Robert Ludlum
Die AquitaineVerschwörung Roman
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Robert Ludlum
Die AquitaineVerschwörung Roman
scanned by AnyBody corrected by chase Sechs hochdekorierte amerikanische Generäle schließen sich zusammen, um ihre wahnwitzige Idee von einem Riesenreich gewaltsam zu verwirklichen. Ihrer Verschwörung geben sie den Namen AQUITAINE. Joel Converse und Preston Halliday, zwei renommierte Rechtsanwälte, erfahren von diesem schrecklichen Plan. Als es Joel gelingt, die machtverrückten Generäle aufzuspüren, wird er zum meistgejagten Mann Europas. Er ist der einzige, der beweisen kann, daß AQUITAINE existiert und daß der »Tag der Generäle« bevorsteht... (Backcover) ISBN 3-453-00689-5 Titel der amerikanischen Originalausgabe THE AQUITAINE PROGRESSION Deutsche Übersetzung von Heinz Nagel Michael R. Ludlum für die Genehmigung zum Abdruck des Liedes I NEED YOU DARLING Musik und Text von Michael R. Ludlum © 1983 by Michael R. Ludlum Copyright © 1984 by Robert Ludlum Umschlagfoto: Photodesign Mall, Stuttgart Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Compusatz, München Gesamtherstellung: Ebner Ulm
Von Robert Ludlum sind als Heyne-Taschenbücher erschienen: Die Matlock-Affäre • Band 01/5723 Das Osterman-Wochenende • Band 01/5803 Das Kastler-Manuskript- Band 01/5898 Der Rheinmann-Tausch • Band 01/5948 Das Jesus-Papier- Band 01/6044 Das Scarlatti-Erbe- Band 01/6136 Der Gandolfo-Anschlag- Band 01/6180 Der Matarese-Bund- Band 01/6265 Der Borowski-Betrug- Band 01/6417 Das Parsifal-Mosaik • Band 01/6577 Der Holcroft-Vertrag- Band 01/6744 Die Aquitaine-Verschwörung- Band 01/6941 Die Borowski-Herrschaft- Band 01/7705 Das Genesse-Komplott- Band 01/7876 und unter dem Pseudonym Jonathan Ryder Die Halidon-Verfolgung- Band 01/6481
Für Jeffrey Michael Ludlum.
Willkommen, Freund.
Viel Spaß im Leben.
Inhalt Inhalt............................................................................................ 4
1. BUCH ...................................................................................... 6
1............................................................................................... 6
2............................................................................................. 47
3............................................................................................. 82
4........................................................................................... 114
5........................................................................................... 147
6........................................................................................... 162
7........................................................................................... 183
8........................................................................................... 196
9........................................................................................... 213
10......................................................................................... 224
11......................................................................................... 240
2. BUCH .................................................................................. 263
12......................................................................................... 263
13......................................................................................... 278
14......................................................................................... 291
15......................................................................................... 302
16......................................................................................... 321
17......................................................................................... 345
18......................................................................................... 361
19......................................................................................... 382
20......................................................................................... 395
21......................................................................................... 409
22......................................................................................... 433
23......................................................................................... 447
24......................................................................................... 464
25......................................................................................... 478
26......................................................................................... 488
3. BUCH .................................................................................. 501
27......................................................................................... 501
28......................................................................................... 517
29......................................................................................... 537
30......................................................................................... 541
31......................................................................................... 554
32......................................................................................... 572
33......................................................................................... 592
34......................................................................................... 611
35......................................................................................... 618
36......................................................................................... 640
37......................................................................................... 654
38......................................................................................... 674
39......................................................................................... 687
40......................................................................................... 711
41......................................................................................... 726
Epilog ...................................................................................... 747
1. BUCH 1. Genf. Stadt der Sonne und der strahlenden Bilder. Der geblähten weißen Segel auf dem See - und darüber die massiven, unregelmäßigen Bauten, deren Spiegelungen auf dem Wasser im Wellenschlag erzittern. Stadt der Myriaden von Blumen um die blaugrünen Teiche und die Springbrunnen Duette explodierender Farben. Stadt der kleinen, altmodischen Brücken, die sich über die gläsernen Flächen der von Menschenhand angelegten Seen zu künstlichen Inseln spannen, kleine Zufluchtsorte für Liebende und Freunde und verschwiegene Geschäftspartner. Bilder. Genf, das alte und das neue. Stadt der hohen mittelalterlichen Mauern, des gleißenden bunten Glases, der heiligen Kathedralen und der weniger heiligen Institutionen. Stadt der Straßencafes und der Konzerte am See, der winzigen Piers und der fröhlich-bunt gestrichenen Boote, die an den endlosen Ufern entlangtuckern, während die Fremdenführer die Vorzüge - und den geschätzten Wert - der Seeuferanwesen herausstreichen, die ohne Zweifel in eine andere Zeit gehören. Genf. Stadt der Zweckmäßigkeit, hingegeben an die Notwendigkeit der Hingabe, eine Stadt, in der Frivolität nur dann geduldet wird, wenn sie sich in die Tagesordnung oder zum Geschäft fügt. Das Lachen gemessen, kontrolliert -Blicke, die Billigung andeuten oder stumm Übertreibung mahnen. Der Kanton am See kennt seine Seele. Seine Schönheit lebt in Eintracht mit der Industrie, und dieses Gleichgewicht wird nicht nur geduldet, sondern eifersüchtig behütet. Genf. Stadt auch des Unerwarteten; wo Selbstgewißheit auf einmal in Widerspruch gerät zu einer unerwünschten Enthüllung und eine Vertraulichkeit plötzlich grell sichtbar wie ein Blitz in den ungestümen Geist der Stadt schlägt. Dann folgt der Donner, der Himmel verdunkelt sich, und Regen fällt. Ein Wolkenbruch peitscht die wütenden, überraschten -6
Wellen, verzerrt das Bild, schmettert auf die riesige Fontäne herunter, Genfs Wahrzeichen am See, der Jet d'Eau, jener Geysir, der von Menschen geschaffen wurde, um andere Menschen zu verblüffen. Wenn plötzliche Enthüllungen kommen, erstirbt die gigantische Fontäne. Alle Springbrunnen sterben, und die Blumen verkümmern ohne Sonne. Die strahlenden Bilder schwinden, und der Geist erstarrt. Genf. Stadt der Unbeständigkeit. Joel Converse, er war Rechtsanwalt, trat aus dem Hotel Richemond hinaus in das grelle Morgenlicht des Jardin Brunswick. Geblendet kniff er die Augen zusammen und bog nach links, wobei er den Aktenkoffer von der linken in die rechte Hand wechselte, wohl wissend, wie wertvoll sein Inhalt war. Doch in erster Linie waren seine Gedanken bei dem Mann, den er im Le Chat Borte, einem Straßencafe am Seeufer, zu Kaffee und Croissants treffen sollte. »Wiedertreffen sollte« war richtiger, dachte Converse, falls der Mann ihn nicht mit jemand anderem verwechselt hatte. A. Preston Halliday war Joels amerikanischer Gegenspieler in den gegenwärtigen Verhandlungen, bei denen es um die letzten Details eines schweizerisch-amerikanischen Firmenzusammenschlusses ging, der beide Männer nach Genf geführt hatte. Aber gerade weil nicht mehr viel zu klären blieb eigentlich nur noch Formalitäten, nachdem bereits feststand, daß die Verträge in Einklang mit den Gesetzen beider Länder standen und auch annehmbar waren für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag -, war Halliday eine seltsame Wahl. Er hatte nicht zu dem amerikanischen Juristenteam gehört, das die Schweizer berufen hatten, um Joels Firma zu durchleuchten. Zwar hätte das allein ihn nicht unbedingt von den Verhandlungen ausschließen müssen - ein neuer Blickwinkel war nicht selten sogar sehr erwünscht -, aber daß man ihm die Spitzenposition übertragen hatte, die des Chefsprechers, das war, gelinde gesagt, unorthodox. Und beunruhigend. Halliday ging der Ruf voraus - das wenige, was Converse darüber wußte -, jede verfahrene Situation binnen kurzem lösen -7
zu können; er kam aus San Francisco und betrieb die Juristerei wie ein genialer Mechaniker, der einen locker gewordenen Draht entdecken, herausreißen und einen Motor kurzschließen konnte. Verhandlungen, die sich über Monate erstreckt und Hunderttausende gekostet hatten, waren durch seine Anwesenheit zu einem plötzlichen Ende gekommen, soviel fiel Converse zu A. Preston Halliday ein. Aber das war alles, was ihm einfiel. Und doch hatte Halliday behauptet, sie würden einander kennen. »Hier spricht Press Halliday«, hatte die Stimme am Hoteltelefon verkündet. »Ich habe anstelle von Rosen die Verhandlungsleitung bei der Comm Tech-Bern-Fusion übernommen.« »Was ist denn passiert?« hatte Joel gefragt, den ausgeschalteten Elektrorasierer noch in der linken Hand, während er gleichzeitig versuchte, den Namen in seinem Gedächtnis unterzubringen. Als Halliday dann antwortete, war es ihm wieder eingefallen. »Der arme Teufel hatte einen Herzinfarkt. Was auch der Grund dafür ist, daß seine Partner mich berufen haben.« Der Anwalt hatte eine Pause gemacht. »Sie müssen ziemlich ruppig zu ihm gewesen sein.« »Wirklich gestritten haben wir nur selten. Herrgott, tut mir das leid. Ich mag Aaron. Wie geht es ihm denn?« »Er wird schon durchkommen. Die Ärzte haben ihn ins Bett gesteckt und ihm eine Diät aus einem Dutzend verschiedenen Hühnersuppen verpaßt. Ich soll Ihnen ausrichten, daß er Ihre Abschlußpapiere auf unsichtbare Tinte untersuchen wird.« »Was natürlich bedeutet, daß Sie das tun werden, weil ich keine benutzt habe und Aaron auch nicht. Bei diesem Zusammenschluß geht es um nichts als Geld, und wenn Sie die Unterlagen studiert haben, dann wissen Sie das genausogut wie ich.« »Um Investitionsabschreibungen«, pflichtete Halliday bei, »an denen ein großer Anteil an einem technologischen Markt hängt. Keine unsichtbare Tinte und heimliche Interessen. -8
Aber da ich hier der Neue bin, hätte ich doch ein paar Fragen.
Können wir miteinander frühstücken?«
»Ich wollte mir meines gerade aufs Zimmer kommen lassen.«
»Es ist ein hübscher Morgen, warum schnappen Sie nicht ein
wenig frische Luft? Ich wohne im President, also teilen wir uns
den Weg? Kennen Sie das Chat Botte?«
»Amerikanischer Kaffee und Croissants. Quai du Mont Blanc.«
»Sie kennen es also. Schaffen Sie es in zwanzig Minuten?«
»Sagen wir in einer halben Stunde, okay?«
»Sicher.« Und dann hatte Halliday wieder eine Pause gemacht.
»Wird nett sein, dich wiederzusehen, Joel.«
»Oh? Wieder?«
»Du erinnerst dich vielleicht nicht. Seit damals ist eine Menge
passiert. Dir mehr als mir, fürchte ich.«
»Tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht ganz folgen.«
»Nun, da war Vietnam, und du warst ziemlich lange in
Gefangenschaft.«
»Das habe ich nicht gemeint, und das liegt auch schon Jahre
zurück. Aber wo sollten wir uns kennengelernt haben? Bei
welchem Fall?«
»Kein Fall, nicht geschäftlich. Wir waren in derselben Klasse.«
»An der Duke? Die Rechtsfakultät dort ist ziemlich groß.«
»Nein, weiter zurück. Vielleicht erinnerst du dich, wenn wir uns
sehen. Wenn nicht, werde ich deinem Gedächtnis nachhelfen.«
»Anscheinend spielen Sie gerne... Also in einer halben Stunde.
Im Chat Botte.«
Während Converse sich dem Quai du Mont Blanc näherte,
jenem lebenerfüllten Boulevard unmittelbar am Seeufer,
versuchte er Hallidays Namen in Zusammenhang mit einer
bestimmten Zeit zu bringen. Die Jahre an einer Schule, ein
vergessenes Gesicht, das einem Klassenkameraden gehören
konnte, an den er sich nicht erinnerte. Aber nichts kam ihm.
Dabei war Halliday kein häufiger Name, und die Kurzform Press
noch viel weniger... Wahrscheinlich sogar einmalig.
-9
Converse konnte sich nicht vorstellen, daß es ihm je entfallen wäre, wenn er jemand mit dem Namen »Press Halliday« gekannt hätte. Und doch hatte der Ton Vertrautheit angedeutet, Nähe sogar. Wird nett sein, dich wiederzusehen, Joel. Halliday hatte das mit warmer Stimme gesagt, wie auch die recht überflüssige Bemerkung zu Joels Zeit in Gefangenschaft. Aber solche Dinge wurden immer mit weicher Stimme gesagt, um Sympathie zumindest anzudeuten, wenn sie schon nicht offen ausgedrückt wurde. Natürlich verstand Converse auch, warum Halliday gemeint hatte, das Thema Vietnam, wenn auch nur beiläufig, erwähnen zu müssen. Jeder, dem die Erfahrung fehlte, nahm an, daß alle, die längere Zeit in einem nordvietnamesischen Lager verbracht hatten, unausweichlich geistigen Schaden davongetragen haben mußten, daß ihr Bewußtsein durch das Erlebnis teilweise verändert worden war und ihre Erinnerungen verwirrt. In gewisser Hinsicht war das auch nicht zu leugnen, aber im Hinblick auf das Erinnerungsvermögen stimmte es ganz sicher nicht. Die Erinnerungen waren eher geschärft, weil man sie wieder und wieder suchte, oft geradezu gnadenlos. Die Summe der Jahre, die einzelnen Schichten der Erfahrung. .. Gesichter, zu denen Augen und Stimmen gehörten, Körper unterschiedlichster Größe und Gestalt; Szenen, die über eine innere Leinwand huschten, Bilder, Geräusche, Gerüche - man wurde angerührt und spürte den Wunsch zu berühren... nichts, was in der Vergangenheit lag, war zu belanglos, als daß man es nicht wegschälen und erforschen wollte. Häufig war das alles, was man hatte, besonders nachts - immer nachts, wenn die kalte, durchdringende Feuchtigkeit den Körper steif werden ließ und eine noch unendlich kältere Furcht jeden Gedanken lahmte -, dann waren die Erinnerungen alles. Sie halfen, die fernen Schreie aus der Finsternis zu verdrängen, das Peitschen der Schüsse zu dämpfen, die ihnen jeden Morgen mit unvermeidlichen Exekutionen erklärt wurden. Exekutionen derjenigen, die nicht reumütig und zur Zusammenarbeit bereit gewesen waren. Oder es waren Hinrichtungen noch unglücklicherer Gefangener, die man zuvor gezwungen hatte, -1 0
Spiele zu spielen, die zu obszön waren, als daß man sie hätte beschreiben können, einzig dazu gedacht, die Peiniger zu amüsieren. Wie die meisten Männer, die den größten Teil ihrer Gefangenschaft in Einzelhaft gehalten worden waren, hatte Converse jede einzelne Phase seines Lebens wieder und wieder untersucht und dann versucht, alles sinnvoll aneinanderzufügen, um schließlich das zusammenhängende Ganze zu verstehen... es zu mögen. Da blieb vieles, das er nicht verstand - oder mochte -, aber immerhin konnte er mit dem Ergebnis jener beharrlichen Nachforschungen leben. Auch damit sterben, wenn er das mußte; diesen inneren Frieden mußte er für sich selbst finden. Ohne ihn war die Furcht unerträglich. Und weil diese Selbstbefragung Nacht für Nacht stattfand und ein strenges Maß an Sorgfalt und Genauigkeit verlangte, fiel es Converse leichter als den meisten anderen Menschen, sich ganze Abschnitte seines Lebens ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie die sich blitzschnell drehende Diskette in einem Computerlaufwerk plötzlich anhält, so konnte er einen Ort, eine Person oder einen Namen aus seinem Gedächtnis abrufen, selbst wenn ihm nur äußerst spärliche Hinweise zur Verfügung standen. Die häufige Anwendung dieser Fähigkeit hatte sie nur noch geschärft, und das war es, was ihn jetzt verwirrte. Es gab in seiner Vergangenheit niemanden mit dem Namen Press Halliday, oder der Anrufer mußte schon auf eine so ferne Zeit angespielt haben, daß sie sich vielleicht als Kinder einmal begegnet waren. Wird nett sein, dich wiederzusehen, Joel. Waren diese Worte eine Finte, der Trick eines Anwalts? Converse bog um die Ecke, und mit jedem weiteren Schritt warf ihm das Messinggeländer des Chat Botte winzige Explosionen grellen Sonnenlichts entgegen. Auf dem Boulevard drängten sich glänzend polierte Personenwagen und makellos saubere Omnibusse; der Bürgersteig war sauber gewaschen, und wenn die Passanten auch alle irgendwie in Eile zu sein schienen, so -1 1
lag über allem doch eine gewisse Ordnung. Der Morgen war in
Genf eine Zeit gesitteter Rührigkeit.
Selbst die Zeitungen auf den Tischen der Straßencafes waren
sorgfältig gefaltet.
Als Joel durch die offene Messingpforte des Chat Botte trat,
wurde unmittelbar zu seiner Linken eine Zeitung
übergeschlagen und dann gesenkt. Das Gesicht, das jetzt zu
sehen war, kannte Converse. Es war ein gesammeltes Gesicht,
seinem eigenen nicht unähnlich. Das Haar des anderen war
glatt und dunkel, gerade gescheitelt und gebürstet, die Nase
scharf über klar geschnittenen Lippen. Das Gesicht gehörte zu
seiner Vergangenheit, überlegte Joel, aber der Name, an den
er sich erinnerte, gehörte nicht zu diesem Gesicht.
Der vertraut aussehende Mann hob den Kopf; ihre Augen
begegneten sich, und A. Preston Halliday erhob sich. Seine
Erscheinung ließ ahnen, daß der untersetzte Körper in dem
teuren Anzug muskulös war.
»Joel, wie geht es dir?« sagte eine vertraute Stimme, und eine
Hand streckte sich Converse über den Tisch entgegen.
»Hallo... Avery«, antwortete Joel Converse. Er starrte den
anderen überrascht an und ging etwas verlegen auf ihn zu.
Dabei wechselte er den Aktenkoffer von der einen in die andere
Hand, um nach der ausgestreckten Hand greifen zu können.
»Avery stimmt doch, oder? Avery Fowler. Taft, Anfang der
sechziger Jahre. Du bist eines Tages nicht mehr zum
Semesteranfang erschienen, und keiner wußte warum. Alle
haben darüber geredet. Du warst Ringer.«
»Ja, ich hatte zweimal die New-England-Meisterschaft
gewonnen«, sagte der Anwalt lachend und wies auf den
gegenüberliegenden Platz am Tisch. »Setz dich, dann können
wir einiges auffrischen. Ich nehme an, für dich kommt das alles
ein wenig plötzlich. Deshalb wollte ich, daß wir uns schon vor
der Konferenz heute morgen einmal sehen. Ich meine, es wäre
doch verdammt unangenehm für dich gewesen, wenn du bei
meinem Eintreten hättest aufspringen und >Schwindler< rufen
müssen. Oder nicht?«
-1 2
»Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich das nicht sagen werde,
aber herausschreien werde ich es nicht.« Converse setzte sich,
stellte den Aktenkoffer neben seinem Stuhl ab und studierte
sein Gegenüber. »Was soll diese Halliday-Geschichte? Warum
hast du am Telefon nichts gesagt?«
»Ach, komm schon, was hätte ich denn sagen sollen?
Vielleicht: Übrigens, Kumpel, du hast mich damals als
Tinkerbell Jones gekannt. Dann wärst du doch niemals
gekommen.«
»Ist Fowler irgendwo im Gefängnis?«
»Das wäre er, wenn er sich nicht eine Kugel durch den Kopf
gejagt hätte«, antwortete Halliday mit ernster Miene.
»Du steckst voll Überraschungen. Bist du ein geklönter
Ableger?«
»Nein, der Sohn.«
Converse schwieg einen Moment. »Vielleicht sollte ich mich
entschuldigen.«
»Nicht nötig, du konntest es ja nicht wissen. Das war der
Grund, weshalb ich am Semesteranfang nicht mehr auftauchte
... und, verdammt noch mal, ich war wirklich scharf auf die
Trophäe. Wäre das erstemal gewesen, daß ein Ringer sie
dreimal hintereinander gewonnen hätte.«
»Das tut mir leid. Was ist denn passiert... Oder ist das
vertraulich, Herr Anwalt? Das würde ich akzeptieren.«
»Nicht für Sie, Herr Kollege. Kannst du dich noch erinnern, wie
wir beide nach New Haven gezogen sind und uns an der
Busstation diese starken Weiber aufgegabelt haben?«
»Wir haben gesagt, daß wir aus Yale wären...«
»Mitgenommen haben die uns, aber nicht mit ins Bett.«
»Und wie haben wir sie angegiert.«
»Teenager«, sagte Halliday. »Die haben ein Buch über uns
geschrieben. Sind wir inzwischen wirklich so verweichlicht?«
»Nun, ein wenig geschwächt wohl, aber wir kommen wieder.
Wir sind die letzte Minderheit, also wird man uns am Ende auch
-1 3
Sympathie entgegenbringen... Aber was war denn nun damals
passiert, Avery?«
Ein Kellner trat an ihren Tisch, und die beiden Männer
bestellten Kaffee und Croissants und fügten sich damit in die
Norm. Der Kellner faltete zwei rote Servietten zu geradlinigen
Kegeln und stellte sie vor die beiden Männer.
»Was passiert war?« wiederholte Halliday leise, nachdem der
Kellner gegangen war. »Dieser Schweinehund von einem Vater
hat vierhunderttausend von der Chase Manhattan veruntreut,
während er dort in der Vermögensverwaltung tätig war. Und als
man ihn dann schnappte, hat er Schluß gemacht. Wer hätte
auch gedacht, daß sich dieser respektable Vorortszugbenutzer
aus Greenwich, Connecticut, zwei Frauen in der Stadt hielt,
eine an der oberen East Side und die andere in der Wall Street.
Er war schon eine Type.«
»Da hatte er ja alle Hände voll zu tun. Aber das mit dem
Halliday verstehe ich immer noch nicht.«
»Nachdem es passiert war - und man den Selbstmord vertuscht
hatte -, hetzte meine Mutter wütend zurück nach San
Francisco. Wir stammten aus Kalifornien, das weißt du doch...
oder? Und dort heiratete sie, noch wütender, meinen Stiefvater
John Halliday und mühte sich während der folgenden Monate,
alle Spuren von Fowler in unserem Leben zu tilgen.«
»Selbst deinen Vornamen?«
»Nein, in San Francisco war ich immer >Press<. Wir Kalifornier
hatten schon immer etwas für prägnante Namen übrig. Tab,
Troy, Crotch... das war in den fünfziger Jahren in Beverly Hills
so Mode... Auf meinem Studentenausweis stand Avery Preston
Fowler, also habt ihr euch alle einfach angewöhnt, mich Avery
oder, was ich immer grauenvoll fand, >Ave< zu nennen. Da ich
neu bei euch war, habe ich mich gehütet, mich dagegen zu
wehren.«
»Ist ja alles schön und gut«, sagte Converse, »aber was
machst du, wenn du einen wie mich triffst? Das muß doch
einfach passieren.«
-1 4
»Du würdest staunen, wie selten. Schließlich liegt die ganze
Sache weit zurück, und die Leute, mit denen ich in Kalifornien
aufgewachsen bin, haben das alles immer verstanden. Die
jungen Leute dort lassen ihren Namen einfach ändern, wenn er
ihnen nicht gefällt, und ich war schließlich nur ein paar Jahre im
Osten, es reichte gerade für die vierte und fünfte Schulklasse.
Praktisch habe ich ja in Greenwich niemanden gekannt, und
den inneren Kreisen vom Taft habe ich ohnehin nicht
angehört.«
»Du hattest Freunde dort. Zum Beispiel mich.«
»Aber nicht viele. Machen wir uns doch nichts vor. Ich war ein
Außenseiter, und du warst nicht besonders wählerisch. Ich hab'
mich immer ziemlich zurückgehalten.«
»Aber im Ring nicht, ganz bestimmt nicht.«
Halliday lachte. »Es gibt nicht viele Ringer, die Rechtsanwälte
werden. Böse Zungen behaupten, der Verstand leide unter dem
Sport... Aber um deine Frage zu beantworten, in den letzten
Jahren hat vielleicht fünf- oder sechsmal jemand zu mir gesagt,
>Hey, sind Sie nicht in Wirklichkeit Soundso und nicht der, der
Sie zu sein behaupten?< Ich habe dann immer die Wahrheit
gesagt: Meine Mutter hat wieder geheiratet, als ich sechzehn
war. Und dann ist mit den Fragen immer gleich Schluß
gewesen.«
Der Kaffee und die Croissants kamen. Joel brach sein Gebäck
auseinander. »Und du hast gedacht, ich würde die Frage zum
falschen Zeitpunkt stellen, genauer gesagt, zu Beginn der
Konferenz. War es so?«
»Berufsehre. Ich wollte nicht, daß du dir über die Sache
Gedanken machst - oder über mich -, wenn du deinen Kopf für
deinen Klienten freihaben mußt. Schließlich haben wir in jener
Nacht in New Haven gemeinsam versucht, unsere
Jungfernschaft zu verlieren.«
»Du sprichst von dir«, sagte Joel lächelnd.
Halliday grinste. »Wir waren beide ganz schön voll, erinnerst du
dich? Übrigens, wir haben uns ewiges Stillschweigen
geschworen, als wir gemeinsam in die Mülltonne kotzten.«
-1 5
»Ich wollte Sie bloß auf die Probe stellen, Herr Anwalt, ich
erinnere mich sehr wohl. Du hast also den grauen Flanellanzug
gegen orangefarbene Hemden und goldene Halskettchen
vertauscht?«
»Das kann man sagen. Berkley und dann Stanford.«
»Gute Schule... Und wie bist du auf das internationale Feld
gekommen?«
»Ich bin immer schon gerne gereist und hab' mir gedacht, auf
diese Weise könnte ich es mir am besten leisten. So hat es
eigentlich auch angefangen... Und du? Ich kann mir vorstellen,
daß du das Reisen inzwischen satt hast.«
»Ich hatte Träume vom diplomatischen Dienst... damit hat es
angefangen...«
»Nach all deinen Reisen?«
Converse sah Halliday aus blaßblauen Augen an und war sich
sehr wohl bewußt, wie kalt sein Blick wirkte. Das war jetzt,
wenn vielleicht auch nicht angebracht, nicht zu vermeiden. »Ja,
nach all den Reisen. Da gab es zu viele Lügen, keiner hat es
uns gesagt, bis es zu spät war. Man hat uns hereingelegt, und
das hätte nicht sein dürfen.«
Halliday beugte sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt,
die Hände ineinander verschränkt, und erwiderte Joels Blick.
»Ich konnte mir das einfach nicht zusammenreimen«, begann
er leise. »Als ich deinen Namen in den Zeitungen las und dich
dann auf sämtlichen Fernsehkanälen sah, hatte ich ein
scheußliches Gefühl. Besonders gut habe ich dich ja eigentlich
nicht gekannt, aber ich konnte dich gut leiden.«
»Deine Reaktion war ganz natürlich. Mir wäre es genauso
ergangen, wenn du an meiner Stelle wärst.«
»Da bin ich nicht so sicher. Weißt du, ich war nämlich einer der
Führer der Protestbewegung.«
»Du hast deinen Einberufungsbefehl verbrannt und den Hippie
gespielt«, sagte Converse sanft, und das Eis in seinem Blick
schien zu schmelzen. »So mutig war ich nicht.«
-1 6
»Ich auch nicht. Was ich verbrannt habe, war bloß eine
Bibliothekskarte.«
»Jetzt bin ich enttäuscht.«
»Das war ich auch... tief in mir drinnen. Aber ich stand in der
Öffentlichkeit.« Halliday lehnte sich in seinem Stuhl zurück und
griff nach seiner Tasse. »Wie bist du denn so ins Rampenlicht
geraten, Joel? Ich hatte nicht gedacht, daß du der Typ dafür
sein könntest.«
»War ich auch nicht. Man hat mich dazu gedrängt.«
»Reingelegt, hast du doch gesagt.«
»Das kam später.« Converse hob die Tasse und trank einen
Schluck Kaffee. Das Gespräch hatte eine Wendung
genommen, die ihm nicht gefiel. Er sprach nicht gern über jene
Jahre und fühlte sich doch allzu häufig eben dazu aufgefordert.
Man hatte ihn zu etwas gemacht, was er eigentlich nicht war.
»Als Student in Amherst war mit mir nicht viel los... Zum Teufel,
ich stand immer auf der Kippe und konnte von Glück reden,
wenn ich meine Prüfungen bestand. Aber dafür war ich seit
meinem vierzehnten Lebensjahr begeisterter Flieger.«
»Das habe ich nicht gewußt«, unterbrach Halliday ihn.
»Mein Vater war zwar nicht schön und hatte deshalb auch nicht
den Vorzug, sich Konkubinen leisten zu können, aber dafür war
er Pilot einer Fluggesellschaft und später leitender Angestellter
bei PanAm. In unserer Familie gehörte es sich einfach, daß
man ein Flugzeug steuern konnte, noch bevor man seinen
Führerschein machte.«
»Brüder und Schwestern?«
»Eine jüngere Schwester. Sie machte ihren ersten Alleinflug vor
mir und hat mich das nie vergessen lassen.«
»Ich kann mich erinnern. Man hat sie im Fernsehen interviewt.«
»Nur zweimal«, unterbrach ihn Joel lächelnd. »Sie gehörte
auch zur Protestbewegung, und hat das auch jeden wissen
lassen. Aus dem Weißen Haus war deshalb zu hören, daß
jeder, der Interesse an seiner Karriere hätte, besser die Finger
von ihr lassen sollte.«
-1 7
»Deshalb erinnere ich mich an sie«, sagte Halliday. »Und dann
ist also ein lausiger Student vom College abgegangen, und die
Navy hat einen Spitzenpiloten gewonnen.«
»Keinen Spitzenpiloten, das war keiner von uns.«
»Trotzdem müßt ihr Leute, die wie ich sicher in den Staaten
lebten, gehaßt haben. Mal abgesehen von deiner Schwester.«
»Sie auch«, korrigierte ihn Converse. »Gehaßt, verabscheut,
verachtet... wütend waren wir. Aber nur, wenn jemand getötet
wurde, oder in den Lagern verrückt wurde. Nicht wegen dem,
was ihr gesagt habt - wir wußten auch, was in Saigon los war -,
aber weil ihr es ohne echte Furcht sagen konntet. Ihr wart in
Sicherheit, und wir hatten dabei das Gefühl, wir seien die
Arschlöcher. Dumme, verängstigte Arschlöcher.«
»Das kann ich verstehen.«
»Wie nett von dir.«
»Tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint, wie es vielleicht
klang.«
»Wie klang es denn, Herr Anwalt?«
»Herablassend, schätze ich.«
»Kann man wohl sagen«, sagte Joel. »Stimmt.«
»Du bist immer noch wütend.«
»Nicht deinetwegen, nur weil ich das Thema hasse und es
immer wieder aufgewühlt wird.«
»Dafür mußt du die Schuld bei der Propagandaabteilung des
Pentagon suchen. Eine Zeitlang warst du in den
Abendnachrichten ein richtiger Held. Wie war das, dreimal aus
der Gefangenschaft geflohen? Bei den beiden ersten Malen hat
man dich erwischt und dich dafür büßen lassen, aber beim
letztenmal hast du es ganz alleine geschafft, oder? Du hast
dich ein paar hundert Meilen durch feindlichen Dschungel
gekämpft, bis du unsere Linien erreicht hast.«
»Es waren nicht einmal hundert, und ich hatte verdammtes
Glück. Bei den ersten zwei Versuchen sind meinetwegen acht
Menschen ums Leben gekommen. Darauf bin ich nicht
-1 8
besonders stolz. Aber können wir jetzt zu unserem Geschäft
kommen?«
»Gib mir noch ein paar Minuten«, sagte Halliday und schob die
Croissants weg. »Bitte. Ich versuche nicht, in deiner
Vergangenheit herumzuwühlen. Ich wollte dir ein paar Fragen
stellen, für die ich einen bestimmten Grund habe. Siehst du, ich
höre allgemein, daß du einer der besten Leute auf der
internationalen Szene bist, aber die Leute, mit denen ich
gesprochen habe, können einfach nicht begreifen, weshalb Joel
Converse bei einer relativ kleinen, wenn auch erfolgreichen
Firma bleibt, wo er doch gut genug ist, um sich etwas viel
Besseres herauszusuchen oder sich auf eigene Füße zu
stellen. Warum bist du dort, wo du bist?«
»Ich werde gut bezahlt und habe praktisch freie Hand. Niemand
sitzt mir im Nacken. Außerdem gehe ich nicht gerne Risiken
ein. Es gibt da gewisse Unterhaltszahlungen, die ich zu leisten
habe. Alles freundschaftlich geregelt, aber immerhin teuer.«
»Sorgerecht auch?«
»Nein, Gott sei Dank.«
»Was war denn, als du aus der Navy entlassen wurdest? Wie
war dir zumute?« Halliday beugte sich wieder vor und stützte
die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die gefalteten
Hände - wie ein wißbegieriger Schüler. Oder etwas ganz
anderes.
»Was sind denn das für Leute, mit denen du gesprochen
hast?« fragte Converse.
»Das würde ich für den Augenblick als vertrauliche Information
bezeichnen, Herr Anwalt. Kannst du das akzeptieren?«
Joel lächelte. »Du bist wirklich ein Tiger... Okay, ich will es dir
sagen. Ich kam zurück, nachdem man mein Leben völlig in
Unordnung gebracht hatte. Ich war wütend und wollte alles
haben. Aus dem schlechten Studenten wurde eine Art
Wissenssüchtiger, und ich würde lügen, wenn ich nicht
zugeben würde, daß man mir einige Privilegien eingeräumt hat.
Ich ging nach Amherst zurück und brachte in drei Semestern
ein Zweieinhalbjahrespensum hinter mich. Dann bot man mir in
-1 9
Duke einen Schnellkurs an, und ich ging hin, spezialisierte mich
anschließend in Georgetown, während ich meine
Referendarzeit ableistete.«
»Du warst Referendar in Washington?«
Converse nickte. »Ja.«
»Wo?«
»Bei Clifford.«
Halliday pfiff leise durch die Zähne und lehnte sich wieder
zurück. »Das ist natürlich ein goldener Boden, der sichere Weg
in den Juristenhimmel und zu den Multis.«
»Ich sagte ja, man hat mir einige Privilegien eingeräumt.«
»Hast du damals angefangen, dir über den diplomatischen
Dienst Gedanken zu machen? Als du in Georgetown warst? In
Washington?«
Weder nickte Joel und kniff die Augen zusammen, als sich die
Sonne irgendwo auf dem Boulevard in einem Kühlergrill
spiegelte. »Ja.«
»Den hättest du doch haben können«, sagte Halliday.
»Die wollten mich aus den falschen Gründen, allen nur
erdenklichen falschen Gründen. Als denen klar wurde, daß ich
andere Vorstellungen hatte, war ich im State Department nicht
mehr willkommen.«
»Und wie war es mit Clifford? Du hast denen doch eine Menge
Image eingebracht.« Der Kalifornier hob abwehrend die Hände.
»Ich weiß, ich weiß. Die falschen Gründe.«
»Die falschen Zahlen«, widersprach Converse. »Die hatten
über vierzig Rechtsanwälte auf ihrem Briefbogen stehen und
weitere zweihundert auf der Gehaltsliste. Ich hätte zehn Jahre
gebraucht, um den Weg zur Herrentoilette zu finden, und
weitere zehn, bis man mir den Schlüssel dafür gegeben hätte.
Also, das war es nicht, was ich wollte.«
»Was hast du denn gewollt?«
-2 0
»Ziemlich genau das, was ich bekommen habe. Ich hab' dir ja
gesagt, das Gehalt stimmt, und ich habe freie Hand bei meiner
Arbeit. Letzteres ist für mich genauso wichtig.«
»Das konntest du aber nicht wissen, als du dort eingetreten
bist«, wandte Halliday ein.
»Doch. Zumindest gab es Hinweise darauf. Als Talbot, Brooks
and Simon an mich herantrat, haben wir eine Übereinkunft
getroffen. Wenn ich mich im Laufe von vier, fünf Jahren
bewähren konnte, sollte ich der Nachfolger von Brooks werden.
Er war damals für die Überseegeschäfte zuständig und fing an,
den Spaß an dem vielen Reisen zu verlieren.« Wieder machte
Converse eine Pause. »Allem Anschein nach habe ich mich
bewährt.«
»Und allem Anschein nach hast du während dieser Zeit
irgendwann einmal geheiratet.«
Joel lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ist das notwendig?«
»Es ist nicht einmal wichtig, aber es interessiert mich
ungemein.«
»Warum?«
»Das ist eine ganz natürliche Reaktion«, erklärte Halliday und
blickte amüsiert. »Wahrscheinlich würde es dir genauso gehen,
wenn du an meiner Stelle wärst und ich alles das durchgemacht
hätte, was du durchgemacht hast.« »Achtung, Hai voraus«,
murmelte Converse. »Sie brauchen natürlich nicht zu
antworten, Herr Anwalt.«
»Ich weiß, aber seltsamerweise macht es mir nichts aus. Sie
hat auch eine Menge ertragen müssen wegen dieses >Was-du-
alles-durchgemacht-hast-Unsinns<.« Joel brach ein Croissant
auseinander, machte aber keine Anstalten, es vom Teller zu
nehmen. »Bequemlichkeit und ein vages Image der Stabilität.«
»Wie bitte?«
»Das waren ihre Worte«, fuhr Joel fort. »Sie hat gesagt, ich
hätte geheiratet, um ein Zuhause zu haben und jemanden, der
mir die Mahlzeiten zubereitet und sich um meine Wäsche
kümmert, und um mir die lästigen, zeitraubenden Albernheiten
-2 1
sparen zu können, derer es bedarf, um jemanden zu finden, mit
dem man schlafen kann. Und außerdem bin ich mit der Heirat
auch den allgemeinen Erwartungen an mich gefolgt... >und ich
habe, weiß Gott, auch meine Rolle spielen müssen< ..
.ebenfalls ihre Worte.«
»Und stimmen sie?«
»Ich sagte dir doch, als ich zurückkam, wollte ich alles haben,
und sie gehörte auch dazu. Ja, sie stimmten. Köchin,
Zimmermädchen, Wäscherin, Bettgefährtin und akzeptables,
attraktives Anhängsel. Sie hat einmal gesagt, sie wäre sich nie
darüber klargeworden, welche Reihenfolge die richtige sei.«
»Scheint ja ein interessantes Mädchen gewesen zu sein.«
»Das war sie. Das ist sie.«
»Entdecke ich da etwas, was auf eine mögliche Aussöhnung
deuten könnte?«
»Niemals.« Converse schüttelte den Kopf, ein leichtes Lächeln
um die Lippen, aber nur eine Andeutung von Humor in den
Augen. »Sie ist ebenfalls hereingelegt worden, und auch das
hätte nicht passieren dürfen. Außerdem gefällt mir mein
augenblickliches Leben, so wie es ist, wirklich. Es gibt
Menschen, die einfach nicht für den häuslichen Herd und
gelegentlichen Truthahnbraten geschaffen sind, selbst wenn
man sich das vielleicht manchmal wünscht.«
»Das ist aber nicht das schlechteste Leben.«
»Lebst du es denn?« fragte Joel schnell, um damit von sich
abzulenken.
»Allerdings, inklusive Zahnarztrechnungen und
Elternausschüssen. Fünf Kinder und eine Frau. Ich würde es
nicht anders haben wollen.«
»Aber du reist doch viel, nicht wahr?«
»Das gibt immer ein schönes Wiedersehen.« Wieder beugte
Halliday sich vor, als müßte er einen Zeugen fixieren. »Du hast
also im Moment keine festen Bindungen, niemanden, zu dem
es dich unwiderstehlich hinzieht.«
-2 2
»Talbot, Brooks and Simon könnten das als Beleidigung
empfinden. Ebenso mein Vater. Seit meine Mutter gestorben
ist, essen wir einmal die Woche miteinander zu Abend, wenn er
nicht irgendwo in der Weltgeschichte herumgondelt, was bei
seinen vielen Freiflügen meistens der Fall ist.«
»Er kommt also noch ziemlich viel rum?«
»Nun, eine Woche ist er in Kopenhagen, die nächste in
Hongkong. Es macht ihm einen Riesenspaß.«
»Ich glaube, ich könnte ihn mögen.«
Converse zuckte die Schultern und lächelte wieder. »Vielleicht
auch nicht. Er hält alle Anwälte für Stinker, mich
eingeschlossen. Er ist der letzte Vertreter einer aussterbenden
Gattung - die Flieger mit den weißen Halstüchern.«
»Ganz sicher würde ich ihn mögen... Aber abgesehen von
deinen Brötchengebern und deinem Vater gibt es keine - wir
wollen sagen - Bindungen besonderer Art in deinem Leben.«
»Wenn du damit Frauen meinst, davon gibt es ein paar, und wir
sind gute Freunde. Und jetzt ist dieses Gespräch, glaube ich,
weit genug gegangen.«
»Ich sagte dir doch, daß ich einen bestimmten Grund habe«,
sagte Halliday.
»Warum nennen Sie ihn denn nicht, Herr Anwalt? Mit dem
Verhör ist jetzt Schluß.«
Der Kalifornier nickte. »Also gut. Die Leute, mit denen ich
gesprochen habe, wollten wissen, ob du frei wärst, um zu
reisen.«
»Die Antwort darauf ist nein. Ich habe einen Beruf und eine
Verantwortung gegenüber der Firma, für die ich tätig bin. Heute
ist Mittwoch, wir werden die Fusion bis Freitag unter Dach und
Fach haben. Dann nehme ich mir das Wochenende frei und bin
am Montag wieder im Büro... und dann erwartet man mich
auch.«
»Und wenn man zu einem Arrangement käme, mit dem Talbot,
Brooks and Simon einverstanden wären?«
»Das ist anmaßend.«
-2 3
»Ein Angebot, dessen Ablehnung dir sehr schwerfallen würde.«
»Das ist lächerlich.«
»Versuchen wir's doch mal«, sagte Halliday.
»Fünfhunderttausend Dollar für deine Zusage und deinen
Einsatz, eine Million, wenn du es schaffst.«
»Jetzt bist du verrückt.« Wieder wurde Converse geblendet,
diesmal fiel das grelle Licht länger auf sein Gesicht als beim
erstenmal. Er hob die linke Hand, um seine Augen zu schützen,
und starrte den Mann an, den er einmal als Avery Fowler
gekannt hatte. »Außerdem, mal ganz abgesehen von ethischen
Erwägungen, denn du hast heute morgen keine Chance bei
mir, ist mir der Zeitpunkt verdächtig. Ich mag keine Angebote
selbst verrückte nicht - von Anwälten, mit denen ich mich in
Kürze auseinanderzusetzen habe.«
»Das sind zwei vollkommen unterschiedliche Angelegenheiten.
Und du hast recht, ich habe wirklich weder etwas zu gewinnen
noch zu verlieren. Du hast das mit Aaron ja praktisch schon
fertig gemacht. Und ich bin auch schrecklich ethisch, ich stelle
den Schweizern nur meine Zeit in Rechnung - Mindestsatz -,
weil meine Erfahrung gar nicht gefragt ist. Meine Empfehlung
heute morgen wird sein, den Vertragsentwurf so zu
akzeptieren, wie er steht, ohne auch nur ein Komma daran zu
ändern. Wo liegt da also der Konflikt?«
»Wo liegt die Vernunft?« fragte Joel. »Ganz zu schweigen von
den Arrangements, die Talbot, Brooks and Simon akzeptabel
zu finden hätten. Du sprichst da von etwa zweieinhalb
Jahresgehältern plus Prämie als Gegenleistung dafür, daß ich
mit dem Kopf nicke.«
»Dann tu's doch«, sagte Halliday. »Wir brauchen dich.«
»Wir? Das ist eine ganz neue Wendung, nicht wahr? Ich
dachte, es ginge um sie. Wobei sie die Leute sind, mit denen
du gesprochen hast. Raus mit der Sprache, Press.«
A. Preston Halliday blickte Joel fest in die Augen. »Ich gehöre zu ihnen, und im Augenblick geschieht etwas, das nicht geschehen sollte. Wir möchten, daß du ein Unternehmen aus dem Geschäft kippst. Einen unangenehmen Verein, der noch -2 4
dazu gefährlich ist. Wir würden dir alles dazu Nötige an die
Hand geben.«
»Welches Unternehmen?«
»Der Name würde dir nichts bedeuten, er ist nicht registriert.
Laß es uns eine Art Exilregierung nennen.«
»Eine was?«
»Eine Gruppe gleichgesinnter Männer, die dabei sind, sich
Mittel zu verschaffen, die ihnen mehr Einfluß geben würden, als
gut für sie ist... und eine Autorität, die sie nicht haben sollten.«
»Und wo geschieht das?«
»An Orten, die sich diese arme, ungeschickte Welt nicht leisten
kann. Und diese Männer sind dazu imstande, weil niemand es
von ihnen erwartet.«
»Das klingt ja ziemlich geheimnisvoll.«
»Ich habe Angst. Ich kenne sie.«
»Aber ihr verfügt über die Mittel, um sie daran zu hindern«,
sagte Converse. »Ich nehme an, das soll heißen, daß sie
verletzbar sind.«
Halliday nickte. »Ja, das glauben wir. Wir haben einige
Hinweise, aber man wird nachbohren müssen, ein paar
Kombinationen anstellen. Alles spricht dafür, daß sie Gesetze
gebrochen und sich auf Unternehmungen und Transaktionen
eingelassen haben, die die jeweiligen Regierungen unter
Verbot gestellt haben.«
Joel blieb einen Augenblick lang still und musterte den
Kalifornier. »Regierungen?« fragte er dann. »Plural?«
»Ja.« Hallidays Stimme wurde leiser. »Sie gehören
verschiedenen Nationen an.«
»Aber ein Unternehmen?« sagte Converse. »Eine
Gesellschaft?«
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
»Wie wäre es mit einem einfachen Ja?«
»So einfach ist es eben nicht.«
-2 5
»Ich will dir sagen, was ist«, unterbrach Joel. »Ihr habt
Verdachtsmomente, also kümmert euch auch selbst darum,
den großen, bösen Wolf zur Strecke zu bringen. Ich bin im
Augenblick ausreichend beschäftigt.«
Halliday machte eine Pause, ehe er weitersprach. »Nein, das
bist du nicht«, sagte er leise.
Wieder herrschte Schweigen, und jeder musterte den anderen.
»Was hast du gesagt?« fragte Converse, und seine Augen
waren jetzt wie blaues Eis.
»Deine Partner haben verstanden. Du kannst unbezahlten
Urlaub nehmen.«
»Du anmaßender Hurensohn! Wer hat dir das Recht gegeben,
sie auch nur...«.
»General George Marcus Delavane«, unterbrach Halliday ihn.
Er sprach den Namen mit monotoner Stimme.
Es war, als wäre aus dem strahlend blauen Himmel plötzlich ein
Blitz heruntergefahren und hätte sich in Joels Augen gebrannt
und das Eis in Feuer verwandelt. Dann folgten Donnerschläge,
die in seinem Bewußtsein explodierten.
Die Piloten saßen um den langen, rechteckigen Tisch in der
Offiziersmesse, tranken ihren Kaffee und starrten entweder in
die braune Brühe oder gegen die grauen Wände. Keiner von
ihnen verspürte Lust, das Schweigen zu brechen. Vor einer
Stunde waren sie auf Pak Song heruntergestoßen, hatten alles
in Brand geschossen und damit den Vorstoß der
nordvietnamesischen Bataillone aufgehalten und den sich neu
formierenden südvietnamesischen und amerikanischen
Truppen, die bald unter brutaler Belagerung stehen würden,
eine Atempause verschafft. Schließlich hatten sie ihren Einsatz
beendet und waren zu ihren Flugzeugträgern zurückgekehrt
alle mit Ausnahme eines einzigen. Sie hatten ihren
kommandierenden Offizier verloren. Lieutenant Senior Grade
Gordon Ramsey war von einer Boden-Luft-Rakete getroffen
worden, die von einer Küstenbatterie aus gestartet und in
Ramseys Leitwerktanks eingeschlagen war; die Maschine
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explodierte in einem riesigen Feuerball, der Tod kam bei einer
Fluggeschwindigkeit von sechshundert Meilen in der Stunde,
ein Leben so schnell ausgelöscht wie ein Augenzwinkern.
Hinter dem Geschwader war eine Tiefdruckzone
heraufgezogen; es würde ein paar Tage keine Einsätze geben.
Damit hatten sie Zeit zum Nachdenken, und das war kein
angenehmer Gedanke.
»Lieutenant Converse«, sagte ein Matrose an der offenen Tür
der Offiziersmesse.
»Ja?«
»Der Captain läßt Sie zu sich bitten, Sir.« Eine sehr
wohlformulierte Einladung, überlegte Joel, während er aufstand
und den ernsten Blicken der anderen begegnete, die am Tisch
sitzen blieben. Er hatte mit der Aufforderung gerechnet, aber
sie war ihm unangenehm. Diese Beförderung war eine Ehre,
auf die er gern verzichtet hätte. Nicht, daß er älter oder
dienstälter als die anderen Piloten gewesen wäre; er hatte
einfach mehr Flugstunden hinter sich als alle anderen und
damit auch mehr Erfahrung. Erfahrung, die man als
Geschwaderführer brauchte.
Als er die schmale Treppe zur Brücke hinaufging, sah er am
Himmel die Silhouette eines riesigen Cobra-Helikopters der
Army, der sich dem Flugzeugträger näherte; jemand stattete
der Navy einen Besuch ab.
»Ein schrecklicher Verlust, Converse«, sagte der Captain, der
an seinem Kartentisch stand, und schüttelte traurig den Kopf.
»Und der Brief, den ich schreiben muß, wird mir wirklich
schwerfallen. Diese Briefe sind, weiß Gott, nie einfach, aber der
hier bereitet mir noch mehr Schmerz.«
»Wir empfinden alle das gleiche, Sir.« »Das kann ich mir
vorstellen.« Der Captain nickte. »Und ich kann mir auch
vorstellen, daß Sie wissen, weshalb ich Sie zu mir gebeten
habe.«
»Nicht genau, Sir.«
»Ramsey hat immer gesagt, Sie seien der Beste, und das
bedeutet, daß Sie jetzt eines der besten Geschwader im
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Südchinesischen Meer übernehmen werden.« Das Telefon klingelte und unterbrach den Kommandanten des Flugzeugträgers. Er nahm den Hörer ab. »Ja?« Mit dem, was folgte, hatte Joel nicht gerechnet. Der Captain runzelte zuerst die Stirn, dann spannten sich seine Gesichtsmuskeln, und seine Augen wirkten erschreckt und zornig zugleich. »Was?« rief er, und seine Stimme wurde lauter. »Und das ohne Vorankündigung - gab es keine Nachricht an die Funkzentrale?« Eine kurze Pause, dann knallte der Captain den Hörer auf die Gabel und schrie: »Himmel Herrgott!« Er blickte zu Converse. »Es scheint, daß uns die zweifelhafte Ehre einer unangekündigten Heimsuchung durch das Kommando Saigon zuteil wird. Und ich meine Heimsuchung!« »Ich gehe wieder hinunter, Sir«, sagte Joel und setzte zu einer Ehrenbezeigung an. »Nein, noch nicht, Lieutenant«, erwiderte der Captain leise, aber bestimmt. »Sie erhalten jetzt Ihre Befehle, und da sie die Luftoperationen dieses Schiffes betreffen, werden Sie sich diese Befehle bis zu Ende anhören. Zumindest soll Mad Marcus wissen, daß er die Navy in ihren Geschäften stört.« Die nächsten dreißig Sekunden dienten dem Ritual der Kommandoübertragung. Plötzlich klopfte es zweimal kurz hintereinander an der Türe, dann wurde sie geöffnet, und die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt von George Marcus Delavane schob sich herein und füllte den Raum mit der schieren Kraft ihrer Präsenz. »Captain?« sagte Delavane, grüßte trotz des niedrigeren Ranges des anderen als erster. Seine etwas schrille Stimme war höflich, nicht aber seine Augen. Die waren durchdringend und feindselig. »General«, konterte der Captain und erwiderte die Ehrenbezeigung gleichzeitig mit Converse. »Ist das eine unangekündigte Inspektion vom Kommando Saigon?«
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»Nein, es handelt sich um eine dringend erforderliche
Besprechung zwischen Ihnen und mir - zwischen Kommando
Saigon und einer ihr untergeordneten Außenstelle.«
»Ich verstehe«, sagte der Captain, der Mühe hatte, seinen Zorn
zurückzuhalten. »Im Augenblick bin ich dabei, diesem Mann
dringende Befehle zu erteilen.«
»Sie haben es für richtig gehalten, die meinen zu widerrufen!«
unterbrach ihn Delavane heftig.
»General, wir haben einen schweren, traurigen Tag hinter uns«,
antwortete der Captain. »Wir haben vor nicht einmal einer
Stunde einen unserer besten Piloten verloren...«
»Als er dabei war abzuhauen?« Wieder unterbrach Delavane,
und die Geschmacklosigkeit seiner Bemerkung wurde durch
den schrillen, nasalen Klang seiner Stimme noch unterstrichen.
»Haben die ihm den verdammten Hintern abgeschossen?«
»Das ist empörend!« sagte Converse, der sich nicht mehr
beherrschen konnte, in heftigem Ton. »Ich bin der Nachfolger
dieses Mannes und empfinde das, was Sie gerade gesagt
haben, als empörend - General!«
»Sie? Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Beruhigen Sie sich, Lieutenant. Sie können wegtreten.«
»Ich bitte mit allem Respekt darum, dem General antworten zu
dürfen!« schrie Joel und weigerte sich, den Raum zu verlassen.
»Was, Sie aufgeblasener Scheißer?«
»Mein Name ist...«
»Vergessen Sie es, es interessiert mich nicht!« Delavanes Kopf
fuhr wieder zu dem Captain herum. »Was ich wissen möchte,
ist, wie Sie auf die Idee kommen, meine Anweisungen zu
mißachten - die Anweisungen vom Kommando Saigon! Ich
habe einen Einsatz befohlen! Und Sie haben >mit allem
Respekt< abgelehnt, diesen Befehl auszuführen!«
»Sie sollten genausogut wie ich wissen, daß eine
Tiefdruckzone aufgezogen ist.«
»Meine Meteorologen sagen, daß trotzdem geflogen werden
kann!«
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»Ich kann mir vorstellen, daß Sie diese Aussage sogar dann
bekommen würden, wenn Sie sie während eines Burma-
Monsuns verlangen würden.«
»Das ist eine schwere Insubordination!«
»Das hier ist mein Schiff, und die militärischen Vorschriften
lassen keinen Zweifel daran, wer hier das Kommando führt.«
»Wollen Sie mich mit Ihrem Funkraum verbinden? Ich lasse mir
das Oval Office geben, und dann werden wir ja sehen, wie
lange Sie dieses Schiff noch führen!«
»Sie wollen sicher privat sprechen - vermutlich über einen
Zerhacker. Ich lasse Sie hinbringen.«
»Verdammt noch mal, ich habe viertausend Mann – davon
vielleicht zwanzig Prozent mit Kampferfahrung -, die in Sektor
fünf einziehen! Wir brauchen einen kombinierten
Tieffliegerangriff vom Land und vom Meer aus. Und den werden
wir auch bekommen, selbst wenn ich dafür sorgen muß, daß
man Ihren Arsch hier binnen einer Stunde wegschafft! Und das
schaffe ich, Captain... Wir sind hier, um zu gewinnen, zu
gewinnen, habe ich gesagt, und zwar alles! Wir können hier
keine Zuckerpüppchen brauchen, die sich vor jedem Risiko
drücken! Vielleicht haben Sie das bisher noch nicht gehört, aber
der Krieg ist eine riskante Angelegenheit! Wenn Sie nichts
riskieren, können Sie auch nichts gewinnen, Captain!«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, General. Der gesunde
Menschenverstand verlangt, daß man seine Verluste gering
hält, und wenn man das genügend oft tut, dann gewinnt man
die nächste Schlacht.«
»Ich werde diese hier gewinnen, mit Ihnen oder ohne Sie, Blue
Boy!«
»Ich rate Ihnen mit allem Respekt, Ihre Sprache zu mäßigen,
General.«
»Was?!« Delavanes Gesicht war wutverzerrt, und seine Augen
die eines wilden Tieres. »Sie geben mir einen Rat? Sie
erdreisten sich, Kommando Saigon einen Rat zu geben? Nun,
-3 0
Sie können tun, was Sie mögen - Blue Boy, in Ihren hübschen
Seidenhosen -, aber der Vormarsch ins Tho-Tal läuft.«
»Das Tho«, unterbrach Converse. »Das ist die erste Etappe der
Route Pak Song. Wir haben dort viermal angegriffen. Ich kenne
das Terrain.«
»Sie kennen es?« brüllte Delavane.
»Ja, aber ich bekomme meine Anweisungen vom
Kommandanten dieses Schiffes - General.«
»Sie aufgeblasener Scheißer, Sie nehmen Ihre Befehle vom
Präsidenten der Vereinigten Staaten entgegen! Er ist Ihr
oberster Befehlshaber! Und ich werde mir diese Befehle
besorgen!«
Delavanes Gesicht war nur wenige Zentimeter von Jods
entfernt, und sein irrer Ausdruck war wie eine Herausforderung
an jedes Nervenende in Joels Körper; Haß und Abscheu
mischten sich. Converse hörte selbst kaum die Worte, die er
sprach: »Ich würde dem General ebenfalls den Rat geben,
seine Sprache zu mäßigen.«
»Warum denn, Sie Scheißer? Hat der Blue Boy etwa Wanzen
in diesem Raum?«
»Ruhig Blut, Lieutenant! Ich habe gesagt, Sie sollen
wegtreten!«
»Sie wollen, daß ich meine Sprache mäßige, Sie mit Ihrer
kleinen goldenen Litze? Nein, Sonny Boy, passen Sie lieber
auf, was Sie sagen! - Wenn Ihre Staffel nicht um fünfzehn Uhr
in der Luft ist, dann sorge ich dafür, daß ganz Südostasien
erfährt, wie feige dieser Flugzeugträger und seine Besatzung
ist! Haben Sie das mitgekriegt, Blue Boy, mit Ihren
Seidenhosen?«
Wieder antwortete Joel und wunderte sich, während er sprach,
woher er den Mut dazu nahm. »Ich weiß nicht, woher Sie
kommen, aber ich hoffe inständig, daß wir uns einmal unter
anderen Gegebenheiten wiederbegegnen. Ich finde, Sie sind
ein Schwein.«
-3 1
»Insubordination! Und außerdem würde ich Ihnen den Arsch aufreißen!« »Wegtreten, Lieutenant!« »Nein, Captain!« schrie der General. »Vielleicht ist er doch der Mann, um diesen Einsatz zu führen. Also, was soll es sein, Blue Boy? Sie haben die Wahl - Sie fliegen, oder Sie bekommen Ihre Anweisung vom Präsidenten - oder Ihren Abschied?« Um 15.20 Uhr startete Converse mit seinem Geschwader vom Flugdeck des Trägers. Um 15.38 Uhr drangen sie in niedriger Höhe in die Wetterfront ein und erlitten die zwei ersten Ausfälle, als sie über der Küste Feuer erhielten; die beiden Maschinen an den Flügeln wurden abgeschossen - Feuertod bei sechshundert Meilen die Stunde. Um 15.46 Uhr explodierte Joels rechter Antrieb; bei der geringen Höhe, in der sie flogen, war ein direkter Treffer kein Problem. Um 15.46.30 Uhr stieg Converse mit dem Schleudersitz aus, sein Fallschirm wurde sofort in die schweren Schauer der Regenwolken hineingerissen. Während er heftig hin und her geschüttelt der Erde entgegenfiel und die Schirmgurte ihm schmerzhaft ins Fleisch schnitten, sah er jedesmal, wenn eine Bö ihn traf, in der Finsternis vor sich ein Bild. Das wutverzerrte Gesicht von General George Marcus Delavane. Einem Wahnsinnigen hatte er es zu verdanken, daß er jetzt eine unbestimmte Zeit in der Hölle verbringen würde. Die Verluste der Bodentruppen waren, wie er später erfuhr, noch unendlich viel größer. Delavane! Der Schlächter von Da Nang und Pleiku. Ein Mann, der sinnlos Tausende geopfert hatte, der ein Bataillon nach dem anderen in den Dschungel und die Berge getrieben hatte, ohne daß sie dafür ausgebildet waren oder über ausreichend Feuerkraft verfügten. Wieder ein gleißender Blitz vom Boulevard, ein blendender Reflex der Sonne vom Quai du Mont Blanc. Er war in Genf, nicht in einem nordvietnamesischen Lager, wo er Kinder in amerikanischer Uniform im Arm hielt, die sich übergaben, während sie ihre Geschichte erzählten, oder in San Diego, wo -3 2
er die United States Navy verließ. Er war in Genf... und der
Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß, wußte alles, was er
dachte und empfand.
»Warum ich?« fragte Joel
»Weil man dich, wie man mir sagte, motivieren könnte«, sagte
Halliday. »Das ist die schlichte Antwort. Man hat mir eine
Geschichte erzählt. Der Captain eines Flugzeugträgers
weigerte sich, einen Befehl Delavanes auszuführen und seine
Flugzeuge starten zu lassen. Ein Unwetter war aufgekommen;
er nannte den Befehl selbstmörderisch. Aber Delavane zwang
ihn, drohte damit, das Weiße Haus anzurufen und den Captain
seines Kommandos entheben zu lassen. Du hast jenen Einsatz
geführt. Damals hat es dich erwischt.«
»Ich lebe noch«, sagte Converse ausdruckslos. »Zwölfhundert
andere haben den nächsten Tag nicht mehr erlebt, und
wahrscheinlich tausend weitere wünschten sich, sie hätten
sterben dürfen.«
»Und du warst in der Kabine des Captains, als Mad Marcus
Delavane seine Drohungen ausstieß.«
»Das war ich«, sagte Converse tonlos. Dann schüttelte er
verwirrt den Kopf. »Alles, was ich dir erzählt habe - über mich -,
das hast du alles schon einmal gehört.«
»Es gelesen«, korrigierte ihn der Anwalt aus Kalifornien. »Wie
du - und ich glaube, wir sind die Besten in diesem Geschäft
unter Fünfzig -, halte ich nicht soviel von dem geschriebenen
Wort. Ich muß eine Stimme hören, ein Gesicht sehen.«
»Ich habe dir nicht geantwortet.«
»Das brauchtest du auch nicht.«
»Aber du mußt mir antworten. Jetzt .. Du bist doch für Com -
Tech-Bern hier, oder?«
»Ja, das stimmt schon«, sagte Halliday. »Nur daß die
Schweizer nicht zu mir gekommen sind, sondern ich zu ihnen.
Ich habe dich beobachtet, auf den richtigen Augenblick
gewartet. Es mußte der richtige Augenblick sein, es mußte
natürlich aussehen und geografisch logisch.«
-3 3
»Warum? Was meinst du damit?«
»Weil man mich beobachtet... Rosen hatte einen Herzinfarkt.
Ich habe davon gehört, Bern kontaktiert und einen plausiblen
Fall für mich daraus gemacht.«
»Dein Ruf hat genügt.«
»Der half, aber ich brauchte mehr. Ich sagte, wir würden uns
kennen, seit langer Zeit - was ja, weiß Gott, stimmt -, und dann
deutete ich an, daß ich größten Respekt vor dir hätte und
wüßte, daß du in Abschlußverhandlungen äußerst geschickt
seist... und daß ich deine Methoden genau kennen würde. Und
dann habe ich einen genügend hohen Preis verlangt.«
»Eine unwiderstehliche Kombination für die Schweizer«, sagte
Converse.
»Deine Billigung freut mich.«
»Aber nein«, widersprach Joel. »Ich billige das überhaupt nicht.
Zuallerletzt deine Methoden. Du hast mir überhaupt nichts
gesagt, nur geheimnisvolle Andeutungen über eine unbekannte
Gruppe von Leuten gemacht, von der du sagst, daß sie
gefährlich sei. Und dann den Namen eines Mannes ins Spiel
gebracht, von dem du wußtest, daß er bei mir eine Reaktion
provozieren würde. Vielleicht bist du doch ein Freak und im
Herzen immer noch ein Hippie.«
»Jemanden einen >Freak< zu nennen, ist äußerst
präjudizierend, Herr Anwalt, und würde mit Sicherheit aus dem
Protokoll gestrichen werden.«
»Trotzdem sage ich es, Herr Kollege«, erwiderte Converse in
stummem Zorn. »Und zwar hier und jetzt.«
»Du solltest den Sicherheitsaspekt nicht unterschätzen«, fuhr
Halliday ruhig und eindringlich fort. »Ich bin in Gefahr, und
abgesehen von einer gewissen Neigung zur Feigheit, derer ich
mich schuldig bekennen muß, gibt es da in San Francisco eine
Frau und fünf Kinder, die mir sehr wichtig sind.«
»Also bist du zu mir gekommen, weil ich so etwas nicht habe?«
»Ich bin zu dir gekommen, weil dich niemand kennt, weil du
noch nicht in die Sache verwickelt bist und weil du der Beste
-3 4
bist, den es gibt, und ich es nicht tun kann! Mir sind gesetzlich
die Hände gebunden, und es muß legal geschehen.«
»Warum sagst du nicht, was du meinst?« wollte Converse
wissen. »Wenn du das nämlich jetzt nicht tust, stehe ich auf,
und dann sehen wir uns nachher am Konferenztisch.«
»Ich habe Delavane vertreten«, erwiderte Halliday hastig. »So
wahr mir Gott helfe, ich wußte nicht, was ich tat, und nur sehr
wenige Leute haben das gebilligt, aber ich hatte eine Antwort
darauf, die zu allen Zeiten gültig war. Auch unpopuläre Sachen
und Leute verdienen es, daß man sie vertritt.«
»Dagegen kann ich wenig vorbringen.«
»Du kennst die Sache nicht. Ich schon. Ich habe es
herausgefunden.«
»In welcher Sache?«
Halliday lehnte sich vor. »Die Generale«, sagte er mit kaum
hörbarer Stimme. »Sie kommen zurück.«
Joel sah den Kalifornier scharf an. »Woher? Ich wußte nicht,
daß sie je verschwunden waren.«
»Aus der Vergangenheit«, sagte Halliday.
Converse lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Augen
blickten jetzt amüsiert. »Du lieber Gott, ich dachte, du und
deinesgleichen, ihr wäret ausgestorben. Sprichst du von der
Gefahr aus dem Pentagon, Press... >Press< stimmt doch,
oder? Die Kurzform aus San Francisco oder Haight Ashbury,
oder war es Beverly Hills? Du bist etwas hinter deiner Zeit
zurück; ihr habt die Rekrutierungsbüros längst gestürmt.«
»Bitte, mach keine Witze. Mir ist das bitterernst.«
»Natürlich. Sieben Tage im Mai hieß der Film, glaube ich. Oder
Fünf Tage im August? Jetzt ist August, also wollen wir das
Szenario doch >Die alten Kanonen des August< nennen. Klingt
gut, finde ich.«
»Hör auf!« flüsterte Halliday. »Daran ist überhaupt nichts
Komisches, und wenn, dann wüßte ich das vor dir.«
»Das soll eine Erklärung sein, nehme ich an«, sagte Joel.
-3 5
»Da hast du verdammt recht, weil ich nicht das durchgemacht habe, was du durchgemacht hast. Ich habe mich rausgehalten, mich hat man nicht hereingelegt. Das bedeutet, daß ich über die Fanatiker lachen kann, weil sie mir nie weh getan haben. Und ich glaube immer noch, daß Lachen die beste Waffe ist, die es gibt. Aber nicht jetzt. Jetzt gibt es nichts zu lachen!« »Erlaub mir ein leises Schmunzeln«, sagte Converse, ohne zu lächeln. »Ich habe selbst in meinen paranoidesten Augenblicken nie an die Verschwörungstheorie geglaubt, wonach das Militär die wahre Macht in Washington sei. Dazu könnte es niemals kommen.« »Vielleicht weniger augenfällig als in anderen Ländern, aber mehr kann ich dir wirklich nicht zugestehen.« »Was soll das heißen?« »In Israel wäre es zweifellos offensichtlicher, ganz bestimmt in Johannesburg, möglicherweise auch in Frankreich und Bonn, und selbst in England - dort hat man sich nie groß bemüht, die Öffentlichkeit zu täuschen. Aber wahrscheinlich hat das, was du sagst, doch etwas für sich. Washington wird sich so lange in den Mantel seiner Verfassung hüllen, bis er fadenscheinig geworden ist und herunterfällt. Und dann kommt darunter wie zufällig eine Uniform zum Vorschein.« Joel starrte in das Gesicht auf der anderen Seite des Tisches und hörte auf die Stimme, die leise und eindringlich an sein Ohr drang. »Du machst hoffentlich keine Witze, oder? Und du bist klug genug, mir nichts vorzumachen.« »Oder dich hereinzulegen«, fügte Halliday hinzu. »Nein, nicht nach alldem, was ich mir sagen lassen mußte, während dich das Fernsehen auf der anderen Seite der Welt in deinem Sträflingspyjama zeigte. Das könnte ich nicht.« »Ich denke, ich glaube dir... Du hast einige Länder erwähnt, ganz spezielle Länder. Einige sagen mir nichts, andere kaum etwas; ein paar wecken Erinnerungen an Blut und schlimmere Dinge. Absichtlich?« »Ja«, nickte der Kalifornier. »Es macht sowieso keinen Unterschied, denn die Gruppe, von der ich spreche, ist der -3 6
Ansicht, eine Idee zu besitzen, die am Ende alle diese Länder
vereinen wird. Und sie alle führen wird... auf ihre Art.« »Die der
Generale?«
»Und Admirale und Brigadiers und Feldmarschälle... alte
Soldaten, die ihre Zelte im richtigen Lager aufgeschlagen
haben. So weit rechts, daß es seit dem Reichstag nur eine
Bezeichnung für sie gibt.«
»Jetzt hör aber auf, Avery!« Converse schüttelte konsterniert
den Kopf. »Ein paar müde, alte Kriegsrösser...«
»Die junge, harte, fähige neue Kommandeure rekrutieren und
indoktrinieren«, unterbrach Halliday ihn.
»... die sich ihren letzten Huster abquälen...« Joel hielt inne.
»Hast du dafür Beweise?« fragte er und betonte jedes einzelne
Wort.
»Nicht genug... aber wenn man ein wenig nachbohrt... dann
reicht es vielleicht.«
»Verdammt, hör auf, um den Brei herumzureden.« »Unter den
möglichen Rekruten sind vielleicht zwanzig Namen aus dem
State Department und dem Pentagon«, sagte Halliday.
»Männer, die Exportlizenzen erteilen und Millionen und
Abermillionen ausgeben, weil sie die Befugnis dazu haben, was
natürlich automatisch jeden Freundeskreis vergrößern hilft.«
»Und den Einfluß«, erklärte Converse. »Was ist mit London,
Paris und Bonn, Johannesburg und Tel Aviv?«
»Wiederum Namen.«
»Wodurch gesichert?«
»Es gibt sie, ich habe sie selbst gesehen. Es war ein Zufall. Wie
viele einen Eid abgelegt haben, weiß ich nicht, aber es gibt sie,
und ihre Rangabzeichen paßten zu ihrer Philosophie.«
»Der Reichstag?«
»Alles, was sie brauchen, ist ein Hitler.«
»Und wo kommt Delavane ins Spiel?«
»Der könnte einen salben. Er könnte den Führer bestimmen.«
»Das ist doch lächerlich. Wer würde ihn schon ernst nehmen?«
-3 7
»Man hat ihn schon einmal ernst genommen. Die Folgen hast
du selbst erlebt.«
»Das war damals, nicht heute. Du antwortest nicht auf meine
Frage.«
»Mach dir doch nichts vor, dort draußen gibt es Tausende von
Männern, die noch heute denken, daß Delavane damals im
Recht war. Aber was einem den Schlaf rauben kann, ist, daß es
ein paar Dutzend Leute gibt, die genügend Geld haben, um
seinen und ihren Wahnsinn auch zu finanzieren - etwas, was
sie natürlich nicht als Wahnsinn und Verblendung ansehen,
sondern als einzig sinnvolle Entwicklung der Geschichte,
nachdem ja alle anderen Ideologien schmählich gescheitert
sind.«
Joel setzte zum Sprechen an, hielt inne, als ihm ein neuer
Gedanke kam. »Warum bist du nicht zu jemandem gegangen,
der sie aufhalten kann? Der ihn aufhalten kann?«
»Zu wem denn?«
»Das solltest du mich nicht fragen müssen. Es gibt eine ganze
Anzahl solcher Leute in der Regierung - ob sie nun gewählt
oder eingesetzt sind - und den Ministerien. Da wäre zunächst
einmal das Justizministerium.«
»Die würden mich zum Gespött von ganz Washington
machen«, erwiderte Halliday. »Aber abgesehen von der
Tatsache, daß wir keine Beweise haben - ich sagte ja, nur
Namen und Vermutungen -, solltest du nicht vergessen, daß ich
einmal als Hippie abgestempelt war. Das Etikett würde man mir
wieder umhängen und mir empfehlen, doch gefälligst zu
verschwinden.«
»Aber du hast Delavane vertreten.«
»Was ja die juristische Seite nur noch komplizierter macht, das
sollte ich dir nicht sagen müssen.«
»Die Anwalt-Mandanten-Beziehung«, führte Converse den Satz
zu Ende. »Du stehst im Morast, ehe du überhaupt eine Anklage
vorbringen kannst. Sofern du keine harten und wirklich
zwingenden Beweise gegen deinen Mandanten hast, Beweise,
-3 8
daß er weitere Verbrechen begehen will und daß du diese Verbrechen durch weiteres Stillschweigen unterstützen würdest.« »Und solche Beweise besitze ich nicht«, unterbrach der Kalifornien »Dann wird niemand auf dich hören«, fügte Joel hinzu. »Ganz besonders nicht die ehrgeizigen Anwälte im Justizministerium; die wollen sich für ihre Zeit nach dem Regierungsdienst nichts verbauen. Wie du ganz richtig sagst, die Delavanes dieser Welt haben ihre Anhänger.« »Richtig«, pflichtete Halliday bei. »Und als ich anfing, Fragen zu stellen, und versuchte, Delavane zu erreichen, war er nicht bereit, mich zu empfangen oder auch nur mit mir zu sprechen. Statt dessen bekam ich einen Brief, in dem stand, daß ich entlassen sei... daß er mich nie unter Vertrag genommen hätte, wenn er gewußt hätte, was ich einmal war. >Ein Mensch, der Hasch geraucht und demonstriert hat, während tapfere junge Männer dem Ruf des Vaterlandes folgten. <« Converse pfiff leise durch die Zähne. »Und du behauptest, daß man dich hereingelegt hätte? Du lieferst ihm juristische Unterstützung, eine Struktur, die er ganz legal nutzen kann, und wenn dann etwas zu stinken anfängt, bist du der Letzte, der auf ihn zeigen kann. Er hüllt sich in die Flagge des alten Soldaten und nennt dich einen rachsüchtigen Freak.« Halliday nickte. »In dem Brief stand noch viel mehr -nichts, das mich verletzen konnte - nur in seinen Augen -, aber es war brutal.« »Da bin ich sicher.« Converse holte ein Päckchen Zigaretten heraus, hielt es seinem Gegenüber hin, aber Halliday schüttelte den Kopf. »Was hast du denn für ihn getan?« fragte Joel. »Ich habe eine Firma gegründet, ein kleines Beratungsunternehmen in Palo Alto, das sich auf Import und Export spezialisierte. Was zulässig ist; es geht um Einfuhrquoten und wie man auf legalem Weg an die Leute in Washington herankommt, die einem zuhören. Im Grunde handelte es sich um eine Art Lobby, den Versuch, aus einem -3 9
Namen Kapital zu schlagen, falls sich jemand an ihn erinnern
sollte. Damals kam mir das alles ziemlich rührend vor.«
»Ich dachte, du hättest gesagt, die Firma sei nicht registriert«,
bemerkte Converse.
»Das ist auch nicht die, hinter der wir her sind. Sich darum zu
kümmern, wäre Zeitvergeudung.«
»Aber dort hast du doch deine ersten Informationen
bekommen, nicht wahr? Deine Hinweise?«
»Das war ein reiner Zufall, so etwas wird nicht wieder
geschehen. Das ganze Unternehmen ist rechtlich so makellos
wie das reinste Weiß, das es je gab.«
»Trotzdem ist es nur eine Fassade«, beharrte Joel. »Das muß
es sein, wenn alles oder auch nur ein Teil von dem, was du
gesagt hast, wahr ist.«
»Das ist es, und du hast ja auch recht. Doch es gibt nichts
Schriftliches. Das Unternehmen bietet aber einen guten
Vorwand zum Reisen, ein Vorwand für Delavane und seine
Umgebung, von einem Platz zum anderen zu kommen, indem
sie sich legitimen Geschäften widmen. Aber wenn sie dann an
einem bestimmten Ort sind, tun sie dort das, was sie wirklich
interessiert.«
»Das Rekrutieren der Generale und Feldmarschälle?« sagte
Converse.
»Wir meinen, daß es sich um eine Art Missionstätigkeit handelt.
Sehr leise und sehr intensiv.«
»Wie nennt sich Delavanes Firma denn?«
»Palo Alto International. Bist du interessiert?«
»Nicht daran, für jemanden zu arbeiten, den ich nicht kenne.
Nein, ich bin nicht interessiert.«
»Siehst du wenigstens die Gefahr in dem, was ich dir
dargestellt habe?«
»Wenn das stimmt, was du mir gesagt hast, und ich kann mir
nicht vorstellen, weshalb du lügen solltest. Das hast du doch
gewußt.«
-4 0
»Angenommen«, fuhr Halliday schnell fort, »ich würde dir einen
Brief geben, in dem steht, daß dir ein Betrag von
fünfhunderttausend Dollar zur Verfügung gestellt wird über ein
Konto auf der Insel Mykonos, das von einem Mandanten von
mir eingerichtet worden ist, dessen Charakter und Ruf von
höchstem Rang sind. Daß seine...«
»Augenblick, Press«, unterbrach Converse ihn hart.
»Bitte unterbrich mich nicht. Bitte!« Hallidays Augen hefteten
sich fest an Joel, sein Blick war starr und von verzehrender
Intensität. »Es gibt keine andere Möglichkeit, nicht jetzt. Ich bin
bereit, meinen Namen - meine Berufsehre - aufs Spiel zu
setzen. Ein Mann, den ich als einen hervorragenden Bürger
kenne, der auf Anonymität besteht, will dich damit beauftragen,
vertrauliche Arbeit auf deinem Spezialgebiet für ihn zu
erledigen. Ich verbürge mich sowohl für den Mann als auch für
die Arbeit, die er von dir haben möchte, und leiste einen Eid
nicht nur auf die Legalität seiner Ziele, sondern auch auf den
außergewöhnlichen Nutzen, der aus jedem noch so kleinen
Erfolg von dir erwachsen könnte. Du bist gedeckt, du hast
fünfhunderttausend Dollar, und du hast - ich nehme an, das ist
dir ebenso wichtig, vielleicht noch mehr - die Chance, einen
Wahnsinnigen, Wahnsinnige daran zu hindern, einen
unvorstellbaren Plan zu verwirklichen. Ansonsten werden sie
zumindest Unruhe erzeugen, wo sie können, überall politische
Krisen anzetteln und ungeheures Leid über die Menschen
bringen. Und schlimmstenfalls könnten sie den Lauf der
Geschichte in einem solchen Maße ändern, daß es danach
keine Geschichte mehr geben wird.«
Converse saß starr in seinem Stuhl, ohne den Blick von seinem
Gegenüber zu wenden. »Das war eine beachtliche Rede. Hast
du lange gebraucht, sie einzuüben?«
»Nein, du Hurensohn! Es war nicht nötig, sie einzuüben.
Ebensowenig wie du deine kleine Explosion vor dem
Offiziersausschuß vor zwölf Jahren in San Diego nicht einüben
mußtest. >Man darf solchen Männern heute keinen Platz mehr
lassen, verstehen Sie denn nicht? Er war der Feind, unser
Feind!< .. .Das waren doch deine Worte, oder?«
-4 1
»Sie haben sich gut vorbereitet, Herr Anwalt«, sagte Joel, der
seinen Zorn gut unter Kontrolle hielt. »Warum besteht dein
Mandant denn darauf, anonym zu bleiben? Warum nimmt er
denn nicht sein Geld, macht eine politische Spende und spricht
mit dem Direktor der CIA oder dem Nationalen Sicherheitsrat
oder dem Weißen Haus? Das müßte ihm doch ziemlich
leichtfallen. Eine halbe Million Dollar ist ja auch heutzutage kein
Pappenstiel.«
»Weil er in keiner Weise offiziell in Erscheinung treten darf.«
Halliday runzelte die Stirn, als er das sagte. »Ich weiß, das
klingt verrückt, aber es ist so. Er ist ein hervorragender Mann,
und ich bin zu ihm gegangen, weil ich nicht mehr weiter wußte.
Offen gestanden hatte auch ich damit gerechnet, daß er den
Telefonhörer abnehmen und genau das tun würde, was du
gerade gesagt hast. Das Weiße Haus anrufen, wenn es sein
müßte. Aber er wollte diesen Weg gehen.«
»Mit dir?«
»Tut mir leid, dich kannte er nicht. Er hat etwas sehr Seltsames
zu mir gesagt. Er hat mir gesagt, ich solle jemanden finden, der
diese Dreckskerle abschießt, ohne ihnen die Ehre zuteil werden
zu lassen, daß die Regierung sich ihrer annimmt, ja, sie auch
nur zur Kenntnis nimmt. Zuerst konnte ich das nicht verstehen,
später schon. Es paßte zu meiner Theorie, daß man die
Delavanes dieser Welt viel gründlicher ihrer Macht beraubt,
wenn man sie auslacht, als wenn man irgendwelche andere
Mittel gegen sie einsetzt.«
»Es nimmt ihnen auch den letzten Hauch von Märtyrertum«,
fügte Converse hinzu. »Aber warum tut dieser... hervorragende
Bürger... das, was er tut? Warum ist es ihm so viel Geld wert?«
»Wenn ich dir das sagte, würde ich die Vertraulichkeit brechen,
die wir vereinbart haben.«
»Ich habe dich nicht nach seinem Namen gefragt. Ich möchte
nur seine Gründe wissen.«
»Wenn ich dir die sage«, antwortete der Kalifornier, »würdest
du wissen, wer er ist. Das kann ich nicht. Aber glaube mir, du
würdest ihn verstehen.«
-4 2
»Nächste Frage«, sagte Joel, dessen Stimme jetzt schärfer
klang. »Was, zum Teufel, hast du zu Talbot und Brooks gesagt,
daß sie so leicht zugestimmt haben?«
»Was sie schließlich dazu brachte nachzugeben, kann ich dir
sagen«, erklärte Halliday. »Ich hatte Unterstützung. Kennst du
Richter Lucas Anstett?«
»Zweites Appellationsgericht«, sagte Converse und nickte. »Er
hätte es schon seit Jahren verdient, an den Obersten
Gerichtshof berufen zu werden.«
»Darüber scheint allenthalben Einigkeit zu herrschen. Er ist
ebenfalls ein Freund meines Klienten, und so wie ich das
verstehe, hat er sich mit John Talbot und Nathan Simon
getroffen - Brooks war verreist -, und ihnen, ohne den Namen
meines Klienten preiszugeben, gesagt, daß es da ein Problem
gibt, das sich leicht zu einer nationalen Krise entwickeln könnte,
wenn man nicht sofort handelt. Er hat ihnen erklärt, daß einige
amerikanische Firmen in die Sache verwickelt seien, ihre
Wurzeln aber hauptsächlich in Europa lägen und den Einsatz
eines erfahrenen internationalen Anwalts erforderten. Falls ihr
Juniorpartner Joel Converse ausgewählt würde und der den
Auftrag akzeptierte - würden sie dann in eine Beurlaubung
einwilligen, um ihm die Möglichkeit zu geben, die Angelegenheit
vertraulich zu verfolgen? Natürlich unterstützte der Richter das
Projekt in vollem Umfang.«
»Und natürlich haben Talbot und Simon zugestimmt«, sagte
Joel. »Man lehnt nicht etwas ab, das Anstett von einem fordert.
Er ist viel zu überzeugend, ganz zu schweigen von der Macht,
die seine Position ihm verleiht.«
»Ich glaube nicht, daß er diesen Hebel ansetzen würde.«
»Aber er könnte.«
Halliday griff in die Jackettasche und holte einen langen weißen
Umschlag heraus. »Hier ist der Brief. Er enthält alles, was ich
gesagt habe. Auf einem gesonderten Blatt steht, wie die Sache
in Mykonos zu regeln ist. Sobald du der Bank die
entsprechenden Anweisungen gibst - wie du das Geld haben
möchtest, wohin es überwiesen werden soll -, wird man dir den
-4 3
Namen eines Mannes nennen, der auf der Insel wohnt; er lebt im Ruhestand. Ruf ihn an, er wird dir sagen, wo und wie du dich mit ihm treffen kannst. Er kennt alles, was wir dir zur Unterstützung geben können. Die Namen, die Verbindungen, so wie wir sie sehen, und die Aktivitäten, mit denen sie sehr wahrscheinlich befaßt sind und die die Gesetze ihrer jeweiligen Regierungen verletzen -, indem sie Waffen, Material und technologische Informationen in Weltgegenden bringen, in die man sie besser nicht schicken sollte. Du brauchst nur zwei oder drei Fälle aufzubauen, die mit Delavane in Verbindung stehen wenn auch nur indirekt -, das wird genügen. Wir ziehen dann alles ins Lächerliche. Das wird genügen.« »Woher, zum Teufel, nimmst du diese Frechheit?« sagte Converse zornig. »Ich habe mich mit gar nichts einverstanden erklärt! Du hast für mich keine Entscheidungen zu treffen, und Talbot und Simon auch nicht. Und ebenso nicht der heilige Richter Anstett oder dein verdammter Klient! Was bildest du dir eigentlich ein? Du hast mich abgeschätzt wie ein altes Rennpferd und hinter meinem Rücken Verabredungen für mich getroffen. Wofür haltet ihr euch eigentlich?« »Für besorgte Leute, die glauben, zur richtigen Zeit den richtigen Mann für die richtige Aufgabe gefunden zu haben«, erwiderte Halliday und ließ den Umschlag vor Joel auf den Tisch fallen. »Nur, daß uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Du hast das selbst einmal miterlebt, was die für uns vorhaben, und du weißt, wie es ist.« Plötzlich stand der Kalifornier auf. »Denk darüber nach. Wir reden später weiter. Übrigens, die Schweizer wissen, daß wir uns heute morgen getroffen haben. Wenn dich jemand fragt, worüber wir gesprochen haben, dann sage ihnen, daß ich mich mit der Verteilung der Vorzugsaktien einverstanden erklärt habe. Das ist für meine Auftraggeber von Vorteil, selbst wenn du anderer Meinung sein solltest. Vielen Dank für den Kaffee. Wir sehen uns in einer Stunde am Konferenztisch... Nett, dich wiedergesehen zu haben, Joel.« Der Kalifornier eilte zwischen den Tischen davon und trat durch das Messingtor des Chat Botte in das helle Sonnenlicht auf den Quai du Mont Blanc hinaus. -4 4
Die Konsole für die Telefonanlage war in die Schmalseite des
langen, dunklen Konferenztisches eingelassen. Das leise
Summen entsprach der würdigen Umgebung. Der juristische
Vertreter des Kantons Genf, der als neutraler
Verhandlungsleiter fungierte, nahm den Hörer ab und sprach
mit leiser Stimme, nickte zweimal und legte dann den Hörer
wieder auf. Er sah sich am Tisch um; sieben der acht Anwälte
befanden sich an ihren Plätzen und redeten leise miteinander.
Der achte, Joel Converse, stand vor einem mächtigen, von
Gardinen eingefaßten Fenster mit dem Blick auf den Quai
Gustave Ador. Der riesige Jet d'Eau stach in den Himmel, die
pulsierende Gischt erfüllte die Luft und wurde von dem
anstürmenden Nordwind in Kaskaden nach links gedrückt. Der
Himmel begann sich zu verdunkeln. Ein Sommergewitter zog
von den Alpen heran.
»Messieurs«, sagte der Verhandlungsleiter. Die Gespräche
verstummten und die Gesichter wandten sich dem Schweizer
zu. »Das war Mr. Halliday. Er ist aufgehalten worden, bittet Sie
aber fortzufahren. Sein Kollege, Monsieur Rogeteau, kennt
seine Empfehlungen, und außerdem sagte er, daß er sich
bereits heute morgen mit Monsieur Converse getroffen habe,
um eine der letzten Einzelheiten zu klären. Stimmt das,
Monsieur Converse?«
Wieder drehten sich die Köpfe, jetzt zu der Gestalt, die am
Fenster stand. Keine Antwort. Converse starrte weiter auf den
See hinaus.
»Monsieur Converse?«
»Wie bitte?« Joel drehte sich herum, seine gerunzelte Stirn ließ
erkennen, daß seine Gedanken irgendwo in weiter Ferne
waren, weitab von Genf.
»Stimmt das, Monsieur?«
»Wie war Ihre Frage, bitte?«
»Sie haben sich heute morgen mit Monsieur Halliday
getroffen?«
Converse machte eine Pause. »Das stimmt«, antwortete er.
-4 5
»Und?«
»Und... er hat sich mit der Aufteilung der Vorzugsaktien
einverstanden erklärt.«
Ein Murmeln der Erleichterung ging durch die Reihen der
Amerikaner, während die Gruppe aus Bern stumm akzeptierte.
Die Reaktionen blieben Joel nicht verborgen, und er hätte
diesem Thema unter anderen Umständen zusätzliche
Überlegung gewidmet. Obwohl Halliday der Ansicht gewesen
war, daß diese Lösung einen Vorteil für Bern bedeutete, war
alles zu leicht gegangen; Joel hätte das jedenfalls
aufgeschoben und zumindest noch eine Stunde lang analysiert.
Aber irgendwie war es ohne Belang. Verdammt sollte er sein!
dachte Converse.
»Dann wollen wir doch so fortfahren, wie Monsieur Halliday
vorgeschlagen hat«, sagte der Verhandlungsleiter und sah auf
die Uhr.
Aus einer Stunde wurden zwei und schließlich drei, die
Stimmen erhoben sich immer wieder, während Blätter hin und
her gereicht, Punkte geklärt, einzelne Abschnitte abgezeichnet
wurden. Halliday war immer noch nicht erschienen. Lampen
wurden eingeschaltet, als sich der Mittagshimmel draußen
verdunkelte; man sprach von einem auf ziehenden Sturm.
Dann waren hinter der dicken Eichentür des Konferenzsaales
plötzlich Schreie zu hören. Sie schwollen an, wurden lauter, bis
jeder, der sie hörte, von Schreckensbildern gepeinigt dasaß.
Einige der Verhandlungsteilnehmer brachten sich unter dem
Tisch in Sicherheit, andere sprangen von ihren Stühlen auf und
blieben dort starr vor Schreck stehen, ein paar rannten zur
Türe, unter ihnen Converse. Der Verhandlungsleiter drückte die
Klinke nieder und riß die Tür mit solcher Gewalt auf, daß sie
gegen die Wand schlug. Den Anblick, der sich ihnen bot, würde
keiner von ihnen je wieder vergessen. Joel warf sich gegen das
Knäuel von Menschenleibern, stieß sie zur Seite und bahnte
sich einen Weg in den Vorraum.
Er sah Avery Fowler, das weiße Hemd blutdurchtränkt, die
Brust übersät mit winzigen blutenden Einschußlöchern. Als der
-4 6
Schwerverletzte zu Boden stürzte, öffnete sich der Hemdkragen
und ließ noch mehr Blut an Fowlers Hals erkennen. Joel wußte
nur zu gut, was der keuchende Atem zu bedeuten hatte. Oft
hatte er in den Lagern die Köpfe von Kindern gehalten, wenn
sie in Zorn und letzter Todesangst weinten. Jetzt hielt er Avery
Fowlers Kopf und senkte ihn langsam zu Boden.
»Mein Gott, was ist passiert?« schrie Converse, den
Sterbenden in seinen Armen.
»Sie sind... wieder da«, keuchte der Schulkamerad von einst.
»Der Lift. Sie haben mich im Lift erwischt! ... Sie sagten, das sei
für Aquitania, das war der Name, den sie gebraucht haben...
Aquitania. O Gott! Meg... die Kinder...!« Avery Fowlers Kopf
wurde von einem Krampf auf die rechte Schulter geschleudert,
dann stieß seine blutige Kehle den letzten Atem aus.
A. Preston Halliday war tot. Converse stand im Regen, die Kleider durchnäßt, und starrte auf die unsichtbare Stelle im Wasser, wo noch vor einer Stunde die Fontäne in den Himmel geschossen war und verkündet hatte, daß dies Genf war. Der See war zornig, an die Stelle der eleganten weißen Segel war eine Unzahl weißer Schaumkronen getreten. Nirgends waren mehr Spiegelungen zu sehen. Aber von Norden her hallte ferner Donner. Aus den Alpen. Und Joels Verstand war wie erstarrt.
2 Er ging an der langen, mit Marmor bedeckten Empfangstheke des Hotels Richemond vorbei, auf die Wendeltreppe zur Linken zu. Das war Gewohnheit; seine Suite befand sich im ersten Stock, und die messingvergitterten, mit weinfarbenem Samt ausgeschlagenen Lifts waren eher schön als schnell. Außerdem genoß er es, an den Vitrinen mit unerhört teurem, hell beleuchtetem Juwelenschmuck vorbeizugehen, die die Wände des eleganten Treppenhauses säumten - schimmernde Diamanten, blutrote Rubine, Colliers aus feingearbeitetem Gold. Irgendwie erinnerten sie ihn an die Wende, eine -4 7
außergewöhnliche Wende. Für ihn. Für ein Leben, von dem er geglaubt hatte, daß es durch Gewalt enden würde, Tausende von Meilen entfernt, in einem Dutzend verschiedener und doch immer gleicher, von Ratten heimgesuchter Zellen, mit halb ersticktem Gewehrfeuer und den Schreien von Kindern in pechschwarzer Ferne. Diamanten, Rubine und Gold waren Symbole des Unerreichbaren und Unrealistischen, aber sie waren da, und er ging an ihnen vorbei, sah sie an, lächelte über ihre Existenz... und sie schienen seine Gegenwart zu bestätigen; große, leuchtende Augen von ungeheurer Tiefe, die ihn anstarrten und ihm sagten, daß sie da waren, daß er da war. Wende. Aber jetzt sah er sie nicht, und sie bestätigten auch nicht seine Existenz. Er sah nichts, fühlte nichts; jede Faser seines Geistes und seines Körpers war wie betäubt, schien im luftleeren Raum zu hängen. Ein Mann, den er als Junge mit Namen gekannt hatte, war Jahre später in seinen Armen unter einem anderen Namen gestorben, und die Worte, die er im grauenerfüllten Moment des Todes geflüstert hatte, waren ebenso unverständlich wie lähmend. Aquitania. Die haben gesagt, das sei für Aquitania... Wo blieb da der gesunde Menschenverstand? Was bedeuteten die Worte, und weshalb war er in diesen Strudel hineingezogen worden? Er war hineingezogen worden, das wußte er, und jene schreckliche Manipulation war mit Verstand betrieben worden. Der Magnet war ein Name, ein Mann. George Marcus Delavane, der Todesfürst von Saigon. »Monsieur!« Der halb unterdrückte Ruf kam von unten; er drehte sich auf der Treppe um und sah den förmlich gekleideten Concierge quer durch die Halle eilen und dann die Stufen hinauf. Der Mann hieß Henri, sie kannten einander seit beinahe fünf Jahren. Und ihre Freundschaft ging weit über das hinaus, was an Beziehung zwischen leitenden Hotelangestellten und Hotelgästen häufig besteht. Sie hatten öfter miteinander in Divonne-les-Bains gespielt, an den Backarat-Tischen auf der anderen Seite der französischen Grenze. -4 8
»Hello, Henri.«
»Mon Dieu, ist mit Ihnen alles in Ordnung, Joel? Ihr Büro hat
mehrmals angerufen. Ich habe es im Radio gehört, ganz Genf
spricht davon! Narcotiques! Drogen, Verbrechen, Waffen. ..
Mord! Jetzt kommt das sogar zu uns!« »Ist es das, was sie
sagen?«
»Sie sagen, man hätte kleine Päckchen mit Kokain unter
seinem Hemd gefunden, ein angesehener avocat international,
der wahrscheinlich als Connection fungiert hat.«
»Das ist eine Lüge«, unterbrach Converse ihn.
»Das sagen die aber. Man hat auch Ihren Namen erwähnt; es
heißt, er sei gestorben, als Sie ihn erreichten... man hat Sie
natürlich nicht mit der Sache in Zusammenhang gebracht; Sie
waren wie andere einfach nur dort. Ich habe Ihren Namen
gehört und mir schreckliche Sorgen gemacht! Wo waren Sie?«
»Auf dem Polizeirevier, wo ich auf eine Menge Fragen
geantwortet habe, die nicht zu beantworten sind.« Fragen, die
man beantworten konnte, aber die nicht er beantworten wollte,
nicht den Behörden in Genf. Avery Fowler - Preston Halliday
hatte Besseres verdient. Das war ein Vermächtnis, das er im
Tode angenommen hatte.
»Herrgott, Sie sind ja ganz naß!« rief Henri besorgt. »Sie waren
zu Fuß draußen im Regen, nicht wahr? Gab es denn kein
Taxi?«
»Ich hab' nicht darauf geachtet, ich wollte zu Fuß gehen.«
»Natürlich, der Schock, ich verstehe. Ich schicke Ihnen Brandy
aufs Zimmer, anständigen Armagnac. Und das Abendessen
vielleicht sollte ich Ihren Tisch im Gentilshommes absagen.«
»Danke. Geben Sie mir eine halbe Stunde Zeit, und lassen Sie
die Zentrale für mich New York anrufen, ja? Ich selbst verwähle
mich anscheinend immer.«
»Joel?«
»Was?«
»Kann ich helfen? Gibt es etwas, was Sie mir sagen sollten?«
fragte der Schweizer. »Le concierge du Richemond ist hier, um
-4 9
den Gästen des Hotels zu dienen, wobei besonderen Gästen
auch besondere Dienste zustehen, selbstverständlich... ich bin
hier, wenn Sie mich brauchen, mein Freund.«
»Das weiß ich. Wenn ich eine falsche Karte aufdecke, sage ich
Ihnen Bescheid.«
»Wenn Sie in der Schweiz irgendeine Karte aufdecken müssen,
dann rufen Sie mich. Die Farben wechseln mit den Spielern.«
»Das werde ich mir merken. Eine halbe Stunde? Und denken
Sie an mein Gespräch?«
»Certainement, Monsieur.«
Die Dusche war so heiß, wie seine Haut es eben noch ertragen
konnte; der Wasserdampf füllte seine Lungen und ließ den
Atem in seiner Kehle stocken. Dann zwang er sich dazu, einen
eiskalten Schauer zu ertragen, bis ihm der Kopf zitterte. Er
überlegte, daß der Schock dieses extremen
Temperaturwechsels ihm vielleicht Klarheit in seine Gedanken
bringen würde, zumindest aber die Benommenheit lösen. Er
mußte nachdenken; er mußte entscheiden; er mußte zuhören.
Er kam aus dem Badezimmer, der weiße Frotteemantel lag
bequem auf seiner Haut, und schlüpfte in ein Paar
Hausschuhe, die neben dem Bett standen. Dann holte er sich
Zigaretten und Feuerzeug vom Schreibtisch und ging ins
Wohnzimmer hinaus.
Das Telefon klingelte. Die schrill rasselnde europäische Glocke
zerrte an seinen Nerven. Er griff nach dem Hörer, der Apparat
stand auf dem Tischchen neben der Couch. Sein Atem war
kurz, und seine Hand zitterte. »Ja? Hallo?«
»Ich habe New York in der Leitung, Monsieur«, sagte die
Stimme der Hotelvermittlung. »Ihr Büro.«
»Vielen Dank.«
»Mr. Converse?« Die eindringliche Stimme gehörte Lawrence
Talbots Sekretärin.
»Hallo, Jane.«
-5 0
»Du lieber Gott, wir versuchen seit zehn Uhr, Sie zu erreichen!
Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Wir haben es gegen zehn
erfahren. Es ist alles so schrecklich!«
»Hier ist alles in Ordnung, Jane. Sie brauchen sich nicht zu
sorgen.«
»Mr. Talbot ist außer sich. Er kann es nicht glauben!«
»Sie dürfen das, was man über Halliday sagt, auch nicht
glauben. Das stimmt nicht. Kann ich bitte Larry sprechen?«
»Wenn er wüßte, daß Sie jetzt mit mir sprechen, würde er mich
entlassen.«
»Nein, das würde er nicht. Wer würde denn dann seine Briefe
schreiben?«
Die Sekretärin hielt kurz inne; als sie dann wieder sprach, klang
ihre Stimme ruhiger. »Du lieber Gott, Joel, Sie sind wirklich das
Letzte. Nach allem, was Sie durchgemacht haben, sind Sie
noch zum Spaßen aufgelegt.«
»So ist es leichter, Jane. Und jetzt geben Sie mir Bubba, ja?«
»Sie sind wirklich das Allerletzte!«
Lawrence Talbot, Seniorpartner von Talbot, Brooks and Simon,
war ein Anwalt von höchster Kompetenz, aber sein Aufstieg in
der Welt der Gesetze war ebensosehr der Tatsache zu
verdanken, daß er einer der wenigen All American Football-
Spieler von Yale gewesen war, wie seinen Fähigkeiten im
Gerichtssaal. Außerdem war er ein sehr anständiges
freundliches Wesen, eher eine Art Koordinator als die treibende
Kraft einer konservativen und doch höchst erfolgreichen
Anwaltssozietät. Außerdem war er ungemein fair und einer der
Menschen, die ihr Wort stets zu halten pflegen. Das war einer
der Gründe, die Joel dazu veranlaßt hatten, in die Firma
einzutreten. Ein weiterer Grund war Nathan Simon, ein Riese
von einem Mann und Anwalt. Converse hatte von Nate Simon
mehr gelernt als von jedem anderen Anwalt oder Professor,
dem er je begegnet war. Zu Nathan fühlte er sich besonders
hingezogen, und doch war es sehr schwer, Simon
nahezukommen; man näherte sich diesem äußerst
-5 1
zurückgezogen lebenden Mann mit einer Mischung aus
Zuneigung und Reserve.
Lawrence Talbot platzte am Telefon heraus: »Du lieber Gott,
ich bin erschüttert! Was kann ich sagen? Was kann ich tun?«
»Zuallererst einmal sollten Sie diesen Unsinn über Halliday
vergessen. Er war genausowenig ein Drogenkurier wie Nate
Simon.«
»Dann haben Sie es also noch nicht gehört? Die haben das
dementiert. Jetzt heißt es, man hätte versucht, ihn zu berauben;
er hätte sich gewehrt. Und ihm wären die Päckchen unter das
Hemd gestopft worden, nachdem er niedergeschossen worden
war. Ich nehme an, daß Jack Halliday die Drähte von San
Francisco aus zum Glühen gebracht und gedroht hat, die ganze
Schweizer Regierung windelweich zu prügeln... Er hat für
Stanford gespielt, wissen Sie.«
»Sie sind unmöglich, Bubba.«
»Ich hätte nie gedacht, daß es mir Spaß machen würde, das
von Ihnen zu hören, junger Mann. Aber jetzt macht es mir
Spaß.«
»Ganz so jung bin ich ja nun auch nicht mehr, Larry... Sie
könnten etwas für mich klären: würden Sie das tun?«
»Wenn es in meiner Macht steht.«
»Anstett. Lucas Anstett.«
»Wir haben geredet. Nathan und ich haben zugehört, und er
war sehr überzeugend. Wir verstehen.«
»Wirklich?«
»Nicht, was die Einzelheiten angeht; darauf wollte er nicht
eingehen. Aber wir halten Sie für den besten Mann, den es
dafür gibt, und so ist es uns nicht schwergefallen, seine Bitte zu
erfüllen. T, B und S hat die besten Leute, und wenn ein Richter
wie Anstett das in einem solchen Gespräch bestätigt, dann
müssen wir uns doch gratulieren, oder?«
»Tun Sie das wegen seiner Position?«
»Du lieber Gott, nein. Er hat uns sogar gesagt, daß er uns im
Falle einer Zusage künftig härter anpacken würde. Er ist
-5 2
wirklich ein harter Brocken, wenn er etwas von einem möchte.
Er sagt einem glatt, daß er es einem schwerer machen wird,
wenn man ihm zustimmt.«
»Haben Sie ihm geglaubt?«
»Nun, Nathan hat da etwas erwähnt, daß Ziegenböcke gewisse
unveränderliche Kennzeichen hätten, die man nur unter
großem Geschrei entfernen könnte, und es wäre besser, wenn
wir ja sagten. Nathan drückt sich manchmal ein wenig
verworren aus, aber verdammt noch mal, Joel, gewöhnlich hat
er recht.«
»Wenn man drei Stunden Zeit hat, um sich eine fünfminütige
Zusammenfassung anzuhören«, sagte Converse.
»Er denkt immer, junger Mann.«
»Jung und doch nicht mehr so jung. Alles ist relativ.«
»Ihre Frau hat angerufen... Entschuldigung, Ihre Exfrau.«
»Und?«
»Ihr Name ist im Radio oder im Fernsehen oder sonstwo
erwähnt worden, und sie wollte wissen, was los ist.«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
»Daß wir versuchten, Sie zu erreichen. Wir wußten auch nicht
mehr als sie. Sie klang sehr aufgeregt.«
»Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, hier sei alles in Ordnung.
Wollen Sie das bitte tun? Haben Sie die Nummer?«
»Jane hat sie.«
»Dann nehme ich also den Urlaub.«
»Bei vollem Gehalt«, sagte Talbot in New York.
»Das ist nicht notwendig, Larry. Ich bekomme eine Menge
Geld, also schonen Sie die Buchhaltung. Ich bin in drei oder
vier Wochen zurück.«
»Das könnte ich, aber das werde ich nicht«, sagte der
Seniorpartner. »Ich weiß, wann ich den besten Mann habe, und
ich beabsichtige, ihn zu halten. Wir überweisen es für Sie auf
ein Bankkonto.« Talbot machte eine Pause und sprach dann
leise und eindringlich weiter: »Joel, ich muß Sie das fragen. Hat
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diese Geschichte vor ein paar Stunden etwas mit der Anstett-
Sache zu tun?«
Converses Hand krampfte sich so heftig um den Telefonhörer,
daß sein Handgelenk und seine Finger schmerzten.
»Überhaupt nichts, Larry«, sagte er. »Keinerlei Verbindung.«
Mykonos, von der Sonne durchtränkte, weiß getünchte
Zykadeninsel, die seit der Eroberung durch Barbarossa
Gastgeberin vieler Briganten der Meere gewesen war, die vor
den Meltemi-Winden einhersegelten - Türken, Russen,
Zyprioten und schließlich Griechen -, eine kleine Landmasse,
die über die Jahrhunderte abwechselnd verehrt und wieder
vergessen wurde, bis schließlich die schlanken Jachten und
blitzenden Flugzeuge eintrafen, Symbole einer neuen Zeit. Jetzt
jagten elegante Automobile - Porsches, Maseratis, Jaguars
über die schmalen Straßen, vorbei an blendendweißen
Windmühlen und Alabasterkirchen.
Converse hatte den ersten Swiss-Air-Flug von Genf nach Athen
genommen und war dort in eine kleinere Maschine der Olympic
Airways umgestiegen. Obwohl der Zeitunterschied ihn eine
Stunde gekostet hatte, war es noch nicht einmal vier Uhr
nachmittags, als das Flughafentaxi sich durch die Straßen des
heißen, blütenweißen Hafens wand und schließlich vor dem
Eingang der Bank hielt. Sie lag an der Uferpromenade, und die
Menge der geblümten Hemden und grellbunten Kleider, die
Boote, die über die sanften Wellen zum Pier hinübertanzten,
ließen ahnen, daß die riesigen Kreuzfahrtschiffe draußen im
Hafen von einem äußerst geschäftstüchtigen Management
verwaltet wurden.
Joel hatte die Bank vom Flughafen aus angerufen, weil er ihre
Öffnungszeiten nicht wußte, sondern nur den Namen des
Bankiers kannte, mit dem er Verbindung aufnehmen sollte.
Kostas Laskaris begrüßte ihn am Telefon mit Vorsicht und ließ
keinen Zweifel daran, daß er nicht nur einen Paß sehen wollte,
sondern auch den Originalbrief von A. Preston Halliday mit
seiner Unterschrift, und daß er diese Unterschrift gründlich
überprüfen und mit der vergleichen würde, die der verblichene
Mr. A. Preston Halliday bei der Bank hinterlegt hatte.
-5 4
»Wie wir hören, ist er in Genf getötet worden. Das ist sehr
bedauerlich.«
»Ich werde seiner Frau und seinen Kindern ausrichten, wie sehr
Ihr Mitleid mich überwältigt hat.«
Converse zahlte das Taxi und stieg die wenigen weißen Stufen
zum Eingang hinauf, die Reisetasche in der einen, den
Aktenkoffer in der anderen Hand. Er war froh, daß ein
uniformierter Wächter ihm die Tür öffnete.
Kostas Laskaris war ganz und gar nicht das, was Joel nach
dem kurzen Telefongespräch erwartet hatte. Er war ein
freundlich blickender Mann, Ende der Fünfzig, mit schütterem
Haar und warmen, dunklen Augen, der das Englische
einigermaßen fließend beherrschte, sich aber in der Sprache
offensichtlich nicht sehr sicher fühlte. Als er sich von seinem
Schreibtisch erhob und Converse einlud, auf einem Stuhl davor
Platz zu nehmen, widerlegten seine ersten Worte Joels
ursprünglichen Eindruck.
»Ich bitte um Entschuldigung, wenn meine Worte bezüglich Mr.
Halliday grob geklungen haben sollten. Aber sein Tod war für
uns wirklich bedauerlich, und ich weiß nicht, wie ich es sonst
formulieren soll. Es ist schwierig, Mitgefühl für einen Menschen
zu empfinden, den man nie gekannt hat.«
»Meine Antwort war unpassend. Bitte, vergessen Sie sie.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich kann die Vorkehrungen
nicht vergessen, die... Mr. Halliday und sein Kollege hier in
Mykonos vorgeschrieben haben. Ich brauche Ihren Paß und
den Brief bitte.«
»Wer ist das?« fragte Joel und griff nach seinem Paß, in den er
auch den Brief eingelegt hatte. »Der Kollege, meine ich.«
»Sie sind Anwalt, mein Herr, und es ist Ihnen sicher bewußt,
daß die gewünschte Information Ihnen erst dann gegeben
werden kann, wenn die Sperren sozusagen übersprungen sind.
Zumindest glaube ich, daß das so richtig ist.«
»Ja, schon gut. Ich wollte es einfach einmal versuchen.« Er
reichte Paß und Brief dem Bankier.
-5 5
Laskaris nahm den Telefonhörer ab und drückte einen Knopf. Er sagte etwas in Griechisch und verlangte offensichtlich nach jemandem. Sekunden später öffnete sich die Tür, eine braungebrannte, attraktive dunkelhaarige Frau kam herein und ging mit graziösen Schritten auf den Schreibtisch zu. Sie hob die Augen und sah Joel an, der wußte, daß der Bankier ihn scharf beobachtete. Ein Zeichen von Converse, ein weiterer Blick - von ihm zu Laskaris -, und man würde ihn der Frau vorstellen, ein wortloses Versprechen würde folgen und ein vermutlich wichtiger Vermerk in den Akten eines Bankiers festgehalten werden. Aber Joel gab kein solches Zeichen; er wollte keinen derartigen Eintrag. Man nahm nicht eine halbe Million Dollar nur mit einem Kopfnicken entgegen und suchte dann um einen Bonus nach. Das deutete nicht auf Verläßlichkeit; das deutete auf etwas ganz anderes. Die nächsten zehn Minuten verstrichen mit belangloser Plauderei über Flüge, Zollformalitäten und wie anstrengend doch das Reisen geworden sei. Dann wurden sein Paß und der Brief zurückgebracht. Freilich nicht von der dunkelhaarigen Schönheit, sondern von einem jungen blonden Adonis, der mit eleganten Ballettschritten auf den Schreibtisch zutänzelte. Laskaris zog alle Register; er war bereit, seinem wohlhabenden Besucher zu bieten, was immer dessen Herz begehrte. Converse sah dem Griechen in die warmen Augen und lächelte, und dann wurde aus dem Lächeln ein leises Lachen. Laskaris erwiderte das Lächeln, zuckte die Schultern und entließ den Adonis. »Ich bin hier zwar Filialleiter, mein Herr«, sagte er, als sich die Tür geschlossen hatte. »Aber ich habe nicht die Politik der ganzen Bank zu bestimmen. Immerhin sind wir hier auf Mykonos.« »Und hier läuft eine Menge Geld durch«, fügte Joel hinzu. »Auf wen haben Sie denn getippt?« »Auf keinen von beiden«, erwiderte Laskaris und schüttelte den Kopf. »Nur auf genau das, was Sie getan haben. Sonst wären Sie ein Narr, und dafür halte ich Sie nicht. Und außer auf die -5 6
Leitung dieser Bankfiliale verstehe ich mich darauf, Menschen einzuschätzen.« »Hat man deshalb Sie als Mittelsmann gewählt?« »Nein, das ist nicht der Grund. Ich bin mit Mr. Hallidays Bekanntem hier auf der Insel befreundet. Er heißt Beale. Doktor Edward Beale... Sie sehen, alles ist in Ordnung.« »Doktor?« fragte Converse und beugte sich vor, um seinen Paß und den Brief entgegenzunehmen. »Ein Arzt?« »Nein«, erklärte Laskaris. »Er ist Wissenschaftler, ein pensionierter Geschichtsprofessor aus den Vereinigten Staaten. Er verfügt über eine ausreichende Pension und ist vor einigen Monaten aus Rhodos hierhergezogen. Ein höchst interessanter Mann, sehr belesen. Ich erledige seine finanziellen Angelegenheiten - davon versteht er weniger, aber trotzdem ist er interessant.« Wieder lächelte der Bankier und zuckte die Schultern. »Das hoffe ich«, sagte Joel. »Wir haben viel zu besprechen.« »Das betrifft mich nicht, mein Herr. Wollen wir nun dazu kommen, wie der Betrag an Sie ausbezahlt werden soll?« »Der größte Teil in bar. Ich habe mir in Genf einen dieser Geldgurte mit Sensoren gekauft - die Batterien haben ein Jahr Garantie. Wenn man ihn mir herunterreißt, ertönt eine winzige Sirene, die einem das Trommelfell zerreißen kann. Ich hätte gerne amerikanisches Geld - bis auf ein paar tausend natürlich.« »Diese Art Gürtel sind sehr nützlich, mein Herr, aber nicht, wenn man bewußtlos ist oder niemand in der Nähe, der den Alarm hört. Darf ich Travellerschecks vorschlagen?« »Wahrscheinlich haben Sie sogar recht, aber ich möchte lieber doch keine. Vielleicht will ich später einmal nicht unterschreiben.« »Wie Sie wünschen. Was für Scheine hätten Sie denn gerne?« fragte Laskaris, den Bleistift in der Hand. »Und wohin soll der Rest geschickt werden?«
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»Ist es möglich«, erwiderte Converse zögernd, »das Konto so
einzurichten, daß mein Name zwar nicht erscheint, es mir aber
dennoch zugänglich ist?«
»Selbstverständlich, mein Herr. Offen gestanden, das wird auf
Mykonos häufig so gemacht... ebenso wie auf Kreta und
Rhodos, in Athen, Istanbul und vielen Teilen Europas. Die
Beschreibung wird telegrafisch durchgegeben und dazu einige
Worte in Ihrer Handschrift, ein anderer Name oder Ziffern. Ein
Mann, den ich kannte, benutzte einen Kindervers. Und dann
vergleicht man später beides. Man braucht dazu natürlich eine
erfahrene Bank.« »Natürlich. Nennen Sie mir ein paar.« »Wo?«
»In London... Paris... Bonn... vielleicht Tel Aviv«, sagte Joel und
versuchte, sich an Hallidays Worte zu erinnern. »Bonn ist nicht
einfach; die sind manchmal wenig flexibel. Irgendwo ein
falscher Apostroph, und schon rufen sie die Behörden. Tel Aviv
ist einfach; das Geld fließt dort frei. London und Paris machen
ebenfalls keine Schwierigkeiten. Die sind nur sehr habgierig.
Eine Auszahlung dort wird Sie eine Menge kosten, denn die
wissen, daß Sie sich nicht sträuben können, nachdem es sich
ja um nicht deklariertes Geld handelt. Sehr korrekt, sehr
käuflich und sehr diebisch.«
»Sie kennen sich aus, oder?«
»Ich habe meine Erfahrungen gemacht, mein Herr. Und wie
steht es jetzt mit der Auszahlung hier?«
»Ich will hunderttausend jetzt - keine größeren Scheine als
Fünfhundert-Dollar-Noten. Den Rest können Sie aufteilen und
mir sagen, wie ich an das Geld herankomme, wenn ich es
brauche.«
»Das ist kein schwieriger Auftrag, mein Herr. Wollen wir
anfangen, Namen aufzuschreiben oder Zahlen... oder
Kinderverse?«
»Zahlen«, sagte Converse. »Ich bin Anwalt. Namen und
Kinderverse gehören in eine Dimension, in der ich jetzt nicht
denken möchte.«
»Wie Sie wünschen«, sagte der Grieche und griff nach einem
Block. »Und hier ist Dr. Beales Telefonnummer. Wenn wir unser
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Geschäft abgeschlossen haben, können Sie ihn anrufen... oder auch nicht, ganz wie Sie wünschen. Das ist dann nicht mehr meine Sache.« Dr. Edward Beale, Einwohner von Mykonos, sprach am Telefon mit gemessenen Worten in der langsamen, gedehnten Sprechweise des Wissenschaftlers. Nichts verlief in Hast, nichts hatte Eile, alles war wohl überlegt. »Da ist ein Strand - mehr Felsen als Strand, nachts ist dort niemand -, etwa sieben Kilometer vom Hafen entfernt. Gehen Sie dorthin. Nehmen Sie die Weststraße an der Küste, bis Sie die Lichter von ein paar Bojen sehen, die dort auf den Wellen schwimmen. Kommen Sie herunter zum Wasser. Dort werde ich Sie finden.« Die Nachtwolken wurden von den Höhenwinden über den Himmel getrieben, nur sporadisch fiel das Mondlicht durch die Wolkendecke und beleuchtete den verlassenen Strandstreifen, der als Treffpunkt vereinbart war. Weit draußen auf dem Wasser tanzten die roten Lichter von vier Bojen auf und nieder. Joel kletterte über die Felsen auf den weichen Sand und ging hinunter zum Wasser. Er konnte jetzt die kleinen Wellen der Brandung sehen, die endlos dem Ufer zustrebten und sich wieder zurückzogen. Er zündete sich eine Zigarette an und erwartete, daß die Flamme seine Anwesenheit verkünden würde. Das tat sie auch. Wenige Augenblicke später ertönte hinter ihm in der Finsternis eine Stimme, aber die Begrüßung war ganz anders als das, was er von einem älteren, pensionierten Wissenschaftler erwartet hätte. »Bleiben Sie, wo Sie sind, und keine Bewegung«, war der erste Befehl, leise und im Befehlston gesprochen. »Nehmen Sie die Zigarette in den Mund und inhalieren Sie. Dann heben Sie die Arme und strecken Sie vor sich aus... Gut. Jetzt rauchen Sie; ich will den Rauch sehen.« »Herrgott, ich ersticke ja«, schrie Joel und hustete; die Meeresbrise wehte ihm den Rauch zurück in die Augen. Dann konnte er plötzlich die scharfen, schnellen Bewegungen einer Hand spüren, die seine Kleider abtastete, ihm über die Brust -5 9
fuhr und dann zwischen den Beinen hoch. »Was machen Sie
da?« schrie er und spuckte dabei unwillkürlich die Zigarette
aus.
»Sie haben keine Waffe«, sagte die Stimme.
»Natürlich nicht!«
»Ich schon. Sie können jetzt die Arme senken und sich
umdrehen.«
Converse fuhr, immer noch hustend, herum und rieb sich die
tränenden Augen. »Sie verrückter Hundesohn!«
»Eine scheußliche Angewohnheit, diese Zigaretten. An Ihrer
Stelle würde ich das Rauchen aufgeben. Abgesehen von den
schrecklichen Folgen, die es hat, sehen Sie jetzt, wie man es
auch noch auf andere Weise gegen jemanden einsetzen kann.«
Joel blinzelte und starrte den Mann an, der zu ihm gesprochen
hatte. Der Sprecher war ein schlanker, weißhaariger,
mittelgroßer, alter Mann, der sich freilich sehr aufrecht hielt und
anscheinend eine weiße Leinenjacke und ebensolche Hosen
trug. Sein Gesicht- das, was man im Mondlicht davon sehen
konnte - war von tiefen Falten durchzogen, und um seine
Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Außerdem hielt er eine
Waffe in der Hand, die, ohne zu zittern, auf Joels Kopf gerichtet
war. »Sie sind Beale?« fragte Joel, »Dr. Edward Beale?«
»Ja. Haben Sie sich wieder beruhigt?«
»Wenn man bedenkt, welchen Schock mir Ihre freundliche
Begrüßung bereitet hat, kann man das wohl sagen.«
»Gut. Dann stecke ich das Ding weg.« Der Wissenschaftler ließ
die Waffe sinken und kniete neben einem Bündel, das im Sand
lag, nieder. Er schob die Waffe hinein und richtete sich wieder
auf. »Tut mir leid, aber ich mußte sichergehen.«
»Inwiefern? Ob ich einen Anschlag geplant habe oder nicht?«
»Halliday ist tot. Hätte an Ihrer Stelle nicht auch ein anderer
kommen können? Jemand mit dem Auftrag, einen alten Mann
in Mykonos zu erledigen? In dem Fall hätte der Betreffende
ganz sicher eine Pistole gehabt.«
»Warum?«
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»Weil er unmöglich hätte wissen können, daß ich ein alter
Mann bin. Ich hätte auch einen Anschlag planen können.«
»Wissen Sie, es wäre ja möglich gewesen - entfernt möglich -,
daß ich eine Waffe gehabt hätte. Hätten Sie mir dann eine
Kugel durch den Kopf gejagt?«
»Ein angesehener Anwalt, der zum ersten Mal auf die Insel
kommt und die Sicherheitskontrolle des Flughafens von Genf
passieren mußte? Wo hätten Sie sie herhaben sollen? Wen
konnten Sie auf Mykonos kennen?«
»Man hätte das arrangiert haben können«, protestierte
Converse nicht sehr überzeugt.
»Ich habe Sie seit Ihrer Ankunft beobachten lassen. Sie sind
sofort zur Bank gefahren und dann zum Kouneni-Hotel, wo Sie
im Garten saßen und etwas getrunken haben, ehe Sie auf Ihr
Zimmer gingen. Abgesehen von dem Taxifahrer, meinem
Freund Kostas, dem Angestellten am Empfang und dem Kellner
im Garten haben Sie mit niemandem gesprochen. Solange Sie
wirklich Joel Converse waren, war ich außer Gefahr.«
»Sie klingen ja eher wie ein Gorilla aus Detroit und nicht wie der
Bewohner eines Elfenbeinturms.«
»Ich habe mich nicht immer in der akademischen Welt bewegt.
Aber zugegeben, ich war vorsichtig. Ich glaube, wir müssen alle
sehr vorsichtig sein. Wenn man mit einem George Marcus
Delavane zu tun hat, ist das die einzig vernünftige Strategie.«
»Vernünftige Strategie?«
»Vorgehensweise, wenn Sie das lieber hören.« Beale griff in
die Innentasche seines Jacketts und entnahm ihr ein
zusammengefaltetes Blatt Papier. »Hier sind die Namen«,
sagte er und reichte Joel das Papier. »Delavane hat hier
drüben fünf Schlüsselfiguren für seine Pläne aufgebaut. Je eine
in Frankreich, Westdeutschland, Israel, Südafrika und England.
Vier haben wir identifiziert - die ersten vier -, aber den
Engländer können wir nicht finden.«
»Und wie sind Sie an die anderen herangekommen?«
-6 1
»Durch Notizen, die sich bei Delavanes Geschäftspapieren
befanden. Halliday entdeckte sie, als der General sein Klient
war.«
»War das der Zwischenfall, den er erwähnt hat? Er sagte, es
sei ein Zufall gewesen, der nicht wieder passieren würde.«
»Ich weiß natürlich nicht, was er Ihnen gesagt hat, aber es war
ganz sicher ein Zufall. Eine Gedächtnisschwäche Delavanes,
so etwas, kann ich Ihnen persönlich versichern, widerfährt
alternden Menschen oft. Der General hatte einfach vergessen,
daß er mit Halliday verabredet war. Als Preston kam, führte
seine Sekretärin ihn in das Büro des Generals, damit er die
Papiere für Delavane vorbereiten konnte, den man eine halbe
Stunde später erwartete. Preston sah einen Aktenordner auf
dem Schreibtisch des Generals. Er kannte den Ordner, wußte,
daß er Material enthielt, das er überprüfen konnte. Ohne sich
etwas dabei zu denken, setzte er sich und begann zu arbeiten.
Er fand die Namen, und nachdem er Delavanes letzte
Reiseroute durch Europa und Afrika kannte, war ihm plötzlich
alles klar - auf höchst erschreckende Art. Für jemanden mit
politischem Bewußtsein sind diese vier Namen erschreckend
sie beschwören furchterregende Erinnerungen herauf.«
»Hat Delavane je erfahren, daß Halliday diese Namen gesehen
hat?«
»Nach meiner Ansicht konnte er nie sicher sein. Halliday hat sie
aufgeschrieben und das Büro vor der Rückkehr des Generals
verlassen. Aber dann sind da die Ereignisse in Genf, und die
veranlassen zu einem ganz anderen Schluß, nicht wahr?«
»Daß Delavane es doch erfahren hat«, sagte Converse düster.
»Oder daß er einfach kein weiteres Risiko eingehen wollte,
besonders, wenn es einen Zeitplan gibt. Wir sind überzeugt,
daß es einen gibt. Wir müssen uns bereits in der Countdown-
Phase befinden.«
»Ein Countdown wofür?«
»Nach dem, was wir dem Muster ihrer bisherigen
Vorgehensweise entnehmen konnten - wie wir es uns Stück für
-6 2
Stück zusammenkombiniert haben -, eine Reihe gut geplanter
Anschläge, deren Ziel es ist, Regierungen zu stürzen.«
»Das sind große Worte. Aber auf welche Weise sollte das
geschehen?«
»Eine Vermutung«, sagte der Wissenschaftler und runzelte die
Stirn. »Wahrscheinlich über viele Länder verbreitete und zeitlich
aufeinander abgestimmte Ausbrüche von Gewalt, die von
Terroristen angeführt werden - Terroristen, die Delavane und
seine Leute aufgehetzt und finanziert haben. Wenn das Chaos
unerträglich wird, ist das für sie der Vorwand, das Militär
aufmarschieren zu lassen und die Kontrolle zu übernehmen,
zunächst unter Kriegsrecht.«
»Das wäre nicht das erstemal, daß so etwas geschieht«, sagte
Joel. »Zuerst füttert und bewaffnet man einen Feind, dann
schickt man Provokateure aus...«
»Mit beträchtlichen Geldern und reichlich Material«, ergänzte
Beale.
»Und wenn die sich dann erheben«, fuhr Converse fort, »dann
zieht man ihnen den Teppich unter den Füßen weg, erschlägt
sie und übernimmt die Macht. Die Bürger sind dankbar,
bezeichnen die Retter als Helden und beginnen zum Klang
ihrer Trommeln zu marschieren. Aber wie sollten sie das
schaffen?«
»Das ist die große Frage. Wo liegen die Ziele? Wo sind sie?
Wer sind sie? Wir haben keine Ahnung. Wenn wir auch nur die
leiseste Ahnung hätten, dann könnten wir etwas unternehmen,
aber wir wissen nichts, und haben nicht die Zeit, um auf
Unbekannte Jagd zu machen. Wir müssen uns an das
klammern, was wir haben.«
»Wieder geht es um Zeit«, fiel Joel ihm ins Wort. »Was macht
Sie so sicher, daß wir uns bereits in einem Countdown
befinden?«
»Die zunehmende Aktivität überall - in manchen Fällen
geradezu Hektik. Sendungen, die von den Vereinigten Staaten
ausgehen, werden über Umschlaglager in England, Irland,
Frankreich und Deutschland an Gruppen von Aufständischen in
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allen Krisengebieten verteilt. Es gibt Gerüchte, die von
München ausgehen, dem Mittelmeer und den Araberstaaten.
Es geht die Rede von letzten Vorbereitungen, aber keiner
scheint zu wissen, worauf - nur daß jedermann bereit sein
müsse. Es ist gerade so, als wären Gruppen wie Baader-
Meinhof, die Roten Brigaden, die PLO und die Roten Legionen
von Paris und Madrid zu einem Wettlauf angetreten, bei dem
keiner die Strecke kennt, nur den Augenblick, in dem alles
beginnen soll.«
»Und wann ist das?«
»Unsere Berichte sind in diesem Punkt unterschiedlich, aber sie
bewegen sich alle in derselben Zeitspanne. Zwischen drei und
fünf Wochen.«
»O mein Gott!« Plötzlich fiel Joel etwas wieder ein. »Avery-
Halliday hat mir kurz vor seinem Tod etwas zugeflüstert. Worte
der Männer, die ihn erschossen haben. >Aquitania... die haben
gesagt, das sei für Aquitania.< Das waren die Worte, die er mir
zuflüsterte. Was bedeuten sie, Beale?«
Der alte Wissenschaftler blieb stumm, nur seine Augen lebten
in dem schwachen Mondlicht. Dann wandte er langsam den
Kopf ab und starrte, tief in Gedanken versunken, aufs Meer
hinaus. »Das ist Wahnsinn«, flüsterte er.
»Das sagt mir überhaupt nichts.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Beale schnell, als wolle er um
Nachsicht bitten, und drehte sich dann wieder zu Converse
herum. »Es ist einfach unglaublich, welches Ausmaß das
angenommen hat.« »Ich verstehe kein Wort.«
»Aquitania war in der Zeit des Römerreiches der Name einer
Region in Südfrankreich, die sich in den ersten Jahrhunderten
nach Christus vom Atlantik quer über die Pyrenäen bis zum
Mittelmeer erstreckt haben soll und im Norden bis zur
Seinemündung, westlich von Paris an der Küste...«
»Daran kann ich mich vage erinnern«, unterbrach Joel ihn, der
jetzt zu ungeduldig war, um sich einen akademischen Vortrag
anzuhören.
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»So, das wäre sehr lobenswert. Die meisten Leute erinnern
sich nur an spätere Jahrhunderte, etwa beginnend mit dem
achten, in dem Karl der Große die Region eroberte und dort
das Königreich Aquitanien gründete und es seinem Sohn
Ludwig und dessen Söhnen Pippin, Lothar und Ludwig
hinterließ. Tatsächlich sind diese Jahre und die
darauffolgenden dreihundert die wesentlichsten.«
»Wofür?«
»Für die Legende von Aquitanien, Mr. Converse. Wie die
meisten ehrgeizigen Generale sieht Delavane in sich einen
Studenten der Geschichte - in der Tradition eines Cäsar,
Napoleon, von Clausewitz... selbst Patton. Mich hat man zu
Recht oder zu Unrecht als Gelehrten angesehen, aber er bleibt
ein Student, und so sollte es auch sein. Gelehrte dürfen sich
ohne hinreichendes Beweismaterial keine Freiheiten nehmen
oder sollten das nicht -, aber Studenten können das und tun
das für gewöhnlich auch.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Die Legende von Aquitanien beginnt sich zu verwirren. Das
Was-wäre-wenn gewinnt die Oberhand über die Tatsachen, bis
theoretische Vermutungen aufgestellt werden, die das
Beweismaterial verzerren. Sehen Sie, die Geschichte
Aquitaniens ist erfüllt von plötzlichen riesigen Ausdehnungen
und abrupten Zusammenbrüchen. Um es zu vereinfachen: Ein
phantasiebegabter Student der Geschichte könnte sagen, wenn
es keine politischen, dynastischen und militärischen
Fehlkalkulationen seitens Karls des Großen, seines Sohnes
und der drei Söhne gegeben hätte und später Ludwigs des
Siebten von Frankreich und Heinrichs des Zweiten von
England, die beide mit der außergewöhnlichen Eleonore
verheiratet waren, dann hätte das Königreich Aquitanien den
größten Teil Europas, wenn nicht ganz Europa umfaßt.« Beale
machte eine Pause. »Beginnen Sie zu verstehen?« fragte er.
»Ja«, sagte Joel. »Du großer Gott, ja.«
»Das ist noch nicht alles«, fuhr der Gelehrte fort. »Da
Aquitanien einstmals als rechtmäßiges Besitztum Englands
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angesehen wurde, hätte es im Laufe der Zeit sämtliche ausländischen Kolonien Englands umfaßt, darunter auch die ursprünglichen dreizehn auf der anderen Seite des Atlantiks. Und später die Vereinigten Staaten von Amerika... Natürlich hätte das alles, mit oder ohne Fehlkalkulationen, nie eintreten können, weil ein fundamentales Gesetz der westlichen Zivilisation dagegenspricht, eines, das seit der Absetzung von Romulus Augustus und dem Zusammenbruch des Römischen Reiches gilt. Man kann nicht unterschiedliche Völker und ihre Kulturen zuerst niederzwingen und dann gewaltsam vereinen nicht über längere Zeit hinweg.« »Und das versucht jetzt jemand«, sagte Converse. »George Marcus Delavane.« »Ja. In seinem Geist hat er ein Aquitanien konstruiert, das es nie gegeben hat, das es nie hat geben können. Und es kann einem Angst und Schrecken einjagen.« »Warum? Sie sagten doch gerade, daß es so etwas nicht geben kann.« »Nicht nach den alten Regeln, nicht in irgendeiner Periode seit dem Fall Roms. Aber Sie müssen sich erinnern, daß es in der ganzen aufgezeichneten Geschichte niemals eine Zeit wie diese gegeben hat. Niemals solche Waffen, solche Angst. Delavane und seine Leute wissen das, und auf jene Waffen, jene Ängste werden sie bauen. Sie tun es bereits.« Der alte Mann deutete auf das Blatt Papier in Joels Hand. »Sie haben Streichhölzer. Zünden Sie eines an und sehen Sie sich die Namen an.« Converse faltete das Blatt auseinander, griff in die Tasche und holte sein Feuerzeug heraus. Er entzündete es, so daß die Flamme das Papier beleuchtete, während er die Namen studierte. »Mein Gott!« sagte er bestürzt und runzelte die Stirn. »Die passen so recht zu Delavane, dem Schlächter. Das ist eine Sammlung von rastlosen Kriegern, wenn das die Männer sind, für die ich sie halte.« Joel ließ die Flamme wieder verlöschen.
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»Das sind sie«, erwiderte Beale, »angefangen mit General Jacques Louis Bertholdier in Paris, einem bemerkenswerten, einem außerordentlichen Mann. Ein Kämpfer in der Resistance während des Kriegs, den man zum Major ernannte, ehe er noch zwanzig Jahre alt war, und später ein Mitglied von Salans OAS. Er stand hinter einem Attentatsversuch auf de Gaulle im August zweiundsechzig, da er sich selbst als den wahren Führer der Republik sah. Beinahe hätte er es geschafft. Er glaubte damals, ebenso wie er es heute noch glaubt, daß die algerischen Generale die Rettung eines geschwächten Frankreichs gewesen wären. Er hat überlebt, nicht nur, weil er eine Legende ist, sondern weil seine Stimme nicht allein ist - nur daß er mehr Überzeugungskraft als die meisten besitzt. Besonders bei der Elite vielversprechender Offiziere, die in Saint-Cyr ausgebildet werden. Einfacher ausgedrückt, er ist ein Faschist, ein Fanatiker, der sich hinter einem Schleier hervorragender Respektabilität verbirgt.« »Und der hier, dieser Abrahms«, fragte Converse. »Das ist doch dieser starke Mann in Israel, der in einer Safarijacke und in Stiefeln herumstolziert, nicht wahr? Der Schreier, der Versammlungen vor der Knesset und in den Stadien abhält und jedem sagt, daß es in Judäa und Samaria ein Blutbad geben wird, wenn man den Kindern Abrahams ihre Rechte versagt. Selbst seine eigenen Leute können ihn nicht zum Schweigen bringen.« »Viele haben Angst vor ihm; er elektrisiert die Massen wie ein Blitz, er ist ein Symbol geworden. Chaim Abrahms und seine Gefolgsleute lassen die ehemalige Begin-Regierung wie zurückhaltende, schüchterne Pazifisten erscheinen. Er ist ein Sabre, den die europäischen Juden tolerieren, weil er ein brillanter Soldat ist, der sich in zwei Kriegen ausgezeichnet hat und den Respekt - wenn nicht die Zuneigung - jedes Verteidigungsministers seit den frühen Jahren Golda Meirs genossen hat. Sie wissen nie, wann sie ihn vielleicht wieder im Feld brauchen.«
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»Und der hier«, sagte Joel und ließ sein Feuerzeug wieder aufflammen. »Van Headmer. Südafrika, nicht wahr? Der >Henker in Uniform< oder so ähnlich.« »Jan van Headmer, von den Schwarzen auch >Schlächter von Soweto< genannt. Seine Familie ist von reinstem Afrikaanergeblüt, alles Generale bis zurück in die Burenkriege, und er sieht keinerlei Veranlassung, Pretoria ins zwanzigste Jahrhundert zu führen. Übrigens ist er ein enger Freund von Abrahms und reist häufig nach Tel Aviv. Daneben ist er einer der gebildetsten und charmantesten Generale, die je an einer Diplomatenkonferenz teilgenommen haben. Sein Auftreten straft sein Image und seinen Ruf Lügen.« »Und Leifhelm«, schloß Converse und klappte sein Feuerzeug wieder zu. »Eine schillernde Persönlichkeit, wenn ich mich nicht täusche. Er soll ein hervorragender Soldat sein, der zu viele Befehle ausgeführt hat, aber man respektiert ihn. Über ihn weiß ich am wenigsten.« »Durchaus verständlich«, sagte Beale und nickte. »In mancher Hinsicht ist seine Geschichte die seltsamste - eigentlich die ungeheuerlichste, weil man die Wahrheit so geschickt verdeckt hat, um ihn benutzen und Peinlichkeiten vermeiden zu können. Feldmarschall Erich Leifhelm war der jüngste von Adolf Hitler berufene General. Er sah Deutschlands unvermeidlichen Zusammenbruch rechtzeitig voraus und vollführte eine Kehrtwendung. Eine Kehrtwendung vom brutalen Killer und fanatischen Überarier zum zerknirschten Berufssoldaten, der Abscheu vor den Naziverbrechen empfand, als sie ihm >offenbart< wurden. Er täuschte alle und wurde von jeder Schuld freigesprochen; den Nürnberger Gerichtssaal hat er nie von innen gesehen. Während des kalten Krieges haben die Alliierten dann seine Dienste gründlich genutzt und ihm volle Sicherheitsfreigabe erteilt. Als später in den fünfziger Jahren die neuen deutschen Divisionen in die Nato-Streitkräfte integriert wurden, sorgten sie dafür, daß er das Kommando erhielt.«
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»Hat es nicht vor ein paar Jahren einige Zeitungsberichte über
ihn gegeben? Er hatte doch ein paar Zusammenstöße mit
Helmut Schmidt, oder?«
»Richtig«, nickte der pensionierte Gelehrte. »Aber die Berichte
waren sehr zahm und enthielten nur die halbe Wahrheit. Man
zitierte Leifhelm nur in der Weise, daß man vom deutschen
Volk nicht erwarten könne, die Last vergangener Schuld auch in
künftigen Generationen zu tragen. Das müsse aufhören. Die
Nation solle ihren Stolz zurückgewinnen. Dazu kam etwas
Säbelrasseln, das sich gegen die Sowjets richtete. Aber nichts
Wesentliches, was darüber hinausging.«
»Und was war die andere Hälfte?« fragte Converse.
»Er wollte, daß die Einschränkungen im Grundgesetz bezüglich
der bewaffneten Streitkräfte völlig aufgehoben würden und
kämpfte um eine Ausweitung der Geheimdienstaktivitäten nach
dem Muster der Abwehr. Außerdem verlangte er
Bewährungsmaßnahmen gegen politische Unruhestifter, und er
wollte, daß die deutschen Schulbücher in wesentlichen Punkten
geändert würden. >Der Stolz muß wiederhergestellt werden<,
sagte er immer wieder, und das alles im Namen eines
kämpferischen Antikommunismus.«
Wieder entzündete Joel sein Feuerzeug, so als wäre ihm etwas
wieder eingefallen, das er gesehen hatte. Er warf einen Blick
auf den unteren Teil des Blattes. Da waren zwei Namenlisten,
die linke Reihe unter der Überschrift State Department, die
rechte unter dem Wort Pentagon. Insgesamt waren es vielleicht
fünfundzwanzig Leute. »Wer sind die Amerikaner?« Er ließ den
Hebel los, und die Flamme erlosch, worauf er das Feuerzeug
wieder einsteckte. »Die Namen bedeuten mir nichts.«
»Einige sollten das, aber das ist nicht wichtig«, sagte Beale
geheimnisvoll. »Worauf es ankommt, ist, daß Männer darunter
sind, die sich als Schüler von Georges Delavane betrachten.
Sie führen seine Befehle durch. Wie viele es sind, ist schwer zu
sagen!«
»Herrgott, das ist... ein Netz«, sagte Converse mit leiser
Stimme.
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Der Gelehrte sah Joel scharf an, und das von der See
reflektierte Licht spiegelte sich in dem bleichen, von Linien
durchzogenen Gesicht des alten Mannes. »Ja, Mr. Converse.
Ein >Netz<. Ein Mann, der mich für einen Angehörigen der
Gruppe hielt, hat mir dieses Wort zugeflüstert. >Das Netz<,
sagte er. >Das Netz< wird sich um Sie kümmern.« Damit
meinte er Delavane und seine Leute.«
»Warum hielten die Sie damals für einen der Ihren?«
Der alte Mann machte eine Pause. Er wandte kurz den Blick
ab, hinaus auf die schimmernde Fläche der Ägäis, und sah
dann wieder Converse an. »Weil jener Mann das für logisch
hielt. Ich habe vor dreißig Jahren die Uniform abgelegt und sie
gegen den Tweedanzug eines Universitätsprofessors
eingetauscht. Das konnten nur wenige meiner Kollegen
begreifen, weil ich damals einer aus der Elite war, vielleicht so
etwas wie eine verspätete amerikanische Version von Erich
Leifhelm - ein Brigadegeneral mit achtunddreißig, der damit
rechnen konnte, bald zu den Vereinigten Stabschefs berufen zu
werden. Aber so wie der Zusammenbruch Berlins und Hitlers
Selbstmord eine bestimmte Wirkung auf Leifhelm hatten, so
hatten die Evakuierung Koreas und die Vernichtung
Panmunjoms genau die entgegengesetzte Wirkung auf mich.
Ich sah nur die Verschwendung, nicht mehr das Ziel, die große
Sache; nur die Sinnlosigkeit, wo früher einmal gute Gründe
gewesen waren. Ich sah den Tod, Mr. Converse, nicht den
heroischen Tod im Kampf gegen wilde Horden. Ich sah einen
häßlichen Tod, einen alles vernichtenden Tod, und ich wußte,
daß ich nicht länger Teil von Strategien sein konnte, die diesen
Tod verlangten... Wäre mein Glaube liefer gewesen, wäre ich
wahrscheinlich Priester geworden.«
»Aber Ihre Kollegen, die das nicht begreifen konnten«, sagte
Joel, den Beales Worte faszinierten, Worte, die ihm so viel
bedeuteten, »die glaubten, etwas anderes stünde dahinter?«
»Natürlich haben sie das getan. Ich war in meinen
Beurteilungen hoch gelobt worden, selbst vom heiligen Mac
Arthur persönlich. Ich hatte sogar mein Etikett weg: der Rote
Fuchs von Inchon - mein Haar war damals rot. Meine
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Befehlsbereiche zeichneten sich durch schnelle, entscheidende
Maßnahmen und Gegenmaßnahmen aus, alle vernünftig
durchdacht und schnell durchgeführt. Und dann erhielt ich eines
Tages im Süden von Chunchon den Befehl, drei parallel
liegende Hügel einzunehmen - Punkte ohne strategischen Wert
-, und ich funkte zurück, daß es nutzloses Terrain sei, daß es
die Opfer, die wir bei der Einnahme erleiden müßten, nicht wert
sein würde. Ich erbat eine weitere Erklärung - auf die Weise
sagt ein Frontoffizier, >Ihr seid verrückt, weshalb sollte ich?<
Die Antwort kam in weniger als fünfzehn Minuten. >Weil die
Hügel da sind, General.< Das war alles. >Weil die Hügel da
sind.< Es ging also um ein Symbol für irgend jemanden, jemand
brauchte eine heroische Tat für eine Pressekonferenz in
Seoul... Ich nahm die Hügel ein und vergeudete damit das
Leben von über dreihundert Männern - und mir wurde die
Tapferkeitsmedaille verliehen.«
»Und dann haben Sie den Dienst quittiert?«
»Du lieber Gott, nein; ich war zu verwirrt, aber in meinem
Schädel kochte es. Dann kam das Ende, und ich erlebte
Panmunjom mit und wurde schließlich nach Hause geschickt
mit großen Erwartungen... Dann versagte man mir eine kleine
Beförderung aus sehr gutem Grund: Ich beherrschte die
Sprache eines sehr wichtigen europäischen Landes nicht, in
dem der Posten zu besetzen war. Aber da war es in meinem
Kopf bereits zur Explosion gekommen; ich benutzte die
Zurückweisung als letzten Anlaß, reichte meinen Abschied ein
und ging meiner Wege.«
Jetzt war Joel an der Reihe, den alten Mann prüfend
anzusehen. »Ich habe nie von Ihnen gehört«, sagte er
schließlich. »Warum habe ich nie von Ihnen gehört?«
»Sie haben die Namen auf den beiden Listen auch nicht
erkannt, oder? >Wer sind die Amerikaner?< sagten Sie. >Mir
sagen die Namen nichts.< Das waren doch Ihre Worte.«
»Das waren auch keine jungen, hochdekorierten Generale
Helden - in einem Krieg.«
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»O doch, einige waren das schon«, unterbrach ihn Beale
schnell, »in einigen Kriegen sogar. Sie hatten ihre flüchtigen
Augenblicke im Glanz der Sonne, und dann hat man sie
vergessen, und nur sie selbst erinnerten sich noch an jene
Augenblicke, erlebten sie aufs neue. Immer wieder.«
»Das klingt ja wie eine Entschuldigung.«
»Natürlich ist es das! Glauben Sie denn, ich hätte keine
Gefühle für sie? Für Männer wie Chaim Abrahms, Bertholdier,
sogar Leifhelm? Wir rufen nach diesen Männern, wenn die
Barrikaden gefallen sind; wir preisen sie, weil sie Dinge tun, zu
denen wir nicht fähig sind...«
»Sie waren dazu fähig. Sie haben diese Dinge getan.«
»Sie haben recht, und deshalb verstehe ich diese Männer
auch.«
Eine Bö kam vom Meer heran, und der Sand zu ihren Füßen
wurde aufgewirbelt. »Dieser Mann«, sagte Converse, »der, der
gesagt hat, das Netz würde sich um Sie kümmern. Weshalb hat
er das gesagt?«
»Weil er glaubte, sie könnten mich benutzen. Er war einer der
Frontkommandeure, die ich in Korea kannte. Damals
sozusagen ein Bruder im Geiste. Er kam auf meine Insel - ich
weiß nicht, aus welchem Grund. Vielleicht Ferien, vielleicht um
mich zu finden, wer weiß - und er fand mich auf der
Hafenpromenade. Ich war gerade auf dem Weg zu meinem
Boot, als er plötzlich in der Morgensonne auftauchte,
hochgewachsen, aufrecht und sehr militärisch. >Wir müssen
miteinander reden<, sagte er mit dem gleichen Nachdruck, den
er auch an der Front immer an sich hatte... Ich forderte ihn auf,
an Bord zu kommen, und wir fuhren langsam aus der Bucht
hinaus. Als wir dann ein paar Meilen weit draußen waren, trug
er mir seine Sache vor, ihre Sache. Delavanes Sache.« »Und
was geschah dann?«
Der alte Mann hielt genau zwei Sekunden inne und antwortete
dann ausdruckslos. »Ich habe ihn getötet. Mit einem
Schuppenmesser. Und dann habe ich seine Leiche über Bord
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geworfen, bei den Untiefen von Stephanos, wo es immer Haie
gibt.«
Joel starrte den Mann erschüttert an; das irisierende Licht des
Mondes trug noch das Seine zu dieser makabren Enthüllung
bei. »Einfach so?« fragte er tonlos.
»Das ist es, wozu man mich ausgebildet hat, Mr. Converse. Ich
war der Rote Fuchs von Inchon. Ich habe nie gezögert, wenn
man Boden gewinnen oder einen feindlichen Vorteil zunichte
machen konnte.«
»Sie haben ihn getötet?«
»Das war eine notwendige Entscheidung, nicht Mordlust. Er
war ein Werber, und meine Antwort stand in meinen Augen
geschrieben, in meiner stummen Empörung. Er hat das
gesehen, und ich begriff. Er konnte mich mit dem, was er
gesagt hatte, nicht weiterleben lassen. Einer von uns mußte
sterben, und ich habe einfach schneller reagiert als er.«
»Das ist ziemlich kalte Logik.«
»Sie sind Anwalt, Sie haben jeden Tag Entscheidungen zu
treffen. Wo lag die Alternative?«
Joel schüttelte den Kopf, aber das war keine Antwort, das war
Erstaunen. »Wie hat Halliday Sie gefunden?«
»Wir haben uns gegenseitig gefunden. Wir sind uns nie
begegnet, haben nie miteinander geredet, aber wir haben einen
gemeinsamen Freund.«
»In San Francisco?«
»Er ist häufig dort.«
»Wer ist es?«
»Das ist ein Thema, über das wir nicht sprechen werden. Tut
mir leid.«
»Warum nicht? Warum so geheimnisvoll?«
»Weil er es so haben will. Unter den gegebenen Umständen
glaube ich, daß es ein logischer Wunsch ist.«
»Logik? Zeigen Sie mir die Logik in alldem! Halliday tritt an
einen Mann in San Francisco heran, der Sie zufälligerweise
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kennt, einen ehemaligen General, Tausende von Meilen
entfernt auf einer griechischen Insel, an den zufälligerweise
gerade einer von Delavanes Leuten herangetreten ist.
Verdammt viel Zufall und verdammt wenig Logik!«
»Halten Sie sich nicht damit auf. Akzeptieren Sie es.« »Würden
Sie das tun?«
»Unter den gegebenen Umständen, ja. Sehen Sie, es gibt keine
Alternative.«
»Sicher gibt es die. Ich könnte, um fünfhunderttausend Dollar
reicher, einfach gehen. Mit dem Geld, das ein anonymer
Fremder bezahlt hat, der nur dann an mich heran könnte, wenn
er seine Anonymität aufgeben würde.«
»Das könnten Sie, aber werden Sie nicht tun. Man hat Sie sehr
sorgfältig ausgewählt.«
Joel spürte wieder die Aufwallung von Zorn, sah die Augen
eines Sterbenden, die sich unaustilgbar in sein Bewußtsein
eingebrannt harten. »Aquitania«, sagte er leise. »Delavane...
Also gut, man hat mich sorgfältig ausgewählt. Wo fange ich
an?«
»Wo glauben Sie denn, daß Sie anfangen sollten? Sie sind der
Anwalt, alles muß legal und völlig korrekt geschehen.« »Genau
das ist es. Ich bin Anwalt, kein Polizist, kein Detektiv.«
»Keine Polizei könnte in irgendeinem der Länder, wo jene vier
Männer leben, das tun, was Sie tun können, selbst wenn die
Behörden dazu bereit wären, es zu versuchen, woran ich offen
gestanden zweifle. Und was viel wichtiger ist, sie würden
Delavanes Netz alarmieren.«
»Also gut, ich werde es versuchen«, sagte Converse. Er faltete
das Papier mit der Namenliste zusammen und steckte es in
seine Innentasche. »Ich werde oben beginnen. In Paris. Mit
diesem Bertholdier.«
»Jacques Louis Bertholdier«, ergänzte der alte Mann, griff
dabei in seine Segeltuchtasche und holte einen dicken
Umschlag heraus. »Das ist das letzte, was wir Ihnen geben
können. Es ist alles, was wir über jene vier Männer in Erfahrung
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bringen konnten. Vielleicht hilft es Ihnen. Ihre Adressen, die Wagen, die sie fahren, geschäftliche Verbindungen, Cafés und Restaurants, die sie besuchen, sexuelle Gewohnheiten, soweit sie sie verletzbar machen... alles, das Ihnen einen Vorteil verschaffen könnte. Nützen Sie dieses Wissen, nützen Sie alles, was Sie können. Und bringen Sie uns Material gegen diese Männer, die sich selbst kompromittiert haben, die Gesetze gebrochen haben - und wichtiger als alles andere, Beweismaterial, das zeigt, daß sie nicht die soliden, ehrenwerten Bürger sind, auf die ihre Art zu leben deutet.« Joel wollte schon antworten, ihm beipflichten, hielt dann aber inne. »Verdammt noch mal, das ist doch Wahnsinn, Mr. Beale oder Professor Beale oder General Beale! Das ist einfach zuviel, als daß man es in zwei lausigen Tagen in sich aufnehmen kann! Plötzlich habe ich kein Vertrauen mehr. Ich habe das Gefühl, daß das alles meine Fähigkeiten übersteigt - sprechen wir es doch aus, ich fühle mich überwältigt und nicht genügend qualifiziert... Und ich habe, verdammt noch mal, Angst.« »Dann sollten Sie die Dinge nicht zu sehr komplizieren«, sagte Beale. »Das habe ich meinen Studenten öfter gesagt, als ich mich erinnern kann. Ich habe ihnen immer wieder eingeschärft, nicht das Ganze anzusehen, sondern vielmehr jeden einzelnen Faden einer Entwicklung, und jedem zu folgen, bis der auf einen anderen stieß und sich mit ihm verband, und dann wieder einen, und wenn sich daraus kein Schema entwickelte, dann war das nicht ihre Schuld, sondern meine. Ein Schritt nach dein anderen, Mr. Converse.« »Sie sind aber verdammt überzeugend. Ich hätte ihren Kurs einfach aufgegeben.« »Ich formuliere es nicht besonders gut, früher konnte ich das besser. Wenn man Geschichte lehrt, sind Fäden etwas sehr Wichtiges.« »Wenn man als Anwalt mit dem Gesetz zu tun hat, sind sie alles.«
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»Dann sollten Sie die Fäden aufnehmen, ihnen nachgehen,
einem nach dem anderen. Ich bin ganz sicher kein Anwalt, aber
könnten Sie diese Geschichte nicht als Anwalt in Angriff
nehmen, als Anwalt, dessen Klient von Kräften angegriffen
wird, die im Begriff sind, seine Rechte zu verletzen, sein Leben
zu stören, ihm seine friedliche Existenz streitig machen wollen
ihn also vernichten wollen?«
»Kaum möglich«, erwiderte Joel. »Ich habe einen Klienten, der
nicht bereit ist, mit mir zu sprechen, mich nicht empfangen will,
mir nicht einmal sagen will, wer er ist.«
»Das ist nicht der Klient, den ich im Sinne hatte.«
»Wer sonst? Von ihm kommt doch das Geld.«
»Er ist nur ein Bindeglied zu Ihrem wirklichen Klienten.«
»Und wer ist das?«
»Vielleicht das, was von der zivilisierten Welt übriggeblieben
ist.«
Joel studierte den alten Gelehrten im schimmernden Licht des
Mondhimmels. »Sagten Sie nicht gerade etwas, man sollte
nicht nach dem Ganzen Ausschau halten, sondern nur nach
den Fäden? Sie machen mir angst.«
»Jetzt übertreiben Sie«, sagte Edward Beale, dessen Lächeln
plötzlich verschwunden war. »Sie stehen ja erst am Anfang.«
»Aber jetzt weiß ich, worauf ich mein Augenmerk richten muß.
Einen Faden nach dem anderen... bis die Fäden sich
ineinander verschlingen und das Muster für jeden zu erkennen
ist. Ich werde mich auf Exportlizenzen konzentrieren, darauf,
wer nicht genügend Kontrolle ausübt. Und dann werde ich drei
oder vier Namen miteinander in Verbindung bringen und sie zu
Delavane in Palo Alto zurückverfolgen. Und an dem Punkt
lassen wir das Ganze legal hochgehen. Keine Märtyrer, keine
hochdekorierten Militärs, die von Verrätern ans Kreuz
geschlagen werden. Einfach aufgeblasene, häßliche
Profitmacher, die sich als Superpatrioten ausgegeben haben,
wobei sie doch die ganze Zeit nichts anderes taten, als ihre
unpatriotischen Taschen zu füllen. Aus welchem anderen
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Grund hätten sie es schon tun sollen? Gibt es einen anderen Grund?... Das bedeutet es, sie lächerlich zu machen, Dr. Beale. Weil Sie darauf keine Antwort haben.« Der alte Mann schüttelte den Kopf, und seine gerunzelte Stirn ließ erkennen, daß er verwirrt war. »Jetzt wird der Professor zum Studenten«, sagte er zögernd. »Wie können Sie das tun?« »So wie ich es in Dutzenden von Firmenverhandlungen getan habe... nur daß ich einen Schritt weitergehen werde. In solchen Sitzungen bin ich wie jeder andere Anwalt und versuche herauszufinden, was der Bursche auf der anderen Seite des Konferenztisches verlangen wird und weshalb er es will. Nicht nur, was meine Seite will, sondern, was er will. Was geht ihm durch den Kopf?... Sehen Sie, Doktor, ich versuche, so zu denken wie er. Ich versetze mich an seine Stelle und lasse ihn keine Sekunde lang darüber im unklaren, daß ich genau das tue. Das kostet Nerven, genauso wie wenn man sich die ganze Zeit Notizen macht, jedesmal, wenn der andere etwas sagt, ob er nun etwas Wichtiges sagt oder nicht... Aber diesmal wird es anders sein. Ich suche keine Gegner, ich suche Verbündete. Ich werde in Paris anfangen, dann geht es weiter nach Bonn oder Tel Aviv und dann wahrscheinlich Johannesburg. Nur, wenn ich dann diese Männer gefunden habe, werde ich nicht versuchen, wie sie zu denken, ich werde einer von ihnen sein.« »Das ist eine sehr kühne Strategie. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen.« »Aber die einzige Chance, die mir offensteht. Außerdem habe ich eine Menge Geld zur Verfügung. Ich werde es nicht übertrieben großzügig ausgeben, aber wirksam, wie es meinem namenlosen Klienten gebührt. Namenlos, stets im Hintergrund, aber immer da.« Joel hielt inne, plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Wissen Sie, Dr. Beale, ich nehme das zurück. Ich will nicht wissen, wer mein Klient ist - der in San Francisco, meine ich. Ich werde mir selbst einen schaffen, denn den richtigen zu kennen, könnte das Bild verzerren, das ich im Sinne habe. Übrigens, Sie können ihm sagen, daß er eine komplette Abrechnung meiner Ausgaben bekommen wird. Der Rest wird ihm auf dieselbe Weise zurückerstattet werden, wie ich das -7 7
Geld bekam. Über Ihren Freund Laskaris in der Bank hier in
Mykonos.«
»Aber Sie haben das Geld angenommen«, wandte Beale ein.
»Es gibt keinen Grund...«
»Ich wollte wissen, ob es echt war, ob er echt war. Das ist er,
und er weiß genau, was er tut. Ich werde sehr viel Geld
brauchen, weil ich jemand werden muß, der ich nicht bin. Und
Geld ist das überzeugendste Mittel, um es zu tun... Nein,
Doktor, ich will das Geld Ihres Freundes nicht, ich will
Delavane. Ich will den Schlächter von Saigon... Ich werde das
Geld benutzen, um Zugang zu dem Netz zu bekommen.«
»Wenn Paris Ihre erste Station ist und Bertholdier der erste, mit
dem Sie Fühlung aufnehmen wollen - da gibt es ein ganz
spezielles Munitionsgeschäft, von dem wir annehmen, daß es
in unmittelbarer Verbindung zu ihm steht. Es könnte einen
Versuch wert sein. Wenn wir recht haben, dann ist das im
kleinen, was sie überall tun wollen.«
»Finde ich das hier?« fragte Converse und tippte auf den
dicken Umschlag mit den Akten.
»Nein, es ist erst heute morgen ans Licht gekommen - am
frühen Morgen. Ich nehme nicht an, daß Sie die Nachrichten
gehört haben.«
»Ich spreche nur Englisch, keine Fremdsprache. Was ist
geschehen?«
»Ganz Nordirland steht in Flammen, die schlimmsten
Aufstände, die schrecklichsten Morde seit fünfzehn Jahren. In
Belfast und Ballyclare, Dromora und den Mourne-Bergen
ziehen empörte Rächer - beider Seiten - durch die Straßen und
Hügel und schießen ziellos um sich, metzeln in ihrer Wut alles
nieder, was sich bewegt. Ein völliges Chaos. Die Regierung in
Ulster ist in Panik, das Parlament ist gelähmt, gefühlsmäßig
gespalten, und jeder versucht, eine eigene Lösung zu finden.
Und diese Lösung wird in der Entsendung weiterer
Truppenkontingente bestehen.«
»Was hat das mit Bertholdier zu tun?«
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»Hören Sie mir gut zu«, sagte der Alte und trat einen Schritt
vor. »Vor acht Tagen ist eine Munitionssendung mit dreihundert
Kisten Sprengbomben und zweitausend Kartons
Explosivstoffen per Luftfracht aus Beloit, Wisconsin,
abgegangen. Der Bestimmungsort war Tel Aviv via Montreal,
Paris und Marseille. Die Sendung hat ihr Ziel nie erreicht, und
ein israelischer Gewährsmann - Mitglied der Mossad - hat
durchgegeben, daß nur die Papiere nach Marseille gelangt
sind, sonst nichts. Die Sendung ist entweder in Montreal oder
Paris verschwunden, und wir sind überzeugt, daß sie zu den
Extremisten - wieder auf beiden Seiten - in Nordirland gelangt
ist.«
»Warum glauben Sie das?«
»Die ersten Opfer- über dreihundert Männer, Frauen und
Kinder - sind von Splitterbomben getötet oder schwer verletzt
worden. Das ist keine angenehme Art zu sterben, und vielleicht
ist es sogar noch schlimmer, verletzt zu werden; die Bomben
reißen den Opfern ganze Körperteile heraus. Die Reaktionen
waren entsprechend, und überall breitet sich Hysterie aus.
Ulster hat keine Kontrolle mehr über das Geschehen, die
Regierung ist gelähmt. Und alles im Laufe eines Tages, eines
einzigen Tages, Mr. Converse!«
»Sie beweisen sich, daß sie imstande sind zu tun, was sie
wollen«, sagte Joel leise und man konnte die Furcht in seiner
Stimme hören.
»Genau«, pflichtete Beale ihm bei. »Es handelt sich um einen
Testfall, einen Mikrokosmos des ganzen Schreckens, den sie
erzeugen können.«
Converse runzelte die Stirn. »Wenn man einmal von der
Tatsache absieht, daß Bertholdier in Paris lebt, welche
Verbindung gibt es dann zwischen ihm und der Sendung?«
»Sie war in Frankreich bei einer Gesellschaft versichert, an der
Bertholdier beteiligt ist. Wer wäre weniger verdächtig als die
Gesellschaft, die für den Schaden aufkommen mußte - eine
Gesellschaft, die zufälligerweise Zugang zu der von ihr
versicherten Ware hat? Der Verlust belief sich auf über vier
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Millionen Francs, keine so riesige Summe, als daß sie zu Schlagzeilen geführt hätte, aber hinreichend, um den Verdacht abzulenken. Und wieder eine Schreckenssendung ausgeliefert Tod, Verstümmelung und Chaos sind die Folgen.« »Wie heißt die Versicherungsgesellschaft?« »Compagnie Solidaire. Ich nehme an, das ist eines der Schlüsselworte. Solidaire und vielleicht Beloit und Belfast.« »Wir wollen hoffen, daß ich Bertholdier damit konfrontieren kann. Und wenn, dann muß ich die Worte zum richtigen Zeitpunkt aussprechen. Ich nehme die Frühmaschine von Athen.« »Nehmen Sie die nachdrücklichen guten Wünsche eines alten Mannes mit auf den Weg, Mr. Converse. Und nachdrücklich ist das passende Wort. Drei bis fünf Wochen, mehr Zeit haben Sie nicht, bis alles in Stücke fällt. Was auch immer es ist, wo auch immer es ist, dann wird das Zehntausendfache von Nordirland passieren. Das ist die Wirklichkeit, die uns bevorsteht.« Valerie Charpentier wachte plötzlich auf, ihre Augen waren geweitet, ihr Gesicht starr. Sie lauschte intensiv nach den Geräuschen, die das dunkle Schweigen brachen, das sie umgab, lauschte dem Wellenschlag in der Ferne. Jede Sekunde rechnete sie damit, das durchdringende Schrillen des Alarmsystems zu hören, das in jedes Fenster und jede Türe des Hauses eingebaut war. Es kam nicht, und doch waren da andere Geräusche gewesen, Geräusche, die in ihren Schlaf eingedrungen, die durchdringend genug waren, sie zu wecken. Sie schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett, ging langsam, besorgt, auf die Glastüren zu, die zu ihrem Balkon führten - dahinter lagen der felsige Strand, der kleine Landvorsprung und der Atlantische Ozean. Da war es wieder. Die tanzenden, schwachen Lichter waren unverkennbar dieselben. Sie hüllten das Boot, das noch an genau der Stelle lag, wo es vorher vertäut gewesen war, in schwachen Lichtschein. Es war die Schaluppe, die zwei Tage -8 0
lang an der Küste auf und ab gekreuzt war, immer in Sichtweite, und allem Anschein nach ohne ein anderes Ziel als diesen Teil der Küste von Massachusetts. Im Zwielicht des zweiten Abends hatte sie höchstens eine Viertelmeile vom Ufer entfernt vor dem Haus Anker geworfen. Und jetzt war sie wieder da. Nach drei Tagen war sie zurückgekehrt. Vor drei Nächten hatte sie die Polizei angerufen, die ihrerseits mit den Streifen der Küstenwache von Cape Ann Verbindung aufgenommen hatte, und die hatten eine Erklärung geliefert, die ebensowenig klar wie befriedigend gewesen war. Das Boot war in Maryland registriert. Sein Besitzer, ein Offizier in den Streitkräften der Vereinigten Staaten, und es gab keinerlei provozierende oder verdächtige Bewegungen, die ein offizielles Eingreifen rechtfertigten. »Ich würde das verdammt provozierend und verdächtig nennen«, hatte Val mit Bestimmtheit erklärt. »Wenn ein fremdes Boot zwei Tage hintereinander an demselben Küstenstreifen auf und ab segelt und dann genau vor meinem Haus ankert, in Rufweite - wobei Rufweite gleich Schwimmweite ist...« »Die Wasserrechte des von Ihnen gemieteten Grundstücks reichen nur zweihundert Fuß ins Meer hinaus, Ma'am«, war die offizielle Antwort gewesen. »Wir können nichts unternehmen.« Val schauderte, während sie einen schweren Sessel vor die Balkontüre zog - aber nicht zu nahe, etwas entfernt vom Glas. Sie zog die leichte Decke vom Bett und setzte sich, hüllte sich hinein, starrte aufs Wasser hinaus und auf das Boot. Sie würde nicht in Panik geraten. Joel hatte sie gelehrt, Panik zu vermeiden, selbst wenn sie einen wohldosierten Schrei in den finsteren Straßen von Manhattan für angezeigt gehalten hatte. Manchmal war das Unvermeidliche geschehen. Drogensüchtige oder Halbstarke hatten ihnen den Weg verstellt, aber Joel war ruhig geblieben - eisig ruhig - und hatte sich mit ihr gegen die Wand gedrückt und ihnen die billige Extrageldbörse angeboten, die er mit ein paar Scheinen in der Hosentasche hatte. Herrgott, er war wie Eis! Vielleicht war das -8 1
der Grund, daß man sie nie angegriffen hatte, weil man nicht
wußte, was sich hinter jenem kalten, brütenden Blick verbarg.
»Ich hätte schreien sollen!« hatte sie einmal gerufen.
»Nein«, hatte er gesagt. »Dann hättest du ihm Angst eingejagt,
ihn in die Panik getrieben, und dann können diese Schweine
lebensgefährlich werden.«
Lieber Joel, närrischer Joel, eiskalter Joel. Es hat Zeiten
gegeben, wo du mir gutgetan hast - wenn du dich wohl fühltest.
Und amüsant warst du, so schrecklich amüsant - selbst wenn
du dich nicht wohl fühltest. In mancher Hinsicht fehlst du mir,
Liebster. Aber nicht genug, nein danke.
Und doch, warum ließen diese Gefühle - dieser Instinkt
vielleicht - nicht nach? Das kleine Boot draußen auf dem
Wasser war wie ein Magnet und zog sie an, zog sie in sein Feld
und an einen Ort, an dem sie nicht sein wollte.
Unsinn! Dämonen auf der Suche nach Logik! Das war albern
der alberne Joel, der eiskalte Joel - hör auf, um Himmels willen!
Sei vernünftig!
Und dann durchlief sie wieder ein Schauder. Anfänger
navigierten nicht nachts an fremden Küsten.
Der Magnet hielt sie fest, bis ihre Lider schwer wurden und
unruhiger Schlaf sie befiel.
Sie wachte wieder auf, als das grelle Sonnenlicht, das durch die
Glastüre hereinfiel, sie hochschrecken ließ, während seine
Wärme sie gleichzeitig einhüllte. Sie blickte aufs Wasser
hinaus. Das Boot war verschwunden - und einen Augenblick
lang fragte sie sich, ob es je wirklich da gewesen war.
Ja, es war da gewesen. Aber jetzt war es verschwunden.
3 Die Boeing 747 hob von der Piste des Athener Hellikion-
Flughafens ab und stieg in einer Linkskurve steil in die Höhe.
Unten lag deutlich sichtbar neben dem Flughafengebäude der
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Stützpunkt der US Navy, der allerdings in den letzten Jahren, was Größe und Zahl der stationierten Maschinen anging, vertragsgemäß reduziert worden war. Dennoch durften, dank einer mürrischen und doch nervösen Regierung, die sich nur zu sehr der heimtückischen Augen im Norden bewußt war, auch heute noch andere amerikanische Augen das Mittelmeer und die Ionische und Ägäische See überwachen. Converse starrte zum Fenster hinaus und erkannte vertraute Maschinen auf dem Boden. Zu beiden Seiten der doppelt angelegten Startbahn waren zwei Reihen von Phantom F-4T und A-6E angeordnet, modernisierte Ausführungen der F-4G und A-6A, die er vor Jahren geflogen hatte. Es war so leicht, wieder in die Vergangenheit zurückzusinken, dachte Joel, während er zusah, wie sich drei Phantoms in Bewegung setzten; sie würden jetzt auf die Spitze der Startbahn zustreben und dann war die nächste Aufklärungsstreife in der Luft. Der Boden unter ihm verschwand, als die 747 ihren Kurs stabilisierte und auf ihre Reiseflughöhe stieg. Converse wandte sich vom Fenster ab und machte es sich in seinem Sessel bequem. Abrupt verloschen die No-Smoking-Zeichen, und Joel holte ein Päckchen Zigaretten aus der Hemdtasche und zog sich eine heraus. Er ließ sein Feuerzeug aufspringen, und Sekunden später verteilte sich der Rauch in dem Luftstrom von oben. Er sah auf die Uhr, es war zwölf Uhr zwanzig. Sie sollten um fünfzehn Uhr fünfunddreißig französischer Zeit auf dem Flughafen Orly eintreffen. Wenn man den Zeitunterschied in Betracht zog, so war es ein dreistündiger Flug, und in diesen drei Stunden würde er alles Material seinem Gedächtnis einprägen, was ihm über General Jacques Louis Bertholdier zugänglich war - wenn Beale und der tote Halliday recht hatten, war er der Arm von Aquitania in Paris. In Hellikion hatte er etwas getan, was er noch nie zuvor getan hatte, etwas, das ihm noch nie in den Sinn gekommen war, ein Akt der Verschwendung, wie man ihn gewöhnlich der Welt der Romane, der Filmstars oder der Rockidole zuschrieb. Furcht und Vorsicht im Verein mit ausreichend Geld hatten ihn dazu -8 3
veranlaßt, zwei nebeneinanderliegende Sitze in der ersten Klasse zu buchen. Er wollte nicht, daß irgendwelche Blicke auf die Papiere fielen, die er lesen würde. Der alte Beale hatte ihm das in der vergangenen Nacht am Strand eindringlich klargemacht. Wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, daß das Material in seinem Besitz in andere Hände fallen könnte, irgendwelche andere Hände, dann sollte er die Papiere um jeden Preis vernichten. Schließlich handelte es sich um detaillierte Dossiers über Männer, die mit einem einzigen Telefonanruf vielfachen Tod auslösen konnten. Er griff nach seinem Aktenkoffer, dessen Griff vom Schweiß seiner Hände feucht war, weil er ihn seit Mykonos nicht losgelassen hatte. Zum erstenmal ahnte er den Wert einer Vorrichtung, die er aus Filmen und Romanen kannte. Ihm wäre viel wohler gewesen, wenn er jetzt den Griff seines Aktenkoffers mit einer Kette an seinem Handgelenk hätte befestigen können. Jacques Louis Bertholdier, 59 Jahre alt, einziges Kind von Alphonse und Marie Therese Bertholdier, im Militärhospital von Dakar zur Welt gekommen. Vater Karriereoffizier in der französischen Armee, seinem Ruf nach autokratisch und auf harte Disziplin bedacht. Über die Mutter ist wenig bekannt, wobei vielleicht von Bedeutung ist, daß Bertholdier nie über sie spricht. Vor vier Jahren, im Alter von fünfundfünfzig hat er sich pensionieren lassen, und ist jetzt einer der Direktoren von Juneau et Cie., einer konservativen Firma an der Bourse des Valeurs, der Pariser Aktienbörse. Seine Jugendjahre erscheinen typisch für den Sohn eines Offiziers, der von Stützpunkt zu Stützpunkt zieht und dort die Privilegien nutzt, die Rang und Einfluß seines Vaters gewähren. Im Jahre 1938 befanden sich die Bertholdiers wieder in Paris, wo der Vater dem Generalstab angehörte. Es waren chaotische Zeiten, denn der Krieg mit Deutschland stand bevor, und der ältere Bertholdier war einer der wenigen Kommandeure, die erkannt hatten, daß die Maginot-Linie nicht zu halten sein würde. Die Deutlichkeit, mit der er dies aussprach, machte seine Kollegen so zornig, daß man ihn schließlich ins Feld -8 4
versetzte, wo er den Befehl über die an der nordöstlichen Grenze stationierte Vierte Armee erhielt. Dann kam der Krieg, und der Vater fiel in der fünften Woche der Kampfhandlungen. Der junge Bertholdier war damals sechzehn Jahre alt und besuchte die Schule in Paris. Die Niederlage Frankreichs im Juni 1940 könnte man als den Anfang des Erwachsenenlebens unserer Zielperson bezeichnen. Erschloß sich der Resistance zunächst als Kurier an, kämpfte dort vier Jahre und stieg in den Rängen der Untergrundbewegung auf, bis er den Sektor Calais-Paris befehligte. Er unternahm häufig geheime Reisen nach England und koordinierte die Spionage und Sabotageoperationen der englischen Abwehr und der des freien Frankreich. Im Februar 1944 ernannte de Gaulle ihn vorübergehend bis Kriegsende zum Major. Bertholdier war damals zwanzig Jahre alt. Einige Tage vor der alliierten Besetzung von Paris wurde Bertholdier bei einem Straßengefecht zwischen Kämpfern der Resistance und den sich zurückziehenden Deutschen verwundet. Der Krankenhausaufenthalt verhinderte seine weitere Teilnahme an den Kriegshandlungen. Nach der deutschen Kapitulation erhielt er einen Studienplatz auf der nationalen Militärakademie in St. Cyr. Nach seinen erfolgreichen Examina wurde er zum Hauptmann ernannt. Er war damals 24 Jahre alt und erhielt Kommandos in der Dra Hamada in Französisch-Marokko; in Algerien; und dann an verschiedenen Orten der Welt, darunter in der Garnison von Haiphong und schließlich in den Alliierten Sektoren in Wien und West-Berlin. (Man beachte die letzte Position unter Hinblick auf die folgende Information über General Erich Leifhelm. Dort begegneten sie sich das erstemal und wurden Freunde, zuerst offen, später vertuschten sie dann ihre Beziehung, nachdem sie beide aus dem aktiven militärischen Dienst ausgetreten waren.) Converse dachte, ohne sich mit Erich Leifhelm zu befassen, über die junge Legende nach, die Jacques Louis Bertholdier war. Obwohl Joel so wenig militärbegeistert war, wie ein Mann nur sein konnte, so vermochte er sich doch mit dem militärischen Phänomen zu identifizieren, das ihm auf diesen -8 5
Seiten geschildert wurde. Obwohl kein Held, so hatte man ihm doch die Begrüßung eines Helden zuteil werden lassen, als er aus einem Krieg zurückkehrte, in dem man nur wenige dieser Ehre für würdig hielt. Dies widerfuhr im allgemeinen denjenigen eher, die die Gefangenschaft erduldet hatten, als jenen, die gekämpft hatten. Dennoch war diese Aufmerksamkeit - die bloße Aufmerksamkeit -, die zu Privilegien führte, ein gefährlicher Luxus. Selbst wenn einem das anfänglich peinlich war, konnte man sich sehr schnell daran gewöhnen, das alles zu akzeptieren. Und dann, es zu erwarten. Die Anerkennung konnte einem zu Kopfe steigen, und dann fing man an, die Privilegien als selbstverständlich hinzunehmen. Und wenn schließlich die Aufmerksamkeit zu verblassen begann, stellte sich ein gewisser Zorn ein, und man wünschte sie sich zurück. Dies waren die Gefühle von jemandem, den es nicht nach Einfluß dürstete - nach Erfolg ja, aber nicht nach Macht. Was aber mußte dies in einem Mann bewirken, dessen ganzes Wesen von Autorität und Macht geformt war und dessen früheste Erinnerungen Privilegien und Rang umfaßten und dessen kometenhafter Aufstieg bereits in früher Jugend begonnen hatte. Wie reagiert ein solcher Mann auf Anerkennung und die ständig wachsende eigene Bedeutung? Einem solchen Mann durfte man nicht viel wegnehmen; der Zorn konnte dann leicht zur Raserei werden. Und doch hatte Bertholdier das alles mit fünfundfünfzig aufgegeben, ziemlich jung für jemanden, der so prominent war. Das paßte nicht. Irgend etwas fehlte an dem Porträt dieses Alexander der neueren Zeit. Zumindest bis jetzt. Der richtige Zeitpunkt spielte in Bertholdiers wachsendem Ruf eine besondere Rolle. Nach Posten in der Dra Hamada und Algerien wurde er nach Französisch-lndochina versetzt, wo die Lage der Kolonialstreitkräfte sich schnell verschlechterte und damals heftige Guerillatätigkeit herrschte. Seine Leistungen im Felde lieferten bald Gesprächsstoff in Saigon und Paris. Die unter seinem Befehl stehenden Truppen errangen einige seltene, aber dringend benötigte Siege, die zwar nicht den Lauf des Krieges ändern konnten, aber immerhin die eingefleischten -8 6
Militaristen davon überzeugten, daß die primitiven asiatischen Kräfte durch überlegenen gallischen Mut und Strategie besiegt werden konnten; es fehlte nur das Material, das Paris zurückhielt. Die Niederlage von Dien Bien Phu war eine bittere Medizin für e j ne Männer, die behaupteten, Verräter im Quai d'Orsay hätten die Demütigung Frankreichs herbeigeführt. Obwohl Colonel Bertholdier als eine der wenigen heroischen Gestalten aus der Niederlage hervortrat, war er klug oder vorsichtig genug, sich zurückzuhalten und wenigstens äußerlich nicht die Partei der »Falken« zu ergreifen. Viele sagen, er habe damals auf ein Signal gewartet, das niemals kam. Wieder wurde er auf einen Auslandsposten versetzt und diente in Wien und West-Berlin. Vier Jahre später jedoch brach er aus der Form, die er so sorgsam aufgebaut hatte, aus. Nach seinen eigenen Worten wurde er von de Gaulles Übereinkünften mit den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Algeriern »erzürnt und desillusioniert«. Er floh in sein Geburtsland Nordafrika und schloß sich der aufständischen OAS des Generals Raoul Salan an, die sich heftig der von ihr als verräterisch bezeichneten Politik widersetzte. Während dieser revolutionären Phase seines Lebens war er in einen Attentatsversuch auf de Gaulle verwickelt. Als Salan dann im April 1962 in Gefangenschaft geriet und die Front der Aufständischen zusammenbrach, trat Bertholdier erneut, zu aller Erstaunen, völlig ungeschoren aus der Niederlage hervor. Mit einer nur als außergewöhnlich zu bezeichnenden Entscheidung - die nie ganz verstanden wurde veranlaßte de Gaulle, daß Bertholdier aus dem Gefängnis geholt und in den Quai d'Orsay gebracht wurde. Was damals zwischen den beiden Männern gesprochen wurde, ist nie bekanntgeworden, jedenfalls wurde Bertholdier sein ehemaliger Militärrang wieder zuerkannt. Die einzige von de Gaulle bekanntgewordene Bemerkung hierzu erfolgte auf einer Pressekonferenz am 4. Mai 1962. Auf eine Frage, die den begnadigten Rebellenoffizier betraf, sagte er (wörtliche Übersetzung): »Einem großen Soldaten und Patrioten muß man auch einmal eine kurze Episode der Verblendung -8 7
gestatten und nachsehen. Wir haben miteinander gesprochen. Wir sind zufrieden.« Mehr sagte er zu dem Thema nicht. Sieben Jahre bekleidete Bertholdier verschiedene einflußreiche Positionen, stieg während dieser Zeit in den Generalsrang auf und wurde während der Zugehörigkeit Frankreichs zum NATOBündnis häufig als führender militärischer Vertreter in den wichtigsten Botschaften vorstellig. Er wurde häufig in den Quai d'Orsay berufen, begleitete de Gaulle zu internationalen Konferenzen und war häufig in den Medien zu sehen - nur wenig von dem großen Mann entfernt. Seltsamerweise wurde er jedesmal, obwohl er wesentliche Beiträge zu den Konferenzen leistete, wieder auf seinen vorherigen Posten zurückgeschickt, während die internen politischen Diskussionen fortgesetzt und Entscheidungen ohne ihn getroffen wurden. Es war, als befände ersieh in ständiger Warteposition, ohne daß je die entscheidende Berufung erfolgte. War diese letzte Berufung das Signal, auf das er sieben Jahre früher in Dien Bien Phu gewartet hatte? Auf diese Frage wissen wir keine Antwort, wir glauben aber, daß man ihr Augenmerk widmen sollte. Als de Gaulle dann im Jahre 1969 nach der Verweigerung der von ihm geforderten Verfassungsänderungen seinen dramatischen Rücktritt bekanntgab, führte dies auch zu einer Verlangsamung von Bertholdiers Karriere. Seine Einsätze erfolgten nun entfernter vom Zentrum der Macht und blieben das auch bis zu seiner Pensionierung. Recherchen bei seiner Bank und den Kreditkartenunternehmen sowie Passagierlisten der Fluggesellschaften zeigen, daß unsere Zielperson in den letzten achtzehn Monaten folgende Reisen unternommen hat: London 3; New York 2; San Francisco 2; Bonn 3; Johannesburg 1; Tel Aviv 1 (mit Johannesburg verbunden). Das Bild, das sich zeigt, ist klar. Es entspricht den geografischen Brennpunkten von General Delavanes Operationen. Converse rieb sich die Augen und klingelte nach einem Drink. Während er auf den Scotch wartete, überflog er die nächsten Absätze und hing seinen Gedanken nach. Er erinnerte sich jetzt an den Mann, aber das, was ihm zu der Person einfiel, war nicht sonderlich bedeutsam. Bertholdiers Name war von einigen -8 8
ultrakonservativen Parteien hochgespielt worden, in der Hoffnung, ihn auf die politische Bühne ziehen zu können, aber es war ihnen nicht gelungen. Die letzte Berufung war an Bertholdier vorübergegangen, sie erfolgte nicht. Mit 55 Jahren trat er aus der Armee aus und wurde Direktor eines großen, an der Pariser Börse notierten Unternehmens. Eine Galionsfigur, dazu ausersehen, die Reichen und Mächtigen zu beeindrucken und die sozialistischen Träumer durch das bloße Gewicht seiner Legende im Zaum zu halten. Er pflegt in einer Firmenlimousine zu reisen, und wohin er auch fährt, er wird überall angemessen begrüßt. Bei dem Wagen handelt es sich um einen dunkelblauen amerikanischen Lincoln Continental, Kennzeichen 100-1. Die von ihm bevorzugten Restaurants sind: Taillevent, das Ritz, Julien und Lucas-Carton. Sein Mittagessen nimmt er fast regelmäßig in dem Privatclub L'Etalon Blanc ein, den er drei- bis viermal in der Woche aufsucht. Es handelt sich hierbei um ein sehr elitäres Etablissement, dessen Mitglieder sich aus Militärs der obersten Ränge, den Restendes Hochadels und reic hen Verehrern beider rekrutieren, die, wenn sie schon nicht der einen oder anderen Klasse angehören, es sich eine Menge Geld kosten lassen, wenigstens in deren Nähe zu sein. Joel lächelte; der Verfasser des Berichts schien Humor zu haben. Trotzdem fehlte etwas. Sein juristisch geschulter Verstand suchte die Lücke. Was war das Signal, das Bertholdier in Dien Bien Phu nicht erhalten hatte? Was hatte der herrische de Gaulle dem rebellischen Offizier gesagt, und was hatte der Rebell dem großen Mann geantwortet? Warum suchte man stets seinen Rat, versagte ihm aber die Macht? Hatte man einen Alexander erzogen, geschult, ihm vergeben, ihn erhoben und dann wieder fallenlassen? In diesen Blättern war eine Botschaft verborgen, aber Joel konnte sie nicht entdecken. Converse hatte jetzt die Stelle des Berichts erreicht, mit der der Verfasser das Porträt abzurunden versuchte. -8 9
Bertholdiers Privatleben scheint für die uns interessierenden Aktivitäten nur wenig Belang zu haben. Seine Ehe war eine Vernunftehe im reinsten Sinne La Rochefoucaults: sie brachte beiden Parteien gesellschaftlichen, beruflichen und finanziellen Vorteil. Ansonsten scheint es sich bei der Verbindung einzig um ein geschäftliches Arrangement gehandelt zu haben. Es gibt keine Kinder, und obwohl Madame Bertholdier häufig bei gesellschaftlichen und öffentlichen Veranstaltungen an der Seite ihres Mannes erscheint, hat man die beiden nur selten im engen Gespräch beobachtet. Außerdem spricht Bertholdier nie über seine Frau. Zu erwähnen ist noch, daß Bertholdier dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan ist, manchmal bis zu drei Geliebte aushält und darüber hinaus auch zahlreiche andere Bekanntschaften pflegt. In seinen Kreisen hat man ihm einen Spitznamen verliehen, der freilich nie seinen Weg in die Presse gefunden hat: Le Grand Timon, und falls der Leser eine Übersetzung braucht, so empfehlen wir ihm, am Montparnasse einen Drink einzunehmen. Damit endete der Bericht. Es war eine Akte, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Aber es gab genügend konkrete Fakten, um weiterzumachen. Joel sah auf die Uhr; eine Stunde war verstrichen. Er hatte noch mehr als zwei Stunden Zeit, um alles noch einmal zu lesen, darüber nachzudenken und so viel wie möglich in sich aufzunehmen. Er hatte bereits beschlossen, mit wem er in Paris Verbindung aufnehmen würde. Rene Mattilon war nicht nur ein geschickter Anwalt, mit dem Talbot, Brooks and Simon häufig in Verbindung traten, wenn sie einen Vertreter vor einem französischen Gericht brauchten, sondern er war auch ein Freund. Obwohl Mattilon zehn Jahre älter war als Joel, reichten die Wurzeln ihrer Freundschaft zurück in eine für beide gleiche Erfahrung, gleich ebenso im geografischen Sinne wie auch in der Sinnlosigkeit. Vor dreißig Jahren war Mattilon ein junger Rechtsanwalt um die Zwanzig gewesen, den seine Regierung eingezogen und als juristischen Offizier nach Französisch-lndochina geschickt hatte. Er wurde dort Zeuge des Unvermeidlichen und konnte nie begreifen, -9 0
warum es seine stolze, uneinsichtige Nation so viel kosten mußte, das zu begreifen. Sein Kommentar zu dem darauffolgenden amerikanischen Engagement war von schneidender Härte: »Mon Dieu! Und ihr habt geglaubt, ihr könntet nur mit Waffen erreichen, was wir mit Waffen und Gehirn nicht erreichen konnten?« Jedesmal, wenn Mattilon nach New York oder Joel nach Paris kam, war es ihre Gewohnheit, gemeinsam ein Abendessen und ein paar Drinks einzunehmen. Außerdem zeigte der Franzose erstaunliche Toleranz für Joels Sprachbarrieren. Joel war einfach nicht imstande, eine andere Sprache zu lernen. Selbst Vals eindringliche Bemühungen waren auf taube Ohren und ein überhaupt nicht aufnahmefähiges Gehirn gestoßen. Vier Jahre lang hatte sie, deren Vater Franzose und deren Mutter Deutsche gewesen war, versucht, ihm die einfachsten Sätze beizubringen. Bis sie schließlich einsah, daß er ein hoffnungsloser Fall war. »Wie, zum Teufel, kannst du dich einen internationalen Anwalt nennen, wo du jenseits von Sandy Hook auch nicht den einfachsten Satz verstehst?« hatte sie gefragt. »Indem ich Dolmetscher engagiere, die von Schweizer Banken ausgebildet sind, und sie nach einem Punktesystem bezahle«, hatte er geantwortet. »Denen entgeht nichts.« Wenn er nach Paris kam, pflegte er in einer Zwei-Zimmer-Suite des eleganten Hotels George V. abzusteigen, ein Luxus, den Talbot, Brooks and Simon ihm gestatteten und den er sich zugelegt hatte, mehr um seine Klienten zu beeindrucken, als um seine Spesenabrechnung in die Höhe zu schrauben. Nathan Simon hatte ihm klargemacht, wie man damit sogar noch Geld sparen konnte. »Sie haben dort ein luxuriöses Wohnzimmer«, hatte Nate ihm mit Grabesstimme eröffnet. »Benutzen Sie es für Konferenzen, dann können Sie uns diese lächerlich teuren französischen Mittagessen sparen und - bei Gott - die Abendessen.«
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»Und wenn jemand unbedingt essen will?« »Dann haben Sie eine andere Verabredung. Sie brauchen nur zu zwinkern und zu sagen, es sei eine persönliche Verabredung; niemand in Paris wird etwas dagegen einzuwenden haben.« Die eindrucksvolle Adresse konnte ihm jetzt gute Dienste leisten, überlegte Converse, als sich das Taxi gefährlich durch den Nachmittagsverkehr auf den Champs-Elysees wand. Wenn er mit irgendwelchen Männern aus Bertholdiers Umgebung oder sogar Bertholdier selbst weiterkommen wollte - und das beabsichtigte er -, dann würde das teure Hotel zum Image des unbekannten Klienten passen, der seinen persönlichen Anwalt mit einer sehr vertraulichen Mission ausgeschickt hatte. Natürlich hatte er keine Reservierung, aber dieses Versehen würde er einer imaginären Sekretärin in die Schuhe schieben. Er wurde vom stellvertretenden Geschäftsführer mit großer Wärme begrüßt, wenn der sich auch überrascht zeigte und schließlich zu wortreichen Entschuldigungen überging. Nein, von Talbot, Brooks and Simon lag keine Telexreservierung vor, aber natürlich würde man für einen alten Freund Unterkunft finden. So geschah es; Joel bekam die übliche Suite im ersten Stock, und ehe er noch auspacken konnte, brachte der Zimmerkellner eine Flasche mit jenem Scotch Whisky, den er bevorzugte, und tauschte sie gegen die in der Bar bereitgestellte Flasche aus. Joel hatte vergessen, wie akkurat und genau die Notizen waren, die Hotels wie das George V. über ihre Stammgäste führten. Erster Stock, der richtige Whisky, und später im Verlauf des Abends würde man ihn ohne Zweifel daran erinnern, daß er sich gewöhnlich morgens um sieben Uhr wecken ließ. So würde es auch diesmal wieder sein. Aber jetzt war es kurz vor fünf Uhr nachmittags. Wenn er Mattilon noch erreichen wollte, ehe der Anwalt sein Büro verließ, mußte er sich beeilen. Wenn Rene Zeit hatte, mit ihm einen Drink einzunehmen, wäre das ein guter Anfang. Mattilon war entweder sein Mann, oder er war es nicht, und die Vorstellung, auch nur eine Stunde zu vergeuden, ließ ihn unruhig werden. Er griff nach dem Pariser Telefonbuch, das auf
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einem Regal unter dem Nachttisch lag, auf dem das Telefon
stand, und suchte die Nummer der Kanzlei heraus.
»Du großer Gott, Joel!« meldete sich der Franzose. »Ich habe
von dieser schrecklichen Geschichte in Genf gelesen; es stand
in der Morgenzeitung. Ich habe versucht, dich anzurufen - Le
Richemond, natürlich -, aber die sagten, du seist ausgezogen.
Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Alles. Ich war zufällig in der Nähe, mehr nicht.«
»Er war Amerikaner. Hast du ihn gekannt?«
»Nur als Verhandlungspartner. Übrigens, dieser Unsinn, daß er
etwas mit Rauschgift zu tun gehabt hätte, war eben das
Unsinn. Man hat ihn überfallen, beraubt und dann für
Verwirrung bei der Autopsie gesorgt.«
»Und schon stürzt sich ein übereifriger Beamter darauf und
versucht, das Image seiner Stadt zu retten. Ich weiß schon; das
stand auch in dem Artikel. Das ist alles so schrecklich.
Verbrechen, Morde, Terrorismus - überall. Gott sei Dank ist es
hier in Paris noch nicht so schlimm.«
»Ihr braucht hier auch keine Straßenräuber, dafür habt ihr ja
eure Taxifahrer. Bloß daß die noch widerwärtiger sind.«
»Du bist unmöglich, mein Freund, so wie immer! Wann können
wir uns treffen?«
Converse machte eine Pause. »Ich hatte gehofft, heute abend.
Nach dem Büro.«
»Da läßt du mir aber sehr wenig Zeit, mon ami. Ich wünschte,
du hättest früher angerufen.«
»Ich bin erst vor zehn Minuten angekommen.«
»Aber du hast Genf doch schon...«
»Ich hatte in Athen zu tun«, unterbrach Joel ihn.
»Ah ja, heutzutage flieht das Geld vor den Griechen. Etwas
übereilig, denke ich. So wie es hier auch war.«
»Wie wäre es mit einem Drink, Rene? Es ist wichtig.«
Diesmal ließ Mattilon eine Pause entstehen; es war
offensichtlich, daß er die Dringlichkeit in Converses Stimme
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erkannt hatte. »Selbstverständlich«, sagte der Franzose. »Du
bist im George V. nehme ich an.«
»Ja.«
»Ich komme so bald wie möglich. Sagen wir in einer
Dreiviertelstunde.«
»Vielen Dank. Ich besorge uns zwei Stühle in der Galerie.« »Ich
werde dich finden.«
Stammgäste bezeichneten die riesige, von Marmorbögen
geschmückte Halle vor den Rauchglastüren der George-V.-Bar
als »Galerie«. Der Name kam daher, weil es zur Linken
tatsächlich in einem durch Glasscheiben abgetrennten Korridor
eine Kunstgalerie gab. Aber ebenso paßte der Name auch auf
den eleganten Raum selbst. Die mit dicken Samtpolstern
ausgestatteten Sessel und Sofas, die polierten, dunklen Tische,
die die Marmorwände säumten, standen unter Kunstwerken
riesigen Tapisserien aus lang vergessenen Schlössern und
mächtigen, heroischen Gemälden von namhaften Künstlern aus
Vergangenheit und Gegenwart.
Der Raum begann sich zu füllen. Kellner aus der benachbarten
Bar streiften diskret zwischen den Sesseln und Stühlen umher
und nahmen Bestellungen auf. Sie wußten wohl, wo das
wirkliche Geld beheimatet war. Converse fand zwei Sessel am
äußersten Ende, wo es etwas heller war. Er sah auf die Uhr,
konnte das Zifferblatt kaum erkennen. Vierzig Minuten waren
seit seinem Gespräch mit Rene verstrichen, gerade Zeit genug,
um zu duschen und das Hemd zu wechseln. Er legte Zigaretten
und Feuerzeug auf den Tisch und bestellte etwas zu trinken,
ohne das marmorverkleidete Eingangsportal aus den Augen zu
lassen.
Zwölf Minuten später sah er ihn. Mattilon kam mit energischen
Schritten aus dem grellen Licht der Eingangshalle in die weiche
Beleuchtung der Galerie. Er blieb einen Augenblick lang
stehen, kniff die Augen zusammen und nickte dann. Er ging
über den weichen Teppich auf Joel zu, sein Gesicht zeigte ein
breites, ehrliches Lächeln. Rene Mattilon war Mitte bis Ende
Fünfzig, aber sein Schritt, ebenso wie sein Aussehen ließen
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einen jüngeren Mann vermuten. Er verbreitete jene Aura um
sich, wie sie für erfolgreiche Anwälte so typisch ist; ein
offenkundiges Selbstvertrauen, das das Wesen seines Erfolgs
bildete. Ein Selbstvertrauen aber, das aus Intelligenz und
Geschicklichkeit, nicht nur aus Ego und Leistung geboren war.
Ein kräftiges Händeschütteln, dann eine kurze Umarmung. Der
Franzose setzte sich Converse gegenüber, während Joel einen
aufmerksamen Kellner herbeiwinkte. »Du solltest besser in
Französisch bestellen«, sagte er. »Sonst bekommst du am
Ende noch Schokoladeneis.«
»Dieser Mann spricht besser Englisch als du oder ich. Campari
und Eis, bitte.«
»Merci, Monsieur.« Der Kellner ging.
»Nochmals vielen Dank, daß du gekommen bist«, sagte
Converse. »Wirklich, das ist mein Ernst.«
»Du siehst gut aus, Joel. Müde, aber gut. Diese schreckliche
Geschichte in Genf muß dir Alpträume verursachen.«
»Nein, wirklich nicht, das sagte ich doch schon. Ich war einfach
zufällig in der Nähe.«
»Trotzdem. Es hätte ja auch dich erwischen können. In den
Zeitungen stand, er sei in deinen Armen gestorben.«
»Ich war der erste, der ihn erreichte.«
»Wie schrecklich.«
»Das ist nicht das erstemal, daß ich so etwas erlebe, Rene«,
antwortete Converse ruhig, ohne das, was er sagte, näher zu
kommentieren.
»Ja, natürlich. Du warst besser auf so etwas vorbereitet als die
meisten, kann ich mir vorstellen.«
»Ich glaube nicht, daß man auf so etwas je vorbereitet ist. Aber
es ist vorbei. Wie steht's mit dir? Wie geht es?«
Mattilon schüttelte den Kopf, und seine Züge wirkten plötzlich
fast verzweifelt. »In Frankreich regiert der reinste Wahnsinn,
aber wir überleben es. Seit Monaten gibt es hier Pläne und
wieder Pläne, aber die Planer treten sich gegenseitig in den
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Fluren der Regierung tot. Die Gerichte sind voll, das Geschäft
blüht.«
»Das freut mich zu hören.« Der Kellner kam mit dem Campari,
die beiden Männer nickten stumm, und Mattilons Augen
musterten Joel. » Nein, wirklich«, fuhr Converse fort, als der
Kellner sie verließ. »Man hört so viele Geschichten.«
»Bist du deshalb in Paris?« Der Franzose studierte Joels
Gesicht. »Wegen der Geschichten über all die Unruhen, die es
hier gibt? Das ist nicht so weltbewegend, weißt du, auch nicht
anders als früher. Noch nicht. Die meisten privaten
Unternehmen sind hier auch schon früher von der Regierung
finanziert worden. Aber sie wurden wenigstens nicht von
unfähigen Beamten geleitet, und dafür müssen wir vielleicht
eines Tages die Rechnung bezahlen. Ist es das, was dich
beunruhigt, oder, besser gesagt, deine Klienten?«
Converse trank. »Nein, das ist nicht der Grund meines
Kommens. Mir geht es um etwas anderes.«
»Du bist besorgt, das kann ich sehen. Mich kannst du nicht so
leicht täuschen, dazu kenne ich dich zu gut. Also, was ist so
wichtig? Das war nämlich das Wort, das du am Telefon
gebraucht hast.«
»Ja, das war es wohl. Vielleicht war es zu stark.« Joel leerte
sein Glas und griff nach den Zigaretten.
»Deinen Augen nach nicht, mein Freund. Ich sehe sie, und ich
sehe sie doch nicht. Sie scheinen wie von Wolken verhüllt.«
»Das siehst du falsch. Wie du schon sagtest, ich bin müde. Ich
bin den ganzen Tag unterwegs gewesen, und wenn ich nicht im
Flugzeug saß, dann in einer Flughafenhalle.« Er griff nach
seinem Feuerzeug und probierte zweimal, bis eine Flamme
erschien.
»Wir reden albernes Zeug. Also, was ist?« Converse zündete
sich eine Zigarette an und war bemüht, beiläufig zu klingen, als
er fragte: »Kennst du einen Privatclub, der L'Etalon Blanc
heißt?«
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»Ich kenne ihn, aber man würde mich nicht hineinlassen«,
antwortete der Franzose und lachte. »Ich war ein junger,
unbedeutender Lieutenant- und was noch schlimmer ist, im
Stabe des juge-avocat - und gehörte unseren Streitkräften
eigentlich nur an, um ihren Operationen den Anschein der
Legalität zu verleihen. Damit wir uns richtig verstehen, nur den
Anschein. Mord galt als kleines Vergehen, und Vergewaltigung
führte eher zu Gratulationen. Das L'Etalon Blanc ist ein
Refugium für les grands militaires ... und diejenigen, die reich
oder albern genug sind, um sich deren Fanfarenstöße
anzuhören.«
»Ich möchte jemanden treffen, der dort drei- oder viermal die
Woche zu Mittag ißt.«
»Kannst du ihn nicht anrufen?«
»Er kennt mich nicht und weiß auch nicht, daß ich ihn
kennenlernen möchte. Es muß spontan passieren.«
»Wirklich? Für Talbot, Brooks and Simon? Das klingt höchst
ungewöhnlich.«
»Ist es auch. Vielleicht haben wir mit jemandem zu tun, mit dem
wir gar nichts zu tun haben wollen.«
»Ah, Missionarsarbeit. Wer ist es denn?«
»Wirst du es für dich behalten? Ich meine das ganz wörtlich,
kein Wort zu irgend jemandem?«
»Bin ich ein Schwätzer? Wenn der Name mit irgend etwas in
Konflikt steht, was wir gerade bearbeiten, dann sage ich es dir,
und dann werde ich dir, offen gestanden, auch nicht helfen
können.«
»Einverstanden. Der Mann heißt Jacques Louis Bertholdier.«
Mattilon hob die Brauen. »Dieser Kaiser hat noch all seine
Kleider«, sagte der Franzose und lachte leise. »Auch wenn
manche etwas anderes behaupten. Du kehrst die Treppe von
oben, wie man in New York sagt. Kein Konflikt, mon ami, der
spielt nicht in unserer Liga - wie ihr Amerikaner sagt.«
»Warum nicht?«
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»Er ist von Heiligen und Kriegern umgeben. Kriegern, die
Heilige sein möchten, und Heilige, die gern Krieger wären. Wer
hat die Zeit für so etwas?«
»Du meinst, man nimmt ihn nicht ernst?«
»O doch, das tut man wohl. Sehr ernst, wenigstens tun das
diejenigen, die die Zeit und die Neigung haben, erträumte
Berge zu bewegen. Er ist eine Säule, Joel, eine Säule, deren
Fundament heroischer Marmor ist. Er selbst ist unbeweglich. Er
war der zweite de Gaulle, der nie an die Macht kam. Und
manche sagen, das sei ein Jammer gewesen.«
»Was willst du damit sagen?«
Mattilon runzelte die Stirn und zuckte dann die Schultern.
»Ich weiß nicht. Das Land braucht, weiß Gott, jemanden Und
vielleicht hätte Bertholdier diesen Platz einnehmen und einen
viel besseren Kurs steuern können als den, den wir schließlich
eingeschlagen haben. Aber dafür waren wohl die Zeiten nicht
die richtigen. Der Elysee-Palast war so etwas wie ein Kaiserhof
geworden, und die Leute waren der königlichen Edikte und
kaiserlichen Erlasse müde. Nun, die haben wir nicht mehr; an
ihre Stelle sind die grauen Banalitäten eines Arbeiterführers
getreten. Vielleicht ist es schade, obwohl er es immer noch
schaffen könnte, kann ich mir vorstellen. Er hat seinen Aufstieg
zum Olymp in sehr jungen Jahren begonnen.«
»Hat er nicht zur OAS gehört? Zu Salans Rebellen in Algier?
Man hat sie eine nationale Schande genannt.«
»Das ist ein Urteil, von dem selbst die Intellektuellen heute
etwas widerstrebend zugeben, daß man es möglicherweise
revidieren muß. So wie sich Nordafrika und der Nahe Osten
entwickelt haben, könnte ein französisches Algerien heute eine
Trumpfkarte sein.« Mattilon hielt inne und griff sich ans Kinn.
Seine Stirn war jetzt wieder gerunzelt. »Warum sollte Talbot,
Brooks and Simon einen Bertholdier nicht als Klienten haben
wollen? Er mag im Herzen Monarchist sein, aber er ist auch,
weiß Gott, die personifizierte Ehre. Er mag ein elitäres Gehabe
an sich haben, vielleicht sogar pompös wirken, aber trotzdem
wäre er ein sehr akzeptabler Klient.«
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»Es gibt da Dinge, die wir gehört haben...«, sagte Converse
leise und zuckte jetzt selbst die Schultern, als wollte er damit
die Glaubwürdigkeit von Gerüchten abtun.
»Mon Dieu, doch nicht seine Weiber?« rief Mattilon aus und
lachte. »Komm schon, wann wirst du einmal erwachsen
werden?«
»Nicht Weiber.« »Was dann?«
»Nun, sagen wir seine Umgebung, die Leute, die er kennt.«
»Ich hoffe, du unterscheidest da, Joel. Ein Mann wie Bertholdier
kann sich natürlich seine Geschäftspartner auswählen, aber
nicht seine Bekannten. Er betritt einen Raum, und jeder will
sein Freund sein. Die meisten behaupten, er sei der ihre.«
»Genau das ist es, was wir herausfinden wollen. Ich möchte ein
paar Namen vorbringen und sehen, ob sie wirklich Partner
sind... oder nur Bekannte, an die er sich gar nicht erinnert.«
»Bien. Jetzt macht das, was du sagst, einen Sinn. Da kann ich
helfen; da werde ich helfen. Wir werden morgen und
übermorgen im L'Etalon Blanc zu Mittag essen. Jetzt ist die
Wochenmitte, und Bertholdier wird ohne Zweifel an dem einen
oder anderen Tag dort speisen. Wenn nicht, dann bleibt immer
noch der Tag darauf.«
»Ich dachte, du kämest dort nicht durch die Tür?«
»Alleine nicht. Aber ich kenne jemanden, der das kann, und ich
kann dir versichern, daß er mir den Gefallen tun wird.«
»Warum?«
»Er läßt sich keine Gelegenheit entgehen, mit mir zu sprechen.
Er ist schrecklich langweilig und spricht bedauerlicherweise nur
sehr wenig Englisch - hauptsächlich Zahlen und Worte wie >In
and Out< oder >Over and Out< oder >Dodger-Roger< oder
>Roger-Dodger< oder >Runway Six< oder >Lift-off-Five< und
alle möglichen anderen unverständlichen Sätze.«
»Ein Pilot?«
»Er hat die ersten Mirage geflogen, brillant, wie ich vielleicht
hinzufügen darf, und das läßt er einen nie vergessen. Ich werde
zwischen euch dolmetschen müssen, und das spart mir
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zumindest die Mühe, das Gespräch zu beginnen. Weißt du
etwas über die Mirage?«
»Ein Jet ist ein Jet«, sagte Joel. »Man fliegt sie mit voller Pulle,
was sonst?«
»Ja, das sagt er manchmal auch. Volle Pulle. Ich dachte, das
hätte mit Schnaps zu tun.«
»Warum redet er denn so gern mit dir? Ich nehme an, er ist
Club-Mitglied.«
»Und wie er das ist. Wir vertreten ihn in einem aussichtslosen
Fall gegen einen Flugzeugfabrikanten. Er besaß eine private
Düsenmaschine und hat bei einer eurer üblichen Notlandungen
den linken Fuß verloren...«
»Nicht üblich bei mir, Kumpel.«
»Das Kabinendach klemmte. Er konnte den
Abwurfmechanismus nicht betätigen, als er das wollte, und die
Geschwindigkeit der Maschine genügend abgebremst war, um
die Kollision zu vermeiden.«
»Er hat nicht die richtigen Knöpfe gedrückt.«
»Er behauptet, er hätte das schon getan.«
»Es gibt wenigstens zwei Hilfsschalter, darunter einen für
manuelle Betätigung, und das gilt auch für eure Maschinen.«
»Das hat er uns inzwischen auch klargemacht. Es geht bei ihm
nicht ums Geld, mußt du verstehen, er ist unermeßlich reich. Es
geht um seinen Stolz. Verlieren heißt für ihn, seine Kompetenz
in Frage zu stellen.«
»Wenn man ihn ins Kreuzverhör nimmt, wird viel mehr in Frage
gestellt werden. Aber das wirst du ihm ja wahrscheinlich gesagt
haben.«
»Auf sehr subtile Art. Darauf bereiten wir ihn vor.«
»Und unterdessen führt ihr zahlreiche Gespräche mit saftigem
Honorar.«
»Gleichzeitig retten wir ihn vor sich selbst. Wenn wir es schnell
oder zu vordergründig täten, würde er uns einfach entlassen
und sich mit jemand anderem einlassen, dessen Prinzipien
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nicht so edelmütig sind wie unsere. Wer sonst würde schon
einen solchen Fall übernehmen? Die Fabrik gehört jetzt der
Regierung, und die wird, weiß Gott, nicht bezahlen.«
»Das ist ein wichtiger Punkt. Was wirst du ihm über mich
sagen? Über den Club?«
Mattilon lächelte. »Daß du als ehemaliger Pilot und
Rechtsanwalt vielleicht über Wissen verfügst, das für seinen
Fall wertvoll sein könnte. Was das L'Etalon Blanc angeht, so
werde ich es vorschlagen und ihm sagen, du würdest
beeindruckt sein. Ich werde dich als so etwas wie einen Attila
den Hunnenkönig bezeichnen. Was hältst du davon?« »Nicht
sehr viel.« »Glaubst du, daß du ihm diesen Eindruck geben
kannst?« fragte der Franzose. Die Frage war ernst gemeint.
»Das wäre eine Möglichkeit, Bertholdiers Bekanntschaft zu
machen. Mein Klient und er sind nicht nur Bekannte, sie sind
Freunde.«
»Ich werde es schaffen.«
»Daß du einmal Kriegsgefangener in Vietnam warst, wird sehr
hilfreich sein. Wenn du Bertholdier das Lokal betreten siehst
und den Wunsch äußerst, ihm vorgestellt zu werden, so wird
man den Wunsch eines ehemaligen Kriegsgefangenen nicht
einfach abtun.«
»Das würde ich nicht so auffällig tun«, sagte Converse.
»Warum nicht?«
»Nun, wenn man etwas gräbt, könnte man einen Stein finden,
der nicht in den Boden gehört.«
»Oh?« Wieder hoben sich Mattilons Brauen, aber diesmal nicht
erstaunt und nicht gespielt, sondern einfach überrascht.
»>Graben<, so wie du das Wort gebrauchst, deutet auf etwas
mehr als ein spontanes Zusammentreffen, bei dem ebenso
spontan ein paar Namen fallen.«
»Wirklich?« Joel drehte sein Glas zwischen den Fingern und
ärgerte sich und wußte zugleich, daß jeder Widerspruch seinen
Lapsus nur noch schwerwiegender erscheinen lassen mußte.
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»Tut mir leid, das war eine instinktive Reaktion. Du weißt ja,
was ich von dem Thema halte.«
»Ja, das weiß ich, und das hatte ich vergessen. Das war
ungeschickt von mir. Ich bitte um Entschuldigung.«
»Tatsächlich würde ich am liebsten meinen Namen nicht
gebrauchen. Macht dir das etwas aus?«
»Du bist der Missionar, nicht ich. Wie soll ich dich nennen?«
Der Franzose musterte Converse eindringlich.
»Das hat nichts zu sagen.«
Mattilon kniff die Augen zusammen. »Wie wäre es mit dem
Namen eines deiner Chefs, Simon? Wenn du Bertholdier
vorgestellt wirst, könnte ihn das beeindrucken. Le duc de St.
Simon war einer der wic htigsten Chronisten der Monarchie.
Henry Simon. In den Staaten gibt es bestimmt tausend
Anwälte, die Henry Simon heißen.«
»Also gut, Simon.«
»Du hast mir wirklich alles gesagt, mein Freund?« fragte Rene
mit ausdruckslosem Blick. »Alles, was du mir sagen willst.«
»Ja, das habe ich«, sagte Joel, und seine eigenen Augen
waren eine blauweiße Wand. »Komm, wir nehmen noch einen
Drink.«
»Lieber nicht. Es ist schon spät, und meine derzeitige Frau
bekommt Migräne, wenn ihr Abendessen kalt wird. Sie kocht
übrigens ausgezeichnet.« »Du bist ein Glückspilz.«
»Ja, das bin ich.« Mattilon trank aus, stellte sein Glas auf den
Tisch und meinte beiläufig: »Das war Valerie übrigens auch. Ich
werde diesen phantastischen Canard a l'orange nie vergessen,
den sie uns vor drei oder vier Jahren in New York gemacht hat.
Hörst du noch gelegentlich von ihr?«
»Hören und sehen«, antwortete Converse. »Ich habe letzten
Monat in Boston mit ihr zu Mittag gegessen. Ich hab' ihr ihren
Unterhaltsscheck gegeben, und sie hat die Rechnung
übernommen. Übrigens, sie fängt an, ihre Gemälde zu
verkaufen.«
»Daran habe ich nie gezweifelt.« »Sie schon.«
-1 0 2
»Das war unnötig... Ich habe Val immer gemocht. Wenn du sie wiedersiehst, dann bestell ihr alles Liebe von mir.« »Wird gemacht.« »Merci. Ich ruf dich morgen an.« Das L'Etalon Blanc war ein Alptraum für jeden Pazifisten. Die mit schwerem dunklen Holz getäfelten Wände des Clubs waren mit Fotografien und Drucken bedeckt, dazwischen gerahmte Belobigungen und blitzende Orden - rote Bänder und goldene und silberne Medaillen auf schwarzen Samtkissen. Das alles war wie ein visuelles Protokoll über jedes heroische Gemetzel in den letzten zwei Jahrhunderten. Einfache Federzeichnungen wurden abgelöst von Fotografien, als aus Pferden, Caissons und Säbeln Motorräder, Tanks, Flugzeuge und Kanonen wurden. Aber die Szenen unterschieden sich nicht, ihre Themen blieben konstant. Siegreiche Männer in Uniformen, abgebildet im Augenblick des Ruhms. Alles Leid, das vielleicht dahinterstand, war auf seltsame Art abwesend. In den Augen blitzte nur strenge Zielstrebigkeit und Wissen um das Geleistete, und das drückte sich auch in den Posen aus. Diese Männer waren keine Verlierer, hier gab es keine fehlenden Gliedmaßen, keine zerfetzten Gesichter; dies waren die privilegierten Krieger, irgendwie unverletzt und doch verletzend und ihre lebenslange Mission von echter Arroganz gezeichnet. »Luboque ist gerade eingetroffen«, sagte Mattilon leise, indem er hinter Converse trat. »Ich habe seine Stimme im Vorraum gehört. Denk daran, du brauchst es nicht zu übertreiben - ich werde nur das übersetzen, was paßt -, aber du mußt überzeugt nicken, wenn er eine seiner zornigen Bemerkungen macht. Und lachen, wenn er Witze erzählt; sie sind schrecklich, aber das mag er.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Ich will dir einen Anreiz geben. Bertholdier hat einen Tisch fürs Mittagessen reserviert. An seinem gewohnten Platz, Tisch elf, am Fenster.« »Wo sind wir?« fragte Joel, der im Gesicht des Franzosen die zusammengepreßten Lippen eines kleinen Triumphs entdeckte. »Tisch zwölf.« -1 0 3
»Wenn ich je einen Anwalt brauche, werde ich dich anrufen.«
»Wir sind furchtbar teuer. Komm jetzt, wie es in all diesen
wundervollen Filmen in Amerika heißt. >Sie sind dran, Monsieur
Simon.< Spiel die Rolle des Attila, aber übertreib nicht. ... Ahh,
Monsieur Luboque, Serge, mon ami!«
Mattilon hatte das Eintreten von Serge Luboque bemerkt; er
drehte sich herum, als das Stampfen auf dem Boden lauter
wurde. Luboque war ein kleinwüchsiger, schlanker Mann, was
unwillkürlich den Gedanken an das Bild jener frühen
Düsenpiloten aufkommen ließ, als Kleinheit noch eine wichtige
Anforderung war. Darüber hinaus wirkte er beinahe wie eine
Karikatur seiner selbst. Sein kurzer, gewachster Schnurrbart
saß in einem kleinen Gesicht, das in feindseliger Ablehnung
verkniffen war. Diese Ablehnung richtete sich gegen alle und
keinen. Der Effekt war wichtig, nicht der Inhalt. Was immer er
früher gewesen sein mochte, jetzt war Luboque ein poseur, der
seine Posen kannte. Eine brillante und aufregende
Vergangenheit war für ihn verloren; jetzt hatte er nur noch die
Erinnerungen, der Rest war Zorn.
»Et voici l'expert legal des compagnies aeriennes«, sagte er,
sah dabei Converse an und streckte ihm die Hand hin.
»Serge ist hocherfreut, dich kennenzulernen, und ist sicher,
daß du uns helfen kannst«, erklärte Mattilon.
»Ich will tun, was ich kann«, sagte Converse. »Und bitte ihn um
Nachsicht dafür, daß ich nicht Französisch spreche.«
Das tat der Anwalt offensichtlich, während Luboque die
Schultern zuckte und schnell und unverständlich auf den Anwalt
einredete; dabei tauchte einige Male das Wort anglais auf.
»Er bittet ebenfalls um Entschuldigung, daß er nicht Englisch
spricht«, sagte Mattilon und sah Joel an, wobei sein Blick etwas
hämisch wurde, als er hinzufügte: »Wenn er lügt, Monsieur
Simon, dann könnte es sein, daß man uns beide an diese
dekorierten Wände stellt und erschießt!«
»Sicher nicht«, sagte Converse und lächelte. »Dabei könnten
die Orden beschädigt und die Bilder zerrissen werden. Alle Welt
weiß, daß ihr lausige Schützen seid.«
-1 0 4
»Qu'est-ce que vous dites?«
»Monsieur Simon tient ä vous remercier pour le dejeuner«,
sagte Mattilon und wandte sich wieder seinem Klienten zu. »Il
en est tres fier car il estime que l'officier francais est l'un des
meilleur du monde.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe ihm erklärt«, sagte der Anwalt und drehte sich wieder
herum, »daß du es als Ehre betrachtest, hier zu sein, da das
französische Militär - besonders das Offizierskorps - deiner
Ansicht nach das beste auf der Welt ist.«
»Nicht nur lausige Schützen, sondern auch miese Piloten«,
sagte Joel lächelnd und würdig nickend.
»Est il vrai que vous avez pris part à nombreuses missions
dans l'Asie du Sud?« fragte Luboque, wobei er Converse
fixierte.
»Wie bitte?«
»Er möchte eine Bestätigung, daß du wirklich ein Attila der
Lüfte bist, daß du viele Einsätze geflogen bist.«
»Eine ganze Menge«, antwortete Joel.
»Beaucoup«, sagte Mattilon.
Und so ging es weiter. Serge Luboque berichtete von seinen
Heldentaten, und Mattilon übersetzte und beriet in jedem
einzelnen Fall Joel, welchen Gesichtsausdruck er aufsetzen
sollte, und empfahl ihm eine passende Antwort, die er sowieso
in jedem Fall geben würde.
Schließlich schilderte Luboque mit eindringlichen Worten den
Absturz, der ihn den linken Fuß gekostet hatte, und die
offensichtlichen Konstruktionsfehler, für die er eine
Entschädigung erwartete. Converse setzte eine angemessen
bedauernde und indignierte Miene auf und erbot sich, ein
juristisches Gutachten für das Gericht zu verfassen, das auf
seinen Erfahrungen als Düsenpilot basierte. Mattilon
übersetzte; Luboque strahlte und gab einen erregten
Wortschwall von sich, den Joel als Dankesbezeigung hinnahm.
»Er steht ewig in deiner Schuld«, sagte Rene.
-1 0 5
»Nicht, wenn ich das Gutachten schreibe«, erwiderte Converse. »Er hat sich im Cockpit eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen.« »Schreib es«, konterte Mattilon und lächelte. »Du hast mir jetzt gerade meine Zeit honoriert. Wir werden das als Keil benutzen, um uns die Tür zum Rückzug zu öffnen. Außerdem wird er dich nie wieder zum Essen einladen, wenn du in Paris bist.« »Wann gibt es Mittagessen? Ich weiß bald nicht mehr, wie ich das Gesicht verziehen soll.« Sie marschierten in stockendem Gleichschritt in den Speisesaal, um sich Luboques Humpeln anzuschließen. Die lächerliche dreiseitige Konversation dauerte an, als der Wein angeboten wurde - wobei der poseur mit finsterer Miene die erste Flasche zurückschickte -, und Converse immer wieder zum Eingang des Speisesaals blickte. Dann kam der Augenblick. Bertholdier traf ein. Er stand unter dem offenen Bogen, den Kopf etwas nach links gedreht, wo ein zweiter Mann in einem hellbraunen Gabardinemantel auf ihn einredete. Der General nickte, worauf sich der Untergebene zurückzog. Dann betrat der Soldat mit ruhigen, aber selbstbewußten Schritten den Raum. Köpfe drehten sich ihm zu, und der Eintretende erwiderte die Blicke, als würde ein großer Dauphin, der bald König sein wird, die Artigkeiten der Minister eines siechen Monarchen entgegennehmen. Die Wirkung war außergewöhnlich, denn natürlich gab es keine Königreiche, keine Monarchien, keine Länder, die nach der Eroberung an die Ritter von Crecy oder sonst jemanden zu verteilen gewesen wären, und dennoch gewährte man diesem Mann ruhig den Auftritt eines... ja verdammt, dachte Joel... den Auftritt eines Kaisers. Jacques Louis Bertholdier war mittelgroß, zwischen einem Meter dreiundsiebzig und einem Meter achtundsiebzig, sicher nicht größer, aber seine Haltung, sein aufrechter Gang, die breiten Schultern und sein langer kräftiger Hals ließen ihn imposanter erscheinen, als man es bei einem Mann dieser Größe erwartet hätte. -1 0 6
»Sag etwas Ehrfürchtiges«, sagte Mattilon, als Bertholdier
näherkam und auf den Nebentisch zuging. »Blick zu ihm auf
und gib dich beeindruckt. Den Rest übernehme ich.«
Converse tat, was man ihn geheißen hatte, murmelte
Bertholdiers Namen laut genug, daß man ihn hören konnte.
Dann beugte er sich zu Mattilon hinüber und sagte: »Das ist ein
Mann, den ich schon immer kennenlernen wollte.«
Darauf folgte ein kurzer Wortwechsel in Französisch zwischen
Rene und seinem Klienten, worauf Luboque nickte und den
Gesichtsausdruck eines arroganten Mannes zeigte, der sich
freute, einem neuen Freund einen Gefallen erweisen zu
können.
Bertholdier erreichte seinen Stuhl, wo bereits der
Geschäftsführer und der Oberkellner warteten. Der ganze
Auftritt vollzog sich kaum mehr als eine Armlänge von Joel
entfernt.
»Mon General«, sagte Luboque und erhob sich.
»Serge«, erwiderte Bertholdier und trat mit ausgestreckter
Hand vor, ein vorgesetzter Offizier, der das Gebrechen eines
wertvollen Untergebenen kannte. »Comment ca va?«
»Bien, Jacques. Et vous?«
»Les temps sont bien etranges, mon ami.«
Die Begrüßung blieb kurz, und Luboque änderte den Lauf des
Gespräches schnell, indem er auf Converse deutete, während
er zu sprechen fortfuhr. Joel stand instinktiv auf, die Haltung
gerade, die Augen starr auf Bertholdier gerichtet, der Blick so
durchdringend wie der des Generals, soldatisch, aber ohne
Angst... Er hatte recht gehabt - auf unerwartete Art. Das Wort
Südostasien hatte für Jacques Louis Bertholdier Bedeutung.
Und warum auch nicht? Auch der hatte seine Erinnerungen.
Mattilon wurde fast beiläufig vorgestellt, der Soldat nickte ihm
zu, während er hinter Rene vorbeitrat, um Joel die Hand zu
schütteln.
-1 0 7
»Es ist mir ein Vergnügen, Monsieur Simon«, sagte Bertholdier
in akzentfreiem Englisch, während er ihm fest die Hand drückte,
ein Kamerad, der einen anderen begrüßte.
»Ich bin sicher, Sie haben das schon Tausende Male gehört,
Sir«, sagte Joel, bemüht, das Leuchten in seinen Augen
beizubehalten. »Aber dies ist eine Begegnung, auf die ich nie
zu hoffen gewagt habe. Wenn Sie gestatten, General, es ist mir
eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, erwiderte
Bertholdier. »Ihr Gentlemen-of-the-air habt alles getan, was ihr
konntet, und ich kenne die Umstände. So viele Einsätze! Ich
glaube, auf dem Boden war es einfacher!« Der General lachte
leise, ein gefeierter Held, der einem tapferen, nie gefeierten
Waffenkameraden die Ehre erweist.
Gentlemen-of-the-air; der Mann war unglaublich, dachte
Converse. Aber der Kontakt war gelungen; war wirklich
gelungen, das fühlte er, das wußte er. Das Zusammenspiel von
Worten und Blicken hatte das bewirkt. So einfach; der Trick
eines Anwalts, mit dem er einen Widersacher zähmt - in diesem
Fall einen Feind. Den Feind.
»Dem kann ich nicht zustimmen, General; in der Luft war es viel
ungefährlicher. Aber wenn es bei den Bodenkämpfen in
Indochina mehr von Ihrer Art gegeben hätte, dann hätte es nie
ein Dien Bien Phu gegeben.«
»Ein sehr schmeichelhaftes Wort, aber ich bin nicht sicher, daß
es der Prüfung durch die Realität standhielt.«
»Ich bin sicher«, sagte Joel leise, aber deutlich. »Ich bin davon
überzeugt.«
Luboque, den Mattilon ins Gespräch gezogen hatte, unterbrach.
»Mon General, voulez-vous nous joindre?«
»Pardonnez-moi. Je suis occupe avec mes visiteurs«,
antwortete Bertholdier und wandte sich wieder Converse zu.
»Ich muß Serges Einladung leider ablehnen, ich erwarte Gäste.
Er sagt, Sie seien Rechtsanwalt, Spezialist für
Luftfahrtprobleme.«
-1 0 8
»Das ist Teil eines größeren Bereichs, ja. Luft, Boden,
Seefahrzeuge... Wir versuchen, uns in diesem Bereich zu
spezialisieren. Tatsächlich bin ich noch ziemlich neu - nicht,
was meine Erfahrung angeht, hoffe ich -, aber in der Vertretung
solcher Fälle.«
»Ich verstehe«, sagte der General, sichtlich etwas verwirrt.
»Sind Sie beruflich in Paris?«
Jetzt, dachte Joel. Die Worte, die Augen und die Stimme
mußten all das vermitteln, worauf es jetzt ankam. Besonders
die Augen; sie mußten das Ungesagte zeigen. »Nein, ich bin
nur hier, um etwas zu entspannen. Ich bin von San Francisco
nach New York und dann weiter nach Paris geflogen. Morgen
will ich für ein oder zwei Tage nach Bonn und dann geht es
weiter nach Tel Aviv.«
»Das muß sehr anstrengend sein.« Bertholdier erwiderte jetzt
seinen Blick.
»Das ist noch nicht das schlimmste«, sagte Converse mit einem
schwachen Lächeln. »Nach Tel Aviv habe ich einen Nachtflug
nach Johannesburg.«
»Bonn, Tel Aviv, Johannesburg...«, sagte der Soldat mit leiser
Stimme, seine Augen waren jetzt hellwach. »Eine höchst
ungewöhnliche Reiseroute.«
»Aber auch lohnend. Das hoffen wir zumindest.«
»Wir?«
»Mein Klient, General. Mein neuer Klient.«
»Deraisonnable?« rief Mattilon und lachte über irgend etwas,
das Luboque gesagt hatte, und machte Joel damit ebenso
offensichtlich klar, daß er seinen ungeduldigen Partner nicht
länger im Gespräch festhalten konnte.
Aber Bertholdier wandte den Blick nicht von Converse. »Wo
sind Sie denn abgestiegen, mein junger Pilotenfreund?«
»Jung und doch nicht mehr so jung, General.«
»Wo?«
»Im Georges V. Suite zweihundertfünfunddreißig.«
-1 0 9
»Ein schönes Etablissement.«
»Gewohnheit. Meine frühere Firma hat mich immer dort
stationiert.«
»Stationiert? Wie in einer Kaserne?« fragte Bertholdier, um
dessen Lippen jetzt ein leichtes Lächeln spielte.
»Das war jetzt unbewußt«, sagte Joel. »Aber andererseits sagt
es das doch, nicht wahr, Sir?«
»Ja, in der Tat... Aha, meine Gäste kommen!« Der Soldat
streckte ihm die Hand hin. »Es war mir ein Vergnügen,
Monsieur Simon.«
Hände wurden geschüttelt, ein paar schnelle au revoirs, und
Bertholdier kehrte an seinen Tisch zurück, um seine Gäste zu
begrüßen. Joel dankte mit Hilfe Mattilons Luboque, daß er ihn
vorgestellt hatte. Dann wurde der verrückte dreiseitige Dialog
fortgesetzt, und Joel hatte alle Mühe, wenigstens eine
Andeutung von Konzentration zu bewahren.
Er hatte Fortschritte gemacht, das hatte er in Bertholdiers
Augen gelesen, die jetzt immer wieder zu ihm
herüberschweiften. Der General saß schräg links von
Converse. Beide brauchten das Gesicht nur wenig zur Seite zu
drehen, um sich direkt in die Augen blicken zu können. Das
geschah zweimal. Das erstemal spürte Joel den intensiven
Blick so, als fiele ein Sonnenstrahl auf seine Schläfe. Er drehte
den Kopf kurz zur Seite, ihre Augen begegneten sich, und die
des Soldaten musterten ihn durchdringend, fragend und ernst.
Das zweitemal geschah es eine halbe Stunde später, diesmal
war Converse der Auslösende. Luboque und Mattilon
diskutierten juristische Strategien, und Joel drehte sich
langsam, wie von einem Magneten angezogen, nach links und
beobachtete Bertholdier, der ruhig und eindringlich auf einen
seiner Gäste einredete. Plötzlich fuhr der Kopf des Generals,
während der Angesprochene noch antwortete, zu Converse
herum, nur daß seine Augen im ersten Moment nicht fragend
blickten, sondern kalt wie Eis. Und dann war plötzlich Wärme in
ihnen, und der gefeierte Soldat nickte ihm mit einem Lächeln
um die Lippen zu.
-1 1 0
Joel saß auf dem weichen Ledersessel am Fenster des schwach beleuchteten Wohnzimmers; eine Stehlampe auf dem Schreibtisch war die einzige Lichtquelle im Raum. Wieder wanderte sein Blick zwischen dem Telefon neben der Lampe und dem Fenster hin und her, hinter dem der Nachtverkehr von Paris vorüberzog - aber die Lichter auf dem Boulevard interessierten ihn nicht. Sein Blick faßte nur das Telefon und verlieh ihm eine Bedeutung, die Telefone für ihn häufig hatten, wenn er auf den Anruf eines juristischen Gegners wartete, mit dessen Kapitulation er rechnete. Das war einfach eine Frage der Zeit. Diesmal erwartete er keine Kapitulation, nur einen Kontakt, eine Verbindung, die Verbindung. Welche Form sie annehmen würde, ahnte er nicht, aber kommen würde sie. Sie mußte kommen. Es war fast halb acht, vier Stunden seit Verlassen des L'Etalon Blanc und dem abschließenden kräftigen Händedruck, den er mit Jacques Louis Bertholdier getauscht hatte. Der Blick in den Augen des Soldaten war unverkennbar gewesen: Wenn vielleicht auch sonst nichts war, überlegte Converse, so würde Bertholdier wenigstens seine Neugierde befriedigen müssen. Joel hatte an der Rezeption des Hotels mit ein paar HundertFrancs-Noten seine Tarnung gesichert. In diesen Tagen nationaler und finanzieller Unruhen war dies nicht ungewöhnlich - und eigentlich selbst in ruhigeren Zeiten nie gewesen. Reisende Geschäftsleute mußten häufig Decknamen benützen, dafür gab es eine ganze Anzahl von Gründen, angefangen mit Verhandlungen, die am besten geheim blieben, bis zu amourösen Verabredungen. Im Falle von Converse ließ der Gebrauch des Namens Simon das Ganze logisch, wenn nicht sogar höchst respektabel erscheinen. Wenn Talbot, Brooks and Simon es vorzogen, daß der Name eines der Seniorpartner benutzt wurde, wer sollte da schon die Entscheidung anzweifeln? Joel führte seine List sogar noch einen Schritt weiter. Nachdem er New York angerufen hatte, erklärte er, man habe ihm gesagt, sein Name solle überhaupt nicht auftauchen; niemand wisse, daß er in Paris sei, und so wolle es seine Firma -1 1 1
haben. Offenbar erklärten diese verspäteten Instruktionen auch
die Panne bei der Reservierung. Es sollte auch keine
Rechnung ausgestellt werden. Er würde bar bezahlen, und da
man in Paris war, hatte niemand auch nur die geringsten
Einwände. Bargeld genoß stets den Vorzug; Kreditkarten galten
immer noch als leicht anrüchig.
Ob irgend jemand den Unsinn glaubte oder nicht, war
belanglos. Alles klang hinreichend logisch, und die Francs-
Noten waren überzeugend. Die erste Karteikarte wurde
zerrissen und eine andere ausgestellt. An die Stelle von J.
Converse trat H. Simon. Die Adresse des letzteren entsprang
Joels Phantasie, eine Hausnummer und eine Straße in
Chicago, Illinois, die es wahrscheinlich überhaupt nicht gab.
Falls jemand nach Mr. Converse fragen sollte - was in hohem
Grade unwahrscheinlich war -, würde er erfahren, daß sich im
Augenblick kein Gast dieses Namens im George V. aufhielt.
Selbst Rene Mattilon war kein Problem, denn Joel hatte sich
auch ihm gegenüber eindeutig geäußert. Da er keine weiteren
Geschäfte in Paris hätte, wolle er die Sechs-Uhr-Maschine
nach London nehmen und sich dort ein paar Tage bei Freunden
aufhalten, ehe er nach New York zurückflog. Er dankte Rene
überschwenglich und sagte dem Franzosen, die Sorge seiner
Firma bezüglich Bertholdiers sei unbegründet gewesen. Er
hätte während seines leisen Gesprächs mit dem General drei
wichtige Namen erwähnt, die dem Franzosen offensichtlich
unbekannt gewesen waren, da er sich sogar entschuldigt hatte,
weil sie ihm nichts sagten.
»Und er hat nicht gelogen«, war Joel fortgefahren.
»Ich könnte mir auch nicht vorstellen, warum er das tun sollte«,
hatte Mattilon geantwortet.
Ich schon, hatte Converse bei sich gedacht. Sie nennen es
Aquitania.
Ein Knacken! Plötzlich störte ein Geräusch die Stille, ein hartes,
metallisches Knacken, einmal, zweimal... ein Schloß, das sich
öffnete, ein Knopf, der gedreht wurde. Es kam aus dem
Schlafzimmer, dessen Tür offenstand. Joel ruckte in seinem
-1 1 2
Stuhl nach vorne, dann sah er auf die Uhr, atmete tief durch
und entspannte sich wieder. Das war die Zeit, in der das
Zimmermädchen das Bett für die Nacht herrichtete; seine
Nerven hatten ihm einen Streich gespielt. Das war der mit
Spannung erwartete Anruf und was er für Joel bedeutete.
Wieder lehnte er sich zurück, und seine Augen wanderten zum
Telefon zurück. Wann würde es klingeln? Würde es überhaupt
klingeln? Die Minuten strichen so langsam dahin, und die
Stunden zu schnell.
»Pardon, Monsieur«, sagte eine helle Stimme, und jemand
klopfte gegen den Türrahmen. Joel konnte nicht sehen, wer
gesprochen hatte.
»Ja?« Converse wandte den Blick von dem stummen Telefon
ab.
Was er sah, ließ ihn vor Überraschung hochschrecken. Es war
die hoch aufgerichtete Gestalt von Jacques Louis Bertholdier, in
dessen Blick sich Prüfung, Herablassung und - wenn Joel nicht
irrte - eine Spur von Furcht mischten. Er trat durch die Türe und
stand dann reglos da; als er zu sprechen begann, klang seine
Stimme eisig.
»Ich bin im dritten Stock zum Abendessen verabredet,
Monsieur Simon. Da ist mir eingefallen, daß Sie in diesem Hotel
wohnen. Sie haben mir Ihre Zimmernummer genannt. Störe
ich?«
»Selbstverständlich nicht, General«, sagte Converse, der
aufgestanden war.
»Haben Sie mich erwartet?«
»Nicht so plötzlich.«
»Aber immerhin erwartet?«
Joel machte eine Pause. »Ja.«
»Ein Signal, das Sie ausgesandt haben und das empfangen
worden ist?«
Wieder machte Joel eine Pause. »Ja.«
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»Sie sind entweder ein provozierend geschickter Anwalt oder
ein seltsam besessener Mann. Was von beiden stimmt,
Monsieur Simon?«
»Wenn ich Sie dazu provoziert habe, mich aufzusuchen, und
mir das derart subtil gelungen ist, will ich das erste gern
akzeptieren. Was die Besessenheit angeht, so meint dieses
Wort auch eine übertriebene oder nicht gerechtfertigte Sorge,
und die Sorgen, die ich habe, sind weder übertrieben noch
unberechtigt, das weiß ich ganz genau. Nein, besessen nicht,
General. Dazu bin ich ein zu guter Anwalt.«
»Ein Pilot kann sich nicht selbst belügen. Wenn er das tut,
stürzt er ab.«
»Ich bin abgeschossen worden. Ich bin nie infolge eines
Pilotenfehlers abgestürzt.«
Bertholdier ging langsam auf die mit Brokat bezogene Couch
an der Wand zu. »Bonn, Tel Aviv und Johannesburg«, sagte er
leise, während er sich setzte und die Beine
übereinanderschlug. »Das Signal?«
»Das Signal.«
»Meine Firma hat Interessen in diesen Bereichen.«
»Mein Klient auch«, erwiderte Converse.
»Und was haben Sie, Monsieur Simon?«
Joel starrte den Soldaten an. »Eine Verpflichtung, General.«
Bertholdier blieb eine Weile stumm und reglos, seine Augen
blickten fragend. »Kann ich einen Cognac haben?« sagte er
schließlich. »Mein Begleiter wartet vor dieser Tür auf dem Flur.«
4 Converse ging zu dem Barschrank an der Wand, wobei er sich
der Blicke des anderen bewußt war, und er fragte sich, welche
Richtung das Gespräch wohl nehmen würde. Joel war
eigenartig ruhig, so wie er das häufig vor Konferenzen oder
einer Gerichtsverhandlung war, in dem sicheren Wissen, daß
-1 1 4
ihm Dinge bekannt waren, die seine Gegner nicht kannten
Informationen, die er sich in langen Stunden harter Arbeit
beschafft hatte. Bei dieser Sache hatte es zwar für ihn keine
solche Arbeit gegeben, aber die Umstände waren die gleichen.
Er wußte eine ganze Menge über die Legende namens
Jacques Louis Bertholdier, die dort auf der Couch saß. Kurz, er
war vorbereitet, und er hatte im Laufe der Jahre gelernt, seinen
Instinkten zu vertrauen... so wie er einst jenen Instinkten
vertraut hatte, die ihn am Steuerknüppel seiner Flugzeuge
lenkten. Er war bereit. Joel drehte sich um und ging durchs
Zimmer.
»Was suchen Sie, Monsieur Simon?« fragte Bertholdier und
nahm sein Glas entgegen. »Informationen, General.«
»Worüber?«
»Weltmärkte - expandierende Märkte, die mein Klient beliefern
könnte.« Joel ging zu seinem Platz am Fenster zurück und
setzte sich.
»Und welche Dienste bietet er?« »Er ist Makler.« »Der sich
womit befaßt?«
»Mit einem breiten Spektrum von Produkten.« Converse führte
sein Glas an die Lippen, trank und fügte dann hinzu: »Ich
glaube, ich habe diese Produkte heute nachmittag erwähnt.
Flugzeuge, Fahrzeuge, Schiffe, Munition. Eben das ganze
Spektrum.«
»Erwähnt haben Sie das. Ich habe es leider nicht richtig
verstanden.«
»Mein Klient hat Zugang zu Quellen, die über alles
hinausgehen, was mir bisher bekannt war.«
»Sehr eindrucksvoll. Wer ist es?«
»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.«
»Vielleicht kenne ich ihn.«
»Das könnte sein, aber nicht von dem, was ich Ihnen erzählt
habe. Er hält sich in diesem Bereich sehr bedeckt, so daß man
sagen könnte, es gibt ihn nicht.«
»Und Sie wollen mir nicht sagen, wer er ist«, fragte Bertholdier.
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»Diese Information ist vertraulich, wie wir Anwälte sagen.«
»Und doch haben Sie sich um Kontakt zu mir bemüht, ein
Signal ausgesandt, auf das ich reagiert habe. Sie sagen, daß
Sie Informationen suchen bezüglich expandierender Märkte
aller Arten von Waren, und erwähnten Bonn, Tel Aviv,
Johannesburg. Und dennoch wollen Sie den Namen Ihres
Klienten nicht nennen, der aus meinen Informationen Nutzen
ziehen will - Informationen, die ich wahrscheinlich nicht einmal
besitze. Das alles kann doch nicht Ihr Ernst sein.«
»Sie besitzen die Informationen, und es ist sehr wohl mein
Ernst. Aber ich fürchte, Sie haben die falschen Schlüsse
gezogen.«
»Das glaube ich überhaupt nicht. Ich beherrsche Ihre Sprache
ganz gut und habe gehört, was Sie sagten. Sie sind aus dem
Nichts erschienen. Ich weiß nichts über Sie. Sie sprechen
geheimnisvoll von diesem unbekannten, einflußreichen
Mann...«
»Sie haben mich gefragt, General«, unterbrach ihn Joel
entschieden, aber ohne die Stimme zu heben. »Sie haben
gefragt, was ich suche.«
»Und Sie sagten, Informationen.«
»Ja, das habe ich, aber ich sagte nicht, daß ich sie bei Ihnen
suche.«
»Wie bitte?«
»Unter den gegebenen Umständen - und aus den Gründen, die
Sie gerade erwähnten, würden Sie sie mir ohnehin nicht geben,
dessen bin ich mir wohl bewußt.«
»Was soll dann diese..., soll ich sagen, gewollte Unterhaltung?
Ich mag es nicht, wenn andere meine Zeit vergeuden,
Monsieur.«
»Das ist das allerletzte, was wir tun würden - was ich tun
würde.«
»Bitte, werden Sie deutlich.«
»Mein Klient wünscht sich Ihr Vertrauen. Ich wünsche es mir.
Aber wir wissen, daß Sie es uns erst dann gewähren können,
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wenn Sie das Gefühl haben, daß es gerechtfertigt ist. In ein
paar Tagen - höchstens einer Woche - hoffe ich, Ihnen das
beweisen zu können.«
»Durch Reisen nach Bonn, Tel Aviv... Johannesburg?«
»Offen gestanden, ja.«
»Warum?«
»Sie haben es vor ein paar Minuten selbst gesagt. Das Signal.«
Plötzlich wurde Bertholdier vorsichtig. Er zuckte die Schultern
betont beiläufig; er war im Begriff, sich zurückzuziehen. »Das
sagte ich, weil meine Firma in diesen Gegenden beträchtliche
Investitionen getätigt hat. Ich hielt es für plausibel, daß Sie
bezüglich dieser Interessen einen Vorschlag oder Vorschläge
zu machen hätten.«
»Das ist auch meine Absicht.«
»Bitte, werden Sie deutlicher«, sagte der Soldat, der sich große
Mühe gab, seine Gereiztheit unter Kontrolle zu halten.
»Sie wissen, daß ich das nicht kann«, erwiderte Joel. »Noch
nicht.«
»Wann?«
»Wenn Ihnen - Ihnen allen - klar ist, daß mein Klient und damit
auch ich ebenso starke Motive haben, Teil von Ihnen zu sein,
wie die Ergebensten in Ihren Reihen.«
»Teil meiner Firma? Juneau et Compagnie?«
»Verzeihen Sie mir, General, ich erspare es mir, darauf zu
antworten.«
Bertholdier blickte auf das Glas in seiner Hand und sah dann
wieder zu Converse. »Sie sagen, Sie seien mit dem Flugzeug
aus San Francisco gekommen.«
»Dort ist nicht meine Basis«, unterbrach ihn Joel.
»Aber Sie kamen aus San Francisco. Nach Paris. Warum
waren Sie dort?«
»Das will ich Ihnen beantworten, und wäre es nur, um Ihnen zu
zeigen, wie gründlich wir sind... und um wieviel gründlicher
andere sind. Wir haben - ich habe - ein paar
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Überseesendungen bis zu den entsprechenden Exportlizenzen
zurückverfolgt, die im nördlichen Kalifornien ausgestellt worden
waren. Und zwar auf Firmen ohne jede Vergangenheit und auf
Lagerhäuser ohne Geschäftsunterlagen - vier Wände, die man
schnell hochgezogen hat, um irgend jemandem gefällig zu sein.
Ein verwirrendes Durcheinander, das überall und nirgendwo
hinführte. Namen auf Dokumenten, hinter denen keine
Menschen standen. Dokumente aus buchstäblich
unentwirrbaren Labyrinthen der Bürokratie - Stempel, offizielle
Siegel und Unterschriften ohne Befugnis. Kleine Beamte, denen
man den Auftrag gegeben hatte, Dinge zu unterschreiben, die
sie gar nicht durchschauen konnten... Das ist es, was ich in San
Francisco gefunden habe. Einen Morast von verschlungenen,
höchst fragwürdigen Transaktionen, die keiner Prüfung
standhalten würden.«
Bertholdiers Augen fixierten Converse. »Ich weiß von solchen
Dingen selbstverständlich nichts«, sagte er.
»Selbstverständlich«, pflichtete Converse ihm bei. »Aber die
Tatsache, daß mein Klient etwas weiß - durch mich -, und
ferner die Tatsache, daß weder er noch ich den Wunsch haben,
Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu lenken, muß Ihnen etwas
sagen.«
»Das tut es, offen gestanden, nicht.«
»Bitte, General. Eines der ersten Prinzipien des freien
Unternehmertums besteht darin, die Konkurrenz zu
zerschlagen und selbst an ihre Stelle zu treten, um das Vakuum
auszufüllen.«
Der Soldat trank, wobei er das Glas fest in der Hand hielt. Dann
senkte er es und fragte: »Warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Weil ich dort auf Sie gestoßen bin.«
»Was?«
»Auf Ihren Namen - unter all dem Morast habe ich ihn
gefunden, ganz tief unten, aber er war dort.«
Bertholdier schoß nach vorne. »Unmöglich! Lächerlich!«
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»Warum bin ich dann hier? Warum sind Sie hier?« Joel stellte
sein Glas auf das Tischchen neben dem Sessel, die Bewegung
eines Mannes, der noch nicht zu Ende gesprochen hat.
»Versuchen Sie, mich zu verstehen. Je nachdem, mit welcher
Regierungsbehörde man zu tun hat, nützen einem gewisse
Empfehlungen. Sie würden nie etwas für jemanden tun, der ein
Anliegen bei der Wohnungsbehörde hat, aber im
Beschaffungsbereich des Pentagon oder in der
Munitionskontrolle des State Departments ist ein Wort von
Ihnen bares Gold.«
»Ich habe nie meinen Namen für Anliegen dieser Art
hergegeben.«
»Das haben andere getan. Männer, deren Empfehlung großes
Gewicht hatte, die aber vielleicht zusätzliche Hilfe brauchten.«
»Was soll das heißen, zusätzliche Hilfe?« »Ein letzter Anstoß
für eine positive Entscheidung... ohne sichtbare persönliche
Einschaltung. Ein Aktenvermerk könnte beispielsweise lauten:
>Wir< - die Abteilung, nicht eine einzelne Person - >wis sen
nicht viel darüber, aber wenn ein Mann wie General Bertholdier
positiv dazu eingestellt ist, und das ist er unseren Informationen
nach, haben wir doch auch keinen Grund zu Einwänden.<«
»Niemals. Das könnte nie geschehen.« »Das ist aber
geschehen«, sagte Converse leise und wußte, daß dies der
Augenblick war, um seine allgemeinen Worte mit Tatsachen zu
untermauern. Er würde sofort sagen können, ob Beale recht
gehabt hatte, ob diese Legende Frankreichs für das Gemetzel
und das Chaos in den Städten und Dörfern Nordirlands
verantwortlich war. »Sie sind in Erscheinung getreten, nicht oft,
aber oft genug, daß ich Sie finden konnte... Ebenso wie Sie in
Erscheinung traten, als eine Sendung per Luftfracht aus Beloit,
Wisconsin, nach Tel Aviv auf den Weg gebracht wurde.
Natürlich ist sie dort nie angelangt, sondern man hat sie
irgendwie zu den Wahnsinnigen in Belfast umgeleitet, den
Wahnsinnigen auf beiden Seiten. Ich frage mich, wo es
geschah? Montreal? Paris? Marseille? Die Separatisten in
Quebec würden ganz sicher Ihre Befehle befolgen, ebenso wie
andere Männer in Paris und Marseille. Welch ein Unglück, daß
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eine Firma namens Solidaire für den Schaden aufkommen
muß. O ja, Sie sind einer der Direktoren dieser Firma, nicht
wahr? Und es ist so bequem, daß Versicherungsträger Zugang
zu der von ihnen versicherten Ware haben.«
Bertholdier saß wie erstarrt auf seinem Sessel, die Muskeln in
seinem Gesicht zuckten. Seine Augen waren weit aufgerissen
und starrten Joel an. »Ich kann nicht glauben, was Sie damit
andeuten wollen. Das ist erschütternd und unglaublich!«
»Ich wiederhole, warum bin ich hier?«
»Die Frage können nur Sie beantworten, Monsieur«, sagte
Bertholdier und stand ruckartig mit dem Glas in der Hand auf.
Dann beugte er sich langsam mit militärischer Grazie vor und
stellte das Glas auf den Tisch; es war eine Geste der
Endgültigkeit; das Gespräch war beendet. »Ich habe ganz
offensichtlich einen dummen Fehler begangen«, fuhr er fort und
richtete sich wieder auf. Seine Schultern waren jetzt wieder
gerade, der Kopf hoch erhoben, aber um seine Lippen spielte
ein gezwungenes und doch seltsam überzeugendes Lächeln.
»Ich bin Soldat, kein Geschäftsmann; auf dieses Feld habe ich
mich erst sehr spät in meinem Leben begeben. Ein Soldat
versucht, die Initiative zu ergreifen, und genau das habe ich
versucht, nur daß es keinen Sinn dafür gab - gibt. Verzeihen
Sie mir, ich habe Ihr Signal heute nachmittag falsch
verstanden.«
»Sie haben nichts falsch verstanden, General.«
Bertholdier ging durch das Zimmer auf die Türe zu; Joel erhob
sich. »Machen Sie sich keine Mühe, Monsieur, ich werde mir
selbst öffnen. Sie haben sich schon genügend Mühe gemacht,
nur daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, zu welchem
Zweck.«
»Ich reise nach Bonn weiter«, unterbrach Converse ihn.
»Sagen Sie Ihren Freunden, daß ich komme. Sagen Sie ihnen,
daß sie mich erwarten sollen. Bitte, General, sagen Sie ihnen,
sie sollen mich ohne Vorurteil empfangen. Das ist mir sehr
wichtig.«
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»Ihre geheimnisvollen Hinweise sind sehr lästig... Lieutenant.
>Lieutenant< stimmt doch? Außer, Sie hätten den armen
Luboque auch getäuscht.«
»Jede Täuschung, die ich benutzt habe, um Ihre Bekanntschaft
zu machen, kann nur zu seinem Vorteil sein. Ich habe mich
erboten, ein juristisches Gutachten für seinen Fall abzugeben .
Mag sein, daß der Inhalt ihm nicht zusagen wird, aber es wird
ihm viel Geld und Schmerz ersparen. Und im übrigen habe ich
Sie nicht getäuscht.«
»Das ist eine Frage des Standpunktes, denke ich.« Bertholdier
drehte sich um und griff nach der Türklinke.
»Bonn, Deutschland«, drängte Joel.
»Ich habe Sie verstanden. Aber ich habe nicht die leiseste
Ahnung, was Sie...«
»Leifhelm«, sagte Converse leise. »Erich Leifhelm.«
Der Kopf des Soldaten drehte sich langsam herum; seine
Augen waren wie Feuer, wie glühende Kohlen, die bereit
waren, auf den geringsten Windstoß hin in helle Flammen
aufzugehen. »Ein Name, der mir bekannt ist, aber den Mann
kenne ich nicht.«
»Sagen Sie ihm, daß ich komme.«
»Gute Nacht, Monsieur«, antwortete Bertholdier und öffnete die
Tür. Sein Gesicht war aschfahl, die glühenden Augen von dem
plötzlichen, unerwarteten Sturm wie entflammt.
Joel rannte ins Schlafzimmer, packte seinen Koffer, der an der
Wand stand, und warf ihn auf den Gepäckständer. Er mußte
Paris sofort verlassen, noch diese Nacht. Binnen Stunden,
vielleicht Minuten, würde Bertholdier ihn beobachten lassen,
und wenn man ihm zum Flughafen folgte, würde die
Paßkontrolle offensichtlich merken, daß der Name Simon
erfunden war. Dazu durfte es nicht kommen, noch nicht.
Es war seltsam und merkwürdig beunruhigend. Er hatte noch
nie Anlaß gehabt, sich aus einem Hotel wegzustehlen.
Er war nicht einmal sicher, ob er dazu imstande sein würde,
aber er wußte, daß es geschehen mußte. Auf Mykonos hatte er
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zu Beale gesagt, daß er jemand werden würde, der er nicht war. Es war leicht, so etwas zu sagen, aber gar nicht leicht, es zu tun. Als der Koffer gepackt war, prüfte er den Ladezustand seines Elektrorasierers und schaltete ihn geistesabwesend ein. Auf dem Weg zum Telefon neben dem Bett fuhr er sich mit dem Rasierer über das Kinn. Er schaltete den Apparat wieder aus, als er zu wählen begann. Was er dem Nachtportier sagen könnte, wußte er noch nicht, es sollte aber in jedem Fall ein geschäftlicher Grund sein. Nach kurzem, höflichem Wortwechsel stellten sich dann die Worte ein. »Es hat da eine höchst komplizierte Entwicklung gegeben, und meine Firma legt Wert darauf, daß ich so bald wie möglich nach London abreise... und so diskret wie möglich. Es wäre mir, offen gestanden, lieb, wenn man mich bei der Abreise nicht sehen würde.« »Die Diskretion, Monsieur, wird hier hoch in Ehren gehalten, und Ihr Wunsch nach Eile ist nichts Ungewöhnliches. Ich werde selbst heraufkommen und Ihnen die Rechnung vorlegen. Sagen wir in zehn Minuten.« »Ich habe nur ein Gepäckstück. Ich werde es selbst tragen, doch ich brauche ein Taxi. Aber nicht vor dem Haupteingang.« »Nicht vorne, selbstverständlich. Der Lastenaufzug, Monsieur. Es gibt eine Verbindung zum Lieferanteneingang. Ich werde alles arrangieren.« »Ich habe alles arrangiert!« sagte Jacques Louis Bertholdier am Telefon der Limousine. Die gläserne Trennwand zwischen ihm und dem Chauffeur war geschlossen. »Ein Mann ist in der Galerie geblieben, um die Aufzüge zu beobachten, und einer im Keller, durch den das Hotel beliefert wird. Wenn er während der Nacht abzureisen versucht, ist das der einzige Ausgang, der ihm noch zur Verfügung steht. Ich habe ihn selbst bereits bei verschiedenen Anlässen benutzt.« »Das... ist sehr schwer zu verstehen.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach mit ausgeprägtem britischem Akzent, -1 2 2
und der Sprecher war sichtlich erstaunt; man konnte seinen Atem hören, den Atem eines Mannes, der plötzlich Angst hatte. »Sind Sie sicher? Könnte es vielleicht irgendeine andere Verbindung geben?« »Schwachkopf! Ich wiederhole. Er war über die Munitionslieferung aus Beloit informiert! Er kannte die Routenführung, selbst die Art und Weise, wie der Diebstahl erfolgte, und ist so weit gegangen, daß er Solidaire identifiziert hat und meine Position als Mitglied des Aufsichtsrats! Er hat sich direkt auf unseren Geschäftskollegen in Bonn bezogen! Und dann auf Tel Aviv... Johannesburg! Welche andere Verbindung sollte da noch denkbar sein?« »Irgendwelche Firmenbeziehungen vielleicht. Man kann die nicht ganz ausschließen. Multinationale Tochtergesellschaften, Investitionen im Munitionsgeschäft, unser Kollege in Westdeutschland gehört auch verschiedenen Aufsichtsräten an... Und was die Orte angeht - ausländisches Geld strömt doch förmlich dorthin.« »Was glauben Sie eigentlich, wovon ich rede? Ich kann jetzt nicht mehr sagen, aber das, was ich Ihnen gesagt habe, meine englische Blume, das sollten Sie als das Schlimmste ansehen!« Auf der Londoner Seite kurze Zeit Schweigen. »Ich verstehe«, sagte dann die Stimme des zurechtgewiesenen Untergebenen. »Hoffentlich tun Sie das. Nehmen Sie mit New York Verbindung auf. Sein Name ist Simon, Henry Simon. Er ist Rechtsanwalt aus Chicago. Ich habe die Adresse; von der Meldekarte des Hotels.« Bertholdier kniff die Augen zusammen, um im schwachen Schein des Lichts besser lesen zu können, und entzifferte stockend die Daten, die ein Page aufgeschrieben hatte; einer der Männer des Generals hatte ihn gut dafür bezahlt, daß er aus dem Büro Informationen über den Bewohner von Suite zweihundertfünfunddreißig beschaffte. »Haben Sie das?« »Ja«, kam die Antwort, die Stimme klang jetzt scharf, ein Untergebener, der seinen Unwillen zum Ausdruck bringt. »War es klug, das so zu beschaffen? Ein Freund oder ein habgieriger -1 2 3
Angestellter könnte ihm sagen, daß jemand Fragen nach ihm
gestellt hat.«
»Wirklich, mein britisches Gänseblümchen? Ein unschuldiger
Page, der eine Adresse besorgt, damit man einem abgereisten
Gast ein vergessenes Kleidungsstück nachschicken kann?«
Wieder das kurze Schweigen. »Ja, ich verstehe. Wissen Sie,
Jacques, wir arbeiten für eine große Sache - eine geschäftliche
Sache natürlich, die wichtiger ist als wir beide, so wie wir es vor
Jahren einmal getan haben. Ich muß mich dauernd daran
erinnern, sonst könnte ich, glaube ich, Ihre Beleidigungen nicht
ertragen.«
»Und was würden Sie dann tun, l'anglais?«
»Ihnen Ihre arroganten Froschfresser-Eier auf dem Trafalgar
Square abschneiden und sie einem Löwen ins Maul stopfen.
Groß brauchte die Öffnung ja nicht zu sein; eine kleine Spalte
würde genügen... Ich rufe in einer Stunde zurück.« Ein Klicken,
dann war die Leitung tot.
Bertholdier ließ den Hörer langsam sinken, dann formte sich ein
Lächeln um seine Lippen. Sie waren die Besten, alle waren sie
das! Sie waren die Hoffnung, die einzige Hoffnung einer sehr
kranken Welt.
Dann verblaßte das Lächeln, und seine Arroganz schlug in
Furcht um. Was wollte dieser Henry Simon, was wollte er
wirklich? Wer war dieser unbekannte Mann, der Zugang zu so
außergewöhnlichen Quellen hatte... Flugzeuge, Fahrzeuge,
Munition? Was, in Gottes Namen, wußten die Unbekannten?
Was taten sie?
Die gepolsterte Liftkabine senkte sich langsam in die Tiefe. Sie
war dafür konstruiert, Möbel und Gepäck zu befördern, und ihre
Fahrtgeschwindigkeit war auf die gefahrlose Lieferung von
Speisen abgestimmt. Der Nachtportier stand mit unbeteiligter
Miene neben Joel; er hielt eine Ledermappe mit der Kopie von
Joels Rechnung und dem entsprechenden Betrag in der Hand
sowie einen beträchtlichen zusätzlichen Betrag, mit dem
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Converse sich für die Freundlichkeit des Franzosen bedankt hatte. Bevor der Fahrstuhl hielt, war ein leises Summen zu hören, dann leuchtete an der Anzeigetafel ein Licht auf, und die schweren Türen schoben sich auseinander. Draußen in dem weiten Korridor waren eine Schar von Kellnern in weißen Jacketts, Zimmermädchen, Trägern und ein paar Monteure zu sehen, die sich mit Tischen, Stapeln von Bettwäsche, Gepäck und verschiedenen Reinigungsmitteln beschäftigten. Lautes, schnelles Schnattern, in das sich gelegentlich Gelächter oder gutturale Schimpfworte mischten, begleiteten die hektische Aktivität. Als sie den Portier zu sehen bekamen, verringerte sich der Lärm, während sich die Bewegungen etwas beschleunigten, um dem Mann zu gefallen, der mit einem Federstrich über ihr Schicksal bestimmen konnte. »Wenn Sie mir die richtige Richtung zeigen, komme ich leicht allein zurecht«, sagte Joel, der nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. »Ich habe Ihre Zeit schon zu sehr beansprucht.« »Merci. Wenn Sie den Korridor hinuntergehen, kommen Sie an den Lieferantenausgang«, erwiderte der Franzose und deutete auf einen Gang zur Linken, der an den Lifttüren vorbeiführte. »Dort sitzt ein Wachmann, der von Ihrer Abreise verständigt ist. Draußen biegen Sie in der Gasse nach rechts und gehen bis zur Straße. Dort wartet Ihr Taxi.« »Ich - meine Firma - bin Ihnen für Ihre Unterstützung äußerst dankbar. Wie ich bereits sagte, ist da nichts Geheimnisvolles oder Ungewöhnliches... die ganze Situation ist nur ein wenig... sensibel...« Die gleichgültige Miene des Hotelangestellten änderte sich nicht, nur seine Augen blickten etwas schärfer. »Das ist ganz selbstverständlich, Monsieur, es bedarf keiner Erklärung. Die habe ich nicht verlangt, und Sie sollten, wenn Sie mir verzeihen, sich nicht veranlaßt fühlen, mir eine zu geben. Au revoir, Monsieur Simon.«
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»Ja, natürlich«, sagte Converse und wahrte die Fassung,
obwohl er sich wie ein Schuljunge vorkam, der gesprochen
hatte, ohne gefragt zu sein, der Antwort gegeben hatte, wo das
nicht verlangt war. »Bis zum nächsten Mal, wenn ich wieder
nach Paris komme.«
»Wir werden uns freuen, Monsieur. Bonsoir.«
Joel ging eilig davon und bahnte sich seinen Weg durch die
Menge der uniformierten Hotelbediensteten, wobei er sich ein
paarmal entschuldigte, wenn er jemanden mit dem Koffer
anstieß. Er hatte gerade eine Lektion gelernt, eine, die er nicht
hätte lernen müssen. Vor Gericht und im Konferenzsaal galt:
Erkläre nichts, wenn du nicht mußt. Aber hier ging es nicht um
eine Gerichtsverhandlung oder eine Konferenz. Dies war, und
erst jetzt wurde es ihm richtig bewußt, dies war eine Flucht. Und
die Erkenntnis war ein wenig beängstigend, jedenfalls mit
merkwürdigen Gefühlen verbunden. Flucht gehörte zu seinem
Vokabular, seinen Erfahrungen. Er hatte so etwas schon
dreimal in seinem Leben versucht - vor Jahren. Und damals
hatte überall der Tod auf ihn gelauert. Er schob den Gedanken
von sich und eilte auf die stählerne Tür zu, die er in der Ferne
sah.
Dann wurden seine Schritte langsamer; etwas stimmte nicht.
An dem Schaltertisch stand ein Mann in einem hellen Mantel
und sprach mit dem Pförtner. Joel hatte ihn schon einmal
gesehen, wußte aber nicht mehr, wo. Dann bewegte sich der
Mann, und Converse erinnerte sich allmählich. Ein Bild tauchte
vor ihm auf. Er hatte schon einmal einen Mann gesehen, der
sich genauso bewegte; er war ein paar Schritte rückwärts
gegangen und hatte sich umgedreht - bevor er aus einem
Bogengang verschwunden war, und jetzt überquerte er in
derselben Manier den Korridor und lehnte sich gegen die
Wand. War es derselbe Mann? Ja! Es war der Mann, der
Bertholdier in den Speisesaal des L'Etalon Blanc begleitet
hatte. Joel hatte damals geglaubt, ein Untergebener
verabschiede sich von seinem Vorgesetzten. Und jetzt war er
auf Befehl desselben Vorgesetzten hier.
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Der Mann blickte auf, und in seinen Augen blitzte das Erkennen. Er streckte sich, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und wandte sich ab. Seine Hand bewegte sich langsam auf eine Falte in seinem Mantel zu. Converse erschrak. Griff der Mann tatsächlich nach einer Waffe? Nur wenige Meter von einem Pförtner entfernt? Es war verrückt! Joel blieb stehen; er überlegte, ob er zurückrennen sollte zu den Lifts. Doch er wußte, daß das keinen Sinn hatte. Wenn Bertholdier schon einen Wachhund im Keller aufgestellt hatte, dann würden andere oben auf ihn warten, in den Korridoren, in der Halle. Er konnte sich nicht einfach umdrehen und wegrennen - es gab für ihn keinen Ort, an dem er sich verbergen konnte. Also ging er weiter, schneller jetzt und direkt auf den Mann in dem hellbraunen Mantel zu. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, in seinem Kopf rasten die Gedanken. »Da sind Sie!« rief er laut und gleichzeitig seiner eigenen Worte nicht sicher. »Der General hat mir gesagt, wo ich Sie finden würde!« Wenn Converse schon erschrocken war, dann war der Mann ehrlich schockiert und sprachlos. »Le general?« sagte er, die Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Er... Ihnen sagen?« Das Englisch des Mannes war nicht besonders, und das war von Vorteil. Er konnte Joel zwar verstehen, aber nicht gut. Schnell gesprochene Worte, hinter denen Überzeugungskraft stand, würden vielleicht dazu führen, daß sie beide durch die Tür kamen. Joel wandte sich dem Pförtner zu, während er seinen Aktenkoffer dem anderen ins Kreuz drückte. »Mein Name ist Simon. Ich glaube, der Portier hat Ihnen Bescheid gegeben.« Die Verbindung des Namens und des Titels reichten für den verwirrten Pförtner. Er warf einen Blick auf seine Papiere und nickte. »Oui, Monsieur...« »Kommen Sie!« Converse stieß den Mann in dem hellbraunen Mantel mit seinem Aktenkoffer an und trieb ihn auf die Tür zu. »Der General wartet draußen auf uns. Schnell! Gehen wir!«
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»Le general?....« Die Hände des Mannes schossen instinktiv
auf die Haltestange der Ausgangstüre zu. Weniger als fünf
Sekunden später waren er und Joel alleine in der Gasse.
»Que se passe-t-il? Ou est le general?... Wo?«
»Hier! Er hat gesagt, daß Sie hier warten sollen. Sie. Sie sollen
hier warten! Ici!«
»Arretez!« Der Mann begann, sich von seinem Schock zu
erholen. Er blieb stehen, schob die linke Hand vor und stieß
Converse gegen die Mauer, während seine rechte Hand in die
Manteltasche fuhr.
»Nicht!« Joel ließ die Aktentasche fallen, packte seinen Koffer
und riß ihn hoch. Er wollte sich schon nach vorne stürzen, blieb
dann aber stehen. Was der Mann hervorzog, war keine Waffe,
sondern ein flacher, rechteckiger Gegenstand, der in schwarzes
Leder gehüllt war. Ein unsichtbarer Schalter wurde
niedergedrückt, und eine lange dünne Nadel schob sich aus der
rechteckigen Box heraus, eine Antenne... ein Funkgerät!
Joels Gedanken jagten sich. Jetzt kam es nur noch auf
Schnelligkeit an. Er durfte nicht zulassen, daß der Mann das
Funkgerät benutzte und irgend jemand anderen im Hotel
alarmierte, der vielleicht ein zweites Gerät hatte. Mit plötzlich
wiedergefundener Kraft rammte er dem Mann den Koffer in die
Knie. Dann riß er ihm mit der linken Hand das Funkgerät weg
und ließ gleichzeitig den rechten Arm hochschießen. Der Arm
legte sich um den Hals des Franzosen und wirbelte ihn herum.
Ohne einen weiteren Gedanken zerrte Joel Bertholdiers
Soldaten nach vorne, so daß sie beide auf die Wand zurasten.
Dann ließ er den Kopf des Mannes gegen die Steinmauer
schlagen. Blut breitete sich über dem Schädel des Franzosen
aus, durchtränkte sein Haar und rann ihm in tiefroten Strömen
über das Gesicht. Joel konnte nicht mehr denken; er durfte
nicht nachdenken. Wenn er das tat, war er zu keinem Schritt
mehr fähig. Und jetzt zählte nur noch Schnelligkeit.
Der Mann sank kraftlos zusammen. Converse packte den
Bewußtlosen an den Schultern, schob ihn weg von der Metalltür
gegen die Wand und ließ ihn zu Boden fallen. Er beugte sich
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vor, griff nach dem Funkgerät, knickte die Antenne ab und ließ das flache Gerät in seiner Tasche verschwinden. Dann richtete er sich auf, verwirrt und schreckerfüllt, und versuchte, sich zu orientieren. Im nächsten Moment packte er seine Aktentasche und den Koffer und rannte keuchend die Gasse hinunter, wohl wissend, daß das Blut des anderen auch sein Gesicht besudelt hatte. Das bestellte Taxi stand am Bordstein, der Fahrer rauchte in der Dunkelheit eine Zigarette und hatte von alldem, was höchstens dreißig Meter von ihm entfernt geschehen war, nichts bemerkt. »De Gaulle Airport«, schrie Joel, während er die Wagentür aufriß und das Gepäck auf die Rückbank warf. »Ich habe es eilig!« Er ließ sich atemlos in den Sitz fallen, legte den Kopf nach hinten auf die Kopfstütze und sog in tiefen Zügen die Luft ein. Die vorbeirasenden Lichter und Schatten verdrängten jeden Gedanken an das gerade Geschehene, und so konnte sich sein rasender Puls allmählich beruhigen, sein Atem ging wieder langsamer, der Schweiß an den Schläfen und im Nacken trocknete wieder. Joel beugte sich vor. Er sehnte sich nach einer Zigarette, fürchtete aber gleichzeitig, daß ihm von dem Rauch übel werden könnte. Er schloß die Augen, preßte die Lider so fest aufeinander, daß in seinem Kopf tausend weiße Lichtpunkte aufglühten. Ihm war elend zumute, entsetzlich elend, und er wußte, daß nicht seine Angst der Grund dafür war. Es war etwas völlig anderes, etwas, das ebenso lähmend wie Furcht war. Er hatte einen Akt scheußlicher Brutalität begangen, und das erschreckte ihn und stieß ihn zutiefst ab. Er hatte einen Menschen angegriffen, mit dem Wunsch, ihn kampfunfähig zu machen, vielleicht sogar ihn zu töten - was er möglicherweise sogar getan hatte. Warum auch immer, er hatte vielleicht einen anderen Menschen getötet! War ein kleines Funkgerät Grund genug, jemandem den Schädel einzuschlagen? War es Grund genug, sich angegriffen zu fühlen? Zum Teufel, er war ein Mann des Wortes, der kühlen Logik und kein blutrünstiger Schläger! Niemals wieder Blut
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vergießen, das gehörte in die Vergangenheit, lag so weit zurück und war mit so schmerzvollen Erinnerungen verbunden. Jene Erinnerungen gehörten in eine andere Zeit, in eine unzivilisierte Zeit, in der Menschen wurden, was sie nicht waren - nur um zu überleben. Converse wollte nie mehr in jene Zeit zurück. Mehr als alles andere hatte er sich selbst versprochen, daß er das nie wieder tun würde, ein Versprechen, das er sich selbst gab, als rings um ihn Schrecken und Gewalt herrschten, schlimmer als er es je für möglich gehalten hätte. Er erinnerte sich so eindringlich und so schmerzlich an die letzten Stunden vor seiner letzten Flucht - und an den stillen, selbstlosen Mann, ohne den ihn der Tod geholt hätte, sechs Meter tief in der Erde, in einem Schacht, den man für Unruhestifter gegraben hatte. Colonel Sam Abbott von der US Air Force würde immer ein Teil seines Lebens sein, ganz gleich, wie viele Jahre auch zwischen ihnen liegen mochten. Sam hatte das Risiko zu sterben, dem die Folter voranging, auf sich genommen. Er war nachts ins Freie gekrochen und hatte einen primitiven Metallkeil in das »Strafloch« geworfen. Und mit diesem primitiven Werkzeug hatte Joel sich Stufen in Erde und Gestein geschlagen und war so schließlich in die Freiheit entkommen. Abbott und er waren die letzten siebenundzwanzig Monate im selben Lager gefangen gewesen, und beide Offiziere hatten sich bemüht, sich bei allem einen Rest gesunden Menschenverstands zu bewahren. Aber Sam begriff, welcher Freiheitsdurst in Joel brannte. Der Colonel war zurückgeblieben, und in den letzten Stunden vor dem Ausbruch hatte Joel der Gedanke gequält, was wohl aus seinem Freund werden würde. Mach dir meinetwegen keine Gedanken, Seemann. Behalt nur
dein bißchen Verstand und sieh zu, daß du diesen Keil loswirst.
Paß gut auf dich auf, Sam.
Paß du auf dich auf. Das ist deine letzte Chance.
Ich weiß.
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Joel rutschte zur Tür hinüber, kurbelte das Fenster ein paar
Zentimeter herunter und ließ sich von der einströmenden Luft
kühlen. Sein Anwaltsverstand mahnte ihn, sich gefälligst
zusammenzureißen; er mußte jetzt nachdenken und jeder
einzelne Gedanke zu Ende verfolgt werden. Das Wichtigste
zuerst! Das Funkgerät; er mußte das Funkgerät loswerden.
Aber nicht auf dem Flughafen... Man würde es möglicherweise
im Flughafengelände finden; das war Beweismaterial, ja
schlimmer noch, ein Hinweis, seine Spur zu verfolgen. Er
kurbelte das Fenster noch ein paar Zentimeter herunter und
warf den flachen Apparat hinaus. Der Fahrer blickte kurz auf,
war einen Augenblick besorgt; Joel atmete ein paarmal tief
durch - ein Mann, der Luft brauchte, um den sauren
Geschmack der Angst loszuwerden - und kurbelte das Fenster
wieder hoch. Denk nach. Er mußte denken! Bertholdier
rechnete damit, daß er von Paris nach Bonn reiste, und sobald
man den Soldaten des Generals gefunden hatte - und das war
ohne Zweifel inzwischen geschehen -, würden alle Flüge nach
Bonn überwacht werden... gleichgültig, ob der Mann noch lebte
oder tot war.
Er würde also einen Flug in eine andere Stadt buchen,
irgendwohin, von wo es eine regelmäßige Verbindung nach
Köln-Bonn gab. Während er noch überlegte, fiel ihm ein, sich
mit dem Taschentuch aus seiner Brusttasche das fremde Blut
von der rechten Wange und vom Kinn zu wischen.
»Scandinavian Air Lines«, sagte er und hob dabei etwas die
Stimme, damit der Fahrer ihn hören konnte. »SAS. Können
Sie... comprends?«
»Sehr gut, Monsieur«, sagte der Mann mit der Baskenmütze
am Steuer in gutem Englisch. »Fliegen Sie nach Stockholm,
Oslo oder Kopenhagen? Das sind unterschiedliche Eingänge.«
»Ich... ich weiß noch nicht.«
»Wir haben Zeit, Monsieur. Mindestens noch fünfzehn
Minuten.«
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Die Stimme am Telefon klang eisig, und das, was sie sagte,
war ein unpersönlicher Tadel. »Es gibt keinen Anwalt dieses
Namens in Chicago, und ganz bestimmt nicht unter der
Anschrift, die Sie mir gegeben haben. Die Adresse existiert
überhaupt nicht. Können Sie sonst etwas bieten, oder
betrachten wir das Ganze als eine Ihrer paranoiden
Phantastereien, mon General?«
»Sie sind ein Narr, l'anglais, und haben nicht mehr Verstand als
ein verängstigtes Kaninchen. Ich habe gehört, was ich gehört
habe!«
»Von wem? Einem nicht existenten Mann?«
»Ein nicht existenter Mann, der meinen Leibwächter
krankenhausreif geschlagen hat. Schädelbruch mit großem
Blutverlust und einer schweren Gehirnverletzung.
Möglicherweise überlebt er nicht. Und wenn er überlebt, wird
ihm nicht viel Verstand übrigbleiben. Kommen Sie mir nicht mit
Phantastereien, Blümchen. Der Mann ist echt.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Sie können ja das Krankenhaus anrufen! L'hospital Saint-Je-
rome. Fragen Sie doch die Ärzte.«
»Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich. Wir müssen
überlegen.«
»Ich bin ganz ruhig«, sagte Bertholdier, stand von dem Stuhl in
seinem Arbeitszimmer auf und trug das Telefon hinüber zum
Fenster, wobei sich das Kabel wie eine Schlange hinter ihm
wand. Er blickte hinaus; es hatte zu regnen angefangen, und
die nasse Scheibe ließ die Lichter der Straßenlaternen
verschwimmen. »Er ist nach Bonn unterwegs«, fuhr der
General fort. »Das ist seine nächste Station, das hat er mir
eindeutig erklärt.«
»Dann fangen Sie ihn ab. Rufen Sie Bonn an, geben Sie die
Beschreibung durch. Wie viele Flüge gibt es denn? Ein
alleinreisender Amerikaner sollte nicht so schwer ausfindig zu
machen sein. Schnappen Sie ihn am Flughafen.«
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Bertholdier seufzte hörbar. Sein Tonfall ließ seinen Ekel
anklingen. »Es war nie meine Absicht, ihn zu schnappen. Das
hätte keinen Zweck und würde uns von dem, was wir erfahren
müssen, abschneiden. Ich möchte, daß man ihm folgt, ich will
wissen, wohin er geht, wen er anruft, wen er trifft - das sind die
Dinge, die wir erfahren müssen.«
»Sie sagten, er hätte sich direkt auf unseren Kollegen bezogen.
Er wolle sich mit ihm treffen...«
»Nicht unsere Leute. Seine Leute.«
»Ich sage es noch einmal«, drängte die Stimme aus London.
»Rufen Sie Bonn an. Hören Sie, Jacques, man kann ihn
aufstöbern, und sobald man ihn gefunden hat, kann man ihn
auch überwachen.«
»Ja, ja, ich tu schon, was Sie sagen, aber das wird nicht so
leicht sein, wie Sie denken. Vor drei Stunden hätte ich noch
etwas anderes gesagt, aber das war, bevor ich wußte, wozu er
fähig ist. Jemand, der den Schädel eines anderen mit aller Kraft
gegen eine Steinmauer schlagen kann, ist entweder ein Tier,
ein Verrückter oder ein Fanatiker, der vor nichts zurückschreckt.
Nach meiner Ansicht ist er letzteres. Er sagte, er hätte eine
Verpflichtung... und die stand in seinen Augen. Und er wird
raffiniert sein; das hat er bereits bewiesen.«
»Sie sagten, vor drei Stunden?«
»Ja.«
»Dann ist er möglicherweise schon in Bonn.« »Ich weiß.«
»Haben Sie unseren Freund angerufen?«
»Ja, er ist nicht zu Hause, und das Mädchen konnte mir keine
andere Nummer nennen. Sie weiß nicht, wo er ist oder wann er
zurückkommt.«
»Wahrscheinlich erst morgen früh.«
»Ohne Zweifel... Ecoutez! Heute nachmittag war noch ein
anderer Mann im Club. Zusammen mit Luboque und diesem
Simon, der gar nicht Simon heißt. Er hat ihn zu Luboque
gebracht! Wiedersehen, l'anglais. Ich halte Sie auf dem
laufenden.«
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Rene Mattilon schlug die Augen auf. Die Streifen an der Decke schienen zu schimmern, Myriaden von winzigen, zerberstenden Fleckchen, die die Linienmuster zerrissen. Dann hörte er den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln und begriff. Die Lichtstrahlen von der Straße waren auf ihrem Weg durch das Glas gebrochen worden, und das verzerrte die Bilder, die er so gut kannte. Was ihn geweckt hatte, schloß er, war der Regen. Der Regen und vielleicht das Gewicht der Hand seiner Frau zwischen seinen Beinen. Sie regte sich im Schlaf. Er lächelte und versuchte, den Entschluß oder die Energie zu finden, nach ihr zu greifen. Sie hatte eine Lücke verschlossen, von der er geglaubt hatte, daß sie nach dem Tod seiner ersten Frau nie wieder hätte gefüllt werden können. Er war dankbar, und mit dem Gefühl der Dankbarkeit stellte sich die Erregung ein, zwei Empfindungen, die auf befriedigende Weise miteinander im Einklang standen. Er begann, Lust zu fühlen, rollte sich zur Seite und zog dabei das Bettuch mit sich. Die spitzenbesetzte Seide, die die Brüste seiner Frau bedeckte, das diffuse Licht und das Pochen der Regentropfen gegen die Fensterscheiben steigerten noch seine Sinnlichkeit. Er griff nach ihr. Plötzlich war da noch ein anderes Geräusch, nicht mehr nur das Trommeln des Regens, das die Nebel des Schlafes, die ihn noch gefangenhielten, durchdrang. Schnell zog er die Hand zurück und wandte sich von seiner Frau ab. Nur Augenblicke zuvor hatte er dieses Geräusch schon einmal gehört; das war es, was ihn geweckt hatte, ein eindringlicher Ton, der den gleichmäßigen Rhythmus des Regens durchbrochen hatte: Das Klingeln der Türglocke. Mattilon stieg so vorsichtig und lautlos er konnte aus dem Bett, griff nach seinem Morgenmantel, der auf einem Stuhl lag, und schob die Füße in die Hausschuhe, die darunter standen. Er verließ das Schlafzimmer, schloß leise die Tür hinter sich und fand den Wandschalter, der die Lampen im Wohnzimmer einschaltete. Er sah auf die antike Uhr auf dem Kaminsims; es war fast halb drei Uhr morgens. Wer konnte sie um diese
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Stunde besuchen wollen? Er zog den Gürtel seines
Morgenmantels fest und ging zur Tür.
»Ja, wer ist da?«
»Sürete, Monsieur. Inspektor Prudhomme. Meine
Dienstnummer ist Null-fünf-sieben-zwo-null.« Der Akzent des
Mannes ließ erkennen, daß er Gascogner war, nicht Pariser.
»Ich werde warten, bis Sie meine Dienststelle angerufen haben,
Monsieur. Die Telefonnummer ist...«
»Nicht nötig«, sagte Mattilon erschreckt und zog den Riegel
zurück. Er wußte, daß der Mann nicht log, nicht nur wegen der
Auskunft, die er sofort gegeben hatte, sondern auch deshalb,
weil jeder Angehörige der Sürete, der ihn um diese Stunde
aufsuchte, wissen würde, daß er Anwalt war, und in juristischen
Dingen war die Sürete vorsichtig.
Es waren zwei Männer, beide in Regenmänteln, an denen noch
die Tropfen herabliefen, und mit durchweichten Hüten. Der eine
war älter als der andere und kleiner. Beide hielten Rene ihre
Ausweiskarte hin. Er wischte sie mit einer Handbewegung weg
und forderte die zwei Männer auf, einzutreten. »Eine seltsame
Zeit für einen Besuch, meine Herren«, sagte er. »Sie müssen in
einer dringenden Angelegenheit kommen.«
»Sehr dringend, Monsieur«, sagte der ältere Mann und trat als
erster ein. Er war derjenige, der sich an der Tür zu erkennen
gegeben hatte, offensichtlich der dienstältere der beiden. »Wir
bitten natürlich wegen der Belästigung um Entschuldigung.«
Die beiden nahmen ihre Hüte ab. »Natürlich. Darf ich Ihnen die
Mäntel abnehmen?« »Das wird nicht nötig sein, Monsieur. Mit
Ihrer Unterstützung brauchen wir nur ein paar Minuten.«
»Und mich interessiert natürlich außerordentlich, wie ich um
diese Nachtstunde die Sürete unterstützen kann.«
»Es geht um eine Identifizierung, mein Herr. Monsieur Serge
Antoine Luboque ist, wie man uns mitteilt, einer Ihrer Klienten.
Trifft das zu?«
»Mein Gott, ist Serge etwas passiert? Ich war erst heute
nachmittag mit ihm zusammen!«
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»Monsieur Luboque scheint sich ausgezeichneter Gesundheit
zu erfreuen. Wir haben sein Landhaus vor einer knappen
Stunde verlassen. Und um zur Sache zu kommen, eben Ihr
Zusammentreffen mit ihm heute nachmittag - gestern
nachmittag, ist es, was die Sürete interessiert.«
»Warum?«
»An Ihrem Tisch war noch eine dritte Person. Ebenso wie Sie
ein Anwalt, der Monsieur Luboque als Monsieur Simon
vorgestellt wurde. Henry Simon, ein Amerikaner.«
»Und Pilot«, sagte Mattilon vorsichtig. »Mit umfassenden
Erfahrungen im Luftfahrtrecht. Ich nehme an, daß Luboque das
erklärt hat. Das war der Grund, weshalb er auf meine Bitte an
dem Mittagessen teilgenommen hat. Monsieur Luboque wird
von mir in einem Prozeß mit dieser Problemlage vertreten und
tritt als Kläger auf. Das ist natürlich alles, was ich zu dem
Thema sagen kann.«
»Das ist nicht das Thema, das die Sürete interessiert.« »Was
dann?«
»Es gibt in der Stadt Chicago, Illinois, keinen Rechtsanwalt, der
Henry Simon heißt.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Der Name ist falsch. Zumindest ist es nicht der des fraglichen
Amerikaners. Die Adresse, die er dem Hotel genannt hat,
existiert nicht.«
»Die Adresse, die er dem Hotel gegeben hat?« fragte Rene
erstaunt. Joel brauchte dem George V. keine Adresse zu
nennen. Er war dort gut bekannt, ebenso wie die Firma Talbot,
Brooks and Simon, sehr gut sogar.
»Er hat sie sogar selbst aufgeschrieben, Monsieur«, fügte der
jüngere Mann steif hinzu.
»Hat die Hotelleitung das bestätigt?«
»Ja«, sagte Prudhomme. »Der Nachtportier war sehr hilfsbereit.
Er hat uns erklärt, er habe Monsieur Simon im Lastenaufzug in
den Keller begleitet.«
»Den Keller?«
-1 3 6
»Monsieur Simon hatte den Wunsch geäußert, das Hotel
ungesehen zu verlassen. Er hat seine Rechnung in seinem
Zimmer beglichen.«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Mattilon verwirrt und mit einer
protestierenden Handbewegung. Er wandte sich ab, ging ziellos
um einen Lehnsessel herum und blieb dann stehen, die Hände
auf die Lehne gestützt. »Jetzt will ich ganz genau wissen, was
Sie von mir wollen. Reden Sie nicht um den Brei herum!«
»Wir wollen, daß Sie uns helfen«, antwortete Prudhomme. »Wir
glauben, daß Sie wissen, wer er ist. Sie haben ihn zu Monsieur
Luboque gebracht. Wir wollen ihn über etwas befragen, das
sich in dem Hotel ereignet hat.«
»Tut mir leid. So wie Luboque mein Klient ist, ist das in
gewisser Weise auch Simon.«
»Unter den vorliegenden Umständen können wir uns damit
nicht zufriedengeben, Monsieur.«
»Ich fürchte, das werden Sie müssen, zumindest auf einige
Stunden. Ich werde ihn morgen über sein Büro in... in den
Vereinigten Staaten zu erreichen versuchen. Und ich bin sicher,
daß er dann sofort mit Ihnen Verbindung aufnehmen wird.«
»Das glauben wir nicht.«
»Warum nicht?«
Prudhomme warf einen Blick auf seinen Kollegen, der in steifer
Haltung dastand, und zuckte die Schultern. »Er hat
möglicherweise einen Menschen getötet«, sagte er dann
lakonisch.
Mattilon starrte den Sürete-Beamten ungläubig an. »Er hat...
was?«
»Ein ausgesprochen brutaler Angriff, Monsieur. Der Kopf eines
Mannes ist gegen eine Wand gerammt worden; er hat schwere
Schädelverletzungen erlitten, die Prognose ist nicht gut. Sein
Zustand um Mitternacht war kritisch, die Chancen, daß er
überlebt, sind niedriger als fünfzig Prozent. Vielleicht ist er
bereits tot, wobei einer der Ärzte andeutete, daß das ein Segen
sein könnte.«
-1 3 7
»Nein... nein! Sie müssen sich irren! Sie täuschen sich!« Die
Hände des Rechtsanwalts krampften sich um die Sessellehnen.
»Das muß ein schrecklicher Irrtum sein!«
»Kein Irrtum. Die Identifizierung war positiv - das heißt,
Monsieur Simon ist als die letzte Person identifiziert worden, die
mit dem Niedergeschlagenen zusammen gesehen wurde. Er
hat den Mann auf die Straße hinausgedrängt; Geräusche einer
Auseinandersetzung waren zu hören, und Minuten später hat
man den Mann gefunden, mit einem Schädelbruch und
blutend.«
»Unmöglich! Sie kennen ihn nicht! Was Sie da sagen, ist
unvorstellbar. Er könnte so etwas nicht tun.«
»Wollen Sie sagen, er sei ein Invalide, physisch unfähig,
jemanden anzugreifen?«
»Nein«, sagte Mattilon und schüttelte den Kopf. Und dann
erstarrte er plötzlich. »Ja«, fuhr er nachdenklich fort und nickte
jetzt. »Er ist unfähig, ja, aber nicht im physischen Sinne. Im
psychischen Sinne. In dem Sinn ist er ein Invalide. Er könnte
das nicht tun, was Sie behaupten.«
»Ist er geistesgestört?«
»Mein Gott, nein! Er ist einer der intelligentesten und klarsten
Menschen, die mir je begegnet sind. Sie müssen das begreifen.
Er hat eine längere Periode ungeheuerer physischer Belastung
durchgemacht. Er hat Schreckliches erdulden müssen,
körperlich wie geistig. Dadurch ist zwar kein dauernder
Schaden entstanden, aber das, was er erleben mußte, hat
unauslöschliche Erinnerungen hinterlassen. Und deshalb geht
er - wie viele Männer, die wie er eine solche Behandlung
erdulden mußten jeder Art von körperlicher
Auseinandersetzung aus dem Wege. Er kann niemanden
körperlich verletzen, weil man ihm selbst so viel angetan hat.«
»Sie meinen, daß er sich nicht verteidigen würde, sich und die
Seinen? Er würde die andere Wange hinhalten, wenn man ihn,
seine Frau oder seine Kinder angreifen würde?«
»Natürlich nicht, aber das ist es ja nicht, was Sie geschildert
haben. Sie sagten >ein ausgesprochen brutaler Angriff<, und
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das ist ja wohl etwas völlig anderes. Im anderen Fall - wenn man ihn bedroht oder angegriffen hätte und er sich verteidigt hätte - hätte er den Schauplatz des Geschehens sicher nicht verlassen, dazu ist er ein zu guter Anwalt.« Mattilon schwieg einen Moment. »War das der Fall? Ist es das, was Sie sagen? Ist der Verletzte polizeibekannt? Ist er...« »Ein Chauffeur«, unterbrach Prudhomme. »Ein unbewaffneter Mann, der abends auf seinen Fahrgast wartete.« »Im Keller?« »Offenbar ist das nicht ungewöhnlich. Diese Firmen sind diskret. Im vorliegenden Fall hat die Firma zuerst einen anderen Fahrer geschickt, ehe sie sich nach dem Zustand ihres Angestellten erkundigte. Der Kunde erfährt auf diese Weise nichts.« »Sehr nobel, das muß man sagen. Was sagen die denn, was geschehen ist?« »Nach einem Zeugen, einem Pförtner, der seit achtzehn Jahren für das Hotel tätig ist, erschien dieser Simon und hat mit lauter Stimme in englischer Sprache etwas gesagt - der Pförtner meinte, der Hotelgast sei ärgerlich gewesen, obwohl er ihn nicht verstanden hat - und hätte den Mann nach draußen gedrängt.« »Der Pförtner hat unrecht! Das muß jemand anderer gewesen sein.« »Simon hat sich zu erkennen gegeben. Der Portier hatte seine Abreise angekündigt. Die Beschreibung paßt; es war schon der Mann, der sich Simon nannte.« »Aber warum? Es muß doch einen Grund geben!« »Den würden wir gerne hören, Monsieur.« Rene schüttelte verwirrt den Kopf. Nichts gab mehr einen Sinn. Ein Mann konnte sich natürlich in jedem Hotel unter jedem beliebigen Namen eintragen lassen, aber da waren Rechnungen zu begleichen, es gab Kreditkarten, Leute, die ihn anriefen. Ein falscher Name erfüllte keinen Zweck, besonders nicht in einem Hotel, wo man wahrscheinlich bereits bekannt war. Und wenn -1 3 9
man bekannt war und es dennoch vorzog, inkognito zu reisen, dann würde dieser Status nicht gedeckt werden, wenn die Sürete am Empfang Fragen stellte. »Ich muß Sie noch einmal fragen, Inspektor, haben Sie in dem Hotel gründliche Nachforschungen angestellt?« »Nicht persönlich, Monsieur«, erwiderte Prudhomme und warf seinem Kollegen einen Blick zu. »Ich hatte damit zu tun, die Leute zu verhören, die während des Überfalls im Keller zugegen waren.« »Ich habe den Portier persönlich befragt, Monsieur«, sagte der jüngere, größere Mann mit einer Stimme, die wie die eines programmierten Roboters klang. »Natürlich legt das Hotel keinen Wert darauf, daß der Zwischenfall hochgespielt wird, aber die Geschäftsleitung war sehr kooperativ. Der Nachtportier ist erst seit kurzer Zeit dort tätig, er hat früher im Hotel Meurice gearbeitet und wollte die Sache herunterspielen. Aber er hat mir die Meldekarte selbst gezeigt.« »Ich verstehe.« Und das tat Mattilon, zumindest soweit es Joels Identität betraf. Hunderte von Gästen in einem großen Hotel, und ein nervöser Portier, der das Image seiner neuen Direktion schützte. Die offensichtliche Quelle wurde als wahr akzeptiert, wobei ohne Zweifel Leute, die es besser wußten, das am Morgen korrigieren würden. Aber das war alles, was Rene begriff - sonst nichts. Er brauchte ein paar Augenblicke, um nachzudenken, um den Versuch zu machen, das Gehörte zu begreifen. »Was mich neugierig macht«, sagte er und suchte nach Worten. »Im schlimmsten Fall ist dies eine Körperverletzung mit schweren Folgen, aber nichtsdestoweniger Körperverletzung. Warum kümmert sich nicht die Polizei darum? Warum die Sürete?« »Das war auch meine erste Frage, Monsieur«, meinte Prudhomme. »Der Grund, den man uns nannte, war, daß ein Ausländer in die Sache verwickelt ist, offenbar ein wohlhabender Ausländer. Heutzutage weiß man nicht, wozu solche Dinge führen. Wir verfügen über gewisse Mittel, die einem gewöhnlichen Polizisten nicht zugänglich sind.« -1 4 0
»Ich verstehe.«
»Wirklich?« fragte der Mann von der Sürete. »Darf ich Sie
daran erinnern, daß Sie als Anwalt verpflichtet sind, die
Gerichte und das Gesetz zu unterstützen? Wir haben Ihnen
unsere Papiere gezeigt, und ich habe Ihnen empfohlen, unsere
Dienststelle anzurufen, falls Sie eine Bestätigung brauchen.
Bitte, Monsieur, wer ist Henry Simon?«
»Ich habe auch andere Verpflichtungen, Inspektor. Meine
Berufsehre, meine Klienten, eine alte Freundschaft...«
»Und die stellen Sie über das Gesetz?«
»Nur weil ich weiß, daß Sie unrecht haben.«
»Aber was kann dann schon passieren? Wenn wir unrecht
haben, werden wir diesen Simon zweifellos auf einem
Flughafen finden, und er wird es uns selbst sagen. Aber wenn
wir nicht unrecht haben, dann finden wir vielleicht einen sehr
kranken Mann, der Hilfe braucht. Ehe er weitere Personen
verletzt. Ich bin kein Psychiater, Monsieur, aber Sie haben da
einen Mann geschildert, der Schwierigkeiten hat - der jedenfalls
früher einmal Schwierigkeiten hatte.«
Die Logik des Beamten beunruhigte Mattilon... und noch etwas
anderes, das er nicht in Worte fassen konnte. War es Joel?
Waren es die Wolken in den Augen seines alten Freundes, der
ungewollte Versprecher in bezug auf seine Vergangenheit in
Vietnam. Rene sah wieder auf die Uhr am Kaminsims. Ihm war
ein Gedanke gekommen. In New York war es jetzt erst knapp
neun Uhr abends.
»Inspektor, ich werde Sie jetzt bitten, hier zu warten, während
ich in meinem Arbeitszimmer ein Telefonat führe.
Das ist übrigens nicht dieselbe Leitung wie die des Apparats
hier auf dem Tisch.«
»Der Hinweis war überflüssig, Monsieur.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung.« Mattilon ging schnell zu
einer Tür auf der anderen Seite des Zimmers, öffnete sie und
verschwand. Er trat an seinen Schreibtisch, setzte sich und
schlug ein in rotes Leder gebundenes Telefonverzeichnis auf.
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Er schlug den Buchstaben T auf und überflog dann die Namen,
bis er zu Talbot Lawrence kam. Er hatte sowohl die
Büronummer als auch die private; das war manchmal wichtig,
weil die Gerichte in Paris bereits arbeiteten, noch bevor man an
der Ostküste Amerikas aufzustehen pflegte. Wenn Talbot nicht
zu erreichen war, würde er es erst bei Nathan Simon versuchen
und dann bei Brooks, falls er das mußte. Doch beides war
unnötig, Lawrence Talbot meldete sich sofort.
»Wie geht es Ihnen, Rene? Sind Sie in New York?«
»Nein, Paris.« l
»Es ist doch schon ziemlich spät, dort, wo Sie sind, wenn ich
mich nicht täusche.«
»Sehr spät, Larry. Wir haben hier aber ein Problem, und
deshalb rufe ich an.«
»Ein Problem? Ich wußte gar nicht, daß wir zur Zeit geschäftlich
miteinander zu tun haben. Um was geht es denn?«
»Ihre Missionsarbeit.«
»Unsere was?«
»Bertholdier. Seine Freunde.«
»Wer?«
»Jacques Louis Bertholdier.«
»Wer ist das? Ich habe den Namen schon gehört, aber ich weiß
nicht, wo ich ihn hintun soll.«
»Sie wissen nicht... wo Sie ihn hintun sollen?«
»Tut mir leid.«
»Ich war mit Joel zusammen. Ich habe das Zusammentreffen
arrangiert.«
»Joel? Wie geht es ihm? Ist er jetzt in Paris?«
»Sie wußten es nicht?«
»Das letztenmal, als ich mit ihm gesprochen habe, vor zwei
Tagen, war er noch in Genf - nach dieser schrecklichen
Geschichte mit Halliday. Er hat mir gesagt, es sei alles in
Ordnung, aber das war es natürlich nicht. Er war ziemlich
durcheinander.«
-1 4 2
»Ich möchte etwas klarstellen, Larry. Joel ist also nicht für
Talbot, Brooks and Simon geschäftlich in Paris. Stimmt das?«
Lawrence Talbot machte eine Pause, ehe er antwortete. »Nein,
das ist er nicht«, sagte der Seniorpartner der Kanzlei dann
leise. »Hat er das behauptet?«
»Vielleicht habe ich es bloß angenommen.«
Wieder machte Talbot eine Pause. »Ich glaube nicht, daß Sie
das tun würden. Aber ich glaube, Sie sollten Joel sagen, daß er
mich anrufen soll.«
»Das ist ja Teil des Problems, Larry. Ich weiß nicht, wo er ist. Er
sagte, er würde die Sechs-Uhr-Maschine nach London
nehmen, aber das hat er nicht getan. Er ist ein gutes Stück
später unter sehr eigenartigen Begleitumständen aus dem
George V. abgereist.«
»Was soll das heißen?«
»Seine Meldekarte im Hotel ist auf einen anderen Namen
geändert worden - einen Namen übrigens, den ich
vorgeschlagen hatte, da er bei unserer Mittagsverabredung
seinen eigenen nicht benutzen wollte. Und dann hat er darauf
bestanden, das Hotel durch irgendeinen Lieferanteneingang im
Keller zu verlassen.«
»Das ist seltsam.«
»Ich fürchte, das ist von all dem Ungewöhnlichen noch das
Harmloseste. Es wird behauptet, er hätte einen Mann
angegriffen, möglicherweise ihn sogar getötet.«
»Mein Gott!«
»Ich glaube das natürlich nicht«, sagte Mattilon schnell »Er
würde das nie tun, er könnte es gar nicht...«
»Das hoffe ich doch.«
»Sie glauben doch sicher nicht...«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, unterbrach Talbot. »Als
er in Genf war und wir miteinander sprachen, habe ich ihn
gefragt, ob es einen Zusammenhang zwischen Hallidays Tod
und dem, was er gerade tut, gebe. Er sagte, das sei nicht der
Fall, aber er war so abwesend, seine Stimme klang so leer.«
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»Was tut er denn...?«
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht einmal sicher, daß ich es
herausfinden könnte. Aber ich werde mir verdammte Mühe
geben. Ich sage Ihnen, ich mache mir Sorgen. Etwas ist mit ihm
passiert. Seine Stimme klang wie eine Echokammer, wissen
Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte Mattilon leise. »Ich habe ihn gehört und auch
gesehen. Ich mache mir ebenfalls Sorgen.«
»Finden Sie ihn, Rene. Tun Sie, was immer Sie können. Sagen
Sie mir Bescheid, und ich lasse alles stehen und liegen und
komme hinüber. Irgendwas tut ihm weh, irgendwie.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
Mattilon verließ sein Arbeitszimmer und sah die beiden Männer
von der Sürete an.
»Sein Name ist Converse, Joel Converse«, begann er.
»Sein Name ist Converse, Vorname Joel«, sagte der jüngere,
größere Mann von der Sürete in die Sprechmuschel einer
Telefonzelle am Boulevard Raspail, während der Regen auf die
Zelle niedertrommelte. »Er ist Angestellter einer Anwaltsfirma in
New York: Talbot, Brooks and Simon; die Adresse ist an der
Fifth Avenue. Der Name Simon, den er benutzte, steht jedoch
wahrscheinlich nicht in Verbindung mit der Firma.« »Ich
verstehe nicht.«
»Was auch immer dieser Converse macht, hat nichts mit seiner
Firma zu tun. Mattilon hat mit einem der Partner in New York
gesprochen, und der hat ihm das gesagt. Außerdem sind beide
Männer beunruhigt, sie machen sich Sorgen. Sie möchten über
die weitere Entwicklung der Sache informiert werden. Wenn
man Converse findet, so besteht Mattilon darauf, daß man ihn
sofort zu ihm bringt. Mag sein, daß er irgend etwas zurückhält,
aber nach meiner Ansicht ist er ehrlich verwirrt. Sonst weiß er
weiter nichts Besonderes, das hätte ich bemerkt.«
»Trotzdem, er hält etwas zurück. Der Name Simon wurde
meinetwegen gebraucht, damit ich die Identität dieses
Converse nicht erfahren sollte. Mattilon weiß das; er war dabei,
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und sie sind Freunde. Er hat diesen Converse zu Luboque
gebracht.«
»Dann hat man ihn hereingelegt, mon General. Er hat Sie nicht
erwähnt.«
».Das würde er vielleicht, wenn man ihn weiter verhören
könnte. Ich darf da jedenfalls nicht hineingezogen werden.«
»Natürlich nicht«, pflichtete ihm der Mann von der Sürete bei.
»Ihr Vorgesetzter, wie ist sein Name? Der, der den Fall
bearbeitet?«
»Prudhomme. Oberinspektor Prudhomme.«
»Ist er Ihnen gegenüber offen?«
»Ja. Er hält mich für einen etwas primitiven ehemaligen
Soldaten, dessen Instinkte mehr taugen als sein Intellekt, aber
er sieht, daß ich guten Willens bin. Er spricht mit mir.«
»Sie werden eine Weile mit ihm zusammenbleiben. Falls er sich
dazu entscheiden sollte, Mattilon noch einmal aufzusuchen,
sagen Sie mir sofort Bescheid. Paris könnte dann einen
angesehenen Anwalt verlieren. Mein Name darf auf keinen Fall
erwähnt werden.«
»Er würde Mattilon nur aufsuchen, wenn man Converse findet.
Und wenn die Sürete etwas über ihn erfährt, nehme ich sofort
mit Ihnen Fühlung auf.«
»Es könnte für ihn einen anderen Grund geben, Colonel. Einen,
der einen hartnäckigen Mann dazu provozieren könnte, seine
Fortschritte trotz gegenteiliger Anweisungen zu überprüfen.«
»Gegenteilige Anweisungen, mon General?«
»Solche Anweisungen werden ergehen. Dieser Converse geht
jetzt einzig und allein uns an. Alles, was wir brauchten, war der
Name. Wir kennen sein Ziel und werden ihn finden.«
»Ich versteh« nicht, mon General.«
»Ich habe Nachricht aus dem Hospital. Der Zustand unseres
Chauffeurs hat sich gebessert.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht.«
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»Ich wünschte, es wäre so. Es is t jedem Kommandanten
widerwärtig, auch nur einen einzigen Soldaten opfern zu
müssen, aber man darf nie das Hauptziel aus dem Auge
verlieren, sondern muß ihm alles andere unterordnen. Geben
Sie mir recht?«
»Ja, natürlich.«
»Unser Chauffeur darf nicht genesen. Das Hauptziel, Colonel.«
»Wenn er stirbt, wird man die Bemühungen, Converse zu
finden, verstärken. Und Sie haben recht, Prudhomme wird dann
alles aufs neue überprüfen und sich auch den Anwalt
vornehmen.«
»Der Befehl wird ergehen, das nicht zu tun. Aber behalten Sie
ihn im Auge.«
»Ja, mon General.«
»Und jetzt brauchen wir Ihre Erfahrung, Colonel. Die Talente,
die Sie in den Diensten der Legion so gründlich entwickelt
haben, ehe wir Sie in ein zivilisierteres Leben zurückgeholt
haben.«
»Meine Dankbarkeit ist tief. Was immer ich für Sie tun kann...«
»Können Sie sich so unauffällig wie möglich Zugang zum
Hospital von Saint-Jerome verschaffen?«
»Niemand wird mich sehen. Das Gebäude hat ringsum
Feuertreppen, und die Nacht ist finster und es regnet. Selbst
die Polizei sucht in den Türnischen Schutz. Ein Kinderspiel.«
»Aber Männerarbeit. Es muß geschehen.«
»Ich stelle solche Entscheidungen nicht in Frage.«
»Ein Erstickungsanfall vielleicht...«
»Druck, durch die Bettdecke ausgeübt, mon General. Langsam
und ohne Spuren, ein Krampf... Aber ich würde meine Pflicht
verletzen, wenn ich nicht wiederholte, was ich schon einmal
gesagt habe, mon General. Man wird ganz Paris durchsuchen
und anschließend wird es zu einer großangelegten Jagd
kommen. Man wird den Mörder für einen reichen Amerikaner
halten, ein einladendes Ziel für die Sürete.«
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»Es wird keine Suche geben, keine Jagd. Noch nicht. Wenn es wirklich dazu kommen muß, dann erst später, und dann wird man eine Leiche finden... Gehen Sie an die Arbeit, mein junger Freund. Der Chauffeur, Colonel; das größere Ziel hat Vorrang.« »Er ist tot«, sagte der Mann in der Telefonzelle und legte den Hörer auf.
5 Erich Leifhelm... geboren am 15. März 1912 in München als Sohn des Dr. Heinrich Leifhelm und seiner Geliebten Marta Stössel. Obwohl der Makel seiner illegitimen Geburt im moralbewußten Deutschland jener Jahre einer normalen Kindheit im gehobenen Bürgertum im Wege stand, war er zugleich auch der wichtigste Faktor, der Leifhelms spätere Prominenz in der nationalsozialistischen Bewegung prägte. Bei seiner Geburt wurde ihm der Name Leifhelm versagt, und er war bis 1931 als Erich Stössel bekannt. Joel saß an einem Tisch in dem offenen Café des Kopenhagener Flughafens Kastrup und versuchte, sich zu konzentrieren. Dies war sein zweiter Versuch im Laufe der letzten zwanzig Minuten; den ersten hatte er aufgegeben, als er bemerkte, daß er das Gelesene nicht aufnahm, sondern nur schwarze Buchstaben sah, eine endlose Kette kaum erkennbarer Wörter, die sich auf eine Gestalt in den äußeren Bereichen seines Bewußtseins bezogen. Er war unfähig, das Bild jenes Mannes scharf zu bekommen; es gab zu viele Störungen, tatsächliche und eingebildete. Auch während des zweistündigen Fluges von Paris nach Kopenhagen hatte er nicht lesen können. Er hatte sich für ein Economy-Ticket entschieden in der Hoffnung, in der größeren Zahl von Menschen unterzugehen. Was auch zutraf. Die Sitze waren so eng und das Flugzeug so vollbesetzt, daß es praktisch unmöglich war, Ellbogen oder Unterarme zu bewegen. Diese Umstände verhinderten aber ebenso, daß er den Bericht
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hervorholte, sowohl aus Raumgründen als auch aus Furcht vor fremden Blicken. Heinrich Leifhelm brachte seine Geliebte und ihren gemeinsamen Sohn in der Stadt Eichstätt nördlich von München unter. Dort besuchte er sie hie und da und ermöglichte ihnen einen ausreichenden, aber nicht besonders bequemen Lebensstandard. Der Arzt war offenbar hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, eine erfolgreiche Praxis ohne gesellschaftlichen Makel - in München zu unterhalten, und dem Gefühl, Mutter und Kind nicht verlassen zu dürfen. Nach Ansicht enger Bekannter von Erich Stössel-Leifhelm hatten diese frühen Jahre eine tiefe Wirkung auf ihn. Obwohl er noch zu jung war, um die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs voll zu begreifen - eine Erinnerung, die ihn später verfolgen sollte -, schrumpften die Mittel des kleinen Haushaltes in dem Maße, wie die Zahlungsfähigkeit des älteren Leifhelm unter de Last der Kriegssteuern geringer wurde. Außerdem betonten die Besuche seines Vaters die Tatsache, daß er nicht als Sohn anerkannt werden konnte und daher keinen Anspruch auf die Privilegien hatte, die seine beiden Stiefbrüder und eine Stiefschwester genossen, Fremde, die er nie kennenlernen sollte und deren Heim er nicht betreten konnte. Ihm fehlte die Legitimität, wie sie durch heuchlerische Dokumente und den noch heuchlerischeren Segen der Kirche dokumentiert wurde, was in ihm das Gefühl weckte, ihm werde das genommen, was ihm rechtmäßig zustünde. Und so entwickelte sich in ihm Wut und Verärgerung. Ein tiefsitzender Zorn auf die herrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten. Wie er selbst zugab, war es sein erster bewußter Wunsch, aus eigener Kraft so viel wie möglich für sich zu gewinnen - sowohl materiell als auch Anerkennung durch die Umwelt. Und damit wollte er sich gegen seinen Lebensstatus auflehnen, der seiner Ansicht nach für ihn demütigend war. Converse hörte zu lesen auf und wurde sich plötzlich der Frau bewußt, die allein auf der anderen Seite des halb verlassenen Cafés an einem Tisch saß und ihn ansah. Ihre Augen begegneten sich. Die Frau wandte sich sofort ab, legte den Arm -1 4 8
auf das niedrige weiße Geländer, das das Restaurant einfaßte, und studierte die spärlicher gewordenen Scharen von Menschen, die jetzt nachts durch den Flughafen schlenderten, als warte sie auf jemanden. Erschreckt versuchte Joel, den Blick zu analysieren, mit dem sie ihn beobachtet hatte. War das ein Blick des Erkennens gewesen? Kannte sie sein Gesicht? Oder war es ein prüfender Blick gewesen? Eine gut gekleidete Prostituierte, die im Flughafen einen Freier suchte, einen einsamen Geschäftsmann, weit weg von zu Haus? Sie drehte langsam den Kopf und sah ihn wieder an, jetzt offenbar darüber verstimmt, daß seine Augen immer noch auf sie gerichtet waren. Und dann sah sie abrupt auf die Uhr, zupfte an ihrem breitkrempigen Hut und klappte die Handtasche auf. Sie nahm einen Geldschein heraus, legte ihn auf den Tisch, stand auf und ging zum Ausgang des Cafés. Als sie die Tür hinter sich hatte, ging sie schneller, ihre Schritte wurden länger, und sie strebte auf den Bogen zu, hinter dem sich die Gepäckausgabe befand. Converse beobachtete sie in dem kalten weißen Neonlicht der Halle, schüttelte den Kopf und war über seine Unruhe verärgert. Mit seiner Aktentasche und dem ledergebundenen Bericht hatte die Frau ihn wahrscheinlich für eine Art Flughafenbeamten gehalten. Er sah zu viele Schatten, dachte er, während seine Augen der eleganten Gestalt folgten. Zu viele Schatten, die keine Überraschung bargen, keinen Grund zur Beunruhigung. In der Maschine aus Paris hatte ein paar Reihen vor ihm ein Mann gesessen, der zweimal aufgestanden und zur Toilette gegangen war, und jedesmal, wenn er zu seinem Sitz zurückging, hatte er Joel scharf angesehen, ihn studiert. Diese Blicke hatten ausgereicht, um Joels Puls zu beschleunigen. Hatte man ihn am Flughafen entdeckt? War der Mann ein Mitarbeiter von Jacques Louis Bertholdier?... So wie das ein Mann in einer Seitengasse in Paris gewesen war - Denk nicht daran! Er hatte eine kleine Kruste getrocknetes Blut von seinem Hemd geklopft, als er sich die stumme Ermahnung erteilte. »Als ob ich einen alten Yankee nicht sofort auf den ersten Blick erkennen könnte! Hab' mich noch nie geirrt!« -1 4 9
Das war die etwas antiquierte Begrüßung in Kopenhagen, als die beiden Amerikaner auf ihr Gepäck warteten. »Nun, einmal habe ich mich getäuscht. Irgend so ein Kerl auf einer Maschine in Genf. Direkt neben mir hat er gesessen. So ein schwarzhaariger Latino in einem Anzug mit Weste. Mit der Stewardeß hat er Englisch gesprochen, also dachte ich mir, er sei einer dieser reichen kubanischen Flüchtlinge aus Florida. Verstehen Sie?« Ein Abgesandter in der Kleidung eines Geschäftsmannes. Einer der Diplomaten. Genf. In Genf hatte es angefangen. Zu viele Schatten. Keine Überraschungen, kein Alarm. Die Frau ging durch den Torbogen, und Joel löste den Blick von ihr, zwang seine Augen wieder zurück auf den Bericht über Erich Leifhelm. Dann störte ihn eine kleine, plötzliche Bewegung; er sah wieder zu der Frau hinüber. Ein Mann war aus einer nicht einsehbaren Nische herangetreten; seine Hand berührte ihren Ellbogen. Sie tauschten kurz ein paar Worte und trennten sich ebenso abrupt wieder voneinander, wie sie sich begegnet waren, wobei der Mann seinen Weg in die Halle fortsetzte, während die Frau verschwand. Sah der Mann zu ihm herüber? Converse beobachtete ihn aufmerksam; hatte dieser Mann ihn angesehen? Es war unmöglich, das sicher zu sagen. Der Fremde drehte den Kopf nach allen Seiten, als suchte er etwas. Und dann eilte er, als hätte er das Gesuchte gefunden, auf eine Schalterreihe zu. Sein Ziel war der Schalter der Japan Air Lines. Er zog seine Brieftasche hervor, als er mit dem Angestellten zu sprechen begann. Keine Überraschungen, kein Alarm. Ein gehetzter Reisender hatte nach einer Auskunft gefragt. Die Störungen waren mehr eingebildet als tatsächlich vorhanden. Und doch schaltete sich selbst hier seine Anwaltsmentalität ein. Im Ergebnis waren Störungen immer eine Tatsache, ob sie nun auf Realität beruhten oder nicht. O Gott! Laß das doch! Konzentriere dich!
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Als Erich Stössel-Leifhelm siebzehn Jahre alt war, legte er am Gymnasium von Eichstätt das Abitur ab. Damals herrschte ein allgemeines finanzielles Chaos, und der Zusammenbruch der amerikanischen Börse im Jahre '29 verschärfte die ohnehin trostlose Wirtschaftslage der Weimarer Republik noch weiter, so daß sich nur wenige Studenten den Übertritt auf eine Universität leisten konnten. Später schilderte Stössel-Leifhelm den Schritt, den er damals unternahm, als das Ergebnis jugendlicher Wut: Er reiste nämlich nach München, um von seinem Vater eine Unterstützung zu verlangen. Was er dort vorfand, schockierte ihn nicht nur, sondern erwies sich als einmalige Chance, die der Zufall ihm zugespielt hatte. Das ruhige, störungsfreie Leben des Arztes war in Stücke gegangen. Seine Ehe, die für ihn von Anfang an erniedrigend gewesen war, hatte ihn zum Trinker werden lassen, bis sich die unvermeidlichen Kunstfehler einstellten. Die Ärztekammer (der viele Juden angehörten) brachte einen Tadelsantrag gegen ihn ein, warf ihm Unfähigkeit vor und veranlaßte, daß er seine Stelle an einer Münchner Klinik verlor. Seine Ehefrau wies ihn aus dem Hause, wobei sie ihr alter, aber immer noch mächtiger Vater unterstützte, der ebenfalls Arzt war und dem Aufsichtsgremium der Klinik angehörte. Als Stössel-Leifhelm seinen Vater fand, lebte dieser in einem billigen Mietshaus in einem armseligen Stadtviertel. Während dieses langen und ohne Zweifel im Rausch vorgebrachten Geständnisses offenbarte ihm der Vater eine Tatsache, die Stössel-Leifhelm nie geahnt hatte. Die Frau seines Vaters war Jüdin. Mehr brauchte der junge Mann nicht zu hören. Von diesem Tage an kümmerte sich der Junge um den ruinierten alten Mann mit letzter Hingabe. Über die Lautsprecher des Flughafens wurde eine Durchsage gemacht; Joel sah auf die Uhr. Jetzt wurde sie wiederholt, diesmal in deutscher Sprache. Er lauschte, konnte aber das Gesagte kaum verstehen. Dann hörte er Städtenamen. Hamburg - Köln - Bonn. Es war der erste Aufruf für den letzten Flug des Abends, der über Hamburg in die Hauptstadt -1 5 1
Westdeutschlands ging. Die Flugzeit betrug weniger als zwei
Stunden; die Zwischenlandung in Hamburg war für
Geschäftsleute gedacht, die am frühen Morgen an ihren
Schreibtischen sitzen wollten. Converse hatte seinen Koffer
nach Bonn abfertigen lassen und sich dabei vorgenommen, den
schweren Lederkoffer bei nächster Gelegenheit durch einen
Handkoffer zu ersetzen, den er mit an Bord nehmen konnte. Er
war kein Fachmann für solche Dinge, aber die Vernunft sagte
ihm, daß die Verzögerung beim Warten auf das Gepäck ihn
leicht den Blicken von Verfolgern aussetzen konnte und
darüber hinaus auch ein Hindernis für schnelles Reisen war. Er
legte das Dossier über Erich Leifhelm in den Koffer, klappte ihn
zu und verstellte die Kombination des Zahlenschlosses. Dann
erhob er sich von seinem Platz, verließ das Café und ging zum
Lufthansa-Schalter.
Schweißtropfen traten ihm am Haaransatz hervor; sein
Herzschlag beschleunigte sich, bis er wie eine hämmernde
Fuge für Kesselpauken klang. Er kannte den Mann, der neben
ihm saß, aber er hatte keine Ahnung, wo oder wann in seinem
Leben er ihm begegnet war. Das faltige Gesicht, die von der
Sonne braun gegerbte Haut, die intensiven blaugrauen Augen
unter den dicken, wild wuchernden Brauen und das von weißen
Strähnen durchzogene braune Haar - er kannte ihn, aber ihm
fiel kein Name ein, nicht das geringste, was die Identität des
Mannes lüften konnte.
Plötzlich blickte der Mann von seinen maschinenbeschriebenen
Blättern auf und sah zu Joel hinüber. Seine Augen waren
ausdruckslos und ließen weder Neugierde noch Interesse
erkennen.
»Entschuldigung«, sagte Converse etwas verlegen.
»Sicher, schon gut... warum auch nicht?« war die seltsame,
lakonische Antwort in einem Dialekt, wie man in Texas und im
Mittleren Westen sprach. Der Mann wandte sich wieder seinen
Papieren zu.
»Kennen wir uns?« fragte Joel, der die Frage einfach nicht
unterdrücken konnte.
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Wieder blickte der Mann auf. »Denke nicht«, sagte er kurz
angebunden und wandte sich wieder seinem Bericht, oder was
er sonst las, zu.
Die Stimme einer Lufthansa-Stewardeß riß Converse aus
seinen Gedanken. »Herr Dowling, was für eine Freude, Sie an
Bord zu haben.«
»Danke, Darlin'«, sagte der Mann, und sein faltiges Gesicht
verzog sich zu einem freundlichen Grinsen. »Wenn Sie ein
bißchen Bourbon und ein wenig Eis für mich finden, dann
erwidere ich das Kompliment.«
Die Stewardeß ging den Mittelgang hinunter auf die Galley zu,
während Converse den bekannten Schauspieler immer noch
anstarrte. Etwas stockend meinte er: »Es tut mir wirklich leid.
Ich hätte Sie natürlich erkennen müssen.«
Dowling wandte ihm das sonnenverbrannte Gesicht zu, und
seine Augen musterten Joel, sein Gesicht, sein Jackett und
wanderten dann zu dem handgearbeiteten Aktenkoffer
herunter. Er blickte mit einem amüsierten Lächeln auf.
»Wahrscheinlich könnte ich Sie jetzt in Verlegenheit bringen,
wenn ich Sie fragen würde, woher Sie mich kennen. Sie sehen
nicht wie ein Santa-Fe-Fan aus.«
»Ein Santa Fe...? Ach so, so heißt Ihre Sendung.«
Und dann erinnerte er sich. Es handelte sich um eines jener
TV-Phänomene, die sich solche Popularität erworben hatten,
daß sogar Time und Newsweek das auf ihren Titelseiten
verkünden mußten. Er selbst hatte die Serie nie gesehen.
»Ihr Bourbon, Sir«, sagte die zurückgekehrte Stewardeß und
reichte dem Schauspieler ein Glas.
»Oh, thank you, li'l Darlin'! Du liebe Güte, Sie sind ja hübscher
als die ganzen Girls in der Show!«
»Sie sind sehr liebenswürdig, Sir.«
»Kann ich auch einen Scotch haben, bitte«, sagte Joel.
»Und jetzt, da Sie wissen, wie ich mein Geld verdiene«, sagte
Dowling, während die Stewardeß sich wieder entfernte, »muß
ich natürlich auch wissen, was Sie eigentlich treiben.«
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»Ich bin Rechtsanwalt.«
»Dann haben Sie wenigstens etwas Ordentliches zu lesen.
Dieses Drehbuch hier stinkt nämlich zum Himmel.«
Obwohl die meisten der angesehenen Bürger Münchens sie für
eine Sammlung von Tagedieben und Nichtstuern hielt, begann
die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei mit ihrem
Hauptquartier in München langsam ihren Einfluß über ganz
Deutschland auszubreiten. Die radikal völkische Bewegung
gewann Einfluß, indem sie ihre flammende Botschaft gegen
anonyme, undeutsche »Mächte« in die Welt hinausposaunte.
Für sie lag die Schuld für all die Gebrechen der Nation bei
einem ganzen Spektrum von Gruppierungen, die von den
Bolschewiken bis zur jüdischen Bankenwelt reichte, von den
ausländischen Plünderern, die ein arisches Land geschändet
hatten, bis zu guter Letzt allem, was nicht »arisch« war,
insbesondere den Juden und ihrem unredlich erworbenen
Wohlstand.
Das kosmopolitische München und seine jüdische Gemeinde
lachten über diese Absurditäten; sie hörten nicht darauf. Wohl
aber der Rest Deutschlands, er hörte, was er hören wollte. Und
Erich Stössel-Leifhelm hörte es auch. Für ihn war es der
Schlüssel zur Anerkennung.
Binnen weniger Wochen brachte es der junge Mann fertig,
seinen Vater wieder auf Vordermann zu bringen. In späteren
Jahren erzählte er diese Geschichte oft mit grausamem Humor.
Sich über die hysterischen Einwände des alten Arztes
hinwegsetzend, entfernte der Sohn jeglichen Alkohol und alles
Rauchbare aus seiner Wohnung und ließ den Vater nie aus den
Augen. Dazu zwang er ihm ein hartes Regiment mit Gymnastik
und strenger Diät auf.
In den langen Wochen der Rehabilitierung las Stössel-Leifhelm
seinem Vater jeden Abend alles, was er aus dem Hauptquartier
der Nationalsozialisten in die Hände bekommen konnte, vor,
und es fehlte weiß Gott nicht an Material. Es gab die üblichen
zündenden Pamphlete, seitenweise Material über eine
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biologische Theorie, die vorgab, die genetische Überlegenheit der arischen Rasse zu beweisen, und die von einem völkischen Verfall sprach, der durch gedankenlose Vermengung von Rassen entstehen konnte. All die üblichen Naziergüsse, dazu reichliche Extrakte aus Hitlers »Mein Kampf«. Der Sohn las ohne Unterlaß, bis der Doktor die wichtigsten Punkte der nationalsozialistischen Botschaft auswendig rezitieren konnte. Und die ganze Zeit redete der Siebzehnjährige unablässig auf den Vater ein und bemühte sich ihm klarzumachen, daß dies der Weg sei, um alles zurück zu bekommen, was man ihm gestohlen hatte, eine Rache für die Jahre der Erniedrigung und des Spotts zu finden. Der Tag kam, ein Tag, an dem Stössel-Leifhelm erfahren hatte, daß zwei hohe Parteifunktionäre in München sein würden. Es handelte sich um den verwachsenen Parteipropagandisten Joseph Goebbels und den Möchtegern-Aristokraten Rudolf Heß. Der Sohn begleitete den Vater zum nationalsozialistischen Hauptquartier, wo der gutgekleidete, eindrucksvolle, offenbar reiche arische Doktor um eine Audienz bei den beiden Naziführern nachsuchte, mit der Erklärung, er habe in einer wichtigen und vertraulichen Angelegenheit mit ihnen zu sprechen. Sie wurde ihm gewährt, und nach Aufzeichnungen in den Parteiarchiven waren die ersten Worte, die er an Heß und Goebbels richtete, die folgenden: »Meine Herren, ich bin Arzt mit untadeligen Papieren und war früher Chefchirurg an einem hiesigen Krankenhaus und habe daneben jahrelang eine der erfolgreichsten Privatpraxen Münchens geführt. Das ist meine Vergangenheit. Dann vernichteten mich Juden, die mir alles nahmen. Aber jetzt bin ich wieder da, ich erfreue mich wieder bester Gesundheit und stehe zu Ihren Diensten.« Die Lufthansa-Maschine begann den Anflug auf Hamburg, und Joel griff nach seinem Aktenkoffer. Neben ihm streckte sich der Schauspieler Caleb Dowling, das Drehbuch in der Hand, und stopfte es in eine offene Flugtasche, die neben seinen Füßen stand. -1 5 5
»Das einzige, was noch alberner ist als dieser Film«, sagte er,
»ist das Geld, das man mir für meine Rolle darin bezahlt.«
»Filmen Sie morgen?« fragte Converse.
»Heute«, verbesserte ihn Dowling nach einem Blick auf seine
Armbanduhr. »In aller Frühe. Ich muß schon um halb sechs am
Drehort sein - Morgendämmerung über dem Rhein, oder irgend
so was Eindrucksvolles. Wenn die wenigstens das Ganze in
eine Reiseschilderung verwandeln würden, dann wären wir alle
besser dran. Hübsche Landschaft.«
»Und Sie waren trotzdem in Kopenhagen.«
»Richtig.«
»Da werden Sie nicht viel Schlaf bekommen.«
»Wohl kaum.«
»Wenn Ihnen das nichts ausmacht?«
Der Schauspieler sah Joel an, und das Lächeln ließ die
Fältchen um seine freundlichen Augen noch tiefer werden.
»Meine Frau ist in Kopenhagen, und ich hatte zwei Tage frei.
Dies war die letzte Maschine, die ich bekommen konnte. Ich bin
diese Strecke die letzten zwei Monate ein halbes dutzendmal
geflogen«, sagte Caleb Dowling. »Lassen Sie sich von mir
sagen, diese Warterei hier ist widerwärtig. Nicht der Zoll, das
geht schnell, besonders so spät. Die arbeiten wie die Roboter
mit ihren Stempeln; in zehn Minuten sind Sie durch. Aber dann
müssen Sie warten. Zweimal oder dreimal hat es mehr als eine
Stunde gedauert, bis die Maschine nach Bonn hier war.
Übrigens, haben Sie Lust, mit mir in der Lounge einen Drink zu
nehmen?«
»Warum nicht?« Joel fühlte sich geschmeichelt. Nicht nur, daß
er Dowling mochte - nein, es tat auch gut, Gast eines
Prominenten zu sein.
»Vielleicht sollte ich Sie warnen«, fügte Dowling hinzu, »meine
Fans kriechen selbst um diese Stunde noch aus den Betten,
und die PR-Leute sorgen natürlich auch für die üblichen
Fotografen. Aber das Ganze dauert nicht sehr lange.«
-1 5 6
Converse war für die Warnung dankbar. »Ich muß noch ein
paar Telefongespräche führen«, sagte er beiläufig, »aber wenn
ich rechtzeitig fertig werde, komme ich gern.«
»Telefongespräche? Um diese Stunde?«
»In die Staaten. In... Chicago... ist es nicht dieselbe Stunde.«
»Sie können ja in der Lounge telefonieren; dort ist auch ein
Apparat.«
»Es mag verrückt klingen«, sagte Joel, der nach Worten
suchte, »aber ich kann besser denken, wenn ich allein bin. Ich
muß da einige komplizierte Dinge erklären. Ich suche mir nach
der Zollabfertigung eine Telefonzelle.«
»Für mich klingt gar nichts verrückt, schließlich arbeite ich in
Hollywood.«
»Das freut mich zu hören«, antwortete Joel verlegen. Die Räder
des Flugzeugs berührten den Boden, und die Düsenmotoren
heulten im Gegenschub auf. Die Maschine rollte weiter, bog
nach links ab und rollte langsam aus. Die vordere Tür öffnete
sich, und einige Passagiere drängten aufgeregt in den
Mittelgang. Ihrem Flüstern und den Blicken derer, die sich auf
Zehen reckten, um besser sehen zu können, war zu
entnehmen, daß Caleb Dowlings Anwesenheit den Auflauf
verursachte.
Eine Welle Passagiere schob sich an dem Fernsehstar vorbei
durch den Ausgang, und Joel reihte sich rasch ein. So schnell
und so unauffällig wie möglich wollte er durch den Zoll gehen
und dann eine dunkle Ecke im Flughafen suchen und im
Schatten warten, bis der Aufruf für die Maschine nach Köln-
Bonn kam.
Goebbels und Heß nahmen Dr. Heinrich Leifhelms Angebot
begeistert an. Man kann sich leicht vorstellen, wie der
Propagandaagitator sich das Bild dieses blonden arischen
Arztes auf Tausenden von Pamphleten ausmalte, eines
Mediziners, der die schillernden Theorien der Nazigenetik
bestätigte und zugleich bereitwillig die minderwertigen,
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habgierigen Juden verdammte; Leifhelm war ein Geschenk des
Himmels. Für Rudolf Heß, dem es besonders auf persönliche
Anerkennung durch die Junker und Wohlhabenden ankam, war
dieser Arzt auf ganz andere Weise von Bedeutung:
Er war ein echter Aristokrat.
Das Zusammenwirken von bewußter Planung und Zufall erwies
sich als noch bedeutsamer, als der junge Stössel-Leifhelm sich
hätte ausmalen können. Adolf Hitler kehrte aus Berlin zu einer
Kundgebung auf dem Marienplatz zurück, und der
eindrucksvolle Arzt wurde mit seinem wohlerzogenen Sohn
eingeladen, mit dem Führer zu Abend zu essen. Man war
einander spontan zugeneigt; Hitler hörte alles, was er hören
wollte, und von diesem Tage an bis zu seinem Tode im Jahre
1934 war Heinrich Leifhelm Hitlers Leibarzt.
Es gab nichts, was dem Sohn versagt wurde, und in kurzer Zeit
hatte er alles, was er sich wünschte. Im Juni 1931 wurde im
Hauptquartier der Nationalsozialisten eine Zeremonie
abgehalten, in der Heinrich Leifhelms Ehe mit einer Jüdin
wegen der »Verheimlichung jüdischen Blutes« seitens
einer»opportunistischen Hebräerfamilie« annulliert und
gleichzeitig alle Ansprüche und Erbrechte der Kinder jener
»erschlichenen Verbindung« für null und nichtig erklärt wurden.
Zwischen Leifhelm und Martha Stössel wurde eine Zivilehe
geschlossen, und der wahre Erbe, das einzige Kind, das
Anspruch auf den Namen Leifhelm erheben durfte, war ein
achtzehnjähriger Junge namens Erich.
München und die jüdische Gemeinde lachten immer noch über
die absurde Verlautbarung, die die Nazis in die Gerichtsspalte
der Zeitungen setzten, aber nicht mehr so laut. Man hielt das
Ganze für unsinnig, denn der Name Leifhelm war längst in
Mißkredit geraten, und es ging ganz sicher auch nicht um eine
Erbschaft väterlicherseits. Schließlich fehlte dem Spektakel
auch jede gesetzliche Grundlage. Erst allmählich verstanden
die Menschen, daß die Gesetze in dem sich ändernden
Deutschland ebenfalls in Änderung begriffen waren. In knapp
zwei Jahren sollte es nur noch ein Gesetz geben. Den Willen
der Nazis.
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1935, ein Jahr nach dem Tode seines Vaters, wurde Erich Leifhelm, unterdessen ein junger Favorit im inneren Kreise Hitlers, zum Oberstleutnant befördert, und damit war er in der Wehrmacht der jüngste Träger dieses Ranges. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Aufrüstung, die in Deutschland stattfand, und mit dem Näherrücken des Krieges begann die dritte Phase seines Lebens, die ihn am Ende ins Zentrum der Nazimacht führte und ihm gleichzeitig die Chance bot, sich von der Führung abzusondern, von der er selbst ein einflußreicher Teil war. Einzelheiten darüber sind auf den folgenden Seiten zu finden, ein Vorspiel zu der vierten Phase, die ganz seiner fanatischen Gefolgschaft für die Theorien von George Marcus Delavane gewidmet ist. Aber vorher soll hier ein Ereignis aufgezeichnet werden, das Einblick in die Mentalität dieses Mannes liefern kann. Es geschah im Januar oder Februar 1936. Einzelheiten sind kaum bekannt, da es nur wenige Überlebende aus jener Zeit gibt, die die Familie gut kannten, aber gewisse Fakten dürfen als gesichert gelten. Heinrich Leifhelms legitime Frau, seine Kinder und ihre Familie versuchten einige Jahre lang erfolglos, Deutschland zu verlassen. Die offizielle Sprachregelung der Partei war, daß das alte Familienoberhaupt seine medizinischen Fähigkeiten - die er schließlich auf deutschen Universitäten erworben hatte - dem Staate schuldete. Außerdem gab es ungeklärte juristische Fragen, die auf der aufgelösten Ehe des verstorbenen Dr. Heinrich Leifhelm beruhten. lnsbesondere bezüglich gemeinsamer Besitztümer und der Erbrechte, die schließlich einen hervorragenden Offizier der Wehrmacht angingen. Erich Leifhelm ging kein Risiko ein. Die »ehemalige« Frau seines Vaters und ihre Kinder wurden buchstäblich gefangengehalten. Ihre Bewegungsfreiheit war eingeschränkt, das Haus an der Luisenstraße wurde beobachtet, und jedesmal, wenn die Familie Visa beantragte, wurde sie unter ständige »politische Überwachung« gestellt, um jedes Risiko auszuschalten, daß sie vielleicht untertauchten. Diese Information stammt von einem pensionierten Bankier, der sich -1 5 9
daran erinnerte, daß das Finanzministerium in Berlin die Banken in München aufforderte, unverzüglich Meldung zu machen, falls es zu irgendwelchen größeren Abhebungen seitens der ehemaligen Frau Leifhelm und / oder ihrer Familie kommen sollte. Wir konnten nicht in Erfahrung bringen, in welcher Woche oder an welchem Tag es geschah, aber irgendwann im Januar oder Februar 1936 verschwanden Frau Leifhelm, ihre Kinder und ihr Vater. Aber die von den Alliierten am 23. April 1945 in München beschlagnahmten Gerichtsakten liefern ein klares, wenn auch unvollständiges Bild des damaligen Geschehens. Offensichtlich von dem zwanghaften Bestreben getrieben, im juristisch korrekten Sinne an das Erbe zu gelangen, wurde im Auftrag von Oberstleutnant Erich Leifhelm Klage eingereicht die all die Ungerechtigkeiten aufzählte, die sein Vater, Dr. Heinrich Leifhelm, seitens seiner ehemaligen Angehörigen erlitten hätte, wobei die besagte Verbrecherfamilie das Reich trotz eines entsprechenden Verbotes angeblich verlassen habe. Bei den Anklagen handelte es sich, wie zu erwarten war, um unerhörte Lügen. Dann wurde die »offizielle« Scheidungsurkunde und eine Kopie des Letzten Willens und Testaments Heinrich Leifhelms vorgelegt. Es gab nur eine legitime Ehe und einen legitimen Sohn, und alle Rechte, Privilegien und Erbansprüche gingen auf diesen über: Oberstleutnant Erich Stössel-Leifhelm. Da uns zu diesem Fall einigermaßen exakte Unterlagen vorlagen, war es auch möglich, Zeugen zu finden. Es wurde bestätigt, daß Frau Leifhelm, ihre drei Kinder und ihr Vater im Konzentrationslager Dachau vor den Toren Münchens ums Leben gekommen sind. Die jüdischen Leifhelms existierten nicht mehr; der arische Leifhelm war jetzt der einzige Erbe eines beträchtlichen Besitzes, der unter den geltenden Gesetzen sonst konfisziert worden wäre. Ehe er das dreißigste Lebensjahr vollendet hatte, war er zum Rächer geworden für das Unrecht, daß man ihm angeblich angetan hatte. Ein Mörder war herangereift. -1 6 0
»Sie müssen hier ja einen verdammt wichtigen Fall haben«, sagte Caleb Dowling grinsend und stieß Joel mit dem Ellbogen in die Seite. »Ihr Zigarettenstummel ist schon vor einer Weile im Aschenbecher verglüht. Ich hab' ihn ausgedrückt, und Sie haben bloß abwehrend die Hand gehoben. Dabei sind schon seit einiger Zeit die No-Smoking-Zeichen an. Wir befinden uns nämlich bereits im Landeanflug, kann nur noch Minuten dauern.« »Tut mir leid. Das ist... ein sehr komplizierter Schriftsatz. Herrgott, ich würde doch nie die Hand gegen Sie heben, Sie sind doch ein Prominenter.« Converse lachte, weil er wußte, daß man das von ihm erwartete. »Dabei fällt mir ein, daß ich Sie fragen wollte, wo Sie in Bonn wohnen werden, Herr Anwalt?« Joel war auf diese simple Frage nicht vorbereitet. »Eigentlich weiß ich das noch gar nicht«, antwortete er und suchte nach Worten. Schließlich meinte er: »Ich habe mich erst in letzter Minuten zu dieser Reise entschlossen.« »Dann brauchen Sie vielleicht Hilfe. Bonn ist überfüllt. Ich will Ihnen was sagen. Ich wohne im Königshof, und ich denke, ich habe dort einigen Einfluß. Wollen mal sehen, was wir tun können.« »Vielen Dank, aber das wird nicht notwendig sein.« Converse überlegte fieberhaft. Das letzte, was er brauchen konnte, war die Neugierde, die sich auf jeden richten mußte, der in Gesellschaft des bekannten Schauspielers reiste. »Meine Firma hat jemanden geschickt, der mich abholen soll, und er hat sicher ein Zimmer gebucht. Deshalb soll ich auch als einer der letzten aussteigen, damit er mich leichter in der Menge findet.« »Also schön. Aber wenn Sie einmal Zeit haben und mit ein paar Schauspielertypen etwas trinken wollen - alles interessante Burschen, das kann ich Ihnen versichern -, dann rufen Sie mich in meinem Hotel an und hinterlassen eine Nummer.« »Das werde ich bestimmt tun. Vielen Dank.« -1 6 1
Joel wartete. Die letzten Passagiere verließen die Maschine und nickten den Stewardessen zu. Einige gähnten, andere mühten sich mit ihren Schultertaschen, Kameras und Koffern ab. Jetzt verließ der letzte Passagier das Flugzeug, und Converse stand auf, griff seinen Aktenkoffer und schob sich langsam in den Mittelgang. Instinktiv, ohne einen besonderen Anlaß zu haben, wandte er den Kopf und sah in den hinteren Teil des Flugzeugs. Was er sah, ließ ihn erstarren, und für Sekunden stockte ihm der Atem. In der letzten Reihe der langen Kabine saß eine Frau. Die blasse Haut unter der breiten Hutkrempe und die erschreckten, erstaunten Augen, die sich abrupt abwandten das alles formte sich zu einem Bild, an das er sich noch lebhaft erinnerte. Es war die Frau, die er im Flughafen-Cafe von Kopenhagen gesehen hatte! Sie war mit schnellen Schritten zur Gepäckausgabe geeilt und hatte sich von der Schalterreihe der Fluggesellschaften entfernt. Dann hatte ein Mann sie aufgehalten; es hatte einen kurzen Wortwechsel gegeben; und jetzt wußte Joel, daß die Worte ihm gegolten hatten. Die Frau mußte zurückgekommen und in dem Durcheinander, das immer in den letzten Minuten vor dem Start herrscht, unbemerkt an Bord gegangen sein. Er spürte es, er wußte es! Sie war ihm von Dänemark gefolgt! Wenn er nur Zeit zum Überlegen hätte...
6 Converse rannte den Mittelgang hinunter und durch den Ausstieg in den mit Teppich ausgelegten Zubringertunnel. Nach fünfzehn Metern mündete der schmale Gang in eine Art Warteraum. Die Plastiksitze und die mit Seilen verbundenen Ständer ließen erkennen, daß es sich um den Flugsteig handelte. Niemand war zu sehen; der Raum war leer. Auch die anderen Flugsteige waren bereits geschlossen, die Lichter ausgeschaltet. Dahinter hingen Tafeln von der Decke, die in deutscher, englischer und französischer Sprache den -1 6 2
Passagieren den Weg zum Terminal und zur Gepäckausgabe im Tiefgeschoß wiesen. Für sein Gepäck hatte Converse jetzt keine Zeit. Er mußte sich beeilen, mußte schnellstens so weit wie möglich weg vom Flughafen, und das, ohne gesehen zu werden. Dann wurde ihm das Offensichtliche bewußt, und Übelkeit überkam ihn. Man hatte ihn längst gesehen; sie wußten, daß er mit der Maschine aus Hamburg gekommen war - wer auch immer sie waren. In dem Augenblick, wenn er die Flughafenhalle betrat, würde man ihn entdecken, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Sie hatten ihn in Kopenhagen aufgestöbert; die Frau hatte ihn erkannt und den Befehl erhalten, an Bord zu gehen, um sicherzustellen, daß er nicht in Hamburg blieb oder dort die Maschine wechselte. Aber wie hatten sie das geschafft? Jetzt war keine Zeit, darüber
nachzudenken. Er würde sich später damit befassen - wenn es
noch ein Später gab. Er trat unter dem Bogen des
ausgeschalteten Metalldetektors hindurch und eilte an den
schwarzen Laufbändern vorbei, auf denen das Handgepäck
durchleuchtet wurde. Vor ihm, höchstens zwanzig Meter
entfernt, waren die Türen, die in die große Halle führten. Was
konnte er tun, was sollte er tun?
Nur für Personal.
Männer.
Joel blieb stehen. Die Aufschrift auf der Tür wirkte drohend. Er
hatte diese Worte schon einmal gelesen. Wo? Wo war es
gewesen?... Zürich! In einem Kaufhaus in Zürich. Er hatte sich
damals den Magen verdorben, und das war auf den Darm
durchgeschlagen. Er hatte einen mitfühlenden
Kaufhausangestellten angesprochen, und der hatte ihn zu einer
Toilette geführt. In einem Augenblick der Erleichterung war sein
Blick auf die fremden Worte gefallen. Nur für Personal. Männer.
Weiterer Erinnerungen bedurfte es nicht. Er stieß die Tür auf und ging hinein, mit dem einzigen Ziel, jetzt seine Gedanken zu sammeln. Ein Mann im grünen Overall stand am Ende an einer Reihe von Waschbecken, das Gesicht zur Wand. Er kämmte sich, während er im Spiegel eine Hautunreinheit in seinem -1 6 3
Gesicht musterte. Converse ging auf die Reihe von Urinmuscheln hinter den Waschbecken zu und bemühte sich, wie ein leitender Angestellter einer Fluggesellschaft zu wirken. Offenbar gelang seine List; der Mann murmelte höflich irgend etwas Unverständliches und ging hinaus. Die Türe schwang hinter ihm ins Schloß, und Converse war allein. Joel trat von dem Urinbecken zurück, starrte auf die gefliesten Wände und nahm zum erstenmal Stimmen von draußen wahr, irgendwo draußen, jenseits der... Fenster. Etwa in drei Viertel der Mauerhöhe der rückwärtigen Wand waren drei Milchglasfenster zu erkennen, deren lackierte weiße Rahmen scheinbar übergangslos in das Weiß der Wand übergingen. Joel war verwirrt. In diesen Tagen des Sicherheitsdenkens im internationalen Flugverkehr, einer Zeit, in der man sich mit allen Mitteln gegen den Schmuggel von Waffen und Drogen zu schützen versuchte, war ein Raum, der die Möglichkeit bot, nach draußen zu gelangen, bevor man den Zoll passierte, einfach unvorstellbar. Und dann begriff er plötzlich. Das konnte sein Ausweg sein! Der Flug aus Hamburg war ein Inlandsflug. Natürlich gab es in einem solchen Flughafenteil auch Fenster nach draußen. Warum auch nicht! Die Passagiere mußten auch hier die Detektoren passieren, und wenn die Behörden es auf einen Passagier eines Inlandsfluges abgesehen hatten, konnten sie ihn direkt am Flugsteig erwarten. Aber auf ihn hatte niemand gewartet. Er war der letzte - der vorletzte Passagier gewesen, der die Nachtmaschine verlassen hatte. Der Flugsteigbereich war bereits verlassen gewesen; wenn jemand auf einem der Plastiksessel gesessen oder hinter dem Schalter gestanden hätte, wäre er Joel aufgefallen. Das hieß, daß diejenigen, die nach ihm Ausschau hielten, selber nicht gesehen werden wollten. Wer auch immer sie waren, sie warteten und hielten von irgendeinem versteckten Punkt in der Flughafenhalle nach ihm Ausschau. Er ging auf das Fenster ganz rechts zu und stellte seinen Aktenkoffer ab. Wenn er aufrecht stand, war der Fenstersims nur wenige Zentimeter über seinem Kopf. Er griff nach den zwei weißen Handgriffen und schob; das Fenster glitt mühelos eine Handbreit nach -1 6 4
oben. Er schob die Finger durch den frei gewordenen Spalt
kein Gitter. Wenn er das Fenster ganz nach oben bekam, war
genug Platz, um durch die Öffnung nach draußen zu gelangen.
Joel hörte ein Klappern hinter sich, schnelle Schläge von Metall
auf Holz. Er wirbelte herum. Die Tür öffnete sich, und ein
gebeugter alter Mann in einer weißen Uniform, der einen Eimer
und einen Mob trug, betrat den Raum. Langsam und bedächtig
zog der Alte eine Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf,
sagte etwas in deutscher Sprache und wartete. Joel war sich
nicht nur bewußt, daß er etwas antworten mußte, er vermutete
sogar, daß der alte Mann die Räume bis zum nächsten Morgen
schließen wollte. Er mußte nachdenken. Hier weg konnte er
jetzt nicht; sonst blieb ihm nur der Weg durch die Halle des
Flughafens. Sein Blick fiel auf den Eimer, und plötzlich wußte er
trotz seiner Verzweiflung, was er tun mußte - aber nicht, ob er
seine Rolle auch durchhalten würde. Mit schmerzverzerrtem
Gesicht stöhnte er auf, griff sich an die Brust und ließ sich auf
die Knie sinken. Dann schrie er noch lauter und fiel zu Boden.
»Doctor, doctor... doctor!« rief er immer wieder mit einer
Stimme, die die Qual erkennen lassen sollte, die er angeblich
durchlitt.
Der alte Mann ließ den Mop und den Eimer aus seinen Händen
gleiten. Ein paar kehlige Worte kamen aus seinem Mund, und
vorsichtig trat er ein paar Schritte näher. Converse rollte sich
gegen die Wand, rang nach Atem und starrte den Deutschen
mit geweiteten, ausdruckslosen Augen an.
»Doctor...!« flüsterte er.
Der alte Mann entfernte sich zitternd auf die Tür zu. Dann
drehte er sich rasch um, öffnete sie und lief hinaus. Mit
brüchiger Stimme rief er nach Hilfe.
Joel wußte, daß ihm nur wenige Sekunden blieben! Der
Flugsteig war höchstens sechzig Meter zu seiner Linken, der
Eingang zur Halle vielleicht dreißig Meter zur Rechten. Er
sprang auf, packte den Eimer und trug ihn unter das Fenster.
Dort stellte er ihn umgekehrt auf den Boden, stieg mit einem
Fuß hinauf, langte mit beiden Händen nach oben und schob
-1 6 5
das Fenster hoch. Der Rahmen ließ sich etwa zehn Zentimeter nach oben schieben, bewegte sich dann aber nicht weiter. Joel versuchte es ein zweites Mal, setzte alle Kraft ein, die ihm in seiner unsicheren Haltung zur Verfügung stand. Doch das Fenster ließ sich nicht bewegen. Keuchend ließ er seinen Blick wandern, bis er etwas entdeckte, von dem er wünschte, es nicht sehen zu müssen. Zwei Metalleisten waren an den Rahmen geschraubt und verhinderten, daß das Fenster sich weiter als fünfzehn Zentimeter öffnen ließ. Köln-Bonn mochte kein großer internationaler Flughafen mit aufwendigen Sicherheitseinrichtungen sein, aber ganz ungeschützt war er nicht. Hinter der Tür waren jetzt Rufe zu hören. Der alte Mann hatte irgend jemand gefunden. Converse rann kalter Schweiß über das Gesicht. Er stieg von dem Eimer herunter und griff nach seinem Aktenkoffer auf dem Boden. Bewegung und Entscheidung gingen ineinander über, nur der Instinkt lenkte ihn. Joel hob den Aktenkoffer auf und schmetterte ihn ein paarmal gegen das Fenster, bis das Glas zersprang und schließlich der hölzerne Rahmen splitterte. Sofort stieg er wieder auf den Eimer und blickte hinaus. Draußen - unter ihm war ein gepflasterter Weg, den ein Gitter säumte. In der Ferne waren Scheinwerfer zu sehen, aber keine Menschen. Joel warf den Aktenkoffer hinaus, zog sich in die Höhe und stieß mit dem linken Knie Glasscherben und was noch von dem Rahmen übrig war in die Tiefe. Ungeschickt krümmte er sich zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und stürzte sich durch die Öffnung. Als er auf dem Boden aufkam, hörte er drinnen Rufe. Sie wurden lauter, eine Mischung aus Zorn und Verwirrung. Joel rannte los. Minuten später, als der schmale Weg plötzlich einen Bogen machte, sah er den hellbeleuchteten Eingang des Flughafengebäudes und eine Reihe von Taxis, die darauf warteten, die Passagiere des Fluges LH 817 aus Hamburg, nachdem sie ihr Gepäck an sich genommen hatten, nach Bonn oder Köln zu fahren. Eine ringförmig angelegte Straße diente dem Zubringerverkehr, dahinter war ein riesiger Parkplatz mit -1 6 6
ein paar beleuchteten Wachhäuschen. Converse kletterte über
das Geländer und lief über ein Rasenstück, bis er die Straße
erreicht hatte, und verschwand sofort im Schatten, als vor ihm
die ersten blendenden Lichtbündel eines Scheinwerfers
auftauchten. Er mußte ein Taxi erreichen, ein Taxi mit einem
Fahrer, der Englisch sprach; er durfte nicht ohne Fahrzeug
bleiben... Einmal, vor Jahren, hatte man ihn gefangen, zu Fuß.
Auf einem Dschungelpfad, wo er vielleicht, wenn er es nur
geschafft hätte, sich einen Jeep zu organisieren, einen
feindlichen Jeep... Hör auf! Du bist nicht in Vietnam, das ist ein
gottverdammter Flughafen aus einer Million Tonnen Beton, die
man zwischen Blumen, Gras und Asphalt gegossen hat! Er
hastete, zwischen Licht und Schatten wechselnd, weiter, bis
sein Fluchtweg einen Halbkreis beschrieben hatte
hundertachtzig Grad. Er befand sich im Dunkeln, und vor ihm
stand das letzte Taxi in der Reihe. Vorsichtig näherte er sich
dem Wagen.
»English? Do you speak English?«
»Englisch? Nein.«
Beim zweiten Fahrer die gleiche Antwort, aber beim dritten
hatte er Glück.
»English? You bet!«
Joel öffnete die Tür.
»Nein! You cannot do that!«
»Was?«
»Hier einsteigen.«
»Warum nicht?«
»Weil es der Reihe nach geht. Immer der Reihe nach.«
Converse griff in seine Jackettasche und zog ein Bündel
Geldscheine hervor. »Ich bin großzügig. Können Sie das
verstehen?«
»Okay. Steigen Sie ein, mein Herr.«
Das Taxi scherte aus der Reihe und raste auf die Ausfahrt zu.
»Bonn oder Köln?« fragte der Fahrer.
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»Bonn«, erwiderte Converse, »aber nicht gleich. Ich möchte,
daß Sie auf die andere Fahrbahnseite fahren und vor dem
Parkplatz anhalten.«
»Was...?«
»Die andere Fahrbahn. Ich möchte den Eingang dort hinten
beobachten. Ich glaube, in der Maschine aus Hamburg war
jemand, den ich kenne.«
»Es sind schon viele herausgekommen. Nur die mit Gepäck
sind...«
»Sie ist noch drinnen«, beharrte Joel. »Bitte, tun Sie, was ich
Ihnen sage.«
»Sie?... Ach, ein >Fräulein<. Ist ja Ihr Geld, mein Herr.«
Der Fahrer lenkte den Wagen in eine Abzweigung, die zur
Flughafenzufahrt und dem Parkplatz zurückführte. Er hielt im
Schatten, höchstens hundert Meter rechts vom Eingang zum
Flughafengebäude entfernt. Converse sah die müden
Passagiere mit unzähligen Koffern, Golftaschen und den
allgegenwärtigen Fototaschen aus dem Flughafengebäude
strömen. Die meisten winkten sich Taxis heran, ein paar gingen
quer über die Zufahrt zum Parkplatz hinüber.
Zwölf Minuten verstrichen, und von der Frau aus Kopenhagen
war immer noch nichts zu sehen. Sie hatte mit Sicherheit kein
Gepäck gehabt, also war die Verzögerung beabsichtigt, oder
man hatte sie ihr befohlen. Der Taxifahrer gab sich
uninteressiert; er hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet und
schien in seinen Sitz gesunken zu dösen. Schweigen... Auf der
anderen Seite der Straße waren jetzt die letzten Reisenden aus
Hamburg verschwunden. Ein paar junge Männer, zweifellos
Studenten, zwei in abgefetzten Jeans, tranken Dosenbier und
lachten, während sie ihre Geldscheine zählten. Ein gähnender
Geschäftsmann in einem Anzug mit Weste quälte sich mit
einem riesigen Koffer und einem unförmigen Karton, der in
buntgemustertes Papier eingeschlagen war, daneben stritt ein
ältliches Ehepaar und untermalte seine Auseinandersetzung mit
heftigen Handbewegungen. Am anderen Ende der Zufahrt
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wartete eine Gruppe von fünf Männern und Frauen offensichtlich auf irgendwelche Abholer. Aber wo... Plötzlich war sie da, aber sie war nicht allein. Zwei Männer flankierten sie, ein dritter ging unmittelbar hinter ihr. Alle vier gingen langsam, fast zögernd durch die automatischen Glastüren, bogen nach links und beschleunigten ihren Schritt, bis sie die dunkelste Stelle der überdachten Zufahrt erreicht hatten. Jetzt schoben sich die drei Männer vor die Frau, so als wollten sie eine Schutzmauer bilden; ihre Köpfe drehten sich herum, und sie redeten über die Schultern auf die Frau ein, während sie sorgfältig die Umgebung beobachteten. Ihr Gespräch wirkte erregt und zornig, wurde aber nicht laut. Jetzt löste sich der Mann ganz rechts von der Gruppe und stellte sich ein Stück abseits von den anderen. Er holte einen Gegenstand aus der Tasche; Joel wußte sofort, was es war. Der Mann hob den Gegenstand an die Lippen: Mit irgend jemandem im Bereich des Flughafengeländes wurde Verbindung aufgenommen. Nur wenige Sekunden verstrichen, bis zwei grelle Scheinwerferkegel das Rückfenster des Taxis über Joels rechter Schulter erfaßten und die hintere Hälfte des Taxis hell erleuchteten. Er preßte sich in den Sitz, den Kopf eingezogen und das Gesicht zum Seitenfenster gewandt. An dem Wachhäuschen am Rand des Parkplatzes stoppte eine dunkelrote Limousine; der Arm des Fahrers streckte sich mit einem Geldschein in der Hand durch das geöffnete Seitenfenster. Der Parkwächter nahm das Geld, drehte sich um, um zu wechseln. Doch in dem Augenblick fuhr der schwere Wagen bereits wieder an, so daß der Mann in der Zelle ihm nur noch verblüfft nachblicken konnte. Die Limousine schoß um das Taxi herum und jagte auf die Kurve zu, die zur Flughafeneinfahrt führte. Der präzise Ablauf des Geschehens ließ keinen Zweifel, es mußte einen Funkkontakt gegeben haben. Joel wandte sich an seinen Fahrer. »Ich sagte Ihnen schon, daß ich großzügig bin«, sagte er, verblüfft von den eigenen Worten, die ihm wie von selbst über
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die Lippen kamen. »Ich kann sogar sehr großzügig sein,
vorausgesetzt, Sie tun das, was ich von Ihnen verlange.«
»Ich bin ein ehrlicher Mann, mein Herr«, erwiderte der
Deutsche mit etwas unsicherer Stimme, seine Augen musterten
Joel im Rückspiegel.
»Ich auch«, sagte Converse. »Aber ich bin auf ganz ehrliche Art
neugierig, und daran ist nichts Unrechtes. Sehen Sie den
dunkelroten Wagen dort drüben? Den, der gerade angehalten
hat?«
»Ja.«
»Glauben Sie, Sie könnten ihm folgen, ohne daß man Sie
bemerkt? Sie würden ziemlich weit hinter ihm bleiben müssen,
dürfen ihn aber nicht verlieren. Schaffen Sie das?«
»Das ist ein wenig ungewöhnlich. Wie großzügig sind Sie
denn?«
»Zweihundert Deutschmark plus dem normalen Fahrpreis.«
»Sie sind großzügig, mein Herr, und ich bin ein hervorragender
Fahrer.«
Der Deutsche hatte in bezug auf seine fahrerischen Talente
nicht übertrieben. Geschickt lenkte er sein Taxi unauffällig über
zwei schmale Seitenstraßen zu einer Parallelstraße und ließ
damit die eigentliche Zufahrt hinter sich.
»Was machen Sie denn?« fragte Joel verwirrt. »Ich möchte,
daß Sie dem roten...«
»Das ist der einzige Weg nach draußen«, unterbrach ihn der
Fahrer und blickte zum Flughafen zurück, während er sein
Tempo beibehielt. »Ich werde mich von ihm überholen lassen.
Und das Taxi fällt bestimmt niemandem auf.«
Converse ließ sich tief in die Polster sinken und achtete darauf,
daß sein Kopf nicht im Fenster zu sehen war. »Das ist klug
gedacht.«
»Sehr klug, mein Herr.« Wieder sah der Fahrer kurz in den
Rückspiegel und konzentrierte sich dann auf die Straße.
Augenblicke später beschleunigte er das Taxi langsam, es war
kaum zu bemerken. Jetzt lenkte er vorsichtig nach links,
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überholte ein Mercedes-Coupe, blieb auf der Überholspur und ließ auch noch einen Volkswagen hinter sich. Schließlich scherte er wieder nach rechts ein. »Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun«, murmelte Joel. Darauf bedurfte es keiner Antwort, denn in der nächsten Sekunde schoß links von ihnen die dunkelrote Limousine vorbei. »Unmittelbar vor uns gabelt sich die Straße«, sagte der Taxifahrer. »Die eine Abzweigung führt nach Köln, die andere nach Bonn. Sie sagten, Sie wollten nach Bonn, mein Herr, aber was ist, wenn Ihr Freund nach Köln fährt?« »Bleiben Sie hinter ihm.« Die Limousine bog in die Straße nach Bonn, und Converse zündete sich eine Zigarette an. In Gedanken versuchte er sich darauf einzustellen, daß man ihn gefunden hatte. Und das deutete darauf hin, daß man seinen Namen auf der Passagierliste gefunden hatte. Und wennschon. Zwar hätte er es anders vorgezogen, aber jetzt, da der erste Kontakt mit Bertholdier hergestellt war, hatte das keine besondere Bedeutung mehr. Er brauchte jetzt für seine Operationen auch keinen Decknamen mehr, keine falsche Identität. Vielleicht würde seine eigene Vergangenheit sich sogar als nützlich erweisen. Außerdem hatte die augenblickliche Situation auch ein Gutes: er hatte etwas erfahren, einiges sogar. Diejenigen, die ihn verfolgten - die ihn im Moment aus dem Auge verloren hatten -, waren nicht für die Behörden tätig. Sie standen weder mit der deutschen noch der französischen Polizei oder der koordinierenden Interpol in Verbindung, Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man ihn direkt am Flugsteig oder schon im Flugzeug festgenommen. Und das sagte ihm noch etwas ganz anderes. Joel Converse wurde in Paris nicht wegen tätlichen Angriffs oder - der Himmel mochte ihn davor bewahren - wegen Mordes gesucht. Und daraus war nur eines abzuleiten: Jemand bemühte sich, die blutige Auseinandersetzung in der Pariser Seitenstraße zu vertuschen. Jacques Louis Bertholdier unterließ jedes Risiko, daß sein eigener Name wegen seines schwerverletzten Helfers in irgendeinem Zusammenhang mit einem wohlhabenden Hotelgast ins Gerede kam, einem Gast, -1 7 1
der in bezug auf den so hochgeschätzten General einige alarmierende Andeutungen gemacht hatte. Der Schutz von Aquitania hatte Vorrang vor allem anderen. Es gab eine weitere Möglichkeit, eine, für die so viel sprach, daß man sie eigentlich als Tatsache ansehen mußte. Die Männer in der dunkelroten Limousine, die auf die Maschine aus Hamburg gewartet hatten, gehörten ebenfalls zu Aquitania und waren wahrscheinlich Untergebene von Erich Leifhelm, dem Mann, der in Westdeutschland alle Entscheidungen für Aquitania traf. Irgendwann während der vergangenen fünf Stunden mußte Bertholdier erfahren haben, wer sich wirklich hinter dem Namen Henry Simon verbarg - wahrscheinlich über die Direktion des George V. -, und dann hatte er mit Leifhelm Verbindung aufgenommen. Daraufhin hatten die beiden, nachdem geklärt worden war, daß sich auf keiner Passagierliste ein Amerikaner namens Converse finden ließ, der von Paris nach Bonn flog, Erkundigungen bei den anderen Fluggesellschaften eingezogen und herausgefunden, daß er nach Kopenhagen gereist war. Das mußte sie noch mehr verunsichert haben. Warum Kopenhagen? Er hatte gesagt, sein nächstes Ziel sei Bonn. Warum flog dieser Unbekannte mit seinen ungewöhnlichen Informationen nach Kopenhagen? Wer waren seine Kontakte, mit wem würde er sich treffen? Man mußte ihn finden, seine Kontaktpersonen finden! Daraufhin war ein weiterer Telefonanruf erfolgt, war eine Beschreibung übermittelt worden, und eine Frau hatte ihn in einem Café des Kopenhagener Flughafens erkannt. Er hatte zwar einen ganz anderen Grund gehabt, nach Dänemark zu fliegen, aber die Reise erwies sich jetzt auch in anderer Hinsicht als sehr nützlich. Die andere Seite hatte ihn gefunden und dabei ihre Panik erkennen lassen. Ein aufgeregtes Empfangskomitee, der nächtliche Einsatz eines Funkgerätes, eine wartende Limousine nur wenige hundert Meter entfernt, die jetzt mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht jagte; das alles waren Zeichen der Angst. Der Feind war aus dem Gleichgewicht geraten, und das befriedigte den Anwalt in Converse. In diesem Augenblick fuhr jener Feind einen -1 7 2
halben Kilometer vor ihnen auf Bonn zu, ohne zu wissen, daß
er von einem Taxi verfolgt wurde, das geschickt jede Lücke im
Verkehr ausnützte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Converse drückte seine Zigarette aus, als das Taxi sich von
einem Lieferwagen überholen ließ; der schwere, dunkelrote
Wagen war ganz deutlich in einer langgezogenen Kurve kurz
vor ihnen zu erkennen. Joels Fahrer war alles andere als ein
Amateur; er verstand sich auf sein Handwerk.
Langsam lösten größere Bauten mit prunkvollen Fassaden die
ruhige Vorstadtlandschaft ab. Viele davon erinnerten Converse
an riesige viktorianische Häuser mit ihren schmiedeeisernen
Balkons unter den großen rechteckigen Fenstern
geometrische, klare Formen. Und dann hatten sie endlich die
Innenstadt von Bonn erreicht, wo enge, trüb beleuchtete
Gassen unvermittelt in breite, hell ausgeleuchtete Straßen
übergingen, wo malerische Plätze nur wenige Straßen entfernt
waren von modernen, chromblitzenden Geschäften und
Boutiquen. Das Ganze war ein Anachronismus der Architektur
ein Hauch der Alten Welt, vermischt mit modernster Baukunst
und alles ohne jegliches großstädtisches Flair. Man hatte eher
das Gefühl, sich in einer Kleinstadt zu befinden, die zwar
schnell, aber planlos gewachsen war. Die Geburtsstadt
Beethovens war als Hauptstadt einer bedeutenden Regierung
so ziemlich das Unwahrscheinlichste, was man sich denken
konnte. Sie war alles andere als das, was man sich unter dem
Sitz eines mächtigen Bundestags und kluger Minister vorstellt,
die sich auf der anderen Seite der Grenze dem russischen
Bären gegenübersahen.
»Sir!« rief der Fahrer. »Die fahren jetzt in Richtung Bad
Godesberg. Ins Diplomatenviertel.«
»Was heißt das?«
»Botschaften, Gesandtschaften. Dort gibt es Polizeistreifen!
Man könnte uns... wissen? Wie sagt man?«
Das Englisch des Mannes ließ doch zu wünschen übrig, dachte
Converse. »Entdecken«, erklärte Joel. »Macht nichts. Fahren
Sie nur weiter. Sie machen das ganz großartig. Halten Sie an,
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wenn Sie müssen, parken Sie, wenn nötig. Aber folgen Sie dem
Wagen. Ich zahle Ihnen dreihundert Deutschmark zusätzlich.
Ich will wissen, wo die anderen anhalten.«
Sechs Minuten später war es soweit, und es traf Converse wie
ein Schlag. Was immer er erwartet hatte, was immer ihm seine
Phantasie vorgegaukelt hatte, auf das, was der Fahrer sagte,
war er nicht vorbereitet:
»Es ist die amerikanische Botschaft, Sir.«
Joel versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
»Fahren Sie mich zum Hotel Königshof«, sagte er einfach aus
der Erinnerung heraus.
»Ja, ich glaube, Herr Dowling hat eine Nachricht für Sie
hinterlassen«, sagte der Angestellte am Empfang und griff unter
den Tresen.
»Tatsächlich?« Converse staunte. Er hatte den Namen des
Schauspielers benutzt in der vagen Hoffnung, dies könnte ihm
irgendeinen Vorteil bringen. Mehr hatte er nicht erwartet, schon
gar nicht das.
»Hier«, sagte der Mann und zog zwei kleine Telefonzettel aus
dem Stapel, den er in der Hand hielt. »Sie sind doch John
Converse, Rechtsanwalt aus Amerika.«
»Ja, das bin ich.«
»Herr Dowling meinte, Sie würden vielleicht Schwierigkeiten
haben, hier in Bonn eine passende Unterkunft zu finden. Er hat
uns gebeten, Ihnen behilflich zu sein, falls Sie heute nacht hier
erscheinen sollten. Das tun wir sehr gern, Herr Converse. Herr
Dowling ist ein sehr populärer Mann.«
»Und mit Recht«, sagte Joel.
»Wie ich sehe, hat er auch einen Brief für Sie hinterlassen.«
Der Angestellte drehte sich um und holte ein zugeklebtes
Kuvert aus einem der Postfächer in der Rückwand. Er reichte
es Converse, der den Umschlag aufriß.
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Lieber Freund, wenn Sie diesen Brief nicht bekommen, hole ich ihn mir morgen früh wieder. Verzeihen Sie mir, aber Sie klangen zu sehr wie viele meiner weniger glücklichen Kollegen, die nein sagen, wenn sie doch eigentlich ja sagen wollen. Bei denen ist das meistens übertriebener Stolz, weil sie meinen, ich wolle ihnen etwas schenken - entweder das, oder sie möchten jemandem nicht begegnen, der vielleicht dort sein könnte, wo ich hingehe. So wie Sie aussehen, muß ich ersteres ausschließen und mich an die zweite Möglichkeit halten. Es gibt jemanden, dem Sie hier in Bonn nicht begegnen wollen, und das brauchen Sie nicht. Das mit dem Zimmer habe ich erledigt, und zwar auf meinen Namen - das können Sie ja ändern, wenn Sie wollen. Aber bitte, keine Widerrede, was die Rechnung angeht. Übrigens, Sie würden einen lausigen Schauspieler abgeben. Ihre Pausen sind wenig überzeugend. Joel steckte das Blatt zurück in den Umschlag und widerstand der Versuchung, an ein Haustelefon zu gehen und Dowling sofort anzurufen. Der Mann hatte ohnehin schon zu wenig Schlaf bis zu seinem Drehtermin. Joels Dank hatte genausogut Zeit bis morgen früh. Oder bis zum Abend. »Was Mr. Dowling arrangiert hat, ist sehr großzügig. Und selbstverständlich sagt mir alles zu«, wandte er sich an den Angestellten hinter dem Empfang. »Und Mr. Dowling hat recht. Wenn meine Klienten wüßten, daß ich schon einen Tag früher nach Bonn gekommen bin, bliebe mir kaum Gelegenheit, Ihre schöne Stadt zu genießen.« »Wir werden dafür sorgen, daß Sie ungestört bleiben, Sir. Herr Dowling ist ein sehr zuvorkommender Mann und natürlich sehr großzügig. Ihr Gepäck ist noch draußen im Taxi?« »Nein, deshalb komme ich ja so spät. Es ist in Hamburg in die falsche Maschine geraten und wird erst morgen früh eintreffen. Zumindest hat man mir das am Flughafen gesagt.« »Ach, wie unangenehm - aber nicht das erstemal. Benötigen Sie irgend etwas?« -1 7 5
»Nein, vielen Dank«, antwortete Converse, gab sich gefaßt und hob seinen Aktenkoffer. »Das Wichtigste habe ich hier bei mir... Oder doch, eines noch. Ist es vielleicht noch möglich, einen Drink zu bestellen?« »Selbstverständlich.« Joel saß im Bett, die Akte neben sich, das Glas in der Hand. Er brauchte ein paar Minuten, um seine Gedanken zu sammeln, ehe er wieder in die Welt des Feldmarschalls Erich Leifhelm zurückkehrte. Er hatte sich von der Telefonzentrale mit dem Flughafen verbinden lassen, und man hatte ihm versichert, daß man seinen Koffer für ihn verwahren würde. Zur Erklärung hatte er nur angegeben, daß er seit zwei Tagen und Nächten unterwegs gewesen sei und daher einfach nicht auf das Gepäck habe warten wollen. Die Flughafenangestellte mochte aus seinen Worten herauslesen, was sie wollte, ihm war das vollkommen egal. Ihn beschäftigten jetzt andere Dinge. Die amerikanische Botschaft! Was ihn so erschrecken ließ, war, wie gut das alles zu den Worten des alten Beale paßte... und hinter alldem stehen diejenigen, die andere überzeugen, und ihre Zahl wächst überall... Wir befinden uns bereits in der Countdown-Phase - drei bis fünf Wochen, mehr Zeit haben Sie nicht... Darauf war Joel nicht vorbereitet gewesen. Einen Delavane und einen Bertholdier konnte er als Gegner hinnehmen, sicher auch einen Leifhelm. Aber der Schock, daß ganz gewöhnliche Botschaftsangehörige - amerikanische Staatsbürger - Befehlsempfänger Delavanes waren, traf ihn tief. Welche Phase hatte das Projekt Aquitania bereits erreicht? Wie viele Verschwörer gab es schon, und wie weit reichte ihr Einfluß? War das, was er heute nacht erlebt hatte, die Antwort auf diese Fragen? Er würde morgen früh weiter darüber nachdenken. Zuerst aber mußte er sich auf den Mann vorbereiten, den er in Bonn finden wollte. Als er nach der Akte griff, erinnerte er sich an die Panik in Avery Fowlers Augen Preston Hallidays Augen. Wie lange hatte Preston es schon gewußt? Wieviel hatte er gewußt? -1 7 6
Als der Krieg verloren war und das »tausendjährige Reich« zusammenbrach, waren plötzlich die Nazis die größten Schurken des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht aber das elitäre deutsche Generalkorps - da gab es einen feinen Unterschied. Wieder begann eine neue Phase in Leifhelms Leben, er schloß sich den »Preußen« an. Das gelang ihm so gut, daß sogar Gerüchte aufkamen, er sei ein Mitglied der Verschwörung gegen Hitler und an der Vorbereitung des Attentats in der Wolfsschanze beteiligt gewesen. Manche behaupteten sogar, man habe ihn aufgefordert, sich der Gruppe um Dönitz anzuschließen, die Deutschlands Kapitulation vorbereitet hatte. Während des kalten Krieges bat ihn das Alliierte Oberkommando um Unterstützung. Er war damals schon wieder besonderer Militärberater mit voller Sicherheitsfreigabe. Der Lauf der Geschichte besorgte schließlich mit Hilfe des Kremls ein übriges. Im Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet, und im darauffolgenden September endete formell die alliierte Besetzung Westdeutschlands. Als der kalte Krieg eskalierte und der rasante Wiederaufbau Deutschlands begann, forderten die NATO-Mächte ihren ehemaligen Feind zu materieller und personeller Unterstützung auf. Die neuen deutschen Divisionen wurden aufgestellt, und Ex-General Erich Leifhelm war einer ihrer Befehlshaber. Keiner hatte die zweifelhaften Entscheidungen der Münchner Gerichte überprüft, die inzwischen fast zwei Jahrzehnte zurücklagen. Es gab keine Überlebenden, und die Sieger wünschten Leifhelms Dienste. In dieser Zeit, in der unzählige Wiedergutmachungszahlungen geleistet wurden und die Gerichte alle Hände voll zu tun hatten, wurden Leifhelm sämtliche Besitzungen seiner Familie, darunter wertvoller lmmobilienbesitz in München, zuerkannt. So endet die dritte Phase der Lebensgeschichte des Erich Leifhelm. Die vierte - die uns am meisten berührt - ist diejenige, über die uns am wenigsten bekannt ist. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß er mindestens die gleiche -1 7 7
Bedeutung für General Delavanes Operation hat wie jeder
andere Name auf der Primärliste.
Es klopfte an der Tür. Joel war mit einem Sprung aus dem Bett,
die Leifhelm-Akte fiel zu Boden. Er sah auf die Uhr. Angst stieg
in ihm hoch, Angst und Verwirrung. Es war fast vier Uhr früh.
Wer konnte ihn um diese Zeit sprechen wollen? Hatten sie ihn
gefunden? O Gott! Die Akte! Der Aktenkoffer!
»Joel...? Joel, sind Sie wach?« Es war nicht mehr als ein
Flüstern, das dennoch fordernd klang. Die Stimme eines
Schauspielers. »Ich bin's, Cal Dowling.«
Converse hastete zur Tür und öffnete sie, sein Atem ging
keuchend.
Dowling stand angezogen im Korridor, hob Schweigen
gebietend beide Hände und blickte den Gang hinauf und
hinunter. Als er sich vergewissert hatte, daß niemand zu sehen
war, trat er ein, schob Joel zurück und schloß die Tür hinter
sich.
»Es tut mir leid, Cal«, sagte Converse. »Ich habe geschlafen.
Wahrscheinlich hat mich das Klopfen erschreckt.«
»Schlafen Sie immer in Hosen und lassen das Licht
angeschaltet?« fragte der Schauspieler leise. »Bleiben Sie
leise. Ich hab' mich zwar im Flur umgesehen, aber genau kann
man nie wissen, was man nicht gesehen hat.«
»Was genau wissen?«
»Das war so ziemlich das erste, was wir vierundvierzig in
Kwajalein gelernt haben. Eine Streife ist erst dann interessant,
wenn sie etwas zu berichten hat. Und heißt das dann nur, daß
die anderen besser waren als man selbst.«
»Ich wollte Sie anrufen und Ihnen danken...«
»Hören Sie schon auf«, unterbrach Dowling ihn mit ernster
Miene. »Es kommt jetzt auf jede Minute an, und wir haben nur
noch ein paar. Drunten wartet ein Wagen, der mich zum
Drehort bringen soll. Das ist mehr als eine Stunde Fahrt. Ich
wollte mein Zimmer nicht früher verlassen, für den Fall, daß
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sich da jemand herumtreibt, und anrufen wollte ich Sie nicht,
weil es kein Problem ist, solche Gespräche in der Zentrale
abzuhören. Wegen der Leute am Empfang mache ich mir keine
großen Sorgen, die mögen unseren Verein hier drüben nicht
besonders.« Der Schauspieler seufzte und schüttelte den Kopf.
»Als ich auf mein Zimmer kam, hatte ich nichts anderes im Sinn
als zu schlafen, und das einzige, was ich bekommen habe, ist
Besuch. Ich hoffte nur, daß er - falls Sie hier auftauchen - Sie
nicht sehen würde.«
»Einen Besucher?«
»Aus der Botschaft. Der US-Botschaft. Er hat fast
fünfundzwanzig Minuten bei mir verbracht und mich über Sie
ausgefragt. Er sagte, man hätte uns zusammen im Flugzeug
gesehen, wie wir uns unterhalten hätten. Und jetzt sagen Sie
mir, Herr Anwalt, sind Sie wirklich sauber, oder sind meine
ganzen Instinkte im Eimer?«
Joel erwiderte Dowlings offenen Blick. »Ihre Instinkte sind völlig
in Ordnung«, sagte er ohne Betonung. »Oder hat der Mann aus
der Botschaft etwas Gegenteiliges gesagt?«
»Eigentlich nicht. Genaugenommen hat er überhaupt nicht viel
gesagt. Bloß, daß die mit Ihnen reden wollen, daß sie wissen
wollen, weshalb Sie nach Bonn gekommen sind und wo man
Sie finden könnte.«
»Aber sie wußten, daß ich in der Maschine war?«
»Mhm, die sagten, Sie kämen aus Paris.«
»Dann wußten sie also, daß ich in der Maschine war.«
»Das habe ich doch gerade gesagt - das hat er gesagt.«
»Warum haben die dann nicht am Flughafen auf mich gewartet
und mich selbst gefragt?« Dowlings Gesicht bekam noch mehr
Falten, und seine Augen wurden ganz schmal. »Ja, warum
haben sie das nicht?« fragte er sich selbst.
»Hat er das gesagt?«
»Nein, aber er hat Paris auch erst erwähnt, als er schon im
Gehen war.«
»Was meinen Sie?«
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»Ich denke mir, der hat geglaubt, ich würde irgendwas
zurückhalten - und das habe ich schließlich auch -, war sich
seiner Sache aber nicht sicher. Ich mache das, was ich tue,
ganz gut, Joel.«
»Aber ein Risiko sind Sie auch eingegangen«, sagte Converse.
»Nein, ich hab' mich schon abgesichert. Ich hab' ihn
ausdrücklich gefragt, ob gegen Sie irgend etwas vorliegt, und er
sagte, nein, das sei nicht der Fall.«
»Trotzdem hatte er...«
»Außerdem mochte ich ihn nicht. Er war einer von diesen
eifrigen Beamtentypen. Alles, was er sagte, hat er mehrmals
wiederholt, und als er gar nicht mehr weiter wußte, sagte er:
>Wir wissen, daß er aus Paris abgeflogen ist<, so als wollte er
mich damit herausfordern. Darauf habe ich geantwortet, ich
hätte das nicht gewußt.«
»Wir haben zwar nicht viel Zeit, aber können Sie mir noch
sagen, was er Sie sonst noch gefragt hat?«
»Ich sagte doch, er wollte alles wissen, worüber wir gesprochen
haben. Ich sagte, ich hätte kein Tonbandgerät im Kopf, aber es
sei eigentlich ein belangloses Gespräch gewesen. So wie das
immer sei, wenn ich irgendwelche Leute im Flugzeug
kennenlerne. Aber damit wollte er sich nicht zufriedengeben; er
wurde ungeduldig, und das gab mir Gelegenheit, selbst ein
wenig ungehalten zu werden.«
»Wieso?«
»Ich sagte, wir hätten schon noch über etwas anderes
gesprochen, aber das sei ganz persönlich gewesen, ginge ihn
nichts an. Darüber hat er sich ziemlich aufgeregt, und da bin ich
noch zorniger geworden. Es gab ein paar scharfe Worte, mehr
von meiner Seite, weil er viel zu erregt war. Dann fragte er mich
etwa zum zehntenmal, ob Sie etwas über Bonn gesagt hätten,
insbesondere, wo Sie wohnen würden. Also antwortete ich ihm
zum zehntenmal die Wahrheit - zumindest das, was Sie gesagt
haben. Daß Sie Anwalt seien und hier Klienten aufsuchen
wollten und daß ich keine Ahnung hätte, wo, zum Teufel, Sie
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wären. Ich meine, ich wußte ja tatsächlich nicht, daß Sie hier waren.« »Das ist gut.« »Ist es das? Für die erste Reaktion sind Instinkte gut, Herr Anwalt, dann muß man überlegen. Ein lästiger Regierungsbeamter mit einem Botschaftsausweis, den er mir unter die Nase hält, kann mitten in der Nacht recht lästig sein, aber immerhin kam er vom Außenministerium. Was, zum Teufel, geht hier vor?« Joel drehte sich um und ging zu seinem Bett. Er blickte auf die Leifhelm-Akte, die auf dem Boden lag. Dann wandte er sich wieder Dowling zu und antwortete betont deutlich, wobei er seine Erschöpfung aus der eigenen Stimme heraushörte. »Es geht hier um etwas, in das ich Sie um nichts auf der Welt hineinziehen möchte. Aber um das noch einmal klar zu sagen, Ihre Instinkte haben Sie nicht getrogen.« »Ich will ehrlich sein«, sagte der Schauspieler, und seine klaren Augen blickten amüsiert aus den fältchenreichen Augenwinkeln hervor. »Das habe ich mir auch gedacht. Ich habe diesem Idioten gesagt, wenn mir noch etwas einfiele, würde ich Walter Soundso anrufen - nur daß ich ihn Walt genannt habe - und es ihn wissen lassen.« »Das verstehe ich nicht.« »Er ist der Botschafter hier in Bonn. Können Sie sich vorstellen, daß die für mich, einen lausigen Fernsehschauspieler, ein Essen arrangiert haben, bei all dem Ärger, den sie sonst schon haben? Nun, das hat unseren kleinen Bürokraten völlig durcheinandergebracht, damit hatte er nicht gerechnet. Er sagte - dreimal, wenn ich mich richtig erinnere -, daß man den Botschafter mit diesem Problem unter keinen Umständen belästigen dürfe, so wichtig sei es nicht. Er hätte schließlich genug um die Ohren und wüßte außerdem gar nichts davon. Und jetzt hören Sie gut zu, Mr. Rechtsanwalt. Der Mann sagte, es gäbe eine offizielle Anfrage des State Department, Ihre Person betreffend. So hat er sich ausgedrückt >Mr. Converse betreffend<. So, als würde er eine Aktennotiz vorlesen. Und ich -1 8 1
glaube, an dem Punkt habe ich laut und deutlich Bullshit
gesagt.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Converse, dem nichts Besseres
einfiel, dabei aber sehr genau wußte, was er in Erfahrung
bringen wollte.
»Und an dem Punkt zog ich den Schluß, daß meine Instinkte
noch ganz gut funktionierten.« Dowling sah auf die Uhr und
musterte dann Converse mit scharfem Blick. »Ich bin zwar kein
großer Fahnenschwinger, aber ich mag unsere Fahne. Ich
würde unter keiner anderen leben wollen.«
»Ich auch nicht.«
»Dann raus mit der Sprache. Arbeiten Sie für unsere Fahne
oder gegen sie?«
»Für sie, und zwar auf die einzige Weise, wie ich das kann.
Und mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Untersuchen Sie hier in Bonn irgend etwas? Wollten Sie
deshalb nicht mit mir gesehen werden? Sind Sie mir deshalb in
Hamburg aus dem Weg gegangen... und haben Sie sich
deshalb hier aus dem Flugzeug geschlichen?«
»Ja.«
»Und dieser Schnüffler wollte nicht, daß ich den Botschafter
anrufe.«
»Genau das wollte er nicht. Das will er bestimmt auch jetzt
noch nicht. Er kann sich das nicht leisten. Und auch ich bitte
Sie, es nicht zu tun.«
»Sind Sie - ach, du lieber Gott! Gehören Sie zu den Leuten, von
denen man immer liest, daß sie mit irgendwelchen
Geheimaufträgen in der Weltgeschichte herumgondeln? Und
ausgerechnet ich muß in einem Flugzeug jemand
kennenlernen, der bei der Ankunft nicht gesehen werden will.«
»So melodramatisch ist das alles gar nicht. Ich bin Anwalt und
bin ganz einfach mit der Aufklärung einiger mutmaßlicher
Unregelmäßigkeiten betraut. Bitte, geben Sie sich damit
zufrieden. Und ich bin Ihnen für das, was Sie für mich getan
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haben, wirklich dankbar. Außerdem bin ich in diesem Gewerbe
noch neu.«
»Sie sind wirklich ein cooler Typ, mein Lieber. Mann, sind Sie
cool.« Dowling drehte sich um und ging zur Tür. Dort blieb er
stehen und sah sich noch einmal nach Converse um.
»Vielleicht bin ich verrückt«, sagte er. »In meinem Alter darf
man das sein, aber Sie haben auch etwas Verrücktes an sich,
junger Freund. Halb drängt es Sie weiter, halb wollen Sie
bleiben, wo Sie sind. Das habe ich gleich gesehen, als ich über
meine Frau sprach. Sind Sie verheiratet?«
»Ich war.«
»Wem geht das nicht so? Daß er mal verheiratet war, meine
ich. Tut mir leid.«
»Schon gut. Mir tut es nicht leid.«
»Wem tut es das schon? Bitte nochmals um Entschuldigung.
Meine Instinkte waren in Ordnung. Sie sind okay.« Dowling griff
nach der Türklinke.
»Cal?«
»Ja?«
»Ich muß noch etwas wissen. Es ist sehr wichtig für mich. Wer
war der Mann aus der Botschaft? Er muß sich doch
ausgewiesen haben.«
»Das hat er«, sagte der Schauspieler. »Er hat mir seinen
Ausweis vor die Nase gehalten, als ich die Tür öffnete, aber ich
hatte keine Brille auf. Als er dann ging, habe ich keinen Zweifel
daran gelassen, daß ich wissen wollte, wer, zum Teufel, er ist.«
»Und, wie hieß er?«
»Er sagte, sein Name sei Fowler. Avery Fowler.«
7 »Warten Sie!
»Was?«
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»Was haben Sie gesagt!?« Converse wurde von einem
Schwindelgefühl erfaßt. Er mußte sich am Bett festhalten.
»Was ist denn, Joel? Was ist denn los?«
»Der Name! Soll das ein Witz sein - dann ist es ein schlechter.
Verdammt schlecht! Hat man Sie absichtlich in dieses Flugzeug
gesetzt? Bin ich wirklich zufällig auf Sie gestoßen! Gehören Sie
auch zu denen, Mr. Schauspieler? Sie verstehen sich
verdammt gut auf das, was Sie tun!«
»Sie sind entweder betrunken oder krank. Wovon reden Sie?«
»Dieses Zimmer, Ihr Brief. Alles! Der Name! Ist etwa alles, was
in dieser verdammten Nacht passiert, arrangiert?«
»Es ist jetzt Morgen, junger Mann, und wenn Ihnen das Zimmer
nicht gefällt, dann können Sie bleiben, wo Sie wollen. Mir ist
das völlig egal.«
»Wo Sie wollen...?«Joel versuchte, die Erinnerung an die
grellen Lichtreflexe am Quai du Mont Blanc und das Würgen im
Hals, das ihn gleichzeitig zu peinigen begonnen hatte,
abzuschütteln. »Nein... ich bin aus freien Stücken
hierhergekommen«, sagte er heiser. »Sie konnten unmöglich
wissen, daß ich das tun würde. In Kopenhagen... ich habe das
letzte Ticket für die erste Klasse gekauft; der Platz neben mir
war bereits besetzt, ein Sitz am Gang.«
»Dort sitze ich immer. Am Mittelgang.«
»O Gott!«
»Sie fangen an, Unsinn zu reden.« Dowling sah erst auf das
leere Glas auf dem Nachttisch, dann zur Kommode hinüber, wo
ein silbernes Tablett mit einer Flasche Scotch Whisky stand, die
der Zimmerservice geliefert hatte. »Wieviel haben Sie denn
schon getrunken?«
Converse schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht betrunken... Tut
mir leid. Herrgott, es tut mir leid! Sie hatten nichts damit zu tun.
Die benutzen Sie - die versuchen mich über Sie zu finden! Sie
haben mir... Sie haben meinen Job gerettet... und ich mache
Ihnen Vorwürfe. Entschuldigen Sie bitte. Sie waren so
hilfsbereit.«
-1 8 4
»Und Sie sehen gar nicht wie jemand aus, der sich Sorgen um
seinen Job macht«, sagte der Schauspieler, dessen gerunzelte
Stirn eher Besorgnis als Zorn erkennen ließ.
»Es geht auch gar nicht um meinen Job, ich will es nur... nur
schaffen.« Joel hielt inne, atmete tief durch und versuchte, sich
in den Griff zu bekommen. Und den Augenblick
hinauszuschieben, in dem er sich klar werden mußte über das,
was er gerade gehört hatte. Avery Fowler! »Ich will das
schaffen, was ich in Angriff genommen habe; ich will
gewinnen«, fügte er etwas schwächlich hinzu, in der Hoffnung,
damit das zu kaschieren, was Dowling aufgefallen war. »Alle
Anwälte wollen gewinnen.«
»Sicher.«
»Es tut mir wirklich leid, Cal.«
»Vergessen Sie's«, sagte der Schauspieler mit einer Stimme,
die gleichgültig klang, doch sein Blick war es keineswegs. »In
meinem Beruf wird ständig herumgebrüllt, bloß, daß keiner
etwas damit sagt.«
»Es war einfach eine Überreaktion von mir. Ich sagte Ihnen
doch, mir ist das alles neu. Nicht meine Arbeit als Anwalt, nur
dies... daß man nicht direkt reden kann, meine ich. Das erklärt
wahrscheinlich alles.«
»Wirklich?«
»Ja. Bitte, glauben Sie mir.«
»Schön, wenn Sie das wollen.« Wieder sah Dowling auf die
Uhr. »Ich muß gehen, aber da ist noch etwas, das Ihnen
vielleicht dabei hilft, diesen...« Der Schauspieler machte eine
vielsagende Pause. »Diesen Job zu retten, den Sie da
angenommen haben.«
»Was denn?« fragte Converse gespannt, wobei er sich
anstrengte, seine Erregung nicht erkennen zu lassen.
»Nun, als dieser Fowler Anstalten machte zu gehen, kamen mir
ein paar Gedanken. Einmal, daß ich jemanden, der ja nur
seinen Job erledigen wollte, ziemlich hart angepackt hatte. Und
dann noch etwas sehr Eigennütziges - ich hatte den Mann ja
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nicht gerade unterstützt bei seiner Arbeit, und so war es sicher
durchaus möglich, daß er eines Tages wieder auftauchte, um
mir eins auszuwischen. Ich dachte mir, daß das alles mich nicht
zu interessieren brauchte, solange Sie, Joel, hier nicht
auftauchten. Ich hätte mir meine Nachricht an Sie einfach
zurückgeholt. Andererseits, wenn Sie doch auftauchten und
nicht so unschuldig waren, wie ich annahm, dann saß ich ganz
schön in der Tinte.«
»Eigentlich hätte das sogar Ihre erste Sorge sein sollen.«
»Vielleicht, ich weiß nicht. Jedenfalls sagte ich meinem
Besucher, daß ich Sie im Lauf unseres Gesprächs auf einen
Drink eingeladen hätte, daß ich angeboten hätte, mich bei den
Dreharbeiten zu besuchen, wenn Sie Lust dazu hätten. Das
schien ihn zwar etwas zu verwirren, aber begriffen hat er es
schon. Ich fragte, ob ich ihn in der Botschaft anrufen solle,
wenn Sie die Einladung annehmen würden. Und da meinte er,
nein, das sollte ich nicht tun.«
»Was?«
»Nun, kurz gesagt, er hat keinen Zweifel daran gelassen, daß
ich seine Ermittlungen >Mr. Converse betreffend< nur stören
würde, wenn ich anrief. Er sagte, ich solle lieber auf seinen
Anruf warten. Er würde mich gegen Mittag zu erreichen
versuchen.«
»Aber Sie filmen doch.«
»Das ist ja das Schöne daran. Aber, zum Glück gibt es ja
Funktelefonanlagen; die Studios haben das heutzutage.«
»Jetzt komm ich nicht mehr mit.«
»Dann passen Sie auf. Wenn er mich wirklich anruft, rufe ich
sofort Sie an. Soll ich ihm sagen, daß Sie sich bei mir gemeldet
haben?«
Überrascht starrte Converse den Schauspieler an. »Sie sind mir
im Augenblick eine ganze Ecke weit voraus, nicht wahr?«
»Mein Gott, Sie sind ja auch nicht besonders schwer zu
durchschauen. Er war das übrigens auch nicht, als ich mir das
Ganze erst einmal richtig zusammengereimt hatte - und das
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habe ich gerade getan. Dieser Fowler will mit Ihnen Verbindung
aufnehmen, aber er will das solo tun, diese anderen Leute,
denen Sie auch nicht begegnen wollen, sollen nichts merken.
Sehen Sie, als er an der Türe stand und wir uns
verabschiedeten, da hat mich etwas gestört. Er hat seine Rolle
nicht durchgehalten - genauso wie Sie das im Flugzeug auch
nicht geschafft haben -, aber ganz sicher war ich nicht.
Irgendwie schien ihm bei seinem Abgang alles aus den Fugen
zu geraten, und das darf einem in unserem Beruf nicht
passieren, nicht einmal, wenn man plötzlich Durchfall bekommt
... Was soll ich ihm nun sagen, Joel?«
»Lassen Sie sich seine Telefonnummer geben.«
»Gemacht. Und jetzt schlafen Sie ein bißchen. Sie sehen ja aus
wie ein aufgeputschtes Filmsternchen, dem man gerade gesagt
hat, daß es die Medea spielen soll.«
»Ich will's versuchen.«
Dowling griff in seine Hosentasche und zog einen Notizzettel
hervor. »Da«, sagte er und gab ihn Converse. »Ich war nicht
sicher, ob ich Ihnen das geben würde, aber jetzt will ich, daß
Sie es haben. Das ist die Funktelefonnummer, unter der Sie
mich erreichen können. Rufen Sie an, sobald Sie mit diesem
Fowler gesprochen haben. Ich werde ein Nervenbündel sein,
solange ich nicht von Ihnen gehört habe.«
»Versprochen, Cal.«
Converse saß auf der Bettkante, in seinem Kopf war ein
brennender Schmerz, sein ganzer Körper war angespannt.
Avery Fowler! Avery Preston Fowler Halliday! Press Fowler...
Press Halliday! Die Namen schlugen wie Bomben auf ihn
nieder, drangen durch seine Schläfen und prallten gegen die
Mauern seines Bewußtseins. Ihr schrilles Echo legte sich über
jeden Gedanken. Joel fühlte sich vollkommen wehrlos. Den
Oberkörper auf die Arme gestützt, begann er hin und her zu
schwanken. Ein seltsamer Rhythmus erfaßte ihn, der wie ein
Trommelschlag den Namen - die Namen des Mannes
begleitete, der in seinen Armen in Genf gestorben war. Ein
Mann, den er seit seiner Kindheit gekannt hatte, und der ihn als
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Erwachsener, als Fremder in die Welt von George Marcus Delavane gezogen hatte, eine Welt, in der sich ein Schrecken ausbreitete, der den Namen Aquitania trug. Dieser Fowler will mit Ihnen Verbindung aufnehmen, aber er will das solo tun, diese anderen Leute, denen Sie auch nicht begegnen wollen, sollen nichts merken... Converse hielt in der Bewegung inne, sein Blick fiel auf die Leifhelm-Akte am Boden. Er hatte das Schlimmste angenommen, weil das alles sein Begriffsvermögen einfach überstieg. Aber es gab eine alternative Erklärung, eine entfernte Möglichkeit, für die unter den vorliegenden Umständen vielleicht sogar einige Wahrscheinlichkeit sprach. Die Antwort deutete sich ihm wie ein geometrisches Muster an; er konnte die einzelnen Linien zwar noch nicht nachzeichnen, aber sie waren da! Der Name Avery Fowler bedeutete niemandem außer ihm etwas - zumindest nicht in Bonn, denn schließlich war er nur in Zusammenhang mit einem Mord in Genf aufgetaucht. Hatte Dowling wirklich recht? Joel hatte den Schauspieler ohne besondere Überzeugung darum gebeten, die Telefonnummer des Besuchers zu erfragen. Viel zu sehr beschäftigte ihn noch das Bild der dunkelroten Limousine, die durch das Tor der amerikanischen Botschaft gefahren war. Er wurde es nicht mehr los. Das war die Verbindung, die den Schock, Avery Fowlers Namen zu hören, allmählich zurückgedrängt hatte. Der Mann, der den Namen benutzt hatte, gehörte der Botschaft an, und die Botschaft, in der er beschäftigt war, mußte Teil von Aquitania sein. Und deshalb war der Mann Teil der Falle. Das war die Logik; es war einfache Arithmetik... aber keine geometrische Form. Angenommen, es gab irgendwo einen Bruch in der Linie, etwas aus einer anderen Ebene, das die arithmetische Reihe ungültig machte? In dem Fall mußte es eine Erklärung geben, die er nicht kannte. Langsam gewann Joel sein inneres Gleichgewicht zurück. Wie er es unzählige Male vor Gericht und auch bei anderen Verhandlungen getan hatte, begann er, das Unerwartete einfach als gegeben hinzunehmen. Schließlich wußte er, daß er nichts ändern konnte, bis wieder etwas geschah, und auch das -1 8 8
unterlag nicht seiner Kontrolle. Und bis es geschah - was auch immer es war -, mußte er ganz normal weiter operieren. Dazu mußte er sich zwingen, so schwer es ihm auch fiel. Irgendwelche Vermutungen anzustellen, war sinnlos. Was sich an wahrscheinlichen Erklärungen für das Geschehene auch anbot, es blieb für ihn unverständlich und ohne Sinn. Joel griff nach der Leifhelm-Akte. Bei der Bundeswehr hatte Leifhelm die Aufgabe, zwischen den alliierten Besatzungsstreitkräften und seiner Organisation die Verbindung zu halten. Nach der Demobilisierung wurde er hauptsächlich in Bonn eingesetzt, wo er ständig mit den Kommandanten der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungstruppen zusammenarbeitete. Er machte nie einen Hehl aus seiner antisowjetischen Einstellung, was seinen Vorgesetzten natürlich nicht entging. So kam es, daß die amerikanischen, britischen und französischen Behörden ihn mehr und mehr ins Vertrauen zogen, bis er sowie er das früher bei den »Preußen« getan hatte buchstäblich als einer der ihren angesehen wurde, In Bonn ergab sich für Leifhelm die erste Gelegenheit, General Jacques Louis Bertholdier kennenzulernen. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, wenn auch beide nicht viel Aufhebens darum machten, schon deshalb, um nicht die uralte Animosität zwischen deutschen und französischen Militärs zu schüren. Wir konnten nur drei ehemalige Offiziere aus Bertholdiers Bereich ausfindig machen, die sich daran erinnerten - oder bereit waren, darüber zu sprechen -, die zwei Männer des öfteren in abgelegenen Restaurantsund Cafes beim Abendessen gesehen zu haben, wo sie sich angeregt unterhielten, und offenbar Gefallen daran hatten. Und doch verliefen alle offiziellen Besuche, zu denen Leifhelm in das französische Hauptquartier bestellt wurde, stets eisig formell. In jüngster Vergangenheit haben, wie schon an anderer Stelle erwähnt, beide Männer geleugnet, einander persönlich zu kennen, wenn sie auch einräumten, daß sich ihre Wege in der Vergangenheit möglicherweise gekreuzt haben. -1 8 9
Wenn sie sich früher aus traditionellen Vorurteilen nicht zu ihrer Freundschaft bekannt haben mögen, sind ihre heutigen Gründe viel einleuchtender. Beide nehmen in Delavanes Organisation führende Positionen ein. Wie auf den folgenden Seiten im einzelnen dargelegt, darf angenommen werden, daß Leifhelm und Bertholdier über eine Frau namens Ilse Fischbein in Bonn in Verbindung sind. Den Namen Fischbein trägt sie seit ihrer Verehelichung, wobei ihre Motive für die Eheschließung wohl recht zweifelhaft waren, denn die Verbindung wurde vor Jahren aufgelöst, als Jakob Fischbein, ein Überlebender der Konzentrationslager, nach Israel auswanderte. Frau Fischbein, geboren 1942, ist die jüngste uneheliche Tochter von Hermann Göring. Converse ließ die Akte sinken und griff nach einem Block, der neben dem Telefon auf dem Nachttisch lag. Dann zog er den goldenen Cartier-Kugelschreiber, den Val ihm vor Jahren geschenkt hatte, aus der Hemdtasche und schrieb den Namen Ilse Fischbein auf. Dann sah er den Stift mit dem eingravierten Namen an und hing seinen Gedanken nach. Das CartierStatussymbol erinnerte ihn an bessere Tage - nein, eigentlich nicht bessere, aber zumindest ausgefülltere. Valerie hatte auf sein Drängen hin schließlich in der New Yorker Werbeagentur mit ihrer verrückten Arbeitszeit gekündigt, um künftig freiberuflich zu arbeiten. An ihrem letzten Bürotag war sie zu Cartier gegangen und hatte einen beträchtlichen Teil ihres letzten Gehalts für dieses Geschenk ausgegeben. Als er sie fragte, was er, abgesehen von seinem kometenhaften Aufstieg bei Talbot, Brooks and Simon, getan hätte, daß er solchen Luxus verdiente, hatte sie geantwortet: »Weil du mich dazu gebracht hast, etwas zu tun, was ich schon lange hätte tun sollen. Wenn sich andererseits die freiberufliche Arbeit nicht auszahlt, dann stehle ich ihn dir wieder und trage ihn zum Pfandleiher... Aber wahrscheinlich wirst du ihn ohnehin verlieren.« Aber die freiberufliche Arbeit hatte sich bezahlt gemacht, gut sogar. Und er hatte den Kugelschreiber nie verloren. Der Name Ilse Fischbein brachte ihn endlich auf andere Gedanken. Es -1 9 0
kam natürlich nicht in Frage, sie aufzusuchen, sos ehr ihn das auch gereizt hätte. Was immer Erich Leifhelm über ihn wußte, Bertholdier in Paris mußte es ihm über Frau Fischbein nach Bonn übermittelt haben. Und diese Informationen enthielten natürlich nicht nur eine präzise Beschreibung seiner Person, sondern auch eine Warnung: Der Amerikaner ist gefährlich. Ilse Fischbein, die vertraute Mitarbeiterin des Aquitania-Projekts, könnte ihn ohne Zweifel auf die Spur anderer Leute in Deutschland führen, die ebenfalls zu Delavanes Netz gehörten. Aber sich ihr zu nähern, bedeutete für ihn das sichere... nun, was auch immer sie für ihn im Augenblick planten, er wollte sich nicht darauf einlassen. Immerhin, es war ein Name, ein Stück Information, eine Tatsache, von der man nicht ahnte, daß sie sich in seinem Besitz befand. Und die Erfahrung hatte ihn gelehrt, solche Details bereitzuhalten und sie im richtigen Augenblick einzusetzen. Oder sie sich zunutze zu machen, ohne daß seine Rolle bekannt wurde. Ein Kind Hermann Görings als Teil einer Verschwörung, die die Generale wieder an die Macht bringen wollte! Und das in Deutschland. Leifhelm führte sein Kommando bei den deutschen NATODivisionen siebzehn Jahre und wurde dann als militärischer Sprecher Bonns ins SHAPE-Hauptquartier in der Nähe von Brüssel versetzt. Wieder war sein Verhalten durch eine extrem antisowjetische Haltung gekennzeichnet, was ihn häufig zu der eher pragmatischen Vorgehensweise seiner Regierung in Widerspruch brachte, die eine Koexistenz mit dem Kreml suchte. Während seiner letzten Monate bei SHAPE zeigten angloamerikanische Gruppierungen des rechten Flügels oft mehr Verständnis für ihn als die politische Führung in Bonn. Als der Bundeskanzler Anfang der achtziger Jahre zu dem Schluß gelangte, daß die amerikanische Außenpolitik den Fachleuten entrissen und von kriegerischen Ideologen usurpiert worden war, beorderte er Leifhelm nach Bonn zurück und -1 9 1
versetzte ihn auf einen Posten, wo erden fanatischen Militaristen besser im Zaum halten konnte. Leifhelm begriff sehr wohl, weshalb die Politiker diese Position geschaffen hatten, und er wußte auch um seine Stärke. Überall hatten die Leute angefangen. sich ihre Ideale in der Vergangenheit zu suchen, bei Männern, die klar und offen redeten und die Probleme ihrer Länder und der Welt, insbesondere der westlichen Welt, auch klar anzusprechen pflegten. So begann Leifhelm eine Karriere als Redner. Zuerst sprach er vor Veteranengruppen und Splitterorganisationen, wo ihm seine militärische Vergangenheit eine wohlwollende Aufnahme garantierte. Angespornt von den enthusiastischen Reaktionen dieser Kreise begann er dann, seine Ziele höher zu setzen, eine etwas klarere Position zu beziehen und provozierendere Aussagen zu machen. Die Konfrontation mit der Regierung konnte nicht ausbleiben. Eines Tages beorderte der Minister Leifhelm in seine Amtsräume, wo es zu einem heftigen Wortwechsel kam. Der Minister nannte Leifhelm einen verkappten Nazi und drohte, ihn mit Schimpf und Schande aus dem Staatsdienst zu entlassen, falls er seine Forderungen nach mehr Polizei und Militär künftig nicht unterließe. Leifhelm ließ sich schließlich zu einer großen Dummheit hinreißen. Da er um keinen Preis nachgeben wollte, schrie er plötzlich: »Heil Hitler!«, dann machte er in militärischer Haltung auf dem Absatz kehrt und verließ das Ministerium. Fünf Tage nach dieser Konfrontation machte Jacques Louis Bertholdier die erste der beiden Reisen, die er nach seiner Pensionierung nach Bonn unternommen hatte. Bei seinem ersten Besuch stieg er im Schloßparkhotel ab, wo er vom 9. bis 11. August 1982 wohnte. Da die Hotelakten drei Jahre aufgehoben werden, konnten wir uns eine Kopie seiner Rechnung besorgen. Dort sind Telefonate mit verschiedenen Firmen registriert, die mit Juneau et Cie. in Geschäftsverbindung stehen. Zu viele, um sie einzeln zu überprüfen, aber eine Nummer tauchte immer wieder auf, wobei der Name, unter dem die Nummer registriert ist, keinerlei Geschäftsverbindung mit Bertholdier oder seiner Firma -1 9 2
vermuten läßt. Der Name war Ilse Fischbein. Nach einer Überprüfung von Erich Leifhelms Telefonrechnung an den betreffenden Tagen wurde festgestellt, daß auch er Gespräche mit Ilse Fischbein geführt hatte, und zwar in gleicher Zahl, wie Bertholdier sie geführt hatte. Weitere Nachforschungen bestätigten, daß Frau Fischbein und Leifhelm einander seit einigen Jahren kannten. Der Schluß daraus liegt auf der Hand: sie ist in Delavanes Projekt das Verbindungsglied zwischen Paris und Bonn. Converse zündete sich eine Zigarette an. Da war der Name wieder, und erneut spürte er die Versuchung. Ilse Fischbein konnte ihm einiges erleichtern, konnte ihm einen schnellen Weg zu seinem Ziel öffnen. Wenn er die Tochter Hermann Görings richtig unter Druck setzte, konnte ihm das eine Menge Informationen bringen. Nicht nur die Bestätigung, daß sie die Verbindung zwischen Leifhelm und Bertholdier hielt, nein, auch das, was die zwei Ex-Generale einander übermittelt hatten, konnte er von ihr erfahren. Die Namen von Firmen, von Tochtergesellschaften, Unternehmen, die mit Delavane in Palo Alto Geschäfte gemacht hatten, würden so vielleicht ans Licht gelangen. Adressen, die er ganz legal unter die Lupe nehmen konnte, um nach Unkorrektheiten zu suchen, die es ganz einfach geben mußte. Was er brauchte, war ein Weg, seine Präsenz zur Geltung bringen zu können, ohne dabei selbst in den Vordergrund treten zu müssen. Ein Mittelsmann. Er hatte in der Vergangenheit oft genug Verbindungsleute eingesetzt, um zu wissen, wie wertvoll sie sein konnten. Es war relativ einfach. Man trat an einen Dritten heran und brachte ihn dazu, mit dem Gegner Kontakt aufzunehmen und ihm Informationen zuzuspielen, die für letzteren nützlich waren, weil sie seine Interessen gefährden konnten - wenn die Fakten stark genug waren, so pflegte das zu brauchbaren Lösungen zu führen. Ein Mittelsmann? Auch das war eine Frage, die bis zum Morgen Zeit hatte. Er griff nach der Akte, obwohl ihm allmählich seine Augenlider schwer wurden. -1 9 3
Leifhelm hat nur wenige langjährige intime Freunde, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß er sich der Beobachtung durch die Regierung wohl bewußt ist. Er hat Aufsichtsratsmandate in einigen bekannten Firmen, die deutlich zu verstehen gegeben haben, daß sein Name einen durchaus angemessenen Gegenwert für seine Bezüge darstellt... Joels Kopf fiel nach vorne. Er fuhr hoch, riß die Augen auf und überflog rasch die letzten Seiten, um einen Eindruck zu bekommen, nicht um noch Details aufzunehmen. Er wußte, daß seine Konzentration nachließ. Da waren ein paar Restaurants, deren Namen bedeutungslos waren, die Adresse seines Hauses am Stadtrand von Bad Godesberg. Plötzlich ruckte Joels Kopf in die Höhe, seine Augen weiteten sich, und ihr Blick wurde wieder ganz klar. Das Haus liegt ziemlich abseits am Rhein, das Grundstück ist eingezäunt und wird von Hunden bewacht, die sämtliche sich nähernden Fahrzeuge durch ihr lautes Gebell ankündigen, mit Ausnahme von Leifhelms dunkelroter Mercedes-Limousine. Ein dunkelroter Mercedes! Leifhelm selbst war es gewesen, der versucht hatte, ihn am Flughafen abzufangen. Leifhelm war also zur amerikanischen Bots chaft gefahren! Wie war das möglich? Das war einfach zuviel. Die Dunkelheit begann Joel einzuhüllen, und er wußte, daß er einfach nicht mehr aufnahmefähig war; sein Gehirn verweigerte einfach den Dienst. Die Akte entglitt seiner Hand; er schloß die Augen und schlief ein. Er stürzte kopfüber in ein bodenlos tiefes Loch in der Erde, in das von allen Seiten spitze Felszacken hineinragten; in der Tiefe gähnte endlose Finsternis. Die Felsen ringsherum brüllten und kreischten wie Urweltungeheuer, ihre scharfen Schnäbel und gespreizten Klauen schlugen nach seinem Körper. Der gellende Lärm war unerträglich. Was hatte die Stille zerstört? Warum stürzte er ins schwarze Nichts? Er riß die Augen auf; Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Atem ging keuchend. Das Telefon auf dem Tischchen neben -1 9 4
seinem Kopf schrillte. Er versuchte, den Schlaf und die Furcht
aus seinem halbbewußten Zustand zu verdrängen. Als er mit
der Hand zum Hörer griff, sah er auf seine Armbanduhr. Es war
zwölf Uhr fünfzehn, hellichter Mittag, die Sonnenstrahlen fielen
durch das Hotelfenster in sein Zimmer.
»Ja? Hallo...?«
»Joel?«
»Ja.«
»Ich bin's, Cal Dowling. Unser Freund hat angerufen.«
»Was? Wer?«
»Dieser Fowler. Avery Fowler.«
»O Gott!« Jetzt kam alles zurück, alles kam zurück. Er saß an
einem Tisch im Chat Borte am Quai du Mont Blanc, und
Sonnenstrahlen blitzten in den chromglänzenden Kühlergrills
der Wagen am Seeboulevard auf. Nein... er war nicht in Genf.
Er war in einem Hotelzimmer in Bonn, und erst vor wenigen
Stunden hatte eben dieser Name ihn fast an seinem Verstand
zweifeln lassen. »Ja«, brachte er mühsam hervor. »Haben Sie
seine Telefonnummer?«
»Er sagte, für Spielchen sei jetzt keine Zeit mehr, und
außerdem hätte er kein Telefon. Sie sollen sich mit ihm so
schnell wie möglich an der Ostmauer des Alten Zoll treffen. Sie
sollen dort einfach auf und ab gehen, er würde Sie schon
finden.«
»So geht das nicht!« antwortete Converse erregt. »Nicht nach
dem, was in Paris war! Nicht nach dem, was gestern abend am
Flughafen passiert ist! Ich bin doch nicht verrückt!«
»Ich hatte nicht den Eindruck, daß er Sie dafür hält«, erwiderte
der Schauspieler. »Er hat mir aufgetragen, Ihnen etwas
auszurichten. Er dachte, es könnte Sie überzeugen.«
»Und was ist das?«
»Hoffentlich kriege ich das noch richtig hin. Ich sage es nicht
gern... Er meinte, ich solle Ihnen mitteilen, ein Richter namens
Anstett sei gestern abend in New York getötet worden. Er
meinte, damit hätte man Sie fallenlassen.«
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8 Der Alte Zoll, uraltes Bollwerk, einst die südliche Befestigungsanlage Bonns am Rhein und vor drei Jahrhunderten geschleift. Eine Kanone stand auf der grünen Rasenfläche, Erinnerung an eine Macht, die in den Auseinandersetzungen zwischen Kaisern und Königen, Priestern und Fürsten dahingegangen war. Über eine Mauer aus rotem und grauem Stein fiel der Blick auf den Fluß, wo die unterschiedlichsten Boote durch das Wasser pflügten und die auslaufenden Wellen sanft gegen die beiden Ufer schlugen. Joel stand an der niedrigen Mauer und versuchte, das Bild in sich aufzunehmen, in der Hoffnung, die idyllische Aussicht könnte ihn beruhigen. Doch seine Gedanken waren durch nichts zur Ruhe zu bringen. Lucas Anstett vom zweiten Appellationsgerichtshof, ein hervorragender Richter und der Mann, der zwischen einem gewissen Joel Converse, dessen Partnern und einem unbekannten Mann in San Francisco vermittelt hatte, war ermordet worden. Sah man von jenem Unbekannten und einem pensionierten Gelehrten auf der Insel Mykonos ab, war Anstett der einzige gewesen, der wußte, was Joel tat, und warum. Wie war es möglich gewesen, ihn innerhalb von achtzehn Stunden oder noch weniger ausfindig zu machen? Ausfindig zu machen und zu töten! »Converse?« Joel wandte den Kopf zur Seite, blieb aber sonst unbewegt stehen. Vielleicht sechs Meter von ihm entfernt stand ein Mann auf dem Kiesweg. Sein Haar war mittelblond, und er schien ein paar Jahre jünger zu sein als Converse, vielleicht Anfang bis Mitte der Dreißig. Das knabenhafte Gesicht des Fremden gab ebenfalls keinen Hinweis auf sein genaues Alter. Auch war er kleiner als Joel, aber nicht besonders viel, er mußte so um die einsfünfundsiebzig oder -achtundsiebzig sein. Er trug hellgraue Hosen und ein Cordjackett, das weiße Hemd war am Hals offen. -1 9 6
»Wer sind Sie?« fragte Converse leise.
Ein Ehepaar schlenderte zwischen den beiden über den
Kiesweg. Der Fremde bewegte den Kopf leicht nach links und
gab damit Joel zu verstehen, daß er ihm auf die Rasenfläche
folgen sollte. Neben dem mächtigen Eisenrad einer Kanone
blieb Converse abwartend stehen.
»Also, wer sind Sie?« wiederholte Joel.
»Meine Schwester heißt Meagen«, sagte der Mann mit der
Cordjacke. »Und damit keiner von uns einen Fehler macht,
werden jetzt Sie mir sagen, wer ich bin.«
»Wie, zum Teufel...?« Converse hielt inne, und dann fielen ihm
die Worte wieder ein, Worte, die ein Sterbender in Genf
geflüstert hatte. O Gott! Meg, die Kinder... »>Meg, die
Kinder<«, sagte er laut. »Fowler hat seine Frau Meg genannt.«
»Eine Abkürzung für Meagen. Sie war Hallidays Frau, nur daß
Sie ihn als Fowler gekannt haben.« »Sie sind Averys
Schwager.«
»Press' Schwager«, verbesserte ihn der Mann und streckte ihm
mit ernster Miene seine Hand entgegen. »Connal Fitzpatrick.«
»Dann stehen wir auf derselben Seite.« »Das hoffe ich.«
»Ich habe Ihnen eine Menge Fragen zu stellen, Connal.«
»Nicht mehr Fragen als ich an Sie habe, Converse.«
»Warum so unfreundlich?« fragte Joel, der registriert hatte, daß
der andere ihn mit dem Nachnamen angesprochen hatte. Er
ließ Fitzpatricks Hand los.
Der jüngere Mann wurde rot. »Entschuldigung«, sagte er
verlegen. »Ich bin etwas aufgeregt und habe nicht viel Schlaf
gehabt. Ich bin noch auf San-Diego-Zeit eingestellt.«
»San Diego? Nicht San Francisco?«
»Navy. Ich bin Rechtsanwalt und dort im Marinestützpunkt
stationiert.«
»Huh«, machte Converse. »Die Welt ist klein.«
»Ich weiß Bescheid«, sagte Fitzpatrick nickend. »Auch über
Sie, Lieutenant. Wie, glauben Sie wohl, hat Press seine
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Informationen bekommen. Natürlich war ich damals noch nicht
in San Diego, aber ich hatte Freunde dort.«
»Dann ist wohl nichts heilig.«
»Da irren Sie, dort ist alles heilig. Ich mußte an ein paar
ziemlich dicken Fäden ziehen, um die Auskünfte zu bekommen.
Es ist jetzt etwa fünf Monate her, daß Press zu mir kam und wir
unseren... Vertrag, würden Sie wohl sagen... machten.«
»Etwas deutlicher bitte.«
Der Marineoffizier stützte sich mit der rechten Hand auf das
Kanonenrohr. »Press Halliday war nicht nur mein Schwager, er
ist auch mein bester Freund geworden.«
»Obwohl Sie beim Militär sind?« fragte Joel nur halb im Scherz,
um aus der Reaktion des anderen zu lernen.
Fitzpatrick lächelte verlegen. »Er hat mir sogar zugeredet. Denn
das Militär braucht auch Anwälte, aber darüber erfährt man an
der juristischen Fakultät nicht viel. Ich mag die Navy
zufälligerweise und das Leben, das sie einem bietet; und die
Herausforderungen, wie Sie das vielleicht nennen würden.«
Connal nahm die Hand von dem Kanonenrohr. »Ich habe Press
geliebt, Converse. So, wie ich meine Schwester liebe. Deshalb
bin ich hier. Das war unser Vertrag.«
»Das glaube ich Ihnen. Was ist das für ein Vertrag zwischen
Ihnen und... Press?«
»Gehen wir ein Stück«, sagte Fitzpatrick, und dann
schlenderten sie auf die alte Befestigungsmauer zu, über die
hinweg sie den Fluß sahen. »Press kam zu mir«, fuhr
Fitzpatrick fort, »und sagte, er sei einer sehr wichtigen Sache
auf die Spur gekommen. Er war auf Informationen gestoßen,
daß eine Anzahl bekannter Männer - oder früher bekannter
Männer - eine Organisation gegründet hatten, die einer Menge
Menschen in vielen Ländern einigen Schaden zufügen konnte.
Er wollte das verhindern, diese Männer an dem hindern, was
sie vorhatten. Dazu mußte er sein gewohntes Terrain
verlassen. Die Gesetze reichten dazu nicht aus... Aber er wollte
es auf legalem Wege tun.
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Ich stellte die üblichen Fragen: ob er in die Sache verwickelt
sei, sich schuldig gemacht hätte und so weiter. Er sagte, nein,
wenigstens nicht im formalen Sinn, aber er war etwas besorgt,
ob das Ganze nicht gefährlich für ihn sein könnte. Natürlich
habe ich gesagt, daß er verrückt sei; ich sagte, er solle seine
Informationen zu den zuständigen Behörden tragen und denen
das Weitere überlassen.«
»Genau das habe ich ihm auch gesagt«, unterbrach Converse
ihn.
Fitzpatrick blieb stehen und drehte sich zu Joel um. »Er sagte,
dazu sei die Sache zu kompliziert.«
»Damit hatte er recht.«
»Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
»Er ist tot. Glauben Sie es.«
»Das ist keine Antwort!«
»Sie haben keine Frage gestellt«, sagte Converse. »Gehen wir
weiter und erzählen Sie. Ihr Vertrag.«
Etwas verstört fing der Marineoffizier wieder an. »Es war sehr
einfach«, fuhr er fort. »Press sagte mir, er würde mich während
seiner Reisen auf dem laufenden halten und es mich wissen
lassen, wenn er sich mit jemandem treffen würde, der etwas mit
seiner Hauptsorge zu tun hatte - so nannte er es, seine
>Hauptsorge<. Und alles andere, was mir helfen würde, falls...
falls... verdammt noch mal, falls!«
»Falls was?«
Fitzpatrick blieb stehen, und seine Stimme klang schroff. »Falls
ihm etwas zustoßen sollte!«
Converse wartete einen Augenblick, bis sich die Erregung des
anderen gelegt hatte. »Und dann hat er Ihnen gesagt, daß er
nach Genf reisen würde, um sich mit mir zu treffen. Mit dem
Mann, der Avery Preston Fowler Halliday vor rund zwanzig
Jahren auf der Schule als Avery Fowler kennengelernt hatte.«
»Ja. Wir hatten schon darüber gesprochen, als ich ihm die
Akten über Sie besorgt hatte. Press sagte, der Zeitpunkt wäre
richtig und die Begleitumstände auch. Übrigens, er hielt Sie für
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den bestgeeigneten Mann.« Connal gestattete sich ein kurzes,
unsicheres Lächeln. »Für so gut wie sich selbst.«
»Das bin ich nicht«, sagte Joel, und jetzt lächelte er wieder
schwach. »Ich versuche mir immer noch darüber klarzuwerden,
welche Position er bezüglich einiger Aktienpakete bei dem
Firmenzusammenschluß einnehmen wollte.«
»Was?«
»Nichts. Was ist mit Lucas Anstett? Was wissen Sie?«
»Da gibt es zweierlei zu sagen. Press hat mir erzählt, sie
wollten mit dem Richter zusammenarbeiten, um Sie
freizubekommen, falls Sie sich bereit erklären würden...«
»Sie? Wer sind >sie«
»Das weiß ich nicht. Das hat er mir nie gesagt.«
»Verdammt! Entschuldigung, fahren Sie fort.«
»Anstett hatte mit Ihren Seniorpartnern gesprochen, und die
waren, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, mit allem
einverstanden. Das ist das eine. Das andere habe ich dank
einer persönlichen Angewohnheit erfahren. Ich bin ein
leidenschaftlicher Nachrichtenhörer, und deshalb schalte ich
wie die meisten Leute, denen es wie mir geht, jede Stunde AFR
an.«
»Bitte deutlicher.«
»Armed Forces Radio. Das mag komisch sein, aber
wahrscheinlich ist das die beste Nachrichtenstation, die es gibt.
Sie haben Zugang zu sämtlichen Diensten. Ich habe ein kleines
Transistorradio mit sehr gutem Kurzwellenempfang, das ich auf
allen Reisen bei mir trage.«
»Was haben Sie gehört?«
»Nicht sehr viel. Man hat gegen zwei Uhr früh nach New Yorker
Zeit in Anstetts Apartment am Central Park eingebrochen. Es
gibt Spuren eines Kampfes; er hat eine Kugel in den Kopf
bekommen.«
»Das ist alles?«
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»Nicht ganz. Die Haushälterin sagt, daß überhaupt nichts fehlt,
es kann also kein gewöhnlicher Einbruch gewesen sein.«
»Um Himmels willen. Ich werde Larry Talbot anrufen. Er weiß
vielleicht mehr. Sonst haben sie nichts gesagt?«
»Es gab noch eine kurze Würdigung seiner Juristenlaufbahn.
Worauf es ankommt ist, daß nichts fehlt.«
»Ich hab' verstanden«, unterbrach Joel ihn. »Ich werde mit
Talbot reden.« Sie gingen weiter. »Warum haben Sie gestern
abend Dowling gesagt, daß Sie in der Botschaft tätig wären?«
fuhr Converse fort. »Sie waren doch sicher auch am Flughafen
draußen.«
»Ich war sieben Stunden am Flughafen und habe mich bei allen
Gesellschaften nach den Passagierlisten erkundigt, um
herauszufinden, auf welcher Maschine Sie waren.«
»Sie wußten, daß ich nach Bonn kommen würde?«
»Beale hat das angenommen.«
»Beale?« fragte Joel verblüfft. »Mykonos?«
»Press hat mir seinen Namen und seine Telefonnummer
gegeben. Aber er hat auch gesagt, ich sollte nur mit ihm
Verbindung aufnehmen, wenn es zum Schlimmsten käme.«
Fitzpatrick machte eine Pause. »Es ist zum Schlimmsten
gekommen«, fügte er dann hinzu.
»Was hat Beale Ihnen denn gesagt?«
»Daß Sie nach Paris geflogen sind, und, so wie er das
verstanden hat, anschließend nach Bonn gehen würden.«
»Was sonst noch?«
»Nichts. Er sagte, ich hätte mich ihm gegenüber zwar
hinreichend legitimiert, wie er das nannte, weil ich seinen
Namen kannte und wußte, wo er zu erreichen war. Das konnte
mir ja nur Press gesagt haben. Aber alles andere würde ich Sie
fragen müssen. Er war verdammt kühl.«
»Er hatte keine Wahl. Und was ist mit Dowling und diesem
Botschaftstheater im Hotel?«
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»Sie standen auf der Lufthansa-Passagierliste aus Hamburg
wahrscheinlich können Sie sich gar nicht vorstellen, wie
erleichtert ich war. Ich hielt mich am Empfangsschalter auf für
den Fall, daß es zu einer Verzögerung oder so etwas kommen
sollte, als diese drei Typen von der Botschaft auftauchten und
ihre Ausweise zeigten. Einer von ihnen hat ein ziemlich
lausiges Deutsch gesprochen.«
»Das haben Sie bemerkt? Ich meine, daß es lausig war?«
»Ich spreche Deutsch - und Französisch, Italienisch und
Spanisch. Wahrscheinlich ist das der Grund, daß ich mit
vierunddreißig schon Lieutenant Commander bin. Die schicken
mich ziemlich herum.«
»Schon gut. Aber warum sind Sie denn auf die Leute von der
Botschaft aufmerksam geworden?«
»Ihr Name ist natürlich gefallen. Die wollten eine Bestätigung,
daß Sie mit Flug achthundertelf ankommen würden. Der
Angestellte hat mir nur einen Blick zugeworfen, und als ich den
Kopf schüttelte, hat er mitgespielt, ohne sich etwas anmerken
zu lassen. Sehen Sie, ich hatte ihm ein paar Mark zugesteckt,
aber das war es nicht. Diese Leute hier mögen die
amerikanischen Behörden nicht besonders.«
»Das habe ich gestern abend auch gehört. Von Dowling. Wie
sind Sie denn auf den gestoßen?«
»Das erkläre ich Ihnen später. Als die Maschine eintraf, stand
ich ganz hinten an der Gepäckausgabe; die Leute von der
Botschaft warteten knapp zwanzig Meter von mir entfernt. Wir
warteten alle, bis nur noch ein Gepäckstück auf dem Laufband
war. Das war Ihr Koffer, aber Sie erschienen nicht. Schließlich
kam eine Frau heraus, und die Leute von der Botschaft haben
sie sofort umringt. Sie waren alle ziemlich aufgeregt. Ich hörte,
wie Ihr Name erwähnt wurde, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich
bereits entschieden, am besten noch einmal mit dem
Lufthansa-Angestellten zu sprechen.«
»Um herauszufinden, ob ich wirklich in der Maschine gewesen
war?« fragte Converse. »Oder gar nicht mitgekommen war.«
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»Ja«, nickte Fitzpatrick. »Zuerst hat er sich ein wenig geziert,
aber dann hat er mir gesagt, daß dieser Caleb Dowling - den
ich wahrscheinlich hätte kennen sollen - mit ihm gesprochen
hatte, ehe er hinausgegangen war.«
»Wobei er ein paar Anweisungen hinterließ«, unterbrach Joel
ihn.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe im Hotel eine Nachricht von ihm vorgefunden.«
»Das war es, das Hotel. Dowling hatte dem Angestellten
gesagt, er habe im Flugzeug einen Anwalt kennengelernt, einen
Amerikaner namens Converse, der seit Kopenhagen neben ihm
gesessen hatte. Dowling war besorgt, sein neuer Bekannter
könnte in Bonn keine Unterkunft finden, und deshalb sollte man
ihn ins Hotel Königshof schicken, falls er die Lufthansa um
Unterstützung bitten würde.«
»Daraufhin beschlossen Sie, einer der Botschaftsangestellten
zu werden, die mich aus den Augen verloren hatten«, sagte
Converse und lächelte. »Sich Dowling vorzuknöpfen. Welcher
Anwalt hätte nicht schon einmal einen Zeugen der Gegenseite
ausgenützt?«
»Genau. Ich zeigte ihm meinen Navy-Ausweis und sagte, ich
sei Botschaftsattache. Offen gestanden, sehr kooperativ war er
nicht.«
»Und Sie nicht besonders überzeugend, wenigstens seiner
Kritik nach nicht. Ich übrigens auch nicht. Seltsamerweise ist
genau das der Grund, daß er uns zusammengebracht hat.«
Joel blieb stehen, drückte seine Zigarette an der Mauer aus und
warf sie weg. »Also gut, Commander, Sie haben die Musterung
bestanden, oder wie man das bei Ihrem Verein nennt. Wo
stehen wir jetzt? Sie sprechen die Sprache und verfügen über
Beziehungen, die mir fehlen. Sie könnten mir helfen.«
Der Marineoffizier stand regungslos da und musterte Joel. Er
kniff die Augen zusammen, um sich vor der grellen Sonne zu
schützen, wich aber dem Blick des anderen nicht aus. »Ich
werde tun, was ich kann«, begann er langsam, »solange es für
mich einen Sinn ergibt. Sie waren in Paris und sind jetzt nach
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Bonn gekommen. Das bedeutet, daß Sie Namen haben,
Beweise, konkrete und andere. Ich will mehr hören.«
»Da werden Sie sich schon etwas mehr einfallen lassen
müssen, Commander, um mich zum Reden zu bringen.«
»Ich habe ein Versprechen gegeben.«
»Wem?«
»Meiner Schwester. Meinen Sie etwa, sie weiß von nichts?
Press hat das sehr mitgenommen! Ein ganzes Jahr lang ist er
immer wieder mitten in der Nacht aufgestanden, im Haus
herumgelaufen und hat dabei Selbstgespräche geführt. Er war
wie besessen, aber sie hat es nic ht geschafft, seine Schale
aufzubrechen. Sie müßten die beiden besser kennen, um zu
wissen, was das heißt. Die beiden haben wirklich eine gute Ehe
geführt. Ich weiß, daß es heutzutage nicht mehr besonders
modern ist, wenn zwei Leute einen Haufen Kinder haben,
einander wirklich mögen und es gar nicht abwarten können,
wenn sie getrennt sind, wieder beieinander zu sein. Aber so
waren sie.«
»Sind Sie verheiratet?« fragte Joel.
»Nein«, antwortete der Marineoffizier, den die Frage
offensichtlich verblüffte. »Eines Tages werde ich es vielleicht
sein. Ich sagte Ihnen ja, ich bin ziemlich viel unterwegs.«
»Das war Press auch... Avery, meine ich.« »Worauf wollen Sie
denn hinaus?«
»Sie sollten das respektieren, was er getan hat. Er kannte die
Gefahren und war sich auch darüber im klaren, was er aufs
Spiel setzte. Sein Leben.«
»Deshalb will ich ja die Fakten kennen! Man hat seine Leiche
gestern überführt. Die Beisetzung findet morgen statt, und ich
bin nicht dabei, weil ich Meagen ein Versprechen gegeben
habe! Ich werde zurückkehren, aber dann habe ich alles
beisammen, was ich brauche, um dieses ganze Scheißspiel
auffliegen zu lassen!«
»Sie werden bloß bewirken, daß das Ganze noch besser
getarnt wird, wenn man Sie nicht schon vorher aufhält.«
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»Das ist Ihre Ansicht.«
»Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.«
»Das reicht mir nicht!«
»Dann fliegen Sie doch zurück in die Staaten und reden Sie
von Gerüchten, von einem Mord in Genf, von dem keiner
zugeben wird, daß es sich um etwas anderes als einen
Raubüberfall gehandelt hat. Oder reden Sie von einem Mord in
New York, der vermutlich ebenfalls ein mißlungener Einbruch
bleiben wird. Und wenn Sie einen Mann auf der Insel Mykonos
erwähnen, dann wird er verschwinden, glauben Sie mir das«,
sagte Converse unendlich müde. »Der alte Beale hat recht
gehabt. Es ist meine Entscheidung, und ich habe mich dafür
entschieden, nichts zu sagen. Ich will Sie nicht an Bord haben,
Matrose. Sie sind ein Hitzkopf, und Sie langweilen mich.«
Joel drehte sich um und ließ den anderen stehen.
»Achtung, Schnitt! Sehr gut! Feine Arbeit, Cal, fast hätte ich
den Quatsch geglaubt.« Der Regisseur Roger Blynn warf einen
Blick auf den Block, den ihm ein Scriptgirl hinhielt, und gab
dann dem Dolmetscher der Kameracrew Anweisungen, ehe er
zum Produktionstisch ging.
Caleb Dowling stand auf und streckte sich, wobei ihm bewußt
war, daß die Zuschauer jenseits der Seilabsperrung ihn
anstarrten und wie Touristen in einem Zoo schnatterten.
»Cal?« Das war die Stimme Blynns, der mit schnellen Schritten
auf ihn zukam. »Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte.
Haben Sie Ärger, Cal?«
»Dauernd, aber ich lasse es mir nicht anmerken.«
»Ich meine es ernst. Hier ist ein Mann von der deutschen
Polizei - aus Bonn. Er sagt, er muß Sie sprechen, und zwar
dringend.«
»Worüber will er denn mit mir reden?« Dowling spürte einen
Stich im Magen.
»Das wollte er mir nicht sagen. Nur daß es sehr wichtig sei und
daß er Sie unter vier Augen sprechen müßte.«
-2 0 5
»Du lieber Gott!« flüsterte der Schauspieler. »Freddie!... Wo ist
er?«
»Dort drüben in Ihrem Wohnwagen.«
»In meinem Wohnwagen...«
»Keine Sorge«, sagte Blynn. »Ich habe unseren Stuntman
Moose Rosenberg mitgeschickt. Wenn der auch nur einen
Aschenbecher anfaßt, dann wirft der ihn durch die Wand.«
»Danke, Roger.«
»Er hat aber ausdrücklich gesagt, daß er Sie allein sprechen
möchte!«
Aber das hörte Dowling schon nicht mehr; er eilte bereits auf
den kleinen Wohnwagen zu, in dem er sich in den kurzen
Pausen auszuruhen pflegte. Dabei betete er darum, daß es
nichts Schlimmes sein möge und bereitete sich gleichzeitig auf
das Schlimmste vor.
Doch es ging nicht um Frieda Dowling, das Thema der
Unterredung sollte Joel Converse sein, ein amerikanischer
Rechtsanwalt. Der Stuntman kletterte die Leiter hinunter und
ließ Caleb und den Polizeibeamten alleine. Der Mann trug Zivil
und sprach fließend Englisch. Er gab sich auf unbestimmte Art
amtlich, war aber ausgesprochen höflich.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt habe, Herr Dowling«,
sagte der Deutsche auf Calebs Frage. »Wir wissen nichts über
Frau Dowling. Ist sie vielleicht krank?«
»Sie hatte in letzter Zeit ein paar Anfälle, sonst nichts. Sie ist in
Kopenhagen.«
»Ja, das haben wir gehört. Sie fliegen häufig zu ihr, nicht
wahr?«
»Wann immer ich kann.«
»Will sie nicht hier in Bonn mit Ihnen Zusammensein?«
»Sie hat früher Mühlstein geheißen, und als sie das letztemal in
Deutschland war, hat man sie nicht unbedingt als menschliches
Wesen angesehen. Das, woran sie sich erinnert, ist äußerst, wir
wollen sagen, eindrucksvoll und ziemlich schmerzhaft.«
-2 0 6
»Ja«, sagte der Polizeibeamte, ohne den Blick von Caleb zu
wenden. »Wir werden damit noch einige Generationen leben
müssen.«
»Das hoffe ich«, sagte der Schauspieler.
»Ich habe damals nicht gelebt, Herr Dowling. Ich bin sehr froh,
daß sie überlebt hat.«
Dowling war nicht sicher, warum er die Stimme senkte, so daß
seine Worte kaum zu hören waren. »Deutsche haben ihr
geholfen.«
»Hoffentlich«, sagte der Deutsche leise. »Mein Anliegen betrifft
einen Mann, der gestern abend in der Maschine von
Kopenhagen nach Hamburg und von Hamburg nach Bonn
neben Ihnen saß. Sein Name ist Joel Converse, er ist Anwalt
und aus Amerika.«
»Was ist mit ihm? Darf ich übrigens Ihren Ausweis sehen?«
»Aber selbstverständlich.« Der Polizeibeamte griff in die
Tasche, holte ein Ausweisetui heraus und reichte es dem
Schauspieler, der seine Brille aufsetzte. »Ich nehme an, daß
alles in Ordnung ist«, fügte er hinzu.
»Was bedeutet dieses >Sonderdezernat« fragte Dowling und
kniff die Augen zusammen, um den Dünndruck auf der Karte
lesen zu können.
»Das läßt sich am besten als >Spezialabteilung< oder so
ähnlich übersetzen. Wir sind eine Sondereinheit und werden
gewöhnlich mit Aufgaben betraut, die über den normalen
Zuständigkeitsbereich der Landespolizei hinausgehen.«
»Das sagt nicht sehr viel, und das wissen Sie auch«, meinte
der Schauspieler. »Werden Sie also bitte deutlicher.«
»Also gut, deutlicher. Interpol. Ein Mann ist in einem Pariser
Krankenhaus an den Folgen einer Kopfverletzung gestorben,
die ihm der Amerikaner Joel Converse zugefügt hat. Zunächst
hieß es, er befände sich auf dem Wege der Besserung, aber
das war offenbar ein Irrtum. Heute morgen hat man ihn tot
aufgefunden. Wir wissen, daß Converse nach Köln-Bonn
geflogen ist, und Sie haben nach Angaben der Stewardeß
-2 0 7
dreieinhalb Stunden neben ihm gesessen. Wir möchten wissen,
wo er sich aufhält. Vielleicht können Sie uns helfen, das
herauszufinden.«
Dowling nahm die Brille ab und schluckte. »Sie glauben, daß
ich das weiß?«
»Wir haben keine Ahnung, aber Sie haben sich mit ihm
unterhalten. Und Sie wissen hoffentlich, daß die Behinderung
polizeilicher Ermittlungsarbeit unter Strafe gestellt ist,
besonders in einem Mordfall.«
Dowling spielte mit seinem Brillengestell. Es war ihm deutlich
anzumerken, daß er sich in einem Konflikt befand. Er ging zu
dem Feldbett, das an der Wand stand, setzte sich und blickte
zu dem Polizeibeamten auf. »Warum habe ich kein Vertrauen
zu Ihnen?« fragte er.
»Weil Sie an Ihre Frau denken und keinem Deutschen
vertrauen«, antwortete der Deutsche. »Ich bin ein Mann des
Gesetzes und des Friedens, Herr Dowling. Ordnung ist etwas,
das die Menschen für sich selbst entscheiden, und ich gehöre
auch zu diesen Menschen. In dem Bericht, den wir erhalten
haben, steht, daß dieser Converse vielleicht ein etwas gestörter
Mann ist.«
»Auf mich hat er diesen Eindruck nicht gemacht. Ich hatte
sogar die Überzeugung, daß er einen verdammt klaren Kopf
hat. Er hat einiges gesagt, was sehr vernünftig klang.«
»Dinge, die Sie hören wollten?«
»Nicht alles.«
»Aber vieles, was er gesagt hat.«
»Was soll das heißen?«
»Verrückte sind manchmal sehr überzeugend; sie pflegen alles
zu ihrem Vorteil auszulegen. Das ist das Wesen ihres
Wahnsinns, ihrer Psychose, ihrer eigenen Überzeugung.«
Dowling ließ die Brille auf das Feldbett fallen. Er atmete tief und
spürte einen Angstknoten im Magen. »Ein Verrückter?« sagte
er ohne Überzeugung. »Das glaube ich nicht.«
-2 0 8
»Dann geben Sie uns eine Chance, das Gegenteil zu
beweisen. Wissen Sie, wo er ist?«
Der Schauspieler sah den Deutschen mit
zusammengekniffenen Augen an. »Geben Sie mir Ihre Karte
oder eine Telefonnummer, wo ich Sie erreichen kann. Vielleicht
nimmt er mit mir Verbindung auf.«
»Wer war dafür verantwortlich?« Der Mann in dem rotseidenen
Morgenrock hinter dem großen Schreibtisch saß im Halbdunkel.
Eine Messinglampe warf einen scharf umgrenzten Lichtkreis
auf die Tischplatte vor ihm. Sonst lag der Raum im Halbdunkel.
Und doch reichte das Licht aus, eine riesige Landkarte
erkennen zu lassen, die hinter dem Mann an der Wand hing. Es
war eine seltsame Karte, die zwar die einzelnen Nationen klar
erkennen ließ, doch stimmte die Einfärbung nicht. Als hätte
man den Versuch gemacht, aus unterschiedlichen Weltteilen
eine einzige Landmasse zu schaffen. Diese Landmasse schloß
ganz Europa, den größten Teil des Mittelmeers und einige Teile
Afrikas ein. Und Kanada und die Vereinigten Staaten von
Amerika hatte man, als wäre der Atlantik nur ein blaßblaues
Binnenmeer, in dieses künstliche Weltreich mit aufgenommen.
Der Blick des Mannes war starr geradeaus gerichtet. Sein
Gesicht mit dem kantigen Kinn, der schmalen Adlernase und
den dünnen Lippen schien wie aus Stein gemeißelt, sein
kurzgestutztes, graublondes Haar wirkte wie ein Lorbeerkranz
auf einem Kopf, der auf einem eigenartig steifen Körper saß.
Wieder sprach er; seine Stimme wirkte eher hoch als tief. Und
doch war zu spüren, daß diese Stimme es gewohnt war,
Befehle zu erteilen. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie laut
wurde - sogar schrill. Jetzt freilich vermittelte sie eher den
Eindruck leiser Eindringlichkeit. »Wer war dafür
verantwortlich?« wiederholte er. »Sind Sie noch da, London?«
»Ja«, erwiderte der Anrufer aus Großbritannien. »Natürlich. Ich
versuche nachzudenken, fair zu sein.«
»Das bewundere ich, aber jetzt müssen Entscheidungen
getroffen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird man die
-2 0 9
Verantwortung teilen müssen, aber wir müssen die Reihenfolge
kennen.« Der Mann hielt inne; als er dann fortfuhr, gewann
seine Stimme plötzlich an Intensität und klang wie verwandelt.
Jetzt erinnerte sie an den schrillen Schrei einer Katze. »Wie
kam es, daß Interpol hineingezogen wurde?«
Erschreckt antwortete der Engländer schnell, seine Sätze
wirkten abgehackt, die Worte überstürzten sich. »Man hat
Bertholdiers Adjutanten um vier Uhr morgens tot aufgefunden.
Offenbar hätte er um die Zeit behandelt werden sollen. Die
Schwester hat die Sürete verständigt...«
»Die Sürete?« schrie der Mann am Schreibtisch. »Warum die
Sürete? Warum nicht Bertholdier? Es war doch sein
Angestellter und keiner der Sürete!«
»Das war ja die Panne«, sagte der Brite. »Niemand hatte
gewußt, daß in der Telefonzentrale des Krankenhauses
diesbezügliche Anweisungen erteilt worden waren... offenbar
durch einen Inspektor namens Prudhomme, den man geweckt
und über den Tod des Mannes informiert hat.«
»Und er ist derjenige, der Interpol verständigt hat?«
»Ja, aber zu spät, um Converse noch vor der Einreise nach
Deutschland abfangen zu können.«
»Wofür wir äußerst dankbar sein sollten«, sagte der Mann und
senkte die Stimme wieder. »Und alles nur wegen dieser
verdammten Anweisung.«
»Und keiner hatte genügend Verstand, auf so etwas zu
achten«, sagte der Mann vor der im Halbschatten liegenden
Karte. »Die Instinkte dieses Prudhomme sind geweckt worden.
Zu viele reiche Leute, zuviel fremder Einfluß, zu merkwürdige
Umstände. Er riecht etwas.«
»Wir werden dafür sorgen, daß er von dem Fall abgezogen
wird, es dauert nur ein paar Tage«, sagte der Engländer.
»Converse ist in Bonn, soviel wissen wir. Wir kommen ihm
näher.«
-2 1 0
»Das tun Interpol und die deutsche Polizei aber möglicherweise
auch. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie tragisch das
wäre.«
»Eine gewisse Kontrolle haben wir über die amerikanische
Botschaft. Der Flüchtige ist Amerikaner.«
»Der Flüchtige verfügt über Informationen!« insistierte der
Mann hinter dem Schreibtisch. Seine geballte Faust lag im
Lichtkegel der Lampe. »Wieviel und wer sie ihm geliefert hat,
wissen wir nicht. Und eben das müssen wir wissen.«
»Hat man in New York denn nichts erfahren? Der Richter?«
»Nur was Bertholdier schon ahnte und was ich in dem
Augenblick wußte, als ich seinen Namen hörte. Nach vierzig
Jahren ist Anstett zurückgekommen, immer noch auf meiner
Fährte, immer noch auf meinen Kopf aus. Dieser Mann war ein
Stier, aber nur ein Zwischenträger. Er hat mich ebenso gehaßt,
wie ich ihn gehaßt habe, und er hat seine Hintermänner bis
zum Schluß gedeckt. Er ist weg und damit auch seine heilige
Selbstgerechtigkeit. Aber wichtig ist, daß Converse nicht das
ist, was er zu sein vorgibt. Und jetzt finden Sie ihn!«
»Ich sagte ja, wir kommen ihm näher. Wir haben mehr Quellen,
mehr Informanten als Interpol. Er ist ein amerikanischer
Flüchtling in Bonn und spricht, soweit uns bekannt ist, nicht
Deutsch. Es gibt nicht viele Orte, an denen er sich verbergen
kann. Wir werden ihn finden. Wir werden ihn zerbrechen und
erfahren, woher er kommt. Und anschließend werden wir
selbstverständlich sofort Schluß machen.«
»Nein!« Wieder der schrille Schrei der Katze. »Wir werden sein
Spiel spielen! Wir werden ihn willkommen heißen, ihn
umarmen. In Paris hat er von Bonn, Tel Aviv und Johannesburg
gesprochen; also werden Sie ihm entgegenkommen. Bringen
Sie ihn zu Leifhelm - oder besser noch, veranlassen Sie, daß
Leifhelm zu ihm geht. Lassen Sie Abrahms aus Israel und Van
Headmer aus Afrika kommen und, ja, Bertholdier aus Paris.
Offensichtlich weiß er ja ohnehin über sie Bescheid. Er
behauptet, er wolle eine Sitzung unseres Rates. Und daß er zu
uns stoßen will. Also werden wir eine Konferenz abhalten und
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uns seine Lügen anhören. Er wird uns damit mehr sagen, als mit der Wahrheit.« »Das verstehe ich wirklich nicht.« »Converse ist eine Art Vorhut, nur die Vorhut. Er forscht, studiert das Terrain und versucht die taktischen Kräfte zu erkennen, die ihm gegenüberstehen. Sonst würde er unmittelbar mit legalen Methoden und unter Einsatz der Behörden operieren. Er hätte dann keinen Anlaß, einen falschen Namen zu benutzen oder falsche Informationen in die Welt zu setzen... oder wegzulaufen und einen Mann niederzuschlagen, von dem er glaubt, daß er ihn aufhalten will. Er ist so etwas wie eine Vorhut, er verfügt über gewisse Informationen, aber kennt sein Ziel nicht. Und eine Vorhut kann man in die Falle locken. O ja, er soll seine Konferenz haben.« George Marcus Delavane legte den Telefonhörer zurück auf die Gabel und drehte sich langsam, etwas schwerfällig, im Sessel herum. Er blickte auf die seltsame Karte; die ersten Strahlen der Morgendämmerung erhellten den östlichen Himmel und füllten das Fenster mit ihrem orangeroten Schein. Dann drehte er sich mit großer Mühe wieder herum, wobei seine Hände die Armlehnen des Sessels packten. Seine Augen blickten in den grellen Lichtkreis auf der Tischplatte. Schließlich knöpften seine Hände zitternd den roten Seidenmantel auf, und er zwang seinen Blick nach unten, um erneut die schreckliche Wahrheit zu sehen. Er starrte an dem breiten Lederriemen vorbei, der ihn auf dem Sitz festhielt, und befahl seinen Augen, das zu fassen, was man ihm angetan hatte. Da war nichts als der Rand des dicken Stahlsitzes und das glänzende Holz des Zimmerbodens darunter. Man hatte ihm die langen, kräftigen Beine - die seinen durchtrainierten muskulösen Körper durch Schlachten in Schnee und Schlamm getragen hatten und bei Paraden in greller Sonne -, diese Beine hatte man ihm gestohlen; weil die Ärzte gesagt hatten, sie seien krank, Herde des Todes, die auch seinen restlichen Körper töten würden. Er ballte die Fäuste und drückte sie langsam auf den Schreibtisch. Ein stummer Schrei erfüllte seine Kehle. -2 1 2
9 »Verdammt noch mal, Converse, für wen halten Sie sich
eigentlich?« rief Connal Fitzpatrick wütend mit unterdrückter
Stimme, als er Joel, der mit schnellen Schritten zwischen den
Bäumen am Alten Zoll dahinging, endlich einholte.
»Für jemand, der Avery Fowler als Jungen gekannt hat und der
eine Unendlichkeit später zusehen mußte, wie ein Mann
namens Press Halliday in Genf starb«, erwiderte Converse,
während er auf den Ausgang des Parks zuhielt, wo ein paar
Taxis auf Kundschaft warteten.
»Kommen Sie mir nicht mit solchem Quatsch! Ich habe Press
viel besser und viel länger gekannt als Sie. Herrgott, er war mit
meiner Schwester verheiratet! Wir waren fünfzehn Jahre eng
befreundet!«
»Sie reden wie ein kleiner Junge, der einen anderen
beeindrucken will. Verschwinden Sie.«
Fitzpatrick rannte ein paar Schritte vor und versperrte Joel den
Weg. »Ich werde tun, was Sie mir sagen.«
»Warum?« fragte Joel und bohrte den Blick in die Augen des
anderen.
Der Navy-Anwalt wich dem Blick nicht aus. »Weil Press Ihnen
vertraut hat«, sagte er ruhig. »Er hat gesagt, Sie seien der
Beste.«
»Abgesehen von ihm«, meinte Converse und ließ die
Andeutung eines Lächelns erkennen. »Also gut, ich glaube
Ihnen, aber es gibt ein paar Spielregeln. Entweder akzeptieren
Sie die, oder Sie sind, um es mit Ihren Worten zu sagen, eben
nicht an Bord.«
»Lassen Sie hören. Ich werde mir nicht anmerken lassen, wann
ich zusammenzucke.«
»Gut«, meinte Joel, »zuallererst werde ich Ihnen nur das
sagen, was Sie meiner Ansicht nach in der jeweiligen Situation
unbedingt wissen müssen. Was Sie daraus machen, ist Ihre
-2 1 3
Sache. Auf diese Weise können Sie jedenfalls nichts von dem
Beweismaterial preisgeben, das wir bereits gesammelt haben.«
»Das ist hart.«
»Aber dabei bleibt es. Ich werde Ihnen hier und da einen
Namen nennen, wenn ich glaube, daß Sie damit eine Tür
öffnen können. Aber es wird immer ein Name sein, den Sie aus
zweiter oder dritter Hand haben. Sie sind erfinderisch; lassen
Sie sich selbst irgendwelche Quellen einfallen, damit Sie sich
damit schützen können.«
»Aber etwas müssen Sie mir doch sagen.«
»Ich werde Ihnen einen allgemeinen Überblick geben und ein
paar Fakten. Und wenn wir Fortschritte machen - falls wir
Fortschritte machen -, werden Sie mehr erfahren. Wenn Sie
glauben, daß Sie auf etwas Entscheidendes gestoßen sind,
dann sagen Sie es mir. Das ist wichtig. Wir können nicht das
Risiko eingehen, alles auffliegen zu lassen, nur weil Sie
vielleicht von falschen Annahmen ausgehen.«
»Wer ist >wir«
»Ich wünschte, ich wüßte das.«
»Das klingt sehr beruhigend.«
»Ja, nicht wahr?«
»Warum sagen Sie mir nicht jetzt gleich alles?« fragte
Fitzpatrick.
»Weil Meagen Halliday schon einen Mann verloren hat. Ich
möchte nicht, daß sie auch noch einen Bruder verliert.«
»In Ordnung.«
Ȇbrigens, wieviel Zeit haben Sie? Ich meine, Sie sind im
aktiven Dienst.«
»Ich habe erst einmal dreißig Tage Urlaub, den ich aber, wenn
nötig, verlängern kann.«
»Wir bleiben bei den dreißig Tagen, Commander. Das ist mehr
Zeit, als uns noch zur Verfügung steht.«
»Reden Sie, Converse.«
»Gehen wir«, sagte Joel und ging weiter in Richtung Alter Zoll.
-2 1 4
Der allgemeine >Überblick<, den Fitzpatrick erhielt, schilderte
die Situation, daß gleichgesinnte Personen in verschiedenen
Ländern im Begriff waren, sich zu verbünden und ihren
beträchtlichen Einfluß dazu zu benutzen, unter Umgehung des
geltenden Rechts Waffen und Produkte neuester Technologie
an feindliche Regierungen und Organisationen zu liefern.
»Zu welchem Zweck?« fragte Fitzpatrick.
»Ich könnte sagen, aus Profitgier, aber Sie würden das
durchschauen.«
»Wenn das das einzige Motiv sein soll, ja«, meinte der
Marineanwalt nachdenklich. »Einflußreiche Leute - so wie ich
das Wort >einflußreich< in Beziehung auf die existierenden
Gesetze verstehe - würden einzeln oder bestenfalls in kleinen
Gruppen innerhalb ihrer jeweiligen Länder operieren.
Zumindest, wenn der Gewinn das Hauptziel wäre. Sie würden
sich jedenfalls nicht um internationale Koordinierung bemühen;
das ist nicht notwendig. Schließlich handelt es sich um einen
Verkäufermarkt; sie würden damit nur ihre Profite verwässern.«
»Stimmt.«
»Also?« Fitzpatrick sah Joel an, während sie auf eine Lücke in
der Steinmauer zuschlenderten, wo eine Bronzekanone stand.
»DeStabilisierung«, sagte Converse. »DeStabilisierung auf
breiter Front. Eine Reihe kleiner Buschfeuer in politisch
unruhigen Ländern, um die Fähigkeit der jeweiligen Regierung
in Zweifel zu ziehen, mit solchen Gewalttätigkeiten fertig zu
werden.«
»Ich muß Sie noch einmal fragen, welchen Zweck soll das
haben?«
»Sie sind schnell«, sagte Joel, »also überlasse ich es Ihnen,
darauf die Antwort zu finden. Was passiert, wenn eine
politische Machtkonstellation durch Unruhen zerstört wird, weil
die Dinge außer Kontrolle geraten sind?«
Die zwei Männer blieben neben der Kanone stehen, und die
Augen des Marineoffiziers musterten das lange, drohende
Rohr.
-2 1 5
»Die Konstellation wird verändert oder durch eine neue
ersetzt«, sagte Fitzpatrick und wandte den Blick von der
Kanone ab, um Converse anzusehen.
»Stimmt«, sagte Converse. »Das ist der allgemeine Überblick.«
»Er gibt keinen Sinn.« Fitzpatrick kniff nachdenklich die Augen
zusammen. »Lassen Sie mich wiederholen. Darf ich?«
»Sie dürfen.«
»>Einflußreiche Personen< deutet auf Leute, die höheren Orts
sehr angesehen sind. Wenn wir einmal von der Annahme
ausgehen, daß wir es nicht mit rein kriminellen Elementen zu
tun haben - und das dürfen wir wohl, nachdem es nicht nur um
Profite geht -, dann sprechen wir von einigermaßen
respektablen Bürgern. Gibt es noch eine andere mögliche
Kategorisierung, die ich nicht kenne?«
»Falls es eine gibt, kenne ich sie auch nicht.«
»Warum sollten diese Leute dann die politischen Strukturen
destabilisieren wollen, die ihnen ihren Einfluß garantieren? Das
gibt keinen Sinn.«
»Haben Sie schon einmal den Satz gehört: >Alles ist relativ«
»Natürlich. Und?«
»Dann denken Sie nach.«
»Worüber?«
»Über Einfluß.« Joel holte seine Zigaretten heraus und zündete
sich eine an. Der jüngere Mann starrte auf die Wasser des
Rheins.
»Sie wollen mehr«, sagte Fitzpatrick langsam und drehte sich
wieder zu Converse um.
»Sie wollen alles«, führte Joel den Satz fort. »Und das
bekommen sie nur, wenn sie beweisen, daß ihre Lösungen, um
das Chaos, das ausbrechen wird, einzudämmen, die einzigen
sind, die Erfolg haben.«
Connals Ausdruck war starr und unbewegt, während er Joels
Worte in sich aufnahm. »Heilige Maria...«, begann er im
Flüsterton, doch es klang wie ein Aufschrei. »Ein
-2 1 6
internationales Plebiszit - der Wille des Volkes -, ein Plebiszit,
das nach dem allmächtigen Staat ruft. Faschismus.
Multinationaler Faschismus.«
»Ganz genau. Damit haben Sie es besser beschrieben als
irgendeiner von uns.«
»Uns? Womit Sie wieder diese >wir< meinen. Und doch wissen
Sie angeblich nicht, wer >sie< sind!« sagte Fitzpatrick.
»Versuchen Sie damit zu leben«, erwiderte Joel. »Ich habe das
auch gelernt.«
»Warum?«
»Avery Fowler. Erinnern Sie sich an ihn?«
»O Gott!«
»Und ein alter Mann auf der Insel Mykonos. Das ist alles, was
wir haben. Aber was die beiden gesagt haben, ist die Wahrheit.
Es geschieht wirklich. Ich habe es selbst gesehen, und das ist
alles, was ich wissen muß. In Genf hat Avery gesagt, daß uns
nur noch wenig Zeit bliebe. Beale hat das etwas deutlicher
formuliert. Er behauptete, daß wir uns bereits in der
Countdown-Phase befinden. Was auch immer geschehen wird,
es wird passieren, noch bevor Ihr Urlaub zu Ende ist.«
»O mein Gott«, flüsterte Fitzpatrick. »Was können Sie mir noch
sagen - was wollen Sie mir sagen?«
»Sehr wenig.«
»Die Botschaft«, fiel Connal ihm ins Wort. »Das liegt ein paar
Jahre zurück. Aber ich habe dort einmal gearbeitet. Mit dem
Militärattaché. Wir könnten dort Unterstützung bekommen.«
»Wir können dort auch eine Kugel in den Kopf bekommen.«
»Was?«
»Die Botschaft ist nicht sauber. Die drei Männer, die Sie am
Flughafen gesehen haben, die aus der Botschaft...«
»Was ist mit ihnen?«
»Die stehen auf der anderen Seite.«
»Das glaube ich nicht!«
»Warum, meinen Sie denn, waren die am Flughafen?«
-2 1 7
»Um Sie kennenzulernen, um mit Ihnen zu reden. Man kann
sich ein Dutzend Gründe dafür vorstellen. Ob Sie es nun
wissen oder nicht, man betrachtet Sie als einen Spitzenanwalt
für internationales Recht. Ich kann mir durchaus Gründe
vorstellen, weshalb Botschaftsangestellte Sie gerne sprechen
würden.«
»Dieses Gespräch habe ich schon einmal geführt«, sagte
Converse etwas irritiert.
»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«
»Wenn die mich sprechen wollten, weshalb sind sie dann nicht
am Flugsteig gewesen?«
»Weil sie dachten, Sie würden wie alle anderen in das
Terminalgebäude kommen.«
»Und als ich das nicht getan habe, waren sie - nach Ihrer
Darstellung - äußerst erregt. Das sagten Sie doch.«
»Ja.«
»Ein Grund mehr also, gleich am Flugsteig auf mich zu
warten.«
Fitzpatrick runzelte die Stirn. »Trotzdem ist das ein wenig
schwach...«
»Die Frau. Erinnern Sie sich an die Frau?«
»Natürlich.«
»Sie hat mich in Kopenhagen erkannt und ist mir gefolgt Und
da ist noch etwas. Später stiegen alle vier in einen Wagen, der
einem Mann gehört, den wir kennen - und von dem wir wissen,
daß er in alles das, was ich Ihnen geschildert habe, verwickelt
ist. Sie fuhren zur Botschaft, das müssen Sie mir einfach
glauben. Ich habe sie gesehen.«
Connal musterte Joel und akzeptierte das, was er gehört hatte.
»Also, die Botschaft scheidet aus. Wie wäre es mit Brüssel,
SHAPE? Es gibt dort eine Einheit der Marineabwehr; ich hatte
schon mit diesen Leuten zu tun.«
»Noch nicht. Vielleicht überhaupt nicht.«
-2 1 8
»Ich dachte, Sie wollten die Uniform nutzen, meine
Verbindungen.«
»Vielleicht werde ich das. Es ist gut zu wissen, daß sie zur
Verfügung stehen.«
»Nun, was wollen Sie, daß ich tue? Irgend etwas muß ich doch
tun.«
»Sprechen Sie wirklich fließend Deutsch?«
»Ich sagte Ihnen doch, ich spreche fünf Sprachen...«
»Ja, daran haben Sie keine Zweifel gelassen«, unterbrach
Converse. »Es gibt hier in Bonn eine Frau Fischbein. Das ist
der erste Name, den ich Ihnen nenne. Sie ist in die Sache
verwickelt, wir wissen nur nicht genau wie. Aber wir haben den
Verdacht, daß sie zur Übermittlung von Informationen
eingesetzt wird. Ich möchte, daß Sie ihre Bekanntschaft
machen, mit ihr sprechen und eine Beziehung zu ihr eingehen.
Wir werden uns da etwas einfallen lassen. Sie ist um die
Vierzig, die jüngste Tochter von Hermann Göring. Aus
naheliegenden Gründen hat sie einen Überlebenden des
Holocaust geheiratet; aber der hat sie bereits vor Jahren wieder
verlassen. Irgendeine Idee, wie man das machen könnte?«
»Sicher«, sagte Fitzpatrick, ohne zu zögern. »Eine
Erbschaftsangelegenheit. Es gibt ein paar tausend Testamente
und Nachlässe, bei denen die Verstorbenen den Wunsch
geäußert haben, daß das Militär sie bearbeitet. Sie stammen
von irgendwelchen Verrückten, die ihren ganzen Besitz den
anderen Überlebenden hinterlassen. Damit die reinrassigen
Arier weiterleben und ähnlicher Unsinn. Wir geben derartige
Angelegenheiten zumeist an die Zivilgerichte zurück. Aber die
wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, also verschwindet
die Erbschaft am Ende in den Tresoren des Schatzamtes.«
»Ehrlich?«
»Glauben Sie mir. Diese Leute sind durch nichts
zurückzuschrecken.«
»Und das würde funktionieren?«
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»Was würden Sie von einer Erbschaft von gut einer Million von
einem kleinen Brauereibesitzer im Mittleren Westen halten?«
»Hervorragend«, grinste Joel. »Sie sind an Bord.«
Converse hatte das Projekt »Aquitania« ebensowenig erwähnt
wie die Namen George Marcus Delavane, Jacques Louis
Bertholdier oder Erich Leifhelm und auch nicht die rund zwanzig
Namen aus dem State Department und dem Pentagon. Er gab
auch keine detaillierte Beschreibung der Aktivitäten des
Gegners, wie er sie den Akten entnommen hatte oder sie ihm
von Dr. Edward Beale auf Mykonos geschildert worden waren.
Connal Fitzpatrick erfuhr nur die groben Umrisse von allem,
wobei Joels Gründe auf der Hand lagen: Falls der Marineanwalt
der Gegenseite in die Hände fiel und verhört wurde - ganz
gleich wie brutal -, konnte er so nur wenig von Belang
preisgeben.
»Sehr viel sagen Sie mir wirklich nicht«, meinte Fitzpatrick.
»Ich habe Ihnen schon oft genug erklärt, daß Ihnen das eine
Kugel durch den Kopf eintragen könnte, und das ist eine
Formulierung, die normalerweise nicht zu meinem
Sprachschatz gehört.«
»Zu meinem auch nicht.«
»Dann sollten Sie mich als einen netten Burschen ansehen«,
sagte Converse.
»Andererseits«, fuhr Hallidays Schwager fort, »haben Sie in
Ihrem Leben auch eine ganze Menge mehr mitgemacht als ich.
Ich habe das in den Akten nachgelesen - man hat Sie mit den
Akten einer ganzen Menge anderer Gefangener verglichen. Sie
müssen etwas ganz Besonderes gewesen sein. Nach der
Schilderung der meisten Männer in diesen Lagern haben Sie
die Gefangenen zusammengehalten... bis man Sie in Einzelhaft
verlegt hat.«
»Die hatten unrecht, Seemann. Ich hab' am ganzen Leibe
gezittert und hatte eine Heidenangst und hätte vermutlich eine
Pekingente gebumst, wenn ich damit meine Haut hätte retten
können.«
-2 2 0
»In den Akten steht es anders. Dort steht...«
»Interessiert mich wirklich nicht, Commander«, meinte Joel,
»aber ich habe im Augenblick ein großes Problem, bei dem Sie
mir behilflich sein könnten.«
»Und das wäre?«
»Ich habe versprochen, Dowling über sein Funktelefon
anzurufen. Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas macht.«
»Dort drüben ist eine Zelle«, sagte Connal und wies auf ein
gelbes Telefonhäuschen. »Haben Sie die Nummer bei sich?«
»Ja, sie muß hier irgendwo sein«, erwiderte Converse und
suchte in seinen Taschen herum. »Hier«, sagte er, als er den
Zettel zwischen ein paar Kreditkartenquittungen herausgewühlt
hatte.
»Joel?«
»Ja, Cal. Ich hatte versprochen, Sie nach meinem
Zusammentreffen mit Fowler anzurufen. Alles in Ordnung?«
»Nein, das ist es nicht, Mr. Rechtsanwalt«, erwiderte der
Schauspieler leise. »Wir beide müssen ein sehr ernstes
Gespräch miteinander führen, und ich will Ihnen nicht
verschweigen, daß ein Gorilla namens Rosenberg dabei nur ein
paar Schritte entfernt stehen wird.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ein Mann in Paris ist gestorben. Erklärt Ihnen das etwas?«
»O Gott.« Converse fühlte das Blut in seinen Adern gerinnen.
Seine Kehle war plötzlich trocken und verklebt. Einen
Augenblick glaubte er, sich erbrechen zu müssen.
»Sind die zu Ihnen gekommen?« flüsterte er.
»Ein Beamter der deutschen Polizei war vor einer Stunde bei
nur, und diesmal hatte ich keine Zweifel an meinem Besucher.
Er war echt.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Joel.
»Haben Sie es getan?«
-2 2 1
»Ich... ja, ich denke schon.« Converse starrte die Wählscheibe
des Telefonautomaten an und sah das blutüberströmte Gesicht
des Mannes vor dem Lieferanteneingang des George V. Fast
spürte er noch das Blut an seinen Fingern.
»Sie denken? Das ist nichts, was man nur denkt.«
»Also, ja... ja. Ich habe es getan.«
»Hatten Sie einen Grund?«
»Ich glaube schon.«
»Den will ich hören, aber nicht jetzt. Ich werde Ihnen sagen, wo
wir uns treffen.«
»Nein!« rief Joel aus. »Ich darf Sie da nicht hineinziehen. Das
darf ich einfach nicht!«
»Dieser Polizist hat mir seine Karte gegeben. Ich soll ihn
anrufen, wenn Sie mit mir Verbindung aufnehmen. Er hat mir
klar zu verstehen gegeben, was es bedeutet, wichtige
Informationen in einem Ermittlungsverfahren zurückzuhalten.«
»Er hat recht gehabt, völlig recht! Sagen Sie ihm um Gottes
willen alles, Cal! Die Wahrheit. Sie haben mir ein Zimmer
besorgt, weil Sie dachten, ich würde vielleicht keine
Reservierung haben, und wir haben ein paar angenehme
Stunden im Flugzeug miteinander verbracht. Sie haben das
Zimmer auf Ihren Namen bestellt, weil Sie nicht wollten, daß ich
es bezahlen muß. Verbergen Sie nichts! Nicht einmal dieses
Gespräch dürfen Sie verschweigen.«
»Und warum habe ich ihm das Ganze dann nicht gleich
gesagt?«
»Das ist schon in Ordnung. Sie sagen es ihm ja jetzt. Es war für
Sie ein Schock, und schließlich sind wir Landsleute. Sie
brauchten Zeit, um nachzudenken, um zu überlegen. Mein
Anruf hat Sie genügend aufgerüttelt, daß Sie jetzt wieder Ihrer
Vernunft folgen. Sagen Sie ihm, Sie hätten mich mit der
Anklage konfrontiert, und ich hätte sie nicht geleugnet. Seien
Sie ehrlich zu ihm, Cal.«
»Wie ehrlich? Soll ich auch Fowlers Besuch erwähnen?« »Das
ist nicht notwendig. Lassen Sie mich das erklären Fowler ist ein
-2 2 2
falscher Name, und er hat keine Beziehung zu Paris. Darauf
gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn Sie ihn mit hineinziehen, dann
komplizieren Sie die Dinge nur unnötig.«
»Soll ich ihm sagen, daß Sie am Alten Zoll sind?«
»Ja, so heißt das hier. Sagen Sie es ruhig.«
»Sie werden dann nicht mehr zum Königshof zurück können.«
»Das ist unwichtig«, antwortete Joel schnell. Er wollte das
Gespräch so rasch wie möglich beenden, um endlich
nachdenken zu können. »Mein Gepäck liegt noch am
Flughafen, und dorthin kann ich auch nicht zurück.«
»Sie hatten einen Aktenkoffer.«
»Dafür habe ich gesorgt. Der ist an einem Ort deponiert, wo ich
an ihn heran kann.«
Der Schauspieler machte eine Pause und redete dann langsam
weiter: »Sie raten mir also, der Polizei gegenüber offen zu sein
und die Wahrheit zu sagen.«
»Ja, das ist mein Rat, Cal. Das ist die einzige Möglichkeit für
Sie, sauber zu bleiben, und Sie sind sauber.«
»Das klingt wie ein guter Rat, Joel, und ich würde mir wirklich
wünschen, daß ich ihn annehmen kann. Aber ich fürchte, das
kann ich nicht.«
»Was? Warum!«
»Weil böse Menschen, wie Diebe und Mörder, keine solchen
Ratschläge geben. Ich habe das noch in keinem Drehbuch
gelesen.«
»Das ist doch Unsinn! Tun Sie, um Gottes willen, was ich Ihnen
sage!«
»Tut mir leid, Partner, die Dramaturgie stimmt nicht. Also tun
Sie, was ich Ihnen sage. In der Nähe ist die Universität; ein
schöner Bau, ein restaurierter Palast - mit einer Gartenanlage,
wie man sie nicht oft sieht. An der Südseite der Anlage steht an
den Wegen eine Anzahl von Bänken. Sehr hübsch für einen
Sommerabend, etwas abgelegen und nicht zu überfüllt. Seien
Sie um zehn Uhr dort.«
-2 2 3
»Cal, ich werde Sie nicht in diese Sache hineinziehen!«
»Ich bin bereits drinnen. Ich habe Informationen zurückgehalten
und einem Flüchtling geholfen.« Dowling machte wieder eine
Pause. »Und dann gibt es da jemand, den Sie kennenlernen
sollten«, sagte er.
»Nein.«
Ein Klicken, und die Leitung war tot.
10 Converse hängte den Hörer auf die Gabel, stützte sich gegen
die Glaswand der Telefonzelle und versuchte, Klarheit in seine
Gedanken zu bringen. Er hatte einen Menschen getötet, aber
nicht in einem Krieg, auch nicht im erbarmungslosen
Überlebenskampf im südostasiatischen Dschungel, sondern in
einer Seitenstraße von Paris. Und er hatte es getan, weil er
sekundenschnell eine Entscheidung hatte treffen müssen, die
nur auf Annahmen beruhte. Ob recht oder unrecht, die Tat war
geschehen, und für Grübeleien war nun keine Zeit mehr. Die
deutsche Polizei suchte ihn, und das hieß, daß Interpol sich
eingeschaltet hatte. Irgendwie waren Informationen von
Jacques Louis Bertholdier aus Paris übermittelt worden, der
selbst im Hintergrund blieb und sich an der Jagd scheinbar
nicht beteiligte.
»Was ist denn?« fragte Fitzpatrick, der besorgt ein paar Schritte
links von Joel stand. »Was ist mit Dowling los? Hat er
Schwierigkeiten?«
»Die wird er haben!« platzte Joel heraus. »Weil er nämlich ein
verdammter Dummkopf ist, der sich einbildet, das Ganze sei ein
gottverdammter Film!«
»Vor einer Weile haben Sie aber noch ganz anders geredet.«
»Wir haben uns zufällig kennengelernt, und alles hat sich
spontan richtig entwickelt. Aber das hier wird sich nicht richtig
entwickeln, nicht für ihn.« Converse ließ die Tür der
Telefonzelle zufallen und starrte Fitzpatrick an. Verzweifelt
-2 2 4
versuchte er, sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren.
»Vielleicht sage ich es Ihnen, vielleicht auch nicht«, meinte er
und sah sich nach einem Taxi um. »Kommen Sie, wir werden
jetzt Ihre großartigen Sprachkenntnisse nutzen. Wir brauchen
eine Unterkunft, teuer, aber nicht auffällig. Es darf auf keinen
Fall ein Haus sein, das von reichen Touristen besucht wird, die
nicht Deutsch sprechen. Wenn es etwas gibt, das man über
mich verbreiten wird, dann, daß ich mich nicht einmal in den
fünf Ausländerbezirken von New York verständigen kann. Ich
will ein Luxushotel, das nicht auf Ausländer angewiesen ist.
Verstehen Sie, was ich meine?«
Fitzpatrick nickte. »Exklusiv, Clubatmosphäre, auf deutsche
Geschäftsleute ausgerichtet. Die gibt es in jeder Großstadt, und
sie kosten überall allein für das Frühstück zwanzigmal soviel,
wie mir an Tagesspesen zur Verfügung steht.«
»Das macht nichts, ich habe Geld hier in Bonn. Warum soll ich
es nicht auch ausgeben?«
»Sie stecken voller Überraschungen«, sagte Connal.
»Glauben Sie, Sie schaffen das? Ich meine, ein solches Hotel
zu finden?«
»Ich kann Ihren Wunsch einem Taxifahrer erklären; der weiß
bestimmt weiter. Da ist ein Taxi, das gerade frei wird.« Die zwei
Männer eilten zur Straße, wo gerade vier Fahrgäste aus einem
Taxi ausstiegen. Sie trugen Kamerataschen und Louis-Vuitton-
Handtaschen.
»Nun, ich werde ihm sagen, was Sie mir gerade erklärt haben«,
antwortete Fitzpatrick. »Ein ruhiges, nettes Hotel, abseits vom
Touristenstrom. Ich werde sagen, daß wir Geschäfte mit
deutschen Bankiers hätten und ein Haus suchen, wo die sich
besonders wohl fühlen. Er wird das schon verstehen.«
»Er wird auch sehen, daß wir kein Gepäck haben«, wandte Joel
ein.
»Aber zuerst wird er mein Geld sehen«, meinte der
Marineoffizier und hielt Converse die Türe auf.
-2 2 5
Lt. Commander Connal Fitzpatrick, USN, beeindruckte Joel Converse so, daß letzterer sich fast wie ein kleiner Junge vorkam. Ohne die geringste Mühe besorgte der Marineanwalt eine Suite mit zwei Schlafzimmern in einem Hotel am Rheinufer. Das Haus war ein umgebauter Herrschaftssitz aus der Vorkriegszeit, und die meisten der hier anwesenden Gäste schienen sich untereinander zu kennen. Die Angestellten wagten es kaum, den Blick zu heben, als wollten sie auf diese Weise stumm ihre Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringen oder versichern, daß sie, danach gefragt, niemals zugeben würden, wen auch immer gesehen zu haben. Als sie am Eingang des Hotels, zu dem eine lange, gepflegte Auffahrt führte, angehalten hatten, stieg Fitzpatrick aus. »Bleiben Sie hier«, sagte er zu Joel. »Ich will sehen, ob ich zwei Zimmer bekommen kann... Und sagen Sie nichts.« Zwölf Minuten später kam Connal zurück, seine Miene wirkte streng, aber seine Augen glänzten. Er hatte seine Mission erfüllt. »Kommen Sie, Herr Aufsichtsratsvorsitzender, wir gehen gleich hinauf.« Er bezahlte den Fahrer, gab ein reichliches Trinkgeld und hielt Converse wieder die Tür auf - jetzt vielleicht eine Spur unterwürfiger, dachte Joel. Die Halle des Hotels wirkte anheimelnd und erinnerte Converse an Clubs, wie er sie in England kennengelernt hatte: schwere Ledersessel vor der vertäfelten Wand, schmiedeeiserne Verzierungen unter den Fenstern, alte Spiegel und prunkvolle Lüster. Das alles machte auf den ersten Blick den Eindruck eines Grandhotels aus vergangener Zeit, und nur die helle Beleuchtung erinnerte daran, daß dieses alte Haus mitten in einer modernen Stadt stand. Fitzpatrick führte Converse zu einem vertäfelten Lift, ganz hinten in dem ebenfalls vertäfelten Korridor. Nirgends war ein Liftführer oder ein Hausdiener zu sehen. Die Kabine war klein und bot höchstens vier Personen Platz, ihre Wände aus getöntem Glas vibrierten leicht, als sie in den zweiten Stock hinauffuhr.
-2 2 6
»Ich glaube, die Zimmer werden Ihnen gefallen«, sagte Connal.
»Ich hab' sie mir schon angesehen; deshalb hat es so lange
gedauert.«
»Wir scheinen hier ja im neunzehnten Jahrhundert gelandet zu
sein«, entgegnete Joel. »Hoffentlich gibt es hier wenigstens
Telefon.«
»Die modernsten, die man sich denken kann, davon habe ich
mich überzeugt.« Die Lifttür öffnete sich. »Hier entlang«, sagte
Fitzpatrick und wies nach rechts. »Die Suite liegt am Ende des
Ganges.«
»Die Suite?«
»Sie sagten doch, Sie hätten Geld.«
Zwei Schlafzimmer flankierten ein geschmackvoll eingerichtetes
Wohnzimmer, aus dem eine Tür auf einen kleinen Balkon
führte, von dem aus man den Rhein sehen konnte. Die Zimmer
waren hell und luftig, die Wanddekoration wiederum
merkwürdig zusammengestellt: neben der Reproduktion eines
impressionistischen Stillebens hingen Drucke von
preisgekrönten Pferden der besten deutschen Reitställe.
»Gut gemacht, Sie Wunderknabe«, sagte Converse nach
einem Blick ins Freie.
Als Fitzpatrick sich umdrehte und in sein Schlafzimmer ging,
befiel Joel plötzlich ein eigenartiges Gefühl. Woran erinnerte ihn
dieser junge Mann, was ließ ihn so vertraut erscheinen?
Fitzpatrick besaß jene besondere Kühnheit, die zur
Unerfahrenheit gehörte, eine völlige Abwesenheit von Furcht in
kleinen Dingen, die, wie ihn die Vorsicht einmal lehren würde,
häufig zu größeren führten. Er erprobte unbekannte Gewässer
noch voller Mut.
Plötzlich war Converse klar, warum ihm der andere so vertraut
war. In Connal Fitzpatrick erkannte er sich selbst wieder...
bevor ihm so vieles widerfahren war. Bevor er die Angst
kennengelernt hatte, nackte, schreckliche Angst. Und am Ende
die Einsamkeit.
-2 2 7
Sie kamen überein, daß Connal zum Flughafen Köln-Bonn
zurückkehren sollte. Nicht etwa um Joels Gepäck abzuholen,
sondern wegen seines eigenen, das in einem Schließfach in
der Gepäckausgabe lagerte. Dann würde er nach Bonn fahren,
einen teuren Koffer kaufen und ihn mit einem halben Dutzend
Hemden, Unterwäsche, Socken und der besten
Konfektionskleidung füllen, die er in Joels Größe finden konnte,
drei Paar Hosen, ein oder zwei Jacketts und einem
Regenmantel. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß legere
Kleidung am besten passen würde; einem exzentrischen
Finanzier standen solche geschmacklichen Entgleisungen zu.
Sein zweites Ziel vor der Rückkehr in das Rektorat sollte ein
zweites Schließfach auf dem Bahnhof sein, wo Converse
seinen Aktenkoffer deponiert hatte.
Vor seiner Abfahrt hatte Fitzpatrick ihm noch versichert, daß die
Telefonzentrale des Hotels durchaus imstande sei,
Telefongespräche in englischer Sprache zu vermitteln - ebenso
auch in sechs weiteren Sprachen, Arabisch eingeschlossen -,
und daß er daher unbedenklich ein Gespräch mit Lawrence
Talbot in New York anmelden könne.
»Du lieber Gott, wo stecken Sie denn, Joel?!« rief Talbot ins
Telefon.
»Amsterdam«, erwiderte Converse, der seinen Aufenthaltsort
nicht preisgeben wollte. »Ich möchte wissen, was mit Richter
Anstett passiert ist! Können Sie mir etwas darüber erzählen?«
»Ich möchte wissen, was mit Ihnen passiert ist! Rene hat
gestern abend angerufen...«
»Mattilon?«
»Sie haben ihm gesagt, Sie wollten nach London fliegen.«
»Ich habe es mir anders überlegt.«
»Was, zum Teufel, ist denn passiert? Die Polizei war bei ihm; er
hatte keine Wahl. Er mußte ihnen sagen, wer Sie sind.« Talbot
machte plötzlich eine Pause und sprach dann mit ruhiger
Stimme, einer gekünstelten Stimme weiter. »Ist bei Ihnen alles
in Ordnung, Joel? Gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen,
etwas, das Sie beunruhigt?«
-2 2 8
»Etwas, das mich beunruhigt?«
»Hören Sie, Joel. Wir wissen alle, was Sie durchgemacht
haben, und wir bewundern Sie, wir haben sogar großen
Respekt vor Ihnen. Sie sind der beste Mann in der
internationalen Abteilung...«
»Ich bin der einzige Mann, den Sie haben«, unterbrach
Converse ihn, der nachzudenken versuchte, der Zeit gewinnen
und zugleich möglichst viel erfahren wollte. »Was hat Rene
denn gesagt? Warum hat er Sie angerufen?«
»Sie klingen ganz wie der alte Joel.«
»Ich bin der alte Joel, Larry. Weshalb hat Rene Sie denn
angerufen? Weshalb war die Polizei bei ihm?« Joel spürte, daß
alles plötzlich eine neue Dimension erhielt. Jetzt würden gleich
die Lügen kommen, Ausflüchte, Täuschungsversuche, aber am
wichtigsten war, daß er Zeit gewann und seine
Bewegungsfreiheit behielt. Er mußte frei bleiben; es war noch
so viel zu tun, und die Zeit war schon so knapp.
»Er hat mich angerufen, nachdem die Polizei ihn verlassen
hatte, um mich zu informieren - übrigens, es waren Leute von
der Sürete. So wie er das Ganze begriff, ist der Fahrer einer
Limousine vor dem Lieferanteneingang des Georges V.
überfallen worden...«
»Der Fahrer einer Limousine...?« unterbrach Converse ihn
unwillkürlich. »Haben die gesagt, es sei ein Chauffeur
gewesen?«
»Von einer dieser teuren Mietfirmen, die Leute
herumkutschieren, die zu ungewöhnlichen Stunden
ungewöhnliche Orte aufsuchen. Sehr elegant und sehr
vertraulich. Allem Anschein nach hat man diesen Burschen
ziemlich zugerichtet. Und die Polizei behauptet, Sie hätten das
getan. Keiner weiß warum, aber man hat Sie identifiziert. Es
heißt, daß der Mann vielleicht nicht überleben wird.«
»Larry, das ist doch lächerlich!« wehrte sich Joel in gespielter
Empörung. »Ja, ich war dort - in der Gegend -, aber ich habe
doch mit dem Ganzen nichts zu tun! Zwei Hitzköpfe haben
angefangen, sich zu prügeln, und ich hatte wirklich keine Lust,
-2 2 9
mich da hineinziehen zu lassen - und beruhigen konnte ich sie
auch nicht. Also sah ich zu, daß ich verschwand, ehe ich ein
Taxi fand, habe ich dem Portier noch zugerufen, er solle Hilfe
holen. Das Letzte, was ich sah, war, daß er mit einer
Trillerpfeife zur Straße rannte.«
»Dann waren Sie also überhaupt nicht in die Sache verwickelt«,
sagte Talbot. Es war die Feststellung eines Anwalts.
»Selbstverständlich nicht! Warum sollte ich?«
»Das ist es ja, was wir nicht begreifen konnten. Es machte
einfach keinen Sinn.«
»Es macht keinen Sinn. Ich werde Rene anrufen und nach
Paris zurückfliegen, wenn es sein muß.«
»Ja, das sollten Sie tun«, pflichtete Talbot ihm zögernd bei.
»Ich sollte Ihnen wohl sagen, daß ich möglicherweise die
Situation noch etwas schlimmer gemacht habe.«
»Sie? Inwiefern?«
»Ich habe Mattilon gesagt, daß Sie vielleicht... nun, nicht ganz
Sie selbst wären. Als ich mit Ihnen in Genf sprach, haben Sie
schrecklich geklungen, Joel. Wirklich schrecklich.«
»Du lieber Gott, was glauben Sie denn, wie ich mich gefühlt
habe? Ein Mann, mit dem ich verhandle, stirbt vor meinen
Augen, aus einem Dutzend Schußwunden blutend. Wie würden
Sie sich denn da fühlen?«
»Ich verstehe«, sagte der Anwalt in New York, »aber Rene hat
auch etwas an Ihnen festgestellt - etwas gehört -, das ihn
beunruhigt hat.«
»Ach, kommen Sie, hören Sie doch damit auf!« Joels
Gedanken überschlugen sich; jedes Wort, das er jetzt sagte,
mußte glaubwürdig sein. Seine Empörung mußte echt wirken.
»Mattilon hat mich gesehen, nachdem ich fast vierzehn
Stunden in Flugzeugen oder auf Flughäfen herumgesessen
hatte. Herrgott, ich war einfach erschöpft!«
»Joel?« begann Talbot, der offenbar noch nicht ganz bereit
war, das Thema fallenzulassen. »Warum haben Sie Rene
gesagt, daß Sie im Auftrag der Kanzlei in Paris seien?«
-2 3 0
Converse machte eine Pause, nicht weil er über die Antwort
nachdenken mußte, sondern nur des Effekts wegen. Er war auf
die Frage vorbereitet; er war es seit dem Augenblick gewesen,
als er Mattilon angesprochen hatte. »Eine kleine Notlüge, Larry,
die niemandem schadet. Ich wollte einige Informationen und
dachte, auf diese Weise würde ich sie am einfachsten
bekommen.«
»Über diesen Bertholdier? Das ist der General, nicht wahr?«
»Er erwies sich als die falsche Quelle. Ich habe das Rene
gesagt, und er war hundertprozentig meiner Ansicht.« Joel war
bemüht, Unbekümmertheit in seine Stimme hineinzulegen.
»Außerdem wäre es doch eigenartig gewesen, wenn ich gesagt
hätte, daß ich für jemand anderen nach Paris gekommen sei,
oder? Ich glaube nicht, daß das der Firma sehr genützt hätte.
Unsere Branche lebt doch von Gerüchten, das haben Sie mir
selbst einmal gesagt.«
»Ja, sicher. Sie haben völlig richtig gehandelt... Verdammt noch
mal, Joel, warum, zum Teufel, haben Sie das Hotel auf so
eigenartige Weise verlassen? Durch den Keller oder wie auch
immer?«
Der Augenblick war gekommen, daß er eine kleine, belanglose
Unwahrheit vollkommen überzeugend einfließen lassen mußte.
Denn wenn er sie falsch vorbrachte, konnte sie zu einer
größeren, viel gefährlicheren Lüge führen. Connal Fitzpatrick
hätte sich gut darauf verstanden, überlegte Converse. Der
Marineanwalt hatte noch nicht gelernt, die kleinen Dinge zu
fürchten; er wußte nicht, daß sie Fährten waren, die einen in
einen Rattenkäfig am Mekongfluß zurückbringen konnten.
»Bubba, alter Freund und Helfer«, begann Joel so locker, wie
er nur konnte. »Ich mag tief in Ihrer Schuld stehen, aber meine
Intimsphäre geht nur mich etwas an.«
»Ihre was?«
»Ich nähere mich den mittleren Jahren - zumindest sind sie
nicht mehr fern -, ich habe keinerlei eheliche Verpflichtungen
und also auch keine Schuldgefühle, was meine Treue angeht.«
»Sie sind einer Frau aus dem Wege gegangen?«
-2 3 1
»Die Firma kann von Glück reden, daß es kein Mann war.«
»Du lieber Gott! Und ich bin scheinbar schon so alt, daß ich an
diese Dinge überhaupt nicht mehr denke. Tut mir leid, junger
Mann.«
»Jung und doch nicht so jung, Larry.«
»Dann haben wir uns alle mächtig getäuscht. Sie sollten Rene
am besten gleich anrufen und diese Sache aufklären. Ich kann
Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin.«
»Sagen Sie mir lieber etwas über Anstett. Das ist nämlich der
Grund meines Anrufs.«
»Natürlich.« Talbot senkte die Stimme. »Eine schreckliche
Geschichte, eine Tragödie. Was schreiben denn die Zeitungen
dort drüben?«
Mit der Frage hatte Converse nicht gerechnet. »Sehr wenig«,
erwiderte er und versuchte, sich an das zu erinnern, was
Fitzpatrick ihm erzählt hatte. »Nur daß man ihn erschossen hat
und daß allem Anschein nach aus seiner Wohnung nichts
gestohlen wurde.«
»Das stimmt. Natürlich dachten Nathan und ich sofort an Sie
und an die Sache, in die Sie da verwickelt sind, was auch
immer das ist. Aber das war offensichtlich ein falscher
Gedanke. Es war ein Racheakt der Mafia, ganz einfach. Sie
wissen ja, wie hart sich Anstett bei Revisionsgesuchen dieser
Leute gab. Er hat sie regelmäßig abgelehnt und ihre Anwälte
als Schande des Berufsstandes bezeichnet.«
»Es war also ein eindeutiger Mafia-Mord?«
»Richtig, und das weiß ich direkt von O'Neil, aus dem Büro des
Kommissars. Die kennen den Mann bereits. Es ist ein bezahlter
Killer, der für die Delvecchio-Familie arbeitet. Und Anstett hat
erst letzte Woche Delvecchios ältesten Sohn hinter Gitter
geschickt. Zwölf Jahre hat er bekommen, ohne Aussicht auf
Revision; der Oberste Gerichtshof ist nicht bereit, den Fall noch
einmal aufzurollen.«
»Die kennen den Mann?«
»Sie brauchen ihn bloß noch festzunehmen.«
-2 3 2
»Wie kommt es, daß alles so eindeutig ist?« fragte Joel verwirrt.
»Es ist so wie meistens«, sagte Talbot. »Ein Informant, der
irgendeine Gefälligkeit braucht. Und da alles so schnell und in
aller Stille abgelaufen ist, nimmt man an, daß die Ballistik den
Beweis liefern wird.«
»So schnell? In aller Stille?«
»Der Informant war bereits heute morgen bei der Polizei. Man
hat eine Sondereinheit gebildet. Nur sie kennt die Identität des
Mannes. Man nimmt an, daß die Waffe sich noch im Besitz des
Mörders befindet. Die Festnahme dürfte in Kürze erfolgen; er
lebt in Syosset.«
Irgend etwas stimmte da nicht, dachte Converse. Es gab da
einen Haken, aber er kam nicht darauf. Und dann hatte er es
plötzlich. »Larry, wenn alles so still verläuft, wie kommt es dann,
daß Sie informiert sind?«
»Ich hatte schon Sorge, daß Sie mich das fragen würden«,
sagte Talbot etwas verlegen. »Ich kann es Ihnen ja sagen;
wahrscheinlich wird es morgen ohnehin in den Zeitungen
stehen. O'Neil hält mich auf dem laufenden; Sie können das
meinetwegen Entgegenkommen nennen. Außerdem tut er es
auch, weil ich ziemlich nervös bin.«
»Warum ?«
»Ich war der letzte, der Anstett lebend gesehen hat, bevor er
ermordet wurde.«
»Sie?«
»Ja. Nach Renes zweitem Anruf hatte ich beschlossen, mich an
den Richter zu wenden, selbstverständlich nach Rücksprache
mit Nathan. Als ich Anstett schließlich erreichte, erklärte ich
ihm, daß ich ihn sprechen müßte. Er war darüber nicht gerade
erfreut, aber ich ließ nicht locker. Ich erklärte, daß es um Sie
ginge. Ich wüßte nur, daß Sie schreckliche Schwierigkeiten
hätten und daß etwas geschehen müsse. Ich fuhr zu seiner
Wohnung am Central Park South, und dann redeten wir. Ich
sagte ihm, was geschehen war, und daß ich mich um Sie
sorgte. Dabei machte ich kein Hehl daraus, daß ich ihm die
-2 3 3
Schuld an allem gab. Er sagte nicht viel, aber ich nehme an,
daß auch er Angst hatte. Er sagte, er würde sich am
kommenden Morgen wieder bei mir melden. Daraufhin verließ
ich ihn, und laut gerichtsmedizinischem Bericht ist er drei
Stunden später getötet worden.«
Joels Atem ging in kurzen Stößen; er hatte das Gefühl, der
Kopf müßte ihm zerspringen, so sehr konzentrierte er sich. »Wir
wollen das einmal klarbekommen, Larry. Sie sind nach Renes
zweiten Anruf zu Anstetts Wohnung gefahren. Nachdem er der
Sürete gesagt hatte, wer ich bin.«
»Richtig.«
»Wie lange hat das gedauert?«
»Wie lange hat was gedauert?«
»Bis Sie weggingen, um Anstett aufzusuchen. Nachdem Sie mit
Mattilon gesprochen hatten.«
»Nun, wollen wir mal sehen. Natürlich wollte ich zuerst mit
Nathan sprechen, aber er war essen gegangen. Also wartete
ich. Übrigens stimmte er mir zu und erbot sich, mich zu
begleiten...«
»Wie lange, Larry?«
»Eineinhalb Stunden, höchstens zwei.«
Zwei Stunden plus drei Stunden ergaben fünf Stunden. Mehr
als genug Zeit, um den Killer an Ort und Stelle zu bringen.
Converse wußte nicht, wie es abgelaufen war, nur daß es
geschehen war. In Paris war es plötzlich zu hektischer Aktivität
gekommen, und in New York war man einem erregten
Lawrence Talbot zu einer Wohnung am Central Park gefolgt,
wo jemand einen Namen, einen Mann und die Rolle erkannte,
die er gegen Aquitania gespielt hatte. Wenn es anders
gewesen wäre, dann wäre jetzt Talbot tot und nicht Lucas
Anstett. Der Rest war eine bewußt aufgebaute Fassade, hinter
der die Gefolgsleute von George Marcus Delavane die Fäden
zogen.
»... und die Gerichte verdanken ihm so viel, das Land.« Talbot
redete immer noch, aber Joel konnte ihm nicht länger zuhören.
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»Ich muß leider weg, Larry«, sagte er und legte auf.
Es war ein abscheulicher Mord, und die Tatsache, daß er so
schnell, so effizient und mit so präziser Tarnung erfolgt war,
jagte Converse mehr Angst ein, als er sich eingestehen wollte.
Joseph - Joey der Nette - Albanese lenkte seinen Pontiac über
die ruhige, von Bäumen gesäumte Straße in Syosset, Long
Island. Er winkte einem Ehepaar in einem Garten zu. Der Mann
stutzte gerade unter Anleitung seiner Frau die Hecke. Sie
hielten in ihrer Arbeit inne und winkten zurück. Sehr nett. Die
Nachbarn konnten ihn gut leiden. Sie fanden ihn reizend und
großzügig; was kein Wunder war, wo er doch schließlich ihren
Kindern erlaubte, in seinem Pool zu baden, und er ihren Eltern
nur die teuersten Drinks vorsetzte, wenn sie vorbeikamen, und
die größten Steaks, die Geld kaufen konnte, wenn er am
Wochenende ein Barbecue-Fest veranstaltete - was er häufig
tat, wobei er jedesmal andere Nachbarn einlud, damit niemand
sich ausgeschlossen fühlte.
Ich bin wirklich ein netter Bursche, sinnierte Joey. Er war immer
freundlich und hob nie die Stimme im Zorn, hatte für jeden nur
nette Worte und ein vergnügtes Lächeln, gleichgültig, wie lausig
er sich fühlte. Das ist es, verdammt noch mal! dachte Joey
ganz gleich, wie sehr er sich auch ärgerte, er zeigte es nie!
Joey den Netten nannten sie ihn, und damit hatten sie recht.
Manchmal dachte er, daß er wohl eine Art Heiliger sein müsse
Jesus Christus mochte ihm solche Gedanken verzeihen.
Gerade hatte er seinen Nachbarn zugewinkt, dabei war ihm in
Wirklichkeit eher danach, mit der Faust die Windschutzscheibe
einzuschlagen und ihnen das Glas in den Hals zu drücken.
Aber es ging natürlich nicht um sie, es ging um das, was letzte
Nacht geschehen war! Eine verrückte Nacht, ein verrückter Hit,
alles war verrückt! Und dieser Kerl, den sie von der Westküste
hergeholt hatten, den sie den »Major« nannten, der war der
Verrückteste von allen! Und obendrein ein Sadist, so wie er den
alten Mann zugerichtet hatte und auch den blöden Fragen nach
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zu schließen, die er gestellt hatte, die ganze Zeit brüllend. Tutti pazzi! Da hatte er gerade noch in der Bronx Karten gespielt, und im nächsten Augenblick klingelte das Telefon. Sofort nach Manhattan! Dort brauchte man einen wie ihn! Also fährt er hin, und was findet er? Dieser eisenharte Richter, der gerade die Stahltüren hinter Delvecchios Jungen zugeknallt hatte! Verrückt! Natürlich werden die das mit dem alten Delvecchio in Verbindung bringen. Die Bullen und die Gerichte werden so auf ihm herumhacken, daß er von Glück reden kann, wenn er am Ende noch seinen Puff in Palermo behalten kann - falls er je nach Italien zurückkommen sollte. Andererseits... vielleicht... dachte Joey damals, änderte sich vielleicht etwas in der Organisation. Der Alte verlor die Dinge langsam aus dem Griff. Und möglicherweise - möglicherweise diente das Ganze dazu, ihn, Joey, zu testen. Vielleicht war er zu nett, zu glatt, um jemanden wie den alten Richter unter Druck zu setzen, der ihnen allen so viel Ärger bereitete. Nun, das war er nicht. Nein, Sir, das Nette hörte auf, wenn er eine Kanone in der Hand hatte. Das war sein Job, sein Beruf. Der Herr Jesus entschied, wer leben und wer sterben sollte, nur daß Er durch den Mund sterblicher Männer auf der Erde sprach, die Leuten wie Joey sagten, wer umzulegen war. Und so war es auch letzte Nacht; die Anweisung kam von einem angesehenen Mann. Obwohl Joey ihn nicht persönlich kannte, hatte er schon jahrelang von dem mächtigen padrone in Washington D.C. gehört. Der Name wurde nur im Flüsterton genannt, jedoch niemals laut ausgesprochen. Joey tippte die Bremse an und verlangsamte die Fahrt, so daß er in seine Einfahrt einbiegen konnte. Scheiße! Eines der Kinder hatte sein Fahrrad vor der Garage stehenlassen. Deshalb konnte er jetzt die automatische Tür nicht öffnen und einfach hineinfahren. Er mußte aussteigen. Scheiße! Wieder so ein Nadelstich. Er konnte nicht einmal am Randstein der Millers nebenan parken; irgend so ein Idiot hatte
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da seinen Wagen abgestellt. Aber das war nicht der Buick der
Millers. Verdammte Scheiße!
Joey bremste den Pontiac auf halbem Weg die Einfahrt hinauf
ab und stieg aus. Er ging zu dem Fahrrad und beugte sich vor.
Nicht einmal auf den Ständer hatten die das Fahrrad gestellt.
Und Joey bückte sich nicht gern, dazu war er zu füllig.
»Joseph Albanese!«
Joey der Nette fuhr herum, duckte sich, griff unter seine Achsel.
Es gab nur eine Art von Menschen, die diesen Ton hatten. Er
zog seinen .38er heraus und warf sich gegen den Kühlergrill
seines Wagens.
Die Explosionen hallten durch die Nachbarschaft. Vögel
flatterten aus Bäumen auf, und schrille Schreie zerrissen die
nachmittägliche Ruhe. Joseph Albanese hing an der
Kühlerverkleidung seines Pontiac, und ein paar Blutfäden
rannen träge an dem blitzenden Chrom herunter. Joey der
Nette war mitten ins Sperrfeuer gelaufen und hielt noch die
Pistole in der Hand, die er erst vergangene Nacht so wirksam
eingesetzt hatte. Die Ballistik würde den Beweis liefern. Der
Mörder von Lucas Anstett war tot. Der Richter war das Opfer
eines Gangstermordes geworden, und niemand würde
erfahren, daß das Ganze mit Ereignissen in Verbindung stand,
die sich Tausende Kilometer entfernt in Bonn, in Deutschland,
abspielten.
Converse stand auf dem kleinen Balkon, die Hände auf das
Geländer gestützt, und blickte auf den majestätischen Fluß
hinter dem Grün hinunter, das die Rheinufer säumte. Es war
kurz nach sieben. Im Westen versank gerade die Sonne; ihre
orangeroten Strahlen säumten die schweren Wolken, die am
Himmel hingen. Die Farben hatten eine hypnotische Wirkung,
und die leichte Brise war angenehm kühl. Doch nichts konnte
das tosende Echo in seiner Brust zum Verstummen bringen.
Wo war Fitzpatrick? Wo war sein Aktenkoffer? Die Akten? Er
versuchte, seinen Gedanken Einhalt zu gebieten, versuchte,
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seine Phantasie daran zu hindern, sich immer schrecklicheren
Möglichkeiten hinzugeben...
Plötzlich war ein anderes Echo zu hören, das aus dem Zimmer
kam. Er drehte sich rasch herum und sah Connal Fitzpatrick im
Türrahmen auf tauchen, damit beschäftigt, den Schlüssel aus
dem Schloß zu ziehen. Dann trat Fitzpatrick zur Seite und ließ
einen uniformierten Träger mit den Koffern eintreten. Er wies
den Mann an, das Gepäck abzustellen, während er in der
Tasche nach einem Trinkgeld suchte. Der Träger ging, und der
Marineanwalt starrte Joel an. Fitzpatrick hatte keinen
Aktenkoffer bei sich.
»Wo ist er?« sagte Converse, der vor Angst erstarrt war und
nicht zu atmen wagte.
»Ich hab' ihn nicht abgeholt.«
»Warum nicht?« schrie Joel und sprang auf ihn zu.
»Ich war mir nicht sicher... vielleicht war es nur ein Gefühl, ich
weiß nicht.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich war gestern sieben Stunden auf dem Flughafen, bin dabei
von einem Schalter zum anderen gegangen und habe mich
nach Ihnen erkundigt«, erklärte Connal leise. »Heute
nachmittag, als ich am Lufthansa-Schalter vorbeiging, war
wieder derselbe Mann da. Als ich ihm zunickte, hatte ich das
Gefühl, daß er mich nicht kennen wollte. Er wirkte nervös.
Zuerst verstand ich das nicht. Dann holte ich meinen Koffer,
kehrte wieder zurück und beobachtete ihn. Ich erinnerte mich
daran, wie er mich gestern abend angesehen hatte, und als ich
diesmal an ihm vorbeiging, hätte ich schwören können, daß
seine Augen immer wieder ins Flughafengebäude wanderten.
Aber da herrschte ein solches Durcheinander von Leuten, daß
ich nicht sicher sein konnte.«
»Sie glauben, man sei Ihnen gefolgt?«
»Das ist es ja gerade, ich weiß es nicht. Als ich in Bonn
einkaufen war, bin ich von Laden zu Laden gegangen und habe
mich immer wieder umgesehen, ob ich jemanden entdecken
-2 3 8
könnte. Ein paarmal dachte ich, ich würde jemanden
wiedererkennen, aber ich war mir - wiederum - nicht sicher. Ich
mußte immer an den Lufthansa-Angestellten denken; irgend
etwas stimmte da nicht.«
»Und als Sie dann im Taxi saßen? Haben Sie...?«
»Natürlich. Auf der Fahrt hierher habe ich die ganze Zeit durchs
Rückfenster gesehen. Ein paar Wagen sind dieselbe Strecke
wie wir gefahren. Aber als ich den Fahrer anwies, er solle
langsamer werden, haben sie uns überholt.«
»Haben Sie darauf geachtet, wo die nach dem Überholen
hinfuhren?«
»Was hätte das für einen Sinn gehabt?«
»Den hätte es schon gehabt«, sagte Joel und erinnerte sich an
einen geschickten Fahrer, der einer dunkelroten Mercedes-
Limousine gefolgt war.
»Ich wußte nur, daß Sie wegen des Aktenkoffers recht nervös
waren. Ich weiß nicht, was in ihm ist, und ich denke, Sie wollen
nicht, daß jemand anderer es erfährt.«
»Stimmt genau.«
Es klopfte an der Türe, und obwohl das Geräusch ganz leise
war, wirkte es doch wie ein Donnerschlag. Die beiden Männer
standen reglos da, ihre Augen hefteten sich an die Tür.
»Fragen Sie, wer da ist«, flüsterte Converse.
»Wer ist da, bitte?« sagte Fitzpatrick, gerade laut genug, um
gehört zu werden. Eine kurze Antwort in deutscher Sprache ließ
Connal aufatmen. »Schon in Ordnung. Eine Nachricht für mich
vom Geschäftsführer. Wahrscheinlich will er uns ein
Konferenzzimmer andrehen.« Der Marineanwalt ging zur Tür
und öffnete sie.
Aber es war weder der Geschäftsführer noch ein Page oder ein
Träger mit einer Nachricht. Statt dessen stand dort ein
schlanker, älterer Herr in einem dunklen Anzug, ein Mann mit
sehr breiten Schultern, der sich betont aufrecht hielt. Er sah
zuerst Fitzpatrick an, dann wanderte sein Blick zu Converse.
-2 3 9
»Bitte entschuldigen Sie mich, Commander«, sagte er höflich,
schritt durch die Tür und ging mit ausgestreckter Hand auf Joel
zu. »Herr Converse, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist
Leifhelm. Erich Leifhelm.«
11 Benommen griff Joel nach der Hand des Deutschen. Er war wie
gelähmt und wußte nicht, was er sonst hätte tun sollen.
»Feldmarschall...?« stieß er hervor und bedauerte es sogleich
wenigstens hätte er die Geistesgegenwart besitzen müssen,
»General« zu sagen.
»Ein alter Titel, den ich Gott sei Dank seit vielen Jahren nicht
mehr gehört habe. Aber Sie schmeicheln mir. Sie haben sich
für mich interessiert und etwas über meine Vergangenheit in
Erfahrung gebracht.«
»Nicht sehr viel.«
»Genug, vermute ich.« Leifhelm drehte sich zu Fitzpatrick. »Ich
bitte um Nachsicht für meinen kleinen Trick, Commander. Ich
hielt es so für das beste.«
Fitzpatrick zuckte verwirrt die Schultern. »Die Herren kennen
einander offenbar.«
»Das nicht«, widersprach der Deutsche. »Wir haben
voneinander gehört. Mister Converse ist nach Bonn gekommen,
um sich mit mir zu treffen, aber ich nehme an, das hat er Ihnen
bereits gesagt.«
»Nein, das habe ich ihm nicht gesagt«, erklärte Joel.
Leifhelm drehte sich wieder um und sah Converse forschend
an. »Aha. Vielleicht sollten wir dann unter vier Augen
sprechen.«
»Ja, ich denke auch.« Joel sah zu Fitzpatrick hinüber.
»Commander, ich habe Ihre Zeit lange genug in Anspruch
genommen. Warum gehen Sie nicht schon zum Dinner
hinunter? Ich werde später nachkommen.«
-2 4 0
»Wie Sie wünschen, Sir«, erwiderte Connal. Der Offizier war in
die Rolle eines Adjutanten geschlüpft. Er nickte und ging
hinaus, wobei er die Tür fest hinter sich ins Schloß zog.
»Ein reizendes Zimmer«, begann Leifhelm und ging ein paar
Schritte auf die offene Balkontüre zu. »Und mit solch reizender
Aussicht.«
»Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Converse.
»Ihn habe ich gefunden«, erwiderte der ehemalige
Feldmarschall und sah Joel an. »Ein Marineoffizier, wie man mir
am Empfang sagte. Wer ist er?«
»Wie?« wiederholte Converse.
»Er hat gestern abend am Flughafen einige Stunden damit
verbracht, sich nach Ihnen zu erkundigen. Viele haben sich an
ihn erinnert. Er ist ganz offensichtlich mit Ihnen befreundet.«
»Und Sie wußten, daß er sein Gepäck dort abgestellt hatte?
Daß er zurückkommen und es abholen würde?«
»Offen gestanden, nein. Wir dachten, er würde das Ihre
abholen. Wir wußten, daß Sie selbst das nicht tun würden. So,
und jetzt sagen Sie mir bitte, wer er ist.«
Joel erkannte, daß es sehr wichtig war, im Moment eine
gewisse Arroganz an den Tag zu legen, so wie er es auch bei
Bertholdier in Paris getan hatte. Das war der einzige Weg, um
von diesen Männern akzeptiert zu werden. Sie mußten in ihm
Züge ihres eigenen Wesens wiedererkennen. »Er ist nicht
wichtig und weiß nichts. Er ist Offizier und Anwalt in der Navy,
hat schon früher in Bonn gearbeitet und ist, soweit mir bekannt
ist, wegen irgendeiner persönlichen Angelegenheit hier. Ich
glaube, er hat da eine Verlobte erwähnt. Ich habe ihn neulich
erst kennengelernt. Wir kamen ins Gespräch, und ich erzählte
ihm, daß ich um dieses Datum herum hier mit dem Flugzeug
ankommen würde, woraufhin er sich erbot, mich abzuholen. Er
ist beflissen und hartnäckig. Ich bin sicher, daß er von einer
zivilen Kanzlei träumt. Natürlich habe ich ihn - unter den
vorliegenden Umständen - benutzt. So wie Sie.«
-2 4 1
»Natürlich.« Leifhelm lächelte; er war aalglatt. »Sie haben ihm
Ihre Ankunftszeit nicht genannt?«
»Das war ja nach Paris nicht gut möglich, oder?«
»O ja, Paris. Wir müssen über Paris sprechen.«
»Ich habe mit einem Freund gesprochen, der mit der Sürete zu
tun hat. Der Mann ist gestorben.«
»Das tun solche Leute häufig.«
»Man hat mir gesagt, er sei Fahrer gewesen, ein Chauffeur.
Das war er nicht.«
»Wäre es denn klüger gewesen, wenn man gesagt hätte, daß
er ein Vertrauter von General Jacques Louis Bertholdier war?«
»Selbstverständlich nicht. Man sagt, ich hätte ihn getötet.«
»Das haben Sie auch. Wir nehmen an, daß es sich um eine Tat
im Affekt gehandelt hat, deren Verschulden sich der Mann ohne
Zweifel selbst zuzuschreiben hat.«
»Interpol ist hinter mir her.«
»Wir haben auch Freunde; die Situation wird sich ändern. Sie
haben nichts zu fürchten - solange wir nichts zu fürchten
haben.« Der Deutsche machte eine Pause und sah sich im
Zimmer um. »Darf ich mich setzen?«
»Bitte. Soll ich etwas zu trinken kommen lassen?«
»Ich trinke nur ganz leichten Wein und auch davon nur wenig.
Wenn Sie nicht wollen... Es ist nicht nötig.«
»Gut«, sagte Converse, während Leifhelm in einem Sessel vor
der Balkontür Platz nahm. Joel wollte sich erst setzen, wenn er
das Gefühl hatte, daß der richtige Zeitpunkt dafür gekommen
war, nicht früher.
»Sie haben am Flughafen außergewöhnliche Maßnahmen
ergriffen, um uns aus dem Wege zu gehen«, fuhr Leifhelm fort.
»Man ist mir aus Kopenhagen gefolgt.«
»Sehr aufmerksam von Ihnen. Sie verstehen aber doch sicher,
daß Ihnen niemand etwas zuleide tun wollte.«
-2 4 2
»Ich verstehe gar nichts. Mir hat es nur einfach nicht gefallen.
Ich wußte nicht, welche Auswirkung Paris auf meine Ankunft in
Bonn haben würde, was es für Sie bedeutete.«
»Was Paris für mich bedeutet?« fragte Leifhelm, aber es war
nur eine rhetorische Frage. »Paris bedeutet, daß ein Mann, ein
Anwalt, der sich eines falschen Namens bediente, zu einer sehr
angesehenen Persönlichkeit, den viele für einen brillanten
Staatsmann halten, einige sehr beunruhigende Dinge gesagt
hat. Dieser Anwalt, der sich Simon nannte, sagte, er würde
nach Bonn fliegen, um sich mit mir zu treffen. Dann - sicher
dazu provoziert - tötet er einen Mann, woraus wir unsere
Schlüsse ziehen; der Mann ist skrupellos und sehr fähig. Aber
das ist alles, was wir wissen; wir würden gerne mehr wissen.
Wohin er geht, mit wem er sich trifft. Würden Sie in unserer
Lage anders gehandelt haben?«
Das war der Augenblick, um sich zu setzen. »Ich hätte es
besser gemacht.«
»Wenn wir gewußt hätten, wie geschickt und findig Sie sind,
hätten wir es vielleicht etwas weniger auffällig arrangiert.
Übrigens, was ist denn in Paris geschehen? Womit hat der
Mann Sie denn provoziert?«
»Er versuchte, mich am Verlassen des Hotels zu hindern.«
»Dazu hatte er keine Anweisung.«
»Dann hat er seine Anweisungen zumindest mißverstanden.
Ich habe noch ein paar Schrammen an der Brust und am Hals,
die das beweisen. Ich bin es nicht gewöhnt, mich handgreiflich
verteidigen zu müssen, und ich hatte ganz bestimmt nicht die
Absicht, den Mann zu töten. Tatsächlich wußte ich nicht, daß
ich ihn getötet habe. Es war ein Unfall, ich habe in reiner
Notwehr gehandelt.«
»Ja, offensichtlich. Wer wünscht sich schon solche
Komplikationen?«
»Genau«, nickte Converse. »Sobald ich Mittel und Wege
gefunden habe, meine letzten Stunden in Paris so zu
arrangieren, daß ich das Zusammentreffen mit General
-2 4 3
Bertholdier nicht zu erwähnen brauche, werde ich zurückkehren
und der Polizei erklären, was geschehen ist.«
»Das ist vielleicht leichter gesagt als getan. Man hat sie im
L'Etalon Blanc miteinander sprechen sehen. Ohne Zweifel hat
man den General im Hotel erkannt. Er ist ein sehr bekannter
Mann. Nein, ich glaube, es wäre klüger, wenn Sie das uns
überließen. Wir können das nämlich, müssen Sie wissen.«
Joel sah den Deutschen scharf an, seine Augen blickten kalt,
fragend. »Ich gebe zu, daß es mit einem gewissen Risiko
verbunden ist, es auf meine Art zu tun. Mir gefällt dieses Risiko
nicht, und meinem Klienten wäre es auch nicht recht.
Andererseits kann ich mich ja nicht von der Polizei jagen
lassen.«
»Man wird die Jagd abblasen. Sie werden sich ein paar Tage
versteckt halten müssen, aber dann werden aus Paris neue
Instruktionen ergehen. Ihr Name wird von der Interpol-Liste
verschwinden; und dann wird man Sie nicht länger suchen.«
»Ich will Garantien.«
»Gibt es eine bessere als mein Wort? Ich sage Ihnen nichts
Neues, wenn ich Ihnen erkläre, daß wir viel mehr zu verlieren
haben als Sie.«
Converse staunte, ließ sich aber nichts anmerken. Ob Leifhelm
das nun wußte oder nicht, er hatte ihm gerade viel offenbart.
Der Deutsche hatte praktisch zugegeben, daß er einer
Geheimorganisation angehörte, die nicht riskieren durfte, daß
ihre Existenz bekannt wurde. Das war der erste konkrete
Hinweis, den Joel gehört hatte. Irgendwie war das alles zu
einfach. Oder waren diese Führer von Aquitania einfach nur
verängstigte alte Männer?
»Das räume ich ein«, sagte Converse und schlug die Beine
übereinander. »Nun, General, Sie haben mich gefunden, bevor
ich Sie gefunden habe. Aber wir waren uns ja darüber einig,
daß ich in meiner Bewegungsfreiheit beschränkt bin. Wie geht
es jetzt weiter?«
»Ganz genau so, wie Sie es geplant haben, Mr. Converse. In
Paris haben Sie von Bonn, Tel Aviv und Johannesburg
-2 4 4
gesprochen. Sie wußten, mit wem Sie in Paris Verbindung
aufnehmen mußten und wen Sie in Bonn suchen mußten. Das
beeindruckt uns in hohem Maße; wir müssen davon ausgehen,
daß Sie mehr wissen.«
»Ich habe Monate mit detaillierten Recherchen verbracht
selbstverständlich im Auftrag meines Klienten.«
»Aber wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
Joel spürte einen stechenden Schmerz. Er hatte diesen
Schmerz schon oft verspürt; das war seine Reaktion auf
drohende Gefahr, und er hatte gelernt, dieser Reaktion zu
vertrauen. »Ich bin der, den die Menschen in mir sehen sollen,
General Leifhelm. Ich bin sicher, daß Sie das verstehen
können.«
»Ja«, sagte der Deutsche und beobachtete ihn scharf.
»Jemand, der sich dem Wind anvertraut, aber auch Kraft genug
hat, zu seinem Ziel getragen zu werden.«
»Vielleicht kann man es so sagen. Und was die Frage betrifft,
woher ich komme, so bin ich sicher, daß Sie das inzwischen
wissen.«
Fünf Stunden. Mehr als genug Zeit, um einen Killer in Position
zu bringen. Ein Mord in New York; es galt zu handeln.
»Nur stückweise, Mr. Converse. Und selbst wenn wir mehr
wüßten, wie könnten wir sicher sein, daß es stimmt? Sie sind
vielleicht gar nicht das, was die Leute glauben?«
»Sind Sie das, General?«
»Bravo!« sagte Leifhelm und schlug sich lachend aufs Knie. Es
war ein ehrliches Lachen. »Sie sind ein guter Anwalt, mein
Herr. Sie beantworten eine Frage mit einer anderen, die
gleichzeitig Antwort und Anklage ist.«
»So wie die Dinge liegen, ist das nicht mehr und nicht weniger
als die Wahrheit.«
»Und bescheiden sind Sie auch. Sehr lobenswert, sehr
anziehend.«
Joel veränderte seine Haltung und schlug die Beine dann
wieder ungeduldig übereinander. »Ich mag Komplimente nicht,
-2 4 5
General. Ich vertraue ihnen nicht - so wie die Dinge liegen. Sie
erwähnten vorher meine Reiseziele, Bonn, Tel Aviv und
Johannesburg. Was meinten Sie damit?«
»Nur daß wir Ihren Wünschen entsprochen haben«, sagte
Leifhelm und spreizte die Hände vor sich. »Sie brauchen diese
mühsamen Reisen nicht mehr zu machen. Wir haben unsere
Vertreter in Tel Aviv und Johannesburg und natürlich auch
Bertholdier gebeten, nach Bonn zu kommen, zu einer
Konferenz. Zu einer Konferenz mit Ihnen, Mr. Converse.«
Ich habe es geschafft! dachte Joel. Sie harten Angst - waren in
Panik, das war vielleicht sogar das treffendere Wort. Trotz des
stechenden Schmerzes, der immer noch in seiner Brust wühlte,
sprach er langsam und ruhig. »Ich danke Ihnen für Ihr
Entgegenkommen, aber ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß
mein Klient noch nicht zu einem Gipfel bereit ist. Er wollte die
einzelnen Bausteine verstehen, bevor er sich das Ganze näher
betrachtet. Die Speichen tragen das Rad, Sir. Ich sollte ihm
berichten, wie stark sie sind - wie stark Sie mir erscheinen.«
»O ja, Ihr Klient. Wer ist es, Mr. Converse?« »Ich bin sicher,
daß General Bertholdier Ihnen gesagt hat, daß ich nicht befugt
bin, darüber Auskunft zu geben.«
»Sie waren in San Francisco, in Kalifornien...«
»Wo ein großer Teil meiner Recherchen stattfand«, unterbrach
Joel ihn. »Das ist nicht der Ort, an dem mein Klient lebt.
Obwohl ich gerne zugeben will, daß es einen Mann in San
Francisco gibt - in Palo Alto, um es genau zu sagen -, den ich
sehr gern als Klienten sähe.«
»Ja, ja, ich verstehe.« Leifhelm legte die Fingerspitzen
gegeneinander und fuhr fort. »Soll ich Ihren Worten entnehmen,
daß Sie die Konferenz hier in Bonn ablehnen?«
Converse hatte Fragen dieser Art Tausende Male gehört, wenn
er mit anderen Anwälten verhandelte und eine Einigung
zwischen geschäftlichen Gegnern suchte. Beide Parteien
wollten dasselbe; es ging lediglich darum, die Positionen
anzugleichen, so daß keine Partei zum Bittsteller wurde.
-2 4 6
»Nun, Sie haben sich viel Mühe gemacht«, begann Joel.
»Solange wir uns darüber einig sind, daß ich mit jedem von
Ihnen einzeln sprechen kann, sofern ich das wünsche, sehe ich
in einer Zusammenkunft keinen Schaden.« Converse gestattete
sich ein sichtbar erzwungenes Lächeln, wie er es tausendmal
eingesetzt hatte. »Im Interesse meines Klienten natürlich.«
»Selbstverständlich«, sagte der Deutsche. »Morgen. Sagen wir
um vier Uhr nachmittags? Ich werde Ihnen einen Wagen
schicken. Ich kann Ihnen versichern, mein Tisch ist
ausgezeichnet.«
»Ihr Tisch?«
»Dinner, selbstverständlich. Nach unserem Gespräch.«
Leifhelm erhob sich. »Das ist ein Erlebnis, auf das Sie nicht
verzichten dürfen, wo Sie doch schon in Bonn sind. Ich bin für
meine Dinnerpartys bekannt, Mr. Converse. Und wenn es Sie
beunruhigt, treffen Sie jegliche... Sicherheitsmaßnahmen ... die
Sie wünschen. Leibwächter, wenn Sie wünschen. Ihre
Sicherheit ist garantiert. Mein Haus ist das Ihre.« Den letzten
Satz hatte der sonst perfekt Englisch sprechende Leifhelm in
deutscher Sprache gesagt. Converse sah ihn fragend an.
»Ich spreche nicht Deutsch.«
»Eigentlich ist das ein altes spanisches Sprichwort. Mi casa, su
casa. >Mein Haus ist Ihr Haus.< Es ist mir wichtig, daß Sie sich
wohl fühlen.«
»Mir auch«, sagte Joel und stand auf. »Es kommt gar nicht in
Frage, daß jemand mich begleitet oder mir folgt. Das würde
stören. Natürlich werde ich meinen Klienten darüber
informieren, wo ich bin und ihm etwa den Zeitpunkt sagen, an
dem er anschließend mit meinem Anruf rechnen kann. Er wird
mit großem Interesse darauf warten.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Leifhelm und Converse gingen
zur Tür; der Deutsche drehte sich um und streckte dem
anderen noch einmal die Hand hin. »Bis morgen also. Und ich
darf meine Empfehlung wiederholen, zumindest die nächsten
paar Tage hier sehr vorsichtig zu sein.«
»Ich verstehe.«
-2 4 7
Der Killer in New York. Der Mord, um den er sich als erstes
kümmern mußte - das erste von zwei Hindernissen, zwei Stiche
in seiner Brust.
»Übrigens«, sagte Joel und ließ die Hand des Feldmarschalls
los. »Da war heute morgen eine Nachricht in der BBC, die mich
interessiert hat - so interessiert, daß ich einen Kollegen
angerufen habe. Ein Mann in New York ist getötet worden, ein
Richter. Es heißt, es sei ein Racheakt gewesen, ein bestellter
Mord der Mafia. Wissen Sie etwas davon?«
»Ich?« fragte Leifhelm. Seine weißblonden Brauen schoben
sich in die Höhe, und seine wächsernen Lippen öffneten sich.
»In New York werden doch jeden Tag Dutzende von Menschen
getötet, und darunter wahrscheinlich auch Richter. Weshalb
sollte ich etwas davon wissen? Meine Antwort ist natürlich
nein.«
»Ich dachte nur. Danke.« »Aber... aber Sie. Sie müssen doch
einen...« »Ja, General?«
»Warum interessiert Sie dieser Richter? Warum dachten Sie,
ich könnte ihn kennen?«
Converse lächelte, ein Lächeln ohne jeden Humor. »Ich sage
Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen erkläre, daß er unser
gemeinsamer Feind war.«
»Unser...? Sie müssen sich wirklich näher erklären!«
»Dieser Mann kannte die Wahrheit. Ich habe mich von meiner
Firma beurlauben lassen, um vertraulich für einen privaten
Klienten tätig zu werden. Er versuchte, mich aufzuhalten,
versuchte den Seniorpartner meiner Firma dazu zu bewegen,
meinen Urlaub zu streichen und mich zurückzurufen.«
»Hat er ihm Gründe genannt?«
»Nein, nur versteckte Drohungen, in denen er auf Korruption
und unkorrektes Verhalten anspielte. Weiter wollte er nicht
gehen; er ist Mitglied der Anwaltskammer, konnte aber keine
Beweise vorlegen. Mein Arbeitgeber weiß überhaupt nichts - er
ist wütend und etwas verwirrt-, aber ich habe ihn beruhigt. Die
Angelegenheit ist erledigt, und je weniger man in ihr
-2 4 8
herumstochert, desto besser ist es für uns alle.« Joel öffnete
Leifhelm die Tür. »Bis morgen...« Er zögerte einen Augenblick,
und obwohl er den Mann, der vor ihm stand, verabscheute,
zeigten seine Augen nur Respekt. »Feldmarschall«, fügte er
hinzu.
»Gute Nacht«, sagte Erich Leifhelm mit einem scharfen,
militärisch wirkenden Nicken.
Converse überredete die Dame an der Telefonvermittlung,
jemanden in den Speisesaal zu schicken, um den Amerikaner,
Commander Fitzpatrick, zu holen. Das erwies sich als ziemlich
schwierig, denn der Marineoffizier befand sich weder im
Speisesaal noch an der Bar, sondern saß draußen auf der
spanischen Terrasse, wo er mit Freunden einen Drink einnahm
und den Blick auf den Rhein genoß.
»Was für gottverdammte Freunde?« fragte Joel am Telefon.
»Ein Ehepaar, das ich dort draußen kennenlernte. Ein netter
Bursche - Typ leitender Angestellter, Anfang der Siebzig, würde
ich meinen.«
»Und sie?« fragte Converse, dessen Anwaltsverstand sofort zu
arbeiten begann.
»Vielleicht... dreißig, vierzig Jahre jünger«, erwiderte Connal.
»Kommen Sie herauf, Seemann!«
Fitzpatrick saß auf der Couch und beugte sich nach vorne, die
Ellbogen auf die Knie gestützt. In seinem Gesichtsausdruck
mischten sich Sorge und Erstaunen, während er Joel ansah,
der, vor der offenen Balkontür stehend, eine Zigarette rauchte.
»Lassen Sie mich das wiederholen«, sagte Connal
argwöhnisch. »Sie wollen also, daß ich jemanden daran
hindere, sich Zugang zu Ihren Militärakten zu verschaffen?«
»Nicht zu allen, nur zu einem bestimmten Teil.«
»Für wen halten Sie mich eigentlich?«
»Sie haben es für Avery getan - für Press. Sie können es für
mich tun. Das müssen Sie!«
»Das war etwas anderes. Für ihn habe ich diese Akten
geöffnet, nicht sie geschlossen.«
-2 4 9
»Nun, Sie haben Zugang zu ihnen, Sie haben einen
Schlüssel.«
»Ich bin hier, nicht dort. Ich kann nicht aus achttausend Meilen
Entfernung etwas herausschneiden, das Ihnen nicht paßt.«
»Jemand kann es, jemand muß es tun! Es ist nur ein kurzer
Abschnitt ganz am Ende. Das letzte Gesprächsprotokoll.«
»Ein Gesprächsprotokoll?« sagte Connal verblüfft und stand
auf. »In einer Dienstakte? Sie meinen, irgendein Einsatzbericht.
Denn in dem Fall wäre es...«
»Kein Bericht«, unterbrach ihn Converse und schüttelte den
Kopf. »Die Entlassung... Das Gespräch vor meiner Entlassung.
Das Zeug, das Press Halliday mir gegenüber erwähnt hat.«
»Augenblick, Augenblick.« Fitzpatrick hob die Hände. »Sie
meinen die Bemerkung, die Sie bei der Anhörung anläßlich
Ihrer Entlassung gemacht haben.«
»Ja, genau die. Können Sie die verschwinden lassen?«
»Ich kann es versuchen«, sagte der andere und ging durch die
Verandatür zum Telefon. »Nein, ich kann mehr als es nur
versuchen. Ich kann einen Befehl erteilen. Das ist der Vorteil,
den einem der Dienstrang einbringt.«
»Lieutenant Senior Grade Remington, David, Juristische
Abteilung, SAND PAC. Es handelt sich um einen äußerst
dringenden Fall, Sailor. Hier spricht Commander Fitzpatrick.
Unterbrechen Sie ihn, falls er gerade spricht.« Connal hielt die
Hand über die Sprechmuschel und drehte sich zu Converse
um. »Wenn Sie meinen Koffer öffnen, finden Sie eine Flasche
Bourbon.«
»Sofort.«
»Remington?... Hallo, David, hier spricht Connal... Ja, vielen
Dank, ich sage es Meagen... Nein, ich bin nicht in San
Francisco, dort können Sie mich nicht erreichen. Aber hier hat
sich etwas entwickelt, wo Sie sich einschalten müssen. Etwas
auf meinem Terminkalender, das ich nicht mehr geschafft habe.
Zunächst einmal, es handelt sich um einen Vier-Null-Notfall. Ich
-2 5 0
sage Ihnen Näheres, wenn ich wieder zurück bin, aber bis dahin müssen Sie das erledigen. Haben Sie etwas zu schreiben... Es gibt da eine Kriegsgefangenenakte unter dem Namen Converse, Joel... Lieutenant, Luftwaffe, Pilot Flugzeugträger, Vietnam. Er ist in den sechziger Jahren entlassen worden...« Fitzpatrick blickte auf Converse hinunter, der die rechte Hand und drei Finger der linken zeigte, »... Neunzehnhundertachtundsechzig, um es genauer zu sagen...« Joel trat vor, immer noch die gespreizte rechte Hand erhoben, während die linke jetzt nur noch den Daumen zeigte. »... Juni achtundsechzig«, fügte der Anwalt hinzu und nickte. »Entlassungsort unser geliebter Standort San Diego. Haben Sie das alles? Lesen Sie es mir bitte noch einmal vor, David.« Connal nickte beim Zuhören einige Male. »C-O-N-V-E-R-S-E, stimmt... Juni achtundsechzig, Luftwaffe, Pilot, Vietnam, Kriegsgefangenenabteilung, San Diego Entlassung. Genau, Sie haben es richtig. So, und jetzt die Einzelheiten, David. Die Entlassungsakte von diesem Converse hat einen Sperrvermerk; er bezieht sich auf die Anhörung bei seiner Entlassung, also nicht auf Waffen oder Technologie... Hören Sie gut zu, David. Mir ist zu Ohren gekommen, daß für dieses Entlassungsprotokoll möglicherweise eine Anforderung unter Freigabecode anhängig ist. Dieses Protokoll darf unter keinen Umständen freigegeben werden. Der Sperrvermerk bleibt und darf ohne meine Zustimmung nicht entfernt werden. Und wenn der Antrag bereits bearbeitet ist, dann liegt er immer noch innerhalb der achtundvierzigstündigen Prüffrist. Sie würgen ihn ab. Kapiert?« Wieder hörte Fitzpatrick zu, nickte aber diesmal nicht, sondern schüttelte den Kopf. »Nein, unter keinen Umständen. Es ist mir völlig gleichgültig, wenn der Secretary of State, der Verteidigungsminister und die Navy eine gemeinsame Petition auf dem Briefbogen des Weißen Hauses einreichen, die Antwort ist trotzdem nein. Wenn jemand die Entscheidung in Zweifel zieht, dann sagen Sie ihm, daß ich meine Befugnisse als leitender Anwalt und Offizier von SAND PAC ausübe. Es gibt da irgendwo einen Paragraphen, nach dem ich Material, -2 5 1
das mutmaßlich geheim ist, beschlagnahmen kann. Es steht da
irgend etwas über Sicherheit des Abschnitts et cetera, et
cetera. Ich kenne die Frist nicht - zweiundsiebzig Stunden oder
fünf Tage oder so etwas -, suchen Sie sich den Paragraphen
heraus. Vielleicht brauchen Sie ihn.«
Connal lauschte wieder, seine Stirne runzelte sich, und sein
Blick wanderte zu Joel hinüber. Jetzt sprach er ganz langsam,
und Converse spürte wieder das Stechen in seiner Brust. »Wo
Sie mich erreichen können... ?« sagte der Marineoffizier
verwirrt. Und dann lockerte sich seine Verwirrung plötzlich.
»Rufen Sie Meagen in San Francisco an. Wenn ich nicht bei ihr
und den Kindern bin, weiß sie, wo sie mich erreichen kann...
Nochmals vielen Dank, David. Sie kümmern sich sofort um
diese Geschichte, ja? Danke... Ich werde es Meg sagen.«
Fitzpatrick legte den Hörer auf und atmete hörbar aus. »So«,
sagte er, ließ die Schultern sinken und strich sich mit der Hand
durch das braune Haar. »Jetzt werde ich Meagen anrufen und
ihr diese Nummer geben; wenn Remington anruft, soll sie
sagen, daß ich in den Bergen bin - Press hatte dort eine kleine
Hütte.«
»Geben Sie ihr die Telefonnummer«, sagte Joel, »aber sagen
Sie ihr sonst nichts.«
»Keine Sorge, die hat selbst genug um die Ohren.« Der
Marineoffizier sah Converse an und runzelte die Stirn. »Ich
dachte, Sie wollten den Bourbon holen, Lieutenant?«
»Yes, Sir, Commander!« erwiderte Joel und ging zu Fitzpatricks
Koffer.
»Und wenn ich mich richtig erinnere, wollten Sie mir beim Drink
eine Geschichte erzählen, die mich sehr interessiert.«
Chaim Abrahms ging eine dunkle Straße in Tel Aviv hinunter.
Seine hagere Gestalt war wie üblich in eine Safarijacke und
Khakihosen und Stiefel gekleidet. Auf seinem fast kahlen
Schädel saß eine Baskenmütze. Die Mütze war das einzige
Zugeständnis, das er an den Zweck seines nächtlichen
-2 5 2
Ausflugs gemacht hatte. Für gewöhnlich genoß er es, erkannt zu werden, und die Bewunderung, die ihm dann zuteil wurde. »Zuallererst Jude!« war der Satz, mit dem er stets begrüßt wurde, ob es nun in Tel Aviv oder Jerusalem, gewissen Teilen von Paris oder New York war. Der Satz war vor vielen Jahren entstanden, als die Briten ihn als jungen, für die Irgun tätigen Terroristen wegen eines Massakers in einem Palästinenserdorf in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatten. Damals hatte er einen Ruf ausgestoßen, den man auf der ganzen Welt gehört hatte. »Ich bin zuallererst Jude, ein Sohn Abrahams! Alles andere kommt danach, und wenn man den Kindern Abrahams das versagt, was ihnen gebührt, werden noch Ströme von Blut fließen.« Die Briten, die 1948 keinen Wert darauf legten, einen weiteren Märtyrer zu schaffen, begnadigten ihn und gaben ihm einen kleinen Bauernhof. Aber das reichte nicht aus, um ihn wieder seßhaft zu machen. Drei Kriege hatten seine bäuerlichen Fesseln gelöst und zugleich seine Wildheit gesteigert - und sein brillantes Talent im Feld. Es war ein Talent, das sich in frühen Jahren stetiger Flucht mit einer zerrissenen winzigen Armee ausgebildet und verfeinert hatte. In einer Zeit, wo Überraschung, Schrecken, Angriff und schnelles Untertauchen die wichtigsten Taktiken waren, wo die Chancen stets den turmhoch an Waffen und Soldaten überlegenen Feind begünstigten, und wo doch das einzige Ziel der Sieg war. Später setzte er die Strategien jener Jahre in einer immer größer werdenden Kriegsmaschinerie ein, aus der dann Heer, Marine und Luftwaffe eines mächtigen Israel wurden. Mars stand am Himmel von Chaim Abrahms Vision und, abgesehen von den Propheten, war der Gott des Krieges seine Stärke, seine Daseinsberechtigung. Vom Ramat Aviv zum Har Hazeytim, von der Rehovat zur Masada des Negev war Nakamal sein Ruf. Vergeltung an den Feinden der Kinder Abrahams!
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Abrahms erreichte die Kreuzung der Ibn Gabirol und der
Arlosoroff-Straße. Das Licht der Straßenlampen war trübe, aber
das war gut so. Man sollte ihn nicht sehen. Er mußte noch eine
Straße weiter, sein Ziel war eine Adresse an der Jabotinsky-
Straße, ein bescheidenes Apartmenthaus, in dem ein Mann,
der scheinbar ein unwichtiger Bürokrat war, in einer
bescheidenen Wohnung lebte. Wenige freilich wußten, daß
dieser Mann, ein Spezialist, der einen komplizierten Computer
betrieb und dadurch mit dem größten Teil der Welt in
Verbindung stand, von entscheidender Bedeutung für die
weltweiten Operationen der Mossad, von Israels Abwehrdienst,
war.
Abrahms flüsterte vor dem kleinen Gitter über dem Postschlitz
im Vorraum seinen Namen; das Schloß in der schweren Türe
klickte, und er trat ein. Dann begann der mühsame Weg über
drei Stockwerke zur Wohnung hinauf.
»Etwas Wein, Chaim?«
»Whisky«, kam die kurze Antwort.
»Immer dieselbe Frage und immer dieselbe Antwort«, sagte der
Spezialist. »Ich sage >Etwas Wein, Chaim?< und du sagst ein
Wort. >Whisky. < Du würdest selbst bei der Seder Whisky
trinken, wenn du damit durchkämst.«
»Das kann ich, und das tue ich.« Abrahms saß auf einem
abgewetzten Ledersessel und sah sich in dem einfachen, etwas
unordentlich wirkenden Zimmer um, in dem überall Bücher
lagen. Und er fragte sich, wie er das stets tat, weshalb ein
Mann mit solchem Einfluß so lebte. Das Gerücht ging, daß der
Mossad-Offizier nicht gern Gesellschaft hatte und befürchtete,
ein größeres, attraktiveres Quartier könnte vielleicht dazu
führen, daß mehr Leute ihn besuchten. »Aus deinem Knurren
und Grunzen am Telefon habe ich entnommen, daß du das
hast, was ich brauche.«
»Ja, das habe ich«, sagte der Spezialist und brachte seinem
Gast ein Glas sehr guten Scotch. »Ich habe es, aber es wird dir
wahrscheinlich nicht gefallen.«
-2 5 4
»Warum nicht?« fragte Abrahms und trank, wobei er
aufmerksam über den Glasrand blickte und den Gastgeber
nicht aus den Augen ließ, als der ihm gegenüber Platz nahm.
»Im wesentlichen, weil es verwirrend ist und weil man in diesem
Geschäft immer vorsichtig sein muß, wenn einen etwas verwirrt.
Du bist kein vorsichtiger Mann, Chaim Abrahms. Verzeih mir,
wenn ich das so deutlich sage. Du sagst mir, daß dieser
Converse dein Feind ist, jemand, der Israel gerne infiltrieren
würde, und ich sage dir, daß ich nichts finden kann, was diesen
Schluß stützt. Vor allem anderen muß ein Amateur ein
tiefgreifendes persönliches Motiv haben, um sich auf diese Art
von Täuschung einzulassen, diese Art von Verhalten, wenn du
so willst. Es muß einen treibenden Zwang geben, so auf das
Bild einer Sache einzuschlagen, die er verabscheut... Nun, es
gibt ein Motiv, und es gibt auch einen Feind, für den er großen
Haß empfinden muß, aber keines von beiden paßt zu dem, was
du angedeutet hast. Die Information ist übrigens durch und
durch verläßlich. Sie kommt von Qucmg Dinh...«
»Was, zum Teufel, ist das nun wieder?« unterbrach der
General.
»Eine Spezialabteilung der nordvietnamesischen - jetzt
natürlich vietnamesischen - Abwehr.«
»Und dort hast du Gewährsleute?«
»Wir haben sie jahrelang gefüttert - nichts schrecklich
Wichtiges, aber immerhin genug, um ihr Ohr zu gewinnen. Und
ihre Stimmen. Es gab Dinge, die wir wissen mußten, Waffen,
die wir begreifen mußten; es hätte sein können, daß man sie
einmal gegen uns einsetzt.«
»Dieser Converse war in Nordvietnam?«
»Einige Jahre als Kriegsgefangener; es gibt eine ausführliche
Akte über ihn. Zuerst dachten die Vietnamesen, man könnte ihn
für Propaganda einsetzen, für Radiosendungen, im
Fernsehen... Er hätte seine brutale Regierung anflehen sollen,
sich zurückzuziehen und mit dem Bombardement aufzuhören
all der übliche Unfug. Er konnte gut reden, bot ein gutes Bild
und war ganz offensichtlich sehr amerikanisch. Anfangs führten
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sie ihn im Fernsehen als einen Mörder vor, der vom Himmel
gefallen war und den humane Truppen vor der erzürnten
Menge gerettet hatten. Sie dachten, er sei ein weicher,
verzogener junger Mann, den man leicht zerbrechen und den
man als Gegenleistung für eine etwas angenehmere
Behandlung dazu bringen könnte, nach ihrer Pfeife zu tanzen.
Was sie freilich lernen mußten, war etwas völlig anderes. Unter
der weichen Schale war ein Kern aus hartem Metall. Das
Seltsame war, daß dieser Kern im Laufe der Monate immer
härter wurde, bis sie begriffen, daß sie - ich gebrauche ihre
Worte - einen Höllenhund geschaffen hatten, aus Stahl
gehämmert.«
»Höllenhund? So haben die ihn genannt?«
»Nein, nicht wörtlich. Sie nannten ihn einen häßlichen
Unruhestifter, was angesichts der Herkunft dieser Bezeichnung
nicht ohne Ironie ist. Was ich sagen wollte, ist, daß sie die
Tatsache erkannten, daß sie ihn erst zu dem gemacht hatten,
was er geworden war. Je härter sie ihn behandelten, desto
mehr wuchs sein Widerstand.«
»Warum nicht?« sagte Abrahms mit scharfer Stimme. »Er war
zornig. Du brauchst nur eine Wüstenschlange anzustoßen und
zusehen, wie sie dann zuschlägt.«
»Chaim, ich kann dir versichern, daß dies nicht die normale
menschliche Reaktion auf solche Umstände ist. Ein Mann kann
den Verstand verlieren oder wild um sich schlagen oder sich in
sich selbst zurückziehen, bis das beinahe katatonische Züge
annimmt, oder er kann sich aufgeben und weinen und alles und
jedes für die kleinste Freundlichkeit tun. Aber dieser Mann tat
nichts davon. Seine Reaktionen waren kalkuliert, erfinderisch
und bauten auf inneren Reserven auf, die ihm das Überleben
ermöglichten. Er war der Anführer bei zwei Fluchtversuchen
der erste dauerte drei Tage, der zweite fünf. Als Anführer
steckte man ihn in einen Käfig im Mekong-Fluß, und er
entwickelte eine Methode, um die Wasserratten zu töten, indem
er sie wie ein Hai von unten packte. Dann steckte man ihn in
Einzelhaft, ein Loch im Boden, das zwölf Fuß tief und oben mit
Stacheldraht verschlossen war. Aus diesem Loch arbeitete er
-2 5 6
sich nachts während eines schweren Regensturms nach oben,
drückte den Draht weg und entkam allein. Er kämpfte sich
tagelang durch den Dschungel und die Flüsse nach Süden, bis
er die amerikanischen Linien erreichte. Das war keine leichte
Aufgabe. Die Vietnamesen haben einen wildbesessenen Mann
geschaffen, der seinen eigenen, persönlichen Krieg gewonnen
hat.«
»Warum haben sie ihn vorher nicht einfach getötet?«
»Das habe ich mich selbst gefragt«, sagte der Spezialist, »und
deshalb habe ich meinen Gewährsmann in Hanoi angerufen,
den, der mir die Informationen geliefert hat. Er hat etwas
Seltsames gesagt, etwas, das auf seine Art recht tiefgründig ist.
Er sagte, er sei natürlich nicht dabeigewesen, aber seiner
Ansicht nach vermutlich aus Respekt.«
»Für einen häßlichen Unruhestifter?«
»Die Kriegsgefangenschaft, Chaim, bewirkt seltsame Dinge,
sowohl an den Gefangenen als auch an denen, die sie
gefangen haben. Da sind so viele Faktoren im Spiel.
Aggression, Widerstand, Tapferkeit, Furcht, und nicht zuletzt
Neugierde - besonders wenn die Spieler aus so
unterschiedlichen Kulturen wie der westlichen und aus Asien
stammen. Da bilden sich häufig völlig abnorme Bande. Das
verringert die nationalen Animositäten nicht, aber immerhin
setzt eine Art subtiler Anerkennung ein, die diesen Männern,
diesen Spielern sagt, daß sie in Wirklichkeit kein Spiel ihrer
eigenen Wahl betreiben.«
»Was, in Gottes Namen, willst du damit sagen? Du klingst wie
einer dieser Langweiler in der Knesset bei der Verlesung eines
Positionspapiers. Ein wenig von dem und ein wenig von jenem
und eine Menge Wind!«
»Du bist ganz entschieden kein höflicher Mensch. Ich versuche,
dir zu erklären, daß die Vietnamesen, während dieser Converse
seinen Haß und seine Besessenheit pflegte, anfingen, des
Spiels müde zu werden und ihm, wie unser Gewährsmann in
Hanoi andeutet, widerstrebend aus Respekt das Leben
schenkten, ehe er das letztemal, diesmal mit Erfolg, floh.«
-2 5 7
Zu Abrahms Verwirrung war der Spezialist damit offenbar am Ende angelangt. »Und?« sagte der Besucher. »Nun, das ist alles. Da ist sein Motiv und sein Feind, aber gleichzeitig ist es auch dein Motiv und dein Feind - nur auf einem anderen Wege erreicht, natürlich. Am Ende willst du ja das Insurgententum zerschlagen, überall wo es ausbricht, die Ausbreitung der Revolutionen in der Dritten Welt eindämmen, insbesondere in den islamischen Staaten, weil du weißt, daß sie von den Marxisten - sprich den Sowjets - unterstützt werden und eine direkte Bedrohung für Israel darstellen. So oder so, die globale Bedrohung hat euch alle zusammengeführt, und nach meinem Urteil auch mit Recht. Es gibt eine Zeit und einen Ort für einen militärisch-industriellen Komplex, und das ist jetzt. Dieser Komplex muß die Regierungen der freien Welt lenken, ehe die Welt von ihren Feinden zu Grabe getragen wird.« Wieder hielt der Spezialist inne. Chaim Abrahms sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und versuchte, nicht zu schreien. »Und?« »Siehst du es denn nicht? Dieser Converse ist einer von euch. Alles spricht dafür. Er hat das Motiv und einen Feind, den er im grellsten Licht gesehen hat. Er ist ein hochangesehener Anwalt, der bei einer sehr konservativen Firma eine Menge Geld verdient. Seine Klienten kommen aus den reichsten Firmen und Konzernen. All dem können eure Bemühungen Nutzen bringen. Das Verwirrende liegt in seinen unorthodoxen Methoden, und die kann ich nur so erklären, indem ich sage, daß sie vielleicht bei seiner spezialisierten Arbeit nicht unorthodox sind. Märkte können auf Gerüchte hin zusammenbrechen; in seiner Welt genießt die Kunst der Täuschung einen hohen Respekt. Trotzdem, er will euch nicht vernichten, er will sich euch anschließen.« Abrahms stellte sein Glas auf den Boden und erhob sich mit einiger Mühe aus dem Sessel, den Kopf eingezogen, so daß sein Kinn fast die Brust berührte. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging er schweigend auf und ab. Dann blieb er stehen und blickte auf den Spezialisten hinunter. -2 5 8
»Nimm einmal an, nimm es nur an«, sagte er, »daß die
allmächtige Mossad einen Fehler gemacht hat, daß es etwas
gibt, was ihr nicht gefunden habt?«
»Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen.«
»Aber die Möglichkeit besteht doch!«
»Im Lichte der Information, die wir gesammelt haben, bezweifle
ich es. Warum?«
»Weil ich etwas rieche, deshalb!«
Der Mann von der Mossad sah Abrahms an, als studiere er das
Gesicht des Mannes zum erstenmal.
»Es gibt nur noch eine andere Möglichkeit, Chaim. Wenn dieser
Converse nicht das ist, was ich beschrieben habe, was in
krassem Widerspruch zu allen Daten stünde, die wir gesammelt
haben, dann ist er ein Agent seiner Regierung.«
»Und das... das ist es, was ich rieche«, sagte Abrahms leise.
Jetzt war der Spezialist mit Schweigen an der Reihe. Er atmete
tief, ehe er Antwort gab.
»Versuch es zuerst auf meine Art. Versuch, ihn zu akzeptieren;
vielleicht ist er ehrlich. Er wird euch irgend etwas Konkretes
geben müssen; das könnt ihr erzwingen. Und vielleicht tut er es
auch nicht, weil er nicht kann.«
»Und?«
»Wenn er es nicht kann, weißt du, daß du recht hattest. Dann
solltet ihr den Abstand zwischen ihm und seinen Gönnern so
groß wie möglich machen. Er muß ein Paria werden, ein Mann,
den man wegen Verbrechen jagt, die so wahnsinnig sind, daß
niemand mehr seinen Wahnsinn in Zweifel zieht.«
»Warum ihn nicht töten?«
»Unbedingt, aber erst dann, wenn man ihm das Etikett des
Wahnsinnigen angehängt hat und niemand mehr bereit ist, sich
zu ihm zu bekennen. Das würde euch die Zeit verschaffen, die
ihr braucht. Wann ist die Schlußphase von Aquitania? In drei,
vier Wochen?«
»Ja.«
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Der Spezialist erhob sich aus seinem Sessel und stellte sich nachdenklich vor den alten Soldaten. »Ich wiederhole. Versucht zuerst, ihn zu akzeptieren. Seht, ob das, was ich vorher gesagt habe, stimmt. Aber wenn dein Geruchssinn weiter anspricht, wenn es die geringste Möglichkeit gibt, daß Männer in Washington ihn mit oder gegen seinen Willen, bewußt oder unbewußt, zum Provokateur gemacht haben, dann sollt ihr euren Fall gegen ihn aufbauen und ihn den Wölfen vorwerfen. Schafft einen Paria, so wie die Nordvietnamesen einen Höllenhund geschaffen haben. Und dann tötet ihn schnell, ehe ein anderer ihn erreichen kann.« Der junge Army-Captain und der etwas ältere Zivilist kamen aus nebeneinanderliegenden Glastüren des Pentagon und sahen einander kurz an. In ihren Blicken lag kein Erkennen. Sie gingen getrennt die kurze Treppe hinunter und bogen in den Plattenweg ein, der zu dem riesigen Parkplatz führte. Der Offizier ging vielleicht zehn Schritte vor dem Zivilisten. Als sie die riesige Asphaltfläche erreichten, ging jeder auf seinen Wagen zu. Wenn die zwei Männer während der letzten fünfzig Sekunden von einer Kamera überwacht worden waren, würde nichts darauf hindeuten, daß sie einander kannten. Das grüne Buick-Coupe bog plötzlich rechts ab und fuhr in den offenen Abgrund, der in die unterirdische Hotelgarage führte. Unten an der Rampe angelangt, zeigte der Fahrer dem Angestellten, der die gelbe Schranke hob und ihn durchwinkte, seinen Zimmerschlüssel. In der dritten Reihe war ein Platz frei. Der Buick schob sich langsam hinein, und der Army-Captain stieg aus. Er ging durch die Drehtür zu den Lifts in der unteren Lobby des Hotels. Die Tür des zweiten Lifts öffnete sich, und man konnte zwei Paare sehen, die offenbar nicht so weit nach unten hatten fahren wollen. Sie lachten, als einer der Männer ein paarmal hintereinander den Knopf für die Lobby im Parterre drückte. Der Offizier drückte den Knopf für das vierzehnte Stockwerk.
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Sechzig Sekunden später ging er durch die Türe zum
Notausgang und nahm die Treppe zum elften Stockwerk.
Der blaue Toyota-Kombi kam die Rampe herunter, der Fahrer
streckte einen Zimmerschlüssel so hin, daß man die Nummer
lesen konnte. Auf der Parkfläche fand er einen freien Platz in
der sechsten Reihe und steuerte den kleinen Kombi vorsichtig
hinein.
Der Zivilist stieg aus und sah auf die Uhr. Zufrieden ging er auf
die Drehtür und die Lifts zu. Der zweite Lift war leer, und der
Zivilist war versucht, den Knopf für das elfte Stockwerk zu
drücken; er war müde und hätte sich gern die Treppen erspart.
Aber auf der Fahrt nach oben würden andere Passagiere
kommen; er hielt sich an die Regeln und drückte den Knopf
neben der Ziffer neun.
Als er vor der Zimmertür stand, hob der Zivilist die Hand, klopfte
einmal, wartete ein paar Augenblicke und klopfte dann noch
zweimal. Sekunden später wurde die Türe von dem Captain
geöffnet. Hinter ihm war ein dritter Mann zu sehen, ebenfalls in
Uniform, wobei die Farbe und die Rangabzeichen auf einen
Lieutenant der Navy schließen ließen. Er stand am Schreibtisch
neben dem Telefon.
»Schön, daß Sie rechtzeitig gekommen sind«, sagte der Army-
Offizier. »Der Verkehr war schrecklich. Unser Anruf sollte in ein
paar Minuten kommen.«
Der Zivilist trat ein und nickte dem Navy-Offizier zu. »Was
haben Sie über Fitzpatrick in Erfahrung gebracht?« fragte er.
»Er ist an einem Ort, wo er nicht sein sollte«, erwiderte der
Lieutenant.
»Können Sie ihn zurückholen?«
»Ich arbeite daran, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.
Ich stehe ziemlich weit unten in einer hohen hierarchischen
Pyramide.«
»Ist das nicht bei uns allen so?« fragte der Captain.
»Wer hätte gedacht, daß Halliday zu ihm geht?« fragte der
Marineoffizier, und seine Stimme klang enttäuscht. »Oder,
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wenn er ihn schon hereinholen wollte, warum ist er nicht zuerst zu ihm gegangen? Oder warum hat er ihm nichts von uns gesagt?« »Die beiden letzten Fragen kann ich beantworten«, sagte der Mann von der Army. »Er wollte ihn vor Folgen aus dem Pentagon schützen. Wenn wir fallen, bleibt sein Schwager sauber.« »Und ich kann die erste Frage beantworten«, sagte der Zivilist. »Halliday ist zu Fitzpatrick gegangen, weil er nach allerletzter Analyse uns nicht vertraute. Genf hat bewiesen, daß er recht hatte.« »Wie?« fragte der Captain abwehrend, aber ohne sich damit zu entschuldigen. »Wir hätten es nicht verhindern können.« »Nein, das hätten wir nicht«, gab ihm der Zivilist recht.
»Aber hinterher konnten wir auch nichts unternehmen. Das war
Teil der Vereinbarung. Das konnten wir uns nicht leisten.«
Das Telefon klingelte. Der Lieutenant nahm den Hörer ab und lauschte. »Mykonos«, sagte er.
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2. BUCH
12 Connal Fitzpatrick saß Joel gegenüber an dem Tisch, den der
Zimmerkellner hereingeholt hatte, und trank seinen letzten
Kaffee. Das Dinner war zu Ende, die Geschichte erzählt und
alle Fragen, die dem Marineanwalt eingefallen waren, von
Converse beantwortet. Joel brauchte einen Verbündeten, der
rückhaltlos zu ihm stand.
»Abgesehen von ein paar Namen und einigem Aktenmaterial
weiß ich eigentlich nicht viel mehr als zuvor«, sagte Connal.
»Vielleicht tue ich das, wenn ich diese Pentagon-Namen sehe.
Sie sagen, Sie wissen nicht, wer sie geliefert hat?«
»Nein, die sind einfach da. Beale meinte, einige davon seien
wahrscheinlich irrtümlich auf der Liste, aber andere nicht; sie
müssen ja mit Delavane in Verbindung stehen.«
»Aber jemand muß sie doch geliefert haben. Es muß doch
Gründe gegeben haben, sie in die Liste aufzunehmen.«
»Beale hat sie >Entscheidungsmacher< bei der militärischen
Beschaffung genannt.«
»Dann muß ich sie sehen. Ich habe schon mit solchen Leuten
zu tun gehabt.«
»Sie?«
»Ja. Nicht sehr oft, aber oft genug, um mich auszukennen.«
»Warum Sie?«
»Im wesentlichen bei der Übersetzung juristischer Feinheiten,
wenn es um Navy-Technologie ging. Ich glaube, ich erwähnte
schon, daß ich vier Sprachen...«
»Ja, das haben Sie«, unterbrach ihn Joel.
»Verdammt!« rief Fitzpatrick aus und zerknüllte die Serviette in
der Faust.
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»Was ist denn?«
»Press wußte, daß ich mit diesen Ausschüssen zu tun hatte,
mit den Technologie- und den Waffenleuten! Er hat mich sogar
nach ihnen gefragt. Mit wem ich gesprochen hätte, wen ich
mochte... wem ich vertraute. Herrgott! Warum ist er denn nicht
zu mir gekommen? Ich war unter all den Leuten, die er kannte,
doch die logische Wahl! Schließlich wohnte ich nur ein Stück
von ihm entfernt und war sein engster Freund.«
»Das ist ja der Grund, weshalb er nicht zu Ihnen gegangen ist«,
sagte Converse.
»Der blöde Kerl!« Connal hob den Blick. »Und ich hoffe nur,
daß du das hörst, Press. Dann wärst du noch da und könntest
zusehen, wie die Connal Zwei die Bay-Regatta gewinnt.«
»Sie scheinen wirklich zu glauben, daß er Sie noch hören
kann.«
Fitzpatrick sah Joel über den Tisch an. »Ja. Sehen Sie, ich bin
ein gläubiger Mensch. Ich kenne die ganzen Gründe, weshalb
ich das nicht sein sollte - Press hat mir immer genügend davon
aufgezählt, wenn wir uns einen angetrunken hatten -, aber ich
bin trotzdem gläubig. Einmal habe ich ihm mit einem Zitat eines
seiner protestantischen Vorfahren geantwortet.«
»Und wie hieß das?« fragte Joel mit freundlichem Lächeln.
»>Für Gott steckt im ehrlichen Zweifel mehr Glaube als ihn alle
Erzengel besitzen.<«
»Sehr hübsch. Das habe ich noch nie gehört.«
»Vielleicht habe ich es nicht ganz richtig hingekriegt Aber ich
muß diese Namen sehen!«
»Und ich muß meinen Aktenkoffer haben, aber ich kann ihn
nicht selbst holen.«
»Also muß ich mich wohl freiwillig melden«, sagte Fitzpatrick.
»Glauben Sie, daß Leifhelm recht hat? Meinen Sie, daß er
Interpol wirklich zurückpfeifen kann?«
»Da bin ich nicht sicher. Um meiner unmittelbaren
Beweglichkeit willen hoffe ich, daß er es kann. Aber wenn er es
tut, wird mir das eine Höllenangst einjagen.«
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»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, sagte Connal und stand auf.
»Ich rufe jetzt den Empfang an und laß mir ein Taxi kommen.
Geben Sie mir den Schlüssel zum Schließfach.«
Converse griff in die Tasche und holte den kleinen Schlüssel
heraus. »Leifhelm hat Sie gesehen, er könnte Sie beschatten
lassen; das hat er schon einmal getan.«
»Ich werde jetzt zehnmal vorsichtiger sein. Wenn ich dasselbe
Paar Scheinwerfer zweimal sehe, fahre ich in irgendeine
Kneipe. Ich kenne hier ein paar.«
Joel sah auf die Uhr. »Es ist jetzt zwanzig vor zehn. Glauben
Sie, Sie könnten vorher einen Abstecher zur Universität
machen?«
»Dowling?«
»Er sagte, er hätte jemanden, mit dem ich mich treffen sollte.
Gehen Sie einfach an ihm vorbei - oder an den beiden - und
sagen Sie, daß wir alles unter Kontrolle haben, sonst nichts. So
viel bin ich ihm schuldig.«
»Und wenn er versucht, mich aufzuhalten?«
»Dann ziehen Sie Ihren Ausweis heraus und sagen ihm etwas
von ultrageheim oder irgend so eine aufgeblasene Phrase, die
Ihnen in den Sinn kommt.«
»Spüre ich da etwa Neid?«
»Nein, nur Anerkennung. Ich weiß, wo Sie herkommen. Ich
kenne den Verein.«
Fitzpatrick ging langsam über den breiten Weg an der südlichen
Fassade des mächtigen Universitätsgebäudes entlang, das
einmal Palast der mächtigen Erzbischöfe von Köln gewesen
war. Das Mondlicht hüllte die ganze Szene ein, reflektierte sich
in den Fensterreihen und verlieh den hellen Steinmauern des
majestätischen Baues fast eine Dimension der Leichtigkeit. Auf
der anderen Seite des Weges breitete sich über den
Gartenanlagen eine gespenstische nächtliche Eleganz aus. Die
stille Lieblichkeit der nächtlichen Szene beeindruckte Connal
so, daß er beinahe vergaß, weshalb er hier war.
-2 6 5
Als er dann aber eine lange, schlanke Männergestalt alleine auf
einer Bank sitzen sah, erinnerte er sich wieder. Die Beine des
Mannes waren ausgestreckt und übereinandergeschlagen, der
Kopf von einem weichen Hut bedeckt, der aber nicht
ausreichte, um das lange graublonde Haar zu bedecken, das
ihm über die Schläfen und in den Nacken wuchs.
Dieser Caleb Dowling war also ein Schauspieler, dachte der
Marineanwalt und amüsierte sich über die Tatsache, daß
Dowling sich fast erschrocken gegeben hatte, als ihm
klargeworden war, daß Connal ihn nicht kannte. Aber bei
Converse war es ebenso gewesen. Offensichtlich waren sie
beide eine Minderheit in einer Welt von Fernsehsüchtigen.
Fitzpatrick ging auf die Bank zu und setzte sich zwei Schritte
von Dowling entfernt. Der Schauspieler sah auf, machte eine
erstaunte Miene, riß den Kopf hoch und sah den anderen von
der Seite an. »Sie?«
»Das gestern abend tut mir leid«, sagte Connal. »Ich war wohl
nicht sehr überzeugend.«
»Ein gewisser Schliff hat Ihnen gefehlt, junger Freund. Wo, zum
Teufel, ist Converse?«
»Das tut mir ebenfalls leid. Er hat es nicht geschafft, aber Sie
sollen sich keine Sorgen machen. Alles ist okay und unter
Kontrolle.«
»Wer sagt, daß es okay ist und unter Kontrolle?« antwortete
der Schauspieler verstimmt. »Ich habe Joel gesagt, daß er
hierherkommen soll, und nicht, daß er einen jungen Pfadfinder
als Sprachrohr schicken soll.«
»Das verbitte ich mir. Ich bin Lieutenant Commander der United
States Navy und leitender Anwalt eines großen
Marinestützpunkts. Mr. Converse hat einen Auftrag von uns
übernommen, der ein hohes Maß an persönlicher
Risikobereitschaft verlangt und für uns höchste Geheimhaltung
hat. Halten Sie sich da raus, Mr. Dowling. Wir sind Ihnen - und
damit spreche ich ebenso für Converse wie für meine Person
für Ihr Interesse und Ihre Großzügigkeit dankbar, aber jetzt ist
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der Augenblick gekommen, in dem Sie sich aus allem
zurückziehen sollten. Zu Ihrem eigenen Vorteil übrigens.«
»Was ist mit Interpol? Er hat einen Menschen getötet.«
»Der selbst versucht hat, ihn zu töten«, fügte Fitzpatrick schnell
hinzu, ganz der Anwalt, der die Aussage eines Zeugen
relativiert. »Das wird intern geklärt werden, und dann werden
die Anklagen zurückgezogen.«
»Sie sind ganz schön glatt, Commander«, sagte Dowling und
richtete sich auf. »Besser als Sie gestern abend waren - oder
genauer gesagt, heute morgen.«
»Da war ich erregt. Ich hatte ihn verloren und mußte ihn
wiederfinden. Ich mußte ihm wichtige Informationen liefern.«
Der Schauspieler schlug jetzt die Beine wieder übereinander
und lehnte sich zurück, sein Arm hing locker über die Lehne der
Bank. »Diese Geschichte, mit der Converse und Sie zu tun
haben, das ist also eine richtige Geheimoperation?«
»Ja, hohe Geheimhaltungsstufe.«
»Und da Sie und er Anwälte sind, hat das Ganze etwas mit
juristischen Unregelmäßigkeiten hier drüben zu tun, die
irgendwie mit dem Militär in Verbindung stehen, stimmt das?«
»Im weitesten Sinne gesprochen, ja. Ich fürchte, mehr kann ich
Ihnen nicht sagen. Converse erwähnte, es gäbe jemanden, von
dem Sie wünschten, daß er ihn kennenlernt.«
»Ja, das stimmt. Ich habe da ein paar unfreundliche Dinge über
ihn gesagt, aber das nehme ich zurück; er hat eben getan, was
er tun mußte. Er wußte genausowenig, wer ich war, wie Sie.
Ein cleverer Mann, zäh, aber fair.«
»Ich hoffe, Sie begreifen, daß Converse unter den vorliegenden
Umständen Ihrem Wunsch nicht nachkommen konnte.«
»Sie genügen auch«, sagte Dowling ruhig und nahm den Arm
von der Banklehne.
Connal war plötzlich beunruhigt. Hinter ihm im Mondlicht hatte
sich etwas bewegt; sein Kopf fuhr herum, und er spähte über
seine Schulter. Aus der schützenden Finsternis des Gebäudes,
aus der pechschwarzen Deckung, die eine Türnische bot, löste
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sich jetzt eine Männergestalt und kam langsam über den
dunkelgrünen Rasenteppich auf sie zu... ein Arm, ganz locker
über einer Banklehne! Und dann ebenso locker wieder
zurückgezogen. Die beiden Bewegungen waren Signale
gewesen! Identität bestätigt; kommen Sie.
»Was, zum Teufel, haben Sie vor!« fragte Connal scharf.
»Nichts anderes, als euch zwei Knilche wieder auf den Boden
der Wirklichkeit zurückholen«, erwiderte Dowling. »Wenn meine
hochgerühmten Instinkte in Ordnung sind, habe ich das
Richtige getan. Wenn nicht, dann war es immer noch richtig.«
»Was?«
Der Mann trat jetzt ins helle Mondlicht. Er war kräftig gebaut
und trug einen dunklen Anzug mit Krawatte; sein streng
blickendes Gesicht ließ erkennen, daß er wohl Ende der
Fünfzig war. Zusammen mit dem glatt zurückgekämmten
grauen Haar verlieh es ihm das Aussehen eines erfolgreichen
Geschäftsmannes, der im Augenblick ungeheuer zornig war.
Dowling sprach weiter, während er sich von der Bank erhob.
»Commander, darf ich Ihnen Walter Peregrine vorstellen, den
Botschafter der Vereinigten Staaten in der Bundesrepublik
Deutschland?«
Lt. David Remington säuberte seine stahlgeränderte Brille mit
einem Papiertaschentuch, das er anschließend in den
Papierkorb warf. Er stand auf. Während er sich die Brille wieder
aufsetzte, ging er an den Spiegel, der an der hinteren Wand
seines Büros hing, und überprüfte sein Aussehen. Er glättete
sein Haar, zog sich die Krawatte zurecht und sah auf seine
etwas zerbeulten Hosen hinunter. Wenn man alles in Betracht
zog, auch die Tatsache, daß es bereits siebzehn Uhr dreißig
war und er seit acht Uhr früh an seinem Schreibtisch gesessen
und keine Sekunde Ruhe gehabt hatte, wozu auch dieses
verrückte Vier-Null von Fitzpatrick beigetragen hatte, sah er
eigentlich noch ganz präsentabel aus. Und außerdem war
Rear-Admiral Hickman, wenn es um seine
Schreibtischangestellten ging, kein besonders strenger
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Verfechter der Kleidungsvorschriften. Er wußte ganz genau,
daß die meisten seiner Anwälte in der freien Wirtschaft viel
höher bezahlte Jobs haben konnten und verkniff sich daher
Bemerkungen über solche Kleinigkeiten. Nun, für David
Remington galt das freilich nicht. Welch anderer Job erlaubte
es einem Mann schon, in der ganzen Welt herumzureisen, eine
Frau und drei Kinder in einer so feinen Wohnung unterbringen
zu können und nicht dauernd unter dem schrecklichen Druck zu
stehen, in einer privaten Kanzlei Karriere machen zu müssen.
Remington fragte sich, weshalb Admiral Hickman ihn zu
sprechen wünschte, ganz besonders um diese Zeit, wo die
meisten bereits nach Hause gegangen waren.
»Setzen Sie sich, Remington«, begann Admiral Brian Hickman
das Gespräch, während er die Hand des steif vor ihm
stehenden Lieutenants schüttelte und auf einen Sessel vor dem
großen Schreibtisch wies. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht,
aber das war heute wirklich ein richtig beschissener Tag, wie
ich in Ihrem Alter gesagt hätte. Ich nehme mir jetzt einen
wohlverdienten Drink, Lieutenant.« Hickman ging auf die mit
Kupferblech ausgeschlagene Bar an der Wand zu. »Kann ich
Ihnen auch etwas bringen?«
»Ich nehme einen Schluck Weißwein, Sir, wenn Sie welchen
haben.«
»Habe ich immer«, sagte der Admiral mit einer Spur von
Resignation in der Stimme. »Den halte ich gewöhnlich für Leute
bereit, die im Begriff sind, sich scheiden zu lassen.«
»Ich bin glücklich verheiratet, Sir.«
»Das höre ich gerne. Ich hab' inzwischen die dritte Frau - dabei
hätte ich bei der ersten bleiben sollen.«
Als die Gläser gefüllt waren und beide Platz genommen hatten,
sprach Hickman mit gelockerter Krawatte und in beiläufigem
Tonfall - aber das, was er sagte, hörte sich für David Remington
überhaupt nicht beiläufig an,
»Wer, zum Teufel, ist Joel Converse?« fragte der Admiral.
»Wie bitte, Sir?«
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Der Admiral seufzte, ein Geräusch, das darauf deutete, daß er
noch einmal von vorne beginnen würde. »Um zwölf Uhr
einundzwanzig haben Sie sämtliche Anfragen bezüglich eines
Sperrvermerks auf der Militärakte eines gewissen Lieutenant
Joel Converse zurückgewiesen. Er war Pilot in Vietnam.«
»Ich weiß, was er war«, sagte Remington.
»Und um fünfzehn Uhr zwo«, fuhr Hickman nach einem Blick
auf ein Blatt Papier fort, »erhalte ich ein Telex vom Fünften
Marinedistrikt mit der Aufforderung, den Vermerk zu entfernen
und das Material unverzüglich freizugeben. Als Grund für diese
Aufforderung wurden - wie üblich - Belange der nationalen
Sicherheit angegeben.« Der Admiral machte eine Pause, um an
seinem Glas zu nippen; er schien es nicht eilig zu haben,
obwohl er müde wirkte. »Ich habe meinem Adjutanten befohlen,
Sie anzurufen und Sie zu fragen, weshalb Sie das getan
haben.«
»Und ich habe ihm vollständig Auskunft gegeben, Sir«,
unterbrach ihn Remington. »Ich habe auf Weisung des
leitenden Anwalts von SAND PAC gehandelt und die
Dienstvorschrift zitiert, aus der eindeutig hervorgeht, daß der
leitende Anwalt einer Marinebasis Akten mit der Maßgabe
zurückhalten kann, daß seine eigenen Ermittlungen durch
Einschaltung eines Dritten gestört werden könnten. Das ist im
Zivilrecht durchaus üblich, Sir. Das FBI gibt den lokalen oder
städtischen Polizeibehörden selten Informationen weiter, die es
selbst gesammelt hat, und begründet das immer damit, daß
seine Ermittlungen durch korrupte Praktiken oder undichte
Stellen kompromittiert werden könnten.«
»Und unser leitender Anwalt, Lieutenant Commander
Fitzpatrick, ist augenblicklich mit Ermittlungen bezüglich eines
Offiziers beschäftigt, der vor achtzehn Jahren entlassen
wurde?«
»Das weiß ich nicht, Sir«, sagte Remington mit
undurchsichtigem Blick. »Ich weiß nur, daß dies seine
Anweisungen waren. Sie bleiben zweiundsiebzig Stunden
gültig. Anschließend können Sie selbstverständlich den
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Freigabebefehl unterzeichnen. Und der Präsident kann das
selbstverständlich bei Vorliegen eines nationalen Notfalls
jederzeit tun.«
»Ich dachte, es wären achtundvierzig Stunden«, sagte
Hickman.
»Nein, Sir. Die achtundvierzig Stunden gelten bei normalen
Akten, unabhängig von der Person des Anfordernden - mit
Ausnahme selbstverständlich des Präsidenten. Man nennt das
die Prüfungsfrist. Die Marineabwehr fragt dann beim CIA, dem
NSA und bei G-Zwo nach, um sich zu vergewissern, daß kein
Material freigegeben wird, das noch als Verschlußsache gilt.
Dieser Vorgang hat nichts mit den Rechten eines leitenden
Anwalts zu tun.«
»Sie kennen sich gut aus in den Vorschriften, wie?«
»Ich denke ebensogut wie jeder andere Anwalt in der Navy,
Sir.«
»Ich verstehe.« Der Admiral lehnte sich in seinem gepolsterten
Drehstuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch.
»Commander Fitzpatrick ist nicht auf dem Stützpunktgelände,
nicht wahr? Sonderurlaub, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ja, Sir. Er ist in San Francisco, bei seiner Schwester und ihren
Kindern. Ihr Mann ist bei einem Raubüberfall in Genf getötet
worden; die Beisetzung ist, glaube ich, morgen früh.«
»Ja, ich habe davon gelesen. Eine verdammte Geschichte...
aber Sie wissen, wo Sie ihn erreichen können?«
»Ja, ich habe die Telefonnummer, Sir. Wollen Sie, daß ich ihn
anrufe? Soll ich ihn über die Anforderung informieren?«
»Nein, nein«, sagte Hickman und schüttelte den Kopf. »Nicht zu
einem Zeitpunkt wie diesem. Ich muß annehmen, daß sie die
Vorschriften bei den anderen Dienststellen ebenfalls kennen;
wenn ein so großes Sicherheitsrisiko besteht, dann wissen sie
auch, wo das Pentagon ist - und nach dem letzten Gerücht hat
man in Arlington inzwischen festgestellt, wo das Weiße Haus
steht.« Der Admiral hielt inne, runzelte die Stirn und sah zu dem
-2 7 1
Lieutenant hinüber. »Angenommen, Sie wüßten nicht, wie Sie
Fitzpatrick erreichen können?«
»Aber das weiß ich, Sir.«
»Ja, aber einmal angenommen, Sie wüßten es nicht? Und Sie
würden dann eine korrekte Anforderung erhalten - unterhalb
des Präsidenten, aber immer noch verdammt dringend -, dann
könnten Sie doch die Akte freigeben, oder nicht?«
»Theoretisch könnte ich das als Stellvertreter. Solange ich die
gesetzliche Verantwortung für meine Entscheidung akzeptiere.«
»Die was?«
»Nun, ich müßte davon überzeugt sein, daß die Anforderung
hinreichend dringlich ist, um die vorangegangene Anweisung
des leitenden Anwalts hinfällig zu machen, die ihm
zweiundsiebzig Stunden für das einräumt, was er für notwendig
hielt. Er schien das sehr wichtig zu nehmen, Sir. Offen
gestanden, wenn es nicht zu einer Einschaltung des
Präsidenten kommt, betrachte ich es als meine gesetzliche
Pflicht, diese Anweisung zu befolgen.«
»Und auch als Ihre moralische Pflicht«, nickte Hickman.
»Moral hat damit nichts zu tun. Die juristische Situation ist völlig
klar. Soll ich jetzt anrufen, Admiral?«
»Nein, zum Teufel damit.« Hickman nahm die Füße vom
Schreibtisch. »Ich war nur neugierig, und Sie haben mich, offen
gestanden, überzeugt. Fitz hätte Ihnen diese Anweisung nie
ohne Grund gegeben. Der Fünfte Distrikt kann drei Tage
warten, sofern sich diese Boys keine Telefonrechnungen mit
Washington zulegen wollen.«
»Darf ich fragen, Sir, von wem die Anforderung kommt?«
Der Admiral sah Remington vielsagend an. »Das sage ich
Ihnen in drei Tagen. Sehen Sie, ich habe auch die Rechte eines
Mannes zu wahren. Aber Sie werden es ohnehin erfahren, weil
Sie in Abwesenheit von Fitz ja für die Weitergabe
unterschreiben müssen.« Hickman leerte sein Glas, und der
Lieutenant begriff. Die Besprechung war zu Ende. Remington
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stand auf und trug das halbvolle Weinglas zur Bar zurück; dann
nahm er Haltung an.
»Ist das alles, Sir?«
»Ja, das war's«, sagte der Admiral und sein Blick wanderte zum
Fenster, durch das man auf das Meer sehen konnte.
Der Lieutenant salutierte scharf, während Hickman die
Ehrenbezeigung locker erwiderte. Dann machte der Anwalt
kehrt und ging auf die Tür zu.
»Remington?«
»Ja, Sir?« antwortete der Lieutenant und drehte sich wieder
um.
»Wer, zum Teufel, ist dieser Converse?«
»Das weiß ich nicht, Sir. Aber Commander Fitzpatrick hat
gesagt, es ginge um einen Vier-Null-Fall.«
»Herrgott...«
Hickman griff nach dem Telefon und drückte ein paar Knöpfe.
Augenblicke später sprach er mit einem Kollegen gleichen
Dienstranges im Fünften Navy-Distrikt.
»Ich fürchte, Sie werden drei Tage warten müssen, Scanion.«
»Und warum?« fragte der Admiral namens Scanion.
»Die Sperre für die Converse-Akte gilt, soweit es SAND PAC
betrifft. Wenn Sie Washington einschalten wollen, können Sie
das ja tun. Dann machen wir natürlich mit.«
»Ich sagte Ihnen doch, Brian, meine Leute wollen Washington
nicht einschalten. Sie haben das doch auch schon erlebt. Die
machen bloß Wind, und Wind können wir nicht brauchen.«
»Nun, warum sagen Sie mir dann nicht, warum Sie diese
Converse-Papiere haben wollen? Wer ist er?«
»Ich würde es Ihnen doch sagen, wenn ich könnte, das wissen
Sie. Offen gestanden, ich sehe da selbst nicht so ganz klar, und
das, was ich weiß, muß ich für mich behalten, darauf habe ich
einen Eid abgelegt.«
-2 7 3
»Dann sollten Sie Washington einschalten. Ich stelle mich
hinter meinen obersten Juristen, der übrigens nicht einmal hier
ist.«
»Er ist nicht...? Aber Sie haben doch mit ihm gesprochen.«
»Nein, mit seinem Stellvertreter, einem Lieutenant namens
Remington. Er hat direkte Anweisung von seinem
Vorgesetzten. Glauben Sie mir, Remington läßt sich nicht
umstimmen. Ich hab' ihm die Chance gegeben, und er hat sich
hinter den Vorschriften versteckt.«
»Hat er gesagt, weshalb die Sperre ausgesprochen wurde?«
»Er hatte keine Ahnung. Warum rufen Sie ihn nicht selbst an?
Er ist wahrscheinlich noch unten in seinem Büro, und Sie
können ja vielleicht...«
»Sie haben doch nicht etwa meinen Namen genannt, oder?«
unterbrach Scanion ihn, offensichtlich erregt.
»Nein, darum hatten Sie mich ja gebeten, aber in drei Tagen
kennt er ihn. Er wird die Freigabe abzeichnen müssen, und
dann muß ich ihm sagen, wer die Akte angefordert hat.«
Hickman zögerte und explodierte dann ohne jede Warnung:
»Was, zum Teufel, soll das alles, Admiral? Da gibt es einen
Piloten, der vor mehr als achtzehn Jahren entlassen wurde, und
plötzlich sind alle hinter ihm her. Ich bekomme ein Telex vom
Fünften Navy-Distrikt, und dann rufen Sie noch an und berufen
sich auf Annapolis, sagen mir aber auch nichts. Anschließend
stelle ich fest, daß mein eigener leitender Jurist, ohne daß ich
es weiß, diese Converse-Akte gesperrt hat und ihr einen Vier-
Null-Status angehängt hat! Nun weiß ich, daß er persönliche
Probleme hat und will ihn deshalb bis morgen nicht stören.
Außerdem ist mir klar, daß Sie Ihr Wort gegeben haben, nichts
zu sagen. Aber verdammt noch mal, jetzt sollte wirklich einer
anfangen, mir einiges zu erklären!«
Vom anderen Ende der Leitung kam keine Antwort. Nur
Atemgeräusche waren zu hören, erregtes Atmen.
»Scanion!«
-2 7 4
»Was haben Sie gerade gesagt?« sagte die Stimme des
Admirals aus der Ferne.
»Ich werde es jedenfalls erfahren...«
»Nein, die Klassifizierung. Die Klassifizierung des
Sperrvermerks.« Scanions Stimme war kaum zu hören.
»Vier-Null-Notfall, das habe ich gesagt!«
Die Unterbrechung kam abrupt; es war nur ein Klicken zu
hören. Admiral Scanion hatte aufgelegt.
Walter Peregrine, Botschafter der Vereinigten Staaten in der
Bundesrepublik Deutschland, war zornig. »Wie heißen Sie,
Commander?«
»Fowler, Sir«, antwortete Fitzpatrick nach einem kurzen harten
Blick auf Dowling. »Lieutenant Commander Avery Fowler,
United States Navy.« Wieder sah Connal den Schauspieler an,
der ihn im Mondlicht anstarrte.
»Wie ich höre, gibt es diesbezüglich Zweifel«, sagte Peregrine,
dessen Blick ebenso feindselig wie der Dowlings war. »Darf ich
bitte Ihren Ausweis sehen?«
»Ich trage keinen Ausweis bei mir, Sir. Das liegt im Wesen
meines Auftrages, daß ich das nicht tue.« Fitzpatricks Worte
kamen schnell und präzise, seine Haltung war aufrecht und
selbstbewußt.
»Ich verlange einen Identitätsnachweis für Ihren Namen, Ihren
Rang und Ihre vorgesetzte Dienststelle! Und zwar jetzt! «
»Der Name, den ich Ihnen genannt habe, ist der Name, den ich
laut meinen Instruktionen zu nennen habe, falls jemand
außerhalb meines Einsatzbereiches Fragen stellen sollte.«
»Wessen Instruktionen?« herrschte der Diplomat ihn an.
»Die meiner vorgesetzten Offiziere, Sir.«
»Soll ich daraus schließen, daß Fowler nicht Ihr korrekter Name
ist?«
-2 7 5
»Mit allem Respekt, Mr. Ambassador, mein Name ist Fowler, mein Rang ist Lieutenant Commander, und ich gehöre der Navy der Vereinigten Staaten an.« »Was glauben Sie eigentlich, wo Sie hier sind? Hinter der Front, vom Feind gefangen? >Name, Rang und Dienstnummer - das ist alles, was ich nach den Vorschriften der Genfer Konvention sagen muß!<« »Das ist alles, was ich sagen darf, Sir.« »Verdammt will ich sein, wenn ich dem nicht nachgehe, Commander - falls Sie ein Commander sind. Und ebenfalls bezüglich dieses Converse, der ein sehr seltsamer Lügner zu sein scheint - im einen Augenblick noch ein Ausbund an Korrektheit und im nächsten ein sehr seltsamer Mann auf der Flucht.« »Bitte, versuchen Sie zu verstehen, Mr. Ambassador; unser Einsatz unterliegt strenger Geheimhaltung. Er hat in keiner Weise mit Diplomatengeschäften zu tun und wird auch Ihre Aktivitäten als oberster amerikanischer Vertreter unserer Regierung nicht beeinträchtigen, aber er ist geheim. Ich werde meinen Vorgesetzten über dieses Gespräch berichten, und Sie werden zweifellos von ihnen hören. Und jetzt, wenn die Herren mich bitte entschuldigen wollen, muß ich weiter.« »Das glaube ich nicht, Commander - oder wer sonst Sie auch sein mögen. Aber wenn Sie der sind, der Sie sagen, ist noch nichts passiert. Ich bin kein Narr. Niemand von den Botschaftsangehörigen wird etwas erfahren. Mr. Dowling hat darauf bestanden, und ich habe seine Bedingung akzeptiert. Sie und ich, wir beide, werden uns jetzt in einem Kommunikationsraum mit einem Zerhackertelefon einschließen, und Sie werden ein Gespräch mit Washington führen.« »Ich wünschte, ich könnte dem zustimmen, Sir; das klingt wie ein vernünftiger Wunsch. Aber ich fürchte, auch das geht nicht.« »Ich fürchte, Sie werden es doch tun!« »Tut mir leid.« -2 7 6
»Tun Sie, was er sagt, Commander«, warf Dowling ein. »Wie
der Botschafter Ihnen schon erklärt hat, hat bisher niemand
etwas erfahren, und das wird auch künftig nicht geschehen.
Aber Converse braucht Schutz; er befindet sich in einem
fremden Land und wird von der Polizei gesucht. Und dabei
spricht er nicht einmal die Sprache dieses Landes. Nehmen Sie
das Angebot von Botschafter Peregrine an. Er wird sein Wort
halten.«
»Bei allem Respekt, ich muß ablehnen.« Connal drehte sich um
und setzte sich in Bewegung.
»Major!« schrie der Botschafter mit wütender Stimme. »Halten
Sie ihn auf! Halten Sie diesen Mann auf!«
Fitzpatrick wandte sich um und sah etwas, das er nie erwartet
hätte und wußte doch im gleichen Augenblick, daß er es hätte
erwarten müssen. Aus dem Schatten des riesigen,
majestätischen Gebäudes kam ein Mann gelaufen, ein Mann,
der offensichtlich ein militärischer Untergebener des
Botschafters war - ein Angehöriger der Botschaft. Connal
erstarrte und erinnerte sich an Joels Worte:
Jene Männer, die Sie am Flughafen gesehen haben, die von
der Botschaft... sie stehen auf der anderen Seite.
Unter anderen Umständen wäre Fitzpatrick stehengeblieben
und hätte alles über sich ergehen lassen. Er hatte nichts
Unrechtes getan; er hatte kein Gesetz gebrochen, das er
kannte, und niemand konnte ihn dazu zwingen, Auskunft über
persönliche Dinge zu geben, solange kein Gesetz verletzt
worden war. Und dann begriff er, wie unrecht er hatte! Die
Generale des George Marcus Delavane würden ihn zwingen,
konnten ihn zwingen! Er wirbelte herum und rannte davon.
Plötzlich peitschten Schüsse, zwei Schüsse. Er warf sich zu
Boden und rollte sich in den Schutz der Büsche, während eine
Männerstimme durch den bereits gestörten nächtlichen Frieden
brüllte.
»Du verdammter Schweinehund! Was, zum Teufel, bilden Sie
sich eigentlich ein!«
-2 7 7
Weitere Rufe waren zu hören, ein paar Flüche, dann kam es
offenbar zu einem Handgemenge.
»Sie können doch nicht einfach einen niederknallen...!
Außerdem, Sie Dreckskerl, könnten hier ja auch noch andere
Leute sein! Kein Wort, Mr. Ambassador!«
Connal kroch so schnell er konnte über den Kiesweg, hob die
Hände, um das Buschwerk über sich zu teilen. Im klaren
Mondlicht konnte er an der Bank den Schauspieler Caleb
Dowling über der Gestalt des Majors sehen, der vom
Universitätsgebäude gekommen war. Sein Fuß stand auf der
Kehle des am Boden liegenden Mannes, während er mit der
Hand seinen ausgestreckten Arm festhielt und ihm die Waffe
entwunden hatte.
»Sie sind ein blödes Schwein, Major! Oder, verdammt noch
mal, vielleicht auch etwas ganz anderes!«
Fitzpatrick richtete sich langsam auf, dann sprang er auf die
Füße und rannte geduckt im Schütze der Finsternis auf den
Ausgang des Parks zu.
13 »Ich hatte keine andere Wahl!« sagte Connal. Der Aktenkoffer
lag auf der Couch, er selbst hatte auf dem Stuhl daneben Platz
genommen und zitterte noch immer.
»Beruhigen Sie sich; versuchen Sie sich zu entspannen.«
Converse ging zu dem eleganten antiken Jagdtisch an der
Wand, auf dem ein großes silbernes Tablett mit Whisky, Eis
und Gläsern aufgebaut war. »Sie brauchen einen Drink«, sagte
er und füllte ein Glas mit Fitzpatricks Bourbon.
»Und ob! Man hat noch nie auf mich geschossen. Auf Sie
schon. Herrgott, ist das so?«
»Genauso. Man kann es nicht glauben. Es ist unwirklich,
Geräusche, die nichts mit einem zu tun haben können, bis - bis
man selbst den Beweis hat. Es ist die Wirklichkeit, es ist für
einen bestimmt, und es ist einem übel. Es gibt keine
-2 7 8
anschwellende Musik, nur elend ist einem.« Converse brachte
dem Marineoffizier das Glas.
»Sie lassen da etwas weg«, sagte Connal und blickte zu Joel
auf.
»Nein, das tue ich nicht. Wir wollen über das, was geschehen
ist, nachdenken. Wenn Sie Dowling richtig verstanden haben,
dann wird der Botschafter in seinem Haus nichts sagen...«
»Ich erinnere mich«, unterbrach Fitzpatrick ihn, der schnell
hintereinander ein paar Schlucke von dem Bourbon nahm,
Converse dabei aber nicht aus den Augen ließ. »Es stand in
einer der Akten. Bei Ihrer zweiten Flucht ist ein Mann getötet
worden; es war am Abend. Sie waren dicht neben ihm, als es
passierte, und in der Akte stand, Sie seien für ein paar
Augenblicke zum Berserker geworden. Irgendwie, erzählte
dieser Zeuge - ein Sergeant, glaube ich -, haben Sie im
Dschungel einen Bogen geschlagen, den Nordvietnamesen
erwischt, ihn mit seinem eigenen Messer getötet und ihm das
Gewehr abgenommen. Und dann haben Sie drei weitere Viets
in der Gegend weggeblasen.«
Joel blieb vor dem jüngeren Mann stehen und antwortete ihm
mit leiser Stimme, wobei seine Augen Zorn erkennen ließen.
»Ich hasse solche Beschreibungen. Das beschwört all die
Bilder herauf, die ich verabscheue. Lassen Sie sich von mir
sagen, wie es war - wie es wirklich war. Ein Junge, höchstens
neunzehn, mußte einmal austreten, und obwohl wir dicht
beieinander waren, besaß er den Anstand, sich zehn oder
fünfzehn Fuß von uns zu entfernen. Dann benutzte er Blätter,
weil kein Toilettenpapier zur Verfügung stand.
Der Irre - das Wort Soldat will ich nicht an ihn verschwenden -,
der ihn tötete, wartete auf genau den richtigen Augenblick und
gab dann einen Feuerstoß ab, der das Gesicht des Jungen in
Stücke riß. Als ich ihn erreichte, mit dem halben Gesicht in der
Hand, hörte ich das Kichern, das obszöne Lachen eines
obszönen Mannes, der für mich alles verkörperte, was ich
widerwärtig fand - ob Nordvietnamese oder Amerikaner. Jene
drei anderen Männer, jene Feinde, jene uniformierten Roboter,
-2 7 9
vermutlich mit Frauen und Kindern irgendwo in einem Dorf im Norden, hatten keine Ahnung, daß ich mich hinter sie schlich. Ich hab' sie von hinten erschossen, Herr Anwalt. Was würde Jonny Ringo dazu gesagt haben? Oder John Wayne?« Connal blieb stumm, während Joel an den Jagdtisch ging, um sich selbst einen Whisky einzuschenken. Der Marineanwalt trank und fuhr dann fort: »Vor ein paar Stunden haben Sie gesagt, Sie wüßten, wie das wäre, was mich beschäftigt, weil Sie es selbst erlebt hätten. Nun, ich habe nicht das erlebt, was Sie erlebt haben, aber ich beginne zu erkennen, was Sie bewegt. Sie empfinden wirklich Abscheu für alles, was Aquitania verkörpert, nicht wahr? Besonders für die, die das alles steuern.« Converse drehte sich um. »Ja, und zwar mit jeder Faser meines Körpers«, sagte er. »Deshalb müssen wir über das reden, was Sie gerade erlebt haben.« »Ich sagte Ihnen doch, ich hatte keine Wahl. Sie sagten, die Botschaftsleute, die ich am Flughafen gesehen habe, gehören zu Delavane. Ich konnte das Risiko nicht eingehen.« »Ich weiß. Und jetzt sind wir beide auf der Flucht, werden von unseren eigenen Leuten gejagt und von den Männern geschützt, die wir in die Falle locken wollen. Wir müssen nachdenken, Commander.« Das Telefon klingelte; ein schrilles Geräusch, das sich in das Zimmer drängte. Fitzpatrick sprang auf, seine erste Reaktion war ein Erschrecken. Joel beobachtete ihn, beruhigte ihn mit seinem Blick. »Tut mir leid«, sagte Connal. »Ich bin noch immer überreizt. Ich nehme schon ab; es geht schon.« Er griff nach dem Hörer. »Ja?« Dann lauschte er ein paar Sekunden, hielt die Hand über die Sprechmuschel und sah Converse an. »Die Überseevermittlung. San Francisco. Das ist Meagen.« »Und das heißt Remington«, sagte Joel, dessen Kehle plötzlich trocken war und dessen Puls zu rasen begann. »Meagen? Ja, ich bin hier. Was ist denn?« Fitzpatrick starrte auf den Boden, während seine Schwester redete; er nickte ein paarmal und seine Kinnmuskeln spannten sich vor -2 8 0
Konzentration. »O Gott! .. .Nein, es ist schon gut. Wirklich, alles
ist in Ordnung. Hast du die Nummer?« Connal blickte auf das
kleine Telefontischchen, auf dem zwar ein Block, aber kein
Bleistift lag. Er sah zu Joel hinüber, der bereits zum
Schreibtisch gegangen war und den vom Hotel bereitgelegten
Kugelschreiber genommen hatte. Fitzpatrick streckte ihm die
Hand hin, nahm den Kugelschreiber und schrieb eine Reihe
Ziffern auf. Converse stand neben ihm, er war sich bewußt, daß
er kaum atmete und daß seine Finger sich um das Glas
krampften. »Danke, Meagen. Ich weiß, daß das eine schlimme
Zeit für dich ist: So etwas hat dir jetzt gerade noch gefehlt...
Bestimmt, Meg, ich gebe dir mein Wort darauf. Wiedersehn.« Er
legte auf und behielt den Hörer einen Augenblick lang in der
Hand.
»Remington hat angerufen, nicht wahr?« sagte Joel.
»Ja.«
»Was war?«
»Jemand hat versucht, an Ihre Entlassungsakte
heranzukommen«, sagte Fitzpatrick, der sich herumgedreht
hatte und jetzt Converse ansah. »Alles in Ordnung. Remington
hat es verhindert.«
»Wer war es?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde David anrufen müssen. Meagen
hat keine Ahnung, was ein Sperrvermerk ist, geschweige denn,
wer Sie sind. Die Nachricht, die sie mir durchgegeben hat, war
nur >Sperrvermerk sollte freigegeben werden<, aber er hat es
verhindert.«
»Dann ist alles in Ordnung.«
»Das habe ich auch gesagt, aber es stimmt nicht.«
»Deutlicher, verdammt.«
»Es gibt eine zeitliche Begrenzung für meine Anweisung. Ein
oder zwei Tage nach dem Prüf Vorgang...«
»Und das sind achtundvierzig Stunden«, unterbrach Joel.
»Ja. Sehen Sie, Sie dachten, daß das passieren würde, aber
ich habe, offen gestanden, nicht damit gerechnet. Derjenige,
-2 8 1
der diese Akte angefordert hat, ist nicht irgendein Laufbursche. Sie werden diese Besprechung, die man für Sie arrangiert, verlassen und ein paar Stunden später haben Ihre neuen Freunde vielleicht schon das Zeug in der Hand. Converse, der Delavane-Hasser. Ist er jetzt der Delavane-Jäger?« »Rufen Sie Remington an.« Joel ging zur Balkontür, öffnete sie und trat ins Freie. Ein paar Wolkenfetzen hatten sich vor den Mond geschoben, und weit im Osten gab es ein Wetterleuchten, das Converse an das lautlose Artilleriefeuer erinnerte, das er und die anderen fliehenden Gefangenen immer wieder in den Bergen gesehen hatten, in den Bergen, die zugleich eine Zuflucht und unerreichbar waren. Er konnte Fitzpatrick im Zimmer hören. Offenbar versuchte er, eine Verbindung mit San Diego zu bekommen. Joel griff in seine Tasche und suchte nach den Zigaretten. Er zündete sich eine an. Ob es nun die helle Flamme war, die die Bewegung beleuchtete, wußte er nicht, jedenfalls blickte er in die Richtung, in der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Zwei Balkone entfernt, etwa neun Meter zu seiner Rechten, stand ein Mann und beobachtete ihn. Die Gestalt war nur als schattenhafte Silhouette zu erkennen; der Mann nickte in der schwachen Beleuchtung und verschwand. War es einfach nur ein anderer Gast, der zufällig ins Freie getreten war, um Luft zu schnappen? Oder hatte Aquitania einen Posten aufgestellt? Converse konnte hören, wie Fitzpatrick im Zimmer sprach. Er drehte sich um und verließ ebenfalls den Balkon. Connal saß auf dem Stuhl neben dem Telefontisch. Er hielt den Hörer mit der linken Hand ans Ohr, während die rechte den Stift hielt. Er machte sich eine Notiz und unterbrach seinen Gesprächspartner. »Augenblick. Sie sagen, Hickman hätte erklärt, Sie sollten nichts unternehmen, aber er wollte Ihnen nicht sagen, wer genau die Anforderung ausgestellt hat? ... Verstehe. Schön, David, vielen Dank. Gehen Sie heute abend aus? ... So, ich kann Sie also unter dieser Nummer erreichen. Ja, ich weiß schon, diese verdammten Telefone in Sonoma. Ein einziger Regenguß, und man kann von Glück reden, wenn man eine -2 8 2
Leitung bekommt. Nochmals, vielen Dank, David. Wiedersehn.«
Fitzpatrick legte auf und sah Joel eigenartig, fast schuldbewußt
an. Statt etwas zu sagen, schüttelte er den Kopf, atmete tief
und runzelte die Stirn. »Was ist denn? Was ist los?«
»Sie sollten besser zusehen, daß Sie bei dieser Besprechung
morgen alles bekommen, was Sie haben wollen. Oder findet sie
schon heute statt?«
»Es ist schon nach Mitternacht. Also heute. Warum?« »Weil die
Akte zwanzig Stunden später an eine Abteilung des Fünften
Marine-Distrikts freigegeben wird - das ist Norfolk, und die
haben einige Macht. Dann werden sie alles über Sie wissen,
was Sie vor denen verborgenhalten wollen. Länger als
zweiundsiebzig Stunden ist das nicht zu verhindern.«
»Besorgen Sie sich eine Verlängerung!« Connal stand auf und
sah den anderen mit hilfloser Miene an.
»Mit welcher Begründung?«
»Die nationale Sicherheit, was sonst?«
»Ich würde die Gründe darlegen müssen, das wissen Sie.«
»Das weiß ich nicht. Verlängerungen werden aus allen
möglichen Gründen gewährt. Sie brauchen mehr Zeit für die
Vorbereitung. Eine Zeugenaussage hat sich verschoben
Krankheit oder ein Unfall. Oder persönliche Dinge - verdammt,
die Beisetzung Ihres Schwagers, das Leid Ihrer Schwester -,
die haben Sie in der Arbeit behindert!«
»Das können Sie vergessen, Joel. Wenn ich das versuche,
werden sie eine Verbindung zwischen Ihnen und Press
herstellen, und dann ist alles aus. Die haben ihn getötet,
erinnern Sie sich?«
»Nein«, sagte Converse entschieden. »Genau andersherum.«
»Was reden Sie?«
»Ich habe darüber nachgedacht, versucht, mich in Averys
Position zu versetzen. Er wußte, daß jede seiner Bewegungen
beobachtet wurde, daß man vermutlich sein Telefon angezapft
hatte. Er sagte, die Geographie, die Übernahmeverhandlungen,
das Frühstück - eben alles hatte logisch sein müssen; es ging
-2 8 3
nicht anders. Am Ende jenes Frühstücks sagte er, wir würden,
wenn ich einverstanden wäre, noch einiges besprechen
müssen.«
»Und?«
»Er wußte, daß man uns zusammen gesehen hatte - das war
unvermeidlich -, und ich glaube, er wollte mir klarmachen, was
ich sagen sollte, wenn mich jemand von Aquitania nach ihm
befragte. Er wollte alles herumdrehen und mir den Schubs
geben, den ich brauchte, um an diese Männer
heranzukommen.«
»Zum Teufel, wovon reden Sie?«
»Avery wollte mir den Stempel aufdrücken, den ich brauchte,
um Zugang zu Delavanes Netz zu bekommen. Wir werden das
nie erfahren, aber ich vermute, daß er mir sagen wollte, daß er,
A. Preston Halliday, mich in Verdacht hatte, einer von ihnen zu sein, daß er sich, in die Comm Tech-Bern-Verhandlungen hineingedrängt hätte, um mich unter Druck zu setzen, um mich aufzuhalten.« »Augenblick.« Connal schüttelte den Kopf. »Press wußte nicht, was Sie tun würden oder wie Sie es tun würden.« »Dafür gab es nur eine Möglichkeit, und das wußte er. Außerdem wußte er, daß ich zu demselben Schluß gelangen würde, sobald ich die Einzelheiten begriffen hatte. Die einzige Möglichkeit, um Delavane und seine Feldmarschälle aufzuhalten, besteht darin, Aquitania zu infiltrieren. Warum, glauben Sie denn, hat man mir so viel Geld zur Verfügung gestellt? Ich brauche es nicht, und er wußte, daß er mich nicht kaufen konnte. Aber er wußte, daß man es benutzen konnte daß man es benutzen mußte, um hineinzukommen und anfangen zu können, Beweise zu sammeln... Rufen Sie Remington noch einmal an. Sagen Sie ihm, er soll einen Antrag auf Verlängerung vorbereiten.« »Es geht nicht um Remington, es geht um den Befehlshaber von SAND PAC, einen Admiral namens Hickman. David sagte, ich müßte morgen mit einem Anruf von ihm rechnen. Ich werde mir das überlegen müssen und dann Meagen noch einmal -2 8 4
anrufen. Hickman ist wütend; er möchte wissen, wer Sie sind
und was das große Interesse an Ihrer Person zu bedeuten
hat.«
»Wie gut kennen Sie diesen Hickman?«
»Ganz gut. Ich war in New London und in Galveston mit ihm
zusammen. Er hat mich als Chefjuristen nach San Diego
angefordert.«
Converse studierte Fitzpatricks Gesicht, wandte sich ohne
ersichtlichen Grund stumm ab und ging zur offenen Balkontür.
Connal sagte nichts; er verstand. Er hatte zu oft gesehen, wie
Anwälte plötzlich einen Gedanken hatten, den sie erst selbst
einmal ausspinnen mußten, eine Idee, von der vielleicht der
Ausgang eines Prozesses abhängen konnte. Joel drehte sich
langsam, fast zögernd, um.
»Tun Sie es«, begann er. »Tun Sie das, was, wie ich glaube,
wahrscheinlich auch Ihr Schwager getan hätte. Führen Sie das
zu Ende, wozu er keine Gelegenheit mehr bekam. Gehen Sie
davon aus, daß er und ich nach dieser Übernahmekonferenz
noch einmal zusammengetroffen wären. Liefern Sie mir das
Sprungbrett, das ich brauche.«
»Um Ihre Worte zu gebrauchen, deutlicher bitte, Herr Anwalt.«
»Liefern Sie Hickman ein Szenario, das von A. Preston Halliday
stammen könnte. Sagen Sie ihm, der Sperrvermerk muß
bleiben, weil Sie Grund zu der Annahme haben, daß ich mit
dem Mord an Ihrem Schwager in Verbindung stehe. Erklären
Sie ihm, daß Halliday, bevor er nach Genf flog, zu Ihnen kam
was er ja getan hat - und Ihnen sagte, er wolle sich mit mir
treffen, einem Anwalt der Gegenseite, den er im Verdacht hatte,
in Korruptionsgeschäfte mit Exportlizenzen verwickelt zu sein,
ein juristisches Aushängeschild für irgendwelche Profitgeier.
Erklären Sie, Ihr Schwager hätte gesagt, daß er mich mit der
Wahrheit konfrontieren wollte. Preston Halliday stand in dem
Ruf, ein Missionar zu sein.« »Aber nicht mehr in den letzten
zehn, zwölf Jahren«, verbesserte Fitzpatrick ihn. »Er hat sich
dem Establishment angeschlossen und einen sehr gesunden
Respekt für Geld gezeigt.«
-2 8 5
»Die Geschichte ist es, auf die es ankommt. Das wußte er; das war einer der Gründe, weshalb er zu mir kam. Sagen Sie, Sie seien überzeugt, daß er mir alles gesagt hätte, und da in diesem Geschäft Millionen verdient werden, glauben Sie, ich hätte ihn ganz methodisch beseitigen lassen und mich selbst dadurch getarnt, daß ich bei seinem Tode zugegen war... Ich genieße den Ruf, ein methodischer Mann zu sein.« Connal senkte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann ging er tief in Gedanken an den antiken Jagdtisch. Er blieb stehen, sah sich einen der Drucke an und drehte sich wieder zu Converse um. »Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?« »Ja, ich will, daß Sie mir das Sprungbrett liefern, das mich mit einem Satz mitten in diese Möchtegern-Dschingis-Khans hineinkatapultiert. Um das zu bewirken, werden Sie mit Hickman weitergehen müssen. Weil Sie so persönlich betroffen und so verdammt zornig sind - was wiederum die Wahrheit ist -, können Sie ihm sagen, daß er dem, der die Akte will, ruhig sagen kann, welche Haltung Sie einnehmen. Es handelt sich um eine nichtmilitärische Angelegenheit. Sie würden also das, was Sie wissen, den Zivilbehörden zutragen.« »Sie verlangen also von mir, daß ich es aktenkundig mache, daß Sie meiner Ansicht nach in den Mord an meinem Schwager verwickelt sind. Damit stemple ich Sie als Killer ab. Sobald ich das einmal gesagt habe, kann ich es nicht mehr zurücknehmen.« »Das weiß ich. Tun Sie es trotzdem.« George Marcus Delavane wandte den Oberkörper in seinem Stuhl vor der seltsam kolorierten Landkarte an der Wand. Es war keine kontrollierte Bewegung, es war eine Bewegung, die nach Kontrolle suchte. Delavane mochte keine Behinderungen, und in diesem Augenblick erklärte ihm ein Admiral im Fünften Marine-Distrikt eine solche. »Der Vermerk hat die Einstufung Vier-Null«, sagte Scanion. »Um eine Freigabe zu bewirken, müßten wir das Pentagon -2 8 6
einschalten, und ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was das
bedeutet. Nun können wir das natürlich alles tun, General, aber
wir gehen das Risiko ein...«
»Ich kenne das Risiko«, unterbrach Delavane. »Das Risiko liegt
in den Unterschriften, den Identitäten. Warum die Vier-Null?
Wer hat das veranlaßt und warum?«
»Der leitende Anwalt von SAND PAC. Er ist Lieutenant
Commander, sein Name ist Fitzpatrick, und in seinen Akten ist
nichts zu finden, was darauf hindeutet, weshalb er es getan
hat.«
»Ich will es Ihnen sagen«, sagte Delavane. »Er verbirgt etwas.
Er beschützt diesen Converse.«
»Warum sollte ein Offizier der Marine unter solchen Umständen
einen Zivilisten schützen? Es liegt keine Verbindung vor.
Außerdem, warum sollte er Code Vier Null verwenden? Das
macht doch nur auf ihn aufmerksam.«
»Es sichert auch die Akte.« Delavane machte eine Pause, fuhr
dann aber fort, ehe der Admiral ihn unterbrechen konnte.
»Dieser Fitzpatrick«, sagte er. »Haben Sie die Liste überprüft?«
»Er ist keiner von uns.«
»Hat man ihn je in Betracht gezogen? Oder ihn
angesprochen?«
»Ich hatte keine Zeit, das zu überprüfen.« Ein Summen war zu
hören, aber nicht in der Leitung, die die beiden Männer
benutzten. Man konnte hören, wie Scanion einen Knopf
drückte, seine Stimme war klar und klang irgendwie amtlich.
»Ja?« Schweigen, und Sekunden später war die Stimme des
Admirals wieder in Palo Alto zu hören. »Es ist noch einmal
Hickman.«
»Vielleicht hat er etwas für uns. Rufen Sie mich zurück «
»Hickman würde uns überhaupt nichts geben, wenn er auch
nur die leiseste Ahnung hätte, daß es uns gibt«, sagte Scanion.
»In ein paar Wochen wird er einer der ersten sein, die gehen
müssen. Wenn man mich fragt, müßte man ihn erschießen.«
-2 8 7
»Rufen Sie mich zurück«, erwiderte George Marcus Delavane
und sah auf die Karte des neuen Aquitania.
Chaim Abrahms saß am Küchentisch seiner kleinen
mediterranen Backsteinvilla in Tzahala, einem Vorort von Tel
Aviv, wie er von pensionierten Militärs und anderen Leuten mit
ausreichendem Einkommen oder Einfluß geschätzt wurde, die
sich das Leben dort leisten konnten. Die Fenster standen offen,
und die Brise bot etwas Linderung vor der drückenden Hitze
des Sommerabends. Zwei andere Zimmer hatten Klimaanlagen
und drei weitere Deckenventilatoren, aber Chaim mochte die
Küche am liebsten. In der alten Zeit hatten sie immer in
primitiven Küchen gesessen und die Überfälle geplant. Oft
wurde Munition herumgereicht, während in einem Topf über
einem Holzfeuer in der Negevwüste ein Huhn kochte.
Es war Zeit, Palo Alto anzurufen.
»Mein General, mein Freund.«
»Shalom, Chaim«, grüßte Delavane. »Wann geht es nun nach
Bonn?«
»Morgen früh. Van Headmer ist schon unterwegs. Er wird um
halb neun in Ben Gurion eintreffen, und dann nehmen wir
zusammen die Zehn-Uhr-Maschine nach Frankfurt, wo
Leifhelms Pilot uns mit der Cessna abholt.«
»Gut. Sie können sprechen.«
»Wir müssen jetzt sprechen«, sagte der Israeli. »Was haben
Sie noch über diesen Converse erfahren?«
»Er wird mir immer rätselhafter, Chaim.«
»Ich rieche Betrug.«
»Ich auch, aber vielleicht nicht die Art von Betrug, wie ich erst
glaubte. Sie wissen, wie ich die Sache eingeschätzt habe. Ich
dachte, er sei bloß eine Vorhut, jemand, der von besser
informierten Männern eingesetzt worden ist - Lucas Anstett
darunter -, um mehr zu erfahren, als sie schon wußten oder aus
Gerüchten ahnten. Ich kann mich leider der Erkenntnis nicht
verschließen, daß es irgendwo ein paar undichte Stellen
-2 8 8
gegeben haben muß; damit muß man selbst bei uns rechnen
und fertig werden.«
»Kommen Sie zur Sache, Marcus«, sagte der ungeduldige
Abrahms.
»Heute haben sich drei Dinge ereignet«, fuhr der ehemalige
General in Palo Alto fort. »Das erste davon hat mich wütend
gemacht, weil ich es nicht verstehen konnte und es mich offen
gestanden ein wenig beunruhigt hat.«
»Und was war es?« unterbrach ihn der Israeli.
»Jemand hat veranlaßt, daß die Dienstakten von Converse
gesperrt wurden. Damit sind sie für uns unzugänglich.«
»Ja!« rief Abrahms, und in seiner Stimme klang Triumph mit.
»Was?«
»Weiter, Marcus! Ich sage es Ihnen, wenn Sie fertig sind. Was
war die zweite Panne?«
»Keine Panne, Chaim. Eine Erklärung, die so vordergründig
angeboten wurde, daß man sie nicht einfach vom Tisch
wischen kann. Leifhelm hat angerufen und gesagt, Converse
selbst hätte Anstetts Tod herbeigeführt und behaupte,
erleichtert zu sein. Sonst hat er wenig gesagt, nur daß Anstett
sein Feind gewesen sei - das war das Wort, das er benutzte.«
»Weil man ihn so instruiert hat!« Abrahms Stimme hallte durch
die Küche. »Und was war das dritte, mein General?«
»Das verwirrendste und zugleich interessanteste - und, Chaim,
Sie sollten nicht so ins Telefon brüllen. Sie sind nicht bei einer
Ihrer Ansprachen im Stadion und auch nicht in der Knesset.«
»Ich bin im Feld, Marcus. In diesem Augenblick! Bitte fahren
Sie fort, mein Freund.«
»Der Mann, der die Militärakte gesperrt hat, ist ein
Marineoffizier, und Preston Halliday war sein Schwager.«
»Genf! Ja!«
»Lassen Sie das!«
»Ich bitte um Entschuldigung, mein lieber Freund. Es ist nur
alles so perfekt!«
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»Was auch immer Sie denken«, sagte Delavane, »die Gründe,
die der Mann vorgebracht hat, könnten genau das Gegenteil
beweisen. Dieser Marineoffizier, dieser Schwager, glaubt, daß
Converse den Mord an Halliday eingefädelt hat.«
»Selbstverständlich! Perfekt!«
»Sie werden jetzt Ihre Stimme mäßigen!«
»Noch einmal, ich bitte herzlich um Entschuldigung, mein
General. War das alles, was dieser Marineoffizier gesagt hat?«
»Nein, er hat dem Befehlshaber seines Stützpunkts in San
Diego erklärt, daß Halliday zu ihm gekommen war und ihm
gesagt hat, er würde sich in Genf mit einem Mann treffen, von
dem er annähme, daß er mit illegalen Waffenexporten zu tun
hätte. Ein Rechtsanwalt, der in den Diensten von Profitmachern
im Waffengeschäft stünde. Er hatte die Absicht, diesen Mann,
diesen internationalen Anwalt namens Converse, mit seinen
Recherchen zu konfrontieren und ihm damit zu drohen, das
Ergebnis seiner Nachforschungen den Behörden zu melden.
Was haben wir also?«
»Einen Betrug!«
»Aber auf wessen Seite? Ihre Lautstärke überzeugt mich
nicht.«
»Seien Sie überzeugt, ich habe recht. Dieser Converse ist ein
Wüstenskorpion!«
»Was bedeutet das?«
»Verstehen Sie denn nicht? Die Mossad versteht es!«
»Die Mossad?«
»Ja! Ich habe mit unserem Spezialisten gesprochen, und er
spürt das auch, was ich rieche - er räumt die Möglichkeit ein!
Converse mag programmiert sein oder nicht, aber er könnte
auch ein Agent seiner Regierung sein!«
»Ein Provokateur?«
»Wer weiß, Marcus? Aber das Schema ist so perfekt. Zuerst
werden seine Militärakten gesperrt - sie werden uns etwas
verraten, das wissen wir. Dann gibt er eine bestimmte Antwort
bezüglich des Todes eines Feindes - nicht seines, sondern
-2 9 0
unseres Feindes - und behauptet, es wäre auch sein Feind - so
einfach, so unwiderlegbar. Schließlich kommen Andeutungen
auf, daß dieser Converse mit dem Mord in Genf zu tun habe
so ordentlich, so präzise zu seinem Vorteil... Wir haben es mit
sehr analytisch und nüchtern denkenden Leuten zu tun, die
jeden Zug in dem Schachspiel beobachten und gegen jeden
Bauern einen König setzen.«
»Und doch kann man alles, was Sie sagen, auch umdrehen. Er
könnte...«
»Nein, das kann er nicht!« schrie Abrahms.
»Warum, Chaim? Sagen Sie mir, warum?«
»Weil in ihm keine Hitze, kein Feuer ist! So handelt einer nicht,
der glaubt! Wir sind nicht raffiniert, wir sind hartnäckig!«
George Marcus Delavane sagte einige Augenblicke lang nichts,
und der Israeli wußte, daß er jetzt ebenfalls nichts sagen durfte.
Er wartete, bis die kalte, ruhige Stimme wieder zu hören war.
»Halten Sie Ihre Konferenz morgen ab, General. Hören Sie ihm
zu und seien Sie höflich; spielen Sie das Spiel, das er spielt.
Aber er darf das Haus nicht verlassen, bis ich nicht den Befehl
dazu gegeben habe. Vielleicht verläßt er es nie mehr.«
»Shalom, mein Freund.«
»Shalom, Chaim.«
14 Valerie ging zu den Glastüren ihres Ateliers - die gleichen
Türen, wie sie sie oben am Balkon hatte - und blickte auf die
ruhigen, von der Sonne durchwärmten Wellen von Cap Ann
hinaus. Sie dachte kurz an das Boot, das vor einigen Nächten
so beunruhigend vor ihrem Haus Anker geworfen hatte. Es war
nicht wieder aufgetaucht; was auch immer geschehen war,
gehörte der Vergangenheit an, hatte Fragen, aber keine
Antworten hinterlassen. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie
noch immer die Gestalt eines Mannes sehen, der aus dem
Lichtschein der Kabine heraustrat, das Glühen seiner Zigarette,
-2 9 1
und sie fragte sich immer noch, was dieser Mann wollte, was er dachte. Dann erinnerte sie sich an die zwei Männer im frühen Morgenlicht, Männer, die mit Feldstechern zu ihr herübergeblickt hatten. Fragen. Keine Antworten. Waren es unerfahrene Seeleute gewesen, die einen sicheren Zufluchtshafen gefunden hatten? Fragen, keine Antworten. Was auch immer, es gehörte der Vergangenheit an. Ein kurzes, beunruhigendes Zwischenspiel, das schwarze Phantasien in ihr ausgelöst hatte - Dämonen auf der Suche nach Logik, wie Joel gesagt hätte. Verdammt sollte er sein! Der arme Joel. Der traurige Joel. Er war ein guter Mann, im Strudel seiner Konflikte gefangen. Und Val war so weit gegangen, wie sie gehen konnte. Weiterzugehen, hätte bedeutet, die eigene Identität zu verleugnen. Das würde sie nicht tun; das hatte sie nicht getan. Sie legte ihren Pinsel auf die Palette und sah über die Dünen auf den Ozean hinaus. Er war dort draußen, weit entfernt, immer noch irgendwo in Europa. Valerie fragte sich, ob er an diesen Tag gedacht hatte. Es war ihr Hochzeitstag. Um es zusammenzufassen, Chaim Abrahm ist im Streß und Durcheinander des täglichen Überlebenskampfes geformt worden. Es waren Jahre endloser, heftiger Scharmützel, in denen es darum ging, schneller zu denken als der Feind und ihn zu überleben - einen Feind, der nicht nur darauf aus war, ganze Siedlungen niederzumachen, sondern der die Hoffnungen der Wüstenjuden auf ein Heimatland, politische Freiheit und religiöse Selbstbestimmung vernichten wollte. Es ist also nicht schwer zu verstehen, weshalb Abrahm so ist wie er ist. Bewaffnete Macht hat für ihn in allen Dingen Vorrang Vorverhandlungen, und selbst jene in Israel, die für eine gemäßigtere Haltung plädieren, die nur auf Sicherung der Grenzen basiert, werden von ihm als Verräter gebrandmarkt. Abrahm ist ein Imperialist, der auf ein sich immer weiter ausdehnendes Israel als beherrschende Macht im ganzen Nahen Osten hofft. Als Abschluß dieses Berichts eignet sich -2 9 2
vielleicht eine Bemerkung, die er der bekannten Aussage des
Premierministers während der Invasion des Libanon, »Wir
wollen keinen Zollbreit libanesischen Bodens«, hinzufügte.
Abrahms Antwort, die er seinen Truppen im Feld gab - die
keineswegs mehrheitlich seine Gefühle teilten -, war die
folgende:
»Ganz sicher keinen Zollbreit! Das ganze verdammte Land!
Dann Gaza, den Golan und die Westbank! Und warum nicht
Jordanien, dann Syrien und den Irak! Wir verfügen über die
Mittel und wir haben den Willen! Wir sind die mächtigen Kinder
Abrahams!« Er ist Delavanes Schlüssel im unbeständigen
Nahen Osten.
Es war beinahe Mittag, die Sonne brannte auf den kleinen
Balkon herunter. Der Zimmerkellner hatte die Reste ihres
späten Frühstücks abgetragen; auf dem Jagdtisch war nur eine
silberne Kanne geblieben. Sie hatten stundenlang gelesen, seit
gegen sechs Uhr dreißig der erste Kaffee in ihre Suite gebracht
worden war. Converse legte die Akte weg und griff nach seinen
Zigaretten, die auf dem Tischchen neben dem Sessel lagen.
Joel sah zu Connal Fitzpatrick hinüber, der auf der Couch saß
und sich über den Tisch nach vorne beugte und von einem Blatt
las, während er Notizen auf den Telefonblock kritzelte. Die
Bertholdier- und Leifhelm-Dossiers lagen sorgsam aufgestapelt
zu seiner Linken.
Fitzpatrick blickte auf. »Was ist denn?« fragte er, als er
bemerkte, daß Converse ihn anstarrte. »Machen Sie sich
Gedanken wegen des Admirals?«
»Wegen wem?«
»Hickman, San Diego.«
»Unter anderem. Bei hellichtem Tag - sind Sie sicher, daß er
das mit der Verlängerung gefressen hat?«
»Garantieren kann ich es nicht, aber ich sagte Ihnen ja schon,
daß er mich anrufen wollte, falls man ihn unter Druck setzen
würde. Ich bin verdammt sicher, daß er nichts tun wird, ohne
mich zu konsultieren. Wenn er versuchen sollte, mich zu
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erreichen, weiß Meagen, was sie zu tun hat, und dann verstärke ich den Druck. Wenn nötig, bestehe ich auf einem Zusammentreffen mit jenen unbekannten Leuten im Fünften Distrikt. Am Ende könnten wir in einer Pattsituation sein - ich würde mich dann bereit erklären, die Akte nur dann freizugeben, wenn man mir eine komplette Untersuchung der Umstände garantiert. Patt.« »Sie werden kein Patt bekommen, wenn Hickman zu denen gehört. Dann wird er seine größere Autorität einsetzen.« »Dann hätte er Remington nicht gesagt, daß er mich anrufen soll. Er hätte überhaupt nichts gesagt; er hätte den einen Tag gewartet und es einfach laufenlassen. Ich kenne ihn. Er war nicht nur verblüfft, er war wütend. Er stellt sich hinter seine Leute und mag es nicht, wenn man ihn von außen unter Druck setzt, besonders nicht, wenn die Navy dahintersteckt. Wir warten jetzt ab, und so lange bleibt der Sperrvermerk. Ich sagte Ihnen doch, er ist viel wütender auf Norfolk als auf mich. Die sind nicht einmal bereit, ihm ihre Gründe zu nennen; sie behaupten, sie dürften das nicht.« Converse nickte. »Schön«, sagte er. »Dann schreiben Sie es eben meinen Nerven zu. Ich habe gerade die Abrahms-Akte zu Ende gelesen. Dieser Wahnsinnige könnte den ganzen Nahen Osten alleine in die Luft sprengen und uns andere mit hineinziehen... Was halten Sie denn von Leifhelm und Bertholdier?« »Soweit ich das den Akten entnehmen konnte, haben Sie nicht übertrieben. Diese Leute sind mehr als nur einflußreiche ExGenerale mit Händen voller Geld, das sind mächtige Symbolfiguren, um die sich eine Menge Leute sammeln können. Soviel zu den Informationen - aber für mich sind Informationen selbst wichtig. Woher stammen sie?« »Das ist ein Schritt zurück. Es ist alles hier.« »Sicher ist es das, aber wieso? Sie sagen, Beale hätte Ihnen die Akten gegeben, Press hätte das Wort >wir< benutzt diejenigen, hinter denen wir her sind<, >die Mittel, die wir dir geben können<, >die Verbindungen, so wie wir sie sehen<.« -2 9 4
»Das haben wir doch besprochen«, beharrte Joel. »Der Mann
in San Francisco. Der, zu dem er gegangen ist und der ihm die
Fünfhunderttausend gegeben und ihn aufgefordert hat,
anklagefähiges Beweismaterial gegen diese Leute auf legalem
Wege zu beschaffen, damit wir sie als ganz gewöhnliche
Profitmacher abstempeln können. Das ist der letzte Hohn für
Superpatrioten. Vernünftig gedacht, das steht hinter dem wir.«
»Press und dieser unbekannte Mann in San Francisco?«
»Ja.«
»Und die konnten einfach einen Telefonhörer abnehmen und
jemanden dafür bezahlen, daß er das hier zusammenstellte?«
Fitzpatrick deutete auf die beiden Papierstapel zu seiner
Linken.
»Warum nicht? Wir leben im Zeitalter des Computers. Niemand
lebt heute mehr auf einer unbekannten Insel oder in einer
bislang nicht entdeckten Höhle.«
»Das hier«, wiederholte Connal, »sind keine
Computerausdrucke. Das sind gut recherchierte, detaillierte, in
die Tiefe gehende Dossiers, die auf feinste Nuancen und
privateste Eigenheiten eingehen.«
»Sie können gut mit Worten umgehen, Seemann. Aber ein
Mann, der eine halbe Million Dollar an die richtige Bank auf
einer Insel in der Ägäis überweisen kann, kann sich so ziemlich
jeden anheuern, den er mag.«
»Das hier kann er nicht anheuern.«
»Was soll das heißen?«
»Lassen Sie mich wirklich einen Schritt rückwärts tun«, sagte
der Marineanwalt, stand auf und griff nach dem Blatt, das er
gelesen hatte. »Ich will meine Beziehung zu Press nicht noch
einmal schildern, weil es im Augenblick ein wenig weh tut,
darüber nachzudenken.« Fitzpatrick machte eine Pause und
registrierte den Blick in Joels Augen, die diese Art von
Sentimentalität in ihrer Diskussion zurückwiesen. »Verstehen
Sie mich nicht falsch«, fuhr er fort. »Es geht nicht um seinen
Tod, nicht die Beisetzung; eher umgekehrt. Das ist nicht der
-2 9 5
Press Halliday, den ich kannte. Sehen Sie, ich glaube nicht,
daß er uns die Wahrheit gesagt hat, Ihnen nicht und mir auch
nicht.«
»Dann wissen Sie etwas, was ich nicht weiß«, sagte Converse
leise.
»Ich weiß, daß es in San Francisco keinen Mann gibt, der auch
nur entfernt zu der Beschreibung oder dem Bild paßt, das er
Ihnen gegeben hat. Ich habe mein ganzes Leben dort gelebt,
wenn man Berkeley und Stanford mit einbezieht, genau wie
Press. Ich kannte alle Leute, die er kannte, besonders die
wohlhabendsten, auch die exotischeren darunter. Wir haben nie
Geheimnisse voreinander gehabt. Manchmal war ich Welten
von ihm entfernt, aber er hat mich immer wieder informiert,
wenn neue Personen dazukamen. Das hat für ihn dazugehört
und ihm Spaß gemacht.«
»Das klingt ein wenig fadenscheinig. Ich bin sicher, daß er
gewisse Verbindungen für sich behalten hat.«
»Nicht Verbindungen dieser Art«, sagte Connal. »Das hätte
nicht zu ihm gepaßt. Nicht, wenn es um mich ging.« »Nun,
ich...«
»Und jetzt lassen Sie mich einen Schritt nach vorn tun«,
unterbrach Fitzpatrick. »Diese Dossiers - ich habe sie vorher
nicht gesehen, aber ich habe Hunderte von Dossiers dieser Art
gesehen, vielleicht ein paar tausend, und zwar kurz bevor sie
fertig waren.«
Joel richtete sich auf. »Bitte erklären Sie mir das näher,
Commander.«
»Sie haben gerade den Nagel auf den Kopf getroffen,
Lieutenant. Der Rang sagt es.«
»Sagt was?«
»Diese Dossiers sind die überarbeiteten, fertiggestellten
Ergebnisse von Abwehrrecherchen. Man hat sie in der ganzen
Abwehrgemeinschaft herumgeschubst, und jede Abteilung hat
das ihre beigetragen - angefangen bei biografischen Daten bis
zu Überwachungsergebnissen und psychiatrischen
-2 9 6
Auswertungen -, und dann haben Spezialistenteams das Ganze
zusammengefügt. Das hier stammt aus den tiefsten Gründen
der Regierungssafes. Dann hat man alles redigiert und
Schlüsse daraus gezogen und so umgeformt, daß es wie die
Arbeit einer außenstehenden, nicht der Regierung
angehörenden Institution aussieht. Das Ganze riecht förmlich
nach Vertraulich, Top Secret und Eyes Only.«
»Man könnte das auch recherchieren«, sagte Joel, der plötzlich
nicht mehr überzeugt war.
»Nun, das hier kann man nicht recherchieren«, unterbrach
Connal ihn und hob das Blatt mit den maschinengeschriebenen
Namen, wobei sein Daumen an die beiden unteren Spalten
wies, die die »Entscheidungsmacher« im Pentagon und im
State Department verzeichneten. »Vielleicht fünf oder sechs
höchstens drei von jeder Seite. Aber den Rest nicht. Das hier
sind Leute, die über denjenigen stehen, mit denen ich zu tun
hatte, Männer, die ihre Arbeit unter einer Vielzahl von Titeln tun,
damit man nicht an sie heran kann - weder mit Bestechung
noch mit Erpressung oder Drohung. Als Sie sagten, Sie hätten
Namen, vermutete ich, daß ich die meisten von ihnen kennen
würde oder wenigstens die Hälfte. Aber das ist nicht der Fall.
Ich kenne nur die Abteilungsleiter, Angehörige der oberen
Führungsschicht, die selbst noch weiter nach oben gehen
müssen und offenbar diesen Leuten hier berichten. Press kann
sich diese Namen unmöglich selbst oder durch Außenstehende
besorgt haben. Er hätte nicht gewußt, wo man suchen muß,
und Sie hätten es auch nicht gewußt - selbst ich würde es nicht
wissen.«
Converse stand auf. »Wissen Sie, was Sie da sagen?«
»Ja. Jemand - wahrscheinlich mehr als eine Person - tief in den
Kellern von Washington hat diese Namen geliefert, so wie er
oder sie das Material für diese Akten geliefert haben.«
»Wissen Sie wirklich, was Sie da sagen?« Connal stand
regungslos da und nickte.
»Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen«, begann er düster.
»Press hat uns belogen. Er hat Sie mit dem, was er sagte,
-2 9 7
belogen, und mich mit dem, was er nicht sagte. Sie hängen an
einem Faden, der bis nach Washington reicht. Und ich sollte
nichts davon wissen.«
»Die Marionette steht in Position...« Joel sprach so leise, daß er
kaum zu hören war, während er ziellos durch den Raum ging,
auf das helle Sonnenlicht zu, das durch die Balkontür hereinfiel.
»Was?« fragte Fitzpatrick.
Converse drehte sich um. »Aber wenn es einen solchen Faden
gibt, weshalb haben die ihn verborgen? Weshalb hat Avery ihn
verborgen? Zu welchem Zweck?«
Der Marineanwalt blieb unbewegt, und sein Gesicht war
ausdruckslos. »Ich glaube nicht, daß ich darauf antworten muß.
Sie haben diese Frage gestern nachmittag selbst beantwortet,
als wir über mich sprachen - und machen Sie sich nichts vor,
Lieutenant, ich wußte genau, was Sie sagten. >Ich werde Ihnen
hier und da einen Namen nennen, wenn ich glaube, daß Ihnen
das vielleicht eine Tür öffnet. Aber das ist alles. < Das waren
Ihre Worte. Frei übersetzt hieß das, daß der Matrose, den Sie
an Bord nahmen, vielleicht über etwas stolpern würde, aber
falls die falschen Leute sich seiner bemächtigten, würden sie
nicht etwas aus ihm herausprügeln können, was er nicht weiß.«
Joel nahm die Zurückweisung an, nicht nur, weil sie im Wesen
zutraf, sondern weil sie ihm eine größere Wahrheit klarmachte,
eine Wahrheit, die er auf Mykonos noch nicht begriffen hatte.
Beale hatte ihm gesagt, daß unter den Leuten, die in
Washington Fragen gestellt hatten, auch Militärs gewesen
waren, die aus dem einen oder anderen Grund ihre
Recherchen nicht weiterverfolgt hatten. Sie waren stumm
geblieben. Aber sie hatten ihr Schweigen nicht durchgehalten.
Sie hatten schließlich doch mit leiser Stimme gesprochen, bis
eine andere leise Stimme aus San Francisco - ein Mann, der
dank seines engen Freundes und Schwagers in San Diego
wußte, an wen man herantreten mußte - die Verbindung
herstellte. Sie hatten miteinander gesprochen, und aus ihren
geheimen Gesprächen war ein Plan erwachsen. Sie brauchten
einen Infiltrator, einen Mann mit Erfahrung, mit einem Motiv,
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das sie nähren konnten, den man, sobald er einmal in Gang gesetzt war, in das Labyrinth schicken konnte. Die Erkenntnis war ein Schock, aber seltsamerweise konnte Joel an der Strategie keinen Fehler entdecken, nicht einmal an dem Schweigen, das selbst nach der Ermordung Preston Hallidays angehalten hatte. Laute Anklagen hätten jenen Tod nur sinnlos gemacht. Statt dessen waren sie still geblieben in dem Wissen, daß ihre Marionette über die Werkzeuge verfügte, um sich einen Weg durch das Labyrinth von Illegalitäten zu suchen und das zu erledigen, wozu sie selbst nicht imstande waren. Auch das begriff er. Aber eines konnte Converse nicht akzeptieren, und das war, daß er selbst als Marionette so gering eingeschätzt wurde, als jemand, den man ebenfalls opfern konnte. Er hatte es ertragen, unter den Bedingungen, die Avery Fowler - Preston Halliday - ihm geschildert hatte, ungeschützt zu bleiben, aber nicht unter diesen. Wenn er an einem Faden hing, so sollten die Puppenspieler wissen, daß er es ebenfalls wußte. Außerdem wollte er einen Namen in Bonn, eine Person, die er anrufen konnte, jemand, der zu ihnen gehörte. Die alten Regeln galten nicht länger, eine neue Dimension war hinzugekommen. In vier Stunden würde er durch das eiserne Tor von Erich Leifhelms Villa gefahren werden. Er wollte jemanden draußen haben, einen Mann, den Fitzpatrick erreichen konnte, falls er bis Mitternacht nicht wieder herauskam. Die Dämonen drängten jetzt auf ihn ein - wütend beinahe, dachte Joel. Trotzdem gab es für ihn kein Zurück. Er war seinem Ziel so nahe, den Todesfürsten von Saigon in die Falle zu locken, dem Ziel, so viel wie möglich von dem auszugleichen, was sein Leben auf eine Art und Weise verformt hatte, wie niemand das je begreifen würde... Nein, nicht »niemand«, überlegte er. Einen Menschen gab es, der das tat, und sie hatte gesagt, sie könne ihm nicht länger helfen. Und es war auch nicht fair gewesen, ihre Hilfe zu suchen. »Wie haben Sie sich entschieden?« fragte Connal. »Entschieden?« erwiderte Joel erschreckt. -2 9 9
»Sie brauchen heute nachmittag nicht zu gehen. Werfen Sie
doch alles hin! Das gehört in die Hände des FBI, im Verein mit
der Central Intelligence Agency. Ich bin erschüttert, daß diese
ominösen Hintermänner nicht den Weg gegangen sind.«
Converse setzte zur Antwort an, hielt dann aber inne. Was er
sagte, mußte klar und überzeugend sein, nicht nur für
Fitzpatrick, sondern auch für ihn selbst. Er glaubte zu begreifen.
Er hatte in Avery Fowlers Augen - Preston Hallidays Augen
tiefe Panik gesehen und den Aufschrei in seiner Stimme gehört.
»Ist es Ihnen einmal in den Sinn gekommen, Commander, daß
sie diesen Weg nicht einschlagen können? Daß wir vielleicht
nicht von Männern sprechen, die einfach einen Telefonhörer
aufnehmen - wie Sie das vorher sagten - und diese Räder in
Bewegung setzen können? Oder, wenn sie es versuchten,
würde Sie das den Kopf kosten, vielleicht sogar buchstäblich
mit einem offiziellen Verweis und einer Kugel ins Genick? Was
ich glaube, ist, daß sie zu einem überzeugenden Schluß
gelangt sind. Die konnten nicht von innen heraus arbeiten, weil
sie nicht wußten, wem sie noch vertrauen konnten.« Converse
drehte sich um und ging auf seine Schlafzimmertür zu.
»Wo gehen Sie hin?« fragte Connal.
»Beales Telefonnummer in Mykonos; sie ist in meinem
Aktenkoffer. Er ist mein einziger Kontakt, und ich will mit ihm
sprechen. Ich möchte, daß man weiß, daß man der Marionette
soeben ein Stück unerwarteten freien Willen gelassen hat.«
Drei Minuten später stand Joel am Tisch, den Telefonhörer ans
Ohr gepreßt, während die Vermittlung in Athen sein Gespräch
nach Mykonos weiterleitete. Fitzpatrick saß auf der Couch,
Chaim Abrahms Dossier vor sich auf dem Tischchen, die
Augen auf Converse gerichtet.
»Kommen Sie durch?« fragte der Marineanwalt.
»Jetzt klingelt es.« Vier- oder fünfmal war das schrille Läuten zu
hören, beim siebtenmal nahm jemand den Hörer ab.
»Herete?«
-3 0 0
»Dr. Beale, bitte. Dr. Edward Beale. Den Hausbesitzer. Bitte,
holen Sie ihn für mich!« Joel drehte sich zu Fitzpatrick herum.
»Sprechen Sie Griechisch?«
»Nein, aber ich habe schon überlegt, ob ich es lernen soll.«
»Tun Sie es.« Wieder lauschte Converse der Männerstimme in
Mykonos. Griechische Sätze waren zu hören, aber er verstand
natürlich kein Wort. »Danke! Wiedersehen!« Joel schlug ein
paarmal auf die Telefongabel und hoffte, die Leitung würde
noch offen bleiben und die englisch sprechende Vermittlung in
Griechenland würde sich einschalten. »Vermittlung? Ist das die
Vermittlung in Athen?... Gut! Ich möchte eine andere Nummer
auf Mykonos. Bitte auf dieselbe Rechnung in Bonn.« Converse
griff nach dem Zettel, den Halliday ihm in Genf gegeben hatte.
»Die Bank von Rhodos. Die Nummer ist...«
Augenblicke später war der Bankdirektor von der
Uferpromenade in der Leitung. »Herete?«
»Mr. Laskaris, hier spricht Joel Converse. Erinnern Sie sich an
mich?«
»Natürlich... Mr. Converse?«
Der Bankier klang fern, irgendwie fremd, als wäre er
verunsichert. »Ich habe versucht, Dr. Beale unter der Nummer
zu erreichen, die Sie mir gaben, aber ich bekomme dort nur
einen Mann, der nicht Englisch spricht. Ich dachte, Sie könnten
mir vielleicht sagen, wo Beale ist.«
Am Telefon war ein tiefer Atemzug zu hören. »Das habe ich mir
gedacht«, sagte Laskaris leise. »Der Mann, den Sie erreicht
haben, war ein Polizeibeamter, Mr. Converse. Ich habe selbst
veranlaßt, daß man ihn dort postiert. Ein Gelehrter hat viele
wertvolle Dinge.«
»Warum? Was meinen Sie damit?«
»Dr. Beale hat heute kurz nach Sonnenaufgang in Begleitung
eines anderen Mannes mit dem Boot den Hafen verlassen.
Einige Fischer haben sie gesehen. Vor zwei Stunden hat man
Dr. Beales Boot an den Felsen hinter dem Stephanos
gefunden. Zerschellt. An Bord war niemand.«
-3 0 1
Ich habe ihn getötet mit einem Schuppenmesser. Und dann
habe ich seine Leiche über Bord geworfen. Bei den Untiefen
von Stephanos, wo es immer Haie gibt.
Joel legte auf. Halliday, Anstett, Beale waren nicht mehr - seine
Kontakte waren tot. Er war eine Marionette, die man
losgeschnitten hatte, seine Fäden hatten sich verwirrt und
führten nur noch zu Schatten.
15 Erich Leifhelms wachsgelbe Haut wurde noch bleicher,
während sich seine Augen verengten und seine ausgetrocknet
wirkenden weißen Lippen sich öffneten. Das Blut strömte ihm in
den Kopf, als er sich am Schreibtisch in seiner Bibliothek nach
vorn beugte und in den Telefonhörer sprach:
»Wie war der Name noch einmal, London?«
»Admiral Hickman. Er ist...«
»Nein«, unterbrach ihn der Deutsche mit scharfer Stimme. »Der
andere! Der Offizier, der es abgelehnt hat, die Information
freizugeben.«
»Fitzpatrick, das ist ein irischer Name. Er ist der leitende Anwalt
des Marinestützpunktes San Diego.«
»Ein Lieutenant Commander Fitzpatrick?«
»Ja, aber woher wissen Sie das?«
»Unglaublich! Diese Stümper!«
«Warum?« fragte der Engländer. »Wieso?«
»Mag sein, daß er in San Diego das ist, was Sie sagen, aber er
ist nicht in San Diego! Er ist hier in Bonn!«
»Sind Sie verrückt? Nein, natürlich nicht. Sind Sie sicher?«
»Er ist mit Converse zusammen! Ich habe selbst mit ihm
gesprochen. Die zwei sind auf seinen Namen im Hotel
eingetragen! Über ihn haben wir Converse gefunden!«
»Und er hat nicht versucht, seinen Namen geheimzuhalten?«
-3 0 2
»Im Gegenteil, er hat sich mit seinen Papieren im Hotel
ausgewiesen!«
»Wie verdammt drittklassig«, sagte die Stimme aus London
verwirrt. »Oder wie selbstsicher«, fügte sie dann hinzu,
während sich ihr Tonfall änderte. »Ein Signal? Niemand wagt
es, ihn zu berühren?«
»Unsinn!«
»Warum?«
»Er hat mit Peregrine, dem Botschafter, gesprochen. Unser
Mann war dabei. Peregrine wollte ihn festnehmen, wollte ihn
gewaltsam in die Botschaft bringen lassen. Aber es gab
Komplikationen; er ist entkommen.«
»Dann war unser Mann nicht besonders gut.«
»Eine Störung. Irgendein Schauspieler hat sich da eingemischt.
Peregrine will nichts über den Vorgang sagen, er schweigt sich
aus.«
»Was bedeutet, daß keiner diesen Marineoffizier aus
Kalifornien anfassen wird«, schloß London. »Dafür gibt es
einen sehr guten Grund.«
»Und der wäre?«
»Er ist der Schwager von Preston Halliday.«
»Genf! Mein Gott, die sind uns auf der Spur!« »Irgend jemand,
aber niemand hat sehr viel Informationen. Ich bin mir darin mit
Palo Alto einig und mit unserem Spezialisten in der Mossad
und mit Abrahms auch.«
»Der Jude? Was sagte der Jude? Was sagt er?«
»Er behauptet, dieser Converse wäre ein Agent, den
Washington blind ausgeschickt hat.«
»Was brauchen Sie mehr?«
»Er soll Ihr Haus nicht verlassen. Weitere Anweisungen
folgen.«
»Eine Riesenschweinerei ist das!« schrie Admiral Hickman, der
am Fenster stand und zornig auf einen blassen, halb erstarrten
-3 0 3
David Remington einredete. »Ich will eine Erklärung haben,
verdammt!«
»Ich kann das nicht glauben, Sir. Ich habe gestern mit ihm
gesprochen - am Mittag - und dann noch einmal am Abend
vorher. Er war in Sonoma!«
»Ich auch, Lieutenant. Und wenn eine Störung in der Leitung
war oder ein Echo, was hat er dann gesagt? Der Regen in den
Bergen stört die Leitung?«
»Genau das hat er gesagt, Sir.«
»Er ist vor Tagen in Düsseldorf eingetroffen. Jetzt ist er in Bonn
mit einem Mann zusammen, von dem er unter Eid behauptet
hat, daß er etwas mit dem Tod seines Schwagers zu tun hätte.
Denselben Mann, den er beschützt, indem er seine Akte sperrt.
Dieser Converse!«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sir.«
»Nun, das State Department weiß das schon und ich auch. Die
verlangen jetzt, daß die Prüfung beschleunigt wird, was immer
das in Ihrem Juristenkauderwelsch bedeutet.«
»Das bedeutet einfach...«
»Das will ich nicht hören, Lieutenant«, sagte Hickman und ging
zum Schreibtisch zurück. »Ich will, daß dieser Sperrvermerk
aufgehoben wird. Haben Sie irgendwelche Einwände? Etwas,
das Sie in ein oder zwei Sätze kleiden können und das ein
normaler Mensch kapieren kann, ohne daß man drei weitere
Paragraphenreiter zum Übersetzen braucht?«
Lieutenant Remington, einer der besten Anwälte der Navy der
Vereinigten Staaten, wußte, wann man besser den Rückzug
antritt. »Ich werde persönlich für Beschleunigung sorgen,
Admiral. Als verantwortlicher Offizier werde ich klarstellen, daß
die direkte Anweisung jetzt einer sofortigen Streichung
unterliegt. Eine Anweisung dieser Art sollte und dürfte nicht
unter fragwürdigen Umständen ergehen. Korrekterweise...«
»Das genügt, Lieutenant«, sagte der Admiral, indem er seinem
Untergebenen das Wort abschnitt und sich setzte.
»Ja, Sir.«
-3 0 4
»Nein, das ist noch nicht alles!« fuhr Hickman fort und beugte sich plötzlich vor. »Wie wird dieses Protokoll freigegeben und wie schnell können Sie es in Händen halten?« »Unter den jetzigen Voraussetzungen ist das eine Frage von Stunden, Sir, zum Mittag oder kurz danach, würde ich meinen. Man wird ein verschlüsseltes Telex an den Anforderer der Akte schicken. Aber nachdem SAND PAC nur eine Beschränkung verlangt hat und keine Anforderung...« »Fordern Sie an, Lieutenant. Bringen Sie mir die Papiere, sobald sie hier ankommen, und verlassen Sie bis dahin den Stützpunkt nicht.« »Aye, aye, Sir!« Die dunkelrote Mercedes-Limousine rollte über die gewundene Straße hinter den mächtigen Toren, die Erich Leifhelms Anwesen schützten. Das orangerote Licht der späten Nachmittagssonne fiel schräg durch die hohen Bäume zu beiden Seiten der Zufahrt. Die Fahrt hätte entspannend sein können, fast beeindruckend - das Spiel von Licht und Schatten in dem dichten Blattwerk bot ein eindrucksvolles Bild -, wenn da nicht etwas gewesen wäre, was die ganze Szene grotesk wirken ließ. Neben dem Wagen liefen nämlich wenigstens ein halbes Dutzend Dobermannhunde, von denen keiner einen Laut von sich gab. Es war etwas Gespenstisches an diesem stummen Rennen und den schwarzen Augen, die immer wieder zu den Fenstern hinaufblitzten, den halb aufgerissenen, hechelnden Mäulern und den freigelegten Fängen. Und alles lautlos! Irgendwie wußte Converse, daß diese riesigen Hunde ihn in Stücke reißen würden, wenn er den Wagen verließ. Und das stimmte auch. Die Limousine bog in eine lange, kreisförmige Zufahrt, die zu breiten braunen Marmorstufen führte, an deren Ende ein Bogen mit einer dunklen, schweren Tür zu sehen war - zweifellos Überreste einer alten, geplünderten Kathedrale. Auf der untersten Stufe stand ein Mann mit einer silbernen Pfeife an den Lippen. Wieder war kein Laut zu hören, aber plötzlich ließen die Tiere von dem Wagen -3 0 5
ab, liefen zu dem Mann und blickten ihn mit herunterhängenden
Lefzen und bebenden Flanken an.
»Bitte, warten Sie«, sagte der Chauffeur in einem Englisch mit
starkem deutschen Akzent. Dann stieg er aus und eilte um den
Wagen herum zu Joels Tür. Er öffnete sie. »Wenn Sie jetzt bitte
aussteigen würden und sich zwei Schritte vom Wagen
entfernen. Nur zwei Schritte, Sir.« Der Chauffeur hielt jetzt
einen schwarzen Gegenstand in der Hand, an dem ein rundes
Metallrohr zu erkennen war - das Ganze sah wie ein
überdimensioniertes Kaminfeuerzeug aus.
»Was ist das?« fragte Converse nicht besonders freundlich.
»Schutz, Sir. Für Sie. Die Hunde, Sir. Sie sind darauf
abgerichtet, schwere Metallgegenstände zu finden.«
Joel blieb stehen, während der Deutsche den elektronischen
Detektor über seine Kleidung, seine Schuhe, die Schenkel und
seinen Rücken führte. »Glauben Sie denn wirklich, daß ich mit
einer Waffe herkommen würde?«
»Ich glaube gar nichts, Sir. Ich tue, was man mir sagt.«
»Wie originell«, murmelte Converse und sah zu, wie der Mann
auf der Marmortreppe wieder die silberne Pfeife zu den Lippen
führte. Die Phalanx der Dobermänner warf sich mit einem
einzigen Satz nach vorne. Erschreckt packte Joel den
Chauffeur und riß den Deutschen vor sich. Der Mann drehte nur
den Kopf herum und grinste, als die Hunde nach rechts
abbogen und den Bogen der Abfahrt hinunterhetzten, auf die
Straße zu, die sich zwischen den Bäumen verlor.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, mein Herr«, sagte
der Chauffeur. »Das passiert oft.«
»Ich hatte nicht vor, mich zu entschuldigen«, erwiderte
Converse ausdruckslos, während er den Mann losließ. »Ich
hatte vor. Ihnen den Hals zu brechen.« Der Deutsche entfernte
sich, während Joel regungslos stehenblieb, von seinen eigenen
Worten verblüfft. Er hatte seit mehr als fünfzehn Jahren keine
solchen Worte mehr gesprochen. Vorher ja, aber er hatte
versucht, sich nicht mehr daran zu erinnern.
-3 0 6
»Diese Richtung, bitte, Sir«, sagte der Mann auf der Treppe mit eigenartigem, aber deutlich zu erkennendem britischen Akzent. Sie traten in eine weite Halle, die von mittelalterlichen Bannern gesäumt war, die von einem Innenbalkon hingen. Die Halle führte in einen riesigen Wohnraum, der zwar ebenfalls mittelalterlich wirkte, den aber weiches Leder, bunte Lampenschirme und Silber überall auf polierten Tischen wohnlicher erscheinen ließen. Der Eindruck wurde allerdings durch eine Vielzahl von Tierköpfen an den Wänden gestört; große Katzen, Elefanten und ein Eber blickten bösartig auf Joel herunter. Das Lager eines Feldmarschalls. Aber nicht die Dekoration war es, die seinen Blick festhielt, sondern die vier Männer, die neben vier Stühlen standen und ihn ansahen. Bertholdier und Leifhelm kannte er; sie standen nebeneinander zur Rechten. Die zwei Linken waren es, die er anstarrte. Der mittelgroße, vierschrötige Mann mit dem kurzgestutzten Haarkranz um den fast kahlen Schädel in zerdrückter Safarijacke, Khakihose und Stiefeln konnte kein anderer als Chaim Abrahms sein. Sein finster blickendes Gesicht mit den schmalen Schlitzen, hinter denen die Augen böse funkelten, war das eines Rächers. Der sehr große Mann mit den hageren Raubvogelzügen und dem glatt nach hinten gekämmten grauen Haar war General Jan Van Headmer, der Schlächter von Soweto. Joel hatte das Van-Headmer-Dossier schnell gelesen; zum Glück war es das kürzeste, und die letzte Zusammenfassung sagte alles über die Person. Im Grunde ist Van Headmer ein Kapstädter Aristokrat, ein Afrikaaner, der die Briten nie wirklich akzeptiert hat, geschweige denn die Schwarzen. Seine Überzeugungen wurzeln in einer Welt, die für ihn unerschütterlich ist. Seine Vorfahren haben unter grausamen Bedingungen ein wildes Land gezähmt, wobei ihnen die Eingeborenen schreckliche Verluste zugefügt haben. Sein ganzes Denken verläuft unabänderlich in den Kategorien des späten neunzehnten und -3 0 7
frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist nicht bereit, die soziologischen und politischen Veränderungen zu akzeptieren, die von den gebildeteren Bantus getragen werden, weil er in ihnen nie etwas anderes als Primitive aus dem Busch sehen wird. Wenn er harte Zwangsmaßnahmen und Massenexekutionen anordnet, so tut er das in der Meinung, es mit kaum der Sprache mächtigen Tieren zu tun zu haben. Dieses Denken führte dazu, daß er während des Zweiten Weltkrieges gemeinsam mit den Premierministern Verwoerd und Fester ins Gefängnis geriet. Er stimmte aus ganzem Herzen den Vorstellungen der Nazis bezüglich der Herrenrassen zu. Das einzige, was ihn von den Nazis unterscheidet, ist die enge Beziehung die er zu Chaim Abrahms unterhält, worin für ihn aber kein Widerspruch liegt. Die Juden haben aus dem primitiven Palästina ein reiches Land gemacht. Insoweit ist ihre Geschichte parallel zu der Südafrikas verlaufen, und beide können auf ihre Stärke und ihre Leistungen stolz sein. Van Headmer ist übrigens einer der charmantesten Männer, denen man begegnen kann. Äußerlich ist er kultiviert, äußerst höflich und stets bereit zuzuhören. Doch unter dieser glatten Fassade verbirgt sich ein gefühlloser Killer. Van Headmer ist Delavanes Schlüsselfigur in Südafrika mit seinen riesigen Ressourcen. »Mein Haus ist Ihr Haus«, sagte Leifhelm und ging mit ausgestreckter Hand auf Joel zu. Converse trat vor, um die Hand des Deutschen zu ergreifen. »Die Begrüßung draußen wirkte, gemessen an diesen freundlichen Worten, recht seltsam«, sagte Joel, ließ Leifhelms Hand wieder los und ging abrupt an dem ehemaligen Feldmarschall vorbei auf Bertholdier zu. »Schön, Sie wiederzusehen, General. Ich bitte um Entschuldigung für den unglückseligen Zwischenfall neulich. Ich will nicht leicht über das Leben eines Mannes sprechen, aber in den entscheidenden Sekunden hatte ich nicht das Gefühl, daß er sehr viel Rücksicht auf das meine nehmen würde.« Joels Kühnheit hatte die erwünschte Wirkung. Bertholdier starrte ihn an und wußte einen Augenblick lang nicht, was er -3 0 8
sagen sollte. Converse war sich bewußt, daß die drei anderen
Männer ihn scharf beobachteten, ohne Zweifel von seiner
Kühnheit beeindruckt.
»Ganz sicher, Monsieur«, sagte der Franzose
zusammenhanglos, aber in gefaßtem Ton. »Wie Sie wissen,
hat der Mann seine Anweisungen mißachtet.«
»Wirklich? Mir hat man gesagt, er hätte sie mißverstanden.«
»Das ist dasselbe!«
Die scharfe, tiefe Stimme mit dem kräftigen Akzent kam von
hinten. Joel drehte sich herum. »Ist es das?« fragte er kalt.
»Im Feld ja«, sagte Chaim Abrahms. »Beides ist ein Irrtum, und
für Irrtümer bezahlt man mit dem Leben. Der Mann hat mit
seinem bezahlt.«
»Darf ich General Abrahms vorstellen?« unterbrach Leifhelm,
griff nach Joels Ellbogen und führte ihn durch das Zimmer.
Hände streckten sich ihm entgegen.
»General Abrahms, es ist mir eine Ehre«, sagte Joel aufrichtig.
»Ich habe Sie wie alle anderen Männer hier stets bewundert,
obwohl ich Ihre Rhetorik zuweilen etwas übertrieben empfand.«
Das Gesicht des Israeli rötete sich, als ein leises, kehliges
Lachen im Raum ertönte. Plötzlich trat Van Headmer vor. Joels
Augen fühlten sich zu dem kräftigen Gesicht mit der
gerunzelten Stirn und den gespannten Muskeln hingezogen.
»Sie sprechen hier zu einem meiner engsten Kollegen, Sir«,
sagte er und der Tadel war unverkennbar. Dann hielt er inne,
und ein schwaches Lächeln spielte über sein scharf
gemeißeltes Gesicht. »Und ich hätte es selbst nicht besser
sagen können. Ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen,
junger Mann.« Die Hand des Südafrikaners streckte sich Joel
entgegen, der nach ihr griff, während das Lachen lauter wurde.
»Ich bin beleidigt!« rief Abrahms. Seine dichten Brauen
schoben sich hoch, und er schüttelte in gespielter Verzweiflung
den Kopf. »Von Schwätzern werde ich beleidigt! Offen
gestanden, Mr. Converse, die geben Ihnen recht, weil keiner
von ihnen seit einem Vierteljahrhundert mehr eine Frau gehabt
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hat. Mag sein, daß die es Ihnen anders sagen - andere hätten dazu anderes zu sagen -, aber glauben Sie mir, die bezahlen Huren, damit sie mit ihnen Karten spielen oder ihnen Geschichten in ihre alten, grauen Ohren flüstern, bloß um ihre Freunde zu täuschen!« Das Gelächter wurde lauter, und der Israeli, der sich jetzt seiner Zuhörer sicher war, fuhr fort, indem er sich vorbeugte und so tat, als flüstere er Joel zu. »Aber sehen Sie, ich bezahle die Huren, damit sie mir die Wahrheit sagen, wenn ich sie bumse! Die sagen, diese Schwatzmäuler nicken bis neun Uhr ein und jammern nach warmer Milch. Mit Ovomaltine, wenn's geht!« Wieder schwoll das Gelächter an, verklang dann aber schnell. Joel griff das Stichwort auf. »Manchmal spreche ich zu offen, General«, sagte er zu dem Israeli gewandt. »Ich sollte mich da vielleicht bessern. Aber bitte, glauben Sie mir, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin wirklich voll Bewunderung für Ihre Ziele und Ihre Politik.« »Und genau das ist es, was wir diskutieren wollen«, sagte Erich Leifhelm und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Positionen, Politik, allgemeine Philosophie, wenn Sie so wollen. Wir werden so wenig wie möglich auf Einzelheiten eingehen, obwohl sich das bestimmt nicht ganz vermeiden läßt. Aber wichtig ist, wie wir die großen Zusammenhänge sehen. Kommen Sie, Mr. Converse, nehmen Sie Platz. Wir wollen unsere Konferenz beginnen, die erste von vielen, wie ich hoffe.« Rear-Admiral Hickman legte das Protokoll auf den Schreibtisch und blickte ziellos an seinen Fußspitzen vorbei auf das Fenster und das Meer unter dem grauen Himmel. Er verschränkte die Arme, ließ den Kopf sinken und runzelte die Stirn, alles Gesten, die zu seinen Gedanken paßten. Er war jetzt ebenso verwirrt wie bei der ersten Lektüre des Protokolls, jetzt ebenso überzeugt wie damals, daß Remingtons Schlüsse nicht zutrafen. Aber der Anwalt war zu jung, um wirklich über die Ereignisse informiert zu sein, so wie sie sich damals -3 1 0
zugetragen hatten; niemand, der nicht dabei gewesen war,
konnte das richtig verstehen. Aber zu viele andere konnten das;
das war der Grund für den Sperrvermerk. Aber es machte
einfach keinen Sinn, jetzt, achtzehn Jahre später, diese
Überlegungen auf diesen Converse anzuwenden. Es war, als
exhumierte man eine Leiche, die lange gelegen hatte. Es
mußte etwas anderes sein.
Hickman sah auf die Uhr, nahm die Arme auseinander und die
Füße von der Tischkante. In Norfolk war es jetzt 15.10 Uhr; er
griff nach dem Telefon.
»Hallo, Brian«, sagte Admiral Scanion vom Fünften Distrikt.
»Du sollst wissen, daß wir für SAND PACs Unterstützung in
dieser Sache sehr dankbar sind.«
»SAND PACs?« fragte Hickman und wunderte sich, daß der
andere das State Department nicht erwähnte.
»Also gut, Admiral, deine Hilfe. Ich stehe jetzt in deiner Schuld,
Old Hicky.«
»Damit kannst du gleich anfangen, wenn du diesen Namen
vergißt.«
»Hey, komm schon, du erinnerst dich wohl nicht mehr an die
Hockeyspiele? Du kamst über das Eis herangerast und das
ganze Kadettenkorps schrie: >Hier kommt Hicky! Hier kommt
Hicky!<«
»Darf ich die Finger jetzt wieder aus den Ohren nehmen?«
»Ich versuche nur, dir zu danken.«
»Das ist es ja gerade, ich weiß nicht, wofür. Hast du das
Protokoll gelesen?«
»Natürlich.«
»Was, zum Teufel, steht denn drin?«
»Nun«, antwortete Scanion tastend, »ich habe es ziemlich
schnell überflogen. Das war ein schrecklicher Tag, und ich hab'
es offen gestanden einfach weitergegeben. Was meinst du
denn, was drinsteht? Nur zwischen uns beiden, ich würde es
wirklich gern wissen, weil ich kaum die Zeit hatte, es mir
anzusehen.«
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»Was ich meine? Absolut nichts. O natürlich, wir haben damals
auf solches Zeug Sperrvermerke gesetzt, weil das Weiße Haus
die Anweisung gegeben hatte, offiziell registrierte Kritiken etwas
zurückzuhalten; und da haben wir eben mitgemacht. Außerdem
waren wir der ganzen Sache selbst ziemlich müde. Aber in dem
Protokoll steht nichts, was man nicht auch schon von anderer
Stelle gehört hätte oder was den geringsten Nachrichtenwert
hätte, höchstens für die Militärhistoriker in hundert Jahren,
damit die eine kleine Fußnote draus machen können.«
»Nun...«, wiederholte Scanion, immer noch tastend, »dieser
Converse hat da ein paar böse Sachen über Command Saigon
gesagt.«
Ȇber Mad Marcus? Herrgott, ich habe in der Tonkin-Konferenz
Schlimmeres gesagt, und mein Alter hatte mich damals viel
schlimmer drangekriegt. Wir haben diese Kinder an der Küste
auf und ab geschippert, und die waren doch bloß auf einen
Strandausflug vorbereitet, mit Hot dogs und Karussells... Ich
kapier das einfach nicht. Du und mein Jurist, ihr klammert euch
an derselben Sache fest, und ich halte das einfach für einen
alten Hut. Mad Marcus ist doch inzwischen ein Fossil.«
»Dein was?«
»Mein Jurist. Ich hab' dir doch von ihm erzählt, Remington.«
»O ja.«
»Der hat sich auch gleich auf die Saigongeschichte gestürzt.
>Das ist es<, sagte er. >Es steckt in diesen Bemerkungen. Das
ist Delavane.< Er wußte gar nicht, daß Delavane für jede
Antikriegsgruppe im Lande Freiwild ist. Zum Teufel, wir haben
ihm doch den Namen >Mad Marcus< angehängt. Nein, das
geht nicht um Delavane, es muß etwas anderes sein. Vielleicht
geht es um seine Fluchtversuche, besonders seinen letzten.
Vielleicht steckt da irgendwelches Geheimdienstmaterial
drinnen, von dem wir nichts wissen.«
»Nun«, wiederholte der Admiral in Norfolk zum drittenmal, aber
jetzt nicht mehr so tastend. »Mag sein, daß du da etwas
gefunden hast, aber uns betrifft das nicht. Hör mal, ich will
ehrlich sein. Ich wollte nichts sagen. Du solltest schließlich nicht
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meinen, du hättest dir für nichts und wieder nichts eine Menge
Mühe gemacht. Aber so wie ich höre, soll das Ganze bloß eine
Latrinenparole sein.«
»Oh?« sagte Hickman, der plötzlich sehr genau hinhörte.
»Wieso?«
»Es ist der falsche Mann. Offenbar hat ein übereifriger junger
Offizier im falschen Zeitraum herumgestochert. Er hat den
Vermerk gesehen und sechs falsche Schlüsse gezogen.
Hoffentlich macht es ihm Spaß, wenn er die nächsten Tage um
fünf Uhr früh den Wachappell abhalten muß.«
»Und das ist alles?« fragte der Admiral in San Diego, bemüht,
sich sein Staunen nicht anmerken zu lassen.
»Das ist wenigstens, was wir hier gehört haben. Das, was dein
Chefjurist im Sinn hatte, hat überhaupt nichts mit unseren
Leuten zu tun.«
Hickman konnte nicht glauben, was er da hörte. Natürlich hatte
Scanion die Einschaltung des State Department nicht erwähnt.
Er wußte gar nichts davon! Er gab sich die größte Mühe,
möglichst viel Abstand zu der Converse-Akte zu bekommen, er
log, weil man ihn nicht informiert hatte. Das State Department
arbeitete in aller Stille, und Scanion hatte keinen Grund zu der
Annahme, daß »Old Hicky« irgend etwas über Bonn oder
Converse oder Connal Fitzpatricks Aufenthaltsort wußte. Oder
über einen Mann namens Preston Halliday, der in Genf
ermordet worden war. Was ging hier vor? Von Scanion würde
er es nicht erfahren. Nicht daß er das wollte.
»Dann zum Teufel damit. Mein Chef Jurist ist in drei oder vier
Tagen wieder hier, dann erfahre ich vielleicht etwas.«
»Was auch immer es ist, es liegt jetzt wieder in deinem
Sandkasten, Admiral. Meine Leute haben sich den falschen
Mann herausgepickt.«
»Deine Leute könnten nicht einmal ein Ruderboot über den
Potomac bringen.«
»Das kann ich dir jetzt nicht verübeln, Hicky.«
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Hickman legte auf und nahm wieder seine übliche Denkhaltung ein, starrte an seinen Schuhspitzen vorbei zum Fenster hinaus auf das Meer und den grauen Himmel. Die Sonne gab sich Mühe, durch die Wolken zu dringen, hatte aber nicht viel Erfolg. Er hatte Scanion nie sonderlich gemocht, ohne daß es sich gelohnt hätte, die Gründe dafür zu suchen. Nur einen kannte er; er wußte, daß Scanion ein Lügner war. Was er nicht gewußt hatte, war, daß er ein so einfältiger Lügner war. Lt. David Remington war von dem Anruf geschmeichelt. Der prominente Offizier hatte ihn zum Lunch eingeladen, ihn nicht nur eingeladen, sondern sich auch noch entschuldigt, daß die Einladung so spät kam, und ihm ges agt, er hätte volles Verständnis, wenn es im Augenblick nicht passen würde. Außerdem hob der Captain hervor, daß der Anruf persönlicher Natur sei und nichts mit der Navy zu tun hätte. Der hochrangige Offizier, ein Bewohner von La Jolla, war nur auf ein paar Tage im Hafen und benötigte juristischen Rat. Man hatte ihm gesagt, daß Lt. Remington so ziemlich der beste Anwalt in der United States Navy wäre. Ob es dem Lieutenant recht wäre? Das Restaurant lag hoch in den Bergen über La Jolla, ziemlich abgelegen und, wie es schien, hauptsächlich von Leuten aus der Gegend und solchen aus San Diego und University City besucht, die keinen großen Wert darauf legten, in den üblichen Lokalen gesehen zu werden. Remington war davon nicht sehr erbaut gewesen; er hätte es vorgezogen, im Coronado mit dem Captain gesehen zu werden, anstatt meilenweit fahren zu müssen, um nicht in den Bergen von La Jolla gesehen zu werden. Aber der andere war auf höfliche Art hartnäckig gewesen; dort und nirgendwo anders wollte er sich mit ihm treffen. David hatte Nachforschungen über ihn angestellt. Der hochdekorierte Captain stand nicht nur zur Beförderung an, er galt sogar als potentieller Kandidat für die Vereinigten Stabschefs. Remington wäre folglich auch mit einem Fahrrad über die Alaska-Pipeline gefahren, um die Verabredung einzuhalten. -3 1 4
Und genauso kam er sich vor, als er das Steuerrad nach rechts,
dann nach links, dann wieder nach rechts und noch mal nach
rechts drehte, während er den Wagen über die steile Paßstraße
lenkte. Es war wichtig, das im Auge zu behalten, dachte er, als
er den Wagen nach links riß. Persönlicher Rat war
nichtsdestoweniger professioneller Rat und stellte ohne jegliche
Zahlung eine Schuld dar, auf die man eines Tages
zurückkommen konnte. Und wenn jemand zu den Vereinigten
Stabschefs berufen wurde... dann war das nicht Remingtons
Schuld. In einer Anwandlung von Selbstgefälligkeit hatte er
einem Kollegen gegenüber fallen lassen, daß er mit einem hoch
angesehenen Vierstreifer in La Jolla essen und deshalb etwas
später ins Büro zurückkehren würde. Und dann hatte er, um
sicherzustellen, daß der andere wirklich begriff, den Kollegen
noch nach der Richtung gefragt.
O mein Gott! Was war das? O mein Gott!
Mitten in der Haarnadelkurve kam ein riesiger schwarzer
Lastzug auf ihn zu, zehn Meter lang und offensichtlich außer
Kontrolle geraten. Er schwankte auf der schmalen Straße nach
rechts und links, immer schneller, ein schwarzes Monstrum,
eine wildgewordene Bestie, die alles niederwalzte...
Remington riß den Kopf nach rechts und kurbelte wie wild am
Steuer, um den Zusammenprall zu vermeiden. Auf der rechten
Seite waren nur die dünnen Stämme junger Bäume und
Schößlinge in der späten Sommerblüte; auf der anderen Seite
ein Abgrund aus Blumen. Dies waren die letzten Bilder, die er
sah, als sein Wagen sich seitlich überschlug und zu stürzen
begann.
Weit oben auf einem anderen Hügel kniete ein Mann, einen
Feldstecher vor den Augen. Die Explosion in der Tiefe
bestätigte, daß die Aktion planmäßig verlaufen war. Sein
Ausdruck zeigte weder Freude noch Trauer. Ein Auftrag war
ausgeführt. Schließlich herrschte Krieg.
Und Lt. David Remington, dessen Leben so geordnet verlaufen
war, daß er genau wußte, worauf es für ihn in dieser Welt
ankam und daß die Kräfte, die seinen Vater im Namen der
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Firmenpolitik getötet hatten, ihn nie in ihre Fänge bekommen
sollten, wurde von der Politik eines Unternehmens getötet, von
dem er nie gehört hatte. Einem Unternehmen, das sich
Aquitania nannte. Aber er hatte einen Namen gesehen.
Delavane.
Ihre Ansicht ist, daß es die einzig sinnvolle Entwicklung der
Geschichte sei, nachdem ja alle anderen Ideologien schmählich
gescheitert sind...
Die Worte, die Preston Halliday in Genf gesprochen hatte,
hallten in Converse nach, als er den vier Stimmen von
Aquitania lauschte. Was einem Angst machte, war, daß sie
diese Worte glaubten, ohne jeden Zweifel, moralisch und
intellektuell, daß ihre Überzeugungen in Erfahrungen wurzelten,
die Jahrzehnte zurückreichten, daß ihre Argumente
überzeugend schienen und globale Fehlurteile beleuchteten,
die zu schrecklichem Leid und unnötigem Tod geführt hatten.
Und so ging es mehrere Stunden lang. Stille Erörterungen, die
nachdenklich vorgetragen wurden, wobei Leidenschaft nur in
der tiefen Eindringlichkeit des Gesagten zum Vorschein kam.
Zweimal wurde Joel bedrängt, den Namen seines Klienten zu
nennen, und zweimal lehnte er ab, berief sich auf die
vereinbarte Vertraulichkeit - was sich freilich in wenigen Tagen,
vielleicht sogar noch schneller ändern könnte.
»Ich müßte meinem Klienten etwas Konkretes bieten können.
Eine Vorgehensweise, eine Strategie, die es rechtfertigt, daß er
sich sofort einschaltet, Stellung bezieht, wenn Sie so wollen.«
»Warum ist das zu diesem Zeitpunkt notwendig?« fragte
Bertholdier. »Sie haben unsere Argumentation gehört. Daraus
kann man doch Schlüsse auf unsere Vorgehensweise ziehen.«
»Also gut, dann sagen wir eben nicht Vorgehensweise.
Strategie. Nicht das >Warum<, sondern das >Wie<.«
»Sie wollen einen Plan sehen?« sagte Abrahms. »Auf welcher
Basis?«
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»Weil Sie eine Investition fordern werden, die alles bisher
Dagewesene übersteigt.«
»Das ist eine außergewöhnliche Aussage«, warf Van Headmer
ein.
»Er verfügt auch über außergewöhnliche Mittel«, erwiderte
Converse.
»Nun gut«, sagte Leifhelm und sah jeden einzelnen seiner
Kollegen an, ehe er fortfuhr. Joel begriff; basierend auf früheren
Gesprächen suchte er ihre Zustimmung. Sie wurde ihm
gewährt. »Was würden Sie sagen, wenn man gewisse
mächtige Personen in ganz speziellen Regierungen
kompromittierte?«
»Erpressung?« fragte Joel. »Das würde nicht funktionieren. Es
gibt so viele Gewichte und Gegengewichte. Wenn ein Mann
bedroht wird, entdeckt man die Bedrohung, und schon ist er
entfernt. Und dann setzen die Säuberungsriten ein, und wo
einmal Schwäche war, ist plötzlich wieder Stärke.«
»Das ist eine äußerst einseitige Auslegung«, sagte Bertholdier.
»Sie ziehen den Zeitfaktor nicht in Betracht!« rief Abrahms,
womit er zum erstenmal seine Stimme erhob. »Keine
Einzelfälle, Converse! Eine rasche Folge von Ereignissen!«
Plötzlich wurde Joel bewußt, daß die drei anderen Männer den
Israeli ansahen, ihn aber nicht nur beobachteten. In jedem
Augenpaar war ein Funkeln wahrzunehmen, eine Warnung.
Abrahms zuckte die Achseln. »Ich meine ja nur.«
»Verstanden«, sagte Converse, ohne Betonung.
»Ich bin nicht einmal sicher, ob das hier gilt«, fügte der Israeli
hinzu und verstärkte damit seinen Fehler noch.
»Nun, ich bin sicher, daß es Zeit zum Abendessen ist«, meinte
Leifhelm und nahm unauffällig die Hand von der Sessellehne.
»Ich habe unserem Gast gegenüber so von meiner Tafel
geprahlt, daß ich jetzt ein wenig kurzatmig bin - Sorge,
natürlich. Ich hoffe nur, daß der Koch meine Ehre gerettet hat.«
In diesem Augenblick erschien, als reagierte er auf ein Signal
und Joel wußte, daß das der Fall war - der britische Butler unter
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einem Türbogen am anderen Ende des Saales. »Anscheinend
bin ich Hellseher!« Leifhelm stand auf. »Kommen Sie, kommen
Sie, meine Freunde. Lammrücken a citron, ein Gericht, das die
Götter für sich selbst geschaffen haben und das der
unverwüstliche Dieb gestohlen hat, der in meiner Küche
herrscht.«
Das Dinner war in der Tat hervorragend und jedes einzelne
Gericht eine Offenbarung. Converse war kein Gourmet im
eigentlichen Sinne. Er hatte seine kulinarischen Kenntnisse aus
teuren Restaurants, wo er zumeist auch nur wenig Muße hatte,
sich auf das Gebotene zu konzentrieren. Aber er verstand
Qualität zu beurteilen. Und es gab nichts Zweitklassiges an
Leifhelms Tafel, sie selbst eingeschlossen, eine riesige,
massive Mahagoniplatte auf zwei feingeschnitzten Dreibeinen,
die sich förmlich in dem Parkettboden festzukrallen schienen.
An den mit rotem Velours bespannten Wänden des
Speisesaals hingen Ölgemälde mit Jagdszenen. Der Tisch
strahlte im weichen Licht niedriger Kandelaber.
Das Gespräch löste sich von den ernsten Themen, die vorher in
der Wohnhalle diskutiert worden waren. Es war gerade so, als
hätte jemand eine Pause vorgeschlagen. Wenn das die Absicht
war, so gelang sie vollkommen, und Van Headmer übernahm
die Gesprächsführung. Mit seiner leisen, charmanten Art (das
Dossier hatte nicht gelogen, der »gefühllose Killer« war
charmant) schilderte er eine Safari, die er mit Chaim Abrahms
unternommen hatte.
Die Geschichte war bühnenreif. Und rund um die Tafel erhob
sich schallendes Gelächter, wobei Abrahms am lautesten
lachte. Offenbar hatte er die Geschichte schon einmal gehört
und genoß sie jetzt wieder.
Der britische Butler kam mit leisen Schritten herein und flüsterte
Erich Leifhelm etwas ins Ohr.
»Verzeihen Sie mir bitte«, sagte der Deutsche und stand auf,
um einen Anruf entgegenzunehmen. »Ein nervöser Makler in
München, der dauernd Gerüchte aus Riad hört. Da muß nur ein
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Scheich auf die Toilette gehen, schon hört er im Osten
Donner.«
Das muntere Gespräch setzte sich fort, und die drei Männer
von Aquitania benahmen sich wie alte Waffengefährten, die
sich redlich bemühten, einem Fremden das Gefühl zu
vermitteln, er sei willkommen. Auch dies war beängstigend. Wo
waren hier die Fanatiker, die Regierungen vernichten wollten,
die brutal nach der Macht griffen und ganze Völker in Ketten
legen wollten, um ihre Vision eines Militärstaates zu
verwirklichen? Dies waren Männer von hohem Intellekt. Sie
sprachen von Rousseau und Goethe, hatten Mitgefühl für Leid
und Schmerz und unnötiges Sterben. Sie hatten Humor und
konnten über sich selbst lachen, konnten leise davon sprechen,
wie sie ihr eigenes Leben opfern würden, um eine verrückt
gewordene Welt besser zu machen. Joel begriff. Dies waren
Männer voll Überzeugungskraft, die in die Mäntel von
Staatsmännern geschlüpft waren.
Beängstigend.
Leifhelm kehrte zurück und hinter ihm der britische Butler mit
zwei offenen Weinflaschen. Wenn der Anruf aus München
Unangenehmes gebracht hatte, so ließ der Deutsche sich
davon nichts anmerken. Seine Laune war wie zuvor, sein
wächsernes Lächeln unverändert und seine Begeisterung für
den nächsten Gang ungezügelt. »Und jetzt, meine Freunde,
das Lamm ä citron - ohne jede Übertreibung wirklich etwas
Hervorragendes. Außerdem haben wir zu Ehren unseres
Gastes heute abend noch etwas ganz Besonderes. Mein kluger
englischer Freund und Begleiter war neulich in Siegburg und ist
dort auf ein paar Flaschen Östricher Lenchen, Beerenauslese,
Einundsiebzig, gestoßen.«
Die Männer von Aquitania sahen einander an, und dann meinte
Bertholdier: »Das ist wirklich eine Entdeckung, Erich. Eine der
besten deutschen Sorten.«
»Der zweiundachtziger Klausberg Riesling in Johannesburg
verspricht auch gut zu werden«, sagte Van Headmer.
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»Ich zweifle, daß er dem Richon Zion Carmel nahekommt«, fügte der Israeli hinzu. »Sie sind unmöglich!« Ein Koch mit hoher weißer Mütze rollte einen silbernen Wagen herein, stellte den Lammrücken zur Schau und machte sich dann unter bewundernden Blicken daran, das Fleisch zu schneiden und vorzulegen. Der Engländer stellte jedem den Teller mit Beilagen hin und schenkte dann den Wein aus. Erich Leifhelm hob sein Glas, und das flackernde Licht der Kerzen spiegelte sich in dem geschliffenen Kristall. »Auf unseren Gast und seinen unbekannten Klienten, die, wie wir hoffen, beide bald zu uns gehören werden.« Converse nickte und trank. Er nahm das Glas von den Lippen und war sich plötzlich der Blicke der vier Männer bewußt. Sie starrten ihn an, und ihre Gläser standen unverrückt auf dem Tisch. Keiner hatte von dem Wein getrunken. Jetzt sprach Leifhelm wieder, und seine Stimme war diesmal nasal, kalt, die Stimme einer Furie. >»General Delavane war der Feind, unser Feind! Solche Männer darf es nie wieder geben, könnt ihr das nicht begreifend Das waren doch die Worte, nicht wahr, Mr. Converse?« »Was?« Joel hörte seine Stimme, aber er war nicht sicher, ob es wirklich seine eigene war. Die Kerzenflammen schienen plötzlich immer größer zu werden; Feuer erfüllte seine Augen, und das Brennen in seiner Kehle wurde zum unerträglichen Schmerz. Er griff sich an den Hals, als er aus dem Stuhl taumelte und ihn nach hinten schleuderte. Er hörte das Krachen und hörte es doch nicht, hörte nur eine Folge von Echos. Er stürzte, Schichten aus schwarzer Erde legten sich über seine Augen, durchbrochen von Blitzen. Der Schmerz wallte in seinem Magen auf; es war unerträglich. Er griff sich an den Unterleib, als könnte er den Schmerz aus seinem Körper herauspressen. Dann spürte er seine eigenen Bewegungen auf einer harten Fläche und ahnte, daß er auf dem Boden um sich schlug und von kräftigen Armen festgehalten wurde.
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»Die Pistole. Zurück. Haltet ihn.« Auch die Stimme war eine
Folge von Echos, aber er konnte den schneidenden britischen
Akzent deutlich wahrnehmen. »Jetzt. Feuert«
16 Das Telefon klingelte und riß Connal Fitzpatrick aus tiefem
Schlaf. Er war auf der Couch nach hinten gesunken, die Van-
Headmer-Akte in der Hand, die Füße noch auf dem Boden. Er
schüttelte den Kopf, blinzelte und versuchte, die Augen weit
aufzureißen und sich zu orientieren. Wo war er? Wie spät war
es? Wieder klingelte das Telefon, diesmal länger,
durchdringend. Er taumelte mit unsicheren Beinen und
stockendem Atem von der Couch - er konnte die Erschöpfung
nicht in ein paar Sekunden abschütteln. Seit Kalifornien hatte er
nicht mehr richtig geschlafen. Sein Körper war vollkommen
ausgelaugt. Er griff nach dem Telefon und hätte es beinahe
fallen lassen, als er einen Augenblick lang das Gleichgewicht
verlor.
»Ja... Hallo!«
»Commander Fitzpatrick, bitte«, sagte eine Männerstimme mit
abgehacktem britischen Akzent.
»Am Apparat.«
»Hier spricht Philip Dunstone, Commander. Ich rufe im Auftrag
von Mr. Converse an. Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten,
daß die Konferenz ausnehmend gut verläuft, weit besser, als er
für möglich gehalten hätte.«
»Wer sind Sie?«
»Dunstone. Major Philip Dunstone. Ich bin Senioradjutant von
General Berkeley-Greene.«
»Berkeley-Greene...?«
»Ja, Commander. Mr. Converse hat mich gebeten, Ihnen zu
sagen, daß er sich gemeinsam mit den anderen Herren dazu
entschlossen hat, General Leifhelms Gastfreundschaft für die
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Nacht in Anspruch zu nehmen. Er wird Sie morgen früh
anrufen.«
»Lassen Sie mich mit ihm sprechen. Jetzt.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Die Herren sind mit dem
Motorboot unterwegs. Offen gestanden, die tun recht
geheimnisvoll, nicht wahr? Mir hat man ebensowenig erlaubt,
an den Gesprächen teilzunehmen, wie Ihnen.«
»Damit gebe ich mich nicht zufrieden, Major!« »Wirklich,
Commander, ich gebe nur eine Nachricht an Sie weiter... O ja,
Mr. Converse erwähnte noch, falls Sie sich Sorgen machten,
sollte ich Ihnen auftragen, dem Admiral zu danken und ihm
Grüße zu bestellen, wenn er Sie anrufen sollte.«
Fitzpatrick starrte die Wand an. Converse würde Hickman nicht
erwähnen, sofern die Botschaft nicht echt war. Das zuletzt
Gehörte bedeutete niemand anderem etwas, nur ihnen beiden.
Alles war in Ordnung. Außerdem konnte es tatsächlich einige
Gründe dafür geben, daß Joel nicht direkt mit ihm sprechen
wollte. Dazu, dachte Connal etwas beleidigt, gehörte
wahrscheinlich auch die Tatsache, daß er seinem »Adjutanten«
nicht zutraute, das Richtige zu sagen, für den Fall, daß man ihr
Gespräch belauschte.
»Also gut, Major... Wie war Ihr Name doch? Dunstone?«
»Richtig, Philip Dunstone. Senioradjutant von General
Berkeley-Greene.«
»Sagen Sie Mr. Converse, daß ich damit rechne, um acht Uhr
früh von ihm zu hören.«
»Ist das nicht ein wenig streng? Es ist jetzt fast zwei Uhr früh.
Das Frühstücksbüfett wird hier gewöhnlich um halb zehn
angerichtet.«
»Dann um neun«, sagte Fitzpatrick entschieden.
»Ich werde es ihm persönlich ausrichten, Commander. Oh,
eines noch. Mr. Converse läßt sich entschuldigen, daß er nicht
vor Mitternacht angerufen hat. Die haben hier wirklich heftig
diskutiert.«
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Das war es, dachte Connal. Alles war unter Kontrolle. Sonst hätte Joel sicher nicht diese Bemerkung gemacht. »Danke, Major, und - tut mir leid, wenn ich unfreundlich war. Ich war eingeschlafen und bin zu schnell aufgestanden.« »Sie haben's gut. Sie können sich jetzt wieder hinlegen, während ich Wache stehen muß. Nächstes Mal können Sie ja meine Stelle einnehmen.« »Wenn das Essen gut ist, bin ich einverstanden. Gute Nacht, Major.« Erleichtert legte Fitzpatrick auf. Er blickte zur Couch hinüber und überlegte kurz, daß er sich die Akten wieder vornehmen könnte, entschied sich aber dann dagegen. Er kam sich völlig ausgehöhlt vor. Ausgehöhlte Beine, ausgehöhlte Brust und ein stechender Schmerz im Kopf. Er brauchte dringend Schlaf. »Gut gemacht«, sagte Erich Leifhelm zu dem Engländer, als der den Hörer auflegte. »War mir ein Vergnügen«, erwiderte der Mann, der sich Philip Dunstone genannt hatte. »Sehen wir uns unseren Patienten an.« Die beiden verließen die Bibliothek und gingen durch die lange Halle in ein Schlafzimmer. In ihm waren die drei anderen Männer von Aquitania und ein vierter, dessen schwarze Arzttasche und Spritzen erkennen ließen, welchem Beruf er angehörte. Auf dem Bett lag Joel Converse, mit glasigen, geweiteten Augen, Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, und sein Kopf schwankte hin und her, als befände er sich in Trance. Unverständliche Laute quollen aus seinem Mund. Der Arzt blickte zu den Männern auf. »Mehr kann er uns nicht sagen, weil einfach nicht mehr da ist«, sagte er. »Die Chemikalien lügen nicht. Ganz einfach gesagt, er ist von Männern in Washington geschickt, hat aber keine Ahnung, wer diese Männer sind. Er wußte nicht einmal, daß sie existierten, bis ihn dieser Marineoffizier davon überzeugt hat, daß sie existieren mußten. Seine einzigen Bezugspersonen waren Anstett und Beale.« -3 2 3
»Und die sind beide tot«, unterbrach Van Headmer. »Der Tod Anstetts steht bereits in den Zeitungen, und für Beale kann ich mich verbürgen. Einer meiner Leute auf Santorini ist nach Mykonos geflogen und hat es bestätigt. Es gibt mit Sicherheit keine Spuren.« »Bereiten Sie ihn auf seine Odyssee vor«, sagte Chaim Abrahms nach einem Blick auf Converse. »Wie unser Spezialist in der Mossad es so klar ausgedrückt hat, kommt es auf Distanz an. Ein großer Abstand zwischen diesem Amerikaner und jenen, die ihn ausgeschickt haben.« Fitzpatrick regte sich, das helle Licht der Morgensonne vor den Fenstern drang in die Finsternis ein und zwang seine Augenlider, sich zu öffnen. Er streckte sich, wobei er mit der Schulter an die harte Kante des Aktenkoffers stieß. Dann stellte er fest, daß die Bettdecke sich um seine Beine geschlungen hatte und ihn hinderte, sich zu bewegen. Er trat sie von sich, warf die Arme hoch, atmete tief ein und spürte, wie sich sein Brustkasten entspannte. Er hob die linke Hand über den Kopf, drehte sich herum und sah auf die Uhr. Es war neun Uhr zwanzig; er hatte siebeneinhalb Stunden geschlafen, aber der ununterbrochene Schlaf kam ihm viel länger vor. Er stieg aus dem Bett und ging ein paar Schritte; er war wieder sicher auf den Beinen, sein Bewußtsein wurde immer klarer. Er sah wieder auf die Uhr, erinnerte sich. Der Major namens Dunstone hatte gesagt, daß das Frühstück in Leifhelms Haus ab neun Uhr dreißig serviert würde, und wenn die Konferenz um zwei Uhr nachts auf einem Boot fortgesetzt worden war, dann würde Converse wahrscheinlich nicht vor zehn Uhr anrufen. Connal ging ins Badezimmer; an der Wand neben der Toilette war ein Telefon angebracht für den Fall, daß er sich bezüglich des Anrufs geirrt haben sollte. Jetzt rasieren und dann eine heiße und kalte Dusche, und er würde wieder ganz der alte sein. Achtzehn Minuten später ging Fitzpatrick ins Schlafzimmer zurück, ein Handtuch um die Hüften gewunden, die Haut von -3 2 4
dem scharfen Wasserstrahl immer noch gerötet. Er ging zu seinem offenen Koffer auf dem Gepäckständer neben dem Kleiderschrank. Er nahm sein Radio heraus, stellte es auf den Schreibtisch, entschied sich gegen AFN und drehte so lange an der Skala herum, bis er eine deutsche Nachrichtensendung empfing. Da waren die üblichen Streikdrohungen und Vorwürfe und Entgegnungen im Bundestag, aber nichts Weltbewegendes. Er wählte sich bequeme Kleidung - leichte Hosen, ein blaues Hemd und seine Cordjacke. Er zog sich an und ging ins Wohnzimmer zum Telefon. Er wollte beim Zimmerkellner ein kleines Frühstück und eine Riesenkanne Kaffee bestellen. Er blieb stehen. Irgend etwas stimmte nicht. Aber was? Die Kissen auf der Couch waren immer noch zerdrückt, auf dem Beistelltisch stand ein halbvolles Glas mit abgestandenem Whisky. Daneben lagen ein paar Stifte und ein leerer Notizblock. Die Balkontüren waren geschlossen, die Vorhänge vorgezogen, und auf der anderen Seite des Zimmers stand der silberne Eiskübel immer noch in der Mitte des silbernen Tabletts auf dem antiken Jagdtisch. Alles war noch so, wie er es zuletzt gesehen hatte, und doch war irgend etwas verändert. Die Tür! Die Tür zu Joels Schlafzimmer war geschlossen. Hatte er sie geschlossen? Nein, das hatte er nicht! Er durchquerte das Zimmer, drückte die Klinke nieder und schob die Tür auf. Er studierte das Zimmer und merkte erstaunt, daß er den Atem angehalten hatte. Das Zimmer war makellos, alles blitzblank und sauber, und nichts deutete darauf hin, daß es bewohnt war. Der Koffer war verschwunden, und auch die wenigen Gegenstände, die Converse auf den Schreibtisch gestellt hatte, waren nicht mehr da. Connal eilte zum Kleiderschrank und riß ihn auf. Leer. Er ging ins Badezimmer; auch dort war alles makellos, in den Schalen lag frische Seife, die Gläser waren in Zellophan gewickelt und erwarteten den nächsten Gast. Benommen verließ er das Badezimmer wieder. Nicht das geringste Anzeichen deutete darauf hin, daß in den letzten Tagen jemand außer dem Zimmermädchen dieses Schlafzimmer betreten hatte. -3 2 5
Fitzpatrick hastete ins Wohnzimmer und zum Telefon.
Sekunden später war der Geschäftsführer in der Leitung,
derselbe Mann, mit dem Connal gestern gesprochen hatte. »Ja,
in der Tat, Ihr Geschäftsmann war sogar noch exzentrischer als
Sie es geschildert hatten: Er ist heute morgen um halb vier
ausgezogen und hat im übrigen alles bezahlt.«
»Er war hier?«. »Natürlich.« »Sie haben ihn gesehen?«
»Nicht persönlich. Ich fange gewöhnlich um acht Uhr mit der
Arbeit an. Er hat mit dem Nachtportier gesprochen und auch
Ihre Rechnung beglichen, ehe er zum Packen hinaufging.«
»Wie konnte Ihr Nachtportier wissen, daß er es war? Er hatte
ihn doch vorher nie gesehen!«
»Aber Commander, er hat sich als Ihr Kollege zu erkennen
gegeben und die Rechnung bezahlt. Außerdem hatte er seinen
Schlüssel; er hat ihn am Empfang abgegeben.«
Fitzpatrick hielt erstaunt inne und fuhr dann grimmig fort: »Das
Zimmer ist gereinigt worden! Geschah das auch um halb vier
Uhr morgens?«
»Nein, mein Herr, um sieben Uhr. Das hat die erste Schicht
gemacht.«
»Aber nicht das Wohnzimmer.«
»Der Lärm hätte Sie stören können. Offen gestanden,
Commander, die Suite muß für eine Ankunft am frühen
Nachmittag hergerichtet werden. Ich bin sicher, daß die
Angestellten dachten, es würde Sie nicht stören, wenn sie
schon früh beginnen. Und das war ja auch nicht der Fall.«
»Am frühen Nachmittag...? Ich bin hier!«
»Und können selbstverständlich auch bis zwölf Uhr bleiben; die
Rechnung ist bezahlt. Ihr Freund ist abgereist, und die Suite
war reserviert.«
»Und Sie haben wahrscheinlich kein anderes Zimmer.«
»Es tut mir leid, aber es steht nichts zur Verfügung,
Commander.«
Connal knallte den Hörer auf die Gabel. Wirklich, Commander...
Jemand hatte dieselben Worte an demselben Telefon um zwei
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Uhr früh gesprochen. Auf dem Regal neben dem Tisch lagen
drei Telefonbücher. Er zog das für Bonn heraus und fand die
Nummer.
»Guten Morgen. Hier bei General Leifhelm.«
»Herrn Major Dunstone, bitte.«
»Wen?«
»Dunstone«, wiederholte Fitzpatrick. »Er ist Gast Ihres Hauses.
Philip Dunstone. Er ist Senioradjutant von... von einem General
Berkeley-Greene. Engländer.«
»Engländer? Hier sind keine Engländer, Sir. Hier ist niemand
ich meine, keine Gäste.«
»Er war gestern abend aber dort. Beide waren dort. Ich habe
mit Major Dunstone gesprochen.«
»Der General hat für ein paar Freunde ein kleines Abendessen
gegeben, aber es waren keine Engländer dabei.«
»Hören Sie, ich versuche, einen Mann namens Converse zu
erreichen.«
»O ja, Mr. Converse. Er war hier, Sir.«
»War?«
»Ich glaube, er ist weggefahren...«
»Wo ist Leifhelm'?« schrie Connal.
Eine kleine Pause entstand, dann fragte der Deutsche kühl:
»Wer möchte General Leifhelm sprechen?«
»Fitzpatrick. Lieutenant Commander Fitzpatrick!«
»Ich nehme an, im Speisezimmer. Wenn Sie bitte am Apparat
bleiben wollen.« Ein leises Klicken war zu hören, dann wurde
die Leitung stumm. Schließlich klickte es wieder, und Leifhelms
Stimme hallte aus dem Hörer.
»Guten Morgen, Commander. Ein herrlicher Tag heute, nicht
wahr?...«
»Wo ist Converse?« unterbrach Connal.
»Ich nehme an, im Hotel.«
»Es hieß doch, daß er bei Ihnen übernachten sollte.«
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»Nein. Davon war nie die Rede. Er ist ziemlich spät
weggefahren, Commander. Ich habe ihn mit meinem Wagen
zurückbringen lassen.«
»Mir hat man das anders erzählt! Ein Major Dunstone hat mich
gegen zwei Uhr früh angerufen...«
»Ich glaube, Mr. Converse ist kurz vorher gegangen... Wer,
sagten Sie, hat Sie angerufen?«
»Dunstone. Ein Major Philip Dunstone. Engländer. Er sagte, er
sei der Adjutant von General Berkeley-Greene.«
»Ich kenne diesen Major Dunstone nicht; hier war jedenfalls
niemand, der so heißt. Aber ich kenne so ziemlich jeden
General in der britischen Armee und habe noch nie von
jemandem gehört, der Berkeley-Greene heißt.«
»Das können Sie sich sparen, Leifhelm!«
»Wie bitte?«
»Ich habe mit Dunstone gesprochen. Er... hat die richtigen
Formulierungen gebraucht. Er sagte, Converse würde bei Ihnen
übernachten... mit den anderen!«
»Ich denke, Sie hätten direkt mit Herrn Converse sprechen
müssen, denn gestern abend war weder ein Major Dunstone
noch ein General Berkeley-Greene in meinem Haus. Vielleicht
sollten Sie sich bei der britischen Botschaft erkundigen. Die
wissen ganz sicher, ob diese Leute in Bonn sind. Vielleicht
haben Sie etwas mißverstanden; vielleicht haben sie sich
später in einem Cafe gesprochen.«
»Ich konnte nicht mit Converse sprechen! Dunstone sagte, Sie
wären mit einem Boot weggefahren.« Fitzpatricks Atem ging
jetzt stoßweise.
»Das ist nun wirklich lächerlich, Commander. Ich besitze zwar
ein kleines Motorboot, das ich gelegentlich meinen Gästen zur
Verfügung stelle, aber es ist allgemein bekannt, daß ich nichts
für das Wasser übrig habe.« Der General hielt kurz inne und
fügte dann hinzu: »Der große Feldmarschall wird sofort
seekrank, wenn er sich auch nur drei Meter vom Ufer entfernt.«
»Sie lügen!«
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»Das verbitte ich mir, Sir. Besonders, was das Wasser angeht. Ich hatte nie Angst vor der russischen Front, nur vor dem Schwarzen Meer. Und wenn es zu einer Invasion Englands gekommen wäre, dann hätte ich den Kanal im Flugzeug überquert, das versichere ich Ihnen.« Der Deutsche spielte mit ihm, man merkte, wie er das genoß. »Sie wissen ganz genau, was ich meine!« Wieder wurde Connals Stimme lauter. »Man hat mir gesagt, Converse wäre um halb vier Uhr früh hier aus dem Hotel ausgezogen! Ich behaupte, daß er nie zurückgekommen ist!« »Und ich sage Ihnen, daß dieses Gespräch jetzt sinnlos wird. Wenn Sie wirklich beunruhigt sind, können Sie mich ja noch einmal anrufen, wenn Sie wieder höflich sprechen können. Ich habe Freunde bei der Polizei.« Wieder ein Klicken; der Deutsche hatte aufgelegt. Als Fitzpatrick den Hörer auflegte, kam ihm ein anderer Gedanke, ein Gedanke, der ihm Angst machte. Er ging schnell ins Schlafzimmer, und sein Blick wanderte zu dem Aktenkoffer. Er lag halb unter dem Kopfkissen; o Gott, er hatte so tief geschlafen! Er ging ans Bett, riß den Koffer unter dem Kissen heraus und sah ihn an. Erst jetzt wagte er wieder zu ahnen, als er sah, daß es derselbe Koffer war, daß die Kombinationsschlösser noch intakt waren und der Koffer sich nicht öffnen ließ. Er hob ihn hoch und schüttelte ihn; das Gewicht und das Geräusch, das er hörte, bewiesen ihm, daß die Papiere noch drinnen waren - ein weiterer Beweis, daß Converse nicht in das Hotel zurückgekehrt war. Abgesehen von allen anderen Überlegungen und ganz gleich, was sich sonst noch für Probleme ergeben hatten, er wäre ganz bestimmt nie ohne die Akten und die Namenliste abgereist. Connal trug den Koffer ins Wohnzimmer zurück und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. A. Er mußte davon ausgehen, daß jemand den Vermerk von Joels Dienstakte entfernt oder die nachteilige Information auf irgendeine andere Weise in seinen Besitz gebracht hatte und daß Converse jetzt von -3 2 9
B.
C.
D.
E.
Leifhelm und den anderen Männern von Aquitania, die aus Tel Aviv, Paris und Johannesburg eingeflogen waren, festgehalten wurde. Sie würden ihn so lange nicht töten, bis sie jede ihnen zur Verfügung stehende Möglichkeit ausgeschöpft hatten, von ihm zu erfahren, was er wußte - was viel weniger war, als sie vermuteten, und was ein paar Tage in Anspruch nehmen würde. Das Leifhelm-Anwesen war nach den Angaben in seinem Dossier eine Festung, die Chance einzudringen und Converse herauszuholen, war also gleich Null. Fitzpatrick w ußte, daß er sich nicht an die amerikanische Botschaft wenden und dort Hilfe erwarten konnte. Zuallererst würde Walter Peregrine ihn verhaften lassen, und es war nicht einmal auszuschließen, daß er dabei nicht eine Kugel in den Kopf bekommen würde. Er durfte auch nicht versuchen, Hickman in San Diego um Hilfe zu bitten, was unter anderen Umständen ein durchaus logisches Vorgehen gewesen wäre. Alles, was er über den Admiral wußte, schloß jegliche Verbindung zu Aquitania aus; er war ein sehr unabhängiger Offizier und verschonte das Pentagon und dessen Politik und Mentalität nicht mit seiner Kritik. Aber wenn man den Sperrvermerk offiziell entfernt hatte - ob mit seiner Zustimmung oder gegen seinen Einwand -, würde Hickman keine andere Wahl haben, als ihn zum Stützpunkt zurückzurufen. Jeglicher Kontakt mußte dazu führen, daß sein Urlaub sofort gestrichen wurde. Aber wenn es keinen Kontakt gab und seine Vorgesetzten ihn nicht erreichen konnten, erreichte ihn auch dieser Befehl nicht. Connal setzte sich auf die Couch, stellte den Aktenkoffer neben sich und griff nach dem Bleistift. Er schrieb zwei Worte auf den Telefonblock. Meagen anrufen. Er mußte dafür sorgen, daß seine Schwester jedem, der nach ihm fragte, erklärte, er sei nach Press' Beerdigung mit -3 3 0
unbekanntem Ziel abgereist. Das fügte sich zu dem, was er dem Admiral gesagt hatte, daß er nämlich seine Information zu den »Behörden« tragen würde, die Preston Hallidays Tod untersuchten. F. Er konnte zur Bonner Polizei gehen und ihr die Wahrheit sagen: Er habe allen Grund zu der Annahme, daß ein amerikanischer Kollege gegen seinen Willen in General Erich Leifhelms Haus festgehalten wird. Das führte natürlich zu der unvermeidbaren Frage, warum sich der Lieutenant Commander nicht mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung setzte? Das Unausgesprochene lag dicht unter der Oberfläche: gleichgültig, welche politische Meinung man auch vertrat, General Leifhelm war eine prominente Persönlichkeit, und eine so ernsthafte Behauptung sollte von diplomatischer Seite gestützt werden. Also wieder die Botschaft. Streichen. Außerdem war auch nicht auszuschließen, daß Leifhelm Freunde in Polizeikreisen hatte. Er würde also möglicherweise von Connals Bemühungen hören und Converse an einen anderen Ort bringen. Oder ihn töten. G. .. .war verrückt, dachte der Marineanwalt, als plötzlich ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt annahm. Ein Handel. Selbst bei Gerichtsverfahren ein durchaus üblicher Vorgang... Wir lassen den Teil der Anklage fallen, wenn Sie mit jenem anderen einverstanden sind. Wir halten uns aus diesem Bereich heraus, wenn Sie sich aus jenem zurückziehen. Durchaus üblich. Ein Handel. Gab es da Möglichkeiten? Konnte man so etwas in Betracht ziehen? Es war verrückt, ein Akt der Verzweiflung, aber schließlich war alles verrückt, worauf er sich eingelassen hatte. Und da Gewalt nicht in Frage kam... war ein Austausch möglich? Leifhelm gegen Converse. Ein General für einen Lieutenant. Connal wagte nicht, sich näher mit dem Gedanken zu befassen. Dazu drängten sich zu viele negative Aspekte auf. Er mußte seinem Instinkt folgen, weil ihm keine andere Wahl mehr -3 3 1
geblieben war; jeder Weg, den er einschlug, führte entweder zu einer Mauer oder einer Kugel. Er stand auf und ging zu dem Tisch, auf dem das Telefon stand. Dann setzte er sich und griff nach dem Telefonbuch auf dem Boden. Was er im Sinn hatte, war verrückt, aber darüber durfte er jetzt nicht nachdenken. Er fand den Namen. Fischbein, Ilse. Die uneheliche Tochter von Hermann Göring. Die Verabredung wurde getroffen: einer der hinteren Tische im Kaiser-Cafe am Kaiserplatz, bestellt auf den Namen Parnell. Glücklicherweise hatte Fitzpatrick noch in Kalifornien daran gedacht, einen konservativ geschnittenen Anzug mitzunehmen. Er trug ihn jetzt als der amerikanische Anwalt Mr. Parnell, der fließend Deutsch sprach und von seiner Firma in Milwaukee, Wisconsin, ausgeschickt worden war, um Kontakt zu einer gewissen Ilse Fischbein in Bonn herzustellen. Außerdem hatte er sich noch im Schloßpark am Venusbergweg ein Einzelzimmer gemietet und Joels Aktenkoffer dort untergebracht. Dort war der Koffer einige Zeit in Sicherheit, und gleichzeitig konnte er für Converse eine Spur sein, falls alles schiefgehen sollte. Connal kam zehn Minuten vor der verabredeten Zeit, nicht nur, um sich seinen Tisch zu sichern, sondern auch um sich mit der Umgebung vertraut zu machen und sich zu überlegen, wie er vorgehen wollte. Er war das so gewohnt und pflegte auch Gerichtssäle immer vor der Verhandlung zu betreten, um sich Stühle und Tische anzusehen und sich mit den verschiedenen Blickwinkeln vertraut zu machen. All das half. Er erkannte sie sofort, als sie kam und sich dem Oberkellner zu erkennen gab. Sie war hochgewachsen und füllig, ohne korpulent zu sein. Sie trug ein hellgraues Sommerkostüm und hatte das Jackett über dem Busen zugeknöpft. Auch ihr Gesicht war voll, aber nicht weich. Die hohen Backenknochen verliehen dem Gesicht einen strengen Charakter, den es sonst vielleicht nicht gehabt hätte; ihr Haar war dunkel mit ein paar grauen Strähnen und reichte bis zu den Schultern. Der Oberkellner führte sie an den Tisch. Fitzpatrick erhob sich. »Guten Tag, Frau Fischbein«, -3 3 2
sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. »Bitte setzen Sie
sich.«
»Sie brauchen nicht Deutsch zu sprechen, Herr Parnell«, sagte
die Frau, ließ seine Hand los und setzte sich, worauf der
Oberkellner sich verbeugte und zurückzog. »Ich verdiene mir
meinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen.«
»Wie es Ihnen lieber ist«, sagte Connal. »Ich glaube, so wie die
Dinge liegen, würde ich Englisch vorziehen. Und jetzt sagen Sie
mir, was ist das für eine unglaubliche Sache, die Sie da am
Telefon erwähnten, Mr. Parnell?«
»Ganz einfach eine Erbschaft, Mrs. Fischbein«, erwiderte
Fitzpatrick mit aufrichtigem Blick und ohne die Augen von ihr zu
wenden. »Wenn sich ein paar technische Fragen klären lassen,
und das wird bestimmt möglich sein, werden Sie als
rechtmäßige Empfängerin des Erbes eine beträchtliche Summe
erhalten.«
»Von jemandem in Amerika, den ich nie gekannt habe?«
»Er... hat Ihren Vater gekannt.«
»Ich nicht«, sagte Ilse Fischbein schnell, und ihre Augen
huschten über die benachbarten Tische. »Wer ist dieser
Mann?«
»Er hat während des Krieges dem Stab Ihres Vaters angehört«,
antwortete Connal mit noch leiserer Stimme. »Mit Hilfe Ihres
Vaters - und gewisser Kontakte in Holland - war es ihm
möglich, Deutschland vor den Nürnberger Prozessen mit
ziemlich viel Geld zu verlassen. Er kam über London in die
Vereinigten Staaten und gründete mit seinem Geld eine Firma
im Mittleren Westen. Das Unternehmen war sehr erfolgreich.
Kürzlich starb der Mann. Bei meiner Kanzlei, die ihn zu
Lebzeiten juristisch vertrat, hatte er versiegelte Anweisungen
hinterlassen.«
»Aber warum gerade ich?«
»Er wollte eine Schuld abtragen. Ohne den Einfluß und die
Unterstützung Ihres Vaters wäre unser Klient wahrscheinlich für
Jahre ins Gefängnis gekommen und dort verkümmert, statt so
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erfolgreich zu werden, wie ihm das in Amerika möglich war. Dort war er für alle ein holländischer Emigrant, dessen Familienbetrieb im Krieg zerstört wurde und der sich in Amerika eine neue Existenz aufbaute. Dazu gehörten beträchtlicher Immobilienbesitz und eine höchst erfolgreiche Konservenfabrik - was nun alles zum Verkauf ansteht. Ihre Erbschaft beträgt über zwei Millionen US-Dollar. Hätten Sie gerne einen Aperitif, Mrs. Fischbein?« Die Frau konnte zuerst nicht antworten. Ihre Augen hatten sich geweitet, und ihr Blick wirkte, als befände sie sich in Trance. »Ja, ich glaube schon, Herr Parnell«, sagte sie mit monotoner Stimme. »Einen großen Whisky, wenn es recht ist.« Fitzpatrick winkte dem Kellner, bestellte und versuchte einige Male, ein lockeres Gespräch in Gang zu bringen. Er äußerte sich zu dem herrlichen Wetter und fragte sie, was er sich in Bonn ansehen solle. Aber es hatte wenig Sinn. Ilse Fischbein wirkte völlig erstarrt. Sie hatte ihn am Handgelenk gepackt und hielt es wortlos fest, sah ihm mit halb offenstehendem Mund und glasigen Augen an. Jetzt wurden ihre Getränke gebracht. Der Kellner ging wieder, und immer noch ließ sie ihn nicht los. Sie trank etwas unsicher und hielt das Glas mit der linken Hand. »Was sind das für Fragen, die noch geklärt werden müssen? Fragen Sie alles, fordern Sie. Sind Sie gut untergekommen? In Bonn sind Hotelzimmer immer knapp.« »Sie sind sehr liebenswürdig; ja. Versuchen Sie zu begreifen, Mrs. Fischbein, für meine Firma ist das eine sehr schwierige Angelegenheit. Wie Sie sich sicher gut vorstellen können, handelt es sich nicht um die Art von Auftrag, wie sie amerikanische Anwälte gern übernehmen, und um es offen zu sagen, wenn unser Klient nicht bestimmte Vorschriften bezüglich dieses Teilbereichs seines Testaments gemacht hätte, dann hätten wir vielleicht...« »Die Fragen! Was sind das für Fragen?«
Fitzpatrick machte eine Pause, ehe er Antwort gab - er war jetzt
ganz der nachdenkliche Anwalt, der die Unterbrechung zwar
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zuließ, aber sich nicht von seinem Thema abbringen lassen
wollte. »Alles wird streng vertraulich erledigt werden; das
Nachlaßgericht wird in camera...«
»Fotografien?«
»Nein, eine Sitzung unter Ausschluß der Öffentlichkeit, Mrs.
Fischbein. Zum Nutzen der Gemeinde und im Austausch für
bestimmte Staats- und Gemeindesteuern, die im Falle einer
Konfiszierung in Wegfall kämen. Sehen Sie, die höheren
Gerichte könnten zu dem Schluß gelangen, daß die ganze
Erbschaft fragwürdig ist und näher untersucht werden muß.«
»Ja, die Fragen! Was für Fragen wollen Sie mir stellen?«
»Es ist wirklich ganz einfach. Ich habe da einige Erklärungen
vorbereitet, die Sie unterschreiben werden, und ich werde dann
Ihre Unterschrift bezeugen. Damit soll Ihre Abkunft bestätigt
werden. Dann wäre da eine kurze, formelle Aussage, die zur
Bestätigung Ihres Erbanspruchs benötigt wird. Wir brauchen
nur eine solche Erklärung, aber sie muß von einem ehemaligen
hohen Offizier der deutschen Wehrmacht abgegeben werden,
vorzugsweise von einem Mann, dessen Name bekannt ist und
der in den Geschichtsbüchern oder in Kriegsberichten als enger
Kollege Ihres leiblichen Vaters ausgewiesen wird. Es wäre
natürlich von Vorteil, wenn es jemand wäre, der in
amerikanischen Militärkreisen bekannt ist, für den Fall nämlich,
daß der Richter beschließt, das Pentagon anzurufen und zu
fragen: >Wer ist dieser Bursche eigentlich?<«
»Ich kenne den Mann dafür!« flüsterte Ilse Fischbein. »Er war
ein Feldmarschall, ein brillanter General!«
»Wer ist es?« fragte der Anwalt, zuckte dann aber sofort die
Achsel und tat die Identität als belanglos ab. »Schon gut.
Sagen Sie mir nur, weshalb Sie glauben, daß er der richtige
Mann ist, dieser Feldmarschall.«
»Er genießt hohen Respekt, obwohl nicht alle mit ihm einer
Meinung sind. Er war einer der berühmtesten jungen
Befehlshaber und ist einmal von meinem Vater persönlich
dekoriert worden!«
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»Würde ihn jemand im amerikanischen Militärestablishment
kennen?«
»Mein Gott! Er hat nach dem Kriege in Berlin und Wien für die
Alliierten gearbeitet!«
»Ja?«
»Und im SHAPE-Hauptquartier in Brüssel!«
Ja, dachte Connal, wir sprechen von demselben Mann.
»Schön«, sagte Fitzpatrick beiläufig, aber ernst. »Sie brauchen
mir seinen Namen nicht zu nennen. Er ist ohne Belang, und ich
würde ihn wahrscheinlich ohnehin nicht kennen. Können Sie ihn
schnell erreichen?«
»In wenigen Minuten! Er ist hier in Bonn.«
»Ausgezeichnet. Dann könnte ich morgen schon
zurückfliegen.«
»Sie können in sein Haus gehen, dann diktiert er das, was Sie
brauchen, in Ihrem Beisein seiner Sekretärin.«
»Es tut mir leid, aber das geht nicht. Die Erklärung muß von
einem Notar beglaubigt werden. Soweit mir bekannt ist, haben
Sie hier dieselben Vorschriften wie wir in den Staaten
schließlich haben Sie sie ja erfunden -, und im Schloßparkhotel
gibt es eine Hotelsekretärin, die das sicher für uns erledigt. Und
einen Notar werden wir schon ausfindig machen. Sagen wir
heute abend, oder vielleicht morgen früh? Es wäre mir ein
Vergnügen, Ihrem Freund ein Taxi zu schicken. Ich möchte
nicht, daß ihn das auch nur einen Pfennig kostet. Meine Firma
wird für die Spesen aufkommen.«
Ilse Fischbein kicherte - ein lautloses, hysterisches Kichern.
»Sie kennen meinen Bekannten nicht, mein Herr.«
»Ich bin sicher, daß wir miteinander auskommen werden. Wie
wäre es, wenn wir jetzt zusammen zu Mittag essen würden?«
»Ich muß rasch austreten«, sagte die Frau, und ihre Augen
blickten wieder glasig. Als sie aufstand, konnte Connal sie
flüstern hören. »Mein Gott! Zwei Millionen Dollar!«
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»Er will nicht einmal Ihren Namen wissen!« rief Ilse Fischbein
ins Telefon. »Er kommt aus Milwaukee, Wisconsin, und bietet
mir zwei Millionen Dollar!«
»Er hat nicht einmal gefragt, wer ich bin?«
»Er sagte, es sei nicht wichtig! Wahrscheinlich würde er Sie
auch gar nicht kennen. Und können Sie sich das vorstellen? Er
hat angeboten, Ihnen ein Taxi zu schicken! Er sagte, Sie sollten
keinen Pfennig Unkosten haben!«
»Es stimmt schon, Göring war in den letzten Wochen vor dem
Zusammenbruch ungemein großzügig«, sinnierte Leifhelm.
»Natürlich stand er die meiste Zeit unter Drogen, und die Leute,
die ihm das Rauschgift lieferten, was damals gar nicht leicht
war, erhielten als Gegenleistung Hinweise auf Kunstschätze,
die er irgendwo versteckt hatte. Der Mann, der ihm die
Zyankalikapsel verschafft hat, soll heute noch wie ein römischer
Kaiser in Luxemburg leben.«
»Sie sehen schon, es stimmt! Göring hat solche Dinge getan!«
»Wobei er freilich selten wußte, was er tat«, räumte der
General widerstrebend ein. »Das ist wirklich höchst
ungewöhnlich und sehr unbequem, Ilse. Hat Ihnen dieser Mann
irgendwelche Dokumente gezeigt, irgendwelche Beweise für
seinen Auftrag?«
»Natürlich!« log die Frau in panischer Angst und suchte nach
den richtigen Worten. »Er hat mir ein Blatt mit juristischen
Ausdrücken gezeigt und eine... Erklärung - die von den
Gerichten vertraulich behandelt würde! In nichtöffentlicher
Sitzung. Es geht um Steuern, die nicht bezahlt werden würden,
falls die Erbschaft konfisziert werden wird...«
»Das habe ich alles schon einmal gehört, Ilse«, unterbrach
Leifhelm sie müde. »Es gibt keinen gesetzlichen Schutz für
sogenannte Kriegsverbrecher und Gelder, die von ihnen aus
dem Land entfernt wurden. Also ersticken diese Heuchler in
dem Augenblick an ihren heuchlerischen Regeln, wo die Geld
kosten.«
»Sie sind so klug, Herr General, und ich bin immer so loyal
gewesen. Ich habe noch nie eine Bitte von Ihnen abgelehnt, ob
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sie nun beruflicher Natur war oder viel intimer. Bitte. Zwei
Millionen Dollar! Es kostet Sie höchstens zehn Minuten!«
»Ich muß ja zugeben, Sie waren immer wie eine gute Nichte,
das kann ich nicht leugnen. Und was die anderen Dinge
angeht, so kann das wirklich keiner wissen. Also gut, heute
abend meinetwegen. Ich esse um neun Uhr im Steigenberger.
Ich werde um acht Uhr fünfzehn im Schloßpark vorbeikommen.
Sie können mir ja von Ihrem neuen Reichtum ein Geschenk
machen.«
»Wir treffen uns in der Halle.«
»Mein Fahrer wird mich begleiten.«
Fitzpatrick saß in dem kleinen Konferenzzimmer im ersten
Stock des Hotels und sah sich die Waffe an, die
Gebrauchsanweisung lag auf seinem Schoß. Er versuchte, das,
was der Verkäufer ihm erklärt hatte, zu den Strichzeichnungen
in Verbindung zu bringen, die er vor Augen hatte, und war
zufrieden, daß er genug wußte. Es gab genügend
grundlegende Ähnlichkeiten mit dem Colt .45, der in der Navy
zur Bewaffnung gehörte, der einzigen Handfeuerwaffe, mit der
er vertraut war. Er konnte also auf die technischen
Informationen verzichten. Die Waffe, die er gekauft hatte, war
eine Heckler & Koch PGS Automatik, etwa sechs Zoll lang,
Kaliber neun Millimeter, mit einem neunschüssigen Magazin. Er
konnte die Waffe laden, mit ihr zielen und sie abfeuern; mehr
war nicht notwendig, und er hoffte inständig, daß besonders
letzteres nicht notwendig werden würde.
Er sah auf die Uhr, es war fast acht. Er steckte sich die Pistole
in den Gürtel, hob die Gebrauchsanweisung auf, sah sich dann
im Zimmer um und ging im Geist noch einmal alles durch, wie
er es geplant hatte. Natürlich hatte Ilse Fischbein ihm gesagt,
daß Leifhelm Begleitung haben würde, einen »Fahrer« in
diesem Fall, und man durfte wohl davon ausgehen, daß der
Mann auch andere Funktionen hatte. Wenn ja, so würde er
keine Gelegenheit bekommen, sie auszuüben.
Der Raum - einer der zwanzig Besprechungsräume, die das
Hotel anzubieten hatte und den er unter einem erfundenen
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Firmennamen reserviert hatte - war nicht groß, aber es gab da einige Dinge, die er zu seinem Vorteil nutzen konnte. Der übliche rechteckige Tisch stand in der Mitte, drei Stühle auf jeder Seite, zwei an den Kopfenden und neben einem ein Telefon. Es gab weitere Stühle an den Wänden für die Stenografen und die Beobachter - alles ganz normal. Aber in der Mitte der linken Wand war eine Türnische, die in ein sehr kleines Zimmer führte, das vermutlich für Einzelgespräche gedacht war. In diesem Zimmer befand sich ein weiteres Telefon, und wenn dort der Hörer abgenommen wurde, dann leuchtete ein Knopf an dem Telefon auf dem Konferenztisch auf. Außerdem führte die Korridortür in einen kleinen Vorraum. Eintretenden war es daher nicht möglich, den Raum vom Korridor aus zu überblicken. Connal faltete die Gebrauchsanweisung zusammen, steckte sie in die Jackentasche und ging an den Tisch, um seine Requisiten zu überprüfen. Er war in einem Geschäft für Bürobedarf gewesen und hatte dort das Nötige gekauft. Am anderen Ende des Tisches, beim Telefon - das senkrecht zum Tischrand stand, so daß man die Knöpfe deutlich sehen konnte - lagen ein paar Aktenordner neben einer offenen Aktentasche (aus der Ferne sah das dunkle Plastikmaterial wie teures Leder aus). Verstreut über den Tisch waren Papiere, Bleistifte und ein gelber Schreibblock, dessen erste paar Seiten nach hinten umgeschlagen waren. Die Szene war jedem vertraut, der je mit einem Anwalt zu tun gehabt hatte: der Block enthielt die Notizen, die sich der gelehrte Herr vor der Konferenz gemacht hatte. Fitzpatrick kehrte zu dem Sessel zurück, schob ihn etwas weiter nach vorn und ging zu dem kleinen Nebenzimmer. Er hatte die Beleuchtung eingeschaltet - zwei Tischlampen zu beiden Seiten einer Couch. Er ging zu dem Tisch links von der Couch, auf dem das Telefon stand, und schaltete eine Lampe aus. Dann wieder zurück zu der offenen Tür, wo er sich zwischen das Türblatt und die Wand stellte und durch den schmalen, senkrechten Schlitz spähte, der sich zwischen Tür und Türstock öffnete. Er konnte den Eingang des kleinen Vorraums deutlich -3 3 9
überblicken. Drei Leute würden das Konferenzzimmer betreten, und dann würde er herauskommen. Es klopfte an der Korridortür, das schnelle, ungeduldige Klopfen einer Erbin, die nicht länger warten konnte. Er hatte Ilse Fischbein erklärt, wo der Konferenzraum zu finden sei, sonst aber nichts. Weder Namen noch Nummer, und sie hatte in ihrem Eifer auch nicht danach gefragt. Fitzpatrick ging die paar Schritte zu dem Telefontisch in dem kleinen Nebenraum; er nahm den Hörer von der Gabel und legte ihn auf die Tischplatte. Dann ging er an seinen Platz hinter der Tür zurück und zwängte sich so nahe an die Türritze, daß er gut hindurchsehen konnte, selbst aber im Schatten blieb. Er zog die Pistole aus dem Gürtel, hielt sie auf den Boden gerichtet und rief so laut, daß man ihn draußen im Hotelkorridor hören konnte: »Bitte, kommen Sie herein, die Tür ist offen. Ich telefoniere gerade.« Ein Türgeräusch war zu hören, dann kam Ilse Fischbein schnell ins Zimmer gegangen, die Augen auf den Konferenztisch gerichtet. Dicht hinter ihr folgte Erich Leifhelm, der sich umsah und sich dann etwas zur Seite drehte, mit dem Kopf nickte. Ein dritter Mann in Chauffeuruniform wurde sichtbar, die Hand in der Tasche seines grauen Jacketts. Dann hörte Connal das zweite Geräusch, auf das er gewartet hatte. Die Korridortür wurde zugeschlagen. Der Marineanwalt riß die kleine Tür zurück, trat schnell um sie herum, die Waffe auf den Chauffeur gerichtet. »Sie!« rief er in deutscher Sprache. »Nehmen Sie die Hand aus der Tasche! Langsam!« Die Frau stöhnte auf und setzte dann zu einem Schrei an. Fitzpatrick herrschte sie an. »Seien Sie still! Wie Ihr Freund Ihnen sagen wird, habe ich nichts zu verlieren. Ich kann Sie alle drei töten, und das Land in einer Stunde verlassen. Die Polizei wird dann nach einem Mr. Parnell suchen, der überhaupt nicht existiert.« Der Chauffeur zog langsam die Hand aus der Tasche, seine Finger waren starr und seine Kinnmuskeln arbeiteten. Leifhelm -3 4 0
starrte Connals Waffe voller Wut, in die sich Angst mischte, an. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Sie wagen...?« »Ich wage es, Feldmarschall«, sagte Fitzpatrick. »Sie können darauf wetten, daß ich es wage, und wenn ich Sie wäre, dann würde ich nicht den geringsten Anlaß liefern, daß ich noch zorniger werde.« Jetzt wandte Connal sich an die Frau. »Sie. In der Aktentasche auf dem Tisch sind acht Stücke Schnur. Fangen Sie mit dem Fahrer an. Fesseln Sie ihn an Händen und Füßen; ich sage Ihnen, wie man es macht. Schnell!« Vier Minuten später saßen der Chauffeur und Leifhelm mit gefesselten Hand- und Fußgelenken auf zwei KonferenzStühlen. Die Waffe des Fahrers lag auf dem Tisch. Der Marineanwalt überprüfte die Knoten, die die Frau nach seinen Anweisungen gebunden hatte. Alles war sicher; je mehr die Gefesselten dagegen ankämpften, desto enger würden die Knoten sich ziehen. Fitzpatrick befahl der verängstigten Frau, auf einem dritten Stuhl Platz zu nehmen. Dann band er auch sie. Jetzt richtete er sich auf, nahm die Automatik vom Tisch und ging auf Leifhelm zu, der neben dem Telefon saß, an dem das Lämpchen leuchtete. »So«, sagte er, die Pistole unverwandt auf den Kopf des Deutschen gerichtet. »Sobald ich den Hörer im Nebenzimmer aufgelegt habe, werden wir von hier aus telefonieren.« Der Marineanwalt ging schnell in das kleine Nebenzimmer, legte den Hörer auf und kehrte zurück. Er setzte sich neben den gefesselten Leifhelm und holte einen Fetzen Papier aus der offenen Aktentasche. Auf ihm stand die Telefonnummer der Villa des Generals. »Was, glauben Sie, können Sie damit erreichen?« fragte Leifhelm. »Einen Tausch«, erwiderte Fitzpatrick und drückte dem Deutschen den Pistolenlauf gegen die Schläfe. »Sie gegen Converse.« »Mein Gott!« flüsterte Ilse Fischbein wie versteinert, während der Chauffeur immer noch gegen seine Fesseln ankämpfte, die ihm allmählich ins Fleisch schnitten. -3 4 1
»Sie glauben, daß jemand auf Sie hören oder sogar Ihre
Anweisungen ausführen wird?«
»Das wird man müssen, wenn man Sie noch einmal lebend
wiedersehen will. Sie wissen, daß ich recht habe, General.
Diese Pistole ist nicht sehr laut, davon habe ich mich
überzeugt. Ich kann das Radio einschalten und Sie töten und
im Flugzeug sitzen, noch bevor man Sie findet. Dieses Zimmer
ist für die ganze Nacht reserviert, und ich habe Anweisung
gegeben, uns unter keinen Umständen zu stören.« Connal
nahm die Waffe in die linke Hand, hob den Hörer ab und wählte
die Nummer, die auf dem Blatt stand.
»Guten Tag. Hier bei General Leifhelm.«
»Holen Sie jemand an den Apparat, der etwas zu sagen hat«,
verlangte der Marineanwalt in perfektem Deutsch. »Im Moment
halte ich General Leifhelm eine Pistole gegen die Schläfe und
werde ihn sofort töten, wenn Sie nicht tun, was ich sage.«
Am anderen Ende der Leitung waren im Hintergrund Rufe zu
hören. Wenige Sekunden später sprach eine Stimme mit
ausgeprägtem britischem Akzent langsam und deutlich in
englischer Sprache.
»Wer spricht da und was wollen Sie?«
»Oh, was sage ich denn? Das klingt ja wie Major Philip
Dunstone - das war doch der Name, nicht wahr? Sie klingen
nicht halb so freundlich wie gestern nacht.«
»Tun Sie ja nichts Übereiltes, Commander. Das würden Sie nur
bedauern.«
»Und machen Sie keine Dummheiten, sonst bedauert Leifhelm
das noch viel früher - das heißt, solange er überhaupt noch
etwas bedauern kann. Sie haben eine Stunde, um Converse
zum Flughafen und in die Abflughalle zu bringen. Er hat eine
Reservierung für die Zehn-Uhr-Maschine nach Washington D.
C. über Frankfurt. Ich habe das Nötige veranlaßt. Ich werde eine Nummer in einem Zimmer anrufen, in das er zu bringen ist, und erwarte, dort mit ihm sprechen zu können. Anschließend werde ich hier weggehen, Sie von einem anderen Apparat aus anrufen und Ihnen erklären, wo Ihr Chef ist. Und jetzt sorgen -3 4 2
Sie dafür, daß Converse zum Flughafen kommt. Eine Stunde, Major!« Fitzpatrick schob den Hörer Leifhelm hin und drückte dem Deutschen wieder den Pistolenlauf an die Schläfe. »Tun Sie, was er verlangt«, sagte der General mit halberstickter Stimme. Die Minuten verstrichen langsam, dehnten sich zu einer Viertelstunde, einer halben, und dann brach Leifhelm schließlich das Schweigen. »Sie haben sie also gefunden«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf Ilse Fischbein, die zitternd und mit tränenüberströmtem Gesicht dasaß. »Genauso wie wir herausgefunden haben, was vor vierzig Jahren in München geschehen ist, und noch eine ganze Me nge anderer Dinge. Sie sind doch alle schon zu dieser großen Einsatzzentrale im Himmel unterwegs, Feldmarschall. Machen Sie sich also keine Sorgen, ob ich das Wort halten werde, das ich Ihrem englischen Butler gegeben habe. Ich möchte um keinen Preis der Welt darauf verzichten, zuzusehen, wie man euch Dreckskerle vorführt, damit jeder sehen kann, was ihr wirklich seid. Leute wie Sie haben dem Militär auf der ganzen Welt einen verdammt schlechten Ruf eingetragen.« Aus dem Korridor war ein Geräusch zu hören. Connal blickte auf, hob die Pistole und hielt sie Leifhelm wieder an die Schläfe. »Was ist?« sagte der Deutsche und zuckte die Schultern. »Keine Bewegung!« Aus dem Gang tönten Stimmen herein, Gesang, mehr laut als schön. Eine Konferenz in einem der anderen Zimmer war zu Ende gegangen, und den Geräuschen nach war der Alkohol reichlich geflossen. Heiseres Gelächter übertönte die Stimmen, und Fitzpatricks Spannung lockerte sich; erließ die Automatik sinken; niemand außerhalb dieses Zimmers wußte seine Nummer. »Sie sagen, daß Männer wie ich Ihrem Beruf - welcher auch der meine ist - einen schlechten Ruf eintragen«, sagte Leifhelm. »Ist es Ihnen einmal in den Sinn gekommen, Commander, daß -3 4 3
wir diesem Beruf in einer Welt, die uns dringend braucht, einen ganz besonderen Stellenwert verschaffen könnten?« »Die uns braucht?« fragte Connal. »Zuerst brauchen wir die Welt und nicht Ihre Art von Welt. Sie haben es versucht und sind gescheitert, erinnern Sie sich nicht daran?« »Das war eine einzige Nation unter der Führung eines Wahnsinnigen, der versuchte, der ganzen Welt seinen Stempel aufzudrücken. Diesmal sind es viele Nationen mit einer Klasse selbstloser Berufssoldaten, die zum Nutzen aller zusammengekommen sind.« »Nach wessen Vorbild? Dem Ihren? Sie sind ein komischer Bursche, General. Manchmal muß ich an Ihren Zielen zweifeln.« »Die Fehler eines jungen Mannes, dem man den Namen und jede Chance geraubt hat, sollte man nicht ein halbes Jahrhundert später dem Erwachsenen zur Last legen.« »Geraubt? Ich glaube, Sie haben das recht schnell und ziemlich brutal ausgeglichen. Mir gefallen Ihre Mittel nicht.« »Sie haben keinen Blick für Größe.« »Dem Himmel sei Dank dafür.« Der Gesang im Korridor verstummte kurz und schwoll dann wieder an. »Vielleicht sind das ein paar Ihrer Kumpane aus Dachau!« Leifhelm zuckte die Schultern. Plötzlich brach die Tür mit einem lauten Knall auf und schlug gegen die Wand. Im nächsten Moment stürmten drei Männer ins Zimmer. Schüsse aus schallgedämpften Pistolen peitschten, Hände zuckten hin und her, die Tischplatte zersplitterte. Fitzpatrick spürte den stechenden Schmerz im Arm, als ihm die Automatik weggerissen wurde. Er blickte an sich hinunter und sah das Blut aus dem Ärmel seines Jacketts quellen. Erschreckt zuckte er zusammen, sein Blick wanderte nach links. Ilse Fischbein war tot, ihr blutender Schädel von einer ganzen Salve zerschmettert. Der Chauffeur grinste obszön.
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Die Tür wurde geschlossen, als ob nichts geschehen sei und die letzten Augenblicke ein bereits wieder vergessener Zwischenfall wären, an den niemand sich erinnerte. »Stümper«, sagte Leifhelm, während einer der Eindringlinge ihm die Fesseln von den Handgelenken schnitt. »Den Ausdruck habe ich erst gestern gebraucht, Commander, aber da wußte ich noch nicht, wie recht ich hatte. Haben Sie denn wirklich geglaubt, daß man das Telefongespräch nicht zu diesem Zimmer zurückverfolgen könnte?... Das war alles viel zu einfach, Converse gehört uns, und plötzlich kommt diese arme Hure zu ungeheurem Reichtum - amerikanischem Reichtum. Ich will Ihnen einräumen, daß das durchaus möglich gewesen wäre - solche Testamente werden häufig von irgendwelchen Idioten abgefaßt, die gar nicht wissen, welchen Schaden sie anrichten -, aber das Timing war zu perfekt, zu... stümperhaft.« »Sie sind ein Hurensohn.« Connal schloß kurz die Augen und versuchte, den Schmerz aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Er war nicht mehr fähig, seine Finger zu bewegen. »Aber Commander«, sagte der General und erhob sich von seinem Stuhl, »ist das die Tollkühnheit der Furcht? Glauben Sie, ich werde Sie jetzt töten lassen? Sie täuschen sich. Nachdem Sie beurlaubt sind, können Sie uns noch einen kleinen, aber einmaligen Dienst erweisen. Sie werden unser Gast sein, Commander, aber nicht hier in Deutschland. Sie werden eine Reise machen.«
17 Converse schlug die Augen auf, ihm war als lasteten auf seinen Lidern schwere Eisengewichte. Übelkeit schnürte ihm die Kehle zu. Rings um ihn war undurchdringliche Finsternis. Er spürte ein Stechen an seiner Seite - an seinem Arm -, das Fleisch war aufgetrennt worden, es spannte und hatte sich entzündet. Blind tastete er nach der schmerzenden Stelle, bis er aufstöhnend die Hand wieder zurückzog. Dann kroch irgendwie Licht in den dunklen Raum über ihm, tastete sich durch scheinbar bewegte -3 4 5
Hindernisse und spähte in die Schatten hinein. Gegenstände begannen träge Gestalt anzunehmen - der Metallrand der Pritsche dicht an seinem Gesicht, zwei hölzerne Stühle, die einander zu beiden Seiten eines kleinen Tisches gegenüberstanden, eine Tür, ebenfalls in der Ferne, aber weiter entfernt und geschlossen... dann noch eine Tür, offen, ein weißer Ausguß mit zwei Wasserhähnen in einer weit entfernten Kammer auf der linken Seite. Das Licht? Es bewegte sich immer noch, tanzte jetzt, flackerte. Woher kam es? Er fand es. Hoch an der Wand, zu beiden Seiten der geschlossenen Tür, waren zwei rechteckige Fenster mit kurzen Vorhängen, die sich in dem leichten Wind blähten. Die Fenster waren offen, aber die Öffnung war auf sonderbare Weise doch auch wieder unterbrochen. Joel hob den Kopf, stützte sich auf den Unterarm und kniff die Augen zusammen. Er versuchte deutlicher zu sehen. Sein Blick erfaßte die Unterbrechungen hinter den geblähten Vorhängen - dünne schwarze Metallstangen, die senkrecht in den Fensterrahmen standen. Gitter! Er befand sich in einer Zelle. Joel ließ sich auf die Pritsche zurücksinken, schluckte ein paarmal, um den Schmerz in der Kehle zu lindern, und bewegte den Arm langsam im Kreis, um den Schmerz der... Wunde? ... zu lindern. Ja, eine Wunde, eine Schußverletzung! Die Erinnerung kam mit einem Schrecken. Ein Abendessen hatte sich in eine Schlacht verwandelt. Blendende Lichter und plötzliche Schmerzstöße verbanden sich mit leisen, eindringlichen Stimmen, die auf ihn einredeten, ein nicht enden wollendes Echo, das seine Ohren bedrängte, während er verzweifelt versuchte, dem Angriff Widerstand zu leisten. Dann wieder Augenblicke friedlicher Ruhe, das gleichmäßige Dröhnen einer einzigen Stimme im Nebel. Converse schloß die Augen, drückte die Lider mit aller Kraft zusammen, während sich ihm eine andere Erkenntnis aufdrängte und ihn zutiefst beunruhigte. Die Stimme in den wallenden Nebeln war seine Stimme. Man hatte ihn unter Drogen gesetzt, und er wußte, daß er Geheimnisse verraten hatte.
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Man hatte ihn schon früher einmal unter Drogen gesetzt, mehrmals sogar, damals in den nordvietnamesischen Lagern. Und wie stets stellte sich auch diesmal der Ekel abgestumpfter Empörung ein. Man hatte sein Bewußtsein bloßgelegt und ihm Gewalt angetan, hatte seine Stimme dazu gezwungen, Dinge preiszugeben, die sein Wille mit letzter Kraft behüten wollte. Da war ein Geräusch - auf der anderen Seite des Raumes! Dann noch eines, und gleich darauf wieder eines. Das scharrende Metall verriet ihm, daß ein Riegel zurückgezogen wurde; das Kratzen eines Schlüssels, gefolgt vom Drehen eines Knopfes bedeutete, daß die Tür in der weit entfernten Wand geöffnet wurde. Sie sprang auf, und eine Flut von blendendem Sonnenlicht stürzte in den Raum, in seine Zelle. Converse hielt sich die Hand über die Augen und spähte zwischen den Fingern hindurch. Die blasse und verschwommene Silhouette eines Mannes stand in der Türöffnung. Er hielt einen flachen Gegenstand in der linken Hand und stützte ihn von unten. Die Gestalt trat ein, und Joel erkannte blinzelnd, daß es der Chauffeur war, der ihn in der Einfahrt nach Waffen abgesucht hatte. Der uniformierte Fahrer trat an den Tisch und setzte geschickt den flachen Gegenstand ab; es war ein Tablett, das mit einem Tuch bedeckt war. Erst jetzt richtete sich Converses Blick auf die von der Sonne hell erleuchtete Tür. Draußen drängte sich das Dobermannrudel. Die glänzenden schwarzen Augen der Hunde wanderten immer wieder zum Eingang der Zelle, ihre Lefzen waren zurückgezogen, so daß man die blitzenden Fänge sehen konnte. »Guten Morgen, mein Herr«, sagte Leifhelms Chauffeur und wechselte dann ins Englische über. »Ein schöner Tag am Rhein, nicht wahr?« »Dort draußen ist es hell, wenn Sie das meinen«, erwiderte Joel, die Hand immer noch über den Augen. »Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, daß ich das nach gestern abend noch sehen kann.«
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»Gestern abend?« Der Deutsche machte eine kurze Pause und fügte dann leise hinzu. »Das war vor zwei Nächten, Amerikaner. Sie sind jetzt seit dreiunddreißig Stunden hier.« »Dreiund...?« Converse stemmte sich in die Höhe und schwang die Beine über den Bettrand. Er mußte innehalten; ein Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er hatte zu viel Kraft verloren. O Gott! Wie deutlich er sich erinnerte! Du darfst keine Bewegung vergeuden. Die kommen wieder. Diese Schweine! »Ihr Schweine«, sagte er, ohne sich etwas dabei zu denken. Dann wurde ihm zum erstenmal bewußt, daß er kein Hemd trug. Erst jetzt bemerkte er den Verband an seinem linken Arm zwischen Ellbogen und Schulter. Die Schußwunde. »Hat jemand meinen Kopf verfehlt?« fragte er. »Wie man mir sagte, haben Sie sich die Verletzung selbst zugefügt. Sie versuchten, General Leifhelm zu töten, als die anderen Ihnen die Waffe abnahmen.« »Ich versuchte, General Leifhelm...? Mit meiner nicht existierenden Waffe? Sie haben mich doch selbst durchsucht?« »Sie waren zu schlau für mich, mein Herr.« »Was passiert jetzt?« »Jetzt? Jetzt werden Sie essen. Ich habe Anweisungen vom Arzt. Zuerst die Hafergrütze... Wie sagen Sie da? Der Porridge.« »Heißer Haferbrei«, nickte Joel. »Mit entrahmter Milch. Dann weichgekochte Eier und Tabletten. Und wenn ich das alles bei mir behalte, etwas Hackfleisch. Und wenn ich auch das bei mir behalten kann, ein paar Löffel Rübenpüree oder Kartoffeln. Was immer zur Verfügung steht.« »Woher wissen Sie das?« fragte der Mann in Chauffeuruniform, ehrlich überrascht. »Das ist eine Basisdiät«, erklärte Converse zynisch. »Sie variiert je nach Gegend und Vorräten. Ich habe früher einmal relativ gut gegessen... Sie haben vor, mich wieder unter Drogen zu setzen.«
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Der Deutsche zuckte die Achseln. »Ich tue, was man mir aufgetragen hat. Ich bringe Ihnen zu essen. Hier, lassen Sie sich helfen.« Joel blickte auf, als der Chauffeur auf sein Bett zukam. »Unter anderen Umständen würde ich Ihnen ins Gesicht spucken. Aber wenn ich das tun würde, dann müßte ich auf die entfernte Chance verzichten, Ihnen ein anderes Mal ins Gesicht zu spucken. Sie dürfen mir helfen. Passen Sie auf meinen Arm auf.« Drei Tage vergingen, an denen sein einziger Besucher der Chauffeur und in seinem Gefolge die zähnefletschenden Hunde waren. Man brachte ihm seinen Koffer, den man gründlich durchsucht und dabei aus dem Necessaire Schere und Nagelfeile entfernt hatte - sein Elektrorasierer war dagegen intakt. Damit sagten sie ihm, daß man ihn aus Bonn herausgebracht hatte und überließ ihn so schmerzhaften Spekulationen über das Schicksal von Connal Fitzpatrick. Und doch war da eine Inkonsequenz, und damit auch ein Anlaß zur Hoffnung. Es gab keinerlei Hinweis, was mit seinem Aktenkoffer geschehen war, weder sichtbare Beweise - vielleicht ein Blatt aus einem der Dossiers - noch Andeutungen während seiner kurzen Gespräche mit Leifhelms Fahrer. Die Generale von Aquitania waren Männer von ungeheurem Stolz und Selbstbewußtsein; wenn das Material in ihren Händen wäre, hätten sie es ihn wissen lassen. Was seine Gespräche mit dem Chauffeur anging, so beschränkten sie sich seinerseits auf Fragen und seitens des Deutschen auf disziplinierte Artigkeiten, Antworten gab er nicht - wenigstens keine, die irgendeinen Sinn ergaben. Wie lange wird das so weitergehen? Wann werde ich einmal
jemand anderen als Sie zu sehen bekommen?
Sonst ist hier niemand, Sir, nur die Angestellten. General
Leifhelm ist verreist - nach Essen, glaube ich. Wir haben Anweisung, Ihnen zu essen zu geben und dafür zu sorgen, daß Sie wieder gesund werden.
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Incommunicado. Er befand sich in Einzelhaft. Aber was er zu essen bekam, hatte keine Ähnlichkeiten mit der Nahrung, die gewöhnlich Gefangenen gebracht wurde. Rinder- und Lammbraten, Koteletts, Geflügel und frischer Fisch; Gemüse, das ganz offensichtlich aus einem Garten in der Nähe stammte... Und Wein, den Joel zunächst nur zögernd trank, aber als er sich schließlich überwand, erkannte er, daß der Wein hervorragend war. Am zweiten Tag hatte er - wie vor so vielen Jahren - mit einfacher Gymnastik begonnen. Am dritten Tag war er eine halbe Stunde auf der Stelle gelaufen und dabei ins Schwitzen gekommen, gesunder Schweiß, der ihm verriet, daß sein Kreislauf die letzten Reste der Drogen abgebaut hatte. Die Wunde an seinem Arm war natürlich noch da, aber er dachte immer seltener daran. Zum Glück war es keine ernsthafte Verletzung. Am vierten Tag reichten ihm Fragen und Überlegungen nicht mehr. Das Eingesperrtsein und das erdrückende Wissen, von niemandem Antwort zu bekommen, zwangen ihn dazu, sich etwas anderem zuzuwenden, praktischen Erwägungen, dem, was für ihn jetzt das Wichtigste war. Flucht. Gleichgültig, wie der Versuch auch ausgehen würde, er mußte es wagen. Was für Pläne auch immer Delavane und seine Anhänger für ihn hatten, sie wollten doch ganz offensichtlich einen von Drogen freien Mann haben - höchstwahrscheinlich einen Toten, der keinerlei Narkotika mehr im Blut hatte. Andernfalls hätten sie ihn sofort töten und sich seiner Leiche irgendwie entledigen können. Ob er es wieder schaffen würde? Er mußte hier raus. Er mußte der Welt berichten, was er wußte. Er mußte entkommen! Converse stand auf dem hölzernen Stuhl, hatte den kurzen Vorhang beiseite geschoben und spähte durch die Gitterstäbe nach draußen. Seine Hütte oder sein Gefängnis oder was es auch sonst sein mochte, schien in einem gerodeten Waldstück zu stehen. Von allen Seiten umgab ihn, so weit sein Auge reichte, eine Mauer aus hohen Bäumen und dichtem Laubwerk. Nur zur Rechten, unter dem Fenster, war ein ausgetretener -3 5 0
Weg zu erkennen. Die Lichtung selbst reichte höchstens sieben Meter von seiner Zelle bis zu dem dichten Grün. Er vermutete, daß es ringsum ebenso war- schließlich bot sich auch vom linken Fenster dasselbe Bild, nur daß dort kein Weg war, bloß kurze, braune Grasstoppeln. Die beiden Fenster vorn boten den einzigen Ausblick aus seiner Zelle. Alle anderen Wände waren fest verfugt, und nur im Badezimmer gab es noch eine kleine Lüftungsöffnung in der Decke. Das einzige, was er sonst noch mit Sicherheit sagen konnte dafür boten der Chauffeur, die Hunde und die warmen Mahlzeiten den Beweis -, war, daß er sich noch auf Leifhelms Anwesen befand und daß der Fluß nicht weit entfernt sein konnte. Er konnte ihn zwar nicht sehen, aber er war da, und das gab ihm Hoffnung - mehr als Hoffnung, ein Gefühl wilder Freude, das aus der Erinnerung kam. Schon einmal war ein Fluß sein Freund, sein Führer gewesen, am Ende sein Wegweiser, der ihn den schlimmsten Teil seiner Reise hatte überstehen lassen. Ein Seitenfluß des Huong Khe südlich von Duc Tho hatte ihn nachts lautlos unter Brücken, an Streifen und den Lagern von drei Bataillonen vorbeigeführt. Die Wellen des Rheins würden sein Pfad in die Freiheit sein, wie vor Jahren die des Huong Khe. Jetzt tauchte der erste Dobermann auf dem Weg auf, dann das ganze Rudel. Sie hetzten auf die Tür zu, drängten sich unter den Fenstern. Der Chauffeur war mit seinem Frühstück unterwegs, einem Frühstück, wie es kein Gefangener in Einzelhaft erwarten durfte. Der Riegel wurde zurückgezogen, dann war das Scharren des Schlüssels im Schloß zu hören, und die Tür öffnete sich. Wie er es jedesmal beim Eintreten tat, schob der Deutsche die Tür mit der rechten Hand auf, während er das Tablett auf der linken balancierte. An diesem Morgen hatte er ein umfangreiches Bündel in der Hand, das Converse im grellen Sonnenlicht nicht genauer erkennen konnte. Der Mann trat ein und stellte das Tablett nicht ganz so geschickt wie an den anderen Tagen auf den Tisch.
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»Heute habe ich eine angenehme Überraschung für Sie, mein Herr. Ich habe gestern abend mit General Leifhelm telefoniert, und er hat sich nach Ihnen erkundigt. Ich sagte ihm, daß Ihre Genesung gute Fortschritte machte und daß ich Ihnen den Verband gewechselt hätte. Dabei kam ihm in den Sinn, daß Sie nichts zu lesen hätten, und darüber war er sehr verstimmt. Also bin ich vor einer Stunde nach Bonn gefahren und habe die letzten drei Ausgaben des International Herald Tribüne gekauft.« Der Fahrer legte die zusammengerollten Zeitungen neben das Tablett auf den Tisch. Aber Joels Aufmerksamkeit galt nicht den Zeitungen. Sein Blick war auf den Hals und die Brusttasche der Uniform des Deutschen geheftet. Der Fahrer trug eine dünne silberne Kette um den Hals, die in die Jackentasche führte, wo noch die Spitze einer silbernen Pfeife zu erkennen war. Joels Blick wanderte zur Tür; die Hunde hockten hechelnd da, geiferten, waren aber einigermaßen still und ruhig. Converse erinnerte sich an seine Ankunft in der Festung des Generals und den eigenartigen Engländer, der die Hunde mit einer silbernen Pfeife unter Kontrolle gehalten hatte. »Sagen Sie Leifhelm, daß ich ihm für den Lesestoff dankbar bin, aber noch viel dankbarer wäre ich, wenn ich diesen Bau einmal ein paar Minuten verlassen könnte.« »Ja, mit einem Flugzeugticket nach Südfrankreich an den Strand, nicht wahr?« »Um Himmels willen, bloß für einen kleinen Spaziergang, um die Beine ein wenig bewegen zu können! Was ist denn los? Können denn Sie und Ihre geifernden Köter dort draußen nicht mit einem einzigen unbewaffneten Mann zu Rande kommen, der ein wenig Luft schnappen will?... Nein, wahrscheinlich sind Sie viel zu feige, das einmal zu versuchen.« Joel machte eine Pause und fügte dann, die Sprechweise des anderen imitierend, hinzu: »Ich tue, was man mir befohlen hat.« Das Lächeln des Fahrers verblaßte.
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»General Leifhelm ruft mittags an, um zu hören, ob es irgend
etwas Neues für ihn gibt. Ich werde ihn fragen, ob Sie ins Freie
dürfen. Es ist Ihnen hoffentlich klar, daß ein Wort von mir
genügt, und die Hunde zerfleischen Sie.«
»Nette Köter«, sagte Converse mit einem Blick auf das Rudel.
Es wurde Mittag, und sein Wunsch wurde ihm gewährt. Der
Spaziergang sollte nach dem Mittagessen stattfinden, wenn der
Fahrer sein Tablett abholen würde. Er kam, und Joel durfte
nach einigen strengen Ermahnungen nach draußen. Sofort
drängten sich die Hunde geifernd und mit heraushängenden
Zungen um ihn. Dann setzte sich die seltsame Gruppe in
Bewegung, und Joel wurde langsam mutiger, während die
Hunde unter den strengen Ermahnungen des Deutschen ihr
Interesse an ihm verloren. Sie liefen voraus, tobten im Gras
herum und schnappten nacheinander, sahen sich aber immer
wieder nach ihrem Herrn und Meister und seinem Gefangenen
um. Converse ging schneller.
»Zu Hause habe ich oft gejoggt«, log er.
»Was heißt gejoggt?«
»Laufen. Das ist gut für den Kreislauf.«
»Wenn Sie jetzt zu laufen anfangen, ist es mit Ihrem Kreislauf
gleich zu Ende. Dafür sorgen meine Hunde.«
»Ich habe auch gehört, daß manche Leute vom Joggen einen
Infarkt bekommen haben«, sagte Joel und verlangsamte seinen
Schritt, ohne daß seine Augen aufhörten, die Umgebung
abzusuchen. Die Sonne stand unmittelbar über ihnen, er hatte
also keine Möglichkeit, die Himmelsrichtung abzuschätzen.
Der Weg war wie eine gerade Linie in einem komplizierten Netz
verborgener Pfade. Dickes Blattwerk säumte ihn, und häufig
hingen auch Äste in den Weg. Dann kamen sie wieder an
kleinen grasbewachsenen Lichtungen vorbei, die
möglicherweise zu anderen Wegen führten, aber sicher konnte
Joel nicht sein. Schließlich erreichten sie eine Gabelung, das
rechte Wegstück führte in eine Art Tunnel aus grünem
Blattwerk. Die Hunde liefen instinktiv darauf zu, blieben aber
stehen, als der Chauffeur ihnen in deutscher Sprache einen
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Befehl zurief. Sie wirbelten herum, stürzten wild durcheinander und kehrten zu der Gabelung zurück. Dann hetzten sie wieder auf den breiteren Weg zu, der nach links führte. Jetzt begann ein leichter Anstieg, die Bäume waren hier etwas niedriger, das Gebüsch dichter. Wind, dachte Converse. Ein Talwind; ein Wind, der aus einem Einschnitt in der Erde heraufwehte, die Art von Wind, wie sie Piloten kleiner Flugzeuge bei Wetterwechsel instinktiv vermieden. Ein Fluß. Hier mußte er sein. Zu seiner Linken; sie bewegten sich in östlicher Richtung. Der Rhein lag unter ihnen, anderthalb Kilometer hinter den letzten Bäumen. Er hatte genug gesehen. Er begann hörbar zu atmen. Die Erleichterung, die er empfand, war ungeheuer. Er befand sich wieder an den Ufern des Huong Khe, des dunklen Rettungspfades, der ihn von den Käfigen am Mekong und den Zellen und den Chetrükalien in die Freiheit führen würde. Er hatte es schon einmal geschafft; er würde es wieder schaffen! »Okay, Feldmarschall«, sagte er zu Leifhelms Fahrer und sah auf das silberne Pfeifchen, das in der Tasche des Deutschen steckte. »Ich bin doch nicht so gut in Form, wie ich glaubte. Das ist ja ein Berg! Haben Sie denn hier keine ebenen Weiden oder Grasflächen?« »Ich tue, was man mir aufträgt, mein Herr«, erwiderte der Mann und grinste. »Die liegen näher am Hauptgebäude. Sie müssen Ihren Spaziergang hier machen.« »Dann muß ich hier danke sagen, und zwar nein, danke. Führen Sie mich zu meiner kleinen Waldhütte zurück, dann spiele ich Ihnen eine kleine Melodie vor.« »Was?«
»Ich bin müde und habe die Zeitungen noch nicht zu Ende
gelesen. Ehrlich, ich will Ihnen danken. Ich habe wirklich Luft
gebraucht.«
»Sehr gut. Sie sind nett.«
»Sehr liebenswürdig. Wenn Sie einmal einen guten Anwalt
brauchen...« -3 5 4
Converse stand auf dem hölzernen Stuhl unter dem Fenster auf der linken Türseite. Er mußte jetzt warten, bis er die Hunde zu Gesicht bekam; anschließend hatte er noch zwanzig oder dreißig Sekunden. Die Wasserhähne im Bad waren aufgedreht, die Tür stand offen; die Zeit reichte gerade aus, um durchs Zimmer zu laufen, die Toilettenspülung zu betätigen, die Türe zu schließen und zu dem Stuhl zurückzulaufen. Aber er würde nicht wieder hinaufsteigen. Er würde ihn mit beiden Händen packen. Die Sonne sank schnell; in einer Stunde würde es dunkel sein. Die Dunkelheit war schon einmal sein Freund gewesen - vor Jahren -, so wie die Wellen eines Flusses sein Freund gewesen waren - vor Jahren. Sie mußten wieder seine Freunde sein. Das mußten sie! Zuerst waren nur die Geräusche zu hören - ihr Schnauben und das Geräusch ihrer Pfoten, dann war ihr schimmerndes schwarzes Fell zu sehen. Joel rannte ins Badezimmer, zählte die Sekunden, wartete, daß der Riegel zurückgezogen wurde. Da war das Geräusch - er zog die Spülung, drehte sich um, schloß die Tür und rannte zum Stuhl zurüc k. Er hob ihn hoch, stemmte die Beine fest auf den Boden und wartete. Die Tür öffnete sich eine Handbreit - nur Sekunden noch -, dann schob die rechte Hand des Deutschen sie auf. »Herr Converse? Wo sind...? Ach, die Toilette.« Der Chauffeur trat mit dem Tablett ein, und Joel schmetterte den Stuhl mit aller Kraft auf den Schädel des Deutschen nieder. Der Fahrer verlor das Gleichgewicht, Tablett und Geschirr klirrten zu Boden. Er war betäubt, weiter nichts. Converse trat die Tür zu und ließ den schweren Stuhl noch ein paarmal auf den Schädel des Chauffeurs herunterkrachen, bis der Mann zusammensackte, Kopf und Gesicht blutüberströmt. Die Phalanx der Hunde warf sich gegen die geschlossene Tür, geifernd, bellend, kratzend... Joel packte die silberne Kette, streifte sie dem bewußtlosen Deutschen über den Kopf und zog das silberne Pfeifchen aus dessen Jackentasche. In dem Silberrohr waren vier winzige Löcher; jedes hatte eine Bedeutung. Er zog den zweiten Stuhl an das Fenster zur Rechten der Tür, stieg hinauf und hielt die -3 5 5
Pfeife an die Lippen. Er deckte das erste Loch ab und blies in das Mundstück. Kein Laut war zu hören, aber das war belanglos. Die Dobermanns stürzten sich in selbstmörderischer Wut gegen die Tür. Er legte den Finger auf das zweite Loch und blies. Das verwirrte die Hunde; sie umkreisten einander, schnappten, kläfften, knurrten, ließen aber nicht von der Tür ab. Er legte den Finger auf das dritte Loch und blies mit aller Kraft. Plötzlich erstarrten die Hunde in ihrer Bewegung. Ihre Ohren richteten sich auf, zuckten leicht - sie warteten auf ein zweites Signal. Wieder blies er, wieder mit ganzer Kraft. Das war der Laut, auf den sie gewartet hatten. Das ganze Rudel setzte sich gleichzeitig in Bewegung, stürzte rechts unter dem Fenster vorbei und hetzte zu einem anderen Ort, wohin der letzte Pfiff sie befohlen hatte. Converse sprang vom Stuhl und kniete neben dem bewußtlosen Deutschen nieder. Schnell durchsuchte er die Taschen des Fahrers, nahm ihm die Brieftasche und alles Geld ab, dann die Armbanduhr... und die Waffe. Einen Augenblick lang sah Joel die Pistole an, er verabscheute die Erinnerung, die sie in ihm wachrief. Dann schob er sie sich in den Gürtel und ging zur Tür. Draußen zog er die schwere Tür hinter sich zu. Er hörte, wie das Schloß einschnappte, und schob den Riegel vor. Joel lief den alten Weg hinunter und versuchte zu schätzen, wie weit es bis zu der Stelle war, wo der Weg sich gabelte und es den Hügel hinaufging, von dem aus er den Rhein sehen würde. Es waren eigentlich nur zweihundert Meter, aber die vielen Biegungen und das dichte Grün ließen den Weg länger erscheinen. Wenn er sich richtig erinnerte - und er kam sich wie ein Pilot ohne Instrumente vor, der auf Sicht flog -, war der Weg nach der Gabelung vielleicht zwanzig Meter flach verlaufen. Jetzt erreichte er die Stelle und beschleunigte seinen Lauf. Stimmen! Zornig, fragend? Nicht weit entfernt, näherkommend! Er warf sich in die Büsche zu seiner Rechten, wälzte sich über das spitze Geäst, bis er kaum noch durch das Blattwerk sehen konnte. Zwei Männer tauchten auf, sie redeten laut miteinander. -3 5 6
»Was die Hunde nur haben?!«
»Die sollten doch bei Heinrich sein!«
Joel verstand nicht, was sie sagten; er wußte nur, während sie
an ihm vorübergingen, daß sie zur Hütte gingen. Und ebenso
wußte er, daß sie dort keine Zeit vergeuden, sondern sofort
handeln würden. Das bedeutete, daß sämtliche Alarmanlagen
in Leifhelms Festung ausgelöst werden würden. Die Zeit, die
ihm noch zur Verfügung stand, war jetzt in Minuten zu messen,
und er hatte noch eine beträchtliche Wegstrecke vor sich.
Vorsichtig kroch er auf Händen und Füßen aus dem Buschwerk
heraus. Die Deutschen waren jetzt hinter einer Biegung
verschwunden. Er richtete sich auf und lief auf die
Weggabelung zu.
Die drei Wachen an dem riesigen Eisentor, das Leifhelms Villa
von der Außenwelt abschirmte, waren verwirrt. Das
Dobermannrudel rannte ungeduldig auf der Rasenfläche
herum, sichtlich verwirrt.
»Was haben die denn?« fragte einer.
»Ich versteh' das nicht«, erwiderte der zweite.
»Heinrich muß sie losgelassen haben, aber warum?« sagte der
dritte.
»Das werden wir schon erfahren«, murmelte der erste Posten
und zuckte die Schultern. »Sonst rufen wir in ein paar Minuten
an.«
»Mir gefällt das nicht!« rief der zweite. »Ich rufe sofort an!« Der
erste Posten ging in das Wachhäuschen und hob den
Telefonhörer ab.
Converse jagte den Hügel hinauf, sein Atem ging keuchend,
seine Lippen waren trocken, sein Puls hämmerte in den Ohren.
Da! Jetzt hatte er klare Sicht, seine Vermutung bestätigte sich!
Er wurde noch schneller, spürte den Wind, der ihm ins Gesicht
peitschte. Er rannte durch die offenen Lichtungen eines
anderen Dschungels, und es gab keine Mitgefangenen, um die
er sich sorgen mußte. Es gab nur noch die Empörung in ihm,
die ihn antrieb, alle Hindernisse zu durchbrechen und
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irgendwie, irgendwo zurückzuschlagen gegen diejenigen, die ihn nackt ausgezogen, ihm die Unschuld geraubt und... verdammt... ihn zu einem Tier gemacht hatten! Ein freundliches, menschliches Geschöpf, ohne Haß, war in ein haßerfülltes Wesen verwandelt worden. Und jetzt würde er zurückschlagen, gegen sie alle, alle Feinde, alle Tiere! Er war jetzt am Fuß des Hügels angelangt, und Bäume und Unterholz bildeten aufs neue eine Mauer, die es zu durchdringen galt. Aber er hatte sich jetzt orientiert, kannte die Richtung. Ganz gleich, wie dicht das Gehölz auch war, er mußte einfach dafür sorgen, daß die letzten Strahlen der Sonne zu seiner Linken blieben, er mußte nach Norden laufen, dann würde er schließlich den Fluß erreichen. Kurze Explosionen ließen ihn herumfahren. Fünf Pistolenschüsse folgten in der Ferne dicht hintereinander. Es war leicht, sich das Ziel vorzustellen: Holz, das ein Schloß in der Tür einer Waldhütte umgab. Jemand hatte sich gewaltsam Zutritt zu seinem Gefängnis verschafft. Die Minuten liefen ab. Und dann hallten zwei deutlich zu unterscheidende Geräusche durch das zwielichtige Grün - zuerst die schrillen Töne einer Sirene und dann, sich in den hysterisch gellenden Lärm mischend, das Bellen rennender Hunde. Der Alarm war ausgelöst worden; jetzt würde jemand Kleidungsstücke und Laken aus seinem Bett gegen die Nasen der Hunde drücken, und dann würden die Jäger ihn hetzen, gnadenlos - ihre Beute stellen -, mit dem einzigen Ziel, ihn zu zerfleischen. Converse warf sich in die grüne Wand und lief, so schnell er konnte, wich aus, duckte sich, taumelte mit ausgestreckten Armen nach links und rechts, schob Äste und Zweige zur Seite, die ihm ins Gesicht peitschten, stolperte immer wieder über Wurzeln und Steine. Er stolperte so oft, daß er es nicht mehr zählen konnte, und jedesmal, wenn er sich wieder aufrappelte und Atem holte, konnte er das Bellen der Hunde irgendwo zwischen der Weggabelung und dem Ufergebüsch hören. Sie waren näher gekommen! Sie befanden sich jetzt im Wald, kläfften, knurrten, hatten nur das eine Ziel, ihr verhaßtes Opfer zu stellen. -3 5 8
Das Wasser! Er konnte das Wasser zwischen den Bäumen
sehen! Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, brannte salzig
in den Augen, ließ ihn die Kratzer und Schrammen am Hals und
im Gesicht deutlich spüren, durchtränkte sein Hemd. Die Hände
bluteten von der rauhen Borke, an der er immer wieder Halt
suchte.
Er stürzte, sein Fuß rutschte in ein Loch, das irgendein Tier
gegraben hatte, blieb hängen, und ein stechender Schmerz
schoß durch seinen Knöchel.
Er stand auf, zerrte an seinem Bein, befreite den Fuß und
versuchte, hinkend weiterzurennen. Die Hunde holten auf, ihr
Kläffen wurde lauter und wilder; sie hatten jetzt seine Witterung
aufgenommen, und der Geruch von frischem Schweiß stachelte
sie weiter an, wie rasend folgten sie seiner Spur.
Das Flußufer! Weicher Schlamm und Abfälle drehten sich im
ruhigen Wasser einer kleinen Bucht, bis die Strömung den
Unrat mit sich reißen würde. Joel griff nach dem Kolben der
Waffe des Chauffeurs, nicht um sie herauszuziehen, sondern
um sie im Gürtel zu sichern, während er ans Ufer hinunterhinkte
und nach dem besten Zugang zum Wasser Ausschau hielt.
Er hörte bis zum letzten Augenblick nichts - und da kam das
mächtige Brüllen aus den Schatten, und der riesige Leib eines
Tieres flog über das Flußufer, direkt auf ihn zu. Der riesige
Hundeschädel glich einer monströsen Fratze mit
Flammenaugen und aufgerissenem Maul, in dem die Zähne
weiß blitzten. Converse ließ sich auf die Knie fallen, der
Dobermann flog über seine rechte Schulter und riß ihm das
Hemd mit den Zähnen auf. Die Wucht des Aufpralls ließ das
Tier kopfüber in den Schlamm stürzen. Wild um sich
schnappend wälzte sich der Hund zur Seite und stemmte sich
auf den Hinterbeinen wieder hoch, um erneut zum Sprung
anzusetzen.
Converse hielt schon die Pistole in der Hand, feuerte, traf den
Schädel der Bestie, Blut und Hirnmasse spritzten auf.
Der Rest des Rudels stürzte jetzt aufs Ufer zu
ohrenbetäubendes Kläffen und Knurren verkündete das
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Herannahen der Meute. Joel warf sich ins Wasser und schwamm, so schnell er konnte, vom Ufer weg. Die Waffe behinderte ihn, aber er wußte, daß er sie nicht loslassen durfte. Vor Jahren - Jahrhunderten - hatte er verzweifelt eine Waffe gebraucht. Er hatte gewußt, daß sie den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutete, und hatte sich doch fünf Tage lang keine beschaffen können. Aber an jenem fünften Tag hatte er an den Ufern des Huong Khe eine gefunden. Halb untergetaucht war er an einer Streife vorbeigeschwommen, deren Anführer er zehn Minuten später flußabwärts entdeckte ein Mann vielleicht mit zornigen Gedanken, die ihn zu schnellerer Gangart angestachelt hatten, oder vielleicht gelangweilt, mit der Absicht, ein paar Augenblicke für sich allein zu sein. Wie auch immer. Converse hatte ihn mit einem Stein getötet, den er im Flußbett gefunden hatte, und ihm die Waffe abgenommen. Zweimal hatte er mit jener Waffe geschossen und sich zweimal dadurch das Leben gerettet. Bis er schließlich südlich von Phu Loc eine vorgeschobene Einheit der eigenen Truppen gefunden hatte. Während er jetzt gegen die Strömung des Rheins ankämpfte, erinnerte sich Joel plötzlich. Dies war der fünfte Tag seiner Gefangenschaft in Leifhelms Gefängnis, diesmal war es keine Dschungelzelle gewesen, aber nichtsdestoweniger Gefangenschaft. Er hatte es geschafft, er hatte es wirklich geschafft! Und am fünften Tage besaß er eine Waffe! Der Fluß lag jetzt im Schatten, die Uferböschung versperrte den Strahlen der sinkenden Sonne den Weg. Joel schwamm auf der Stelle und sah zurück. Am Ufer liefen die Hunde verwirrt im Kreis herum und beschnüffelten den getöteten Leithund. Plötzlich schössen breite Lichtbalken durch die Bäume. Converse schwamm weiter hinaus. Auch im Mekong hatte er die Suchscheinwerfer überlebt. Sie machten ihm auch jetzt keine Angst; er hatte das alles schon einmal erlebt und wußte, daß er gesiegt hatte. Er ließ sich von der Strömung in östliche Richtung treiben. Irgendwo würden Lichter sein, Lichter, die ihm Unterkunft versprachen und Zugang zu einem Telefon. Er mußte jetzt -3 6 0
seine Anklageschrift vorbereiten, und er würde es schaffen. Aber der Anwalt in ihm sagte ihm, daß ein Mann mit einer bandagierten Schußwunde, in durchnäßter Kleidung, der die Leute in einer fremden Sprache ansprach, den Gefolgsleuten von George Marcus Delavane nicht gewachsen sein konnte. Sie würden ihn finden. Er mußte es also anders anpacken. Mit irgendeiner List. Er brauchte ein Telefon. Er mußte ein Überseegespräch führen. Er mußte es schaffen! Der Rhein war jetzt seine Lebensader. Mit gleichmäßigen Zügen schwimmend, die Waffe immer noch in der Hand, sah er in der Ferne die Lichter eines Dorfes.
18 Valerie runzelte die Stirn, sie stand mit dem Telefonhörer am Ohr in ihrem Atelier. Ihr Blick wanderte über die von der Sonne beleuchteten Dünen vor den Glastüren, doch ihre Gedanken konzentrierten sich ganz auf die Worte, die sie hörte, Worte, die Dinge andeuteten, ohne sie auszusprechen. »Larry, was ist denn los?« unterbrach sie, weil sie einfach nicht länger an sich halten konnte. »Joel ist nicht nur Angestellter oder Juniorpartner; er ist Ihr Freund! Das klingt ja gerade, als wollten Sie eine Anklageschrift gegen ihn vorbereiten. Wie heißt das in Ihrer Juristensprache immer?.. . Indizienbeweis, das ist es. Er war hier, er war dort; jemand hat dies und jemand anderer jenes gesagt.« »Ich versuche zu begreifen, Val«, protestierte Talbot in seinem New Yorker Büro. »Und Sie müssen auch versuchen, es zu begreifen. Es gibt vieles, was ich Ihnen nicht sagen kann, weil Leute, auf deren Amt ich Rücksicht nehmen muß, von mir verlangt haben, daß ich wenig oder am besten überhaupt nichts sage. Ich lege diese Bitte ziemlich großzügig aus, weil Joel mein Freund ist und ich helfen möchte.« »Also gut, dann fangen wir noch einmal von vorne an«, sagte Valerie. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
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Talbot schwieg einen Augenblick, und dann stieß er die Worte schnell heraus, ganz leise, und wieder konnte man merken, daß sie ihm zuwider waren. »Es heißt, er hätte ohne jeden Grund einen Mann in Paris angegriffen. Der Mann ist gestorben.« »Nein, das ist unmöglich! Das hat er nicht getan. Das könnte er gar nicht tun!« »Das hat er mir auch gesagt, aber er hat gelogen. Er sagte mir, er sei in Amsterdam, aber das war er nicht. Er sagte, er würde nach Paris zurückkehren, um das aufzuklären, aber das hat er nicht getan. Er war in Deutschland - er ist immer noch irgendwo in Deutschland. Er hat das Land noch nicht verlassen und wird von Interpol gesucht; die suchen überall. Man hat ihn aufgefordert, sich der amerikanischen Botschaft zu stellen, aber das hat er abgelehnt. Er ist verschwunden.« »O mein Gott, ihr seht das alles völlig falsch]« platzte Valerie heraus. »Ihr kennt ihn nicht! Wenn das passiert ist, was Sie sagen, dann ist er als erster angegriffen worden - körperlich angegriffen - und hatte keine andere Wahl als zurückzuschlagen.« »Ein unparteiischer Zeuge, der keinen der beiden Männer kannte, hat es anders dargestellt.« »Dann ist er nicht unparteiisch, dann lügt er! ... Hören Sie, ich habe vier Jahre lang mit diesem Mann zusammengelebt, und abgesehen von ein paar kurzen Reisen die ganze Zeit hier in New York City. Ich habe selbst gesehen, wie er von Betrunkenen angegriffen wurde - von Gaunern, die er einfach hätte zusammenschlagen können, vielleicht hätte er das manchmal auch tun sollen -, aber ich habe kein einziges Mal erlebt, daß er auch nur einen Schritt nach vorn getan hätte. Er hat nur die Hände gehoben und ist weitergegangen . . .« »Val, ich möchte Ihnen glauben. Ich möchte glauben, daß es Notwehr war, aber er ist weggelaufen, er ist verschwunden. Die Botschaft kann ihm helfen, ihn schützen, aber er will sich nicht stellen.«
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»Dann hat er Angst. Das ist möglich, aber es dauerte immer nur
ein paar Minuten, gewöhnlich nachts, wenn er aufwachte. Er
schoß dann in die Höhe, die Augen so fest zusammengepreßt,
daß sein ganzes Gesicht nur aus Falten bestand. Aber es hat
nie lange gedauert, und er sagte, das sei etwas völlig
Natürliches, und ich sollte mir keine Sorgen machen - er täte
das auch nicht, hat er gesagt. Und ich glaube, das stimmte
auch; er wollte, daß das alles in seiner Vergangenheit begraben
blieb, er hat nie etwas davon erwähnt, aber... Genf. Diese
schreckliche Sache in Genf!«
»Wenn da eine Verbindung vorliegt - und daran haben Nathan
und ich natürlich sofort gedacht -, dann steckt die so tief
vergraben, daß man nichts herausfinden kann.«
»Aber so muß es sein. Dort hat alles angefangen.«
»Vorausgesetzt, daß Ihr Mann bei Verstand ist.«
»Er ist nicht mein Mann, und er ist bei Verstand!« »Die Narben,
Val. Es muß Narben gegeben haben. Sie haben mir da recht
gegeben.«
»Aber nicht die Art Narben, von der Sie sprechen. Er würde
niemanden töten oder lügen oder wegrennen. Das ist nicht
Joel! Das paßt nicht zu ihm - hat nie zu ihm gepaßt!«
»Sie sind erregt.«
»Da haben Sie verdammt recht, daß ich das bin. Weil Sie nach
Erklärungen suchen, die zu dem passen, was man Ihnen
gesagt hat. Was jene Leute Ihnen gesagt haben, von denen Sie
behaupten, Sie müßten sie respektieren.«
»Nur in dem Sinne, daß sie sehr gut informiert sind - sie haben
Zugang zu Informationen, die uns versperrt sind. Und dahinter
steht die Tatsache, daß diese Leute nicht die leiseste Ahnung
davon hatten, wer Joel Converse war, bis die Anwaltskammer
ihnen die Adresse und Telefonnummer von Talbot, Brooks and
Simon gegeben hat.«
»Und Sie haben ihnen geglaubt? Bei alldem, was Sie über
Washington wissen, haben Sie das denen einfach
abgenommen? Wie oft ist denn Joel von einer Reise nach
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Washington zurückgekommen und hat zu mir genau das Gegenteil gesagt? >Larry sagt, die lügen. Die wissen nicht, was sie tun sollen, also lügen sie.<« »Valerie«, sagte der Anwalt streng. »Hier geht es nicht um eine bürokratische Freigabe, und nach all den Jahren glaube ich, daß ich durchaus den Unterschied zwischen jemandem, der ein Spielchen treibt, und einem Mann, der wirklich zornig ist, erkennen kann - zornig und besorgt, sollte ich vielleicht hinzufügen. Der Mann, der an mich herangetreten ist, war ein Undersecretary of State - ich habe zurückgerufen, um sicherzugehen -, er hat mir nichts vorgespielt. Er war wütend, erschüttert, und, wie ich schon sagte, ein sehr besorgter Mann.« »Was haben Sie ihm gesagt?«
»Die Wahrheit natürlich. Nicht nur, weil das das Richtige war,
sondern auch, weil es Joel nichts nützen würde, wenn ich es
nicht getan hätte. Wenn er krank ist, braucht er Hilfe, nicht
einen Komplizen.«
Valerie starrte auf die Reflexe der untergehenden Sonne auf
den Wellen vor Cap Ann hinaus. »Larry, ich habe Angst.« Chaim Abrahms trat ins Zimmer, der Tritt seiner schweren Stiefel hallte durch den Raum. »Er hat es also geschafft!« schrie der Israeli. »Die Mossad hat recht gehabt, er ist ein Höllenhund!« Erich Leifhelm saß hinter seinem Schreibtisch. Außer ihm war niemand in dem Arbeitszimmer, dessen Wände mit Bücherregalen bedeckt waren. »Streifen, Alarm, Hunde!« rief der Deutsche und schlug mit der Faust auf die rote Schreibunterlage. »Wie hat er das nur angestellt?« »Ich wiederhole - ein Höllenhund -, so hat unser Spezialist ihn genannt. Je länger man ihn zurückhält, desto zorniger wird er. Das reicht weit zurück. Also beginnt unser provocateur seine Odyssee, ehe wir es geplant haben. Hatten Sie Verbindung mit den anderen?« -3 6 4
»Ich habe London angerufen«, sagte Leifhelm und atmete tief
ein. »Er wird Paris verständigen, und dann wird Bertholdier die
Einheiten aus Marseille kommen lassen, eine nach Brüssel und
die andere hierher nach Bonn. Wir dürfen keine Stunde
verlieren.«
»Sie suchen ihn natürlich.«
»Selbstverständlich! Jeder Zentimeter des Rheinufers wird in
beiden Richtungen abgesucht. Jede Seitenstraße, jeder Weg,
der vom Fluß in die Stadt führt.«
»Er kann Ihnen entkommen, das hat er bewiesen.«
»Wo soll er denn hingehen? Zu seiner eigenen Botschaft? Dort
ist er ein toter Mann. Zur Polizei von Bonn? Man wird ihn in
einen gepanzerten Wagen stecken und hierher zurückbringen.
Er kann nirgend wohin.«
»Das habe ich gehört, als er Paris verließ, und ein zweites Mal,
als er nach Bonn flog. An beiden Orten sind Fehler begangen
worden, die beide viele Stunden gekostet haben. Ich sage
Ihnen, ich mache mir jetzt mehr Sorgen als irgendwann in drei
Kriegen und einem ganzen Leben voller Gefechte.«
»Seien Sie doch vernünftig, Chaim, und versuchen Sie, ruhig
zu bleiben. Er besitzt keine Papiere, keinen Paß, kein Geld. Er
spricht nicht Deutsch...«
»Geld hat er!« schrie Abrahms, der sich plötzlich erinnerte. »Als
er unter Drogen stand, sprach er von einer großen Summe, die
man ihm in Genf versprochen und in Mykonos übergeben hat.«
»Und wo ist das Geld?« fragte Leifhelm. »In diesem
Schreibtisch, da ist es. Fas t siebzigtausend amerikanische
Dollar. Er hat nichts in der Tasche, keine Uhr, keinen Schmuck.
Ein Mann in schmutziger, durchnäßter Kleidung, ohne Papiere,
ohne Geld - wenn der irgend jemandem weismachen will, daß
General Leifhelm ihn eingesperrt hat, dann würde man ihn ohne
Zweifel als Vagabund oder Psychopath oder beides ins
Gefängnis stecken. Und in diesem Falle werden wir sofort
informiert, und dann bringen ihn unsere Leute zu uns. Und
bedenken Sie auch eines, morgen früh um zehn Uhr macht das
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überhaupt keinen Unterschied mehr. Das war Ihr Beitrag, ein
geschickter Schachzug der Mossad.«
Abrahms stand vor dem riesigen Schreibtisch, die Arme vor
seiner Safarijacke verschränkt. »Also haben der Jude und der
Feldmarschall alles in Bewegung gesetzt. Ist das nicht spaßig,
Nazi?«
»Nicht so spaßig, wie Sie denken, Jude. Das Unreine liegt
ebenso wie das Schöne im Auge des erschreckten Betrachters.
Sie sind nicht mein Feind, das waren Sie nie. Wenn damals
mehr Leute Ihre Überzeugung, Ihren Mut besessen hätten,
hätten wir nie den Krieg verloren.«
»Das weiß ich«, sagte Abrahms. »Ich habe zugesehen und
gelauscht, als ihr am Kanal standet. Damals habt ihr den Krieg
verloren. Ihr wart schwach.«
»Das waren nicht wir! Das waren diese feigen Anfänger in
Berlin!«
»Dann sorgen Sie nur dafür, daß die aus dem Spiel bleiben,
wenn wir eine wahrhaft neue Ordnung schaffen, Deutscher. Wir
können uns Schwäche nicht leisten.«
»Sie machen es mir nicht leicht, Chaim!«
»Das ist auch nicht meine Absicht.«
Joel schwamm, so schnell er konnte, auf das Ufer zu und
tauchte jedesmal unter Wasser, wenn ein Scheinwerferbalken
auf ihn zukam. Das Boot war eine große Motorbarkasse, deren
tieftönende Motoren erkennen ließen, über wieviel Kraft sie
verfügten. Das Boot hielt sich dicht am Ufer und schoß dann
wieder in die Flußmitte, wenn dort irgendein Gegenstand zu
sehen war.
Converse spürte unter sich weichen Schlamm; halb schwamm
er, halb kroch er auf den dunkelsten Punkt am Ufer zu, die
Pistole des Chauffeurs sicher im Gürtel. Jetzt näherte sich das
Boot wieder, und sein greller Scheinwerferstrahl studierte jeden
Flecken Wasser, jeden Ast und jeden Zweig im Ufergehölz.
Joel atmete tief ein und tauchte langsam unter, das Gesicht
nach oben gewandt, die Augen offen, sein Gesichtsfeld ein
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schlammiges, verschwommenes Stück Wasseroberfläche. Der Scheinwerferstrahl wurde heller und schien eine Ewigkeit lang über ihm zu schweben. Joel schob sich etwas nach links, dann entfernte sich der Lichtstrahl. Jetzt tauchte Joel auf, die Lungen drohten ihm zu bersten; doch er wußte, daß er keinen Laut von sich geben durfte. Er durfte jetzt seine Lungen nicht mit Luft vollpumpen. Denn über ihm, unmittelbar, weniger als zwei Meter entfernt, ragte das breite Heck der Motorbarkasse auf und dümpelte im Wasser, als hätte man die Maschinen gestoppt. Die dunkle Gestalt eines Mannes spähte durch einen riesigen Feldstecher ans Flußufer. Converse war verwirrt; es war viel zu dunkel, als daß man irgend etwas hätte sehen können. Dann erinnerte er sich wieder und begriff, weshalb das Glas so groß war. Der Mann betrachtete das Ufer durch ein Infrarotglas; die Streifen in Südostasien hatten sie benutzt, und sie hatten häufig den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Sie ließen Gegenstände in der Finsternis erkennen; Soldaten, Wachen, alles. Lautlos tauchte Converse wieder unter und schwamm an dem Boot vorbei. Sekunden später hob er den Kopf wieder über das Wasser. Jetzt hatte er ein freies Blickfeld und begann die eigenartigen Manöver von Leifhelms Streife zu verstehen. Hinter der dunkelsten Stelle des Flußufers, wo er Zuflucht gesucht hatte, waren die Lichter, die er vor acht oder neun Minuten gesehen hatte. Er hatte geglaubt, es handle sich um die Lichter eines kleinen Dorfes, aber so etwas gab es in diesem Teil der Welt nicht. Das Licht kam vielmehr von vier oder fünf kleinen Häusern, einer Flußkolonie mit einer gemeinsamen Anlegestelle, vielleicht Sommerhäuser von wohlhabenden Leuten. Aber wenn da Häuser und eine Anlegestelle waren, dann mußte es auch eine Straße geben - eine Zufahrt zu den Straßen, die nach Bonn und in die umliegenden Städte führten. Leifhelms Männer kämmten jeden Zentimeter Boden am Ufer ab, vorsichtig, lautlos, und die Lichtbalken der Scheinwerfer waren nach unten gerichtet, um die Bewohner nicht zu -3 6 7
alarmieren oder den Flüchtling zu warnen, falls der die Häuser schon erreicht hatte und zu den Straßen unterwegs war. In mancher Hinsicht war es für Joel wieder so wie auf dem Huong Khe, nur daß die Hindernisse, die ihm diesmal im Wege standen, viel weniger primitiv, aber um nichts weniger tödlich waren. Und damals, ebenso wie jetzt, galt es zu warten, in dem schwarzen Schweigen zu warten, den Jägern die Initiative zu überlassen. Plötzlich schob sich die Barkasse an die Anlegestelle heran, ihre kräftigen Doppelschrauben wühlten das Wasser auf, ein Mann sprang mit einer schweren Leine vom Bug und befestigte sie an einem Poller. Weitere Männer folgten, hasteten über die kurze Pier und die Böschung hinauf, trennten sich und liefen auf das erste Haus zu. Was sie taten, war offensichtlich: ein Mann würde sich an dem Gebüsch neben der Einfahrt postieren, während seine Kollegen bei den Hausbewohnern nachfragten, ob man jemandem Zuflucht gewährt hätte - die Nervosität würde die Bewohner verraten, angsterfüllte Blicke oder Schlammspuren auf dem Boden. Joels Arme und Beine begannen sich wie schwere Gewichte anzufühlen, die er kaum halten, geschweige denn bewegen konnte, aber er hatte keine Wahl. Der Scheinwerferbalken tastete immer wieder den Uferstreifen auf und ab. Ein Kopf, der im falschen Augenblick durch die Wellen kam, würde sofort zur Zielscheibe werden. Huong Khe. Du mußt im Schilf bleiben. Tu es! Du darfst nicht sterben! Er wußte, daß er höchstens dreißig Minuten warten mußte, aber ihm kam es vor wie dreißig Stunden oder dreißig Tage auf dem Folterbett. Schließlich sah er mit wassergefüllten Augen, wie die Männer zurückkehrten. Einer, zwei... drei? ... Sie rannten an die Anlegestelle hinunter zu dem Mann, der die Leine festgemacht hatte. Nein! Der Mann, der beim Boot geblieben war, war nach vorn gelaufen! Joels Augen tränten und begannen ihn zu täuschen! Nur zwei Männer waren auf das Dock gelaufen und der erste hatte sich zu ihnen gesellt, Fragen gestellt. Jetzt lief er zu dem Poller zurück und löste die Leine; die zwei anderen sprangen an Bord. Der erste Mann -3 6 8
schloß sich wieder seinen Gefährten an, die jetzt am Bug der Barkasse standen - nur einen hatten sie am Ufer zurückgelassen, einen einsamen Beobachter, der irgendwo unsichtbar zwischen dem Flußufer und der Straße Wache hielt. Huong Khe. Ein Posten, der sich von seiner Streife getrennt hatte. Die Motorbarkasse löste sich vom Dock und schoß kaum zwei Meter von Joel entfernt vorbei, und die Kielwelle traf ihn mit voller Wucht. Wieder hielt das Boot auf das Ufer zu und verlangsamte seine Fahrt. Der Scheinwerfer spähte noch einmal in das dichte Grün, dann nahm das Boot Kurs nach Westen, zurück zu Leifhelms Villa. Converse hielt den Kopf über Wasser, den Mund weit geöffnet, schluckte alle Luft, die er aufnehmen konnte, während er sich langsam - ganz langsam auf das Ufer zubewegte. Er zog sich im nassen Schilf in die Höhe, bis er trockenen Boden unter sich fühlte. Huong Khe. Er zog das Grün so nahe an sich heran, daß es schließlich sein Gesicht bedeckte. Er wollte ausruhen, bis er spürte, wie das Blut wieder gleichmäßig durch seinen Körper pulste, bis seine Nackenmuskeln sich entspannten - es war immer der Nacken; das war das Warnsignal -, erst dann konnte er sich mit dem Mann befassen, der auf dem dunklen Hügel über ihm Wache hielt. Er hatte ein wenig vor sich hin gedöst, bis ihn eine klatschende Welle wieder in die Wirklichkeit zurückrief. Er schob Äste und Blätter von seinem Gesicht und sah auf die Uhr des Chauffeurs, die er sich über das Handgelenk gestreift hatte, sah mit zusammengekniffenen Augen auf das schwache Leuchtzifferblatt. Er hatte fast eine Stunde geschlafen - unruhig zwar, und jedes noch so leise Geräusch hatte ihn die Augen wieder öffnen lassen, aber er hatte sich ausgeruht. Er rollte den Kopf hin und her, bewegte Arme und Beine. Alles tat immer noch weh, aber der bohrende Schmerz war verschwunden. Und jetzt mußte er sich um den Mann kümmern, der auf dem Hügel über ihm lauerte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Natürlich hatte er Angst, aber sein Zorn würde diese Angst unter Kontrolle halten; er wußte das aus Erfahrung. -3 6 9
Er kroch auf Händen und Füßen durch das Buschwerk, das den Feldweg säumte, der sich vom Fluß den Hügel hinauf schlängelte. Jedesmal, wenn ein Zweig knackte oder sich ein Stein löste, hielt er inne und wartete darauf, daß der Augenblick sich wieder in die Geräusche des Waldes auflöste. Immer wieder sagte er sich, daß er im Vorteil war; niemand erwartete ihn. Das half ihm, der Angst vor der Dunkelheit entgegenzuwirken und dem Wissen, daß ihm eine physische Konfrontation bevorstand. So wie der vietnamesische Streifensoldat verjähren am Huong Khe, besaß der Mann über ihm Dinge, die er brauchte. Der Kampf war nicht zu vermeiden, es war also am besten, nicht darüber nachzudenken. Er mußte alle Gefühle aus seinem Bewußtsein löschen und es einfach tun. Aber auf die richtige Weise, auch das mußte er sich klarmachen. Es durfte kein Zögern geben - kein Eindringen von Gedanken - und keinen Schuß, nur kalten Stahl. Er sah ihn, eine Silhouette, die sich im fernen Schein einer einzeln stehenden Straßenlampe weit oben abzeichnete. Der Mann stand - lehnte - an einem Baumstamm und blickte nach unten. Er stand so, daß er alles sehen konnte, was sich unter ihm abspielte. Die Wegstücke, die Joel auf Händen und Knien zurücklegte, schrumpften auf wenige Zentimeter zusammen, die Pausen, die er einlegte, wurden häufiger, die Stille immer wichtiger. Langsam arbeitete er sich in einem Bogen an dem Baum und dem Mann vorbei und setzte sich dann wieder nach unten in Bewegung, eine große Katze, die auf ihr Opfer herabsteigt. Das Bewußtsein ausgeschaltet, eine Maschine ohne Gefühle, nur vom Überlebensinstinkt getrieben. Er war wieder zum Raubtier geworden, das er einmal vor langer Zeit gewesen war, und der Wunsch zu fliehen, nach Zugang zu einem Telefon, überlagerte alles andere. Jetzt war er nur noch anderthalb Meter von dem Mann entfernt; er konnte seinen Atem hören. Unter ihm knackte etwas! Ein Ast! Der Mann drehte sich herum, seine Augen leuchteten in dem schwachen Licht. Converse warf sich nach vorn, den Pistolenlauf fest in der Hand. Er ließ den stählernen Kolben auf die Schläfe des Deutschen herunterkrachen, zog den Arm -3 7 0
zurück und schmetterte ihn gegen die Kehle des Mannes. Der
Wachposten stürzte nach hinten, benommen, aber nicht
bewußtlos. Er setzte zu einem Schrei an. Jetzt schnellte Joel
vor, nahm seinen Gegner in den Würgegriff und schmetterte
ihm den Kolben der Waffe gegen die Stirn, daß Blut und rote
Hautfetzen aufspritzten.
Stille. Keine Bewegung. Wieder war ein Späher, der sich von
seiner Streife getrennt hatte, ausgeschaltet. Und so, wie dies
auch vor Jahren gewesen war, erlaubte sich Converse keinerlei
Gefühle. Es war getan, er mußte weiter.
Die trockenen Kleider des Mannes paßten einigermaßen, auch
die dunkle Lederjacke. Die Brieftasche des Deutschen erwies
sich als Glücksfall. Sie enthielt eine beträchtliche Geldsumme
und einen abgegriffenen Paß mit vielen Stempeln. Offenbar
reiste dieser Vertraute Leifhelms ziemlich häufig für Aquitania.
Die Schuhe des Mannes paßten nicht. Also benutzte Converse
seine durchnäßten Kleider dazu, die eigenen zu säubern. Die
trockenen Socken des Deutschen schützten ihn etwas vor der
Feuchtigkeit des Leders. Dann deckte er den Mann mit
Zweigen zu und ging die Böschung hinauf zur Straße.
Er hielt sich zwischen den Bäumen versteckt, während fünf
Wagen vorüberrollten, alles Limousinen, die vielleicht alle Erich
Leifhelm gehörten. Dann sah er einen hellgelben Volkswagen
auftauchen, trat vor und hob beide Hände, die Geste eines in
Schwierigkeiten geratenen Mannes.
Der Wagen hielt; auf dem Beifahrersitz saß ein blondes
Mädchen, der Fahrer war höchstens achtzehn oder zwanzig,
und auf dem Rücksitz saß ein weiterer junger Mann, der
ebenfalls blond war und aussah, als könnte er der Bruder des
Mädchens sein.
»Was is'n los, Opa?« fragte der Fahrer.
»Tut mir leid, ich spreche nicht Deutsch. Sprechen Sie
Englisch?«
»Etwas«, sagte der Junge auf dem Rücksitz. »Besser als die
zwei! Die haben ja nichts anderes als Bumsen im Sinn. Sehen
Sie? Spreche ich Englisch?«
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»Allerdings, und sehr gut. Würden Sie den beiden mein
Anliegen erklären? Um es offen zu sagen, ich hatte auf einer
Party eine Auseinandersetzung mit meiner Frau und möchte
nach Bonn zurück. Ich bezahle Sie natürlich.«
»Ein Streit mit seiner Frau! Er will nach Bonn. Er wird uns
bezahlen.«
»Warum nicht? Sie hat mich heute sowieso schon zuviel
gekostet«, sagte der Fahrer.
»Nicht für das, was du kriegst, du Drecksack!« rief das
Mädchen und lachte.
»Steigen Sie ein! Wir sind Ihre Chauffeure. In welchem Hotel
wohnen Sie?«
»Eigentlich möchte ich am liebsten nicht dorthin zurück. Ich bin
wirklich sehr verärgert. Ich möchte ihr eine Lektion erteilen und
heute wegbleiben. Glauben Sie, Sie könnten ein Zimmer für
mich finden? Ich bezahle natürlich dafür. Offen gestanden,
habe ich selbst ein wenig getrunken.«
»Ein betrunkener Tourist. Er will ein Hotel. Fahren wir ihn ins
Rosencafe?«
»Dort gibt es mehr Nutten als der alte Knacker schafft.«
»Wir machen das schon, Amerikaner«, meinte der junge Mann
neben Converse. »Wir sind Studenten von der Universität und
werden nicht nur ein Zimmer für Sie finden, sondern Sie haben
noch dazu die Chance, sich an Ihrer Frau ein wenig zu rächen.
Spendieren Sie uns ein Bier?«
»Soviel Sie wollen. Außerdem würde ich gerne telefonieren. Mit
den Vereinigten Staaten - geschäftlich. Wird das dort gehen?«
»Viele Leute in Bonn sprechen Englisch. Wenn die Vermittlung
im Rosencafe nicht Bescheid weiß, dann kümmere ich mich
darum. Aber sechs Bier für jeden von uns, geht das klar?«
»Zwölf, wenn Sie wollen.«
»Da wird es aber eine Überschwemmung geben!«
In dem billig wirkenden Cafe - es handelte sich um eine
heruntergekommene Bar, die hauptsächlich von
Universitätsstudenten besucht wurde - zählte er das Geld, das
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er den beiden Deutschen abgenommen hatte, und stellte fest,
daß es sich um etwa zwölfhundert Mark handelte, wobei mehr
als achthundert von dem Mann auf dem Hügel stammten. Ein
ungepflegter Angestellter am Empfang erklärte in
schwerfälligem Englisch, daß die Vermittlung durchaus
imstande wäre, eine Verbindung nach Amerika herzustellen,
daß es aber ein paar Minuten dauern würde. Joel gab seinen
jugendlichen Samaritern hundert Mark und ging auf sein
Zimmer. Eine Stunde später wurde das Gespräch schließlich
durchgestellt. »Larry?«
»Joel?«
»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« rief Converse erleichtert.
»Sie ahnen gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu erreichen. Von
hier aus durchzukommen, dauert eine Ewigkeit.«
»Wo sind Sie denn, Joel?« fragte Talbot, dessen Stimme
plötzlich ruhig und kontrolliert wirkte.
»In einem sogenannten Hotel, etwas außerhalb von Bonn. Ich
bin gerade erst angekommen und habe den Namen nicht
mitgekriegt.«
»Sie sind in einem Hotel in Bonn und wissen nicht, wie es
heißt?«
»Das ist jetzt unwichtig, Larry. Holen Sie Simon an den
Apparat. Ich möchte mit Ihnen beiden sprechen. Schnell.«
»Nathan ist bei Gericht. Er wird bis etwa vier Uhr zurück sein
nach unserer Zeit. Das ist in etwa einer Stunde.«
»Verdammt!«
»Beruhigen Sie sich, Joel. Sie dürfen sich nicht aufregen.«
»Mich nicht aufregen...? Herrgott, ich war fünf Tage in einer Steinhütte mit Eisenstangen vor den Fenstern eingesperrt. Vor ein paar Stunden bin ich ausgebrochen, wie der Teufel durch den Wald gerannt und hinter mir ein Rudel Hunde und Verrückte mit Pistolen. Dann habe ich eine Stunde im Wasser verbracht und wäre dabei fast ertrunken, ehe ich an Land gehen konnte, ohne daß man mir eine Kugel in den Kopf jagte. Und dann mußte ich - mußte ich...« -3 7 3
»Was mußten Sie, Joel?« fragte Talbot, dessen Stimme immer noch eigenartig passiv klang. »Was mußten Sie tun?« »Verdammt noch mal, Larry. Vielleicht habe ich einen Menschen getötet, um durchzukommen!«
»Sie mußten jemanden töten, Joel? Warum glaubten Sie, das
tun zu müssen?«
»Er hat auf mich gewartet! Die suchen nach mir! Am Ufer, in
den Wäldern am Flußufer - er war ein Scout, der sich von
seiner Streife getrennt hatte. Seouls, Streifen! Ich mußte raus,
mußte entkommen. Und Sie sagen mir, ich soll mich nicht
aufregen!«
»Beruhigen Sie sich, Joel. Versuchen Sie doch, sich
zusammenzureißen ... Sie sind doch schon einmal entkommen,
oder? Vor langer Zeit...«
»Was hat das denn damit zu tun?« unterbrach ihn Converse.
»Damals mußten Sie auch Leute töten, nicht wahr? Ich wette,
die Erinnerung daran läßt Sie nicht los.«
»Larry, das ist doch Unsinn! Hören Sie mir zu und schreiben
Sie alles auf, was ich Ihnen sage - die Namen, die ich nenne,
die Fakten -, Sie müssen das alles aufschreiben.«
»Vielleicht sollte ich Janet an das Telefon holen. Sie
stenografiert viel...«
»Nein! Nur Sie, sonst niemand! Die können Leute ausfindig
machen, jeden, der etwas weiß. Es ist nicht so kompliziert. Sind
Sie so weit?«
»Natürlich.« Joel setzte sich auf das schmale Bett und atmete
tief.
»Am besten formuliert man es so - so, wie man es mir
gegenüber formuliert hat, aber das brauchen Sie nicht
aufzuschreiben, nur verstehen müssen Sie es -, daß sie
zurückgekommen sind.«
»Wer?«
»Die Generale... die Feldmarschälle, die Admirale, die
Obristen... Verbündete und Feinde, alles Männer von
Kommandeursrang und darüber. Sie sind von überall her
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zusammengekommen, um die Dinge zu verändern, um die
Regierungen, die Gesetze und die Außenpolitik zu verändern,
und alles soll auf militärischen Entscheidungen beruhen... Es ist
verrückt, aber die könnten es schaffen. Wir würden nach ihrem
Willen leben müssen, weil sie uns unter Kontrolle hätten, weil
die glauben, daß sie recht haben und selbstlos sind - so wie sie
das immer geglaubt haben.«
»Wer sind diese Leute, Joel?«
»Ja, schreiben Sie das auf. Die Organisation nennt sich
Aquitania. Sie basiert auf einer historischen Theorie, daß die
Region in Frankreich, die sich einmal Aquitania nannte, ganz
Europa hätte werden können, und dazu - als Kolonie - auch der
nordamerikanische Kontinent.«
»Wessen Theorie?«
»Das ist nicht wichtig, es ist nur eine Theorie. Die Organisation
ist von General George Delavane erdacht worden - man kannte
ihn in Vietnam unter dem Namen >Mad Marcus< -, und ich
habe nur einen winzigen Bruchteil des Unheils gesehen, das
dieser Hurensohn angerichtet hat! Er hat Militärpersonal von
überall zusammengezogen, und die sind jetzt ausgeschwärmt
und rekrutieren ihresgleichen, Fanatiker, die dasselbe glauben
wie sie, nämlich, daß ihr Weg der einzige ist. Im vergangenen
Jahr haben sie illegale Waffen an Terroristengruppen verschickt
und überall, wo sie konnten, Unruhe angezettelt. Ihr Endziel ist
es, daß man sie ruft, um die Ordnung wiederherzustellen, und
dann werden sie die Macht übernehmen... Vor fünf Tagen war
ich mit Delavanes Schlüsselfiguren aus Frankreich,
Deutschland, Israel und Südafrika zusammen - und
wahrscheinlich auch mit jemandem aus England.«
»Sie haben sich mit diesen Leuten getroffen, Joel? Die haben
Sie zu einer Konferenz eingeladen?«
»Sie dachten, ich sei einer der ihren, ich würde an das glauben,
was sie planen. Sehen Sie, Larry, die wußten nicht, wie sehr ich
sie hasse. Die haben nicht das erlebt, was ich erlebt habe,
haben nicht das gesehen, was ich gesehen habe... wie Sie
schon sagten, damals, vor Jahren.«
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»Als Sie fliehen mußten«, fügte Talbot mitfühlend hinzu. »Als
Sie Menschen töten mußten - eine Zeit, die Sie nie vergessen
werden. Das muß schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Ja, das war es. Verdammt, ja! Tut mir leid, bleiben wir bei der
Sache. Ich bin so müde - und außerdem habe ich
wahrscheinlich immer noch Angst.«
»Sie müssen sich beruhigen, Joel.«
»Sicher. Wo war ich?« Converse rieb sich die Augen. »O ja.
Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie haben Informationen über
mich bekommen, Informationen aus meiner Dienstakte über
meine Gefangenschaft. Die haben sie sich irgendwie beschafft
und herausgefunden, wer und was ich gewesen bin. Sie haben
mich unter Drogen gesetzt, mich ausgequetscht und mich in
eine verdammte Steinhütte geworfen, die mitten im Wald
irgendwo über dem Rhein stand. Unter dem Einfluß der
Chemikalien muß ich ihnen alles gesagt haben, was ich wußte.
..«
»Chemikalien?« fragte Talbot, der den Begriff offenbar noch nie
gehört hatte.
»Amatol, Pentothal, Scopolamin. Ich habe das alles schon
einmal mitgemacht, Larry. Vorwärts und rückwärts.«
»Ja? Wo?«
»In den Lagern. Das ist jetzt unwichtig.«
»Da bin ich nicht so sicher.«
»Doch. Worauf es ankommt, ist, daß sie herausgefunden
haben, was ich weiß. Das bedeutet, daß sie ihren Zeitplan
beschleunigen werden.«
»Ihren Zeitplan?«
»Wir befinden uns im Countdown. Jetzt. Zwei Wochen, drei,
allerhöchstens vier! Niemand weiß, wer oder was die Ziele sind,
aber es wird überall zu Ausbrüchen von Gewalt und
Terrorismus kommen, und das liefert ihnen den Vorwand,
einzuschreiten. Im Augenblick ziehen in Nordirland - dort ist
alles in Stücke geflogen, dort herrscht nichts als Chaos - ganze
Panzerdivisionen auf. Sie haben das getan, Larry! Das ist ein
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Test, ein Probelauf für sie!.... Ich nenne Ihnen jetzt die Namen.«
Und das tat Converse und war gleichzeitig überrascht und
verärgert, daß Talbot auf keinen der Männer von Aquitania
reagierte. »Haben Sie sie?«
»Ja.«
»Das sind die wichtigsten Fakten und Namen, für die ich mich
verbürgen kann. Es gibt noch eine Menge mehr - Leute im
State Department und im Pentagon, aber die Listen sind in
meinem Aktenkoffer, und den hat man mir gestohlen oder
irgendwo versteckt. Ich werde jetzt etwas ausruhen und dann
anfangen, alles aufzuschreiben, was mir einfällt, und Sie dann
morgen früh noch einmal anrufen. Ich muß hier raus. Ich werde
Hilfe brauchen.«
»Da bin ich Ihrer Ansicht, darf ich jetzt auch einmal reden?«
sagte der Anwalt in New York mit jener eigenartig
ausdruckslosen Stimme. »Zuerst einmal, wo sind Sie, Joel?
Sehen Sie sich das Telefon an oder lesen Sie die Aufschrift auf
einem Aschenbecher - oder sehen Sie im Schreibtisch nach, es
muß doch Papier dasein.«
»Hier ist kein Schreibtisch, und die Aschenbecher sind aus
zersprungenem Glas... Augenblick, ich habe mir an der Bar
Streichhölzer mitgenommen, als ich Zigaretten kaufte.«
Converse griff in die Tasche der Lederjacke und holte die
Streichhölzer heraus. »Da. >Riesendrinks<.«
»Sehen Sie nach, was darunter steht. Meine deutschen
Sprachkenntnisse sind ziemlich beschränkt, aber ich glaube,
das heißt >Große Drinks< oder so etwas.«
»Oh? Dann muß es das sein. >Rosencafe<.«
»Das klingt eher danach. Buchstabieren Sie, Joel.« Das tat
Converse, wobei ihn ein unerklärliches Gefühl beunruhigte.
»Haben Sie's?« fragte er. »Hier ist eine Telefonnummer.« Joel
las die Nummer vor, die auf dem Streichholzbriefchen
eingedruckt war.
»Gut, ausgezeichnet«, sagte Talbot. »Aber ehe Sie auflegen
und ich weiß, daß Sie dringend ausruhen müssen -, habe ich
noch ein paar Fragen.«
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»Das will ich hoffen!«
»Als wir das letztemal sprachen, nachdem dieser Mann in Paris
verletzt worden war, nach diesem Kampf, den Sie in der
Seitenstraße sahen, sagten Sie mir, Sie seien in Amsterdam.
Sie sagten, Sie würden nach Paris zurückfliegen und Rene
aufsuchen und alles aufklären. Warum haben Sie das nicht
getan, Joel?«
»Herrgott, Larry, ich habe Ihnen doch gerade gesagt, was ich
durchgemacht habe! Ich brauchte jede Minute, die mir zur
Verfügung stand, um alles vorzubereiten. Ich war hinter diesen
Leuten her - diesem gottverdammten Aquitania -, und dafür gab
es nur diese eine Möglichkeit. Ich mußte mich bei denen
einschleichen, ich durfte keine Zeit vergeuden.«
»Dieser Mann ist gestorben. Hatten Sie etwas mit seinem Tod
zu tun?«
»Herrgott, ja, ich habe ihn getötet. Er hat versucht, mich
aufzuhalten, alle haben sie versucht, mich aufzuhalten! Sie
fanden mich schließlich in Kopenhagen und ließen mich
beschatten. Am Flughafen hier haben sie auf mich gewartet.
Das war eine Falle!«
»Um Sie daran zu hindern, diese Männer zu erreichen, diese
Generale und Feldmarschälle?«
»Ja!«
»Und doch haben Sie mir gerade gesagt, daß eben diese
Männer Sie eingeladen hätten, sich mit ihnen zu treffen.«
»Ich werde Ihnen das alles morgen früh erklären«, sagte
Converse müde. Die Anspannung der letzten Stunden - Tage
hatte ihn erschöpft. Er hatte unerträgliche Kopfschmerzen. »Bis
dahin habe ich alles aufgeschrieben, aber Sie müssen vielleicht
herüberkommen, um es zu holen - und mich. Worauf es
ankommt, ist, daß wir in Verbindung bleiben. Sie haben die
Namen, den allgemeinen Überblick, und Sie wissen, wo ich bin.
Sprechen Sie mit Nathan, denken Sie über das nach, was ich
Ihnen gesagt habe, dann überlegen wir drei uns, was zu tun ist.
Wir haben Verbindungen in Washington, aber wir werden
vorsichtig sein müssen. Wir wissen nicht, wer zu wem gehört.
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Aber einen Vorteil haben wir. Ein Teil des Materials, das ich
habe - das ich hatte -, kann nur von Leuten aus Washington
gekommen sein. Eine Theorie ist, daß ich von ihnen in
Bewegung gesetzt wurde, daß Männer, die ich nicht kenne,
jede meiner Bewegungen beobachten, weil ich etwas tue, was
sie nicht tun können.«
»Ganz alleine«, sagte Talbot zustimmend. »Ohne Washingtons
Hilfe.«
»Richtig. Sie können sich selbst nicht zeigen; sie müssen im
Hintergrund bleiben, bis ich etwas Konkretes ans Tageslicht
gefördert habe... Das war der Plan. Wenn Sie mit Nathan reden
und sich dabei Fragen ergeben, rufen Sie mich an. Ich werde
mich ohnehin nur ein oder zwei Stunden hinlegen.«
»Ich hätte jetzt noch eine Frage, wenn es Ihnen nichts
ausmacht. Sie wissen, daß Interpol ein internationales
Auslieferungsersuchen für Sie herausgegeben hat.«
»Ja.«
»Und die amerikanische Botschaft sucht Sie auch.«
»Auch das weiß ich.«
»Man hat mir gesagt, daß man Sie aufgefordert habe, in die
Botschaft zu kommen.«
»Man hat Ihnen gesagt...?«
»Warum haben Sie es nicht getan, Joel?«
»Herrgott, ich kann doch nicht! Glauben Sie nicht, daß ich das
tun würde, wenn ich könnte? Hier wimmelt es von Delavanes
Leuten. Nun, das ist übertrieben, aber drei kenne ich schon. Ich
habe sie gesehen.«
»Nach meinen Informationen hat Botschafter Peregrine selbst
mit Ihnen Verbindung aufgenommen und Ihnen Schutz und
vertrauliche Behandlung Ihres Anliegens garantiert. War das
nicht genug?«
»Nach Ihren Informationen... Die Antwort ist nein! Peregrine hat
keine Ahnung, was in seiner Botschaft vor sich geht... oder
vielleicht weiß er es sogar. Ich sah, wie Leifhelms Wagen durch
das Botschaftstor fuhr, als ob er einen Passierschein auf
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Lebenszeit hätte. Um drei Uhr früh. Leifhelm ist ein Nazi, Larry, er ist nie etwas anderes gewesen! Was macht das aus Peregrine?« »Kommen Sie, Joel. Sie schneiden einem Mann, der das nicht verdient, die Ehre ab. Walter Peregrine war einer der Helden der Bastogne. Was er in der Ardennenoffensive geleistet hat, ist beinahe zur Legende geworden. Und er war Reserveoffizier, er gehörte nicht einmal zur regulären Armee. Ich bezweifle, daß Nazis zu seinen Lieblingsgästen gehören.« »Wieder ein Offizier? Dann weiß er vielleicht sogar genau, was in seiner Botschaft vor sich geht!« »Das ist nicht fair. Seine Kritik am Pentagon ist wohlbekannt. Die Zeitungen waren voll davon. Er hat sie Größenwahnsinnige genannt mit zu viel Geld, die auf Kosten der Steuerzahler ihren Ehrgeiz befriedigen. Nein, Sie sind nicht fair, Joel. Ich finde, Sie sollten auf ihn hören. Rufen Sie ihn an, sprechen Sie mit ihm.« »Nicht fair?« sagte Converse leise. Ein undefinierbares Gefühl begann in ihm Gestalt anzunehmen, begann ihn zu warnen. »Augenblick! Sie sind es, der nicht fair ist. >Man hat mir gesagt<... nach meinen Informationen. Mit welchem Orakel waren Sie denn in Verbindung? Wer hat Ihnen denn diese Perlen der Weisheit über mich geliefert? Und warum?« »Schon gut, Joel, schon gut... Beruhigen Sie sich. Ja, ich habe mit Leuten gesprochen - Leuten, die Ihnen helfen wollen. Ein Mann in Paris ist gestorben, und jetzt sagen Sie, in Bonn gibt es auch einen Toten. Sie sprechen von Scouts und Streifen und diesen schrecklichen Chemikalien, und daß Sie durch den Wald geflohen sind und sich im Fluß verstecken mußten. Verstehen Sie denn nicht? Niemand gibt Ihnen die Schuld oder macht Sie auch nur verantwortlich. Irgend etwas ist passiert; Sie durchleben das alles aufs neue.« »Mein Gott!« unterbrach ihn Converse verblüfft. »Sie glauben kein Wort von dem, was ich gesagt habe.« »Sie glauben es, und das ist alles, worauf es jetzt ankommt. Ich habe in Nordafrika und Italien meinen Teil gesehen, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was Sie später mitgemacht -3 8 0
haben. Sie haben einen tiefgreifenden, verständlichen Haß
gegen den Krieg und alles, was mit dem Militär
zusammenhängt. Sie wären kein Mensch, wenn das nicht der
Fall wäre, nicht bei alldem, was Sie erlitten haben, und den
schrecklichen Dingen, die Sie mitmachen mußten.«
»Larry, so hören sie doch, alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist
die Wahrheit.«
»Schon. Fein. Dann nehmen Sie mit Peregrine Verbindung auf,
gehen Sie zur Botschaft und sagen Sie es denen. Man wird auf
Sie hören. Er wird auf Sie hören.«
»Sind Sie denn wirklich dümmer, als ich geglaubt habe?«
schrie Joel. »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß ich das
nicht kann! Ich würde nie an Peregrine herankommen! Eine
Kugel würden die mir durch den Kopf jagen.«
»Ich habe mit Ihrer Frau gesprochen - tut mir leid, Ihrer Exfrau.
Sie sagt, daß Sie nachts diese Alpträume hatten... «
»Mit Val haben Sie gesprochen? Val haben Sie da
hineingezogen! Herrgott, sind Sie von Sinnen? Wissen Sie
nicht, daß die allem nachgehen? Dabei haben Sie es selbst vor
der Nase gehabt! Lucas Anstett! Halten Sie sich von ihr fern!
Halten Sie sich um Gottes willen von ihr fern, oder ich... ich...«
»Was würden Sie tun, junger Mann?« fragte Talbot ruhig.
»Mich auch töten?«
»O Jesus!«
»Tun Sie, was ich sage, Joel. Rufen Sie Peregrine an. Alles
wird wieder gut.«
Plötzlich hörte Converse ein eigenartiges Geräusch in der
Leitung, ein Geräusch, das er schon Hunderte von Malen
gehört hatte. Es war ein kurzes Summen, fast bedeutungslos,
und doch hatte es eine Bedeutung. Es war Lawrence Talbots
Signal an seine Sekretärin, eine Aufforderung, in sein Büro zu
kommen und einen unterschriebenen Brief, einen korrigierten
Schriftsatz oder ein Diktatband abzuholen. Joel wußte, was
jetzt weitergegeben werden sollte. Die Adresse eines
heruntergekommenen Hotels in Bonn.
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»Also gut, Larry«, sagte er und ließ den anderen deutlich seine
Erschöpfung hören. »Ich bin verdammt müde. Ich werde mich
jetzt eine Weile hinlegen, dann rufe ich die Botschaft an.
Vielleicht sollte ich wirklich mit Peregrine Verbindung
aufnehmen. Alles ist so konfus.«
»So ist's richtig, Junge. Jetzt wird alles wieder gut.
Ausgezeichnet.«
»Wiedersehen, Larry.«
»Wiedersehen, Joel. Wir sehen uns in ein paar Tagen.«
Converse knallte den Hörer auf die Gabel und sah sich in dem
schwach beleuchteten Zimmer um. Was suchte er? Er war mit
nichts gekommen und würde auch nur mit dem wieder gehen,
was er auf dem Leib trug - was er gestohlen hatte. Und er
mußte hier schnell weg. In wenigen Minuten würden Männer
von der Botschaft in schnellen Wagen hier ankommen, und
wenigstens einer dieser Männer würde eine Waffe haben und
eine Kugel, die für ihn bestimmt war!
Was, zum Teufel, geschah da mit ihm? Die Wahrheit war ein
Phantasiegebilde, das mit Lügen ausgeschlagen war, und
Lügen waren die einzige Garantie für sein Überleben.
Wahnsinn!
19 Er rannte am Fahrstuhl vorbei, die Treppe hinunter, mit jedem
Schritt zwei oder drei Stufen nehmend, die Hand an dem
eisernen Geländer, bis er die Tür zur Hotelhalle, drei
Stockwerke tiefer, erreichte. Er riß sie auf, hielt sie dann aber
am Rahmen und verlangsamte seinen Lauf, um nicht auf sich
aufmerksam zu machen. Doch die Sorge war unbegründet. Die
wenigen Leute, die sich auf den Bänken an der Wand drängten
und durch den Raum schlenderten, kamen vorwiegend aus der
Nachbarschaft, und sonst waren nur noch ein paar Betrunkene
in dem neonbeleuchteten Raum. Herrgott! Sein Verstand war in
Aufruhr! Er konnte durch die Nacht wandern, sich in
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Nebenstraßen verstecken. Aber ein einzelner Mann auf fremden Straßen würde der Polizei oder irgendwelchen inoffiziellen Jägern nur zu leicht auffallen. Er mußte irgendwie ein Dach über den Kopf bekommen. Er mußte verschwinden. Das Hotelcafe! Seine Samariter! Er klappte sich den Kragen der Lederjacke hoch, lockerte den Hosengurt und schob die Hose etwas weiter herunter, damit man nicht sehen konnte, um wieviel sie ihm zu kurz war. Dann ging er mit ruhigen Schritten auf die Tür zu, taumelte ein wenig, als er sie aufstieß. Dichte Rauchschwaden schlugen ihm entgegen - keineswegs nur Tabak -, und er brauchte eine Weile, bis seine Augen sich den blitzenden Lichtern anpassen konnten, während er versuchte, den Lärm zu überhören - eine Kombination aus Rufen und Diskomusik, die aus mehreren Lautsprechern plärrte. Seine Samariter waren verschwunden; er hielt nach dem jungen blonden Mädchen Ausschau, aber sie war nicht mehr da. Der Tisch, an dem sie gesessen hatten, war jetzt von vier anderen Leuten besetzt - nein, nicht vier andere Leute, nur drei -, sie hatten sich zu dem englisch sprechenden Studenten gesetzt, der neben ihm im Wagen gesessen hatte. Drei junge Männer, offensichtlich ebenfalls von der Universität. Joel ging auf sie zu, wobei er an einem leeren Stuhl vorbeikam; er packte ihn an der Lehne und zog ihn hinter sich her zum Tisch. Er setzte sich und lächelte dem blonden Studenten zu. »Ich wußte nicht, ob das Geld für die zwölf Bier gereicht hat, die ich versprochen habe«, sagte er freundlich. »Ach! Ich habe gerade von Ihnen gesprochen, Herr Amerikaner! Das hier sind meine Freunde - wie ich alle Studenten!« Er stellte die drei Neuankömmlinge vor, aber ihre Namen gingen in der Musik und in dem Rauch unter. Sie nickten; der Amerikaner war willkommen. »Unsere zwei anderen Freunde sind gegangen?« »Das sagte ich Ihnen doch«, schrie der blonde junge Mann, um sich in dem Lärm Gehör zu verschaffen. »Die wollten zu unserem Haus fahren und dort miteinander ins Bett gehen. Die haben ja nichts anderes im Sinn. Unsere Eltern sind nach -3 8 3
Bayreuth gefahren, zu den Festspielen, also machen die sich ihre eigene Musik im Bett. Ich gehe erst später nach Hause.« »Nettes Arrangement«, sagte Converse und versuchte sich darüber schlüssig zu werden, wie er das Thema ansprechen sollte, das schnell angesprochen werden mußte. Er hatte nur noch wenig Zeit. »Sehr gut, Sir!« sagte ein dunkelhaariger junger Mann zu seiner Rechten. »Hans hätte das nicht bemerkt; sein Englisch reicht dafür nicht aus. Ich war zwei Jahre Austauschstudent in Massachusetts. >Arrangement< ist zugleich ein Begriff aus der Musikwelt. Sehr gut, Sir!« »Ich geb' mir Mühe«, sagte Joel ein wenig hilflos und sah den Studenten an. »Sie sprechen wirklich Englisch?« fragte er dann. »Sehr gut sogar, mein Herr. Mein Stipendium hängt davon ab. Meine Freunde hier sind in Ordnung, damit wir uns nicht mißverstehen, aber sie sind reich und kommen nur her, um sich zu amüsieren. Als kleiner Junge habe ich zwei Straßen von hier entfernt gewohnt. Aber man läßt diese Burschen hier in Ruhe, und warum auch nicht? Sollen die doch ihren Spaß haben; es tut niemandem weh, und das Geld kommt unter die Leute.« »Sie sind nüchtern«, sagte Converse, eine Feststellung, die fast eine Frage war. Der junge Mann nickte lachend. »Heute schon. Morgen nachmittag habe ich eine schwierige Prüfung und brauche einen klaren Kopf. Die Prüfungen in den Semesterferien sind die schlimmsten. Die Professoren würden lieber Ferien machen.« »Ich wollte eigentlich mit ihm reden«, sagte Joel und deutete mit einer Kopfbewegung auf den blonden Studenten, der in ein offenbar hitziges Gespräch mit seinen zwei Begleitern verwickelt war und mit den Händen in den Rauchschwaden herumfuchtelte. »Aber das hat wohl keinen Sinn. Sie tun's auch.« »In welchem Sinne meinen Sie das jetzt, Sir, wenn Sie mir die Redundanz meines Ausdrucks verzeihen?« -3 8 4
»>Redundanz Was studieren Sie?«
»Jura, Sir.«
»Das kann ich nicht gebrauchen.«
»Macht das Schwierigkeiten, Sir?«
»Mir nicht... Hören Sie, ich habe nicht viel Zeit und habe da ein
Problem. Ich muß hier weg. Ich brauche eine Unterkunft - nur
bis morgen früh. Ich versichere Ihnen, ich habe nichts
Unrechtes getan, nichts, was gegen das Gesetz ist - falls meine
Kleider oder mein Aussehen Sie daran zweifeln lassen. Das ist
eine rein persönliche Angelegenheit. Können Sie mir helfen?«
Der dunkelhaarige junge Deutsche schien zu zögern, als
widerstrebte es ihm, darauf zu antworten, aber dann beugte er
sich vor. »Da Sie es schon ansprechen, mein Herr, werden Sie
sicher verstehen, daß es für einen Jurastudenten etwas
unziemlich ist, einem Mann unter zweifelhaften Umständen
behilflich zu sein.«
»Aus genau dem Grund habe ich es erwähnt«, sagte Converse
schnell nahe am Ohr des Studenten. »Ich bin Anwalt und trotz
dieser Kleider ein einigermaßen respektabler. Ich habe nur hier
drüben den falschen amerikanischen Klienten übernommen
und kann es nicht erwarten, morgen früh wieder in einem
Flugzeug nach den Staaten zu sitzen.«
Der junge Mann hörte zu, musterte Joels Gesicht und nickte
dann. »Dann ist das hier eine Art von Unterkunft, wie Sie sie
normalerweise nicht suchen würden?«
»Ich würde sie, wo immer möglich, meiden. Ich dachte nur, das
wäre vielleicht eine gute Idee, um heute nacht nicht
aufzufallen.«
»Es gibt sehr wenige Lokale wie dieses hier in Bonn, Sir.«
»Das macht Bonn Ehre.« Converse sah sich in dem Cafe und
unter den vorwiegend jugendlichen Gästen um und hatte
plötzlich eine andere Idee. »Es ist Sommer«, sagte er
eindringlich zu dem Studenten. »Gibt es hier irgendwelche
Jugendherbergen?«
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»Die in der Umgebung von Bonn oder Köln sind alle voll, Sir,
hauptsächlich mit jungen Amerikanern und Holländern. Die
anderen, in denen noch Platz ist, liegen ziemlich weit im
Norden. Aber vielleicht gibt es eine andere Lösung.«
»Was?«
»Sommer, Sir. Die Pensionen, in denen viele Studenten
wohnen, haben in den Sommermonaten viele Zimmer frei. In
dem Haus, wo ich wohne, gibt es im zweiten Stock zwei leere
Zimmer.«
»Ich habe es sehr eilig. Können wir gehen? Ich zahle Ihnen
heute abend soviel ich kann, und morgen früh mehr.«
»Ich dachte, Sie wollten morgen früh ein Flugzeug nehmen?«
»Ich muß vorher noch zwei Dinge erledigen. Sie können
mitkommen und mir helfen.«
Der junge Mann und Joel entschuldigten sich, wohl wissend,
daß man sie nicht vermissen würde. Der Student ging auf die
Tür der Hotelhalle zu, aber Converse packte ihn am Ellbogen
und deutete auf den Ausgang zur Straße.
»Ihr Gepäck, Sir!« rief der Deutsche, wobei er Mühe hatte, sich
in dem Lärm verständlich zu machen.
»Sie können mir ja morgen einen Rasierapparat leihen!« schrie
Converse zurück und zog den jungen Mann durch das Gewühl
zum Ausgang. Ein paar Tische vor dem Eingang war ein leerer
Stuhl, auf dem eine zerdrückte Stoffmütze lag. Joel griff danach
und hielt sie sich vors Gesicht, als er die Tür erreichte und
gefolgt von dem Studenten ins Freie trat. »Welche Richtung?«
fragte er, während er sich die Mütze überstülpte.
»Hier entlang.« Der junge Deutsche deutete unter das schäbige
Vordach des danebenliegenden Hoteleingangs. »Gehen wir«,
sagte Joel und trat einen Schritt nach vorn. Sie blieben stehen
das heißt, Converse blieb zuerst stehen, packte den Studenten
an der Schulter und drehte ihn herum, so daß er der Straße den
Rücken zuwandte. Eine schwarze Limousine kam die Straße
heruntergerast und bremste scharf. Zwei Männer sprangen
hinten heraus und rannten auf den Eingang zu. Joel drehte den
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Kopf herum, während der junge Deutsche ihn anstarrte. Er erkannte beide Männer; beides waren Amerikaner. Vor acht Tagen hatten sie am Kölner Flughafen auf ihn gewartet, in der Hoffnung, ihn in eine Falle zu locken. So wie sie jetzt gekommen waren, um ihn in ihre Gewalt zu bringen. Der schwarze Wagen rollte weiter, aus dem Lichtschein des Hoteleingangs heraus in den Schatten. Dann hielt er am Randstein an und wartete, ein Leichenwagen, darauf vorbereitet, seine Ladung in Empfang zu nehmen. »Was ist denn?« fragte der junge Deutsche mit unverhohlener Angst. »Gar nichts.« Converse löste seinen Griff und klopfte dem Studenten freundlich auf die Schulter. »Lassen Sie sich das eine Lektion sein. Vergewissern Sie sich, wer Ihr Klient ist, ehe Sie zu habgierig werden und einen großen Vorschuß akzeptieren.« »Ja«, sagte der junge Deutsche und versuchte zu lächeln, allerdings ohne viel Erfolg. Die schwarze Limousine ließ er nicht aus den Augen. Sie gingen schnell an dem geparkten Wagen vorbei und sahen den Fahrer am Steuer. Seine Zigarette glühte im dunklen Wageninneren. Joel zog sich die Mütze in die Stirn und drehte den Kopf etwas zur Seite. Die Wahrheit war ein Phantasiegebilde, das mit Lügen ausgeschlagen war... und die einzige Garantie für sein Überleben waren Flucht und ein sicheres Versteck. Wahnsinn! Die frühen Morgenstunden verliefen barmherzig ruhig, abgesehen von den Gedanken, die in seinem Kopf wüteten. Der Student, der Johann hieß, hatte ihm ein Zimmer in der Pension besorgt, deren Besitzerin entzückt war, von ihm hundert Mark Miete zu bekommen. Das war mehr als großzügig für das Heftpflaster, das Desinfektionsmittel und die Gaze, die sie ihm gab, damit er seine Wunde neu versorgen konnte. Converse hatte tief geschlafen, bis ihn seine Ängste und düsteren Träume geweckt hatten. Nach sieben konnte er nicht mehr einschlafen.
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Es gab etwas Dringendes zu erledigen. Er kannte das Risiko, aber er brauchte das Geld, jetzt mehr denn je. Auf Mykonos hatte der gut informierte, wenn auch schlangenhafte Laskaris hunderttausend Dollar auf Banken in Paris, London, Bonn und New York überwiesen und Nummern festgelegt, mit denen die Beträge abgehoben werden konnte. Laskaris hatte femer vorgeschlagen, daß Joel gar nicht erst versuchen sollte, vier lange und völlig unterschiedliche Zahlengruppen auswendig zu lernen oder bei sich zu tragen. Statt dessen wollte der Bankier an die American-Express-Reisebüros in den vier Städten Mitteilungen senden, die drei Monate für - für wen, Mr. Converse? - dort aufbewahrt werden sollten. Es sollte ein Name sein, der für Sie Bedeutung hat, aber für niemand anderen. Dieser Name wird Ihr Code sein, eine andere Identifikation ist unnötig. Sagen wir Charpentier. J. Charpentier. Joel war sich darüber im klaren, daß er diese Vereinbarung möglicherweise unter dem Einfluß der Drogen verraten haben konnte. Aber ebensogut war es möglich, daß er das nicht getan hatte. Seine Gedanken befaßten sich nicht mit Geld. Er besaß davon reichlich, und die Chemikalien neigten dazu, einem vorwiegend Gedanken zu entlocken, die einen stark beschäftigten. Das hatte er in den Lagern gelernt, vor einem ganzen Leben, und dann hatte er ja auch noch jemanden, der mm helfen konnte. Der junge Deutsche, Johann, würde sein Mittelsmann sein. Die Risiken waren nicht zu vermeiden, nur zu verringern; auch das hatte er vor einem Leben gelernt. Wenn man den Jungen festnahm, würde das sein Gewissen belasten, aber es gab Schlimmeres. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. »Gehen Sie hinein und fragen Sie, ob eine Nachricht für J. Charpentier da ist«, sagte Joel dem Studenten. Sie saßen auf dem Rücksitz eines Taxis vor dem Büro von American Express. »Wenn man das bejaht, dann sagen Sie folgendes: >Es muß ein Telegramm aus Mykonos sein.<« Das war Laskaris' präzise Anweisung gewesen. »Ist das notwendig, Sir?« fragte der dunkelhaarige Johann und runzelte die Stirn. -3 8 8
»Ja. Wenn Sie Mykonos nicht erwähnen und die Tatsache, daß es sich um ein Telegramm handelt, gibt man es Ihnen nicht. Außerdem identifiziert Sie dieser Satz. Sie werden nichts unterschreiben müssen.« »Das ist alles sehr seltsam, mein Herr.« »Wenn Sie Anwalt werden wollen, müssen Sie sich an seltsame Formen der Kommunikation gewöhnen. Daran ist nichts Ungesetzliches, es ist einfach ein Mittel, um die Vertraulichkeit Ihres Klienten und Ihrer Firma zu schützen.« »Ich habe wohl noch viel zu lernen.« »Sie tun nichts Unrechtes«, fuhr Joel ruhig fort und sah Johann dabei an. »Im Gegenteil, Sie tun etwas sehr Rechtes, und ich werde Sie sehr gut dafür bezahlen.« »Sehr gut«, sagte der junge Mann. Converse wartete im Taxi, und seine Augen suchten die Straße ab, konzentrierten sich auf stehende Wagen oder Fußgänger, die zu langsam gingen oder sich überhaupt nicht von der Stelle bewegten, und auf jeden anderen, dessen Blick auch nur kurz zur Fassade von American Express wanderten. Johann ging hinein, und Joel schluckte ein paarmal. Ihm war, als schnürte man ihm die Kehle zu. Das Warten war schrecklich, und das Wissen, daß er den Studenten in eine riskante Lage brachte, machte es noch schlimmer. Dann dachte er kurz an Avery Fowler-Halliday und Connal Fitzpatrick; sie hatten verloren. Der junge Deutsche hatte eine unendlich größere Chance, noch viele Jahre zu erleben. Die Minuten verstrichen, und Converse spürte, wie ihm der Schweiß den Nacken hinunterrann; es war, als hätte jemand die Zeit angehalten. Schließlich kam Johann wieder heraus, kniff die Augen zusammen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen, die Unschuld in Person. Er überquerte die Straße und stieg in das Taxi. »Was haben die gesagt?« fragte Joel und bemühte sich, gleichgültig zu klingen, während seine Augen noch immer die Straße absuchten.
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»Nur, ob ich schon lange auf die Nachricht gewartet hätte. Ich
erwiderte, daß es ein Telegramm aus Mykonos sein müßte. Ich
wußte nicht, was ich sonst sagen sollte.«
»Das haben Sie gut gemacht.« Joel riß den Umschlag auf und
entfaltete das Telegramm. Es enthielt eine lange Reihe
ausgeschriebener Zahlen, mehr als zwanzig, schätzte er.
Wieder erinnerte er sich an die Instruktionen, die Laskaris ihm
gegeben hatte: Nehmen Sie jede dritte Zahl, angefangen bei
der dritten, und endend bei der drittletzten. Sie brauchen nur an
die Drei zu denken. Es ist ganz einfach - das sind diese Dinge
meistens -, und außerdem kann ohnehin niemand für Sie
unterschreiben. Das Ganze ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.
»Ist alles in Ordnung?« fragte Johann.
»Bis jetzt sind wir einen Schritt im Vorsprung, und Sie sind Ihrer
Prämie einen Schritt näher.«
»Meinem Examen auch.«
»Wann ist das denn?«
»Um drei Uhr dreißig heute nachmittag.«
»Ein gutes Omen. Denken Sie nur an die Drei.«
»Wie bitte?«
»Nichts. Jetzt brauchen wir eine Telefonzelle. Sie haben noch
eine Sache zu erledigen, und dann können Sie heute abend
Ihre Freunde ins teuerste Lokal von Bonn einladen.«
Das Taxi wartete an der Ecke, während Converse und der
junge Deutsche vor der Zelle standen. Johann hatte die
Nummer der Bank im Telefonbuch nachgeschlagen. Der
Student zögerte, weiter mitzumachen. Das, was jetzt von ihm
verlangt wurde, schien ihm doch recht sonderbar zu sein. Damit
wollte er nichts zu tun haben.
»Sie brauchen doch bloß die Wahrheit zu sagen!« insistierte
Joel. »Nur die Wahrheit. Sie haben einen amerikanischen
Anwalt kennengelernt, der nicht Deutsch spricht, und er hat sie
gebeten, ein Gespräch für ihn zu führen. Dieser Anwalt muß für
einen Klienten aus einem vertraulichen Konto Mittel abheben
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und möchte wissen, an wen er sich wenden soll. Das ist alles.
Niemand wird nach einem Namen fragen.«
»Und wenn ich das tue, kommt wieder etwas anderes? Nein,
ich glaube, Sie sollten selbst anrufen...«
»Ich darf keinen Fehler machen! Ich darf kein Wort
mißverstehen. Und es kommt auch nichts mehr anderes. Sie
können in der Nähe der Bank warten, wo Sie wollen. Wenn ich
herauskomme, gebe ich Ihnen zweitausend Mark, und soweit
es mich betrifft- soweit es irgend jemanden betrifft -, sind wir
uns nie begegnet.«
»So viel für so wenig, Sir. Sie können doch meine Angst
begreifen.«
»Die ist gar nichts im Vergleich zu der meinen«, sagte
Converse leise, aber eindringlich. »Bitte, tun Sie es. Ich
brauche Ihre Hilfe.«
Und so wie er es am Abend vorher in der Bar getan hatte, sah
der junge Deutsche wieder Joel scharf an, als versuchte er
etwas zu sehen, von dem er nicht sicher war, ob es da war.
Schließlich ruckte er ohne große Begeisterung. »Gut«, sagte er
und betrat mit ein paar Münzen in der Hand die Telefonzelle.
Converse sah durch die Glastür zu, wie der Student wählte und
offenbar mit zwei oder drei unterschiedlichen Leuten kurz
redete, ehe er an den richtigen kam. Der einseitige Dialog, den
Joel beobachtete, schien endlos - viel zu lang und zu
kompliziert, wo es doch nur darum ging, einen Namen zu
erfahren. Einmal schien Johann, während er etwas auf einen
Zettel schrieb, irgendwelche Einwände zu haben, und Converse
mußte an sich halten, um nicht die Türe zu öffnen und das
Gespräch abzubrechen. Dann legte der junge Mann auf und
kam mit etwas verwirrter, fast zorniger Miene heraus. »Was war
denn? Hat es Schwierigkeiten gegeben?«
»Nur wegen der Zeit und wegen der Vorschriften des Instituts,
Sir.«
»Was soll das heißen?«
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»Solche Konten werden nur nach zwölf Uhr mittags bearbeitet.
Ich habe denen klargemacht, daß Sie bis dahin am Flughafen
sein müssen, aber der Direktor meinte, das sei nun einmal
Vorschrift.« Johann reichte Converse den Zettel. »Sie sollen
einen Mann namens Lachmann im ersten Stock aufsuchen.«
»Ich werde eine spätere Maschine nehmen.« Joel sah auf die
Armbanduhr des Fahrers. Es war 10.35 Uhr; noch eineinhalb
Stunden.
»Ich wollte noch vor Mittag in der Universitätsbibliothek sein.«
»Das geht immer noch«, sagte Converse aufrichtig. »Wir
können anhalten, einen Umschlag und Briefmarken besorgen,
und Sie können Ihren Namen und Ihre Adresse darauf
schreiben. Dann schicke ich Ihnen das Geld.«
Johann blickte zu Boden, sein Zögern war offensichtlich. »Ich
denke... die Prüfung ist vielleicht gar nicht so schwierig. Es ist
eines meiner besseren Fächer.«
»Natürlich«, nickte Joel. »Sie haben wirklich keinen Grund, mir
zu vertrauen.«
»Das sehen Sie jetzt falsch, Sir. Ich glaube schon, daß Sie mir
das Geld schicken würden. Ich bin nur nicht so sicher, daß es
eine gute Idee ist, wenn ich den Umschlag mit der Post
erhalte.«
Converse lächelte. Er verstand. »Fingerabdrücke?« fragte er
freundlich. »Indizienbeweise?«
»Das ist auch eines meiner besseren Fächer.«
»Okay, dann haben Sie mich eben noch ein paar Stunden am
Hals. Ich habe noch etwa siebenhundert Mark, bis ich zur Bank
komme. Kennen Sie ein Konfektionsgeschäft abseits der
großen Einkaufsgegend, wo ich eine Hose und ein Jackett
kaufen kann?«
»Ja, Sir. Und wenn ich noch einen Vorschlag machen darf.
Wenn Sie schon so viel abheben können, daß Sie mir
zweitausend Mark geben können, dann sollten Sie sich
vielleicht auch ein sauberes Hemd und eine Krawatte kaufen.«
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»Ja, das Aussehen seiner Klienten sollte man immer sorgfältig
prüfen. Sie werden noch weit kommen, Herr Kollege.«
Das Ritual an der Bonner Sparkasse war ein Beispiel für
verwickelte, aber gründliche Effizienz. Joel wurde in das Büro
von Herrn Lachmann im ersten Stock komplimentiert, wo ihm
weder die Hand gereicht noch versuchsweise Konversation
gemacht wurde. Vielmehr kam der Bankbeamte sofort zur
Sache.
»Herkunft der Überweisung, bitte?« fragte der etwas korpulente
Mann.
»Bank of Rhodos, Zweigstelle Mykonos, Hafenbüro. Der Name
des... > Absender< würden Sie ihn wohl nennen... ist Laskaris.
An seinen Vornamen erinnere ich mich nicht.«
»Der ist auch nicht erforderlich«, sagte der Deutsche, als wollte
er ihn gar nicht hören. Die ganze Transaktion schien ihn
irgendwie zu beleidigen.
»Tut mir leid, ich wollte nur helfen. Wie Sie wissen, habe ich es
sehr eilig. Ich muß ein Flugzeug erreichen.«
»Alles wird vorschriftsmäßig abgewickelt werden, mein Herr.«
»Natürlich.«
Der Bankangestellte schob ihm ein Blatt Papier über den
Schreibtisch. »Bitte hier Ihre Nummernunterschrift, fünfmal
nacheinander, während ich Ihnen die Vorschriften der Bonner
Sparkasse gemäß der entsprechenden Gesetze der
Bundesrepublik Deutschland vorlese. Anschließend müssen
Sie eine Erklärung unterzeichnen - wieder mit Ihrer
Nummernunterschrift -, daß Sie die Vorschriften verstanden
und akzeptiert haben.«
Converse nahm das Telegramm aus der Innentasche seines
neu erworbenen Sportjacketts und legte es neben das leere
Blatt. Er hatte die korrekten Zahlen unterstrichen und begann
zu schreiben.
Converse verließ die Fahrstuhlkabine. Der neu erworbene
Geldgurt saß viel schlechter als der, den er in Genf erworben
hatte. Aber es hatte keinen Sinn, ihn abzulehnen. Es handelte
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sich um eine Aufmerksamkeit der Bank, wie Lachmann meinte,
während er fast zwölftausend Mark für angebliche Gebühren
einbehielt.
Converse ging auf die Bronzetüren des Eingangsportals zu, als
er Johann auf einer Marmorbank sitzen sah. Er nickte, als der
Student ihn ansah; der Student stand auf und wartete, bis Joel
den Eingang erreicht hatte, dann folgte er ihm.
Irgend etwas war geschehen. Draußen vor der Tür hasteten
ganze Menschenscharen auf die nächste Straßenecke zu, ein
Stimmengewirr war zu hören, laute Fragen, zornige Antworten.
»Was, zum Teufel, ist denn passiert?« fragte Converse.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Johann dicht neben ihm. »Irgend
etwas Schreckliches. Die Leute laufen zu dem Kiosk an der
Ecke. Die Zeitungen.«
»Holen wir uns eine«, sagte Joel und griff nach dem Arm des
jungen Mannes, während sie sich in die Menschentraube
einreihten.
»Attentat! Mord! Amerikanischer Botschafter ermordet!« Die
Zeitungsverkäufer schrien und reichten die Zeitungen hinaus,
während sie Münzen und Geldscheine entgegennahmen, ohne
sich um das Wechselgeld zu kümmern. Ein Gefühl der Panik
lag in der Luft. Ringsum schnappten sich die Leute Zeitungen
und starrten die Schlagzeilen an.
»Mein Gott!« rief Johann nach einem Blick auf eine
zusammengefaltete Zeitung zu seiner Linken. »Der
amerikanische Botschafter ist ermordet worden!«
»Holen Sie eine Zeitung!« Converse warf dem Verkäufer ein
paar Münzen hin, während sich der junge Deutsche eine
Zeitung nahm. »Verschwinden wir hier!« schrie Joel und packte
den Studenten am Arm.
Aber Johann rührte sich nicht von der Stelle. Er stand mitten
unter der Menge da und starrte die Zeitung mit geweiteten
Augen und zitternden Lippen an. Converse schob zwei Männer
zur Seite und zerrte den jungen Mann weiter durch die
protestierende Menschenmenge. »Sie!« Die Angst dämpfte
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Johanns Schrei. Joel riß dem Studenten die Zeitung aus den Händen. In der rechten oberen Hälfte der Titelseite waren die Fotos von zwei Männern zu sehen. Links der ermordete Walter Peregrine, amerikanischer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Rechts war das Gesicht eines amerikanischen Rechtsanwalts zu sehen - eines der wenigen deutschen Worte, die Converse kannte. Das Foto zeigte sein Gesicht.
20 »Nein!« brüllte Joel und zerknüllte die Zeitung mit der linken Hand, während seine rechte Johanns Schulter gepackt hielt. »Was auch immer hier steht, es ist eine Lüge! Ich habe damit nichts zu tun! Sehen Sie denn nicht, was die vorhaben? Kommen Sie mit!« »Nein!« schrie der junge Deutsche, und sein Blick wanderte gehetzt in die Runde. Er erkannte, daß seine Stimme in dem allgemeinen Lärm unterging. »]a, habe ich gesagt!« Converse stopfte sich die Zeitung in die Tasche und legte den rechten Arm um Johanns Hals, preßte den Studenten an sich. »Sie können denken und glauben, was Sie wollen, aber zuerst kommen Sie mit! Sie werden mir jedes einzelne Wort übersetzen!« »Das ist er! Der Attentäter!« schrie der junge Deutsche und versuchte, einen Mann in der Menge zu packen. Aber der fluchte nur und stieß die Hand des jungen Mannes weg. Joel riß den Studenten mit sich, während er ihm ins Ohr schrie. Seine Worte verblüfften ihn ebenso wie den jungen Mann. »Wenn Sie es so haben wollen, können Sie es haben! Ich habe eine Pistole in der Tasche, und wenn ich sie benutzen muß, dann werde ich es tun! Zwei anständige Männer sind bereits getötet worden - jetzt der dritte -, warum sollten Sie da die Ausnahme sein? Weil Sie jung sind? Das ist kein Grund!« Converse zerrte den jungen Mann aus der Menge heraus. Als er wieder Raum um sich hatte, lockerte er seinen Würgegriff, -3 9 5
packte Johann dafür mit der Hand am Kragen und stieß den
Studenten vor sich her, suchte die Straße ab, versuchte, einen
Ort zu finden, wo sie reden konnten - wo Johann reden konnte,
ihm eine Kette von Lügen vorlesen konnte, die die Männer von
Aquitania verbreitet hatten. Aber er konnte nicht einfach
weitergehen und seinen widerstrebenden Gefangenen vor sich
herstoßen; ein paar Leute warfen ihnen bereits Blicke zu, waren
neugierig geworden. O Gott! Das Foto - sein Gesicht! Jeder
konnte ihn erkennen, und indem er den jungen Mann mit sich
zerrte, zog er die Aufmerksamkeit auf sich.
Ein Stück vor ihnen, war ein Cafe mit Tischen unter
Sonnenschirmen auf dem Bürgersteig. Einige davon waren
leer. Er hätte eine Seitengasse oder eine kopfsteingepflasterte
Nebengasse vorgezogen, die für Fahrzeuge zu schmal war,
aber so konnte er nicht weitergehen.
»Dort drüben! Der Tisch ganz hinten. Sie setzen sich mit
Blickrichtung zur Straße. Und denken Sie daran - das mit der
Pistole war kein Witz; ich werde die Hand in der Tasche
halten.«
»Bitte, lassen Sie mich gehen! Sie haben mir schon genug
angetan! Meine Freunde wissen, daß wir gestern abend
zusammen weggegangen sind; meine Wirtin weiß, daß ich
Ihnen ein Zimmer besorgt habe! Die Polizei wird mir Fragen
stellen!«
»Da hinein«, sagte Converse und stieß Johann zwischen den
Stühlen hindurch zu dem hinteren Tisch. Beide setzten sich, der
junge Deutsche zitterte jetzt nicht mehr, aber seine Blicke
kreisten hilfesuchend nach allen Seiten. »Sie sollten nicht
einmal daran denken«, fuhr Joel fort. »Und wenn ein Kellner
kommt, dann sprechen Sie Englisch. Nur Englisch!«
»Es gibt hier keine Kellner. Man geht hinein und kauft sich sein
Gebäck und den Kaffee.«
»Darauf verzichten wir - Sie können sich später etwas holen.
Ich schulde Ihnen Geld, und ich bezahle meine Schulden.«
»Ich will kein Geld von Ihnen«, erwiderte Johann.
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»Sie glauben, es sei schmutzig und würde Sie zum Mittäter
machen, stimmt das?«
»Sie sind der Anwalt. Ich bin nur Student.« »Lassen Sie mich
das klarstellen. Es ist nicht schmutzig, weil ich das nicht getan
habe, was da behauptet wird, und weil es keine Mittäterschaft
bei Unschuldigen gibt.«
»Sie sind der Anwalt, Sir.«
Converse schob dem jungen Deutschen die Zeitung hin und
griff mit der rechten Hand in die Tasche, in die er vorher
zehntausend Deutsche Mark für den sofortigen Gebrauch
gesteckt hatte. Er zählte siebentausend davon ab und legte sie
Johann hin. »Stecken Sie das weg, ehe ich es Ihnen in den
Hals stopfe.«
»Ich nehme Ihr Geld nicht!«
»Sie werden es nehmen und denen sagen, daß ich es Ihnen
gegeben habe, wenn Sie das wollen. Die werden es
zurückgeben müssen.«
»Wirklich?«
»Immer die Wahrheit sagen. Eines Tages werden Sie
herausfinden, daß das der beste Schutz ist, den man haben
kann. So, und jetzt lesen Sie vor, was in der Zeitung steht!«
»Der Botschafter ist irgendwann in der vergangenen Nacht
getötet worden«, begann der Student langsam, während er
verlegen das Geld einsteckte. »Die ungefähre Todeszeit ist im
Augenblick noch nicht feststellbar.« fuhr er fort, indem er
stockend den Artikel übersetzte und immer wieder nach dem
richtigen Ausdruck suchte. »>.. .Die tödliche Wunde war eine
Schädelverletzung, die Leiche hat viele Stunden im Wasser
gelegen und ist in Plittersdorf ans Ufer gespült worden, wo sie
heute am frühen Morgen gefunden wurde... Nach Angaben des
Militärattaches war der Botschafter zuletzt in Gesellschaft eines
Amerikaners namens Joel Converse gesehen worden. Als
dieser Name auftauchte, kam es zu.. .<«
Der junge Deutsche kniff die Augen zusammen und schüttelte
nervös den Kopf. »Wie sagen Sie?«
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»Ich weiß nicht«, erwiderte Joel mit ausdrucksloser Stimme.
»Was soll ich denn sagen?«
»>... gab es sehr erregte - hektische - Gespräche zwischen den
Regierungen der Schweiz, Frankreichs und der
Bundesrepublik, die alle mit der internationalen Polizeibehörde
koordiniert wurden, allgemein als Interpol bekannt, und dann
ergab sich aus den einzelnen Fragmenten langsam ein Bild
alles wurde also klarer, heißt das. >Was Botschafter Peregrine
nicht bekannt war, ist, daß der Amerikaner Converse wegen
Morden in Genf und Paris und einigen bis jetzt noch nicht
aufgeklärten Mordversuchen von Interpol gesucht wurde. <«
Johann blickte zu Converse auf. Sein Adamsapfel arbeitete.
»Weiter«, befahl Joel. »Sie wissen gar nicht, wie interessant
das ist. Weiter!«
>»Nach Angaben aus der Botschaft ist auf Ersuchen dieses
Converse eine vertrauliche Zusammenkunft einberufen worden.
Converse soll behauptet haben, über Informationen zu
verfügen, die für Amerika von größtem Interesse seien. Sie
erwiesen sich anschließend als falsch. Die beiden Männer
wollten sich gestern abend zwischen halb acht und acht Uhr an
der Adenauer-Brücke treffen. Der Militärattache, der
Botschafter Peregrine begleitete, bestätigte, daß die beiden
Männer sich um 19.51 Uhr trafen und die Brücke auf dem
Fußgängerweg überquerten. Das war das letztemal, daß ein
Botschaftsangehöriger den Botschafter lebend gesehen hat.<«
Johann schluckte, seine Hände zitterten. Er atmete einige Male
tief durch und fuhr dann fort, wobei seine Augen hastig über
das Zeitungsblatt flogen. >»Es folgen nun weitere Einzelheiten,
wobei nach Aussagen von Interpol der Verdächtige Joel
Converse als ein allem Anschein nach völlig normaler Mann
beschrieben wird, der in Wirklichkeit...«« Der junge Deutsche
wurde so leise, daß nur noch ein Flüstern zu hören war. »>...in
Wirklichkeit ernsthaft geistesgestört ist. Einige
Verhaltensexperten in den Vereinigten Staaten sind der
Ansicht, daß er unter schweren psychischen Störungen leidet,
die auf fast vier Jahre Kriegsgefangenschaft in Nordvietnam
zurückzuführen sind.. .<«
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Der junge Mann las, vom Klang der eigenen Stimme erschreckt, weiter, ein Stakkato von Worten, in denen es von hastig angesprochenen »Gewährsleuten« und unbekannten, gesichtslosen »Informanten« wimmelte. Das Bild, das sich daraus entwickelte, war das eines geistesgestörten Mannes, dem irgendein schreckliches Ereignis in der Vergangenheit jegliche moralische oder physische Kontrolle über sein Handeln genommen hatte, ohne seine Intelligenz zu stören. Außerdem wurde die Suchaktion der Interpol nur in höchst nebelhaften Begriffen erwähnt, was auf eine geheime Jagd deutete, die schon Tage, wenn nicht Wochen, im Gange war. »>... Seine Mordinstinkte richten sich<«, fuhr der jetzt völlig in Panik geratene Student fort, »>... gegen ehemalige oder gegenwärtige hochrangige Militärs, für die er pathologischen Haß empfindet, ganz besonders gegen solche Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit ein gewisses Ansehen genießen ... Botschafter Peregrine war während des Zweiten Weltkriegs ein hochdekorierter Bataillonskommandeur und hat an der Ardennenoffensive teilgenommen, während der viele amerikanische Soldaten ihr Leben verloren... Gewährsleute in Washington vermuten, daß der Geistesgestörte, der vor Jahren mit schrecklichen Erlebnissen aus einem streng bewachten Kriegsgefangenenlager in Nordvietnam fliehen konnte und mehr als hundert Kilometer durch feindliches Dschungelgebiet zurücklegte, jetzt seine Erlebnisse aus jener Zeit noch einmal durchlebte« Es war eine brillant aufgebaute Falle, im wesentlichen durch Wahrheiten, Halbwahrheiten, Verzerrungen und völlige Lügen gestützt. Selbst der präzise Zeitablauf des Abends war in Betracht gezogen worden. Der Militärattache erklärte eindeutig, er hätte Joel um »19.51 Uhr« an der Adenauer-Brücke gesehen, etwa fünfundzwanzig Minuten, nachdem er aus seinem Gefängnis auf Leifhelms Anwesen ausgebrochen war, und weniger als zehn Minuten, nachdem er sich in den Rhein gestürzt hatte. Daß er »offiziell« um »19.51 Uhr« auf der Brücke gesehen worden war, nahm seiner Geschichte von Gefangenschaft und Flucht jede Glaubwürdigkeit. -3 9 9
Das Geschehen in Genf - der Tod A. Preston Hallidays - wurde als möglicher Auslöser für die Gewalttat angeführt. Die Tat habe ihn wahrscheinlich in die Vergangenheit zurückgeschleudert und sein irres Verhalten ausgelöst. »... Wie wir inzwischen in Erfahrung bringen konnten, war der ermordete Anwalt ein bekannter Führer der amerikanischen Protestbewegung der sechziger Jahre...« Der verschleierte Schluß, der daraus gezogen wurde, war, daß möglicherweise Converse die Mörder bezahlt haben könnte. Selbst der Tod des Mannes in Paris erhielt eine völlig andere und viel wichtigere Dimension - die eigenartigerweise sogar auf Realität fußte. ».. .Ursprünglich ist die wahre Identität des Opfers geheimgehalten worden, in der Hoffnung, daß dies den Ermittlungen nützen möge. In einem Gespräch, das die Sürete mit einem französischen Anwalt führte, der den Verdächtigen seit einigen Jahren kennt, hatten sich nämlich diesbezügliche Verdachtsmomente ergeben. Der Anwalt, der an jenem Tag mit dem Verdächtigen zu Mittag gegessen hatte, deutete an, sein amerikanischer Freund habe ernsthafte Schwierigkeiten und brauche >ärztliche Hilfe<...« Der Tote in Paris war natürlich ein mehrfach dekorierter Oberst der französischen Armee und hatte nacheinander mehreren »prominenten Generälen« als Adjutant gedient. Schließlich folgten, wie um immer noch Zweifelnde durch »gut informierte Journalisten« zu überzeugen, Hinweise nicht nur auf Joels Verhalten, sondern auch auf Bemerkungen, die er bei seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst vor mehr als fünfzehn Jahren gemacht hatte. Diese Hinweise entstammten einer Erklärung des United States Navy Department, Fünfter Marine-Distrikt, unter Hinweis auf die damals abgegebene Empfehlung, daß Lieutenant Converse sich freiwillig in psychiatrische Behandlung begeben solle, was dieser aber abgelehnt habe. Sein Verhalten gegenüber dem Offiziersausschuß, der ihm nur helfen wollte, war damals in höchstem Maße beleidigend gewesen, und seine Bemerkungen enthielten nichts als Gewaltandrohungen gegen verschiedene
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Militärpersonen hohen Ranges, die er als Pilot auf einem
Flugzeugträger unmöglich gekannt haben konnte.
Das alles vervollständigte das Porträt, wie es die Künstler von
Aquitania gezeichnet hatten. Johann beendete den Artikel. Er
hielt die Zeitung jetzt mit schweißnassen Händen, seine Augen
waren geweitet. Angst leuchtete in ihnen. »Das ist alles... Sir.«
»Ich würde auch ungern glauben, daß es noch mehr gibt«,
sagte Joel. »Glauben Sie es?«
»Ich kann nicht denken. Ich habe zuviel Angst.«
»Das ist eine ehrliche Antwort. Ganz oben in Ihrem Bewußtsein
ist jetzt die Furcht, ich könnte Sie töten, und deshalb können
Sie Ihren Gedanken nicht ins Auge sehen. Das ist es, was Sie
jetzt wirklich sagen. Sie haben Angst, ein falsches Wort oder
ein falscher Blick könnten mich beleidigen und ich würde
abdrücken.«
»Bitte, Sir, ich bin dem nicht gewachsen!«
»Das war ich auch nicht.«
»Lassen Sie mich gehen.«
»Johann. Meine Hände liegen auf dem Tisch. Da waren sie,
seit wir uns gesetzt haben.«
»Was...?« Der junge Deutsche blinzelte und sah auf Converses
Unterarme, die beide vor ihm auf dem Tisch lagen, die Hände
auf dem weißen Blech des Tisches gefaltet. »Sie haben keine
Pistole?«
»O doch, die habe ich schon. Ich habe sie einem Mann
weggenommen, der mich getötet hätte, wenn er Gelegenheit
dazu gehabt hätte.« Joel griff in die Tasche, und Johann
erstarrte. »Zigaretten«, sagte Converse und holte ein Päckchen
und Streichhölzer heraus. »Eine schreckliche Angewohnheit.
Fangen Sie gar nicht damit an, wenn es nicht sein muß.«
»Es ist sehr teuer.«
»Unter anderem... Wir haben seit gestern abend viel
miteinander geredet.« Joel riß ein Streichholz an, zündete sich
die Zigarette an und ließ dabei den Studenten nicht aus den
Augen. »Abgesehen von den paar Augenblicken in der Menge,
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als Sie die Möglichkeit gehabt hätten, mich festhalten zu lassen - sehe ich aus oder klinge ich wie der Mann, der in diesem Bericht geschildert ist?« »Ich bin ebensowenig Arzt wie Rechtsanwalt.«
»Zwei Punkte für die Opposition. Die Beweislast für meine
Zurechnungsfähigkeit liegt bei mir. Außerdem heißt es in dem
Artikel ja, daß ich völlig normal wirke.«
»Es heißt auch, daß Sie viel durchgemacht haben.«
»Das liegt ein paar hundert Jahre zurück und war auch nicht
mehr, als Tausende andere durchgemacht haben, und viel, viel
weniger als runde achtundfünfzigtausend, die nie wieder
zurückgekehrt sind. Ich glaube nicht, daß ein
Unzurechnungsfähiger unter diesen Umständen eine rationale
Bemerkung machen kann, oder?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Ich versuche, Ihnen klarzumachen, daß alles, was Sie mir
gerade vorgelesen haben, ein Exempel für die Verurteilung
eines Mannes durch negativen Journalismus ist. Wahrheiten,
gemischt mit Halbwahrheiten, Verzerrungen und Schlüssen, die
nicht plausibel sind - und das alles so aufgebaut, um die Lügen
zu unterstützen, die mich verurteilen sollen. Es gibt kein Gericht
in irgendeinem zivilisierten Land, das gestatten würde, daß die
Geschworenen diese Art von Zeugenaussage anhören.«
»Menschen sind getötet worden«, sagte Johann wieder im
Flüsterton. »Der Botschafter ist ermordet worden.«
»Aber nicht von mir. Ich war um acht Uhr gestern abend nicht
an der Adenauer-Brücke. Ich weiß nicht einmal, wo die ist.«
»Wo waren Sie dann?«
»An einem Ort, wo niemand mich gesehen hat, wenn Sie das
meinen, und diejenigen, die wissen, daß ich nicht an der Brücke
sein konnte, wären die letzten auf der Welt, die das sagen
würden.«
»Es muß doch irgendwelche Beweise dafür geben, wo Sie
waren?« Der junge Deutsche deutete mit einer Kopfbewegung auf die Zigarette, die Converse in der Hand hielt. »Vielleicht -4 0 2
eine von denen. Vielleicht haben Sie eine Zigarette geraucht
und den Stummel weggeworfen.«
»Fingerabdrücke, Fußabdrücke? Stücke von meiner Kleidung?
Alles das gibt es, aber daraus kann man nicht die Zeit
ableiten.«
»Es gibt Methoden«, verbesserte ihn Johann. »Die Fortschritte,
die die Technik in dieser Beziehung gemacht hat, sind
ungeheuer.«
»Lassen Sie mich das für Sie zu Ende bringen. Ich bin kein
Kriminalanwalt, aber ich weiß, was Sie sagen. Theoretisch
könnte man zum Beispiel einen Fußabdruck von mir mit
Bodenproben vergleichen, die man von meinen Schuhen
abkratzt, und daraus auf die Stunde genau feststellen, wo ich
war.«
»Ja!«
»Nein. Ich wäre tot, ehe auch nur ein Fetzen Beweismaterial ins
Labor käme.«
»Warum?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich wünschte, ich könnte es,
aber es geht nicht.«
»Jetzt muß ich wieder fragen, warum?« In die Angst, die aus
den Augen des jungen Mannes leuchtete, mischte sich
Enttäuschung. Joels Weigerung nahm ihm den letzten Rest von
Glaubwürdigkeit.
»Weil es nicht geht. Sie sagten vor ein paar Minuten, daß ich
Ihnen schon genug angetan hätte, und, ohne es zu wollen,
habe ich das auch. Aber das werde ich jetzt nicht weiter tun.
Das einzige, was dann geschehen könnte, ist, daß man Sie
tötet. Offener kann ich es nicht ausdrücken, Johann.«
»Ich verstehe.«
»Nein, das tun Sie nicht. Aber ich wünschte, es gäbe eine
Möglichkeit, Sie davon zu überzeugen, daß ich andere Leute
erreichen muß, Leute, die etwas tun können. Sie sind nicht hier,
nicht in Bonn, aber wenn ich hier wegkomme, kann ich sie
erreichen.«
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»Ist da noch etwas? Wollen Sie, daß ich noch etwas tue?« Der
junge Deutsche wurde wieder starr, und seine Hände fingen
erneut zu zittern an.
»Nein, ich will nicht, daß Sie noch etwas tun. Ich bitte Sie,
nichts zu tun - wenigstens eine Weile. Geben Sie mir eine
Chance, hier wegzukommen und irgendwie mit Leuten in
Verbindung zu treten, die mir helfen können - uns allen helfen
können?«
»Uns allen?«
»Ja, genau das, und mehr sage ich nicht.«
»Und in Ihrer eigenen Botschaft können Sie diese Leute nicht
erreichen?«
Converse sah Johann durchdringend an. »Botschafter Walter
Peregrine ist von Leuten in seiner eigenen Botschaft getötet
worden. Sie sind letzte Nacht in das Hotel gekommen, um mich
zu töten.«
Johann atmete tief ein und wandte den Blick von Joel ab. »Ich
werde jetzt aufstehen und hier weggehen. Wenn Sie zu
schreien anfangen, dann werde ich laufen und versuchen, mich
irgendwo zu verstecken, bevor man mich erkennt. Und dann
werde ich tun, was ich kann. Wenn Sie nicht Alarm schlagen,
habe ich eine bessere Chance, und das wäre meiner Ansicht
nach das Beste. Für uns alle. Sie könnten in die
Universitätsbibliothek gehen und vielleicht in einer Stunde
wieder herauskommen, sich eine Zeitung kaufen und zur
Polizei gehen. Ich würde erwarten, daß Sie das tun, wenn
Ihnen danach ist. Das ist meine Ansicht. Die Ihre kenne ich
nicht. Goodbye, Johann.«
Joel stand auf, drehte sich um und ging zwischen den Tischen
davon. Dann bog er rechts ein und hielt auf die nächste
Kreuzung zu. Er atmete kaum, obwohl seine Lungen zu bersten
drohten, aber er wagte es nicht, seinen Gehörsinn durch den
Atem zu beeinträchtigen. Mit jedem Schritt wartete er; sein Puls
beschleunigte sich und seine Ohren waren so aufmerksam, daß
auch der leiseste ungewöhnliche Ton ihnen nicht entgangen
wäre.
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Doch er hörte nur die üblichen Straßengeräusche. Gesprächsfetzen, das Hupen der Taxis - doch das war nicht das, was er erwartete. Das würde kommen, wenn eine junge Männerstimme anfing, Alarm zu schlagen. Aber nichts kam. Joel beschleunigte seine Schritte, mischte sich unter die Fußgänger, die den Platz überquerten - schneller, schneller -, überholte Passanten, die es nicht eilig hatten. Er erreichte den gegenüberliegenden Bürgersteig und verlangsamte seinen Schritt - wenn man schnell ging, zog man Aufmerksamkeit auf sich. Und doch war der Drang zu laufen fast unüberwindlich. Converse blieb an der Straßenecke stehen und blickte über den Platz zu dem kleinen Cafe zurück. Der Student Johann saß noch auf seinem Stuhl, den Kopf auf beide Hände gestützt, die Zeitung lesend. Dann stand er auf und ging in das Cafe. War drinnen ein Telefon? Würde er mit jemandem sprechen? Wie lange kann ich warten? dachte Converse, darauf vorbereitet, wegzurennen, während sein Instinkt ihn zurückhielt. Johann kam mit einem Tablett mit Kaffee und Kuchen aus dem Laden zurück. Er setzte sich, nahm bedächtig die Teller vom Tablett und starrte wieder die Zeitung an. Dann blickte er auf, sah ins Leere - so als wüßte er, daß ihn unsichtbare Augen beobachteten -, und nickte einmal. Wieder jemand, der bereit war, ein Risiko auf sich zu nehmen, dachte Joel, während er sich umdrehte und die für ihn nicht vertrauten Geräusche und Bilder seiner Umgebung in sich aufnahm. Ihm waren jetzt ein paar Stunden geschenkt worden. Er wünschte zu wissen, wie er sie nutzen sollte - er wünschte zu wissen, was er tun sollte. Valerie eilte ans Telefon. Wenn es wieder ein Reporter war, würde sie ihm dasselbe sagen, was sie den letzten fünf gesagt hatte. Ich glaube kein Wort davon, und mehr habe ich nicht zu sagen! Und wenn es wieder jemand aus Washington war - vom FBI oder dem CIA oder von irgendeiner anderen schrecklichen Abkürzung -, würde sie schreien! Sie war an diesem Tag bereits drei Stunden verhört worden, bis sie die Quälgeister -4 0 5
buchstäblich aus dem Haus geworfen hatte. Es waren Lügner, die sie zu zwingen versuchten, ihre Lügen zu unterstützen. Viel leichter würde es sein, den Telefonhörer abzuhängen, aber das konnte sie nicht. Sie hatte zweimal Lawrence Talbot in New York angerufen und sein Büro gebeten, ihn ausfindig zu machen, wo immer er auch sein mochte, und ihn zu veranlassen, sie zurückzurufen. Alles war Wahnsinn. »Hallo?« »Valley? Hier ist Roger.« »Dad!« Nur ein einziger Mensch hatte sie je mit diesem Namen angesprochen, und das war ihr ehemaliger Schwiegervater. Die Tatsache, daß sie nicht mehr mit seinem Sohn verheiratet war, hatte an ihrer Beziehung nichts geändert. Sie mochte den alten Piloten und wußte, daß er für sie dasselbe empfand. »Wo bist du? Ginny hat es nicht gewußt, und sie ist zuliefst erschüttert. Du hast vergessen, deinen Anrufbeantworter einzuschalten.« »Das habe ich nicht vergessen, Valley. Zu viele Leute wollen, daß ich zurückrufe. Ich bin gerade aus Hongkong zurück, und als ich die Maschine verließ, sind fünfzig oder sechzig Reporter über mich hergefallen.« »Dann hat irgendein geschäftstüchtiger Angestellter durchsickern lassen, daß du an Bord bist. Der ißt die nächste Woche bestimmt in den teuersten Restaurants auf Spesen. Wo bist du?« »Immer noch auf dem Flughafen - im Büro des Flugleiters. Valley, ich habe gerade die Zeitung gelesen. Die haben mir die letzten Ausgaben gebracht. Was, zum Teufel, geht eigentlich vor?« »Ich weiß es nicht, Dad, ich weiß nur, daß es eine Lüge ist.« »Joel ist die vernünftigste Person, die ich je erlebt habe! Die verdrehen alles, machen aus dem Guten, das er getan hat, irgend etwas... ich weiß nicht, etwas Bösartiges. Er ist zu verdammt gradlinig, um verrückt zu sein!« »Roger, er ist nicht verrückt, die wollen ihn fertigmachen. »Aber warum denn?«
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»Ich weiß nicht. Aber Larry Talbot weiß es, glaube ich
zumindest weiß er mehr, als er mir gesagt hat.«
»Was hat er dir denn gesagt?«
»Nicht jetzt, Dad, später.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht genau... Irgend etwas, das ich fühle, vielleicht.«
»Was du sagst, gibt keinen Sinn, Valley.«
»Tut mir leid.«
»Was hat Ginny gesagt? Ich werd' sie natürlich anrufen.«
»Die ist völlig hysterisch.«
»Das war sie immer - ein wenig.«
»Nein, nicht so. Sie gibt sich die Schuld. Sie glaubt, die Leute
würden ihren Bruder jetzt für etwas bestrafen, was sie in den
sechziger Jahren getan hat. Ich habe versucht, ihr
klarzumachen, daß das Unsinn ist, aber ich fürchte, das hat es
nur noch schlimmer gemacht. Sie fragte mich ganz ruhig, ob ich
das glaubte, was man von Joel sagt. Darauf habe ich natürlich
mit Nein geantwortet.«
»Der alte Verfolgungswahn. Drei Kinder und einen Buchhalter
als Ehemann. Und trotzdem hört es nicht auf. Ich bin mit
diesem Mädchen nie zurechtgekommen. Aber eine verdammt
gute Pilotin ist sie. Ist vor Joel solo geflogen, dabei war sie zwei
Jahre jünger. Ich werde sie anrufen.«
»Du wirst sie vielleicht nicht erreichen.«
»Oh?«
»Sie läßt ihre Nummer ändern, und ich glaube, das solltest du
auch tun. Ich weiß, daß ich das in dem Augenblick tun werde,
wo Larry mich angerufen hat.«
»Valley...«, Roger Converse machte eine Pause, »...tu das
nicht.«
»Warum nicht? Hast du überhaupt eine Ahnung, was hier los
ist?«
»Schau mal, du weißt, daß ich dich nie gefragt habe, was
zwischen dir und Joel passiert ist, aber wenn ich in der Stadt
-4 0 7
bin, esse ich gewöhnlich einmal die Woche mit diesem Herrn
Anwalt zu Abend. Er hält das wahrscheinlich für eine Art
Sohnespflicht. Aber ich würde sofort damit aufhören, wenn ich
ihn nicht leiden könnte. Ich meine, er ist ein netter Bursche,
wenn er auch manchmal ein wenig komisch ist.«
»Das weiß ich alles, Roger. Was willst du denn damit sagen?«
»Die sagen, daß er verschwunden sei, daß niemand ihn finden
kann.«
»Und?«
»Es könnte sein, daß er dich anruft. Ich wüßte sonst
niemanden, den er anrufen würde.«
Valerie schloß die Augen; die Nachmittagssonne, die durch die
Atelierfenster hereinbrannte, blendete sie. »Hast du das aus
euren wöchentlichen Gesprächen beim Abendessen?«
»Intuition ist es nicht. So was habe ich noch nie gehabt. Nur in
der Luft... Natürlich habe ich es daher. Es ist nie direkt
ausgesprochen worden, aber es war immer dicht unter der
Wolkendecke.«
»Du bist unmöglich, Dad.«
»Fehler, die Piloten machen, sind wie die von anderen Leuten.
Manchmal kann man sie sich nicht leisten... Laß deine
Telefonnummer nicht ändern, Valley.«
»Gut.«
»Und was ist jetzt mit mir?«
»Ginnys Mann hatte eine gute Idee. Die verweisen alle
Anfragen an ihren Anwalt. Vielleicht solltest du es auch so
machen. Hast du einen?«
»Sicher«, sagte Roger Converse. »Drei sogar. Talbot, Brooks
and Simon. Nate ist der beste, falls es dich interessiert.
Wußtest du, daß dieser alte Hurensohn im Alter von
siebenundsechzig Jahren noch zu fliegen angefangen hat?
Kannst du dir das vorstellen?«
»Dad!« unterbrach ihn Valerie plötzlich. »Bist du am
Flughafen?«
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»Das sagte ich doch. Kennedy.«
»Fahr nicht nach Hause. Geh nicht in deine Wohnung. Nimm
die erste Maschine, die du bekommst, nach Boston. Benutze
einen anderen Namen. Ruf mich zurück und sag mir Bescheid,
welchen Flug du nimmst. Ich hol dich ab.«
»Warum?«
»Tu einfach, was ich dir sage! Bitte!«
»Wozu?«
»Du wirst hierbleiben. Ich muß weg.«
21 Converse eilte aus dem Konfektionsgeschäft an der überfüllten
Bornheimer Straße und studierte im Schaufenster sein
Spiegelbild. Er prüfte den Eindruck, den seine Erwerbungen
machten; nicht so, wie er das vor dem Ankleidespiegel getan
hatte, um Paßform und Aussehen zu beurteilen, sondern so,
wie es einer der Fußgänger auf dem Bürgersteig tun würde. Er
war zufrieden. An den Kleidern war nichts, das die
Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Das Foto in den Zeitungen - das
einzige aus den letzten fünfzehn Jahren, das man im Archiv
einer Zeitung oder einer Nachrichtenagentur hatte finden
können - war vor etwa einem Jahr aufgenommen worden, als
Reuters ihn mit einigen anderen Berufskollegen interviewt
hatte. Es war ein Brustbild in der typischen Kleidung eines
Anwalts - dunkler Anzug, Weste, weißes Hemd, gestreifte
Krawatte. Das war auch dasselbe Bild, das die Leser der
Zeitungen von ihm hatten, und da sich das Bild nicht ändern
würde, war er es, der sich ändern mußte.
Das Aussehen, das er bei der Auswahl der Sachen im Sinn
gehabt hatte, gehörte zu einem Geschichtsprofessor auf seiner
ehemaligen Universität. Solche Leute trugen stets Tweedjacken
in gedeckten Farben mit Lederflecken an den Ellbogen. Graue
Hosen - schweres oder leichtes Flanell, nie etwas anderes -
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und Hemden aus blauem Oxfordstoff mit Button-down-Kragen, auch das wieder ohne Ausnahme. Über seiner dicken Hornbrille saß ein weicher irischer Hut mit vorn und hinten heruntergezogener Krempe. Anstelle der Hornbrille trug Converse eine Sonnenbrille, aber nur auf kurze Zeit. Er war an einem Billigkaufhaus vorbeigekommen und wußte, daß es dort einen Verkaufsstand mit den verschiedensten Brillentypen geben mußte, einige sogar mit leichtem Vergrößerungsfaktor. Aus Gründen, die er erst langsam verstand, war diese Brille plötzlich lebenswichtig für ihn. Er war mit etwas beschäftigt, das er ganz beherrschen konnte - er mußte sein Aussehen ändern. Anderes dagegen schob er hinaus, er war unsicher, was er als nächstes tun sollte, und nicht sicher, ob er überhaupt noch etwas tun konnte. Er musterte sein Gesicht in dem ovalen Spiegel des Warenhauses und war mit dem, was er sah, zufrieden. Er war nicht länger der Mann aus der Zeitung, und was ebenso wichtig war, die Konzentration, die er der Veränderung seines Aussehens gewidmet hatte, hatte ihm geholfen, seine Gedanken zu klären. Er konnte sich jetzt irgendwohin setzen und die Dinge sortieren. Außerdem brauchte er etwas zu essen und zu trinken. Das Cafe war überfüllt, und die leicht eingefärbten Fenster dämpften das Licht der Sommersonne. Man führte ihn zu einem Tisch vor einer ledergepolsterten Bank und drückte ihm eine Speisekarte in englischer Sprache in die Hand. Die einzelnen Speisen darauf waren numeriert. Whisky wurde auf dem Kontinent ganz allgemein als Scotch serviert; er bestellte sich einen doppelten und holte Block und Kugelschreiber heraus, die er in dem Warenhaus gekauft hatte. Sein Drink kam, und er begann zu schreiben. Connal Fitzpatrick? Aktentasche? $93000 Botschaft streichen Larry Talbot etc. streichen Beale streichen Anstett streichen Niemand in San Francisco Männer in Washington. Wer? Caleb Dowling? Nein. Hickman, Navy, San Diego? Möglich. .. .Mattilon? -4 1 0
Rene! Weshalb hatte er nicht schon früher an Mattilon gedacht? Jetzt begriff er, weshalb der Franzose die ihm anonym zugeschriebenen Bemerkungen gemacht hatte. Rene versuchte, ihn zu schützen. Wenn es keine Verteidigung gab, oder wenn sie so schwach war, daß sie ihm nichts nützte, dann war der nächste logische Schritt, auf kurzzeitige Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Joel malte einen Kreis um Mattilons Namen und schrieb links davon eine Eins hin und zog ebenfalls einen Kreis um sie. Er würde sich auf ein Postamt begeben, sich dort eine Telefonzelle zuweisen lassen und Rene in Paris anrufen. Er trank zwei Schluck Whisky und spürte, wie die von dem Alkohol ausgehende Wärme ihn entspannte. Dann wandte er sich wieder seiner Liste zu und fing ganz oben an. Connal...? Die Annahme, daß er getötet worden war, lag nahe, aber sie war nicht schlüssig. Wenn er lebte, dann hielt man ihn ohne Zweifel fest, in der Absicht, ihm irgendwelche Informationen abzupressen. Als leitender Anwalt der größten Marinebasis an der Westküste, als ein Mann, der häufig mit dem Munitionsbüro des State Department und den entsprechenden Stellen im Pentagon zu tun gehabt hatte, würde Fitzpatrick den Männern von Aquitania nützlich sein können. Und doch - Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, hieß, seine Exekution zu riskieren, falls man ihn nicht bereits getötet hatte. Wenn er noch lebte, so lag die einzige Chance seiner Rettung darin, ihn zu finden. Plötzlich sah Joel einen Mann in amerikanischer Uniform, der an der Bar des Lokals mit zwei Zivilisten redete. Er kannte den Mann nicht, die Uniform war es, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie erinnerte ihn an den Militärattache in der Botschaft, jenen so aufmerksamen und präzisen Offizier, der fähig war, einen Mann in genau dem Augenblick an einer Brücke zu sehen, wo er gar nicht dort war. Ein Lügner für Aquitania, jemand, dessen Lügen ihn identifizierten. Wenn jener Lügner nicht wußte, wo Fitzpatrick war, so konnte man ihn dazu bringen, das herauszufinden. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit. Converse zog auf der rechten Seite einen Strich, der Connal Fitzpatrick mit Admiral
-4 1 1
Hickman in San Diego verband. Eine Ziffer schrieb er nicht hin,
es gab noch viel zu überlegen.
Aktentasche? Er war immer noch überzeugt, daß Leifhelms
Leute sie nicht gefunden hatten. Wenn sie im Besitz der
Generale von Aquitania gewesen wäre, dann hätte man ihn das
wissen lassen. Es paßte nicht zu diesen Männern, einen
solchen Fund zu verbergen, nicht vor einem Gefangenen, der
sich eingebildet hatte, ihnen gewachsen zu sein. Nein, sie
hätten es ihm auf die eine oder andere Art gesagt, und wenn
nur, um ihm klarzumachen, wie vollkommen er gescheitert war.
Wenn er sich nicht täuschte, hatte Connal sie versteckt. In dem
Gasthof, der sich Das Rektorat nannte? Einen Versuch war es
wert. Joel malte einen Kreis um das Wort Aktentasche und
schrieb davor die Ziffer Zwei.
»Möchten Sie bestellen, mein Herr?« fragte ein Kellner, der von
Converse unbemerkt an den Tisch getreten war.
»Englisch, bitte?«
»Certainly, Sir. Would you like to order? Die heutige Spezialität
ist Wiener Schnitzel - ich weiß nicht, wie man dazu auf englisch
sagt.«
»Genauso. Ja, das nehme ich.«
»Thank you.«
Der Mann entschwand, ehe Joel einen zweiten Drink bestellen
konnte. Vielleicht war das ganz gut so, dachte er. 593000. Mehr
gab es dazu nicht zu sagen; die lästige Ausbuchtung um seine
Taille sagte alles. Er hatte das Geld; nun mußte es eingesetzt
werden.
Botschaft streichen... Larry Talbot etc. streichen... Anstett
streichen... Niemand in San Francisco... Während des Essens
befaßte er sich mit diesen Punkten und überlegte, wie alles
geschehen sein mochte. Jeder Schritt war sorgfältig bedacht
worden. Er hatte die Fakten studiert, die Dossiers fast
auswendig gelernt und war äußerst vorsichtig gewesen. Und
dann war alles einfach weggeblasen worden von
Verwicklungen, die weit über das hinausgegangen waren, was
Preston Halliday ihm in Genf erklärt hatte.
-4 1 2
Du brauchst nur zwei oder drei Fälle aufzubauen, die mit Delavane in Verbindung stehen - das genügt. Wo waren jene Männer in Washington, die die Kühnheit besaßen, eine halbe Million Dollar für ein unglaubliches Pokerspiel einzusetzen, und die gleichzeitig zu viel Angst hatten, um jetzt ans Licht zu treten? Welche Art von Männern waren sie? Ihr erster Späher war getötet worden, und der zweite stand unter Anklage, ein psychopathischer Meuchelmörder zu sein. Wie lange konnten sie noch warten? Die Fragen machten Converse wütend, so sehr, daß sie seine Vernunft blendeten. Und Vernunft brauchte er, und mehr als alles andere den Schutz, der aus dem Wissen kam. Jetzt war die Zeit gekommen, ein Postamt aufzusuchen und mit Mattilon in Paris zu telefonieren. Rene würde ihm glauben, Rene würde ihm helfen. Es war undenkbar, daß sein alter Freund etwas anderes tat. Der Zivilist ging stumm an das Hotelfenster, wissend, daß man von ihm erwartete, daß er etwas verkündete, woraus sich ein Wunder erschaffen ließe - nicht eine Lösung, sondern ein Wunder. Aber in dem Gewerbe, das er so gut kannte, gab es so etwas nicht. Peter Stone war ein Relikt, Strandgut, jemand, der alles gesehen hatte und in den letzten Jahren des Sehens zusammengebrochen war. Der Alkohol hatte in ihm den Platz wahren Wagemuts eingenommen. Trotzdem, einmal war er einer der Besten gewesen - das konnte er nicht vergessen. Und als er wußte, daß für ihn alles vorbei war, hatte er sich endlich klargemacht, daß er im Begriff war, sich mit einer Mischung aus Whisky und Selbstmitleid selbst zu töten. Da war er ausgestiegen. Aber nicht bevor er sich die Feindschaft seiner ehemaligen Arbeitgeber in der Central Intelligence Agency zugezogen hatte, nicht, weil er an die Öffentlichkeit getreten war, sondern weil er ihnen unter vier Augen gesagt hatte, was er von ihnen hielt. Zum Glück lernte er dann, als sich wieder Nüchternheit einstellte, daß seine ehemaligen Arbeitgeber auch andere Feinde in Washington hatten, Feinde, die nichts mit ausländischen Verwicklungen oder der Konkurrenz zu tun -4 1 3
hatten. Einfach Männer und Frauen, die dem Land dienten und die wissen wollten, was zum Teufel vor sich ging und was die CIA ihnen vorenthielt. Er hatte überlebt - überlebt. Während er über diese Dinge nachdachte, wußte er, daß die zwei Männer im Raum glaubten, er konzentriere sich auf seine augenblickliche Aufgabe. Dabei gab es eine solche gar nicht. Die Akte war abgeschlossen, mit einem schwarzen Rand. Sie waren so jung - Herrgott, so verdammt jung! -, daß es ihnen schrecklich schwerfallen würde, es zu akzeptieren. Er erinnerte sich - ganz vage -, wann ihn ein solcher Schluß zum erstenmal erschüttert hatte. Aber das lag beinahe vierzig Jahre zurück. »Wir können gar nichts tun«, sagte er mit leiser Autorität. Der Army-Captain und der Navy Lieutenant waren sichtlich erregt. Peter Stone fuhr fort: »Ich habe dreiundzwanzig Jahre mit diesem Grabenkampf verbracht, darunter auch ein Jahrzehnt mit Angleton, und ich sage Ihnen, es gibt absolut nichts, was wir tun können. Wir müssen ihn weitermachen lassen, wir können nicht an ihn heran.« »Weil wir es uns nicht leisten können?« fragte der
Marineoffizier mit schneidender Stimme. »Das sagten Sie auch,
als Halliday in Genf getötet wurde. Daß wir es uns nicht leisten
können!«
»Das können wir auch nicht. Man hat uns ausgetrickst.«
»Es ist ein Mensch«, beharrte der Lieutenant. »Wir sind es, die
ihn ausgeschickt haben...«
»Und die haben ihn sich zurechtgesetzt«, unterbrach ihn der
Zivilist mit ruhiger Stimme. In seinen Augen stand das ganze
traurige Wissen seiner Erfahrung geschrieben. »Er ist so gut
wie tot. Wir müssen anfangen, uns nach einem anderen
umzusehen.«
»Warum ist das so?« fragte der Army-Captain. »Warum ist er
so gut wie tot?« »Die haben zu viele Kontrollen, das kann man jetzt deutlich sehen. Wenn sie ihn nicht irgendwo in einem Keller hinter Schloß und Riegel halten, dann wissen sie immerhin ziemlich -4 1 4
genau, wo er ist. Wer immer ihn findet, wird ihn töten. Die von Kugeln durchlöcherte Leiche eines verrückten Killers wird geliefert, und ein kollektives Aufseufzen der Erleichterung geht durch das Land. Das ist das Szenario.« »Und das war die kaltblütigste Analyse eines Mordes, die ich je gehört habe!« »Hören Sie, Lieutenant«, sagte Stone und entfernte sich vom Fenster. »Sie haben mich gebeten, zu kommen, weil Sie jemanden mit Erfahrung unter sich haben wollten. Und dank dieser Erfahrung kennt man den Augenblick, in dem man einsehen muß, daß man verloren hat. Das heißt nicht, daß man erledigt ist. Es heißt nur, daß diese Runde an den Gegner geht. So ist es, und ich habe das Gefühl, daß die Schläge noch nicht aufgehört haben.« »Vielleicht«, begann der Captain stockend. »Vielleicht sollten wir zur Agency gehen und denen alles sagen, was wir wissen alles, was wir zu wissen glauben - und was wir getan haben. Auf die Weise könnten wir Converse vielleicht lebend rausbekommen.« »Tut mir leid«, erwiderte der ehemalige CIA-Mann. »Die wollen seinen Kopf, und sie werden ihn kriegen. Die hätten sich nicht all die Mühe gemacht, wenn das nicht so wäre. Er hat irgend etwas herausgefunden, oder die haben etwas über ihn herausgefunden. So läuft das.« »Was für eine Welt ist das denn, in der Sie leben?« fragte der Marineoffizier leise und schüttelte den Kopf. »Ich lebe nicht mehr in ihr, das wissen Sie. Ich glaube, das ist einer der Gründe, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Ich habe das getan, was Sie beide - und wer sonst noch bei Ihnen ist jetzt tun. Ich habe Krach geschlagen, nur daß ich das mit zwei Monaten Bourbon in den Adern und zehn Jahren Ekel im Kopf getan habe. Sie sagen, Sie wollen zur Company gehen? Gut, tun Sie es, aber ohne mich. Niemand in Langley, der auch nur einen Cent wert ist, will mit mir etwas zu tun haben.« »Zu G-2 oder zur Marineabwehr können wir auch nicht gehen«, sagte der Army-Offizier. »Das wissen wir, darüber sind wir uns -4 1 5
alle einig. Dort sind Delavanes Leute; die würden uns einfach
abknallen.«
»Gut formuliert, Captain. Würden Sie meinen, daß die das mit
richtigen Kugeln tun?«
»Jetzt schon«, sagte der Mann von der Navy und nickte Stone
zu. »Der Bericht aus San Diego lautet, daß der Mann aus der
Rechtsabteilung, dieser Remington, bei einem Autounfall in La
Jolla ums Leben gekommen sei. Er ist derjenige, der als letzter
mit Fitzpatrick gesprochen hat, und bevor er den Stützpunkt
verließ, hat er einen Kollegen nach dem Weg zu einem
Restaurant in den Bergen gefragt. Er war vorher nie dort
gewesen... Und ich glaube nicht, daß es ein Unfall war.«
»Ich auch nicht«, pflichtete ihm der Zivilist bei. »Aber das führt
uns vielleicht zu einem anderen Ansatzpunkt, einer Stelle, wo
wir nachhaken könnten.«
»Was meinen Sie?« fragte der Army-Captain.
»Fitzpatrick. SAND PAC kann ihn nicht finden, stimmt das?«
»Er ist auf Urlaub«, warf der Marineoffizier ein. »Er hat noch
zwanzig Tage. Man hatte ihn nicht angewiesen, seinen
Reiseplan zu hinterlassen.«
»Trotzdem haben die versucht, ihn zu finden, aber sie schaffen
es nicht.«
»Ich verstehe immer noch nicht«, wandte der Captain ein.
»Wir heften uns auf Fitzpatricks Spur«, sagte Stone. »Über San
Diego, nicht Washington. Wir lassen uns einen Grund einfallen,
weshalb wir ihn wirklich wieder hier haben wollen. Irgendein
Notfall mit streng vertraulichen Papieren, ein Problem auf dem
Stützpunkt - das sonst keinen angeht.«
»Ich wiederhole mich ungern«, sagte der Mann von der Army,
»aber ich komme da nicht mehr mit. Wo fangen wir an? Bei
wem?«
»Bei jemandem von Ihrem Verein, Captain. Im Augenblick ist er
ein sehr wichtiger Mann. Der Militärattaché in dem Mehlemer
Haus.«
»Dem was?«
-4 1 6
»Der amerikanischen Botschaft in Bonn. Er ist einer von ihnen. Er hat an einem sehr wichtigen Punkt gelogen«, sagte Stone. »Sein Name ist Washburn. Major Norman Anthony Washburn.« Der Postbeamte, dem Joel den Namen von Mattilons Anwaltskanzlei in Paris auf ein Blatt schrieb, erfragte die Nummer bei der Auskunft und forderte Converse auf, Kabine Sieben aufzusuchen und dort auf das Klingeln zu warten. Joel zog die Tür der kleinen Zelle hinter sich zu, ohne dabei den Hut, dessen Krempe ihm fast die Stirn bedeckte, abzunehmen. Jeder Raum, ob es nun eine Toilettenkabine oder eine Telefonzelle war, bot Vorteile gegenüber dem Aufenthalt im Freien. Joel spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Als endlich die Klingel ertönte, hatte er das Gefühl, der Schädel müsse ihm zerspringen. »Saint Pierre, Nelli et Mattilon«, sagte die Frauenstimme in Paris. »Monsieur Mattilon, bitte - s'il vous platt.« »Votre...« Die Frau hielt inne, erkannte offenbar den Amerikaner an dem kläglichen Versuch, Französisch zu sprechen. »Wen darf ich bitte melden?« »Sein Freund aus New York. Er weiß dann schon Bescheid. Ich bin ein Klient.« Rene wußte Bescheid. Nach einem Klicken erklang seine Stimme im Hörer. »Joel?« flüsterte er. »Ich kann es nicht glauben!« »Das sollst du auch nicht«, sagte Converse. »Es stimmt nicht nicht das, was sie über Genf oder Bonn sagen, nicht einmal das, was du gesagt hast. Ich hatte nichts mit diesen Morden zu tun, und das in Paris war ein Unfall. Ich hatte allen Anlaß zu glauben - glaubte das auch -, daß der Mann nach einer Waffe griff.« »Warum bist du dann nicht geblieben, wo du warst, mein Freund?«
-4 1 7
»Weil die mich daran hindern wollten weiterzureisen. Das glaubte ich ehrlich, und ich konnte nicht zulassen, daß sie mich aufhielten. Laß mich reden... Im Georges V. hast du mir Fragen gestellt, und ich habe darauf ausweichend geantwortet. Und ich glaube, du hast mich durchschaut. Aber du warst so freundlich und hast dir nichts anmerken lassen. Doch da ist nichts, was dir leid tun muß, darauf gebe ich dir mein Wort - das Wort eines völlig zurechnungsfähigen Mannes. Bertholdier ist an jenem Abend auf mein Zimmer gekommen; wir haben miteinander gesprochen, und dann geriet er in Panik. Vor sechs Tagen habe ich ihn wiedergesehen, hier in Bonn - nur daß es diesmal anders war. Man hatte ihn dorthin befohlen, ihn und drei andere sehr mächtige Männer, zwei Generale und ein ehemaliger Feldmarschall. Das Ganze ist eine internationale Verschwörung, Rene, und die sind imstande, sie durchzuziehen. Alles ist geheim und entwickelt sich mit ungeheurer Schnelligkeit. Sie haben Spitzenmilitärs in ganz Europa in ihre Kreise gezogen, im Mittelmeerraum, in Kanada und den Vereinigten Staaten ebenfalls. Es ist unmöglich, festzustellen, wer zu ihnen gehört und wer nicht - und es bleibt nicht mehr genug Zeit, daß man sich noch einen Fehler leisten kann. Sie haben Millionen zur Verfügung, Lagerhäuser auf der ganzen Welt voll Munition, die an ihre Leute verschickt werden wird, wenn der Augenblick gekommen ist.« »Der Augenblick?« unterbrach Mattilon. »Welcher Augenblick?« »Bitte«, beharrte Joel und erzählte hastig weiter. »Sie haben Waffen und Munition an Terroristen auf der ganzen Welt gesandt, mit einem einzigen Ziel: Störung der rechtlichen Ordnung durch Gewalt. Das ist ihr Vorwand, um nach der Macht zu greifen. Im Augenblick sind sie dabei, Nordirland in die Luft zu jagen.« »Der Wahnsinn in Ulster?« unterbrach ihn der Franzose erneut. »Das Schreckliche, was dort...« »Das sind sie! Das Ganze ist ein Probelauf. Sie haben es mit einer Riesensendung aus den Staaten in Gang gesetzt - um zu beweisen, daß sie dazu imstande sind! Aber Irland ist nur ein -4 1 8
Test, eine kleinere Übung. Die große Explosion kommt in ein
paar Tagen, höchstens ein paar Wochen. Ich muß an die Leute
herankommen, die sie aufhalten können, und das kann ich
nicht, wenn ich tot bin!« Converse hielt inne, aber nur, um Atem
zu schöpfen. Er ließ Mattilon keine Chance, ihn zu
unterbrechen. »Das sind die Männer, hinter denen ich her war,
Rene - auf legalem Wege war ich hinter ihnen her, um Material
für eine Anklage gegen sie zu sammeln, um sie vor Gericht zu
bringen und sie dort bloßzustellen, ehe sie hätten
weitermachen können. Aber dann mußte ich erfahren, daß sie
ihr Ziel schon erreicht hatten. Ich war zu spät gekommen.«
»Aber warum du?«
»Es fing in Genf an - mit Halliday, dem Mann, der damals
erschossen wurde. Er ist von ihren Leuten getötet worden, aber
vorher hat er mich einweihen können. Du hast mich über Genf
befragt, und ich habe dich belegen, aber das ist jetzt die
Wahrheit... Und jetzt wirst du mir entweder helfen oder
versuchen, mir zu helfen, oder es nicht tun. Nicht für mich - ich
bin unwichtig -, aber das, wo man mich hineingezogen hat, ist
es nicht. Man hat mich hineingezogen, das weiß ich jetzt. Aber
ich habe sie gesehen, habe mit ihnen gesprochen, und sie sind
so verdammt logisch, so überzeugend, daß sie ganz Europa
dem Faschismus in die Arme treiben werden; sie werden eine
Militärföderation errichten, und mein Land wird die Keimzelle
sein. Weil es in meinem Land angefangen hat; in San Francisco
hat es angefangen, bei einem Mann namens Delavane.«
»Saigon? Mad Marcus aus Saigon?«
»Er lebt in Palo Alto und hat alle Fäden in der Hand. Er ist
immer noch ein Magnet, und die fühlen sich zu ihm hingezogen,
so wie Fliegen zu einem Schwein.«
»Joel, bist du... bist du auch ganz sicher... ich meine... ?«
»Wir wollen es einmal so ausdrücken, Rene. Ich habe einem
Mann, der mich einmal bewacht hat, seine lausige Uhr
abgenommen. Die Uhr hat einen Sekundenzeiger, und du hast
jetzt dreißig Sekunden Zeit, um über das nachzudenken, was
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ich dir gesagt habe, dann werde ich auflegen. Jetzt, alter
Freund, neunundzwanzig Sekunden.«
Zehn Sekunden verstrichen, dann sagte Mattilon: »Ein
Unzurechnungsfähiger gibt keine so präzisen Erklärungen in so
präziser Weise. Er gebraucht auch nicht Worte wie Keimzelle,
so etwas gibt es in seinem Vokabular nicht... Nun gut, vielleicht
bin ich auch verrückt, aber das, was du gesagt hast - es paßt
alles zusammen, was kann ich sonst sagen? Alles ist verrückt!«
»Ich muß in die Staaten zurück, und zwar lebend. Ich muß
Washington erreichen. Dort kenne ich Leute. Wenn ich an sie
herankomme, werden sie auf mich hören. Kannst du mir
helfen?«
»Ich habe Kontakte zum Quai d'Orsay. Laß mich die
ansprechen.«
»Nein«, widersprach Converse heftig. »Sie wissen, daß wir
befreundet sind. Ein Wort an der falschen Stelle, und du bist ein
toter Mann. Verzeih mir, aber was noch wichtiger ist, du
könntest damit einen Alarm auslösen. Das können wir uns nicht
leisten.«
»Nun gut«, sagte Mattilon. »Es gibt da einen Mann in
Amsterdam - frag mich nicht, woher ich ihn kenne -, der solche
Dinge arrangieren kann. Ich nehme an, du hast keinen Paß.«
»Ich habe einen, aber es ist nicht meiner. Es ist ein deutscher
Paß. Ich habe ihn einem Wächter abgenommen, der mir eine
Kugel durch den Kopf jagen wollte.«
»Dann bin ich sicher, daß er sich nicht an die Behörden
wenden wird, um den Diebstahl zu melden.«
»Sicher nicht.«
»In Gedanken bist du doch wirklich in die Vergangenheit
zurückgekehrt, nicht wahr, mein Freund?«
»Wir wollen nicht darüber sprechen, okay?«
»Bien, Behalte den Paß; er wird dir nützlich sein.«
»Amsterdam. Wie komme ich dorthin?«
»Du bist doch in Bonn, ja?«
-4 2 0
»Richtig.«
»Von Bonn geht ein Zug nach Emmerich an der holländischen
Grenze. In Emmerich benutzt du die örtlichen Verkehrsmittel.
Die Zollüberwachung ist da ziemlich lasch, besonders während
des Stoßverkehrs, wenn die Arbeiter die Grenze nach beiden
Seiten überschreiten. Niemand sieht genau hin, du brauchst
also nur deinen Paß schnell zu zeigen und das Foto dabei
teilweise abdecken. Gut, daß es ein deutscher Paß ist. Du wirst
dort überhaupt keine Schwierigkeiten haben.«
»Und wenn doch?«
»Dann kann ich dir nicht helfen, mein Freund. Ich bin ehrlich.
Dann muß ich mich an den Quai d'Orsay wenden.«
»Also gut. Ich gehe über die Grenze - was dann?«
»Du fährst nach Arnheim. Und von dort aus nimmst du den Zug
nach Amsterdam.«
»Und dann?«
»Der Mann. Sein Name steht auf einer Karte in meiner
untersten Schublade. Hast du etwas zu schreiben?«
»Ja«, sagte Converse und griff nach dem Block und dem
Kugelschreiber neben dem Telefon.
»Da ist sie. Thorbecke. Cort Thorbecke. Sein Apartmenthaus
steht an der Kreuzung der Utrechtsestraat und der Kerkstraat.
Die Telefonnummer ist Null-zwo-null, vier-eins-eins-drei-null.
Wenn du ihn anrufst, um ein Zusammentreffen mit ihm zu
verabreden, dann sag ihm, du würdest der Tatiana-Familie
angehören. Hast du das? Tatiana.«
»Rene...?« sagte Joel, während er notierte. »Ich hätte das nie
geahnt. Wie kommt es, daß du so jemanden kennst?«
»Ich habe dir doch gesagt, daß du keine Fragen stellen sollst.
Andererseits könnte er vielleicht neugierig sein, und dann
solltest du wenigstens vage Antworten für ihn haben - alles war
immer vage. Tatiana ist ein russischer Name, sie war eine der
Töchter des Zaren. Es heißt, sie sei 1918 in Jekaterinenburg
hingerichtet worden. Ich sage angeblich, weil viele glauben,
daß sie gemeinsam mit ihrer Schwester Anastasia verschont
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wurde und daß man sie mit einer Kinderschwester und einem
Vermögen an Juwelen aus dem Land geschmuggelt hat. Die
Pflegeschwester hat Tatiana favorisiert und, sobald sie in
Freiheit waren, dem Kind alles und ihrer Schwester nichts
gegeben. Es heißt, sie hätte in großem Wohlstand gelebt - lebt
vielleicht heute noch, aber niemand weiß, wo.«
»Ist es das, was ich wissen muß?« fragte Converse. »Nein, es
ist nur der Ursprung des Namens. Hier ist er ein Symbol des
Vertrauens. Man hat ihn in letzter Zeit nur wenigen Leuten
genannt, Leuten, denen die argwöhnischsten Menschen der
Welt vertrauen, Menschen, die es sich nicht leisten können,
Fehler zu machen.«
»Du lieber Gott, wer denn?«
»Russen, mächtige Sowjetkommissare, die das westliche
Bankensystem lieben und Geld aus Moskau ins Ausland
kanalisieren, um es im Wes ten zu investieren. Du kannst
verstehen, weshalb der Kreis klein ist. Wenige sind berufen und
noch wenigere auserwählt. Thorbecke ist einer von ihnen, er
führt ein umfangreiches Geschäft mit Pässen. Ich werde mit ihm
Verbindung aufnehmen und ihm sagen, daß er auf deinen Anruf
warten soll. Und denk daran, keine Namen, nur Tatiana. Er wird
dafür sorgen, daß du einen Platz auf einer KLM-Maschine nach
Washington bekommst. Aber du wirst Geld brauchen, wir
müssen also überlegen, wie ich...«
»Geld ist so ziemlich das einzige, was ich nicht brauche«,
unterbrach Converse. »Nur einen Paß und ein Ticket zum
Dulles-Airport.«
»Thorbecke in Amsterdam wird dir beides verschaffen.«
»Danke, Rene. Du hast mich nicht enttäuscht. Das bedeutet mir
sehr viel. Das bedeutet mir mein Leben.«
»Du bist noch nicht in Washington, mein Freund. Aber ruf mich
an, wenn du dort bist, ganz gleich, um welche Zeit.«
»Das werde ich tun. Nochmals vielen Dank.« Joel legte auf und
steckte Block und Kugelschreiber in die Tasche und ging zum
Schalter. Während er auf seine Rechnung wartete, erinnerte er
sich an das, was er unter Nummer 2 auf seiner Liste notiert
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hatte. Sein Aktenkoffer mit den Dossiers und den Namen der
Entscheidungsträger im Pentagon und im State Department.
Hatte Connal es geschafft, den Koffer irgendwo zu verstecken?
War es möglich, daß ihn vielleicht ein Angestellter im Hotel
gefunden hatte? Converse wandte sich an den Postbeamten,
der ihm die Rechnung reichte. Der Mann sprach zum Glück ein
ganz passables Englisch.
»Es gibt da ein kleines Hotel. Es liegt irgendwo vor der Stadt
ich bin nicht ganz sicher, wo, aber ich würde gerne dort anrufen
und mit dem Geschäftsführer sprechen. Er soll Englisch
sprechen.«
»Ja, Sir. Ein ausgezeichnetes Haus.«
»Ich suche keine Unterkunft. Ein Freund von mir hat letzte
Woche dort gewohnt und glaubt, er hätte vielleicht etwas
Wertvolles in seinem Zimmer liegengelassen. Er hat mich
angerufen und gebeten, für ihn nachzusehen oder mit dem
Geschäftsführer zu sprechen. Wenn ich die Nummer finde,
würden Sie dann bitte die Verbindung herstellen und ihn an den
Apparat holen? Es tut mir leid, aber ich spreche nicht Deutsch
und würde wahrscheinlich nur den Koch erreichen.«
»Aber selbstverständlich, Sir«, erwiderte der Mann und
lächelte. »Ich besorge Ihnen die Nummer. Gehen Sie noch
einmal in Zelle Sieben, dann klingle ich. Sie können die beiden
Gespräche nachher zahlen.«
In der engen Kabine zündete Joel sich eine Zigarette an und
überlegte, was er sagen sollte. Er hatte kaum Zeit, seine Worte
zu formulieren, da klingelte es schon.
»Das ist der Geschäftsführer - der Manager - des Hotels, Sir«,
sagte der Beamte. »Und er spricht Englisch.«
»Vielen Dank.« Der Beamte ging aus der Leitung. »Hallo?«
»Ja, was kann ich für Sie tun, Sir?«
»Ich hoffe, daß Sie etwas für mich tun können. Ich bin ein
Freund von Commander Connal Fitzpatrick. Wie ich höre, hat er
letzte Woche bei Ihnen gewohnt.«
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»Ja, das hat er tatsächlich, Sir. Es hat uns sehr leid getan, daß
er nicht länger bleiben konnte, aber das Zimmer war für den
nächsten Tag für jemand anderen reserviert.«
»Oh? Er ist unerwartet abgereist?«
»So würde ich es nicht formulieren. Wir haben am Morgen
miteinander gesprochen. Ich glaube, daß er Verständnis für
unsere Lage hatte. Ich habe ihm persönlich ein Taxi bestellt.«
»War er alleine, als er wegfuhr?«
»Ja, Sir.«
»Oh. Wenn Sie mir dann sagen würden, in welches Hotel er
gefahren ist, könnte ich dort auch nachfragen.«
»Nachfragen, Sir?«
»Der Commander hat einen seiner Aktenkoffer verlegt, einen
schmalen Lederkoffer mit zwei Kombinationsschlössern. Der
Inhalt ist an sich wertlos, aber der Commander hätte gern den
Aktenkoffer zurück. Es war ein Geschenk seiner Frau, glaube
ich. Sie haben ihn nicht zufällig gefunden?«
»Nein, mein Herr.«
»Sind Sie sicher? Der Commander hat die Angewohnheit, seine
juristischen Papiere zu verstecken, manchmal unter dem Bett
oder hinten in einem Schrank.«
»Er hat nichts zurückgelassen, Sir. Das Zimmer ist von unseren
Angestellten überprüft und gesäubert worden.«
»Vielleicht hat ihn jemand besucht und hat den falschen Koffer
mitgenommen?« Converse wußte, daß er den Mann bedrängte,
aber er hatte keinen Grund, es nicht zu tun.
»Er hatte keine Besucher...« Der Deutsche hielt inne. »Einen
Augenblick, jetzt erinnere ich mich.«
»Ja?«
»Sie sagen, einen schmalen Aktenkoffer, das, was man
gewöhnlich als Attachekoffer bezeichnet?«
»/«/«
»Er hat ihn mitgenommen. Er trug ihn in der Hand, als er das
Hotel verließ.«
-4 2 4
»Oh...« Joel versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Dann
können Sie mir vielleicht sagen, ob er eine Adresse
hinterlassen hat oder welches Hotel er aufgesucht hat.«
»Es tut mir leid, Sir. Solche Anweisungen liegen uns nicht vor.«
»Jemand mußte doch ein Zimmer für ihn reservieren! Zimmer
sind in Bonn knapp!«
»Bitte, mein Herr. Ich hatte mich selbst erboten, das für ihn zu
erledigen, aber er hat meine Hilfe abgelehnt. Etwas
unfreundlich, darf ich vielleicht sagen.«
»Tut mir leid.« Joel war verstimmt, daß er die Kontrolle über
sich verloren hatte. »Diese Papiere waren sehr wichtig. Sie
haben also keine Idee, wohin er gegangen ist?«
»Doch, das schon, falls man es mit Humor nimmt. Ich habe ihn
ausdrücklich gefragt. Er sagte, er würde zum Bahnhof fahren.
Wenn jemand nach ihm fragte, sollte ich sagen, er würde dort in
einem Schließfach schlafen. Ich fürchte, das sollte eine Spitze
sein.«
Der Bahnhof? Ein Schließfach! Das war eine Nachricht!
Fitzpatrick hatte ihm damit sagen wollen, wo er suchen sollte!
Ohne ein weiteres Wort legte Converse auf, verließ die Zelle
und ging zum Schalter. Er zahlte für die beiden Gespräche und
dankte dem Beamten. »Sie waren sehr liebenswürdig. Darf ich
Sie noch um eine Gefälligkeit bitten?« »Sir?«
»Wo ist der Bahnhof?«
»Sie können ihn gar nicht verfehlen. Gehen Sie nach rechts,
wenn Sie das Gebäude verlassen, dann laufen sie direkt darauf
zu. Ein Gebäude, auf das Bonn wirklich nicht stolz sein kann.«
»Sehr liebenswürdig.«
Joel eilte den Bürgersteig entlang und ermahnte sich die ganze
Zeit selbst, nicht zu schnell zu gehen. Alles hing jetzt davon ab,
daß er die Kontrolle behielt. Alles. Jede Bewegung, die er
machte, mußte normal sein, unauffällig. Er durfte nichts tun,
was irgend jemanden dazu veranlassen könnte, auch nur einen
zweiten Blick auf ihn zu werfen.
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Mattilon hatte ihm gesagt, er solle den Zug nehmen; Fitzpatrick hatte gesagt, er solle zum Bahnhof gehen. Ein Schließfach! Er trat durch das weite Eingangsportal und bog nach rechts zu den Schließfächern, wo er den Aktenkoffer untergebracht hatte, bevor er sich mit »Avery Fowler« getroffen hatte. Jetzt sah er das Fach, in der Tür steckte ein Schlüssel. Das Fach war leer. Er begann die anderen Fächer zu mustern. Er wußte zwar nicht, wonach er suchte, aber wußte, daß es etwas geben mußte. Und dann fand er es! Zwei Reihen über dem ersten Fach links! Die Initialen waren klein, aber deutlich, präzise in das Metall geritzt. C.F. Connal Fitzpatrick! Der Marineanwalt hatte es geschafft! Er hatte die wertvollen Papiere an einem Ort untergebracht, wo nur sie beide sie finden konnten. Aber konnte er sie jetzt herausholen? Er sah sich auf dem Bahnhof um, versuchte, sich zwischen den Menschenmassen zu orientieren. Die riesige Uhr zeigte halb drei an; in zweieinhalb Stunden würden die Büros schließen und die Menschentrauben noch dichter sein. Mattilon hatte ihm gesagt, er solle die Grenze im Stoßverkehr überqueren, wenn die Arbeiter in beiden Richtungen durch die Grenzkontrollen gingen. Bis Emmerich waren es fast zwei Stunden, falls es einen Zug gab. Er hatte weniger als eine halbe Stunde Zeit, um sich Zugang zu dem Schließfach zu verschaffen. Am anderen Ende der Bahnhofshalle war ein Informationsstand. Er ging darauf zu, und wieder jagten sich die Gedanken in seinem Kopf. Das Gewicht des Geldes an seiner Hüfte ließ ihn hoffen. »Gott sei Dank«, sagte er zu dem Angestellten, die dicke Brille auf der Nase, den weichen Hut in die Stirn gezogen. Er hatte einen englisch sprechenden Auskunftsbeamten mit tief eingegrabenen Falten um den Mund und gelangweiltem Ausdruck gefunden. »Um es ganz einfach zu sagen, ich habe den Schlüssel für das Schließfach verloren, in dem mein Gepäck untergebracht ist, und muß einen Zug nach Emmerich erreichen. Übrigens, wann fährt der nächste?«
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»Ach, das ist immer dasselbe«, erwiderte der mürrische Angestellte und blätterte in einem dicken Folianten. »Immer der gleiche Ärger. Der eine verliert dies, der andere jenes, und alle sollen dann helfen! Der Zug nach Emmerich ist vor siebenundzwanzig Minuten abgefahren. In neunzehn Minuten fährt der nächste, und dann eine Stunde keiner.« »Danke. Ich muß den nächsten erreichen. Was ist jetzt mit dem Schließfach?« Joel zog einen Hundertmarkschein heraus und schob ihn langsam über den Tresen. »Es ist sehr wichtig, daß ich diesen Zug erwische. Darf ich Ihnen dafür danken, daß Sie mir helfen?« »Wird erledigt!« sagte der Angestellte, ohne seine Stimme zu erheben und sah nach rechts und links, während er das Geld ergriff. Er nahm den Hörer vom Telefon und wählte. »Schnell! Wir müssen ein Schließfach öffnen. Hier ist die Auskunftsstelle.« Er legte den Hörer auf die Gabel und blickte zu Joel, wobei ein Lächeln um seine Lippen spielte. »Es kommt gleich jemand, mein Herr. Wir geben uns immer große Mühe mit unseren Reisenden.« Der Mann kam, er sah aus, als müßte er jeden Augenblick aus seiner Uniform platzen, und seine Augen blickten stumpf. »Was ist?« Der Angestellte erklärte es ihm in deutscher Sprache und sah dann wieder Converse an. »Er spricht etwas Englisch, nicht sehr gut, aber ausreichend, und wird Ihnen jetzt helfen.« »Da sind Vorschriften zu beachten«, sagte der offizielle Hüter der Schließfachschlüssel. »Kommen Sie, zeigen Sie es mir.« Der Beamte öffnete das Schließfach mit seinem Hauptschlüssel. »Sie müssen eine Unterschrift leisten.« Da war er! Sein Aktenkoffer lag flach in dem Fach, offenbar auch unbeschädigt. Joel griff in die Tasche und holte sein Geld heraus. »Ich habe es sehr eilig«, sagte er, während er zunächst einen und dann etwas zögernd einen zweiten Hundertmarkschein herauszog. »Mein Zug fährt in wenigen Minuten ab.« Er schüttelte dem Deutschen die Hand, wobei das -4 2 7
Geld den Besitzer wechselte. »Könnten Sie nicht sagen, daß es
ein Fehler war?«
»Es war ein Fehler!« antwortete der Uniformierte voller
Überzeugung. »Sie müssen Ihren Zug erreichen!«
»Vielen Dank. Sie sind sehr nett.«
Vorsichtig um sich blickend ging Joel zu einer nicht besetzten
Holzbank, setzte sich und öffnete den Aktenkoffer. Alles war
noch da. Aber er durfte die Unterlagen nicht bei sich behalten.
Wieder sah er sich im Bahnhofsgelände um, wußte, was er
finden mußte. Ein Andenkengeschäft. Dort würde es vielleicht
Briefumschläge geben. Er klappte den Aktenkoffer zu, stand auf
und ging auf das Geschäft zu, in der Hoffnung, daß auch dort
jemand Englisch sprach.
»Wir sprechen fast alle Englisch, mein Herr«, sagte die
matronenhafte Frau hinter der Theke. »Die verlangen das, ehe
sie einen einstellen, besonders im Sommer. Was brauchen Sie
denn?«
»Ich muß einen Geschäftsbericht in die Vereinigten Staaten
schicken«, antwortete Converse mit einem großen, dicken
Umschlag und Klebeband in der rechten Hand und dem
Aktenkoffer in der linken. »Aber mein Zug fährt in ein paar
Minuten ab und ich habe nicht Zeit, auf ein Postamt zu gehen.«
»Im Bahnhof sind ein paar Briefkästen, Sir.«
»Ich brauche Briefmarken und weiß nicht, wieviel«, sagte Joel
hilflos.
»Wenn Sie die Papiere in den Umschlag stecken, zukleben und
die Adresse draufschreiben, dann wiege ich das Päckchen und
sage Ihnen, wieviel Marken Sie aufkleben müssen. Wir haben
welche hier.«
»Das ist sehr liebenswürdig. Ich möchte das Päckchen per
Luftpost schicken, kleben Sie lieber etwas mehr drauf.« Fünf
Minuten später reichte Converse der Frau das fest verklebte
Päckchen, damit sie es wiegen konnte. Er hatte auf den
Umschlag des ersten Dossiers ein paar Zeilen geschrieben und
die Adresse deutlich mit Druckbuchstaben auf den
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Briefumschlag. Die Frau reichte ihm die Marken, worauf er bezahlte und den Umschlag vor sich auf den Tresen legte. »Danke«, sagte er und sah auf die Uhr, während er begann, die Briefmarken zu befeuchten und festzukleben. »Sie wissen nicht zufällig, wo ich eine Fahrkarte nach... Emmerich kaufen kann oder Arnheim?« »Emmerich ist deutsch und Arnheim holländisch. An jedem Schalter, Sir.« »Ich habe vielleicht nicht mehr genug Zeit«, sagte Joel, der gerade mit den letzten drei Marken beschäftigt war. »Ich werde ja wohl auch im Zug eine Karte kaufen können.« »Ja, sicher, wenn Sie genügend Geld haben.« Er war jetzt fertig. »Wo ist der nächste Briefkasten?« »Am anderen Ende des Bahnhofs, mein Herr.« Wieder sah Joel auf die Uhr. Er spürte ein heftiges Pochen in seiner Brust, als er losstürzte, sich sofort wieder zügelte und sich in der Menge umsah, ob ihn jemand beobachtet hatte. Es blieben ihm weniger als acht Minuten, um den Umschlag einzustecken, sich eine Fahrkarte zu kaufen und den Zug zu finden. Wenn es Komplikationen gab, konnte er vielleicht auf den zweiten Schritt verzichten. Aber um im Zug eine Fahrkarte zu kaufen, brauchte er jemanden, der für ihn übersetzte - die Konsequenzen, die sich daraus ergeben konnten, waren beängstigend. Während er sich fieberhaft nach einem Briefkasten umsah, wiederholte er in Gedanken die Worte, die er auf den Umschlag der ersten Akte gekritzelt hatte. Laß niemanden - ich wiederhole: niemanden - wissen, daß du das hast. Wenn du von mir nicht binnen fünf Tagen hörst, dann schicke es an Nathan S. weiter. Wenn ich kann, rufe ich ihn an. Dein ehemaliger gehorsamer Ehemann. Alles Liebe, J. Dann blickte er auf den Namen und die Adresse, die er auf den Umschlag geschrieben hatte und verspürte eine stumpfe, Übelkeit erregende Sorge. Ms. Valerie Charpentier R.F.D. 16 -4 2 9
Dunes Ridge 600 Cap Ann, Massachusetts U.S.A. Drei Minuten später fand er den Briefkasten, schob den Umschlag durch den Schlitz und überzeugte sich davon, daß das Päckchen auch im Inneren des gelben Kastens nach unten gefallen war. Er sah sich um und suchte etwas verwirrt von den vielen Menschen nach einem Schalter. Er kam sich so verdammt hilflos vor, wollte Fragen stellen, hatte aber Angst davor, jemanden aufzuhalten, Angst, jemand würde sein
Gesicht studieren.
Da war ein Schalter, vor dem nur wenige Menschen standen,
auf der anderen Seite; zwei Paare hatten es sich offenbar im
letzten Augenblick anders überlegt, die kleine Schlange
verlassen, die sich dort gebildet hatte. Jetzt stand nur noch ein
Mann vor dem Fenster. Converse bahnte sich seinen Weg
durch die Menge, versuchte wieder, seine Schritte zu zügeln.
»Emmerich, bitte«, sagte er zu dem Beamten hinter dem
Schalter, als der Mann vor ihm sein Wechselgeld eingesteckt
hatte. »Niederlande«, fügte er hinzu, jede Silbe deutlich
aussprechend.
Der Beamte drehte sich kurz um und blickte auf die Uhr, die
hinter der Wand hing. Dann sagte er etwas in deutscher
Sprache. »Verstehen?« fragte er dann.
»Nein... Hier!« Converse legte zwei Hundertmarkscheine auf
den Zahlteller und schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern.
»Bitte, eine Fahrkarte! Ich weiß, ich habe nur noch ein paar
Minuten Zeit bis zur Abfahrt.«
Der Mann nahm einen der Scheine und schob den anderen
zurück. Er wechselte und drückte ein paar Knöpfe neben sich;
eine Fahrkarte wurde ausgedruckt, er reichte sie Joel. »Danke.
Zwei Minuten!«
»Gleis eins.« Der Mann hielt den Daumen der linken Hand in die Höhe. »Eins«, wiederholte er und deutete links von Joel auf das entsprechende Gleis. -4 3 0
»Eins! Vielen Dank.« Converse griff nach seinem Aktenkoffer
und eilte mit schnellen Schritten zu dem Gleis, das man ihm
gezeigt hatte. Er sah den Zug stehen; ein uniformierter
Bahnbeamter stand vor der Anzeigetafel und sah auf die Uhr.
Eine Frau, die etliche Päckchen trug, stieß mit ihm zusammen.
Die Päckchen fielen zu Boden. Joel versuchte, sich zu
entschuldigen, während sie ihn beschimpfte; laute Worte, die
die umstehenden Reisenden veranlaßten, stehenzubleiben und
sie anzustarren. Er hob ein paar Päckchen auf, während ihre
Stimme zu einem Crescendo anschwoll.
»Sie können mich mal, Lady«, murmelte er. Joel ließ die
Päckchen wieder fallen, drehte sich um und eilte weiter. Er
erreichte den Zug, klinkte die Türe auf und stieg ein.
Er suchte sich schwer atmend einen Platz und versuchte, sich
zu beruhigen. Den weichen Hut hatte er in die Stirn gezogen.
Die Wunde an seinem linken Arm schmerzte höllisch.
Möglicherweise war sie bei dem Zusammenprall wieder
aufgerissen. Er tastete unter das Jackett, berührte den Kolben
der Waffe, die er Leifhelms Chauffeur abgenommen hatte, und
strich über sein Hemd. Kein Blut, er schloß erleichtert die
Augen.
Den Mann auf der anderen Seite des Abteils, der ihn anstarrte,
bemerkte er nicht.
In Paris saß die Sekretärin am Schreibtisch, den Telefonhörer
am Ohr, und sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme,
wobei sie die Hand über die Sprechmuschel hielt. Ihr
Französisch klang kultiviert, wenn nicht aristokratisch.
»Das ist alles«, sagte sie leise. »Hast du es?«
»Ja«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Das ist
außergewöhnlich.«
»Warum? Deshalb bin ich hergekommen.«
»Natürlich. Ich sollte sagen, du bist außergewöhnlich.«
»Natürlich. Was hast du für Instruktionen?«
»Sehr ernste. Es tut mir leid.«
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»Das dachte ich. Du hast keine Wahl.«
»Kannst du?«
»Geht klar. Ich sehe dich bei Taillevent. Acht Uhr?«
»Trag dein schwarzes Galanos. Das liebe ich so.«
»Schmeichler.«
»Was sagst du, meine Liebste. Acht Uhr.«
Die Sekretärin legte den Hörer auf, erhob sich und glättete ihr
Kleid. Sie zog eine Schublade auf und holte eine Handtasche
mit langem Schulterband heraus, hängte sie sich über und ging
zur geschlossenen Tür ihres Chefs. Sie klopfte.
»Ja?« fragte Mattilon drinnen.
»Ich bin's, Suzanne, Monsieur.«
»Herein, herein«, sagte Rene und lehnte sich in seinem Sessel
zurück, während die Frau eintrat. »Dieser letzte Brief ist völlig
unverständlich, nicht wahr?«
»Überhaupt nicht, Monsieur. Es ist nur, daß ich... nun, ich weiß
nicht, ob es sich gehört, daß ich das sage.«
»Warum sollte es sich nicht gehören? Und wenn, dann wäre ich
in meinem Alter wahrscheinlich so geschmeichelt, daß ich es
meiner Frau sagen würde.«
»Oh, Monsieur...«
»Nein, wirklich, Suzanne, Sie sind jetzt wie lange hier, eine
Woche, zehn Tage? Man würde meinen, daß es schon Monate
sind. Ihre Arbeit ist ganz hervorragend, und ich bin Ihnen
wirklich dankbar, daß Sie mir helfen.«
»Ihre Sekretärin ist eine liebe Freundin von mir, Monsieur. Ich
schulde es ihr.«
»Nun, ich danke Ihnen jedenfalls. Ich kann nur hoffen, daß
unser Herrgott ihr hilft und sie durchkommt. Die jungen Leute
heute, sie fahren so schnell, so schrecklich schnell und so
gefährlich. Es tut mir leid. Was ist, Suzanne?«
»Ich war noch nicht zu Mittag essen, Monsieur. Ich dachte...«
»Mein Gott, wie unaufmerksam ich bin! Das kommt
wahrscheinlich davon, wenn man zwei Partner hat, die den
-4 3 2
August ernst nehmen und Ferien machen! Bitte, bleiben Sie, solange Sie wollen, und ich bestehe darauf, daß Sie mir die Rechnung bringen.« »Das ist wirklich nicht notwendig, aber vielen Dank für das freundliche Angebot.« »Das ist kein Angebot, sondern das ist eine Anweisung. Trinken Sie nur möglichst viel Wein, und dann wollen wir sehen, was aus den Klienten meiner Partner wird. Und jetzt verschwinden Sie.« »Vielen Dank, Monsieur.« Suzanne wandte sich zur Türe, öffnete sie einen Spalt und blieb dann stehen. Sie drehte den Kopf herum und sah, daß Mattilon wieder in seine Lektüre vertieft war. Sie schloß lautlos die Tür, griff in ihre Handtasche und zog eine große Pistole heraus, an deren Lauf der perforierte Zylinder eines Schalldämpfers steckte. Sie drehte sich langsam um und ging mit ruhigen Schritten auf den Schreibtisch zu. Der Anwalt blickte auf, als sie vor ihm stand. »Was?« Suzanne feuerte viermal schnell hintereinander. Rene wurde im Sessel zurückgeschleudert, sein Schädel platzte vom rechten Auge bis zur linken Stirn auf. Blut strömte über sein Gesicht und sein weißes Hemd.
22 »Wo in aller Welt sind Sie gewesen?« schrie Valerie ins Telefon. »Ich versuche Sie seit dem frühen Morgen zu erreichen!« »Am frühen Morgen«, sagte Lawrence Talbot, »als die Nachricht durchkam, wußte ich, daß ich die erste Maschine nach Washington nehmen mußte.« »Das glauben Sie doch selbst nicht! Nein, das ist nicht wahr!« »Doch. Und was noch schlimmer ist, ich fühle mich verantwortlich. Mir ist, als hätte ich, ohne es zu wollen, selbst -4 3 3
den Abzug betätigt, und in gewisser Weise ist genau das geschehen.« »Verdammt noch mal, Larry, erklären Sie mir das.« »Joel hat mich von einem Hotel in Bonn aus angerufen, nur daß er nicht wußte, wie es hieß. Er klang völlig wirr, Val. Einen Augenblick lang war er ruhig, im nächsten schrie er, und schließlich gab er zu, daß er verwirrt sei und Angst hätte. Dann redete er alles mögliche dumme Zeug - irgendeine unglaubliche Geschichte, daß man ihn gefangengenommen und in ein Haus im Wald gesteckt hätte, und wie er entkommen sei, sich im Fluß verborgen hätte, den Wachen und Streifen entkommen und einen Mann getötet hätte, den er einen >Scout< nannte. Er schrie immer wieder, er müßte entkommen, Männer seien hinter ihm her, im Wald, am Ufer... Irgend etwas ist mit ihm passiert. Er durchlebt diese schrecklichen Tage noch einmal, in denen er Kriegsgefangener war. Alles, was er sagt, alles, was er beschreibt, ist eine Variation jener Erlebnisse. Der Schmerz, die Anspannung, die Flucht durch den Dschungel und die Flüsse. Er ist krank, meine Liebe. Und das, was heute morgen geschah, ist der schreckliche Beweis dafür.« Valerie spürte, wie ihr die Kehle austrocknete. Sie war unfähig zu denken; konnte nur auf Worte reagieren. »Warum haben Sie gesagt, Sie seien verantwortlich, hätten in gewisser Weise den Abzug betätigt?« »Ich habe ihm gesagt, daß er zu Peregrine gehen solle. Ich habe ihn überzeugt, daß Peregrine auf ihn hören würde, daß er nicht der Mann war, für den Joel ihn hielt.« »... >ihn hielt Was hat Joel gesagt?« »Sehr wenig, was einen Sinn gehabt hätte. Er faselte von Generalen und Feldmarschällen und irgendeiner obskuren historischen Theorie, die alle Kommandeure aus verschiedenen Kriegen und Armeen zusammengeführt hätte in einem gemeinsamen Versuch, die Kontrolle über die Regierungen zu übernehmen. Es gab einfach keinen Sinn. Jedesmal, wenn ich irgend etwas anzweifelte, was er sagte, wurde er wütend und sagte, das sei alles nicht wichtig, oder ich würde nicht zuhören -4 3 4
oder ich sei zu beschränkt, um ihn zu verstehen. Aber am Ende
gab er dann zu, daß er schrecklich müde und konfus sei und
dringend Schlaf brauchte. Da habe ich ihm den Vorschlag
gemacht, Peregrine aufzusuchen, aber Joel vertraute ihm nicht.
Er lehnte ihn sogar ab, denn er sagte, er hätte den Wagen
eines ehemaligen deutschen Generals durch die Einfahrt der
Gesandtschaft fahren sehen. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen,
aber Peregrine war ein hochdekorierter Offizier im Zweiten
Weltkrieg. Ich erklärte ihm so geduldig und so entschieden, wie
ich das konnte, daß Peregrine keiner von >ihnen< sein könne,
daß er kein Freund des Militärs sei... Offensichtlich konnte ich
ihn nicht überzeugen. Joel nahm Verbindung mit ihm auf,
vereinbarte ein Zusammentreffen und tötete ihn. Ich hatte keine
Ahnung, daß er so krank war.«
»Larry«, begann Valerie langsam und mit schwacher Stimme.
»Ich habe zwar alles, was Sie sagen, gehört, aber es klingt
einfach nicht so, als ob es wahr wäre. Nicht, daß ich Ihnen nicht
glaube - Joel hat einmal gesagt, Sie seien ein geradezu peinlich
ehrlicher Mann -, aber irgend etwas fehlt da. Der Converse, den
ich kenne und mit dem ich vier Jahre zusammengelebt habe,
hat nie die Tatsachen verdreht, um irgend etwas zu stützen,
das er einfach glauben wollte. Selbst wenn er noch so wütend
war, wäre er dazu nicht imstande gewesen. Ich habe ihm
einmal gesagt, daß er einen lausigen Maler abgeben würde,
weil er einfach nicht imstande sei, eine Form einfach so zu
verändern, daß sie in ein Konzept paßt. Aber dazu war er
einfach nicht fähig, und ich glaube, er hat mir das einmal
erklärt. Bei fünfhundert Meilen in der Stunde, sagte er, kann
man einen Schatten auf dem Ozean für einen Flugzeugträger
halten, wenn einem die Instrumente ausgefallen sind.«
»Sie sagen also, daß er nicht lügt.«
»Ich bin sicher, daß er das manchmal tut - auch daß er es
früher getan hat -, aber nie, wenn es um wichtige Dinge geht.
Er ist dazu einfach nicht fähig.«
»Das war, bevor er so ernsthaft krank wurde... Er hat diesen
Mann in Paris getötet, das hat er selbst zugegeben.«
-4 3 5
Valerie stöhnte. »Nein!«
»Doch, leider schon. Ebenso wie er Walter Peregrine getötet
hat.«
»Wegen irgendeiner obskuren historischen Theorie! Das paßt
einfach alles nicht zusammen, Larry!«
»Das einzige, was ich will, ist helfen, und ich dachte, Sie
würden das wissen.«
»Das weiß ich auch, wirklich. Dann bis bald, Larry.«
»Ich rufe Sie sofort an, wenn ich etwas erfahre.«
»Tun Sie das. Wiederhören.« Valerie legte auf und sah auf die
Uhr. Es war Zeit, zum Logan-Airport von Boston zu fahren und
Roger Converse abzuholen.
»Achtung, in zehn Minuten sind wir in Köln«, verkündete die
Stimme im Lautsprecher.
Converse saß am Fenster und sah auf die vorüberhuschende
Landschaft hinaus. Der Zug war gut besetzt, auf jeder Sitzbank
saß wenigstens ein Passagier, auf vielen auch zwei. Als sie aus
dem Bahnhof gefahren waren, hatte eine Frau auf dem Platz
gesessen, den er jetzt besetzt hielt, eine gut gekleidete Dame
aus der Vorstadt. Einige Plätze dahinter saß eine andere Frau
offensichtlich eine Bekannte - und sprach Joels Gegenüber an.
Dann sagte die Frau etwas zu Joel. Da er nicht verstand und
nicht antworten konnte, hatte er das Gefühl, die
Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auf sich zu lenken,
und das beunruhigte ihn. Er hatte die Schultern gezuckt und
den Kopf geschüttelt. Die Dame hatte ihn indigniert angesehen,
war aufgestanden und hatte sich zu ihrer Bekannten gesetzt.
Sie hatte eine Zeitung auf dem Sitz liegengelassen, die Zeitung
mit seinem Gesicht auf der Titelseite. Er hatte das Blatt
angestarrt, bis ihm klar wurde, was er tat. Dann wechselte er
die Plätze, nahm sich die Zeitung und faltete sie zusammen, so
daß das Bild nicht mehr zu sehen war. Er sah sich vorsichtig
um, hielt sich die Hand über die Lippen, runzelte nachdenklich
die Stirn und versuchte, den Eindruck eines in Gedanken
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versunkenen Mannes zu erwecken, dessen Augen ins Leere
blickten. Aber er hatte ein anderes Augenpaar gesehen, das ihn
studierte - ihn anstarrte, während ihr Besitzer in eine lebhafte
Diskussion mit einer älteren Dame vertieft schien, die neben
ihm saß. Der Mann hatte den Blick abgewandt, und Converse
hatte vielleicht eine halbe Sekunde Zeit gehabt, das Gesicht zu
mustern, ehe er sich dem Fenster zuwandte. Er kannte dieses
Gesicht; er hatte mit dem Mann schon gesprochen, konnte sich
aber nicht mehr erinnern, wo oder wann das gewesen war. Nur
daß sie miteinander gesprochen hatten, wußte er. Diese
Erkenntnis war ebenso beunruhigend wie irritierend. Wo war es
gewesen? Wann? Kannte der Mann ihn, kannte er seinen
Namen?
Wenn das der Fall war, so hatte der Mann sich jedenfalls nichts
anmerken lassen. Joel versuchte, sich den Mann stehend
vorzustellen; vielleicht würde das seiner Erinnerung helfen. Er
war kräftig gebaut und wirkte jovial, aber Converse spürte
etwas Böses an ihm. Seit dem Blickwechsel waren gut fünf
Minuten vergangen, und Joel war nicht weitergekommen, hatte
sich nicht erinnern können. Er kam nicht weiter, und das
machte ihm Angst.
»Wir kommen in zwei Minuten in Köln an. Bitte, achten Sie auf
Ihr Gepäck.«
»Entschuldigen Sie bitte. Ist dieser Platz frei?«
Ein etwa gleichaltriger Mann, der einen Aktenkoffer in der Hand
trug, sagte die für ihn unverständlichen Worte.
Joel nickte, das Gesprochene instinktiv richtig verstehend.
»Danke«, sagte der Mann und setzte sich, wobei er den
Aktenkoffer vor sich auf den Boden stellte. Er holte eine Zeitung
unter dem linken Arm hervor und faltete sie auseinander.
Converses Muskeln strafften sich, als er sein Foto sah, sein
eigenes ernstes Gesicht, das ihn anstarrte. Er wandte sich
wieder zum Fenster, zog sich die Hutkrempe tiefer ins Gesicht
und hoffte, das Bild eines erschöpften Reisenden zu vermitteln,
der sich ein paar Minuten Schlaf gönnt. Augenblicke später, als
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der Zug sich bereits wieder in Bewegung gesetzt hatte, glaubte
er, sein Ziel erreicht zu haben.
»Verrückt, nicht wahr?« sagte der Mann mit dem Aktenkoffer,
ohne den Blick von der Zeitung zu wenden. Joel regte sich,
blinzelte und brummte »Hmm.« »Verzeihung«, murmelte der
Mann und hob entschuldigend die Hand.
Converse ließ sich wieder gegen das Fenster sinken. Die kühle
Glasscheibe wirkte wie ein Ort der Zuflucht. Er schloß die
Augen, und die Dunkelheit war ihm willkommener, als er sich je
erinnern konnte.
»Wir treffen in fünf Minuten in Düsseldorf ein.« Joel ruckte
hoch; sein Hals war schmerzhaft steif, sein Kopf kalt. Er mußte
eine beträchtliche Zeit geschlafen haben. Der Mann neben ihm
las in einem Bericht und versah ihn mit Randnotizen. Den
Aktenkoffer hatte er auf dem Schoß, die Zeitung ordentlich
zwischen sich und Converse gefaltet, so daß Joels Foto
deutlich zu sehen war und zur Waggondecke starrte. Der Mann
klappte seinen Koffer auf, legte den Bericht hinein und
verschloß ihn wieder. Er wandte sich Converse zu.
»Der Zug ist pünktlich«, sagte er und nickte dabei mit dem
Kopf.
Joel erwiderte das Nicken. Dann nahm er plötzlich wahr, daß
der Mann auf der anderen Seite des Mittelgangs gemeinsam
mit der älteren Frau aufgestanden war und den Kopf schüttelte,
offenbar als Antwort auf etwas, das die Frau gesagt hatte. Aber
er sah sie dabei nicht an; seine Augen waren auf Converse
gerichtet. Joel ließ sich wieder ans Fenster sinken und nahm
erneut die Pose des müden Reisenden ein, die weiche
Hutkrempe fast bis zur Brille ins Gesicht gezogen. Wer war
dieser Mann? Wenn sie einander kannten, wie konnte er dann
unter den vorliegenden Umständen schweigen? Wie konnte er
einfach hin und wieder herüberblicken und sich dann ganz
beiläufig wieder der Frau zuwenden?
Der Zug begann seine Fahrt zu verlangsamen. Das metallische
Mahlen der Bremsscheiben an den Rädern schwoll an; bald
würden sie in Düsseldorf einrollen. Converse fragte sich, ob der
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Deutsche neben ihm wohl aussteigen würde. Er hatte seinen Aktenkoffer geschlossen, machte aber keine Anstalten aufzustehen und sich der Schlange anzuschließen, die sich an der vorderen Gangtür gebildet hatte. Statt dessen griff er wieder nach seiner Zeitung, schlug sie aber barmherzigerweise auf einer der inneren Seiten auf. Der Zug hielt an; Reisende stiegen aus, neue ein hauptsächlich Frauen mit Einkaufstüten und Plastiktaschen, die die Schriftzüge teurer Boutiquen und bekannter Namen der Modewelt trugen. Der Zug nach Emmerich war eine »Nerzlinie«, wie Val die Nachmittagszüge von New York nach Westchester und Connecticut zu nennen pflegte. Joel sah, daß der Mann von der anderen Seite des Mittelgangs die ältere Dame ans Ende der Schlange geführt hatte und ihr noch einmal beflissen die Hand schüttelte, ehe er zu seinem Platz zurückging. Converse wandte das Gesicht wieder dem Fenster zu und schloß die Augen. »Bitte, könnten wir den Platz tauschen? Dieser Herr ist ein Bekannter von mir. Ich sitze in der nächsten Reihe.« »Sicher, aber er schläft ja doch nur!« »Ich wecke ihn«, sagte der Deutsche neben Converse und stand lachend auf. Der Mann von der anderen Seite des Mittelgangs hatte die Plätze getauscht. Er setzte sich neben Joel. Converse streckte sich, gähnte und hielt sich die linke Hand vor den Mund, während seine Rechte unter sein Jackett nach dem Pistolenkolben griff. Wenn es notwendig sein sollte, würde er diese Waffe seinem neuen und doch irgendwie vertrauten Sitzgefährten zeigen. Der Zug fuhr an, das Fahrgeräusch wurde wieder lauter; das war der Augenblick. Joel drehte sich zu dem Mann herum. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie das sind«, sagte der Mann, offensichtlich ein Amerikaner, und grinste breit. Converse hatte recht gehabt, an dem korpulenten Mann war irgendein gemeiner Zug; er hörte das in der Stimme, so wie er
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es schon einmal gehört hatte - nur daß er sich nicht erinnerte, wo das gewesen war. »Sind Sie sicher?« fragte Joel. »Sicher bin ich sicher. Aber ich wette, Sie sind es nicht, oder?« »Offen gestanden, nein.« »Ich helfe Ihnen. Ich kann immer einen alten Yankee entdecken! In all den Jahren, in denen ich jetzt mit meinen Imitationen herumreise, habe ich nur wenige Fehler gemacht.« »Kopenhagen«, sagte Converse mit einem Anflug von Ekel. Er erinnerte sich, daß er mit dem Mann auf sein Gepäck gewartet hatte. »Und einer Ihrer Fehler war in Rom, als sie einen Italiener für einen Kubaner aus Florida hielten.« »Sie haben's erfaßt] Der Typ hat mich wirklich durcheinandergebracht. Ich hielt ihn für einen Hispano mit 'ner Menge Kies - wahrscheinlich vom Rauschgifthandel. Sie wissen, was ich meine? Sie wissen schon, wie die sich den ganzen Markt von den Keys aufwärts unter den Nagel gerissen haben... Sagen Sie, wie war doch gleich der Name?« »Rogers«, erwiderte Joel, einfach weil er vor einer Weile an seinen Vater gedacht hatte. »Sie sprechen Deutsch«, fügte er dann hinzu, aber nicht als Frage, sondern als Feststellung. »Shit, muß ich ja wohl. Westdeutschland ist so ziemlich unser größter Markt. Mein alter Herr war ein Kraut; das war die einzige Sprache, die der beherrscht hat.« »Was verkaufen Sie denn?« »Die besten Imitationen auf der Seventh Avenue, aber damit wir uns nicht mißverstehen, ich bin keiner von diesen Judenboys. Nehmen Sie zum Beispiel einen Balenciaga, okay? Ändern Sie ein paar Knöpfe und ein paar Falten und setzen Sie eine Rüsche an, wo der Latino keine hat, und dann verteilen Sie die Muster über die Bronx und Jersey, die untere Hälfte von Miami und Pennsylvania, wo die ein Etikett wie >Valenciana< hineinnähen. Dann verscheuern Sie den ganzen Mist en gros um ein Drittel des Preises, und alle sind glücklich - mit Ausnahme des Latino natürlich. Aber der kann nichts machen, weil das Ganze zum größten Teil völlig legal ist.« -4 4 0
»Da wäre ich nicht so sicher.«
»Wir kommen in fünf Minuten in Duisburg an.«
In Duisburg geschah es.
Zuerst der Tumult, und auch der kam keineswegs plötzlich. Er
wuchs an, so wie eine riesige, sich dahinwälzende Woge an
Kraft zunimmt, während sie sich einer zerklüfteten Küste
nähert, ein getragenes Crescendo, das krachend auf die Felsen
niederschmettert. Die Reisenden, die den Zug bestiegen, fingen
alle gleichzeitig zu reden an, in erregten Stimmen und mit
gestreckten Hälsen, um die Worte eines Fremden zu hören.
Einige trugen kleine Transistorradios, die sich manche sogar
ans Ohr hielten. Andere hatten ihre Geräte auf volle Lautstärke
gedreht, damit die Umgebung mithören konnte. Je überfüllter
der Zug wurde, desto lauter wurden die Gespräche, in die sich
die schrillen Töne aus den Radios mischten. Ein schmales
junges Mädchen, das seine Schulbücher in einer Leinentasche
und ein plärrendes Radio in der linken Hand hielt, nahm vor
Joel und dem Vertreter Platz. Andere Reisende drängten sich
um sie, redeten auf sie ein, forderten sie offenbar auf, das
Radio lauter zu stellen.
»Was soll der ganze Lärm?« fragte Converse seinen Nachbarn.
»Augenblick!« erwiderte der Vertreter und lehnte sich mit
einiger Mühe vor, erhob sich dann unter noch größerer Mühe
von seinem Sitz und sagte: »Lassen Sie mich hören.«
Converse packte den Vertreter am Jackett. »Was soll das
sagen Sie mir doch, was passiert ist?« fragte er eindringlich.
»Dieser Verrückte hat wieder zugeschlagen!... Warten Sie,
lassen Sie mich hören.« Wieder waren Störgeräusche zu hören
und dann wieder die Stimme des deutschen Senders. Ein
Gefühl schrecklicher Angst erfüllte Joel, als wieder deutsche
Worte aus dem kleinen Radio hallten, in atemloser Hast
gesprochen und ihm völlig unverständlich. Schließlich endete
der Sprecher.
»Würden Sie mir bitte sagen, was das alles soll?« fragte
Converse, darauf bedacht, seine Angst unter Kontrolle zu
halten.
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»Ja, sicher«, sagte der Dicke und holte ein Taschentuch aus
der Brusttasche, mit dem er sich die Stirn abrupfte. »Dieser
Militärtyp, der das Hauptquartier in Brüssel unter sich hat...«
»Der Oberste Befehlshaber der NATO«, sagte Joel, dessen
Furcht jetzt keine Grenzen mehr kannte.
»Ja, der. Man hat ihn erschossen, ihm mitten auf der Straße
eine Kugel durch den Kopf gejagt, als er gerade ein kleines
Restaurant in der Altstadt verließ. Er hat übrigens Zivil
getragen.«
»Wann?«
»Vor ein paar Stunden.«
»Und wer soll es getan haben?«
»Derselbe Spinner, der diesen Botschafter in Bonn umgelegt
hat, der Verrückte!«
»Woher wissen die das denn?«
»Die haben seine Pistole.«
»Die was?«
»Die Pistole. Deshalb ist die Nachricht nicht gleich freigegeben
worden; sie wollten die Fingerabdrücke in Washington
überprüfen. Aber es sind seine, und man nimmt an, daß die
ballistische Prüfung ergeben wird, daß es dieselbe Pistole war,
mit der dieser, wie heißt er denn gleich, erschossen wurde.«
»Peregrine«, sagte Converse leise, der jetzt ahnte, daß ihm das
Schlimmste noch bevorstand.
»Wie haben die denn die Pistole bekommen?«
»Ja, die haben dem Dreckskerl eins verpaßt. Der NATO-Typ
hatte einen Leibwächter bei sich, der auf den Spinner
geschossen und ihn getroffen hat - man nimmt an, am linken
Arm. Als der Spinner sich an den Arm griff, fiel ihm die Pistole
aus der Hand. Sämtliche Krankenhäuser und Ärzte sind
alarmiert worden und alle Grenzen werden überwacht.
Jeder Amerikaner muß die Ärmel hochkrempeln, und jeder, der
ihm auch nur entfernt ähnelt, wird unter die Lupe genommen.«
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»Die sind aber gründlich«, sagte Joel, der nicht wußte, was er
sonst sagen sollte und nur den Schmerz seiner Wunde spürte.
»Das muß man dem Spinner ja lassen«, fuhr der Vertreter fort
und nickte in einer obszön wirkenden Geste des Respekts.
»Der hält die von der Nordsee bis zum Mittelmeer auf Trab. Die
haben Berichte, wonach man ihn in Flugzeugen in Antwerpen,
Rotterdam und hier in Düsseldorf gesehen hat. Von Düsseldorf
nach Brüssel sind es nur fünfundvierzig Minuten. Ich habe
einen Freund in München, der ein paarmal die Woche nach
Venedig fliegt, bloß um dort zu Mittag zu essen. Von einer Stadt
zur anderen ist es hier ja nur ein kleiner Sprung. Manchmal
vergessen wir das, verstehen Sie.«
»Ja. Kurze Flüge... Haben Sie sonst noch etwas gehört?«
»Die sagten, er könnte nach Paris oder London unterwegs sein,
oder vielleicht sogar Moskau. Er könnte ja ein Kommunist sein,
wissen Sie? Die überwachen auch die privaten Flugplätze, er
könnte ja Freunde haben, die ihm helfen - die richtigen
Freunde, hm? Eine richtig vergnügte Gruppe von Spinnern. Die
vergleichen ihn sogar mit diesem Carlos, mit dem, den sie den
Schakal nennen. Was sagen Sie dazu? Die sagen, wenn er
nach Paris fliegt, dann könnten die zwei sich ja zusammentun,
dann könnten sie ein richtiges Schützenfest veranstalten. Aber
dieser Converse hat sein eigenes Markenzeichen. Er jagt ihnen
die Kugeln immer in den Kopf.«
Joels Muskeln spannten sich, und er spürte einen stechenden
Schmerz in der Brust. Das war das erstemal, daß ein Fremder
seinen Namen so beiläufig ausgesprochen und ihn zum
psychopathischen Killer erklärt hatte. Die Generale von
Aquitania hatten ihre Arbeit perfekt getan, bis zu seinen
Fingerabdrücken auf einer Pistole und einer Fleischwunde am
Arm. Aber das Timing- wie konnten sie es wagen? Woher
wußten sie, daß er nicht irgendwo in einer Gesandtschaft
unbefristetes Asyl bat, bis er seine Verteidigung vorbringen
konnte? Wie konnten sie das Risiko eingehen?
Und dann begriff er plötzlich, und er mußte die Finger der
rechten Hand um sein Handgelenk krampfen, um sich unter
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Kontrolle zu halten, um seine Panik zu unterdrücken. Sein Anruf bei Mattilon! Wie leicht war es möglich, daß Renes Telefon angezapft war, entweder von der Sürete oder von Interpol. Und wie schnell würden die Informanten von Aquitania die Nachricht verbreiten! O Gott! Weder er noch Rene hatten daran gedacht! Sie wußten, wo er war, und wohin er auch ging, die Falle würde zuschnappen! Wie der widerliche Vertreter es so klar formuliert hatte, »von einer Stadt zur nächsten ist es nur ein kurzer Sprung«. Man konnte von München nach Venedig fliegen, um dort Mittag zu essen, und am Nachmittag bereits wieder im Büro sein. Und ebensogut konnte man in Brüssel einen Menschen töten und fünfundvierzig Minuten später im Zug nach Düsseldorf sitzen. Entfernungen wurden hier in halben Stunden gemessen. Von Brüssel aus gesehen, bedeuteten »vor ein paar Stunden« einen weiten Kreis von Städten und etliche Grenzen. Waren die, die ihn jagten, im Zug? Es war möglich. Aber sie konnten unmöglich wissen, welchen Zug er genommen hatte. Leichter und viel weniger zeitraubend würde es sein, in Emmerich auf ihn zu warten. Er mußte nachdenken, mußte sich bewegen. »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Converse und stand auf. »Ich muß auf die Toilette.« »Sie haben es gut.« Der Vertreter bewegte seine massigen Beine und hielt seine Hosen dabei fest, während er Joel vorbeiließ. »Ich kann mich kaum in diese engen Schachteln zwängen. Ich gehe immer pinkeln, bevor ich...« Joel ging müde den Mittelgang hinauf, ein erschöpfter Passagier. Aber der weiße Schlitz unter der Türklinke des WCs zeigte das Wort Besetzt. Er wandte sich der Tür zum nächsten Waggon zu, zog sie auf und trat hinaus, ging über die schmale, vibrierende Verbindung zur gegenüberliegenden Türe. Er stieß sie auf, betrat das Abteil aber nicht, sondern machte nur einen Schritt nach vorn, bückte sich dann, drehte sich dabei um und zog sich wieder in den Schatten zurück. Jetzt richtete er sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schob sich vorsichtig an die Fensterscheibe. In seinem Blick hatte er jetzt den Innenraum des letzten Waggons des Zuges, und wenn -4 4 4
er sich umdrehte, konnte er auch den Waggon davor
übersehen. Er wartete, beobachtete, drehte sich wieder um und
rechnete jeden Augenblick damit, daß jemand seine Zeitung
sinken ließ oder ein Gespräch unterbrach und auf seinen leeren
Sitz sah. Doch niemand tat das. Die Aufregung über den Mord
in Brüssel hatte sich rasch wieder gelegt, ebenso wie die
Erregung, die in Bonn entstanden war, als man in den Straßen
erfahren hatte, daß ein Botschafter getötet worden war.
Schließlich betraf es diese Menschen eigentlich auch nicht. Ein
Amerikaner hatte Amerikaner getötet. »Wir kommen in drei
Minuten in Wesel an.« Mehrere Passagiere in beiden Waggons
standen auf, griffen nach ihren Aktenkoffern oder Einkaufstüten
und setzten sich in Bewegung. Das Mahlen der Räder auf den
Gleisen ließ erkennen, daß sie sich der Station näherten. Jetzt.
Joel wandte sich dem Ausgang zu, fand den oberen Riegel,
löste ihn, zog die obere Türhälfte zurück; das Brausen des
Luftstroms war betäubend. Er fand den Griff des unteren
Riegels und packte ihn, bereitete sich darauf vor, ihn zu öffnen,
sobald ihre Fahrt genügend langsam geworden war. Nur noch
Sekunden. Die Geräusche wurden lauter - da drängten sich die
mit scharfer Stimme gesprochenen Worte in sein Bewußtsein,
und er erstarrte.
»Sehr gut ausgedacht, Herr Converse! Manche gewinnen,
manche verlieren. Sie haben verloren.«
Joel wirbelte herum. Der Mann, der ihm in dem beengten Raum
gegenüberstand, war der Passagier, der in Düsseldorf
zugestiegen war, der Mann, der neben ihm gesessen hatte, bis
der korpulente Geschäftsmann ihn gebeten hatte, die Plätze zu
tauschen. In der linken Hand hielt er in Hüfthöhe eine Pistole, in
der rechten seinen Aktenkoffer. »Sie überraschen mich«, sagte
Converse. »Das will ich hoffen. Ich habe den Zug in Düsseldorf
kaum geschafft. Ach, wie ein Verrückter bin ich durch drei
Waggons gelaufen - aber nicht so verrückt wie Sie, ja?«
»Was passiert jetzt? Sie schießen und retten die Welt vor
einem Verrückten?«
»Nichts was so einfach wäre, Pilot.«
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»Pilot.«
»Namen sind unwichtig, aber ich bin Oberst in der deutschen
Luftwaffe. Piloten töten einander nur in der Luft. Auf dem Boden
ist das unwürdig.«
»Sie beruhigen mich.«
»Ich übertreibe auch. Eine falsche Bewegung, und ich bin ein
Held des Vaterlandes, der einen verrückten Meuchelmörder in die Enge getrieben und ihn getötet hat, ehe der mich töten konnte.« Joel bewegte sich vorsichtig rückwärts, bis er die Waggonwand im Rücken spürte. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er hatte keine Wahl, nur die, jetzt zu sterben oder in einigen Stunden. »Ich nehme an, Sie haben sich einen Zeitplan für mich ausgedacht«, sagte er und ließ dabei seinen linken Arm nach vorn fahren, wie um seine Frage zu unterstreichen. »Ganz sicher haben wir das, Pilot. Wir verlassen den Zug in Wesel, und dann werden wir beide gemeinsam in eine Telefonzelle gehen, wobei ich Ihnen die Pistole gegen die Brust halte. Dann wird uns ein Wagen abholen, und man wird Sie...« Converse stieß mit dem rechten Ellbogen, den der andere nicht sehen konnte, gegen die Wand. Sein linker Arm blieb offen sichtbar. Aufgeschreckt blickte der Deutsche zur Tür des vorderen Waggons. Jetzt! Joel stürzte sich auf die Waffe, beide Hände griffen nach dem schwarzen Lauf, während er dem Mann das rechte Knie mit aller Kraft in den Unterleib rammte. Als der Deutsche nach hinten fiel, packte er ihn am Haar und schmetterte den Kopf seines Gegners gegen das vorstehende Scharnier der gegenüberliegenden Tür. Der Kampf war vorüber. Die Augen des Deutschen waren geweitet, erschreckt, glasig. Wieder ein Feind, der tot war, aber dieser Mann war kein unwissender Söldner einer unpersönlichen Regierung gewesen, er war ein Soldat von Aquitania.
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Eine korpulente Frau schrie hinter dem Gangfenster, das Gesicht hysterisch verzerrt, den Mund weit aufgerissen. »Wesel...!« Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt, und andere erregte Gesichter erschienen am Fenster, versperrten denen, die aussteigen wollten, den Weg. Converse warf sich gegen die Tür, packte den Riegel und riß ihn auf, schmetterte die Tür gegen die Waggonwand. Unter ihm waren die Stufen, dahinter Kies und Teer. Er holte tief Luft und stürzte sich hinaus. Im Fallen krümmte er sich zusammen, um den Aufprall zu mildern. Dann überschlug er sich wieder und wieder...
23 Er prallte von einem Steinbrocken zurück in ein Gebüsch. Nesseln und Äste strichen ihm über das Gesicht und verbrannten ihm die Hände. Sein Körper fühlte sich wie ein einziger Bluterguß an, die Wunde an seinem linken Arm brannte und war feucht, aber jetzt war nicht die Zeit, um an den Schmerz zu denken. Er mußte hier weg; in wenigen Minuten würde es hier von Männern wimmeln, die ihn suchten, die den Mörder eines Offiziers der deutschen Luftwaffe suchten. Es bedurfte keiner besonderen Phantasie, um sich auszumalen, was als nächstes geschehen würde. Man würde die Passagiere verhören - darunter auch einen Geschäftsmann, und plötzlich würde jemand eine Zeitung in der Hand halten. Man würde ein bestimmtes Foto genauer betrachten und die entscheidende Verbindung herstellen. Ein verrückter Mörder, den man zuletzt in einer Seitengasse in Brüssel gesehen hatte, war nicht nach Paris, London oder Moskau unterwegs. Er befand sich in einem Zug, den er in Bonn bestiegen hatte und der durch Köln, Düsseldorf und Duisburg gerollt war - und jetzt hatte der Wahnsinnig wieder getötet in einer Stadt, die Wesel hieß... Plötzlich hörte er den schrillen Ton eines Zugsignals. Er sah den kleinen Hügel zu den Gleisen hinauf; ein Zug, der ini südlicher Richtung fuhr, rollte mit wachsender Geschwindigkeit -4 4 7
aus der ein paar hundert Meter entfernten Station. Sein Hut. Er lag umgedreht, etwas weiter den Hügel hinauf. Joel kroch aus dem Gebüsch heraus, richtete sich taumeln auf und lief los. Den Teil seines Bewußtseins, der ihm sagte daß er sich nicht bewegen konnte, beachtete er einfach nicht. Er schnappte sich den Hut und begann, nach rechts zu rennen. Der Zug raste vorbei; er rannte den Abhang hinauf quer über die Gleise, auf ein altes Gebäude zu, das aller Anschein nach verlassen war. Die meisten Fensterscheiben des Hauses waren zerschlagen. Dort würde er ein paar Augenblicke Ruhe finden, aber nicht länger; dazu war da Gebäude ein zu auffälliges Versteck. In zehn oder fünfzehn Minuten war es vielleicht schon umstellt, von Männern mit Schußwaffen an jedem Ausgang. Er versuchte verzweifelt sich zu erinnern. Wie hatte er es das letztemal geschafft? Wie war er den Streifen in dem Dschungeln von Phu Loc entkommen?... Aussichtspunkte. Man mußte sich einen Ortsvorteil verschaffen, an einen Platz gelangen, wo man sie sehen konnte, aber selbst nicht gesehen wurde! Aber im Dschungel hatte es hohe Bäume gegeben, und er war damals jünger und kräftiger gewesen, hatte klettern können und sich hinter dem grünen Laubwerk versteckt. Aber hier, am Rand eines Bahnhofs gab es nichts dergleichen... Oder vielleicht doch! Rechts von dem Gebäude war eine Mülldeponie, wo Erde und Abfälle aufgehäuft waren; das war seine einzige Wahl. Mit schmerzenden Armen und Beinen lief er stöhnend auf den letzten Abfallberg zu. Als er ihn erreichte hatte, lief er um ihn herum, um von hinten hinaufzuklettern. Immer wieder glitten seine Füße in der weichen Erde und den Abfällen aus; dafür lenkte der übelkeitserregende Gestank seine Gedanken von seinen Schmerzen ab. Unermüdlich kroch er weiter und arbeitete sich mit Händen und Füßen in die Höhe. Wenn es sein mußte, wollte er sich sogar in der stinkenden Masse eingraben. Für das Überleben gab es keine Regeln, und wenn er sich auf diese Weise vor dem Kugelhagel bewahren konnte, der seinem Leben ein Ende setzen sollte, war der Abfallhaufen das beste Versteck. -4 4 8
Jetzt hatte er den höchsten Punkt des Müllberges erreicht und preßte sich gegen den Boden. Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in den Abschürfungen, die er sich zugezogen hatte. Sein Atem ging unregelmäßig, und er zitterte von der ungewohnten Anstrengung seiner Muskeln und vor Furcht. Er blickte auf die Rangierstrecke hinunter, dann hinüber zum Bahnhof. Der Zug hatte angehalten, und der Bahnsteig war mit Leuten gefüllt, die verwirrt durcheinanderliefen. Ein paar uniformierte Männer riefen Befehle und versuchten, etwas Ordnung in die Reisenden zu bringen. Offenbar wollte man die Leute aus den zwei Waggons, zwischen denen sich der Mord ereignet hatte, von den anderen trennen. Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude war ein grün-weiß gestreifter Polizeiwagen mit kreisendem Blaulicht zu erkennen. In der Ferne war eine Sirene zu hören, und Sekunden später schoß eine weiße Ambulanz auf den Parkplatz, machte mit kreischenden Reifen kehrt und raste rückwärts auf den Bahnsteig zu. Die beiden hinteren Türen öffneten sich, zwei Sanitäter sprangen mit einer Trage heraus, ein Polizeibeamter rief ihnen etwas zu und gestikulierte wild. Die Sanitäter rannten die Treppe hinauf und folgten ihm. Ein zweiter Streifenwagen schoß heran und bremste scharf neben der Ambulanz. Zwei Polizeibeamte stiegen aus und gingen die Treppen hinauf; der Offizier, der die Sanitäter eingewiesen hatte, begrüßte die Polizisten; er hatte zwei Zivilisten neben sich, einen Mann und eine Frau. Die fünf sprachen miteinander, und kurz darauf kehrten die zwei Streifenbeamten zu ihrem Fahrzeug zurück. Der Fahrer setzte zurück und bog nach links, ließ den Motor aufheulen und raste auf die Südecke des Parkplatzes zu, direkt auf die Stelle, wo Converse sich verbarg. Wieder hielten sie an und stiegen aus, jetzt mit gezogenen Waffen; sie rannten über die Gleise, den Schotterabhang hinunter. In wenigen Minuten würden sie zurück sein, dachte Joel und preßte sich noch tiefer in den stinkenden Unrat. Jetzt würden sie gleich das verlassene Gebäude durchsuchen, vielleicht Hilfe herbeirufen. Abei über
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kurz oder lang würden sie sich auch für die Müllkippe
interessieren.
Converse sah sich um; da war eine Zufahrt mit schweren
Radspuren, die zu einem hohen Drahtzaun führte, und ein Tor,
das mit einer dicken Kette versperrt war. Jemand, der über die
Zufahrt rannte und an dem Zaun hochkletterte, würde auffallen;
er mußte bleiben, wo er war. Der Müllberg war immer noch
seine beste Zuflucht.
Ein Geräusch riß ihn aus seinen Überlegungen... ein Geräusch,
wie er es erst kurz zuvor gehört hatte. Zu seiner Rechten, auf
dem Parkplatz. Ein dritter Streifenwagen kam mit heulender
Sirene herangerast, aber er steuerte nicht auf die Ambulanz
und den ersten Polizeiwagen am Bahnsteig zu, sondern bog
nach links in Richtung auf den grün-weißen Wagen am
Südende des Parkplatzes. Die zwei Beamten hatten über Funk
Hilfe angefordert. Joel spürte ein betäubendes Gefühl der
Verzweiflung. Dort warteten seine Henker. In dem dritten
Wagen war nur ein Mann... oder war da noch jemand? Drehte
der Polizist sich nach hinten, um etwas zu sagen? Nein,
offenbar löste er nur seinen Sicherheitsgurt.
Ein grauhaariger uniformierter Mann stieg aus, sah sich um und
ging dann mit schnellen Schritten auf die Gleise zu. Er
überquerte sie, blieb oben am Abhang stehen und rief den
Beamten über das braune, von der Sonne verbrannte Gras
etwas zu. Converse hatte keine Ahnung, was der Mann sagte,
aber die Szene wirkte merkwürdig.
Die zwei Polizisten kamen zurückgelaufen, ihre Waffen hatten
sie wieder in die Gürtelhalfter gesteckt. Es kam zu einem
kurzen, hitzigen Wortwechsel. Der Ältere wies auf eine Stelle im
Süden der Müllkippe; seiner Lautstärke nach zu schließen,
erteilte er Befehle.
Die jüngeren Polizisten liefen über die Gleise zurück zu ihrem
Wagen, ihr Vorgesetzter folgte ihnen langsam. Sie rissen die
Türen auf, sprangen hinein und schossen aus dem Parkplatz
heraus. Der ältere Mann stand jetzt neben seinem Wagen,
machte aber keine Anstalten, einzusteigen. Statt dessen schien
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er zu sprechen; zumindest bewegten sich seine Lippen, und fünf Sekunden später öffneten sich die hinteren Wagentüren, und zwei Männer stiegen aus. Einen davon kannte Converse gut, seine Waffe steckte in seiner Tasche. Es war Leifhelms Chauffeur. Er trug einen Verband am Kopf und ein Pflaster auf der Nase. Er zog eine Waffe und erteilte dem anderen Mann einen Befehl. Seine Stimme war die eines verletzten, wütenden Frontsoldaten. Peter Stone verließ das Hotel in Washington. Er hatte dem jungen Lieutenant von der Navy und dem älteren Captain von der Army gesagt, daß er am Morgen mit ihnen Verbindung aufnehmen würde. Kinder, dachte er. Idealistische Amateure waren das schlimmste, weil ihre Selbstgerechtigkeit meist nur von ihrer Ungeschicklichkeit übertroffen wurde. Die kindische Abneigung, die sie für jegliche Art von Täuschungsmanöver empfanden, ließ sie meist einfach nicht erkennen, daß man kompromißlos und konsequent handeln mußte, wenn man überhaupt eine Chance haben wollte. Stone stieg in ein Taxi- seinen eigenen Wagen ließ er in der Tiefgarage - und gab dem Fahrer die Adresse eines Apartmenthauses an der Nebraska Avenue. Die Kinder. Herrgott! Sie hatten so recht. Das, was sie empfanden, war genau richtig, aber was sie nicht begriffen, war, daß sie, wenn sie die George Marcus Delavanes von heute angriffen, einen Krieg in allen Schattierungen der Brutalität führen mußten, weil diese Männer nur so zu kämpfen verstanden. Rechtschaffenheit allein genügte nicht, es mußte die Bereitschaft dazukommen, auch in die Gosse hinabzusteigen, wenn dies notwendig war, und keine Gnade zu suchen, weil niemand Gnade erweisen würde. Dies war das letzte Fünftel des zwanzigsten Jahrhunderts, und die Generale setzten alles auf eine Karte, ihr Verfolgungswahn ließ ihnen keine andere Wahl mehr. Stone hatte das seit Jahren kommen sehen, und es gab Zeiten, wo er nahe daran gewesen war zu applaudieren und seine -4 5 1
Seele zu verkaufen. Strategien waren gescheitert - Männer getötet worden -, und alles nur wegen unsinniger bürokratischer Hemmnisse, die ihren Grund in Gesetzen und einer Verfassung hatten, die zu einer Zeit erlassen worden waren, als noch niemand an etwas wie Moskau gedacht hatte. Die verrückten Delavanes dieses Planeten - dieses Teils des Planeten - hatten eine Reihe ganz plausibler Gründe auf ihrer Seite. Vor Jahren hatte es in der Firma genügend Leute gegeben, die daraus kein Hehl machten. Sie sagten: Laßt uns doch die Atomanlagen in Taschkent und Tselinograd bombardieren. Jagen wir doch Chengdu und She-nyang in die Luft! Geben wir ihnen keine Chance zum ersten Schlag! Wir haben Verantwortungsbewußtsein, die nicht! Ob es besser für die Welt gewesen wäre? Doch morgens war Peter dann jedesmal wieder aufgewacht, und jener Teil seiner Seele, den er nicht verkauft hatte, sagte ihm, nein, das können wir nicht tun, das dürfen wir nicht tun. Es mußte einen anderen Weg geben, einen Weg ohne Konfrontation, ohne den Tod Tausender. Und an jene Alternative klammerte er sich immer noch, wenn er heute die Delavanes nicht mehr einfach abtun konnte, nicht mehr wußte, wo die Reise hinging. Wo seine Reise hinging, wußte er - seit Jahren -, deshalb hatte er sich diesen Kindern angeschlossen. Ihre Selbstgerechtigkeit war in Ordnung, ebenso wie ihr Widerwille. Er hatte das alles schon oft genug und an zu vielen Orten erlebt - immer an den Extremen des politischen Spektrums. Die Delavanes des Planeten wollten jeden in einen Roboter verwandeln. Und in vieler Hinsicht war der Tod dem vorzuziehen. Stone sperrte die Wohnungstüre auf, schloß sie hinter sich wieder, zog sein Jackett aus und bereitete sich den einzigen Drink, den er sich an diesem Abend gestatten würde. Er ging zu dem Ledersessel neben dem Telefon und setzte sich. Dann trank er und stellte das Glas neben die Lampe auf den Tisch. Er hob den Hörer ab und wählte sieben Zahlen, dann noch drei und eine weitere. Ein ganz schwacher Wählton trat an die Stelle des üblichen Wählgeräusches, und er wählte noch einmal. Alles war in Ordnung. Das Gespräch wurde über ein diplomatisches -4 5 2
Zerhackerkabel des KGB auf einer Insel in der Meerenge von
Cabot, südöstlich von Neufundland, geleitet. Nur der
Dscherschinsky-Platz würde verwirrt sein. Peter hatte sechs
Negative für diesen Kanal bezahlt. Es klingelte fünfmal, ehe
sich eine Männerstimme in Bern meldete.
»Allo?«
»Ihr alter Freund von Bahrain spricht, der Verkäufer in Lissabon
und Käufer auf den Dardanellen. Muß ich Dixie singen?«
»Das ist ja niicht zu glauuben«, sagte der Mann in Bern und
dehnte seine Worte, wie man im tiefen Süden Amerikas spricht.
Den Versuch, französisch zu klingen, gab er sofort auf. »Das
reicht ja weit zurück, wie?«
»Allerdings.«
»Ich höre, daß Sie jetzt einer von den Bösen sind.«
»Ungeliebt, ohne Vertrauen, aber immer noch geschätzt«,
sagte Stone. »Das ist exakter. Die Firma würde mich um nichts
in der Welt mehr anfassen, hat aber genügend unfreundliche
Typen in der Stadt, die mir ziemlich regelmäßig eine Beratung
zukommen lassen. Ich war nicht so schlau wie Sie. Keine
Depots vom großen Bruder auf einem Schweizer Konto.«
»Wie ich hörte, hatten Sie ein Problem mit dem Alkohol.«
»Ein ziemlich großes sogar, aber das ist vorbei.«
»Man sollte nie mit Leuten, die schlimmer sind als man selbst,
über die eigene Freigabe verhandeln, wenn man nicht ins
Röhrchen pusten kann. Man muß denen Angst machen, nicht
sie zum Lachen bringen.«
»Das habe ich auch festgestellt. Ich höre, Sie befassen sich
auch mit Beratungen.«
»Nur in ziemlich beschränktem Maße und nur mit Klienten, die
vor dem großen Bruder bestehen könnten. Das ist die
Vereinbarung, und daran halte ich mich. Wenn nicht, dann wird
irgendein Typ mit Revolver eingeflogen, und schon liege ich
unter der Erde.«
»Wo Ihnen die Drohungen nichts mehr nützen«, führte der
Zivilist den Satz für ihn zu Ende.
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»So sieht’s aus, lieber Freund. Das ist unsere kleine diente.«
»Würde ich den Test bestehen? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß
ich mit guten Leuten arbeite. Sie sind jung, einer interessanten
Sache auf der Spur und denken sich nichts Böses, was unter
den vorliegenden Umständen nicht gerade eine Empfehlung ist.
Aber deutlicher kann ich nicht werden. Um Ihretwillen
ebensowenig wie um meiner selbst willen und wegen dieser
Leute. Reicht das?«
»Wenn die Beratung nicht draußen im Weltraum stattfindet,
dann ist das mehr als genug. Das wissen Sie auch. Sie haben
mich gerettet, bloß daß Sie vorhin die Reihenfolge verdreht
haben. In den Dardanellen und in Lissabon haben Sie mich
rausgeholt, ehe die mit ihren Revolvern kamen. Und in Bahrain
haben Sie einen Bericht wegen eines verschwundenen
Honorarfonds neu geschrieben - sonst hätten die mich
wahrscheinlich fünf Jahre in Leavenworth eingebuchtet.«
»Sie waren zu wertvoll, als daß wir uns leisten konnten, Sie
wegen einer kleinen Indiskretion zu verlieren. Außerdem waren
Sie nicht der einzige, man hat Sie nur erwischt - oder beinahe
erwischt.«
»Wie dem auch sei, >Johnny Reb< steht in Ihrer Schuld.
Worum geht es?«
Stone griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. Als er
weitersprach, wählte er seine Worte mit aller Sorgfalt. »Einer
unserer Kommandeure ist verschwunden. Ein Problem von
Navy und SAND PAC. Die Leute, mit denen ich zusammen bin,
möchten, daß nichts davon herauskommt. Washington soll
nichts erfahren.«
»Und das gehört zu dem, was Sie mir nicht sagen können«,
sagte der Südstaatler. »Okay, SAND PAC - das ist San Diego
und ein gutes Stück westlich davon bis zur Datumsgrenze,
stimmt’s?«
»Ja, aber das hat nichts zu sagen. Er ist der leitende Anwalt
dort draußen - oder vielleicht muß man jetzt schon sagen, er
war es. Wenn das nicht der Fall ist, wenn es ihn noch gibt, ist er
näher bei Ihnen als bei mir. Nur, wenn ich ein Flugzeug
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besteige, dann bringt mein Paß die Computer zum
Durchglühen, und das geht natürlich nicht.«
»Und das gehört auch zu dem, was Sie mir nicht sagen
können.«
»Richtig.«
»Was können Sie mir denn sagen?«
»Kennen Sie die Botschaft in Bonn?«
»Ich weiß, daß sie Schwierigkeiten hat. Ebenso wie die
Sicherheitseinheiten in Brüssel. Dieser Spinner legt ja eine
ganz schöne Spur. Was ist mit Bonn?«
»Unser Mann ist zuletzt dort gesehen worden.«
»Er hat etwas mit diesem Converse zu tun?«
Steve machte eine Pause. »Sie können sich wahrscheinlich
mehr zusammenreimen als für irgendeinen von uns gut ist, aber
im Prinzip läuft das Szenario auf folgendes hinaus: Unser
Marineoffizier hat sich sehr aufgeregt. Sein Schwager - der
übrigens auch sein nächster Freund war - ist in Genf ermordet
worden...«
»Gar nicht so weit von mir«, unterbrach ihn der Verbannte in
Bern. »Der amerikanische Anwalt, dessen Tod auch auf das
Konto dieses Converse geht. Zumindest habe ich das so
gelesen.«
»Das hat unser Offizier auch geglaubt. Wie oder von wem er
die Information bekam, weiß niemand, aber offenbar hat er in
Erfahrung gebracht, daß Converse nach Bonn unterwegs war.
Er ließ sich Urlaub geben, um sich auf seine Spur zu setzen.«
»Lobenswert, aber dumm«, sagte der Südstaatler. »Ein
Lynchkommando, das aus einem einzigen Mann besteht?«
»Das nicht. Wir haben Grund zu der Annahme, daß er die
Botschaft aufsuchte, zumindest traf er sich mit jemandem von
der Botschaft, um zu erklären, was er wolle. Vielleicht sogar,
um sie zu warnen, wer weiß? Der Rest spricht für sich selbst.
Dieser Converse hat zugeschlagen, und unser Offizier ist
verschwunden. Wir würden gerne herausfinden, ob er noch lebt
oder ob er bereits tot ist.«
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Diesmal machte der Südstaatler eine Pause, aber seine
Atemzüge waren deutlich durch die Leitung zu hören.
Schließlich antwortete er: »Lieber Freund, Sie müssen mir
einfach ein wenig mehr verraten.«
»Ich bin gerade im Begriff, das zu tun, General Lee.«
»Sehr aufmerksam.«
»Es gibt da ebenfalls eine Verbindung. Wenn Sie Lieutenant
Commander in der Navy wären und jemanden in der Botschaft
in Bonn erreichen wollten, jemanden, der Ihnen die
Aufmerksamkeit widmen würde, die Ihrem Rang zukommt, wen
würden Sie da anrufen?«
»Den Militärattache, wen sonst?«
»Genau das ist der Mann. Er ist unter anderem auch ein
Lügner, aber das hat hier jetzt nichts zu sagen. Unserer Ansicht
nach hat der Offizier mit ihm gesprochen, und der Attache hat
ihn abgewimmelt, ihm nicht einmal einen Gesprächstermin mit
Botschafter Peregrine verschafft. Und als es dann passierte,
hat er, um seinen Arsch zu retten... Nun, die Menschen tun
manchmal seltsame Dinge.«
»Was Sie da andeuten, klingt verdammt seltsam.«
»Trotzdem bleibe ich dabei«, sagte der Zivilist.
»Okay, wie heißt er?«
»Washburn. Er ist...«
»Norman Washburn?! Major Norman Anthony Washburn?«
»Das ist er.«
»Jetzt weichen Sie mir bloß nicht aus. Washburn war in Beirut,
dann in Athen und anschließend in Madrid. Und überall hat er
sich bei der Firma unbeliebt gemacht! Für eine gute Beurteilung
würde der seine Frau Mama an die Wand nageln. Er ist
überzeugt, daß er mit fünfundvierzig zu den Vereinigten
Stabschefs gehören wird - und darauf arbeitet er hin.«
»Mit fünfundvierzig?«
»Ich hatte die letzten Jahre keine Verbindung mehr mit ihm
gehabt, aber er ist bestimmt nicht älter als sechsunddreißig,
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siebenunddreißig. Das letzte, was ich hörte, war, daß er wieder
befördert werden sollte. Alle lieben ihn!«
»Er ist ein Lügner«, antwortete der Zivilist in der schwach
beleuchteten Wohnung an der Nebraska Avenue und trank
wieder einen Schluck Bourbon.
»Sie wissen also mehr?«
»Richtig.«
»Und dürfen auch darüber nichts sagen.« Das war eine
Feststellung, keine Frage.
»Auch richtig.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ein Irrtum ist unmöglich. Er muß wissen, wo der SAND PAC-
Anwalt ist - falls er noch lebt.«
»Herrgott! Worauf habt ihr Nordstaatler euch da wieder
eingelassen?«
»Wollen Sie die Spur aufnehmen? Angefangen mit gestern?«
»Mit dem größten Vergnügen. Wie wollen Sie's denn haben?«
»In der Grauzone. Nur Worte, die wie Nadeln stechen - das ist
wichtig. Er muß aufwachen und glauben, daß er sich den
Magen verdorben hat.«
»Frauen?«
»Ich weiß nicht. Da können Sie wahrscheinlich mehr
herausbekommen als ich. Würde er sein Image riskieren?«
»Bei den zwei oder drei Fräuleins, die ich in Bonn habe, wurden
selbst Jesuiten ihren Ordenseid aufs Spiel setzen. Wie heißt
der Gesuchte bitte?«
»Fitzpatrick, Lieutenant Commander Connal Fitzpatrick... Und,
Onkel Remus, was auch immer Sie hören, geben Sie es nur mir
weiter. Sonst niemandem. Niemandem.«
»Und das ist das letzte Stück von dem, was Sie mir nicht sagen
dürfen, stimmt’s?«
»Richtig.«
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»Ich habe mich schon darauf eingestellt. Ein Ziel und nur eine Person. Keine Neugierde und keine Abschweifungen, nur ein Tonbandgerät in meinem Kopf oder in der Hand.« Wieder machte Stone eine Pause und pfiff nur leise vor sich hin, um das Schweigen zu füllen. »Tonband...?« Dann sprach er weiter. »Das ist gar keine schlechte Idee. Ein Minigerät natürlich.« »Natürlich. Diese kleinen Biester sind heute so winzig, daß man sie an den verrücktesten Stellen verstecken kann. Wo kann ich Sie erreichen? Mein Federkiel wartet.« »Die Vorwahl ist Acht-null-vier.« Der ehemalige CIA-Mann gab dem Mann in Bern eine Telefonnummer in Charlotte, North Carolina. »Eine Frau wird sich melden. Sagen Sie ihr, Sie gehörten zur Tatiana-Familie, und hinterlassen Sie eine Nummer.« Merkwürdig, dachte Peter Stone. Seit Jahren hatte er die Tatiana-Familie nicht mehr benutzt. Joel beobachtete aus seinem Versteck auf dem Müllberg, wie Leifhelms Chauffeur und sein Begleiter sich dem leerstehenden Bau näherten. Sie waren unübersehbar erfahrene Leute. Abwechselnd übernahm einer die Spitze und wartete dann hinter ein paar Fässern, bis der andere ihm gefolgt war. Fast gleichzeitig erreichten sie die zwei Türen des Gebäudes, die beide nur lose in den Angeln hingen. Der Chauffeur machte ein Zeichen mit seiner Waffe, und beide Männer verschwanden im Haus. Wieder sah Converse hinter sich. Der Zaun war vielleicht zweihundert Meter entfernt. Konnte er die stinkende Abfallhalde hinunterrutschen, zu dem Drahtzaun laufen und ihn überklettern, bevor die beiden wieder aus der Ruine herauskamen? Warum nicht? Versuchen konnte er es! Er stemmte sich hoch, spürte, wie seine Hände in den Unrat einsanken, drehte sich nach rechts und warf sich nach unten. Plötzlich war in der Ferne ein Krachen zu hören, dann ein Schrei. Joel hielt sofort inne und kroch die drei Meter wieder -4 5 8
zurück, die er auf dem Weg nach unten bereits zurückgelegt
hatte. Der Chauffeur kam aus der Türe geeilt und hetzte auf die
Ecke zu, wo sein Begleiter das Haus betreten hatte. Seine
Waffe hielt er schußbereit in der Hand. Vorsichtig näherte er
sich der Tür, sah dann anscheinend etwas im Schatten und
stieß einen Fluch aus. Sekunden darauf kam er wieder aus
dem Haus und stützte den anderen Mann. Offenbar war eine
Treppe eingestürzt. Der zweite Mann hielt sich ein Bein und
hinkte.
Vom Bahnhof ertönten zwei laute Huptöne. Der Bahnsteig war
leer, die Passagiere hatten den Zug wieder bestiegen; die
Panik hatte sich gelegt. Der Zug würde seine Reise fortsetzen
und versuchen, die Verspätung aufzuholen. Der letzte
Polizeiwagen und der Krankenwagen waren verschwunden.
Vor der Ruine schlug der Chauffeur ein paarmal wütend auf
seinen Begleiter ein und stieß ihn zu Boden. Der Mann richtete
sich mühsam wieder auf, gestikulierte wild und flehte den
anderen offenbar an, ihn in Ruhe zu lassen. Der Chauffeur ließ
auch von ihm ab und wies ihn offenbar an, zwischen dem
Gebäude, der Müllhalde und dem Zaun Position zu beziehen.
Als der Mann dort angelangt war, drehte sich der Chauffeur um
und betrat erneut die Ruine.
Es verstrich eine halbe Stunde. Tiefhängende Wolken schoben
sich im Westen vor die Sonne und warfen lange Schatten über
das Bahnhofsgelände. Schließlich tauchte der Chauffeur wieder
auf. Einen Augenblick lang stand er vor der Ruine und blickte in
westlicher Richtung über die Gleise zu der Grasfläche dahinter.
Dann drehte er sich um und starrte die Müllberge an. Jetzt
schien er eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Rechts über Ihnen«, schrie er seinen Begleiter an und wies
auf den zweiten Müllberg. »Hinter Ihnen!«
Joel arbeitete sich seitwärts wie eine in Panik geratene
Sandkrabbe die Müllhalde herunter. Auf halbem Weg blieb er
mit der linken Hand hängen. Er zerrte an dem, was ihn festhielt,
bekam die Hand frei und wollte das, was ihn behindert hatte,
schon wegwerfen, als er bemerkte, daß es ein Stück
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Elektrokabel war. Er wickelte es zusammen, behielt es in der Hand und rutschte weiter hangabwärts. Zwei Meter über dem Boden fing er an, wie ein Hund zu graben, stieß mit den Füßen ein paarmal in den Unrat und die lockere Erde und wühlte sich in die eklige Masse hinein. Schließlich bedeckte er auch noch seinen Kopf mit Müll. Der Gestank war überwältigend, und er spürte, wie kleine Insekten in seine Kleider eindrangen und über seine Haut krochen. Aber das Versteck verbarg ihn vollständig, dessen war er sicher. Er begann zu begreifen, was sein fieberhaft arbeitender Verstand ihm klarzumachen versuchte. Er war wieder im Dschungel: er bereitete sich darauf vor, von einem unsichtbaren Ort aus einen Gegner anzugreifen. Minuten verstrichen. Die Schatten wurden länger und lösten sich schließlich ganz in der Dunkelheit auf, als die Sonne hinter dem Horizont versank. Converse blieb reglos liegen, wo er war. Jeder Muskel war angespannt, und er biß die Zähne zusammen, um sich davon abzuhalten, mit den Armen um sich zu schlagen und sich zu kratzen. Aber er wußte, daß er sich nicht bewegen durfte. Jeden Augenblick konnte es jetzt soweit sein. Jede Sekunde. Das Vorspiel kam. Der hinkende Mann tauchte auf, musterte den Hügel aus Abfall und Dreck, kniff die Augen zusammen und hielt dabei die Waffe schußbereit vor sich. Langsam trat er zur Seite, vorsichtig, kein Risiko eingehend. Jetzt ging er direkt vor Joel vorbei, die ausgestreckte Pistole höchstens einen Meter von Joels Gesicht entfernt. Noch ein Schritt... Jetzt! Joel machte einen Satz, packte die Waffe am Lauf, drehte sie herum und riß sie nach unten. Während der Deutsche nach vorne stürzte, schlug Converse ihm das Knie gegen das Nasenbein. Der Mann war starr vor Entsetzen und Schrecken, daß ihm der Schrei in der Kehle steckenblieb. Die Waffe wirbelte davon. Der Mann taumelte und setzte erneut zu einem Schrei an, als Joel sich wieder auf ihn stürzte, das Kabel in beiden Händen. Er streifte es dem Deutschen über den Kopf und zog es ihm straff um den Hals. Der Feind mußte sterben, weil der Feind ihn töten wollte! So einfach war das. Nein, so einfach war das nicht. Dies war ein Soldat von Aquitania, Abschaum von Aquitania. Er -4 6 0
tötete auf Befehl - er befolgte Befehle! Er würde nie wieder töten. Der Mann erschlaffte. Converse beugte sich über ihn und wollte ihn schon mit Unrat bedecken. Doch es mußte eine andere Möglichkeit geben, eine Möglichkeit, die er auch schon vor hundert Jahren gewählt hatte, damals im Dschungel mit einem anderen Gegner. Er sah sich um; vielleicht dreißig Meter zu seiner Rechten war ein Stapel alter Eisenbahnschwellen, einige zerbrochen... sie bildeten eine niedrige Wand. Eine Wand. Es war riskant. Wenn Leifhelms Chauffeur die erste Müllhalde inzwischen überprüft hatte und jetzt aus welcher Richtung auch immer auf die zweite zuging, mußte er Joel sofort sehen. Der Mann war aus zwei Gründen zu dem Zug geschickt worden, einmal, weil er den Gesuchten vom Ansehen kannte, und zum anderen, weil der, den sie suchten, ihn entehrt hatte. Joels Leiche würde seine Ehre wiederherstellen. Ein solcher Mann war vermutlich ein Experte im Umgang mit Waffen... was der, den sie jagten, nicht war. Doch warum sich den Kopf zerbrechen! Seit Genf war alles riskant, ein Spiel gegen den Tod. Er packte die Leiche des Deutschen unter den Achseln und zerrte sie schwer atmend hinter sich her. Hinter den Eisenbahnschwellen ließ er den Toten fallen. Und ohne nachzudenken, tat Converse das, was er schon seit einer Ewigkeit hatte tun wollen. Im Schutz der Schwellen riß er seine Jacke und sein Hemd herunter und wälzte sich wie ein Hund auf dem Boden, um sich von den Insekten zu befreien. Dann kroch er zwischen die Eisenbahnschwellen und fand zwischen zwei Stapeln ein Versteck. »Werner, wo sind Sie?« Leifhelms Chauffeur tauchte auf. Vorsichtig, die Waffe im Anschlag, erschien er hinter dem zweiten Müllhaufen. Ein Soldat, der den Streifendienst gewöhnt war. Converse überlegte, wieviel besser es doch für die Welt wäre, wenn er selbst ein Meisterschütze wäre. Aber das war er nicht. Bei der Pilotenausbildung hatte er nur den üblichen Kurs für -4 6 1
Handfeuerwaffen gemacht. Der zweite Soldat von Aquitania
mußte also viel näher herangelockt werden.
»Werner! Antworten Sie doch!«
Schweigen.
Der Chauffeur war beunruhigt; er ging ein paar Schritte zurück,
duckte sich jetzt, suchte den Müllhaufen ab und drehte immer
wieder den Kopf. Joel wußte, was er tun mußte; er hatte es
schon einmal getan. Er mußte die Aufmerksamkeit des Killers
ablenken, ihn näher heranlocken und sich dann entfernen.
»Auuuu...!« Converse gab ein Stöhnen von sich. Und dann,
ganz deutlich, in englischer Sprache: »Oh, my God!«
Und dann huschte er geduckt ans Ende der künstlichen Mauer
aus Holzschwellen. Er spähte um die Barriere herum, hielt
dabei den Kopf aber in Deckung.
»Werner, wo ist...!« Der Deutsche stand jetzt aufrecht da und
ließ seinen Blick schweifen. Plötzlich fing er zu laufen an, die
Waffe ausgestreckt und scheinbar erleichtert, daß sein Opfer
ihm selbst den Weg gewiesen hatte.
Der Chauffeur sprang über die Schwellen, die Waffe
schußbereit. Dann feuerte er auf die Leiche, die im Dunkeln lag,
und stieß dabei einen Schrei befriedigter Rachsucht aus.
Joel richtete sich auf, zielte mit seiner Automatik und drückte
einmal ab. Der Deutsche wirbelte herum, und ein Blutfaden
rann über seine Brust.
»Manche gewinnen«, flüsterte Converse und richtete sich auf.
Er erinnerte sich an den Mann im Zug nach Emmerich.
Das Grün hatte sich in einen Sumpf verwandelt. Converse hielt
seine Kleider in den Armen. Er war über die Gleise gestolpert,
dann durch das wilde Gras in die schlammige Feuchtigkeit. Es
war Wasser, und das war alles, was er brauchte. Wasser würde
ihn säubern, ihm eine Fluchtmöglichkeit bieten und zugleich
Linderung - auch das waren Lektionen, die er vor Jahren
gelernt hatte. Er saß nackt auf einem Landvorsprung, nahm
den hinderlichen Geldgurt ab und fragte sich, ob die Banknoten
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wohl naß geworden waren. Doch so sehr, daß er nachgesehen hätte, interessierte ihn das nicht. Was ihn hingegen interessierte, waren die Sachen, die er den beiden Männern abgenommen hatte. Er war nicht sicher, was Wert hatte und was nicht. Das Geld war belanglos, mit Ausnahme der kleinen Scheine. Dann fand er ein gefährlich aussehendes Messer, dessen lange Klinge vorschnappte, wenn man einen Knopf am Griff drückte. Er behielt es. Ebenso ein billiges Gasfeuerzeug, einen Kamm und zwei Pastillen gegen schlechten Atem. Der Rest waren persönliche Habseligkeiten Schlüssel, ein goldenes Amulett in Form eines vierblättrigen Klees... Fotografien in den Brieftaschen - er wollte sie nicht sehen. Der Tod machte Freund und Feind gleich. Das einzige, was ihn interessierte, waren die Kleider. Sie waren seine Möglichkeit, eine, die er schon vor einem ganzen Leben im Dschungel genutzt hatte. Damals hatte er sich in die zerfetzte Uniform eines Feindes gezwängt, und man hatte zweimal nicht auf ihn geschossen, als er entdeckt worden war. Statt dessen hatte man ihm zugewinkt. Er wählte die Kleidungsstücke aus, die am besten paßten, und zog sie an; den Rest warf er in den Sumpf. Wie auch immer er aussehen mochte, er hatte nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Akademiker, den er in Bonn gespielt hatte. Eher würde man ihn jetzt für einen Mann halten, der sich seinen Lebensunterhalt auf dem Fluß verdiente; vielleicht als Maat auf einem Flußschlepper. Er hatte das Jackett des Chauffeurs gewählt, eine Jacke aus grobem Stoff, die ihm bis zu den Hüften reichte. Darunter trug er dessen blaues Baumwollhemd - das Einschußloch hatte er vom Blut reingewaschen. Die Hosen hatten dem anderen Mann gehört, braune Cordhosen ohne Bügelfalten, die an den Knöcheln etwas weiter wurden. Keiner der beiden Männer hatte einen Hut getragen, - und sein eigener lag irgendwo auf der Müllkippe. Er würde einen neuen finden oder kaufen oder stehlen. Das mußte er, ohne einen Hut oder eine Mütze, die sein Gesicht wenigstens teilweise bedeckte, kam er sich ebenso nackt vor wie ohne Kleider.
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Dann legte er sich in das trockene wilde Gras und starrte zum
Himmel hinauf.
24 »Also, da soll doch...!« rief der distinguiert aussehende Mann
mit der wallenden weißen Mähne, und seine fast weißen
Augenbrauen schoben sich erstaunt in die Höhe. »Sind Sie
nicht Molly Washburns Junge?«
»Wie bitte?« sagte der Army-Offizier am Nebentisch im Bonner
Restaurant Am Tulpenfeld. »Kennen wir uns, Sir?«
»Nicht so, daß Sie sich erinnern müßten, Major... - Bitte
entschuldigen Sie die Störung.« Mit dem letzten Satz wandte
sich der Südstaatler an den Tischgenossen des Offiziers, einen
Mann in mittleren Jahren mit bereits schütterem Haar, der mit
ausgeprägt deutschem Akzent Englisch gesprochen hatte.
»Aber Molly würde es einem Landsmann aus Georgia nie
vergeben, wenn er ihren Sohn nicht begrüßt und ihn zu einem
Drink eingeladen hätte.«
»Es tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wo ich Sie hintun
soll«, sagte Washburn freundlich, aber ohne besondere
Begeisterung.
»Das würde mir genauso gehen, junger Mann. Ich weiß, es
klingt ein wenig abgedroschen, aber Sie trugen damals
wahrscheinlich noch nicht einmal lange Hosen. Als ich Sie das
letztemal sah, hatten Sie einen blauen Blazer an und waren
verdammt wütend, weil Ihr Team ein Fußballspiel verloren
hatte. Ich glaube, Sie haben Ihrem linken Flügel die Schuld
gegeben. Wie heute ist das wohl der Mannschaftsteil, dem man
für alles die Schuld geben kann.«
Der Major und sein Begleiter lachten. »Du lieber Gott, das ist
lange her - damals war ich noch in Dalton.«
»Und Kapitän des Teams, wenn ich mich richtig entsinne.«
»Wie haben Sie mich denn erkannt?«
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»Ich hab' neulich Ihre Mama in ihrem Haus in Southampton
besucht. Sie ist richtig stolz auf Sie, und im Wohnzimmer
standen ein paar hübsche Fotos von Ihnen.«
»Natürlich, auf dem Piano.«
»Genau dort habe ich sie gesehen. Und natürlich alle silbern
gerahmt.«
»Ich fürchte, ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Thayer. Thomas Thayer, oder einfach nur >T. T. <, wie Ihre
Mama mich nennt.« Die beiden schüttelten sich die Hände.
»Sehr erfreut, Sie wiederzusehen«, sagte Washburn und wies
mit einer Handbewegung auf seinen Begleiter. »Das ist Herr
Schindler. Er ist unser Verbindungsmann zu den
westdeutschen Medien.«
»Erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Schindler.«
»Ganz meinerseits, Herr Thayer.«
»Weil wir gerade von der Botschaft sprechen, die haben Sie ja
vermutlich gemeint - ich hatte Molly versprochen, Sie
anzurufen, wenn ich hierher komme. Auf mein Wort, genau das
hatte ich morgen vor- heute macht mir noch die
Zeitverschiebung zu schaffen. Wenn das kein Zufall ist, wie?
Daß Sie hier sind und ich auch, an zwei Tischen
nebeneinander!«
Wieder lachten die Männer. Dann hob der Südstaatler sein
Glas den anderen entgegen, damit sie anstoßen konnten. Die
Gläser begegneten sich, und wie ein leiser Glockenton hallte es
durch den Saal.
Converse wartete. Er hatte sich in eine dunkle Ladennische in
einer schäbigen Straße in Emmerich gedrückt und beobachtete.
Auf der anderen Straßenseite waren die schwachen Lichter
eines billigen Hotels zu sehen, dessen Eingang alles andere als
einladend wirkte. Und doch würde er mit etwas Glück dort in
den nächsten paar Minuten ein Bett haben. Ein Bett und ein
Waschbecken in der Zimmerecke, und mit noch mehr Glück
heißes Wasser, mit dem er seine Wunde auswaschen konnte,
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wenn er den Verband wechselte. In den letzten zwei Nächten hatte er lernen müssen, daß Orte wie dieser seine einzige Zuflucht waren. Man stellte keine Fragen und erwartete geradezu, daß der Name auf der Meldekarte falsch war. Um von der Straße zu kommen, mußte er sich mit dem menschlichen Treibgut bewegen, und deshalb war ein heruntergekommenes Hotel wie das auf der anderen Straßenseite für ihn wesentlich einladender als das Waldorf Astoria. Und er mußte von der Straße weg, denn draußen gab es zu viele Fallen. Aber heute abend ist es anders als in den vorigen Nächten auf deutschen Straßen, dachte Joel, während er auf das heruntergekommene Hotel gegenüber sah. Noch heute wollte er versuchen, die Grenze nach Holland zu überqueren. Sein Ziel war Cort Thorbecke und ein Flugzeug nach Washington. Der Mann, den er in seine Dienste genommen hatte, war etwas älter als der Student in Bonn. Es war ein Matrose der Handelsmarine aus Bremerhaven, der in Emmerich einen Pflichtbesuch bei seiner Familie gemacht hatte, mit der er sich nicht besonders gut verstand. Wie üblich war er von seiner Mutter und seinem Vater unfreundlich behandelt worden und dann zu den Leuten gegangen, bei denen er sich am wohlsten fühlte - in eine Kneipe am Flußufer. Ein Lied hatte Joel veranlaßt, sich den jungen Seemann, der mit einer Gitarre in den Armen an der Bar stand, genauer anzusehen. Der Matrose sang in englischer Sprache, wenn auch mit leichtem deutschen Akzent, und die Melodie war eine seltsame, unter die Haut gehende Mischung aus langsamem Rock und einem melancholischen Madrigal. »... When you finally came down, when your feet hit the ground, did you know where you were? When you finally went real, could you touch what you feel, were you there in the know...« Die Männer an der Theke lauschten schweigend dem Rhythmus, und als der Seemann schließlich geendet hatte, gab es respektvollen Applaus, und dann wurden die Gläser wieder gefüllt. Wenige Minuten später stand Converse neben dem -4 6 6
Troubadour, der sich die Gitarre über die Schulter gehängt
hatte, so daß sie an ihrem Riemen wie eine Waffe wirkte. Joel
fragte sich, ob der Mann wirklich Englisch sprach oder nur sein
Lied auswendig gelernt hatte. Aber das würde er gleich
erfahren. Der Seemann lachte über die Bemerkung eines
anderen Gastes, und als er verstummte, sprach Converse ihn
an.
»Ich würde Sie gern zu einem Drink einladen«, begann er.
»Dafür, daß Sie mich an zu Hause erinnert haben. Das war ein
schönes Lied.«
Der Mann musterte ihn verständnislos. Joel wurde unsicher.
Vielleicht hatte der Seemann keine Ahnung, wovon er redete.
Doch dann begann der Deutsche zu Joels Erleichterung zu
sprechen.
»Danke. Es ist wirklich ein gutes Lied. Traurig, aber gut. Sind
Sie Amerikaner?«
»Ja. Und Sie sprechen ausgezeichnet Englisch.«
»Okay. Ich kann es nicht lesen oder schreiben, aber sprechen.
Ich arbeite auf einem Handelsschiff. Wir fahren nach Boston,
New York, Baltimore - manchmal Florida.«
»Was trinken Sie?«
»Ein Bier«, sagte der Matrose.
»Warum nicht Whisky?«
»Wenn Sie wirklich zahlen?«
»Sicher.«
»Dann ja.«
Wenige Minuten später saßen sie an einem Tisch. Joel erfand
eine Geschichte von einer Prostituierten und ihrem Zuhälter. Er
erzählte sie langsam, nicht, weil er das Gefühl gehabt hätte, auf
die beschränkten Sprachkenntnisse seines Zuhörers Rücksicht
nehmen zu müssen, sondern weil ihm plötzlich eine andere
Möglichkeit in den Sinn kam. Der musikalische Handelsmatrose
war zwar noch jung, hatte aber schon eine Art von Patina an
sich, die darauf hindeutete, daß er die Docks und die Häfen und
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die verschiedenen Geschäfte, die in dieser ganz besonderen
Welt blühten, sehr gut kannte.
»Sie sollten zur Polizei gehen«, empfahl der junge Mann, als
Converse geendet hatte. »Die kennen die Nutten und sorgen
schon dafür, daß Ihr Name nicht in die Zeitungen kommt.« Der
Deutsche lächelte. »Schließlich sollen Sie ja wiederkommen
und Ihr Geld bei uns ausgeben.«
»Das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich sehe im Moment
vielleicht nicht so aus, aber ich habe mit einer ganzen Menge
wichtiger Leute zu tun - hier und in Amerika.«
»Also sind Sie auch ziemlich wichtig, oder?«
»Und sehr dumm. Wenn ich nach Holland hinüber könnte, dann
wüßte ich, wie ich alles anpacken muß.«
»Holland? Das ist doch nicht schwierig.«
»Ich sagte Ihnen ja, man hat mir den Paß gestohlen. Und
dummerweise sehen die sich im Augenblick jeden Amerikaner,
der über die Grenze will, sehr sorgfältig an. Sie wissen schon,
dieser verrückte Idiot, der den Botschafter in Bonn und den
NATO-Befehlshaber getötet hat.«
»Ja, und in Wesel hat er auch einen vor drei Tagen
umgebracht«, ergänzte der Deutsche. »Es heißt, daß er nach
Paris will.«
»Ich fürchte, das hilft mir nicht viel... Schauen Sie, Sie kennen
die Leute am Fluß, die Männer, die auf den Schiffen fahren. Ich
sagte Ihnen ja, daß ich hundert Dollar für ein Hotel zahlen
würde...«
»Ja, das wird ja auch besorgt, mein Herr. Sie sind sehr
großzügig.«
»Ich zahle Ihnen eine ganze Menge mehr, wenn Sie es
irgendwie fertigbringen, daß ich nach Holland komme. Sehen
Sie, meine Firma hat ein Büro in Amsterdam. Wollen Sie mir
helfen?«
Der Deutsche schnitt ein Gesicht und sah auf die Uhr. »Heute
abend ist es für so etwas zu spät, und ich fahre mit dem
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Frühzug nach Bremerhaven. Mein Schiff legt um fünfzehn Uhr
ab.«
»Das war die Zahl, die ich im Sinn hatte. Fünfzehnhundert.«
»Mark?«
»Dollar.«
»Sie sind noch verrückter als Ihr Landsmann, der Soldaten
tötet. Wenn Sie die Sprache könnten, würde es Sie keine
fünfzig kosten.«
»Ich kenne sie aber nicht. Fünfzehnhundert amerikanische
Dollar - für Sie, wenn Sie es arrangieren.«
Der junge Mann sah Converse scharf an und schob dann
seinen Stuhl zurück. »Warten Sie hier. Ich muß telefonieren.«
»Lassen Sie uns noch einen Whisky bringen.«
»In Ordnung.«
Die Zeit des Wartens verbrachte Joel in einem Vakuum der
Angst. Er blickte auf die abgegriffene Gitarre, die auf dem Stuhl
neben ihm lag. Wie hatte es in dem Lied geheißen? »...When
you finally came down, when your feet hit the ground... did you
know where you were? Wien... you were real, could you tauch...
what you feel, were you there in the know...«
»Ich hole Sie morgen früh um fünf Uhr ab.« Joel hatte gar nicht
bemerkt, daß der Matrose mit zwei Gläsern Whisky in der Hand
wieder an den Tisch gekommen war. »Der Kapitän bekommt
zweihundert Dollar, aber nur, wenn Sie kein Rauschgift haben.
Wenn es um Rauschgift geht, dürfen Sie nicht an Bord.«
»Ich besitze kein Rauschgift«, sagte Converse lächelnd und
bemühte sich, seine Befriedigung nicht nach außen dringen zu
lassen. »Sie haben sich Ihr Geld verdient. Ich bezahle Sie am
Dock oder am Pier oder wo auch immer wir uns treffen.«
»Geht in Ordnung.«
Das alles ist vor weniger als einer Stunde geschehen, dachte
Joel. der immer noch den Hoteleingang auf der anderen
Straßenseite beobachtete. Diese Nacht war anders. Um fünf
Uhr morgen früh würde er nach Holland unterwegs sein, nach
Amsterdam, zu einem Mann namens Cort Thorbecke, Mattilons
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Kontakt für falsche Pässe. Sämtliche Passagierlisten aller
Flugzeuge, die in die Vereinigten Staaten flogen, würden von
Aquitania überwacht werden, aber vor hundert Jahren hatte er
gelernt, daß es Mittel und Wege gab, die Beobachter zu
täuschen. Er hatte das schon einmal getan, damals war er in
einem tiefen, kalten Erdloch gesessen, hinter einem
Stacheldrahtzaun.
Eine Gestalt trat unter dem schwach beleuchteten Vordach des
Hotels hervor. Es war der junge Seemann. Grinsend winkte er
Converse zu.
»Verdammt noch mal, was ist denn los, Norman?« rief der
Mann aus den Südstaaten, als Washburn plötzlich zu zucken
begann und mit zitternden Lippen nach Luft schnappte.
»Ich... weiß... nicht...« Die Augen des Majors weiteten sich, und
seine Pupillen schienen völlig außer Kontrolle geraten zu sein,
sie kreisten wie wild.
Der Geschäftsführer kam gerannt und wollte helfen. »Ist der
Major krank, mein Herr?« fragte er in englischer Sprache. »Soll
ich fragen, ob ein...«
»Kein Arzt, den ich nicht kenne, vielen Dank«, unterbrach ihn
Thayer und beugte sich über den Botschaftsattache, der jetzt
mit halb geschlossenen Augen schwer atmete und dessen Kopf
immer noch hin und her pendelte. »Das hier ist Molly
Washburns Junge, und ich werde dafür sorgen, daß man sich
um ihn kümmert! Mein Wagen steht draußen. Wenn mir
vielleicht zwei von Ihren Kellnern helfen könnten, dann bringen
wir ihn hinaus, ich fahre ihn zu meinem Arzt. Der ist Spezialist.
Wenn man so alt ist wie ich, braucht man überall einen.«
»Ganz sicher!« Der Geschäftsführer schnippte mit den Fingern,
und drei Kellner reagierten sofort.
»Die Botschaft... Die Botschaft.« würgte Washburn heraus, als
die drei Männer den Offizier zur Tür trugen.
»Keine Sorge, Norman, mein Junge!« sagte der Südstaatler,
der mit dem Geschäftsführer hinter ihm ging. »Die rufe ich aus
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dem Wagen an und sage ihnen, daß sie zu Rudi kommen
sollen.« Thayer wandte sich zu dem Deutschen, der neben ihm
ging.
»Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, daß dieser Soldat
einfach ausgepumpt ist. Der hat jetzt rund um die Uhr
gearbeitet, ohne die geringste Pause. Ich meine, können Sie
sich vorstellen, was der in den letzten zwei Tagen alles um die
Ohren hatte? Dieser verrückte Hund, der da durchs Land zieht
und zuerst den Botschafter und dann den Befehlshaber in
Brüssel abknallt! Wissen Sie, Mollys Junge hier ist der
Militärattache.«
»Ja, der Major ist häufig unser Gast - ein hochgeschätzter
Gast.«
»Nun, hochgeschätzt oder nicht, jeder hat einmal das Recht zu
sagen: >Zum Teufel damit, jetzt mache ich Pause. <«
»Ich weiß nicht, ob ich richtig verstehe?«
»Ich hab' so das Gefühl, daß dieser nette junge Mann, den ich
schon kannte, als er noch in die Windeln gemacht hat, noch nie
die Auswirkungen des Dämons Whisky kennengelernt hat.«
»Oh?« Der Geschäftsführer des Restaurants bekam einen Blick
wie ein Gesellschaftsreporter, der plötzlich ein neues Gerücht
gehört hat.
»Er hatte einfach ein paar Schluck zuviel, sonst gar nichts - und
das bleibt unter uns.«
»Seine Augen...«
»Er hat angefangen, an der Flasche zu riechen, noch bevor die
Sonne das westliche Scheunendach berührt hat.« Sie waren
inzwischen an der Tür, und die Kellner manövrierten Washburn
hinaus. »Und wer hätte dazu ein größeres Recht gehabt? Das
sage ich immer.« Thayer zog die Brieftasche.
»Ja, ganz Ihrer Meinung.«
»Hier«, sagte der Südstaatler und zog ein paar Scheine heraus.
»Ich hatte keine Zeit, Geld zu wechseln. Also gebe ich Ihnen
hundert Dollar - das sollte reichen, und der Rest ist für Ihre
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Boys hier... Und hier sind noch hundert für Sie - dafür, daß Sie
die Angelegenheit für sich behalten, understand?«
»Aber selbstverständlich, mein Herr!« Der Deutsche steckte die
zwei Hundertdollarscheine ein, lächelte und nickte beflissen.
»Über meine Lippen kommt kein Wort.«
»Nun, so weit würde ich gar nicht gehen. Es wäre vielleicht gar
nicht so übel, wenn Mollys Junge erfahren würde, daß es nicht
gleich das Ende der Welt ist, wenn ein paar Leute wissen, daß
er ein oder zwei Drinks genommen hat. Das könnte ihn ein
wenig auflockern, und nach meiner altmodischen Ansicht
braucht er ein wenig Auflockerung. Vielleicht könnten Sie ihm
zuzwinkern, wenn er das nächstemal hereinkommt.«
»Zuzwinkern?«
»Nun, ihm einfach freundlich zulächeln, so als wüßten Sie
Bescheid. Understand?«
»Ja, da bin ich ganz Ihrer Ansicht! Dazu hatte er wirklich das
Recht!«
Draußen instruierte der Südstaatler die Kellner, wie sie Major
Norman Anthony Washburn auf dem Rücksitz verstauen
sollten. Ausgestreckt, mit dem Gesicht nach oben liegend.
Dann gab er jedem einen Zwanzigdollarschein und entließ die
freundlichen Helfer. Anschließend drückte er einen Knopf in
einer Konsole der langgestreckten amerikanischen Limousine,
damit die zwei Männer auf den Vordersitzen ihn trotz der
Trennscheibe hören konnten.
»Der ist völlig hinüber. Kommen Sie zu mir, Hexendoktor. Und
Sie, Klaus, machen uns das Vergnügen einer langen Fahrt
durch Ihr schönes Land.«
Minuten später rollte die Limousine über eine schmale
Landstraße, während der Arzt Washburn den Gürtel löste, ihm
die Hosen herunterzog und ihn auf dem Sitz herumdrehte. Er
fand eine Stelle an Washburns Lendenwirbeln und machte die
Spritze fertig.
»Sind Sie bereit?« fragte der dunkelhäutige Palästinenser und
riß dem Bewußtlosen die Unterhosen herunter.
-4 7 2
»Hervorragend, Pookie«, antwortete Johnny Reb und hielt ein
kleines Tonbandgerät über den Sitz. »Genau die Stelle, die er
bestimmt eine Woche lang nicht findet, wenn überhaupt. Los
geht's, Araber. Ich will, daß er fliegt.»
Der Arzt schob die Nadel der Spritze unter die Haut des
Amerikaners und drückte langsam den Zylinder im Glaskolben
herunter. »Das geht jetzt schnell«, sagte er. »Es ist eine
kräftige Dosis.«
»Ich bin bereit.«
»Setzen Sie ihn sofort auf die Spur. Stellen Sie direkte Fragen,
damit er sich sofort konzentriert.«
»Oh, genau das werde ich. Das ist ein übler Typ. Ein häßlicher,
kleiner Junge, der große Geschichten erzählt, die überhaupt
nichts mit einem großen Fisch zu tun haben, der sich vom
Haken losgerissen hat.« Der Südstaatler packte den
bewußtlosen Washburn an der linken Schulter und riß ihn hoch.
»Jetzt wollen wir beide uns mal unterhalten. Wieso haben Sie
die Frechheit besessen, sich an einem Offizier der Navy der
Vereinigten Staaten zu vergreifen? Der Mann heißt Fitzpatrick
Junge! Fitzpatrick, Fitzpatrick, Fitzpatrick! Komm schon, Baby,
sprich mit Daddy. Du hast nämlich außer Daddy keinen. Jeder,
von dem du glaubst, daß er dir hilft, ist weg! Die haben dich
reingelegt, Söhnchen! Die haben das so hingekriegt, daß du
lügst und jeder es abdruckt, damit die ganze Welt weiß, daß du
gelogen hast! Aber Daddy kann das in Ordnung bringen. Daddy
kann das alles wieder hinkriegen und dafür sorgen, daß du
ganz groß rauskommst. Ganz groß! Die Vereinigten Stabschefs
- der große Chef! Daddy ist für dich Mamas Titte, Boy! Die kannst du dir jetzt schnappen, oder Luft schlucken! Wo habt ihr Fitzpatrick hingesteckt? Fitzpatrick, Fitzpatrick!« Washburn wand sich auf dem Sitz, flüsterte, dann drang ihm Speichel aus den Mundwinkeln, und mühsam stieß er hervor: »Scharhörn, die Insel Scharhörn... in der Bucht von Helgoland.« Caleb Dowling war nicht nur zornig, sondern auch verwirrt. Trotz tausend Zweifeln konnte er es einfach nicht abtun. Zu -4 7 3
viele Dinge ergaben keinen Sinn, und davon war nicht das geringste die Tatsache, daß er es seit drei Tagen nicht schaffte, einen Termin bei dem neuen Botschafter zu bekommen. Der für seinen Terminkalender zuständige Attache behauptete, die Ermordung Walter Peregrines hätte zu viel Verwirrung gestiftet, als daß im Augenblick eine Audienz möglich sei. Vielleicht in einer Woche... mit anderen Worten, verschwinde, Schauspieler, wir haben Wichtigeres zu tun. Und Sie sind nicht wichtig. Und aus genau dem Grund saß er jetzt an einem etwas abseits gelegenen Tisch in der schwach beleuchteten Bar des Königshof-Hotels. Er hatte den Namen von Peregrines ehemaliger Sekretärin in Erfahrung gebracht, eine gewisse Enid Heathley, und hatte den Stuntman Moose Rosenberg mit einem versiegelten Brief in die Botschaft geschickt, der angeblich von einem Freund Miß Heathleys aus den Staaten kam. Moose hatte Anweisung gehabt, den Umschlag persönlich zu übergeben, und angesichts der eindrucksvollen Leibesfülle Rosenbergs hatte niemand am Em pfang Einwände dagegen gehabt. Die Mitteilung war kurz und präzise gewesen. Liebe Miß Heathley: ich halte es für äußerst wichtig, daß wir sobald wie möglich miteinander reden können. Ich werde heute abend um halb acht Uhr in der Bar des Königshofs warten. Wir können dort, wenn es Ihnen paßt, einen Drink miteinander nehmen. Bitte, erwähnen Sie aber unser Zusammentreffen gegenüber niemandem. Bitte, gegenüber niemandem. Mit freundlichem Gruß C. Dowling Da kam sie. Eine Frau in mittleren Jahren trat durch die Tür und kniff die Augen zusammen, um sich trotz der schummrigen Beleuchtung orientieren zu können. Der Geschäftsführer ging auf sie zu und führte sie zu Dowlings Tisch. »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte Caleb und stand auf, während Enid Heathley sich setzte. »Ich hätte Sie wirklich nicht
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hierher gebeten, wenn es nicht wichtig wäre«, fügte er dann
hinzu, während sie sich setzten.
»Das habe ich aus Ihrem Brief geschlossen«, erwiderte die
Frau. Sie hatte intelligente Augen und im Haar schon die ersten
grauen Fäden. Dann plauderten sie unverbindlich, bis die
Getränke gebracht wurden.
»Ich kann mir vorstellen, daß es für Sie sehr schwierig gewesen
ist«, sagte Dowling.
»Leicht war es nicht«, pflichtete ihm Miß Heathley bei. »Ich war
fast zwanzig Jahre Mr. Peregrines Sekretärin. Er hat uns immer
als Team bezeichnet, und Jane - Mrs. Peregrine - und ich
stehen einander sehr nahe. Eigentlich sollte ich jetzt bei ihr
sein, aber ich habe ihr gesagt, daß ich noch etwas im Büro zu
erledigen hätte. Warum haben Sie mich denn nun
hergebeten?«
»Weil ich nicht wußte, an wen ich mich sonst hätte wenden
sollen. Also, ich weiß es schon, aber ich komme nicht an ihn
heran.«
»An wen?«
»Den neuen Botschafter, der gerade aus Washington
herübergekommen ist.«
»Der steckt bis...«
»Man sollte es ihm sagen«, unterbrach Caleb sie. »Ihn
warnen.«
»Warnen?« Die Augen der Frau weiteten sich. »Ein Attentat?
Noch ein Mord - dieser Verrückte - dieser Converse?«
»Miß Heathley«, begann der Schauspieler mit starrer Miene
und leiser Stimme. »Was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Sie
möglicherweise erschrecken, aber wie ich schon sagte, ich
kenne sonst niemanden in der Botschaft, an den ich
herankomme. Und ich weiß, daß es dort auch Leute gibt, zu
denen ich nicht gehen darf.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich bin weder davon überzeugt, daß Converse ein Verrückter
ist, noch daß er Walter Peregrine ermordet hat.«
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»Was? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie haben gehört, was
man von ihm sagt, daß er krank ist. Er war der letzte, mit dem
Mr. Peregrine zusammen war. Das hat Major Washburn
bestätigt!«
»Major Washburn ist einer von den Leuten, die ich lieber nicht
aufsuchen würde.«
»Er gilt als einer der besten Offiziere der Army«, wandte die
Sekretärin ein.
»Dann hat er gerade als Offizier eine seltsame Vorstellung
davon, wie man Befehle eines Vorgesetzten ausführt. Letzte
Woche habe ich Peregrine mitgenommen, um ihm jemanden
vorzustellen. Der Mann rannte weg, und Walter forderte den
Major auf, ihn aufzuhalten. Statt dessen hat Washburn
versucht, ihn zu töten.«
»Oh, jetzt verstehe ich«, sagte Enid Heathley, und ihre Stimme
klang plötzlich nicht mehr freundlich. »Das war der Abend, an
dem Sie das Zusammentreffen mit Converse arrangiert haben
Sie waren das, jetzt erinnere ich mich! Mr. Peregrine hat es mir
gesagt. Was soll das eigentlich hier, Mr. Dowling? Wollen Sie
Ihr Image retten? Haben Sie Angst, man könnte Sie zur
Verantwortung ziehen, und daß das nachteilig für Ihre
Einschaltquoten sein könnte? Das ist ja widerlich.« Die Frau
schob ihren Stuhl zurück, als wollte sie jeden Augenblick
aufstehen.
»Walter Peregrine war ein Mann, der sein Wort zu halten
pflegte, Miß Heathley«, sagte Caleb unbewegt und ohne die
Sekretärin aus den Augen zu lassen. »Ich glaube, darin werden
Sie mir beipflichten.«
»Und?«
»Er hatte mir ein Versprechen gegeben. Er sagte mir, falls
Converse ihn sprechen wolle, würde er mitkommen. Er, Miß
Heathley. Und nicht Major Washburn, dessen Verhalten in jener
Nacht vor dem Universitätsgebäude ihn ebenso verblüffte, wie
es mich verblüfft hat.«
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Die Frau war sitzen geblieben. Ihre Augen wurden schmal und
blickten sorgenvoll. »Der Botschafter war am nächsten Morgen
verärgert«, sagte sie leise.
»Verdammt zornig, beschreibt seinen Zustand wahrscheinlich
besser, glaube ich. Der Mann, der an jenem Abend weglief, war
nicht Converse - und er war außerdem nicht verrückt. Das, was
er sagte, klang verdammt ernst, und die Art, wie er es
vorbrachte, hat mich beeindruckt. Es hat da eine vertrauliche
Untersuchung gegeben - oder gibt es noch -, die die Botschaft
betrifft. Peregrine wußte nichts davon, wollte sich aber näher
informieren. Peregrine sagte, daß er Washington über eine
sichere Leitung anrufen würde. Ich kenne mich zwar in den
technischen Einzelheiten nicht aus, aber ich glaube nicht, daß
man so etwas sagt, wenn man nicht fürchtet, abgehört zu
werden.«
Die Frau erwiderte eine Zeitlang schweigend Dowlings Blick
und runzelte dann die Stirn, ohne die Augen von ihm zu
wenden. »Ich werde jetzt gehen. Doch ich möchte Sie bitten,
noch eine Weile hierzubleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.
Ich werde jemanden anrufen, den Sie, glaube ich, sehen
sollten. Sie werden das gleich verstehen. Er wird hier mit Ihnen
Verbindung aufnehmen - aber Sie natürlich nicht ausrufen
lassen. Tun Sie, was er sagt. Gehen Sie hin, wo er Sie
hinbittet.«
»Kann ich ihm vertrauen?«
»Mr. Peregrine hat ihm vertraut«, sagte Enid Heathley und
nickte. »Dabei hat er ihn nicht einmal besonders gemocht.«
»Das ist Vertrauen«, sagte der Schauspieler.
Der Anruf kam, und Caleb schrieb sich die Adresse auf. Der
Portier beschaffte ihm ein Taxi, und acht Minuten später stieg
er vor einem prunkvollen Haus aus der Gründerzeit am
Stadtrand von Bonn aus. Er ging zur Tür und klingelte. Zwei
Minuten später führte man ihn in einen großen Salon - früher
vielleicht einmal eine Bibliothek -, dessen Wände von riesigen
Vorhängen bedeckt waren. Vorhänge, die detaillierte Karten
von Ost- und Westdeutschland zeigten. Ein Mann mit Brille
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erhob sich hinter einem Schreibtisch, nickte kurz und sagte:
»Mr. Dowling?«
»Ja.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie zu mir gekommen sind.
Mein Name ist nicht wichtig - vielleicht nennen Sie mich
George?«
»Also gut, George.«
»Zu Ihrer vertraulichen Information - und ich betone vertraulich
möchte ich noch sagen, ich bin der Leiter der Central
Intelligence Agency hier in Bonn.«
»All right, George.«
»Was machen Sie, Mr. Dowling? Was tun Sie beruflich?«
»Ciao, Baby«, sagte der Schauspieler und schüttelte den Kopf.
25 Das erste trübe Licht der Morgendämmerung kroch am
östlichen Himmel empor; auf dem Fluß dümpelten die Boote an
ihren Anlegestellen, zerrten an den Tauen und erzeugten eine
gespenstische Symphonie aus ächzenden, lauten und dumpfen
Schlägen. Joel ging neben dem jungen Handelsmatrosen.
Seine rechte Hand fuhr immer wieder unbewußt über das Kinn
und das weiche Barthaar, zu dem sich die Stoppeln entwickelt
hatten. Die letzten vier Tage seit Bonn hatte er sich nicht mehr
rasiert. Noch einen Tag, und er mußte anfangen, den Bart zu
stutzen und in Form zu bringen, und dann hatte er sich einen
weiteren Schritt von dem Foto in den Zeitungen entfernt.
Und noch einmal einen Tag später mußte er sich entscheiden,
ob er Val in Cap Ann anrufen sollte oder nicht. Doch war die
Entscheidung längst gefallen - er würde es nicht tun. Seine
Anweisungen waren klar und eindeutig gewesen, und die
Gefahr, daß ihr Telefon inzwischen abgehört wurde, war
einfach zu groß. Und doch drängte es ihn fast unwiderstehlich,
ihre Stimme zu hören und sie um Hilfe zu bitten. Er wußte, daß
sie ihm helfen würde. Aber er würde nicht anrufen. Nein!
-4 7 8
»Das letzte Boot rechts«, sagte der Seemann und
verlangsamte seinen Schritt. »Ich muß Sie noch einmal fragen,
weil ich es versprochen habe, Sie haben keine Drogen bei
sich?«
»Nein.«
»Er wird Sie vielleicht durchsuchen wollen.«
»Das kann ich nicht zulassen«, erwiderte Converse, der an
seinen Geldgurt dachte. Das, was man für ein Drogenversteck
halten konnte, enthielt ein Vielfaches von dem, wofür man auf
dem Fluß den Tod finden konnte.
»Er wird vielleicht den Grund erfahren wollen. Auf Drogenbesitz
stehen schwere Strafen. Gefängnis.«
»Das werde ich ihm unter vier Augen erklären«, sagte Joel und
überlegte. Er würde das mit der Pistole in der einen Hand und
einem zusätzlichen Fünfhundertdollarschein in der anderen tun.
»Aber ich gebe Ihnen mein Wort, keine Drogen.«
»Es ist nicht mein Boot.«
»Aber Sie haben alles arrangiert und wissen genug über mich,
um sich auf meine Spur zu setzen, falls die sich auf Ihre setzen
sollten.«
»Ja, ich weiß Bescheid. Connecticut - ich habe Freunde in
Bridgeport besucht. Sie sind Direktor in einer Maklerfirma.
Wenn es sein muß, werde ich Sie finden.«
»Aber das will ich nicht. Sie sind ein netter Bursche und helfen
mir aus einer Patsche, und ich bin Ihnen dankbar. Ich werde
Ihnen keinen Ärger machen.«
»Ja«, sagte der junge Deutsche und nickte. »Ich glaube Ihnen.
Ich habe Ihnen auch gestern abend geglaubt. So wie Sie reden,
sind Sie etwas Besseres, aber Sie waren dumm. Sie haben
etwas Dummes getan, und Ihr Gesicht ist rot. Ein rotes Gesicht
kostet mehr als Sie zahlen wollen, also zahlen Sie viel mehr,
damit es verschwindet.«
»Ihre Schmeicheleien fangen an zu wirken.«
»Was?«
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»Nichts. Sie haben recht. Hier.« Joel hatte die Geldscheine in
der linken Tasche und zog sie heraus. »Ich habe Ihnen
fünfzehnhundert Dollar versprochen. Sie können nachzählen,
wenn Sie wollen.«
»Warum? Wenn es nicht stimmt, wird meine Stimme lauter, und
Sie müssen hierbleiben. Sie haben zu viel Angst, um das zu
riskieren.«
»Sie sind der geborene Anwalt.«
»Kommen Sie, ich bringe Sie zum Kapitän. Mehr brauchen Sie
nicht zu wissen - für Sie ist er nur der >Kapitän<. Er wird Sie
absetzen,.. Und ein Rat noch. Passen Sie auf die anderen
Männer auf dem Boot auf. Die werden vermuten, daß Sie Geld
haben.«
»Deshalb will ich ja nicht, daß man mich durchsucht«, gab
Converse zu.
»Ich weiß. Ich tue, was ich kann.«
Aber das reichte nicht. Der Kapitän des Flußschleppers, ein
kleiner, breitschultriger Mann mit schwarzen Zähnen, brachte
Joel ins Steuerhaus, wo er ihm in gebrochenem, aber durchaus
verständlichem Englisch klarmachte, daß er sein Jackett
ausziehen solle.
»Ich habe meinem Freund auf dem Dock erklärt, daß ich das
nicht kann.«
»Zweihundert Dollar, Amerikaner«, sagte der Kapitän.
Converse hatte das Geld in der rechten Tasche. Er griff
danach, und sein Blick wanderte kurz zum Backbordfenster,
durch das er zwei weitere Männer im schwachen Licht an Bord
klettern sah.
Der Schlag kam plötzlich, ohne jede Warnung, aber mit solcher
Wucht, daß Joel zusammenknickte, keuchend ausatmete und
sich an den Leib griff. Vor ihm schüttelte der Kapitän die rechte
Hand und schnitt dabei eine Grimasse, die erkennen ließ, daß
er sich selber wehgetan hatte. Die Faust des Deutschen hatte
die Pistole getroffen, die in Joels Gürtel steckte. Joel taumelte
zurück, ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und
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duckte sich etwas, während er die Waffe unter dem Jackett
hervorzog. Dann zielte er mit der Automatik auf den mächtigen
Brustkasten des Kapitäns.
»Das war ziemlich hinterhältig«, sagte Converse schwer
atmend und hielt sich immer noch den Leib. »Und jetzt, Sie
Dreckskerl, Ihr Jackett!«
»Was...?«
»Sie haben gehört, was ich sage! Ziehen Sie es aus, halten Sie
es vor sich und schütteln Sie das verdammte Ding!«
Der Deutsche schlüpfte langsam aus seiner hüftlangen Jacke,
wobei seine Augen kurz an Joel vorbei zur Tür huschten. »Ich
suche nur Drogen.«
»Ich habe keine bei mir, und wenn ich welche hätte, wüßte der,
der Sie mir verkauft haben müßte, bestimmt einen besseren
Weg, um sie über den Fluß zu schaffen, als mit Ihrem Kahn.
Umdrehen, habe ich gesagt! Schütteln!«
Der Kapitän hielt seine Jacke am unteren Saum und bewegte
sie zögernd hin und her. Ein kurzläufiger, häßlicher Revolver
schlug dumpf auf den Holzplanken auf und im nächsten
Moment folgte ein etwas helleres Geräusch von einem langen
Messer.
»Wir sind auf dem Fluß«, sagte der Deutsche ohne weitere
Erklärungen.
»Und ich will ihn nur ohne jeden Ärger überqueren. Und Ärger
bedeutet für jemanden, der so nervös ist wie ich, jeder, der
durch diese Tür kommt.« Converse deutete mit dem Kopf auf
die Tür zu seiner Linken. »Bei meiner gegenwärtigen
Verfassung werde ich sofort schießen. Das heißt dann, daß Sie
und wer auch immer hereinkommt, sterben müssen. Ich bin
vielleicht nicht so stark wie Sie, Captain, aber ich habe Angst,
und das macht mich viel gefährlicher. Können Sie das
verstehen?«
»Ja! Ich hab' Ihnen nicht wehgetan. Ich suche Drogen.«
»Und ob Sie mir wehgetan haben«, korrigierte Joel ihn »Und
das macht mir Angst.«
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»Nein. Bitte... bitte.«
»Wann legen Sie ab?«
»Wenn ich es sage.«
»Wieviel Leute haben Sie an Bord?«
»Einen Mann, sonst niemanden.«
»Lügner!« flüsterte Converse drohend und stieß die Waffe vor.
»Zwei. Zwei Männer... heute. Wir laden in Elten schwere
Kisten. Auf mein Wort, normalerweise ist es nur ein Mann. Ich
kann nicht mehr bezahlen.«
»Lassen Sie die Maschinen an«, befahl Joel.
»Die Mannschaft! Ich muß Befehl zum Ablegen geben.«
»Also gut«, sagte Joel und zog den Hammer der Automatik
zurück. »Öffnen Sie die Tür und geben Sie Ihre Befehle. Und
wenn einer von diesen beiden Männern dort unten etwas
anderes tut, als die Taue zu lösen, töte ich Sie. Können Sie das
verstehen?«
Joel lehnte sich gegen die Wand, während der Kapitän seine
Anweisungen rief. Die Maschinen sprangen an, und die Taue
wurden von den Pollern genommen. Es ist alles verrückt,
dachte er. Feindselige, bösartige Männer, die im Zorn
zuschlugen, waren im Grunde gar keine Feinde, während
angenehme, scheinbar freundliche Leute ihn töten wollten. Vor
hundert Jahren, in den Lagern und Dschungeln, hatte es keine
solchen Grauzonen gegeben. Man wußte, wer der Feind war;
alles lag offen vor einem. Aber in den letzten vier Tagen hatte
er gelernt, daß es diesmal keine Offenheit gab. Er befand sich
in einem Labyrinth, mußte Spießruten laufen, und die
täuschenden Mauern des Labyrinths waren von Leuten
gesäumt, die er nicht verstehen konnte. Converse starrte zum
Fenster hinaus, auf die Nebel, die über dem Wasser lagen und
in denen sich das Morgenlicht fing. Seine Anspannung löste
sich. Er wollte eine Weile gar nichts denken.
»Noch fünf Minuten, vielleicht sechs«, sagte der Kapitän
plötzlich und drehte das Steuerrad nach links.
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Joel blinzelte; er hatte sich in einer friedlichen, von Ruhe
erfüllten Leere befunden und wußte nicht einmal wie lange.
»Was geschieht jetzt?« fragte er und blickte auf die
aufsteigende orangerote Sonne hinaus, die den Dunst über
dem Fluß rot färbte. »Ich meine, was soll ich machen?«
»So wenig wie möglich«, antwortete der Deutsche. »Sie gehen
einfach so, als würden Sie jeden Morgen über die Pier gehen,
durch den Reparaturhof auf die Straße hinaus. Dann befinden
Sie sich im südlichen Teil der Stadt Lobith. Und von Lobith
fahren Busse in sämtliche Himmelsrichtungen. Sie sind dann in
den Niederlanden, und wir haben uns nie gesehen.«
»Das ist mir klar, aber wie komme ich an Land?«
»Sehen Sie den Bootshafen dort?« sagte der Kapitän und wies
auf eine Ansammlung von Docks mit schweren Winden und
Kränen auf dem anderen Ufer.
»Eine Marina.«
»Ja, Marina. Mein zweiter Treibstofftank ist leer. Ich lasse jetzt
die Motoren absaufen und mich weitertreiben. Dann werde ich
über den Preis schimpfen, den der Holländer verlangt, aber ich
zahle, weil ich von dem deutschen Dieb hier unten am Fluß
nichts kaufe. Sie gehen mit einem von meiner Mannschaft von
Bord, rauchen eine Zigarette und lachen über ihren dummen
Kapitän - und dann gehen Sie weg.«
»Einfach so?« »Ja.«
»So einfach ist das?«
»Ja. Niemand hat gesagt, daß es schwierig sei. Sie brauchen
bloß die Augen offenzuhalten.«
»Wegen der Polizei?«
»Nein«, erwiderte der Kapitän mit einem Schulterzucken.
»Wenn Polizei da ist, kommen sie zum Boot zurück und bleiben
an Bord.«
»Weshalb soll ich dann die Augen offenhalten?«
»Nach Männern, die Sie beobachten, die Ihnen nachschauen.«
»Was für Männer?«
-4 8 3
»Gesindel, Gauner - die kommen jeden Morgen an den Pier und suchen Arbeit. Meistens sind sie noch betrunken. Vor solchen Männern müssen Sie sich in acht nehmen. Die glauben nämlich sofort, daß Sie Rauschgift oder Geld besitzen. Und dafür würden die Ihnen den Schädel einschlagen.« Mit einem sanften Stoß rammte das Boot die Anlegestelle der Tankstation. Die Taue wurden um die Poller gelegt, und Minuten später war Converse aus dem Hafengelände verschwunden. Joel suchte sich einen Platz im letzten Waggon des Zuges. Noch immer beobachtete er seine Umgebung argwöhnisch, doch war er mit den Fortschritten, die er gemacht hatte, mehr als zufrieden. Er hatte alles sehr vorsichtig getan, aber ohne einen einzigen überflüssigen Schritt. Er hatte sich konzentriert und war sich der vielen Gefahren bewußt gewesen - Augen, die ihn vielleicht zu lange anstarrten, Personen, denen er zu kurz hintereinander zweimal hätte begegnen können, ein Verkäufer, der ihn möglicherweise dadurch aufhalten wollte, daß er hilfsbereiter war als normal. Diese einkalkulierten Möglichkeiten waren seine Richtwerte und leiteten ihn wie Fluginstrumente. Wenn er eine falsche Anzeige bekommen sollte, würde er seine Vorwärtsbewegung sofort stoppen, den Start abbrechen, den Notausstieg aufsprengen und in den Straßen Sicherheit suchen. Doch hatte er diesmal kein Flugzeug, das wie eine Erweiterung seiner Person war. Er hatte nur sich selbst, und noch nie in seinem ganzen Leben war er mit solcher Präzision geflogen. English Spoken hatte auf der Tafel am Dach des kleinen Zeitungskiosks in Lobith gestanden. Joel hatte sich nach dem Omnibus nach Arnheim erkundigt, dabei eine Landkarte und eine Zeitung gegriffen und sich beides vors Gesicht gehalten. Doch der Kioskbesitzer war viel zu sehr mit seinen anderen Kunden beschäftigt, um überhaupt auf ihn zu achten. Er rief Joel eilig zu, wie er gehen müsse, wobei seine Finger mehr erklärten als seine Worte. Joel fand die Busstation vier Straßen weiter. Er setzte sich in einen überfüllten Wagen, vergrub sein
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Gesicht hinter der Zeitung, die er nicht lesen konnte, und stieg
vierzig Minuten später vor dem Bahnhof von Arnheim aus.
Der erste Punkt auf seiner Checkliste hatte den Besuch des
Waschraums einer Herrentoilette verlangt, wo er sich säubern
konnte. Er hatte sich, so gut es ging, den Schmutz von den
Kleidern geschlagen und musterte sich jetzt im Spiegel. Er sah
zwar immer noch ziemlich ramponiert aus, wirkte aber jetzt
mehr wie ein Mann, der einen Unfall gehabt hatte, als wie einer,
den man zusammengeschlagen hatte.
Das war ein entscheidender Unterschied.
Als nächstes wechselte er draußen im Bahnhofsgebäude sein
deutsches Geld und zusätzlich fünfhundert amerikanische
Dollar in Gulden um. Dann kaufte er sich, ein paar Türen weiter,
eine dunkle Sonnenbrille. Als er sich in die Schlange vor der
Kasse einreihte und dabei die Spuren der letzten Tage in
seinem Gesicht mit der Hand zu bedecken versuchte, fiel sein
Blick auf ein Regal mit Kosmetikartikeln im nächsten Gang. Der
Anblick weckte eine Erinnerung in ihm. Er verließ die Schlange
und ging zu dem Regal mit den Cremes, Shampoos und
Nagellackfläschchen.
Er erinnerte sich ganz deutlich. Kurz nach ihrer Heirat war
Valerie auf dem Teppich im Korridor ausgeglitten, und im Fallen
hatte sie sich den Kopf an einer Tischkante verletzt. Am Abend
hatte sie ein »wunderschönes Veilchen« gehabt. Das waren
damals seine Worte gewesen. Ihr blaues Auge bildete ein fast
perfektes Oval von der Nasenwurzel bis zur linken Schläfe
und dabei sollte sie am nächsten Morgen in der Agentur eine
Präsentation für Kunden aus Übersee durchführen. Sie hatte
ihn in die Drogerie nach einer kleinen Flasche flüssigen Make
ups geschickt, das die Verletzung, wenn man nicht ganz nahe
hinsah, erstaunlich gut kaschierte.
»Ich will ja schließlich nicht, daß die Leute glauben, mein
nagelneuer Ehemann hätte mich verprügelt, weil ich seine
wüsten sexuellen Wünsche nicht erfülle.«
»Welcher hat dir denn noch gefehlt?« war seine Gegenfrage
gewesen.
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Er erkannte die Flasche wieder, wählte einen dunkleren Farbton und reihte sich wieder in die Schlange vor der Kasse ein. Der zweite Aufenthalt in der Herrentoilette hatte zehn Minuten gedauert, aber das Resultat rechtfertigte die Mühe. Er hatte das Make-up sorgfältig aufgelegt, und die Kratzer und Schürfwunden waren verschwunden. Man mußte jetzt schon ganz genau hinsehen, um noch etwas zu bemerken. Dann fuhr er fort, seine Checkliste abzuarbeiten. Und am Ende hatte er sich den Platz gesucht, auf dem er jetzt saß, im letzten Wagen des Zuges von Arnheim nach Amsterdam. Nachdem er sich seine Fahrkarte gekauft hatte, war er zum Bahnsteig gegangen, jeden Moment bereit, auf das geringste Anzeichen hin, daß man ihn beobachtete, zu flüchten. Aber er sah nur eine Gruppe von Männern und Frauen, Ehepaare etwa seines Alters, die miteinander redeten und lachten, Freunde vielleicht, die miteinander einen Ausflug machten und ans Meer wollten. Die Männer trugen abgewetzte, zerbeulte Koffer, die von Schnüren zusammengehalten wurden, während einige der Frauen Körbe am Arm trugen. Joel war hinter ihnen hergegangen, hatte leise gelacht, wenn sie lachten, und war eingestiegen, als gehörte er zu der Gruppe. Dann hatte er seinen Gangplatz eingenommen, gegenüber einem vierschrötigen Mann, in dessen Begleitung sich eine schlanke Frau befand, deren ganze Körperhaltung ihren Stolz auf ihren auffallend großen Busen verriet. Joel konnte kaum den Blick von ihr lösen, und der Mann grinste ihm zu, keineswegs unfreundlich, während er eine Flasche Bier zum Munde führte. In rascher Folge flogen die Stationen vorüber. An jeder stiegen Passagiere aus, neue stiegen ein, lachend und vergnügt. Einige Männer trugen T-Shirts mit Namen von Städten oder Fußballteams darauf, wie Converse annahm. Und das führte offensichtlich zu neuem Gelächter und gespieltem Streit über die Vorzüge der einzelnen Mannschaften. Und dabei wurde es immer lauter. »Amstell« rief der Schaffner und öffnete die vordere Tür zu dem Waggon. »Amst...!« Der arme Kerl konnte seinen Ruf nicht zu -4 8 6
Ende bringen, sondern ging rasch hinter der Tür in Deckung,
um den zusammengerollten Zeitungen zu entgehen, die man
auf ihn warf.
Ferienstimmung in Holland.
Der Zug rollte in die Station ein, und eine weitere Gruppe von
Männern und Frauen in T-Shirts verkündete ihre Ankunft mit
großem Hallo. Fünf oder sechs Reisende in Joels Waggon
sprangen auf, um ihre Freunde zu begrüßen. Wieder wurden
Flaschen und Bierdosen gehoben, und das allgemeine
Gelächter hallte von den Waggonwänden so laut wider, daß
man das Pfeifen des Stationsschaffners draußen kaum hören
konnte. Man umarmte sich, schlug sich auf die Schultern - es
herrschte allgemeine Verbrüderung.
Und hinter den Neuankömmlingen, wie um den Gegensatz zu
deren kindlichem Gehabe zu betonen, schwankte eine alte,
offensichtlich betrunkene Frau durch den Gang. Sie trug einen
wallenden, schon, etwas mitgenommenen Mantel und in der
linken Hand eine zerfranste Segeltuchtasche. Mit der rechten
hielt sie sich an einem Sitz fest, um beim Anfahren des Zuges
nicht umgeworfen zu werden. Grinsend ließ sie sich eine
Flasche Bier reichen, während eine weitere in ihre Tasche
gesteckt wurde und dazu noch ein paar belegte Brote in
Pergamentpapier. Zwei Männer im Mittelgang verbeugten sich
tief, als wollten sie eine Königin begrüßen. Ein dritter schlug der
Frau klatschend auf den Hintern und pfiff. Das alles dauerte ein
paar Minuten. Die alte Frau trank, machte ein paar Tanzschritte
und gestikulierte dann verspielt herum, streckte jemandem die
Zunge heraus und hüpfte mit grotesken Schritten herum, als
wolle sie ein Ballett tanzen. Die Holländer sind vergnügte Leute,
dachte Joel. Sie sorgen auch für die, denen es weniger gutgeht
und die man in einem anderen Land vielleicht überhaupt nicht
in den Zug lassen würde. Jetzt kam die Frau auf ihn zu, die
Tasche weit geöffnet, als wollte sie von allen Seiten Almosen
entgegennehmen. Joel holte ein paar Gulden hervor und ließ
sie in die Tasche fallen.
»Goedemorgen«, sagte die alte Frau schwankend. »Dankwel,
beste man, vriendeligk von u!«
-4 8 7
Joel nickte und beugte sich wieder über die Karte in seiner Hand. Doch die Frau mit der Tasche blieb neben ihm stehen. »Uw hoofd! Ach, heb je een ongeluk gehad, jongen?« Wieder nickte Converse, griff noch einmal in die Tasche und gab der betrunkenen alten Vettel noch einmal Geld. Er wies auf seine Karte und gab ihr durch Gesten zu verstehen, daß sie weitergehen solle. Rings um ihn wurde das Geschrei wieder lauter. »Spreekt u Engels?« rief die Frau mit der Tasche und beugte sich schwankend über ihn. Joel zuckte die Achseln, sank in seinen Sitz zurück und starrte auf die Karte. »Ich denke doch.« Die alte Frau sprach jetzt heiser, aber klar und nüchtern. Ihre rechte Hand hielt sich plötzlich nicht mehr am Sitzrand fest, sondern war in der Segeltuchtasche versunken. »Wir suchen Sie schon seit Tagen auf jedem Zug. Keine Bewegung! Die Waffe hat einen Schalldämpfer. Bei dem Lärm hier würde keiner etwas bemerken, wenn ich abdrücke, auch nicht der Mann neben Ihnen. Ich glaube, wir sollten jetzt gehen. Wir haben Sie, Menheer Converse!« Mit einem Schlag war er von der fröhlichen Stimmung ausgeschlossen. Der Tod hatte ihn eingeholt. Minuten vor Amsterdam.
26 »Mag ik u even lästig vallen?« rief die alte Frau, die scheinbar wieder unsicher schwankte, dem Passagier neben Converse zu. Der Mann wandte seinen Blick von dem munteren Treiben im Mittelgang ab und sah zu der alten Vettel hinauf. Wieder rief sie, die rechte Hand noch immer in der Tasche, das graue Haar wirr, und deutete mit dem Kopf zum vorderen Teil des Wagens. »Zou ik op uw plaats mögen zitten?« »Mij best!« Der Mann stand grinsend auf. Joel zog die Beine zur Seite, um ihn passieren zu lassen. »Dank u wel«, fügte der -4 8 8
Mann hinzu und ging zu einem leeren Sitz hinter zwei jungen Leuten, die im Gang tanzten. »Rutschen Sie rüber!« befahl die alte Frau schroff. Wenn es überhaupt noch eine Möglichkeit zur Gegenwehr gibt, überlegte Converse, dann sofort. Er schickte sich an, aufzustehen, die Augen geradeaus, den rechten Ellbogen auf der Armstütze, nur wenige Zentimeter von der riesigen Segeltuchtasche der Frau entfernt. Plötzlich schoß seine Hand in die offene Tasche und packte das wulstige Gelenk der Hand, die die unsichtbare Waffe hielt. Er ließ die Hand tiefer sinken, umklammerte Fleisch und Metall und riß die Frau nach links durch den schmalen Raum zwischen den Sitzreihen und preßte sie auf den Platz neben dem Fenster. Ein scharfes, klatschendes Geräusch ertönte, als sich ein Schuß löste und ein Loch in das schwere Tuch brannte. Etwas Rauch kräuselte in die Höhe, die Kugel bohrte sich irgendwo weiter unten in die Wand. Die alte Frau hatte Kräfte wie ein Berserker, damit hatte er nicht gerechnet. Sie kämpfte verzweifelt, krallte nach seinem Gesicht, bis er ihr den Arm auf den Rücken drehte und festhielt, während ihre Hände in der Tasche noch immer miteinander kämpften. Die Alte wollte die Waffe nicht freiwillig loslassen, und er schaffte es nicht, sie ihr zu entreißen. Das muntere Treiben im Waggon wurde unterdessen immer lauter. Gelächter, Gesang und trunkene Schreie überschlugen sich. Und niemand achtete auch nur im geringsten auf den verzweifelten Kampf, der sich auf der schmalen Sitzreihe abspielte. Und dann bemerkte Joel plötzlich, daß der Zug seine Fahrt verlangsamte, wenn auch erst kaum spürbar. Die Landung, signalisierte ihm sein Piloteninstinkt. Er drückte der alten Frau den Ellbogen in die Brust, in der Hoffnung, der Schmerz könne sie veranlassen, die Waffe loszulassen. Aber sie hielt fest und preßte sich nur noch fester gegen den Sitz. »Loslassen!« flüsterte er heiser. »Ich tue Ihnen nicht weh, ich töte Sie nicht. Was auch immer man Ihnen gezahlt hat, ich zahle mehr!« »Nee! Dann findet man mich am Ende auf dem Grund eines Kanals! Sie können nicht entkommen, Menheer! Die warten in -4 8 9
Amsterdam auf Sie, die warten auf den Zug!« Mit verzerrtem
Gesicht trat die Frau plötzlich nach ihm und bekam einen
Augenblick den linken Arm frei. Ihre Hand fuhr herum, schlug
nach seinem Gesicht, und ihre Nägel glitten durch seinen Bart,
bis er sie wieder am Handgelenk packte, ihren Arm über den
Sitz zog und ihn gegen ihr Knie preßte. Er drehte ihr die Hand
herum und zwang sie, sich ruhig zu verhalten, doch das reichte
nicht. In der rechten Hand hatte sie noch immer die Kraft einer
Löwin, die ihre Jungen beschützt. Sie ließ die Waffe in der
Tasche nicht los.
»Sie lügen!« schrie Converse. »Niemand weiß, daß ich in
diesem Zug bin! Sie selbst sind erst vor zwanzig Minuten
eingestiegen.«
»Irrtum, Amerikaan! Ich bin schon seit Arnheim im Zug. Von
vorn bis hinten bin ich durch die Waggons gegangen, und in
Utrecht habe ich Sie gefunden. Das ist nach Amsterdam
durchtelefoniert worden.«
»Lüge!«
»Sie werden ja sehen.«
»Wer hat Sie bezahlt?«
»Männer.«
»Wer?«
»Das werden Sie ja sehen.«
»Verdammt, Sie gehören doch nicht zu denen! Das kann doch
nicht sein!«
»Die zahlen. Überall in den Zügen zahlen die. Auf den Piers,
auf den Flughäfen. Die sagen, Sie sprechen nur Englisch.«
»Was noch?«
»Warum sollte ich Ihnen das verraten? Sie sollten mich
loslassen. Das würde es leichter machen für Sie.«
»Wie denn? Eine schnelle Kugel in den Kopf, statt der Folter in
Hanoi?«
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»Was auch immer, die Kugel könnte besser sein. Sie sind zu
jung, um das zu wissen, Menheer. Sie haben nie eine
Besatzung erlebt.«
»Und Sie sind eigentlich zu alt, um noch solche Kraft zu haben,
das muß ich Ihnen lassen.«
»Ja, auch das habe ich gelernt.«
»Loslassen!«
Der Zug bremste weiter ab, und die betrunkene Menge im
Waggon schrie vergnügt. Die Männer griffen nach ihren Koffern
in den Gepäcknetzen. Auch der Passagier, der neben Joel
gesessen hatte, zerrte seinen heraus und stieß Joel dabei
gegen die Schulter. Joel tat, als sei er ganz in die Unterhaltung
mit seiner Grimassen schneidenden »Gefangenen« versunken.
Der Mann grinste und ging mit dem Koffer in der Hand davon.
Dann ruckte die alte Frau nach vorn, und ihre Zähne erwischten
Joels Oberarm nur Millimeter von der alten Wunde entfernt. Sie
biß so heftig zu, daß sofort Blut hervorquoll und der Frau über
das graue Kinn rann.
Der Schmerz ließ Joel zurückzucken. Die Alte befreite ihre
Hand aus seinem Griff. Jetzt gehörte die Waffe wieder ihr! Sie
feuerte; auf das klatschende Geräusch des schallgedämpften
Schusses folgte unmittelbar das Splittern einer Bodenplanke
wenige Zentimeter neben Joels Füßen. Er packte den
unsichtbaren Lauf, drehte ihn herum und versuchte mit aller
Kraft, ihr die Waffe zu entreißen. Wieder feuerte sie.
Ihre Augen weiteten sich, während sie rückwärts gegen den
Sitz prallte. Sie blieben starr, als sie gegen das Fenster sackte,
und dann breitete sich über ihrem Bauch ein großer Blutfleck im
dünnen Stoff ihres Kleides aus. Sie war tot. Joel wurde übel
und das so schnell, daß er schlucken mußte, um sich nicht zu
übergeben. Noch zitternd fragte er sich, wer diese alte Frau
war, was sie erlebt hatte, was sie zu dem gemacht hatte, was
sie war. Sie sind zu jung, um das zu wissen... Sie haben nie
eine Besatzung erlebt.
Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie hatte
ihn töten wollen. Das genügte im Moment. Und nur wenige
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Minuten entfernt warteten Männer auf ihn. Er mußte überlegen, was zu tun war. Er mußte in Bewegung bleiben. Joel entwand den starren Fingern der Alten die Waffe und schob sie sich unter den Gürtel. Er spürte das Gewicht der anderen Waffe in seiner Hosentasche. Dann beugte er sich vor, zog das Kleid der Frau in Falten, schob ihr den Schal über den Blutfleck und strich ihr das wirre graue Haar über die rechte Wange, so daß man die geweiteten toten Augen nicht sofort sehen konnte. Dann holte er noch eine Dose Bier aus ihrer Tasche, öffnete sie und stellte sie ihr auf den Schoß. Das Bier schwappte heraus und durchnäßte das Kleid. »Amsterdam! De volgende halte is Amsterdam-Centraal!« Die Betrunkenen drängten sich zur Tür. O Gott! dachte Converse. Was sollte er jetzt tun? Die alte Frau hatte gesagt, ein Telefongespräch sei geführt worden. Das deutete darauf hin, daß sie nicht selbst gesprochen hatte. Dafür wäre auch zu wenig Zeit gewesen. Ohne Zweifel hatte sie in Utrecht jemandem, der vielleicht am Bahnsteig wartete, den Auftrag gegeben, das Gespräch zu führen. Daraus ließ sich schließen, daß nur wenig übermittelt worden war. Sie war eine Sonderbeauftragte, eine, wie sie nur Aquitania besaß. Eine alte Frau, die stark war und eine Waffe benutzen konnte und die auch nicht davor zurückschreckte, jemanden zu töten - eine Frau, die zu niemandem viel sagen würde. Sie würde einfach eine Telefonnummer nennen und den oder die Betreffende anweisen, die Ankunftszeit des Zuges durchzugeben. Und deshalb... hatte er wieder eine Chance. Jeder männliche Passagier würde gemustert werden, jedes Gesicht mit dem in den Zeitungen verglichen. Das Gesicht war das seine und doch auch wieder nicht. Und er sprach außer Englisch keine andere Sprache, auch das war weitergegeben worden. Er mußte denken. »Ze is dronken!« Der vierschrötige Mann mit der attraktiven Frau rief das, während er auf die Tote deutete. Sie lachten beide, und Joel brauchte keinen Dolmetscher, um sie zu verstehen. Sie hielten die alte Frau für betrunken. Er nickte und grinste und zuckte die Schultern. Plötzlich wußte er, wie er es schaffen konnte, den Bahnsteig in Amsterdam zu verlassen. -4 9 2
Converse begriff, daß es eine universelle Sprache gab, die man dann einsetzte, wenn der Lärm so laut war, daß man nichts mehr hören konnte. Dieselbe Sprache, die man auch auf Cocktailpartys gebrauchte, wenn man sich langweilte, oder wenn man sich ein Fußballspiel ansah und einen Clown neben sich hatte, der sich einbildete, mehr als der Trainer oder Schiedsrichter zu verstehen, oder auch dann, wenn man mit den »beautiful people« von New York einen Abend verbringen mußte - in solchen Situationen nickte oder lächelte man, legte jemandem gelegentlich freundlich die Hand auf die Schulter und deutete damit seine Kommunikationsbereitschaft an - aber man sagte kein Wort. All dies tat Joel, als er sich mit dem vierschrötigen Mann und seiner Frau aus dem Zug schob. Und er spielte die Rolle wie einer, der wußte, daß zwischen Leben und Tod nur noch ein kleines bißchen vorgetäuschter Verrücktheit stand. Während sie am Zug entlanggingen, wanderte Joels aufmerksamer Blick zu einem Mann, der hinter einem Bogen am Ende des Bahnsteigs stand. Er fiel Joel auf, weil sein Gesicht im Gegensatz zu seiner Umgebung, wo alles strahlte ernst und angestrengt wirkte. Der Mann war aufmerksam, er studierte die Ankömmlinge, aber da war niemand, den er willkommen heißen konnte. Und dann wußte Converse plötzlich, weshalb ihm der Mann aufgefallen war. Er erkannte das Gesicht, und im selben Augenblick wußte er auch, wo er es schon einmal gesehen hatte. Der Mann vor ihm war einer der Wächter aus Erich Leifhelms Anwesen über dem Rhein. Sie näherten sich jetzt dem Torbogen, und Joel lachte etwas lauter, schlug dem vierschrötigen Holländer etwas kräftiger auf die Schulter. Die Mütze hatte er sich wieder tief in die Stirn gezogen. Er nickte ein paarmal, zuckte dann wieder die Schultern, schüttelte freundlich den Kopf, die Stirn gefurcht, wobei seine Lippen sich dauernd bewegten, dem Anschein nach im angeregten Gespräch. Aus halb zusammengekniffenen Augen sah Converse, daß Leifhelms Wächter ihn anstarrte; dann sah der Mann weg. Sie passierten den Bogen, und Joel bemerkte aus dem Augenwinkel, wie ein Kopf herumfuhr, wie -4 9 3
eine Gestalt andere Gestalten aus dem Wege schob, außen am Rande der Menschenmenge blieb, sich aber weiter vorarbeitete. Converse drehte sich um und sah dem Holländer über die Schulter. Da geschah es. Seine Augen blickten in die von Leifhelms Wächter. Der Augenblick des Erkennens war da. Der Deutsche schrak zusammen und warf den Kopf herum. Er wollte schreien, hielt dann aber inne. Jetzt griff seine Hand unter das Jackett, seine Schritte wurden schneller. Joel löste sich von den zwei Holländern und fing an zu laufen. Er bahnte sich einen Weg durch die Mauer aus Leibern und hielt auf eine Reihe bogenähnlicher Ausgänge zu, durch die das helle Sonnenlicht in die Bahnhofshalle fiel. Zweimal sah er sich um. Das erstemal konnte er den Mann nicht sehen, aber beim zweitenmal. Leifhelms Wächter schrie irgend jemandem etwas zu, reckte sich höher, um besser sehen zu können, und auch, um gesehen zu werden. Dann zeigte er wild fuchtelnd zu den Ausgängen. Converse lief noch schneller und wurde rücksichtsloser gegen jeden, der ihm den Weg zum Ausgang versperrte. Jetzt hatte er die Treppe erreicht und hastete sie hinauf. Dabei hielt er sich aber im gleichen Rhythmus wie die anderen gehetzten Passagiere, darauf bedacht, in ihrer Mitte zu bleiben und so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Dann stürzte er in völliger Verwirrung ins Freie. Er sah Wasser und Piers und glasbedeckte Boote, die leicht in der Strömung dümpelten, Menschen, die an den Schiffen vorbeieilten, während andere unter den wachsamen Blicken von Männern in weiß-blauen Uniformen an Bord komplimentiert wurden. Da hatte er den Bahnhof hinter sich gelassen, nur um sich in einer Art Hafen wiederzufinden. Und dann erinnerte er sich: Der Hauptbahnhof von Amsterdam stand auf einer Insel mit Blick auf die Stadtmitte; deshalb nannte man ihn auch CentraalStation. Und doch war da eine Straße, zwei Straßen, drei Straßen, die wie Brücken zu anderen Straßen und Bäumen und Gebäuden führten... Aber ihm blieb keine Zeit! Er war im Freien, und jene Straßen in der Ferne waren die Höhlen, die ihm das Überleben garantierten; sie waren die Schluchten und -4 9 4
Büsche und Sümpfe, die ihn vor dem Feind verbergen konnten! Er rannte, so schnell er konnte, den vom Wasser gesäumten breiten Boulevard hinunter, bis er an eine noch breitere Straße kam, auf der sich der Verkehr staute. Busse, Straßenbahnen, Autos, alle bereit, sich beim Umschalten der Verkehrsampel wieder in Bewegung zu setzen. Er sah eine immer kürzer werdende Schlange an der Tür einer Straßenbahn, sah, wie die zwei letzten Passagiere einstiegen. Er hetzte zu dem Wagen und schob sich noch hinein, bevor die Tür zuklappte. In der letzten Reihe entdeckte er einen freien Platz und setzte sich schwer atmend. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen am Haaransatz und an den Schläfen, er rann ihm über das Gesicht, und auch sein Hemd war naß. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie erschöpft er war, wie heftig sein Herz schlug und wie verwirrt sein Blick und seine Gedanken waren. Furcht und Schmerz hatten sich zu einer Art Hysterie verbündet. Der Wunsch zu überleben und der Haß, den er für Aquitania empfand, hatten ihn in Gang gehalten. Schmerz? Erst jetzt wurde ihm das Stechen über seiner Armwunde bewußt, die letzte Rachetat einer alten Frau. Rache wofür? Einen Feind? Oder war sie bezahlt worden? Keine Zeit! Die Straßenbahn setzte sich in Bewegung, und er drehte sich um, weil er durch das Rückfenster sehen wollte. Er sah, was er erwartet hatte. Leifhelms Wächter lief gerade über die Kreuzung, ein zweiter Mann kam vom Kai auf ihn zugerannt. Jetzt trafen sie sich, und man konnte ihren Gesten ansehen, daß sie in heller Aufregung waren. Ein weiterer Mann stand plötzlich bei ihnen. Joel hatte nicht gesehen, woher er gekommen war. Die drei Männer redeten aufeinander ein, wobei anscheinend Leifhelms Wächter die Befehle gab. Er deutete in mehrere Richtungen, erteilte Anweisungen. Ein Mann eilte auf die Straße, warf prüfende Blicke in das halbe Dutzend Taxis, das im Verkehrsgewühl feststeckte. Ein zweiter blieb auf dem Bürgersteig und ging langsam an den Tischen eines Straßencafes vorbei und dann ins Innere des Lokals. Schließlich lief Leifhelms Wächter quer über die Kreuzung, immer dem Verkehr ausweichend, und gab, als er die -4 9 5
gegenüberliegende Seite erreicht hatte, Handzeichen. Eine Frau kam aus einem Laden und trat zu ihm. An die Straßenbahn hatte keiner gedacht. Joel lehnte sich zurück und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er wußte, daß ihm Schwieriges bevorstand. Aquitania würde jeden Winkel in Amsterdam absuchen, um ihn zu finden. Gab es überhaupt eine Möglichkeit, Thorbecke zu erreichen? Nein, er durfte jetzt an überhaupt nichts denken. Er mußte sich sammeln und sich ausruhen. Und wenn er sogar Schlaf finden sollte, konnte er nur hoffen, daß nicht zugleich die Alpträume kommen würden. Er sah zum Fenster hinaus und entdeckte eine Tafel. Auf ihr stand Damrak. Er blieb mehr als eine Stunde in dem Straßenbahnwagen. Das lebhafte Geschehen in den Straßen, die schöne Architektur der jahrhundertealten Gebäude und die endlosen Kanäle beruhigten ihn. Sein Arm schmerzte immer noch vom Biß der alten Frau, aber die Wunde tat nicht sehr weh, und langsam verblaßte der Gedanke, daß er die Verletzung dringend säubern mußte. Und wenn er auch nicht um die alte Frau weinen konnte, so wünschte er sich doch, wie ihm das gelegentlich bei fremden Zeugen vor Gericht erging, daß er ihre Geschichte gekannt hätte. Die Straßenbahn hatte die letzte Station erreicht und würde jetzt umkehren. Er war der letzte Fahrgast. Joel ging den Mittelgang hinauf, stieg aus und sah eine andere Straßenbahn. Er stieg ein. Eine neue Zuflucht. Hundert Straßen und ein Dutzend sich kreuzender Kanäle später sah er zum Fenster hinaus. Die heruntergekommene Umgebung, die er sah, ermutigte ihn. Es gab eine Reihe von Pornoshops, deren Ware vor den Läden ausgelegt war. Darüber standen in offenen Fenstern grell bemalte Mädchen in provozierenden Posen und zogen sich lethargisch die Büstenhalter herunter, dabei blickten sie gelangweilt und ließen die Hüften kreisen. Die Menschen auf den Straßen wirkten angeregt, einige neugierig, während sich andere schockiert gaben und wieder andere Interesse zeigten. Über dem Ganzen lag eine Jahrmarktsatmosphäre. Eine Atmosphäre, in der man -4 9 6
untertauchen konnte, dachte Joel, als er von seinem Sitz
aufstand und zur Tür ging.
Auf der anderen Straßenseite war ein Cafe mit Tischen auf dem
Bürgersteig, während es drinnen dunkel war. Ihn verblüfften die
Menschen, die kurz am Eingang stehenblieben, hineinsahen
und weitergingen, als hätte irgend etwas Eigenartiges sie
angezogen, das sich drinnen abspielte. Er überquerte die
Straße, bahnte sich einen Weg durch die Menge und betrat das
Cafe. Wenn es für ihn schon keine Möglichkeit zum Schlafen
gab, so brauchte er doch wenigstens etwas zu essen. Seit fast
drei Tagen hatte er keine richtige Mahlzeit mehr zu sich
genommen. Ganz hinten in dem Raum fand er einen kleinen
Tisch, der frei war, und er wunderte sich darüber, daß rechts
von ihm an der Wand ein Fernsehgerät seine nachmittäglichen
Banalitäten in englischer Sprache von sich gab. Dann sah er
auf dem Tisch eine Speisekarte in vier Sprachen, von denen
Englisch die erste war.
Für unsere ausländischen Besucher bieten wir Video-
Aufzeichnungen unseres Fernsehprogramms.
Damit wollte das Lokal Touristen anlocken. Und der
amerikanische Dollar galt viel in Amsterdam.
Whisky pur half, aber die Beruhigung, die vom Alkohol ausging,
würde nicht lang anhalten. Die Angst des Gejagten stellte sich
wieder ein und zwang ihn, den Kopf immer wieder zum Eingang
zu drehen, wo er jeden Augenblick einen der Männer von
Aquitania erwartete, einen der Söldner, der aus dem hellen
Licht ins Halbdunkel seiner Höhle treten und ihn finden würde.
Er ging zur Herrentoilette, zog das Jackett aus, steckte die
Waffe mit dem Schalldämpfer in die Innentasche und riß den
linken Hemdsärmel auf. Er füllte eines der beiden Becken mit
kaltem Wasser, tauchte das Gesicht hinein, goß sich das
Wasser ins Haar und über den Hals. Er spürte ein Vibrieren, ein
Geräusch! Sein Kopf ruckte erschreckt hoch, seine Hand griff
instinktiv nach dem Jackett, das er an einen Haken gehängt
hatte. Ein behäbig wirkender Mann in mittleren Jahren nickte
ihm zu und trat an ein Urinbecken. Joel warf einen Blick auf die
Zahnspuren an seinem Arm; sie sahen wie ein Hundebiß aus.
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Er drehte den Heißwasserhahn auf und bearbeitete die
schmerzende Stelle mit einem Papierhandtuch, bis das Blut
hervortrat. Mehr konnte er nicht tun; vor einem ganzen Leben
hatte er dasselbe getan, als sich Wasserratten durch die
Gitterstangen seines Bambuskäfigs gezwängt und ihn
angegriffen hatten. Und dann hatte er gelernt, daß man Ratten
Angst machen konnte. Und sie töten. Der Fremde trat von dem
Urinbecken zurück, ging zur Tür und warf Converse dabei einen
unsicheren Blick zu.
Joel legte ein Papierhandtuch auf die Wunde, zog sein Jackett
wieder an und kämmte sich das Haar. Dann kehrte er an seinen
Tisch zurück und ärgerte sich wieder über den lärmenden
Fernseher an der Wand.
Eine Zeitlang war er versucht, das größte Stück Fleisch zu
bestellen, das auf der Karte zu finden war, aber die Vernunft
riet ihm davon ab. Er hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen,
seit seiner Gefangenschaft in Leifhelms Anwesen, wo ihm
reichliches, gutes Essen zu Schlaf verholfen hatte. Ein kräftiges
Mahl würde ihn also nur müde machen, und das war nicht die
richtige Verfassung für einen Mann auf der Flucht. Also
bestellte er Seezungenfilet mit Reis. Wenn nötig, konnte er ja
immer noch eine zweite Portion nachbestellen. Und noch einen
Whisky.
Die Stimme! Herrgott, die Stimme! Er mußte unter
Halluzinationen leiden! Er war dabei, den Verstand zu verlieren!
Er hörte eine Stimme - das Echo einer Stimme - die er
unmöglich hören konnte!
».. .Ich bin tatsächlich der Ansicht, daß das eine nationale
Schande ist, aber ich muß gestehen, daß ich wie die meisten
anderen nur Englisch spreche.«
»Frau Converse -«
»Miß... Fräulein... Ich glaube, so stimmt es. Charpentier, wenn
es Ihnen nichts ausmacht.«
»Dames en heren...«, schaltete sich eine dritte Stimme leise in
holländischer Sprache ein.
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Converse schnappte wie ein Erstickender nach Luft, griff sich
ans Handgelenk, schloß die Augen und drückte sie so fest zu,
daß jeder Muskel in seinem Gesicht schmerzte. Dann wandte
er das Gesicht von der Quelle dieser schrecklichen, furchtbaren
Halluzination ab.
»Ich bin geschäftlich in Berlin... Ich bin beratend für eine Firma
in New York tätig...«
»Mevrouw Converse, Mevrouw Charpentier, zoals we...«
Joel war jetzt sicher, daß er tatsächlich verrückt war, daß er
wirklich den Verstand verloren hatte. Er hörte das Unmögliche.
Hörte es! Er fuhr herum und blickte nach oben. Der
Fernsehschirm. Es war Valerie! Sie war auf dem Bildschirm!
»Was immer Sie sagen, Fräulein Charpentier, wird exakt
übersetzt werden, das kann ich Ihnen versichern.«
»Zoals juffrouw Charpentier zojuist zei...« Das war wieder die
dritte Stimme, die Stimme des Holländers.
»Ich habe meinen ehemaligen Mann seit mehreren Jahren nicht
mehr gesehen - drei oder vier, würde ich sagen. Tatsächlich
sind wir inzwischen Fremde. Ich kann nur der Erschütterung
Ausdruck geben, die mein ganzes Land empfindet...«
»Juffrouw Charpentier, de vroegere mevrouw Converse...«
»Er war ein sehr verstörter Mann, der unter starken
Depressionen litt, aber ich habe nie geahnt, daß so etwas...«
»Hij moet mentaalgestoordzijn...«
»Es gibt keinerlei Verbindung zwischen uns, und es überrascht
mich, daß Sie von meiner Reise nach Berlin erfahren haben.
Trotzdem bin ich dankbar dafür, daß ich Gelegenheit habe,
einiges klarzustellen...«
»Mevrouw Converse gelooft...«
»Trotz der schrecklichen Umstände freut es mich, in Ihrer
schönen Stadt zu sein, Stadthälfte, muß ich wohl sagen. Aber
Ihre Hälfte ist die schönere. Und wie ich höre, ist das
Kempinski... Tut mir leid, bei uns nennt man so etwas
>Schleichwerbung< und ich sollte nicht...«
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»Das macht nichts, Fräulein Charpentier. Das ist hier nicht
verboten. Fühlen Sie sich bedroht?«
»Mevrouw Converse, voelt u zieh bedreigdt?«
»Nein, eigentlich nicht. Wir hatten ja so lange Zeit keine
Verbindung mehr miteinander.«
Mein Gott! Val war nach Europa gekommen, um ihn zu finden!
Sie sandte ihm Signale! Sie sprach genausogut Deutsch wie
der Mann, der sie interviewte! Und sie waren immer in
Verbindung geblieben. Erst vor sechs Wochen hatten sie
zusammen in Boston zu Mittag gegessen! Alles, was sie sagte,
war gelogen, und in diesen Lügen steckte der Code. Ihr Code!
Nimm Verbindung mit mir auf!
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3. BUCH 27 Benommen versuchte er, den verborgenen Sinn in den Worten und Sätzen zu begreifen. In ihnen steckte Vals Botschaft. Das Kempinski war ein Hotel in West-Berlin, soviel wußte er. Es mußte etwas anderes gewesen sein, etwas, das eine Erinnerung auslösen sollte - eine ihrer gemeinsamen Erinnerungen. Aber was? Ich habe meinen ehemaligen Mann mehrere Jahre nicht mehr gesehen... Nein, das war nur eine der Lügen. Er war ein sehr verstörter Mann. Nicht ganz falsch, aber nicht das, was sie ihm zu sagen versuchte. Tatsächlich sind wir inzwischen Fremde... Es gibt keinerlei Verbindung zwischen uns... Wieder eine Lüge, aber im Zusammenhang richtig... Halt, etwas, das sie vorher gesagt hatte... Ich bin beratend tätig... Das war es! »Kann ich bitte Miß Charpentier sprechen? Mein Name ist Mr. Whistletoe, Bruce Whistletoe. Ich bin der vertrauliche Berater für Springtime Anti-Perspirant; Ihre Agentur hat ein paar Entwürfe für uns gemacht, und es ist dringend!« Con moltaforza. Vals Sekretärin war sehr geschwätzig gewesen, berühmt für ihre Klatschgeschichten, und immer, wenn Joel und Valerie sich eine zusätzliche Stunde zum Mittagessen oder auch einen gemeinsamen Tag hatten verschaffen wollen, dann hatte er ein solches Gespräch geführt. Es verfehlte seine Wirkung nie. Wenn irgendein wichtigtuerischer Vorgesetzter - und davon gab es Dutzende - wissen wollte, wo sie war, hatte die leicht zu beeindruckende Sekretärin von einem dringenden Anruf eines sehr wichtigen Kunden erzählt. Das hatte gewöhnlich ausgereicht, und den Rest besorgte Valeries professionelles Selbstbewußtsein. Sie würde dann einfach sagen, daß »die Dinge« unter Kontrolle waren, und damit pflegte sich dann der betreffende Vorgesetzte zufriedenzugeben.
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Das mußte der verborgene Hinweis sein. Er sollte sich dieser Taktik bedienen, für den Fall, daß die Polizei ihre Gespräche abhörte. Das Interview war jetzt beendet, die letzten paar Minuten stellten offensichtlich eine Zusammenfassung in holländischer Sprache dar, während die Kamera ein Foto von Valerie zeigte. Plötzlich hörte er seinen Namen. »De Amerikaanse moordenaar Converse is advocaat en een ex-piloot mit de Vietnamese oorlog. Een ander advocaat, een Fransman en een vriend van Converse...« Joel blickte verwirrt auf den Bildschirm, erschreckt und gelähmt. Es folgte ein kurzer Filmstreifen. Eine Kamera bewegte sich durch eine Bürotür und erfaßte einen Körper, der über einem Schreibtisch zusammengesunken war. Blutströme, die wie eine häßliche Medusenperücke vom Schädel auf eine glänzende Tischplatte geflossen waren. O Gott! Das war Rene! Im Augenblick des Erkennens wurde in der linken oberen Bildhälfte ein weiteres Foto eingeblendet. Ein Bild von Mattilon und dann zur Rechten noch eine Aufnahme. Das war er, Joel Converse. Die Bilder bedurften keiner weiteren Erklärung. Rene war ermordet worden, und man hatte ihn als Täter bezeichnet. Das beantwortete die Frage; das war der Grund, weshalb Aquitania verbreitet hatte, daß der Mörder nach Paris unterwegs wäre. Er war ein Todesbote; das war er für neue und alte Freunde geworden. Für Rene Mattilon, Edward Beale... Avery Fowler. Und auch Feinden, die er nicht kannte, brachte er den Tod. Er war zurückgekehrt, zurück in die Lager und Dschungel, in die nie wieder zurückzukehren er geschworen hatte. Dabei wäre er am liebsten einfach untergetaucht und verschwunden - sollte doch jemand anderer den Auftrag übernehmen, von dem niemand wußte, daß er ihm in Genf übertragen worden war. Herrgott! Die Aufzeichnung. Wenn sie auch nur zwölf oder vierundzwanzig Stunden alt war, dann hatte Val wahrscheinlich den Umschlag nicht erhalten, den er ihr aus Bonn geschickt
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hatte! Sie konnte ihn gar nicht erhalten haben. Sonst wäre sie
nicht nach Europa geflogen!
O mein Gott, dachte Joel und leerte sein Glas. Mit der anderen
Hand rieb er sich die Stirn. Er war vollkommen verwirrt. Wenn
Nathan Simon den Umschlag nicht in Händen hielt, hatte es
auch keinen Sinn, ihn um Hilfe zu bitten! Ein Anruf bei ihm
würde nur zu der Forderung fuhren, daß Joel sich den
Behörden stellen solle. Nate würde sich gegen das Gesetz
stellen; er würde mit allen Kräften für seinen Klienten kämpfen,
aber erst wenn der Klient sich den Gesetzen unterwarf. Das
war Nates Religion. »Ihr Seezungenfilet, Menheer.«
»Mein was?«
»Ihre Seezunge«, wiederholte der Kellner.
»Sie sprechen Englisch?«
»Aber selbstverständlich«, sagte der hagere, kahlköpfige Mann
höflich. »Wir haben vorhin doch auch Englisch gesprochen, nur
waren Sie sehr erregt. Aber ich verstehe schon, das kann
einem in diesem Viertel leicht passieren.«
»Hören Sie.« Converse betonte jedes einzelne Wort. »Ich
bezahle Sie gut, wenn Sie eine Telefonverbindung für mich
herstellen. Ich spreche weder Holländisch noch Französisch
oder Deutsch, sondern nur Englisch. Können Sie das
verstehen?«
»Ich verstehe.«
»Ein Gespräch mit West-Berlin.«
»Das ist gar nicht schwer, Sir.«
»Würden Sie das für mich tun?«
»Aber selbstverständlich, mein Herr. Meine Schicht ist in ein
paar Minuten zu Ende. Dann hole ich Sie. Wir führen Ihr
Gespräch vom Büro aus.«
»Sehr schön.«
»Und >viel Geld<, ja? Fünfzig Gulden, ja?«
»Geht in Ordnung. Ja.«
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Zwanzig Minuten später saß Converse hinter einem kleinen
Schreibtisch in einem sehr kleinen Büro. Der Kellner reichte ihm
das Telefon. »Die sprechen Englisch, Menheer.« »Miß
Charpentier, bitte«, sagte Joel mit halb erstickter Stimme. Er
fühlte sich wie gelähmt und war nicht mehr sicher, ob er die
Beherrschung verlieren würde, wenn er ihre Stimme hörte.
Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, einfach
aufzulegen. Er durfte sie da nicht hineinziehen.
»Hallo?«
Sie war es. Tausend Bilder zogen an seinem inneren Auge
vorbei, Erinnerungen an Glück und Zorn, an Liebe und Haß. Er
konnte nicht sprechen. »Hallo? Wer ist da?«
»Oh... da bist du ja. Tut mir leid, die Verbindung ist ziemlich
schlecht. Hier spricht Jack Talbot von... Boston Graphics. Wie
geht's, Val?«
»Sehr gut... Jack. Und dir? Das ist jetzt ja schon ein paar
Monate her. Seit dem Mittagessen im Four Seasons, wenn ich
mich richtig erinnere.«
»Stimmt. Wann bist du angekommen?«
»Gestern abend.«
»Bleibst du lange?«
»Nur einen Tag. Wir hatten den ganzen Morgen eine
Krisensitzung, heute nachmittag geht es weiter. Wenn ich dann
nicht zu erledigt bin, nehme ich noch am Abend die Maschine.
Wann bist du nach Berlin gekommen?«
»Ich bin gar nicht dort. Ich hab' dich im Fernsehen gesehen, in
Belgien. Ich bin in... Antwerpen, aber heute nachmittag fahre
ich nach Amsterdam. Herrgott, schlimm, daß du so viel
mitmachen mußtest. Wer hätte das je geahnt? Das mit Joel,
meine ich.«
»Eigentlich hätte ich es ahnen müssen, Jack. Das ist alles so
schrecklich. Er ist so krank. Ich hoffe nur, daß die ihn bald
erwischen. Das wäre für alle gut. Er braucht Hilfe.«
»Er braucht ein Erschießungskommando, wenn ich das einfach
mal so offen sagen darf.«
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»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»Hast du die Skizzen bekommen, die ich dir geschickt habe,
nachdem wir den Gilette-Auftrag verloren hatten? Ich hatte
gehofft, dich damit vielleicht ins Bett zu kriegen.«
»Skizzen?... Nein, Jack, die sind nie angekommen. Vielen
Dank, daß du an mich gedacht hast; von der kleinen
Unverschämtheit einmal abgesehen.«
»Oh? Ich dachte, du schaust regelmäßig deine Post an.«
»Das habe ich auch... bis vorgestern. Aber es war nichts dabei
- wie lange wirst du in Amsterdam sein?«
»Eine Woche. Ich dachte, du würdest vielleicht ein paar
Agenturkunden besuchen, bevor du nach New York
zurückfliegst.«
»Das sollte ich wahrscheinlich, aber es wird wohl nicht gehen.
Ich habe keine Zeit. Wenn doch, dann bin ich im Amstel-Hotel.
Wenn nicht, dann sehen wir uns in New York wieder. Du kannst
mich ja zum Mittagessen einladen, dann tauschen wir
Klatschgeschichten.«
»Ja, davon habe ich genug auf Lager. Da wirst schon du die
Rechnung übernehmen müssen. Mach's gut, Kleines.«
»Mach's gut... Jack.«
Sie war großartig. Und sie hatte den Umschlag aus Bonn nicht
erhalten.
Er schlenderte durch die Straßen, besorgt, er könnte zu schnell gehen, verängstigt, er könnte zu lange an einem Ort verweilen, und immer mit dem Gedanken, daß er in Bewegung bleiben mußte, seine Umgebung beobachten, die Schatten suchen und sich von ihnen einhüllen lassen. Sie würde am Abend in Amsterdam sein, und sie hatte gesagt, daß er im Amstel-Hotel Verbindung mit ihr aufnehmen sollte. Warum? Warum war sie gekommen? Was hatte sie vor? Plötzlich schob sich das Gesicht von Rene Mattilon in sein Bewußtsein. Ganz deutlich war es zu erkennen, umgeben von Sonnenlicht. Es war eine Maske - eine Totenmaske. Rene war von Aquitania getötet worden, weil er Jack nach Amsterdam geschickt hatte. Und -5 0 5
Valerie würde nicht geschont werden, wenn die Gefolgsleute von George Marcus Delavane glaubten, daß sie herübergeflogen war, um ihn zu finden, um ihm zu helfen. Es war jetzt halb vier; bis etwa acht würde es dunkel sein. Er hatte noch knapp fünf Stunden, in denen er unsichtbar und am Leben bleiben mußte. Und irgendeinen Wagen finden. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen und blickte zu einer übermäßig herausgeputzten, äußerst gelangweilten Hure in einem Fenster im zweiten Stock eines Backsteinhauses hinauf. Ihre Augen begegneten sich, und sie lächelte ein gelangweiltes Lächeln. Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand begegneten sich, die folgende Handbewegung verlangte zu ihrer Deutung nicht viel Phantasie. Warum nicht? dachte Converse. Das einzig Sichere in einer sehr unsicheren Welt war die Tatsache, daß hinter jenem Fenster ein Bett wartete. Der Hausverwalter war ein Mann Mitte der Fünfzig. Er erklärte Joel in fließendem Englisch, daß für Zwanzig-MinutenSitzungen zu bezahlen sei, und zwar für zwei »Sitzungen« im voraus, wobei der Betrag für die zweite zurückerstattet würde, sollte der Gast während der letzten fünf Minuten der ersten Periode wieder herunterkommen. Der Traum eines jeden Kredithais, dachte Converse nach einem Blick auf die verschiedenen Uhren auf der Theke, die auf numerierten Feldern standen. Gerade kam ein älterer Mann die Treppe herunter. Der Angestellte schnappte sich hastig eine der Uhren und schob den Zeiger nach vorne. Joel kalkulierte schnell und rechnete Gulden in Dollar um, kam zu dem Ergebnis, daß jede »Sitzung« etwa dreißig Dollar kostete, und gab dem erstaunten Verwalter den Gegenwert von 275 Dollar. Dann nahm er seine Nummer entgegen und ging auf die Treppe zu. »Ihre Freundin, Sir?« fragte der verblüffte Hüter der Freuden, während Converse die erste Treppenstufe betrat. »Eine alte Liebe vielleicht?«
-5 0 6
»Eine Cousine, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe«,
erwiderte Joel traurig. »Wir müssen ein langes Gespräch
führen.« Mit hängenden Schultern stieg er die Treppe hinauf.
»Slapen?« rief die Frau mit den viel zu dick geschminkten
Wangen und dem aufgetürmten Haar. Sie war ebenso verblüfft
wie ihr Behüter unten. »Sie wollen slapen?«
»Das läßt sich schwer übersetzen, aber so ist es«, sagte
Converse, nahm Brille und Mütze ab und setzte sich aufs Bett.
»Ich bin sehr müde, und es wäre herrlich, wenn ich schlafen
könnte, aber wahrscheinlich werde ich nur etwas ausruhen. Sie
können ja inzwischen eine Zeitung lesen. Ich will Sie nicht
belästigen.«
»Was ist denn? Finden Sie mich nicht hübsch? Nicht sauber?
Sie sehen ja auch nicht gerade gut aus, Menheer! Das Gesicht
zerschunden, die Augen rot. Vielleicht sind Sie nicht sauber!«
»Ich bin gestürzt. Kommen Sie schon. Ich finde, Sie sehen
großartig aus, aber ich will wirklich ausruhen.«
»Warum hier?«
»Ich will nicht ins Hotel zurück. Der Liebhaber meiner Frau ist
dort. Er ist mein Chef. Wie heißen Sie?«
»Emma«, erwiderte die Hure.
»Sie sind nett, Emma.«
»Nein, Menheer, das bin ich nicht.«
Er erwachte von einer Berührung und schreckte im Bett hoch.
Seine Hand fuhr instinktiv an seine Hüfte, um sich zu
vergewissern, daß der Geldgurt noch an seinem Platz war. Er
hatte so tief geschlafen, daß er einen Augenblick lang nicht
wußte, wo er war. Und dann sah er die grell geschminkte Frau
neben sich stehen. Ihre Hand lag auf seiner Schulter.
»Menheer, verstecken Sie sich vor jemandem?« fragte sie
leise.
»Was?«
»Auf dem Leidseplein wird geredet. Männer stellen Fragen.«
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»Was?« Converse riß die Decke zur Seite und setzte sich auf.
»Welche Männer? Wo?«
»Het Leidseplein - dieses Viertel. Männer stellen Fragen. Sie
suchen einen Amerikaner.«
»Warum hier!« Joels Hand löste sich von dem Geldgurt und
tastete nach der Waffe darüber.
»Leute, die nicht gesehen werden wollen, kommen oft auf den
Leidseplein.«
Warum nicht? dachte Converse. Wenn er darauf gekommen
war, warum dann nicht auch der Feind? »Haben sie eine
Beschreibung?«
»Sie sind es«, antwortete die Hure offen.
»Und?« Joel sah der Frau in die Augen.
»Man hat nichts gesagt.«
»Ich kann nicht glauben, daß unser Freund unten mir
gegenüber so wohltätige Gefühle hat. Ich bin sicher, daß die
Geld angeboten haben.«
»Man hat ihm Geld gegeben«, verbesserte die Hure ihn. »Und
ihm mehr für weitere Informationen versprochen. Ein Mann ist
in der Nähe geblieben und wartet in einem Cafe am Telefon.
Man soll ihn anrufen, dann bringt er die anderen. Unser...
Freund unten dachte, Sie könnten vielleicht in das Angebot
einsteigen.«
»Ich verstehe. Eine Auktion. Ein Kopf auf dem Auktionstisch.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nichts. Fragen Sie nach, ob unser Freund amerikanisches
Geld nimmt.«
»Natürlich tut er das.«
»Dann steige ich in das Angebot ein und verdopple es.«
Die Hure zögerte. »Jetzt bin ich an der Reihe, Menheer.«
»Wie bitte?«
»En? Wie Sie sagen - >und«
»Oh. Sie?«
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»Ja.«
»Ich habe etwas Besonderes für Sie. Können Sie einen Wagen
fahren oder kennen Sie jemanden, der das kann?«
»Natuurlijk kann ich fahren. Bei schlechtem Wetter bringe ich
meine Kinder zur Schule.«
»O Gott... ich meine, das ist gut.«
»Mein Gesicht ist dann natürlich nicht 20.«
»Ich möchte, daß Sie einen Wagen mieten und ihn hier zum
Eingang bringen. Dann steigen Sie aus und lassen die
Schlüssel stecken. Können Sie das tun?«
»Ja, aber für nichts gibt es nichts.«
»Dreihundert Dollar - das sind rund achthundert Gulden.«
»Fünfhundert - das sind rund vierzehnhundert Gulden«,
konterte die Frau. »Und das Geld für die Wagenmiete.«
Joel nickte, während er sein Jackett aufknöpfte und das Hemd
herauszog. Unter dem breiten Segeltuchgurt war der Griff der
Waffe mit dem kurzen Lauf und dem daraufgesteckten
Schalldämpfer deutlich zu erkennen. Die Frau sah die Waffe
und stöhnte erschrocken auf. »Die gehört nicht mir«, sagte
Converse schnell. »Ob Sie das nun glauben oder nicht, ist mir
gleichgültig, aber ich hab' sie jemandem weggenommen, der
versucht hat, mich zu töten.« Er zog den Reißverschluß an
seinem Geldgurt auf und zählte mit dem Daumen die Scheine
ab. Dann zog er sie heraus und schloß die Tasche wieder. »Da,
das ist für unseren Freund unten und der Rest ist für Sie.
Bringen Sie mir einfach den Wagen und eine von den
Touristenkarten von Amsterdam, auf denen alle größeren
Geschäfte und Hotels und Restaurants eingetragen sind.«
»Ich werde den Wagen später als gestohlen melden. Ein paar
Straßen von hier ist ein Autoverleih, wo man mich kennt. Dort
habe ich schon ein paarmal einen Wagen gemietet, wenn mein
Peugeot defekt war und ich einen Ersatz brauchte. Seien Sie in
zwanzig Minuten unten und machen Sie sich etwas frisch.« Die
Hure schloß eilig die Tür hinter sich.
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Joel ging ohne große Begeisterung zu dem Waschbecken an der Wand, sah dann aber, daß es sauber war. Auf dem Boden stand eine Dose mit Reinigungsmittel und eine Flasche Wasserstoffsuperoxyd neben einer Rolle mit Papiertüchern. Er sah in den Spiegel; die Frau hatte recht gehabt, er war kein schöner Anblick. Aber man mußte ihm schon ziemlich nahe kommen, um zu sehen, wie tief die Wunden gingen. Vorsichtig wusch er sich das Gesicht, trocknete sich dann wieder ab, setzte die Sonnenbrille auf und machte sich so gut zurecht, wie er konnte. Es war geschehen. Val war gekommen, um ihn zu finden. Und er wünschte nichts so sehr, als sie zu sehen, sie zu berühren, ihre Stimme ganz nahe zu hören- und gleichzeitig wußte er, daß die Gründe dafür nicht die richtigen waren. Er war der Gejagte, verletzbar, von Schmerzen gepeinigt, alles Dinge, die es nicht gegeben hatte, als sie früher zusammen waren. Und nur weil all das aus ihm geworden war, gestattete er ihr, ihn zu finden. Bewundernswert war das kaum. Es paßte nicht zu seinem Teil ihrer gemeinsamen Vergangenheit, dem de suite, wie Rene Mattilon es formuliert hatte... Rene. Ein Telefonanruf hatte sein Todesurteil besiegelt. Aquitania. Zwölf Minuten waren verstrichen. Er wollte unten an der Tür sein, wenn Emma, die Hure aus der Vorstadt, auf der überfüllten Straße vorfuhr. Er verließ das kleine Zimmer, begann die Treppe hinabzusteigen und hörte die vorgetäuschten ekstatischen Laute hinter ein paar verschlossenen Türen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob die Mädchen schon einmal daran gedacht hatten, Kassettenrecorder zu benutzen; dann könnten sie Knöpfe drücken und dabei Zeitschriften lesen. Er hatte jetzt den ersten Treppenabsatz erreicht und sah unter sich den engelsgesichtigen Hüter des Etablissements hinter seiner Theke. Der Mann telefonierte gerade. Joel ging weiter, in der Hand eine Hundertdollarnote, die er dem Verwalter geben wollte. Ein zusätzlicher Bonus. Doch als er den Fuß in die Lobby setzte, war er plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er dem Hausverwalter mehr als einen -5 1 0
Käfig im Mekong schenken sollte. Der Mann sah Converse an,
seine Augen waren geweitet und seine Engelsbäckchen bleich
geworden. Er zitterte, als er den Hörer auflegte, und lächelte
verkrampft.
»Probleme! Immer gibt es Probleme, Menheer. Das ist alles so
schwierig - ich sollte mir einen Computer kaufen.«
Dieser Schweinehund hatte es getan! Er hatte den Mann
angerufen, der in der Nähe in einem Cafe wartete!
»Lassen Sie die Hände auf der Theke!« schrie Joel.
Der Befehl kam zu spät. Der Holländer hob bereits eine Pistole,
die er unter dem Tresen hervorgeholt hatte. Converse machte
einen Satz, warf sich nach rechts, riß das Jackett auf und fand
den Kolben der Pistole, die in seinem Gürtel steckte. Der
Verwalter feuerte blindlings um sich, während Joel sich mit der
linken Schulter gegen die zerbrechliche Theke warf. Sie stürzte
ein, und Converse sah den ausgestreckten Arm, sah die Hand,
die die Pistole hielt. Er ließ den Lauf der eigenen Waffe auf das
Handgelenk des Holländers niederschmettern; die Waffe flog
davon und fiel klirrend auf den Boden.
»Du Schwein!« schrie Joel. Er packte den Mann an der
Hemdbrust und zog ihn in die Höhe. »Du Schwein! Ich habe
dich bezahlt!«
»Töten Sie mich nicht! Bitte, ich bin ein armer Mann mit vielen
Schulden! Die haben gesagt, daß sie nur mit Ihnen reden
wollen! Was macht das schon? Bitte, tun Sie es nicht!«
»Du bist es gar nicht wert, du Hurensohn!« Converse schlug
dem Holländer mit dem Pistolenkolben auf den Kopf und lief zur
Tür. Auf der Straße standen die Fahrzeuge ineinander verkeilt
dann kam plötzlich Bewegung in sie, die Wagen und Busse
ruckten an. Wo war sie? Wo war Emma, die Hure?
In den oberen Stockwerken wurden Türen geschlagen. Er hörte
Geschrei, zornige Rufe. Dann drängte sich plötzlich der schrille
Klang einer Hupe dazwischen. Er stürzte zum Ausgang und
hielt sich mit der rechten Hand am Türrahmen fest, so daß man
die Waffe nicht sehen konnte.
-5 1 1
Es war Emma mit dem Wagen. Sie stand mitten auf der Straße, der Weg zum Straßenrand war versperrt. Er schob sich die Waffe in den Gürtel und lief hinaus. Sie begriff seine Gesten und stieg aus. Er hetzte um die Motorhaube herum. »Danke.« »Viel Glück, Menheer. Ich glaube, Sie werden es brauchen, aber das ist nicht mein Problem.« Er zwängte sich hinter das Steuer und studierte das Armaturenbrett, so als näherte er sich Mach Eins und müßte jede Skala vor sich verstehen. Aber die Armaturen waren einfach. Zum Glück hatte der Wagen Automatikgetriebe, und so zog er den Ganghebel auf D und setzte sich gleichzeitig mit dem wieder in Fluß kommenden Verkehr in Bewegung. Plötzlich warf sich eine hünenhafte Männergestalt gegen das rechte Seitenfenster. Joel zuckte zusammen, drückte die Türsperre nieder und nützte eine Lücke im Verkehr, um zu beschleunigen. Aber der Killer hielt sich am Türgriff fest und hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. Converse prallte gegen einen Wagen, der am Randstein parkte, aber der Mann hielt sich immer noch fest. Joel griff hastig unter sein Jackett, während der Killer schon seine Waffe hob und auf Converse zielte. Joel duckte sich und stieß gegen den Fensterrahmen, als die Explosion das Glas zersplittern ließ. Ein paar winzige Splitter bohrten sich über seinen Augen in die Stirn. Aber jetzt hatte er seine Waffe freibekommen; er richtete sie auf die fremde Gestalt und drückte ab. Zweimal. Zweimal hallte ein dumpfes Knacken durch das Wageninnere, und die rechte Seitenscheibe hatte zwei Löcher. Schreiend und beide Hände an den Hals gepreßt, fiel der Mann herunter und rollte zwischen zwei Lastwagen an den Randstein. Converse bog in eine breite, leere Seitenstraße. Ein Mann ist in der Nähe geblieben... Er wird die anderen holen. Erst einmal bin ich wieder frei, dachte Joel. Ein Toter konnte seinen Wagen nicht identifizieren. Er parkte in einer dunklen Seitenstraße und zog eine Zigarette heraus. Dann versuchte er, seine Hände zu beruhigen und das Streichholz anzureißen. Er inhalierte tief, tastete seine Stirn ab und zog vorsichtig die Glassplitter heraus. -5 1 2
Wie ein gejagtes Tier folgte er den Wegen, vorsichtig auf jede
Bewegung achtend, die Nase geweitet wie ein Spürhund und
alle Sinne gespannt. Viermal war er jetzt vom Amstel-Hotel am
Tulpplein über Straßen und Kanäle zum amerikanischen
Konsulat gefahren, das an einem Platz, dem Museumplein, lag.
Er hatte jede mögliche Route ausgekundschaftet und kannte
inzwischen alle Nebenstraßen, die ihn wieder zur Hauptstraße
zurückbringen konnten. Schließlich fuhr er in östlicher Richtung
über die Schellingwouder Brug zum IJ-Kanal und dann die
Küste entlang, bis er zu den ersten freien Feldern kam. Das
würde gehen; die Gegend war einsam genug. Er wendete und
fuhr zurück nach Amsterdam.
Es war halb neun, der Himmel hatte sich bereits dunkel gefärbt.
Er war bereit. Er hatte die Touristenkarte studiert und in ihr
auch Hinweise zur Benützung der öffentlichen Telefone
gefunden. Er parkte den Wagen gegenüber dem Amstel-Hotel
und betrat eine Telefonzelle.
»Miß Charpentier, bitte.«
»Dank u«, sagte die Frau in der Telefonzentrale und schaltete
dann sofort auf Englisch um. »Einen Augenblick bitte... O ja,
Missen Charpentier ist erst vor einer Stunde eingetroffen. Ich
habe jetzt ihr Zimmer.«
»Danke.«
»Hallo?«
Sollte er wirklich mit ihr sprechen? Aquitania. »Val, hier ist Jack
Talbot. Ich bin froh, daß du gekommen bist. Wie geht’s denn,
meine Liebe?«
»Völlig erschöpft, mein Bester. Ich habe heute nachmittag mit
New York telefoniert und unsere Kunden in Amsterdam
erwähnt, so wie es mir ein gewisser Jack Talbot empfohlen hat.
Darauf hat man mir aufgetragen, dieses Venedig des Nordens
zu besuchen und den morgigen Tag mit Händchenhalten zu
verbringen.«
»Wie wär's mit meinen?«
-5 1 3
»Die sind so kalt. Aber du könntest mich zum Abendessen
einladen.«
»Mit dem größten Vergnügen, aber zuerst mußt du mir einen
Gefallen tun. Kannst du dir ein Taxi schnappen und mich am
Konsulat am Museumplein abholen?«
»Was...?« Angst füllte die Pause. »Warum, Jack?« Die Stimme
war nur noch ein Flüstern.
Converse senkte die Stimme. »Ich bin schon seit ein paar
Stunden hier und habe mir eine Menge Unsinn anhören
müssen. Und dabei ist mir wohl die Sicherung durchgebrannt.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich war dumm. Mein Paß ist heute abgelaufen, und ich
brauchte eine Verlängerung. Statt dessen mußte ich mir ein
halbes Dutzend Vorträge anhören, und dann hat man mir
gesagt, ich soll morgen wiederkommen. Ich bin ziemlich laut
geworden und war wohl auch nicht besonders höflich.«
»Und jetzt wäre es dir peinlich, wenn du sie bitten müßtest, dir
ein Taxi zu rufen, ist es das?«
»Das ist es. Wenn ich mich hier auskennen würde, könnte ich
versuchen, mir selbst eines zu holen, aber ich bin noch nie hier
drüben gewesen.«
»Dann will ich mir mein Gesicht ein wenig herrichten und dich
abholen. Sagen wir in zwanzig Minuten?«
»Danke, ich werde draußen warten. Wenn nicht, dann warte im
Taxi; es dauert dann nur ein paar Minuten. Du sollst ein gutes
Abendessen haben, junge Frau.« Joel legte auf, verließ die
Zelle und ging zu dem Mietwagen zurück. Das Warten hatte
angefangen, und dem würde die Beobachtungsphase folgen.
Zehn Minuten darauf sah er sie, und sein Herzschlag
beschleunigte sich. Ein Nebel legte sich über seine Augen. Sie
trat durch die Glastür des Amstel-Hotels, eine große, dunkle
Tuchtasche in der Hand, die Haltung aufrecht, die Schritte lang
und elegant und selbstbewußt. So hatte er sie einmal geliebt
nicht genug. Sie war ihm entglitten, weil er sich nicht genug um
-5 1 4
sie bemüht hatte. So viel Liebe war nicht in ihm gewesen. Du bist ausgebrannt! hatte sie geschrien. Emotional ausgebrannt. Das Warten war vorüber, das Beobachten begann. Der Portier des Amstel rief ihr ein Taxi. Sie stieg ein, beugte sich sofort im Sitz nach vorn und erteilte ihre Anweisungen. Zwanzig gespannte Sekunden später, in denen seine Augen die Straße und die Bürgersteige nach allen Richtungen absuchten, ließ Joel seinen Wagen an und schaltete die Scheinwerfer ein. Kein anderes Auto hatte sich hinter dem Taxi vom Bürgersteig gelöst. Aber er mußte absolut sicher sein. Er bog in eine Seitenstraße ein und fuhr einen anderen Weg zum Konsulat. Eine Minute später sah er, wie Vals Taxi über eine Kanalbrücke fuhr. Hinter ihr waren zwei Wagen. Er konzentrierte sich auf die Silhouetten, folgte ihnen aber nicht. Drei Minuten später bog er auf den Museumplein. Das Taxi war direkt vor ihm, die beiden anderen Wagen waren nicht mehr zu sehen. Seine Strategie hatte funktioniert. Die Wahrscheinlichkeit, daß man Vals Telefongespräche abhörte, war groß - Renes Telefon war auch angezapft gewesen, und das hatte seinen Tod bedeutet. Joel mußte also auch im Falle Vals mit dem Schlimmsten rechnen. Doch wenn berichtet wurde, daß Frau Charpentier zum amerikanischen Konsulat unterwegs war, um einen Geschäftskollegen abzuholen, würde man nicht an Joel Converse denken. Das Konsulat war kein geeigneter Ort für den flüchtigen Mörder. Das Taxi hielt vor Nummer 19 Museumplein, dem prunkvollen Backsteingebäude des Konsulats. Converse blieb einen halben Block dahinter stehen, wartete wieder und beobachtete. Ein paar Wagen fuhren an dem Taxi vorbei, aber keiner hielt an oder verlangsamte auch nur die Fahrt. Dann kam ein einsamer Radfahrer die Straße herunter, ein alter Mann, der abbremste und in entgegengesetzter Richtung verschwand. Seine Taktik hatte funktioniert. Val war allein im Taxi, nur dreißig Meter entfernt, und niemand war ihr vom Amstel-Hotel gefolgt. Er konnte jetzt den letzten Schritt tun und zu ihr gehen. Verborgen unter dem Jackett würde seine rechte Hand die Waffe mit dem Schalldämpfer halten. -5 1 5
Er stieg aus und ging mit langsamen Schritten den Bürgersteig hinunter, ein Mann, der einen kleinen Spaziergang machte. Vielleicht ein Dutzend Leute waren unterwegs, hauptsächlich Paare, die ebenfalls in beiden Richtungen dahinschlenderten. Er studierte sie, wie eine wachsame Katze frische Maulwurfshügel auf einem Feld studiert; keiner der Passanten zeigte das geringste Interesse an dem stehenden Taxi. Er ging auf die hintere Tür zu und klopfte einmal ans Fenster. Val kurbelte es herunter. Einen kurzen Augenblick lang starrten sie sich an, dann fuhr Vals Hand an ihre Lippen. »O mein Gott«, flüsterte sie. »Bezahl ihn und geh dann zu dem grauen Wagen hinter uns. Die letzten drei Ziffern auf dem Nummernschild sind eins-drei-sechs. Ich werde in ein paar Minuten dort sein.« Er tippte sich an den Hut, als hätte er einer etwas verwirrten Touristin gerade eine Frage beantwortet, und ging weiter. Als er das Taxi zehn Meter hinter sich gelassen hatte, am Ende des Blocks, bog er ab und überquerte den Museumplein. Er erreichte die andere Seite, bog den Kopf nach links, ein Fußgänger, der auf den Verkehr achtete - während seine ganze Aufmerksamkeit einer Frau galt, die auf einen grauen Wagen zuging. Er trat in eine dunkle Türnische und wartete heftig atmend. Scharf musterte er die gegenüberliegende Straßenseite. Nichts. Niemand. Jetzt verließ er die Nische wieder, beherrschte sich, einfach loszulaufen, und schlenderte die Straße hinunter, bis er dem Mietwagen genau gegenüberstand. Wieder blieb er stehen, zündete sich eine Zigarette an, hielt schützend die Hand vor die Flamme, wartete, beobachtete... niemand. Er warf die Zigarette weg und konnte sich nicht im Zaum halten. Er hetzte über die Straße, riß die Tür auf und ließ sich hinter das Lenkrad fallen. Val war nur Zentimeter von ihm entfernt. Ihr langes dunkles Haar umrahmte ihr schönes Gesicht; ein Gesicht, in dem jetzt die Angst stand, die Augen geweitet und ein brennender Blick, der sich in seine Augen bohrte. »Warum Val? Warum hast du es getan?« fragte er, und die Frage war wie ein Schrei. »Ich hatte keine Wahl«, antwortete sie leise und rätselhaft. »Bitte, fahr hier weg.« -5 1 6
28 Ein paar Mi nuten lang fuhren sie, ohne daß ein Wort fiel. Joel
konzentrierte sich ganz auf die Straße. Er wußte, wo er
abbiegen mußte - und mehr als alles andere wollte er sie in
seine Arme nehmen, sein Gesicht an ihres legen, ihr danken
und ihr sagen, wie leid es ihm täte - wie so viel ihm leid täte und
ganz besonders das, was jetzt geschah.
»Weißt du überhaupt, wo du hinfährst?« fragte Val und brach
das Schweigen.
»Ich habe den Wagen schon seit sechs Uhr. Und auch eine
Karte. Und meine Zeit habe ich damit verbracht, herumzufahren
und das zu lernen, was ich glaubte, lernen zu müssen.«
»Ja, das paßt zu dir. Du warst immer methodisch.«
»Ich dachte, ich müßte das sein«, sagte er, wie um sich zu
verteidigen. »Ich bin dir vom Hotel hierher gefolgt, nur für den
Fall, daß auch jemand anderer das tun sollte. Außerdem bin ich
in einem Wagen geschützter als auf den Straßen.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Converse sah zu ihr hinüber; sie studierte ihn, in dem
Wechselspiel von Licht und Schatten tasteten ihre Augen sein
Gesicht ab. »Tut mir leid, ich glaube, ich bin in letzter Zeit ein
wenig empfindlich geworden. Dabei kann ich mir gar nicht
vorstellen, warum.«
»Ich auch nicht. Schließlich sucht man dich doch bloß auf zwei
Kontinenten und in etwa acht Ländern. Es heißt, du seist der
talentierteste Mörder seit diesem Wahnsinnigen, den sie Carlos
nennen.«
»Muß ich dir sagen, daß das alles eine Lüge ist? Eine
gigantische Lüge mit einem ganz klaren Motiv - Zweck wäre
vielleicht besser.«
»Nein«, erwiderte Valerie einfach. »Das brauchst du mir nicht
zu sagen, weil ich es weiß. Aber alles andere mußt du mir
-5 1 7
sagen. Alles. Denn jetzt brauchst du zum erstenmal mich, und
das ist für dich etwas völlig Neues, nicht wahr?«
»Ja, das ist es wirklich«, sagte Joel. Sie fuhren immer noch auf
der Küstenstraße, die zu den freien Feldern führte. »Aber wir
können nur ein paar Minuten zusammenbleiben«, fügte er
hinzu. »Ich darf mich in der Stadt nicht sehen lassen, und du
auch nicht - und ganz bestimmt nicht mit mir.«
»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine zu großen
Sorgen machen. Wir werden von Freunden beobachtet.«
»Was? Was für... >Freunden«
»Laß die Augen auf der Straße. Vor dem Amstel waren Leute,
hast du sie nicht gesehen?«
»Ich denke schon. Aber niemand ist in einen Wagen gestiegen
und hinter dir hergefahren?«
»Warum sollten sie? Dafür waren andere auf den Straßen und
auf der anderen Seite des Kanals vor dem Konsulat.«
»Wovon, zum Teufel, redest du?«
»Und ein alter Mann auf einem Fahrrad am Museumplein.«
»Den habe ich gesehen. War er-...?«
»Später«, sagte Valerie und schob die Tasche, die vor ihr auf
dem Boden stand, etwas zur Seite und streckte ihre Beine aus.
»Vielleicht folgen sie uns auch hier draußen, aber sie werden
sich nicht sehen lassen.«
»Wer sind Sie, Lady?«
»Die Nichte von Hermione Geyner, der Schwester meiner
Mutter. Meinen Vater hast du nicht mehr kennengelernt, aber
wenn du ihn gekannt hättest, dann hättest du dir unzählige
Geschichten über Mom im Krieg anhören müssen. Aber wenn
er meine Tante erwähnt hätte, dann wäre er daran
wahrscheinlich erstickt. Selbst die Franzosen meinen, daß sie
zu weit gegangen ist. Die Untergrundbewegung der Holländer
und die der Deutschen haben zusammengearbeitet. Ich werde
dir das alles später erzählen.«
»Später wirst du es mir erzählen? Und die folgen uns?«
-5 1 8
»Du bist in diesem Geschäft neu. Du wirst sie nicht sehen.«
»Schöner Mist.«
»So kann man es auch ausdrücken.«
»Schon gut, schon gut!... Was ist mit Dad?«
»Der wartet jetzt alles in Ruhe ab. Er ist bei mir.«
»In Cap Ann?«
»Ja.«
»Da habe ich den Brief hingeschickt! Die >Skizzen<, die ich am
Telefon erwähnt habe. Sie sind sehr wichtig! Das ist alles für
mich! Darin ist alles erklärt, was passiert ist. Es werden Namen
genannt, Gründe, alles!«
»Ich bin vor drei Tagen abgereist. Da war der Brief noch nicht
eingetroffen. Aber Roger ist dort.« Valeries Gesicht wurde
bleich. »O mein Gott!«
»Was?«
»Ich habe versucht, ihn anzurufen - vor zwei Tagen, und dann
gestern und heute noch einmal!«
»Verdammt!« In der Ferne waren die Lichter eines Strandcafes
zu sehen. Joel sprach schnell, erteilte eine Anweisung, die
keinen Widerspruch duldete. »Mir ist egal, wie du das machst,
aber du mußt Cap Ann anrufen! Und dann kommst du hierher
zurück und sagst mir, daß mit meinem Vater alles in Ordnung
ist. Verstehst du das?«
»Ja. Weil ich es auch hören möchte.«
Converse bremste mit kreischenden Reifen vor dem Cafe und
wußte gleichzeitig, daß er es nicht hätte tun sollen. Aber das
war ihm im Augenblick egal. Valerie sprang aus dem Wagen,
riß dabei schon die Geldbörse auf und begann nach Münzen zu
suchen. Joel zündete sich eine Zigarette an; der Rauch
schmeckte scharf und brannte ihm in der Kehle. Er starrte auf
das dunkle Wasser hinaus, auf die Lichter, die in der Ferne eine
Brücke überspannten, und versuchte, nicht zu denken. Doch es
hatte keinen Sinn. Was hatte er getan? Sein Vater kannte seine
Handschrift und würde den Brief öffnen, sobald er sie erkannt
hatte.... Wo war Val? Sie brauchte viel zu lange.
-5 1 9
Joel konnte sich nicht länger beherrschen. Er klinkte die Tür
auf, sprang aus dem Wagen und lief um den Wagen herum auf
den Eingang des Cafes zu. Auf dem Kiesweg blieb er wie
angewurzelt stehen. Valerie trat ins Freie heraus und gab ihm
durch Gesten zu verstehen, daß er umkehren solle. Er konnte
die Tränen sehen, die ihr über die Wangen liefen.
»Steig ein«, sagte sie, als sie vor ihm stand.
»Nein. Sag mir, was passiert ist. Jetzt.«
»Bitte, Joel, steig wieder ein. Zwei Männer in dem Cafe haben
mich beobachtet, während ich telefonierte. Ich glaube nicht,
daß sie verstanden haben, was ich gesagt habe, aber ich
mußte zuerst Geld wechseln, um genügend Münzen zu haben.
Und außerdem haben sie gesehen, daß ich aufgeregt war. Ich
glaube sogar, daß sie mich erkannt haben. Wir müssen weg
hier.«
»Sag mir, was passiert ist!«
»Im Wagen.« Valerie warf den Kopf zur Seite, und ihr dunkles
Haar flog ihr über die Schulter, während sie sich die Tränen aus
den Augen wischte. Dann ging sie an Converse vorbei zum
Wagen. Sie öffnete die Tür und setzte sich schweigend auf den
Beifahrersitz.
»Verdammt!« Zitternd vor Erregung lief Converse zurück zum
Wagen, sprang hinter das Steuer und ließ den Motor an. Dann
riß er die Tür zu und legte den Gang ein. Er setzte ein paar
Meter zurück und schoß so schnell auf die Straße hinaus, daß
die Reifen auf dem Kies durchdrehten. Doch er ließ den Fuß
auf dem Gaspedal, bis die Umgebung wie ein einziger Schatten
an ihnen vorüberflog.
»Langsam«, sagte Val ausdruckslos. »So fallen wir nur auf.«
In seiner Panik konnte er sie kaum hören, aber er begriff die
Warnung. Er nahm den Fuß etwas zurück. »Er ist tot, nicht
wahr?«
»Ja.«
»Herrgott! Was ist passiert? Was haben die dir gesagt? Mit
wem hast du gesprochen?«
-5 2 0
»Mit einer Nachbarin, der Name ist jetzt nicht wichtig. Wir
geben uns immer gegenseitig die Schlüssel. Sie hat sich
angeboten, die Zeitungen wegzunehmen und ein wenig
aufzupassen, bis die Polizei mich erreicht hätte. Sie war zufällig
da, als ich anrief. Ich habe sie gefragt, ob unter der Post ein
großer Umschlag aus Deutschland wäre. Sie hat nein gesagt.«
»Die Polizei? Was ist passiert?«
»Sie sagen, er muß gestern abend einen Spaziergang gemacht
haben und dabei wohl auf den feuchten Steinen ausgerutscht
und ins Meer gestürzt sein. Er hatte eine große Schramme am
Kopf. Seine Leiche ist heute morgen angespült und gefunden
worden.«
»Lügen! Lügen! Die haben ihn abgehört! Sie haben ihn sich
geschnappt!«
»Mein Telefon? Ich hab' im Flugzeug darüber nachgedacht.«
»Du tust so was, aber er nicht. Ich habe ihn getötet. Verdammt,
ich bin schuld an seinem Tod!«
»Nicht mehr als ich, Joel«, sagte Valerie leise und griff nach
seinem Arm. Sie zuckte zusammen, als sie die Tränen in
seinen Augen sah. »Auch ich habe ihn sehr geliebt. Du und ich,
wir sind auseinandergegangen; aber er war immer noch ein
enger Freund für mich, der beste, den ich hatte.«
»Diese Schweine! Diese Schweine!« brachte Joel mit halb
erstickter Stimme hervor.
»Möchtest du, daß ich fahre?«
»Nein!«
»Das Telefon. Ich muß dich fragen - ich dachte, die Polizei oder
das FBI oder solche Leute könnten vielleicht eine gerichtliche
Anordnung besorgen.«
»Natürlich würden sie das tun! Deshalb wußte ich ja, daß ich
dich nicht anrufen konnte. Ich wollte Nate Simon anrufen.«
»Aber du meinst doch jetzt nicht die Polizei oder das FBI. Du
meinst jemand anderen, etwas anderes, oder?«
-5 2 1
»Ja. Niemand weiß, wer sie sind - wo sie sind. Aber es gibt sie.
Und sie sind zu allem imstande, was sie tun wollen. Herrgott!
Selbst Dad!«
»Und das ist es, wovon du mir erzählen wolltest, nicht wahr?«
sagte Valerie und packte seinen Arm.
»Ja. Vor ein paar Minuten wollte ich das noch für mich
behalten, dir nicht alles sagen; ich wollte dich vielmehr
dahinbringen, daß du Nate überredest, hierher zu fliegen, damit
wir uns hätten treffen und er sich aus erster Hand hätte
vergewissern können, daß ich nicht verrückt bin. Aber dafür ist
jetzt keine Zeit mehr. Die kreisen mich immer mehr ein. Jetzt
haben sie den Brief - das war alles, was ich hatte!... Es tut mir
leid, Val, aber ich werde dir jetzt alles sagen. Ich wünschte, ich
brauchte das nicht - um deinetwillen -, aber ich habe jetzt
ebenso keine Wahl mehr wie du keine hattest.«
»Ich bin nicht hierhergekommen, um dir eine Wahl zu lassen.«
Joel lenkte den Wagen auf ein Feld am Rande des Wassers
und hielt an. Das Gras war hoch, und der Mond hing als
strahlende Sichel über der Bucht. In der Ferne glitzerten die
Lichter von Amsterdam. Sie stiegen aus, und er führte sie zu
der dunkelsten Stelle, die er finden konnte, hielt sie dabei an
der Hand und erkannte plötzlich, daß er sie seit Jahren nicht
mehr so gehalten hatte - und die Berührung tat gut, sie war
etwas, das zu ihnen gehörte. Doch dann verdrängte er den
Gedanken; er war ein Todesbote geworden.
»Hier, denke ich«, sagte er und ließ ihre Hand los. Er erzählte
ihr alles; ja, er ließ seine Gedanken sogar abschweifen, um
jede Einzelheit vorzubringen, an die er sich noch erinnern
konnte. Der Countdown hatte begonnen. Tage noch,
bestenfalls eine Woche, dann würde es auf der ganzen Welt zu
Ausbrüchen von Gewalt kommen, so wie das gerade in
Nordirland geschah. Nur daß niemand wußte, wer oder was
oder wo genau die Ziele waren. George Marcus Delavane war
der Verrückte, der das alles ausgegrübelt hatte, und andere
mächtige Verrückte hörten auf ihn, befolgten seine Befehle,
-5 2 2
bezogen Positionen, von denen aus sie nach den Schalthebeln
der Macht greifen konnten. Überall.
Und dann war schließlich alles gesagt, aber die Angst ließ ihn
nicht los. Wenn die Soldaten von Aquitania Val
gefangennahmen, würde ihr das Serum, das man ihr spritzen
würde, alle Informationen entlocken - und das wäre ihr
Todesurteil. Er sprach das auch aus, und es drängte ihn, sie an
sich zu ziehen, sie festzuhalten und ihr zu sagen, wie sehr er
sich dafür haßte, was er gerade getan hatte, aber daß er es
hatte tun müssen. Doch er blieb unbewegt stehen. Ihre Augen
sagten ihm, daß sie das jetzt nicht wollte. Sie war dabei, das
Gehörte zu überdenken und sich ein eigenes Urteil zu bilden.
»Manchmal«, begann sie schließlich leise, »wenn die Träume
kamen oder du zuviel getrunken hattest, hast du von diesem
Delavane gesprochen. Du bist dann so in Panik geraten, daß
du gezittert hast und die Augen geschlossen, und hin und
wieder hast du sogar im Schlaf geschrien. So sehr hast du
diesen Mann gehaßt. Du hattest tödliche Angst vor ihm.«
»Er hat den Tod vieler verursacht, einen unnötigen Tod. Von
Kindern... kleinen Kindern in Uniformen von Erwachsenen, die
gar nicht wußten, daß gung-ho kein Spiel war, sondern ein
gnadenloser Krieg Mann gegen Mann.«
»Und es ist nicht möglich, daß du - wie nennen die das? - deine
Gefühle auf das falsche Objekt übertragen hast?«
»Wenn du das glaubst, dann fahre ich dich jetzt zum Amstel
zurück. Du kannst morgen nach Hause fliegen und dich wieder
an deine Staffelei stellen. Ich bin nicht verrückt, Val. Ich bin
hier, und es geschieht.«
»Schon gut. Ich mußte fragen. Du hast die Nächte nicht so
erlebt, wie ich sie erlebt habe.«
»Das ist nicht so oft passiert.«
»Das gebe ich zu, aber wenn es passiert ist, dann hast du
darunter gelitten.«
»Und genau das ist der Grund, weshalb man mich in Genf
angeworben hat - mich in Genf rekrutiert hat.«
-5 2 3
»Und dieser Fowler oder Halliday wußte, welche Worte er
gebrauchen mußte. Deine eigenen.«
»Fitzpatrick hat ihm das alles beschafft. Auch er war der
Meinung, das Richtige zu tun.«
»Ja, ich weiß, du hast es mir gesagt. Was meinst du, ist mit ihm
passiert? Diesem Fitzpatrick, meine ich?«
»Ich habe tagelang versucht, mir Gründe auszudenken, die die
veranlassen könnten, ihn am Leben zu lassen. Aber ich habe
keinen gefunden. Im Grunde ist er für sie gefährlicher als ich. Er
hat auf den Straßen gearbeitet, die sie jetzt unterminieren. Er
kennt sich im Pentagon und im militärischen
Beschaffungswesen so gut aus, daß er sie mit der Hälfte der
Beweise festnageln könnte. Die haben ihn umgebracht.«
»Du hast ihn gemocht, nicht wahr?«
»Ja, und was genauso wichtig ist, ich habe seinen Verstand
bewundert. Er war schnell und hatte Phantasie und keine Angst
davor, sie einzusetzen.«
»Dann ähnelt er jemandem, mit dem ich einmal verheiratet
war«, sagte Val sanft.
Converse sah sie einen Augenblick lang an und blickte dann
wieder aufs Wasser hinaus. »Wenn ich das hier lebend
überstehe - und ich glaube nicht, daß ich das tue -, dann werde
ich auf die Jagd gehen. Ich werde herausfinden, wer es getan
hat, wer abgedrückt hat. Und dann wird es keinen Prozeß
geben, keine Zeugen, weder für die Anklage noch für die
Verteidigung. Und keine mildernden Umstände und auch sonst
nichts. Nur mich - und eine Waffe.«
»Es tut mir weh, das zu hören, Joel. Ich habe an dir immer
deine Prinzipien bewundert. Sie waren ein Teil von dir, ebenso
wie deine Art, an das Gesetz zu glauben. Das war nicht alles
nur Ehrgeiz und Überspanntheit, das habe ich gewußt. Das
waren die einzigen Wurzeln, die du je hattest. Du bist der
Anwalt, Joel Converse. Um Himmels willen, du mußt aufstehen
und dich verteidigen!«
-5 2 4
»Ich würde nie auch nur in die Nähe eines Gerichtssaals
kommen, kannst du das nicht begreifen? Wo und wann immer
ich auch auftauche, es wird bereits jemand zur Stelle sein,
jemand, der Befehl hat, mich zu töten, selbst wenn es bedeutet,
daß er selbst dabei das Leben verliert. Meine Absicht war, den
Brief zu benutzen - die Akten, all die Informationen, die darin
enthalten sind, die Informationen, die nur aus
Regierungsquellen stammen können, was wiederum bedeutet,
daß ich irgendwo in Washington Männer auf meiner Seite habe.
Mit alldem hätte ich an Leute herankommen können, die ich
einmal kannte - die die Firma kennt -, und ich hätte sie mit
Nathans Hilfe dazu bewegen können, zuzuhören und zu
begreifen, daß ich nicht verrückt bin. Aber ohne diesen Brief
könnte selbst Nate mir nicht helfen. Außerdem würde er darauf
bestehen, daß ich zu ihm käme, und er würde mir sogar sagen,
daß es Garantien für meinen Schutz gibt. Aber es gibt keinen
Schutz, nicht vor ihnen. Sie sind in den Botschaften, in den
Marinestützpunkten und in denen der Army; im Pentagon, in
den Polizeibehörden, bei Interpol und im Department of State.
Und sie können es sich einfach nicht leisten, mich am Leben zu
lassen. Ich habe ihr allmächtiges Glaubensbekenntnis aus
erster Hand gehört.«
»Schachmatt«, sagte Val leise.
»Schach«, nickte Converse.
»Dann müssen wir jemand anderen finden.«
»Was?«
»Jemanden, auf den die Leute hören würden, an die du
herantreten willst. Jemanden, der jene Männer in Washington,
die dich in Genf in ihren Dienst gestellt haben, dazu zwingen
könnte, sich zu erkennen zu geben.«
»An wen denkst du? An Johannes den Täufer?«
»Nicht Johannes. An Sam. Sam Abbott.«
»Sam? Mein Gott, ich habe in jener Nacht in Paris an ihn
gedacht! Wie bist du...?«
-5 2 5
»Ich hatte, wie du, viel Zeit zum Nachdenken. In New York, im
Flugzeug, letzte Nacht, nachdem ich meine Tante in Berlin
besucht hatte.«
»Deine Tante?«
»Darauf komme ich noch... Ich wußte, daß es, wenn du noch
am Leben warst, einen Grund geben müßte, weshalb du dich
versteckst, weshalb du nicht an die Öffentlichkeit trittst und all
die verrückten Dinge leugnest, die man dir nachsagt. Es gab
einfach keinen Sinn; das warst nicht du. Und wenn man dich
getötet oder gefangengenommen hätte, dann hätte das überall
auf den Titelseiten gestanden. Radio und Fernsehen wären voll
davon gewesen. Da es keine solche Story gab, nahm ich an,
daß du noch am Leben sein müßtest. Aber weshalb fuhrst du
fort, wegzulaufen, dich zu verstecken? Und dann dachte ich,
>mein Gott, wenn Larry Talbot ihm nicht glaubt, wer dann?<
Und wenn Larry dir nicht glaubte, dann bedeutete das, daß man
die Leute in seiner Umgebung, Männer wie er, alles deine
Freunde und deine sogenannten Kontakte, bereits
angesprochen und überzeugt hatte, daß du tatsächlich dieser
Wahnsinnige seist, von dem ganz Europa redete. Niemand
würde mit dir zu tun haben wollen, und du brauchtest
jemanden. Nicht mich, weiß der Himmel. Ich bin deine Exfrau
und habe keine Verbindungen, kein Gewicht. Und du
brauchtest jemanden, der eben das hatte... Also dachte ich
über all die Leute nach, von denen du je gesprochen hast, all
die Leute, die wir kannten. Und dabei kam mir immer wieder ein
Name in den Sinn. Sam Abbott, inzwischen Brigadegeneral
Abbott, wie es vor sechs Monaten in den Zeitungen zu lesen
war.«
>»Sam the Man<«, sagte Joel und nickte langsam. »Er ist drei
Tage nach mir abgeschossen worden, und man hat uns beide
von einem Lager ins andere verschoben. Einmal war er in der
Zelle neben mir, und wir haben uns mit Morsezeichen
verständigt, bis sie mich verlegt haben. Er ist aus den richtigen
Gründen bei der Air Force geblieben. Er wußte, daß er dort am
meisten ausrichten konnte.«
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»Er hat sehr viel von dir gehalten«, sagte Val. In ihrer Stimme mischten sich Überzeugung und Begeisterung. »Er sagte, du hättest in den Lagern mehr für die Moral der Gefangenen getan als sonst irgend jemand, und deine letzte Flucht hätte allen Hoffnung gegeben.« »Das ist Unsinn. Ich war ein Unruhestifter - so haben sie mich bezeichnet -, der es sich leisten konnte, Risiken einzugehen. Sam hatte es am schwersten. Er hätte dasselbe tun können wie ich, aber er war der ranghöchste Offizier. Er wußte, daß es Vergeltungsmaßnahmen geben würde, wenn er es auch versuchte. Er war es, der die anderen zusammengehalten hat, nicht ich.« »Er hat es anders erzählt. Ich glaube, er ist der Grund, daß du nie viel von dem Mann deiner Schwester gehalten hast. Erinnerst du dich noch, wie Sam nach New York geflogen kam und du versucht hast, ihn mit Ginny zu verkuppeln? Wir haben damals in einem Restaurant gegessen, das wir uns überhaupt nicht leisten konnten.« »Ginny hat ihm eine Heidenangst eingejagt. Später einmal hat er zu mir gesagt, wenn man sie eingezogen und ihr das Kommando in Saigon gegeben hätte, wäre die Stadt nie gefallen. Er hatte keine Lust, diesen Krieg den Rest seines Lebens weiterzuführen.« »Auf die Weise hast du den bestmöglichen Schwager verloren.« Valerie lächelte; dann verblaßte ihr Lächeln, und sie beugte sich vor. »Ich kann ihn erreichen, Joel. Ich werde ihn finden, mit ihm reden und ihm alles sagen, was du mir gesagt hast. Und ganz besonders, daß du ebensowenig verrückt bist wie ich oder wie er, daß du von Leuten in die Sache hineingezogen worden bist, die du nicht kennst, von Männern, die dich belegen haben, damit du die Arbeit tun kannst, die sie entweder nicht tun konnten oder vor der sie Angst hatten.« »Das ist unfair«, erwiderte Joel. »Wenn die anfingen, im Außenministerium oder im Pentagon herumzustochern, könnte das zu einer Epidemie von Unfällen führen - es würde eine
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Menge Tote geben... Nein, die hatten recht. Es mußte mit mir anfangen. Einen anderen Weg gab es nicht.« »Wenn du das nach alldem sagen kannst, was du durchgemacht hast, dann bist du zurechnungsfähiger als irgendeiner von uns. Sam wird das wissen. Er wird helfen.« »Das könnte er«, sagte Joel nachdenklich. »Er würde vorsichtig sein müssen - dürfte nicht die üblichen Kanäle benutzen -, aber er könnte es schaffen. Vor drei oder vier Jahren - nachdem wir beide uns getrennt hatten - hat er einmal in Erfahrung gebracht, daß ich auf ein paar Tage nach Washington kommen würde. Er hat mich sofort angerufen. Wir haben damals miteinander zu Abend gegessen und anschließend viel zuviel getrunken. Am Ende hat er die Nacht auf dem Sofa in meinem Hotelzimmer verbracht. Wir haben damals auch beide viel zuviel geredet - ich über mich - und dich - und Sam über seine neueste monumentale Enttäuschung.« »Dann steht ihr euch immer noch nahe. So lange ist das noch
nicht her.«
»Das ist es aber nicht, worauf ich hinaus will. Ich will auf das
hinaus, was er damals machte. Er hat sich krummgelegt, um in
das NASA-Programm hineinzukommen, aber sie haben ihn
abgelehnt. Sie sagten, er sei dort, wo er tätig ist, zu wichtig.
Dabei konnte ihm keiner das Wasser reichen, wenn es um
Manöver im Überschallbereich ging. Der brauchte ein Flugzeug
bloß anzuschauen - ohne einen Blick auf den Typ - und konnte
einem sagen, wozu es imstande war.«
»Jetzt komm ich nicht mehr mit.«
»Oh, tut mir leid. Man hatte ihn als Berater für den Nationalen
Sicherheitsrat nach Washington geholt, für einen Sonderauftrag
in Zusammenarbeit mit der CIA. Er sollte die Fähigkeiten der
neuen sowjetischen und chinesischen Geräte einschätzen.«
»Was?«
»Flugzeuge, Val. Er hat in Langley gearbeitet und in
verschiedenen Safe-Houses n i Virginia und Maryland, wo er sich von Agenten mitgebrachte Fotografien ansah und -5 2 8
Überläufer verhörte - besonders Piloten, Mechaniker und
Techniker. Er kennt die Leute, an die ich heran muß, er hat mit
ihnen gearbeitet.«
»Ich fliege morgen zurück und finde ihn«, erklärte Valerie.
»Nein«, erwiderte Converse. »Ich möchte, daß du noch heute
abend fliegst. Du trägst noch immer deinen Paß bei dir...?«
»Natürlich. Aber ich habe...«
»Ich möchte nicht, daß du zum Amstel zurückfährst. Du mußt
Amsterdam verlassen. Heute nacht um elf Uhr fünfundvierzig
geht ein KLM-Flug nach New York.«
»Aber meine Sachen.«
»Ruf das Hotel an, wenn du ankommst. Überweise ihnen das
Geld telegrafisch und sage ihnen, es sei eine dringende
Angelegenheit gewesen. Die werden dir alles schicken.«
»Das ist dein Ernst, nicht wahr?«
»Mir ist mein ganzes Leben noch nie etwas wichtiger gewesen.
Ich glaube, du solltest die Wahrheit über Rene erfahren. Er ist
nicht deshalb getötet worden, weil wir uns in Paris begegnet
sind. Damals war nichts geschehen. Aber dann habe ich ihn
von Bonn aus angerufen. Und er hat mir geglaubt. Man hat ihn
erschossen, weil er mich nach Amsterdam geschickt hat - damit
ich hier mit einem Mann Verbindung aufnehme, der mir die
Möglichkeit verschaffen sollte, ein Flugzeug nach Washington
zu besteigen. Das geht jetzt nicht mehr, und es ist auch nicht
wichtig. Du bist wichtig. Du bist hierher gekommen und hast
mich gefunden, und die Leute, die mich in der ganzen Stadt
suchen, werden es bald wissen. Wenn sie es nicht jetzt schon
wissen.«
»Ich habe nie gesagt, daß ich nach Amsterdam kommen
würde«, unterbrach ihn Valerie. »Ich habe im Kempinski
ausdrücklich erklärt, daß ich auf direktem Weg nach Hause
fliegen würde, daß man irgendwelche Leute, die anrufen
sollten, an meine New Yorker Adresse verweisen sollte.«
»Hattest du einen Flug in die Staaten gebucht?«
»Natürlich. Ich bin nur nicht hingegangen.«
-5 2 9
»Gut, aber nicht gut genug. Delavanes Leute sind gerissen.
Leifhelm hat Verbindungen auf jedem Flughafen und an jeder
Paßkontrolle in Deutschland. Die werden erfahren, daß du nicht
nach New York geflogen bist. Mag sein, daß wir sie heute
abend einmal getäuscht haben, aber zweimal gelingt uns das
nicht. Ich vermute, daß jetzt bereits ein Deutscher im Amstel auf
dich wartet, wahrscheinlich in deinem Zimmer. Ich möchte, daß
er glaubt, daß du zurückkommst, daß du noch hier bist.«
»Wenn so jemand mein Zimmer betritt, dann steht ihm ein
Schock bevor.«
»Wieso?«
»Jemand anderer ist dort. Ein alter Mann mit einem guten
Gedächtnis. Ein Mann mit Instruktionen, die ich lieber nicht
wiederholen möchte.«
»Von deiner Tante veranlaßt?«
»Sie sieht die Dinge in Schwarzweiß, ohne graue
Zwischentöne. Dort ist der Feind, und dort ist er nicht. Und
jeder, der beabsichtigt, der Tochter ihrer Schwester ein Leid
zuzufügen, ist ganz entschieden der Feind. Du kennst diese
Leute nicht, Joel. Sie leben in der Vergangenheit; sie vergessen
nie etwas. Sie sind jetzt alt und nicht mehr das, was sie einmal
waren, aber sie erinnern sich an das, was sie waren und
weshalb sie damals das getan haben, was sie taten. Es war so
einfach für sie, so klar. Gut und böse. Sie leben mit diesen
Erinnerungen - offengestanden, es kann einem ein wenig Angst
machen. Sie können einem ein wenig Angst machen, um die
Wahrheit zu sagen. Seitdem ist nichts in ihrem Leben für sie so
lebendig, so wichtig gewesen. Ich glaube ehrlich, daß sie alle
vorziehen würden, in jene Tage zurückzukehren, trotz all des
Schrecklichen.«
»Was ist denn mit deiner Tante? Nach alldem, was über mich in
den Zeitungen stand und im Fernsehen zu sehen war, hat sie
sich bereit erklärt, dir zu helfen? Keine Fragen gestellt? Es hat
ihr ausgereicht? Daß du die Tochter ihrer Schwester warst?«
»O nein. Sie hat eine ganz eindeutige Frage gestellt, und die
habe ich beantwortet. Das hat gereicht. Aber ich muß es dir
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sagen. Sie ist eigenartig - sehr eigenartig -, aber sie kann das
tun, was notwendig ist, und das ist alles, worauf es jetzt
ankommt.«
»Okay... Du fliegst also noch heute nacht zurück?«
»Ja«, sagte Val und nickte. »Es ist vernünftig, und ich kann
morgen früh in New York mehr ausrichten als hier. Nach allem,
was du mir gesagt hast, kommt es wirklich auf jede Stunde an.«
»Unbedingt. Danke... Vielleicht wirst du Schwierigkeiten haben,
an Sam heranzukommen. Ich habe keine Ahnung, wo er ist,
und die Behörden sind nicht sehr kooperativ, wenn eine Frau
versucht, einen Offizier ausfindig zu machen - ganz besonders
einen mit hohem Rang.«
»Dann werde ich sie eben nicht darum bitten, mir seinen
Aufenthaltsort bekanntzugeben. Ich werde sagen, ich sei eine
Verwandte, die er erreichen wollte, daß ich viel reise, und wenn
er mich anrufen möchte, könnte man mich in den nächsten
vierundzwanzig Stunden im Soundso-Hotel erreichen. Eine
Nachricht dieser Art müssen die doch ganz bestimmt an einen
General weitergeben.«
»Sicher«, pflichtete Joel ihr bei. »Aber wenn du deinen Namen
hinterläßt, riskierst du zuviel. Für dich und Sam.«
»Dann werde ich den Namen eben etwas abändern, aber so,
daß er ihn noch erkennt.« Valerie blinzelte ein paarmal und
starrte zu Boden.
»Wie Parkett - nur daß ich eine weibliche Form daraus mache -
Parquette - Boden, Holz, etwas, das an Charpentier erinnert
(Tischler, Anm. d. Übersetzers) und dazu Virginia - er wird sich
an Ginny erinnern wegen der Verbindung zu dir. Virginia
Parquette, er kommt bestimmt darauf.«
»Ja, wahrscheinlich, aber andere vielleicht auch. Wenn du
heute abend nicht im Hotel erscheinst, wird Leifhelm die
Flughäfen überwachen lassen. Und dann könnten sie schon am
Kennedy-Airport auf dich warten.«
»Dann werde ich sie in La Guardia wieder abhängen. Ich werde
in ein Motel gehen, das ich immer nehme, wenn ich nach
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Boston fliege. Und das werde ich wieder verlassen, ohne daß
die es bemerken.«
»Du bist sehr schnell.«
»Ich sage dir doch, meine Wurzeln reichen in die
Vergangenheit; ich habe die Geschichten gehört... Und was ist
mit dir?«
»Ich werde mich versteckt halten. Langsam lerne ich das, und
ich habe genug Geld, um alles Notwendige zu bezahlen.«
»Um mit deinen Worten zu antworten, Converse: Das reicht
nicht. Je mehr du mit Geld um dich wirfst, desto offener wird
deine Spur. Sie werden dich finden. Du mußt Amsterdam
ebenfalls verlassen.«
»Nun, ich könnte mich über ein paar Grenzen schleichen und
wieder in meine alte Suite im Georges V. in Paris ziehen. Das
könnte natürlich ein wenig auffällig sein, aber wenn das
Trinkgeld hoch genug ist - es sind immerhin Franzosen.«
»Versuch bitte nicht, komisch zu sein. Ich habe heute
nachmittag mit Tante Hermione gesprochen, nachdem du
angerufen hattest - von einem öffentlichen Telefon aus. Sie war
bei einer Freundin. Sie hat sofort damit angefangen,
Vorbereitungen zu treffen, und als ich vor ein paar Stunden hier
ankam, hat mich ein alter Mann am Flughafen abgeholt. Der
Mann, bei dem du die Nacht verbringen wirst. Du kennst ihn
nicht, aber du hast ihn schon einmal gesehen. Er war der
Radfahrer am Museumplein. Man hat mich zu einem Haus an
der Lindengracht gebracht, von dem aus ich meine Tante
anrufen sollte; das Telefon war >sauber<.«
»Mein Gott, die leben ja noch immer in den vierziger Jahren.«
»Es hat sich doch auch nicht viel verändert, oder?«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Was hat sie denn gesagt?«
»Sie hat mir nur die Anweisungen für dich durchgegeben.
Morgen, am späten Nachmittag, wenn Hochbetrieb ist, sollst du
hier in Amsterdam zum Hauptbahnhof gehen und dort zur
Auskunft. Eine Frau wird dich dort ansprechen und sagen, daß
sie dich aus Los Angeles kennt. Geh auf sie ein, dann wird sie
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dir einen Umschlag übergeben. In dem Umschlag wird ein Paß,
ein Brief und eine Fahrkarte sein.«
»Ein Paß? Wie geht das?«
»Das einzige, was sie dazu brauchten, war ein Foto. Das wußte
ich, als ich deinen Vater in Cap Ann verlassen habe.«
»Das wußtest du?«
»Ich sagte dir doch, ich habe mein ganzes Leben solche
Geschichten gehört, wie sie Juden und Zigeuner und all die
Männer, die mit Fallschirmen abgesprungen waren, aus
Deutschland heraus in neutrale oder besetzte Länder geschafft
haben. Die falschen Papiere, die Fotos, das ist reinste Kunst
gewesen.«
»Und du hast ein Foto mitgebracht?«
»Das schien mir logisch.«
»Logisch... ein Foto.«
»Ja. Ich hab eines in einem Album gefunden. Erinnerst du dich
daran, wie wir auf den Virgin Islands Urlaub gemacht haben
und du dir am ersten Tag einen Sonnenbrand geholt hast?«
»Sicher. Du hast damals verlangt, daß ich zum Abendessen
eine Krawatte trage, und mir hat mein Hals höllisch weh getan.«
»Ich wollte dir eine Lektion erteilen. Das Bild ist eine
Nahaufnahme. Ich wollte den Sonnenbrand verewigt haben.«
»Trotzdem ist es mein Gesicht, Val.«
»Das Foto ist vor acht Jahren aufgenommen, und der
Sonnenbrand hat damals deine Züge leicht verändert Es wird
schon reichen.«
»Muß ich denn gar nichts wissen?«
»Wenn man dich für diese Art von Verhör festhält, dann ist
wahrscheinlich ohnehin alles verloren. Aber meine Tante glaubt
nicht, daß es dazu kommen wird.«
»Warum ist sie so zuversichtlich?«
»Der Brief. In ihm steht genau, was du tust.«
»Und was ist das?«
-5 3 3
»Eine Pilgerreise nach Bergen-Belsen und dann nach
Auschwitz in Polen. Der Brief ist in Deutsch, und du sollst ihn
vorzeigen, wenn man dich aufhält und dich befragt. Du sprichst
nämlich nur Englisch.«
»Und warum sollte das... ?«
»Du bist Priester«, unterbrach Valerie ihn. »Die Pilgerreise ist
von einer Organisation in Los Angeles finanziert, die sich
>Christlich-jüdische Koalition für Weltfrieden und Buße< nennt.
Ein Deutscher müßte sich seiner Sache schon sehr sicher sein,
um auf dich aufmerksam zu machen. Ich habe einen dunklen
Anzug in deiner Größe mit, einen schwarzen Hut, Schuhe und
einen Priesterkragen. Nähere Anweisungen bekommst du mit
deiner Fahrkarte. Du nimmst den Zug nach Hannover, steigst
dort nach Celle um und wirst am Morgen nach Bergen-Belsen
gefahren, natürlich nicht in Wirklichkeit. Du steigst in Osnabrück
aus. Meine Tante wird dort auf ihren Priester warten, und bis
dahin bin ich zurück in New York und bemühe mich, mit Sam
Verbindung zu bekommen.«
Converse schüttelte den Kopf. »Val, das ist alles sehr
beeindruckend, aber du hast mir nicht zugehört. Leifhelms
Männer haben mich gesehen - übrigens auf dem Bahnhof. Sie
wissen, wie ich aussehe.«
»Sie haben einen blassen Mann mit Bart und einigen
Schrammen im Gesicht gesehen. Du mußt den Bart heute
abend eben abrasieren.«
»Und mich um eine Schönheitsoperation bemühen?«
»Nein, du brauchst dich nur reichlich mit Bräunungscreme
einzureihen - davon habe ich auch etwas zu den Kleidern
gelegt, die ich mitgebracht habe. Auf die Weise wird dein
Gesicht dunkler werden und dem Paßbild ähnlicher, und dabei
verschwinden auch die Schrammen. Zumindest sind sie dann
nicht mehr so auffällig. Den Rest besorgen der schwarze Hut
und der Priesterkragen.«
»Warum habe ich dich je gehenlassen,« flüsterte Joel, aber
mehr zu sich selbst als zu ihr.
»Hör schon auf, Converse. Das ist vorbei.«
-5 3 4
Er sah vom Parkplatz des Amsterdamer Schiphol-Flughafens aus zu, wie die Maschine den Runway hinunterjagte und in den Nachthimmel hinaufstieg. Vor dem Eingangsportal, als sie ausgestiegen war, hatte Val ihm den Zettel mit der Adresse gegeben, die seine Zuflucht für die Nacht sein sollte. Er sah zu, wie der mächtige silberne Vogel nach links abdrehte und dann schließlich am dunklen Himmel zu einem kleinen Punkt wurde und ganz verschwand. Joel stand nackt vor dem Spiegel im Badezimmer des Hauses an der Lindengracht. Den Wagen hatte er knapp zehn Meter entfernt geparkt. Der alte Mann, dem die Wohnung gehörte, war freundlich und sprach ein stockendes, aber klares Englisch. Doch sein Blick war abwesend, und die Augen stellten nie Kontakt zu Joel her. Seine Gedanken weilten, so schien es, in einer anderen Zeit. Joel hatte sich sorgfältig rasiert, viel länger geduscht, als ein Gast das eigentlich sollte, und am Ende die dunkelrote Lotion an Gesicht, Hals und Händen aufgetragen. Wenige Augenblicke später sah seine Haut bronzefarben aus. Das Ganze wirkte viel echter, als er sich von früher erinnerte damals war das Resultat ein fast krankhaft wirkendes Braun gewesen, viel zu kosmetisch, um irgend etwas anderes als unnatürlich zu sein. Die neue Tönung der Haut trug noch mehr dazu bei, die Schrammen in seinem Gesicht zu verbergen. Dann wusch er sich ein paarmal die Hände und achtete sorgsam darauf, daß keine Flecken an den Fingerspitzen zurückblieben. Plötzlich erstarrte er. Von irgendwoher aus dem Haus war ein Klingeln zu hören. Er drehte schnell das Wasser ab, lauschte und hielt den Atem an. Sein Blick wanderte zu der Pistole, die er auf den schmalen Fenstersims gelegt hatte. Jetzt hörte er das Geräusch wieder, dann war eine Stimme zu hören, ein Mann am Telefon. Er trocknete sich die Hände ab und schlüpfte in den kurzen Bademantel, den er auf seinem Bett in einem kleinen, aber makellos sauberen Zimmer gefunden hatte. Er schob die Pistole in die Tasche und ging zur Tür hinaus, den dunklen, schmalen Gang hinunter, der in das »Arbeitszimmer« -5 3 5
des alten Mannes führte. Es war ein ehemaliges Schlafzimmer,
das mit alten Zeitschriften, ein paar Büchern und Zeitungen
gefüllt war, die auf Tischen und Stühlen offen herumlagen und
mit Rotstift markiert waren, um bestimmte Artikel und Bilder
hervorzuheben. An den Wänden hingen Drucke und
Fotografien von lange zurückliegenden Kriegshandlungen,
darunter auch Bilder von Leichen in verschiedenen Stadien des
Verfalls.
»Ah, Menheer«, sagte der alte Mann und beugte sich in dem
mächtigen Ledersessel vor, der seinen ganzen zerbrechlichen
Körper umschloß. Das Telefon stand neben ihm. »Sie sind hier
sicher, ganz sicher! Das war Kabel - Codename Kabel
natuurlijk. Er hat das Hotel verlassen und Bericht erstattet.« Der
Holländer, zerbrechlich, Mitte Siebzig, quälte sich aus dem
Sessel und stand jetzt aufrecht, die dünnen Schultern nach
hinten gedrückt, starr - ein närrischer alter Mann, der Soldat
spielte. »Operation Osnabrück läuft!« sagte er, als berichte er
einem vorgesetzten Offizier. »Wie von der Abwehr vermutet,
hatte der Feind das Areal infiltriert, aber er ist enttarnt worden.«
»Er ist was worden?«
»Exekutiert, Menheer. Eine Drahtschlinge um den Hals, von
hinten. Das Blut bleibt in den Kleidern, wenn der Hals nach
hinten gezerrt wird, und auf die Weise gibt es keine
Kampfspuren.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Für einen Mann seines Alters ist Kabel kräftig«, fuhr der Alte
grinsend fort. Sein verwittertes Gesicht zeigte plötzlich tausend
Fältchen, und seine Haltung wirkte entspannt. »Er hat die
Leiche aus dem Raum entfernt, sie zum Notausgang gezerrt
und von dort in eine Seitengasse. Von dort hat er sich Zugang
zum Keller verschafft und die Leiche neben der Heizung
abgelegt. Es ist Sommer; vielleicht findet man den Mann ein
paar Tage nicht - es sei denn, der Gestank wird zu kräftig.«
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29 Die Hände in Handschellen, den verwundeten rechten Unterarm in schmutzige Bandagen gehüllt, klammerte sich Connal Fitzpatrick an den Sims des winzigen Fensters und spähte durch die Gitterstangen auf die seltsamen Aktivitäten hinaus, die draußen auf dem riesigen asphaltierten Exerzierplatz abliefen. Daß es sich um einen Exerzierplatz handelte, war ihm bereits am zweiten Morgen nach seiner Gefangennahme klargeworden, als man ihm zusammen mit den anderen Gefangenen eine Stunde Bewegung außerhalb der Betonkaserne erlaubt hatte - und um Kasernen handelte es sich. Wahrscheinlich gehörten sie zu einer früheren Versorgungsstation für Unterseeboote. Für die modernen atomgetriebenen Schiffe, die jetzt im Einsatz waren, schienen die Anlegestellen und Winden viel zu klein und auch zu veraltet, aber er vermutete, daß der Stützpunkt einmal der deutschen Marine gute Dienste geleistet hatte. Heute allerdings wurde er gegen die Bundesrepublik Deutschland und die anderen freien Regierungen der Welt eingesetzt. Denn hier war die Ausbildungszentrale von Aquitania, der Ort, an dem die Strategien verfeinert, die Manöver bis zur Perfektion eingeübt und die letzten Vorbereitungen für den großen Schlag getroffen wurden, der Delavanes Militärkommandeure an die Macht bringen sollte. Hier ging es nur noch ums Töten - schnell und brutal, und der Schock, der davon ausgehen würde, war Teil der Strategie. Unter dem Fenster liefen Gruppen, die aus vier oder fünf Männern bestanden, einzeln oder hintereinander zwischen einer Menge von vielleicht hundert anderen Personen herum und wechselten sich in einer Übelkeit erregenden Übung ab. Am Ende des Exerzierplatzes stand eine Betonmauer, zwei Meter hoch und vielleicht zehn Meter lang, vor der in einer Reihe Figuren aufgebaut waren - einige standen, andere saßen auf Stühlen -, leblos und starr, ihre gläsernen Augen starrten blind in die Ferne. Sie waren die Ziele. Jede der Figuren, ob männlich oder weiblich, hatte in Brustmitte ein engmaschiges Geflecht aus kugelsicherem Draht, hinter dem ein grell oranges -5 3 7
Licht brannte, das man auch in der Mittagssonne deutlich
erkennen konnte. Und dieses Licht blitzte jedesmal auf, wenn
der Ausbildungsleiter den entsprechenden Schalter betätigte.
Dies war das Signal, daß diese Figur oder diese Figuren - falls
mehr Lichter eingeschaltet waren - das Ziel der jeweiligen
Einheit waren. Die Treffer wurden elektronisch auf der Mauer
über den einzelnen Gestalten angezeigt. Rot bedeutete getötet,
blau lediglich verletzt. Rot war akzeptabel, blau nicht.
Die über Lautsprecher an die Kampfgruppen gebrüllten
Ermahnungen änderten sich nicht, nur die genannten Zahlen
und die Zeit. Sie wurden in neun Sprachen über den Platz
geschrien, von denen Connal vier verstand.
Dreizehn Tage bis Basis Null! Genauigkeit ist das höchste Ziel!
Die Flucht erfordert als Ablenkungsmanöver eine Tötung! Sonst
bleibt nur der eigene Tod!
Elf Tage bis Basis Null! Genauigkeit ist das höchste...!
Acht Tage bis Basis Null! Genauigkeit ist...!
Die Angehörigen der Killerteams feuerten auf ihre Ziele,
brachten ausgestopfte Schädel zur Explosion und pulverisierten
Leiber - manchmal allein, manchmal gemeinsam mit ihren
Kameraden. Und jeder »Kill« wurde mit lautstarkem
Überschwang begrüßt, während die Männer durch die Menge
hetzten und schließlich, wenn ihr Manöver abgeschlossen war,
wieder Teil von ihr wurden. Dann wurde sofort wieder ein neues
Team aus der Gruppe der Zuschauer gebildet, und eine weitere
Mordübung setzte ein und lief mit minutiöser Perfektion ab. Und
so ging es Stunde um Stunde, und die Menge reagierte auf die
»Kills« mit begeistertem Geschrei, während die Waffen für
weitere Angriffe auf die gespenstisch markierten Puppen
nachgeladen wurden. Etwa alle zwanzig Minuten mußten den
leblosen Gestalten vor der Mauer neue Köpfe und Leiber
angebracht werden, weil dann die alten vollkommen
zerschossen waren. Das einzige, was fehlte, waren Ströme von
Blut und Massenhysterie.
Von Zorn und Enttäuschung erfüllt, zerrte Connal an der Kette,
mit der seine Handgelenke gefesselt waren. Er riß mit ganzer
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Kraft, nur um wieder zu spüren, daß sich die verrosteten Glieder in sein Fleisch preßten und ihm weitere rote Schürfwunden zufügten. Es gab nichts, was er tun konnte, keinen Weg in die Freiheit! Und er kannte das Geheimnis von Aquitania! Das Rätsel der Strategie offenbarte sich hier, direkt vor seinen Augen! Morde! Die Massentötung bedeutender Politiker in neun verschiedenen Ländern! Etwas würde in acht Tagen geschehen, etwas, das er nicht genau kannte, aber das provozierend genug sein würde, um auf der ganzen Welt das Auftreten von entschiedenen Staatsmännern zu fordern. Und was ihn geradezu zerriß, war die einfache Wahrheit, daß es nichts gab, was er tun konnte - absolut nichts! Er wandte sich vom Fenster ab. Seine Arme und seine Wunde schmerzten, seine Handgelenke stachen. Er sah sich in dem mit Gefangenen gefüllten Raum um. Unter dreiundvierzig Männern, die sich die größte Mühe gaben, sich nicht aufzugeben, und es doch schon getan hatten. Einige Männer lagen lethargisch auf ihren Pritschen, andere starrten verloren zu den Fenstern hinaus; andere redeten leise miteinander vor den blanken Wänden. Sie alle trugen Handschellen. Die jämmerlich knappen Essenszuteilungen und die brutalen Perioden der »Übungen« waren darauf abgestimmt, sie geistig wie körperlich zu schwächen. Miteinander flüsternd, soweit sie sich untereinander verständigen konnten, hatten sie einige Schlüsse gezogen, aber ihre Gefangenschaft gab keinen Sinn. Sie waren Teil einer Strategie, die keiner begreifen konnte, und nur Connal wußte, wer die Strategen waren. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, versuchte er zu erklären, aber zur Antwort bekam er nur verständnislose und verwirrte Blicke. Wie sollte man auch Wahnsinn erklären... Einige Punkte waren feststellbar - was auch immer sie bedeuten mochten. Zunächst einmal waren sie alle Offziere mit mittleren bis höheren Diensträngen. Zweitens waren sie alle Junggesellen oder geschieden, alle ohne Kinder und ohne feste Beziehungen. Drittens hatten sie alle gerade Urlaub zwischen dreißig und fünfundvierzig Tagen genommen, darunter nur ein
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weiterer im Notstatus wie Connal. Es gab ein Schema, aber was bedeutete es? Auch in dem Punkt gab es einen Hinweis, nur daß auch der sich jedem Verständnis entzog. Etwa jeden zweiten Tag brachte man den Gefangenen Postkarten aus verschiedenen Gegenden - Urlaubsgebieten in Europa und Nordamerika -, und dann erhielten sie Anweisung, ganz spezielle Nachrichten an bestimmte Personen zu schreiben, die sie alle als Offizierskollegen von den Stützpunkten oder Basen kannten, auf denen sie beheimatet waren. Dabei handelte es sich immer um Nachrichten von der Art wie Mir-geht-es-hier-gut; ichwünschte-du-wärst-auch-hier; morgen-geht's-nach... Eine Weigerung, diese Grüße mit eigener Hand zu schreiben, bedeutete den Entzug der knappen Essensration, oder daß man den Betreffenden brutal auf den Exerzierplatz hinaustrieb, wo er, so schnell er konnte, laufen mußte, um dem Gewehrfeuer zu entgehen - bis er schließlich stürzte. Sie waren sich alle einig, daß hinter den Hungerrationen ein bestimmter Zweck lag. Sie waren alle gut ausgebildete, fähige Offiziere. Solche Männer in normalem physischem und geistigem Zustand waren zu Fluchtversuchen fähig oder zumindest zu ernsthafter Gegenwehr. Aber das war auch alles, was sie begriffen. Alle, mit Ausnahme von Connal, waren jetzt mindestens zweiundzwanzig oder höchstens vierunddreißig Tage hier. Sie befanden sich in einem Konzentrationslager, irgendwo an einer nicht näher bekannten Küste, und sie wußten nicht einmal, worin ihr Verbrechen bestand. »Que pasa?« fragte ein Gefangener namens Enrique, der aus Madrid stammte. »Esto lo mismo auera en el campo de maniobras«, erwiderte Fitzpatrick und deutete mit einer Kopfbewegung zum Fenster. Dann fuhr er in spanischer Sprache fort. »Die töten dort ausgestopfte Puppen und bilden sich ein, daß sie dadurch zu Helden oder zu Märtyrern oder zu beidem werden.« »Das ist doch verrückt!« schrie der Spanier. »Es ist verrückt! Was wollen die denn damit? Warum dieser Wahnsinn?« -5 4 0
»Die werden in acht Tagen eine Menge wichtiger Leute töten. Sie werden während irgendeiner internationalen Feier oder dergleichen töten. Was, zum Teufel, ist denn in acht Tagen? Haben Sie eine Idee?« »Ich bin nur Major in der Garnison von Saragossa. Ich berichte über die Basken und lese meine Bücher. Was weiß ich von solchen Dingen? Was es auch immer sein mag, es würde bestimmt nicht bis nach Saragossa dringen - ein barbarisches Land. Aber ich würde sogar Korporalstreifen tragen, wenn mich das dorthin zurückbrächte.«
30 Joel trat aus dem hellen Nachmittagslicht in die Katakomben des Hauptbahnhofes. Der dunkle Anzug und der Hut paßten bequem; der Priesterkragen und die schwarzen Schuhe beengten ihn, aber nicht unerträglich; und der kleine Koffer war zwar hinderlich, doch im Notfall konnte er ihn einfach fallen lassen. Diesmal war das Gefühl, das alles schon einmal gesehen zu haben, keine Illusion. Er ging vorsichtig, beobachtete jede plötzliche Bewegung - ganz gleich, wie belanglos sie auch war - und studierte prüfend die fremden Gesichter. Jeden Augenblick rechnete er damit, daß Männer auf ihn zugestürzt kommen könnten, mit dem einzigen Befehl und Willen, ihn zu töten. Es kam niemand. Doch selbst im schlimmsten Fall hätte ihn das Wissen beruhigt, sein Bestes getan zu haben. Während der letzten Nacht hatte er den vollständigsten Bericht seiner juristischen Laufbahn geschrieben; ihn mühsam in deutlicher Handschrift abgefaßt, das Material organisiert, die Fakten zusammengeholt, um seine Schlüsse und Annahmen zu unterstützen. Er hatte die wichtigsten Punkte eines jeden Dossiers hervorgehoben, um seinen eigenen Folgerungen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Jede Aussage wog er vor dem Hintergrund der eigenen schrecklichen Erlebnisse ab und tat alles beiseite, was ihm zu emotional erschien. Den Rest formte -5 4 1
er neu, um die kalte Objektivität eines ausgebildeten,
vernünftigen juristischen Verstandes widerzuspiegeln.
Stundenlang hatte er in der Nacht wachgelegen, die Bausteine
Stück für Stück geordnet und dann am frühen Morgen zu
schreiben begonnen. Er war eine belanglose Spielfigur
gewesen, die von verängstigten, unsichtbaren Männern
manipuliert worden war, welche die Werkzeuge geliefert und
genau gewußt hatten, was sie taten. Trotz allem, was
geschehen war, begriff er und konnte sich durchaus vorstellen,
daß es vielleicht gar keine andere Möglichkeit gegeben hatte,
das zu tun, was zu tun war. Er hatte alles vor einer Stunde
abgeschlossen und die Blätter in einen großen Umschlag
getan, den der alte Mann ihm gegeben hatte, mit dem
Versprechen, zuerst Converse am Bahnhof abzusetzen und
dann den Umschlag zur Post zu bringen. Joel hatte ihn an
Nathan Simon adressiert.
»Pastoor Wilcrist! Das sind Sie doch, oder nicht?« Converse
fuhr herum, als er eine Berührung am Arm spürte. Der schrille
Gruß kam von einer hageren, etwas gebeugten Frau von etwa
Siebzig. Ihr faltenreiches Gesicht wurde von zwei ernsten
Augen beherrscht und von dem weißen Schleier einer Nonne
umrahmt. Ihr schlanker Körper war von einem schwarzen
Ordenskleid verhüllt.
»Ja, Schwester?« sagte er erschreckt.
»Man merkt, daß Sie sich nicht an mich erinnern, Pastoor«, rief
die Frau. »Nein, schwindeln Sie nicht, ich sehe ganz deutlich,
Sie haben keine Ahnung, wer ich bin!«
»Vielleicht würde ich das doch, wenn Sie Ihre Stimme etwas
mäßigten, Schwester.« Joel sprach leise, beugte sich vor und
versuchte zu lächeln. »Sie machen die Leute auf uns
aufmerksam.«
»Religiöse Menschen begrüßen einander immer so«, sagte die
alte Frau vertraulich, die Augen weit und starrend auf ihn
gerichtet. »Sie möchten wie normale Menschen wirken.«
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»Wollen wir hier hinübergehen, damit wir ruhig reden können?«
Converse griff nach dem Arm der Frau und führte sie an den
Aufgang zu einem Bahnsteig. »Sie haben etwas für mich?«
»Woher sind Sie?«
»Woher ich bin? Was meinen Sie?«
»Sie kennen die Regeln. Ich muß sicher sein.«
»Bitte«, sagte Joel und blickte auf den schmalen Umschlag,
den die Frau in der Hand hielt. Er wußte, daß sie schreien
würde, wenn er ihn ihr mit Gewalt wegnahm. »Ich muß nach
Osnabrück, das wissen Sie!«
»Sie sind aus Osnabrück?« Die Nonne preßte den Umschlag
gegen ihre Brust, beugte sich noch weiter vor, so als beschütze
sie einen heiligen Gegenstand.
»Nein, nicht Osnabrück!« Converse versuchte, sich an Vals
Worte zu erinnern. Er war ein Priester auf Pilgerreise... nach
Auschwitz und Bergen-Belsen... aus... aus... »Los Angeles!«
flüsterte er heiser.
»Ja, goed. Welches Land?«
»Jesus!«
»Wet?«
»Die Vereinigten Staaten von Amerika.«
»Goed! Hier bitte, Menheer.« Die alte Frau reichte ihm den
Umschlag und lächelte jetzt süßlich. »Wir müssen alle unsere
Arbeit tun, nicht wahr? Gehen Sie mit Gott, Sie Diener des
Herrn... Mir gefällt dieses Kostüm. Ich habe einmal auf der
Bühne gestanden, müssen Sie wissen. Ich glaube nicht, daß
ich es zurückgeben werde. Alle lächeln, und ein Herr, der aus
einem dieser schmutzigen Häuser kam, ist stehengeblieben
und hat mir fünfzig Gulden gegeben.«
Die alte Frau ging weiter, drehte sich einmal um und lächelte,
wobei sie ihm diskret eine Whiskyflasche zeigte, die sie unter
dem Ordenskleid hervorgeholt hatte.
Vielleicht war es sogar derselbe Bahnsteig, das konnte er nicht
sagen, aber seine Ängste waren dieselben wie vor
vierundzwanzig Stunden, als er in Amsterdam angekommen
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war. Er war als ein unschuldig wirkender Arbeiter mit Bart und bleichem, verschrammtem Gesicht in die Stadt gekommen. Jetzt verließ er sie als ein Priester, aufrecht, glattrasiert, von der Sonne verbrannt, ein ordentlich gekleideter Diener des Herrn auf einer Pilgerreise der Buße. Der empörte Anwalt in Genf, der manipulierende Bittsteller in Paris und der gefangene Tölpel in Bonn gehörten der Vergangenheit an. Zurückgeblieben war der gejagte Mann, und um zu überleben, mußte er imstande sein, die Jäger zu beschleichen, ehe sie ihn beschleichen konnten. Das bedeutete, daß er sie entdecken mußte, ehe sie ihn entdeckten. Das war eine Lektion, die er vor achtzehn Jahren gelernt hatte, als seine Augen noch schärfer und sein Körper noch widerstandsfähiger gewesen waren. Um das auszugleichen, mußte er die anderen Talente einsetzen, die er inzwischen entwickelt hatte; alles kam darauf an, sich zu konzentrieren. Und so gelang es Joel, den Mann zu entdecken. Er stand an einer Betonsäule auf dem Bahnsteig und las im schwachen Licht einen Fahrplan, den er auseinandergefaltet hatte. Converse sah ihn an - so wie er fast alle Leute angesehen hatte, die in Sichtweite standen. Und dann, Sekunden später, sah er noch einmal hin. Irgend etwas an dem Mann war seltsam, stimmte nicht in das Bild. Es konnte verschiedene Gründe geben, bei dieser schlechten Beleuchtung einen Fahrplan zu lesen und nicht im hell beleuchteten Waggon - eine letzte Zigarette im Freien oder weil man auf jemanden wartete. Aber der kleine Druck war unmöglich zu entziffern, wenn man den Fahrplan fast vor der Brust hielt, und nicht einmal die Augen zusammenkniff. Und das tat der Mann nicht. Converse ging den Bahnsteig hinunter, näherte sich zwei offenen Türen, die das Ende eines Waggons und den Anfang des nächsten bildeten. Mit voller Absicht ließ er den Koffer an einem hervorstehenden Fensterriegel hängenbleiben, so daß er zur Seite gedrückt wurde. Er entschuldigte sich bei den Reisenden, die ihm nachfolgten, und ließ sie höflich vorbeigehen. Aber während er zu ihnen umgewandt blieb, schweiften seine Augen zu dem Mann hinüber, der links an der -5 4 4
Säule stand. Er hielt den Fahrplan immer noch in der Hand wie eine vergessene Requisite. Der Mann konzentrierte sich jetzt auf Joel. Das reichte. Converse ging durch die zweite Türe, jetzt wieder mit unbekümmert wirkenden Schritten, aber das änderte sich sofort, als er im Inneren des Waggons war und der Mann an der Säule ihn nicht länger sehen konnte. Er eilte den Gang hinunter und stürzte beim ersten Sitz zu Boden. Wieder entschuldigte er sich bei den Leuten hinter ihm - ein Diener des Herrn, der mit profanem Gepäck nicht zurechtkam. Dann sah er zum Fenster hinaus, an den zwei Passagieren vorbei, die dort saßen. Der Mann an der Säule hatte den Fahrplan fallen lassen und winkte jetzt mit heftigen Gesten. Wenige Sekunden darauf stand ein zweiter Mann bei ihm. Beide sprachen kurz miteinander und trennten sich rasch wieder. Der eine ging auf die vordere Tür des Waggons zu, der andere auf die, durch die Joel gerade gekommen war. Sie hatten ihn. Er steckte in der Falle. Valerie bezahlte den Fahrer und stieg aus dem Taxi, ließ sich von dem Türsteher helfen. Es war das zweite Hotel, in dem sie sich im Verlauf von zwei Stunden ein Zimmer besorgt hatte. Auf die Weise hatte sie für den Fall, daß man sie verfolgte, eine tote Spur hinterlassen. Sie hatte sich ein Taxi vom KennedyFlughafen nach La Guardia genommen, sich dort ein Ticket nach Boston gekauft und sich anschließend in einem Motel am Flughafen eingetragen unter dem Namen Charpentier. Dreißig Minuten später hatte sie das Motel verlassen, nachdem sie vorher das Hotel in Manhattan angerufen hatte, um sich zu vergewissern, daß ein Zimmer für sie frei war. Das war der Fall gewesen. Das St. Regis würde Mrs. De Pinna gerne aufnehmen, die überraschend aus Tulsa, Oklahoma, angekommen war und eine Unterkunft brauchte. Val hatte im Flugzeug nicht geschlafen, nur etwas gedöst, und war immer wieder von Alpträumen hochgeschreckt worden. Die Turbulenzen über dem Nordatlantik hatten ebensowenig dazu beigetragen, sie in den Schlaf zu lullen. Und Schlaf brauchte sie -5 4 5
jetzt... und Joel. Ersterer stellte sich ein; letzterer war außer
Reichweite.
Ein schriller Ton, begleitet von greller Sonne, die sie blendete,
als sie die Augen aufriß, ließ sie vom Bett hochfahren, das
Laken von sich treten und aufspringen. Es war das Telefon.
Das Telefon? Sie sah auf die Uhr; es war sieben Uhr
fünfundzwanzig. Die Sonne fiel durch die Fenster, und wieder
klingelte das Telefon. Das Telefon? Wie... ? Wieso? Sie griff
nach dem Hörer, faßte ihn mit aller Kraft und versuchte, zu sich
zu finden, bevor sie zu sprechen begann. »Hallo?«
»Mrs. De Pinna?« erkundigte sich eine Männerstimme.
»Ja?«
»Hoffentlich ist alles in Ordnung.«
»Ist es bei Ihnen üblich, Ihre Gäste um sieben Uhr früh
aufzuwecken und sie zu fragen, ob alles in Ordnung ist?«
»Es tut mir schrecklich leid, aber wir haben uns Sorgen um Sie
gemacht. Sie sind doch die Mrs. De Pinna aus Tulsa,
Oklahoma, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wir haben Sie die ganze Nacht gesucht... seit der Flug aus
Amsterdam um ein Uhr dreißig heute morgen eintraf.«
»Wer sind Sie?« fragte Val wie vom Blitz getroffen.
»Jemand, der Ihnen helfen möchte, Mrs. Converse«, sagte die
Stimme, jetzt entspannt und freundlich.
»Sie haben uns ganz schön herumgejagt. Wir haben ganz
bestimmt hundertfünfzig Frauen geweckt, die seit zwei Uhr
morgens in irgendwelchen Hotels eingetroffen sind. Die
Maschine aus Amsterdam war es dann. Glauben Sie mir, Mrs.
Converse, wir wollen Ihnen helfen. Wir haben beide dasselbe
Ziel.«
«Wer sind Sie?«
»Wir wollen einmal sagen, daß ich im Auftrag der Regierung
der Vereinigten Staaten handle. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich
bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen.«
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Zum Teufel mit der Regierung der Vereinigten Staaten! dachte Val zitternd, während sie den Hörer auflegte. Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte überzeugendere Möglichkeiten, sich zu erkennen zu geben... Sie mußte hier weg! Was bedeuteten die fünfzehn Minuten? War es eine Falle? Warteten unten Männer auf sie - warteten, ob sie fliehen würde? Sie hatte keine Wahl! Sie rannte ins Badezimmer, schnappte sich ihren Bordkoffer und warf ihre Toilettensachen hinein. In wenigen Sekunden hatte sie sich angezogen, dann stopfte sie die restlichen Kleider auch noch in den Koffer, schnappte sich den Zimmerschlüssel von der Kommode und lief zur Tür. Sie blieb stehen. O Gott, der Briefbogen mit der Air-Force-Nummer! Sie rannte zum Schreibtisch zurück, riß das Blatt unter dem offenen Telefonbuch weg und stopfte es in ihre Handtasche. Sie sah sich verstört um. War da noch etwas? Nein. Sie verließ das Zimmer und eilte den Gang zu den Lifts hinunter. Die Straße erwachte gerade erst zum Leben. Valerie ging schnell den Bürgersteig hinunter, blieb dann vor einem kleinen, eleganten Buchladen stehen und beschloß, hier im Türeingang zu warten. Die Geschichten, die sie ihr ganzes Leben lang gehört hatte, erzählten nicht nur davon, daß es galt, falsche Informationen zu hinterlassen. Es hatte auch Lektionen dafür gegeben, daß man wissen mußte, wie der Feind aussah. Oft war genau das entscheidend. Ein Taxi fuhr vor dem St. Regis vor, und die hintere Tür öffnete sich, noch bevor der Wagen ausgerollt war. Sie konnte den Passagier ganz deutlich sehen, er hatte die Hand über den Vordersitz gestreckt und zahlte, ohne an sein Wechselgeld zu denken. Er stieg schnell aus und lief auf die Glastüren des Hoteleingangs zu. Er trug keinen Hut und hatte ungekämmtes, fast blondes Haar. Er trug eine leichte Jacke und hellblaue Sommerjeans. Er war der Feind, das wußte Valerie. Er war in den Zwanzigern, kaum mehr als ein Junge, aber das Gesicht war hart und von Zorn verzerrt, die Augen kalt - ferne Stahlblitze in der Sonne. Val verließ die Türnische des Buchladens. -5 4 7
Ein Wagen schoß an ihr vorbei in westlicher Richtung auf das Hotel zu. Sekunden später hörte sie quietschende Reifen und erwartete, jeden Moment Blech krachen zu hören. Sie drehte sich um wie die anderen Fußgänger. Fünfzehn Meter entfernt stand ein brauner Wagen, dessen Tür und Kofferraumdeckel klar und deutlich in schwarzen Buchstaben die Aufschrift U.S. Army trugen. Ein Offizier in Uniform stieg hastig aus. Er starrte sie an. Val rannte los. Converse saß auf einem Gangplatz, etwa in der Mitte des Waggons. Seine Hände, die das schwarze Gebetbuch hielten, waren schweißnaß. Er hatte es mit dem Paß, dem Pilgerbrief und einem maschinengeschriebenen Blatt mit Anweisungen und ein paar Daten über Pater William Wilcrist in dem Umschlag gefunden. Ganz unten auf dem Blatt stand die letzte Anweisung: Auswendig lernen, zerreißen und vor der Grenzstation Oldenzaal in die Toilette werfen. Der Zug fuhr erst nach Norden, dann nach Osten. Vor Oldenzaal gab es zwei Stationen, und anschließend würden sie, wie er vermutete, den Rhein überqueren und Westdeutschland erreichen. Den Bahnhof von Deventer hatten sie bereits hinter sich, blieb also nur noch ein Aufenthalt, eine Stadt namens Hengelo. Die Ansage kam, und Joel erhob sich von seinem Platz, ehe die anderen Reisenden, die nach Hengelo wollten, das taten. Im Gang drehte er sich um und ging zum hinteren Teil des Wagens. Als er an dem Mann vorbeikam, der an der Säule gestanden hatte, bemerkte er, daß der Jäger von Aquitania mit so starrem Körper geradeaus starrte, daß er kaum die Bewegungen des Zuges mitmachte. Converse hatte eine solche Haltung schon oft gesehen, bei Verhandlungen und vor Gericht. Sie deutete immer auf unsichere Zeugen oder Verhandler. Der Mann war angespannt, vielleicht hatte er Angst, seinen Auftrag zu verpatzen, oder Angst vor den Leuten, die ihn nach Amsterdam geschickt hatten - was auch immer, seine Angst war deutlich zu erkennen, und Joel würde sie nutzen. Er kroch aus einem tiefen Schacht in der Erde, arbeitete sich mühsam nach oben, über Stufen, die er in vielen -5 4 8
Nächten gegraben hatte. Der Drahtzaun war in der Ferne, der
Regen fiel, die Streifen waren unruhig - von jedem Geräusch
verängstigt, das sie nicht schnell identifizieren konnten. Er
brauchte nur einen, um zu fliehen, und den hatte er... er konnte
den Zaun erreichen!
Er konnte Osnabrück allein erreichen.
Die Toilette war frei; er öffnete die Tür, ging hinein und nahm
das Blatt mit den Instruktionen heraus. Er faltete es zusammen,
zerriß es in kleine Fetzen, warf die Papierfetzen in die
Kloschüssel und trat auf den Wasserknopf. Die Fetzen
verschwanden. Dann drehte er sich zur Tür um und wartete.
Eine zweite Ansage plärrte draußen aus den Lautsprechern,
der Zug verlangsamte seine Fahrt. Vor der Tür war das
Scharren von Füßen zu hören. Der Zug kam zum Stillstand.
Joel fühlte, wie der Boden unter den vielen Schritten vibrierte,
Schritten von Menschen, die jetzt an zu Hause dachten und
ohne Zweifel an das holländische Äquivalent eines Martini. Das
Vibrieren hörte auf, die Schritte verhallten. Joel öffnete die Tür
eine Handbreit. Der Jäger mit der starren Haltung war nicht
mehr an seinem Platz. Jetzt.
Joel zwängte sich hinaus und trat schnell in den engen Raum
zwischen den Waggons. Er schob sich zwischen den
Nachzüglern hindurch, die aus dem nächsten Waggon
aussteigen wollten, betrat den Waggon und lief den Mittelgang
hinunter. Als er sich den letzten Reihen näherte, sah er einen
freien Platz, zwei Sitze mit Blick auf den Bahnsteig. Er setzte
sich ans Fenster, die Hand vor dem Gesicht, und spähte
zwischen den Fingern hindurch.
Der Mann von Aquitania hetzte hin und her, hielt drei Männer
auf, die gehen wollten und ihm den Rücken zuwandten, schnell
entschuldigte er sich bei ihnen. Jetzt wandte der Jäger sich
wieder dem Zug zu. Sein Opfer konnte also nicht ausgestiegen
sein. Er stieg wieder ein, sein Gesicht wie eine zerknitterte
Karte, die auseinanderfiel - Täler der Angst.
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Mehr, dachte Converse. Ich will mehr. Ich will eure Nerven zum Zerreißen gespannt, wie es schon einmal bei meinen Wächtern war. Bis ihr es nicht mehr ertragen könnt! Oldenzaal kam und blieb hinter ihnen. Der Zug überquerte den Rhein, und das Klappern der Brücke unter ihnen klang wie ein leiser Trommelwirbel - der Jäger hatte die vordere Tür aufgerissen, zu verstört, um mehr zu tun, als sich schnell umzusehen und wieder zu seinem Begleiter zurückzukehren oder vielleicht zu einem einsamen Koffer. Joels Kopf war verborgen unter der Rückenlehne. Minuten später kam die Grenzpolizei. Sie musterten jeden Mann, Dutzende Uniformierter, die durch die Waggons gingen. Sie waren höflich, daran war kein Zweifel. Trotzdem erinnerten sie in häßlicher Weise an die Vergangenheit. Joel zeigte seinen Paß und den Brief, den man für das Gewissen von Deutschen in deutscher Sprache geschrieben hatte. Ein Grenzpolizist schnitt eine traurige Grimasse, nickte dann und ging weiter. Die Uniformierten verließen den Waggon; die Minuten dehnten sich zu Viertelstunden. Er konnte durch die Fenster in den vorderen Waggon sehen. Die zwei Jäger begegneten sich, einige Reihen hinter dem Platz, wo er gesessen hatte. Wieder trennten sie sich, einer ging nach vorn, der andere nach hinten. Jetzt. Joel erhob sich von seinem Platz und trat in den Mittelgang, warf einen Blick auf seinen Fahrplan und beugte sich vor, um zum Fenster hinauszusehen, bedeutungslose Bewegungen. Aber er mußte ausharren, bis einer der Jäger ihn entdeckte. Es dauerte nicht einmal zehn Sekunden. Als Converse sich nach vorn beugte, scheinbar um eine draußen vorbeihuschende Tafel abzulesen, erhaschte er einen Blick auf eine Gestalt, die sich vor die obere Glasscheibe an der vorderen Tür schob. Er stand auf. Der Mann hinter der Glasscheibe duckte sich sofort weg. Das war das Signal, auf das er gewartet hatte, der Augenblick, um schnell zu handeln. Er drehte sich um und ging im Waggon nach hinten, ging zur Tür hinaus über die dunkle, klappernde Brücke, die zum nächsten Waggon führte. Er trat ein, eilte schnell den Mittelgang hinunter, wieder nach hinten und wieder zum nächsten Waggon. Dann drehte er sich um. Der Mann -5 5 0
folgte ihm. Ein Wächter verlieft im Regen seinen Posten. Nur Sekunden noch, dann konnte er den Stacheldraht erreichen. »Nächster Halt Bad Bentheim; Bad Bentheim!« Wieder verlangsamte der Zug seine Fahrt, die erste von zwei Stationen vor Osnabrück. Joel trat ins Dunkel und schob vorsichtig den Kopf vor. Was er sah, erschreckte ihn. Der Jäger machte keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Statt dessen setzte er sich - setzte sich mit dem Blick nach vorn, ein Fahrgast, der einen bequemeren Platz gefunden hatte und nichts weiter im Sinn hatte. Der Zug hielt an, und die aussteigenden Passagiere bildeten vorn eine Schlange. Vorn. Über der letzten Tür war eine Schrift gewesen, aber da er sie nicht lesen konnte, war er einfach weitergegangen. Jetzt sah er auf die Ausgänge; sie hatten keine Klinken. Wenn er sich vorher wie in einer Falle gefühlt hatte, so befand er sich jetzt in einem Käfig, einem stählernen Käfig, der sich gerade wieder in Bewegung setzte. Ein dahinrasendes Gefängnis, aus dem es keine Flucht gab. Converse griff in die Hemdtasche und holte seine Zigaretten heraus. Er war dem Stacheldraht so nahe; er mußte überlegen. Ein Klappern? Ein Schlüssel... ein Riegel. Die massive Holztür mit dem Wort FRACHT darauf öffnete sich, und die Gestalt eines korpulenten Mannes kam heraus. »Eine Zigarette für Sie, während ich zum Pinkeln gehe«, sagte der Bahnbeamte lachend, während er durch den dunklen Korridor zur Tür ging. »Und dann ein Bier, ja?« Der Deutsche ging hinaus, um etwas zu trinken, und obwohl er die Tür hinter sich fast zugezogen hatte, war sie nicht ganz geschlossen. Er war ein Mann, der sich keine Sorgen machte, ein Bahnbeamter mit nichts, das er für bewachenswert hielt. Joel schob die schwere Tür auf und ging hinein. Er wußte, was geschehen würde; es mußte in dem Augenblick geschehen, wenn der Mann an dem Jäger vorbeiging, auf dem Weg zu seinem Bier. Er sah sich einem halben Dutzend Kisten und vielleicht zehn Käfigen mit Tieren gegenüber, hauptsächlich Hunde und ein -5 5 1
paar Katzen, die sich in die Ecken ihrer Behausungen drückten.
Das einzige Licht kam von einer nackten Glühbirne, die an
einem dicken Draht von der Decke hing. Converse versteckte
sich hinter einer Kiste in der Nähe der Tür. Er griff unter seinen
Priestermantel und zog die Pistole mit dem Schalldämpfer
heraus.
Vorsichtig wurde die Tür aufgedrückt - Millimeter um Millimeter-,
dann erschien die Waffe, dann eine Hand, dann ein Arm.
Schließlich war der Mann zu sehen, der Jäger, der Soldat von
Aquitania.
Joel feuerte zweimal, um ganz sicherzugehen. Der Arm schlug
gegen die halb geöffnete Tür, die Pistole fiel aus der Hand des
Jägers, aus seinem Handgelenk spritzte Blut. Converse sprang
hinter der Kiste vor - die Streife gehörte ihm und ebenso der
Stacheldrahtzaun! Er konnte ihn überklettern! Der Felsbrocken
hatte das Fenster der Kaserne zerschmettert! Die
Maschinengewehrsalve traf eine Stelle, wo er nicht war!
Sekunden, nur Sekunden, und er war frei!
Joel preßte den Mann gegen den Boden, hielt die Kehle des
Jägers umklammert und preßte ihm das Knie gegen die Brust
er brauchte jetzt nur zuzudrücken, und der Mann von Aquitania
würde sterben. Er drückte dem Mann den Pistolenlauf gegen
die Schläfe.
»Sprechen Sie Englisch?«
»Ja«, preßte der Deutsche heraus. »Ich spreche Englisch!«
»Was?«
»I... speak English.«
»Wie lauteten Ihre Anweisungen?«
»Ich sollte Ihnen folgen. Nur folgen. Nicht schießen! Ich bin nur
ein Angestellter! Ich weiß nichts!«
»Ein was?«
»Man hat mich bezahlt...«
»Aquitania!«.
»Was...?«
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Der Mann log nicht, dafür war zu viel Panik in seinen Augen.
Converse hob die Pistole und preßte sie dem Deutsehen gegen
das linke Auge, drückte den Schalldämpfer dagegen.
»Sie sagen mir ganz genau, was man Ihnen aufgetragen hat!
Die Wahrheit - und ich merke sofort, wenn Sie lügen -, und
wenn Sie lügen, dann ist Ihr Gehirn hier über die ganze Wand
verteilt! Reden Sie!«
»Ich soll Ihnen folgen!«
»Und?«
»Wenn Sie den Zug verlassen, sollen wir die Polizei anrufen.
Wo auch immer es ist. Aber ich hätte das nicht getan! Ich
schwöre es bei Gott, daß ich das nie getan hätte! Ich bin ein
guter Christ. Ich mag sogar die Juden! Ich bin arbeitslos, mein
Herr!«
Joel schmetterte dem Mann die Pistole gegen den Schädel
die Streife war ausgeschaltet! Er konnte jetzt über den Zaun
klettern! Er zerrte den Deutschen hinter eine Kiste und wartete.
Es war unmöglich zu sagen, wie lange; sein Herzschlag war zu
schnell, um an Zeit zu denken. Jetzt kam der Bahnbeamte
zurück, mehr betrunken als nüchtern, und nahm an seinem
Arbeitsplatz mit der einsamen Glühbirne Zuflucht.
In den Käfigen war es nicht länger ruhig. Der Geruch von
Menschenblut und Schweiß war mehr, als die Hunde ertragen
konnten; sie wurden bösartig. Binnen Minuten wurde der
Eisenbahnwaggon mit der Aufschrift FRACHT zu einem
Tollhaus, die Tiere waren wie gereizt - die Hunde knurrten,
bellten und warfen sich gegen ihre Käfige, die Katzen schrien
und fauchten, von den Hunden herausgefordert. Der
Bahnbeamte war verstört und verängstigt und wagte es nicht,
seinen Stuhl zu verlassen. Er trank aus einer Flasche Bier.
Zweimal wanderte sein starrer Blick von den Tieren zu einem
roten Griff an der Wand, nur wenige Zentimeter über seinem
Arbeitstisch. Er brauchte nur die Scheibe einzuschlagen und
daran zu ziehen.
»Nächster Halt Rheine. Rheine!«
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Die letzte Station vor Osnabrück. Bald würde der Deutsche wieder aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen, und wenn Joel ihn in diesem Augenblick nicht bedrohte, würde der Mann schreien und die Notbremse ziehen. Außerdem wartet unten nur wenige Waggons weiter ein zweiter Mann, der Geld dafür bekommen hatte, ihm zu folgen und ihn zu töten. Länger zu bleiben, wo er jetzt war, hieß zuzulassen, daß die Falle zuschnappte. Er mußte den Zug verlassen. Der Zug hielt. Converse sprang zur Tür und veranlaßte damit ein Dutzend Tiere, in ihren Käfigen noch wilder zu werden. Er zog den Riegel zurück, öffnete die schwere Tür und stürzte hinaus. Dann hetzte er den Mittelgang hinunter, schob sich, Entschuldigungen murmelnd, an wartenden Reisenden vorbei, nur darauf bedacht, ins Freie zu kommen, ehe man den Bewußtlosen fand, ehe ein Hebel gezogen und Alarm geschlagen wurde. Er erreichte den Ausgang und sprang von der zweiten Stufe auf den Bahnsteig. Noch einmal sah er sich um, dann eilte er davon, ins Innere des Bahnhofs. Er war frei. Erlebte. Aber er war Meilen von einer alten Frau entfernt, die auf ihren Priester wartete.
31 Valerie lief immer noch. Sie hatte Angst, sich umzusehen, aber sie war nicht dumm. Also tat sie es doch und sah, daß der Offizier eine heftige Auseinandersetzung mit dem Fahrer des Militärwagens hatte. Ein paar Sekunden später, als sie gerade die Ecke der Madison Avenue erreicht hatte, sah sie sich erneut um. Sie versuchte ruhig zu bleiben. Der Offizier folgte ihr jetzt und verkürzte seinen Abstand mit jedem Schritt. Sie rannte quer über die Straße, als die Ampel umschaltete; ein Hupkonzert ließ erkennen, daß sie damit den Zorn einiger Fahrer herausgefordert hatte. Zehn Meter entfernt hielt ein Taxi an dem Randstein, und ein grauhaariger Mann machte sich daran auszusteigen, müde und noch nicht bereit, den Morgen hinzunehmen. Val rannte zurück -5 5 4
auf die Straße, mitten in den Verkehr hinein. Sie riß die linke
Tür des Taxis auf und stieg ein, während der erschreckte
grauhaarige Mann noch sein Wechselgeld entgegennahm.
»Hey, Lady, sind Sie verrückt?« schrie der schwarze Fahrer.
»Sie müssen von der anderen Seite einsteigen! Hier könnte Sie
ein Bus plattquetschen!«
»Tut mir leid!« schrie Val, die jetzt die Beherrschung verlor, und
ließ sich in den Sitz sinken. »Mein Mann kommt hinter mir
hergerannt, und ich laß mich nicht noch einmal schlagen! Das
tut weh. Er ist... Offizier bei der Army.«
Der grauhaarige Mann sprang jetzt wach wie ein Sprinter aus
dem Taxi und schlug die Tür hinter sich zu. Der Fahrer drehte
sich um und sah sie an. Sein breites schwarzes Gesicht wirkte
neugierig.
»Ist das die Wahrheit?«
»Ja! Würden Sie mich jetzt bitte hier wegbringen?« Val sank
noch tiefer in die Polster. »Er ist jetzt an der Ecke! Er wird über
die Straße kommen - und mich sehen!«
»Keine Sorge, Mam«, sagte der Fahrer, griff ruhig nach hinten
und drückte die Knöpfe der beiden Türen herunter. »Oh, da
kommt er wie ein Verrückter gerannt. Und all die Orden! Man
möchte ja nicht glauben - entschuldigen Sie. Er ist ziemlich
hager, nicht wahr? Die meisten unangenehmen Typen waren
so hager.«
»Fahren Sie hier weg!«
»Das Gesetz ist da ganz genau, Mam. Es ist die Pflicht eines
jeden Fahrers eines öffentlichen Taxis, seinen Fahrgast zu
beschützen... Und ich war bei der Infanterie, Mam, und warte
jetzt schon seit Ewigkeiten auf diese Chance.« Der Fahrer stieg
aus dem Taxi. Er war hünenhaft gebaut. Val sah mit
erschrecktem Staunen zu, wie er um die Motorhaube
herumging und schrie:
»Hey, Captain! Sie dort drüben! Suchen Sie eine sehr hübsche
Lady? Ihre Frau vielleicht?«
»Was?« Der Offizier rannte auf den riesigen Schwarzen zu.
-5 5 5
»Nun, Captain, Baby, ich fürchte, ich schaffe jetzt keine
Ehrenbezeigung, weil meine Uniform auf dem Dachboden ist,
aber Sie sollen wissen, daß Ihr Auftrag erfolgreich
abgeschlossen ist. Würden Sie bitte zu meinem Jeep kommen,
Sir?«
Der Offizier setzte sich in Richtung auf das Taxi in Bewegung.
Doch der Schwarze packte ihn plötzlich, riß ihn herum und
schlug ihm die Faust in den Magen, trieb ihm dann das Knie in
den Unterleib und »vollendete seinen gesetzlichen Auftrag«
schließlich, indem er dem Offizier noch einmal die Faust ins
Gesicht schlug. Val schnappte keuchend nach Luft. Als der
Mann zu Boden fiel, war sein Gesicht über und über mit Blut
besudelt. Der Fahrer lief zu seinem Wagen zurück, stieg ein,
schloß die Tür und legte den Gang ein. Mit einem Satz reihte
sich das Taxi in den Verkehr ein.
»Mann o Mann!« sagte der Schwarze. »Das hat vielleicht
gutgetan! Gibt es eine Adresse, Mam? Die Uhr läuft.«
»Ich... ich weiß nicht genau.«
»Fangen wir noch einmal von vorn an. Wo wollen Sie hin?«
»Zu einem Telefon... Warum haben Sie das getan?«
»Das ist meine Angelegenheit, nicht die Ihre.«
»Sie sind ja krank! Man hätte Sie verhaften können!«
»Wofür denn? Daß ich meinen Fahrgast beschütze? Dieser
Kerl ist doch tatsächlich auf mein Taxi zugerannt, und das hat
ganz übel ausgesehen, ganz übel. Außerdem war da nirgends
ein Bulle. Die Adresse bitte, Missis. Die Uhr läuft.«
»Ich weiß nicht... ein Telefon. Ich muß zu einem Telefon.
Würden Sie warten?«
»Haben Sie Geld? Oder hat Ihnen das der Captain alles
weggenommen. Mein Mitgefühl hat Grenzen, Lady. Ich
bekomm für gute Taten nichts bezahlt.«
»Ich habe Geld. Sie werden gut bezahlt werden.«
»Zeigen Sie mir einen Schein.«
Valerie griff in ihre Handtasche und zog hundert Dollar heraus.
»Reicht das?«
-5 5 6
»Geht in Ordnung, aber Sie sollten das nicht mit jedem
Taxifahrer machen. Auf die Weise könnten Sie verdammt
schnell in irgendeiner Leichenhalle landen.«
Sie hielten an einer Telefonzelle an der Ecke der Madison
Avenue und der 78. Straße. Valerie stieg aus, klappte die
Handtasche auf und nahm den Briefbogen des St.-Regis-Hotels
mit der Telefonnummer heraus. Sie schob eine Münze in den
Schlitz und wählte.
»Air Force, Personalbüro, Denver«, meldete sich eine
Frauenstimme am anderen Ende.
»Ich würde gern wissen, ob Sie mir helfen können. Miß«, sagte
Val, und ihre Augen hielten nach allen Seiten hin Ausschau
nach einer braunen Limousine mit der Aufschrift U.S.Army. »Ich
versuche da, einen Offizier ausfindig zu machen. Es handelt
sich um einen Verwandten von mir.«
»Einen Augenblick, bitte. Ich verbinde weiter.«
»Personalabteilung, Denver-Einheiten«, kam eine zweite
Stimme, diesmal männlich. »Sergeant Porter.«
»Sergeant, ich versuche, einen Offizier ausfindig zu machen«,
wiederholte Valerie. »Einen Verwandten von mir, der meiner
Tante gesagt hat, er würde mich sprechen wollen.«
»Wo in Colorado, Mam?«
»Nun, das weiß ich nicht genau.«
»The Springs? The Academy? Lowry Field oder vielleicht
Cheyenne Mountain?«
»Ich weiß nicht, ob er in Colorado ist, Sergeant.«
»Warum haben Sie dann Denver angerufen?«
»Weil Sie im Telefonbuch standen.«
»Verstehe.« Der Soldat machte eine Pause und fuhr dann mit
mechanisch klingender Stimme fort. »Und dieser Offizier hat
hinterlassen, daß er Sie sprechen möchte?«
»Ja.«
»Aber er hat keine Adresse und keine Telefonnummer
hinterlassen?«
-5 5 7
»Wenn er das getan hat, dann hat sie meine Tante verloren.
Sie ist schon ziemlich alt.«
»Der Ablauf ist folgendermaßen, Miß. Wenn Sie einen Brief an
das M.P.C. - Military Personnel Center - auf dem Randolph-
Luftwaffenstützpunkt San Antonio, Texas, schreiben würden
und dort Ihr Anliegen und Namen und Rang des Offiziers
angeben, wird der Brief bearbeitet.«
»Dafür habe ich keine Zeit, Sergeant! Ich bin viel unterwegs ...
ich rufe Sie vom Flughafen aus an.«
»Es tut mir leid, Miß, aber so ist die Vorschrift.«
»Ich bin keine Miß, und mein Vetter ist General, und er will mich
wirklich sprechen! Ich will bloß wissen, wo er ist, und wenn Sie
es mir nicht sagen können, dann können Sie ihn doch ganz
sicher anrufen und ihm meinen Namen durchgeben. Ich rufe
Sie dann zurück und gebe Ihnen eine Nummer durch, wo er
mich erreichen kann. Das ist doch vernünftig, nicht wahr,
Sergeant. Offen gestanden, es ist sehr wichtig.«
»Ein General, Mam?«
»Ja, Sergeant Potter. General Abbott.«
»Sam Abbott? Ich meine, Brigadegeneral Samuel Abbott?«
»Genau der, Sergeant Potter.«
»Porter, Mam.«
»Ich werd's mir merken.«
»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, daß das ein
Sicherheitsbruch wäre, Miß - Mam. Jeder weiß, wo General
Abbott stationiert ist. Er ist ein sehr populärer Offizier und steht
oft in der Zeitung.«
»Und wo ist das, Sergeant? Ich werde ihm persönlich sagen,
daß Sie sehr hilfsbereit waren.«
»Nellis Air Force Base in Nevada, Mam, ganz dicht bei Las
Vegas. Er hat dort den Befehl über die taktischen Geschwader.
Alle Geschwaderkommandanten erhalten ihre
Abschlußausbildung in Nellis. Würden Sie mir bitte Ihren
Namen sagen?«
-5 5 8
»Oh, du lieber Gott! Jetzt wird mein Flug zum letztenmal
aufgerufen. Vielen Dank, Sergeant.« Valerie legte den Hörer
auf, wobei sie immer noch die Straße im Auge behielt und zu
entscheiden versuchte, was sie als nächstes tun sollte - ob sie
Sam jetzt gleich anrufen sollte oder noch warten. Plötzlich
wurde ihr klar, daß sie nicht anrufen konnte; sie würde dazu
ihre Kreditkarte benützen müssen, und das bedeutete, daß man
das Gespräch registrierte. Sie verließ die Zelle und kehrte zu
ihrem Taxi zurück.
»Lady, ich glaube, wir sollten jetzt hier verschwinden, wenn es
Ihnen nichts ausmacht«, sagte der Fahrer mit ruhiger
Eindringlichkeit in der Stimme. »Was ist denn?«
»Ich kann den Polizeifunk empfangen, nur für alle Fälle, falls es
Ärger in der Umgebung gibt, und habe denen gerade zugehört.
Ein Captain von der Army ist an der Fünfundfünfzigsten und
Madison von dem schwarzen Fahrer eines Taxis in
niedergeschlagen worden, das in nördlicher Richtung weg- I
fuhr. Zu meinem Glück haben sie weder die Nummer noch die
Taxigesellschaft, aber die Beschreibung ist recht gut. >Ein
großer schwarzer Hurensohn mit einer Faust Größe zwölf. < So
haben diese Drecksäcke es ausgedrückt.«
»Fahren wir«, sagte Val. »Ich sage das ungern, und das meine
ich auch ganz ehrlich, aber ich darf da nicht hineingezogen
werden.« Das Taxi machte einen Satz, und dann bog der
Fahrer an der Einundachtzigsten Straße in östlicher Richtung
ein. »Hat... wird mein Mann Anklage erheben?« fragte sie
plötzlich verwirrt.
»Nein, in dem Punkt werde ich keinen Ärger bekommen«,
erwiderte der Fahrer. »Der muß Sie ganz schön vertrimmt
haben. Er ist einfach weggerannt und hatte nichts zu sagen.
Gesegnet soll er sein. Wohin?«
»Lassen Sie mich nachdenken.«
»Die Uhr läuft.«
Sie mußte nach Las Vegas, aber der Gedanke, nach Kennedy
oder zum La-Guardia-Flughafen zurückzukehren, machte ihr
Angst. Das war zu leicht vorauszusehen. Dann erinnerte sie
-5 5 9
sich. Vor fünf oder sechs Jahren hatten sie und Joel das
Wochenende mit Freunden in Short Hills, New Jersey,
verbracht. Joel hatte damals einen Anruf von Nathan Simon
bekommen, noch am Sonntag nach Los Angeles zu fliegen, um
am Montagmorgen dort Gespräche zu führen. Die Unterlagen
würden per Luftexpreß zum Beverly-Hills-Hotel geschickt
werden. Joel hatte eine Maschine vom Newark-Flughafen aus
genommen.
»Können Sie mich nach Newark fahren?«
»Ich kann Sie nach Alaska fahren, Lady, aber Newark?«
»Der Flughafen.«
»Das ist besser. Einer der besten. Newark ist auch in Ordnung.
Ich habe einen Bruder dort, und, zum Teufel, er lebt immer
noch. Ich fahre an der Sechsundsechzigsten durch den Park
und nehme den Lincoln-Tunnel.«
Es herrschte dichter Verkehr, denn Kurzurlauber waren schon
auf dem Weg an die Küsten von Jersey. Am Flughafen war es
noch schlimmer. Schließlich fanden sie einen Parkplatz, und
Valerie stieg aus. Sie zahlte den Fahrer, gab ihm hundert Dollar
extra und dankte. »Sie sind wirklich mehr als nur hilfsbereit
gewesen.«
Dann betrat sie das Flughafengebäude. Die Schlangen vor den
einzelnen Schaltern waren erschreckend, und bevor sie sich
überhaupt anstellen konnte, mußte sie erst einmal wissen, wo
man für sie zuständig war. Zwanzig Minuten später stand sie in
der richtigen Reihe, und fast eine Stunde darauf war sie im
Besitz eines Tickets für den 12.35-Flug der American Airlines
nach Las Vegas. Bis zum ersten Aufruf war noch eine Stunde
Zeit. Jetzt war Gelegenheit, um zu überprüfen, ob alles, was sie
bisher getan hatte, auch vernünftig war. Ob es vernünftig war,
Sam Abbott aufzusuchen, oder ob sie sich nur verzweifelt an
einen Mann klammerte, der vielleicht gar nicht mehr der war,
den sie einmal gekannt hatte. Sie hatte zwanzig Dollar in
Münzen eingetauscht und hoffte, es würde reichen. Sie fuhr mit
der Rolltreppe ins Obergeschoß und ging zu einer Telefonzelle
hinter den Geschäften am anderen Ende des breiten Korridors.
-5 6 0
Die Auskunft von Nevada gab ihr die Nummer der
Telefonzentrale der Nellis Air Force Base. Sie wählte und bat,
mit Brigadier Samuel Abbott verbunden zu werden.
»Ich weiß nicht, ob er schon auf dem Stützpunkt ist«, sagte die
Vermittlung.
»Oh?« Das hatte sie vergessen. Der Zeitunterschied betrug
drei Stunden.
»Augenblick, er hat sich bereits gemeldet. Ein früher
Flugtermin.«
»Büro von General Abbott.«
»Kann ich bitte den General sprechen? Mein Name ist
Parquette, Mrs. Virginia Parquette.«
»Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?« fragte die
Sekretärin. »Der General ist sehr beschäftigt und ist bereits im
Begriff, aufs Flugfeld zu gehen.«
»Ich bin eine Cousine, die er seit langem nicht mehr gesehen
hat. Es geht um einen Unglücksfall in der Familie.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Bitte sagen Sie ihm, daß ich am Apparat bin. Er wird sich
vielleicht nicht an meinen Namen erinnern; es ist so viele Jahre
her. Aber Sie könnten ihn erinnern, daß wir in den alten Tagen
einige wunderbare Dinners in New York gehabt haben. Es ist
wirklich äußerst dringend. Ich wünschte, jemand anderer
könnte dieses Gespräch führen, aber leider hat man mich
ausgewählt.«
»Ja... ja, natürlich.«
Das Warten war für Valerie wie der letzte Kreis der Hölle.
Schließlich ertönte ein Klicken, und dann die Stimme, an die sie
sich erinnerte.
»Virginia... Parquette?«
»Ja.«
»Ginny - aus New York? Dinner in New York?«
»Ja.«
»Sie sind die Frau, nicht die Schwester.«
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»Ja!«
»Geben Sie mir eine Nummer. Ich rufe Sie in zehn Minuten
zurück.«
»Ich bin in einer Telefonzelle.«
»Bleiben Sie dort. Die Nummer.«
Sie gab sie ihm und legte auf. Sie wartete in dem Plastiksessel
neben dem Telefon, beobachtete die Rolltreppen und die Leute,
die in Läden und den Schnellimbiß gingen. Sie versuchte, nicht
auf die Uhr zu sehen. Zwölf Minuten vergingen. Dann klingelte
das Telefon.
»Ja?«
»Valerie...?«
»Ja!«
»Ich wollte nicht vom Büro aus sprechen - zu viele Störungen.
Wo sind Sie? Der Vorwahl nach in New Jersey.«
»Auf dem Flughafen von Newark. Ich nehme den 12.30-Flug
nach Las Vegas. Ich muß Sie sprechen!«
»Ich habe versucht, Sie anzurufen. Talbots Sekretärin hat mir
Ihre Nummer gegeben.«
»Wann?«
»Vor zwei Tagen. Davor war ich in der Mojave bei Manövern
und zu ausgepumpt, um ein Radio einzuschalten – und
Zeitungen hatten wir keine. Ein Mann hat sich gemeldet, und
als er sagte, daß Sie nicht zu Hause seien, habe ich aufgelegt.«
»Das war Roger, Joels Vater. Er ist tot.«
»Ich weiß. Die sagen, es könnte Selbstmord gewesen sein.«
»Nein!... Ich habe ihn gesehen, Sam. Ich habe Joel gesehen!
Das sind alles Lügen!«
»Genau darüber müssen wir reden«, sagte der General.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie ankommen. Unter demselben
Namen. Ich will Sie nicht am Flughafen abholen; da kennen
mich zu viele Leute. Ich werd' mir einen Ort überlegen, wo wir
uns treffen können.«
-5 6 2
»Vielen Dank!« sagte Valerie. »Sie sind der einzige, der uns
geblieben ist.«
»Uns?«
»Für den Augenblick ja. Ich bin alles, was ihm geblieben ist.«
Converse beobachtete aus einem dunklen Winkel des
Bahnhofs, wie der Zug nach Osnabrück sich in Bewegung
setzte. Er rechnete jeden Augenblick damit, Pfiffe zu hören, die
die Stille der Nacht durchdringen würden, erwartete, daß der
Zug anhielt, daß ein verwirrter, halb betrunkener Bahnbeamter
schreiend aus dem Frachtwaggon gerannt käme. Doch nichts
davon. Warum? War der Mann mehr als nur angetrunken?
Hatte der Lärm der Tiere ihn angetrieben, noch schneller zu
trinken, seinen Entschluß bestärkt, die sichere Zuflucht seines
Waggons nicht zu verlassen? Hatte er im schwachen Licht nur
einen undeutlichen Schatten zur Tür stürzen sehen oder den
Bewußtlosen vielleicht überhaupt nicht entdeckt? Und dann sah
Joel, daß es noch eine andere Möglichkeit gab. Eine, mit der er
nie gerechnet hätte. Er konnte eine Gestalt durch den zweiten
zum letzten Waggon rennen sehen, eine Gestalt, die sich
zweimal zwischen die Sitzreihen schob und das Gesicht gegen
die Scheiben preßte. Augenblicke später lehnte sich der Mann
aus dem Fenster einer Wagentür hinaus. Er hielt eine Pistole in
der Hand, während er die Augen zusammenkniff, um nicht von
der Bahnhofsbeleuchtung geblendet zu werden, und spähte in
die Schatten.
Plötzlich traf der Jäger eine Entscheidung. Er öffnete die Tür
und sprang. Als der Mann auf dem Boden aufschlug, wälzte er
sich schnell zur Seite, weg von dem Zug. Der Jäger von
Aquitania befand sich in Panik. Er wagte es nicht, sein Opfer zu
verlieren, wagte nicht, unverrichteterdinge zu seinen Herren
zurückzukehren.
Converse hastete an der Bahnhofsfassade entlang zu einem
Parkplatz. Fast alle Reisenden, die aus dem Zug gestiegen
waren, waren schon in ihren Fahrzeugen. Zwei Paare
plauderten noch am Bahnsteig und warteten offenbar darauf,
-5 6 3
daß sie abgeholt wurden. Ein Wagen bog von der Straße her ein, die beiden Männer winkten, und im nächsten Augenblick hatten alle vier Platz genommen. Man konnte durch die offenen Fenster noch ihr Lachen hören, während der Wagen davonjagte. Jetzt war der Parkplatz verlassen, der Bahnhof für die Nacht verschlossen. Ein einzelner Scheinwerfer vom Dach beleuchtete die Leere, und eine Reihe hoher Bäume hinter dem jetzt leeren Kiesplatz schien sich in eine riesige, undurchdringliche Mauer zu verwandeln. Sich im Dunkeln haltend, flüchtete Joel von einem Schatten zum nächsten. Unter einem massiven Bogen am Ende des Gebäudes blieb er stehen und preßte den Rücken gegen die Ziegelmauer. Er wartete. Seine Hand hielt die Waffe. Ob man ihn zwingen würde, sie zu benutzen - ob sich ihm dafür überhaupt eine Chance bieten würde? Im Zug hatte er Glück gehabt. Professionellen Killern war er nicht gewachsen. Und wie sehr er sich auch zu überzeugen versuchte, er war nicht in dem Dschungel, der ein ganzes Leben entfernt in seiner Vergangenheit lag, war auch nicht mehr der jüngere Angreifer, der er damals gewesen war. Aber wenn er daran dachte - so wie jetzt -, dann waren jene Erinnerungen das einzige, was ihn lenkte. Er schob sich aus dem Schutz des Bogens heraus und lief zur nächsten Ecke. Ein Schuß fiel und zersplitterte den Stein links von seinem Kopf! Er warf sich nach rechts, rollte sich über den Kiesboden, sprang wieder auf und rannte aus dem Scheinwerferbündel heraus. Drei weitere Explosionen fetzten Steinsplitter von der Wand und rissen den Boden neben seinen Füßen auf. Jetzt hatte er eine dunkle Buschreihe erreicht und warf sich hinein. Und plötzlich wußte er ganz genau, was er tun mußte! »Auu! Auuuu...« Sein letzter Schrei riß ab, so als versagte ihm die Stimme. Dann kroch er durch das Gehölz, so schnell er konnte. Jetzt war er einige Meter von der Stelle entfernt, wo er geschrien hatte. Er hielt an, drehte sich auf den Knien herum, bewegte sich nicht mehr und spähte zu der erleuchteten Fläche jenseits der Büsche hinüber.
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Es geschah so, wie es schon einmal geschehen war, als drei Kinder in Uniformen rücksichtslos ein anderes Kind im Dschungel getötet hatten. Verängstigte Männer fühlten sich immer von den letzten Geräuschen angezogen, die sie gehört hatten - so wie jetzt dieser Jäger von Aquitania. Der Mann trat vorsichtig aus der Dunkelheit des letzten Bahnsteigs, die Waffe in beiden ausgestreckten Händen haltend. Er ging vorsichtig auf die Stelle im Gebüsch zu, von der die zwei Schreie gekommen waren. Converse suchte lautlos am Boden herum, bis er einen Steinbrocken gefunden hatte, der etwas größer als seine Faust war. Jetzt hielt er ihn gepackt, wartete, starrte hinüber. In der Kehle konnte er das Trommeln seines Herzens spüren. Der Killer war jetzt nur noch zwei Meter von den Büschen entfernt. Joel warf den Steinbrocken. Das knirschende Geräusch war laut, und der Soldat von Aquitania duckte sich, gab einen Schuß nach dem anderen ab zwei, drei, vier. Converse hob die eigene Waffe und betätigte zweimal den Abzug. Der Mann fuhr nach links herum, stöhnte, wollte schreien, aber der Schrei erstickte ihm auf den Lippen, während er sich an den Leib faßte und zu Boden stürzte. Joel kroch auf den Kiesstreifen hinaus, rannte auf den Gestürzten zu, packte ihn an den Armen und zerrte ihn in die Büsche. Er kniete nieder und drückte dem Mann die Hand gegen den Hals. Er war tot, ein weiterer Soldat, der in Aquitanias Krieg, dem Militärbund des George Marcus Delavane, den Tod gefunden hatte. Sonst war niemand in der Nähe - andernfalls hätten die Schüsse Rufe ausgelöst, man hätte Schritte hören müssen, jemand hätte die Polizei gerufen. Wie weit entfernt war Osnabrück? Er hatte sich den Fahrplan angesehen und versucht, das in Erfahrung zu bringen, aber alles war so schnell abgelaufen, daß er das Gelesene nicht in sich aufgenommen hatte. Aber weniger als eine Stunde war es, soviel wußte er. Irgendwie mußte er eine Nachricht zum Bahnhof von Osnabrück bekommen. Mein Gott, aber wie? -5 6 5
Er ging zum Bahnsteig zurück und blickte zu der Tafel mit dem
Namen der Station hinauf: Rheine. Das war ein Anfang; er hatte
nur die Stationen gezählt, nicht die Namen gewußt. Und dann
sah er es - ein Lichtschein? Da war etwas in der Ferne, über
dem Boden - ganz hoch - mit Lichtern innen, ein Turm! Er hatte
sie Dutzende Male in der Schweiz und in Frankreich gesehen...
Stellwerke! Er rannte an den Gleisen entlang und fragte sich
plötzlich, wie er wohl aussehen mochte? Sein Hut war
verschwunden, die Kleider beschmutzt, aber sein
Priesterkragen war immer noch da - er war immer noch ein
Priester. Er würde ein Priester sein.
Jetzt hatte er den Stellwerksturm erreicht, schlug sich die
Kleider ab und versuchte, sein Haar zu glätten. Ruhiger
geworden, begann er, die stählernen Stufen hinaufzusteigen.
Oben angelangt, sah er, daß die Stahltür, die ins Innere des
Turms führte, versperrt war, und die Fenster bestanden
offenbar aus dickem Glas. Er ging auf die Tür zu, klopfte.
Drinnen waren drei über Schalttafeln gebeugte Männer zu
sehen; ein älterer wandte sich von den grünen Lämpchen ab
und kam zur Tür. Er spähte durch das Glas und bekreuzigte
sich, aber seine Religiosität reichte nicht dazu aus, ihn zum
Öffnen der Tür zu veranlassen. Statt dessen hallte die Stimme
des Mannes plötzlich aus einem Lautsprecher. »Was ist.
Hochwürden?«
»Ich spreche nicht Deutsch. Sprechen Sie Englisch?«
»Engländer?«
»Yes - ja.«
Der alte Mann drehte sich zu den beiden anderen um und rief
etwas. Sie schüttelten den Kopf, aber einer hob die Hand und
kam zur Tür.
»Ich spreche... ein wenig, Mister Engländer. Nicht hier
hereinkommen, verstehen?«
»Ich muß Osnabrück anrufen! Eine Frau wartet dort auf mich!«
»Oh? Hochwürden, eine Frau?«
»Nein, nein! Sie verstehen nicht! Spricht denn hier niemand
Englisch?«
-5 6 6
»Sprechen Sie Deutsch?«
»Nein!«
»Warten Sie«, sagte der dritte Mann an der Schalttafel. Es
folgte ein kurzer Wortwechsel zwischen den Männern. Der, der
»ein wenig« Englisch sprach, wandte sich wieder Joel zu.
»Eine Kirche«, sagte der Mann, nach Worten tastend. »Kirche!
Ein Pfarrer - Priester! Er spricht Englisch. Drei Straßen... dort!«
Der Deutsche wies nach links; Joel blickte nach unten. In der
Ferne war eine Straße zu sehen. Er begriff; drei Straßen weiter
war eine Kirche und ein Pfarrer, der Englisch sprach und
wahrscheinlich auch ein Telefon hatte, und Converse lief die
Treppe hinunter, so schnell er konnte, auf die Straßenlaternen
in der Ferne zu. Sie lag auf der rechten Straßenseite. Eine
kleine Kirche mit einem unscheinbaren Türmchen, die wie eine
dekorierte Wellblechbaracke aussah. Joel ging zur Tür eines
kleinen Nebengebäudes und klopfte. Augenblicke später
öffnete ein älterer, behäbig wirkender Mann mit sehr wenigen,
aber wohlgekämmten weißen Haaren.
»Ah, guten Tag, Herr Kollege.«
»Verzeihen Sie mir«, sagte Converse, immer noch außer Atem.
»Ich spreche nicht Deutsch. Man hat mir gesagt, Sie sprächen
Englisch.«
»Ah ja, freilich, das sollte ich wohl. Ich habe mein Noviziat im
Mutterland verbracht- im Gegensatz zum Vaterland -, Sie
verstehen natürlich den Unterschied im Artikel. Kommen Sie
herein, bitte nur herein! Der Besuch eines Priesterkollegen
verlangt nach einem Schnaps. Nach einem Schluck Wein klingt
vielleicht besser, nicht wahr?«
Joel mußte zehn Minuten auf ihn einreden, bis der Priester
schließlich den Telefonhörer abhob. Augenblicke später hörte
Joel die Worte, die seinen Atem wieder ruhiger gehen ließen.
»Frau Geyner? Es tut mir leid...« Der alte Priester und die alte
Frau redeten ein paar Minuten miteinander, und dann nickte der
Priester eine Zeitlang nur noch. Schließlich legte er auf und
wandte sich an Converse. »Sie hat auf Sie gewartet«, sagte er
und runzelte verwirrt die Stirn. »Sie dachte, Sie könnten
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vielleicht am Frachtbahnhof ausgestiegen sein... Welcher
Frachtbahnhof?«
»Ich verstehe.«
»Ich nicht. Aber sie kennt den Weg hierher und wird Sie in etwa
einer halben Stunde abholen.«
Frau Hermione Geyner traf ein und nahm Converse in ihre
Obhut, übernahm sozusagen das Kommando über ihn. Sie war
eine kleine Frau, viel älter als Joel angenommen hatte, mit
einem verwitterten Gesicht, das ihn an die Frau im Bahnhof von
Amsterdam erinnerte... ein Gesicht, das von großen, ernsten
Augen beherrscht wurde, die Blitze zu schleudern schienen. Er
stieg in den Wagen, worauf sie die Türe hinter ihm schloß und
den Schließknopf drückte. Sie selbst setzte sich hinters Steuer.
»Ich bin Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben, sehr
dankbar«, sagte Converse.
»Das ist nichts!« übertönte die alte Frau den Lärm des Motors.
»Ich habe schon Offiziere aus abgestürzten Flugzeugen in
Bremerhaven, Stuttgart und Mannheim geholt! Ich habe
Soldaten in die Augen gespuckt und Barrikaden niedergerissen!
Ich habe nie versagt! Diese Schweine sind nie an mich
herangekommen!«
»Ich meinte nur, daß Sie mir das Leben retten, und Sie sollen
wissen, daß ich Ihnen dankbar bin. Mir ist bekannt, daß Valerie
- ihre Nichte und meine... meine ehemalige Frau - Ihnen gesagt hat, daß ich das, was man mir vorwirft, nicht getan habe, und damit hatte sie recht. Ic h habe das nicht getan.« »Ach, Valerie! Ein reizendes Kind, aber nicht sehr verläßlich, ja? Sie sind sie losgeworden, ja?« »Nun, so ist es eigentlich nicht ganz abgelaufen.« »Wie konnte sie auch?« fuhr Hermione Geyner fort, als hätte er gar nichts gesagt. »Sie ist eine Künstlerin, und wir wissen alle, wie wenig stabil solche Leute sind. Und ihr Vater war natürlich Franzose. Ich frage Sie, mein Herr, könnte es einen größeren Nachteil für sie geben? Franzose! Die Würmer Europas! -5 6 8
Ebensowenig vertrauenswürdig wie ihre Weine, die sie die
ganze Zeit trinken. Trunkenbolde sind das, wissen Sie. Das
liegt denen im Blut.«
»Aber in bezug auf meine Person haben Sie ihr doch geglaubt.
Sie helfen mir, Sie sind dabei, mir das Leben zu retten.«
»Weil wir es konnten, mein Herr! Wir wußten, daß wir es
konnten, mein Herr!«
Benommen starrte Joel auf die Straße, auf die heranfliegenden
Kurven, die sie mit quietschenden Reifen nahm. Hermione
Geyner war ganz anders als er erwartet hatte. Aber das galt so
ziemlich für alles, was er in diesen Tagen erlebt hatte. Sie war
schon alt, und es war spätnachts, und sie hatte in den letzten
zwei Tagen bestimmt eine ganze Menge durchgemacht. Das
mußte sie belastet haben. Und wenn alte Leute müde waren,
kamen alte Vorurteile zum Vorschein. Vielleicht würden sie am
Morgen ein ruhiges Gespräch führen können. Am Morgen - das
war der zweite Tag, und Valerie hatte versprochen, ihn in
Osnabrück anzurufen und ihm zu sagen, welche Fortschritte sie
mit Sam Abbott machte. Sie mußte anrufen. Val, ruf mich an.
Um Himmels willen, ruf mich an!
Converse sah zum Fenster hinaus. Die Minuten strichen dahin,
die Landschaft draußen wirkte friedlich, das Schweigen fast
sonderbar.
»Da wären wir, mein Herr!« rief Hermione Geyner und bog
scharf in eine Einfahrt, die zu einem alten, dreistöckigen Haus
etwas abseits der Landstraße führte. Nach allem, was
Converse sehen konnte, war es ein Haus, das einmal etwas
Majestätisches besessen haben mußte, allein schon wegen
seiner Größe und den zahlreichen überdachten Fenstern und
Erkern. Aber ebenso wie seine Besitzerin war auch das Haus
sehr alt, und die alte Größe wirkte abgewetzt und schäbig. Sie
gingen die ausgetretenen Stufen hinauf und traten an die Tür.
Frau Geyner - klopfte schnell und eindringlich und nach
wenigen Sekunden öffnete eine andere alte Frau und nickte
ihnen ernst zu, als sie eintraten.
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»Es ist sehr hübsch«, begann Joel. »Ich möchte...« »Seh!« Hermione Geyner ließ die Wagenschlüssel in eine rotlackierte Schüssel auf einem Tisch im Korridor fallen und hob die Hand. »Diese Richtung!« Converse folgte ihr zu einer Doppeltüre; sie öffnete sie, und Joel trat hinter ihr ein. Er blieb stehen, und Verwirrung und Staunen erfaßten ihn. Vor ihnen, in dem großen Raum mit dem gedämpften Licht, war eine Reihe von Sesseln mit hohen Rückenlehnen zu sehen, und auf jedem einzelnen davon saß eine alte Frau - neun alte Frauen! Wie hypnotisiert musterte er sie. Einige lächelten schwach, einige zitterten vor Alter und Schwäche; ein paar musterten ihn streng und eindringlich, und eine schien vor sich hinzusummen. Gedämpfter Applaus war zu hören - dünne Hände mit hervortretenden blauen Adern, andere angeschwollen, und alle klatschten. Zwei Stühle waren vor den Frauen aufgebaut; Valeries Tante bedeutete ihm, daß diese Stühle für Joel und sie selbst bestimmt waren. Sie setzten sich, und der Applaus verstummte. »Meine Schwestern, Soldaten«, rief Hermione Geyner und erhob sich. »Heute nacht...« Die alte Frau sprach fast zehn Minuten lang, gelegentlich von Applaus und Ausrufen des Erstaunens unterbrochen. Schließlich setzte sie sich nach einer kurzen Verbeugung, wie um sich für den Applaus zu bedanken. »Jetzt bitte Fragen!« Wie um darauf zu antworten, begannen die Frauen, eine nach der anderen, zu reden - brüchige, stockende Stimmen größtenteils, und einige davon doch eindringlich, fast feindselig. Und dann wurde Converse bewußt, daß die meisten ihn beobachteten. Sie stellten ihm Fragen, und eine oder zwei bekreuzigten sich beim Sprechen, so als wäre der Flüchtling, den sie gerettet hatten, tatsächlich ein Priester. Was ging hier eigentlich vor? »Kommen Sie, mein Herr!« rief Hermione Geyner. »Antworten Sie den Damen. Das sind Sie ihnen schuldig.«
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»Ich kann keine Antwort auf etwas geben, was ich nicht verstehe«, protestierte Joel ruhig. Plötzlich stand Valeries Tante auf, drehte sich blitzschnell zu ihm herum und schlug ihm ins Gesicht. »Mit solchen Ausweichmanövern kommen Sie hier nicht weiter!« schrie sie und schlug ein zweites Mal zu, wobei der Ring an ihrem Finger seine Haut aufriß. »Wir wissen, daß Sie jedes Wort verstehen, das hier gesprochen wird! Warum glaubt ihr Tschechen und Polen immer, ihr könntet uns täuschen? Sie haben kollaboriert! Wir haben Beweise.« Die alten Frauen begannen zu schreien, und ihre faltigen, verzerrten Gesichter blickten jetzt haßerfüllt. Joel stand auf; er begriff. Hermione Geyner und alle im Raum Anwesenden waren entweder verrückt oder senil oder beides. In Gedanken lebten sie immer noch in jenen gefährlichen Zeiten, die vierzig Jahre zurück in der dunklen Vergangenheit lagen. Und dann, wie auf ein Stichwort, öffnete sich auf der anderen Seite des Raums eine Tür, und zwei Männer kamen heraus, der eine mit einem Regenmantel bekleidet, die rechte Hand in der Tasche, während die linke ein Paket hielt. Der zweite Mann hielt über seinem ausgestreckten Arm einen Mantel, unter dem ohne Zweifel eine Waffe verborgen war. Und dann erschien ein dritter Mann, und Joel schloß die Augen, preßte sie zusammen, bis der Schmerz in seiner Brust unerträglich wurde. Der dritte Mann hatte einen Verband um die Stirn und trug den Arm in einer Schlinge. Converse hatte jene Wunden verursacht; zuletzt hatte er den Mann in einem Gepäckwagen gesehen, in dem Käfige mit halbtollen Haustieren gestanden hatten. Der erste Mann kam auf ihn zu und streckte ihm das Päckchen hin. Ein dicker Umschlag, ohne Briefmarken, den er an Nathan Simon in New York geschickt hatte. »General Leifhelm sendet seine besten Empfehlungen und entbietet Ihnen seinen Respekt«, sagte der Mann.
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32 Peter Stone sah zu, wie der CIA-Arzt den letzten Stich am
Mundwinkel des Army-Offiziers vernähte, der sich mit beiden
Händen an den Armlehnen seines Sessels festklammerte. »Die
Zahnbrücke kann man reparieren«, sagte der Arzt. »Ich habe
einen Mann im Labor, der das in ein paar Stunden macht, und
einen Dentisten an der Zweiundsiebzigsten Straße, der erledigt
den Rest. Ich rufe Sie später an, wenn ich das alles arrangiert
habe.«
»Dieser Hurensohn!« stieß der Captain, so laut er mit dem
halbseitig narkotisierten Mund konnte, hervor. »Ein richtiger
Tank war das, ein beschissener schwarzer Tank! Dabei hat der
ganz bestimmt nicht für sie gearbeitet; der war bloß ein
verdammter Taxifahrer! Warum, zum Teufel noch einmal, hat er
das getan?«
»Vielleicht haben Sie ihn dazu angestachelt«, sagte der Zivilist
und ging mit einem Blatt Papier auf die Seite. »Das kommt
vor.«
»Was kommt vor?« brüllte der Offizier.
»Lassen Sie das, Captain. Auf die Weise reißen Sie bloß die
Nähte auf.« Der Arzt hob eine Spritze, die Geste wirkte wie eine
Drohung.
»Okay, okay.« Die Stimme des Offiziers klang jetzt leiser. »Was
heißt >angestachelt< in Ihrer verdrehten Sprache?«
»Das ist ganz gewöhnliches Englisch.« Stone wandte sich
wieder dem Arzt zu. »Sie wissen, daß ich nicht mehr zur Firma
gehöre, Sie sollten mir also eine Rechnung geben.«
»Eine Einladung zum Abendessen genügt schon, wenn Sie das
nächstemal in der Stadt sind. Mit dem Labor und dem Zahnarzt
ist das natürlich anders. In beiden Fällen würde ich Bargeld
vorschlagen. Und holen Sie ihn aus der Uniform raus.«
»Wird gemac ht.«
»Was wird gemacht...?« Der Captain verstummte, als er die
Hand des Zivilisten sah, die dieser unauffällig vor seine Brust
hielt.
-5 7 2
Der Arzt verstaute seine Instrumente in seiner Arzttasche und
ging zur Tür. »Übrigens, Stone«, sagte er zu dem ehemaligen
CIA-Agenten, »danke für den Albanier. Seine Frau gibt ihre
Rubel wie eine Verrückte aus, und zwar für jeden Schmerz, für
den ich einen Namen finde.«
»Der Schmerz ist ihr Mann. Er hat ein Apartment in
Washington, von dem sie nichts weiß, und einige sehr
eigenartige Sexgewohnheiten.«
»Von mir erfährt keiner etwas.«
Der Arzt ging hinaus, und Stone wandte sich wieder dem
Captain zu. »Wenn Sie mit solchen Männern zusammen sind,
dann sagen Sie nicht mehr als Sie unbedingt müssen, und das
schließt auch Fragen ein. Die wollen nichts hören und wollen
nichts wissen.«
»Tut mir leid. Was haben Sie damit gemeint - ich hätte diesen
Fleischberg angestachelt?«
»Kommen Sie schon. Da wird eine attraktive Frau von einem
mit Orden behängten Offizier auf der Straße verfolgt. Wie viele
Erinnerungen - schwarze Erinnerungen - glauben Sie denn,
laufen dort draußen herum, die Ihresgleichen nicht gerade
lieben?«
»Meinesgleichen? Darüber habe ich nie nachgedacht, aber ich
glaube, ich verstehe... Sie haben telefoniert, als ich herkam,
und dann waren da noch zwei Gespräche. Was ist denn?
Irgend etwas Neues über diese Lady Converse?«
»Nein.« Stone sah wieder auf seine Notizen und ordnete die
Papiere. »Wir können annehmen, daß sie zurückgekommen ist,
um mit jemandem Verbindung aufzunehmen - mit jemandem,
dem sie und ihr Exmann vertrauen.«
»Er kennt sich in Washington aus. Vielleicht jemand auf dem
Hill oder sogar in der Administration oder im
Außenministerium.«
»Das glaube ich nicht. Wenn er so jemanden kennen würde
und glaubte, seine Story würde ankommen, bevor ihm einer
eine Kugel in den Kopf jagen kann, dann wäre er schon vor
-5 7 3
Tagen aufgetaucht. Vergessen Sie nicht, man hat ihn schuldig
gesprochen und verurteilt. Können Sie sich irgend jemanden in
Washington vorstellen, der das - der mit ihm - nicht genau nach
den Regeln spielen würde? Er ist verseucht, ansteckend. Das
ist von zu vielen Gewährsleuten bestätigt worden, ja es gibt
sogar eine Diagnose für seine Krankheit.«
»Und inzwischen hat er erfahren, was wir vor Monaten
herausgefunden haben. Sie wissen nicht, wer sie sind oder mit
wem sie sprechen.«
»Oder wen sie angeheuert haben«, fügte Stone hinzu. »Oder
wen sie dazu erpreßt haben, das zu tun, was sie wollen, ohne
dabei irgendwelche Geheimnisse preiszugeben.«
Der Zivilist setzte sich dem Offizier gegenüber. »Aber dafür
haben sich inzwischen ein paar andere Dinge ergeben.
Langsam kristallisierten sich ein Schema heraus und ein paar
zusätzliche Namen. Wenn wir Converse herausziehen und das,
was er erfahren hat, mit dem kombinieren könnten, was wir
haben... dann könnte das möglicherweise genügen.«
»Was?« Der Captain schoß in seinem Sessel nach vorn.
»Ganz ruhig. Ich habe nur gesagt, möglicherweise. Ich war
damit beschäftigt, ein paar alte Schulden einzutreiben, und
wenn wir das alles zusammenfügen, sind da immer noch ein
paar, denen ich vertrauen kann.«
»Deshalb haben wir Sie ja geholt«, sagte der Offizier ruhig.
»Weil Sie wissen, was man tun muß, und wir wissen das nicht.
Was haben Sie denn?«
»Zunächst einmal - haben Sie je von einem Schauspieler
namens Caleb Dowling gehört - tatsächlich heißt er Calvin mit
Vornamen, aber das ist nicht wichtig; nur für die Computer.«
»Ich weiß, wer er ist. Er spielt den Vater in einer Fernsehserie.
Sie brauchen es ja nicht gleich herumzuerzählen, aber meine
Frau und ich sehen uns das gelegentlich an. Was ist denn mit
ihm?«
Stone sah auf die Uhr. »Er wird in ein paar Minuten hier sein.«
»Wirklich? Da bin ich aber sehr beeindruckt.«
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»Vielleicht sind Sie noch mehr beeindruckt, wenn wir mit ihm gesprochen haben.« »Herrgott, sagen Sie mir doch schon, was da läuft!« »Das ist einer dieser seltsamen Zufälle, auf die wir all« warten und die plötzlich passieren. Dowling war zu Dreharbeiten in Bonn und hat sich dort mit Peregrine angefreundet Wie das bei Schaupielern eben häufig so ist. Außerdem hat er Converse im Flugzeug kennengelernt und ihm ein Hotelzimmer beschafft. Doch was das Wichtigste ist, Dowling war es, der ursprünglich den Kontakt zwischen Peregrine und Converse hergestellt hat was dann nicht funktionierte, weil sich Fitzpatrick einmischte.« »Und?« »Als Peregrine getötet wurde, hat Dowling ein paarmal in der Botschaft angerufen und versucht, einen Termin mit dem diensttuenden Botschafter zu bekommen, aber man hat ihn abgewimmelt. Schließlich hat er Peregrines Sekretärin einen Brief geschickt und gesagt, er müsse sie sehen, es sei wichtig. Die Sekretärin hat sich mit ihm getroffen, und dieser Dowling hat ihr eine Bombe in den Schoß geworfen. Offenbar hatten er und Peregrine vereinbart, daß Dowling mitgehen würde, falls Converse die Botschaft anrufen und es zu einem Kontakt kommen sollte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Peregrine sein Wort brechen würde. Zum zweiten hat Peregrine Dowling gesagt, daß etwas in der Botschaft nicht in Ordnung sei, daß die Leute sich sehr seltsam verhielten. Einen solchen Zwischenfall hat Dowling selbst miterlebt. Er sagte, da seien zu viele Dinge gewesen, die keinen Sinn ergäben. Angefangen mit der völlig vernünftigen und klaren Art und Weise, in der Converse sich mit ihm unterhalten hätte, bis hin zu der Tatsache, daß man ihn, Dowling, nicht offiziell verhört hätte, obwohl er doch einer der letzten Personen gewesen ist, mit denen Converse zusammen war. Es lief darauf hinaus, daß er nicht glaubte, daß Converse etwas mit der Ermordung Peregrines zu tun gehabt hatte. Die Sekretärin fiel beinahe in Ohnmacht, sagte ihm aber, daß man mit ihm Verbindung aufnehmen würde. Sie kannte den Chef der Agency in Bonn und rief ihn an... Und das habe ich vor zwei Tagen auch getan -5 7 5
und gesagt, daß das Außenministerium mich in den Fall
eingeschaltet hätte.«
»Und er hat das alles bestätigt?«
»Ja. Er hat Dowling zu sich gerufen, ihn sich angehört und
inzwischen selbst angefangen herumzubohren. Inzwischen hat
er ein paar Namen geliefert; einen davon kennen wir, aber es
werden noch andere kommen. Ich habe gerade mit ihm
telefoniert, als Sie hierher kamen. Dowling ist gestern
herübergeflogen; er wohnt im Pierre und ist um halb zwölf Uhr
hier.«
»Jetzt rührt sich etwas«, sagte der Captain und nickte. »Noch
etwas?«
»Zwei Dinge noch. Sie wußten ja selbst, wie erschrocken wir
waren, als Richter Anstett sterben mußte, und darüber, daß
man das Ganze so hingestellt hat, als handle es sich um einen
Mafia-Mord. Zum Teufel, wir waren ja nicht einmal sicher,
weshalb Halliday Anstett ursprünglich überhaupt eingesetzt
hatte. Nun, die Computerleute in den Datenbänken der Army
haben uns die Antwort geliefert. Es reicht bis in den Oktober
neunzehnhundertvierundvierzig zurück. Anstett war juristischer
Offizier in Bradleys Erster Armee, wo Delavane
Bataillonskommandeur war. Delavane hat damals einen
Sergeant fertiggemacht und vors Kriegsgericht gebracht. Die
Anklage lautete auf Fahnenflucht, und Colonel Delavane wollte
ein Exempel statuieren, sowohl für seine eigenen Truppen als
auch für die Deutschen, damit erstere wußten, daß sie von
einem harten Burschen geführt wurden, und letztere, daß sie es
mit einem solchen zu tun hatten. Der Spruch des Gerichts
lautete auf schuldig, das Urteil auf Erschießen.«
»Schrecklich«, rief der Offizier.
»Ja, nur daß ein unbedeutender Lieutenant namens Anstett
davon hörte und mit rauchenden Kanonen ins Feld zog. Er
setzte psychiatrische Auswertungen ein und erreichte nicht nur,
daß man den Sergeant zur Behandlung nach Hause schickte,
sondern drehte die ganze Verhandlung buchstäblich um und
stellte praktisch Delavane vor Gericht. Unter Einsatz derselben
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psychiatrischen Auswertung - hauptsächlich Streß - zog er
Delavanes Eignung als Befehlshaber in Frage. Damit hätte er
beinahe eine eindrucksvolle militärische Laufbahn ruiniert und
das wahrscheinlich auch geschafft, wenn der Colonel nicht
Freunde im Kriegsministerium gehabt hätte. Die haben den
Bericht so nachhaltig versteckt, daß er unter dem Namen eines
anderen Delavane verschwand und erst wieder zum Vorschein
kam, als alle Akten in den sechziger Jahren auf Computer
übernommen wurden.«
»Verdammt!«
»Das ist noch nicht alles«, sagte der Zivilist und schüttelte den
Kopf. »Das erklärt noch nicht den Mord an Anstett. Und damit
wir uns ja nicht falsch verstehen, es war wirklich die Mafia, bis
hin zu dem Mann mit der Kanone.« Stone machte eine Pause
und blätterte um. »Also mußte es irgendwo eine Verbindung
geben, die wahrscheinlich Jahre zurückreichte. Die Boys mit
ihren Computern machten sich wieder ans Werk, und ich
glaube, jetzt haben wir die Verbindung. Raten Sie mal, wer
Colonel Delavanes Chefadjutant bei der First Army war? Nein,
sparen Sie sich die Mühe, Sie würden es doch nicht schaffen.
Das war ein Captain Parelli, Mario Alberto Parelli!«
»Du lieber Gott! Der Senator?«
»Der fünfmalige Senator, dreißig Jahre Angehöriger jener
erhabenen Körperschaft. Mario, der sich am eigenen Zopf in die
Höhe gezogen hat, mit leichter Unterstützung einiger Wohltäter
und ein paar lukrativer Anwaltsaufträge.«
»Mann...«, sagte der Captain leise und ohne besondere
Betonung und lehnte sich im Sessel zurück. »Nicht übel, was?«
»Paßt alles zusammen, und ich kann Ihnen auch ruhig noch
sagen, daß zweiundsechzig, dreiundsechzig, während der
Tage, als alles auf Kuba schielte, Parelli ein häufiger Besucher
im Weißen Haus war, wo die Kennedy-Boys große Stücke auf
ihn hielten.«
»Selbst im Senat. Er ist einer der größten Kanonen auf dem
Hill.«
-5 7 7
»Weil Sie schon so große Augen machen, noch eines. Wir
haben Commander Fitzpatrick gefunden.«
»Was?«
»Wir wissen zumindest, wo er ist«, fuhr Stone fort. »Ob wir ihn
herausholen können oder es auch nur versuchen sollten - das
ist eine andere Frage.«
Valerie stieg am McCarran-Flughafen in Las Vegas in ein Taxi
und nannte dem Fahrer die Adresse eines Res taurants an der
Route 93, die Sam Abbott ihr am Telefon zweimal wiederholt
hatte. Der Fahrer musterte sie im Rückspiegel und runzelte die
Stirn. Val war es gewöhnt, daß Männer sie musterten; sie hatte
aufgehört, sich davon geschmeichelt zu fühlen oder darüber zu
ärgern. Sie langweilten diese Phantasien erwachsener Kinder,
die sich mit den Augen amüsierten.
»Sind Sie sicher, Miß?« fragte der Fahrer.
»Wie bitte?«
»Das ist kein Restaurant - Sie wissen schon, kein richtiges
Restaurant. Das ist ein Schnellimbiß, für Trucker.«
»Dort will ich hin«, sagte Val kühl. Sam hatte ihr gesagt, daß er
in einer der Nischen des Speisesaales auf sie warten würde.
Das tat er auch, ganz hinten im zweiten Gang. Als Valerie auf
ihn zuging, musterte sie den Mann, den sie fast sieben Jahre
nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sich nicht sehr verändert;
sein braunes Haar war an den Schläfen etwas weiß geworden,
aber das kräftige, entspannte Gesicht hatte sich nicht sehr
verändert - die Augen lagen vielleicht ein wenig tiefer, in ihren
Winkeln waren ein paar zusätzliche Falten, und die
Wangenknochen wirkten noch ausgeprägter.
»Val.« Abbott umarmte sie nur kurz, offensichtlich wollte er
keine Aufmerksamkeit auf sie lenken.
»Sie sehen gut aus, Sam«, sagte sie, nahm ihm gegenüber
Platz und stellte ihren Koffer neben sich.
»Und Sie einsame Klasse, aber das gilt in militärischer Kürze
für all das andere, was ich sagen könnte.« Abbott lächelte.
»Komisch, aber ich komme oft hierher, weil mich hier keiner
-5 7 8
beachtet, und deshalb dachte ich, verdammt, das ist der
perfekte Treffpunkt. Ich hätte daran denken müssen - Sie
brauchen bloß in der Tür aufzutauchen, dann fallen schon
sämtlichen Männern die Löffel aus der Hand.«
»Danke. Ich kann etwas Vertrauen gebrauchen.«
»Und ich wahrscheinlich ein kräftiges Alibi. Wenn mich hier
einer erkennt, dann spricht es sich sofort herum, daß der
General fremdgeht.«
»Sind Sie verheiratet, Sam?«
»Seit fünf Jahren. Ziemlich spät, aber mit allem, was
dazugehört. Eine reizende Frau und zwei bezaubernde
Töchter.«
»Das freut mich für Sie. Hoffentlich bekomme ich einmal
Gelegenheit, Ihre Familie kennenzulernen. Diesmal geht mit
Sicherheit nicht.«
Abbott wartete einen Augenblick und sah ihr in die Augen. Sein
Blick wirkte traurig. »Danke, daß Sie es verstehen«, sagte er.
»Da gibt es nichts zu verstehen, oder besser gesagt, sehr viel
zu verstehen. Daß Sie bereit sind, sich nach allem, was
geschehen ist, mit mir zu treffen, ist mehr als wir erwarten
durften. Joel und ich wissen beide, welches Risiko Sie
eingehen, und wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte,
hätten wir Sie nicht in die Sache hineingezogen. Wir kennen
nur niemand anderen, und wenn Sie sich angehört haben, was
ich zu sagen habe, werden Sie verstehen, weshalb wir nicht
länger warten können, weshalb Joel einverstanden war, daß ich
versuche, Sie zu finden . . . Sie waren meine Idee, Sam, aber
Joel hätte bestimmt nicht zugestimmt, wenn er nicht das Gefühl
gehabt hätte, daß er keine andere Wahl hat - nicht im eigenen
Interesse. Er rechnet nicht damit, daß er das überlebt. Das hat
er wörtlich gesagt, und das glaubt er auch.«
Eine Bedienung brachte Kaffee, und Abbott dankte. »Wir
bestellen erst später«, sagte er und starrte dabei Valerie an.
»Sie werden auf mein Urteil vertrauen müssen, das verstehen
Sie doch?«
-5 7 9
»Ja. Weil ich Ihnen vertraue.«
»Als ich Sie nicht erreichen konnte, habe ich ein paar Leute
angerufen, mit denen ich vor ein paar Jahren in Washington
zusammengearbeitet habe. Das sind Männer, die sich auf diese
Dinge verstehen, und die, lange bevor die meisten von uns die
Fragen kennen, schon die Antworten wissen.«
»Genau an die Leute sollten Sie herantreten, meint Joel!«
unterbrach Val ihn. »Sie haben ihn damals gesehen; eine Nacht
in seinem Hotel verbracht. Erinnern Sie sich? Er sagte, Sie
hätten beide zuviel getrunken.«
»Das haben wir«, nickte Sam. »Und zuviel geredet.«
»Sie haben damals fremde Flugzeuge bewertet, gemeinsam
mit Spezialisten von verschiedenen Abwehreinheiten.«
»Stimmt.«
»Das sind die Leute, zu denen er Verbindung braucht! Er muß
sie sprechen, muß ihnen alles erklären, was er weiß! Ich greife
meinem Bericht an Sie jetzt vor, Sam, aber Joel ist der Ansicht,
daß man diese Leute von Anfang an hätte einschalten sollen
an dem Punkt, den er als Anfang bezeichnet. Er hat
verstanden, weshalb man ihn ausgewählt hat, und - ob Sie es
glauben oder nicht - er findet diese Entscheidung auch heute
noch ganz richtig! Aber diese Leute hätten eingeschaltet
werden müssen!«
»Sie greifen wirklich vor.«
»Ich komme gleich auf alles zu sprechen.«
»Lassen Sie mich noch ausreden. Ich habe mit diesen Leuten
gesprochen, ihnen gesagt, daß ich das nicht glaubte, was man
liest und hört. Das war einfach nicht der Converse, den ich
kannte - und die haben alle gesagt, ich solle die Finger von der
Sache lassen, es sei hoffnungslos, und ich könnte auf diese
Weise selbst etwas abbekommen. Das sei wirklich nicht der
Converse, den ich kannte, sagten sie. Er hätte einen Knacks
abbekommen - psychisch -, er sei einfach ein anderer Mensch
geworden, es gäbe dafür zu viel Beweismaterial.«
-5 8 0
»Aber meinen Anruf haben Sie angenommen. Warum?« »Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste liegt auf der Hand - ich habe Joel gekannt. Wir haben miteinander eine ganze Menge erlebt, und all das gibt für mich einfach keinen Sinn, vielleicht will ich ihn auch nicht sehen. Der zweite Grund ist weniger subjektiv. Ich weiß einfach, wann ich mit einer Lüge zu tun habe, und angelogen hat man mich, genau wie man die Leute angelogen hat, die die Lüge ausgesprochen haben.« Abbott nippte an seinem Kaffee, als wollte er sich selbst auffordern, deutlicher zu werden. »Ich habe mit drei Männern gesprochen, die ich kenne - Männern, zu denen ich Vertrauen habe. Jeder einzelne hat bei seinen Gewährsleuten nachgefragt. Dann haben sie mir alle im wesentlichen dasselbe gesagt, nur mit verschiedenen Worten, von verschiedenen Standpunkten aus, - so läuft das bei solchen Leuten. Aber in einem Punkt gab es nicht den geringsten Unterschied - in keiner Silbe - und das war die Lüge. Das Wort war Rauschgift.« »Das ist doch verrückt! Das ist Wahnsinn.« rief Valerie, und Abbott griff nach ihrer Hand und brachte sie zum Schweigen. »Tut mir leid, aber das ist eine so schreckliche Lüge«, flüsterte sie. »Sie wissen nicht...« »Doch, Val, ich weiß schon. Man hat Joel im Lager fünf- oder sechsmal Substanzen gespritzt, die man aus Hanoi geschickt hatte, und keiner hat heftiger dagegen angekämpft oder das mehr gehaßt als er. Wenn ich später, nach einer unserer langen Nächte, mit Aspirin oder Alka-Seltzer angekommen bin, hat er das Zeug nie angefaßt.« »Jedesmal, wenn er sich impfen lassen mußte, hat er vier Martinis getrunken, bevor er zum Arzt ging«, sagte Valerie. »Du lieber Gott, wer kann denn ein Interesse daran haben, so etwas zu verbreiten?« »Als ich versuchte, das herauszufinden, hat man mir gesagt, daß selbst ich das nicht wissen dürfe.«
Jetzt starrte die ehemalige Mrs. Converse den General erstaunt
an. »Sie müssen es herausfinden, Sam, das wissen Sie doch,
oder?«
-5 8 1
»Sagen Sie mir, warum, Val. Stellen Sie für mich den
Zusammenhang her.«
»Es hat in Genf angefangen, und für Joel war der Name, der
alles ausgelöst hat - alles - George Marcus Delavane.«
Abbott schloß die Augen, preßte sie förmlich zu. Sein Gesicht
wirkte plötzlich um Jahre gealtert.
Der Mann schrie verzweifelt auf, als er aus dem Rollstuhl kippte
und zu Boden fiel. Die beiden Beinstümpfe schlugen wie wild,
aber ohne Halt zu finden, hin und her, und seine kräftigen Arme
stemmten seinen Oberkörper vom Teppich hoch.
»Adjutant! Adjutant!« brüllte General George Marcus Delavane,
während das Telefon auf dem Schreibtisch unter der seltsamen
Landkarte unablässig klingelte.
Ein großer, muskulöser Mann in mittleren Jahren, der Uniform
trug, kam hereingerannt und eilte zu seinem Vorgesetzten.
»Lassen Sie sich von mir helfen, Sir«, sagte er erregt und zog
den Rollstuhl zu sich heran.
»Nicht ich!« schrie Delavane. »Das Telefon! Nehmen Sie ab!
Sagen Sie, ich komme gleich!« Der alte Soldat begann auf den
Schreibtisch zuzukriechen.
»Einen Augenblick bitte«, sagte der Adjutant in die
Sprechmuschel. »Der General kommt sofort.« Der Lieutenant-
Colonel legte den Hörer des roten Telefons auf den
Schreibtisch und lief zuerst zu dem Rollstuhl und dann zu
Delavane. »Bitte, Sir, lassen Sie mich helfen.«
Mit verzerrtem Gesicht ließ sich der Krüppel in den Rollstuhl
heben. Er schob sich vor. »Geben Sie mir das Telefon!« befahl
er. Er bekam es. »Palo Alto International. Wie lautet der heutige
Code?«
»Charing Cross«, kam die Antwort in britischem Akzent.
»Was ist, England?«
»Funkmeldung aus Osnabrück. Wir haben ihn.«
»Sofort töten!«
-5 8 2
Chaim Abrahms saß in seiner Küche, trommelte mit den
Fingern auf die Tischplatte und versuchte, den Blick vom
Telefon und der Uhr an der Wand loszureißen. Noch immer
keine Nachricht aus New York. Die Anweisungen waren klar
und eindeutig gewesen; die Anrufe sollten alle sechs Stunden
innerhalb einer Frist von dreißig Minuten erfolgen, und zwar seit
vierundzwanzig Stunden, der geschätzten Ankunftszeit der
Maschine aus Amsterdam. Vierundzwanzig Stunden, und
immer noch nichts! Das erstemal hatte es ihn nicht beunruhigt.
Transatlantische Flüge kamen selten pünktlich an. Das
zweitemal hatte er sich zurechtgelegt, daß die Frau vielleicht
mit einer anderen Maschine oder mit einem Wagen
weitergereist war, die Überwacher es daher schwer gehabt
hatten, ein Überseegespräch nach Israel zu führen. Aber als
dann auch beim drittenmal nichts kam, war das schon
beunruhigend gewesen, und dieses viertemal war unerträglich!
Die dreißig Minuten waren fast um; nur noch sechs Minuten.
Wann, in Gottes Namen, würde es klingeln?
Es klingelte. Abrahms sprang auf und nahm ab.
»Ja?«
»Wir haben sie verloren«, kam die Meldung.
»Sie haben was?«
»Sie hat ein Taxi zum La-Guardia-Flughafen genommen und
dort ein Ticket für eine Frühmaschine nach Boston gekauft.
Dann fuhr sie in ein Motel, muß es aber wenige Minuten später
wieder verlassen haben.«
»Und wo waren unsere Leute?«
»Einer parkte draußen in einem Wagen, der andere hatte sich
ein Zimmer auf demselben Korridor genommen. Es gab keinen
Anlaß zu der Annahme, daß sie wieder weggehen würde. Sie
hatte ein Ticket nach Boston.«
»Idioten! Stümper!«
-5 8 3
»Man wird sie zur Rechenschaft ziehen... unsere Männer in
Boston haben jeden Flug und jede Bahnverbindung überprüft.
Sie ist nicht aufgetaucht.«
»Was veranlaßt Sie denn zu glauben, daß sie je erscheinen
wird?«
»Das Ticket. Sonst nichts.«
»Schwachköpfe!«
Valerie hatte geendet. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie sah
Sam Abbott an, der ihr jetzt viel älter erschien als noch vor
einer Stunde.
»Da sind jetzt so viele Fragen«, sagte der General, »so viel,
was ich Joel fragen möchte. Das Scheußliche ist, daß ich nicht
dazu qualifiziert bin; aber ich kenne jemanden, der es ist. Ich
werde heute abend mit ihm sprechen, und dann fliegen wir
morgen alle drei nach Washington. Ich habe wie heute morgen
Geschwaderübung, aber bis zehn bin ich fertig. Ich werde mir
den Rest des Tages freinehmen - eines der Kinder ist krank,
aber nichts Ernstes. Alan wird wissen, zu wem wir gehen
sollen, wem wir vertrauen können.«
»Können Sie ihm vertrauen?«
»Metcalf? Mein Leben würde ich ihm anvertrauen.«
»Joel sagte, Sie sollten vorsichtig sein. Er warnt Sie. Die
können überall sein - auch dort, wo man sie am allerwenigsten
vermutet.«
»Aber irgendwo muß es doch eine Liste geben. Irgendwo.«
»Delavane? San Francisco?«
»Wahrscheinlich nicht. Das ist zu einfach, zu gefährlich. Dort
würde jeder am ehesten nachsehen; und das zieht er ganz
bestimmt in Betracht... dieser Count-down? Joel meint, daß das
mit Unruhen in Verbindung steht, die in verschiedenen Städten
ausbrechen sollen!«
»In riesigem Ausmaß, heftiger und massiver als alles, was wir
uns vorstellen können. Völlige Destabilisierung, und das Ganze
soll sich von einem Ort zum anderen ausbreiten, von denselben
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Leuten angefacht und geschürt, die man anschließend rufen
wird, um wieder Ordnung herzustellen.«
Abbott schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht logisch. Es ist zu
kompliziert, und es gibt so viele eingebaute Kontrollen. Polizei,
Truppen der Nationalgarde; die unterstehen verschiedenen
Kommandos. Die Kette würde irgendwo reißen.«
»Das ist es jedenfalls, was Joel glaubt. Er sagt, er könne sich
nichts anderes vorstellen, und die wären dazu imstande. Er ist
überzeugt, daß sie überall Waffenlager haben und gepanzerte
Fahrzeuge und möglicherweise sogar Flugzeuge auf
abgelegenen Flugplätzen.«
»Val, das ist verrückt - Entschuldigung, das war das falsche
Wort. Die Logistik des Ganzen ist einfach zu überwältigend.«
»Newark, Watts, Miami. Das war auch überwältigend.«
»Das war etwas anderes. Damals ging es im wesentlichen um
Rassenfragen und Wirtschaftsprobleme.«
»Die Städte brannten, Sam. Leute sind getötet worden, und
dann kam die Ordnung mit Gewehren. Nehmen Sie einmal an,
daß da mehr Gewehre wären, als wir beide zählen könnten?
Auf beiden Seiten. So wie das, was gerade in Nordirland
abläuft.«
»Irland? Das Massaker in Belfast? Das ist ein Krieg, den keiner
aufhalten kann.«
»Das ist ihr Krieg! Sie haben das getan! Joel hat es einen Test
genannt, einen Probelauf!«
»Das ist verrückt«, sagte der Soldat.
Valerie nahm sich ein Zimmer im MGM-Grand-Hotel und gab
dem verwirrten Angestellten am Empfang eine Vorauszahlung
für drei Tage, anstatt ihm ihre Kreditkarte vorzulegen. Mit dem
Schlüssel in der Hand fuhr sie mit dem Aufzug in den achten
Stock und sah sich einem etwas vulgären Luxus gegenüber,
wie man ihn nur in Las Vegas findet. Sie stand kurz auf dem
Balkon ihres Zimmers und blickte auf die untergehende
orangerote Sonne und dachte darüber nach, wie verrückt doch
-5 8 5
alles war. Sie würde Joel gleich am nächsten Morgen anrufen in Osnabrück würde es dann etwa Mittag sein. Sie bestellte sich ein Essen aufs Zimmer, sah etwa eine Stunde lang fern und legte sich schließlich ins Bett. Sie hatte sich in Sam Abbott nicht getäuscht. Der liebe Sam, der geradlinige Sam, direkt und unkompliziert. Wenn jemand wußte, was zu tun war, dann würde Sam das sein, und wenn er es nicht wußte, würde er es in Erfahrung bringen. Zum erstenmal seit Tagen empfand Val so etwas wie Erleichterung. Der Schlaf stellte sich ein, und diesmal gab es keine schrecklichen Träume. Sie erwachte, als die frühe Morgensonne die fernen Berge vor ihrem Balkonfenster in feurigen Glanz hüllte. Ein paar Augenblicke lang, während sie aus den Tiefen des Schlafes emportauchte, glaubte sie, sie sei wieder in Cap Ann, und die Sonne fiele vom Balkon in ihr Schlafzimmer, ein ferner Alptraum, an den sie sich undeutlich erinnerte. Dann sah sie die kräftig gemusterten, geblümten Vorhänge und Berge und roch den etwas abgestandenen Geruch von dicken Hotelteppichen und wußte, daß der Alptraum noch nicht aufgehört hatte. Sie stieg aus dem übergroßen Bett und ging zum Badezimmer. Unterwegs hielt sie am Fernsehapparat an, um die Nachrichten einzuschalten. Sie erreichte die Tür, blieb plötzlich stehen, krallte sich am Türrahmen fest und hatte das Gefühl, der Kopf müßte ihr zerspringen. Sie konnte nur schreien. Und wieder und wieder schreien, während ihr der Boden entgegengerast kam. Peter Stone drehte das Radio in seinem New Yorker Apartment lauter und ging dann schnell zu dem Tisch, auf dem ein offenes Telefonbuch lag, eines mit blauen Seiten, das man in »Mrs. DePinnas« Zimmer im St.-Regis-Hotel gefunden hatte. Stone hörte sich die Nachrichten an, während er die Seiten mit Regierungsstellen überflog.. ».. .Inzwischen ist die erste Meldung bestätigt worden, daß ein F-18-Düsenjäger vom Nellis-Air-Force-Stützpunkt in Nevada abgestürzt ist. Das Unglück ereignete sich heute morgen um -5 8 6
sieben Uhr zweiundvierzig Pazifikzeit, während eines Manövers
über der Wüste. Der Pilot, Brigadegeneral Samuel Abbott, war
der Chef der taktischen Einsatzgeschwader und galt als einer
der besten Piloten der Air Force und als hervorragender
Taktiker. Der Presseoffizier in Nellis hat erklärt, daß eine
ausführliche Untersuchung eingeleitet werden wird, und er
erklärte weiter, daß nach Aussagen der anderen Piloten das
Führungsflugzeug des Geschwaders, das von General Abbott
geflogen wurde, nach einem Manöver in relativ niedriger Höhe
abgestürzt sei. Die Explosion war auch noch in Las Vegas zu
hören. Die Aussage des Presseoffiziers klang sehr erregt, als er
sich zu dem verunglückten Piloten äußerte. >Der Tod General
Abbotts ist ein tragischer Verlust für die Air Force und die ganze
Nation<, sagte er zu Reportern. Vor einigen Minuten hat der
Präsident...«
»Das ist es«, sagte Stone und wandte sich zu dem Army-
Captain, der mit ihm im Zimmer war. »Das war ihr Ziel...
Schalten Sie das verdammte Ding ab, ja? Ich habe Abbott
gekannt; ich habe vor ein paar Jahren in Langley mit ihm
zusammengearbeitet.«
Der Army-Offizier starrte den Zivilisten an, während er das
Radiogerät ausschaltete. »Wissen Sie, was Sie da sagen?«
fragte er.
»Hier ist es«, erwiderte Stone mit ausgestreckter rechter Hand,
deren Zeigefinger auf die linke untere Ecke einer Seite in dem
dicken Telefonbuch deutete. »Blau dreizehn, drei Seiten vor
dem Ende des Buches. >Regierungsbüros<. >Air Force
Department -<«
»Dort sind auch Dutzende anderer Eintragungen, darunter auch
Ihre ehemalige Dienststelle. >Central Intelligence - Außenbüro
New York<. Warum nicht das? Die? Das paßt besser.«
»Den Weg kann er nicht einschlagen, und das weiß er.«
»Das hat er ja auch nicht«, verbesserte ihn der Captain. »Er hat
sie geschickt.«
»Und das paßt nicht - paßt nicht zu allem anderen, was wir
über ihn wissen. Nach Virginia hätte er sie schicken müssen,
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und dort wäre alles erledigt worden. Nein, sie ist hierher zurückgekommen, um eine ganz bestimmte Person zu finden, nicht eine gesichtslose Abteilung oder ein Büro. Eine Person, die sie beide kannten und der sie vertrauten... Sie hat ihn gefunden, hat ihm alles gesagt, was Converse ihr gesagt hat, und er hat mit anderen gesprochen - mit den falschen. Verdammt.« »Wie können Sie das so sicher wissen?« drängte der Mann von der Army. »Herrgott! Was wollen Sie eigentlich? Eine Skizze? Sam Abbott ist über der Küste des Golfs von Tonkin abgeschossen worden. Er war Kriegsgefangener in Vietnam, und ebenso Converse. Ich kann mir gut vorstellen, wenn wir das durch die Computer jagen würden, dann würden wir herausfinden, daß sie einander kannten. Ich bin so sicher, daß ich darauf verzichte. Scheiße!« »Wissen Sie«, sagte der Army-Offizier, »ich habe noch nie gesehen, daß Ihnen das Temperament durchgeht. Auch kalte Typen können einmal in Hitze geraten, nicht wahr, Stone? Ich glaube Ihnen.« Der ehemalige Abwehroffizier sah den Captain scharf an, und als er dann sprach, war seine Stimme ausdruckslos - und kalt. »Abbott war ein guter Mann - für jemanden in Uniform sogar ein außergewöhnlicher Mann -, aber, damit Sie mich ja nicht falsch verstehen, Captain: Er ist ermordet worden - das war Mord, weil das, was diese Frau ihm gesagt hat, so eindeutig war.« »Eindeutig?« »Zerbrechen Sie sich den Kopf darüber... Ich bin zornig über Sams Tod. Ja, da haben Sie verdammt recht. Aber noch viel zorniger bin ich darüber, daß wir die Frau nicht haben. Unter anderem deshalb, weil sie, wenn sie mit uns zusammenarbeitet, eine Chance hat, und ohne uns kaum eine. Und ich will sie nicht auch noch auf dem Gewissen haben dem kleinen Rest davon, den ich noch habe. Außerdem müssen wir sie finden, um Converse herauszuholen. Einen anderen Weg gibt es nicht.«
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»Aber wenn Sie recht haben, dann ist sie irgendwo in der Nähe von Nellis, wahrscheinlich in Las Vegas.« »Ohne Zweifel in Las Vegas. Und bis wir jemanden erreicht haben, der sich dort umsehen könnte, ist sie garantiert schon wieder unterwegs... Wissen Sie, ich möchte im Augenblick wirklich nicht in ihrer Haut stecken. Der einzige Weg, der ihr noch offenstand, ist jetzt neutralisiert. An wen kann sie sich wenden, wo kann sie hingehen? Es ist das, was Dowling gestern über Converse gesagt hat, das, was er Peregrines Sekretärin nicht gesagt hat. Unser Mann ist systematisch isoliert worden und hatte größere Angst vor dem Personal von US-Botschaften als sonst jemand. Er hätte sich nie zu einem Zusammentreffen mit Peregrine bereit erklärt, weil er wußte, daß das eine Falle sein würde. Und deshalb kann er ihn unmöglich getötet haben. Man hatte ihn aufgebaut, und wo er auch hinsah, war eine Falle, damit er dauernd in Trab blieb und sich versteckt halten mußte.« Der Zivilist machte eine Pause und fuhr dann mit fester Stimme fort. »Die Frau ist erledigt, Captain. Sie ist am Ende einer schlechten Straße - ihrer Straße. Und das ist möglicherweise noch das beste für uns. Wenn sie in Panik gerät, könnten wir sie finden. Aber wir werden ein paar Risiken eingehen müssen. Wie steht's? Haben Sie Ihr Testament gemacht?« Valerie weinte, still an die Glastür gelehnt, von der aus sie auf den grellen, neonübersäten Strip von Las Vegas hinunterblicken konnte. Ihre Tränen galten nicht nur Sam Abbott und seiner Frau und seinen Kindern, sondern auch ihr selbst und Joel. Sie hatte keine Vorstellung mehr, was sie noch tun konnte. Gleichgültig, zu wem sie auch ging, die Antwort würde immer dieselbe sein. Sagen Sie ihm, er soll sein Versteck verlassen und zu uns kommen, dann hören wir ihn an. Und in dem Augenblick, in dem er das tat, würde Joel tot sein und damit seine eigene Prophezeiung erfüllen. Das Telefon klingelte und paralysierte sie einen Augenblick lang. Sie starrte es an, erschrocken, und zwang sich doch, jetzt nicht die Beherrschung zu verlieren. Sam Abbott war tot, und -5 8 9
nur er hatte gesagt, daß er anrufen würde - nur er. Mein Gott,
dachte Val, sie haben mich gefunden. Genauso wie sie sie in
New York gefunden hatten. Aber sie würde den Fehler, den sie
in New York gemacht hatte, nicht wiederholen. Sie mußte ganz
ruhig bleiben und denken - besser und richtiger denken als die
anderen. Das Klingeln hörte auf, und sie trat an das Telefon,
nahm den Hörer ab und drückte den Knopf mit der Null.
»Vermittlung, hier ist Zimmer Acht-vierzehn. Bitte schicken Sie
sofort die Sicherheitspolizei. Es ist sehr dringend.«
Sie mußte schnell handeln, mußte bereit sein, das Zimmer in
dem Augenblick zu verlassen, in dem die Leute von der
Sicherheit kamen. Sie mußte hinaus, mußte ein Telefon finden,
das... sauber war. Sie mußte Joel in Osnabrück erreichen.
Colonel Alan Metcalf, Abwehrchef des Air-Force-Stützpunkts
Nellis, verließ die Telefonzelle und sah sich in dem Shopping-
Center um, die Hand in der Tasche seines Sportjacketts am
Kolben des kleinen Revolvers. Er sah auf die Uhr; seine Frau
und die drei Kinder würden bald in Los Angeles sein und am
späten Nachmittag in Cleveland eintreffen. Sie würden alle vier
bei ihren Eltern bleiben, bis er ihnen sagte, daß sie abreisen
sollten. So war es besser - da er keine Ahnung hatte, wie
dieses »es« aussehen würde.
Er wußte nur, daß Sam Abbott dieses Überschallmanöver
schon tausendmal geflogen war. Abbott kannte jede Schraube
an seinem Flugzeug und flog nie einen Düsenjäger, der nicht
elektronisch überprüft worden war. Diesen Absturz auf einen
Fehler des Piloten zu schieben, war lächerlich; nein, jemand
hatte jenen Piloten belegen, hier lag Sabotage vor. Sam war
getötet worden, weil sein Freund Metcalf einen schrecklichen
Fehler gemacht hatte. Nachdem er fast fünf Stunden mit Abbott
gesprochen hatte, hatte Metcalf einen Mann in Washington
angerufen und ihn gebeten, für den folgenden Nachmittag eine
Konferenz vorzubereiten, an der je zwei Mitglieder des
Nationalen Sicherheitsrates, der Marineabwehr und von G-Zwo
teilnehmen sollten. Vorgegebener Grund: Brigadegeneral
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Samuel Abbott verfügte über sachdienliche Informationen über den flüchtigen Joel Converse. Und wenn sie den Mann, der diese Information besaß, so schnell, so effizient töten konnten, so waren sie ebensogut imstande, auch den Boten, den Abwehroffizier, der ihn nach Washington bringen sollte, aus dem Weg zu räumen. Es war besser, wenn Doris und die Kinder in Cleveland waren. Er hatte eine ganze Menge zu tun und eine schreckliche Schuld zurückzuzahlen. Valerie Converse! O Gott, warum hatte sie es getan, warum war sie so schnell geflohen? Er hatte natürlich damit gerechnet, hatte aber dennoch gehofft, daß es ihm gelingen würde, sie noch rechtzeitig zu erreichen. Aber zuerst kamen Doris und die Kinder und die Tickets für das Flugzeug und der Anruf bei ihren Eltern; sie mußten hier weg. Er konnte der Nächste sein. Dann die rasende Fahrt zum Flugplatz, den Revolver neben sich im Wagen, die Durchsuchung von Sams Büro - als Abwehroffizier von Nellis eine besonders widerwärtige Pflicht, aber in diesem Fall wichtig - und das Verhör von Abbotts verwirrter Sekretärin. Ein Name war dabei zum Vorschein gekommen: Parquette. »Ich werd' sie holen«, hatte Sam letzte Nacht gesagt. »Sie ist im Grand abgestiegen, und ich habe ihr lediglich versprochen, daß ich sie anrufen werde. Sie ist ganz cool, aber das in New York war verdammt knapp. Sie will eine Stimme hören, die sie kennt, und ich kann ihr das nicht verübeln.« Cool Lady, dachte Alan Metcalf, als er in seinen Wagen stieg, Sie haben den größten Fehler in Ihrem kurz gewordenen Leben gemacht. Mit mir hatten Sie eine Chance zu überleben vielleicht -, aber jetzt, wie man hier in Nevada sagt, stehen die Chancen mächtig gegen Sie. Trotzdem würde sie auf seinem Gewissen lasten, überlegte der Abwehroffizier, während er auf die Abzweigung zur Route 15 und weiter nach Süden raste. Gewissen. Er fragte sich, ob diese stummen Bastarde in Washington Joel Converse auf ihrem kollektiven Gewissen hatten. Sie hatten einen Mann ausgeschickt und ihn fallenlassen, hatten nicht einmal so viel Anstand gehabt, -5 9 1
sicherzustellen, daß man ihn schnell und barmherzig tötete. Die Programmierer der Kamikazepiloten waren im Vergleich zu solchen Leuten Heilige. Converse. Wo war er?
33 Joel stand schweigend da, während Leifhelms Mann ihm die Waffe wegnahm und sich an die versammelten alten Frauen in den hochlehnigen Sesseln wandte. Er sprach nicht ganz eine Minute, packte dann Converse am Arm - seine und auch ihre Trophäe - und zwang Joel, Hermione Geyner ins Gesicht zu sehen, deren Gefangener er in Wahrheit gewesen war. Es war ein mystisches Ritual des Triumphs aus einer fernen Vergangenheit. »Ich habe diesen tapferen Frauen aus der Untergrundbewegung gerade gesagt«, erklärte der Deutsche und sah Joel dabei an, »daß sie einen Verräter an unserer Sache entlarvt haben. Frau Geyner wird das bestätigen, ja, meine Dame?« »Ja!« stieß die alte Frau heraus und ihr Gesicht flammte im Glanz ihres Sieges. »Verrat!« schrie sie. »Die Telefongespräche sind geführt, und wir haben unsere Instruktionen«, fuhr Leifhelms Soldat fort. »Wir werden jetzt hier weggehen, Amerikaner. Sie können nichts tun, also lassen Sie uns leise weggehen.« »Wenn Sie diese ganze Sache so gut organisiert hatten, warum dann die zwei Männer im Zug, darunter dieser hier?« fragte Joel und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann mit dem Arm in der Schlinge. Er versuchte instinktiv, Zeit zu gewinnen - ein Anwalt, der es dem Gegner ermöglichte, sich selbst zu loben. »Observiert, nichts organisiert«, antwortete der Deutsche. »Wir mußten sichergehen, daß Sie alles taten, was man von Ihnen
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erwartete. Alle hier schließen sich dieser Meinung an, stimmt
das, Frau Geyner?«
»Ja!« rief Valeries Tante.
»Der andere ist tot«, sagte Joel.
»Er ist für unsere Sache gefallen, und wir werden ihn betrauern.
Kommen Sie jetzt!« Der Deutsche verbeugte sich vor den
Frauen, ebenso wie seine beiden Begleiter, und führte Joel
dann zur Tür. Draußen gab Leifhelms Soldat dem Mann mit der
Schlinge den dicken Umschlag und erteilte einige Befehle. Die
beiden anderen nickten eifrig und gingen schnell die Treppe
hinunter, wobei sich der Verwundete am Geländer stützte.
Unten angekommen, eilten sie nach rechts, wo Joel in der
Nähe des Ausgangs die Silhouette eines langen, schweren
Wagens erkennen konnte.
Die drei Gefangenenwärter führten ihn hinaus. Es war mitten in
der Nacht, und er wurde jetzt entweder in ein anderes Lager
verlegt, oder man würde ihn zur Hinrichtung führen, zu einem
Erschießungsplatz, irgendwo im dichten Dschungel, wo man
seine Schreie nicht hören würde. Der Anführer gab einen
Befehl, worauf sich seine beiden Untergebenen verbeugten und
zu dem erbeuteten amerikanischen Jeep rannten, der ein paar
hundert Meter entfernt in der Dunkelheit stand. Er war mit dem
Mann allein, und Converse wußte, daß eine solche Gelegenheit
nicht wiederkommen würde. Wenn er etwas unternehmen
wollte, mußte es jetzt geschehen. Er bewegte leicht den Kopf
und ließ den Blick auf den dunklen Umriß der Pistole sinken,
die der Wärter in der Hand hielt...
Die Hand des Deutschen war unbewegt, die Waffe auf Joels
Brust gerichtet. Im Inneren des alten Hauses hatten die alten
Frauen zu singen begonnen, mit brüchigen Stimmen, die
allmählich lauter wurden, irgendeine pathetische Siegeshymne,
die durch die offenen Fenster ins Freie hallte. Converse tastete
mit dem rechten Fuß über die Dielenbretter der Veranda, fand
eines, das schwächer war als die anderen. Er verlegte sein
ganzes Gewicht darauf; laut ertönte ein ächzendes Geräusch.
Der Deutsche fuhr erschrocken herum.
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Jetzt. Joel packte die Waffe am Lauf, drehte Hand und Stahl herum, schmetterte den Mann gegen die Mauer, packte die Waffe mit ganzer Kraft, drehte noch einmal, trieb sie dem Mann in den Leib. Die Explosion des Schusses wurde vom Jackett des Deutschen und von seinem Körper so gedämpft, daß ein gerade anspringender Motor und die Stimmen der alten Frauen das Geräusch übertönten. Der Deutsche brach zusammen, sein Kopf fiel zur Seite, die Augen traten hervor, und ein Gestank von verbranntem Stoff und Eingeweiden breitete sich aus. Der Feind war tot. Converse duckte sich, wandte sich um und blickte zur Einfahrt. Er rechnete damit, die beiden anderen Männer mit gehobenen Waffen auf sich zulaufen zu sehen. Aber er sah nur die Scheinwerfer des Wagens, der von der Landstraße in die Zufahrt des alten Hauses einbog. In wenigen Augenblicken würde er hier sein. Er entwand dem Deutschen die Waffe, zerrte die Leiche über die Dielenbretter in den Schatten rechts von der Treppe. Sekunden noch. Du mußt dir den Jeep verschaffen. Den Jeep. Der nächste Checkpoint war fünf Meilen weiter unten an der Straße - sie hatten ihn gesehen, wenn sie draußen arbeiteten. Du mußt dir den Jeep verschaffen! Schnell jetzt! Den Jeep! Der schwere Wagen hielt vor der Veranda, und der Mann mit dem Arm in der Schlinge stieg auf der rechten Seite aus. Converse beobachtete ihn verborgen hinter einer dicken Ecksäule, wie er ins Dunkel spähte. »König?« rief der Deutsche leise. »König, wo sind Sie?« Er ging die Treppe hinauf, und seine linke Hand griff unsicher tastend in die Jackentasche. Joel sprang hinter der Säule hervor, lief die alte Treppe zur Auffahrt hinunter und packte den Verwundeten an der Armschlinge. Dann trieb er ihm die Pistole in den Hals, drehte ihn herum und schmetterte seinen Schädel gegen das Wagendach. Sofort kauerte er sich nieder und stieß die Waffe durch das offene vordere Seitenfenster des Wagens. -5 9 4
Der erstaunte Fahrer war schneller als der Verwundete, riß eine Pistole aus einem unsichtbaren Halfter und feuerte blindlings um sich, wobei die Windschutzscheibe zertrümmert wurde. Converse schoß zurück und traf den Mann am Kopf. Ein Stück der Schädeldecke flog durch das offene Fenster. Du mußt die Leichen in den Dschungel bringen! Du darfst sie nicht hier beim Lager lassen! Jede Sekunde zählt jetzt, jede Minute! Joel sprang auf und zerrte den verwundeten Deutschen hoch, während er die vordere Wagentür aufriß. »Sie werden mir jetzt helfen, Sie guter Christ!« flüsterte er und erinnerte sich an das jammernde Flehen des Killers in einem Packwagen. »Sie tun jetzt, was ich Ihnen sage, sonst schicke ich Sie zu Ihren Freunden. Dieser lausige Hurensohn auf der Veranda! Holen Sie ihn her! Hinten hinein!« Vielleicht eine Minute später saß der Verwundete hinter dem Steuer des Wagens und fuhr unter einigen Schwierigkeiten los. Die beiden Leichen lagen auf dem Rücksitz, ein Bild des Schreckens, und Converse glaubte sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Aber dann blickte er starr aus dem Fenster hinaus und instruierte den Fahrer, wie er fahren sollte. Schließlich erreichten sie einen flachen Wiesengrund vor einer kleinen Bodenerhebung, und Converse befahl dem Deutschen, die Straße zu verlassen. Sie holperten ein paar hundert Meter über das unebene Terrain, bis der Boden schließlich abfiel und man auf ein kleines Wäldchen in einiger Entfernung sehen konnte. Joel befahl dem Fahrer auszusteigen. Dem letzten Wächter hatte er eine Chance gegeben. Er war noch ein Junge in einer schlecht sitzenden Uniform, mit ernsten Augen und einem Gesicht, das eine einzige Frage war. Wieviel von dem, was er tat, erwuchs aus eigenen Empfindungen, wieviel hatte man ihm eingetrichtert? Er hatte dem Jungen dem Kind - eine einfache Prüfung abgenommen - und ein Gläubiger hatte die Prüfung nicht bestanden. »Hören Sie mir zu«, sagte Joel. »In dem Zug haben Sie mir gesagt, daß Sie nur bezahlt wären - das deutsche Wort habe -5 9 5
ich nicht verstanden -, aber daß Sie niemanden töten wollen.
Stimmt das?«
»Ja, mein Herr! Ich niemanden töten! Ich habe nur beobachtet,
bin Ihnen gefolgt!«
»Also gut. Ich stecke jetzt die Waffe weg und werde weggehen.
Sie gehen, wohin Sie wollen, okay?«
»Ich versteht Ja, natürlich!«
Joel schob sich die Waffe in den Gürtel und drehte sich um,
ohne dabei den Kolben loszulassen. Dann stieg er den Abhang
hinab. Ein Scharren! Das Geräusch von rollenden Steinen! Er
fuhr herum und ließ sich auf die Knie fallen, der Deutsche warf
sich auf ihn.
Er feuerte einmal. Der Soldat stieß einen Schrei aus, knickte in
der Hüfte zusammen und rollte den Abhang hinunter, wo er
stumm liegenblieb. Ein Gläubiger hatte das Examen nicht
bestanden.
Joel ging den Abhang wieder hinauf. Er holte seinen an Nathan
Simon adressierten Umschlag aus dem Wagen und ging zur
Straße zurück. Er hatte sich das Terrain genau eingeprägt. Er
war wieder der Pilot, dem kein Fehler unterlief. Er wußte, was
er zu tun hatte.
Er hatte sich in den Büschen vor Hermione Geyners
Grundstück versteckt, dreißig Meter vor dem alten Haus,
zwanzig von der Auffahrt entfernt, deren Ränder von der Hitze
ausgedörrtes Unkraut überwuchert hatte. Er mußte
wachbleiben, denn wenn es passieren würde, dann bald. Die
menschliche Natur konnte nur ein bestimmtes Maß an Angst
ertragen, darauf hatte er sich als Anwalt nur zu oft verlassen.
Männer, die Angst hatten, brauchten Sicherheit. Die Sonne war
aufgegangen, und die Vögel zwischerten im Morgenlicht,
Myriaden von Geräuschen hatten das nächtliche Schweigen
abgelöst. Aber das Haus war noch stumm, die breiten Fenster,
durch die erst vor Stunden die Stimmen der verrückten alten
Frauen ins Freie gedrungen waren, blieben verschlossen. Und
er trug immer noch seinen Priesterkragen, besaß immer noch
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seinen Priesterausweis und den Pilgerbrief. Die nächsten paar Stunden würden ihm sagen, was sie noch wert waren. Zuerst war das Dröhnen eines Motors zu hören, dann bog ein schwarzer Mercedes von der Landstraße in die Auffahrt. Er schoß auf die Veranda zu und wurde dann scharf abgebremst. Zwei Männer stiegen aus. Der Fahrer lief sofort um das Wagenheck und stellte sich neben seinen Beifahrer. Einen Augenblick blieben sie stehen und musterten das Haus und seine zersprungenen Fenster. Dann drehten sie sich um, suchten das Terrain ab, gingen zu Hermione Geyners Wagen und spähten hinein. Der Fahrer nickte, griff unter sein Jackett und zog eine Pistole heraus. Sie gingen zu den Stufen zurück, sprangen sie hinauf, überquerten die Veranda und suchten eine Glocke. Aber sie fanden keine. Der unbewaffnete Mann klopfte erst, schließlich hämmerte er mit der Faust gegen die Tür und versuchte sie zu öffnen. Im Haus war jetzt eine Stimme zu hören, dann wurde die Tür aufgezogen, und Frau Geyner stand in einem abgewetzten Morgenrock im Morgenlicht. Ihre Stimme klang wie die einer altjüngferlichen Lehrerin, die zwei unbotmäßige Schüler tadelt. Jedesmal, wenn einer der beiden Männer etwas sagen wollte, wurde ihre Stimme lauter und schriller. Schließlich steckte der Fahrer die Waffe weg. Sein Begleiter allerdings, der offenbar von mehr Angst geplagt wurde, packte Valeries Tante an den Schultern und redete erregt auf sie ein. Aber Hermione Geyner schien sich nicht einschüchtern zu lassen, ihre Antworten klangen nicht weniger unfreundlich. Sie deutete auf die Einfahrt und schilderte offenbar das, was sie in den frühen Morgenstunden miterlebt hatte - das, was sie selbst geleistet hatte. Die beiden Männer sahen einander an, fragend und besorgt zugleich. Sie liefen die Treppe hinunter zurück zu ihrem Wagen. Der Fahrer ließ den Motor so unsanft an, daß das Getriebe krachend protestierte. Dann machte der Mercedes einen Satz, fegte an Frau Geyners Wagen vorbei und raste hinunter zum Tor. Dort bog er nach links ab und schoß die Landstraße hinunter, während Hermione Geyner die Tür zuschlug. -5 9 7
Jetzt war das Risiko nicht mehr zu umgehen, überlegte Joel, als er aus den Büschen kroch. Aber es war auch kalkulierbarer geworden. Aquitania hatte Frau Geyner fallengelassen; von ihr war nichts mehr zu erfahren. Zu einer Verrückten zurückzukehren, war das größere Risiko für Delavanes Leute. Den Umschlag in der Hand ging Joel über die Auffahrt und die Treppenstufen hinauf zur Tür. Er klopfte. Zehn Sekunden später öffnete Hermione Geyner kreischend. Und dann tat er etwas so völlig Unvorhersehbares, etwas, das überhaupt nicht zu ihm paßte, so daß er es kaum selbst glauben konnte, während er dem plötzlichen Impuls nachgab. Er schlug der alten Frau die Faust ans Kinn. Und damit begannen die längsten acht Stunden seines Lebens. Die verwirrten Sicherheitsleute des MGM-Grand-Hotels lehnten widerstrebend Valeries Trinkgeld ab, besonders nachdem sie es von fünfzig auf hundert Dollar angehoben hatte, in der Meinung, die Gepflogenheiten in Las Vegas seien etwas anders als die in New York und ganz bestimmt als die in Cap Ann. Sie waren fast eine Dreiviertelstunde durch die Straßen der Stadt gefahren, bis beide Männer ihr versicherten, daß ihnen wirklich niemand folgte. Sie versprachen auch, einen Posten ins achte Stockwerk zu entsenden, um den Mann ausfindig zu machen, der sie belästigt und versucht hatte, sich Zugang zu ihrem Zimmer zu verschaffen. Darüber hinaus waren sie natürlich verstimmt, daß sich Valerie ein Zimmer auf der anderen Seite des Boulevards im Caesar's Palace genommen hatte. Val gab dem Pagen ein Trinkgeld, nahm ihm den kleinen Koffer ab und schloß die Tür. Dann stürzte sie an das Telefon neben dem Bett. »Ich muß auf die Toilette!« schrie Hermione Geyner, die sich einen Eisbeutel gegen das Kinn drückte. »Schon wieder?« fragte Converse, der die Augen kaum geöffnet hatte und mit dem Umschlag und einer Pistole im Schoß ihr gegenüber saß. -5 9 8
»Sie machen mich nervös. Sie haben mich geschlagen.«
»Sie haben gestern abend dasselbe getan und noch viel
mehr«, erwiderte Joel, stand auf und schob sich die Waffe in
den Gürtel. Den Umschlag ließ er nicht los.
»Ich will Sie hängen sehen! Verräter! Wie viele Stunden sind es
jetzt? Glauben Sie, unsere Leute im Untergrund werden mich
nicht vermissen!«
»Ich denke, die füttern Tauben im Park und gurren mit ihnen.
Kommen Sie schon, ich begleite Sie.«
Das Telefon klingelte; plötzlich waren die Stunden ohne
Bedeutung. Converse packte die alte Frau am Genick und
schob sie zu dem alten Schreibtisch. »Machen Sie es so, wie
wir es geübt haben«, flüsterte er, ohne sie loszulassen. »Los!«
»Ja?« sprach Hermione Geyner in die Sprechmuschel,
während Joel sein Ohr dicht neben ihres hielt.
»Tante! Ich bin's, Valerie!«
»Val!« schrie Converse und stieß die alte Frau zur Seite. »Ich
bin's! Ich bin nicht sicher, daß das Telefon sauber ist. Man hat
deine Tante! Schnell! Hast du mit Sam gesprochen?«
»Ja, Joel!« schrie Valerie. »Ab er er ist tot! Sie haben ihn
umgebracht.«
»Herrgott! Wir haben keine Zeit mehr, Val, keine Zeit! Das
Telefon!«
»Triff dich mit mir!« schrie Val ins Telefon.
»Wo? Sag mir, wo?«
Das Schweigen dauerte weniger als ein paar Sekunden und
dehnte sich doch für beide zu einer Ewigkeit. »Wo es
angefangen hat, Darling!« rief Valerie. »Wo es angefangen hat,
aber nicht wo es angefangen hat... Die Wolken, Darling. Das
Stoffstück und die Wolken!«
Wo es angefangen hat. Genf. Aber nicht Genf. Wolken, ein
Stück Stoff.
»Ja, ich weiß!«
»Morgen! Ich werde dort sein!«
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»Ich muß hier weg... Val... Ich liebe dich sehr!«
»Die Wolken, my Darling - my only Darling - o Gott, rette dich!«
Joel riß die Telefonschnur aus der Wand. Im nächsten Moment
ging Hermione Geyner mit einem schweren Schürhaken, den
sie vom Kamin gerissen hatte, auf ihn los. Der eiserne Haken
verfehlte knapp seine Wange. Joel packte die Alte und schrie
sie an.
»Für Sie habe ich jetzt keine Zeit, Sie verrücktes Weib!« Er riß
sie herum, stieß sie vor sich her und griff sich den Umschlag
vom Tisch. »Sie wollten doch ins Bad, haben Sie das
vergessen?«
Das Bad war den Gang hinunter, und Converse sah in der roten
Lackschale auf dem Tischchen an der Wand das, war er zu
sehen gehofft hatte. Die alte Frau hatte sie gestern nacht
hineinfallen lassen - die Schlüssel für ihren Wagen. Die Tür
zum Badezimmer ging nach außen auf - und das war die
Lösung. Als die Alte drinnen war, zerrte Joel einen schweren
Sessel von der Wand und schob ihn unter die Klinke. Valeries
Tante hörte den Lärm und versuchte, die Tür zu öffnen. Aber
sie ging nicht auf.
»Wir haben heute abend wieder eine Versammlung!« schrie die
Alte. »Wir werden unsere besten Leute schicken! Die Besten!«
Joel verließ das Haus, zog die Tür hinter sich zu, aber ließ sie
unverschlossen. Dann lief er zu Hermione Geyners Wagen. Er
ließ den Motor an; der Tank war halbvoll. Das war ausreichend,
um Osnabrück hinter sich zu haben, wenn er wieder tanken
mußte. Bis er sich eine Karte beschaffen konnte, würde er sich
einfach an der Sonne orientieren und nach Süden fahren.
Valerie traf die nötigen Arrangements in dem Reisebüro von
Caesar’s Palace. Sie bezahlte bar und benutzte den
Mädchennamen ihrer Mutter, wobei sie gleichzeitg hoffte, daß
sie sich einige Fähigkeiten dieser im Krieg erfahrenen Frau
angeeignet hatte. Um 18.00 Uhr gab es einen Flug der Air
France von Los Angeles nach Paris. Sie würde eine
Chartermaschine nach Los Angeles nehmen und sich mit einer
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Limousine zum Flughafen bringen lassen. Auf die Weise konnte sie den Terminal im McCarran-Airport umgehen. Solche Bequemlichkeiten waren stets zu haben, wenn auch gewöhnlich nur für Prominente und Leute, die im Casino gewonnen haben. Der falsche Name würde bei der Air France keine Schwierigkeiten machen, höchstens etwas peinlich sein, sich aber in ihrem Fall leicht erklären lassen. Ihr ehemaliger Mann, zudem sie jede Verbindung gelöst hatte, war inzwischen berüchtigt, ein Gejagter. Sie zog die Anonymität vor. Ihren Paß würde sie erst bei der Einwanderungsbehörde in Paris vorzeigen müssen, und danach konnte sie überall hin reisen, unter jedem Namen, den sie angab, denn die Grenzen Frankreichs würde sie nicht überschreiten. Das war der Grund, weshalb sie an Chamonix gedacht hatte. Sie saß in ihrem Sessel, blickte zum Fenster hinaus und dachte an jene Tage zurück - in Chamonix. Sie war mit Joel nach Genf geflogen, wo er eine dreitägige Besprechung hatte. Anschließend wollten sie fünf Tage am Mont Blanc Ski laufen. Sie verdankten die Reise John Brooks, dem bekannten internationalen Anwalt von Talbot, Brooks and Simon, der sich schlicht geweigert hatte, auf eine Familienfeier zu verzichten wegen eines »dummen Gesprächs mit irgendwelchen Idioten«, wie er es ausdrückte. »Das kann unser junger Mann erledigen. Der wird sie schon einwickeln und ihnen dabei die Taschen leeren.« Es war das erstemal gewesen, wo Joel wirklich gewußt hatte, daß er es in dieser Firma zu etwas bringen würde, und doch hatte ihn seltsamerweise die Aussicht auf die gemeinsamen Urlaubstage nicht weniger erregt. Aber Joel hatte auf dieser Reise keine Freude am Skilaufen gehabt. Am zweiten Tag war er gestürzt und hatte sich den Knöchel verrenkt. Die Schwellung war riesig gewesen und äußerst schmerzhaft. Val hatte ihn »Sir Muffig« getauft. Jeden Morgen verlangte er seine Herald Tribüne, lehnte es mit geradezu kindischer Hartnäckigkeit ab zu frühstücken, ehe die Zeitung kam, und spielte den Märtyrer, wenn seine Frau auf die Piste ging. Als sie angedeutet hatte, daß sie ohne ihn überhaupt nicht Ski laufen wolle, wurde es noch schlimmer. Er -6 0 1
hatte ihr vorgeworfen, sie wolle die Heilige spielen. Er würde schon zurechtkommen - schließlich hätte er etwas zu lesen, aber dafür hätten Künstler natürlich kein Verständnis. Was er doch für ein kleiner Junge gewesen war, dachte Val. Aber in den Nächten war er so ganz anders gewesen. Er wurde wieder der Mann, liebevoll und zart, gleichzeitig der großzügige Löwe und das empfindsame Lamm. Sie liebten sich stundenlang. Das Mondlicht schien draußen auf die Schneefelder, bis schließlich die ersten Strahlen der Morgensonne die Berge rot färbten und sie - gemeinsam erschöpft in den Schlaf sanken. An ihrem letzten gemeinsamen Tag, ehe sie nach Genf zurückkehrten, um dort die Nachtmaschine nach New York zu nehmen, hatte sie ihn überrascht. Statt noch einmal auf die Piste zu gehen, um ein paar Stunden Ski zu laufen, war sie in die Hotelboutique gegangen und hatte ihm einen Pullover gekauft, auf dessen Ärmel sie ein großes Stück Stoff genäht hatte, auf dem stand: Downhill Racer - Chamonix. Sie hatte ihm das Geschenk präsentiert, während draußen vor der Tür der Träger mit einem Rollstuhl wartete - das hatte sie über die Hoteldirektion arrangiert. Man hatte sie ins Zentrum von Chamonix gebracht zu der Seilbahn, die 3900 Meter hinauf zum Gipfel des Mont Blanc führte - durch die Wolken zum Gipfel der Welt, wie es schien. Und als sie schließlich oben angekommen waren und den atemberaubenden Ausblick genossen, hatte sich Joel herumgedreht mit seinem jungenhaften Blick in den Augen. »Genug von diesem albernen Ausblick«, hatte er gesagt. »Zieh dich aus. So kalt ist es wirklich nicht.« Sie hatten heißen Kaffee getrunken, waren draußen auf einer Bank gesessen, umgeben von der majestätischen Szenerie der Bergwelt. Sie fühlte diese Liebe jetzt wieder und stand auf. Für solche Gedanken war jetzt keine Zeit - sie brauchte jetzt einen klaren Kopf. Sie mußte um die halbe Welt reisen und dabei wer weiß wie vielen Leuten, die nach ihr Ausschau hielten, aus dem Weg gehen. Er hatte gesagt, er liebe sie - sehr. War es Liebe, oder brauchte er sie nur... ihre Unterstützung? Sie hatte mit my darling darauf -6 0 2
geantwortet - nein, sie hatte mehr als das gesagt. Viel deutlicher war sie gewesen. Sie hatte gesagt my only darling. War das eine Antwort, die nur aus der Panik geboren war? Das Schlimmste war, nichts zu wissen, dachte Converse, während er die Straßentafeln im Licht seiner Scheinwerfer studierte. Er war jetzt seit fast sieben Stunden unterwegs und hatte sich in Hagen an einer Tankstelle eine Landkarte besorgt, während der Wagen frisch aufgetankt wurde - sieben Stunden, und nach der Karte zu schließen war er noch weit von dem Grenzübergang entfernt, den er sich ausgewählt hatte. Der Grund lag darin, daß er nicht wußte, ob man in den ersten Stunden, seit er Osnabrück verlassen hatte, nach Hermione Geyners Wagen gesucht hatte. Jetzt war das eindeutig der Fall. Aber in jenen ersten Stunden hätte er auf den Bundesstraßen schneller von der Stelle kommen können, nur daß er es nicht gewagt hatte, sie zu benutzen, für den Fall, daß Leute von Aquitania auf Vals Anruf hin zu dem alten Haus gerast waren. Er war auf verschlungenen Nebenstraßen gefahren, immer die Sonne im Auge behaltend, immer wieder nach Süden steuernd, bis er Hagen erreichte. Inzwischen waren Hermione Geyner und ihre Schar Verrückter ohne Zweifel zur Polizei gegangen, um den Diebstahl des Wagens zu melden. Joel hatte keine Ahnung, womit sie die Polizei überzeugen würden, daß Valeries Tante Anlaß zur Klage hatte, aber ein gestohlener Wagen war ein gestohlener Wagen. Ob ihn nun der heilige Franz von Assisi oder Jack the Ripper fuhr. Er mußte also auf den Nebenstraßen bleiben. Er würde mindestens noch drei oder vier Stunden zu fahren haben, aber irgendwo unterwegs wollte er haltmachen und eine Weile schlafen. Er war erschöpft; er hatte so lange nicht mehr geschlafen, daß er sich überhaupt nicht an das letztemal erinnern konnte. Chamonix und Val erwarteten ihn. Er hatte ihr gesagt, daß er sie liebe - er hatte es gesagt. Nach so vielen Jahren hatte er es ausgesprochen, und die Erleichterung war unglaublich. Und die Antwort war noch unglaublicher. My darling - my only darling. Meinte sie das wirklich? -6 0 3
Aquitania! Du mußt alles andere aus deinen Gedanken
verdrängen und nach Frankreich fahren!
Der Flug von Los Angeles nach Paris verlief ereignislos.
Während Val durch das Fenster der Maschine nach unten
blickte, schien nichts für sie mehr Bedeutung zu haben, aber
jegliche Ruhe, die der Flug in ihr erzeugt hatte, endete wieder
in Paris.
»Sind Sie geschäftlich oder auf Urlaub in Paris, Madame?«
fragte der Beamte am Einwanderungsschalter, während er
Valeries Paß entgegennahm und ihren Namen in den Computer
tippte.
»Un peu de l'un et de lautre.«
»Vouz parlez frangais?«
»C'est ma langue preferee. Mes parents etaient parisiens«,
erklärte Val, immer noch in französischer Sprache. »Ich bin
Künstlerin und habe mit einigen Galerien zu sprechen. Natürlich
will ich auch reisen...« Sie hielt inne, als sie sah, wie die Augen
des Beamten vom Bildschirm nach oben wanderten und sie
studierten. »Ist etwas?« fragte sie.
»Nichts von Bedeutung, Madame«, sagte der Mann, griff nach
dem Telefon und sprach mit leiser Stimme, so daß sie im Lärm
der großen Ankunftshalle nichts verstehen konnte. »Da ist
jemand, der Sie gerne sprechen möchte.«
»Für mich ist das schon von Bedeutung«, wandte Valerie,
plötzlich beunruhigt ein. »Ich reise aus sehr gutem Grund nicht
unter meinem Namen - was Ihnen Ihre Maschine ohne Zweifel
verraten hat, und ich werde mich nicht irgendwelchen Verhören
oder sonstigen Belästigungen durch die Presse aussetzen! Ich
habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Bitte, setzen Sie
sich mit der amerikanischen Botschaft in Verbindung.«
»Das ist nicht nötig, Madame«, sagte der Mann und legte den
Hörer auf. »Es handelt sich um kein Verhör, und von der
Presse wird niemand erfahren, daß Sie in Paris sind, sofern Sie
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es ihr nicht selbst sagen. Außerdem ist in dieser Maschine
nichts außer dem Namen in Ihrem Paß.«
Ein zweiter uniformierter Beamter trat aus einem nahe
gelegenen Büro in die Kabine des Einwanderungsbeamten. Er
verbeugte sich höflich. »Wenn Sie bitte mitkommen wollen,
Madame«, sagte er leise in englischer Sprache. Die Angst in
ihren Augen war ihm nicht entgangen, und so fuhr er fort: »Sie
können das natürlich ablehnen, da es sich keineswegs um eine
amtliche Aufforderung handelt. Aber ich hoffe, daß Sie das
nicht tun werden. Es handelt sich um eine Gefälligkeit zwischen
alten Freunden.«
»Wer sind Sie?«
»Chefinspektor der Einwanderungsbehörde, Madame.«
»Und wer möchte mich sprechen?«
»Das müßte er Ihnen selbst sagen. Aber ich soll Ihnen einen
anderen Namen nennen. Mattilon. Mein Bekannter sagt, Sie
seien alte Freunde gewesen, und auch er hätte großen Respekt
vor ihm gehabt.«
»Mattilon?«
»Wenn Sie liebenswürdigerweise in meinem Büro warten
würden, werde ich persönlich dafür sorgen, daß Ihr Gepäck
gebracht wird.«
»Das hier ist mein Gepäck«, sagte Val und überlegte, wer wohl
Renes Namen erwähnen würde. »Ich möchte einen
Polizeibeamten in der Nähe haben, jemanden, der uns durch
eine Glastür beobachten kann.«
»Pourquoi?... Warum, Madame?«
»Une mesure de sürete«, erwiderte Valerie.
»Ouz, bien sur, mais ce n'est pas necessaire.«
»J'insiste ou je pars.«
»D'accord.«
Man erklärte ihr, daß die Person, die sie zu sprechen wünschte,
aus der Innenstadt zum Charles-de-Gaulle-Flughafen kommen
müßte. Das würde fünfunddreißig Minuten in Anspruch
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nehmen, unterdessen trank sie Kaffee und ein kleines Glas
Calvados. Dann trat der Mann durch die Tür. Er mochte Anfang
Fünfzig sein. Seine Kleidung war zerdrückt, als hätte er
aufgehört, auf sein Äußeres zu achten. Sein Gesicht wirkte
müde und alt, und als er sprach, war seine Stimme ebenfalls
müde, aber nichtsdestoweniger präzise.
»Ich werde Ihre Zeit nur ein paar Minuten in Anspruch nehmen,
Madame. Ich bin sicher, daß Sie viel zu erledigen haben und
viele Leute aufsuchen möchten.«
»Wie ich schon erklärte«, sagte Val und sah den Franzosen
scharf an. »Ich bin in Paris, um mit einigen Galerien zu
sprechen.«
»Das interessiert mich nicht«, unterbrach der Mann und hob die
Hände. »Verzeihen Sie, ich will das nicht hören, ich will gar
nichts hören, sofern Madame nicht, nachdem ich mich erklärt
habe, mit mir sprechen möchte.«
»Warum haben Sie den Namen Mattilon benutzt?«
»Als Empfehlung. Sie waren Freunde. Darf ich darauf
zurückkommen?«
»Bitte tun Sie das.«
»Mein Name ist Prudhomme. Ich gehöre der Sürete an. Ein
Mann ist vor einigen Wochen hier in Paris in einem
Krankenhaus gestorben. Es heißt, Ihr ehemaliger Mann,
Monsieur Converse, sei dafür verantwortlich.«
»Das ist mir bekannt.«
»Aber es kann nicht stimmen«, sagte der Franzose ruhig,
während er sich setzte und sich eine Zigarette herausholte.
»Haben Sie keine Sorge. Dieses Büro ist nicht >verwanzt<. Der
Chefinspektor und ich waren gemeinsam bei der Resistance.«
»Jener Mann ist nach einem heftigen Kampf mit meinem
ehemaligen Mann gestorben«, sagte Val vorsichtig. »Ich habe
das in der Zeitung gelesen und im Radio gehört, und doch
sagen Sie mir, er sei nicht für seinen Tod verantwortlich. Wie
können Sie das sagen?«
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»Dieser Mann ist nicht im Krankenhaus gestorben, man hat ihn getötet. Zwischen zwei Uhr fünfzehn und zwei Uhr fünfundvierzig morgens. Ihr Mann befand sich zu dieser Zeit in einem Flugzeug zwischen Kopenhagen und Hamburg. Das ist inzwischen festgestellt worden.« »Sie wissen das?« »Nicht offiziell, Madame. Man hat mich von dem Fall abgezogen. Ein Mitarbeiter von mir, ein Mann mit wenig Polizeierfahrung, dafür aber Erfahrung bei der Armee - bei der Fremdenlegion - hat den Fall übertragen bekommen, während man mich auf >wichtigere< Angelegenheiten angesetzt hat. Ich habe Fragen gestellt; ich werde Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, aber die Lungen des Mannes sind zusammengebrochen - ein plötzliches Trauma, das mit seinen Wunden nichts zu tun hat. Der Mann ist erstickt worden. Das stand nicht im Bericht. Man hat es herausgelassen.« Valerie gab sich große Mühe, ganz ruhig und distanziert zu bleiben, und verdrängte ihre Angst. »Und was ist mit Mattilon?« fragte sie. »Meinem Freund Mattilon.« »Fingerabdrücke«, erwiderte der Franzose müde. »Man entdeckte sie plötzlich, zwölf Stunden nachdem die Arrondissement-Polizei - die sehr gut ist - sein Büro untersucht hat. Und doch hat es am selben Tag in Wesel in Westdeutschland auch einen Mord gegeben. Man hat das Gesicht Ihres ehemaligen Mannes beschrieben, seine Identität praktisch bestätigt. Und dann eine alte Frau in einem Zug nach Amsterdam - dieselbe Route -, sie wird mit einer Pistole in der Hand aufgefunden. Und wieder die Beschreibung. Hat dieser Converse Flügel? Kann er Grenzen überfliegen? Wiederum nicht möglich.« »Was versuchen Sie mir zu sagen, Monsieur Prudhomme?« Der Mann von der Sürete sog den Rauch seiner Zigarette tief ein, riß ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb etwas darauf. »Ich bin nicht sicher, Madame, da ich in diese Angelegenheiten schließlich nicht mehr offiziell eingeschaltet bin. Aber wenn Ihr ehemaliger Mann den Tod des Mannes in -6 0 7
Paris nicht verursacht hat und auch Ihren alten Freund,
Monsieur Mattilon, nicht erschossen haben kann... wie viele
andere hat er dann nicht getötet, einschließlich des
amerikanischen Botschafters in Bonn und des
Oberkommandeurs der NATO? Und wer sind diese Leute, die
Regierungsstellen dazu veranlassen können, dies und jenes zu
bestätigen, Einsatzpläne leitender Polizeibeamter willkürlich
abzuändern, die medizinische Berichte ändern können und
Beweismaterial entfernen? ... Es gibt da Dinge, die ich nicht
verstehe, Madame. Aber ich bin sicher, daß das genau die
Dinge sind, die ich auch nicht verstehen soll. Und deshalb gebe
ich Ihnen diese Telefonnummer. Das ist nicht meine
Büronummer; das ist meine Wohnung in Paris - meine Frau
weiß, wo sie mich erreichen kann. Merken Sie sich das gut,
sagen Sie, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten, daß Sie der
Tatiana-Familie angehören.«
Stone saß am Schreibtisch, den Telefonhörer in der Hand. Er
war allein - war allein gewesen, als der Anruf aus Charlotte,
North Carolina, kam von einer Frau, die er einmal vor vielen
Jahren sehr geliebt hatte. Sie war aus dem »schrecklichen
Spiel«, wie sie es genannt hatte, ausgestiegen. Er war
dabeigeblieben und ihre Liebe war nicht stark genug gewesen.
Die Verbindung wurde in Cuxhaven in Westdeutschland
hergestellt über eine Leitung, von der der Zivilist wußte, daß sie
sauber war. Diese Gewißheit gehörte zu den Freuden, wenn
man mit Johnny Reb zu tun hatte.
»Bobbie-Jo's Hühnerbraterei«, kam der Gruß über die Leitung.
»Wir liefern ins Haus.«
»Das hab' ich mir gedacht. Hier ist Stone.«
»Auf mein Wort, die Tatiana-Clique!« rief der Südstaatler aus.
»Sie müssen mir einmal von dieser faszinierenden Familie
erzählen, Freund Hase.«
»Das werde ich eines Tages tun.«
»Ich glaube, ich habe den Namen einmal Ende der sechziger
Jahre gehört, aber ich wußte damals nicht, was er bedeutete.«
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»Vertrauen Sie jedem, der ihn gebraucht.«
»Warum sollte ich das?«
»Weil auch die galgenfreundlichsten Richter der Welt
demjenigen, der ihn benutzte, vertraut haben.«
»Und wer könnte das sein?«
»Der Gegner, der Rebell.«
»Wenn das eine Parabel sein soll, Yankee, dann komm ich
nicht mehr mit.«
»Irgendwann einmal, Johnny, nicht jetzt. Was haben Sie?«
»Nun, das muß ich Ihnen sagen. Ich hab' hier drüben die
verdammteste kleine Insel gefunden, die Sie sich denken
können. Keine zwanzig Meilen vor der Küste, in der Nähe der
Elbemündung, genau dort, wo sie hingehört. In der Bucht vor
Helgoland, wie sie das nennen, und das gehört zur Nordsee.«
»Scharhörn«, sagte der Zivilist, eine Feststellung, keine Frage.
»Sie haben sie gefunden.«
»War nicht schwer. Jeder scheint Bescheid zu wissen aber da
gibt es im Südwesten eine Küste, wo keiner hingeht. Im
Zweiten Weltkrieg war das eine Bunkerstation für U-Boote. Und
die Sicherheitsvorkehrungen waren damals so scharf, daß nur
ein paar Leute im Oberkommando der Wehrmacht informiert
waren, die Alliierten sind sogar nie dahintergekommen. Die
alten Stahlbetonbauten sind immer noch da, angeblich
verlassen, abgesehen von ein paar Leuten, die aufpassen, daß
nicht irgendwelche Boote mit den alten Winden kollidieren, die
immer noch dastehen.« Johnny Reb machte eine Pause und
fuhr dann leise fort: »Ich bin gestern nacht dort gewesen und
habe Lichter gesehen, zu viele Lichter an zu vielen Orten. Auf
diesem alten Stützpunkt sind Leute, nicht nur ein paar Wächter,
und ich wette mit Ihnen, daß Ihr Lieutenant Commander einer
davon ist. Und außerdem ist um zwei Uhr früh, nachdem die
Lichter ausgegangen waren, eine Riesenantenne, so groß wie
es sie sonst bloß in Houston gibt, in die Höhe geschossen wie
eine Bohnenstange, und dann ist sie aufgeblüht wie eine
richtige Blume. Eine Scheibe war das, so wie man sie für
Satellitensendungen benützt. Wollen Sie, daß ich ein Team
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aufstelle? Das könnte ich tun; heutzutage gibt es eine ganze
Menge Arbeitsloser. Außerdem kostet es nicht viel. Denn je
mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich Ihnen dankbar
dafür, daß Sie mich damals aus den Dardanellen rausgeholt
haben. Das war wirklich wichtiger als diese andere Geschichte
damals in Bahrain mit dem Spesenkonto.«
»Vielen Dank, aber jetzt noch nicht. Wenn Sie ihn jetzt holen,
decken wir die Karten auf, die wir noch nicht zeigen dürfen.«
»Wie lange können Sie warten? Vergessen Sie nicht, daß ich
diesen Washburn auf Band habe.«
»Wieviel haben Sie denn beisammen?«
»Mehr als dieser alte Schädel aufnehmen kann, um ehrlich zu
sein. Aber nicht mehr, als ich akzeptieren kann. Das Ganze
braut sich schon ziemlich lange zusammen, nicht wahr? Die
Adler glauben, sie würden die verdammten Spatzen doch noch
fangen, nicht wahr? Weil sie alle zu Spatzen machen wollen...
Wissen Sie, Stone, ich sollte das wohl nicht sagen, weil Sie auf
Ihre alten Jahre schon ein wenig weicher geworden sind als ich,
aber wenn die das je in Gang setzen, dann könnte es durchaus
sein, daß eine Menge Leute überall sich einfach bloß in ihre
Sessel zurücklehnen oder fischen gehen und sagen, zum
Teufel damit - sollen doch die großen Daddys in ihren
Uniformen das machen. Laßt sie doch die Dinge in Ordnung
bringen - auf die Weise holen wir wenigstens die Fixer mit ihren
Knarren und Messern von der Straße und aus den Parks. Die
könnten endlich den Russkis und den Ölscheichs in ihren
Bademänteln zeigen, daß sie uns nicht länger auf der Nase
herumtanzen können. Zeigen wir doch Jesus, daß wir die
braven Boys sind und die besseren Muskeln haben. Diese
Soldaten, die haben den Mumm und die Kanonen, die Firmen
und die Konglomerate, was juckt mich das also? Was ändert
sich denn für mich? sagt der Normalverbraucher in seinem
Lehnsessel - höchstens, daß alles besser wird?«
»Nicht besser«, sagte Stone eisig. »Diese Leute werden zu
Robotern, wir alle werden zu Robotern gemacht, wenn wir noch
leben. Verstehen Sie das denn nicht?«
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»Yeah, ich schon«, antwortete Johnny Reb. »Ich schätze, das
habe ich immer. Mir geht's hier gut in Bern, während Sie sich in
Washington abstrampeln. Ja, alter Freund, ich verstehe das.
Vielleicht besser als Sie... Vergessen Sie's, ich mach schon mit.
Aber was, zum Teufel, werden Sie wegen dieses Converse
machen? Ich glaube nicht, daß der rauskommt.«
»Das muß er. Wir glauben, daß er die Antworten hat - die
Antworten aus erster Hand -, die uns die Beweise liefern.«
»Meiner Ansicht nach ist er tot«, sagte der Südstaatler.
»Vielleicht jetzt noch nicht, aber bald. Sobald die ihn finden.«
»Wir müssen ihn vorher finden. Können Sie helfen?«
»Ich hab' an dem Abend angefangen, als ich Major Norman
Anthony Washburn eine Spritze verpaßt habe. Sie haben die
Computer - die, zu denen Sie Zugang haben -, und ich hab' die
Straßen, wo die Dinge verkauft werden, die Sie nicht kaufen
sollen. Also bis jetzt ist alles negativ.«
»Sie müssen versuchen, etwas zu finden. Sie hatten nämlich
recht - wir haben nicht viel Zeit. Und, Johnny, haben Sie
dasselbe Gefühl wie ich bezüglich dieser Insel, bezüglich
Scharhörn?«
»Das sitzt mir tief im Magen. Ich kann schon die Galle
schmecken, Freund Hase, und deshalb werde ich mich hier ein
paar Tage lang dünnmachen. Wir haben einen Bienenstock
gefunden, Junge, und die Drohnen sind unruhig, das spüre
ich.«
34 Joel legte die Landkarte und den dicken Umschlag ins Gras
und begann, von dem kleinen Baum, der im Feld stand, Zweige
abzubrechen, um damit Hermione Geyners Wagen
zuzudecken. Schließlich riß er noch büschelweise Gras aus
und warf es über die Tarnung. Das Resultat im Mondlicht war
ein ungeheurer Heuberg unter einem unschuldig wirkenden
Baum in einem Obstgarten. Dann folgte er der Straße zu Fuß
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und zog sich jedesmal ins hohe Gras zurück, wenn er aus der
einen oder anderen Richtung Autoscheinwerfer sah. Er hatte
vielleicht acht, neun Kilometer zurückgelegt, als er nicht mehr
weiter konnte.
Im Dschungel hatte er sich ausgeruht, weil er wußte, daß Ruhe
ebenso eine Waffe war wie eine Pistole, daß die Augen und
das Bewußtsein sehr viel mehr Sicherheit gaben, wenn sie
wach und aufmerksam waren, als ein Dutzend stählerner
Waffen.
Er fand eine kleine Bodensenke, durch die ein Bach floß.
Geschützt von der Böschung legte er sich ins Grün und schlief
ein.
Valerie verließ den Charles-de-Gaulle-Flughafen am Arm des
Sürete'-Beamten Prudhomme. Sie hatte den Papierfetzen mit
seiner Telefonnummer entgegengenommen, ihrerseits aber
keine Auskünfte gegeben. Sie gingen zu dem Taxistand vor
dem Flughafengebäude, während Prudhomme noch immer auf
sie einredete.
»Ich will mich ganz klar ausdrücken, Madame. Sie können sich
hier ein Taxi nehmen, und ich werde Ihnen adieu sagen, oder
Sie können mir erlauben, Sie, wohin Sie wollen, zu fahren
vielleicht zu einem anderen Taxistand in der Stadt, von dem
aus Sie Ihre Reise fortsetzen können -, und ich werde dann
wissen, ob Ihnen jemand folgt.«
»Das werden Sie?«
»In zweiunddreißig Jahren bei der Polizei lernt selbst ein Narr
etwas. Meine Frau sagt mir immer wieder, daß sie sich nur
deshalb keine Liebhaber genommen hat, weil ich die
Grundzüge meines Berufes gelernt habe.«
»Ich nehme Ihr Angebot an«, unterbrach Val ihn lächelnd. »Ich
bin schrecklich müde. Ein kleines Hotel vielleicht. Le Pont
Royale, das kenne ich.«
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»Eine ausgezeichnete Wahl, aber ich muß Ihnen sagen, daß meine Frau Sie gern aufnehmen würde, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.« »Meine Zeit muß ganz mir gehören, Monsieur«, erklärte Valerie und stieg in den Wagen. »D'accord.« »Warum tun Sie das?« fragte sie, während Prudhomme sich hinter das Steuer setzte. »Mein Mann war Rechtsanwalt - ist Rechtsanwalt. So sehr können sich die Regeln nicht unterscheiden. Sind Sie nicht eine Art Mittäter - indem Sie glauben, was Sie glauben?« »Ich wünsche nur, daß Sie mich anrufen werden und sagen, daß Sie von der Tatiana-Familie kommen. Das ist mein Risiko und das ist auch mein Lohn.« Joel sah auf die Uhr - eine Uhr, die er vor langer Zeit einer Leiche abgenommen hatte. Es war 5.45 Uhr morgens. Sonnenlicht fiel in seine Bodensenke. Er mußte weiter; bis zur Grenze waren es, soweit er sich erinnerte, noch über sieben Kilometer. Seine Erinnerung stimmte. Er erreichte Kehl und kaufte sich einen Rasierapparat. Er ging davon aus, daß ein Priester selbst unter schwierigen Reisebedingungen für ein standesgemäßes Aussehen sorgen würde. Er rasierte sich in der Fährstation und fuhr dann mit der Fähre über den Rhein nach Straßburg. Die Zollbeamten erwiesen ihm den Respekt, der seinem Berufsstand zukam, und schrieben sein etwas schäbiges Äußeres ohne Zweifel seinem Armutsgelübde zu. Und plötzlich ertappte er sich dabei, wie er einer Gruppe Männer und ihren Familien den Segen erteilte, während er das Gebäude passierte. Draußen auf der überfüllten Straße wurde ihm klar, daß er sich als allererstes ein Hotelzimmer besorgen und dort zwei Tage der Angst abspülen und seine Kleider säubern oder ersetzen mußte. Ein verarmt wirkender Priester reiste nicht zu den teuren Wundern von Chamonix; das würde sich nicht geziemen. Ein -6 1 3
normal gekleideter Priester war durchaus akzeptabel, ja sogar eine wünschenswerte, eine respekteinflößende Gestalt in der Menge. Und er würde Priester bleiben, das hatte Joel beschlossen - eine Entscheidung, die wieder auf seiner juristischen Erfahrung beruhte. Es galt vorauszusehen, was der Gegner von einem erwartete, und dann etwas anderes zu tun, sofern das einen Vorteil brachte. Die Jäger von Aquitania würden erwarten, daß er den priesterlichen Habitus ablegte, da er als seine letzte Tarnung bekannt war. Genau das wollte er aber nicht tun; es gab viele Priester in Frankreich, und darin lag ein zu großer Vorteil. Er trug sich im Sofitel an der Place St. Pierre-le-Jeune ein und erklärte dem Concierge, ohne auf Einzelheiten einzugehen, daß er drei schreckliche Reisetage hinter sich hätte, und ob der Mann wohl freundlicherweise einige Dinge besorgen würde, die er dringend brauche. Er stamme aus einer wohlhabenden Pfarrei in Los Angeles und - den Rest besorgte eine amerikanische Hundert-Dollar-Note. Sein Anzug wurde binnen einer Stunde gereinigt und gebügelt, seine schlammbespritzten Schuhe poliert und in einem Geschäft, das unglücklicherweise ziemlich weit entfernt am Quai Kellermann lag, wurden zwei neue Hemden mit Priesterkragen gekauft - was eine zusätzliche Summe erforderte. Die Trinkgelder, die Spesen und die Expreßzuschläge - sie alle waren der Traum eines Hotelbediensteten. Der von der Sonne gebräunte Priester mit den ein oder zwei Narben im Gesicht und den seltsamen Wünschen kam offensichtlich wirklich aus einer wohlhabenden Pfarrei. Das Geld war gut angelegt. Er harte das Hotel um 8.30 Uhr morgens betreten und war um 9.45 bereit, die letzten Vorkehrungen für Chamonix zu treffen. Das Risiko, zu fliegen oder mit der Bahn zu fahren, konnte er nicht eingehen; dafür war ihm auf Flughäfen schon zuviel widerfahren. Und über kurz oder lang würde man Hermione Geyners Wagen entdecken und daraus Schlüsse auf die von ihm eingeschlagene Richtung, wenn nicht gar sein Ziel ziehen können. Der Alarm Aquitanias würde die drei Grenzen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz erreichen. Das -6 1 4
sicherste Fortbewegungsmittel war daher ein Wagen. Der
beflissene Concierge wurde gerufen, ein passender Mietwagen
für den jungen Abbe wurde beschafft und die Route nach Genf
ausgearbeitet.
Valerie kleidete sich an, als das erste Morgenlicht die Häuser
vor ihrem Fenster am Boulevard Raspail mit orangefarbenem
Licht überzog. Sie hatte nicht geschlafen, hatte es auch gar
nicht vorgehabt. Sie hatte wachgelegen und über die Worte des
eigenartigen Franzosen von der Sürete nachgedacht, der nicht
offiziell sprechen konnte. Sie war versucht gewesen, die
Wahrheit zu sagen, wußte aber, daß sie das nicht tun würde.
Noch nicht, vielleicht überhaupt nicht, da die Wahrscheinlichkeit
groß war, daß es sich doch um eine Falle handelte. Trotzdem
harten seine eindringlichen Worte ehrlich geklungen... Rufen
Sie an und sagen Sie, Sie kämen von der Tatiana-Familie. Das
ist mein Wunsch und mein Lohn.
Joel würde eine Entscheidung treffen. Wenn der Mann nicht
einfach nur ein Köder war, den Aquitania ausgelegt hatte, dann
war das ein Riß in ihrer Strategie, eine Lücke, von der die
Generäle nichts wußten. Mit ganzem Herzen hoffte sie, daß es
so war, aber dem Mann schon an diesem Punkt zu vertrauen,
war unmöglich.
Das Taxi traf ein, und Val ging hinaus, durch das Seitenfenster
von einem mürrisch blickenden, schläfrigen Fahrer begrüßt, der
keine Anstalten machte, seinen Wagen zu verlassen und nur
wenig Interesse an seiner Kundschaft zeigte.
»Orly, s'il vous platt.«
Der Fahrer fuhr an, erreichte die Straßenecke und riß das
Steuer nach links. Er schlug einen halsbrecherischen Bogen,
um wieder in den Boulevard Raspail einzubiegen, der zur
Schnellstraße zum Flughafen führte. Die Kreuzung wirkte
verlassen. Doch das war sie nicht.
Das Krachen hinter ihnen klang ganz nahe - Metall, das gegen
Metall schlug, zersplitterndes Glas, quietschende Reifen. Der
Fahrer trat auf die Bremse, schrie erschreckt und verängstigt
-6 1 5
auf, während sein Wagen gegen den Randstein schoß. Val
wurde gegen den Vordersitz geschleudert und schürfte sich die
Knie auf. Schwerfällig zog sie sich wieder auf den Sitz zurück,
während der Fahrer aus dem Wagen sprang und den Fahrer
dahinter beschimpfte.
Plötzlich öffnete sich die rechte Türe, und sie erkannte das
faltige, müde Gesicht Prudhommes. Ein dünner Blutfaden rann
ihm aus einer Platzwunde an der Stirn. Er redete schnell und
leise auf sie ein.
»Gehen Sie, Madame - wohin auch immer Sie wollen. Niemand
wird Ihnen jetzt folgen.«
»Sie?... Sie sind die ganze Nacht hier gewesen! Sie haben auf
mich gewartet, mich beobachtet. Sie haben den Unfall
verursacht!«
»Dafür ist jetzt keine Zeit! Ich werde Ihren Fahrer
zurückschicken. Ich muß einen umfangreichen Bericht machen
und unterdessen ein paar Dinge im Wagen des Mannes
verteilen. Und Sie müssen jetzt weg. Jetzt - ehe andere etwas
bemerken.«
»Dieser Name!« schrie Val. »Er hieß doch Tatiana?«
»Ja.«
»Danke!«
»Bonjour. Bonne chance.« Der Mann von der Sürete duckte
sich, schloß die Tür und rannte zu den beiden Franzosen, die
einander hinter dem Taxi beschimpften.
Es war zwanzig Minuten nach drei Uhr nachmittags, als
Converse die Tafel sah: St. Julien en Genevois -15 km. Er hatte
die Schweizer Grenze umrundet, und die Autostraße nach
Chamonix lag direkt vor ihm. In etwas mehr als einer Stunde
würde er den Mont Blanc erreicht haben; er hatte es geschafft!
Einmal hatte er in Pontarlier gehalten, um zu tanken und sich
einen heißen Tee aus einem Automaten zu kaufen. Eine
Stunde noch. Sei dort, Val. Sei dort, meine Geliebte!
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Valerie sah wütend auf die Uhr und hätte am liebsten geschrien - so wie sie um sechs Uhr dreißig morgens in Orly hätte schreien wollen. Es war jetzt zehn Minuten nach vier am Nachmittag, und der ganze Tag war von Problemen erfüllt gewesen, angefangen mit dem Zusammenstoß auf dem Boulevard Raspail und Prudhommes Erklärung, daß jemand sie verfolge, bis zu ihrer Ankunft in Annecy mit der Ein-UhrMaschine aus Paris - die sich wegen eines Defekts an der Tür des Frachtraums verzögert hatte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und doch wußte sie - hatte es den ganzen Tag gewußt -, daß sie unter keinen Umständen die Beherrschung verlieren durfte. Die Verstimmung jetzt hatte ihren Grund in etwas, an das sie sich aber hätte erinnern sollen. Es gab einen Punkt in der Theaterkulisse des pittoresken »Dorfes« Chamonix, den Privatfahrzeuge nicht passieren durften, nur kleine, der Stadt gehörende Wagen und Touristenbusse. Sie stieg aus der Limousine und ging eilig den breiten, überfüllten Boulevard hinunter. Sie konnte die große rote Talstation der Seilbahn in der Ferne sehen. Irgendwo dort oben, über den Wolken, war Joel. Ihr Joel. Sie begann zu laufen, schneller, schneller! Sei dort oben, darling, sei am Leben, my darling, my only darling! Es war zehn Minuten vor fünf, als Converse buchstäblich mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz schoß, dann auf die Bremsen trat und fast gleichzeitig aus dem Wagen sprang. Der Verkehr auf der Montblanc-Straße war dicht gewesen, und an einer Baustelle war es sogar zu einem Stau gekommen. Jeder Muskel in seinem rechten Bein hatte sich verkrampft, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, langsamere Fahrzeuge zu überholen. Und jetzt war er hier! Er war in Chamonix, vor sich die majestätische Pracht der Alpen, unter sich das Dorf. Er fing an zu laufen, sog die klare Bergluft in tiefen Zügen ein und vergaß den Schmerz - sie mußte dasein. Bitte, Val, du mußt es schaffen! Ich liebe dich so... verdammt, ich brauche dich so! Sei da!
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Sie stand vor der Liftkabine. Die Wolken unter ihr bildeten eine Barriere, eine Nebelwand, die alle Sorgen der Erde von ihr abschloß. Sie schauderte in der kalten Bergluft, konnte aber nicht weggehen. Sie stand an dem Steingeländer neben einem dicken Bergteleskop, durch das die Touristen für ein paar Francs die Wunder der Alpenwelt betrachten konnten. Sie empfand Todesangst, daß er nicht kommen würde - nicht kommen konnte. Weil er vielleicht tot war. Es war die letzte Kabine; sobald die Sonne hinter dem westlichen Gipfel versank, fuhr keine mehr. Mit Ausnahme des Barkeepers und ein paar Gästen hinter den Glastüren der Bar war sie der einzige Mensch hier. Joel! Ich habe gesagt, du sollst am Leben bleiben! Bitte, tu was ich gesagt habe, my darling, my only darling! Meine einzige Liebe! Die Liftkabine kam ächzend zum Stillstand. Niemand! Sie war leer! Er war tot. Und dann sah sie ihn, ein hochgewachsener Mann in einem Priesterkragen, und die Welt hatte plötzlich wieder einen Sinn. Er stieg aus der Kabine, und sie lief auf ihn zu, während er auf sie zulief. Sie umarmten sich, hielten einander fest, wie sie sich als Mann und Frau nie gehalten hatten. »Ich liebe dich!« flüsterte er. »O Gott, ich liebe dich!« Sie beugte sich zurück, hielt seine Schultern fest, und Tränen füllten ihre Augen. »Du lebst, du bist hier! Du hast getan, worum ich dich gebeten hatte.« »Was ich tun mußte«, sagte er. »Weil du es warst.«
35 Sie schliefen nackt, die Arme umeinander gelegt, und verdrängten eine Weile die Welt, der sie sich am Morgen wieder stellen würden. Aber eine Zeitlang mußte es etwas für sie geben, nur für sie, wertvolle Stunden des Alleinseins, in denen sie im Flüsterton miteinander sprachen und das zu verstehen suchten, was sie verloren hatten und warum, -6 1 8
Stunden, in denen sie einander sagten, daß es nie wieder
verlorengehen würde.
Als der Morgen kam, wollten sie beide seine Ankunft leugnen
was sie nicht konnten. Da war die Welt, wie sie sie liebten, und
da war noch eine andere Welt, eine Welt, wie die Generale von
Aquitania sie haben wollten.
Während Val sich das Haar kämmte, ging Joel ans Fenster und
blickte auf Chamonix hinunter. Überall schienen
Wasserschläuche zu sein, mit denen die Straßen gesäubert
wurden. Die Ladenfassaden wurden abgespritzt, bis sie
glänzten. Chamonix bereitete sich auf den Ansturm der
Sommertouristen vor - und wenn man das bedachte, hatten sie
Glück gehabt, Zimmer zu finden, überlegte Joel.
»Ich werde dir später Kleidung besorgen«, sagte Val, die hinter
ihn getreten war und jetzt den Kopf auf seine Schulter legte.
»Das hat mir gefehlt«, sagte er und drehte sich um und legte
die Arme um sie. »Du hast mir gefehlt. So sehr.«
»Wir haben einander gefunden, Darling. Das ist alles, worauf es
jetzt ankommt.« Es klopfte an der Türe, das höfliche Klopfen
eines Kellners. »Das wird der Kaffee sein. Du kannst meine
Zahnbürste benutzen.«
Sie saßen sich an dem kleinen Marmortisch vor dem Fenster
gegenüber. Die Zeit war da, sie wußten es beide. Joel legte ein
Blatt vom Briefpapier des Hotels neben seinen Kaffee und
einen Stift darauf.
»Ich komme im mer noch nicht über die Geschichte mit meiner
Tante weg!« sagte Val plötzlich. »Wie konnte ich das nur tun?
Wie konnte ich das nicht wissen?«
»Die Frage habe ich mir selbst auch ein paarmal gestellt.« Joel
lächelte sanft. »In bezug auf dich, meine ich.«
»Ich bin überrascht, daß du mich nicht aus der Seilbahnkabine
geworfen hast.«
»Das ist mir nur zweimal kurz in den Sinn gekommen.«
»Herrgott, war ich dumm!«
-6 1 9
»Nein, verzweifelt warst du«, korrigierte Joel. »Ebenso, wie sie
verzweifelt war. Du hast dich an Möglichkeiten geklammert,
Hilfe gesucht. Und sie hat verzweifelt versucht, Anschluß an die
einzig vernünftige, sinnvolle Zeit in ihrem Leben zu finden.
Wenn man so empfindet, kann man schrecklich überzeugend
wirken. Du hast ihr geglaubt. Ich hätte ihr auch geglaubt.«
»Wenn du freundlich bist, bist du umwerfend, Darling. Mach
mir's nicht schwer, es ist Morgen.«
»Erzähl mir von Sam Abbott«, sagte er.
»Ja, natürlich, aber bevor ich das tue, sollst du wissen, daß wir
nicht allein sind. Es gibt da einen Mann in Paris, einen
Inspektor der Sürete, der weiß, daß du Rene nicht getötet hast
und auch den am Georges V. nicht getötet haben kannst, der
als Chauffeur bezeichnet worden ist.«
Erschreckt zuckte Joel zurück. »Aber ich habe den Mann
getötet. Das war, weiß Gott, nicht meine Absicht - ich glaubte,
er würde nach einer Waffe greifen und nicht nach einem
Funkgerät -, aber ich habe mit ihm gekämpft, seinen Kopf
gegen die Wand geschlagen. Er ist an der Schädelverletzung
gestorben.«
»Nein, das ist er nicht. Er ist im Krankenhaus getötet worden.
Man hat ihn erstickt. Das hatte nichts mit seinen anderen
Verletzungen zu tun. So hat es mir Prudhomme gesagt. Er
glaubt, daß das Beweismaterial gegen dich gefälscht worden
ist. Er weiß aber nicht warum, wie er auch nicht begreifen kann,
weshalb man Beweismaterial unterdrückt oder es plötzlich
gefunden hat, wo man es doch schon früher gefunden haben
müßte, wenn es wirklich existiert hätte - in diesem Fall deine
Fingerabdrücke in Mattilons Büro. Er will uns helfen; er hat mir
eine Telefonnummer gegeben, unter der wir ihn erreichen
können.«
»Können wir ihm vertrauen?« fragte Joel und machte sich eine
Notiz auf dem Briefbogen.
»Ich glaube schon. Er hat gestern morgen etwas
Bemerkenswertes getan, aber darauf komme ich noch.«
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»Der Mann im George V.«, sagte Converse leise. »Bertholdiers
Adjutant. Dort fing die Flucht an. Es ist, als hätte jemand diesen
Augenblick genutzt, als hätte jemand plötzlich eine mögliche
Strategie erkannt. > Wir können ihn jetzt als Killer abstempeln,
vielleicht können wir das später benutzen, darauf aufbauen.
Und das einzige, was es kostet, ist ein Leben.< Herrgott!« Joel
riß ein Streichholz an und zündete sich eine Zigarette an.
»Weiter«, fuhr er fort. »Was war mit Sam?«
Sie erzählte ihm alles, angefangen mit der Aufregung im St.
Regis in New York - der Telefonanruf, der junge Mann, der die
Treppen hinaufrannte, und der Offizier, der sie auf der Straße
verfolgt hatte.
»Das Seltsame daran«, unterbrach Joel, »ist, daß diese
Männer und der Anruf vielleicht in Ordnung waren.«
»Was? Wie? Der erste sah wie ein Hitlerjunge aus und der
andere trug Uniform!«
»Die meisten Leute in Uniform würden die Generale von
Aquitania am liebsten in die Wüste schicken. Erinnere dich
daran, daß Fitzpatrick gesagt hat, jene vier Dossiers müßten
aus amtlichen Archiven kommen. Connal hat aus dem Material
den Schluß gezogen, daß das Militär eine ganze Menge dazu
beigetragen haben muß. Vielleicht beginnen meine stummen
Partner in Washington inzwischen, aus ihren Verstecken zu
kriechen. Aber fahr fort.«
Sie berichtete ihm von dem Treffen mit Sam in dem
Schnellimbiß in Las Vegas.
»Ihr drei wolltet nach Washington fliegen?«
»Ja.«
»Du und Sam und dieser dritte Mann, den er aufsuchen, mit
dem er sprechen wollte - der, von dem er sagte, daß er wissen
würde, was zu tun sei.«
»Ja. Der Mann, der Sam töten ließ. Er war der einzige, mit dem
Sam gesprochen hat.«
»Aber Abbott hat doch gesagt, daß er ihm vertraue. >Sein
Leben<, hast du, glaube ich, gesagt.«
-6 2 1
»Das hat Sam gesagt«, korrigierte Valerie. »Er hatte unrecht.«
»Nicht unbedingt. Sam war nicht der Mensch, sich leicht
täuschen zu lassen. Er hat sich seine Freunde sorgfältig
ausgewählt; er hatte nicht viele, weil er wußte, daß sein Rang
ihn verletzbar machte.«
»Aber er hat doch sonst mit niemandem gesprochen...«
»Ich bin sicher, daß er das nicht getan hat. Aber dieser andere
Mann mußte es tun. Ich weiß etwas über Krisenkonferenzen in
Washington - und genau das ist es, was Sam gemeint hat, als
er sagte, ihr würdet dort hingehen. Solche Konferenzen
passieren nicht einfach. Man muß einigen Druck ausüben, um
sich einen Weg durch den bürokratischen Sumpf zu bahnen.
Ganz sicher würde Sam als erster erwähnt werden und
möglicherweise auch mein Name oder deiner oder sogar
Delavane.« Converse griff nach seinem Stift. »Wie hieß der
Mann?«
»O Gott«, sagte Val, schloß die Augen und massierte sich die
Stirn. »Laß mich nachdenken... Alan, der Vorname war Alan...
Alan Metzger? Metland...?«
»Hat Sam einen Rang erwähnt, irgendeinen Titel?«
»Nein. Metcalf! Alan Metcalf.«
Joel schrieb den Namen auf. »Okay, und jetzt Paris, der Mann
von der Sürete.«
Sie begann bei dem eigenartigen Verhalten der Grenzbeamten
und erzählte alles, bis hin zu den verblüffenden Enthüllungen
des Franzosen.
»Die Tatiana-Familie?« fragte Joel ungläubig. »Bist du sicher?«
»Absolut. Ich habe ihn gestern morgen noch einmal gefragt.«
»Gestern morgen? Ach ja, du hast gesagt, er hätte gestern
morgen etwas Bemerkenswertes getan. Was ist passiert?«
»Er hat die ganze Nacht in seinem Wagen vor dem Hotel
gewartet. Und als ich kurz nach Sonnenaufgang mit einem Taxi
wegfuhr, hat er den Wagen hinter uns gerammt wirklich
gerammt. Ich wurde verfolgt. Er sagte mir, ich solle mich
-6 2 2
beeilen und verschwinden, und ich habe ihn gebeten, den
Namen zu wiederholen.«
»Das war der Name, den Rene mir genannt hat, den ich bei
Gort Thorbecke in Amsterdam benutzen sollte. >Sag, du seist
ein Mitglied der Tatiana-Familie.< Das war seine Anweisung.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Anständige Männer, die sich aus dem einen oder anderen
Grund in einer Welt wiederfanden, die sie wahrscheinlich
haßten, Männer, die nie wußten, wem sie vertrauen konnten,
haben sich einen Code ausgedacht. Ich wette, daß es ein
verdammt kleiner Kreis ist. Rene und dieser Prudhomme haben
dazugehört. Und für uns ist das ein Schlüssel, wir können ihm
vertrauen.«
»Du bist wieder vor Gericht, nicht wahr?« sagte Valerie.
»Ich kann nicht anders. Fakten, Namen, Taktiken; irgendwo gibt
es eine Lücke, einen Weg, den wir einschlagen können - den
wir einschlagen müssen. Und zwar schnell.«
»Ich würde mit Prudhomme anfangen«, sagte Val.
»Wir werden ihn auffordern, seine Karten offenzulegen, aber
vielleicht nicht als ersten Schritt. Wir wollen die Dinge doch der
Reihe nach angehen. Gibt es hier noch ein zweites Telefon?
Eine bestimmte Frau hat mich heute nacht zu sehr abgelenkt.«
»Kusch. Ja, da ist noch ein zweites Telefon. Im Badezimmer.«
»Ich möchte, daß du diesen Metcalf, Alan Metcalf, in Las Vegas
anrufst. Wir lassen uns die Nummer von der Information geben.
Ich werde zuhören.«
»Was soll ich sagen?«
»Welchen Namen hast du bei Sam benutzt?«
»Den, den ich dir genannt habe. Parquette.«
»So meldest du dich. Soll er den ersten Schritt tun. Wenn er
falsch ist, werde ich es wissen, dann lege ich auf. Wenn du es
hörst, legst du ebenfalls auf.«
»Und wenn er nicht da ist? Wenn ich nur seine Frau oder seine
Freundin oder ein Kind erreiche?«
-6 2 3
»Dann nennst du schnell deinen Namen und sagst, du würdest
in einer Stunde wieder anrufen.«
Der Zivilist saß auf dem Sofa, die Füße auf dem Tisch. Ihm
gegenüber saßen auf zwei Polstersesseln der Army-Captain
in Zivil - und der junge Lieutenant von der Navy, ebenfalls in
Straßenkleidung.
»Dann sind wir uns also einig«, sagte Stone. »Wir versuchen es
mit diesem Metcalf und hoffen, daß es klappt. Wenn wir unrecht
haben - wenn ich unrecht habe -, könnte man uns ausfindig
machen. Und machen Sie sich nichts vor, man hat Sie hier
gesehen, man könnte Sie identifizieren. Aber wie ich schon
einmal gesagt habe, einmal kommt die Zeit, wo man ein Risiko
eingehen muß, das man vielleicht lieber nicht eingehen würde.
Sie befinden sich jetzt nicht mehr auf sicherem Territorium und
können nur hoffen, daß bald alles vorbei ist. Versprechen kann
ich es Ihnen nicht. Dieses Telefon ist mit einer anderen
Nummer verbunden, einem Hotel auf der anderen Seite der
Stadt, das verschafft uns etwas Zeit, etwa so lange, bis dort
jeder einzelne Gast und jedes Zimmer überprüft worden sind.
Wenn die das hinter sich haben, könnte jeder erfahrene
Telefonmechaniker in den Keller gehen und die Schaltung
finden.«
»Wieviel Zeit verschafft uns das?« fragte der Army-Offizier.
»Es ist eines der größten Hotels in New York«, erwiderte der
Zivilist. »Wenn wir Glück haben, zwanzig bis sechsunddreißig
Stunden.«
»Dann machen wir's!« Das war der Mann von der Navy.
»Ja, auf jeden Fall«, sagte der Captain und fuhr sich mit der
Hand durchs Haar. »Ja, natürlich, versuchen Sie es, versuchen
Sie es mit ihm. Aber ich bin immer noch nicht sicher, warum?«
»Weil es logisch ist. Abbott hat sich jeden Tag seine
Verabredungen aufgeschrieben und war da sehr präzise. Es
gab da eine ganze Menge Mittagessen allein mit Metcalf oder
Abendessen, wo sich beide Familien trafen. Ich glaube, er hat
dem Mann vertraut, und als langjähriger Abwehroffizier war
-6 2 4
Metcalf auch der logische Kontakt. Und dann ist da noch etwas.
Sie waren alle drei Kriegsgefangene in Vietnam, Converse,
Abbott und Metcalf.«
»Da ist ein Anrufbeantworter!« schrie Val, den Hörer in der
Hand.
Joel kam aus dem Badezimmer. »Eine Stunde«, flüsterte er.
»Eine Stunde«, sagte sie. »Miß Parquette ruft in einer Stunde
wieder an.« Sie legte auf.
»Und jede Stunde wieder«, fügte Converse hinzu und sah das
Telefon an. »Mir gefällt das nicht. Dort drüben ist es ein Uhr
morgens, und wenn er Frau oder Kinder hat, hätte jemand dort
sein sollen.«
»Sam hat keine Familie erwähnt. Laß mich Prudhomme
anrufen«, sagte Valerie. »Laß uns diesen Tatiana-Code
benutzen.«
»Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Wir brauchen etwas anderes - er braucht etwas anderes.«
Plötzlich fiel Joels Blick auf den dicken, an Nathan Simon
adressierten Umschlag. Er lag auf der Kommode und darauf
sein falscher Paß. »Mein Gott, vielleicht haben wir es schon«,
sagte er leise. »Er war die ganze Zeit da, und ich habe es nicht
gesehen.«
Val folgte seinen Augen. »Die Analyse, die du für Nathan
geschrieben hast?«
»Ich habe das den besten Bericht genannt, den ich je
geschrieben habe, aber natürlich ist er das gar nicht. Das
Schriftstück geht überhaupt nicht auf juristische Punkte ein, nur
im weitesten Sinne. Es ist ohne Beweismaterial, das die
Anklagen untermauern könnte. Worauf es eingeht, sind die
pervertierten Ambitionen mächtiger Männer, die die Gesetze
ändern wollen, Regierungen ändern, an ihre Stelle
Militärdiktaturen setzen wollen, und alles mit dem angeblichen
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Ziel, das Gesetz aufrechtzuerhalten und die Ordnung zu
bewahren.«
»Worauf willst du hinaus, Joel?«
»Wenn ich hier einen Fall aufbauen soll, dann sollte ich das am
besten auf die Art und Weise tun, die ich gelernt habe - von der
Prämisse zu Schlüssen, die auf Aussagen basieren -,
angefangen mit meiner eigenen und endend mit
Untersuchungen, die vor dem Prozeß angestellt werden.«
»Wovon, zum Teufel, redest du?«
»Vom Gesetz, Mrs. Converse«, sagte Joel und griff nach dem
Umschlag. »Und davon, wofür es gedacht ist. Ich kann den
größten Teil von dem, was hier ist, gebrauchen - nur in anderer
Form. Natürlich werde ich weitere bestätigende Aussagen
brauchen. Und an dem Punkt wirst du diesen Prudhomme
anrufen und den Tatiana-Code benutzen. Und dann werden wir
hoffentlich Sams Freund erreichen, diesen Metcalf - verdammt,
irgend etwas muß er haben, was er uns geben kann... Am Ende
werde ich wenigstens zwei der mutmaßlichen Angeklagten
mündlich verhören - Leifhelm zum einen und wahrscheinlich
Abrahms, vielleicht auch Delavane selbst.«
»Du bist verrückt!« rief Valerie.
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Joel. »Ich werde Hilfe
brauchen, das weiß ich. Aber ich habe genug Geld, um ein paar
Kompanien anzuheuern - Leute, die es mit dem Gesetz nicht so
genau nehmen. Und sobald Prudhomme einmal begriffen hat,
daß ich eine gute Idee habe, wird er wahrscheinlich auch
wissen, wo man solche Typen findet. Wir haben eine Menge
Arbeit, Val. Alle Gerichte haben gerne makellose Schriftsätze.«
»Bitte, Joel, sprich so, daß man dich verstehen kann.«
»Wir brauchen eine Stenografin - eine Anwaltssekretärin, wenn
du eine finden kannst. Jemand, der bereit ist, den ganzen Tag
und die halbe Nacht hier zu bleiben, wenn es notwendig sein
sollte. Biete das Dreifache des üblichen Honorars.«
»Angenommen, ich finde eine«, sagte Val. »Was, um Himmels
willen, willst du ihr diktieren?«
-6 2 6
Joel runzelte die Stirn und ging hinüber zum Fenster. »Einen
Roman«, sagte er und drehte sich um. »Wir schreiben einen
Roman. Die ersten zwanzig oder dreißig Seiten werden sich mit
einem Fall vor Gericht, einem Prozeß befassen.«
»Der von Menschen handelt, die jeder kennt?«
»Es ist eine neue Art von Roman, Polit-Fiction könnte man das
nennen, aber nur ein Roman. Mehr nicht.«
Es wurde Morgen in New York, und Stone war wieder allein.
Der Navy-Leutnant und der Army-Captain waren zurückgekehrt
an ihre Schreibtische in Washington. So war es besser; sie
konnten ihm nicht helfen, und je weniger man sie in der Nähe
des Apartments sah, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit,
daß sie entdeckt wurden. Und dazu mußte es kommen, das
wußte Stone. Das war ebenso klar wie die Tatsache, daß
Colonel Alan Metcalf der Akkord war, mit dem sie ihr Stück
einleiten mußten. »Ohne ihn«, so hätte Johnny Reb es in den
alten Tagen wahrscheinlich formuliert, »kommt die Melodie
nicht aus der Geige.« Aber würde er kommen? fragte sich der
ehemalige Beamte der Central Intelligence Agency. Metcalf war
verschwunden, das war die Nachricht aus Nellis, und die Leute,
die dort nachgeforscht hatten, konnten sich seine Abwesenheit
nicht erklären.
Aber Stone begriff. Metcalf wußte jetzt alles, und er würde nicht
mehr nach den Regeln spielen, wie sie im Buch standen, nicht,
wenn er sein Handwerk verstand, nicht wenn er noch lebte.
Und dann war da noch etwas, womit Stone rechnete. Metcalf
würde seinen Anrufbeantworter aus der Ferne programmieren
und abhören, würde löschen, was er löschen wollte, und
gewisse Informationen hinterlassen, vermutlich irreführende.
Außerdem würde es einen Code geben, wahrscheinlich einen,
der täglich wechselte und dazu führte, daß das Band binnen
zehn Sekunden von einem Mikrowellenimpuls zerstört wurde,
wenn der Code nicht richtig eingegeben wurde - all das war
üblich. Wenn Metcalf gut war. Wenn er noch lebte.
-6 2 7
Stone baute auf beides - daß der Colonel gut war und noch am Leben. Und das war der Grund, weshalb Stone vor einer Stunde, um sechs Uhr fünfunddreißig, eine Nachricht auf Metcalfs Telefonbeantworter hinterlassen hatte. Er hatte einen Namen gewählt, den die Frau von Joel Converse - seine ehemalige Frau - wahrscheinlich an den toten Samuel Abbott weitergegeben hatte. Marcus Aurelius steigt auf. Antworten und löschen, bitte. Dann hatte Stone die Telefonnummer seines Apartments angegeben, die, wenn man sie verfolgte, zum Hilton-Hotel an der Zweiundfünfzigsten Straße führen würde. Es gab nur noch eine weitere Person auf der Welt, von der Stone wünschte, sie erreichen zu können. Aber dieser Mann war »in Urlaub - wir haben keine Möglichkeit, ihn zu erreichen«. Das war offensichtlich eine Lüge, aber um die Lüge aufzudecken, hätte Peter mehr sagen müssen, als er sagen wollte. Der Mann war Derek Belamy, Chef der Geheimoperationen für Großbritanniens M. 1.6, und einer der wenigen Freunde, die Stone in all seinen Jahren bei der Central Intelligence Agency gehabt hatte. Belamy war ein so guter Freund, daß er Peter, als dieser noch Stationschef in London gewesen war, in aller Offenheit gesagt hatte, er solle aussteigen, ehe der Whisky ihn fertigmache. Ich habe einen Arzt, der dir eine Bestätigung schreibt, Peter. Und ein kleines Gästehäuschen in Kent. Dort kannst du bleiben und dich erholen, alter Junge. Stone hatte abgelehnt, und das war die vernichtendste Entscheidung gewesen, die er je getroffen hatte. Der Rest war der alkoholisierte Alptraum gewesen, den Belamy ihm prophezeit hatte. Aber nicht Dereks Sorge um einen Freund war es, die Peter jetzt suchte. Er suchte Belamys Brillanz, seinen scharfen Blick und seine Klugheit, die sich hinter einem freundlichen Äußeren verbargen. Und die Tatsache, daß Derek Belamy am Pulsschlag Europas lauschen konnte, eine Delavane-Operation riechen konnte, wenn man ihm die Fakten lieferte. Und wahrscheinlich, dachte Stone, war er im Augenblick damit beschäftigt, in Irland nach genau dem zu suchen - ganz sicher -6 2 8
war er jetzt dort. Über kurz oder lang - besser bald - mußte
Belamy seinen Anruf beantworten. Und dann würde er ihm in
allen Einzelheiten eine Munitionssendung aus Beloit,
Wisconsin, schildern. Derek Belamy verabscheute die
Delavanes dieser Welt. Sein alter Freund würde zu einem
Verbündeten gegen die Generale werden.
Das Telefon klingelte; der Zivilist blickte es an und ließ es noch
einmal klingeln. Metcalf? Er griff nach dem Hörer, hob ab.
»Ja?«
»Aurelius?«
»Irgendwie habe ich gewußt, daß Sie sich melden würden,
Colonel.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Ich heiße Stone, und wir stehen auf derselben Seite,
zumindest glaube ich das. Aber Sie tragen Uniform und ich
nicht. Also brauche ich etwas mehr Vertrauen zu Ihnen, können
Sie das verstehen?«
»Sie sind einer von diesen Bastarden in Washington, die ihn
ausgeschickt haben!«
»Fast richtig, Colonel. Ich bin später dazugekommen, aber ja,
ich bin einer von diesen Bastarden. Was ist mit General Abbott
passiert?«
»Man hat ihn umgebracht, Sie Hurensohn! .. .Ich nehme an,
dieses Telefon ist sauber.«
»Für wenigstens vierundzwanzig Stunden. Dann verschwinden
wir alle, so wie Sie verschwunden sind.«
»Keine Reue? Kein Gewissen? Wissen Sie, was Sie getan
haben?«
»Dafür haben wir keine Zeit, Colonel. Vielleicht später, wenn es
ein Später gibt... Hören Sie auf damit, Soldat! Wo können wir
uns treffen? Wo sind Sie?«
»Okay, okay«, sagte der offenbar erschöpfte Air-Force-Offizier.
»Ich habe ein halbes dutzendmal die Maschine gewechselt. Ich
bin in - wo, zum Teufel, bin ich? - in Knoxville, Tennessee. In
zwanzig Minuten fliege ich nach Washington.«
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»Warum?«
»Um diese ganze Sache hochgehen zu lassen, warum sonst?«
»Vergessen Sie es, Sie sind ein toter Mann. Ich hatte geglaubt,
das hätten Sie inzwischen kapiert. Sie haben auf die
Information hin, die Abbott Ihnen gegeben hat, etwas
vorbereitet, stimmt das?«
»Ja.«
»Und dann hat man ihn hochgehen lassen, stimmt's?«
»Verdammt noch mal, halten Sie den Mund!«
»Daraus hätten Sie lernen sollen. Die stecken an Orten, wo Sie
sie nicht sehen und auch nicht finden können. Aber das falsche
Wort zu der falschen Person, und dann finden die Sie.«
»Das weiß ich!« schrie Metcalf. »Aber ich bin jetzt seit zwanzig
Jahren in diesem Geschäft. Es muß doch irgend jemanden
geben, dem ich vertrauen kann!«
»Und darüber wollen wir reden, Colonel. Streichen Sie
Washington und kommen Sie nach New York. Ich besorge
Ihnen ein Zimmer im Algonquin - ich habe bereits eines
reservieren lassen.«
»Unter welchem Namen?«
»Marcus. Was denn sonst?«
»Geht klar, aber wenn wir schon so tief drinstecken, sollte ich
Ihnen eines sagen. Die Frau versucht mich seit ein Uhr heute
morgen zu erreichen.«
»Die Frau von Converse?«
»Ja.«
»Wir brauchen sie. Wir brauchen ihn!«
»Ich werde den Anrufbeantworter neu programmieren. Das
Algonquin?«
»Richtig.«
»Er ist aus New York, nicht wahr? Ich meine, er ist ein New
Yorker.«
»Was immer das bedeutet, ja. Er hat jahrelang dort gelebt.«
-6 3 0
»Ich hoffe, daß er schlau ist - daß sie beide schlau sind.«
»Sie würden nicht mehr leben, wenn sie nicht schlau wären.«
»Bis in ein paar Stunden, Stone.«
Der Zivilist legte auf, seine Hände zitterten und seine Augen
wanderten zu einer Flasche Bourbon auf der anderen Seite des
Zimmers. Nein! Er würde keinen Drink nehmen, das
Versprechen hatte er sich abgenommen! Er stand auf, verließ
das Zimmer und ging zu den Lifts am Ende des Korridors.
Ich, Joel Harrison Converse, Anwalt, zugelassen vor den
Gerichten des Staates New York und in Diensten der Kanzlei
Talbot, Brooks and Simon, 666 Fourth Avenue, New York City,
New York, kam am 9. August in Genf, Schweiz, an, um im
Auftrag unseres Klienten, der Comm Tech Corporation,
Gespräche mit dem Ziel eines lange geplanten
Firmenzusammenschlusses zu führen. Im folgenden werde ich
dies als die Comm Tech-Bern-Fusion bezeichnen. Am Morgen
des 10. August um etwa acht Uhr wurde ich von dem
Chefberater der Berner Gruppe, Mr. Avery Preston Halliday,
aus San Francisco, Kalifornien, kontaktiert. Der Amerikaner war
und erst kürzlich in die Dienste der Schweizer Firma getreten
war, erklärte ich mich einverstanden, mich mit ihm zu treffen,
um die anstehenden Punkte und unsere diesbezüglichen
Positionen abzuklären. Als ich an unserem Treffpunkt, einem
Cafe am Quai du Mont Blanc, eintraf, erkannte ich Mr. Halliday
als Studenten und Freund wieder, den ich vor Jahren an der
Taft-School in Watertown, Connecticut, kennengelernt hatte. Er
hieß damals Avery P. Fowler. Mr. Halliday bestätigte diese
Tatsache und erklärte, sein Familienname sei nach dem Tod
seines Vaters und der darauf folgenden Wiederverehelichung
seiner Mutter mit einem John Halliday in San Francisco
geändert worden. Die Erklärung war für mich ausreichend, die
Umstände allerdings nicht. Mr. Halliday hatte reichlich Zeit und
Gelegenheit gehabt, mich über seine Identität zu informieren,
hatte das aber nicht getan. Dafür gab es einen Grund. An
jenem Morgen des 10. August suchte Mr. Halliday ein
-6 3 1
vertrauliches Gespräch mit dem Unterzeichneten bezüglich
einer Angelegenheit, die in keinerlei Beziehung zu der Comm
Tech-Bern-Fusion stand. Dieses Gespräch war der eigentliche
Grund für seine Anwesenheit in Genf. Dies war die erste von
vielen beunruhigenden Enthüllungen...
Wenn die sehr ordentliche und distanzierte britische
Stenografin das geringste Interesse an dem Material hatte, das
sie vom Stenoblock auf Schreibmaschinenpapier übertrug, so
ließ sie sich das nicht anmerken. Die dünnen Lippen
zusammengekniffen, das graue Haar zu einem
ehrfurchtgebietenden Knoten zusammengesteckt, arbeitete sie
wie eine Maschine. Valeries etwas vorsichtig vorgebrachte
Erklärung, ihr Mann sei ein amerikanischer Romanschriftsteller,
der sich für die jüngsten Ereignisse in Europa interessierte,
führte nur zu einem kühlen Blick und der unverlangt
vorgebrachten Erklärung, daß die Sekretärin niemals fernsah
und nur selten Zeitung las. Sie war Mitglied des französisch
italienischen Alpenvereins, was ihre ganze Zeit und Energie in
Anspruch nahm, um die Naturschönheit vor den Menschen zu
schützen - wenn sie nicht damit beschäftigt war, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen. Sie war wie ein Automat. Man
hätte ihr aus der Bibel diktieren können, und Val bezweifelte, ob
die Frau gemerkt hätte, was sie tippt.
Alan Metcalf aus Las Vegas hatte immer noch nicht
geantwortet. Jedesmal meldete sich nur der Anrufbeantworter.
Es war Zeit, es zum achtenmal zu versuchen.
»Wenn wir ihn jetzt nicht erreichen«, sagte Joel grimmig,
begleitet vom leisen Klappern der Schreibmaschine auf der
anderen Seite des Zimmers, »dann rufst du Prudhomme an. Ich
wollte zuerst mit diesem Metcalf reden, aber möglicherweise
möglicherweise geht das nicht.«
»Welchen Unterschied macht das schon? Du brauchst schnell
Hilfe, und Prudhomme ist bereit, uns zu helfen.«
»Der Unterschied ist, daß ich weiß, woher Prudhomme kommt,
das hast du mir gesagt. Ich kann mir vorstellen, was er tun kann
und was nicht, aber über Metcalf weiß ich überhaupt nichts -
-6 3 2
nur daß Sam ihm vertraut hat. Wen auch immer ich zuerst
anrufe, ich muß ihm einiges erklären, muß Anklagen und
Beobachtungen vorbringen. Versuch es noch einmal mit
Metcalf.« Joel drehte sich um und ging an das Telefon,
während Valerie die Nummer in Las Vegas, Nevada, wählte.
»Anrufer C, Botschaft erhalten. Bitte identifizieren Sie sich
zweimal hintereinander, und zählen Sie langsam bis zehn.
Bleiben Sie in der Leitung.«
Joel legte das Telefon neben das Waschbecken und lief ins
Schlafzimmer hinüber. Er ging zu Val und hob die Hand,
während er nach dem Bleistift griff. Dann schrieb er auf ein Blatt
Hotelpapier.
»Weiter. Ruhig bleiben. P.S.E.«
»Hier spricht Miß Parquette«, sagte Valerie und runzelte
verwirrt die Stirn. »Hier spricht Miß Parquette. Eins, zwei, drei,
vier...«
Converse ging ins Badezimmer zurück, nahm den Hörer und
lauschte.
»...acht, neun, zehn.«
Schweigen. Schließlich ein scharfes Klicken, ein zweites, und
dann wieder die metallische Stimme.
»Bestätigt. Danke. Dies ist das zweite Band, das anschließend
gelöscht wird. Hören Sie gut zu. Es gibt einen Ort auf einer
Insel, die für ihre Stammesnächte bekannt ist. Der König wird
auf seinem Stuhl sein. Das ist alles. Wir brennen.«
Joel legte den Hörer auf und studierte die nur schwer lesbaren
Worte, die er hastig mit Seife auf den Badezimmerspiegel
gekritzelt hatte. Die Tür öffnete sich, und Valerie kam mit einem
Blatt Papier herein.
»Ich hab' es aufgeschrieben«, sagte sie und reichte ihm das
Blatt.
»Ich auch - aber so ist es besser. Herrgott, ein Rätsel!«
»Auch kein größeres als das, was du mir aufgegeben hat. Was,
um Himmels willen, heißt P. S. E?«
-6 3 3
»Psychologischer Streß-Evaluator<«, antwortete Converse,
lehnte sich gegen die Wand und las die Worte von Metcalfs
Botschaft. Er blickte zu ihr auf. »Das ist ein Stimmscanner, den
man an ein Telefon oder ein Tonbandgerät anschließen kann,
und der einem angeblich verrät, ob die Person, mit der man
spricht, lügt oder nicht. Larry Talbot hat eine Weile mit einem
von den Dingern gespielt, aber dann hat er behauptet, er
könnte niemanden finden, der die Wahrheit sagt, und das
schließe seine zweiundneunzigjährige Mutter ein. Er hat es
weggeworfen.«
»Funktioniert das?«
»Angeblich besser als ein Lügendetektor. In diesem Fall hat es
funktioniert. Man hat deine Stimme mit deinen anderen Anrufen
verglichen, und das bedeutet, daß dieser Metcalf technisch
verdammt gut ausgerüstet ist. Dieser Scanner hat das zweite
Band eingeschaltet, und das Ganze ist durch Fernsteuerung
von einem anderen Telefon aus gelaufen, sonst hätte er nach
der Probe selbst geantwortet.«
»Aber wenn ich sie bestanden habe, warum dann das Rätsel?
Warum eine Insel mit Stammesnächten.«
»Weil man jede Maschine dieser Art schlagen kann. Deshalb
sind sie vor Gericht nicht zulässig. Vor Jahren hat man Willie
Sutton an einen Lügendetektor angeschlossen, und nach dem,
was dabei rauskam, hat er niemals ein Sparschwein
aufgebrochen, geschweige denn die Chase-Manhattan-Bank.
Metcalf war bereit, ein Risiko einzugehen, aber er wollte sich
nicht ganz darauf verlassen. Er ist ebenfalls auf der Flucht.«
Converse wandte sich wieder dem Blatt Papier zu.
»Eine Insel.« Val sprach mit leiser Stimme und las die mit Seife
auf den Spiegel gekritzelten Worte. »Stämme... die karibischen
Stämme; die gab es überall auf den Antillen. Oder Jamaica
Stammesnächte, Obeah-Rituale, Voodoo-Riten auf Haiti. Selbst
die Bahamas - die Lucayan-Indianer -, die haben
Pubertätsriten.«
»Du beeindruckst mich«, sagte Joel und blickte von dem Blatt
auf. »Woher weißt du das?«
-6 3 4
»Kunstkurse«, antwortete sie. »Aber das paßt nicht, das ist
alles zu weit hergeholt.«
»Warum? Er könnte irgendeinen Ort in der Karibik meinen,
einen Urlaubsort, für den viel geworben wird. Der König ist ein
Kaiser. Das muß Delavane bedeuten. Mad Marcus wie im
Marcus Aurelius. Und dann fallen mir die Fernsehcommercials
ein, die Anzeigen in den Zeitungen - Bilder von Leuten,
Limbotänzer unter Fackeln, kostümierte Neger, die freundlich
grinsen und dabei die Dollars zählen.«
»Zu abgelegen«, wiederholte Val. »Das sind keine
repräsentativen Bilder.«
»Wovon, zum Teufel, redest du jetzt?« wandte Converse ein.
»Das ist zu weit hergeholt, Joel, zu viele Orte, aus denen man
wählen kann. Orte, die du vielleicht nicht kennst. Es muß näher
sein, dir und mir vertrauter, etwas, das wir erkennen können.«
Valerie nahm ihm das Blatt weg. »Manhattan ist eine Insel«,
sagte sie leise, las und runzelte dann wieder die Stirn.
»Wenn es dort Fackeln und Stammesriten gibt, dann ist das
nicht mein Teil der Stadt.«
»Nicht Stammesriten, Stammesnächte«, verbesserte Val.
»Stammes -, vielleicht nicht Schwarze, sondern Rote? >Der
König wird auf seinem Stuhl - Stuhl... Tisch. Sein Tisch.
Stammes... Nächte. Nächte! Das haben wir falsch gelesen.
Nights!«
»Wie kann man es sonst noch lesen?«
»Nicht >nights<, sondern >knights
»Und ein Tisch«, unterbrach Converse. »Die Ritter der Runden
Tafel.«
»Aber nicht die Artus-Legende, nicht Camelot. Viel näher.
Stammes - Amerikanische Eingeborene. Amerikanische
Indianer.«
»Algonquins. Die Runde Tafel!«
»Das Algonquin-Hotel«, rief Valerie. »Das ist es, das hat er
gemeint!«
-6 3 5
»Das wissen wir in ein paar Minuten«, sagte Joel. »Geh hinein und rufe an.« Das Warten war unerträglich und endlos. Converse musterte sein Gesicht im Spiegel. Der Schweiß quoll ihm aus allen Poren, und das Salz brannte in seinen Wunden. Und was viel beunruhigender war, seine Hand zitterte. Die Vermittlung des Algonquin meldete sich, und Val verlangte einen Mr. Marcus. Einen Augenblick herrschte Schweigen, und als die Vermittlung sich wieder meldete, dachte Joel, er müsse den Telefonhörer gegen den Spiegel schmettern. »Hier sind zwei Marcus registriert, Mam. Welchen wollen Sie sprechen?« »Verdammt!« schimpfte Val plötzlich am Telefon und erschreckte Converse damit. »Mein Boß, dieser Verrückte, hat mir gesagt, ich sollte sofort Mr. Marcus im Algonquin anrufen und ihm sagen, wo sie sich zum Lunch treffen. Jetzt ist er irgendwohin verschwunden, und ich weiß nicht weiter.« »Schon in Ordnung, solche Leute gibt's.« »Vielleicht können Sie mir helfen. Welcher Marcus es ist, meine ich. Vielleicht erkenne ich ihn am Vornamen oder der Firma.« »Aber sicher, wird gemacht. Schließlich müssen wir Mädchen doch zusammenhalten bei solchen Chefs, stimmt's?... Okay, da sind sie. Marcus, Myron. Sugarman's Original Replikate, Los Angeles. Und Marcus, Peter... hilft auch nicht weiter, wie? Da steht bloß Georgetown, Washington, D.C.« »Das ist der richtige. Peter. Jetzt weiß ich es. Vielen Dank.« »Aber gerne. Ich stelle durch.« Die New York Times auf den Knien, setzte Stone die letzten zwei Worte ins Kreuzworträtsel ein und sah auf die Uhr. Er hatte neun Minuten dazu gebraucht, neun Minuten der Entspannung; er wünschte, es hätte länger gedauert. Eine der Freuden seiner Stellung in London als Stationschef war das Kreuzworträtsel in der London Times gewesen. Das war immer mindestens eine halbe Stunde gewesen, in der er auf der -6 3 6
Suche nach Worten und Bedeutungen seine Probleme
vergessen hatte.
Das Telefon klingelte. Stones Kopf fuhr herum. Er starrte den
Apparat an, sein Puls ging schneller, seine Kehle war plötzlich
ausgetrocknet. Niemand wußte, daß er sich unter dem Namen
Marcus im Algonquin eingetragen hatte. Niemand!... Ja doch,
da war jemand, aber der war jetzt in der Luft, war von Knoxville,
Tennessee, nach New York unterwegs. Was war
schiefgegangen? Oder hatte er sich in Metcalf geirrt? War der
scheinbar zornige, predigende Abwehroffizier von der Air Force
einer von denen? Hatten ihn seine eigenen Instinkte, geschult
und geschärft in unzähligen Jahren, hatten seine Instinkte ihn
verlassen, weil er so verzweifelt nach einer Öffnung suchte,
einem Fluchtweg aus einem stählernen Netz, das sich über ihn
herabsenkte? Er stand auf und ging langsam, voll Angst an den
Tisch und hob den Hörer des hartnäckig klingelnden Telefons
ab.
»Ja?«
»Alan Metcalf?« sagte die weiche, feste Stimme einer Frau.
»Wer?« Stone verblüffte der Name so, daß er sich kaum
konzentrieren, kaum denken konnte!
»Ich bitte um Entschuldigung, ich muß das falsche Zimmer
haben.«
»Warten Sie! Legen Sie nicht auf. Metcalf ist hierher
unterwegs.«
»Es tut mir leid.«
»Bitte! Herrgott, bitte! Ich war müde, ich habe geschlafen. Wir
waren Tag und Nacht auf... Metcalf. Ich habe vor zwei Stunden
mit ihm gesprochen. Er sagte, er würde seinen
Anrufbeantworter neu programmieren, jemand versuchte, ihn
seit ein Uhr früh zu erreichen. Er mußte dort weg. Ein Mann ist
getötet worden, ein Pilot. Es war kein Unfall! Sagt Ihnen das
etwas?«
»Warum sollte ich mit Ihnen reden?« fragte die Frau. »Damit
Sie herausbekommen, woher ich anrufe?«
-6 3 7
»Hören Sie mir zu«, sagte Stone, der seine Stimme jetzt wieder völlig unter Kontrolle hatte. »Selbst wenn ich das wollte - und das will ich nicht -, das ist ein Hotel, keine private Leitung, und um das zu tun, was Sie andeuten, würde ich wenigstens drei Männer brauchen und einen weiteren in der Zentrale. Und selbst mit einer solchen Einheit würde ich wenigstens vier Minuten brauchen, ehe man das Suchsignal aussenden könnte - und selbst dann würden wir nur die allgemeine Gegend erfahren, nicht den Standort des Apparates, von dem aus Sie sprechen. Und falls Sie aus Übersee anrufen, würden wir einen weiteren Mann brauchen, einen Experten, und zwar an Ihrem Ort, um die Suche auf einen Umkreis von vielleicht zwanzig Meilen einschränken zu können. Und auch das nur, wenn Sie wenigstens acht Minuten an Ihrem Telefon blieben. Und jetzt geben Sie mir um Gottes willen wenigstens zwei!« »Weiter. Schnell!«
»Ich werde etwas unterstellen. Vielleicht sollte ich das nicht,
aber Sie sind eine sehr kluge Frau, Mrs. De Pinna, und Sie
könnten es tun.« »Depinna?«
»Ja. Sie haben ein Telefonbuch offen liegengelassen, so daß
die blauen Seiten, die mit den Regierungsstellen, aufgeklappt
waren. Als der Unfall in Nevada passierte, habe ich eine
einfache Kombination in bezug auf eine Eintragung in dem
Buch angestellt und zwei Stunden später erfahren, daß ich
recht hatte. Metcalf hat meinen Anruf erwidert - aus einer
Telefonzelle auf einem Flughafen. Ein Pilot, ein General, hatte
ausführlich mit ihm gesprochen. Er schließt sich uns an... Sie
sind vor den falschen Leuten geflohen, Mrs. De Pinna. Aber ich
glaube, daß der Mann, den wir finden wollen, dieses Gespräch
ebenfalls mit anhört.«
»Hier ist sonst niemand!« »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß jede Sekunde nutzen.« Stones Stimme wurde plötzlich kräftiger. »Leifhelm, Bertholdier, Van Headmer, Abrahms. Und ein fünfter Mann, den wir nicht identifizieren können, ein Engländer, der so gut getarnt ist, daß Burgess, MacClean und Blunt im Vergleich zu ihm wie -6 3 8
Amateure wirken. Wir wissen nicht, wer er ist, aber es gibt ihn,
und er nutzt Lagerhäuser in Irland, Frachtschiffe und lang
vergessene Flugplätze, um Material zu transportieren, das
überhaupt nicht abgesandt werden dürfte. Diese Akten sind von
uns gekommen, Converse! Wir haben sie Ihnen geschickt! Sie
sind Rechtsanwalt, und Sie wissen, daß ich mich selbst belaste,
indem ich Ihren Namen benutze, oder Selbstmord begehe,
wenn jemand dieses Gespräch aufzeichnet. Ich gehe noch
weiter. Wir haben Sie über Preston Halliday in Genf
ausgeschickt. Wir haben Sie ausgeschickt, um eine Anklage
aufzubauen - damit wir diese Geschichte mit einem Minimum
an Fallout hochgehen lassen können, damit wir alle diese
verdammten Idioten wieder zurück auf den Boden der Realität
holen können. Aber wir haben uns geirrt. Die waren schon viel
weiter, als wir je angenommen hatten. Als wir je angenommen
hatten - aber nicht Beale auf Mykonos. Er hatte verdammt
recht, und jetzt ist er tot. Übrigens, er war der >Mann aus San
Francisco<. Die fünfhunderttausend Dollar waren von ihm. Er
stammte aus einer reichen Familie die ihm unter anderem auch
ein Gewissen hinterlassen hat. Erinnern Sie sich an Mykonos!
An das, was er gesagt hat - was sein Leben war. Vom
gefeierten Soldaten zum Gelehrten - zu einem Mord, den er
begehen mußte, und bei dem ein Stück von ihm gestorben sein
muß. Er sagte, Sie hätten ihn fast bei ein paar Dingen ertappt,
die er nicht sagen wollte. Er sagte, Sie seien ein guter Anwalt,
eine gute Wahl. Preston Halliday war einer seiner Studenten in
Berkeley, und als das vor eineinhalb Jahren anfing, als Halliday
erkannte, was Delavane tat und wie er selbst mißbraucht
wurde, ging er zu Beale, der damals gerade im Begriff war, in
den Ruhestand zu gehen. Den Rest können Sie sich selbst
zusammenreimen.«
Die Stimme der Frau unterbrach ihn. »Sagen Sie das, was ich
von Ihnen hören will. Sagen Sie es!«
»Natürlich tue ich das. Converse hat Peregrine nicht getötet,
und er hat auch den NATO-Oberbefehlshaber nicht getötet.
Beide wurden auf Befehl von Delavane ermordet - George
Marcus Delavane -, weil beide Männer ihn und seinesgleichen
-6 3 9
auf die Matte gelegt hätten! Sie waren bequeme, sehr bequeme Ziele. Über die anderen weiß ich nichts - ich weiß nicht, was Sie durchgemacht haben -, aber einen Lügner haben wir in Bad Godesberg zerbrochen, den Major von der Botschaft, der Sie, Converse, an der Adenauer-Brücke gesehen haben will! Er weiß es nicht, aber wir haben ihn zerbrochen und dabei etwas erfahren. Wir glauben zu wissen, wo Connal Fitzpatrick ist, wir glauben, er lebt!« Eine Männerstimme mischte sich ein. »Ihr Dreckskerle«, entfuhr es Joel Converse. »Dem Himmel sei Dank!« sagte der Zivilist und setzte sich auf das Hotelbett. »Jetzt können wir sprechen. Wir müssen sprechen. Sagen Sie mir alles, was Sie können. Dieses Telefon ist sauber.« Zwanzig Minuten später legte Peter Stone mit zitternden Händen den Hörer auf.
36 General Jacques Louis Bertholdier hielt in den kreisenden, stoßenden Hüftbewegungen ein und löste sich von der stöhnenden dunkelhaarigen Frau, rollte sich zur Seite und griff nach dem Telefon. »Ja?« rief er zornig, und dann lauschte er. Sein von der Erregung gerötetes Gesicht wurde aschfahl. »Wo ist das passiert?« flüsterte er, aber es war kein vertrauliches Flüstern, sondern eines der plötzlichen Angst. »Boulevard Raspair? Die Anklage?... Rauschgift? Unmöglich*« Ohne das Telefon loszulassen, schwang der General die Beine über die Bettkante, lauschte konzentriert und starrte die Wand an. Die nackte Frau erhob sich auf die Knie, lehnte sich an ihn, preßte ihre Brüste gegen seinen Rücken, und ihr offener Mund liebkoste sein Ohr, ihre Zähne knabberten an seinem Ohrläppchen.
-6 4 0
Bertholdier schlug plötzlich wild mit dem Arm nach hinten,
schmetterte der Frau den Telefonhörer ins Gesicht und stieß
sie auf die andere Bettseite. Blut schoß aus ihrer aufgeplatzten
Unterlippe.
»Wiederholen Sie das, bitte«, rief er ins Telefon. »Dann ist das
ja wohl offensichtlich, oder? Man darf den Mann nicht weiter
verhören, oder? Es gilt immer, die größere Strategie im Auge
zu behalten, man muß im Feld mit Verlusten rechnen, non? Ich
fürchte, das ist wieder die gleiche Geschichte wie mit dem
Krankenhaus. Dann kümmern Sie sich also darum, als guter
Offizier, der Sie sind. Der Verlust der Legion war ein immenser
Gewinn für uns... Oh? Wie war das? Der Beamte, der die
Verhaftung durchgeführt hat, war Prudhomme?« Bertholdier
hielt inne, sein Atem ging jetzt wieder regelmäßig. Und dann
traf er eine Kommandoentscheidung. »Ein hartnäckiger
Bürokrat von der Sürete, der nicht lockerlassen will? Er ist Ihr
zweiter Auftrag, den Sie mit Ihrem üblichen Geschick
durchführen werden, ehe der Tag um ist. Rufen Sie mich an,
wenn beide Fälle abgeschlossen sind, und betrachten Sie sich
als Adjutant von General Jacques Bertholdier.«
Der General legte auf und wandte sich der dunkelhaarigen Frau
zu, die sich mit einem Bettlaken die Lippen abwischte und in
deren Blick sich Zorn, Verlegenheit und Angst mischten.
»Ich bitte um Entschuldigung, meine Liebe«, sagte er höflich.
»Aber du mußt jetzt gehen. Ich muß telefonieren und ein paar
geschäftliche Dinge erledigen.«
»Ich werde nicht zurückkommen!« rief die Frau empört.
»Du wirst wiederkommen«, sagte die Legende Frankreichs,
hoch aufgerichtet. »Wenn man dich dazu auffordert.«
Erich Leifhelm trat mit schnellen Schritten in sein Arbeitszimmer
und an den großen Schreibtisch, wo er einem Angestellten im
weißen Jackett das Telefon abnahm und den Mann mit einem
kurzen Kopfnicken entließ. Als die Tür geschlossen war, fragte
er. »Was ist?«
»Man hat den Geyner-Wagen gefunden, Herr General.«
-6 4 1
»Wo?«
»Appenweier.«
»Und wo ist das?«
»Ein Städtchen in der Nähe von Kehl. Im Elsaß.«
»Straßburg! Er hat die Grenze nach Frankreich überschritten!
Als Priester!«
»Ich verstehe nicht, Herr...«
»Schon gut! Wen haben Sie in dem Sektor?«
»Nur einen Mann, Herr General. Den Mann bei der Polizei.«
»Sagen Sie ihm, er soll andere rekrutieren. Schicken Sie sie
nach Straßburg! Suchen Sie dort nach einem Priester!«
»Verschwinde hier!« brüllte Chaim Abrahms, als seine Frau in
die Küche kam. »Hier ist jetzt kein Platz für dich!«
»Bei den Propheten steht es anders, mein Ehemann«, sagte
die gebrechliche, schwarz gekleidete Frau mit den sanften, von
weißem Haar gerahmten Zügen, deren dunkle Augen wie tiefe
Spiegel wirkten. »Willst du die Bibel leugnen, die du so häufig
zitierst, wenn es dir paßt? Sie spricht nicht nur von Donner und
Rache. Muß ich sie dir vorlesen?«
»Nichts mußt du lesen! Sage nichts! Dies sind Dinge, die nur
Männer angehen!«
»Männer, die töten? Männer, die die Grausamkeit der Schrift
benutzen, um Blutvergießen an Kindern zu rechtfertigen? Wie
das Blut meines Sohnes? Ich frage mich, was die Mütter der
Massada gesagt hätten, wenn man es ihnen erlaubt hätte, das
zu sagen, was ihr Herz ihnen gebot. Nun, ich spreche jetzt,
General. Du wirst nicht mehr töten. Du wirst nicht dieses Haus
dazu benutzen, deine Todesarmeen in Marsch zu setzen und
deine Mordtaktiken zu schmieden - immer deine heiligen
Taktiken, Chaim, deine heilige Rache.« Abrahms stand
langsam auf. »Wovon redest du?« »Glaubst du, ich habe dich
nicht gehört? Telefongespräche mitten in der Nacht, Anrufe von
Männern, die klingen wie du, die vom Tod reden...« »Du hast
gelauscht.«
-6 4 2
»Einige Male. Dein Atem ging so laut, daß du außer deiner
eigenen Stimme nichts gehört hast, deinen eigenen Befehlen
zum Mord. Was auch immer ihr tut, wird jetzt ohne dich
geschehen, mein Ehemann, der du schon lange nicht mehr bist.
Für dich ist das Morden vorbei. Es hat schon vor Jahren seinen
Sinn verloren. Aber du konntest nicht aufhören. Du hast neue
Gründe erfunden, bis in dir selbst keine Vernunft mehr
zurückblieb.«
Die Frau des Alten zog die rechte Hand unter den Falten ihres
schwarzen Kleides hervor. Sie hielt Abrahms' Dienstpistole. Der
Soldat schlug ungläubig gegen sein Halfter, machte dann eine
hastige Bewegung und warf sich plötzlich auf die Frau, mit der
er achtunddreißig Jahre zusammengelebt hatte. Er packte sie
am Handgelenk und riß sie herum. Aber sie ließ die Waffe nicht
los! Sie sträubte sich gegen ihn, kratzte über sein Gesicht, als
er sie gegen die Wand drückte, ihr die Hand verdrehte und
versuchte, sie zu entwaffnen.
Die Explosion des Schusses hallte in der Küche, und die Frau,
die ihm vier Kinder geboren hatte, am Ende einen Sohn, stürzte
vor ihm zu Boden. Von Schrecken erfüllt, blickte Chaim
Abrahms auf sie hinunter. Ihre dunklen Augen waren geweitet
und leer.
Plötzlich klingelte das Telefon. Abrahms lief zur Wand, packte
den Hörer und schrie hinein: »Die Kinder Abrahams werden
sich nicht nehmen lassen, was ihnen gehört! Ein Blutbad wird
folgen - wir werden das Land besitzen, das Gott uns verheißen
hat! Judäa, Samaria - sie sind unser!«
»Aufhören!« brüllte die Stimme am anderen Ende. »Hören Sie
auf, Jude!«
»Wer mich Jude nennt, nennt mich auch rechtschaffen!« schrie
Chaim Abrahms, dem die Tränen über das Gesicht liefen,
während er auf seine tote Frau hinunterblickte. »Ich habe wie
Abraham geopfert! Keiner könnte mehr verlangen!«
»Ich verlange mehr!« kam die Antwort. »Ich verlange immer
mehr!«
-6 4 3
»Marcus?« flüsterte der Alte, schloß die Augen und lehnte sich
gegen die Wand, um nicht zusammenzubrechen. Er wandte
sich von der Leiche ab, die zu seinen Füßen lag. »Sind Sie
das... mein Führer, mein Gewissen? Sind Sie es?«
»Ich bin es, Chaim, mein Freund. Wir müssen schnell handeln.
Sind die Einheiten bereit?«
»Ja. Scharhörn. Zwölf Einheiten in Bereitschaft, alle ausgebildet
und bereit. Der Tod hat für sie keinen Schrecken.«
»Das ist es, was ich wissen mußte«, sagte Delavane.
»Sie erwarten Ihren Code, mein General.« Abrahms stöhnte auf
und weinte dann ungehemmt.
»Was ist denn, Chaim? Reißen Sie sich zusammen!«
»Sie ist tot. Meine Frau liegt tot zu meinen Füßen!«
»Mein Gott, was ist passiert?«
»Sie hat alles mit angehört, gelauscht... Sie hat versucht, mich
zu töten. Es kam zu einem Kampf, und sie ist tot.«
»Ein schrecklicher, ein furchtbarer Verlust, mein lieber Freund.
Sie haben mein tiefstes Mitgefühl, und ich betrauere den
schweren Verlust, den Sie erlitten haben.«
»Danke, Marcus.«
»Sie wissen, was Sie tun müssen, nicht wahr, Chaim?«
»Ja, Marcus, ich weiß.«
Es klopfte an der Tür. Stone erhob sich aus seinem Sessel und
griff nach der Pistole auf dem Tisch. In all den Jahren hatte er
nur einmal eine Waffe benutzt. Er hatte in Istanbul einem
Informanten des KGB den Fuß zerschossen, und zwar aus dem
einfachen Grund, weil der Mann betrunken und mit einem
Messer auf ihn losgegangen war. Dieser eine Zwischenfall
genügte. Stone mochte keine Pistolen.
»Ja?« sagte er, die Automatik in der Hand.
»Aurelius«, erwiderte die Stimme hinter der Tür.
Stone öffnete und begrüßte seinen Besucher. »Metcalf?«
-6 4 4
»Ja. Stone?«
»Kommen Sie herein. Und dann sollten wir wohl besser den
Code ändern?«
»Ich denke, ich könnte >Aquitania< benutzen«, sagte der
Abwehroffizier und trat ins Zimmer.
»Irgendwie wäre mir lieber, wenn Sie das nicht täten.«
»Irgendwie glaube ich auch nicht, daß ich es tun werde. Haben
Sie Kaffee?«
»Ich werde welchen bestellen. Sie sehen erschöpft aus.«
»Am Strand von Hawaii habe ich besser ausgesehen«, sagte
der schlanke, muskulöse Offizier. Er trug Sommerhosen und
ein weißes Jackett. Die dunklen Ringe unter seinen klaren
Augen traten deutlich hervor. »Gestern morgen bin ich um neun
Uhr von Las Vegas nach Halloran gefahren und habe von dort
eine Reihe von Flügen quer durchs Land begonnen. Ein
Computer könnte denen nicht folgen, denn ich bin unter mehr
Namen, als ich mich selbst noch erinnern kann, von einem
Flughafen zum ändern gejettet.«
»Sie sind ein verängstigter Mann«, sagte der Zivilist.
»Wenn Sie das nicht auch sind, dann spreche ich hier mit dem
falschen Menschen.«
»Ich bin nicht nur verängstigt, Colonel, ich bin fast starr vor
Angst.« Stone ging ans Telefon, bestellte Kaffee und wandte
sich, ehe er auflegte, Metcalf zu. »Hätten Sie gern einen
Drink?«
»Ja. Canadian on the rocks, bitte.«
»Ich beneide Sie.« Der Zivilist erteilte die Bestellung, und dann
setzten sich die beiden Männer. Einige Augenblicke lang waren
die Geräusche von der Straße draußen das einzige, was man
hören konnte. Sie sahen sich an, und keiner machte ein Hehl
aus der Tatsache, daß er den anderen einzuschätzen
versuchte.
»Sie wissen, wer und was ich bin«, sagte der Colonel und
brach damit das Schweigen. »Aber wer sind Sie? Und was?«
-6 4 5
»CIA, und zwar neunundzwanzig Jahre lang. Stationschef in
London, Athen, Istanbul und anderen Orten im Osten und
Norden. Ein ehemaliger Jünger von Angleton und Koordinator
von Geheimoperationen, bis man mich gefeuert hat. Sonst noch
etwas?«
»Nein.«
»Was immer Sie mit Ihrem Anrufbeantworter gemacht haben,
es war genau richtig. Die Converse hat angerufen.«
Metcalf schoß im Sessel hoch. »Und?«
»Eine Weile stand alles auf Messers Schneide - ich war nicht
besonders gut -, aber schließlich kam er an den Apparat, oder
ich sollte vielleicht sagen, schließlich hat er gesprochen. Am
Apparat war er die ganze Zeit.«
»Nicht besonders gut, muß bei Ihnen immer noch sehr gut
sein.«
»Alles, was er hören wollte, war die Wahrheit. Das war nicht
schwierig.«
»Wo ist er? Wo sind sie?«
»In den Alpen. Mehr wollte er nicht sagen.«
»Verdammt!«
»Für den Augenblick«, ergänzte der Zivilist. »Er will zuerst
etwas von mir haben.«
»Was?«
»Eine eidesstattliche Erklärung.«
»Was?«
»Sie haben ganz richtig gehört. Erklärungen von mir und den
Leuten, mit denen ich zusammenarbeite - genauer gesagt, für
die ich arbeite -, in denen das steht, was wir wissen und was
wir getan haben.«
»Der will Sie hängen sehen, und ich kann es ihm nicht
verübeln.«
»Das vielleicht auch, und ich verüble es ihm auch nicht. Aber er
sagt, das sei zweitrangig, und das glaube ich. Er ist hinter
Aquitania her. Er will, daß man Delavane und seine Verrückten
-6 4 6
festnagelt, ehe das ganze Ding hochgeht - ehe das Morden beginnt.« »So hat es Sam Abbott auch eingeschätzt. Das Morden - eine Anzahl von Morden hier und in ganz Europa. Der schnellste und sicherste Weg ins internationale Chaos.« Es klopfte an der Tür. Diesmal deckte Stone seine Automatik mit einer zusammengefalteten New York Times zu. Er stand auf, ging zur Tür und ließ den Kellner ein, der einen Tisch mit einer Kanne Kaffee, zwei Tassen, einer Flasche Canadian Whisky, Eis und Gläser brachte. Er unterzeichnete die Rechnung, und der Mann ging wieder. Metcalf füllte sein Glas und hielt es sich an die heiße Wange. »Ich muß immer noch an das denken, was Sam gesagt hat. >Es muß eine Liste geben, eine Liste mit allen, die zu diesem Aquitania gehören.< An den üblichen Orten sei sie seiner Meinung nach nicht zu finden - diese Liste kann nicht in einem Safe, nicht einfach auf Papier geschrieben sein -, wahrscheinlich ist sie elektronisch gespeichert und wird über Codes abgerufen. An einem Ort, an den keiner je denkt, abseits von allem Offiziellen und ohne jede Verbindung mit dem Militär. >Eine Liste, es muß eine Liste geben!< hat er immer wieder gesagt. Für einen Piloten hatte er verdammt viel Phantasie. Ich schätze, deshalb verstand er sich so gut auf dieses taktische Zeug in vierzigtausend Fuß Höhe. Du mußt aus der Sonne kommen, wo die nicht mit dir rechnen, oder aus dem dunklen Horizont, wo das Radar dich nicht erfaßt. Er wußte das alles. Er war ein taktisches Genie.« Während Metcalf sprach, beugte Stone sich im Sessel vor, und seine Augen erfaßten jede Bewegung im Gesicht des AirForce-Offiziers, seine Ohren lauschten auf jeden Ton. »Scharhörn«, sagte er so leise, daß es kaum zu hören war. »Es ist Scharhörn.« Die zweimotorige Riems 406 kreiste über dem Privatflughafen St. Gervais, östlich von Chamonix, und die bernsteinfarbenen Lichter der beiden Landebahnen strahlten hell in die Nacht. -6 4 7
Prudhomme überprüfte seinen Sitzgurt, während der Pilot die
Freigabe für den Anflug auf den Nord-Süd-Streifen bekam.
Mon Dieu, was für ein unglaublicher Tag! dachte der Mann von
der Sürete, während er im schwachen Schein der
Instrumentenbeleuchtung auf seine rechte Hand sah. Die
dunklen Schrammen an seinen Fingern waren wenigstens nicht
so auffällig wie das Blut, das noch vor wenigen Stunden seine
ganze Hand bedeckt hatte. Formidable! Der Mann, der den
Auftrag gehabt hatte, ihn zu töten, hatte sich nicht einmal die
Mühe gemacht, diesen Auftrag zu tarnen, so arrogant war er
ohne Zweifel ein Produkt der Fremdenlegion. Und das
Todesurteil war ihm in dem Wagen am äußersten Ende des
Parkplatzes am Bois de Boulogne übergeben worden! Der
Mann hatte ihn im Büro angerufen, und Prudhomme hatte in
Wahrheit sogar damit gerechnet, daß dieser Anruf kommen
würde. So war es keine Überraschung gewesen - und er war
vorbereitet. Der Mann hatte seinen ehemaligen Vorgesetzten
gebeten, sich mit ihm im Bois de Boulogne auf dem Parkplatz
zu treffen. Er hätte überraschende Nachrichten. Er würde
seinen Dienst-Peugeot fahren, und da er sich nicht vom
Funkgerät entfernen durfte - ob es dem Inspektor etwas
ausmache, zu ihm zu kommen? Natürlich nicht.
Aber da waren keine überraschenden Nachrichten gewesen.
Nur Fragen, sehr arrogant gestellte Fragen.
Warum haben Sie das getan, was Sie heute morgen getan
haben?
Rasieren? Zur Toilette gehen? Frühstücken? Meiner Frau einen
Abschiedskuß geben? Wovon reden Sie?
Sie wissen genau, was ich meine! Vorher! Der Mann am
Boulevard Raspail. Sie haben seinen Wagen gerammt, ihn
aufgehalten. Sie haben Rauschgift hineingeworfen. Sie haben
ihn zu Unrecht verhaftet!
Ich war nicht mit dem einverstanden, was er getan hat.
Ebensowenig wie ich mit diesem Gespräch einverstanden bin.
Prudhomme hatte mit der linken Hand nach der Türklinke
gegriffen, weil seine rechte anderweitig beschäftigt war.
-6 4 8
Halt! schrie sein Untergebener und packte ihn an der Schulter.
Sie haben die Frau beschützt!
Lesen Sie meinen Bericht. Lassen Sie mich gehen.
Zur Hölle lasse ich Sie gehen! Ich werde Sie töten, weil Sie sich
eingemischt haben! Sie unwichtiger Bürokrat!
Der ehemalige Untergebene hatte eine Pistole aus dem
Jackenhalfter gerissen, aber er kam zu spät. Prudhomme hatte
zweimal geschossen, die kleine Waffe in der rechten Hand
unter dem Jackett. Unglücklicherweise war sie kleinkalibrig, und
der ehemalige Colonel der Fremdenlegion war ein sehr großer
Mann; er hatte sich bereits auf Prudhomme geworfen. Aber der
Veteran der Resistance hatte sich einer alten Gewohnheit aus
dem Krieg erinnert - nur für alle Fälle. Im Revers seines
Jacketts war ein langer Draht verborgen - ein Draht mit zwei
verstärkten Schlingen an den Enden. Er hatte ihn
herausgerissen, ihn seinem ehemaligen Untergebenen über
den Kopf geworfen, die Handgelenke überkreuzt und die
Schlinge ruckartig straffgezogen, bis das Fleisch am Hals des
Mannes aufplatzte und die Hände des zum Tode Verurteilten
mit Blut besudelte - verurteilt, aber noch sehr lebendig.
»Wir haben Landeerlaubnis, Inspektor«, sagte der Pilot und
grinste. »Ich schwöre bei Gott, das würde keiner glauben.
Natürlich habe ich nicht die Absicht, davon ein
Sterbenswörtchen zu sagen, das schwöre ich beim Grab
meiner Mutter!«
»Die trinkt wahrscheinlich in diesem Augenblick am Montmartre
einen Cognac«, meinte Prudhomme trocken. »Sagen Sie
nichts, dann haben Sie vielleicht weitere sechs Monate, um
Ihren albernen Tabak aus Malta einzufliegen.«
»Ganz bestimmt. Nie wieder, Inspektor. Ich bin ein
Familienvater!«
»Sehr lobenswert. Sechs Monate, dann steigen Sie aus.«
»Beim Grab meines Vaters, ich schwöre es!«
»Der ist sehr lebendig und sitzt im Gefängnis - in sechzig
Tagen kommt er raus. Sagen Sie ihm, er soll sich andere Arbeit
-6 4 9
für seine Druckpressen suchen - Schuldverschreibungen der Regierung, ich muß schon sagen.« Joel und Valerie hörten schweigend zu, wie der Mann von der Sürete ihnen seine Geschichte erzählte. Jetzt hatte er geendet; es gab nichts mehr zu sagen. Interpol war infiltriert worden, die Arrondissement-Polizei manipuliert, die Sürete selbst korrumpiert, und offizielle Kommuniques der Regierung waren hinausgegangen, die auf Lügen basierten - alles Lügen. Warum? »Das werde ich Ihnen sagen, weil ich Ihre Hilfe brauche - viel mehr Hilfe«, sagte Converse, stand auf und ging zum Schreibtisch, wo die maschinengeschriebenen Blätter seiner eidesstattlichen Erklärung lagen. »Noch besser, Sie können es selbst lesen, aber Sie werden das hier tun müssen. Morgen lasse ich Kopien anfertigen. Bis dahin möchte ich nicht, daß diese Papiere über die Schwelle dieses Raumes getragen werden. Übrigens, Val hat Ihnen ein Zimmer besorgt, ein Einzelzimmer - fragen Sie mich nicht, wie, aber ein Angestellter am Empfang wird sich morgen wohl ein neues Haus kaufen können.« Prudhomme schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Valerie saß ihm gegenüber, während Converse am Fenster stand und zu dem Mann von der Sürete hinübersah. »Weitere Fragen fallen mir nicht ein«, sagte der Franzose. Sein Gesicht und die unruhigen Augen wirkten noch müder als vorher. »Obwohl ich möglicherweise immer noch zu erschrocken bin, um klar denken zu können. Zu sagen, es sei unglaublich, bringt nichts und wäre auch nicht die Wahrheit. Es ist alles zu glaubwürdig. Die Welt ist so verängstigt, daß sie nach Ordnung schreit, nach Schutz von den Straßen, Schutz vor dem Nächsten. Ich glaube, die Zeit ist da, daß die Welt sich machtvoller Stärke beugen würde, ganz gleich, was es kostet.« »>Machtvoll< haben Sie gesagt, und das ist richtig«, sagte Joel. »Macht. Eine Konföderation von Militärregierungen, die -6 5 0
einander gegenseitig stärken, ihre Politik abstimmen und die
Gesetze ändern, alles im Namen der Ordnung - bis jeder
einzelne, der eine andere Meinung vertritt, als Störfaktor zum
Schweigen gebracht ist. Alles, was sie brauchen, ist diese erste
Welle des Terrors, eine Flutwelle des Mordes und der
Verwirrung. Einflußreiche Männer, die beim Ausbruch der
Unruhen in einem halben Dutzend Hauptstädten getötet
werden. Dann marschieren die Generale mit ihren
Kommandeuren ein. Das ist das Szenario.«
»Das ist auch das Problem, Monsieur. Es sind nur Worte,
Worte, die Sie nur an sehr wenige Leute weitergeben können,
weil es die falschen Leute sein könnten. Sie könnten damit
ungewollt diesen Count-down, wie Sie ihn nennen,
beschleunigen, den Holocaust selbst auslösen.«
»Der Count-down läuft bereits, machen Sie da keinen Fehler«,
unterbrach Converse ihn. »Aber, Sie haben recht. Ich kann
noch nicht an die Öffentlichkeit treten, noch nicht. Ich kann mich
nicht zeigen. Es gibt keinen Schutz, den irgendein Gericht,
irgendeine Regierung oder die Polizei mir garantieren könnte,
und der sie wirklich daran hindern könnte, mich zu töten. Und
dann, sobald ich tot bin, könnten sie, was immer ich gesagt
habe, als die irren Worte eines Psychopathen bezeichnen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir nicht um mich.
Aber ich bin der einzige, der mit Delavanes vier Cäsaren
gesprochen hat, und wahrscheinlich auch mit dem fünften, dem
Engländer.«
»Und diese declarations - diese eidesstattlichen Aussagen, von
denen Sie sprechen, die können alles ändern?«
»Sie können die Dinge wenden, vielleicht in ausreichendem
Maß.«
»Warum?«
»Weil das eine wirkliche Welt dort draußen ist. Man muß an
Leute herantreten, denen man vertrauen kann, Leute, die etwas
tun können. Sehr schnell. Ich wollte das schon vor ein paar
Wochen tun, habe es aber falsch angepackt. Ich wollte alles,
was ich wußte, zu jemandem schaffen, den ich gut kenne,
-6 5 1
Nathan Simon, dem besten Anwalt, der mir jemals begegnet ist. Ich habe alles niedergeschrieben, und dabei nicht erkannt, daß ich ihm damit nur die Hände binden konnte, wenn nicht gar umbringen.« Joel trat vom Fenster zurück, ein Anwalt beim Plädoyer. »Zu wem konnte er schon ohne mich gehen, ohne die Gegenwart eines Mannes, der offensichtlich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, nur mit den Worten eines >psychopathischen Killers Und wenn ich mich zeigte, wie er das zu Recht verlangt hätte, wäre das das Todesurteil für uns beide gewesen. Und dann erzählte mir Val von dem Mann in New York, der sie angerufen hatte, und dem anderen, der ihr auf der Straße gefolgt war, und ich vermutete das Richtige. Das sind nicht die Methoden von Menschen, die jemanden töten wollen. Die melden sich nicht an. Das waren Männer aus Washington, die mich ausgeschickt hatten und jetzt versuchten, mit mir Kontakt aufzunehmen. Dann schilderte sie mir ihr Zusammentreffen mit Sam Abbott, daß er diesen Metcalf erwähnt hatte, einen Mann, dem er vertraute, und der ihm sehr wichtig sein mußte. Und schließlich waren da Sie in Paris - was Sie gesagt und was Sie getan haben und wie Sie Ihre Hilfe angeboten hatten unter Verwendung desselben Codes wie Rene Mattilon, die Tatiana-Familie. Tatiana - ein Name oder ein Wort, von dem ich glaube, daß es Vertrauen bedeutet, selbst unter Haien.« »Sehr richtig, Monsieur.« »Und da fügte sich für mich alles zueinander. Wenn es mir irgendwo gelingen konnte, Kommunikationslinien herzustellen, und sie alle zu erreichen, dann gab es eine Möglichkeit. Sie und ein paar andere kannten die Wahrheit. Einige von Ihnen kannten sie ganz, andere, wie Sie, nur Teile, aber dennoch begriffen Sie das Ungeheuerliche, die Realität der Generale und ihres Aquitania und dessen, was sie zu tun im Begriffe sind. Selbst Sie, Prudhomme. Was sagten Sie doch? Interpol ist infiltriert, die Polizei manipuliert, die Sürete korrumpiert offizielle Berichte, die nur aus Lügen bestehen? Fügen Sie dazu Anstett in New York, Peregrine, den Oberbefehlshaber der NATO, Mattilon, Beale, Sam Abbott. .. Connal Fitzpatrick -6 5 2
das einzige Fragezeichen - und weiß Gott wie viele andere
noch. Alle tot. Die Generale marschieren - vergessen Sie die
Theorie, sie töten bereits! Wenn ich Sie alle davon überzeugen
könnte, daß Sie eidesstattliche Erklärungen schreiben - oder
Aussagen machen - und sie zu Nathan Simon schicken, dann
hätte er die Munition, die er braucht. Stone in New York habe
ich juristischen Hokuspokus vorgemacht - ein Teil davon
stimmt, der größte Teil nicht, aber er wird das Seine tun, und
die anderen zwingen, sich ihm anzuschließen - er hat keine
Wahl. Das Wichtige, das einzig Wichtige ist, daß dieses
Material zu Simon kommt. Sobald er schriftliche
Zeugenaussagen hat, die eine Serie von Ereignissen erklären,
alle von verschiedenen erfahrenen Männern beeidet, hat er
einen Fall. Glauben Sie mir, er wird diese Schriftstücke wie die
Pläne für eine Neutronenbombe behandeln. Er wird das alles
morgen haben und an die richtigen Leute herantreten. Und
wenn er bis zum Präsidenten gehen muß, was er könnte, aber
vielleicht nicht tun wird.« Joel hielt inne, sah den Mann von der
Sürete an und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Seiten
seiner eigenen Aussage, die neben dem Franzosen auf dem
Tisch lagen. »Ich habe veranlaßt, daß das morgen nach New
York geflogen wird. Ich hätte gerne etwas Ähnliches von
Ihnen.«
»Sie sollen es haben. Aber können Sie dem Kurier vertrauen?«
»Die Welt könnte in Stücke fliegen und sie würde immer noch in
ihrem Haus in den Bergen sitzen und es nicht wissen. Oder
sich darum scheren. Wie gut ist Ihr Englisch?«
»Ausreichend, glaube ich. Wir haben schließlich ein paar
Stunden miteinander gesprochen.«
»Ich meine schriftlich. Es würde Zeit sparen, wenn Sie das
noch heute nacht schreiben würden.«
»Meine Orthographie ist wahrscheinlich nicht besser als die
Ihre in Französisch.«
»Sagen wir seine englische«, verbesserte Valerie. »Ich bringe
das in Ordnung, und wenn Sie etwas nicht sicher wissen
schreiben Sie es einfach in Französisch hin.«
-6 5 3
»Merci. Heute nacht?«
»Die Sekretärin kommt morgen früh zurück«, erklärte Converse.
»Sie wird es mit der Maschine abtippen. Und sie wird morgen
nachmittag von Genf nach New York fliegen.«
»Damit hat sie sich einverstanden erklärt?«
»Sie hat sich einverstanden erklärt, eine größere Spende für
eine Naturschutzorganisation anzunehmen, die offenbar ihr
ganzer Lebensinhalt ist.«
»Sehr bequem.«
»Da ist noch etwas«, sagte Joel, der auf der Armlehne von
Valeries Sessel saß und sich jetzt vorbeugte. »Sie kennen jetzt
die Wahrheit. Abgesehen von dem Material, das in Simons
Hände gelangen soll, ist da noch eine letzte Sache, die ich
erledigen muß. Ich habe eine Menge Geld und einen Bankier in
Mykonos, der bestätigen wird, daß ich Zugang zu einer noch
wesentlich größeren Summe habe - aber das haben Sie ja alles
gelesen. Wenn ich genügend Zeit hätte und das Personal, um
die Ausrüstung zu finden, könnte ich es selbst schaffen. Aber
die Zeit haben wir nicht. Ich brauche Ihre Hilfe, ich brauche die
Hilfsmittel, die Ihnen zur Verfügung stehen.«
»Wofür, Monsieur?«
»Die letzten Aussagen. Der letzte Teil der Beweise. Ich möchte
drei Männer kidnappen.«
37 Ich, Peter Charles Stone, 58 Jahre alt, wohnhaft in Washington,
D. C., war 29 Jahre Angestellter der Central Intelligence Agency und habe in dieser Zeit den Rang eines Stationschefs in verschiedenen europäischen Städten ausgefüllt und schließlich den des Zweiten Direktors für Geheimoperationen in Langley, Virginia. Meine Personalakte befindet sich in der Central Intelligence Agency und kann gemäß den dafür vorgeschriebenen Regeln eingesehen werden. Seit meinem Ausscheiden aus der CIA war ich als Berater und Analytiker für -6 5 4
verschiedene Abwehrabteilungen tätig. Einzelheiten über diese Tätigkeit sind in dieser Erklärung nicht enthalten. Um den 15. März letzten Jahres herum hat ein Captain Andrew Packard, United States Army, mit mir Verbindung aufgenommen und mir die Frage gestellt, ob er mich in meiner Wohnung aufsuchen dürfte, um dort eine vertrauliche Angelegenheit mit mir zu besprechen. Bei seiner Ankunft erklärte er, er spräche für eine kleine Gruppe von Männern im State Department und in den verschiedenen Waffengattungen der Militärbehörden, war aber nicht bereit, Näheres über Zahl und Identität dieser Personen zu erklären. Er sagte ferner, daß sie an professioneller Beratung seitens eines erfahrenen Abwehroffiziers interessiert seien, der nicht mehr (permanent) mit irgendeinem Zweig der Abwehr verbunden sei. Er sagte, ihm stünden gewisse Mittel zur Verfügung die er für ausreichend hielt, und fragte mich, ob ich an einer derartigen Zusammenarbeit interessiert sei. An dieser Stelle sollte vielleicht erwähnt werden, daß Captain Packard und seine Kollegen gründliche, wenn nicht erschöpfende Recherchen über mich angestellt hatten - über meine Warzen, den Alkohol, eben alles, wie man sagt... Ich, Captain Howard N M l Packard, U.S. Army, 507538, 31 Jahre alt, augenblicklich wohnhaft in Oxon Hill, Maryland, Dienstort: Sektion 27, Department of Technological Controls des Pentagon in Arlington, Virginia. Im Dezember letzten Jahres bat mich Mr. A. Preston Halliday, ein Rechtsanwalt aus San Francisco, mit dem ich infolge seiner zahlreichen Anträge in unserer Abteilung, die er im Auftrag seiner Klienten (alles erfolgreiche und untadelige Personen) vorgebracht hatte, Freundschaft geschlossen hatte, mit ihm in einem kleinen Restaurant in Clinton, etwa zehn Meilen von meinem Haus entfernt, zu Abend zu essen. Er entschuldigte sich dafür, daß er meine Frau nicht ebenfalls einladen könne, und erklärte, das, was er zu sagen habe, würde sie nur beunruhigen, ebenso wie mich. Aber in diesem Falle gehöre es zu meiner Pflicht, beunruhigt zu sein. Er fügte hinzu, daß unsere Zusammenkunft -6 5 5
zu keinerlei lnteressenkonflikten führen könne da er im
Augenblick keine schwebenden Geschäfte hätte, nur
Geschäfte, die untersucht und verhindert werden sollten.
Ich, Lieutenant (J. G.) William Michael Landis, U. S. Navy,
unverheiratet, 28 Jahre; augenblickliche Adresse The Somerset
Garden Apartments, Vienna, Virginia, bin
Computerprogrammierer für das Department of the Navy,
Beschaffungsabteilung für Meereswaffen, stationiert im
Pentagon, Arlington, Virginia. Ohne bereits den Dienstrang zu
besitzen (der soll mir in den nächsten 60 Tagen zuerkannt
werden), habe ich den Befehl über den größten Teil der
Programmiertätigkeit des Pentagon im Navy-Bereich. Ich
besitze den Doktortitel für Computertechnik von der University
of Michigan, College of Engineering... Ich formuliere das
wahrscheinlich nicht richtig, Sir.
Nur weiter, junger Mann.
Ich gebe diese Erklärung ab, weil ich mit Hilfe der mir zur
Verfügung stehenden modernen Geräte und den klassifizierten
Mikroumwandlungscodes imstande bin, eine große Zahl von
Computern anzuzapfen.
Im vergangenen Februar suchten mich Captain Howard
Packard, United States Army, und drei weitere Männer - zwei
aus dem Department of State, Amt für Munitionskontrolle, und
der dritte ein Offizier des Marinekorps, den ich aus der
Beschaffungsabteilung für Amphibische Dienste kannte - an
einem Sonntagmorgen auf. Sie sagten, sie seien wegen einer
Anzahl von Waffen- und Technologietransfers beunruhigt, die
mutmaßlich gegen Vorschriften des Verteidigungsministeriums
und des State Department verstießen. Sie übergaben mir die in
ihrem Besitz befindlichen Daten bezüglich neun solcher
Vorgänge und schärften mir ein, die Anfrage streng vertraulich
zu behandeln.
Am nächsten Nachmittag ging ich zu den Maximum Security
Computern und gab die Daten für die neun Transfers mit Hilfe
der Übersetzungscodes ein. Sechs jener neun Transfers ließen
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sich mittels der Eintragungen zu einer Firma mit der
Bezeichnung Palo Alto International zurückverfolgen, die sich
im Besitz eines pensionierten Army-Generals namens
Delavane befindet. Dies war mein erster Kontakt, Sir.
Wer waren die drei anderen Männer, Lieutenant?
Es würde nichts nützen, wenn ich ihre Namen angeben würde,
Sir. Das könnte nur ihren Familien schaden.
Ich bin nicht sicher, daß ich das verstehe - daß ich das
verstehen kann.
Sie sind tot. Sie haben Fragen gestellt und sind tot, Sir. Zwei
sind angeblich in Autounfälle mit Trucks verwickelt gewesen
auf Seitenstraßen, die sie auf dem Wege nach Hause sonst nie
benutzten - und der dritte ist von einem geistesgestörten
Schützen erschossen worden, während er im Rock Creek Park
joggte. So viele Jogger, und ihn hat es erwischt.
Als Captain der Army mit voller Sicherheitsfreigabe und häufig
mit Top-Secret-Vorgängen befaßt, war ich imstande, ein
sauberes Telefon einzurichten (das heißt, eines, das dauernd
auf etwaiges Anzapfen abgescannt wird), so daß Mr. Halliday
mich zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichen konnte, ohne
befürchten zu müssen, daß jemand mithörte. Außerdem haben
wir gemeinsam mit Mr. Stone und Lieutenant Landis unsere
Gewährsleute abgefragt und uns ausführliche Abwehrdossiers
über die prominenten Namen verschafft, die Halliday in General
Delavanes Notizen gefunden hatte. Im einzelnen waren das die
Generale Bertholdier, Leifhelm, Abrahms und Van Headmer.
Mit Hilfe von Mitteln, die uns Dr. Edward Beale zur Verfügung
stellte, versicherten wir uns der Dienste privater Firmen in Paris,
Bonn, Tel Aviv und Johannesburg, um die Dossiers mit allen
verfügbaren Informationen über diese Personen auf neuesten
Stand zu bringen.
Inzwischen hatten wir 97 Computerlöschungen ausfindig
gemacht, die in unmittelbarer Verbindung mit Exportlizenzen
und militärischen Transfers im Gesamtvolumen von
schätzungsweise 45 Millionen Dollar standen. Eine große Zahl
davon ging auf Palo Alto International zurück. Aber in
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Ermangelung weiterer Daten war nichts mehr festzustellen. Es war wie eine Serie von Blips, die von einem Radarschirm verschwinden... Während meiner Zeit bei der CIA habe ich gelernt, daß jene Bereiche mit der größten Konzentration von Aktivität regelmäßig auch durch intensivste Sicherheitsvorkehrungen geschützt waren. Das ist keineswegs besonders originell, aber gewöhnlich übersieht man, daß man diese Erkenntnis auch umdrehen kann. Da Washington die Clearing-Stelle für illegale Exporte im Wert von Millionen und Abermillionen war, mußte man vernünftigerweise annehmen, daß es Dutzende von Informanten Delavanes in den Regierungsstellen und abteilungen geben mußte, die mit den Aktivitäten von Palo Alto International zu tun hatten - solchen, die eingeweiht waren und auch andere, die man einfach bezahlt oder erpreßt hatte. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, konnte Captain Packard diese Ansicht bestätigen, indem er mir von einem Vorgang erzählte, der sich kurz davor ereignet und drei Männern das Leben gekostet hatte. Sie hatten versucht, eine Anzahl von Computerlöschungen zu verfolgen. Wir waren also aus dem Bereich der ideologischen Extremisten in einen der Fanatiker und der Killer gelangt. Ich behauptete daher - und übernehme hiermit die volle Verantwortung für diese Entscheidung -, daß man sicherer und schneller würde fortschreiten können, wenn man einen Mann in die Randbereiche von Delavanes Operation entsenden und ihm genügend Information zur Verfügung stellen würde, um die Verbindungen zu Palo Alto International zurückzuverfolgen. Als Ansatzpunkt schienen mir die vier Generale, deren Namen wir in Delavanes Notizen gefunden hatten, am besten geeignet. Ich hatte keinen Kandidaten mit der Erfahrung, die ich für diesen Auftrag für notwendig hielt... Um den 10. Juli herum rief mich Mr. Halliday über die saubere Leitung an, die ich ihm eingerichtet hatte, und sagte, er glaube, den geeigneten Kandidaten für den von Mr. Stone geschilderten Einsatz gefunden zu haben. Es war ein Rechtsanwalt, der sich auf internationales Gesetz spezialisiert hatte, ein Mann, den er seit Jahren kannte, ein ehemaliger -6 5 8
Kriegsgefangener in Vietnam, der vermutlich über die Motivation verfügte, um auf jemanden wie General Delavane angesetzt werden zu können. Sein Name war Joel Converse. Ich, Alan Bruce Metcalf, 48 Jahre alt, bin Offizier in der United States Air Force. Mein Rang ist der eines Colonel, und ich bin augenblicklich auf dem Nellis-Air-Force-Stützpunkt, Clark County, Nevada, als Leitender Abwehroffizier stationiert. Vor sechsunddreißig Stunden, ich diktiere diese Aussage am 25. August um 4 Uhr nachmittags, erhielt ich einen Telefonanruf von General Samuel Abbott, dem Kommandoleiter für taktische Einsätze, Nellis A. F. B. Der General sagte es sei äußerst dringend, daß wir uns träfen, vorzugsweise außerhalb des Stützpunktes, und zwar so bald wie möglich. Er verfüge über neue und ungewöhnliche Informationen in bezug auf die Ermordung des Oberkommandeurs der NATO und des amerikanischen Botschafters in Bonn. Er bestand darauf, daß wir Zivilkleidung tragen sollten und schlug als Treffpunkt die Bücherei der Universität von Nevada vor. Wir trafen uns gegen 17.30 Uhr und sprachen fünf Stunden miteinander. Ich werde unser Gespräch so genau wie möglich schildern. Die Unterhaltung ist mir noch in allen Einzelheiten gegenwärtig und durch den tragischen Tod von General Abbott meinem Gedächtnis besonders gut eingeprägt. Er war mir über viele Jahre ein enger Freund, ein Mann, den ich in hohem Maße bewundert habe... ...Obiges sind die Ereignisse, wie sie die ehemalige Mrs. Converse General Abbott geschildert hat und wie er sie dann mir berichtet hat und die darauffolgenden Maßnahmen, die ich ergriff, um eine Notsitzung von Abwehrpersonal der höchsten Dienstränge in Washington herbeizuführen. Nach meiner Ansicht ist General Abbott vorsätzlich ermordet worden, weil er über neue und außergewöhnliche Informationen über einen Mitgefangenen in Vietnam, einen gewissen Joel Converse, verfügte. Nathan Simon saß behäbig in seinem Sessel zurückgelehnt, nahm die schwere Schildpattbrille von der Nase und zupfte an seinem kleinen Kinnbart, der die Narbe eines -6 5 9
Schrapnellsplitters verbarg, der sich vor Jahren in Anzio dort
eingegraben hatte. Seine dichten Augenbrauen hatten sich
über den nußbraunen Augen und der scharfen, geraden Nase
sorgenvoll gehoben. Die einzige andere Person im Raum war
Peter Stone. Der Stenograf war entlassen worden; Metcalf
hatte sich erschöpft auf sein Zimmer zurückgezogen, und die
zwei anderen Offiziere, Packard und Landis, hatten
vorgezogen, nach Washington zurückzukehren - in zwei
verschiedenen Flugzeugen. Simon legte die
maschinengeschriebenen Erklärungen sorgsam auf den Tisch
neben seinem Stuhl.
»Sonst war niemand dabei, Mr. Stone?« fragte er, und seine
Stimme klang sanfter als seine Augen blickten.
»Niemand, soweit mir bekannt ist, Mr. Simon«, erwiderte der
ehemalige Abwehroffizier. »Jeder, den ich seitdem eingesetzt
habe, war von niedrigem Rang und hatte zwar Zugang zu
Einrichtungen höheren Niveaus, war aber ohne
Entscheidungsbefugnis. Bitte vergessen Sie nicht, daß drei
Männer schon getötet wurden, als diese Sache gerade erst
angefangen hatte.«
»Ja, ich weiß.«
»Können Sie das tun, was Converse gesagt hat? Können Sie
Berge bewegen, die wir nicht bewegen können?« »Das hat er
Ihnen gesagt?«
»Ja. Deshalb habe ich mich mit allem einverstanden erklärt.«
»Er wird seine Gründe gehabt haben. Aber ich muß
nachdenken.«
»Zum Nachdenken ist keine Zeit; wir müssen handeln, etwas
tun'. Die Zeit verrinnt!«
»Sicher, aber wir dürfen doch nicht das Falsche tun, oder?«
»Converse hat gesagt, Sie hätten Zugang zu einflußreichen
Leuten in Washington. Ich könnte darauf vertrauen, daß Sie an
diese Leute herantreten werden.«
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»Aber Sie haben mir doch gerade gesagt, daß ich nicht sicher
sein könne, wem ich überhaupt vertrauen kann, stimmt das
nicht?«
»Oh, Christus?«
»Ein begnadeter Prophet.« Simon sah auf die Uhr, sammelte
seine Papiere ein und stand auf. »Es ist jetzt halb drei Uhr
morgens, Mr. Stone, und mein Körper hat das Ende seiner
Leistungsfähigkeit erreicht. Ich werde mich im Laufe des Tages
mit Ihnen in Verbindung setzen. Versuchen Sie nicht, mich zu
erreichen. Ich melde mich.«
»Sie melden sich? Das Paket von Converse ist hierher
unterwegs. Ich hole es um zwei Uhr fünfundvierzig heute
nachmittag am Kennedy-Flughafen von der Maschine aus Genf
ab. Er möchte, daß Sie es sofort bekommen. Ich möchte, daß
Sie es bekommen!«
»Sie werden am Flughafen sein?« fragte der Anwalt.
»Ja, ich treffe mich dort mit unserem Kurier. Ich werde gegen
vier oder halb fünf zurück sein, je nachdem, wann die Maschine
ankommt und natürlich je nach Verkehr.«
»Nein, tun Sie das nicht, Mr. Stone. Bleiben Sie am Flughafen.
Ich möchte natürlich, daß alles, was Joel für uns gesammelt
hat, so bald wie möglich in meinen Händen ist. So wie es einen
Kurier aus Genf gibt, könnten Sie der Kurier aus New York
sein.«
»Wo wollen Sie hin? Nach Washington?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jetzt gehe ich nach Hause in
meine Wohnung, um nachzudenken. Außerdem hoffe ich,
schlafen zu können, was ich aber bezweifle. Geben Sie mir
einen Namen, unter dem ich Sie auf dem Flughafen ausrufen
lassen kann.«
Johnny Reb saß geduckt in dem kleinen Boot, den Motor im
Leerlauf, während die Wellen in der Dunkelheit gegen den
flachen Rumpf klatschten. Er trug schwarze Hosen, einen
schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Strickmütze,
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und er hatte sich so nahe an die Südwestküste Scharhörns herantreiben lassen, wie er es wagen konnte. Schon in der ersten Nacht hatte er die grünen Lichter der im Wasser auf und ab tanzenden Bojen entdeckt. Das waren Lichtschranken, Strahlen, die sich über dem Wasser trafen und die Zufahrt zu dem alten U-Boot-Stützpunkt sicherten. Sie bildeten eine undurchdringliche unsichtbare Mauer. Sie zu durchbrechen, würde Alarm auslösen. Dies war die dritte Nacht, und er begann unruhig zu werden. Vertrau deinem Körper. Die alten Huren von der Abwehr spürten es im Magen, wann etwas passieren würde - teils aus Angst und teils, weil da eine Zielmarke war, die dafür sorgen würde, daß ein Konto in Bern wieder ein Stückchen wuchs. Diesmal wartete natürlich kein Konto, nur eine Folge von Auslagen, die dazu dienten, eine beträchtliche Schuld zu tilgen, aber eine Zielmarke gab es. Es ging gegen die Delavanes und gegen die Washburns und jene deutschen, französischen und jüdischen Raubfische, die durch die Wasser zogen und es Gentlemen wie Johnny Reb unmöglich machten, auf ihre Art zu leben. Über den Südafrikaner wußte er nicht viel, nur daß dieser Niggerhasser besser daran tun würde, endlich einmal klug zu werden. Die Farbigen kamen gut voran, und Johnny war das recht; seine gegenwärtige Freundin war eine reizende schwarze Sängerin aus Tallahassee, die zufälligerweise gerade in der Schweiz war, aus albernen Gründen, die mit ein wenig Kokain zu tun hatten - und einem fetten Konto in Bern. Aber die anderen Raubfische waren schlimm. Wirklich schlimm. Johnny Reb hielt nichts von Männern, die andere dafür ins Gefängnis stecken wollten, bloß weil sie sich nicht vorschreiben ließen, was sie dachten. No, Sir, diese Leute gehörten weg! Johnny Reb war dazu fest entschlossen. Jetzt'. Er richtete sein Infrarotglas auf die alten Betonpiers des U-Boot-Stützpunktes. Das war doch verrückt! Die Motorbarkasse hatte sich in ein Dock geschoben, und jetzt bewegte sich eine lange Doppelreihe von Männern auf dem Pier - vierzig, sechzig, achtzig... fast einhundert - und schickten sich an, an Bord zu gehen. Das Verrückte war die Art und Weise, wie sie gekleidet -6 6 2
waren. Dunkle Anzüge und konservativ geschnittene Sommerjacketts und Krawatten. Einige von ihnen trugen Hüte, und jeder einzelne von ihnen hatte Gepäck bei sich und zusätzlich einen Aktenkoffer. Wie eine Bankiersversammlung sahen die aus oder eine Paradeformation des Diplomatischen Corps oder, dachte der Rebel, während er die Reihe von Passagieren mit dem Feldstecher absuchte, ganz gewöhnliche Geschäftsleute aus dem mittleren bis oberen Management eigentlich nichts Ungewöhnliches -, wie man sie jeden Tag auf Bahnhöfen und Flugplätzen zu sehen bekam. Gerade das Gewöhnliche, das Alltägliche ihres Aussehens im Vergleich mit den exotisch makabren Umrissen des alten U-BootStützpunktes war es, das an Johnnys Phantasie nagte. Diese Männer würden fast nirgends Aufsehen erregen, und doch kamen sie nicht von irgendwo. Sie kamen von Scharhörn, aus einer ohne Zweifel höchst komplizierten Zelle dieser multinationalen Militärverschwörung, die am Ende möglicherweise dafür sorgen konnte, daß die verdammten Raubfischgenerale auf die Stühle kamen, die sie sich wünschten. Gewöhnliche Leute, die überall dort hingingen, wohin ein Befehl sie schickte - Menschen, die aussahen wie jeder andere, die sich wie jeder andere benahmen, mit offenen Aktenkoffern in Flugzeugen und Zügen saßen und Firmenberichte lasen, an Drinks nippten, aber nicht an zu vielen, gelegentlich in einem Krimi blätterten, um sich zu entspannen.. .Männer, die dort hingingen, wohin ein Befehl sie schickte! Das war es, dachte der Rebel, während er sein Glas senkte. Das war es! Das waren die Killerteams! Sein Magen log nie; er hatte guten Grund, ihm die Galle hochkommen zu lassen, und ihr beißender, Übelkeit erregender Geschmack war ein häßlicher Alarm für alle, die das Privileg genossen, bisher überlebt zu haben. Johnny Reb wandte sich um und machte sich am Motor zu schaffen. Er schob vorsichtig das Ruder nach rechts und den Fahrthebel nach vorn. Das kleine Boot drehte im Wasser, und der ehemalige Abwehroffizier hielt wieder auf seinen Liegeplatz in Cuxhaven zu. -6 6 3
Fünfundzwanzig Minuten später hatte er die Anlegestelle
erreicht, vertäute sein Boot, griff sich seinen wasserdichten
Koffer und kletterte eilig auf die Pier. Er mußte schnell handeln,
aber sehr vorsichtig. Er kannte sich einigermaßen in der
Hafenzone von Cuxhaven aus, wohin die Motorbarkasse
zurückkehren würde, denn er hatte die Lichter des Bootes
beobachtet, als es langsam aus dem Hafen heraus und zu der
Insel gefahren war. Sobald er an der richtigen Stelle angelangt
war, würde er das richtige Dock wiedererkennen, während das
Boot erst in den Hafen einlief. Und dann hatte er nur noch
wenige Minuten Zeit, um die Gegend abzusuchen und Position
zu beziehen. Den kleinen wasserdichten Koffer in der Hand,
eilte er durch die Schatten auf die Stelle zu, wo die Barkasse
seiner Meinung nach abgelegt hatte. Er kam an einer
Lagerhalle vorbei und erreichte einen freien Punkt dahinter; es
gab dort fünf kurze Piers, eine hinter der anderen, die
höchstens sechzig Meter ins Wasser hinausreichten. Kleine
und mittelgroße Fahrzeuge konnten dort anlegen. Ein paar
Trawler und einige Motorboote, die schon bessere Zeiten
gesehen hatten, waren an den Pollern der einzelnen Piers, mit
Ausnahme einer einzigen, vertäut. Die riesige Motorbarkasse
schob sich wie ein Killerwal an die Pier. Die Leinen wurden
gesichert, und während die Passagiere von Bord gingen, schoß
Johnny Reb seine Aufnahmen.
»Süße, hier ist Tatiana. Ich muß meinen Jungen sprechen.«
»Er ist im Algonquin-Hotel in New York City«, sagte die ruhige
Frauenstimme. »Die Telefonnummer ist Vorwahl zwo-eins-zwo,
acht-vier-null, sechs-acht-null-null. Verlangen Sie Peter
Marcus.«
»Das ist vielleicht ein raffinierter Hurensohn, wie?« sagte
Johnny Reb. »Entschuldigen Sie bitte meine Sprache, Ma'am.«
»Die hör ich nicht das erstemal, Rebel. Hier ist Anne.«
»Verdammt noch mal, warum hast du das denn nicht gleich
gesagt. Wie geht's denn, Süße?«
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»Gar nicht schlecht für meine alten Tage, Johnny. Ich bin raus,
weißt du. Das ist nur eine Gefälligkeit für einen alten Freund.«
»Einen alten Freund? Süße, wenn Pete nicht wäre, hätte ich
mich jetzt an dich rangemacht!«
»Das hättest du tun sollen, Reb. Ich stand nicht in seinen
Karten, seinen schrecklich wichtigen Karten. Und du warst einer
von den Nettesten. Wie hieß das damals? >Gentleman Johnny
Reb«
»Ich hab' immer viel auf das Äußere gegeben, Annie. Darf ich
dich einmal anrufen, wenn wir aus diesem Schlamassel raus
sind?«
»Ich weiß nicht, was für ein Schlamassel, Reb, aber ich weiß
ganz genau, daß du meine Telefonnummer hast.«
»Du gehst mir ans Herz, schönes Mädchen!«
»Wir sind jetzt älter, Johnny, aber ich schätze, das würdest du
nicht begreifen.«
»Niemals, Kind. Niemals.«
»Halt dich. Es wäre schade, wenn wir dich verlieren.«
Die Vermittlung im Algonquin-Hotel blieb hartnäckig. »Tut mir
leid, Sir, Mr. Marcus ist nicht in seinem Zimmer und meldet sich
auch nicht.«
»Ich rufe wieder an«, sagte der Rebel.
»Tut mir leid, Sir. In Mr. Marcus' Zimmer meldet sich niemand.«
»Ich glaube, wir haben schon vor ein paar Stunden miteinander
gesprochen, Sir. In Mr. Marcus' Zimmer meldet sich immer
noch niemand, also habe ich mich an der Rezeption erkundigt.
Er hat sich noch nicht abgemeldet und auch keine Nummer
hinterlassen. Wollen Sie, daß ich eine Nachricht für ihn
aufnehme?«
»Ja, ich denke schon. Folgendes bitte: >Gehen Sie nicht weg,
bis ich Sie oder Sie mich erreicht haben. Wichtig. Unterschrift Z.
Tatiana.< Geschrieben T-A-T-I-A...«
»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir, >Z<, Sir?«
-6 6 5
»So wie in Zero, Miß.« Johnny Reb legte in Cuxhaven den Hörer auf. Der Geschmack in seinem Mund war überwältigend sauer. Erich Leifhelm bewirtete seine Mittagsgäste an seinem Lieblingstisch im Ambassador-Restaurant im achtzehnten Stock des Steigenberger-Hotels in Bonn. Der großzügige, elegante Raum bot einen herrlichen Ausblick auf die Stadt und den Fluß, und Leifhelms Tisch stand so, daß alle diesen Ausblick genießen konnten. Es war ein klarer, heller, wolkenloser Nachmittag, und die Schönheit der Landschaft berührte jeden Glücklichen, der sie genießen konnte. »Dieser Ausblick wird mir nie zuviel«, sagte der ehemalige Feldmarschall zu den drei Männern an seinem Tisch und deutete auf das riesige Fenster hinter sich. »Ich wollte, daß Sie das sehen, ehe Sie nach Buenos Aires zurückkehren - was übrigens wahrhaftig eine der schönsten Städte der Welt ist.« Der Maitre d'hotel trat höflich neben Leifhelm und sprach ihn mit leiser Stimme an. »Herr General, ein Telefongespräch für Sie.« »Ein Adjutant speist an Tisch fünfundfünfzig«, sagte Leifhelm beiläufig, obwohl sein Puls jetzt raste. Vielleicht war das eine Nachricht über einen Priester in Straßburg! »Er kann das übernehmen.« »Der Herr hat ausdrücklich darum gebeten, daß ich Sie persönlich anspreche. Er läßt ausrichten, daß er aus Kalifornien anruft.« »Aha. Also gut.« Leifhelm stand auf und entschuldigte sich bei seinen Gästen. »Die Geschäfte lassen einen nie in Ruhe, nicht wahr? Verzeihen Sie mir, es dauert nur ein paar Sekunden. Bitte, lassen Sie Wein nachschenken.« Der Restaurantdirektor nickte und fügte hinzu: »Ich habe das Gespräch in mein Büro legen lassen, Herr General. Es ist gleich hinter dem Foyer.« »Sehr liebenswürdig. Vielen Dank.«
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Erich Leifhelm schüttelte kaum merklich den Kopf, als er Tisch
fünfundfünfzig in der Nähe des Eingangs passierte. Der Mann
dort registrierte die Geste mit einem leichten Kopfnicken. In all
den Jahren seiner militärischen und politischen Strategien und
Taktiken war diese Geste einer der größten Fehler des
Feldmarschalls.
Im Foyer standen zwei Männer, einer sah auf die Uhr, der
andere blickte verstimmt. Ihrer teuren Kleidung nach zu
schließen, waren sie Gäste des Ambassador und warteten
offensichtlich auf Bekannte, die sich ihnen anschließen sollten,
vielleicht auch auf ihre Frauen. Ein dritter Mann stand im
Korridor vor einer Glastür; er trug einen Overall des Hotels und
beobachtete die zwei Männer.
Leifhelm dankte dem Restaurantdirektor, als dieser dem
General die Tür zu seinem Büro aufhielt. Dann schloß er die
Tür wieder und kehrte in den Speisesaal zurück. Die zwei
Männer liefen plötzlich ebenfalls zu dem Büro, in dem der alte
Soldat gerade den Telefonhörer abnahm.
»Was geht hier vor? Wer ist...!«
Der erste Mann stürzte sich über den Schreibtisch, packte
Leifhelm am Kopf und preßte den Mund des Generals mit
kräftigen Händen zu. Der zweite zog eine Injektionsspritze aus
der Tasche und zog die Gummikappe herunter, während er
Leifhelm das Jackett herunterzerrte und ihm dann den
Hemdkragen aufriß. Er trieb dem General die Nadel in den
Halsansatz, zog die Spritze heraus und begann Leifhelm zu
massieren, während er ihm den Kragen richtete und das
Jackett wieder in Ordnung brachte.
»Er wird sich noch etwa fünf Minuten bewegen können«, sagte
der Arzt in deutscher Sprache. »Aber er kann weder sprechen
noch klar denken. Seine motorischen Kontrollen sind jetzt
mechanisch und müssen gelenkt werden.«
»Und nach fünf Minuten?« fragte der erste Mann.
»Wird er zusammenbrechen und sich übergeben.«
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»Eine schöne Aussicht. Schnell! Richten Sie ihn auf und führen
Sie ihn, um Himmels willen! Ich werde draußen nachsehen und
einmal klopfen.«
Sekunden später war das Klopfen zu hören, worauf der Arzt
den General aus dem Büro und durch die Glastüren in den
Hotelkorridor bugsierte.
Unter den Gästen in der mit Teppichen ausgelegten Hotelhalle
erkannten einige den zur Legende gewordenen alten Soldaten
und starrten in sein bleiches Gesicht mit den zitternden Lippen,
die zu sprechen versuchten oder zu schreien.
Sie kamen an einen Personalaufzug, der auf Halt geschaltet
war, und gingen hinein. An der gepolsterten Rückwand stand
eine Bahre mit Rädern. Der dritte Mann holte einen Schlüssel
aus der Tasche, schob ihn in das Schloß des Fahrstuhls und
drückte den Knopf für das Kellergeschoß. Die zwei anderen
hoben Leifhelm auf die Bahre und bedeckten ihn mit einem
Laken.
»Der Krankenwagen wartet unten an der Lifttür«, sagte der
Mann im Overall. »Das Flugzeug steht bereit.«
Der ehemals große Feldmarschall des Dritten Reichs mußte
sich unter dem Laken übergeben.
Jacques Louis Bertholdier sperrte die Tür seines Apartments
am Boulevard Montaigne auf, trat ein, zog sein Seidenjackett
aus und warf es auf einen Sessel. Er trat an die verspiegelte
Bar an der Wand, schenkte sich einen Wodka ein, warf zwei
Eiswürfel aus einem silbernen Gefäß in sein Glas und
schlenderte an das Fenster neben der elegant gepolsterten
Couch. Der von Bäumen gesäumte Boulevard Montaigne wirkte
an diesem frühen Nachmittag so friedlich, so makellos sauber
und beschaulich, obwohl er doch zu den bedeutendsten
Straßen der Stadt zählte. Manchmal dachte er, der Boulevard
sei die Essenz des Paris, das er liebte, des Paris der
Einflußreichen und des Wohlstands, dessen Bewohner sich nie
die Hände schmutzig zu machen brauchten. Dies war der
Grund, weshalb er die extravagante Wohnung gekauft und dort
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seine begehrenswerteste Geliebte untergebracht hatte. Er brauchte sie jetzt. Mein Gott, wie sehr er sie doch in diesem Augenblick brauchte, sie und die Entspannung, die sie ihm bot! Der Legionär im eigenen Wagen erschossen und garottiert! Auf dem Parkplatz des Bois de Bologne! Und Prudhomme, der schmutzige Bürokrat, mutmaßlich in Calais! Keine Fingerabdrücke! Nichts! Der bedeutendste ehemalige General Frankreichs brauchte eine Stunde der Ruhe. »Elise! Wo bist du? Komm heraus, meine Ägypterin! Ich hoffe, du trägst, was ich verlangt habe. Falls ich dich erinnern muß, das kurze schwarze Givenchy, und nichts darunter, verstehst du! Absolut nichts.« Die Tür öffnete sich, und das Mädchen mit dem rabenschwarzen Haar trat ein. Das schmale, perfekt proportionierte Gesicht erwartungsvoll, die braunen Augen geweitet. Vielleicht hat sie Marihuana geraucht, dachte Bertholdier. Sie trug ein kurzes, schwarzes Spitzenneglige, ihre Brüste von grauer Spitze umgeben wie von Diademen. Mit provozierend wiegenden Hüften schritt sie auf die Couch zu. »Exquisit, du Hure vom Nil. Setz dich. Es war ein schlimmer Tag, ein schrecklicher Tag.« Er griff nach ihren Brüsten, zog sich ihren Kopf auf den Schoß. Ein blendender Blitz erfüllte den Raum, als zwei Männer aus dem Schlafzimmer traten. Das Mädchen sprang von der Couch zurück, während Bertholdier erschreckt aufsah. Der vorn stehende Mann steckte die Kamera ein, während sein Begleiter, ein kleiner, vierschrötiger Kerl in mittleren Jahren mit einer Pistole in der Hand, langsam auf die Legende Frankreichs zuging. »Ich bewundere Ihren Geschmack, General«, sagte er mit schroffer Stimme. »Aber wahrscheinlich habe ich Sie immer bewundert, selbst als ich anderer Meinung war als Sie. Sie erinnern sich nicht an mich, aber in Algerien haben Sie mich vor ein Kriegsgericht gestellt und mich für sechsunddreißig Monate in den Bau geschickt, weil ich einen Offizier geschlagen habe. Ich war Sergeant-Major, und er hatte meine Männer wegen -6 6 9
Belanglosigkeiten mit übertriebenen Strafen brutal schikaniert. Drei Jahre, weil ich ein Schwein aus Paris geschlagen hatte, drei Jahre in diesem dreckigen Bau, weil ich mich um meine Männer gekümmert habe.« »Sergeant-Major Lefevre.«, sagte Bertholdier voll Autorität. »Ich erinnere mich. Ich vergesse nie etwas. Sie hatten sich hochverräterischer Handlungen schuldig gemacht: Hand an einen Offizier gelegt. Ich hätte Sie erschießen lassen sollen.« »In jenen drei Jahren hat es Augenblicke gegeben, in denen mir das willkommen gewesen wäre, Monsieur. Aber ich bin nicht hier, um über Algerien zu sprechen. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß Sie mit uns kommen werden. Man wird Sie in ein paar Tagen unversehrt nach Paris zurückbringen.« »Lächerlich!« stieß der General hervor. »Glauben Sie, Ihre Waffe macht mir Angst?« »Nein, die dient nur dazu, mich vor Ihnen zu schützen, vor der letzten Geste eines tapferen und berühmten Soldaten. Ich kenne Sie zu gut und weiß, daß man bei Ihnen mit Drohungen bis hin zum Tod nichts ausrichten kann. Aber ich habe mir etwas anderes überlegt, und der Gedanke ist unwiderstehlich.« Der Exsoldat holte eine zweite, seltsam geformte Pistole aus der Tasche. »Diese Waffe enthält keine Kugeln; sie feuert Bolzen mit einer chemischen Substanz ab, die den Herzschlag so beschleunigt, daß der Herzmuskel platzt. Ich hatte daran gedacht, Ihnen damit zu drohen, daß wir das Foto nach Ihrem Tod verbreiten und zeigen, daß der große General schmählich bei dem starb, was er am besten konnte. Aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. Der Winkel war günstig für eine geschickte Retusche - nicht daß man Ihre Haltung oder Ihren Gesichtsausdruck retuschieren würde, aber aus Ihrer Gespielin könnte man leicht einen Mann machen, einen kleinen Jungen statt eines Mädchens. Schon einmal hat es Gerüchte über Ihre Exzesse gegeben und eine hastig arrangierte Ehe, die nur wenige verstehen konnten. War das das Geheimnis, vor dem der große General ein Leben lang geflohen ist? War das die Drohung, mit der der große de Gaulle seinen populären, aber viel zu ehrgeizigen und aufrührerischen Colonel in Schach -6 7 0
gehalten hat? War der Appetit dieses Möchtegern-Nachfolgers
so groß, daß er nichts ausließ, was er in die Hände bekommen
konnte, gleichgültig, welchen Geschlechts? Kleine Jungen,
wenn es keine Frauen gab. Die Gerüchte um junge Offiziere,
von Vergewaltigungen, die man bequemerweise dann Verhöre
nannte -.«
»Genug!« schrie Bertholdier und sprang auf. »Weitere Reden
sind sinnlos, gleichgültig wie absurd und unbegründet Ihre
Anklagen auch sind, ich werde nicht zulassen, daß man meinen
Namen in den Dreck zieht! Ich will den Film haben!«
»Mein Gott, es ist wahr«, sagte der ehemalige Sergeant. »Alles
wahr.«
»Den Film!« schrie der General. »Geben Sie ihn mir!«
»Sie sollen ihn haben«, erwiderte Lefevre. »Im Flugzeug.
Chaim Abrahms ging mit gebeugtem Haupt aus der Ihud Shivat
Zfon-Synagoge an der Ben-Yehuda-Straße in Tel Aviv Die
würdige Menge draußen bildete zwei tief gestaffelte Reihen
ergebener Gefolgsleute, Männer und Frauen, die offen über
das schreckliche Leid dieses großen Mannes weinten, dieses
Patrioten und Soldaten Israels, das er von seiner Frau hat ,
erdulden müssen. Hitabdut, flüsterten sie.
Ebude tatzmo, sagten sie zueinander, so leise, daß Chaim es
nicht hören konnte. Die Rabbis kannten keine Gnade; die
Sünden einer verachtenswerten Frau wurden an diesem Sohn
heimgesucht, diesem wilden Kind Abrahams, diesem biblischen
Krieger, der das Land und den Talmud mit gleicher Inbrunst
liebte. Man hatte der Frau das Begräbnis in heiliger Erde
versagt. Sie mußte vor den Toren des bethhakoahroht ruhen,
und ihre Seele würde dereinst mit dem Zorn des allmächtigen
Gottes kämpfen müssen. Und der Schmerz jenes Wissens war
eine unerträgliche Bürde für den Zurückgebliebenen.
Es hieß, sie hätte es aus Rache getan und aus einem kranken
Geist heraus. Sie hatte ihre Töchter gehaßt. Aber der Sohn des
Vaters war es - stets der Sohn des Vaters -, der auf dem
Schlachtfeld des Vaters gefallen war. Wer würde mehr weinen,
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wer konnte mehr weinen, größeres Leid empfinden als der Vater? Und jetzt dies, die weitere Qual zu wissen, daß die Frau, der er sein Leben gegeben hatte, auf scheußliche Weise Gottes Talmud verletzt hatte. Die Schande, die Schande! Chaim, unser Bruder, Vater, Sohn und Führer, wir weinen mit dir. Für dich! Sag uns, was wir tun sollen, und wir werden es tun. Du bist unser König. König von Eretz Israel, on Judäa und Samaria und all den Landen, die du zu unserem Schütze suchst! Zeige uns den Weg, und wir werden dir folgen! »Danke, mein Sohn«, sagte die Legende Israels, während er einstieg und sich in den Sitz zurücksinken ließ. Die Tür schloß sich, und als er dann mit zugepreßten Augen sprach, klang seine harte Stimme alles andere als bekümmert. »Ich will weg von hier! In mein Landhaus. Dort trinken wir alle Whisky und vergessen diesen Dreck. Heilige rabbinische Bastarde! Die haben tatsächlich die Frechheit besessen, mich zu belehren. Im nächsten Krieg werde ich die Rabbis einberufen und diese talmudischen Hosenscheißer in die vordersten Linien stellen! Dann sollen sie Vorträge halten, während ihnen die Schrapnells die Ärsche zerfetzen!« Keiner sagte ein Wort, als der Wagen langsam schneller wurde und schließlich die Menschenmenge hinter sich ließ. Augenblicke später öffnete Chaim wieder die Augen und richtete sich auf. Er streckte sich und lehnte sich dann bequemer wieder zurück. Dann blickte er langsam auf zwei Soldaten neben sich, als bemerkte er sie erst in diesem Moment. Sein Kopf zuckte hin und her. »Wer sind Sie?« schrie er. »Sie sind nicht meine Männer, nicht meine Adjutanten.« »Die werden in etwa einer Stunde aufwachen«, sagte der Mann, der vorn neben dem Fahrer saß. Er drehte sich herum und sah Abrahms an. »Good afternoon, General.« »Sie!« »Ja, ich bin es, Chaim. Ihre Speichellecker konnten mich nicht daran hindern, vor dem Tribunal im Libanon auszusagen, und nichts auf der Welt konnte mich von dem abhalten, was ich -6 7 2
heute tue. Ich habe von dem Massaker an Frauen und Kindern und zitternden alten Männern erzählt, als die um ihr Leben bettelten, und habe Sie lachen sehen. Sie nennen sich einen Juden? Sie werden das nie begreifen. Sie sind nur ein Mann voll Haß, und mir paßt es nicht, daß Sie behaupten, zu dem zu gehören, was ich bin oder was ich glaube. Dreck sind Sie, Abrahms. Aber man wird Sie in ein paar Tagen nach Tel Aviv zurückbringen.« Eine nach der anderen landeten die Maschinen, die Propellerflugzeuge aus Bonn und Paris, die Düsenmaschine aus Israel, eine Dassault-Breguet Mystere 10/100, die schnell aus einer Höhe von 28000 Fuß auf den Privatflugplatz von St. Gervais herunterstieß. Und während jede einzelne am Ende der Piste ausrollte, wartete dieselbe dunkelblaue Limousine, um den jeweiligen »Gast« und seinen Begleiter zu einem Chateau in den Alpen zu bringen, das östlich des Flughafens in den Bergen lag. Es war auf zwei Wochen von einer Immobilienfirma in Chamonix gemietet worden. Die Ankunft der einzelnen Maschinen war sorgfältig geplant worden, da keiner der drei Gäste wissen durfte, daß die anderen auch dort waren. Die Maschinen aus Bonn und Paris landeten um 4.30 Uhr bzw. 5.45 Uhr, der Jet aus Israel fast drei Stunden später, um 8.27 Uhr. Und zu jedem der verblüfften Gäste sagte Joel Converse dieselben Worte: »So wie man mir in Bonn Gastfreundschaft angeboten hat, entbiete ich Ihnen hier meine. Ihre Unterkunft wird besser sein als die, die man mir gegeben hat, obwohl ich bezweifle, daß das Essen so gut sein wird. Aber eines weiß ich - Ihre Abreise wird wesentlich weniger dramatisch sein als meine.« Aber nicht Ihr Aufenthalt, dachte Converse, während er zu den einzelnen Männern sprach. Nicht Ihr Aufenthalt. Das gehörte zu seinem Plan.
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38 Über den Bäumen im Central Park zeigte sich das erste Licht an einem dunklen Himmel. Nathan Simon saß in seinem Arbeitszimmer und beobachtete die Ankunft des neuen Tages von dem weichen Ledersessel an dem großen Fenster aus. Es war sein Denkplatz, wie er ihn nannte. Trotz der Behauptungen, die Joel gegenüber Peter Stone aufgestellt hatte, war es nicht einfach, an einflußreiche Personen in der Regierung heranzukommen. Ebensowenig war es logisch zu glauben, einen Richter dazu veranlassen zu können, eine gerichtliche Anordnung zu erlassen, die auf wunderbare Weise für eben diese Leute außergewöhnlichen Schutz garantierte, ohne zugleich den ganzen Sicherheitsapparat zu informieren, weshalb dieser Schutz für notwendig gehalten wurde. Lächerlich! Solche gerichtlichen Anordnungen gaben einen Sinn, wo es um eingeschüchterte Zeugen vor einem Strafprozeß ging. Aber für das Weiße Haus, den Kongreß oder das Justizministerium galt das natürlich nie. Joel hatte ein juristisches Manöver aufgegriffen, es in unwahrscheinlichem Maße aufgebläht - und dafür natürlich Gründe gehabt. Stone und seine Kollegen hatten ihre Aussagen gemacht. Und doch lag in Joels Übertreibung eine seltsame Logik, dachte Simon. Nicht in dem Sinne, wie Joel das überlegt hatte, aber als Mittel, um an diese Männer heranzukommen. »Ein Gericht, ein einziger Richter...«, hatte Converse zu Stone gesagt. Das war die Logik, der Rest war Unsinn. Der Oberste Gerichtshof, ein Richter jenes Gerichts, nicht die Bitte eines gewissen Nathan Simon, den man würde überprüfen müssen, wenn auch nur in bezug auf seine Absichten, nicht in bezug auf seinen Leumund, sondern eine dringende Botschaft an den Präsidenten, die von einem ehrwürdigen Richter des Obersten Gerichts ausging! Niemand würde es wagen, sich einem solchen Mann in den Weg zu stellen, wenn er erklärte, seine Angelegenheit beträfe nur den Präsidenten und ihn selbst. Präsidenten waren viel besorgter um den Obersten Gerichtshof als um den Kongreß, und das aus gutem Grund. Letzterer war -6 7 4
ein politisches Schlachtfeld, ersteres eine Arena des moralischen Urteils, und niemand lebte sein Leben in tiefgekühltem Zustand, nicht einmal - vielleicht sogar ganz besonders nicht - Präsidenten. Und Nathan Simon kannte den Mann, den er anrufen und aufsuchen würde, einen Richter Ende der Siebzig. Das Gericht tagte zur Zeit nicht, bis zum Oktober war noch ein Monat. Er war irgendwo in New England, und seine Privatnummer befand sich in Simons Büro. Nathan blinzelte und hob dann die Hand, um die Augen abzuschirmen. Einen kurzen Augenblick lang hatte der Feuerball der frühen Morgensonne einen blendenden Strahl durch ein geometrisches Labyrinth aus Glas und Stahl auf der anderen Seite des Parkes geschickt, der sein Fenster erreichte. Und plötzlich, in diesem Augenblick der Blendung, hatte er die Antwort auf die erschreckende Frage des Wo und Wann für die Unruhe, für das Vorspiel des großen Gewaltausbruchs. Im freien Teil Europas, in Kanada und in den Vereinigten Staaten war eine international abgestimmte Protestaktion gegen Atomwaffen geplant, die eine Woche lang dauern sollte. Millionen besorgter, verängstigter Leute, die sich an den Händen hielten und den Verkehr auf den Straßen der wichtigen Städte und Hauptstädte zum Erliegen bringen würden, und ihren Stimmen zu Lasten der Öffentlichkeit Gehör verschaffen wollten. In Parks, auf Plätzen und vor den Regierungsgebäuden sollten Kundgebungen stattfinden. Politiker und Staatsmänner, die wie stets die Macht von Basisbewegungen erkannt hatten, hatten sich überall bereit erklärt, zu den Massen zu sprechen in Paris und Bonn, Rom und Madrid, in Brüssel und London - in Toronto, Ottawa, New York und in Washington. Und wiederum, wie stets, würden diese Macher und Wohltäter, diese ehrlichen Advokaten und diese Heuchler der Politik das Fehlen vernünftiger Abrüstungsmaßnahmen auf die Hartnäckigkeit ihrer bösen Widersacher schieben, niemals auf die eigenen Fehler. Die Ehrlichen und die Falschen gingen Hand in Hand über die Podien, und keiner konnte den anderen richtig erkennen.
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Niemand rechnete damit, daß diese Demonstrationen ohne Zwischenfälle ablaufen würden... aber wie weit konnten diese kleinen Konfrontationen eskalieren? Anonym finanzierte Einheiten fanatischer Terroristen, die man davon überzeugt hatte, daß sie die Demonstrationen infiltrieren und sie stören mußten, um ihrer eigenen Botschaft Gehör zu verschaffen, einer Botschaft, die überhaupt nichts mit den ehrlichen Protesten zu tun hatte, Radikale, die nur deshalb Chaos erzeugten, weil die Menschenmassen nicht ihrer Überzeugung angehörten. Menschen - überall. Das waren die Massen, die man mit plötzlicher Gewalttätigkeit elektrisierte und zum politischen Wahnsinn treiben konnte! Das war das Vorspiel. Überall. Die Demonstrationen sollten in drei Tagen beginnen. Peter Stone ging den breiten Weg hinter dem Haus zum See hinunter. Irgendwo in New Hampshire - er wußte nicht genau wo, nur daß das Haus zwanzig Minuten vom Flughafen entfernt war. Es begann bereits zu dämmern, das Ende eines Tages voller Überraschungen und offenbar noch nicht vorbei - die Überraschungen waren noch nicht vorbei. Vor zehn Stunden hatte er von seinem Zimmer im Algonquin aus die Swissair angerufen, um sich zu erkundigen, ob die Maschine aus Genf pünktlich eintreffen würde, nur um zu hören, daß sie bereits vierunddreißig Minuten früher landen sollte. Das war die erste Überraschung - und ohne Belang. Die zweite war das nicht. Er war kurz vor 14 Uhr am Kennedy-Flughafen eingetroffen und hatte nach wenigen Augenblicken gehört, wie ein »Mr. Lackland« über die Lautsprecher ausgerufen wurde. Das war der Name, den er Nathan Simon genannt hatte. »Nehmen Sie die Pilgrim Airlines nach Manchester, New Hampshire«, hatte der Anwalt gesagt. »Auf der Maschine um 15.15 Uhr ist ein Platz für Mr. Lackland reserviert. Schaffen Sie das?«
»Leicht. Der Flug aus Genf kommt früher.«
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»In Manchester wird ein rothaariger Mann auf Sie warten. Ich habe Sie ihm beschrieben. Wir sehen uns dann gegen halb sechs.« Manchester, New Hampshire? Stone war so überzeugt davon gewesen, daß Simon ihn bitten würde, nach Washington zu fliegen, daß er sich nicht einmal eine Zahnbürste mitgenommen hatte. Überraschung Nummer zwei. Überraschung Nummer drei war der Kurier aus Genf. Eine hagere, adrette Engländerin mit einem Gesicht wie blasser Granit und den verschlossensten Augen, die er je außerhalb des Dscherschinskii-Platzes gesehen hatte. Wie verabredet, hatte sie sich mit ihm vor der Swissair-VIP-Lounge getroffen, eine Ausgabe von The Economist in der linken Hand. Nachdem sie die falsche Seite seines schon lange abgelaufenen Regierungsausweises studiert hatte, hatte sie ihm den Aktenkoffer gegeben und folgendes mit ausgeprägtem britischen Akzent erklärt: »Ich mag New York nicht, habe es noch nie gemocht. Ich fliege auch nicht gern, aber alle waren so nett, und es ist ja schließlich besser, das Ganze hinter sich zu bringen, oder? Man hat arrangiert, daß ich mit der nächsten Maschine nach Genf zurückfliegen kann. Meine Berge fehlen mir. Die brauchen mich, und ich gebe mir die größte Mühe, ihnen alles zu geben.« Nach dieser etwas verworrenen Information hatte sie ein schwaches Lächeln aufgesetzt, sich ein wenig seltsam umgedreht und war wieder zur Rolltreppe zurückgegangen. Und erst jetzt begann Stone zu begreifen. Nicht die Augen der Frau waren verschlossen gewesen, nein, die ganze Person. Sie war betrunken - oder vielleicht auch nur angeheitert -, sie hatte ihre Angst vor dem Fliegen mit einem flüssigen Mutmacher überwunden. Converse hat eine seltsame Vorstellung von Kurieren, hatte Stone gedacht und es sich dann gleich wieder anders überlegt. Wer würde schon weniger verdächtig sein? Die vierte Überraschung erwartete ihn am Flughafen von Manchester. Ein überschwenglicher rothaariger Mann in mittleren Jahren hatte ihn begrüßt, als wären sie uralte -6 7 7
Studienfreunde. Er war wirklich überschäumend, so daß es
Stone nicht nur peinlich war, sondern er sich wirklich ernsthaft
Sorgen machte, man könnte auf sie aufmerksam werden. Aber
als sie den Parkplatz erreicht hatten, hatte ihn der Rotschopf
plötzlich gegen die Tür seines Wagens gedrückt und ihm den
Lauf seiner Pistole gegen den Hals gepreßt, während die
andere Hand des Mannes seine Kleidung nach einer Waffe
abtastete.
»Ich würde es doch nicht riskieren, mit einer Pistole durch die
Metalldetektoren zu gehen, verdammt.« protestierte der
ehemalige CIA-Agent.
»Ich vergewissere mich ja auch nur. Ich hab' genug mit euch
Arschlöchern zu tun gehabt, ihr bildet euch ein, ihr seid etwas
Besonderes. Sie fahren.«
»Ist das eine Frage oder ein Befehl?«
»Ein Befehl«, erwiderte der Rotschopf. Überraschung Nummer
fünf kam im Wagen, als Stone, den Anweisungen des
rothaarigen Mannes folgend, eine Kurve nach der anderen
nahm, während dieser gleichgültig seine Pistole in das Halfter
zurücksteckte.
»Tut mir leid, daß ich so dick aufgetragen habe«, hatte er mit
einer Stimme gesagt, die bei weitem nicht so feindselig wirkte
wie noch auf dem Parkplatz, aber auch von der falschen
Freundlichkeit im Flughafengebäude weit entfernt war. »Ich
mußte vorsichtig sein, Sie zornig machen, sehen, wo Sie
stehen, begreifen Sie? Ich war Cop in Cleveland, Gary Frazier
heiße ich. Wie geht's Ihnen?«
»Jetzt fühle ich mich etwas besser«, hatte Stone gesagt. »Wo
fahren wir hin?«
»Tut mir leid, Kumpel. Wenn er will, daß Sie das erfahren, wird
er es Ihnen sagen.«
Überraschung Nummer sechs erwartete Stone, als er den
Wagen durch die Hügel von New Hampshire zu einem einsam
stehenden Haus aus Holz und Glas steuerte, das von Wäldern
umgeben war. Das Haus war wie ein umgedrehtes V gebaut,
zwei sich nach oben verjüngende Stockwerke, die nach allen
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Richtungen auf Wald und Wasser blickten. Nathan Simon war ihnen auf der Steintreppe vor der Haustüre entgegengekommen. »Haben Sie es mitgebracht?« fragte er. »Da ist es«, sagte Stone und reichte dem Anwalt durch das offene Fenster den Aktenkoffer. »Wo sind wir? Wen werden Sie sprechen?« »Das ist ein sehr wenig bekanntes Haus, aber wenn alles in Ordnung ist, werden wir Sie rufen. Am Bootshaus unten am See sind ein paar Gästezimmer. Wollen Sie sich nach der Reise nicht ein wenig frischmachen? Der Fahrer zeigt es Ihnen. Wenn wir Sie brauchen, rufen wir Sie an.« Und jetzt ging Peter Stone den breiten Weg zum Bootshaus am See hinunter, wohl wissend, daß Augen ihm folgten. Überraschung Nummer sieben: Er hatte keine Ahnung, wo er war, und auch Simon würde ihm das nicht sagen. Sofern nicht »alles in Ordnung« war, was auch immer das bedeutete. Die Gästezimmer, die der Anwalt erwähnt hatte, lagen in einer kleinen Hütte am See, mit Zugang zu dem danebenliegenden Bootshaus, in dem ein schlankes Motorboot und ein Katamaran vertäut waren. Stone schlenderte herum und versuchte, irgendeinen Hinweis auf die Identität des Besitzers zu finden. Aber ohne Erfolg. Der ehemalige Abwehrbeamte setzte sich und blickte über die friedlichen Wasser und die dahinterliegenden dunkelgrünen Hügel von New Hampshire. Alles war friedlich. Aber in ihm war es nicht friedlich. Sein Magen revoltierte, und er erinnerte sich daran, was Johnny Reb zu sagen pflegte: »Dem Magen kannst du vertrauen, Bruder Hase, und der Galle. Die lügen nie.« Er fragte sich, was der Rebel wohl gerade tat. Das Telefon klingelte, eine schrille, entnervende Außenglocke. Stone sprang auf, riß die Tür auf und eilte quer durch das Zimmer zu dem Apparat. »Kommen Sie bitte zum Haus«, sagte Nathan Simon; und dann fügte er hinzu: »Wenn Sie draußen gewesen sein sollten, bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie nicht vor dieser verdammten Glocke gewarnt habe.« -6 7 9
»Die Entschuldigung nehme ich an. Ich war draußen.«
»Sie ist für Gäste, die Anrufe erwarten und vielleicht mit einem
der Boote auf den See hinausgefahren sind.«
»Ich komme sofort.«
Stone ging den Kiesweg hinauf und sah den Anwalt an einer
mit Gittergeflecht bespannten Türe stehen, die vom See aus
Zugang zum Haus bot; davor lag eine Terrasse, die man über
eine Ziegeltreppe erreichte. Er stieg die Stufen hinauf und war
auf Überraschung Nummer acht vorbereitet.
Andrew Wellfleet, Richter am Obersten Bundesgericht, die
breite Stirne vom dünner gewordenen, ungekämmten weißen
Haar bedeckt, saß hinter einem großen Schreibtisch in der
Bibliothek. Die dicke Sammlung eidesstattlicher Erklärungen
von Joel Converse lag vor ihm, eine Stehlampe zu seiner
Linken ließ ihr Licht auf die Blätter fallen. Es dauerte ein paar
Sekunden, bis er aufblickte und die stahlgeränderte Brille
abnahm. Seine Augen blickten nicht freundlich. Sie blickten
streng und mißbilligend, ganz zu dem Spitznamen passend,
den man ihm vor zwei Jahrzehnten verliehen hatte, als er an
das Gericht berufen worden war. »Der zornige Andy« hatten die
Zeitungsschreiber ihn genannt, aber unbeschadet seines
Temperaments stellte niemand seine geradezu
furchteinflößende Intelligenz, seine Fairneß oder seine Hingabe
an das Gesetz in Zweifel.
»Haben Sie das gelesen?« fragte Wellfleet, ihm weder die
Hand noch einen Stuhl anbietend.
»Ja, Sir«, erwiderte Stone. »Im Flugzeug. Im wesentlichen ist
es das, was er mir auch am Telefon erzählt hat, natürlich mit
sehr viel mehr Einzelheiten. Die Erklärung des Franzosen
Prudhomme war eine willkommene Zugabe. Die sagt uns, wie
die arbeiten - wozu die imstande sind.«
»Und was, zum Teufel, glauben Sie, mit alldem tun zu
können?« Der alte Richter machte eine weit ausholende
Handbewegung, die den ganzen Schreibtisch und sämtliche
Erklärungen einschloß. »Anträge an die Gerichte hier und in
Europa stellen, daß sie freundlicherweise einstweilige
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Verfügungen erlassen und die Aktivitäten jeglichen
Militärpersonals oberhalb eines bestimmten Ranges
einschränken? Und das lediglich auf die Möglichkeit hin, daß
diese Personen in diese Sache verwickelt sein könnten?«
»Ich bin kein Anwalt, Sir, die Gerichte sind mir daher nie in den
Sinn gekommen. Aber ich dachte, daß der Bericht von
Converse mit alldem, was wir wußten, ausreichen könnte, um
an die richtigen Leute heranzukommen, Leute in höchsten
Stellen, die etwas tun können. Converse hat ganz offensichtlich
dasselbe gedacht und deshalb Mr. Simon angerufen und, wenn
Sie mir verzeihen, Mr. Justice, Sie lesen das ja jetzt alles.«
»Das reicht nicht«, sagte der Richter. »Und zum Teufel mit den
Gerichten, das sollte ich Ihnen eigentlich nicht sagen müssen,
Mr. Ex-CIA-Mann. Sie brauchen Namen, viel mehr Namen,
nicht nur fünf Generale, von denen drei pensioniert sind, und
einer, der sogenannte Anstifter, ein Mann ist, der vor einigen
Monaten operiert wurde und jetzt keine Beine mehr hat.«
»Delavane?« fragte Simon und trat zwei Schritte vom Fenster
zurück.
»Richtig«, sagte Wellfleet. »Jämmerlich, nicht wahr? Nicht
gerade das Bild einer beeindruckenden Bedrohung, oder?«
»Das könnte ihn sogar zu einer außergewöhnlichen Bedrohung
machen.«
»Das leugne ich nicht, Nate. Ich sehe mir nur die Sammlung an,
die Sie hier haben. Abrahms? Wie Ihnen jeder, der sein
koscheres Salz in Israel wert ist, sagen wird, ist er ein
aufgeblasener, überspannter Hitzkopf - ein brillanter Soldat,
aber in seinem Kopf sind mindestens zehn Schrauben locker.
Davon abgesehen gilt seine einzige Sorge Israel. Van
Headmer? Der ist ein Überbleibsel aus dem neunzehnten
Jahrhundert, ziemlich schnell mit der Henkersschlinge, aber
außerhalb von Südafrika gibt man nicht viel auf das, was er
sagt.«
»Mr. Justice«, sagte Stone, »wollen Sie damit andeuten, daß
wir uns irren? Wenn Sie das nämlich tun, dann sind da noch
andere Namen - und damit meine ich nicht nur ein paar
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Attaches an der Botschaft in Bonn -, Namen von Männern, die ermordet worden sind, weil sie versuchten, Antworten zu finden.« »Sie haben mir nicht zugehört!« herrschte Wellfleet ihn an. »Ich habe Nate gerade gesagt, daß ich überhaupt nichts dergleichen andeute. Wie, zum Teufel, könnte ich das? Fünfundvierzig Millionen in illegalen Exporten, die einfach verschwunden sind! Ein Apparat, der imstande ist, die Medien hier und in Europa nach seinem Belieben zu beeinflussen, der Regierungsagenturen korrumpieren und, wie Nate es hier ausgedrückt hat, >einen psychopathischen Mörder schaffen< kann. O nein, ich behaupte nicht, daß Sie unrecht haben. Ich sage nur, daß Sie das tun sollen, wovon man mir sagt, daß Sie sich recht gut darauf verstehen, und zwar schnell. Schleppen Sie diesen Washburn her und all die anderen, die Sie in Bonn finden können; picken Sie sich einen Querschnitt aus diesen Leuten im Department of State und dem Pentagon heraus und pumpen Sie sie voll Drogen oder was auch sonst immer und besorgen Sie uns Namen! Und wenn Sie je behaupten, ich hätte solch willkürliche Maßnahmen vorgeschlagen, die unsere geheiligten Menschenrechte verletzen, dann sage ich, daß das erstunken und erlogen ist. Sprechen Sie mit Nate. Für Nettigkeiten haben Sie keine Zeit mehr, Mister.« »Wir haben auch nicht die Mittel«, sagte Stone. »Wie ich schon Mr. Simon erklärt habe, gibt es ein paar Freunde, die ich um Informationen angehen kann, aber nichts von der Art, was Sie vorgeschlagen haben - was Sie nicht vorgeschlagen haben. Ich verfüge einfach nicht über die entsprechenden Hebel und Männer. Ich stehe nicht einmal mehr in Diensten der Regierung.« »Da kann ich Ihnen helfen.« Wellfleet machte sich Notizen. »Was auch immer Sie brauchen, werden Sie bekommen.« »Da ist noch ein anderes Problem«, fuhr Stone fort. »Gleichgültig, wie vorsichtig wir sind, wir würden Alarm auslösen. Diese Leute glauben an das, was sie tun. Das sind nicht nur geistlose Extremisten. Sie sind aufeinander eingestimmt und verfügen über ausgeklügelte Strategien und -6 8 2
Rückzugslinien. Die wissen genau, was sie tun. Das Ganze ist ein geplanter Ablauf von Ereignissen, in dem aus den einzelnen Stufen Kapital geschlagen wird, bis wir alle gezwungen sind, sie als neue Herren zu akzeptieren - oder hinzunehmen, daß die Gewalt andauert, der Aufruhr, das Morden.« »Sehr schön, Mister. Und was werden Sie tun? Nichts?« »Natürlich nicht. Ob nun zu Recht oder nicht, ich habe Converse geglaubt, als er mir sagte, daß Mr. Simon mit unseren Aussagen - mit all dem Beweismaterial, das wir ihm geliefert haben - an Leute herankommen könnte, zu denen wir keinen Zugang haben. Warum hätte ich ihm nicht glauben sollen? Das paßte ganz genau in meine eigenen Überlegungen, nur daß ich nicht an einen Nathan Simon, sondern an Converse selbst gedacht hatte. Nur daß es auf meine Art länger dauern würde. Die Vorkehrungen würden viel komplizierter sein, aber möglich wäre es. Wir würden an die richtigen Leute herankommen und den Gegenangriff beginnen können.« »An wen haben Sie denn gedacht?« fragte Wellfleet scharf. »Zuerst natürlich an den Präsidenten. Und dann, weil es um ein halbes Dutzend anderer Länder geht, an den Außenminister. Man müßte einen streng geheimen Auswahlprozeß in Gang setzen - ganz ohne Zweifel unter Einsatz jener Chemikalien, die Sie nicht erwähnt haben -, bis wir untadeliges Personal zur Verfügung haben, Männer und Frauen, die mit absoluter Sicherheit keine Verbindung zu diesem Aquitania haben. Wir würden dann Zellen aufbauen, Befehlsposten hier und im Ausland. Übrigens, es gibt da einen Mann, der uns dabei höchst wertvolle Hilfe leisten kann, einen Mann namens Belamy im britischen MI 6. Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, er ist der Beste, den es in diesem Geschäft gibt - und kennt die Besten -, und er hat solche Dinge schon früher getan. Sobald unsere Zellen stehen und getarnt sind, holen wir uns Washburn aus Bonn und mindestens noch zwei andere, die wir der Beschreibung nach kennen. Pradhomme kann uns die Namen der Leute in der Sürete geben, die die angeblichen Beweise gegen Converse geliefert haben. -6 8 3
Und wie Sie aus meiner Aussage wissen, haben wir die Insel
Scharhörn jetzt unter Beobachtung - wir glauben, daß die Insel
ein Nervenzentrum oder ein Kommunikationsposten ist. Mit den
richtigen technischen Einrichtungen könnten wir die Anlagen
dort anzapfen. Worauf ich hinaus möchte, ist, daß wir die
Information ausweiten würden. Und sobald man einmal die
gegnerische Strategie kennt, kann man auch eine
Gegenstrategie aufbauen, ohne Alarm auszulösen.« Stone
machte eine Pause und sah die beiden Männer an. »Mr.
Justice, Mr. Simon. Ich war Stationschef auf fünf wichtigen
Posten in Großbritannien und dem Kontinent. Ich weiß, daß
man es schaffen kann.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Nathan Simon. »Aber wie
lange würde das dauern?«
»Wenn Justice Wellfleet mir die Unterstützung und die
technischen Anlagen beschaffen kann, die ich brauche, und mit
den richtigen Leuten, die ich auswähle - hier und im Ausland -,
könnten Derek Belamy und ich ein Blitzprogramm aufbauen.
Wir würden in acht bis zehn Tagen einsatzfähig sein.«
Simon sah den Richter an, und dann wanderte sein Blick
wieder zu Stone zurück. »Wir haben keine acht bis zehn Tage
mehr«, sagte er. »Wir haben drei - jetzt nicht einmal mehr drei
Tage.«
Peter Stone starrte den großen, behäbigen Anwalt mit den
ernsten Augen an. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht
wich.
General George Marcus Delavane legte langsam den
Telefonhörer zurück auf die Gabel. Sein Körper war am
Rollstuhl festgeschnallt, seine Arme schwer, sein Atem kurz,
und die Venen traten blau an seinem Hals hervor. Er
verkrampfte die Hände ineinander, bis die Fingerknöchel weiß
hervortraten. Seine kalten, zornigen Augen verengten sich, als
er den uniformierten Adjutanten ansah, der vor seinem
Schreibtisch stand. »Sie sind verschwunden«, sagte er, und
seine hohe Stimme klang eisig. »Leifhelm hat man aus einem
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Restaurant in Bonn herausgeholt. Es heißt, dort hätte ein
Krankenwagen vor dem Eingang gewartet, der sofort weggerast
sei, und niemand weiß, wohin. Abrahms Wachen sind betäubt
worden. Andere haben ihre Plätze eingenommen. Man hat ihn
mit seinem eigenen Dienstwagen weggefahren, ihn vor einer
Synagoge abgeholt. Bertholdier ist nicht mehr aus seinem
Appartement am Boulevard Montaigne heruntergekommen,
also ging der Fahrer hinauf, um ihn diskret an die Zeit zu
erinnern. Seine Hure war nackt auf das Bett gefesselt. Sie
sagte, zwei Männer hätten ihn mit gezogenen Pistolen
weggeholt und es sei die Rede von einem Flugzeug gewesen.«
»Was ist mit Van Headmer?« fragte der Adjutant.
»Nichts. Unser charmanter Südafrikaner diniert im
Johannesburg-Military-Club und sagt, er will sich zusätzliche
Wachen beschaffen. Er ist da nicht involviert, er ist zu weit weg,
um Bedeutung zu haben.«
»Was meinen Sie, General? Was ist denn plötzlich los?«
»Was los ist? Dieser Converse ist los! Wir haben uns unseren
eigenen Feind geschaffen, Colonel - einen Feind, den man
ernst nehmen muß. Und ich kann nicht behaupten, daß man
uns nicht gewarnt hätte. Chaim hat es vorausgesagt. Unser
Mann in der Mossad hat keine Zweifel daran gelassen. Die
Nordvietnamesen haben da einen Höllenhund geschaffen - das
sind die Worte der Mossad - und wir ein Monstrum. Man hätte
ihn schon in Paris töten sollen, spätestens aber in Bonn. Die
Männer, die er in seine Gewalt gebracht hat, sind nur Symbole,
Magneten, die andere anziehen sollten. Das ist das Schöne an
einer sauberen Strategie, Colonel. Sobald sie einmal in
Bewegung gesetzt ist, läuft sie wie von selbst ab, wie eine
Welle im Meer. Die Kraft, die sie antreibt, ist unsichtbar, aber
sie treibt sie immer weiter. Die Ereignisse werden die einzig
mögliche Lösung diktieren. Das ist mein Vermächtnis, Colonel.«
Nathan Simon war fast am Ende seiner Erklärung angelangt. Er
hatte dazu weniger als drei Minuten gebraucht, und Peter Stone
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war während der ganzen Zeit völlig unbewegt geblieben, die Augen auf den älteren Mann geheftet, das Gesicht aschfahl. »Sie sehen doch jetzt das Schema, oder?« schloß der Anwalt. »Die Proteste beginnen im Nahen Osten und folgen der Sonne und den Zeitzonen über das Mittelmeer und durch Europa, über den Atlantik, und sie erreichen ihren Höhepunkt in Kanada und den Vereinigten Staaten. Sie beginnen mit der Peace NoioBewegung in Jerusalem, und dann folgt Beirut, Rom, Paris, Bonn, London, Toronto, Washington, New York, Chicago und, und, und. Gigantische Kundgebungen in den größten Städten der westlichen Welt, in jeder Nation, die Delavane und seine Leute infiltriert haben. Dann entstehen Konfrontationen - die ersten Unruhen - und wachsen sich zu größeren Störungen aus, wenn Terroristeneinheiten eingeschleust werden. Bomben, die in Wagen versteckt sind oder unter den Straßen in den Abflußkanälen oder die man einfach in die Menge hineinrollt. All das führt zu der Verwirrung und Unruhe in den Massen, die sie brauchen, um ihre führenden Figuren an Ort und Stelle zu bringen, oder präziser, sobald sie an Ort und Stelle sind, um ihre Aufträge durchzuführen.« »Die abschließenden Attentate«, unterbrach ihn Stone leise. »Ausgewählte Morde.« »Chaos«, nickte Simon. »Männer mit ungeheurer Verantwortung werden getötet, es ist unklar, wo dann die Autorität liegt, zu viele Männer, die protestieren und gegeneinander kämpfen, als daß sie Entscheidungen treffen könnten. Das totale Chaos.« »Scharhörn!« sagte der ehemalige Abwehroffizier. »Jetzt haben wir keine andere Wahl mehr. Wir müssen zuschlagen! Darf ich Ihr Telefon benutzen, Mr. Justice?« Ohne auf Antwort zu warten, ging Stone zu Wellfleets Schreibtisch, zog dabei seine Brieftasche heraus und entnahm ihr das kleine Stück Papier mit einer Nummer in Cuxhaven. Er drehte das Telefon unter dem forschenden Blick des Richters zu sich herum und wählte. Die Nummer schien von endloser Länge. Dann klingelte es.
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»Rebel?« Der obszöne Fluch von der anderen Seite des Atlantik war in der ganzen Bibliothek zu hören. Stone brachte den anderen zum Schweigen. »Hör auf, Johnny! Ich bin seit Stunden nicht mehr in der Nähe des Hotels gewesen, hatte keine Zeit! Was hast du?« Der CIA-Mann lauschte, und seine Augen weiteten sich, der Atem stockte ihm. Er hielt die Hand über die Sprechmuschel und drehte sich zu Nathan Simon um. »Mein Gott, es ist etwas Entscheidendes passiert!« flüsterte er. »Fotos. Infrarot. Letzte Nacht aufgenommen und heute morgen entwickelt - alle in Ordnung. Siebenundneunzig Männer von Scharhörn, die ein Schiff verlassen. Er meint, das seien die Killerteams.« »Schaffen Sie diese Fotos nach Brüssel und sorgen Sie dafür, daß sie mit der schnellsten Militärmaschine, die Sie finden können, nach Washington geflogen werden!« befahl der Richter des Obersten Bundesgerichts.
39 »Lächerlich!« schrie General Jacques Louis Bertholdier, der in einem brokatüberzogenen Sessel des geräumigen Studierzimmers des Alpenschlößchens saß. »Ich glaube das keinen Augenblick lang!« »Das ist wohl ein Lieblingswort von Ihnen, wie?« erklärte Converse, der auf der anderen Seite des Zimmers am offenen Fenster stand, hinter dem die weiten Bergmatten zu sehen waren. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine schräg gestreifte Krawatte. »Das Wort >lächerlich<, meine ich«, fuhr er fort. »Als wir in Paris miteinander sprachen, haben Sie es wenigstens zweimal gebraucht, glaube ich. Es ist gerade, als würden Sie jeden, der Ihnen eine Information bringt, die Ihnen nicht paßt, für lächerlich halten - absurd, unsinnig -, die Person ebenso wie die Information. Sehen Sie so die Leute, die Ihnen nicht passen?«
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»Ganz sicher nicht! Lügner behandle ich so.« Die Legende
Frankreichs schickte sich an aufzustehen. »Und ich sehe
keinen Anlaß...«
»Bleiben Sie sitzen!« Joels Stimme schlug zu wie eine
Peitsche. »Oder nur Ihre Leiche wird nach Paris
zurückkehren«, fügte er dann ruhig hinzu, ohne Feindseligkeit,
wie eine Erklärung. »Ich sagte Ihnen, daß ich nur dieses
Gespräch mit Ihnen wollte. Es wird nicht lange dauern, und
anschließend können Sie gehen. Das ist großzügiger, als Sie
mir gegenüber waren.«
»Sie waren für uns wertlos geworden. Entschuldigen Sie, wenn
das vielleicht brutal klingt, aber das ist die Wahrheit.«
»Wenn ich so wertlos war, weshalb haben Sie mich dann nicht
einfach getötet? Weshalb die Mühe, mich zum Killer, zum
Mörder abzustempeln, zu einem Mann, den man in ganz
Europa jagt?«
»Der Jude hat uns das vorgeschlagen.«
»Der Jude? Chaim Abrahms?«
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig«, sagte Bertholdier. »Unser
Mann in der Mossad - übrigens ein brillanter Analytiker - hat
uns dargelegt, daß wir Sie, wenn wir nicht herausfinden
könnten, woher Sie kommen, falls Sie es etwa selbst nicht
wüßten - daß wir Sie dann für jeden unberührbar machen
müßten. Und das war nicht lächerlich. Niemand bekennt sich zu
Ihnen. Sie waren - Sie sind - in der Tat unberührbar.«
»Warum macht das jetzt keinen Unterschied mehr - die
Tatsache, daß Sie mir gesagt haben, was ich Ihrer Ansicht
nach ohnehin schon weiß?«
»Sie haben verloren, Monsieur Converse.«
»Habe ich das?«
»Ja, und wenn Sie etwa mit dem Gedanken spielen, mich unter
Drogen zu setzen - so wie wir Sie unter Drogen gesetzt haben
, dann lassen Sie mich Ihnen und mir diese Mühe ersparen. Ich
besitze die Informationen, die Sie suchen, nicht. Die besitzt
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niemand. Nur eine Maschine, die programmiert wurde und
Befehle ausgibt.«
»An andere Maschinen?«
»Selbstverständlich nicht. An Männer. Männer, die das tun
werden, wozu sie ausgebildet wurden. Die an das glauben, was
sie tun. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind.«
»Das heißt, sie morden, nicht wahr? Es sind Killer.«
»Jeder Krieg läßt sich auf das Töten reduzieren, junger Mann.
Und damit Sie mich nicht falsch verstehen, dies ist ein Krieg.
Die Welt hat endgültig genug. Wir werden sie wieder in
Ordnung bringen. Sie werden sehen; man wird uns keinen
Widerstand leisten. Man braucht uns nicht nur, man sehnt uns
herbei.«
»Der Jude sagt von Ihnen, Sie seien der aufgeblasenste Idiot
der Welt. Er und Van Headmer würden Sie später in einen
Glaskasten mit kleinen Jungen und Mädchen stecken und
zusehen, wie Sie sich selbst in den Herzinfarkt vögeln.«
»Seine Worte waren immer geschmacklos... Aber nein, ich
glaube Ihnen nicht.«
»Womit wir wieder bei meiner ursprünglichen Feststellung
wären.« Joel verließ das Fenster und nahm schräg gegenüber
von Bertholdier in einem Lehnsessel Platz. »Warum fällt es
Ihnen eigentlich so schwer, mir zu glauben? Weil Sie nicht
daran gedacht haben?«
»Nein, Monsieur. Weil es undenkbar ist.« Converse wies auf
ein Telefon, das auf dem Schreibtisch stand. »Sie kennen doch
ihre Privatnummern«, sagte er. »Rufen Sie sie an. Rufen Sie
Leifhelm in Bonn und Abrahms in Tel Aviv. Und Van Headmer
auch, wenn Sie wollen, obwohl ich höre, daß er in den Staaten
sein soll, wahrscheinlich in Kalifornien.«
»Kalifornien?«
»Fragen Sie doch jeden einzelnen, ob er mich in dem kleinen
Steinhäuschen auf Leifhelms Grundstück aufgesucht hat.
Fragen Sie sie, worüber wir gesprochen haben. Nur zu, das
Telefon steht dort drüben.«
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Bertholdier blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den
Apparat. Joel hielt den Atem an. Dann wandte sich der Soldat
ihm wieder zu. »Was versuchen Sie hier? Was ist das für ein
Trick?«
»Wieso Trick? Dort steht das Telefon. Ich kann daran nichts
manipulieren. Ich kann es nicht dazu bringen, Nummern zu
wählen oder Leute in Tausenden von Meilen Entfernung dazu
zu veranlassen, die Rolle jener Männer zu spielen.«
Wieder sah der Franzose das Telefon an. »Was könnte ich
sagen?« fragte er leise, eine Frage, die er mehr sich selbst
stellte als Joel.
»Versuchen Sie es mit der Wahrheit. Sie halten doch angeblich
so viel von der Wahrheit. Und hier geht es doch nur um eine
Kleinigkeit, um ein paar winzige Versäumnisse. Die haben
versäumt, Ihnen zu sagen, daß jeder einzelne von ihnen mich
aufgesucht hat. Vielleicht waren das auch gar keine so kleinen
Versäumnisse.«
»Woher soll ich wissen, daß sie zu Ihnen gegangen sind?«
»Sie haben mir nicht zugehört. Ich habe Ihnen geraten, es mit
der Wahrheit zu versuchen. Ich habe Sie entführen lassen,
sonst niemanden. Ich habe es getan, weil ich nicht verstanden
habe, was vor sich geht. Und wenn es zum Letzten kommt, will
ich mein Leben retten. Die Welt dort draußen ist riesengroß,
General. Große Teile davon werden Sie unberührt lassen, und
ich könnte sehr bequem leben, solange ich mir nicht Sorgen zu
machen brauche, daß plötzlich jemand durch eine Tür tritt und
mir eine Kugel in den Schädel jagt.«
»Sie sind nicht der Mann, für den ich Sie hielt - für den wir Sie
hielten.«
»Wir sind alle nur das, was die Umstände aus uns machen. Ich
habe genug Blut und Schweiß vergossen. Ich steige aus dem
Kreuzzugsgeschäft aus, oder wie Sie es sonst nennen wollen.
Möchten Sie gerne wissen, warum?«
»Allerdings«, sagte Bertholdier und starrte Joel an. Seinen
Augen war anzusehen, daß Verwirrung und Neugierde in ihm
miteinander kämpften.
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»Weil ich Ihnen in Bonn zugehört habe. Vielleicht haben Sie
recht, vielleicht ist mir auch nur alles egal, weil man mich
einfach in der Kälte stehengelassen hat. Vielleicht braucht die
Welt euch arrogante Bastarde jetzt wirklich.«
»Ja, das tut sie! Es gibt keinen anderen Weg!«
»Dann ist das also das Jahr der Generale, nicht wahr?«
»Nein, nicht nur der Generale! Wir sind das Symbol der Stärke,
der Disziplin und der gesetzlichen Ordnung. Ganz sicher wird
das, was daraus entstehen wird - auf den internationalen
Märkten in abgestimmter Außenpolitik und auch was die
Einhaltung der Gesetze angeht -, unsere Führung
widerspiegeln, unser Beispiel. Und aus dem wird das
erwachsen, was der heutigen Welt fehlt. Stabilität, Monsieur
Converse! Keine Wahnsinnigen mehr wie der senile Khomeini
oder der hohlköpfige Prahler Ghaddafi oder die verrückten
Palästinenser. Solche Männer, solche Länder und Nationen, die
gerne eine wären, werden von wahrhaft internationalen
Streitkräften in die Zange genommen und von der
überwältigenden Macht abgestimmt handelnder Regierungen
zerquetscht werden. Die Vergeltung wird schnell und total sein.
Ich habe einen gewissen Ruf als Militärstratege, und Sie sollten
mir daher glauben, wenn ich Ihnen sage, daß die Russen
stillhalten werden, daß sie es nicht wagen werden, sich
einzuschalten - denn sie wissen, daß sie uns nicht mehr
auseinander dividieren können. Sie können nicht mehr mit den
Säbeln rasseln und der einen Nation Angst machen, während
sie der anderen mit Friedensgesten schmeicheln. Wir werden
eine Nation sein!«
»Aquitania«, sagte Joel leise.
»Eine passende Codebezeichnung, ja«, nickte Bertholdier.
»Sie sind ebenso überzeugend, wie Sie es in Bonn waren«,
erklärte Converse. »Und vielleicht könnte das sogar
funktionieren. Aber nicht so, nicht mit Ihnen und Ihresgleichen.«
»Wie bitte?«
»Keiner braucht Sie auseinander zu dividieren - zwischen Ihnen
liegen bereits Welten.«
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»Ich verstehe nicht.«
»Führen Sie die Gespräche, General. Machen Sie es sich
leicht. Rufen Sie zuerst Leifhelm an. Sagen Sie ihm, Sie hätten
gerade von Abrahms in Tel Aviv gehört, und Sie seien
erschüttert. Sagen Sie ihm, Abrahms wolle sich mit Ihnen
treffen, weil er Informationen über mich besäße. Sagen Sie, er
hätte zugegeben, er und Van Headmer hätten mich in Bonn
aufgesucht. Sie könnten hinzufügen, daß ich Abrahms gesagt
hätte, er und sein Freund aus Südafrika seien mein zweiter und
dritter Besucher gewesen. Leifhelm war der erste.«
»Warum sollte ich ihm das sagen?«
»Weil Sie verdammt wütend sind. Niemand hat Ihnen etwas
von diesen Zusammenkünften mit mir gesagt, und Sie
betrachten sie als höchst unpassend - was Sie übrigens auch
sollten. Vor einer Weile haben Sie gesagt, ich sei wertlos
gewesen. Nun, Ihnen steht ein Schock bevor, General. Leifhelm
sagte nämlich, Sie würden in ein paar Monaten draußen sein,
wenn nicht schon früher. Sie geben zu viele Befehle; die
anderen sind das leid - und Sie wollen angeblich zuviel für
Frankreich.«
»Leifhelm? Dieser heuchlerische Kerl, der seine Seele verkauft
hat und heute alles das leugnet, wofür er einmal eingetreten ist!
Der in Nürnberg seine Führer verraten und dem Gericht alle
möglichen Beweise geliefert hat, bloß um den Alliierten in den
Hintern zu kriechen! Er hat dem ehrenwertesten Beruf der Welt
Unehre gebracht. Lassen Sie mich das sagen, Monsieur. Nicht
ich bin es, der draußen sein wird, sondern er!«
»Abrahms hat gesagt, Sie seien eine sexuelle Peinlichkeit«,
fuhr Converse fort, als hätte Bertholdiers Antwort keine
Bedeutung. »So hat er es formuliert: >Eine sexuelle
Peinlichkeit<. Er erwähnte, es gäbe da eine Akte - eine, die er
sich besorgt hätte - über eine Reihe Vergewaltigungen von
Frauen und Männern, die die französische Armee gedeckt
hätte, weil Sie so verdammt gut waren. Aber dann hat er die
Frage gestellt, ob man denn wirklich einen bisexuellen
Opportunisten, einen, der Frauen wie Männern Gewalt angetan
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hat, der das Offizierskorps korrumpiert und das Wort >Verhör<
zur Farce entwürdigt hat, ob man einen solchen Mann wirklich
als den französischen Führer des Aquitania-Projekts ansehen
könne. Und außerdem hat er gesagt, daß Sie zu viele
Machtkontrollen für Ihre eigene Regierung verlangt hätten. Aber
bis es solche Kontrollen geben würde, wären Sie schon
draußen.«
»Draußen?« schrie der Franzose, und wieder loderten seine
Augen wie vor Wochen in Paris, und er zitterte vor Wut.
»Verurteilt von einem Barbaren, einem stinkenden,
ungebildeten Juden?«
»Van Headmer ist nicht so weit gegangen. Er sagte, Sie wären
einfach zu angreifbar...«
»Vergessen Sie Van Headmer!« brüllte Bertholdier. »Er ist ein
Fossil! Ihn haben wir nur an uns gebunden, weil er Rohmaterial
liefern könnte. Er ist belanglos.«
»Er selbst hat das nicht so gesehen«, nickte Joel.
»Aber dieser aufgeblasene, dreckige Israeli glaubte, er könne
gegen mich vorgehen? Lassen Sie mich das sagen, Monsieur,
ich bin schon einmal bedroht worden - von einem großen Mann
-, und aus diesen Drohungen ist nie etwas geworden, weil ich,
wie Sie es formuliert haben, >verdammt gut< in meiner Arbeit
bin. Und das bin ich immer noch! Und dann gibt es da noch
eine Akte, eine, in der meine Leistungen verzeichnet sind, und
die stellt alles das in den Schatten, was man an dreckigen
Gerüchten und Kasernenhofklatsch zusammentragen kann.
Keine Akte im Projekt Aquitania kann es mit meiner aufnehmen,
und das schließt auch diesen beinlosen Großsprecher in San
Francisco ein. Er glaubt, das alles sei seine Idee gewesen!
Lächerlich! Ich habe das alles verfeinert! Er hat dem Ganzen
nur einen Namen gegeben, weil er einmal ein paar
Geschichtsbücher gelesen hat.«
»Aber er hat auch den Ball ins Rollen gebracht, indem er eine
Menge Kriegsgerät exportiert hat«, unterbrach ihn Converse.
»Weil es vorhanden war, Monsieur. Und außerdem konnte man
Profit daraus schlagen!« Der General hielt inne, war noch nicht
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fertig und beugte sich im Sessel nach vorn. »Ich will ganz offen sein. Wie in jedem Elitekorps der Führung steigt ein Mann durch die schiere Kraft seines Charakters und seines Verstandes über die anderen auf. Neben mir verblassen die anderen - alle anderen - zur Mittelmäßigkeit. Delavane ist eine deformierte hysterische Karikatur. Leifhelm ist ein Nazi, und Abrahms ist ein aufgeblasener Extremist. Er könnte Wellen des Antisemitismus auslösen, er ist deshalb das schlimmste Symbol der Führung. Wenn aus der Verwirrung und der Panik die Tribunale aufsteigen, wird man auf mich blicken. Ich werde der wahre Führer des Projekts Aquitania sein.« Joel erhob sich aus seinem Sessel und ging zurück zu dem offenen Fenster. Er sah auf die Bergmatten hinaus und spürte den sanften Wind im Gesicht. »Das Verhör ist beendet, General«, sagte er. Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür, und ein ehemaliger Sergeant-Major der französischen Algerien-Armee trat ein und wartete darauf, die verwirrte Legende Frankreichs aus dem Zimmer eskortieren zu können. Chaim Abrahms sprang aus dem Brokatsessel auf. »Das hat er über mich gesagt?« »Ich habe Ihnen ja gesagt, ehe wir damit angefangen haben, daß Sie das Telefon benutzen sollen«, unterbrach ihn Converse. Er saß dem Israeli gegenüber, eine Pistole neben sich auf dem Tischchen. »Sie brauchen mir das nicht zu glauben. Ich habe schon einige Male gehört, daß Sie einen guten Instinkt haben. Rufen Sie doch Bertholdier an. Sie brauchen ihm nicht zu sagen, wo Sie sind - offen gestanden, wenn Sie es täten, würde ich Ihnen sogar eine Kugel in den Kopf jagen. Sagen Sie einfach, einer von Leifhelms Wächtern, ein Mann, den Sie gekauft haben, damit er die Augen offenhält, weil Sie den Deutschen einfach nicht trauen, hätte Ihnen gesagt, er, Bertholdier, hätte mich zweimal allein aufgesucht. Da man mich nicht gefunden habe, wollen Sie wissen, warum.
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Das wird funktionieren. Sie werden genug von ihm hören, um zu wissen, ob ich Ihnen jetzt die Wahrheit sage oder nicht.« Abrahms starrte Joel an. »Aber warum sagen Sie mir die Wahrheit - wenn es die Wahrheit ist? Warum lassen Sie mich entführen, um mir diese Dinge zu sagen? Warum?« »Ich dachte, ich hätte das klargestellt. Mein Geld geht zur Neige, und obwohl ich nicht gerade wild auf lox oder kreplech bin, wäre ich immer noch besser daran, in Israel zu leben und dort beschützt zu werden, als in ganz Europa gejagt und am Ende getötet. Sie können mir das bieten, aber ich weiß, daß ich Ihnen vorher meinerseits etwas liefern muß. Und das tue ich gerade. Bertholdier hat die Absicht, das, was er Projekt Aquitania nennt, zu übernehmen. Er sagt, Sie seien ein schmutziger Jude, ein Symbol der Zerstörung, Sie müßten gehen. Über Leifhelm hat er dasselbe gesagt; man könne einem Nazi nicht trauen, und Van Headmer sei ein Fossil, ja, das hat er gesagt, Fossil.« »Ich kann es förmlich hören«, sagte Abrahms leise, der mit verschränkten Händen auf das Fenster zuging. »Sind Sie sicher, daß unser Mitität-Boulevardier mit dem stählernen Schwanz nicht gesagt hat >stinkender Jude Ich habe oft gehört, wie unser französischer Held solche Worte benutzt hat, wobei er sich natürlich jedesmal bei mir entschuldigte und sagte, ich sei da eine Ausnahme.« »Er hat sie benutzt.« »Aber warum? Warum sollte er zu Ihnen solche Dinge sagen? Einen Teil seiner Logik kann ich ja nicht leugnen, weiß Gott nicht. Leifhelm wird erschossen werden, sobald wir einmal die Macht haben. Ein Nazi, der die verdammte deutsche Regierung führt? Absurd! Selbst Delavane begreift das. Er wird eliminiert werden. Und der arme alte Headmer ist wirklich ein Relikt aus der Vergangenheit, das wissen wir alle. Aber immerhin gibt es in Südafrika Gold. Er könnte es uns liefern. Aber warum Sie? Warum sollte Bertholdier ausgerechnet zu Ihnen kommen?« »Fragen Sie ihn selbst. Dort ist das Telefon. Sie können es benutzen.« -6 9 5
Der Israeli stand reglos da, und seine schmalen Augen starrten
Converse an. »Das werde ich«, sagte er leise. »Sie sind viel zu
clever, Mr. Rechtsanwalt. Das Feuer in Ihnen bleibt in Ihrem
Kopf - bis in Ihren Magen ist es noch nicht vorgedrungen. Sie
denken zu viel. Sie sagen, man hätte Sie manipuliert? Ich sage,
Sie manipulieren.« Abrahms drehte sich um und stapfte auf das
Telefon zu. Einen Augenblick stand er da, kniff die Augen
zusammen, überlegte, dann nahm er den Hörer ab und wählte
eine Folge von Ziffern, die er sich vor langer Zeit eingeprägt
hatte.
Joel blieb auf dem Sessel sitzen, jeder Muskel in seinem
Körper war angespannt, seine Kehle war plötzlich trocken, und
das Pochen in seiner Brust war bis in seine Schläfen zu spüren.
Langsam schob sich seine Hand über die Stuhllehne auf die
Pistole zu. In wenigen Sekunden würde er sie vielleicht
benutzen müssen, weil seine Strategie - die einzige Strategie,
die er hatte - durch ein Telefongespräch vereitelt worden war.
Was stimmte nicht mit ihm? Wohin hatte seine vielgerühmte
Verhörtaktik geführt? Hatte er vergessen, mit wem er es hier zu
tun hatte?
»Code Isaiah«, sprach Abrahms ins Telefon, und wieder
starrten seine zornigen Augen Converse an. »Verbinden Sie
mich mit Verdun-sur-Meuse. Schnell!« Der mächtige
Brustkasten des Israeli hob und senkte sich mit jedem
Atemzug. Jetzt sprach er wieder, diesmal zornig. »Ja, Code
Isaiah! Ich kann hier keine Zeit vergeuden! Verdun-sur-Meuse.
Sofort!« Abrahms Augen weiteten sich plötzlich, während er
lauschte. Sein Blick wandte sich kurz von Converse ab, dann
fuhr sein Kopf wieder zurück, und in seinen Augen war Wissen
und Abscheu zu lesen, die beide Joel galten. »Wiederholen Sie
das!« schrie er. Und dann knallte er den Hörer mit solcher
Gewalt auf die Gabel, daß der Schreibtisch erzitterte. »Lügner!«
schrie er.
»Meinen Sie mich?« fragte Joel, dessen Hand nur noch wenige
Zentimeter von der Waffe entfernt war.
»Die sagen, er sei verschwunden! Sie können ihn nicht finden!«
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»Und?« Converse wußte, daß er verloren hatte. »Er lügt! Ein jammernder Feigling ist er! Er versteckt sich - er weicht mir aus! Er will sich mir nicht stellen!« Joel schluckte ein paarmal und zog die Hand von der Waffe zurück. »Zwingen Sie ihn«, sagte er und schaffte es dabei irgendwie, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. »Machen Sie ausfindig, wo er ist. Rufen Sie Leifhelm an, Van Headmer. Sagen Sie, es sei unerläßlich, daß Sie Bertholdier erreichen.« »Hören Sie auf! Damit er weiß, daß ich Bescheid weiß! Er muß Ihnen doch einen Grund genannt haben! Warum ist er überhaupt zu Ihnen gekommen?« »Ich wollte warten, bis Sie mit ihm gesprochen hatten«, sagte Converse, schlug die Beine übereinander und griff nach einem Päckchen Zigaretten, das neben seiner Pistole lag. »Vielleicht hätte er es Ihnen selbst gesagt - vielleicht auch nicht. Er bildet sich ein, Delavane hätte mich ausgeschickt, um Sie alle zu überprüfen. Um zu sehen, wer ihn vielleicht betrügen würde.« »Ihn betrügen? Den Beinlosen betrügen? Warum? Und wenn unser französischer Pfau das wirklich geglaubt hat, dann frage ich Sie noch einmal, warum sollte er das ausgerechnet Ihnen sagen?« »Ich bin Rechtsanwalt. Ich habe ihn provoziert. Als er einmal begriffen hatte, was ich von Delavane hielt, was mir dieser Bastard einmal angetan hat, wußte er, daß ich unmöglich mit ihm unter einer Decke stecken konnte. Das hat ihn entwaffnet; der Rest war leicht. Und während er redete, entdeckte ich eine Möglichkeit, mein Leben zu retten.« Joel riß ein Streichholz an und zündete sich die Zigarette an. »Indem ich an Sie herantrat«, fügte er dann hinzu. »Dann verlassen Sie sich also am Ende auf die Moral eines Juden? Daß er ein Versprechen halten würde?«
»Nicht ganz, General. Ich weiß etwas über Leifhelm, darüber,
wie er in all den Jahren manövriert hat. Er würde mich
erschießen lassen und dann seine Männer auf seine
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angeblichen Freunde und Partner hetzen, damit er die Nummer
eins würde.«
»Genau das würde er tun«, pflichtete der Israeli ihm bei.
»Ich will deutlicher werden«, hakte Joel nach. »Ich bin von
Leuten ausgeschickt worden, die ich nicht kenne und die mich
fallenließen, ohne auch nur das leiseste schlechte Gewissen.
Wer weiß, vielleicht haben sie sich sogar selbst der Jagd auf
mich angeschlossen, um das eigene Leben zu retten. Und in
Anbetracht dieser Umstände ist es in der Tat meine Absicht zu
überleben.«
»Was ist mit der Frau? Ihrer Frau?«
»Sie geht mit mir.« Converse legte die Zigarette weg und griff
nach der Pistole. »Wie lautet Ihre Antwort? Ich kann Sie jetzt
töten oder das Bertholdier überlassen oder Leifhelm, falls der
den Franzosen zuerst tötet. Oder ich kann auf Ihre Moral
setzen und darauf, daß Sie Ihre Schulden begleichen. Wie soll
es sein?«
»Legen Sie die Pistole weg«, sagte Chaim Abrahms. »Sie
haben mein Wort.«
»Was werden Sie tun?« fragte Joel und legte die Waffe auf den
Tisch zurück.
»Tun?« platzte es plötzlich zornig aus dem Israeli heraus.
»Was ich immer vorgehabt habe! Glauben Sie, daß ich auch
nur einen Pferdefurz auf diesen allgemeinen Unsinn gebe,
diese Infrastruktur von Aquitania? Glauben Sie, daß mir Titel
und solches Zeug auch nur das geringste bedeuten? Sollen die
doch alles haben! Mir ist nur wichtig, daß es funktioniert. Und
damit es funktioniert, muß neben der Stärke auch so etwas wie
Respekt aus dem Chaos herauskommen. Bertholdier hat recht
gehabt. Ich bin jemand, der die Menschen polarisiert und darf
daher auf der europäisch-amerikanischen Szene nicht zu
sichtbar werden. Also werde ich unsichtbar sein - nur in Eretz
Israel nicht, wo mein Wort das Gesetz dieser neuen Ordnung
sein wird. Ich selbst werde dem französischen Bullen helfen,
daß er alle Orden und Medaillen bekommt, die er haben will.
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Ich werde nicht gegen ihn kämpfen, ich werde ihn lenken, ihn
kontrollieren.«
»Wie?«
»Weil ich seinen Ruf zerstören kann.« Converse beugte sich
vor, unterdrückte seine Überraschung.
»Mit diesen Skandalen?«
»Mein Gott, nein, Sie Schwachkopf! Wenn Sie einem Mann in
der Öffentlichkeit unter die Gürtellinie treten, dann verlangen
Sie ja selbst nach Ärger. Die Hälfte der Leute schreit
>Gemeinheit<, weil sie denken, das gleiche könnte ihnen
passieren, und die andere Hälfte beklatscht seine Courage, daß
er es gewagt hat, seinem Vergnügen nachzugehen, was sie
nämlich alle selbst gerne tun würden.«
»Wie dann, General? Wie können Sie seinen Ruf zerstören?«
Abrahms nahm wieder auf dem brokatbezogenen Sessel Platz,
zwängte seinen dicken Leib gefährlich zwischen die fein
geschnitzten Armlehnen. »Indem ich bekanntmache, welche
Rolle er im Projekt Aquitania gespielt hat. Die Rolle, die wir
dann alle in diesem ungewöhnlichen Abenteuer gespielt haben,
das die zivilisierte Welt zwang, uns herbeizurufen und mit uns
die Kraft unserer Führungskunst. Es ist durchaus möglich, daß
das ganze freie Europa sich Bertholdier zuwenden wird. Aber
man muß einen Mann wie Bertholdier verstehen. Er sucht nicht
nur Macht, er sucht die Glorie der Macht, das Mystische, die
Vergötterung, die Anbetung. Lieber würde er einen Teil seiner
Autorität aufgeben, als einen Teil dieser Glorie zu verlieren.
Ich? Ich scheiße auf alle Glorie. Alles, was ich will, ist die
Macht, um das zu bekommen, was ich brauche, was ich haben
will. Für das Königreich Israel und dafür, daß es dem ganzen
Nahen Osten seinen Stempel aufdrückt.«
»Wenn Sie seine Rolle aufdecken, dann decken Sie auch Ihre
eigene auf? Wie können Sie so gewinnen?«
»Weil er es nicht soweit kommen lassen wird. Er wird an seinen
Glorienschein denken und nachgeben. Er wird das tun, was ich
sage, mir geben, was ich will.«
-6 9 9
»Ich glaube, er wird Sie erschießen lassen.«
»Nicht wenn er weiß, daß nach meinem Tode ein paar hundert
Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen, in denen jede
einzelne Konferenz geschildert wird, an der wir teilgenommen
haben, jede Entscheidung, die wir getroffen haben. Alles steht
dort in allen Einzelheiten, das kann ich Ihnen versichern.«
»Und das war von Anfang an Ihr Plan?«
»Von Anfang an.«
»Sie spielen ein hartes Spiel.«
»Ich bin ein Jude. Ich spiele für den Vorteil - wenn wir anders
gehandelt hätten, dann hätte man uns schon vor Jahrzehnten
massakriert.«
»Ist bei diesen Dokumenten auch eine Liste von allen, die zu
Aquitania gehören?«
»Nein. Ich hatte nie die Absicht, die Bewegung in Gefahr zu
bringen. Sie können das nennen, wie Sie wollen, ich glaube
ehrlich an das Konzept. Es muß einen geeinten, internationalen
militärisch-industriellen Komplex geben. Ohne ihn ist die Welt
dem Wahnsinn geweiht.«
»Aber es gibt eine solche Liste.«
»In einer Maschine, einem Computer, aber den muß man
richtig programmieren, man muß die richtigen Codes
gebrauchen.«
»Könnten Sie das tun?«
»Nicht ohne Hilfe.«
»Was ist mit Delavane?«
»Sie haben sich das selbst ja auch überlegt«, sagte der Israeli
und nickte. »Was ist mit ihm?«
Wieder mußte Joel sein Staunen verbergen. Die
Computercodes, die die Namensliste von Aquitania freigeben
würden, befanden sich bei Delavane, zumindest die wichtigsten
Teile. Den Rest lieferten seine Jünger, die vier Generale auf der
anderen Seite des Atlantik. Converse zuckte die Achseln.
-7 0 0
»Sie haben ihn ja im Grunde nicht erwähnt. Sie sprachen von
Bertholdier, von der Ausschaltung Leifhelms und der
Machtlosigkeit Van Headmers, der lediglich Rohmaterial liefern
könnte...«
»Gold, habe ich gesagt«, verbesserte Abrahms.
»Bertholdier sagte Rohmaterial... Aber was ist mit George
Marcus Delavane?«
»Marcus ist erledigt«, sagte der Israeli ausdruckslos. »Man hat
ihn verhätschelt - wir alle haben ihn verhätschelt -, weil er uns
das Konzept geliefert und seinen Teil in den Vereinigten
Staaten erledigt hat. Wir haben Geräte und Material in ganz
Europa. Delavane ist ein Verrückter, ein Wahnsinniger. Haben
Sie je seine Stimme gehört? Er redet wie ein Mann, dessen
Hoden man in einen Schraubstock gezwängt hat. Sie haben
ihm die Beine abgeschnitten, wissen Sie, erst vor ein paar
Monaten hat man sie wegen Diabetes amputiert. Der große
General, wegen Zucker zum Krüppel gemacht! Er hat versucht,
es geheimzuhalten. Er empfängt niemanden. Er arbeitet von
seinem Privathaus aus, das die Dienstboten nur dann betreten,
wenn er in einem verdunkelten Schlafzimmer versteckt ist. Wie
er sich gewünscht hat, daß es ein Bajonett oder eine Kugel sein
möge! Aber nein. Zucker. Er ist dabei halb zugrunde gegangen,
zu einem eifernden Narren geworden, aber selbst Narren
können gelegentlich brillante Ideen haben. Und eine solche hat
er einmal gehabt.«
»Was ist mit ihm?«
»Wir haben einen Mann bei ihm, einen Adjutanten im Rang
eines Colonel. Wenn alles anfängt, wenn unsere Einheiten ihre
Positionen bezogen haben, wird der Colonel nach seinen
Instruktionen handeln. Marcus wird erschossen werden zum
Nutzen seines eigenen Planes.«
Jetzt war Joel an der Reihe, aus dem Sessel aufzustehen.
Wieder ging er zu dem Fenster auf der anderen Seite des
Raumes. »Die Untersuchung ist beendet, General«, sagte er.
»Was?« brüllte Abrahms. »Sie wollen Ihr Leben. Ich will
Garantien.«
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»Beendet«, wiederholte Converse, während sich die Türe
öffnete und ein Captain der israelischen Armee ins Zimmer trat
und seine Waffe auf Chaim Abrahms richtete.
»Es wird keine Diskussion zwischen uns geben, Herr
Converse«, sagte Erich Leifhelm, der an der Tür des
Arbeitszimmers stand, nachdem der Arzt aus Bonn gegangen
und die Türe hinter sich geschlossen hatte. »Sie haben Ihren
Gefangenen. Exekutieren Sie ihn. Ich habe viele Jahre lang und
in mannigfacher Weise auf diesen Augenblick gewartet. Um die
Wahrheit zu sagen, ich bin müde.«
»Soll das heißen, daß Sie sterben wollen?« fragte Joel, der
neben dem Tisch mit der Pistole saß.
»Niemand will sterben, am wenigsten ein Soldat in der Stille
eines fremden Zimmers. Trommeln und die Befehle eines
Erschießungskommandos sind vorzuziehen - das hat eine
gewisse Würde. Aber ich habe den Tod zu oft gesehen, um
jetzt hysterisch zu werden. Nehmen Sie Ihre Pistole und
bringen Sie es hinter sich. Wenn ich Sie wäre, würde ich es
tun.«
Converse studierte das Gesicht des Deutschen, seine seltsam
nichtssagenden Augen, die nur Verachtung für das übrig
hatten, was ihm bevorstand. »Ihnen ist es damit wirklich ernst,
nicht wahr?«
»Soll ich selbst den Befehl geben? Ich erinnere mich an eine
Reportage vor ein paar Jahren. Ein Neger hat das an einer
blutbesudelten Mauer im Kuba Fidel Castros getan. Ich habe
den Soldaten immer bewundert.« Und dann schrie Leifhelm
plötzlich: »Achtung! Soldaten! Präsentiert das Gewehr!
Durchladen... Mein Nachfolger ist sorgfältig ausgewählt worden.
Er wird die Einzelheiten ausführen. Jede Nuance meines
Planes.«
Da war die Lücke, plötzlich sah er die Strategie. Joel drückte
den Knopf.
»Ihr Nachfolger?«
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»Ja.«
»Sie haben keinen Nachfolger, Feldmarschall.«
»Was?«
»Den haben Sie ebensowenig, wie Sie einen Plan haben. Ohne
mich haben Sie überhaupt nichts. Deshalb habe ich Sie hierher
gebracht. Nur Sie.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Setzen Sie sich, General. Ich habe Ihnen einiges zu sagen
und kann Ihnen nur im eigenen Interesse raten, sich zu setzen.
Ihre Exekution könnte in Ihren Augen dem vorzuziehen sein,
was ich sagen muß.«
»Lügner!« schrie Erich Leifhelm vier Minuten später, und seine
Hände hielten die Armlehnen des Brokatsessels umklammert.
»Lügner, Lügner, Lügner!« brüllte er, seine Augen schienen in
Flammen zu stehen.
»Ich habe nicht erwartet, daß Sie mir glauben«, sagte Joel
ruhig. Er stand in der Mitte der von Bücherregalen umsäumten
Bibliothek. »Rufen Sie Bertholdier in Paris an und sagen Sie
ihm, Sie hätten gerade eine beunruhigende Nachricht gehört
und würden gerne eine Erklärung haben. Sprechen Sie es ruhig
aus; Sie haben erfahren, daß Bertholdier und Abrahms,
während Sie in Essen waren, mich auf Ihrem Anwesen in Bonn
aufgesucht haben.«
»Aber woher würde ich das wissen?«
»Die Wahrheit. Die haben einen Ihrer Wächter dafür bezahlt,
daß er ihnen die Türe öffnet - ich weiß nicht welchen, ich habe
ihn nicht gesehen -, aber jedenfalls hat ein Wächter die Tür
aufgesperrt und sie eingelassen.«
»Weil sie glaubten, Sie seien ein Informant, den Delavane
selbst geschickt hatte?«
»Das haben Sie mir zumindest gesagt.«
»Man hat Sie unter Drogen gesetzt! Es gab nichts, was darauf
hinwies!«
»Sie waren argwöhnisch. Sie kannten den Arzt nicht und haben
dem Engländer nicht vertraut. Ich brauche Ihnen nicht zu
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sagen, daß sie Ihnen nicht vertrauen. Sie dachten, das Ganze könnte ein großer Schwindel sein. Sie wollten sich absichern.« »Unglaublich!« »Nicht, wenn Sie einmal darüber nachdenken«, sagte Converse und setzte sich dem Deutschen gegenüber. »Wie bin ich denn an die Information gelangt, die ich hatte? Woher wußte ich denn, welche Leute ich ansprechen mußte - wenn es mir nicht Delavane gesagt hatte? So haben sie zumindest gedacht.« »Daß Delavane das tun würde - es tun könnte?« begann der völlig verwirrte Leifhelm. »Ich weiß jetzt, was das bedeutet«, unterbrach Joel ihn schnell und packte den anderen damit an der Schwachstelle, die sich ihm gerade gezeigt hatte. »Delavane ist erledigt, das haben beide zugegeben, als sie begriffen hatten, daß er der letzte Mensch auf der Welt wäre, für den ich arbeiten würde. Vielleicht haben sie mir ein paar Brotkrumen hingeworfen, ehe sie mich für meine eigene Exekution zurechtrückten.« »Das mußte getan werden!« rief der ehemalige Feldmarschall des Dritten Reiches aus. »Das verstehen Sie doch sicherlich! Wer waren Sie, woher kamen Sie? Sie selbst wußten es nicht. Sie sprachen von belanglosen Namen und Listen und einer Menge Geld, aber da war nichts, was einen Sinn ergab. Da wir nichts herausfinden konnten, mußten Sie zum Paria gestempelt werden.« »Was Sie sehr gut gemacht haben.« »Das war mein Werk«, sagte Leifhelm und nickte. »Es war im wesentlichen meine Organisation. Alles kam von mir.« »Ich habe Sie nicht hierher geholt, um Ihre Leistungen zu diskutieren. Ich habe Sie hergebracht, um mein Leben zu retten. Sie können das für mich tun - die Leute, die mich ausgeschickt haben, können oder wollen das nicht, aber Sie können es. Wenn ich Ihnen bloß einen Grund dafür liefere.« »Indem Sie andeuten, daß Abrahms und Bertholdier sich gegen mich verschworen haben?«
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»Ich werde überhaupt nichts andeuten. Ich werde es Ihnen in
deren eigenen Worten vortragen. Vergessen Sie nicht, keiner
von beiden hat damit gerechnet, daß ich Ihr Anwesen lebend
verlassen würde.« Plötzlich stand Converse auf und schüttelte
den Kopf. »Nein!« sagte er eindringlich. »Rufen Sie Ihre
französischen und israelischen Verbündeten an, Ihre
Aquitanier. Sagen Sie, was Sie wollen, und achten Sie nur auf
ihre Stimmen - dann werden Sie es selbst merken. Es gehört
ein erfahrener Lügner dazu, um andere Lügner zu entdecken,
und Sie sind der Beste.«
»Sie beleidigen mich.«
»Seltsamerweise hatte ich es als Kompliment gedacht, deshalb
habe ich Sie angesprochen. Ich denke, daß Sie hier drüben der
Sieger sein werden, und nach dem, was ich durchgemacht
habe, möchte ich auf der Seite des Siegers stehen.«
»Warum sagen Sie das?«
»Kommen Sie, seien wir doch ehrlich. Abrahms ist verhaßt; er
hat jedermann in Europa beleidigt, der nicht mit seinen
expansionistischen Ideen für Israel einverstanden ist. Selbst
seine eigenen Landsleute können ihn nicht zum Schweigen
bringen. Sie können ihn nur immer wieder tadeln, und er schreit
doch weiter. Man würde ihn niemals in irgendeiner
internationalen Föderation dulden.«
Der Nazi schüttelte heftig den Kopf. »Niemals!« schrie er. »Er
ist der ekelhafteste, widerlichste Mensch, den der Nahe Osten
je hervorgebracht hat. Und dann ist er natürlich Jude. Aber wie
kann man Bertholdier auf denselben Nenner bringen?«
Joel machte eine Pause, ehe er antwortete. »Sein Verhalten«,
erwiderte er dann nachdenklich. »Ich meine das ernst. Er ist
arrogant, anmaßend. Er sieht sich nicht nur als großen
Militärführer und als eine Persönlichkeit, die die Geschichte
gestalten wird, sondern auch noch als ein Gott, der über den
anderen Menschen steht. Auf seinem Olymp ist kein Platz für
andere Sterbliche. Und außerdem ist er Franzose. Die
Engländer und die Amerikaner würden sich nie mit ihm
abfinden; ein de Gaulle in diesem Jahrhundert reicht ihnen.«
-7 0 5
»In Ihren Gedanken ist Klarheit. Er ist die Art von Egoist, wie
sie nur die Franzosen ertragen können. Aber damit ist er
natürlich zugleich ein Spiegelbild des ganzen Landes.«
»Van Headmer zählt nicht, abgesehen davon, daß er die
Rohstoffe Südafrikas garantieren kann.«
»Richtig«, nickte der Deutsche.
»Sie andererseits«, fuhr Converse schnell fort und setzte sich
wieder, »haben mit den Amerikanern und den Engländern in
Berlin und Wien zusammengearbeitet. Sie haben mitgeholfen,
die Politik der Besatzungsmacht durchzusetzen und haben
guten Gewissens den Anklageteams der Amerikaner und
Engländer in Nürnberg Beweismaterial geliefert. Am Ende
wurden Sie der Sprecher Bonns in der NATO. Was auch immer
Sie in der Vergangenheit waren, die mögen Sie.« Wieder
machte Joel eine Pause, und als er fortfuhr, schwang in seiner
Stimme eine gewisse Unterwürfigkeit mit. »Deshalb sind Sie der
Sieger, General, und Sie können mein Leben retten. Sie
brauchen nur einen Grund.«
»Dann liefern Sie ihn mir.«
»Telefonieren Sie zuerst.«
»Seien Sie kein Narr, und halten Sie mich nicht für einen! Sie
würden nicht so darauf bestehen, wenn Sie Ihrer selbst nicht
sicher wären, und das bedeutet, daß Sie die Wahrheit sagen.
Und wenn sich diese Schweinehunde gegen mich verschworen
haben, dann werde ich sie nicht wissen lassen, daß ich es
weiß! Was haben sie gesagt?«
»Sie sollen getötet werden. Die anderen können nicht den
Vorwurf riskieren, daß ein ehemaliges wichtiges Mitglied der
Nazipartei in Westdeutschland die Führung übernommen hat.
Selbst unter der Herrschaft von Aquitania würde das zu viele
Proteste geben, würde den unvermeidlichen Gegnern zu viel
Schwung geben. Ein jüngerer Mann, oder jemand, der so denkt
wie sie, aber ohne Nazivergangenheit, wird Ihren Platz
einnehmen. Aber niemand, den Sie empfehlen.« Leifhelm saß
starr in dem Brokatsessel. Sein alter, aber immer noch straffer
Körper war unbewegt, sein bleiches Gesicht mit den
-7 0 6
durchdringenden hellblauen Augen wirkte wie eine Alabastermaske. »Die haben diese heilige Entscheidung getroffen?« sagte er eisig, ohne die Lippen zu bewegen. »Der vulgäre Jude und der verkommene französische Fürst der Maden wagen es, einen solchen Schritt gegen mich zu planen?« »Nicht, daß es etwas zu bedeuten hatte, aber Delavane ist einverstanden.« »Delavane! Ein infantiler, verrückter Phantast! Der Mann, den wir vor zwei Jahren kannten, ist er nicht mehr. Er hat sich aufgelöst, ist senil geworden! Er weiß es nicht, aber wir geben ihm Befehle, die natürlich als Vorschläge und Möglichkeiten verbrämt sind. Sein Verstand ist nicht mehr wert als der Hitlers in seinen letzten Jahren des Wahnsinns.« »Davon weiß ich nichts«, sagte Converse. »Abrahms und Bertholdier sind nicht weiter darauf eingegangen, sie sagten nur, er sei erledigt. Sie sprachen über Sie.« »Wirklich? Nun, lassen Sie mich über mich sprechen! Wer hat denn Ihrer Meinung nach Aquitania in ganz Europa und im Mittelmeerraum erst möglich gemacht? Wer hat den Terroristen Waffen geliefert? Wer hat sie denn auf ihre letzten, lassen Sie uns sagen, ihre schönsten Stunden vorbereitet? Wer? Das war ich, mein Herr! Warum finden unsere Konferenzen immer in Bonn statt? Warum werden alle Weisungen über mich gelenkt und am Ende von mir ausgegeben? Lassen Sie mich das erklären. Ich habe die Organisation! Ich verfüge über das Personal - ergebene Männer, die bereit sind, auf jeden Befehl hin, den ich erteile, zu handeln. Ich habe das Geld! Ich habe aus Ruinen eine fortschrittliche, leistungsfähige Befehlszentrale aufgebaut; niemand anderer in Europa hätte das geschafft. Ich wußte das die ganze Zeit. Bertholdier hat, abgesehen vom Einfluß und der Aura, die ihn umgibt, praktisch nichts - und in der Schlacht ist das bedeutungslos. Der Jude und der Südafrikaner sind einen Kontinent entfernt. Wenn das Chaos kommt, dann werde ich die Stimme von Aquitania in Europa sein. Ich habe nie anders gedacht! Meine Männer werden Bertholdier und Abrahms auf ihren Toiletten niedermachen!« -7 0 7
»Scharhörn ist die Befehlszentrale, nicht wahr?« fragte Joel
tonlos.
»Die haben Ihnen das gesagt?«
»Der Name fiel. Die Namensliste von Aquitania ist dort in einem
Computer gespeichert, nicht wahr?«
»Das auch?«
»Es ist nicht wichtig. Mir ist das jetzt gleichgültig. Der Computer
muß auch Ihre Idee gewesen sein - dazu wäre sonst keiner
imstande.«
»Eine beachtliche Leistung«, gab Leifhelm zu, und sein
wächsernes Gesicht strahlte. »Ich habe sogar mit der
Katastrophe des Todes gerechnet. Es sind sechzehn
Buchstaben; jeder von uns hat unterschiedliche Sätze von vier,
die übrigen zwölf sind bei dem Krüppel in Kalifornien. Er meint,
niemand könnte die Codes ohne seinen Primärsatz aktivieren,
aber in Wahrheit ist es mit einer vorcodierten Kombination von
zwei Doppelsequenzen möglich.«
»Genial«, sagte Converse. »Wissen das die anderen?«
»Nur mein vertrauter französischer Kamerad«, antwortete der
Deutsche kühl. »Der Fürst der Verräter, Bertholdier. Aber ich
habe ihm natürlich nie die genaue Kombination gegeben, und
eine unkorrekte Eingabe würde alles löschen.«
»So denkt ein Sieger.« Joel nickte zustimmend und runzelte
dann besorgt die Stirn. »Aber was würde passieren, wenn man
Ihre Zentrale angreifen würde?«
»Genau wie Hitlers Pläne für den Bunker, sie würde in
Flammen aufgehen. Überall liegen Sprengladungen.«
»Ich verstehe.«
»Aber da Sie von Siegern sprechen und nach meiner Ansicht
solche Männer Propheten sind«, fuhr Leifhelm fort und lehnte
sich in dem Brokatsessel vor, und seine Augen weiteten sich
vor Erregung, »will ich Ihnen mehr über die Insel Scharhörn
sagen. Vor Jahren, 1945, sollte diese Insel aus der Asche der
Niederlage zum Ort der unglaublichsten Schöpfung werden, die
die Welt je gekannt hat. Wahre Gläubige hatten alles
-7 0 8
vorbereitet, aber Feiglinge und Verräter haben es vereitelt. Ich
spreche von der Operation Sonnenkinder - den Kindern der
Sonne -, biologisch ausgewählten Säuglingen, die man in die
ganze Welt hinausgeschickt hatte, zu Leuten, die auf sie
warteten, vorbereitet darauf, sie auf Positionen der Macht und
des Wohlstands zu bringen. Als Erwachsene hätten die
Sonnenkinder auf der ganzen Welt nur eine Mission gehabt.
Den Aufstieg des Vierten Reiches. Sehen Sie jetzt, welche
Symbolik in der Wahl von Scharhörn steckt? Aus diesem
Komplex von Aquitania wird die neue Ordnung entstehen! Wir
werden sie erschaffen!«
»Schluß damit«, sagte Converse, stand auf und entfernte sich
einige Schritte von Erich Leifhelm. »Die Untersuchung ist
beendet.«
»Was?«
»Sie haben es gehört, verschwinden Sie hier. Sie machen mich
krank.« Die Türe öffnete sich, und der junge Arzt aus Bonn trat
ein, die Augen auf den einst gefeierten Feldmarschall gerichtet.
»Ziehen Sie ihn aus«, befahl Converse. »Durchsuchen Sie
ihn.«
Joel betrat den schwach beleuchteten Raum, in dem Valerie
und Prudhomme von der Sürete zu beiden Seiten eines
Mannes hinter einer Videokamera auf einem Stativ standen.
Drei Meter entfernt stand ein Fernsehmonitor, auf dem jetzt nur
die verlassene Bibliothek und der Brokatsessel in der Mitte des
Bildschirms zu sehen waren.
»Alles richtig gelaufen?« fragte er.
»Wunderschön«, sagte Valerie. »Der Kameramann hat kein
Wort verstanden, aber er sagte, die Beleuchtung sei
hervorragend gewesen. Au bei naturel, hat er es genannt. Er
kann so viele Kopien machen, wie du willst. Er braucht für jede
etwa fünfunddreißig Minuten.«
»Zehn und das Original werden reichen«, sagte Converse,
blickte auf die Uhr und sah dann Prudhomme an, während Val
leise in Französisch mit dem Kameramann sprach. »Sie können
-7 0 9
die erste Kopie nehmen und noch die Fünf-Uhr-Maschine nach
Washington erreichen.«
»Mit der größten Begeisterung, mein Freund. Ich nehme an,
eine der Kopien wird für Paris sein.«
»Und jeden anderen Regierungschef, zuzüglich zu unseren
eidesstattlichen Erklärungen. Sie werden Kopien der Aussagen
mitbringen, die Simon in New York aufgenommen hat.«
»Ich werde gleich das Notwendige vorbereiten«, sagte der
Franzose. »Es ist wohl am besten, wenn mein Name nicht auf
der Passagierliste erscheint.« Er drehte sich um und verließ
den Raum, gefolgt von dem Kameramann.
Valerie ging zu Joel, nahm sein Gesicht in beide Hände und
küßte ihn sanft auf die Lippen. »Ein paar Augenblicke lang
hatte ich Angst, du würdest es nicht schaffen.«
»Ich auch.«
»Aber du hast es geschafft. Das war großartig. Ich bin stolz auf
dich, my darling.«
»Eine ganze Menge Anwälte werden zusammenzucken. Das
war die schlimmste Täuschung, die man sich vorstellen kann.
Ein alter, aber sehr intelligenter Professor der Jurisprudenz, bei
dem ich einmal gehört habe, würde das so formulieren: das
waren Geständnisse, die auf Grundlage falscher Aussagen
entlockt wurden, wobei diese Geständnisse ihrerseits die
Grundlage für weitere Täuschungsmanöver bilden.«
»Hör auf damit, Converse. Machen wir einen Spaziergang. Wir
sind früher oft spazierengegangen, und ich möchte mir das
wieder angewöhnen. Allein macht es nicht viel Spaß.«
Joel nahm sie in die Arme. Sie küßten sich, zuerst sanft, und
dann spürten sie die Wärme, die zu ihnen zurückgekehrt war.
Er zog den Kopf zurück, seine Hände glitten über ihre
Schultern, und dann blickte er in ihre weiten, strahlenden
Augen. »Willst du mich heiraten, Mrs. Converse?« fragte er.
»Du lieber Gott, noch einmal? Nun, warum nicht? Wie du früher
einmal gesagt hast, ich brauchte nicht einmal die Initialen auf
meiner Wäsche zu wechs eln.«
-7 1 0
»Du hattest nie Initialen in der Wäsche.«
»Das wußtest du schon lange, bevor du die Bemerkung
gemacht hast.«
»Ich wollte nicht, daß du mich für einen Voyeur hältst.«
»Ja, my darling, ich werde dich heiraten. Aber zuerst gibt es
einiges zu erledigen. Noch vor unserem Spaziergang.«
»Ich weiß. Wir müssen Peter Stone über die Tatiana-Familie in
Charlotte, North Carolina, erreichen. Er hat mir Schlimmes
angetan, aber so seltsam es auch scheinen mag, ich mag ihn.«
»Ich nicht«, sagte Valerie fest. »Ich möchte ihn umbringen.«
40 Es war das Ende des zweiten Tages in dem Countdown, der
drei Tage dauern sollte. Die weltweiten Demonstrationen gegen
den Atomkrieg sollten in zehn Stunden beginnen, bei
Sonnenaufgang auf der anderen Seite der Welt. Dann sollten
die Morde folgen, die das Chaos in Gang setzen würden.
Die Gruppe aus achtzehn Männern und fünf Frauen saß
verstreut in einem dunklen Vorführsaal im unterirdischen
Strategiekomplex des Weißen Hauses. Jeder hatte ein kleines
Schreibtablett, das an seinem Sitz befestigt war, und darauf
einen gelben Block, der von einer Arbeitslampe beleuchtet
wurde. Auf der Leinwand erschien in dreißig Sekunden
Intervallen ein Gesicht nach dem anderen, jedes mit einer
Nummer in der rechten oberen Ecke. Die Instruktionen waren
knapp gewesen, in der Sprache, die diese Leute am besten
verstanden, und Peter Stone, der sie ausgewählt hatte, hatte
die Instruktionen geliefert. Studieren Sie die Gesichter, geben
Sie keinen hörbaren Kommentar ab und schreiben Sie sich die
Nummern eines jeden Gesichts auf, das Sie kennen, und
denken dabei auch an Mordanschläge. Am Ende der Bildfolge
werden die Lichter eingeschaltet werden, und dann werden wir
sprechen. Und wenn nötig die Folge wieder ablaufen lassen,
-7 1 1
bis uns etwas einfällt. Erinnern Sie sich bitte, wir glauben, daß
diese Männer Killer sind. Konzentrieren Sie sich.
Sonst sagte man ihnen nichts. Ausgenommen Derek Belamy
von MI 6, der eine halbe Stunde vor der außergewöhnlichen
Sitzung eingetroffen war und dem man die Strapazen seiner
offensichtlich erschöpfenden Reise noch ansah. Als Derek
durch die Tür kam, hatte Peter ihn beiseite genommen, und die
beiden Männer hatten sich umarmt. Stone war in seinem
ganzen Leben noch nie so erleichtert gewesen, einen
Menschen zu sehen. Was auch immer ihm vielleicht entgangen
war oder ihm entgehen könnte, Belamy würde es finden. Der
britische Agent hatte einen siebten Sinn, dort wo andere
vielleicht einen sechsten hatten, Peter eingeschlossen, was
Derek natürlich in seiner Bescheidenheit weit von sich wies.
»Ich brauche dich, alter Freund«, sagte Peter, immer noch die
Hand auf der Schulter des anderen. »Dringend sogar.«
»Deshalb bin ich ja hier, alter Freund«, erwiderte Belamy.
»Kannst du mir irgend etwas sagen?«
»Dafür ist jetzt keine Zeit, aber einen Namen kann ich dir
nennen. Delavane.«
»Mad Marcus?«
»Genau der. Das alles ist sein Werk.«
»Der Bastard!« flüsterte der Engländer. »Es gibt niemanden,
den ich lieber am Ende einer Schlinge aus Stacheldraht sähe.
Wir unterhalten uns später, Peter. Du mußt dich um deine
Gäste kümmern. Übrigens, nach allem, was ich erkennen kann,
hast du hier die Besten beisammen.«
»Die Besten, Derek. Weniger können wir uns nicht leisten.«
Neben den amerikanischen Militärs, die ursprünglich an Stone
herangetreten waren, und Colonel Alan Metcalf, Nathan Simon,
Justice Andrew Wellfleet und dem Secretary of State bestand
der Rest der Zuhörer aus den erfahrensten und besten
Abwehroffizieren, die Peter Stone im Lauf seines Berufslebens
kennengelernt hatte. Sie waren mit Militärmaschinen aus
Frankreich, Großbritannien, Westdeutschland, Israel, Spanien
-7 1 2
und den Niederlanden eingeflogen worden. Zu ihnen gehörten neben Derek Belamy, Frangois Villard, der Chef der höchst geheimen Organisation Etrangere Frankreichs, Yosef Behrens, der führende Mann der Mossad in Sachen Terrorismus, Pablo Amandariaz, Madrids Spezialist für die KGB-Operationen im Mittelmeer, und Hans Vonmeer von der Geheimen Staatspolizei der Niederlande. Die anderen, auch die Frauen, hatten einen ähnlich guten Ruf, obwohl sie niedere Dienstränge bekleideten. Sie kannten die Legionen der bezahlten Killer und jener, die aus ideologischen Gründen töteten. Sie kannten die Namen und die Gesichter. Und alle hatten sie irgendwann einmal mit Stone zusammengearbeitet. Ein Gesicht! Er kannte das Gesicht! Es blieb auf der Leinwand, und er notierte auf seinem Block. Dobbins. Nummer 57. Cecil oder Cyril Dobbins. Britische Armee. Zur britischen Abwehr versetzt. Persönlicher Adjutant von... Derek Belamy! Stone blickte zu seinem Freund auf der anderen Seite des Ganges hinüber und erwartete, daß der etwas auf seinem Block notieren würde. Aber der Engländer runzelte nur die Stirn, saß reglos da, aber bewegte nicht seinen Stift. Das nächste Gesicht tauchte auf der Leinwand auf. Und das nächste und wieder eines, bis die Serie durch war. Die Lichter flammten auf, und als erster meldete sich Yosef Behrens von der Mossad. »Nummer siebzehn ist ein Artillerieoffizier in der IDF, der erst kürzlich in die Sicherheitsabteilung Jerusalem versetzt wurde. Sein Name ist Arnold.« »Nummer achtunddreißig«, sagte Frangois Villard, »ist ein Colonel in der französischen Armee und der Wache des Invalides zugeteilt. Ich erkenne nur das Gesicht; an den Namen erinnere ich mich nicht.« »Nummer sechsundzwanzig«, sagte der Mann aus Bonn, »ist Oberleutnant Ernst Müller von der Luftwaffe der Bundesrepublik. Er ist ein sehr erfahrener Pilot, der häufig für die Flugbereitschaft tätig ist und Minister und andere hohe Amtsträger zu Konferenzen innerhalb und außerhalb Deutschlands fliegt.« -7 1 3
»Nummer vierundvierzig«, sagte eine dunkelhäutige Frau mit spanischem Akzent, »bewegt sich in ganz anderen Kreisen als Ihre Kandidaten. Er ist Rauschgifthändler und vieler Morde verdächtig. Er arbeitet von Ibiza aus. Er war früher einmal bei der Fallschirmtruppe. Name Orejo.« »San of a gun, das kann ich einfach nicht glauben!« sagte der junge Lieutenant William Landis, Computerexperte aus dem Pentagon. »Ich kenne Nummer einundfünfzig, da bin ich fast sicher! Er ist einer der Adjutanten im Beschaffungsbereich Naher Osten. Ich habe ihn schon oft gesehen, aber ich kenne seinen Namen nicht.« Sechs andere Männer und zwei Frauen identifizierten zwölf weitere Personen und ihre Positionen, während alle im Raum Anwesenden darauf warteten, daß sich irgendein Schema herauskristallisieren würde. Militärpersonen überwogen zwar, doch die anderen waren allen ein Rätsel. Im wesentlichen handelte es sich um ehemalige Frontsoldaten aus Einheiten mit hohen Verlustraten, die in die Welt des Verbrechens abgeglitten waren. Schließlich meldete sich Derek Belamy mit seiner harten Stimme zu Wort. »Ich habe vier oder fünf Gesichter erkannt, die ich schon in irgendwelchen Dossiers gesehen habe, aber ich kann keine Verbindung herstellen.« Er sah zu Stone hinüber. »Du läßt sie noch einmal durchlaufen, nicht wahr, Junge?« »Natürlich, Derek«, erwiderte der ehemalige Stationschef von London, erhob sich aus seinem Stuhl und sprach zu den Versammelten. »Alles, was Sie uns gemeldet haben, wird sofort in unsere Computer eingegeben, und dann werden wir sehen, ob sich irgend welche Korrelationen ergeben. Wir machen jetzt fünfzehn Minuten Pause und fangen dann wieder an. Nebenan stehen Kaffee und Sandwiches bereit.« Stone nickte dankend und ging auf die Tür zu. Derek Belamy hielt ihn auf. »Peter, es tut mir schrecklich leid, daß ich so lange gebraucht habe, bis ich mich bei dir melden konnte. Das Büro hatte verdammte Schwierigkeiten, mich ausfindig zu machen. Ich war zu Besuch bei Freunden in Schottland.« -7 1 4
»Ich dachte, du seist vielleicht in Nordirland. Eine scheußliche
Sache da, nicht wahr?«
»Du warst immer besser, als du selbst es geglaubt hast.
Natürlich war ich in Belfast. Ich bin völlig erledigt; es war eine
schreckliche Reise. Ich habe überhaupt keinen Schlaf
bekommen. All diese Gesichter fingen an, einander ähnlich zu
sehen - entweder kannte ich sie alle oder überhaupt keins!«
»Es hilft bestimmt, wenn wir sie noch einmal durchlaufen
lassen«, sagte Stone.
»Ganz sicher«, nickte Belamy. »Und, Peter, worum es auch
immer in dieser Auseinandersetzung mit diesen Irren, mit
diesem Delavane geht, ich hätte mir wirklich nichts Besseres
wünschen können, als dich am Steuer zu sehen. Dabei hat man
uns gesagt, du seist ausgestiegen, ziemlich endgültig sogar.«
»Ich bin wieder eingestiegen. Sehr endgültig.«
»Das sehe ich, Kumpel. Das ist doch euer Außenminister, dort
in der letzten Reihe, oder?«
»Ja, das ist er.«
»Gratuliere, alter Junge. Und jetzt hole ich mir einen Kaffee,
schwarz und heiß. Wir sehen uns ja in ein paar Minuten
wieder.«
»Bis dann, alter Freund.«
Stone ging zur Tür hinaus und bog im Korridor nach rechts ab.
Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, ein
Symptom, das mit Johnny Rebs Brennen im Magen und dem
bitteren Geschmack im Mund verwandt war. Er mußte sofort an
ein Telefon. Der Kurier von Converse, Prudhomme von der
Sürete, würde in der nächsten Stunde eintreffen. Eine Eskorte
des Secret Service erwartete ihn am Dulles-Airport und hatte
Anweisung, ihn umgehend ins Weiße Haus zu bringen. Aber
nicht der Franzose war es, der Stone jetzt Sorge bereitete, es
war Converse selbst. Er mußte ihn erreichen, bevor die Sitzung
wieder begann. Er mußte!
Als der Anwalt ihn über die Tatiana-Schiene kontaktiert hatte,
war Peter über die Tollkühnheit erstaunt gewesen, mit der
-7 1 5
Converse vorgegangen war. Er hatte die drei Generale gekidnappt - und die Verhöre oder »mündlichen Untersuchungen«, oder wie immer der juristische Fachausdruck dafür lautete, auf Videoband aufgenommen. Verrückt war das! Noch verrückter war nur die Tatsache, daß er damit durchgekommen war - was offenbar auch den Verbindungen eines sehr entschlossenen, sehr zornigen Mannes von der Sürete zuzuschreiben war. Der Computer befand sich auf Scharhörn, und die Namensliste von Aquitania war irgendwo in seinen elektronischen Eingeweiden vergraben und würde durch ungenaue Codes gelöscht werden. Und jetzt der letzte Wahnsinn. Der Mann, den niemand finden konnte, den so dichte Schleier verbargen, daß man häufig an seiner Existenz zweifelte, und dies trotz der Tatsache, daß jede Logik darauf bestand, daß es ihn gab. Aquitanias Mann in England - denn es konnte kein Aquitania ohne die Briten geben. Außerdem wußte Stone, daß er die Verbindung zwischen Palo Alto und den Generalen in Übersee war, denn genauere Nachprüfungen von Delavanes Telefonrechnungen zeigten wiederholte Gespräche mit einer Nummer auf den Hebriden, und solche Relais waren dem ehemaligen Abwehragenten nur zu vertraut. Die Gespräche verschwanden bei einer Nummer auf den schottischen Inseln, so wie die KGB-Anrufe, die über die Prince-Edward-Insel in Kanada geleitet wurde, verschwanden, und man die Gespräche der Firma, die durch Key West gelenkt wurden, nicht verfolgen konnte. Belamy! Der Mann, dessen Gesicht nie in irgendeiner Veröffentlichung erschien - jeder Film wurde sofort von seinen Adjutanten vernichtet, wenn er auch nur im Hintergrund einer Fotografie erschien. Der bestbewachte Einsatzbeamte in England, der Zugang zu Geheimnissen hatte, die über Jahrzehnte gesammelt worden waren, und zu Dutzenden von Taktiken, die die besten Köpfe des MI 6 geschaffen hatte. War das möglich! Derek Belamy, der stille, freundliche Schauspieler, der Freund, der immer wieder seinem amerikanischen Kollegen guten Whisky schenkte und zuhören konnte, seinem Freund, der ernsthafte Zweifel an seiner Berufung im Leben gehabt -7 1 6
hatte. Der bessere Freund, weil er die Weisheit und den Mut
besaß, seinen Kollegen zu warnen, daß er zuviel trinke, daß er
vielleicht Urlaub nehmen sollte und daß man, wenn Geld
vielleicht das Problem sein sollte, sicher irgendeinen stillen
Beratervertrag mit seiner eigenen Organisation ausarbeiten
könnte. War es möglich, dieser anständige Mann, dieser
Freund?
Stone erreichte die Tür am Ende des Korridors, die die
Aufschrift 14, Besetzt trug. Er betrat den kleinen Raum und ging
an den Schreibtisch mit dem Telefon. Er setzte sich nicht; dazu
war er zu aufgeregt. Er nahm den Hörer, wählte die Nummer
der Vermittlung des Weißen Hauses, während er den Zettel mit
der Nummer von Joel Converse aus der Tasche zog, der
irgendwo in Frankreich saß. Er gab der Vermittlung die Nummer
durch und fügte hinzu: »Das sollte über Zerhacker laufen. Ich
spreche von Strategie 14 aus, bitte prüfen.«
»Prüfung abgeschlossen, Sir. Zerhacker wird eingeschaltet.
Soll ich Sie zurückrufen?«
»Nein, danke. Ich bleibe in der Leitung.« Stone blieb stehen,
während er das hohle Echo der Schaltrelais und dann das
schwache Summen des Zerhackers hörte. Und dann drängte
sich ein anderes Geräusch dazwischen, das Geräusch einer
sich öffnenden Tür. Er wandte sich um.
»Leg den Hörer weg, Peter«, sagte Derek Belamy leise,
während er die Türe schloß.
»Es hat keinen Sinn.«
»Du bist es also, nicht wahr?« Stone legte den Hörer langsam
auf die Gabel zurück.
»Ja. Und ich will alles, was du willst, mein alter Freund. Wir
konnten es uns beide nicht versagen, wie? Ich sagte, ich hätte
Freunde in Schottland besucht, und du sagtest, du hättest
gedacht, ich wäre in Irland... Das haben wir in all den Jahren
gelernt, nicht wahr? Die Augen lügen nicht. Schottland
Telefongespräche mit den Hebriden; das gab dir zu denken.
Und vorher, als das Gesicht auf der Leinwand erschien, hast du
ein wenig zu auffällig zu nur herübergesehen, denke ich.«
-7 1 7
»Dobbins. Er hat für dich gearbeitet.«
»Du hast dir hastig Notizen gemacht und doch nichts gesagt.«
»Ich wartete, ob du etwas sagen würdest.«
»Ja, natürlich, aber das konnte ich doch nicht, oder?«
»Aber warum, Derek? Um Himmels willen, warum?«
»Weil es richtig ist, und du weißt das.«
»Ich weiß es nicht! Du bist doch ein vernünftiger Mann, bei
Verstand - und die sind es nicht!«
»Man wird sie natürlich ersetzen. Wie oft haben wir beide, du
und ich, Drohnen eingesetzt, die wir nicht ausstehen konnten,
weil ihre Beiträge für das Endziel wichtig waren?«
»Welches Endziel? Eine internationale, totalitäre Allianz? Ein
Militärstaat ohne Grenzen? Und wir alle Roboter, die zum
Trommelschlag von Fanatikern marschieren?«
»Ach, hör doch damit auf, Peter. Erspare uns doch das liberale
Geschwätz. Du bist einmal aus diesem Geschäft ausgestiegen,
hast dich fast zu Tode getrunken, wegen der Vergeudung, der
Sinnlosigkeit, den ewigen Täuschungsmanövern, zu denen wir
alle gezwungen sind - wegen der Leute, die wir getötet haben -,
um das zu bewahren, was wir spöttisch den Status quo
nannten. Welchen Status quo, alter Junge? Um beständig auf
der ganzen Welt von Leuten bedrängt und belästigt zu werden,
die uns unterlegen sind? Um von kreischenden Mullahs und
hysterischen Narren als Geiseln festgehalten zu werden,
Menschen, die immer noch in der Vergangenheit leben und uns
für den Preis von einem Faß Öl die Kehle durchschneiden
würden? Um immer wieder von sowjetischen Täuschungen
manipuliert zu werden? Nein, Peter, es gibt wirklich einen
besseren Weg. Die Mittel mögen widerwärtig sein, aber das
Ergebnis am Ende ist nicht nur wünschenswert, sondern auch
ehrenvoll.«
»Nach wessen Definition? Der von George Marcus Delavane?
Oder von Erich Leifhelm. Chaim...«
»Man wird sie ersetzen!« unterbrach Belamy ihn zornig.
-7 1 8
»Das geht nicht!« schrie Stone. »Sobald es einmal angefangen
hat, kannst du es nicht mehr anhalten. Das Bild wird zur
Wirklichkeit. Das wird erwartet, gefordert. Davon abzuweichen,
heißt, angeklagt zu werden, sich dagegenzustellen, bedeutet
ein Scherbengericht! Und das weißt du verdammt genau!«
Das Telefon klingelte.
»Laß es klingeln«, befahl der Mann von MI 6.
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Du warst der Engländer in
Leifhelms Haus in Bonn. Eine kurze Beschreibung hätte mir das
bestätigt.«
»Ist das Converse?« Wieder klingelte das Telefon.
»Würdest du gerne mit ihm sprechen? Wie ich höre, ist er ein
beachtlicher Anwalt, obwohl er eine Grundregel gebrochen hat
er hat sich selbst als Mandanten übernommen. Jetzt kommt er
heraus, Derek, und er wird auf euch Jagd machen, auf euch
alle. Wir alle tun das.«
»Das werdet ihr nicht!« schrie Belamy. »Das dürft ihr nicht! Du
hast es selbst gesagt, wenn es einmal angefangen hat, kann
man es nicht mehr aufhalten!«
Ohne die geringste Andeutung warf sich der Engländer plötzlich
auf Stone, und die drei mittleren Finger seiner rechten Hand
schössen wie stählerne Projektile auf die Kehle des CIA-
Mannes zu. Der lähmende Schlag traf Stone, und er rang nach
Luft, während der Raum sich um ihn drehte und vor seinen
Augen tausend Sterne blitzten. Er konnte hören, wie die Tür
sich öffnete und wieder schloß, während das Telefon weiter
eindringlich klingelte. Aber Peter konnte es nicht sehen. Aus
den weißen Sternen war Dunkelheit geworden. Das Klingeln
hörte auf, während Stone blindlings durch den Raum taumelte,
versuchte, dem Klang nachzugehen, das Telefon zu finden. Die
Minuten dehnten sich, er taumelte gegen die Wände, und
schließlich stürzte er über den Schreibtisch. Dann flog die Tür
auf und Colonel Alan Metcalf schrie:
»Stone! Was ist los?« Der Air-Force-Offizier lief zu Stone und
erkannte sofort die Spuren des Judoschlages. Er begann,
Stones Hals zu massieren, und preßte dem CIA-Mann das Knie
-7 1 9
in den Magen, um Luft in seine Kehle zu drücken. »Die Zentrale
hat uns angerufen und gesagt, Zimmer vierzehn hätte ein
Zerhackergespräch bestellt, aber nicht abgenommen. Herrgott,
wer war es?«
Verschwommene Bilder drängten sich in Stones Bewußtsein,
aber er konnte immer noch nicht sprechen. Der einzige Laut,
den er hervorbrachte, war ein würgendes Husten. Er wand sich
unter Metcalf s kräftigen Händen, deutete auf einen Notizblock,
der vom Tisch gefallen war. Der Colonel begriff; er schnappte
sich den Block und riß einen Kugelschreiber aus der Tasche.
Dann wälzte er Stone zur Seite, drückte ihm den Stift in die
Hand und schob die Hand auf den Block. Und Peter schrieb
mühsam. BELAMY. AUFHALTEN. AQUITANIA
»O mein Gott!« flüsterte Metcalf, griff nach dem Telefon und
wählte die Nummer Null. »Vermittlung, äußerst dringend.
Geben Sie mir die Sicherheitsabteilung... Sicherheit? Colonel
Alan Metcalf aus Strategie Vierzehn. Dringend! Da ist ein
Engländer, Belamy heißt er. Er ist vielleicht noch auf dem
Gelände und versucht, das Haus zu verlassen. Halten Sie ihn
auf! Festhalten! Betrachten Sie ihn als gefährlich. Und
informieren Sie die Krankenstation. Schicken Sie einen Arzt
nach Strategie Vierzehn. Schnell!«
Der Arzt des Weißen Hauses nahm die Sauerstoffmaske von
Stones Gesicht und legte sie neben dem Gaszylinder auf den
Tisch. Dann schob er vorsichtig Peters Kopf zurück, drückte
ihm die Zunge herunter und leuchtete mit einer kleinen
Taschenlampe in den Hals des CIA-Mannes.
»Das war eine häßliche Spritze«, sagte er. »Aber in ein paar
Stunden werden Sie sich wohler fühlen. Ich gebe Ihnen ein
paar Tabletten gegen den Schmerz.«
»Was ist in den Tabletten?« fragte Stone heiser. »Ein leichtes
Schmerzmittel mit etwas Codein.«
»Nein, danke, Doktor«, sagte Peter und sah zu Metcalf hinüber.
»Ich glaube nicht, daß mir das gefällt, was ich in Ihrem Gesicht
sehe.«
-7 2 0
»Mir auch nicht. Belamy ist entkommen. Er hatte einen
Passierschein und hat dem Posten am Osttor gesagt, er würde
dringend in der britischen Botschaft erwartet.«
»Verdammt!«
»Sie müssen Ihre Stimme schonen«, sagte der Arzt. »Ja,
natürlich«, erwiderte Stone. »Vielen Dank, und jetzt
entschuldigen Sie mich bitte.« Er stand auf, während der Arzt
nickte, sich seine Arzttasche nahm und zur Tür ging. »Wirklich,
ich meine das ernst, Doktor. Vielen Dank.«
»Sicher. Ich schicke dann jemand, der die Sauerstoffflasche
abholt.«
Das Telefon klingelte, während sich die Tür schloß. Metcalf
nahm den Hörer ab. »Ja? Ja, er ist hier.« Der Colonel hörte
einen Augenblick zu und wandte sich an Stone. »Wir haben
es«, sagte er. »Alle Militärangehörigen, die identifiziert worden
sind, haben zwei Dinge gemeinsam. Jeder hat einen
mindestens dreißigtägigen Urlaub angetreten, und alle
Urlaubsgesuche wurden vor fünf Monaten eingereicht, ziemlich
auf den Tag genau.«
»Was die Bewilligung garantierte, weil sie die ersten waren«,
fügte der CIA-Mann mit gequälter Stimme hinzu. »Und die
Pläne für die Antikernkraftdemonstrationen sind vor sechs
Monaten in Schweden bekanntgegeben worden.«
»Wie ein Uhrwerk«, sagte Metcalf. »Um die anderen zu
identifizieren und neutralisieren, werden wir das durchgeben.
Jeder Offizier in einem halben Dutzend Armee- und
Marineeinheiten, der im Augenblick aus dem Urlaub
zurückkehrt, soll unter Hausarrest gestellt werden. Dabei wird
es Irrtümer geben, aber das schadet nichts. Wir können die
Fotografien hinausschicken und die Fehler korrigieren.«
»Es ist Zeit für Scharhörn.« Stone stand auf und massierte sich
den Hals. »Und ich sage Ihnen ehrlich, daß ich eine
Höllenangst habe. Ein einziger falscher Code, und wir löschen
die Namensliste von Aquitania. Schlimmer noch, eine falsche
Bewegung und der ganze Komplex fliegt in die Luft.« Der CIA-
Mann ging ans Telefon.
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»Werden Sie jetzt den Rebel anrufen?« fragte der Colonel.
»Zuerst Converse. Er arbeitet an den Codes.«
Die drei Generale von Aquitania saßen benommen auf ihren
Stühlen, starrten vor sich hin und vermieden es, einander
anzusehen. Die Lichter waren wieder eingeschaltet worden, der
große Fernsehschirm dunkel. Hinter jedem der drei stand ein
Mann mit einer Pistole und der klaren Anweisung: Wenn er
aufsteht, töten Sie ihn.
»Sie wissen, was ich will«, sagte Converse und trat vor die
Generale. »Und wie Sie gerade gesehen haben, gibt es wirklich
keinen Grund, der Sie daran hindern sollte, es mir zu geben.
Vier kleine Nummern oder Buchstaben, die jeder von Ihnen in
der richtigen Folge auswendig gelernt hat. Wenn Sie sich
natürlich weigern, dann gibt es hier einen Arzt, von dem ich
gehört habe, daß er einen Zauber in seiner Tasche hat –
denselben Zauber, den Sie mir in Bonn verpaßt haben. Also,
wie steht es, Gentlemen?«
Schweigen.
»Vier, drei, L, eins«, sagte Chaim Abrahms und blickte zu
Boden. »Abschaum ist das«, fügte er dann leise hinzu.
»Danke, General.« Joel notierte das Gehörte auf einen kleinen
Notizblock. »Aufstehen, Sie können jetzt gehen.«
»Gehen?« sagte der Israeli. »Und wohin?«
»Wohin Sie wünschen«, antwortete Converse. »Ich bin sicher,
daß Sie auf dem Flughafen in Annecy keine Schwierigkeiten
haben werden. Man wird Sie erkennen.«
General Chaim Abrahms verließ den Raum, begleitet von dem
Captain der israelischen Armee.
»Zwei, M, Null, Sechs«, sagte Erich Leifhelm. »Und wenn Sie
es wünschen, können Sie mir die Droge verabreichen lassen,
um es zu bestätigen. Ich will mit solchen verräterischen
Schweinen nichts zu tun haben.«
»Ich will die Kombination«, drängte Joel und schrieb. »Und ich
würde nicht zögern, Sie in den Weltraum schießen zu lassen,
um sie zu bekommen.«
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»Umdrehen«, sagte der Deutsche. »Sie müssen die
Reihenfolge der Symbole in der zweiten Sequenz umdrehen.«
»Übernehmen Sie ihn, Doktor.« Converse nickte dem Mann
hinter Leifhelms Stuhl zu. »Wir dürfen nichts riskieren, daß bei
dem etwas nicht stimmt.«
General Erich Leifhelm stand auf und ging langsam aus dem
Raum, gefolgt von dem Arzt aus Bonn.
»Sie sind alle unwürdig, blind«, sagte General Jacques Louis
Bertholdier mit ernster Ruhe. »Ich ziehe es vor, erschossen zu
werden.«
»Sicher würden Sie das, aber das Glück haben Sie nicht«,
antwortete Joel. »Ich brauche Sie jetzt nicht mehr, und ich lege
Wert darauf, Sie in Paris zu wissen, wo jeder Sie sehen kann.
Bringen Sie ihn auf sein Zimmer zurück.«
»Das Zimmer? Ich dachte, ich könnte gehen, oder war das
wieder eine Lüge?«
»Keineswegs. Nur eine Frage der Logistik - Sie wissen, was
Logistik ist, General. Wir sind hier etwas knapp an
Transportmitteln und Fahrern. Deshalb werde ich Ihnen allen
dreien, sobald der Arzt fertig ist, einen Wagen leihen. Sie
können ja Streichhölzer ziehen, wer fährt.«
»Was?«
»Schaffen Sie ihn raus«, sagte Converse zu dem ehemaligen
Sergeant-Major der französischen Armee.
»Allez!«
Die Tür wurde von außen geöffnet. Es war Valerie, und sie sah
Joel an. »Stone ist am Telefon. Er sagt, es sei eilig.«
Es war 2.05 Uhr morgens, als die Mystere aus dem
Nachthimmel herunterstieß und auf einem Flugfeld in der Nähe
von Cuxhaven landete. Die Maschine rollte an das nördliche
Ende der Runway, wo Johnny Reb neben einer schwarzen
Mercedes-Limousine wartete.
Die Türen der Maschine öffneten sich, die kurze Treppe wurde
ausgeklappt, und Converse kletterte ins Freie und half Valerie
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heraus. Dann folgten der ehemalige Sergeant-Major aus
Algerien und ein vierter Passagier, ein schlanker blonder Mann,
Mitte Vierzig, der eine Schildpattbrille trug. Sie entfernten sich
von der Maschine, während der Pilot die Treppe wieder einzog
und die automatischen Türen schloß.
Die zwei Düsentriebwerke heulten auf, die Maschine schlug
einen Bogen und rollte auf die Hangars zu. Der Rebel kam auf
sie zu und streckte Joel die Hand entgegen.
»Ich hab' verschiedentlich Ihr Bild gesehen. Es ist mir ehrlich
ein Vergnügen, Sir. Offen gestanden habe ich nie geglaubt, daß
ich Sie jemals kennenlernen würde, zumindest nicht in dieser
Welt.«
»Einige Male hatte ich auch Zweifel daran, wie lange ich ihr
noch erhalten bleiben würde. Das ist meine Frau, Valerie.«
»Hocherfreut, Ma'am«, sagte der Südstaatler und führte mit
einer galanten Verbeugung Vals Hand an seine Lippen. »Ihre
Leistungen haben einige der besten Köpfe in meinem
ehemaligen Beruf in Erstaunen versetzt.«
»Hoffentlich nicht zu ehemalig«, wandte Converse ein.
»Im Augenblick nicht.«
»Das sind Monsieur Lefevre und Dr. Geoffrey Larson. Stone
sagte, Sie seien informiert.«
»Sehr erfreut, Sir«, rief der Rebel aus und schüttelte dem
Franzosen die Hand. »Ich ziehe den Hut vor Ihnen, vor allem
für das, was Sie mit diesen Generalen gemacht haben. Absolut
bemerkenswert.«
»Solche Männer haben Feinde«, sagte Lefevre einfach. »Es ist
nicht schwer, sie zu finden, und das wußte Inspektor
Prudhomme.«
Der Rebel wandte sich an den vierten Passagier. »Dr. Larson,
wirklich nett, Sie kennenzulernen. Man sagte mir, Sie wüßten
so ziemlich alles, was es Wissenswertes über irgendeinen
Computer auf der Welt gibt.«
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»Das ist sicher eine Übertreibung«, sagte der Engländer etwas verlegen. »Aber ich glaube, wenn er tickt, kann ich ihn auch zum Summen bringen.« Es war die schwierigste Entscheidung gewesen, die Peter Stone je zu treffen gehabt hatte. Jetzt den falschen Schritt zu tun - telegrafisch den Angriff auf den Komplex von Scharhörn auszulösen -, mußte zur Vernichtung der Befehlszentrale führen, weil dann die verborgenen Sprengladungen hochgehen würden. Stone hatte sich auf seinen Instinkt verlassen, den ein ganzes Leben in der Schattenwelt der Geheimdienste geschärft hatte. Dies war nicht die Zeit für Eliteeinheiten, für ein offizielles Eingreifkommando, das zum Einsatz befohlen wurde. Denn niemand wußte, wer in den verschiedenen Institutionen vielleicht ein Mitglied, ein Offizier von Aquitania war. Ein solcher Mann konnte ein Telefongespräch führen und damit Scharhörn vernichten. Deshalb mußte der Angriff von Männern durchgeführt werden, die von Außenstehenden angeheuert worden waren, und die nur dem Geld und ihren augenblicklichen Auftraggebern verpflichtet waren und sonst niemandem. Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte ihm zwölf Stunden Zeit gegeben und erklärt, daß er nach Ablauf dieser Frist eine Katastrophensitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen einberufen würde. Peter Stone konnte selbst kaum glauben, daß er dem mächtigsten Mann der freien Welt darauf geantwortet hatte: »Das ist sinnlos, Sir. Dann ist alles zu spät.« Der Rebel beendete seine Erklärungen, aber der Lichtkegel seiner Taschenlampe zeigte immer noch auf die Landkarte, die er auf der Motorhaube des Mercedes ausgebreitet hatte. »Wie ich Ihnen schon sagte, ist das der ursprüngliche Grundriß, wie wir ihn von der Baubehörde in Cuxhaven bekommen haben. Diese Nazis waren wirklich Pedanten, wenn es um Einzelheiten ging - wahrscheinlich mußte jeder sein Gehalt oder seinen Rang rechtfertigen. Wir überfliegen das Meeresradar und nehmen Kurs auf den alten Landestreifen, der für Versorgungsflüge benutzt wurde, und dann ziehen wir unsere Nummer ab. Und jetzt passen Sie gut auf, dort draußen sind -7 2 5
immer noch eine Menge Lichter, eine Menge Leute, wenn auch
viel weniger als noch vor zwei Tagen. Es gibt auch ein paar
Mauern, aber wir haben Kletterhaken und ein paar Boys, die
wissen, wie man damit umgeht.«
»Was sind das für Leute?« fragte Converse.
»Niemand, den Sie zum Geburtstag Ihrer Mutter einladen
würden. Üble Burschen, aber perfekt.«
»Und unsere Maschine?«
»Die beste, die Peter beschaffen konnte, und es ist wirklich die
beste. Eine Fairchild Scout. Sie faßt neun Leute.«
»Mit einem Gleitflugverhältnis von neun zu eins bei viertausend
Fuß Flughöhe«, sagte Joel. »Ich fliege.«
41 Converse schob den Steuerknüppel langsam nach vorne,
während er die Motoren drosselte und nach links auf den
kleinen Landestreifen zuhielt, der zweitausendvierhundert Fuß
unter ihnen lag. Er war durch die dünnen, tiefliegenden
Nordseewolken nur sporadisch zu sehen, aber Joel rechnete
damit, ihn aus fünfhundert Fuß sicher ausmachen zu können.
Dann würde er zu der letzten Umkreisung für den kurzen Anflug
ansetzen, würde etwas abseits von dem alten U-Boot-
Stützpunkt aufsetzen und damit die Geräusche noch weiter
reduzieren, die die überdimensionierten Ballonreifen bei der
Landung verursachen würden. Das Manöver selbst kam einer
Flugzeugträgerlandung sehr nahe, und er registrierte befriedigt,
daß seine Hände vollkommen ruhig waren. Die Angst, vor der
er sich gefürchtet hatte, kam nicht.
Valerie und Lefevre waren - trotz der heftigen Proteste des
Franzosen - auf einer verlassenen Pier in Cuxhaven
zurückgeblieben, wo Johnny Rebel primitive, aber
funktionsfähige Relaisstation eingerichtet hatte. Valeries
Aufgabe war es, mit dem Team in Funkverbindung zu bleiben
entweder der Rebel oder Converse würden auf Scharhörn die
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tragbaren Geräte bedienen. Der Sergeant sollte Wache halten
und verhindern, daß jemand die Pier betrat.
Die fünf Männer, die Johnny Reb anscheinend für beträchtliche
Summen angeheuert hatte, waren schwer einzuschätzen, denn
sie sagten nur wenig. Sie trugen dunkle Strickmützen, die sie
sich bis über die Augen gezogen hatten, und schwarze
Rollkragenpullover, die bis zum Hals reichten. Joel und der
britische Computerexperte Larson hatten sich mit der gleichen
Kleidung versehen; der Rebel hatte seine im Mercedes gehabt.
Jeder Mann, mit Ausnahme Larsons, trug in einem Hüfthalter
eine Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer. An der linken
Seite des schwarzen Ledergürtels steckte ein Jagdmesser mit
langer Klinge, daneben eine dünne Drahtspule. Über den
Nieren trugen sie zwei Kanister mit einem Gas, das die Opfer
hilflos und stumm machte.
Joel kreiste vorsichtig und glitt lautlos über den verdunkelten U-
Boot-Stützpunkt, die Augen abwechselnd auf die Landebahn
und das Höhenmeßgerät gerichtet. Jetzt fuhr er die
Landeklappen aus und sank; die schweren Reifen dämpften
den Ruck des Aufpralls. Gelandet.
»Wir sind unten«, sagte Johnny Reb in sein Funkgerät. »Und
mit ein wenig Glück werden wir auch stoppen, nicht wahr,
Pilot?«
»Wir werden stoppen«, sagte Converse. Sie taten es knapp
zwölf Meter vom Ende des Landestreifens entfernt. Joel zog
sich die Wollmütze herunter und atmete tief ein; sein
Haaransatz und seine Stirne waren schweißnaß.
»Wir steigen aus.« Der Rebel schaltete sein Funkgerät aus und
drückte es sich gegen die Brust; es blieb dort haften. »Oh«,
fügte er hinzu, als er bemerkte, daß Converse ihn beobachtete.
»Das habe ich wohl zu erwähnen vergessen. An dem Gerät
und an Ihrem Pullover ist Klettengewebe.«
»Sie stecken voller Überraschungen.«
»Sie haben uns in den letzten paar Wochen auch eine ganze
Menge geboten. Gehen wir.« Johnny Reb öffnete seine Tür,
Joel die zweite. Dann stiegen beide aus, gefolgt von Larson
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und den fünf Männern. Drei von ihnen trugen mit Gummi überzogene Wurfhaken, die an langen Seilen befestigt waren. »Weiter!« befahl der Rebel und setzte sich in Richtung der von Gestrüpp überwucherten Ränder der Landebahn in Bewegung. Ins hohe Gras geduckt, näherten sie sich den Mauern des alten U-Boot-Stützpunktes und studierten das, was sich ihren Augen darbot. Converse staunte über die endlos scheinenden Betonwälle. Die einzige Lücke in dem festungsartigen Bauwerk war links gegenüber der Landebahn. Ein Paar Doppeltore aus Stahl, die noch mit verschraubten Eisenplatten verstärkt waren, ragten unheilverheißend im schwachen Mondlicht auf. »Dieser Ort hier hat einiges erlebt«, flüsterte Johnny Reb, der neben Joel stand. »Die Hälfte des deutschen Oberkommandos hatte keine Ahnung, daß es ihn gab, und die Alliierten haben sich das auch nie angesehen. Es war der Privatstützpunkt von Dönitz. Einige Leute behaupten, er hätte vorgehabt, ihn als Drohmittel einzusetzen, falls Hitler ihm nicht freiwillig die Macht übergeben hätte.« »Er sollte auch noch für etwas anderes eingesetzt werden«, sagte Converse und erinnerte sich an Leifhelms unglaubliche Geschichte von einem Vierten Reich, einer Generation nach dem Kriege. Die Operation Sonnenkinder. Einer der Männer mit den Kletterhaken kroch zu ihnen herüber und sprach mit dem Rebel. Der Südstaatler antwortete zornig und wirkte verärgert, nickte aber schließlich, als der Mann wieder wegkroch. Er drehte sich zu Joel um. »Dieser verdammte Hurensohn!« stieß er halblaut hervor. »Der hat mich arm gemacht! Er sagte, er würde den ersten Angriff an der Ostflanke machen - und die hat dieser Kerl natürlich studiert -, wenn ich ihm zusätzliche fünftausend Dollar garantiere.« »Und Sie werden natürlich zahlen.« »Natürlich. Wir sind anständige Männer. Wenn er ums Leben kommt, dann bekommen seine Frau und die Kinder jeden Penny. Ich kenne den Burschen; wir haben einmal gemeinsam ein Haus eingenommen, in dem sich Terroristen versteckt hielten. Er ist acht Stockwerke nach oben geklettert, hat sich -7 2 8
durch einen Liftschacht wieder heruntergelassen, eine Türe aufgebrochen und die Bastarde mit seiner Uzi niedergemäht.« »Ich kann das alles einfach nicht glauben«, flüsterte Converse. »Tun Sie's«, sagte der Rebel leise und sah Joel an. »Wir tun das, weil sonst keiner dazu bereit ist. Und irgend jemand muß es ja tun. Mag sein, daß wir Außenseiter sind, aber es gibt auch Zeiten, wo wir auf der Seite der Engel stehen - wenn das Geld stimmt.« Das gedämpfte Geräusch des gummiüberzogenen Kletterhakens war zu hören, und dann ein Knirschen, als er sich an der oberen Mauerkante festkrallte und das Seil sich spannte. Binnen Sekunden konnte man den schwarz gekleideten Mann Hand über Hand nach oben klettern sehen, die Füße eingestemmt. Er lief förmlich an der Betonmauer hinauf. Jetzt hatte er bereits die Mauerkrone erreicht, seine linke Hand verschwand, dann zog er sein rechtes Bein nach, und jetzt lag er flach auf der Krone. Plötzlich schoß sein linker Arm vor, bewegte sich zweimal vor und zurück, ein Signal. Dann griff er mit der rechten Hand nach der Waffe im Halfter und zog sie langsam heraus. Ein Geräusch war zu hören, wie wenn jemand einen Kirschkern ausspuckt, und dann herrschte wieder Stille, und der linke Arm des Mannes zuckte zum zweitenmal vor. Ein zweites Signal. Die zwei anderen Männer mit den Kletterhaken liefen heran, ließen ihre Haken kreisen und schleuderten sie in die Höhe, bis auch ihre Haken an der Mauerkrone festsaßen. Auch sie kletterten die Wand empor. Joel wußte, daß jetzt er an der Reihe war. Er packte das mittlere Seil und begann die mühsame Kletterpartie nach oben. Johnny Reb und der schlanke Geoffrey Larson sollten die Seile nur im äußersten Notfall benutzen. Der Südstaatler hatte zugegeben, daß er sich dazu zu alt fühlte, und das Risiko, daß der Computerexperte verletzt wurde, war zu groß. Mit schmerzenden Armen und Beinen wurde Converse von seinem Helfer die letzten Zentimeter hinaufgezogen. »Seil nachziehen!« befahl der Mann flüsternd. »Lassen Sie es -7 2 9
langsam auf der anderen Seite herunter und setzen Sie den Haken neu.« Joel folgte der Anweisung. Dann sah er das Innere der seltsamen Festung zum erstenmal - und einen uniformierten Mann unten auf dem Boden, dem aus einem Loch in der Stirn Blut tropfte. Der Mann war tot. Im schwachen Mondlicht konnte er in der Ferne ein paar Hellinge sehen und dazwischen Betonpiers, auf denen riesige Winden befestigt waren. Im Halbkreis, den U-Boot-Docks und dem Meer zugewandt, waren fünf flache, einstöckige Betongebäude mit kleinen Fenstern angeordnet. In zwei davon waren schwache Lichter zu erkennen. Die Gebäude waren mit Betonstegen untereinander verbunden. Unmittelbar unter der Mauer, wo jetzt die drei Seile hingen, waren breite Stufen, die zu beiden Seiten auf eine Art Podium oder Plattform aus Beton führten, hinter der eine Art von Hof lag, von vielleicht zweihundert Meter Durchmesser. Ein Paradeplatz, dachte Converse und stellte sich Reihen von UBoot-Besatzungen vor, die dort antraten, ihre Befehle entgegennahmen und sich die Aufmunterungen ihrer Offiziere anhörten, während sie sich darauf vorbereiteten, wieder auf Feindfahrt zu gehen. »Mir nach!« sagte einer der Männer und tippte Joel an die Schulter. Dann packte er sein Seil und ließ sich daran auf die Plattform hinunter. Die anderen folgten ihm, wobei Converse sich etwas weniger geschickt als die Profis über die Mauerkrone rollen ließ. Aber auch er kam sicher nach unten. Die zwei Männer links von Joel hetzten lautlos über die Plattform und die Treppen hinunter, auf die riesigen Stahltüren zu. Die zwei Männer zu seiner Rechten liefen instinktiv die gegenüberliegenden Stufen hinunter und kauerten sich mit gezogenen Waffen vor der Plattform hin. Converse schloß sich dem Paar am Tor an. Die beiden Männer studierten mit winzigen Taschenlampen die Riegel und die Eisenplatten sowie das komplizierte Schloß.
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»Wir sollten es wegsprengen«, sagte der Amerikaner. »Da ist
keine Alarmeinrichtung.«
»Sind Sie sicher?« fragte Joel. »Nach allem, was ich gehört
habe, sind hier überall Drähte.«
»Die Schranken sind dort hinten«, erklärte der Mann und
deutete auf die niedrigen Betonmauern, die den Paradeplatz
umgaben, eine knapp einen Meter hohe Wand zu beiden
Seiten.
»Schranken?«
»Lichtschranken. Strahlen, die sich schneiden.«
»Und das bedeutet, daß keine Tiere da sind«, sagte der zweite
Mann, ein Deutscher, und nickte. »Keine Hunde. Sehr gut.«
Der andere hatte unterdessen ein paar Klumpen einer weichen,
wie Glaserkitt aussehenden Masse in den Schloßmechanismus
gestopft und mit seinem Messer glattgestrichen. Jetzt holte er
einen kleinen, runden Gegenstand, nicht viel größer als eine
50-Cent-Münze, aus der Tasche, strich etwas von der Masse
über das Schloß und drückte die Münze hinein.
»Zurücktreten«, befahl er.
Converse sah gebannt zu. Es gab keine Explosion, keinerlei
Detonation, aber plötzlich erfaßte ihn eine kräftige Hitzewelle,
und dann war eine glühende, blauweiße Flamme zu sehen, die
den Stahl buchstäblich schmolz. Dann war eine Folge
klickender Geräusche zu hören, die den Amerikaner dazu
veranlaßten, die drei Riegel hastig zurückzuziehen. Er schob
die rechte Tür auf und ließ seine Taschenlampe nach draußen
blitzen. Augenblicke später betraten Johnny Reb und Geoffrey
Larson das Innere der Festungsanlage.
»Schranken«, wiederholte der Amerikaner, zum Rebel
gewandt. »Die sind überall an den Mauern entlang«, sagte er
und deutete darauf. »Sehen Sie sie?«
»Ja«, erwiderte der Südstaatler. »Und das bedeutet, daß ein
paar auch nach oben gerichtet sind. All right, Boys, dann wollen
wir jetzt ein wenig kriechen. Bäuche herunter und die Knie und
die Ärsche in Bewegung.« Die sechs am Tor schlössen sich
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den zwei anderen Männern an, die vor der Plattform kauerten. Johnny flüsterte etwas in deutscher Sprache und wandte sich dann Larson zu. »Mein lieber Freund aus England, ich möchte, daß Sie hierbleiben, bis wir Ihnen winken, daß Sie nachkommen können.« Einer nach dem anderen, mit dem Deutschen, der jetzt fünftausend Dollar reicher war, an der Spitze, krochen die sieben Männer über den alten Exerzierplatz. Kaum atmend, die Hosen zerfetzt, die Knie und Hände von dem rauhen, zersprungenen Beton aufgeschürft. Der Deutsche strebte auf die Lücke zwischen dem zweiten und dritten Bau von der rechten Seite zu. Als er angekommen war, richtete er sich auf. Plötzlich schnippte er einmal mit den Fingern - nicht sehr laut, aber es war zu hören. Alle erstarrten unter den sich schneidenden Lichtstrahlen der Alarmanlagen. Converse drehte den Kopf auf dem Boden etwas zur Seite, um besser sehen zu können. Der Deutsche kauerte im Schatten. Dann tauchte ein Mann auf, ein Posten, der einen Karabiner über der Schulter trug. Jetzt schien der Mann zu bemerken, daß jemand in der Nähe war. Sein Kopf zuckte herum. Aber im selben Augenblick warf sich der Deutsche auf ihn, und sein langes Messer schoß auf den Kopf des Mannes zu. Joel schloß die Augen. Das Geräusch, das er hörte, ein heftiges Keuchen, sagte ihm mehr, als er wissen wollte. Dann krochen sie weiter, bis sie, einer nach dem anderen, den Betonweg zwischen den beiden flachen Bauten erreicht hatten. Converse war am ganzen Körper schweißnaß. Er sah zu den U-Boot-Hellingen hinaus und auf die See und wünschte sich, er könnte sich einfach ins Wasser fallen lassen. Der Rebel berührte ihn am Ellbogen und bedeutete ihm, er solle seine Waffe herausholen. Jetzt übernahm Johnny Reb die Führung; er kroch auf die Vorderseite des zweiten Gebäudes zu und bog nach rechts. Dicht am Boden kauernd arbeitete er sich auf die Fenster zu. Seine Finger schnippten, und jede Bewegung erstarb. Alle preßten sie sich gegen den Boden. Schräg links, am Rand einer riesigen Helling, waren das Glühen von
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Zigaretten und die Stimmen leise sprechender Menschen wahrzunehmen - drei Männer, Posten mit Karabinern. Wie auf einen lautlosen Befehl hin lösten sich drei der fünf Männer, die der Rebel angeheuert hatte - Converse konnte nicht erkennen, welche es waren -, aus ihrem Verband und krochen in einem weiten Bogen auf die gegenüberliegende Seite der alten U-Boot-Helling zu. Etwa eineinhalb Minuten später - die längsten neunzig Sekunden, an die Joel sich erinnern konnte - war eine Folge gedämpfter Schüsse zu hören, die fast von der nächtlichen Brise verschluckt wurden. Die darauffolgenden Geräusche waren kaum wahrzunehmen, Körper, die zu Boden fielen und im Todeskampf noch einmal zuckten. Dann herrschte wieder Stille. Die bezahlten Killer kehrten zurück, und Johnny Reb bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, weiterzugehen. Converse fand sich plötzlich als letzter in der Reihe wieder. Sie erreichten das einzig beleuchtete Fenster des zweiten Gebäudes. Der Rebel richtete sich auf, schob sich langsam an das Glas heran. Dann drehte er sich um und schüttelte den Kopf; die anderen gingen weiter. Sie erreichten den freien Raum zwischen Gebäude eins und zwei. Vorsichtig lief der erste hinüber, duckte sich in dem Augenblick, in dem er die gegenüberliegende Gebäudewand erreicht hatte, und hetzte dann weiter. Jetzt war Joel an der Reihe; er richtete sich auf. »Horst? Bist du das?« sagte ein Mann scharf und trat aus der Tür. Converse blieb reglos stehen. Der Rest der Gruppe hatte die Ecke des zweiten Gebäudes bereits hinter sich. Joel zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Er war allein, und er allein konnte jetzt auch die ganze Operation auffliegen lassen, den Komplex Scharhörn zerstören und jeden töten, Connal Fitzpatrick eingeschlossen, falls der junge Offizier tatsächlich noch hier sein sollte. »Ja«, hörte er sich sagen, während er sich gleichzeitig in den Schatten zurückzog und seine rechte Hand nach dem Messer griff. Der Pistole wollte er in der Dunkelheit nicht vertrauen. -7 3 3
»Halt, einen Augenblick! Sie sind nicht Horst!« Joel wartete. Die
Schritte kamen näher; eine Hand griff nach seiner Schulter. Er
fuhr herum, packte das Heft seines Messers mit solcher Kraft,
daß ihm das Schreckliche, das sein Verstand ihm jetzt befahl,
fast nicht ins Bewußtsein drang. Er packte den Mann am Haar
und zog die rasiermesserscharfe Schneide des Messers quer
über seine Kehle.
Würgend, mit dem Brechreiz kämpfend, zog er den Mann in die
Schatten. Der Kopf war fast vom Körper abgetrennt. Dann
hetzte Joel über die freie Fläche und holte die anderen wieder
ein. Keiner hatte ihn vermißt. Alle spähten sie nacheinander
durch die vier beleuchteten Fenster. Johnny Reb hatte das
erste bereits hinter sich gelassen und gestikulierte, während die
Männer sich nacheinander wegduckten. Er deutete in
verschiedene Richtungen und registrierte, wie die Männer
nacheinander nickten, um zu bestätigen, daß sie die Anweisung
verstanden hatten. Converse zog sich am letzten Fenster hoch
und sah hinein. Er begriff sofort, weshalb der Rebel schnell
handeln mußte. Da waren zehn Männer in militärischen
Uniformen, die jedoch zu keiner ihm bekannten Armee
gehörten. Die zehn säuberten gerade ihre Waffen, einige sahen
kurz auf ihre Uhr, und andere drückten ihre Zigarette aus. Dann
überprüften alle die Ladestreifen ihrer Karabiner. Einige der
Männer lachten, hoben die Stimmen, als forderten sie etwas
von den anderen. Joel konnte nicht verstehen, was gesprochen
wurde. Er duckte sich vom Fenster weg und sah sich Johnny
Reb gegenüber.
»Das ist eine Streife, die jetzt hinausgeht, nicht wahr?« flüsterte
Converse.
»Nein, mein Lieber«, erwiderte der Südstaatler. »Das ist ein
Erschießungskommando. Die haben gerade ihre Befehle
bekommen.«
»Mein Gott!«
»Wir folgen ihnen unauffällig. Vielleicht finden Sie Ihren alten
Kumpel Fitzpatrick doch noch.«
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Die nächsten Minuten schienen Joel von einem wahnsinnigen Kafka in Szene gesetzt worden zu sein. Die zehn Männer formierten sich und traten durch die Tür ins Freie. Plötzlich flammten überall auf dem Exerzierplatz Scheinwerfer auf, offensichtlich hatte die Gruppe eine Lichtschranke betätigt. Zwei Männer mit Pistolen in den Händen liefen hinüber zu Gebäude vier. Sie sperrten die schwere Tür auf, zogen den Riegel zurück, stürmten hinein und brüllten dabei Befehle, während die Lichter eingeschaltet wurden. »Aufwachen, bißchen fix! Aufstehen! Schnell'. Hinaus!« Sekunden später taumelten hagere, mit Handschellen gefesselte Gestalten ins Freie und kniffen die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen. Alle trugen zerfetzte Kleider. Einige konnten kaum noch gehen und mußten von anderen, die noch kräftiger waren, gestützt werden. Zehn, zwanzig, fünfundzwanzig, zweiunddreißig, vierzig... dreiundvierzig. Dreiundvierzig Gefangene von Aquitania, die exekutiert werden sollten! Sie wurden zu der Betonmauer geführt, die gegenüber der Plattform am anderen Ende des Exerzierplatzes aufragte. Und dann war plötzlich die Hölle los! Es war, als hätte die Wut von Berserkern die Verurteilten erfaßt! Plötzlich stürzten sie nach allen Richtungen davon, und die, die neben den Wachen standen, schlugen ihnen die Ketten, die ihre Handschellen verbanden, in die verblüfften Gesichter. Schüsse peitschten, drei Gefangene stürzten, wanden sich auf dem Boden. Das Erschießungskommando hob die Karabiner. »Jetzt, Freunde, zeigt's den Schweinen!« schrie Johnny Reb. Er und seine Männer stürzten sich in das Durcheinander. Ihre Pistolen feuerten, und die schallgedämpften Schüsse mischten sich in die ohrenbetäubenden Explosionen der ungedämpften Waffen. In weniger als zwanzig Sekunden war alles vorüber. Die zehn Männer von Aquitania lagen auf dem Boden. Sechs waren tot, drei verwundet, einer lag zitternd vor Furcht auf den Knien. Zwei von Johnny Rebs Leuten hatten sich geringfügige Verletzungen zugezogen. »Connal!« brüllte Joel und lief suchend zwischen den Gefangenen herum, erleichtert, daß die -7 3 5
meisten sich bewegten. »Fitzpatrick! Wo, zum Teufel, sind
Sie?«
»Hier drüben, Lieutenant«, rief eine schwache Stimme rechts
von Converse. Joel bahnte sich einen Weg durch die befreiten
Gefangenen und kniete neben dem abgezehrten, bärtigen
Marineanwalt nieder. »Sie haben sich ja ganz schön Zeit
gelassen, bis Sie erschienen sind«, fuhr der Commander fort.
»Aber rangniedrige Offiziere haben ja gewöhnlich ihre
Schwächen.«
»Was ist denn hier geschehen?« fragte Converse. »Sie hätten
alle getötet werden können!«
»Darauf lief es hinaus, nicht wahr? Man hat uns das letzte
Nacht klargemacht. Also dachten wir, was zum Teufel, soll's?«
»Aber warum Sie? Warum die anderen?«
»Wir haben die ganze Zeit darüber geredet, haben es aber
nicht herausbekommen, nur eines - wir waren alle höhere
Offiziere und hatten dreißig bis vierzig Tage Urlaub. Aber was
hatte das zu bedeuten?«
»Das sollte die Leute von der Spur abbringen, falls jemand
anfing, ein Schema zu erkennen. Insgesamt sind
siebenundneunzig Männer in Killerteams draußen - alles
Militärangehörige auf Urlaub. Zahlenmäßig machten Sie fast
fünfzig Prozent davon aus, Männer, die über jeden Verdacht
erhaben waren. Das war für die eine erfreuliche Zugabe, und
das hat Ihnen das Leben gerettet.«
Plötzlich fuhr Connals Kopf nach links. Ein Mann kam aus
Gebäude fünf gestürzt und hetzte den mit Betonplatten
belegten Weg hinunter. »Das ist der Chef der Wache!« schrie
Fitzpatrick, so laut er konnte. »Haltet ihn auf! Wenn er den
zweiten Bau erreicht, läßt er die ganze Anlage hochgehen!«
Joel sprang auf und jagte hinter dem Mann her, die Waffe in der
Hand. Der Mann hatte jetzt die Mitte von Gebäude drei erreicht.
Bis zur Tür von zwei waren es höchstens dreißig Meter.
Converse schoß; die Kugel verfehlte ihr Ziel weit, prallte von
einem stählernen Fensterrahmen ab. Der Mann erreichte die
Tür, riß sie auf und schlug sie hinter sich zu. Joel prallte
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dagegen, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das
dicke Holz. Die Türe gab nach, schlug gegen die Mauer. Der
Mann hetzte auf eine Metallverkleidung in der Wand zu;
Converse feuerte wie wild, hitzig, immer wieder. Der Mann
wirbelte herum, an den Beinen getroffen. Die Wandplatte stand
offen. Er griff nach einer Reihe von Schaltern. Joel stürzte sich
auf ihn, packte die Hand des Mannes und schmetterte seinen
Schädel auf den Steinboden.
Mit keuchendem Atem kroch Converse von dem Mann weg.
Seine Hände waren mit warmem Blut besudelt, die
leergeschossene Pistole lag auf dem Boden. Einer von Rebs
Leuten kam durch die Türe gestürzt.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles ausgezeichnet«, antwortete Converse, der sich elend
fühlte und sich am liebsten übergeben hätte.
Der Mann ging an Joel vorbei und blickte auf seinem Weg zu
dem offenen Schaltkasten auf die reglose Gestalt am Boden. Er
studierte den Schaltkasten und holte dann ein kleines,
kompliziert aussehendes Werkzeug aus der Tasche. Binnen
weniger Sekunden war er damit beschäftigt, Schrauben
herauszudrehen und die innere Metallvertäfelung abzunehmen.
Augenblicke später schnitt er mit einem anderen Teil seines
Instruments Drähte ab, so daß nur noch Kupferstummel zu
sehen waren.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte der Mann,
als er fertig war. »Ich bin Spezialist für Bombenentschärfung,
der beste, den es in Norwegen gibt. Jetzt brauchen wir keine
Sorge mehr zu haben, daß irgendeiner dieser Kerle Schaden
anrichten kann. Kommen Sie, es gibt noch viel Arbeit.« Er blieb
neben Converse stehen, blickte zu ihm hinunter. »Wir
verdanken Ihnen unser Leben.«
Draußen auf dem Exerzierplatz saßen die Gefangenen von
Aquitania, an die Ma uer gelehnt. Alle, mit Ausnahme von fünf,
deren Leichen man offenbar aus einem der Gebäude geholt
hatte. Converse ging zu Fitzpatrick hinüber.
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»Die haben wir verloren«, sagte der Marineoffizier mit einer
Stimme, in der keine Kraft mehr war.
»Halten Sie sich an Dinge, die Sie glauben, Connal«, sagte
Joel. »Es klingt banal, aber mir fällt jetzt nichts anderes ein.«
»Das reicht schon.« Fitzpatrick blickte auf, und um seine Lippen
spielte ein schwaches Lächeln. »Danke, daß Sie mich daran
erinnert haben. Machen Sie weiter. Die brauchen Sie dort
drüben.«
»Larson!« schrie Johnny Reb, der einen zitternden, aber
unverletzten Wärter in Schach hielt. »Kommen Sie her.«
Der Engländer kam zögernd durch die Stahltür ins Innere der
Anlage, wo ihn das Scheinwerferlicht erfaßte. Während er auf
den Rebel zuging, wanderten seine Augen über den
Exerzierplatz und ließen zugleich Staunen und Erschrecken
erkennen. »Du lieber Gott!« stieß er hervor.
»Ja, das sagt es wohl ganz gut«, meinte der Südstaatler,
während zwei seiner Leute aus Gebäude fünf gerannt kamen.
»Was habt ihr gefunden?« schrie Johnny Reb.
»Noch sieben!« rief einer der Männer. »Sie sind in einer
Toilette, und das entspricht ihrem Zustand ganz gut!«
»Oh!« machte Geoffrey Larson und hob dann die Stimme. »Ist
einer davon zufällig ihr Computermann?«
»Das haben wir sie nicht gefragt!« »Dann fragt!« befahl der
Rebel. »Die Zeit wird knapp!« Er wandte sich zu Converse. »Ich
habe mit Ihrer Lady gesprochen. Was man aus Israel und Rom
hört, klingt schrecklich - ein paar von den Killerteams sind
Stones Männern entwischt. Die Demonstrationen haben vor
einer Stunde begonnen, und zwölf Regierungsleute sind bereits
tot. In Jerusalem und Tel Aviv fordern alle, daß Abrahms die
Macht übernehmen soll. In Rom wird die Polizei mit den
Krawallen und dem Chaos nicht mehr fertig; die Armee ist
eingeschaltet worden.«
Joel fühlte wieder den stechenden, hohlen Schmerz in der
Brust und bemerkte jetzt zum erstenmal das frühe Licht der
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Morgendämmerung am Himmel. Der Tag hatte begonnen, und
damit auch die Morde. Überall. Er fühlte sich hilflos.
»Der Computer!« brüllte Johnny Reb und stieß dem
Wachmann, den er unter sich am Boden festhielt, die Pistole
gegen die Schläfe. »Raus jetzt mit der Sprache, sonst knallt's!«
»Gebäude vier!«
»Dante! Komm schon, Tommy, gehen wir! Bißchen fix!«
Die riesige Maschine stand in einem klimatisierten Raum und
nahm die ganze viereinhalb Meter lange Wand ein. Larson
verbrachte neun endlos lang erscheinende Minuten damit, sie
zu studieren, an Skalen zu drehen, Tasten zu drücken und
Schalter auf der Konsole umzulegen, während er Joels
Notizblock vor sich liegen hatte. Schließlich verkündete er: »Die
inneren Speicher sind gesperrt. Ohne einen Zugangscode
bekomme ich die nicht frei.«
»Wovon, zum Teufel, reden Sie?« schrie der Rebel. »Es gibt da
eine Zahlengruppe, die man eingeben muß, um die gesperrten
Speicher zu aktivieren. Deshalb habe ich gefragt, ob ein
Computermann hier sei.«
Johnny Rebs Funkgerät summte. Converse schnappte es sich,
riß es von dem Klettstreifen, den der Südstaatler an der Brust
hatte. »Val?«
»Darling! Bist du in Ordnung?«
»Ja. Was ist los?«
»Radio France. Bomben im Elysee-Palast explodiert. Zwei
Polizisten sind erschossen worden, die zu den Kundgebungen
ritten. Die Regierung hat das Militär eingesetzt.«
»Herrgott! Ende!«
Zwei von Johnny Rebs Leuten brachten einen Mann in den
Raum, sie hielten ihn an den Armen. »Er wollte uns nicht
sagen, worauf er spezialisiert ist«, sagte der Söldner zur
Linken. »Aber als dann alle an der Mauer standen, waren die
anderen nicht mehr so zugeknöpft.«
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Der Rebel ging auf den Mann zu und packte ihn am Hals, aber
Joel sprang vor, schob den Südstaatler beiseite und riß das
Jagdmesser heraus.
»Ich habe wegen euch Schweinen eine Menge durchgemacht«,
sagte er und hob die blutbesudelte Klinge vor das Gesicht des
Mannes. »Und jetzt ist damit Schluß!« Er stieß dem Mann die
Spitze in die Nase; der Computerexperte schrie, als das Blut
herausschoß und ihm über den Mund strömte. Jetzt hob
Converse die Klinge wieder, die Spitze im rechten Augenwinkel
des Mannes. »Den Code, oder ich stoße zu!« brüllte er.
»Zwei, eins, null, elf!« schrie der Techniker.
»Eingeben!« schrie Joel.
»Sie sind frei!« sagte der Engländer.
»Und jetzt die Kombination!« rief Converse und stieß den Mann
zurück, worauf ihn Johnny Rebs Leute wieder packten.
Alle blickten erstaunt auf die grünen Buchstaben auf dem
schwarzen Bildschirm. Name folgte Name, Rang folgte Rang.
Larson hatte den Print-out-Knopf gedrückt, und ein nicht
endenwollender breiter Streifen Papier mit Hunderten von
Personenbeschreibungen schob sich heraus.
»Das nützt uns nichts!« schrie Joel. »Wir können die nicht
rausholenl«
»Seien Sie doch nicht so vorsintflutlich«, sagte der Engländer
und deutete auf ein seltsam aussehendes Telefon, das in die
Konsole eingelassen war. »Die Anlage hier ist sehr modern. Da
gibt es diese reizenden Satelliten am Himmel, und ich kann das
hier jedem zuspielen, der die entsprechenden Empfangsgeräte
hat. Wir leben schließlich im Zeitalter der Elektronik.«
»Dann schicken Sie es hinaus«, sagte Converse und glitt, den
Rücken an die Wand gelehnt, erschöpft zu Boden.
Die ganze Welt sah erschrocken zu, benommen von den
Morden und den plötzlichen Gewaltausbrüchen in allen
Erdteilen. Überall schrien die Menschen nach Schutz und nach
Führung und verlangten, daß der Wahnsinn beendet werde, der
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ganze Städte zu Schlachtfeldern gemacht hatte. In Panik geratene, aufgeputschte Bürgergruppen gingen mit Steinen aufeinander los, dann mit Benzinkanistern, und schließlich schössen sie, weil man auch auf sie schoß. Nur wenige erkannten, wer überhaupt der Feind war, und deshalb war jeder, der angriff, ein Feind, und die Angreifer waren überall, erhielten ihre Befehle von unsichtbaren Kommandostellen. Die Polizei war hilflos. Dann schaltete sich Miliz ein, aber bald war zu erkennen, daß auch sie und ihre Führer dem Chaos nicht gewachsen waren. Alles war außer Kontrolle geraten, härtere Maßnahmen waren notwendig. Das Kriegsrecht wurde ausgerufen. Überall. Und die Militärkommandeure waren dabei, Macht zu übernehmen. Überall. In Palo Alto, Kalifornien, sah der ehemalige General George Marcus Delavane, auf seinen Rollstuhl geschnallt, auf drei Fernsehschirmen die sich ausbreitende Hysterie. Der Bildschirm des linken Geräts wurde dunkel, nachdem kurz zuvor noch die Schreie des Fernsehteams zu hören gewesen waren. Der Aufnahmewagen war angegriffen und dann von Granaten in die Luft gesprengt worden. Auf dem mittleren Schirm weinte eine Reporterin vor Zorn. Tränen der Empörung strömten über ihr Gesicht, als sie die Berichte über Mord und Zerstörung verlas. Der rechte Bildschirm zeigte einen Colonel der Marines, der in einer verbarrikadierten Straße im WallStreet-Bezirk von New York interviewt wurde. Er hatte seinen .45-Marine-Colt in der Hand, während er versuchte, Fragen zu beantworten und gleichzeitig seinen Untergebenen Befehle zubrüllte. Jetzt flackerte der linke Schirm wieder auf, und ein bekannter Kommentator erschien im Bild. Seine Stimme klang halb betäubt, seine Augen waren glasig. Er setzte zu sprechen an, brachte aber kein Wort hervor. Dann drehte er sich in seinem Sessel herum und übergab sich, während die Kamera auf einen nichtsahnenden Nachrichtenredakteur schwenkte, der gerade ins Telefon brüllte: »Verdammt noch mal! Was, zum Teufel, ist denn passiert?« Auch er weinte, wie die Frau auf dem mittleren Bildschirm. Jetzt schlug er mit der Faust auf den -7 4 1
Tisch und brach schließlich zusammen, den Kopf auf den
Armen, den ganzen Körper von Krämpfen geschüttelt, während
der Bildschirm wieder dunkel wurde.
Langsam breitete sich ein Lächeln über Delavanes Gesicht aus.
Er griff abrupt nach zwei Fernschaltern und schaltete die
Bildschirme rechts und links aus, um sich auf den mittleren zu
konzentrieren. Die Kamera fuhr jetzt auf einen Lieutenant-
General der Army zu, der mit Helm auf dem Kopf irgendwo in
Washington einen Presseraum betrat. Der Soldat nahm den
Helm ab, ging an ein Rednerpult und sprach mit scharfer
Stimme ins Mikrofon.
»Wir haben alle Straßen abgeriegelt, die nach Washington
führen, und was ich jetzt sage, soll eine Warnung für
unbefugtes Personal und Zivilisten sein! Jeder Versuch, die
Absperrung zu durchbrechen, wird sofort massive
Gegenmaßnahmen auslösen. Meine Anweisungen sind kurz
und klar. Schießen Sie, um zu töten. Meine Befugnisse beruhen
auf den Notstandsvollmachten, die mir der Sprecher des
Repräsentantenhauses verliehen hat. Er handelt in
Abwesenheit des Präsidenten und Vizepräsidenten, die aus
Sicherheitsgründen aus der Hauptstadt geflogen wurden. Das
Militär hat jetzt die Kontrolle übernommen. Bis auf weiteres gilt
das Kriegsrecht.«
Delavane schaltete den Fernseher mit einer triumphierenden
Geste ab. »Wir haben es geschafft, Paul!« sagte er zu dem
uniformierten Adjutanten gewandt, der neben der Karte an der
Wand stand. »Nicht einmal die jämmerlichen Pazifisten wollen
jetzt noch ihr Zivilrecht! Und wenn...« Der General von
Aquitania hob die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger,
den Daumen nach oben, und schoß eine imaginäre Pistole ab.
»Ja, es ist geschafft«, pflichtete ihm der Adjutant bei, beugte
sich über Delavanes Schreibtisch und zog eine Schublade auf.
»Was machen Sie da?«
»Es tut mir leid, General. Das muß ebenfalls sein.« Der
Adjutant zog einen .357-Magnum-Revolver heraus.
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Noch bevor er die Waffe heben konnte, schoß Delavanes linke Hand aus den Kissen seines Rollstuhls hoch. Sie hielt eine kurzläufige Automatik. Während er viermal schnell hintereinander abdrückte, schrie er: »Sie glauben wohl, daß ich nicht darauf gewartet habe? Abschaum! Feigling! Verräter. Ihr glaubt wohl, daß ich irgendeinem von euch vertraue? So wie ihr mich anseht. Wie ihr in den Gängen flüstert! Keiner von euch kann es ertragen, daß ich noch ohne Beine besser bin als ihr alle! Jetzt wißt ihr es, Pack! Bald werden es die anderen auch wissen, wenn man sie erschießen wird! Sie werden exekutiert werden wegen Hochverrats gegen den Gründer von Aquitania! Ihr glaubt, irgendeiner von euch sei es wert, daß man ihm vertraut? Alle habt ihr versucht, das zu sein, was ich bin, und ihr schafft es nicht!« Der uniformierte Adjutant war gegen die Wand geschleudert worden, gegen die Landkarte mit den sonderbaren Farben. Keuchend, den Hals blutüberströmt, starrten seine geweiteten Augen den tobenden General an. Und dann ließ ihn ein letzter Rest von Kraft die Magnum heben, und er feuerte einmal, während er zusammenbrach. George Marcus Delavane wurde zurückgeschleudert, eine klaffende Wunde öffnete sich auf seiner Brust. Der Rollstuhl wurde herumgerissen und stürzte um. Der festgeschnallte Krüppel war tot. Keiner wußte, wie es anfing, aber wie durch ein Wunder ließ das Gewehrfeuer langsam nach. Und dann sah man Gruppen uniformierter Männer, von denen viele sich von ihren Befehlshabern getrennt hatten, durch die Straßen patrouillieren und andere Männer stellen. Jetzt stand Soldat gegen Soldat, und Gesichter, die von Zorn und Ekel gezeichnet waren, starrten andere an, aus denen noch Arroganz und Trotz leuchteten. Die Befehlshaber von Aquitania waren hartnäckig. Sie hatten doch recht! Konnten das die anderen nicht
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verstehen? Viele wählten den Tod. Sie weigerten sich, die Waffen zu strecken, und nahmen lieber eine Zyankalikapsel. In Palo Alto, Kalifornien, fand man eine beinamputierte Legende namens George Marcus Delavane erschossen auf, aber offenbar war der Tod erst eingetreten, nachdem er seinen Mörder, einen Army-Colonel, ebenfalls erschossen hatte. Niemand wußte, was geschehen war. In Südfrankreich fand man zwei weitere legendäre Helden tot in einer Bergschlucht. Man hatte beiden nach Verlassen eines Schlosses in den Alpen mit ihrer Kleidung auch eine Waffe gegeben. Die Generale Bertholdier und Leifhelm hatten verloren. General Chaim Abrahms verschwand spurlos. Auf Militärstützpunkten überall im Nahen Osten, in Europa, Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten wurden Offiziere hoher Ränge und entsprechender Verantwortung von Untergebenen mit gezogener Waffe aufgefordert, sich zu erklären: Gehören Sie einer Organisation an, die sich Aquitania nennt? Ihre Namen stehen auf einer Liste! Antworten Sie! In Norfolk, Virginia, stürzte sich ein Admiral namens Scanion aus einem Fenster im sechsten Stock. In San Diego, Kalifornien, erhielt ein anderer Admiral namens Hickman Befehl, einen hohen Offizier, der in La Jolla lebte, zu verhaften. Die Anklage lautete: Mord an einem Offizier in den Hügeln oberhalb jenes eleganten Vororts. Colonel Alan Metcalf suchte persönlich den leitenden Einsatzoffizier der Nellis-Air-Force-Basis auf. Der Befehl war von brutaler Klarheit - der Major, der für die Wartung aller Maschinen zuständig war, war sofort in eine Sicherheitszelle zu bringen. In Washington wurde ein hochgeschätzter Senator von italienischer Abkunft von einem Captain Guardino von Army G 2 aus der Garderobe gerufen und fortgeschafft, während im Außenministerium und im Pentagon elf Männer, die für Waffenkontrolle und Beschaffung zuständig waren, unter Bewachung gestellt wurden. In Tel Aviv verhaftete der militärische Abwehrdienst dreiundzwanzig Adjutanten und Kollegen von General Chaim Abrahms sowie einen der brillantesten Analytiker der Mossad.
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In Paris wurden einunddreißig Kollegen - militärische und nichtmilitärische - von General Jacques Louis Bertholdier in Einzelhaft genommen, darunter stellvertretende Direktoren sowohl der Sürete als auch von Interpol, und in Bonn wurden nicht weniger als siebenundfünfzig Kollegen von General Erich Leifhelm, darunter Kommandeure der Bundeswehr, hohe Offiziere der Armee und Luftwaffe der Bundesrepublik, unter Arrest gestellt. Ebenfalls in Bonn verhaftete die Wache des Marine-Corps in der amerikanischen Botschaft auf Anweisung des State Department vier Attaches, darunter auch den Militärattache Major Norman Anthony Washburn. Und so ging es überall. Das Fieber des Wahnsinns, der Aquitania hieß, wurde von Legionen eben desselben Militärs gebrochen, von dem die Generale angenommen hatten, daß es sie zur Weltherrschaft führen würde. Als die Nacht hereinbrach, schwiegen die Waffen, und die Menschen begannen hinter ihren Barrikaden hervorzukommen. Aus Kellern, Schächten der Untergrundbahnen, aus vernagelten Gebäuden, Bahnhöfen, von überall her, wo sie Zuflucht gefunden hatten. Sie traten auf die Straßen, benommen, verwirrt, und fragten sich, was geschehen war, während überall Wagen mit Lautsprechern durch die Städte fuhren und den Bürgern verkündeten, daß die Krise vorüber sei. In Tel Aviv, Rom, Paris, Bonn, London und jenseits des Atlantiks, in Toronto, New York, Washington, und weiter westlich wurden die Lichter wieder eingeschaltet. Aber die Welt hatte noch nicht zu ihrem alten Rhythmus zurückgefunden. Eine schreckliche Kraft hatte inmitten der allgemeinen Rufe nach Frieden zugeschlagen. Was war das für eine Kraft gewesen? Was war geschehen? Das würde am folgenden Tag erklärt werden, plärrten die Lautsprecherwagen in einem Dutzend verschiedener Sprachen und baten die Bürger überall um Geduld. Die dafür gewählte Stunde war 3.00 Uhr nachmittags nach Greenwich-Zeit, 10.00 Uhr vormittags in Washington, 7.00 Uhr früh in Los Angeles. Die ganze Nacht und auch noch in den Morgenstunden konferierten in sämtlichen Zeitzonen Staatschefs über Telefon, bis die Texte aller Bulletins im wesentlichen gleich lauteten. Um -7 4 5
10.03 Uhr vormittags trat der Präsident der Vereinigten Staaten vor die Mikrofone. »Gestern hat eine bislang nie dagewesene Welle der Gewalt die freie Welt erfaßt, Todesopfer gefordert, Regierungen paralysiert und ein Klima des Terrors erzeugt, das den demokratischen Nationen der Welt fast ihre Freiheit gekostet hätte und sie veranlassen hätte können, Lösungen dort zu suchen, wo in einer demokratischen Gesellschaft keine Lösung gesucht werden sollte - weil sie dann zu Polizeistaaten werden, in denen die Macht Männern übergeben wird, die die freien Menschen ihrem Willen unterwerfen wollen. Es handelte sich bei dem tragischen Geschehen um eine organisierte Verschwörung unter der Führung verblendeter Männer, die die Macht um ihrer selbst willen suchten und sogar bereit waren, ihre eigenen Mitverschwörer zu opfern, um diese Macht zu erlangen, und andere zu täuschen, die man dazu verführt hatte, dies für den Weg der Zukunft zu halten, die Antwort auf die ernsten Leiden dieser Welt. Doch das ist nicht die Antwort und kann es auch nie sein. Im Laufe der nächsten Tage und Wochen, während wir diese Schrecken hinter uns bringen, wird man Ihnen die Wahrheit vorlegen. Denn dies ist eine Warnung an uns gewesen, ein Blutzoll, der uns abverlangt wurde. Aber ich erinnere Sie daran, daß unsere Institutionen die Oberhand behalten haben. Und das werden sie auch weiterhin. In einer Stunde wird eine Konferenzserie beginnen, die das Weiße Haus, die Departments of State und Defense, die Führer der Mehrheitsund der Minderheitsfraktionen im Repräsentantenhaus und im Senat und den Nationalen Sicherheitsrat einschließen. Ab morgen werden in Abstimmung mit den anderen Regierungen täglich Berichte ausgegeben werden, bis Ihnen alle Fakten vorliegen. Der Alptraum ist vorüber. Möge die Sonne der Wahrheit uns lenken und die Dunkelheit vertreiben.«
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Epilog Genf. Stadt des Lichts und der Unbeständigkeit.
Joel und Valerie Converse saßen an dem Tisch, wo alles
angefangen hatte, nahe dem blitzenden Messinggeländer des
Chat Borte. Der Verkehr auf dem Quai du Mont Blanc entlang
des Sees floß geordnet und ohne Eile - Zielstrebigkeit, in die
sich Höflichkeit mischte. Beide waren sich der Blicke der
vorübergehenden Fußgänger bewußt, die auf Joel gerichtet
waren. Da ist er, sagten die Augen. Dort ist ...der Mann. Das
Gerücht ging, daß er in Genf leben wollte, wenigstens eine
Zeitlang.
Der Übereinkunft entsprechend gab es in dem zweiten Bericht,
der der ganzen freien Welt zugänglich gemacht wurde, einen
direkten, aber - auf Joels Wunsch - nur kurzen Hinweis auf die
Rolle, die er in der Tragödie gespielt hatte, die den Namen
Aquitania trug. Er wurde von allen Anklagen freigesprochen.
Und dann folgte ein kurzer Hinweis darauf, daß die Welt in
seiner Schuld stand, aber es wurden keine Einzelheiten
genannt. Dafür berief man sich auf die Sicherheitsvorschriften
der NATO. Joel lehnte sämtliche Interviews ab, obwohl die
Medien seine Erlebnisse in Südostasien ausgruben und
Spekulationen auf Verbindungen mit dem Drama der Generale
anstellten. Es tröstete ihn, daß sich das Interesse an seiner
Person, so wie es sich vor Jahren gelegt hatte, auch diesmal
wieder legen würde - schneller in Genf, der Stadt der
Zielstrebigkeit.
Sie hatten ein Haus am See gemietet, ein Künstlerhaus mit
einem Atelier, das am Hang lag und dessen Oberlicht die
Sonne vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung ein fing.
Valerie arbeitete jeden Morgen ein paar Stunden, glücklicher
als sie in ihrem ganzen Leben je gewesen war, und sie
gestattete ihrem Mann, täglich ihre Fortschritte zu überprüfen.
Auch Joel war keineswegs arbeitslos. Er ganz allein war die
Europafiliale von Talbot, Brooks and Simon. Nicht, daß er das
Einkommen gebraucht hätte. Schließlich hatte Converse sich
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nie in die Rolle jener Anwälte in Film und Fernsehen begeben,
die selten, wenn überhaupt Honorare beanspruchten. Da man
seine juristischen Talente zur Beschaffung wichtigen
Beweismaterials gebraucht hatte, stellte er den Regierungen,
entsprechend ihrer Bedeutung, seine Dienste in Rechnung.
Keine erhob Einwände. Die Gesamtsumme machte etwas mehr
als zweieinhalb Millionen Dollar aus, die sicher auf einem
Schweizer Konto angelegt wurden.
»Woran denkst du?« fragte Valerie und griff nach seiner Hand.
»An Chaim Abrahms und Derek Belamy. Man hat sie nicht
gefunden - sie sind noch immer in Freiheit. Ich frage mich, ob
man sie je finden wird. Und das hoffe ich, denn so lange ist es
nicht wirklich vorbei.«
»Es ist vorbei, Joel. Das mußt du glauben. Aber das ist es
nicht, was ich gemeint habe. Ich habe dich gemeint. Wie fühlst
du dich?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Ich wußte nur, daß ich
hierher kommen mußte, um es herauszufinden.« Er sah in ihre
Augen, auf das dunkle lange Haar, das ihr in Wellen bis auf die
Schultern fiel und das Gesicht einrahmte, das er so sehr liebte.
»Leer, glaube ich. Mit Ausnahme von dir.«
»Kein Zorn? Keine Verärgerung?«
»Nicht gegen Avery oder Stone oder irgendeinen der anderen.
Das ist vorbei. Sie haben getan, was sie tun mußten; es gab
keinen anderen Weg.«
»Du bist viel großzügiger als ich.«
»Ich bin realistischer, das ist alles. Das Beweismaterial mußte
beschafft werden, indem man von außen in das Aquitania-
Projekt eindrang - indem sich ein Außenseiter nach innen
vorarbeitete. Der Kern war zu klein, zu tödlich.«
»Ich glaube, daß sie Feiglinge waren.«
»Ich nicht. Ich glaube, man sollte sie alle heiligsprechen,
unsterblich machen, in Bronze gießen und Gedichte auf sie
schreiben für die Nachwelt.«
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»Das ist absoluter Unsinn! Wie kannst du nur so etwas
sagen?«
Wieder sah Joel seiner Frau in die Augen. »Weil du hier bist.
Weil ich hier bin. Und weil du Seelandschaften malst und keine
Meerlandschaften. Und weil ich nicht in New York bin, und du
nicht in Cap Ann bist. Und ich brauche mir keine Sorgen um
dich zu machen und hoffen, daß du dir Sorgen um mich
machst.«
»Wenn da nur eine andere Frau gewesen wäre oder ein
anderer Mann. Dann wäre es so viel einfacher gewesen.«
»Da warst immer du. Nur du.«
»Versuche nur noch einmal von mir wegzugehen, Converse.«
»Niemals, Converse.«
Langsam schlössen sich ihre Hände ineinander. Der Alptraum
war vorbei.
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