Pierre Klossowski
Die Ähnlichkeit (La ressemblance)
Aus dem Französischen von Walter Seitter, Wien
Verlag Gachnang & ...
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Pierre Klossowski
Die Ähnlichkeit (La ressemblance)
Aus dem Französischen von Walter Seitter, Wien
Verlag Gachnang & Springer BERN – BERLIN 1986
INHALTSVERZEICHNIS ERSTER TEIL DIE FUNKTION DES SIMULAKRUMS IN DER SPRACHE UND DER SCHRIFT Vom Gebrauch der Stereotypen und von der Zensur durch die klassische Syntax ... 9 Vom Simulakrum in der Kommunikation Georges Batailles ... 23 Gespräch über die Idee des Unglücksbringers ... 39 Ist die Körpersprache ein Kommunikationssimulakrum? ... 55
ZWEITER TEIL VON DER EXORZIERENDEN FUNKTION SIMULAKRUMS IN DER KOMMUNIKATION MALEREI Die Dekadenz des Aktes ... 65 Vom Gemälde als Simulakrum ... 79 Das Ununterscheidbare ... 89 Rückkehr zu Hermes Trismegistos ... 101 Gespräche mit Alain Arnaud ... 107
DES DER
Erster Teil DIE FUNKTION DES SIMULAKRUMS IN DER SPRACHE UND DER SCHRIFT
Vom Gebrauch der Stereotypen und von der Zensur durch die klassische Syntax VON DER UNKOMMUNIZIERBARKEIT DER «GESETZE DER GASTFREUNDSCHAFT»
Erfährt man die Zensur der «klassischen» Syntax, d. h. ihre logische Strenge, die alle widersprüchlichen Aussagen (als «Anomalien») ausschliesst, so reproduziert man den obsessionellen Zwang des (unkommunizierbaren) Phantasmas. Das war für mich die Lektion Sades. Mit gutem Vorbedacht praktiziert, provozieren die institutionalisierten Stereotypen (der Syntax) die Gegenwart dessen, was sie umreissen; ihre Umschreibungen verdecken die Unangemessenheit des Phantasmas und zeichnen zugleich den Umriss ihrer undurchsichtigen Physiognomie. Daher rührt das Missverhältnis zwischen der Unangemessenheit des Phantasmas und seiner Lokalisierung in den stereotypierten Ausdrücken, die es ausstellen unter dem Vorwand, es auszuschalten. Zerlegt man die Syntax, um das Phantasma an sich «wiederherzustellen», zersetzt man die Formen, um daraus eine Phantasmatik zu rekonstruieren, so lässt man die Beute ins Dunkle entschwinden; man liquidiert jeden Zwang und kann selbst keinen mehr ausüben: im Namen einer nichtigen Freiheit. Ohne die Stereotypen der Syntax, ohne jeden Stereotyp, gibt es kein Simulakrum, das seinerseits zwingen kann. Wie ist es möglich, die Emotion aus ihrer stereotypierten Mitteilung zu extrahieren? Ist die Gefühlsregung den stereotypierten Reaktionen ausgeliefert, wenn sie beschrieben werden soll? Gibt es eine ebenfalls stereotypierte Ausschaltung der Stereotypen? Wird das Erlebte selbst stereotyp, wenn man seine stereotypierte Mitteilung bekämpft? 11
In der Abschweifung über den Namen von Roberte als einziges Zeichen, die das Nachwort zu den Gesetzen der Gastfreundschaft bildet, habe ich versucht, darüber Rechenschaft abzulegen, was auf selten des blossen Denkens – unabhängig von meiner romanhaften Beschreibung – geschehen sein mag: also aufgrund des Zwanges, der von einem Namen als einem sich selbst genügenden und isoliert von jedem ausdrücklichen Kontext für alles, was in der Welt statthat, geltenden Zeichen ausgeübt wird. Einem Zwang, der sich derart zäh halten konnte dank dem Zusammenhalt in jenem Denken, das mit jenem Namen ohne Geschichte identisch war. Wie etablierte sich jener Zusammenhalt? Darin, dass sich das Denken an seinem höchsten Intensitätspunkt selbst durch ein Zeichen bezeichnet – besser noch: indem sich die Intensität, die an jenem Punkt zu sich kommt, mit diesem Namen bezeichnet. In dieser Koinzidenz der Intensität mit diesem Zeichen bildete sich der Zusammenhalt des Gedankens, der so seinen Zwang ausübte. Ich habe gesagt, dass dieser Zwang einerseits dem unkommunizierbaren Zusammenhalt des Denkens gegenüber der Welt und andererseits der Zusammenhanglosigkeit entspricht, in der wir uns in der Welt befinden mit unseren Erinnerungen, unseren Erwartungen, unseren Absichten – unter Ausschluss eines jeden Gedankens, der sich zu einem einzigen Zeichen für alles in der Welt macht: dass also das Leben der inneren Kohärenz des Denkens entgegensteht. Von da ausgehend habe ich diesem einzigen Zeichen die Zeichen unseres alltäglichen Codes, mit denen wir uns ausdrücken, entgegengesetzt – und ich habe feststellen können, wie beschränkt dieser Code ist, um auszudrücken, was nicht immer wiederkommt: da das, was öfter wiederkommt, keineswegs in derselben Weise wiederkommt, um den Gebrauch derselben Zei12
chen zu rechtfertigen: und ausgehend von der Abweichung zwischen dem Alltagscode des common sense und dem darin Ausgedrückten, also von einer immer grösseren Ungleichheit, hatte ich den Eindruck, dass sich alles auf Intensitätsvariationen, -abnahmen oder -zunahmen reduziert: so dass wir also selbst dort, wo der Alltagscode uns zwingt, uns mit dem die stärkste Intensität markierenden Zeichen «Ich» (d. h. mit der grammatikalischen Fiktion des Personalpronomens) auszudrücken, dass wir also selbst da gelegentlich völlig fehlen; dass unterhalb des Gebrauchs des Alltagscodes jeder von uns tatsächlich immer irgendein «einziges Zeichen» mithört, je nachdem, wie der einzelne kraft der eigenen Identität, die ihm jenes einzige Zeichen garantiert, mit dessen Kohärenz ineinsfällt. Hier wird das Dilemma sichtbar: bleibt man in der Kohärenz eines einzigen Zeichens, so verzichtet man darauf, in der Welt zu leben, die durch die Zusammenhanglosigkeit des darin herrschenden Codes der Alltagszeichen gebildet wird. Akzeptiert man so den Zwang, den das Denken durch den Zusammenhalt in einem einzigen Zeichen ausübt, so akzeptiert man den Wahnsinn. Wenn man jedoch auf dieses einzige Zeichen verzichtet, um in der Welt zu leben, so verfällt man gleichwohl dem unaufhörlichen Zwang des einzigen Zeichens, weil uns das Denken dieses Zeichens nachstellt: also dem Wahnsinn. Die List des einzigen Zeichens besteht darin, dass dieser mögliche Wahnsinn ein wirklicher ist, sofern wir meinen, den Zusammenhalt, in den es uns einsperrt, verraten zu können. Für diese List müssen wir ein Äquivalent suchen. Mit diesem Äquivalent sind wir zu überzeugen, dass wir nicht in Wahnsinn versunken sind. Sucht man dieses Äquivalent, so verrät man allerdings das einzige Zeichen, indem man das Dilemma vulgarisiert, in das uns das Denken des einzigen Zei13
chens versetzt: wenn diese Vulgarisierung das Äquivalent des zu vermeidenden Wahnsinns darstellt, so führt andererseits das Äquivalent zu einer doppelten Komplizenschaft: da das einzige Zeichen (in diesem Fall der Name Roberte) das für sich behielt, was für alles in der Welt Stattfindende gilt, und da dieses Gelten für auf etwas ausserhalb des Zeichens, auf eine mit den Zeichen des Alltagscodes interpretierbare Physiognomie bezogen worden ist, blieb diese Physiognomie entweder stumm (und gestand alles, was ihr das Zeichen anlastete) oder sie antwortete diesem Namen, um ihn mittels der Zeichen des Alltagscodes zu widerrufen. Bezogen auf den inneren Zusammenhalt eines Gedankens, auf eine Intensität, die sich durch ein einziges Zeichen bezeichnet (in welchem die Intensität des Denkens mit dem Namen Roberte zusammenfällt), würden Die Gesetze der Gastfreundschaft – als Buch – in zweifacher Hinsicht ein Äquivalent darstellen: einerseits ein literarisches Äquivalent, um den Wahnsinn zu umgehen, und andererseits ein Äquivalent insofern, als das einzige Zeichen in die Zusammenhanglosigkeit, die in der Welt gelebt und von den Zeichen des Alltagscodes aufrechterhalten wird, einen Brauch einführen würde. In der Welt der alltäglichen Zeichen sind die «Gesetze der Gastfreundschaft» im Sinne des Buches ein Brauch, der eine Abweichung darstellt: sobald die Vulgarisierung des Namens Roberte als des einzigen Zeichens sich in der Welt des Alltagscodes verbreitet, offenbart sich das Fehlen des begrifflichen Ortes dieses Brauchs ebenso wie das Dasein des herkömmlichen Ortes, an dem verschiedene, von der Zusammenhanglosigkeit der Welt rührende Bräuche unablässig die Bedeutung des Unvollziehbaren, der hier vorgeschlagenen Gastfreundschaft hintertreiben. 14
Die Zeichen des Alltagscodes übersetzen so das Eigentliche der Gesetze der Gastfreundschaft: die Verkuppelung der Gattin durch den Gatten. Im Code der Alltagszeichen bedeutet das, dass der Gatte die Gattin zum Ehebruch bringt. Tatsächlich bietet in den Gesetzen der Gastfreundschaft der Gastgeber seine Ehefrau (die Gastgeberin) den Gästen an. Octave möchte so die wahrhafte Identität von Roberte im Kontakt mit dem Fremden, mit dem Unbekannten, entdecken, weil er glaubt, innerhalb seines Ehebandes nur eine anscheinende, also fälschliche Identität seiner Gattin erkennen zu können: im Grunde vermutet er in Roberte eine Pluralität von Naturen, die sich jeweils nur vermittels zufälliger Liebhaber offenbaren. Indessen hat dieses Unternehmen nur insofern einen Sinn, als Roberte das unaustauschbare Gut Octaves bleibt: es hat nur Sinn, weil es widersprüchlich ist. Octave kann sein unveräusserliches Gut nur geniessen, indem er es jeweils veräussert. Im Code der Alltagszeichen, in der Welt, kommt ein anderes Element dazwischen: das des Wertes. Der Blick des anderen, also die Nachfrage, steigert den Wert der so dargebotenen Ehefrau. Mangels einer Begrifflichkeit, die sie als Denk- und Fühlgewohnheiten legitimiert, verlieren die Gesetze der Gastfreundschaft alsbald ihren «Brauch»-Charakter – und zwar zugunsten existierender gegenteiliger Gebräuche, deren Interpretation sie sich öffnen. Vom Ehemann dargeboten, unterliegt die Ehefrau den Schwankungen eines Handelsobjekts – da dieses unbezahlbare Objekt der fremden Einschätzung ausgeliefert wird. Das ist die erste Konsequenz der Vulgarisierung des Namens Roberte als des einzigen Zeichens mittels des Äquivalents, das sich dem Code der Alltagszeichen nicht entziehen kann. Denn die Argumentation der Gesetze der 15
Gastfreundschaft ist die Beschreibung nicht nur der Erfahrung von Octave und Roberte, sondern auch des Missverständnisses, in dem sich der Sinn der Gastfreundschaft zersetzt: das Missverständnis ergibt sich aus der Interpretation von Octaves Intention gegenüber Roberte, die als Objekt dieser Intention ebenfalls und notwendigerweise diesem Missverständnis anheimfällt, sobald sie Octaves Intention realisiert, d. h. seine besonderen Gesetze getreulich befolgt. Die Gestalt Roberte bildet hier den Pfeiler, auf dem sich das einzige Zeichen (d. h. der von ihm repräsentierte Erfahrungsgehalt) in den Code der Alltagszeichen umkehrt: ein Missverständnis nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch des Autors und seines unwahrscheinlichen Publikums. Da es sich um das Leben eines Paares handelt, werden Octaves Verhalten gegenüber Roberte und ihre Reaktionen vom Leser nur vermittels des Schemas der monogamen Logik des Ehebruchs aufgefasst. Was ist die Ursache, was die Wirkung, was das Ziel der Erfahrung Octaves in bezug auf Roberte? Auf diese Fragen antworten heisst den Erfahrungsgehalt nach jener Logik beschreiben – und ihn damit in einsichtige Erfahrungen zerlegen, die niemals dem unauflöslichen Gesamterleben Octaves entsprechen. Versucht man, die Gesetze der Gastfreundschaft zu formulieren, so stösst sich Octaves Verhalten alsbald an der einfachsten Vorstellung, die man von seiner Haltung haben kann: der Ehemann befiehlt der Frau, den Ehebruch zu begehen. Ebenso steht es mit dem Verhalten Robertes: sie verrät, um dem Gatten treu zu bleiben. Weder die eine noch die andere Aussage ist letztlich verstehbar: das «dem-Gatten-treu-Bleiben» erscheint absurd. Eine dritte Aussage wäre: Octave ist ein Voyeur. Man fällt in das Erklärungsschema der Libertinage. Woran scheitert nun eine einsichtige Formulierung der Ge16
setze der Gastfreundschaft? Was zensiert, was filtert ihren Erfahrungsgehalt? Man könnte sagen, dass es sich entsprechend der gängigen Logik, hier der monogamen Logik des Ehebruchs, um einen immanenten Widerspruch handelt. Und wenn man auf die Logik der Libertinage zurückgreift (die sich angeblich gegen die Logik des Ehebruchs richtet), so liefert auch sie keine einsichtige Formulierung der Gesetze der Gastfreundschaft. Man kann die Vulgarisierung dieser Gesetze als den Versuch beschreiben, aufgrund eines Erfahrungsgehaltes einen Brauch zu instituieren. Aber es scheint, dass diese Beschreibung (die diesen Erfahrungsgehalt mitzuteilen sucht) auf dieselben Schwierigkeiten stösst, dass sie auf eine identische Falle verweist: denn ebenso wie der Brauch einen mitteilbaren Erfahrungsgehalt voraussetzt, setzt die Beschreibung voraus, dass die Empfänglichkeit der Adressaten der Mitteilung auf einer analogen Erfahrung beruht, die durch Gebräuche gefestigt ist, also auf Begriffen, Normen und Vorstellungen, die gebräuchlich geworden sind. Der Code der Alltagszeichen steht im Dienst dieser Ensembles von Begriffen, Normen, Vorstellungen, die sich in der Literatur ausdrücken und überliefern, wodurch sich die gebräuchlichen Erfahrungsgehalte verifizieren: umgekehrt beansprucht dieser Brauch, selbst wenn er keinen Erfahrungsgehalten mehr entspricht, sich durch den Gebrauch der Zeichen des Alltagscodes zu verifizieren. Kein Erfahrungsgehalt kann sich ohne Begriffsgeleise mitteilen, die der Code der alltäglichen Zeichen in den Geistern eingegraben hat; und andererseits zensiert der Code der Alltagszeichen jeden Erfahrungsgehalt: so lässt sich die Erfahrung, die am Ursprung der Gesetze der Gastfreundschaft liegt, 17
nur in den Stereotypen der gebräuchlichen Vorstellung beschreiben: diese Stereotypen entsprechen einer tiefen Logik, die bestimmt, wie ein Motiv empfunden und ausgedrückt und wie seine Mitteilung aufgenommen wird: alles, was kommunizierbar ist, muss sich gemäss derselben Logik aussagen lassen: nämlich nach dem Widerspruchsprinzip, das jede mögliche Zweideutigkeit ausschliesst. Die monogame Logik des Ehebruchs verfügt über eine allgemeine und präzise Mitteilung und steckt auch noch in der Überschreitung des Verbots: du sollst nicht begehren des Nächsten Gut. Das Verbot bestätigt ein Subjekt als Eigentümer einer Person, die hier unveräusserliches Objekt ist: doch sofern dieses Objekt agiert, offenbart es sich negativ als Inhaber von Subjektqualität, da es dem Besitztum des ersten Besitzers zustimmte: es verliert diese Subjektqualität wieder, indem es dem ersten besitzenden Subjekt ein anderes substituiert. Dergestalt begründet das Verbot die moralische Qualität eines Ichs des Objekts, das diese innere Qualität nur besitzt, sofern es legitim besessen wird, und das dem Verbot entsprechend dieser Qualität selbst entsagt, indem es seinen rechtmässigen Eigentümer zugunsten eines zufälligen und unrechtmässigen Besitzers enteignet. Endlos variiert, bald diesen und bald jenen Aspekt dieser Überschreitung des Verbots vertiefend, bildet dieses Thema eine lange literarische Tradition. Das Gehör, das diese findet, seit die Menschen miteinander kommunizieren, die immer wieder belebte Aufmerksamkeit, die man ihr entsprechend den sie ausbeutenden Talenten und Genies leiht, resultieren aus der langen Gewohnheit einer vom Eigenen, von der Identität des verantwortlichen Ichs aus entwickelten Logik. Die monogame Logik des Ehebruchs ist schliesslich seit – um berühmte Beispiele zu nehmen – Flaubert und Tolstoj 18
Madame Bovary und Die Kreutzersonate geschrieben haben, durch die Gegenbewegung der Logik der Leidenschaft – oder der Logik der Lust, also der Libertinage – gebrochen worden: und zwar aufgrund sukzessiver Umwälzungen, die in unserer abendländischen Gesellschaft eingetreten sind, denen nunmehr eigene Erfahrungs- und Empfindungsstrukturen entsprechen. Die Logik der blossen Libertinage entspricht unter dem begrifflichen Gesichtspunkt der Abschaffung des Identitätsprinzips, d. h. der Abschaffung der beständigen Bedeutung des Subjekts und des Subjekt-Objekts: also dem Reich der Willkür. Wer teilt sich da mit, wer versucht da zu kommunizieren? Nur die Intensität, die sich als momentane Bedeutung in einem unablässig schwankenden Kontext konstituiert: das ist die Gegenlogik der Metamorphose – die Praxis des Zufalls – das Reich der Fortuna. Indessen erfordern die Erfahrungsgehalte dieser Ordnung ebenfalls den Code der Alltagszeichen, um sich zu formulieren. Selbst ihre literarische Mitteilung in den überspanntesten Werken entkommt nicht der Stereotypierung mit Hilfe des Codes der Alltagszeichen. Auch da wirken die neuen Strukturen des Alltagscodes auf den authentischen Grund der Erfahrung wieder ein. Im Aussprechen der Libertinage – sei es moralisch oder dichterisch – wird die monogame Logik des Ehebruchs umgedreht: die Erfahrung der Libertinage oder der unbedingten Leidenschaft wird als Anspruch oder als Aufstand mittels des Codes der alltäglichen Zeichen vorgetragen, von dem ihre Mitteilung abhängt. Aber was diese Erfahrungen an Einsichtigem haben, liegt weiter zurück: gegenüber dem monogamen Brauch spiegeln sie entgegengesetzte oder parallele Bräuche: Polygamie und Polyandrie. Diese alten Bräuche sind hier das Prinzip der Überschreitung des etablierten monoga19
men Brauchs geworden. Schon der Begriff der Libertinage drückt nur die augenblickliche und sporadische Hinwendung an diese als individuelle Anwandlungen verbotenen Bräuche aus. So rationalisiert sich die Umkehrung der monogamen Logik des Ehebruchs (also der Überschreitung) durch das Postulat der universellen Prostitution, die auf der Abschaffung der Eigenheit des Ichs beruht – wie sie Sade illustriert hat. Man verbleibt hier auf ein und derselben Begriffsgrundlage: im Namen des Identitätsprinzips, d. h. des Eigentums, trifft ein einziges Verbot zugleich den Ehebruch und die universelle Prostitution, und weil sie beide vom selben Verbot untersagt werden, ist es gerade dieses Verbot, das es möglich macht, die Erfahrungen «Ehebruch» und «Prostitution» verständlich auszusagen. Aber wie steht es dann mit den Erfahrungen, die von den Gesetzen der Gastfreundschaft formuliert werden: mit dem Verhalten Octaves gegenüber Roberte? Octave tut so, als würde er einen Brauch einführen oder wiedereinführen: selbst wenn dieser Brauch in anderen Breitengraden existiert hat, findet er in unseren abendländischen Gesellschaften keinen Anhaltspunkt – ausser im Milieu der Libertinage und somit nie in dem von Octave vorgegebenen Sinn: Die Gesetze der Gastfreundschaft halten am Prinzip des monogamen Eigentums fest, ohne das die Praktik eben dieser besonderen Gastfreundschaft ohne Sinn wäre: aber inwiefern entkommen sie der einseitigen Interpretation des Ehebruchs, wie wird das Ehepaar dem Verbot entrinnen, das den Ehebruch und die freizügige Prostitution trifft, wenn es sich dabei um die Bedingungen der Gastfreundschaft des Paares handelt? Es bleibt noch eine letzte «logische» Erklärung dieses Buches, wenn man seine Konstruktion aufzeigen will, die auf einer Synthese beruht, die als solche die «Praktizierung» dieser 20
Gesetze unmöglich macht. Logisch würde sie dem ursprünglichen Erfahrungsgehalt entsprechen. Unter dem Vorwand, die Monogamie als Brauch zu etablieren, würde dieses Buch in die Monogamie die von ihr verbotenen Bräuche der Polygamie und der Polyandrie wieder integrieren, so dass sich die Monogamie durch beide verifizieren könnte: also die Erfassung mehrerer Frauen innerhalb ein und derselben Ehefrau (innere Polygamie) – dank einer faktischen Polyandrie, dem Verkehr der Gattin mit mehreren Männern, wobei sich jedesmal eine unterschiedliche Frau innerhalb derselben Frau offenbart. Eine derartige Synthese wird der Leser nicht rekonstruieren können; noch bevor er Octaves Erfahrung als solche begreift, wird er sie schon gemäss der Logik des monogamen Verbots in «Ehebruchs»- und «Prostitutions»-Abenteuer zerlegen. Er wird die Szenen des Buches sogleich in die eine oder andere Rubrik einordnen. So wird er immer neben Octaves Erfahrung vorbeizielend und jener Logik folgend nur auf die «Eifersucht» einerseits und die «Untreue» andererseits «schliessen», die aus dem Raub resultierende Leiden bzw. Freuden darstellen – während sich für Octave diese beiden pathetischen Leidenschaftsaugenblicke zu einem höchsten Besitzen vereinigen. Die Logik des Ehebruchs, die auf dem Eigentum beruht und das Unveräusserliche besiegelt, kann die unaustauschbare Emotion jenes höchsten Besitztums nicht kennen und muss sie als ihren inneren Widerspruch ausschalten: keiner legt Wert darauf, sein Gut, das «Subjekt-Objekt» Ehefrau, zu prostituieren. Keiner will es dem anderen aufdrängen. Der gesunde Menschenverstand garantiert das Stillschweigen über diese Art von Kommunikation, weil das Prinzip des Nicht21
Widerspruchs die Einsichtigkeit des monogamen Eigentums begründet: was ein für allemal mir gehört, kann nicht zur selben Zeit einem anderen gehören. Daher der Beweis a contrario: was ich einem anderen gebe, das kann ich ihm nicht gleich wieder nehmen wollen. Völlig unverständlich bleibt somit die Formulierung der Gesetze der Gastfreundschaft: nur indem ich mein Gut veräussere, bleibt es mir unveräusserlich.
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Vom Simulakrum in der Kommunikation Georges Batailles
Wer Atheologie sagt, sorgt sich um die Vakanz Gottes, d. h. um den «Platz» oder Ort, der vom Namen Gottes eingenommen wird – des Garanten des persönlichen Ichs. Wer Atheologie sagt, sagt auch Vakanz des Ichs – des Ichs, dessen Fehlen in einem Bewusstsein verspürt wird, das nicht dieses Ich, sondern dessen Vakanz ist. Was wird aus dem Bewusstsein ohne Statthalter? Aber das ist erst eine ungefähre Bestimmung der Forschung Batailles – wenn man von einer solchen überhaupt reden kann: jedenfalls setzt sie sich bis zu den Erschöpfungen des Denkens fort, bis das Denken in reiner Intensität aufgeht, sie geht also über den Tod jedes rationalen Denkens hinaus. Die Verachtung, die Bataille dem eigentlichen Begriff entgegenbringt, hat sich besonders in der Discussion sur le péché gezeigt, die er mit Sartre, Hyppolite und anderen geführt hat1. Wo man ihn mit Hilfe von «Begriffen» festzulegen suchte, würde sich Bataille sofort entziehen, um nicht bei einem flagranten Widerspruch ertappt zu werden: er spricht und formuliert in Begriffssimulakren, sofern ein formuliertes Denken immer die Empfänglichkeit des Gesprächspartners impliziert. Das Simulakrum ist nicht eigentlich ein Pseudo-Begriff: auch dieser würde ja zunächst noch als Anhaltspunkt dienen – 1 Erschienen in: Dieu vivant 4 (Paris 1945) und neuerdings in: Le Nouveau Commerce 20 (Paris 1971).
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solange bis er als Irrweg denunziert werden könnte. Das Simulakrum ist das Zeichen eines augenblicklichen Zustandes und vermag weder den Austausch zwischen einem Geist und einem anderen herzustellen, noch kann es den Übergang von einem Gedanken zum anderen ermöglichen. In der genannten Diskussion sowie einige Jahre später in einem Vortrag2 verneint Bataille folgerichtig die Kommunikation, weil man immer nur den Abfall von dem kommunizieren würde, was man zu kommunizieren behauptet. (Daher auch sein Argwohn gegenüber den Theorien einer spirituellen Forschung, die aus ihr ein Projekt machen würden. Das Projekt ist pragmatischer Art und kann nichts von dem reproduzieren, wodurch es inspiriert worden ist.) Das Simulakrum hat den Vorteil, das, was es von einer Erfahrung vergegenwärtigt und was es von ihr sagt, nicht fixieren zu wollen; es schliesst das Widersprüchliche nicht aus, sondern impliziert es naturgemäss. Wenn es auf der Ebene der Begrifflichkeit mogelt, so mimt es doch getreulich die Rolle des Unkommunizierbaren. Das Simulakrum ist alles, was wir von einer Erfahrung wissen; der Begriff ist nur der Abfall davon, der nach anderen Abfällen ruft. Das Simulakrum hat einen ganz anderen Gegenstand als die verständliche Mitteilung des Begriffs: die Komplizenschaft, deren Motive ebenfalls weder bestimmbar sind noch sich zu bestimmen suchen. Die Komplizenschaft wird durch das Simulakrum erreicht; das Verständnis hingegen durch den Begriff, von dem allerdings das Unverständnis herrührt. 2 Conferences sur le non-savoir, in: Tel Quel 10 (Paris 1962).
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Doch das Simulakrum «verstehen» oder es «verkennen» bedeutet nicht viel: das Simulakrum, das auf die Komplizität zielt, erweckt in dem, der sich ihm unterzieht, eine Bewegung, die sogleich verschwinden kann; und das Sprechen davon wird dem, was sich da getan hat, in keiner Weise gerecht: ein flüchtiges Anhangen an jenes Bewusstsein ohne Statthalter, das im anderen nichts umfasst als das, was sich vom Ich des anderen ablösen, abtrennen könnte, um es zu entleeren. Der Rückgriff aufs Simulakrum deckt allerdings weder eine Ereignislosigkeit noch den Ereignisersatz ab: doch sofern etwas jemandem geschehen muss, damit man von Erfahrung sprechen kann – wird sich das Simulakrum nicht auf die Erfahrung erstrecken, die Bataille als gelebte bezeichnen muss, sobald er von ihr spricht – auch wenn er sich selbst als Subjekt, das sich an andere Subjekte wendet, zurückweist und nur den Inhalt der Erfahrung gelten lässt? Etwas stösst Bataille zu, wovon er so spricht, als würde es nicht ihm zustossen – und das er doch definiert und in seine Argumentation einbaut. Er schreibt sich nie eine einigermassen bestimmte (Erfahrungs-) Aussage zu und kann sich keine zuschreiben, ohne sich sogleich auf die Angst, auf die Freude, auf den Übermut zu berufen: dann lacht er, und er schreibt, dass er vor Lachen stirbt oder dass er vor Lachen weint – ein Zustand, in welchem die Erfahrung das Subjekt auslöscht. Soweit Bataille von dem, was diese Vokabeln bedeuten, durchdrungen war, war sein Denken abwesend, und es kam ihm nicht darauf an, sie im Rahmen seiner Vorstellungen einer Meditation zu unterwerfen; worum es ihm ging, das war diese Modalität von Abwesenheit; und deren etappenweise Rekonstruktion führt ihn zu einer Philosophie, die als solche auszugeben er sich versagen muss. 27
Auf dem Umweg über das Simulakrum gelingt es dem Bewusstsein, ohne Statthalter (d. h. Vakanz des Ichs) in das Bewusstsein des anderen einzudringen; sofern dieses ein IchBewusstsein ist, kann es den Andrang des ich-losen Bewusstseins nur aufnehmen, indem es sich auf eine Begrifflichkeit bezieht, die auf dem Prinzip des Widerspruchs, also der Identität des Ichs, der Dinge und der Wesen beruht. Hier rührt man an das Herz jeder vom Denken Batailles und seinen Aussagen aufgeworfenen Diskussion. Der Begriff und die begriffliche Sprache setzen das voraus, was Bataille geschlossene Wesen nennt. Im besonderen die Discussion sur le péché lässt bei Bataille eine Interferenz und gleichsam eine notwendige Konfusion zwischen dem Begriff und dem Verbot, zwischen dem Begriff und der Sünde, zwischen dem Begriff und der Identität sichtbar werden – noch bevor es einen Begriff der Sünde, d. h. des für die Sünde konstitutiven Identitätsverlusts gibt. So gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Wesensidentität und dem Vermögen, Gut und Böse zu unterscheiden. Indessen konfrontiert Bataille seine Gesprächspartner, die Christen oder atheistische Humanisten sind, mit einem «Begriff» der «Öffnung der Wesen», worin das Böse und das Gute ununterscheidbar werden. Und es wird dann offenkundig, dass die vom Begriff der Identität und speziell vom Begriff der Sünde abhängige Öffnung der Wesen, dieser Angriff auf die Integrität der Wesen (die sich beide nur vom Begriff der «Sünde» aus begreifen lassen), sich als Begriffssimulakren entfalten. Wenn Sartre Bataille vorwirft, den «Begriff der Sünde» mit einem ständig wechselnden Inhalt aufzufüllen, so antwortet ihm Bataille unter anderem: «Ich bin von Begriffen ausgegangen, die gewisse Wesen um mich herum einzusperren pflegten, und ich habe mich darüber lu28
stig gemacht ... Es ist mir aber nicht gelungen, die Fröhlichkeit, mit der ich es getan habe, zum Ausdruck zu bringen ... Von einem bestimmten Punkt an fand ich mich inmitten meiner Schwierigkeiten von der Sprache im Stich gelassen; denn es ist fast notwendig, was als eine masslose Freude empfunden wird, wie eine Angst zu formulieren; wenn ich die Freude ausdrückte, würde ich etwas anderes ausdrücken als das, was ich empfinde, weil das, was empfunden wird, auf einmal der Übermut gegenüber der Angst ist, und die Angst muss spürbar sein, damit auch der Übermut spürbar wird, und der Übermut ist manchmal ein solcher, dass er sich nicht mehr auszudrücken weiss ... Die Sprache kann beispielsweise nicht einen äusserst einfachen Begriff ausdrücken, nämlich den Begriff von einem Gut, das allein in Verausgabung und Verlust bestünde. Wenn ich mich für den Menschen aufs Sein beziehen muss (womit ich sofort eine Schwierigkeit einführe), wenn für den Menschen in einem bestimmten Moment der Verlust, der Verlust ohne Ausgleich, ein Gut ist, so können wir diese Idee nie zum Ausdruck bringen. Es fehlt die Sprache, weil die Sprache aus Aussagen besteht, die Identitäten einführen, und von dem Moment an, da man aufgrund des Übermasses der auszugebenden Summen nicht mehr um zu gewinnen, sondern um auszugeben ausgeben muss, kann man sich nicht mehr auf der Ebene der Identität halten. Man ist gezwungen, die Begriffe über sie selbst hinaus zu öffnen.»3 Was heisst die Begriffe über sie selbst hinaus öffnen? Oder was würde eine Sprache sagen, deren Sätze aufhörten, Identitäten einzuführen? 3 Vgl. Dieu vivant 4 (Paris 1945): 122f.
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Eine Sprache, die von allen Begriffen befreit ist und mit den Identitäten sich selbst zerstört, sagt nicht mehr das Sein: jeder höchsten Identifizierung (im Namen Gottes oder der Götter) entrinnend, ist das Sein nur noch zu fassen als unaufhörliche Flucht vor allem, was existiert, worin der Begriff das Sein einzuschliessen behauptete und ihm doch nur die Perspektive der Flucht versperrte; mit einem Schlag fällt die Existenz in das Unzusammenhängende zurück, das zu «sein» sie nie aufgehört hatte. Hier könnte es scheinen, dass sich die Forschung Batailles mehr oder weniger mit derjenigen Heideggers vereint, sofern es sich eigentlich um ein metaphysisches «Anliegen» handeln sollte. Bataille bekennt eine gewisse Parallelität seiner Meditation mit der Erkundung Heideggers, soweit diese von Erfahrungsgehalten ausgeht. Die Flucht des Seins aus der Existenz stellt an sich ein ewiges Ereignis dar, und einzig die Perspektive dieser Flucht lässt das Existierende als diskontinuierlich erscheinen. Nach Heidegger kreist das Denken der Ursprünge um dieses Ereignis des Seins: doch ist die Philosophie seit Platon unfähig, die Perspektive der Flucht vor der Existenz aufrechtzuerhalten, sie weigert sich, sich eigentlich über das Sein als Sein zu befragen, und verdrängt immer mehr die ursprüngliche Fragestellung durch eine Erklärung des Seins vom Existierenden aus. Indem er so die metaphysische Situation nach Nietzsches Nihilismus-Ankündigung resümiert, erklärt Heidegger: Die Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus4. Nicht weil sie das Sein selbst als zu Denkendes abwehrt, kennt die Metaphysik 4 Martin Heidegger: Nietzsche, II (Pfullingen 1961): 343.
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das Sein nicht, sondern weil das Sein selbst ausbleibt5. Platon ist nicht minder Nihilist als Nietzsche selbst – trotz seiner Anstrengung zur Überwindung des Nihilismus. Der «Wille zur Macht als Prinzip aller Werte» bringt den Nihilismus zur Vollendung. Die Totalität des Existierenden ist nunmehr das Objekt eines einzigen Eroberungswillens. Die Einfalt des Seins ist in einem einzigen Vergessen begraben. So kommt die abendländische Metaphysik an ihr Ende. Indem er so die bevorstehende Lage der Welt anzeigt: eine Einrichtung des Menschen in seiner «ontologischen» Verlassenheit, die um so bedrohlicher ist, als sie das ewige Ereignis der Flucht des Seins offenbart und einem notwendigen Verlauf der Metaphysik folgt, hat Heidegger die Angst als Weg der Rückkehr zum Ausgangspunkt, d. h. zum Fragepunkt einer jeden dieses Namens würdigen Metaphysik sondiert. Und, eine Art Verantwortung übernehmend gegenüber einem «Existierenden», das sich in seiner Diskontinuität verkennt und sich in seiner Unbesorgtheit um das Sein als Sein verschliesst, hat Heidegger jenseits der Philosophie in den Weissagungen des dichterischen Geistes (Hölderlin, Nietzsche, Rilke) den Rückweg zum ursprünglichen Fragen dort gesucht, wo jener Geist innerhalb seiner selbst den Entzug des Seins als den flüchtigen Vorübergang der göttlichen Gestalten fasste und so von der verborgenen Diskontinuität unserer Existenz Zeugnis ablegte. Bei Bataille wird nun dieselbe Besorgnis ganz anders kommentiert: bei ihm ist die ontologische Katastrophe des Denkens nur die Kehrseite eines Höhepunktes, der in den «souveränen» Augenblicken erreicht wird: Rausch, Lachen, Erguss 5 Vgl. op. cit.: 353.
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der Liebe und des Opfers – Erfahrungen einer Verausgabung ohne Ausgleich, einer Verschwendung ohne Mass, einer Erschöpfung ohne Sinn, Nutzen und Ziel. Hier wird das Diskontinuierliche zum Motiv einer Revolte: gerade im Namen der Flucht des Seins – gegen das nützlich ausgebeutete und wohlweislich organisierte Existierende, auch der Philosophie, und daher (trotz gewissen Ähnlichkeiten) auch gegen das ontologische Anliegen Heideggers. «Es handelt sich um eine professorale Arbeit, deren Methode an den Resultaten kleben bleibt; was hingegen in meinen Augen zählt, ist das Moment des Entklebens; was ich lehre (wenn überhaupt ...), ist ein Rausch, nicht eine Philosophie: Ich bin kein Philosoph, sondern ein Heiliger, vielleicht ein Narr.»6 Heideggers «ontologische» Verantwortung, die – als ein unvermeidliches Ziel seiner «Professorenarbeit» – einen «metaphysischen» Aufschwung voraussetzte, wäre bereits das Gegenteil dessen, was Bataille als Souveränität, d. h. als Zerstreuung in reinen Verlust, definiert. Unter dem Vorwand, eine Philosophie des Nichtwissens7 zu entwickeln, propagiert er nämlich «die Revolte, die durch die Philosophie eine bewusste Revolte gegen die ganze Welt der Arbeit und gegen die ganze Welt der Voraussetzung geworden ist». Die «Welt der Arbeit und der Voraussetzung» ist hier die der Wissenschaft, «die fortfährt, an die Möglichkeit der Antwort zu glauben». Was ist das für eine Revolte, die durch die Philosophie bewusst geworden ist? Sie ist durchweg durch Nietzsche in seiner Kritik der Erkenntnistheorien sowie des Erkenntnisaktes 6 Georges Bataille: L'expérience intérieure (Paris 1954): 235f. 7 Vgl. Conferences sur le non-savoir, in: Tel Quel 10 (Paris 1962): 11.
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selbst vorgebildet. Eine Sentenz von Spinoza (non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere) kommentierend, bemerkt Nietzsche, dass sich erst aufgrund einer Art Waffenstillstand zwischen zwei oder drei widersprüchlichen Triebkräften die vorgebliche Milde des Intellekts herstellt, da jeder Erkenntnisakt von «einem gewissen Verhalten der Triebe zueinander» abhängt, «die miteinander kämpfen» und «recht wohl verstehen werden, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu thun» – bis zu «jener gewaltigen plötzlichen Erschöpfung», die erklärt, dass «das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, die unkräftigste Art des Denkens ist».8 Den Waffenstillstand zwischen zwei oder drei widersprüchlichen Antrieben innerhalb seiner selbst brechen, um der Irreführung des bewussten Denkens zu entkommen, auch um den Preis des Verstummens in der Erschöpfung – darauf würde bei Bataille diese Revolte gegen alle Möglichkeit des Antwortens hinauslaufen. Und tatsächlich illustrieren die von Bataille als Momente der Souveränität genannten Erfahrungen – die Ekstase, die Angst, das Lachen, der Erguss der Liebe oder des Opfers – diese Revolte, die hier nur ein Appell an die stille Autorität des páthos ohne Sinn und Ziel als unmittelbare Erfassung der Flucht des Seins ist, deren Diskontinuität die Sprache unablässig einschüchtert. Gewiss präsentieren sich diese Bewegungen des páthos für Bataille als Momente der Souveränität nur, weil sie das Diskontinuierliche selbst verifizieren und weil sie sich als Brüche des Denkens produzieren; immerhin handelt es sich da um Erfahrungsgehalte, die sich hinsichtlich der Diskontinuität 8 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, IV, 333.
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sehr voneinander unterscheiden, sobald sie Objekte einer Meditation werden. Wie soll etwa das Lachen als Reaktion auf den plötzlichen Übergang vom Bekannten zum Unbekannten – wo das Bewusstsein ebenso plötzlich dazwischenkommt, da Bataille erklärt: «Lachen ist Denken»9 –, wie soll das Lachen mit der Ekstase oder mit der erotischen Ergiessung (bei all ihrer Ähnlichkeit in der «Reaktion» auf denselben Gegenstand) zu vergleichen sein, wie soll es namentlich mit der Ekstase zu vergleichen sein, die aus zielgerichteten geistigen Operationen resultiert? Diese Schwierigkeit wird von Bataille selbst unterstrichen, und er gefällt sich darin, sich in ihr als einer von vornherein verzweifelten Unternehmung einzurichten. Diese Momente der Souveränität mögen Beispiele für die Erfahrung des Diskontinuierlichen und der Flucht des Seins sein: sobald die Meditation sie sich als Gegenstände vornimmt, rekonstruiert sie alle unvermuteten Etappen, die das páthos in seinem Aufsteigen verbrannt hatte – und die Sprache eines Verfahrens, das nur vulgären Operationen10 angemessen ist, kann hier die Modalitäten der Abwesenheit des Denkens unter dem Vorwand, sie zu beschreiben und sie im Bewusstsein zu reflektieren, nur zum Verschwinden bringen, da sie dem an sich diskontinuierlichen páthos möglichst viel Kontinuität und Sein zuzuschreiben sucht. Weil also die (begriffliche) Sprache das Studium und die Erforschung der in ihrem Auftauchen unzugänglichen Souveränität widersprüchlich macht, drängt sich da, wo sich das Schweigen aufdrängt, das Simulakrum auf. Tatsächlich erscheinen die anvisierten Momente, die nur im Rückblick Momente der Souveränität sind, da es sich immer 9 Georges Bataille: L'expérience intérieure (Paris 1954): 230. 10 Vgl. Conferences sur le non-savoir, in: Tel Quel 10 (Paris 1962): 15.
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um eine unvorhergesehene Bewegung des páthos handelt, mit der sich die Untersuchung dann treffen soll – diese Momente erscheinen selbst als Simulakren der Erfassung der Flucht des Seins aus der Existenz heraus und folglich als Simulakren des Diskontinuierlichen. Wie können die Erfahrungen des páthos den «souveränen» Charakter einer verlorenen Verausgabung, einer masslosen Verschwendung bewahren, wenn es dieser Meditation darum geht, sich durch eine «innere» Wiedererfahrung dazu zu erheben – also doch auch einen «Gewinn» daraus zu ziehen? Wird nicht die Authentizität dieser Momente, die Authentizität gerade der Verlorenheit, sofort kompromittiert, sobald sie «als Wert festgehalten» wird? Wie können diese Momente überhaupt der Begriffssprache soweit entkommen, dass sie nur als Simulakren gelten können? Genauso geht es mit der Ekstase, die zugleich eine authentische Erfahrung und etwas Wertvolles, weil Souveränes ist – die aber der Begriffssprache nur entrinnt, indem sie sich als Simulakrum des Todes enthüllt. Und das in einer Meditation, die darauf hinaus läuft, mit aller Kraft des Denkens gegen die Tatsache des Denkens anzukämpfen. «Wenn der Tod des Denkens bis zu dem Punkt vorangetrieben wird, an dem es hinlänglich totes Denken ist, nicht mehr verzweifelt oder verängstigt, dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Tod des Denkens und der Ekstase ... Es gibt also vom Tod des Denkens ausgehend einen neuen Bereich, der der Erkenntnis aufgetan ist: Vom Nichtwissen aus ist ein neues Wissen möglich.»11 Aber: «Ich müsste zuerst auf dem insistieren, was diesen neuen Bereich ebenso befleckt wie den vorausgehenden. Der Tod des Denkens wie auch die Ekstase sind nicht weniger von 11 Op. cit.: 13.
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Mogelei und tiefer Ohnmacht geprägt als die schlichte Erkenntnis des Todes des anderen. Der Tod des Denkens misslingt immer. Das ist nur eine ohnmächtige Bewegung. Desgleichen ist die Ekstase ohnmächtig. In der Ekstase besteht eine Art konstantes Bewusstsein von der Ekstase fort, das die Ekstase auf die Ebene der ‹eigenen› Objekte hebt ... es ist zuletzt unvermeidlich, sie wie eine angeeignete Sache zu nehmen, um daraus den Gegenstand einer Lehre zu machen ...»12 Und dennoch ist es gerade dieses Ohnmachtsgeständnis (das ein Ohnmachtssimulakrum ist), das der Bewegung dieser Forschung ihre Spannkraft gibt und sie in einem unheilbaren Schwindelzustand hält: weder Fortschreiten noch Rückkehr zu sich – sondern zugleich Abstieg und Aufstieg nach Art einer Spirale ohne Anfang und Ende. Bataille unterstreicht, dass im Gegensatz zum dichterischen Schaffen die Erfahrungen, die sich seine Meditationsmethode vornimmt, das Subjekt, das sich darin übt, modifizieren13, also seine Identität entstellen. «Gelungen» müsste diese Methode sogar zum Verschwinden des Subjekts führen, damit kein Statthalter mehr mittels des Selbstbewusstseins die Souveränität dieser Erfahrungen beschränke. Was heisst das? Ein existierendes Subjekt, das mit seiner Diskontinuität, d. h. mit der Flucht des Seins aus der Existenz, experimentiert, bleibt bestehen, da sein Lachen, seine Tränen, seine Ergüsse, also sein páthos von ihm als souveräne Momente bezeichnet werden. Und dieses Existierende, das zufällig zum Verschwinden des Ichs, zu einem Tod des Denkens gelangt ist, kann diese souveränen Momente nur noch von 12 Ebenda. 13 Vgl. Georges Bataille: L'expérience intérieure (Paris 1954): 237f.
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seinem reintegrierten Ich aus wieder suchen, also von der erneuerten Herrschaft der Identität und von der erneuerten Schliessung des Begriffs aus – sobald es diese Meditation lehren will. So wird es denn wieder von den Begriffen, von den Identitäten aus den Weg zur Öffnung der Begriffe, zur Sprengung der Identitäten bahnen müssen – und von dieser Öffnung und von dieser Sprengung nie etwas anderes als das Simulakrum liefern können ... Die Atheologie möchte sich da dem Dilemma entziehen, das nun entsteht: der rationale Atheismus ist nichts anderes als ein umgedrehter Monotheismus. Aber Bataille glaubt kaum an die Souveränität des Ichs, die der Atheismus vorschlägt. Weil allein die Vakanz des Ichs, die der Vakanz Gottes entspricht, die Souveränität begründen würde.
Gespräch über die Idee des Unglücksbringers FÜR GILLES DELEUZE
Es gibt Unterredungen, die sich zwischen zwei Gesprächspartnern so abspielen, dass ein Dritter, der ihnen still zuhören würde, den bestimmten Eindruck hätte, dass die beiden eigentlich selbst nicht mehr genau wissen, worüber sie diskutieren. Und dabei handelt es sich weder um ein Gespräch zwischen Gesprächsunwilligen noch darum, dass die Begriffe so ungeklärt bleiben, dass jeder einen anderen Inhalt damit verbindet. Vielmehr modifiziert sich dieser vorausgesetzte Inhalt dadurch, dass der eine ihn jeweils vom anderen übernimmt; der zunächst von A festgehaltene Sinn geht unmerklich auf B über; da jeder dem anderen einen Fehler nachweisen will, vergessen sie schliesslich, wovon sie sich gegenseitig überzeugen wollen. A vertritt einen Standpunkt, von dem er im voraus weiss, dass B ihn falsch finden wird. Er behauptet keineswegs, ihn beweisen zu wollen; er stellt ihn nur mit seiner Person dar. Nehmen wir an, dass er nicht die geringste Herausforderung beabsichtigt. Was B seinerseits ebenfalls weiss. Aber um ihm zu zeigen, dass seine falsche Idee zu einer Herausforderung an den gesunden Menschenverstand wird, scheint B den Standpunkt von A für einen Augenblick übernehmen und bis zum Ende entwickeln zu wollen. Auf einmal verteidigt B seine eigene Darlegung – die «korrekte» Darlegung der falschen Idee von A. Er verteidigt nicht die Idee selbst, sondern ihre vollständige Entwicklung und setzt in 41
dieser «kohärenten» Form A seinen Standpunkt entgegen, von dem sich A nur eine ungefähre Idee zu machen schien. A wittert eine Falle in dieser anscheinend vollkommenen Version seiner eigenen Idee: weil er sie eben nicht «begriffen» hat: sie ist ihm ungefähr in den Sinn gekommen, und wegen dieses Ungefährs identifiziert er sich mit ihr. Es handelt sich eben nicht um dieselbe Idee. A – Wer von uns hat nicht im Lauf seines Lebens einen Moment erlebt, in dem ihn der unabweisbare Gedanke überkam, dass es neben denjenigen Wesen, die ihn vor gefährlichen Situationen bewahrt haben, andere gibt, zwei oder drei, denen er ein schweres Missgeschick verdankt? Damit ein solcher Gedanke in einem Individuum überhaupt aufsteigen kann, wird es sich vielleicht selbst so viele Fehler vorzuwerfen haben, dass es zu seiner eigenen Lossprechung die Sünden anderen zusprechen muss; aber auch damit wird der Gedanke nicht widerlegt, dass einer, auch wenn er selbst einen Fehler begangen hat und sich geschadet hat, eben doch unausweichlich in einem unvermuteten Netz gefangen gewesen ist; dieses Netz ist vielleicht nur die Illusion eines nachträglichen Blicks auf abgelaufene Ereignisse. Allerdings wird der Einwand lauten können: noch ist nichts abgelaufen, denn jener Gedanke hat sich augenblicklich ganz unfreiwillig eingestellt; wozu sollte man die aufzählen, die zu seinem Geschick beigetragen haben, wenn es immer gleichviele sind oder wenn auch ein einziger genügt, um ihm Unglück zu bringen? Es gibt keinen dümmeren und abscheulicheren Gedanken – aber ist er nicht die Kehrseite oder gar der Effekt des «Netzes»? Eine Idee wie die des Unglücksbringers – wie können wir sie entfalten? Indem wir von ihrer Abgeschmacktheit ausge42
hen oder im Gegenteil von ihrer Umhüllung: leeres Schreckgespenst aus Gedankenfetzen? Eine armselige, bornierte Idee, gewiss – es bedarf einer stupiden Sturheit, damit das Denken sich immerzu darum dreht und darin seine Kläglichkeit entdeckt. Ist der «Unglücksbringer» eine allgemeine Idee oder nicht? Ist es das Fehlen von Allgemeinheit, die den Gedanken kläglich macht, oder ist jede allgemeine Idee ein Zeichen von Kläglichkeit? Ist es die Allgemeinheit, die zwangsläufig denken lässt oder – willkürlich? So würden sich viele Gewissensfälle, aber auch viele «verlorene Existenzen» durch dieses beängstigende Dilemma erklären: aus Angst, immer nur grundlos, willkürlich eine abgeschmackte Idee zu denken, dachten sie wie die Allgemeinheit – zwangsläufig. B – Die Allgemeinheit wird nie als ein Zustand erfahren, sondern als zwingendes Gesetz des Verstandes erlitten, sofern die ganze Art nach diesem Gesetz denken muss, wenn sie sich erhalten, wenn sie sich mitteilen will, um sich fortzupflanzen. Sie denken nie etwas, was Sie nicht im selben Augenblick kraft dieses Gesetzes der Allgemeinheit kommunizierbar machen ... A – Wenn es so steht, dann ist das Denken als solches eine rein herdenhafte Fähigkeit: niemals würde also der einzelne seinen eigenen Fall kohärent und unkommunizierbar denken. Die Allgemeinheit des Verstandes wäre nur die Abstraktion eines herdenhaften Aberglaubens. B – Ihre Idee des Unglücksbringers wäre etwa keine? Sie ist die schlimmste von allen, die der Herdeninstinkt der Selbsterhaltung je hervorgebracht hat. Sollte etwa der einzelne Fall einen nicht herdenhaften Gebrauch davon machen? A – Ganz gewiss! Denn der Aberglaube tritt wieder völlig in seine Rechte ein, sobald er selbst der einzelne Fall ist. Ein 43
Aberglaube ist die Fortdauer einer Idee, die dem Verstand entwischt, die jedoch ihn (seinen spezifischen Charakter) begründet – oder ganz im Gegenteil: ein Vernunftschluss, aus dem man nicht mehr herauskann: Einzelfall. Die Idee des Unglücksbringers ist – wie jeder Aberglaube – eigentlich eine Denkunmöglichkeit und findet das Motiv dieser Ohnmächtigkeit in anderen Wesen (Einzelfällen) und besteht in der Annäherung und Entfernung jener. Bruch des Verstandes: die Idee des «Unglücksbringers» als Öffnung des besonderen Falles auf ein Ereignis, das sich vorbereitet (von einem anderen einzelnen aus) oder das sich durch das Gerücht abschirmen lässt (die Idee des Unglücksbringers warnt vor seiner Annäherung oder Anwesenheit und macht es möglich, sich ihm zu entziehen). B – Wenn wir sagen, dass die Idee des Unglücksbringers eine armselige Idee ist, so stellen wir vielleicht das Denken als solches in Frage: wenn wir eine entwicklungsträchtige Idee denken, so hält sie uns in einer momentanen Euphorie – wir vergessen alle anderen Unzufriedenheiten. Eine dürftige Idee wie die des Unglücksbringers ist wie ein Rundgang im Gefängnis oder ein trüber Tag oder das Fehlen einer Landschaft; und doch genügt es, sie eine Sekunde zu fixieren; sie ist ein Wegweiser, ein Pfeil – ein Signal: wohin? Dort drüben passiert etwas – gehen Sie rechts – gehen Sie links. Wenn sie allerdings ein Verhalten gegenüber einer bestimmten Person anordnet, so verliert sich die denunzierende Idee hinter diesem Verhalten; es nützt nichts, diese oder jene Person als Unglücksbringer zu bezeichnen, wenn wir sie nicht gemäss dieser Idee behandeln. Schliesslich haben wir niemanden mehr zu fliehen: keine greifbare Physiognomie zeigt sich – die Idee des Unglücksbringers leistet uns nunmehr Gesell44
schaft. So mag es das Denken sein – jedes auf unsere Sicherheit und unsere Zukunft bezogene, das die Disjunktion zwischen dem erstickten Denken und dem gedankenlosen Atmen verrät. A – Der Unglücksbringer ist nicht der Verfolger der Paranoia – er ist das Gegengift; der Unglücksbringer kann sich nicht wie die «Verfolger» bei Strindberg in eine korrigierende Macht verwandeln, die die heilsame Verfolgung nur zur Reinigung des Verfolgten (des Sünders) ausübt. Nichts dergleichen beim Unglücksbringer: rückblickend bleibt die Schlussfolgerung: man musste ihn identifizieren, um ihn zu fliehen. Der Unglücksbringer ist auch nicht der Verfolgte. Selbst in seinem eigenen Unglück bleibt er «heil» und zunächst scheint er ausserhalb jeder «delirierenden» Interpretation der Ereignisse zu stehen; wenn das Unglück eintritt, findet er es genau so natürlich wie – wenn nicht noch natürlicher als – die Unterstützung, die er uns zuteil werden liess, um es zu vermeiden, und normaler als das «Gut», das er uns beschaffen wollte. Daher kann nichts die Vorstellung entkräften, die er erweckt: dass nämlich unabhängig von jeder Absicht ihre eigene Organisation einem Zusammentreffen von Umständen folgte, in dem sie ihre Befriedigung fand. Der Unglücksbringer ist wirklich unschuldig an den von ihm herbeigeführten Katastrophen: «schuld» ist er nur an der Unwissenheit, mit der er agiert und in eine Situation gerät: in eine «Szene», die anscheinend nur dazu aufgebaut worden ist, damit er sie durcheinanderbringe. Er ist unschuldig, weil er nur mein Gutes will und weil er allein aufgrund seiner Existenz meine Niederlage verkörpert. Und weil es unzulässig ist, ihm die Schuld daran, dass er ist, was er ist, zuzuschieben: darum muss man die eigene Wachsamkeit verdoppeln, um 45
ihm ja nicht zu begegnen. Allerdings erkennt man ihn erst nachträglich: dann sucht man diese Vorstellung zu verleugnen; und aus menschlichem Respekt desavouiert man die Sicherheit seines eigenen Instinktes ... B – Gestehen Sie, dass Sie mit dieser Idee, mit dieser Fixierung auf eine unheilvolle Beziehung, sich selber rächen und dass Sie das Schicksal (das Los) als schiedsrichterliche Instanz einsetzen oder vielmehr fiktiv einsetzen, da Sie sie vor Ihrem Gewissen doch nicht anerkennen: denn was gibt es allgemeineres als den Begriff des «Schicksals», was gemeineres als das «Missgeschick», als den «Unglücksbringer»? Aber weil alle diese Vorstellungen im eigentlichen Sinn artgemäss, «herdenhaft» sind, ist Ihre Idee nur eine Singularisierung des Schicksals: das Schicksal eines bestimmten Menschen wäre es, «Unglück zu bringen», und Ihres wäre es, dadurch verstört zu werden. So brechen Sie zwar nicht mit Ihrer arteigenen Abhängigkeit, eliminieren aber wohl die Allgemeinheit des Verstandes – unter dem Deckmantel einer unkommunizierbaren Idee. A – Sie fangen wieder an! Ist es denn meine «arteigene» Realität, der irgendein Schicksal zustösst? Sie müsste sich in Tier, Stein oder Pflanze verwandeln – kann der Art ein Ereignis zustossen? Entweder sie verschwindet – aber dann muss sie zuerst existiert haben, und ihr Verschwinden wäre das Ereignis; oder sie bleibt bestehen, in der abstrakten Form Ihrer «Allgemeinheit»: und kein Ereignis ist möglich. Wenn dennoch Ereignisse stattfinden: wem stossen sie zu und von wem gehen sie aus? B – Gewiss von Individuen – aber was wären Individuen ohne «Art»? A – Sie kommen aus Ihrer «Allgemeinheit» überhaupt nicht heraus! Es handelt sich weder um Individuen noch um 46
Art; nur um Singularitäten, um Aberglaube im wörtlichen Sinn: Überbleibsel, die daherkommen und einander zustossen. Für die Allgemeinheit des Verstandes kann nie etwas daherkommen, was nicht eine unerträgliche Unterbrechung ist: die Singularität des Loses ... Die Beschreibung der Wechselfälle einer solchen Idee fällt ins Leere, sobald man sie mit Beispielen bekräftigen will: da die als Unglücksbringer qualifizierte Person ohne Hintergedanke agiert; um so mehr als wir selbst, die wir durch sie geschädigt worden sind, von der Wirkung zur Ursache zurücksuchend nicht immer erfassen können, wieso diesmal verderblich wirkende Geschehnisse nicht ein anderes Mal durchaus annehmbare Folgen haben könnten ... Sehen Sie, das heisst eben von einer Menge von Möglichkeiten, die in einer physischen Präsenz vereinigt sind, abstrahieren. Ebenso wie das Glücksversprechen, das von einer noch unbekannten Gestalt ausgestrahlt wird, zu deren Attribut wird, und wie sich das Versprechen erneuert, ohne dass sich weiter etwas erfüllt, und wie es uns jene Gestalt sofort vertraut gemacht hat, so dass wir sie nur zu sehen brauchen – und schon unterwirft sie uns derselben Erwartung – genauso, sage ich Ihnen, ist das Umgekehrte wahr: da im ersten Augenblick nichts von den unheilvollen Verkettungen aufscheint, die unser Verhältnis mit einer Person markiert haben werden, ist es nicht bloss eine nachträgliche Projektion, wenn man erst jetzt versteht und sieht, dass sie bereits jene Physiognomie zusammensetzten, und nun zweifeln wir nicht mehr, dass ein physischer Typ existiert, der unsere Aufmerksamkeit am Rand eines Abgrunds auf sich zieht. Was ist die Idee des Unglücksbringers anderes als eine Art gegenläufige Unterscheidung: diese zudringliche Güte, diese hartnäckige Hingebung, diese milchige Besorgnis, diese 47
Überbietung der Eigenliebe des anderen sind mit einem Affekttyp zu identifizieren, den notfalls ein himmelblauer Blick kennzeichnet oder ein matter, wenn es ein «verständnisvoller» sein soll, oder ein «besorgter», wenn es sich nur um ängstliche Gier handelt; in der Stimme ein ständiger Ton der Klage über «Ihr» Schicksal – das Schicksal, das er Ihnen vorbehält ... B – Sie haben gesagt: Ereignis und Einzelfall – das ist dasselbe; und dann: Singularität steht für Aberglaube, d. h. Überbleibsel; aber wie soll man verstehen, dass das einzelne Ereignis als – Aberglaube gelten soll! Oder wollen Sie sagen, dass der Aberglaube des Einzelfalls das Ereignis schafft, was ganz banal wäre ... A – Sie halten mir Wörter vor, und die Wörter zwingen mich noch einmal, mich gegen mich selbst zu erklären: zweifellos wird der Aberglaube des Einzelfalls als Vermutung eines anderen Einzelfalls empfunden – als seine Annäherung ... als Annäherung eines anderen Ereignisses ... B – Aber Sie haben mir noch immer nicht erklärt – und jetzt sollten Sie es sich selbst erklären: inwiefern das Ereignis und der Einzelfall dasselbe sein sollen: Sie sprechen mir weiterhin vom Einzelfall wie von einem spezifischen Individuum, wenn Sie sagen, dass eine Annäherung vermutet wird. Wie kann das Ereignis – der einzelne – ein anderes Ereignis vermuten? A – Das passiert ihm allein durch ihn selbst und bedroht ihn doch auch immerzu ... B – Äusserlich oder innerlich? A – Genau so reden und denken die, die nicht wissen, was ihnen geschieht, und auch nicht, dass sie Singularitäten sind ... es gibt kein Ereignis, an dem man teilhaben kann – weil der Einzelfall immer selbst das Ereignis ist: ob er diesem Risiko 48
verfällt oder sich ihm aussetzt oder sich ihm verweigert – feig oder grossmütig oder zerstreut und unvorsichtig: das ist jeweils die Form seines Ereignisses: der Anschein eines äusseren Ereignisses, an dem teilzunehmen ebensowenig ein Verdienst ist, wie es für andere Einzelfälle ein Verdienst wäre, zugrundezugehen ... B – Sie sind also gegen die Werturteile ausgezogen! Aber wer bedroht wen? Ein Einzelfall einen anderen? Wie? A – Eben weil er sich keineswegs als einzelner weiss! Wenn ihm nichts zustösst als er selbst ... B – Was soll das heissen, dass Sie sich selbst zustossen? A – Nun ja, Sie machen mir eine blosse Tautologie draus. Die Syntax zwingt mich, das Personalpronomen zu gebrauchen, wenn etwas nur in der dritten Person Singular geschieht und wenn sie ihr selbst geschieht. Ich bin von solchen umgeben, die sich nicht zustossen und die äussere Ereignisse voraussetzen ... und mich zwingen, daran teilzunehmen ... B – Und Ihr Unglücksbringer soll nicht von aussen kommen? Denn Sie leugnen nicht, dass diese Begegnung mit ihm ein äusseres Geschehen ist, an dem Sie teilnehmen – das ist nun überhaupt nicht verständlich! Sie selbst als Ereignis, Sie lassen kein anderes Ereignis zu, und auf einmal sprechen Sie von diesem Ereignis, das von aussen droht – Sie sitzen nicht sicher auf Ihrer Idee! A – Meine Idee ist kein Sessel, sondern ein Wachposten ... B – Das ist zum Verzweifeln! Wachen Sie über das Innere oder über das Äussere? Sie benehmen sich als Individuum, und mit jeder Antwort wehren Sie sich dagegen, das zu sein, was Sie behaupten: ein singulärer Fall oder ein einzelnes Ereignis ... muss man Sie denn hier, verzeihen Sie, an den Begriff Leibniz' erinnern ... 49
A – An den Begriff ... was? B – Leibniz' ... A fasst sich an den Kopf. - Gut, gut, machen Sie weiter – meinte er, ein Lächeln unterdrückend. B – Leibniz' Begriff der Reihen oder Folgen von Ereignissen, die jeweils eine besondere Welt konstituieren? A – Und? B – Nun, ich bemerke, dass Ihre Definition des singulären Falls, der mit dem Ereignis in eins fällt, diesen Reihenbegriff ausschliesst. A – Was verändert das an meiner Idee? B – Das ändert alles, wenn Sie mir noch eine Minute zuhören wollen. Ihr singulärer Fall ist immer nur der Augenblick einer Reihe, von dem er daher weder vorhersehen kann, woher er kommt, noch, wohin er geht ... A – Soviel ich mich erinnern kann, nimmt Leibniz mehrere mögliche von der unsrigen verschiedene Welten an, die jeweils aus besonderen Serien- oder Kettenordnungen bestehen – und nicht, dass die darin lebenden Individuen als Einzelfälle aus solchen Serien bestehen. B – Und warum bleibt dieser Gedanke gleichwohl unterschwellig wirksam? Weil Leibniz, der die Ordnung dieser Welt in den Geistern nicht umstürzen will, sein ganzes System auf ein höchstes Wesen gründet – auf das Prinzip eines mit sich identischen Einzigen und Urhebers von mit sich identischen Individuen, die gleichwohl verschiedenen Ereignisbereichen und damit Welten angehören. Wie Voltaire in seinem Zadig und unter seinem Einfluss Sade im Erzählungsprojekt Séide richtig bemerkt haben, erfordert ein derartiges System, dass es keine Ereignisse gibt, die Individuen zuzu50
rechnen sind – sofern die Ereignisse, die verschiedene Welten konstituieren, vorzugsweise jene Individuen oder seriellen Singularitäten konstituieren, die sich selbst nicht als solche voraussehen können, dafür aber Gut und Böse unterscheiden können. Und tatsächlich hat das Identitätsprinzip kein anderes Fundament als die Unwissenheit, in der es die Singularitäten hält, was die Koexistenz von Ereignisreihen nicht nur nebeneinander, sondern auch innerhalb der Singularitäten anbelangt. Ich suche nun Ihren Gedanken zu erhellen, dass es kein Ereignis ohne Einzelfall gibt: wenn die Einzelheiten von Ereignisserien im Sinne von Dispositionen, Temperamenten, Abstossungen und Ausscheidungen gebildet werden und der Einzelfall dann nur der zufällige Statthalter ist, den sein eigenes Ereignis als «Los» oder «Schicksal» täuscht: was wird dann bei all dem aus Ihrem Unglücksbringer? A – Genug, genug! – fuhr er auf – Alles, was Sie mir da erklären, bringt uns überhaupt nicht weiter: der Unglücksbringer ist nun einmal kaum vorhersehbar, erst recht nicht, wenn diese Ereignisreihen uns konstituieren. Ich habe es Ihnen gesagt, und Sie haben es in der Zwischenzeit vergessen: er ist an dem Unglück, das er bringt, nicht mehr schuld als der Unglückliche, der mit dem Unglück eins ist! Sie wiederholen nur, was ich Ihnen am Anfang gesagt habe: nur dass meine Idee mich davon dispensiert, ihn zu verdammen; ich reihe ihn in eine Kategorie ein, die nicht frequentierbar ist. B – Sind nicht Sie es, und verstehen Sie denn nicht, dass Sie sich das Leben unmöglich machen ... A – Was liegt Ihnen an dem Leben, das ich führe oder nicht. Wir hatten diese oberflächlichen Argumentationen und diese sprunghaften Bezugnahmen gerade durchexerziert, als A mich unterbrach: 51
– Ich kann mich in meinem Leben, soweit es von meinen verschiedenen Umgebungen abhängt, nur dank der Beständigkeit meiner Idee orientieren. Anfangs, einige Jahre lang, fühlte ich mich verpflichtet, zwischen der Evidenz des Systems und seiner irregeleiteten Anwendung durch Individuen zu unterscheiden, deren Neigungen sich von ihren wechselseitigen Streitigkeiten nähren. Nach den grotesken und schrecklichen Erfahrungen, die mir daraus erwuchsen, gehe ich jetzt nur noch von der unausweichlichen Schicksalshaftigkeit der Wesen aus – sowohl meiner selbst wie so vieler die «Seele» leugnender Seelen, so vieler Grossmütiger, deren Hellsichtigkeit mich – und sie – nur in die vergessensten Verliese gestürzt hat: dort entsprach es dann ihrer wahren Natur, an diesen Fällen Gefallen zu finden. Jetzt unterscheide ich nicht mehr zwischen ihrer Überzeugung und der unheilbaren, ansteckenden Krankheit, die ihnen angeboren ist. Wer könnte sie auch zwingen, nur mit lauten Klappern umherzugehen? In Ermangelung dessen habe ich meine Idee; nicht nur erlaubt sie mir, mich unsichtbar zu machen, wenn ich sie kommen sehe; sondern bei allen etwaigen Begegnungen – auch bei solchen, die zu einer Intimität führen sollten – scheidet und schneidet meine Idee und besorgt mir ... – Was denn? – rief ich aus, da ich spürte, er würde eine unausweichlich gewordene Banalität nicht aussprechen wollen. Er konnte seinen Widerwillen, das zu sagen, was er doch zu schützen, zu verteidigen suchte, nicht überwinden; die Mittelmässigkeit seiner Existenz, die Unansehnlichkeit seiner Begierden und seiner Bedürfnisse bildeten den Preis einer derartigen Idee. B – Geben Sie doch wenigstens zu, dass der Unglücksbringer Sie fasziniert – da er nicht existiert! 52
A – Gewiss, soweit ich daran denke – aber wenn ich versuche, mich dieser Idee zu entledigen – und sei es auch nur, indem ich einige Zwischenfälle meines Lebens rekapituliere – gerade wenn ich fast so weit bin, meine Auffassung zu revidieren – trifft mich irgendein Missgeschick. B – Welcher Art? (Schweigen). A – Ich kann nicht mehr sprechen – sagte er und schloss die Augen. Einer von denen hat Sie geschickt, um mich zu verstören – gehen Sie! Ich will allein sein – allein mit meinem Wachposten. Noch ein Wort – und Sie würden ihn mir wegnehmen – so wie jeder «Unglücksbringer» es gerade darauf abgesehen hat.
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Ist die Körpersprache ein Kommunikationssimulakrum? FÜR FREDERIC BERTHET
Da die Handlung meiner Romane gerade von Wortwechseln ausgeht, die ein fait accompli hinauszuschieben oder rückgängig zu machen suchen – konnte ich es meinem Widerwillen zum Trotz nicht vermeiden, einmal mehr die Situation einiger meiner Personen, namentlich diejenige von «Roberte», zu kommentieren. Und Sie laden mich liebenswürdigerweise ein, mich eben über derartige Situationen zu erklären: vom «Geschwätz» zum «Dialog» – vom «Dialog» zur gelehrten «Diskussion» – vom «Disput» zum häuslichen «Zank» – lauter verschiedene Wortwechsel, die durch Robertes Kehrtwendungen hervorgerufen werden. Noch mehr: Sie sind in mein Atelier gekommen, um mich zu überzeugen; und beim ersten Blick auf die letzte Serie meiner farbigen Kompositionen haben Sie ausgerufen: ein Gespräch ohne Worte! Aber was ist das nun: ein Gespräch ohne Worte? Keineswegs ein Taubstummen-Code – sondern ein Code der Weigerung, sich stimmlich zu äussern und zu vernehmen, zu dem sich Gesprächspartner plötzlich entschliessen – jeder aus anscheinend anderen Gründen, in einer vorhersehbaren oder plötzlichen Situation. Das «Prinzip» einer Unterredung besteht eigentlich in einem Austausch nicht so sehr des Austauschbaren, sondern der Wörter, die es bezeichnen. Jedes Wort bezeichnet immer nur Wörter (Gorgias). 57
Im Kontext einer Konversation reduziert das gelegentlich eintretende Schweigen den aus einem bestimmten Grund verstummenden Gesprächspartner auf seine blosse physische Präsenz. In diesem Kontext ist die momentane Stummheit rein negativ zu interpretieren (Perplexität – Reflexion – Dissens). Wenn nun diese Art Schweigen gewöhnlich dazu führt, dass man die stumme Physiognomie betrachtet, abtastet, «sondiert» usw. – was bereits der geringsten in einen Disput ausartenden Diskussion einen «szenischen» Charakter verleiht – so impliziert die Stummheit bereits positiv ein konkretes, weil physisches Idiom. In einer vollständigen Ausschöpfung ihrer Mittel auf der Ebene der «Reproduktion» bildet die Stummheit das Idiom zweier Ausdrucksweisen: des Bildes sowie partiell des Schauspiels. So sind, wie ich schon oft gesagt habe, einige meiner Bücher (Das Bad der Diana, Der Widerruf des Edikts von Nantes und Heute abend, Roberte – vor dem Baphomet) ursprünglich als Beschreibungen von (noch nicht ausgeführten) Gemälden oder von Schauspielen (Filmen) entstanden. Daher ist es nicht so erstaunlich, dass der von Zucca (nach dem Widerruf und nach Roberte) gedrehte Film mich gezwungen hat, in einer neuen Serie von Bildern die verschiedenen Phasen der Sequenz der parallelen Barren nochmals zu gestalten. Der Zwischenfall, der Roberte mit zwei Individuen, dem Manischen und seinem jungen Gehilfen, konfrontiert, scheint mir, um auf Ihre Äusserung zurückzukommen, der Beweis – hier in gemalter Form und noch zwingender in Zuccas Film – für das zu sein, was der Verweigerung der Konversation zugrunde liegt: dass das wortlose Idiom der Gebärden und Haltungen irgendwie die Bedeutung oder die Bedeutungslosigkeit sicherstellt: Bedeutung für den Manischen, Bedeutungslosigkeit für Roberte. Sobald der Zwang zum Schweigen unerträg58
lich wird und ein Wort fällt (wie es Roberte passiert), bedeutet das Bedeutungslose die (skandalöse) Situation von Roberte. Wie sich Roberte den Zwischenfall vergegenwärtigt und ihn ihrem Tagebuch der Gewissenserforschung anvertraut – was darauf hinausläuft, die Stummheit im Verlauf jenes Vorfalls in Schrift zu übertragen («Ich habe die Schande empfunden: habe ich sie aber deshalb weniger genossen?») –, so nimmt diese Reflexion die stumme Kontinuität wieder auf, reintegriert also das Diskontinuierliche jenes Zwischenfalls – bei welchem Roberte entsprechend dem Idiom der Stummheit mit ihren Reflexen dem Austausch der «Konversation» geantwortet hatte. Wenn ein Austausch von Worten für etwas Austauschbares steht: Ideen, Gefühle, Versprechungen, Entscheidungen – so bestimmt doch diese Praxis die Tatsache, dass die Personen sich nicht gegeneinander oder durcheinander austauschen können, solange sie sich als Garanten dessen, was sie sagen, aufführen wollen: sie müssen sich also eines konventionellen Konterfeis bedienen: sie müssen sich gegenseitig ein Äquivalent ihrer unaustauschbaren Substanz vorlegen. Die Sequenz der parallelen Barren setzt mit einem trivialen Detail ein: auf der Plattform eines Autobusses die Berührung von Robertes Hand durch ein Individuum. Sie flüchtet sich ins Innere des Wagens, er setzt sich ihr gegenüber, stemmt seine Knie gegen ihre usw. – gereizt steigt sie aus, schlendert den Palais Royal entlang in die Galerie Montpensier und verhält sich so, dass sie sich verfolgen und «auffangen» lässt. All das noch auf der Ebene einer möglichen Anrede oder deren Verweigerung – Verweigerung, welche sie bereits in das Stummenidiom verstrickt, das dem unbegreiflichen und unvorhersehbaren Fetischismus der Hand eigen ist, dem sich der 59
Manische hingeben will – eben den langen und schönen Händen Robertes – den Händen der Zensur des Wortes. Im Idiom der Stummheit ist Robertes Hand tatsächlich das Konterfei – der Ersatz des Geschlechts – oder der Seele, aber ausgerechnet jetzt hat Roberte vergessen, was sie über die Frau erklärt hat: «Ihr Körper ist eben ihre Seele.» Und so schreitet der Manische rasch zur Tat: er kitzelt Robertes Hand, deren Vertrauter der rote Zensurstift ist. In der Sequenz der Barren wird das vom Anfang bis zum Ende durchgehaltene Schweigen zwischen den drei Partnern nur durch ein Wort unterbrochen, das Roberte entfährt: «Machen Sie doch das Licht aus!» – ein Wort, das dem Körperidiom zuwiderläuft und es nicht in die alltägliche Kontinuität des Sprechens integrieren kann. Die Szene soll sich in einem Gymnastikraum im Kellergeschoss abspielen. Gefilmt worden ist sie zwischen den schmutzigen Mauern einer verlassenen Fabrikhalle, wo die parallelen Barren aufgestellt worden sind – Örtlichkeiten, die im Halbschatten zuerst kaum erkennbar sind, bevor dieser von blendenden, auf Roberte gerichteten Scheinwerfern durchschnitten wird, sie ist mit den Handgelenken an die Enden der Barren gebunden, trägt den Hut mit Schleier, ebenso ihre schwarze Kostümjacke – der Rock ist abgestreift, der linke fuss vom Gehilfen des Manischen am Boden festgehalten, der andere frei gelassen – während das Schnurren der Ventilatorenpropeller die Gesten des Manischen sowie die Reaktionen der Dame, deren rechte Hand er entblösst, immer schneller skandiert. In der Stummheit der Körpersprache, die von der sonst unmöglichen Situation erfordert wird, fehlt dem Bewusstsein Robertes die Dunkelheit, die sie zwischen ihren beiden Part60
nern isoliert und sie ihnen zugleich wehrlos ausliefert. «Kann es sein, dass eine Frau ein heftiges Gefühl für ihre Schande empfindet und neuerlich danach sucht, wenn sie noch ehrbar ist? ... Unwirklichkeit dieser Suche; oder sollte mich meine Ehrbarkeit gerade dazu treiben?»1 Da sie eben dem Erwachen der Lust zu verfallen droht, deren unvorhersehbare Realisierung ihr widerstrebt, erschrickt Roberte davor, diese Unwirklichkeit wissentlich zu geniessen. Daher provoziert die Stummheit der zentralen Sequenz der parallelen Barren alsbald die sprachlichen Explosionen der folgenden Sequenzen: die Körpersprache «widerhallt» in den verschiedenen Wortwechseln, so dass Robertes Worte selbst die Bewegungen ihres Körpers zu simulieren scheinen. Die unvermutete Begegnung mit Vittorio, den der alte Ottavio, der von den Belästigungen, die der Abenteurer ihr angetan hatte, ebensowenig weiss wie vom Zwischenfall der Barren (sie wird wissen, dass Vittorio der Anstifter war), den ihr also ihr alter Gatte als Hauslehrer des Neffen vorschlägt – das Erstaunen Robertes und dann wieder ihre Fassung, die Weigerung, die sie den Zudringlichkeiten des Italieners androht, die Veränderung des Tons – das plötzliche Duzen und ihr Entschluss, ihn bei sich zu behalten – schliesslich die eilige Anschwärzung des «Hauslehrers» beim alten Ehemann, die Vorhaltungen, die sie ihm über die Erziehungsprinzipien macht, um sich an ihm dafür zu rächen, dass sie dem Reiz Vittorios, der schon ihr Komplize ist, nicht widerstehen konnte – lauter Verneinungen, die die moralischen Kehrtwendungen, in die sie sich kopfüber stürzt, plastisch darstellen: sie zeichnen die Verrenkungen, das Augenrollen, die Ohnmacht der an die parallelen Barren gehängten Roberte ... 1 Vgl. Robertes Tagebuch (Der Widerruf des Edikts von Nantes).
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Zweiter Teil
VON DER EXORZIERENDEN FUNKTION DES SIMULAKRUMS IN DER KOMMUNIKATION DER MALEREI
Die Dekadenz des Aktes
Man wird uns sagen: Akt bleibt Akt. Immer gibt es Aktmodelle in den Akademien. Ob es nun wirklich Akt ist, was man dort lehrt – wer wollte das glauben oder behaupten? Wie war das je möglich? Diese Art von Fragen stellte man sich bestimmt nicht um 1800. Aber von 1899 an hatte Klee in München, damals Schüler von Knirr, das vage Gefühl, damit seine Zeit zu verschwenden. Am Ende seiner Lehrzeit bei Stuck, als er mit Haller in Rom war, wollte er sich dazu zwingen, nach der Natur zu arbeiten und den Akt zu studieren; zurück in Bern, trieben ihn seine Skrupel gar zur Anatomie. «Die Anatomie – diese fürchterliche Wissenschaft!» – hatte Ingres sechzig Jahre zuvor ausgerufen. Aus seiner Lehrzeit im Atelier Knirr haben wir eine Aktskizze mit dem Titel Ein berüchtigtes Mannweib. Im Kontext seiner damaligen Abenteuer und erotischen Versuchungen, die in seinen Tagebüchern notiert sind, ist diese kräftige Zeichnung mit ihrer vom Titel ausgesprochenen Vision bezeichnend für ein Gefühlssubstrat, von dem sich Klee in der Folge ebenso befreien wollte wie von den bildnerischen Mitteln, die in jenem wirren Milieu gelehrt wurden – er wollte sich davon losmachen, um er selbst zu werden, um zur «polyphonen Malerei» zu gelangen – er, der ehemalige Schüler jenes Stuck, «der nichts von der Welt der Farbe versteht», der uns auch jene mit Schlangen verkuppelten, lasziven Frauen 67
hinterlassen hat. Und doch gehört Stucks schlechter Geschmack – der «schlechte Geschmack» jener Epoche, aus dem der Surrealismus dann eine Kategorie des Ausdrucks und eine durchaus annehmbare Sache gemacht hat – sehr wohl dem «Handgreiflichen», also dem Raum an, dessen Licht nicht diffus ist, sondern sich zu einer bedrängenden Vision verschwört – zusammen mit jenen länglichen und kurvigen Formen, die den weiblichen Körper bilden und den eckigen Formen des männlichen Körpers entgegengesetzt sind. Ein berüchtigtes Mannweib – es ist bekannt, wie wichtig die Titel im Werk Klees werden sollten: diese zweideutige «Legende» bezeugt für sich schon jene tiefe Affinität zwischen dem Künstler und dem weiblichen Körper, den er projiziert. Die rein anekdotische Androgynie drückt hier dennoch eine unterschwellige psychische Synthese aus, welche dem zugrunde liegt, was gerade aktuell ist: dem «Akt machen». «Wie der Mensch, so hat auch das Bild Skelett, Muskeln und Haut. Man kann von einer besonderen Anatomie des Bildes sprechen. Ein Bild mit dem Gegenstand: ‹ein nackter Mensch› ist nicht menschen-anatomisch, sondern bild-anatomisch zu gestalten. Man konstruiert fürs erste ein Gerüst der zu bauenden Malerei. Wie weit man über dieses Gerüst hinausgeht, ist frei, es kann vom Gerüst schon eine Kunstwirkung ausgehen, eine tiefere als von der Oberfläche allein.» (Paul Klee: Tagebücher) Der singuläre Fall Klee, der in seinen Anfängen mit der zweiten Periode des Impressionismus zusammenfällt, bildet historisch einen erstrangigen Anhaltspunkt für die Konzeption des Bildes «an sich», wie sie sich in den allerletzten Strömungen durchgesetzt hat. 1905 notiert Klee: 68
«Der Gegenstand an sich ist sicher tot. Es tritt die Empfindung in die vordere Linie. Das Überhandnehmen erotischer Gegenstände ist keine französische Angelegenheit allein, sondern vielmehr eine Bevorzugung von Gegenständen, die der Empfindung besonders entgegenkommen. Die äussere Form wird dadurch besonders variabel und bewegt sich auf der ganzen Skala der Temperamente. Nach der Beweglichkeit des Zeigefingers kann man in diesem Falle sagen. Dementsprechend variieren die technischen Darstellungsmittel. Die ‹altmeisterliche Schule› ist ganz sicher erledigt.» Klee schreibt die Variabilität der technischen Mittel dem Vordringen der Empfindung zu und dieses wiederum dem «Überhandnehmen erotischer Gegenstände», welche der Empfindung des Malers entgegenkommen. So kommt es, dass die für den Empfindungszweck eingesetzten Mittel schliesslich den Sieg davontragen und sich den Zweck unterordnen – und wir erhalten den intellektualistischen Begriff des Bildes an sich. Die MenschenAnatomie der «schönen Nacktheit» geht in der Bild-Anatomie auf. Die «schöne Nacktheit» (der Akt als Gegenstand) weicht dem zufälligen Aktmotiv, und dieses neutralisiert sich und löst sich allmählich nach den nunmehr eigenen Gesetzen des Bildes an sich auf. Dass der Akt nicht nach der Menschen-Anatomie, sondern nach der Bild-Anatomie zu gestalten ist, würde einfach bedeuten, dass die Syntax des Bildes – Farben, die auf einer ebenen Fläche ausgebreitet sind – in erster Linie und unabhängig von unserer natürlichen Optik beachtet werden muss, um unsere Erfahrung um so besser mit Äquivalenten auszudrücken. Haben nicht alle Meister so gearbeitet? Klee will nicht bloss das sagen: die Anatomie des Bildes setzt voraus, dass das Bild ein An-sich ist, das nach seinen eige69
nen Gesetzen lebt, atmet, egal was man ihm zu verschlingen gibt, um es zu ernähren. Setzen nicht etwa auch die Grosse Odaliske von Ingres oder die Grossen Badenden von Renoir diese Anatomie des Bildes voraus – unabhängig von der Anatomie der darin dargestellten Akte? Zweifellos. Sollen wir subtiler werden und sagen, dass das Bild als «Ansich» einen Akt liefert, der ein anderes «An-sich» ist – sobald es sich um eine Odaliske von Ingres oder um die Frau mit Papagei von Delacroix handelt? Nein: diese Bilder zeigen genau das, was ihr Titel angibt. Ist die «Anatomie» des Bildes hier von der Anatomie der dargestellten Frauen verschieden? Was ist eigentlich die «schöne Nacktheit»? Und was ist im Verhältnis zu dieser der Akt? Der rein akademische Begriff beruhigt einerseits den Betrachter, und garantiert andererseits die Absicht des Künstlers, der sein Recht verteidigt, die «Natur» zu studieren. Jeder weiss, jeder wusste auch vor über hundert Jahren, dass es sich um die dem Prestige eines Meisters zu verdankende Gelegenheit handelt, eine «schöne nackte Dame» zu sehen. Gymnasiastengesichtspunkt, Schamhaarträumerei – ausgebeutet von einer zweifelhaften Bildhauerei und Malerei, verurteilt gemäss dem Kriterium des «guten» bzw. «schlechten Geschmacks» (mittels dessen sogar Delacroix gewisse Akte Courbets verwarf). Aber heutzutage, da die Erneuerung der Techniken in den Künsten die Universalisierung des «guten Geschmacks» sichergestellt hat – wissen die Fünfzehnjährigen längst, dass man, um die schönen Nacktheiten zu sehen, nicht in die Museen gehen muss, sondern ins Kino. Was für ein Fortschritt! Nach der Fotografie ist es weit mehr das Kino, das «die Malerei vom Bedürfnis der Naturnachahmung befreit haben wird». 70
Zwischen 1800 und 1899 jedoch bewahrt der Künstler, auch wenn er Ingres heisst, ebenso wie der Betrachter seiner Bilder, die Seele des Gymnasiasten und ihre Schamhaarträumereien. Die ernüchterte Schlussfolgerung der Education sentimentale: «Das ist wohl das Beste, was wir gehabt haben» – bildet den Grund der Empfindung am Ende des letzten und am Anfang dieses Jahrhunderts – und das gleichermassen bei den Schmierern, bei den grossen Meistern und bei ihrem jeweiligen Publikum. Aber in dem Masse, in dem die gesellschaftlichen Krisen und Katastrophen bedrohlicher und die Zuckungen der modernen Welt immer beängstigender werden, wird diese Naivität mitsamt ihren Antriebskräften in der Malerei und überall sonst vom schlechten Gewissen attackiert. Die Symptome dieses zerstörerischen Milieus des Unglücks und der Angst des modernen Lebens, die man bis in die künstlerische Darstellung des Aktes hinein wahrnehmen kann, haben nichts gemeinsam mit dem, was sich in früheren Epochen in dieser Hinsicht zeigen mochte. Selbst die Aggressivität eines Goya, die sich mit den gesellschaftlichen Missgeschicken verbündet und die Angst für seine Kunst ausbeutet, hütet sich doch, diese äussere Angst in seinen Akten auszudrücken – es sei denn, es handelt sich um die Gefühlsempfindung vor seinem Modell. Ganz das Gegenteil vollzieht sich für uns seit den letzten vierzig Jahren. Humanitäre Gewissensbisse, Revolten angesichts der kollektiven Misere, die sich da und dort mit verzweifelten individuellen Visionen verbinden, ein ganzes Klima, das die naive und unmittelbare Schau der Bilder dieser Welt nicht mehr toleriert, ein wesenhaft bilderstürmerisches Klima: nach dem Verscheiden des Jugendstils und im Dahindämmern des Impressionismus führt das alles zu den Voraus71
setzungen der «Neuen Sachlichkeit» – vor allem bei den germanischen Temperamenten, die in der abgeschlossenen Heiterkeit der Bilder von einigen der letzten französischen Meister Zeichen «lateinischer» Dekadenz zu entdecken behaupteten – Temperamenten, die mit einer angeborenen Neigung zum Trübsinnigen van Gogh als pathologischen Fall interpretieren und seinen Strich für die expressionistische Verlängerung ihrer Katastrophenneigung ausnützen. Nostalgien der Jahrhundertwende, im besonderen hermaphroditische Versuchungen, die sich im Ornamentalismus des Jugendstils ausgesprochen hatten, kündigten bei Beardsley, aber auch in Klees Jungfrau im Baum den «von seiner sexuellen Unbestimmtheit gequälten Akt» an: ästhetischer Ausdruck päderastisch-feministischer Aneignungen, gleichzeitig mit den Forschungen von Havelock Ellis, flüchtiges und schwankendes Ideal im Gegensatz zu den energischen und gewaltsamen «Prostituierten» von Lautrec; Picasso, der damals die unbegrenzten Quellen seiner handwerklichen Vielseitigkeit noch nicht erschlossen hatte, scheint in seinen Zwei Schwestern auf das Ideal jenes «gequälten Aktes» ironisch angespielt zu haben, obwohl er andererseits im Akt der Toilette pompejanische Reminiszenzen zum Ausdruck gebracht hat. Im Kontext der Dämmerung der Legende des weiblichen Körpers ist der Fall Gauguin bezeichnend: der exotische Typ der tahitischen Mädchen erscheint in seinen Akten als eine Rehabilitierung der Natur als Stil. Worin bestand die Emanzipation, die Gauguin herbeiführte, für den die «Barbarei eine Verjüngung» war und der behauptete, über die Pferde des Parthenons hinaus bis zum Steckenpferd seiner Kindheit zurückgegangen zu sein? Ich möchte hier mit einer Nebensächlichkeit antworten, die mit 72
der Erneuerung der Maltechniken nichts – wohl aber etwas mit dem «Steckenpferd der Kindheit» zu tun hat: die animalische Heiterkeit des exotischen Typs seiner Tahiti-Mädchen markiert einen weiteren Bruch mit einem bedeutsamen Element der traditionellen Sicht der «schönen Nacktheit»: dem Exhibitionismus der Frau, der dem traditionellen Akt innewohnt. Die Abwesenheit dieses Elements in den Tahiti-Bildern Gauguins ist kaum zu übersehen. Man rührt hier an einen spezifisch abendländischen Komplex, von dem sich die moderne Malerei reinigen wollte: den Komplex der Entschleierung. Die Meister des traditionellen Aktes – des Aktes als Gegenstand (Sujet) und nicht des Aktes als zufälliges Motiv – haben im Ausdruck ihrer Malerei die Identität zwischen der Natur und dem Stil beobachtet und den Stil in der Natur herausgearbeitet, indem sie ihre Sicht der weiblichen Nacktheit – je nach ihrem Temperament und ihrer Laune – durch die Akzentuierung bestimmter Erregungspunkte und Raumaspekte des Körpers entwickelten. Und es gäbe gar keinen Stil, wenn die natürlichen Strukturen nicht mit den Erregungspunkten zusammenfielen: wenn die verschiedenen Zonen des weiblichen Körpers – Hals, Schultern, Brüste, Bauch, Flanken, Lenden, Schenkel, Knie und Waden – nicht durch die Haltungen der Bewegung oder der Ruhe, des Liegens oder des Stehens zur Geltung gebracht würden. Aber das anscheinend konventionellste, tatsächlich aber subtilste Mittel zur Erreichung der Gesamtintention lag in der Physiognomie des weiblichen Modells und manchmal in den Händen – die bei der Frau das Bewusstsein ausdrücken, gesehen zu werden oder sich heimlich selbst zu sehen, sich zu inventarisieren oder sich sehen zu lassen oder auch sich einer eventuellen Indiskretion auszuliefern. 73
In den klassischen Epochen gestattete es das konventionelle Genre legendärer Szenen, die Dramaturgie des Aktes als Sujet endlos zu variieren (Überraschung, Scham, Gewalt), wobei gelegentlich alle Phasen von der Bekleidung zur Entkleidung suggeriert worden sind – bis hin zur totalen Nacktheit – je nach den von den Themen gelieferten Vorwänden. Mit dem allmählichen Zurücktreten der Legendenthemen zugunsten alltäglicher Situationen – bis hin zum Akt als «Augenblick» – hat sich die Dramaturgie des Aktes verinnerlicht (nachdem Fragonard eine Mimik entwickelt hatte, mit deren Manierismus-Risiken er wiederum spielte). Wie hätte sich der Akt – aller anständigen Vorwände ausser dem der «akademischen Studie» beraubt – seither anders denn als eigenständiges Sujet halten lassen? Was man heute als anekdotisch zu bezeichnen pflegt, das erscheint mir als der dramatische Gehalt des Aktes bei Ingres, Chassériau, Delacroix, Courbet, Manet und Renoir. Dieser Konzeption zufolge birgt die offensichtliche Erscheinung der Nacktheit ein unfassbares Geheimnis. In der traditionellen Malerei tritt der Akt aussen auf – in einem legendären imaginativen Aussen, das gleichsam von der mythologischen Vision des Aktes ausgeht. In der romantischen Malerei wird dieses Legenden-Aussen durch die Nacktheit noch einmal erneuert, da sie sich in einem geschlossenen Raum enthüllt. In eine Landschaft gesetzte Akte werden von der sogenannten realistischen, also vorimpressionistischen Malerei – ich denke vor allem an Courbet – nicht durch ein diffuses Licht in die natürliche Umgebung integriert, wie dann in der Freilichtmalerei. Die Nacktheit wird vielmehr als etwas Ge74
heimes im Offenen der Landschaft enthüllt: Akt auf dem Boot oder am Ufer des Meeres liegend oder unter dichtem und dunklem Laubwerk oder auf der Welle. Eine weibliche Nacktheit in einem geschlossenen Raum – in einem Zimmer – von Delacroix: ebensosehr wie aus der dunklen Intimität ihres Zimmers unter den Reizen ihres Körpers das Erwachen ihrer Animalität hervorbricht, erscheint die Nacktheit auf dem Bild als ein innerhalb der Frau gefasstes Aussen. Die modernen Meister, die den Akt in seiner traditionellen Sicht bewahrt haben, achten tatsächlich auf den Stil in der Natur, die Identität zwischen Natur und Stil. Aber in ihrer Darstellung der nackten Frau – ob es sich um eine Schlafende, eine Badende oder um eine müssige Frau handelt – gipfelt in der Haltung des Kopfes oder im Ausdruck des Gesichts immer gewissermassen das Gefühl ihrer eigenen Nacktheit. Dieses bewusste Gefühl der Frau von ihrer eigenen Nacktheit, das die Maler durch ein Spiel der Physiognomie ausdrücken, situiert den «animalischen» Moment ihrer körperlichen Gegenwart als Bildmotiv. Man rührt hier an eine Reihe mentaler Operationen, ein Spiel von Spiegeln, ohne das sich der traditionelle Akt, der Akt als Sujet, in der Malerei niemals hätte formulieren können. Ob es sich nun um ein narzisstisches Gefühl oder um einen Genuss ihrer eigenen Körperlichkeit handelt: dieses Gefühl reflektiert in der Physiognomie der dargestellten Frau den Blick des Malers. Im Schlummer der Zwei Freundinnen von Courbet (Der Schlaf) behalten die Gesichter der beiden Mädchen, die im selben Einschlafen recht unterschiedlichen Ausdruck zeigen, die Maske eines Bewusstseins, eines vom Künstler übernommenen Wachzustandes. 75
Eine Sache ist es, den sich bewegenden Gegenstand zu reproduzieren, eine andere, die Gefühlsbewegung selbst zu reproduzieren – sei es durch eine Lichtschwingung, sei es durch eine Farbenkomposition, die jene bezeichnen soll: wir sind in einer anderen Welt, in der man nur noch über Ideogramme mit der unkommunizierbaren Erfahrung kommuniziert, die jeder von der Nacktheit oder von der Welt haben mag. Und doch hat es bei jedem jener Meister etwas Unkommunizierbares gegeben, eine Idiosynkrasie, die auszudrücken sie sich versagen mussten: es ist vielleicht dieser Verzicht, der die Akzente ihres wissentlich höchst konventionellen Ausdrucks um so intensiver macht. Als Betrachter eines Bildes eines jener Meister werde ich mich wohl davor hüten, die Etappen seiner Arbeit noch einmal nachvollziehen zu wollen; ich habe sie ja vom ersten Augenblick an in ihrer Wirkung auf mich vor mir. Darunter verstehe ich, dass ich den Prozess zurückverfolge und zum Ausgangspunkt gelange: zur anfänglichen Emotion. Das ist eben die Wirkung des Bildes. Aber damit diese Emotion zu mir gelangt oder damit ich sie finde, musste der Maler die Etappen seiner Arbeit genau durchlaufen. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, ob das Bild «vollendet» oder «unvollendet» ist. Die geringste Skizze, die kleinste Zeichnung kann es zur Gänze enthalten. Ich spreche hier vom Bild als unvoreingenommener Betrachter dessen, was es darstellt: zum Beispiel einer nackten Frau. Ich will gar nichts wissen von der Fotografie. Da ich aber eine von der Grossen Odaliske besitze, würde ich sagen, dass sie mich fast ebenso bezaubert wie das Original, das ich jederzeit im Louvre sehen kann. Aber das ist ein blosser Zufall ... 76
Es war gewiss nützlich, daran zu erinnern, dass die Kunst keine dokumentarische Kopie der unmittelbaren Wirklichkeit ist wie die Fotografie, sondern eine Interpretation. Aber kann uns dieses Argument noch überzeugen? Wer sieht nicht, wer weiss heute nicht, dass die Fotografie ebenfalls eine Interpretation ist? Es ist niemals die Wirklichkeit, die man erfasst, sondern eine Sicht des Geistes. Der Naturalismus in der Malerei wie in der Literatur ist doch nur ein Lyrismus. Gestern ging es darum, die abergläubische wissenschaftliche Objektivität zurückzuweisen. Aber was bedeutet uns heute die Objektivität der Darstellung? Der gestern reproduzierte Akt repräsentiert sich heute in der Fotografie. Schon der Begriff des Aktes ist nur eine Neutralisierung – ein ästhetischer und gesellschaftlicher Kompromiss – einer ursprünglichen und gewaltsamen Tatsache: gegen diese Neutralisierung haben sich die subversivsten Temperamente der modernen Malerei erhoben. Befremdliches Resultat: ihre Empörung hat zerstört, was sie befreien wollten; die Neutralisierung war nur um den Preis jener ursprünglichen Tatsache zu brechen. Die Profanierung des weiblichen Körpers durch den Blick war jene gewaltsame Tat, von der wir hier nur das Simulakrum haben. An sich ist das Simulakrum die Frucht einer Arbeit; gleichwohl bleibt es simulierte Gewalttätigkeit des Betrachters. Das Simulakrum ist zugleich diesseits und jenseits der Gewalt, die im Blick liegt. Aber durch den Blick eignet sich das Simulakrum der Entblössung den Körper der imaginären Frau an, und durch das Simulakrum stellt sich die ihres Körpers enteignete, imaginär wirkliche Frau unter dem Blick des Betrachters als Nacktheit imaginativ wieder her. Ein sogenanntes «erotisches» Bild, das eine Vergewaltigungsszene darstellt, hat indessen nichts gemein mit dem Si77
mulakrum der Aneignung des weiblichen Körpers durch ihre Betrachtung als Nacktheit. Eine solche Darstellung ist nur eine zufällige Äusserung der Gewalt, die dem auf die Nacktheit geworfenen Blick ursprünglich innewohnt. Das «erotische» Bild entleert den Blick von dem explosiven Potential, mit dem der traditionelle Akt immer geladen ist. Für das zeitgenössische Publikum des Frühstücks im Grünen und der Olympia kam diese Betrachtung noch einem Zerreissen der Alltagsbanalität und somit einer Erschliessung eines verbotenen Landes gleich. Wir hingegen leben ganz und gar in einer unbegrenzten Öffnung. Die heutige Malerei scheint jene von Delaunay imaginierte endlose Leinwand auszurollen, die die Negation der für die Betrachtung des Motivs, für die Betrachtung der Nacktheit erforderten Dauer ist. In unserer Welt ist selbst das Prinzip des Blicks in Frage gestellt. Wir sind also weit weg vom ursprünglichen Faktum: weit weg von jenem dem Blick innewohnenden Raum, wo das Motiv erfasst, verspürt und begriffen worden ist: wo das Auge des Künstlers und das Auge des Betrachters einen Augenblick eins werden: Augenblick der anfänglichen Emotion. Da entdeckt der Betrachter, wie in einer Erinnerung, die Referenz seiner eigenen Verwirrung zur Erfahrung des anderen – des Künstlers, der der andere schlechthin ist und der durch sein Zeugnis dem Betrachter den Kommentar einer gemeinsamen Emotion liefert. Dieser Kommentar ist es, der, wenn ich das so sagen darf, das Gerücht eines Gemäldes ausmacht und uns kraft der Dauer dieses Gelärms in seinen Bann zieht: da vollendet sich die Erinnerung. Und tatsächlich erfüllt die Erinnerung der weiblichen Nacktheit in der traditionellen «Faktur» des Aktes eine Funktion, die der Ähnlichkeit im Porträt analog ist. 78
Vom Gemälde als Simulakrum
Die Beschreibung, die Argumentation, die Erzählung – entsprechen sie in meinen Büchern der Dekomposition eines vorgängigen Bildes? Der Projektion einer Szene, der Sequenz einer Aktion, die sich zufällig, aber notwendig jeweils an einem einzigen Ort abspielt? Oder an mehreren Orten, die jedesmal zum Ort des Bildes zurückführen? Gewiss, wenn das Bild gerade durch seinen eigenen Ort das sagt, was seine Figurenansammlung will. Unter dem Gesichtspunkt der Malerei erfordern die materiellen Operationen, die zum Bild führen, nicht nur technische Rücksichten, sondern ordnen diese auch voraussehbaren Interpretationen von Seiten des Betrachters unter; der Künstler zieht eine bestimmte Technik einer anderen vor, weil es ihm gefällt, die zeitgenössische Weise, wie die Gegenstände aufgefasst werden, zu missbilligen. Er legt vor allem darauf Wert, seine eigene Optik gegenüber der Vergangenheit wie der Zukunft zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht hängt meine Optik gänzlich vom Motiv oder vom Sujet ab, welches ihre Anwendung bestimmt: wenn das Bild nicht von Anfang an vorgeherrscht hätte – und zwar nicht nur als Bild, sondern auch durch die Art seiner Konzeption, also den Geist seiner Erzeugung -, so hätte ich vielleicht nie die Roberte-Trilogie, das Bad der Diana und den Baphomet geschrieben. 81
Das Denken, das sich darin äussert, ist in seinen theoretischen Beweisführungen nur deswegen dunkel oder abstrakt, weil sich mir von Anfang an so etwas Konkretes und Unabweisbares wie die hartnäckige Vision einer Gebärde aufgedrängt hat. Gebärde einer stummen, in ihrer Haltung erstarrten Physiognomie: Verleugnung oder Geständnis oder beides zugleich? Zwei Räume tun sich da auf, von denen der eine aussieht wie der andere – wenngleich sie nicht austauschbar sind. Dilemma: entweder der mentale Raum der Szenenbeschreibung, des Dialogs, der Argumentation – wo das Modell die Identität des Porträts, seine Physiognomie und somit die Interpretation seiner Gebärde durch die Komparsen, also ihre Vulgarisierung in Abrede stellt – oder der körperliche Raum der Statuen oder der gemalten Szene, der in seinem Schweigen die interpretierbare Gebärde reproduziert und damit andere mögliche und widersprüchliche Gebärden suggeriert. Darin liegt der theatralische Charakter meiner Kompositionen: Pantomimik der Geister. Die räumliche Gegenwart des Simulakrums (im Sinn der antiken Standbildkunst: simulacrum), die im Bad der Diana beschworen wird, hat mich allmählich dazu gebracht, die im Wort steckende Bedeutung von simulieren zu entfalten – d. h. praktisch die Neigung der traditionellen Kunst zur Imitation zu rechtfertigen. Bevor ich ihn für mich in Anspruch nehmen kann, öffnet der Begriff Simulakrum jeglicher Verwirrung Tür und Tor. Sowohl in der Sprache wie in der bildlichen Darstellung besteht ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen dem Simulakrum und dem Stereotyp. 82
Das Simulakrum im Sinn der Imitation aktualisiert etwas an sich Unkommunizierbares oder Undarstellbares: eigentlich das Phantasma in seiner Zwanghaftigkeit. Indem es seine – unheilvolle oder heilvolle – Gegenwart signalisiert, übt das Simulakrum zunächst eine exorzierende Funktion aus; aber um die Obsession zu exorzieren – imitiert das Simulakrum das, was es im Phantasma erfasst. So übt es gegenüber dem, was aufgrund der sozialen, religiösen oder moralischen Zensur unsagbar oder unzeigbar ist, eine doppelte Funktion aus – doch wie führt es seine Nachahmung durch? Indem es die institutionellen und konventionellen Stereotypen des Sagbaren und des Zeigbaren übernimmt und für seine Imitation ausnützt. Der Stereotyp entspricht zunächst den normativen Schemen unserer visuellen, taktilen und akustischen Wahrnehmung: jener Schematisierung, die unsere erste Empfindungsfähigkeit konditioniert. Diese Schemen, die aufgrund veränderlicher sozialer Motive institutionalisiert sind, dienen als Stereotypen dazu, ihrer geringsten Veränderung durch das Erlebnis einer Wahrnehmung oder einer phantasmagorischen, monströsen oder perversen Empfindung vorzubeugen. Mit dieser Vorbeugung beginnt das Doppelspiel des Simulakrums. Jedes Eingreifen eines Simulakrums setzt die Herrschaft von Stereotypen voraus: Mit deren zerlegten Elementen vermag die Erzeugung eines Simulakrums dieses wiederum nur als einen «Stereotyp» durchzusetzen. Im Bereich des sprachlichen wie des bildnerischen Ausdrucks sind die Stereotypen nur die Residuen von phantasmatischen Simulakren, die in den gängigen Gebrauch abgesunken und einer gemeinen Interpretation ausgeliefert sind: aber als heruntergekommene Simulakren reflektieren sie eine individuelle oder kollektive Reaktion auf ein seines Inhalts entleertes Phantasma. 83
Die Erfindung des Simulakrums geht immer aus dem Bewusstsein dieses Prozesses hervor: die stereotypierten Wahrnehmungsschemen, namentlich das visuelle Schema des menschlichen Körpers (der Landschaft, der Gegenstände – wie sie sich in der konventionellen Darstellung ausdrücken) stehen dennoch einer idiosynkratischen Interpretation offen, die vom Wahrnehmungsschema abweicht und daher ein von der üblichen Stereotypie verdecktes Phantasma wieder aufleben lassen kann. Das zeigen die Malerei-Improvisationen nach der Erfindung der Fotografie (Daguerre) speziell bei amerikanischen Künstlern. Insgesamt war der «realistische» oder «naturalistische» Aberglaube nichts anderes als der «Interpretationswahn» einer Epoche. Der Imperativ der «objektiven» Naturreproduktion und das Bedürfnis, auf dem Kontakt des Körpers mit den Gegenständen zu bestehen, auf dem Widerstand, den ihm andere Körper entgegensetzen – all das gehört zu einer modernen Zwangsvorstellung. Das Simulakrum simuliert den Zwang des Phantasmas wirksam nur, indem es die stereotypen Schemen übertreibt: den Stereotyp überbieten und überspitzen heisst die Besessenheit, dessen Replik er darstellt, auf die Anklagebank setzen. Eine vollständige Wissenschaft von den Stereotypen charakterisiert bereits so entgegengesetzte Genies wie Ingres und Courbet: den ersten aufgrund seiner Ausbeutung des klassischen Schemas, den zweiten aufgrund derjenigen der volkstümlichen Bilderwelt. Die schlichte Zerstörung des Stereotyps in der Malerei am Anfang unseres Jahrhunderts kündigt die Verwerfung der imitierenden und somit exorzierenden Rolle des Simulakrums und damit auch die Aufgabe des «Sujets», des Gegenstandes an. Das Bild hört auf, ein Simulakrum zu sein, um ein An-sich zu werden. Ich erinnere hier an die beiden oben zitierten Beobachtungen von Klee betreffend die Anatomie des Bildes und das Verschwinden des «Gegenstandes, der sicher tot ist». 84
Was sich so zusammenfassen lässt: Die Erledigung der Altmeisterlichen Schule impliziert die des Aktes als Gegenstand. Seither ist das Bild nicht mehr das Simulakrum, das eine vorgegebene Zwangsvorstellung exerziert, weil es nicht mehr nachahmt, sondern sich in seiner eigenen Anatomie vollendet. Nun ist wohl nicht zu leugnen, dass die Kompositionen von Klee in höchstem Mass Phantasmen simulieren. Hat er nicht die zwanghafte Stereotypie mit einer himmlischen Ironie parodiert? Und doch muss man feststellen, wozu die schulmässige Anwendung seines theoretischen Prinzips in den folgenden Generationen führen musste: zu einer willkürlichen Phantasmenproduktion ohne jeden inneren Zwang, die daher ihrerseits keinen moralischen Zwang mehr auszuüben vermag. Wie in meinen Bleistiftzeichnungen (vor meinen Farbkreiden) sichtbar wurde, griff ich da nur gewisse Situationen und Physiognomien auf, die ich in meinen Büchern entweder kommentiert oder beschrieben hatte. Anstatt zu sehen, wie ich meine Stifte gebrauchte, las man meine Kompositionen wie eine graphische Ergänzung meiner Erörterungen und verstand meine Erkundung nur als eine kalligraphische Abschweifung. Die Resultate meiner Unternehmung sollten nicht so sehr Bilder als vielmehr Simulakren von Bildern sein. Simulakren von Simulakren – die nicht mehr intime Phantasmen imitieren, sondern in meiner Empfindung überlebende, überholte Stereotypen simulieren, objektivieren und kritisieren? So würden in ihnen die Überbleibsel einer altmodischen «populären» Darstellungsweise durchscheinen, zu deren Zeitgenossen ich mich bewusst erkläre. Die Erinnerung an die Illustrationen des Petit Journal oder anderer fürchterlicher Zeitschriften der Jahrhundertwende hat gewiss dazu beigetragen, in mir von Kindheit an die visuelle Obsession der stummen Ge85
bärde zu entwickeln. Die Zeitschriftenillustration ist im Grunde nichts anderes als die einschmeichelnde Inszenierung unserer modernen Diskontinuität: plötzliche Wahrnehmung des unbemerkten fait accompli zwischen vorher und nachher. Was die geradezu hysterisch getreue Reproduktion des widersprüchlichen Phänomens des fait divers ist: der Unterbrechung des Alltäglichen durch etwas anscheinend Alltägliches. So begriffen, macht das Bild die Zeit zum Raumerlebnis, in dem sich der vergangene Moment ständig wiedererleben lässt: die körperliche Gegenwart aktualisiert sich da immer wieder in einer bestimmten Haltung, die durch die Beschreibung dann wieder zerstört wird. Während Roberte in ihrem Tagebuch der «Gewissenserforschung» (Der Widerruf des Edikts von Nantes) die verschiedenen Empfindungen rekapituliert, die sie bewegten, als ein Manischer sie an die parallelen Barren einer Gymnastikhalle band, nur um ihr das Handinnere zu lecken – wird aus dem mentalen Faktum dieser Rekapitulation ein Bild: der Zwischenfall (das fait accompli) rekonstruiert sich in seinen eigenen räumlichen Kontingenzen und in seinen ursprünglichen Erscheinungsformen. Im anekdotischen (wörtlich: im noch nicht herausgegebenen) Sinn – den man meinen Zeichnungen gelegentlich vorwarf – gingen die Elemente des Bildes der Beschreibung voraus: der Kommentar, den Roberte selbst zu ihrer Erfahrung gibt, ist nun gänzlich in den Blick des unsichtbaren Zuschauers eingegangen. Es ging nicht darum, die Redewendungen, die Robertes Empfindungen wiedergeben, in entsprechende Formen und Tönungen «zurückzuübersetzen» -sondern beim Betrachter des Bildes eine doppelte Einsicht hervorzurufen: die Einsicht in die Unangemessenheit der Szene und der gewählten Weise ihrer Darstellung. Das Bild 86
des Ortes, der Geräte, der Kostüme, der Gebärden der drei Personen – des Manischen, seines Komplizen und der mit Riemen angebundenen eleganten Dame mit dem Detail der Zunge auf der Hand – all das ist nötig, um das zu stützen, was Klee die Anatomie des Bildes nennt. So möchte ich den Betrachter nicht wie der subtile Magritte warnen: dies ist kein Fleisch – eher würde ich sagen (bevor man mir daraus einen Vorwurf macht): «dies ist kein Bild», sondern wie eh und je ein Simulakrum all dessen, was ich in der GulliverOptik des Dubliner Dechants zu zeigen wünsche – in dieser Optik, die ihm den Geschmack am Malen genommen hat und die ich mir seit langem wie eine Krankheit, eine ungesunde Aufmerksamkeit, eine unverhältnismässige Hartnäckigkeit zugezogen habe, ohne dass dieses indiskrete Missverhältnis jemals der objektiven Anatomie des Bildes genügen konnte, geschweige denn, dass diese jemals mit der Anatomie Robertes eins geworden wäre.
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Das Ununterscheidbare VOM ZIRKEL EINES VULGARISIERUNGSBEDÜRFNISSES
Monomanie und Exhibitionismus und ihre Ausdrucksweisen 1. Vom stummen Schauspiel zu seiner Beschreibung; von der Szenenbeschreibung zur moralischen Interpretation der Absichten und der Handlungen. 2. Von den Interpretationen der Handlungen zum «anekdotischen Bild» (Malerei des «fait divers», der Dokumentation, die im Betrachter das aufweckt, wovon er nicht sprechen kann). 3. Vom «monomanischen Faktum» unter dem Aspekt der Beschreibung oder Darstellung eines «fait divers» zu seiner Rekonstruktion als Filmsequenz – also zu seiner Vulgarisierung durch ein industrielles Verfahren. Entwicklungen: Zu 1.: Unter dem Aspekt eines «fait divers» das Vorkommen eines vom monomanischen Blick registrierten Details. Bezug zur Gulliver-Optik. Der (literarische) Ausdruck, der zunächst eine zufällige, einer Physiognomie zuteilbare Gebärde beschreibt und die Physiognomie dabei verinnerlicht, erarbeitet auf der Ebene des Romans das Porträt einer Persönlichkeit, dessen «Modell» keine andere Notwendigkeit hat als die Energie des Textes, der es beschreibt. Erste Falsifizierung der Gulliver-Optik, die nur eine Hand – behandschuht, enthandschuht – das Profil eines Gesichts wahrnimmt; keinerlei Exhibitionismus, keine Monomanie mehr – höchstens eine episodisch «objektivierte». (Bemerkung: eine mögliche Umkehrung des thematischen 91
Prozesses wäre die Physiognomie, die der hier registrierten Gebärde vorausgeht: dieses oder jenes Gesicht könnte sich in dieser oder jener Gebärde aussprechen usw. Gesellschaftliches Verhältnis zwischen dem Porträt und seinem Modell – was zur Betrachtung des zweiten Satzes führt.) Zu 2.: Von der Malerei aufgegriffen, realisiert sich das Porträt gemäss den spezifischen Regeln des Bildes: die Ähnlichkeit des Modells tritt als materialisierte Erscheinung in den Vordergrund – wobei die Ähnlichkeit nicht zu trennen ist von der Gebärde, die in den Augen des Monomanen die Haltung des Modells moralisch charakterisiert. Von da aus liefert seine nunmehr identifizierte Physiognomie die Substanz nicht nur eines Porträts sondern eines Szenenbildes, in dem das Modell mit anderen Figuren konfrontiert ist und seine Gebärde aufhört, zufällig zu sein. Eine latente Spannung baut sich zwischen dem Porträt und dem Modell auf – die Urteile des Publikums sind unterschiedlich: das skandalöse Porträt, das verleumderische Porträt ... Ist das Bild zustandegekommen, so ist es nun einmal etwas Bildhaftes, d. h. Imaginäres – auch wenn es sich um ein Porträt handelt: die Identifizierung des Modells bleibt doch beschränkt, die Vulgarisierung durch das Sichtbare der Malerei, diese Erpressungsaktion eines bösen Künstlers, vermag sich nur durch die Behauptung eines Stils dem Blick des Betrachters aufzudrängen – je nach den persönlichen Kriterien des Geschmacks, den er selbst zu haben glaubt oder den er in der Arbeit des Malers vermisst. Im besten Fall handelt es sich um eine im Namen der Kunst abweichende Vulgarisierung: um neuerlich verschleierten Exhibitionismus. Die Monomanie besteht darin, unablässig ein und dieselbe Sache zur Geltung zu bringen: ein und dieselbe Physiognomie oder ein und dieselbe Szene oder eine einzige, immanent endlos variierte Bilderserie in der gemalten oder geschriebenen Darstellung exhibieren, läuft wiederum darauf hinaus, diese Probleme kraft der 92
jeweils differenzierten Wiederholung einer einzigen Figur zu lösen. Aber so wird immer noch die Monomanie durch die Kunst «legitimiert», wird der Exhibitionismus mit einem besonderen Handwerk identifiziert, mit einer «Disziplin» gestützt, was gerade nichts damit zu tun hat. «Wieso müssen Sie eigentlich einen Film über Roberte machen?» – fragte mich ein junger Mexikaner, der in die Fragen der Identität des «Modells» sehr eingeweiht war – «ist er nicht schon auf jedem Ihrer Bilder realisiert?» – Dieser ebenso verständige wie diskrete Knabe dachte damit die «Authentizität» meiner Malerei zu ehren – indem er jene «Ähnlichkeit» bestätigte, ohne das merkwürdige Bedürfnis, sie von Bild zu Bild zu wiederholen, irgend für verdächtig zu halten. Welches auch das Bild ist, in welcher Haltung sich auch das Modell als zentrale Person inmitten anderer imaginärer oder realer Personen befindet – alles bleibt allein dem Künstler zurechenbar. Nichts offenbart das, was dem «Modell» zuzurechnen wäre. Zu 3.: Vulgarisierung durch ein industrielles Verfahren: das Kino. In Mailand, Antonioni, der zu meinen Bildern eingeladen ist: «Welches Glück Sie haben: Sie können frei ausdrücken, was Sie zeigen wollen!» – sagt mir der berühmte Regisseur – «Wir hingegen – welche Hölle müssen wir durchqueren, um unsere Vision zur Geltung zu bringen!» Er, einer der ersten Meister des italienischen Films, spielte damit auf die drakonischen Bedingungen an, die die industrielle Welt der Realisierung seiner Kunst auferlegt: Verrenkung, Kompromittierung, erniedrigende Korrekturen für jeden, der eben das, was er sieht, sichtbar machen möchte. Also ein erbitterter Kampf zwischen der idiosynkratischen Vision eines Geistes und der einträglichen betrügerischen Vision der Geschäftsleute, die das Sehvermögen 93
der Millionen Schlaflosen, die ihre Kundschaft bilden, niederzuhalten und zu zermalmen suchen. Aber gerade das schien mir einen direkteren und solideren Kontakt mit der zeitgenössischen Welt in Aussicht zu stellen. Da kam mir Antonionis Klage wieder in den Sinn, und ich lernte den höllischen Kreislauf der Filmemacher kennen: ohne mit den Ambitionen der Macher etwas gemein zu haben, und folglich ohne irgendeine offenkundige Notwendigkeit, brachte mich eine hartnäckige Frivolität so weit, meine eigene Manie zu erfahren. Die Hindernisse aufzuzählen, auf die sie stossen musste, bis sich das Auge Zuccas mit dem meinigen traf, wäre müssig. In dieser Branche meinten einige, die Visualisierung des Widerrufs des Edikts von Nantes interessiere mich nur wegen der eventuellen finanziellen Gewinne, die zu erwarten wären, wenn man auf die bewährten Reize dieses oder jenes Stars ihrer Wahl zurückgreifen würde. Totales Missverständnis. Diese Leute hatten rein gar nichts kapiert vom Text. Aber alles in allem doch ein verständliches Missverständnis: ich hatte eine Person geschaffen – damit war meine Aufgabe zu Ende; ihnen stand es frei, sie durch jemanden ihrer Wahl interpretieren zu lassen. Ein solcher Missgriff hätte einfach bedeutet, dass ich das «Modell» gegen irgendeinen marktgängigen Plakatkopf austauschte. «Man muss ihre Person depersonalisieren!» – wagten mir einige zu sagen, die kompetenterweise wussten, dass es sich um ein «Porträt» handelte. Da witterte ich die Falle, die man meiner Monomanie stellte: wenn ich nachgeben würde, bliebe vom physiognomischen «Stil» meines «Modells» nichts übrig, sobald irgendeine Tagesschönheit, die von den Erlebnissen der «Person» keine Ahnung hätte, sie inkarnieren und das «Original» fatalerweise ruinieren würde. 94
Die Monomanie hat nie aufgehört, wieder anzufangen: immer am selben Ausgangspunkt stehend, versteht sie zu warten bis zu dem Tag – aber der Tag ist schon gekommen – da man mir sagte: wie recht haben Sie gehabt! Der unauffindbare Regisseur, der seine Kamera auf die manische Schärfe des Gulliver-Blicks einstellen sollte, Pierre Zucca, der einzige seiner Zunft, der erkannte, wie die geheime Triebfeder meiner Romandarstellung bei seinen Kollegen missdeutet wurde, war schliesslich auch der einzige, der die ursprünglich spektakulären Elemente der Erscheinung namens «Roberte» rekonstruieren konnte – und somit konnte er den von der Physiognomie des «Modells» suggerierten Zwischenfällen (die dann in «Robertes» Tagebuch der Gewissenserforschung als die ihrer «Person» zugestossenen beschrieben werden) den diskontinuierlichen Charakter des fait divers wiedergeben. So sollte die Diskontinuität jener Fakten aufgrund der moralischen Diskontinuität, des widersprüchlichen Verhaltens, der Kehrtwendungen jener Physiognomie in ebenso vielen Sequenzen wieder hervortreten. Indem er von Anfang an die dramatische Chance ergriff, die darin lag, dass die Heldin jener Situationen von der herben Physiognomie des «Modells» verkörpert wurde, von welcher sie suggeriert worden waren, verstand es Pierre Zucca, in den Fototafeln des Lebenden Geldes den inaktuellen Stil jenes Gesichts wiederzugeben, der in die Ikonographie des akademischen Realismus des vergangenen Jahrhunderts passte. Eine starke Komplizenschaft mit einer Monomanie, deren Projekt vom Kontext der industriellen Stereotypie aufs Spiel gesetzt wurde, brachte ihn dazu, sich auf das Unternehmen einzulassen und auf alle unvorhersehbaren Reaktionen des «Modells» – nicht auf einstudierte Reaktionen einer Schau95
Spielerin – während der Dreharbeit und somit auf das an Widerstand oder Willfährigkeit zu setzen, was das Modell in den peinlichen oder anstössigen Sequenzen zeigen würde, in denen seine eigene «Erfahrung» hervorkäme. So ward es mir gegeben, den Übergang von der unwahrscheinlichen Vision zur handgreiflichen Erscheinung des Unmöglichen zu erleben; handgreiflich stellte sich das Modell – Gegenstand der Bemühungen einer ganzen Equipe von jungen eifrigen Technikern – für die Aktualisierung seines Double zur Verfügung, das jeder entsprechend seiner Spezialisierung an ihrer Physiognomie herzustellen suchte: aus so banalen Umständen wie der Anprobe bei den Schneidern oder den Schminksitzungen, wo eine auf ihre Karriere bedachte Schauspielerin auf eine Unbekannte ohne Ambitionen stiess, die so bleiben sollte, wie sie war, wurde eine Teilnahme aller an der intimen Verdoppelung einer Gegenwart: die konvergierenden Blicke des Schneiders, der Visagistin, des Beleuchtungsmannes, die alle die besondere Gangart dieser Gegenwart, ihre Ausdrucksweisen und ihre möglichen Wirkungen studierten; die Einrichtung der Örtlichkeiten durch die Ausstatter vollendete schliesslich das Milieu dieser Verdoppelung, indem sie es bis zu uns allen ausweitete und letztlich zu einer Topographie werden liess, die die Pariser Viertel umfasste, in denen jene Physiognomie auftrat. So mussten wir uns zwischen dem Marais und dem Faubourg Saint-Honoré bewegen, zwischen dem Schneider in der Rue du Cirque und der Rue des Francs-Bourgeois mit den verfallenen Appartements des alten Hotel de Jeanne d'Albret, die sorgfältig hergerichtet waren und wo die Möbel, die Gemälde der Sammlung des Professors Octave, die Hüte Robertes im Vestibül, ihr geräumiges Badezimmer, wo sie auf dem Marmor des Frisiertischchens ihr Tage96
buch der Gewissenserforschung schreiben würde – wo alle diese Accessoires die Rückkehr des Paares erwarteten, als hätte es seit jeher da gewohnt. Und während dieser Vorbereitungen durchquerten wir manchmal das Palais-Royal, wo in einem bestimmten Augenblick die Präliminarien der Hauptszene stattfinden sollten: der Zwischenfall, der «Roberte» neulich zugestossen war und den sie mir kurz anvertraut hatte, bevor sie ihn in ihrem Tagebuch ausführlich beschrieben hat. Ein ähnliches Verdoppelungsmilieu hatten wir bereits zwei Jahre vorher erlebt, als wir auf den Spuren des «Modells» von Roberte unter der Kolonnade der Galerie Orléans gefilmt hatten – und nun erlebten wir die Wiederholung jener «unnachahmlichen» aus lauter «Geständnissen» bestehenden Sequenz. Nur dass wir damals – Pierre Zucca hatte mit gutem Vorbedacht die enthüllende Szene der parallelen Barren gewählt -ohne jeden Vertrag untereinander der absoluten Komplizenschaft der Equipe Zuccas ebenso sicher waren wie der beiden Komparsen des «Modells» Robertes – wie sich das für ein derartiges Vorhaben noch keiner vorgestellt hatte. In Umkehrung der chronologischen Reihenfolge hatte Pierre Z. mit dem Drehen jenes Schlüssel-Moments angefangen und die vorausgehenden Szenen (Robertes Verfolgung in der Galerie Montpensier durch den Manischen bis in die Falle des Untergeschosses) auf den nächsten Tag verschoben. Da sich jene Szene in einem Gymnastiksaal im Kellergeschoss eines Geschäfts der Galerie abspielen sollte und ein solcher nicht zu finden war, wurden die parallelen Barren in der Gymnastikhalle des Cirque d'Hiver aufgestellt. Dort vollzog sich also die Prüfung: dergestalt, dass das «Modell» einer «Roberte», die sich dessen bewusst war, sie in den Augen aller wunschgemäss bestanden 97
zu haben, am folgenden Tag am Ausgangsort ihres Abenteuers in der Galerie Orleans das erwünschte Benehmen um so besser anzunehmen wusste, als sie den Zuschauern den Eindruck vermittelte zu wissen, wohin ihre Promenade sie führen würde. Erst recht brachte das «Modell» in der Schlusszene, wo Roberte auf der Terrasse des Cafe Nemours sitzend den Zwischenfall rekapituliert, die erforderte Natürlichkeit auf – da «ihr glänzendes Aussehen» den Geschmack «ihrer Schande» überdeckte – angesichts der Menge der Neugierigen, die durch die Dreharbeiten angezogen worden waren. Zwei Jahre später sollte sich dieser Eindruck noch verstärken: so sehr, dass manche den Zwischenfall der Barren dem Charakter Robertes selbst anlasten. In der endgültigen Version wurde die Szene aus Trick-Gründen nicht mehr in der Gymnastikhalle gedreht, sondern in der alten Werkhalle des Lampenfabrikanten, der das Hotel d'Albret zuletzt innehatte und da Anbauten errichtet hatte. Die Fäuste an die Barren gebunden, des Rocks fast entledigt, mit der Kostümjacke bekleidet, das grosse grüne Beret mit dem Schleier seitlich verschoben, stösst das «Modell» Robertes neuerlich mit den Knien, gibt es neuerlich den Kitzelbewegungen der Zunge des Manischen an seiner weit geöffneten Hand nach ... verdreht die Augen, gibt sich hin. Undenkbar, dass eine Berufsschauspielerin auch nur die Idee der Reaktualisierung eines erlebten oder vorausgesetzten Faktums gefasst hätte! Die Physiognomie des «Modells» einer Person vorführen bedeutete noch wenig, wenn sie nicht – sei es auch nur für eine Sekunde – mit einem unterdrückten Lächeln ihren Widerwillen verraten hätte, sich aufgrund ihrer eigenen Kräfte in einer solchen Situation wiederzufinden. 98
Die fingierten und die physisch, ja moralisch erlebten Gefühle des Modells bleiben ununterscheidbar: das Schwanken des Vorgehens und die Verlegenheit verstärken manchmal den Eindruck der Genauigkeit – der um so stärker ist, als sich die Person Robertes selbst durch diese Ununterscheidbarkeit auszeichnet. ... und dieses Ununterscheidbare, das sieht man eben; das atmende Profil der Gegenwart, die dieses Ununterscheidbare sichtbar macht, kann man geradezu mit dem Finger greifen. Das ist der merkwürdige Effekt des Verfahrens, auf das ich zurückgriff, um die unvertauschbare Physiognomie vorzuführen: da es ein industrielles Verfahren ist, eignet es sich am besten dazu, die Exhibition, die ich mir davon versprach, zu kompromittieren, und zugleich ist es das effizienteste: – die Kamera, dieses zunächst handwerkliche Gerät, das die Bewegung der Figuren entsprechend den normativen Schemen unserer visuellen Wahrnehmung reproduziert, war dank der Komplexität ihrer Struktur zur industriellen Ausbeutung dieser Schemen prädestiniert – um schliesslich zu einem Verfahren der Exhibition der konventionellen – sozialen, moralischen oder ästhetischen – Stereotypen zu werden: dank den Interpretationen der Masse, entsprechend den Erinnerungen an die alltägliche Erfahrung eines jeden – musste das Verfahren mit der Begehrlichkeit eines Manischen koinzidieren. Dieses industrielle Exhibitionsverfahren beruht nun spezifisch auf der Arbeit nicht eines einzigen, sondern mehrerer: auf der Anstrengung einer Equipe von Technikern, die die Durchführung dieser Exhibition einer unvertauschbaren Physiognomie mit einem brüderlichen Geist beseelte. - «Und dieser ganze Aufwand führt zu dem Ergebnis, dass das Kino das Instrument Ihrer schmutzigen Gulliver-Optik ist? Hat man nicht neulich gesagt, dass Ihre Intrige der Gesetze der Gast99
freundschaft, die mit derartigen Vorfällen angezettelt ist – uns überhaupt nicht berührt?! Und da wir Ihre dekadente und bourgeoise Syntax nicht lesen können – wird man die ‹Haut Robertes› auf der Leinwand ‹schaudern› sehen? ist das nun oder etwa nicht der Beweis für Ihre ‹literarische Schwäche›? - Stecken Sie Ihr Tonband wieder ein, aber halten Sie zur Freude meiner Verleumder noch eins fest: Ich bin weder ein ‹Schriftsteller› noch ein ‹Denker›, noch ein ‹Philosoph› – noch irgendetwas Derartiges – nichts von alledem bin ich: sondern vor allem war ich, bin ich und bleibe ich ein Monomane. - Und nun bieten Sie Ihre ‹Unaustauschbare› dem Meistbietenden an! Wann ist die nächste Vorführung? - Sie wird nicht gratis sein. Sie zahlen das Ununterscheidbare, und dann zum Teufel mit Ihnen!
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Rückkehr zu Hermes Trismegistos VON DER MITWIRKUNG DER DÄMONEN IM KUNSTWERK
Auch wenn Sie zunächst glauben, dass ich auf Ihre Frage über die körperliche Bedrängung des Betrachters durch das Bild nicht antworte: «Da es nicht möglich war, eine Seele zu schaffen, um die Götterbilder zu beseelen, rief man die Seelen der Dämonen und der Engel an und sperrte sie in die heiligen Bilder, auf dass dank diesen Seelen die Idole die Macht bekämen, Gutes und Böses zu bewirken.» Die herbeigerufenen Dämonen wären nach der neuplatonischen Vorstellung die mittleren Naturen zwischen den leidenschaftslosen Göttern und den leidenschaftsunterworfenen Menschen – Mittelwesen, welche mit den Göttern die Ewigkeit ihrer Luftkörper und mit den Menschen die leidenschaftliche Bewegtheit teilen: also sind es widersprüchliche Naturen und daher für die Menschen unverzichtbare Mittler bei den unzugänglichen Gottheiten. Daher «diese Simulakren oder Götterbilder, die die Zukunft kennen, sie durch das Los, den Wahrsager, durch die Träume ankündigen ... die die Menschen mit Krankheiten schlagen und sie heilen». Vor zwei Jahrtausenden von Hermes Trismegistos formuliert, ist mir diese Erklärung der Simulakren, die zur moralischen Einwirkung auf den Betrachter angefertigt werden, immer wieder in den Sinn gekommen, wenn ich vor einem Werk einiger unserer modernen, zeitgenössischen Meister innehielt – die noch der traditionellen Auffassung der Kunst im imitierenden, also simulierenden Sinn folgen. Welches Verhältnis besteht zwischen derartigen Werken und den Idolen? Wie kann man behaupten, dass ein Gemälde, dass eine Skulptur heute aus eben diesem Prinzip hervorgeht? Die Frage oder die Voraussetzung ist im Kontext der zeitgenössischen 103
Produktion durchaus abwegig. Aber damit Sie besser verstehen, inwiefern die Erklärung des Trismegistos mich noch betrifft, der ich auf meine Weise Simulakren herstelle, möchte ich nur festhalten, dass sie auf der Unmöglichkeit aufbaut, «eine Seele zu schaffen», die den toten Gegenstand, der das Simulakrum ist, beleben könnte; dass sie also dem Künstler die Fähigkeit abspricht, allein kraft seiner Subjektivität zu agieren und dass sie die moralische Aktion des vom Künstler hergestellten sichtbaren Objekts nur der Komplizenschaft einer dämonischen Kraft zuschreibt. Dass die «angerufenen» Dämonen bloss die Hypostasierungen obsessioneller Kräfte sind, die von einem plastischen oder gemalten Werk aus wirken, bedeutet dem Künstler recht wenig – sofern er nur seinen Effekt erzielt; aber gerade, dass er ihn nur herbeiführen kann, wenn er die Hypothese einer zu diesen Kräften analogen dämonischen Welt aufrechterhält, ja, wenn er jede Bewegung der Seele als korrelativ zu einer dämonischen Bewegung behandelt – das konstituiert den Imperativ seiner visuellen Suggestion. So würde der Künstler immer, wenn er an einem Bild arbeitete, welches auch dessen «Motiv» wäre, sein unsichtbares Modell nachmachen – also das dämonische Analogon seiner eigenen Emotion – und würde es durch die «Ähnlichkeit» seines Simulakrums verführen und es durch eine Figur umreissen, deren Anblick auf den Betrachter ebenso wirkt wie das Modell auf den Künstler. Warum unterbricht man den Entwurf eines Gemäldes zugunsten eines anderen, kaum begonnenen? Oft widerfährt es Künstlern, mit so einem Reflex das Dilemma zu durchbrechen, das ihnen nicht immer bewusst ist: entweder wird der Künstler vom spielerischen Elan seiner Virtuosität mitgerissen, entzieht sich dem Zwang eines bedrängenden Motivs und behandelt sein Bild als blosses «Ventil»; oder er hat diesem Zwang schon zu lange einen notwendigen also wirklichen Charakter zugebilligt, um darin nicht die Besorgnis des seinem Ge104
schick zugeteilten Dämons zu sehen, dessen Stratagem Tertullian so beschreibt: «Der Dämon war zugleich in der Sache, die er sehen liess, und in dem, den er die Sache sehen liess.» Wenn also eine derartige «dämonische» Komplizenschaft, sofern sie vom Künstler immer als seinem Wollen «äusserlich» erlebt wird, in ihm die zwanghafte, weil beständige Vision von etwas provoziert, dann deswegen, weil sie beim Künstler einen Zustand hervorruft, dem der Aspekt entspricht, unter dem die Obsession auf dem Bild wieder erscheint, während sie im Betrachter einen diesem Aspekt entsprechenden Zustand erweckt. Die Obsession wirkt also gleichzeitig, aber unterschiedlich im Künstler und seinem Simulakrum, im Simulakrum und seinem Betrachter. Das Bild als Simulakrum reproduziert lediglich das dämonische Stratagem. Das Stratagem reproduzieren ist für den Künstler: die Obsession exorzieren. Wenn aber das Bild vollendet ist – was stützt dann seine Aktion? Es ist mit der Struktur eines Bildes wie mit der Struktur eines Satzes, die in dem verschwindet, was sie zu verstehen gibt. Sobald man sie in ihre einzelnen Glieder zerlegt, verschwindet der Sinn in der Aufmerksamkeit, die man jedem für sich verbleibenden Wort leiht. Der Betrachter des Bildes identifiziert einmal zu Recht die Technik, die es strukturiert, mit der so gelieferten Emotion; die Technik verschwindet im Aspekt, den sie materiell hervorbringt – sofern sie mit dem «Stil» eins ist, der vom Aspekt nicht zu trennen ist, unter dem sich die erste Obsession des Künstlers auf dem Bild zeigt. Ein anderes Mal macht der Betrachter – nicht weniger legitim – die Technik für die Gleichgültigkeit verantwortlich, in der ihn das «Motiv» des Künstlers lässt – und alsbald wird das ausschliessliche Interesse für die Herstellungsweise des Stils die Technik ablösen, die nur noch das leblose Überbleibsel der ersten Obsession am Anfang des Bildes ist. Was stützt nun die Aktion des «vollendeten» Bildes – wenn es nicht zwischen dem Künstler und seinem Simulakrum, zwischen dem Si105
mulakrum und seinem Betrachter das Kommen und Gehen einer «dämonischen» Gegenwart ist, welche daher den Blick intensiviert und das betrachtete Objekt modifiziert und es ständig überschreitet, um sich mit der Ansicht seines Konterfeis zu vereinen? Jedenfalls können sich mehrere Kräfte die Empfindung des Malers streitig machen, um ihr «Stratagem» zu wiederholen – aber nie wird eine für die Gesamtheit aller Kräfte gelten können, die in der «Pathologie» des Künstlers abwechseln. Weder die Obsessionen noch die Genüsse noch die Ängste, die sie hervorrufen, werden je die verschiedenen Aspekte erschöpfen, die sie auf den Bildern anzunehmen geruhen.
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Gespräche mit Alain Arnaud
A. A. – Sie haben Schreiben und Zeichnen lange Zeit nebeneinander betrieben. Einige Ihrer Zeichnungen waren sogar mit Ihren Texten verbunden: als Titelbild oder als Kontrapunkt. Dann gab es einen Bruch und das Aufgeben der literarischen Aktivität zugunsten der Zeichnung. Und merkwürdigerweise oder symptomatischerweise waren einige von denen, die Sie als Schriftsteller begrüsst haben, vom Maler in Verlegenheit gebracht, verstört. Sei es, dass sie ihn zu ignorieren vorgaben, sei es, dass sie versuchten, Ihre Zeichnungen auf eine Illustration Ihrer Erzählungen zu reduzieren, auf eine blosse Übersetzung oder Übertragung der in den Büchern beschriebenen Szenen auf die Leinwand. P. K. – Ich habe die beiden Tätigkeiten nicht nebeneinander, sondern abwechselnd betrieben. Es gab die Periode der Bleistiftzeichnungen, die allerdings mit dem Schreiben koexistierte. Dann die Entdeckung der Farbe, die dem Aufgeben der Schrift entsprach. Die Befriedigung, die mir diese Erfahrung verschaffte, veranlasste mich, ihr gleich die Zeit zu opfern, die sie verlangte. Diese Art des Ausdrucks, die anscheinend einfach, weil unmittelbar ist im Vergleich zur Schrift, konnte kein Nebeneinander mit der schriftlichen Mitteilung leiden, die im Verhältnis zur erlebten Emotion immer indirekt ist. Denn die Sprache, die mit dem common sense Hand in Hand geht, entstellt das einzelne Motiv mit Rücksicht auf die allgemeine Empfindungsweise. Indem ich der Schrift ent109
sagte, die ständig dem Missverständnis ausgesetzt ist, isolierte ich mich, um mich nur noch mittels des Bildes auszusprechen. Auch auf die Gefahr hin, meine Visionen damit eher dem Empfinden als dem Verstehen meiner Zeitgenossen darzubieten. A. A. – Es bleibt also dabei, dass sich die Schrift zurückzieht, wenn die Farbe erscheint. Wie wenn die Gestalten Ihrer Erzählungen vor denen Ihrer Zeichnungen zurückgewichen wären. Ihre Maltechnik ist nun aber die des Stiftes. Von einem Stift zum andern? P. K. – Ich bin in der Tat von der Graphologie zur Kalligraphie oder vielmehr zur Hieroglyphie übergegangen. Ich behandle die Malerei als eine Hieroglyphie. Das Denken übt dabei eine Überwachung aus; die spontane Bewegung wird ständig von einer Reihe von Kriterien, dem Geschmack, dem Stil kontrolliert. Es gibt gewisse Stereotypen, denen ich gehorche, und andere, die ich verwerfe. Es ist eine permanente Selbstkritik. Ich bin von der Idee der Wandmalerei ausgegangen: mit all dem, was sie an Theatralischem, an Spektakulärem an sich hat. Ich vergesse nie, dass ich an einer Mauer, an einer Vertikalität arbeite – und nicht an Bildern, die ich hinlegen könnte, wie man ein Buch hinlegt. A.A. – Diese Konzeption lag bereits der Schrift zugrunde. Bei Ihren Erzählungen handelte es sich um eine Schrift des Blicks, des mentalen Bildes – mehr als um eine Schrift des Tones und des Wortes. Daher die Bedeutung der «lebenden Bilder» und der minutiösen Beschreibung der Färbungen. Nach der Szene mit den parallelen Barren zum Beispiel (ebenfalls Posituren) betrachtet sich Roberte im Spiegel und bewundert dann «diese Stadt in ihrem Dahingleiten». Das waren bereits Malereinstellungen. Die Wörter hatten zu spiegeln. Das Zeichen war mit dem Bild verschworen. 110
P. K. – Mit dem Schreiben habe ich gebrochen. Vom Spekulativen zum Spekulären übergehend, finde ich mich tatsächlich unter dem Diktat des Bildes. Es ist die Vision, die fordert, dass ich alles sage, was mir die Vision gibt. Gewiss muss ich mich an einige Autoren der späten hellenistisch-römischen Antike wie Philostratos von Lemnos erinnert haben, die eine rhetorische Gattung zur Beschreibung imaginärer Bildwerke imaginiert hatten. So beschrieb Apuleius eine Statue der Diana als Kunstwerk. Ich habe selbst einen Moment gedacht, meine Personen als Statuen, Porträts, Bildfiguren zu beschreiben, deren Modelle jene Personen gewesen wären. Und dann hat die moralische Problematik die Oberhand gewonnen. Ich befand mich gerade in der Lektüre von Augustinus, also in einem philosophischen Drama, das sich um das Bild dreht, und in theologischen Streitfragen um die Theatrik. Das Bild war für mich ein Kondensat der unkommunizierten Erfahrung. Kein Erfahrungsgehalt kann sich jemals mitteilen ohne die Begriffsgeleise, die vom Code der alltäglichen Zeichen in die Geister eingegraben werden. Und umgekehrt zensiert der Code der alltäglichen Zeichen jeden Erfahrungsgehalt. Der Ausgang: das Bild, der Stereotyp. Der Stereotyp spielt die Rolle einer verdeckenden Interpretation. Wenn man ihn aber übermässig akzentuiert, so vollzieht er selbst die Kritik an seiner verdeckenden Interpretation. A. A. – Ihr schriftliches Werk bezieht sich also auf einen Imperativ der Darstellung: Darstellung für den Blick und Darstellung in Posituren. Ist die Obsession des einzigen Zeichens, des einzigen Namens eine Obsession des Bildes? P. K. – Schon durch seinen Klang ist der Name Roberte ein Bild! Roberte ist übrigens eine Figur, die in den Illustrationen meiner Kindheit vorkam. 111
A.A. – Ihre Erzählungen unterscheiden sich immerhin in einem Punkt von Ihren Zeichnungen. In der Schrift appelliert das Wort, die Syntax ständig mehr oder weniger an die Bedeutungskraft der Sprache. Insofern wären Ihre Erzählungen der Teil von Ihnen, der dem christlichen Raum mit seiner Aufmerksamkeit für den Sinn und die Hermeneutik zugehört. In Ihren Zeichnungen hingegen ist das Bild reine Unmittelbarkeit, Spiegelspiel, das den Sinn endlos in Stellungen, Bewegungen streut und bricht ... hier wäre man Ihrem heidnischen, polytheistischen Teil näher. Also zwei Annäherungen an das Problem der Kommunikation. P. K. – Es gibt einen unkommunizierbaren, unreduzierbaren Grund, den man nicht ausdrücken kann und für den man Äquivalente schafft. Man ruft damit eine Spannung zwischen dem Bedürfnis und der Unmöglichkeit zu kommunizieren hervor. Ich anerkenne die Theophanien, und ich suche nicht ihre Rätselhaftigkeit zu vertiefen. Ich weiss nicht, ob sie dem Christentum letztlich widersprechen oder nicht. Das Bild ist für mich gleichsam die Materialisierung der Idee der delectatio morosa, eine Potenz. Thomas von Aquin definiert das Bild einerseits als eine Sache, die verschieden ist von dem, was sie darstellt, und daher als Bewegung in der Erkenntniskraft und in der dargestellten Sache; andererseits als Bewegung im Bild und in der Sache selbst, deren Bild es ist. Also als ein Motiv im wörtlichen Sinn. A. A. – Um diese Bewegung des Bildes wiederzugeben, haben Sie die akademische Konvention gewählt. Paradox: je akademischer die Pose ist, um so mehr bietet sie die Chance, dem Unkommunizierbaren näherzukommen. Liegt die beste Kommunikationsmöglichkeit in ihrer Unmöglichkeit? Augenscheinlich geht aus Ihren Zeichnungen hervor: es sind Po112
sen und Posituren von Statuen; Gruppen, die in den Raum und in Bewegung gesetzt sind ... P. K. – Seit einiger Zeit nähre ich gelegentlich den Traum, am Wachs zu arbeiten, meine Zeichnungen in Wachs ausführen zu lassen. Was den gewollten Akademismus der Posen anlangt: diese äusserste Banalität soll das zum Ausdruck bringen, was sie verbirgt. Unter dieser Banalität: ein Ereignis! A.A. – Um so mehr als unter dieser Banalität der Posen, unter ihrem starren Anblick eine gewaltige Dynamik lebt. Die Banalität wäre somit ein Aufruf, «zurückzutreten» – in dem Sinn, in dem Sie im Souffleur schreiben: «Seit Jahren machte ich den Versuch, einen Schritt hinter unser Leben zu treten, um es zu betrachten.» P. K. – Das Bild ist ein Zeichen – aber von einem anderen Universum als demjenigen der bezeichnenden Zeichen. Es ist spekulär und nicht spekulativ. Im Altertum hatten die Statuen eine schützende, eine Vormundschaftsrolle, aber sie hatten keinen Anteil an der göttlichen Wesenheit. Erst seit dem Christentum, erst nach der Inkarnation drückt das Bild das Übernatürliche in den fleischlichen und irdischen Realitäten aus, die es reproduziert. Daher die Frage der Bilderstürmer! Für meinen Teil halte ich mich an spezifisch spekuläre Motive. A. A. – Sie scheinen damit auf den Vorwurf zu antworten, den man Ihnen manchmal macht: dass Sie «ein Schriftsteller sind, der zeichnet» – als würden Sie zuerst einen Text formulieren und ihn dann mit Bildern illustrieren; als würden Sie Ihre beiden Zugänge nicht nacheinander, sondern zugleich verwirklichen. Ihre Zeichnungen entstehen nicht aus einem Blick, der liest, sondern aus einem Blick, der sieht und mentale, phantastische oder phantasmatische Bilder vermittelt. 113
P. K. – Nein, nicht phantastische. Es sind mentale Figurenkonstruktionen. Meine Zeichnungen gehorchen einem Willen zur Figuration. Es ist eine Weise, das páthos zu sehen und es sich vor Augen zu führen. A. A. – Es ist also dieselbe Spannung, die Ihre Texte belebt – die bald im Schreiben, bald im Malen durchtönt. Indem Sie diese Spannung intakt halten, indem Sie die Versöhnung mit den inneren Mächten, die diese Spannung hervorrufen, verweigern, kehren Sie den zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkundungen den Rücken. Daher Ihr Glaubensbekenntnis für die Dämonologie als Praktik und Methode? P. K. – Die Rehabilitierung der Dämonologie bedeutet für mich vor allem die Etablierung einer wahrhaften Pathophanie, die zugleich Methode und Revolte ist. Der theatrische Charakter der Theologie kam von ihrem Glauben an die menschliche Seele als einem von autonomen äusseren Mächten bewohnten Ort. Also eine mentale Topologie: das páthos als ein topos verstanden. Damit der Künstler zu seinen Zielen gelangt, damit er die gesuchte Wirkung erzielt, muss er die Hypothese eines dämonologischen Universums analog zu den ihn bewohnenden Kräften aufrechterhalten; und er muss jede Bewegung seiner Seele als korrelativ zu einer dämonischen Bewegung behandeln. In diesem Sinn und jenseits der Frage nach «Sujet» oder «Motiv» versucht der Maler seinem unsichtbaren Modell nachzukommen, es zu verführen, um es durch seine Ähnlichkeit, durch sein Simulakrum mitzuteilen. Die Malerei ist eine Pathophanie, insofern das Gemälde ein dämonisches Stratagem reproduziert und dadurch die Obsession des Malers exorziert und kommuniziert. A. A. – Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der Produktion des Simulakrums und seiner Rezeption. 114
Jede Form von Kommunikation ist durch die Kluft zwischen dem Willen zum Erreichen und dem Willen zum Erreichtwerden beeinträchtigt. Für den, der das Bild betrachtet, wird das, was der Maler als eine bestimmte Ähnlichkeit bezeichnet, eine andere Ähnlichkeit ... P. K. – Die obsessionellen dämonischen Kräfte wirken gleichzeitig, aber unterschiedlich im Künstler und in seinem Simulakrum, im Simulakrum und in seinem Betrachter. Insofern steht es mit der Struktur eines Bildes ebenso wie mit der Struktur eines Satzes, der in dem, was er zu verstehen gibt, verschwindet. A.A. – Um auf die Pathophanie zurückzukommen: kann man nicht einen Vergleich mit der Psychoanalyse skizzieren, die ebenfalls das páthos als einen topos, als einen Ort betrachtet, der von Tendenzen durchkreuzt wird, die sich in Konflikt befinden? Besteht da eine Gemeinsamkeit in Sachen Exorzismus? P. K. – Unter Exorzismus verstehe ich die Austreibung eines bösen Geistes aus der Seele. Aber um ihn auszutreiben, muss man verstehen, seine eigene Sprache zu sprechen, und um ihn dazu zu überreden auszuziehen, muss man ihm einen anderen Ort anbieten. Man mag diese Behauptung so verstehen, dass ich versuche verständlich zu machen, wie dasselbe «Objektivierungsschema» den modernen Verfahren der pathologischen Analyse und den älteren Verfahren des Exorzismus zugrunde liegt. Indessen scheint mir die Analogie zwischen dem Ziel des Therapeuten und dem des Exorzisten zu vordergründig, als dass sie nicht zu Verwechslungen führen könnte. Wenn das Ziel dasselbe ist – wozu sollte man dann diese sprachliche Unterscheidung zwischen äusseren und inneren, fremden und eigenen Mächten machen? Das Ziel und 115
folglich auch die Mittel zu diesem Ziel sind eben nicht identisch: die beiden Methoden gehen von einer jeweils ganz anderen Konzeption des Inneren bzw. Äusseren aus. Für den Analytiker ist der Patient unfähig, aus seiner eigenen Innerlichkeit herauszugehen, und er kann sein Heil nur in der Person des Therapeuten finden. Dieser hat ihn dazu zu bringen, sich fortschreitend gegenüber den Phänomenen, die seine Energie steril absorbieren, zu objektivieren. Die Begriffe des Unbewussten oder des verdeckten Bewusstseins setzen das Innere mit den Grenzen der individuellen Subjektivität gleich und das Äussere mit einer fortschreitenden Objektivierung durch die Rückkehr zum Realitätsprinzip. Das heisst, dass sich die Heilung nur durch eine neuerliche Alienation vollzieht. Der Patient wird erst wieder normal, wenn er die Ereignisse seiner Innerlichkeit verwirft, die er zuvor als ihm selber äusserliche Realitäten empfand. A.A. – Worin unterscheidet sich die dämonologische, pathophanische Praktik, die Sie anpreisen? P. K. – Sie betrachtet die Besessenheit nicht als eine Krankheit, sondern als ein geistiges Faktum. Die Seele wird immer von irgendeiner Macht bewohnt, einer guten oder bösen. Nicht wenn sie bewohnt sind, sind die Seelen krank; krank sind die Seelen, wenn sie nicht mehr bewohnbar sind. Die Krankheit der modernen Welt besteht darin, dass die Seelen nicht mehr bewohnbar sind und dass sie daran leiden! Man glaubt, die übeltätigen Mächte auf nichts reduzieren zu können – unter dem Vorwand, dass es kein übernatürliches Wesen mehr gibt. Die Rechnung ist falsch! Sobald ein Wesen existiert, existiert eine Übernatur. A. A. – Die dämonologische Praktik wäre also eine Art figurale Exegese: die exegetische Figuration der guten oder bö116
sen Mächte, die die Seelen bewohnen. Also ein Wille, sie zu sagen – ohne sie verändern zu wollen? P. K. – Ich muss die Mächte, die mich sprechen lassen, identifizieren. Der Exorzist spricht eine Wirklichkeit, eine wirksame Aktion Mächten zu, die mit einer autonomen Existenz ausgestattet sind, welche derjenigen des Subjekts äusserlich ist, das sie zu besitzen suchen, und die andere befruchtende Kräfte sterilisieren. Hier gibt es keine Innerlichkeit im modernen Sinn. Der Exorzist stellt sich unter den Gesichtspunkt dieser fremden Kräfte. Die Seele ist für ihn ein den Mächten äusserer Ort, ebenso wie diese Mächte ihm gegenüber äusserlich sind. Daher meine Behauptung, dass die Pathologie eine Topologie ist. A.A. – Exorzismus, Exegese, Figuration ... sind Kommunikationsformen, die die Unmöglichkeit, wirklich zu kommunizieren, eingestehen. Sie tauschen ein Unkommunizierbares aus. Man stösst da wieder auf die These des Duns Scotus, die Sie gern erwähnen: dass die Naturen nicht kommunizieren können, da sie geschlossen sind. Was bedeutet dann dieser Austausch in der Abwesenheit von Kommunikation? P. K. – Meiner Ansicht nach ist es eine Fähigkeit der Interpretation, der Identifikation mit etwas, was der eigenen Natur fremd ist. Etwas in mir identifiziert sich mit dem, was mir nicht zu eigen ist, aber in mir plötzlich auftaucht. In Heute abend, Roberte demonstriert Octave, wie eine Person von den Individuen, die sie umgeben, unterschiedlich interpretiert werden kann. Unter dem Einfluss ihrer Blicke zersetzt sich ihre moralische Einheit. Es steigen in ihr dann Virtualitäten auf, die so verteilt sind, dass die Substanz Robertes das Gegenteil von dem sein kann, was sie zu sein glaubt. Es findet eine Aktualisierung Robertes statt: eine Kraft bemächtigt sich 117
ihrer und aktualisiert etwas in ihr, was in ihr nicht aktuell ist – worein sie sich aber fügt. A. A. – Findet derselbe Prozess nicht in der Betrachtung des Kunstwerks statt? Was Sie potentiell zu sehen geben, wird vom Blick aktualisiert, der es sogleich enteignet – ohne das Bild je besitzen zu können, ohne die Vision des Künstlers je erreichen zu können. Das Kunstwerk würde seine Undurchsichtigkeit bewahren und bliebe immer unkommunizierbar? P. K. – Ist das nicht das universale Prinzip aller Produktion oder Kreation, die es anderen ermöglicht, sich darin zu erkennen, während sie doch gleichzeitig ihren eigenen Grund verbirgt? Das Bild ist die Materialisierung einer Idiosynkrasie. Es ist ein Objekt, eine einer grossen Zahl zugängliche Ware. Die Liebhaber, die es kaufen, können sich darin wiedererkennen, darin eine Komplizenschaft finden. Aber es gibt selten eine Koinzidenz zwischen diesen Affinitäten und den Intentionen des Künstlers. Das Bild bleibt immer eine Transponierung, ein Simulakrum. Als Simulakrum befriedigt es den Liebhaber, der sich in ihm wiederfindet. Der Betrachter und der Künstler interpretieren das Bild nicht in derselben Weise, weil sie nicht dieselben Erfahrungstatsachen hineinprojizieren. Die páthe kommunizieren nicht! Selbst wenn man ein Werk in tausend Exemplaren reproduziert, so ist es immer nur eine Schematisierung des Originals. Man kann also nicht von einem Original in der Beziehung zu sich selbst sprechen, denn es wird immer ein Modell geben, das von aussen unerkannt bleiben wird. Wenn ich auf meine Idee des Stereotyps zurückkomme, so kann ich sagen, dass gerade er eine Schematisierung, eine Vulgarisierung erlaubt, die ihren Ursprung im Phantasma hat. Aber in einem Phantasma, dessen Inhalt eben aufgrund seiner 118
Materialisierung verschwunden ist. Alle Interpretationen sind nun möglich. Diejenigen, die den Stereotyp verwendet haben: Ingres, Courbet, Delacroix ... haben einen ihnen eigenen Gehalt hineingelegt und haben ihn zugleich kritisiert, haben darin die Tradition in Frage gestellt. Was im Simulakrum stattfindet, ist jedes Mal Simulierung und Dissimulierung. Ich bediene mich desselben Verfahrens, wenn ich die stereotypiertesten Formen für die unverständlichsten Sachen verwende. A.A. – Eliminiert dieses Verfahren jede Möglichkeit «abstrakter» Kunst ...? P. K. – Ich erinnere mich eines Wortes von Giacometti: «Das Bild ist an sich eine Abstraktion!» Was gibt es abstrakteres als die Figur? Man kann ein figuratives Bild unmittelbar in abstrakte Kunst übersetzen. A.A. – Es gibt also – jenseits des Realismus – eine Übernatur, die die Kommunikation gestattet und herstellt, oder zumindest den Austausch, die Interpretation? P.K. – Was heisst «jenseits des Realismus»? Die Übernatur erscheint nie anders als unter den materiellen Gestalten des Simulakrums; dieses vermag auf den Betrachter wahrhaft zu wirken nur kraft einer Realpräsenz, die – ex opere operato – das angefertigte Werk immer übersteigt. Daher das unaufhörliche Neuanfangen des Werks – ad infinitum. A.A. – Die erste Geste des Malers fällt bereits hinter seine Intentionen zurück. Jede Zeichnung ist zugleich zu sehr vollendet und unvollendet ... P. K. – Man rührt da an die Frage der Willkür, des Zufalls und der Notwendigkeit. Also an die Frage des Spiels. Es ist notwendig, dass man spielt. Doch sobald man spielt, erfährt man das Gegenteil. Gäbe es das Gegenteil nicht, so könnte 119
man nicht spielen. Man beginnt zu spielen, weil man glaubt, dass es einen Zufall gibt. Und dann tritt man in eine Ordnung ein, der man nicht mehr entrinnen kann. A.A. – Das Werk wäre der Ausdruck dieses Dilemmas? Also eine Wette gegen eine Verwünschung? P. K. – Der Ursprung des Schaffens beim Menschen ist das Bedürfnis, seine Existenz zurückzukaufen. Es gibt eine solche Überfülle, die ihm dargeboten ist, dass sie ihn zermalmt, wenn er nicht eine Entgegnung auf diesen Reichtum findet, der ihn erdrückt. So sucht er beständig ein Gegengewicht zu jenem Reichtum zu schaffen.
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ERGÄNZUNGEN ZU DEN FARBTAFELN 1
Milady et le bourreau de Lilie, 1972 110X73 cm, Farbstift auf Papier Sammlung Jean-Paul Jungo, Morges Photo: Georg Rehsteiner, Vufflens-le-Château 2
Gulliver marchandant avec Roberte, 1980 129 X 150 cm, Farbstift auf Papier Sammlung Johannes Gachnang, Bern Photo: Roland Aellig, Bern-Kirchenfeld 3
Roberte ce soir: seconde version, 1984 200 X 85 cm, Farbstift auf Papier Galerie Maeght Lelong, Paris/Zürich Photo: Galerie Maeght Lelong, Paris/Zürich
S. 56 Grande esquisse pour Les barresparalleles, 1975 235 X 150 cm, Farbstift auf Papier Besitz des Künstlers Photo: Balthasar Burkhard, Bern Das vorliegende Buch «Die Ähnlichkeit» erschien 1984 unter dem Titel «La ressemblance» in französischer Sprache bei Editions Ryôan-ji, Marseille. Bei diesem Verlag liegen die Rechte für die französische Ausgabe. © Verlag Gachnang & Springer AG, Bern 1986 Lektorat: Constance Lotz, Christiane Meyer-Thoss Gestaltung: Peter Sennhauser, Stämpfli + Cie AG, Bern Gesamtherstellung: Stämpfli + Cie AG, Bern Printed in Switzerland ISBN 3-906127-11-7 Digitalisiert in Deutschland 2003