Die Apokalypse Version: v1.0
Tasmanische Insel, Mount Reid Der Wald starb. Die Nadeln der Huon-Kiefern wurden dun kel...
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Die Apokalypse Version: v1.0
Tasmanische Insel, Mount Reid Der Wald starb. Die Nadeln der Huon-Kiefern wurden dun kel und regneten wie Teertropfen herab. Wo sie auftrafen, fauchte und zischte es, als würde aggressive Säure das Un terholz zerfressen. Der weiche Boden erzitterte. Ein Beben, stärker und vernichtender als alle vorherigen, kündigte sich an. Die Kiefernstämme – in Wahrheit Triebe eines einzigen Baumes – knirschten, als würden ihre Jahresringe von mons tröser Gewalt gegeneinandergerieben und verdreht. Sie stemmten sich wie lebendige Wesen gegen das Verhängnis, das über sie gekommen war. Eine Krankheit, gegen die es kein Mittel gab. Das Böse …
Was bisher geschah Überall dort, wo Traumzeit-Relikte der australischen Schöpferwesen aufbe wahrt werden, wuchert seit Liliths Erwachen eine mysteriöse stoffliche Schwär ze. Esben Storm spürt den Wahnsinn darin; er kann sich ihr nicht weiter nä hern. Als Auslöser erkennt er das Haus 333, in dem Lilith aufwuchs – doch das Gebäude wurde auf Befehl von Polizeichef Virgil Codd, einer Dienerkreatur der Vampire, dem Erdboden gleichgemacht. Später wird Codd von Warner vom Keim befreit – und Storm von Landru getötet. Nun irrt Storms Seele auf Traumzeitpfaden umher. Sein Schatten erscheint Lilith als schwarze Flamme Banguma und bittet um ihre Mithilfe, die Bedro hung abzuwenden, die die Wondjinas, die australischen Schöpferwesen, mutie ren läßt. Und er läßt ihr ein Aboriginal-Totem zukommen. In Sydney ist derweil der Teufel los: Menschen drehen durch, bringen sich selbst oder andere um oder zerstören Dinge. Beth wird von ihrer Redaktion auf ein Pärchen angesetzt, das eine bevorstehende Apokalypse prophezeit – und verfällt beinahe deren Suggestivkraft. Sie folgt den beiden zu einem Hochhaus in der City und sieht sie in einen Lift steigen, der ganz nach oben fährt … Ein Botaniker-Paar, das im Bergland der tasmanischen Insel campiert, identi fiziert einen Wald aus Huon-Kiefern als einen einzigen, uralten Organismus. Ein Schöpferwesen wohnt darin, das die Forscher nach ihrer Entdeckung nicht mehr wegläßt. Die vom Vampirkeim befreiten Menschen versammeln sich am Treffpunkt, wo in fünf Tagen Lilith zu ihnen stoßen soll, als plötzlich ein von den guten Wondjinas erzeugtes Trugbild Warners auftaucht und sie zu dem tasmani schen »Kiefernwald« beordert. Fast gleichzeitig trifft dort aber ein Abgesandter der bösen Schöpferwesen ein und infiziert den Baum mit der magischen Seu che. Lilith beschließt, dem »Hochhaus der Endzeit-Propheten« einen Besuch ab zustatten. Und hat ihre erste Begegnung mit den Traumzeit-Dämonen. Als sie oben ankommt, machen die Dämonen das Haus unsichtbar. Lilith steht schein bar im Outback, über ihr ein schwarzer Quader mit den mutierten Wondjinas. Ein Gebilde, das sie magisch lockt …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu gezeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Jeff Warner – der Police Detective wurde von Polizeichef Virgil Codd – einer Dienerkreatur der Vampire – in den Garten des Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und wo seither etliche Menschen spurlos verschwanden. Doch Warner kehrt zurück – verändert. Im Auftrag des Hauses befreit er Codd vom Vampirkeim. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fand Lilith Unterschlupf. Mittlerweile kennt Beth Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Va ter. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheilig tum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendeine Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch un klar. Esben Storm – Der Aboriginal-Schamane hat Lilith seit ihrer Geburt be oachtet. Nicht, um ihr zu helfen – Storm ist niemandes Freund. Landru tö tet ihn, während Storm mit Lilith auf Traumzeit-Pfaden wandelt, indem er seinen Antiquitätenladen in Brand steckt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Die Erde bäumte sich auf wie eine Bestie im Todeskampf. Tyler Gravis wurde von den Beinen gerissen und schlug mit dem Kopf gegen einen der Ausleger des Jahrtausende alten Baumes, der sich inmitten regenwaldartiger Flora an den Hängen des Mount Reid ausdehnte und ein Hektar Land vereinnahmte. Als der Botaniker wieder zu sich kam und sich benommen aufrich tete, war seine Freundin und Kollegin verschwunden. »Tira …?« Panik färbte seine Stimme. Gehetzt sah er sich um – und konnte doch kaum etwas zwischen den durch die Luft peitschenden Ästen und Nadeln erkennen. Er erhielt auch keine Antwort. Die Sonne am wolkenlosen Himmel hatte sich verdüstert. Die Schatten des Bösen sickerten aus der Erde und aus den hart und dunkel gewordenen Ästen und Zweigen. Sie griffen nach Gravis, der sich nur noch wie ein in die Enge getriebenes Tier fühlte und be wegte. »Tira …!« Solange er mit Tira zusammen gewesen war, war der Wahnsinn erträglich gewesen. Gravis hatte das, was in ihm nagte, bezähmen können. Allein zerbrach er daran. Allein in der Wildnis eines ihm fremd gewordenen Planeten, einem Dschungel jenseits des gesunden Men schenverstands … Eines Alptraums! Wieder blähte sich der Boden unter seinen Füßen auf. Wurzelwerk platzte ihm entgegen. Gespenstische Hände, tiefschwarz wie die Na deln der gewaltigen Kiefer, die der unnatürliche Wind als Hagel auf
Gravis niederprasseln ließ, versuchten nach ihm zu greifen. Er fiel und rollte gedankenschnell zur Seite. Vom Grund des ent standenen Kraters starrte etwas zu ihm herauf, für das er keine Wor te fand. Gravis wich weiter zurück und schrie sich die Lungen nach Tira wund. Schließlich stolperte er allein weiter zum Rand des tödlichen Wal des, in dessen dickstem Stamm vor Minuten ein schauriges Phantom verschwunden war – eine Puppe aus schwarzem Glas. Das Unheimliche hatte sich regelrecht in den Körper des Baumes gewühlt. Unmittelbar danach hatte die Veränderung begonnen, war die Huon-Kiefer versprödet und hatte die Farbe geschmolzener, wiedererstarrter Lava angenommen … »Tyler …?« Gravis blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte noch längst keinen sicheren Boden erreicht – und zweifelte insgeheim, ihn je zu errei chen, als er die Stimme, kaum mehr als ein zarter Hauch, hörte. Gravis bemerkte sie, weil in diesem Moment das Krachen, Knir schen und Rumoren in der Pflanzenhölle erstarb. Auch die Beben endeten. Nur die Düsternis blieb. Sie wob ihr Gespinst zwischen den Ästen. »Tira …?« Gravis drehte sich um die eigene Achse. Es regnete keine Nadeln mehr. Die meisten Äste waren zwischenzeitlich entblößt. Knöchel tief versank Gravis im schwarzen Nadelpolster. »Hier … Hier bin ich …« Er fand die Richtung. Er sah Tiras hochgereckten Arm winken. Mehr nicht.
Benommen wankte er auf sie zu. Er wünschte sich, von Alkohol betäubt zu sein. Alles wäre erträgli cher gewesen. Aber er war nüchtern. Er hatte Angst noch nie in sei nem Leben mit solcher Intensität empfunden. »Warte …«, rann es kehlig über seine Lippen. »Ich komme zu dir …!« Die Erleichterung, sie wiedergefunden zu haben, machte ihn zu nächst blind für alarmierende Anzeichen. Tira lag zwischen aufge brochenen Wurzeln und war über und über mit Erde bedeckt. Er kniete neben ihr nieder, umarmte sie kurz und streichelte ihr bleiches, von Waldboden eingerahmtes Gesicht. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren!« krächzte er. Sie stand unter Schock, und ihre Augen blickten ihn an wie noch nie. »Verloren …«, echote sie. Wie eine Maschine begann er, ihre Beine mit den bloßen Händen freizuschaufeln. Den Gedanken, daß etwas nicht stimmte, ließ er zu nächst nicht an sich heran. Tira schwieg die ganze Zeit. War passiv. Starrte ihn nur an. Der Arm, mit dem sie ihm gestikuliert hatte, lag wieder leblos am Bo den. »Hilf mit«, forderte er sie auf. »Versuche, deine Beine zu bewegen, dann geht es schneller.« Sie rührte sich nicht. Ihre Augen fesselten ihn. Plötzlich merkte Gravis, daß er aufgehört hatte, Tira von der auf geworfenen Erde zu befreien. Kopfschüttelnd machte er weiter. Er spürte Nässe über sein Gesicht rinnen. Es waren Tränen, die er nicht länger zurückhalten konnte. Aber es blieb unklar, um wen er weinte.
Wieder streifte sein Blick den ihren. Ihre Pupillen waren so stark erweitert, daß er darin zu versinken glaubte. »Deine Augen …« Sie waren braun gewesen. Jetzt waren sie schwarz. Dann geschah das, was Gravis versteinern ließ: Tira richtete den Oberkörper auf. Rumpf und Kopf lösten sich mit einem schmatzen den Laut vom Boden. Tira schüttelte den losen Grund ab. Dabei wurde sichtbar, was Tyler Gravis’ Blut in den Adern zum Gerinnen brachte. Tiras Markenzeichen war ein kahlrasierter Schädel. Sie sah hinrei ßend mit ihrer Glatze aus. Aber ihr Leitspruch, einen schönen Men schen könne nichts entstellen, gehörte der Vergangenheit an. Zum einen hatte Tira wieder Haare, was Gravis an seinen Sinnen zweifeln ließ. Zum anderen … Tiras Lippen formten ein Lächeln – oder vielmehr die verzerrte Parodie eines Lächelns. Ihr sinnlicher Mund bewegte sich. Sie öffne te ihn und ließ eine kleine, schwarze Zunge heraus … Gravis’ Schrei gellte. Die über die Lippen tanzende und lekkende Zunge war schwarz verbrannt. Wie jene »Fäden«, die aus Tiras Kopfhaut wuchsen. Sichtbar wuchsen. Immer länger wurden … Gravis stülpte es den Magen um. Er versuchte sich herumzuwer fen und von Tira fortzurennen. In diesem Moment fauchte abermals ein Sturm heran. Er wirbelte Tiras neue »Haare« auseinander und peitschte sie Gravis ins Gesicht. Im gleichen Moment begann der SCHMERZ. Giftige Nadeln bohrten sich in seine Haut. Brüllend versuchte er, die Fäden, die tiefer und tiefer in sein Fleisch drangen, mit den Fin
gern zu umschlingen und herauszureißen. Aber kaum berührte er sie, bohrten sie sich auch in seine Hand. Tief hinein. So tief, daß Gra vis das Empfinden hatte, sie fädelten sich durch das weiche Mark seiner Knochen und tasteten weiter bis in sein Gehirn. Er würgte. Er erbrach sich. Die Fäden schossen jetzt aus Tiras zerplatzenden Augen und schlugen eine Brücke zu den seinen. Sie durchstachen seine Augäpfel und gruben sich in die weiche Masse, die seine Gedanken beher bergte. Sie nahmen Kontakt auf zu seinem Nervengeflecht und spielten darauf wie auf einem lebenden Instrument. Gravis ging durch die Hölle. Er konnte noch denken, und das war schlimm. Er sehnte Tod und Vergessen herbei und fragte sich zugleich, ob Tira dieses Stadium bereits erreicht hatte oder ebenso litt wie er. Dann – schien etwas aus den Fäden heraus auf ihn überzusprin gen. Wie flüssiges, sonnenheißes Metall in die Form seines Körpers zu drängen … Fremde Gefühle begleiteten diesen Vorgang. Unmenschliche, kranke Gefühle. Aaaahh! seufzte die Seele des Baumes in Tyler Gravis. Frei! Endlich … Er glaubte zu halluzinieren. Plötzlich wußte er, daß er dies alles nur träumte! Das ganze Leben war Traum … Wessen Traum? Tiras Gesicht zerlief vor ihm. Gläserne Schwärze kam zum Vor schein. Vertraut wie ein Bruder. Vertraut wie ein Spiegelbild. Aaahh! seufzte es erneut.
Schwärze fraß Gravis’ Leib. Schwärze ummantelte ihn und machte ihn zum Gefäß eines Wesens, das die Frau, die er einmal gekannt hatte, längst für seine Bedürfnisse umgeformt hatte. Beide – Tira und Tyler – verließen kurz darauf ungehindert den Wald, der kein Wald mehr war. So wie die beiden Menschen keine Menschen, sondern Krücken waren, auf denen sich ETWAS aus dem Baum davonstahl. Dorthin, wo seinesgleichen wartete. Nach Australien. Nach Sydney. Nach 144, Druit Street …
* Pure Agonie war alles, was geblieben war. Der Wondjina, das Schöpferwesen, das Jahrzehntausende in der Pflanze gelebt hatte, war nicht mehr. Die entartete Schwärze eines neuen Ichs hatte ihn verschlungen und umgestaltet zu einem neuen Wesen. Eine Kreatur, die die Schöpfung selbst verhöhnte, deren Ge danken, Wissen und Erbe ins Gegenteil verkehrt worden waren. Einst hatten die Wondjinas das Land und alles Leben darauf ge staltet, indem sie ihm Namen gaben. Singend waren sie über den Kontinent gewandert, Traumzeitpfaden folgend, die zwischen den Dimensionen lagen und für Logik und rationales Denken nicht zu gänglich waren. Und als ihre Schöpfung vollendet war, hatten sie sich in sie zurückgezogen, in Fels, Wasser, Pflanzen und Tiere. Von hier aus beobachteten sie den Lauf der Zeit. Sie hatten nicht eingegriffen, als die Kreatur Mensch Teil der Schöpfung wurde, denn er war gut und lebte im Einklang mit der
Natur und ihren Gesetzen. Doch dann, Jahrtausende später, hatte eine neue Sorte Mensch den Kontinent betreten. Eine Abart im wahrsten Sinn des Wortes, denn dieser Mensch lebte nicht mit der Natur, sondern gegen sie. Er ver sklavte die Kinder der Schöpfung und schuf Siedlungen aus ver derbter Technik und Maschinen, die seelenlos waren. Und je länger er darin lebte, um so seelenloser wurde er selbst. Unter den Wondjinas wurden Stimmen laut, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Doch das hätte ihren eigenen Grundsätzen widerspro chen, niemals gewaltsam in eine Entwicklung einzugreifen. So war teten sie ab, schweigend und unsichtbar. Und nur die weisesten un ter ihren Kindern, die noch immer mit der Schöpfung im Gleich klang sangen, wußten von ihrer Anwesenheit. In der Gestalt einer gewaltigen Kiefer hatte der Wondjina hier, an der Flanke des Mount Reid, die besorgniserregenden Vorgänge der letzten Monate beobachtet. Es hatte begonnen, als mitten in einer der Städte, die sich wie Krebsgeschwulste an den Küsten des Kontinents ausbreiteten, eine neue, fremdartige Magie entfesselt worden war. Diese Magie sang nicht. Diese Magie zerstörte! Die ersten Schöpferwesen, die sich ihr genähert hatten, waren infi ziert worden, ehe sie die Gefahr erkannten. Ihr Denken hatte sich gewandelt, auf eine erschreckende Weise, die die anderen Wond jinas in Verwirrung und Orientierungslosigkeit stürzte. Das Böse – ein Wort, das zuvor nicht einmal existiert hatte! – war in die Dimension der Schöpferwesen eingebrochen und hatte sich dort ausgebreitet, viel schneller noch als die seelenlosen Menschen und deren Städte. Alle Versuche, die Infizierten zu retten, waren auf schreckliche Weise gescheitert: Die Helfer waren selbst von der fremden Magie verändert worden.
Nun beobachteten sie nicht länger. Nun handelten sie! Und der Preis, den die Menschen zahlen mußten, würde furchtbar sein. Die Infizierten suchten sich Körper, um ihre Schöpfungen, an die sie Jahrtausende gefesselt gewesen waren, zu verlassen und sich mitten in einer der Städte zu vereinen. Sie machten sich die Hüllen der Menschen Untertan und fraßen deren Geist. So gelangten sie un erkannt nach Sydney, einer der größten Siedlungen der Fremden. Hier, in einem Gebäude, das hoch in den Himmel ragte, entstand die Neue Macht. Eine reinigende Schwärze, die bald über den Konti nent hinwegfluten und alles mit sich ins Nichts reißen würde, um Platz zu machen für eine neue Schöpfung. Die ursprünglichen Wondjinas, die noch nicht vom Bösen infiziert waren, versuchten verzweifelt, dem Tun ihrer bösen Brüder Einhalt zu gebieten, ohne jedoch den eigenen Grundsätzen untreu zu wer den. Sie wandten sich an einen Schatten; eines ihrer Kinder, das dem Tod anheimgefallen war. Früher hatte es auf den Namen Esben Storm gehört. Nun war es Banguma. Banguma hatte Kontakt aufgenommen mit dem Wesen, das ver antwortlich war für die fremde Magie, und einen Plan (der nicht mehr als ein Versuch war) entwickelt, die infizierten Schöpferwesen aufzuhalten. Dem Wondjina, der sich in der äonenalten Huon-Kiefer manifes tiert hatte, war eine Schlüsselrolle zugefallen: Er sollte einige Dut zend Menschen in seine Obhut nehmen, die der Schatten für den Plan benötigte. Alles war zu Bangumas Zufriedenheit verlaufen – bis die Infizier ten sein Vorhaben durchschauten. Und reagierten. Einer von ihnen, im Körper eines Vampirs neu erstanden, erreichte den Wald noch vor den Menschen und gab den Keim des Bösen an
den Wondjina weiter. Erst war es nur wie der Windhauch eines nahenden Gewitters ge wesen, kühl und böig und von diffuser Dunkelheit begleitet. Doch der Wind wurde schnell zum Sturm. Schneller als ein Ge danke war der Keim über den Wondjina gekommen. Seine Wurzeln und Äste, Zweige und Blätter wanden sich in Panik und Schmerz. Noch im Kern dem Guten verhaftet, mußte er mitan sehen, wie immer mehr seiner Ausläufer der fremden Magie zum Opfer fielen. Wie seine unzähligen Arme und Beine sich schwarz färbten und abstarben, um zu einem neuen, veränderten Leben zu erwachen. Nach wenigen Augenblicken nur war ein Drittel seines gewalti gen, eine Quadratmeile umfassenden Körpers infiziert. Der Wondjina schrie. Lautlos. Der qualvolle Schrei eines sterben den Waldes. Sein Bewußtsein, blind und taub vor Angst und Schmerz, zog sich immer weiter zurück – und wußte doch, daß es kein Entkommen gab. Das Verderben raste die Wurzelstränge ent lang, schwang sich über die knorrigen Äste, lief in Wellen durch das Moos der Stämme, Vernichtung bringend und ewige Finsternis. Und dem Sterben folgte dichtauf der Keim. Unabwendbar. Unaufhalt sam. Bald war der vordem blühende Wald zu einer schwarzglänzenden Masse geworden, pervertierte Natur, die ein eigenes, fremdes Be wußtsein entwickelte. Nur im Zentrum des Waldes existierte noch eine winzige Enklave. Ein letzter Ableger, in dem sich nun, da es keine Möglichkeit zum Ausweichen mehr gab, das gesamte alte Be wußtsein des Wondjinas bündelte. Was vor Sekunden noch einen ganzen Wald erfüllt hatte, drängte sich nun auf engstem Raum zusammen, kaum mehr lebensfähig in der Enge des selbstgewählten Kerkers.
Und das Schöpferwesen unternahm einen letzten Versuch, sich zu retten. Etwas, das nie ein Wondjina zuvor gewagt hatte. Die Selbstverstümmelung. Mit einem peitschenden Laut durchtrennte der Wondjina die Ver bindung des Ablegers mit dem restlichen Organismus. Der Schmerz war womöglich noch größer als der der Verände rung. Und er schien umsonst. Denn im letzten Bruchteil eines Zeitraums, der mit menschlichen Maßstäben nicht zu ermessen ist, drang der Tod auch über diese letzte Verbindung ins Zentrum des Bewußtseins vor. Nicht der Keim selbst, wohl aber das Sterben, das ihm vorausging. Was blieb, war reine Agonie. Der Tod, gefangen mit einem unfaßbaren Bewußtsein in einer klei nen, unscheinbaren Pflanze im Zentrum eines schwarzen, perver tierten Waldes …
* Marillion-Tower, Sydney »Hätten wir nicht wenigstens vorher anrufen sollen?« Dawn Semper kontrollierte geübt den Sitz von Make-up und Fri sur in der Wandverspiegelung. Sie konnte zufrieden sein mit dem, was sie sah. Sie war zufrieden. »Carlos liebt Überraschungen«, widersprach Enrico Morales. Auch der schlanke, südländische Frauenliebling war zufrieden mit dem,
was er sah. »Du wirst ihn gleich kennenlernen und begeistert sein. Und er wird noch viel begeisterter sein – er steht auf blonde Augen weiden wie dich!« Dawn Semper sog das Kompliment auf wie ein trockener Schwamm. Zugleich mimte sie jedoch gelinde Empörung. »Das klingt, als wolltest du uns verkuppeln … Willst du mich schon wie der loswerden?« »Dich, Baby? Nie!« Er beherrschte den glaubwürdigen Tonfall aus jahrelanger Übung heraus. Hätte Dawn geahnt, wie dicht an der Wahrheit sie mit ihrer Frage lag, wäre ihr das Make-up geronnen. Sie hatte Enrico vor drei Tagen am Bondi Beach kennengelernt – dem »Promenadendeck« der Schönen und Reichen. Dawn gehörte selbst zu den »armen Schönen«, war aber reich an Ambitionen, dies zu ändern. Daß ihr dazu auch gewagtere Mittel legitim erschienen, hatte sie sich selbst noch nicht hundertprozentig eingestanden. Und daß Enrico in Geld schwamm, war natürlich lediglich eine günstige Schicksalsfügung … »Hast du’s schon mal im Aufzug gemacht?« Seine Stimme riß sie aus den Gedanken über Carlos, den Enrico ihr als einen seiner besten Freunde angekündigt hatte. Sie blickte ihn an, um herauszufinden, ob er es ernst meinte. Das war der Fall. »Du bist verrückt! Selbst um diese Zeit gibt es genügend andere, die den Lift benützen wol-« »Es gibt drei, Baby«, widersprach er mit einem Vibrieren in der Stimme, das sie endgültig überzeugte, wie ernst es ihm war. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, hieb seine Faust auf den Stoppschalter. Das abrupte Bremsmanöver zwang Dawn in die
Knie. »Rico …!« »Jetzt hab dich nicht so! Niemand wird Verdacht schöpfen. Es ste hen zwei Ausweichlifte zur Verfügung! Und Carlos wird sich wegen einer kleinen Verspätung nichts denken – das ist der Vorteil, daß er von unserem Kommen nichts weiß …« Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Er hatte schöne Hände. Sie waren Dawn gleich aufgefallen. Noch bevor er sie das erstemal verlangend über ihre Haut hatte wandern lassen … Die meisten Männer ahnten nicht, wie wichtig gepflegte Hände für Frauen waren. »Trotzdem … Ich – kann das nicht!« »Du kannst, Baby, ich weiß es! Du machst mich so heiß …!« Seine Worte gingen ihr durch und durch. Sie spürte das vertraute, nicht unangenehme Ziehen im Unterleib. Als er eine seiner Hände in ihr schwindelerregendes Dekollete schob, hatte er gewonnen. Dawns Blick tastete noch einmal über die Liftanzeige, die auf »7« stehengeblieben war. Die Kabine hing demnach zwischen dem sieb ten und achten Stock fest. Enricos Freund wohnte im elften. Ihre eigenen Hände verselbständigten sich. Sein fordernder Kuß, das Spiel seiner Zunge, der Finger, mit dem er unter ihren engen Slip vorstieß und ihren Schoß auf das Kommende vorbereitete … all das spülte Dawn Sempers Verstand hinweg. Auch Enricos Atem wurde lauter, gieriger und half, die Kabine mit einem Gemisch eindeutiger Geräusche zu füllen, die dazu beitrugen, daß die freiwillig darin Gefangenen allmählich jede Hemmung ab
streiften. Dawn stöhnte auf, als Enrico beide Hände in ihre Pobacken grub, dann etwas lockerer ließ und ihr Höschen mit einem kraftvol len Ruck einfach auseinanderriß, anstatt es ihr behutsam abzustrei fen. Dawn dachte nicht an Protest. Sie dachte in diesen Minuten nur noch an Enricos Manneskraft, die sie mit kaum noch kontrollierbarer Hast aus der Enge seiner Ho sen befreite. Er stöhnte jetzt auch. Anhaltend. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die kühl-glatte Kabinenwand, die teilverspiegelt war, so daß er Dawns Rückansicht und ihr Gesicht genießen konnte, als sie jetzt vor ihm in die Knie gehen wollte. Aber Enrico hatte anderes im Sinn. Er wollte sich nicht mit etwas aufhalten, was er an anderem Ort und zu anderer Zeit durchaus ge nießen konnte. Hier und jetzt wollte er nur so schnell wie möglich ans Ziel kommen. Er hielt Dawn an den Schultern fest, als sie an ihm abwärts rut schen wolle. Sehr bestimmt dirigierte er sie nach seinen Wünschen und veranlaßte sie, daß sie ihm den Rücken zudrehte und sich, vor gebeugt, mit beiden Händen gegen die Wand abstützte. Sie bog ihr Kreuz weit durch, so daß sich ihm ihr süßer Hintern auffordernd entgegenreckte. Enrico ließ sich nicht lange bitten. Er schob ihr Kleid nach oben und legte ihren nackten, einladenden Po frei. »Komm schon!« keuchte sie. »Komm …!« Er stieß zu und eroberte ihren warmen, willigen Schoß. Sie bäumte sich ihm halb seufzend, halb schreiend entgegen und – Der Lift fuhr an! »Scheiße!« fluchte Enrico, während sein Blick unstet und verständ nislos zur Wählleiste glitt.
Das rote Licht brannte immer noch, und auch der Notstoppschal ter befand sich unverändert in seiner Position. Zunächst hatte er ge glaubt, sie seien aus Versehen dagegen gestoßen und die Kabine hätte sich deshalb wieder in Bewegung gesetzt. Das war nicht der Fall. Dawn verkrampfte vor ihm. Sie machte eine reflexartige Bewe gung und löste sich von ihm. Sekundenlang sahen sie sich völlig indisponiert an. Schließlich zuckte Enrico die Achseln und verstaute seine bereits erschlaffende Männlichkeit hinter dem Reißverschluß. Auch Dawn ordnete – mehr mechanisch – ihr Kleid und las die Reste ihres Slips vom Boden auf. Der elfte Stock glitt an ihnen vorbei, obwohl Enrico noch einmal auf den Knopf gedrückt hatte. »Ich schätze«, erklärte er breit grinsend, »jetzt funktioniert gar nichts mehr. Wir haben die Sicherungen durchbrennen lassen …!« Dawn schwieg verkniffen. Ihr Herz hämmerte immer noch. Ihre Gedanken flatterten. Sie hatte plötzlich überhaupt keine Lust mehr auf einen Besuch. »Ich will nach Hause«, sagte sie. »Nach Hause …«, echote es von den Wänden. Dawns Miene gefror. »Was war das …?« »Nach Hause …«, wisperte es erneut aus den Wänden. Enrico blickte mehr gereizt als erschrocken um sich. »Irgendein Spaßvogel«, knurrte er. »Vielleicht gibt’s hier eine versteckte Kame ra …« Die Vorstellung, beobachtet und belauscht zu werden – auch vor hin schon – lähmte Dawn sekundenlang völlig, während ihr Beglei ter einen fast morbiden Gefallen daran zu entwickeln schien.
Die Kabine kletterte höher und höher. »Mir – wird kalt …«, flüsterte Dawn klamm. Die Temperatur schien tatsächlich zu stürzen, je höher sie gelang ten. »Halt doch endlich das Ding an!« Zum erstenmal schwang offene Hysterie in ihrer Stimme. »Wenn du mir verrätst, wie …« Er versuchte ja schon die ganze Zeit, die Elektronik in den Griff zu bekommen. Umsonst. Dann hielt der Lift endlich. Die Anzeige war völlig erloschen. Nichts rührte sich mehr, und selbst das Kabinenlicht setzte aus. Dawn hatte das absurde Gefühl, von der Dunkelheit erstickt zu werden. Vor ihr glitten lautlos die Türflügel auf. Etwas sog die Finsternis wie Rauch in sich auf. Und zerrte auch an den beiden Menschen in der Kabine. Dawn machte einen Schritt zur Seite und krallte sich in Enricos Arm. »Was –?« Weiter kam sie nicht. Ein armdicker Schlauch aus lebendiger Schwärze schnellte auf sie zu, preßte sich auf ihren roten Kußmund und zeichnete exakt des sen Konturen nach. Dawn wollte zurückweichen, aber der »Schlauch« machte jede Bewegung mit. Sie mußte durch die Nase atmen, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Als sie neben sich blickte, sah sie, daß Enrico ebenfalls an einem dieser flexiblen »Schläuche« zappelte, die sich vor ihnen irgendwo im Nichts verlo ren. Ihre Augen quollen hervor. Sie versuchte, das Gebilde mit den
Händen zu umklammern und wegzureißen. Dabei hatte sie das Ge fühl, in einen Schwamm zu greifen. In ein kaltes, pulsierendes, un menschliches Herz … Im nächsten Moment stieß etwas zwischen ihre Lippen in ihren Rachen und weiter die Kehle hinab in ihren Bauch. Der Schmerz grellte durch Dawns Hirn und gebar schwarze Ster ne. Dann zog ihr etwas ihre Gedärme nach oben, und sie roch den Ge stank von Erbrochenem. Als sie einen letzten Blick auf Enrico erhaschte, sah sie etwas durch die lebende Schwärze hindurch aus seinem Mund quellen. Zugleich bohrte sich etwas in ihre Nase und machte das Atmen auch hier unmöglich. Daß Sterben Qual war, erfuhr Dawn Semper auf grausamste Weise und ahnte dabei nicht einmal, von wem sie umgebracht wurde. Etwas, das in grauer Vergangenheit Leben geschaffen hatte, tötete plötzlich. Und je mehr es verschlang, desto unersättlicher, desto un bezwingbarer wurde es …
* Von irgendwoher lockte leises Kinderweinen, leises Kinderlachen. Lilith Eden schauderte. Der Symbiont an ihrem Körper schwieg. Hatte die »Brosche« aus Storms Laden ihn getötet? Konnte man ihn töten? Ausgerechnet in dieser Sekunde, an diesem unmöglichen Ort wur de Lilith daran erinnert, daß der Symbiont noch nicht das Geringste über seine Herkunft und verschwindend wenig über seine Möglich
keiten preisgegeben hatte. Er war ein Erbstück von Liliths Mutter Creanna. Jener Vampirin, die ihre eigene Rasse verraten und den Grundstock zu deren Ver nichtung gelegt hatte … Zum Greifen nah schwebte der schwarze Quader über ihr, dessen kompakte Schwärze wie geronnenes Vampirblut wirkte. Warmer, lepröser Atem – älter als die Welt – trieb Lilith daraus entgegen. Wessen Atem? Ein Hinweis von Beth hatte Lilith in die Druit Street 144 geführt. Zum Marillion-Tower, einem Hochhaus, das ausschließlich von Ver rückten, Enthemmten und Mördern bewohnt zu sein schien. Das Schlimmste aber war Lilith hier oben im ehemaligen Penthou se begegnet. Eine den Atem verschlagende Dämonie. Etwas, das die Realität der Penthouse-Wohnung förmlich »ausgeknipst« und durch das unwirkliche Szenario sonnendurchglühten Outbacks ersetzt hat te!* Lilith spürte, daß sie sich immer noch im Penthouse aufhielt, denn ihre Füße berührten nicht die holprige Felsschicht, die ihre Augen ihr vorgaukelten. Ihre Füße standen auf Teppichboden. Die Impulse des Totems, das sie in Esben Storms Laden gefunden hatte, wollten sie dazu verführten, in den schwebenden Klotz zu tauchen. Und auch der Quader selbst lockte, als ob er auf die Impul se des Totems antwortete. KOMM! klang eine körperlose Stimme in Liliths Gedanken auf. KOMM ZU UNS! WIR SIND DIE WAHRHEIT. VERGISS DIE LÜGE DEINER BISHERIGEN EXISTENZ! KOMM ZU UNS, BRUDER! Bruder …?
*siehe Vampira 13: »Traumzeit-Dämonen«
Lilith versuchte sich aus dem Bann der knöchernen »Brosche« zu befreien. Es gelang ihr nicht. Die Schwärze wuchs wie ein Berg vor ihr auf. Ihr Gesicht berührte bereits die eisige Sphäre, hinter der es von fremdartigem, in kein Muster zu pressendem Dasein wimmelte … … und in diesem Moment zersplitterte die Illusion wie ein Mosaik aus einanderdriftender Steinchen. Das wahre Gesicht ihrer Umgebung kehrte zurück! Lilith stand zehn Schritte von der Tür entfernt, durch die sie das Penthouse betreten hatte. Der helle Ton einer Glocke lenkte ihren Blick nach rechts, wo sich die Aufzugstür öffnete und – Vorbei! Sie stand wieder im Outback. Wieder im Schatten des Gebirges aus Dunkelheit. Aber – sie machte den Schritt, der sie in den Untergang geführt hätte, nicht mehr. Sie hörte die Schreie! Sie hörte und fühlte die Qual der Sterbenden, die aus dem Lift gezerrt, deren Fleisch von den Knochen geschält und deren Knochen zermalmt wurden. Jetzt! In diesem Moment! Vor, neben, hinter oder unter ihr wurde gestorben! Der Einfluß des Totems über sie erlosch. Aber sein immer noch an haltendes Wispern weckte heiße Wut in Lilith. Verfluchter Banguma! dachte sie. Verfluchter Esben Storm, der mich WIEDER hereingelegt und kaltlächelnd dem Untergang geweiht hat …! Der Zorn auf den verschollenen Aboriginal beflügelte sie. Lilith beschloß, das Sterben zu vertagen. Die ewige Nacht des Quaders oder das, was in ihm schwamm,
schien zu spüren, daß das sicher gewähnte Opfer im Begriff stand, einen Rückzieher zu machen. Vor Lilith schnellte etwas aus dem dunklen Vorhang. Etwas, das wie ein narbiger, furunkelübersäter, eiternder Arm aussah, aber keiner sein konnte. Es war nur der Ab druck eines Dings, das dort, woher es auf Lilith zustieß, keine Form besaß. Teil eines Wesens, das einem Gott näher stand als einem Menschen. Ein Wondjina, durchfuhr es Lilith eisig, während sie seitlich aus wich und dann mühsam, Schritt für Schritt, von dem Quader fort ging. Ein Wesen vom Anfang der Schöpfung. Überbleibsel aus der Zeit des Beginns… Liliths Gedanken gerieten ins Stocken. Sie spürte, daß sie bei einer elementaren Frage angelangt war. Einer Frage, die sie seit langem beschäftigte. Diese Frage lautete: GIBT ES WIRKLICH DEN EINEN GOTT? Und was war mit den anderen Göttern? Jenen der Hindus und Buddhisten, der Indianerstämme in den Regenwäldern des Amazo nas, auf dem nordamerikanischen Kontinent, in Afrika und im Eis der Arktis. Was war mit den SCHÖPFERWESEN und deren SCHÖPFUNG? Konnte es sein, daß so grundverschiedene Religionen nebeneinan der funktionierten, ohne sich zu überlappen und zu bekämpfen? Lilith fröstelte, als sie begriff, daß Krieg unter Andersgläubigen herrschte. Ein sehr realer, sehr blutiger Krieg! Aber was sie wirklich beschäftigte, war: Konnte es sein, daß das, was allgemein als »Schöpfung« bezeichnet und verstanden wurde, in Wahrheit die Summe aller noch so unterschiedlichen Schöpfungen war? Daß es die Schöpfung nicht gab, sondern nur ein Konglomerat von
Kräften, die sich normalerweise nicht gegenseitig in die Quere ka men … Normalerweise. Hier, in Sydney, war es geschehen. Genauer: auf dem Grundstück 333, Paddington Street! Dort waren elementar verschiedene Schöpfungen aufeinandergeprallt, die der Wondjinas und … UND WAS? Lilith schüttelte den Kopf, daß ihr mähniges Haar flog. »Ich bin ein Banguma! Ewig ist die Qual eines Schattens …!« Lilith wünschte, die Schwarze Flamme, hinter der sie Esben Storm vermutete, in die Finger zu bekommen. Aber der Banguma war nicht da. Nur das Totem, das sie in Storms Laden an ihr Mimikrykleid gesteckt hatte. Immer mehr Arme und andere, menschlichen Extremitäten nach empfundene Gliedmaßen stießen aus dem nachtschwarzen Quader. Zugleich glaubte Lilith immer noch das Echo der Schreie jener bei den Menschen zu hören, die der Lift hier oben ausgespien hatte. Sie atmete auf, als sie sah, daß für die von Geschwüren entstellten Glieder eine unsichtbare Grenze bestand, die sie nicht zu überschrei ten vermochten. Doch die Erleichterung zerstob, als der Klotz das Problem löste, indem er sich auszudehnen begann! Schnell! Warum hatte er es vorher nicht getan? War er sich Lilith zu sicher gewesen? Oder wuchs er, weil ihm aus dem Lift gerade neue … Nahrung zu geführt worden war …? Das Totem ist schuld! Ein aberwitziger Verdacht stieg in Lilith auf: Konnte es sein, daß
die schemenhaft hinter der Schwärze erkennbaren Wesen nicht sie selbst, sondern die »Brosche« wollten …? Es war ein Traumzeit-Artefakt. Reagierten sie auf dessen Aus strahlung – auf die äscherne Aura, die es um Liliths Körper wob …? Liliths Hand zuckte nach oben. Jetzt, da sie dem Einfluß des Totems widerstand, wollte sie Nägel mit Köpfen machen. Vielleicht gab es ein Entkommen aus dieser Il lusion, wenn sie die »Brosche« den Dämonen zum Fraß vorwarf … Sie erkannte ihren Irrtum. Es gab nichts mehr, was sie hätte opfern können, um sich zu ret ten. Das knöcherne Totem war vom Kleid verschwunden. Nur die – größer gewordene? – weißglimmende Stelle auf der Haut des Sym bionten war noch sichtbar …! Lilith fluchte. Sie ließ sich auf Hände und Füße fallen, weil sie so ein besseres Gefühl für den immer noch vorhandenen Boden des Penthouse hat te, während ihre Augen weiter hitzedurchtostes Outback vorgegau kelt bekamen. Der Quader blähte sich ihr immer noch entgegen. Lilith spürte Verzweiflung, als sie die Möglichkeit in Betracht zog, daß die »Bro sche« sie nicht ins Verderben hatte reißen wollen, sondern die ganze Zeit geschützt hatte! Jetzt war sie verschwunden. Vielleicht von der Magie dieses Ortes zerstört. Lilith kappte die Kette der Spekulationen. Es war keine Zeit dafür. Sie mußte diesen Ort – diese Ebene – verlassen. Mußte versuchen, in tiefere Stockwerke zu gelangen, wo der verderbliche Einfluß der dä monischen Manifestation zwar auch schon erkennbar gewesen, aber wenigstens die reale Dimension erhalten geblieben war …
Sie schloß die Augen, obwohl die Schwärze des Quaders wie eine Wand auf sie zukroch. Ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren, als sie die Bewegungen rekapitulierte, die sie seit Betreten des Penthouse – zu nächst noch im Bann des Totems – ausgeführt hatte. Sie glaubte selbst nicht, daß es funktionieren könnte. Aber dann ließ sie die Lider geschlossen und bewegte sich auf den Koordinaten, die ihr Gedächtnis ihr lieferte. Sie schaltete jeden Gedanken an das Böse im Quader aus. Sie wei gerte sich daran zu denken, daß sie sich möglicherweise dem Bösen näherte, statt ihm zu entfliehen. Sie mußte es riskieren. Sie – – stieß gegen eine unsichtbare Tür! Eine geschlossene Tür. Lilith unterdrückte jede Panik. Sie richtete sich an dem Hindernis auf, tastete nach dem Knauf, fand ihn und drehte daran. Die Tür sprang auf. Liliths Augen sprangen auf. Hoffnungsvoll. Das Outback war verschwunden. Aber vor ihr gähnte wieder das Nichts einer ausgeblendeten Realität. Und hinter ihr … rückte der dämonische Block näher, glühte die Sonne über einer Wüste, die so vielleicht zu Zeiten der Schöpfung existiert hatte …! Lilith durchschritt die Tür. Sie tastete mit den Händen Wände ent lang, von denen sie hoffte, daß sie wirklich dem Treppenhaus ange hörten. Daß sie nicht auch nur eine Täuschung waren, die sie auf verzerrten Wegen doch noch in den Untergang führen sollten …
*
James Brosnan starrte voll hysterischer Faszination auf das Treiben im Korridor. Speichel troff aus seinem Mund. Ab und zu zog er an der leeren Hülse eines Kugelschreibers wie an einer Marihuana-Zi garette. Brosnan brauchte keinen Rauch, um high zu sein. Das ganze Leben war »hip«! Seit … Als Brosnans Erinnerung streikte, hörte der Bankangestellte mit der hochgezüchteten Figur eines Bodybuilders einfach auf, darüber nachzusinnen. Es war nicht wichtig. Wichtig war, daß im 15. Stock des Marillion-Tower der Punk ab ging! Daß eine Fete, eine Orgie die andere jagte. Sexzessiv! Er kicherte. Er sah Emily. Und Emily sah ihn. Obwohl sie beschäftigt war. Lau rel lag über ihr. Er hielt sich an ihren großen Brüsten fest, die selbst im Liegen steil aufragten. »Silikon Valley« ließ grüßen. Emily ließ grüßen. Sie jauchzte unter Laurels hochrotköpf igen, vergeblichen Bemühungen, ihre nie versiegende Lust zu stillen. James Brosnans Kichern ging in lautes Lachen über. Als es verebb te, spürte er, daß auch er wieder in der Lage war, ins Geschehen ein zugreifen. Die von unten kommende Zugluft kühlte sein erhitztes Gesicht. Er hatte einen Keil unter die Tür zum Treppenhaus geklemmt, damit der kühle Lufthauch das Brennen seines erregten Körper lindern konnte. Brosnan erhob sich vom Boden. Er konnte die ganze Länge des Flures überblicken und seinem voyeuristischen Vergnügen selbst in
den eigenen Erholungspausen frönen. Zu sehen gab es genug. Emily und der grauhaarige Laurel waren nicht die einzigen, die es trieben. Die ganze Etage ließ die Sektkorken knallen! Brosnan kratzte sich den Bauch. Er war nackt bis auf ein Paar Socken, die er unbedingt anbehalten wollte, ohne daß er den Grund für dieses Ansinnen kannte. In dem Moment, als er sich wieder zu der schwarzhaarigen Con chita gesellen wollte, die mutterseelenallein und mit trancehafter Verklärtheit vor der Tür ihres Apartments hockte, hielt er verblüfft inne. Noch schönere Haare als die von Conchita kamen mit unbeholfe nen, Brosnans »Beschützerinstinkt« weckenden Schritten die Treppe herunter! Einen Moment war er völlig perplex. Obwohl er von den Etagen über und unter sich wußte, erschien es ihm völlig abwegig, dieses Stockwerk zu verlassen. Und automa tisch setzte er dasselbe auch für die Bewohner der anderen Ebenen voraus. Daß diese sexy Erscheinung anders dachte, faszinierte ihn. So sehr, daß er fast zugelassen hätte, daß sie das Stockwerk hinter sich ließ und sich weiter nach unten tastete. Sie hatte die Augen weit geöffnet und schien dennoch nichts zu se hen. Offenbar war sie blind. James Brosnan sah weniger ihr »Gebrechen« als das, was sie dar über hinaus verkörperte: Sünde pur! Er hatte noch nie eine attraktivere Frau in attraktiverem Outfit ge sehen! Sein Herz schlug plötzlich wie außer Rand und Band geraten. Er
sprang der Blinden in den Weg und hielt sie – sanft – an den Armen fest. Die Berührung ihrer Haut riß die letzte Beherrschung in ihm nie der. »Komm …«, stammelte er und lenkte sie rasch in den Korridor, wo das Stöhnen wie Musik in seinen Ohren klang. »Komm, ich – ich helfe dir …« Und mir, dachte er. Wir helfen uns gegenseitig. Wir … Sie schlug nach ihm. Ziellos. Planlos. (Halbherzig?) Brosnan blieb kurz stehen. »Heh!« keuchte er. »Du hast Feuer, Baby. Also wirklich …« Er lenkte sie weiter. Zu Crypers Apartment, der das herrlichste Lotterbett auf der gan zen Etage besaß. Wenn sie Glück hatten, war es gerade frei … Der nächste Hieb schmetterte Brosnan mit dem Hinterkopf gegen die Wand des Ganges und ließ ihn tausend Sterne sehen. Fluchend schüttelte er sich wie ein begossener Pudel. »Teufel … Etwas netter könntest du aber sein …!« Sie stand vor ihm und drehte sich orientierungslos um ihre eigene Achse. Wie ein Mannequin auf dem Laufsteg, dachte Brosnan betört. Und besänftigt. Diesem Prachtgirl verzieh er alles. Auch Handgreiflichkeiten, die er ihr spätestens auf Crypers Spielwiese austreiben oder wenigstens in die richtigen Kanäle lenken würde … »Ich bin James … Kannst mich Jimmy nennen. Und du?« Er rieb sich den Schädel und packte dann entschlossen zu. Über rumpelung war alles. Die nächsten Schritte klappten ohne Körper verletzungen. Schnell dirigierte er die sprachlose Unbekannte in Crypers Woh
nung. Geräusche aus dem Schlafzimmer verrieten, daß dort schon je mand zu Gange war. Egal. »Jimmy« war nicht prüde. Er … Verblüfft blieb er stehen. Zum erstenmal fiel ihm auf, daß das Traumgirl neben ihm den Mund zum Sprechen bewegte. Aber kein Ton kam heraus. Die Ärmste war nicht nur blind, sondern auch noch stumm! Mög licherweise konnte sie nicht einmal hören! Diese Beobachtung be stärkte Bosnan darin, das einzig Richtige zu tun. Jemand mußte sich um dieses hilflose Geschöpf kümmern. Es brauchte Liebe und Zu spruch. Zu Tode hätte es sich stürzen können, wenn er sie weiter die Treppe hinunter hätte taumeln lassen … Brosnan war stolz auf sich und sein gutes Herz. Auch die Art, wie er über ihren üppigen, in ein seltsames, ledriges Gespinst geschnür ten Busen streichelte, entsprang dem Bemühen, ihr seine lauteren Absichten nahezubringen … Peng! Wieder hatte sie ihm eine gescheuert. »Das ist ein Mißverständnis«, wollte Brosnan aufbegehren. »Ich will doch nur …« Rechtzeitig fiel ihm ein, daß sie ihn wahrscheinlich auch nicht hö ren konnte. Er verstummte. Seine Zunge leckte über die blutenden Lippen. Mit den Knöcheln der geballten Faust hatte sie ihn getrof fen, und nun – ganz allmählich – verlor Bosnan doch den Spaß an Vor- und Hauptfreude. »Scheiße«, fluchte er. »Dann eben nicht! Jimmy hat es nicht nötig
zu betteln. Draußen wartet Conchita. Draußen warten alle auf mich! Mach doch, was du –« Er brach ab. Entgeistert starrte er auf die knapp zwanzigjährige Schönheit, deren Züge sich urplötzlich veränderten. Was wie ein düsteres Licht in den grünen Augen zu glimmen begann, war zwei fellos … Begierde! Ihre komplette Körpersprache wechselte. Versöhnlich ging Brosnan ihr einen Schritt entgegen, und auch sie – obwohl blind und taub und stumm – tat einen Schritt auf ihn zu. Es war, als würde sie ihn trotz Blindheit – Brosnan lächelte dünn – wittern… Dann schwebte ihr Gesicht direkt vor seinem, und er sah, wie sehr sie sich tatsächlich verändert hatte. Nicht nur, was ihr anmutiges Gesicht und ihre Augen anging … Noch ehe er zurückweichen konnte, schnappten ihre Hände um seine Arme. Dann küßte sie ihm das Blut von den Lippen.
* Der Geruch des Blutes stürzte urplötzlich auf Lilith ein. Zeitgleich mit dem Betatschen unsichtbarer, fremder Hände, von denen sie sich zuvor abwartend hatte führen lassen! Sehen und hören konnte sie immer noch nicht. Die Leere, in der sie sich bewegte, war absolut. Aber ihre Nase und ihr Tastsinn funktio nierten. Traumwandlerisch näherte sie sich dem guten Blut, nach dem sie zuvor einige Male versucht hatte, sich gegen den Einfluß der körperlosen Hände zur Wehr zu setzen.
»Wer bist du?« Ungehört und unbeantwortet blieben alle Versuche, sich zu ver ständigen. Schließlich ließ Lilith sich auf das Wagnis ein. Ihre Lippen fanden das Blut, als schwebe es in Höhe ihres Gesichts in der Luft. Ihre Lip pen – angezogen von der Magie dieses Lebenselixiers – erkundeten den fühlbaren Körper eines nackten Mannes, der noch viel mehr zu bieten hatte als die wenigen Tropfen auf seinem Mund. Sie erlegte sich keine Schranken auf. Der Augenblick zählte. Vielleicht würde sie aus diesem Labyrinth der Leere nie wieder herausfinden … Sie packte zu. Sie zog den Unsichtbaren an sich, und schon im nächsten Moment reagierten die Hormone ihres Körpers. Mit der Begierde wuchsen ihre oberen Eckzähne. Ihr mütterliches Erbe ge wann die Oberhand … Der Unsichtbare schmeckte köstlich! Die einzigen Sinne, die von den im Penthouse hausenden Wondjinas getäuscht wurden, waren Liliths Seh- und Hörvermögen. Der Rest arbeitete tadellos. Sie grübelte nicht, warum dies so war. Sie nahm es als gegeben und verhielt sich danach. Zugleich schwappte flüchtig die Angst über sie hinweg, daß die »Ausblendung« der Wirklichkeit nicht nur auf dieses Gebäude reduziert sein könnte, sondern die ganze Stadt – vielleicht den ganzen Planeten – betraf … Würde sie für immer mit Blindheit und Taubheit geschlagen blei ben? Sie hörte auf zu trinken. Der unsichtbare Mann glitt schlaff auf den unsichtbaren Boden. Li lith ließ los. Sie konnte nicht abschätzen, wieviel Blut sie gestohlen hatte. Aber
sie fühlte sich gesättigt und erholt und hoffte, die Heilung der bei den Vampirmale möge genauso problemlos funktionieren wie bei sichtbaren Spendern. GEFAHR! Sie spürte das Unheil. Dasselbe Unheil wie bei der Dreamtime-Stätte im Nielsen Park oder der zerbrochenen Stele im Haus der Hillarys. Explosiv und unwiderstehlich kam der Einfluß des Bösen über sie. Töte dich! Töte dich! pochte es in ihren Schläfen. Und sie gehorchte …
* Brosnan traute seinen Augen nicht. Die stete Euphorie, die ihn hoch hielt, verlor urplötzlich ihre Wirkung. Benommen hockte er am Bo den und starrte an der langbeinigen Schönheit vorbei, die … die was getan hatte? Geküßt, bis die Schwäche ihm die Beine puddingweich hatte werden lassen? Nur geküßt …? Die Frage verlor spätestens den Rest ihrer Bedeutung, als das wirklich Unbegreifliche, das wirklich BEDROHLICHE nach diesem Raum und nach der faszinierenden Unbekannten griff! Und nach Brosnan! Er erlitt fast einen Herzstillstand, als die schwarzen Stränge aus der Decke quollen wie aus den Spinndrüsen von Insekten und sich unaufhaltsam herabsenkten … »Vorsicht!« schrie er mit überschlagender Stimme und grauenver zerrtem Gesicht. Konnte sie doch hören?
Brosnan wußte nicht, ob es an seinem Schrei lag oder ob die Unbe kannte selbst die Annäherung der Gefahr bemerkt hatte. Ihr Kopf je denfalls legte sich weit in den Nacken, und dann stießen ihre Arme abwehrend nach oben. Nein! wollte er schreien. Verschwinde lieber! Hau ab! Er konnte sich nicht vorstellen, daß man dagegen kämpfen konnte. Aber seine Lippen blieben versiegelt. Das Entsetzen schweißte sie zusammen. Und die Erkenntnis, daß die lakritzfarbenen Stränge auch ihn bedrohten … In diesem Moment – noch ehe sie in Kontakt mit den zahllosen tentakelartigen Gebilden kam – veränderte sich der Gesichtsaus druck der betörend hübschen Frau rapide. Ihre leicht schrägstehen den Augen schwammen in düsteren Gefühlen. Das anmutige Ge sicht mit den hohen Wangenknochen entgleiste zu einer Grimasse unbeschreiblicher Resignation, und das schwarze, mähnige Haar schien nur darauf zu warten, sich mit den von oben züngelnden Fä den zu vereinen! Brosnan spürte einen Kloß wie einen Propfen im Hals. Immer noch hing sein Blick gebannt an der Unbekannten in dem erregenden Schnürbody, der ihre üppige Weiblichkeit kaum zu bän digen vermochte. Dann änderte sich auch dies. Weil die Fremde endlich reagierte. Aber nicht so, wie er es erwartet hatte. Brosnan starrte fassungslos. Daß sie losrannte und floh, war in Ordnung. Nicht aber, daß sie statt zur Tür genau auf das nächste Außenfenster zuspurtete! Wie gelähmt verfolgte er ihr scheinbar müheloses Durchbrechen des Sicherheitsglases, das unter der Wucht ihres Aufpralls nachgab
wie mürber Teig und ebenso zerbröckelte. Der Körper der Frau flog, begleitet von einem Scherbenregen, durch die geschaffene Öffnung nach draußen ins Schneetreiben (Schneetreiben?), schien einen Moment reglos in der Luft zu verhar ren – um dann im freien Fall fünfzehn Stockwerke tief dem Erdbo den entgegenzustürzen! Brosnans Schrei verendete knapp hinter den Lippen. Er wollte aufspringen. Die eigene Schwäche überwinden. Von oben quollen ihm die schwarzen Stränge wie treibende Algen in einer Meeresströmung entgegen. Brosnan riß die Arme hoch. Seine Finger krallten sich in die Fäden, die keinen Halt boten. Die sich warm und kalt, lebendig und tot um seine Hände und Arme, seinen Hals und Rumpf wikkelten. Ihn strangulierten und liebkosten und sich wie Führungsfäden einer Marionette in sein absterbendes Fleisch bohrten, verankerten, Bros nan aufrichteten, dreimal unmenschlich auflachen ließen und dann nach oben durch die Betondecke zogen …
* Klirr! Die Welt kehrte aus Scherben zurück. Die Illusion des Nichts wurde durch eine Illusion der Fülle und des Seins abgelöst …! Noch im Sturz begriff Lilith, wie dünn die Häute der Realität wa ren – oder dessen, was Mensch und Vampir subjektiv als Wirklich keit empfanden. Sie stürzte, umgeben von Blitzen aus schmutzigbraunen Wolken, die den Tag zur Nacht machten.
Ihre Augen stellten sich um. Aber die Nebel, die ihr suggeriert hat ten, sich umzubringen, umwogten noch lange ihr getrübtes Bewußt sein. Fast zu lange. Donner rollte. Liliths Sturz wurde von den tanzenden Schneeflocken, die sie durchstieß, nicht gebremst. Von dem Punkt, an dem der Marillion-Tower sie ausgespien hatte, bis zum Boden lagen nicht ganz fünfzig Meter Luft. Mehr als vierzig davon hatte Lilith bereits zurückgelegt, als der Zwang zur Selbstvernichtung etwas nachließ. Soweit, daß sie erkannte, nicht wirklich sterben zu wollen. Ihr unterdrückter Selbsterhaltungstrieb kämpfte sich an die Ober fläche zurück. Aber die Metamorphose kam nicht mehr rechtzeitig genug, um das Aufschlagen auf dem Rasenstreifen ganz zu verhin dern. Als die ledrigen Schwingen peitschten und den pelzigen Kör per abzufangen versuchten, reichte es nur noch zu einem Bremsen des freien Falls. Lilith landete mit ihrem immer noch ungewohnten Fledermaus körper sich überschlagend auf dem feuchten, mit pampigem Schnee überzogenen Boden und kam erst nach unbestimmbarer Zeit wieder zu sich. Ihr Gehirn hatte die Rückverwandlung bereits instinktmäßig voll zogen. Niemand schien die seltsame Erscheinung, die die Fassade herabgestürzt und -getorkelt war, beobachtet zu haben. Verdächtig leblos wirkte das Umfeld des Tower. Mit schmerzenden Gliedern lag Lilith in kalter Nässe. Von der Un geheuerlichkeit eines Schneefalls mitten im australischen Sommer lenkte das immer noch tobende Gewitter ab, das sich an den Flocken nicht störte und einen sonnenheißen Blitz nach dem anderen aus
brodelnden Wolken schoß. Lilith richtete sich vorsichtig auf. Ihr Blick streifte den Marillion-Tower, an dessen steil aufragender Fassade sie vergeblich nach dem durchbrochenen Fenster suchte. Das Hochhaus wirkte so normal wie jedes andere Gebäude im Um kreis. Das Penthouse des Gründer-Erbens war aus diesem Winkel überhaupt nicht zu erkennen. Nur der Saum des Grünstreifens, der es in luftiger Höhe umgab. Lilith haßte diese Verstrickungen in Illusionen und Trugbilder. Bis heute empfand sie ihr Abenteuer im Himalayamassiv zwischen Ne pal und Indien als Belastung. Nicht allein wegen Duncans und Hi machal Pradeshs Tod. Sondern auch, weil sie dort einer Macht von solcher Stärke und Unnahbarkeit begegnet war, daß es ihr bereits wie ein Traum vorkam, in einem BUCH geblättert zu haben, in dem die Historie von Menschen und Vampiren seit grauer Vorzeit nie dergeschrieben gewesen war. Ehe es verbrannte. War es wirklich verbrannt …? Sie verdrängte die Erinnerung an Usha, die Bewohner der sieben Dörfer und die Todesboten.* Sie fror trotz der sie umgebenden Kälte und des Schnee nicht. Dennoch zitterte sie, als ihre Finger über das »Kleid« strichen, das ein lebendiges Wesen war. Ein Symbiont, der sich – so lange sie leb te – nicht mehr von ihr trennen würde. Der schon viele »Träger« vor ihr besessen hatte, zuletzt Creanna, Liliths leibliche Mutter. Entgegen ihrer ersten Feststellung schien er immer noch zu leben und die Fähigkeit beliebiger Formwandlung zu besitzen. Sonst hätte er die Verwandlung in eine Fledermaus und die anschließende Rückverwandlung nicht mitvollziehen können.
*siehe Vampira 6-8
Und doch spürte Lilith auch jetzt, daß er im Vergleich zu sonst re gelrecht gelähmt war. Gefangen von dem, was in ihn gedrungen war und ihn schon äußerlich veränderte! Liliths Finger strichen prüfend über die Oberfläche des wieder ge schlossenen Bodys. Sie fühlte sich rauher an als gewohnt. Die äscherne Farbe hatte jetzt jeden Quadratzentimeter »erobert«. Es hatte den Anschein, als wäre das Totem aus Storms Laden in ihm aufgegangen. Als Symbiont eines Symbionten? Lilith grauste bei der bloßen Vorstellung. Ihr grauste vor vielem, was sie doch nicht ändern konnte … Schleppend setzte sie sich in Bewegung. Ihr Zeitempfinden streik te. Aber es war offensichtlich, daß – trotz der schneeträchtigen Wol kenverdunkelung – wieder Tag herrschte. In der Abenddämmerung hatte sie den Marillion-Tower betreten. Stunden waren seither vergangen. Entschlossen lenkte sie ihre Schritte zum nächsten Taxi-Stand und löste mit Hilfe vampirischer Hypnose ihr Gratisticket für eine Fahrt zur Market Street …
* Tasmanische See »Da erscheint etwas auf dem Radar, Sir! Etwas verflucht Schnelles. Geschätzte dreißig Knoten Minimum …« Hopemans Stimme erreichte Roy Pollux am Kartentisch, wo der Kapitän der Küstenwache nautische Kursberechnungen anstellte.
Pollux wechselte, froh über jede Störung in der ermüdenden Routi ne, zu Hopemans Instrumentenpult, dessen grünes Leuchten auf dem Gesicht des Sergeants den Eindruck erweckte, als leide Hope man an einer Fischvergiftung. Auch die stets verdrossene Miene des Hageren paßte dazu. Pollux starrte auf den fächernden »Balken«, der im Uhrzeigersinn über das Radar glitt und einen dunklen Punkt aus dem Grün riß. Dieser Punkt bewegte sich, wie Hopeman bereits festgestellt hatte, extrem schnell. Ein zweiter, wesentlich ruhiger Fleck stellte den leichten Küsten kreuzer LILLYPILLY dar, auf dem Pollux und Hopeman neben zwanzig anderen Crewmitgliedern ihren Dienst versahen. Das Fahrzeug bewegte sich aus Südost nach Nordwest zum Hafen von Sydney. »Wirklich erstaunliches Tempo«, murmelte Pollux. An Harrison, den Funker, gewandt befahl er: »Nehmen Sie Kontakt auf! Bleiben Sie freundlich!« Harrison grinste schief. Er sah aus, als wäre er halb hinter seiner Funkbude eingenickt gewesen, ehe Hopeman die träge Nachtstim mung zerstört hatte. Pollux enthielt sich eines Tadels. Auf der LILLYPILLY waren sie eine große Familie. Die Disziplin wurde im Ernstfall immer ge wahrt. Aber daß dies ein Ernstfall war, glaubte nicht einmal der Ka pitän. Ebenfalls routinemäßig gab er Porter den Befehl, auf Rendez vouskurs zu gehen. Dreißig Knoten, das war selbst für einen Leichten Kreuzer kein zu verachtendes Tempo. Es blieb jedoch genügend Zeit, den Kurs des anderen Schiffes mit wesentlich bescheideneren Mitteln zu berüh ren. Es durfte nur keine krasse Kehrtwende durchführen. »Da meldet sich niemand, Sir!« rief Harrison nach einer Weile. Er
kratzte sich am Ohr, wo eine rote Stelle darauf hinwies, daß dies zu seinen bevorzugten Gesten gehörte, und verschob den Kopfhörer. Er sieht aus wie ein Depp, dachte Pollux. Auch in einer »Familie« gab es Vorlieben und Abneigungen. Harrison gehörte zu seinen Ab neigungen. »Sicher? Alle Frequenzen durchprobiert?« »Die üblichen.« »Dann versuchen Sie jetzt die unüblichen!« Irgendwie vertrug Pollux dieses blöde Grinsen heute nicht. Auch er kratzte sich. Am Kinn. Es schabte hörbar, obwohl er sich gewis senhaft zu rasieren pflegte. »Wie lange noch bis zum Rendezvous?« fragte er Porter, der das andere Fahrzeug inzwischen auch auf seinem Schirm haben mußte. »Drei Minuten, Sir.« Auf Porter war Verlaß. Er war ein Pedant. Hätte Pollux die Sekun den verlangt, er hätte sie vermutlich erhalten. Der Kapitän der LILLYPILLY nahm sein Nachtsichtglas und trat nach vorn an die Panoramaverglasung des Kommandostands. Drei Minuten bedeutete, daß er das Boot jetzt schon hätte ausma chen müssen. Die Richtung war bekannt. Aber er sah kein Schiff. Weder ein beleuchtetes noch ein licht scheues … Hätte das andere Boot, das nicht auf Kontaktversuche reagierte, et was zu verbergen gehabt, hätte es längst eine Kursänderung durch geführt. Es mußte die LILLYPILLY spätestens nach den Funkanru fen entdeckt haben. »Porter?« »Macht keine Anstalten auszubüchsen, Sirl« Pollux leckte sich über die Lippen. Er fand trockene Kaffeereste
und beseitigte sie gedankenlos. Im selben Augenblick sah er etwas. Aber es war kein Boot. Es war überhaupt kein … Fahrzeug. »Allmächtiger im Himmel …« »Sir?« Roy Pollux wankte. Der Geschmack auf seiner Zunge schmeckte nicht mehr länger nach rabenschwarzem Kaffee, sondern nach Angst. Es gab kein anderes Wort für die Ursache des Adrenalinstoßes, der sein Hirn – der jedes Organ wie in Ameisensäure tauchte. Harsch winkte er, ohne das Glas von den Augen zu nehmen, Ho peman zu sich. »Nehmen Sie sich ein Glas, los! Was sehen Sie?« Hopeman kam lässig. Immer noch schläfrig und desinteressiert. Pollux herrschte ihn an, sich zu beeilen. Hopeman grunzte. Dann stöhnte er. »Großer Gott …« In einem solchen Moment wurde die Religion gerne bemüht. Und nirgends sonst hätte sie besser gepaßt als hier. »Sagen Sie mir, was Sie sehen!« Der Befehl des Kapitäns kam schneidend. »Das … kann ich nicht, Sir. Es …« »Ich sehe welche, die übers Wasser latschen!« bellte Pollux. »Ich will von Ihnen nur wissen, ob ich spinne!« Hopeman stöhnte noch abgründiger, während Porter und Harri son zu den beiden herüberschielten, als gäbe es gar keinen Zweifel, daß sie den Verstand verloren hatten. »Sir …«, setzte Porter an.
»Geben Sie Alarm!« brüllte Pollux ihn nieder. Er hatte sich immer etwas auf seine Coolness eingebildet. Wie anfechtbar sie war, bewies sich jetzt. »Es sind zwei«, keuchte Hopeman, während die Sirene über das Schiffsdeck heulte und die Schläfer aus ihren Kojen katapultierte. Pollux nickte und preßte sich die Ringe des Nachtsichtgeräts noch fester in die Haut. Er spürte keinen Schmerz. Er spürte nur eine selt same Taubheit wie jemand, der begriff, daß er vierzig Jahre lang ein falsches Leben geführt hatte. Ein Leben, in dem kein Platz für Wun der gewesen war. Rational und pragmatisch hatte er Stufe um Stufe der Karriereleiter erklommen … »Kontakt zur Basis!« rief er Harrison gepreßt zu. »Sir, sind Sie sicher …?« Pollux begriff. Er setzte das Glas ab und atmete erst einmal befreit durch. Dann überließ er Harrison das Gerät und übernahm dessen Platz. Aber noch während er die Schalter umkippte, um zur Base zu sprechen, lähmte ihn die Sinnlosigkeit dieser Aktion. Er erstarrte. Lauschte dem Brausen seines Blutes in den Schläfen. »Wie lange noch …?« Er mußte nicht zu Ende sprechen. Porter sagte: »Dreißig Sekun den, Sir. Es – verlangsamt …« Es … Porter begriff immer noch nicht. Pollux erhob sich schwer. Er taumelte aus dem Kommandostand. Draußen sammelten sich die anderen Besatzungsmitglieder unter der Decksbeleuchtung. Gemurmel setzte ein. Niemand hatte den Vorgesetzten je so blaß gesehen. Er überquerte das Vordeck, als wollte er den Ausbruch des 3. Weltkriegs verkünden.
Aber er sagte gar nichts. Kein Wort. Die LILLYPILLY verzögerte jetzt ebenfalls spürbar. Pollux kletterte selbst zum Scheinwerfer hinauf. Ein mastdicker Strahl fraß sich in die Nacht. Wie irre ließ er ihn über das bewegte Meer huschen. Bis … Unten schrien sie auf. Pollux konnte nicht mehr schreien, zumindest nicht hörbar. Sein Schrei gellte nach innen. Ihm war kalt. Er wußte, daß er den Verstand verlor, aber er wußte nicht, was er dagegen tun sollte. Es war so … verrückt. Der Scheinwerferpegel hatte zwei Menschen aus der Dunkelheit gerissen. Eine kahlköpfige, dennoch attraktive Frau und einen etwa gleichaltrigen Mann. Beide trugen khakifarbene, zerschrammte und verschmutzte Baumwollkleidung. Und beide liefen über das Wasser wie über eine feste Piste …! Pollux’ Händen entglitten die Griffe des Scheinwerfers, als die bildschöne Frau zu ihm herüberblickte und ihn entdeckte. Das un mögliche Paar war die ganze Zeit so eng beisammen »gelaufen«, daß es auf dem Radarschirm wie ein Reflex erschienen war. Und wie ein Mensch hielten sie jetzt inne. Die Choreographie ihrer Bewegun gen war verblüffend synchron. Finsternis entriß sie Pollux’ Blick. Auf dem Schiffsdeck war heillose Verwirrung ausgebrochen. Alle hatte gesehen, was er gesehen hatte. Hilflose Rufe erreichten den Ka pitän. Ein paar Männer zogen ihre Dienstpistolen aus den Gürtelta schen. Pollux versuchte, das Paar wieder mit dem Scheinwerfer einzufan gen. Es gelang ihm nicht. Die beiden Khakigekleideten blieben ver
schwunden. Pollux atmete so hörbar auf, als wollte er das Schicksal zwingen. Nur eine Halluzination. Eine … Ein Schrei wehte über das Schiff. Ein zweiter … Pollux identifizierte Harrisons dunkles Organ. Sein Blick hetzte zur Brücke. Weitere Schreie ertönten. Dazwischen erste Schüsse. Männer drängten zur Treppe, die zum Kommandostand führte. Dort tauchte Porters Gestalt auf. Er fuchtelte mit den Armen. Auch er hielt seine Pistole in der Faust. Vielleicht hatte er geschossen. Hinter ihm tauchte eine zweite Gestalt auf. Hopeman? Es war nicht Hopeman. Es war – Pollux vereiste – der Kerl, der über das Meer gekommen war! Er trat hinter Porter und bohrte ihm den abgespreizten Zeigefinger zentimetertief in den Nacken. Porter riß den Mund auf. Sein Röcheln drang bis zu den Kamera den an Deck. Dann schoß Blut aus seinem Mund, und er sank mit verdrehten Augen zu Boden. Das Gesicht seines Mörders war ausdruckslos. Leer blickte er auf die Männer unter sich, deren Vormarsch ins Stocken geriet. Einer verlor die Nerven und schoß. Die Kugel ver schwand in der Brust des Mannes und fuhr irgendwo in die Wand der Brücke. Die Kleidung wies ein sichtbares, wie gestanzt ausse hendes Loch auf. Sonst erzielte die Kugel keinen Effekt. Pollux’ Weltbild zerplatzte endgültig wie eine Seifenblase. Und je der neue Schuß zerstörte den Glauben eines weiteren seiner Männer. Die Kahlköpfige erschien. Auch an ihrer Kleidung klebte Blut. Die
Schreie aus der Brücke waren verstummt. Pollux fror bei dem Ge danken, daß auch er unter den Opfern gewesen wäre, hätte er sich noch dort aufgehalten. Dann begriff er, daß er zu den Opfern gehören würde – so oder so. Andere hatten es noch nicht kapiert. Andere schossen immer noch die Magazine ihrer Waffen leer. Sinnlos. Das Paar kam die Treppe herab. Unaufhaltsam … Pollux bekreuzigte sich. Er zog seine eigene Pistole, während er zusah, wie ein Mann nach dem anderen brutal und rätselhaft zu gleich sein Leben ließ. Grauen malte sich in die Gesichter der Opfer. Der Tod erlöste keinen. Dieses Sterben war … Pollux fehlten die Worte. Er setzte die Mündung der Waffe an seine Schläfe und drückte ab.
* Sie hatte Blut geleckt – wenn auch nur in übertragenem Sinne. Die grünen Haftschalen auf ihren normalerweise blau-grauen Au gen täuschten eine Frische und Wachheit vor, die längst nicht mehr vorhanden war. Seit Stunden brütete Beth MacKinsey unter Kunstlicht im Archiv des Sydney Morning Herald über alten Zeitungsberichten. Sie inter essierte sich für alles, was mit jenem Gebäude zu tun hatte, in dem sie die »menetekelnden Endzeitpropheten« hatte verschwinden se hen. Und zu dem sich Lilith auf Beth’ Veranlassung hin begeben hatte …
Neben den Zeitungsstapeln stand ihr aufgeklappter PowerbookComputer. Sie machte sich immer wieder Notizen. Ein Handscanner erleichterte ihr die Aufnahme längerer Texte und gerasterter Abbil dungen. Der Marillion-Tower – nach seinem inzwischen verstorbenen Hauptfinanzier Ebenizer Marillion benannt – stammte aus dem Jahr 1965. Er prägte die Skyline der Hafenstadt mit seinen zwanzig Eta gen nur unwesentlich. Dennoch fand Beth schon in der Baupla nungsphase des Gebäudes zu Beginn der 60er Jahre einen auffallend kritischen Unterton in der Berichterstattung. Der Kollege, der sich damals fast ausschließlich mit dem Marillion-Projekt auseinanderge setzt hatte, war Beth unbekannt. Hauptanlaß der Kritik, so stellte sich nach und nach heraus, waren von den damals noch weitgehend rechtlosen Aborigines eingebrach te Petitionen, die das Bauvorhaben mit allen Mitteln hatten verhin dern wollen. Wie den Berichten zu entnehmen war, hatte es sogar großangeleg te Demonstrationen und Sitzblockaden gegeben. Ureinwohner aus allen Teilen des Landes waren angereist, um sich dagegen zu ver wahren, daß die wichtigste Heilige Stätte im Stadtbezirk Sydneys den Baggern und Preßlufthämmern zum Opfer fiel. Am Ende hatten selbst intensivste Bemühungen der Aborigines nichts gefruchtet – wie die heutige Existenz des Wohnturms bewies. Der Marillion-Tower war auf heiligem Boden der Ureinwohner hochgezogen und die uralte Kultstätte dem Profitstreben geopfert worden … Beth richtete sich in ihrem Stuhl auf, stemmte die Hände in die Hüften und streckte sich. Das lange Sitzen hatte ihren Rücken ver spannt, aber das bemerkte sie kaum. Sie war sicher, daß sie einer Sache auf die Spur gekommen war,
die durchaus mit der aktuellen Gefahr, der Lilith nachging, zu tun haben konnte. Die Stadt hatte sich verändert. Sie war – weniger zurückhaltend ausgedrückt – zum Tollhaus ge worden! Gewalt und Irrsinn gärten an tausend Stellen der Metropole. Ne ben dem sprunghaften Anstieg der Kriminalitätsrate und den Wet terkapriolen (Schnee im Sommer, wo hatte es so etwas schon mal ge geben?) beunruhigten vor allem Auswüchse wie die einen bevorste henden Weltuntergang predigenden »Propheten«. Besonders seit für Beth und Lilith – der Rest der Stadt war ah nungslos – feststand, daß es sich bei diesen »Propheten« nicht um verschrobene Sektierer handelte, sondern um … Ja, um was? Beth hatte die Bilder dabei, die Moskowitz von dem seltsamen Paar geschossen hatte, das an der Walker Lane auf »Seelenfang« ge gangen war. (Vielleicht, dachte sie schaudernd, war dieser Begriff wörtlicher zu nehmen, als man zunächst auch nur hatte ahnen können …) Auf den Fotos hatten die beiden abgelichteten »Propheten« jeden falls keinerlei Ähnlichkeit mehr mit ihrem menschlichen Augen schein gehabt. Wie schwarze, gläserne, lebensgroße Puppen hatte das Paar auf Moskowitz’ Bildern ausgesehen! Das Auge der Kamera hatte sich nicht betrügen lassen! Ich schon, dachte Beth befangen. Sie lehnte sich zurück und sichte te per Tastendruck noch einmal alles, was sie bislang in ihrer MemoDatei gespeichert hatte. Ganz zu Beginn fand sie dabei die Recherche-Ergebnisse, die ihr Phil Asgard, ihr spezieller Polizei-Informant, geliefert hatte. Für Li lith hatte sie sich Akteneinblick in die polizeilichen Ermittlungen im Fall der verschwundenen Bewohner des Hauses 229, Paddington
Street, erbeten. Asgard hatte prompt reagiert. Das Material, das er zu den vermißten Hausbesitzern Jonathan und Hillary Friday über geben hatte, wäre ohne die Fotos der Fridays weniger wertvoll ge wesen. So aber wußte Beth inzwischen, daß die Fridays mit den beiden »Propheten« identisch waren – zumindest mit der Gestalt, in der sie sich unter die Menschen dieser Stadt wagten! Beth hatte gesehen, wie sie mit frisch geworbenen »Interessenten« ihrer düsteren Propaganda ins Penthouse des Marillion-Tower ge fahren waren. Dorthin, wo der lebende Erbe des Vermögens, Isaac Marillion, seinem Luxus-Lotter-Leben (Zitat aus einer aktuelleren Ausgabe des Sydney Morning Herald) frönte. Er schien kein Kind von Traurigkeit zu sein. Typ gutaussehender Yuppie und Traum al ler potentiellen Schwiegermütter. In welcher Verbindung er zu den »Propheten« stand, ließ sich aus dem archivierten Material nicht ersehen. In welcher Verbindung ICH dazu stehe, auch nicht … Der Gedanke nagte in Beth. Die ganze Zeit schon. Seit Chefredakteur Moe Marxx ihr den »Be richt« um die Ohren gehauen hatte, den sie ihm über die Endzeitjün ger geliefert hatte – ohne sich überhaupt erinnern zu können, einen Text abgegeben zu haben …! Am Stil war aber zweifelsfrei erkennbar, daß er aus ihrer Feder kam. Und das war schlimm. Es war peinlich. Denn nicht ohne Grund hatte Marxx das Geschreibsel als Werbetext bezeichnet. Beth hatte die Machenschaften der Unruhestifter nicht unter die Lupe genommen, sondern sie mehr oder weniger wortgetreu nachgeplappert … Ich kann nicht Herr meiner Sinne gewesen sein! Sie stand auf. So abrupt und heftig, daß der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte,
hinter ihr zu Boden polterte und den im Pensionsalter befindlichen Archivar aus seinem Halbschlaf schreckte. »Noch eine Fuhre?« rief er Beth zu. Beth verneinte dankend. Sie klappte ihren portablen Macintosh zusammen und versuchte zunächst, Lilith in der gemeinsamen Wohnung telefonisch zu erreichen. Die Halbvampirin hob nicht ab. Eine weitere Sorge gesellte sich zu den vielen, die Beth’ Denken beherrschten. Wenn Lilith immer noch nicht vom Marillion-Tower zurück war, konnte es sein, daß sie in der Bredouille steckte. Es war sogar wahrscheinlich. Beth führte ein weiteres Telefonat und erkundigte sich in der Re daktion nach Moskowitz’ Verbleib. »Immer noch krank gemeldet«, hieß es dort. »Das ist gut«, murmelte Beth rätselhaft. Es war an der Zeit, einen Verdacht zu überprüfen. Moskowitz mußte helfen!
* Medizin gegen das Böse Tag und Nacht geöffnet Inh. Esben Storm Lilith weigerte sich darüber nachzudenken, daß sie schon wieder dabei war, sich auf eine Halluzination einzulassen. Bei ihrem letzten Besuch – gestern! – hatte sie Storms aus verkohl ten Trümmern originalgetreu wiedererstandenen Laden schon ein
mal betreten und sich vom Schein trügen lassen. Gestern hatte das Schild über dem Laden einen anderen Wortlaut als heute besessen: Traumzeit-Artefakte Öffnungszeiten nach Vereinbarung Inh. Oodgeroo Noonuccal Später, nach Erhalt des Totems und nach Verlassen des Gebäudes, das Landru zerstört hatte, war Lilith mit dem Phänomen konfron tiert worden, sich doch nur in einer ausgebrannten Ruine aufgehalten zu haben. Auch dieser Laden war bestimmt nicht real. »Immerhin«, murmelte sie und betrat das Gebäude ungehindert, »scheint das Versteckspiel ein Ende zu finden. Er bekennt sich wie der zu seinem weißen Namen …« »Esben Storm« war ein Eingeständnis an die Kultur der Weißen, die den Ureinwohnern – oder eigentlich der Natur – das Land ge stohlen hatten. Daß Storm, in seiner Stammessprache Oodgeroo Noonuccal genannt, dies weder aus ehrlichem Respekt noch frei von Zynismus getan hatte, lag bei ihm auf der Hand. Er war niemandes Freund. Auch nicht Liliths. Warum sich ihre Wege seit fast einem Jahrhundert immer wieder kreuzten, hatte andere Gründe. Und vielleicht war der Hauptgrund der, daß der Aboriginal, der einen Weg gefunden hatte, das Altern zu überlisten, schon früh die Gefahr gespürt hatte, die von dem Haus in der Paddington Street und seinen Bewohnern ausging. Creanna, Liliths Mutter, und Sean Lancaster, Liliths Vater, hatten dieses Haus vor 98 Jahren in eine uneinnehmbare Bastion verwan
delt. Lilith war dort in magischem Schlaf, betreut von Marsha, einer Waisen, herangewachsen und auf ungeklärte Weise auf ihre Bestim mung vorbereitet worden. Eine Bestimmung, die – glaubte man den Dingen, die Lilith seit ih rem verfrühten Erwachen erfahren hatte, auf einen einfachen Nen ner zu bringen war: Kampf den Vampiren! Lilith hatte inzwischen Näheres über Geburt und satanische Taufe ihrer Mutter erfahren. Nach den in Wales gewonnenen Erkenntnis sen war kaum anzunehmen, daß sich Creanna freiwillig dafür her gegeben hatte, das Ende ihres eigenen, im Verborgenen über die Menschen herrschenden Volkes voranzutreiben. Vielmehr sah es so aus, als wäre sie von der Diebin des Lilienkelchs benutzt worden, um eines Tages Lilith auszutragen …! Nach Wales gab es für Lilith kaum noch Zweifel, daß auch sie be nutzt wurde. Im Keller ihres Geburtshauses hatte sie einen nebulö sen Auftrag erhalten. Anfangs hatte sie geglaubt, er stamme von ih rer Mutter. Mittlerweile tippte Lilith eher auf die mysteriöse Unbe kannte, die »schwefeläugige Hexe«. Sie war die Diebin des Blut kelchs, dem Landru seit 267 Jahren nachjagte. Und nicht einmal Landru schien während dieser langen Zeit auf die Fährte der Rot haarigen gestoßen zu sein, die selbst eine Vampirin war. Die den Kelch stahl und damit Creanna zeugte. Und ein ganzes Dorf aus löschte. Und später rätselhafte Experimente mit anderen Vampiren praktizierte. Und … Wer wußte schon, was sie noch alles damit angerichtet hatte. Seit dem Diebstahl hatte sich die Spur des Kelchs endgültig verlo ren. Lilith war mit leeren Händen nach Australien zurückgekehrt und
hatte durch die Ereignisse noch keine Gelegenheit gefunden, sich mit Jeff Warner zu besprechen. Ihn hatte sie fragen können, welche Kraft das Grundstück 333, Paddington Street zwar wirksam gegen vampirische Übergriffe geschützt, zugleich aber auch die Pervertie rung der dortigen Wondjinas bewirkt hatte. Im gleichen Moment, als Liliths das Haus verlassen hatte, als sie diese Kraft nicht mehr auf sich bündelte, sondern sie quasi freigab. – Endlich, seufzte eine Stimme. Endlich beginnst du zu verstehen … Sie wirbelte herum, ohne zu wissen, Was sie erwartete: die »Schwarze Flamme« des Banguma, Esben Storm in seiner Originalge stalt, oder … Lilith sah Storrris Astralleib – so wie sie ihm damals, als Landru sie attackiert hatte und das HAUS sie hatte an sich ziehen wollen, zuletzt begegnet war.* Der Aboriginal wandelte immer noch auf Traumzeitpfaden …! »Ewig ist die Qual eines Schattens«, rann es gedankenlos über Li liths Lippen. Der Schemen, der wie eine von unsichtbaren Kräften gestützte, schillernde Flüssigkeit aussah, krümmte sich. – Wie wahr, wisperte es in Lilith. Ewig ist auch meine Qual! Aber das hat kein Gewicht gegen die Dinge, die WIRKLICH zählen. Du warst DORT. Du hast es GESEHEN. Storms Schemen bewegte sich durch die Düsternis des Ladens, der einst vollgestopft mit Relikten und Kunstgegenständen der Aborigi nes gewesen war. Lilith folgte ihm mechanisch. »Ich verbiete dir, meine Gedanken zu lesen!« sagte sie barsch. Ob wohl sie die Tragik spürte, die diesem Esben Storm anhaftete, konnte
*siehe Vampira 5: »Niemandes Freund«
sie nicht vergessen, wie egoistisch er seine verschleierten Ziele ver folgte. – Verbiete es! erwiderte er ungerührt. Lilith streckte die Hand aus und versuchte den Schemen zu berühren. Er wich aus. Daraufhin zeigte sie auf ihr farblich verändertes Mimikrykleid. »Bist du dafür verantwortlich?« – Nein. SIE … »Sie?« – Die Schöpfer. Sie lenkten dich hierher. Sie gaben dir das Totem, in dem IHRE Kraft wohnt. »Dieses ›Totem‹… hat meinen Symbionten befallen!« – Ich sehe. »Dann nimm es zurück!« verlangte sie scharf. – Das kann ich nicht. Das können nur SIE. Lilith drohte mit geballten Fäusten. »Dann sag es Ihnen!« – Wir verlieren nur Zeit. Wertvolle Zeit. Es ist bereits später, als auch SIE dachten. Du kannst den Entarteten nicht mehr allein entgegentreten. Sie sind bereits zu viele und zu stark. Die Katastrophe weitet sich stünd lich mehr aus … »Ich wollte ihnen nie allein entgegentreten!« begehrte Lilith auf. »Das verfluchte Ding, das ich hier fand, hat versucht, mich dazu zu zwingen!« Storms Astralleib wich zur Seite und gab den Blick ungehindert auf ein Regal frei. Liliths Augen weiteten sich. Sie sah etwa zwei Dutzend identische »Broschen« darin liegen. Knöcherne Totems wie jenes, welches dem Symbionten zum Ver hängnis geworden war.
»Was soll das?« fauchte sie. – Du brauchst Hilfe in deinem Kampf. »Wer sagt dir, daß ich kämpfen werde?« – Dein Gewissen. »Was weißt du über mein Gewissen?« – Offenbar mehr als du! Glaubst du immer noch, das Totem habe dich ge zwungen, dich dem Versteck der Entarteten zu nähern? Lilith blinzelte irritiert. »Was sonst?« – Das Bewußtsein deiner SCHULD. Dein Gewissen hat längst erkannt, was ich dir bei unserer ersten Begegnung begreiflich zu machen versuchte: Das Haus in der Paddington Street, DEINE WIEGE, hat den Prozeß der Entartung ausgelöst! Und nachdem die Krankheit den ersten Wondjina in fizierte, konnten in einer Kettenreaktion weitere angesteckt werden! Wir müssen verhindern, daß es allen so ergeht! »Wie?« fragte Lilith mit kühlen Lippen. – Deine Diener müssen helfen! Lilith stieß verblüfft den Atem aus. Was wußte Esben Storm von dem Ereignis, das laut Jeff Warner unmittelbar bevorstand und von den aktuellen Problemen völlig in den Hintergrund gedrängt wurde? In vier Tagen sollte Lilith eine Nachricht erhalten, die ihr den Weg zum Treffpunkt der Diener zeigen und sie dort mit den »Befreiten« konfrontieren sollte … »Ich habe keine Diener!« behauptete sie schroff. Ich will keine Skla ven! – Es sind keine Sklaven. Es sind HELFER. Lilith verzichtete darauf, ihn erneut zu maßregeln, weil er immer noch in ihren geheimsten Gedanken stöberte. »Was weißt du darüber?«
– Nur was SIE mir sagten. »Was haben sie damit zu tun?« – Sie haben deine Diener ausgeliehen… »Ausgeliehen?« – Und sie zugleich an einen sicheren Treffpunkt gebracht. Lilith begriff immer noch nicht genau, was Storm damit sagen wollte. Der Schemen deutete hinter sich. – Die Totems sind für sie bestimmt. Gemeinsam können wir es vielleicht noch schaffen, das Böse in seine Schranken zu weisen. NUR gemeinsam! Lilith schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn es nur um eine genü gende Zahl von ›Broschen‹ geht, kann ich sie auch in eine Tüte stop fen und –« – Es geht nicht nur um die Broschen. Es geht um dich. Und um die Die ner, von denen jeder etwas von jener Energie in sich trägt, die die Entar tung begünstigte! Du weißt, daß man Feuer mit Feuer bekämpfen kann … »Wenn der Wind günstig steht!« – Wenn der Wind günstig steht … Nimm jetzt die Totems. Laß uns auf brechen! »Wohin?« – Zum neuen Treffpunkt der Diener. Die noch nicht erkrankten Wond jinas haben sie unter die Obhut eines von ihnen beseelten Baumes gestellt. Dort warten sie auf unser Eintreffen. »Unseres?« Storms Seele schwieg.
*
Moskowitz trug einen neckisch gestreiften Pyjama, als er Beth die Wohnungstür öffnete. Aber sein Teint sah nicht mehr ganz so wäch sern aus wie gestern. Was in seinen Augen flirrte, war auch kein Fieber, sondern Aus druck der Überraschung. »Wenn Sie sich Ihre Jugend bewahren wollen, Macbeth – weichen Sie von mir! So nett ein Krankenbesuch meiner Lieblingskollegin auch sein mag … Sie spielen mit ihrer Ge sundheit, Kindchen!« »Macbeth« drängte an ihm vorbei in seine »gute Stube«. »Erstens«, sagte sie, »bin ich nicht Ihr Kindchen. Und zweitens ist dies nicht der Besuch bei einem Todgeweihten … Sie haben eine Grippe, Mosk! Nur eine Grippe. Und vielleicht noch den falschen Arzt …« Sie wußte, daß sie damit offene Türen einrannte. Aber er wußte nicht, daß sie es wußte. »Dieser verdammte Kurpfuscher!« fluchte er drauflos. Dabei schloß er die Tür und folgte Beth ins Wohnzimmer. Seine Nase sah wie die rote Gummiknolle eines Clowns aus. Nur daß einem bei Moskowitz eher die Tränen kamen. »Ich verstehe das nicht«, schniefte er. »Ich bin fieberfrei. Aber meine Nase läuft, als müßte sie einen dringenden Termin einhalten. Und mein Schädel –« »Könnte es sein«, unterbrach ihn Beth, »daß Sie sich ein bißchen gehen lassen und nebenbei auch ein klitzekleiner Hypochonder sind?« Er pflanzte sich in einen Sessel. Auf dem Tisch vor ihm waren ein Inhalationsgerät, medizinische Bücher und ein ganzer Stapel Pillen aufgereiht. Seufzend verneinte er und beharrte: »Ich leide. Ich habe in der Redaktion Bescheid gesagt, daß man die nächsten Tage nicht mit mir zu rechnen braucht. Ein guter Freund von mir, Al, arbeitet in der Anzeigenannahme und will nachher noch vorbeikommen, da
mit wir eine stilvolle Todesanzeige aufsetzen können. Er versprach mir einen Sondertarif …« Beth grinste. Moskowitz grinste. Dann wurde er ernst und sagte: »Die letzte Bil derserie ist nichts geworden. Ich hatte einen richtigen Blackout … Moe hat mir schon den Kopf gewaschen. Telefonisch …« Beth, die es besser wußte, sagte: »Das kenne ich. Dürfte ich mir Ihre Medikamente mal ansehen?« »Habe ich Sie schon angesteckt?« »Sie nicht …« Moskowitz zuckte die Achseln und deutete auf den Schachtelhau fen. »Greifen Sie zu!« »Welche Pillen hatten Sie intus, als wir uns an der Walker Lane trafen?« fragte sie. »Erinnern Sie sich noch?« Moskowitz nickte und tippte, ohne überlegen zu müssen, auf eine kleine grüne Schachtel. Sie war noch halbvoll. Beth las die Pa ckungsbeilage. Besonders die Gegenanzeigen und Nebenwirkun gen. Schließlich nahm sie ihren Notizblock und einen Bleistift aus der Jackentasche und schrieb sich den Namen des Medikaments auf. Moskowitz ließ sie gewähren, meinte dann aber: »Eigentlich unnö tig. Ich nehm’ das Zeug nicht mehr. Bin umgestiegen. Der Eukalyp tusgeschmack tötet jeden Nerv im Gaumen. Sie können essen, was Sie wollen, alles schmeckt gleich … Stecken Sie es ruhig ein.« »Danke.« Beth erhob sich, kramte ein Kistchen, so groß wie eine Pralinenschachtel, aus der Innentasche ihrer Jacke und deponierte es neben den Tablettenpackungen. »Für Ihr Leben nach der Abstinenz«, sagte sie schulterzuckend. »Ich weiß, man sollte einen Süchtigen nicht mit seiner Droge beschenken – aber ohne Zigarre sind Sie ein fach nicht der Mosk, den ich kenne und der mir ans Herz gewachsen ist …«
* Es war Mittag, als Beth ihre Wohnung erreichte. Wie erwartet – oder befürchtet – war Lilith nicht da. Sie fand auch keine Nachricht, die gezeigt hätte, daß Lilith zwischendurch einmal heimgekommen wäre. Daraufhin fuhr Beth mit ihrem Mini zum Marillion-Tower in der Druit Street. Dort erwartete sie ein erstaunliches Bild. Chaotische Verhältnisse in der Straße selbst zwangen sie schon vorzeitig dazu, ihren Wagen irgendwo »wild« zu parken. Die Strei fen rechts und links der Fahrbahn waren sämtlich besetzt. Mitunter legten Zeitgenossen sogar ein höchst bedenkliches Verhalten im Ab stellen ihrer Vehikel an den Tag. Manche der verwaisten Autos stan den einfach quer auf der Straße und blockierten den Verkehrsstrom. Beth beobachtete eine Hochkonjunktur der Abschleppdienste. Po lizisten oder Streifenwagen konnte sie hingegen nirgends entdecken. Dies alles geschah schon ein gutes Stück vom Marillion-Tower ent fernt. Beth legte ein paar hundert Meter zu Fuß zurück. Sie war nicht die einzige, die zum Hochhaus unterwegs war. Klei nere, verstreute Gruppen »pilgerten« förmlich dorthin. Der Anblick verursachte mehr als nur Beklemmung in Beth. Die schweigsame Art der Menschen, denen sie begegnete, wies darauf hin, daß sie unter irgendeinem Einfluß standen. Unter dem der »Propheten«? Hatten deren »Bekehrversuche« bereits ein solches Ausmaß ange
nommen? Beth selbst fühlte sich frei in ihrem Willen. Noch. Aber je näher sie dem riesigen Wohnturm kam, desto ängstlicher horchte sie in sich hinein. Als sie kurz vor dem Eingang ein junges, Hand in Hand gehendes Paar ansprach, wurde das Verlangen, ihnen eine Warnung zuzu schreien, fast übermächtig. Sie beherrschte sich und fragte sich gleichzeitig, ob sie die beiden nicht in ihren sicheren Untergang tappen ließ. »Besuchen Sie auch jemanden?« fragte sie, an die zierliche, dunkel haarige Frau gerichtet. Sie mußte ihre Frage wiederholen, ehe sie überhaupt im Bewußt sein der Angesprochenen ankam. »Die Apokalypse wird uns verschlingen! Der Himmel wird sich verdüstern über der Stadt. Ein Wind von schrecklicher Kraft wird aufkommen, ätzender Regen wird niederfallen und das unwerte Le ben hinfortspülen …!« Beth spürte einen Krampf in der Kehle und einen Stich im Herzen. Sie kannte die tonlos vorgetragene Botschaft. Wortgleich hatte sie sie selbst an der Walker Lane vernommen. Nur hatte sie sich bei ihr nicht so stereotyp in den Verstand gefres sen wie bei dieser bedauernswerten Frau. Spontan verstellte Beth dem Paar den Weg. »Gehen Sie nicht weiter!« sagte sie eindringlich. »Sie dürfen nicht –« Das Paar stoppte nicht. Es verlangsamte nicht einmal seine Schrit te. Beth trat freiwillig zur Seite, ehe sie angerempelt wurde. Verknif
fen blickte sie den Händchenhaltenden nach. Sie mußte sich einen Ruck geben, um ihnen ins Innere der Vorhal le zu folgen. Zielsicher wählten sie den mittleren von drei Aufzügen und warteten regungslos. Schweigend. Als der Lift kam und die Kabine sie aufnahm, hatte Beth erneut das niederschmetternde Gefühl, etwas tun zu müssen, aber nicht zu können… Die Türflügel des Lifts schlossen sich. Die Kabine setzte sich, ver folgbar über die Anzeigetafel darüber, in Bewegung. Hinter Beth drängten bereits die nächsten Ankömmlinge herein. Niemand beachtete die blonde Reporterin. Niemand kümmerte sich um die Aufzüge links und rechts. Der mittlere mußte es sein. Er fuhr ohne Stopp bis hinauf ins Penthouse, hielt für einige Se kunden und kehrte dann wieder ins Erdgeschoß zurück. Als die Tür auseinanderglitt, war die Kabine leer. Die nächsten Besucher stiegen zu. Beth fröstelte nicht nur, sie zitterte. Sie war plötzlich absolut si cher, daß es mit niemandem, der diesen Lift bestieg, ein Wiederse hen geben konnte … Hatte Lilith ihn auch benutzt? Gab es deshalb keinerlei Lebenszeichen von ihr? Eine andere Feststellung steigerte Beth’ Befangenheit noch mehr. Sie hatte es schon vorhin bemerkt, aber ignoriert. Als die Kabine nun erneut im obersten Stockwerk haltmachte, pflanzten sich seltsa me Vibrationen aus dem Boden, auf dem Beth stand, bis in ihr Ge hirn hinauf … Was geschah dort oben? Wieder betraten Ankömmlinge die Halle.
Erneut wiederholte sich das Schauspiel: Schweigend, wie betäubt erwarteten die Menschen die Ankunft des Lifts … Beth wandte sich ab. Von einer Gänsehaut nach der anderen über rannt, verließ sie das Gebäude und eilte zur nächsten Telefonzelle. Von dort rief sie die Polizei an. Sie ließ sich irgendeine Räuberpistole von einem Schuß einfallen, den sie aus der Penthouse-Wohnung des Marillion-Tower bis ins darunterliegende Stockwerk gehört habe … und legte auf. Dann kehrte sie zum Hochhaus zurück und wartete. Fünfzehn Mi nuten später bahnte sich ein Streifenwagen den Weg durch das Cha os. Zwei Polizisten stiegen aus und suchten das Gebäude auf. Beth blieb draußen und beobachtete durch die Eingangsvergla sung, wie die Uniformträger die Rufknöpfe aller Aufzüge betätigten. Aber nur der mittlere kam. Sie bestiegen ihn und entzogen sich Beth’ Blick. Sie ging in die Halle und beobachtete das gewohnte Bild: Stopp im Penthouse. Rückruf der Kabine durch das nächste ankommende Paar, das den wieder leeren Lift bestieg und ebenfalls nach oben fuhr … Beth wartete eine Dreiviertelstunde, in der immer wieder Men schen kamen, aber nie jemand von oben zurückkehrte. Auch die bei den Polizisten nicht. Beth öffnete die Tür, auf der Stairs geschrieben stand. Das Trep penhaus lag finster vor ihr. Es gab keine Fenster, und die Beleuch tung funktionierte nicht. Beth wußte, daß sie im Dunkeln niemals nach oben steigen würde. Nicht für alles Geld der Welt. Noch einmal kehrte sie zu ihrem Wagen zurück. Die Verhältnisse
hatten sich wenig gebessert. Für jedes abgeschleppte Fahrzeug kam ein neues dazu. Absonderlich war nur, daß die Polizei sich inzwi schen zwar um das Chaos scherte, aber keinem der Menschen, die ihre Fahrzeuge stehen ließen, zum Marillion-Tower folgte. Man beschränkte sich auf das Verteilen von »Knöllchen«. Beth holte kopfschüttelnd eine Taschenlampe aus dem Kofferraum des Mini. Damit – und mit einem zunehmend lausigen Gefühl in der Magengegend – kehrte sie zum Hochhaus zurück. Äußerlich, das stellte sie auch jetzt fest, war nichts Auffälliges dar an zu bemerken. Höchstens die Grünbepflanzung oben auf dem Dach sah etwas mitgenommener als beim gestrigen Besuch aus. Es konnte aber auch an dem merkwürdigen Zwielicht liegen, das die Wolken über der Stadt verbreiteten … Der Schnee war geschmolzen, die Temperatur nach oben ge schnellt. Ebenso sprunghaft, wie sie in den Keller gefallen war. Kreislaufleidende mußten diese Kapriolen wie Schläge in den Ma gen empfinden. Beth litt Gottseidank nicht an solchen Wehwehchen. Sie betrat das Treppenhaus mit eingeschalteter Lampe. Hinter ihr schloß sich die Tür, von einer Gasfeder getrieben. Sekundenlang stand die Reporterin allein in der Düsternis, die vom Lampenstrahl zwar erhellt, aber nicht beseitigt werden konnte. Beth dachte nicht nur an Lilith, sondern an die vielen anderen, die vom Lift des Hauses nach oben gekarrt wurden. Zum höchsten Punkt des Gebäudes. Was geschah dort? Eine harmlose Erklärung konnte es nicht geben. Nicht nach dem, was die Moskowitzschen Bilder enthüllt hatten … Beth stieg nach oben.
* Tasmanische Insel, Mount Reid Der Wald, der kein Wald mehr war, empfing die Menschen. Dutzende von schweigsamen, in der Mittagshitze ankommenden Personen, die den Aufstieg ohne Schweiß oder sonstige sichtbare Anstrengung bewältigt hatten. Sie kamen ohne Gepäck und ließen sich unter den Zweigen des Urbaums nieder, der sie gerufen hatte. Der in ihm wohnende Wondjina hatte sie gerufen, hierher geleitet. Im Auftrag jener Schöpferwesen, die noch nicht – vom Wahnsinn befallen – eine neue Schöpfung anstrebten. Aber seit der Baum gerufen hatte, war auch mit ihm etwas gesche hen. Der »Gläserne« war gekommen … Die eintreffenden Menschen ahnten davon nichts. Sie hatten Vertrauen. Grenzenloses Vertrauen. Wieder war ihnen geholfen worden. Wieder hatte die Reise von Sydney zu den Gestaden der vorgela gerten Insel nicht mehr als eine freundliche Bitte gekostet … Sie setzten sich auf den Boden des »Waldes« und sammelten sich für das Bevorstehende. Auch wenn sie immer noch nicht wußten, was von ihnen erwartet wurde. Sie waren geduldig. Duldsam. Bis die nadellosen, verdorrten Äste sich zu ihnen herabsenkten und sie willkommen hießen …
* Marillion-Tower, Sydney Der Aufstieg war mühsam. Beth spürte ihre übersäuerten Muskeln lange vor Erreichen des Ziels. Hin und wieder hörte sie aus den Wänden das Fahrgeräusch des Aufzugs. Jedesmal gab es ihr einen neuen Stich, wenn sie an das Ungewisse Schicksal der Menschen dachte, die sich diesem Lift anvertrauten. Auf Höhe des zehnten Stocks legte sie eine Verschnaufpause ein. Ihre Beine zitterten bereits vor Überanstrengung, und das Herz schi en oben im Hals zu schlagen. Wie immer, wenn sie konditionellen Mangel feststellte, nahm sie sich vor, schnellstens etwas dagegen zu tun. Es würde auch diesmal beim guten Vorsatz bleiben. Bevor sie nach ein paar Minuten den Weg fortsetzte, warf sie einen Blick in die Etage. Der Korridor lag leer und verlassen vor ihr. Totenstill. Beth erklomm die nächsten Stufen. Von nun an erholte sie sich auf jedem weiteren Stockwerk kurz. Auf Höhe der fünfzehnten Etage hörte sie Stöhnen und obszöne Schreie durch die geschlossene Tür. Sie wurde neugierig, beherrsch te sich aber. Ein Stockwerk höher erfolgte dann ein Angriff, der sie völlig über raschte. Noch wahrend sie mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und tief durchatmete, schwang die Tür auf, und ein Mann stürzte auf sie zu. Er war so groß wie sie, aber kräftemäßig zweifellos überlegen.
»Heh!« begeisterte er sich. »Dich kenn’ ich ja noch gar nicht, ey!« Rechts und links von Beth wuchtete er die Handballen gegen die Wand. Sein Gesicht hing vor Beth. Er sah – unter der Dreckkruste – nicht einmal schlecht aus. Mitunter flirtete Beth mit sympathischen Männern, ohne die ge ringste Bereitschaft allerdings, weiter zu gehen. Dieser Bursche war weder sympathisch, noch kam ein Flirt in Fra ge. Aber daran schien er selbst auch nicht interessiert zu sein. Seine Ambitionen waren viel schlichterer Natur: Er wollte ihr an die Wä sche! »Pfoten weg!« Beth versuchte es im Guten. Das wußte er nicht zu schätzen. Grapschhände wanderten mit dem Zartgefühl eines Veterinärs über ihre kleinen, straffen Brüste. Glitten weiter zu den Hüften, der vollen Rundung ihres Pos … Er war gewarnt. Einmal. Eine zweite Warnung würde es nicht geben. Beth hob das Knie – so wenig behutsam und feinfühlig, wie er sei nen Händen Auslauf gestattete. Er schrie auf und klappte mit dem Oberkörper nach unten. Beth tauchte an ihm vorbei, so daß sie diesen Reflex nicht mehr ausbaden mußte. Und der Wand war es gleichgültig, Bekanntschaft mit sei nem Schädel zu schließen. Ächzend sank er zu Boden. Beth wartete seine Genesung nicht ab. Mit neuem Elan ging sie die letzten Stufen an. Sie erwartete, seine Verfolgerschritte zu hören. Aber offenbar hatte er – wenn auch verspätet – kapiert. Auf dem Absatz des siebzehnten Stocks spürte Beth plötzlich eine
Benommenheit, die nichts mit der Strapaze des Aufstiegs zu tun hat te. Sie reagierte, wie sie es sich bereits im Vorfeld vorgenommen hat te. Ihre freie Hand grub sich in die Jackentasche und förderte drei der weißen Pillen zutage, die sie von Moskowitz mitgebracht hatte. Beth schluckte sie ohne Wasser, nur mit dem eigenen Speichel. Sie konnte fast verfolgen, wie sie sich den Weg durch die Speise röhre zum Magen bahnten, und wußte, daß sie ein Risiko einging. Ein Medikament war immer ein Risiko. Beth wartete fünf Minuten. Solange mußte sie dem Pulver aus der Moskowitzschen Giftküche Zeit geben, sich zu entfalten. Als die Frist um war, ging sie langsam weiter. Sie passierte die aufgemalte »18« auf der Tür zur entsprechenden Etage. Der Lampenschein huschte darüber hinweg. Beth hielt kurz ein, dann wandte sie sich dem letzten Stock vor der Penthouse-Wohnung zu. Der Lichtstrahl geisterte wie ein fahler Finger die Stufen voraus … … und hörte auf. Plötzlich. Wie abgeschnitten! Nicht die Lampe erlosch, sondern ihr gebündelter Schein endete ein paar Schritte höher abrupt! Beth erstarrte. Eine eisige Hand griff nach ihr. Sie hatte Courage, aber das hier … Sie mußte an sich halten, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und fluchtartig den Rückweg anzutreten. Es war unheimlich, es war gespenstisch. Zehn Stufen über ihr hör te die Treppe einfach auf! Hörte alles auf!
Nein, korrigierte sich Beth. Nicht alles … ETWAS existierte auch dort in der Schwärze. Etwas bewegte sich dort wie ein Kind im Mut terleib. Beulte die kompakte, tintige Schwärze aus. Streckte verlan gend ein eitriges Händchen hervor und winkte Beth in fast zärtli cher Weise zu … Komm, lockte das Händchen. Komm her zu mir. Laß mich dich … Beth löste sich aus dem Bann. Sie griff sich an den Hals. Lauschte dem dumpfen Pochen der Arznei in ihrer Blutbahn. Würde sie helfen? Hatte sie Moskowitz gegen den Einfluß der Endzeitpropheten ge holfen? Beth hatte keine Versicherung, daß die Grippetabletten den Foto grafen bei ihrem Ortstermin an der Walker Lane tatsächlich vor un heilvollen Einflüssen bewahrt hatte. Da er sich aber von Lilith mü helos hatte hypnotisieren lassen, war auszuschließen, daß er eine na türliche Immunität gegen Beeinflussungen besaß … Vorsichtig stieg sie höher. Ein, zwei Stufen. Unwillkürlich duckte sie sich, weil sie spürte, daß es nicht ratsam war, der unnatürlichen Dunkelheit zu nahe zu kommen oder sie gar zu berühren. Immer und immer wieder fuhr sie mit dem Lampenstrahl die Flä che nach, wo die Treppe zwischen dem achtzehnten und neunzehn ten Stock radikal endete. Wo sich ein Pfropfen aus lebendiger Fins ternis auf die Normalität gestülpt hatte. Wenn Lilith da hineingeraten ist, dachte Beth schaudernd, werde ich sie nie wiedersehen! Nie mehr … Dann hat die Gefahr, vor der der Bangu ma warnte, sie verschlungen! Aber ICH will nicht sterben! Ich – Das Händchen brachte ihre Gedanken ins Stocken.
Das Händchen machte sie wahnsinnig mit seiner scheinbar liebe vollen Gestik. Mit seinem Locken und bedächtigen Winken … Ich muß weg. Sie verharrte wie angewachsen. Ich – muß – weg! Als sie rückwärts zu gehen begann, zeigte das Händchen seine Enttäuschung. Und seinen Unmut. Es verkrampfte. Beth ging weiter. Sie hatte ein Gefühl, als habe ihr jemand Zentnergewichte an die Fußgelenke gebunden. Aber sie entfernte sich mehr und mehr von der nachtschwarzen, lebendigen Decke. Das Händchen ballte sich zur Faust. Es schüttelte sich in absurder Drohgebärde, die aber nicht im entferntesten komisch wirkte. Beth fühlte die geschlossene Faust um ihr Herz. Spürte, wie es unbarm herzig zusammengepreßt wurde. Da spreizten sich die Finger. Eine obszöne Geste klagte Beth an. Der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt … Absurd auch dies: Ein Traumzeitwesen, ein Wondjina, der primi tiv-menschliche Verachtung nachahmte … Beth stolperte. Im letzten Moment konnte sie einen Sturz verhindern. Sie fing sich mit der freien Hand ab und wurde von dem plötzlichen Schrecken jäh ernüchtert. Als sie sich aufrichtete, drehte sie dem Händchen den Rücken zu und entzog sich seinem Anblick vollends, indem sie der Treppenbiegung folgte. Hastig eilte sie jetzt nach unten. Das Licht der Lampe »griff« wieder. Als die aufgemalte »15« vorbeihuschte, stockte Beth kurz. Nicht aus Angst vor einem neuen Angriff, sondern …
Sie erschrak vor sich selbst. Vor ihren Abgründen. Einen Moment hatte sie gehofft, den zudringlichen Typ von vorhin wiederzutreffen. Einen Moment lang hatte sie animalische Lust bei dem Gedanken empfunden, es mit ihm zu treiben. Ihm die Kleider vom Leib zu reißen. Die Finger um sein Brusthaar zu wickeln. Sein erigiertes Glied in ihren Schoß drängen zu lassen … Sie rannte wie von Furien gehetzt weiter. Etage um Etage. Atemlos erreichte sie das Erdgeschoß. Riß die Tür auf und drängte ins Tageslicht. Das gewohnte Bild erwartete sie. Menschen vor dem Lift. Menschen, die Beth keinerlei Beachtung schenkten. Die wie hyp notisiert auf die Türflügel starrten, die sich öffnen sollten. Sie mußten nicht lange warten. Der Lift kam. »Nein!« schrie Beth erstickt. »Nein! Seid nicht verrückt! Geht nicht –« Sie war auf die Menschen zugelaufen, verhielt aber abrupt im Schritt, als sich ein einzelnes Pärchen zu ihr umdrehte. Und das lag nicht nur an deren Outfit. Beide, ein schlanker, großgewachsener Mann und eine kahlge schorene junge Frau, trugen zerfetzte Khakikleidung, als wären sie gerade von einer Expedition heimgekehrt. Überall färbten Blutspu ren den Stoff dunkel, doch Beth konnte keine Verletzung als Ursa che dafür entdecken. Das Unheimlichste jedoch waren die Augen der beiden. Es gab keine erkennbare Iris. Die schwarzen Pupillen füllten den
Augapfel beinahe ganz aus. Und der Blick aus diesen Augen war so unendlich böse, daß Beth erschrocken zurückzuckte. Ungehindert stiegen die Menschen ein. Die Aufzugtür schloß sich und fuhr verzögerungsfrei an. Beth beobachtete wie hypnotisiert die Anzeigetafel. Hinauf bis zum Penthouse, dachte sie, von einem Gefühl der Schuld und der Ohnmacht überwältigt. Sie realisierte zunächst gar nicht, daß der Lift bereits im neunzehn ten Stock hielt. Dann begriff sie. Die Schwärze wandert … Sie kriecht von oben nach unten. Das Penthouse ist fest in ihrer Hand, und nun auch das darunterliegende Stockwerk … Was all dies zu bedeuten hatte, konnte sie nur ahnen. Daß niemand, der den Lift nahm, zurückkehrte, ließ Schlimmstes befürchten. Beth schnürte es die Kehle zu, wenn sie sich vorstellte, daß all die Menschen, die nach oben fuhren, ihrem sicheren Untergang entge genstrebten. Daß sie in jene dämonische Schwärze tauchten, vor der sie gerade geflohen war … Sie mußte verhindern, daß die Zahl der Opfer immer weiter an wuchs …! Aber wie? Während sie wankend den Marillion-Tower verließ, setzte sich all mählich die Erkenntnis in ihr durch, daß dieser Name längst über holt war. Vielleicht gab es einen Isaac Marillion in dieser gigantischen Men schenfalle gar nicht mehr …!
* Sydney Airport Lachlan Macquarie führte den technischen Check seines Helikopters gewissenhaft durch. Sorgfalt war unumgänglich, wenn das Überle ben vom reibungslosen Funktionieren jedes noch so kleinen Räd chens abhing. Lachlan Macquarie betrieb seinen Kurierdienst seit knapp fünf Jahren. Das Einmann-Unternehmen behauptete sich seither gegen die Konkurrenz, hinter der zumeist ein wesentlich größerer Apparat und ein wesentlich potenterer Finanzier steckte. Reich war Macquarie in den Jahren nicht geworden. Er war schon froh, wenn er die monatliche Hypothek und alle anfallenden Flug hafengebühren aufbrachte. Daß Esther ihn vor drei Monaten mit Sack und Pack verlassen hatte, hob seine Laune auch nur unwesent lich. Okay, war ein Scherz: Er fühlte sich absolut beschissen, seit die Wohnung abends leer war. Meist ging er im Dunkeln und kehrte im Dunkeln heim. Außer dem Fernseher und dem Kühlschrank wartete niemand mehr auf ihn. Er hatte ein Telefon, aber außerhalb der Ge schäftszeiten rief ihn niemand an. Dies zum Thema Freunde. Die hatte Esther ebenfalls abgeräumt und mitgenommen … Macquarie wußte, daß er ein armes Schwein war. Er hatte einen leichten Bauchansatz, sah aber für seine 43 Jahre noch recht passabel aus. Als Workaholic würde er es jedoch schwer haben, Ersatz für Esther zu finden. Esther, verdammt! Sie hatte längst einen anderen! Macquarie hatte sie ein paarmal
unter der hinterlassenen Nummer anzurufen versucht. Aber jedes mal war ein Typ dran gewesen. Er hatte eingehängt, bevor er die sem Arschloch erklären mußte, daß er seine eigene Frau sprechen wollte. Seine Immer-noch-Frau, die es jetzt mit einem anderen trieb … Macquarie hieb mit der Faust gegen die Funk-Box. Hank, der im Tower Nachtschicht schob, meldete sich: »Klopf, klopf! Herein!« Er war ein Spaßvogel. Zumindest meinte er, einer zu sein. »Blödmann!« Macquarie schaltete den Funk aus und wollte sich wieder seiner Arbeit zuwenden. Morgen mußte er in aller Frühe einen Vertrag von Sydney nach Ballina, südlich von Surfers Paradise, fliegen. Zum Glück für ihn und andere Kuriere gab es diese wichtigen Dokumente, die nicht vom einen Fax gefressen und vom anderen wieder ausge spien wurden, immer noch. Vollgetankt war Macquaries Thin Lizzy bereits. Er mußte nur noch – Klopf-klopf … »Blöd-« Macquarie erinnerte sich gerade noch, daß er die FunkBox abgeschaltet hatte. Hank konnte es nicht sein. Als sich das Klopfen wiederholte, blickte er nach links und traute seinen Augen nicht. Die Spucke zog sich in seinem Mund zusammen. Er hatte gar nicht gewußt, daß es soviel Speichel gab … »Ich träume.« Er öffnete die Luke. »Hallo«, sagte der Traum.
»Hallo«, echote er geistreich. »Ich habe einen dringenden Auftrag.« Macquarie schwieg abwartend. Er wußte, daß dem Satz noch mehr folgen würde. Sein Blick ertrank in Grün. Er hatte noch nie Augen dieser Qualität gesehen. Noch nie eine solche Frau. Schade, daß er absagen mußte. Unendlich schade …
* Lilith leckte sich Blutreste aus den Mundwinkeln. »Wie lange wer den wir unterwegs sein, Lachlan?« »Eine gute Stunde.« Lilith blickte durch die Kanzelverglasung auf den Pazifik hinun ter, dessen Bewegungen bei Dunkelheit eine ganz andere Dynamik als bei Tag aufwiesen. Lilith spürte mühelos, wofür Menschen hoch empfindliche Instrumente benötigt hätten. Sie sah die Wellen des Ozeans auch bei Nacht. Und sie wußte um die besondere Gezeiten kraft, die nicht nur das Meer hob oder senkte, sondern auch Einfluß auf jedes Lebewesen nahm … Die Entfernung nach Tasmanien war zu groß, als daß Lilith sie in ihrer Fledermausgestalt hätte zurücklegen wollen. Zudem hätte sie Schwierigkeiten gehabt, die »Broschen« aus Storms Laden mitzu nehmen. Storm … Er war bei ihr. Unsichtbar und doch von nicht zu ignorierender Präsenz. Er saß dem Piloten buchstäblich im Nacken und suggerier
te ihm mit Liliths magischer Unterstützung die Flugroute. Der Symbiont schwieg immer noch hartnäckig. Obwohl eine Schlechtwetterfront angekündigt war, verlief der Flug bislang stö rungsfrei. Lilith schloß die Augen. Sie malte sich aus, wie die Begegnung mit ihrer ominösen Diener schar ablaufen würde. Ihre Phantasie reichte nicht aus. Ein sicheres Indiz dafür, wie we nig sie sich mit dem Gedanken an »Sklaven« anfreunden konnte … »Sind Sie auch manchmal so allein, Lachlan?« fragte sie, ohne die Lider zu heben. »Sehr«, erwiderte er ausdruckslos. Lilith nickte, als hielte sie es für selbstverständlich, daß im Grunde jeder auf sich gestellt war. »Erzählen Sie etwas«, bat sie, ohne die Zügel, die den Piloten ihren Anweisungen gehorchen ließen, nennenswert zu lockern. »Irgend etwas.« An Storms ätherischer Anwesenheit störte sie sich nicht. Man ge wöhnte sich an größere Übel. »Wir haben das vierte El-Ninjo-Jahr«, sagte der Pilot. »Was ist – El Ninjo?« »Ein Klimaphänomen«, antwortete er in leierndem Ton. »Die Oberflächentemperatur des Ozeans rund um Australien ist in den letzten vier Jahren permanent gestiegen. Die erhöhte Verdampfung führt zu erhöhter Wolkenentwicklung. Dadurch kommt es zu Über schwemmungen in großem Maßstab, wahren Sintfluten. Dies und die gleichzeitigen Dürren und Feuersbrünste in anderen Regionen bilden das ›tödliche Trio‹, das diesen Kontinent schon immer heim suchte – aber noch nie so geballt und Jahr für Jahr wiederholend.
Man könnte meinen, das …« »Schon gut«, brachte Lilith ihn zum Schweigen. »Danke.« Sie wollte nicht schon wieder von Katastrophen, Klimaverände rungen und anderen Vorboten einer drohenden Apokalypse hören. Eine Zeitlang gelang es ihr tatsächlich, etwas zu dösen. Dann blickte sie verstohlen zu dem unwirklichen Schemen, zu dem Storm geworden war. »Du hast mir immer noch nicht erzählt, Esben Storm, warum du mir zunächst in dieser Maskerade als Schwarze Flamme erschienen bist!« Storms Reaktion brachte fast den Helikopter zum Absturz. Er blähte sich auf, verlor seine menschliche Kontur und drohte al les andere innerhalb der engen Kanzel zu zerdrücken. Der Pilot brüllte auf und entglitt kurz Liliths Kontrolle, obwohl Storm nur ein Spuk war. Nichts Handfestes. »Bist du verrückt?« keuchte Lilith, als sie den Piloten beruhigt hat te. Esben Storm stabilisierte sich mühevoll. – Ich wollte nie sterben. Und der Banguma auch nicht! »Sei nicht kindisch!« fauchte sie. »Willst du immer noch darauf be harren, nicht der Banguma gewesen zu sein?« – Ich bin die Seele – er ist der Schatten, entgegnete Storm. »Und ich die Königin von Saba!« – Majestät… Lilith gab es auf. Je näher sie dem unbekannten Ziel kamen, desto mehr ergriff Ner vosität Besitz von ihr. Die wartende Dienerschar schwebte wie ein Damoklesschwert über ihr. Esben Storm und die Wondjinas ließen ihr keine Wahl. Sie mußte die Notwendigkeit akzeptieren, den be
freiten Dienerkreaturen entgegenzutreten. Eine eigene Lösung zur Behebung der Gefahr hatte sie nicht. Aber Diener… Ihr sträubten sich die Nackenhaare. »Die, die dir deine Bestimmung gab, ist um Schadensbegrenzung be müht«, echoten Jeff Warners Worte in ihrem Geist. »Wir sind da.« Lachlan Macquaries Stimme löschte die nagenden Zweifel. Lilith sah Storms gespenstischen Schemen im Genick des Piloten und wußte, daß er ihm die genauen Koordinaten ihres Ziels souffliert hatte. Sie waren da … Es gab keinen Zweifel. Auf einer Lichtung nahe eines Waldes gingen sie nieder. Macqua rie war ein guter Pilot. Eine Nachtlandung auf diesem Geläuf hätte viele vor Probleme gestellt. »Okay.« Lilith nickte dem Spuk in Macquaries Nacken zu. »Gehen wir.« Macquarie mißverstand. Er wollte sich erheben. Lilith klärte ihn auf. »Nicht Sie, ich meine das Seelchen hinter Ih nen, Lachlan! Sie warten hier!« Storm verharrte ebenfalls bewegungslos. – Ich komme nicht mit. Lilith glaubte zunächst an einen seiner unsensiblen Scherze. Aber es war ihm bitternst. – Ich bleibe hier! »Dann bleibe ich auch!« – DAS wäre kindisch. Lilith suchte nach Wegen, einem Astral-Helden wie Storm an die
Gurgel zu gehen. Vergeblich.
* Sydney Mehr und mehr machte sich der betäubende Einfluß von Mosko witz’ Medikamenten bemerkbar. Beth ertappte sich dabei, daß ihr die Augen zuzufallen drohten. Als »öffentliche Gefährdung« er reichte sie mit ihrer rollenden Sardinenbüchse das Redaktionsge bäude des Sydney Morning Herald. Unterwegs bemerkte sie einen seltsamen Widerschein am nächtli chen Horizont. Richtung Meer. Es sah aus, als würde sich ein rötli ches Fanal in den Himmel bohren. Eine Erklärung fand sie nicht, aber sie empfand das Phänomen als Bedrohung. Die Redaktion glich bei ihrer Ankunft einem aufgeschreckten Hor nissenschwarm. Überall flitzten Kollegen umher. Moe Marxx thron te wie die Oberdrone in seinem rundumverglasten »Terrarium«. Als Beth ihren Schreibtisch ansteuerte, kreuzten sich kurz ihre Blicke. Marxx’ Mißfallen war unübersehbar. Deutlich hatte er ihr zu ver stehen gegeben, was er von ihrer letzten »Glanzleistung« hielt. Angesichts des gerade im Marillion-Tower Erlebten steckte Beth diese neuerliche Antipathie-Kundgebung jedoch locker weg. Gegen ein menschenfressendes Hochhaus wirkte selbst Moe Marxx wie ein regelrechtes Lämmchen. Sie wählte einen doppelten Espresso aus dem Automaten, stürzte ihn hinunter, pflanzte sich hinter ihren Schreibtisch und wählte die Nummer des Polizei-Hauptquartiers. Wie es um Codds Nachfolger
bestellt war, wußte sie nicht. Aber momentan genügten ihr auch niedrigere Dienstgrade. Ihr Gewissen ließ nicht zu, das Geschehen in der Druit Street einfach auf sich beruhen zu lassen. Noch einmal bat sie – anonym – darum, daß sich die Polizei des dortigen Treibens annahm. Ein Schuß, der auch nach hinten losgehen und weitere Opfer – dies mal in Uniform – fordern konnte. Aber sie mußte etwas tun. Zu gleich lähmte sie eine fortschreitende Angst um Lilith. »Ihr Name!« verlangte die unpersönliche Stimme am anderen Ende der Strippe. »Kümmern Sie sich darum, bitte!« antwortete Beth. »Frau, wissen Sie eigentlich, was in der Stadt los ist? Wenn wir uns mit jedem anonymen Paniker befassen wollten, brauchten wir das Zehnfache an Leuten …!« Nachdem sie ihr nicht sehr hoffnungsträchtiges Telefonat beeen det hatte, fragte sie in der Zentrale nach, ob zwischenzeitlich ein An ruf für sie eingegangen sei. Die Frage wurde bejaht. »Eine Frau?« »Nein. Ein gewisser Asgard. Phil Asgard. Er sagte, Sie wüßten Be scheid …« Beth wußte Bescheid. Asgard wollte sich seine Spitzeldienste ent lohnen lassen … Als sich ein Schatten über ihren Tisch legte, sah sie auf. Moe Marxx stand mit verschränkten Armen vor ihr. »Lust auf Re habilitation?« »Sie reden noch mit mir?« »Wie könnte ich Sie besser foltern?« »Auch wahr …«
Marxx ließ sich kein noch so dünnes Lächeln entlocken. »Sie se hen, was hier los ist?« Beth nickte. »Sie wissen, was draußen los ist?« Beth verneinte vorsichtig. Meinte er den Marillion-Tower? »Allein in der letzten Stunde gingen ein paar hundert Anrufe ein, die uns auf einen Spuk an der Küste aufmerksam machen. Die Palet te reicht von der obligatorischen UFO-Sichtung bis hin zur himmli schen Bestätigung des bevorstehenden Weltuntergangs … Sie kom men von draußen – haben Sie nichts bemerkt?« Beth erinnerte sich an das rötliche Fanal. Dennoch schüttelte sie den Kopf. Moe Marxx brummte Unverständliches. Dann schnarrte er: »Set zen Sie sich in Bewegung, aber flott! Seymor wird Sie begleiten. Er macht die Fotos.« Seymor war dreißig Jahre jünger als Moskowitz und neu im Team. Als Beth den Blick schweifen ließ, entdeckte sie ihn gegen den Kaf feeautomaten gelehnt. Offenbar hatte Marxx ihn zuerst informiert, denn er prostete Beth mit seinem Pappbecher zu. »Und wie kommen Sie nach den letzten Zweifeln an meinem Kön nen gerade auf mich, Boß?« fragte sie demotiviert. Marxx’ Fischmund lächelte kalt. »Ich habe gewürfelt.«
* Am Horizont über der tasmanischen See graute der Morgen. Lilith entfernte sich vom Helikopter. Ihr Blick war auf den Wald gerichtet, den Esben Storm ihr als
Treffpunkt der Diener genannt hatte. Zuvor hatte er von einem »Urbaum« gesprochen, unter dessen Ob hut die befreiten Dienerkreaturen von den »guten« Wondjinas ge stellt worden waren. Lilith machte sich keine großen Gedanken über diesen beseelten Baum. Sie trug die »Broschen« bei sich und interessierte sich aus schließlich dafür, wie die Begegnung mit ehemaligen Todfeinden verlaufen würde. Storm hatte keinerlei Andeutungen gemacht, wie die Diener mit den Totems von hier aus schnell genug nach Sydney gelangen soll ten. Das Fassungsvermögen des Helikopters reichte dafür bei wei tem nicht aus. Er hätte etliche Male hin und her fliegen müssen … Sie erreichte den Waldrand und durchstreifte mit ihren Blicken den lichten Baumbestand. Ihre Ahnung bestätigte sich. Hier war kein Mensch! Sie unterdrückte die Erleichterung darüber, weil sie einräumen mußte, daß dies keine Lösung war. Ohne den Plan der »guten« Wondjinas würde die böse Kraft immer mehr um sich greifen. Was dies letztlich für Sydney oder weitere Räume bedeutete, wollte sie sich nicht ausmalen. Aber eine Macht, die imstande war, Realitäten scheinbar nach Belieben an- und auszuknipsen, und davon auch Ge brauch machte, stellte eine kaum faßbare Gefahr für alles Leben dar. Zugleich spürte Lilith, daß sie sich immer noch nicht wirklich schuldig an dieser Entwicklung fühlte. Storm und die Wondjinas mochten recht haben, daß die Magie des HAUSES negativ auf die ursprüngliche Schöpfungssituation in Sydney eingewirkt hatte. Aber Lilith war auch nur ein Spielball dieser Kräfte. Bestenfalls ein Komplize. Sie hatte nie eine Wahl gehabt – und nun …? Hier, an den Hängen des Mount Reid mit seinen »kalten Regen
waldausläufern« spürte sie die Möglichkeit der Verweigerung. Sie mußte sich nicht ihren Dienern stellen. Nicht hier. Die Wondjinas hatten sie entführt, und noch war die Zweimonats frist nicht völlig abgelaufen … Lilith blickte zurück zur Lichtung, wo der Helikopter mit im Leer lauf knatternder Turbine stand. Sie sah das Gesicht des Piloten als einen etwas helleren Fleck hinter der Kanzelscheibe. Storm sah sie nicht. Sollte sie umkehren? Er hatte so sicher geklungen, daß die Diener hier auf sie warteten. Ab wo? Versteckten sie sich vor ihr? In welcher Verfassung waren sie? Verängstigt, auch überrollt von den Geschehnissen, die für sie noch krassere Ausmaße haben mußten …? Lilith betrat den Wald. Wo war der Urbaum, von dem Storm gesprochen hatte? Sie entdeckte nichts, was eine solche Bezeichnung verdient hätte. Jeder Baum wirkte wie ein ganz normaler Nadelbaum. Grün und kraftstrotzend. Gesund … Sie ging weiter. Sie fragte sich, ob sie nach den Menschen, die hier irgendwo war teten, rufen sollte. Sie … … versteinerte. Jäh heulte die Rotorturbine des Kopters auf. Alarmstart!
Als sie herumfuhr, sah sie die Positionslichter über den Kronen der Bäume Richtung Meer davonjagen! Sie starrte fassungslos hinterdrein, wollte nicht glauben, was Storm ihr schon wieder antat. Im selben Augenblick zeigte der Wald sein wahres Gesicht …
* Storms Seele bemühte sich vergeblich um Kontakt zur Regenbogen schlange. Die Einheit aller noch unbefleckten Schöpferwesen schwieg, als gäbe es sie nicht mehr! Der in zwei Teile gespaltene Aboriginal fühlte sich verlorener und verlassener denn je. Etwas stimmte nicht! Er hatte es sofort nach Erreichen des Urbaums gespürt. Vergeblich hatte er sich um eine Nachricht des hier ansässigen Wondjinas be müht. Sein Lied war verstummt. Konnte es sein …? In diesem Moment pflanzte sich eine minimale Erschütterung durch den gelandeten Helikopter fort. Sie genügte, um Storm endgültig die Augen zu öffnen. – Start! gellte sein Befehl im Hirn des Piloten. Lachlan Macquarie gehorchte, als der Boden unter dem Kopter aufbrach, sich Wurzeln um die Kufen zu wickeln versuchten und der Hauch des Bösen wie ein schleichendes Gift in die Kanzel ström te …
* Der Wald vor ihr wurde innerhalb von Sekunden dahingerafft … Nicht wirklich. Lilith war im nachhinein sicher, daß er längst tot ge wesen war. Das Grün seiner Nadeln und der Baumborken hatte Le ben vorgegaukelt, das nicht mehr existierte. Nun trat die Wandlung ein. Ein Vorhang fremder Magie fiel. Dahinter wartete Grauenvolles. Wartete ein Abglanz der Schwärze, die sie zuletzt oben im Marilli on-Tower in konzentrierter Quaderform gesichtet hatte! Lilith warf sich herum. Sie hatte die Waldgrenze überschritten. Der Kopter mit Lachlan Macquarie und Storms Astralgestalt war verschwunden. Nicht ein mal das Geräusch der Rotorblätter war noch zu hören. Sie war allein. Allein mit … WAS? Sie unterdrückte den Fluchtimpuls. Wohin hätte sie fliehen sollen? Sie war sicher, daß das, was sie spürte, keine simple Flucht gestatten würde. Schaudernd blickte sie um sich. Sah schwarzversteinerte, wie mit einer Glasur überzogene Stämme und Äste, bar jeden Lebens. Waren ihre »Diener« jemals hier gewesen? Wenn ja, dann … Ein Geräusch lenkte sie ab. Es kam tiefer aus dem »Wald«, aus sei ner ungefähren Mitte. Liliths Blick schweifte dorthin. Und fror fest an dem Geschehen, das ihre letzten Zweifel, in eine Falle geraten zu sein, beseitigte. Im Herzen des Waldes blähte sich der Boden vor einem besonders dicken Stamm auf. Etwas drückte von tief unten dagegen und schuf
einen Erdhaufen wie einen gigantischen Maulwurfshügel. Aus der Kuppe dieser Verwerfung bohrte sich etwas Schwarzes, gefolgt von Schwärze. Eine hominide Gestalt – aber wie aus Glas gegossen! Aus weichem, beweglichem Glas! Eine Gestalt wie die auf den Bildern, die Moskowitz geschossen hatte. Und doch ganz anders: ohne menschliche Tarnung. Nackt! Lilith fühlte eine unerklärliche Anziehung, die von der auf ihre Weise schönen Erscheinung ausging. Sie merkte kaum, wie sie dar auf zuging. Den Stoffbeutel mit den Totems aus Storms Laden hielt sie immer noch mit der Hand umfaßt. Aber sie hatte ihn vergessen. Die Gestalt vor ihr lockte. Faszinierte. Rief lautlos nach ihr. Machte Versprechungen … Nein! Lilith hielt ein. »Wer bist du?« schrie sie. Der Gläserne stand jetzt makellos – auf seine Weise perfekt, ob wohl ein geschlechtsloses Neutrum – hoch auf der von ihm selbst geschaffenen Hügelkuppe. Augenlos spähte er zu Lilith herüber. Es war ein Bild von kühler Gespenstigkeit. Ein Bild, wie für Alpträume entworfen. Aber für Lilith war es real. Und immer noch spürte sie die … Verwandtschaft zu diesem obsku ren Wesen! »Wer bist du?« rief sie noch einmal. »Der Tod – und das Leben. Die Kraft – und die Schwäche. Deine Neme sis, deine Geißel …« Lilith drängte den Bann zurück, in den sie erneut zu geraten droh te. Wieder hatte sie den Eindruck, daß das, was aus dem Symbion
ten geworden war, mehr noch als sie selbst auf die Worte reagierte, die kein Mund aussprach. Die lautlos flossen … »Ich erkenne dich«, seufzte die Stimme der schwarzen Gestalt tief in ihrem Bewußtsein. »Du bist die, die uns die Augen öffnete. Du bist wie unsere Mutter …« Lilith würgte mit zusammengekniffenen Lippen. Von einer sol chen Gestalt »Mutter« genannt zu werden, war nicht leicht zu ver dauen. Sie fror. Der aschfarbene Symbiont kleidete sie, aber er wärmte nicht wie gewohnt. »Was willst du von – deiner ›Mutter‹?« fragte sie rauh. Die gläserne Andeutung eines Gesichts produzierte die Andeutung eines Lächelns. »Ich will dich zu denen führen, die du suchst – die dich erwarten …« Irgendwo in Liliths Bauch zog sich ein zuvor nur lose vorhandener Knoten heftig zusammen. Hatte Storm doch nicht gelogen? Waren die »Diener« tatsächlich hierher geleitet worden? Aber warum dieser Umstand, wenn es nur darum ging, sie, Lilith, auszuschalten? »Wovon redest du?« »Von denen, die auch wie unsere Mutter sind … Sie tragen den Funken in sich, der uns die Gefängnisse unserer unwerten Schöpfung überwinden ließ.« »Wo sind sie?« Er streckte den Arm aus. Stieg den Erdhügel herab. Kam ge schmeidig wie eine Katze auf Lilith zu, die außerstande war, wegzu laufen. Im letzten Moment erinnerte sie sich der Totems in ihrer Hand. Und wollte danach greifen …
Der Gläserne zeigte sein wahres Begehren, noch ehe Lilith auch nur den Arm anwinkeln konnte, um die »Broschen«, deren genaue Bedeutung ihr ohnehin unbekannt war, aus dem Beutel zu nehmen. Konnte man damit Wesen wie diesem beikommen? Sie erfuhr es nie. Die Gestalt aus geronnener Schwärze veränderte ihr Aussehen. Kristallartige Auswüchse – ähnlich Vampirzähnen – schoben sich über die nur angedeuteten Lippen hinaus. Mörderische Waffen, er gänzt von klauenartigen Händen, die von einem Moment zum an deren mit gebogenen, kristallenen Fängen ausgerüstet waren. So warf sich der Unheimliche Lilith entgegen. Schnellte wie ein Geschoß auf sie zu. Im letzten Moment konnte sie zur Seite hechten. Der Gläserne vollzog eine unmöglich anmutende Wende noch in der Luft. Orientierte sich neu. Setzte federnd auf dem weichen Wald boden auf. Und katapultierte sich erneut, von düsterer Kraft getrie ben, auf Lilith zu, die sich wiederum nur durch einen beherzten Sprung retten konnte. Der Dunkle richtete sich kerzengerade auf. Wieder vergewaltigte er seine nicht für ein Lachen geschaffene Physiognomie. »Sei nicht dumm«, sagte er. »Ich will dich nur töten, um dich neu zu er schaffen. Du bist meine Schwester. Ich bin aus demselben Stoff wie du …« Es klang wie Hohn. Und doch hatte Lilith das Gefühl, daß er die äußeren Attribute eines Vampirs nicht beliebig angenommen hatte. »Sind meine … Diener wirklich hier?« »Deine Diener?« Sein Gesicht nahm wölfische Konturen an. Die Reißzähne funkelten wie edle Kostbarkeiten. »Sie sind hier. Der Baum hieß sie willkommen – als ICH der Baum war …« Die Antworten des Gläsernen blieben mysteriös.
»Es hieß«, fuhr Lilith beherrscht fort, während sie sich mit dem Dunklen ein Psychoduell lieferte, »sie sollten hier von einem … ge sunden Wondjina behütet werden …« »Das tue ich noch immer. Sie werden so sehr behütet …« »Von einem gesunden Schöpferwesen!« Der Gläserne beendete den unausgesprochenen Nichtangriffspakt. Fast schneller, als der Blick folgen konnte, grub er sich kopfüber ins Erdreich und wühlte sich dicht unter der aufbäumenden Oberfläche auf Lilith zu. Dennoch blieb ihr Zeit genug, gefahrlos auszuweichen. Sie machte mehrere Schritte nach links und wartete in sicherer Distanz ab. Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, eruptierte der Boden und gebar … … nein, nicht den Gläsernen! Lilith durchschaute die Finte erst, als sich unter ihr Klauenhände aus dem Erdreich bohrten und schmerzhaft tief in ihr Fleisch getrie ben wurden. Dort, wo sie gestanden hatte, reckte sich nur schwarzverdorrtes Wurzelwerk zum Himmel. Ein Ablenkungsmanöver des Gläsernen, der diesen Wald nach Belieben für seine Zwecke einspannte. Unter ihr bohrte sich der glatte Schädel aus dem Grund. Die Wondjina-lnkarnation wuchtete sich aus dem Bauch der Erde. Der Schmerz grellte von den Knöcheln bis in Liliths Rückenmark. Messerscharf stachen die kristallharten Nägel in ihre Muskeln. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als sich hinabzubeugen und ih rerseits die »Arme« der dunklen, kalten Kreatur zu umspannen. Zu versuchen, die teuflischen »Anker« aus ihrem Fleisch zu zerren. Blut lief aus den bereits geschlagenen Wunden und sickerte in den mod rigen Boden, der es lustvoll aufsog.
Lilith mobilisierte alle Kraft. Es gelang ihr, die Klauen abzustrei fen. Kein Tropfen ihres Blutes klebte daran. Der Gläserne wollte es nicht. Was wollte er dann? Er will dich töten, Närrin! Töten und neu erschaffen – nach seinen Vor stellungen! Er hat es angekündigt …! Der Kampf verlief von Seiten des Wondjinas in bedrückender Stil le. Lilith hörte nur ihren eigenen, gepreßten Atem. Sie spürte Hitze in der Brust, als hätte jemand ein Feuer darin entzündet. Noch immer hielt sie die Arme des Gläsernen umschlossen. Se kundenlang rang sie mit ihm, dann mobilisierte sie alle verbliebenen Kräfte und stieß ihn mit einem Schrei von sich. Er war weder schwer noch leicht. Die geschmeidige Härte, aus der er bestand, war kein Stoff, wie er üblicherweise auf der Erde vor kam. Vielleicht entsprach er schon dem neuen Schöpfungsideal, das dieser zum Dämon mutierte Wondjina in sich trug … Wieder versuchte der Dunkle, sich während des Fluges neu zu ori entieren, doch diesmal reagierte er zu spät. Mit einem dumpfem Ge räusch prallte er rücklings auf den Boden und begrub dabei einen kleinen, gewundenen Trieb unter sich, der an dieser Stelle aus der Erde ragte. Der Trieb durchbohrte ihn und trat aus seiner schwarzglänzenden Brust wieder aus! Lilith traute ihren Augen nicht. Wie konnte dieses dünne Pflänz lein den glasharten Körper so mühelos durchdringen? Doch das war längst nicht die einzige Wirkung, die der Vorgang nach sich zog. Eine verheerende Wirkung! Panisch versuchte der Gläserne, sich von dem Trieb zu befreien. Aber überall, wo er ihn berührte, wurde die kompakte, so unan greifbar scheinende Schwärze seines Leibes mürbe. Jetzt erst fiel Li
lith auf, daß der Trieb, der aus der Brust des Unheimlichen ragte, als einzige Pflanze dieses dämonischen Waldes seine ursprüngliche grüne Farbe bewahrt hatte. Nach und nach büßte der perfekte schwarze Körper seine Makel losigkeit ein. Lilith verstand nicht den Grund dafür, aber sie sah ihre Chance und war entschlossen, diese zu nutzen. Doch bevor sie dort hin eilen konnte, wo sie den Beutel mit den Totems verloren hatte, geschah wieder etwas Unerwartetes. Ein Wind der Qual wehte plötzlich durch den Wald. Durch die ab gestorbenen Zweige, zwischen den toten Stämmen hindurch. Und dann öffnete sich die Erde überall. An zwei Dutzend Stellen gleich zeitig. Öffnete sich und schob schreckliche Gebilde, die Lilith das Blut in den Adern erstarren ließen, ins Freie … Menschen! Mißbrauchte, geschändete, von Wurzeln umschlungene Men schen, tot und doch nicht tot, mit Augen, in denen Schwärze waber te und wogte. MEINE DIENER … Lilith wankte unter der Erkenntnis, was aus den befreiten Diener kreaturen geworden war. Die »Broschen« kamen zu spät. Alles kam zu spät. Sie hatten bereits einen neuen Herrn. Und dieser wiegelte sie noch im eigenen Sterben gegen Lilith auf. Sich windend, zerfallend und auseinanderbrechend zog der Vampir-Wondjina die »Fäden« dieser zum zweiten Mal ihrer Menschlichkeit beraubten Marionet ten. Lilith krümmte sich, als würde sich eine Drahtschlinge um ihren Hals zuziehen. Furchtbar waren die Leidenden anzusehen. Sie erin nerten an die magisch konservierten Qualen, die der Kopf ihres Va ter als »Spielzeug« Landrus über Jahrzehnte hinweg hatte ertragen müssen …
Die Gedankenkette zerriß, als die »Diener« sich in Bewegung setz ten. Mit ausgestreckten Armen kamen sie auf Lilith zu. In jedem steckte ein Wurzelstrang, der jede Bewegung nicht nur mitmachte, sondern – wie es schien – steuerte. Und der Lenker dieser gespenstischen Armee zappelte immer noch aufgespießt auf einem dünnen Pflänzlein, das sich von seiner Umgebung allein dadurch unterschied, daß es nicht schwarz ver färbt, sondern gesund und grün war. Die Bewegungen des Gläser nen erlahmten sichtbar. Als würde seine dunkle Lebensenergie von dem Trieb aufgesogen. Gehetzt suchte Lilith nach einem Ausweg. Sie war eingekesselt. Aus allen Richtungen strömten die Gestalten, deren debile Gesichter sich selbst verhöhnten. Der entartete Wondjina war auf eindrucksvolle Weise mit dem Wald verbunden. Die Pflanzen und Wurzeln hatten sich ihm unter geordnet, aber seinen eigenen Worten zufolge schien er nicht der zu sein, der diesen Ort vor der Entartung beseelt hatte. »Ich sterbe …«, wehte seine »Stimme« zu ihr. »Was für eine Welt, die ihre SCHÖPFER sterben läßt …« Noch einmal durchlief ihn ein Beben. Dann verfärbte er sich grau und rollte von dem Trieb herunter, der ihn durchbohrt und gehalten (und getötet?) hatte. Lilith sah schaudernd, wie er in tausend Scherben zersprang. War es so einfach, einen Wondjina, der wie ein Dämon wütete, zu besiegen …? Sie konnte es nicht glauben. Sie konnte nicht länger darüber grübeln. Die Armee der Diener hatte sie fast erreicht. Die Entarteten wur den vom Tod ihres Herrn nicht beeinträchtigt. Sie hatten ihre Befeh le erhalten – und führten sie nun aus!
Lilith hob den Beutel mit den Totems auf. Sie tat es mechanisch, weil sie den Blick nicht von den Gesichtern der Menschen wenden konnte, die das HAUS ursprünglich zu ihrer Unterstützung geschaf fen hatte. Welch tragischem Komplott waren sie zum Opfer gefal len? Lebende Menschen mit Sehnsüchten, Träumen, Erwartungen … Alles schien in diesen Augen ausgelöscht. Nur schwarze Abgründe lagen noch in den Blicken derer, die zu Marionetten des Bösen ge macht worden waren. Lilith wußte nicht, wie sie herausfinden sollte, ob noch echtes Le ben in ihnen war. Aber sie war entschlossen, wenigstens den Ver such zu unternehmen, die Unglücklichen von den »Wurzeln« zu be freien … Urplötzlich – wenige Schritte nur noch von Lilith entfernt – kam der Vormarsch ins Stocken. Es war, als spürten die Mißbrauchten, daß jemand vor ihnen stand, mit dem ihr Schicksal von höheren Mächten eng verflochten worden war – bevor ein Dämon sich ihrer bediente. Lilith schöpfte neue Hoffnung. Sie nutzte die spürbare Irritation der Gestalten, die einen inneren Kampf ausfochten. Vorsichtig nä herte sie sich einer Frau, die ihr am nächsten stand. Die Unbekannte starrte ihr entgegen. Etwas Flehendes lag in den schwer deutbaren schwarzen Pupillen. Lilith handelte spontan. Sie zog den dünnen Wurzelstrang mit ei nem kräftigen Ruck aus dem Rücken der Frau. Das Geräusch – ob wohl kaum hörbar – ging ihr durch und durch. Im ersten Moment sah es aus, als würde die Namenlose, ihrer Stütze beraubt, zusam mensinken. Aber sie schwankte nur kurz. Dann blieb sie – mit noch größerer Irritation in den Augen – stehen. Ermutigt von diesem Erfolg wechselte Lilith von einer menschli chen »Marionette« zur nächsten. In wenigen Minuten hatte sie jede der Wurzeln entfernt und war umgeben von Gestalten, die blind
und flehend zugleich vor sich hin starrten. Lilith wurde immer seltsamer ums Herz. Sie hatte etwas getan – und wußte nun nicht weiter. Dann erinnerte sie sich der »Broschen«, und sie verteilte eine nach der anderen an die Diener, so wie Esben Storm es ursprünglich vorgesehen hatte. Plötzlich meinte sie ein fernes Geräusch zu hören. Sie blickte zwi schen toten Zweigen hinauf zum grauen Himmel, konnte aber nichts erkennen. Klagende Laute lenkten ihre Aufmerksamkeit zurück zur »Diener schar« – und sie erschrak. Innerhalb weniger Sekunden war jeder vermeintlich Befreiten von einer scheußlichen Verwandlung erfaßt worden. Lilith begriff end gültig, daß es für diese Menschen keine Rettung mehr gab. Sie waren längst verloren. Ihre Haut hatte die Farbe und Struktur der Bäume angenommen, war knorrig und spröde und unfähig geworden zu atmen. Risse hatten sich darin gebildet. Tiefe Spalten und Schluch ten, aus denen fauliger Gestank strömte. Verwesungsgeruch. Diese Menschen lebten nicht mehr. Das grausige Dasein einer Die nerkreatur schien sie im Bann des verrückten Wondjina noch einmal eingeholt zu haben. Das Schöpferwesen hatte sie getötet und nur den Keim wiederbelebt, der ihnen und ihrer Umgebung Pseudoleben vorgaukelte. Und nun … Lilith warf sich gedankenschnell zu Boden, als sie die Risse in den Körpern sich plötzlich ausweiten und auseinanderklaffen sah. Ein greller Lichtblitz folgte dem anderen. Lilith zählte zweiundzwanzig Explosionen, die Holzsplitter und trockene, krumige Erde auf sie herabregnen ließen. Dann kehrte die Stille des Todes ein. Lilith blickte auf. Wo vor Sekunden noch die Diener gestanden hatten, klafften jetzt Krater im Waldboden, der bedeckt war von den Überresten der bi
zarren Pflanzenwesen. Trotz der Gewißheit, ihre Verbündeten damit endgültig verloren zu haben, atmete Lilith auf. Es war besser so. Sie hatte nie Diener ge wollt. Sie wollte sich vom Boden erheben, als ein jäher, brennender Schmerz ihren rechten Fußknöchel durchfuhr. Lilith schrie auf und blickte an sich herab. Und sah den Trieb. Die dünne, gewundene Pflanze hatte sich, flach an den Boden ge schmiegt, wie eine Schlange bis zu ihr herübergetastet. Ihre Spitze schwang, einer angreifenden Kobra gleich, hin und her, und auf ih rem Knöchel konnte Lilith deutlich eine gerötete Stelle in Form des Blattes erkennen, mit dem der Trieb nun erneut auf sie nieder peitschte, sich um ihr Gelenk schlang und die Spitze des Blattes in ihre Haut trieb! Jede Abwehr kam zu spät. Lilith wurde schwarz vor Augen. Sie verlor das Bewußtsein.
* Es war der Tod. Vollkommene Schwärze. Das Ende allen Lebens – und doch ein lebendiger Tod, der ein eigenes Bewußtsein zu besitzen schien. Liliths Geist schrie, von der Gewißheit beseelt, nun sterben zu müssen. Ihre Gedanken rasten in purer Agonie, wanden sich in der absoluten Dun kelheit … und hielten inne, als sie begriff, daß sie nicht starb.
Dieser Tod war nicht für Menschen bestimmt, und auch nicht für die Alte Rasse der Vampire. Es war der Tod eines Wondjinas, der sie umklam mert hielt. Der Tod eines Gottes; ein Tod, der auf bizarre Weise ein eigenes Leben besaß. Nachdem er für Lilith seinen Stachel verloren hatte, gewann Neugierde die Oberhand. Sie ließ sich treiben in der Unendlichkeit und lauschte den Stimmen des Todes. Doch es war ein Gesang, den sie nicht verstand, der vor Zehntausenden von Jahren der Verständigung auf Traumzeitpfaden gedient hatte und nur noch in Menschen wie Esben Storm lebendig war. Auch wenn sie die Worte selbst nicht begriff, so doch die Botschaft, die ihnen innewohnte. Die Chance, die sich ihr bot. Als hätte das fremde Bewußtsein dies erkannt, löste es sich von Lilith. Ein Lichtpunkt erschien in der Schwärze, wurde größer, als sie darauf zu stürzte. Und der Tod entließ sie aus seinem dunklen Mantel …
* Als sie wieder zu sich kam, stand Lachlan Macquarie über ihr. Er half ihr wortlos, aufzustehen. Lilith starrte auf das Stück Tod, das sie in der Hand hielt. Dann blickte sie hinab zu ihrem Bein, wo immer noch die Haut ge rötet war. Aber sie entdeckte keine Verletzung, wo das Blatt in ihre Haut gestoßen war. Wie lange war sie ohne Bewußtsein gewesen? Lange genug, um die Selbstheilungskräfte ihres Körpers zu aktivieren? Oder hatte sie auch den »Biß« des Triebes nur … geträumt? Wieder blickte sie auf das Stück Tod in ihrer Hand.
Nein, dachte sie. Es ist passiert. »Wo ist Storm?« fragte sie rauh. »Storm?« Macquarie blickte sie fragend an. Verständnislos. Lilith machte eine wegwerfende Geste. Das Gift der Erkenntnis pochte in ihr. Es war gleichgültig. Sie brauchte Storm nicht mehr. Sie wußte nun, was zu tun war. Macquarie lief bereits voraus auf die Lichtung zu, wo der Heliko pter mit laufendem Motor wartete. Lilith folgte ihm. Mit jedem Schritt wuchs ihr Wille, das Unmögli che zu bewältigen. Sie verbarg den Pflanzentrieb, den sie aus der Erde gerissen hatte und in dem sie immer noch tödliches Leben pul sieren fühlte, unter ihrem Kleid. Dann kletterte sie zu Macquarie in die Kanzel.
* Ein Königreich für Moskowitz! stoßseufzte Beth. Mit Seymor wurde sie nicht warm. Der smarte Blonde war auf dem Karrieretrip. An sich war das nichts Schlimmes. Aber wie überall im Leben kam es dabei auf die Wahl der Mittel an. Seymors Wahlspruch, für den er auch Beth zu begeistern versuch te, lautete schlicht: Der Zweck heiligt die Mittel! Bei Beth reichte es damit nur zum Entgeistern. Zudem fragte sie sich, ob Moe Marxx sie mittlerweile dermaßen haßte, daß er ihr die sen Minusmann zur Seite stellte. Wenn ja, handelte es sich um Mob bing in Reinkultur. Im Grunde liefen solche Problemchen aber völlig an ihr vorbei. Ihre Sorge um Lilith wurde allmählich zur Hoffnungslosigkeit. Wenn die geliebte Halbvampirin nicht bald ein deutliches Lebens
zeichen gab …. »Wir sind da!« Seymor grinste. Aber selbst dieses Grinsen war kalkuliert. Jede Geste schien von seinem inneren Computer vorab auf größtmögli che Effizienz abgeklopft zu werden. An Beth hatte dieses »Pro gramm« allerdings zu knabbern. »Wo?« fragte sie. Er zuckte – immer noch bemüht yuppie-jungenhaft – die Schul tern. »Sehen wir nach. Ich mache nur die hübschen Bilder. Kommen tieren müssen Sie …« »Wenigstens dabei scheint der Alte sich was gedacht zu haben«, seufzte sie. »Bitte?« »Nichts! Gehen wir … Zumindest, so weit wir kommen …« Sie war ein Routinier in Sachen Straßensperren. Dennoch war es fraglich, ob diese Erfahrung ihr einen Passierschein einbringen wür de. Vor ihnen lag der Nielsen Park. Um sie herum drängten sich aufgeschreckte Menschenmassen. Und über ihnen brannte der Himmel. Es wimmelte von Polizisten und Angehörigen der Nationalgarde. Egal, welchem Verein sie angehörten, ihre allergische Reaktion ge gen Pressevertreter war allen gleich. »Verschwinden Sie! Hier gibt es nichts zu sehen! Gehen Sie – Sie behindern nur unsere Arbeit!« Nichts Neues im Staate New South Wales, dachte Beth. Codd war ver schwunden, die Methoden waren geblieben. Warum hätte man sie auch ändern sollen? Sie funktionierten. Wenn sie sich umschaute, sah sie massenhaft Vertreter anderer Zei
tungen und örtlicher TV-Sender. Reality-TV pur für abenteuerhungrige Krämerseelen abends zwi schen Pommes und Mayo … Manchmal haßte sie ihren Job. »Okay«, bedeutete sie Seymor. »Schießen Sie! Das Fanal am Him mel macht sich bestimmt gut vor dunklem Hintergrund. Viel mehr werden wir hier nicht bekommen. Es –« Sie verstummte. Alle verstummten. Nicht wegen des düsterroten Scheins, der wie eine Säule zum Himmel hoch und weiter bis ans Ende des Universums zu stoßen schien – sondern wegen der vertrauten Stimmen, die mühelos das Wort an sich rissen und – Beth riß Moskowitz’ Pillendose auf, die sie immer noch bei sich führte. »Probleme?« fragte Seymor argwöhnisch. Beth schüttete sich drei, vier Tabletten in die hohle Hand und ließ sie im Mund verschwinden. Wortlos hielt sie Seymor die Dose hin. Er sah sie an wie saure Drops. »Danke, aber ich –« Er verstummte. Der Sirenengesang schlug ihn in den Bann. Ihn, die Sensations hungrigen in ihrer Nähe, die Polizisten … jeden! Beth hatte nur ein überfallartiges Migränegefühl. Pochenden Kopf schmerz. Ihr Blick irrte dorthin, woher die Stimmen erklangen. Insgeheim erwartete sie, Jonathan und Hillary Friday wiederzusehen. Die bei den »Propheten« von der Walker Lane, die im Marillion-Tower ver schwunden waren. Sie irrte.
Aber auch diese Gesichter waren ihr nicht fremd. Auch sie hatte sie schon im Marillion-Tower gesehen, und sie erinnerte sich mit einem kalten Schaudern daran. Niemand außer ihr schien aufzufallen, wie deplaziert die Kleidung des Paares war, das sich vor die Leute stellte und die bereits bekann te Masche abspulte. Bevorstehender Weltuntergang. Apokalypse. Phönix aus der Asche … Blablabla! Beth entriß Seymor den Fotoapparat und bannte die Khakigeklei deten auf Zelluloid. Durch das Teleobjektiv sah sie bestätigt, was ihr gleich aufgefallen war: Der hellbeige Stoff war wieder unversehrt, nicht mehr zerrissen und blutbefleckt. Und auch die vormals schmutzigen, zerkratzten Gesichter des Pärchens sahen so rein und makellos aus, als wären sie generalgereinigt worden. Geläutert. Beth drückte fünfmal auf den Auslöser der Kamera, dann wandte sie sich Seymor zu. »Kommen Sie!« Sie wollte ihn mit sich zerren. Es war nichts zu machen. Er klebte förmlich an den Lippen der Untergangspropheten. Beth hielt die Kopfschmerzen nicht mehr aus und entfernte sich so unauffällig wie möglich. Von weitem sah sie zu, wie die Seelenfän ger immer mehr Zuspruch erhielten. Hinter ihnen, im Sperrgebiet, bohrte sich immer noch ein unwirk licher Strahl in die Morgendämmerung. Um was es sich dabei han delte, ahnte Beth nicht einmal. Aber nun, da auch die Sicherheits kräfte dem Bann der Propheten erlagen, hatte sie die Chance, es her auszufinden.
Allein schlug sie sich in die Büsche des Naturparks. Niemand folg te ihr. Das Licht ragte wie ein Leuchtturm vor ihr auf. Sie brauchte nur darauf zuzugehen. Minuten später erreichte sie einen Pfad zwischen Küste und Hin terland. Nachdem sie eine steile Böschung erklommen hatte, sah sie, woher die Lichtsäule kam: Sie fuhr aus einem mit Aboriginal-Zeich nungen übersäten Felsplateau heraus. Der Anblick und der Hauch, der damit einherging, waren von elementarer Kraft und ließen Beth sich ganz klein und unbedeutend fühlen, auf Mikrobengröße redu ziert … Irgendwo in der City zuckte ein zweites Fanal zum Himmel! Beth erschrak bis ins Mark. Sie wandte sich ab und kehrte zurück zu den anderen. Aber der Platz war verlassen. Niemand sicherte mehr die Absper rungen. Ein paar Schals und Mützen wehten wie ein letzter Gruß im Wind. Das war alles. Auch Seymor war verschwunden, obwohl Beth’ Wagen immer noch abseits parkte. Sie fuhr dorthin, wo sie, wenn sie schnell war, Seymor und die an deren wiedersehen würde. Beim Marillion-Tower. Sie erreichte ihn zeitgleich mit dem einschwebenden Helikopter.
* Schon beim Anflug waren die Menschenströme zu sehen, die sich aus unterschiedlichen Richtungen dem Marillion-Tower näherten. Von außen betrachtet wirkte das zwanzigstöckige Gebäude gera dezu befremdlich normal. Nicht normal waren die Lichtphänomene, die sich an mindestens
drei Orten der Stadt ins Morgengrau des Himmels bohrten. Es geht los, dachte Lilith, ohne zu fragen, woher das Wissen kam. Die von ihren Schöpferwesen aufgegebenen heiligen Stätten mutieren. Das Licht ist erst der Anfang. In Kürze werden die Gebiete unbetretbar sein. Von hier aus wird die Neuschöpfung der Entarteten beginnen …! Lilith gruselte längst vor Begriffen wie »Neuschöpfung«, »Schöp ferwesen« und »Entartung«. Der Gedanke, eine Schöpfung könnte ausradiert und von einer neuen abgelöst werden, war zu groß, um ihn auch nur annähernd fassen zu können. Unbehaglich starrte sie an sich herab. Unter dem aschfarbenen »Stoff« des Symbionten zeichnete sich deutlich das Mitbringsel aus dem abgestorbenen Kiefernwald ab. Während ihrer »Todes-Ohnmacht« war sich Lilith der Bewandtnis des Triebes bewußt geworden. Lachlan Macquaries Miene verriet keinen seiner Gedanken. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, daß er begriff, in welche Dimen sion der Gefahr er sich begeben hatte. Plötzlich war Lilith nicht mehr mit ihm allein im Kopter. Der Banguma erschien warnungslos. Die »Schwarze Flamme« zuckte neben Lilith aus der Wandung, als der Pilot den Kopter but terweich auf dem Dach des Penthouse aufsetzte. »Wirst du mich begleiten?« fragte sie ohne Überraschung. »Die Wondjinas lassen uns keine Wahl. Uns BEIDEN nicht. Wir müs sen das Unmögliche versuchen. Hüte den Tod, den du mitgebracht hast, gut. Er ist unsere einzige Chance.« Lilith gab Lachlan Macquarie den Befehl, zum Sydneyer Flughafen zurückzukehren und diese Episode seines Lebens zu vergessen. Dann stieg sie aus und sah dem Helikopter nach. Als er ihren Bli cken entschwand, war ihr, als hätte sie auch die letzte Verbindung zur Normalität gekappt. Alles, was jetzt folgen würde, war ein Ba
lanceakt am Rande eines Alptraums. Sie blickte zu Boden. Normalerweise warf sie einen sehr blassen, verschwommenen Schatten. Hier, über dem Hort der Traumzeit-Dämonen, war er ge stochen scharf und tiefschwarz. Es war auch nicht ihr Schatten. Der Banguma war bei ihr. Trotzdem fühlte sich Lilith allein. Sie sehnte sich nach menschlicher Gesell schaft. Nach erwiderten Gefühlen. Beth … Wo war sie? War sie vielleicht längst von dieser Brutstätte des Bö sen verschlungen worden? War sie Liliths Spuren gefolgt und – Nicht daran denken! Du schwächst dich nur selbst! Der Kies des Flachdaches knirschte unter ihren Füßen. Sie fand eine Ausstiegsluke und schlug die Plexiglasabdeckung mit einem größeren Stein ein. Nachdem sie den Schnappverschluß gelockert hatte, konnte sie die Luke problemlos öffnen. Erstaunlicherweise erwartete sie nicht schon hier die befürchtete Schwärze. Der Blick nach unten gaukelte eine fast leere, ansonsten aber unauffällige Kammer vor. Sie erwarten einen ›Bruder‹, dachte Lilith und beobachtete, wie der »Schatten« den Abstieg mitmachte. Wenn Storms Behauptung stimmte, täuschte das im Symbionten aufgegangene Totem die Aura eines Wondjinas vor. Deshalb hatte sie auch die erste Begegnung mit der Schwärze lebend überstanden. Einen Menschen hätten die entarteten Schöpferwesen sofort verein nahmt. Einen von der eigenen Art hatten sie »nur« zu infizieren ver sucht – ein Unterfangen, das bei Lilith natürlich nicht gefruchtet hat te. Auch diesmal würden sie es versuchen. Solange die Aura sie täu
schen konnte. Lilith berührte den Boden der Kammer … … und fand sich dort wieder, wo sie schon einmal gewesen war. Im sonnendurchglühten Outback. Jenseits der Zivilisation. Jenseits der Wirklichkeit. Im Bann eines unheimlichen Gebildes, das über dem wüstenhaften roten Boden schwebte und deutlich gewachsen war …! KOMM! lockte der Quader. WERDE EINER VON UNS. ERKENNE DEINEN FEHLER. WIR SIND DIE WAHREN WONDJINAS. DU UND DIE ANDEREN, IHR SEID KRANK. ABER EUCH KANN GE HOLFEN WERDEN. KOMMT ZU UNS. ZERSTÖRT DEN TRAUM DER ALTEN SCHÖPFUNG. TRÄUMT MIT UNS EIN PARADIES FÜR... Dämonen! Lilith blockte die lockende Stimme ab. Instinktiv. Weiter! tadelte ihr fremder Schatten, der auch in dieser Realität mit ihr über den Boden glitt. Nicht stehenbleiben! Wir MÜSSEN es tun! Selbst wenn es unseren Untergang bedeutet. Lilith schritt über die Illusion der Wüste. Sie lief geradewegs auf den Quader aus Finsternis zu, aus dem Blitze züngelten. In dem es gärte und brodelte, als würde darin bereits am neuen Bild der Welt gearbeitet. Schaudernd brachte sich Lilith zu Bewußtsein, daß die Macht, die hinter ihrer eigenen Existenz und hinter ihrer Bestimmung stecken mußte, noch viel gewaltiger war als bislang angenommen. Etwas, das aus Göttern Dämonen werden ließ, das war mächtig. Aber mit dieser Macht waren nicht zwangsläufig auch das Wissen und die nötige Weitsicht verbunden, damit umzugehen. Macht war das eine, Ethik das andere.
Lilith erreichte den Quader. Er hing etwa einen Meter über dem Boden, aber seine Ausmaße waren kaum noch zu schätzen. Aus die ser Perspektive sah es aus, als müßte er die Grenzen des MarillionTowers längst sprengen, als könnte er die gesamte Stadt unter sich begraben! KOMM! lockte das Böse. (Das Böse? Nicht das Wahre?) LASS DIR HELFEN. MIT DIR ZU SAMMEN SIND WIR STARK GENUG, DAS WERK ZU BEGINNEN. KOMM ZU UNS. KOMM … Und Lilith ging weiter. Ihr Gesicht berührte die Sphäre. Die Sphä re berührte sie. Tastete sie ab. Streichelte ihre Haut und ihr Innerstes. Das Dämonische war … zart. Einfühlsam. In diesem Stadium zu rückhaltend. Lilith hob die Füße und »stieg« in den schwebenden Klotz, als durchstoße sie eine von dünner, nachgiebiger Folie gehaltene Was sermasse. Hinter ihr schloß sich diese Haut wie eine Membrane. Das Dunkel empfing Lilith, und auch hier glaubte sie weiterzuatmen. Zu sehen. Zu … War ihr Schatten mit in die Schatten getaucht? Es war wie eine Heimkehr, und immer schwerer fiel es ihr, zwi schen dem zu unterscheiden, was sie war, und dem, was das Totem ihr und den Infizierten vorgaukelte. Sie stand im Herzen des Bösen. Inmitten von Kräften, die sie mit einem Gedanken auslöschen konnten, wenn sie die Täuschung durchschauten. Hätten sie menschliche Sinne besessen, wäre dies längst geschehen. Aber ihre Wahrnehmung lief auf anderer Ebene ab. Sie spürten den Bruder. Das genügte ihnen zur Identifizierung. Lilith verbannte alle störenden Gedanken. Sie versuchte sich auf das Notwendige zu konzentrieren. Aber sie wurde von einem sol
chen Schwall nicht zu verarbeitender Eindrücke bestürmt, daß sie auf unbestimmbare Zeit einfach vergaß, weshalb sie gekommen war. Die Schwärze um sie herum war von Leben erfüllt, das kaum ver gleichbar mit dem Gegner am Mount Reid war. Hier gab es keine feste Form und Gestalt für die Entarteten und damit kein Handicap. Sie sahen den Bruder und vergingen sich an ihm. Lilith spürte nichts davon. Das Totem fing alles auf. Der Symbiont, den sie inmitten der Bilder und der Schatten nicht mehr wahrnahm. Lilith tauchte in ein Meer von Vorstellungen, denen allen eines gleich war: Sie behandelten die Vernichtung und Neuschöpfung dieser Stadt. Sie sah Sydney brennen. Sah Schnee im Sommer. Fanale an allen Ecken. Die Verdunkelung der Sonne, die ihr Gesicht von dem apo kalyptischen Bild abwandte. Rauch und Flammen. Amoklaufende Menschen. Zähnefletschende, tollwütige Tiere, die Jagd auf alles machten, was sich bewegte. Es zerfleischten. Pflanzen, die Häuser und Straßenzüge überwucherten und das Leben darin erstickten. Risse im Boden, viele hundert Meter tief, die alles in der Nähe ver schlangen und den Pestatem der Hölle entweichen ließen. Der Lärm war unbeschreiblich. Lilith hörte die schreienden Opfer, die einstürzenden Bauten, spürte das Beben, das die Erdrutsche und die Vulkanausbrüche begleitete. Es wurde finster über der Stadt. Und finster in den Herzen der Menschen, die von den Gewalten be graben wurden, einem Tod, der keinen Unterschied machte und al les ereilte. Einer Kraft, die den felsigen Boden faltete, neue Berge er schuf und andere abschliff. Eine Kraft von schrecklicher Kreativität … Nein! Lilith sperrte ihre Gedanken gegen den Wahnsinn. Diese Vision durfte sich niemals erfüllen!
Diese und keine andere Variante der totalen Vernichtung, die nach Sydney nicht enden würde, die auf jeden Punkt des Kontinents überspringen und der Traumzeit zu einer grauenhaften, verzerrten Renaissance verhelfen würde! Tu es! wisperte es in ihr. Ehe nichts mehr geht. Laß den Tod frei. Be kämpfe Feuer mit Feuer …! Was würde geschehen, wenn sie es tat? Würde überhaupt etwas geschehen? Konnte der Wahnsinn noch gestoppt werden? Ihre Hand tauchte unter das, was sie am Leib trug. Das äscherne Kleid öffnete sich. Und entließ den Tod.
* Quilpie, Queensland Er konnte Alice nicht vergessen. Virgil Codd hatte sie auf einer Station seiner Reise in Lightning Ridge, New South Wales, kennengelernt. Die attraktive Frau hatte ihm die letzte noch fehlende Erinnerung zurückgegeben, was es hieß, wieder zu leben.* Sexualität gehörte untrennbar zu einem Mann, der biologisch irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahren einzuordnen war … Es war ihm nicht leichtgefallen, die erste Frau, die sich ihm nach seiner Befreiung vom Keim geschenkt hatte, zu verlassen. Und Alice war es spürbar schwergefallen, ihn gehen zu lassen.
*siehe Vampira 13: »Traumzeit-Dämonen«
Virgil Codd hatte keine Wahl gehabt. Er hatte als Diener lediglich seinen Herrn gewechselt. Frei war er nicht und würde es nie sein! All dies sagte ihm ein Gefühl, das in jenem Moment zurückgekehrt war, als Jeff Warner in sein Haus eindrang und ihn erlöste. Sein Leib war nicht länger tot. Sein Herz schlug wieder. Seine Lungen atmeten … Und jetzt näherte er sich dem Ende seiner Reise. Dem Ziel, das er – während er unterwegs war – nicht beim Namen hätte nennen kön nen. »Quilpie …«, formte er mit den Lippen. Es war Mittag. Es war heiß. Der Ort hatte Klang. Er berührte eine Saite in Codd, die nur durch diesen Namen zum Klingen gebracht werden konnte. Durch den Bo den hindurch, über den er sich bewegte, die Sonne im Gesicht und die Stadt im Rücken. Staub wirbelte bei jedem Schritt. Fünf Meilen mußte er in der Nachmittagshitze zurücklegen, um den monolithischen roten Felsen zu erreichen, der sich südlich der Stadt wie ein abgeflachter Höcker aus dem Buschland erhob. Schweiß trat aus Codds Poren. Hemd und Hose klebten ihm am Körper. Wer ihn sah, mußte ihn für einen Verrückten halten. Aber in Quilpie waren sie alle ausgesprochen freundlich, ausgesprochen zu vorkommend zu ihm gewesen. Hatten von den anderen erzählt, die in den letzten Tagen eingetroffen und zu dem Fels aufgebrochen waren. Hatten ihm aufmunternd auf die Schultern geklopft und ihm Glück gewünscht. Glück … Virgil Codd wußte, daß etwas an diesem Verhalten seltsam war. Überall war er mit unglaublicher Herzlichkeit aufgenommen, mitge nommen und auch wieder verabschiedet worden. Er glaubte sich
aber – im dunklen Winkel einer früheren Identität – zu erinnern, daß die Welt nicht gut war – zumindest nicht so wunderbar, wie sie sich ihm auf dieser Reise darstellte. Aber er rührte nicht daran. Er war froh, daß es so war. Und dann erreichte er den Fuß des in Jahrzehntausenden von ro hen Kräften geformten und geschliffenen Monolithen … Codd liebte neuerdings solche Objekte und damit verbundene As soziationen. Aber die Faszination, die der Treffpunkt der Diener ausübte, ver schwand nach der ersten vollständigen Umrundung des Felsens. Niemand war da. Keiner wie er! Der Treffpunkt war … verlassen. Ich bin zu spät gekommen, dachte Codd schaudernd. »Nein …!« Der Laut löste sich aus den Tiefen seiner Brust, Ausdruck einer nie für möglich gehaltenen Enttäuschung. Schwer und erstickend legte sich Dunkelheit über seinen gerade erst wiedererwachten, wiederer hellten Geist. Codd sank auf die Knie. Wo er niederging, sah er Spuren im Sand. Spuren von Dienern, die nicht zu spät gekommen waren. Ich bin nicht zu spät gekommen! Eher zu früh. Drei Tage noch … Es war sinnlos. Er war allein. Der Treffpunkt war verwaist. Lange Zeit kauerte er am Boden und hoffte einen Hinweis zu er halten, daß er sich irrte. Daß die anderen nur kurz gegangen waren
und wiederkommen würden. Sie kamen nicht. Es wurde finster. Es wurde kühl. Virgil Codd erhob sich und trottete langsam – verzweifelt langsam – nach Quilpie zurück. Dort, wo er stundenlang gekauert hatte, blieb etwas mit dem Fin ger in den Sand geschrieben zurück. ALICE. Buchstaben, an denen Codd sich aufrichtete – obwohl er fürchtete, daß auch diese Sehnsucht unerfüllt bleiben mußte. Wie die, zu dienen …
* Irgend etwas geschah. Etwas, das Lilith nicht nachvollziehen konnte. Erfüllte sich der Plan der guten Wondjinas? Oder geschah hier et was, das selbst die Schöpferwesen nicht hatten vorhersagen können? Gehörte die »Waffe«, die Lilith gegen die Entarteten gefunden hat te, zu dem unsprünglichen Plan? Oder war es eine – wortwörtlich – göttliche Fügung gewesen, daß der Trieb den Tod eines Wondjinas konserviert hatte? Fragen, die niemand beantworten konnte. Aber was Lilith sah, sprach eine eigene, deutliche Sprache. Schreckliche Szenen spielten sich in dem nachtschwarzen Quader ab. Wahnsinnige Wondjinas, die im Todeskampf übereinander her
fielen oder sich selbst in Stücke rissen, um sich der befallenen Teile zu entledigen. Der Tod hatte den Ableger verlassen und war von den Entarteten wie ein Bruder begrüßt worden – bis sie erkannten, daß dieser Bruder das Verderben über sie brachte. Daß nicht sie ihn, sondern er sie infizierte. Aber da war es bereits zu spät gewesen. Lilith glaubte ins Bodenlose zu fallen. Sie stürzte aus der geronne nen Schwärze. Über ihr wurde der Quader von Rissen durchzogen, hinter denen es sonnenhell gleißte und waberte. Lilith lag darunter. Auf fugenlos glattem »Wüstenboden«. Die Wüste verschwand. Der Quader schwebte weiter über ihr, schwer wie ein Mond. Die darin befindlichen Wondjinas versuchten zu entkommen, aber der Tod schonte keinen. Eine Kettenreaktion wütete wie Brand und Fäulnis unter ihnen. Dann – endlich! – war es vorbei. Vorbei? Sie konnte es nicht glauben, obwohl der Quader verschwunden war und sich ringsum wieder die Wände und Einrichtung des Penthouse aufbauten. Sekundenlang blieb sie reglos liegen und lauschte. Stille umgab sie. Dann: Kinderstimmen. Sie erhob sich. Sie fühlte sich schwach. Der diffuse Schatten, den sie warf, war wieder ihr eigener. Der Banguma war verschwunden. Der Symbiont war nicht mehr äschern. Sie folgte den Stimmen zu einer Tür der Wohnung. Als sie sie öff nete, starrten ihr verängstigte Kinderaugen entgegen … Was war Besonderes an ihnen, daß die Entarteten sie geschont hat ten? Oder hatten sie sie hier nur zu einem unbekannten Zweck ge
sammelt …? Lilith drehte sich um und ging zum nächsten Fenster. Draußen schien die Sonne. Kein »Fanal« färbte den Morgen düster. Und es gab auch kein Schneegestöber im sommerlichen Sydney … Ihr Blick wanderte nach unten. Erst als sie die desorientiert umher laufenden Menschen sah, wußte sie sicher, daß sie nicht alles nur ge träumt hatte. Sie ließ die Kinder allein. Andere würden sich um sie kümmern müssen. Sie hatte keine Kraft mehr. Etwas pochte in ihr, als würde neben ihrem Herz ein zweites, fremdes schlagen. Gegen den Lift hatte sie eine natürliche Apathie entwickelt, auch wenn sie wußte, daß es nun wieder ungefährlich war, ihn zu benut zen. Trotzdem nahm sie die Treppe. Sie war überfüllt mit Menschen, die langsam aus ihren Stockwer ken wankten. Niemand wollte den bequemeren Aufzug nehmen. Das Trauma saß auch in denen, die überlebt hatten. Als Lilith endlich unten ankam und im Strom der anderen nach draußen getragen wurde, schaffte sie es gerade noch, Beth zu erken nen und ihr zuzuwinken. Dann brach sie zusammen.
* Tasmanien, Mount Reid Das Tier huschte aus dem Unterholz. Das Tier war rattengroß, neugierig, hungrig.
Und dennoch geduldig. Es hatte gewartet, bis das bedrohliche Schauspiel sein Ende gefun den hatte. Erst als die Eindringlinge verschwunden und ihr Lärm sich hinter den Wolken verloren hatte, war es aus seinem Unter schlupf hervorgekrochen. Es sah aus wie eine Ratte, aber es war eine seltene Spezies, die es nur noch hier auf der kleinen Insel südlich des australischen Kontin ents gab. Ein Tasmanischer Teufel. Dieser »Teufel« näherte sich dem Zentrum des Waldes. Die abge storbenen Bäume interessierten ihn nicht. Wohl aber das Tote, was hier lag und in seinem ascheähnlichen Äußeren mit bloßem Auge kaum auszumachen war. Die Augen des Raubbeutlers hatten keine Mühe, das dämonische Aas zu finden. Einmal die Witterung aufgenommen, erledigte sich der Rest wie von selbst. Voll stumpfer Begierde bohrte sich die Schnauze des Nagers in den Grund, wo unter anderem Bruchstücke von etwas zu finden waren, was früher wie schwarzes Glas ausgesehen hatte. Wie geron nene, lebendige Dunkelheit. Nur wenige Splitter davon genügten, den Tasmanischen Teufel anzustecken. Der Intelligenzschub leuchtete tückisch in den kleinen Augen. Und das Fieber der erwachenden Krankheit. Vor allem das Fieber …
* »Bring mich nach Hause, in deine Wohnung … Schnell!« »Was ist passiert?« fragte Beth. »Wie hast du es geschafft –?«
»Ich weiß es nicht. Mir ist … schwindelig. Ich kann kaum noch se hen! Dein Gesicht … die Umgebung … alles verschwimmt …« Lilith hustete unter einem Reiz, der ihr Angst machte. Sie begriff nicht, was vorging. Hatte sie den Plan der Wondjinas erfüllt und die Dämonen besiegt? Mit einem Stück Tod…? Sie schauderte und fühlte nur noch, daß etwas Gewaltiges auf sie zurollte. Etwas, das sie verschlingen und sie ihrer Identität berauben wollte! Täuschte sich Beth? War die Hoffnung verfrüht? Lilith riß krampfhaft die Augen auf. Sie sah alles doppelt und wie durch einen Schleier. Sie bekam kaum mit, wie sie Beth’ Wagen er reichten. Auch nicht die Ankunft in der Tiefgarage. Erst als Beth sie zum Aufzug führte, bäumte sich ihr Bewußtsein noch einmal auf. »Keine Aufzüge mehr!« flehte Lilith mit träger, leiser Stimme. »Bit te, keine …« Sie fiel … … in die Polster einer Couch und erkannte erst daran, daß sie be reits in der Wohnung war. »Etwas zu trinken … bitte!« Warum starrte Beth sie an wie eine Verrückte? »Etwas zu – trinken? Blut …?« Blut? »Komm zu mir. Wärme mich, bitte! Ich friere. Mir ist …« Ihre Stimme war heiser, als hätte sie stundenlang geschrien. Beth nahm neben ihr Platz. Sie schlang ihren Arm um Liliths Schulter. Die Halbvampirin zitterte. Warum wurde ihr nicht warm? »Wie – sieht es draußen aus? Brennt – Sydney?« Was war mit den »Propheten«? Waren sie mit den Wondjinas im Marillion-Tower umgekommen?
War überhaupt ein Wondjina umgekommen …? »Lilith!« Beth’ Stimme klang hart an der Grenze zur Hysterie. »Sag mir, was mit dir ist! Was ist dort oben passiert?« »Stirbt – die – Welt …?« Beth riß die Augen auf. Lilith fuhr sich über das Gesicht. Ihr Fleisch war wie betäubt. Pel zig. Was geschah mit ihr? Hatten die entarteten Wondjinas sie doch noch infiziert? Was würde dann aus ihr werden? Auch ein – Dämon? Was war aus dem Banguma geworden? Plötzlich war die »Welle« da, deren Nahen sie schon die ganze Zeit gespürt hatte! Etwas kam über sie. Manipulierte Realität und Gegenwart wie ein wahnsinnig gewordenes Schöpferwesen …! Lilith erstickte unter dem fremden Leben, das in ihr aufwallte. Timreih efuat hci hcid fua ned Neman Annaerc …! wisperte es hohl und schwer in ihr. »Hilf mir!« wimmerte Lilith. Beth nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Sie bewegte die Lip pen, aber Lilith hörte etwas ganz anderes. Stimmen aus dem Dunkel der Vergangenheit. Stimmen, die auf sie einsprachen, aber sie nicht meinten. »Timreih efuat hci hcid fua ned Neman Annaerc …!« Und der Traum des Symbionten begann … ENDE
Ich, Creanna von Adrian Doyle Einen ganz besonderen Jahrgang erlesenen Blutes hält das nächste VAMPIRA für Sie bereit! Eine Blutlinie nämlich, die im Jahre des Herrn 1728 ihren Anfang nahm – mit der »Geburt« von Liliths Mut ter Creanna. Endlich bringt Adrian Doyle Klarheit in die Abstam mung unserer Heldin und lüftet sogar einen Zipfel des Geheimnis ses um ihre Bestimmung. Wie wuchs Creanna heran? Welche Rolle spielte Landru in ihrem Leben? Was brachte sie zu dem Entschluß, sich selbst zu opfern bei der Geburt eines lebenden Kindes? Fragen, die Band 15 beantwortet. Versäumen Sie nicht diesen un gewöhnlichen Schlüsselroman in der Saga um die Halbvampirin Li lith Eden. Erleben Sie das Schicksal ihrer Mutter Creanna hautnah aus deren eigener Sicht mit!