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Ein Umsturz, irgendwo in Lateinamerika. Eine Diktatur wird errichtet. Dem Polizisten Antonio Martens bietet sich eine Chance zu unverhofftem Aufstieg: Er wird zum Corps berufen, wo er auf den ebenso charismatischen wie undurchsichtigen Vorgesetzten Diaz und seinen sadistischen Spießgesellen Rodriguez trifft. Mit harmlos anmutenden Beschattungen fängt es an, mit der Aufnahme zahlloser unbescholtener Bürger in das Register. Doch Rodriguez hat eine Foltermaschine in Auftrag gegeben, die er zu nutzen gedenkt. Martens verschließt davor die Augen. Während überall nach Aufständischen gefahndet wird, kämpft er mit Gefühlen, die zu schwach für echten Zweifel, aber zu stark für reine Bedenkenlosigkeit sind. Ein Gegner des Regimes soll der junge Enrique Salinas sein, ein Träumer, der trotz aller Bemühungen keinen Anschluß an den Widerstand findet. Doch schon sein Traum genügt, um den staatlichen Unterdrückungsapparat in Gang zu setzen. Antonio Martens, ahnungsloser Täter und ahnungsvoller Zeuge zugleich, beginnt zu begreifen, daß er Teil einer großen MordMechanik ist. Detektivgeschichte ist in Ungarn erstmals 1977 veröffentlicht worden. Jetzt endlich erscheint die Erzählung, deren universale Gültigkeit sich angesichts neuer Kriege und neuer Folterexzesse immer wieder bestätigen wird, in deutscher Sprache.
Imre Kertész Detektivgeschichte Aus dem Ungarischen von Angelika und Peter Máté
Rowohlt
Lektorat Ingrid Krüger
2. Auflage Januar 2005 Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel «Detektívtörténet» bei Magvető, Budapest Copyright © 1977, 2001 by Imre Kertész Alle Rechte vorbehalten Satz Adobe Garamond PostScript QuarkXPress 4.1 bei KCS GmbH, Buchholz i. d. Nordheide Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498 03525 8
Vorwort Im Frühjahr 1976 beendete ich meinen Roman Der Spurensucher und reichte ihn, wie es sich gehörte, bei einem staatlichen Buchverlag ein. Etwas anderes konnte ich wohl auch kaum tun, denn in Ungarn gab es damals ausschließlich staatliche Buchverlage. Die beiden Verlage, die sich auf die sogenannte «ungarische Gegenwartsprosa» spezialisiert hatten, unterschieden sich in meinen Augen insofern voneinander, als mein Roman eines Schicksallosen von dem einen abgelehnt, von dem anderen aber verlegt worden war. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mich an den letzteren wandte, und das Manuskript gelangte schließlich, von entsprechenden Lektoratsgutachten begleitet, zum Verlagsdirektor, einem gutgekleideten, silberhaarigen, äußerst verschlagenen und vorsichtigen Herrn, den die Bitternis vieler Kom– 7 –
promisse und der leichte Hauch französischen Cognacs umgab. Er habe den Spurensucher gelesen, erklärte er, und würde ihn auch gern herausgeben, wenn er ein wenig umfangreicher wäre. Zumindest zehn Druckbogen seien nötig, damit ein Buch einen «Korpus» habe, mein Manuskript jedoch ergebe nicht mehr als sechs Druckbogen, wenn überhaupt. Ich solle doch noch irgend etwas dazuschreiben, schlug er vor. Da fiel mir die Detektivgeschichte wieder ein. Es war eine uralte, flüchtige Idee von mir, mit der ich eine Zeitlang herumgespielt und die ich dann, während ich den Roman eines Schicksallosen schrieb, vergessen hatte. Auf den ersten Blick schien der Stoff auch nicht gerade ein verlegerischer Leckerbissen zu sein. Wie konnte man in einer auf illegalem Wege an die Macht gelangten Diktatur, vor der Nase beflissener Zensoren, eine Geschichte veröffentlichen, in der es um die Technik einer auf illegalem Weg hochgekommenen Macht geht? Wenn ich mir einen geschickten Vorwand suchte, hätte ich die Wirksamkeit, den Radikalismus der Geschichte gefährdet. Schließlich entschloß ich mich, nichts von der Ungeheuerlichkeit der Handlung zurückzuneh– 8 –
men, den Ort der Geschichte aber in ein imaginäres südamerikanisches Land zu verlegen. Diese Arbeit bedeutete für mich eine ungewöhnliche Herausforderung. Einerseits hatte ich noch nie ein Stück Prosa geschrieben, das nicht aus unmittelbarer und drängender existentieller Not hervorgegangen war. Eine Geschichte aus dem Ärmel zu schütteln: das ist nicht gerade meine Gattung. Mein schriftstellerischer Organismus – wenn ich so sagen darf – war sozusagen auf lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauernde, problematische Arbeiten trainiert; die Detektivgeschichte aber mußte ich innerhalb von zwei Wochen niederschreiben, damit mein Buch die immer eng bemessene «Durchlaufzeit» der staatlichen Buchfabriken schaffen und noch im folgenden Jahr, 1977, erscheinen konnte. Jetzt, 27 Jahre später, hält der Leser die erste fremdsprachige Ausgabe der Detektivgeschichte in der Hand. Ich hoffe, sie hat bis heute etwas von der frischen Inspiration ihrer Entstehung bewahrt. September 2004 I. K.
1 Das Manuskript, das ich im folgenden veröffentliche, hat mir mein Mandant Antonio R. Martens anvertraut. Wer er ist, werden Sie von ihm selbst erfahren. Vorwegnehmend sei nur gesagt, daß er ein für sein intellektuelles Niveau überraschendes Schreibvermögen bewies, wie nach meinen Erfahrungen übrigens jeder, der sich einmal im Leben entschließt, seinem Schicksal ins Auge zu blicken. Ich war sein von Amts wegen bestellter Verteidiger. Martens hat die ihm von der Anklage zur Last gelegte Mitschuld an mehrfachem Mord im Verlauf des Strafverfahrens weder zu leugnen noch zu beschönigen versucht. Er verkörperte keine der beiden Verhaltensarten, die ich aus meinen bisherigen Erfahrungen mit solchen Fällen kenne: hartnäcki– 11 –
ges Leugnen, sowohl hinsichtlich der Sachbeweise wie der persönlichen Verantwortung, oder jene Art wehleidiger Reue, deren eigentliches Motiv brutale Mitleidlosigkeit und Selbstmitleid sind. Martens gab seine Schuld hemmungslos, aus freien Stücken und bereitwillig zu Protokoll, mit einem so gefühllosen Gleichmut, als spräche er nicht von seinen eigenen, sondern den Taten eines anderen. Von denen eines anderen Martens, mit dem er nicht mehr identisch, für dessen Handlungen er aber die Konsequenzen auf sich zu nehmen ohne weiteres bereit war. Ich hielt ihn für einen durch und durch zynischen Menschen. Eines Tages wandte er sich mit einem überraschenden Wunsch an mich: Ich solle für ihn erwirken, daß man ihn in seiner Zelle schreiben ließ. «Worüber wollen Sie schreiben?» fragte ich ihn. «Darüber, daß ich die Logik verstanden habe», erwiderte er. «Jetzt?» fragte ich überrascht. «Und während ihrer Taten etwa nicht?» «Nein», entgegnete er. «Währenddessen nicht. Davor hatte ich sie einmal verstanden. Und nun habe ich sie von neuem verstanden. Währenddessen aber – 12 –
vergißt man sie. Doch was soll’s», winkte er ab, «das können Leute wie Sie ohnehin nicht verstehen.» Ich verstand es besser, als er dachte. Nur wunderte ich mich: Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sich in Martens – nachdem er als unwichtiges Schräubchen einer Maschinerie jede Fähigkeit einer souveränen menschlichen Persönlichkeit zu Urteil und Durchblick aufgegeben hatte – diese Persönlichkeit noch einmal melden und ihre Rechte fordern würde. Daß er also zu sprechen und sein Schicksal zu erklären wünschte. Nach meinen Erfahrungen kommt das äußerst selten vor. Und nach meinem Dafürhalten hat ein jeder das Recht, das zu tun und es auf seine eigene Art zu tun. Selbst Martens. Ich erwirkte also für ihn, was er sich gewünscht hatte. Wundern Sie sich nicht über seine Ausdrucksweise. In Martens’ Augen mußte die Welt wie ein Wirklichkeit gewordener Groschenroman erscheinen, wo alles mit der erschreckenden Gewißheit und nach den zweifelhaften Gesetzmäßigkeiten der Dramaturgie oder – wenn es besser gefällt: Choreographie von Schauergeschichten ablief. Und erlauben Sie mir – diesmal nicht zu seiner Verteidigung, sondern – 13 –
allein der Wahrheit zuliebe – hinzuzufügen: Diese Schauergeschichte wurde nicht von Martens allein, sondern von der Wirklichkeit geschrieben. Das Manuskript hat Martens am Ende mir übergeben. Der hier folgende Text ist authentisch. Ich habe nirgends eingegriffen, von solchen Korrekturen abgesehen, die wegen stilistischer Unzulänglichkeit unerläßlich waren. Die Aussage aber blieb in allen Fällen unangetastet.
2 Ich will eine Geschichte erzählen. Eine einfache Geschichte. Sie können sie auch ungeheuerlich nennen. Doch das ändert nichts an ihrer Einfachheit. Ich möchte also eine einfache und ungeheuerliche Geschichte erzählen. Ich bin Martens. Ja, ebender Antonio Rojaz Martens, der gegenwärtig vor den Richtern des neuen Systems steht: vor den Volksrichtern – wie sie sich gern nennen. Sie können zur Zeit mehr als genug über mich lesen: Die reißerischen Boulevardblätter sorgen dafür, daß mein Name in ganz Lateinamerika bekannt wird, ja vielleicht sogar drüben, im weit entfernten Europa. Ich muß mich beeilen, wahrscheinlich ist meine Zeit knapp. Es geht um die Salinas-Akte: um Federigo und Enrique Salinas, Vater und Sohn, Eigentü– 15 –
mer der im ganzen Land bekannten Kaufhauskette, deren Tod die Leute damals so überraschte. Dabei war man damals nicht mehr so leicht zu überraschen. Doch kein Mensch hätte Salinas für einen Verräter gehalten, der seinen Namen für den Widerstand hergibt. Der Oberst hat dann später auch bereut, ein Kommuniqué über die Hinrichtung herausgegeben zu haben: Es hat ohne Zweifel eine starke moralische Wirkung hervorgerufen, eine viel zu starke und völlig überflüssige. Doch wenn wir kein Kommuniqué herausgegeben hätten, hätte man uns Vernebelung und Gesetzesbruch vorgeworfen. So oder so, in dieser Sache konnte man nur falsch handeln. Der Oberst hatte das übrigens bereits vorausgesehen. Ehrlich gesagt, ich auch. Aber welchen Einfluß hätte schon die Überzeugung eines Ermittlungsbeamten auf den Lauf der Dinge haben können? Damals war ich noch neu beim Corps. Ich war von der Polizei herübergekommen. Nicht von der Politischen – die war schon längst dort –, sondern von der Kripo. «Du, Martens», sagt eines Tages mein Chef zu mir, «hast du nicht Lust, hinüberzugehen?» Ich frage: «Wohin?», denn ich bin ja schließlich Polizist und kein Gedankenleser. Er deutet mit dem – 16 –
Kopf zur Seite. «Hinüber», sagt er, «zum Corps.» Ich sagte weder ja noch nein. Man war bei der Kripo gut dran. Allerdings hatte ich die Nase schon ein bißchen voll von Mördern, Einbrechern und ihren Nutten. Damals wehte ein neuer Wind. Ich hörte von manchem Aufstieg. Es hieß, wer sich bemüht, habe Zukunft. «Das Corps fordert Leute an», fuhr mein Chef fort. «Ich habe nachgedacht, wen ich empfehlen könnte. Du, Martens, bist ein fähiger Mann. Und dort kannst du dich rascher profilieren», fügte er hinzu. Tja, so ungefähr hatte ich mir die Sache auch vorgestellt. Ich absolvierte den Lehrgang, und man wusch mir das Gehirn. Aber nicht genug, bei weitem nicht genug. Es blieb noch eine Menge drin, viel mehr, als ich gebrauchen konnte – doch sie hatten es eben verdammt eilig. Damals war alles eilig. Es hieß, Ordnung zu schaffen, die Konsolidierung voranzubringen, das Vaterland zu retten, den Widerstand zu liquidieren – und es sah aus, als läge das alles auf unseren Schultern. «Das kommt alles mit der Praxis», wurde immer wieder gesagt, wenn einem etwas Kopfschmerzen machte. Hol mich der Teufel, – 17 –
wenn ich da auch nur irgend etwas gelernt habe. Doch der Job interessierte mich. Und noch mehr die Bezahlung. Ich kam in die Gruppe von Diaz (dem Diaz, nach dem jetzt vergeblich gefahndet wird). Wir waren zu dritt: Diaz, der Chef (ich kann jedem versichern, daß man ihn niemals finden wird), Rodriguez (der bereits zum Tode verurteilt worden ist: nur zu einem einzigen, dabei hätte der Lump hundert Tode verdient) und ich, der Neue. Und natürlich Hilfspersonal, Geld, weitreichende Befugnisse und eine unbegrenzte Technik, über die ein einfacher Bulle nicht einmal etwas zu lesen gewagt hätte, um sich nicht zu weit in sie einzuleben. Und dann ging bald der Fall Salinas los. Allzufrüh, verdammt früh. Gerade zu der Zeit meiner stärksten Kopfschmerzen. Doch er ging nun mal los, und es war nichts zu machen: Ich werde mich nie wieder von ihm befreien können. Ich muß ihn also erzählen, um ein Zeugnis zu hinterlassen, bevor ich abtrete … bevor man mich hinüberschickt. Doch lassen wir das: das beschäftigt mich jetzt am allerwenigsten. Ich war immer darauf gefaßt. Unser Beruf ist riskant, wenn du einmal damit angefangen hast, bleibt – 18 –
nur noch die Flucht nach vorn – wie Diaz sich auszudrücken pflegte (Sie wissen ja: der, nach dem vergeblich gefahndet wird). Wie hat es eigentlich angefangen? Und wann? Erst jetzt, da ich meine Erinnerungen ordne, merke ich, wie schwer es für mich ist, die ersten Monate des Sieges heraufzubeschwören: und nicht nur wegen der Salinas. Nun ja, den Tag des Triumphs hatten wir auf jeden Fall schon lange hinter uns, soviel steht fest – o ja, schon ziemlich lange. Die Straßentransparente hingen bereits langsam durch und verschlissen, die Triumphlosungen waren verwaschen, die Fahnen erschlafft, die Lautsprecher auf den Straßen röchelten die Märsche nur noch heiser. Ja, so sah ich es am Morgen, jedesmal, wenn ich die Stadt durchquerte, von zu Hause bis zu dem uns allen wohlbekannten klassischen Palais, in dem das Corps sich etabliert hatte. Am Abend nahm ich davon überhaupt nichts wahr. Nein, abends spürte ich nur noch die Kopfschmerzen, die ich von alldem hatte. Zu dieser Zeit kamen viele unangenehme Dinge auf uns zu. Der Honigmond war vorbei: Die Bevölkerung war gereizt. Auch der Oberst. Und zu allem – 19 –
Überfluß bekamen wir Wind von dem geplanten Attentat. Wir mußten es verhindern – oder hätten es zumindest verhindern müssen, mit allen Mitteln: das verlangten der Oberst und das Vaterland von uns. Diese verfluchte Gereiztheit und die Hektik, die damit einherging, waren an allem schuld. Rodriguez legte los, und Diaz – der immer besonnene und mäßigend wirkende Diaz – hatte kein Wort mehr dagegen. Erst da fing ich eigentlich an zu erkennen, wo ich war und worauf ich mich eingelassen hatte. Wie gesagt, ich war noch neu. Bis dahin hatte ich dort eher nur so herumgelungert. Ich versuchte, mich zurechtzufinden und in meine Rolle einzuleben, um tun zu können, was ich tun mußte. Ich bin ein ehrlicher Bulle, war es immer und nehme die Arbeit ernst. Ich wußte natürlich, daß beim Corps andere Maßstäbe herrschten – doch ich glaubte, daß es immerhin Maßstäbe gab. Nun ja, es gab sie nicht, und da ging es mit meinen Kopfschmerzen los. Denken Sie nicht, daß ich mich herausrede. Mir kann es inzwischen wirklich egal sein. Aber es ist nun mal die Wahrheit: Man glaubt, die Ereignisse schlau an der Kandare zu haben, und auf einmal – 20 –
will man nur noch wissen, wo zum Teufel sie mit einem hingaloppieren. Mich irritierte vor allem dieser Rodriguez. Das wurde für mich langsam zur Manie. Ich wollte mit ihm klarkommen, ihn durchschauen, begreifen, wie … ja, so wie Salinas seinen Sohn. Natürlich anders, aber mit dem gleichen Forscherdrang. Eines Tages sage ich zu ihm: «Du, Rodriguez. Warum machst du das?» «Was?» fragt er. «Du Sauhund!» sage ich vertraulich zu ihm. «Was heißt hier was …?!» «Ach so», sagt er und feixt. «Hör mal», fuhr ich fort. «Wir liquidieren, schlagen zu, spüren auf und verhören: das ist in Ordnung, das ist unser Job. Doch warum haßt du sie?» «Weil es Juden sind!» platzt er heraus. Ich war so verblüfft, daß ich fast meine Zigarette verschluckt hätte. Ich dachte, ihm sei das Buch aufs Gemüt geschlagen, das er damals ständig wälzte und das ich auch jetzt wieder in seiner Hand sah. Hätten Sie gedacht, daß Rodriguez Englisch konnte? Dabei muß er es gekonnt haben, denn das Buch war in englischer Sprache geschrieben, eine amerikanische Ausgabe – 21 –
– irgend so eine verdammte Schmuggelware. Wer weiß, wie er dazu gekommen ist: Vielleicht hatte er es bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt. Von dem schreienden Titel verstand ich nur ein einziges Wort: «Auschwitz». Obwohl das kein englisches Wort ist, sondern ein Ortsname. Natürlich hat man schon davon gehört: Es ist lange her und auch weit weg von hier, irgendwo in dem elenden Europa, in dessen östlichem Teil. Der Teufel soll mich holen, wenn ich verstanden hätte, was wir damit zu tun haben und was das hier soll. «Du Bestie», sage ich, «wo es doch in diesem ganzen großen Land höchstens ein paar hundert oder tausend Juden gibt, wenn überhaupt!» «Das ist mir egal», sagt er. «Wer etwas anderes will, der ist Jude. Warum sollte er sonst etwas anderes wollen?!» Ich starrte ihn nur an. Rodriguez besaß Logik, soviel steht fest. Aber wenn man seine Logik einmal in Gang gesetzt hatte, gab es kein Halten mehr. «Warum?!» brüllte er mich an. «Warum sind sie dagegen?!» «Weil es Juden sind», versuchte ich ihn zu besänftigen. Ich sah, daß sein Blutdruck anstieg. Ich – 22 –
hatte genug von ihm. Und – so seltsam es ist, denn schließlich bin ich ja Polizist, Mitglied des Corps – ich erschrak vor ihm. Seine Augen funkelten nur so. Rodriguez hatte die Augen eines Panthers. Bei Gott, verstehen Sie das bloß nicht positiv. Er hatte einfach nur gelbe Augen, mit länglichen Pupillen, genau wie diese stinkenden, aasfressenden Katzen. Doch ich versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. «Warum sind sie dagegen?!» Er packte mich an der Hemdbrust. «Wir wollen das Beste für sie, wollen sie aus dem Dreck ziehen, wollen die Ordnung für sie, damit wir stolz auf sie sein können!» – Ja, so hat er es gesagt: «damit wir stolz auf sie sein können!» Mir blieb der Mund offenstehen. «Und trotzdem wollen sie die Ordnung nicht.» Er zerrte weiter an meinem Hemd. «Trotzdem leisten sie Widerstand: Warum?! … Warum?!» Tja, das war eine verzwickte Frage für mich. In der Tat: warum? Ich wußte es nicht. Ich weiß es auch jetzt nicht. Ganz und gar nicht. Ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht. Ich habe nie über die Beweggründe nachgedacht, mir genügte es, daß es auf der einen Seite Kriminelle und auf der anderen Seite Strafverfolger gibt. Und was mich – 23 –
angeht, ich gehöre zu den letzteren. Bei der Kripo reicht das völlig, es hätte auch keinen Sinn gehabt, mich mit Spekulationen abzuplagen. Aber bei denen vom Corps war die Lage natürlich anders. Da brauchte man Philosophie, wie Diaz sagte. Oder eine moralische Weltanschauung, wie sie in dem Kurs gelehrt wurde. Und ich verfügte weder über das eine noch das andere. Die von Rodriguez gefiel mir ganz und gar nicht, und die von Diaz verstand ich nicht ganz. Mag sein, daß er sie selbst nicht so ernst meinte. In solchen Dingen konnte man bei ihm nie ganz sicher sein. Noch dazu, da sie ein bißchen verblüffend klang, dabei war Diaz so ein ernster Mann. Ernst und besonnen. Phantastereien paßten nicht zu ihm. Eines Tages blätterte er in irgendwelchen beschlagnahmten Schriften, dem üblichen revolutionären Wischiwaschi, in einem Mundwinkel die Zigarre, im anderen sein unvergleichliches Lächeln. «Idioten!» rief er plötzlich aus und schlug mit der ganzen Hand auf das Schriftstück. «Ich glaube nur an eine ernsthafte Revolution, und das ist die Revolution der Cops!» «Genau!» sagte Rodriguez und blökte. – 24 –
«Rindvieh», sagte Diaz leise zu ihm. Es war nichts dabei, so redete er immer. Doch diesmal sah er wütend aus, sofern man Diaz überhaupt je etwas ansehen konnte. Und ein andermal – ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlaß – sagt er unvermittelt: «Die Visage der Welt wäre eine andere, wenn wir, die Cops, zusammenhielten.» Ich werfe ein: «Na ja, wir halten doch zusammen, oder nicht?» «Nicht nur hier bei uns, sondern in der ganzen Welt», brummelt er weiter. «Meinst du», frage ich, «in allen Staaten?» «Ja», sagt Diaz, seine Beine elegant übereinandergeschlagen, den etwas kurzen, stämmigen Oberkörper im Armstuhl schaukelnd, das glatte, ölige Gesicht in geheimnisvollen Zigarrenqualm gehüllt. Es war gegen Nachmittag, wir machten gerade eine kleine Pause, die Stimmung schien mir günstig zu sein. Man unterhält sich dann schon gern einmal, sogar mit seinem Chef. «Du meinst, auch die Cops der feindlichen Staaten?» bohrte ich weiter. Da hob er den Finger: – 25 –
«Cops», sagte er, «sind sich nie und nirgends feind.» – Mehr konnte ich dann nicht aus ihm herauskriegen, so gut der Nachmittag auch immer war. Letzten Endes weiß ich gar nicht, ob er wirklich an seine Idee geglaubt hat. Inzwischen neige ich eher zu der Vermutung, er glaubte daran. Man muß an etwas glauben, um so hundsgemein zu sein. Auf jeden Fall kam er oft darauf zurück. Nie ganz ernsthaft, immer nur auf seine zweideutige Art, aber ich bin ja schließlich nicht Polizist, um zu wissen, wie so etwas zu deuten ist. Nur daß mir das äußerst wenig half. Tatsache ist, daß ich mich damals öfters dabei ertappte, wie ich stotterte. Andermal mischte ich so blöde Wörter in meine Rede wie «Dingsda», «also», «wie soll ich sagen» und dergleichen, was eigentlich nie meine Art war. Das wäre ja auch noch schöner! Stellen Sie sich nur vor: ein Cop, der stottert, verlegen mit den Händen herumnestelt und Halbsätze stammelt. Ich habe es mir auch bald wieder abgewöhnt. Dann lieber Kopfschmerzen. Na ja, es stellte sich dann bald heraus, was Rodriguez aus dem Buch gelernt hatte. Eines schönen Tages – 26 –
tauchte auf seinem Tisch diese Figur auf. Es war eine kleine Skulptur, so etwa zehn, fünfzehn Zentimeter hoch, nicht größer als ein Briefbeschwerer. Aber man konnte trotzdem alles gut daran erkennen, gut und genau. Von da an behielt Rodriguez diese Figur immer auf seinem Tisch. Bald war auch eine Nachbildung davon fertig: kein Modell mehr, sondern ein richtiges Gestell, etwa anderthalb Meter groß. Rodriguez ließ es von seinem Gehilfen im Nebenraum aufstellen. Diesen Menschen hatte er unter den Unteroffizieren entdeckt, und ich muß sagen, er hatte gut gewählt: Wer einmal in diese Affenfratze geblickt hat, dem blieben keine großen Zweifel mehr, das steht fest. Ansonsten war er stumm wie ein Haifisch und diensteifrig wie ein abgerichteter Gorilla. Der Kragen seines Soldatenhemds stand immer offen, die Ärmel waren auf seinen behaarten Armen stets bis zum Ellenbogen aufgekrempelt, und er stank nur so nach Schweiß, Schnaps und allem möglichen Dreck. Jener Raum war unser Reich. Rodriguez nannte ihn «mein Atelier». Ich spreche nicht gern darüber, aber es ist nun mal unvermeidbar. Der Teufel hole mich, wenn mich das interessiert. Es hat mich auch noch nie interessiert. – 27 –
Und trotzdem werde ich jetzt dauernd danach gefragt. Nämlich von meinen Untersuchungsrichtern. Es nützt nichts zu erklären, daß ich es sogar vermieden habe, in die Nähe dieses verdammten Zimmers zu kommen. «Also», faucht es mir vom Podest entgegen, «Sie behaupten, nichts davon gewußt zu haben, was sich in dem als Atelier bezeichneten Raum abspielte?!» Kein Schwein behauptet das. «Ich habe nur gesagt, Herr Staatsanwalt, daß ich nicht in den Raum hineingegangen bin.» – «So», trumpft er daraufhin auf. «Und was sagen Sie zu der Behauptung des Zeugen Quintieros, er habe Sie wiederholt in dem sogenannten Atelier gesehen?» Tja, wenn der Herr Zeuge es gesehen hat, dann war es wohl offensichtlich so. Diese Klugscheißer! Als wäre es mir nicht scheißegal, ob ich jemals dort hineingegangen bin oder nicht. Aber was erwarte ich denn auch: Großzügigkeit? Es ist ja schon viel von ihnen, daß sie mich wenigstens in meiner Zelle schreiben lassen. Wir haben das zum Beispiel nie erlaubt. Es wäre gegen das Reglement gewesen. Kurzum, wie ich schon sagte, auf dem Schreibtisch von Rodriguez war diese Figur aufgetaucht. Ein Skulpteur hatte sie für ihn angefertigt, einer von de– 28 –
nen da unten: Es gab alle möglichen Häftlinge bei uns, warum hätte es da ausgerechnet keinen Skulpteur geben sollen? Dieser Skulpteur war allerdings in Wirklichkeit gar kein Skulpteur, sondern Steinmetz. Trotzdem hat er sie sehr gut hingekriegt. Wenn ich es richtig gesehen habe, hatte er Holz und irgendwelchen Kunststoff dafür benutzt. Die Skulptur bestand aus einem Sockel und zwei in Gabeln endenden Gestellen. Die Gabeln hielten eine Stange. Und diese Stange hielt eine kleine menschliche Figur, und zwar so, daß sie zwischen den angewinkelten Knien und den hinter den Knien gefesselten Handgelenken hindurchführte. Kurzum, es war ein atemberaubendes Machwerk. Diaz musterte es mürrisch. «Was soll das sein?» wollte er wissen. «Das? Die Boger-Schaukel», sagte Rodriguez darauf fast zärtlich. «Boger?» hakte Diaz nach. «Was ist das, Boger?» «So heißt der Kerl, der das erfunden hat», erklärte ihm Rodriguez. Er tippte mit dem Zeigefinger an den Kopf der Figur. Sie wirbelte ein paarmal im Kreis herum und baumelte dann – als der Schwung nachließ – nur noch so an der Stange, mit dem Kopf nach unten. Man sah die Schenkel, das grobgeschnitzte – 29 –
Gesäß und das, was dazwischen ist. Es war eine Männerfigur, das sei zur Ehre von Rodriguez gesagt. «Dieser Teil hier», er beschrieb mit seinem Finger einen kleinen Bogen darüber, «wird freigelegt. Du kannst damit machen, was du willst.» Er sah zu Diaz auf und feixte. So, als ob ich gar nicht da wäre. Zum Glück, denn ich hätte sicher wieder nur gestottert. Das wirft kein gutes Licht auf einen. «Oder», fuhr Rodriguez fort, «du kauerst dich hierhin, zu seiner Fratze, und fragst ihn, was du wissen willst.» Diaz brummelte. Er ging ein paarmal durch den Raum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Das war seine Angewohnheit, wenn er nachdachte oder wenn ihm etwas nicht gefiel. An dem Tag, als er abgehauen ist, hat er das den ganzen Vormittag gemacht. Zum Schluß war mir schon ganz schwindlig. Dann ließ er sich mit einem Oberschenkel auf Rodriguez’ Schreibtisch nieder. «Wozu zum Teufel brauchst du das?» fragt er ihn in väterlichem Ton. «Wir haben doch Spielzeug genug. Du drückst einfach nur auf den Knopf und schaltest den Strom ein. Das benutzt man inzwischen auf der ganzen Welt. Es ist sauber und bequem. Ist dir das nicht gut genug?» – 30 –
Nein, es war ihm nicht gut genug. Rodriguez war kein Anhänger der Technisierung. «Man hat dabei keinen direkten Kontakt», sagte er. «Wozu brauchst du den?» fragte Diaz. Aber er konnte Rodriguez nicht überzeugen. Der besaß seine Überzeugung schon. Rodriguez war ein gebildeter Mann, was ihn interessierte, dem ging er nach. «Mit Maschinen», sagte er, «gibt es soviel Gefummel. Das Ganze ist rein mechanisch. Man könnte sogar einen weißen Kittel dabei anlegen, wie ein Ingenieur oder Arzt. Es gibt so viele Übertragungen, als würde man die Sache gar nicht persönlich, sondern übers Telefon abwickeln. Der Delinquent sieht nicht, daß man dabei guter Laune ist. Das aber», so Rodriguez, «ist gerade das Geheimnis der Wirkung.» Ich habe ja schon gesagt: ich spreche nicht gern darüber. Auch damals habe ich nichts dazu gesagt. Nicht zuletzt deshalb, weil ich noch neu war. Na ja, und dann hatte ich Angst vor dem Stottern und den Füllwörtern. Meine Meinung sagte ich Diaz erst, als Rodriguez schon aus dem Zimmer gegangen war, um nach den Arbeiten zu schauen: Drüben wurde bereits das Gerüst gezimmert. «Schwein!» sagte ich. – 31 –
«Ja», nickte Diaz überzeugt, während er zerstreut die kleine Figur drehte, «Schwein. Ratte. Blutsauger.» Er schwieg. Wir schwiegen alle beide. Das elende Figürchen baumelte bewegungslos zwischen uns, mit dem Kopf nach unten. «Und du», er richtet den Blick plötzlich auf mich, «warum machst du dir die Hosen voll, Kleiner?» Diaz konnte unangenehm dreinschauen, obwohl er besonnene, tiefbraune Augen hatte und gar nichts Besonderes damit anstellte. Ich meine, er kniff sie nicht zusammen, er blinzelte nicht, er starrte nicht, er blickte einen ganz einfach an. Und trotzdem war es unangenehm. «Ich?» frage ich. «Ich mache mir gar nicht die Hosen voll. Nur, also … wie soll ich sagen … wir gehen ein bißchen zu weit.» «Zu weit, zu weit», nickt er. «Tja, unsere Arbeit ist eben zu weit», fügte er hinzu. «Klar, klar», sage ich. «Nur … wie soll ich sagen … also eigentlich dachte ich, wir dienen hier dem Gesetz.» «Der Macht, mein Kleiner», korrigiert mich Diaz. Ich kriegte langsam Kopfschmerzen. Interessant, daß es eigentlich an Diaz lag, nicht an Rodriguez. – 32 –
«Ich dachte bisher, beides sei das gleiche.» «Nun ja», räumte Diaz ein. «Man darf nur die Reihenfolge nicht vergessen.» «Was für eine Reihenfolge?» frage ich. «Erst die Macht und dann das Gesetz», sagt darauf Diaz mit seinem unvergleichlichen Lächeln, still. So stand es also bei uns, als wir uns entscheiden mußten, ob wir Enrique Salinas festnehmen oder uns mit seiner Beobachtung begnügen sollten. Nein. In meinem Kopf verwirren und verflechten die Ereignisse sich langsam miteinander: die Fäden der Ermittlung, die ich als Ermittlungsbeamter zum Teil in meinen Händen hielt, die Vernehmungen, Enriques Tagebuch, die langen Gespräche, die ich mit ihm und Salinas senior, seinem Vater, diesem zu allem entschlossenen Fuchs, unter dem Vorwand der Ergänzung der Verhöre führte, die Mitschnitte von den Unterhaltungen der beiden im Gefängnis, nun und schließlich meine unausgesprochenen Gedanken über das alles, die die Sache in mir später derart durcheinanderbrachten, daß es mir – fürchte ich – schwerer fallen wird, sie zu erzählen, als ich anfangs dachte. – 33 –
In dieser Zeit hatten wir für Enrique erst eine Akte angelegt. Wir wußten schon von ihm. Er war eine abstrakte Eintragung in unserem Register, und wir wußten, daß er früher oder später auch persönlich in Erscheinung treten mußte. Wir sprachen nicht von ihm – es gab nichts von ihm zu sprechen –, wir wußten lediglich von ihm. Wir warteten geduldig ab, ohne darüber nachzudenken, daß wir warteten: Ich sagte ja schon, wir hatten um diese Zeit viel zu tun. Wir mußten das Attentat verhindern. Ob sein Fall vielleicht zufällig in den gerade angelaufenen Fall des Attentats oder etwas anderes einzufügen war, war uns wirklich völlig egal. Aus der registrierten Person würde früher oder später eine verdächtigte Person werden, das stand außer Zweifel. Das war genauso sicher wie die Tatsache, daß ich jetzt hier sitze und in meiner Zelle schreibe, bis ich … aber lassen wir das. Mein Urteil ist noch nicht gefällt, und auch wenn es gefällt ist, läßt man mir danach noch etwas Zeit. Wenn nicht länger, so doch wenigstens bis zur Berufung. Ich weiß ja, wie so was läuft. Kurzum, unsere Datei wußte schon, daß Enrique früher oder später etwas anstellen würde. Sein Schicksal war bei uns bereits entschieden. Er selbst – 34 –
aber hatte sich noch nicht entschieden. Er zögerte, zog die Zeit hin. Streifte durch die Straßen oder schrieb an seinem Tagebuch, raste mit seinem zweisitzigen Alfa Romeo durch die Gegend, suchte Freunde oder kroch zu einem Kätzchen mit seidenweichem Fell ins Bett, wenn er gerade Lust dazu hatte. Enrique Salinas war jung, erst zweiundzwanzig Jahre alt, sein langes Haar, sein Schnurrbärtchen und sein kleiner Stoppelbart machten ihn in unseren Augen schon von vornherein verdächtig. Er brütete vor sich hin, raste herum und machte Liebe. Zu Hause verbrachte er wenig Zeit. Maria aber stand am Fenster und wartete. Nicht daß sie aus dem achtzehnten Stock des Salinas-Palastes viel gesehen hätte. Das wogende Treiben auf dem Großen Boulevard erscheint von dort wie Ameisengewimmel. Doch Maria – Maria Salinas, Enriques Mutter – verbrachte damals dennoch ihre ganze Zeit am Fenster. Dort fand sie Salinas, als er, aus dem Büro zurückgekehrt, durch die luxuriösen Zimmer ihrer Wohnung ging, um Maria zu suchen. Er blieb stumm hinter ihr stehen. «Ich habe Angst», hört er Maria nach einer Weile sagen. – 35 –
«Wir haben keinen Grund zur Angst, Maria», entgegnet er. Sie schweigen. «Hernandez ist verschwunden. Martino wurde hingerichtet. Vera aus ihrer Wohnung geholt», zählt Maria auf, ohne sich umzudrehen. «Wir gehören nicht zu denen, die geholt werden», sagt er und faßt sie um die Schultern. Maria beruhigt sich ein wenig. Von Salinas’ Arm geht Kraft aus. Kraft, Überlegenheit und Sicherheit. Dieser Salinas war ein mit allen Wassern gewaschener alter Fuchs, obwohl Sie sich ihn nicht alt vorstellen dürfen. Und er sah sogar noch jünger aus, als er in Wirklichkeit war. Er war fünfzig. In gewisser Hinsicht das beste Alter. «Sieh», vernimmt er von neuem die erregte Stimme Marias, «sieh mal da, Federigo!» Sie zeigt auf die Straße. Sie mochte dort eine schwarze Limousine erblickt haben, einen geschlossenen Wagen, einen der beiden, die zu unserer Abteilung gehörten. Es kam vor, daß wir plötzlich zu tun hatten auf dem Großen Boulevard. «Komm vom Fenster weg, Maria!» sagt Salinas entschieden. Glauben Sie nicht, daß ich mir diese Gespräche – 36 –
nur so ausdenke. Natürlich war ich nicht dabei, wie sollte ich auch. Aber sie gelangten zu mir. Ich sah sie und ich hörte sie. Ich sah sie und verhörte sie. Ich habe Protokolle über ihre Aussagen geführt. Bis diese Protokolle dann auf einmal mich zu führen begannen. Auch Maria haben wir verhört, wie hätte ich sie auch nicht verhören sollen. Es war übrigens Diaz’ Wunsch. Ich sträubte mich dagegen, weil ich keinen Sinn darin sah. Diaz aber bestand darauf, also habe ich sie verhört. Ich verhörte sie einmal und dann noch ein paarmal, wie es Diaz wünschte. Maria war eine schöne Frau, schlank, gepflegt und elegant. Sie ließ ihr dunkles Haar ungefärbt und hatte auch allen Grund dazu. Die paar grauen Haare, die darin schimmerten, verstärkten seinen Glanz nur noch. Maria war achtundvierzig, und man konnte sich immer noch in sie verlieben, so wahr ich hier sitze. Was für Augen! Ich klebte an ihnen wie eine Fliege am Papier. Fast hatte ich schon das Gefühl, sie würde mich verhören und nicht umgekehrt. Doch dann bemerkte ich die Angst in diesen Augen. Das stellte wenigstens die Ordnung zwischen uns wieder her, wenn ich mich auch nicht beruhigen konnte. – 37 –
Nein, wenn so eine Frau Angst hat, das erschreckt einen. Wir konnten nichts von ihr erfahren, und das war uns allen klar gewesen. Ich mag keine sinnlose Arbeit. Das habe ich Diaz auch gesagt, wie ich oben schon erwähnte. «Das hat keinen Sinn. Die Frau würde ich aus der Sache herauslassen», sagte ich zu ihm. «Das geht nicht. Sie wäre beleidigt», winkte er ab. Diaz konnte mitunter verdammt geistreich sein. Auch diese Bemerkung schrieb ich damals seiner geistreichen Art zu. Es war jedoch anders – aber ich habe ja schon gesagt, ich war neu, ich konnte mir noch nicht über alle Feinheiten unserer Arbeit im klaren sein. Maria Salinas mußte leben, um zu trauern und unseren Ruf zu verbreiten. Niemand blieb ohne Rolle in diesem Spiel, und das war ihre Rolle. Wir paßten also auf sie auf wie auf ein rohes Ei. Sie kriegte ganz formelle Verhöre, mit höflichen Fragen und taktvollem Warten. Wie bei einer Visite in der Klinik. Von jedem dieser Verhöre zeugt ein ordentliches Protokoll. Das war wichtig, es bewies die tadellose Legalität unserer Sachbearbeitung. Mit Salinas konnte ich schon ungezwungener re– 38 –
den. Mit der Zeit – nachdem wir seinen Fall schon als abgeschlossen betrachten konnten – gelang es mir, sein Vertrauen zu erwerben. Später freute er sich sogar über diese Gespräche. Und das ist verständlich, denn dabei konnte er Dinge heraufbeschwören, die ihm einmal lieb gewesen waren. Er konnte dadurch einzelne Momente seines Lebens neu durchleben und über sein Unglück nachdenken. Und ich konnte darüber vergessen, wer ich eigentlich war – sein Fall war ja abgeschlossen –, und ihm als treuer Zeuge lauschen, wie ein andächtiger Schüler. Ich weiß also sehr wohl, worüber sie gesprochen haben, besser, als wenn ich dabeigewesen wäre. «Federigo … wie lange kann das Ganze noch dauern?» fragt Maria. «Das sagt der Name: Ausnahmezustand», antwortet Salinas. Er hat die Sache ein wenig satt. All das hat er schon hundertmal gesagt, doch wenn es sein muß, sagt er es noch hundertmal. Er steckt sich eine Zigarette an. Salinas rauchte aromatische Zigaretten, er fand bei allen Dingen an guten Marken Geschmack. Und er konnte sie sich leisten. «Also nicht mehr lange», bohrt Maria weiter. Diesmal bekommt sie keine Antwort. «Nicht mehr – 39 –
lange», bedrängt sie Salinas, «stimmt’s, Federigo, nicht mehr lange?!» «Ja», sagt Salinas beruhigend. «Das ist immer so, ich könnte dir so viele Beispiele nennen. Sie kommen und gehen. Je übler, desto schneller.» Er legt eine Pause ein. «Man muß es nur überleben», sagt er dann. «Und wir haben jede Chance dazu, Maria», fügt er noch lächelnd hinzu. Das war ein guter Spruch für den häuslichen Gebrauch, und Salinas hatte ihn bereits sorgfältig in allen Einzelheiten ausgefeilt. Auch Maria weiß, was folgt: «Wenn wir außerhalb der beiden Kreise stehen», sagt sie, als läse sie das Brevier. «So ist es», nickt Salinas unerschütterlich. «Des der Verfolger und des der Verfolgten.» «So einfach ist das, Federigo?» fragt Maria. Die Frage kommt unerwartet, sie paßt nicht in die Spielregeln. Salinas wirft einen raschen, mißtrauischen Blick auf seine Frau. Er muß nachdenken. «Nein», sagt er dann vorsichtig. «Die Kreise vergrößern sich doch offensichtlich.» «Wie Wasserringe», sagt Maria. – 40 –
«So kann man es auch sagen», räumt Salinas geschmeidig ein. Er wartet. Nichts geschieht. Maria hat sich mit dem Vergleich zufriedengegeben. Salinas beruhigt sich. «Alles kommt auf die Zeit an», bemerkt er noch. «Und auf das Tempo der Ereignisse», sagt Maria. «Natürlich», nickt Salinas. Sie befinden sich wieder in Übereinstimmung. So spielen sie das neuerdings jeden Abend. Es ist ein heikles Spiel, man muß auf die Regeln achtgeben. «Ich ersticke!» sagt Maria auf einmal. «Nein, du ringst nur nach Atem», tröstet Salinas sie. «Wie ich auch, wie jeder.» Plötzlich ist er nervös. Jetzt aber wirklich nervös. «Schau nicht auf die Uhr», fährt er seine Frau an, «er wird nach Hause kommen.» Dann schweigen sie. Jeder nimmt in einem Armstuhl Platz. Salinas läßt aromatische Rauchschwaden aufsteigen. Er hat die langen, muskulösen Beine ausgestreckt, die schwarzen Lackschuhe schimmern im Dämmerlicht. Er öffnet die Knöpfe seines tadellosen Anzugs, lockert die modische Krawatte. – 41 –
Maria sitzt gerade aufgerichtet, die Hände ruhen im Schoß. Und sie warten. Alle beide warten sie auf Enrique. Auf Enrique, der bereits in unser Register aufgenommen war, warten sie, so bange, als sei es ihr Verhängnis. Vor mir liegt Enriques Tagebuch. Ich blättere darin herum. Die Seiten sind mir wohlvertraut, die manchmal unlesbaren Zeilen habe ich längst entziffert. Das Buch beschlagnahmten wir bei der Hausdurchsuchung, und nach Enriques Tod brachte ich es an mich. Auch hierher habe ich es mitgebracht. Man hat keine besonderen Schwierigkeiten gemacht. Ich sagte ihnen, ich wolle meine Erinnerungen schreiben und brauchte das Heft dazu. Man hat es untersucht, wie es sich gehört, und mir dann ausgehändigt. Ich habe es wirklich gut hier, ich kann mich nicht beklagen. Wie gesagt, solche Wünsche hätten bei uns kaum Gehör gefunden, wie sich die Klugscheißer ausdrücken würden, die diese Vorschriften machen. Ich habe ihnen gesagt, daß das Tagebuch mir gehört. Und in gewisser Weise habe ich auch nicht gelogen: denn ich habe es ja erworben. – 42 –
Gut, daß es bei mir ist. Es war klug von mir, es zu erwerben. Ich weiß bis heute nicht, was zum Teufel mich damals dazu gebracht hat. Ich habe es mir einfach deswegen beschafft, weil mir die Vorstellung unmöglich erschien, daß es anderswo ist. Es mußte bei mir sein. Also habe ich es dem Boß unseres Geheimarchivs, der solche Depots verwaltete, abgehandelt. Ich kam schnell mit ihm ins Geschäft, weil ich seine Schwäche kannte und ihm zufällig meinerseits helfen konnte. Bei bestimmten alkoholischen Markengetränken war damals nämlich ein Engpaß entstanden, wegen irgendwelcher gewöhnlichen Streitigkeiten in Sachen gegenseitiger Zollbegünstigungen und aus Devisengründen. Sie erinnern sich bestimmt an diese trockenen Monate. Er hat nicht viel verlangt, ich hätte für Enriques Tagebuch sogar das Fünffache aufgebracht. Das konnte er zum Glück nicht wissen. Die notwendigen Korrekturen in den Unterlagen hat er dann selbst durchgeführt. Sie wundern sich? Wieso? Ich kenne noch viel schönere Geschichten, wenn ich einmal loslegen würde, käme ich nie ans Ende. Soviel ist bei uns passiert. Auch beim Corps arbeiteten schließlich – 43 –
nur Menschen. Und Menschen sind überall nur Menschen, egal, was für Menschen sie auch sonst sein mögen. Enrique begann dieses Tagebuch zu führen, als die Universität geschlossen wurde. Das heißt, nach dem Tag des Triumphs. Ich schlage eine Seite auf: «Von meinen Tagen zu berichten: unmöglich. Von Plänen: es gibt keine. Sie haben meine Hoffnungen zerstört, meine Zukunft zerstört, sie haben alles zerstört. Halunken.» Ich blättere weiter. «Ich existiere. Ist das noch Leben? Nein, nur Vegetieren. Es scheint, auf die Philosophie des Existentialismus kann nur noch eine Philosophie folgen: die des Nicht-Existentialismus. Das heißt, die Philosophie der Existenz in der Nichtexistenz.» Ich gebe zu, das ist zum Beispiel ein bißchen zu hoch für mich. Ich verstehe nichts von Philosophie. Vielleicht klingt es komisch, aber mit Enrique habe ich manchmal genauso meine Schwierigkeiten, wie ich sie mit Diaz hatte: Ich kann ihm nicht folgen. In gewisser Hinsicht macht auch er mir Kopf– 44 –
schmerzen. Natürlich andere Kopfschmerzen, völlig andere. Ich blättere um. «Nichtexistenz. Die Gesellschaft der Nichtexistierenden. Gestern ist mir auf der Straße ein nichtexistierender Mensch mit seinem nichtexistierenden Fuß auf den Fuß getreten. Ich ging in der Stadt spazieren. Es war höllisch heiß. Um mich herum der übliche abendliche Lärm. Auf dem Bürgersteig Liebespaare und Leute, die zu den Kinos und Unterhaltungslokalen drängten. Als wäre gar nichts passiert, überhaupt nichts. Sie leben ihr nichtexistierendes Leben. Oder vielleicht existieren sie und ich nicht? Jeder zweite Kerl schien irgend etwas auf der Straße zu suchen. Überall sind hier diese Bullenfratzen, lauschen, schnüffeln und glauben, daß sich niemand um sie kümmert. Und das stimmt, die Leute kümmern sich auch nicht um sie. Diese paar Monate haben gereicht, und schon haben sie sich an sie gewöhnt. Ich kehrte in eine Cafeteria ein. Ließ mich auf der Terrasse niederfallen. Ich schnaufte vor Wut, vor Hitze und Ohnmacht. Die Terrasse war überfüllt, ein Panoptikum von Kleinbürgern. Sie schwatzten über Geschäft, Mode und Vergnügen. Eine Frau – 45 –
kreischte unentwegt vor Lachen. Das Parfüm der Frauen vermengte sich mit dem klebrigen Geruch der aufgeschwemmten, fetten Leiber. Rechts von mir ein dunkelhäutiger Typ mit schwarzgerahmter Brille, das ölige, kurze schwarze Haar auf amerikanische Art nach hinten gekämmt, sein fleischiges Gesicht vor den Ohren mumpsartig aufgequollen. Sein Mund schmatzte und bewegte sich in einem fort, als würde er Selbstgespräche führen oder Bonbons lutschen. Doch dann bemerkte ich, daß er nur bemüht war, mit seinem zu groß geratenen Gebiß zu irgendeinem Kompromiß zu kommen, einen Modus vivendi zu finden. Auch seine Frau war dabei, eine verwelkte Schönheit. Später gesellte sich ein glatzköpfiger Kerl zu ihnen, ebenfalls mit seiner Frau sowie einem farblosen jungen Mann, augenscheinlich der Sohn des Glatzkopfs. Ich hörte unverfroren zu. Der Junge fand es bald an der Zeit zu bemerken, es sei ein heißer Tag gewesen. Der mit dem künstlichen Gebiß entgegnete darauf: ‹Egal, wie er gewesen ist. Hauptsache, wir haben ihn hinter uns.› Dann erklärte er plötzlich: ‹Auf uns wartet eh nur die braune Erde.› Verblüfft hob ich den Kopf: Sollte der etwa wissen, wo er lebt? Aber nein, ich war über– 46 –
zeugt, daß nur das künstliche Gebiß ihn so skeptisch gemacht hat. Unter- und Obergebiß waren wie zwei Kamelhufe (nebenbei, wenn ich es recht bedenke, ist das Kamel gar kein Huftier), die ihm in einem ausgefallenen und verrückten Moment in den Mund gerammt worden waren und die er nun für alle Zeiten dort tragen mußte, mit einer Art Trotz und grimmiger Entschlossenheit. Seine Frau, die verwelkte Schönheit, plapperte unaufhörlich mit ihrer glatten, affektierten Stimme. Freudig verbreitete sie die Neuigkeit, daß es schon Zulieferung vom Lande gäbe, und zählte auf, was auf dem Markt alles angeboten wurde. Auch die Frau des Glatzkopfs mischte sich ins Gespräch, und darauf auch der Glatzkopf. Sie waren sich darin einig, daß das Leben mit fortschreitender Konsolidierung besser würde. Erfreut stellten sie fest, im Geschäftsleben sei Bewegung zu beobachten. Die Bedingungen werden besser – so die Meinung des Glatzkopfs. Es kam zuversichtliche Stimmung auf. Man bestellte neue Erfrischungsgetränke. Ich hätte am liebsten eine Bombe zwischen sie geworfen.» Ich blättere weiter. «Mit den Jungs kann man nicht mehr reden, seit – 47 –
die Uni wegen des Aufruhrs geschlossen worden ist. Und ich weiß, daß sie irgend etwas treiben. Ich weiß, daß sie sich irgendwo treffen. Ich bin zum Strand gegangen, an die Blaue Küste. Dort waren sie. Ich wußte es. Ich versuchte, mit C. zu reden. Er lachte mich aus. Er sagte, sie seien zum Baden gekommen. Sie vertrauen mir nicht. Und all das wegen meines Vaters, nur weil ich sein Sohn und zufällig in sein Vermögen hineingeboren worden bin. Überall ausgeschlossen. Wie demütigend!» Ich blättere weiter. «Der Gedanke an Selbstmord kommt gegen Abend, fahrplanmäßig. Um die Zeit ist er am attraktivsten. Mit dem Sinken der Sonne wächst der Reiz, wie heiße Lymphe dringt er unter die Haut, erweicht meine Muskeln, versetzt meine Eingeweide in Aufruhr, zermürbt meine Knochen und erfüllt mich mit einem süßlichen Ekel, den zuzulassen eine widerwärtige Lust ist. Ich kann sie nur durch eines abwehren: durch die besorgte Liebe für meine Mutter. Und dadurch, daß es an Mitteln fehlt. Vaters Revolver: aber den bewahrt er im Panzerschrank. Ich habe es versäumt, mir einen eigenen zu beschaf– 48 –
fen: das ist neuerdings ziemlich schwer. Dabei ist es die vorteilhafteste Methode, weil sie praktisch und hygienisch ist, und wegen des unsäglich einfachen Knalls, nach dem ich mir eine tiefe Stille vorstelle und nichts weiter. Alles andere ist mit Arbeit und Mühe verbunden. Aufhängen: das Auswählen des Strickes, dann einer geeigneten Stelle an der Decke, dann das Binden und Ausprobieren des Knotens – und dann muß ich auch noch den Stuhl unter mir wegtreten! Schließlich der Knacks – und an dieser Stelle halte ich es bereits nicht mehr aus, mit welchem Anblick, mit welcher unvermeidlichen Unhöflichkeit ich dann den Augen meiner Lieben aufwarte. Meine arme Mutter! … Oder auf den Großen Boulevard hinunterspringen. Aber dieser Sturz, die Zeit, bis ich ankomme, das Bild, wie der Asphalt meinen Augen mit einem einzigen Ruck entgegenkommt, und dann dieser Aufschrei! – Vor Arzneimitteln aber ekelt es mich. Freilich, auch das Leben ist eine Art von Selbstmord: Sie hat nur den Nachteil, daß es schrecklich lange dauert.» Ich blättere weiter. «In bestimmten Fällen ist der Selbstmord inak– 49 –
zeptabel. Sozusagen Respektlosigkeit gegenüber den Elenden.» Nun sieh an. Ich gebe zu, bei diesen Zeilen füllen sich meine Augen immer mit irgendwas. Enrique war noch jung, sehr jung. Er brauchte für alles ein Argument. Selbst fürs Leben. So einer ist noch ein Kindskopf, kein Mann. Und trotzdem, wegen solcher Zeilen erschien es mir unerträglich, Enriques Tagebuch im Archiv verschimmeln zu lassen. Noch jetzt ist es mir ein Trost, daß ich es erworben habe. Ich blättere weiter. «Mein Leben kotzt mich an. Schluß machen mit dieser Untätigkeit, aus dem Schweigen heraustreten! … Ja, Schweigen ist Wahrheit. Aber eine Wahrheit, die stumm ist, und es werden diejenigen recht haben, die reden. Ich muß reden. Mehr als nur reden: ich muß handeln. Ich muß den Versuch wagen, ein Leben zu führen, das es wert ist, daß ich lebe.» Ich blättere weiter. «Der Unfall gestern. Ein weißes Auto raste vor meinen Augen gegen einen Motorradfahrer. Der Aufschrei. Man legte die Frau, die auf dem Rücksitz saß, auf die Bordsteinkante. Sie wurde von – 50 –
Menschen umringt. Ihr Blut floß auf der Fahrbahn langsam zu einer Pfütze zusammen. Heute morgen die hinkende Zeitungsverkäuferin. Sie hat eine Tochter, ein bildschönes Kind. Augenscheinlich ihre einzige Hoffnung. Sie kleidet sie über ihre Verhältnisse, überhäuft sie mit Süßigkeiten. Heute früh lief ihr das Mädchen davon und blieb etwas weiter weg im Verkehr stehen. Die Mutter rief nach ihm: Das Mädchen foppte sie von weitem, zeigte ihr eine lange Nase und schnitt Grimassen. Die hinkende Zeitungsverkäuferin lockte es ununterbrochen: ‹Komm her, meine Kleine, komm schön, iß deine Schokolade!› Schließlich stahl sich das Kind zu ihr heran. Als es in ihre Reichweite gelangt war, packte die Zeitungsverkäuferin das Kind und begann es zu prügeln. Mit der Verbissenheit der Krüppel und der Gnadenlosigkeit der in ihrer Hoffnung Betrogenen. Mich machen Grausamkeiten krank, obwohl sie heute bereits zu unserer normalen Weltordnung gehören. Und ich will noch handeln!» Ich blättere weiter. «Bin auf der Straße R. begegnet.» Ich blättere weiter. – 51 –
«R. und ich haben uns unterhalten. Eine mögliche Freundschaft? Merkwürdig, an der Uni haben wir uns kaum wahrgenommen.» Ich blättere weiter. «R. hat mich besucht. Er gab zu, daß er mich an der Uni gehaßt hat, daß er mich für so einen wohlhabenden und sorglosen Playboy hielt. Wir lachten gemeinsam darüber. R. ist arm. Er studiert mit einem Stipendium und muß im Sommer und in den Ferien arbeiten. Dann haben wir voreinander ausgepackt. Er denkt über das Ganze genauso wie ich. Aber seine Verbitterung ist noch größer. Vielleicht sogar ein bißchen zu groß. Doch das ist verständlich, denn er opfert ja auch mehr, um studieren zu können, und nun erweist sich alles als umsonst. Er gestand, große Angst zu haben. Dieses Gefühl verfolgt ihn ständig. Dennoch ist er zu allem bereit. Merkwürdig: Ich habe keine Angst, dennoch bin ich vorsichtig. Er sagt, man müsse irgend etwas unternehmen: Das würde ihn zwar nicht von der Angst befreien, doch endgültig zu etwas verpflichten. Ich fragte ihn, ob er irgend so etwas plane oder bereits für irgendwelche Leute arbeite. (Zu was für idiotischen Formulierungen man sich versteigt!) Er gab – 52 –
keine klare Antwort, lächelte nur zweideutig. Nicht einmal er vertraut mir. Das hat mich verbittert. Mutter fand R. übrigens nicht sympathisch. Ich fragte sie, warum. ‹Er hat komische Augen›, sagte sie. So ein Argument! Ich habe sehr darüber gelacht und sie geküßt.» Ich blättere weiter. «R. kam zu Besuch. Ich sagte ihm, daß ich bei einer vernünftigen Sache eventuell mitmachen würde. Er versprach nichts. Aber trotzdem war ich irgendwie erleichtert. Endlich habe ich mein bedrückendes Schweigen und meine Vorsicht durchbrochen. Nun weiß wenigstens schon jemand von mir: Ich bin nicht mehr so allein. Ich muß sein Vertrauen gewinnen. Bin sicher, daß er etwas macht.» Ich halte erst mal ein. Schlage das Tagebuch zu. Ich sitze da und denke nach. Über Enrique, diesen Kindskopf, den es so sehr nach Leben, Taten, nach Freundschaft und Liebe dürstete. Und über R. denke ich nach, bei dem er die unerwartete Möglichkeit zu einer Freundschaft zu sehen wähnte. Dieser R. war uns damals bereits wohlbekannt. Es – 53 –
war Ramón, die Bemerkung Marias schließt jeden Zweifel aus. Es war Ramón, ja, Ramón G. oder auch der Stahläugige genannt. Wie soll ich ihn charakterisieren? Stellen Sie sich einen Blutegel vor. Aber einen Blutegel, der zu schwärmen imstande ist – dann haben Sie Ramón. Irgend jemandem saugte er immer das Blut aus. Beständig, ausdauernd, andächtig. Er hatte die besondere Begabung, die Leute zum Reden zu bringen. Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wie er das gemacht hat. Aber an wen er sich mit seinem Saugnapf heftete, der begann fast augenblicks zu reden; als würde er seinem Opfer mit dem Speichel zugleich einen Impfstoff einspritzen. Ich glaube, solche Typen haben einen Trick: Sie erwecken mit irgend etwas das Interesse an ihrer Person, und dann verstummen sie sofort. Von da an schweigen sie nur. Nun, und sie haben natürlich immer Zeit. So jemand wirkt wie ein verlorener Bursche, den allein das Opfer retten kann, mit seinem Geschwafel, seinen Ratschlägen, häufig mit seinem Geld und manchmal mit seinem Körper. Beim letzteren war es, was Ramón angeht, fast egal, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, und beide zugleich – 54 –
mochte er besonders gern. Man könnte jedoch nicht sagen, daß er um jeden Preis darauf bestanden hätte. Ramón war anspruchslos und tarierte seine Möglichkeiten stets aus. Sobald er sich mit dem Blut von jemandem gesättigt hatte, fiel er von ihm ab und heftete sich an einen anderen. Dabei kostete er jedoch den Geschmack von all seinen vorherigen Beuten nach, und das neue Opfer erfuhr meist gern, daß sich der Bekanntenkreis Ramóns – der in der Regel teilweise identisch war mit seinem eigenen – aus lauter Idioten, moralischen Leichen oder niederträchtigen Charakteren zusammensetzte. Dann floß bei dem Opfer die Rede, um von sich selbst das gegenteilige Bild darzubieten. Und Ramón hörte ihm zu. Ermutigte es durch sein Schweigen, regte es mit seinem Verständnis an, kitzelte es mit seiner Ergebenheit oder Bewunderung, erhob es mit seiner eigenen Hilfsbedürftigkeit auf einen Sockel über sich. Und gab genau acht, seine starren, alles reflektierenden, unbewegten und ein wenig irren Augen mit gieriger Aufmerksamkeit auf sein Opfer gerichtet, während er bereits ans nächste dachte. Ramón war ein hübscher junger Mann, groß, hager, schwarzhaarig, und die lässigen Sportkla– 55 –
motten, in denen er sich meistens zeigte, standen ihm gut. Nur die Augen hatte Maria komisch gefunden. Nun, die Drogenleute beim Corps hätten dafür einen genaueren Ausdruck gehabt. So etwas nahmen wir damals ernst. Die moralische Existenz des Vaterlandes beruhte auf dem Gewissen des Corps. Darauf legte der Oberst Wert. Er wollte ein sauberes Volk sehen und saubere Seelen. Das gehörte ausnahmsweise zu den Äußerungen, die er sowohl im Parlament als beim Corps mit dem gleichen Nachdruck vernehmen ließ. Also haben wir hier und da immer mal zugeschlagen. Drogen wurden teurer. Ramón litt gerade Not, und daher waren seine Augen noch lechzender, noch stahlgrauer und leerer. Es war ihm nichts mehr geblieben als seine Verleumdungen, seine Angst, seine Hellsicht und seine Verbitterung. Es war alles wahr, was er Enrique erzählt hatte. Er bekam ein Stipendium, mußte in den Ferien arbeiten und war arm. Arm war er übrigens nicht deswegen, weil seine Eltern arm waren. Ramón war mit siebzehn von zu Hause durchgebrannt. Weiß – 56 –
der Teufel, wie er es machte, doch er hatte keine Vorstrafen. Aber wir haben schon über ihn erfahren, was wir wissen wollten. Er war mit Max durchgebrannt, einem weit und breit bekannten Schwulen, der unter Beruf «Philosoph» eintrug. Er war mit Max durchgebrannt und hatte sich herumgetrieben. Er trat einer Kommune bei, die Kunstgewerbeartikel produzierte. Sie spannen und webten, Männer und Frauen zusammen, nackt. Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was daran Spaß macht. Er verließ die Kommune und tat sich mit einem Mädchen zusammen. Er verließ das Mädchen und tat sich mit einer Frau zusammen, die zehn Jahre älter war als er. Er verließ die Frau … ich fahre nicht fort. Ramón war eine unruhige Natur, wie Sie sehen. Er suchte festen Boden unter den Füßen, denn er hatte Angst. Angst vor sich selbst und vor allen anderen. Angst vor der Gesellschaft, weil er, wie er sagte, deren mörderische Gesetze kannte. Und vor allem Angst vor den Cops, er fürchtete und haßte sie. Doch wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Ramón brauchte die Angst einfach. Der Teufel weiß warum, erwarten Sie keine Erklärung von mir. Ich verstehe nichts von der Seele, ich bin schließlich Bulle, das ist mein gelernter – 57 –
Beruf. Soviel kann ich jedoch sagen, daß so ein Typ bei uns nichts Besonderes war, davon gibt es genug. Sie haben Angst, um sich dann plötzlich gehenzulassen. Für sie ist jeder und alles gemein, damit sie selbst gemein sein können. Ansonsten ist jeder für sich ganz verschieden. Dieser Ramón studierte an der Universität. An der Universität hatte man keine Ahnung, was ihn betraf. Seine Prüfungen bestand er glänzend. Mit seinem Wissen verschaffte er sich Ansehen. Wickelte auf seine Art die Professoren ein. Er hörte ihnen zu, und sie erzählten ihm. Nur seine Augen … Doch davon habe ich schon gesprochen. Also nehmen Sie all das zusammen. So ein Mensch war dieser Ramón. Uns war er zufällig in die Hände geraten. Das heißt, es war ein Zufall, daß er uns gerade da in die Hände gefallen war. Er hätte uns auch ein andermal in die Hände fallen können. Aber daß er uns früher oder später auf jeden Fall in die Hände gefallen wäre, daran besteht für mich kein Zweifel. Diesmal lieferte den Anlaß das, was in Enriques Tagebuch als «Aufruhr an der Universität» auftaucht. Es ist kein allzu großer Aufruhr gewesen. Wir haben ein paar von den Lümmeln festgenommen, nie– 58 –
mand achtete besonders darauf. Es war nicht lange nach dem Tag des Triumphs, alle Gefängnisse und Kerker waren randvoll, die Verhafteten drängten sich auf den Fluren wie die Sardinen. Wir hatten nicht viel Zeit, um die Demokratie an der Universität zu klären. Hie und da fielen ein, zwei Ohrfeigen, die meisten Burschen ließ Diaz dann schnell wieder laufen. Ramón aber fiel ihm auf. Er stellte ihn auf den Flur. Stirn und Hände an die Wand, wie es sich gehört. Tags zuvor hatten wir die Nacht durchgemacht, ich hatte das Bürschchen bereits satt. «Was willst du von ihm?» fragte ich Diaz. «Das weiß ich noch nicht», erwiderte er. Diaz war unermüdlich, und sein Blick war untrüglich. Wir wußten damals noch nichts über Ramón. Nur, daß er nicht vorbestraft war. Das konnten wir telefonisch erfahren. Sonst nichts. Es war noch zu Beginn der Zeit, der Sieg war noch frisch, die Erfassung unvollkommen. Es hätte Tage gedauert, die Personenangaben herauszukriegen. Und Diaz hatte es eilig. Wir hatten zu tun. Diaz rief ihn also vom Flur herein. Ließ ihn sich setzen. Dann stellte er ihm ein paar Fragen, nur so, – 59 –
aufs Geratewohl. Ramón hielt sich gut. Doch Diaz konnte fragen. So etwa eine Viertelstunde später begann Ramón zu brüllen. Er hielt die Spannung nicht mehr aus. Er hatte Enrique nicht angelogen: Er mußte etwas unternehmen, das ihn endgültig an irgend etwas band. Zu seinem Glück traf er auf einen Blick, der ihm das ansah. Und Diaz half den Bedürftigen gern. Wie ich schon sagte, Ramón begann zu brüllen. Er schüttete seinen ganzen Haß über uns aus. Wie wenn jemand kotzt. Verleumder nannte er uns, die Unschuldige in ihre Netze locken. Schlächter, Mörder, Henker. Und so weiter. Diaz hörte ihm mit gesenktem Kopf zu, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen vor dem Gesicht zusammen. Er ruhte sich aus. Plötzlich verstummte Ramón. Stille trat ein, eine lange Stille. Dann erhob sich Diaz umständlich. Langsam ging er um den Tisch herum und ließ sich mit einem Oberschenkel darauf nieder. Das war seine Lieblingsposition. So saß er eine Weile da, Ramón gegenüber. Dann beugte er sich plötzlich nach vorn. Er überanstrengte sich nicht besonders, achtete darauf, keine bleibenden Spuren zu hinterlassen. Nach – 60 –
ihm war Rodriguez dran. Ich, der Neue, führte Protokoll. Viele Worte waren danach nicht mehr nötig. Ramón setzte sich wieder an seinen Platz. Diaz fragte ihn, ob er rauche. Er rauchte. Diaz reichte ihm seine Zigarrenschachtel. Rodriguez fragte ihn, ob er Durst habe. Er hatte Durst. Rodriguez stellte ihm ein Glas hin und holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank. (Von diesem verdammten Orangensaft lebten wir den ganzen Tag über bei dieser mörderischen Arbeit und der Hitze.) Dann erklärte ihm Diaz kurz, was er zu tun hatte, in welchen Zeitabständen, über welche Vermittlung und in welcher Form er seine Berichte abgeben sollte. Von ihm hörten wir zum erstenmal den Namen Enrique Salinas. Ich gestehe, bestimmte Seiten in Enriques Tagebuch bisher konsequent überschlagen zu haben. Das war nicht richtig. Es geht dabei um einen wichtigen Handlungsfaden, der zu der verhängnisvollen Autofahrt hinführt. Es besteht also kein Grund, das auszuklammern. – 61 –
Es war auch nicht redlich. Dabei will ich ja redlich sein – wann sollte ich denn redlich sein, wenn nicht eben jetzt. Redlich vor allem gegenüber Enrique. Aber auch Estella und mir selbst gegenüber. Ich blättere zurück. Fast an den Anfang von Enriques Tagebuch. «Daß die Form (und auch die Bewegung) eines Mundes einer Blume gleichen kann (einer Blume im Wind), das ist ganz unglaublich. Und doch gibt es einen solchen Mund.» Ich blättere weiter. Eine leere Seite, darauf nur zwei Buchstaben. «E. J.» Estella Jill. Oder einfach nur Jill. Diesen zweiten, ihren englischen Namen benutzte sie lieber. Sie ist mütterlicherseits Amerikanerin. Ich blättere weiter. «J. Als würde die Sonne in jemand scheinen. Ich nahm den ganzen Nachmittag Sonnenbäder.» Ja, auch das ist Enriques Ton. Selbstmordgedanken, düstere Straßenszenen, Selbstermutigungen, Haß und Liebe. Und das alles nebeneinander, verworren, ineinander verflochten. Enrique war ein Halbwüchsiger, ein Kindskopf. – 62 –
Ich blättere weiter. Ich muß ziemlich lange blättern. Und dann, ohne jede Vorgeschichte: «Wie es passiert ist? Ich weiß es nicht. Plötzlich hielt ich sie in den Armen. Ich schloß die Tür. Beugte mich über sie. Vergrub den Mund zwischen ihren Lippen. Wir lagen auf der groben, indianisch gewebten Couchdecke. Nackt. Wir schmiegten uns aneinander. Ich spürte, wie sie mich begehrte. Und da ist eine schreckliche, dumme und unerklärliche Sache passiert. Ich muß es niederschreiben. Ich kann mich nur davon befreien, wenn ich es niederschreibe. Doch selbst jetzt noch erfaßt mich der grauenvolle und zugleich lächerliche Alptraum jener langen Minuten. Also heraus damit. Nun ja, ich konnte ihrem Wunsch nicht nachkommen. Ich, der ich seit Wochen nur auf diese Minute gewartet hatte. Ich lag nur hilflos neben ihr. Sie umarmte mich. Ich spürte, daß sie bebte. Dann hörte ihr Beben auf. Sie streichelte mich nur, nun mit kühler Hand, wie eine Kindergärtnerin. Ich wagte sie nicht anzusehen. Und da begann sie zu sprechen. Sie sagte, sie sei mir dankbar. Ich hätte sie nehmen, mir zu eigen – 63 –
machen können, aber ich wolle ja sie und nicht die Gelegenheit und den Zufall. Und das würde sie mir nie vergessen. Sie schmiegte sich dankbar an mich – doch ihr Körper war nun schon kühl – und küßte mich, auf beide Augen und die Stirn. Dann stand sie auf und begann sich anzukleiden. Dabei blickte sie mich unentwegt an und lächelte. Ich streckte die Hand nach ihr aus. Sie setzte sich neben mich auf die Couch. Dann beugte sie sich über mich. Sie fing an, mich zu streicheln. Wie leicht und zart ihre Hand war! Sie streichelte mich, so lange … Dann zog sie ihre Unterwäsche wieder aus. Ganz langsam und bedacht. Dabei sah sie mich an und lächelte. Ich war kaum noch bei Sinnen. Endlich legte sie sich neben mich. Und dann … Später sind wir hinunter in eine Bar gegangen. Und den ganzen Abend lachten wir, lachten und lachten!» Ich blättere weiter. «Das Glück raubt einem den Verstand. Das ist noch nicht schlimm. Das Glück lähmt. Ich vergesse alles andere. Ich lebe, als hätte ich das Recht zu leben, ich lebe, als existierte ich wirklich. Ich schmiede Pläne, träume von der Zukunft, richte – 64 –
unser beider Leben ein, will sie heiraten, als gäbe es niemand anderes außer uns beiden. Und dabei fühle ich, wie unmöglich das alles ist, denn es gibt keine Zukunft, es gibt nur die Gegenwart, den Zustand, den Ausnahmezustand.» Ich blättere weiter. «Ich habe mit ihr gesprochen. Ich sagte ihr, was ich denke. Sie verstand mich. Sie versteht mich in allem. Ich fühlte mich unsagbar dankbar und erleichtert und nahm ihre Hand. Und da begann sie plötzlich von der Hochzeit zu sprechen und davon, wie wir die Wohnung einrichten sollten.» Ich blättere weiter. «Ich ertrage es nicht länger. Ich bin ein Idiot, weiß selbst nicht, was ich will. Ich muß mich endlich entscheiden: entweder sie oder … Und wenn beides? Nein, das ist unmöglich … Und wenn doch …? Ich sehe nicht klar, das ist das Übel, daß ich nicht klarsehe. Eigentlich – ein schreckliches Gefühl – komme ich erst jetzt darauf, daß ich sie überhaupt nicht richtig kenne. Nicht nur sie, auch mich selbst kenne ich nicht. Zumindest nicht ausreichend. Ich muß herausbekommen, was ich will. Ich muß sie genauer kennenlernen und auch mich selbst. Aber wie? – 65 –
Gespräche reichen nicht aus, Worte klären nichts. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Aber was?» Sie ließ sich die Autofahrt einfallen. Ich muß also diese Autofahrt beschreiben. Das ist nicht schwer, denn ich kenne sie in allen Einzelheiten. Enrique hat eine Skizze davon in seinem Tagebuch gemacht. Aber ich habe auch selbst mit ihm darüber gesprochen. Und was noch fehlte, das wurde von Estella ergänzt. Oder besser einfach nur Jill. Auch sie haben wir verhört. Wir nahmen sie nicht sehr in Anspruch. Wir akzeptierten, was sie zu Protokoll gab, daß sie ahnungslos in die Sache hineingezogen worden sei. So war es auch, von Jill wollten wir nichts. Aber Ordnung muß sein. Von allem mußte ein Protokoll angefertigt werden. Und in diesem Fall konnten wir wieder ein Protokoll aufweisen, das lediglich die allumfassende Gründlichkeit und Rechtmäßigkeit unserer Untersuchungen bewies. Ich empfand so etwas wie Respekt für sie. Enriques Schicksal zeichnete sich in jenen Tagen schon klar ab, sein Urteil schien durch das Verfahren besiegelt. Jill war seine Verlobte. Und das packt einen dann schon mal. – 66 –
Ich habe sie erst ein halbes Jahr später wieder getroffen. Da lebte Enrique bereits nicht mehr. Und ich fing an, seine Geschichte zu überblicken. Um diese Zeit überfielen mich meine Kopfschmerzen, quälende, unstillbare Kopfschmerzen. Also suchte ich Estella auf. (Oder besser einfach nur Jill.) Sie war inzwischen verheiratet, mit einem gewissen Anibal Roque T., einem bekannten Unternehmer. Ich bat sie um ein Gespräch am Vormittag. Wie die Kleine erschrak …! Und wie zahm sie nach der großen Erleichterung wurde …! Ich denke darüber nach, was mich zu Estella geführt hat. Es war etwas Unabweisbares, eine Art Zwang. Ich habe ja schon gesagt und sage es wieder: Ich verstehe nichts von der Seele, am wenigsten von meiner eigenen. Nur eines fühlte ich, doch dessen war ich mir sicher. Und zwar, daß in dieser Sache jeder seinen Teil zu zahlen hatte, jeder. Also mußte ich auch ihr klarmachen, daß sie nicht unbefleckt davonkommt. Maria trauerte, aber sie mußte anders zahlen. Und das wußte Jill auch, glauben Sie nicht, daß sie es nicht gewußt hätte. Warum hätte sie sonst nachgegeben? In erster Linie vielleicht aus Angst – und dazu gab ich ihr auch ohne Zweifel Anlaß –, – 67 –
aber doch nicht bloß aus Angst, darauf würde ich jederzeit schwören. Jill war listig, sie versuchte, unserer Beziehung den Anschein der Erpressung zu geben, und dafür konnte sie, wie gesagt, auch einen Grund finden: Doch restlos überzeugen konnte sie mich nie davon und vielleicht auch sich selbst nicht ganz. Wollte sie etwa büßen, so wie andererseits ich eine Komplizin in ihr suchte? Ob sie Mitleid mit mir hatte oder mich verachtete – das war ihre Sache. Aber dieser Fall ließ es nicht zu, daß irgend jemand, der damit zu tun hatte, sauber blieb: Und das mußte meiner Meinung nach auch Jill kapieren – wovon sie auch immer geträumt haben mochte, als sie sich Hals über Kopf verheiratet hatte. Es war eine süße und qualvolle Beziehung, eine sündige Beziehung – das gebe ich zu. Doch wahrscheinlich lag gerade darin ihr Reiz. Irgendein dummer Zwang brachte mich einmal dazu, Jill aus Enriques Tagebuch vorzulesen. Nicht aus Gemeinheit, glauben Sie mir. Ich meine, ich habe Jill nicht aus Enriques Tagebuch vorgelesen, um sie zu quälen oder um selbst – wie zum Teufel soll ich es sagen – Lust daran zu finden. Es war ganz und gar keine – 68 –
Lust für mich. Der Schatten Enriques hatte sich einfach auf mich gelegt, und er war zu schwer für mich. Ich wollte, daß er sich auf uns beide legt. Ich hatte das Recht dazu, was Sie auch immer sagen mögen, ich hatte das Recht, denn wir gehörten zusammen, Enriques Schatten lastete auf uns beiden. Ich wollte, daß wir ihn zusammen tragen, daß wir gemeinsam unter ihm dahergehen wie unter einem großen, unheimlichen Regenschirm, zwei Verlorene im Sturm … Es war eine Dummheit. Sie drehte durch. Sie warf sich aufs Bett und schrie gellend. Nannte uns alle Mörder, mich, Enrique, alle Männer und das ganze Leben dazu. «Mörder!» schrie sie. «Und du?» frage ich sie. «Was bist du? Eine Nutte bist du, die letzte Hure!» Und ob Sie es glauben oder nicht, ich ertappte mich dabei, wie ich sie des Verrats bezichtigte und ihr zum Vorwurf machte, mit dem Verdächtigten, also Enrique, nicht an einem Strick gezogen zu haben. Ich, der ich schließlich immerhin ein Bulle war. Dabei habe ich Jill gut verstanden. Jill war eine Frau, vor allen Dingen eine Frau. – 69 –
Also kurzum, da war diese Landstraße. Sie führte an der Küste entlang. Da, wo die Halbinsel in die Bucht ragt – Sie wissen schon. Wer an die Blaue Küste wollte, mußte diese Straße benutzen. Enrique und Jill fuhren an dem Tag an die Blaue Küste. Sie wollten baden. Und Enrique suchte jemanden am Strand. Er hat den, den er suchte, auch gefunden, darauf nehme ich Gift. Sie haben sich alle dort versammelt, diese Zottelköpfe. Es war schlau ausgedacht: Der Strand war groß, und sie hatten sich einen abgelegenen Platz ausgesucht. Sie stellten ihre Kofferradios ab, und wir konnten unsere Abhörgeräte vergessen. Wir machten Fotos von ihnen, zehn Dutzend Filme. Das ließen sie geschehen, sie wußten, wir kannten sie sowieso. Wir hätten über sie herfallen können, klar hätten wir das machen können. Na und? Es waren Profis, sie stellten ja nichts an. Wir hätten ihnen nicht ein Wort entlocken können. Was wir von ihnen erfahren konnten, wußten wir sowieso. Das Ganze war eine Schaufensterauslage, sie riskierten nicht viel, die Aktionen führten nicht sie durch. Was zum Teufel hätten wir tun können? Wir beobachteten sie, solange die Ereignisse noch nicht – 70 –
herangereift waren. Danach verschwanden sie dann alle. Als hätte sie der Erdboden verschluckt. Es ist ein verfluchter Beruf, den ich mir da gewählt habe, ich empfehle ihn niemandem. Auch dieser C. war dort, ich schreibe seinen Namen gar nicht aus. Enrique erwähnte ihn bereits in seinem Tagebuch, wenn Sie sich noch erinnern. Nicht nur Enrique hat ihn bekanntgemacht, da können Sie beruhigt sein. Ich fresse einen Besen, wenn er bei dem Attentat nicht die Hand im Spiel hatte. Doch bevor wir erfuhren, daß sie ein Attentat planten, waren sie über alle Berge. Nein, nicht wegen seines Vermögens haben sie sich nicht mit Enrique eingelassen. Es befanden sich wohlhabende Bürschchen unter ihnen, nicht nur einer. Enriques Geld wäre ihnen nur willkommen gewesen. Nur daß Enrique nicht ausgebildet war. Sie aber waren, wie gesagt, Profis. Es fiel ihnen gar nicht ein, ein Risiko einzugehen. Nur Enrique, dieses Kind, konnte sich das so vorstellen, einfach hinzugehen und sich ihnen anzuschließen, wie bei einer Rekrutierungsstelle. Doch im übrigen war er hingegangen. Er fand eine ausgelassene Studentenbande vor, die sich mit – 71 –
witzigen Universitätsstorys unterhielt. Jeder kannte irgend so eine Geschichte. Und die anderen hielten sich den Bauch vor Lachen. Na ja, so verlief das. Dann trottete Enrique zu Jill zurück. Sie war schön an diesem Tag in ihrem bunten Kleid, und noch schöner war sie ohne es am Strand. Enrique jedoch war wütend. «Laß sie doch», tröstete ihn Jill, «du gehörst nicht zu ihnen.» «Warum nicht?!» schnaubte Enrique. «Weil ich Salinas heiße? Kann das einen Menschen festlegen?!» «Du bist ein Bourgeois», foppte ihn Jill. Sie bohrte ihren Zeigefinger in das Haarbüschel auf Enriques Brust und kraulte ihn zärtlich mit dem Fingernagel. Dieses Detail kenne ich aus Enriques Tagebuch. «Ein Bourgeois bist du, ein Bourgeois. Mein kleiner Bourgeois», summte sie. Enrique aber war wütend. «Laß sie doch gehen», sagte Jill, «kümmere dich jetzt um mich. Ist es nicht schön hier? Warum willst du nicht glücklich sein?» «Glücklich, glücklich!» schnaubte Enrique. Dann beruhigte er sich allmählich. Durch das Kraulen, denke ich. «Natürlich will ich glücklich sein», sagte – 72 –
er. «Ich liebe dich doch, verdammt noch mal! Aber es gibt Fälle, da glücklich zu sein … nur glücklich und nichts anderes … einfach eine Perfidie ist.» «Wieso?» fragte Jill mit halbgeschlossenen Augen. Die Sonne schien an dem Tag grell vom Himmel. «Weil wir nicht glücklich sein können, wo jeder unglücklich ist», dozierte Enrique. «Jeder?» Jill öffnete die Augen. «Schau mich an. Ich bin es nicht.» Sie lächelte. Es war ihr zu glauben, daß sie nicht unglücklich war. Was tat Enrique? Er küßte sie. Dann gingen sie hinunter zum Wasser. Das Meer war lauwarm, es war kaum jemand da, sie liefen tief hinein. Mit Jill in den Armen vergaß Enrique bald seinen Ärger und auch die Philosophie. Erst auf dem Heimweg fiel ihm alles wieder ein. Auf der Landstraße. Sie fuhren in Enriques Alfa Romeo nach Hause, er am Steuer, Jill neben ihm. Ihr Haar flatterte, sie rasten dahin. Bis sie zu einem Schnellverkehrsschild kamen. Da ging Enrique mit der Geschwindigkeit herunter. Auf mehr als die Hälfte derjenigen, die dort vorgeschrieben war. – 73 –
Ich muß etwas zu dieser Landstraße sagen. Es mag einige geben, die noch nie in der Gegend gewesen sind. Oder die vielleicht ein schlechtes Gedächtnis haben. Eventuell haben sie auch gar nichts bemerkt. So was kommt vor. Dazu diente ja letzten Endes die Schnellverkehrsvorschrift. Und es gibt Typen, die nur geradeaus sehen. Das sind Glückspilze, ich habe sie immer beneidet. Kurzum, wir hatten eine Einrichtung dort in der Gegend. Nicht gerade an der Straße, aber auch nicht weit davon entfernt. Wenn Sie einmal dort gewesen sind, werden Sie es wissen. Sie war mit allem Nötigen ausgestattet, mit einem Zaun, Elektronik, mit Wachttürmen und solchen Dingen. Wer dort war, konnte es sehen. Ich meine die Äußerlichkeiten. Mehr kaum. Nun, diese Straße konnten wir nicht sperren. Wir hätten den ohnehin stockenden Handelsverkehr zu einem Umweg durch das halbe Land gezwungen. Eine Umgehungsstraße konnten wir nicht bauen, wegen der Gebirgskette. So was ist ein teurer Spaß, das Parlament hätte vielleicht nicht zugestimmt. Um so weniger, als man dort von der Einrichtung gar nichts wissen durfte. Fragen Sie doch mal die Herren Abgeordneten, ob sie etwas – 74 –
davon gewußt haben. Sie werden sehen, was die antworten. Sie hatten keine Ahnung von alldem. Wir konnten uns nur für das entscheiden, was übrigblieb: Wir schrieben Schnellverkehr vor, setzten eine Minimalgeschwindigkeit fest. Viel konnte man so nicht sehen, etwas aber doch. Und dagegen hatte der Oberst auch gar nichts. Für einen guten Bürger können solche Warnungen nur von Nutzen sein. Achtzig hatten wir vorgeschrieben. Enrique aber ging auf dreißig herunter. Jedenfalls laut Anzeige über das Vergehen. Obwohl es auch von dem angefügten Foto bezeugt wird. Jill war nervös, wie hätte es auch anders sein können. Obendrein verlangte Enrique von ihr, ihren Blick auf die Einrichtung zu richten. Aber Jill hatte dazu keine Lust. «Was willst du von mir?» fragte sie. «Warum willst du nicht hingucken?» fragte Enrique. «Weil es mich nichts angeht», echauffierte sich Jill. «Was geht dich überhaupt etwas an?» fragte Enrique. «Du», sagte Jill. «Dann», beharrte Enrique, «geht dich auch das etwas an, denn es hat mit mir zu tun.» – 75 –
«Das ist nicht wahr», widersprach Jill. «Du machst dir was vor, Enrique. Ein normaler Mensch befaßt sich nicht dauernd mit solchen Sachen. Das ist nichts anderes für dich als eine Droge. Ich hingegen bin, wie du siehst, ehrlich. Warum können wir uns nicht lieben, Enrique? Ich will glücklich sein. Ich will ein Kind von dir. Etwas anderes interessiert mich nicht.» «Du bist ein kluges Mädchen, Jill, ich beneide dich. Du stöhnst nicht unter der eisernen Kralle der Tyrannei, sondern du schnurrst», so Enrique. Zumindest seinem Tagebuch zufolge. Doch später hat es auch Jill bestätigt. «Warum willst du das nicht zur Kenntnis nehmen?» «Weil es mich nicht interessiert», sagte Jill. Sie fing an, wütend zu werden. «Du redest so», sagte Enrique, «als würdest du die hassen, die sich dort hinter dem Zaun aufhalten.» «So ist es auch», bestätigte Jill. «Ich hasse sie, weil sie zwischen uns stehen.» In diesem Moment fuhr der Polizeiwagen an ihnen vorüber. Er überholte sie und stellte sich dann quer vor sie auf die Straße. Enrique mußte anhalten. – 76 –
Sie wissen ja, wie so was abläuft. Bremsen quietschen, Türen fliegen auf, Stiefel stampfen über den Beton. Zwei arbeiten, einer sichert. Mit einem Schnelladegewehr. «Aussteigen, los, los, oder ich hole dich raus! Mit dem Oberkörper auf den Wagen, Hände nach vorn, Finger spreizen!» Na ja, so ungefähr. Ein bißchen Herumgestoße ist unvermeidlich. Dann die Durchsuchung. Besonders verdächtig sind Frauenkleider. Da geht so vieles hinein. Zum Beispiel ein schöner Frauenkörper. Jill hatte noch lange einen Bluterguß auf der Brust. Nebenbei bemerkt hatten sie Glück, daß man keinen Fotoapparat fand. Weder bei ihnen noch im Wagen. Und auch keinen anderen verdächtigen Gegenstand. Der Patrouillenführer wollte sie auch so vorstellig machen. Aber sein Blick blieb an Enriques Ausweis hängen. «Salinas», liest er. Er mustert den Wagen. «Das Warenhaus?» erkundigt er sich dann. Er muß warten, er kriegt nicht sofort eine Antwort. «Ja, das», hört er schließlich. Nicht von Enrique, sondern von Jill. «Ich habe dich gefragt, Freundchen!» Und der – 77 –
Patrouillenführer berührt Enriques Bein mit dem Stiefel. «Sie haben es doch schon gehört!» sagt Enrique mürrisch. Der zweite Streifenpolizist will schon loslegen, aber der Patrouillenführer hält ihn zurück. «Hast du nicht das Schnellverkehrsschild gesehen?» erkundigt er sich. Man kann es nicht gerade eine Kreuzfrage nennen. Aber zur Verkehrsstreife werden nun mal nicht immer gerade die Geistreichsten eingeteilt. «Doch, das habe ich gesehen», sagt Enrique. «Warum hast du dich dann nicht an die Vorschrift gehalten?» ermittelt der Patrouillenführer weiter. «Anscheinend ist bei mir eine Kerze verrußt», erklärt Enrique. «Die F… deiner Mutter ist verrußt», meint der Patrouillenführer. «Du tätest besser daran zu studieren, als dich hier auf der Landstraße rumzutreiben!» «Dann sollte die Universität geöffnet werden», schlägt Enrique vor. Jetzt würde der Patrouillenführer gern selbst loslegen, überlegt es sich aber anders. Salinas ist halt Salinas. «Ihr könnt abziehen», teilt er dann mit. «Ich werde – 78 –
Anzeige erstatten. Ich hoffe, dein Vater dreht dir den Hals um.» Dann setzen die beiden ihren Weg fort. Sie sitzen nebeneinander, Enrique am Steuer, Jill neben ihm. Stumm, als würden sie einander nicht kennen. «Ich möchte trotzdem wenigstens wissen, was los ist», sagt Enrique nach einer Weile, ohne auch nur einen Blick auf Jill zu werfen. «Was soll los sein?» sagt Jill schulterzuckend. «Nichts.» Sie schweigen. «Ich hasse dich einfach», setzt sie dann hinzu. «Ich hasse dich nicht, Jill», sagt Enrique. «Ich bedaure nur einfach, daß du so bist.» «Das bleibt sich gleich. Das Wesentliche ist, daß wir uns nie mehr wiedersehen sollten», stellt Jill fest. «Das ist richtig», pflichtet Enrique ihr bei. Dann reden sie nicht mehr. Stumm kommen sie in der Stadt an. Und Enrique hat das Gefühl, nun wenigstens zu wissen, was er wissen wollte. Noch etwas ist an diesem Abend geschehen. Etwas Wichtiges, Enrique hat es in seinem Tagebuch notiert. Diese paar Seiten sind wie ein Protokoll. Ein – 79 –
authentisches Ermittlungsprotokoll, zu seiner eigenen Belastung. Doch so war Enrique nun mal. Er haßte und liebte, er hatte Geheimnisse und führte ausführlich Protokoll über sie. Ich schlage Enriques Tagebuch auf. Hören Sie sich das mal an. «Alles ist entschieden. Es ist absolut unglaublich und doch das Allernatürlichste. Als hätte ich es – tief im Unterbewußtsein – eigentlich schon lange geahnt. Ich muß es niederschreiben, mit diesem Erlebnis kann ich jetzt nicht schlafen gehen. Ich versuche zusammenzufassen. Es fällt schwer, so viel ist heute passiert, und nun, am späten Abend, ballen sich die Eindrücke und Ereignisse des ganzen unwahrscheinlichen Tages auf einmal in mir zusammen. Nun, fangen wir erst mal an. Ich habe also Jill nach Hause gebracht, soviel war ich ihr schuldig. Dann bin ich selbst nach Hause gekommen. Brachte den Wagen in die Garage, bestieg den Fahrstuhl und fuhr hinauf. Als ich in die Wohnung trat, sah ich irgendwo in der trügerischen Perspektive der ineinander übergehenden Zimmer Mutter und Vater in ihren Armstühlen sit– 80 –
zen. Sie waren weit entfernt von mir. Vater ließ aromatische Rauchschwaden aufsteigen. Seine langen, muskulösen Beine waren ausgestreckt, die schwarzen Lackschuhe schimmerten im Dämmerlicht. Er hatte die Knöpfe seines tadellosen Anzugs geöffnet, die modische Krawatte gelockert. Mutter saß gerade aufgerichtet, die Hände ruhten im Schoß. Als warteten sie auf irgend etwas. Als sie mich bemerkten, sprang Mutter sofort auf und eilte mir entgegen. Die üblichen Sätze: ‹Wo warst du?› – ‹Am Strand.› – ‹Du bist lange weggeblieben.› – ‹Ja, weil das Wetter so schön war.› Und dergleichen mehr. Der alte Herr rührte sich nicht, zog nur weiter an seiner Zigarette. Schließlich bemerkte ich, ich müsse mit ihm reden. ‹Gut so›, sagte er und erhob sich. Er ließ mich vor, wies mit einer Hand in Richtung Arbeitszimmer und umfaßte mit der anderen meine Schulter. Ich spürte seinen Geruch: Tabak-, Parfüm-, Vatergeruch. Und auf einmal spürte ich auch seine Hand auf meiner Schulter. Von ihr ging Kraft aus. Kraft, Überlegenheit und Sicherheit. Es ist dumm, aber plötzlich wäre ich fast in Tränen ausgebrochen, – 81 –
um von ihm in den Arm genommen zu werden wie in meiner Kindheit. Vielleicht war es wegen Jill. Nun egal. Ich erzählte ihm kurz die Story von der Landstraße. Nur das Wesentliche. Er zuckte mit keiner Wimper. ‹Haben sie einen Fotoapparat bei dir gefunden?› fragte er. ‹Nein›, sagte ich. Zufällig nicht – aber das fügte ich nicht mehr hinzu. Denn eigentlich hatte ich Aufnahmen von Jill machen wollen, aber dann in der Eile den Apparat zu Hause vergessen. ‹Sie werden dir wahrscheinlich ein Bußgeld abnehmen›, winkte er ab. ‹Und das zahlen wir. Zum Glück können wir das ja noch›, sagte er lächelnd. Er wirkte nicht besonders erschüttert. ‹Was hast du da gesucht?› erkundigte er sich. ‹Ich war am Strand.› ‹Allein?› ‹Nein.› ‹Und zum Küssen mußtet ihr ausgerechnet dorthin gehen?› grinste er. Das ärgerte mich. Ich mag es nicht, wenn sich der alte Herr an meiner Sexualität ergötzt. ‹Wir haben uns nicht geküßt›, sagte ich. – 82 –
‹Sondern?› ‹Ich wollte ihr etwas Interessantes in der Nähe zeigen.› ‹Ich verstehe›, nickte Vater. Damit erhob er sich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich dachte schon, er hätte mich vergessen. Auf einmal spürte ich, daß er hinter mir stand. Er legte mir die Hand auf den Kopf. ‹Enrique›, hörte ich seine Stimme, ‹womit verbringst du deine Tage?› Ich zuckte mit den Schultern. Was zum Teufel hätte ich darauf sagen können? ‹Mein Junge›, sagte er, immer noch hinter mir stehend, ‹deine Mutter macht sich Sorgen um dich.› Und da fielen mir wieder diese ganzen Dinge ein. Ich gehe zur Schule, und er sagt: ‹Paß auf dich auf, mein Junge, deine Mutter macht sich Sorgen um dich.› Ich bekomme meinen ersten Wagen: ‹Sei vorsichtig, mein Junge, deine Mutter macht sich Sorgen um dich.› Immer nur ‹deine Mutter›. Nie er selbst. Aber ich konnte nichts sagen. Nicht einmal zeigen, was mir in den Sinn gekommen war. Daraufhin ließ er mich los und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, mir gegenüber. Er machte die – 83 –
Lampe an. Es war schon Abend, und jenseits des gelben Lichtkegels der Schreibtischlampe erstreckten sich alle möglichen schweren dunklen Schatten ins Zimmer. Es war ein heimisches Gefühl. ‹Mein Junge›, setzte er wieder ein, ‹warum bist du nicht ehrlich zu mir? Wir haben Zeit. Ich werde dir zuhören.› Und da packte ich aus. Wie es gerade kam. Unzusammenhängend, wütend. Vielleicht war das immer noch die Auswirkung der Sache mit Jill. Ich sagte meine Meinung und was ich über das Ganze denke. Ich sagte, daß ich meine ganzen Tage damit verbringe und nichts anderes mich beschäftigt als das. Er hörte mich mit großem Ernst bis zum Ende an, und dabei werde ich sicher auch dummes Zeug geredet haben, denn ich war nervös. Trotzdem, ich sah ihm an, daß er mich ernst nimmt. Genauso ernst, wie ich auch war. Noch nie hat er mich so angesehen. Als wollte er mich auf Herz und Nieren prüfen. Und das sollte er auch, denn ich wollte, daß er sieht: Ich mache keinen Spaß. Als ich fertig war, stand er auf und durchmaß mit den Blicken ein paarmal den Raum. Dann setzte er sich wieder. – 84 –
‹Ist das nur deine Meinung, Enrique›, fragte er, ‹oder ist es mehr als das?› ‹Wie meinst du das, Vater?› ‹Ich meine›, antwortete er, ‹ob du noch frei bist oder vielleicht schon …›, er zögerte, ‹für jemanden arbeitest?› formulierte er schließlich zu Ende. Genauso blöd, wie ich vor ein paar Wochen R. gegenüber. ‹Noch nicht›, sagte ich. ‹Noch nicht›, wiederholte er. ‹Das heißt, du hast es schon versucht?› ‹Ja.› ‹Und?› ‹Ich bin auf gewisse Hindernisse gestoßen.› Er nickte. ‹Zum Beispiel auf das, daß du Salinas heißt›, sagte er. ‹Zum Beispiel›, antwortete ich. In seinen Augen blitzte etwas auf, in dem Moment hielt ich es für Schadenfreude. Ich wurde wieder wütend. ‹Aber diese Mauer läßt sich durchbrechen, Vater›, fuhr ich fort. ‹Mit Geduld und Entschlossenheit läßt sie sich durchbrechen. Davon bin ich überzeugt, und ich werde es auch beweisen, du wirst sehen!› – 85 –
Da wurde er wieder ernst. Sein forschender Blick tastete mein Gesicht ab, und mein Gesicht war hart, das spürte ich. Es war ein seltsamer Zweikampf zwischen uns beiden, und in dem Moment sah ich nur das Seltsame daran. Jetzt sehe ich natürlich auch den Sinn darin. ‹Hör mir zu, Enrique›, sagte er dann. ‹Ich habe sichere Informationen. Die Universität wird in Kürze wieder geöffnet.› ‹Um so schlimmer›, bemerkte ich. ‹Sie haben uns besser im Visier, können die Kontrolle verschärfen.› ‹Zweifellos›, nickte er. ‹Aber du kannst dein Studium fortsetzen.› ‹Ich will es nicht fortsetzen›, sagte ich. ‹Es hat keinen Sinn.› ‹Du darfst deine Zukunft nicht vergessen, Enrique.› ‹Ich lebe in der Gegenwart, Vater.› ‹Ach›, winkte er ab, ‹diese Gegenwart geht vorüber.› Ich wurde wütend. ‹Ich weiß›, fuhr ich auf, ‹man muß sie nur vorübergehend akzeptieren. Vorübergehend, aber jeden Tag aufs neue. Und jeden Tag immer mehr. Vorübergehend. Bis wir unser ganzes vorüberge– 86 –
hendes Leben gelebt haben, um dann eines schönen Tages vorübergehend zu sterben. Nein, Vater! Nein und nochmals nein!› ‹Was willst du denn, Enrique?› fragte er. ‹Etwas Endgültiges›, antwortete ich. ‹Etwas Beständiges und Dauerhaftes. Etwas, das ich bin.› Und plötzlich sprach ich es aus: ‹Ich will handeln, ich will mein Leben ändern, Vater.› Es schien, als hätte es in seinem Gesicht gezuckt. Doch was kümmerte mich das schon! Ich hörte nur meine eigene Stimme, die endlich meinen geheimsten Willen aussprach, so entschieden, daß mir mit einem Schlag alles einfach und klar erschien. Mehr hatte ich nicht zu sagen. Ich wollte aufstehen, um aus dem Zimmer zu gehen. Doch da hörte ich seine Stimme: ‹Das alles ist nur Phantasterei, Enrique. Aber eine Phantasterei, aus der jeden Moment blutige Wirklichkeit werden kann.› Ich weiß nicht, was ich für eine Bewegung gemacht habe, jedenfalls hob er die Hand und nagelte mich mit seinem Finger auf dem Stuhl fest. ‹Ich habe dich bis zu Ende angehört›, fuhr er fort. ‹Also erwarte ich, daß auch du mich bis zum Ende anhörst.› – 87 –
Er hatte recht, und ich nahm mir vor, das auch zu tun, was immer er auch sagen mochte. Mit der größten Ruhe, die ich aufbringen konnte, zu schweigen und auf seine vermutlich langweiligen und voraussehbaren Fragen zu antworten. Und da fing er schon an. Als wenn er mich nur prüfen, als wenn er nur meine Geduld und Zähigkeit auf die Probe stellen wollte. Als wenn er mich verhören wollte. Wie hätte ich ahnen können, daß er das auch in Wirklichkeit tat? ‹Enrique›, fing er an, ‹laß uns ernsthaft miteinander reden. Vielleicht wirst du mich für zynisch halten, das ist mir egal. Aber ich bin dein Vater und habe das Recht, mir Sorgen zu machen. Und du mußt dich – wenn du wirklich handeln willst, wie du sagst – mit diesen Fragen ohnehin einmal auseinandersetzen.› Er machte eine Pause. Schob mir die Zigarettenschachtel zu. Wir steckten uns eine Zigarette an. ‹Weißt du›, fing er an, ‹daß kein vernünftiges Argument dafür spricht, daß jemand, der Salinas heißt, in den Widerstand geht?› ‹Ich weiß nicht, wo du die Grenzen der Vernunft ziehst, Vater›, antwortete ich. – 88 –
‹Bei den Realitäten, Enrique. Immer nur bei den Realitäten.› ‹Also beim Geld.› ‹Unter anderem auch beim Geld. Obwohl nicht nur beim Geld.› Er dachte nach, als suche er nach dem Wort, das am besten passen würde. ‹Sagen wir, bei den Lebenschancen›, sagte er dann. ‹Wir haben die Chance zu leben. Das heißt›, fügte er hinzu, ‹wir haben die Chance zu überleben: das wollte ich eigentlich sagen.› ‹Ja›, antwortete ich, ‹das steht außer Frage.› ‹Weißt du›, fuhr er fort, ‹daß wir nicht nur die Chance aufs bloße Leben haben, sondern auch darauf, in Sicherheit zu leben? … Warte!›, er hob die Hand, bevor ich noch antworten konnte. ‹Weißt du, was Unsicherheit bedeutet?› Ich mußte nachdenken. ‹Ja, das weiß ich›, sagte ich dann. ‹Woher?› ‹Ich habe es heute erfahren. Auf der Landstraße. Als der Bulle mich mit seinem Stiefel berührt hat. Hieße ich nicht Salinas, hätten die mich blutig geschlagen, glaube ich.› ‹Ja›, nickte er. ‹Darauf konnte ich mich nicht beru– 89 –
fen. Es freut mich, daß du selbst darauf gekommen bist, Enrique. Weißt du also, daß du, wenn du deine Haut zu Markte trägst, das nicht deinetwegen tust, sondern um anderer willen?› Seine Frage brachte mich wieder zum Nachdenken. ‹Ich gebe zu, in dem beschränkten Kreis, den du gezogen hast, ist es so›, sagte ich dann. ‹Kreise sind immer beschränkt›, sagte er und beugte sich hinter dem Schreibtisch zu mir vor. ‹Wenn man sich zum Kampf entschließt, muß man wissen, wofür man kämpft. Sonst hat es keinen Sinn. Gegen eine Macht kämpft man meistens, damit man selbst an die Macht kommt. Oder weil die Macht das eigene Leben bedroht. Und du mußt schon zugeben, daß in unserem Fall keiner der beiden Gründe besteht.› ‹Ja, das gebe ich zu›, sagte ich. Dieses Spiel begann mich zu interessieren. Es war eigentlich ein schreckliches Spiel, ich spürte eine seltsame Kälte ums Herz. Ich kann es nicht besser artikulieren. Ich fühlte, daß er recht hatte, jedes seiner Worte stimmte, und gleichzeitig sträubte sich mein ganzes Innere gegen seine Wahrheit. Ich hatte Angst, meinen Vater, den – 90 –
ich liebte, am Ende dieses Gesprächs notgedrungen hassen zu müssen. Und ich hatte Angst vor dieser Angst, hundertmal mehr Angst als vor der Wahrheit seiner Argumente. ‹Weißt du›, hörte ich seine Stimme weiter, ‹weißt du, daß jede zielbewußte Gruppierung ahnungslose Werkzeuge braucht? Werkzeuge, auch dann, wenn diese Werkzeuge Helden genannt und einigen von ihnen – immer nur sehr wenigen – eventuell auf den Promenaden Denkmäler errichtet werden?› ‹Ich weiß›, murmelte ich heiser. ‹Weißt du, Enrique, weißt du wirklich, was du riskierst?› Darüber mußte ich wieder nachdenken. ‹Mein Leben›, sagte ich dann. ‹Dein Leben!› rief er aus. ‹Du sagst das wie ein Kind, das seine langweilig gewordene Stoffpuppe wegwirft! Werde dir darüber klar, Enrique, daß du mit starren Begriffen lebst und in leeren Worten denkst. Du riskierst dein Leben, sagst du, und hast nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest. Begreif doch, dein Leben, das bist du selbst, so wie du hier sitzt, mit deiner realen Vergangenheit, deiner möglichen Zukunft und all dem, was du für deine – 91 –
Mutter bedeutest. Schau dir diesen Abend an, schau hinunter auf die Straße, schau in der Welt umher und stell dir vor, daß es das alles nicht mehr gibt. Faß deinen Körper an, greif dir ins Fleisch – und stell dir vor, das alles gibt es nicht mehr. Kannst du dir das vorstellen? Weißt du, was es bedeutet, zu leben? Woher solltest du das auch wissen? Du bist noch zu jung und gesund dazu … Du warst noch nie an der Grenze zum Tod und hast dort noch nie kehrtgemacht, um mit erstaunter Freude das Leben neu zu entdecken … Aber weißt du wenigstens, daß man dich in der Schule belogen hat? Weißt du, daß es kein Jenseits gibt und auch keine Wiederauferstehung … weißt du, daß wir nur dieses Leben haben und, wenn wir es verlieren, auch uns selbst verlieren? Weißt du das?!› Erstaunt hörte ich ihm zu. Seine Worte überwältigten mich, noch nie hatte ich meinen Vater so gesehen. Nie hätte ich ihn für feige gehalten. Wie konnte ich ahnen, zu welchem Zweck er mich prüfte? ‹Das weiß ich›, sagte ich. Ich versuchte, mich zu beherrschen, doch etwas in mir bebte. ‹Wenn du es doch weißt›, fragte Vater, ‹was willst du dann? Wofür würdest du kämpfen, wenn du – 92 –
keinen Grund zum Kampf hast? Warum willst du dein Leben riskieren, wenn es sonst nicht in Gefahr ist?› Er erhob sich von seinem Platz und kam zu mir. Er beugte sich über mich, packte mich mit beiden Händen an den Schultern. Seine Hände waren kräftig. Sehr kräftig. ‹Warum?› fragte er. ‹Sag mir, warum! Ich will es wissen, sag es mir!› Und ich sagte es ihm. Ich schüttelte seine Hände ab, flippte aus. Jill tanzte noch in meinen Nerven herum, rumorte in meinen Worten. Ich sagte, mein Leben ist nicht bedroht, nur kann ich mich eben nicht damit abfinden. Lieber will ich es gar nicht, sagte ich, als so. Ich sprach von meinem Brechreiz, ich sprach von meinem tagtäglichen Ekel. Daß ich alles um mich herum hasse, alles. Ihre Cops, ihre Zeitungen, ihre Nachrichten. Wie ich es hasse, zu einer Behörde zu gehen, aber sogar schon in ein Geschäft oder eine Cafeteria! Wie ich diese heimtückischen Blicke um mich herum hasse, diese Menschen, die heute feiern, was sie gestern noch verachtet haben. Ich hasse das Erdulden, die Habgier, das Versteckspielen, das ewige Who-is-who-Spiel, die Privilegien und die Duckmäuser … Auch den Cop auf der Landstraße hasse ich, der mich nur – 93 –
deshalb nicht zu treten wagte, weil ich Salinas heiße: Dafür habe ich ihn mehr gehaßt als dafür, daß er mich mit seinem Stiefel berührte. Ich hasse die Verblendung, die trügerische Hoffnung, das Algendasein und die Gebrandmarkten, die, sobald die Peitsche einen Tag aussetzt, auch schon aufseufzen, wie gut wir es haben … Und ich hasse auch mich selbst, vor allem mich selbst, weil ich nur so hier bin und nichts tue. Ich weiß sehr wohl, daß auch ich gebrandmarkt bin, fürs erste zumindest, und es immer mehr sein werde, wenn ich nichts tue. Jill erschien wieder vor meinen Augen, das ekelhaft verlockende Leben, das sie mir angeboten hatte. ‹Und›, rief ich aus, ‹um nicht nur zu hassen, sondern auch die Zähne zu fletschen, genügt die Vorstellung, daß ich brav das Examen ablegen, eine Familie gründen und Kinder zeugen werde, daß ich Steuern zahle und in meinem Garten Blumen pflege … kurzum, mit der Zeit ein glücklicher und ausgewogener Häftling aus mir wird!› Ich verstummte und sah in die glühenden Augen meines Vaters über mir. Mich überkam ein merkwürdiges Gefühl, ich wurde unsicher. Es war, als würden diese stummen Augen durch mich hin– 94 –
durchblicken, als wüßten sie etwas, was ich nicht weiß. Und wieder spürte ich seine Kraft und daß ich ein Kind bin. Ich wurde verlegen. ‹Das kannst du nicht verstehen›, sagte ich. ‹Wie kommst du darauf?› fragte er langsam, gewichtig. ‹Weil … weil …›, stotterte ich, fand jedoch nicht das richtige Wort. Als hätte er Macht über mich gewonnen durch sein bloßes Körpergewicht, das über mir aufragte, durch seine Kraft, seinen Blick. ‹Hältst du mich für feige? Hältst du mich für zynisch? Hältst du mich für dumm?› fragte er. ‹Aber nein, nichts von alledem›, sagte ich. Und faßte mich mit einemmal wieder. ‹Du kannst nur einfach nicht über deinen Schatten springen›, fuhr ich fort. ‹Du meinst, daß ich ein Bürger bin. Ein Bourgeois. Ein Unternehmer und Teilhaber an der Macht. Stimmt’s?› fragte er. Ich weiß nicht, ob ich das gemeint habe. Ich weiß nicht, ob ich so gedacht haben konnte. Denn schließlich bin ich ja selbst auch nur so einer. Ich bin privilegiert, weil er mein Vater ist. – 95 –
Und trotzdem sagte ich: ‹Ja. Ich kann mich nicht mit deiner Geduld abfinden.› ‹Warum?› fragte er. Ich dachte, ich falle gleich vom Stuhl. Er war gnadenlos wie ein Untersuchungsrichter. Sollte ich denn jetzt noch einmal mit allem von vorn anfangen? ‹Darum›, schrie ich, ‹weil ich nicht mal mehr eine halbe Stunde Geduld habe!› Ich sprang auf. ‹Verstehst du denn nicht, daß ich es nicht aushalte, so zu leben? Ich bin krank von meiner Tatenlosigkeit, meiner Situation, von dieser lauen Mitte.› Das war das richtige Wort, ich war froh, daß ich es gefunden hatte. ‹So ist es, von der lauen Mitte›, wiederholte ich. ‹Die laue Mitte: das ist eine Krankheit. Ja, Vater›, fügte ich hinzu, ‹die laue Mitte: das ist die Pathologie selbst!› Und ich rannte aus dem Zimmer. Ich fühlte, daß ich ans Ende von allem gekommen war, was ich zu sagen hatte, und daß ich mir auch nicht ein einziges Argument mehr von ihm anhören konnte. Und ich fühlte, daß ich mich der Anziehungskraft seines Gewichtes und seines Blickes entziehen mußte, damit ich allein sein und ihm endlich wirklich die Stirn bieten konnte. – 96 –
Ich hatte die Hand schon auf der Klinke, als mich seine Stimme einholte: ‹Halt, Enrique! Komm zurück! Setz dich dorthin!› befahl er. Und ich gehorchte, als ob … ja, als ob ich noch irgend etwas erwartet hätte, ich hätte nicht sagen können, was, nur irgendwas Plausibleres, irgendeine Erlösung aus diesem Alptraum. Ich muß noch festhalten – und weiß nicht, warum mir das so wichtig ist –, daß Vater nicht hinter seinem Schreibtisch saß, sondern stand und sich mit beiden Händen auf die Tischplatte stützte. Genauer, nicht mit den Handflächen, sondern mit den gespreizten zehn Fingern, wobei er sich leicht vornüberbeugte. ‹Ich habe dich bis zum Ende angehört›, sagte er. ‹Du aber hast mich noch nicht bis zu Ende angehört.› Er schwieg. ‹Ich hätte ein Angebot für dich›, fuhr er dann fort. ‹Überleg es dir. Mein Angebot ist: Laß uns zusammenarbeiten, Enrique, beteilige dich an der Arbeit der Männer, zu denen auch ich gehöre.› Ich weiß nicht mehr, was ich darauf gesagt habe, ich stammelte irgend etwas. Nur seine Antwort habe ich mir genau gemerkt: – 97 –
‹Ja, Enrique, natürlich. Ich wußte nur nicht, wie ernst ich dich nehmen kann. Aber dem, was ich von dir gehört habe, habe ich entnommen, daß wir mit dir rechnen können.› Damit holte er eine Flasche und zwei Gläser aus dem Barfach. Wir stießen an. Dann unterhielten wir uns noch lange und sehr ernst. Danach gingen wir ins Eßzimmer: Mutter saß schon auf ihrem Platz, das Abendessen stand auf dem Tisch. Ich aß viel, mit großem Appetit.» Ich klappe Enriques Tagebuch zu, ich brauche es nicht mehr. Das übrige oblag bereits uns. Diaz, Rodriguez und mir, dem Neuen. Nun ja, und der Logik, die uns zu Enrique und Enrique zu uns geführt hatte. Diese Logik war nicht fehlerlos. Wer hat das auch behauptet? Zunächst gab es nur eine Idee, zur Logik wurde sie erst später. Enriques Tagebuch zum Beispiel kannten wir damals noch nicht. Wie hätten wir auch? Es gelangte erst bei der Hausdurchsuchung in unseren Besitz. Und auch da hat es niemand von uns gelesen. Wir brauchten es nicht, und vor allem hatten wir keine Zeit dazu. Um diese Zeit entstan– 98 –
den uns viele Unannehmlichkeiten, die Ereignisse verdichteten sich. Der Oberst war nervös. Und wir hatten Wind von dem geplanten Attentat bekommen. Wir mußten es verhindern – oder hätten es zumindest verhindern müssen, mit allen Mitteln: das verlangten der Oberst und das Vaterland von uns. Die Zottelköpfe tauchten alle unter. Wir schrieben sie im ganzen Land zur Fahndung aus, aber mit etwa soviel Erfolg, als hätten wir fünf oder sechs regelwidrig gestreifte Coloradokäfer gesucht, sagen wir, auf einem zehntausend Hektar großen Kartoffelfeld. Wir mußten also bei dem anpacken, was uns zur Hand war. Und Enrique war gerade zur Hand. Wir erkannten ihn auf einem Foto, unter denen, die nicht zur Hand waren. Wie war er auf das Foto gekommen? Gehörte er zu ihnen? Wenn ja, warum war dann nicht auch er untergetaucht? Hatten sie ihn etwa als Köder dagelassen? Oder hatte er einen Auftrag? Wieso hatten sie dann zugelassen, daß er auf das Bild kam? Oder hatte er überhaupt nichts mit ihnen zu tun und war nur zufällig darauf geraten? Fragen, nichts als Fragen. Wir hatten keine Zeit, uns mit Fragen abzugeben. Da war der ganze große, – 99 –
technisierte Apparat, das Register, die Agenten, die vielen Bullen, die auf Arbeit warteten: Wir waren auf Organisieren eingestellt, auf Aktion, nicht auf Rätselraten. Enriques Name kam im Register vor. Es hatte einen Hinweis von Ramón auf ihn gegeben. Dann sein Delikt auf der Schnellstraße. Und dann das Foto. All das war auch bisher schon vorhanden gewesen, schön ordentlich abgeheftet: Wir hatten es nicht herangezogen. Nun aber holten wir alles hervor, weil wir darauf angewiesen waren, und damit änderte sich das Farbenbild. Alles kommt auf die Logik an. Die Ereignisse an sich bedeuten nichts. Das Leben läßt sich auch als Zufall betrachten. Die Cops aber sind dazu da, daß sie Logik in die Schöpfung bringen – wie ich von Diaz so oft zu hören kriegte. Diaz war ein kluger Mann. Was mich angeht, ich mochte ihn nicht besonders. Er hat mir oft Kopfzerbrechen gemacht. Aber was wahr ist, muß wahr bleiben: Einen besseren Bullen als Diaz habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Er war dazu geboren, es war seine Berufung. Und vor allem wußte er, was er will: Und das will etwas heißen in unserem Beruf. Mit einem Wort, wie ich schon sagte, wir tappten – 100 –
damals im Dunklen, im übertragenen Sinne wie in Wirklichkeit. Wir saßen in unserem dunklen Labor und ließen Fotos entwickeln. Die Fotos ließen wir vergrößern. Die auf den vergrößerten Bildern sichtbaren Personen identifizierten wir dann. Wir hatten zehn Dutzend Filme von ihnen an der Blauen Küste vollgeknipst und auch sonst überall, wie schon gesagt. Nun ja, und auf einem der Fotos von der Blauen Küste hatten wir eben ein neues Gesicht entdeckt. Der junge Mann stand in der Gruppe der steckbrieflich gesuchten Personen. Diese grinsen, er sieht eher mürrisch aus. Ramón identifizierte ihn sofort als Enrique Salinas. Wir hätten ihn auch ohne Ramón identifiziert, aber wozu ist ein Agent da, wenn nicht dazu, sich da nützlich zu machen, wo es nötig ist. Von dieser Minute an konnte Enrique Salinas auch nicht einen einzigen Schritt mehr tun, von dem wir nicht gewußt hätten. Und eine Woche später bekamen wir von unseren Leuten die Filmrolle. Es war eine interessante Rolle, ein verdienter Lohn für unsere Mühen.
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Enrique ist darauf zu sehen. Er betritt eine Cafeteria. In der Hand eine Aktentasche. Er nimmt an einem Tisch Platz. Pause, Schnitt. Ein Typ kommt in die Cafeteria. Ein farbloser Typ in mittleren Jahren, mittelgroß, ohne besondere Merkmale. In der Hand eine Aktentasche. Nach kurzem Zögern erkennt er Enrique und nimmt an seinem Tisch Platz. Offenkundig verhandeln sie über irgend etwas. Sie breiten hastig Papiere aus ihren Aktentaschen aus. Aus der von Enrique taucht auch ein Umschlag auf. Beim Ordnen der Papiere rutscht der Umschlag unter die Papiere des Fremden. Der Typ nimmt den Umschlag an sich. Sie beenden die Verhandlung, lassen die Akten verschwinden. Sie zahlen und gehen. Jeder für sich. Soweit der Film. Über den Typen ermittelten wir, daß er Manuel Figueras hieß. Handelsvertreter, seit ein paar Jahren im Salinas-Haus angestellt. Familie, zwei Kinder. Keine Geliebte. Nicht vorbestraft. Sein Name tauchte nicht in unserem Register auf. Aus – 102 –
der Personalabteilung der Firma Salinas – dort hatten wir nämlich einen Mann: warum hätten wir ausgerechnet dort niemanden haben sollen? – konnten wir nichts über ihn erfahren, was uns interessiert hätte. Figueras eilte aus der Cafeteria direkt ins Büro zurück. Er fuhr mit dem Bus, seinen klapprigen Volkswagen hatte er auf dem großen Parkplatz vor dem Salinas-Geschäftshaus gelassen. Erst nach Arbeitsende tauchte er wieder auf. Er setzte sich in seinen Volkswagen und fuhr direkt nach Hause. In den folgenden Tagen ging Figueras nur in sein Büro und nach Hause. Seine Wege wurden überwacht, ein Telefon, das wir hätten abhören können, hatte er nicht. Seine Frau war Hausfrau. Einen Geliebten hatte sie nicht. Ihre Zeit war vom Haushalt ausgefüllt, bei ihren Einkaufswegen haben wir nichts Verdächtiges festgestellt. Der zehnjährige Sohn besuchte die Schule, die vierjährige Tochter konnten wir nicht in Betracht ziehen. Am Samstagabend ging Figueras mit seiner Frau ins Kino und am Sonntagnachmittag mit dem zehnjährigen Sohn zu einem Fußballspiel. Bei keiner dieser Gelegenheiten kam er mit Fremden in Berührung. – 103 –
Was hatte er mit dem Umschlag gemacht? Besaß er ihn noch? Oder hatte er ihn weitergeleitet? War er etwa direkt für ihn bestimmt gewesen? Wir wußten es nicht. Zehn Tage später fuhr Enrique Salinas mit seinem Alfa Romeo aus der Stadt und nahm die Hauptverkehrsstraße in Richtung Südwest. In B., dem modischen Badeort der Gegend, machte er halt. Er hatte sich in einem vielbesuchten Hotel ein Zimmer bestellt und meldete sich unter seinem eigenen Namen an. Am Abend ging er in die Bar hinunter. Es war warm, er trug leichte Kleidung, eine Hose und ein buntes Seidenhemd mit Stehkragen. Die Brieftasche hatte er vermutlich nicht bei sich. Sie wurde nämlich beim Durchsuchen seines Zimmers von unseren Leuten gefunden. Der Umschlag enthielt ein zusammengefaltetes Blatt weißen Papiers. In der linken oberen Ecke war die Zahl 3 zu lesen und in der Mitte des Blattes sechs maschinengeschriebene Buchstaben in der Reihenfolge IHAUMS. Der Umschlag wurde mit einem entsprechenden Verfahren wieder verschlossen, die Spuren der Durchsuchung beseitigt. Am nächsten Vormittag fuhr Figueras mit seinem – 104 –
klapprigen Volkswagen aus der Stadt und nahm die Hauptverkehrsstraße in Richtung Südwest. Figueras machte in B. halt, seinen Wagen parkte er vor dem Hotel von Enrique Salinas. Dann kehrte er in die Hotelbar ein und bestellte sich ein Getränk. Punkt elf Uhr schaute Enrique Salinas, aus seinem Zimmer kommend, in die Bar. Ohne Zweifel muß er Figueras wahrgenommen haben. Dann entfernte er sich wieder, ohne daß er sich gesetzt hätte. Bald darauf zahlte Figueras und kehrte zum Parkplatz zurück. Dort fand er bereits Enrique Salinas vor, der sich am Motorgehäuse seines Alfa Romeo zu schaffen machte. Sie begrüßten sich wie Bekannte. Figueras setzte sich in seinen eigenen Wagen, Enrique Salinas setzte sich – sozusagen gesprächsweise – für eine Minute dazu. Unser Mann sah aus einer ungünstigen Position diesmal gar nichts, doch nach unserer Vermutung hat Enrique bei dieser Gelegenheit den Umschlag an Figueras übergeben. Danach fuhr Figueras los und kehrte in die Stadt zurück, ohne Halt bis zum Salinas-Geschäftshaus. Er ging direkt in das Gebäude und verließ es im Lauf des Tages bis zum Ende der Arbeit nicht mehr. – 105 –
Dann eilte er wieder direkt auf den Parkplatz und war äußerst überrascht, als er an der Stelle, wo er seinen Volkswagen vermutete, eine geschlossene schwarze Limousine erblickte. Zwanzig Minuten später fand er sich in der Zentrale des Corps wieder. Wir begannen unverzüglich mit seiner Vernehmung. Ich spreche nicht gern darüber, und noch weniger gern gehe ich auf die Einzelheiten ein. Heutzutage zerreißt sich jede Zeitung darüber das Maul, jedermann weiß inzwischen, wie so was läuft. Im großen und ganzen so, wie Sie es in diesen bescheuerten Filmen sehen. Nur etwas einfacher. Nun, und mit dem Unterschied, daß bei uns alles echt war. Wie ich schon sagte, es ist eine schmutzige Arbeit, aber sie gehört nun mal zu unserem Beruf. Wir bringen den Delinquenten um den Verstand, zerreißen ihm die Nerven, lähmen sein Gehirn, kehren ihm alle Taschen, die Revers und sogar die Eingeweide um. Wir stoßen ihn auf einen Stuhl, ziehen die Vorhänge zu, knipsen die Verhörlampe an – mit einem Wort, so wie es im Buche steht. Wir waren nicht daran interessiert, dem Delinquenten mit einer originellen Idee aufzuwarten. Es geschah alles so, wie er es schon aus den stümperhaften Filmen kannte – 106 –
und wie er es erwartete: Und gerade das ist immer die Überraschung – probieren Sie es mal, wenn Sie es nicht glauben. Wir umzingeln ihn, Diaz ihm gegenüber, Rodriguez zu seiner Seite, ich hinter ihm. Und dann kommen die Sprüche. Na ja, und die Fragen. Überfallartig. Wir überschütten ihn geradezu damit. «Na, du Schwein», fängt zum Beispiel einer von uns an, «das Spiel ist aus, du bist aufgeflogen.» «Wir wissen alles», setzt der andere fort, «du schadest dir nur selbst, wenn du zu leugnen versuchst.» «Der kleine Enrique hat bereits alles ausgespuckt. Du kommst besser weg, wenn du auch redest.» «Es ist in deinem Interesse: Uns ist es egal.» «Wir wissen, daß es schwer ist, aber wenn du ein braver Junge bist, kommst du davon: Denk daran.» «Warum sollst du dir die Eier zerschlagen lassen, wenn deine Komplizen schon alles zugegeben haben?!» «Na, leg schön los, mach den Mund auf, oder sollen wir ihn dir aufmachen?!» «Wer ist dein Verbindungsmann?!» «Wo ist der Umschlag?!» (Denn bei der Durchsuchung hatten wir ihn nicht mehr bei ihm gefunden.) – 107 –
«Wo ist euer Waffenlager?!» «Für wann habt ihr das Attentat geplant?!» «Zu welcher Gruppe gehörst du? Rede!» «Dir bleibt sowieso nichts anderes übrig. Gib nach, sei vernünftig!» «Sei vernünftig, dann bist du uns schnell wieder los.» «Deine Komplizen haben dich im Stich gelassen, willst du das Ding allein ausbaden? An ihrer Stelle?!» «Du sprichst also nicht?» Alles Bluff, wie Sie sehen. Wir bereiten das Feld bei ihm vor. Betäuben ihn mit dem Schwall unserer Fragen. Er muß spüren, daß er allein steht und wir viele sind, daß wir alles mit ihm machen können, was wir wollen, und daß wir alles wissen, sehr viel mehr, als er selbst auch nur ahnen könnte. Ja sogar, daß wir all das ungenau wissen und nur er es richtigstellen kann, falls er etwas an seiner Lage verbessern will. Ein alter Trick, aber er greift meistens. Wenn Sie etwas Besseres wissen, sagen Sie’s mir. Dann kommen wir langsam zu der Sache, die uns eigentlich interessiert. Von Figueras zum Beispiel wollten wir die Geschichte mit dem Umschlag er– 108 –
fahren. Und das erfuhren wir auch. Fragen Sie nicht wie. Figueras war ein Weichling. Rodriguez mühte sich unnötig mit ihm ab: Was er sagte, sagte er sofort, und wir konnten dann auch später nichts Neues mehr aus ihm herausholen. Daraufhin stellte Diaz dann immer einen Zettel aus und klingelte nach der Wache. Ein Platz fand sich für jeden bei uns. Und wir mußten niemandem Rechenschaft ablegen wegen der Leute, wenn die Sicherheit des Vaterlandes bedroht war. Kurzum, wir blieben also zu dritt zurück. Es war ein trauriger Augenblick. Wie hätte es anders sein können. Denken Sie doch einmal alles durch, was wir aus Figueras herausgeholt hatten. Die Umschläge holte er im Auftrag von Federigo Salinas. Der hatte ihn ins Chefzimmer rufen lassen. Ihm für den Job eine Extravergütung angeboten. Es geht um vertrauliche Börseninformationen – hatte er nach der Behauptung von Figueras gesagt. Eine heikle Transaktion, wie es im Geschäftsleben nun mal vorkomme: Deshalb bitte er ihn, Figueras, und nicht einen von seinen Geschäftsführern, die von den Vertretern der Warenhauskette eventuell erkannt würden. Und deshalb bat er Figueras, ge– 109 –
wisse Sicherheitsregeln zu beachten. Figueras fragte nicht viel nach. Er war ein kleiner Mann und freute sich über das Vertrauen und die unerwartete Einnahme. Nach seiner Behauptung wußte er nicht, daß Enrique Salinas der Sohn seines Chefs war. Das konnten wir ihm abnehmen: Solange wir ihn unter Beobachtung hielten, war Enrique Salinas kein einziges Mal in die Büros des Salinas-Hauses gekommen. Beim erstenmal traf Figueras ihn aufgrund einer Personenbeschreibung, später kannte er sein Gesicht bereits. Die Umschläge übergab Figueras dann an Federigo Salinas. Na ja, nun werden Sie daraus doch mal klug. Wir probierten es. Wir fügten zusammen, nahmen auseinander, fügten dann wieder zusammen und kauten es von neuem durch. Fragen: Von wem bekam Enrique den Briefumschlag? Figueras wußte es nicht. Ja, selbst wir wußten es nicht, obwohl wir über jeden Schritt von Enrique Bescheid wußten. Weiter: Warum übergab Enrique den Umschlag nicht seinem Vater direkt? Dafür bot sich nur eine einzige Erklärung an: Enrique darf die Rolle – eventuell sogar die Beteiligung – seines Vaters in der – 110 –
Widerstandsgruppe nicht kennen und auch nicht erfahren, daß er den Umschlag in Empfang nimmt. In diesem Fall war davon auszugehen, daß Federigo Salinas im Hintergrund alle Fäden in der Hand hielt und daß wir in seiner Person einen wichtigen Mann, wenn nicht gar den heimlichen Anführer des Widerstandes ausfindig gemacht hatten. Rodriguez zum Beispiel war sich dessen sicher. Die Arbeit erregte ihn, seine Pantheraugen glühten und blieben ab und zu an dem Modell auf seinem Tisch hängen. Gute Arbeit aber gibt es nicht ohne Methode. Vor allem anderen mußten wir die erste Frage lösen. Darauf konnten wir einzig und allein von Enrique eine Antwort bekommen. «Enrique Salinas», sagt Diaz, «nimmst du fest, Martens. Aber nicht in seiner Wohnung. Du kannst ihn an jedem beliebigen anderen Ort schnappen, aber mach kein großes Aufsehen.» Das habe ich auch nicht getan. Ich faßte ihn mit meinen Leuten auf der Straße, am nächsten Vormittag gegen elf Uhr, nachdem er aus B. zurückgekehrt war. Wir warteten, bis er seinen Wagen in der Garage abgestellt hatte und in die Wohnung hinaufging. – 111 –
Offenbar verständigte er seine Mutter, daß er zurück war. Ein wenig später kam er aus irgendeinem Grund wieder auf die Straße herunter. Wir schoben ihn im Verkehr einfach in die Limousine. Dafür hatten wir unsere Spezialisten. Ehe er sich besann, saß er bereits zwischen uns, mit der einen Handschelle an mich, mit der anderen an einen meiner Leute gekettet. «Was wollen Sie? Wer sind Sie?» fragte er. Wir schwiegen, wie das so bei uns üblich ist. «Polizei? Das Corps?» versuchte er es noch einmal. Dann schwieg auch er. Er schwieg, als wir ausstiegen und ihn über die finsteren Innenhöfe der Zentrale führten, und er schwieg, während wir ihn über die langen Flure geleiteten, wo die Verhafteten die Wand mit Stirn und Händen stützten, die sprungbereiten Wachposten im Rücken. So machten wir das immer. Auch das gehört zur Vorbereitung des Feldes. Und er schwieg vor allem, als sich Diaz an die Vernehmung machte. Obwohl Diaz sanft mit ihm umging, und zwar nicht mal mit seiner teuflischen Sanftheit, sondern außergewöhnlich sanft. Er nahm das Verhör diesmal allein in die Hand und wollte keinerlei Zeremonie. – 112 –
«Wir hätten einige Fragen an dich. Wir gehen von der Vermutung aus, daß du persönlich unschuldig bist. Wenn du anständig antwortest, kannst du danach nach Hause», so Diaz. Doch Enrique beantwortete nicht eine einzige Frage. Ich wußte, daß er innerlich zitterte – das konnte nicht anders sein –, doch sein Gesicht blieb so verschlossen wie eine Faust. Und er schwieg, schwieg unerschütterlich. «Hör mal zu», fragte ihn Diaz, «bist du dir im klaren darüber, wo du bist? Wir fackeln hier nicht lange herum. Wir können auch anders reden.» Doch Enrique schwieg. Er schwieg halsstarrig, mit einer dummen Verbissenheit. Rodriguez und ich saßen nur herum, zu Untätigkeit verdammt. Ich verstand Diaz damals nicht, ich verstand ihn ganz und gar nicht. Sollte er dieses eine Mal einen Fehler gemacht haben? Sollte er vielleicht die falsche Methode angewandt haben? Inzwischen glaube ich das weniger. Inzwischen sehe ich schon genauer, worauf Diaz da aus war. Doch wie ich schon sagte, ich war ja noch neu, damals sah ich noch nicht hinter die Kulissen, ich bin auf das hereingefallen, was sich unmittelbar vor – 113 –
meiner Nase abspielte. Inzwischen wäre ich mir nicht mehr so sicher, ob Diaz tatsächlich gewollt hat, daß Enrique redete. Er wäre sonst wohl kaum von der Behauptung ausgegangen, daß Enrique unschuldig sei. Oder hätte ihm das zumindest nicht gesagt. Dafür war Diaz ein zu guter Bulle, ein viel zu guter sogar. «Nun?» erkundigte er sich sanft, Enrique gegenüber, einen Oberschenkel auf den Tisch gedrückt, wie immer. Doch Enrique schwieg. Nach einigem Warten beugte sich Diaz dann vor. Sanft war Diaz eigentlich auch jetzt, sanft und schonend. In welchem Maß er das war, konnte nur ich wirklich sehen, Enrique hatte davon wahrscheinlich keine Ahnung. Er spürte wahrscheinlich nur, daß seine Nase blutete. «Nun?» fragte Diaz. Und da passierte eine komische Sache. Als sich Diaz zu ihm herunterbeugte, spie ihm Enrique einen breiten Strahl Spucke ins Gesicht. Es war eine komische Sache, und nicht nur eine komische. Ich muß sagen: eine dilletantische. Ja, das muß ich sagen. Diaz spuckt man nicht ins Gesicht. Nicht, daß – 114 –
er nicht auch tausend Gründe dafür geliefert hätte: aber es ist nun mal zwecklos und riskant. Und um zweckloser Dinge willen riskiert man nichts. Da muß zumindest eine hochgradige Verbitterung im Spiel sein. Oder hochgradige Unwissenheit. Wie auch immer, wer auch nur irgendein Verhältnis zum Leben hat, zum richtigen Leben, der spuckt Diaz nicht ins Gesicht. So etwas ist während meiner Laufbahn nie mehr vorgekommen. Kurzum, da hat mich zum erstenmal ein dumpfer Schrecken wegen Enrique erfaßt, der mich später nie wieder verließ. Ich erschrak vor ihm, weil ich mit einemmal spürte, daß er unschuldig war. Daß er unschuldig war und die Unschuld unversöhnlich wie die vergewaltigte Jungfräulichkeit. Es war ein scheußliches Gefühl, ja, noch weitaus mehr als das, denn ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Obwohl ich sah, daß auch Diaz einigermaßen betroffen war. Er sagte nichts, stieg nur vom Tisch und wischte sich zerstreut das Gesicht ab. Dann lief er ein paarmal, die Hände auf dem Rücken verschränkt, im Zimmer auf und ab. Das war, wie ich schon sagte, seine Angewohnheit, wenn er nach– 115 –
dachte. Manchmal brummelte er. Schließlich blieb er hinter Enrique stehen. Legte ihm die Hand auf den Kopf. «Du bist ein großes Rindvieh, mein Lieber», sagte er, «ein riesengroßes Rindvieh.» Und Rodriguez, dessen ungeduldige Finger die ganze Zeit an seinem Modell herumgefummelt hatten, erhob sich nun von seinem Platz. Es vergingen Minuten, lange Minuten, bis er ihn von drüben zurückbrachte. Ich sah Diaz an, doch merkwürdig, Diaz setzte sich diesmal nicht auf seinen Tisch. Diaz blickte irgendwohin zur Seite, ich weiß nicht wohin. «Nun?» fragte er. Aber Enrique antwortete nicht. Er konnte nicht. Er schlief oder weiß der Teufel was. Da blickte Diaz doch zu ihm hin. «Rindvieh!» sagte er dann zu Rodriguez. «Was zum Teufel hast du mit diesem Bengel gemacht?!» So stand es also bei uns. Eine Aussage konnten wir von Enrique so bald nicht erwarten. Zumindest nicht ohne Krankenhausbehandlung. Damit hatte auch Diaz nicht gerechnet. Diesen Eindruck machte er – 116 –
jedenfalls. Inzwischen würde ich darauf nicht mehr schwören. Doch wie ich schon sagte, damals, als Neuer, fiel ich noch auf das herein, was sich unmittelbar vor meiner Nase abspielte. Diaz kannte seine Leute und wußte sehr wohl, was er wollte. Es wäre jedem schwergefallen, ihn zu überraschen. Doch daran dachte ich damals eben nicht. Er machte Rodriguez keinen Vorwurf, warum sollte er auch. Diaz mochte keine überflüssigen Worte. Er war ein Mann der Tatsachen, und was geschehen war, das war nun mal geschehen. Man mußte vorwärtskommen, immer vorwärts. Es war schon etwas Wahres an Diaz’ Logik, ja: So ist unser Beruf nun mal, wenn du einmal damit angefangen hast, bleibt nur noch die Flucht nach vorn. «Wir sollten Salinas holen», sagte Rodriguez. «Ja», nickte Diaz. «Soll ich das machen?» bot sich Rodriguez an. «Nein», winkte Diaz ab. Nur die beiden sprachen miteinander, mich fragten sie gar nicht mehr. Ich saß da und hörte ihnen zu. Ich hatte Kopfschmerzen, gräßliche Kopfschmerzen. Vielleicht war mir das sogar anzusehen. «Er wird noch abhauen», sorgte sich Rodriguez. – 117 –
«Wohin?» fragte Diaz. «Was weiß ich! Solche Leute haben immer eine Bleibe», echauffierte sich Rodriguez. «Der haut mir noch im letzten Moment ab, der verfluchte Bourgeois.» «Wir kämpfen nicht ausdrücklich gegen das Kapital», erinnerte ihn Diaz. «Das ist mir egal», Rodriguez’ Augen glühten. «Bourgeois, Jude, Welterlöser, das ist alles ein und dasselbe. Alle wollen nur Aufruhr.» «Und du», erkundigte sich Diaz, «was willst du, mein lieber Rodriguez?» «Die Ordnung. Aber meine Ordnung», so Rodriguez. «Soll ich gehen?» «Nein. Wir warten», entschied Diaz. Er durchquerte ein paarmal den Raum, die Hände auf dem Rücken verschränkt. «Jetzt ist es Mittag», fuhr er dann fort. «Ihr geht nach Hause und schlaft eine Runde, Jungs. Abends um sieben seid ihr wieder da. Rechnet damit, daß ihr unter Umständen die ganze Nacht im Dienst sein werdet. Möglicherweise bekommen wir viel Arbeit.» Mehr sagte er nicht. Ich will verdammt sein, wenn ich auch nur geahnt hätte, was er vorhatte. Aber so – 118 –
war Diaz eben. Und was mich betrifft, ich freute mich immer über freie Stunden, die ich unerwartet geschenkt kriegte. Unser Dienst ist schwer, da können wir mal ein bißchen Entspannung gebrauchen. Es gab eine Zeit, wo es mir lieber gewesen wäre, diese Stunden mit Diaz zu verbringen. Es hätte mich interessiert, wie er das Netz der Logik spinnt, und es hätte mich interessiert, wie er zum Beispiel den Oberst gewinnen würde. Inzwischen erscheint mir das einfach: Er hat ihm die Tatsachen vorgelegt. Und auch der Oberst konnte nur vorwärtsgehen, auch für ihn gab es nur noch die Flucht nach vorn. In diesem Spiel hatte, wie ich schon sagte, jeder seine Rolle, Enrique ebenso wie der Oberst. Und auch Diaz, der sich einbilden konnte, die Rollen verteilt zu haben. Auch Diaz befand sich innerhalb der Logik, der Oberst mußte ihn ebenso kennen wie Diaz beispielsweise Rodriguez. Ja, außerhalb der Logik war hier für niemanden mehr Platz. Kurzum, um sieben Uhr kamen wir wieder zusammen. Da hatte Diaz die Vollmacht schon in der Hand. Er muß sie in der Hand gehabt haben, denn für diese Arbeit brauchte man eine Vollmacht. – 119 –
Keine allgemeine, die hätte nicht gereicht: eine Sondervollmacht. Glauben Sie übrigens nicht, daß ich damals auch nur irgend etwas davon gewußt hätte. Uns hat Diaz nichts gesagt, er hatte das nicht nötig. Wir folgten ihm blindlings auf dem Weg der Logik, er war unser Vorgesetzter, und wir konnten ihm nicht widersprechen. Wir saßen da, warteten, bliesen Rauch in die Luft. Es war heiß, meine Kopfschmerzen hatten kaum nachgelassen. Abends um neun klingelte das Telefon. «Major Diaz», meldete sich Diaz. Kurze Zeit später sagte er dann: «Es ist mir eine besondere Auszeichnung, Ihnen zu Diensten zu sein, Herr General.» Aber mit einer Stimme, als hätte er vorher Öl geschluckt. Und kaum eine Stunde später meldete sich der Kommandant der Torwache. Der Wachkommandant war unterrichtet, an diesem Tag kannte in der Zentrale jeder seine Aufgabe. «Ein Herr», meldete er, «der sich als Federigo Salinas, Inhaber der SalinasWarenhäuser ausweist, bittet den diensthabenden Offizier um dringende Vernehmung.» «Geleiten Sie ihn herauf», sagte Diaz elegant ins – 120 –
Diktaphon. Und schlägt die Beine übereinander, als erwarte er unseren Beifall. Man sage, was man will, er hätte ihn verdient. Erst jetzt konnten wir sehen, was für ein Bulle Diaz war. Zehn Minuten später konnten wir Federigo Salinas in unserem Büro begrüßen. Er erschien im dunklen Anzug, respektgebietend, kühl und förmlich. Diaz verneigte sich wie ein ausgedienter Tanzlehrer. Er konnte sich gut benehmen, dieser Diaz, verdammt gut. «Gestatten Sie mir», sagte er, «Ihnen meine Mitarbeiter vorzustellen. Herr Rodriguez. Herr Martens.» Salinas sah uns kaum an. Er nickte kurz, wie ein König von seinem Thron. Salinas war ein richtiger Herr, unheimlich gewandt. «Freut mich», sagte er. Also, was das betrifft, dazu hatte er nicht den geringsten Grund. «Eigentlich müßte ich den Herrn Oberst sprechen», sagte er dann. «Der Herr Oberst», flötete Diaz, «bereitet sich auf seine morgige Parlamentsrede vor.» «Jedermann beruft sich darauf. Ich konnte den ganzen Abend keine Telefonverbindung mit ihm – 121 –
herstellen», ärgerte sich Salinas. «Obwohl ich solche Vermittler um Hilfe ersucht habe wie den Bankier Vargas und General Mendoza von der Armee.» «Ich hatte soeben Gelegenheit, mit dem Herrn General zu sprechen», bemerkte Diaz eifrig. «Nehmen Sie Platz, Herr Salinas. Wir stehen Ihnen zur Verfügung, haben Sie Vertrauen zu uns. Eine Zigarre?» Ja, so lief das am Anfang. Ungeheuer gewählt, wie Sie sehen. Diaz drängte Salinas nicht, der wandt sich hin und her. Irgend etwas lag ihm schwer auf dem Magen, das war ihm anzusehen. Und Diaz wartete taktvoll wie ein Beichtvater. Schließlich ging Salinas eher die Geduld aus. «Eigentlich», tastete er sich vor, «handelt es sich um meinen Sohn.» Stille. Vielleicht erwartete er eine Ermutigung von Diaz. Doch Diaz schwieg, mäßiges Interesse und lauter unschuldigen Diensteifer auf seinem glatten Gesicht. «Mein Sohn», sagte Salinas, «also … mein Sohn ist im Laufe des heutigen Tages verschwunden.» «Nanu», stellte sich Diaz überrascht. «Verschwunden?» – 122 –
«Verschwunden», wiederholte Salinas. «Ich fürchte», sagte Diaz bedenklich, «daß in dieser Sache nicht wir zuständig sind. Sie sollten sich vielleicht bei der Polizei oder – wenn Sie wirklich Befürchtungen haben – beim Rettungsdienst erkundigen.» «Die wissen nichts von ihm.» «Nebenbei bemerkt», lächelt Diaz, «pflegen junge Männer mitunter unerwartet für einen Abend oder für eine Nacht zu verschwinden. Da brauchen wir nicht gleich das Allerschlimmste zu vermuten.» «Ohne Zweifel», so Salinas. «Gestatten Sie mir jedoch, in diesem Fall nach meinen eigenen Vermutungen vorzugehen. Im Laufe des vergangenen Tages ist nämlich auch ein Angestellter von mir spurlos verschwunden.» Die Unterhaltung begann interessant zu werden, ausgesprochen interessant. Als hätte sich etwas zwischen ihnen verhärtet, das Gesicht von Salinas war nicht mehr das alte. «Ich verstehe immer noch nicht», so Diaz, «womit wir Ihnen zur Verfügung stehen können.» «Haben Sie ihn nicht hierherverbracht?» fragt darauf Salinas, ohne die Stimme zu erheben. Doch mir – 123 –
kam unwillkürlich der Gedanke, daß auch Salinas unangenehm dreinschauen konnte, genauso unangenehm wie manchmal Diaz. «Wir», sagt darauf Diaz, «verbringen nur Personen hierher, die wir aus triftigen Gründen verdächtigen.» «Ich muß Ihnen ehrlich sagen», sagt nun Salinas, «daß gewisse Umstände … ich kann Ihnen versichern, ganz und gar harmlose Umstände … meinen Sohn womöglich in den Anschein eines solchen Verdachts bringen konnten.» «Ihrer Vermutung nach hat er also irgend etwas begangen?» fragt Diaz. «Ist er hier?» sagt darauf Salinas. «Ihrer Vermutung nach hat er also irgend etwas begangen, weswegen er hier sein könnte?» wiederholt Diaz. «Haben Sie ihn festgenommen?» fragt Salinas noch einmal. Und nun sah Diaz ihn bei weitem nicht mehr so freundlich an. «Herr Salinas», bemerkt er, «Sie stellen uns merkwürdige Fragen. Und Sie stellen Ihre merkwürdigen Fragen auch merkwürdig.» «Ist er hier oder ist er nicht hier?!» Salinas sprang – 124 –
auf. Für einen Moment befürchtete ich, er würde Diaz an der Brust packen. «Setzen Sie sich wieder hin, so verhandeln wir nicht. Sie scheinen zu vergessen, wo Sie sind, Herr Salinas», sagte Diaz, und seine Stimme klang bereits unangenehm, immer unangenehmer. «Ich weiß, wo ich bin. Ich bin schließlich selbst hierhergekommen. Wollen Sie mir drohen?» fragt Salinas. «Nein. Ich möchte Sie nur an die Hausordnung erinnern», so Diaz. «Was wollen Sie damit sagen?!» «Nur soviel, daß wir hier diejenigen sind, die fragen. Wir fragen, und Sie antworten, Herr Salinas.» Damit erhebt sich Diaz und knipst die Verhörlampe an. Er geht bedächtig um den Tisch herum und nimmt mit einem Oberschenkel darauf Platz. Genau gegenüber von Salinas. Rodriguez erhebt sich und tritt an die Seite von Salinas. Und ich hinter seinen Rücken. «Was wollen Sie?» fragt Salinas verdutzt. «Nichts Besonderes, Herr Salinas», erwidert Diaz. «Wir hätten einige Fragen an Sie.» – 125 –
Und wir fangen an. Im großen und ganzen so, wie ich es oben schon einmal beschrieben habe. Salinas erwies sich als harter Bursche, er strapazierte unsere Geduld gründlich. Erst als sein Sohn heraufgebracht wurde, knickte er ein. Man mußte ihn im wahrsten Sinne des Wortes heraufbringen, gehen konnte er nicht. «Nun?» fragte Diaz. «Nicht vor meinem Sohn», sagte Salinas nach einer Weile stumpf, das Gesicht in den Händen vergraben. «O doch», sagte Diaz. «Oder wir brechen dir die Knochen. Wir überlassen dir die Wahl.» Und Salinas kam bald zur besseren Einsicht. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich mich genau erinnere, wer das gesagt und wer was gefragt hat und in welcher Reihenfolge. Ich kann mich nicht mal an meine eigenen Worte erinnern. Es war ein Durcheinander, ich hatte Kopfschmerzen. Und hin und wieder packte mich der Arbeitseifer, ich beugte mich vor und fragte etwas. «Von wem erhielt Enrique den Umschlag?» «Von mir.» – 126 –
«Wem hat Figueras den Umschlag gegeben?» «Mir.» «Du willst uns erzählen, du hättest über die Vermittlung von Enrique und Figueras mit dir selber korrespondiert?!» «So war es. Ja.» «Willst du uns zum Narren halten?!» «Ich kann nichts anderes sagen. Das habe ich getan.» «Warum hättest du das tun sollen?» «Um Unheil vorzubeugen, und damit mein Sohn nicht irgendeinen verhängnisvollen Schritt unternimmt.» «Was für einen verhängnisvollen Schritt?» «Ich hatte Angst, daß er in eine studentische Widerstandsgruppe hineingezogen wird.» «Lieber hast du ihn dann hineingezogen, in deine eigene geheime Zelle, stimmt’s?!» «Es gibt keine geheime Zelle. Es gibt überhaupt keine Geheimorganisation. Ich habe mir das alles ausgedacht.» «Was hättest du für einen Grund dafür gehabt?!» «Das habe ich schon gesagt. Um meinen Sohn zu schützen.» – 127 –
«Und warum waren die Briefe dazu nötig?!» «Um seine Phantasie zu befriedigen und seinen Tatendrang zu binden. Auf nüchterne Argumente hätte er nicht gehört. Ich mußte den Anschein erwecken, als würde er eine Geheimtätigkeit verrichten.» «Und tat er das nicht?!» «Nein. Er ist unschuldig. Sowohl er als Figueras als auch ich. Ich kann es beweisen.» «Das ist noch ein Stückchen hin. Was bedeutet IHAUMS?» «Die Anfangsbuchstaben von: ‹Ich habe Angst um meinen Sohn›. Ich habe das Kürzel für alle Briefumschläge verwendet. Drei habe ich schon verbraucht …» «Zwei!» «Dann wissen Sie nichts von dem ersten. Sie haben meinen Sohn erst später angefangen zu observieren. Es gibt noch sieben Umschläge …» «Wo?» «Beim Notar Quintieros. Dort habe ich sie hinterlegt.» «Wozu?» «Um mich abzusichern und nötigenfalls die Unschuld meines Sohnes beweisen zu können.» – 128 –
«Damit kommst du ein bißchen zu spät.» «Ich habe in seinem Interesse gehandelt. Ich sah, daß er in sein Unglück rennt. Mich trieb die Sorge, ich habe das alles seinetwillen getan. Sie haben seine Vertrauensseligkeit mißbraucht. Mörder! Halunken!» Es folgte eine Pause. Dann kamen wir wieder auf die Umschläge zurück. «Ich habe in jeden Umschlag das gleiche Blatt Papier getan. Alle durchnumeriert und auf alle das gleiche geschrieben: IHAUMS. Und alle auf meiner eigenen Schreibmaschine, damit Sie die Typen identifizieren können. Sie haben Ihre Kompetenz übertreten, dafür werden Sie sich alle verantworten müssen! Die Umschläge beim Notar Quintieros …» Und so weiter. Könnte ich sagen, daß uns überrascht hat, was wir von Salinas erfuhren? Mich hat an dem Abend gar nichts mehr überrascht. Diaz aber sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Im allgemeinen war Diaz ein ruhiger Mensch, ich hatte ihn noch nie so nervös gesehen. Er beugte sich ganz weit vor, vor das Gesicht von Salinas. – 129 –
«Hältst du uns für bescheuert?! Was denkst du, wer wir sind?! Plattärschige Juristen, die vor deinem Notar den Hut ziehen werden?! Glaubst du, wir haben noch nie von einem doppelten Spiel gehört? Glaubst du, wir können uns nicht vorstellen, daß du mit der einen Korrespondenz die andere verdekken willst?! Glaubst du, wir wüßten nicht, wie viele Bedeutungen ein Code haben kann?! … Denk ja nicht, daß du uns aus den Händen kommst! Nicht, bevor wir die ganze Wahrheit aufgedeckt haben!» Und es begann wieder alles von vorn. Seien Sie nicht erpicht darauf zu erfahren, was sich am Abend desselben Tages noch alles abgespielt hat. Das war kein Verhör mehr, sondern der Vorhof der Hölle. Wie ich schon gesagt habe, ich war noch neu, ich fing damals gerade erst an zu erkennen, wo ich war und worauf ich mich eingelassen hatte. Ich hatte natürlich gewußt, daß beim Corps andere Maßstäbe herrschten, doch geglaubt, daß es immerhin Maßstäbe gab. Nun ja, es gab sie nicht: Seien Sie also nicht erpicht darauf zu erfahren, was sich dort an jenem Abend abgespielt hat. Wir nahmen auch den Notar fest. Wir nahmen – 130 –
ihn fest, weil er seine staatsbürgerliche Pflicht zur Anzeige versäumt hatte, wir nahmen ihn fest, weil es Diaz so wollte. Wir überraschten ihn beim Abendessen, sie feierten gerade irgend etwas. Der Notar war ein selbstbewußter Mann, er protestierte und forderte einen Anwalt. Dann saß er nur noch zwischen uns, in zerrissenem Hemd, seine pomadigen Wangen waren eingefallen, seine wulstige Unterlippe hing herab. «Ich verstehe Sie nicht, meine Herren», stammelte er, «ich verstehe Sie nicht. Was wollen Sie von mir? Der Staat setzt doch sein Vertrauen in mich …!» «Na ja», nickte Diaz wie ein Volksschullehrer. «Nur daß wir unser Vertrauen nicht auf den Staat setzen.» Der Notar starrte ihn nur mit seinen winzigen wäßrigen Augen an. «Das verstehe ich nicht», sagt er, «das verstehe ich nicht. Worauf vertrauen Sie dann?» «Auf das Verhängnis. Aber gegenwärtig haben wir die Rolle des Verhängnisses übernommen, das heißt, wir vertrauen auf uns selbst», so Diaz, mit einem Oberschenkel auf dem Tisch, Diaz mit seinem unvergleichlichen Lächeln. – 131 –
Das war für mich wie eine Botschaft, die Diaz mir über den Notar vermittelte. Und endlich verstand ich Diaz’ Logik, ich glaube jedenfalls, daß ich sie verstanden habe. Ich begriff, daß wir inzwischen alles abgelegt hatten, was uns noch an die Gesetze der Menschen band, und ich begriff, daß wir unser Vertrauen auf nichts mehr setzen konnten als auf uns selbst. Nun ja, und auf das Verhängnis, dieses unersättliche, gierige und ewig hungrige Räderwerk. Betrieben wir es noch? Oder betrieb es uns? Inzwischen ist es einerlei. Wie ich schon gesagt habe, man glaubt, die Ereignisse schlau an der Kandare zu haben, und dann will man nur noch wissen, wo sie zum Teufel mit einem hingaloppieren. Die Vernehmungen dauerten noch eine Weile. Wir luden Zeugen vor, nahmen Protokolle auf, führten das Verfahren durch. Und knüpften den Faden der Logik im Laufe des Verfahrens immer fester. Die Akte Salinas füllte sich. Dann legten wir sie beiseite. Wie gesagt, es gab um diese Zeit viel für uns zu tun, die ungünstigen Vorzeichen mehrten sich. Nur die Tonbänder rotierten weiter, automatisch, – 132 –
unentwegt. Sie nahmen die Worte und die Geräusche ihres Häftlingsdaseins in der Zelle auf, die niemanden mehr interessierten. Ich allerdings habe sie mir oft angehört. Schade, daß ich sie nicht bei mir habe, ich hätte jetzt viel davon, so wie von Enriques Tagebuch. Aber ich habe sie noch im Gedächtnis, da sind sie und drehen sich unablässig. Es ist nur noch ein kurzes Stück, nur ein kleiner Bruchteil des Originals, aber so ist das Gedächtnis nun mal. Es montiert die Stimmen zusammen, schneidet das Unwichtige heraus, ergänzt den verschwommenen Sinn und spult ungebeten immer wieder das ab, was wir vielleicht am liebsten löschen würden. Und da ist das Schweigen zwischen den Worten. Dieses Schweigen kann ich am schwersten ertragen. Denn es ist nie ein absolutes Schweigen. Es ist voll von Geräuschen, charakteristischen Lauten, von Seufzen und Stöhnen. Das ist die wahre Stimme des eingekerkerten Menschen. Wie viele Nuancen zum Beispiel das Seufzen hat – das wissen nur diese Bänder. Wie gesagt, auch wenn sie mich für manisch halten, diese Stille kann ich am schwersten ertragen. – 133 –
«Haßt du mich, Enrique?» «Natürlich hasse ich dich, Vater. Möchtest du Wasser? Ich habe noch etwas … Trink es nicht ganz aus.» Schlucke, lange schwere Schlucke. Stille. Das Knarren des Metallbetts. Auch in der Gefangenschaft sucht man nach Bequemlichkeit – dafür bin ich heute sehr aufgeschlossen, außerordentlich aufgeschlossen. Stöhnen. «Soll ich dir helfen, Vater?» «Nein. Es ist schon gut so …» «Tut es weh?» «Ist schon gut. Ich habe nur dein Bestes gewollt, Enrique … Du wußtest nicht, was du willst … Du konntest es nicht wissen. Du solltest leben, das war für mich die einzige Aufgabe … Zeit gewinnen … überleben …» «Ich hoffe, sie bringen mich um.» «Red keinen Unsinn, Enrique! Es gibt überhaupt keine ernsthaften Beweise … Wir haben nichts getan. Sie müssen uns freilassen!» «Ich will hier nicht mehr herauskommen. Diesen einen Gefallen müssen sie mir noch tun. Vielleicht tun sie es ja auch, sie wissen ja nicht, daß es ein Gefallen ist …» – 134 –
«Du bist wahnsinnig, Enrique! Denk an das Leben! … Denk an die Welt!» «Ich kann nicht. Du hast die Welt für mich verkehrt, Vater … Wenn sie mich nicht umbringen, werde ich töten. Und vielleicht dich zuerst, Vater … Suchst du Wasser? Schon wieder Wasser?» Die Spule dreht sich, in meinem Gedächtnis wimmelt es von Tönen. «Ist es Abend, Enrique?» «Wahrscheinlich, Vater … Jenseits dieser Mauern sagen die Menschen einander jetzt gerade ‹Guten Abend, Madame. – Guten Abend, mein Herr. – Ein schöner Abend heute. – Und die liebe Familie?›» «Weißt du noch, Enrique, wie ein Abend draußen ist? Ein einfacher, ganz alltäglicher Abend … Wenn plötzlich das Licht der Stadt aufleuchtet … Gewöhnliche Reklamelichter, die Aperitifs, Erfrischungsgetränke, Mode und Konsumartikel anpreisen? Die Gerüche, Enrique … Benzin, Schweiß, Parfüm … Die Geräusche …» «Träume nicht, Vater, wir sterben ja bald!» «Nein, Enrique! Nein! … Meine Freunde können mich nicht im Stich lassen. Mein Tod würde auch auf sie einen Schatten werfen … Einen schweren – 135 –
Schatten … Nein, das können sie auf keinen Fall dulden … Auch ich würde es dort draußen nicht dulden, daß ein bedeutender Geschäftsmann … ein führender Geschäftsmann … Nein, das ist unmöglich! Deine Mutter setzt jetzt draußen alle Hebel in Bewegung … Sie nutzt jede Verbindung. Der Handel ist die Existenzgrundlage des Staates, versteh doch! Vor dem Handel muß selbst der Oberst kapitulieren! …» «Ich bewundere dich, Vater! Auch jetzt hoffst du noch? Aber was willst du denn?! Was kannst du nach alldem noch wollen?» Und nun folgte ein seltsamer Laut. Ein Wort, das ich nicht verstand. Ich mußte das Gerät auf doppelte Lautstärke stellen, um dieses Flüstern herauszufiltern. Und jetzt, da auch meine Zukunft fragwürdig geworden ist, bin ich, auch wenn ich sie nicht teilen kann, so doch geneigt, die Inbrunst nachzuvollziehen, die Salinas in dieses einzige Wort legte: «Leben …» Eines Tages passierte dann das Attentat. Sie erinnern sich sicher daran, natürlich erinnern Sie sich. Es war ein Riesentrara: Tatortbesichtigung, – 136 –
ständige Dienstbereitschaft und so fort. Es gab Kabinettssitzungen, Parlamentsausschüsse, diplomatische Skandale und internationale Proteste. Ein paar Tage lang zerriß sich die ganze Welt das Maul darüber. Und der Oberst beehrte unser Büro mit einem Besuch. «Ihr Hornochsen! Womit schlagt ihr hier die Zeit tot?» legte er los. Fünf ganze Minuten überschüttete er uns mit seiner Wut, und wir duckten uns mit gesenkten Köpfen wie Pflanzen beim Gewitter. Dann ließ er allmählich wieder nach wie der Donner, der vorüberzieht. «Was ist mit dem Fall Salinas?» fragt er auf einmal. Nicht Diaz fragt er, nicht Rodriguez und auch nicht mich. Er fragt nur so, in die Luft hinein, wie jemand, der einen Ball in die Luft wirft: Wer ihn auffängt, hat ihn. Niemand griff danach, also fing ich, der Neue, ihn auf. «Vorläufig», sage ich, «sind wir an einem toten Punkt angelangt.» «So», meint darauf der Oberst. «An einem toten Punkt. Und was soll ich darunter verstehen?» fragt – 137 –
er nunmehr mich, doch ich könnte nicht sagen, besonders freundlich. «Momentan», sage ich, «äh … sind wir mit der Ermittlung steckengeblieben.» «So», sagt er. «Was schlagen Sie also vor?» Das war eine unangenehme Frage und eine äußerst gefährliche dazu. Schlauerweise hätte ich sagen können, daß hier Diaz über die Vorschlagskompetenz verfüge. Aus den Augenwinkeln sah ich schon sehr wohl das unvergleichliche Lächeln von Diaz und die funkelnden Pantheraugen von Rodriguez. Doch ich hatte den Ball nun mal aufgefangen, und wenn ich ihn schon mal aufgefangen hatte, trug ich ihn also auch weiter. «Sie mußten auf freien Fuß gesetzt werden», sage ich und stottere nicht einmal dabei. «So. Und wie ist ihr Gesundheitszustand?» fragt darauf der Oberst. Daraufhin trat Schweigen ein, tiefes Schweigen. «So», sagt der Oberst noch einmal. Seine Stimme hob sich allmählich, wurde allmählich immer höher und drohender, dem Ton von Sirenen vergleichbar. «Das heißt also, mein Corps hält unschuldige Menschen gefangen. Mein Corps verhört unschuldige – 138 –
Menschen. Mein Corps foltert unschuldige Menschen. Und was sage ich dem Parlament?! Was sage ich der Handelskammer?! Was sage ich der ausländischen Presse?!» Und inzwischen steht er vor mir und brüllt mir direkt ins Gesicht: «Kommissar! Dafür lasse ich Sie zur Verantwortung ziehen! … Zur Verantwortung ziehen, aburteilen und im Knast verrecken! Verstanden?!» Ich hatte verstanden, natürlich hatte ich verstanden. So sehr verstanden, daß ich nur so zitterte. Doch nicht vor dem Oberst zitterte ich, wie er sicher glaubte. In diesem Moment zitterte ich vor der Logik, vor nichts anderem. Und da packt mich der Oberst auf einmal an der Nase. So richtig mit zwei Fingern, wie man das bei Gören macht. Er dreht ein paarmal und tätschelt mir dann väterlich die Wange. «Du kleines Rindvieh», sagt er zärtlich, «du kleines Rindvieh, du!» Und damit tritt er auch schon zum Tisch von Rodriguez. Ihm war unterdessen das Modell ins Auge gefallen, ich hatte es schon zuvor bemerkt. «Was ist das hier?» erkundigt er sich. – 139 –
«Das?» grinst Rodriguez verschämt. «Eine BogerSchaukel.» «Boger?» fragt der Oberst. Komisch, das fragt immer jeder zuerst. «Warum Boger?» «Er hat sie erfunden», erklärt Rodriguez. Und damit beginnt er mit einer ausführlichen Erläuterung. Den Text kennen Sie ja, ich möchte mich nicht gern auf eine Wiederholung einlassen. «Dieser Teil hier», er beschreibt mit seinem Finger einen kleinen Bogen darüber, «wird freigelegt.» Er brauchte nicht lange zu reden, der Oberst begriff schnell. «Ihr Schweine», sagt er voller Behagen, «ihr kleinen Dreckschweine.» Er wirbelt die Figur ein paarmal herum. «Schickt mir diesen Boger zur Vernehmung.» «Das geht nicht, Herr Oberst», entschuldigt sich Diaz. «Wieso nicht?» fragt der Oberst verdutzt. «Weil er seine lebenslängliche Haft in Deutschland verbringt», so Diaz. Ja, so ein Mensch ist dieser Diaz. Er äußert sich nicht, geht den Dingen aber inzwischen nach. Und holt sein Wissen dann ganz unerwartet hervor, immer dann, wenn es gerade für – 140 –
jemanden unangenehm ist. Nicht einmal mit dem Oberst machte er eine Ausnahme. «Rindviecher!» sagt der Oberst mit verdüsterter Miene. Und eilt auch schon zur Tür. «Herr Oberst!» ruft ihm Diaz nach. «Wie sollen wir also im Fall Salinas vorgehen?» Der Oberst drehte sich um und überlegte einen Augenblick. «Stellen Sie die Beweise zusammen», sagte er dann. «In anderthalb Stunden tritt das Sondergericht zusammen.» Diaz brauchte dafür keine anderthalb Stunden. Ich will verdammt sein, wenn es noch irgend jemand schafft, mit einer derartigen Geschwindigkeit ein lückenloses Ermittlungsprotokoll über den Strafbestand der Geheimbündelei gegen die Sicherheit des Vaterlandes zustande zu bringen wie Diaz. Zwei Stunden später stand ich mit Diaz in einer Fensternische. Es war eine klassische Fensternische auf einem der klassischen Flure der Zentrale. Der Ausblick ging auf einen engen Hof. Auf seiner einen Seite waren Pfähle aufgereiht. An zwei von ihnen in der Mitte waren die beiden Salinas, Vater und – 141 –
Sohn, gefesselt. Ihnen gegenüber zwei Abteilungen der Wachkompanie, das Hinrichtungskommando. «Ungemütlich», sagte Diaz und schnitt eine Grimasse. Er war in düsterer Stimmung, in seinen untätigen Stunden überkam sie ihn gelegentlich. «Unser Beruf ist riskant», meditierte er. «Heute stehst du noch hier oben am Fenster und morgen, wer weiß, vielleicht dort unten, an einen Pfahl gefesselt.» In diesem Moment knatterte die Salve. Möglicherweise bin ich zusammengezuckt – ich weiß es nicht. Ich spürte nur plötzlich den Blick von Diaz auf mir. «Hast du Angst?» fragte er, und sein glattes Gesicht glänzte in frecher Neugier. Ich hätte am liebsten hineingeschlagen. Schon damals wußte ich, daß er sich, wenn die Zeit käme, davonmachen und man vergeblich nach ihm fahnden würde, erwischt werden würde er nie. Nur ich werde immer erwischt, solche Leute wie ich, meine ich. «Wovor?» fragte ich Diaz. «Nun ja», er deutete mit dem Kopf zum Hof, wo die beiden Salinas bereits wie leere Säcke von ihren Seilen hingen, «davor!» – 142 –
«Davor», sagte ich schulterzuckend, «habe ich keine Angst. Nur vor dem langen Weg, der dahin führt.» Tja, ich sagte ja schon, ich war damals eben noch neu.
Imre Kertész am 9. November 929 in Budapest geboren, wurde 944 nach Auschwitz deportiert und 945 in Buchenwald befreit. Nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Journalist, seit 953 dann als freier Schriftsteller und Übersetzer in Budapest. Mit seinem Roman eines Schicksallosen, 975 in Ungarn veröffentlicht, gelangte er nach der europäischen Wende zu weltweitem Ruhm. 2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Umschlagabbildung: André Kertész, Die Hände von Paul Arma, 928 © Ministère de la Culture. France Umschlaggestaltung: any.way, Walter Hellmann Foto des Autors: Isolde Ohlbaum
Nach dem Sturz einer obskuren Diktatur werden die Schergen vor Gericht gestellt. Einer von ihnen, Antonio Martens, legt sich selbst Rechenschaft ab und vertraut das Manuskript seinem Pflichtverteidiger an: Es geht um die Akte Salinas, um den tragischen Fall eines Vaters und seines Sohnes, die vom Apparat zermalmt wurden. Die Erzählung von Imre Kertész, deren universale Gültigkeit sich angesichts neuer Kriege und neuer Folterexzesse immer wieder bestätigen wird, behauptet eine Sonderstellung im Werk des Nobelpreisträgers: als Porträt verschiedener «Täter» – des Zynikers, des Folterers, des Mitläufers.