Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 509
Fred McMason
Die Burg Zion Ein Seeabenteuer-Roman
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Es waren Mel Ferrow und...
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Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr. 509
Fred McMason
Die Burg Zion Ein Seeabenteuer-Roman
2
Es waren Mel Ferrow und Roger Lutz aus der Crew Jean Ribaults, die den fanatisierten Anhängern des Jeremiah Josias Webster in die Hände fielen, als sie die abgeschirmte Bucht an der Südküste von New Providence erkundeten. Webster nahm die beiden Männer als Geiseln und drohte, sie zu erschießen oder aufzuhängen. Da mußte Jean Ribault wohl oder übel mit der ›Golden Hen‹ abziehen, aber er würde seine beiden Männer nicht im Stich lassen. Indessen plante der üble Webster bereits, ein ›Gottesurteil‹ über die beiden Geiseln zu verhängen, ein schauriges Spektakel zum Ergötzen seiner ›Gemeinde‹. Die beiden Männer sollten gegen den Riesenhai in der Bucht kämpfen. Nur kannte Webster eben nicht den Haifisch-Töter Mel Ferrow, der selbst zum Angriff überging… Die Hauptpersonen des Romans: Jeremiah Josias Webster – der erhabene Großmeister begeht einen kaltblütigen Mord und legt sich dann schlafen. Harris – der ehemalige Schreiberling ist seinem Herrn hündisch ergeben. Jessica Baker – hat etwas dagegen, die Stammutter eines neuen Geschlechts zu werden. Philip Hasard Killigrew – sein Plan, den Großmeister auszuschalten, wird einstimmig angenommen. Jean Ribault – mit ein paar harten Kämpfern bricht er auf, um Hasards Plan zu verwirklichen. 1. 24. Juni 1595 Südküste von New-Providence. Dem religiösen Scharlatan Jeremiah Josias Webster standen 3
immer noch die Haare zu Berge, denn die eben abgelaufene Szene stand allzudeutlich vor seinem geistigen Auge. Der Großmeister oder Erhabene, wie Webster sich von seinen ebenfalls fanatischen Anhängern anreden ließ, hatte ein Gottesurteil gefällt. Dieses sogenannte Gottesurteil war nichts als eine einzige Farce gewesen. Aber das ahnten die fanatisierten Gläubigen nicht. Sie vertrauten Webster blindlings und völlig ergeben. Webster war ein stiernackiger und grobschlächtiger Mann mit hellen, fanatisch funkelnden Augen und einer groben Hauklotzvisage. In England war er als Wanderprediger herumgezogen, als eifernder Anhänger des Puritanismus kalvinistischer Prägung. Er hatte sich in einen religiösen Wahn gesteigert und versinnbildlichte die Figur des eifernden und rachsüchtigen Jehova im Alten Testament. Rachsüchtig war er und von barbarischer Gewalttätigkeit, wenn es um seine Vorteile ging. Der Herr hatte ihn ›auserwählt‹, das ›Flammenschwert Gottes‹ zu sein, das solche Übel wie Trunksucht, Völlerei und Hurerei an der Wurzel ausrotten sollte. Jeremiah Webster tat das gründlich, obwohl er persönlich keineswegs abgeneigt war, diesen Gelüsten nach Kräften zu frönen. Augenblicklich stand er allerdings noch immer unter dem Eindruck der Szene, die sich in der Bucht abgespielt hatte. Er hatte seine beiden Gefangenen, Mel Ferrow und Roger Lutz, einem riesigen, sich in der Bucht herumtreibenden Hai zum Fraß vorwerfen lassen. Aber da ›Gottesurteil‹ war in die Hose gegangen. Die beiden Männer von Jean Ribault hatten das riesige Biest in einem Duell unter Wasser mit ihren Messern getötet. Jetzt trieb der ›Wächter von Jerusalem‹, wie Webster den Hai genannt hatte, kieloben in der Bucht. Das Wasser hatte sich erst blutrot, dann rosa verfärbt. Der riesige Hai sah wie ein gestrandetes Schiff aus. Sein nach oben gekehrter Unterleib war zerfetzt 4
von den Messern. Die Blutlache breitete sich immer weiter nach allen Richtungen aus. Ein paar hundert Leute sahen erschauernd zu fanatische Anhänger von Webster, die genauso entsetzt waren wie der Großmeister selbst. Der ›Wächter von Jerusalem‹ war tot! Die beiden Nattern vom Natterngezücht auf Great Abaco hatten den Hai entgegen aller Erwartungen abgestochen und waren einfach getürmt. Die Musketenschüsse, die man ihnen nachgeschickt hatte, waren ebenfalls wirkungslos verpufft. Nach und nach wurde sich der Großmeister des ganzen Ausmaßes der Pleite bewußt. Es war die dritte Niederlage, die er durch den Bund der Korsaren erfahren mußte. Ausgerechnet Edwin Carberry war der Großmeister in die Hände gefallen und der Profos schlug eine gewaltige Kelle. Dementsprechend sah Webster auch immer noch aus. Jetzt fehlte ihm der obere Schneidezahn, seine Nase war etwas verschoben, und die Klüsen brachte er nur sehr mühsam auf. Sie schillerten noch in allen Farben. Kurzum: Die Hauklotzvisage war lädiert und verbeult. Das war die zweite Dresche gewesen, die sie bezogen hatten. Und die dritte Pleite hatten sie gerade eben erlebt. Neben Webster stand mit verkniffenem Gesicht ein Mann namens Harris, bigott bis in die Knochen und dem Großmeister in hündischer Ergebenheit zugetan. Harris war Junggeselle und vor der Ausreise aus England Schreiber in einer winzigen Gemeinde westlich von Plymouth gewesen. Er war ein schulmeisterlicher und pedantischer Mensch, mit dem Dünkel, zu Höherem geboren zu sein. Der Großmeister hatte ihn zu seinem Stellvertreter und Adjutanten ernannt. Harris hatte zwar nicht die Führungsqualitäten des Großmeis5
ters, aber er fühlte sich ständig zu allem ›berufen‹. Jetzt fühlte er sich dazu berufen, einen Kommentar abzugeben. »Das ist ja furchtbar«, hauchte er entsetzt. »Wie haben diese Nattern es nur geschafft, den Wächter von Jerusalem zu töten, Großmeister?« Mit dem Messer, du Idiot, wollte der Großmeister erwidern, aber das verkniff er sich gerade noch, denn die Antwort wäre in Anwesenheit der vielen anderen Gläubigen reichlich unpassend gewesen. »Der Herr hat es so gewollt«, sagte Webster salbungsvoll. »Ihm hat es gefallen, uns erneut einer Prüfung zu unterziehen. Wir, die wir hier die Burg Jerusalem zu errichten gedenken, werden besonders hart geprüft und geläutert, bis das Werk vollendet und Gott wohlgefällig ist.« »Sehr wohl, Großmeister« hauchte der schmächtige Harris, wobei er Webster einen ehrfurchtsvollen Blick zuwarf. Natürlich, so war es, eine Prüfung, wie konnte es auch anders sein! Schließlich waren sie in diese Neue Welt gesegelt um einen ›Kreuzzug‹ gegen Wilde, Heiden, Andersgläubige und das Natterngezücht auf Great Abaco durchzuführen. Da war es nur verständlich, daß der Herr in seiner grenzenlosen Güte sie auch vor harte Proben stellte. Den Großmeister hatte der Herr ganz besonders hart geprüft, denn der stand ihm sozusagen auch am nächsten. Das Gesicht des Erhabenen drückte diese harte Prüfung noch in schillernden Farben aus. Darüber schien der Großmeister auch recht unglücklich zu sein. Aber er war ein frommer Mann, und als solcher ertrug er die Leiden klaglos, wie sich das für ihn geziemte. Seit der letzten ›Prüfung‹ die in Gestalt eines narbengesichtigen Kerls mit einem gewaltigen Amboßkinn über ihn hereingefallen war, lispelte der Erhabene auch. Das rührte daher, daß ihm oben ein Schneidezahn fehlte. 6
»Laßt uns Gott wohlgefällig sein und ihm zu Ehren einen Choral anstimmen!« rief der Großmeister seinen Schäfchen zu, die immer noch voller Entsetzen auf den treibenden Riesenhai in der Bucht blickten. So ein Choral, besonders lautstark gesungen, half Webster oft über peinliche und schmachvolle Situationen hinweg. Es lenkte auch vom eigentlichen Geschehen ab. So ertönte denn aus mehreren hundert Kehlen ein Gesang, der in der ganzen Bucht widerhallte. Die fanatisierten Gläubigen, die Webster um sich geschart hatte, sangen aus vollen Kehlen. Und daneben stand mit strenger Miene der schulmeisterliche Harris, der strenggesichtig und wichtigtuerisch aufpaßte, daß auch ja alle inbrünstig mitsangen. Ja, sie sangen alle sehr inbrünstig mit, wie er feststellte. Auf allen vier Schiffen wurde lauthals gesungen. Am lautesten aber auf der ›Kyrie Eleison‹, sozusagen dem Flaggschiff, auf dem sich der Großmeister befand. Als der Choral beendet war, herrschte lange Augenblicke andächtige Stille. Die Augen der Gläubigen richteten sich wieder auf den ›Wächter von Jerusalem‹. Sein Maul war weit aufgerissen, und die schrecklichen Zähne waren zu sehen, messerscharfe Zahnreihen in einem blutigen Maul, die allen einen Schauer über den Rücken jagten. Dieser Riesenhai hatte sich kürzlich schon ein Opfer geholt, einen Mann, der gewagt hatte, ein paar kritische Einwände vorzubringen. Webster hatte ihn über Bord werfen lassen, um dem Herrn ein wohlgefälliges Opfer darzubringen, wie es der Herr von Abraham im ersten Buch Mose, Kapitel zweiundzwanzig, verlangt hatte. Durch dieses Opfer war er einen Quengler los, einen Mann der denken und kritische Fragen stellen konnte. Dadurch, daß der Hai das Opfer angenommen hatte, hatte der Herr auch zuge7
stimmt, daß in dieser herrlichen Bucht die Burg Jerusalem errichtet werden sollte. Keinem der Fanatiker kam es in den Sinn, daß Webster einen eiskalten Mord begangen hatte. Der Großmeister duldete in seinem ›Orden‹ keinen, der selbständig denken konnte. Außerdem war das grausige Schauspiel jenen eine Lehre, die Kritik äußern könnten. Daher ging Webster gegen jede Art von Opposition mit barbarischer Härte vor. Das bereitete ihm außerdem noch Lust, denn er war en pervertierter Sadist, der sich an Quälereien ergötzte. Der Großmeister mußte jetzt auch noch die vierte Prüfung über sich ergehen lassen, denn die Stille, die nach dem Choral herrschte, wurde durch schnellen Riemenschlag unterbrochen. Zwei keuchende Männer pullten das Boot auf die ›Kyrie Eleison‹ zu. Zwischen den Duchten hingen drei weitere Männer, leblos, offenbar waren sie tot oder sehr schwer verletzt. Webster blickte aus funkelnden Augen auf das Boot. Dann faltete er die Hände, blickte auf die Planken und sah wieder hoch. »Ich ahnte, daß uns noch weitere Prüfungen auferlegt werden«, sagte er entsagungsvoll. »Der Herr läßt nur die Geprüften walten, bis sie in seinen Augen wohlgefällig sind. Es ist ein langer und steiniger Weg, aber wir sind ihn bald gegangen, Brüder und Schwestern, und dann ist das Königreich unser.« Einer der Ruderer enterte schweigend auf, trat vor Webster hin und senkte den Kopf. »Wir haben drei Brüder auf der südlichen Landzunge gefunden, Erhabener«, sagte der Mann. »Sie wurden seit der Flucht der beiden Nattern vermißt. Jetzt fanden wir sie. Sie sind tot, erstochen von den erbärmlichen Schurken, die den Wächter von Jerusalem auf dem Gewissen haben. Ein weiterer Mann ist verletzt, wir haben ihn bereits versorgt. Was soll geschehen, Erhabener?« 8
Webster sah wieder auf die Toten in der Jolle. Zusammengekrümmt lagen sie reglos zwischen den Duchten. »Diese schmutzigen Teufel!« schrie der Großmeister in einem plötzlichen und rasenden Wutanfall mit donnernder Stimme. »Sie sind von den Mächten der Hölle besessen! Satansbrut, Schlangen und Natterngezücht, elendes! Sie werden diese Tat büßen, der Zorn Gottes wird sie grausam richten.« Sein Blick war flammend geworden, er hatte die Hände zu Fäusten geballt und sah sich mit fanatisch funkelnden Augen um. Er sah Entsetzen in den Gesichtern der Männer und Frauen, er sah Haß aufglimmen, der sich bis zur Raserei steigerte. Er stachelte die Leute noch mehr an, mit wilden Gesten, drohenden Fäusten und wilden Blicken, bis sie sich erneut in einen Taumel steigerten und lautstark nach Rache und Vergeltung riefen. In der einstmals so stillen und ruhigen Bucht war der Teufel los, als Websters fanatische Anhänger in ein Wutgebrüll ausbrachen. Diese drei Kerle, dachte er, die jetzt erstochen in der Jolle lagen, waren nicht einmal in der Lage gewesen, die Flucht der beiden Kerle zu verhindern. Schlappschwänze waren das seiner Ansicht nach, Feiglinge, die zu viert waren und sich einfach hatten abstechen lassen. Er hatte nur verächtliche Gedanken für sie übrig, denn durch die Unfähigkeit dieser Leute waren die beiden Kerle entwischt. Aber er hatte drei Märtyrer, und das war mehr wert, denn jetzt konzentrierte sich der ganze Haß seiner Anhänger auf die wilden Kerle, die hier wie die Teufel erschienen waren und kräftig aufgeräumt hatten. »Jawohl!« brüllte er noch lauter mit einer Donnerstimme, die auch den letzten Mann noch erreichte. »Der Allmächtige wird dieser Mörderbande eine Lektion erteilen. Wir werden sie von 9
Gottes Erdboden hinwegfegen. Der Himmel wird nicht eher ruhen, bis das feige Mördergesindel seine gerechte Strafe erleidet. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht«, wärmte er eine alte Weisheit dann wieder auf. Webster sprach mal etwas leiser, dann wieder lauter. Er kannte die Augenblicke genau, wann er die Leute hart aufhetzen mußte, um sie anzustacheln. Mitunter klang seine Stimme flehend, befehlend, einschmeichelnd oder wild und herrisch, und sie duldete in keiner Tonlage einen Widerspruch. Bewundert sahen die Schäfchen zu ihm auf. Er führte sie, er sorgte für sie, sie vertrauten ihm grenzenlos und hießen alles gut, was er anordnete oder tat. Blindlings fielen an die vierhundert Menschen auf den Scharlatan herein, glaubten jedes Wort, nahmen begierig jedes erlogene Beispiel von ihm auf und sangen danach beglückt ein Halleluja für den Erhabenen. »Lasset uns nun für die tapferen Männer beten, Brüder und Schwestern, die so heldenhaft ihr Leben für die anderen einsetzten und durch feige Mörderhand umkamen. Unser Gewissen wird nicht eher ruhen, bis unsere toten Brüder gerächt sind. Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es im Alten Testament geschrieben.« Nach dem Grundsatz hatten Mel Ferrow und Roger Lutz ebenfalls gehandelt, als man sie dem Riesenhai zum Fraß vorwerfen wollte.«Wer das tat, der hatte auch keine Schonung zu erwarten. Sie hatten sich ihren Fluchtweg rigoros freigekämpft. Die andere Seite hatte auch kein Erbarmen gezeigt. Daran dachte der Großmeister natürlich auch, aber er hütete sich, das auszusprechen. Die Schuld lag immer bei den anderen und war niemals in den eigenen Reihen zu suchen. »Was soll geschehen, Erhabener?« fragte der Mann demütig. »Wir werden sie begraben«, sagte Webster düster. »Dort auf jener Landzunge, wo sie im heiligen Kampf gefallen sind. Wir 10
werden ihr Andenken auf ewig in Ehren halten, schwört mir das!« Die Menge stimmte frenetisch brüllend zu. Aber das Gebrüll ging an den Ohren des Erhabenen vorbei. Er hörte es nur wie ein weit entferntes Tosen, das er kaum wahrnahm. Augenblicklich beschäftigte ihn ein ganz anderer Gedanke. Er begriff jetzt, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hätte die beiden Kerle niemals gegen den Hai kämpfen lassen sollen. Das war unklug von ihm, denn tote Geiseln brachten nichts ein. Tote Geiseln? Bewahre, die beiden Halunken lebten ja noch und waren entkommen. Entwischt waren sie, abgehauen, verschwunden. Das hatte fraglos zur Folge, daß es eine harte Gegenreaktion des Natterngezüchtes geben würde. Teufel, Teufel, dachte er beklommen. Verstohlen sah er sich nach links um, wo einer seiner ›Oberjünger‹ stand. Der Mann war Tischler und hieß John Moore. Webster hatte ihn bereits seit geraumer Weile im Auge, denn Moore war einer derjenigen, die bei aller Frömmelei und Bigotterie noch einen Funken Verstand hatten. Er kannte noch ganz gut die Realitäten und hatte bereits ein paarmal widersprochen. Ihre Blicke kreuzten sich. Websters Blick war flammend und leidenschaftlich. Moore hatte die Lider halb geschlossen, den Mund verkniffen und die Hände vor dem Bauch gefaltet. In sein Gesicht hatten sich tiefe Linien eingekerbt, die von Leid und Entbehrung zeugten. Sein schwarzgrauer Backenbart ließ ihn älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Es war, als hätte Moore seine Gedanken gelesen, als wüßte er ganz genau, was Webster augenblicklich dachte. »Drei unserer Leute sind tot, Erhabener«, sagte er mit leiser Stimme. »Es waren gute Männer, aber es ist ihnen nicht gelungen, die Mörder zu fassen. Das Entkommen dieser beiden Gefangenen wird Konsequenzen nach sich ziehen. Verzeihung, ich 11
möchte nur auf unsere augenblickliche Lage hinweisen.« Webster bedachte ihn mit einem eiskalten Blick. Moore senkte den Kopf noch tiefer. Er ertrug es nicht, in die fanatisch funkelnden Augen zu sehen. Dabei fühlte er sich immer, als würde er bis auf die Seele entblößt. »Sprich nur weiter«, sagte Webster gefährlich leise. »Als ob ich nicht selbst wüßte, wie unsere augenblickliche Lage aussieht.« »Die Ketzer werden wiederkommen, Erhabener. Der Oberketzer hat es angedroht. Mir klingen noch die Worte im Ohr. Er sagte, wenn wir die beiden Gefangenen nicht sofort herausgeben, wird hier eine Streitmacht von neun Schiffen aufmarschieren, und das würde das unweigerliche Ende unseres Ordens bedeuten.« »Sprich dich aus«, höhnte Webster so leise, daß es die meisten anderen nicht verstehen konnten. John Moore stand verlegen da. Er hob hilflos die Schultern und blickte wieder auf die fast weißgescheuerten Planken der Galeone. »Sie werden aufkreuzen«, hauchte Moore, »denn die anderen werden sie aufhetzen.« Webster hörte mit steinernem Gesicht zu. Ganz unterschwellig wollte Moore also damit sagen, daß er einen Fehler begangen hatte, indem er die beiden Kerle gegen den Hai kämpfen ließ. Gar nicht so dumm, der Mann, denn genau das waren seine eigenen Gedanken gewesen. »Was willst du damit sagen, John Moore?« »Zweierlei, Erhabener: Wir hätten die ketzerischen Halunken freigeben sollen. Jetzt, durch ihre Flucht, hat sich alles nur noch verschlimmert.« »Und was noch?« Websters rechte Hand wanderte langsam zum Gürtel seiner Hose. Darin steckte eine Peitsche mit Lederriemen, ein mörderi12
sches Schlaginstrument, mit dem der Großmeister an Ort und Stelle jene züchtigte, die ihm widersprachen. Dabei war es gleichgültig, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelte. Mit dieser Peitsche trieb ihnen Webster auch die »fleischlichen Gelüste« nachhaltig aus. Moore sah diese Handbewegung. Er stockte einen Augenblick, dann hob er kurz den Kopf. »Ich denke an die Frauen und Kinder, Erhabener, und ich möchte damit sagen, daß wir hier nicht mehr sicher sind. Offenbar hat der Herr im Himmel wohl doch kein Wohlgefallen daran, daß wir hier die Burg Jerusalem errichten. Wir sollten uns eine andere Insel suchen.« Die Umstehenden erstarrten ob solcher Worte. Entsetzt wanderten ihre Blicke zwischen John Moore und dem Großmeister hin und her. Dieser Moore hatte schon oft widersprochen, aber jetzt ging er so weit, die Worte des Erhabenen anzuzweifeln. Fast war das schon Gotteslästerung. Der Erhabene lief vor Wut rot an. Er glaubte, sich verhört zu haben, als Moore geendet hatte. Dann kriegte er wieder seinen berüchtigten Koller und fuhr explosionsartig aus der Haut. »Du kleinmütiger und ungläubiger Schwätzer!« brüllte Webster los. »Du wagst, am Wohlgefallen des Herrn zu zweifeln, du erbärmliche, nichtsnutzige und ungläubige Hundeseele? Spukt der Satan in deinem verquasten Schädel herum? Du wirst dich auf der Stelle für deine gotteslästerlichen Worte entschuldigen, oder der heilige Zorn des Herrn wird dich treffen.« »Ich habe mich nur an die Tatsachen gehalten, Erhabener.« Moores Stimme war bei den letzten Worten zu einem kaum hörbaren Flüstern geworden. »An die Tatsachen!« brüllte Webster. »Wir haben hier unser heiliges Banner aufgepflanzt, wir haben die Schiffe mühsam genug entladen, und der Herr gab mir die Erleuchtung. Und da 13
kommst du kleinmütiger und unwissender Schwätzer und säst Zwietracht und Zweifel. Aber das sind die Lästerer und Verführer, die es wagen, den Samen der Furcht und der Angst auszusäen und zu verbreiten und die Befehle des Herrn zu mißachten. O du Elender! Der Zorn des Herrn soll dich mit aller Härte treffen.« Websters Gesicht hatte sich zu einer schrecklichen Fratze verzogen, zu einer Fratze, die seinen ganzen Charakter offenbarte. Wild und unbeherrscht griff er zum Gürtel und riß mit einem wilden Ruck die Peitsche heraus. Dieses Marterinstrument, das schon viele zu spüren gekriegt hatten, nannte er die »Geißel des Herrn«. »Nimm die Geißel des Herrn!« rief er theatralisch aus. »Auf daß sie dir die letzten Zweifel austreibe.« Die Peitsche zuckte hoch in der Hand des Erhabenen und holte zu einem vernichtenden Schlag aus. Aber John Moore sah nicht ein, daß er wegen der paar Worte, die der Wahrheit entsprachen, in aller Öffentlichkeit gezüchtigt werden sollte. Der Erhabene würde ihm das Folterinstrument ins Gesicht schlagen und ihn damit für alle Ewigkeit zeichnen. Da lief dem ›Oberjünger‹ plötzlich die Galle über. Noch bevor der Großmeister zuschlagen konnte, unterlief er den Arm mit der erhobenen Peitsche. Ein blitzschneller Satz brachte ihn in die unmittelbare Nähe des Erhabenen. »Erbarme dich!« rief Moore heiser. Dann schlug er zu, und er schlug hart und kräftig und mit aller Kraft, die in seinem Körper steckte. Nun war es so, daß der Großmeister einen empfindlichen Punkt hatte, den auch schon Carberry und Hasard ausprobiert hatten. Webster hatte das, was man als Glaskinn bezeichnet. Auf diese Stelle krachte die Faust von John Moore mit aller 14
Härte. Fassungslos und entsetzt sahen die anderen zu, wie der Hammer ausgerechnet auf des Großmeisters empfindlichen Punkt donnerte. Es krachte entsetzlich laut. Der Schlag hob den Erhabenen ein kleines Stückchen in die Höhe. Dann segelte er rückwärts davon und donnerte mit einem platschenden Geräusch rücklings auf die Planken seines Schiffes. Der Großmeister war bewußtlos, seine Kiefer zusammengepreßt und seine Augen glasig. Er lag da wie ein Toter und rührte sich nicht mehr. Auch die Peitsche war seiner Hand entfallen und lag jetzt neben ihm auf den Planken. Sang und klanglos war der Erhabene abgenippelt. Vielleicht hätte er jetzt gern ein »Herr, erbarme dich« angestimmt, aber er befand sich in einer Welt, wo Lobgesänge keine große Rolle mehr spielten, wo es dunkel und still war. Insofern hatte der Herr doch noch ein Erbarmen gehabt. 2. Nicht einmal das Harfen des Windes oder das leise Plätschern des Wassers war mehr zu hören, als der wilde Schlag den Großmeister gefällt hatte. In der Bucht wurde es totenstill. Auf den anderen Schiffen hatten es zwar auch alle gesehen, daß der Herr und Meister vorübergehend abgetreten war, aber sie waren nicht unmittelbare Zeugen. Die Gemeindeschäfchen auf der ›Kyrie Eleison‹ waren jedoch wie gelähmt und total fassungslos, daß einer gewagt hatte, den Großmeister einfach umzuhauen. Das hatte es noch nie gegeben, das war noch nie dagewesen. Da lag er nun in all seiner Pracht und Herrlichkeit der Länge nach ausgestreckt und gab keinen Muckser mehr von sich. Nur ein wenig Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, als würde 15
er in seiner Bewußtlosigkeit noch vor Zorn geifern. Moore selbst war fassungslos über das, wozu er sich gerade im Zorn hatte hinreißen lassen. Verwundert betrachtete er seine Faust, die dem Großmeister so übel mitgespielt hatte. Dann stand er sehr verlegen an Deck und senkte den Kopf. Vielleicht wäre jetzt alles anders verlaufen, wenn Moore die Zügel selbst in die Hand genommen hätte. Er hätte die bisherigen gravierenden Fehler des Großmeisters anprangern und ihn einfach absetzen können. Vernünftigerweise hätte er auch anordnen können, daß es besser sei, unter diesen Umständen das Feld zu räumen, um nicht der Rache der ›Ketzer‹ ausgesetzt zu sein. Schließlich und endlich hätte man die Burg Jerusalem auf einer anderen Insel errichten können, bevor die angekündigte Streitmacht auf dem Plan erschien und die Hölle über den Orden ausschüttete. Möglich, daß die Schäfchen auf seinen Kurs eingeschwenkt wären und ihm die Führung überlassen hätten. Aber John Moore war nun einmal keine Führernatur, die sich hart durchsetzen konnte. Er war ein Verführter, ein braver und besinnlicher Handwerker, der sich auf sein Fach als Tischler verstand und sich lieber unterordnete, als den Ton anzugeben. Nur hatte er etwas dagegen, in seinem Alter gezüchtigt zu werden. Daß er zugeschlagen hatte, war ein reiner Akt der Notwehr gewesen. Damit entschuldigte er die Angelegenheit vor sich selbst. Sie war ihm auch sehr peinlich. Stumm starrte er mit blicklosen Augen auf den Großmeister. Mit dem Schlag hatte sich plötzlich die ganze Welt verändert. So empfand er das jedenfalls. Nur sehr verschwommen und schemenhaft nahm er die Gesichter der Männer und Frauen wahr, die immer noch bewegungslos und wie gelähmt herumstanden. Er glaubte Haß, 16
Abneigung, aber auch hündische Angst in diesen Gesichtern zu lesen. Bärtige Männer starrten ihn wortlos an. Die Frauen hatten die Augen weit aufgerissen und glaubten ihren Blicken nicht zu trauen. Ein paar Kinder sahen ihn mit offenen Mündern an, Erstaunen und Furcht in den kleinen Gesichtern. Die ganze Welt war in Watte gepackt. Nichts rührte sich mehr, keiner schien aus der Erstarrung zu erwachen. Moore schluckte an einem gewaltigen Kloß, der ihm fast die Kehle zuschnürte und ihn nicht mehr atmen ließ. Der Himmel hatte sich finster verfärbt, und das Meer rollte mit wildschäumender und bösartiger Dünung heran. Das alles glaubte John Moore zu sehen, und er hatte auch das Gefühl, als seien inzwischen Tausende von Jahren vergangen, während alles zu Stein erstarrt war. Doch dann begann sich die Welt auf seltsame Art wieder zu beleben. Der Himmel wurde blau, das Meer beruhigte sich, und die ersten Geräusche waren zu hören. Geräusche, die Verwunderung ausdrückten, Stimmen, die ungläubig durcheinandersprachen, Laute, die er auf Anhieb erst gar nicht verstand. Auch die Gesichter hatten sich erschreckend verändert. Haß und Wut loderten jetzt aus den Augen, Blicke trafen ihn, die ihn vergifteten und erdolchten. Er sah erhobene Fäuste, hörte das Murmeln immer drohender werden und trat erschrocken zurück. »Gott stehe mir bei«, murmelte er. »Ich wußte nicht, was ich tat, aber ich bereue zutiefst. Es kam einfach so über mich. Entschuldigt mein Tun, Brüder und Schwestern.« Die Brüder und Schwestern waren aber keinesfalls bereit, sein Tun zu entschuldigen. Sie murrten immer lauter, immer wilder. Sie erweckten ganz den Anschein, als wollten sie sich mit Wutgeheul auf ihn stürzen, um ihn zu töten. »Judas! Verräter!« brüllten ein paar Männer aus den hinteren 17
Reihen erbost und wild. »Du Frevler!« schrie eine Frau gellend. »Was hast du getan? Ist der Satan in dich gefahren?« »Ich weiß nicht«, sagte John Moore hilflos, »ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Vergebt mir. Der Herr wird mich für meine Sünden bestrafen.« »Töten wird er dich für deine Untat, du Teufel. Du hast den Erhabenen erschlagen und wirst für immer in den finstersten Schlünden der Hölle schmoren.« John Moore erschrak fast zu Tode. Schluckend warf er einen Blick auf den Sektenführer. Webster sah jetzt ganz besonders schlimm aus. Seine rote Gesichtsfarbe war einer unnatürlichen Blässe gewichen. Wie Wachs sah er aus wie einer, der gerade abgenippelt war und dem jetzt alles Blut im Körper stockte. Seine Lippen hatten sich hochgezogen, aus seinem Mundwinkel lief statt Speichel ein ganz dünner Blutfaden. Die zerhauene Nase wirkte noch platter, und die zugeschlagenen Klüsen ließen ihn wie einen dämonischen Leichnam erscheinen, der gleich aufstehen und fürchterliche Rache üben würde. Zwei Frauen warfen sich schluchzend und klagend neben Webster auf die Planken. Eine hob vorsichtig seinen Kopf hoch und brach in lautes Jammern aus. John Moore fühlte sich in diesen schlimmen Augenblicken als der einsamste und überflüssigste Mensch auf der ganzen Welt. Von nun an war er ein Ausgestoßener, so glaubte er jedenfalls. »Er ist nicht tot«, flüsterte er heiser, denn er sah, daß sich der mächtige Brustkasten des Großmeisters hob und senkte. Folglich atmete er auch noch. Ganz langsam, wie eine hölzerne Marionette, drehte er sich auf dem Absatz um. Niemand folgte ihm, niemand hielt ihn auf. Sie waren alle tief besorgt um den Erhabenen bemüht. Die Frauen 18
kreischten oder schluchzten immer noch hysterisch, und das Schreien hatte auch auf die Kinder übergegriffen, die jetzt in das Konzert mit einstimmen. Am Schanzkleid murmelte er nochmals eine Entschuldigung, aber die wurde nicht gehört. »Ich gehe Bäume fällen«, sagte er, »wie der Erhabene das angeordnet hat.« Flüche erklangen hinter ihm, Verwünschungen. »Judas, Verräter, Judas, Verräter!« Dröhnende und überlaute Stimmen begleiteten ihn und kreischten grell in seinen gepeinigten Ohren. Der Chor der Stimmen wurde immer lauter, und jetzt fielen auch die Männer und Frauen von den anderen drei Schiffen mit ein, und über die Bucht hallte ein wildes Gebrüll. Ja, die Welt hat sich seit seinem verhängnisvollen Tun tatsächlich verändert, überlegte er beklommen. Sie war grau und irgendwie düster und unheilvoll geworden. Es würde für ihn persönlich nie mehr so sein, wie es einstmals war. Seine Beine waren schwer wie Blei, als er ins Beiboot abenterte. Er sah nicht einmal die drei toten Männer. Der andere Mann in der Jolle musterte ihn nur eisig. Verachtung lag in seinem Blick. John Moore nahm die kleinere Jolle und pullte sorgenbeladen zum nahen Strand hinüber. Er warf keinen Blick mehr zurück, und er verschloß auch seine Ohren vor dem hämischen Gebrüll, das immer noch laut durch die Bucht dröhnte. Die Leute steigerten sich wieder einmal in eine Hysterie hinein. Er würde heute nacht an Land schlafen, wie er das seit ein paar Tagen tat, um die Brüder und Schwestern nicht durch seinen Anblick in Raserei zu versetzen. Sicher haben sie schon ihr Urteil gefällt, dachte er. Er zuckte mit den Schultern, stieg aus und zog das Boot auf den Strand. Dann ging er zu dem nahen Wald hinüber, packte seine Axt und 19
begann damit, Bäume zu fällen, wie es der Großmeister befohlen hatte. Häuser, Hütten und Stege mußten errichtet werden. Für John Moore versank die Umgebung. Kraftvoll hieb er die Axt in die hölzernen Stämme. * Das Urteil über den Tischler John Moore war tatsächlich schon besprochen worden. Inzwischen waren auch etliche Betbrüder von den anderen Schiffen eingetroffen, die entsetzt zuhörten, was denn nun eigentlich vorgefallen war. In dem Stimmengewirr lag der Großmeister immer noch bewußtlos an Deck. Der Schlag hatte ihn voll erwischt und sein Bewußtsein für eine Weile ausgelöscht. Zwei Frauen richteten seinen massigen Körper und lehnten ihn gegen den Mast. Eine wischte ihm unter Tränen das Blut aus dem Mundwinkel. Die andere massierte schluchzend sein zerhauenes Gesicht, damit der Erhabene endlich wieder zu sich kommen möge. »Er hat den Tod verdient«, sagte ein bärtiger Alter mit dumpfer Stimme. »Er muß zuvor aber aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Dann soll er hängen, denn dieser Frevel darf nicht ungesühnt bleiben. Was meint ihr?« Die hysterischen Sektenmitglieder stimmten begeistert zu. »Ja, er soll hängen!« riefen sie im Chor. Nur eine junge Frau hielt sich bescheiden und ruhig im Hintergrund zurück und sagte nichts. Sie hieß Jessica Baker, war recht hübsch und zweiundzwanzig Jahre alt. Ihre Eltern waren seit geraumer Zeit gestorben, und weil sie nicht allein in England bleiben wollte, hatte sie sich ihrem Onkel John Baker mit seiner Familie angeschlossen. John Baker war Zimmermann und mit dem Bau eines Stegs beschäftigt. Er hatte die ganze Angelegen20
heit nur aus der Ferne mitgekriegt wie auch ein paar andere. Jessica Baker war gläubig, aber nicht bigott oder frömmelnd wie die meisten anderen. Auch ihr Onkel war kein Betbruder, sondern ein sachlich und nüchtern denkender Mensch, der den Erhabenen keineswegs anhimmelte. Er kritisierte ihn sogar allerdings nicht öffentlich, und er war mit vielen Entscheidungen des Großmeisters nicht einverstanden. Als sich die anderen brüllend und kreischend um den Mann scharten, der unbedingt wollte, daß Moore gehängt wurde, wandte sich die junge Frau erschüttert ab. Hängen, töten, den Haien zum Fraß vorwerfen, dachte sie schaudernd. Wann nahmen diese Scheußlichkeiten ein Ende? Und jetzt ging es schon wieder los, nur weil sich ein Mann gegen die Hiebe mit der Peitsche gewehrt hatte. Deshalb wollten sie ihn hängen. Sie schaute sich schutzsuchend um, als die Menge rücksichtslos vorbeitrampelte und sie fast niederriß. Alles scharte sich jetzt um den Bärtigen, einen bigotten und eifernden Heuchler, der sich immer wieder auf das Alte Testament berief. Jessica Baker beschloß, sich an Land pullen zu lassen, um in aller Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen. Sie wollte Heilkräuter sammeln, wie sie es zu Hause auch immer getan hatte. Damit und der Zubereitung von Kräutern kannte sie sich gut aus. Als sie soweit mit ihren Gedanken war, kehrte der Großmeister wieder ins irdische Jammertal zurück. Er öffnete die Augen und sah erstaunt, daß er am Mast hockte und zwei Frauen sich eifrig um ihn bemühten. Für ein paar Augenblicke fand er sich noch nicht zurecht, aber dann überkam ihn doch ziemlich schnell die Erleuchtung. Er sah sich verwundert um. Dann griff er an sein Kinn, um zu prüfen, ob noch alles dran war. Bei der Berührung an den wunden Punkt hatte er das Gefühl, sein Gesicht würde explodieren. 21
Der Unterkiefer schmerzte höllisch. Seine Gemeinde begrüßte ihn lautstark und freudig, weil er wieder ins irdische Jammertal zurückgefunden hatte. »Er ist wieder bei uns!« rief eine Frau verzückt. Sie war so aufgeregt, daß sie fast in Ohnmacht fiel. Zwei Männer halfen dem Großmeister auf die Beine. Webster hatte eine unbeschreibliche Wut im Bauch. Er hätte diesen John Moore am liebsten eigenhändig umgebracht, aber er ließ sich nichts anmerken. Er beherrschte sich eisern und brachte ein Lächeln zustande, das allerdings wegen seiner entstellten Visage diabolisch wirkte. »Sind Sie verletzt, Erhabener?« fragte der bärtige Alte. Webster berührte vorsichtig sein Kinn, nur andeutungsweise, und dabei schmerzte es schon. »Nein, nicht weiter schlimm«, sagte er. »Es war allerdings ein sehr kraftvoller Hieb.« »Für diesen Frevel wird er büßen, Erhabener«, ereiferte sich der Bärtige. »Wir haben beschlossen, ihn zuerst aus der Gemeinschaft auszuschließen und ihn dann zu hängen. Durch sein Tun hat er tausendfach den Tod verdient.« Klar hat er den verdient, dachte Webster. Aber dann faßte er einen heroischen Entschluß. Er lächelte wohlwollend und schüttelte sanft, aber nachdrücklich den Kopf. »Wo ist Bruder Moore denn?« erkundigte er sich freundlich. Die Schäfchen sahen sich verwundert an. Der Bärtige deutete zögernd zum Land hinüber. »Dort ist der Frevler«, sagte er hart. »Er fällt Bäume, wie du es angeordnet hast, Erhabener.« So, Bäume fällt der Schweinehund, dachte Webster. Hoffentlich kippt ihm einer dabei auf den Schädel und erschlägt ihn. Das würde gleich so aussehen, als habe der Herr persönlich eingegriffen und den Frevler bestraft. 22
»Er fällt Bäume«, sagte Webster erstaunt. »Er arbeitet fleißig. Das heißt, er geht in sich und büßt seine Sünden ab. Er ist ein guter Mensch, dieser John Moore.« »Aber er hat gefrevelt, indem er dich schlug, Großmeister«, sagte aufgeregt eine Frau. »Er wußte nicht, was er tat«, verkündete Webster. »Wir haben aber beschlossen, ihn zu hängen«, sagte der Bärtige verwirrt darüber, daß Webster nicht zürnte. »Ihr könnt nicht allein beschließen«, sagte Webster, »beschließen kann nur ich, wie ihr wißt. Auch in diesem Fall könnt ihr keinen Beschluß fassen, weil er mich persönlich betrifft« »Ja, das sehen wir ein, Erhabener.« Webster blickte über seine Schafe und lächelte ölig. An die vierhundert nützliche Idioten hatte er, die alle seine Befehle willig befolgten und ihm blindlings hinterherliefen wie die Schafe hinter dem Leithammel. Er mußte mal wieder ein Beispiel seiner Güte und Barmherzigkeit geben, das kam immer sehr gut an und wirkte ausgesprochen lange nach. Er faltete die Hände und richtete einen frommen Blick zum Himmel. »Herr, vergib diesem armen Sünder John Moore«, tönte er laut, »wie auch ich ihm vergebe und verzeihe. Er wußte nicht, was er tat, aber er ist ein fleißiger und ordentlicher Mann. Ich bitte für ihn um deinen Segen, Herr.« Die Menge schluckte, als sie die salbungsvollen Worte hörte. Der Großmeister betete zu Gott, damit er John Moore von der Sünde freisprach. Mit leuchtenden Augen sahen sie ihn an, ihn den Großherzigen, den Edelmütigen, der alles verzieh, auch wenn man ihm selbst noch so große Schmach antat. »Er wird nicht hängen«, sagte Webster dann großzügig. »Es war nur ein einmaliger Ausrutscher von ihm. Hat nicht der Herr 23
in seiner ewiglichen und großen Güte auch immer wieder verziehen und vergeben? Ich will es ihm nachtun, und so werde ich den armen verzweifelten Sünder auch heute in mein Nachtgebet einschließen. Und nun singt mit mir gemeinsam ein Gott wohlgefälliges Halleluja.« Während alle lauthals zu singen anfingen, warf Webster aus halbgeschlossenen Augen einen Blick zum Land hin, wo Moore vor einem gerade gefällten Baum stand. Na warte, du Bastard, dachte er, wenn dir schon kein Baum auf deinen verdammten Schädel fällt, dann werden wir der Sache ein bißchen nachhelfen, und zwar auf meine Art. Er verkniff sich nur mühsam ein gehässiges Grinsen. Als der Choral verklungen war, deutete Webster auf die drei Toten im Boot. »Bevor wir uns jetzt wieder der harten und sauren Arbeit zuwenden, wollen wir unsere gefallenen Brüder bestatten. Es soll eine feierliche Prozession werden, denn sie sind Helden, die im Kampf gegen das heimtückische Natterngezücht starben, hinterrücks gemeuchelt, von Messern durchbohrt.« Das stimmte zwar nicht, daß sie »hinterrücks gemeuchelt« und von Messern durchbohrt waren, aber es hörte sich gut an und hetzte die Gläubigen auf. Die Beerdigung fiel auch dementsprechend feierlich aus, untermalt von den salbadernden Hetzreden des Großmeisters gegen das Nattern- und Schlangengezücht, das über wehrlose Menschen hergefallen war und ihnen nicht die wohlverdiente Ruhe gönnte. Webster steigerte sich dabei in einen Rauschzustand hinein, und die armen Verblendeten, Bigotten, Frömmelnden und selbst die wahrhaftig Frommen wurden mitgerissen und stießen flammende Verwünschungen gegen das Natterngezücht aus. Etwas später gingen die Frömmler an die Arbeit. Die Burg Jeru24
salem mußte gebaut werden, darauf drängte der Erhabene. Auch John Baker mit seiner Frau und seinem sechzehnjährigen Sohn verließ die Stätte. Mit ihnen ging Jessica, hübsch, sehr fraulich wirkend und anmutig anzusehen. »Mir gefällt nicht«, sagte der Zimmermann leise, »daß der Großmeister immer wieder gegen diese Engländer hetzt und wettert. Es wird noch mal ein böses Ende nehmen, die Leute sind total verblendet und verhetzt.« »Aber sie haben unsere Leute erstochen«, erwiderte seine Frau etwas schüchtern. »Wenn man den Haien zum Fraß vorgeworfen wird, dann kämpft man um sein Leben«, sagte Baker hart. »Ich hätte es genauso getan. Auf die Engländer wurde keine Rücksicht genommen, da mußte ein Gottesurteil her, und das finde ich nicht richtig.« »Der Großmeister hat zu entscheiden«, meinte seine Frau, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Natürlich entscheidet er, ob er aber immer richtig entscheidet, ist eine andere Sache. Schließlich ist er auch nur ein Mensch und kein Gott, auch wenn er sich manchmal dafür hält. Wir hätten uns mit diesen Engländern arrangieren sollen, statt sie vor den Kopf zu stoßen und zu provozieren, denn meiner Ansicht nach sind das gute und aufrechte Männer.« »Aber der Großmeister ist ein guter Mensch«, sagte seine Frau. »Sonst hätte er Moore seine Tat nicht vergeben.« »Hm, das kann auch Taktik sein. Mit einer so großmütigen Geste gewinnt man die Menge. Der Mann ist brutal und vollstreckt zu viele ungerechte Urteile. Er hat einen Mann einfach hängen lassen, weil er der Fleischeslust gefrönt hat. Ein anderer hatte ihn kritisiert, und was tat Mister Webster? Er warf ihn dem riesigen Hai zum Fraß vor, wie er es auch mit den Engländern vorhatte. Ich glaube, daß ich diesen Mann langsam durch25
schaue.« Seine Frau dachte lange über die Worte nach, auch Jessica tat es, denn sie war kritisch eingestellt und glaubte nicht blindlings alles, was man ihr erzählte. Sie gingen auseinander. Baker marschierte zum Wasser, um an dem Steg weiterzubauen, und Jessica nahm einen Korb, um Heilkräuter zu sammeln. So leistete jeder seinen Beitrag? Unterdessen waren auch die ersten Hütten errichtet, und unten in der Bucht nahm die Burg Jerusalem langsam Gestalt an. Viele fleißige Hände waren mit den Arbeiten beschäftigt. Ein paar Männer waren gerade dabei, einen Zaun aus Palisaden um die Burg zu setzen. 3. Über die versteckt gelegene Bucht brach die Dunkelheit herein. Die Männer waren todmüde von der harten Knochenarbeit, die sie geleistet hatten. Sie schufteten immer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und dann waren sie fix und fertig. Von außen war die Bucht nicht einzusehen. Eine Halbinsel mit drei auslaufenden Landzungen schloß sie fast völlig ab, und so blieb nur eine schmale Durchfahrt offen, die ständig bewacht wurde. In dieser Durchfahrt waren auch Mel Ferrow und Roger Lutz ahnungslos in die Falle gegangen, als sie die Bucht erkunden wollten. Über dieser paradiesisch anmutenden Bucht stand jetzt die schmale Sichel des Mondes. Der Schein war nur sehr schwach und mild. Wachen waren nur auf der Galeone ›Cherubim‹ aufgestellt, die der Einfahrt am nächsten lag. Dann gab es noch die Wachen auf der Halbinsel und dem gegenüberliegenden Ende. Auf der ›Kyrie Eleison‹ herrschte Ruhe. Die abgearbeiteten Män26
ner lagen in festem Schlaf und träumten von ihrem neuen Reich, das immer mehr Gestalt annahm. Nur ein Mann schlief nicht, und das war Webster. Er war überhaupt nicht müde, denn er hatte weiter nichts getan, als ein paar fromme Sprüche abzulassen. Na schön, gesungen und gebetet hatte er auch noch und ein bißchen salbadert. Dreckige Hände hatte er jedenfalls nicht gekriegt, das war auch unter seiner Würde. Ein erhabener Großmeister konnte sich schließlich nicht mit so entwürdigenden Sachen wie Arbeit befassen. Außerdem ließ er sich von allen von vorn und hinten bedienen. Die Schäfchen rissen sich ja regelrecht darum, ihn zu verwöhnen. Er hatte das Licht in seiner Kammer gelöscht und starrte durch das Bleiglasfenster nach draußen, wo schmal die Mondsichel über der paradiesischen Bucht stand. Er sah die Mondsichel jedoch nicht bewußt, er sah nur immer wieder die Faust von John Moore, die ihm so überraschend unter das Kinn gekracht war. Noch jetzt hatte er erbärmliche Beschwerden, wenn er etwas aß oder trank. Der Unterkiefer schmerzte fürchterlich. Offiziell hatte er ihm scheinheilig und gnädig vergeben, aber nur nach außen hin. Dieser Moore war ein Aufwiegler, ein Halunke, der es wagte zu kritisieren oder eigene Gedanken zu entwickeln. Eine Bedrohung war der Kerl äußerst gefährlich, denn er würde mit Sicherheit wieder das Maul aufreißen oder kritisieren. Solche Leute aber konnte Webster nicht brauchen. Die untergruben seine Autorität und zehrten an seinem Image. Wieder betastete er vorsichtig sein Kinn. Dann stand er auf, ging zu dem am Schapp hängenden Spiegel und betrachtete sich im schwachen Abglanz des Mondscheins. In diesem dürftigen Licht, das alles Häßliche und Üble gnädig verbarg, sah er ja noch ganz passabel aus, fand er. Als er aller27
dings vor zwei Stunden in den Spiegel gesehen hatte, da hätte ihn fast der Schlag getroffen. So zerbeult und zerknautscht hatte er noch nie ausgesehen. Mißmutig nahm er wieder Platz. Er lauschte den Geräuschen im Schiff. Es war alles ruhig. Nur ganz zart und leise strich der Wind durch die Takelage. Hin und wieder war das leise Knarren und Ächzen der Blöcke und Taljen zu hören, aber das waren vertraute Geräusche, so vertraut, daß man sie nur noch hörte, wenn man sich darauf konzentrierte. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um John Moore, und wenn er an die Demütigung dachte, dann brach Haß lodernd in ihm auf. Der Zorn fraß ihn fast auf, daß dieser Hund gewagt hatte, öffentlich Hand an ihn zu legen. Webster war ein rachsüchtiger und sehr lange nachtragender Mann, der sich damit nicht zufrieden gab, nun alles ruhen zu lassen. Langsam stand er auf und öffnete das Schott seiner Kammer. Dann trat er hinaus und blickte über das Deck. Es war alles menschenleer, wie er auch nicht anders erwartet hatte. Natürlich, die Kerle schliefen, denn sie waren todmüde. Und die Frauen schliefen ebenfalls, die hatten nachts an Deck auch nichts zu suchen. Er grinste diabolisch, kehrte wieder zurück und nahm aus dem Kasten unter seiner Koje eine längere starke Leine. Die Leine rollte er über Hand und Ellenbogen zusammen und hängte sie sich über die rechte Schulter. Erneut verließ er den Raum und sah sich lange an Deck um. Kein Mensch war zu sehen. Sein Grinsen verstärkte sich. Wer ihn jetzt gesehen hätte, der hätte ihm den frommen Prediger nicht mehr geglaubt. Sein Gesicht war eine haßerfüllte Fratze, von einem teuflischen Grinsen gekrönt. Lautlos bewegte Webster sich über das Deck, bis zu jener Stelle 28
auf der Kühl, wo die Jakobsleiter hing. Noch einmal sah er sich lauernd nach allen Seiten um und schaute auch zu den anderen Schiffen. Von der ›Cherubim‹ aus konnten sie ihn nicht sehen, und die Wachen auf der Halbinsel sahen ihn ebenfalls nicht. Von dort war also nichts zu befürchten. Ebenso lautlos, wie er sich über das Deck bewegt hatte, enterte er in die Jolle ab, löste die Leine, stieß die Jolle mit der Hand von der Bordwand ab und griff dann zu den Riemen. Er zog sie so leise durch das Wasser, daß er das Geräusch selbst kaum hörte. Er pullte zum Heck und von dort aus zum Strand hinüber. Immer wieder musterte er das Schiff. Wenn dort jetzt jemand an Deck erschien, konnte er immer noch umkehren und jovial erklären, daß er keinen Schlaf fände. Der Hinweg war also kein Problem. Sah ihn allerdings jemand auf dem Rückweg, dann war das wesentlich schlimmer, aber auch dann würde er eine plausible Erklärung zur Hand haben. In dem Fall mußte er eben umdisponieren. Darin war er ja ganz groß. Nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, hatte er den Strand erreicht. Die Jolle zog er nur ein kleines: Stück den Sand hoch. In dem ruhigen Wasser konnte sie nicht abtreiben. Lautlos verschwand er gleich darauf zwischen dem Buschwerk und nahm Kurs auf eine gerade im Rohbau fertiggestellte Hütte aus Holz. In dieser Hütte übernachtete John Moore. Wieder lag das teuflische Grinsen auf seinem Gesicht, als er sich lautlos der Hütte näherte. Ganz schwach fiel das Mondlicht auf die Hütte, aus der ein leises Schnarchen erklang. Die Tür war nur angelehnt, so daß Webster eintreten konnte. Er brauchte sich nicht lange zu orientieren, denn er hatte die Hütte schon gestern inspiziert und wußte auch, wo Moore schlief. 29
Der Tischler lag auf einer einfachen Holzpritsche, die er selbst gezimmert hatte. Ruhig ging Webster auf ihn zu. Moore war nicht zugedeckt, er hatte keine Decke dabei, denn es war nachts angenehm warm. Er trug nur ein Hemd und eine Hose. Als Webster die Finger ausstreckte, konnte er sich gerade noch einen Fluch verbeißen, denn ausgerechnet jetzt mußte Moore sich auf die andere Seite wälzen. Gleichzeitig brachen auch die leisen Schnarchgeräusche ab. Webster ging einen Schritt zurück und stolperte über einen Schemel, den er übersehen hatte. Es gab ein leises Poltern. Die Gestalt auf der Pritsche richtete sich ruckartig auf und starrte in die Finsternis. »Wer ist da?« fragte Moore leise, während sein Blick suchend umher wanderte. Dann sah er die massige Gestalt eines Mannes. Webster konnte und wollte jetzt nicht mehr zurück. »Ich bin es, mein Sohn«, sagte er gütig und zerbiß dabei einen lästerlichen, aber stillen Fluch zwischen den Zähnen. Ausgerechnet jetzt mußte dieser Idiot aufwachen, und ausgerechnet er, Webster, mußte über den verdammten Schemel stolpern. »Der Großmeister?« fragte John Moore scheu und ungläubig. »Ja, mein Sohn. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß ich dir vergeben habe. Ich habe für dich gebetet. Wir waren wohl alle beide ein wenig unbeherrscht. Deine Brüder und Schwestern wollten dich hängen, doch das habe ich verhindert. Du bist ein guter Mensch, John Moore, und dir ist nur mal die Hand ausgerutscht. Ich bin manchmal auch etwas jähzornig.« »Ich hatte Angst, daß du mich züchtigen würdest, Großmeister«, sagte Moore. »Da kam es über mich, und ich verlor die Beherrschung. Es wird nie wieder passieren.« »Nein, ganz sicher nicht. Es wird nie wieder passieren«, sagte Webster freundlich. »Davon bin ich überzeugt, mein Sohn.« 30
»Ich danke dir, Großmeister, für die Güte und die Vergebung. Es ging mir sehr nahe.« »Dann gib mir deine Hand darauf, John Moore.« Als der Tischler ahnungslos und freudig die Hand ausstreckte, sah er nicht das teuflische Grinsen im Gesicht seines Gegenübers. Arglos wollte er aufstehen und sich nochmals bedanken, daß der Erhabene sich mitten in der Nacht höchstpersönlich herbemüht hatte, um einem reuigen Sünder zu vergeben. Eine mächtige harte Faust traf ihn völlig überraschend an der linken Schläfe. Der Hieb war mit gnadenloser Härte abgefeuert. In Moores Kopf fand eine bestialisch laute Detonation statt, ein Krachen, das schlagartig sein Denken auslöschte. Es war ein Jagdhieb gewesen, ein Volltreffer, wie Webster beruhigend feststellte. Als Moore bewußtlos zurückfiel, fing Webster ihn auf, packte mit beiden Händen seinen Hals und drückte zu. Ein leises Röcheln erklang, das durch den weiteren Druck aber sogleich erstickt wurde. Offenbar war der Tischler für den Bruchteil eines Lidschlages wieder zu sich gekommen, als ihn die Todesangst überfiel. Die Pranken drückten unerbittlich weiter, eine ganze Weile. Dann ließen sie ruckartig los, weil sie sich verkrampft hatten. Der Körper sank auf die Pritsche zurück. Webster trat zur Tür und spähte nach draußen. Nichts. Alles war still, ruhig und friedlich. Er kehrte wieder zurück, beugte sich über die Gestalt und lauschte den Herztönen. Aber da waren keine mehr zu hören. Das Herz hatte zu schlagen aufgehört. Sicherheitshalber aber fühlte Webster noch eine Weile nach dem Puls. »Auch nichts mehr«, murmelte er zufrieden, »Das war's, mein Sohn. Du Halunke wirst mir keinen Ärger mehr bereiten. Aber dafür wirst du der Nachwelt noch ein prächtiges Schauspiel bie31
ten und mir damit Genugtuung verschaffen. Du hättest dich nicht mit mir anlegen dürfen, du kleiner Halunke.« Ein leises Lachen begleitete seine Worte. Dann ging er seelenruhig ans Werk. Zunächst vergewisserte er sich, ob die Luft immer noch sauber war. Sie war es, in der Bucht rührte sich nichts. Webster ging aus der Tür und sah sich die Bäume an. Drei oder vier hatte der Kerl gefällt, aber ganz in der Nähe standen noch einige, die vom Schiff aus bei Tageslicht gut zu sehen waren. Ein Baum war dabei mit breit ausladenden Ästen, die in gut zwei Yards Höhe begannen. Diesen Baum fand er geradezu ideal für sein Vorhaben. Er kehrte zur Hütte zurück, hockte sich neben den Toten und knüpfte in aller Ruhe eine Schlinge in den Strick. Dann zog er sie prüfend zusammen und nickte. Gewissensbisse empfand er nicht, die waren Webster ohnehin fremd. Sehr sorgfältig bedachte er seine weiteren Schritte, denn es durfte ihm nicht der geringste Fehler dabei unterlaufen. Seine Schäfchen dachten zwar kaum, aber auch unter ihnen gab es ein paar mißtrauische und kritische Leute, die Verdacht schöpfen konnten. Zuerst trug er den Schemel hinaus, und stellte ihn unter den breit ausladenden Ast. Ein schneller Rundumblick zeigte ihm, daß niemand sein Tun sah. In der Bucht lagen die Schiffe als dunkle wie hingekauerte Schemen, über die nur ganz schwach silbriger Mondglanz fiel. Als nächstes holte er den Toten aus der Hütte und legte ihn neben den Baum. Dann befestigte er die Schlinge an dem Ast und prüfte nach, ob sie auch mit der Körpergröße von Moore übereinstimmte. Er korrigierte das alles noch ein bißchen, bis es stimmte. Zwischendurch warf er immer wieder lauernde Blicke in seine Umgebung. 32
Es dauerte nicht lange, dann hing John Moore in der Schlinge, die Beine auf die Höhe des Schemels ausgerichtet. »Sehr gut«, sagte Webster leise vor sich hin. »Du bietest einen sehr glaubwürdigen Anblick, John Moore. Das sieht alles wirklich sehr echt aus.« Den Schemel warf er um, damit es so aussah, als hätte Moore ihn umgestoßen, als er mit dem Hals in der Schlinge hing. Dann ging er ein paar Schritte zurück, um sein ›Werk‹ zu begutachten. Ja, das stimmt alles, dachte er. Es war ganz offensichtlich, daß sich der Gute in seiner Verzweiflung das Leben genommen hatte, indem er sich erhängte. Er hatte seine Untat wohl zutiefst bereut oder ganz einfach Angst davor gehabt, man würde ihn ausstoßen. Er, Webster, würde den Schäfchen schon die richtige Alternative beibringen, damit sie das glaubten, was er ihnen weismachte. Ungerührt sah er zu dem Toten, der von einer Seite zur anderen pendelte, den Kopf auf der Brust, die Füße ausgestreckt. Er hatte ihm öffentlich verziehen, und er würde seinen Tod morgen auch sehr heuchlerisch bedauern. Mit einem ironischen Grinsen durchquerte er die Büsche und kehrte an den Strand zurück, wo die Jolle lag. Jetzt folgte der schwierigste Teil. Sah ihn jemand, dann lag ziemlich klar auf der Hand, was geschehen war, sobald man die Leiche entdeckte. Traf dieser Fall ein, dann mußte er heute nacht noch einmal heraus und Moore verschwinden lassen, bevor ihn jemand entdeckte. Als er die Jolle leise ins Wasser schob, merkte er, daß ihm kleine Schweißperlen auf der Stirn standen. Mit einer ärgerlichen Bewegung wischte er sie ab. Dann begann er im Schatten der Galeone vom Heck her wieder an das Schiff heranzupullen, wobei er sich ängstlich bemühte, 33
keine Geräusche zu verursachen. Wieder schien es Ewigkeiten zu dauern, bis er das Schiff erreichte. Aus schmalen Augen sah er zum Strand hinüber, wo die Bäume standen. Er sah auch die Hütte, aber Moore war nur zu sehen, wenn man genau die Stelle kannte und sie zielstrebig suchte. Einem zufälligen Betrachter würde nichts auffallen, selbst wenn er scharf zum Strand sah. Mit der Hand stützte er die Jolle ab und band sie dann fest. Danach enterte er wie ein Schatten nach oben, lautlos, um ja nicht aufzufallen. Endlich war er an Deck und stieß leise die Luft aus. Geschafft niemand hatte etwas bemerkt. Ebenso lautlos verschwand er wieder in seiner Kammer. Alles in allem hatte es etwa eine Stunde gedauert, aber jetzt lag das hinter ihm, und so streckte er sich zufrieden auf seiner Koje aus. Gewissensbisse, Skrupel? Webster lächelte bei diesem Gedanken nur spöttisch. Wie konnte ein Mann wie er Skrupel haben? Lächerlich war das, und Gewissensbisse waren ihm erst recht fremd. Er lauschte noch eine Weile in die Dunkelheit und dachte an seine Schafherde. Die würden morgen staunen, wenn sie den armen Sünder da am Strick baumeln sahen! Natürlich würde er auch einen Choral für den armen Kerl singen lassen und ihn wieder in sein Gebet einschließen, aber er würde seinen Schäfchen auch schon etwas hintergründig stecken, damit sie in sich gingen und sich an dem armen Sünder, der seinen Herrn und Meister gezüchtigt hatte, kein Beispiel nahmen. Ein paar Augenblicke später stand er noch einmal auf und ging zum Schapp hinüber, dem er eine Flasche Whisky entnahm. Sehr genüßlich gluckerte er kräftig einen weg. Das konnte er natürlich 34
immer nur heimlich tun, aber dann tat er es ausgiebig und genußvoll. Was hätte die Schafsherde sonst denken sollen, wenn der Obermeister nach Schnaps stank! Nachdem er einen weggegluckert hatte, legte er sich zufrieden auf seine Koje, faltete grinsend die Hände und war wenige Augenblicke später auch schon eingeschlafen. Nicht einmal im Traum verfolgte ihn der Geist des unglücklichen Tischlers John Moore. 4. Am anderen Morgen war schon alles sehr früh auf den Beinen, kaum daß die Sonne aufgegangen war. Die meisten standen schon bei Dunkelheit auf, wuschen sich und aßen dann. Als die Sonne aufging, waren sie schon bei der Arbeit. Webster war ebenfalls seit längerer Zeit wach, aber er geruhte noch nicht aufzustehen, sondern sich wecken zu lassen, und zwar von dem Gebrüll, das bald erschallen mußte, sobald die Leiche drüben an Land entdeckt wurde. Kurz danach, die Sonne sandte ihre ersten goldroten Strahlen über das Meer, hörte er erstaunte und ungläubige Ausrufe an Deck. Das Trappeln hörte auf. Offenbar verharrten die entsetzten Schäfchen nun alle fassungslos an einem Platz. Da hämmerte es auch schon an das Schott. »Erhabener«, flehte eine schockierte Stimme. »Es ist etwas Furchtbares passiert. Bitte, komm gleich an Deck.« »Beunruhigt euch nicht«, sagte Webster. »Mit Gottes Hilfe werden wir alles Furchtbare besiegen. Ich werde gleich bei euch sein, nur ein wenig Geduld.« Er wusch sich das Gesicht in dem kleinen hölzernen Zuber, der extra für ihn bereitgestellt war, kleidete sich dann an und ging 35
gut gelaunt an Deck. Dort erwartete ihn eine schweigende Menge. Männer und Frauen standen am Schanzkleid und starrten zum Land hinüber. Webster wandte nicht einmal den Kopf, Er wußte ja, wer da hing und jetzt entsetzt angegafft wurde. »Der Erhabene!« rief eine Stimme. Die Menge drehte die Köpfe und wandte sich ihm zu. Webster begrüßte seine Anhänger mit einem fröhlichen »Guten Morgen«. Der Gruß wurde nur sehr leise erwidert. »Schau bitte mal zum Land hinüber, Großmeister«, sagte ein Mann, dessen Augen weitaufgerissen waren. »Was gibt es denn?« fragte Webster gütig. Er drehte sich um und blickte zum Strand. Dann Schlug er entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Der Morgenwind bewegte die Leiche des Tischlers sanft hin und her. Die Jammergestalt drehte sich dabei halb um ihre Achse. Deutlich war der Strick zu sehen, an dem Moore baumelte. Neben ihm lag umgestoßen der Schemel. »Gütiger Gott«, sagte Webster mit bebender Stimme. »Ein Selbstmörder! Wer ist es denn?« »Der Tischler John Moore«, lautete die Antwort. »John Moore?« rief der Großmeister fassungslos. Theatralisch breitete er dann die Arme aus und schüttelte den Kopf. »Armer John Moore«, sagte er scheinheilig. »Aber seht nun, da hängt Judas Ischariot, der Gottes Sohn für dreißig Silberlinge verraten hat. Er entleibte sich selbst, um zu büßen! Bietet dieser Vergleich sich nicht an, Brüder und Schwestern? Der Herr hat es so gewollt. Der Herr sei gelobt.« Er gab noch eine Menge öligen Wortschutt und salbadernden Silbenmüll von sich und ließ immer wieder durchklingen, daß Moore ja schließlich auch seinen Herrn verraten hätte, indem er ihn geschlagen hatte. 36
Gleichzeitig aber bedauerte er den armen Tischler auch gebührend. »Ich habe ihm verziehen und ihn in mein Gebet eingeschlossen«, sagte er klagend, »aber er sah seine Schuld wohl als unaustilgbar an. Er wurde damit nicht mehr fertig und erhängte sich schließlich. Gott sei seiner armen Seele gnädig. Amen!« Der Chor laberte das »Amen« gehorsam nach. Frauen und Männer hielten die Köpfe gesenkt. »Lasset uns einen Choral singen, um den Herrn gnädig zu stimmen und seinen Segen zu erflehen.« Ein anderer Choral fiel ein. Der Gesang stammte von den anderen Schiffen, auf denen man ebenfalls längst bemerkt hatte, was an Land vorgefallen war. Als der Choral verklungen war, senkte sich für Augenblicke tiefes Schweigen über die Bucht. Dann hob Webster beide Arme. »Lasset uns nun den armen Sünder vom Strick nehmen. Wir werden ihn christlich bestatten und seiner gedenken, denn er ging als Sünder in sich und hat gebüßt. Und das haben wir zu respektieren, auch wenn der Herr nicht will, daß jemand Hand an sich legt.« Gut gebrüllt, Löwe, dachte er dann. Er sah an den Mienen seiner ihm treu ergebenen Schäfchen, daß sie genau das glaubten, was er ihnen vorleierte. Sie nahmen an, der Herr habe den Sünder mit dem Tode bestraft und ihm, dem Großmeister, somit Genugtuung verschafft, weil er von Moore niedergeschlagen wurde. Auf diese Art und Weise hatte sich Webster wieder und endgültig eines Mannes entledigt, der seinen Nimbus und seine Unfehlbarkeit hätte ankratzen können. Vor sich selbst gab er allerdings zu, daß Moore mit seinem Vorschlag ganz recht gehabt hatte, eine andere Insel zu suchen, aber das konnte er nicht offen eingestehen. 37
Er saß ein bißchen in der Zwickmühle, denn er würde an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn er auch diesen Platz wieder aufgab, wo fleißige Hände bereits eine ganze Menge getan hatten. Nein, zum vierten Male konnte er keine »Erleuchtung« verkünden, daß die Burg Jerusalem jetzt auf einer anderen Insel erbaut werden müsse, nur weil das ›Natterngezücht‹ diesen Platz jetzt kannte. Sie mußten hierbleiben, es gab keinen anderen Weg mehr. Innerlich fluchend dachte er daran, daß er etwas voreilig gehandelt hatte, doch das war nicht mehr zu ändern. Wenn erst die Burg Jerusalem fertig war, hatten sie eine bessere Ausgangsbasis gegen den Feind. Dabei trug sich Webster auch gleich mit dem Gedanken, eine zweite Burg zu errichten und zwar oberhalb der Bucht auf einem schwer zugänglichen Felsplateau, das er schon ins Auge gefaßt hatte. Diesen Ort wollte er noch heute genauer erkunden. Zuerst aber mußte ›Judas Ischariot‹ bestattet werden, denn das hatte in den Augen der Schäfchen Vorrang. Daß er ihn selbst vom Strick schneiden würde, verstand sich von selbst. Vielleicht fiel es dem einen oder anderen auf, daß Moore Würgemale am Hals hatte. Er wollte dafür sorgen, daß es keinem auffiel. So zogen denn die frommen Betbrüder mit den Jollen zum Strand, begleitet von ihrem ernst und würdig dreinblickenden Oberpuritaner, der wieder mal die Hände gefaltet hatte und stumme Gebete mit zuckenden Lippen zum Besten gab. Von der ›Cherubim‹ näherten sich ebenfalls zwei Jollen. In einer stand hochkant ein schlichter und einfacher Sarg. Die Boote liefen auf den Strand auf. Webster ließ sich aus der Jolle helfen, wie er sich immer helfen ließ. Ein Mann trug ihn auf dem Rücken die paar Schritte durchs Wasser, damit die kostbaren Stiefel des Erleuchteten nicht naß wurden. Dann setzte er ihn ehrfürchtig am Strand ab und erntete dafür den Dank des Erha38
benen durch ein leutseliges Kopfnicken. Zwei Männer von der ›Cherubim‹ brachten den Sarg an Land. Die anderen hatten ebenfalls die Boote verlassen, standen herum und kneteten verlegen ihre Finger. »Laßt mich ihm den letzten Gefallen erweisen«, sagte Webster theatralisch. »Schließlich büßte er wegen mir.« Das sahen die anderen ein. Es war auch keiner wild darauf, John Moore vom Strick zu nehmen. So stand die Menge schweigend und reglos da, während Webster mit feierlichen Schritten auf den ›Erhängten‹ zuging. Dicht vor dem Toten blieb er stehen. Die anderen Leute befanden sich ungefähr dreißig Yards hinter ihm. Webster senkte den Kopf und tat so, als spreche er ein Gebet. »Wenigstens hast du mir noch einen großen Dienst erwiesen«, murmelte Webster leise. »Du hast mir Genugtuung verschafft und meinen guten Ruf wiederhergestellt.« Während er murmelte, starrte er auf Moores Hals. Da waren Druckstellen zu sehen, aber die konnten notfalls auch von dem Strick herrühren, der am Hals scheuerte. Einem guten Beobachter wären sie jedoch nicht entgangen. Hier allerdings unter den Verblendeten gab es kaum einen guten Beobachter. Keinem fiel auf, daß hier kein Selbstmord, sondern ein eiskalt begangener Mord vorlag. Niemand wurde stutzig oder schöpfte auch nur den leisesten Verdacht. Webster stieg auf den wieder aufgestellten Schemel, nahm sein Messer und schnitt den Toten ab. Dann legte er ihn vorsichtig in den Sand neben dem Baum. Zwei Männer brachten den Sarg und stellten ihn in seiner Nähe ab. Dann kehrten sie zurück und blieben in respektablem Abstand stehen. Etwas später war John Moore, der keine Angehörigen hatte, in dem Sarg verschwunden. 39
Der Großmeister ließ sich Hammer und Nägel reichen und nagelte die Kiste höchstpersönlich zu. Dann richtete er sich auf, um scheinbar ein letztes Gebet zu sprechen. Dabei bewegte er nur die Lippen, und sein Blick war keinesfalls auf den Sarg gerichtet, sondern zu jenem Plateau, wo er die neue Burg errichten wollte. Bürg Zion würde er sie nennen, und sie sollte als Umfriedung eine steinerne Mauer erhalten und keinen schäbigen Palisadenzaun wie die Burg Jerusalem. Natürlich würde das seine Residenz werden, eine kleine Festung, an der sich das Natterngezücht die Zähne ausbeißen konnte. Eine halbe Stunde später war alles vorbei, John Moore wurde unter dem lautstarken Abgesang der Betbrüder für immer verabschiedet und verschwand von dieser Welt. Die heuchlerischen und scheinheiligen Worte des Großmeisters begleiteten ihn, und er mußte sich noch einmal sagen lassen, daß eine gewisse Parallele zu Judas Ischariot bestehe, der ja auch zutiefst bereut habe, nachdem er den Herrn für dreißig Silberlinge verraten hätte. Die Männer gingen gleich darauf an die Arbeit, denn es gab noch sehr viel zu tun. Bevor sie gingen, hielt Webster sie noch einmal mit einer Handbewegung auf. »Liebe Brüder im Herrn«, sagte er flehentlich, »ich weiß, daß ihr euer Bestes gebt und hart arbeitet. Aber das ist noch nicht genug. Der Feind ist nahe, das Natterngezücht wird bald erscheinen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Pack über uns herfallen wird. Darum bitte ich euch inständig: Arbeitet noch mehr, noch schneller, noch härter, auf daß die Burg Jerusalem zu einer uneinnehmbaren Festung werde, die der Feind nicht zu erstürmen vermag. Nur so können wir ihm trotzen. Ich werde inzwischen Ausschau nach einem geeigneten Platz für eine weitere Festung halten. Sobald ich den gefunden habe, teilen wir die Arbeit auf und beginnen mit dem zweiten Bau. Ich denke da hauptsächlich an die Frauen und Kinder, die unbedingt in 40
Sicherheit sein müssen.« Das mit den Frauen und Kindern zog immer. Webster verkniff sich nur mühsam das Grinsen, als er sah, daß die Handwerker und Arbeiter eifrig nickten und ganz bei der Sache waren. Sie versprachen ihm hoch und heilig, alles zu tun, was er verlange. Ja, sie würden ihr Arbeitstempo noch steigern, um ein größeres Pensum zu schaffen. »Der Herr hat mir die Erleuchtung gegeben, daß die Burg nur hier und nirgendwo anders errichtet werden soll. Er gab mir auch die Vision vom Bau einer zweiten Burg. Ihm zu Ehren werden wir sie nach ihrer Fertigstellung Burg Zion nennen.« Der Jubel der Leichtgläubigen brandete auf. Für seine schwarze Seele war das himmlischer Balsam, wenn sie ihn umschmeichelten, ihm huldigten und Ovationen darbrachten. In dieser Rolle gefiel er sich ganz besonders gut in der Rolle als Wohltäter und Beschützer, als selbstloser Mann, der nur das Wohl der anderen im Sinne hatte und sein eigenes ganz hintenanstellte. Die biederen und introvertierten Leutchen flitzten nur so an ihre Arbeit und stachelten sich gegenseitig an. Jeder wollte der Beste, der Schnellste und der Ausdauerndste sein. Es blieb nicht aus, daß auch Frauen und Kinder zu harter Arbeit eingesetzt wurden, denn allein schafften es die Männer nicht. Als die Bucht vom Sägen, Hämmern und Klopfen erfüllt war, war auch der Großmeister sehr mit sich zufrieden. Die Empörer und Unruhestifter waren erledigt, und nach außen hin herrschte wieder eitel Freude, Friede und Sonnenschein. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wurde noch stärker. Webster gefiel das sehr, daß sie so eifrig waren. Er selbst sah zu, kommandierte, befahl oder gebot ihnen, was sie zu tun hatten. Selbstverständlich konnte er nicht selbst Hand mit anlegen, das war auch zuviel verlangt, denn einer mußte ja schließlich die 41
Oberaufsicht haben, alles planen, organisieren und begutachten. Jetzt wollte er sich den Platz für die neue Burg Zion einmal ansehen. Das Wetter war geradezu ideal dafür, nicht so heiß und schwül wie in den vergangenen Tagen. Da lief ihm der frömmelnde und bigotte Oberjünger Harris über den Weg. Der Kerl katzbuckelte vor ihm, himmelte ihn an und war ihm hündisch ergeben. Harris ging in seiner Frömmelei und Anbetung so weit, daß er sich für den Großmeister, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Tod gestürzt hätte. Der Kerl verstand es auch meisterhaft, die anderen immer wieder aufzuputschen und Schäfchen, die sich ein wenig von der Herde entfernt hatten innerlich versteht sich wieder brav zum Stall zurückzuführen. Harris kam ihm gerade recht. Mit dem konnte er ein kleines Schwätzchen halten und gemeinsam den Platz aussuchen. Dabei erfuhr er auch immer gleich, was sich unter den Schäfchen so tat, ob es Zweifler gab oder gar Leute, die widersprachen. »Na, mein lieber Harris«, sagte er leutselig, »ich werde dir gestatten, mich auf der Suche nach einem geeigneten Platz zu begleiten, an dem wir die zweite Burg errichten werden. Ich habe da schon eine Vorstellung. Eine innere Stimme sagte mir klar und deutlich, daß ich mir den Platz auf jenem Plateau ansehen sollte.« »Die Stimme des Herrn?« fragte Harris erschauernd. »So ist es, Harris, es war die Stimme des Herrn, die zu mir gesprochen hat, und ich werde ihr folgen, wie ich ihr immer als gehorsamer Diener folgte.« Er zeigte mit dem Finger auf das schwer zugängliche Felsplateau. »Da oben liegen lose Felsen und Steine herum. Einer von ihnen sieht aus wie ein sorgsam zu behauener Quader. Ich habe ihn das Auge des Herrn genannt, denn in seiner Mitte befindet sich eine Laune der Natur ein schimmernder Stein, der in allen 42
Farben schillert.« »Aber du warst doch noch gar nicht da oben, Erhabener«, sagte Harris erstaunt und fassungslos. »Nein, natürlich nicht. Der Weg ist auch sehr beschwerlich, und ich fand noch keine Zeit, ihn zu begehen.« »Und woher weißt du das, verehrter Großmeister?« Harris starrte Webster ehrfürchtig an. »Die innere Stimme sandte mir ein Bild zu, auf dem klär und deutlich jede Einzelheit zu erkennen war. Es war wie eine Erleuchtung, die mich plötzlich überfiel.« Großmeister Webster verschwieg schamhaft, daß er das Plateau bereits vor zwei Tagen heimlich von der anderen Seite erstiegen und sich da gründlich umgesehen hatte, weil der Gedanke an die Festung schon seit einiger Zeit in ihm spukte. »Ich kann es nicht erwarten, das mit eigenen Augen zu sehen«, sagte Harris bewundernd. »Es soll der Grundstein für die Burg Zion werden«, meinte Webster schlicht. Der schmalbrüstige Schreiberling aus Plymouth ging erschauernd neben dem Großmeister her, den der Herr immer auf so sonderbare Art und Weise erleuchtete. Am liebsten wäre er vor ihm niedergekniet und hätte ihn angebetet. Und der Großmeister in seiner unerforschlichen Güte ließ ihm die Gnade zuteil werden, ihn zu begleiten. Fast fühlte er sich selbst wie ein Erhabener. Der Erleuchtete an seiner Seite blieb stehen und schloß die Augen, als sie jene Stelle erreichten, wo es bergauf ging. Er hatte ein Gesicht wie das Leiden Christi persönlich. »Ich sehe vier weitere große Steine dicht neben einem Abhang, der steil in die Tiefe führt«, murmelte Webster wie in Gedanken versunken. »Zwei Bäume stehen da dicht nebeneinander, als hielten sie sich eng umschlungen. Neben den Wurzeln liegt ein toter Vogel.« 43
Harris überrieselte es wieder einmal, als er des Großmeisters hellseherische Fähigkeiten hörte. Nein, das waren keine hellseherischen Fähigkeiten, berichtigte er sich gleich selbst, der Herr hatte ihm diese Bilder gesandt. Seine Hände zitterten, als der Erhabene die Augen wieder aufschlug. »Gehen wir«, sagte er mit etwas irdischer klingender Stimme. Einen Pfad gab es nicht, der Weg war steinig und felsig, und es würde ein schwieriges Unternehmen sein, hier oben eine Burg zu errichten. Sehr viel Schweiß würde hier oben fließen, überlegte Webster, aber zum großen Glück war es nicht sein eigener. Er horchte Harris unauffällig über einige Leute aus, von denen er wußte, daß sie nicht haargenau im Kielwasser segelten. Das alles erledigte er im Plauderton. Aber auf diese Art erfuhr er alles, was er wissen wollte. Ganz nebenbei erkundigte er sich auch nach Jessica Baker, auf die er seit längerer Zeit ein heimliches Auge geworfen hatte, aber die so kühl und unnahbar wirkte, daß der Großmeister seine Gier noch zügeln und hinausschieben mußte. »Eine fromme, tüchtige junge Frau«, sagte Harris. »Sie sammelt jeden Tag Heilkräuter, auf deren Anwendung sie sich hervorragend versteht.« »Sie muß jetzt zweiundzwanzig sein«, sagte Webster. »Ich hoffe doch nicht, daß sie sich schon mit unkeuschen Gedanken trägt.« Die Frage klang lauernd und lüstern, doch das hörte Harris nicht heraus. Er fand lediglich, daß sich der Erhabene sehr um seine Schäfchen sorgte. »Bestimmt nicht, verehrter Großmeister. Sie ist auch noch keinem versprochen.« »Soso, hm-hm. Vielleicht hat sie das Zeug dazu, die Stammutter eines neuen Geschlechtes zu werden. Der Herr wird mir frü44
her oder später den Auftrag geben, ein neues Geschlecht zu zeugen. Etwas Ähnliches wurde mir in einem Traum bereits angedeutet. Sollte das der Fall sein, werde ich diese junge Frau vielleicht etwas näher in Betracht ziehen. Sie hat wirklich das Zeug dazu.« In Gedanken sah er wieder die frauliche Figur, die wohlgeformten Brüste und den knackigen Hintern vor sich. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er nur daran dachte. Nun, es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, um Jessica Baker zu überzeugen, daß für sie nur ein Erhabener in Frage kam. »Passe nur gut auf sie auf«, sagte er mahnend. »Sie ist jetzt in einem Alter, in dem sie begehrliche Blicke auf sich zieht. Ich dulde das aber nicht!« rief er dann flammend aus. »Die Fleischeslust ist eine Versuchung des Teufels, der wir widerstehen müssen.« »Ja, Erhabener, ganz recht«, tönte Harris. »Ich werde achtgeben, um alles Sündige von ihr fernzuhalten.« »So ist es recht«, lobte Webster etwas ruhiger. Eine knappe Viertelstunde später hatten sie das felsige Plateau erreicht und sahen hinunter in die Bucht, wo die Männer klein wie Spielzeug eifrig an der Arbeit waren. Immer mehr nahm die Burg Jerusalem unter den fleißigen Händen Form und Gestalt an. Und wie aus dem Boden gewachsen entstanden Holzhütten auf der Insel. Die Burg Jerusalem interessierte Webster allerdings nicht mehr so sehr, seit er dieses Plateau entdeckt hatte. Wenn hier eine Festung stand, dann bot sie Schutz und Sicherheit, hauptsächlich für ihn, denn hier war er so gut wie unangreifbar. Sie stiegen die letzten paar Yards hoch, bis sie das Plateau auf der letzten Anhöhe erreichten. Hier blieb dem dümmlich dreinglotzenden Harris zuerst einmal buchstäblich die Luft weg. Er sah seinen Herrn und Meister 45
mit einem solchen furchtsamen Blick an, als sei der soeben vom Himmel gefallen. Nur ein Heiligenschein fehlt ihm noch, dachte Harris allen Ernstes. Aber leider konnte er keinen entdecken, nicht einmal die Andeutung einer schimmernden Aura. Na, vielleicht kam das ja noch, es hatte derartige Fälle schon oft gegeben. »Da sind die vier Steine dicht neben dem Abhang«, sagte er fassungslos und zutiefst erschüttert. Er rannte zwischen den vom Großmeister prophezeiten Felsbrocken aufgeregt hin und her und blieb dann wieder stehen, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Hier ist das Auge des Herrn!« rief er aus. »Wie du es gesehen hast, Erhabener! Ein Wunder ist geschehen, ein Wunder!« »Hast du etwa daran gezweifelt, Harris?« fragte der Großmeister sehr verwundert und besorgt. »Oh, nein, mein Herr und Führer, keinen Augenblick. Ach, es ist ja alles so wunderbar, so himmlisch so äh…« Überwältigt brach Harris ab, weil ihm die Stimme versagte. Er starrte auf den Stein, der das »Auge des Herrn« trug und in vielen Farben funkelte. »Genauso habe ich ihn gesehen«, behauptete Webster mit der größten Unverfrorenheit. »Da sind auch schon die beiden Bäume. Sie sehen tatsächlich so aus, als würden sie sich umarmen.« Harris fiel von einem Extrem ins andere. Er rannte wie ein erstauntes Kind zu den Bäumen hin und glotzte sie an. Alles stimmte, wie es der erhabene Großmeister angekündigt hatte. So hatte die Stimme ihm das Bild geschickt, wie immer das auch funktionieren mochte. Das konnte nur der Erhabene selbst wissen. Als Harris sich bückte und die aus dem Boden ragenden Wurzelenden begaffte, zuckte er verstört zusammen. Er hockte sich 46
auf die Knie und starrte auf den toten Vogel, der daneben lag. Selbst solche Kleinigkeiten wie diesen toten Vogel hatte der Erhabene in seiner Erleuchtungsphase gesehen, Harris war völlig erschüttert. Mit spitzen Fingern griff er nach dem toten Vogel. Der Vogel war schon ein paar Tage lang tot, und er stank auch genauso, wie ein toter Vogel normalerweise roch, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er hier lag und der Großmeister ihn visionär erblickt hatte. In Harris rastete etwas aus. Er, der schulmeisterliche und klugscheißerische Pedant, wollte auch so werden wie der Großmeister. Vielleicht ging dessen himmlische Kraft auf ihn über. Er stand auf, zermatschte den toten Vogel fast zwischen den Fingern und warf sich vor dem Erhabenen auf die Knie. Seine Mundwinkel zuckten, sein Blick flackerte, und er wurde fast verrückt. Er sah nicht die zerhauene Visage Websters, die platte Nase, die immer noch farbig schillernden Klüsen und erst recht nicht den hinterhältigen Gesichtsausdruck und das Lauern in den Augen. Er sah nur einen verklärten Heiligen, der goldüberzogen auf einem Podest stand und zu dem die ganze Welt mit leuchtenden Augen aufblickte. Dieser Heilige strahlte einen Glanz aus, der alles in seiner unmittelbaren Nähe blendete. »Gib mir deinen Segen, Erhabener!« brüllte er ekstatisch und mit Schaum in den Mundwinkeln. »Lege mir die Hand auf, Meister des Himmels, damit auch ich einst die Wunder schauen darf.« Nun ja, dachte Webster großzügig, da habe ich ja einen sehr nützlichen und anhänglichen Idioten, der mir bis ans Ende aller Tage aus der Hand frißt. Warum eigentlich nicht? Schließlich kostete ihn das nichts, aber dieser dümmliche Schreiber würde 47
über sich selbst hinauswachsen und blindlings alles tun, was ihm aufgetragen wurde. Der Großmeister hätte jetzt zu ihm sagen können: Friß zum Zeichen deiner Treue diesen Vogel! Harris hätte ihn mit tausend Freuden gefressen, samt Knochen und Federn, und er hätte sich noch die Finger abgeleckt über dieses himmlische Manna. Er hätte ihm aber auch sagen können: Spring in den Abgrund! Harris hätte Anlauf genommen und wäre gesprungen, bis ihm unten die Beine aus dem Hals gewachsen wären. Der Großmeister legte ihm also die Hand auf das schüttere dunkelblonde Haar und drückte ein bißchen hart zu. Dabei sah er fast mitleidig auf den kleinen Ex-Schreiberling, der keuchende Laute ausstieß und sich fast in eine Raserei steigerte. »Ja, ich spüre die Kraft«, jaulte Harris. »Sie geht auf mich über, sie verzehrt mich wie ein himmlisches Feuer. Oh, geliebter Großmeister, laß mich auf ewig in unverbrüchlicher Treue zu dir halten.« Der Großmeister gestattete das gnädig und half seinem geschwächten und jetzt mit himmlischen Kräften ausgestatteten Ober jünger wieder auf die Beine. Die wackelten noch ein bißchen, der Blick war noch sehr glasig, aber Harris kehrte allmählich wieder auf diese Welt zurück. Der tote Vogel hatte allerdings die Fasson verloren, denn er war in Harris' verkrampfter Hand zu einem matschigen Gebilde geworden. Harris erwachte wie aus einer Ekstase. Verwirrt sah er sich für einen Augenblick um, aber dann wußte er überdeutlich, welch grenzenlose Gnade der Großmeister über ihn ausgeschüttet hatte. Von diesem Zeitpunkt an hatte Harris eine leichte Macke, und er fühlte sich allen anderen Brüdern und Schwestern turmhoch überlegen, indem er sie ständig mit erhobenem Zeigefinger 48
belehrte und bevormundete. Er fühlte sich auch immer wieder zu allem möglichen ›berufen‹, was er jedesmal kräftig hervorhob. Der Erhabene blickte sich sorgfältig um, und Harris' Blick folgte sofort dem seinen. Sah der Großmeister auf dem Boden, dann glotzte Harris auch sofort dahin. Schließlich hätte da ja gerade ein Wunder geschehen können, und das wäre ihm sonst vielleicht entgangen. »Hier also werden wir die Burg errichten«, sagte Webster. »Die Burg Zion, von der aus ich mit dem Flammenschwert über alles wachen werde. Du hast jetzt die ehrenvolle Aufgabe, Harris, den Brüdern und Schwestern mitzuteilen, sie sollen sofort mit dem Bau dieser geheiligten Burg beginnen. Sie ist noch wichtiger als der Bau der Burg Jerusalem. Wenn wir wieder unten sind, werde ich eine Zeichnung anfertigen, wie die Burg auszusehen hat. Ich werde auch selbst mit Rat und Tat zur Seite stehen.« »Wir werden ein Imperium aus dem Boden stampfen«, tönte Harris. »Ich werde die Leute motivieren, wie du es befohlen hast, verehrter Großmeister. Die Kraft dazu hast du mir gegeben, und Feuer und Schwefel soll über denjenigen regnen, der wagt, auch nur einen Lidschlag lang faul herumzustehen. Im Schweiße ihres Angesichts sollen sie ihr Brot verdienen, wie es geschrieben steht.« »Schön, schön, tue das«, sagte der Meister. Er sah Harris von der Seite her an und fand, daß der es fast noch besser konnte als er selbst. Er ereiferte sich schlimmer als der größte Fanatiker. Solche verdrehten und verhetzten Kerle waren Webster gerade recht. Die dachten nicht einen Augenblick nach. Die konnte man mit einfachen Blicken regieren, denn für die war alles Balsam, was aus großmeisterlichem Mund tönte. »Wir gehen jetzt hinunter«, sagte Webster. »Hier werden wir 49
einen breiten Pfad anlegen, der zur Burg führt.« Harris fand alles wunderbar, herrlich und himmlisch, was Webster sagte. Aufgeregt wischte er sich die Hand mit den Vogelfedern an der Hose ab und konnte es kaum erwarten, die frohe Botschaft im Tal zu verkünden. Eine halbe Stunde später tönte er groß herum und erzählte den andächtig Lauschenden von den Erleuchtungen des Erhabenen und daß alles bis ins Detail gestimmt habe, was der Großmeister vorher nur visionär gesehen hätte. Die Menge staunte wieder einmal und war ganz aus dem Häuschen. Natürlich wurde auch gleich freudig zugestimmt, die neue Burg Zion zu errichten. Harris trieb die Leute mit unglaublicher Vehemenz an, und das wiederum fand die gnädige Zustimmung des Erleuchteten. Jetzt brauchte er sich selbst nicht mehr so stark zu engagieren. Er lächelte milde und weise, als die Menge ihm zujubelte. Und weil es gerade so schön feierlich war, ließ er wieder einen Choral anstimmen. 5. Einen Tag vorher. Nachdem Mel Ferrow und Roger Lutz wieder an Bord der ›Golden Hen‹ waren, ging Jean Ribault auf Südostkurs. Das Ruder hatte der Holländer Piet Straaten übernommen. Ribault lehnte am Schanzkleid auf dem Achterdeck der Karavelle und hörte sich schweigend den Bericht der beiden Männer an, die er als Erkundungstrupp zu der Bucht geschickt hatte. Sein Blick verfinsterte sich immer mehr, denn was er da hörte, überstieg alle seine Vermutungen. Viel Gutes hatte er von diesem bigotten Puritaner-Orden ohnehin nicht erwartet. »Ja, das ist die ganze Geschichte«, sagte Roger Lutz. »Der 50
größte Spaß war natürlich der Kampf mit dem Riesenhai.« Er lachte ironisch und zeigte auf seine rechte Schulter. »Da hat das Biest mich nur einmal kurz gestreift. Sieht aus, als hätte mich jemand mit Schmirgelleinen abgerieben.« Seine Schulter war knallrot und von blutigen Striemen überzogen. Die Haut war abgepellt und fast roh. Gordon McLinn, den vom Ufer her eine Musketenkugel erwischt, aber zum Glück nur am Kopf gestreift hatte, brachte Salbe und strich sie vorsichtig auf die Stelle. McLinn trug einen Kopfverband, aber er fühlte sich wieder ganz in Ordnung. »Mel hat dem mörderischen Biest dann den Rest gegeben«, berichtete Roger Lutz weiter. »Dann konnten wir türmen und mußten ein paar Kerle niederstechen, die auf der südlichen Landzunge postiert waren. Den Rest kennst du ja.« »Ja, den Rest kenne ich«, sagte Jean Ribault erbittert. »Und das hat dieser Webster ein Gottesurteil genannt?« »Ja, so nannte er es. Den Hai haben die Verrückten übrigens den Wächter von Jerusalem genannt.« »Wenn mir das ein anderer erzählen würde, könnte ich es nicht glauben«, sagte Jean. »Es hört sich unwahrscheinlich an.« »Allerdings«, sagte Mel. »Der Kerl ist verrückt, aber auf eine sehr gefährliche Weise verrückt. Er ist ein Wahnsinniger, der die Leute verhetzt. Er hatte seiner begierig lauschenden Anhängerschar lauthals verkündet, daß der Herr ein Wohlgefallen an seinem Tun haben würde, sollte der Wächter von Jerusalem uns verschlingen.« »Und wenn nicht?« »Wenn nicht, dann sollten Websters Leute auf Befehl des Herrn die Nattern töten, aber vorher sollten wir noch gefoltert werden.« »Das sind nicht nur einfach scheinreligiöse Verrückte«, sagte Jean Ribault ernst, »das ist eine ganz gefährliche und verblendete 51
Bande von frömmelnden Fanatikern. Wen meint er denn mit den Nattern und dem Natterngezücht uns etwa?« »Ja, damit sind wir gemeint. Das Nattern- und Schlangengezücht müsse unnachgiebig ausgerottet werden. Sein Kreuzzug werde Tod und Verderben über uns bringen.« »Das traue ich ihm zu«, sagte Jean Ribault. »Es wird auch nicht mehr lange dauern, dann hat er einen Teil der Insel in eine Festung verwandelt, die nur sehr schwer zu stürmen ist. Ich bin gespannt, was Hasard zu dieser üblen Angelegenheit sagt.« »Bis zum Nachmittag sollten wir mit den anderen Schiffen südlich von Cat Island zusammentreffen«, sagte Piet Straaten. »Aber wir werden das wohl kaum schaffen.« »Wir schaffen es auch nicht«, sagte Ribault. »Von der Südküste von New Providence sind es etwa einhundertzwanzig Meilen. Unsere Karavelle ist zwar ein schnelles Schiffchen, aber trotzdem schaffen wir die Distanz bis zum späten Nachmittag nicht.« »Was passiert, wenn wir es nicht schaffen?« »Ich nehme an, daß unsere Freunde warten werden.« »Und wenn das nicht der Fall sein sollte?« »Mann, stellst du hartnäckige Fragen. Wenn sie nicht warten, dann werden sie durch den Exuma-Sund segeln und Kurs auf New Providence nehmen, um nach uns zu suchen, denn sie wissen ja, daß wir hier mit der Suche nach dem verrückten Orden begonnen haben. So oder so treffen wir bald zusammen, um Kriegsrat abzuhalten. Diese Wahnsinnigen können und dürfen nicht hierbleiben, sonst passiert hier noch ein fürchterliches Unglück, weil sie einfach unberechenbar sind. Religiöse Fanatiker sind die schlimmsten, die es gibt.« Jean Ribault ließ sich weitere Einzelheiten von den beiden Männern berichten, und so erfuhr er von der ›Burg Jerusalem‹, dem von Palisaden umgebenen Wall, in dem die Blockhäuser standen, und daß auf dem Palisadenzaun Drehbassen montiert 52
waren. Mel Ferrow und Roger Lutz hatten sich in der kurzen Zeit gründlich umgesehen und sich auch die allerkleinsten Einzelheiten gemerkt. Die ›Golden Hen‹, die schnelle dreimastige Karavelle, lief weiterhin auf Südostkurs und steuerte den südlich von Cat Island gelegenen Treffpunkt an. Ribault brannte bereits ungeduldig darauf, den Freunden die Neuigkeit mitzuteilen. * Am Spätnachmittag dieses Tages hatten sich tatsächlich die ›Isabella‹, ›Eiliger Drache über den Wassern‹, die ›Caribian Queen‹ und die ›Empress‹ an der westlichen Südküste von Cat Island eingefunden. Dort waren die Schiffe vor Anker gegangen. Hasard, Ben Brighton und Dan O'Flynn standen zusammen mit anderen Männern auf der Kuhl und blickten zum nahen Land hinüber. Cat Island hat die Form eines Stiefels, der sich zur Mitte hin sehr stark verjüngt. Sie befanden sich an der westlichen Südküste dieses Stiefels in der Nähe von Devil's Point. »Eine der schönsten und fruchtbarsten Inseln von ganz Bahama«, sagte Hasard. »Nur die Dornhaie hier stören etwas die Harmonie.« Er zeigte in das kristallklare Wasser, wo sich ein paar angriffslustige Dornhaie tummelten. Sie hatten einen riesigen Barsch erwischt und zerrissen ihn. Dabei gingen sie sich gegenseitig hart an, ohne sich durch die Zuschauer stören zu lassen. Ein paar Minuten später war der Spuk vorbei. Im Wasser zogen nur noch vier oder fünf der Dornhaie ihre Bahn. Die Insel war wahrhaftig eine der schönsten und fruchtbarsten. Mehr als sechzig Yards hoch erhoben sich ihre Klippen über der 53
See. Auf Cat Island standen dichte Wälder, die langen weißen Strände waren mit Palmen bewachsen. Eine Stunde verging. Im Großmars stand Stenmark als Ausguck. Als Hasard einmal fragend zu ihm hochblickte, zuckte der blonde Schwede mit den Schultern. »Keine Spur von der ›Golden Hen‹ zu sehen, Sir. Bis zur Kimm ist weit und breit kein Schiff.« »Unpünktlichkeit entspricht nicht Jeans Art«, sagte der Seewolf in die Stille hinein. »Möglicherweise hat er doch die Stelle entdeckt, wo sich die Betbrüder niedergelassen haben und sich aus diesem Grund verspätet.« »Das kann sein«, stimmte Ben Brighton zu. »Wir sind auf unserer Suche nicht fündig geworden, aber vielleicht hat Jean sie entdeckt. Wie lange wollen wir warten, Sir?« Hasard lehnte sich weiter ans Schanzkleid zurück und sah die Männer aus seinen eisblauen Augen an. »Es hat den Anschein, als hätten plötzlich unvorhersehbare Gründe das Einhalten des vereinbarten Termins verhindert. Wir kennen diese Gründe nicht, ich weiß nur, daß es bei den Kapitänen vom Bund der Korsaren keine Unpünktlichkeit gibt. Es kann daher sein, daß Jean Ribault mit seinen Männern in Schwierigkeiten steckt. Wir warten noch bis zum Abend. Wenn er dann nicht auftaucht, segeln wir durch den Exuma-Sund in Richtung New Providence. Das besprechen wir nachher noch genauer. Vorerst warten wir bis zur Dämmerung ab.« Er teilte das auch dem Wikinger, der Roten Korsarin und Old O'Flynn mit. »Da ist mit Sicherheit etwas passiert«, polterte Donegal auch gleich los. »Sollten wir nicht sofort lossegeln und Jean heraushauen?« »Wir wissen ja gar nicht, ob er in Schwierigkeiten steckt. Es 54
sind alles nur Vermutungen, Donegal. Wir wollen auch nichts überstürzen und warten noch ein oder zwei Stunden ab.« Donegal und der Wikinger wollten gleich wieder mit der Brechstange dazwischen gehen, wie das ihrer Art entsprach. »Was ist, wenn sie den Betbrüdern in die Hände gefallen sind, Sir?« fragte der Alte kampflustig. »Die haben uns doch sowieso den Krieg erklärt und werden nicht lange fackeln.« »Das werden wir herausfinden, indem wir dieselbe Strecke absegeln«, erwiderte Hasard. »Haltet inzwischen scharf Ausguck. Von Heraushauen kann vorerst auch nicht die Rede sein, denn wir wissen ja nicht, wo die ›Golden Hen‹ steckt.« »Irgendwo auf den Inseln«, brummte Donegal, aber das war nicht der Weisheit letzter Schluß. Das wußten die anderen ebenfalls. Wieder verging eine weitere halbe Stunde, ohne daß sich von der Karavelle auch nur eine Mastspitze zeigte. Langsam begannen die Männer unruhig zu werden. Old O'Flynn zappelte am meisten. Er stand mißmutig auf dem Achterdeck der ›Empress‹ und starrte immer wieder über das Meer. »Die Betbrüder haben Jean und die Männer kassiert«, behauptete er dann wider besseres Wissen. »Aber denen zeigen wir es, diesen scheinheiligen Rübenschweinen. Wenn die nach dem Alten Testament handeln, dann tun wir es auch. Auge um Auge, Zahn um Zahn!« Hasard lächelte ein wenig. Er konnte Old O'Flynn direkt in die Augen sehen, so dicht lag die ›Empress‹ neben der ›Isabella‹. »Ein guter Spruch«, sagte er, »aber leider funktioniert das nur zweimal.« »Wieso nur zweimal?« fragte Old Donegal. »Der Bibelspruch ist schon so alt wie die Welt.« »Ja, aber Auge um Auge kann man nur zweimal riskieren, 55
dann ist man blind.« »Ha, Verdrehung der Tatsachen«, murmelte Old Donegal. »Ich bin immer noch nicht blind und sehe verdammt gut.« Nach einer weiteren halben Stunde, in der sich immer noch nichts rührte, wurde Old O'Flynn nervös. »Nun unternehmt doch endlich etwas«, drängte er. »Mein Holzbein wächst langsam auf den Planken an und schlägt Wurzeln. Wenn ihr jetzt nicht bald ankerauf geht, dann suche ich diesen Hundesohn von Webster auf eigene Faust. Wenn ich ihn erst zur Brust genommen habe, dann kann er hinterher sicher sein, daß er aus der Hanse ausgetreten ist.« »Was soll das denn bedeuten?« fragte der Profos. »Die Engländer sind doch gar nicht in der Hanse vertreten.« »Mir wurscht Ich meine krrrk und ssttss, weg, zu Ende, aus. Finale für den Betbruder. Dann hat er aufgehört, unschuldige Menschen aufzuhetzen.« »Nun beruhige dich mal«, sagte Hasard lächelnd. »Noch steht gar nichts fest. Jean kann sich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen ganz einfach verspätet haben.« »Du sagtest aber eben, Unpünktlichkeit gäbe es bei den Kapitänen des Korsarenbundes nicht«, beharrte Old O'Flynn. »Also geht doch da etwas nicht mit rechten Dingen zu.« Der Alte hatte heute mal wieder seinen spitzfindigen Tag, oder er hatte einfach keine Ruhe im Hintern, wie das bei ihm oft der Fall war. Dann mußte er etwas tun, auch wenn er dabei alles überstürzte. »Jaja«, sagte der Seewolf begütigend. »Du wirst hoffentlich noch so lange abwarten können, bis die Dämmerung einsetzt. Wenn Jean dann mit der Karavelle noch nicht zu sehen ist, segeln wir los.« Old O'Flynn gab sich damit zufrieden, begann jetzt aber, auf nervtötende Weise auf dem Achterdeck seiner Karavelle hin und 56
her zu rennen und nervte damit wieder die anderen. In der Bucht war nur das Aufstampfen seines Holzbeines zu hören, wenn er eilig über das Achterdeck humpelte. Dann fiel ihm ein, daß er einen Rum nötig hatte. Er gluckerte einen Streifen weg und starrte dabei aufmerksam über das Wasser. Die meisten Männer auf den Schiffen verdösten die Zeit bis zum Beginn der kurzen Dämmerung. Andere unterhielten sich oder würfelten. Es sah ganz danach aus, als würde es eine lange Nacht werden, und da war es besser, wenn sie ausgeruht waren. Als sich die Dämmerung über das Meer und die Insel Cat Island senkte, war von Jean Ribault und seinen Männern immer noch nichts zu sehen. Hasard wandte sich an Ben Brighton und Dan O'Flynn. Sein Gesicht war etwas besorgt. »Ich denke, wir segeln jetzt los. Vermutlich ist Jean doch in Schwierigkeiten geraten, sonst wäre er längst hier. Länger warten wir jedenfalls nicht mehr.« »Na endlich!« rief Old O'Flynn, noch bevor die beiden anderen etwas sagen konnten. »Dann werden wir für die frommen Brüder mal einen prächtigen Choral anstimmen! Halleluja!« Hasard wahrschaute die anderen Kapitäne. »Wir gehen jetzt unter Segel auf Nordwestkurs, Richtung New Providence. Wir durchsegeln den Exuma-Sund in Dwarsformation, also in breiter Harke, um die ›Golden Hen‹ nicht durchwischen zu lassen. Kann ja sein, daß Jean doch noch auf Südostkurs zum Treffpunkt segelt. So kann er uns also nicht entgehen.« »Und wenn Jean durch die Exumas segelt?« fragte Siri-Tong. »Die Möglichkeit besteht doch auch.« »Das halte ich für ausgeschlossen«, erwiderte Hasard. »Die Exumas sind eine Kette zahlloser Cays und Inselchen, die mit Riffen nur so gespickt sind. Da würde ich mich bei Nacht auch 57
nicht durchtrauen, obwohl wir verhältnismäßig gute Karten haben. Für Jean ist das zu gefährlich. Er wird wenn überhaupt den Weg an der nördlichsten Insel vorbei nehmen. Wenn unsere Harke breit genug ist, werden wir früher oder später auf ihn stoßen.« Die Rote Korsarin zeigte verstanden, indem sie die rechte Hand hob. »Alles klar«, brüllte der Wikinger mit seiner Donnerstimme. Auf seinem Helm spiegelte sich noch ein letzter Abglanz der untergehenden Sonne. Von weitem sah es aus, als habe der Wikinger eine feuerrote Wunde auf dem Schädel. Offenbar war er sehr begeistert darüber, daß es jetzt endlich losging und sich etwas tat. »Dann übernehme ich den äußeren Backbordflügel der Harke«, sagte Old O'Flynn. »Das bietet sich logischerweise an, denn ich muß dicht an der nördlichsten Insel vorbei, wo die vielen Riffe sind.« »Du möchtest wohl gern mal wieder aufbrummen«, sagte der Profos. »Wie man hört, ist das ja schon zu einer ausgesprochenen Leidenschaft bei dir geworden.« »Pah! Ich will nur die anderen vor Schaden bewahren. Mit meiner ›Empress‹ segele ich glatt über jede Korallenbank weg. Für mich ist das mit keinem Risiko verbunden, falls du Tranfisch das kapierst.« »Donegal hat recht«, sagte Hasard. »Er kann viel dichter an den Untiefen vorbeisegeln als wir anderen. Gut, du übernimmst dann den äußeren Flügel, Donegal.« »Sag' ich doch die ganze Zeit«, brummte der Alte. Sein verwittertes Granitgesicht leuchtete jetzt erwartungsvoll. Er war so kribbelig, daß er seine Ungeduld kaum noch bezähmen konnte. Hasard teilte die ›Harke‹ ein, die den Exuma-Sund durchsegeln sollte. 58
Überall wurde verstärkt Ausguck gegangen. Die Anker wurden gehievt und die Segel gesetzt. Ein forschender Rundumblick bewies, daß Jean Ribault immer noch nicht aufgekreuzt war. Die ›Empress‹ bildete schon den äußeren Backbordflügel der Harke, als auf den anderen Schiffen noch die Segel gesetzt wurden. Old O'Flynn hatte es furchtbar eilig. Aber er tat sich auch mit dem Segelsetzen nicht so schwer. Bei ihm ging das ruckzuck, dann waren die ›Lappen‹ auch schon oben. »He, könnt ihr euch nicht ein bißchen mehr beeilen«, motzte er den Profos an. »Früher hast du den Kerlen immer Dampf unter den Achtersteven gemacht. Das ist ja zum Läusemelken, ist das.« »Verdammt noch mal!« fluchte Ed. »Das hier sind Rahschiffe, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Du mit deinen drei Zahnstochern an Deck brauchst ja nur dein Schnupftuch hochziehen und kannst dabei noch in der Nase bohren. Aber bei uns wird beim Segelsetzen noch hart gearbeitet. Der Teufel soll dich holen.« »Mich?« fragte Old O'Flynn anzüglich. »Denk lieber an das Inselchen, als wir die Schätze umluden. Da hätte dich ein gewisser Old Nick fast geholt. Wenn du ihn jetzt wieder herbeirufst, beißt er dir vielleicht die Ohren ab, oder er entleibt dich. Sei bloß vorsichtig!« Der Profos schluckte und dachte flüchtig an die Begegnung mit dem Gehörnten, der ihm nach Mitternacht auf der Insel erschienen war und ihn ziemlich eingeschüchtert hatte. Daß Old O'Flynn diesen Teufel gespielt hatte, um den Profos zu ärgern, wäre Edwin Carberry nie in den Sinn gekommen. Augenblicke später hatte sich jedoch die Formation gebildet. In breiter Dwarslinie segelten die vier Schiffe nach Nordwesten. Der Wind wehte immer noch aus Nordost. Die Dunkelheit senkte sich über das Meer. 59
6. »Diese Betbrüder, diese«, wetterte Old O'Flynn. »Wenn Jean etwas passieren sollte, dann darf mir keiner der scheinheiligen Heiligen in die Finger geraten. Zu Hackfleisch verarbeite ich die ganze unheilige Brut.« Solche und ähnliche Sprüche und Tiraden mußten sich die Männer von der ›Empress‹ stundenlang anhören. Der Alte war wieder einmal nicht zu bremsen, und mit jeder Stunde, die verstrich, wurde er nur noch galliger und nervöser. Überall auf der kleinen Karavelle hatte er Ausgucks postiert und ihnen schon zum x-ten Mal eingeschärft, nur ja die Klüsen ganz genau aufzureißen und auf eine Karavelle zu achten, als wüßte das nicht jeder Mann längst selbst. Bis' kurz vor Mitternacht stierten sie sich die Augen aus. Dabei wurden sie immer wieder von Donegal gefragt, ob denn noch nichts in Sicht sei, was jedesmal ungeduldig verneint wurde. In weiter Entfernung, gerade noch als vage Schemen erkennbar, segelten die anderen Schiffe dem Exuma-Sund entgegen. Von dort war auch noch keine Meldung eingetroffen. Jung Hasard und Philip taten vom pausenlosen Starren auf das Meer schon die Augen weh. Mond- und Sternenlicht brachen sich auf dem Wasser und ließen es mitunter so glitzernd reflektieren, daß alles mögliche zu erkennen war Schatten, die über die See huschten, oder winzige Lichtblitze, die Bewegung vortäuschten. Nach einer Weile, vom Achterdeck hatte es gerade Mitternacht geglast glaubte Philip etwas zu erkennen. »Da bewegt sich doch etwas«, flüsterte er seinem Bruder zu. »Oder täusche ich mich schon wieder?« Jung Hasard spähte in die angegebene Richtung, sah ganz 60
scharf hin und zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Mir tränen schon die Augen.« »Habt ihr was entdeckt?« brüllte Donegal von achtern. »Es ist noch nicht klar zu erkennen«, sagte Philip. »Weiter scharf Ausguck halten!« rief Donegal. »Sofort Wahrschauen, wenn ihr etwas seht!« »Himmel, das sagt der schon seit Stunden.« Es verging keine halbe Minute, bis Philip seinen Bruder erneut anstieß. »Das ist ein Schiff«, behauptete er, »jetzt sehe ich es schon deutlicher. Kein Zweifel, es muß die ›Golden Hen‹ sein. Andere Schiffe treiben sich in dieser gefährlichen Ecke nachts ganz sicher nicht herum.« »Ja«, bestätigte Hasard, »das ist ein Schiff. Dann gib mal Meldung an den Admiral, steht dir ja auch als Entdecker zu.« Als die Meldung heraus war, hielt den Alten auf dem Achterdeck nichts mehr. Er klemmte sich den Kieker unter den Arm, übergab Don Juan die Ruderpinne und stürmte im Laufschritt nach vorn. Noch während er rannte, setzte er das Spektiv schon ans Auge und wäre fast noch über eine Taurolle gestolpert. Nils Larsen bewahrte ihn gerade noch vor einem knallharten Sturz. »Los, schwenkt eine Lampe!« brüllte Old O'Flynn. »Damit die anderen Bescheid wissen und Jean auch gleich informiert ist. Klar, das ist die Karavelle. Die Kerle leben noch und sind in einem Stück.« Er war ganz aus dem Häuschen vor Freude und reichte das Spektiv großzügig an die anderen weiter. Eine Lampe wurde auf der Kuhl geschwenkt. Das vereinbarte Zeichen wurde auf den anderen Schiffen bemerkt und erwidert. Eins nach dem anderen segelte auf Rufweite heran. Auch bei Jean Ribault wurden Lichtzeichen gegeben. Alle Schiffe hielten gleich darauf aufeinander zu. 61
Hasard hielt die Hände trichterförmig an den Mund und rief zu den anderen hinüber: »Alles klar! Wir steuern die Südwestspitze von Eleuthera an. Ihr kennt ja die kleine Bucht. Sie ist nicht weit von hier entfernt. Dort treffen wir uns zur Besprechung. Alle Kapitäne dann zu mir an Bord!« »Aye, aye, Sir!« brüllten ein paar übermütige Stimmen durch die Nacht. »Südwestbucht von Eleuthera.« »Wie ist es euch ergangen, Jean?« brüllte der Wikinger mit einer Stimme, die mühelos bis zu den Kleinen Antillen drang. »Habt ihr den Gespenstermönch hochgenommen?« »Das wirst du in knapp einer Stunde erfahren, Thorfin!« rief Jean Ribault zurück. »Dann auch ganz ausführlich und nicht im Ton eines brünftigen Brüllaffen.« »Ha, brünftiger Brüllaffe ist gut!« schrie Thorfin. »Mir macht es nichts aus, so herumzubrüllen.« Danach trat dann aber doch Ruhe ein. Die fünf Schiffe änderten den Kurs und steuerten jene kleine Bucht an der Südspitze Eleutheras an, die bereits allen bekannt war. Es war etwa eine Stunde nach Mitternacht, als sich Thorfin Njal, Jean Ribault, Siri-Tong und Old O'Flynn auf der ›Isabella‹ einfanden. An Deck brannten ein paar Laternen. Da die Nacht lau und mild war, hielt sich alles an Deck auf. Der Kutscher und Mac Pellew versorgten die Mannschaften mit Trinkbarem. Natürlich drehte sich jetzt alles um Jean Ribault und seine Männer. »Ihr habt die Brüder also gefunden«, sagte Hasard. »Dann berichte mal, wir sind schon sehr gespannt.« »Sehr viel zu berichten gibt es nicht«, sagte der Franzose, »aber die vierundzwanzig Stunden haben auch gereicht. Das haben ganz besonders Mel und Roger am eigenen Leib erfahren müssen. Gestern, gegen Mitternacht, erreichten wir die nördliche 62
Ostküste von New Providence und tasteten uns bei Mondlicht langsam vorwärts. Zunächst mußten wir durch den schmalen Sund zwischen dem langgestreckten Paradies Island, das der nördlichen Ostküste vorgelagert ist. Dann ging es weiter an den anderen Cays an der Küste vorbei. Dabei mußten wir ständig wegen der Untiefen loten.« »Ihr habt also eine Bucht nach der anderen abgesucht?« »Ja, mit größter Sorgfalt und unter der nötigen Vorsicht. Am nächsten Morgen standen wir mit der Karavelle vor der abgeschirmten Bucht an der mittleren Südküste.« »Dort ist es sehr unübersichtlich«, warf Hasard ein. »Ja, der gesamte Buchtbereich ist mehr als unübersichtlich. Ich ließ die Jolle aussetzen und bemannte sie mit Mel und Roger, die in die Bucht vorstoßen sollten, um sich dort ein wenig umsehen. Ich war inzwischen allerdings davon überzeugt, daß diese Verrückten nicht auf New Providence gelandet wären. Wenn überhaupt, dann hätte ich auf die Nordküste der Insel getippt, die für Landungen wesentlich besser geeignet ist als die unwegsame Südküste. Aber ich wollte mich eben trotzdem genau davon überzeugen, denn bei den Kerlen ist schließlich alles möglich.« Ribault sah Mel und Roger an und nickte ihnen zu. »Erzählt mal, wie es dann weiterging. Ihr habt es ja schließlich hautnah miterlebt.« »Es sind da drei Landzungen«, berichtete Roger Lutz, »an denen wir vorbeipullen mußten. Es war alles still und ruhig, wie ausgestorben. Wir bogen um die nördliche Landzunge nach Osten ein und gerieten in ein enges Fahrwasser, eine Art Schlauch, der sich später nach Südosten langsam erweitert. Und da sahen wir im unteren südlichen Teil der Bucht die vier Schiffe vor Anker liegen. Als wir sie entdeckt hatten, kehrten wir natürlich sofort um, denn damit war unsere Aufgabe auch schon erfüllt.« 63
Mehr als zwanzig Augenpaare sahen gespannt auf den sehnigen, verwegen wirkenden Franzosen, der ganz lässig erzählte. »Dann war die Fahnenstange zu Ende«, sagte Mel Ferrow. »Der Rückweg war versperrt, wir waren in einen Hinterhalt geraten. Jeder Widerstand war zwecklos, denn zwei Boote blockierten überraschend das Fahrwasser, und die Kerle in den Booten waren bis an die Zähne bewaffnet und hatten die Finger am Abzug. Webster war bei der Aktion höchstpersönlich wie ein grinsender Satan dabei und freute sich sehr. Falls wir schreien, würden wir auf der Stelle erschossen, hat er uns grinsend erklärt. Also schrien wir nicht. Wir mußten anschließend zu den vier Galeonen pullen, immer die Musketen auf uns gerichtet. Noch während wir pullten, ging eine Galeone ankerauf und legte sich, eine Breitseite nach Westen ausgerichtet, vor den Buchtzugang. Damit war die Zufahrt versperrt, und keine Maus konnte ungesehen mehr herein oder heraus.« »Zu dem Zeitpunkt waren wir langsam weiter nach Osten getörnt«, warf Ribault ein, »denn Roger und Mel konnten ja unter Segeln mit dem Boot folgen, das Rigg war vorbereitet zum Setzen einer Fock und eines Großsegels. Nur waren wir leider völlig ahnungslos.« Hasard nickte den Männern aufmunternd zu. »Erzählt nur, jede Kleinigkeit ist wichtig. Jedes Detail hilft uns, den Gegner später besser anzupacken.« »Wir mußten auf die ›Kyrie Eleison‹, das Flaggschiff des Erhabenen, Erleuchteten und Großmeisters oder wie immer dieser barbarische Kerl sich noch nennen läßt. Dort wurden wir sogleich gefesselt. Webster schickte danach sofort weitere bewaffnete Männer an Land der Halbinsel und ließ auch die Wachen auf den Landzungen verstärken. Das war als Vorsichtsmaßnahme gedacht, wie er sagte, um das Natterngezücht, bei einem möglichen Landeversuch abzufangen und zu vernichten.« 64
»Der Mann muß nicht nur wahnsinnig sein«, sagte Hasard, »er ist es. Er ist ein demagogischer Volksverhetzer, der es glänzend ersteht, die Menge zu verblenden und zu fanatisieren. Leute dieses Schlages, die sich hinter dem Mantel der Frömmigkeit tarnen, sind ganz besonders gefährlich und unberechenbar. Diese gesamte Sekte ist äußerst aggressiv und gefährlich. Ich sagte schon einmal, daß wir härtere Saiten aufziehen müßten, denn anders ist diesen Wahnsinnigen nicht beizukommen. Die setzen alles dran, um uns auszurotten und werden von Webster immer schlimmer aufgehetzt. Aber erzählt weiter.« »Ich wartete eine Weile«, sagte Ribault, »dann wurde ich ungeduldig, dann mißtrauisch. Die Zeit, die man brauchte, um einen kurzen Blick in die Bucht zu werfen, war längst verstrichen. Und daß die beiden nicht herumtrödelten, stand außer Frage. Ich segelte also zurück und tastete mich lotend nach Norden in die Bucht vor, deren östliche Hälfte von den drei Landzungen und der Halbinsel abgedeckt ist. Wir gelangten an die Zufahrt hinter der nördlichen Landzunge, da brüllte Grand Couteau eine Warnung nach achtern, weil er eine Galeone in der Zufahrt entdeckte. Piet am Ruder reagierte wie ein Blitz und fiel hart ab. Ihm ist es eigentlich zu verdanken, daß die Breitseite von der Galeone hart bei uns am Bug vorbeiraste. Da war mir schon klar, was da inzwischen passiert sein mußte. Gleich darauf mußten wir die Köpfe einziehen, denn vom Ufergestrüpp aus wurden wir mit Musketen unter Feuer genommen. Dabei erwischte Gordon McLinn ein Streifschuß. Wir segelten zurück und blieben südlich der Bucht liegen. Dann berieten wir uns, und Karl von Hutten schlug vor, daß wir es mit einem Bluff versuchen sollten, denn es war uns inzwischen klar, daß die Brüder Mel und Roger geschnappt hatten.« »Und der Bluff hat gezogen?« fragte der Seewolf erstaunt. Karl von Hutten schüttelte den Kopf. 65
»Wir drohten damit, eine Streitmacht von neun Schiffen aufkreuzen zu lassen, falls die Gefangenen nicht herausgegeben würden. Das würde das Ende der frommen Brüder bedeuten. Es erfolgte keine Reaktion. Wir verlangten, Webster zu sprechen, der auch nach einer Weile erschien. Er hatte Mel und Roger gefesselt dabei. Pistolenläufe waren ihnen ins Genick gerichtet.« »Ich trug vor, was ich verlangte«, sagte Ribault, »aber der Kerl lachte nur höhnisch und dreckig und sagte, hier bestimme einzig und allein er. Das Ketzerschiff habe augenblicklich zu verschwinden, oder er würde die beiden Nattern an Ort und Stelle erschießen lassen. Wenn wir sofort verschwinden, so seine Worte, werde er die Nattern als Geiseln behalten und zum wahren Glauben bekehren. Es war völlig zwecklos, mit diesem Verrückten weiter zu verhandeln. Es läßt sich einfach keine Basis finden.« »Das stimmt«, sagte Hasard mit harter Stimme. »Aber wir werden ihm früher oder später das Handwerk legen. In diesem Fall werde ich keine Humanitätsduselei walten lassen. Sollte er mir in die Finger geraten, dann wird er unnachgiebig an die Rah gehängt, auch wenn ich das normalerweise verabscheue. Was hast du dann getan?« »Ich bin nach Westen gesegelt, nicht nach Südosten, damit die beiden wußten, daß ich nicht aufgesteckt habe. Ich hatte vor, die Kerle nachts zu überrumpeln.« »So hätte ich auch gehandelt«, sagte Hasard. »Wie ist euch dann die Flucht gelungen?« »Das Schönste folgt erst noch«, sagte Roger Lutz. »Webster wollte seinen Triumph natürlich voll auskosten. Mel und ich sollten dem sogenannten Wächter von Jerusalem zum Fraß vorgeworfen werden.« »Wer ist das denn?« fragte Siri Tong verblüfft. »Ein riesiger Hai, der in der Bucht schwamm. Webster hat ihn 66
so getauft. Er wollte ein Gottesurteil verhängen. Und damit das Schauspiel für die Gaffer genußreicher wurde, ließ er uns die Fesseln abnehmen und gab uns unsere Messer zurück. Damit hatten wir dann angeblich eine hauchdünne Chance.« Die Männer warfen sich ungläubige Blicke zu. Die Gesichter wurden immer härter, als sie das hörten. »Demnach habt ihr den Kampf bestanden«, sagte Hasard hart. »Mich wundert, daß der Halunke euch trotzdem freigelassen hat.« »So einfach war das nicht, Sir. Die Sache hatte für uns einen sehr üblen Haken. Webster sagte, wenn der Wächter von Jerusalem uns verschlingt, dann habe der Herr ein Wohlgefallen an seinem Tun. Falls das nicht der Fall sei, sollte uns die Gemeinde auf Befehl des Herrn töten. Aber vorher wollte uns Webster noch der heiligen Folter unterziehen, was immer das bedeuten mochte.« Hasards Augen waren ganz schmal. Aus den Blicken der anderen Männer sprach gnadenlose Härte. Darin war deutlich zu lesen, daß es Webster sehr dreckig ergehen würde, sollte er ihnen jemals in die Hände fallen. »Wir wußten also, was uns blühte, aber wir setzten darauf, den riesigen Hai erledigen zu können. Außerdem rechneten wir uns eine kleine Chance aus, zu entwischen und uns zur Küste durchzuschlagen, denn wir ahnten längst, was Jean vorhatte. Na ja«, Roger Lutz grinste ein bißchen, »wir haben dem Erleuchteten vor die Stiefel gespuckt und sind einfach über Bord gesprungen, bevor man uns stieß. Sollen wir uns über den Kampf mit dem Hai noch genauer auslassen?« fragte er Mel, der grinsend den Kopf schüttelte. »Wohl doch nicht. Jeder weiß ja, daß du der geborene Haifresser bist. Das Biest hat uns ein bißchen gepiesackt, dann haben wir es abgestochen, tauchten westwärts weg und stürmten ans Ufer. Wir liefen den Posten in die Hände, stachen ein paar von ihnen nieder und überquerten schwimmend 67
den westlichen Teil der Bucht. Eine halbe Stunde später waren wir wieder an Bord. Bis auf ein paar Schrammen und das Beiboot fehlt uns nichts.« Die Männer hatten gebannt und meist schweigend zugehört. Sie waren selbst nicht gerade zimperlich, aber was dieser Webster sich herausnahm, war einfach unbeschreiblich und ließ die Wut in ihnen hochsteigen. Fassungslos sahen sie die beiden Männer an, die natürlich beim Kampf mit dem Hai wieder mal stark untertrieben hatten. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Hasard die Sprache wiedergefunden hatte. Sein Blick war eisig geworden. »Wenn mir das ein Fremder erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt«, sagte er heiser. »Dieser fanatische Halunke hält also nach wie vor an seinem Plan fest, das Natterngezücht auf Great Abaco auszurotten, obwohl ihm überhaupt nicht bekannt ist, wo die Natternbrut ihren Stützpunkt hat. Nattern, Schlangen, nennt er uns. Der Kerl muß wahrhaftig von allen guten Geistern verlassen sein. Er darf auch nie in Erfahrung bringen, wo unser Stützpunkt liegt. Dieser Kerl wird auf eine unheimliche Art und Weise immer aggressiver, wenn er jetzt schon sogenannte Gottesurteile veranstaltet. Dieser Mann mit seinen fanatischen und verblendeten Anhängern ist wie eine schlimme Seuche, die über die Karibik hergefallen ist, wie die Pest, die alles mit Tod und Verderben überzieht.« »Seuchen kann man bekämpfen«, sagte der Profos zähneknirschend. »Und das werden wir auch tun, bevor die Pest die gesamte Karibik überzieht. Jetzt wissen wir ja, wo er sich mit seiner verrückten Horde niedergelassen hat.« »Es ist gut, wenn man vorher noch mehr über ihn in Erfahrung bringen könnte«, meinte der Seewolf. »Daß er ein gemeingefährlicher Irrer ist, steht völlig außer Frage.« »Ein gefährlicher Irrer mit sadistischen Neigungen«, sagte 68
Roger Lutz nachdrücklich. Mel nickte dazu bekräftigend. »Wie sieht es in seinen eigenen Reihen aus? Hat er vielleicht unter seiner Anhängerschar Feinde?« Roger und Lutz sahen sich an und hoben dann die Schultern. »Wir haben davon nichts bemerkt«, sagte Roger, »dazu war die Zeit auch zu kurz. Mir fiel nur auf, daß die Kerle regelrecht gierig auf das Schauspiel waren und Webster sich ebenfalls daran berauschte.« »Wie im alten Rom«, sagte Hasard verächtlich, »alles wie bereits einmal gehabt. Ein Wahnsinniger maßt sich an, sogenannte Gottesurteile zu veranstalten, und die fanatische Menge will Blut sehen und ihren Spaß haben. Widerlich ist das! Der Halunke scheint durch und durch ein Sadist zu sein.« »Das können Batuti und ich nur bestätigen«, sagte Dan O'Flynn hart. »Wir waren ja Zeugen, wie Webster den Seemann aufhängen ließ, den er mit einer jungen Frau erwischt hatte. Der Frau hat er, nach seinen eigenen Worten, den Teufel der Fleischeslust mit der Peitsche ausgetrieben. Diese widerliche Szene hat sich mir eingebrannt, und fast noch schlimmer war das Verhalten seiner Anhänger. Die gebärdeten sich dabei wie die Wahnsinnigen und wurden immer gieriger.« »Besessen waren sie«, meinte Batuti. »Sie haben laut Beifall geklatscht, als der Mann gehängt wurde, und sie ereiferten sich bei der Auspeitschung der nackten Frau noch mehr. Webster hat die Leute alle verhext.« »Ja, so kann man es ruhig nennen«, sagte Hasard. »Sie sind willenlos und hörig, frömmelnde und gefährliche Heuchler, die wir hier auf keinen Fall dulden werden. Nach der Vollstreckung der Urteile ist der Kerl dann an Land gegangen und hat großkotzig verkündet, daß der Herr ihn erleuchtet habe und er daher auf der Insel das Reich Gottes errichten werde. Wir müssen jetzt also gegen diese Bande vorgehen und eine Taktik finden, wie wir sie 69
loswerden. Falls jemand Vorschläge zu unterbreiten hat, soll er sie hören lassen. Wenn es sich dabei ausschließlich um Kerle handeln würde, gäbe es keinerlei Probleme für uns. Aber es sind auch Frauen dabei, das müssen wir bedenken.« Der Wikinger verzog angestrengt das Gesicht. Aber er brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir setzen die Brechstange an«, sagte er grollend. »Wir gehen mit unseren fünf Schiffen auf die vier Galeonen los. Wenn die sehen, daß wir so massiert angreifen, werden sie das kalte Grausen kriegen.« »Das geht nicht«, sagte Jean Ribault. »Was heißt hier, das geht nicht?« polterte der Wikinger los. »Den frommen Hurensohn nehmen wir im ersten Ansturm auseinander. Wäre doch gelacht, wenn wir mit ein paar lausigen Heuchlern und Sprücheklopfern nicht fertig werden.« »Es geht trotzdem nicht«, mußte sich der nordische Riese von Jean belehren lassen. »Ein massierter Angriff ist wegen der geschützten Lage der Bucht und der sehr engen Einfahrt ausgeschlossen. Wir können da nicht mit einer Armada hineinsegeln.« »Nacheinander natürlich«, meinte Thorfin. »Verdammt, das geht nicht so einfach«, sagte Old O'Flynn. »Ich kenne die Bucht auch, man kann da wegen der Enge nicht mal richtig manövrieren. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Aber was, bei allen Geistern?« »Jedenfalls soll es kein Massaker geben«, sagte Hasard in die entstandene Stille hinein, »das lehne ich entschieden ab.« »Und wie kriegen wir diese unheilige Wildsau sonst zu fassen?« erkundigte sich der Profos. Da hatte Hasard eine Idee, die er auch gleich weiterspann. »Es müßte uns gelingen, diesen Webster selbst zu schnappen. Er ist der Verführer, der alles anzettelt, der die Leute aufhetzt und anstachelt. Ich glaube, daß diese sogenannte Gemeinde ohne 70
seinen unheilvollen und gefährlichen Einfluß nicht mehr sehr lange bestehen und auseinanderbrechen wird. Er hat sie fanatisiert und verblendet, aber wenn dieser Leithammel fehlt, dem alle nachlaufen, dann dürfte es auch mit der Aggressivität und Angriffslust dieser Leute vorbei sein. Haben wir Webster, dann lassen wir die anderen abziehen und empfehlen ihnen als Ziel etwa die Kleinen Antillen, wo sie sich niederlassen können.« Die Rote Korsarin blickte den Seewolf aus dunklen Augen an. »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte sie überlegend. »Dabei vermeiden wir unnötiges Blutvergießen, denn es sind ja auch ganz sicher harmlose Mitläufer darunter, die vielleicht noch gar nicht richtig begriffen haben, was Webster vorhat. Es wäre wahrhaftig besser, diese Leute wieder zur Vernunft zu bringen. Ich halte den Vorschlag für gut und stimme dafür. Was meint ihr dazu?« Hasards Vorschlag wurde gleich darauf einstimmig angenommen. Sogar der rauhbautzige Wikinger nickte nachdrücklich. »Gut«, brummte er, »dann stimmen wir dafür. Ein Massaker möchte ich auch vermeiden schon wegen der Frauen und der paar Trottel, die sich in dieser Sekte tummeln.« O'Flynn und Ribault hatten ebenfalls zugestimmt. Sie kannten auch die Bucht und wußten genau, daß man dort nicht mit der Brechstange vorgehen konnte. Der Alte kratzte nachdenklich an seinen Bartstoppeln. »Die Sache hat nur noch einen Haken«, sagte er. »Wie kriegen wir den Kerl zu fassen, der noch ständig von einer ganzen Horde wilder Affen umgeben ist? Das wird nicht einfach sein.« »Das weiß ich«, sagte Hasard. »Der Kerl ist ständig von irgendwelchen Jüngern oder Aposteln umgeben, trotzdem müßten ein paar Mann es schaffen, ihn aus seiner Herde zu holen. Ich werde mir das noch in allen Einzelheiten überlegen. Jetzt schlage ich jedoch vor, daß wir wieder ankerauf gehen.« »Zur Südküste von New Providence?« fragte der Wikinger. 71
»Nein, zur Nordküste. Und zwar zur Goodman Bay westlich von Paradies Island. Dort werden wir vor Anker gehen. Die Bucht erreichen wir in sechs oder sieben Stunden.« »Und weshalb gerade dort?« wollte Old O'Flynn wissen. »Ich rechne fest damit, daß Webster Ausgucks und Strandposten aufgestellt hat, und zwar werden die nach Süden, Westen und Osten Ausschau halten. Wenn wir aber im Norden liegen, kann uns niemand sehen, und wir wollen auch ungesehen bleiben, sonst ist es keine Überraschung mehr. Weiter dachte ich mir, daß wir morgen früh einen Kommandotrupp zusammenstellen, der Webster hochnehmen soll. Die Männer werden sich von hinten anpirschen, also von Norden. Mit einem Angriff aus Norden wird aber kaum jemand rechnen.« »Du denkst alles immer sehr gründlich durch, Sir«, sagte der Wikinger anerkennend. »Es soll ja auch nichts schiefgehen«, meinte Hasard lächelnd. Kurz darauf verließen Siri-Tong, Jean Ribault, der Wikinger und Old O'Flynn die ›Isabella‹ und gingen an Bord ihrer eigenen Schiffe. Die Segel wurden gesetzt, dann nahmen die fünf Schiffe Kurs auf die Nordküste von New Providence. 7. Kurz vor neun Uhr morgens wurde die Goodman Bay erreicht, wo alle fünf Schiffe wieder vor Anker gingen. Durch die Palmenstämme glitzerte das Sonnenlicht. Die Wedel bogen sich sanft im lauen Wind. Es war still und ruhig auf der Insel. Ein Albatros und ein paar Seeschwalben kreisten durch die Lüfte. Der Strand bestand aus fast schneeweißem Korallen-Sand. Es sah so aus, als hätte noch nie eines Menschen Fuß die Insel betreten. 72
Und doch lebte auf der anderen Seite eine üble Horde, die von einem Verrückten geführt wurde. Hasards Blick wanderte durch die Bucht. Er war es gewohnt, Inseln anzulaufen, und doch konnte er sich der immer wieder neuen Faszination nicht entziehen. Weißschäumende Wellen liefen auf den Strand zu. Das Meer schimmerte in einer Farbenpracht, die sich aus Hellgrün, Tiefblau und weiter zur Kimm orangefarben zusammensetzte. »Ein herrliches Fleckchen«, sagte neben ihm Ben Brighton. »Viel zu schade, um es so einem Halunken wie Webster zu überlassen. Wann stellen wir den Kommandotrupp zusammen?« »Gleich, sobald die anderen da sind. Hoffentlich will Thorfin nicht auch mit, der poltert mir zu sehr herum.« »Ich glaube kaum, daß er sich darum reißen wird. Sein Kampfgebiet ist die See, solche Unternehmungen wie diese hier sind für ihn nichts weiter als Buschkrieg. Davon hält er absolut nichts.« Der Wikinger nahte schon in einem abgefierten Beiboot. Hasard und Ben grinsten sich unmerklich zu, und auch der Profos grinste ein bißchen verzerrt. »Der paßt hierher wie die Faust aufs Auge«, sagte Ed. »Wie ein Relikt aus uralter Zeit.« Der Stör und Arne pullten den Nordmann herüber. Der saß wie ein Klotz auf der Ducht und starrte über das Wasser. Sein Kupferhelm verstrahlte ein fast überirdisches Licht und blitzte ständig in der Sonne. Schon der Helm allein hätte ihn meilenweit verraten, aber der Nordmann hätte sich lieber von seinem Schädel als von seinem Helm getrennt, wie er einmal versichert hatte. Innerhalb von zehn Minuten war wieder alles auf der ›Isabella‹ versammelt. »Ich habe mir folgendes überlegt«, sagte der Wikinger, als er auf der Kühl stand. 73
»Willst du etwa mit dabei sein?« fragte Hasard. »Da sollen mich doch gleich Odins Raben fressen. Nein, nein, das ist nichts für mich. Ich ballere lieber mit Kanonen auf See herum, da weiß ich, was ich habe. Das hier ist nur Buschkrieg und nichts für mich.« »Und dein Vorschlag?« fragte Hasard erleichtert darüber, daß sich Thorfin aus dem ›Buschkrieg‹ heraushielt. »Ich schlage vor, daß Jean das Kommando übernimmt, wenn die anderen zustimmen. Jean hat ein gewisses Recht, den Trupp zu führen, denn immerhin waren es ja Roger und Mel, die der Großmeister dem Hai zum Fraß vorwerfen wollte. Deshalb schlage ich vor, daß Jean das Kommando erhält.« »Einverstanden«, sagte Hasard sofort. »Jean übernimmt das Kommando und sucht sich noch fünf Männer aus. Ein halbes Dutzend dürfte insgesamt wohl ausreichen, um dem Großmeister den Heiligenschein zu deformieren.« Als die anderen ebenfalls mit dem Vorschlag einverstanden waren, nickte der Franzose zustimmend. »Gut, ich übernehme das Kommando. Dann sollen mich Mel und Roger begleiten, Dan, Batuti, weil er ein ausgezeichneter Späher ist, und den Boston-Mann dazu. Damit sind wir sechs, das dürfte wirklich reichen.« Hasard nickte lächelnd. »Sechs eisenharte Kämpfer. Euch traue ich es zu, daß ihr es schafft, den Erleuchteten zu vereinnahmen. Ihr werdet gleich anschließend mit Proviant und Waffen ausgerüstet, und dann kann es losgehen. Ich bin erleichtert, wenn wir diesen Kerl erst an Bord haben. Dann werden vielleicht wieder fromme Schäfchen aus der wüsten Horde.« »Wieviel Zeit haben wir?« fragte Ribault. »Wir werden das Unternehmen nicht unter Zeitdruck ablaufen lassen«, meinte Hasard. »Laßt euch ruhig Zeit, erkundet erst ein74
mal in aller Ruhe die Lage und wartet einen günstigen Augenblick ab, in dem ihr zupacken könnt. Vielleicht ergibt sich sogar die Gelegenheit, daß der Erleuchtete einmal allein ist. Ihr braucht also nicht unter Zugzwang handeln. Ich denke, drei Tage dürften ausreichen.« »Wahrscheinlich geht es schneller«, sagte der Boston-Mann. »Wir werden den Kerl sicher bald angeschleppt bringen.« »Überstürzt nichts«, sagte Hasard. »Falls es unterwegs plötzlich unerwartete Schwierigkeiten geben sollte, könnt ihr ja einen Melder zurückschicken.« »In Ordnung, dann fangen wir gleich an.« Innerhalb kurzer Zeit waren die sechs Männer mit Waffen und Proviant ausgerüstet. Sie enterten in das abgefierte Beiboot ab und nahmen auf den Duchten Platz. Edwin Carberry und Smoky pullten die Männer zum nahen Ufer hinüber. »Dann bringt mal den großen Betbruder her«, sagte Ed, »damit ich ihm die Haut in Streifen von seinem Predigerarsch ziehen kann.« »Kannst du«, versicherte der Boston-Mann, »wir bringen ihn ganz bestimmt.« Als sie am Strand unter den Palmen standen, zeigte Dan O'Flynn in die südliche Richtung, wo eine Hügelkette aufragte. »Dort müssen wir hinüber, denn die Ankerbucht von Websters Sekte liegt fast genau südlich von der Goodman Bay.« »Ganz richtig«, sagte Ribault. »Entfernung etwa fünf Meilen. Das dürften wir in zwei Stunden geschafft haben.« Ed und Smoky nickten den Männern zu. »Macht's gut, wir drücken euch die Daumen. Und vergeßt den Großmeister nicht.« Die beiden stiegen grinsend in die Jolle und pullten zurück. Von den Schiffen winkten ein paar andere Männer herüber. 75
»Gehen wir«, sagte Jean. Von Norden her marschierten sie in Richtung der Hügelkette nach Süden. Die Sonne stieg höher, es wurde immer heißer. Batuti ging voran, und er bewegte sich so geschmeidig und leichtfüßig wie ein Raubtier. Hin und wieder drehte er sich um und grinste, denn dieses Unternehmen war ganz nach seinem Geschmack. Er freute sich schon auf das Gesicht des ›Erleuchteten‹ und stellte sich dessen Überraschung vor. Trinkwasser hatten sie nicht mitgenommen. Auf der Insel wuchsen Kokosnüsse, mit deren Milch sie ihren Durst löschten. Als sie die Hügelkette erreichten, blieb Batuti stehen, bis die anderen Männer heran waren. »Seht euch mal diese Landschaft an«, sagte er. Sie hatten einen phantastischen Ausblick, den sie ein paar Minuten lang genossen. Unter ihnen lag ein Kokospalmenhain, der bis ans Meer reichte. Dort liefen immer noch weißschäumende Wogen an den fast weißen Strand. Rechts und links erstreckte sich die Insel in einem sanft geschwungenen Bogen in das Meer. Kleine Riffe sahen aus dem Wasser hervor. Es war Ebbe, und sie sahen von hier aus, wie die Sonnenstrahlen die Korallenstöcke zum Leuchten brachten. Das Wasser war kristallklar und von seltsam leuchtendem Blau, das weiter seewärts immer intensiver wurde. Die Schiffe in der Bucht sahen wie winzige Spielzeuge aus. Die Männer an Deck waren kaum zu erkennen. Sie blickten zur anderen Seite hinüber. Dort waren Pinienwälder zu sehen, dahinter begann Buschwildnis. Auch von hier aus hatten sie einen Blick auf das Meer, nur von Websters Ankerbucht war noch nichts zu sehen. Nach eineinhalb Stunden Marsch durch Pinienwälder und Buschwildnis bewegten sie sich etwas vorsichtiger. Batuti hatte wieder die Spitze übernommen und sah sich aufmerksam nach 76
allen Seiten um. »Ich bin gespannt, ob der Kerl Ausgucks in nördlicher Richtung aufgestellt hat«, sagte Ribault zu Roger Lutz. »Hasard vermutet ja, daß er das nicht in seine Strategie einbezogen hat.« »Er rechnet sicher mit einem Angriff von See her, also damit, daß eine ganze Flotte aufkreuzt und das Feuer eröffnet. Auf die Seiten wird er auch seine ganze Aufmerksamkeit konzentrieren.« Roger Lutz befühlte seine Schrammen, die er beim Kampf mit dem ›Wächter von Jerusalem‹ davongetragen hatte. Die Haut brannte immer noch höllisch und fühlte sich an wie mit Schmirgelleinen abgerieben. Er nickte grimmig vor sich hin, wenn er an den Riesenhai dachte. Sie hatten es ihm besorgt, aber ganz so einfach war das keineswegs gewesen. Er brannte schon darauf, es dem Hundesohn heimzuzahlen, und er sah an Mels Gesicht, daß der ebenfalls so dachte. Nach einer weiteren knappen halben Stunde blieb Batuti erneut stehen. Mit der Hand deutete er schräg nach unten. »Wir sind gleich da. Dort vorn ist das Plateau, auf dem eine Festung errichtet wird.« »Jetzt müssen wir vorsichtig sein«, sagte Jean, während er auf roh errichtete Steinhäuser und Hütten blickte. Sie pirschten sich näher heran. Etwas später staunten sie nur noch. * Es war erstaunlich, was ein paar hundert Hände in der kurzen Zeit alles geleistet hatten. Sogar der Großmeister war überrascht und verwundert. Jetzt hatte er eine kleine Pause einlegen lassen und salbaderte herum, 77
während die Menge andächtig seinem Geschwafel lauschte. »Der Herr hat euch durch mich die Kraft gegeben«, tönte er, »die Burg Zion in so kurzer Zeit zu errichten. Der Herr sei gelobt.« »Der Herr sei gelobt!« brüllte ein ganzer Chor. Langsam und mit Bedacht heizte Webster die Stimmung unter seinen Schäfchen wieder an. Zuerst zitierte er aus dem Alten Testament, wie Gott noch zu Fuß auf Erden wandelte und von Abraham zur Rast in den Schatten gebeten und bewirtet wurde, wie Gott um Rat gefragt wurde und antwortete, und schließlich wie er vom Führer einer kleinen umherziehenden Sippe, der seine Schäfchen zu den Weideplätzen führte, aufsteigt zum Stammesgott, womit er zweifellos sich selbst meinte. Dann begann er übergangslos zu wettern und zu hetzen. »Gott will uns noch einmal einer Prüfung unterziehen!« schrie er. »Wir müssen das, was wir uns unter Blut und Tränen erbaut haben, auch verteidigen. Verteidigen mit unserem Leben, denn der Kelch des Schicksals hat uns giftige Nattern beschert, Nattern, die zertreten werden müssen, ausgetilgt von dieser Erde mit Feuer und Schwert, mit unserem Blut.« Seine Stimme wurde immer lauter und eindringlicher. Die Menge wurde immer mehr aufgeputscht, und am verrücktesten gebärdete sich der Ex-Schreiberling Harris, der an des Meisters Seite stehen durfte und dem des Meisters hehre Worte fast die Trommelfelle sprengten. »Hört den Erleuchteten!« kreischte er. »Nehmt jedes Wort in euch auf, denn es ist eine Verkündung!« Weiter oben, gut versteckt zwischen Buschwerk auf einem Hügel, schüttelte Jean Ribault entsetzt den Kopf. Fassungslos starrte er auf die Menge. »Ein gefährlicher Halunke«, sagte er leise zu Roger Lutz. »Die 78
Leute werden schon verrückt, wenn er nur zu sprechen anfängt. Diese Verzückung auf den Gesichtern ist doch nicht mehr normal, die Leute sind regelrecht übergeschnappt.« Dan O'Flynn und Batuti starrten angewidert auf das Spektakel. Sie hatten ihre Erfahrungen mit dem Großmeister bereits hinter sich und waren Zeugen seiner unglaublichen Brutalität geworden. Jetzt lief selbst den abgebrühten Arwenacks wieder ein kühler Schauer über den Rücken. Die Stimme des salbadernden Predigers war so laut, daß sie hier oben mühelos jedes einzelne Wort verstanden. Webster ging es nur noch darum, die ›Natternbrut‹ von dieser Erde auszulöschen, zu vernichten, zu töten, in den Boden zu stampfen und zu zermalmen. »Diese aufgehetzten Leute würden bedenkenlos ihr Leben dafür geben, uns zu töten«, sagte Dan. »Nein, dieser Wahnsinnige muß schleunigst verschwinden. Vielleicht hat Hasard recht, daß sich die Schäfchen dann wieder beruhigen, wenn der Kerl weg ist.« »Ob sie alle so denken?« fragte Batuti. »Etwas abseits stehen zwei Männer ziemlich teilnahmslos herum. Sie reißen auch nicht dauernd die Arme hoch oder brüllen Zustimmung.« »Ich weiß es nicht«, sagte Ribault. »Möglich, daß unter denen Leute sind, die das widerlich finden. Aber das kann ich von hier aus nicht beurteilen.« Der Mann, der etwas abseits stand, war John Baker und der andere neben ihm sein Sohn. John Baker versuchte ganz sachlich und nüchtern zu bleiben, aber er sah diesen geifernden und salbadernden Mann aus einer ganz anderen Perspektive als die meisten anderen. Anfangs hatte er noch interessiert zugehört, als Webster Beispiele aus dem Alten Testament erzählte, doch gleich darauf hatte sich Webster auf unheimliche Art und Weise verändert. 79
Sein Gesicht begann zu zucken, in seinen Mundwinkeln stand Schaum und seine Stimme steigerte sich zu einem schrillen Gebrüll. Damit war er wieder bei seinem Lieblingsthema, der Natternbrut, die er unbedingt auslöschen wollte. Er sah, wie die Leute vor ihm in Bewegung gerieten, wie sich ihr Blut immer mehr erhitzte, und er fragte sich auch, warum er das alles so lächerlich und anwidernd fand. Es ließ ihn kalt. Er sah nur die funkelnden Augen eines fanatischen und gefährlichen Mannes, und er hatte noch mehr von Webster in Erinnerung, das Auspeitschen der nackten Frau und das Hängen des Seemanns. Die ersten Leute begannen mit den Füßen die Erde zu stampfen, dann wateten sie im Kreis herum und hatten enthusiastische und verzückte Gesichter. Etliche faßten sich bei den Händen und murmelten unverständliche Worte. Die Stimmen wurden immer lauter, es war eine Mischung aus heiserem Gesang und Gemurmel, nur übertönt von Webster, der sie aufpeitschte und antrieb. »Unglaublich, zu was der Kerl fähig ist«, sagte Jean Ribault. »Die Leute befinden sich wie in einem Rausch, sie sind total hingerissen und würden alles für diesen Halunken tun, was er verlangt. Und stellt euch auch bitte vor, was passieren würde, wenn diese Sekte unseren Stützpunkt entdeckt. Sie würden gnadenlos alle umbringen, und Webster würde keinen Augenblick zögern, das zu befehlen.« »Das wird immer verrückter«, sagte Dan erbittert und immer stärker angewidert. »Da liegen schon ein paar Spinner bäuchlings im Gras, um auf die Stimme der Mutter Erde zu lauschen.« Ribault lachte unterdrückt. Sie brauchten sich keine Mühe mehr zu geben, ihre Stimmen zu dämpfen, denn der Lärm der Betbrüder schwoll immer stärker an. Ein paar Kerle wälzten sich tatsächlich im Gras oder griffen wie wild nach imaginären Gegenständen in der Luft, als wollten sie 80
kleine Schmetterlinge haschen. Webster begann jetzt mit schriller Stimme zu singen, und das stachelte die Leute noch mehr an und trieb sie fast zur Raserei. Wieder stimmten fast alle mit ein in das Gebrüll und Gekreische. Von ihrem Versteck aus sahen sie einem mickrigen Männchen mit schütteren Haaren zu, das sich sehr sonderbar benahm. Offenbar war der Kerl übergeschnappt und durchgedreht. Ribault sah, daß Dan O'Flynn grinste und auch die anderen die Gesichter verzogen, denn ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf den Mickrigen. Der hüpfte laut schreiend auf einem Bein herum, knuffte die anderen Leute in die Seite und kreischte auf sie ein. Dann raufte er sich die spärlichen Haare, sank auf die Knie und umklammerte die Beine seines magischen Meisters, zu dem er wie ein abgestochenes Kalb aufblickte. »Der ist verrückt«, stellte Batuti fest. »Total verrückt. Der Großmeister hat ihn verhext.« »Der ist wirklich verhext«, sagte Mel. »Der Kerl fiel mir schon bei unserem Besuch auf. Er himmelt den Oberaffen an und läuft ihm wie ein Köter nach. Kannst du dich an ihn erinnern, Roger?« »Und wie! Das Kerlchen findet alles ausgezeichnet, phantastisch und einmalig, was sein Meister sagt und faselt. Ganz besonders hervorragend fand er die Idee mit dem Wächter von Jerusalem. Wenn Webster ihm gesagt hätte, er solle zuerst dem Hai ins Maul springen, dann hätte der Kerl keinen Augenblick gezögert.« »So eine Art Oberjünger also«, meinte Ribault. »Genauso gefährlich wie Webster selbst, ein fanatisierter und höriger Jünger. Anscheinend ist er so eine Art Stellvertreter für Webster.« Auf dem Plateau unter ihnen gab es immer noch keine Ruhe. Ein paar Kerle hatten sich so verausgabt, daß sie wie tot am 81
Boden lagen. Andere stierten blicklos vor sich hin und lauschten dem Gefasel, das sich immer noch um die Vernichtung der Natternbrut drehte. »Die Kerle haben unwahrscheinlich schnell und hart gearbeitet«, sagte Roger. »Innerhalb kürzester Zeit haben sie auf dem Plateau die Steinhäuser inmitten einer übermannshohen Ringmauer errichtet. Seit unserem Hiersein hat sich bereits viel verändert.« Sie hatten jetzt Zeit, sich in aller Ruhe umzusehen und sich die Einzelheiten einzuprägen. »An den Großmeister kommen wir jetzt nicht heran«, sagte Dan, »aber wir werden schon noch die Gelegenheit dazu erhalten. Sehen wir uns erst einmal alles an.« Das taten sie gründlich und ausgiebig, angefangen von den vier Galeonen bis zu den beiden ›Burgen‹. Unten an der Bucht befanden sich Blockhäuser innerhalb eines Palisadenzaunes. Das alles war noch ziemlich roh gefügt worden, aber auf dem Zaun erkannte Ribault aufmontierte Drehbassen. Auf der Höhe dieser Blockhäuser ankerten drei Galeonen, während die vierte so in der Bucht lag, daß sie abgeriegelt war. »Das wird ein regelrechtes Fort«, sagte Roger, »eine uneinnehmbare Festung, wenn die so eifrig weiterbauen. Sie scheinen sogar noch nachts bei Mondlicht zu arbeiten.« Dan O'Flynn konzentrierte seine Aufmerksamkeit jetzt voll und ganz auf die Bucht, die Halbinsel und die Landzungen. Es dauerte nicht lange, dann hatten seine Habichtaugen das entdeckt, was sie so angestrengt suchten. »Sieh mal zu den Landzungen hin, Jean. Fällt dir da was auf?« »Ich habe leider nicht so scharfe Augen wie du. Aber ich glaube, ich habe einen kleinen Blitz gesehen, als würde etwas im Sonnenlicht aufblinken.« »Das war ein Kieker, und an dem Kieker hängt noch ein Kerl, 82
der immer wieder sorgfältig die See absucht. Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du noch mehr Ausgucks erkennen. Sie sind vom Osten über den Süden bis nach Westen postiert, und alle haben Spektive.« Ribault mußte sich schon sehr große Mühe geben, um die versteckten Ausgucks zu sehen. Aber nach und nach entdeckten auch die anderen die heimlichen Aufpasser. »Tatsächlich«, sagte Jean, »ein paar Kerle kann ich jetzt erkennen. Sie suchen die See ab, aber nach Norden kann ich nichts erkennen« »Eben, das ist es. Genau das hat Hasard richtig eingeschätzt. Sie suchen drei Himmelsrichtungen ab und erwarten, daß das Natterngezücht von See anrückt und einen Landeangriff plant. Daß wir aber von Norden her angreifen könnten, das hat der selbstherrliche Stratege nicht auf der Rechnung. Da fehlt ihm offenbar doch noch der letzte Rest von Erleuchtung.« Ribault bestätigte das mit einem Kopfnicken. »Der ehrenwerte Großmeister denkt sich, daß über die Hügel keine Schiffe segeln können, womit er natürlich recht hat. Nur weiß der Meister der wahrhaftigen Worte nicht, daß wir nur ihn einkassieren wollen. Ein Zeichen, daß ihm wirklich die Erleuchtung fehlt. Die hat der Herr ihm in seiner grenzenlosen Güte nicht zuteil werden lassen. Na, der Kerl wird sich noch wundern.« Die sechs Männer sahen sich an und grinsten. Dan O'Flynn suchte noch einmal die Gegend ab, aber es stellte sich heraus, daß es in nördlicher Richtung tatsächlich nicht einen einzigen Posten gab. Auf dem Plateau trieb der Großmeister seine Schäfchen wieder zur Arbeit an und erinnerte nachdrücklich und lautstark, daß es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die Nattern hier aufkreuzen und gnadenlos jeden abschlachten würden. Deshalb müsse noch 83
intensiver und schneller gearbeitet werden. Der Oberjünger gebärdete sich ebenfalls wieder wie toll. Besessen trieb er die Leute an und redete mit fanatisch glühenden Augen auf sie ein, auf daß sie des Erleuchteten Worte wie Balsam in sich aufnahmen. Er faselte auch wieder von den Visionen des Großmeisters, die sich bisher immer bewahrheitet hätten. Die Strampler, Herumhampler und Verzückten erwachten aus ihrer Ekstase und wurden nüchtern. Sie stimmten noch einen Choral an und gingen danach wieder an ihre Arbeit. Jetzt begann es allerdings sehr hektisch zu werden. In der Bucht und auf dem Plateau wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen oder wie in einem Bienenstock, wenn alles ausschwärmt. »Mann, gehen die ran«, sagte Batuti staunend. »Nur der Großmeister rührt keine Patschhand. Der steht lieber herum. Vielleicht hat er Angst, daß er schmutzige Hände kriegt.« »Einer muß ja auch rumtönen«, meinte Dan. »Aber diese bigotten Leute merken nicht einmal, daß man sie restlos ausnutzt. Sie sind regelrecht blind vor Eifer.« Ribault sah wieder zu der Festung in der Bucht. Kräftige Hände waren an der Arbeit. Mindestens ein Dutzend Männer waren damit beschäftigt, an der Innenseite der Mauer einen hölzernen Laufsteg zu errichten. Das gleiche Bild bot sich auch auf dem Plateau. Hier waren es allerdings noch mehr Leute, die an der Innenseite einen Laufgang zimmerten. Ribault erkannte, daß sich in der Ringmauer Schießscharten befanden. Die Insel wurde so ausgebaut, daß sie eine Festung war und kein Angreifer eine Chance hatte, sie zu knacken. »Die Laufgänge dienen offenbar als Plattformen für den Fall eines Angriffes«, meinte Roger Lutz. »Webster weiß sich wirklich zu verteidigen. Er scheint Angst zu haben.« »Höchstens um sein eigenes Leben«, sagte Jean Ribault. »Ich 84
halte jede Wette, daß der Kerl sein Domizil hier auf dem Plateau beziehen wird, sobald die Häuser fertig sind. Das hier ist ein guter Platz, um sich zu verteidigen. Da kann der Großmeister in aller Ruhe abwarten und seine Schäfchen in den Kampf schicken.« »Jetzt bringen sie Kanonen herauf«, sagte Mel. Webster gab lautstarke Kommandos und Anweisungen. Zwei Boote waren an den Strand gefahren. Mehr als zwanzig Männer luden zwei Kanonen aus und zogen sie an langen Seilen über den Sand. Eine kurze Verschnaufpause folgte. Dann spuckten die Kerle unter Websters anfeuernden Rufen in die Hände und begannen sich abzurackern. »Die bringen wahrhaftig die beiden Kanonen auf das Plateau«, sagte Dan O'Flynn, als sich die Männer in die Seile legten. Es war eine Mühselige Plackerei. Webster fand für seine Schäfchen aber immer den richtigen Ton. Er war des Lobes voll über die sich abrackernden Männer »Der Herr verleiht euch unglaubliche Kräfte!« rief er. »Aber es ist auch sein Werk, das ihr vollendet. Brave Männer, zieht weiter, wir haben es bald geschafft!« »Er redet immer von ,wir', dabei sieht er nur zu und tut selbst nicht einen Handschlag«, meinte Dan grinsend. »Diese armen Trottel spornt das auch noch an. Der Kerl versteht es wirklich, sich Knechte zu schaffen, die alles für ihn tun. Himmel – Arsch, geht denn den Burschen nicht endlich mal ein Licht auf?« »Offenbar nicht«, erwiderte Jean Ribault. »Sie freuen sich über jedes«Wort von ihm, und sie sind ihm wahrscheinlich noch dankbar, wenn er jedem in den Hintern tritt.« Die Bucht hallte wider vom Sägen und Hämmern unzähliger fleißiger Hände. Die Männer vollbrachten in erstaunlich kurzer Zeit unglaubliche Leistungen. Während mehr als zwanzig Mann 85
die Kanonen keuchend und ächzend zum Plateau hochschleppten, bauten andere Stege in die Bucht. Wieder andere bauten an den Häusern mit einem Eifer, als müßten sie heute noch damit fertig werden. Außer dem Großmeister waren alle restlos beschäftigt. Als Webster die Kerle zu höchster Leistung angespornt und ihnen Anweisungen gegeben hatte, kehrte er zu einer anderen Gruppe zurück und redete auf sie ein. Anscheinend wollte er noch weiter auf das Tempo drücken, denn die Männer nickten eifrig. Danach mußte sich der Großmeister erst einmal von der Anstrengung laben. Er ging zu einem kleinen Faß, das im Schatten einer Palme stand, ließ sich dort seufzend nieder und erfrischte sich an einem kühlen Trunk Rotwein. Das war deutlich von hier oben aus zu erkennen. Danach wischte er sich genüßlich über die Lippen. »Jetzt hat er neue Kräfte gesammelt«, sagte Dan höhnisch. »Er hat sich gestärkt und kann wieder Befehle geben.« Er deutete auf ein weiteres Faß, das ebenfalls im Schatten einer Palme stand und wesentlich größer war als das Weinfaß. »Die Schäfchen trinken ganz gewöhnliches Wasser, während der Kerl sich vom Rotwein erleuchten läßt. Seht euch das nur einmal an.« Hin und wieder ging einer der Männer zu dem großen Faß, schöpfte eine Holzkelle voll Wasser und löschte so seinen Durst. In die Nähe des kleinen Fasses traute sich keiner, das war nur für Webster bestimmt, der sich recht oft labte. Nicht einmal der ewig herumhampelnde Harris durfte dieses Privileg genießen. Der Oberjünger näherte sich dem weinsaufenden Webster zwar einmal in devoter, demütiger und bewundernder Haltung, doch dem Erleuchteten fiel es nicht im Traum ein, seinem Jünger einen Schluck Wein anzubieten. Aber Harris hatte das auch offenbar gar nicht erwartet, denn nach ein paar kurzen Worten 86
ging er zu dem Wasserfaß hinüber und erfrischte sich mit einer Kelle Wasser. Die sechs Männer sahen weiter zu, was sich in der Bucht und auf dem Plateau tat. Im Augenblick konnten sie nichts unternehmen. Sie mußten abwarten und die Zeit totschlagen. Sie kamen an den Großmeister nicht heran, denn der wuselte ständig von einer Gruppe zur anderen und tönte herum. 8. Bis zum Nachmittag hatte es lediglich eine einzige Pause gegeben. Dann erschien Webster wieder auf dem Plateau, wo gerade die Häuser gedeckt wurden. »Burg Zion ist fast errichtet!« rief er theatralisch aus und hob die Arme zum Himmel. »Der Herr wird seinen Segen über euch verteilen, der Herr wird allzeit gnädig sein.« »Mann, das dämliche Geschwafel zieht mir fast die Stiefel aus«, sagte Dan. »Und diese armen Irren freuen sich auch noch. Das ist also die Burg Zion na ja. Mal sehen, was der Erleuchtete jetzt vorhat.« Der Großmeister geruhte mit gütigem Lächeln und Schulterklopfen für ein paar Männer, die Burg Zion zu inspizieren. Immer wieder nickte er wohlwollend und betrat schließlich das größte der Steinhäuser. Als er wieder herauskam, war sein Gesicht feierlich und ernst. Er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und tat so, als sei ihm gerade eine erneute Erleuchtung widerfahren. Die Männer warteten auf sein Urteil und sahen ihn gespannt und erwartungsvoll an. »Es sei dein!« verkündete er. »So hat der Herr mir zugerufen, als ich das Haus betrat. Ich werde untertänigst seinem Wunsch entsprechen, denn die Stimme des Herrn ist heilig.« 87
Oberhalb des Plateaus konnten sich die Zuschauer das Grinsen nicht mehr verkneifen. »Da muß der Herr aber sehr leise geflüstert haben«, meinte Dan mit einem hinterhältigen Feixen. »Ich bin nur froh, daß Edwin nicht dabei ist. Der wäre jetzt glatt hinunter marschiert und hätte den Großmeister durchgeklopft.« »Die Kerle freuen sich, daß es ihm gefällt«, sagte Roger Lutz. »Er hat sich natürlich das größte und beste Haus ausgesucht. Und darin wird er allein nächtigen.« »So, wie ich es angenommen und geahnt hatte«, sagte Ribault. »Diese Leute sind für ihn doch nichts weiter als nützliche Idioten.« Gleich darauf erschien auch Harris und freute sich, daß dem Großmeister das Haus so gut gefiel. Die anderen freuten sich ebenfalls, schon aus dem Grund, weil der Großmeister sich so freute. Der marschierte noch einmal, huldvoll mit seiner zerkloppten Vsage lächelnd, um das Haus herum und ging wieder hinein. »Vielleicht wird der Herr ihm wieder was flüstern«, sagte Batuti. »Oder es ist ihm nicht gut genug« Doch der Großmeister war bescheiden und hatte auch nichts zu kritisieren oder zu bemängeln. Gutgelaunt klatschte er in die Hände. »Bringt mein Gepäck herauf«, sagte er, »aber vorher laßt uns über das gelungene Werk einen Choral anstimmen. Und vergeßt auch das kleine Weinfaß nicht. Ihr wißt ja, daß ich leider kein Wasser vertrage. Das ist auch eine Prüfung, die der Herr mir auferlegt hat.« Ribault mußte sich die Hand vor den Mund halten, um nicht laut loszubrüllen. Die anderen beherrschten sich ebenfalls nur noch sehr mühsam und hielten sich die Bäuche über die Einfaltspinsel, die zu den Worten ihres Herrn eifrig nickten. 88
Dann fingen sie an zu singen, daß den anderen fast schlecht wurde. Jean Ribault war immer noch am Grinsen, als er sagte: »Das paßt doch wunderbar, daß der Großmeister die Bude hier unter uns bezieht. Besser hätte es gar nicht laufen können.« »Ich verstehe«, sagte Dan. »Dann wird der Großmeister logischerweise auch in dieser Bude schlafen.« Sehr richtig, und das ist für uns dann die Gelegenheit, um ihn einzukassieren Vielleicht heute nacht schon. Na, mal abwarten, wie sich die Lage entwickelt.« Inzwischen wurden auch die beiden Kanonen nach oben gebracht worden und wurden auf den Bastionen In der Bucht ging es ebenfalls hoch her. Da waren die Jünger damit beschäftigt, das ›Gepäck‹ des Meisters an Land zu schaffen. Das Gepäck bestand allerdings aus ausgesuchtem und reichhaltigem Mobiliar, wie es dem Erleuchteten zustand. Da wurden teure Teppiche an Land gebracht, Sessel, kunstvoll geschnitzte Tische und ein riesiger Diwan, an dem drei Männer schleppten. Bis das alles verstaut war, verging eine ganze Weile. »Dann werden wir uns auf heute nacht einrichten«, sagte Jean. »Wer will, kann sich noch eine Weile ausstrecken.« »Das ist viel zu interessant, um zu pennen«, meinte Mel. »Denen könnte ich in ihrem Eifer stundenlang zuschauen. Ich habe schon lange keine solchen Dummköpfe mehr gesehen.« Eine halbe Stunde später änderte sich die Situation dann allerdings grundlegend. Webster war in seiner neuen Behausung verschwunden und werkte darin herum. Sie hörten ihn poltern und konnten ihn durch das offene Fenster auch hin und wieder sehen. Die anderen Männer hatten das Feld geräumt, um den Großmeister bei seiner häuslichen Einrichtung nicht zu stören. »Ich glaube, wir erhalten Besuch«, sagte Dan O'Flynn. »Eine 89
hübsche junge Frau sogar.« Der Frauenheld Roger Lutz bekam schon wieder Stielaugen. Er pfiff leise durch die Zähne und nickte anerkennend. »Donnerwetter, das ist ja eine ausgesprochene Schönheit«, sagte er begeistert. »Die wird doch nicht etwa zu mir wollen?« »Vielleicht will sie dir den Korb um die Ohren hauen«, sagte Mel. »Sieht so aus, als habe sie die Absicht, nach Kräutern zu suchen. Was tun wir, wenn sie uns entdeckt?« »Weiß ich noch nicht«, sagte Jean unbehaglich, »das muß die Situation ergeben, warten wir's ab.« Die Frau war hübsch anzusehen. Sie hatte den Korb über dem rechten Arm hängen und näherte sich dem Plateau, ausgerechnet jener Stelle, wo die Männer sich versteckt hielten. Die junge Frau war Jessica Baker, die Nichte von John Baker, die sich intensiv mit dem Sammeln von Kräutern und Pflanzen beschäftigte. Gedankenversunken ging sie den Weg zum Plateau hoch in Richtung des Pinienwaldes, wo sie schon einmal Kräuter gesammelt hatte. Sie hatte keine Ahnung, daß sie von etlichen Augenpaaren beobachtet wurde. Aber das waren nicht nur die sechs Männer. Dan stieß Jean leicht mit dem Arm an. »Sieh dir mal den Großmeister an«, raunte er. In dem Steinhaus war es überraschend still geworden. Kein Poltern war mehr zu hören. Aber aus ihrem Versteck heraus sahen sie deutlich Webster. Der stand in gebückt lauernder Haltung neben dem Eingang des Hauses und beobachtete die junge Frau. Seine Lippen zitterten, sein Blick war gierig und lüstern auf Jessica Baker gerichtet, und er rieb sich aufgeregt die Hände. Dabei hielt er sich so, daß Jessica ihn nicht sehen konnte. Kurz bevor sie das Plateau erreichte, änderte sie ihre Richtung etwas weiter nach links. Ribault atmete erleichtert auf, denn jetzt konnten sie nicht mehr 90
entdeckt werden. Zwanzig Yards entfernt ging Jessica an dem Trupp vorbei. Sie war immer noch völlig ahnungslos. Ihr Blick war jetzt zu der Hügelkuppe gerichtet. So sah sie auch nicht den Erleuchteten, der mit verkniffenem Gesicht aus seiner Hütte schlich und ihr nachstarrte. In seinem Gesicht zuckte es wieder. Lauernd und geduckt sah er der schlanken Gestalt nach. Dann grinste er dreckig. Aber Webster, der ebenfalls keine Ahnung hatte, daß ihn sechs Männer beobachteten, war vorsichtig und gab sich betont harmlos und sehr beschäftigt. Zuerst vergewisserte er sich, daß er keine unliebsamen Zuschauer hatte. Dann ging er zu der Ringmauer hinüber und tat so, als sähe er dort nach dem Rechten. Dan und Jean beobachteten ihn gespannt. Webster wirkte fahrig, nervös, und ständig zuckte es in seinem Gesicht. »Na, da schwant mir doch nichts Gutes«, murmelte Dan. »Mir auch nicht«, sagte Jean. »Der lüsterne Faun hat doch wohl eindeutige Absichten. Aber er ist sehr vorsichtig und will kein Risiko eingehen. Oder haben sich die beiden hier heimlich verabredet?« »Das sieht nicht danach aus. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Lady den widerlichen Kerl bevorzugt.« Webster verließ jetzt auch die Ringmauer, spähte dem Mädchen erneut nach und grinste lüstern. Von Verabredung konnte keine Rede sein, denn die junge Frau war immer noch völlig ahnungslos. Ein paar Minuten ließ er noch verstreichen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Jessica Baker gerade in einem kleinen Wäldchen, schon außerhalb der Hör- und Rufweite des Plateaus. Jetzt hielt Webster seine Zeit für gekommen. Niemand aus seiner Anhängerschar sah ihn, als er mit einem diabolischen Grinsen der ahnungslosen jungen Frau nachschlich. Hinter jedem 91
Strauch und jedem Baum ging er in Deckung. Dabei wurde sein Grinsen immer dreckiger. * »Na bestens!« sagte Jean Ribault zufrieden. »Jetzt haben wir die Gelegenheit, den Hurenbock zu kassieren. Noch leichter hätte er es uns gar nicht machen können.« »Was tun wir mit dem Mädchen?« fragte Dan. »Sie wird uns sehen, und dann erfahren es die anderen.« »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, daß wir den Halunken kriegen, und der geht uns jetzt nicht mehr durch die Lappen. Verteilt euch so, daß wir die beiden zwischen uns haben und sie von zwei Seiten packen können. Folgen wir ihnen.« Sie verließen ihre Deckung, als Webster bis fast zu dem Wäldchen vorgedrungen war. Immer noch war der Kerl vorsichtig und drehte sich ständig um. Aber seine Verfolger blieben unsichtbar, sie verstanden sich hervorragend auf gute Deckung. Was dann folgte, trieb den Männern die Zornesröte ins Gesicht Webster trennten noch drei, vier Yards von Jessica Baker. Vielleicht hatte sie etwas gehört, denn plötzlich drehte sie sich um. In ihren Augen stand Entsetzen, als sie Webster sah, der sie lüstern angrinste und sich weiter näherte. »Was – was wollen Sie?« fragte sie verängstigt. »Dich!« rief Webster heiser und fiel sie an. »Der Herr hat dich dazu ausersehen, die Stammutter eines neuen Geschlechts zu werden. Und ich als das Flammenschwert Gottes…« Weiter gelangte er nicht, denn Jessica Baker hatte keinesfalls die Absicht, Stammutter eines neuen Geschlechts zu werden. Mit einem heftigen Ruck riß sie sich los. Ihr Gesicht war blutrot angelaufen, und die Angst wurde übermächtig in ihr. »Dieser Schweinehund«, murmelte Dan, »ich bring den Kerl 92
um.« »Noch nicht«, sagte Jean, »wir werden schon so rechtzeitig eingreifen, daß ihr nichts passiert. Ich muß mich auch verdammt mühsam zurückhalten.« Jessica Baker gelangte nur zwei Schritte weit. Sie schrie ihre Angst jetzt offen heraus, was Webster anscheinend in immer größere Erregung versetzte. Er fiel sie von hinten an und riß sie zu Boden. Jessica schlug ihm den Korb an den Schädel, aber Webster lachte nur dreckig. »Du mußt mein werden«, keuchte er, »der Herr will es so, er hat es mir befohlen.« »Laß mich los!« schrie Jessica. Sie schlug um sich, biß und kratzte wie wild, doch Webster hatte sie gepackt, hielt sie mühelos mit einer Hand am Boden fest und fetzte ihr die Kleider herunter. »Mach, was du willst«, sagte Dan O'Flynn wild, »aber jetzt ist bei mir Feierabend.« »Los, schnappen wir ihn«, sagte Jean. Er hatte jetzt auch genug von der widerlichen Szene, die Webster noch durch fromme Bibelsprüche untermauerte. Sie liefen hinüber, wo die beiden sich am Boden balgten. Webster war wie ein Tier. Als ihm jetzt die Fingernägel ins Gesicht fuhren und eine blutige Spur zeichneten, wurde er brutal. Er schlug mit der Faust zu und traf sie am Kinn. Jessica wurde schlaff und verlor die Besinnung. Da war Batuti heran. Er raste wie ein Panther auf Webster los. Seine Beine berührten kaum den Boden. Mit ein paar weiteren Sätzen war er bei ihm. Die anderen folgten Augenblicke später. »Dreckiger Bastard«, sagte Batuti. Der Erleuchtete fuhr herum, als habe der Blitz neben ihm eingeschlagen. Völlig überrascht starrte er auf den riesigen Neger, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm aufragte. Seine 93
Überraschung verwandelte sich in Entsetzen, als noch fünf weitere Männer urplötzlich bei ihm waren. Er wollte aufspringen, doch er gelangte nur auf die Knie. Da hatte der riesige Neger eine Pistole in der Faust. Er schlug nur einmal kurz und hart mit dem Griff der Waffe zu. Webster fiel mit dem Kopf in das Gras und blieb regungslos liegen. »Fesselt und knebelt ihn«, sagte Jean, »ich kümmere mich inzwischen um die Frau.« »Hab' ihn mit der Pistole niedergestreckt«, sagte Batuti, »ich wollte mir bei dem Bastard keine dreckigen Hände holen.« »Versteh ich ja«, sagte Dan grinsend. »Die Hauptsache ist, daß wir ihn endlich haben.« Er drehte Webster auf den Rücken und schob ihm ein Tuch in den Mund, das er festband. Dann wurde der Erleuchtete mit ein paar gekonnten Griffen verschnürt. »Sie ist bewußtlos«, sagte Jean, »aber nicht ernsthaft verletzt. Ihr wird hier nichts passieren. Wenn sie wieder aufwacht, wird sie nicht einmal sagen können, daß der erhabene Meister entführt wurde. Wir begeben uns jetzt schleunigst auf den Rückzug, damit sie nichts merkt.« Roger Lutz stellte den Korb neben sie und rückte sie so, daß sie bequem in dem Gras lag. Ihr Gesicht war friedlich und entspannt, als schliefe sie. »Das ging ja schneller und reibungsloser, als ich mir dachte«, sagte Jean Ribault grimmig. »Jetzt sind die Betbrüder erst einmal ihren Meister los, und den werden sie auch so schnell nicht mehr wiedersehen wenn überhaupt.« Batuti schnappte sich den Kerl und warf ihn sich lässig über die Schulter. Ein letzter Blick galt der Frau, dann schlugen sie den Weg durch das Dickicht ein und verschwanden ungesehen und ungehört. Niemand hatte die geringste Ahnung, was mit dem Groß94
meister passiert war. Er war einfach für sie verschwunden. Vielleicht würden ein paar Spinner vermuten, daß der Meister gen Himmel gefahren sei, aber das Rätsel würden sie vorerst nicht lösen können. Um acht Uhr abends gab es in der Goodman Bay ein großes Hallo, als der Trupp mit dem gefesselten und geknebelten Kerl eintraf und zur ›Isabella‹ übersetzte. Im Nu fanden sich auch die anderen ein. Webster war wieder bei Bewußtsein und geiferte vor Wut. Der Profos riß ihm den Knebel aus dem Maul und starrte ihn finster an. »Du bist jetzt im Nest der Schlangen und Nattern, du dreckiges Rübenschwein«, sagte er. »Jetzt kannst du mit dem Ausrotten anfangen.« »Dem Kerlchen sollte man gleich mal den Hals ein bißchen an der Großrah langziehen«, »Darüber befinden wir morgen«, sagte Hasard. »Er wird seiner Strafe nicht entgehen.« Webster fluchte, geiferte und warf mit unfeinen Worten um sich. Da war nichts mehr von Frömmigkeit zu hören. Der Kerl war eine schäumende Bestie. »Bringt ihn in die Vorpiek«. »Aber erst zeige ich ihm noch den Verdunklungshammer«, meinte Ed. »Die frommen Sprüche kann man ja nicht mehr mit anhören.« Der Großmeister kannte den ›Verdunklungshammer‹ zwar schon, aber damit er ihn nicht vergaß, zeigte der Profos es ihm noch einmal, als die Haßtiraden kein Ende nahmen. Er schlug nur einmal zu, der Profos, aber er langte richtig zu, so daß es Webster fast aus den Stiefeln hob. Der Großmeister segelte über die Kühl und blieb besinnungslos am Schanzkleid liegen. Dort schnappte ihn sich Batuti und brachte ihn zur Vor95
piek. »Jetzt kann er den Ratten seine frommen Sprüche aufsagen«, meinte Batuti, »und mit ihnen Choräle singen.« Etwas später wurde das ›Einbringen des Großmeisters‹, wie der Profos das ausdrückte, gebührend mit einem kräftigen Schluck gefeiert… Ende Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 510
Blockade von Roy Palmer
Gegen fünf Uhr morgens ankerten die fünf Schiffe des Bundes der Korsaren so vor der Bucht der Webster-Gemeinde, daß sie die Ausfahrt blockierten. Gleichzeitig war die Position von Hasard so gewählt, daß man sicher sein konnte, außerhalb der Reichweite der Kanonen auf den beiden Bastionen der Burg Zion zu liegen. In der allmählich beginnenden Morgendämmerung waren die Schiffe – allen voran die ›Isabella IX.‹ – lautlos aufmarschiert. Vorsichtig hatten sie sich an den Buchtzugang gepirscht. Doch kein Alarmruf erklang, kein Pfiff wehte herüber. Offenbar hatten die Sekten-Anhänger den Gegner nicht bemerkt. Das geschah erst, als die Sonne im Osten über der Kimm stand. Und da befahl der Seewolf: »Schiff klar zum Gefecht…«
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