Buch: Merkwürdiges geschieht: Horst Bessow, Trainer einer DDR-Mannschaft, belästigt nach einem siegreichen Länderspiel ...
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Buch: Merkwürdiges geschieht: Horst Bessow, Trainer einer DDR-Mannschaft, belästigt nach einem siegreichen Länderspiel in London öffentlich Frau en und Mädchen und flüchtet, von empörten Menschen verfolgt, in die Krone eines der hohen künstlichen Bäume, wo er sich ein Nest baut, schläft und am Morgen absteigt. Danach kann er sich an nichts erinnern. Pressefotografen haben das Ereignis festgehalten, Journalisten waren am Tatort. Zufall? Ähnlich ergeht es einem japanischen Diplomaten, einem Schweizer Weinhändler… Professor Doktor Roßberg, Biologe, der in London an einem internatio nalen Kongreß teilnimmt, soll den mysteriösen Vorfall aufklären. Ihm geht eine anonyme Warnung zu, er möge alle Nachforschungen im Fall Bessow einstellen: sein Hotelzimmer wird durchsucht; er wird überfallen. Klaus Frühauf setzt sich in seinem utopischen Roman, der um die Jahr tausendwende spielt, mit den Problemen des Gebrauchs und des Mißbrauchs von Drogen, Medikamenten und Pharmaka auseinander.
Klaus Frühauf
Die Bäume von Eden Utopischer Roman
Mitteldeutscher Verlag Halle – Leipzig
(c) Mitteldeutscher Verlag Halle – Leipzig • 1983 3. Auflage Lizenz-Nr. 444-300/133/84 • 7004 Printed in the German Democratic Republic Umschlaggestaltung: Stefan Duda / Bernd-Michael Dehnert Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin. Best.-Nr. 638 937 3 00600
1
Da steht er nun mit immer noch heftig klopfendem Herzen vor der Hin tertür des Klubraumes und weiß nicht, ob die Freude, die er spürt, lange anhalten wird. Etwas Unwahrscheinliches ist geschehen: Sie haben nicht nur all ihre Vorrundenspiele, sondern auch das letzte, das Endspiel ge wonnen. Turniersieger sind sie geworden. In der Höhle des Löwen ge wissermaßen. Er erinnert sich nicht, daß jemals vorher eine ausländische Mannschaft auf englischem Boden ein Drive-Ball-Turnier gewonnen hätte. Immerhin behauptet man in Fachkreisen, die Engländer hätten dieses Spiel nur erfunden, um endlich wieder in wenigstens einer Sport art die führende Nation zu sein. Wie sehr muß sie diese Niederlage schmerzen. Er spürt die Hand des englischen Managers im Rücken und hört die aufgeregten Dispute der Presseleute durch die Tür dringen wie das ferne Raunen eines aufkommenden Sturmes. Er mag Pressekonferenzen oh nehin nicht sonderlich. Sie haben etwas von der im vorigen Jahrhundert üblichen Art, Kriminelle zu verhören, und etwas von Gehirnwäsche an sich. Und bei dieser wird er besonders achtgeben müssen. »Es wird Zeit, Mister Bessow«, sagt der Manager, und der sanfte Druck seiner Hand verstärkt sich. Als Horst Bessow die Tür aufstößt, explodiert das Raunen zu einem hohlen Brausen, einen Augenblick lang steht er geblendet im zuckenden Licht der Blitze, und die Hitze der Kameralampen schlägt über ihm zu sammen wie eine plötzlich auflodernde Flamme. Er sieht die Gesichter der Offiziellen und die seiner beiden Spieler, und er weiß, daß dies hier erst der Anfang ist, ein kleiner Teil dessen, was ihn erwartet. Langsam geht er zu dem einzigen freien Platz im Präsidium, sehr lang sam, ihm scheint, daß jede Sekunde kostbar ist, jeder Moment der Kon zentration. Und als er sich setzt und umständlich die Fingerspitzen zu sammenlegt, da hat er das Gefühl, das Brausen gehe über ihn hin, ohne ihn zu berühren.
»Meine Damen und Herren«, hört er sich sagen. »Gestatten Sie mir als erstes die Bemerkung, daß wir«, er deutet auf seine Begleiter zur Linken und zur Rechten, »über diesen unerwarteten Turniersieg außerordentlich glücklich sind. Oder vielleicht sollte ich besser…« Weiter kommt er nicht. In der ersten Reihe springt eine Frau auf. Eine schlanke Frau mit einem bunten Tuch um die Schultern und funkelnden Brillengläsern. Mit ausgestrecktem Arm hält sie ihm ein Speichergerät entgegen. »›Weekly News‹! Wieso sagen Sie ›unerwartet‹, Mister Bessow? Haben Sie diesen Sieg wirklich nicht einkalkuliert?« Sie denken gar nicht daran, vorsichtig zu taktieren, ihn in irgendeine Falle zu locken, sie sind wie eine Meute, die ihr Opfer umstellt hat. »Natürlich haben wir auf diesen Sieg hingearbeitet. Und selbstverständ lich sind wir gekommen, um zu gewinnen. Aber wir waren durchaus nicht davon überzeugt, daß es auch gelingen würde.« Neben der Frau erhebt sich ein Mann. »›Window Of The World‹, Sir!« Die Stimme des Mannes ist tief und grollend. »Haben Sie sich speziell auf dieses Turnier vorbereitet, Sir?« »Man bereitet sich auf jedes Turnier vor. Man kann nicht…« »Und wie sah diese Vorbereitung aus?« »Ganz normal! Wir haben intensiv trainiert in den letzten Wochen.« Ein anderer Mann steht auf. »›The Sportsman‹! Haben Sie noch andere Vorbereitungsmethoden als das Training, Mister Bessow?« Horst Bessow macht eine erstaunliche Feststellung. Er hört die Fragen laut und deutlich. Ganz plötzlich, immer dann, wenn einer der Reporter den Mund öffnet, bricht das Brausen ab, und die Frage steht im Raum, wie ein Blitz in der Schwärze der Nacht. Aber stets, wenn er zu einer Antwort ansetzt, ist der Sturm wieder da. »Nein«, sagt er ruhig. »Nicht, daß ich wüßte.« »Doping vielleicht!« schreit jemand aus den hinteren Reihen. Bessow ignoriert die Bemerkung. Statt dessen blickt er flüchtig zur Sei te. Die Gesichter der Betreuer und seiner beiden Spieler sehen nicht be sonders glücklich aus.
»Doping können wir ruhig aus dem Spiel lassen, Sir«, sagt der Mann von »The Sportsman«. »Über solch primitive Methoden dürften Sie hin aus sein. Aber es gibt ja noch eine Menge anderer Möglichkeiten.« »Stellen Sie bitte Ihre Frage, Sir!« »Erinnern Sie sich an die Olympischen Spiele von New Delhi, Mister Bessow?« »Sehr gut erinnere ich mich«, sagt Horst Bessow und nickt. Er wittert eine noch unbekannte Gefahr. Etwas wird jetzt geschehen, er weiß es. Aber er hat keine Ahnung, aus welcher Richtung er den Schlag zu er warten hat. »Dann wissen Sie sicherlich auch, daß dort beim Fünftausend-MeterLauf Leute mit verlängerten Unterschenkeln angetreten sind. Mit opera tiv verlängerten Unterschenkeln. Wäre es möglich, daß…« Der Schlag ging ins Leere. Sein Ziel liegt nicht auf dieser Seite des Ti sches. »Das ist Unsinn, Sir«, sagt Bessow ungerührt. »Denn erstens kamen die beiden Leute nicht aus einem unserer Länder, und zweitens hat damals Binder gewonnen, wenn Sie sich freundlich erinnern wollen. Binder al lerdings war einer von uns.« »Ein Sportler ohne verlängerte Schenkel? Ein normaler Mensch schlägt zwei aufbereitete Superathleten? Klingt das glaubhaft, Sir?« »Ich weiß nicht, wie es klingt, aber es ist die Wahrheit.« Horst Bessow spürt, daß sich auf seiner Stirn feine Schweißtröpfchen zu bilden begin nen. Die Wärme der Strahler setzt ihm zu. Die Frau in der ersten Reihe springt erneut auf. Das Umschlagtuch hat sie längst abgenommen. »Weshalb verteidigen Sie sich, Mister Blessow?« »Bessow, Miss! Wenn ich bitten darf.« »Weshalb also?« »Ich verteidige mich nicht, ich beantworte Fragen.« Neben ihr steht der Mann mit der grollenden Stimme. »Ihre Sportler eilen von Sieg zu Sieg, Mister. Dafür muß es eine Erklärung geben.« »Aber selbstverständlich! Sie sind ausgezeichnet trainiert, und ihre Mo tivation…«
»Meinen Sie die politische Motivation?« »Ja natürlich! Sie starten nicht nur für sich, sondern auch für ihr Land.« »Würde das nicht Sondermaßnahmen rechtfertigen?« »Niemand bestreitet, daß der Sport bei uns besonders gefördert wird.« »Können Sie uns einige dieser Maßnahmen nennen, Mister Blessow? Finanzielle Stimuli? Drogen? Anabolika? Beeinflussung medizinischer Art?« »Bessow, Miss! Ich sage Ihnen, Sie irren, wenn…« »Glauben Sie uns einreden zu können, daß Ihre Leute keine besondere medizinische Betreuung genießen?« »Das streite ich nicht ab. Aber…« »Und daß der Staat bei Ihnen Sportschulen finanziert, Mister Bles sow?« »Bessow, verdammt noch mal! Sie bringen hier…« Der Sturm braust über ihn hinweg. Die Fragen klatschen ihm ins Ge sicht wie eisige Regentropfen. »Stimuli?« »Anabolika?« »Drogen?« »Mister Blessow?« »Doping?« »Unterschenkel verlängert?« »Karatekämpfer haben sich die Finger amputieren lassen! Wissen Sie das?« »Aber das hat doch nichts mit uns zu tun!« schreit er in das Brausen. »Das sind Unterstellungen! Verleumdungen! Finger amputieren lassen. Darm aufblasen. Solche Schweinereien…« Das Brausen wird zum Geheul. Er sieht Gesichter, feixende und wü tende, und er sieht Blitze, Blitze, Blitze… Dann steht er heftig atmend draußen vor der Tür. Eine Sekunde lang. Bis er sich orientiert hat. Der Gang rechts muß ins Freie führen. Er hetzt
an Türen vorbei, an Menschen, die ihm verwundert mit den Blicken fol gen, an Schränken und Regalen. Dort, wo der Gang in das scheidende Licht des Tages mündet, bleibt er stehen und versucht, sich zu sammeln. Er holt tief Luft, sein Hals ist trocken, und seine Zunge klebt ihm am Gaumen. Als er sich der Straße zuwendet, fällt sein Blick auf die in die Wand eingelassene Frontplatte eines Automaten, eine glänzend schwarze, rechteckige Fläche. Und plötzlich spürt er quälenden Durst. Bisher hat er noch nie Getränke aus einem der an allen Ecken instal lierten Automaten gezogen, die dabei unumgängliche Prozedur ist ihm zuwider. Jetzt aber erscheint ihm dieses Gerät wie ein Retter in der Not. Es bietet ihm die einzige Möglichkeit, seinen Durst zu stillen, ohne daß er dazu mit einem Menschen in Kontakt treten müßte. Und mit Men schen will er im Moment nichts zu tun haben. Also stellt er sich direkt vor die schwarze Platte, schiebt seine Kreditkarte in den Zahlschlitz und drückt auf den Getränkeknopf. Unvermittelt öffnet sich der Sensor vor seinem Gesicht wie eine feine, metallene Blüte, Farben kreisen und fließen ineinander, Violett, Grün und Rot, und während der ungewöhnliche Regenbogen mit einem Auf flackern verlischt, falten sich die Sektoren lautlos zusammen und ziehen sich wieder zurück. Im Ausgabeterminal klappert ein versiegelter Becher. Die mit leisem Summen unter dem Zahlschlitz erscheinende Diagnose karte läßt er achtlos zu Boden fallen, reißt den Verschluß des Bechers auf und trinkt in langen Zügen. Das Getränk schmeckt nicht besonders gut, es erinnert ihn an abgestandene Limonade mit einer Prise Ingwer. London ist heute eigentlich ganz anders, als er es vom Hörensagen her zu kennen glaubte. Kein Nebel, kein Smog, keine unangenehm durch die Kleidung kriechende Kälte. Die Abendsonne taucht die Giebel alter und neuer Häuser in freundliches rosa Licht. Die Straßen sind an diesem Wochenende den Fußgängern vorbehalten. Zweimal im Monat gibt es zwei verkehrsfreie Tage. Eine nachahmenswerte Einrichtung. Die Luft ist klar und mild, und er füllt sich die Lungen bis zum Bersten mit Sauerstoff. Für Sekunden befällt ihn ein leichtes Schwindelgefühl, doch es vergeht, und er spürt, wie ihm neue Kräfte zuströmen, wie sein Kopf sich langsam zu klären beginnt.
Nachdenklich geht er die Straßen entlang, und seine Erregung ebbt um so weiter ab, je länger er läuft. Er weiß, daß er versagt hat. Er hätte ruhig bleiben müssen, sachlich und überlegen. Er hätte sich nicht provozieren lassen dürfen. Denn genau das Schauspiel, das er ihnen geboten hat, wollten sie sehen. Sie können sich jetzt die Hände reiben, sie haben er reicht, was sie erreichen wollten. Er sieht sie förmlich an ihren Schreib maschinen hocken, grinsend, und seine Niederlage mit boshafter Phanta sie und fliegenden Fingern verewigend. Es wird Ärger geben, soviel ist sicher. Und ebenso sicher ist, daß er sich diese Tatsache selbst zuzu schreiben hat. Das ist deprimierend. Er hat Piccadilly-Circus fast erreicht, als die Straßenbeleuchtung auf flammt. Unmerklich hat sich die Nacht über die Stadt geschlichen. Nun aber vertreiben blendende Lichtreklamen das Dunkel. Bestimmt liegt es an diesen huschenden Leuchtzeichen, daß er den Anbruch der Nacht nicht bemerkt hat und nicht daran, daß sein Blick seit mehreren Minuten fest auf zwei Mädchen gerichtet ist, die unmittelbar vor ihm gehen. Oder denen er – das kommt der Wahrheit näher – seit Minuten nachgeht. Die beiden tragen hautenge Hosen und bewegen sich, wahrscheinlich durch die hochhackigen Schuhe verursacht, in einem seltsam wiegenden, Gang. Vage kommt ihm der Gedanke, daß er seine Augen, seit er die Mädchen vor sich bemerkte, nicht mehr von diesem Schaukeln gewandt hat. Er weiß nicht einmal, ob die beiden blond oder dunkelhaarig sind, und das interessiert ihn auch nicht. Ihn fesseln diese wiegenden, nur von dünnem Stoff überspannten Wölbungen, die feinen, geschwungenen Linien der Slips, die wechselseitig auf und ab gleiten, immer auf und ab, auf und ab… Er spürt einen Druck im Hals; nicht unangenehm, sondern eher ungewöhnlich, ein Kribbeln läuft ihm an den Armen hinab zu den Hän den, und dann… »Oh, you bloody bastard!« Wütende Augen funkeln, er sieht einen zornig verzerrten, matt ge schminkten Mund und eine zum Schlag erhobene Hand. Mit einer Re flexbewegung weicht er aus und bringt mit einem Sprung zwei, drei Schritte Distanz zwischen sich und das wütende Mädchen. Auf seiner Handfläche spürt er noch die Wärme ihres prallen Gesäßes.
Einen Augenblick lang ist er völlig verstört. Was war das? Welche bestürzend unbekannte Kraft hat ihn veranlaßt, dieses junge Ding zu belästigen? Wie nur konnte es dazu kommen? Sind das die Auswirkungen des unerwarteten Erfolges oder der anschließenden Nie derlage? Kann eines dieser Erlebnisse einen Mann wie ihn auf derart totale Weise aus der Bahn geworfen haben? Aber die Skrupel vergehen, wie sie gekommen sind, schnell und spur los. Und die Mädchen stehen ihm in einer Entfernung von nicht mehr als drei Schritten gegenüber und wollen sich ausschütten vor Lachen. Er ist zusammen mit den Jungen in einem Hotel am oberen Ende der Sherwood-Street, unmittelbar am Piccadilly-Circus, abgestiegen. Er hat sich die Lage des Gebäudes, eines ungefügen Betonklotzes, sehr genau eingeprägt. Das hält er stets so, wenn er in einer ihm fremden Stadt ü bernachtet. Er liebt Überraschungen nicht und pflegt sich deshalb einge hend zu orientieren. So weiß er auch, daß rechts neben dem Portal des Hotels ein riesiger Baum von auffallend symmetrischer Gestalt stand. Der Baum hatte eine weit ausladende Krone, man hätte ihn auf den ers ten Blick für eine Platane halten können. Aber es war keine Platane, mit Bäumen kennt er sich aus. Bei diesem jedoch ließ ihn seine Erfahrung im Stich. Erst bei näherem Hinsehen begriff er, daß das überhaupt kein Baum war, sondern eines der Austauschaggregate einer unterirdischen Luftaufbereitungsanlage. Die hier um den Piccadilly-Circus gruppierten, entfernt an regelmäßig gewachsene Bäume erinnernden Gebilde haben die gleiche Aufgabe, die die Natur auch ihren lebenden Vorbildern zuge dacht hat. Sie entnehmen der Atmosphäre Kohlendioxid und geben ihr dafür Sauerstoff zurück. Die lebenden Bäume, indem sie die Energie des Sonnenlichtes nutzen, diese künstlichen Platanen als Teil eines durch Kernenergie betriebenen Austauschersystems, das übrigens weit effekti ver funktioniert als die natürlichen Pflanzen. Der Platz ist mit einem geschlossenen Ring dieser seltsamen Bäume umgeben. Er findet sich nicht mehr zurecht. Zweimal muß er den Circus umrunden, ehe er die Sherwood-Street endlich vor sich sieht. Er atmet auf. Jetzt sind es nur noch wenige Schritte. Er geht langsam, die Jungen
dürften ohnehin längst ihre Zimmer aufgesucht haben. Wahrscheinlich schlafen sie schon tief und fest. Der Eingang der Halle strahlt in gleißendem Licht. Es ist eine Hellig keit, die ihn im ersten Augenblick so stark blendet, daß er die Augen schließen muß. Mit dem Fuß schiebt er die Flügeltür auf und tritt in das Vestibül. Endlich kann er wieder sehen. Die weichen Teppiche, die Men schen in den dunklen Ledersesseln, den uniformierten Clerk hinter dem Tresen der Rezeption und die Pflanzen in den Kübeln. Herrlich grüne Pflanzen, deren satte Färbung den Augen wohltut. Er steht und blickt nach rechts und links, und ganz tief in seinem Inne ren spürt er einen Hauch von Angst. Es ist eine ihm unbekannte Angst, die wohl nur aus der Anwesenheit so vieler Menschen resultieren kann. Seit heute nachmittag fürchtet er die Menschen. Und plötzlich geht mit ihm eine bestürzende Veränderung vor, sein Gesichtsfeld beginnt sich einzuengen, die Gesichter der entfernt Stehen den zerfließen und bilden nur noch einen matten Ring, auf dessen Zent rum sich sein Blick konzentriert, konzentrieren muß. Ein feiner, anre gender Duft weht ihm entgegen. Prüfend atmet er tief durch die Nase ein, und er spürt, wie sein Herz heftiger zu schlagen beginnt. Sie sitzt ihm unmittelbar gegenüber, fast versunken in einem der dunk len Sessel, und hält ihn mit den Augen fest. Die Gesichter der anderen wirken neben dem ihren wie flache, blasse Teigfladen. Sie lächelt. Ihre Zähne sind weiß, und ihr Haar ist lang und hell. Sie hat prachtvolle, schlanke Beine, und sie liegt so tief in ihrem Sessel, daß er fast nur diese Beine sieht. Langsam richtet sie sich auf und versucht den Rock über ihre Knie zu ziehen. Und noch immer sind ihre Augen auf ihn gerichtet. Wie von selber bewegen sich seine Füße. Er geht auf sie zu, und er weiß, daß das, was er auf ihrem Gesicht sieht, nicht nur ein freundliches Lächeln ist. Je näher er ihr kommt, um so mehr richtet sie sich auf, um so weiter kommt sie ihm entgegen. Ihr Duft umfließt ihn wie ein Schwall lauen Wassers. Längst sieht er ihr Gesicht nicht mehr, sein Blick saugt sich fest an diesen langen Beinen, kriecht an ihren Hüften entlang aufwärts, und dann ist er bei ihr und reißt sie in seine Arme. Ihr Schrei trifft ihn wie eine glühende Nadel.
Die flachen Gesichter der anderen vereinigen sich zu einem wabernden Mosaik ineinanderfließender, heller Flecken. Er spürt einen heftigen Ruck an der Schulter, Wut steigt in ihm auf, er läßt die Frau zurück in den Sessel fallen und wendet sich dem Angreifer zu. Aber der ist längst nicht mehr allein. Sie rücken gegen ihn vor wie eine geschlossene Pha lanx, wie eine unüberwindliche Mauer. Er sieht weiße, gestärkte Hemd brüste, dunkle Krawatten und drohend geschwungene Fäuste. Da drängt erneut die Angst hervor aus irgendeinem verborgenen Win kel seines Bewußtseins, und nun weiß er, daß ihrer zu viele sind, als daß er sich erfolgreich mit ihnen messen könnte. Mit einem Schrei durch bricht er die Mauer und stürmt hinaus auf den taghell erleuchteten Cir cus. Nur langsam klingt die Angst ab. Und im gleichen Maß, in dem sie ver geht, überkommt ihn Mattigkeit. Er fühlt sich leer und ausgelaugt, er ist viel und lange gelaufen. Durch hell erleuchtete Alleen und dunkle Stra ßen, über Plätze, an deren Peripherien ihn Straßenmädchen ansprachen, und durch enge Gassen, in denen sich Katzen hinter Mülltonnen balg ten. Er hat das Gefühl, die ganze City von London mit seinen Schritten ausgemessen zu haben. Jetzt will er endlich schlafen. Vor ihm gleißen erneut die Lichter des Piccadilly-Circus, bunt und lo ckend. Jetzt aber liegt der Platz leer. London ist endlich zur Ruhe gegan gen. Zu einer kurzen Ruhe, die den Keim morgendlicher Hektik bereits wieder in sich trägt. Dunkel und geheimnisvoll stehen die Bäume, die wie Platanen aussehen und die doch keine Platanen sind. Er berührt die Rinde eines der ragenden Stämme mit den Lippen, und einen Augenblick lang ist er erschrocken über die narbenlose Glätte. Dann aber sieht er das weit ausladende Blätterdach über sich, die Äste und Zweige, biegsam und zäh. Es ist ein prächtiger Baum, zwischen des sen Ästen auszuruhen eine Lust sein müßte, zusammengerollt in der Geborgenheit dichten Laubes, geschützt gegen die Feinde am Boden und gegen die großen Vögel unter dem Himmel. Noch einmal streicht er vorsichtig tastend über die Rinde, die sich glatt und trocken anfühlt, noch einmal warnt ihn das Ungewohnte seiner
Empfindung, dann faßt er den untersten Ast und zieht sich hinauf in den schützenden Schatten. Weit oben in der Krone beginnt eine Gruppe aufgestörter Spatzen hef tig zu schilpen. Am nächsten Morgen benötigt er Minuten, ehe er erkennt, in welch be stürzender Lage er sich befindet. Und doch kommt das Begreifen mit der Wucht eines Keulenschlages. Entsetzt klammert er sich an eines der rohrähnlichen Gebilde, auf de nen er die Nacht verbracht haben muß. Sein Rücken schmerzt, und seine Beine sind gefühllos. Zuerst hat er den Eindruck, er befinde sich im In neren einer grotesken Maschinerie, in einem unübersehbaren Gespinst aus Säulen, Rohren und ovalen Flächen. Dann wieder glaubt er sich im Wipfel eines überaus hohen Baumes. Die ganze Erkenntnis seines wah ren Aufenthaltsortes überkommt ihn wie eine langsame Folge heißer Wellen. Endlich entschließt er sich zum Abstieg. Ein Blick nach unten zeigt ihm, daß zu seinen Füßen der Vormittagsverkehr um den PiccadillyCircus kreist. Ohrenbetäubender Lärm, der ihm erst jetzt bewußt wird, dringt zu ihm herauf. Aber er hört auch aufgeregtes Rufen und einzelne Entsetzensschreie. Und obwohl er bereits kurz nach seinem Erwachen der Überzeugung war, daß kein Mensch in eine schlimmere Lage als die se geraten könne, muß er nun einsehen, daß es eine Steigerung geben kann. Der Platz unter ihm ist schwarz von Menschen; die nach oben gerichteten Gesichter breiten ein Muster heller Flecken über das dunkle Gewoge. Einen Moment lang schwankt er, ob er überhaupt den Versuch unter nehmen soll, abzusteigen, dann lockert er den Griff seiner Hände und kriecht zur Mitte, dorthin, wo die Äste dem Stamm angeflanscht sind. Mehrmals weht ihm feuchtkalte Luft ins Gesicht, wahrscheinlich Sauer stoff, der den blattförmigen Emittern entströmt. Und eine jede dieser unfreiwilligen Duschen gibt ihm einen Teil seines Denkvermögens zu rück. Als er den Stamm erreicht, ist die größte Gefahr für Leib und Leben überstanden. Nicht aber die größte Demütigung. Je tiefer er kommt, um
so mehr löst sich die Spannung unter ihm in Gelächter auf. Aber das ist kein befreiendes Gelächter, das ist bitterer Hohn, Vernichtung. Und während er sich einen Weg durch die grölende Menge bahnt, zucken die ersten Blitze der Fotoreporter auf, klicken rings um ihn her die Ver schlüsse der Fotoapparate, surren Kameras. Er weiß, daß er am Ende eines Lebensabschnittes angekommen ist, aber er vermag sich nicht zu erklären, welche geheimnisvollen Kräfte ihn hierher getrieben haben. Seine Koffer stehen im Vestibül, gepackt und verschlossen, quer darüber liegt sein Mantel. Er hat nicht mehr die Kraft zu protestieren, und er ist auch nicht überzeugt, daß er im Recht wäre, würde er sich gegen diesen Eingriff verwahren. Die Gesichter derer, die ihn nach London begleite ten, sind ausdruckslos, wenn er hier und da ein Lächeln sieht, dann ist es das Grinsen eines der Hotelangestellten. Jemand drückt ihm eine Flugkarte in die Hand. »Deine Maschine geht um elf Uhr vierzig, Horst. Ich habe dir einen Wagen zum Flughafen bestellt. Wirst du es allein schaffen?« In den Worten ist nicht nur Kälte. Auch ein wenig Anteilnahme glaubt er heraushören zu können. Und schon das allein dämpft das Gefühl des Verlassenseins bis zu einem gewissen Grad. Er nickt mit beharrlich gesenktem Kopf, wirft sich den Mantel über den Arm und nimmt die beiden Koffer auf. Als er durch die Tür nach draußen tritt auf den Platz, der noch immer voller Menschen ist, fährt der Wagen vor.
2
Gegen Ende der Partie spielte er die Überlegenheit seiner Stellung aus. Mit Läufer und Turm drängte er Carolas Figuren in die Verteidigung, zog den Springer nach und bedrohte ihre Dame. Es war abzusehen, daß ihr diese stärkste Waffe über kurz oder lang verlorengehen würde. Carola zog die Brauen zusammen und krauste die Nase. Sie wußte, daß ihre Chancen auf Null gesunken waren. Und gehörte nicht zu denen, die sich auch noch in aussichtsloser Position mit Klauen und Zähnen zur Wehr setzen. Nicht beim Schachspiel. Sie blickte mit schräg gehaltenem Kopf auf und kniff ein Auge zu. »Remis?« sagte sie, und er sah das schelmische Lächeln um ihre Mund winkel, dem er nur schwer zu widerstehen vermochte. Er lehnte sich wohlig zurück. »Abgelehnt!« »Na gut!« Sie hob die Schultern und tippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Punkt des Bildschirmes, an dem ein Doppelkreuz die Stellung ihres Königs markierte. Das Symbol begann rhythmisch zu blinken und erlosch schließlich. Die Figuren sprangen in ihre Ausgangs lage zurück. »Du sollst deinen Triumph haben, mein Lieber.« Vor dem Fenster sank langsam die Dämmerung herab. Er liebte diese Stunde zwischen Tag und Nacht, in der sich das Grün der Büsche und Bäume draußen auf der Terrasse mit sanftem, blauem Licht überzog. Es war die Stunde der Ruhe und Besinnung. »Revanche?« fragte Carola leise. Er sah sie an, ihr Gesicht, dessen Konturen langsam zu zerfließen be gannen, ihr dunkles Haar, ihre Hände, die unbeweglich auf dem Manual lagen. Er schüttelte den Kopf. Es kam die Stunde, in der der vergangene Tag zu neuem Leben er wachte, in der einer den anderen teilhaben ließ an den Bereichen, die der Gemeinsamkeit entbehrten. »Ich glaube«, sagte er in die Dunkelheit, »daß wir endlich einen Schritt vorangekommen sind.«
Sie richtete sich auf, er sah es am Näherkommen ihres Gesichtes. Und er schilderte ihr, welch angenehme Überraschung er erlebt hatte, als er am Morgen ins Labor gekommen war. Eigentlich unterschied sich dieser Tag in nichts von tausend anderen Tagen zuvor. Zumindest anfangs nicht. Wie so oft in letzter Zeit trat er seinen Weg ins Labor mit einem Gefühl der Unzufriedenheit an. Nicht, daß er seine Arbeit als unbefriedigend empfunden hätte, daran lag es nicht, es war vielmehr die uneingestandene Sorge, an einer Grenze ange langt zu sein, an einer Schranke, die weder durch Wissen noch durch Beharrlichkeit niederzureißen war. So kam es, daß bereits Kleinigkeiten, die ihn zu anderer Zeit vielleicht erheitert hätten, heute in ihm ein Gefühl ärgerlicher Ablehnung erzeug ten. Er fühlte sich ausgeliefert. Dem Gedränge auf den Gleitwegen, der älteren Frau hinter ihm, deren Tasche ihm ständig in die Kniekehlen schlug, den Jugendlichen, die sich unbekümmert mit größter Lautstärke unterhielten. Dabei wußte er genau, daß diese mißlichen Kleinigkeiten nicht die Ur sache seiner Verstimmung waren, sondern lediglich eine von vielen Wir kungen. Der einzige Anlaß war die Aussicht, sich wahrscheinlich auch an diesem Tag eingestehen zu müssen, daß sich die Versuchsergebnisse seiner Forschungsgruppe noch immer unter seinen stillen Hoffnungen hielten, daß natürliche Prozesse nicht einfach durch planbare Mechanis men zu ersetzen waren. Und selbst die Gewißheit, daß er nie und nimmer aufgeben würde, daß er sich nach einem jeden Rückschlag zu neuerlichem Anlauf entschließen würde, bereitete ihm kein uneingeschränktes Vergnügen mehr. In der Stimmung dieses Morgens ärgerte er sich sogar über die Tatsache, daß er zu jenen gehörte, die sich lieber einen Herzinfarkt oder Magengeschwüre einhandelten, als daß sie die Flinte ins Korn warfen. Überdies war es zum Abbruch ohnehin zu spät. Nicht, weil er sein Forschungsziel vielleicht vorzeitig publiziert hätte, oder weil alle Welt auf die Vorstellung der Roßberg-Hybride wartete, nein, der Öffentlichkeit pflegte er sich in Beziehung auf seine Arbeit kaum mitzuteilen, hier spiel te eine ganz andere Komponente seines Charakters eine Rolle. Er war
ein schlechter Verlierer. Die Möglichkeit zur Aufgabe lag außerhalb sei nes Wesens. Er würde seine Selbstachtung verlieren, würde er Abbruch auch nur in Erwägung ziehen. Keine noch so tiefgründige Überlegung könnte das verhindern. Diese Eigenheit war wohl auch dafür verantwortlich, daß er sein Labor wie an allen anderen Tagen mit forschem Schritt und hocherhobenen Hauptes betrat. In der Tür blieb er einen Augenblick lang stehen, um, wie es seine Gewohnheit war, den Anblick seiner beiden Mitarbeiterin nen auf sich wirken zu lassen. Lore Brand stand vor einer der Leuchtscheiben an der Längswand. Mit beiden Händen hielt sie eine Küvette in Augenhöhe. Die um fast einen Kopf kleinere Anita Werner blickte mit nahezu andachtsvollen, dunklen Augen von unten her gegen den Boden des Glases. Holger Roßberg sah den winzigen Hybriden in der Lösung schaukeln. Das Produkt jahrelan ger Bemühungen sah aus wie ein lebloser, grauer Wurm. »Diesmal sind die Kiemen geblieben, wie sie waren«, sagte Lore und nickte ihm zu. Sie stellte das Glas vorsichtig auf den Tisch zurück, richte te sich auf und warf das Haar über die Schulter, und er registrierte amü siert, daß Anita diese Bewegung unbewußt nachvollzog. Lore Brand lehnte sich an die Tischplatte und lächelte ihn an. In ihren Augen war eine Spur von Triumph. »Vielleicht ist es uns wirklich gelungen, diesen Repressor endlich…« »Guten Morgen«, sagte er und warf die Tasche auf den Labortisch. Während er seinen Kittel aus dem Schrank nahm, spürte er, wie sich in seinem Rücken Spannung aufblähte. Noch als er die Knöpfe schloß, stand Lore sprachlos. Und Anita machte sich angelegentlich am Wasch becken zu schaffen. Einen Augenblick lang lenkten ihn die Geräusche von Schritten auf dem Korridor ab. Zwei oder drei verspätete Kollegen beeilten sich, an ihre Arbeitsplätze zu kommen. In den Nachbarlabors schlugen Türen. Langsam ging er zu Lore hinüber und nahm das Glas auf. Ihm genügte ein Blick, um zu erkennen, daß sie sich nicht getäuscht hatte. »Immerhin haben sie sich nicht zurückgebildet«, murmelte er, und er wunderte sich
über die eigene Bescheidenheit. Es war bestürzend, daß er sich noch immer nicht zu freuen vermochte. Erst am Nachmittag, nach einer komplizierten Untersuchung, die mehr als fünf Stunden in Anspruch nahm, erlangten sie eine gewisse Sicher heit. »Es ist wirklich noch vorhanden«, sagte Lore Brand endlich. Ihre Stimme klang belegt, und ihre Augen baten um seine Bestätigung. Er aber schwieg. Er fürchtete, seine Stimme könnte zittern. Langsam breitete sich die Freude über den Erfolg in ihm aus. Der Anteil des Gen pooles der Haikomponente war tatsächlich geblieben. Zum erstenmal in all den Jahren. Bisher war das genetische Material der Haizellen stets den Teilungsschritten des Fusionats zum Opfer gefallen. Was am Ende geblieben war, hatte immer einem normalen Robbenembryo entspro chen. Nun endlich schien also der Bann gebrochen zu sein. Er lauschte in sich hinein, und er wunderte sich nicht, daß die ganz große Freude nur langsam aufkeimte. Das mochte daran liegen, daß er eigentlich nicht mehr mit einer Wende gerechnet hatte. Vor allem aber wohl auch daran, daß er sich in der letzten Zeit häufiger als zuvor mit den Konsequenzen seiner Forschungen auseinandergesetzt hatte. Und stets hatte er sich am Ende solcher Überlegungen die Frage stellen müssen, welche Verände rungen allgemeiner Natur seine Arbeiten auslösen würden. Welche Kon sequenzen würden sie für das in Jahrtausenden der Gärung entstandene Modell des Zusammenlebens innerhalb der Menschengemeinschaft ha ben? »Wir sind endlich am Ziel!« sagte Lore, und man hörte ihrer Stimme an, wie bewegt die junge Frau war. Aber natürlich waren sie noch lange nicht am Ziel. Sie hatten bisher le diglich bewiesen, daß sich Zellen unterschiedlicher Spezies unter be stimmten Voraussetzungen fusionieren ließen. Und sie hatten ermittelt, daß sich aus einem Haufen fusionierter Zellen Embryonen züchten lie ßen, wenn man günstige Versuchsbedingungen schuf. Es war ein An fang. Aber es war immerhin der Anfang eines ganz neuen Verhältnisses des Menschen zur Natur. In einigen Jahren würde man Leben am Reißbrett
entwerfen und in der Praxis realisieren können, das der Natur nie gelun gen war, Wesen, die den Bedürfnissen der Menschen weit besser ent sprachen als die natürlich entstandenen Formen. Das Zeitalter der Ma schinen hatte seinen Höhepunkt überschritten. Irgendwann würden ge züchtete Arbeitsorganismen die Funktionen der toten Mechanismen übernehmen. Und wenn ihnen in ihrem Labor auch nur ein winziger Schritt auf die sem weiten Weg gelungen war, dann hatten sie schon Großes geleistet. Das waren die Probleme, die ihn auch noch auf dem Heimweg beweg ten. Und als ihm schließlich bewußt wurde, daß er vergessen hatte, seine beiden Mitarbeiter Becker und Marek ihrer Unpünktlichkeit wegen zur Rede zu stellen, da hatte sich seine in den letzten Wochen verlorenge gangene Gelassenheit bereits so weit wieder eingestellt, daß er an dieses Versäumnis ohne Selbstvorwürfe zu denken vermochte. Mit diesem Tag durfte er also zufrieden sein. Und er wußte, daß sich seine gelöste Stimmung auf Carola übertragen hatte, obwohl er jetzt, in der Dunkelheit des Zimmers, ihr Lächeln nur ahnen konnte. Er wartete. Wartete auf den Bericht über ihren Tag. Heute endlich würde er ihr wieder einmal in Ruhe zuhören können, ohne abgelenkt zu werden durch die eigenen Gedanken. Und er nahm sich vor, ein auf merksamer Zuhörer zu sein. Er würde ihr sogar Fragen stellen, nach all den kleinen Ereignissen, an denen der Arbeitstag eines Lehrers so reich ist. Und nichts würde so unbedeutend sein, daß es ihnen nicht doch noch Gesprächsstoff bieten könnte. »Bei mir gab es nichts Besonderes«, begann sie. »Was soll auch Umwer fendes geschehen in einer Schule? Man hat…« Weiter kam sie nicht. Drüben an der Komwand begann unvermittelt das grüne Feld zu blinken. Vier Sekunden lang. Dann leuchtete die handgroße Fläche in mildem, grünem Dauerlicht, das sich wenig später zu Schriftzeichen verdichtete. »Anruf an Roßberg… 24 02 21 41 54 19… Dringend.«
Es war zum erstenmal überhaupt, daß einer von ihnen mit diesem Co de gerufen wurde. Dringender Anruf über Grün auf der Privatleitung, das deutete auf wichtige Angelegenheiten im Interesse des Staates hin. »Für dich!« sagte Carola überflüssigerweise, während er sich das Manu al heranzog. »Hast du eine Ahnung, wer oder was…« Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines verhältnismäßig jungen Mannes, hager, mit fahlblondem Haar, ein Gesicht, das man sich nicht leicht einprägen konnte und das noch schwerer zu beschreiben wäre. »Andreas Meister vom Büro für Auslandsarbeit«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. Holger Roßberg stutzte. Das Büro hatte einen genau umrissenen Auf gabenkreis, der sich seines Wissens auf die Organisation von Auslands reisen und den Schutz der Bürger während ihrer Auslandsaufenthalte konzentrierte. Was wollten die Leute von ihm? Zwar hatte er eine Reise zum Kongreß der Mikrobiologen in London beantragt, aber das allein rechtfertigte keinen Anruf zu solch später Stunde. Und schon gar keinen Anruf über Grün. »Das BfA?« fragte er obenhin. »Und ausgerechnet jetzt?« Der farblose, junge Mann überhörte den leicht ironischen Ton. Er blieb unbeeindruckt und verbindlich. »Es ist dringend, Professor. Wir brauchen Ihre Hilfe.« Roßberg forschte im Gesicht des anderen. Aber weder in Meisters Mienen noch in seiner Stimme war eine Nuance zu erkennen, die verra ten hätte, in welche Richtung sich Roßberg zu orientieren hatte. »Darf ich Sie bitten, mir zu erklären, worum es sich handelt, Herr Meister?« Der andere schüttelte langsam dem Kopf. »Nicht über den Kom, Pro fessor. Sagen Sie mir bitte, wo und wann ich Sie sprechen kann. Unge stört und ausführlich. Und schnellstens. Glauben Sie mir, es ist wirklich sehr wichtig.« Man hörte deutlich, daß Meister sein Anliegen als sehr dringlich emp fand. Und obwohl der Wunsch des jungen Mannes für Roßbergs Begrif fe äußerst ungewöhnlich war, merkte er wohl, daß es seine Pflicht war, sich zur Verfügung zu stellen.
»Ungestört«, sagte er nachdenklich. »Ich weiß nicht recht. Wir könnten im Institut… Aber vielleicht sollten wir uns besser hier treffen, in meiner Wohnung.« Er begriff selbst nicht, weshalb er so schnell zusagte. Meister atmete auf. »Sehr gut!« sagte er. »Ich bitte Sie, das bereits mor gen abend zu ermöglichen.« Roßberg zögerte. »Einverstanden, Professor?« drängte Meister. Roßberg hob die Schultern. »Wenn Sie es für so wichtig halten…«, sagte er schließlich. »Sie können mir getrost glauben, daß es das ist«, sagte Meister und nickte. Seine Stimme klang jetzt sehr ernst. Aber Holger Roßberg wußte ohnehin, daß er nicht mit einem normalen Feierabendgespräch zu rech nen hatte. Der Bildschirm verlosch für einen Augenblick, wurde zu einem schwarzen Abgrund, zu einem Durchgang, der in eine unbekannte und beunruhigende Welt zu führen schien. Dann ordneten sich Bilder und Farben erneut. Grellbunte, abenteuerlich gestaltete Fische spielten um künstliche Felsen, und über allem lag die wenig ausdrucksvolle Stimme eines Moderators, der die Zuschauer in die wundervolle Welt der Schelf farmen zu entführen suchte. Weit draußen im blauen Dämmer der Ferne tauchte die Silhouette eines Haies auf. Holger Roßberg berührte einen der grün überwucherten Felsen, und das Bild erlosch, nur unten rechts in der Ecke blieb eine Codemitteilung erhalten. Der Termin, den er mit Meister vereinbart hatte. Noch immer spürte er Unruhe, nicht wegen des Besuches an sich, sondern weil er das alles nicht einzuordnen vermochte, weil es abseits seines bisherigen Lebens lag, abseits seiner Arbeit und seiner Ambitio nen. Und Holger Roßberg tat etwas, wozu er sich in den letzten Jahren nur äußerst selten entschlossen hatte: Er legte beide Hände auf die Adapter flachen des Diagnografen und forderte eine Analyse seines Allgemeinzu standes ab. Er spürte, wie sich die Manschetten um seine Unterarme schlossen, fühlte das Kribbeln der Sensoren auf der Haut, und er wußte, daß jetzt, irgendwo tief unter der Stadt, eine einzelne Sektion des Zent
ralautomaten zu fieberhafter Tätigkeit erwachte. Millisekunden später begann der Schreibstrahl den Schirm mit Werten und Symbolen zu fül len. Trotz allem konnte er zufrieden sein. Eine leichte Erhöhung des Blut druckes, seine Pulsfrequenz lag geringfügig über der Norm, und der Co lesterinspiegel könnte niedriger sein. Das war alles. Und es war leicht erklärlich. Carola hatte ihn beobachtet. Sie lächelte. »Na bitte!« sagte sie. »Kein Grund zur Beunruhigung. Du wirst zeitig genug erfahren, worum es ihnen geht. Ganz sicher eine dienstliche Angelegenheit.« Daran glaubte er nicht. Meister hätte ihn ebensogut im Labor erreichen können. Trotzdem nickte er. »Möglich«, murmelte er. »Aber wenn, dann muß sie schon sehr dienstlich sein.« Sie lachte auf. »Hoffentlich darf ich euch wenigstens einen Kaffee ser vieren.« Meister war ungefähr so, wie Roßberg ihn sich nach der kurzen Bild schirmbekanntschaft vorgestellt hatte. Knapp mittelgroß und unauffällig. Seine Bewegungen und sein Händedruck verrieten jedoch, daß der erste Eindruck durchaus täuschen konnte. Jede seiner Gesten ließ verhaltene Kraft und bewußt gezügeltes Temperament ahnen. Er reichte Roßberg die Hand und deutete eine knappe Verbeugung in die Richtung an, in der Carola stand. Um seine hellen Augen lag der An flug eines verbindlichen Lächelns. Er wartete geduldig, bis Carola den Kaffee auf den Ecktisch gestellt und sich zurückgezogen hatte. Dann blickte er auf, und das Lächeln verschwand. »Können Sie sich vorstellen, Professor, daß man in England eine Methode gefunden hat, mit der man einem normalen Menschen gegen seinen Willen ein abwei chendes persönliches Verhalten aufpfropfen kann?« Roßberg war einen Moment lang verblüfft über die Geradlinigkeit, mit der Meister sein Ziel ansteuerte. Und auch über die Art dieses Zieles. Daß es um diesen bedauerlichen Zwischenfall in London gehen könnte, hätte er zu allerletzt vermutet. »Sie meinen, daß jemand Horst Bes sow…?«
»Ich habe noch keinen Namen genannt«, sagte Meister. »Aber Sie ha ben recht. Ich möchte mich mit Ihnen über Bessow unterhalten.« Der junge Mann lächelte. »Sie würden einen guten Kriminalisten abgeben, glaube ich.« »Ich habe von der Geschichte gelesen«, erklärte Roßberg. »Sie ist nicht nur durch die westlichen Medien gegangen, sondern auch von der Fach presse aufgegriffen worden. Allerdings mit weit weniger Schadenfreude und ohne diese gespielte Empörung. Die Meinungen sind ziemlich ein heitlich. Es muß sich um einen Streich der Nerven oder um ein Über maß an schottischem Whisky gehandelt haben.« Entschieden schüttelte Meister den Kopf. »Bessows Nerven sind völlig intakt, kaum Überarbeitung, kaum Stress. Nicht mehr als bei Ihnen oder mir, Professor. Und Alkohol können wir mit absoluter Sicherheit aus schließen. Es hat da genaue Untersuchungen gegeben, soweit man das von hier aus tun konnte. Was die Ursache für Bessows skandalöses Ver halten war, sollen Sie herausfinden.« »Ich?« fragte Roßberg erstaunt, als habe er sich verhört! »Ich bin Wis senschaftler, Biologe, kein Kriminalist.« »Sie wissen sicherlich, daß uns dieser Vorgang große Schwierigkeiten bereitet«, sagte Meister, Roßbergs Einwand ignorierend. Ja, Roßberg konnte sich die Schwierigkeiten vorstellen. Da war in den Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen, ausführlich und meist an hervorragender Stelle, geschildert worden, wie der unter Erfolgszwang stehende Trainer nach dem erregenden Erlebnis eines nahezu unerklärli chen Sieges seiner Mannschaft einem plötzlichen Verfall der Verhaltens struktur unterlag, wie er die Reporter brüskierte, danach stundenlang durch London irrte, und wie sich schließlich sein gequälter und unver mittelt in ein Vakuum gestürzter Geist verwirrte, so daß der Mann, von aufgestauter, sexueller Gier getrieben, auf offener Straße und im Hotel Frauen überfiel und endlich einen der künstlichen Bäume am PiccadillyCircus erstieg, um sich vor der aufgebrachten Menge in Sicherheit zu bringen. Und selbstverständlich war von Drogen und Doping die Rede, um in bewährter Manier sportlichen Erfolg, Angstpsychosen, Persönlichkeits verlust, Frustation und Drogen in einen Topf werfen zu können. Die
Boulevardpresse hatte sogar die Überprüfung und eventuelle Aberken nung einer ganzen Reihe von Rekorden gefordert. Und natürlich handel te es sich dabei um Rekorde von Sportlern sozialistischer Länder. Noch vor wenigen Tagen hätte Holger Roßberg all diese Artikel als das übliche Sensationsgeschrei abgetan, nun aber wurde ihm der Zweck die ser Märchenkampagne deutlich. Ja, das BfA war verpflichtet, der Sache nachzugehen, nicht nur, um Horst Bessow von einem Makel zu befreien. »Wie schildert denn Bessow selbst die ganze Angelegenheit?« »In seiner Erinnerung klaffen erhebliche Lücken, behauptet er. Und wir haben keinen Grund, das anzuzweifeln. Er wisse, sagte er, daß er nach der Pressekonferenz ungewöhnlich erregt war. Er habe sich einfach auslaufen müssen, um wieder zur gewohnten Ruhe zu finden. Danach, erklärte er, wisse er von nichts mehr. Er sei erst wieder zu sich gekom men, als er am folgenden Morgen in einer Art Nest hoch oben auf einem der Plastikbäume am Piccadilly erwachte.« Da gewann tatsächlich die Möglichkeit einer Beeinflussung von außen Gestalt. Nur irrte sich Meister, wenn er annahm, ein Fall von provozier ter Verhaltensabweichung sei im Handumdrehen aufzuklären. Wenn in eine solche Sache Licht gebracht werden sollte, dann würde das eine sehr umfangreiche Arbeit werden. Eine Arbeit, die viel Zeit kosten würde. Und nichts war Roßberg im Augenblick so unangenehm wie die Aus sicht, sich mit etwas anderem beschäftigen zu müssen als mit der endlich in Gang gekommenen Hybridisierung. »Vielleicht sollte das BfA eine Arbeitsgruppe bilden, die sich mit der Angelegenheit befaßt.« Meister setzte sich mit einem Ruck gerade und legte die Fingerspitzen aneinander. »Nein!« sagte er mit Nachdruck. »Keine Gruppe! Vorläufig sollten Sie sich allein um den Fall Bessow kümmern, Professor!« »Und wie stellen Sie sich das vor?« Roßberg gab sich Mühe, einen Un terton der Ablehnung in seine Stimme zu bringen. »Dazu muß einer nach London, an Ort und Stelle«, sagte Meister. »Wir haben zwar ein Rechtshilfeabkommen mit allen westeuropäischen Län dern, und man würde uns auch sicherlich unterstützen, aber ebenso si cher würde man sich Zeit lassen, zwei, drei Monate mindestens. Und die Zeit läuft nun mal gegen uns. Einen Kriminalisten können wir nicht schicken, er bekäme keine Arbeitserlaubnis. Auch wir würden einem
Mitarbeiter des Yard nicht gestatten, hier bei uns seine Ermittlungen durchzuführen. Sie aber sind ein anerkannter Wissenschaftler. Niemand wird es ungewöhnlich finden, wenn Sie…« Roßberg begann zu ahnen, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Er hatte vor, den Kongreß über angewandte Mikrobiologie in London zu besuchen. Nun also würde man ihm eine Zusatzaufgabe stellen. Und keine einfache. »Ich bin kein Kriminalist«, gab er abermals zu bedenken. »Das kann sich durchaus als Vorteil erweisen«, sagte Meister. »Für noch wichtiger halte ich allerdings die Tatsache, daß Sie eine Menge von Drogen und Pharmaka verstehen, Professor. Mehr als jeder unserer Kriminalisten. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß genau auf diesem Gebiet des Rätsels Lösung zu suchen ist. Außerdem werden Sie ja in den nächsten Tagen ohnehin nach London fahren.« Das hatte sich Meister wirklich gut ausgedacht. Ein Wissenschaftler, der offiziell zu einem Kongreß geladen ist, war natürlich wesentlich un verfänglicher als irgend jemand sonst. Aus Meisters Sicht betrachtet, bot sich hier eine gute Chance. Eine doppelte gewissermaßen. »Gut! Nehmen wir an, Bessow sei unschuldig. Und wie könnte ich da für den Beweis erbringen?« »Bessow ist bestimmt unschuldig«, sagte Meister leise, so, als spräche er zu sich selbst. »Ich vermute hinter der Sache eine Organisation… eine Gruppe, die möglicherweise solche Vorfälle im Auftrag organisiert. Für Zeitungen oder Fernsehstationen, deren Reporter dann rein zufällig an Ort und Stelle sind. Es gibt da eine Menge Beispiele…« »Ich weiß, ich weiß!« unterbrach Roßberg. »Aber ist das nicht nur eine Vermutung?« Meister nickte. »Selbstverständlich! Es kann auch ganz anders gewesen sein. Das herauszufinden…« Also bin ich nicht nur derjenige, der den Fall aufzuklären hat, sinnierte Roßberg, sondern zugleich bin ich ein Angebot, ein Lockvogel, den man ihnen zusammen mit dem Kongreßmaterial serviert. Um ihnen Appetit zu machen.
Allerdings, räumte er in Gedanken gleich darauf ein, kann jemand, der um die Gefahr weiß, am ehesten Vorsorge treffen, ihr auszuweichen. Er spürte, daß ihn die ungewohnte Aufgabe zu reizen begann. Und viel leicht schmeichelte ihm auch ein wenig das Vertrauen, das Meister und seine Mitarbeiter in ihn setzten. »Einverstanden!« sagte er. »Ich übernehme die Aufgabe. Der Kongreß beginnt in einer Woche. Ich werde also…« »Sie müssen so schnell wie möglich fliegen, Professor.« Meister erhob sich gemächlich. Sein Gesicht hatte sich entspannt, und um seine hellen Augen spielte ein Lächeln. »Morgen werden Sie Bessow kennenlernen. Vielleicht sehen Sie nach einem persönlichen Gespräch schon bestimmte Spuren und Zusammenhänge, die uns Laien notwendi gerweise verborgen bleiben mußten.« Er kramte in der Jackentasche, brachte ein kleines Etui zum Vorschein und öffnete es. Vorsichtig, als handelte es sich um einen gefährlichen Sprengkörper, entnahm er der Schachtel einen zylindrischen Gegenstand von der Größe eines Pillenröhrchens. »Damit können wir eine zumindest einseitige Verbindung schaffen«, erklärte er. »Die Funktion ist einfach. Sie stecken diesen Transverter zwischen die Antennenzuleitung und die Antennenbuchse der TV-Anlage in Ihrem Hotelzimmer. Dadurch wird die Bildfrequenz so verändert, daß ich Ihnen eine Nachricht einspiegeln kann. Über den englischen Satelliten.« Er lachte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, man wird uns nicht auf die Schliche kommen. Die erste Sendung werde ich am Abend Ihres Ankunftstages gegen zwanzig Uhr absetzen. So… das wäre wohl alles.« Roßberg nickte. Das Ganze roch nach Konspiration. Aber selbst dieser Gedanke bereitete ihm kein Mißvergnügen mehr. Das Gespräch mit Bessow brachte ihn nicht voran. Bessow war ein mit telgroßer, untersetzt wirkender Mann mit einem Gesicht, dem man an sehen konnte, daß es häufig der Witterung ausgesetzt war. Der Trainer erschien auf den ersten Blick älter, als Roßberg ihn sich vorgestellt hatte. Um Augen und Mund lagen einzelne Falten, und sein Teint zeigte einen Stich ins Graue. In dem über der Stirn bereits erheblich gelichteten Haar schimmerten erste weiße Fäden.
Bessow sah beileibe nicht aus wie eine skandalumwitterte Persönlich keit, aber auch nicht wie ein Mensch, der unter Frustrationen zu leiden hatte. Das Gespräch verlief von Bessows Seite aus ziemlich einsilbig. Der Trainer betonte lediglich von Zeit zu Zeit, daß er außerstande sei, sich an irgend etwas Auffälliges zu erinnern. Zwischen seiner Flucht aus der Pressekonferenz und dem Erwachen in der Krone des Baumes am Pic cadilly hülle sich für ihn alles in undurchdringliches Dunkel. Roßberg glaubte zu erkennen, daß sich der Mann alle Mühe gab, we nigstens einige Eindrücke aus seinem Gedächtnis hervorzukramen, und daß ihn die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen bedrückte. Er war über zeugt, daß Bessow kein falsches Spiel trieb. Bessow war einfach nicht der Typ dazu. Auch die Antwort auf Roßbergs letzte Frage vermochte kein Licht in das Dunkel dieser mysteriösen Angelegenheit zu bringen. Bessow schloß die Möglichkeit, man könnte ihm eine Droge beigebracht haben, mit absoluter Sicherheit aus. Er habe sich seit seiner Ankunft in London nie von seinen Jungen getrennt, selbst das Essen hätten sie gemeinsam ein genommen, und er habe sich stets unter genauer Kontrolle gehabt. Le diglich für die Zeitspanne seiner Bewußtseinstrübung, oder was immer es gewesen sei, vermöge er natürlich keine Garantie zu übernehmen. Damit hatte sich der Kreis geschlossen. Und Roßberg sah sich den gleichen Fragen gegenüber wie zuvor. Meister begleitete ihn schweigend zur Tür, und Roßberg war dankbar, daß ihm keine Fragen gestellt wurden. Erst draußen, auf dem langen Korridor des Dienstgebäudes, begann Meister zu sprechen. »Sie werden schon morgen fliegen, Professor«, sagte er ruhig. »Und zwar über Paris.« Er zog einen Umschlag und ein regenbogenfarbenes TV-Chip aus der Brusttasche. »Dies sind Ihre Tickets, und hier ist der ›Le Figaro‹ von gestern. Sie sollten den Inhalt mit Aufmerksamkeit studieren, Professor. Es lohnt sich bestimmt.« Plötzlich griff er nach Roßbergs Arm. »Und lassen Sie sich einen Rat geben. Denken Sie daran, daß Ihre Arbeit dort drüben anderen Gesetzen unterworfen ist als Ihre Tätigkeit hier im La bor. Dort drüben können Gefahren auf Sie lauern, von denen wir noch
keine Vorstellung haben, und es wäre gut, wenn Sie sich das immer vor Augen halten würden.« Er saß bequem in seinen Sessel zurückgelehnt und rief die Meldungen des ›Le Figaro‹ ab, bemüht, ein Höchstmaß an Konzentration aufzubrin gen. Drüben, auf der anderen Seite des Tisches, hatte Carola einen Stapel von Heften ausgebreitet und korrigierte Aufsätze. Hin und wieder mur melte sie Unverständliches, lachte auf oder machte sich Notizen. An anderen Abenden pflegte sie den einen oder anderen Satz laut vorzule sen, heute aber gab sie sich Mühe, ihn nicht abzulenken. Die Untertitel, die er danach durchging, waren aufschlußreicher als die Überschriften. Und wesentlich sensationeller. »Kampf gegen die Sturmflut am zweiten Bauabschnitt des Bering dammes kostet erste Menschenleben«, las er. Und weiter: »Professor van Halste verteidigt seine Hypothese vom kollektiven Bewußtsein der In sektenschwärme« – »Präsident Lou ter Map beim Abendessen im Streit erschossen« – »UNO-Menschenrechtskommission beschließt Sanktionen gegen die Lobotomie. Protest des USA-Vertreters abgelehnt« – »Expedi tion Jupiter zwei abermals mit schnell beweglichen, autonomen Syste men konfrontiert. Bergander und Ursow verschollen« – »Zwischenfall im Hotel de Ville. Japanischer Diplomat belästigt Dolmetscherin und flieht anschließend auf einen Baum in der Rue du Temple« – »Charles Lacoste neuer Weltmeister in…« Es war, als wäre in Roßbergs Bewußtsein ein Tor aufgestoßen worden. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Noch einmal rief er den Untertitel ab. Wort für Wort, mit beinahe schmerzhafter Konzentration, las er: »Zwi schenfall im Hotel de Ville. Japanischer Diplomat belästigt Dolmetsche rin und flieht anschließend auf einen Baum in der Rue du Temple.« »Das sieht aus«, murmelte er, »als hätte man mir eine Last aufgeladen, die zu schwer für die Schultern eines einzelnen ist.« Carola blickte auf. »Hast du etwas gesagt, Holger?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, wehrte er ab. »Mir ist nur ein gefallen, daß wir noch die Koffer packen müssen.«
3
Er betrachtet sein Gesicht im Spiegel, angelegentlich, wie stets nach einer ausgedehnten Mittagsruhe. Die dunklen, schmalen Augen, die scharfrü ckige Nase, die hervorspringenden Wangenknochen, das lackschwarze, ein wenig widerspenstige Haar und die bräunliche Haut, das Gesicht eines Samurai. Er läßt den Blick tiefer wandern, die Schleife sitzt exakt, vier Finger breit unter dem Kinn, sauber geschlungen, nicht höher als drei Zentimeter und nicht breiter als eine Handspanne. Der Hemdkragen weiß wie der Schnee des Fuji und faltenlos, die Revers des Anzugs schwarze Dreiecke, der obere Knopf geöffnet, hinter dem Ausschnitt blüht das Jabot wie eine weiße Chrysantheme. Er kann mit seinem Aus sehen zufrieden sein, was er da trägt, das ist die Rüstung eines modernen Samurai, der täglich eine Schlacht zu Ehren seiner Heimat zu schlagen hat, täglich, stündlich, andauernd. Mit einer Handbewegung scheucht er den Bediensteten aus dem Salon, er hat sich noch immer nicht an die frechen Gesichter der Domestiken gewöhnen können, auch nicht daran, daß sie mit Verbeugungen sehr sparsam umgehen, daß sie die Arme nicht über der Brust kreuzen, wenn sie, was selten genug geschieht, den Kopf neigen, daß sie im Dienst zu trinken pflegen, daß sie beim Servieren den Teller am Rand berühren, anstatt ihn auf den flachen Händen zu tragen und daß sie ständig auf Trinkgelder zu lauern scheinen. Welch ein Land! Und dabei gilt dieses Frankreich als eine der am meisten mit Kultur ge segneten Regionen Westeuropas, als eine Nation, die nicht nur zu arbei ten, sondern auch zu leben versteht. Oh, Tamasuko-San, was ist Frank reich gegen das uralte Nippon, gegen den Nabel der Welt, seit die Götter den Menschen formten. Er wendet sich ab von den dunklen Augen, die ihn nachdenklich aus dem Spiegel heraus ansehen, und geht gemessenen Schrittes hinüber zum Schrein, auf dem matt das ewige Licht schimmert. Sorgsam faßt er die Bügelfalten seiner hellen Hose in Höhe der Knie und zieht sie eine
Spanne weit nach oben, dann läßt er sich vorsichtig auf das Kissen nie der und versinkt in Meditation. Wie stets gelingt ihm der Einstieg unverzüglich, jahrelanges Training zahlt sich eben aus, Wärme strömt in die entspannte Beinmuskulatur, die gekreuzten Arme scheinen binnen weniger Sekunden ihre Masse verlo ren zu haben, und sein Kopf ist leicht und frei wie ein weißer Lampion. Dann aber beginnt er einen leichten Druck in den Knien zu spüren, und er weiß, daß er nicht die Entspannung finden wird, derer er heute bedarf, um gewappnet zu sein. Es ist ekelhaft und entmutigend, der Druck wird sich mehr und mehr verstärken, wird sich schließlich zum Schmerz steigern, das Gewicht wird in die Arme zurückkehren und die Sorgen und Gedanken zurück in das Hirn. Welch ein Land! Wie soll er als Mensch von feinem diplomatischem Geschick in diesem Land zu Erfolg kommen, wenn ihm auf Schritt und Tritt nichts als Bru talität und Hinterlist begegnen? Beginnt das nicht schon mit der Art, sich zu begrüßen? Sind diese widerlichen Händedrücke nicht ausschließlich zu dem Zweck erfunden worden, in den anderen hineinzutauchen, seine Gedanken aufzuspüren und die eigenen über die Handflächen in das Gehirn des Kontrahenten zu projizieren? Vielleicht wird er sich eines Tages mit diesen archaischen Gewohnhei ten anfreunden können, sie zu nutzen, hat er fast ohne Mühe gelernt, aber um sie ohne Aversion zu akzeptieren, dazu bedarf es wohl einer langen Zeit der Anpassung und des Studiums, der Selbstüberwindung und vor allem der Selbstverleugnung. Er steht langsam auf. Es hat keinen Sinn mehr, auf die notwendige Tiefe der Versenkung zu hoffen. Die Nebengedanken lassen sich einfach nicht vertreiben, sie kreisen in widerlichen Zirkeln, einander ablösend und sich wiederholend wie die primitiven Bilder in einem Kaleidoskop. Er nimmt eine der Vitagenkapseln, die er aus London mitgebracht hat, und er lacht unfroh auf, während er sie schluckt. Dieses England ist noch schlimmer als Frankreich, ist ein einziges Gewirr von Widersprü chen. Presse und Funk wettern in allen Tonlagen gegen das angeblich räuberische Gebaren der japanischen Konzerne, und die Industrie reißt sich förmlich um die verhältnismäßig billigen und dabei hochprodukti
ven Linien des verhaßten Konkurrenten. Er hat denen dort drüben eine ganze Werkeinrichtung verkauft, ausgezeichnete japanische Wertarbeit, das Neueste vom Neuen. Und das Ende vom Lied? Sie haben ihm ein Werbegeschenk überreicht, zwölf Schachteln Vitagen, das auf ebendieser Linie produziert worden ist, in Pseudoholzschächtelchen verpackt, die mit rotem Samt ausgeschlagen sind. Geschmack ist nicht gerade ihre Stärke. Das Mittel selbst aber ist hervorragend. Er ist sicher, daß es ihm wäh rend der Fahrt zum Stadthaus gelingen wird, sich endlich zur Konzentra tion zu zwingen. Und das ist auch bitter notwendig, nicht umsonst hat ihm Kawamura-San genaueste Anweisungen zukommen lassen. Es gelingt wirklich ganz ausgezeichnet. Er sieht nicht die hastenden Menschen auf den Gehwegen, nicht die ihm entgegenziehende Autoka valkade und nicht die schnellen Fahrzeuge, die an ihm vorbeischießen wie blitzende Pfeile. Er verkriecht sich in sich selber, heftet die Augen auf den dunklen, unbeweglichen Rücken seines Fahrers, und er genießt das unvergleichliche Gefühl, wenn die Gedanken in sich selbst zurück kehren, wenn sie sich überlagern, sich gleichsam multiplizierend, jetzt füllt ihn die Harmonie kontemplativer Resonanz absolut aus. Und jetzt erst weiß er, daß er auch heute den vor ihm stehenden Aufgaben ge wachsen sein wird. Er erwacht aus seiner Übung, als ein Domestik die Tür aufreißt, als der kalte Wind des europäischen Nordens über seine Wangen streicht. Die Konzentration fließt aus ihm hinaus wie Öl aus einer umgekippten Shin toleuchte. Er schreitet langsam auf das breite Portal des Hotel de Ville zu, er ü bersieht absichtlich die ausgestreckte Hand des Monsieur Hennebont, und er übersieht die Blitzlichter der Fotografen, die diesen Affront auf Dutzenden von Bildern festhalten. Direkt unter dem Portal erwartet ihn die Dolmetscherin. Und nicht zum erstenmal gibt ihm ihre Erscheinung ein Rätsel auf. Sie ist mittel groß und trägt das mattbraune Haar im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengefaßt. Ihre Statur ist weder als schlank noch als füllig zu bezeichnen. Über einem knabenhaft schmalen Becken und einem flachen Leib wölbt sich eine Büste von fraulicher Fülle. Allein dieser
Gegensatz reicht aus, einen Mann zu verwirren, zumal man sich des Eindruckes nicht erwehren kann, daß sie ihn absichtlich zu fördern sucht. Das eigentliche Rätsel liegt jedoch im Kontrast zwischen ihrer hoheitsvollen Haltung und ihrer nahezu dirnenhaften Aufmachung. Sie hält sich sehr gerade, pflegt den schönen Kopf im Nacken zu tragen, als sei der Knoten zu schwer für ihren schlanken Hals, sie bewegt sich ge messen und mit damenhaften Gesten, aber sie trägt meist einen überaus engen Rock, der das Spiel ihrer Schenkel offenbart, und häufig Blusen, die so durchsichtig sind, daß sie ihre Brüste auch nicht annähernd zu verhüllen vermögen. Auch jetzt, da sie ihn mit einem anmutigen Neigen des Kopfes be grüßt, dämmern ihm im Weiß ihres Mieders kleine, runde Schatten ent gegen, wie wachsame Augen hinter einem orientalischen Schleier, das, was man in Japan als Sterne der Liebe zu bezeichnen pflegt. Wie stets in solchen Situationen wendet er sich schnell zum Gehen. Sie aber bleibt an seiner Seite, hin und wieder streift ihn ihr nackter Arm, ihr Duft umhüllt ihn wie eine Wolke aus feiner Seide, und allein der Gedan ke an die bräunlichen Schatten zieht seinen Blick immer wieder mit ma gischer Gewalt herab. Sie sitzen um einen großen, runden Tisch, dessen Mitte die Tricolore und das weiße Banner mit der aufgehenden Sonne ziert. Seit Minuten interessiert ihn das Gespräch nicht mehr. Er hat alles gesagt, was zu sa gen war, und er hat nicht die Absicht, sich zu solch langen Tiraden hin reißen zu lassen, wie sie Hennebont zu lieben scheint. Dieser eigenartige Vertreter der Union industrielle, ein langer, klapperdürrer Mann mit vor stehenden Zähnen, redet seit mehr als einer halben Stunde ununterbro chen, und er sagt auch jetzt nichts anderes als bei seiner Eröffnungsan sprache vor zwei Stunden. Die braunfleckigen Hände schwer auf die Tischplatte gestützt, beklagt er sich in weitschweifigen Erörterungen über die, wie er es nennt, unüblichen Praktiken des KawamuraKonzerns, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu be kämpfen gedenke. Dabei hat Kawamura-San lediglich einen durchaus üblichen Trick angewandt. Aber eben auf Samuraiart, mit Eleganz und Engagement, ohne ausschließlich das eigene Wohl im Auge zu haben.
Die Teilhaber werden Kawamura-San dafür hochleben lassen. Das ist absolut sicher. Es war um irgendwelche Industrieroboter gegangen, um Geräte, die vor allem unter dem Bedingungskomplex der Schwerelosigkeit zum Ein satz kommen sollen. Alle Welt beschäftigt sich zur Zeit mit Technolo gien, deren Voraussetzungen in verminderter oder gar ganz fehlender Gravitation bestehen. Es handelt sich dabei wohl um einen allgemeinen Trend. Obwohl ihm selber dieser Drang, sich weiter und weiter von irdi scher Schwere zu lösen, fremd, ja unheimlich ist, findet er die Angele genheit interessant. Aber nicht so interessant, daß er sich um technische Einzelheiten bemüht hätte. Technik und Technologie liegen ihm nicht sonderlich, sie sind dem kulturvollen Sein eines verinnerlichten Men schen seiner Mentalität wohl allzu fern. Über die kommerziellen Umstände hat man ihn allerdings genau in Kenntnis gesetzt. Kawamura-San geht in solchen Fällen keinerlei Risiko ein. Er pflegt seine Leute umfassend zu informieren. Und angesichts Hennebonts boshafter Ausfälle erweisen sich diese Informationen als unbedingt notwendig. Der Kawamura-Konzern hat vor Jahresfrist beschlossen, diese seltsa men Roboter zu fertigen, weil sie ausgezeichnet in das Produktionspro gramm passen. Eine eingehende Marktanalyse ergab jedoch, daß die Ab satzbereiche innerhalb der westlichen Industrienationen nahezu vollstän dig durch die französische Union industrielle beherrscht wurden. Und Kawamura-San hatte einen grandiosen Einfall. Er kaufte die komplette Jahresproduktion eines der Ostblockländer auf und warf die Roboter zu Schleuderpreisen auf den Markt. Innerhalb von nur vier Monaten sah sich die Union industrielle gezwungen, die Segel zu streichen. Die ins Bodenlose gesunkenen Preise vermochten nicht einmal mehr die Selbst kosten zu decken. Die Union mußte sich entschließen, ihre Anlagen auf eine andere Produktion umzustellen. Um die Verluste in wenigstens eini germaßen vertretbaren Grenzen zu halten, programmierten sie ihre Au tomatenstraßen neu und warfen sich auf die Fertigung von Datenverar beitungsanlagen, eine Umstellung, die bei solch modernen Technologien mit enormen Kosten verbunden ist.
Kawamura-San aber setzte die letzten der gekauften Roboter ab und stieß dann mit den eigenen Produkten in die entstehende Marktlücke. Zu normalen Preisen selbstverständlich. Jetzt beherrscht der KawamuraKonzern den Markt und kann die Preise diktieren. Es war ein ausge zeichneter Trick, eines Samurai der alten Schule würdig. Hennebonts Verdruß ist also begreiflich. Es ist der Zorn des Geprell ten, aber wenn man auf der Seite des Siegers steht, dann kann man sich schon ein herablassendes Lächeln leisten. Und wenn das bezaubernde Wesen, das da neben einem sitzt, dieses Lächeln auf sich bezieht, dann hat man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. »Die Union industrielle wird entsprechende Schritte einleiten«, tönt Hennebont, ohne sich allerdings über die Art dieser Schritte näher zu äußern. »Sie wird sich diesem Korsarenstreich nicht widerstandslos beu gen. Ich habe den Auftrag, hier zu erklären…« Und Mademoiselle Laurentine übersetzt getreulich jedes Wort, obwohl sie genau weiß, daß er des Französischen genügend mächtig ist, um jeden Satz zu verstehen. Ihre Stimme ist dunkel und schmeichelnd. Hin und wieder neigt sie sich so nahe an sein Ohr, daß er ihren warmen Atem spürt und die sam tene Weiche ihrer Haut zu fühlen glaubt. Er schließt die Augen und stellt sich vor, daß eine winzige Bewegung genügen würde, um mit der Wange ihre Lippen zu berühren. Der Gedanke läßt ihn nicht wieder los. Er öffnet die Augen und ge nießt den Anblick ihres tiefen Ausschnittes und der sich langsam heben den und senkenden Brüste unter dem dünnen Gewebe der Bluse, und er genießt ihre warme Stimme, den süßlich herben Duft… Wie eine heiße Welle streift ihn ihr Hauch, er erschauert. Und dieser langarmige Hampelmann da drüben schwafelt noch immer von Industrierobotern und Datenaufbereitungsanlagen. Hat dieser Hen nebont denn keine Augen im Kopf? Und die anderen hier am Tisch? Sehen sie wirklich nicht, daß es Besseres gibt als ihre vertrackten techni schen Anlagen? Oder wollen sie es vielleicht nicht sehen? Er läßt seinen Blick über die Gesichter um ihn her wandern, langsam und mit so viel Aufmerksamkeit, wie er aufzubringen vermag. Und was er sieht, das ist wohl geeignet, seinen Zorn zu erregen. Sie starren alle auf
Laurentine, alle. Nicht einer hört noch auf Hennebonts Tiraden, es gibt nur noch eines an diesem Tisch: Laurentine! Ihr Anblick hat sie alle ge fangengenommen, der matte Schimmer ihrer Haut, ihr Gesicht, ihre Brüste. Und plötzlich erweist sich Hennebonts Geschwafel als Tarnung, als nichtswürdiger Trick. Denn auch Hennebont hält den Kopf vorgestreckt und starrt auf das Mädchen mit hervorquellenden Augen, fährt sich mit der Zunge hin und wieder über die dicken Lippen und fletscht lüstern die Zähne. Es ist ein höchst ekelerregender Anblick. Und Laurentine scheint nicht zu bemerken, daß die Blicke der Männer an diesem Tisch sie entkleiden. Sie sitzt neben ihm, kaum merklich an seine Schulter gelehnt und flüstert ihm Worte ins Ohr, die er längst nicht mehr versteht. Da ist nur noch ihr warmer, schmeichelnder Atem und das Gurren ihrer Stimme. Und da sind die lüsternen Augen der anderen, die über Laurentine hingleiten wie tastende Finger. Hennebont setzt sich endlich, sinkt erschöpft in seinen Sessel. Seine Hände liegen vor ihm auf dem Tisch, man sieht deutlich, daß sie zittern. Sie zucken hin und her, jeden Augenblick können sie herüberfliegen und sich auf Laurentine stürzen wie wilde Tiere, diese entsetzlichen, braun fleckigen Hände, diese Pranken, die sich zusammenkrallen im Vorge fühl… Und Tamasuko-San, der Mann, der seine Herkunft von dem uralten, edlen Geschlecht der Samurai ableiten darf, dessen Ahnen mit Stock und Schwert gegen Diebe und Räuber gefochten haben, dessen Väter sich als Beschützer der Witwen und Waisen bezeichnen durften, dieser Tamasu ko-San springt plötzlich auf, wie von einer Schlange gebissen, reißt dem neben ihm stehenden, verdutzten Garcon die Schüssel mit Salade nicoise aus den Händen und beginnt mit hektischer Geschäftigkeit, seiner Dol metscherin frische, feuchte Salatblätter in das Dekollete zu stopfen. »Diese Tiere sollen das nicht sehen, Laurentine!« schreit er. »Sie sollen sich nicht an deinen Sternen weiden. Eher mögen ihnen die Augen ver dorren. Verdorren, sage ich!« Er sieht, wie die Feuchtigkeit durch den dünnen Stoff ihrer Bluse si ckert, sieht, wie das satte Grün der Blätter die runden Schatten endlich verbirgt, und er weiß, daß er getan hat, was er tun mußte.
Mit mächtigem Ruck reißt er das Mädchen in seine Arme, hebt es mü helos vom Boden und stürzt mit seiner Last aus dem Saal. Laurentines Schreie sind wie Musik in seinen Ohren, und ihre Schläge bereiten ihm Vergnügen. Und je heftiger sie auf ihn einschlägt, um so fester preßt er sie an sich. Er spürt den warmen Körper Laurentines, atmet ihren Duft mit flatternden Nüstern, und er ist hingerissen von der Kraft, mit der sie ihn reizt. Endlich gehört Laurentine ihm, nur ihm, dem Samurai Tama suko-San. Ein dumpfer, schnell anschwellender Schmerz bringt ihn zu sich. Er fühlt das feuchte Gestein einer Wand in seinem Rücken, den Kot der Straße an seinen Händen und einen harten Druck in den Knien. Aus verschleierten Augen sieht er die helle Gestalt des Mädchens am Ende der Straße in die Finsternis tauchen. Er hockt im Rinnstein, der Schmerz flutet in heißen Wellen durch sei nen Körper. Verzweifelt preßt er die Hände gegen den Unterleib und erbricht sich. Sie haben zugeschlagen, grausam und mit dem untrüglichen Instinkt wilder Tiere. Sie stehen um ihn her wie eine undurchdringliche Mauer, wie eine Wand aus dunklen Anzügen und ausdruckslosen Gesichtern. Im nächsten Augenblick werden sie sich auf ihn werfen, um ihn vollends zu vernichten. Ihm bleibt keine Chance. Oder doch? Eine winzige vielleicht. Eine uralte. Eine, die schon seinen Urvätern das Leben gerettet hat, als sie noch die dichten Vorzeitwälder seiner Heimat durchstreiften. Er lauscht in sich hinein. Der Schmerz kommt und geht, flutet in ihm aufwärts bis zum Magen und weicht wieder zurück. Langsam hebt er den Blick. Er liegt noch immer auf den Knien, und er hält noch immer die Hände auf den Leib gepreßt. Aber durch den Schleier vor seinen Augen sieht er bereits die dunkel ragenden Schatten der Bäume über sich. Der Bäume, die seine Rettung sein könnten. Er wartet geduldig, bis der Schmerz abermals vergeht. Dann erst löst er mit einer Willensanstrengung, die ihn ungeheuerlich dünkt, seine Hände, kommt taumelnd auf die Füße, streckt die Arme aus und krampft die Finger um den untersten Ast des ihm am nächsten stehenden Baumes. Das alles geht wider Erwarten leicht. Fast ohne Mühe schwingt er sich in
das Gewirr der Blätter. Und trotz der Schmerzen im Unterleib über kommt ihn ein Gefühl des Triumphes.
4
Da gab es also einen japanischen Diplomaten, der nach Aussage des Reporters einen plötzlichen geistigen Verfall erlitten haben mußte. Ein Mann, der bis dahin völlig unbescholten war, der sogar als ein Vertreter der alten Schule galt, der an Traditionen klebte, ein geradezu eifernder Anhänger kultivierten Verhaltens, ein Mann, der eher Harakiri begehen als sich betrinken würde, sollte aus unerfindlichen Gründen in ein mora lisches Vakuum gestürzt worden sein, das ihn auf eine Stufe mit irgend einem sexuell stimulierten Tier hinabsinken ließ? Dieser Ritter, wenn schon nicht ohne Furcht, so doch sicherlich ohne Tadel, sollte… Unmöglich! Auch nicht infolge eines geistigen Defektes hätte etwas Derartiges geschehen können. Roßberg war ganz sicher, daß ihn sein Gefühl nicht trog. Es gab Parallelen. Dort in Paris gab es Parallelen zu den Ereignissen in London. Dies war ein Fall mehr. Ein Fall, der ihn der Lösung näherbringen könnte. Vielleicht erwiesen sich die Umstände als günstig. Vielleicht fand er in Paris das äußerste Ende des Fadens, der ihn schließlich nach Lon don und damit auf die Spuren der geheimnisvollen Organisation führen würde, an deren Vorhandensein er jetzt kaum noch zweifelte. Langsam, als stecke er bis an den Hals in einem zähen Brei, erhob er sich, nahm die kleine Kassette mit spitzen Fingern und ging hinaus in die Diele. Carola schob eben einen dickbäuchigen Koffer in den Postlift. Hinter Holger Roßberg war das Tosen einer geschäftigen Menschen menge, das Rauschen eines ungewöhnlichen, pulsierenden Kataraktes. Das Kommen und Gehen der Fluggäste erinnerte ihn an die Bewegun gen der Gezeiten. Die Welle der Menschen flutete jeweils nach der Lan dung einer Maschine schnell anschwellend von den Röntgenportalen zu den Ausgängen und kurz vor dem Start ebenso heftig in die andere Rich tung. In den Pausen dazwischen lag die weite Halle in beinahe atemloser Stille.
Er aber stand, den Kopf im Inneren einer der halbkugeligen Komzel len, und versuchte, wenigstens die Andeutung einer Spur derer zu entde cken, die sich solch ungewöhnlicher, krimineller Praktiken bedienten. Am anderen Ende der Leitung war die hohe, schwingende Stimme ei ner wahrscheinlich sehr jungen Frau. Die Botschaftssekretärin war ver ständlicherweise ziemlich zurückhaltend. »Verstehen Sie bitte, Monsieur«, sagte sie in beinahe akzentfreiem Deutsch, »daß ich Ihnen am Kom keine Auskunft geben kann. Es muß Ihnen genügen, wenn ich Ihnen versichere, daß uns diese Angelegenheit sehr unangenehm ist.« Roßberg hörte ihren Atem. Einen Augenblick lang fürchtete er, sie könnte auflegen, aber sie schien verwirrt und unschlüssig. Vielleicht hielt sie ihn für den Vertreter irgendeines Presseorganes und wollte nicht noch mehr Zündstoff legen. Sie blieb am Apparat. »Darum geht es nicht«, versuchte er eine Erklärung. »Ich glaube Ihnen gern, daß Sie sich Sorgen machen. Was ich aber von Ihnen zu erhalten hoffe, das sind Informationen über den Fall an sich, über Hintergründe und…« »Aber ich sagte Ihnen bereits…« »Ich habe nicht die Absicht, diese Informationen zu veröffentlichen.« Er glaubte sie aufatmen zu hören. Vielleicht hatte er jetzt den entschei denden Fehler gemacht. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Damo klesschwert der Presse auch weiterhin über ihrem Haupt schweben zu lassen. Schnell fuhr er fort: »Sehen Sie, Madame. Mir ist da ein ganz ähn licher Fall bekannt geworden. Und ich habe den Auftrag, oder besser gesagt, die Absicht…« »Sie sind Detektiv, Monsieur?« Ihre Stimme hatte an Fülle gewonnen. Er lachte leise. »Aber nein, Madame. Ich bin Biologe. Und ich vermute, daß es bei diesen… diesen Ausrutschern nicht mit rechten Dingen zuge gangen ist. Verstehen Sie? Ich vermute Hintermänner…« »In wessen Auftrag arbeiten Sie?« Nun glaubte er sogar eine gewisse Schärfe aus ihrer Stimme heraushören zu können. Er wußte, daß er sich festgefahren hatte. Und er ahnte, daß sie ihm keine Auskunft geben wür de. Trotzdem unternahm er einen letzten Versuch. »Das ist doch nicht
wichtig, Madame. Nehmen Sie an, daß ich auf eigene Faust untersuche, aus Interesse an der Sache. Ich bitte Sie um nicht mehr als um die Ver mittlung eines Gesprächs mit Monsieur Tamasuko. Was können Sie da gegen einzuwenden haben?« »Nichts!« sagte sie ungerührt. »Aber ich kann Ihnen wirklich nicht hel fen. Tamasuko-San befindet sich auf dem Weg nach Hause. Er dürfte in diesen Minuten in Tokyo angekommen sein und sich auf seine Berichter stattung vorbereiten. Kann ich Ihnen sonst noch eine Auskunft geben, Monsieur?« Sie konnte also sogar schnippisch sein. Und wie überlegen ihre Stimme plötzlich klang. »Aber ja, Madame«, sagte er schnell. »Sie sind wirklich sehr entgegen kommend, vielleicht könnten Sie mir verraten, auf welche Weise ich mit Mademoiselle Laurentine Kontakt aufnehmen kann. Vielleicht könnte ich durch sie…« »Tut mir wirklich leid, Monsieur. Die Dolmetscherin wurde nicht durch die Botschaft verpflichtet. Die Vermittlung erfolgte durch den Verhandlungspartner.« Die Stimme am anderen Ende war jetzt eiskalt, und Roßberg begriff, daß er hier keinen Schritt vorankommen würde. Es war, als habe man ihm eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Und er sah keinen Ausweg. Zumindest auf Anhieb nicht. Dann aber ging er seine Möglichkeiten abermals durch. Die japanische Botschaft hatte ihn abfahren lassen. Auch ein persönlicher Besuch würde sicherlich nichts anderes erbringen. Sie hatten sich abgesichert. Tamasu ko war außer Landes, basta, abberufen wegen schädigenden Verhaltens, aus dem Verkehr gezogen, Harakiri, Schluß! Und Hennebont? Roßberg spürte deutlich Unbehagen. Hennebont war als Informationsvermittler sicherlich vollkommen ungeeignet. Abermals eine geschlossene Tür. Vielleicht doch die Dolmetscherin? Roßberg schob den Chip in den Abtaster und las den Artikel ein zwei tes Mal. Und wieder spürte er Abscheu. Nicht so intensiv wie bei der
ersten Lektüre, dafür aber deutlicher. Nur, den vollen Namen der Dol metscherin fand er auch diesmal nirgends. Man nannte sie lediglich Lau rentine F. Es war heiß geworden im Inneren der Box. Das Hemd klebte ihm am Leib, und die ersten Schweißperlen rannen ihm über die Wangen wie Tränen. Er ließ sich einen Becher kalter Limonade geben und trank ihn in einem Zug aus, aber der Schweiß lief danach nur noch heftiger. Als er das Handgelenk in die Sensormulde legte, spuckte der Apparat eine grü ne Pille aus, und tatsächlich verging die Hitzewelle in Roßbergs Innerem, nachdem er sie geschluckt und hinuntergespült hatte. Dann rief er das Komverzeichnis von Paris ab, und als die langen Rei hen von Namen über den Schirm liefen, kam er sich vor wie jemand, der sich anschickte, das Meer auszutrinken. Natürlich erwies es sich als unmöglich, eine Laurentine F. anhand dieses Verzeichnisses zu ermitteln. Man konnte nicht zwei Millionen Namen und Adressen studieren und aus möglicherweise mehreren Dutzend An schlüssen die einzige Laurentine F. herausfragen, die seine Laurentine war. Es wäre eine Arbeit von Wochen gewesen. Doch jetzt dachte er nicht mehr daran, aufzugeben. Er würde es bei den Übersetzungsbüros versuchen und in Betrieben. Irgendwo mußte diese Laurentine F. und ihre Anschrift bekannt sein. Auch wenn sie sich als freie Dolmetscherin betätigen sollte. Niemand lebte im luftleeren Raum. Rund eine Stunde später tauchte der erste Hoffnungsschimmer auf. Und den hatte er auch bitter nötig. Selbst wenn er von der Tatsache absah, daß in Paris offensichtlich niemand die Kamera seiner Komwand einzu schalten pflegte und der kleine Bildschirm in der Box demzufolge stän dig leer blieb, war das Ergebnis seiner Bemühungen noch immer enttäu schend genug. Natürlich war der Name Laurentine F. in den meisten Büros bekannt. Aber nicht, weil sie dort arbeitete oder gearbeitet hatte, sondern einfach, weil man Zeitung gelesen hatte. Doch niemand war bereit gewesen, ihm zu helfen. Im Gegenteil. Man hatte ihn wie den letz ten Dreck behandelt, hatte entweder unverzüglich ausgeschaltet, noch
bevor er richtig zu Wort gekommen war, oder ihn gar nach allen Regeln der Kunst beschimpft. Und wenn sich eine Französin am Kom so richtig Luft machte… Auch diesmal hatte es nicht anders begonnen. Kaum hatte er den ma gischen Namen genannt, als ihm ein aus tiefster Seele kommendes »Oh, merde!« entgegengeklungen war. »Schon wieder so ein verdammter Re porter! Weshalb laßt ihr das Mädchen nicht endlich in Ruhe? Ihr Unge heuer, ihr…« »Hören Sie, Madame! Ich bin kein…« »Habt ihr denn überhaupt kein Gefühl, ihr Kretins? Begreift ihr nicht, daß ein Mensch etwas anderes sein kann als das Objekt eurer Schmiere reien? Was seid ihr nur für…« »Aber Madame! Ich bin kein Reporter. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!« Einen Moment lang war Schweigen, dann kam die Stimme wieder: »Und wozu wollen Sie Laurentine sprechen? Ausgerechnet jetzt?« Das klang schon viel besser. Eine Frage verlangte immerhin nach einer Antwort. Frage und Antwort aber waren der Beginn eines Gespräches. Und nichts brauchte er jetzt nötiger. »Wieso ist meine Frage heute ungewöhnlicher als gestern, Madame?« Er hörte, wie sie die Luft ausstieß. »Kommen Sie zufällig vom Mond, Monsieur? Lesen Sie denn keine Zeitungen? Diese Schmierfetzen sind doch voll von dem Überfall auf Laurentine.« Er entschloß sich, wenigstens zum Teil bei der Wahrheit zu bleiben. »Natürlich habe ich es gelesen, Madame. Und ich gebe auch zu, daß mein Anruf damit zusammenhängt. Aber mir geht es nicht um eine Sen sation. Sehen Sie, Madame! Das ist kein Einzelfall. Es kann heute oder morgen…« »Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher, Monsieur! Als Frau kann man sich kaum noch auf die Straße wagen. Eine Zeit ist das, eine Zeit! Weshalb legt man solchen Strolchen nicht das Handwerk? Können Sie mir sagen, Monsieur, weshalb solche Lumpen frei herumlaufen dür fen? Diesen Schweinen sollte man doch glatt…«
Sie atmete schwer. Wahrscheinlich malte sie sich aus, wie man den Unhold ihrem Vorschlag entsprechend behandelte. »Dazu müßte man ihn haben, Madame.« »Das ist wahr«, gab sie zu. »Und sie wollen ihn fangen, diesen asiati schen Lumpen?« Aus ihren Worten klang törichter Haß. Wie eine Fliege klebte sie auf dem Leim derer, die sie noch eben mit den ausgesuchtesten Schimpfwör tern belegt hatte. Obwohl sie Reporter nicht mochte, hegte sie an der Wahrheit ihrer schriftlichen Darlegungen nicht den geringsten Zweifel. Was man schwarz auf weiß besaß… »Genau das will ich.« Sie schien zu überlegen. Er hörte wieder ihr Atmen, und unwillkürlich entfernte er sein Ohr ein wenig vom Tonträger. »Moment, Monsieur!« Er vernahm das Rascheln von Papier. »Hören Sie?« »Aber ja, Madame! Können Sie mir wirklich helfen?« »Notieren Sie. Laurentine Faidherbe, Place Bleue drei, Paris neun Kom fünfhundertdreiundzwanzig zwölf zwölf. Haben Sie, Monsieur?« »Vielen Dank, Madame! Ich bin Ihnen sehr verbunden.« »Hören Sie, Monsieur«, rief sie. »Wenn Sie doch einer von denen sein sollten, die ihr Geld mit dem Kummer anderer Leute verdienen, dann hoffe ich, Ihnen möge es nicht anders ergehen, als es diesem Japaner irgendwann ergehen wird.« »Aber Madame!« Eigentlich hätte er ihr jetzt sagen können, daß sie möglicherweise auf den Falschen fluchte, daß ihr Zorn gegen diesen Ausländer ganz andere Ursachen hatte, daß sie einfach unfähig war, sachlich richtig zu urteilen. Er tat es nicht. Er wußte, daß es keinen Sinn gehabt hätte. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er statt dessen. »Ich will lediglich aufklären. Ich will mit dafür Sorge tragen, daß sich solche Fälle nicht wiederholen.«
Er spürte selbst, daß seine Worte alles andere als überzeugend klangen, aber die Frau am anderen Ende schien ihm zu glauben. Vielleicht wollte sie ihm glauben. »Ich wünsche Ihnen Erfolg, Monsieur«, sagte sie. »Und noch ein Tip für die Zukunft. Sie wären viel schneller an Laurentines Adresse ge kommen, wenn Sie sich an die Gewerkschaft der Übersetzer gewandt hätten. Au revoir, Monsieur.« Eine seltsame Unruhe hatte von Roßberg Besitz ergriffen, ein ihm bis dahin unbekannter Drang, seine Aufgabe unverzüglich anzupacken, ein zugreifen in diese ungewöhnlichen Ereignisse, ein Drang, am besten vielleicht noch dem Jagdfieber vergleichbar. Er war zunächst keineswegs überrascht, als er draußen, vor dem Flug hafengebäude, eine lange Schlange der kleinen, elektrisch betriebenen Stadttransporter stehen sah. In Paris herrschte selten Mangel an Taxen. Dann aber stutzte er. Etwas stimmte nicht. Die meisten Fahrer standen an die Wagen gelehnt und rauchten oder kauten auf ihren Vitabakstäb chen herum. Andere hatten sich zu Gruppen zusammengefunden und schoben andachtsvoll bunte Jetons auf Plastschalen hin und her. Nirgends sah er einen ankommenden oder abfahrenden Transporter, statt dessen aber gestikulierende Reisende und das Schulterzucken der Fahrer, das entschuldigende Grinsen, wenn sie den Zorn der Reisenden über sich ergehen ließen, und die erregten Gesten, wenn sie ihnen schließlich den Rücken kehrten, weil sie sich ihrer offensichtlich nicht anders zu erwehren vermochten. Trotzdem ging er auf den ihm am nächsten parkenden Wagen zu. Der Fahrer blickte ihn an, eine Vitarette hing ihm schief im Mundwinkel, hin und wieder kniff der Mann vor dem beißenden Rauch ein Auge zu. Es sah aus, als blinzelte er in geheimem Einverständnis. »Bonjour, Monsieur«, sagte Roßberg. Der Fahrer nickte schweigend. Er war gut einen Kopf kleiner als Roß berg. Unter seiner flachen Mütze lugte graues, strähniges Haar hervor. Die Vitarette wippte auf und nieder. Der Mann trug ein schmuddliges
Hemd von ehemals grüner Farbe und verwaschene Hosen. Um den Hals hatte er ein schmutzigrotes Tuch geknotet. »Place Bleue, s'il vous plaît, Monsieur«, sagte Roßberg ohne viel Hoff nung. Der Mann wandte sich schweigend ab und spuckte den Vitarettenrest in den Rinnstein, kunstgerecht unmittelbar vor das Hinterrad seines Wa gens. »Aber ich muß schnellstens zum Place Bleue«, erklärte Roßberg. »Be greifen Sie doch! Es ist wichtig.« Der Fahrer hob langsam die Schultern und blickte an Roßberg vorbei. »J'en suis fâché, tut mir leid, Monsieur!« »Aber weshalb fahren Sie nicht? Weshalb fährt denn hier keiner?« Roßberg spürte, daß Ärger in ihm aufstieg, er spürte aber auch, daß es keinen Sinn hatte, sich zu erregen. Der Mann würde nicht fahren. Nie mand würde ihn fahren. Vorn, vor der langen Reihe der Wagen, stand ein großes Schild mit der Aufschrift ›Greve‹, Streik. Der Fahrer lächelte und zupfte an seinem schmutzigroten Halstuch. Eine halbe Stunde später hatte Roßberg einen Wagen, einen Riesen schlitten mit heulendem Verbrennungsmotor. Er jagte das Fahrzeug vom Parkplatz, die Gänge schalteten sich mit schnalzenden Geräuschen. Erst als er Minuten später auf die Autoroute Süd einbog, war der Ärger verraucht, und er ließ sich inmitten des Fahrzeugstromes treiben. Bis zum Innenstadtring, den die Schnellstraße in Höhe des Place Gambetta tangierte, benötigte er nicht weniger als eine halbe Stunde. Dann tauchte weit vor ihm, tief unten im Dunst der Stadt verschwimmend, Notre Dame auf. Er hatte das Zentrum vor sich. Paris lebte in konzentrischen Ringen. Das alte Centre Ville, zu einer letzten hektischen Blüte hochgepeitscht vom Heroin der Nostalgie, bil dete noch immer den Mittelpunkt der Metropole Frankreichs, aber das weiter draußen liegende Einzugsgebiet, ehemals Nährmutter des Zent rums, war längst zu einem gespenstischen Zirkel ausgestorbener Gassen und Plätze geworden. Vor Zeiten klangvolle Namen verbreiteten jetzt nur noch einen Hauch von Moder. Montrouge, Boulogne sur Seine, St. Cloud, St. Quen, Aubervilliers und Vincennes waren längst Opfer der Flucht in die Peripherie geworden, in den Außenring, der seine Verbin
dungsstraßen wie die Speichenfäden eines gigantischen Spinnennetzes über den alten Kern hinwegspannte, Leben und Historie der Stadt lang sam erdrosselnd. Hinter Notre Dame bog er rechts ab, er sah den Eiffelturm aus dem Dunst tauchen und ließ den Wagen eine Rampe hinunterrollen, als stürz te er sich aus der Beschaulichkeit eines Sommernachmittags in die brau senden Wellen des Meeres. Der Verkehr im Zentrum war so dicht, daß er nur noch im Schrittempo vorankam. Das Haus am Place Bleue war ein altes Haus. Ein mächtiger Eckbau zwischen der Rue La Fayette und der Rue de Trevise, eine jener Bauten, wie sie am Anfang des vorigen Jahrhunderts als modern gegolten hatten. Die Fassade war gegen den Place Bleue gerichtet wie der gewaltige Bug eines überdimensionalen Schiffes aus altersgrauem Beton. Um die Wöl bung schwangen sich schmale Balkone wie Tauwerk. Die Stockwerke zählen zu wollen wäre verlorene Mühe gewesen, das Haus kannte keine einheitliche Etagenfläche, die Korridore schienen in der Höhe gegenein ander versetzt zu sein, sie schienen sich zu überlagern und zu durchdrin gen, vielleicht war das Haus aufgrund der progressiven Idee eines Archi tekten entstanden, es war eigentlich ein Stapel durcheinandergewürfelter Maisonettewohnungen, heute längst überholt durch Erkenntnisse, die klare Gliederung und Überschaubarkeit forderten. Das Haus am Place Bleue aber stand noch immer, modernen Erkenntnissen zum Trotz, und es war offensichtlich bewohnt bis ins letzte Appartement, vielleicht gera de dieser neuen Erkenntnisse wegen. Holger Roßberg hob den Kopf in den Nacken, er stand mitten auf dem Platz, auf einer kleinen Verkehrsinsel, und um ihn herum flutete der irrsinnige Autobetrieb des alten Centre Ville. Oben, auf einem der ge schwungenen Balkone stand eine dunkel gekleidete Gestalt und spähte herunter auf den Trubel der Straßen. Vorhin am Kom hatte sie sich bereit erklärt, ihn zu empfangen, aber auch sie hatte die Kamera nicht eingeschaltet. Er spurtete im Zickzack durch den Autostrom, irgendwo quäkte eine Hupe, gellte der Pfiff eines Cops, dann hatte er den Gehweg erreicht, er
stand unmittelbar unter dem Bug des Riesenschiffes, das, aus der Nähe betrachtet, einem verwitterten, uralten Felsendom glich. Es gab sogar einen Lift, einen vergitterten Fahrkorb, der hinter ge schmiedeten Ranken und kunstgerecht getriebenen Putten innerhalb der zentralen Wendeltreppe nach oben glitt, manchmal ruckend, mit schep pernden Geräuschen, dann wieder mit der beruhigenden Sicherheit ar chaischer Technik. Als er endlich Mademoiselle Laurentine gegenüberstand, war er doch ein wenig verwundert. Beim Lesen des Artikels hatte er sich ein Bild aufge baut, das Bild eines zierlichen, schönen Mädchens, das vielleicht etwas linkisch war, auf alle Fälle aber sehr verführerisch. Die Frau in der Tür entsprach diesem Bild kaum. Sie mochte linkisch sein, möglich, aber zierlich und schön war sie nicht, und verführerisch überhaupt nicht. Obwohl man sie beileibe nicht als häßlich hätte be zeichnen können. Sie wirkte lediglich unauffällig, so unauffällig, daß sich Roßberg wohl kaum nach ihr umgeblickt hätte, wäre er ihr auf der Straße begegnet. Sie trug das Haar streng gescheitelt und zu einem tief sitzenden Kno ten gerafft. Die unvorteilhafte Frisur ließ ihr Gesicht lang und die Stirn schmal und hoch erscheinen, ein Eindruck, den die gerade, scharfrückige Nase noch unterstrich. Daran vermochte auch die Brille mit den großen, runden Gläsern nichts aufzubessern. Nein, Mademoiselle Laurentine war keine Frau, für die man sich in der Öffentlichkeit bloßstellen würde. Schlank war sie allerdings, zu schlank für seinen Geschmack. Und das enganliegende, schwarze Haustrikot verfehlte seine Wirkung vollkom men. Die Art, wie sie es trug, wirkte eher gouvernantenhaft als reizend. Das alles ließ Laurentine in gewisser Weise unnahbar und verschlossen erscheinen. Einem plötzlichen Einfall folgend, beugte er sich über ihre Hand und küßte sie vorsichtig, die Fingerspitzen kaum mit den Lippen berührend. Ein kurzer Blick beim Aufrichten ließ ihn erkennen, daß Laurentines Gesicht ein wenig lebendiger aussah als noch vor drei Sekunden. Die leichte Röte stand ihr gut.
»Bonjour, Monsieur.« Sie hatte eine dunkle Stimme, so dunkel, daß er abermals erstaunt war. Er folgte ihrer Geste, und sie traten in ein ziemlich großes, hohes Zimmer. An der Decke ringelte sich alter Stuck, ein wenig brüchig schon unter der Last der Jahre, die Wände waren mit dunklem Stoff bespannt, der Raum wirkte düster, trotz der Höhe. Aber dann sah er Bilder an den Wänden, es war ihm unmöglich zu erkennen, ob es sich um billige Dru cke oder teure Reproduktionen handelte, aber das war ihm auch nicht wichtig, die Bilder waren hell und freundlich, meist Darstellungen von Landschaften unter südlicher Sonne, und das machte ihm die Besitzerin sympathisch. Sie sah seinen Blick und lächelte. Und wieder stieg ihr leichte Röte ins Gesicht. Er wurde immer sicherer, daß er sich nicht getäuscht hatte. Die Spur schien heißer geworden zu sein. Eine Frau wie Laurentine konnte auf normalem Weg nicht in eine solche Situation geraten sein, dieses Mäd chen konnte einen Mann nicht derart reizen, daß er die Beherrschung verlor. Und noch dazu einen Mann, den der Artikel wie Tamasuko schil derte. Wahrscheinlich, nein, sicherlich, hatte Meister recht, als er beide Fälle miteinander in Zusammenhang brachte. Und wenn das so war, dann müßte auch hinter beiden die gleiche Organisation stehen. Holger Roßberg sah eine Lawine auf sich zukommen. Und er fragte sich, ob man annehmen könnte, Laurentine sei ein kleiner Teil dieser Lawine. Er blickte sie an, das glatte Haar, der schwere Knoten, die run den Brillengläser, das blasse Gesicht, sie schminkte sich nicht, sie malte sich keine Lidstriche wie die meisten Frauen, nichts, das sie irgendwie anziehend machen würde. Was blieb, war die äußere Beeinflussung. Irgendeine unbekannte, wahrscheinlich hypnogene Droge. Und die könnte dann allerdings in Laurentines Handtäschchen verborgen gewesen sein. Dazu wäre sie viel leicht imstande. Wer kannte sich schon so genau mit Frauen aus? Und mit den Mitteln, über die diese seltsame Organisation verfügte. Sie stand noch immer vor ihm. Und noch immer war sie befangen. Ih re Stimme zitterte ein wenig, als sie ihn zu einem Sessel bat. »S'il vous plaît, Monsieur. Setzen Sie sich doch!«
Dann begann sie plötzlich aufzuleben, sie lief aus dem Zimmer, und als sie zurückkam, trug sie zwei Tassen Kaffee auf einem Tablett. »Kaffee, Monsieur?« Sie sprach wenig und leise, und ihre Stimme war nach wie vor dunkel und volltönend. Und während er sich Gedanken über ihre Wortkargheit machte, wurde ihm deutlich, daß er selbst bisher überhaupt geschwiegen hatte. »Vielen Dank, Mademoiselle«, sagte er. »Ich hoffe, daß Sie mir helfen werden.« Sie nickte. »Wenn es mir möglich ist, Monsieur.« Das klang aufrichtig. Und so wachsam sein Mißtrauen war, es fand keine Nahrung. Noch nicht. »Eigentlich möchte ich Ihnen keine Fragen stellen«, begann er vorsich tig. Keinesfalls wollte er den Verdacht erregen, er wäre auch nur ein Re porter. Von Reportern hatte sie genug. Das hatte sie ihm schon am Kom gesagt. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie mir einfach schildern, was Sie erlebt haben und was Sie davon halten.« Laurentine blickte ihn sinnend an. Obwohl sie ohnehin sehr gerade in ihrem Sessel saß, richtete sie sich noch ein Stück weiter auf. Und die Röte auf ihrem Gesicht vertiefte sich abermals. Vielleicht war es die Er innerung. Schließlich hob Laurentine die Schultern. »Das ist nicht leicht, Monsieur. Ich habe mit Tamasuko-San gut zusammengearbeitet. Er ge hörte zu den Menschen, von denen man sagt, sie seien streng, aber ge recht. Außerdem legt er Wert auf gute Umgangsformen. Und ich habe bis zu jenem Tag nie feststellen können, daß er Frauen besondere Auf merksamkeit gewidmet hätte. Mir schien vielmehr, als wären ihm die Europäerinnen zu… zu wenig weiblich, könnte man vielleicht sagen.« »Und das galt auch für Sie, Laurentine?« Sie lächelte. »Aber ja, Monsieur. Nie hat mir Tamasuko-San Anlaß ge geben, etwas anderes zu vermuten. Und wohl deshalb bin ich zu Tode erschrocken. Sie müssen mir glauben, bis zu jenem Tag hat er weder mich noch andere Frauen auch nur beachtet. Ich habe für ihn gearbeitet, mehr nicht. Er war, wie gesagt, sehr… sehr distinguiert. Und dann das…«
Sie lächelte noch immer. Auch jetzt noch, da sie heftig den Kopf schüttelte. Sie hatte den Schock wohl längst überwunden. »Aber wie erklären Sie sich seine Handlungsweise? Schließlich hat er Sie doch überfallen. Oder…?« Sie hob wieder die Schultern. »Selbstverständlich hat er das, Monsieur. Viele Leute haben es gesehen. Es muß eine plötzliche Geistesstörung gewesen sein. Eine andere Erklärung vermag ich nicht zu finden. Wie kann aus einem vornehmen Mann anders ein Tier werden? Und er war wie ein Tier, Monsieur.« Auch das sagte sie ohne Entrüstung. Obwohl ihre Stimme sich geho ben hatte. Und jetzt merkte man ihr auch die Erregung an. Und den Schrecken, den die Erinnerung neu aufleben ließ. »Ist das wirklich die einzige Erklärung, Mademoiselle?« Ihre Augen wurden schmal. Sie spürte wohl, daß er mehr hinter der Sache vermutete. Und vielleicht spürte sie auch, daß er sich Mühe gab, ihr nicht uneingeschränkt zu glauben. »Die Reporter waren überzeugt, daß Tamasuko-San in einem Anfall von…« »Ich bin aber kein Reporter, Mademoiselle«, unterbrach er sie. »Ich will die Wahrheit wissen.« Jetzt war sie augenscheinlich irritiert. Sie rührte in ihrer Tasse und ü berlegte. »Glauben Sie wirklich, Laurentine«, stieß er nach, »daß ein Mann wie Tamasuko von einem Tag auf den anderen in einen Zustand geraten kann, der ihn zu einem wilden Tier werden läßt? Und das ohne jede Einwirkung von außen.« Sie blickte auf. Ein wenig hilflos wirkte sie jetzt. »Ich weiß nicht, Mon sieur. Für meine Begriffe war das alles eindeutig. Eine plötzliche Neuro se. Das kann vorkommen, glaube ich. Aber wenn Sie das so sagen…« »Wie sage ich es denn?« »So ungläubig, Monsieur.« Sie goß Kaffee nach. »Man bekommt un willkürlich das Gefühl, nicht ganz unschuldig zu sein. Obwohl…« Möglicherweise war es dieser eine Satz, waren es diese mit nachdenkli cher Bedachtsamkeit gesprochenen Worte, die ihn überzeugten, daß sie keinen aktiven Anteil hatte, daß sie wirklich nicht mehr gewesen war als
das Objekt. Ob sie oder eine andere, es wäre einerlei gewesen, nur ir gendeine Frau. »War er denn wie immer, als Sie ihn zu Beginn der Besprechung be grüßten?« »Aber ja, Monsieur«, sagte sie schnell und überzeugt. Doch dann schien sie nachdenklich zu werden. Er sah, wie es in ihren Mienen arbei tete, und er hoffte, daß ihr jetzt, nach seinem Hinweis, doch noch gewis se Abweichungen einfallen würden. Ihre Brauen zogen sich langsam zusammen. »Ja, natürlich! Wenn Sie so direkt fragen. Jetzt scheint mir wirklich… Aber ich weiß nicht…« »Sagen Sie ruhig, was Sie wissen«, versuchte er ihr zu helfen. »Oder was Sie zu wissen glauben. Ich verspreche Ihnen, daß kein Wort…« »Schon gut, Monsieur! Ich weiß!« Nun war ihre Erregung unverkenn bar. Sie knetete heftig an ihrer Serviette. »Seine Augen waren anders als sonst. Er sah mich bei der Begrüßung an, als wolle er… Und er hielt meine Hand viel länger als sonst.« »Wie sah er Sie an, Laurentine?« »Sie kennen diese Blicke nicht, Monsieur«, fuhr sie fort, und sie war über und über rot geworden. »Sie, als Mann. Man sagt, daß… daß solche Blicke bis auf die Haut gehen. Er starrte mich an, als sei ich nackt. Ver stehen Sie? Er starrte unentwegt auf meine Brust. Ich dachte schon, daß meine Kleidung…« Sie verschränkte die Arme, als fröstele es sie. »Und dann, Laurentine?« »Nichts weiter, Monsieur.« Sie schüttelte den Kopf. Roßberg war jetzt vollkommen überzeugt, daß sie sich mühte, ihm zu helfen. Und er war sicher, daß sie alles gesagt hatte, was zu sagen war. »Während der ganzen Unterredung hat er mich so angestarrt«, schloß sie. »Und das andere wissen Sie ja bereits.« Er nickte. Das schien abermals das Ende einer Spur zu sein. Abermals war der Faden gerissen. »Lassen wir das, Mademoiselle«, sagte er endlich. »Ich will Sie nicht mit unerfreulichen Erinnerungen quälen.«
Sie wehrte mit fast heftiger Geste ab. »Aber ich bitte Sie, Monsieur…« Er erhob sich langsam und blickte sich noch einmal im Zimmer um. Aus irgendeinem Grund wirkte es jetzt heller. Draußen, über der Stadt, mochte die Abendsonne hinter den Wolken hervorgekommen sein. »Ich danke Ihnen sehr, Laurentine. Sie haben mir wirklich geholfen«, versicherte er. Sie begleitete ihn zur Tür, schlank und aufgerichtet ging sie vor ihm, als sie ihm die Hand reichte, beugte er sich abermals über ihre Fingerspit zen. Etwas gefiel ihm an dieser herben und bestimmt einsamen jungen Frau, etwas, das er nicht zu definieren vermochte. Er zögerte zu gehen, ihre Hand lag auf seinem Arm, und er glaubte zu bemerken, daß sie ihm noch etwas sagen wollte. Doch sie fand wohl keine Formulierung, die ihr geeignet erschien. »Mademoiselle Laurentine…?« »Ich glaube nicht, Monsieur«, sagte sie schließlich leise, »daß man Ta masuko-San die volle Verantwortung für seine Handlungsweise aufbür den kann. Vielleicht war er überarbeitet, vielleicht hat die ihm fremde Umgebung seine Nerven allzusehr strapaziert. Er begriff die Sitten und Gebräuche unseres Landes nicht. Und die wenigen, die er begriff, glaub te er ablehnen zu müssen. Man sollte ihn in Ruhe zu sich selbst finden lassen. Ich hatte vorher nie über ihn zu klagen. Ich glaube, daß ich ver pflichtet bin, Ihnen das zu sagen, Monsieur Roßberg.« Sie schloß leise die Tür, und er stand allein auf dem langen, schmalen Gang, der sich wie eine rechteckige Schlange auf und ab wand. Er blickte auf die Uhr. Die City-Rak nach London startete in zweiein halb Stunden. Trotz allem hatte ihn das Gespräch mit Laurentine ein gutes Stück vo rangebracht. Erst als er die Unterhaltung mit ihr erneut durchdachte, wurde ihm das klar. Es gab weitere Parallelen zwischen den Fällen Bes sow und Tamasuko. Auch der Japaner war kein Mann, der zu unüberleg ten Handlungen neigte. Im Gegenteil, wenn Laurentines Beschreibung den Tatsachen entsprach, und daran war eigentlich nicht zu zweifeln, dann war der Japaner abgeklärt und unnahbar. Und Laurentine war abso
lut sicher gewesen, daß sich die bestürzende Veränderung durch nichts angekündigt hatte. Noch am Tag zuvor mußten die Reaktionen des Dip lomaten fast unterkühlt gewesen sein. In seinem Fall also durchaus nor mal. Auch Bessow hatte vor dem Spiel normal reagiert, um sich dann un vermittelt aus der Pressekonferenz zurückzuziehen und seine eigenen, in die Irre führenden Wege zu gehen. In beiden Fällen hatten sich Ausländer den Zorn einer etablierten Gruppe zugezogen. Weil ihre Erfolge die im System integrierten Exis tenzen bedroht hatten. Und hier war eben eine Niederlage gleichbedeu tend mit Untergang. Das war die Wirkung des Wolfsgesetzes, fressen oder gefressen werden, freier Markt, natürliche Auslese, unterschiedliche Termini für gleiche Zusammenhänge. Bessow und Tamasuko hatten ihren Wolf geschlagen, und die Meute hatte den Schlag mit den ihr gemäßen Mitteln vergolten. So könnte es gewesen sein. Könnte!
5
Noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Die Welle der Passagiere be gann in Richtung Tunnel zu fließen. Roßberg erhob sich gemächlich, schob sich seitlich zwischen die drängelnden Reisenden und ließ sich vom Strom vorwärts spülen. Die Hitze unter dem dünnen Plastikdach trieb ihm den Schweiß in die Augen. Vor den Röntgenportalen stauten sich die Menschen. Geländer kanali sierten den Fluß in schmale Bahnen. Er passierte die Strecke ohne Zwi schenfall, und er blickte sich fast ohne Interesse um, als weit hinter ihm das Jaulen der Abtaster aufklang, als sich Beamte in die Menge stürzten und einen erstaunt um sich schauenden, blaßhäutigen Mann zur Seite zerrten. Auch die anderen beachteten den Vorgang kaum, die Automatik irrte sich häufiger, als sie fündig wurde, sie vermochte eine große Gürtel schnalle nur schwer von einer kleinen Waffe zu unterscheiden. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, er nahm weder die schwitzenden Gesichter um sich her wahr, noch das Schieben und Sto ßen fremder Bäuche und Ellenbogen. Es war, als bewege er sich unter einer undurchdringlichen Kuppel, in der seine Gedanken kreisten, zur Resonanz gleichsam gezwungen. Er glaubte, daß er nur die Hand auszu strecken brauchte, um das Ende des Fadens, der ihn zur Lösung führen würde, zu greifen, aber noch tastete er stets aufs neue ins Leere. Er kannte solche Augenblicke, sie glichen den letzten Sekunden eines unan genehmen Traumes, aus dem zu erwachen es nur einer kurzen, aber um so heftigeren Konzentration bedurfte. Einige übereinstimmende Faktoren in den beiden Fällen waren deut lich geworden, aber er war sicher, daß auch solche existieren mußten, die sich seinem Wissen entzogen hatten. Sowohl die Voraussetzungen wie auch die Auslöser mußten sich ziemlich genau geglichen haben. Und diese Auslöser galt es zu finden. Sie und die Methode, mit der sie den Opfern beigebracht worden waren. Hatte er erst diese Erkenntnis ge wonnen, dann würde der Weg zu den Tätern offen vor ihm liegen. Viel leicht, sagte er sich, wäre es möglich, sich über das Verhalten der beiden
Opfer an diese Auslöser heranzutasten. Beide handelten offenbar unter starker sexueller Stimulation, aber er war sicher, daß diese Tatsache durchaus kein zwingendes Kriterium darstellte. Es gab eine Menge Dro gen, die ganz unterschiedliche Wirkungen hervorriefen, je nach Veranla gung und Dosis. Das gleiche Mittel konnte bei dem einen durchaus zu extrem gesteigertem Sexualtrieb, bei einem anderen jedoch zu Aggressi onen oder auch depressiven Zuständen bis zum Lebensüberdruß führen. Wichtiger erschien ihm das Verhalten in der fallenden Phase, nach der Attacke also. Auch hier hatte sich eine gewisse Übereinstimmung gezeigt. Beide Opfer waren auf Bäume geflohen, Tamasuko sofort, Bessow ein paar Stunden nach dem Angriff, der offenbar mit der Kulmination zu sammengefallen war. Die Lösung könnte also durchaus in der Antwort auf die Frage liegen, was die Betroffenen veranlaßt hatte, einen solch ungewöhnlichen Fluchtweg zu wählen. War es lediglich eine normale Fluchtreaktion, die Aussicht, sich in den Zweigen verbergen zu können, gewesen? Aber hät ten sie sich dann nicht vielmehr zu einer Flucht am Boden entschließen müssen, einfach weil diese Bewegungsart menschgemäßer war? Oder vermochten sie aufgrund ihres psychischen Zustandes die Vor- und Nachteile verschiedener Varianten gar nicht gegeneinander abzuwägen? Wählten sie vielleicht den Fluchtweg nach oben spontan und legten sich keinerlei Rechenschaft darüber ab, daß er unweigerlich in eine Falle füh ren mußte? Weshalb ließ sie ihr Instinkt ausgerechnet diesen einen Weg wählen? Instinkt? Natürlich! Sie folgten einem Instinkt. Einem Urinstinkt viel leicht sogar. Vielleicht wählten sie dieses Versteck nicht spontan als die günstigste Variante, sondern weil sie einfach keine andere Möglichkeit sahen. Weil es für sie in ihrem Zustand überhaupt keine andere Möglich keit gab. Unvermittelt blieb er stehen. Und jetzt plötzlich sah er die mißbilligen den Mienen derer, die sich an ihm vorbeidrängten. Lächelnd senkte er den Kopf und ließ sich weitertreiben, dem Einstieg entgegen. Er hatte einen Ansatzpunkt gefunden. Die Bäume waren es. Die Bäu me als Zufluchtsort der gehetzten Kreatur, die Bäume des Gartens Eden gewissermaßen.
Vom London Central Port, dem ehemaligen Flughafen Heathrow, nahm er nach reiflicher Überlegung die City-Rail. Er versuchte gar nicht erst, einen Mietwagen zu ergattern oder gar ein Taxi aufzutreiben, die Ereig nisse in Paris hatten ihn gelehrt, sich klug zu bescheiden. Er tat das, obwohl er sich an eine höchst seltsame Theorie erinnerte, die sein Londoner Kollege Henderson vor Jahren vertreten hatte. Nie mals, so hatte der alte Professor behauptet, würde es einem englischen Taxifahrer einfallen, in den Ausstand zu treten. Diese verschworene Gil de sei nicht weniger konservativ als die antiquierten Fahrzeuge, mit de nen man die Reisenden durch den Verkehr der Stadt schleuste. Es habe schon Jahre gedauert, ehe die Taxifahrer die drei oder vier Frauen zu akzeptieren bereit gewesen wären, die sich im gleichen Metier versucht hätten. Und das auch erst, nachdem immer häufiger weibliche Bobbies im Londoner Straßenbild aufgetaucht wären. Dabei hätten diese Leute bestimmt nichts gegen weibliche Autofahrer im allgemeinen zu sagen gehabt, aber es sei eben unüblich gewesen, sich von einer Frau durch die Stadt fahren zu lassen. Ein Streik dieser stockkonservativen Berufsgrup pe wäre also ebenso ungewöhnlich wie eine erregte Diskussion im House of Lords, hatte Henderson gesagt. Aber als er diese Weisheit von sich gegeben hatte, war er schon nicht mehr guten Gewissens zur jüngeren Generation zu rechnen gewesen. Es mochte durchaus sein, daß er im London der achtziger Jahre weit besser zu Hause war als in der Metropole des heutigen England. Wahrscheinlich hatte sich seine Einschätzung längst überholt. Roßberg sah den Alten deutlich vor sich, das graue, strähnige Haar, die hellen Augen und den Knebelbart. Und er mußte unwillkürlich lächeln, als er sich an die heftigen Gesten erinnerte, an die Faustschläge, mit de nen Henderson das Rednerpult zu traktieren pflegte, wenn eine seiner Bemerkungen Widerspruch im Auditorium hervorrief. Es war zu erwar ten, daß auch bei dem bevorstehenden Kongreß die Tontechniker über den greisen Wissenschaftler in helle Aufregung geraten würden. Natürlich hätte Roßberg anstelle der Rail auch die Tube nehmen kön nen, aber dann wäre für ihn von der Stadt vorerst nicht mehr übrig geblieben als die Lichtbänder des Tunnels, die aufblitzenden Fenster der
entgegenkommenden Züge, altersgraue Stationen und schwarz gekleidete Tunnelpolizisten mit ihren häßlichen Kyberhunden. Allerdings hielt auch die City-Rail in dieser Beziehung keinem Ver gleich mit den uralten Touristenbussen stand, mit diesen zweistöckigen Monstren, die sich, gefährlich schaukelnd und randvoll mit emsig um sich knipsenden Ausländern besetzt, durch das Gewühl der City schlän gelten. Die Rail schoß gleich einem von der Sehne geschnellten Pfeil längs eines geschwungenen Betonbalkens, vorbei an himmelhoch ragen den Geschäftshäusern, über Straßen und Hinterhöfe hinweg ihrem Ziel entgegen. Die Geschwindigkeit reduzierte die Umgebung zu einer Fläche matten Farbgeflimmers. Obwohl sich Roßberg auf das Wiedersehen mit dieser Stadt gefreut hatte, verdroß es ihn kaum, daß er vorerst nicht mehr sah als graue Schleier, ab und zu vorbeihuschendes Grün, Sonnenreflexe auf kilome terlangen Glasfassaden und Menschen, hastende Menschen auf Statio nen, die ihn peinlich an wimmelnde Ameisenhaufen erinnerten. Denn er war sicher, daß er noch genügend Gelegenheit haben würde, dieses alte London zu erleben, neu zu erleben, diesmal vielleicht aus ei ner ganz anderen geistigen Perspektive. Aber dazu mußte er sich etwas einfallen lassen. Die Engländer hatten die Angewohnheit, ausländischen Kongreßgästen mindestens einen Betreuer zur Verfügung zu stellen, freundliche Kolleginnen meist, von denen auf den ersten Blick nicht mehr zu trennen schien als die Sprache, und denen es Herzensbedürfnis zu sein schien, dem Kollegen aus der Fremde jeden Schritt in der unbe kannten Umgebung zu erleichtern, auch das kleinste Stück des ihm neu en Weges zu ebnen, und die doch die Kluft nicht vergessen machen konnten, die letztlich kein Freundesdienst der Welt dauerhaft zu über brücken vermochte, weil sie nicht so sehr die einzelnen trennte, sondern weil ihr Ursprung in den Unterschieden der sozialen Systeme lag. Es würde ihn Mühe kosten, die Organisatoren zu überzeugen, daß er keines Kindermädchens bedurfte. Bis in die Nähe von Brentford, wo die Trasse der City-Rail in weitem Schwung den Bogen der Themse um den Botanischen Garten nach zeichnete, dominierten hell getünchte, höchstens dreistöckige Häuser,
die dem alten Landhausstil Mittelenglands nachempfunden waren. Eben so wie in den mittleren Bereichen der französischen Metropole, war auch hier eine soziale Umschichtung unverkennbar. Ehemals Wohngebiet wohlhabender Techniker, reicher Supermarktanteiler und Beamter in gesicherten Stellungen, hatten die ersten Anwohner ihre Anwesen längst verlassen, waren hinausgezogen in das Umland, nach Watford, in die Blackhurst Hills, nach Swanley oder Walton. In nicht mehr als fünfzig Jahren hatte sich die Bewohnerstruktur in den Stadtteilen des ersten Rin ges grundlegend gewandelt. Auf den Straßen, die ehemals Herren in teu ren Anzügen, mit glattrasierten Gesichtern und langstieligen Schirmen vorbehalten gewesen waren, lungerten heute farbige Arbeitslose, grell geschminkte Dirnen und bunt gekleidete Zuhälter herum. Unaufhaltsam sanken ganze Stadtteile der niedrigsten Stufe der Zivilisation entgegen. Roßberg ahnte, daß er auch diese Stadtteile kennenlernen würde. Nicht, weil er sich für Gegensätze interessierte, und auch nicht, weil er zu den Menschen zählte, für die der Anblick unverschuldeten Elends eine Art prickelnden Reizes besaß. Nein, das war es nicht. Er war einfach überzeugt, daß nur hier, irgendwo in diesen Slums der Neuzeit, irgendwo unter diesen hellen Plastedächern, der Sitz der Organisation sein konnte, mit der er sich auseinanderzusetzen hatte. Vorausgesetzt, sie existierte wirklich. Woran er kaum noch zweifelte. Auf Chiswick Station stieg eine Gruppe Jugendlicher zu. Einen Au genblick lang fühlte er sich durch den ungewohnten Anblick irritiert. Sie trugen ausnahmslos eng anliegende, schwarz-seidene Overalls, die Ge sichter der Männer verbargen sich hinter martialischen Bärten, der freie Teil oberhalb der Nase war grotesk geschminkt, die Augen schwarz um randet, teilweise war die Schminke zu sternförmigen Figuren ausgezogen. Die Aufmachung dieser jungen Leute erinnerte ihn an die Darsteller in antiquierten Horrorfilmen. Im Gegensatz zu den Männern waren die Gesichter der Mädchen von geisterhafter, leuchtender Blässe, es dauerte Sekunden, ehe er begriffen hatte, daß dieser Effekt einer raffiniert aufge tragenen Schicht eines speziellen Puders zu verdanken war. Die meisten der Jugendlichen trugen winzige, elektronische Gitarren, die sie mit einer bunten Kordel am Hals befestigt hatten. Hin und wieder schlug jemand einen wimmernden Akkord an. Es klang wie das Weinen von Kindern.
Roßberg fühlte sich gemustert, schweigend aus dunklen und hellen Gesichtern. Die aufmerksamen Augen und die saugende Stille berührten ihn unangenehm, man hörte nicht selten von militanten Jugendlichen, denen es Freude bereitete, ihre Umgebung zu terrorisieren. Aber er wuß te, daß er eben deshalb das Abteil nicht verlassen durfte. Sie hätten sei nen Weggang als das ausgelegt, was er ja auch gewesen wäre, als Flucht. Ein Fliehender aber lockte unbedingt die Verfolger auf seine Fersen, Flucht würde Verfolgung provozieren, und dem wollte er sich nicht aus setzen. Als er seine Gedanken soweit geordnet hatte, wandte er sich ab und blickte aus dem Fenster. Die City-Rail beschleunigte, die niedrigen Häu ser dort unten gerieten in Bewegung. Ein wenig hatte sich die Umgebung verändert. Zwar glichen die Häu ser von Chiswick denen von Brentford im Baustil, wahrscheinlich sahen auch die Häuser von East Ham oder Southgate kaum anders aus, aber hier waren die Wände grotesk bemalt, ebenso bemalt wie die Gesichter der Bewohner, mit kräftigen, schockierenden Farben, deren Anordnung keinerlei Sinn und schon überhaupt kein Verständnis für Kompositionen erkennen ließ, verfallendes Gemäuer hinter schreiender Tünche. Auf Gesichtern und auf Häuserwänden. Im Vorübergleiten sah er ein Mädchen, das an einer Giebelwand lehn te, eine schmale, schwarze Silhouette vor einer rötlichen, ungeheuer häß lichen Teufelsfratze mit spitzen Zähnen und schielenden Glubschaugen. Das Gesicht des Mädchens war ein weißes Oval zwischen einem bläkenden Gebiß. »Very nice, Mister. Isn't she?« Roßberg blickte den Sprecher an. Es war ein breitschultriger Junge mit einem rötlichen, bis auf die Brust reichenden Bart. Unter seiner verwa schenen Pudelmütze drängten sich blonde Locken hervor. Die hellen Augen blitzen wie Wassertropfen aus schwarzen Sternen und hielten seinen Blick fest. »Sie kennen das Mädchen?« fragte er ohne Interesse, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen. Der Blonde grinste.
»Ten Dollars!« sagte er. »Zwanzig Mark, trente Francs!« Er blickte Roßberg lange an, als erwarte er eine Reaktion. Schließlich aber winkte er mit einer Geste des Ekels ab. In Hammersmith betrat eine ältere Dame das Abteil. Sie trug einen helmförmigen Hut aus goldfarbenem Schaummetall und führte einen Pekinesen an der Leine. Als sie sich im Abteil umgeblickt hatte, nahm sie das kleine Tier ächzend vom Boden auf und preßte es an sich. Ihn, Roß berg, streifte sie mit einem teils verwunderten, teils rügenden Blick, warf den Kopf in den Nacken und verschwand im Nebenwagen. Die ummalten Augen des Rotbärtigen hatten sich zu schmalen Schlit zen zusammengezogen. Der junge Mann sagte zwar kein Wort, aber man vermochte ihm unschwer anzusehen, welche Beherrschung ihn dieses Schweigen kostete. Roßberg hatte eigentlich eine ganz andere Reaktion erwartet, überlegene Ablehnung vielleicht oder eine boshafte Provokati on, etwas jedenfalls, das in das äußere Bild dieser jungen Menschen pas sen würde, etwas, das auf Schock angelegt war. Daß der Blonde so be troffen reagierte, erheiterte ihn. Und daß er selbst noch vor wenigen Minuten geglaubt hatte, sich Sorgen machen zu müssen, reizte ihn zum Lachen. Als er lächelnd den Kopf schüttelte, blickten ihn die Jugendlichen ei nen Moment lang verblüfft an, und dann war das Abteil plötzlich erfüllt von befreiendem Gelächter. In Kensington, dort, wo sich die City-Rail zwischen den ersten Beton türmen der Innenstadt hindurchzuzwängen begann, stiegen die jungen Leute aus. Sie gingen grinsend, und die Gitarren baumelten an ihren Häl sen, als sie Roßberg zum Abschied zunickten. Der Blonde berührte ihn mit einer gewollt nachlässigen Geste an der Schulter. Roßberg hatte das Gefühl, eine Chance nicht genutzt zu haben. Er hätte sich mit ihnen unterhalten sollen. Querab von Buckingham wandte sich die Rail ein wenig nach Norden, zog in gewaltiger Höhe über Fleet Street hinweg und erreichte Ludgate Circus, ein ewiges Karussell bunter Käfer, die, wie an unsichtbare Fäden gefesselt, das Monument umrundeten. Wenig später glitt die häßliche Halle des Holborn Viaduct unter dem Zug hindurch, und gleich darauf
tauchte hinter dem gegliederten Gebäude des altehrwürdigen St. Bartho lomews Hospital Barbican Station auf, kaum daß die Türme von St. Pauls hinter den glatten Fassaden des Paternoster Square verschwunden waren. Da lag es also wieder vor ihm, das Barbican, modernstes Zentrum der Künste und Konferenzen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhun derts, beispielgebend für eine ganze Architekturepoche. Was aber, fragte er sich, galt das Barbican heute? War es wirklich das Monstrum der Baukunst, als das viele es betrachteten, war es wirklich der Ausdruck der Verirrung einer als modern kreierten Lebensauffassung der Vergangenheit? Er erinnerte sich, gelesen zu haben, das Barbican reprä sentiere die zu Stein gewordene Qual der Menschheit. Vielleicht mußte man Lyriker sein, um so hart zu urteilen, vielleicht widersprach der Stil des Barbican wirklich der ursprünglichen Auslegung des Menschen, aber es war wohl notwendig gewesen, ein solches Monstrum zu errichten. Dieses riesige, in sich selbst verschachtelte Ensemble aus burgähnlichen Hoteltrakten, Bürotürmen und verglasten Grünzonen hatte zwar heute kaum noch Wohlwollen von seiten der Städteplaner zu erwarten, er aber, Roßberg, fühlte sich wohl hier. Und war nicht die Tatsache, daß die Or ganisatoren von Kongressen immer wieder auf dieses alte Zentrum der Begegnung zurückgriffen, Beweis genug dafür, daß er mit seiner Sympa thie nicht allein stand? Vielleicht war es wirklich nur eine Art nostalgi scher. Anhänglichkeit an Altbekanntes, vielleicht lag es aber auch daran, daß das Barbican einen zentralen Anlaufpunkt bildete, der alle Möglich keiten in sich vereinte, der Hotels ebenso enthielt wie Kunstgalerien, Büchereien gleichberechtigt neben Restaurants und Bars, daß die Laden straßen Wintergärten glichen, und daß sich Kino- und Theatersäle mit Kommunikationsräumen abwechselten. Der Lift brachte ihn hinunter in das untere Foyer, eine weite Halle auf rechteckigen Säulen mit Kunststoffverkleidung, geschwungene Treppen trugen mattfarbene Läufer, die sich wie erstarrte Wasserfälle an marmor ne Stufen schmiegten, gegenüber dem Tresen der Reception dämmerten uralte Gummibäume im Halbschatten. Das Foyer lag in rötlichem Licht, es dauerte Sekunden, ehe sich das Auge an die schwächliche Beleuchtung
gewöhnt hatte, ehe die Menschen in den Sesseln endlich Konturen ge wonnen hatten. Noch lag die Halle ruhig. Noch hatte der Sturm der Kongreßvorberei tungen das Barbican nicht erreicht. Noch gab es keine Plakate an den Wänden, keine mit Broschüren und Programmheften überladenen Ti sche, keinen einzigen Hinweis auf das Organisationsbüro. In zwei, drei Tagen würde sich das alles grundlegend geändert haben. Roßberg atmete auf und ging hinüber zur Anmeldung. Der uniformier te Angestellte deutete eine Verbeugung an. Der Mann hatte lange, fein gliedrige Finger, er wendete Roßbergs Identkarte mit der Geschicklich keit eines Taschenspielers, ehe er sie im Terminal des Automaten ver schwinden ließ. Roßberg betrachtete das Mienenspiel des Mannes, dessen Augen voller Aufmerksamkeit auf den winzigen Bildschirm mit dem ablaufenden Da tenband gerichtet waren. Hin und wieder ein kaum merkliches Neigen des Kopfes, eine kleine Falte über der Nasenwurzel, dann Stutzen. Der Mann blickte auf. »Sie sind sehr zeitig eingetroffen, Mister Roßberg. Darf ich fragen…?« »Ich weiß«, unterbrach Roßberg. »Aber vielleicht haben Sie schon ab heute ein Zimmer für mich.« . Der Mann hob die Schultern. »Ein Zimmer schon, aber ich fürchte, Sie werden in den ersten beiden Tagen auf Betreuung verzichten müssen, Sir. Die Kongreßleitung rechnet mit den Gästen und Teilnehmern nicht vor übermorgen. Aber natürlich könnte ich versuchen…« »Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, erklärte Roßberg schnell. »Ich komme schon allein zurecht.« Die unverbindliche Miene des Angestellten löste sich zu einem Lä cheln. Er hob langsam den Kopf, und Roßberg konstatierte, daß sich auf das Gesicht seines Gegenübers der Ausdruck geheimen Einverständnis ses gestohlen hatte. Dann aber erkannte er, daß der Blick des anderen an ihm vorbeiging. Er galt offenbar jemandem, der sich irgendwo im Hintergrund befand, wahrscheinlich in einem der Sessel unter den im Dämmer der Halle ver schwimmenden Gummibäumen.
Aus dem Datenerfasser ertönte ein Summton. Die Identkarte war end lich zurück. Roßberg hatte wie stets bei derartigen Überprüfungen das Gefühl, seine Karte hätte in Sekundenschnelle kilometerlange Leitungen passiert, sei durchleuchtet und berochen, von tausend Fingern betastet und von tausend Augen betrachtet worden. Der Mann schob das eingesiegelte Metallblatt über den Tresen, unmit telbar bis vor Roßbergs Rechte. »Sie kommen aus Berlin?« fragte er, als hätte er nicht soeben sämtliche Daten gelesen. Es war ein rhetorischer Satz. Unverkennbar. Und Roßberg fragte sich, weshalb der Mann Zeit zu gewinnen suchte. Er sah keinen Grund. Trotzdem nickte er. »So ist es«, bestätigte er nachsichtig. »Kennen Sie Berlin?« Er nahm seine Karte und wandte sich um, ohne die Antwort abzuwarten. Drüben unter den Gummibäumen erhob sich ein hell ge kleideter Mann unbestimmbaren Alters aus einem der Sessel. Er trug einen lose fallenden Mantel und weiße Hosen. Sein Gesicht war von einem matten Braun, der Vollbart schwarz und kurz geschnitten. Auch wenn er weniger auffallende Kleidung getragen hätte, würde man ihn doch unschwer als Inder erkannt haben. Die braune Haut und die schwarzen Augen sprachen eine deutliche Sprache. Der Inder ging gemessenen Schrittes hinüber zur Mitteltreppe. Auf halber Höhe wandte er sich um. Roßberg spürte den Blick fast körper lich. Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn, etwas, dessen rationalen Kern er nicht zu erfassen vermochte. Vielleicht spielte die Tatsache eine Rolle, daß gutgekleidete Inder von jeher Figuren waren, deren sich die Aben teuerliteratur mehr als reichlich bediente, vielleicht war es auch die exoti sche Erscheinung des Mannes an sich, und bestimmt nicht zuletzt war es der aufmerksame Blick, waren es diese forschenden Augen, die Assozia tionen provozierten. Und Roßberg kannte nur einen einzigen Grund, aus dem man ihn hier in London so aufmerksam mustern könnte. Wahrscheinlich aber, sagte er sich dann, verdächtigte er den Inder grundlos, denn bisher konnte noch niemand wissen, weshalb und wozu er sich in London aufhielt. Eben wollte er hinüber zum Lift gehen, als sich die Situation abermals änderte. Neben den Inder war eine Frau getreten. Eine nicht weniger
auffallende Erscheinung als der Orientale selbst, wenn auch in einem ganz anderen Sinn. Die Frau, eigentlich war es wohl noch ein junges Mädchen, war schlank und fast ebenso groß wie der Inder, und ihr Haar fiel in langen, blonden Wellen auf die stark ausgestellten Schultern eines hellen, im übrigen körperengen Overalls. Sie erregte auch aus der Entfernung Aufsehen, die Köpfe der Leute in der Halle wandten sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen zur Treppe. Sekundenlang standen sich der Inder und das Mädchen auf halber Hö he der Treppe gegenüber. Offensichtlich sprachen sie miteinander, und abermals fühlte sich Roßberg unbehaglich. Sein Verdacht, eben noch mit Mühe unterdrückt, kehrte zurück. So unwahrscheinlich es ihn auch an muten mochte, er wurde das Gefühl nicht los, er selbst bilde den Ge genstand des Gespräches dort auf der Treppe. Vielleicht bot sich ihm hier schon die erste Chance. Vielleicht zahlte sich bereits jetzt Meisters Lockvogelidee aus. Roßberg nahm sich vor, das Spiel mitzuspielen. Sollte es sich bei den beiden wirklich um Ange hörige der geheimnisvollen Organisation handeln? Fast wünschte er, sein Verdacht möge sich bestätigen. Er behielt die junge Frau im Auge, verfolgte, wie sie sich von dem In der verabschiedete und durch die Halle herüberkam, mit kurzen, ein we nig wippenden Schritten. Sie steuerte direkt auf ihn zu und kam ihm dabei so nahe, daß er jeden Moment erwartete, von ihr angesprochen zu werden. Als ihr Blick jedoch nach wie vor an ihm vorbeiging, da spürte er die Absicht, und er mußte sich beherrschen, nicht einen Schritt zur Seite zu treten, um sie zu zwingen, ihn anzublicken. Sie war nicht mehr als zwei Meter von ihm entfernt, als sie mit einer unvermittelten Bewegung den Kopf zur Seite drehte und ihn anschaute. Er stand wie erstarrt, noch nie hatte ihn jemand mit einem solchen Blick gemustert, ihre Augen waren wie Sonden, die in ihn eindrangen, ihn von innen her ausforschten, sezierten. Obwohl er sich im gleichen Augen blick sagte, daß sie sanfte Augen hatte, Augen, die wie die eines Rehes blicken könnten, braun und warm. Jetzt aber lag eine seltsam saugende Kraft in ihnen. Das Mädchen lehnte sich an die Platte des Tresens. Nachlässig kreuzte sie die Beine, wobei sie die rechte Hüfte ein wenige anhob. Und noch
immer ließ ihn ihr Blick nicht los. Er spürte, daß ihm nach und nach die Röte ins Gesicht stieg, und auch, daß sich sein Interesse mit Unmut zu mischen begann. Er war es nicht gewöhnt, in dieser Weise fixiert zu werden. Ein Grund mehr, ihrem Blick standzuhalten. Auch dann noch, als sich ein kleines, überlegenes Lächeln um ihre Mundwinkel grub. Es gelang ihm sogar, sie taxierend zu betrachten. Sie war wirklich sehr schlank. Und der eng anliegende Overall unterstrich ihre Feingliedrigkeit noch. Schließlich wichen ihre Augen den seinen für eine Sekunde aus. Und diese eine Sekunde nutzte er. Er wandte sich ab und ging hinüber zum Lift. Nicht ein einziges Mal schaute er sich um. Er wußte, daß sie darauf wartete, und weil er das wußte, gelang es ihm, sich zu beherrschen. Als die Lifttür sich hinter ihm schloß, da war ihm fast, als hätte er eine Schlacht gewonnen. Nein, er hatte nicht nachgegeben. Den Gefallen hatte er ihr nicht getan. Das Zimmer war zwar bescheiden, aber es genügte seinen Ansprüchen vollauf. Schließlich war er nicht nach London geflogen, um Urlaub zu machen. Er hatte eine Aufgabe zu lösen, und er wußte jetzt, daß ihm der Erfolg nicht in den Schoß fallen würde. Zwar hatte er nicht mit einem leichter Gang gerechnet, aber jetzt schien ihm, seine Befürchtungen könnten noch übertroffen werden. Falls das Mädchen oder der Inder wirklich zu der Organisation gehör ten, dann konnte er sicher sein, es mit Leuten erster Qualität zu tun zu haben. Allein die Tatsache, daß man ihn sofort nach seiner Ankunft in London unter Kontrolle genommen hatte, war beunruhigend genug. Diesem blonden Mädchen war ohne weiteres die Fähigkeit zuzutrauen, den Opfern während eines mehr oder weniger trauten Zusammenseins irgendeine psychogene Droge beizubringen. Und sosehr er sich gegen diesen Gedanken sträubte, die Vorstellung, ihr zu einer solchen Manipu lation Gelegenheit zu geben, reizte ihn und erweckte auch durchaus er freuliche Vorstellungen. Er spürte selbst, daß ihn die Blonde mehr beschäftigte, als zum gegen wärtigen Zeitpunkt gut war, und deshalb versuchte er, auf allgemeine Erwägungen auszuweichen.
Durfte er denn wirklich sicher sein, daß allein die äußere Attraktivität einer Frau ausreichen konnte, dem Opfer ein Mittel beizubringen, das sicherlich nur unter Einhaltung bestimmter Anwendungskriterien seine Wirkung zu entfalten vermochte? Waren halluzinogene Drogen über haupt ohne den Willen des Opfers oder gar gegen Widerstände anwend bar? Die Art ihrer Wirkung war hinreichend bekannt, sie war nicht einmal sonderlich kompliziert, aber die Technologie ihrer Anwendung setzte die Mitwirkung oder zumindest die Duldung des Patienten voraus. Gegen den Willen eines Opfers wäre die Verabreichung zwar möglich, bliebe aber keinesfalls unbemerkt. Eigentlich sah die ganze Angelegenheit bei oberflächlicher Betrach tungsweise nicht sonderlich schwierig aus. Das Langzeitgedächtnis und damit auch bestimmte Abläufe im Verhaltensinventar wurden durch Peptide oder Proteine gesteuert, durch fein vernetzte Eiweißbausteine also, die im Gehirn eingelagert waren und eine Art Kodemuster bildeten. Mehr als zweihundert solcher Gedächtnisstoffe waren bekannt, und man rechnete damit, daß mehr als vierhundert existierten. Die Biochemie hatte auch bereits Methoden entwickelt, solche großmolekularen Sub stanzen an ihren Einsatzort zu bringen. Aber genau dort dürfte im vor liegenden Fall die Schwierigkeit beginnen. Es wäre sinnlos, Eiweißstoffe über den Magen-Darm-Trakt zu verabreichen, einfach, weil sie auf die sem Wege binnen kurzem zersetzt würden und nicht die geringste Chan ce hätten, das Gehirn zu erreichen. Die bisher bekannten Stoffe müßten ausschließlich über die Blutbahn kommen, also injiziert werden. Zumin dest bei Bessow hatte es, glaubte man seinen Aussagen, eine solche Mög lichkeit nicht gegeben. Der Vormarsch der Gedächtnisstoffe begann um das Jahr 1972 herum, als der amerikanische Biochemiker Ungar einer Gruppe seiner Versuchs ratten Aversionen gegen die ansonsten von ihnen bevorzugten dunklen Räume antrainierte. Ungar verwendete Elektroschocks und brachte den Ratten auf diese Weise bei, daß das Betreten einer dunklen Kammer zu schmerzhafter Bestrafung führte. Bereits nach einem Dutzend dieser Behandlungen gelang es Ungars Team, aus den Hirnen der solcherart trainierten Ratten ein Peptid zu
isolieren, das man als Scotophobin bezeichnete. Schon das war ein auf sehenerregender Erfolg, aber Ungar betrachtete ihn lediglich als einen ersten Schritt auf einem langen Weg. Auch sein zweiter Schritt erwies sich als Volltreffer. Er injizierte un trainierten Ratten das Peptid Scotophobin, und es zeigte sich wirklich, daß auch die so behandelten Tiere nicht mehr zu bewegen waren, den dunklen Raum zu betreten, obwohl man sie in keiner Weise daran hin derte. Auch sie hatten also Angst vor einer Bestrafung durch Elektro schocks. Der dritte Schritt befaßte sich folgerichtig mit der chemischen Synthe se des Scotophobins, und auch dieser Schritt gelang Ungar wider Erwar ten schnell. Der Erfolg war vollkommen, als die mit dem künstlichen Gedächtnisstoff behandelten Tiere nicht anders reagierten als die der ersten, mittels Schock trainierten Gruppe. In der Folge fanden die Biochemiker Stoffe, die die Tätigkeit des Ge hirns zu effektivieren vermochten, Mittel, die auf dem Umweg über Blutbahn und Gehirn zu einer erheblichen Erhöhung des allgemeinen Lebensgefühles führten, Peptide, die die Risikobereitschaft steigerten, oder andere, die genau das Gegenteil bewirken. In der Zwischenzeit gab es Stoffe für und gegen alles, Stoffe, die Psyche und Physis des Men schen mit höchster Perfektion zu steuern imstande waren. Und mehr und mehr meldeten sich Stimmen, die das Ende des Menschen als natür lich reagierendes Wesen voraussagten. Wobei immer noch eine Hoffnung geblieben war. All diese Mittel mußten über die Blutbahn in das Gehirn transportiert werden. Sie muß ten injiziert oder impulsiert werden. Jeder Versuch, sie via Magen zu verabreichen, war bisher gescheitert. Das Gedächtnis aus der Tube, das Ungar prophezeit hatte, war nicht erfunden worden. Es blieb also die Frage nach der Technologie der unauffälligen Verabrei chung. Natürlich konnte der Stoff dem Opfer im Schlaf beigebracht werden, es gab Schlafmittel, deren Bestandteile bereits wenige Stunden nach der Einnahme nicht mehr nachweisbar waren, aber man konnte es als gesichert betrachten, daß zumindest im Fall Bessow ein solches Me dikament nicht im Spiel gewesen war. Meister hatte Bessow zielgerichtet
befragt, und der hatte eine solche Möglichkeit mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Ein wenig anders lag die Sache allerdings bei dem Japaner. Hier mußte man sich ausschließlich auf die Angaben Mademoiselle Faidherbes verlassen. Aber auch jetzt vermochte er sich keinen Grund vorzustellen, aus dem sie ihn belogen haben sollte. Trotz der Überzeu gung, daß in beiden Fällen die geheimnisvolle Organisation ihre Hände im Spiel hatte, blieb also eine Lücke in seiner Kenntnis der Zusammen hänge. Eine entscheidende Lücke. Am späten Nachmittag baute er den Transverter in die Antennenzulei tung der Komwand ein. Das war nicht ganz einfach, und ohne gewisse Grundkenntnisse, die er sich notgedrungen auf eigentlich jedem Gebiet angeeignet hatte, wäre es ihm sicherlich nicht gelungen. Er hatte Ab deckplatten zu entfernen und Einschübe zu ziehen, und als er dann die Antennenzuleitung gefunden hatte, da mußte er erkennen, daß sie nicht gesteckt, sondern fest angeschlossen war. Er durchschnitt das Kabel und verband die Enden mit dem Transverter, nachdem er sie mit dem Ta schenmesser zurechtgestutzt hatte. Das TV-Bild war beruhigend klar, zur Zeit lief eine Sendung, die sich mit der Verschmutzung der Nordsee befaßte. Er nahm sich nicht die Zeit, die grausigen Bilder verfaulender Seegraswiesen, zerfallender See sterne und unübersehbarer Flächen schwarzen Schlammes zu betrachten, er schaltete das Gerät aus, nachdem er sich überzeugt hatte, daß im unte ren, rechten Bereich des Bildschirmes ein kleines Rechteck dunkel blieb. Es sah aus, als hätte dort jemand ein graues Schildchen von innen gegen die Sichtfläche geklebt. Als er die Tür öffnete, um zum Abendessen nach unten zu gehen, sah er sich einem Mann gegenüber, der einen Monteurkoffer am Schulter riemen trug. »Das Kontrollzentrum hat soeben einen Ausfall Ihres Kom gemeldet, Sir«, sagte der Monteur und wand sich geschickt an ihm vorbei ins Zim mer, die Tasche wie einen Rammbock vor sich herschiebend. Zu Gegenmaßnahmen war es zu spät, und so spielte Roßberg den Er staunten. »Aber wieso denn? Ich habe doch eben noch…« Er schaltete den Televisor ein, atmete auf, als das Bild auf den Schirm sprang, und
gab sich Mühe, das kleine, dunkle Rechteck mit seinem Rücken zu ver decken. »Sieht aus, als läge der Fehler im Kontrollzentrum.« Der Mann stellte die Tasche auf den Boden und begann geräuschvoll einen Werkzeugwickel auseinanderzurollen. »Hören Sie!« sagte Roßberg und lehnte sich an die Komwand. »Ich war eben auf dem Weg ins Restaurant. Hier ist alles in Ordnung. Sie machen sich nur unnütz Mühe.« Der Monteur hob unschlüssig die Schultern, packte dann aber doch seine Tasche zusammen und erhob sich. »Wenn Sie meinen«, brummte er. »Aber glauben Sie mir, ich kenne das schon. Spätestens morgen früh liegt eine Beschwerde bei der Direktion vor. Und unsereins…« Er ging wirklich, und Roßberg fiel ein Stein vom Herzen. Auf dem Bildschirm drehte sich ein verkrümmter Fisch taumelnd um seine eigene Achse. Absichtlich verließ er den Lift schon in der zweiten Etage, er wollte sich in der Halle umsehen können, aus halber Höhe der Treppe, aus der Vo gelperspektive gewissermaßen. Er war fest davon überzeugt, daß man ihn erwartete. Und wirklich lehnte drüben an der Reception das blonde Mädchen im hellen Overall. Sie beugte sich weit über den Tresen und schien in eine intensive Unterhaltung mit dem Portier vertieft. Er sah sie hin und wie der nicken, Schultern und Hände bewegen, und er bemerkte auch den Blick, den der Portier herüber zur Treppe warf. Unverzüglich richtete sich das Mädchen auf, auch sie blickte jetzt her über, und um ihren Mund spielte ein Lächeln. Er bemühte sich, einen uninteressierten Eindruck vorzutäuschen, doch er war nicht überzeugt, daß ihm das in hinreichendem Maße gelang. Im merhin stieg er die Treppe mit lässigen Bewegungen hinab. Und noch immer spürte er den Blick aus den braunen Augen des Mädchens. Je länger sie ihn beobachtete, um so mehr festigte sich in ihm die Ge wißheit, daß sie sich endlich zur Offensive entschlossen hatte. Er sah das
auch an ihren Bewegungen, mehrmals schien es, als wollte sie auf ihn zukommen, aber noch überlegte sie es sich jedesmal anders. So ging er denn langsam quer durch das Foyer und ließ sich in einen der Sessel unter den Gummibäumen fallen. Jetzt hätte er eine Zeitung oder einen Reiseprospekt gebrauchen können, irgendeinen Schild, hinter dem er sich hätte verschanzen können. Ein Blick hinüber zur Reception bewies ihm, daß ihn die Blonde noch immer nicht aus den Augen gelas sen hatte. Dann aber schien sie sich endlich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben, sie schob sich vom Tresen ab und kam herüber. Er richtete sich auf. Er würde aufstehen und ihr die Hand reichen, kein bißchen Verwunderung würde er zeigen, es würde aussehen, als empfän de er es als die normalste Sache der Welt, daß sie sich zu ihm setzte. Da aber wandte sie sich, kaum noch mehr als zwei oder drei Schritte von ihm entfernt, unvermittelt nach links, blickte kurz die Treppe hinauf und verschwand durch die Pendeltür des Restaurants. Der Portier gab vor, die Blonde nicht zu kennen. Und dabei hatte er ein Grinsen um die Mundwinkel, das Bände sprach. »Aber nein, Sir«, beteuerte er. »Mir ist nicht einmal der Name dieser Dame bekannt.« »Aber daß Sie sich noch eben sehr angeregt mit ihr unterhalten haben, daran können Sie sich doch wohl erinnern.« Roßberg spürte Ärger und Verdruß in sich aufsteigen. Er hatte das Gefühl eines Boxers, der am Sandsack trainierte, das Gefühl, daß nichts den Gegner zu beeindrucken vermochte. »Natürlich, Sir!« Der Portier lächelte noch immer. »Ich spreche sehr gern mit gut aussehenden Damen.« Roßberg wandte sich ab. Es hatte keinen Sinn, sich mit dem Portier anzulegen. Augenscheinlich war der Mann durch nichts zu bewegen, sein Wissen preiszugeben. »Bitte, Sir«, sagte der Uniformierte hinter Roßberg. »Ich kenne die Frau wirklich nicht. Sie kommt zwar hin und wieder in unser Hotel, hat hier aber noch nie gewohnt.« Seine Stimme hatte plötzlich einen beschwö
renden Klang angenommen, man konnte meinen, er legte Wert darauf, daß ihm geglaubt wurde. »Mag sein«, gab Roßberg nach. »Und vielleicht ist das auch gär nicht wichtig. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß ich sie noch kennenlernen werde.« »Das ist durchaus möglich, Sir«, erklärte der Portier eifrig. »Ich könnte mir vorstellen, daß man sie als Betreuerin für den Kongreß engagiert hat.« Da hatte er ja nun erfahren, war er wissen wollte. Denn eigentlich gab es keine bessere Tarnung für die Kontaktperson, als den Status einer offiziellen Betreuerin. Aber eben nur eigentlich. Er blieb in der Tür des Restaurants stehen und schaute sich um. Zuerst suchte er die blonde Frau vergebens. Dabei zweifelte er keinen Augen blick daran, daß sie ihn längst entdeckt hatte. Schließlich sah er sie. Sie hatte ihren Platz mit Umsicht gewählt. Ein Tischchen für zwei Personen ganz rechts in der Ecke. Sie saß mit dem Rücken zur Wand und konnte so den ganzen Raum überblicken, ohne den Kopf zu wenden. Der zweite Platz an ihrem Tisch war unbesetzt. Als sich ihr Blick mit dem seinen kreuzte, erschien es ihm, als neigte sie den Kopf. Er ging auf sie zu, als wären sie miteinander verabredet, zielstrebig und ohne zu zögern. Und er bemerkte, daß sein Herz heftiger zu schlagen bekann. Es war das gleiche Gefühl, das sich eingestellt hatte, wenn er sich als junger Mann mit einem Mädchen zu treffen beabsichtigt hatte und der vereinbarte Treffpunkt in Sicht gekommen war. Wahrscheinlich verfügte ein Rationalist wie er über keine besonders differenzierte Emp findungsskala. Noch bevor er sich verbeugen konnte, deutete sie auf den freien Sessel. »Sit down, please, Sir…«, sagte sie mit erstaunlich volltönender Stimme, und er murmelte seinen Namen, weil er ihre Aufforderung zugleich als Frage aufgefaßt hatte. »Leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft, Mister Roßberg«, forderte sie ihn auf, und jetzt hatte sie tatsächlich einen war men Schimmer in den braunen Augen.
Die Konversation schleppte sich dahin. Nicht, daß es Verständigungs schwierigkeiten gegeben hätte, sein Englisch reichte aus, um jedes Ge spräch zu bestreiten, vorausgesetzt, es bewegte sich in den üblichen Bahnen. Aber er fühlte sich gehemmt. Vielleicht lag das an seiner Überzeugung, einer Gegnerin gegenüberzusitzen, vielleicht aber auch daran, daß er ständig nach einer verräterischen Geste suchte oder ein unbedachtes Wort aufzuspüren hoffte. War es denn nicht schon auffällig, daß sie sei nen Namen genannt hatte, obwohl er ihn sehr leise und absichtlich un deutlich ausgesprochen hatte? Während des ganzen Gesprächs lag er eigentlich unablässig auf der Lauer. Und es störte ihn erheblich, daß der warme Glanz in ihren Augen blieb, daß sie den Overall bis tief zwischen die kleinen Brüste geöffnet trug und daß sie ihn hin und wieder lange und schweigend musterte. So fühlte er sich erst dann ein wenig erleichtert, als der Kellner endlich das Menü servierte, schwammiges Weizenbrot und halbgare Steaks, wie sie nun mal zur guten englischen Küche gehörten. Eine Überraschung bot lediglich der flambierte Pudding, eine wohlschmeckende Süßspeise, die mit brennendem Kognak übergossen war. Sie aßen schweigend und mit langen Pausen, in denen Roßberg nur sel ten aufblickte, und stets sah er die Augen der jungen Frau auf sich ge richtet, meist ein wenig fragend und unentschlossen, wie er zu erkennen meinte. Er spürte ein gewisses Unbehagen, weil er fürchtete, sie müßte ihm die Befangenheit anmerken. Später bestellte sie eine Flasche Wein, sie wählte ausdrücklich einen schweren, dunklen Massala. Das und des Mädchens Lächeln steigerten den Widerstreit seiner Gefühle beträchtlich, denn er wußte sehr wohl, welche Wirkung der Volksmund diesem Getränk zuschrieb. Zugleich aber festigte sich in ihm die Gewißheit, den richtigen Faden in der Hand zu halten. Der Wein war süß und süffig, wie Öl rann er über die Zunge, und die Flasche leerte sich wesentlich schneller, als er es für möglich gehalten hätte. Versonnen betrachtete er sein Gegenüber, das Mädchen hatte das Glas erhoben und blickte durch den dunkelroten Schimmer in das Licht der Tischleuchte. Es hatte die Augen halb geschlossen, der Mund war
fast so rot wie der Wein, und das Kinn war klein und ein wenig eckig, ein Kinn, das auf verborgene Energie deutete. Der Overall gab den Ansatz der Brüste frei. Er vertiefte sich in den Anblick dieser ungewöhnlichen Frau, und er stellte sich vor, daß sie kleine und sehr feste Brüste hatte. Außerdem schien sie den Overall auf der bloßen Haut zu tragen, die samtbraun getönt war bis tief in den Ausschnitt hinein. »Hallo, Mister Roßberg!« Er zuckte zusammen, sie hatte ihn ertappt, hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, wie intensiv seine Musterung war. »Sie waren in Gedanken, Mister Roßberg. Würden Sie mir sagen, wem ich Ihre Abwesenheit zu verdanken hatte.« »Sie irren, Miss…« Er stockte, er kannte ihren Namen nicht. Zumin dest in dieser Beziehung war sie im Vorteil. »Nennen Sie mich Pat, Mister Roßberg. Patricia ist viel zu lang und klingt viel zu vornehm. Alle meine Freunde nennen mich Pat.« Er hob das Glas, sie stieß mit ihm an, und während er auf den Klang des Kristalles lauschte, verneigte er sich ein wenig. »Dann bitte ich um gleiches Recht für beide«, sagte er. »Mein Name ist Holger.« Wieder lächelte sie, und plötzlich spürte er eine Art heftiger Zuneigung zu seiner Gegnerin. Es dauerte Sekunden, ehe er wieder zu seiner ur sprünglichen, vernünftigen Einstellung zurückgefunden hatte. Er war erstaunt, wie schwer es ihm wurde, sie als das zu betrachten, was sie nach seiner Überzeugung war, als das Mitglied einer kriminellen Organisation, deren Machenschaften er aufzuklären hatte. Und abermals wurde ihm bewußt, daß er keinen leichten Gang zu gehen hatte. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Holger.« Sie hatte also eine Frage gestellt. Eine Frage, an die er sich nicht sofort zu erinnern vermochte. War sie ein erster Angriff oder nur eine Floskel gewesen, Interesse oder Konversation? Er spürte, daß ihn seine ehemals distanzierte Beherrschung mehr und mehr zu verlassen drohte. Der Kellner brachte eine neue Flasche, es war bereits die dritte. Und Pat lächelte mit roten Lippen und warmbraunen Augen.
Ja, sie hatte eine Frage gestellt. Sie wollte wissen, wohin seine Gedan ken spazierengegangen waren. Und er würde es ihr sagen. War in solchen Fällen Angriff nicht noch immer die beste Verteidigung? Weshalb sollte er also nicht den geraden Weg gehen, den Weg auf die Gefahr zu? Ihr auszuweichen vermochte er ohnehin nicht mehr. »Ich hatte mich nicht um das kleinste Stück von Ihnen entfernt«, sagte er und blickte ihr in die Augen. »Im Gegenteil. In meiner Vorstellung war ich Ihnen bedeutend näher, als ich das in Wirklichkeit bin.« Sie nahm es lächelnd hin. Sie reagierte nicht anders, als jede Frau zu vorgerückter Stunde reagieren würde, wenn ihr ein Mann eröffnen wür de, daß sie sein Begehren weckte. Und der Glanz in ihren Augen wurde noch um eine Nuance wärmer. »Lassen Sie uns noch auf eine Stunde in die Bar gehen, Holger«, sagte sie schließlich und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. Es klang wie eine Bitte, und er erhob sich unverzüglich. Jetzt war er über zeugt, daß er sich seinem Ziel näherte. Von dieser Überzeugung war am anderen Morgen nicht mehr allzuviel vorhanden. Er war kaum einen Schritt vorangekommen. Zumindest nicht in der Angelegenheit, die ihn nach London geführt hatte. Ansons ten allerdings… Hinter ihm lag eine Nacht, die er nicht so bald vergessen würde. Eine Nacht mit einer Frau, die wie ein Engel tanzte, die lachte und küßte und Augen wie die eines Rehes hatte, eine Frau mit biegsamem Körper und warmen Händen, eine Frau, in deren Liebe man eintauchen möchte, alles andere von sich abstreifend wie lästige Hüllen. Und erstaunlicherweise wartete er auf die morgendliche Ernüchterung vergebens. Auch die Erinnerung blieb angenehm. Vielleicht, weil er sich nichts vorzuwerfen hatte. Noch nicht. Immer wieder hatte er sich in der Nacht die Frage gestellt, ob eine Frau wie Pat wirklich Mitglied einer kriminellen Vereinigung sein könnte. Und immer wieder hatte er diese Frage von sich weggeschoben wie einen Kaffee, der längst kalt und schal geworden war.
Nicht einen einzigen Hinweis auf die Richtigkeit seines ursprünglichen Verdachtes hatte er in dieser Nacht gefunden. Doch auch das bewahrte ihn nicht davor, daß er jetzt, am Morgen, in sich hineinhorchte, daß er irgendwelchen beunruhigenden Veränderungen in seiner Psyche auf die Spur zu kommen suchte, einen kleinen Anhaltspunkt vielleicht, daß er heute die Bäume dort draußen vor dem Fenster mit anderen Augen be trachtete als gestern. Er stand auf und blickte hinunter auf die Straße. Draußen dämmerte ein trüber Tag herauf, die City-Rail rasselte am Turm der Zentralbiblio thek vorbei, und die Bäume vor dem Charterhouse standen trist mit näs seschweren Blättern. Nein, bei einem solchen Anblick konnte der Wunsch, sich zwischen diesen klammen Zweigen einzunisten, gar nicht erst aufkommen. Im Gegenteil, wenn er sich die triefende Nässe in die sen grauen Kronen auch nur vorstellte, lief ihm schon ein Schauer über den Rücken. Wenn Pat also wirklich der geheimnisvollen Organisation angehören sollte, dann hatte sie die vergangene Nacht nicht mit letzter Konsequenz genutzt. Was er im übrigen auch von sich selbst sagen mußte. Er hatte ihr keine Chance gegeben. Aus Sorge, wie eine Maus in die Falle zu tap pen, hatte er sich gegen zwei Uhr von ihr verabschiedet. Es konnte durchaus sein, daß er ihr damit das Konzept verdorben hat te. Wenn sie das war, wofür er sie hielt, dann hätte sie bestimmt damit gerechnet, ihm das unbekannte Mittel während eines zärtlichen Beisam menseins in ihrer Wohnung beibringen zu können. Dem Blick, den sie ihm aus der Taxe heraus zugeworfen hatte, war zu entnehmen gewesen, daß sie wohl alles mögliche von ihm erwartet hatte, nur nicht, daß er sich nach dem Barbesuch von ihr trennen würde. Und er hatte sich noch geschmeichelt gefühlt, als er ihre offen zur Schau getragene Enttäu schung bemerkt hatte. Er mußte Pats Verhalten ganz genau zu analysieren suchen. Nur fühlte er sich im Augenblick zu logisch exakten Denkprozessen nicht beson ders aufgelegt. Hinter seiner Stirn machte sich langsam bohrender Kopf schmerz breit. Der Massala begann offensichtlich die Palette seiner Spätwirkungen zu entfalten.
Einen Augenblick lang überlegte er, ob er den Diagnizer benutzen soll te, aber er war nicht sicher, daß die Daten nicht irgendwo in diesem Ho tel über einen Bildschirm laufen oder mitgeschnitten werden könnten. So nahm er eine Euvit, warf sich auf das Bett und schloß die Augen. Und während er langsam in einen unruhigen, immer wieder unterbrochenen Schlaf hinüberdämmerte, war ihm, als spüre er neben sich die Wärme des blonden Mädchens und die erregende Biegsamkeit ihres schlanken Körpers. Er erwachte am späten Vormittag, der Kopfschmerz hatte sich zu einem dumpfen Druck ausgedehnt, war aber jetzt erträglich. Er duschte eiskalt, was ihm bis zu einem gewissen Grad Erfrischung verschaffte, und ließ sich das Frühstück aufs Zimmer bringen. Er nahm sich viel Zeit, und wirklich klang der Druck hinter der Stirn nach und nach ab. Gegen Mittag begann er eine gewisse Unruhe zu spüren. Wie stets ver suchte er sich genau zu analysieren, und er stellte mit Erstaunen fest, daß sich seine Gedanken in ziemlich nebelhafter Form mit Carola beschäftig ten. Es waren durchaus keine klaren Empfindungen, mehr eine Reihe nicht deutlich umrissener Wünsche, die sich teils auf Carola, teils auf seine häusliche Umgebung und nicht zuletzt auch auf Berlin bezogen. Die Vermutung, bereits jetzt könnten sich erste Andeutungen von Heimweh einstellen, schob er entrüstet zur Seite, Heimweh war ein Ge fühl, das er als Rationalist nicht gelten lassen mochte. Außerdem, was waren schon drei oder vier Tage? Viel eher würde er noch akzeptieren, daß es sich um ein nicht eingestandenes Schuldgefühl handelte. Der Nacht mit Pat wegen. Dann allerdings würde dieses Schuldgefühl in den nächsten Tagen noch erheblich an Nahrung gewinnen. Aus, wie er sich einzureden suchte, dienstlichen Gründen. Er legte sich Briefpapier und Umschläge zurecht und begann, an Caro la zu schreiben. Er wußte, daß sie auf ein paar Zeilen warten würde. Er schilderte seine Reise in allen Einzelheiten, deutete auch die Ereignisse in Paris an und beschrieb sein Zimmer hier im Barbican. Die Bekanntschaft mit Pat zu erwähnen, konnte er sich nicht entschließen, er war durchaus nicht überzeugt, daß Carola die Art und Weise seiner Kontaktaufnahme zu der vermuteten Organisation tolerieren würde.
Nachdem er den Brief in den Terminal des Kom geworfen hatte, be gann er den Text eines Telegramms an Meister zu entwerfen. Noch hatte er den ersten Satz nicht vollendet, als er sich der Tatsache bewußt wurde, daß er über dem Barbesuch mit Pat die erste Sendung Meisters verpaßt hatte. Außerdem hatte er versäumt, den Transverter auszuschalten. Ei nen Moment lang kam er sich wie ein Verräter vor, aber dann erinnerte er sich, daß das Kom mit einem Rekorder ausgerüstet war. Er rief das Programm des vergangenen Abends im Schnellauf ab, und er sah nur das kleine, graue Rechteck unten rechts. Auf die huschenden Schatten daneben und darüber achtete er nicht. Meister hatte nur eine einzige Meldung übermittelt. Die Anschrift einer Detektei und die Bemerkung, diese Firma böte die Möglichkeit, den Fuchs aus dem Bau zu locken. Roßberg atmete auf. Er schaltete den Transverter aus und brütete lange über einem möglichst unverfänglichen Text für das Telegramm, und je länger er grübelte, um so mehr zweifelte er daran, daß er den Anfang des Fadens wirklich in der Hand hielt. Schließlich schrieb er in großen Buchstaben auf die Folie: »Bisher noch kein erfolgversprechender Kontakt.« Für jemanden, der das moderne London auch nur einigermaßen kannte, sprach allein die Anschrift der Detektei Bände. Lesterson und Longcoat. Observations. South Bromley, Leonhards Road. Die Leonhards Road lag in der Nähe der Docks, irgendwo in unmittel barer Nachbarschaft der Themsequais. Und überdies war South Bromley ein Stadtteil des mittleren Ringes. Eine dieser beiden Eigenschaften wür de bereits ausreichen, die Firma Lesterson und Longcoat mehr als su spekt erscheinen zu lassen, beide zusammen waren geeignet, selbst eine Niederlassung der Heilsarmee zu disqualifizieren. Worauf aber sollte er sich verlassen, wenn nicht auf Meisters Erfah rungen? Nachdem er sich zum Handeln entschlossen hatte, wuchs die Unruhe noch beträchtlich. Er war außerstande, sich die zu einem normalen Mit tagessen notwendige Zeit zu nehmen. Statt dessen begnügte er sich mit einem Hamburger, wie man es an mehreren Stellen der Halle aus Auto maten ziehen konnte, und er aß im Stehen, die beginnende Hektik der
Kongreßvorbereitungen ignorierend. Danach verließ er das Barbican durch einen der Seitenausgänge und folgte der Aldersgate Street in Rich tung auf das Themseufer. Er hatte Mühe, sich am Strom der Passanten vorbeizudrängen, die Gehwege der City waren nicht sehr breit, und die Bewohner der ganzen Stadt schienen sich hier um die Mittagszeit ein Stelldichein zu geben. Bis hinunter zur Cheapside, für eine Strecke von nicht mehr als einer halben Meile also, brauchte er fast zwanzig Minuten, dann ragte unmit telbar vor ihm die spiegelnde Kunststoffassade der New Bank of Eng land in den wolkenverhangenen Himmel, eine gigantische Mauer, die die Welt in zwei Teile zu zerschneiden schien. Daneben, geduckt, als bitte sie um Entschuldigung für ihre bloße Existenz, St. Pauls Cathedral, an gesichts der ungeheuren, homogenen Fläche nicht mehr als ein alters brauner, buckliger Greis, ein Relikt aus Urzeiten mit anklagend emporge reckten Armen. Einen Augenblick lang stand er fassungslos, dann wandte er sich ab und stieg die Stufen einer Treppe hinunter, die ihn in das untere London führte, in das Reich der Subway, der Gleitwege und der Underground busse, in den Hades der Metropole. Ein weicher Wind wehte ihm ins Gesicht, ein feuchtwarmer Hauch wie der Atem eines gigantischen, schlafenden Tieres. Während er angenom men hatte, an einen Knotenpunkt quirlenden Lebens zu gelangen, betrat er nun eine riesige Halle ohne Glanz, ein System von Tunneln mit glat ter, gelblicher Wandverkleidung, an der sich Reklameplakate zu unüber sichtlichen, grellbunten Bändern reihten. Nach dem Trubel auf den Stra ßen der City erschien ihm diese unterirdische Busstation wie eine über dimensionale Gruft von makabrer Ausstattung. Der Bus war fast leer. Drüben, am anderen Ende, saß ein alter Mann mit dunkler Brille. Er hatte einen dünnen Stock zwischen die Knie ge klemmt und starrte reglos vor sich auf den Boden. Zwei Bänke weiter vorn hockte eine schmuddlig gekleidete Frau mittleren Alters. Sie strickte mit fliegenden Fingern, und ihre Kiefer mahlten, als kaute sie Gummi. Roßberg spürte Unbehagen, in seinem gutsitzenden Anzug fühlte er sich fehl am Platz.
Draußen auf der Mittelplattform stand einer der schwarz gekleideten Polizisten und musterte angelegentlich die wenigen Fahrgäste. Sein Be gleiter, ein doggengroßer, silberglänzender Kyberhund, stand unbeweg lich, den nadelspitzen Kopf mit den beiden Düsenöffnungen gesenkt. Erst in Stepnay East stieg eine Gruppe von Leuten zu. Sie unterhielten sich laut und erregt, in einem der Zubringertunnel mußte es wohl einen Unfall gegeben haben. Ein Bus hätte Feuer gefangen, es hätte einen Funken gegeben, eine Stichflamme, ein Dutzend Verletzte. Eine Schwei nerei wäre das. Damned! Der Kyber wendete den Kopf mit einer gleitenden Bewegung, von den Düsenöffnungen zogen sich zwei bläuliche Streifen abwärts bis zum Kinn. An der nächsten Station war das Thema vergessen, man hatte sich ge genseitig versichert, daß es unzumutbar wäre, die Undergroundbusse weiterhin zu benutzen, man würde in Zukunft die Subway nehmen müs sen, auch wenn das fast doppelt so teuer wäre. Erledigt! Im Under ground würde es wohl immer Unfälle geben. Nichts zu machen. Dam ned! Der Polizist ruckte an der Leine seines Kybers und stieg aus. Die Ma schine folgte ihm mit den gleitenden Bewegungen einer monströsen Katze. In Poplar Station verließ Roßberg den Bus. Während er die Treppe hi naufstieg, fühlte er den Luftzug aus der Unterwelt Londons im Nacken. Oben begegnete er wieder einem der Tunnelpolizisten. Der Schwarze musterte ihn ungeniert, während der Kyberhund jedem seiner Schritte mit höchster Aufmerksamkeit zu folgen schien, bereit, ihn bei der ge ringsten ungewöhnlichen Reaktion mit radioaktiver Flüssigkeit zu mar kieren. Roßberg spürte fast etwas wie Haß, als er in die toten Augen und die haarfeinen Öffnungen blickte. Zehn Minuten später erreichte er die Leonhards Road und blieb ver blüfft stehen. Die Dockroad, die er eben passiert hatte, war eine Straße, wie sie für viele Hafenviertel der Welt typisch war, mit langgestreckten, höchstens zweistöckigen Schuppen zu beiden Seiten, mit schmalen
Gehwegen, deren Asphaltschicht sich unter einer jahrealten Schmutz schicht verbarg, und mit den in zwei Viererreihen dahinschießenden Fahrzeugen, die die Luft mit hellem Summen erfüllten. Die Leonhards Road hingegen schien in das Innere eines gespensti schen Waldes zu führen, in ein Gewirr zylindrischer Betonstämme, die kubische Kästen trugen wie groteske Baumkronen, halb aus Beton oder Plast und halb aus Glas. Die Szenerie könnte einem utopischen Film entnommen worden sein, wären da nicht die vielen, zwischen den Säulen parkenden Fahrzeuge von unverkennbar englischer Formgebung und mit typisch englischen Nummernschildern. Das Haus, in dem sich die Firma Lesterson und Longcoat etabliert hat te, unterschied sich in nichts von den anderen, ein auf fünf schmucklo sen Säulen ruhender Klotz, überragt von dem filigranen Gitter des KomMastes. Auf der zentralen Liftsäule waren die Firmentafeln zu einem geometrischen Muster von erstaunlicher Übersichtlichkeit geordnet. Es schien, als durchquerte der Lift das Gebäude nach allen Richtungen, nur anfangs bewegte er sich in der Vertikalen, dann wechselte die Kabine mehrmals ihren Kurs, teilweise so heftig beschleunigend, daß Roßberg bald jedes Gefühl für Lage und Ebene verloren hatte. Als die Fahrt end lich beendet war und die Kabine eine letzte schnelle Drehung um die eigene Achse vollführt hatte, sah er sich einer schmucklosen Tür gegen über, auf der das aus Messing getriebene Schild der Firma Lesterson und Longcoat prangte. Der Mann hinter dem Schreibtisch wirkte erstaunlich jung, ein großer Mann mit schmalen Händen und eckigen Gesichtszügen. Roßberg vermochte das lediglich zu konstatieren, er war zuwenig Kri minalist, um aus der Physiognomie seines Gegenübers auf dessen Cha rakter oder Verhaltensweisen schließen zu können. Statt dessen unterzog er den Anzug des Langen einer aufmerksamen Musterung. Das tauben blaue Jackett saß faltenlos, der Schnitt war modern und doch unauf dringlich. Das war kein Mann, der Anzüge von der Stange trug. Und je länger Roßberg diesen Mann und dessen modern und rationell eingerichtetes Büro betrachtete, um so mehr war er bereit zu glauben,
daß es sich bei der Firma Lesterson und Longcoat um einen Betrieb mit zumindest solidem Anstrich handelte. »Sir…!« sagte der Mann gedehnt und deutete mit einer verbindlichen Geste auf einen Sessel. Seine Stimme war tief und volltönend. Mister Longcoat erwies sich als ziemlich unbequemer Verhandlungs partner. Es war alles weitaus komplizierter, als Roßberg ursprünglich angenommen hatte. Seine Detektei sei total überlastet, erklärte Mister Longcoat gleich zu Beginn in tadellosem Deutsch, und so erfreulich sich die Beziehungen zu den Berliner Dienststellen in der Vergangenheit auch gestaltet hätten, eine solche Verbindung berge naturgemäß erhebliche Risiken. Nun habe er an sich nichts gegen Risiken, die gehörten letztlich zum Geschäft, aber wenn man sein Geld einfacher und gefahrloser verdienen könne… Kurz, er sei außerstande, einen Auftrag anzunehmen, der mehr als einen Mann auf Wochen zu binden drohe. Daß Mister Longcoat das Gespräch mit diesem Hinweis jedoch kei neswegs als beendet betrachtete, deutete er mittels einer Schale Tee an, die er durch eine mandeläugige, zierliche Schöne servieren ließ. Das Mädchen paßte irgendwie zu diesem Mann, der Tee jedoch überhaupt nicht. Roßberg hätte erwartet, daß Longcoat Kognak oder Whisky be vorzugte. Indessen verbreitete sich sein Gesprächspartner über die Auf träge, die die Firma zu erfüllen hätte. Das alles trug Longcoat mit grol lender Stimme und in sehr beherrschtem Tonfall vor. Nur ein einziges Mal verriet er eine gewisse Erregung. Als Roßberg, dem es zuviel wurde, sich die Erörterungen über Aufträge und mangelnde Qualifikation eini ger Angestellter anhören zu müssen, unvermittelt von Bessows Verhal ten zu sprechen begann, blickte Longcoat interessiert auf. Und als Roß berg schließlich die Vermutung aussprach, hinter dieser Sache stecke zweifellos eine gutgeführte Organisation, da sprang der Detektiv aus seinem Sessel auf und lief, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, vor dem Fenster hin und her, so daß man kaum mehr als sein scharfna siges Profil zu erkennen vermochte. Aber Mister Longcoat fing sich, wie nicht anders zu erwarten, schnell. Und als er sich wieder in seinen Sessel fallen ließ, da schien es, als habe sich sein ablehnendes Verhalten eher
noch verstärkt. Sicherlich hätte Holger Roßberg bereits zu diesem Zeit punkt jeden weiteren Versuch aufgegeben und wäre seiner Wege gegan gen, wenn ihm der Detektiv nicht abermals durch eine Schale Tee zu verstehen gegeben hätte, daß er das Gespräch fortzusetzen gedenke. Vielleicht aber war es auch die unverkennbare Erregung Longcoats, die ihn vermuten ließ, der andere wisse mehr über das Wirken jener Organi sation, als er zuzugeben bereit war. Vielleicht brauchte der Detektiv nur ein wenig Zeit, um mit sich selber ins reine zu kommen. Und so beschloß Roßberg, weiter zu warten. »Sehen Sie, Mister Roßberg«, grollte Longcoat. »Wir erleben zur Zeit in England eine Scheidungswelle ohnegleichen. Es ist wie eine Sucht. Meh rere Jahrzehnte lang lag die Scheidungsrate hier auf der Insel weit unter der des Kontinents. Man könnte annehmen, meine Landsleute hätten jetzt nichts Besseres zu tun, als das Versäumte nachzuholen. Das schafft uns natürlich eine Menge Arbeit.« »Aber soviel ich weiß, befaßt sich Ihre Firma doch nicht mit den Auf gaben von Anwälten.« Longcoat lachte glucksend. »Aber gewiß nicht, Sir. Doch wir sind es schließlich, die den Anwälten das Material liefern. Wir observieren. Und in siebzig Prozent aller Fälle sind wir imstande nachzuweisen, daß der eine oder andere unerlaubte Beziehungen zu Dritten unterhalten hat. Unser Scheidungsrecht bevorteilt den Betrogenen, müssen Sie wissen.« »Ein schlechtes Gesetz«, warf Roßberg ein. Aber Longcoat lachte noch immer. »Ein altes Gesetz«, korrigierte er. »Ein zugegebenermaßen auch konservatives Gesetz, Sir. Wir Engländer lieben eben plötzliche Veränderungen nicht. Und unserer Firma ver schafft dieses Gesetz eine Menge guter Aufträge. Ich mag solche Geset ze.« Er nahm einen winzigen Schluck Tee. »Oder nehmen Sie die Stu denten, Sir. Studenten neigen zu Aggressionen und damit zu demonstra tiven Aktivitäten. Und vor jeder ihrer Veranstaltungen bekommen wir bergeweise Aufträge besorgter Väter, die uns um fotografische Überwa chung ihrer Sprößlinge ersuchen. Sie hoffen, im Ernstfall nachweisen zu können, daß ihr Liebling zwar mitgelaufen sei, sich jedoch keinerlei An griffe auf die Staatsmacht habe zuschulden kommen lassen. Das ist ein nie versiegender Quell. Obwohl…« Longcoat beugte sich über den Tisch
und senkte seine Baßstimme zu vertraulichem Flüstern. »Obwohl, unter uns gesagt, die Polizei natürlich gar nicht daran denkt, solche Beweise anzuerkennen. Die Fotografie zeigt ja lediglich, daß der Demonstrant nur in diesem einen Augenblick nicht… Die Polizei setzt da mehr auf ihre Teilchenzähler. Was ich verständlich finde. Aber sollte ich deshalb den besorgten Vätern von vornherein jede Hoffnung nehmen? Ich mag halt diese Studenten und ihre Väter.« Eine zusätzliche halbe Stunde hatte sich Roßberg gegeben. Eine halbe Stunde und keine Minute mehr. Und genau nach Ablauf dieser Frist er hob er sich und reichte Longcoat die Hand über den Tisch. »Ich danke Ihnen, Mister Longcoat«, sagte er sarkastisch. »Sie haben eine Stunde gebraucht, um mir zu erklären…« Zum zweitenmal zeigte Longcoat Erregung, ein wenig gelinder diesmal zwar als vordem, jedoch ebenfalls unverkennbar. »Aber weshalb denn aufgeben?« rief er, sprang auf und ergriff Roßbergs Hand. »Man kann doch über alles reden, Sir.« Und Roßberg gab abermals eine halbe Stunde hinzu, obwohl ihn ein ungutes Gefühl warnte. In dieser Zeit brachte Longcoat das Argument, seine Firma sei total ü berlastet, nicht ein einziges Mal mehr. Jetzt diente ihm die günstige Auf tragslage lediglich noch als Mittel, das Honorar in die Höhe zu treiben. Und erst jetzt glaubte Roßberg zu begreifen, daß der Detektiv die ganze Zeit über eigentlich nichts anderes getan hatte. Denn jetzt zeigte sich, daß Mister Longcoats Abneigung gegen neue Aufträge keineswegs so groß war, als daß sie sich durch ein Honorar in angemessener Höhe nicht vollends überdecken ließe. Als Longcoat schließlich akzeptierte, tat er das, wie nicht anders zu er warten, mit der Beteuerung, das Honorar decke kaum seine Selbstkosten, und von einer dem Risiko angemessenen Vergütung sei überhaupt nicht zu reden. Doch Roßberg fühlte sich durchaus nicht wie einer, der einen mit allen Wassern gewaschenen Geschäftsmann übers Ohr gehauen hat te. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, selbst in einen Hinterhalt geraten zu sein. Aber noch vermochte er nicht zu erkennen, aus welcher Rich tung die Falle zuschnappen würde.
Sie benötigten eine weitere halbe Stunde, um das Aufgabengebiet ge nauestens abzugrenzen. Und seltsamerweise spielte dabei das Risiko ü berhaupt keine Rolle mehr. Er würde schon dafür sorgen, versprach Longcoat, daß zwei seiner Leute den wenigen Spuren, die Bessow in London hinterlassen haben dürfte, mit minutiöser Genauigkeit folgen würden, und er würde zu diesem Zweck zwei Männer bestimmen, von denen man sicher sein dürfte, daß sie in äußerst unauffälliger Weise zu Werke gehen würden. »Es wäre doch gelacht«, bemerkte er beim Abschied aufgeräumt, »wenn es uns nicht gelänge, gehörig in diesem Ameisenhaufen herumzu stochern.« Jetzt glaubte Roßberg die Gefahr deutlich zu spüren, aber noch immer vermochte er sich von ihr kein klares Bild zu machen. Kurz nach siebzehn Uhr stand er wieder draußen zwischen den im Grau des Nachmittags verschwimmenden Säulen. Er fand, daß es noch viel zu früh war, um auf kürzestem Weg zurück ins Hotel zu fahren. Außerdem mochte er nicht auf seinen täglichen Spaziergang verzichten. Er brauchte ein wenig Bewegung. Im Lauf der letzten Jahre hatte er sich daran ge wöhnt. Früher hatte es eine Zeit gegeben, da hatte ihm das tägliche Ei nerlei im Labor hin und wieder Kopfschmerzen verursacht. Zwei oder drei Jahre lang hatten Tabletten dagegen geholfen, aber irgendwann hatte sich der Körper wohl an das Medikament gewöhnt. Die Kopfschmerzen waren schließlich geblieben. Damals hatte er sich angewöhnt, täglich eine bestimmte Strecke zu laufen, und seitdem gehörten Kopfschmerzen für ihn zu den Ausnahmeerscheinungen. Er durchquerte den Säulenwald in nördlicher Richtung, ging vorbei an tristen, grauen Häusern, und je weiter er kam, um so schmutziger wur den die Straßen. Der mittlere Ring war offensichtlich nicht gleichmäßig verfallen, es gab Straßenzüge, die noch gut intakt waren, wenn sich wohl auch die Art ihrer Bewohner in den letzten Jahren erheblich gewandelt hatte. Der Baustil der Häuser, ihre Anordnung, die Gärten, die ehemals sicherlich kleinen Parks geglichen hatten, deuteten hin auf ihre früheren Besitzer, kleine Handelsleute vielleicht, Inhaber von Restaurants oder von Handwerksbetrieben. Heute aber war das alles anders.
Ebenso wie in Paris, lebte hier im mittleren Ring die unterste Schicht der Bevölkerung, vornehmlich Arbeitslose oder Gelegenheitsarbeiter, in den Haustüren lungerten kurzberockte Frauen aller Hautfarben und je den Alters mit grell geschminkten Gesichtern, und die Vorgärten waren längst verwildert und verkommen. In einer Snackbar am unteren Ende der Commonlane, dort wo der mittlere Ring die City tangierte, aß er zu Abend. Das Lokal war eins von der Art, die man früher als gutbürgerlich bezeichnet hätte, die Einrich tung war elegant, ohne übertrieben teuer zu wirken. Allerdings hatte auch dieses Restaurant seine beste Zeit wohl längst hinter sich. Aber der Kellner trug seinen abgeschabten Frack mit Würde und bewegte sich schnell und geschmeidig trotz seines offensichtlich fortgeschrittenen Alters. Man hatte das Gefühl, er kenne jeden Gast persönlich und wisse jeden einzelnen in der gewünschten Art zu bedienen. Roßberg fühlte sich gemustert von den anderen Gästen, ausschließlich Männer in einfacher Kleidung, nur drüben an der Bar saßen zwei jüngere Frauen, deren Metier unschwer erkennbar war. Sie blickten häufig her über, als interessiere sie der Fremde, dem sie noch nie in ihrem Revier begegnet waren. Roßberg konzentrierte sich auf sein Steak, das entgegen seinen Be fürchtungen besser war, als man es in vielen erstklassigen Hotels dieses Landes serviert bekam. Er aß langsam und mit einigem Genuß, die At mosphäre des Lokals sagte ihm zu, sie erinnerte ein wenig an die in einer der vielen kleinen Eckkneipen Berlins. Trotzdem hielt er sich an die Landessitte und schob den Teller zurück, kaum daß er die Hälfte des Menüs verzehrt hatte. Er wäre gern noch eine halbe Stunde sitzengeblieben, aber der Kellner schien nur auf diese abschließende Bewegung gewartet zu haben. Die Rechnung war für Roßbergs Begriffe unverhältnismäßig hoch. Er ging, abermals von allen Seiten gemustert. Der Ausgang lag unmit telbar neben dem Tresen, so daß er gezwungen war, sich den beiden Frauen bis fast auf Tuchfühlung zu nähern. Sie drehten sich langsam auf ihren Hockern und folgten ihm mit den Augen. Er fühlte sich taxiert wie ein Gegenstand, der zum Verkauf feilgeboten wurde. So blieb er, einem plötzlichen Impuls folgend, stehen und begutachtete seinerseits die bei
den mit herablassendem Lächeln. Und er stellte verwundert fest, daß ihm der Anblick, den die tief ausgeschnittenen Blusen boten, ein gewisses Vergnügen bereitete. Als er dann aber wieder in die Gesichter sah, in diese weißen Masken mit schwarzen Augenhöhlen und blutroten Mündern, da spürte er die Ernüchterung um so deutlicher. Er zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Er erreichte die City in der Nähe der Hanbury Street. Über London war die Dämmerung hereingebrochen. Links von ihm ragte die Christ Church wie eine schwarze Wand gegen das letzte, matte Licht des Tages. Bis zum Barbican war es nicht mehr als eine halbe Stunde Fußweg. Als er den Spital Square erreichte, flammte vor ihm die Lichtflut der City auf. Es war wie eine lautlose Explosion, plötzlich schossen bunte Lichtkas kaden in den Abendhimmel, wechselten ständig Form und Farbe, fielen in sich zusammen und stiegen abermals in die sich herabsenkende Dämmerung. Die Stadt verschwand unter einer gewaltigen Glocke aus Licht und Farben, eingeschlossen in das schweigende Dunkel des mittle ren Ringes. Über die jenseitige Fassade eines Hauses am Spital Square huschte flackernd ein Leuchtbild. Eine grünglühende Rakete jagte ein phantastisches Weltraummonster, eine diskusförmige Qualle mit schlen kernden Krakenarmen. Überall auf der mindestens fünfzig Quadratmeter großen Reklameflächen verpufften Unmengen gelber Sterne, stilisierte Geschosse wohl, die jedoch nicht trafen, nicht treffen durften, denn kaum waren Monster und Rakete rechts verschwunden, da tauchten sie links wieder auf und begannen ihre sinnlose Jagd von neuem. Durch die breiten Schaufenster öffnete sich Roßberg der Blick in eine grell ausgeleuchtete Halle, er konnte Menschen und Automaten erken nen, blinkende Hebel und zuckende Lichter, verbissene und lachende Gesichter und Hände voller Chips. Eine fast magisch zu nennende An ziehungskraft ging von all dem aus, er spürte sie deutlich, nur einmal wollte auch er sich mit einem dieser einarmigen Banditen messen kön nen, die rollenden Zeichen und Zahlen verfolgen, einmal nur das Klin geln der Chips hören und das Gefühl spüren, die sinnlos gebende und nehmende Maschine überlistet zu haben.
Nur einen Augenblick lang zögerte er, dann hatte er einen Weg gefun den, die eigenen Skrupel zu verdrängen. Er würde sich ein Limit setzen, nicht mehr als zehn Chips, und er würde dieses Limit unter keinen Um ständen erhöhen. Er würde sich nicht in die Macht dieser Maschinen begeben, er wußte, daß er stark genug sein würde, auch einen Totalver lust zu akzeptieren. Die Halle hing voller Tabakrauch, Rasseln und Klappern klang aus den Maschinen, hin und wieder das langanhaltende Klimpern von Münzen, wenn es einem der Spieler gelungen war, einen vollen Coup zu landen, Rufe des Entzückens und verhaltenes Murren. Die Menschen schienen Teil der Maschinen geworden zu sein, ihre Aufgabe erschöpfte sich darin, einen Chip nach dem anderen in unersätt liche, metallene Münder zu stopfen, Hebel zu ziehen und zu warten. Abzuwarten, bis das blinde, in Kunststoff und Elektronik installierte Schicksal zwischen Sieg und Niederlage entschieden hatte. Zwischen menschlichem Sieg und der Niederlage eines Menschen. Man beachtete Roßberg kaum, auch dann nicht, als er aus einem Wechselautomaten für über hundert Schilling zehn Chips aus einem ihm unbekannten, metallisierten Kunststoff zog. Erst als er neben einen der Spielenden trat, hob der Mann kurzzeitig den Kopf und streifte ihn mit einem Blick aus schmalen Augen, die seltsam alt in dem glatten Gesicht wirkten. Der Mann schien eine Methode entwickelt zu haben, von der er wohl hoffte, mit ihr die Maschine und damit sein Schicksal überlisten zu kön nen. Er zog den Hebel langsam bis zum Druckpunkt, wartete eine Weile wie ein Schütze auf dem Anstand, riß ihn ruckartig herunter und ließ ihn wieder nach oben schnellen. Hin und wieder klapperten zwei oder drei Chips im Ausgabeschlitz. Roßberg beobachtete und rechnete. Er hatte genügend Zeit, der Mann spielte voller Versunkenheit und Konzentrati on. Die Gewinnquote lag bei ungefähr 0,4, für zehn eingeworfene Chips spuckte der Automat höchstens vier wieder aus. Das wäre an sich ein guter Grund gewesen, das Spiel erst überhaupt nicht zu versuchen, aber zur Umkehr war es wohl schon zu spät. Erstaunt spürte Roßberg, daß er dem Augenblick, in dem er den Kampf aufnehmen konnte, förmlich entgegenfieberte.
Endlich trat der Mann zurück, einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke abermals, Roßberg sah ein Lächeln, das fast unmerklich um einen dünnlippigen Mund spielte, und er sah helle, ernste Augen über dicken Tränensäcken, Augen, die selbst das winzigste Lächeln Lügen straften. »Please, Sir«, sagte der Mann und ging. Der erste Chip verschwand, ohne daß man mehr als ein leises Klap pern hörte, und auch der zweite versickerte irgendwo in den verschlun genen Eingeweiden des Apparates. Aber dann geschah etwas, das Roß berg einen Ausruf spontaner Freude entlockte: Die vier Zahlenrollen zeigten eine fortlaufende Reihe, einen Augenblick lang schien die Ma schine verblüfft den Atem anzuhalten, dann begannen Chips in den Ausgabeschlitz zu klingeln. Er zählte fünfzehn blanke Scheiben, fünf zehnfacher Gewinn also. Erst als er vier weitere Chips verloren hatte, begriff er, daß es selbst im Augenblick der Auszahlung nur ein fünffa cher Gewinn gewesen war, und daß er sich jetzt schon auf wenig mehr als einen doppelten reduziert hatte. Das achte Spiel brachte ihm drei Chips ein, und danach hüllte sich der Apparat in Schweigen. Als er nur noch im Besitz von drei Chips war, glaubte er, das teuflische Programm des Automaten endlich durchschaut zu haben. Die Maschine reizte den Spieler durch Anfangserfolge zu weiterem Einsatz, gab ihm hin und wieder einen Schimmer von Hoffnung und schluckte auf diese Weise fast unmerklich Chip um Chip. Diese Erkenntnis ernüchterte ihn augenblicklich derart, daß er sich abwandte und zur Tür ging. Unmittelbar neben dem Ausgang stand eine Maschine, die noch einmal seine Aufmerksamkeit weckte, ein schrankförmiger Kasten, in dessen Oberteil ein Bildschirm eingearbeitet war. Und um diese Mattscheibe herum leuchtete eine phantastische Szene in schreiend bunten Farben, Spacy Rocketson in verzweifeltem Kampf um das Überleben des kosmi schen Imperiums von Terra. Es waren Bilder, die zum Lachen reizten, frei im Raum schwebende Menschen, aus deren Strahlpistolen kilometer lange Flammenzungen schossen, um sich in die Leiber mißgestalteter Angreifer zu bohren, in die Körper unmenschlicher Wesen in den aber witzigsten Formen. Vor dem Bildschirm aber lud ein weichgepolsterter Sessel zum Verweilen ein. Roßberg erinnerte sich an eine mehrwöchige Leserdiskussion der Berliner Zeitungen über das Thema außerirdisches
Leben, und er konstatierte mit Genugtuung, daß damals niemand zu ähnlich abstrusen Überlegungen gekommen war, wie sie der Schöpfer dieser Comics hier im Bild dargestellt hatte. Trotzdem ließ er sich spielerisch in den Konturensessel gleiten. Eine sanft geschwungene Metallgabel, die entfernt einem Motorradlenker äh nelte, schmiegte sich wie von selbst in seine Hände. Unter den Finger spitzen fühlte er weiche Gummimanschetten und Knöpfe, die dem ge ringsten Druck gehorchten. Unter dem Bildschirm leuchtete in grün glimmenden Buchstaben der Hinweis, an diesem Kampfautomaten hätte der norwegische Matrose Korm Halsum die Rekordpunktzahl von 480 erreicht. Roßberg warf einen Chip in den Zahlschlitz und beobachtete, wie sich der Bildschirm langsam mit Leben erfüllte. Unwillkürlich legten sich seine Hände fester um die Lenkhebel. Das grelle Licht der Halle verging zu konturenlosem Dämmer, nur noch der Bildschirm existierte und die langsam aus dem Dunkel tretenden Sterne. Und als dann unvermittelt rechts oben eine riesige haiförmige Kreatur mit seitlich angeordneten Triebwerken auftauchte, da gab es plötzlich nichts mehr als dieses Mons ter und das Visierkreuz, das den Bewegungen der Hände willig folgte. Schnell glitt das Kreuz nach oben rechts, Roßberg wußte, daß ihm nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung stand, aber der Angreifer schien zu ahnen, welche Gefahr ihm drohte, lange Feuergarben brachen aus seinen Antrieben, er wich nach links aus, gewann zugleich an Größe, sich of fenbar nähernd, und dann fuhren aus seinem Bug Bündel kurzer, rohrar tiger Gebilde, Waffen wahrscheinlich, unbekannte, todbringende Waf fen. Roßberg reagierte blitzschnell, er schwang mit dem Sessel herum, für einen winzigen Augenblick tangierte das Visierkreuz das Heck des fremden Fahrzeuges, und genau in diesem Moment feuerte Roßberg. Die heranjagende Rakete verging in einem Glutball atomarer Energien. Und während Roßberg aufatmete, erschien in der rechten unteren E cke des Bildschirmes die Zahl 200. Der nächste Angreifer ähnelte einer langgestreckten Qualle mit heftig schlenkernden Armen, und es gelang Roßberg, das Ding genau in dem Moment zu vernichten, als es sich herumwarf, um ihn mit dem furchtba ren Tentakelkranz zu erdrosseln.
In der rechten unteren Ecke wechselte die Zahl zu 300. Danach erschien eine ganze Flotte winziger, aber sehr schneller Schif fe, die seine volle Aufmerksamkeit beanspruchten. In diesen Minuten beachtete er die sich laufend verändernde Zahl überhaupt nicht mehr, vermochte sie nicht zu beachten, weil er völlig in sein Vernichtungswerk versunken war. Er feuerte und feuerte, jetzt war er selbst Spacy Rocket son, der das Orbit der bedrohten Erde von fremden Monstren säuberte, der einen verzweifelten Kampf um das eigene Überleben und den Fort bestand der Menschheit führte. Schließlich erlosch das Bild abrupt, die Schlacht war geschlagen, unten flammte die Zahl 440 auf. Beifall war plötzlich um Roßberg, erst jetzt bemerkte er, daß er von Zuschauern umringt war. Mit einem Schlag fiel die Faszination der Gewalt von ihm ab, und statt dessen verspürte er einen Anflug von Scham. So hätte ihn Carola sehen müssen, sie wäre entsetzt gewesen. Und doch warf er einen weiteren Chip in den Schlitz. Und wirklich blieb, wie er erwartet hatte, die Faszination diesmal aus, jetzt agierte er wie ein Schütze auf dem Schießstand, gelassen und präzise, aber er hatte dennoch keine Chance, das Ergebnis des Norwegers zu erreichen. Zwar traf er den Hai augenblicklich und holte sich damit seine ersten zweihundert Punkte, aber anstelle der Qualle tauchten diesmal sofort die kleinen Schiffe auf. Vier waren es, und jedes brachte ihm lediglich zwan zig Punkte. So zeigte der Schirm, als das Klingelzeichen ertönte, die Zahl 280. Enttäuscht wendeten sich die Zuschauer ab und verteilten sich an die einarmigen Banditen. Roßberg verließ die Halle, eine Weile lang beherrschte ihn das Gefühl, tatsächlich versagt zu haben. Viel später erst begriff er, daß er auch gegen den Illusionsautomaten keine Chance gehabt hätte, daß ihn abermals das fein ausgeklügelte Programm einer Maschine genarrt hatte. Noch mehr aber störte ihn die Überlegung, wie dünn doch die Decke eigentlich noch war, die eine humanitäre Gesellschaft über die jahrhundertelange Ver herrlichung von Brutalität und Gewalt gebreitet hatte. Erstickt waren diese Relikte wohl noch lange nicht.
Als er sein Zimmer im Barbican betrat, fühlte er sich müde wie nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag. Er warf sich auf die Liege unter dem Fenster und starrte an die Decke, über die wie Serien bunter Blitze die Lichter der Leuchtreklamen huschten. In kurzen Abständen rasten die Züge der City-Rail mit dem Grollen eines Gewitters unmittel bar an seinem Fenster vorbei. Bald ging ihm das Farbengeflimmer auf die Nerven, und er tastete nach dem Lichtschalter, um das Irrlichtern und damit vielleicht auch seine miese Stimmung zu vertreiben. Außerdem wurde es Zeit, sich um zuziehen. Seit dem frühen Abend hatte er nichts mehr gegessen. Aber er fand den Knopf der Tischleuchte nicht sofort. Dabei wußte er genau, daß der sich noch heute morgen in Reichweite befunden hatte. Er sprang auf, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und blickte sich im Zimmer um. Zuerst vermochte er nichts Verdächtiges zu entdecken, aber dann erkannte er an gewissen, teilweise kaum sichtbaren Kleinigkei ten, daß sich in seinem Zimmer etwas verändert hatte. Die Kopie der Brücke von Arles hing ein wenig schief, die Schmuckdecke auf dem Bett wies eine Falte am Fußende auf, und die Lampe an der Liege stand dem Fenster näher als heute morgen. Sofort war er hellwach. Er begann das Zimmer zu untersuchen, aufmerksam und mit all dem Scharfsinn, der einem nicht eben Geübten zur Verfügung stand. Und er fand wirklich weitere Hinweise. Feuchte Spuren auf der Tischdecke ver rieten, daß jemand die Blumen aus der Vase genommen hatte, ein schräg stehender Knebel, daß das Fenster untersucht worden war, einer seiner Anzüge hing mit der Vorderfront nach links im Schrank, und quer über die obere Abdeckung der Kom-Wand zog sich eine feine Schramme. Er war augenblicklich sicher, keiner Täuschung zu unterliegen. Das Mädchen war bereits im Zimmer gewesen, während er gefrühstückt hat te, und er selbst hatte die Angewohnheit, sehr genau auf Ordnung zu sehen. Die Falte in der Bettdecke, der schräg stehende Knebel am Fens ter und die feuchten Flecke auf der Tischdecke, all das wäre ihm unbe dingt bereits am Morgen aufgefallen. Und niemals hätte er einen Anzug anders in den Schrank gehängt, als es seiner Gewohnheit entsprach.
Wahrscheinlich hatte man in seinem Zimmer eine Abhöranlage instal liert, und da es eigentlich keine bessere hoteleigene Überwachung als durch die Kom-Wand geben konnte, drängte sich die Vermutung, es handele sich nicht um Angestellte des Barbican, von selbst auf. Jemand von außerhalb des Hotels also. Wer anders als Leute der geheimnisvollen Organisation? Seine Suche brachte keinen Hinweis zutage. Allerdings mußte er ein räumen, daß er in solchen Dingen keinerlei Erfahrung besaß. Vielleicht hätte er diesen Mangel durch gesteigerte Aufmerksamkeit wettmachen können, aber er gab bald auf. Ein Zusatzgerät zwischen den unzähligen Einschüben der Kom-Wand zu finden war ohnehin kaum möglich und hätte wohl selbst einem Fachmann Mühe bereitet. So blieb ihm nichts übrig, als sich mit der Gewißheit zu trösten, daß in seinem Zimmer oh nehin nichts für die anderen zu holen wäre. Er hatte nicht die Absicht, sich mit jemandem über seine Aufgabe zu unterhalten, zumindest in die sem Zimmer nicht. Und seine telegrafischen Meldungen an Meister wür de er vorsichtig genug formulieren. Als letztes entdeckte er schließlich, daß sein Koffer geöffnet worden war. Er ließ sich in einen Sessel fallen, lehnte sich zurück und blickte hinauf zur Zimmerdecke, über die noch immer die Reflexe der Reklamen huschten. Er war weit davon entfernt, den Einbruch als mysteriös zu empfinden. Im Gegenteil. Hier war kein gewöhnlicher Hoteldieb am Werk gewesen. Nichts war gestohlen worden. Viel hatten diese Leute nicht erreicht. Sie kannten jetzt außer seinem Namen noch sein Alter, seinen Geburtsort und seinen Beruf. Das hätten sie bei einiger Geschicklichkeit spätestens morgen auch aus dem Kon greßspeicher herausholen können. Daß er einen Koffer voller wissen schaftlicher Unterlagen bei sich führte und drei Anzüge zur Verfügung hatte, dürfte ihnen ebenfalls nicht viel weiterhelfen. Und mehr hatten sie nicht erfahren. Über seine eigentliche Aufgabe existierten keinerlei Aufzeichnungen. Sie müßten also zu der Überzeugung gelangen, dieser Mister Roßberg wäre wirklich nur aus rein wissenschaftlichen Gründen nach London gekommen. Was hätte ihm Besseres widerfahren können? Mit eigenen Augen hatten sie sich überzeugen müssen, daß ihnen von seiner Seite
offensichtlich keine Gefahr drohte. Das würde ihm mindestens für Stunden, wenn nicht sogar für Tage, den Rücken frei halten. Nur eine Überlegung störte ihn ganz erheblich. Er kam nicht von dem Gedanken los, daß Pat ihre Hände mit im Spiel haben könnte. Immer wieder, sosehr er sich auch dagegen sträubte, kam er auf sie zurück. Er spürte, daß sein Mißtrauen ihr gegenüber erneut zu wachsen be gann, und er fürchtete, sich nicht in genügendem Maß beherrschen zu können, säße er heute abend mit ihr zusammen. Später grübelte er lange über dem Text eines Telegrammes an Meister, aber da ihm nicht eine Formulierung hinreichend unverfänglich erschien, ließ er es schließlich ganz. So blieb auch an diesem Abend das kleine Rechteck auf dem Bildschirm der Kom-Wand dunkel.
6
Am anderen Morgen hatten die Vorbereitungen für den Kongreß einen ersten Höhepunkt erreicht. Die Halle war voller Menschen, an den Wänden reihten sich Tische und Hinweisschilder, die Terminals der Tischkomputer verteilten Teilnehmerkarten und Spezialprogramme. Roßberg ließ sich Zeit. Er würde den ersten Ansturm abwarten und sich etwa gegen Mittag anmelden. Er hoffte Henderson zu treffen, jenen alten Biologen, von dem die Theorie über die Londoner Taxifahrer stammte. Wenn ihm jemand weiterhelfen konnte, dann Henderson. Der Professor war einer derer, die sich weder um Konventionen noch um die allgemeine Meinung scherten, Henderson trug das Herz auf der Zunge. Und er war ein Insider im besten Sinne des Wortes. Solch einen Mann brauchte Roßberg jetzt. Aber Henderson würde frühestens um die Mit tagszeit herum eintreffen. So frühstückte Roßberg ausgiebig, las die Morgenpresse ohne sonderli che Anteilnahme, überflog die ersten Interviews prominenter Kongreß gäste, deren teilweise haarsträubende Prognosen meist auf die Seiten drei oder vier gesetzt worden waren, da derartige Kongresse zum Alltag Lon dons gehörten. Noch hatte er sein Frühstück nicht beendet, als ihm der Kellner einen Mister Fisher meldete, der ihn in angeblich wichtigen Angelegenheiten zu sprechen wünsche. Gleich darauf stand Mister Fisher neben dem Tisch und neigte den Kopf mit einer abgezirkelten Bewegung. Fisher war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit Bürstenhaarschnitt, sein Anzug war dunkel und unauffällig, das Jackett einfarbig bräunlich, die enge Hose mit feinen Nadelstreifen. »How are You, Mister Roßberg«, grüßte er mit ausdrucksvoller Stimme und sagte dann leise: »Ich bin Mitarbeiter der Firma Lesterson und Longcoat, Detektiv also, wenn Sie eine solche Bezeichnung für angemes sen halten.« Mister Fisher lächelte ein wenig, was ihn plötzlich jungen haft munter erscheinen ließ. »Ich bin mit den Ermittlungen im Fall Bes
sow beauftragt, ich und mein Kollege Blowman.« Fishers Lächeln mach te einer säuerlichen Miene Platz, viel schien er von seinem Kollegen nicht zu halten. »Darf ich?« fragte er und deutete auf einen Stuhl. Als Roßberg nickte, setzte sich Fisher umständlich und blickte sich im Restaurant um. Er schwieg lange, und seinem Gesicht war nicht die geringste Regung anzu sehen. »Nun, Mister Fisher«, versuchte Roßberg das Gespräch in Gang zu bringen. »Welchem Umstand verdanke ich Ihren Besuch? Wenn Sie noch irgendwelche Angaben benötigen…« Der Detektiv legte die Fingerspitzen aneinander, holte tief Luft und schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, nein«, sagte er. »Ihre Angaben reichten uns vollkommen aus. Ich bin gekommen, um Ihnen bereits jetzt einen ersten Bericht zu geben.« Fisher neigte dazu, sich zu verbreiten. Seinen Ausführungen zufolge war es schon eine äußerst aufwendige Arbeit gewesen, die ersten Schritte des Trainers genau zu eruieren. Leider stand dem angeblichen Aufwand entgegen, daß der bisherige Erfolg, zumindest für Roßbergs Empfinden, gleich Null war. Was in Anbetracht der extrem kurzen Ermittlungszeit eigentlich kaum überraschen konnte. Bessow hätte sich bis zur Pressekonferenz nie von seinen Leuten ent fernt, berichtete Fisher, seine Kontakte zur anderen Seite hätten sich auf offizielle Gespräche beschränkt, bei denen er sich zudem noch stets in Gesellschaft des einen oder anderen Spielers und der Funktionäre be funden hätte. Es wäre also mit Sicherheit auszuschließen, daß ihm gegen seinen Willen eine Injektion beigebracht worden sein könnte. Völlig ab surd aber wäre die Vermutung, er könnte enge Kontakte zu Frauen ge habt haben. »Nun gut, Mister Fisher«, sagte Roßberg schließlich und erhob sich. »Damit haben Sie also bisher lediglich festgestellt, was nicht geschehen ist.« Aber Mister Fisher schien mit diesem Ergebnis durchaus zufrieden zu sein. Es wäre ja immerhin schon ein Erfolg, herausgefunden zu haben, was Bessow vor der Konferenz nicht getrieben hätte, erklärte er wort reich. Und wenn man eine Möglichkeit nach der anderen eliminiere,
dann bliebe ja zum Schluß nur noch die, die notwendigerweise den Tat sachen entspreche. Selbstverständlich vermochte sich Roßberg diesem Argument nicht gänzlich zu verschließen, aber er war keineswegs überzeugt, daß sich eine solche Methode im vorliegenden Fall bis zur endgültigen Klärung treiben ließ. Er zögerte nicht, Mister Fisher von seinen Befürchtungen in Kenntnis zu setzen, aber der blieb nach wie vor unbeeindruckt. Umständlich zog er eine Zeitung aus der Rocktasche, breitete sie auf dem Tischchen aus und strich sie glatt. »Vielleicht interessiert Sie das, Mister Roßberg«, sagte er und deutete auf ein Foto, das fast den ganzen Keller der Titelseite einnahm. Das Bild zeigte einen auf einer Trage liegenden, dicklichen Mann, dessen Augen mit seltsam leerem Blick am Betrachter vorbei in die Ferne starrten. »Selbstverständlich könnte es sich um einen ganz normalen Unfall handeln«, begann Mister Fisher seine Erläuterung. »Aber es gibt da eine Reihe merkwürdiger Übereinstimmungen.«
7
Als er erwacht, dämmert vor dem schmalen, hohen Fenster ein trüber Morgen herauf. Die Luft im Zimmer riecht ein wenig nach Staub, ziem lich unangenehm nach Schweiß und vor allem nach Frau. Es ist ein schwerer, über allem lastender Geruch, der den Atem benimmt. Er hat Mühe, zu sich selbst zu finden. Langsam richtet er sich auf und lauscht in sich hinein. Abgesehen von einem leichten Ziehen in den Gelenken und einem kaum merklichen Kopfschmerz fühlt er sich nicht schlecht. Nur als er sich mit beiden Händen über den nackten Oberkörper streicht, hat er den unangeneh men Eindruck, an seinen Fingern seien Spuren von Schweiß und Schmutz zurückgeblieben. Es ist heiß und stickig. Die Frau liegt halb auf der Seite, ein Bein angezogen und das andere weit von sich gestreckt, ihr Gesäß wölbt sich bleich wie der Leib eines phantastischen Insektes. Leise schlägt er die Bettdecke zurück und er hebt sich. Nachdem er geduscht hat, fühlt er sich erstaunlich frisch, nur der pe netrante Geruch im Zimmer stört ihn nach wie vor. Noch naß dehnt er sich mit hochgereckten Armen. Fast erreichen seine Fingerspitzen die niedrige Decke. Er zieht den Bauch ein und wölbt die behaarte Brust heraus, es ist, als steigen plötzlich neue, längst verlorengeglaubte Kräfte in ihm auf. Es tut gut, sich selbst zu beweisen, daß man als Mann noch immer zu bestehen vermag. Bedächtig zieht er sich an, jedes Geräusch vermeidend, um keinen Preis der Welt mag er jetzt die Frau wecken. Noch schläft sie tief und fest, schläft zufrieden wie jemand, der sein Tagewerk erfolgreich hinter sich gebracht hat, schläft den Schlaf der Gerechten. Mit einem Blick streift er ihre Brüste, die groß und weiß und blauge ädert unter ihr hervorquellen. Und wendet sich ab. Unvermittelt spürt er einen faden Geschmack im Mund. Als er den Hemdkragen schließt, be merkt er, daß seine Hände zittern.
Er tastet seine Taschen ab, atmet beruhigt auf, als er Brieftasche und Geldbörse fühlt, und wirft ein paar Geldscheine auf den Tisch. Der A tem der Frau geht laut und regelmäßig. Bevor er das Zimmer verläßt, geht er noch einmal zum Tisch zurück, zählt das Geld und steckt zwei der Scheine wieder ein. Draußen vor der Tür, die übergangslos aus dem kleinen Zimmer auf die Straße führt, holt er tief Luft. Einen Augenblick lang hat er Mühe, sich zu orientieren, am gestrigen Abend ist er alles andere als nüchtern gewesen, und zudem sind die Nächte in diesem London wesentlich finsterer als die daheim in Ba sel. Der Gedanke an seine Heimatstadt bringt ihm jäh den Grund seines Aufenthaltes in London in Erinnerung. Er wird einen anstrengenden Tag zu gewärtigen haben. Er läßt eine Actigen aus dem Pillenspender in die hohle Hand fallen, wirft die Tablette in die Luft und fängt sie mit dem Mund auf. Der intensive Geschmack nach Ingwer behagt ihm nicht son derlich, aber er nimmt ihn gern in Kauf, dieses Actigen ist ein ausge zeichnetes Mittel, er schluckt es häufig, vor allem dann, wenn er sich abgespannt fühlt oder fürchten muß, überfordert zu werden. Abermals reckt er sich, diesmal im Gehen, und er konstatiert mit Ge nugtuung, daß er sich trotz aller überstandenen Anstrengungen so gut wie selten in den letzten Jahren fühlt. Vielleicht soll er solche Nächte doch zum üblichen Gebrauch werden lassen, sinniert er, zumindest bei seinen Reisen ins Ausland. In Basel hat er dazu kaum Gelegenheit, in Basel ist er schließlich wer, und schon mancher unbescholtene Ge schäftsmann hat sein Renommee im Bett einer Prostituierten verloren. Die Presse ist scharf auf das, was man in der Schweiz als Exzesse zu bezeichnen pflegt, und schenkt man den Andeutungen gestrauchelter Geschäftsfreunde Glauben, dann ist sogar zu befürchten, daß die eine oder andere dieser Damen mit Reportern kooperiert. In dieser Beziehung hütet er sich, Risiken einzugehen. Als Weinhänd ler, der fast ausschließlich das Exportgeschäft betreibt, lebt er nicht schlecht, hat also immerhin einiges zu verlieren. Hier in London besteht diese Gefahr nicht, oder doch wohl erst dann, wenn sich sein Kundenkreis entscheidend erweitert haben wird. Was allerdings abzusehen ist. Das Geschäft mit Schweizer Weinen beginnt in
England ganz ausgezeichnet zu laufen, zumal die Briten nicht mehr von Weinen zu verstehen scheinen als die Norweger oder die Eskimos. Des halb hat es ihm auch nicht allzuviel ausgemacht, daß er den französi schen Markt vor Jahresfrist aus Qualitätsgründen aufgeben mußte. Wein nach Frankreich verkaufen, das hieß ohnehin Eulen nach Athen tragen. Außerdem war er auf italienische Zwischenhändler angewiesen, um den Importstop zu umgehen, den die französische Regierung schon vor Jah ren für Schweizer Erzeugnisse ausgesprochen hatte. Solche Transaktio nen führen immer zu Gewinnminderung. Von den Gefahren ganz abge sehen. Da ist der Markt im alten England schon um einiges besser. Als er die alten Baumbestände des Roundwood Parks erreicht, bleibt er sichernd stehen. Ein unbekanntes Gefühl warnt ihn vor einer Gefahr, die er nicht einzuordnen vermag. Er weiß nur, daß sie existiert. Nicht mehr. Er überlegt, blickt sich nach allen Seiten um, und dabei nimmt sein Gesicht einen Ausdruck an, als lausche er auf ein weit entferntes Ge räusch. Ein beunruhigender Vorgang spielt sich in ihm ab. Er spürt die Gefahr deutlich, spürt sogar, daß sie mit jeder Minute wächst, aber er könnte nicht erklären, woher er diese Gewißheit bezieht. Er befindet sich in der Situation eines Sehenden, der einem Blinden die Eigenarten der Farben erläutern soll. Schließlich ist er sicher, daß diese Warnung aus Quellen kommt, die ir gendwo in seiner fernsten Vergangenheit liegen müssen, daß es sich um verschüttete Informationen handelt, die irgendwo in den verborgenen Winkeln seines Bewußtseins gespeichert sind. Und augenblicklich be schließt er, der Sache auf den Grund zu gehen. Abermals blickt er sich um, und erst als er sicher ist, daß sich zu so früher Stunde niemand außer ihm auf den Beinen befindet, läßt er sich auf die Knie nieder, nähert sein Gesicht dem Asphalt und prüft dessen Beschaffenheit mit den Lippen. Nichts wird dadurch klarer, nur die Angst steigert sich weiter. Es ist eine Furcht, die aus allen Winkeln seines Unterbewußtseins hervordrängt wie ein Schwarm summender Insekten. Irgendwo in den Baumwipfeln über ihm schrillt der Warnschrei eines Vogels.
Er erhebt sich halb und stützt sich auf die Handknöchel. Drüben an der Hauswand stehen zwei Frauen und deuten herüber. Auf ihren Ge sichtern streiten sich Entsetzen und Heiterkeit. Er steht ganz auf, was ihm erhebliche Mühe bereitet, und hastet tor kelnd die Pound Lane hinunter. Hin und wieder gewahrt er, daß sich in der Nähe Fenster öffnen, aus denen man ihn beobachtet oder ihm höh nische Bemerkungen nachruft. Spätestens nach zwanzig Schritten hat er den Eindruck, umstellt zu sein. Die Menschen erinnern ihn an eine Her de wütender Paviane. Und er weiß, wie furchtbar die Reißzähne der Pa viane sind. Wieder läßt er sich auf die Handknöchel nieder, blitzschnell diesmal, und wendet sich um. Mit gefletschten Zähnen läuft er einen Kreis und genießt den Schrecken, den seine Drohgebärde verbreitet. Für kurze Zeit wird er jetzt vor den Verfolgern sicher sein. Und so wendet er sich er neut zur Flucht. Unmittelbar vor sich sieht er den Stamm eines ihm un bekannten Baumes aufragen. Er hebt die Augen, um die Krone zu be trachten. Die Äste stehen nicht besonders dicht, aber ganz oben ver flechten sich eine Unmenge feiner Zweige zu einem dichten Dach. Die Form des Baumes ist keineswegs ideal, aber immerhin bieten die oberen Zweige wesentlich mehr Versteckmöglichkeiten, als er sie auf ebenem Boden finden würde. Mit wenigen Sprüngen erreicht er den Stamm, dessen Borke fest und rauh ist. Er krallt seine Finger in die breiten Spalten, zieht sich mit einem einzigen Ruck auf den untersten Ast hinauf, ergreift die peitschenartig herabhängenden Zweige der zweiten Etage und richtet sich auf. Es be reitet ihm keinerlei Schwierigkeiten, sich von Stufe zu Stufe zwischen den Ästen hinaufzuhangeln, und es wundert ihn nicht, daß er weder Mü digkeit noch Schwäche verspürt. Bald trifft die noch immer tiefstehende Sonne durch die obersten Zweigbündel sein Gesicht. Er genießt die Wärme des beginnenden Tages. Unschwer findet er ein dichtes Gewirr elastischer Zweige, das fast ge nau senkrecht über dem Hauptstamm liegt, biegt die Äste zu einer Art Plattform zusammen und verbindet sie mit Hilfe peitschenartiger Ruten zu einem festen Nest.
In der Wärme der aufsteigenden Sonne rollt er sich zusammen und schläft unmittelbar darauf tief und fest. Er erwacht, weil Kälte unangenehm durch den dünnen Stoff seiner Klei dung kriecht. Im Rücken spürt er zudem einen unerklärlichen Druck. Es ist, als habe ihm irgendein Witzbold mehrere Lineale unter das Laken gesteckt. Er tastet um sich, aber er vermag sich nicht zu erklären, auf welch eigenartige Strukturen seine Hände treffen. Immerhin begreift er augenblicklich, daß er nicht in seinem Bett liegen kann. Eine Gewißheit, die durch die ungewöhnliche Richtung, aus der die Straßengeräusche an sein Ohr dringen, noch erheblich unterstützt wird. Sie scheinen direkt von unten zu kommen. Bevor er die Augen öffnet, macht er sich mit dem Gedanken vertraut, daß ihn die nächsten Sekunden mit Ungewöhnlichem konfrontieren werden. Trotzdem spürt er einen Schock, als er sieht, auf welch einer Art von Ruhelager er sich befindet. Er braucht wohl fünf Minuten, um an die Tatsache glauben zu können, daß er sich in einer Höhe von mehr als zwanzig Metern in der Krone eines Parkbaumes auf nachlässig miteinan der verflochtenen Zweigen aufhält. Und er ahnt, daß er niemals erfahren wird, auf welche Weise er an diesen Ort gelangt ist. Bereits bei der ersten vorsichtigen Bewegung überkommt ihn ein Ge fühl panischen Entsetzens. Und doch versagt er es sich, um Hilfe zu rufen. Er kann es sich einfach nicht leisten, hier in London zu trauriger Berühmtheit zu gelangen. Niemand in England würde auch nur noch ein Stück Brot von ihm nehmen, geschweige denn eine Kiste Wein. Nein, aus dieser unglückseligen Angelegenheit müssen Presse und Funk he rausgehalten werden. Er muß den Boden aus eigener Kraft erreichen. Und zwar unverzüglich, denn unten in den angrenzenden Straßen ver sammelt sich bereits eine große Menschenmenge, die noch in stetigem Wachstum begriffen ist. Seine Bewegungen in der Baumkrone sind nicht unbeobachtet geblieben. Langsam und mit äußerster Vorsicht dreht er sich auf den Bauch. Von unten klingt ein Schrei von mindestens zweihundert Leuten herauf. Er blickt durch den Boden seiner locker geschichteten Plattform und sieht den Rasen tief unter sich hin und her schwanken. Aber er weiß sofort,
daß ihn der Augenschein täuscht. Nicht der Rasen dort unten bewegt sich, sondern die Krone des Baumes, in der er Quartier bezogen hat, wird in Bewegung versetzt, weil er sich in diesem verfluchten Nest ge dreht hat. Er versucht gar nicht erst, über den Rand der Zweiplattform abzustei gen, er beginnt mit beiden Händen den Boden aufzureißen, indem er Zweige und Äste zur Seite schiebt. Hin und wieder klingen von unten Rufe herauf, die sich jedoch stets dann zu Entsetzensschreien steigern, wenn größere Teile der Plattform abbrechen und zwischen den unteren Ästen hindurch in die Tiefe stürzen. Schließlich geht er in die Hocke, um die Beine durch die entstandene Öffnung schieben zu können. Er hat die Absicht, sich mit den Füßen voran zwischen den Zweigen hindurchgleiten zu lassen und sich mit den Händen so lange festzuhalten, bis seine Füße eine ausreichend feste Stütze gefunden haben. Allein, er hat die Festigkeit des Nestes über schätzt. Er spürt, wie sich seine Knie langsam durch die lose Schicht der Zwei ge drängen, wie sie schließlich einbrechen, und er bemerkt zugleich, daß ihm kalter Schweiß aus allen Poren bricht. Seine Knie sinken tiefer und tiefer ein, er greift sinnlos mit den Händen um sich, klammert sich mehrmals an kleine Zweige, die jedoch stets unter dem sich verstärken den Zug seines Körpers reißen, und durchbricht schließlich prasselnd die Plattform wie ein stürzender Deckenbalken. Er hört einen vielstimmigen Schrei und das auf- und abschwellende Heulen einer Polizeisirene, das seltsamerweise von oben zu kommen scheint, spürt den heftigen Schlag eines der obersten Zweige gegen seine Stirn und hat das Gefühl, in einen nicht enden wollenden Schacht zu stürzen. Und plötzlich hat er keine Angst mehr. »Well, Mister Roßberg«, sagte Fisher. »Der Mann war sofort tot. Ein Sturz aus zwanzig Meter Höhe ist mehr, als ein Mensch vertragen kann. Vielleicht hat ihn bereits der erste Anprall an einen Ast getötet. Er hat te mehrere Knochenbrüche, eine Fraktur der Schä…«
»Ein Weinhändler«, sinnierte Roßberg. »Ein Weinhändler aus der Schweiz.« Fisher blickte mit schräggehaltenem Kopf in die Zeitung. »Ein Mister Krönli aus Basel«, bestätigt er. »War mit Mister Welham von Welham & Sons, Weinimport en gros, verabredet. Und zwar für den gestrigen Vor mittag.« »Das paßt nicht in unser Bild«, sagte Roßberg. Aber Fisher mißverstand ihn. »Das paßt sogar sehr gut, Mister Roß berg«, erklärte er voller Überzeugung. »Das eigenartige Verhalten, als er auf allen vieren die Pound Lane hinunterlief, das Ersteigen eines Bau mes, das Anfertigen eines…« »Er hat weder Frauen belästigt, noch war er der Repräsentant eines fremden Staates«, unterbrach Roßberg unwillig. Aber er spürte selbst, daß er Fishers Argumente nicht einfach von der Hand weisen durfte. Und der Detektiv stieß auch sofort nach: »Krönli kam von einer Frau, von einer Prostituierten. Man benötigt nicht viel Phantasie, um sich vor zustellen, was er dort getrieben hat.« »Sie sollten in Erfahrung bringen, ob er sich bei der Dame ungewöhn lich benommen hat«, verlangte Roßberg. »Vielleicht ist ihr das eine oder andere aufgefallen.« Und als der Detektiv schwieg, zuckte er die Schul tern. »Wenn man überhaupt weiß, wer sie ist«, setzte er hinzu. Fisher strich mit der flachen Hand über den Tisch. »Aber selbstver ständlich kennt man sie, Mister Roßberg.« Die Stimmes des Detektivs ließ deutlich Verwunderung über die Unterschätzung der englischen Re porter und Polizisten erkennen. »Ich werde mich unbedingt um sie kümmern«, fuhr er fort und lächelte maliziös. Dann zog er einen dünnen Block aus der Tasche und machte sich eifrig Notizen. Roßbergs Gedanken kreisten. Natürlich paßte auch dieser Unfall in das Bild. Zumindest teilweise. Die Hintergründe schienen zwar nicht ganz übereinzustimmen. Einen Weinhändler konnte man beim besten Willen nicht als Repräsentanten seines Landes bezeichnen. Aber diese Funktion war eben auch nur ein angenommener Hintergrund. »Wer könnte schon Interesse daran haben, einen Weinhändler aus Ba sel zu diskreditieren?« murmelte er.
Fisher blickte von seinen Notizen auf. »Die Konkurrenz vielleicht. O der ein geprellter Kunde. Krönlis Geschäfte sollen nicht immer solche von der feinsten Sorte gewesen sein. Von seinen Weinen ganz zu schweigen. Ich könnte mir ganz gut denken, daß…« »Sie sind offensichtlich ein hemmungsloser Optimist, Mister Fisher«, unterbrach Roßberg unwillig, und auf dem Gesicht des Detektivs began nen sich Mißbilligung und Zustimmung zu streiten. »Schließlich und endlich kann es sich um ein ganz gemeines Täu schungsmanöver handeln«, beendete Fisher die Aufzählung der Mög lichkeiten. »Wenn eine solche Organisation existiert, dann ist sie auch imstande, eine falsche Spur zu legen.« »Diese Leute scheinen mir zu noch viel mehr imstande zu sein«, sagte Roßberg sinnend. »Sogar zu einer Untersuchung meines Zimmers.« Fishers Gesicht blieb unbewegt. Wenn er erstaunt war, dann wußte er das gut zu verbergen. »Haben Sie derartiges feststellen können, Mister Roßberg?« erkundigte er sich. Roßberg nickte. »Aber ja! Hier bei mir ist eingebrochen worden. Ich bin absolut sicher.« »Das war zu erwarten«, sagte Fischer leise. Und ging. Stocksteif und mit schnellen Schritten. Und offenbar nicht im mindesten verwundert.
8
Roßberg verließ das Hotel durch eine Seitentür, ging bis zur nächsten Straßenecke und betrat eine Kom-Zelle. Wie überall in derartigen öffent lichen Einrichtungen Londons öffnete sich auch hier, kaum daß er seine Kreditkarte eingeschoben hatte, die Sensorscheibe und näherte sich sei nem Gesicht. Er mochte diese Dinger nicht. Wenn er auf die feinen La mellen blickte, dann hatte er stets das Gefühl, ein unbekanntes, exoti sches Wesen beobachte ihn, rechne ihn aus, prüfe nicht nur die Funktio nen seines Organismus, sondern auch seine innersten Gedanken, Merk male und Emotionen. Bisher hatte er derartige Geräte nie benutzt, auch zu Hause in Berlin bevorzugte er die Kontaktdiagnose. Vielleicht, weil ihm die direkte Ana lyse sicherer zu sein schien, vielleicht, weil er sich nur schwer von Über kommenem zu trennen vermochte. So bedeutete er dem Sensor mit einer schnellen Geste, sich unverzüg lich zurückzuziehen, und wählte die Telegrammaufnahme: Er setzte nur einen einzigen kurzen Satz an Meister ab, drei Worte: »EIN WEITERER FALL«. Mehr wagte er dem Kom nicht anzuvertrauen, und er hoffte, Meister werde sich den richtigen Reim auf diese Mitteilung machen. Als er zurückkam, hatte der Andrang an den Terminals der Kongreßor ganisatoren erheblich nachgelassen. Die Halle war fast menschenleer. Er trat an einen der Tische und legte seine Rechte mit gespreizten Fingern auf die. Adapterschale. Das Druckwerk des Rechners begann leise zu schnarren. Die ältliche Dame hinter dem Gerät musterte ihn aufmerksam. Nur hin und wieder warf sie einen kurzen Blick auf den Bildschirm. »Ah, Pro fessor Roßberg«, sagte sie schließlich. »Wir haben schon auf Sie gewartet. Schön, daß Sie doch noch gekommen sind.« Er sah keinen Anlaß, ihr eine Erklärung zu geben, nahm seine Karte und den Beutel mit Kongreßmaterial in Empfang und wollte gehen.
»Einen Augenblick bitte, Professor«, bat die Dame. Sie lächelte ent schuldigend, was ihrem Gesicht einen Anflug von Vertraulichkeit gab. »Wir haben Sie der Fachgruppe für Technologie der Hybridisation zuge teilt. Wir hoffen, daß Sie nichts dagegen einzuwenden haben.« Er hatte sich für die Mitarbeit in dieser Gruppe beworben. Es gab ei gentlich keinen Grund, das Thema zu berühren. »Aber ja, Miss«, sagte er obenhin. »Da wäre dann nur noch die Frage Ihres Betreuers«, fuhr die Frau eif rig fort. »Wir haben Mister Jonas Bixly für Sie vorgesehen.« Das paßte ihm nicht im geringsten. Er hatte keine Lust, sich ständig beobachten zu lassen. »Ich glaube nicht, daß sich das lohnt, Miss«, sagte er ablehnend. »Ich kenne London gut genug, um mich zurechtzufinden. Ich möchte nicht unbedingt…« »Aber ich bitte Sie, Professor«, unterbrach sie ihn schnell. »Das gehört doch zu unserem normalen Service. Und außerdem hat sich Mister Bixly mit dem ausdrücklichen Wunsch beworben, Ihnen zur Verfügung ge stellt zu werden.« Während er diese überraschende Erklärung einzuordnen suchte, gingen ihre Augen an ihm vorbei und überflogen die wenigen Menschen, die sich in der Halle aufhielten. Er erkannte genau den Zeitpunkt, zu dem sie Bixly erspäht haben mußten, und er hoffte, sich die Richtung, in der der Mann zu vermuten war, einigermaßen genau einprägen zu können. »Tut mir leid, Miss«, sagte er. »Ich lehne die Betreuung außerhalb des offiziellen Veranstaltungskalenders ab. Nehmen Sie das bitte zur Kennt nis.« Er sah, daß sie zusammenzuckte. Sie schien äußerst betroffen. »Verstehen Sie bitte«, versuchte er eine Erklärung. »Ich habe eine gute Bekannte hier in London. Eine junge Dame. Ich bitte Sie also…« Wie ein Blitz war der Gedanke an Pat in ihm aufgetaucht, und wirklich schien der Trick gelungen zu sein. Das Lächeln kehrte auf das Gesicht der Frau zurück. »Aber natürlich, Professor«, flüsterte sie, ihrer Stimme einen Anflug von Verständnis gebend. »Selbstverständlich.« Er wandte sich langsam der Halle zu und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er Mister Bixly vermutete. In einem der Sessel an der
Längswand saß ein Mann in mittleren Jahren. Der Mann war nicht sehr groß, schien aber von kräftiger Statur zu sein. Leider wurde er halb von einem der Pflanzenkübel verdeckt. Er trug ein braunes Jackett mit feinen hellen Streifen. Roßberg versuchte sich seine Erscheinung einzuprägen, so gut es in der kurzen Zeit ging. Dann fiel ihm ein, daß er sich nach Henderson erkundigen wollte, und er wandte sich noch einmal der ältlichen Dame zu. Sie stand ein wenig vornübergeneigt und blickte selbstvergessen vor sich auf den Tisch. »Ich habe noch eine Bitte, Miss«, begann er, und sie hob langsam den Kopf. Er sah, daß sich auf ihrem Gesicht Müdigkeit ausgebreitet hatte. »Ich hätte gern erfahren, ob Professor Henderson der gleichen Arbeits gruppe angehört, in die auch ich eingeteilt worden bin.« »Henderson«, wiederholte sie, und ihre Finger glitten über die Tastatur. Einen Moment lang schwieg sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Professor Roßberg. Er ist nicht gemeldet. Sind Sie sicher, daß er über haupt am Kongreß teilnimmt?« Er war eigentlich ganz sicher. Henderson war einer der führenden Köpfe auf ihrem Fachgebiet. Es war schon verwunderlich genug, daß er nicht für die Fachgruppe Hybridisation gebucht haben sollte. »Ja, natür lich!« sagte er überzeugt. Wieder erteilten ihre Hände dem Computer einen Befehl, und wieder schüttelte sie nach kurzer Pause den Kopf. »Nein, Professor«, sagte sie in bedauerndem Tonfall. »Ein Mister Henderson steht nicht in der Teil nehmerliste. Sehen Sie selbst.« Er beugte sich über den Tisch, um die Namen auf dem Bildschirm le sen zu können. Er sah ein Dutzend Namen, den Ausschnitt zwischen G und K, er sah die Namen Hackert und Hinrechs, und plötzlich spürte er Sorge, dem alten Henderson könnte in der Zwischenzeit etwas zugesto ßen sein. »Vielleicht kommt er noch«, sagte er in Gedanken. Aber die Operateurin wehrte ab. »O nein, Professor. Dies ist die Liste der Anmeldungen. Glauben Sie mir. Ein Professor Henderson ist nicht gemeldet.«
Seine Sorge verstärkte sich. Die Frau legte ihm plötzlich mit einer ver traulichen Geste die Hand auf den Arm. Wahrscheinlich hatte sie be merkt, wie bestürzt er war. »Wenn es sich um einen Engländer handelt, könnte ich die Einwohner liste der betreffenden Stadt abrufen, Professor. Die Herstellung der Ver bindung wird zwar einige Minuten in Anspruch nehmen, aber Sie wären dann sicher…« »Er wohnt in London«, sagte Roßberg schnell. »Sie würden mir wirk lich einen außerordentlichen Gefallen erweisen, Miss.« »London?« wiederholte sie. »Dann ist es kein Problem.« Und sie be gann zu schreiben. Wenig später sah Roßberg den Punkt über den Schirm laufen und die Buchstaben wie aus dem Nichts auftauchen. ›HENDERSON, BRIAN W. PROF. EM. 64 PUTNEY HEATH.‹ Es gab ihn also noch, den alten Professor. Aber das EM. konnte nur emeritiert, außer Dienst, heißen. Und diese Tatsache war durchaus nicht dazu angetan, Roßberg zu beruhigen. Im Gegenteil. Aber er wußte auch, daß er hier nicht mehr erfahren konnte. So bedankte er sich und ging hinüber zum Lift. Von der Tür aus sah er, daß Mister Bixly nicht mehr in seinem Sessel saß. Auf dem Tisch in seinem Zimmer lag ein mit Maschine geschriebener Zettel. Die Mitteilung war kurz, aber unmißverständlich. Jemand bedeu tete ihm, er möge sich nicht länger mit Dingen befassen, die außerhalb des Kongreßprogramms lägen, andernfalls würde er London kaum le bend verlassen. Der Schreck dauerte nicht länger als eine Sekunde, dann spürte er et was wie Triumph. Endlich hatte man auf der Gegenseite das Versteck verlassen und war zur ersten offenen Aktion übergegangen. Doch ver mochte die Genugtuung nicht, die Sorge ganz zu verdrängen. Es war immerhin die erste Mordandrohung seines Lebens. Er setzte abermals ein Telegramm an Meister ab, diesmal ohne Rück sicht auf eventuelle Überwachung, und teilte den Sachverhalt genau mit. Seltsamerweise fühlte er sich danach ruhiger.
Den Nachmittag verbrachte Roßberg mit dem Studium der Kongreßma terialien, die ihm kaum Neues bescherten. Trotzdem bemühte er sich, sie Satz für Satz zu lesen, er nahm sich viel Zeit, das Zimmer war zu einer Art Zufluchtsort geworden, den das kleine Rechteck auf dem Bildschirm der Kom-Wand auf beruhigende Weise mit der Heimat zu verbinden schien. Am späten Nachmittag füllte sich das Rechteck plötzlich mit Zeichengruppen: ›Wenden Sie sich an die Polizei. Station 41, Donning ton Road. Inspector Blake. Viel Glück. Meister.‹ Wenn er mit allem Möglichen gerechnet hatte, damit nicht. Ausgerech net an die Polizei sollte er sich wenden. Und dann noch an einen Beam ten, der für die Gegend um das Barbican überhaupt nicht zuständig war. Die Donnington Road lag am anderen Ende der City. Er grübelte lange über diesen seltsamen Hinweis nach, und er kam zu dem Schluß, daß er keine Wahl hatte. Er mußte sich darauf verlassen, daß Meister genau einzuschätzen vermochte, welche Variante die günstigste war. Er schaltete das Gerät ab und ließ sich das Abendessen servieren. Er aß wenig, der Nachmittag hatte ihm den Appetit verdorben. Nachdem der Kellner abgeräumt hatte und gegangen war, tastete er das Bild wieder ein. Die Mitteilung Meisters erschien unverzüglich, und allein die Tatsa che, daß sie noch immer vorhanden war, verschaffte ihm eine gewisse Beruhigung.
9
Wenn die Organisation mit dem Fall Krönli wirklich eine falsche Spur hatte legen wollen, dann nur für ihn, Roßberg, und für niemanden sonst. Um die Polizei in die Irre zu führen, hätte es eines solchen Tricks nicht bedurft. Die Polizei ging weder der einen noch der anderen Fährte nach. Die Station in der Donnington Road glich einem modernen Leitstand, an den Wänden reihten sich Bildschirme, die augenscheinlich zumeist die Überwachung der Umgebung und in geringem Maß der Ausgabe von Daten dienten. Beamte in weißen Hemden regelten Ausschnitte ein und lauschten auf leise Geräusche, auch auf den Schreibtischen standen Da tenterminals und Bilddrucker, die Atmosphäre in diesem Büro schien mit permanenter Spannung geladen. Inspector Blake, ein Mann, der die Vierzig sicherlich längst überschrit ten hatte, mit einem Ansatz zum Bauch und mit klugen grauen Augen, wiegte skeptisch den Kopf hin und her, als Roßberg seine Vermutung, die ja eigentlich die Mister Fishers war, vortrug. »Kein Gedanke an äußere Einwirkungen, Sir«, sagte der Beamte, der seinen Besucher anfangs wohl für einen Reporter hielt, ein wenig von oben herab. »Eine momentane Geistesverwirrung, nichts weiter. Der Mann ist von dem Augenblick an beobachtet worden, in dem er sich auffällig zu betragen begann. Mindestens dreißig Leute haben gesehen, wie er zwischen den Zweigen des Baumes verschwand.« »Und niemand hat den Versuch unternommen, ihn daran zu hindern?« Der Inspector blies die Wangen auf. »Aber weshalb denn, Sir? Nie mand hatte einen Grund dazu. England, müssen Sie wissen, ist ein freies Land.« Eine Spur von Sarkasmus war unverkennbar. »Bei uns darf jeder auf Bäume klettern, der Lust dazu verspürt.« »Bedeutet das auch, daß jeder, der Lust dazu verspürt, in fremde Zim mer einbrechen und Drohungen verteilen darf?« Blake sah auf. »Bitte begnügen Sie sich nicht mit Andeutungen, Sir. Wenn Sie eine Anzeige erstatten wollen…« Er unterbrach sich, als Roß
berg den Zettel auf den Tisch legte. Vorsichtig faßte er das Papier an einer Ecke, hielt es gegen das Licht einer Spezialleuchte, drehte und wendete es und betrachtete es durch eine Lupe. Schließlich verstaute er den Zettel in einer kleinen Plastikrolle und ließ das Ganze irgendwo un ter seinem Schreibtisch verschwinden. »Und nun zu dem Einbruch«, forderte er, ohne besonderes Interesse zu verraten. Roßberg schilderte seine Entdeckung in allen Einzelheiten, aber er vermochte nicht, in den Mienen Blakes mehr als freundliche Aufmerk samkeit zu entdecken. »Wahrscheinlich habe ich mir den Unmut einer Gruppe zugezogen«, schloß er, »die in der Angelegenheit Krönli ihre Hände im Spiel hatte. Ich bin mir dessen ziemlich sicher. Zumal ich von einem weiteren Fall weiß, der sich hier in London zugetragen hat und der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem letzten aufweist.« »Aber ich sagte Ihnen ja schon…«, begann der Inspector, doch dann beugte er sich plötzlich vor und fixierte Roßberg aufmerksam. »Sie sind kein Reporter, Sir!« »Das habe ich auch nicht behauptet«, sagte Roßberg, und die Augen des Beamten wurden schmal. »Sondern?« »Ich bin Biologe. Besuche hier den Kongreß für Mikrobiologie. Und diese beiden Fälle…« Der Polizist unterbrach ihn mit einer Handbewegung und musterte ihn eine Weile schweigend. In seinen Mienen arbeitete es. Schließlich wandte er sich zur Seite, berührte eine Taste, die sofort zu blinken begann, und bestellte mit leiser Stimme zwei Kaffee und Sandwiches. Dann deutete er auf den Sessel neben seinem Schreibtisch. »Na, dann setzen Sie sich mal und lassen Sie hören, Sir«, sagte er, und in seiner Stimme war jetzt we nigstens ein Anflug von Interesse. Noch bevor Roßberg beginnen konnte, spuckte die Klappe unter dem Bildschirm zwei in Folie verschweißte Becher und eine Palette mit beleg ten Broten aus. Und während der Polizist genüßlich kaute, hin und wieder mit einem Schluck Kaffee nachspülend, lauschte er dem Bericht, ohne auch nur ein
einziges Mal zu unterbrechen. Auf seinem Gesicht wechselten Heiterkeit und gelindes Erstaunen einander ab. Manchmal zog es wie Wetterleuch ten über seine Stirn. Zum Schluß legte er die Fingerspitzen zusammen und blickte vor sich auf den Schreibtisch. »Ich fürchte, Sie enttäuschen zu müssen, Sir« sagte er schließlich. »Ich sehe natürlich ein, daß Sie ein gewisses Interesse daran haben, den Aus rutscher Ihres Landsmannes in angemessener Weise zu motivieren, aber ebenso müßten Sie begreifen, daß ich mich Ihrer Meinung kaum an schließen kann. Ich fungiere hier gewissermaßen als unbeteiligter Zu schauer. Sofern das einem Polizisten überhaupt möglich ist. Und deshalb sage ich Ihnen unumwunden, daß ich mich weigere, in beiden Fällen weigere, an den Einfluß irgendwelcher geheimnisvoller Dritter oder gar einer Organisation zu glauben.« Roßberg beobachtete den Beamten sehr genau. Er wußte, daß die Ge fahr bestand, den eigentlichen Grund seines Aufenthaltes in London ans Licht zu befördern. Einem geschulten Polizisten müßte es unbedingt auffallen, wenn sich ein ausländischer Wissenschaftler für die Fehltritte eines seiner Landsleute interessierte. Davor konnte auch die Teilnahme am Kongreß nur unvollkommen schützen. Und er glaubte den Moment, in dem der Inspector bei eben dieser Ü berlegung anlangte, genau zu erkennen. Etwas blitzte in den Augen des Polizisten auf. Aber der Funke erlosch sofort wieder und machte einem hintergründigen Lächeln Platz. »Und deshalb, Sir«, fuhr der Beamte schließlich fort, »deshalb dürfte es für Sie besser sein, wenn Sie hier in London ausschließlich Ihren eigenen Geschäften nachgehen. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Kongreß.« »Und der Einbruch, der Zettel mit der Drohung, und…?« Blake wehrte ungeduldig ab. »Sie haben Anzeige erstattet, Mister. Da mit ist dies jetzt unsere Arbeit. Versuchen Sie nicht, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen. Ich hoffe, Sie verstehen das.« In seinem Ton war keinerlei Schärfe, eher ein wenig väterliche Fürsor ge, aber auch eine ähnlich deutliche Spur von Unwillen. Es verdroß Roßberg, daß Blake fast die gleichen Worte benutzt hatte wie die, von denen der ominöse Zettel stammte. Anscheinend war Blake nicht bereit, die Drohung ernst zu nehmen.
Dann aber deutete er auf Roßbergs Tasse. »Trinken Sie doch. Ist si cherlich schon kalt geworden, Ihr Kaffee, Sir.« Vielleicht war es der freundschaftliche Vorwurf, der Roßberg veranlaß te, eine letzte Frage zu stellen: »Wären Sie bereit, Inspector, mich über den Inhalt der Taschen des Toten zu informieren?« Einen Augenblick lang zogen sich die buschigen Brauen seines Gegen übers zusammen, doch dann zuckte der Beamte die Schultern. »Das ist eigentlich gegen die Regeln«, sagte er und lehnte sich im Sessel zurück. »Aber ich glaube nicht, daß es irgendein Gesetz…« Er berührte abermals die Taste. »Die Effekten des Verunglückten Nummer vier, sie ben, neun, null nach einundvierzig bitte«, verlangte er. Kaum zwei Minuten später lag ein in Folie eingesiegeltes Päckchen auf dem Tisch. Aber auch diese magere Hinterlassenschaft brachte keinerlei neue Erkenntnisse. Solche Gegenstände konnten sich ebensogut in den Taschen eines Arbeiters befunden haben wie in denen eines Geschäfts führers. Sie waren in keiner Weise typisch. Da war ein schweres Ta schenmesser mit altertümlichem Horngriff und den verschiedensten Klingen, und da waren zwei entwertete Kinokarten vom vergangenen Tag. Man hätte ermittelt, erklärte der Beamte, daß der Weinhändler zu sammen mit der bewußten Dame einen der üblichen Animationsfilme besucht hätte. Die Bekanntschaft der beiden hätte sich also mindestens über einen halben Tag und die ganze Nacht erstreckt, aber das wäre ja durchaus nicht ungewöhnlich. Es war Roßberg durchaus bekannt, daß sich die besseren Damen des horizontalen Gewerbes nicht für Stunden, sondern für Tage zu vermie ten pflegten, aber er wußte, daß ihn diese Art von Bekanntschaft trotz dem zu intensivem Nachdenken veranlassen würde. Den Rest der Effekten bildeten zwei Röhrchen mit einem ihm unbe kannten Antiallergikum und einem Aktivierungspräparat, dessen Vor handensein dem Inspector ein Grinsen entlockte, sowie mehrere nach lässig zusammengefaltete Banknoten und ein nicht mehr ganz sauberes Schnupftuch. Es ergab sich also wirklich kein Hinweis. Weder auf den Grund der seltsamen Verhaltensweisen noch auf die Organisation. Eine bestimmte Bedeutung hätte man höchstens der Tatsache zumessen können, daß der
Weinhändler die Prostituierte nicht einfach auf der Straße oder in einem Lokal aufgelesen hatte oder umgekehrt. Unwillkürlich mußte Roßberg an seine Bekanntschaft mit Pat denken. Der Beamte erhob sich und streckte die Rechte über den Tisch. »Well, Sir!« Er lächelte verbindlich, offensichtlich doch mit einem gewissen Bedauern. »Vergessen Sie es! Sie sind garantiert auf der falschen Fährte. Glauben Sie einem erfahrenen Polizisten. Und sollten Sie doch noch, was ich, wie gesagt, nicht glauben kann, auf irgendwelche Zusammen hänge stoßen, dann wissen Sie ja, wo ich zu finden bin. Wegen des Zet tels und des Einbruches werden Sie eine Mitteilung erhalten. So oder so. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Im übrigen hat es mich gefreut, Sie kennengelernt zu haben.« Die letzten Worte klangen erstaunlich echt. Roßberg fand den Beam ten sympathisch, auch wenn unverkennbar war, daß sich der Mann um eine gewisse Distanz bemühte. So falsch schien also Meister mit seinen Informationen nicht zu liegen. Den ersten Teil des Rückweges bewältigte er mit der Tram. In der Nähe des Manchester Square, angesichts des antiquierten Kolonialkriegerdenkmals, stieg er in einen Bus um, lehnte sich wohlig zurück und ließ das mittägliche Treiben an sich vorbeiziehen. Kurz hinter Oxford Circus geriet der Bus in einen Stau. Zuerst er schien ihm der unfreiwillige Aufenthalt durchaus nicht ungewöhnlich. Zu gewissen Zeiten des Tages waren die Straßen der Londoner City durch den Individualverkehr total überlastet. Dann verkeilten sich die Ströme der Fahrzeuge ineinander wie wütende Reptilien, dann verdichte ten sich Hitze und Staub innerhalb von Minuten zu einem brodelnden Nebel, der in den Augen brannte und die Schleimhäute in Mund und Bronchien reizte, als würden sie mit Schleifpapier bearbeitet. Im allgemeinen setzte wenige Minuten nach dem Zusammenbrechen des Verkehrs ein Run auf die an allen Straßenecken installierten KomZellen ein. Man riß sich die Mundstücke der Sauerstoffduschen gegensei tig aus den Händen, meist ohne Rücksicht darauf, ob der Vorgänger das ihm zustehende Quantum bereits genossen hatte oder nicht. Heute war aber wohl mit einem solchen Gasparoxysmus nicht zu rechnen. Ein leichter Wind aus Süden sorgte für eine ausreichende, wenn auch kaum erfrischende Luftumwälzung.
Und auch der Stau schien seine Ursache nicht einem der tageszeitlich bedingten Anstiege der Verkehrsdichte zu verdanken, obwohl auch er sich durch heftigen Hupenlärm und eine sich schnell verdichtende Staubglocke ankündigte. In die Geräusche Hunderter im Leerlauf sum mender Motoren und Dutzender Hupen mischten sich lauter und lauter die Rufe von Menschen. Es klang wie das gleichmäßige An- und Ab schwellen von Sprechchören, die sich langsam zu nähern schienen. Roßberg verließ den Bus, die Hitze und die Enge benahmen ihm den Atem, und postierte sich am Rand des Gehweges. Um ihn herum zogen Polizisten im Laufschritt auf. Dunkel uniformierte Männer mit Plastik masken vor den Gesichtern und durchsichtigen Schilden in weißbehand schuhten Händen, mit polierten Helmen, deren Nackenblenden herab gezogen waren, und mit breiten, weißlackierten Koppeln, an denen großkalibrige Waffen zum Verfeuern von Gummigeschossen und rote Schlagstöcke hingen. Neben jeden zehnten oder zwölften Polizisten schmiegte sich einer der silbrig glänzenden Kyberhunde. Die spitznasi gen Metallköpfe pendelten in betäubendem Gleichmaß hin und her wie groteske Radarantennen. Ab und zu streifte ihn ein verwunderter oder mißbilligender Blick, die Gesichter hinter den Masken erschienen ihm seltsam blaß und starr, er sah verzogene Münder und gefurchte Stirnen. Nach und nach begann sich die Szene um ihn her zu wandeln. Zuerst vereinzelt, aber dann immer häufiger, tauchten junge Leute auf und suchten sich ihren Weg zwischen den haltenden Fahrzeugen hindurch. Mehr und mehr wurden es, Gruppen ordneten sich zu einem anschwel lenden Strom, der sich vor den Hindernissen teilte, wie das Wasser eines Baches großen Kieselsteinen auswich und sich dahinter wieder schloß zu anscheinend gemächlichem Gleiten. Die Demonstranten bewegten sich diszipliniert, fast unbeweglich schwebten die an langen Stangen getragenen Transparente über ihren Köpfen. Es waren zumeist einfache Schilder, die Losungen manchmal von sichtlich ungelenker Hand geschrieben, bekannte Embleme mit we nigen Strichen nachgezeichnet. Die stilisierte Eule der Umweltschützer, die Taube, der Rollstuhl der Behinderten, der vergitterte Blitz der Anti militärliga und Karikaturen dickbäuchiger Hausbesitzer.
Jetzt brandeten Sprechchöre auf wie ein einziger Ruf, und Fäuste reck ten sich in den staubverhangenen Himmel zwischen den hohen Häusern, als zöge ein Regisseur sie an unsichtbaren Fäden. Je länger der Zug floß, um so unruhiger wurden die Vermummten rechts und links neben Roßberg. Sie schienen näher zusammenzurücken, hoben Schultern und Schilde und senkten die Köpfe, bis ihre Augen nur noch wie schmale Schlitze unter den Helmrändern blitzten. Hin und wieder stieß einer der Polizisten seinen Schild mit einer ruckhaften Be wegung in den Strom hinein. Die Nasen der Hunde pendelten langsa mer. Doch niemand aus der Menge reagierte, die Disziplin umgab die De monstranten wie ein schützender Wall, machte sie selbst unangreifbar und zerrte an den Nerven derer, die gesandt worden waren, einzugreifen. Doch auch die Taktik der Nadelstiche verschaffte den Polizisten diesen Ansatzpunkt nicht, man wich ihren Schilden geschickt aus, lächelte, schüttelte den Kopf, und jede dieser Gesten war wie eine gewonnene Schlacht. Nur ab und zu wurde erkennbar, welche Anstrengungen es die jungen Menschen kostete, nicht zu explodieren, vor allem dann, wenn einer dem rammenden Schild nicht rechtzeitig auszuweichen vermochte. Diese Demonstration schien einem Lavastrom vergleichbar, dessen vernich tungsträchtiges Feuer in scheinbarer Ruhe unter einer dünnen Schicht erkalteter Schlacke dahinfloß. Ein Steinwurf, ein Fußtritt konnte genü gen, es mit elementarer Gewalt hervorbrechen zu lassen. Aber der Strom blieb ruhig. Nur einmal, ein einziges Mal drohte das Feuer aufzulodern. Da war ei ne junge Frau, ein fahlblondes, schmächtiges Ding mit großen, grauen Augen, die verwundert auf Roßberg gerichtet waren. Vage ging ihm auf, daß die Frau ihn für einen Außenseiter halten mußte, für einen, der sich in den Schutz der Büttel geflüchtet hatte. Den neben ihm postierten Be amten mochten ähnliche Gedanken bewegen, denn unvermittelt richtete er sich hoch auf und stieß seinen Schild nach vorn, der jungen Frau ent gegen. Roßberg sah die Schmächtige in den Hüften einknicken, noch bevor die schwere Waffe sie berühren konnte, er sah, wie sie abwehrend die
Hände hob und wie die Verwunderung auf ihrem Gesicht in zorniges Erschrecken umschlug. Er handelte blitzschnell und eigentlich ohne sich seiner Reaktion bewußt zu werden. Seine Hand traf den Arm des Polizis ten in Höhe des Handgelenkes mit einem von unten her geführten Schlag, in den er alle Kraft legte. Der Schild beschrieb, den Arm des Trägers mit sich reißend, einen hohen Bogen und schlug mit dumpfem Knall gegen die Hauswand. Durch die Reihe der Uniformierten ging ein Ruck, der lächerliche Ähnlichkeit mit der Reaktion von Korallenpolypen hatte, deren Gebäude jemand mit einem festen Gegenstand berührte. Die Köpfe der in der Nähe lauernden Kyber zuckten herum. Wie faszi niert starrte Roßberg auf die Düsenöffnungen unter den tot glänzenden Objektiven, gewärtig, im nächsten Moment die Strahlen radioaktiver Flüssigkeit auf sich zustieben zu sehen. Würde er getroffen, wäre Flucht sinnlos. Jeder der an allen Straßenecken und in öffentlichen Gebäuden installierten Sensoren würde ihn dem nächsten Polizeirevier melden. Aber noch ehe die Hunde oder deren Herren zu reagieren vermochten, trieb er im Schutz des Stromes. Dutzende von Händen lagen auf seinen Schultern. Dutzende von Armen zogen und schoben ihn aus dem Be reich des Polizeikordons. Weit drüben tauchten für einen Moment die grauen Augen der jungen Frau aus einer Flut scheinbar unbeweglicher Gesichter. Und Roßberg spürte deutlich die Welle der Sympathie, die über ihm zusammenschlug. Von diesem Zeitpunkt an wußte er, daß der Vergleich mit einem Lava strom schlecht gewählt war. Diese Leute hier gingen ihren Weg nicht in blindem Zorn, sondern mit koordinierter Disziplin. Vielleicht deshalb verrieten die Mienen der Uniformierten am Straßenrand neben allem Haß auch eine unverkennbare Spur von Hilflosigkeit. An der Peripherie der City teilte sich der Strom in viele kleine Rinnsale, die sich in die tief eingeschnittenen Straßenschluchten des Geschäftsvier tels drängten und schließlich nach und nach versickerten. In der Nähe von Oxford Circus hörte das Fließen ganz auf. Roßberg stand und blickte sich um. Es war, als hätte es die Demonstration nie gegeben. Um ihn her quirlte das Leben der City mit abendlicher Hektik.
Drüben, in Richtung Osten, wo die Markthallen liegen mußten, hörte er das dumpfe Grollen der Rail. In den Schaufenstern der Oxford Street entzündeten sich die Lichtreklamen wie lautlos aufflammendes Feuer werk. Die City-Cars glitten wie eine homogene Masse an ihm vorbei, ihre gelblichen Scheinwerfer zogen in drei endlosen Ketten die Straße ent lang, spiegelten sich in verwirrenden Mustern auf Lack und Glas und tauchten die Gesichter der Passanten in unruhig flackerndes Licht. Er hatte eben den Tunnel unter der Grasy Inn Road passiert, als neben ihm ein Auto bremste. Es glitt mit abgeblendeten Lichtern heran, kaum zu erkennen zwischen all den anderen, und vielleicht war dies der Um stand, der ihn warnte. Er spürte die Gefahr, noch bevor sich die Türen des Wagens öffneten. Neben ihm befand sich ein unbeleuchteter Hauseingang, und das nächste Schaufenster mit seiner strahlenden Lichtfülle war noch mindes tens fünfzehn Meter entfernt. Der Wagen hielt ein Stück vor ihm, und er sah die beiden Männer nur als dunkle Silhouetten vor der hellen Fläche der Auslagen. Sie hatten ihre Chancen sehr genau berechnet. Der Weg in die schützende Helligkeit war abgeschnitten. Ihm blieb eigentlich nichts, als zurück in den Tunnel zu fliehen, den die Deckenbeleuchtung zumin dest in Halbdämmer tauchte. Aber es war abzusehen, daß sie ihn auf halbem Wege erreichen würden. An einer Stelle, die in fast absoluter Finsternis lag. So entschloß er sich zu einer Aktion, mit der sie höchstwahrscheinlich nicht rechneten, nicht rechnen konnten. Er ging auf sie zu. In gleichmä ßigem Tempo, seine Schritte weder verzögernd noch beschleunigend. Obwohl sich die beiden Männer äußerst auffällig benähmen, sie gingen in einem Abstand von etwa einem Meter nebeneinander her und hatten die Arme ausgebreitet, als wollten sie ein ausgebrochenes Tier in die En ge treiben, wurden sie von den Passanten nicht beachtet. Roßberg hatte im Gegenteil den Eindruck, daß die Vorübergehenden absichtlich weg blickten. Die beiden konnten ihn hier, auf offener, belebter Straße, zu sammenschlagen oder gar umbringen, niemand würde es zur Kenntnis nehmen. Er war auf sich allein gestellt. Als er noch etwa drei Schritte von den Männern entfernt war, begann er sich genauso zu benehmen, wie sie es erwarten mußten. Er kopierte
die Bewegungen des in die Enge getriebenen Tieres, er blieb zuerst ste hen und pendelte dann hin und her, als suchte er eine Gelegenheit, rechts oder links an ihnen vorbei zu entkommen. Und unwillkürlich machten sie seine Bewegungen mit. Sie erstarrten verdutzt, als er den, der dem Schaufenster am nächsten war, plötzlich mit einem Satz ansprang. Er spürte einen dumpfen Schmerz in der Schulter, mit der er das Kinn des anderen getroffen hat te, erkannte, daß der Mann strauchelte und um sich griff, er untertauchte des anderen rudernde Arme und sprang abermals vorwärts, seinen Kopf gegen das Brustbein des Angreifers rammend. Er hörte den dumpfen Schlag der zerberstenden Schaufensterscheibe, das Klirren des herabbrechenden Glases, das Gellen einer Polizeipfeife, dann hastete er im Zickzack durch das Gewühl der Passanten. Später, schon in Sichtweite des Holborn Viaducts, rief er sich die ent scheidende Szene noch einmal in Erinnerung. Der Mann hatte die Schei be mit dem Rücken durchbrochen, seine Arme waren noch immer aus gebreitet gewesen, es hatte ausgesehen, als stürze ein ungeschlachtes Holzkreuz mitten in die Lichtflut hinein. Und jetzt erst begriff Roßberg, daß der Mann ein braunes Jackett mit hellen Nadelstreifen getragen hat te. An der Reception des Barbican lag eine kurze, schriftliche Mitteilung für ihn. Mister Fisher informierte ihn in mageren Sätzen, daß es sich bei der fraglichen Frau um eine gewissen Norma Weatherfield handele, eine Amateurprostituierte, die halbtags einer geregelten Tätigkeit als Verkäu ferin in einem Textilgeschäft in Hammersmith nachgehe. Polizeilich sei sie bisher nicht in Erscheinung getreten. Allerdings befürchte sie, ihre jetzige Berühmtheit als die Frau, mit der der verunfallte Weinhändler noch kurz vor seinem Tode intime Kontakte gepflegt hatte, könnte ihr neben den Vorteilen eines erweiterten Kundenkreises auch erhebliche Nachteile bringen, ja, vielleicht sogar zu einer regelmäßigen Beobachtung seitens der staatlichen Organe führen. Von irgendwelchen Besonderhei ten im Verhalten Krönlis habe die Weatherfield nichts wissen wollen, wenn man von den Schwierigkeiten absehe, unter denen Männer im Umgang mit Prostituierten nicht selten zu leiden hätten. Auf keinen Fall
aber habe Krönli versucht, sie zu irgendwelchen Sonderaktionen zu drängen, wie sie hin und wieder verlangt würden und die sie zutiefst ver abscheue. Mister Fisher enthielt sich im übrigen jeder Wertung, er konstatierte lediglich Sachverhalte, und Roßberg war ihm dankbar dafür. Unter der Mitteilung stand ein handschriftlicher Zusatz, der besagte, daß ein Kon takt der Weatherfield zu dem Ausländer Horst Bessow mit Sicherheit auszuschließen sei. Roßberg hatte nichts anderes erwartet. Er legte sich angezogen auf das Bett und versuchte sich zu entspannen. Aber auch nachdem mehr als eine halbe Stunde vergangen war, wartete er noch immer vergeblich auf den Zustand angenehmer Ausgeglichen heit, der erst die Konzentration auf einzelne Aspekte des Gesamtgesche hens ermöglichte. Kaum hatte er einen bestimmten Gedanken erfaßt und versucht, ihn einzukreisen, da wechselte er bereits ungewollt zum nächs ten Komplex über, da begann alles zu einem zähen, homogenen Brei zu zerfließen. Mehr und mehr erschien ihm das Ganze wie ein unentwirrba res Knäuel, und bald war er durchaus nicht mehr überzeugt, daß es aus nur einem Faden bestand. Ja, mehr noch, je länger er grübelte, um so mehr verwischten sich eben noch vermeintlich deutliche Zusammenhän ge. Schließlich glaubte er einsehen zu müssen, daß er bei seinem derzeiti gen Erkenntnisstand auf dem Weg der Überlegung nicht zum Ziel gelan gen würde. Vor allem die Fülle der möglichen Kombinationen machte ihm arg zu schaffen. Ein solch umfangreiches Puzzle war wohl nur mit Hilfe eines Computers zu ordnen. Der Gedanke setzte sich in ihm fest, und je länger er mit ihm spielte, um so mehr verbiß er sich in ihn. Blake hatte einen Computer zur Ver fügung, und wenn man den Überfall als einen Mordanschlag hinstellte, dann war der Polizist eigentlich verpflichtet, all seine Möglichkeiten ein zusetzen. Schließlich stand Roßberg auf, setzte sich in den Sessel vor der KomWand und wählte den Kode des Polizeireviers in der Donnington Road. Auf dem Bildschirm tauchte das verschlafene Gesicht eines jungen Be amten auf, dem die späte Störung sichtlich unangenehm war.
»Geben Sie mir bitte Inspector Blake«, verlangte Roßberg. Die Mienen des jungen Beamten zeigten unvermittelt Anspannung. »Sie, Mister?« sagte er. »Wenn Blake gewußte hätte, daß Sie hier anrufen werden…« Etwas schwang in der Stimme des Polizisten, das Roßberg aufhorchen ließ. »Was dann?« fragte er. »Der Inspector hat versucht, Sie zu erreichen.« »Wann?« Der Beamte überlegte einen Moment lang. »Vor einer Stunde etwa. Aber Sie waren nicht im Hotel.« »Weshalb wollte er mich sprechen?« »Ich weiß nicht«, sagte der junge Mann. »Er hat sich eine Menge Daten überspielen lassen.« Es war, als zerrisse in Roßbergs Innerem ein dunkler Vorhang. Plötz lich sah er Licht. Möglicherweise hatte er einen Verbündeten gefunden. Es sah so aus, als sei er ab heute nicht mehr allein. »Wo kann ich ihn erreichen?« fragte er. Der Beamte schüttelte langsam den Kopf. »Heute nicht mehr, Sir. Die englische Polizei…« »Ich werde mich morgen früh bei ihm melden«, unterbrach Roßberg. »Würden Sie ihm das ausrichten?« Der junge Mann nickte. »Darum wollte ich Sie ohnehin bitten, Mister.« Roßberg würde sich also gedulden müssen. Zwölf oder vierzehn Stun den lang würde er noch mit seinen Gedanken allein sein. Er war sicher, daß er in den nächsten Stunden keine Ruhe finden würde. Er kannte sich genau genug, um zu wissen, daß seine Gedanken unentwegt kreisen würden. Sie würden sich mit Verhaltensmustern, Streßreaktionen, Dro genbeeinflussung und Angstneurosen beschäftigen, und sie würden sich wieder und wieder an allen nur möglichen Ecken und Kanten stoßen und keinen eindeutig erkennbaren Weg finden, auf dem sich der Fall vorantreiben ließe. Weil es vielleicht diesen einen Weg überhaupt nicht gab.
Er schüttelte den Kopf. So würde er nicht weiterkommen. Er mußte sich wenigstens für ein paar Stunden ablenken, an nichts denken, oder wenn das, wie er vermutete, nicht möglich sein würde, so doch wenigs tens an etwas ganz anderes. Er würde also jetzt hinunter in das Restaurant fahren, langsam und konzentriert zu Abend essen und dabei jeder einzelnen Speise ein Maxi mum an Aufmerksamkeit schenken. Im Restaurant wählte er lange in der umfangreichen Speisenkarte und entschied sich schließlich für eine italienische Pizetta, eine Art Tortelett, das mit scharf gewürztem Fleisch, Pilzen und Käse belegt war. Er aß langsam, wie er es sich vorgenommen hatte, aber ohne den Genuß, mit dem er daheim zu speisen pflegte. So ungerecht, seine gedrückte Stim mung dem Essen anzulasten, war er nicht, er wußte, daß ihm die Unge duld eine weit schlechtere Stimmung bescherte, als es die schlechteste Speise vermocht hätte. Hin und wieder blickte er auf, die Umsitzenden mit einem schnellen Blick streifend. Nach dem Überfall hatte sich seine Hoffnung, vielleicht durch einen günstigen Zufall auf Ungewöhnliches zu stoßen, verstärkt. Auf einen Gast möglicherweise, der ihn aufmerksamer als die anderen beobachtete, oder Kellner, die, miteinander tuschelnd, herüberblickten, irgend etwas, das Bewegung in die Belanglosigkeit dieses Abends bringen könnte. Aber es geschah nichts. Die Gäste waren ausschließlich mit sich selbst oder ihrer nächsten Umgebung beschäftigt, und die Kellner ließen sich nur in großen Zeitabständen blicken. Das Restaurant war ohnehin nur zu einem kleinen Teil besetzt, die meisten Tische waren leer, und sie wür den es wohl auch im weiteren Verlauf des Abends bleiben. Man ging in England zu so später Stunde nicht mehr aus. In den großen Städten wohl noch weniger als draußen auf dem Land. Für die Menschen auf der Insel war eine unruhige Zeit angebrochen. Unter den Arbeitern, Ange stellten und Studenten hatte sich in den letzten Jahren eine Art grimmi ger Aufbruchstimmung ausgebreitet, die dazu angetan war, die jahrhun dertealte Ordnung endgültig ins Wanken zu bringen. Restaurants wie das des Barbican hatten unter einer solchen Entwick lung naturgemäß in erster Linie zu leiden. Seit Jahren nun schon, seit sich
die Konfrontation mehr und mehr zuspitzte, vermieden es viele Leute, vor allem die der sogenannten besseren Kreise, ängstlich, sich nach Ein bruch der Dunkelheit auf der Straße zu zeigen. Denn seit dieser Zeit strotzten die Presseorgane und Funkmedien nur so von Berichten über Ausschreitungen und Überfälle, meist Meldungen, deren Wahrheitsge halte kaum überprüfbar waren, die jedoch trotzdem nicht ohne Folgen geblieben waren. Einschaltquoten und Absatzzahlen hatten sich fast ver doppelt, und die guten Restaurants, die Klubs und Theater waren unren tabel geworden, während sich Kneipen und Pubs einer Hochkonjunktur erfreuten. Er überlegte, ob er nicht hinauf in den Speisesaal im zweiten Stock fahren sollte. Dieser Raum war den Teilnehmern des Kongresses vorbe halten, und es mochte durchaus sein, daß er dort den einen oder anderen ihm bekannten Wissenschaftler traf, niemanden sicherlich, mit dem er mehr als flüchtig zu tun gehabt hatte, aber eben doch Kollegen, mit de nen er sich unterhalten konnte, deren Gespräche ihm helfen konnten, seiner Unruhe Herr zu werden. Eben wollte er aufstehen, als eine weiche Stimme neben ihm »Hallo!« sagte. Pats Stimme. Noch ehe er sich von seiner Überraschung ganz erholt hatte, saß sie ihm gegenüber, blätterte in der Speisekarte und blickte ihn über deren Rand hinweg an. Sie lächelte ein wenig hintergründig, und in ihren Au gen war ein Glanz, der ihn gleichermaßen verlegen machte wie faszinier te. Sie bestellte sich ein einfaches Gericht, ein fladenförmiges Gebäck mit glibberiger Obstauflage, und trank dazu den schweren, funkelnden Massala, den er noch in sehr unangenehmer Erinnerung hatte. Und dabei sprach sie kein Wort, sie blickte ihn nur von Zeit zu Zeit lächelnd an. Er vermochte sie nicht einzuordnen. Er verfügte einfach nicht über die einschlägigen Erfahrungen. In das Bild, das er sich im Laufe seines Le bens von den Frauen geschaffen hatte, paßte diese Patricia nicht. Nicht ihr hintergründiges Lächeln, nicht ihre biegsame, erotische Schlankheit, nicht der hautenge Overall und schon gar nicht der am Hals weit offene Gleitverschluß. Das alles empfand er als verwirrend. Aber er mußte sich eingestehen, daß es ihn in zumindest gleichem Maß anzog. Diese Frau erschien ihm als das Abenteuer an sich, als die Repräsentantin einer Le
bensweise, die auszuprobieren sich lohnen konnte. In Form eines Aus fluges selbstverständlich. Nicht für längere Zeit und schon gar nicht für immer, als kurzer Abstecher nur, als Sprung in die Faszination des Neu en, solange es neu war, in das Ungewisse, so lange es nicht gewiß war. Doch stets mit der Sicherheit im Hintergrund, sich jederzeit in die Ge borgenheit des Bekannten und Vertrauten zurückziehen zu können. Er legte sich keine Rechenschaft darüber ab, woher diese für seine Art zu leben so ungewöhnlichen Gedanken kamen, aber er beschloß, sich ihnen nicht unbedingt zu widersetzen. Er würde sich treiben lassen. Und er hoffte ja noch immer, daß ihn diese unbekannte Kraft auf den Weg führen würde, den zu suchen man ihn nach London gesandt hatte. Und jetzt, nach dem Überfall, hatte sich diese Hoffnung erheblich verstärkt. Zudem war seine Überlegung, die Organisation arbeite mit weiblichen Lockvögeln, bisher durch nichts entkräftet worden. Im Gegenteil. In den drei Fällen, die ihm bekannt geworden waren, hatte es sich um Männer gehandelt, und zwar stets um Männer eines Alters, das der Schwäche für attraktive Frauen Vorschub leistete. Ein Umstand also, der für die Fort setzung oder gar Intensivierung seiner Bekanntschaft mit Pat sprach. Er war nicht verwundert, daß ihm dieser Gedanke Vergnügen bereitete. »Wenn Sie für heute abend nicht schon Besseres geplant haben, dann würde ich Sie gern wieder zu einem Barbesuch einladen«, sagte er un vermittelt. Ihr Lächeln vertiefte sich. »Etwas Besseres kann ich mir gar nicht vor stellen.« Die Bäume seitlich des Gehweges warfen lange, morgendliche Schatten auf die Fassade des Barbican. Roßberg genoß das kühle Licht der frühen Sonne. Er blieb stehen und dehnte sich. Angenehme Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Er richtete sich hoch auf und atmete ein. Er mußte nicht befürchten, beobachtet zu werden, die Straßen waren zu dieser Stunde noch menschenleer. Und selbst wenn ihn jemand beobachtet hätte, es hätte ihn nicht ge stört, ihn beherrschte nur ein einziger Gedanke, und dieser Gedanke hieß Pat, Pat und immer wieder nur Pat. Er konnte nichts dagegen tun, es gab kein Mittel dagegen. Oder doch nur ein untaugliches.
Journalistin wäre sie, hatte sie ihm gestern abend erklärt, Journalistin, und zudem keine schlechte. Sie hätte eine Menge Verträge. Aber das große Geld verdienen könne man mit einem solchen Beruf kaum. Und dabei hatte sie gelächelt, als sei es vollkommen normal, daß sie ihr Geld auf andere Weise verdiente. Aber das hatte er drei Minuten später ohne hin wieder vergessen. Jeder hätte es vergessen. Sie tanzte wirklich mit der unglaublichen Beweglichkeit einer Schlange. Lenkte ihn anfangs noch die phantastische Aufmachung der vier ge schminkten Musiker ab, so existierte spätestens nach den ersten Schrit ten nur noch Pat für ihn. In ihr konzentrierte sich in jenen Stunden seine ganze Welt. Wie eine blasse Flamme wehte sie vor ihm auf und ab, neigte sich fast bis zum Boden und züngelte wieder auf mit wiegenden Hüften und Schultern, glitt an ihm empor und wich gleich darauf wieder zurück. Zeitweise hatte er das Gefühl, daß sie sich um ihn breitete wie ein wo gender Schleier, daß sie ihn einhüllte mit ihrem Körper, der trotz aller Zartheit wie ein Mantel aus Duft und Wärme war. Und stets, wenn sie sich ein wenig weiter von ihm entfernte, strömten Leere und Kälte auf ihn ein. Pat mochte ähnlich empfinden wie er, denn später legte sie ihm die Arme um den Nacken, und sie tanzten eng aneinandergeschmiegt in langsamen, gleitenden Bewegungen. Und er ließ sich nur zu gern treiben auf den Synkopen der phantastisch kostümierten Band wie eine Nuß schale auf bewegtem Meer, die Nähe seiner ungewöhnlichen Partnerin genießend. Nur hin und wieder schoben sich wie Schemen die Bilder einer weit entfernten Vergangenheit vor das Gesicht Pats. Da waren die dunklen, ernsten Augen Carolas, die ihn zwar ohne Vorwurf, aber mit erstauntem Interesse beobachteten, und da war das von weichen Wellen gerahmte Gesicht Lores, das ihn von unten her ansah mit dem gleichen, ein wenig herablassenden Zug um den Mund, mit dem sie ihre Versuchsobjekte zu mustern pflegte. Bald aber schienen die drei Frauen zu einer Einheit zu verschmelzen, zu einem Konglomerat des Weiblichen an sich, und von da an verlor die Umgebung für ihn jegliche Existenz.
Dabei gab es auch in diesem, einem Taumel vergleichbaren Zustand durchaus Momente, in denen er sich der wahren Situation bewußt wur de. Da waren die plötzlich aufbrechenden Skrupel, als er nach Pat in die Taxe stieg, da war das warnende Gefühl, als sie so eng an ihn rückte, daß er jede Faser ihres Körpers zu spüren meinte. Doch das alles verging ebensoschnell, wie es in ihm aufgebrochen war. Er vertrieb es einfach mit dem Gedanken an seine Aufgabe, an seine Pflicht. Er wußte wohl, daß er Gefahr lief, sich selbst zu betrügen, aber er fand keinen Ausweg. Und er suchte auch keinen Ausweg. Pat besaß eine kleine Wohnung im Erdgeschoß eines Neubaues in der Nähe des St. Mary Abbots Hospital. Auf den ersten Blick verblüffte Roßberg die Fülle der Widersprüche. Weder wollte die Gestaltung des Zimmers zu dem schlanken, sportlichen Mädchens passen, noch fügten sich die einzelnen Komponenten zu einem einheitlichen Ganzen. Boden, Wände und Decke waren in verschiedenen Brauntönen gehalten, vom warmdunklen Teppich nach oben zu in kühles Hell verblassend, die schmalen Fenster waren von schweren Portieren aus fast schwarzem Stoff verhängt, den Schleifen zur Form gewitterschwangerer, übereinan dergetürmter Wolken drapierten. Neben einem runden Wandspiegel, den Fenstern gegenüber, brannte eine rötliche Flamme, ein zuckendes, elekt risches Licht, das die Atmosphäre drohenden Unwetters noch steigerte. Völlig aus dem Rahmen fiel jedoch das Bett, ein kreisrundes Monster mit meterhohem, gepolstertem Rand, über dem waagerecht ein Spiegel von gleichem Durchmesser schwebte. Roßberg stand und starrte, und er spürte die atemberaubende Fremd heit dieser Umgebung wie eine heiße Welle auf sich einströmen. Er stand auch noch, als hinter ihm die Tür des Badezimmers klappte und sich zwei Arme um seinen Hals legten. Er fühlte die Wärme, die von Pats nacktem Körper auf ihn überging. »Zieh dich aus«, sagte sie. »Und komm!« Wieder spürte er das Ungewöhnliche der Situation. Er war es nicht ge wöhnt, in einem solchen Augenblick gedrängt zu werden. Er hörte das leise Rascheln des Bettzeuges, als sie sich ausstreckte, und während er begann, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, hob er die Augen und
blickte in den Spiegel an der Decke. Ein Bild bot sich ihm, das wie die gelungene Mischung eines blutvollen Rubens und des Gemäldes eines modernen Malers wirkte. Eine in streichelnde Schatten gehüllte Venus mit dem Körper eines zu schnell gewachsenen jungen Mädchens. Er legte sich neben sie, und als er ihre Wärme auf der Haut und unter seinen Händen fühlte, da hörten die Vorhänge, der Spiegel und die Welt auf zu existieren. Um so unangenehmer war die Minute, in der sie ihn zur Kasse bat. Pat verkaufte sich teuer, und vielleicht war gerade das ihm Anlaß, ihr eine Frage zu stellen, die er den ganzen Abend und die halbe Nacht über zu rückgehalten hatte. Teils, weil er nicht an sie gedacht hatte, und teils, weil ihm die Situation nicht geeignet erschienen war. »Weißt du übrigens«, fragte er, während er sich anzog, »daß gestern morgen ein Weinhändler aus Basel von einem Baum stürzte, nachdem er die Nacht bei einem leichten Mädchen verbracht hatte?« Er beobachtete sie unter gesenkten Brauen hervor. Sie zuckte nicht zu sammen, sie blickte ihn nur sehr aufmerksam und ein wenig verweisend an. Dann brach sie in Lachen aus. Es klang tief wie immer und genauso echt. »Es gibt schon Verrückte«, sagte sie. »Was meinst du, was ich manch mal…« Sie schwieg plötzlich, und eine leichte Röte färbte ihre Stirn. Schließlich setzte sie sich auf, raffte die Bettdecke zusammen und be deckte mit der Gebärde des Ekels ihre Brüste. »Solche Kerle haben nichts Besseres verdient«, sagte sie mit Inbrunst. »Sie sind abseitig veran lagt, mußt du wissen. Sie können einer Frau das Leben zur Hölle…« Sie unterbrach sich abermals, und ihre Augen waren voller Zorn. Aber die Gefühlsregung verging ebenso schnell, wie sie gekommen war. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie über die Bettdecke. »Weshalb muß er nach einer solchen Nacht auch dort hinaufsteigen?« sagte sie leise. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du ähnlich abstruse Ambitionen…« »Du weißt also nichts von der Sache?« warf er schroff ein. »Ich kenne keinen Weinhändler, wenn du das meinst«, sagte sie un gehalten.
»Das habe ich auch nicht behauptet«, beeilte er sich einzulenken. »Aber immerhin könnte es ja sein, daß…?« Absichtlich ließ er die Frage unvollständig und sah Pat an. Sie schüttel te so heftig den Kopf, daß sich das blonde Haar wie ein Schleier um ihre Schultern breitete. »Ist aber nicht«, sagte sie, nun schon viel versöhnlicher. Ganz überzeugt war er nicht. Seine Frage hatte sie offensichtlich ver wirrt. Wofür es natürlich auch ganz andere Gründe geben konnte. Wenn auch gewiß nicht den, daß er im Zusammenhang mit dem Weinhändler von einem leichten Mädchen gesprochen hatte. Sie sah nichts Anstößiges an ihrem Metier. »Man verkauft sich eben, so gut es geht«, hatte sie gesagt. »Und dann… dann ist es ja auch nicht für immer. Bis dreißig vielleicht. Nicht länger.« Ob es ihr denn Spaß machte, hatte er gefragt, und er hatte es boshaft gemeint. Sie aber hatte erst nach genauem Abwägen geantwortet: »Eigentlich macht es nicht oft Spaß. Das ist wie mit jeder anderen Ar beit auch. Manchmal macht sie Freude und manchmal eben nicht. Aber getan werden muß sie. Auch, wenn es sich hin und wieder um Dreckar beit handelt.« Sie hatte nicht sehr glücklich ausgesehen, als sie das sagte. »Arbeit…«, hatte er gemurmelt, und es sollte abfällig klingen. Sie aber hatte gelächelt und gesagt: »Mit dir hat es Spaß gemacht, wenn du das meinst.« Das hatte er natürlich nicht gemeint, aber trotzdem hatte er Ihre Be merkung als angenehm empfunden. Nun stand er also und betrachtete die Bäume neben dem Barbican. Er tastete die Zweige mit den Blicken ab, und er wartete auf irgendeine Re aktion in seinem Inneren. Er wußte, daß er in Pats Armen für kurze Zeit eingeschlafen war, und er erinnerte sich auch, daß sie ihm mehrmals ein Glas Wein gereicht hatte. Einen Pokal mit dem schweren Massala, ohne den sie nicht leben zu können schien. Allerdings hatten sie den Pokal stets gemeinsam geleert, aber nach allem mußte er damit rechnen, daß
die Organisation nicht nur über irgendwelche stimulierenden Drogen verfügte, sondern auch über die entsprechenden Gegenmittel. Allein, nichts in seiner Psyche regte sich. Die Bäume weckten keinerlei Interesse in ihm. Fast ein wenig enttäuscht wandte er sich ab. Er spürte keine Müdigkeit mehr. Und so beschloß er, sich unverzüglich auf den Weg in die Donnington Road zu machen. An der Reception kaufte er sich eine Zeitung, nahm einen umfangreichen Briefumschlag entgegen, der an ihn adressiert war, und ging zum Bus. Der Umschlag enthielt keine Kongreßmaterialien, wie er zuerst ange nommen hatte. Darauf deutete das Siegel hin, eine jener längst nicht mehr üblichen Sicherungen, für die man nur in England nach wie vor eine Schwäche zu haben schien, eine runde Scheibe ausgehärteten La ckes, in die man ein Petschaft mit bestimmten Zeichen gedrückt hatte, solange die Masse noch nicht erstarrt war. Oberflächlich betrachtet, schien dieses Siegel hier einen stilisiert vereinfachten Ausschnitt aus einer Leiterplatte darzustellen, doch bei genauerem Hinsehen lösten sich zwei eckig angelegte Buchstaben aus dem Durcheinander, die Anfangsbuch staben der Firma Lesterson und Longcoat. Damit war wohl auch auszu schließen, daß es sich um eine der in letzter Zeit in Mode gekommenen Briefbomben handelte. Roßberg atmete auf. Die Papiere enthielten einen detaillierten Abschlußbericht aller Ermitt lungen und Aktivitäten im Fall Bessow. Neue Ergebnisse waren nicht aufgeführt. Es war eigentlich nur eine schriftliche Bestätigung dessen, was ihm Mister Fisher bereits mitgeteilt hatte. Und dazu verfügte der Bericht über neun eng mit Maschine beschriebene Seiten, die samt und sonders den Briefkopf der Firma trugen, zwei verschlungene L, darge stellt in der Art der Verbindungen auf einer Leiterplatte. Der Bericht gipfelte in der Feststellung, das Wirken einer geheimen Organisation, die das Verhalten Bessows beeinflußt haben könnte, sei nicht nachzuweisen gewesen, ja, nach dem Ergebnis der Untersuchungen zu urteilen, bestünden an der Existenz einer solchen Organisation erheb liche Zweifel.
Immerhin war nicht zu übersehen, daß die Detektive eine zumindest umfangreiche Arbeit geleistet hatten. Aus den Betreuern war jeder ein zelne Schritt Bessows herausgefragt und aufgezeichnet worden. Selbst seine Einkäufe hatte man eruiert, was wahrscheinlich noch am einfachs ten gewesen war, da Bessow stets den gleichen, exakt festliegenden Weg durch London verfolgt hatte. Nie war er in Nebenstraßen abgewichen, und nie hatte er Läden oder Restaurants aufgesucht, die ihm nicht vom ersten Tag an bekannt gewesen waren. Als letztes ging Roßberg die Liste der Gegenstände durch, deren Kauf an Hand der Kreditkarte ermittelt worden war. Und er war ziemlich si cher, daß nicht die kleinste Kleinigkeit fehlte. Bessows Handlungen wa ren durchschaubar und ohne Überraschungen bis zu dem Zeitpunkt, da man ihn auf der Pressekonferenz aus der Fassung gebracht hatte. Ein Tuch für seine Frau, eine der zur Zeit modernen Lacklederhosen für den halbwüchsigen Sohn, und eine nachtdunkle Bluse mit leuchten den Sternen auf Kragen und Manschetten für die Tochter, alles Dinge, die hinreichend bekannt waren, da Bessow sie bereits bei der ersten Un tersuchung im BfA vorgelegt hatte. Hinzu kam noch ein Schal aus Kunstwolle, den er sich selbst gönnte, und eine Reihe kleinerer Souve nirs, mit denen er sein Arbeitszimmer zu schmücken gedachte. Nichts Neues also und schon gar nichts Umwerfendes. Roßberg verstaute die Papiere in seiner Tasche und griff zur Zeitung. Zuerst noch ohne Aufmerksamkeit überflog er die Überschriften. Es gab nichts, das sein Interesse geweckt hätte. Als er das Blatt zusammenfalte te, fiel sein Blick auf die Rückseite. Eine ganze Hälfte davon wurde von einer Reklame eingenommen, von der Darstellung eines Mannes um die Fünfzig, dem der Leser unschwer Vitalität, Gesundheit und Kraft anzusehen vermochte. Und das nicht nur, weil an jedem Arm des Mannes ein nur unvollkommen bekleidetes Mädchen hing, dessen Augen verzückt auf seine breite Brust gerichtet waren. Das Bild dieses Mannes, seine Haltung, seine Figur und auch der Blick seiner halbgeschlossenen Augen, das alles waren Signale, das alles deutete unverkennbar auf eine fast tierhafte Sexualität.
»ACTIGEN PLUS« stand unter dem Bild in fettem Kursiv und dahin ter ein wenig kleiner: »Der gesunde Vitalisator für den Mann mittleren Alters.« Es war eine eindeutig sexualorientierte Darstellung, und Holger Roß berg fühlte sich unwillkürlich abgestoßen. Er haßte diese Unterteilung in Subjekt und Objekt, weil sie seiner Auffassung vom Verhältnis der Ge schlechter zueinander widersprach. Wenn er einen anderen Beruf gehabt hätte, dann hätte er vielleicht ü ber die Art dieser Anpreisung lachen können, so aber wußte er, daß es sich um ein Problem handelte, das sich längst zu einer Gefahr ausge wachsen hatte. Denn tatsächlich griffen unter dem Einfluß solcher Re klamen immer mehr Menschen zu künstlichen Präparaten. Und durchaus nicht nur in diesem Teil der Welt. Und durchaus nicht nur zu Präparaten wie diesem da, das wahrschein lich nicht mehr Wirkung zeitigte als eine Tasse starken Kaffees oder ein Löffel Traubenzucker, nur, daß es seine Wirkung im Gegensatz zu Cof fein und Zucker direkt an der Basis entfaltete, an den Proteinen, die dem Gehirn zugeführt wurden. Vielleicht war dieses Zeug noch eines der harmlosesten, weil man die Zusammensetzung exakt zu steuern ver mochte. Überhaupt waren es ja nicht unbedingt diese Mittel, die für das eigent liche Risiko verantwortlich waren, das war vielmehr die von den Medien suggerierte Gewißheit, daß es für und gegen alles probate Medikamente gab, daß es endlich gelungen war, den natürlich entstandenen Steue rungsprozessen ein Schnippchen zu schlagen und sich damit dank der pharmazeutischen Industrie von der kreatürlichen Herkunft zu lösen. Da war die größte Gefahr. Selbstverständlich waren Medikamente notwendig. Sie vermochten Müdigkeit und Ängste zu vertreiben, Schlaflosigkeit und Unruhe zu be seitigen, die Magen- und die Herztätigkeit anzuregen oder zu beruhigen, sie konnten Alkohol abbauen und Konzentrationsschwächen beseitigen. Medikamente hatten ihren Wert als Lebenshilfen und Heilmittel, einen nicht zu überschätzenden Wert. Aber sie verdrängten eben auch die na türlichen Reaktionen, setzten natürliche Warnsignale außer Funktion und taten damit der Natur selber Gewalt an. Und das alles, ohne die natürli
chen Zusammenhänge aus den Prozessen des menschlichen Lebens eli minieren zu können. Darin lagen die Risiken der Medikamente. Und diese Art der Reklame leistete der Vergewaltigung der Natur nicht nur Vorschub, sie propagierte sie. Sie allein trug die Verantwortung, weil sie selbst bei Skeptikern im Lauf der Zeit ihren unsichtbaren Stachel hinterließ. Irgendwo hatte er gelesen, daß jeder Durchschnittsbürger dieses Lan des täglich mehr als zwei Stunden lang von Reklamen berieselt würde. Nochmals überflog er das Blatt. Actigen! Wie, wenn er sich irrte? Wenn dieses Actigen durchaus nicht so harm los war wie ein Löffel Traubenzucker oder eine Tasse Kaffee? Vielleicht hatte Krönli tatsächlich die Erfahrung gemacht, daß ihm Actigen zu nächtlichen Erfolgserlebnissen verhalf. Wer konnte das schon genau wissen, in einer Welt, in der sich Sein und Schein, Seriosität und Kitsch vermischten? Vielleicht ergaben sich hier wirklich Zusammenhänge, die er bisher übersehen hatte. Blake saß gebeugt über einem Stapel von Computerprotokollen. Zur Begrüßung erhob er sich ein wenig und deutete den Versuch an, seine schiefsitzende Krawatte zurechtzurücken. »Setzen Sie sich, Mister Roßberg. Und sehen Sie sich das an«, sagte er und zog einen Drehsessel heran. Der Inspector machte einen erregten Eindruck, er schob Papiere hin und her, nahm mal dieses und mal jenes Blatt zur Hand, blickte kurz auf den Inhalt und legte es auf den unge ordneten Stapel zurück. »Ich war doch ein wenig stutzig geworden«, erklärte er endlich. »Viel leicht lag es an Ihrer Unnachgiebigkeit.« Seine Miene war jetzt von erns ter Nachdenklichkeit. »Um mich zu überzeugen, daß an Ihren Vermu tungen nichts von Belang sein kann, habe ich mich zu einer Computer analyse entschlossen. Ich habe angeordnet, alle dem Fall Krönli irgend wie ähnlichen Ereignisse der letzten fünf Jahre abzurufen. Obwohl ich zugeben muß, daß ich der festen Überzeugung war, es gäbe keine derar tigen Parallelen. Ich wollte sichergehen.«
»Ja, und?« drängte Roßberg. Blake legte die Hand auf den Papierberg. »Das sind diese Fälle. Ich ha be das Programm absichtlich weit stecken lassen. Wie gesagt, ich wollte sichergehen.« Roßberg spürte steigende Unruhe. Wenn Blake doch endlich aufhören wollte, sich zu verbreiten. Wenn er doch endlich zur eigentlichen Sache kommen würde. »Das Ergebnis, Inspector, das Ergebnis«, flehte er. Blake hob den Papierstapel und ließ ihn wieder fallen. »Ich habe mich geirrt«, sagte er leise. »Es gibt ähnlich gelagerte Fälle. Hier, sehen Sie! Cliff Barker, neunundvierzig, am vierten Januar vor zwei Jahren auf ei nem Baum im Hyde Park erfroren. Lester McHogarty, zweiundfünfzig, am zwölften Mai des gleichen Jahres aus einer Platane im Zoologischen Garten gestürzt, Gehirnerschütterung, mehrere Brüche, Einlieferung in das Spencer Spital, Entlassung am dreißigsten Juni, keine glaubhafte Er klärung für sein Verhalten. Oder hier: Ein Ausländer, Spanier, Ramiro Tabasco, vierundvierzig, im Juni des gleichen Jahres von Passanten ge stellt, als er die neunzehnjährige Verkäuferin Janette Finnigan auf offener Straße zu vergewaltigen suchte, flüchtete auf eine Straßenlaterne, wurde jedoch von den aufgebrachten Passanten herabgezerrt und verprügelt, anschließend durch ein Schnellgericht in Croydon zu vier Wochen Haft verurteilt, danach abgeschoben.« Blake wischte mit der Hand über die Papiere. »Abstürze, Belästigun gen, Gehirnerschütterungen, Frakturen, Todesfälle, Verurteilungen! Man wundert sich, daß bisher noch niemand auf den Zusammenhang auf merksam geworden ist. Die einzige Erklärung wäre, daß diese offensicht liche Linie im Wust der anderen Delikte untergegangen ist. Da mußte eben erst jemand kommen, der sich für einen speziellen Fall interessiert. Daß es ein Ausländer ist, wird die englische Polizei verkraften müssen.« Der Anflug eines Lächelns zog über Blakes Gesicht. Roßberg schwieg betroffen. Mit einer solchen Fülle von Material hatte er nicht gerechnet. Er wußte, daß es nicht gelingen würde, alle diese Fälle aufzuklären, aber er war sicher, daß man Gründe ermitteln und Zusam menhänge entdecken würde. Und am Ende würde der Fall Bessow einer
unter mindestens einem Dutzend sein, und er würde den Geruch des Ungewöhnlichen verloren haben. Das wäre immerhin schon etwas. Zugleich aber mußte er sich sagen, daß seine Vermutung, hier sei eine Organisation am Werk, bedeutend an Wahrscheinlichkeit verloren hatte. Die soziale Breite des Kreises der Betroffenen und ihre unterschiedliche Stellung in der Öffentlichkeit sprachen dagegen. Aber diese Erkenntnis war auch ein Schritt nach vorn. Er blätterte die Papiere durch, er las Namen, Nationalitäten und Al tersangaben, er sah Aufzeichnungen über Verhaltensweisen, Verletzun gen und Schicksale, und langsam begann er Tendenzen und Gemein samkeiten zu erkennen. »Keines dieser Ereignisse liegt weiter als zwei Jahre zurück«, unter brach Blake seine Gedankengänge. »Und stets handelte es sich um Män ner, und immer um Männer jenseits der Lebensmitte. Um Männer wie mich also, Mister Roßberg.« Blake kniff die Augen zusammen. »Sie ha ben ja wohl noch einige Jahre Zeit, wenn ich das richtig sehe. Aber bei mir sind mindestens zwei der Voraussetzungen gegeben.« Sein Lächeln wirkte ein wenig gequält. »Dreizehn Fälle in zwei Jahren«, fuhr er fort. »Und davon vier mit töd lichem Ausgang durch Absturz und einer durch Erfrieren. Das ist schon eine eingehende Untersuchung wert.« »Hat einer dieser Männer stimulierende Mittel zu sich genommen?« er kundigte sich Roßberg. Es war ein Vorstoß, von dessen Erfolg er durch aus nicht überzeugt war. Aber er wollte sichergehen, daß er alle nur mög lichen Wege beachtet hatte. Doch Blake winkte ab. »Wir haben es ermittelt. Aber die Tatsache, daß die meisten der Betroffenen im Besitze eines solchen Mittels waren, be weist gar nichts. Fast jeder Mann in diesem Alter greift hin und wieder zu solchem Zeug. Zumindest hier auf der Insel. Sehen Sie sich doch nur den allgemeinen Trend an! Man gewinnt den Eindruck, unsere Gesell schaft akzeptiere ausschließlich Jugendliche, Erfolgreiche und Sexual protze. Oder gertenschlanke und dabei vollbusige Kätzchen. Haben Sie jemals eine Reklame gesehen, die mit normalen Menschen arbeitet? Ei ner solch massiven Beeinflussung widerstehen auf die Dauer nur Melan choliker oder Psychopathen. Begreifen Sie doch! Unsere Männer sind zu
Vitalität verpflichtet, wenn sie nicht zu Außenseitern, zu lächerlichen Figuren werden wollen. Ebenso wie die Frauen dieses Landes zu Jugend und sexorientierter Schönheit verpflichtet sind. Das ist einer der Preise, die wir in unserem Gesellschaftssystem zu zahlen haben.« Das alles wußte Roßberg natürlich. Aber allein die Tatsache, daß sich hier eine weitere Spur andeutete, ließ ihn auf seiner Ansicht beharren. »Trotzdem«, sagte er, auf die Gefahr hin, uneinsichtig zu wirken. »Sie sollten zu ermitteln suchen, um welches Präparat es sich handelt. Man darf das nicht aus den Augen verlieren.« Blake blätterte abermals in den Papieren. »Selbstverständlich liegen solche Angaben nur von den tödlich Verun glückten vor. Das sind fünf Fälle… Barker… Actigen plus!… Moosbau er, Deutscher, Tod durch Absturz… Vitalisator!« Blake sah kurz auf. »Leider ohne genaue Bezeichnung. Wir können aber mit hinreichender Sicherheit annehmen, daß es sich um das gleiche Mittel handelte. Im merhin ist die Polarisation auf diesem Sektor…« Er unterbrach sich und winkte ab. »Aber das wissen Sie ja wohl besser als ich.« Er griff zum nächsten Blatt. »Und hier… Ein Amerikaner, Rafferty, fünfzig… Actigen plus! Der nächste, ein Franzose, Jacques Bequerel, sechzig, Actigen plus! Und den letzten kennen Sie ja schon, Krönli, der ebenfalls Actigen plus bei sich trug. Da haben Sie also…« »Vier zu eins«, sagte Roßberg. »Das sieht sehr deutlich aus.« Aber Blake wollte davon nichts wissen. »Das bedeutet überhaupt nichts. Glauben Sie mir! Jeder nimmt diesen Mist.« »Sie auch?« fragte Roßberg, und es bereitete ihm Mühe, nicht zu grin sen. Blake fixierte ihn aus ernsten Augen. Eine Weile lang saß er schwei gend mit zusammengekniffenen Lippen. Dann stemmte er sich hoch und raffte die Papiere zusammen. »Nein!« sagte er schließlich abrupt. »Noch nicht! Aber wenn das hier alles noch lange so weitergeht, dann werde ich auch nicht umhin kön nen.« Er umschrieb seine Umgebung mit einer einzigen, alles einschlie ßenden Geste. Schließlich setzte er sich wieder und blickte Roßberg an.
»Actigen gibt es seit fünf Jahren«, sagte er nachdenklich. »Und nicht ohne Grund habe ich all jene Fälle angefordert, die in genau diesem Zeit raum aufgetreten sind. Aber es hat sich gezeigt, daß nicht einer weiter als zwei Jahre zurückliegt. Das ist doch ein Umstand, der dieses Präparat weitgehend entlastet. Außerdem nehmen es Hunderttausende, und wie viele Fälle gibt es?« Dagegen war eigentlich nicht zu argumentieren. Aber Roßberg hatte sich schon viel zu sehr mit dem Gedanken, dieses Mittel hinge irgendwie mit den Ereignissen zusammen, verbissen, als daß er noch nachzugeben vermochte. »Trotzdem«, sagte er, »sollte man sich die Herstellerfirma ansehen.« Blakes Gesicht verriet Ungeduld. »Sagen Sie, Sir, aufzugeben, das ha ben Sie wohl nicht gelernt? Ein solches Wort gibt es wohl nicht mehr, dort… dort drüben bei Ihnen?« Man sah ihm an, daß er mit sich kämpf te. Aber dann hatte er wohl einen Entschluß gefaßt. »Dies ist aber ein anderes Land, Mister«, sagte er. »Mit anderen Gesetzen und anderen Ansichten. Ich werde Ihre Forderung nicht erfüllen. Ich habe keine Lust, mich ohne Grand mit einem der größten Konzerne anzulegen. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.« »Ohne Grund«, murmelte Roßberg. »Ohne Grund.« Er sah keine Mög lichkeit mehr, weiterzukommen. Und Blake offensichtlich auch nicht. Der Inspector legte die flache Hand auf den Papierstapel. »Ich werde das aufbereiten lassen«, sagte er. »Ich hatte gehofft, Ihnen einen Gefallen zu tun, wenn ich Ihnen mitteile, daß es außer Bessow…« Er zuckte die Schultern und erhob sich. »Sonst noch etwas, Sir?« Erst jetzt ging Roßberg auf, daß sie bisher seinen ersten und eigentli chen Verdacht mit keinem Wort erwähnt hatten. Sie hatten getan, als wäre die Möglichkeit, hier hätte eine Organisation gewirkt, längst zu den Akten gelegt. Er schilderte den Überfall in der Grasy Inn Road in allen Einzelheiten, und er sah mit Erstaunen, daß der Inspector zunehmend unruhiger wur de.
»Ah!« machte Blake, als Roßberg geendet hatte, und es klang wie ein Stöhnen. »Sie waren das also.« Der Inspector schüttelte den Kopf. »So leicht habe ich noch nie einen Täter gefaßt.« »Einen Täter?« »Der Mann liegt im Krankenhaus. Schwere Schnittwunden an Gesicht, Hals und Brust. Behauptet, er sei plötzlich angegriffen und in ein Schau fenster gestoßen worden. Zur Gegenwehr sei er überhaupt nicht ge kommen.« »Aber…« »Sein Begleiter bestätigt die Aussage. Und wen haben Sie, der Ihre Aussage bestätigen könnte?« In solch einer Situation hatte sich Roßberg noch nie befunden. Und er hatte auch nie damit gerechnet, jemals in eine solche zu geraten. Plötz lich verspürte er Sorge, daß er sich geirrt hatte, daß es gar kein Überfall gewesen war. »Der Mann heißt Bixly«, sagte er zaghaft. »Vielleicht…« Blake schüttelte langsam den Kopf. »Heißt er nicht! Zumindest steht dieser Name nicht auf seiner Kennkarte.« Roßbergs Sorge verstärkte sich. »Und nun?« fragte er. Der Inspector drückte eine Taste nieder. »Die Daten des Falles Miller. Überfall an der Grasy Inn Road.« Eine Weile lang blickte er auf den Bild schirm, und dann schien sich sein Gesicht unvermittelt zu verkrampfen. »Aber das ist doch…«, sagte er schließlich und hob den Kopf. Seine Miene zeigte eine Mischung aus Nachdenken, Erstaunen und einer Spur von Freude. »Etwas Neues?« fragte Roßberg, noch immer unsicher. Blake nickte. »Das kann man getrost sagen. Endlich eine Spur, Roß berg. Eine Spur!« Er schwang mit seinem Sessel herum und winkte den jungen Beamten herbei, mit dem Roßberg am Abend zuvor gesprochen hatte. »Vereinbaren Sie mit der Pharmacal einen Tag, Lorrimer, an dem ich dort zusammen mit Mister Roßberg auftauchen kann. Sagen Sie, es ginge um die Aufklärung bestimmter Unfälle, in deren Zusammenhang das Präparat Actigen in ungewöhnlicher Häufung aufgetreten ist. Ma chen Sie denen ruhig Feuer unter den Hintern. Und lassen Sie sich nicht abweisen. Sie haben gehört, daß es wichtig sein könnte. Klar?«
Lorrimer nickte schweigend und verließ das Büro. Durch die offene Tür hörten sie seine laute und fordernde Stimme. Blake blätterte lustlos in den Papieren. »Wieso haben Sie sich jetzt plötzlich anders entschieden?« fragte Roß berg. Seine Sorge hatte einer gewissen Erregung Platz gemacht. Er glaub te Zusammenhänge zu ahnen. Aber noch ehe der Inspector antworten konnte, erschien Lorrimers Kopf im Türspalt. »Montag vormittag«, sagte der Beamte. »So gegen acht am besten.« Blake erhob sich schwerfällig und reichte Roßberg die Hand. »Ich wer de Sie vom Hotel abholen, Sir. Hoffen wir, daß uns diese Spur nicht in die Irre führt.« »Welche Spur?« fragte Roßberg. »Der Hersteller des Actigen ist die London Pharmacal, Mister Roß berg.« Blanke legte ihm mit einer unmotivierten Geste des Vertrauens die Hand auf den Arm. »Und dieser Miller oder Bixly oder was weiß ich, wie er wirklich heißt, bezieht von der Pharmacal ein nicht geringes Gehalt. So ist das, mein Bester.«
10
Als Roßberg zurück ins Hotel kam, fühlte er sich müde und ausgelaugt. Er schlief bis gegen vierzehn Uhr, aß im Speisesaal des zweiten Stockes zu Mittag und arbeitete danach bis zum späten Nachmittag in seiner Kongreßgruppe mit. Allerdings ohne die Konzentration, die er eigentlich für erforderlich hielt. Er war anwesend. Nicht mehr. Es graute ihm vor diesem Wochenende. In diesen zwei Tagen, sagte er sich, wird nichts geschehen. Zwei Tage, die sich irgendwann selbst aus seinem Gedächtnis streichen werden, weil in ihnen nicht das Geringste enthalten sein wird, an das sich die Erinnerung klammern könnte. Solche Tage sind Makel in einem bewußt geführten Leben, und sie wiegen dop pelt schwer, wenn anderenorts die Aktivität vonnöten wäre, die hier in den Fesseln des Wartens erstickt. In ihm war eine sich steigernde Unruhe. Sich auf die Kongreßarbeit zu konzentrieren gelang ihm nicht, die Diskussionsreden und Erörterungen rauschten an ihm vorbei wie die Wasser eines Baches an den Kieseln, und er fürchtete, daß sie ihn langsam zerreiben würden. Es war die glei che Unruhe, die ihn nach etwa der gleichen Zeit auch im Urlaub zu ü berkommen pflegte. Nicht, daß er sich einbildete, unabkömmlich zu sein, das war es nicht. Ihn störte der Mangel an spezifischen Informatio nen, ihn verdroß der Gedanke, es könnte etwas vor sich gegangen sein, von dem er nichts wußte, eine neue Erkenntnis könnte gewonnen wor den sein oder ein neues Ergebnis erzielt. Sobald er sich außerhalb seines jeweiligen Aufgabenbereiches befand, hatte er das bedrückende Gefühl, außerhalb seines eigenen Lebens zu stehen, in absoluter Leere zu treiben. Und deshalb gab es für ihn in solchen Zeiten keinen Urlaub, in dem er sich entspannen, und keine Rast, während der er sich erholen konnte. Er mußte allen Willen aufbieten, um bis zum Abend durchzuhalten. In jener Nacht schlief er unruhig und fand nicht die Entspannung, auf die er gehofft hatte. Er hätte sich mit der Gewißheit trösten können, daß zwei Tage des Nichtstuns vor ihm lagen, doch war diese Tatsache viel mehr dazu angetan, seinen Verdruß zu steigern.
Als er am anderen Morgen das Restaurant betrat, hatte er abermals das Gefühl, in ein Vakuum zu stürzen. Der große Raum war fast völlig leer. Unlustig trank er seinen Tee und aß dazu Croissons, dick mit Butter be strichene Hörnchen. An sich mochte er dieses aus der französischen Küche stammende Gebäck sehr, und auch diesmal tat es seine Wirkung. Roßbergs Stimmung besserte sich um einige Grade. »Hallo, Holger!« Die Worte berührten ihn wie eine streichelnde Hand. Neben ihn war Pat getreten. Langsam hob er den Kopf. Es fiel ihm nicht leicht, Pat in dieser absoluten Leere unterzubringen. Sie trug Schuhe mit hohen, goldglänzenden Absätzen; die geschwun genen Säulen glichen, und sie war heute nicht mit einem Overall beklei det, sondern mit einem schmalgeschnittenen Rock und einer hellen Blu se. Sie hatte lange, schlanke Beine mit zarten Fesseln, der Rock stand ihr noch besser als die engen Hosen. Und die am Ausschnitt mit einem bun ten Muster bestickte Bluse gab ihr ein seltsam seriöses Aussehen. Dazu paßte auch, daß sie das Haar straff aus der Stirn genommen und zu ei nem großen Knoten geordnet hatte. Sie lächelte, als sie seine Verwunderung bemerkte. »Gefalle ich dir?« fragte sie kokett. Selbstverständlich gefiel sie ihm. Als ob es ihr darauf ankommen wür de, ausgerechnet ihm zu gefallen. Sie wollte allen Männern gefallen. Es gehörte zu ihrem Geschäft, zu gefallen. Aber so, wie sie sich heute gab, wurde es ihm nicht leicht, sich dieses Geschäftes zu erinnern. Heute ging mehr Gefahr von ihr aus als an den anderen Tagen. Sie wirkte durchaus nicht wie eine Frau, deren Metier das Vergnügen war, sondern wie eine, in die man sich verlieben konnte, Hals über Kopf, einfach so, ohne dar an zu denken, was vorher war und was nachher sein würde. Wahrscheinlich hatte sie den Schatten auf seinem Gesicht gesehen. Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. »Du machst dir Sorgen«, stellte sie fest. »Weshalb?« Sie hatte den gleichen Klang in der Stimme wie Carola. Er schüttelte den Kopf. Es störte ihn, daß er sie mit Carola verglichen hatte. »Nein, nein!« versicherte er. »Sorgen nicht. Ich bin nur ein wenig
nachdenklich. So kenne ich dich nicht. So…so fraulich.« Einen Begriff, der seine Empfindungen vielleicht besser getroffen hätte, fand er nicht. »Und das irritiert dich?« Er nickte. »Ziemlich«, sagte er. Ihr Schweigen konnte andeuten, daß sie begriffen hatte, was in ihm vorging. Er spürte die Wärme ihrer Hand, und er sah einen Schimmer in ihren Augen, den er nicht zu deuten vermochte, weil er eine Spur von Trauer darin zu erkennen glaubte. Sie saßen lange nebeneinander, schweigend und den eigenen Gedanken nachhängend. Schließlich erhob sich Pat. Sie stand wieder vor ihm, schlank und schön, und sie sah ihn aus bittenden Augen an. »Laß uns ein Stück durch die Stadt bummeln«, sagte sie. »Wie ein Paar, das sich seit vielen Jahren kennt.« Das war durchaus nicht nach seinem Geschmack. An den Wochenen den pflegte in der City of London ein äußerst hektisches Treiben zu herrschen. Es würde ein leichtes sein, den Überfall auf ihn zu wiederho len. Und dieser Gefahr mochte er sich nicht aussetzen. Als er aber mit skeptischer Miene zu ihr aufsah, bemerkte er die Ent täuschung auf ihrem Gesicht. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, dem man den sehnlichsten Wunsch abgeschlagen hatte. Was blieb ihm ande res, als zuzustimmen? Die Stadt glich einem Vulkan, dessen Lava nach Tagen scheinbarer Ruhe unvermittelt zu brodeln begann und über mühsam errichtete Dämme schwappte, einer Charybdis aus Aluminium, Glas und Beton, die plötzlich zu rasen begann, alles Leben in ihren gewaltigen Strudel reißend. In dieser Stadt konnte man nicht bummeln. Zumindest am Wochen ende nicht. An diesen beiden Tagen erwachte die Stadt zu irrem, sich überschlagendem Leben, dominierte eine für Roßbergs Begriffe entsetz liche Hektik, da wurde geschoben und gestoßen, gerannt und gerast, da wurde an Vergnügungen konsumiert, was sich auf achtundvierzig Stun den komprimieren ließ.
Einzige Ruhepunkte in diesem Durcheinander waren die Polizisten, Doppelposten an jeder Straßenecke, kräftige, ausschließlich junge Män ner in glänzend schwarzem Lackleder, mit polierten Helmen und durch sichtigen Plastikmasken, am linken Unterarm den Schild, in der rechten Hand den Schlagstock. Sie standen ein wenig breitbeinig und mit unbe teiligten Gesichtern, und ihre Kyber sahen aus wie häßliche Statuen aus glänzendem Stahl. Trotz des Gedränges auf Straßen und Plätzen blieb um sie her eine Art Vakuum, es sah aus, als wären sie von einer gläser nen Glocke umgeben, die niemand durchbrechen mochte. Pat hatte sich an Roßbergs Arm gehängt, es schien ihr Mühe zu berei ten, sich seinem gemächlichen Schritt anzupassen, offensichtlich drängte es sie, sich in das Gewühl von Menschenleibern zu stürzen, sich treiben zu lassen von Spielsalon zu Spielsalon, von Restaurant zu Restaurant. Er aber ging absichtlich langsam, beobachtete genau seine Umgebung, blickte in Gesichter und auf Hände, achtete auf Bewegungen und auf Gesten. Aus jeder Gruppe, aus jeder Ansammlung schien ihm Gefahr zu drohen, ein Messer, eine Faust, ein Schuß. Gegen Mittag schien Pat das ununterbrochene Gedränge endlich zuviel zu werden. Sie stützte sich schwer auf seinem Arm, und ihre Bewegun gen waren weit weniger heftig als am Vormittag. »Laß uns in ein Kino gehen«, bat sie. »In irgendeines.« Er nickte, er hatte nichts dagegen, daß sie die Führung übernahm, er hatte die Orientierung längst verloren, er kam sich vor wie ein Blatt, das auf einem herbstlichen Fluß dahintrieb, das hin und wieder hinabgezogen wurde auf den Grund und das doch immer wieder emportauchte an das trübe Licht eines wolkenverhange nen Tages. Ein solches Kino hatte er noch nie gesehen. Ein Raum, lang und schmal wie ein Schlauch, auf einer Seite der Eingang und auf der anderen eine Pforte, die wieder hinausführte, man entrichtete das Eintrittsgeld und ging an der Leinwand vorbei, die eine ganze Längsseite einnahm, ging mit seitwärts gewandtem Kopf, von den Nachfolgenden gedrängt und die Vorangehenden demzufolge selbst schiebend. Hier war das Risi ko zweifellos noch größer als draußen. So blieb ihm nichts, als die Ge
sichter um ihn her zu beobachten, lachende, brüllende und entsetzte Gesichter. Über die Leinwand tobte ein Film ohne tragende Handlung, eine Show, wie man derartiges hierzulande nannte, ein orgiastisches Durch einander nackter Menschen, die sich ohne Rücksicht auf Alter und Ge schlecht in den abstrusesten Verrenkungen paarten. Als er endlich wieder im matten Licht des Londoner Nachmittags stand, hatte er das Gefühl, durch eine Hölle gegangen zu sein. Sein Na cken war feucht von Schweiß, und im Mund hatte er einen Geschmack, als hätte er faulen Fisch gegessen. Er hatte genug von diesem Wochenende, übergenug, kaum daß es rich tig begonnen hatte. Ihm würde nichts bleiben, als sich in sein Hotelzim mer zurückzuziehen und diese zwei Tage zu verschlafen oder nachzu denken. Hinaus in den Trubel der Stadt würde er nicht noch einmal ge hen, und ob er sich auf die Kongreßarbeit zu konzentrieren vermochte, bezweifelte er. Er ging jetzt schnell, noch schneller, als er es ohnehin zu tun pflegte, und Pat trippelte eine Weile lang neben ihm her, krampfhaft an seinen Arm geklammert. Sie begriff nichts, nicht seinen desolaten Zustand und schon gar nicht seine Eile. Sie hielt das Tempo nicht lange durch. Vielleicht wollte sie es auch nicht durchhalten. Irgendwo zwischen Marylebone Station und dem Barbican verlor er sie, er war überzeugt, daß er sie niemals wiedersehen würde. Und er empfand bei dem Gedanken keinerlei Bedauern mehr. Nach dem Mittagessen legte er sich auf das Bett und wachte erst zwei Stunden später wieder auf, verwundert darüber, daß er tief und traumlos geschlafen hatte. Danach beschäftigte er sich mit dem Kongreßmaterial, stellte aber nach einer halben Stunde fest, daß nichts von dem, was er gelesen hatte, in seinen Gedächtnis haften blieb. Immer wieder liefen ihm die Gedan ken davon, und immer wieder kreisten sie nur um den Stapel Papier, der auf Blakes Arbeitstisch gelegen hatte.
Er brauchte jetzt einen Menschen, mit dem er sich darüber unterhalten konnte. Und dieser Mensch konnte nur Henderson sein. Er nahm die City-Rail, und die Fahrt war weit weniger anstrengend, als er zunächst fürchtete. Die Abteile waren fast völlig leer. Anscheinend benutzten die Londoner am Wochenende lieber den Underground oder die Tube. Vielleicht trug das Gedränge an den Wochentagen dazu bei, ihnen die Rail zu verleiden. Leer bis auf einige wenige Plätze, auf denen sich ein paar Ausflügler langweilten, jagte die Bahn hoch über die brodelnde Stadt hinweg. Putney Heath hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Kleine Häuschen, meist zweistöckig, mit flachen Dächern, winzige Vorgärten und einzelne Bäume, längst zu mächtigen Pappelriesen herangewachsen, machten im Verein mit den neuen Hochbauten der angrenzenden Stadt bezirke aus Putney Heath eine Art Museum, an das sich die meist betag ten Bewohner mit greisenhaftem Starrsinn klammerten. Vor dem Haus Hendersons, einem holzverschalten Bungalow, traten zwei Polizisten von einem Fuß auf den anderen. Ihr Kyber stand unmit telbar neben dem Pfeiler der Gartentür, still und in sich gekehrt, als wolle er im nächsten Augenblick das Bein heben. Offensichtlich war es für einen Außenstehenden nicht leicht, die An gehörigen der Londoner uniformierten Polizei auseinanderzuhalten. Auch diese beiden Männer glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie wa ren hochgewachsen und kräftig und trugen die gleichen Helme mit Na ckenschutz und die gleichen kreisförmigen Schilde an den Unterarmen. Flüchtig mußte Roßberg an Blake denken, der sich von seinen unifor mierten Kollegen trotz all seiner Bärbeißigkeit wohltuend unterschied. Er stockte, als einer der beiden den Kopf hob und ihn, während er sich näherte, einer anscheinend eingehenden Musterung unterzog. Zugleich schwenkte der Kopf des Kybers herum und begann zu pendeln. Roß berg ging langsam, mit fast schlendernden Schritten auf die grüngestri chene Gartenpforte zu. Die Augen des Polizisten schienen sich an ihm festzusaugen. Im letzten Augenblick, er hatte schon die Hand an der Türklinke, ver trat ihm einer der Uniformierten den Weg, hob den Schild in Brusthöhe
und legte die Hand an den Knauf des Schlagstockes. Der Kyber erstarrte wie eine Schlange unmittelbar vor dem Biß. »Wohin, Sir?« Die Stimme des Polizisten war tief und schnarrend, sie erinnerte an das synthetische Organ eines Computerphons. Ein unangenehmes Gefühl kroch Roßberg den Rücken hinauf. Erst jetzt war er ganz sicher, daß diese beiden Hendersons wegen hier waren. »Zum Professor«, sagte er, und er bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst unbefangenen Klang zu geben. »Identification!« schnarrte der Polizist. Schulterzuckend reichte er ihm seine Karte. Der Polizist faßte sie mit zwei Fingern und drehte sie hin und her, was nicht sehr geschickt aussah, da ihn die Handschuhe behinderten. Ab und zu blickte er mit nachdenklicher Miene auf, aber im Verlauf der Kontrol le nahm sein Gesicht mehr und mehr den Ausdruck von Mißbilligung an. Schließlich schob er die Karte in einen Handleser, betrachtete lange den winzigen Bildschirm, wobei sich seine Mundwinkel herabzogen, und reichte sie zurück. »Zweck des Besuches?« wollte er wissen. Das unangenehme Gefühl verstärkte sich. Die Situation war so unge wöhnlich, daß Roßberg nicht wußte, wie er reagieren sollte. »Privat!« sagte er und wandte sich wieder der Pforte zu. Der Polizist legte die Hand an den Riegel. »Das müssen Sie mir schon genauer erklären, Sir«, sagte er scharf. »Wenn Sie Henderson besuchen wollen, dann müssen Sie das begründen.« Zum zweitenmal an diesem Tag spürte Roßberg etwas wie Haß. Aber jetzt hatte das Gefühl einen konkreten Ausgangspunkt und damit auch ein konkretes Ziel. Ganz nah trat er an den Polizisten heran. »Geben Sie sofort den Weg frei!« forderte er, und er wunderte sich, welche Schärfe er in seine Stimme zu legen vermochte. »Sie haben nicht die Spur eines Rechtes, mich an diesem Besuch zu hindern. Nehmen Sie das zur Kenntnis. Und nun treten Sie zur Seite!« Zweierlei geschah gleichzeitig. Der andere Polizist, der bisher unbe weglich und mit gesenktem Blick am Rinnstein gestanden hatte, hob den Kopf, und Roßberg sah, daß in seinen Mienen die Schatten einer unge
heuren Müdigkeit lagen. Das war keine Müdigkeit, die körperlicher Natur gewesen wäre, das war Resignation und Überdruß in einem Maße, wie sie ihm bisher noch nirgends begegnet waren. Dieser Mann würde auch dann nicht eingegriffen haben, wenn es zu einer Auseinandersetzung gekommen wäre. Was Roßberg aber fast noch mehr verblüffte, war die Tatsache, daß der andere Beamte wirklich die Pforte freigab. Der Mann tat einen Schritt zur Seite, als befände er sich auf dem Exerzierplatz. Roßberg kam es vor, als fehlte nicht viel, und der andere stünde stramm. Während er den kurzen Gartenweg entlangging, blickte er sich über die Schulter um. Die beiden Männer standen wie Bildsäulen, der eine jetzt wieder mit gesenktem Blick, der andere mit heruntergeklapptem Unter kiefer. Und ihr Kyber lehnte bewegungslos am Türpfosten. »Mein Gott!« sagte Henderson. Und nach einer kleinen Pause wiederhol te er: »Mein Gott!« Wenn sich hier in London auch nicht das mindeste verändert hätte, an dem alten Henderson war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. In den drei Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, war der Professor um mindestens zehn Jahre gealtert. Klein und ein wenig gebeugt stand er in der Haustür, den Morgenmantel vor der Brust zusammenhaltend. Sein Haar war grau geworden, fast weiß, es wirkte ungepflegt, und die nackten Füße steckten in abgetragenen Pantoffeln. Das war nicht mehr der Hen derson, der auf Symposien Tausende in seinen Bann geschlagen hatte, das war nicht mehr der Mann, der das Antikrebsprotein synthetisiert hatte. Der da vor ihm stand und der »Mein Gott!« statt »Hallo!« oder »How are you, Holger?« sagte, das war ein gebrochener Greis, der wohl nichts mehr vom Leben erwartete. Für Holger Roßberg war dieser Eindruck schockierender als die Tatsa che, daß vor Hendersons Haustür zwei Polizisten stationiert waren. Hendersons Blick hing an den beiden Schwarzen, die noch immer draußen an der Gartenpforte unbeweglich wie Gegenstände ihre Wache hielten. Das Gesicht des Alten zeigte eigentlich keine Furcht, sondern nur Verachtung und eine Spur von Hohn. Schließlich trat er einen Schritt zur Seite.
»Kommen Sie schnell herein, Holger.« Er schaute noch einmal auf die beiden Polizisten, schüttelte den Kopf und ging Roßberg voran ins Haus. Drinnen, nachdem er die Tür geschlossen hatte, öffneten sich unversehens die Schleusen seiner Beredsamkeit. »Wie geht es Ihnen? Was führt Sie nach London? Und was ausgerechnet zum alten Hender son? Was, um Himmels willen, suchen Sie hier bei mir?« Offensichtlich wußte er überhaupt nichts von dem Kongreß. Das war bestürzend, aber es war nicht alles. Ganz zum Schluß kam noch ein Satz, ein paar Worte, die Roßberg erschütterten: »Mich besucht man doch nicht mehr.« »Was ist das für eine seltsame Leibwache, Mister Henderson?« fragte Roßberg, ablenkend, bemüht um einen oberflächlichen Tonfall, der ihm jedoch nicht gelingen wollte. Er ahnte, was sich in den letzten Wochen und Monaten um diesen Wissenschaftler abgespielt haben mußte, ahnte es, obwohl nichts davon bis nach Berlin gedrungen war. Denn nach wie vor war in der Fachpresse ab und an ein Artikel des Alten erschienen. Gewundert hatte man sich lediglich darüber, daß sie sich ausschließlich mit Erkenntnissen befaßten, die mehr als zwei Jahre alt waren. Jetzt wurden die Gründe deutlich. Und doch hatte nichts auf eine solch absolute Isolierung schließen las sen, wie sie die Bewachung durch einen Polizeiposten darstellte. Ja, es stimmte schon, der alte Henderson war keiner von denen, die sich in ein Schema einordnen ließen, und er pflegte kein Blatt vor den Mund zu nehmen, auch dann nicht, wenn seine Ansichten denen der Offiziellen entgegenstanden. Aber deshalb eine Wache vor der Tür? »Weshalb die beiden dort draußen stehen, erzähle ich Ihnen später«, sagte der Professor, und Roßberg bemerkte, daß der Alte aufzuleben begann. »Aber zuerst, mein junger Freund, müssen Sie berichten.« Er führte seinen Gast in ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer, nötigte ihn auf einen Sessel und nahm ihm gegenüber Platz. »Also dann heraus mit der Sprache!« Roßberg überlegte, ob es wirklich Sinn hatte, über Bessow und Krönli zu sprechen. Dieser alte Mann war ausgeschlossen von allem, was nicht innerhalb seiner vier Wände vor sich ging. Nein, sinnvoll war es nicht. Aber wohl human.
Die ältliche Haushälterin brachte zwei Tassen Kaffee und eine Schale mit Gebäck. Sie ging wortlos von einem zum anderen, ordnete das Ge schirr und streifte den Gast mit einem flüchtigen Blick, aus dem man etwas wie Anerkennung herauslesen konnte. Dann verließ sie das Zim mer. »Eine prachtvolle Frau«, bemerkte der Alte. »Obwohl sie nur Nachteile davon hat, hält sie noch immer bei mir aus.« Und nach einem Augen blick des Schweigens fügte er hinzu: »Es ist schön, daß Sie gekommen sind.« Da begann Roßberg sein Anliegen vorzutragen, obwohl seine Hoff nung, mit Hilfe des Alten voranzukommen, längst geschwunden war. Henderson hörte aufmerksam zu. Offensichtlich bewegte ihn die Ge schichte. Als Roßberg geendet hatte, stand der alte Mann auf. »Und Sie meinen, man könne bei Ihrem Landsmann und den anderen Herren eine Verhaltensänderung durch eine bestimmte psychogene Droge bewirkt haben?« Der Professor schob die Hände bis fast an die Ellenbogen in die Taschen seines Hausmantels und schlurfte durch das Zimmer. Unmittel bar vor Roßberg blieb er schließlich stehen und wippte auf den Zehen spitzen. »Dem steht aber entgegen«, sagte er langsam, »daß all diese Leu te das gleiche Verhaltensinventar erkennen ließen, und zwar eins, das außerhalb ihrer Persönlichkeitsstruktur lag. Bei psychogenen Drogen hätten sie sich ihren Eigenheiten entsprechend benehmen müssen.« »Ich denke, daß es sich um Fremdproteine gehandelt hat«, sagte Roß berg, nun schon ein wenig enttäuscht darüber, daß der Alte die Spur nicht sofort erkannt hatte. Henderson nickte nachdenklich. »Das wäre gut möglich«, bestätigte er. »Wenn man mit derartigen Medikamenten Ängste und Zwangsvorstel lungen, Lustgefühle und alle nur möglichen Emotionen zu vermitteln vermag, weshalb nicht auch ein untypisches, aber genau festgelegtes Verhalten? Nur nehme ich an, daß Ihnen diese Überlegungen nicht all zuviel nützen. Oder…« Holger Roßberg nickte. »Stimmt! Meine Frage war, ob es Mittel gibt, die man gezielt einsetzen kann, und welche von ihnen ein solch unge wöhnliches Verhalten erzeugen.«
Henderson deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen. »Aus nahe liegenden Gründen kenne ich den letzten Stand der Forschungen nicht. Und den der Produzenten schon gar nicht. Aber ich halte das für mög lich. Zwar haben wir Arzneimittelgesetze, die nicht schlecht sind, und wir berufen uns auch häufig auf die Menschenrechte, aber…« Der Alte hob die Schultern und wandte sich seinem Gast wieder zu. »Aber Geset ze«, fuhr er fort, »und Rechte, mein Lieber, das sind Dinge, die für die Öffentlichkeit geschaffen worden sind. Immerhin produziert man ja auch Drogen, die vorhandene Gehirninhalte zu verdrängen oder zu akti vieren vermögen.« Holger Roßberg trank einen Schluck Kaffee und aß von dem Gebäck. Er mochte den Alten jetzt nicht unterbrechen. Es tat Henderson offen sichtlich gut, reden zu können. »Ich glaube, ich habe Sie enttäuscht, Holger«, schloß der Professor endlich. »Was ich Ihnen sagen konnte, das wußten Sie sicherlich schon.« Roßberg nickte. Ja, das hatte er alles gewußt. Neue Aspekte hatten sich nicht ergeben. Er war keinen Schritt weitergekommen. Jetzt konzentrier te sich alles auf die London Pharmacal. Als Urheber des merkwürdigen Verhaltens blieb eigentlich nur noch das Aktivierungspräparat Actigen plus. Nur, Bessow hatte mehrmals versichert, ein solches Mittel nicht ge nommen zu haben. Es war wie verhext. Und nichts sprach dafür, daß Bessow gelogen hatte. Zumal auch Lesterson und Longcoat nichts über den Kauf einer solchen Droge ermittelt hatten. »Kennen Sie die Firma Lesterson und Longcoat?« fragte er aus seinen Gedanken heraus. Henderson blickte verständnislos. »Eine Detektei«, erläuterte Roßberg. »Die Leute haben den ganzen Weg Bessows verfolgt, äußerst präzise und in unglaublich kurzer Zeit.« »Ja, und…?« »Es scheint, daß Bessow der einzige gewesen ist, der ein bestimmtes Mittel nicht genommen hat. Wenn man den Ermittlungen glauben darf.« »Haben Sie den Bericht mit?« Roßberg nickte und legte die Papiere vor den Alten auf den Tisch.
Henderson blätterte sie flüchtig durch, wobei er die Augen zusammen kniff, und legte sie zurück. »Wenn Sie meine Meinung dazu hören wol len«, sagte er, »ich würde mich auf diesen Bericht unbedingt verlassen.« Er sagte das mit uneingeschränkter Überzeugung, und seltsamerweise war Roßberg sofort sicher, daß sich der Alte nicht irrte. Aber Henderson schien es für erforderlich zu halten, eine Erklärung abzugeben. »Sehen Sie, Holger. Dieser Bericht ist nicht aufgrund irgendwelcher Ermittlun gen entstanden. Die Detekteien haben es heute viel einfacher. Fast alle einigermaßen zahlungskräftigen Firmen sind Mitglieder sogenannter Da tenringe. Gegen einen pauschalen Kaufpreis können sie alle in den Zent ralcomputern gespeicherten Daten abrufen. Es muß eine Unmenge von Zeitungsartikeln über das Verhalten Ihres Mister Bessow gegeben haben. Wahrscheinlich ist jeder seiner Schritte von einem oder mehreren Repor tern beobachtet worden. Bis zu dem Zeitpunkt, da sie dann alle auf der Pressekonferenz waren. Eine auch nur einigermaßen gute Detektei kann zu jeder Zeit und an jedem Ort der Insel ganze Stapel von Informatio nen über diesen Mann bekommen. Das ist nur eine Sache des Pro gramms.« Er schob die Papiere mit müder Bewegung über den Tisch. »Daß das hier aus Datenspeichern stammt, erkennt man an bestimmten Formulierungen und an der exakten Gliederung.« Henderson schwieg erschöpft und lehnte sich im Sessel zurück. Auch Roßberg blieb stumm. Eine solch einfache und zugleich enttäuschende Erklärung für die schnelle und vermeintlich gute Arbeit der Detektei hatte er nicht erwartet. Und auch nicht, daß die Integration persönlicher Belange in Datenbanken schon so weit fortgeschritten sein konnte. Henderson mußte ihm wohl die Gedanken vom Gesicht abgelesen ha ben. »Ja, mein lieber junger Freund«, sagte der Alte, und sein Gesicht sah jetzt noch eingefallener aus, »schon immer hatten jede Erfindung und jedes Werkzeug zwei Seiten, zum Wohl und zum Nachteil der Menschen. Es kommt immer nur darauf an, wer die Erkenntnisse nutzt.« Roßberg spürte, daß der erste Teil des Gespräches beendet war. Das, was Henderson da sagte, war wohl schon Ouvertüre für den nächsten. Er blickte aus dem Fenster. Die beiden Polizisten draußen auf der Straße standen jetzt Rücken an Rücken. Der eine beobachtete das Haus, und
der andere starrte mit gelangweiltem Gesichtsausdruck die Straße hinun ter. »Diese beiden stehen zwar erst seit einigen Wochen vor meinem Haus«, erklärte Henderson. »Aber der Beobachtung durch unsichtbare Wächter erfreue ich mich schon seit einigen Jahren. Es begann eigentlich schon nach dem aufsehenerregenden Vortrag meines Kollegen Haidane auf dem Ciba-Symposium.« »Daß muß doch schon ein Jahrzehnt her sein«, sinnierte Roßberg. »Haidane ist lange tot.« »Das ist wahr«, bestätigte Henderson. »Haidane ist tot. Aber seine I deen leben, diese schrecklichen Theorien über die Vorteile der geneti schen Manipulation des Menschen. Eine Schande für unsere ganze Wis senschaft ist das. Nicht nur, daß Haidane vorschlug, speziell angepaßte Menschen für besondere Arbeitssituationen zu züchten, er bot auch gleich eine ganze Palette von Übermenschen an. Den GibbonAstronauten mit Greifschwanz zum Einsatz unter den Bedingungen verminderter Schwerkraft, den Delphinmenschen mit Flossen zur Arbeit in submarinen Farmen, vampirähnliche Flugmenschen und Neuralchi mären, deren Hirnzellenzahl auf mutativem Weg verdoppelt werden sollte. Ein anderer seiner Vorschläge befaßte sich mit der Vervielfälti gung von Wissenschaftlern durch Cloning. Man könne eines Tages tau send Einsteins produzieren, argumentierte er, und hätte damit ein gewal tiges Geistespotential zur Verfügung. Er wurde sehr laut, als ich ihm erklärte, daß die Menschheit die Existenz von tausend Einsteins viel leicht noch verkraften könne, nicht aber tausend Napoleons oder tau send Haldanes. Er war nicht bereit, die Tatsache zu akzeptieren, daß die Entwicklung der Menschheit sich auf gesellschaftlichem Gebiet abspielt. Er wollte die Menschen an die gesellschaftlichen Bedingungen anpassen. Er propagierte eine strenge genetische Auswahl unter der minderwerti gen Bevölkerung. Er sagte wirklich ›minderwertig‹, und ich begriff nicht, weshalb sich nicht augenblicklich ein Sturm der Entrüstung erhob. Viel leicht waren alle anderen überzeugt, zu den ›Hochwertigen‹ zu gehören. Heute hat man für die Methode der Optimierung des Menschen den Begriff ›Sozialdarwinismus‹ geprägt, man behauptet, man brauche diese Methode, um der angeblich zu beobachtenden Verschlechterung des
menschlichen Erbgutes infolge fehlender natürlicher Auslese entgegen wirken zu können. Begreifen Sie, Holger, was das für unsere Zivilisation bedeuten würde?« Natürlich kannte Roßberg diese Theorien. Und auch deren Auswir kungen vermochte er sich vorzustellen. Das Ganze würde im Grunde auf ein Fortpflanzungsverbot für diejenigen hinauslaufen, die gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse opponierten. Er hatte die Apologeten des Sozialdarwinismus stets für arme Irre gehalten, für eine Minderheit, die irgendwann im Meer der Vernunft ertrinken würde. Er hatte nicht glau ben wollen, daß es einflußreiche Kreise gab, denen diese Theorien gera de recht kamen, um mit ihrer Hilfe bestimmte überholte gesellschaftliche Strukturen zu konservieren. Was er hier hörte, war bestürzend. »Es hat praktische Versuche gegeben«, sagte Henderson laut, fast schreiend, als sollten ihn die Polizisten draußen vor der Tür hören. Seine Müdigkeit schien wie weggeblasen. Unvermittelt sprang er auf und lief zum Schrank. »Streng geheime Ver suche.« Er wühlte in Schubladen, heftig, mit unbeherrschten Gesten. »Genpfropfung!« rief er schließlich und warf ein Paket von Bildern auf den Tisch. »Als könne Genpfropfung zu den Erfolgen führen, die sie sich wünschen. Doch nicht bei hochorganisierten Wesen. Die Kodierung der einzelnen genetischen Anlagen ist so stark vernetzt, daß veränderte Einzelkomponenten repariert werden. Durch die Natur selbst. Und wenn der Natur die Reparatur nicht gelingt, dann hilft sie sich auf andere Weise. Sie sondert aus, läßt die Mutanten zugrunde gehen.« Roßberg schwieg. Es hätte keinen Sinn gehabt, dem Alten zu erklären, daß er sich irrte. Daß auch diese Grenze längst ins Wanken gekommen war. Daß die Existenz der Roßberg-Hybride nur noch eine Frage der Zeit war. Er betrachtete die Bilder, die durchweg mutierte Embryonen zeigten, offenbar Embryonen des Rhesusaffen. All diese winzigen Lebewesen waren entsetzlich verstümmelt. Da war nicht eins, das auch nur annä hernd der Normalform entsprochen hätte. Da waren Hände von fast Körpergröße, übermäßig verlängerte Arme, die anstelle der Finger flos senförmige Stummel trugen, ins Riesenhafte vergrößerte Köpfe, Tiere, die anstelle von zwei Hinterbeinen deren vier hatten. Es war eine Palette
von Abweichungen, die einem Horrorkabinett Ehre gemacht hätte. Roßberg wurde an Arzneimittel erinnert, die ähnlich grausige Mutationen provoziert hatten, Medikapente, die eigentlich ihrer heilsamen Wirkung wegen genommen wurden, die Schmerzen stillten oder Schlaflosigkeit beseitigten. Doch bei besonders empfänglichen Menschen begannen sie erschreckende Nebenwirkungen zu entfalten, häufig Mißbildungen bei Kindern, die teilweise völlige Lebensunfähigkeit zur Folge hatten. Und meist hatte es Jahre oder zumindest Monate gedauert, ehe sich die Pro duzenten entschlossen hatten, ein solches Medikament vom Markt zu nehmen. »Die Wissenschaftler, die diese Leichen produziert haben«, sagte Hen derson nach einer Weile, diesmal im Normalton, aber offensichtlich noch immer sehr erregt, »sind trotz allem überzeugt, sich auf dem richti gen Weg zu befinden, etwas Nützliches zu schaffen. Wären ihre Kreatu ren nicht an den eigenen Unzulänglichkeiten krepiert, diese Leute hätten längst Hand an den Menschen gelegt.« Unruhig lief der Alte im Zimmer auf und ab. »Ich kämpfe nicht dafür, daß sie aufhören zu forschen. Nein! Selbstverständlich brauchen wir den Hammer, die Kernenergie und natürlich auch die Molekularbiologie. Als Heilmethode, als Möglichkeit, Nahrung zu produzieren und meinetwe gen auch zur Konstruktion neuer Nutztiere. Aber doch nicht als Hilfs mittel, bestimmte Herrschaftsstrukturen durchzusetzen oder zu festigen. Selbstverständlich sind wir Forscher verpflichtet, all unsere Möglichkei ten zu nutzen. Das sind wir der Menschheit schuldig«, sagte er, und seine Stimme wurde wieder leiser. »Aber doch nur zum Vorteil aller.« Sein Zorn war abgeklungen. Er wirkte jetzt sehr erschöpft. Es war un verkennbar, daß er sich selbst zerquälte, daß er sich einfach nicht mit dem abfinden konnte, was um ihn her geschah. Und vor allem kam er wohl nicht damit zurecht, daß man ihn isoliert hatte, daß man ihn aller Möglichkeiten des Kampfes beraubt hatte. Als Roßberg sich von ihm verabschiedete, erschüttert über das, was von dem einst so berühmten Wissenschaftler übriggeblieben war, da sagte Henderson mit leiser Stimme: »Ich wünschte, ich hätte noch die Kraft zu einem Neubeginn. In Ihrem Land vielleicht, Roßberg, oder irgendwo sonst dort drüben.«
Die beiden Polizisten sahen Roßberg lange nach. Und in ihren Gesich tern regte sich keine Miene. Plötzlich hatte Holger Roßberg Sehnsucht nach Berlin. Nicht so sehr nach dem Institut, sondern nach der Stadt, nach dem Land, nach den Menschen. Die Klimaanlage blies einen lauen Luftzug durch die Halle des Barbi can. Es roch nach Airfreshern, schottisch Leder und parfümierten Vita retten. In einer der Kom-Zellen drüben neben den Gummibäumen starrte ei ne Dame mit selbstvergessenem Gesichtsausdruck auf die blinkenden Segmente des Sensors. Sie trug ein weites, an den Knien gerafftes, gelbes Kleid, und ihr kurzgeschorenes Haar leuchtete in sattem Rot. Als sie die Zelle verließ, hatte sie einen versiegelten Becher mit einer grünlichen Flüssigkeit in der Hand. Sie warf sich in einen der Sessel, riß die Folie auf und trank in langen Zügen wie eine Verdurstende. Und plötzlich war es Roßberg, als öffne sich in seinem Inneren ein düsterer Vorhang.
11
Roßberg sah weder das Fernsehprogramm, noch folgte er dem Kom mentar des Moderators, der sich über die Auswirkungen einer anhalten den Dürre in weiten Teilen Zentralchinas verbreitete. Er blickte nur auf das kleine, matte Rechteck, auf dem ein einziges Wort stand: »Bestätigt!« Da endlich lag die Spur vor ihm, klar und deutlich wie eine schnurge rade, von Bäumen gesäumte Straße in der Morgensonne. Vielleicht wäre er auch angesichts der gelbgekleideten Dame, der der Zentralcomputer ein Spezialgetränk verschrieben hatte, noch nicht auf die Lösung gekommen, hätte er nicht so intensiv über Hendersons Be fürchtungen gegrübelt. Die Begegnung hatte ihn doch arg erschüttert. Nicht so sehr der An blick und die Umgebung des Alten, sondern vielmehr dessen Äußerun gen. Roßberg glaubte genau zu wissen, daß der Professor auf keinen Fall zu jenen von Natur aus Unzufriedenen zu zählen war, die sich aus Prinzip gegen die Ansichten der Mehrheit stellten, ein Querulant war Henderson sicherlich nicht. Roßberg kannte den Alten von einer ganz anderen Seite. Neben gelegentlichen Besuchen war er mit ihm auf zwei oder drei Kon gressen zusammengetroffen, und das waren Gelegenheiten gewesen, den mitreißenden Enthusiasmus des Wissenschaftlers zu bewundern. Dieser streitbare, betagte Mann pflegte seine Theorien und Erkenntnisse mit solchem Feuer zu publizieren, daß er durchaus nicht nur seine Anhänger begeisterte. Bei solchen Anlässen wurde aus dem meist ein wenig linki schen Mann unversehens ein um Jahrzehnte verjüngter Streiter, der das Herz auf der Zunge trug. Das war besonders dann zu beobachten, wenn er Dinge vorzutragen und zu vertreten hatte, die vom Althergebrachten abwichen, weil sie vermeintlich unangreifbare Vorstellungen mir nichts, dir nichts über den Haufen warfen. Immer aber waren seine Ansichten gut fundiert und genau durchdacht. Nicht ein einziges Mal hatte jemand den Beweis der Unhaltbarkeit einer Hendersonschen Theorie zu erbringen vermocht.
Und wenn also nun dieser in Hörsälen und Labors ergraute Professor gegen bestimmte Tendenzen zu Felde ziehen zu müssen glaubte, wenn er dabei seines Rufes nicht achtete und sogar seine Existenz aufs Spiel setzte, dann hatte er dafür unbedingt seine Gründe, dann trieb ihn be rechtigte Sorge, dann gab es die Gefahren, von denen er sprach, wirklich und nicht nur in seiner Einbildung. Henderson hatte wohl längst begrif fen, daß sich zwischen Politik und Wissenschaft kein Trennungsstrich ziehen ließ. Schon lange nicht mehr. Eigentlich wohl nie. Das war spätestens in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhun derts deutlich geworden, als allerorts Wissenschaftler aufgetreten waren, die die soziale Aufbruchstimmung aus genetisch vorprogrammierten Verhaltensmustern zu motivieren suchten. Die meisten dieser eugeni schen Theorien entstanden über Nacht, weil sie ausgezeichnet in das Konzept der herrschenden Klasse paßten und weil sie offensichtlich mittels Naturgesetz sanktionierten, was sich in Jahrzehnten wirtschaftli cher Polarisation und politischer Machtanhäufung an Differenzen her ausgebildet hatte. Angeblich waren nicht die Besitzverhältnisse für die Unterteilung der Menschheit in Klassen verantwortlich, sondern das genetische Material, das die Menschen in wertvolle und minderwertige Individuen aufspalte. Die sich mehr und mehr ausbreitenden politischen Kämpfe wurden auf »Blut und Erbgut« zurückgeführt, auf die umstürzlerischen Neigungen einer mit kriminellen Charaktereigenschaften und niedrigem* Intelli genzquotienten behafteten Schicht, die gegen die Lenkung und Leitung seitens einer von Natur aus genetisch bevorzugten Herrenklasse revoltie ren zu müssen glaubte. Diese frühe eugenische Bewegung war ein nicht ganz erfolgloser Ver such, wissenschaftliche Erkenntnisse zu deformieren, um sie als Aus druck einer gottgewollten Ordnung interpretieren zu können. Bezeich nend war aber auch, daß der schließliche Niedergang dieser Theorien nicht wissenschaftlicher Kritik zu verdanken war, sondern der pervertier ten Nutzung eugenischen Denkens durch den Faschismus. Wenn Hendersons Befürchtungen also begründet waren, woran Roß berg nicht im geringsten zweifelte, dann bestanden zwischen jenen frü hen eugenischen Theorien und dem, was sich in des Alten Heimat an
bahnte, bestürzende Parallelen. Der Begriff »Sozialdarwinismus« beinhal tete ein ganzes Paket von Maßnahmen zur Disziplinierung der Men schen, bis hin zum Ausschluß bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Vererbung. Bestrafung unloyalen Verhaltens durch Entzug der Verer bungsrechte, Linienzucht des Menschen und Steuerung seiner Denkvor gänge. Der Weg zur genetisch kontrollierten und bewußtseinsgesteuerten Gesellschaft. Dagegen ging Henderson an. Und weil er sich seiner Verantwortung nicht entzog, stellte man ihm Polizisten vor die Tür. Weil er wußte, daß die Anwendung eines Teiles dieser Erkenntnisse längst nicht mehr nur auf wissenschaftliche Institutionen beschränkt war, und weil er erkannt hatte, daß nicht die Erkenntnisse für die Art ihrer Nutzung verantwort lich zu machen waren oder diejenigen, die sie gewonnen hatten, sondern jene, die sich ihrer als Werkzeuge bedienten. Das war selbstverständlich eine seit Urzeiten bekannte Tatsache. Aber vielleicht mußte Roßberg erst auf den alten Professor treffen, um ihre ganze Tragweite zu begreifen. Bisher hatte ihm das alles sehr fern ge standen, er hatte es wie ein Unbeteiligter, zwar mit einem gelinden Schauder, aber ohne jede Anteilnahme, lediglich registriert. Das alles hatte sich in einer anderen Welt abgespielt, in einer Welt, deren Gesetz mäßigkeiten ohnehin im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand lagen. Aus diesem nicht so sehr räumlichen als vielmehr emotionalen Abstand hatte er weder die Vertreter der Eugenik noch die Apologeten des Sozialdarwinismus sonderlich ernst genommen. Für ihn, den Biolo gen Holger Roßberg aus Berlin, waren das schlicht Verrückte gewesen. Jetzt, nach dem Gespräch mit Henderson, sah er die Dinge anders. Anscheinend erkannte man die Gefahren um so deutlicher, je näher man ihnen stand. Die Manipulation dieser Gesellschaft hier hatte bereits vor Jahren be gonnen. Über die Massenmedien. Und vielleicht war nun ein neues Mit tel hinzugekommen. Die Automaten. Meisters Mitteilung, daß Bessow tatsächlich ein Getränk aus dem Kom gezogen hatte, war eigentlich schon die Bestätigung. Blieb die Frage, weshalb es zu solch abweichenden Verhaltensweisen kommen konnte.
Er schreckte aus seinen Gedanken, als das Videofon summte. Er tastete die Sprechverbindung ein, die Kamera ließ er ausgeschaltet. Er mochte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Jetzt nicht. Aus dem Lautsprecher kam die Stimme des Bediensteten von der Re ception: »Eine Dame wünscht Sie zu sprechen, Mister Roßberg.« Obwohl sich der Mann wie stets alle Mühe gab, jede Betonung zu vermeiden, war ein kleines Stocken vor dem Wort »Dame« unverkenn bar, ein Umstand, der Roßberg schließen ließ, daß es sich nur um Pat handeln konnte. Mit Pats Besuch hatte er nicht gerechnet, nicht mehr, nachdem er sie in der Stadt einfach stehengelassen hatte. Aber dann war da wirklich ihre Stimme, unbekümmert und heiter wie immer: »Hallo, Holger! Ich hoffe, du hast dich nach der gestrigen An strengung genügend erholt, um mit mir essen zu gehen. Obwohl man meinen…« »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Appetit haben werde«, unterbrach er sie. Ihre Beharrlichkeit verdroß ihn. Und noch mehr störte ihn, daß ihr Anruf seinen Gedankenfluß unterbrochen hatte. Er hatte sich bereits damit abgefunden, den Sonntag mit Nachdenken zu verbringen. Jetzt, da er die Spur gefunden zu haben glaubte, bereitete ihm diese Vorstellung keinen Ärger mehr. Als er bemerkte, daß Pat, offensichtlich betroffen über seinen un freundlichen Ton, verwirrt schwieg, lenkte er aber doch ein. »Ich habe gearbeitet«, sagte er. »Entschuldige bitte.« Sie sagte: »Sorry!«, als bedauerte sie wirklich, ihn gestört zu haben, aber gleich darauf hatte sie ihren unbekümmerten Ton wiedergefunden und plauderte munter drauflos. Ob er sich noch erinnere, daß sie ihm erzählt habe, sie sei eigentlich Journalistin? Dann werde er ihr auch glauben, daß sie die alte Gewohn heit beibehalten habe, sämtliche Zeitungen sehr genau zu lesen. Manch mal mache sie sich sogar Auszüge für ihr Archiv und schreibe auch heute noch hin und wieder den einen oder anderen Artikel. Schließlich müsse man ja im Training bleiben für später. Nun sei sie da heute morgen auf eine Sache gestoßen, die ihn bestimmt interessieren werde. Er sei ja of
fensichtlich scharf auf ungewöhnliche Verhaltensweisen. Und sie habe da einen Bericht entdeckt, der genau in seine Sammlung passen könne. Sie sagte wirklich »Sammlung«, als hielte sie ihn für einen spleenigen Sonderling, der sich die Zeit mit der Jagd nach Verrückten vertrieb. Und dazu lachte sie, als finde sie das Ganze umwerfend komisch. Sie tat, als hätte es zwischen ihnen nie auch nur die mindeste Verstim mung gegeben. Mit keinem Wort erwähnte sie seine Flucht vor ihr und der Stadt, und keiner ihrer Blicke deutete einen Vorwurf darüber an, daß er sie gestern behandelt hatte, als wäre sie nicht Kind dieser Stadt, son dern verantwortlich für die Stadt und das Geschehen zwischen deren Mauern. Sie lag ausgestreckt in einem der Sessel, hatte die Beine übereinander geschlagen und lächelte ihn an. Es war ein Lächeln, von dem sie wohl wußte, daß es seine Wirkung nur sehr selten verfehlte. Und so verflog ein Teil seines Unmutes auch augenblicklich. Als er sich neben sie setzte, richtete sie sich ein wenig auf und legte ihm eines jener bunten Journale, die ihre hohe Auflage ausschließlich Klatschgeschichten verdanken, auf die Knie. »Das mußt du unbedingt lesen«, sagte sie eifrig und blätterte die Zeit schrift auf. »Diese Story wird dir bestimmt gut gefallen.« Die Story gefiel ihm überhaupt nicht. Zumindest nicht sofort. Zum ei nen schien sie nicht viele Gemeinsamkeiten mit den Fällen aufzuweisen, die ihn interessierten, und zum anderen war es eine für dieses Land wohl ziemlich normale Geschichte. Das Milieu einer vermeintlich exklusiven Gesellschaftsgruppe, Sexualität und Rivalität, harte Männer und schöne Frauen, Betrug und Prügelei. Eine Klischeegeschichte. Man könnte diese Art von Stories durch Computer konstruieren und von Maschinen schreiben lassen, jede war nur eine Variante des tausendmal erprobten Grundrezeptes. Da war also ein Schauspieler im wahrsten Sinn des Wortes aus der Rol le gefallen. Das Ganzfoto zeigte einen bärtigen Athleten mit behaarter Brust und winzigem Lederschurz, in der Rechten schwang er ein römi sches Kurzschwert, und am Gürtel hing ihm eine südamerikanische Bola,
jenes legendäre Wurfgerät, das aus miteinander verknoteten Schnüren und an ihren Enden angebundenen Steinen bestand. Der Mann war groß und breitschultrig, ein Mann wie ein Baum, ein Held. Der Film sollte ausschließlich auf ihn zugeschnitten werden, was kümmerte den Regis seur historische Wahrheit, wenn er meinte, der Publikumsgeschmack verlange eine behaarte Männerbrust, blonde Frauen, römische Kurz schwerter und eine südamerikanische Bola? Und nun hatte dieser Held dem Regisseur einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Abgesehen von der Tatsache, daß er an dem fraglichen Tag noch schlechter als sonst spielte, daß man ihm den Text seiner Rolle auf einem Teleprinter darbieten mußte, schmiß er mehrere Szenen, weil er zuerst aus unerfindlichen Gründen diesen oder jenen Komparsen ablehnte, den Autor anschrie und sich zu unpassenden Mo menten seiner Partnerin in sehr massiver Weise zu nähern suchte. Schließlich warf er dem Regisseur Bola und Kurzschwert vor die Füße, erklärte mit überschnappender Stimme, er habe die ganze Schweinerei in diesem Laden satt, und stürzte sich auf seinen Gegenspieler. Dabei stieß er fortwährend die finstersten Drohungen aus, weil dieser schmächtige Mensch, wie er behauptete, unerlaubte Beziehungen zu seiner Partnerin unterhalte. Es entwickelte sich eine kurze, aber heftige Schlägerei, aus der der bärtige Held binnen weniger Sekunden als unumstrittener Sieger hervorging. Die Anwesenden griffen erst ein, als er sich seiner ungetreuen Partne rin in der eindeutigen Absicht näherte, ihr vor aller Augen Gewalt anzu tun. Diese Hilfsbereitschaft, die wohl kaum moralischen Aspekten ent sprang, brachte dem Chefkameramann ein geschwollenes Auge und ei nem Komparsen einen gebrochenen Unterkiefer ein, da der Pseudorö mer ihre Einmischung nicht ganz zu Unrecht als Beweis ihres Interesses an der von ihm allein beanspruchten Dame deutete. Eigentlich blieb niemand von den Filmleuten ganz verschont, wenn man vom Regisseur absah, der sich hinter einer mittelalterlichen Rüstung in Sicherheit zu bringen vermochte, obwohl gerade bei ihm, wie die Zeitung anhand von Archivfotos bewies, der Grund für eine solche Abreibung in hohem Maß gegeben war. Das Filmstudio glich innerhalb kürzester Zeit einem anti ken Schlachtfeld, und vielleicht hätte sich der Regisseur doch noch ent
schlossen, die Szene aufnehmen zu lassen, wenn er es nicht vorgezogen hätte, an seinem sicheren Platz zu bleiben. Aber es entstand auch noch ein weiteres Hindernis, das es unmöglich machte, die an sich hübsche Szene in vertretbarer Form in den Kasten zu bekommen. Denn der römische Held entschloß sich unvermittelt, den Ort seiner Taten auf ungewöhnliche Weise zu verlassen. Er schlang den rechten Arm um die Taille seiner Angebeteten, hob sie mit einem einzi gen Ruck auf seine Schultern, was, nach den Fotos der Reporter zu urtei len, infolge der leichten Bekleidung der Dame dem Film zu einer äußerst attraktiven Note verholfen hätte, und schwang sich mit erstaunlicher Kraft und Geschicklichkeit in die Kulissen, die er in Windeseile bis fast unter den Schnürboden erklomm, seine schreiende Beute immer noch mit festem Griff an sich pressend. Das Ganze war mit einer lückenlosen Serie technisch ausgezeichneter Fotos belegt. Mit einem Schulterzucken gab Roßberg das Blättchen zurück. »Nichts als ein billiger Reklamegag«, sagte er, »durch den der Film zu einem Kas senschlager werden wird.« Doch Pat schien skeptisch zu sein. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie. »Wenn er seine Rivalen nur verprügelt hätte, dann würde ich dir unbedingt zustimmen. Aber diese Flucht in die Kulissen hat etwas Schizophrenes an sich. Das bringt den Helden in Mißkredit. Niemand weiß das besser als sein Manager. Das Publikum wird ihn jetzt für verrückt halten. Und wer sieht sich schon gern einen Film an, in dem ein Verrückter die Hauptrolle spielt? Wir sind allergisch gegen Verrückte, mein Lieber.« Sie sagte das ganz ruhig und ohne einen Unterton von Sarkasmus. Viel leicht war sie sich der schrecklichen Wahrheit dessen, was sie da so un beteiligt von sich gab, überhaupt nicht bewußt. Sie nahm es eben hin, weil sie ihre Landsleute kannte und die Gebräuche der Gesellschaft, in der sie lebte. Noch einmal griff er zu dem Blatt und betrachtete das letzte Foto. Ein braungebrannter oder vielleicht auch nur dunkel geschminkter, halbnack ter Hüne hoch oben in den Kulissen, den Mund zu einem Schrei geöff net, das Gesicht zur Grimasse verzerrt, quer über seiner rechten Hüfte
liegend eine weißhäutige Blondine, deren in Fetzen gerissener Umhang Brüste und Schenkel freigab. Ein Bild, wie man es zu Dutzenden aus diesen Filmen herausschneiden konnte, ein Reklamebild. Aber da war das Gesicht dieser blonden Frau, und in diesem Gesicht war ein Ausdruck panischen Entsetzens, eines furchtbaren Schreckens, der sich so überzeugend wohl kaum spielen lassen würde. Das war un verkennbar Todesangst. Ohne Zweifel, das Entsetzen war echt. Pat hatte recht. Und dann die Kulissen. Erst jetzt erkannte Roßberg den vielleicht wichtigsten Aspekt des ganzes Zwischenfalls: Die Kulissen stellten Bäu me dar, weitausladende Schirmzypressen mit mächtigen, sich waagerecht in das Studio reckenden Ästen. Während des Essens schwieg er. Ab und zu bemerkte er Pats forschende Blicke, aber er möchte sich jetzt nicht mit ihr unterhalten, seine Gedan ken gingen eigene Wege. So banal dieser Zeitungsartikel war, wenn man ihm Glauben schenkte, dann wurde auch er zu einer Etappe auf der Spur, die Roßberg gefunden hatte. Er wußte jetzt, daß die Hintergründe keine Rolle spielten. Weder die Charaktere der Betroffenen noch deren Stellungen im Leben schie nen von Wichtigkeit zu sein. Hier schlug jemand, oder vielleicht sollte man besser sagen, etwas, blindlings zu, ohne Ziel und aus keiner definierbaren Richtung. Allenfalls mit dem gleichen Werkzeug. Und mit stets gleichem Erfolg. Nach dem Dessert verabschiedete er sich von Pat. Sie schien verärgert, aber sie enthielt sich jeder Äußerung. Von der Tür aus sah er, daß sie ihm bekümmert nachblickte.
12
Blake war am anderen Morgen pünktlich am Hotel. Genau Viertel nach sieben. Als Roßberg auf die Straße trat, ging der Inspector gemächlich auf und ab, die Hände tief in die Taschen seines Mantels vergraben, den Hut im Genick. Blake strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Den Artikel las er im Wagen, las ihn mit offenkundiger Aufmerksam keit, und je weiter er kam, um so breiter wurde sein Grinsen. »Als ob es nichts Wichtigeres gäbe als die Streitereien dieser Sexual protze«, brummte er schließlich. Und dann setzte er hinzu: »Und wes halb halten Sie mir diesen Mist unter die Nase? Sie glauben doch nicht etwa…?« Von Roßbergs Überlegungen wollte Blake nichts wissen. Vor allem nicht davon, daß in allen Fällen Bäume eine gewisse Rolle gespielt hät ten. »Unsinn!« sagte er immer wieder, und das war auch seine Antwort auf Roßbergs Bitte, er möge doch festzustellen versuchen, ob der Film schauspieler Howard Delgado vor seinen Auftritten Actigen zu nehmen pflege. »Selbstverständlich nimmt er das Zeug!« sagte Blake mit Überzeugung. »Wie soll er denn sonst den Streß in den Studios überstehen? Ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß Leute, die keine Pillen schlucken, zu den ganz seltenen Exemplaren gehören. Wie sonst sollte diese ganze Indust rie leben können?« »Immerhin ist sicher, daß die Spur zur London Pharmacal führt«, be harrte Roßberg. »Wenn schon nicht über das Actigen, so doch über die sen Bixly und seinen Kumpanen.« Blake lachte unfroh auf. »Das zu beweisen wird nicht leicht sein, mein Lieber. Ihr Mister Bixly hat nämlich gestern abend seine erste Aussage revidiert. Er gibt jetzt zu, daß er und sein Kollege die Absicht hatten, Sie zu überfallen. Aber…« »Na also!« sagte Roßberg siegessicher.
Doch Blake schüttelte heftig den Kopf. »Nicht, weil sie von irgend je mandem damit beauftragt worden wären, sondern um Sie, Mister Roß berg, zu berauben. So sieht das aus, mein Bester. Miller-Bixly gibt auch gleich zu, daß er dieses Geschäft schon seit Jahren betreibt. Nicht inten siv, nein, nur so hin und wieder. Und meist an Ausländern, von denen anzunehmen ist, daß sich ein kleiner Überfall lohnen könnte. Sie sehen, Mister, die Weste der Pharmacal ist blütenweiß. Man kann die Leitung eines Unternehmens nicht dafür verantwortlich machen, daß einer ihrer Mitarbeiter mit dem Gesetzen in Konflikt geraten ist.« »Und Sie glauben diesen Unsinn?« fragte Roßberg. Er kam sich vor wie ein Verdurstender, der Wasser gefunden zu haben glaubte und der nun erkennen mußte, daß es ungenießbar war. »Darauf kommt es nicht an«, knurrte Blake. Als der Wagen auf dem werkseigenen Parkplatz der London Pharmacal ausrollte, faßte der Inspector plötzlich nach Roßbergs Arm. »Sehen Sie, Mister Roßberg«, sagte er eindringlich. »Wir leben doch nun mal in einer Zeit der pharmazeutischen Stimuli. Die Mehrzahl der Menschen ist der festen Überzeugung, ihre natürliche Konstitution ge nüge nicht mehr den Anforderungen des täglichen Lebens. Nur deshalb nehmen diese Leute stimulierende Mittel zu sich. Aus Angst, überfordert zu sein, ohne diese Hilfe jämmerlich zu versagen, unterliegen zu müssen. Sie glauben ohne Beruhigungsmittel nicht schlafen zu können, sie regeln ihre Verdauung durch Pillen, und sie schlucken vor und nach jeder Be lastung Drogen. Und steht gar Ungewöhnliches bevor, dann helfen sie sich mit Psychopharmaka. Manneskraft und schöne Haut, eine straffe Büste und seidiges Haar, all das läßt sich kaufen. Begreifen Sie doch!« Roßberg nickte versonnen. Jedes Wort Blakes entsprach den Tatsa chen. Aber wußte Blake auch um die Mechanismen, die die öffentliche Meinung beeinflußten? Wußte er, daß an jeder Bewegung in diesem Land irgendeine Gruppe verdiente? Daß es die Industrie selbst war, die über die Massenmedien verbreiten ließ, die Umwelt habe sich in solch bestürzendem Maß verändert, daß der Mensch ohne künstliche Hilfe unterliegen müsse? Wußte er, daß in seinem Land nahezu jede Initiative für oder gegen etwas ferngesteuert wurde? Die der Kernkraftgegner von der Öl- und Kohleindustrie, die Befürworter des Weges »Zurück zur
Natur« von den Produzenten sogenannter biologischer Nahrungsmittel, die Liga zum Schutz der Tiere und die Heiligen der letzten Tage, die Hundegurus und die Bruderschaft der Höllenfreunde und all die Tau sende anderer Initiativen? Wußte Blake um die Zusammenhänge? »Ich kenne Leute«, sagte der Inspector, »die sich Tabletten aus Mehl und Wasser herstellen, nur um sie in der Öffentlichkeit in demonstrativer Weise einnehmen zu können. So weit, mein Lieber, geht die Manipulati on. Und Sie glauben, man müsse der Tatsache, daß alle Opfer der uns interessierenden Fälle Drogen nahmen, besondere Beachtung schenken. Nein, Sir, das würde uns nicht weiterhelfen. Keinen einzigen Schritt.« Blake hob die Schultern, als wolle er sich für die ungünstige Einschät zung ihrer Chancen entschuldigen, und stieg aus dem Wagen. Er ging auf den unscheinbaren Eingang des Gebäudes zu, ohne sich umzublicken, sein Schritt wirkte schwer, er ging ein wenig gebeugt, eine unsichtbare Last schien auf seinen Schultern zu liegen. Der Public-Relations-Chef der London Pharmacal war eine Frau. Und bereits das Äußere dieser Frau bewies, daß die Manager der Firma das Personal mit Bedacht zu wählen pflegten. Mrs. Hattigan war mittelgroß, neigte ein wenig zur Fülle und trug das dunkle Haar straff nach hinten gekämmt, wo es im Nacken zu einem lockeren Knoten von der Form einer Blüte zusammengefaßt war. Das Auffälligste an ihr war die dunkel gerandete Brille, deren moderne Schmetterlingsform lediglich angedeutet war, gerade so dezent, daß es weder übertrieben noch antiquiert wirkte. Mrs. Hattigan trug eine weiße Bluse mit schmalem Spitzenbesatz an der Knopfleiste, einen schwarzen Rock und Schuhe mit halbhohen Absät zen. Sie war eine Frau, der kaum jemand besondere Beachtung geschenkt hätte, wäre da nicht ein Lächeln um ihre Augen gewesen, verbindlich und zugleich liebenswürdig, aufmerksam interessiert und voll des Wis sens um die Hintergründe der Dinge dieser Welt. Sie reichte den beiden Besuchern die Hand mit kräftigem Druck und bat sie in ihr Büro, einen großen Raum, der neben dem überdimensiona len Schreibtisch, mehreren tiefen Sesseln und einer langgestreckten Kon ferenztafel eine Reihe von Film- und Videoapparaturen enthielt. Die der Tür gegenüber gelegene Stirnwand wurde fast ganz von Diagrammen
und grafischen Darstellungen eingenommen. Über einem der Schränke prangten die verkleinerten Wiedergaben von Werbeplakaten mit den bereits bekannten, nicht eben geistvollen Inhalten. »Ich möchte Sie bitten, mir den genauen Grund Ihres Besuches zu nennen«, wandte sich Mrs. Hattigan an Blake, und ihr Lächeln vertiefte sich ein wenig, neben unverbindlicher Sympathie nun auch eine Spur von Neugier verratend. Blake schilderte die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchungen e benso knapp wie umfassend, allerdings ohne den Überfall an der Grasy Inn Road zu erwähnen. Er sagte eigentlich genau das, was auch Roßberg für erforderlich hielt, und er sagte nicht ein einziges Wort mehr. »So ist die Lage, Mrs. Hattigan«, beendete er schließlich seine Ausfüh rungen. »Ich muß zugeben, daß wir nach wie vor im dunkeln tappen. Eine Feststellung, über die man als Polizist nicht sehr glücklich ist. Sie werden das begreifen. Unserem Besuch liegt also die Absicht zugrunde, einen weiteren Punkt auszuräumen. Je mehr Verdachtsmomente wir ausschließen können, um so weiter nähern wir uns der Wahrheit. Sie verstehen, worum es uns geht.« Selbstverständlich verstand Mrs. Hattigan. Sie nickte, noch immer lä chelnd, und ihr Gesicht zeigte nicht die Spur von Verwunderung oder gar Unmut. »Das ist leicht einzusehen, Inspector«, sagte sie. »Letztlich tun Sie ja nichts als Ihre Pflicht. Und ich kann Ihnen versichern, daß Ihnen die London Pharmacal jede nur erdenkliche Hilfe zuteil werden lassen wird. Und das gilt selbstverständlich auch für Sie, Mister… Verzeihung… Pro fessor Roßberg.« Sie blickte ihn ein wenig von der Seite her an, mit ei nem sanften und anmutigen Neigen des Kopfes. Ihr Lächeln wirkte jetzt verschmitzt. »Soviel ich weiß, sind wir ja wohl fast Kollegen.« Roßberg schwieg. Mrs. Hattigans unerwartete Freundlichkeit war ihm ganz und gar nicht geheuer. Daß seine Bedenken nicht unbegründet waren, erwies sich in der nächsten halben Stunde. Mrs. Hattigan hatte offenbar die Absicht oder Anweisung, die beiden Besucher mit umfangreichen Darlegungen abzu speisen. Und das versuchte sie mit all der ihr zu Gebote stehenden Freundlichkeit, aber auch mit unnachgiebiger Zähigkeit.
Sie erging sich in langen Erörterungen der Tatsache, daß die Droge Ac tigen bereits seit mehr als fünf Jahren produziert werde, daß ja die fragli chen Fälle, wie der Inspector selbst erklärt habe, nicht weiter als zwei Jahre zurücklägen, und daß Millionen sich dieses Mittels bedienten. An diesem Umstand käme Blake ja nun nicht vorbei, und das müsse ihn doch überzeugen, daß das Präparat vollkommen unschädlich sei. Blakes Gelassenheit war bewunderungswürdig. Immer wieder und oh ne sich zu erregen, kam er auf seinen Vorschlag zurück, sich durch eige nen Augenschein ein Bild von der Anlage zu verschaffen, sich mit Labo ranten zu unterhalten und Einsicht in Versuchsprotokolle zu nehmen. Nicht umsonst, erklärte er, habe er sich einen Fachmann mitgebracht. Aber noch gab Mrs. Hattigan nicht nach. Alle diese Dinge seien doch mehr oder weniger geheim. Ein Betrieb wie die Pharmacal lebe ja schließlich von der Nasenlänge, um die man der Konkurrenz voraus sei, davon, daß die Produktionsmethoden der Öffentlichkeit verborgen blie ben. »Was die Produktionsmethoden anbetrifft…«, sagte Blake wie neben bei und kramte einen Hefter aus seiner Aktentasche. »Ich habe hier eine Abschrift des Geschäftsberichtes Ihrer Firma von vor drei Jahren.« Er blätterte in den Unterlagen und fuhr mit dem Zeigefinger über eins der Aktenstücke. »Hier steht, daß die Ausschüttung der Dividenden ausge setzt werden mußte, weil dringende Rekonstruktionsmaßnahmen an den Anlagen durchzuführen waren. Könnten Sie uns das ein wenig erläutern, Mrs. Hattigan?« Die Frau hob langsam die Schultern. Es schien Roßberg, als wäre das Lächeln um ihre Augen um einen Schein kälter geworden. »Die Angaben sind meines Erachtens völlig eindeutig«, sagte sie. »Die Gewinne des angegebenen Jahres wurden zur Durchführung umfangrei cher Effektivierungsmaßnahmen verwendet. Was soll daran unklar oder bemerkenswert sein? Ob das nun notwendig war oder nicht, unsere Ak tionäre haben es bis auf wenige Ausnahmen akzeptiert. Schließlich war abzusehen, daß die Gewinne in den Folgejahren ganz erheblich steigen würden. Was dann ja auch in vollem Umfang eingetreten ist. Die mit weitaus größerem Effekt produzierenden Anlagen…« »Auch die Actigen-Abteilung?« hakte Blake ein.
»Wie bitte?« In Mrs. Hattigans Blick zeigte sich ein Anflug von Verwir rung. »Ich verstehe nicht ganz…« Offensichtlich versuchte sie Zeit zu gewinnen. »Ich wüßte nicht, was eine solche Rekonstruktion…« »Hören Sie, Mrs.«, unterbrach Blake abermals, jetzt jedoch mit unver kennbarer Schärfe. »Ihr Lächeln allein bringt uns nicht weiter. Ich ver lange eine eindeutige Antwort auf eine klare Frage. Sie können sicher sein, daß ich das alles auch auf anderen Wegen zu ermitteln wüßte, sollte es sich als notwendig erweisen. Trotzdem wäre ich Ihnen sehr verbun den, wenn Sie uns diese Umwege ersparen würden. Bitte entschließen Sie sich zu einer klaren Aussage!« Blakes Ton war für Roßberg von einer ihm vollkommen neuen Aggressivität, und tatsächlich zeigte sich Mrs. Hattigan beeindruckt. »Selbstverständlich«, sagte sie, und nun wirkte ihr Lächeln gequält. »Selbstverständlich erstreckten sich die Arbeiten auch auf die ActigenLinie.« »In welcher Weise?« stieß Blake nach und beugte sich weit über den Tisch. Mrs. Hattigan wehrte mit einer Handbewegung ab. »Nichts von Bedeu tung«, beteuerte sie. »Die Zusammensetzung des Produktes ist nicht im mindesten verändert worden. Lediglich die Kopierung erfolgt seit jenem Zeitpunkt über eine Computereinheit.« Der Begriff ›Computer‹ führte in Roßbergs Überlegungen zu einer As soziation, die sich augenblicklich als Bild manifestierte: eine gelbgekleide te Dame, die einen Becher mit grünlicher Flüssigkeit an die Lippen führ te. »Sie sprachen von Effektivität, Mrs. Hattigan«, schaltete er sich ein. »War das wirklich der einzige Grund?« »Wie meinen Sie das?« »Kam vielleicht auch eine verbesserte Absatzlage hinzu?« half Roßberg nach. Sie nickte. »Auch das. Natürlich. Wir haben Staatsaufträge. Umfangrei che Staatsaufträge.« »Sie beliefern also auch die Kom-Zentralen?«
Wieder nickte Mrs. Hattigan. »Sie sind gut informiert, Professor«, sagte sie. »Aber gerade dieser Umstand müßte Sie doch überzeugen, daß…« Er hörte nicht mehr zu. Er sah die Spur, die Straße, und es war, als sei das Licht heller geworden. Er spürte eine gelinde Erregung. Eine ihm durchaus bekannte Erregung. Die gleiche, die ihn zu überkommen pfleg te, wenn der erfolgreiche Abschluß eines Experimentes abzusehen war. Und doch beschloß er, das Ziel nicht auf kürzestem Wege anzusteuern. »Würden Sie uns die Kopiermethode erläutern?« bat er. »Actigen plus ist ein Depotenzym«, erklärte Mrs. Hattigan, und in ihrer Stimme war jetzt etwas, das er als mit Nachsicht gepaarte Überlegenheit empfand. Sie hatte sich schnell wieder gefangen. »Es entsteht, indem ein Computer Strukturen und Zusammensetzungen natürlicher Enzyme kopiert. Bildlich gesehen. Hinzu kommen dann noch stabilisierende und die Diffusion fördernde Stoffe, die seit vielen Jahren bekannt sind. Das eigentlich Neue ist die Kopierang durch ein vom Menschen unabhängi ges System. Sie können sich vorstellen, daß ein solches Gerät zuverlässi ger arbeitet als der beste Laborant.« »Und billiger«, warf Roßberg ein. Mrs. Hattigan hob die Schultern. »Selbstverständlich«, bestätigte sie, nun auch wieder freundlicher. »Aber das ist wohl nicht Ihr Problem, Professor.« Offensichtlich hatte sie ihn genau verstanden. Unvermittelt erhob sich Blake. Er stand, die Hände auf die Lehne des Sessels gestützt, den Kopf ein wenig vorgeschoben, und blickte Mrs. Hattigan aus schmalgekniffenen Augen an. »Übrigens«, sagte er grollend, und Roßberg hörte deutlich, daß sich der Inspector zu diesem Ton zwang, »ist Ihnen bekannt, daß Mister Roßberg nur mit Mühe einem Überfall entgangen ist?« Blake erinnerte an einen Boxer, der zwei Runden lang vergeblich ver sucht hatte, seinen Gegner zu treffen, und der nun alle seine Kraft in einen gewaltigen Schwinger legte. Heumacher nannte man diese Schläge, und Roßberg wußte aus Erfahrung, daß es einem Zufallstreffer gleich kam, wenn sie Erfolg brachten.
Mrs. Hattigan aber zeigte zum zweitenmal Wirkung. »Weshalb sagen Sie mir das?« fuhr sie auf. Ihr Gesicht war blaß, doch es blieb unklar, ob vor Zorn oder Schreck. Immerhin war ihre Reaktion ein wenig zu heftig, um ganz glaubwürdig zu sein. »Weil die Täter Angestellte Ihrer Firma sind«, sagte Blake, nun mit wieder ruhiger Stimme. Mrs. Hattigan schwieg. Und langsam kehrte die Farbe auf ihre Wangen zurück. »Das muß natürlich nicht unbedingt auf Verbindungen hinweisen«, lenkte Blake ein, und jetzt lächelte er sogar. »Aber man wird nachdenk lich bei einem solchen Zusammentreffen.« »Daran kann Sie niemand hindern, Inspector.« Mrs. Hattigan war da bei, ihre Fassung zurückzugewinnen. Doch Blake ließ ihr keine Zeit. »Und nun sorgen Sie bitte dafür«, forderte er, »daß wir uns die Anlage ansehen können. Und zwar am besten in Begleitung des Cheflaboranten. Und nehmen Sie zur Kenntnis, daß eine Weigerung seitens der Unter nehmensleitung die Untersuchung zwar hinauszögern, aber keinesfalls verhindern könnte. Ich würde im Gegenteil dafür sorgen, daß sie sich erheblich ausweitet. Es gibt Mittel und Wege…« Mr. Hattigan stand schon in der Tür. »Gedulden Sie sich bitte einen Augenblick«, sagte sie leise. »Ich werde rückfragen.« Dann verließ sie schnell ihr Büro. Sie ging hochaufgerichtet und mit kurzen, harten Schritten. Sie war zweifellos immer noch verwirrt. »Ich glaube nicht, daß man uns Einblick in die Produktionsstätten ge währen wird«, sagte Roßberg. »Sie werden, nehme ich an, wohl doch zu den angedrohten Mitteln und Wegen Zuflucht nehmen müssen, Inspec tor.« Blake schüttelte den Kopf. »Ja, wenn es die nur wirklich gäbe.« »Aber Sie haben doch eben erklärt…« »Mann, Roßberg!« Blake hob beide Hände. »Man könnte wirklich mei nen, Sie kämen von einem anderen Stern. Meinen Sie denn, daß man Ihnen als Ausländer…? Noch dazu von drüben…« Er machte eine vage Geste. »Glauben Sie, man würde Ihnen offiziell erlauben, einen Blick auf die Anlagen einer Firma zu werfen, die Staatsaufträge…? Vielleicht in
eine automatische Bäckerei. Aber doch nicht in die wichtigste Abteilung der Pharmacal. Nein, nein, mein Lieber! Hier kann uns nur die Taktik massiver Drohung helfen. Und wir können nur hoffen, daß es funktio niert. Wenn die Leitung unsere Forderung ablehnen sollte, dann sitzen wir ganz schön fest. Und wenn die gar auf die Idee kommen, bei meiner übergeordneten Dienststelle nachzufragen, dann kann ich morgen mei nen Hut nehmen. Immerhin steht vor meiner Tür mindestens ein Dut zend Beamte, die nach meinem Sessel schielen. So ist das, mein Lieber.« »Und trotzdem tun Sie dies alles. Tun es, obwohl Sie überzeugt sind, daß dieses Actigen nichts mit unseren Fällen zu schaffen haben kann.« Es fiel Roßberg nicht leicht, die offenbar alles andere als einfachen Ge dankengänge des Inspectors zu begreifen. Der winkte jedoch abermals ab. »Ich weiß auch nicht genau, weshalb ich mich so in die Sache verbissen habe. Vielleicht bin ich doch nicht ganz überzeugt. Vielleicht hat mich Ihre Sturheit stutzig gemacht. Oder angesteckt. Was weiß ich? Obwohl ich noch immer damit rechne, daß wir nichts entdecken werden. Ich wünsche uns nur, daß wir die Anlage zu sehen bekommen. Unsere Chancen steigen, je länger Mrs. Hatti gan…« In diesem Augenblick stand Mrs. Hattigan in der Tür. Um ihren Mund spielte ein kaum erkennbares Lächeln. »Kommen Sie bitte, meine Her ren. Doctor Boulder wird Sie führen.« Die Anlage unterschied sich erheblich von den Fertigungsreihen, die Roßberg aus anderen einschlägigen Betrieben kannte. Am wenigsten verblüffte ihn noch die gewaltige Ausdehnung des Komplexes, der Um fang solcher Anlagen hatte in den letzten Jahren überall auf der Welt beträchtlich zugenommen, was gleichermaßen am gestiegenen Bedarf wie an der ständig steigenden Komplexität der technologischen Prozesse liegen mochte. Ihn erstaunte vielmehr, daß hier die Fertigung des Pro duktes vom Rohstoff bis zur fertig verpackten Ware mit beinahe bedrü ckender äußerer Bewegungslosigkeit erfolgte. In dieser gewaltigen Halle war nicht ein einziges autonomes Aggregat zu erkennen, und auch die Transporteinheiten, die anderenorts die einzelnen Bereiche gleich Ner venfasern miteinander verknüpften, fehlten hier gänzlich. Die Halle bot
sich als ein geschlossenes Netz, als nahezu unüberschaubarer Komplex ineinander verschlungener Röhren von annähernd quadratischem Quer schnitt. Es waren schwarze, an den Außenwänden ebene Tunnel, deren Höhe und Breite etwa der Größe eines Mannes entsprachen. In gewissen Abständen waren in diese Gebilde verglaste Fenster eingelassen, hinter denen hin und wieder huschende Lichter aufflackerten, immaterielle Fin ger, die nach den Besuchern zu tasten schienen. Und über allem, über der ganzen, bedrückenden Bewegungslosigkeit, lag ein klingendes Summen, dessen verschiedene Schwingungen sich zu einer seltsamen Harmonie ordneten. Nirgends unterbrach auch nur ein einziger anderer Ton das gleichmäßig durch den Raum schwebende Ge räusch, kein Geknatter von Pressen und auch nicht das Geklapper von Verpackungsmaschinen. Und nirgends in dieser mächtigen Anlage war auch nur ein einziger Mensch zu sehen. Das alles schien in einer Art lähmenden Traumes er starrt zu sein, klingend und bewegungslos bis auf die ab und zu aufzu ckenden Lichtfinger, deren geisterhaftes Huschen das Bedrückende nur noch unterstrich. Diese Anlage bot keinen Einblick in die geheimnisvollen Prozesse, die tief im Inneren ihres verschlungenen Gedärms abliefen. Zur gleichen Einschätzung mochte wohl auch der Inspector gekom men sein, denn er hob mit einer Geste, die Resignation verriet, die Hand. »Vielleicht sollten wir uns besser auf die Steueranlage konzentrieren«, wandte sich Roßberg an Doctor Boulder. Boulder war ein großer, kräftig gebauter Mann mit hängenden Schul tern, langen Armen und feingliedrigen Händen. Sein rötlichblasses Haar war so kurz geschnitten, daß er, aus einer Entfernung von mehr als drei Metern betrachtet, völlig kahlköpfig wirkte. Unter buschigen, grauroten Brauen hervor blickten seine wasserhellen Augen mit kindlichem Stau nen auf die Umgebung. Boulder schien wortkarg bis zur Unfreundlich keit zu sein, aber Roßberg wußte sehr gut, wie leicht der erste Eindruck täuschen konnte. Auch jetzt sah Boulder aus, als hätte er die Forderung überhaupt nicht verstanden. Sein Blick schien durch sein Gegenüber hindurch zu gehen, ein Eindruck, der noch durch die blaßblauen Haftschalen verstärkt wur
de, hinter denen sich die Augen des Wissenschaftlers verbargen. »Zentra le? Natürlich!« sagte er mit tiefer Stimme, und dabei rührte er sich keinen Meter vom Fleck. Man hatte also auch diesen Doctor Boulder mit Bedacht gewählt. Kaum jemand war wohl besser geeignet, Besucher zu verwirren. Da stand dieser schlaksige Mann mit in sich gekehrtem Blick inmitten des summenden Netzes, selbst vollkommen bewegungslos, die Hände tief in den Taschen seines schneeweißen Kittels vergraben und machte ein Ge sicht, als begreife er überhaupt nicht, welches eigenartige Schicksal ihn an diesen Ort verschlagen hatte. Einen Augenblick lang überkam Roß berg die absurde Vorstellung, dieser Mann sei selbst nichts anderes als ein Teil der Anlage, irgendein wundersamer Bestandteil, der durch uner klärliche Umstände in menschliche Form gegossen worden war. »Doctor Boulder«, sagte er mit unwillkürlich gedämpfter Stimme. »Doctor Boulder. Dies hier nützt uns nichts. Nur in der Zentrale können wir zu den Informationen kommen, die wir unbedingt benötigen.« Boulder ruckte herum und betrachtete ihn aus erstaunten Augen. »Zentrale«, wiederholte er. »Ja, natürlich!« Dann endlich wandte er sich mit eigenartig abgezirkelten Bewegungen der Stirnseite der Halle zu, marschierte zwischen den kunststoffverklei deten Schlangenleibern hindurch wie ein Schlafwandler und blieb vor einer Tür aus dunklem Mattglas stehen. »Bitte, meine Herren«, sagte er in unbewegtem Tonfall und öffnete die Tür, ohne daß man hätte erkennen können, in welcher Weise das geschah. Die Tür glitt einfach zur Seite, während Boulder mit der Hand auf sie deutete, und gab den Blick in das Innere eines nicht allzu großen Raumes frei. Dies waren Elemente und Strukturen, die Roßberg bekannt waren, de ren Sinn ihm vertraut war und deren Aufgaben er zumindest zu deuten vermochte, das war zu faßbaren Formen geronnene Mathematik, die sich in der ganzen Welt nicht voneinander unterschied. Die Längswand der Zentrale war bedeckt von einem verkleinerten Modell der Anlage in flächiger, planhafter Form, von einem regelmäßig geknüpften Netz, in dessen Knotenpunkten sich Bildschirme, Skalen und leuchtende Ziffernkolonnen gruppierten. Und auch hier in diesem Raum lag über allem ein feines Summen, ähnlich dem Ton, der draußen
in der Halle wie eine kompakte Masse aus jedem Teil der Anlage zu strömen schien. Nur war er hier um mindestens zwei Oktaven höher. Boulder schien einen Augenblick lang zu lauschen, man hatte den Ein druck, daß er den Ton nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem gan zen Körper aufnahm, daß er ihn nicht nur hörte, sondern mit jeder Faser fühlte, eine unverkennbare Spannung ergriff Boulder für kurze Zeit, er stand vornübergeneigt mit geschlossenen Augen und zu Fäusten geball ten Händen. Dann plötzlich schien er zu schrumpfen, seine Hände öff neten sich und glitten in die Taschen des Kittels, seine Lider hoben sich, und er blickte um sich, als kehrte er eben aus weiter Ferne zurück. »Alles in Ordnung!« sagte er. »Keine Abweichung.« Jetzt erst begriff Holger Roßberg ganz. Dieser Ton, dieses schweben de, melodische Summen war keineswegs eine Nebenerscheinung, dieser Ton war Teil der verschiedensten Meßanlagen, und zweifellos deutete eine bestimmte Harmonie auf die reibungslose Funktion der einzelnen Systeme. Fast empfand er etwas wie Bewunderung für die Konstrukteure dieser Anlage, und unwillkürlich begann auch er zu lauschen. Schon nach kurzer Zeit vermochte er einzelne Frequenzen herauszufiltern, sich zu orientieren, er hörte, daß jeder Knoten mit spezifischer Stimme klang, und spätestens, als er auch verstand, diese Stimme zu deuten, wußte er, daß sich Boulder bei der folgenden Erläuterung keinen Fehler leisten durfte. Er, Holger Roßberg, würde jede Fehlinformation als solche er kennen. Doctor Boulder begann seine Erklärung in unmittelbarer Nähe der Tür an der linken Seite des Planes. Seine Methode, sich mit Einzelheiten zu befassen, unterschied sich nicht von der Art seiner bisherigen Äußerun gen. Er ging auf den ersten Bildschirm zu, deutete mit dem Kinn auf die steigenden und fallenden Linien, die von mehreren farbigen Punkten gezeichnet wurden, und sagte: »Das Modell.« Anscheinend hatte er nicht die Absicht, auf diesen Teil der Anlage nä her einzugehen, denn er wandte sich gemessenen Schrittes dem nächsten Knoten zu. Aber Roßberg dachte nicht daran, sich mit der mehr als ma geren Auskunft zufriedenzugeben. Zumal ihm ausgerechnet dieser Bild schirm mehr als alle anderen von Interesse zu sein schien. Die Kurven hatten frappierende Ähnlichkeit mit einem Hirnstrombild. Er konnte das
beurteilen. Er hatte sich jahrelang mit den Vorgängen in Robben- und Haihirnen beschäftigt, beschäftigen müssen, denn wenn man die Aufga be hatte, Robben und Haie zu hybridisieren, dann mußte man zumindest die Grundlagen der Aktivitäten kennen, die in den Hirnen der Ver suchstiere abliefen. »Welcher Art ist dieses Modell, Doctor?« Boulder blieb stehen und wandte sich ihnen erneut zu. In seine blauen Augen war plötzlich ein Hauch von Leben gekommen, fast etwas wie Interesse an der Person des Fragestellers. Aber das Aufleuchten verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war, und die Art der Antwort unterschied sich schon nicht mehr von den bisherigen Erläuterungen. »Großhirnrinde!« sagte er mit dumpfer Stimme. »Lebende Zellen.« »Wovon?« stieß Roßberg nach. Er hatte das Gefühl, daß die Antwort wichtig sein könnte. Er begann zu begreifen, auf welche Weise der De potstoff hier gewonnen wurde, und seine Hochachtung stieg abermals um einige Grade. Die Methode erschien ihm ebenso einfach wie genial. Ob sie auch frei von Fehlermöglichkeiten war, würde sich erweisen müs sen. »Rhesusaffen«, brummte Boulder und war schon wieder zum nächsten Teil des Netzes unterwegs. »Sie entnehmen also den Gehirnen von Affen bestimmte Enzyme und bringen sie zusammen mit den anderen Stoffen in Tablettenform«, ver suchte sich Blake zu vergewissern. »Habe ich das richtig verstanden?« Jetzt lächelte Boulder wirklich. Und dabei schüttelte er heftig den Kopf. »Nein, das haben Sie nicht!« sagte er fast lebhaft. Und während er zu Blake sprach, blickte er Roßberg an, als fürchtete er, einen einfachen Polizisten mit einer solch komplizierten Erläuterung zu überfordern. »Denn, wollten wir die Enzyme direkt verwenden, so brauchten wir ers tens in einem einzigen Monat mehr Affen, als zur Zeit auf der ganzen Erde existieren, und zum zweiten käme das Zeug nie in den Hirnen un serer Kunden an, weil es bereits im Magen, spätestens aber im Darm zersetzt würde. So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist es nicht.« Erschöpft von der langen Rede stand er und starrte auf den Bild schirm, bewegungslos wie eine Statue, nur seine schweren Lider klappten hin und wieder über die Augäpfel.
»Und wie funktioniert das nun wirklich?« erkundigte sich Blake. Man merkte ihm deutlich an, daß ihm diese unbekannten, für ihn vielleicht sogar beängstigenden Zusammenhänge mißfielen. Und wahrscheinlich mißfiel ihm zumindest ebenso die Art, in der Boulder mit Laien umzu springen pflegte. »Ja, wie schon?« sagte der und hob die Schultern. »Wir kopieren die le benden Enzyme mit Hilfe eines Computers.« Und nun schickte er sich zum drittenmal an, hinüber zum Nachbar knoten zu gehen, und Roßberg spürte, daß es keinen Sinn hatte, ihn a bermals zurückhalten zu wollen. Boulder deutete auf den nächsten Schirm. »Das geschieht hier. Wir nennen das neue Verfahren Paralleldif fusion.« In Holger Roßberg stieg Besorgnis auf. Eine, wie er sich eingestehen mußte, sehr selbstsüchtige Besorgnis. Er fürchtete, dies hier könnte sich alles als ein durchaus fehlerfrei arbeitendes System erweisen. Diese Anlage war die modernste auf dem pharmazeutischen Sektor, die er jemals gesehen hatte. Und es war offensichtlich, daß sich das Konzept der Erbauer hervorragend bewährte. Ein Computer kopierte das fragliche, in den Zellen eines Affenhirns enthaltene Enzym, verschlüsselte die ermittelten Strukturen in Form eines differenzierten Programms, und anhand dieses Programms stellte die Syntheselinie eine Verbindung her, die dem Steuerenzym mit Sicher heit sehr genau entsprach. Und Roßberg war überzeugt, daß weder die Füllstoffe des Medikamentes noch die Diffusions- oder Stabilisierungs mittel einen Anteil an der Verhaltensänderung der Patienten haben konnten. Man mochte über die Verwendung lebender Zellen als Modell denken, was man wollte, diese Methode war nicht nur äußerst effektiv, sie mußte auch, was die mögliche Genauigkeit der zu erzeugenden Strukturen an betraf, als ungemein seriös bezeichnet werden. Es war unverkennbar, daß die im Körper des Patienten zur Wirkung kommenden Eiweiße den Originalen aus den Affenhirnen mit bisher nicht erreichter Genauigkeit entsprachen.
Das wäre an sich ein ausreichender Grund, um an der Möglichkeit, man könnte in Actigen den für die Ausfälle verantwortlichen Stoff ge funden haben, zu zweifeln. Aber so schnell mochte sich Roßberg nicht geschlagen geben. Es gab nicht nur eine Spur, die zur London Pharmacal und damit zu Actigen plus führte. Nach wie vor blieb die Tatsache bestehen, daß diese Anlage seit fast genau zwei Jahren produzierte, nahezu exakt seit der Zeit also, zu der die ersten aktenkundigen Fälle des Eden-Syndroms, wie er diese Erscheinungen jetzt bei sich selber nannte, aufgetreten waren. Und nach wie vor war die Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei dem Überfall in der Nähe der Grasy Inn Road um eine gesteuerte Aktion gehandelt hatte, wesentlich größer als die eines zufälligen Zusammentreffens. Und noch ein Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt. Der wichtigste vielleicht, unausgegoren noch und nicht ganz faßbar: Rhesusaffen pfleg ten auf Bäume zu fliehen, wenn sie sich bedroht fühlten. Doctor Boulder begleitete sie zurück zum Büro Mrs. Hattigans. Nach wie vor war er sehr schweigsam, ja fast unhöflich. Dabei konnte er durchaus anders sein. Bei bestimmten Passagen seiner Führung, vor al lem dann, wenn ihm Roßbergs Zwischenfragen verraten hatten, daß er es mit einem Mann vom Fach zu tun hatte, war er aufgetaut. Bei diesen Gelegenheiten war es dann auch hin und wieder geschehen, daß er mehr als drei Sätze von sich gegeben hatte. Zweifellos war Roßbergs anfängli che Einschätzung richtig: Für diesen Doctor Boulder existierte nur sein Arbeitsgebiet und nichts sonst. In der Schwarz-weiß-Schleuse warfen sie die Kittel und Sandalen in den Wäscheschlucker, duschten ebenso ausgiebig wie bei ihrem Eintritt und fanden in der Außenkammer ihre Kleidungsstücke in den entspre chenden Fächern. Blake ergriff Boulders Hand und schüttelte sie. Sein Lächeln wirkte säuerlich. »Ich danke Ihnen, Doctor«, sagte er. »Sie haben uns trotz Ihrer Schweigsamkeit sehr geholfen. Ich nehme an, Mister Roßbergs Befürch tungen sind durch diesen Besuch endgültig gegenstandslos geworden.« Er wandte sich an Roßberg: »Oder…?«
Roßberg merkte dem Inspector an, daß er Zustimmung erwartete. Und wenn er wirklich und ohne Emotionen seinem Verstand als Wissen schaftler gefolgt wäre, dann hätte es für ihn keinen Anlaß gegeben, an der Unschädlichkeit der Droge Actigen zu zweifeln. Aber da war eben noch die gefühlsmäßige Komponente, und sein Gefühl sagte ihm, daß er noch nicht alles über dieses Enzym wußte. Es sagte ihm aber auch, daß er hier nicht mehr erfahren würde. Er hielt die Hand Boulders einen Augenblick lang fest. »Sagen Sie, Doctor, auf welche Weise erfolgt eigentlich die Kontrolle der Zusam mensetzung des fertigen Medikamentes? Und vor allem der Struktur des Depotstoffes?« Boulder blinzelte heftig. Das sah aus, als behage ihm die Frage nicht. Doch immerhin trug Boulder Haftschalen. »Ganz normal«, sagte der Biologe schließlich. »Wir verabreichen die gezogenen Stichproben an Versuchstiere, zumeist an Ratten, warten, bis sich das Eigenenzym gebildet hat, und extrahieren es. Danach erfolgt der Vergleich mit dem Ausgangsstoff durch Spektroskopie. Bei einer solchen Verfahrensweise sind kaum Fehler möglich.« Er blinzelte wieder. »Diese Kontrollen geschehen wahrscheinlich ebenfalls über Compu ter«, vergewisserte sich Roßberg. Boulder schüttelte bedächtig den Kopf. »Nicht ausschließlich. Der Vergleich der spektroskopischen Schriebe erfolgt in zwei Prozent der Tests visuell durch Kontrolleure. Sie wissen, Mister Roßberg, in der Pharmazie gilt der Grundsatz, Sicherheit zuerst, noch mehr als in vielen anderen Bereichen der Industrie.« Roßberg nickte. »Selbstverständlich!« bestätigte er und gab Boulders Hand frei. Ein paar Sekunden blickte er dem Wissenschaftler nach, der mit hängenden Schultern und tief in die Taschen seines Kittels gescho benen Händen den Gang entlangging. Roßberg war aus mehreren Gründen unzufrieden. Er hatte gehofft, Fehlerquellen zu entdecken, Möglichkeiten der Entstehung falscher Re zeptionen, aber nun mußte er erkennen, daß diese Anlage zumindest auf den ersten Blick ohne Fehl und Tadel zu sein schien. Nach menschli chem Ermessen konnte es keine Lücke geben, nicht die geringste Gefahr schädlicher Beimengungen. Nachdem er den Gedanken an eine geheim
nisvolle Organisation hatte aufgeben müssen, deutete nun alles darauf hin, daß auch die Droge selbst keine Anhaltspunkte bieten würde. Damit wären sie dann wirklich wieder am Anfang. Aber daran wollte Roßberg nicht glauben. Der Gedanke, den Auslöser gefunden zu haben, hatte sich schon soweit in ihm versteift, daß er einen anderen gar nicht mehr in Betracht ziehen mochte. Wenn, überlegte er, Fehler bei der Herstellung der Droge Actigen auszuschließen waren, dann blieb nur noch eine Möglichkeit. Dann mußten die schädlichen Strukturen in den Enzymen selbst zu suchen sein. Und die Pharmacal mußte um diese Tatsache wissen. Denn damit hätte dann auch der Über fall in der Nähe der Grasy Inn Road seine Erklärung gefunden. Wenn es auch eine Erklärung war, die für Roßbergs Empfinden nahezu unglaub lich klang. Sicherheit zuerst, hatte Boulder gesagt. Und selbstverständlich ent sprach diese Prämisse nicht in vollem Umfang den Tatsachen. Produkti on zuerst, dürfte der Leitspruch der Pharmacal heißen. Aber trotzdem war nicht ohne weiteres zu erkennen, inwiefern sich diese Effektivität negativ auf das Endprodukt auswirken sollte. Die Technologie der Anla ge war ausgefeilt bis zum letzten Prozessor, bis zum winzigsten Anschluß. Man mußte den Erbauern zugestehen, daß sie ihr Fach be herrschten. Und dann war da noch der Umstand, daß Produktion und Kontrolle einen in sich geschlossenen Kreis bildeten, das Ausgangsmate rial wurde auch als Muster für die Tests verwendet. Nun, das war zwar nicht gerade üblich, aber Roßberg sah im Augenblick keinen Grund, aus dem man eine solche Verfahrensweise ablehnen sollte. Und doch… »Ich weiß nicht«, sagte er und ging Blake voran zum Büro Mrs. Hatti gans. »Ich weiß wirklich nicht. Das alles ist mir zu glatt. Aber ich könnte Ihnen beim besten Willen nicht erklären, was mich an der Sache stört. Noch ist es nur ein Gefühl, eine Kombination von Wahrscheinlichkei ten. Nicht mehr.« Blake grinste. »Sie und Ihre Gefühle«, sagte er und kniff die Augen zu sammen. »Aber, um ehrlich zu sein, ich hatte nicht erwartet, daß Sie nach diesem Besuch ganz zufriedengestellt sein würden. Dazu sind Sie viel zu stur, mein Lieber.«
»Blake«, sagte Roßberg beschwörend. »Ich weiß, daß es dieses Actigen ist. Ich weiß es genau. Aber verlangen Sie jetzt keine Begründung von mir. Ich kann Ihnen höchstens einige Zusammenhänge nennen. Enzyme aus Affenhirn, Flucht auf die Bäume, die neue Anlage, der Überfall durch zwei Angestellte der Firma.« Er ergriff den Arm des Inspectors und drehte den Mann zu sich herum. »Hören Sie, Blake…« Aber der Inspector machte sich mit einer heftigen Bewegung frei. »Geben Sie es endlich auf, Roßberg«, sagte er leise mit einem unange nehmen Zischen in der Stimme. »Hören Sie mit diesem irrsinnigen Kombinieren auf, Mann! Für mich ist jetzt Schluß. Begreifen, Sie, Schluß!« Es blieb Roßberg nichts übrig, als sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß er jetzt allein stand. Daß er gezwungen war, nach neuen Lösungen zu suchen. Vielleicht war es Boulder auf irgendeine Weise gelungen, die Public Relations-Chefin über den komplikationslosen Verlauf des Besuches zu unterrichten, obwohl nichts Derartiges zu bemerken gewesen war. Aber es war unverkennbar, daß Mrs. Hattigan ihre anfängliche Freundlichkeit zurückgefunden hatte. Auch das war etwas, was Roßberg zu denken gab. »Nun, meine Herren«, flötete Mrs. Hattigan. »Ich hoffe, daß Doctor Boulders Art, mit Gästen umzugehen, nicht gar so sehr Ihr Mißfallen erregt hat. Er ist nun mal ein Sonderling. Vielleicht mag er Ihnen sogar etwas unhöflich erschienen sein. Dafür bitte ich hiermit um Entschuldi gung. Wissen Sie, meine Herren, dieser Mann ist für die Pharmacal bei nahe unersetzlich. Und deshalb sind wir alle gern bereit, seine kleinen Eigenheiten in Kauf zu nehmen. Wer ihn länger kennt, der weiß, daß er selbst sich seiner Unhöflichkeit überhaupt nicht bewußt ist.« »Dieser Besuch war für uns sehr informativ«, sagte Roßberg vorsichtig. »Ich bin, wie Sie bereits bemerkt haben, Fachmann, und ich kann Ihnen versichern, daß mich diese Anlage sehr beeindruckt hat.« Er spürte eine deutliche Hemmung, sich für das Entgegenkommen der Firmenleitung zu bedanken. Er wußte, daß all das, was er da sagte, steif und förmlich klang. Aber er vermochte keine wärmeren Worte zu finden. Er war da von überzeugt, daß die Spur zu dieser Firma führte. Und auch davon,
daß Mrs. Hattigan nicht mit offenen Karten spielte. In ihrem Lächeln glaubte er jetzt eine Spur von Genugtuung zu erkennen. Sie drückte Blake zum Abschied beide Hände, stockte plötzlich, als wä re ihr noch etwas sehr Wichtiges eingefallen, und wandte sich dem Wandschrank zu. Und dann überreichte sie jedem mit ihrem bezau berndsten Lächeln eine Packung Actigen plus. »Bitte, meine Herren«, sagte sie. »Überzeugen Sie sich selbst, daß nicht der geringste Anlaß zur Sorge besteht.« So schwer es Roßberg angesichts des Lächelns fiel, nach Lage der Din ge konnte er diese Geste nur für eine besonders raffinierte Art von Iro nie halten. Das hätte er Mrs. Hattigan eigentlich nicht zugetraut. Er ver suchte in ihrem Gesicht zu lesen, und er sah noch immer den kleinen Triumph, aber etwas wie Hohn vermochte er nicht zu erkennen. »Und nehmen Sie dieses kleine Geschenk auch, meine Herren«, fuhr Mrs. Hattigan fort, »als Andenken an unsere Firma und als Zeichen, daß man Ihnen den Verdacht, Actigen sei durch schädliche Strukturen be lastet, nicht im geringsten nachträgt.« Diese hübschen Schächtelchen dienten wohl gewöhnlich als Werbege schenke, das Material der Umhüllung war ein Plaststoff, dem besondere Beimengungen und sicherlich auch ein besonderes Herstellungsverfahren sowohl die Farbe wie auch die feine Maserung eines seltenen tropischen Holzes gegeben hatten. Sie waren ganz mit dunkelrotem Samt ausge schlagen, in den in vielfach verschlungenen Buchstaben der Name des Präparates eingewebt war. Blake schob das Päckchen in die Rocktasche, verneigte sich und führte Mrs. Hattigans Hand an die Lippen. »Vielleicht sollte man dieses Mittel chen wirklich mal ausprobieren«, sagte er und kniff ein Auge zu. Mrs. Hattigan lächelte weiter verbindlich. Auch Roßberg steckte die Schachtel ein. So konnte er sich den Weg in eines der einschlägigen Geschäfte ersparen, die er ohnehin nur mit Wi derwillen betrat. Langsam war in ihm ein Gedanke herangereift, der ihm zuerst reichlich abenteuerlich erschienen war. Aber je länger er über ihn nachdachte, um so deutlicher erkannte er, daß dieser Weg seine letzte Chance barg. Auf Blake durfte er nicht mehr zählen. Zumindest als akti
ver Helfer war der Inspector endgültig ausgefallen. Aber Blakes ab schließende Bemerkung hatte wohl den Ausschlag gegeben, daß Roßberg sich entschloß, zum letzten Mittel zu greifen. Als sie zurück zum Wagen gingen, blieb er einen Moment lang stehen und blickte an dem mattgrauen Betonturm empor. Dieses Gebäude war wie eine ganze Stadt. Selbst wenn er in Rechnung setzte, daß die meisten Produktionsprozesse, die hinter diesen undurchsichtigen Wänden von statten gingen, vollautomatisch abliefen, kam er zu der Vermutung, daß hier Tausende von Menschen in Lohn und Brot standen. Und die Pharmaka befanden sich weiter auf dem Vormarsch. Das wußte er recht gut. Und er wußte auch, daß dieser Vormarsch nicht nur negative Aspekte hatte. Die Mehrzahl solcher Mittel war lebenswichtig, sie heilten und steuerten, milderten körperliche Schmerzen und psychi sche Pein. Sie waren längst unentbehrlich geworden, waren Teil der Zivi lisation und sogar eine der Komponenten der Evolution. Schon als der Vormensch seine ökologische Nische verließ und sich anschickte, sein Geschlecht über die ganze Erde zu verbreiten, benötigte er dazu Hilfs mittel und Werkzeuge. Eine der Lebenshilfen der heutigen Menschheit waren die Medikamente. Aber Roßberg hegte ernsthafte Zweifel, ob Actigen plus zu diesen Lebenshilfen zu rechnen war. Blake stieg eben in den Wagen. Es sah ungeschickt aus, wie er sich an die Dachkante klammerte, zusammenklappte und sich durch die enge Öffnung auf den Vordersitz zwängte. Roßberg griff in die Jackettasche, schob das Schächtelchen auf und ließ zwei Tabletten in die hohle Hand fallen. Als Blake die Tür schloß, schob sich Roßberg die Pillen zwischen die Lippen und schluckte sie entschlos sen herunter. Er spürte, wie sie durch die Speiseröhre glitten, und ihm war, als hätte er glühende Metallkugeln verschluckt. Nun mochte kommen, was da kommen wollte.
13
Inspector Blake paßte nur schlecht in das Schema, das sich Roßberg in den vergangenen Tagen von der Polizei dieses Landes zusammengebas telt hatte. Aber es war wohl hier wie überall. Vor Verallgemeinerungen sollte man sich tunlichst hüten. Denn dieser Mann, der da neben ihm im Auto saß und auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt aufmerksam machte, der die Eigenheiten seiner Landsleute voller Ironie als jahrhundertelang sorgsam gepflegte Torheiten bezeichnete, der hin und wieder lachte und manchmal wie in tiefes Nachdenken versunken schwieg, war auch ein Polizist. Der Wagen erreichte die schwindsüchtigen Bäume von Kensington Garden und Hyde Park, ein Anlaß für Blake, seinen Gast darauf hinzu weisen, daß diese knorrigen Buchengreise so ziemlich den letzten zu sammenhängenden Bestand noch lebender Pflanzen Londons repräsen tierten, Fossilien, wie er sich ausdrückte, deren Lebensende abzusehen war. Hinter Hyde Park richtete Blake sich plötzlich auf und legte dem Fah rer die Hand auf die Schulter. »Biegen Sie am Bloomsbury Square links ab, Snider«, befahl er. Und dann wandte er sich an Roßberg. »Ich lade Sie ein, Sir. Vielleicht interessiert es Sie, wie ein englischer Polizeibeamter seine freien Abende zu verbringen pflegt. Bitte lehnen Sie nicht ab! Ich meine nämlich, daß wir beide uns recht gut verstanden haben. Lassen Sie uns eine Flasche Wein auf unsere überraschende Freundschaft trinken. Auch meine Frau wird sich sehr freuen. Petula ist…« Er unterbrach sich und blickte angestrengt aus dem Fenster. »Nun, Sie werden sie kennen lernen«, schloß er. Das war eine abermalige Überraschung. Aber irgendwie paßte diese Einladung, und vor allem die Art, wie sie ausgesprochen worden war, zu Blake, der selbst in gewisser Weise an die knorrigen Fossilien des Hyde Parks erinnerte.
Wanstead Plates war eine Wohngegend, wie man sie wohl in fast allen Großstädten der Welt finden konnte. Drei- bis fünfstöckige Montage bauten mit regelmäßig angeordneten Baikonen und durch Flachreliefs aufgelockerten Fassaden, mit breiten, durch Kunstrasen begrenzten Straßen in der Form eines regelmäßigen Netzes und mit Spiel- und Parkplätzen. Nur in einer Hinsicht unterschied sich Wanstead Plates von allen ande ren Stadtteilen. Hier hatte man vor Jahren ein Experiment begonnen, das beispielgebend sein sollte, bis jetzt jedoch kaum Nachahmer gefunden hatte. Auf den als Sonnenkollektoren angelegten Dächern reckten sich schlanke Zylinder in den Himmel, Windrotoren, die in Verbindung mit der Lichtenergie ursprünglich fast sechzig Prozent des Kraftbedarfes dieses Stadtteiles decken sollten. Aber nie hatte jemand etwas über die Effektivität dieser Experimentalanlage erfahren. Die Blakes wohnten im dritten Stock. In der Diele blickte sich Roß berg verstohlen um. Der Raum war von peinlicher, fast sogar steriler Sauberkeit, ein in Kunstharz eingegossener Teppich, getäfelte Wände in der Farbe dunklen Ebenholzes, flache, wie poliert glänzende Schränk chen in hellem Gelb, eine Garderobe mit automatischem Vorhang und ein Spiegel mit glattem Goldrahmen. Hinter der Tür waren leise Stimmen zu vernehmen. Offensichtlich hat te Mrs. Blake Besuch. Obwohl kein lautes Wort zu hören war, klang es, als streite man sich. Roßberg zögerte, Blake zu folgen, und als er den Inspector fragend anblickte, sah er, daß sich dessen Miene unvermittelt verfinstert hatte. »Es ist immer das gleiche«, sagte Blake in einem Ton, als müsse er sich entschuldigen, und öffnete die Tür. Niemand schien im Zimmer zu sein, an dessen Stirnwand die quadratmetergroße Scheibe des Televisors flimmerte. Auf dem Bildschirm schwangen sich drei nackte, mit leuch tenden Farben bemalte Mädchen durch eine phantastische Kulisse aus irisierenden Säulen. »Immer das gleiche«, wiederholte Blake. Als verfüge seine Stimme über magische Kräfte, erlosch der Schirm mit einem hellen Knacken, und hinter der Lehne des Liegesessels tauchte ein rötlicher Pagenkopf auf, eine junge Frau wandte sich ihnen zu, ein
sehr junges, ausnehmend hübsches Gesicht unter flammenden Stirnlo cken. »Das ist Petula, meine Frau«, erklärte Blake. Vielleicht sah die junge Frau Roßberg an, wie verwirrt er war, sie lachte und schüttelte das kurze Haar, das wie ein windgezaustes Feuer ihr schmales Gesicht umloderte. »Hey, Mister…«, sagte sie und blickte hilfesuchend auf Blake. »Roßberg!« vollendete der. Und abermals lachte sie, den für sie ungewöhnlichen Namen mehrmals wiederholend. Der fremde Klang schien ihr Vergnügen zu bereiten. Erst jetzt verließ sie den bequemen Sessel, und erst jetzt erkannte Roßberg, daß nicht nur ihr Gesicht von beachtlicher Schönheit war. Petula Blake war kaum mittelgroß und sehr zierlich, aber ihr bunter, dünner Hausmantel ließ erkennen, welch ebenmäßig frauliche Figur sich unter ihm verbarg. Sie bemerkte Roßbergs Blick, wandte sich mit einer koketten Drehung ab und raffte den Mantel zusammen. »Verzeih, Roger«, sagte sie schulterzuckend. »Es fällt mir so schwer, in Gang zu kommen. Diese langen Tage ohne dich…« Ihre Stimme war weich und samtig, sie erinnerte an das Gurren einer Taube. Dann aber wurde diese Stimme plötzlich um mehrere Nuancen härter. »Und über haupt ist es in diesem Haus furchtbar langweilig.« Sie blickte Roßberg an, auf ihrer Stirn stand eine steile Falte. »Es gibt einfach nichts zu tun, müs sen Sie wissen. Das ist ganz und gar ekelhaft. Tag für Tag…« Und dann plötzlich wieder das Gurren: »Wie nett von dir, Roger, daß du uns einen Gast mitgebracht hast. Wirklich furchtbar nett!« Sie trat nahe an Blake heran, hob sich auf die Fußspitzen und gab ihm einen schallenden Kuß auf die Wange. Dann wirbelte sie zur Tür. Schon halb in der Diele blieb sie noch einmal stehen und deutete auf den Bildschirm, der nun nur noch ein graues Rechteck war, wie ein Rahmen, aus dem jemand das Gemälde entfernt hatte. »Weißt du, Roger«, sagte sie kopfschüttelnd, »also, dieser Tony Flaherty… natürlich kennst du ihn, das ist doch dieser Hüne mit dem Stiernacken… ja, der aus ›Rache der Totem… also, der ist doch wirklich zu komisch! Daß der sich zusammen mit diesen Mädchen
nackt vor die Kamera wagt. Also ich weiß nicht…« Und immer noch lachend verschwand sie im Dämmer der Diele. Blake schüttelte langsam den Kopf. »Sie ist wie ein Kind«, sagte er leise und zärtlich. »Nehmen Sie ihr das um Himmels willen nicht übel, Mister Roßberg.« Und dabei leuchteten Blakes Augen wie die eines Kindes, das ein überraschendes, lange gewünschtes Geschenk betrachtete. Es dauerte lange, ehe sich Roßberg an die Gesellschaft dieses ungleichen Paares gewöhnt hatte. Die junge Frau, höchstens halb so alt wie Blake, gaukelte wie ein bunter Schmetterling durch das Zimmer. Sich während ihrer Anwesenheit zu konzentrieren, erwies sich als vollkommen unmög lich. Zumal sich Roßberg nicht nur durch ihr Temperament ablenken ließ, sondern auch durch die Beobachtung seiner eigenen Psyche, die er von Zeit zu Zeit nach den Auswirkungen des Actigen durchforschte. Aber noch bemerkte er nichts Ungewöhnliches. Ebenso sprunghaft wie ihre Bewegungen waren ihre Gedanken. Erkundigte sie sich eben noch nach Einzelheiten aus Roßbergs Leben, so ließ sie sich im nächsten Au genblick über die körperlichen Vorzüge des Schauspielers Tony Flaherty aus und klagte unmittelbar darauf über den permanenten Mangel an Un terhaltung in diesem Haus. Roßberg hatte ein weiteres Mal Gelegenheit, Blakes Geduld zu bewun dern. Mehr als eine halbe Stunde lang sprach der Inspector kein Wort. Mit einer Mischung aus tiefer Zuneigung und väterlicher Sorge beobach tete er jede Bewegung seiner Frau und lauschte jedem ihrer Sätze mit Hingabe. Schließlich aber gebot er ihr doch mit einer schnellen Geste Schwei gen. Es war eine Handbewegung, die aussah, als verscheuchte er eine Fliege von der Tischplatte, es war fast nur ein Zucken der Fingerspitzen, aber Petula sah und verstand sofort. Sie setzte sich gehorsam in einen Sessel, die Beine untergeschlagen wie ein Kind. »Tut mir leid, Roger«, sagte sie und fuhr sich aufgeregt mit spitzer Zunge über die Lippen. »Ich bin ganz außer mir. Ich glaube, wir hatten noch nie einen solch interessanten Gast.« Roßberg war sich nicht im mindesten bewußt, daß er mit irgend etwas Petula Blakes Interesse hätte erwecken können, er hatte bisher kaum
Gelegenheit gefunden, sich überhaupt zu äußern. Davon, daß sie ihm die Möglichkeit gegeben hätte, das eine oder andere von sich zu erzählen, konnte nicht die Rede sein. Aber vielleicht war es für die junge Frau gar nicht wichtig, etwas aus seinem Leben zu erfahren, vielleicht genügte ihr schon seine bloße Anwesenheit, die Gegenwart eines Fremden, um auf zuleben, vielleicht empfand sie schon diese unbedeutende Abwechslung als ein erfreuliches Ereignis. »Ein Mann von drüben«, sagte sie versonnen, und schon wieder sprang sie auf, kam herüber zu Roßberg mit kurzen, aufgeregten Schritten und setzte sich auf die Lehne seines Sessels. Sie trug jetzt ein langes, perl graues Kleid, in dem sie schmal und zerbrechlich wirkte. Dies und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich an Roßbergs Schulter lehnte, ließ den Vergleich mit einem verzogenen Kind aufkommen. Blake erhob sich plötzlich. Seine Bewegungen wirkten steif und ge hemmt. »Petula!« sagte er mit seltsam hoher Stimme. »Wäre es möglich, daß du dich jetzt um das Dinner kümmerst? Ich nehme an, daß unser Gast…« Sie sprang sofort auf und stürzte zur Tür. »Selbstverständlich!« stimmte sie verwirrt zu. »Daß ich das vergessen konnte. Verzeihen Sie bitte, Mis ter Roßberg.« Und noch ehe er auch nur ein Wort zu sagen vermochte, hatte sie schon das Zimmer verlassen. »Sie ist wirklich noch ein Kind«, murmelte Blake. »Sie paßt nicht in die se Welt.« Der Vergleich mit dem verzogenen Kind war sicherlich falsch. Aber der andere, der sich Roßberg aufdrängte, war so erschreckend, daß sich alles in ihm gegen ihn sträubte. Der Vergleich mit einem eingesperrten Hund, der jeden Besuch mit überschäumender Freude quittiert. Er fragte Blake vorsichtig nach Petulas Interessen, nach ihren Kontak ten und ihren Aufgaben. Blake hob die Schultern. »Sie meinen…?« Er wischte mit der Hand ü ber den Tisch. »Womit soll sie sich schon befassen? Sie sitzt vor dem Televisor. Stundenlang, ganze Tage manchmal. Sie kennt alle Program
me, alle Showstars und all die verschiedenen Serien. Sie lebt mit dem Televisor. Was sollte sie anderes tun?« »Und das nennen Sie Leben?« »Und was meinen Sie, sollte sie mit sich anfangen? Die Wohnung ist in wenig mehr als einer halben Stunde in Ordnung gebracht. In diesen mo dernen Häusern fällt nicht viel Arbeit an. Und Kontakte zu den Nach barn…« Blake lachte auf. »Wo gibt es heute noch freundschaftliche Kon takte?« »Aber weshalb nicht?« Blake hielt den Kopf schief, als müsse er sich vergewissern, ob die Fra ge auch wirklich ernst gemeint sei. »Das ist sehr leicht zu erklären, mein Lieber«, sagte er schließlich. »Wir leben in einer Zeit der Isolation, in einer Welt mangelnder persönlicher Kommunikation. Allein damit wäre Ihre Frage schon beantwortet. Aber das allein ist es nicht. Sehen Sie, Mister Roßberg, wir gelten in diesem Stadtteil als Außenseiter. Was ich den Leuten hier nicht einmal verübeln kann. Wir sind eben anders als sie. Wir sind hier eingedrungen, obgleich wir nicht hierher gehören, gesellschaftlich. Meine erste Ehe ist vor zwei Jahren geschieden worden, müssen Sie wissen. Und als ich Petula geheiratet habe, da setzten wir uns Abend für Abend zusammen und überrechneten unsere Möglichkeiten. Wir fanden heraus, daß wir bei genügend sparsamer Wirtschaftsführung eine Woh nung in Wanstead Plates mieten können. Ein Wunschtraum von mir. Und schon wenige Tage später zogen wir hierher. Wir hatten zwar nicht erwartet, daß man uns mit offenen Annen emp fangen würde, aber daß es so schlimm sein könnte… Niemand legte Wert auf Kontakte zu uns. Weil wir uns nicht an die Regeln der hier le benden Schicht gehalten haben. Vor allem meine Frau erscheint denen hier wenig gesellschaftsfähig. Eine junge Frau, die vielleicht die Ehe eines älteren Mannes auf dem Gewissen hat, betrachtet man wohl mit Interes se, aber nichtsdestoweniger läßt man sie links liegen.« Es fiel Roßberg schwer, das alles zu begreifen. Und es wurde auch nicht einfacher, wenn er in Rechnung zu setzen suchte, daß das Ehepaar Blake in einer ganz anderen Welt lebte als er, in einer Welt, deren Regeln
er nur mit äußerster Mühe verstehen, aber wohl niemals akzeptieren könnte. In einer Anwandlung von Anteilnahme legte er dem Inspector die Hand auf die Schulter. »Und weshalb geht sie nicht arbeiten?« fragte er. »In irgendeinen Betrieb. Vielleicht nur, um eine Aufgabe zu haben, um andere Menschen kennenzulernen. Der Kontakte und der Selbstachtung wegen.« Blake schüttelte heftig den Kopf. »Sie können nicht im Ernst erwarten, daß meine Frau Geld verdienen geht. Soll sie sich sechs Stunden täglich an einen Schreibtisch setzen oder an ein Fließband stellen? Was wissen Sie eigentlich über diese Welt, Mann?« »Bei uns findet niemand etwas dabei, wenn Frauen gleichberechtigt neben Männern…« Blake winkte ab. »Hören Sie bloß auf«, knurrte er. »Ich weiß, daß das in Ihren Ländern als normal gilt. Aber dabei vergessen Sie, daß eine Frau ganz andere Aufgaben zu erfüllen hat. Immerhin…« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Hier könnten wir unverzüglich dieses Haus verlassen«, sagte er. »Sie würden uns die Fensterscheiben einwerfen, Rollkommandos in Marsch setzen, im Drugstore würde man uns nicht mehr grüßen und schon gar nicht mehr bedienen. Ich kann mir das alles sehr gut vorstellen. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Bisher läßt man uns wenigstens hier leben. Aber das… das würde niemand be greifen.« »Niemand von denen hier«, warf Roßberg ein und deutete aus dem Fenster. »Selbstverständlich von denen hier«, äffte Blake nach. Aus seiner Stimme klang Erregung, er sprang auf. »Aber schließlich leben wir ja hier und nicht irgendwo. Ich habe jahrelang darauf hingearbeitet, eines Tages hier leben zu können.« Er blieb unmittelbar vor Roßberg stehen, die Hände tief in den Taschen und den Kopf vorgereckt. Sein Gesicht hatte sich gerötet. »Und ich bin froh, daß ich es geschafft habe«, sagte er mit ungewöhnlicher Lautstärke. »Aber das begreifen Sie wohl nicht.« Er winkte ab, ging zu seinem Sessel zurück und ließ sich schwer in die Pols ter fallen. »Nun ja«, lenkte er nach einer Pause ein. »Das ist wohl zuviel
verlangt. Sie können sich nicht gut in die Lage eines englischen Polizisten versetzen.« Roßberg schwieg. Es gab Bereiche, in denen sich ihre Gedanken und Gefühle nicht zu begegnen vermochten. Natürlich konnte er Blake nicht raten. Und an Hilfe war schon gar nicht zu denken. Dazu fehlte ihm einfach jede einschlägige Erfahrung. Sein Weg war glatt und gerade, und vor allem war er ohne jedes Hindernis. Elternhaus, Kindergarten, Schule, Beruf und Studium, danach Eintritt in das Institut, in dem er bereits vor her als Biologe tätig gewesen war. Dieser Auftrag in London war viel leicht das bisher einzig Ungewöhnliche in seinem Leben. Ansonsten war es ein Leben ohne Ecken und Kanten, sicher und planbar, gesichert und ohne Tiefen. Aber gerade deshalb wohl auch ohne jede Höhe bisher. Sein Leben war dahingeflossen wie ein ruhiger Strom in einem betonier ten Bett. Ohne Untiefen und Strudel. Und Carolas Leben, das dem seinen so eng verbunden war? Was wußte er über Carolas Gedanken und Wünsche? Vor allem über die, die sich im allgemeinen tief im Inneren verbargen. Empfand Carola die ruhige Ge borgenheit ihrer beiden Leben wirklich als Glück? Oder versteckten sich hinter ihrem verständnisvollen Lächeln Wünsche, die ihr dieses Leben nicht zu erfüllen vermochte? Selbstverständlich ging auch sie ihrer tägli chen Arbeit nach. Wahrscheinlich konnte sie sich ein Leben ohne ihre Lehrtätigkeit überhaupt nicht mehr vorstellen. Man sah sich abends, nach der Arbeit, man ging hin und wieder in ein Kino und selten tanzen, manchmal in ein Theater und häufiger zu guten Bekannten. An den Wo chenenden fuhr man sommers hinauf an die See und im Winter auf ei nen Sprung vor die Stadt in die niedrige Hügellandschaft. Für die schönste Abwechslung sorgte der jährliche Urlaub, den man meist zu sammen mit den beiden Kindern im Ausland verbrachte. Auch die bei den Kinder waren geplant, ein Junge und ein Mädchen, wie es vernünftig war. Man hatte sich sein Leben eingerichtet, und es wäre vermessen, wäre man damit nicht zufrieden. Ein erfülltes Leben war schließlich ein System aufeinander abgestimmter Komponenten. Und es war ein gutes Leben, weil es voller Freuden war, voller kleiner Freuden zugegebener maßen, und weil es bisher in absoluter Sicherheit verlaufen war. Man konnte uralt dabei werden. Aber jetzt plötzlich glaubte er zu begreifen, daß er in diesem Leben noch nie das Gefühl gehabt hatte, er müsse bers
ten vor Glück. Und er vermutete, daß ein solcher Rausch auch für Caro la zu den unbekannten Empfindungen gehörte. Allerdings hatte er noch nie jemanden gefunden, mit dem er sein Le ben hätte tauschen mögen. Und mit diesem niedergeschlagenen Blake, der das seine voll unverwüstlicher Energie angepackt und sich Zoll für Zoll in die oberen Bereiche seiner Welt emporgearbeitet hatte, um nun feststellen zu müssen, daß es ein leerer und ihm feindlich gesonnener Bereich war, schon gar nicht. Er musterte diesen großen, kräftigen Mann verstohlen, die müden, von ersten Falten umsponnenen Augen, den ausdrucksvollen Mund, den zwei tiefe Linien wie eine Klammer einfaßten, und das kräftige Kinn. Eines Tages würde auch Blake zur Tablette greifen. Zu dieser Tablette. Eines Tages würde auch seine Widerstandskraft erlahmen. Unversehens erinnerte sich Roßberg des Medikamentes, das wohl schon dabei war, in seinem Körper Wirkungen zu entfalten, von denen er nichts wußte, die er fürchtete und auf die er doch hoffte. Er versuchte, sich selbst zu ana lysieren, doch es gelang ihm nicht, Ungewöhnliches zu ermitteln, nichts, das darauf hingeweisen hätte, daß sich in ihm Vorgänge abspielten, die er nicht hätte kontrollieren können. Das Abendessen bei den Blakes schmeckte besser als die anderen Ge richte, die man ihm bisher in London vorgesetzt hatte. So bemühte er sich, obwohl derartiges nicht seiner Gewohnheit entsprach, der Hausfrau ein paar anerkennende Worte zu sagen. Aber Petula Blake reagierte nicht auf sein Lob. Überhaupt schien sie ihm seltsam verändert. Ernst und in sich gekehrt, blickte sie vor sich hin und stocherte auf ihrem Teller herum. In dem mattgrauen, schmalen Kleid sah sie jetzt streng und gouvernantenhaft aus. Nur die rötlichen Locken lagen noch immer wie züngelnde Flammen auf ihrer Stirn. Nach langen Minuten des Schweigens blickte sie endlich auf. »Fertig gekauft«, sagte sie leise. »Hier, in unserem Drugstore, zwei Straßen weiter. Es ist nicht üblich, das Essen selbst zuzubereiten.« Ihre Augen hielten seinen Blick fest. »Ach, wenn Sie wüßten, Mister Roßberg…« »Was soll das, Petula?« fuhr Blake auf.
»Nein, laß mich, Roger«, sagte sie, und ihre Stimme klang erstaunlich fest. Nichts war geblieben von ihrer kindlichen Ausgelassenheit, nichts von mutwilliger Spielerei, jetzt zeigte sich Petula Blake plötzlich als ein am Rand der Verzweiflung balancierender Mensch, der seine letzten Kräfte zu sammeln versuchte. »Man muß das alles einmal aussprechen«, fuhr sie fort. »Ein einziges Mal nur. Was soll daran falsch sein? Man muß sich über bestimmte Dinge unterhalten dürfen. Vielleicht könnte Mis ter…« Aber Blake unterbrach sie. »Wie sollte er denn«, rief er. »Ausgerechnet er! Seine Welt funktioniert nach ganz anderen Gesetzen als unsere. Be greif das doch endlich, Petula! Das nützt nichts!« »Vielleicht hilft er uns schon, wenn wir es nur aussprechen«, beharrte sie. »Soll er zuhören und nicken oder den Kopf schütteln. Soll er tun, was er mag, nur einfach dasein. Bitte, Roger, schlag es mir nicht ab. Es ist so wichtig.« Holger Roßberg fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Er kannte derartige Situationen zu Genüge. Aus einem unerfindlichen Grund mußte sein Gesicht Vertrauen einflößen. Immer wieder versuchte jemand, ihm das Herz auszuschütten. Und dieses Bedürfnis beschränkte sich durchaus nicht nur auf gute Bekannte. In solchen Situationen fühlte er sich stets hoffnungslos überfordert, kam er sich vor wie die Briefkas tentante in den alten Journalen, und dann wünschte er sich meist mei lenweit weg. Vielleicht, weil er das Gefühl hatte, man erwarte von ihm eine Entscheidung. Und nichts lag ihm weniger, als sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Nun, hier mußte er das wohl nicht, hier hatte er nur zuzuhören. Und eine Wahl blieb ihm ohnehin nicht. »Das bringt uns nichts, Petula.« Roger Blake protestierte nur noch ganz schwach. »Glaub mir doch, überhaupt nichts.« Man sah ihm an, daß er längst nachgegeben hatte, und das flüchtige Lächeln seiner jungen Frau verriet, daß sie mit nichts anderem gerechnet hatte. »Ich bin ganz sicher, daß Sie unsere Probleme verstehen werden, Mis ter Roßberg«, begann sie. »Schließlich haben auch Sie daheim eine Frau, und auch Sie haben täglich mit anderen Menschen zu tun, teils mit Freunden und teils mit Feinden, mit Kollegen und mit Nachbarn. In dieser Beziehung unterscheidet sich Ihr Leben nicht von dem Rogers.«
Sie saß ein wenig vornübergeneigt, hatte die Hände vor sich auf den Tisch gelegt und die Fingerspitzen fest zusammengepreßt. Er war zu tiefst beeindruckt von der Wandlung, die mit ihr vor sich gegangen war. »Sie gehen Ihrer Arbeit nach wie Roger, Tag für Tag«, fuhr sie fort. »Und ich glaube nicht, daß Sie weniger intensiv arbeiten als er. Und si cherlich unterliegen Sie dem gleichen Streß wie alle, die Geld verdienen müssen.« Er hatte die Tendenz, sie zu unterbrechen, ihr zu sagen, daß sie nur zum Teil recht hatte, daß dieser sogenannte Streß durchaus keine norma le Erscheinung war, sondern daß er von vielen Faktoren abhing, von der Humanität der Arbeitswelt, den Leitungsmethoden, der eigenen Motiva tion und den gesellschaftlichen Bedingungen. Er hätte ihr eine ganze Palette von Auslösern nennen können, aber das hätte nichts genützt. Und schon gar nichts geändert. Sie würde nicht begreifen, daß die Welt, in der sie lebte, ohne Leistungsdruck nicht funktioniert hätte. Und sie würde auch nicht verstehen, daß ihre Welt der seinen diesen Leistungs druck aufzwang. So schwieg er weiter. Auch, weil er nachdenklich geworden war. Denn unvermittelt stellte sich ihm die Frage, ob nicht auch er unter der Er scheinung zu leiden hätte, die sie beklagte. Mehr zu leiden hatte, als es gut war für Carola, für die Kinder und ihn selber. Deshalb begnügte er sich mit einer nichtssagenden Kopfbewegung. Petula nahm sie als Zustimmung. Und so erfuhr er, hin und her schwankend zwischen dem Wunsch, aufzustehen und dieses Haus, diese Stadt und dieses Land zu verlassen und heimzueilen zu Carola, um sie in seine Arme zu schließen, und dem Interesse an diesem seltsamen Paar, das ihm von Minute zu Minute sympathischer wurde, die Geschichte eines Mannes, dem es trotz aller Bemühungen nicht gelungen war, sich anzupassen. Dieser Roger Blake kam ihm vor wie ein ins Wasser gefalle ner Falke. Was nützte dem schon, daß er in seinem Element, der Luft, pfeilschnell zu fliegen vermochte, wenn das Wasser seine Federn durch näßte und seinen Körper an sich saugte? Er würde jämmerlich zugrunde gehen, denn er würde bis zuletzt ein Falke bleiben, er würde niemals versuchen, sich der fremden Umgebung anzupassen, sich ihr gemäß zu
bewegen, er würde zu fliegen versuchen, auch dann noch, wenn er be reits am Ertrinken wäre. Je länger er der leisen Stimme dieser jungen, hübschen Frau lauschte, um so besser glaubte Roßberg die ganze Misere der Blakes zu durch schauen. Diese Petula war durchaus nicht das oberflächliche Ding, als das sie sich anfangs gezeigt hatte, sie hätte anderenorts mit beiden Bei nen fest im Leben stehen können, und sie mußte offensichtlich sehr un ter der Tatsache leiden, daß ihr das an der Seite des Inspectors versagt blieb. Sie litt Qualen in diesem Leben und mit diesem Mann, der sich auf dem eroberten Platz nur halten konnte, wenn er das Korsett, das ihm die Gesellschaft angelegt hatte, mit Würde zu tragen bereit war, sie kämpfte einen verzweifelten Kampf gegen ihr eigenes Wesen. Natürlich nahm sie Tabletten, mehrmals täglich, Medikamente, die Depressionen verdrängten, die das hin und wieder aufwallende Tempe rament dämpften, und Drogen, die Alpträume vertreiben sollten. Roß berg blickte hinüber zu Blake, der schweigend in seinem Sessel lag, mit hervortretenden Wangenmuskeln und harten Lippen. Und er sah dessen Hand, die verstohlen nach der Rocktasche tastete. Er spürte einen Hauch von Genugtuung, den er nicht zu verdrängen vermochte, ob gleich er sich seiner Regung schämte. Spät in der Nacht erst verließ er das Haus der Blakes. Die Frau verab schiedete ihn voller Überschwang, ja, fast mit Dankbarkeit, und der In spector stand dabei und betrachtete die Szene mit traurigem Lächeln. »Ich glaube, Mister Roßberg«, sagte Blake, als sie im Korridor allein geblieben waren, »daß es Petula gut getan hat, sich das alles von der Seele zu reden. Aber Sie sollten sich darüber keine Gedanken machen. Helfen kann uns niemand. Und das Wichtigste hat sie ohnehin vergessen. Vielleicht, weil es Berei che gibt, über die man nicht redet. Natürlich leidet sie darunter, daß sie keinerlei Kontakte und fast keine Aufgaben hat. Aber das ist nicht alles. Schlimmer ist wohl, daß wir eigentlich nur noch nebeneinanderher leben. Denn, sehen Sie, wenn ich ganz oben bleiben will, dann muß ich täglich, ach, was sage ich, stündlich, mit vollem Einsatz agieren. Das ist es, was
Petula als Streß bezeichnet. Daß ich meist sehr spät nach Hause komme und mich dann wie leergebrannt fühle. Tage wie der heutige gehören zu den ganz seltenen. An all den anderen Abenden der vergangenen Woche hätte ich nicht die Kraft gefunden, irgend etwas zu unternehmen. Und wie ich das sehe, werde ich diese Kraft auch morgen oder übermorgen nicht aufbringen.« Blake sah unschlüssig auf den hellen Teppich. »Manchmal frage ich mich, weshalb ich eine so junge Frau an mich ge fesselt habe«, sagte er schließlich. Und dann, mit unverkennbar gegen sich selbst gerichteter Ironie: »Wenn ich doch nichts mit ihr anzufangen weiß.« Noch immer hielt er Roßbergs Rechte. »Entschuldigen Sie. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie mit unseren Problemen zu belästigen. Wahr scheinlich ist diese Art zu leben für Sie völlig unverständlich. Vergessen Sie es.« Roßberg schüttelte schweigend den Kopf. So fremd war ihm das nicht. Einige von Blakes Problemen kannte er aus eigenem Erleben. Und der Wunsch, Carola in die Arme zu schließen, ihr zu sagen, daß er sich vor genommen hatte, ab sofort mehr Zeit für sie und die Kinder zu haben, wurde übermächtig. »Im Gegenteil«, versicherte er. »Ich werde es nicht vergessen. Denn auch ich habe Ihnen zu danken, Blake. Vielleicht hat Ihre Frau mir mehr geholfen, als ich ihr zu helfen vermochte.« Jetzt endlich zog wieder ein Lächeln über Blakes Gesicht. Ein wenig ungläubig zwar noch, aber es war wirklich das alte Lächeln. »Das werde ich ihr mitteilen, mein lieber Roßberg. Sie wird sich gewiß darüber freu en. Und ich werde mir ernsthaft überlegen, ob ich die kleinen Mittelchen, die uns die Industrie bietet, nicht doch anwenden sollte.« Blake lachte schallend, aber auch die Lautstärke konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Heiterkeit alles andere als echt war. »Versuchen Sie es, Roger«, sagte Roßberg und wandte sich ab. Aber Blake hielt ihn am Arm zurück. »Warten Sie noch einen Augen blick. Ich werde Sie ein Stück begleiten.«
Sie gingen langsam die breiten Straßen von Southern East End entlang. Durch die gelblich-grünen Blätter der Pappeln, der letzten noch leben den Londons, wie Blake betonte, strich ein Luftzug wie der röchelnde Atem eines Schwindsüchtigen. Auf der anderen Straßenseite trottete eine Gruppe von Schulkindern heimwärts. Auf dem Asphalt lag der Dunst des Abends. Von Zeit zu Zeit schüttelte Blake in Gedanken versunken den Kopf. Hinter seiner Stirn arbeitete es heftig. Und plötzlich blieb er mitten auf dem Gehweg stehen und griff nach den Revers von Roßbergs Jacke. »Sie sollten endlich zugeben, daß die Geschichte, wegen der Sie nach London gekommen sind, über Ihre Kräfte geht, Holger«, sagte er mit ungewöhnlich sanfter Stimme. »Man muß wissen, wann man auf zugeben hat: Oder man muß es doch zumindest fühlen. Sehen Sie, ein solches Gefühl kann manchmal lebenswichtig sein. Wenn ich in all den Jahren, in denen ich nun schon Polizist bin, nicht stets genau gespürt hätte, wo meine Grenzen liegen, wie weit ich gehen darf und wann ich mich bescheiden zurückzuziehen habe, ich wäre nie Inspector geworden. Und ich könnte nicht in Wanstead Plates wohnen. So ist das, mein Lie ber! Und ich weiß, daß wir an eine dieser Grenzen gestoßen sind.« Es klang ein wenig seltsam, wie er das sagte, so, als fürchte er sich vor der endgültigen Klarheit. Oder dem, was ihm diese Klarheit als Pflicht auferlegen könnte. Etwas bäumte sich in Roßberg auf. Das, was er in der Nähe der Grasy Inn Road erlebt hatte, war ihm wieder gegenwärtig. »Trotzdem«, beharrte er, »bin ich sicher, daß eine der Ursachen bei der London Pharmacal liegt.« Blake ließ ihn mit einem Ruck los und schob ihn von sich. »Unsinn!« knurrte er. »Die Ursache liegt in den Menschen, in uns allen. Läge es an diesem Actigen, Hunderttausende in unserem alten England müßten auf die Bäume klettern.« Er lachte meckernd. »Man stelle sich vor: ein ganzes Volk auf den Bäumen. Jedem Engländer seinen Baum! Was für ein Slo gan. Nein, nein! Das Actigen schlagen Sie sich schnellstens aus dem Kopf. Ich wäre wohl bereit gewesen, die ganze Angelegenheit auf das Wirken einer kriminellen Vereinigung zurückzuführen, aber…« Er un terbrach sich und hob die Schulter. »Aber…?«
Blake legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben, wo die Wipfel der Pappeln im letzten Licht des Abends verschwammen. »Die meisten dieser Leute sind so unwichtig, daß sich niemand die Mühe ma chen würde, gegen sie auch nur einen Finger zu rühren. Wer soll schon Interesse daran haben, einen Weinhändler zu vernichten oder einen drittklassigen Schauspieler? Das wäre doch weder der Kosten noch des Aufwandes wert. Aber«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, und seine Stimme war frei von Hohn, »ich bin bereit, das Eden-Syndrom als vorhanden anzuerken nen. Doch gerade daraus ergibt sich, daß meine Arbeit getan ist. Es kann ja schließlich nicht Aufgabe der Polizei sein, den Verursacher einer Krankheit zu ermitteln. Damit sollen sich die Spezialinstitute befassen. Oder meinetwegen auch alle möglichen Ärzte. Aber doch nicht die Poli zisten. Oder haben Sie jemals gehört, daß sich die Polizei mit der Aufklä rung einer Grippeepidemie herumgeschlagen hätte? Nein? Na also? Weshalb denn ich? Wissen Sie was, Roßberg! Fliegen Sie schnellstens nach Berlin zurück. Vielleicht gestattet man Ihnen, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die das Eden-Syndrom aufzuklären und die entsprechenden Therapien zu erar beiten hat. Wenn Ihnen das gelingt und die verdammte Seuche hat sich in der Zwischenzeit genügend ausgebreitet, dann könnte Ihnen sogar noch der Nobelpreis winken. Ist das nicht ein bemerkenswerter Vor schlag? Der Rat eines Freundes, mein lieber Roßberg, den Sie nicht in den Wind schlagen sollten. Und nun wollen wir nicht mehr über diese Sache reden.« Trotz des unbekümmerten Tones klang Niedergeschlagenheit aus Bla kes Worten. Aber auf das Syndrom kamen sie nicht mehr zurück. Nach dem Frühstück am anderen Morgen suchte er eines der kleinen Arbeitszimmer des Hotels auf, setzte sich an einen freien Tisch und stu dierte Protokolle. Die Formulierungen beinhalteten schon endgültige Ergebnisse, Synthesen, Festlegungen, der Kongreß neigte sich seinem Ende zu. Roßberg fand, daß er die Zusammenhänge nicht sofort zu er kennen vermochte, er las ohne zu begreifen, und das, was er begriff, rührte ihn nicht an.
Er blickte sich um. Von den vielleicht zehn Leuten, die sich im Raum verteilt hatten, kannte er lediglich Benson und Krajewski, die sich, wie nicht anders zu erwarten, an einen Tisch gesetzt hatten und leise aufein ander einsprachen. Als sie spürten, daß er sie beobachtete, schwiegen sie, und Benson machte ein Gesicht, als hätte man ihn bei etwas Ungehöri gem ertappt. Doch gleich darauf begann ihre Diskussion erneut, leiser zwar, aber nicht weniger heftig. Eine Zeitlang fühlte sich Roßberg von einem Kurzprotokoll gefesselt, von den Ausführungen Magers über die geglückte Zucht einer Waran Flugechsen-Chimäre. Er lächelte in sich hinein, er war mit einer weit diffizileren Aufgabe beschäftigt, aber Mager hatte die seine wohl schon gelöst. Was ihn an den Protokollen störte, das waren die Zwischenbe merkungen aus der Zuhörerschaft, die der Stenograf in allen Einzelhei ten aufgezeichnet hatte, meist Äußerungen der Ablehnung. Niemand schien die Hybridisierung zu mögen, die Spezialisten ausgenommen. Aber das war wohl immer so. Nie sahen diejenigen, die mit einem Spezi algebiet befaßt waren, die spezifischen Gefahren ihrer Arbeit. Unversehens erinnerte er sich seiner Aufgabe und damit seines Expe rimentes und lauschte in sich hinein. Nichts Befremdliches regte sich in ihm. Anscheinend waren die beiden Pillen ohne Wirkung geblieben. Und eigentlich hatte er auch an keine Wirkung geglaubt. Irgend etwas fehlte ihm, das die Opfer gehabt haben mußten, zumindest in jenen wichtigen Augenblicken, einen Sensor, eine bestimmte Allergie, etwas, das sie sti mulierte oder besonders empfänglich sein ließ. Er klappte seine Mappe zusammen und fuhr nach oben auf sein Zim mer. Die restlichen Pillen verpackte er, versah das Päckchen mit der Pri vatadresse Mareks und warf es in den Postterminal. Danach gab er ein Fernschreiben mit den entsprechenden Anweisungen an das Institut auf und machte sich an den Entwurf eines Telegramms an Meister. Kurz und knapp berichtete er über seinen Verdacht, den Auslöser betreffend, und fügte seufzend seine Befürchtung hinzu, daß es wohl kaum gelingen werde, seinen Verdacht zu beweisen. Eine Stunde lang wartete er, daß das kleine Rechteck auf dem Bildschirm sich endlich mit Leben füllen würde. Er nutzte die Zeit, indem er einen langen Brief an Carola schrieb, von dem er wußte, daß er nur krauses Zeug enthielt, seine Sehnsüchte
und Wünsche, seine Enttäuschungen und Hoffnungen. Carola würde sich wundern. Als das Rechteck leer und dunkel blieb, schaltete er das Kom aus und fuhr hinunter in die Halle. Er ging ziellos von einer Seite zur anderen und stellte sich schließlich dem Sensor in einer der Zellen. Die Maschine präsentierte ihm eine gelbliche Flüssigkeit, und sooft er auch wählte, immer waren die Becher mit der gleichen gelben Brühe gefüllt. Endlich verfiel er auf einen Trick, er hielt die Luft an, bis der Brustkorb zu bers ten drohte, bis ihn bleierne Mattigkeit überfiel. Erst dann trat er erneut vor den Sensor, hoffend, die Scheibe werde sich öffnen, ehe er sich ganz erholt hatte. Und wirklich ließ sich die Maschine überlisten. In dem durchsichtigen Becher perlte es giftgrün. Er trank in einem Zug, obwohl ihm vor dem intensiven Geruch nach Ingwer schauderte. Bei Bessow hatte die Wirkung bereits nach wenigen Minuten einge setzt. Aber auch jetzt war Roßberg skeptisch. Er hoffte nicht mehr auf einen Erfolg. Er saß eine knappe Stunde und beobachtete jede seiner Regungen. Dann gab er es auf und ging hinüber ins Restaurant. Die Frühstückszeit war längst vorbei. Er würde wohl nie beweisen können, daß es dieses verfluchte Actigen war. Vielleicht hätte Blake den Beweis antreten können. Aber Blake war ausgestiegen. Nun, er würde Mareks Bericht abwarten. Und Meisters Weisung. Er zweifelte nicht daran, daß man ihn zurückrufen würde. Wahrscheinlich schon morgen oder übermorgen. Bei diesem Gedanken besserte sich seine Stimmung trotz des Wissens um den mangelnden Erfolg seiner Mission.
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Am Nachmittag begann Roßberg seine persönlichen Gegenstände und die Papiere zu ordnen. Zum Packen vermochte er sich jedoch nicht zu entschließen. Obwohl er zu wissen glaubte, daß sich auch Meister mit dem mageren Ergebnis abfinden würde. Notgedrungen. Am Abend rief Blake an. Gewohnheitsmäßig schaltete Roßberg nicht nur das Kom, sondern auch den Transverter ein. »Sie sind noch immer in London?« fragte Blake ohne Vorwurf. Sein Bild auf dem Schirm wandte sich hin und her und mit ihm die kleine Kamera über der Wand. »Aber ich sehe, daß Sie packen. Freut mich, daß Sie sich endlich durchgerungen haben. Wann reisen Sie ab, Holger?« Roßberg überlegte. Es fiel ihm schwer, sich festzulegen. Noch ehe er antworten konnte, begann sich das kleine Rechteck neben dem Kinn des Inspectors mit Leben zu füllen, ein winziger Lichtpunkt huschte über die Zeilen. »ABREISEN UMGEHEND«, stand schließlich dort. »Morgen werde ich fliegen«, murmelte Roßberg. »Morgen abend.« Blake lächelte. »Hören Sie, Holger. Machen Sie Petula und mir die Freude eines Abschiedsbesuches. Petula ist ganz begeistert von Ihnen. Und wenn Sie nun schon mal noch in London sind, dann könnten Sie doch gegen Mittag bei uns vorbeikommen. Wir hätten den ganzen Nachmittag über Zeit. Ich verspreche Ihnen auch, Sie am Abend zum Flughafen zu fahren. Abgemacht?« Roßberg nickte. Und als Blakes Gesicht zurück in die Dunkelheit tauchte, wandte er sich ab und nahm den Koffer aus dem Schrank. Auch die grüne Flüssigkeit, die er sich durch einen Trick verschafft hatte, war wirkungslos geblieben. Und er wußte, daß es Zufall gewesen wäre, hätte sich etwas ereignet.
Die Vorgänge im Gehirn waren zu komplex, als das man sie gezielt hätte steuern können. Zwar waren die Neurologen in der Lage, durch bestimmte Stimulationsverfahren alle nur möglichen Gefühle und Emo tionen, Verhaltensweisen und Reaktionen zu erzeugen, aber noch immer fehlte es an der genauen Zuordnung von Abweichung und Entstehungs ort. Die Stimulationen geschahen noch immer blind, bestenfalls nach statistischen Erkenntnissen, aber doch ohne exaktes Wissen um die Zu sammenhänge. Man mußte sich damit abfinden, daß zum Beispiel die elektrische Rei zung der Septalteile wie auch des Hypothalamus oder des Cerebellums durchaus die gleichen Ergebnisse bringen konnten, manchmal Angstge fühle und häufiger eine Erhöhung der sexuellen Bereitschaft. Offensicht lich aus Sicherheitsgründen und zur Erhöhung der Stabilität lebenswich tiger Prozesse hatte die Natur ein sehr komplexes System von Steuerund Kontrollmechanismen geschaffen, das Fehlerquellen ausschaltete und bereits aufgetretene Mängel kompensierte. Wichtige Vorgänge hat ten stets mehrere Ausgangspunkte, wie andererseits wieder jedes Zent rum an der Steuerung verschiedener Prozesse beteiligt war. Dieses auf natürlichem Weg entstandene Sicherheitsregime war letzt lich auch dafür verantwortlich, daß die Hirnstimulation nach wie vor durch ein Bündel von Moratorien eingeschränkt und auf Tierversuche beschränkt geblieben war. Was nicht bedeutete, daß sich alle Forscher ohne Ausnahme an solche Festlegungen gehalten hätten. Roßberg erinnerte sich eines makabren Falles, der vor einigen Jahren für Aufruhr und Empörung unter einem Großteil der Neurologen in aller Welt gesorgt hatte. Der amerikanische Hirnforscher William McCroy hatte in seinem La bor an der Yale University einen homosexuell veranlagten PuertoRicaner behandelt. Siebzehn Elektroden, in die verschiedensten Hirnare ale der Versuchsperson versenkt und an eine Batterie angeschlossen, stimulierten den jungen Mann plötzlich so heftig, daß er eine in seine Zelle geführte Prostituierte unverzüglich überfiel und vergewaltigte. Zwar kam der unheilbar homosexuelle junge Mann auf diese Weise zu seinem ersten heterosexuellen Geschlechtsverkehr und die Presse zu gewaltigen Schlagzeilen, aber da der Versuch sich als nicht reproduzier
bar erwies, brachte er an wissenschaftlichen Erkenntnissen überhaupt nichts. Jetzt fand Roßberg es bedauerlich, daß sein Fachgebiet von der Neuro logie so weit entfernt lag. Ein wenig mehr Spezialwissen hätte ihm durchaus zum Vorteil gereichen können. Was auch auf seine Kenntnisse über regulative und stimulierende Mit tel zutraf. Der Konsum dieser Medikamente war eine globale Erschei nung, die weder vor einem bestimmten Gesellschaftssystem noch vor einem Land haltmachte. Weder bestimmte Berufsgruppen noch irgend welche Gesellschaftsschichten waren von dieser Erscheinung ausge nommen. Und dabei war dieser an sich entwicklungsgeschichtlich be dingte Vorgang wie ein Pilzmyzel, er breitete sich unter der Oberfläche statistischer Erkennbarkeit aus und verriet seine Existenz nur durch rela tiv seltene, aber dann um so spektakulärere Ereignisse. Da waren die immer wieder durch unkontrollierten Konsum von Schlaftabletten auftretenden Unglücksfälle, hüben wie drüben, oberfläch lich betrachtet mit eng begrenzter Ursache, die sich zumeist aus langsa mer Gewöhnung und daraus resultierender Eskalation der Dosierung ergaben. Die Wirkung des Mittels schwächte sich im Lauf der Zeit ab, man erhöhte die Menge, und irgendwann wurde die kritische Grenze überschritten, anstelle des erholsamen Schlafes trat der Tod. Selbstver ständlich konnte man einen solchen Fall als Unglück definieren, hervor gerufen durch Unbedacht oder Unachtsamkeit, aber mußte man nicht auch fragen, weshalb der Betroffene überhaupt zum Regulativ griff, wo durch der biologische Rhythmus seines Körpers so durcheinanderge bracht worden war, daß ihm dieser Griff als der einzig mögliche Ausweg erscheinen mußte? Oder die immer wieder auftretenden Schädigungen durch Anabolika, ebenfalls hüben wie drüben, wenn auch in unterschiedlichen Relationen, aber eben immerhin, denn selbst die strengste Rezeptionierung ließ Lü cken. Daß hier, in der Welt des Howard Delgado und des Weinhändlers Krönli, Anabolika gehandelt wurden wie Luxusautos, gegrillte Kolibris und attraktive Frauen, das war erklärbar, aber woran lag es, daß, wenn auch in weit geringerem Maß, auch im anderen Teil der Welt, in einer
Ordnung also, deren Grundzug Humanität war, von diesem oder jenem zu ähnlichen Mitteln gegriffen wurde? Und noch immer wurden Kinder geboren, die infolge Drogengenusses der Mutter bleibend geschädigt waren, Kinder, die ihr Leben als Außen seiter zu leben gezwungen waren, weil ihre Erzeuger die Angewohnheit hatten, sich für jeweils einige wenige Stunden aus der tatsächlichen in eine scheinbar bessere Welt zu flüchten. Was aber war es, das sie zu sol chen Fluchtversuchen veranlaßte? Und weshalb gab es noch immer Leiter, die hinter ihrem Arbeitstisch zusammenbrachen, weil sie ihren geschädigten Kreislauf über Jahre hin weg nur noch durch stabilisierende Mittel funktionsfähig erhalten hatten? Wer oder was zwang sie, eine Tätigkeit auszuüben, der sie nicht gewach sen waren? Die Gründe unkontrollierten Medikamentenkonsums schienen ebenso mannigfaltig zu sein wie die menschlichen Charaktere, aber im Ursprung waren sie überwiegend gesellschaftlicher Natur, psychische und physi sche Überlastungssituationen, Generationsprobleme, Anpassungsschwie rigkeiten und Geltungsdrang. Ausgangspunkt war zweifellos die mißbräuchliche Nutzung an sich in differenter Erkenntnisse. Und selbstverständlich ergab sich aus dieser Konstellation auch eine zumindest teilweise Erklärung der Unterschiede in der gesellschaftlichen Relevanz. Aber sollte man sich deshalb mit der Erklärung zufriedengeben, daß der Griff zum Stimulans in der sozialisti schen Gesellschaft einen Anachronismus darstelle, resultierend aus über kommenen und importierten Verhaltensweisen und Wertvorstellungen? Das wäre Selbstbetrug. Tatsache schien vielmehr zu sein, daß die Häu figkeit des Einsatzes solcher Mittel ein Maß für die verwirklichte Huma nität einer Gesellschaft war. Verschwinden würde der Mißbrauch dieser Drogen erst, wenn die Strukturen menschlichen Zusammenlebens ihr Optimum erreicht haben würden, oder wenn sie dem Idealzustand zu mindest nahekämen. Dies erschien ihm fast wie eine fundamentale Erkenntnis.
15
Holger Roßberg packte. Er sah keine reale Chance mehr. Allerhöchstens eine vage Möglichkeit, an die er jedoch auch bei größtem Optimismus kaum zu glauben vermochte. Er selbst hatte zwei der Pillen geschluckt, er hatte den Apparat in der Halle überlistet, und nichts war geschehen. Wie sollte er da aus der fast unwahrscheinlichen Eventualität, daß sich ausgerechnet im Fall Blake mehrere Zufallslinien kreuzen könnten, Hoffnung schöpfen? Ausge rechnet bei diesem Blake, der ihm bis vor wenigen Tagen wie eine knor rige alte Eiche erschienen war, angenagt zwar von der Zeit und den Stürmen, aber nach wie vor ungebeugt. Nein, es wurde Zeit, dieses Land zu verlassen. Eine Flugstunde nur von seiner Heimat entfernt gelegen, war es ihm mindestens ebenso fremd geblieben wie die von eisigen Taifunen gepeitschten Ebenen des Jupiters, und das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte dieser Welt hatte sich ihm nicht weiter erschlossen als die hierarchischen Struk turen eines Bienenstaates. Er stand abseits dieser in Jahrtausenden einer gigantischen Fehlentwicklung entstandenen Normen, er vermochte sich ihnen nicht anzupassen, und hätte er sich auch alle Mühe gegeben. Auch nicht vorübergehend. Unlustig warf er die Wäsche in den Koffer und die Taschen, hin und wieder eine Pause einlegend und grübelnd. Das lag nicht daran, daß er vielleicht noch eine Spur von Hoffnung gesehen hätte, das war lediglich Unvermögen, abzuschalten, die Niederlage innerlich zu akzeptieren. Er wußte, daß er nicht im eigentlichen Sinne versagt hatte, er hatte getan, was er tun konnte, und er hatte hier in London sogar einen ausgezeich neten Helfer zur Verfügung gehabt, aller Wahrscheinlichkeit nach gab es nichts zu klären. Dieses Eden-Syndrom war aufgetaucht wie eine schlei chende Epidemie, und alles sprach dafür, daß es nicht ausschließlich durch das Mittel Actigen verursacht wurde, wenn dem auch die auslö sende Bedeutung zukommen mochte. Basis waren vielmehr Strukturen, die jenseits jedes Einflusses lagen, sich zufällig kreuzende, genetisch oder
sonstwie fixierte Anlagen, oder Rudimente, die, seit Jahrtausenden ver schüttet, aus gesellschaftlich determinierten Gründen ausgerechnet jetzt an die Oberfläche menschlichen Bewußtseins drangen, vergleichbar je nen Steinen auf dem Acker, die, seit ewigen Zeiten tief im Boden lie gend, irgendwann durch den Einfluß kaum erklärbarer Prozesse in den Bereich der Pflugschare gerieten. Vielleicht lag hier die eigentliche Erklärung des Eden-Syndroms, viel leicht war der wichtigste Katalysator aber auch ein Stoff, den niemand je mit diesen bestürzenden psychischen Abweichungen in Verbindung zu bringen vermochte, die kaum wahrnehmbare Spur eines bestimmten Proteins im Brot, der Hauch einer komplizierten, schnell flüchtigen Ver bindung in der Atmosphäre, ein in jahrelangen Versuchen als unbedenk lich ermittelter Zusatz zum Trinkwasser, ein simples Antiallergicum. Und irgendeine dieser Substanzen dann wieder in kompliziertem Zusammen spiel mit einer winzigen Komponente des Actigens. Solche Konstellatio nen waren der einschlägigen Forschung durchaus nicht unbekannt, was die Verantwortung der London Pharmacal selbstverständlich in keiner Weise minderte. Sie aber in einem speziellen Fall wie diesem schlüssig nachzuweisen, das würde eine Aufklärungsarbeit erfordern, mit der ganze Wissen schaftszweige auf Jahre hinaus gebunden wären. Versuchsreihen wären erforderlich, wie sie nur Industrie oder Industriebetriebe finanzieren könnten. Nein, er hatte nicht versagt. Er hatte alles getan. Und in diesem Be wußtsein schlief er fest und traumlos. Am anderen Morgen verstaute er die letzten persönlichen Gegenstände. Er hatte Mühe, seinen Koffer zu schließen. Es war immer das gleiche. Wenn Carola packte, dann konnte man meinen, es sei noch eine ganze Menge Platz, aber wenn er das viele Zeug verstaut hatte, dann wollte der Koffer aus allen Nähten platzen. Er hob den Koffer ein Stück an und schüttelte ihn heftig, und als der Verschluß wider Erwarten hielt, atmete er erleichtert auf. Er schob Ta schen und Koffer in den Gepäcklift und trat hinaus auf den Korridor. Einen letzten Blick warf er zurück in das Zimmer, das über eine Woche
lang sein Heim gewesen war. Plötzlich wirkte es leer und unpersönlich. Aus den Ecken schien Kälte zu kriechen. Zum letztenmal stieg er die gewundene Treppe zur Halle hinunter. Nichts deutete mehr darauf hin, daß hier noch vor wenigen Stunden das hektische Treiben des Kongresses geherrscht hatte, unablässiges Kom men und Gehen, Stimmengewirr und plakatverhangene Wände die At mosphäre bestimmt hatten. Es war, als habe ein heftiger Luftzug all das innerhalb einer Nacht hinausgeweht, mehr noch, als habe es den Kon greß nie gegeben. Die müden Gummibäume waren an ihre angestamm ten Plätze gerückt worden, und in den Pseudoledersesseln langweilten sich kleine Gruppen von Touristen, die sich im Flüsterton unterhielten, abgeschirmt gegeneinander durch niedrige Gepäckwälle. Es war kurz vor Mittag, das Restaurant war fast leer, Stille zwischen den Stürmen. Er blieb in der Tür stehen und schaute sich um. Drüben an der Wand, dem Eingang genau gegenüber, saß Pat. Sie blickte nicht auf, ihre Augen waren auf ein Glas roten Weines gerichtet, das sie an dächtig zwischen zwei Fingern drehte. Er spürte, daß sein Herz ein wenig schneller schlug. Es war also doch noch nicht alles überwunden. Selbst jetzt war noch nicht alles vorbei. Obwohl es doch keinen Grund für die Fortsetzung ihrer Bekanntschaft mehr gab. Aber wann hätten sich seine Gefühle schon um rationale Er wägungen gekümmert. Er würde es nie lernen, sich leichten Herzens zu trennen. Als er sich zu ihr setzte, sah sie auf. Ihre Augen wirkten seltsam leer, und es dauerte eine Weile, bis das Leben in sie eindrang. »Du reist ab?« fragte Pat schließlich. »Weshalb so schnell?« Sie mußte es an seinem Anzug erkannt haben, oder daran, daß er jetzt entgegen seiner Gewohnheit eine Krawatte trug, und vielleicht auch an seinem Gesicht. Es schien ihr wirklich nahezugehen, daß sie sich nun endgültig trennen mußten. »Ich habe hier nichts mehr zu tun«, sagte er. »Der Kongreß ist vorbei.« Er blickte auf ihre Hand, die sich langsam zu ihm herübertastete, und plötzlich war er überzeugt, daß ihr die Trennung vielleicht noch schwe rer wurde als ihm.
»Und deine Aufgaben? Alles abgeschlossen? Erledigt? Vorbei?« fragte sie mit tonloser Stimme. Noch vorgestern wäre er bei einer solchen Fra ge sehr hellhörig geworden, aber jetzt spürte er deutlich, daß sich dahin ter nichts Rationales verbarg, allenfalls eine Gefühlsregung, die Pat wahr scheinlich selbst nicht hätte erklären können. Er begriff das Ganze eigentlich nicht. Die einzige Erklärung, die er für ihr Verhalten zu finden vermochte, lief darauf hinaus, daß sie sich trotz ihres Metiers einen Rest von Gefühl bewahrt hatte und daß sie ausge rechnet ihm gegenüber eine unerklärliche Adhäsion empfand. »Abgeschlossen eigentlich nicht«, sagte er. »Abgebrochen. Ohne Erfolg abgebrochen. Leider.« Sie blickte bekümmert, aber gerade dieses unmotivierte Mitgefühl zwang ihr ein erstes kleines Lächeln in die Augenwinkel. »Das tut mir leid«, sagte sie mit Wärme in der Stimme. »Ich hätte dir Erfolg ge wünscht, Holger.« Er glaubte ihr. Weshalb auch sollte sie heucheln? Sie hatte keinen Grund. Und auch sonst sprach alles dagegen, ihre Haltung, ihr Gesicht, ihre Hand, die auf seiner Hand lag, einfach alles. »Zwischen uns war vieles so anders«, flüsterte sie. »Es war so… so echt. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst.« Ihre Stimme war leise und dunkel, und er wußte, daß sie fühlte, was sie sagte. Vielleicht hatte sie ihn wirklich geliebt. Vielleicht gab es das wirk lich, diese unerklärliche, fast selektive Anziehung, die sich nur auf einen, einen einzigen Partner zu konzentrieren vermochte. Mit einiger Anstrengung zwang er sich in die Wirklichkeit zurück. »Ich bin gekommen, um mich von dir zu verabschieden«, erklärte er überflüs sigerweise. »Nach menschlichem Ermessen werden wir uns niemals wie dersehen. Und deshalb möchte ich…« Mit einer schnellen Bewegung legte sie ihm die Finger auf die Lippen. »Nicht so förmlich, Holger«, bat sie. »Sag doch einfach, daß du… daß du mich… nicht vergessen wirst. Sag nur das! Nicht mehr als das.« Wortlos schüttelte er den Kopf. Nein, er würde sie nicht vergessen. Er würde sie nicht vergessen können.
Noch einmal lächelte sie. Er sah ihr an, daß sie sich dazu zwingen mußte, dann hauchte sie ihm einen Kuß auf die Wange, stand auf und verließ das Restaurant. Ihre Schritte wirkten fest und sicher. Während er die Abreiseformalitäten an der Reception erledigte, die Fra gen des Uniformierten, ob es ihm in London gefallen habe, ob der Kon greß gut verlaufen sei und ob er hier Freunde gefunden habe, mecha nisch beantwortete und die Rechnung zahlte, kehrten seine Gedanken zu Pat zurück. Ihr Kummer war echt, zweifellos, sie hatte keinen Grund, sich zu ver stellen. Zu erklären vermochte er sich ihr Gefühl allerdings nicht. Und vielleicht gab es da auch nichts zu erklären, Menschen ließen sich eben nicht in Formen pressen wie Tonfiguren. Wenn er da nur an den Inspector dachte. Der ganze Mann war ein ein ziger Widerspruch. Auch Blake paßte scheinbar weder in diese Welt noch zu seiner jungen Frau, sein Charakter stand in krassem Gegensatz zu seiner Art, sich zu geben, und der Drang nach dem, was man in die sem Land als eine gutbürgerliche Existenz bezeichnete, mutete ange sichts der beiden Blakes wie ein Witz an. Denn dieser Roger Blake war ja wirklich ein prachtvoller Mensch. Ihn könnte man, fand Roßberg, sich sehr gut als Freund vorstellen, als so einen, mit dem man durch dick und dünn gehen könnte, dem man Dinge anvertrauen könnte, über die man sich selbst noch nicht im klaren war, Ängste, Zweifel vielleicht, oder auch geheime Freuden. Nun, Blake würde noch ein einziges Mal seinen Weg kreuzen und dann für immer aus seinem Leben verschwinden, verschwinden müssen, weil er in einer Welt lebte, deren Entfernung von seiner eigenen nicht in Ki lometern, sondern in Jahrhunderten zu messen war. Erst wenn man all diese Dinge in ihren Relationen zueinander betrachtete, erkannte man, daß Blake in dieser Stadt eigentlich genau am richtigen Platz war, hier, in diesem Land, dessen Oberschicht nichts anderes war als im Licht der Medien tanzende Puppen, an deren Fäden diejenigen zogen, die sich in den Direktionszimmern der London Pharmacal und all der anderen Machtzentren eingenistet hatten. Und leider reichten diese Fäden auch bis zu Roger Blake.
»…gegen dreiundzwanzig Uhr, Mister Roßberg.« Der Uniformierte schob einen kleinen Zettel über den Tresen, der am oberen Rand den stilisierten Pfeil der größten englischen Luftfahrtgesellschaft trug. »Pardon! Ich war in Gedanken. Würden Sie bitte wiederholen.« Der Bedienstete zog die dünnen Brauen um ein winziges Stück in die Höhe. »Ich habe Ihnen soeben«, erklärte er in bedauerndem Tonfall, »auseinandergesetzt, daß die Abendmaschine erst gegen dreiundzwanzig Uhr geht. Sie hatten ausdrücklich auf dem letzten Flug dieses Tages be standen. Bitte erinnern Sie sich. Wollen Sie das Zimmer…« Roßberg wehrte ab. Er mochte nicht länger im Zimmer hocken. Er mußte an die Luft, sich den Wind um die Stirn wehen lassen. Nachden ken. Seit Stunden formte sich in ihm ein Gedanke, den er nicht Hoffnung zu nennen wagte, nebelhaft zuerst, ein kaum erkennbares Wölkchen, verdichtete er sich mehr und mehr, je länger er sich mit ihm befaßte. Obwohl er sich in Minuten nüchterner Überlegung sagte, daß diese seine allerletzte Möglichkeit kaum größer als Null sein konnte. Und doch! Ein vages Gefühl sagte ihm, daß Blake reif war. Eine Einladung für die Mittagsstunde paßte nicht zu dem Blake, den er kannte. Nicht zu einem Beamten, der gezwungen war, von morgens bis abends um seinen Stuhl zu kämpfen. Etwas mußte geschehen sein. Und wenn nicht? Wenn der Nebel zergehen würde wie Dunst vor der aufsteigenden Morgensonne? Dann würde er einfach noch einen Tag bei Blake und dessen junger Frau verbringen, mit ihnen zusammensitzen und plaudern. Über alles mögliche. Es gab so vieles, das ungesagt geblie ben war, das zurückgedrängt worden war durch Unerfreuliches und Be lastendes. »Nein, nein!« Er schüttelte den Kopf. Jetzt wollte er dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. »Sorgen Sie nur dafür, daß mein Gepäck zum Flughafen gebracht wird.« Eine Minute später trat er hinaus in die nebelverhangene Stadt. Feiner Regen fiel, drang durch die Kleidung und machte trotz der Jahreszeit frösteln. Die Kunstbäume neben dem Barbican trieften vor Nässe.
Wie eine Schleimschicht legte sich der Regen auf Stirn und Wangen, wie kalter, klebriger Schweiß. Es war ein abscheuliches Gefühl, so mußte einem Menschen zumute sein, der tagelang keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu waschen. Die oberen Etagen der Gebäude waren in un durchdringliche Schleier gehüllt, wie feuchte, graue Tücher hingen die Fassaden im Dämmer. Roßberg hatte den Regenumhang fest um die Schultern gezogen und bis an den Hals geschlossen. Er ging langsam durch den Dunst, hin und wieder großen Pfützen ausweichend. Obwohl er Regen eigentlich nicht mochte, konnte er sich nicht entschließen, eines der öffentlichen Ver kehrsmittel zu benutzen, bis zu einem gewissen Grad bereitete ihm die Übereinstimmung des Wetters mit seiner Gemütslage sogar Genuß. Er fühlte wie jene Pessimisten, die selbstverschuldetes Unheil mit schmerz licher Genugtuung hinzunehmen pflegen. Sein Weg führte ihn vorbei an Giebelwänden, Mauern und Fassaden, von denen herab ihn noch gestern die grellen Farben der Reklamen an gesprungen hatten und deren Glanz heute erloschen war, deren aufdring liche Pracht sich hinter Dunst und Regen verkrochen hatte. Er sah Beschäftigungslose, die unter Torbögen hockten und um Mün zen spielten, Dirnen in Hauseingängen, kurzberockte Mädchen mit kind lich unfertigen Gesichtern und schlampige Weiber, deren grell bemalte Münder ihm Obszönitäten nachriefen. An einer Straßenecke tanzte ein dunkelhäutiger Musikant, bärtig und ungekämmt, ringsum mit phantasti schen Instrumenten behängt. Der Bärtige sang und tanzte für sich allein, von keinem beachtet, stampfte er durch den Regen, daß das Wasser un ter seinen zerschlissenen Schuhen aufspritzte, Hemd und Hose klebten ihm auf der Haut. Auf seinem Gesicht irrlichterte das glückliche Lächeln der Narren. Eine Sphäre aus Wahn umgab ihn wie ein schützender Ko kon. Ein halbwüchsiger Bengel sprach Roßberg an, ein magerer Bursche mit dunkler Haut und Augen wie Kohlen. Der Knirps bot ihm allen Ernstes seine dreizehnjährige Schwester an und rühmte deren Vorzüge und Künste in lauten Worten. Das war so ekelhaft, so ungeheuerlich, daß Roßberg nur mit Mühe den Drang unterdrücken konnte, in dieses unge waschene Gesicht mit den großen, brennenden Augen hineinzuschlagen.
Dann aber sah er den Hunger und die Verzweiflung in diesen Augen, er kramte eine Münze aus der Tasche und warf sie dem Jungen zu. Der fing sie geschickt auf, blickte mit einem Ausdruck überschäumender Freude auf das blanke Metall und rannte jubelnd davon. Da kehrte Roßberg dem allen den Rücken und hastete die Straße ent lang in die Richtung, aus der ihm der Verkehrslärm wie das Säuseln eines lange entbehrten Windhauches entgegenklang. In die Erleichterung, dem Entsetzen entronnen zu sein, mischte sich bald Erbitterung. Mußte es nicht wie Hohn erscheinen, daß er ausge rechnet in dieser Stadt ein Phänomen wie das Eden-Syndrom aufzuklä ren versuchte? Was und wem nützte es schon, gelänge es ihm wirklich? Glich er nicht jenem bedauernswerten Toren, der die Zeit zu besiegen glaubte, indem er die Uhren anhalten ließ? An einer der nächsten Straßenecken erwischte er eine Taxe, ein alter tümliches Vehikel mit Verbrennungsmotor. Er lehnte sich aufatmend in die zerschlissenen Polster zurück und ignorierte das Grinsen des Fahrers, der sehr wohl bemerkt hatte, aus welcher Gegend sein Fahrgast Hals über Kopf geflohen war. Gemächlich grummelte das Gefährt durch den Verkehr der Innenstadt, und Roßberg hätte es niemals für möglich gehal ten, daß er sich in einer solchen Sardinenbüchse derart wohl fühlen konnte, wie nach diesem Marsch durch eine der modernen Höllen der menschlichen Zivilisation.
16
Die Häuser von Wanstead Plates duckten sich unter der Nässe des frü hen Nachmittags. Die Straßen lagen still und menschenleer, der ganze Stadtteil wirkte wie ausgestorben. Auch das Haus, in dem die Blakes wohnten, sah aus, als hätten es die Bewohner längst verlassen, die meis ten der Jalousien waren herabgelassen, und die Fenster blickten stumpf wie erloschene Augen. Die beiden Rotoren der Windmaschine reckten sich bewegungslos und stumm in den tiefhängenden Dunst. Über die lackschwarzen Flächen der Sonnenkollektoren flossen trübe Rinnsale. Auf der Straße stand der korallenrote Minx des Inspectors. Ein ungewöhnliches Zeichen, konstatierte Roßberg. Solche Sportfahr zeuge waren Statussymbole, teure Spielzeuge, die man nicht gern den Wetterunbilden aussetzte. Und soviel Roßberg wußte, hatte dieser Wa gen bisher auch stets gut konserviert in der Garage gestanden. War das nicht ein Zeichen? Nichts regte sich hinter den verhängten Fenstern des dritten Stockes. Auch dann nicht, als er mehrmals die Türglocke betätigt hatte. Das Haus blieb still und die Fenster leer und blind. Schließlich wandte er sich zum Gehen, das Ganze erschien ihm höchst eigenartig. Er nahm sich vor, die Zeit bis zum Abflug in irgendeinem Restaurant in der Nähe zu verbringen und hin und wieder bei den Blakes anzurufen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Blake eine Verabredung einfach vergaß. Außerdem wäre es bedauerlich, träfe er den Inspector nicht mehr an. Nicht nur, weil damit auch der letzte Schimmer von Hoffnung dahin wäre, sondern auch, weil ihm dieser hemdsärmlige Bla ke tatsächlich ans Herz gewachsen war. Zögernd blieb er neben dem Minx stehen und umfaßte dessen wuchti ge Eleganz mit einem langen Blick. Da hörte er hinter sich ein Geräusch und ein gedehntes »Hallo!« Petula Blake stand in der Haustür. Sie trug einen hellen Mantel, einen Morgenmantel offensichtlich, unter der hochgeschlagenen Kapuze
flammten ihre rötlichen Locken. Ein eigenartig weiches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Hallo!« wiederholte sie. »Wie schön, daß Sie gekommen sind.« Sie bat ihn herein, indem sie schweigend zur Seite trat, und während er neben ihr die Treppen hinaufstieg, spürte er, daß sie anders war als vor gestern, aber er wußte nicht, wie und weshalb. »Ich werde Roger rufen«, sagte sie in der Diele und ging voran. Sie ging gemessenen Schrittes, all die Hektik, die ihr Wesen neulich noch be stimmt hatte, schien von ihr abgefallen zu sein, all das, was er als kindlich und unausgeglichen empfunden hatte. Petula war ganz Frau und von einer ruhigen Sicherheit, die bewies, daß sie sich ihrer Vorzüge bewußt war. Der Inspector trug lediglich einen Hausmantel, unter dem seine nack ten, lächerlich blassen Beine hervorschauten. Und überdies war er von ausnehmend alberner Heiterkeit, die durch sein ständiges, süffisantes Grinsen bis zum Grotesken gesteigert wurde. Er beklopfte Roßbergs Schultern und Rücken, als wäre der ein alter Freund, der nach vielen Jahren der Abwesenheit endlich wieder aufgetaucht war, nannte ihn sei nen Kumpel und forderte ihn auf, Jacke und Krawatte abzulegen. Seinen eigenen Aufzug erwähnte er mit keinem Wort, er tat, als hätte er in sei nem Leben Gäste niemals anders empfangen als mit einem Morgenman tel bekleidet. Hin und wieder wandte er sich an seine Frau mit ein paar Worten oder Gesten, mit Nichtigkeiten zumeist, deren Banalität in Erstaunen setzte, und dabei verschlang er Petula förmlich mit Blicken. In solchen Momen ten glaubte Roßberg, er müsse unverzüglich gehen, müsse die beiden augenblicklich ihren eigenen Angelegenheiten überlassen, Angelegenhei ten, bei denen ein Dritter mehr als nur stören würde. Aber Roßberg blieb. Er beobachtete den Inspector mit einer Mischung aus Interesse und heimlicher Freude, in die sich jedoch, je ungehemmter sich Blake gebärdete, mehr und mehr ein Gefühl mischte, wie man es haben mochte, wenn man einem Freund einen bösen Streich gespielt hatte.
Im Verlauf des Nachmittags normalisierte sich Blakes Zustand wieder. Zuerst verebbten die genüßlichen Blicke auf Petula, später verschwand auch das Grinsen, und schließlich stand er auf, blickte an sich herab, als sei er zutiefst erstaunt, murmelte eine Entschuldigung und verließ das Zimmer. Die junge Frau aber blieb sie saß bequem in ihren Sessel zurückgelehnt und ließ den Gast nicht aus den Augen. Die Kapuze ihres Morgenman tels hatte sie zurückgeschlagen, hin und wieder führ sie sich mit gespreiz ten Fingern durch die kurzen, roten Locken. »Ich glaube, Mister Roßberg«, sagte sie schließlich leise, »daß wir das nur Ihnen zu verdanken haben.« Er war so tief in seine Betrachtungen versunken, daß er zusammen zuckte. »Was bitte, haben Sie mir zu verdanken?« »Nun, diese Veränderung«, erklärte Petula und nickte ernsthaft. »Es ist wirklich wie ein Wunder. Glauben Sie mir, Mister Roßberg. Es ist, als sei Roger ein ganz anderer Mensch geworden, so kenne ich ihn nicht einmal aus den ersten Monaten unserer Ehe. Seit Sie hier bei uns zu Besuch waren, scheint er um Jahre jünger geworden zu sein. Es ist direkt un heimlich. Es ist… ich kann es nicht anders nennen… es ist ein Wunder.« Roßbergs Gedanken kreisten. Das alles paßte genau zusammen. »Kön nen Sie mir denn sagen, in welcher Weise sich sein Verhalten geändert hat? Ich meine, wie er heute… im Gegensatz zu früher…« Er tat sich schwer mit einer solchen Frage, denn er war sich der Tatsache bewußt, daß er damit Gebiete berühren konnte, die über das bei üblichen Kon versationen Besprochene hinausgingen. Und wirklich zeigte sich auf dem Gesicht der jungen Frau eine Spur von Röte. »Er ist ganz anders als früher«, sagte sie, und man merkte ihr deutlich eine gewisse Erregung an. »Aber das beschränkt sich auf keinen besonderen Bereich, wenn Sie das meinen. Sehen Sie, Mister Roßberg! Gestern abend waren wir sogar im Theater. Es war wundervoll. Man gab das Stück irgendeines alten Deutschen. Den Namen habe ich vergessen. Tut mir leid. Aber Sie müssen wissen, daß ich vorher noch nie im Thea ter gewesen bin. Ich glaube, ich habe geweint… nein, ich habe sogar bestimmt geweint. Ich war sehr gerührt. Der junge Mann und die schöne
Lady haben sich vergiftet. Es war wundervoll traurig, Mister Roßberg. Und…« Sie kam ins Schwärmen, und er unterbrach sie nicht. Er war fasziniert von ihrer unverbildeten Art, klassisches Theater zu interpretieren. Sie tat das mit der gleichen Anteilnahme und den gleichen Worten, mit denen sie über ein Footballmatch, ein Hunderennen oder die neuesten Geträn kekreationen der Korns geplaudert hätte. Doch irgendwann unterbrach sie ihre Schilderung und versank in Gedanken. Erst nach Minuten blickte sie auf, und sie sah aus, als kehre sie aus einer weit entfernten Welt von wunderbarer Pracht zurück. Ihre Augen leuchteten. »Weiter!« verlangte er. »Erzählen Sie mir mehr. Was ist Ihnen an Roger aufgefallen?« »Er ist ganz anders. So, so… heiter, wenn Sie wissen, was ich meine«, sagte sie, und es klang, als wäre das für sie von ungeheurer Wichtigkeit. »Er gibt sich wie ein ganz junger Mann. Gestern hat er sogar den Wagen aus der Garage geholt. Und heute mittag, als er nach Hause kam, da…« Sie stockte, und er hielt es für richtig, einzugreifen. Man mußte sie nur ansehen, um zu wissen, was geschehen war. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, sagte er, und er glaubte Enttäuschung in ihren Mienen zu erkennen. »Vielleicht…« »Glauben Sie denn nicht, Mister Roßberg«, sagte sie aufgeregt, »daß es für eine Frau wichtig ist, einen Mann zu haben, der… der… nun, Sie wissen bestimmt, was ich meine. Und das alles haben wir eigentlich Ih nen…« Er nickte. »Doch, doch!« bestätigte er, und wieder liefen ihm die eige nen Gedanken davon. »Bestimmt ist das sehr wichtig. Vielleicht sogar das Wichtigste. Und sicherlich nicht nur für eine Frau.« Er hatte nie gedacht, daß Petula Blake so verschämt lächeln konnte. Der Inspector hatte sich umgezogen. Er trug jetzt seine bequeme Hausjacke und dazu ein helles Hemd mit dunkler Fliege. Außerdem eine schmale schwarze Hose mit Streifen und Pseudoledersandalen. Blake schien sich erinnert zu haben, was man in seinen Kreisen dem Gast schuldig war.
Blake spielte den Unbekümmerten. Oder er war wirklich unbeküm mert. Was bedeuten würde, daß ihm sein eigenartiger Aufzug gar nicht bewußt geworden war. Er ging schnurstracks auf einen der Wandschrän ke zu, öffnete die Klappe und musterte, sich halb umwendend, seinen Gast aus schmalgekniffenen Augen. »Was möchtest du trinken?« fragte er, und dann zählte er auf, was seine Bar an hochprozentigen Getränken zu bieten hatte. Es waren Namen, die das Herz eines Kenners wohl höher schlagen lassen würden, aber erstens fühlte sich Roßberg nicht als Kenner, und zweitens hatte er das Ablenkungsmanöver längst durchschaut. Den Nachmittag verplauderten sie tatsächlich. Alles war so, wie Roßberg es sich vorgestellt hatte, sie berührten alle möglichen Themen, ohne auch nur ein einziges auszudiskutieren. Aber gerade dieses unverbindliche Geplauder schuf mehr und mehr Elemente der Gemeinsamkeit. Und langsam gab Roßberg den Gedanken, der Zufall könnte ihm güns tig gesonnen sein, auf. Es unterlag keinem Zweifel, daß Blake die Tablet ten genommen hatte, anders wäre sein aufgekratzter Zustand kaum zu erklären gewesen. Aber ebenso sicher schien, daß auch bei ihm nicht die Wirkung eintrat, auf die Roßberg gehofft hatte. Als sich draußen vor den Fenstern die Dämmerung senkte, stand Roß berg auf. »Es wird Zeit für mich«, sagte er, und etwas wie Abschieds schmerz überkam ihn, ein Gefühl, das er nach allem nicht mehr für mög lich gehalten hätte. »Nun ja«, sagte Blake schleppend und erhob sich ebenfalls. »Das läßt sich wohl nicht ändern. Es war gut, daß wir uns kennengelernt haben. Vielleicht wirst du mir mal schreiben. Irgendwann…« Er ging zur Tür. »Ich werde dich jetzt hinaus nach Heathrow fahren.« Petula war anscheinend sehr gerührt. Als sie Roßberg umarmte, hatte sie Tränen in den Augen. »Laß bitte bald von dir hören, Holger«, bat sie, unvermittelt zum Du übergehend. »Wir haben dir so viel zu verdanken. Vielleicht… vielleicht könnten wir uns eines Tages wiedersehen… in Berlin… nächstes Jahr oder übernächstes. Oder…«
Sie blickte fragend auf ihren Mann, doch der war angelegentlich mit seiner Jacke beschäftigt. Aber die Falten, die sich um seinen Mund ge graben hatten, ließen erkennen, daß er ihre Frage sehr wohl gehört hatte. »Also, dann laß uns jetzt fahren«, sagte er.
17
Wie ein unendlich langes, schnurgerades Band gleitet der Highway unter dem Wagen hindurch. Die Scheinwerfer fressen einen Tunnel aus Licht in die Finsternis. Es regnet noch immer. Hin und wieder wirbeln Fetzen nassen Papiers wie unvermittelt aufzuckende Blitze vor die Windschutz scheibe. Sie erinnern an vorzeitliche Tiere, die einen winzigen Moment lang im ungewohnten Licht erstarren, ehe sie in panischem Schrecken in die Dunkelheit seitlich der Straße fliehen. Da bringt er also nun diesen Mann, den er sich ganz gut als seinen Freund vorzustellen vermag, zum Flughafen. Begleitet ihn auf dem letz ten Stück eines Weges, der ihn zurückführen wird in eine Welt, die er selber nur vom Hörensagen kennt, die grau und trist und reglementiert sein soll und die doch von diesem Mann ganz anders geschildert wird. Er hat schon in gewisser Beziehung recht, dieser Holger Roßberg. Durchaus nicht alles läßt sich in gut und böse, in richtig und falsch oder in schön und häßlich einordnen, man muß schon das Ganze in Betracht ziehen, das System, wie Roßberg es zu nennen pflegt. Man mag zu den Dingen stehen, wie man will, es ist wohl nicht zu bestreiten, daß es bei denen dort drüben humaner zugeht, vielleicht auch ruhiger, bestimmt aber füh len sich die Leute dort sicherer. Aber vielleicht ist gerade diese Sicherheit der Faktor, der die Effektivi tät des Systems dort drüben belastet. Zugunsten der Humanität verzich tet man auf die natürlichen Bedingungen, auf das Prinzip der Auslese. Und dabei hat sich doch gerade das freie Spiel der Kräfte als der Ur sprung der Produktivität erwiesen. Und selbstverständlich auch als Grund für die tiefgreifenden Differenzen in der Lebensqualität, die eine Leistungsgesellschaft nun mal braucht, um funktionieren zu können. Man hat sich also mit dem Wolfsgesetz abzufinden. Wenn das auch manchmal schwerfällt, wenn das auch dazu führt, daß man sich selbst bis an die Leistungsgrenze zu belasten hat, will man überleben. Und wenn es auch dazu führt, daß man dem Freund nicht zu helfen vermag, weil es Grenzen absteckt, dieses Gesetz, die man nicht überspringen kann, ohne
sich den Hals zu brechen. Es gehört auch dazu, daß man den Stärkeren akzeptiert. Es ist verdammt finster geworden. Und die nasse Fahrbahn schluckt das Licht der Scheinwerfer und zerfasert es in eine Unmenge leuchtender Splitter. Ein Geruch von feuchtem Moder und Asphalt weht durch die Lüftungsanlage herein, ein angenehmer Duft, der seltsam erfrischt. Er kurbelt die Fenster herunter und saugt, sich weit nach rechts hinüberleh nend, den würzigen Duft tief in die Lungen. Die Lichter des Knotenpunktes Shepherds Bush fliegen vorüber. Drü ben auf der rechten Seite blinken die grellrosa Leuchtreklamen des Mo tels von White City in abgehackten Intervallen. Sie haben den mittleren Ring passiert, und ab hier wird der Verkehr wieder dichter. Durch die geöffneten Fenster huschen die Lichtreflexe der entgegenkommenden Fahrzeugschlange. In die angenehme Frische mischt sich der herbe Ge ruch heißer Elektromotoren und der beißende Gestank verbrannten Treibstoffes. Hinter ihm blendet ein Fahrzeug auf, einen Augenblick lang füllt Ta geshelle die Kabine. Dann weichen die Lichter des Verfolgers nach rechts aus und kommen langsam näher. Man hört das Röhren der auf Vollast laufenden Turbinen. Es genügt, den Druck auf das Pedal ein wenig zu verstärken. Kna ckend schaltet sich die Geschwindigkeitsregelung aus, auf dem Armatu renbrett erlischt das blaue Licht, und das Heulen der Aggregate steigt um einen kaum wahrnehmbaren Betrag die Tonleiter hinauf. Die Lichter des Verfolgers kommen noch ein Stück näher, verharren sekundenlang auf gleicher Höhe und fallen wieder zurück. Auch das ist ein Teil des Wolfs gesetzes. Wer sich überholen läßt, taugt nicht zum Kampf ums Überle ben. Der Gedanke verursacht ihm einen Stich in der Brust. Was ist das schon für ein Kampf? Ein Kampf mit ungleichen Mitteln, ein Spiel mit gezinkten Karten, ein Lavieren zwischen mahlenden Steinen. Kampf? Er lacht auf. Ist er nicht selbst zurückgewichen, als es darauf ankam? Neu lich, als er den Beweis auf dem Schirm hatte, daß die London Pharma cal…?
Selbstverständlich hat der Überfall seinem Freund gegolten. Aber die jenigen, die ihn angeordnet hatten, sind eine Nummer zu groß für einen einfachen Inspector. Wieder lacht er unfroh auf. Er blickt nach links, forscht in des anderen Augen nach einer Spur von Unwillen, aber er sieht nur eine unausgesprochene Frage und ein wenig Sorge. Mag der Freund nur aufpassen, mag er sich nur genau merken, wie man einen solchen Kampf zu führen hat. Auch in seiner Welt müssen sich derartige Methoden letztlich auszahlen. Man darf sich nicht abhän gen lassen, verdammt noch mal! Man muß die anderen abhängen. Alle! Auch den dort vorn muß man hinter sich lassen. Er ist schließlich ein Gegner wie all die anderen auch. Alle muß man überholen, einfach alle! Unvermittelt schert er nach rechts aus und tritt das Pedal durch bis zum Anschlag. Ein sanfter Druck preßt seine Schultern gegen die Rü ckenlehne, ein wundervoller Druck, der Kraft und Überlegenheit doku mentiert, der Sieg verheißt. Die Motoren wimmern jetzt um mindestens eine Oktave höher. Die Scheinwerfer reißen einen schlanken, lackglänzenden Körper aus der Dunkelheit und lassen ihn wieder zurücksinken in Schwärze und Vergessen. Geschafft, vorbei! Ein Wolf weniger. Er stimmt ein schallendes, triumphierendes Gelächter an. Und aber mals blickt er zur Seite. Der da neben ihm sitzt, der schüttelt den Kopf, und in seinen Augen zeigt sich deutlich Verwirrung. Es ist amüsant, ihn staunen zu sehen, man weiß, daß der einem solchen Kampf nicht ge wachsen wäre. Und deshalb lacht Blake noch lauter, als der andere fragt: »Was soll das, Roger? Weshalb dieser Unfug?« Ach, dieser grüne Junge. Dieser Holger Roßberg hat doch nicht die mindeste Ahnung von den Spielregeln. Wie kann ein Mann den Kampf um die Spitze als Unfug bezeichnen? Was kann das schon für eine Welt sein, in der sich solch lebensuntüchtige Burschen, wie der da einer ist, eine Existenz aufzubauen vermögen? Es sei eine Welt ohne Existenz kampf, hat er gesagt. Welch ein Blödsinn! Eine Welt ohne Kampf ist auch eine Welt ohne Siege. Und vor allem ohne Sieger.
»Unfug?« ruft er, und seine gute Laune erreicht ihren Höhepunkt. »Hast du wirklich Unfug gesagt? Du kennst eben unsere ungeschriebe nen Gesetze nicht, mein Lieber.« »Aber welchen Sinn soll das haben? Hier und jetzt auf der Straße? Die se fünf oder bestenfalls zehn Minuten…« »Aber das hat immer und überall Sinn«, versucht er den anderen zu ü berzeugen, obwohl er längst nicht mehr damit rechnet, daß ihm das noch gelingen könnte. »Du mußt stets auf dem Sprung sein«, sagt er nachsich tig. »Du darfst nie ruhen. Immer mußt du die anderen im Auge behalten, ihre Schwächen ausrechnen, und stets mußt du als erster zuschlagen. Alles hängt davon ab, ihnen zuvorzukommen. Hörst du? Du mußt stets als erster reagieren. Merk dir das! Überall vorn sein, das ist lebenswich tig!« Doch der andere zuckt nur die Schultern. Er will es nicht einsehen. Vielleicht kann er das auch nicht, vielleicht hat er bisher überhaupt nicht gelebt, hat lediglich im Schoß seiner Gesellschaft dahinexistiert wie ein Embryo im Leib der Mutter. »Ich begreife das nicht«, murmelt der neben ihm. »Wir haben doch noch eine Menge Zeit. Meine Maschine…« Es ist schon so, wie er vermutet hat. Der da, der wird das nie verste hen. Es liegt jenseits all seiner Erfahrungen. Der weiß nicht, daß es dem Untergang gleichkommen kann, wenn man sich treiben läßt. Wie soll man dem nur deutlich machen, daß schon ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit oder gar des Nachgebens zu einer Niederlage führen kann, zu der Niederlage an sich, zu einer nicht wiedergutzumachenden Niederlage? »Mit einer solchen Mentalität wirst du immer zu den Verlierern gehö ren«, erklärt er geduldig, und er bemüht sich, allen Ernst, dessen er fähig ist, in seine Stimme zu legen. »Nicht einen Auftrag wirst du optimal lö sen können, wenn du deine Gegner schonst. Oder wenn du glaubst, du hättest noch genügend Zeit, andere, vielleicht wertvollere Siege zu errin gen. Denn du hast keine Zeit, mein Lieber. Niemals hast du auch nur annähernd genügend Zeit. Sie ist die knappste Sache der Welt. Man muß mit ihr rationell umgehen. Man muß sie nutzen. Erst, wenn du dich aus dieser Welt zurückziehen wirst, steht dir genügend davon zur Verfügung.
Aber was willst du dann noch mit ihr anfangen? Begreifst du nicht, daß deine ganze Humanitätsduselei widernatürlich ist? Daß sie nichts zeugt als lebensuntüchtige Weichlinge? So ist das, mein Lieber!« Ungeahnte Kräfte fühlt er auf sich einströmen, und plötzlich ist er ü berzeugt, daß ihm alles gelänge, nähme er es in Angriff. Er streckt den Arm aus und berührt des anderen Schulter. »Und deinen verdammten Miller-Bixly, den werde ich mir auch greifen, verlaß dich drauf. Ich wer de es ihnen zeigen. Diese hochnäsige Mrs. Hattigan wird vor mir auf den Knien liegen, auf den Knien. Soll ich dir das Protokoll des Verhörs schi cken?« Aber der andere antwortet nicht. Mit verbissenem Gesicht starrt er ge radeaus, nach vorn, wo die Scheinwerfer ein Stück Welt aus der alles verhüllenden Dunkelheit reißen. Etwas mit den Scheinwerfern ist nicht ganz in Ordnung. Man wird sie wohl neu einstellen lassen müssen. Der Lichtbalken ist seltsam gebogen, so, als träfe er zwar in der richtigen Entfernung vor dem Wagen auf die Fahrbahn, knicke dort aber nach oben ab und verliere sich irgendwo in den dichten Regenschleiern. Und auch das Armaturenbrett wirkt seltsam geschwungen, wahrscheinlich das Ergebnis des von hinten einfallenden Lichtes der folgenden Fahrzeuge, der Verfolger. Und wieder tritt er das Pedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen ruckt an und beschleunigt heftig. Unsicher blickt er zur Seite. Ist das da neben ihm denn überhaupt noch Roßberg, der nette Junge? Oder sitzt da jetzt ein ganz anderer? Ist das noch das ebenmäßige Gesicht mit den gesammelten Zügen und den Locken über der Stirn? Verdammt noch mal! Er muß sich zusammenreißen. Muß auf die Stra ße achten und auf die anderen. Der Wagen hinter ihm gibt Lichtsignale. Immer wieder hämmern die Lichtgarben in die Kabine. Selbstverständlich fährt er rechts auf der Ü berholspur. Wo soll er auch sonst fahren? Er denkt nicht daran, dem anderen den Weg freizugeben. Noch immer sind die Strahlen der Scheinwerfer bestürzend gebogen, und auf der Straße flimmern Lichtsplitter wie Millionen Glasperlen. Er versucht aufzublenden, aber er findet den Hebel auf der rechten Lenk radseite nicht sofort. Ein Schock durchzuckt ihn. Sein Koordinierungs
vermögen hat offensichtlich nachgelassen. So ist er gezwungen, den He bel, den er sonst blind, gewohnheitsmäßig gefunden hat, erst zu suchen. Und als er ihn dann endlich ins Auge gefaßt hat, da ähnelt der Hebel dem bekannten Bedienungselement mit dem trapezförmigen Griffstück überhaupt nicht mehr. Wie der schwach gekrümmte Schwanz einer gifti gen Viper ragt er seitlich aus dem Lenkstock. Ein plötzlich aufkommendes Gefühl panischer Furcht läßt seine Hand zurückzucken. Von überall her tastet sich Unbekanntes, Gefahrverhei ßendes an ihn heran. Übergangslos sticht links eine blendende Säule gelblichen Lichtes an ihm vorbei, reißt die vagen Konturen der Bäume am Straßenrand aus der Dunkelheit, bricht in die Kabine ein und füllt sie, durch die Reflexion des Rückspiegels bis an die Schmerzgrenze verstärkt, mit Helligkeit. Der Verfolger schert sich einen Teufel um die Verkehrsvorschriften. Mit heu lenden Turbinen jagt er auf der linken Fahrspur heran und ist im Nu auf gleicher Höhe. Im Hinüberblicken sieht man verzerrte Gesichter, Frat zen hinter getöntem Glas und drohend erhobene Fäuste. Noch einmal versucht er zu beschleunigen, und für einen Moment tau chen Fratzen und Fäuste zurück in die Dunkelheit, nur das Licht bleibt, das blendende Licht, das in den Augen schmerzt. Jemand, der links von ihm sitzt, schreit gellend auf. Er versteht die Worte nicht, aber er be greift, daß er ab jetzt auch im Wagen nicht mehr in Sicherheit ist. Er ist umgeben von Feinden, die alle nur darauf warten, daß er strauchelt. Ei nen Augenblick lang wendet er den Kopf nach links, und er sieht ein zorniges Gesicht, einen Mund, der schreit, und Hände, die sich gegen ihn erheben. Durch das offene Fenster dringt das hohe Wimmern der Tur binen des Verfolgers. Dann ist die Lichtflut plötzlich schon weit vor ihm, nur die roten Schlußlichter verraten noch den Weg des Siegers, die Kabine taucht un ter in gefährliche Finsternis voller Feinde und Bedrängnis. Der andere hat ihn überholt, hat sich als stärker erwiesen, als schneller und lebensfä higer. Er aber, Roger Blake, ist unterlegen. Verfluchter Kampf, verfluch tes Leben! Und der da neben ihm ist nicht besser als all die anderen. Ist auf sei nem Gesicht jetzt nicht der Anflug eines höhnischen Grinsens?
Was er jetzt dringend braucht, das ist ein Augenblick der Ruhe, ein Moment der Besinnung. Er muß sich zurückziehen, für wenige Minuten nur, um neue Kräfte zu sammeln. Danach wird er den Kampf erneut aufnehmen können, erneut aufnehmen müssen. Dann… Dann… Plötzlich riß Blake das Lenkrad herum und jagte den Wagen schräg über den Mittelstreifen hinweg auf die Gegenfahrbahn zu. Roßberg hörte und spürte, wie Steine und Erdbrocken gegen das Bodenblech polterten, dann faßten die Räder erneut ebenen Asphalt, jaulend stabilisierte sich das Fahrzeug, aber die Gefahr war längst noch nicht vorüber, im Gegen teil, jetzt rasten sie auf der falschen Fahrbahn dahin, mitten hinein in den Gegenverkehr, hinein in ein Chaos aus blendendem Licht, gellenden Hupen, Reifengewimmer, und immer wieder Licht, das von wenigen kurzen Phasen der Dunkelheit wie von schwarzen Blitzen unterbrochen wurde, Hupen, Licht… Dann endlich war Stille um sie her, eine geradezu unheimlich anmu tende Stille, der Wagen rollte auf der Standspur, langsam und immer langsamer, die entgegenkommenden Lichter waren längst außer Reich weite, wie durch ein Wunder waren sie durch die engen Maschen des Gegenverkehrs geschlüpft. Hin und wieder glitten neben ihnen die dun kel aufragenden Stämme alter Bäume vorbei. Aus weiter Ferne klang das Geräusch einer startenden Maschine her über. Roßberg blickte nach rechts. Blake hockte zusammengesunken hinter dem Lenkrad, sein Atem ging rasselnd, und wenn die Scheinwerfer ent gegenkommender Fahrzeuge die Kabine für einen Moment in schwaches Licht tauchten, dann sah man seine Augenlider flattern. Der Inspector blickte um sich wie ein gehetztes Tier, mit hin und her ruckendem Kopf, und seine auf dem Lenkrad liegenden Hände öffneten und schlossen sich. Etwas Dunkles, Unerklärliches glomm in Blakes Au gen, eine Mischung aus Furcht und Zorn vielleicht, wie in den Augen eines kleinen Raubtiers, das sich, in die Enge getrieben, zum letzten, ver zweifelten Sprung duckte. »Roger«, sagte Roßberg leise, und er versuchte seiner Stimme einen be schwörenden Klang zu geben. »Versuch dich zu sammeln, Roger. Tu
nichts Unüberlegtes mehr.« Und doch wußte er schon in diesem Mo ment, daß alles Reden nichts nützen würde. Blake rückte langsam nach außen, immer weiter an die Tür heran, Zen timeter um Zentimeter. Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Tür drücker aus. Sein Verhalten deutete darauf hin, daß er nicht mehr mit normalem Maß zu messen war. In seinen Augen blitzte ein Funke von Irrsinn. »Roger«, versuchte es Roßberg zum letztenmal. »Komm zu dir, Roger!« Diesmal sprach er lauter und fordernder. Aber es war wohl schon zu spät. Vielleicht aber gab auch der fordernde Tonfall den letzten Aus schlag. Blake warf sich gegen die Tür, die augenblicklich aufschwang, stürzte nach draußen, hinein in die Finsternis, er kam zu Fall, raffte sich aber sofort wieder auf und rannte auf die nächsten Alleebäume zu, die ersten Meter wie ein Tier auf allen vieren zurücklegend. Roßberg wußte genau, was geschehen würde, aber er stand wie erstarrt. Blake lief mit seltsam hoppelndem Trab, hin und wieder ließ er sich auf Hände und Knie nieder, aber auch in dieser Haltung bewegte er sich schnell und geschickt. Erst als der Inspector schon fast die halbe Strecke zurückgelegt hatte, fand Roßberg seine Handlungsfähigkeit wieder. In langen Sätzen folgte er dem Flüchtigen. Das Geräusch seiner Schritte veranlaßte Blake, einen Moment lang stehenzubleiben und sich umzublicken, dann streifte er die Jacke von den Schultern, warf sie weit von sich und rannte weiter. Und Roßberg mußte aus wenigen Metern Entfernung mit ansehen, wie der eilende Schatten vor ihm mit gewaltigem Satz an dem Baum em porsprang, wie er den untersten Ast zu fassen bekam und sich hinauf zwischen die ersten Zweige schwang. Von oben ertönte kollerndes La chen. Fast im gleichen Augenblick verhedderten sich Roßbergs Füße in der am Boden liegenden Jacke. Es hatte keinen Sinn, Blake weiter zu verfolgen. Und ebenso wäre es verlorene Zeit gewesen, hätte er unter dem Baum warten wollen, was weiter geschehen würde. Nichts würde geschehen. Zumindest bis mor gen früh nicht. Der Inspector würde an einer geschützten Stelle zwi
schen den Zweigen ein Nest bauen und dort die Nacht in einem tiefen Schlaf verbringen. Bis morgen früh gegen Sonnenaufgang würde er dort sehr gut aufgehoben sein. Erst dann würde er Hilfe brauchen. Und für Blake war psychische Hilfe wohl wichtiger als jede andere. Roßberg hob die Jacke auf und ging zurück zum Wagen, dessen Turbi nen noch immer im Leerlauf summten. Eine Minute später rollte er in mitten des in Richtung Stadt fließenden Verkehrsstromes dahin. Sein Entschluß war gefaßt. Er würde bis zum Motel in White City fahren, und von dort aus würde er das Nötige in die Wege leiten. Daß sich seine Ab reise nun um einige Tage verschob, störte ihn nicht mehr. Er tastete die auf dem freien Sitz neben ihm liegende Jacke ab. Es be durfte nur noch eines letzten, des endgültigen Beweises, dann war seine Aufgabe erfüllt, zumindest, was deren offiziellen Teil anbetraf. Aber jetzt wußte er auch, daß er es dabei nicht bewenden lassen würde. Mit der linken Hand erfühlte er einen kleinen, rechteckigen Gegenstand. Er tas tete ihn genau ab und fand, daß er exakt die von ihm vermutete Form und Größe hatte. Im Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge las er die Aufschrift. Er hatte sich nicht geirrt. Weit voraus tauchten die Lichter von White City auf.
EPILOG
Eigentlich war das Telegramm, das zwei Tage nach diesen Ereignissen im Hotel eintraf, schon nicht mehr von Belang. Aber es beseitigte die letzten Fragen. In der ursprünglichen Form muß te Actigen, wie Marek mitteilte, eine relativ harmlose Substanz gewesen sein, die die Aufgabe hatte, im Gehirn der Patienten die Bildung ganz bestimmter, zu den Ribonukleinsäuren zählender Eiweißstrukturen anzu regen, die, allgemein als Proteine oder Peptide bezeichnet, durch Veran lassung einer erhöhten Hormonproduktion körperliche Potenz und geis tige Vitalität fördern sollten. Allerdings war kaum noch nachprüfbar, ob das vor Jahren produzierte Actigen diese Aufgabe wirklich erfüllte oder ob es sich, wie bei so vielen anderen Präparaten, lediglich um ein Scheinmedikament handelte. Sicher war jedenfalls, daß es keine schädi genden Wirkungen besaß. Im Grunde genommen war auch das moderne Actigen nichts anderes, nur kam hier als alles entscheidender Umstand hinzu, daß es nicht an hand eines künstlich konstruierten Modells, sondern als Quasiabdruck der im lebenden Affenhirn eingelagerten Moleküle synthetisiert wurde, wobei der Computer mit so hoher Präzision zu Werke ging, daß auch Nebensubstanzen und Nebenstrukturen mitkopiert wurden. Und eben diese Nebensubstanzen, ebenfalls Kopien großmolekularer Verbindungen, lösten die ungewöhnlichen Verhaltensweisen der Betrof fenen aus. Dabei handelte es sich um einen ganz einfachen Mechanismus. Ei weißverbindungen, die ursprünglich das Langzeitgedächtnis und be stimmte Verhaltensweisen eines Affen realisierten, gelangten auf dem Umweg über das Actigen plus in Hirne der Patienten, lagerten sich dort an und führten folgerichtig zu ganz ähnlichen Aktionen und Reaktionen, wie sie bei den großen Affenarten zum normalen Verhaltensinventar gehörten. Daß die eingelagerten Substanzen in der Mehrzahl der Fälle lediglich Handlungsbereitschaft herstellten und daß es daher, um einen Ausbruch herbeizuführen, mindestens eines emotionsbedingten Kataly
sators bedurfte, war bereits zweitrangig. Angst, Streß und eine ganze Anzahl anderer Reize reichten aus, um den Verhaltensvollzug einzulei ten. »Tja, mein Lieber«, sagte Roßberg und legte dem ihm gegenüber sit zenden Blake die Hand auf die Schulter. »Jetzt kannst du dich wohl nicht mehr auf eine Epidemie herausreden. Dies ist nun wirklich eine Angele genheit der Staatsanwaltschaft. Zumal klar erwiesen ist, daß die Firma das Risiko kannte.« »Verfluchter Mist«, murmelte Blake. »Nicht nur, daß sie diese Tabletten verhökern, sie pumpen das Zeug auch noch in die öffentlichen KomAnlagen. Obwohl sie genau wissen…« Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Mann, wird das einen Wirbel geben.« Blake sah müde und abgespannt aus, aber in seinen Augen war ein ent schlossenes Funkeln. Blake würde nicht aufgeben. »Also dann«, sagte Roßberg. »Gehen wir an die Arbeit. Du wirst wohl noch wochenlang zu tun haben, Roger. Ich aber werde hier in London übermorgen meine letzte Schlacht schlagen.« Er deutete auf das Telefon des Kom. »Ich möchte feststellen, ob die Vorbereitungen zur Pressekonferenz angelau fen sind. Darf ich?« Und als Blake gedankenversunken nickte, wählte er die Nummer Miss Patricia Warners, der Frau, die aller Voraussicht nach in wenigen Tagen eine der bekanntesten Journalistinnen Londons sein würde. »Verfluchter Mist«, murmelte Blake abermals, und dann richtete er sich auf und musterte Roßberg aus schmalen Augen. »Du bist fein dran«, sagte er. »Machst einen Höllenwirbel und verschwindest. Läßt mich hier sitzen in diesem Hexenkessel. Aber ich verlange, daß du, bevor du end gültig abhaust, mir und Petula noch einen Besuch abstattest.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schwang er sich mit seinem Sessel herum. »Lorrimer!« schrie er durch die geschlossene Tür des Neben zimmers. »Lorrimer! Machen Sie mir unverzüglich zwei Termine. Einen mit dem Staatsanwalt und einen mit der London Pharmacal. Aber gefäl ligst noch heute. Hören Sie?« Im Nebenzimmer polterte ein Stuhl.