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10. B. S. Thornton, Eros (Boulder: Westview Press, 1997). 11. R. A. Shweder, N. A. Much, M. Mahapatra und L. Park, »The ›big three‹ of morality (autonomy, Community, and divinity) and the ›big three‹ examples of suffering«, in: J. A. Brandt und P. Rozin, Hrsg., Morality and Health (New York: Routledge and Kegan Paul, 1977). 12. L. Pollock, A Lasting Relationship (Hanover, NH: University Press of New England, 1987). 13. T. Hobbes, Leviathan, hrsg. von M. Oakeshott (1651; Oxford University Press, 1957); J. Rawls, A Theory of Justice (Cambridge: Harvard University Press, 1971); P. Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (Cambridge: Harvard University Press, 1996). 14. H. White, The Content of the Form (Baltimore: John Hopkins University Press, 1987). 15. R. Nozick, Philosophical Explanations (Cambridge: Harvard UniversityPress, 1981). 16. T. H. Huxley, Life and Letters of Thomas Henry Huxley (New York: Appleton, 1901). 17. J. Dewey, Die Erneuerung der Philosophie (Hamburg: Junius Verlag, 1989): 149. 18. E. O. Wilson, Soäobiology (Cambridge: Harvard University Press, 1975). 19. P. H. Abelson, »Diet and cancer in humans and rodents«, Science 255(1992): 141. 20. P. M. H. Mazumdar, Species and Specificity (New York: Cambridge University Press, 1995). 21. M. Ridley, The Origins of Virtue (New York: Viking, 1996). 22. R. Levi-Montalcini, »The nerve growth factor 35 years later«, Science 237 (1987): 1154–1162. 23. W. A. Mason und J. P. Capitanio, »Formation and expression of fi lial attachment in rhesus monkeys raised with living and inanimate mother substitutes«, Developmental Psychobiology 21 (1988): 401–430. 24. »Darwin revisited«, Economist, 30. August 1997, 11. 25. R. D. Alexander, The Biology of Moral Systems (New York: DeGruiter, 1987); F. de Waal, Good Natured (Cambridge: Harvard University Press, 1996); J. Q. Wilson, The Moral Sense (New York: Free Press, 1993); E. Mayr, This Is Biology: The Sci-
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ence of the Living World (Cambridge: Harvard University Press, 1996). W. Köhler, The Mentality of Apes, trans. E. Winter (1917; New York: Harcourt Brace & World, 1925); R. M. Yerkes, Almost Human (London: Jonathan Cape, 1925). D. J. Povinelli und T. J. Eddy, »What young chimpanzees know aboutseeing«, Monographs of the Society for Research in Child Development61 (1996): 3. M. Tomasello, J. Call und A. Gluckmann, »Comprehension of novelcommunicative signs by apes and humans in children«, Child Development 68 (1997): 1067–1080. Povinelli und Eddy, »What young chimpanzees know about seeing«. B. Herman, The Practice of Moral Judgment (Cambridge: Harvard University Press, 1993). D. Hume, An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751; LaSalle, II: Open Court, 1966); J. Monod, Chance and Necessity (NewYork: Knopf, 1971). J. Kagan, N. Snidman und D. Arcus, »Childhood derivates of reactivityin infancy«, Child Development (im Druck). C. L. Gerstadt, Y. J. Hong und A. Diamond, »The relationship between cognition and action«, Cognition 53 (1994): 129–157. J. Kagan, The Nature of the Child (New York: Basic Books, 1984). L. Menand, »The gods are anxious«, New Yorker, 16. Dezember 1996, 5–6. A. Damasio, Descartes’ Error (New York: Putnam, 1994); W. Wittling, »Brain asymmetry in the control of autonomic-physiologic activity«, in: R. J. Davidson und K. Hugdahl, Hrsg., Brain Asymmetry (Cambridge: MIT Press, 1995): 305– 358; A. Ehlers und B. Breuer, »Increased cardiac awareness in panic disorder«, Journal of Abnormal Psychology101 (1992): 371–382; C. H. Rouse, G. E. Jones und K. R. Jones, »Theeffect of body composition and gender on cardiac awareness«, Psychophysiology 25 (1988): 400–407. S. Taylor, W. J. Koch, S. Woody und P. McLean, »Anxiety, sensitivityand depression«, Journal of Abnormal Psychology 105 (1996): 474–475. W. James, »What is emotion?«, Mind 9 (1984): 188–205; C.
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Lange, Ueber Gemüthsbewegungen (Leipzig: Theodor Thomas, 1887). Pollock, A Lasting Relationship. J. Joyce, Jugendbildnis des Dichters, übers. G. Goyert (Frankfurt a. M., 1967): 221. R. Rhees, Hrsg., Recollections of Wittgenstein (New York: Oxford, 1981): 174; L. Wittgenstein, Culture and Value, trans. P. Winch (Chicago: University of Chicago Press, 1984): 20, 21, 36, 72; R. Monk, LudwigWittgenstein (New York: Free Press, 1990): 442. C. Milosz, The Year of the Hunter (New York: Farrar, Straus, Giroux, 1994). R. F. Christian, Tolstoy’s Diaries (New York: Scribner, 1985): 4– 12, 329. M. Benson, Hrsg., Notebooks of Athol Fugard (1960/1977) (London: Faber and Faber, 1983). D. Grossman, On Killing (New York: Little, Brown, 1995). Ebda., 201, 88. R. Yehuda, S. M. Southwick und E. L. Giller, »Exposure to atrocities and severity of chronic posttraumatic stress disorder in Vietnam combat veterans«, American Journal of Psychiatry 149 (1992): 333–336; A. Bleich, M. Koslowsky, A. Dolev und B. Lerer, »Posttraumatic stress disorder and depression«, British Journal of Psychiatry 105 (1996): 455–458. D. P. Valentiner, E. B. Foa, D. S. Riggs, and B. S. Gershuny, »Copingstrategies and posttraumatic stress disorder in female victims of sexualand nonsexual assault«, Journal of Abnormal Psychology 105 (1996): 445–448. N. McCall, Makes Me Wanna Holler (New York: Vintage, 1995): 49. C. S. North, E. M. Smith und E. L. Spitznagel, »One year follow-up of survivors of a mass shooting«, American Journal of Psychiatry 154 (1997): 1696–1702; Z. Soloman, Coping with War-Induced Stress (New York: Plenum, 1995). Soloman, Coping with War-Induced Stress. M. Ridley, The Origins ofVirtue, 265. de Waal, Good Natured, 218.
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Epilog 1. T. A. Appel, The Cuvier-Geoff roy Debate (New York: Oxford, 1987). 2. M. B. DeBevoise, Hrsg., Conversations on Mind, Matter, and Mathematics (Princeton: Princeton University Press, 1995).
Danksagung
Ich danke Loyal Rue, William Damon, J. Steven Reznick, Richard Hackman und Marc Hauser für ihre konstruktive Kritik an einem oder mehreren Kapiteln und Susan Wallace Boehmer erneut für ihre Hilfe, Dinge klarer zu formulieren und verklausulierte Prosa zu entwirren. Besonderer Dank gebührt Paula Mabee und Blair Boudreau für die sorgfältige Herstellung des Manuskripts. Der Forschungsteil, der sich in Kapitel 1 mit dem Temperament befasst, wurde gemeinsam mit Nancy Snidman erarbeitet und mit finanziellen Hilfen unterstützt von dem John D. und Catherine T. MacArthur Foundation Network on Psychopathology and Development sowie von dem National Institute of Mental Health. Viele Anregungen für dieses Buch erhielt ich durch Diskussionen mit Teilnehmern der Mind/Brain/Behavior-Initiative an der Harvard Universität.
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Personenregister [Alle Seitenzahlen verweisen auf die Druckversion] Ainsworth, Mary 141 Alberti, Leon Battista 132 Alexander, Richard 230 Aquin, Thomas von 18, 221 Aristoteles 225, 258 Auden, Wystan Hugh 134 Austen, Jane 233
De Waal, Frans 230, 232 Degler, Carl 182 Dennett, Daniel 59 Dewey, John 222 Diamond, Adele 83 Dirac, Paul Adrien Maurice 204 Douglas, Mary 191
Beckett, Samuel 202 Binet, Alfred 76 Blake, William 267 Block, Ned 68 Bohr, Niels 66, 107–108 Bornstein, Marc 121 Bowlby, John 122, 133–135, 140, 153 Boyle, Robert 19, 60 Bunyan, John 28 Burton, Robert 251, 254
Eddington, Arthur 137 Edelman, Gerald 59, 68 Einstein, Albert 66, 108, 137, 139, 174, 205 Eidrege, Niles 123 Eliot, T. S. 136 Erikson, Erik H. 122, 133, 262 Feynman, Richard 35 Frege, Gottlob 60, 117 Freud, Sigmund 28–29, 54, 57, 90–91, 133, 157–158, 165– 166, 202, 212, 220, 222, 240, 257, 262, 292 Fugard, Athol 254
Cairns, Robert 63 Camus, ALbert 219 Carlson, Elizabeth 148 Carroll, John 80 Cattell, Raymond 91–92 Changeaux, Jean-Pierre 272 Cheever, John 54–55 Connes, Alain 272 Cuvier, Georges 174, 270 Darwin, Charles 98, 110–111, 123, 132, 139, 150, 174, 185–187, 199, 206, 210, 214, 217, 220–221, 223, 226– 227, 229, 258, 262
Galileo 19, 175, 225 Gallistel, Charles 211 Galton, Francis 74–75 Gardner, Howard 77 Gigerenzer, Gerd 87, 89 Goodall, Jane 227 Gorer, Geoffrey 120 Gould, Stephen 123 Gray, Jeff rey 112 Greenough, William 203
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Harrington, Anne 63 Heisenberg, Werner 175 Herrnstein, Richard 25 Hobbes, Thomas 216, 230 Homans, George 199 Hubel, David 125 Hume, David 239 Huxley, T. H. 220–221 Jackson, Frank 111 James, Alice 54–55 James, Henry 54, 233 James, William 54, 250 Joyce, James 223, 251 Kant, Immanuel 165, 196, 221 Kennell, John 125 Kepler, Johannes 100, 175 Kermode, Frank 196 Klaus, Marshall 125 Koch, Robert 225 Köhler, Wolfgang 63 Kosso, Peter 107 Lamb, Michael 121 Landsteiner, Karl 225 Lange, Carl 250 Le Vine, Robert 142 Locke, John 165–166, 236–237
Marks, Isaac 44 Marx, Karl 194, 202 Mayr, Ernst 98, 198 McCall, Nathan 256 Menand, Louis 242 Mendel, Gregor 14, 91 Mill, John Stuart 168, 211, 230 Miller, Arthur 206 Milner, Peter 211 Milosz, Czeslaw 253–254 Monod, Jacques 239 Montaigne, Michel Eyquem 132, 196 Murray, Charles 25 Neisser, Ulric 100 Newton, Sir Isaac 20, 174 Nozick, Robert 196, 220 Olds, James 211 Pasteur, Louis 14, 175 Pawlow, Ivan Petrovich 33–34, 46, 175 Piaget, Jean 10, 242 Plato 98, 232, 245 Putnam, Hilary 48, 108 Pythagoras 190 Quine, W. V. O. 20
MacFarlane, Jean 158 Mach, Ernst 97 Maclntyre, Alasdir 211 Magnusson, David 63 Mahler, Gustav 202 Malthus, Thomas 187 Manchester, William 255 Manuel, Frank 194 MaoTseTung 91, 170
Rawls, John 217 Rayner, Rosalie 45 Robinson, John 132 Rockefeller, John D. 213 Rodriguez, Richard 193 Rousseau, Jean-Jaques 120 Russell, Bertrand 60, 114, 196, 292
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Rutter, Sir Michael 158
Updike, John 195–196
Saint-Hilaire, Etienne Geoffrey 174, 270 Sartre, Jean-Paul 48, 91, 219 Shaw, George Bernard 168 Shweder, Richard 216 Simon, Theodore 76 Singer, Isaac Bashevis 275 Smith, Adam 214, 236, 262 Smith, Susan 182 Spearman, Charles 76 Sroufe, L. Alan 148 Stich, Stephen 109 Sulloway, Frank 185
Wallace, Alfred Rüssel 186 Watson, John 45, 165 Wayland, Francis 132 Weber, Max 202 Wertheimer, Max 63 White, Hayden 218 Whitehead, A. N. 7, 24, 177, 196 Wideman, John 199 Wiesel, Torsten 125 Wilson, E. O. 230 Wilson, James Q. 230 Wittgenstein, Ludwig 24–25, 145, 202, 252, 254
Thomas, Dylan 178 Thurstone, L. L. 76–77, 254 Tolstoi, Leo 253–254 Tryon, Robert 77