Florian Schiel
Destouches
Können Daten tödlich sein? Im Prinzip ja! Sogar nicht vorhandene Daten ...
1 "Im Namen des Vorstandes muß ich Ihnen folgendes mitteilen: Die Interbank benötigt die Dienste Ihrer Firma nicht mehr. Mit ab sofortiger Wirkung treten wir von unserem Vertrag zurück." Ich versuchte nach Kräften, nicht wie ein kompletter Idiot auszusehen. Von unseren Kunden war ich ja schon einiges gewohnt, aber das kam gelinde gesagt etwas plötzlich. Sie hatten mir nicht mal einen Sessel angeboten. Schmeiter lümmelte in einem der futuristischen Designer-Objekte und betrachtete zerstreut die Palme vor dem riesigen Panoramafenster. Er war kein Mitglied des Vorstandes; dafür saß er seit Jahren im Aufsichtsrat. Ich wußte, daß die Interbank auf sein ausschließliches Betreiben hin die SecureData beauftragt hatte, eine Sicherheitsanalyse der firmeneigenen Computeranlagen durchzuführen. Kohler stand hinter seinem Schreibtisch, der einem waffenstrotzenden Flugzeugträger aus Chrom und Glas gleichend schräg in den großen Raum hineinragte, und blickte mich mit seinen blassen Fischaugen an. Pauli, der Chef der Sicherheitsabteilung, stand wie immer zwei Schritte hinter ihm und schaute starren Blicks über meine linke Schulter. Es gab eine kurze Pause, die sie mir gönnten, damit ich meine Fassung wiederfinden konnte. Im ersten, impulsiven Moment wollte ich protestieren, wissen warum, was denn passiert sei. Aber ich fing mich noch rechtzeitig. Der Kunde hat immer recht. Meine persönlichen Reaktionen waren in diesem Job nicht gefragt. Außerdem spürte ich etwas in der Luft vibrieren, was heute morgen noch nicht da gewesen war. Starke Ablehnung, vielleicht sogar Angst, jedenfalls durch und durch Negatives. Ein wahrer Hammer mußte in den letzten zwei Stunden vorgefallen oder ans Licht gekommen sein. Ich blickte von
Schmeiter wieder zurück zu Kohler, den Vorstandsvorsitzenden. Wir waren uns bis jetzt nur zweimal begegnet. Einmal bei der Vorbesprechung zusammen mit Karl, und dann beim entgültigen Vertragsabschluß vor drei Wochen. Beide Male hatte er alle Anwesenden mit der gleichen Eiseskälte abgefertigt. Der Mann hatte Frost in der Stimme. Ich fragte mich in diesem Moment, ob er wohl privat auch immer so unterkühlt auftrat. Kohler blickte auf den DIN A4 Bogen, den er steif in der Hand hielt, und fuhr mit emotionsloser Stimme fort: "Selbstverständlich wird die Interbank alle Verpflichtungen, die sich aus der einseitigen Kündigung des Auftrags ergeben, zu Ihrer vollsten Zufriedenheit erfüllen. Der Vorstand möchte Sie und Ihre Kollegen bei dieser Gelegenheit noch einmal auf die Paragraphen sieben und acht des Vertrages aufmerksam machen. Eine schriftliche Fassung der soeben ausgesprochenen Kündigung geht Ihnen in den nächsten Tagen per Kurier zu. Guten Tag, Herr Destouches." Pauli öffnete den Mund, als ob er noch etwas ergänzen wollte, schloß ihn aber wieder, ohne ein Wort zu sagen. Er preßte sogar deutlich die Lippen aufeinander. Wie einer, der beinahe etwas Dummes gesagt und hätte und eine Wiederholung um jeden Preis verhindern möchte. Mit dem Ingenieur Pauli war ich bisher ausgezeichnet ausgekommen. Er war intelligent, wißbegierig und vor allem bereit, unsere Ratschläge ernst zu nehmen. Ich sah an Kohlers Gesicht, daß er sich auf keinerlei Fragen meinerseits einlassen würde. Also grüßte ich ebenfalls höflich und verließ den Raum. Als sich die zweite, gepolsterte Türe zum Chefzimmer mit einem leisen Seufzen hinter mir schloß, lehnte ich mich erstmal dagegen, schloß die Augen und holte tief Luft. "Alles in Ordnung, Herr Destouches?"
Helen Hortek, die Vorstandssekretärin, beäugte mich besorgt. "Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?" sagte sie und stand hilfsbereit auf. Ihre äußere Erscheinung war von der Art, die Vorstandsgattinnen lieber in der Buchhaltung als im Vorzimmer ihrer Ehemänner sahen. Trotzdem hatte sie diesen Posten sicher nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich mit Hilfe ihrer aufregenden Figur erlangt. Unter dem langen auberginefarben schimmernden, dunklen Haarschopf verbarg sich ein helles Köpfchen mit scharfen, intelligenten Augen. Ich riß mich zusammen und zwang mich zu einem routinierten Lächeln. Kein Grund, daß es gleich die ganze Vorstandsetage erfahren mußte. "Ihr Anblick ist mir wie immer Erfrischung genug", sagte ich galant und mit möglichst sicherer Stimme. Sie akzeptierte das Kompliment mit dem selbstbewußten Lächeln einer Frau, die sich ihrer Wirkung auf Männer sehr wohl bewußt ist, und setzte sich in ihrer typischen aufrechten Haltung wieder hin. Ich stützte mich lässig auf ihren Schreibtisch, der in seiner technischen Ausstattung eher dem Kommandostand eines mittelgroßen Sternenkreuzers ähnelte, und fragte harmlos: "In Ihrem Terminkalender ist nicht zufällig diese Woche noch was frei? So gegen acht Uhr abends?" Ganz automatisch griff sie nach dem großen Terminplaner, der mit mehrfarbigen Eintragungen übersäht war. Dann blickte sie forschend in meine Augen und lächelte. "Sie meinen, in MEINEM Terminkalender?" Ich nickte. "Wenn Sie mir die Ehre geben würden. Es gibt da ein ganz ausgezeichnetes japanisches Restaurant, daß ich schon lange nicht mehr besucht habe. Vielleicht morgen abend?" War ich von allen guten Geistern verlassen? Eben war unser Auftrag offiziell gekündigt worden. Eine der vielen Klauseln unserer Kundenverträge sah vor, daß jeglicher
Kontakt zum Kunden sofort zu beenden sei, wenn der Auftrag gekündigt wurde. Bei nachweislicher Zuwiderhandlung ... usw. Von solchen und ähnlichen Strafklauseln wimmelten die Verträge, die wir normalerweise abschlossen. Und was tat ich gerade? Ich versuchte, die Vorstandssekretärin zu einen date zu überreden. Helen Hortek lehnte sich zurück und tippte mit nachdenklichem Gesicht ihren goldenen Kugelschreiber an ihre traumhaft geschwungenen Lippen. Ganz klassisch. Nur nicht anmerken lassen, daß man eine Verabredung gerne zusagen würde. Zögern macht begehrt und interessant. Schließlich - keine Sekunde zu früh - nickte sie langsam und zeigte in einem strahlenden Lächeln ihre prachtvollen Zähne. "Morgen. Um acht. Sie holen mich ab", nickte sie. Eine einfache Feststellung, keine Frage. Sie kramte in ihrer winzigen Handtasche und reichte mir eine Visitenkarte auf Büttenpapier. Ich verbeugte mich leicht und drückte wohlerzogen einen Kuß auf die überreichende Hand. Sie lachte leise, zog die Hand aber nicht gleich zurück. "Übertreiben Sie es mal nicht. Sonst überlege ich es mir noch anders." Während ich auf den Aufzug wartete, überlegte ich, was wohl Kohlers Gattin über die Sekretärin ihres Mannes dachte. War Kohler überhaupt verheiratet? An der Pforte gab ich wie üblich meinen Besucherausweis zurück und zeichnete die verschiedenen Formulare ab. Der Sicherheitsbeamte tippte etwas in sein Terminal und blickte mich dann etwas erstaunt an. "Sie sind heute das letzte Mal bei uns?" fragte er höflich. Ich nickte und er seufzte. "Dann hab' ich hier noch einige Sachen, die Sie mir bitte unterzeichnen müssen." Es waren die üblichen Erklärungen, daß ich keinerlei Material aus meiner Tätigkeit außerhalb des Firmengeländes aufbewahrt hätte, daß ich verpflichtet sei,
Stillschweigen über meine Tätigkeit auszuüben, usw. Interessant war eine Erklärung, daß ich keines der Paßwörter der firmeneigenen Rechner weiterverwenden oder an Dritte weitergeben dürfe. Ich lächelte. Wenn die Angestellten der SecureData anfangen würden, Paßwörter ihrer Kunden zu verbreiten, wären wir ganz schnell weg vom Fenster. Solche Dinge sprechen sich schneller herum, als uns oft lieb ist. Ich verabschiedete mich von den beiden Sicherheitsbeamten und verließ das Gelände der Interbank. Noch auf dem Besucherparkplatz rief ich Tom in der Firma an. Tom ging nach dreimaligem Läuten ans Telefon: "SecureData. Thomas Günther am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?" "Tom, hier ist Albert. Die Interbank hat uns soeben die Freundschaft aufgekündigt", sagte ich im scherzhaften Ton. Kurze Pause. Ich konnte mir sein Gesicht zu gut vorstellen. Wahrscheinlich schob er jetzt gerade wieder seine ständig rutschende Brille zurück. "Mach keine Witze, Al!" "Doch, doch. Eben haben sie's mir kurz und schmerzhaft 'reingewürgt. Es war schon fast ein Hinauswurf. Den Oberbonzen scheint irgendetwas ganz heiß über die Leber gelaufen zu sein. Keine Gründe natürlich. Unser Geld kriegen wir allerdings", antwortete ich. Ich wußte, daß dies nur ein schwacher Trost war. Der Auftrag war noch keine drei Wochen alt. Einen potentiellen Kunden wie die Interbank bekommt man nicht alle Tage. Tom holte hörbar Luft. "Sollen wir uns noch diese Woche treffen oder ....", sagte er zögernd. "Im Moment können wir gar nichts mehr machen. Es genügt, glaube ich, wenn wir nächste Woche in der Planung darüber sprechen. Vielleicht weiß ich dann schon etwas mehr." Die letzte Bemerkung brachte ihn in Fahrt. "Du läßt gefälligst deine Finger davon! Denk an die Strafklauseln! Du wirst die Interbank in Ruhe lassen, Al! Hörst du?" bellte er
in die Sprechmuschel. "Nur keine Aufregung. Von meiner Seite kommt da gar nichts", versuchte ich ihn zu beruhigen, ohne Erfolg. "Ich glaube, wir sollten doch noch diese Woche darüber reden", sagte Tom langsam. "Ich werde mit den anderen einen Termin heute oder morgen abmachen. Du hast ja im Moment Zeit", fügte er sarkastisch hinzu. Ich zuckte mit den Achseln. Klar, daß Tom nicht gerade begeistert war. "Mir soll's recht sein. Vielleicht hat einer die zündende Idee, warum wir so plötzlich in Ungnade gefallen sind. Ich komm' jetzt 'rein. Bis nachher." "Bis gleich." Ich blieb noch ein paar Minuten still in meinem unauffälligen weißen Golf sitzen und ging in Gedanken noch einmal alle Schritte durch, die ich gestern und heute in der Sache Interbank unternommen hatte. Nichts. Absolut nichts Auffälliges. Den ersten Bericht hatte ich schon vorige Woche abgegeben. Er enthielt - von unserem Standpunkt aus gesehen - absolut nichts Beunruhigendes. Keine größeren Manipulationen, kein Verdacht auf irgendwelche Unregelmäßigkeiten, keine Sicherheitsrisiken bei den Angestellten. Ein Routine-Job, hatte Karl gesagt, und genau das war es auch gewesen - bis vor fünfzehn Minuten. Kohler hatte mich ja fast mit der Nase darauf gestoßen. Paragraphen sieben und acht des Vertrages. Ich kannte sie auswendig, da sie in fast allen unseren Verträgen mit Banken auftauchten und regelmäßig juristische Auseinandersetzungen mit den diversen Rechtsabteilungen auslösten. Paragraph sieben regelte die allgemeine Schweigepflicht, der wir bei unserer Arbeit und danach unterlagen. Paragraph acht dagegen war etwas heikel. Er war ziemlich lang und kompliziert, lief aber im Endeffekt darauf hinaus, daß wir - innerhalb gewisser Grenzen - den Strafverfolgungsbehörden keine Hinweise geben durften, wenn wir bei unserer Arbeit auf etwas
stießen, was gegen bestimmte Bereiche des Strafgesetzbuches verstieß. Andererseits aber hatten wir Mitteilungspflicht an den Auftraggeber und dieser nahm unserer Firma gegenüber dem Gesetz die Verantwortung für weiteres Handeln ab. Um dem Gesetz genüge zu tun, war auch eine Verpflichtung des Auftraggebers eingetragen, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, aber wer konnte das garantieren? Was war zwischen heute morgen und jetzt geschehen? Ich hatte mit Pauli noch vor zwei Stunden Kaffee getrunken und wir waren einige Details über Sicherheitslecks durchgegangen. Er war völlig normal und entspannt gewesen. Ich zuckte wieder mit den Achseln und startete den Wagen. Eine Stunde später betrat ich das Büro der SecureData. Eine sehr zurückgezogene Firma, die keinen Wert auf Publicity legte. Kein Firmenschild, kein Name am Briefkasten, keine Klingel, eigene Tiefgarage und ein ausgeklügeltes Sicherheitssystem. Der Aufzug ging direkt von der Tiefgarage in die Büroetage. Den normalen Hauseingang verwendeten nur wenige von uns. In meinem Büro war düstere Leere. Die Düsternis waren wir inzwischen alle gewohnt. Die Fenster in der ganzen Firma hatten seit drei Jahren Außen-Jalousien, um Abhören mittels Laserabtastung zu unterbinden. Dabei wird ein schwacher Infrarot-Laser zum Beispiel von einem gegenüber liegenden Gebäude auf eine Fensterscheibe gerichtet und der reflektierte Stahl wieder aufgefangen. Wenn in dem betreffenden Zimmer jemand spricht, vibriert die Fensterscheibe im Takt der akustischen Wellen. Dies führt infolge des Doppler-Effekts zu Frequenzverschiebungen der Laserwelle, die man durch geeignete Dekodierung wieder in akustische Wellen umwandeln kann. Auf diese Weise kann man noch in mehreren Kilometern Entfernung mühelos verstehen, was in dem betreffenden Raum
gesprochen wird. Die Leere in meinem Büro hatte ich allerdings nicht erwartet. Wo, zum Teufel, war Su-Lin? Sie hatte schließlich Telefondienst, wenn ich außer Haus war. Ich nahm mir kopfschüttelnd die lästige Krawatte ab und schloß für ein paar Minuten die Augen. Dann holte ich tief Luft und ging hinüber zu Tom. Tom Günthner telefonierte gerade und sah mich nicht gerade begeistert an. Er drückte die Stummtaste an seinem Telefonhörer und sagte kurz: "In zwanzig Minuten im Besprechungsraum." Ich nickte, verzog mich in mein Büro und erledigte solange meine elektronische mail. Die SecureData war ein sehr spezialisiertes Dienstleistungsunternehmen. Wir arbeiteten für Firmen, deren Computer mit sensibelen Aufgaben betreut wurden. Unsere Spezialität war die Aufdeckung von Gefahrenstellen technischer und personeller Art bei der Verwendung von Computern. Meistens handelten wir nur beratend und präventiv. Ab und zu aber versuchten wir auch, zu retten, was noch zu retten war, oder die Gründe für geschehene Katastrophen zu finden. Das Wichtigste in unserem Job war nicht technisches Wissen, sondern absolute Diskretion und hundertprozentige Zuverlässigkeit. Beides selten und teuer. Die SecureData stellte gesalzene Rechnungen. Auch aus diesem Grund war jeder verlorene Kunde ein schwerer Verlust. Noch schlimmer aber wäre es, wenn der bisher ausgezeichnete Ruf der Firma auf irgendeine Weise geschädigt werden würde. Die SecureData machte keine Werbung. Die meisten unserer Kunden erfuhren von unserer Existenz entweder durch Mundpropaganda oder durch Empfehlung von Versicherungen. Seit ihrer Gründung vor fünf Jahren hatten wir noch keinen Fall einseitiger Kündigung gehabt. Es hatte Fehler gegeben, wie sie in jeder Branche unweigerlich vorkommen. Aber unsere Erfolgsrate war ziemlich hoch. Eine Firma, die sich von uns beraten ließ und unsere
Ratschläge auch befolgte, hatte eine gute Chance, ihr Geschäftsjahr ohne größere Katastrophen, verursacht durch Computertechnik, zu beschließen. Meistens blieben solche Firmen als Dauerkunden bei uns, da infolge der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der Rechnertechnik auch ständig neue Gefahrenquellen auftauchten. Andererseits zeigten Statistiken der IHK, daß Firmen ohne Sicherheitskonzept mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit früher oder später Verluste wegen Computerschaden verbuchen mußten. Die SecureData unterschied dabei drei klassische Fälle: Erstens, der Kunde schädigt sich selbst, weil er seine Mitarbeiter nicht ausreichend ausbilden läßt. In diese Kategorie fielen Datenverluste aus mangelnder Kenntnis des Systems, fehlende Backup Mechanismen, ungenügender Schutz vor Fehlern des Personals. Aus diesem Grunde arbeiteten wir auch eng mit anderen Software Consulting Firmen zusammen, die Schulungen mit Schwerpunkt Sicherheit für uns durchführten. Zweitens, beabsichtigte Schäden verursacht durch die eigenen Mitarbeiter. Diese Art von Schaden trat häufig bei Firmen auf, die ihre Mitarbeiter zwar hervorragend - vielleicht sogar eine Spur zu gut ausgebildet hatten, aber ihre DV-Anlagen vor diesen Mitarbeitern nicht ausreichend schützten. Drittens, Schäden verursacht durch externen Eingriff in das DVSystem. Unter diese Kategorie fielen Industriespionage und Hackereinbrüche. Ein Fall, der mit der zunehmenden Vernetzung immer häufiger auftrat. In diesem Fall übernahmen wir je nach Auftrag sogar die Verfolgung des Eindringlings und sicherten den Kunden gegen zukünftige Einbrüche ab. Nach unserer internen Statistik war Kategorie eins immer noch der überwiegende Anteil. Dann kam zwei und nur sehr selten hatten wir es mit echten Fällen aus der dritten Kategorie zu tun. Die Interbank war
kein Stammkunde. Noch nicht. Der Auftrag war erst vor drei Wochen erteilt worden. Der verantwortliche Bearbeiter: Albert Destouches, also ich. Die zwanzig Minuten waren um. Ich nahm meine Unterlagen über die Interbank und begab mich in den Besprechungsraum. Die ganze Firma war relativ gut abgeschirmt, aber der Besprechungsraum war nach dem Ermessen unserer Techniker absolut abhörsicher: keine Fenster, Klimaanlage mit Schallfalle, abhörsichere Wände und Türen. Der ganze Raum war mit Kupferfolie ausgekleidet, bildete also einen Faradayschen Käfig, der die Übertragung von Radiowellen aus dem Raum nach außen unmöglich machte. Der Besprechungsraum hatte keinen Telefonanschluß und eine gefilterte Stromversorgung. Der Nachteil: ein tödlich unangenehmes Raumklima. Niemand hielt sich dort länger als unbedingt nötig auf. Tom Günther war schon da und ging mit gezücktem Kugelschreiber einen Bericht durch. Peter Hunt räkelte sich ihm gegenüber gelangweilt in seinem Sessel. Ben Joachim, Abel Juravsky und noch ein halbes Dutzend andere waren auch da. Karl Altmann, neben Tom unser zweites Gründungsmitglied, war nicht anwesend. Fast alle Angestellten der SecureData wurden nach einer relativ kurzen Zeit Teilhaber der Firma. Diese Konzept hatte sich hervorragend bewährt. Zum einen reduzierte es die Fluktuation der Angestellten, die wir uns aus Sicherheitsgründen sowieso nicht leisten konnten, zum anderen machte es unnötige Hierarchien innerhalb der Firma überflüssig. Wichtige Entscheidungen wurden in den wöchentlichen Planungssitzungen quasi demokratisch von allen Teilhabern entschieden, wobei die beiden Firmengründer Karl Altmann und Tom Günther Vetorecht hatten, das sie aber selten ausübten. Heute war keine Planungssitzung, die fand grundsätzlich Montags am frühen Morgen statt. Dies hier diente lediglich der
Information und eventuellen schnellen Reaktion auf ein unvorhersehbares Ereignis. Ich nickte den anderen zu und setzte mich neben Peter, und Tom blickte von seinem Bericht auf. "Ok, fangen wir an. Mehr sind heute nicht im Haus." Peter drückte auf einen Knopf an seinem Platz und die Schiebetüre schloß sich mit einem leisen Sauggeräusch. Tom lehnte sich zurück und schloß die Augen. "Dann laß mal hören, Al." Ich berichtete mit knappen Worten alles, was ich in den letzten drei Wochen in der Sache Interbank unternommen hatte, ohne in alle Details der Analyse zu gehen. Ich schloß mit dem höflichen, aber bestimmten Hinauswurf heute Mittag. "Kannst du den Wortlaut der Unterhaltung mit Pauli, dem Sicherheits-Chef heute morgen und die letzte Unterhaltung mit Kohler wörtlich wiedergeben?" fragte Abel mit seiner leisen, kultivierten Stimme. Abel war unser Psychologe. Er bearbeitete zwar genau wie alle anderen seine eigenen Fälle, aber sein ausgezeichnetes Fachwissen und sein Instinkt waren in schwierigen Situationen wie dieser immer gefragt. "Nur letzteres", antwortete ich bedauernd, "das Gespräch mit Pauli ging über eine Vielzahl von Details in meinem ersten Bericht zur Lage. Es wurde kein Thema länger als, sagen wir, fünf Minuten diskutiert. Hier ist übrigens der Bericht." Ich tippte den entsprechenden Befehl in meine Tastatur ein, und der Bericht erschien auf dem projizierten Display an der Stirnseite des Raumes. Abel würdigte ihn keines Blickes. Er seufzte. "Keine auffälligen Reaktionen, Versprecher, Wiederholungen, Pausen, Gestik, die aus dem Üblichen fiel, etc.?" leierte er herunter. Ich schüttelte den Kopf. "Und das Gespräch mit Kohler?" Ich wiederholte die wenigen Sätze wortwörtlich. "Niemand sonst sagt auch nur ein Wort. Sie versuchen Blickkontakt zu
vermeiden. Keine Begrüßung und keine Verabschiedung. Kein Lächeln", faßte Abel zusammen. "Genau so", nickte ich. Tom blickte ungeduldig auf Abel, der lächelnd Löcher in die Luft starrte und schwieg. Er wandte sich wieder an mich: "Wer hat die technische Analyse durchgeführt?" "Su-Lin", antwortete ich, "ich konnte noch nicht mit ihr sprechen. Sie ist nicht im Hause." Tom zog die Augenbrauen hoch und ich nickte leicht als Antwort. Ich mußte sie so schnell wie möglich über die Lage informieren, damit sie nicht in ihrer Analyse fortfuhr. Wenn ein Kunde den Vertrag löste, durfte auf keinen Fall weiter in sein Computersystem eingegriffen werden. Ich hatte Su-Lin bereits eine diesbezügliche email geschickt, aber in so einem Fall mußte ich mich als verantwortlicher Bearbeiter persönlich vergewissern, daß alle Aktivitäten unsererseits sofort beendet wurden. "Na, schön", brummte Tom, "irgendwelche Kommentare?" Peter Hunt blickte kurz auf Abel und sagte dann zögernd: "Meiner Meinung nach gibt es drei Möglichkeiten: Erstens, wir haben einen Fehler gemacht, der den Vorstand so verstimmt hat, daß sie uns nicht mehr trauen oder ... na egal. Zweitens, bei unserer Analyse ist etwas herausgekommen, das so brisant ist, daß es der Vorstand nicht mal uns anvertrauen möchte. Dieses Detail ist unserer Aufmerksamkeit entgangen, weil uns das entsprechende Hintergrundwissen fehlt. Der explizite Hinweis auf die Paragraphen 7 und 8 scheint mir darauf hinzudeuten. Drittens, die Kündigung hat einen völlig anderen Grund, der mit unserer Arbeit gar nichts zu tun hat." Tom blickte Abel an, der immer noch lächelnd in die Luft starrte. "Abel?" "Peters Analyse ist einwandfrei", sagte Abel und legte die Fingerspitzen aufeinander. "Hypothese eins ist relativ
unwahrscheinlich, da wir in diesem Falle mit ziemlicher Sicherheit eine Begründung für die Kündigung bekommen hätten. Außerdem erklärt Hypothese eins nicht die latente Feindseligkeit beim Ausspruch der Kündigung. Hypothese zwei würde ich als die wahrscheinlichste ansehen, aber auch hier paßt mir die Situation nicht ganz. Woher diese aggressive Haltung? Nach Als Schilderung würde ich eine vierte Möglichkeit in Betracht ziehen, die aber systematisch unter Punkt drei von Peters Analyse fällt: Jemand hat SecureData bei der Interbank diffamiert." Ben ließ seinen Bleistift auf den Tisch fallen und die Spitze brach ab. Kurze Zeit war es ganz still bis auf das leise Sirren des Projektors. "Die Wahrscheinlichkeitsverteilung über die drei Fälle würde ich mit zehn, sechzig und zwanzig Prozent einstufen. Falls Fall drei eingetreten sein sollte, würde ich empfehlen, der Sache auf den Grund zu gehen", fuhr Abel mit seiner ruhigen Stimme fort. Tom hob abwehrend die Hände. "Wenn Hypothese zwei richtig sein sollte und wir nach der Kündigung auf eigene Faust weiter ermitteln, können wir in Teufels Küche kommen", sagte er warnend. Nach zwei Sekunden setzte er hinzu: "Wenn es herauskommt." Abel lächelte, sagte aber nichts dazu. "Ich würde folgendes vorschlagen", sagte ich. "Ich bleibe in der nächsten Zeit im Hintergrund und gehe zusammen mit Su-Lin noch einmal alle Aufzeichnungen der Interbank durch, die wir hier noch vorliegen haben. Nach außen hin haben wir keinerlei Kontakt mehr zum Kunden. Parallel horcht ihr - vor allem Tom und Abel - euch in der Branche unauffällig um, ob irgend jemand etwas gegen die SecureData verbreitet hat. In der nächsten Planung entscheiden wir dann, ob weiterer Handlungsbedarf besteht." Tom sah in die Runde. Überall zustimmendes Nicken. "Nun, gut. Dann ans Werk", sagte Tom aufstehend und
drückte auf den Türöffner. Su-Lin war mittlerweile in den heimatlichen Hafen, sprich unser Büro zurückgekehrt. Ich setzte gerade zu einer bissigen Bemerkung an, als ich in ihre verheulten Augen blickte. "Ach, du Sch....!" stöhnte ich und stützte mich schwer auf meinen Schreibtisch. "Heute geht aber auch alles schief!" Su-Lin war Vietnamesin von Geburt. Klein und zierlich wie eine Porzellanpuppe, aber mit honigfarbenen Teint. Relativ runde, schwarze Augen und sehr langes, aber dünnes Haar, das sie meistens zu einem Zopf geflochten trug. Sie war unglaublich fleissig und ein anerkannter Experte in Kryptologie und Computer-Sicherheit. Karl Altmann hatte sie von der Technischen Universität Bochum abgeworben. Sie hätte wahrscheinlich gute Chancen auf einen Lehrstuhl gehabt, wenn sie ihre Hochschulkarriere fortgesetzt hätte. Aber Su-Lin hatte einen entscheidenden Fehler: es mangelte ihr an jeglichem Selbstvertrauen, wenn es nicht gerade um ihr Spezialgebiet ging. Da sie hoch-intelligent war, hatte sie schon bald erkannt, daß sie für eine Hochschulkarriere einfach nicht das richtige Nervenkostüm mitbrachte. Sie hatte das Angebot, als technischer Experte für die SecureData zu arbeiten, wie eine Erlösung empfunden. Su-Lin und ich waren seit drei Jahren ein erfolgreiches Team. Sie hatte Zeit genug, sich immer auf dem neuesten Stand der Forschung zu halten, und ich profitierte natürlich davon. Im Gegenzug übernahm ich alle Kundenkontakte und legte die allgemeine Strategie unseres Vorgehens fest. Su-Lin war noch kein Teilhaber, aber es war abzusehen, daß sie bald ein Angebot von Karl und Tom erhalten würde. In technischen Fragen konnte ihr keiner von uns das Wasser reichen, weshalb sie auch oftmals in Projekten konsultiert wurde, die wir nicht selber bearbeiteten. Aber in ihrem Privatleben ging es drunter und drüber. Fast ohne Unterbrechung seit sie mit mir
zusammenarbeitete, hatte sie unter ihren Beziehungen zu leiden. Und obwohl zwischen uns beiden nie mehr als kumpelhafte Freundschaft geherrscht hatte, war ich zwangsläufig ihr ständiger Vertrauter, an den sie sich sich klammerte, wenn wieder einmal ihre Welt in Trümmern lag. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als den weißen Ritter, zu dem sie in Bewunderung aufschauen konnte, der sie respektierte und ehrte und noch einem Haufen anderer traditioneller, vietnamesischer Klischees gehorchte. Daß die meisten Männer, die sie traf, in ihr ganz einfach nur eine exotische Erscheinung sahen, die leicht ins Bett zu bekommen war, wollte sie nie einsehen. Sie glaubte jedesmal wieder, diesmal endlich ihren Traumprinzen gefunden zu haben. Und mit schöner Regelmäßigkeit ging es nach einer Weile den Bach hinunter. Als sie mir an diesem denkwürdigen Dienstag ihre in Tränen schwimmenden Augen zuwandte, wußte ich daher schon genau, was mich für den Rest der Nacht erwartete. Zum Glück war ich schon seit einigen Jahren unbeweibt, sonst hätte es mit Su-Lin ernsthafte Schwierigkeiten gegeben. Ich glaube nicht, daß meine verflossene Liebe, Kerstin, die ständigen notwendigen Troststunden für ein anderes Mädchen, also eine potentielle Rivalin, kampflos geduldet hätte. Vor allem, wenn bedachte, in welcher Form diese 'Troststunden' oft abliefen. Ich schloß die Türe zu unserem Büro, ein deutliches Zeichen an die Kollegen, daß wir nicht unnötig gestört werden wollten, und setzte mich zu ihr. Die Tränen hatten inzwischen sämtliche Schleusen überwunden und durchtränkten meine Jacke bis auf die Schulter. Fünf Minuten später war das Schlimmste erst mal heraus und ich konnte wenigstens mein wichtigstes Anliegen an sie loswerden. "Hör zu, Su-Lin. Ich weiß, das ist alles ganz schrecklich für dich und du weißt, daß ich immer für dich da bin, aber wir müssen jetzt die ganze
Sache kurz vergessen und ein paar sehr wichtige Dinge erledigen. Danach, das versprech' ich dir, hab' ich den ganzen Abend für dich Zeit, ok?" Su-Lin nickte tapfer und versuchte zu lächeln. "Ich weiß, daß ich schrecklich albern bin und eine Heulsuse und es wäre eh besser, wenn Karl mich wieder 'rausschmeissen würde. Ich bin doch nur eine Last für dich und die Firma ..." Erneute Tränenflut. "Komm', jetzt bleib' mal auf dem Teppich", sagte ich möglichst energisch, "ohne dich würde hier alles zusammenbrechen und Karl weiß das sehr gut. Also, wir erledigen das jetzt in aller Ruhe und dann hauen wir hier ab, und ich lade dich zu mir zum Essen ein, einverstanden?" Su-Lin schniefte und nickte folgsam. Ich atmete auf. "Also: folgendes ist heute morgen geschehen." Ich berichtete ihr von unserem Hinauswurf. Das schien sie sogar von ihrem Kummer abzulenken. "Und sie haben keine Begründung gegeben. Nicht mal eine Andeutung? Das klingt ja so, als ob du ihnen ins Mittagsmenu gespuckt hättest." Ich schüttelte den Kopf. Dann vervollständigte ich meinen Bericht mit unserem gemeinsamen Beschluß über das weitere Vorgehen. "Wir müssen jetzt also ganz schnell einiges erledigen", sagte ich dann. "Zunächst muß jemand das D2 Modem wieder abholen. Ich möchte nicht, daß irgendein Techniker der Interbank daran herumfummelt." Su-Lin machte sich eine Notiz. Ein D2 Modem ist nichts anderes als ein normales Funktelefon, das mit einem geeigneten Anschluß für eine Computernetz ausgerüstet ist. Wenn die SecureData bei einer Firma wie der Interbank eine Sicherheitsanalyse durchführte, wurde das handliche Gerät an den Kunden geschickt und dort mit dem firmeninternen Computernetz verbunden. Auf diese Weise konnten fast alle Analysen über Telefonverbindung von der
SecureData aus gemacht werden. Die Telefonnummer des Modems war natürlich streng geheim und der Zugang zusätzlich noch mit einem Passwort geschützt. Ein Riesenvorteil bei dieser Methode war die Tatsache, daß die digitale Übertragung von Funktelefonen praktisch nicht abgehört werden konnte. Zumindest noch nicht. Verschiedene Geheimdienste hatten sich schon kurz nach der Einführung des D-Netzes bei den Betreibern beschwert, daß sie nunmehr keine routinemäßige Abhöraktionen mehr durchführen könnten. "Ich schicke einen Kurier hin und du rufst Pauli an, damit er Bescheid weiß", sagte Su-Lin, inzwischen wieder relativ ruhig. "Nein, DU rufst Pauli an", widersprach ich. Su-Lin blickte mich überrascht und fragend an. "Wir waren uns einig, daß ich nicht mehr in Kontakt zur Interbank trete", erinnerte ich sie. Sie nickte. "Na gut. Das werde ich wohl noch fertigbringen." "Mit dem gleichen Kurier schickst du ihnen ein verschlüsseltes Band mit sämtlichen Daten, die du bei der ersten Analyse der Interbank-Rechner erzeugt hast. Das ist im Vertrag bei vorzeitigen Kündigungen so geregelt. Laut Vertrag müßten wir die Daten daraufhin sofort löschen. Wir warten mit dem Löschen aber noch etwas", sagte ich und Su-Lin lächelte leicht, während sie schrieb. "Das Paßwort für das verschlüsselte Band geht mit einem gesonderten Kurier ab, aber erst übermorgen", fuhr ich fort. Su-Lin stutzte und schaute mich prüfend an. "Ist das auch ein gemeinsamer Beschluß?" fragte sie ungläubig. "Sagen wir, eine kleine Unachtsamkeit meinerseits", sagte ich in harmlosen Tonfall. "Kann ja mal vorkommen, daß ein Brief ein paar Tage liegen bleibt, nicht? Du weißt natürlich nichts davon." "Natürlich", sagte sie spöttisch. "Sonst noch was?" "Ich glaube, das reicht erstmal. Ich hol' dich in einer Stunde ab."
Ich verließ das Büro und fuhr in die Innenstadt. Hinter dem Hotel Bayerischer Hof fand ich - oh Wunder - einen freien Parkplatz, allerdings ausgestattet mit einarmigem Banditen. Ich fütterte zwei Mark in den Automaten - mehr hatte ich nicht - und gewann eine halbe Stunde. Kopfschüttelnd rannte ich hinüber zur Hypobank und begab mich schnurstracks in das Büro meines alten Freundes Reinhard Moser. Als er mein Gesicht im Türspalt erblickte, stöhnte er auf und versuchte, sich wenig erfolgreich unter dem Schreibtisch zu verstecken. "Zu spät", sagte ich höhnisch grinsend, "ich hab' dich gesehen und dieses Büro hat nur einen Ausgang und vergitterte Fenster." "Na, schön", ergab er sich seufzend in sein Schicksal, "und was willst du diesmal?" Reinhard und ich kannten uns schon seit der Schulzeit im Internat. Auch während des Studiums - er hatte Jura, ich Informatik studiert - hatten wir uns nie ganz aus den Augen verloren. Inzwischen war er bei der Hypobank groß im Kommen und hatte gute Aussichten einmal im Spitzenmanagement eine Solostimme zu spielen. Nicht daß er das in finanzieller Hinsicht überhaupt nötig gehabt hätte. Die Verwaltung seiner eigenen Finanzen allein hätte schon gut einen Ganztagsjob abgegeben. Er war außerdem nicht ganz unschuldig an meiner Zugehörigkeit zur SecureData, denn erst durch ihn hatte ich von der Existenz der Firma erfahren. Seitdem machte er sich eine Spaß daraus zu verbreiten, dies sei sein größter beruflicher Fehler gewesen, denn nun läge ich ihm ständig mit irgendwelchen Bitten auf der Pelle. In Wahrheit profitierte er ebenso, wenn nicht noch mehr, an meinen Tips über Sicherheitstechniken, die ich ihm kostenlos zukommen ließ. Ich grinste ihn gnadenlos an. "Diesmal ist es was ganz Einfaches." Er stöhnte noch lauter. "Was weißt du über die Interbank?"
Er starrte mich an wie ein Mondkalb, klappte den Mund auf und wieder zu und fing an zu lachen. "Das ist wirklich gut", japste er, "das war die beste Frage seit langem. 'Was weißt du über die Interbank?' Huhuhu." Ich wartete geduldig, bis er seine Lachtränen in ein riesiges blaues Seidentaschentuch gewischt und sich trompetend geschneuzt hatte. "Also wirklich, Al. Was erwartest du von mir? Soll ich dir jetzt einen zweistündigen Vortrag über das internationale Börsengeschäft halten?" Ich blickte ostentativ auf die Uhr. "Nur das Wichtigste in einer Viertel Stunde wäre mir lieber. In zwanzig Minuten ist mein Wagen Freiwild für alle hier herumstreunenden Parküberwacher", sagte ich kühl. Reinhard hörte abrupt zu lachen auf. "Warum interessierst du dich überhaupt für die Interbank? Kunde von euch?" fragte er neugierig. Ich nickte. "Bis heute morgen. Das ist natürlich vertraulich, klar?" "Klar. Und jetzt willst du rauskriegen, warum sie euch abserviert haben. Und ob etwas dahinter steckt, was euch weiterhin Schaden zufügen könnte." Er schaute mich scharf an. Reinhard war so clever, daß ich gar nicht erst versuchte, mit verdeckten Karten zu spielen. Er wußte das und respektierte mein Vertrauen mit ebensolcher Offenheit. Wir handelten immer nach einer Art Gentlemen Agreement, das dafür sorgte, daß niemals Informationen, die wir austauschten in die falschen Hände gerieten. Er überlegte einen Augenblick und betrachtete seine makellos gepflegten Hände. "Na schön", begann er, "ich habe nichts in der Richtung gehört, aber wenn mir etwas zu Ohren kommt, erfährst du es sofort. Jetzt zur Interbank. Sie ist keine normale Kundenbank, nicht mal eine Geschäftskundenbank, wie andere. Sie befaßt sich fast ausschließlich mit kurzfristigen Krediten für Börsenspekulationen. Die Zinsen sind unverschämt hoch,
das Risiko ebenso. Der richtige Kunde kann innerhalb von Minuten gewaltige Mittel in die Hände bekommen, aber er muß für diesen außergewöhnlichen und riskanten Service ganz schön blechen. Möglich wurde das erst, seitdem die Computertechnik..." Bei diesem Wort verbeugte er sich leicht in meine Richtung und ich erwiderte die Verbeugung nonchalant. "... es ermöglicht, Buchungen auch international in Sekundenschnelle abzuwickeln." "Gib mir ein Beispiel", sagte ich. "Na schön. Sagen wir, du bist ein mittelgroßer Börsenfritze in Sao Paolo - mittelgroß ist Minimum, sonst macht die Interbank keine Geschäfte mit dir - und dir baumelt eines Tages das Über-HyperWahnsinns-Geschäft vor der Nase, aber leider hast du dich gerade in Termingeschäften so verfranzt, daß du mangels Kapital nicht zuschlagen kannst. Wenn du es jetzt bei einer der ansässigen Banken versuchst, ist das Geschäft schon ade, bevor du noch die ersten Kreditgespräche führst. Aber zum Glück gibt es ja die Interbank. Voraussetzung ist allerdings, daß du ihr schon vorher und dann in regelmäßigen Abständen immer wieder Gelegenheit gibst, deine Kreditwürdigkeit zu überprüfen. Und, ich kann dir flüstern, die sind nicht so zimperlich wie wir hier. Die interessiert auch noch, ob deine angeheiratete Großtante vor zwanzig Jahren die versetzten Goldzähne auch wieder ausgelöst hat oder nicht. Nun ja, wenn du in den Augen der Interbank kreditwürdig bist, kannst du innerhalb von Minuten eine erstaunliche Summe auf deinem Konto gutschreiben und dein Über-Hyper-...." "Ok, ich hab's kapiert", unterbrach ich ihn, "und die Geldanweisungen erledigt die Bank selber?" "Natürlich", sagte Reinhard in leicht beleidigtem Tonfall, weil ich seine schönen Ausführungen so brutal
unterbrochen hatte. "Dazu sind sie ja schließlich eine Bank, oder nicht?" "Stehen andere Banken dahinter oder sind die ganz allein?", fragte ich. "Na schön. Eine AG sind sie nicht, aber hinter welcher Bank stehen nicht ein paar Hinterleute? Das ist allerdings nicht so leicht 'rauszukriegen. Außerdem ändert sich das bei solchen Banken fast ständig. Ich bin mir allerdings fast sicher, daß hinter der Interbank amerikanische Interessen stehen." "Warum?" Reinhard zog den Kopf zwischen die Schultern und verdrehte vage beide Hände. "Ich weiß nicht; hab' ich so im Gefühl." Ich überlegte einen Augenblick. "Was ist mit Kohler?" fragte ich dann. "Dem Vorstandsvorsitzenden?" Ich nickte. Reinhard strich sich sanft über das perfekt sitzende Haar. "Nun, ja", sagte er in zögerndem Ton, "eher eine blasse Erscheinung. Man hört nicht viel von ihm. Eigentlich zuwenig, als man von einem Mann in seiner Person erwarten würde..." "Und das heißt?" "Eventuell will er nicht allzu sehr auffallen. Vorher war er, glaube ich, bei der französischen Credit d' Orveille. Außerdem war da noch irgendetwas... aber es fällt mir im Moment nicht ein." Er schüttelte den Kopf und betrachtete mich skeptisch. "Zufrieden?" "Jau", antwortete ich gedehnt und stand auf, "du schuldest mir noch einen Tip für die Warnung vor dem alten Nixdorf System. Wir sind also im Moment wieder quitt, ok?" "Abgesehen davon, daß du mir seit acht Jahren eine Maß schuldest, dafür daß ich eine Wette gewonnen habe. Ich weiß nur nicht mehr, worum es in der Wette ging", knurrte Reinhard mit zerfurchter Stirn. "In der Wette ging es darum,
ob Hofstadter das Gödelsche Theorem nur erläutert oder erweitert hat. Und ICH habe gewonnen", erwiderte ich und feixte ihn an. In diesem Moment klopfte es leise und Reinhards hübsche Sekretärin trat ein. "Raus mit dir, oder ich vergesse mich!" schrie er theatralisch und griff nach dem gußeisernen Briefbeschwerer. Angesichts des drohend erhobenen Mordinstruments ließ Reinhards Mitarbeiterin einen spitzen Schrei los und ließ einen Stapel Papiere zu Boden gleiten. Reinhard drehte sich erschrocken um und versuchte lächerlicherweise den Briefbeschwerer hinter seinem Rücken zu verstecken. "Oh, äh ... nicht doch ... doch nicht Sie ... ich meine ...", stotterte er. Ich sammelte rasch die verstreuten Papiere vom Boden auf und überreichte sie der jungen Dame mit einer leichten Verbeugung. "Herr Moser will ausdrücken, daß er mir lediglich auf seine unnachahmliche Weise die Tür zu weisen gedachte", sagte ich galant. Was so ein einfacher Handkuß heutzutage noch alles bewirken kann. Sie strahlte mich an wie eine Höhensonne. Dann knallte sie die Papiere auf Reinhards Schreibtisch, verpaßte ihm einen dermaßen vernichtenden Blick, daß er mir fast leid tat, und machte mit wunderbar schwingenden Hüften einen klassischen Abgang. Reinhard stand da und glotzte ihr nach. "Nicht genug, daß du mir wertvolle Informationen abluchst. Jetzt machst du mich auch noch zum Gespött meiner Mitarbeiter", sagte er bitter und setzte den Briefbeschwerer vorsichtig auf die Papiere. Ich lächelte und folgte den schwingenden Hüften. Su-Lin hatte inzwischen alles unmittelbar Notwendige in Sachen Interbank erledigt. "Ich habe mit Pauli, dem Chef der Sicherheitsabteilung, telefoniert", sagte sie. "Sie haben das D2 Modem bereits vom Netz getrennt und verpackt. Gleich kommt ein Kurier und holt das Band mit allen verschlüsselten Dateien unserer Analyse ab und bringt es zur Interbank. Auf dem Rückweg
kann er das D2 Modem gleich zurückbringen. Ach ja, und Karl wollte dich sprechen. Hier ist die Nummer." Ich seufzte und wählte die Nummer, die Su-Lin notiert hatte. Offensichtlich eine Nummer in der Schweiz. Karl hob sofort ab. "Altmann?" "Hallo Karl. Hier ist Al." "Ah, Albert. Habe gerade von unserem Pech mit der Interbank gehört, wie? Na, das mußte ja früher oder später mal passieren, was? Laß dir deshalb keine grauen Haare wachsen und so weiter. Das wird einen ganz harmlosen Grund haben, nicht wahr? Ich habe schon mit Tom darüber gesprochen. Macht es nur so, wie du es vorgeschlagen hast, ok? Nächste Woche sehen wir dann weiter. Es wird sich alles aufklären, oder?" Oder auch nicht, dachte ich pessimistisch. Oder es war eben doch eine Rufschädigung. Laut sagte ich: "Trotzdem wäre es nützlich, wenn du dich ein wenig umhören könntest..." "Klar, klar. Mach' ich doch sowieso, nicht wahr? Wozu habt ihr mich denn sonst, wenn nicht zu Umhören, was? Haha. Also wir sehen uns dann nächste Woche. Und halt die Ohren steif und so weiter, nicht?" Ich horchte noch ein paar Sekunden auf das Summen im Hörer, dann legte ich langsam auf. Seit Karl zusammen mit Tom vor Jahren die SecureData gegründet hatte, war immer er die treibende Kraft und die kreative Quelle gewesen, wogegen Tom mehr die systematische, ordnende Persöhnlichkeit darstellte, den sprichwörtlichen Fels in der Brandung, ohne den hier schon längst alles im Chaos geendet hätte. Karl war einzigartig begabt im Umgang mit potentiellen Kunden. Die meisten unserer Stammkunden hatte Karl aufgetan. Er verstand es, überall eine positive Stimmung zu verbreiten, nach dem Motto: 'Alles ist möglich und wir sind die Richtigen für diese
Aufgabe'. Daß in Wirklichkeit ganz andere Mitarbeiter dann die eigentlichen Aufgaben bewältigten und die Kunden Karl oft nie wieder zu Gesicht bekamen, schien niemanden zu stören. Hauptsache, der Auftrag wurde so hundertprozentig zuverlässig erledigt, wie Karl es versprochen hatte. Und dafür war dann Tom zuständig. Er sorgte dafür, daß das Unmögliche, was Karl abgeschlossen hatte, tatsächlich möglich wurde. Ein ideales Team, mochte man meinen.
2 Zuhause schlich ich ohne Ruhe von einem Zimmer ins andere. Die Interbank-Affaire ging mir nicht aus dem Kopf. Su-Lin hatte sich wieder etwas gefangen und war nun doch erst mal zu sich nach Hause gefahren. Arbeit hilft immer, wenn man einen Schmerz betäuben möchte. Sie wollte aber trotzdem gegen halb sieben hier auftauchen. Ich ging in die Küche und mixte mir einen steifen Campari Orange. Ich wälzte mich in meine mexikanische Hängematte und starrte trübsinnig aus dem Erkerfenster auf die herabfallenden Blätter. Es sah nach Regen aus. An solchen Tagen konnte ich ganz plötzlich von Depressionen befallen werden. Am schlimmsten war immer der Moment, wenn ich aus dem betriebsamen, bevölkerten Büro in die stille und einsame Mansardenwohnung zurückkehrte. In solchen Momenten vermißte ich Kerstin schmerzlich. Sechs Jahre war das nun her, seit wir uns entgültig getrennt hatten. Sechs Jahre Einsamkeit sollten genügen, sich damit abzufinden. Am Anfang ging es eigentlich besser, wenn ich ehrlich war. Jetzt wurde es immer schlimmer. Aber Kerstin nachzutrauern, hatte überhaupt keinen Sinn. Mit uns beiden hätte es auf Dauer nie geklappt. Manchmal fragte ich mich allerdings, ob es überhaupt ein nettes Mädchen auf Dauer mit mir aushalten würde. Ich schüttelte den Kopf und kippte entschlossen den Rest meines Drinks hinunter. Wenn ich jetzt auch noch in Depressionen verfiel, würde das ein reizender Abend werden, dachte ich zynisch. Ich holte mir noch einen Drink und betrachtete ihn nachdenklich vor dem ersten Schluck. Früher hatte ich nie soviel.... Nein. Schluß jetzt. Aus. Ende Banane! Ich ging in den Keller und holte die Wäsche aus dem Trockner. Dann stellte ich das Bügelbrett vor das Fenster zum Hinterhof, legte Jaques Lousiers CD 'Reflexions to Bach' ein und
bügelte meine Hemden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern machte mir das Bügeln Spaß. Man konnte sich wunderbar konzentrieren und gründlich nachdenken, ohne daß man dauernd durch irgendetwas abgelenkt oder gestört wurde. Außerdem war es - ähnlich wie Abspülen - eine Tätigkeit, bei der man den Erfolg sehen, riechen und fühlen konnte. Der Berg der ungebügelten, zerknitterten Wäsche im Korb wurde immer kleiner. Auf der anderen Seite ordneten sich die kleinen Stapel von frisch duftenden Hemden, Hosen und Unterhosen. Man arbeitete sozusagen sichtbar gegen die Entropie: aus Chaos wurde Ordnung. Man konnte das Denken fast abschalten und sich nur auf die Musik konzentrieren, während die Hände automatisch vor sich hin werkten. Oder man durchdachte ein schwieriges Problem gründlich und freute sich, wenn man zu einer Lösung kam. Das Dampfbügeleisen zischte und fauchte, und nach einer gewissen Zeit roch es in der Wohnung nach Leben. Im Gegensatz dazu kam mir meine berufliche Tätigkeit meistens reichlich abstrakt vor. Wann hatte man schon mal ein Erfolgserlebnis, wie es zum Beispiel ein Handwerker nach einem vollendeten Meisterstück verspürte? Sisyphus Qualen bestanden ja auch nicht darin, daß er einen Felsbrocken wälzen mußte, sondern daß er eben immer wieder von vorne anfangen mußte, also zu keinem Erfolgserlebnis kam. Ich durchdachte und ordnete nochmal alle Fakten, die mir zur Interbank einfielen. Trotzdem ergab es keinen Sinn. In diesem Moment klingelte Su-Lin. "Die Tür ist offen", rief ich in alter und schlechter Gewohnheit, lief dann aber doch rechtzeitig zum Eingang, um Su-Lin gebührend hereinzubitten. Sie legte ihren hauchdünnen, grünen Mantel ab und wir betrachteten uns forschend. SuLin sah nicht gut aus. Sie hatte zuhause wieder geweint; man sah es ihr deutlich an. Ich nahm zögernd ihre dünne
Hand und drückte sie. Su-Lin schloß die Augen und klammerte sich an mich, während ihr schon wieder die Tränen aus den schwarzen Kulleraugen stürzten. "Oh, Albert, Albert, Albert", schluchzte sie jämmerlich. Su-Lin sprach meinen Vornamen immer französisch aus, wie ich ihn selber gewöhnlich verwendete, damit er zu meinem ungewöhnlichen Nachnamen im Einklang stand. Außerdem fand ich die deutsche Aussprache albern. Ich gab eine Serie von beruhigenden Lauten von mir und streichelte ihr über das dunkle Haar. Nach ein paar Minuten verschwand Su-Lin schniefend im Badezimmer. Ich mixte uns noch zwei Drinks, einen Bailys auf Eis und einen Highball für mich, und horchte auf die leisen Geräusche aus dem Bad. Dann brachte ich die Drinks ins hintere Zimmer und zog mich aus. Seit Kerstin nicht mehr mit mir zusammenlebte, hatte ich kein richtiges Bett mehr. Zur Zeit schlief ich ich einer Art Alkoven, den ich mir selbst zusammengezimmert hatte. Er war sicher orginell, hatte aber den Nachteil, daß er bei jeder Bewegung so laut knarzte, daß ich anfangs selbst davon aufwachte, wenn ich mich im Schlaf umdrehte. Su-Lin kam, nur mit einem schwarzen Body bekleidet, aus dem Badezimmer und schlüpfte wortlos zu mir in den Alkoven. Ich schälte sie sanft aus aus ihrem Body und streichelte ihren puppenhaften Körper. Ohne ein Wort setzte sie sich rittlings auf mich, wie sie es am liebsten tat. Wir schliefen nur selten miteinander, meistens nur, um uns gegenseitig Trost zu spenden, wenn wir traurig waren. Beide waren wir uns einig, daß wir uns nicht liebten, aber ein bißchen Zärtlichkeit ab und zu gab uns wieder Zuversicht und Selbstvertrauen. Su-Lin war unglaublich sinnlich und leidenschaftlich im Liebesspiel. Sie erlebte mühelos vier oder fünf Höhepunkte kurz hintereinander, wobei sie im letzten Augenblick der Ekstase vor Freude immer laut auflachte. Dieses Lachen war so sinnlich und voller
elementarer Lebensfreude, daß es mir fast wichtiger war diesen Laut zu hören als meine eigene Befriedigung. Während die Dämmerung das große Zimmer mit Schatten auffüllte, schlief Su-Lin friedlich ein, das Köpfchen entspannt auf meine Brust gebettet. Ihr Haar kitzelte mich im Gesicht, aber ich bemühte mich, sie nicht zu wecken. Erst als essentielle Körperteile drohten abzusterben, streichelte ich sie vorsichtig wach. Sie blinzelte verwundert in die untergehende Sonne, die gerade in diesem Augenblick noch einmal unter der Wolkendecke hindurch in das Mansardenzimmer leuchtete und alles in rotes Gold tauchte. Dann murmelte sie verschlafen: "Oh, Al. Du sollst mich doch nicht schlafen lassen. Ich hab' es dir doch schon so oft gesagt. Es ist so unhöflich." Typisch Su-Lin. "Aber ich hab' es gerne wenn du so friedlich schläfst. Dann weiß ich, daß es dir wieder besser geht", erwiderte ich und küßte sie zwischen die Augen. Ich reichte ihr das Glas mit dem warm gewordenen Bailys. "Willst du jetzt reden oder sollen wir uns etwas zu Essen machen?" Su-Lin setzte sich auf, umschlang ihre dünnen Beine mit den Armen und stützte das Kinn auf ihr Knie. "Du bist so lieb zu mir. Warum machst du dieses Theater mit mir immer wieder mit?" flüsterte sie. "Du weißt, daß wir niemals zusammenpassen würden." "Na, weißt du. Dich bei mir im Bett zu haben ist nicht gerade ein Quälerei für mich", sagte ich lächelnd und streichelte ihre goldene Schulter. Sie lächelte schwach über das Kompliment. "Na gut", sagte sie dann und hob energisch das Kinn. "Er hat mich wieder mal versetzt und ist mit einer anderen ausgegangen. Und obwohl ich mir geschworen hatte, daß es mir nichts ausmacht, bin ich heute mittag zusammengebrochen, als ich ihn zufällig mit ihr im Sokoha gesehen habe."
Ich sagte nichts. Das Sokoha war ein beliebter chinesischer Mittagstreff. 'Er' war Su-Lin momentaner Märchenprinz, Phil deMori, dessen Image in den letzten Wochen zu bröckeln begonnen hatte. Ich hatte ihn mal flüchtig in einer gemeinsam verbrachten Mittagspause kennengelernt. Groß, dunkelblond, filmreife Visage, beeindruckende Schultern, charmant, aber nicht so ganz der Hellste. Trotzdem hatte ich ihn auf Anhieb gemocht. Er war der Typ, der fast jedem, ob Frau oder Mann, sofort sympathisch ist. Genau der Typ, mit dem Mütter ihre Töchter verkuppeln wollen, und vor dem sich die Töchter grausen, weil er zu perfekt ist, oder den sie sinnlos anhimmeln, ohne ihn wirklich zu kennen. Su-Lin war natürlich kein Backfisch mehr und ich hatte mich ehrlich für sie gefreut, daß sie endlich ihren nahezu perfekten Partner gefunden hatte. Ein bißchen hatte ich natürlich schon unseren gelegentlichen gemeinsamen Ausritten nachgetrauert, aber noch schöner war es, zu beobachten, wie sie mit ihrem Phil aufblühte. Das Glück währte nicht lange; schon nach zwei Monaten etwa hatten sich die ersten Schatten auf Su-Lins Gesicht wieder ausgebreitet. Ich überlegte. Ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende, das aber vielleicht die Chance enthielt, daß es doch noch mit den beiden klappte? Ich mochte Phil und glaubte, daß er im Grunde genau der Richtige für Su-Lin war. Und natürlich umgekehrt. "Weißt du wo ...?" begann ich. "In den Kaisergarten", kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. Ich zog die Augenbrauen hoch. "Ich habe zufällig gehört, wie er einen Tisch bestellt hat", fügte sie entschuldigend hinzu. "Eine Freundin oder Bekannte von euch?" Su-Lin schüttelte heftig den Kopf. "Ich kenne sie nicht. Nie gesehen. Sie ist rothaarig. Phil steht auf Rothaarige."
"Paß auf", sagte ich entschlossen. "Wir werfen uns in Schale und gehen auch hin." Su-Lins Augen weiteten sich entsetzt. "Aber wir können doch nicht ... Nein, er wird denken ... Ich meine, er weiß doch, daß wir ...", stotterte sie. "Eben deshalb. Vielleicht rüttelt ihn das etwas auf", erwiderte ich überzeugt, obwohl ich meiner Sache gar nicht so sicher war. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn Phil mitbekommt, daß auch andere Männer Su-Lin den Hof machen, dachte ich. Andererseits konnte es auch alles noch schlimmer machen. Es kostete mich noch eine halbe Stunde Schmeichelns und Überredungskunst, bis Su-Lin Gefallen an der Idee fand. Ich bestellte einen Tisch im Kaisergarten und wir machten uns in der kurzen Zeit ein wenig chic. Der Biergarten vor dem Lokal war nur dünn besetzt. Es war zwar angenehm warm, aber die dunklen Wolken verhießen nichts Gutes. Schon vor dem schmiedeeisernen Zaun scheute Su-Lin wie ein erschrecktes Pony. "Nein, bitte, Albert. Ich kann das nicht machen. Er wird meinen, daß ich absichtlich komme, um ihm nachzuspionieren. Und es wird alles noch viel schlimmer." Die kunstvolle Schminke drohte das Opfer eines erneuten Tränensturzbachs zu werden. Ich zögerte einen Augenblick. Vielleicht hatte sie recht. Aber dann schob ich sie kurz entschlossen auf die Eingangstür zu. "So schlimm wird's schon nicht werden. Versuch nicht, ihm was vorzuspielen. Er soll ruhig merken, daß es dir wehtut", flüsterte ich noch rasch in ihr Ohr. Sie saßen gleich in der Nähe des Eingangs. Phil wandte uns halb den Rücken zu und sprach eifrig mit seiner Begleiterin, einer langbeinigen, rotgelockten Schönheit, die sich ihrer Wirkung auf das männliche Geschlecht offensichtlich sehr bewußt war. Sie hörte ihm zu, allerdings mit einer leisen Andeutung von Langeweile in ihrem glatten Gesichtchen, das sie elegant
auf die rechte Hand gestützt hatte, welche wiederum die unvermeidliche Lulle in die Luft reckte. Sie streifte uns mit einem kurzen abwesenden Blick und schaute wieder auf Phil. Ich nahm Su- Lin den Mantel ab und sie ging, nein, sie schwebte in ihrem entzückenden blauen Hosenanzug an Phils Tisch vorbei in Richtung Bar. Ich ging drei Schritte hinter ihr, so daß ich Phils Reaktion, als er sie erblickte, voll miterlebte. Er verschluckte sich an seinem Wein, verschüttete die Hälfte davon auf seine hellen Hosen und rang hustend nach Luft. Geschieht dir recht, dachte ich grimmig. Ich trat mit einem raschen Schritt hinter seinen Stuhl, verbeugte mich kurz vor seiner Begleiterin, die mich verblüfft anblickte, und sagte höflich: "Sie erlauben doch, Gnädigste." Mit diesen Worten schlug ich Phil kräftig zwischen die Schulterblätter. Etwas zu kräftig vielleicht. Sein Kopf flog nach vorn und machte Bekanntschaft mit seiner Vorspeise, Spaghetti Vongole, wie mir schien. Um meine gute Absicht klar herauszustellen, ließ ich nicht nach und schlug ich ihm noch ein paar Male hilfreich auf den Rücken. "Es gibt einfach nichts Besseres bei Verschlucken, sag' ich immer. Finden Sie nicht auch, Gnädigste? Was kann da nicht alles passieren, wenn man mit diesen Dingern ...", ich deutete auf die Muscheln, "... nicht vorsichtig genug umgeht, nein? Habe mal von einen Monsignore gehört, der an einem Reiskorn erstickt ist, weil er sich in Anwesenheit des heiligen Vaters nicht zu husten getraute. Man soll sich das mal vorstellen: an einem Reiskorn! So, jetzt scheint er wieder Sauerstoff in die rauchverpesteten Lüngerln zu bekommen. Na, geht's uns schon besser? Mein Gott, das ist ja Phil. Phil deMori. Nein, so ein Zufall, daß ich ausgerechnet Ihnen das Leben retten kann. Haha. Leben retten ist gut, was Gnädigste? Man kann ihn ja kaum erkennen unter all der guten Soße. Da wollen wir doch mal Ordnung schaffen. nicht wahr?"
Ich schnappte mir seine Serviette und verschmierte die Soße in seinem Gesicht etwas gleichmäßiger über Stirn und Haaransatz. Seine Begleiterin runzelte irritiert die Stirn. "So, jetzt schaut er doch gleich viel zivilisierter aus, Gnädigste. Haha. Zivilisiert ist gut, was? Na, nun sagen Sie doch was, Phil. Man könnte ja meinen, Sie hätten Ihr goldenes Stimmchen verloren." Phil hatte inzwischen den Mund wieder zugeklappt und starrte mich mit hochroten Gesicht und hervorquellenden Augen an. Ob die gesunde Farbe vom Husten, aus Verlegenheit oder vom Zorn verursacht wurde, war schwer zu sagen. Das rothaarige Wunder gegenüber betrachtete mich aufmerksam, als wäre ich eine besonders abstoßende Meeresfrucht, wie sie gruppenweise in den vielen Aquarien des Restaurants herumlungerten und auf ihre Verspeisung warteten. Sie faltete ihre nylonverpackten Hinterläufe auseinander und anders herum wieder zusammen. Ich ließ sie beide gar nicht erst zu Wort kommen. "Na, dann will ich mal nicht länger stören, wie? Ist ja alles in Ordnung jetzt, nicht wahr Phil? Ich würde mich ja zu gerne zu Ihnen beiden setzen, Gnädigste. Aber ich bin ja auch nicht alleine hier, was? Außerdem will man ja nicht stören. Also einen geruhsamen Abend noch, wie?" Ich zwinkerte beiden schelmisch zu und ging mit wiegenden Schritten hinüber zu Su-Lin, die sich hinter dem Oberkellner verschanzt hatte. Während uns dieser zu unserem Tisch im Hintergrund des Lokals führte, erhaschte ich noch einmal einen Blick auf unser Pärchen. Phil wischte sich hektisch im Gesicht herum, während die rote Hexe weit vornübergebeugt auf ihn einredete. Von meinem Platz aus konnte ich die beiden nicht sehen. Um so besser, dachte ich. Su-Lin saß kerzengerade da und sah aus, als ob sie jeden Moment entseelt zu Boden sinken würde. "Bist du wahnsinnig geworden, Albert", zischte sie, sobald
der Kellner hoheitsvoll unsere Getränkebestellung entgegengenommen und sich hinweggehoben hatte. "Wieso?" polterte ich in vorwurfsvollem Tonfall. "Ich kann ihn doch nicht einfach ersticken lassen, bloß weil du mit ihm verkracht bist, was?" "Spiel mir nicht auch noch was vor. Dazu kenne ich dich zu gut. Das war glatte Absicht." Sie überlegte einen Moment. "Sollte diese Vorstellung etwa Karl darstellen?" fragte sie mit ungläubiger Stimme und zuckendem Mund. "Wie kommst du denn darauf?" empörte ich mich getreu meiner Rolle. "Hast wohl zuviel Gesellschaftskrimis im Fernsehen geschaut, wie?" Sie lächelte schwach. "Du bist gut, aber gleichzeitig unausstehlich. Kein Wunder, daß es niemand mit dir aushalten kann." Das ernüchterte mich etwas. Su-Lin bemerkte es und legte entschuldigend ihre Hand auf die meine. "So hab' ich das nicht gemeint. Du bist wundervoll, wenn du jemanden persiflierst. Aber vorhin bin ich fast gestorben vor Angst." Ich nickte beschwichtigend. "Schon gut", sagte ich wieder mit normaler Stimme und räusperte mich. "Ich bin gespannt, wie er jetzt reagiert. Ungefähr eine halbe Stunde gebe ich ihm, bis ihm dämmert, daß wir uns wohl nicht nur zum Abendessen hier getroffen haben." Su-Lin schaute mich verlegen an. "Bitte, Albert. Was auch passiert, sag ihm nichts davon, daß ich ... wir ... ich meine ..." "Daß wir uns gegenseitig auf unsere unaussprechlich hübsche Art getröstet haben", vervollständigte ich ihren Satz und streichelte ihr beruhigend die Hand. "Keine Angst. Das würde sowieso niemand verstehen. Also erzähl ich es auch niemanden." Er kam gerade noch vor dem Hauptgericht. Immer noch etwas rosig im Gesicht trat er unsicher an unseren Tisch,
den Blick fest auf Su-Lin gerichtet, die wiederum konzentriert in ihr Weinglas starrte. Ich öffnete schon den Mund, um meine Rolle als lästiger Konkurrent wieder aufzunehmen, aber er kam mir zuvor. "Su-Lin?" sagte er mit gepreßter Stimme. "Kann ich dich einen Augenblick sprechen? Unter vier Augen meine ich?" Ich sprang beflissen von meinem Stuhl auf. "Aber natürlich können Sie das, Phil. Mit dem Lüngerl wieder alles ok, was? Ja, dann werde ich mal Ihrer entzückenden Begleitung die Zeit vertreiben, bis Sie zurückkehren. Lassen Sie sich nur Zeit!" Ich schlängelte mich durch das enge Lokal zu seinem Tisch. Die rothaarige Schönheit schlug abwehrend eines ihrer langen Beine über das andere und blickte mir vorsichtig, aber nicht abweisend entgegen. "Destouches", sagte ich mit einer leichten Verbeugung. "Albert Destouches. Würden Sie die Freundlichkeit haben, mich für ein paar Minuten an Ihrem Tisch zu beherbergen? Einfach peinlich, wenn man so tischlos in einem Lokal herumstreift, finden Sie nicht?" Beim Klang meines Namens zuckte sie unmerklich zusammen, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. Sie nickte huldvoll in Richtung von Phils Stuhl. Nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, dachte ich interessiert und setzte mich ihr gegenüber auf den dritten Stuhl am Tisch. Sie betrachtete mich nachdenklich und klopfte sich eine Zigarette aus einem geschmacklosen, silbernen Etui. Ich verabscheue zwar Zigarettenrauch, aber die gute Kinderstube geht vor. Also gab ich ihr mit meine ArmyStormlighter Feuer. "Danke", sagte sie und blies den ersten Lungenzug Rauch schräg in die Luft. "Sie sind sehr aufmerksam, Albert." Ihre Stimme war anders als ich erwartet hatte. Nüchtern, klar und sehr kultiviert. Mir fiel auf, daß sie die Endsilben
fast überperfekt aussprach. Wahrscheinlich ist Deutsch nicht ihre Muttersprache, dachte ich flüchtig. "Ich bin untröstlich, daß unser Auftauchen soviel Unruhe in Ihr Abendvergnügen gebracht hat, äh, Verzeihung, wie war doch gleich Ihr Name?" fragte ich. Sie lächelte wissend. "Wir sind uns leider nicht vorgestellt worden. Nennen Sie mich einfach Joan." Ich deutete im Sitzen eine Verbeugung an. "Was wollen Sie trinken, Joan? Ich sehe, Ihr Glas ist leer." "Einen Gin Tonic mit viel Eis", sagte sie nach kurzem Zögern. "Für mich dasselbe", sagte ich zu dem auf meinen Wink herbeigeeilten Kellner. "Tja, über was unterhält man sich mit einer reizenden, unverhofften Bekanntschaft, deren Begleiter gerade unerwartet verschwinden mußte. Peinliche Situation, finden Sie nicht? Leider bin ich nicht ganz unschuldig daran. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber Ihrem Begleiter gehört mal so richtig der Kopf zurechtgerückt." Sie zog die Augenbrauen zu einen mimischen 'So?' hinauf. Ich war nicht bei der Sache, lauschte mit eineinhalb Ohren nach hinten, ob dort etwa ein Streit auszubrechen drohte. Deshalb verpaßte ich ihre nächste Frage. "Entschuldigung?" "Ich sagte, erzählen Sie mir lieber etwas über sich", sagte sie gelassen. Also plauderte ich eben die nächsten zwanzig Minuten ziemlich zusammenhangloses Zeug vor mich hin. Joan Weißnichtwie schien selbst keine Lust zu verspüren, sich über ihre geschätzte Person zu verbreiten, also bestritt fast ausschließlich ich die Unterhaltung. Nach fünf Minuten drückte sie ihre Zigarette aus, entschuldigte sich wohlerzogen und verschwand in der Damentoilette. Ich versuchte unauffällig zu meinem Tisch hinüberzuspähen, konnte aber nur einen Blick auf Su-Lins honigfarbene Schulter erhaschen. Zumindest schien sie nicht von Tränen
geschüttelt zu werden, dachte ich. "Sie machen sich Sorgen um Ihre ... Bekannte?" ertappte mich Joan beim Spähen. Sie hatte sich neues Rouge aufgetragen und die Lippen nachgezogen. "Nun, um ehrlich zu sein, ja", antwortete ich zerstreut. Joan betrachtete mich aufmerksam. "Eine alte Liebe?" fragte sie in spöttischem Ton. "Nur eine alte Freundschaft", antwortete ich reserviert. Joans Anwesenheit wurde mir langsam unangenehm. Ich machte Anstalten, mich zu erheben. Joan legte ihre kühle Hand auf die meine und sagte: "Aber nicht doch. Sie werden die beiden doch jetzt nicht stören wollen? In so einem entscheidenden Moment." Ich ließ mich langsam zurücksinken. "Ich möchte noch etwas trinken, Albert. Dann erzähle ich Ihnen zur Abwechslung etwas über Phil", fuhr sie fort, und ich winkte gehorsam dem Kellner. "Noch einen Gin Tonik", sagte ich dem herbeieilenden Ober, "und Sie...?" "Einen Survey, bitte." Der Kellner hob höflich die Augenbrauen. "Wie bitte , Madame?" "Ich sagte, einen Survey", wiederholte Joan deutlich und sah mich aufmerksam an. "Es tut mir sehr leid, Madame. Wir führen dieses Getränk nicht", erwiderte der Ober höflich. "Dann bringen Sie mir einen Manhatten." Der Ober verbeugte sich bestätigend und glitt in Richtung Bar davon "Ich kenne das Getränk auch nicht", bemerkte ich zerstreut. "Wie war der Name? Survey?" "Es ist nicht wichtig", lächelte Joan. Seit sie sich aufgehübscht hatte, war sie irgendwie verändert. Die nächste Viertelstunde plauderte sie locker zusammenhangloses Zeug, während ich einsilbig zuhörte. Nach weiteren zehn Minuten kehrte Phil endlich an seinen unseren Tisch zurück. Er war nicht mehr so rosig wie
vorhin und zeigte ein angedeutetes Lächeln. Ich stand höflich auf und Joan blickte ihm erwartungsvoll entgegen. "Sie müssen mich beide für sehr unhöflich halten", entschuldigte er sich an uns beide gewandt. "Sie lasse ich einfach hier sitzen, und Sie vertreibe ich von Ihrem Tisch. Es tut mir sehr leid, aber es war sehr wichtig für mich ... uns", verbesserte er sich hastig. Er schaute mich zögernd an. Ich sprang rasch in die Bresche. "Aber mein Lieber. Es war mir ein ausgesprochenes Vergnügen, nicht? Ich hoffe, Sie beide haben sich mal so richtig ausgesprochen, was? Ab und zu braucht man mal eine kleine Auseinandersetzung, nicht wahr? Kommt in den besten Familien vor, gerade dort. Haha." Joan starrte mich unverwandt an und Phil lächelte unsicher. Ich verbeugte mich leicht vor Joan und klopfte Phil auf die Schulter. "Tja, dann will ich mich mal verabschieden. Es war mir ein wirkliches Vergnügen, Joan. Ich hoffen, wir sehen uns mal wieder und so weiter." Joan nickte nur huldvoll. Phil murmelte etwas Unverständliches zum Abschied. Su-Lin blickte mir verlegen entgegen. "Nun, du hast mich ja lange genug in den Fängen dieses rothaarigen Vamps gelassen. Ich hoffe es hat sich gelohnt", meinte ich aufatmend, als ich auf dem Stuhl neben ihr Platz genommen hatte. "Ich ... naja. Doch, er hat sich sogar bei mir entschuldigt", sagte Su-Lin errötend. "Nana. So was erzählt man doch nicht herum", sagte ich tadelnd. Dann beugte ich mich vor und flüsterte verschwörerisch: "Und was hat er zu meinem Auftritt gesagt?" Su-Lin lachte leise. "Er kann nicht begreifen, was ich an dir finde, und daß ich mit so jemanden ausgehe." Sie hörte auf zu lachen und blickte mich forschend an. "Warum spielst du immer solche Rollen? Warum bist du nicht einfach du selbst?" fragte sie ernst. Ich setzte schon
zu einer witzigen Bemerkung an, überlegte dann aber ernsthaft und antwortete: "Ich weiß nicht. Es ist eine Art Instinkt. Bei bestimmten Leuten schlüpfe ich fast automatisch in eine bestimmte Rolle. Ich weiß nicht, ob das nur ein Tick von mir ist oder mangelndes Selbstbewußtsein. Jedenfalls hat es mir schon oft geholfen." Su-Lin sah mir in die Augen. "Spielst du mir gegenüber auch so eine Rolle?" Ich überlegte. Diese Frage war nicht leicht zu beantworten, wenn man ehrlich sein wollte. "Ich hoffe nicht. Es ist mir jedenfalls nicht bewußt", sagte ich schließlich zögernd. SuLin lächelte und streichelte meine Hand. "Und wie geht's jetzt weiter?" fragte ich und deutete mit den Augen zu Phils Tisch hinüber. "Oh, wir haben uns wieder versöhnt", strahlte sie. "Er hat .... nun ja ... ich meine, vielleicht werden wir uns bald verloben." Ich pfiff anerkennend durch die Zähne und zog die Augenbrauen hoch. "Laß das, Al!" schimpfte sie mich. "Ich weiß, daß du nichts vom Verloben und Heiraten hältst, aber ich freue mich darauf", sagte sie trotzig. Sie zog die Schultern zusammen und fröstelte. "Kannst du mir bitte meine Stola aus dem Wagen holen? Mir ist kühl geworden", sagte sie. "Mit Vergnügen. Du kannst solange meine Jacke haben", sagte ich und legte ihr mein Sakko um die Schultern. "Bin gleich wieder da. Wenn der Kellner unerwarteterweise doch noch mal auftauchen sollte, bestellst du für mich bitte den Kaiserschmarrn und eine Flasche Prosecco, ja? Das muß gebührlich gefeiert werden" Su-Lin lächelte und nickte. Draußen war es eigentlich nicht kalt. Es hatte zu nieseln aufgehört und man konnte einzelne Sterne durch die Wolkenfetzen über St. Ursula am Kaiserplatz sehen. Obwohl der Kaisergarten im Herzen Schwabings lag, war es erstaunlich ruhig. Nur ab
und zu ein vorbeifahrendes Auto, ein paar eng umschlungene oder Händchen haltende Pärchen, und über all dem das leise und beruhigende, alles durchdringende Grollen der Großstadt. Mein Wagen, ein alter Volvo Kombi, stand verkehrswidrig geparkt in der Auffahrt zum Kirchenportal. Ich wußte allerdings aus Erfahrung, daß um diese Zeit niemand die Einfahrt benutzten würde. Ich sperrte die Beifahrertüre auf und das Licht im Wageninneren flammte auf. Die Stola lag auf dem Rücksitz. Ich beugte mich nach hinten und griff danach. Plötzlich stutzte ich. Etwas war anders als sonst. Ich hielt die Stola in der Hand und sah mich im Wageninneren um. Was war es nur? Das Radio war noch an seinem Platz. Die anderen Türen waren ordnungsgemäß verschlossen. Ein schwacher Geruch lag in der Luft, der mir unbekannt war. Sonst nichts. Die Beleuchtung brannte trübe. Ich muß wohl die Batterie bald mal auswechseln lassen, dachte ich zerstreut und schlug die Türe wieder zu. Das Licht brannte weiter, weil ich schon vor Jahren eine Zeitverzögerung hatte installieren lassen, die das Licht erst nach einigen Sekunden löschhte. Ich schloß ab und ging rasch wieder in Richtung Kaisergarten. Ein Pärchen kam mir langsam entgegen und ging an mir vorbei. Die junge Frau schmiegte sich an ihren Begleiter und lachte glücklich. Im nächsten Augenblick traf mich eine glühende Wand in den Rücken und schleuderte mich nach vorne. Ich hatte einen Augenblick keinen Boden mehr unter den Füßen. Instinktiv riß ich die Arme hoch und prallte hart auf den gepflasterten Gehweg. Ich meinem linken Arm knackte etwas häßlich. Dann gab es einen dumpfen, kurzen Knall in meinem Kopf und alles wurde dunkel. Ich lag halb auf dem Bauch, den linken Arm unter dem Körper eingeklemmt, als ich benommen wieder zu mir kam. Ich versuchte mich aufzurappeln, aber ein glühender Schmerz schoß aus dem
linken Unterarm die Schulter hinauf und ließ mich wieder zusammensacken. Ich stöhnte vor Schmerz. Um mich herum herrschte ein Chaos von Lichtern und Geräuschen. Eine Frauenstimme schrie gellend, Männerstimmen riefen, ein Martinshorn näherte sich. Blaue und gelbe Lichter zuckten über die Häuserfassaden. Irgendwo klirrte herunterfallendes Glas. Ich schloß einen Moment die Augen und versuchte, mich zu orientieren. Ich lag immer noch auf dem Bauch, halb auf dem Gehsteig, halb auf der Fahrbahn. Mein rechter Arm war scheinbar unverletzt. Ich stützte mich vorsichtig darauf und drehte mich auf den Rücken. In meinem linken Arm tobte der Schmerz; er war offensichtlich gebrochen. Ich schaffte es, mich in sitzende Position zu hieven und ließ den verletzten Arm herunterhängen, damit sich die Bruchenden voneinander lösten. Tatsächlich verminderte sich der Schmerz auf ein erträgliches Maß. Ich blickte mich um, konnte aber fast nichts erkennen, weil meine Augen so tränten. Ich wischte mit Su-Lins Stola, die ich immer noch in der rechten Hand hielt, über mein Gesicht, aber die Augen füllten sich sofort wieder mit Flüssigkeit. Plötzlich wurde mir klar, daß es sich um keine normale Tränenflüssigkeit handelte, die ich da wegwischte. Der helle Stoff der Stola war tiefrot befleckt. Ich tastete mir über das Gesicht. Über der linken Augenbraune fühlte ich eine klaffende Platzwunde, aus der das Blut in meine Augen lief. Ich faltete unbeholfen die Stola zweimal, wischte mir nochmal die Augen frei und presste dann den Stoff auf die Wunde. Besser. Jetzt konnte ich endlich klar sehen. Ich stand unsicher auf und blickte mich um. Dort wo mein Wagen gestanden hatte, war nur noch ein flammender Klumpen Blech. Brennende Flüssigkeit floß unter dem Wrack hervor und lief langsam die Kaiserstrasse hinunter auf mich zu. Ein Mann, ganz in weiß gekleidet, versuchte das Feuer mit einem Handlöscher einzudämmen. Aus dem
Rauch stolperte ein junger Mann schwer beladen auf mich zu. Ich erkannte den Jungen wieder, der gerade noch zusammen mit seiner Begleiterin an mir vorbei geschlendert war. Er trug sie über der Schulter. Ihr Kopf und die Arme baumelten leblos an seinem Rücken herunter. Menschen kamen aus der Richtung zum Kaisergarten gerannt. Zwei nahmen dem jungen Mann vorsichtig seine Last ab und er brach, wo er stand, zusammen. Ich drehte mich um und sah Su-Lin mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht auf mich zu rennen. Sie faßte mich heftig an beiden Armen, um mich wegzuziehen und ich stöhnte vor Schmerz auf. "Ist schon gut", sagte ich mühsam. "Bitte nicht am linken Arm ziehen. Er könnte abfallen." Sie sah mich verzweifelt an. Hinter ihr tauchte Phils Gesicht auf. Er führte uns beide zurück zum Lokal und hieß mich auf dem ersten besten Stuhl hinsetzen. "Der Notarzt wird gleich da sein", versicherte ein Kellner immer wieder aufgeregt. Jemand brachte einen Autoverbandskasten und Phil legte mir unbeholfen einen Verband über der Platzwunde an. Die Schmerzen im linken Arm hatten paradoxerweise fast aufgehört. "Bringen Sie mir einen doppelten Grappa", sagte ich mit schwacher Stimme zu dem Kellner und er stürzte davon. Ich versuchte, Su-Lin zuzulächeln, die neben mir am Boden kniete. "Tja, tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe deine Stola versaut habe. Ich kauf' dir bestimmt eine neue, schönere." "Was ist denn bloß passiert?" fragte Su-Lin mit zitternder Stimme. "Ein Auto ist in die Luft gegangen", sagte eine fremde Stimme hinter mir. Ich nickte vorsichtig und stürzte den Grappa hinunter, den mir der Kellner gerade reichte. "MEIN Auto ist in die Luft gegangen", wiederholte ich. "Aber warum?"
3 Der übermüdete, aber gut gelaunte Chirurg im Schwabinger Krankenhaus machte mir wieder Mut. Es handele sich um keine richtige Fraktur. Nur die Elle sei etwas angeknackst. Überhaupt kein Problem sowas, das erledigen sie hier mit links. Wie bitte? Ach so, ja klar tue das weh. Wenn die Knochenhaut verletzt sei, dann tue das immer höllisch weh. Er könne mir das gerne etwas genauer erklären, wenn mich das interessiere. Ich lehnte dankend ab. Die Platzwunde auf meiner Stirne war schon versorgt. Fünf Stiche. Ganz ohne Narbe würde es wohl nicht abgehen, hatte die junge Assistenzärztin gemeint. Jetzt - fast genau um Mitternacht warteten wir auf einen Pfleger, damit der Arzt den Arm einrichten und gipsen konnte. Su-Lin war die ganze Zeit nicht von meiner Seite gewichen. Auch Phil trieb sich noch irgendwo auf den Gängen herum und versuchte, nützlich zu sein. Wir waren mit seinem, zum Glück unbeschädigten Wagen hierhergefahren, nachdem sich herausgestellt hatte, daß der Notarztwagen schon mit den beiden anderen Verletzten voll belegt war. Der Notarzt hatte mich kurz untersucht, mir gezeigt, wie ich den Arm möglichst schmerzfrei lagern konnte und dann Phil genau beschrieben, wo er mich hinbringen sollte. Nach fünfzehn Minuten war alles vorbei. Der eifrige Chirurg hatte sogar den Röntgenschirm so weit gedreht, daß ich "mitgucken" konnte. Obwohl ich darauf gar keinen so großen Wert legte. Aber um ihm eine Freude zu machen, beobachtete ich gehorsam, wie er mit Hilfe des Pflegers den Bruch unter dem Röntgenschirm sorgsam ausrichtete und dann den ganzen Arm mit Gipsbinden fixierte. Ich wunderte mich, wie schnell der Gips hart wurde. Ich wunderte mich außerdem, wie der Chirurg und der Pfleger mit den unförmigen Bleihandschuhen überhaupt eine so kitzlige Arbeit
ausführen konnten. "So", meinte abschließend fröhlich der Arzt und klopfte leicht auf den unförmigen Gips, der gerade noch ein paar Fingerspitzen freiließ und sich fast bis zur Schulter hinaufzog. "Nicht gerade die neueste Technik, aber bei einer so leichten Fraktur ist eine Operation mit externer Schiene ja wirklich nicht nötig." Er rieb sich zufrieden die Hände. Ich dankte im Stillen meinem Schicksal, daß ich nicht an einen experimentierfreudigeren Chirurgen geraten war. Er gab mir noch einen Haufen Verhaltensmaßregeln und einen Terminzettel mit der furchteinflößenden Aufschrift 'Gipskontrolle'. "Und wie lange ...", fragte ich schüchtern. Er wiegte den Kopf. "Etwa vier bis sechs Wochen. Bei so einer leichten Fraktur geht das ziemlich schnell." Ich stöhnte innerlich und ließ mich hilflos von Su-Lin und Phil nach Hause transportieren. Der Arm tat jetzt sehr weh. Nach einer langen und sehr unbequem verbrachten Nacht klingelte mich in aller Herrgottsfrühe die Kripo aus dem Bett. Ich stolperte schlaftrunken zur Türe, den Bademantel nur notdürftig umgehängt, da ich mit dem Gips noch nicht zurecht kam, und öffnete die ohnehin nicht verschlossene Türe. Es war - wie könnte es anders sein - natürlich Becker. Ich gab einen Laut von mir, der irgendwo zwischen Begrüßung und entsetzten Stöhnen angesiedelt war und winkte die beiden ohne ein weiteres Wort herein. Er hatte nämlich sogar Verstärkung mitgebracht: Eine junge, dunkelhaarige Dame, die sich bemühte, sehr offiziell und erfahren dreinzuschauen. Becker grinste nur und betrachtete fachmännisch meinen Gips. Dann ging er an mir vorbei in die Küche und begann, Kaffee zu kochen. Seine Begleitung setzte sich auf meine unbeholfene Aufforderung hin etwas verdutzt auf den kleineren der beiden Küchenhocker und wußte nicht wohin mit den Augen und den Händen. Ich verschwand im Bad und spülte den
abscheulichen Geschmack im Mund mit Odol weg, rückte den Schlafrock in eine einigermaßen gesellschaftsfähige Position und fuhr mir mit dem Kamm durch die wirren Haare. Ich guckte skeptisch in den Spiegel. Kein sehr vertrauenserweckender Anblick. Seufzend kehrte ich in die Küche zurück. Becker hatte inzwischen Kaffee und Zucker und drei saubere Tassen gefunden und die Kaffeemaschine in Gang gesetzt. Seine Kollegin machte sich nützlich, indem sie ein paar Löffel abspülte. Ich holte aus dem großen Zimmer noch einen Stuhl, setzte mich und lagerte den jungfräulichen Gips dekorativ aufs Fensterbrett. Der linke Arm pochte schon wieder. Becker setzte sich mir gegenüber. Er deutete zwischen seiner Begleiterin und mir hin und her: "Madeleine Kortner, Albert Destouches." Ich deutete im Sitzen eine Verbeugung an. "Freut mich ganz außerordentlich. Ich bin untröstlich, Sie unter so ungemütlichen Umständen in meinen vier Wänden kennenlernen zu müssen. Ich hoffe, daß sich dies nach Abnahme dieses Liebestöters..." - ich deutete auf den klobigen Gips - "... irgendwann wieder gut machen läßt." Madeleine Kortner lächelte schwach und fummelte an ihrer Aktentasche herum. Sie war etwa eins siebzig groß, hat braune, unvorteilhaft frisierte Haare und war - soweit ich es beurteilen konnte - überhaupt nicht geschminkt. Kräftige, sportliche Figur - etwas zu kräftig für meinen Geschmack und unvorteilhaft gekleidet. Kein Ehering. Das konnte aber auch an den Dienstvorschriften liegen. Ich seufzte und konzentrierte meinen Blick wieder auf Becker, der mich immer noch haltlos angrinste. Die Kaffeemaschine würgte und rülpste unanständig. "Also?" fragte Becker genüßlich. "Du kannst dir ja denken, daß wir nicht zum Schachspielen da sind. Das konnte ich mir - wie du dir denken kannst nicht entgehen lassen."
Ich betrachtete ihn kritisch mit zusammengekniffenen Augen. "Ohne meinen Kaffee sage ich gar nichts", knurrte ich feindselig. "Da nützt es dir auch nicht, wenn du zu nachtschlafender Zeit und in so reizender Begleitung anrückst." Becker lachte und Fräulein Kortner wurde ein wenig dunkler im Gesicht. Hermann Becker, Kriminalassistent am münchener Polizeipräsidium, Abteilung Computerkriminalität. Wir hatten uns kennengelernt, als es sich zum ersten Male ergab, daß die SecureData auch gegen den Willen eines Kunden die Polizei informieren mußte. Das war jetzt vier Jahre her. Damals gab es noch gar keine Abteilung Computerkriminalität und Becker war mehr oder weniger zufällig mit der Sache befaßt gewesen. Becker, der Hobby- Hacker, der sich eine private Mailbox in Internet leistete. Wir hatten seither oft zusammengearbeitet. Im Allgemeinen klappte es ganz gut zwischen uns beiden, aber es blieb eben immer ein kleiner Unterschied: er war der Bulle und ich der Privatschnüffler. Er verstand genug von der Technik, daß wir uns auf die wesentlichen Probleme konzentrieren konnten; und die waren schon seit 4000 Jahren nicht die Technik, sondern die Menschen, die sich der Technik bedienten. Insofern betrachtet war der Computer auch nichts anderes als eine Hacke: ein nützliches Werkzeug, wenn es in seiner beabsichtigten Form verwendet wurde; eine tödliche Waffe in der Hand deines Feindes. Seine Kollegen waren oft anderer Meinung. Leider galt auch die Computerkriminalität bei den meisten Hütern des Gesetzes immer noch als so etwas Ähnliches wie Falschparken. Über die Möglichkeiten des Machtmißbrauchs durch Computertechnik wissen vielleicht zum Glück - nur wenige. Vier Minuten später hatten wir alle drei eine dampfende Kaffeetasse vor uns und saßen einträchtig an meinem winzigen Küchentisch.
Zwischen den einzelnen Schlucken berichtete ich, was ich wußte. Becker nickte ernst, wie es seine Art beim Zuhören war. Er skandierte quasi die Worte, die er hörte. An sich hielt ich viel von ihm. Mehr als von den meisten seiner Kollegen. Trotzdem machten wir uns oft den Spaß, über unsere jeweiligen Arbeitstechniken zu frotzeln. Die SecureData war in seinen Augen so etwas wie eine Computerdetektei, ein Haufen von Privatschnüfflern, wie man so schön sagt. "Das deckt sich soweit alles mit den Aussagen der anderen Zeugen", sagte er. "Zu deiner Information: die beiden anderen Verletzten sind außer Gefahr. Es kann aber sein, daß das Mädchen bleibende Schäden davontragen wird." Ich nickte ebenfalls finster. "Zu deiner Information: Wenn ich nicht nur Su-Lins Stola geholt hätte, und wenn ich nicht vor Jahren schon diese Zeitverzögerungsschaltung für die Wageninnenbeleuchtung eingebaut hätte, und wenn ich nicht sofort das Schlüsselloch gefunden hätte und vielleicht nur ein paar Sekunden noch vor dem Auto gestanden hätte und einfach die Sterne bewundert hätte, oder wenn wir einfach ganz normal nach Hause gefahren wären, dann wäre ich und vielleicht auch Su-Lin jetzt für alle Zeiten aus den Spiel, das wir alle schätzen und das im allgemeinen Leben genannt wird." Ich hatte mich regelrecht in Rage geredet und war jetzt wirklich zornig. Etwas, was mir eigentlich selten passierte. Aber erst jetzt wurde mir so richtig bewußt, was da gestern eigentlich passiert war. "Und ich versichere dir, daß mein Auto auf der Hinfahrt noch das friedlichste Gefährt unter der Sonne war und ans Explodieren auch nicht im Traum gedachte hätte. Deshalb erwarte ich von euch, daß ihr ausnahmsweise mal eure Ä..... in Bewegung setzt und den oder die verdammten Schweinehunde findet, bevor noch mehr Unheil passiert!"
Ich lehnte mich zurück und nahm mit zitternder, rechter Hand wieder meine Kaffeetasse. Becker schaute nur auf den Tisch, seine Kollegin starrte angestrengt meine Zitronenpresse von Alessi an. Es war zehn Sekunden lang sehr still; dann murmelte ich: "Entschuldigung. War nicht so gemeint. Aber die Vorstellung, daß Su-Lin da unschuldig mit hineingeraten wäre..." Becker streifte mich mit einem raschen Blick. "Schon gut. Ist ja auch verständlich. Aber wer sagt, daß es ein absichtlicher Anschlag war? Und wenn, wieso nur gegen dich und nicht vielleicht gegen Fräulein Wan?" fragte er. Ich überlegte. Eigentlich hatte ich von Anfang an keinen Moment an einen Unfall gedacht. Aber wieso eigentlich nicht? "Ich weiß nicht", sagte ich langsam. "Ich kann mir eigentlich keinen Grund denken, warum mir oder Su-Lin jemand nach dem Leben trachten könnte. Was sagen denn eure Experten?" Becker hob die Schultern. "Bis jetzt haben wir noch keinen Bericht vom Labor, aber daß ein Auto einfach so in die Luft fliegt, ist schon relativ unwahrscheinlich, nicht? Lassen wir für den Augenblick das Motiv mal außen vor. Gehen wir ruhig mal von einem Sprengsatz aus, der an die Beleuchtung gekoppelt war. Da die Beleuchtung das letzte Mal auch bei der Hinfahrt gebrannt hat, folgern wir daraus, daß die Bombe zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Wagen war." Ich öffnete den Mund, aber er unterbrach mich gleich: "Ja, ich weiß. Theoretisch geht das natürlich auch. Eine Elektronik, die erst auf den - sagen wir - fünften Impuls reagiert, aber gehen wir erst mal vom einfachsten Fall aus. Während ihr gemütlich zu abend eßt, knackt Mr. X in aller Ruhe dein Auto und installiert einen kleinen Silvesterscherz, der beim Verlöschen der Fahrzeuginnenbeleuchtung hochgeht."
Becker nahm einen Schluck Kaffee und starrte konzentriert ins Leere. "Daraus lassen sich schon einige erstaunliche Schlußfolgerungen ziehen, nicht? Erstens: es waren ein oder mehrere Profis. Ein Laie hätte sich nicht die Mühe gemacht, eine Elektronik zu verwenden, die erst beim Ausschalten zündet. Das ist aber ziemlich schlau, weil genau dann - beim Ausschalten der Innenbeleuchtung - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit alle Opfer brav im Wageninneren sitzen und - naja - mit tödlicher Sicherheit hops gehen." Ich guckte ihn an. "Wie nett du das immer ausdrückst", sagte ich säuerlich. Becker beachtete den Einwurf nicht. "Zweitens", fuhr er fort, "muß der Täter dein Auto und seinen - übrigens verkehrswidrigen - Parkplatz genau gekannt haben. Und drittens muß er gewußt haben, daß du ihm genug Zeit für seine Fummelei lassen würdest." Ich brütete ein paar Sekunden über meiner Kaffeetasse, dann zuckte ich die Schultern. "Na und? Das kann trotzdem jeder sein, der mir in böswilliger Absicht gefolgt ist. Jeder konnte sehen, wie Su-Lin und ich in den Kaisergarten gegangen sind. Normalerweise kommen Leute, die zum Essen gehen, nicht sofort wieder heraus und fahren weiter, wenn sie erst einmal einen Tisch besetzt haben." "Ich bin noch nicht fertig", sagte Becker. "Viertens macht man einen so offensichtlichen Anschlag nicht leichtfertig. Gerade ein Profi würde lieber versuchen, einen Unfall zu inszenieren. Zum Beispiel die Bremsen zu sabotieren oder Ähnliches. Daß sie gleich mit einer Bombe auf dich losgehen, kann zwei Gründe haben. Erstens, sie sind sich sicher, daß man sie niemals aufspüren kann. Oder zweitens, sie haben es ganz verdammt eilig, dich zum Schweigen zu bringen, bevor du noch irgendetwas Dummes anstellen kannst. Oder drittens, sie wollten dich
gar nicht umbringen, sondern nur unmißverständlich klar machen, daß es ihnen bei ihrem Geschäft bitter ernst ist." "Moment mal, wieso Warnung? Wenn ich in meinem Auto gesessen hätte ..." "Wer sagt denn, daß unsere Hypothese mit der elektrischen Kopplung an die Wagenbeleuchtung stimmt? Es kann ja auch eine ferngesteuerte Zündung gewesen sein. Vielleicht hat dich der Täter Zeit im Auge gehabt und genau gewußt, daß dir in der Entfernung nichts Ernsthaftes passieren kann." "Und riskiert trotzdem, ein paar Passanten um die Ecke zu bringen? Ich glaube, du fängst jetzt an deine Prämissen durcheinanderzuwerfen. Bleiben wir lieber erst einmal bei der bisherigen Annahme mit der elektrischen Kopplung." "Ok, ok", lenkte Becker ein. "Vergiß das dritte Motiv. Bleiben also noch die Möglichkeiten eins und zwei ..." Sie sahen mich erwartungsvoll an. Ich guckte relativ hilflos zurück, während ich mein Gehirn zermarterte. Dann schüttelte ich langsam den Kopf. "Tut mir leid. Ich hab' nicht den leisesten Schimmer." Madeleine Kortner unterbrach das anschließende Schweigen. Sie hatte eine angenehme, leise Altstimme, ziemlich sexy. "Haben Sie zur Zeit berufliche Schwierigkeiten? Haben Sie sich irgendwann, nicht nur in der letzten Zeit, Feinde gemacht?" fragte sie. Ich schüttelte wieder den Kopf und lächelte. "Zumindest kenne ich keine. Ich möchte es nicht ausschließen." Becker guckte seine Kollegin an. "Natürlich hat er Feinde. Jeder Privatschnüffler hat das. Aber wir können nicht die ganze Kundenkartei der SecureData durchgehen. Ganz abgesehen davon, daß sie die nie 'rausrücken würden." Becker seufzte und streckte sich. "Nun gut. Dann machen wir erst mal weiter nach Schema F. Spurenanalyse,
Zeugen, etc. Ich würde dir empfehlen, in nächster Zeit etwas die Augen aufzuhalten." Er und Madeleine standen auf. "Worauf du dich verlassen kannst", knurrte ich. "Ich werde mich hier einschließen, und zwei Gorillas beauftragen, mich zu bewachen." Madeleine lächelte. "Übrigens war Ihre Tür nicht verschlossen", bemerkte sie tadelnd. Becker lachte wieder. "Gib' dir keine Mühe. Das ist so ein Tick vom ihm. Ich hab's ihm auch schon tausendmal gesagt." Ich erwiderte nichts. Niemand außer mir wußte, warum ich eine Abneigung gegen verschlossene Türen hatte. Ich eskortierte die beiden zum Ausgang und sie verabschiedeten sich. "Irgendwann morgen oder übermorgen brauche ich deine Aussage. Ruf' an, wenn du eine Stunde frei hast." Ich nickte. Dann waren sie weg und ich lehnte die Türe wieder an. Eine Stunde später betrat ich Toms Büro. Er laß in einem Bericht, der in seinem Schoß lag. Den linken Zeigefinger hatte er in einem anderem Bericht geklemmt und mit der rechten Hand machte er sich, ohne hinzuschauen, Notizen an seinem Terminal. Typisch Tom. Häufig sah man ihn in dieser Stellung auch noch telefonieren, wobei er keine seiner sonstigen Tätigkeiten unterbrach. Tom war ein Workoholic, wie er im Psychologiebuch stand. Aber er schien keine Probleme damit zu haben. Die Probleme traten eher in seiner Umgebung auf. Toms Verschleiß an Sekretärinnen war beträchtlich; kaum eine hielt es länger als ein paar Monate bei ihm aus. Dagegen hatte Karl, soviel ich wußte, immer noch seine Sekretärin, die er schon zur Gründung der SecureData mitgebracht hatte. Tom bemerkte eine Bewegung in seinem Spiegelbutton am Display und wandte sich um. "Albert! Ich habe schon von deinem Pech
erfahren. Oder solle ich dir zu deinem unverschämten Glück gratulieren?" Er schob mit dem kleinen Finger die Halbbrille zurück auf den Nasenrücken. Diese Bewegung machte er in Durchschnitt dreimal in der Minute, aber nur im Gespräch. Während er still vor sich hin arbeitete, rutschte seine Brille immer bis auf die vorderste Nasenspitze und blieb dort unbeachtet hängen. Peter Hunt und Abel Jurafsky kamen aus ihren Büros und blieben im Türrahmen stehen. Jenny, Toms momentane Sekretärin gesellte sich zu uns. Bald war die halbe Mannschaft in Toms Büro versammelt. Ich ließ das übliche Frage- und Antwortspiel über mich ergehen. Nachdem sich die sensationslüsterne Menge etwas gelichtet hatte, fragte ich Tom nach Neuigkeiten in Sachen Interbank. Er hob die Schultern und schob energisch die Brille zurück. "Ich habe noch nichts von Karl gehört...", meinte er vage. Ich sagte nichts und schaute ihn nur an. "Tja, und ich hatte auch noch nicht so viel Zeit, mich darum zu kümmern", fuhr er entschuldigend fort und streifte wie zum Beweis das Chaos auf seinem Schreibtisch mit einem müden Blick. Ich nickte. "Soll ich mich darum kümmern?" fragte ich beiläufig. "Nein", sagte er rasch. "Das heißt .... nun, warum eigentlich nicht. Aber sei vorsichtig. Häng es nicht an die große Glocke und sprich vor allem nicht mit den falschen Leuten, ok?" Ich nickte wieder. Keinem von uns war gedient, wenn sich unnötige Gerüchte in der Branche ausbreiteten. Die Gerüchteküche ist immer eine gefährliche Sache, besonders in der Finanzwelt, wo die meisten unserer Kunden angesiedelt waren. Am besten sprach man gar nicht über die SecureData; das war uns am liebsten. Su-Lin begrüßte mich mit ihrem besten asiatischen Schönwetterlächeln, das aller Welt verkündete, daß sie und Phil wieder ein Herz und eine Seele waren. Ich ließ mich
gehörig wegen meines Gipsklumpens bemitleiden und gestattete ihr dann, als erste ihren Genesungswünsche darauf zu malen. In rosa, aber kaum leserlich, da man auf dem rauhen Gipsverband fast nicht schreiben konnte. "Wer war eigentlich diese Joan, mit der sich Phil verabredet hatte?" fragte ich behutsam. Ein leichter Schatten legte sich über Su-Lins fröhliches Gesicht, aber es hellte sich gleich wieder auf. "Phil sagt, er kenne sie nur vom Sehen. Er hat sie erst gestern im Sokoha kennengelernt. Er weiß nicht mal ihren Nachnamen." "Er hat sie gestern beim Lunch kennengelernt und sich gleich mit ihr zum Abendessen verabredet?" fragte ich ungläubig. Su-Lin zuckte die Achseln. "Er hat mir auch nicht mehr gesagt und ich will es auch gar nicht wissen", sagte sie trotzig. "Er hat mir geschworen, daß sie ihm nichts bedeutet. Er wollte nur mal mit einer anderen Frau ausgehen." Su-Lin hob ihr Kinn und schaute mich kampflustig an. Ich ließ es dabei bewenden. Ich fragte sie nach den InterbankDaten. Sie stöhnte nur. "Jetzt kommst du auch noch damit an! Heute früh hat schon Karl sich erkundigt und gerade vorhin waren Abel und Tom mit derselben Frage hier. Ich hab' schließlich noch andere dringende Dinge zu erledigen. Außerdem weiß niemand, wonach ich eigentlich suchen soll." Sie hatte recht. Wonach wollten wir eigentlich suchen? Vielleicht war es wirklich das Beste, es einfach auf sich beruhen zu lassen und zu warten bis Gras über die Sache gewachsen war, wie Karl es vorgeschlagen hatte. "Ich würde mir die Daten bei Gelegenheit selber gerne mal anschauen", sagte ich. "Wo sind sie?" Su-lin klickte einige Male mit der Maus auf ihrem Display herum. "Sie liegen im 'inneren Bereich' unter 'analyse/misc/interbank'", sagte sie und ich notierte den
Pfad auf meiner Schreibunterlage. Der sogenannte 'innere Bereich' war ein besonders geschützter Teil unseres Rechnersystems, auf den nur mit gesondertem Paßwort zugegriffen werden durfte. Praktisch alle unsere Kundendaten lagen dort. Ich ging in den mit Zahlenschloß gesicherten Rechnerraum und schloß die Stahltüre hinter mir. Keine Fenster, grelles Neonlicht und ein ziemlicher Lärm, verursacht durch die Klimaanlage und die zahlreichen Winchesterplatten und sonstigen Peripheriegeräte. Ich nahm ein frisches ExaByte Band aus dem Regal, beschriftete es mit einem großen 'IBD' und schob es in das Bandlaufwerk. Dann loggte ich mich an einer der Konsolen ein und identifizierte mich dem Rechner gegenüber als berechtigter Benutzer des 'inneren Bereichs'. Das Tippen mit nur einer Hand war ungewohnt und mühsam, da ich oft mehrere Tasten gleichzeitig drücken mußte, was mit einer Hand nicht so leicht ist. Innerlich fluchte ich über das unnötig lange Passwort. Wer hatte sich so einen Schmarrn einfallen. Ganz abgesehen davon, daß es sich niemand merken konnte. Es lautete: H2K3Xhm- 5-njq6>>: In dem von Su-Lin genannten Pfad befanden sich ca. 200 Megabyte an Dateien in mehreren Unterverzeichnissen Ich konnte an den Namen erkennen, daß die Struktur des Dateibaums nicht von der Interbank sondern von Su-Lin stammte. Auf ihre systematische Art hatte sie die Daten in verschiedene logische Bereiche gegliedert und für ihre Analyse aufbereitet. Ich tippte einen Befehl, der den gesamten Dateibaum auf das frische Band archivierte. Das Bandlaufwerk surrte und begann zu schreiben. 200 Megabyte, dachte ich, das würde wohl etwa 4 Minuten dauern. Alles was in den Rechnern der SecureData ablief, wurde automatisch protokolliert; mit Uhrzeit, Datum und natürlich unter welchem Account die Aktion geschehen war. Auf diese Weise konnten wir in kritischen Fällen
rekonstruieren, was eigentlich passiert war. Es war eine unserer Standard-Empfehlungen an alle Kunden, dies grundsätzlich auf allen Rechnern zu machen. Aber die meisten Kunden scheuten den Mehraufwand an Speicher und Rechenzeit. Lächerlich, wenn man bedachte, wieviel mehr Aufwand es kostete, eine Katastrophe ohne Protokolle zu rekonstruieren. Das Bandwerk leuchtete grün und begann zurückzuspulen. Nach ein paar Sekunden spuckte es die Kassette aus und ich steckte sie in meine Jackentasche. Was ich da tat, war zwar nicht ausdrücklich verboten, wurde aber nicht gerne gesehen. Je mehr Kopien von sensiblen Daten existierten, desto größer war natürlich auch die Gefahr, daß sie in die falschen Hände gerieten. Ich verließ die Firma, nachdem ich Su-Lin noch einige Instruktionen für andere Projekte gegeben und mich für den Nachmittag bei Tom entschuldigt hatte. Ich müsse noch einmal ins Krankenhaus, log ich, und Tom nickte nur, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Zuhause setzte ich mich mit einem Drink auf den winzigen Balkon, der den grünen Innenhof überblickte, und versuchte für meinen linken Arm eine schmerzfreie Stellung zu finden. Der Arzt hatte mich vorgewarnt: die ersten Tage würde es weh tun, und dann würde der Juckreiz kommen. Im hinteren Teil des Hofes klopfte der Buntspecht. Seit Jahren lebte ein BuntspechtPärchen hier in den Hinterhöfen Schwabings. Sie waren nicht immer anzutreffen, aber ziemlich regelmäßig suchten sie die alten, knorrigen Baumrinden nach ... nun ja, ich wußte auch nicht, was sie da so eifrig suchten. Wahrscheinlich etwas Freßbares. Jetzt kam einer von ihnen in mein Blickfeld und faßte auf der Akazie direkt vor meinem Balkon Fuß. Der rote Bauch blitzte im trüben Herbstlicht auf, während er den Stamm eifrig umkreiste. Ich schaute nach seinem Partner aus, konnte ihn aber nicht entdecken. Vor zwei Jahren hatten sie in einem alten
Baum, etwa zwanzig Meter von meinem Fenster entfernt, eine Nisthöhle gebaut und genau ein Junges aufgezogen. Das Junge hatte die ganzen umliegenden Häuser terrorisiert, weil es praktisch ununterbrochen, von vier Uhr morgens bis Sonnenuntergang rhythmisch nach Futter schrie. Anhand der Modulation seiner Schreie konnte man deutlich erkennen, wenn ein gestreßtes Elternteil zur Fütterung anrückte. Das Schreien steigerte sich zum ohrenzerreissenden Crescendo, wurde dann wahrscheinlich durch brutal in den roten Schlund gestopftes Futter - kurz gedämpft, um dann mit unverminderter Lautstärke wieder loszubrechen. Ich glaube, daß die pure Anwesenheit dieses Buntspechtkükens im Hinterhof einige meiner jüngeren Mitbewohner, die bis dato kinderlos waren, dazu bewegte, ernsthaft über die Frage nachdenken, ob Nachwuchs denn unbedingt notwendig sei. Im hinteren Teil des Hofes klopfte es wieder. Also war das hier auf meinem Baum wohl das Weibchen? Äußerlich unterschieden sie sich überhaupt nicht. Oder klopfen Buntspechtweibchen genauso wie die Männchen? Ich wußte es nicht. Mein Drink war leer. Mein Kopf ebenfalls. Der linke Arm pochte und ich war erfüllt von einem überwältigenden Gefühl der Lustlosigkeit. Nur dasitzen und atmen, und möglichst an Nichts denken. Das trübe Herbstlicht wurde noch trüber und die Spechte verschwanden irgendwohin, um anderen Buntspechtverpflichtungen nachzukommen. Mein Blick fiel zufällig auf meine Armbanduhr. Sechs Uhr acht. Acht. Es klickte irgendwo in meinem Kopf und das Denken setzte wieder ein. Acht Uhr. Helen Hortek, die Vorstandssekretärin der Interbank. Und der ganze Mist der letzten Tage brach wieder über mich herein. Na gut, eine Verabredung mit einer Dame muß man einhalten. Da gelten keine Ausreden. Ich wuchtete mich ächzend aus meinem Korbstuhl und
bemerkte jetzt erst, daß mein linker Fuß eingeschlafen war. Na bravo, dachte ich sarkastisch, während ich versuchte, mit dem rechten Arm mein Gleichgewicht wieder zu finden, halbseitig gelähmter Casanova unterwegs zu neuen Taten. Eine Stunde später war ich einigermaßen gesellschaftsfähig ausgestattet und auf dem Weg zu Helen Horteks Wohnung im Stadtteil Haidhausen. Ihre Visitenkarte konnte ich zwar nicht mehr finden, aber ich erinnerte mich an die Adresse, weil in der gleichen Strasse mein alter Freund Viktor mit seiner Freundin Sonja lebte. Da mein armer Volvo nicht mehr unter den Fahrenden weilte, nahm ich die U-Bahn, obwohl mir der Untergrund Münchens mit seinem unangenehmen Geruch und den schmierigen, herumlungernden Typen zutiefst verhaßt war. In einem UBahnwagen randalierten lächerlich aufgeputzte Fußballfans in Blauweiß auf dem Weg in Richtung Olympiastadium. Zum Glück fuhr ich in Richtung Innenstadt, also in die entgegengesetzte Richtung. Das nicht mehr menschlich zu nennende Gegröle schwoll an und überschwemmte den UBahnhof, als sich die Türen automatisch öffneten. Die anderen Fahrgäste auf dem Bahnsteig schauten unsicher und versuchten krampfhaft, den Blickkontakt mit den Schweinsäugelein in den roten, überhitzten Visagen der Fußballfans zu vermeiden; unsere 'ausländischen Mitbürger' brachten sich unauffällig hinter den Betonsäulen in Sicherheit. Rosendorfer hat ja so recht mit seiner These, daß Faschismus und Massensportveranstaltungen untrennbar verbunden sind. In Augenblicken wie diesen verstand ich plötzlich, wieso es die Braunhemden so weit gebracht hatten. Das hier ist nichts anderes als nacherlebte Geschichte. Steckt die Fußballfans statt in blauweiße oder rotweiße Uniformen in kackbraune. Laßt sie Juden statt Türken verprügeln, und voila: der brave Bürger versucht, den Blickkontakt mit den Schweinsäugelein zu vermeiden.
Nur schnell nach Hause und die Türe aufatmend hinter sich schließen. "Warum habt ihr das zugelassen?" fragt die Generation, der die 'Gnade der späten Geburt' zuteil wurde. Wer so naiv fragt, sollte mal zusammen mit seinen Kindern erleben, wie eine Bande Skinheads, aufgeheizt durch ein alkoholgeschwängertes Fußballspiel, einen kleinen Vietnamesen auf offener Strasse zusammenschlägt. Über Zivilcourage sprechen und danach handeln sind zwei ganz verschiedene Dinge. Der U-Bahnwagen erzitterte unter dem kollektiven Gestampfe der enthirnten Masse. Dann schlossen sich wieder barmherzig die Schiebetüren und die kakophone Lärmquelle wurde weiter in Richtung Olympiazentrum befördert. Fünf Minuten zu früh war ich am Bordeaux Platz und blickte zu den Fenstern des ehrwürdigen Altbaus hinauf, in dem Helen Hortek ihre Wohnung hatte. Ich machte eine Runde über den Platz, um mir klar darüber zu werden, was ich mit dieser Verabredung eigentlich bezweckte. Ich hatte keinen Plan und keine Idee. Schließlich einigte ich mich mit mir selber, daß ich Helen vielleicht einfach sympathisch fand. Punkt Acht läutete ich an ihrer zweiflügeligen Wohnungstüre. Helen öffnete die Türe in einem atemberaubenden schulterfreien Gewand aus blauen, crepe-artigem Stoff. Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als großzügig geschnittener Hosenanzug, der aber gleichzeitig ihre schlanke Figur betonte. Ihr auberginfarbenes, mehr als schulterlanges Haar fiel weich auf die gebräunten Schultern. Ich überreichte ihr eine Orchidee als Gastgeschenk und machte ihr ein Kompliment, das in eleganter Weise die Schönheit der Blüte mit der ihren in Verbindung brachte. Sie bedankte sich artig, und wir blieben in der üblichen Verlegenheit der ersten privaten Begegnung voreinander stehen, während unsere Augen verstohlen wanderten. Ihr Blick blieb überrascht an meinem Gipsarm hängen, der aus dem
Anzugärmel hervorragte. Schließlich mußten wir beide gleichzeitig über uns lachen und der Funke sprang. "Helen", sagte sie lächelnd und streckte mir spontan noch einmal die Hand entgegen. "Albert, am liebsten Al", sagte ich und küßte ihre Hand. Von da an verstanden wir uns prächtig. Wir nahmen einen Martini und besprachen den weiteren Abend. "Bleiben wir doch beim ursprünglichen Plan", meinte Helen. "Japanisch war ich schon lange nicht mehr Essen. Einzige Bedingung: keinen rohen Fisch oder Fleisch." Ich versicherte ihr, daß sie im Daitokai solches nicht mal auf der Menukarte finden würde. Ich rief ein Taxi, was Helen kommentarlos, aber mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte, und wir fuhren nach Schwabing. Während der Fahrt erzählte ich ihr und dem atemlos lauschenden Taxifahrer, was meinem Wagen und mir gestern widerfahren war. Helen meinte lediglich, daß ich ein ausgemachtes Glückskind sein müsse. Im Daitokai wurden wir wie üblich an einen Tisch mit acht Sitzplätzen gebeten, welche die heiße Platte, auf der das Essen vor den Augen der Gäste zubereitet wurde, von drei Seiten umschlossen. Die vierte Seite war dem japanischen Kochkünstler vorbehalten. Unser Tisch war nicht voll besetzt und glücklicherweise bestanden die anderen vier Gäste nicht aus den üblichen Spesenrittern, sondern zwei jungen Pärchen, die irgendein größeres, freudiges Ereignis mit einem Besuch im Daitokai krönten. Schon während der Vorspeise begann Helen, 'mich auf den Zahn zu fühlen', wie sie es ausdrückte. Unverkrampft und locker erfragte sie von mir meine halbe Lebensgeschichte und ging beim Hauptgericht allmählich auf sich selber über. Sie unterbrach sich nur einmal, um bei der faszinierenden Zubereitung der berühmten Nachspeise des Daitokai zuzuschauen. Während sie gebannt beobachtete, wie der japanische
Koch an unserem Tisch das Eis blitzschnell knusprig anbriet und mit Pistazienzucker servierte, bewunderte ich ungestört ihr hübsches Profil. Unter der hohen, freiliegenden Stirn lagen die dunklen Augen mit goldenen Flecken, die in Licht schimmerten, inmitten von zahlreichen, kleinen Lachfältchen. Die Nase war schmal und lang - etwas zu lang vielleicht - und auf ihrer Oberlippe lag ganz dünner Flaum, der nur im Gegenlicht sichtbar wurde. Der große, sorgfältig geschminkte Mund schien immer zu lächeln, und wenn sie tatsächlich lächelte - was häufig der Fall war - bildeten sich entzückende Grübchen in ihrer Wange. Ihre Ohren waren klein und lagen frei, da sie ihr Haar mit einem blauen Seidentuch in den Nacken gerafft trug. Ein belustigter Blick schoß in meine Richtung, als sie sich den ersten Löffel gebratenen Eises auf der Zunge zergehen ließ. "Dein Eis schmilzt, Al", sagte sie im vorwurfsvollen Ton, als ob sie es zubereitet hätte. "Ich bin auch gerade am Schmelzen", erwiderte ich. Sie verdrehte die Augen, aber es gefiel ihr trotzdem. Beim Verlassen des Lokals stolperte ich - immer noch nicht an mein Handicap gewohnt - und rempelte leicht gegen einen Mann, der augenscheinlich gerade das Lokal betreten wollte. Er wartete meine Entschuldigung gar nicht ab, sondern ging rasch weiter in Richtung Kurfürstenplatz. Ich hatte sein Gesicht nur ganz kurz gesehen und es kam mir irgendwie bekannt vor, konnte es aber nirgends einordnen. Wir gingen ebenfalls langsam zum Kurfürstenplatz und nahmen uns ein Taxi. Auf der Rückfahrt wußte ich plötzlich, woher ich den Mann kannte. Er hatte vor ein paar Stunden am Bordeaux Platz auf einer Bank gesessen, als ich dort meine Runde gemacht hatte. Ich hatte mich noch gewundert, daß jemand, der offensichtlich kein Penner war, um diese Zeit, fast schon im Dunklen, untätig auf einer Bank saß. Helen plauderte munter neben mir auf dem
Rücksitz des Taxis; wir fuhren gerade die hellerleuchtete Leopoldstrasse entlang. Ich versuchte unauffällig nach hinten zu blicken und legt daher Helen meinen rechten Arm locker um die Schultern und wandte mich halb zu ihr um. Sie unterbrach ihre Rede, zog die Schultern ein wenig nach vorne und blickte mich fragend an. "Al? Hörst du mir überhaupt zu?" fragte sie vorwurfsvoll. "Natürlich", beeilte ich mich zu versichern. "Ich möchte nur schnell was nachprüfen..." Ich hatte mit einem schnellen Blick durch die Rückscheibe die uns folgenden Autos überblickt. Es waren fünf oder sechs; unmöglich, in der Dunkelheit die Insassen zu erkennen. Ich beugte mich vor und sagte zum Taxifahrer: "Könnten Sie dort bei der U-Bahnstation kurz anhalten? Ich möchte mir schnell eine SZ von morgen kaufen." Der Fahrer knurrte zustimmend und hielt am Taxistand der U-Bahnstation Odeonsplatz. Ich wartete - ganz vorschriftsmäßig - bis die Wagen hinter uns an unserem Taxi vorbeigefahren waren und stieg aus. Kein Wagen hatte gehalten; keiner hielt weiter vorne. Ich schüttelte den Kopf und stieg wieder ein. "Ich hab's mir anders überlegt. Eigentlich brauche ich gar keine SZ", erklärte ich und der Taxifahrer fuhr kopfschüttelnd wieder an. Helen bedachte mich mit einem sonderbaren Blick und öffnete den Mund. Ich schüttelte leicht den Kopf und schloß kurz die Augen. Sie klappte den Mund wieder zu und schaute irritiert. Ich begann, wieder zu plaudern, als ob nichts gewesen wäre, aber Helen war jetzt verstimmt und gab nur einsilbige Antworten. An der Kreuzung Maximilianstrasse schaute ich wieder nach hinten. Es standen drei Fahrzeuge hinter unserem Taxi. Einen Wagen glaubte ich wiederzuerkennen: ein silbergrauer, japanischer Kombi. Aber sicher war ich mir nicht. Ich zwang mich, längere Zeit nicht nach hinten zu blicken. Erst am Rosenheimer Platz
riskierte ich wieder ein Auge durch die Rückscheibe. Der silbergraue Wagen war immer noch hinter uns. Er hatte zwei andere Fahrzeuge vor sich, aber es war eindeutig derselbe Wagen. Ich überlegte rasch, kam aber zu keinem Ergebnis. Das Taxi hielt direkt vor Helens Haustüre, ich zahlte und wir stiegen aus. Kein Wagen weit und breit. Ich schüttelte den Kopf. "Also? Was sollte das mit der SZ?" fragte Helen herausfordernd. "Heraus mit der Sprache. Vorher sperre ich nicht auf." Das enthielt immerhin die implizite Einladung noch mit zu ihr hinauf zu kommen, also erzählte ich ihr, was ich glaubte gesehen zu haben. Helen lachte nur. "Du hast bestimmt Gespenster gesehen. Oder siehst du hier irgendwo ein silbergraues Auto?" und sie schwenkte ihren Sommermantel, den sie über dem Arm trug, im Kreis herum. Der Bordeaux Platz war so still wie ein Friedhof. Ich schüttelte wieder den Kopf, sagte aber nichts mehr. Helen sperrte ihre zweiflügelige Wohnungstür auf, drehte sich um und schlang ihre bloßen Arme um meinen Hals. Mit geschlossenen Augen ließ sie sich genüßlich von mir auf den Mund küssen und lächelte zufrieden. "Und jetzt paß auf, Al", sagte sie und blickte mich ernst an. "Ich mag dich gerne leiden, aber ich werde dich ganz bestimmt nicht heute in mein Bettchen lassen, klar? Wenn du aber trotzdem Lust hast, noch ein bißchen bei mir zu bleiben, zum Reden und Küssen, und wenn du versprichst artig zu sein, dann kannst du gerne mit 'reinkommen." Ich beteuerte natürlich sofort, mich von meiner besten, ritterlichsten Seite zu zeigen und küßte sie noch einmal. "Ich glaube dir kein Wort, aber du darfst trotzdem 'reinkommen", lächelte sie. Helen verschwand erst einmal, um ihren weiblichen Verpflichtungen nachzugehen, im Badezimmer, während ich uns zwei Digestiva mixte. Dann stellte ich mich an ihre Balkontüre und blickte nachdenklich
hinunter auf den stillen Platz. Nach ein paar Minuten kam Helen, nach frischem Parfüm duftend, aus dem Bad, nahm sich ihren Drink und stellte sich wortlos und andächtig neben mich, wohl in der Annahme, daß ich die Sterne bewunderte, die jetzt herausgekommen waren. Dann jedoch folgte sie meinem Blick, der mehr nach unten gerichtet war, und zog scharf die Luft ein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, halb verdeckt von den Kastanienbäumen, stand ein silberfarbener, japanischer Kombi. In seinem dunklen Inneren leuchtete periodisch ein orangenfarbener Punkt auf.
4 "Soll ich die Polizei rufen?", fragte Helen entschlossen. Ich dachte kurz an Becker und lächelte. "Und was sollen wir denen erzählen? Daß ein silberfarbener Kombi nicht einmal direkt vor unserem Haus auf einem öffentlichen Platz steht und im Inneren jemand eine Zigarette nach der anderen raucht?" Ich nahm Helen am Arm und drängte sie sanft von der Balkontüre weg. "Jetzt warten wir erst mal ein Weilchen. Vielleicht verschwindet er dann von selber", meinte ich beruhigend. Helen setzte sich in die Ecke ihres altmodischen Sofas und verschränkte die Arme, als ob ihr plötzlich kalt wäre. "Passiert dir das öfters? Ich meine, passiert dir das öfters, daß du ... beschattet wirst? Hat das was mit deinem Beruf zu tun?" fragte sie und blickte zu mir hoch. Ich setzte mich ihr gegenüber. "Nein, eigentlich nicht. Mein Beruf ist - zumindest oberflächlich betrachtet ziemlich harmlos." Ich überlegte einen Moment. Dann zuckte ich mit den Achseln und sagte: "Eigentlich dürfte ich nicht darüber sprechen, aber ich glaube du kannst es für dich behalten." Ich berichtete ihr also in groben Zügen, wie die Interbank unserer Firma den Auftrag gekündigt hatte. Helen lauschte aufmerksam, die Knie mit den Armen umschlungen. Als ich mit meinem Bericht zu Ende war fragte sie: "Und wieso erzählst du mir das ausgerechnet jetzt? Glaubst du die da draußen..." und sie deutete mit dem Kinn zum Fenster "... haben etwas mit der Geschichte zu tun?" "Ich weiß nicht.", meinte ich unschlüssig. "Aber du hast recht. Nachdem ich dir das ausgerechnet jetzt erzählt habe, muß ich wohl im Unterbewußtsein so etwas denken. Aber ich kann es nicht logisch begründen. Sieh mal: was ist denn schon eigentlich passiert. Die Interbank kündigt uns
aus Gründen, die wir nicht kennen. Am selben Abend werde ich beinahe Opfer eines Attentats oder Unfalls keiner kann mit Sicherheit sagen, ob das eine oder das andere. Und heute werde ich - scheinbar - von jemandem beschattet. Der Zusammenhang fehlt irgendwie." Helen war inzwischen mit ihren Schlußfolgerungen einen Schritt weiter gekommen. Ihr Blick verhieß nichts Gutes. "Hast du dich vorher oder nachher - ich meine die Kündigung - mit mir verabredet?", fragte sie argwöhnisch. Ich holte tief Luft. Lieber die Wahrheit. Lügen haben bekanntlich kurze Beine. "Nachher. Ich muß gestehen, daß ich ... na, sagen wir, ich hätte mich vielleicht nicht unbedingt an diesem Tag mit dir verabredet, wenn das mit der Kündigung nicht passiert wäre. Aber wie ich aus Kohlers Büro kam und dich sah, wußte ich, daß ich dich nie mehr treffen durfte. Es war sozusagen die letzte Chance für mich ..." "...mich auszuhorchen", ergänzte Helen böse, oder traurig? Ich nickte langsam. "Das muß ich mir wohl vorwerfen lassen", sagte ich. "Ich hatte wohl wirklich gehofft, du könntest meine Verwirrung über das Ganze etwas aufhellen. Aber - und das mußt du mir wirklich glauben wenn du nicht immer so nett und atemberaubend schön gewesen wärst, hätte ich dich nicht eingeladen. Ich mag dich wirklich und ich wäre sehr betrübt, wenn du mich wegen meiner teils selbstsüchtigen Motive verdammen würdest." Helen sah mich eine Minute lang schweigend an, während ich versuchte, still zu sitzen und nicht unbehaglich herumzurutschen. Dann lachte sie plötzlich. "Na gut, du Schuft", meinte sie, "warum muß ich mich auch immer in Schufte vergucken", und lachte nochmal. "Ich weiß nicht, ob und wieviel ich dir glauben soll, aber das ist mir jetzt auch egal. Du bist nett und du küßt gut, und vielleicht wüßte
ich auch gerne, warum der Chef euch erst für viel Geld engagiert - ich hab' die Kostenvoranschläge gesehen - und dann so plötzlich abserviert." Sie leerte ihren Drink mit einem Zug, kam entschlossen zu mir herüber und schmiegte sich auf meinen Schoß. Sie war leichter, als ich erwartet hatte. Ein neuer langer Kuß enthob uns vorerst der Mühe jeglicher verbaler Kommunikation. In meinem Magen flatterten die Schmetterlinge. Helen konnte die Auswirkungen deutlich an ihrem Schenkel spüren. Sie lachte und entwand sich geschickt meinen Händen, die vorsichtig nach einem Einlaß an ihrem blauen Gewand suchten. "Oh nein.", lachte sie. "Denk an dein ritterliches Versprechen. Heute nicht. Noch nicht." "Eine schöne Dame unbeachtet zu lassen, zeugt auch nicht gerade von Ritterlichkeit", versuchte ich es noch einmal. Aber sie lachte nur wieder und holte uns noch einen Drink. "Also", begann sie in geschäftsmäßigem Ton, als sie wieder einigermaßen sittsam neben mir saß. "Ich kann dir leider kaum etwas mitteilen, was Licht in die Sache bringt. Vielleicht ist es auch ganz gut so, weil ich sonst in Konflikt mit meiner Firmentreue usw. kommen würde." Ich nickte und hörte ihr zu. Helen guckte vage in die Luft und fuhr fort: "Gestern morgen war der Chef, ich meine Herr Kohler, ausgesprochen guter Laune. Wahrscheinlich, weil der Kontrakt mit der Alka-Finance in Pretoria am Montag gut unter Dach und Fach gebracht worden war. Er hatte zwei turnusmäßige Termine mit Abteilungsleitern und ich war auch anwesend, um das Protokoll aufzusetzen. Über die Einzelheiten darf ich dir nichts sagen, aber es waren reine Routinesachen, überhaupt nichts Ungewöhnliches. Kohler hat sie wie üblich ziemlich schnell abgefertigt. So gegen halb elf - ich war noch mit dem Tippen der Protokolle beschäftigt - kam Pauli mit einer Mappe unter dem Arm und verlangte Kohler zu sprechen.
Ich sagte ihm, daß der Chef eigentlich nicht gestört werden wollte, weil er einen Haufen Telefonate zu erledigen hätte." "Wie war Pauli. Ich meine, wirkte er entspannt und ruhig wie sonst?", unterbrach ich sie. "Ganz im Gegenteil. Er war blaß und fummelte dauernd nervös an seinem geschmacklosen Schlips herum. Seine Mappe wechselte dauernd von der einen in die andere Hand. Na, jedenfalls, er zögerte etwas und schaute auf die Uhr, die über der Türe hängt. Dann meinte er leise, ich solle Kohler nur durchsagen, ees handele sich um Sirville." "Sirville?", wiederholte ich verblüfft. "Und was bedeutet das?" "Das habe ich ihn auch gefragt, aber er hat darauf bestanden, ich solle nur sagen, es handele sich um die Angelegenheit Sirville." "Und dann?", fragte ich gespannt. "Ich hab's genauso durchgesagt. Der Chef - ich meine Kohler - war kurz still und hat dann angeordnet, Pauli solle sofort 'reinkommen, und dann wolle er unter keinen Umständen mehr gestört werden." Helen machte eine Pause und nahm einen Schluck von ihrem Drink. Ich wartete ungeduldig. "Tja und dann, etwa fünfzehn Minuten später tauchte plötzlich Schmeiter auf. Schmeiter ist ..." "Ich weiß, der Aufsichtsratsvorsitzende", unterbrach ich sie ungeduldig. "Hatte er einen Termin mit Kohler?" "Eben nicht. Er wollte ihn aber ebenfalls dringend sprechen. Er war ganz anders als sonst. Schmeiter ist in der ganzen Etage sehr beliebt. Er hat immer ein Lächeln und eine freundliche Bemerkung für die Angestellten. Erstaunlicherweise kann er sich mühelos die Namen von allen Leuten merken, die er einmal getroffen hat. Zu mir war er immer äußerst charmant und aufmerksam. Fast glaube ich - aber das bleibt unter uns, verstanden? -, daß
er schwul ist. Denn ein richtiger Mann kann gar nicht so charmant und nett sein." Ich muß wohl etwas belämmert geguckt haben, denn Helen gluckste zufrieden. "Ich weiß, du bemühst dich auch immer, sehr charmant zu den Damen zu sein. Aber bei dir ist das ganz anders als bei Schmeiter. Es prickelt und knistert bei dir, wenn du mir die Hand küßt. Bei Schmeiter ist es die pure Freundlichkeit und Höflichkeit, verstehst du?" Ich nickte, einigermaßen besänftigt. "Also, Schmeiter war an diesem Tag ganz anders als sonst ...", versuchte ich wieder auf das Thema zurückzusteuern. "Genau. Er lächelte nur flüchtig, erkundigte sich nicht einmal, wie es mir gehe, und fragte sofort, ob Kohler frei sei. Nun, ich sagte ihm, was der Chef angeordnet hatte. Aber er wischte alle Einwände beiseite, ging einfach zur Türe und verschwand im Allerheiligsten." Helen lachte. "Ich machte mich auf ein Donnerwetter gefaßt, weil der Chef es haßt, wenn seine Anweisungen nicht wortwörtlich befolgt werden. Aber es verging eine halbe Stunde, ohne daß sich etwas rührte. Und dann meldete sich der Chef über die Sprechanlage und verlangte, dich zu sprechen." Sie zuckte die Achseln. "Den Rest weißt du selber besser als ich. Nicht viel damit anzufangen, was?" "Ich weiß nicht.", sagte ich nachdenklich. "Interessant ist es schon. Keine Ahnung, was Pauli mit 'Sirville' gemeint hat. Ich höre den Namen in diesem Zusammenhang das erste Mal. Aber Kohler hat offensichtlich sofort gewußt, worum es sich handelte. Was ist passiert, nachdem ich gegangen war?" "Pauli ging unmittelbar nach dir und Schmeiter blieb noch etwa zwanzig Minuten drin. Als er sich schließlich verabschiedete, war er zumindest oberflächlich wieder ganz der Alte."
"Und sonst ist nichts weiter geschehen?" fragte ich hoffnungsvoll. Helen zuckte mit den Achseln. "Es war ein ganz normaler Arbeitstag. Weder Schmeiter noch Pauli kamen noch einmal zurück." Sie leerte ihren Drink und blickte mich abwartend an. In meinem Kopf war immer noch Leere. Keine zündende Idee. Keine Spur, die man weiter verfolgen konnte. Ich seufzte und leerte ebenfalls mein Glas. Helen beobachtete mich mitfühlend von der Seite. "Das hilft dir kaum weiter, nicht?", sagte sie. "Ich hab's dir ja gleich gesagt. Warum willst du das überhaupt herausfinden? Ich meine, euer Geld bekommt ihr doch wohl, oder?" Ich nickte und erklärte Helen unsere Befürchtungen über einen etwaigen Imageverlust der SecureData. "Unser guter Ruf ist uns mehr wert als das Firmenkapital. Wir wären schneller ruiniert, als wir uns umdrehen können, sollten irgendwelche nachteiligen Gerüchte über uns verbreitet werden." Ich stand auf und trat ans Fenster. Der silbergraue Wagen stand noch an derselben Stelle wie vorhin. Irgendwo schlug eine Kirchenglocke die halbe Stunde. Halb elf. "Jetzt vergiß mal deine Sorgen und komm her", sagte Helen mit ruhiger Stimme. Sie hatte ihre berauschenden Beine auf dem Sofa ausgestreckt und streichelte auffordernd den Platz neben ihr. Ich setzte mich gehorsam auf die Sofakante und wir küßten uns lange und zärtlich. "Mhm, daran könnte ich mich gewöhnen", lächelte Helen und zog meinen Kopf wieder zu sich herunter. "Was bist du nun in Wirklichkeit für einer?" flüsterte sie nach einer Weile. "Du bist so höflich und charmant, daß man den echten Albert gar nicht erkennen kann. Oder bist du das wirklich? Das glaube ich nicht!" Mit diesen Worten stieß sie meine Schultern von sich, um mir forschend ins Gesicht zu blicken. Nach einer Pause
sagte ich: "Nein, das bin ich nicht. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wie ich wirklich bin. Es fällt mir leichter, eine Rolle anzunehmen, als daß ich mich ganz einfach so gebe, wie ich bin. Manchmal ist das ganz nützlich. Aber meine Freunde ..." Ich machte eine vage Bewegung mit beiden Händen. "Jedenfalls küßt du gerne. Niemand könnte das nur spielen", sagte Helen kategorisch. "Und wie du sonst bist, werde ich schon noch herausbringen." Wir schwiegen eine Weile. "Ich weiß was", sagte sie so plötzlich, daß ich erschreckt zusammenzuckte. "Wir spielen 'gnothi seauton', bis deine Verfolger aufgeben." "Mit Vergnügen. Wenn du mich aufklärst, um was es sich handelt?" "'Gnothi seauton' heißt 'Erkenne dich selbst'. Das stand in der Antike über dem Eingang zum Apollontempel in Delphi. Die Spielregeln sind ganz einfach: jeder darf abwechselnd eine Frage stellen und der andere muß unter allen Umständen wahrheitsgemäß antworten." "Okay", sagte ich vorsichtig. "Wenn du nur einmal lügst, mußt du zur Strafe auf alle Zeiten in der finstersten Hölle schmoren", drohte Helen, wohl nicht ganz von meinen ehrlichen Absichten überzeugt. "Und du?", fragte ich. "Naja. Ich natürlich auch", räumte sie ein. "Also werfen wir jetzt eine Münze, wer anfangen darf." Das delphische Münzorakel gewährte mir das Recht auf die erste Frage. "Welche Größe hat dein Bettchen?" "So eine blöde Frage", empörte sich Helen. "Muß aber wahrheitsgemäß beantwortet werden", insistierte ich. "Na schön: ich habe ein rundes Bett. Durchmesser genau zwei Meter. Willst du es dir auch noch anschauen?" "Dein Wort genügt mir. Du bist dran." Helen überlegte ein paar Sekunden, während ich uns zwei neue Drinks mixte. Der silbergraue Japaner stand immer
noch an derselben Stelle. Der orange Glühpunkt war wieder sichtbar; diesmal auf dem Beifahrersitz. Ein Pärchen schlendert auf der gegenüberliegenden Platzseite vorbei. Sie schienen heftig zu streiten. "Was ist das Schlimmste, was du jemals erlebt hast?", kam endlich die Frage. Ich setzte mich wieder und reichte Helen den Drink. "Meinst du in Bezug auf mich selber, also was mir widerfahren ist, oder generell, was ich miterlebt habe?" "Beides." "Das sind dann aber zwei Fragen", protestierte ich. "Okay. Du bekommst dann auch zwei Fragen", bestätigte Helen. "Also, das Schlimmste, was mir selber widerfahren ist", sagte ich nachdenklich. "Als Schuljunge wurde ich einmal von meinem Kameraden, mit dem ich die Schulbank teilte, zu Unrecht beschuldigt, daß ich ihm eine Spielzeugwaffe gestohlen hätte. Ich hatte sie nicht entwendet, wußte aber, wer der Übeltäter war. Unser Schuljungenmoralkodex verbat es mir, den Schuldigen anzugeben, aber die Mitwisserschaft machte mich quasi doch irgendwie schuldig. Mein Verhalten schien daher dem Lehrer, ja sogar meinen Eltern anzuzeigen, daß ich log, wenn ich auch meine Unschuld beteuerte. Meine Eltern gaben sich zwar nach außen hin solidarisch und erklärten, daß sie mir glaubten. Aber tief im Innersten fühlte ich, daß auch sie an meiner Ehrlichkeit zweifelten. Diese Geschichte hat mich viele Jahre bedrückt und ziemlich mitgenommen." Ich machte eine kleine Pause und wartete auf einen Kommentar, aber Helen sagte kein Wort. "Das Schlimmste, was ich überhaupt jemals miterlebt habe", fuhr ich fort, "war während während meiner Zivildienstzeit. Ich arbeitete damals in der chirurgischen Abteilung und eines Tages bekamen wir eine Patientin, die schon seit langem an Multipler Sklerose litt. Sie war schon fast vollständig gelähmt und ihr Körper auf schreckliche Weise degeneriert.
Geistig aber war sie noch völlig klar und bei vollem Bewußtsein. Solche Patienten leiden oft darunter, daß sie sich 'auflegen'. Das bedeutet, daß sie infolge der Bewegungsunfähigkeit meistens am Rücken offene Wunden haben, die nicht mehr ausheilen. Die betreffende Patientin kam aus einem Heim zu uns, weil diese Wunden völlig außer Kontrolle geraten waren. Der Anblick war grauenhaft. Die Wunden waren riesig und voller verfaulendem Fleisch. Der Arzt und ich, wir mußten mit dem Skalpell Schicht um Schicht der verfaulenden Masse herausschälen und darauf warten, daß die Patientin ein Schmerzgefühl meldete. Das Schlimmste war, daß sie bei vollem Bewußtsein war und diese gräßliche Prozedur miterleben mußte." Ich machte eine Pause und Helen starrte mich entsetzt an. "Ich glaube, ich sollte lieber nicht weiter ins Detail gehen. Sonst kannst du vielleicht auch nicht mehr schlafen, wie ich damals", sagte ich. Helen schauderte und holte tief Luft. "War wohl nicht so gut, die Frage", sagte sie. "Okay. Jetzt bist du dran. Zwei Fragen." Ich überlegte. Ich hätte ja zu gerne gefragt, ob sie eine feste Beziehung hatte. Aber ich traute mich nicht, gleich so mit der Türe ins Haus zu fallen. Also wählte ich eine unverbindlichere Formulierung. "Erste Frage: Hast du schon mal länger mit jemandem zusammen gelebt?" Sie lachte leise. "Oh ja, leider. Mit Peter. Drei Jahre habe ich es ausgehalten. Dann haben wir uns in einem fürchterlichen Krach getrennt. Das ist jetzt auch schon wieder 2 Jahre her." "Wolltet ihr ... ich meine, wart ihr verlobt oder verheiratet, oder ..." Helen schmunzelte und schüttelte den Kopf. "Nein. Mit Heiraten hatten wir beide nichts am Hut."
Sie guckte mich spöttisch an. "Er war ziemlich sexy", fügte sie hinzu, "aber eben ein Schuft, ein ziemlich gutaussehender Schuft. War das schon deine zweite Frage?" "Nein. Zweite Frage: Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?" Sie überlegte eine Weile. "Es gibt viele Dinge, die ich gern mache. Ich glaube, es hängt stark von meiner Stimmung ab, wozu ich Lust habe. Aber auf jeden Fall fahre ich gern weg." Sie nickte bestätigend. "Mhm, das kommt deiner Frage wohl am nächsten. Am liebsten bin ich irgendwo anders." "Aber du hast es doch sehr schön hier", wandte ich ein und umfaßte mit meinem gesunden Arm das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. "Ja, das stimmt schon, aber ... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ... hast du nicht auch das Gefühl, Wochen oder gar Monate weggewesen zu sein, auch wenn man nur ein paar Tage fort war. Irgendwie verlängert man so sein Leben ein bißchen, nicht wahr? Jetzt bin ich wieder dran: Was mißfällt dir an deinen Mitmenschen am meisten?" "Wenn sie sich nicht mehr weiterentwickeln", antwortete ich sofort. Helen schaute verwundert. "'Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?'" fragte sie. "Nach meinem Verständnis besteht ein erfülltes und sinnvolles Leben aus einer Wanderung durch die verschiedensten geistigen Grundeinstellungen, die alle durchlebt und ausgekostet werden sollten. Aus jeder kann der Mensch ein kleines Stückchen mit sich nehmen, aber er sollte sich in keiner wohlig niederlassen. Nur dann erreicht er - nach meiner Überzeugung - schließlich einen Zustand, der in den vielen Religionen und Philosophien dieser Welt unter den verschiedensten Namen gepriesen und angestrebt wird. Als Kind zum Beispiel befindet man sich in einer infantilen
Phase. Nie mehr in seinem späteren Leben ist der Mensch so phantasievoll und kreativ wie in der frühen Jugend. Ein Stofffetzen wird zur redenden Puppe, ein alter Holzkasten zum Piratenschiff. Phantasiewelten, so real wie die wirkliche, entstehen und vergehen wie Seifenblasen. Dann, in der Pubertät, kommt die rebellische Abnabelungsphase. Die meisten Menschen, die ich kenne, waren nie wieder so unausstehlich wie als Teenager. Die erste Liebe, die dramatische Phase, schließt sich daran an. Ist diese noch nicht ganz vorbei, kommt häufig schon eine Zeit des Idealismus, voll von altruistischen Ideen und Aktivitäten. Das Sprichwort sagt ja auch: 'Wer mit zwanzig nicht Kommunist war, hat kein Herz. Und wer mit dreissig immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.' Dann kommt also die Zeit der Verantwortung oder die pragmatische Phase. Man gründet Familien, arrangiert sich mit dem bestehenden System, baut sich eine Existenz auf, usw. Über die Abfolge der weiteren Phasen bin ich mir noch nicht in Klaren, aber das ist mir im Moment auch egal; es geht mir nicht um die Art oder Reihenfolge sondern nur um die Bewegung an sich. Auf jeden Fall besteht irgendwann mal die Möglichkeit, in den Zustand des weisen Narren zu kommen, davon bin ich überzeugt. Aber ich bin sicher, daß auch dieser Zustand nicht der letzte sein muß. Wie dem auch sei: ich hasse es an manchen Mitmenschen, wenn sie sich dieser Entwicklung verweigern und auf einer Entwicklungsstufe beharren. Ein infantiler Erwachsener kann ein genialer Künstler sein, aber als Mensch ist er unerträglich. Viele Menschen bleiben auf immer pubertär und werden zu äußerst unangenehmen Zeitgenossen. Stell dir nur mal einen pubertierenden Opa vor. Festgefahrene Idealisten jeder Kategorie sind nicht minder schlimm. Man denke nur an die Betonköpfe in der ehemaligen DDR, die noch mit sechzig Jahren ernsthaft an die Ideale Stalins
glaubten. Oder an all die religiösen Fanatiker. Und sogar festgefahrene Pragmatiker sind mir ein Greul. Sie tendieren mir dann doch zu stark in Richtung Spitzwegidylle. Die weisen Narren sind mir noch am liebsten, aber auch für sie sollte es die Möglichkeit geben, weiter voran zu schreiten. 'Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.' Man kann das Goethewort ja ruhig auch mal in dieser Richtung interpretieren..." Ich hielt verlegen inne und Helen schaute mich aufmerksam an. "Schade, daß ich nicht mitstenographiert habe", sagte sie, aber ihre Stimme war gar nicht mal so spöttisch, wie ich befürchtet hatte. "Tut mir leid", sagte ich zerknirscht. "Manchmal schwafel' ich einfach so dahin. Am besten gar nicht beachten." "Aber wieso? Das war doch sehr aufschlußreich. Ich glaube fast, jetzt hab' ich mal ein Stückchen echten Albert erhascht." Sie starrte einen Augenblick abwesend auf die futuristische Stehlampe in der Ecke. "Weißt du, was einer unserer Lehrer, ein ziemlich schlauer Jesuit, immer zu uns gesagt hat? 'Wenn euch jemand eine neue Philosophie als die letzte Wahrheit verkaufen will, dann prüft als erstes, ob sich die Grundsätze seiner Philosophie mit ihren eigenen abgeleiteten Ansprüchen vertragen.' Als Beispiel nannte er den Tyrannen, der - philosophisch gebildet - verkünden läßt: 'Es gibt keine Wahrheit.' Und dann jeden seiner Untertanen enthaupten läßt, der - in Anwendung dieses Satzes - an der Wahrheit dieses Dogmas zweifelt. Unser Professor meinte, mit Hilfe dieses logischen Tricks, den er 'Retorsion' nannte, ließen sich fast die Hälfte der bekannten historischen Philosophiegebäude zum Einsturz bringen. Wenn du also von deiner These überzeugt bist, mußt du dann nicht befürchten, daß gerade du, der du ja auch in Bewegung bleiben willst, diese These wieder
aufgeben wirst, wenn du eine neue Entwicklungsphase erreichst?" Ich überlegte ein paar Sekunden. Dann erwiderte ich: "Ich denke, das Argument der Retorsion greift nur richtig, wenn es sich um eine dogmatische Aussage handelt, die Konsequenzen für das Denken und vielleicht sogar für das Handeln des betreffenden Dogmatikers verursacht. Das, was ich dir vorhin in viel zu umständlicher Rede erzählt habe, sehe ich aber keineswegs als Dogma, sondern mehr als eine mögliche Beobachtung. Die Wahrheit dieser Beobachtung ist für mich oder die Menschen irrelevant, aber sie kann doch in den verschiedenen Phasen ihre Gültigkeit behalten, da sie sich mit den verschiedensten Geisteshaltungen verträgt, oder?" "Andererseits bewertest du das Stehenbleiben aber negativ, indem du sagst, solche Menschen seien dir unangenehm. Also ist es ja wohl mehr als nur eine neutrale Beobachtung. In dem Moment, in dem du mir davon erzählst, hast du ja schon eine indirekte Aufforderung an mich ausgesprochen, nicht in einer deiner Phasen hängenzubleiben. Und für dich selber gilt dies ja sicher noch um so mehr." "Touch? ", lächelte ich bewundernd und stieß mit Helen an. "Ich glaube, ich muß mich noch öfters mit dir unterhalten, bevor ich meine unreifen Theorien irgendjemand anderem erzähle." Helen lächelte geschmeichelt. "Und in welcher Phase bist du gerade? Bei den weisen Narren?" fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. "Eher irgendwo zwischen Idealismus und beginnender Pragmatik." "Aha? Aber ... Familie hast du noch keine gegründet, oder?" "Weiter als bis zum untauglichen Versuch bin ich noch nicht vorgedrungen", erwiderte ich traurig lächelnd. "Eine
gute Freundin von mir meint, mit mir könne es sowieso keine Frau aushalten. Wahrscheinlich hat sie recht." In der sich anschließenden, peinlichen Pause stand ich auf und spähte wieder durch die Gardinen. Der silbergraue Wagen war immer noch da. Die Burschen hatten entweder zuviel Zeit oder sie wollten mich auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Ich überlegte. Auf keinen Fall wollte ich um diese Zeit eine Begegnung mit ein paar schießwütigen Lohngorillas riskieren. Becker konnte ich um diese Zeit auch schlecht erreichen. Seine Kollegen waren mir zu umständlich. Außerdem reizte es mich, allein mit meinen Gegnern fertig zu werden. "Sie sind immer noch da", sagte Helen leise und spähte mir über die Schulter. Sie war nur einen halben Kopf kleiner als ich. Ihr auberginfarbenes Haar glitzerte und duftete angenehm. "Willst du die Nacht über hier bleiben?", fragte sie. "Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, aber nicht unter diesen Umständen", lehnte ich ab. "Kann ich mal telefonieren?" Sie machte eine einladende Bewegung in Richtung Telefon und verschwand ins andere Zimmer. Erst nach dem sechsten Läuten meldete sich Sonjas verschlafene Stimme: "Hallo?" "Hier ist Al. Kann ich bitte Viktor sprechen?", fragte ich. Im Hörer raschelte und knisterte es. Im Hintergrund hörte ich leise Sonjas und Viktors Stimmen. "Wach auf! Es is' für dich." "Wer immer es is', sag ihm, daß ich schlafe", hörte ich Viktor knurren. "Es ist Al. Er wird schon wissen, warum er dich um diese Zeit anruft. Und jetzt laß mich wieder ins Bett und geh ans Telefon." Viktor stöhnte noch einmal, dann meldete er sich gähnend: "Al? Hier ist Viktor. Bist du von allen guten Geistern verlassen?"
"Viktor. Es tut mir echt leid, daß ich euch geweckt habe, aber es handelt sich quasi um einen Notfall." Ich schilderte ihm kurz die Situation. Viktor war ein alter Kumpel von mir, aus der Zeit als wir noch in jugendlichem Überschwang das aufkeimende Internet unsicher gemacht hatten. Obwohl wir uns eigentlich nicht sehr häufig sahen, hatten wir doch fast ständig regen Kontakt per email. Viktor war lange Zeit ein richtiger Vollbluthacker gewesen. Ein Autodidakt, der sich alle seine profunden Kenntnisse über Computer und vor allem Netzwerktechnik selbst angeeignet hatte. Dann, vor ein paar Jahren, hatte er sozusagen 'die Seiten gewechselt' und arbeitete jetzt, zusammen mit seiner Freundin Sonja, offiziell als Sicherheitsberater für das Innenministerium. Zumindest behaupteten sie das. Es ging das Gerücht um, daß eigentlich beide für den BND tätig waren. Lange Zeit hatte Viktor bei einer Großbank ein mehr oder weniger freudloses Dasein als Operator gefristet. Aber er hatte dort wenigstens Sonja kennengelernt, die aus dem blutleeren Hacker einen richtigen Mann gemacht hatte. In den alten Zeiten hätte Viktor um diese Zeit bestimmt noch nicht geschlafen, sondern via Telefonmodem im Internet 'gesurft'. Ich wußte, daß die beiden mich nicht im Stich lassen würden, wenn ich ihre Hilfe bräuchte, aber was im Moment noch wichtiger war: Sie wohnten gleich gegenüber von Helen. "Ok, ok. Ich hab' schon kapiert", sagte Viktor schließlich. "Und was soll ich jetzt machen? Willst du die Kerle abhängen? Dann steig doch einfach über die Mauer im Hinterhof und verschwinde über den Hypopark." "Dazu bräuchte ich deine Hilfe nicht", lächelte ich. "Habt ihr noch eurem Hund?" "Boran? Klar, aber..." "Und hast du in deinem Wagen ein Abschleppseil?"
Man hörte Gemurmel im Hintergrund, dann wieder Viktor: "Ich hab' keinen Führerschein, wie du weißt, aber Sonja sagt, sie hätte so ein komisches Nylonband zum Abschleppen im Keller." "Bestens", freute ich mich. "Also, paß auf: ihr macht folgendes..." Zehn Minuten später stand ich hinter der Gardine und spähte über den verlassenen Platz. Drei altmodische Straßenlaternen verbreiteten ein trübes, gelbes Licht. Helen betrat wieder das Zimmer. "Und? Was passiert jetzt?", fragte sie. "Wir bereiten unseren Freunden eine kleine Überraschung", erwiderte ich und deutete auf den Platz. An der gegenüber liegenden Häuserzeile, etwa drei Häuser hinter dem wartenden Wagen, öffnete sich eine Haustür und Boran, der irische Setter, sprang stürmisch auf den Gehsteig. Er zerrte Sonja, die nur mit einem ziemlich knappen Bademantel bekleidet war, in Richtung Metzstrasse, aber sie bedeutete ihm energisch, daß man diesmal in die entgegengesetzte Richtung Gassi gehen würde. Boran war das im Prinzip egal. Er war nur begeistert, daß er um diese Zeit noch einmal hinausdurfte. Sonja ließ sich rasch von Baum zu Baum schleifen, bis sie auf der Höhe des parkenden silbergrauen Wagens war. Sobald sie sich im Blickfeld der Wageninsassen befand, ließ sie sich und Boran plötzlich an jeder Hundeschnüffelstelle soviel Zeit, wie Boran nur wollte, und zeigte dabei wie zufällig einiges von ihren wohlgeformten, langen Beinen. Ich war sicher, daß die beiden Wageninsassen von diesem Anblick genauso gefesselt waren wie ich. In diesem Moment huschte ein grauer Schatten aus der nächstliegenden Kellertüre schräg hinter dem Wagen und pirschte sich geduckt an die Hinterseite heran. Viktor bewältigte seine Aufgabe in wenigen Sekunden. Er fummelte nur ganz kurz an der
Abschleppöse des Wagens herum, warf rasch eine Schlinge über den Hydranten, der bequemerweise in erreichbarer Nähe stand und verschwand wieder in seinem Kellereingang. Sonja und Boran verschwanden um die Ecke. In dem Wagen rührte sich immer noch nichts. Vielleicht waren sie bereits eingeschlafen. "Wer war das Mädchen?" fragte Helen eifersüchtig. "Sonja, Viktors Freundin. Sie ist Informatikerin und arbeitet mit ihm zusammen, soviel ich weiß. Sie hat hübsche Beine, nicht wahr?" Helens Körper straffte sich und sie warf den Kopf zurück, sagte aber nichts. "Natürlich nichts im Vergleich mit deiner göttlichen Figur", beeilte ich mich zu versichern, und meinte es ausnahmsweise sogar ehrlich. Helen glaubte mir aber nicht und strafte mich mit einem kühlen Blick. Das Telefon klingelte. Helen nahm ab und reichte mir den Hörer. Es war Viktor. "Okay. Das Band liegt, wo du es haben wolltest. Die Zugkraft ist zehn Tonnen. Das sollte ausreichen." Ich konnte mir Viktors verschmitztes Grinsen vorstellen. Im Hintergrund kicherte jemand unterdrückt. "Das Kennzeichen habe ich mir auch notiert", fuhr er fort. "Wir schicken es dir per email, zusammen mit einer kurzen Beschreibung der Kerle von Sonja. Wann geht der Spaß los?" In ein paar Minuten", sagte ich. "Das Taxi ist schon bestellt. Vielen Dank ihr zwei." "Keine Ursache, war uns ein Vergnügen. Halt uns auf dem Laufenden, okay?" "Könnte durchaus sein, daß ich eure Hilfe noch einmal benötige. Gute Nacht und vielen Dank nochmal", erwiderte ich und hängte ein. "Und jetzt?" fragte Helen. "Jetzt wird es Zeit, Abschied zu nehmen", sagte ich und küßte ihr die Hand, denn ich hörte schon das Taxi herannahen, das ich vor zehn Minuten gerufen hatte. "Wenn du das Spektakel
nicht verpassen willst, rate ich dir, hier am Fenster zu bleiben." Das Taxi hielt vor dem Haus und hupte einmal ganz kurz. Ich sprang die Treppe hinunter und hörte beim Einsteigen, wie bei dem Wagen auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes der Motor angelassen wurde. Er orgelte ziemlich. Anfänger, dachte ich, gehen mit einem Wagen, der schlecht anspringt, auf Beschattung. "Schwabing, Elisabethstrasse", sagte ich zu der älteren Fahrerin. "Bitte möglichst rasch, wenn 's geht." "Is scho recht, Herr", sagte sie im breitesten Münchner Dialekt und legte einen Kavaliersstart hin, den ich ihr gar nicht zugetraut hätte. Ich wurde gewaltsam in die Polster gedrückt und bemühte mich, nach schräg hinten hinauszuschauen. Der silbergraue Wagen beschleunigte rasch ein paar Meter und wurde dann abrupt gestoppt. Das Heck wurde fast einen Meter in die Luft gerissen, der Wagen kippte noch in der Luft stark auf die rechte Seite und krachte dann scheppernd auf die beiden Kotflügel. Zierfelgen sausten wie kleine fliegende Untertassen über den Bordeaux Platz. Ich konnte mein Lachen nicht ganz unterdrücken. Die Taxifahrerin hatte es auch bemerkt und bremste scharf. "Ja, spinna die da! Was machn die denn da? Jessasmariaundjoseph!" Die linke Türe des silbergrauen Wagens öffnete sich. Ich beugte mich vor und sagte: "Fahren Sie lieber weiter. Mit solchen Irren sollte man sich lieber nicht einlassen. Sie könnten ja per Funk der Streife Bescheid geben." Die Fahrerin brabbelte weiter leise vor sich hin, gab aber wieder Gas. Bei der nächsten roten Ampel gab sie ihre Beobachtungen aufgeregt der Taxileitstelle durch. "Sagt's de Schandis, sie solln sofort a Streifn zum Bordeaux Platz schickn", insistierte sie mehrmals. "Des san bestimmt wieda Auslända, die moana se kanntn se hiea auffüarn!"
Sie schimpfte und räsonierte noch bis zur Ludwigstrasse. Kurz vor meiner Haustüre meldete sich nochmal die Leitstelle: "Die Polizei sagt, da sei nur ein leerer Wagen. Ein silbergrauer Mitsubishi." "I habs ja glei gsagt: des warn wieda Auslända, die wo gar ned da sein derfen", schimpfte meine Chauffeurin ins Mikrophon. Beim Bezahlen und Aussteigen ermahnte sie mich noch fürsorglich: "Gengans nur glei in Eana Wohnung, Herr. Bald is ma ja nirgends mea sicha, fast wia in Mei‡mi!" Das erregte nun doch meine Neugier: "Bitte, wo?", fragte ich durchs offene Fenster. "In Meimi hoit, da drübn in Florida, wos unsare Touristn abschlachtn. Da würd i niamois hifahn!" bekräftigte sie nachdrücklich und ließ die Kupplung kommen. Ich unterließ es besser, sie über die genaueren Umstände aufzuklären.
5 Su-Lin empfing mich an nächsten Morgen mit vorwurfsvollen Blicken. "Warum hast du die Daten der Interbank schon gelöscht? Ich hatte doch noch gar nicht richtig angefangen mit der Analyse." Ich mußte mich erst einmal setzen. Ich hatte eine grauenhafte Nacht hinter mir, wenn man mal von Helens angenehmer Gesellschaft gestern abend absah. Der linke Arm machte Probleme. Er pochte und war, soweit ich die Haut erreichen konnte, ziemlich heiß. Ich hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und nicht nur wegen der Ereignisse am Vorabend. In aller Herrgottsfrühe hatte ich ein Taxi bestellt und mich zum Schwabinger Krankenhaus fahren lassen. Der nette Chirurg war zufällig schon wieder im Dienst. Er untersuchte kurz den Arm, erweiterte an einigen Stellen den Gips mit einer furchterregenden Zange und gab mir ein Mittel zum Einnehmen mit. Vom Krankenhaus begab ich mich direkt ins Büro. Und jetzt saß ich erschossen in meinem Sessel, schloß die Augen und zählte langsam bis zehn. Dann sagte ich: "Also, jetzt nochmal langsam. Was ist mit den Daten passiert?" Su-Lin starrte mich verwundert an. "Na, du hast sie gestern gelöscht. Ich wollte heute früh die Daten neu ordnen und nach Schlüsselwörtern absuchen. Die Daten waren aber nicht mehr da, wo ich sie gespeichert hatte. Daraufhin habe ich mir mit Mark zusammen die Protokolle angesehen. Darin ist eindeutig vermerkt, daß die Daten gestern nachmittag gegen 17:00 Uhr gelöscht wurden. Und zwar unter deinem account. Ich habe mich ziemlich gewundert, weil du ja noch kurz vorher gemeint hast, ich solle die Analysen möglichst bald erledigen." Mark war unser Systemverwalter. Er war unter anderem auch für die Sicherheit unseres Systems zuständig. Su-Lin
konnte ohne seine Hilfe die Protokolldateien über sämtliche Rechneraktivitäten an der SecureData gar nicht einsehen. "In den Protokollen steht, daß unter meinem account die Daten gelöscht wurden? Habt ihr nach den Daten oder nach meinem account gesucht?" fragte ich, immer noch ganz belämmert. "Nach den Daten natürlich", erwiderte SuLin ungeduldig. "Und was war der letzte Eintrag vor dem Löschen?" wollte ich wissen. "Das war ich. Vorgestern hatte ich die directories neu geordnet. Wieso?" Ich holte tief Luft und griff zum Telefon. Mark meldete sich schon nach dem sechsten Klingeln. Er war so chronisch überlastet, daß er manchmal das Telefon einfach klingeln ließ. Dann war er nur noch per email zu erreichen oder man mußte ihn 'physikalisch' aus seinem Büro holen. Ich bat ihn, herüberzukommen. "Muß das sein!" stöhnte er. "Ja, es muß sein. Es handelt sich um eine ernste Sache", insistierte ich. Er maulte noch etwas in seinen Bart und legte auf. "Was ist denn los?" fragte Su-Lin jetzt einigermaßen alarmiert. Mark erschien mit mißmutiger Miene. "Ich hoffe, ihr habt einen guten Grund, mich zu holen. Der fileserver B ist gerade abgestürzt, und wenn...", begann er zu lamentieren, aber ich unterbrach ihn mit scharfer Stimme. "Wenn das stimmt, was Su-Lin mir gerade berichtet hat, wirst du noch froh sein, dich wieder mit solchen Kinkerlitzchen beschäftigen zu dürfen. Setz dich hin und hör zu!" Ich wiederholte mit knappen Worten, was Su-Lin mir erzählt hatte und fragte ihn, ob er das bestätigen könne. Er bejahte. "Na denn", sagte ich, "ich habe gestern um diese Zeit keine Daten gelöscht. Ich war meines Wissens nicht einmal eingeloggt. Ich habe gegen Mittag die Daten auf ExaByte kopiert. Diesen Eintrag habt ihr aber, scheint's, übersehen?"
Mark ging ohne ein Wort an meine Konsole und loggte sich ein. Su-Lin und ich warteten schweigend. Nach einer Minute sagte Mark: "Kein Eintrag über eine Archivierung auf ExaByte seit zwei Wochen. Leider kann ich nicht feststellen, ob und wann an der Protokolldatei manipuliert wurde, weil sie ja ständig durch das System beschrieben wird. Laut den noch vorhandenen Einträgen hat sich der user 'destoua' gestern um 16:32 an dieser workstation hier eingeloggt, die Daten gelöscht und sich um 16:51 wieder ausgeloggt." Ich blickte fragend zu Su-lin hinüber. Sie schüttelte den Kopf. "Um diese Zeit war ich schon außer Haus", sagte sie entschuldigend. "Stimmt", sagte Mark, "laut Protokoll hat sich der user 'wans' um 16:26 ausgeloggt." "Was ist mit backups?" fragte ich der Vollständigkeit halber. Mark tippte wieder eine Weile. Dann stutzte er. "Die Daten sind nicht im Spiegel" sagte er und zum ersten Mal war ihm seine Verblüffung deutlich anzumerken. "Das ist doch völlig unmöglich. Das heißt, es ist natürlich schon möglich", verbesserte er sich sofort, "aber dann müssen sie gestern auch im Spiegel gelöscht worden sein. Ebenso der entsprechende Eintrag in der Protokolldatei. Oh, Gott!" "Na, super" meinte ich sarkastisch, "wenn ich also gestern nicht zufällig eine Kopie auf Band gemacht hätte, ständen wir jetzt ohne Daten da." "Man kann sich nicht dagegen absichern, daß jemand, der Superuser-Rechte hat, Schaden anrichtet!" erwiderte Mark heftig. Er hatte natürlich recht. "Fassen wir also zusammen", sagte ich. "Jemand hat versucht, die Interbankdaten zu vernichten. Dieser Jemand hatte nicht nur Superuser- Rechte, was ihm ermöglichte, die Aktion unter meinem account durchzuführen, er war auch noch physikalisch hier anwesend. Er wußte ohne langes Suchen
genau, wo die Daten stehen und wie unser Backupsystem funktioniert." Mark schüttelte den Kopf. "Das sind größtenteils Spekulationen. Das einzige Sichere, was wir wissen, ist, daß er Superuser-Rechte gehabt haben muß. Alles andere kann er uns durch geschickte Manipulation der Protokolldateien nur vorspiegeln." "Warum hat er dann nicht gleich alles aus den Protokollen entfernt?" wollte Su-Lin wissen. "Das geht nicht so ohne weiteres" erwiderte Mark, "zumindest das Ausloggen wird vermerkt. Also hat er uns lieber eine kleine story eingetragen, in der behauptet wird, Al hätte das alles ausgeführt." Kurzes Schweigen. "Wer?" stellte ich schließlich die entscheidende Frage. Mark zuckte die Achseln. "Es muß sich nicht unbedingt um einen unserer Kollegen handeln. Wenn man übers Netz irgendwie hier hereinkommt, kann man sicher auch Superuser-Rechte erlangen. Kein System ist hundertprozentig sicher. Auch unseres nicht." "Aber jemand, der sich auskennt, hätte es doch auf jeden Fall leichter, oder?" Mark zuckte wieder mit den Achseln. Die Frage war ihm sichtlich unangenehm. "Klar hat er das", gab er widerwillig zu. Ich überlegte. Wer immer versucht hatte, die Daten zu vernichten, er wußte jetzt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch, daß es noch eine Bandkopie davon gab, die ich gestern gezogen hatte. "Okay", sagte ich an Su-Lin und Mark gewandt, "die Angelegenheit bleibt vorläufig unter uns, bis ich mit Karl oder Tom gesprochen habe. Klar?" Beide nickten brav. "Nur...", begann Su-Lin. "Ich habe schon heute früh mit Karl darüber gesprochen. Er meinte nur, du würdest schon deine Gründe gehabt haben."
Ich stand seufzend auf. Der Gips schmerzte jetzt nicht mehr so arg. Das Mittel schien zu wirken. "Ich gehe jetzt gleich zu Karl", sagte ich. In diesem Moment klingelte das Telefon. Su-Lin nahm ab und meldete sich. "Für dich", sagte sie und reichte mir den Hörer, "die Kripo ist dran." "Albert Destouches?" meldete sich eine mir unbekannte Stimme. Ich bejahte und fragte, wer dran sei. "Mein Name ist Hübner, Polizeipräsidium München. Wir würden Sie gerne sprechen. Könnten Sie sofort vorbeikommen?" "So dringend? Handelt es sich um den Bombenanschlag auf mein Auto?" fragte ich, nicht sehr begeistert. "Ja... nein...", kam die vage Antwort, "wir würden das lieber mit Ihnen direkt besprechen. Glauben Sie mir, es ist ziemlich wichtig. Ich kann Ihnen sofort einen Wagen schicken." In meinem Hinterkopf klickte es und mein angeborenes Mißtrauen wurde aktiviert. "Okay", sagte ich, "in einer halben Stunde vor der SecureData. Die Adresse ist..." "Danke, wir kennen die Adresse", sagte die Stimme. "Vielen Dank. Bis in einer halben Stunde dann." Ich legte auf und wählte die Nummer der Auskunft. Ich bat um die Durchwahl von Hübner am Polizeipräsidium. Es gab tatsächlich einen Hübner, aber das besagte noch gar nichts. Ich wählte die Nummer. Die gleiche Stimme meldete sich und ich legte wieder auf. Mark war während des Gesprächs verschwunden. "Hör genau zu", sagte ich zu Su-Lin, "eventuell kann ich dir das nur einmal sagen. Irgendjemand glaubt, daß in den Daten der Interbank etwas Brisantes enthalten ist. Er hat wahrscheinlich in den Protokolldateien gesehen, daß sich bis jetzt nur du intensiv damit befaßt hast. Ich will dir keine Angst machen, aber bitte sei von jetzt an vorsichtig. Geh nirgends alleine hin. Triff keine Verabredungen mit Leuten, die du nicht genau kennst. Am besten hältst du dich die meiste Zeit bei Phil
auf. Sag ihm genug, daß er die Sache ernst nimmt und sich um dich kümmert, aber sag ihm nicht alles." Su-Lin blickte mich mit erschreckten Augen an. Dann nickte sie tapfer. "Und wer paßt auf dich auf?" fragte sie dann ernsthaft. Ich lächelte. "Ich selber. Wer sonst?" Ich ging hinüber in Karls Zimmer und schloß die Türe hinter mir. Er begrüßte mich mit breitem Lächeln und nahm die dicke Lesebrille ab. "Albert!" polterte er mit seiner lauten, wohlartikulierten Stimme. "Schön, daß du vorbeikommst! Ich hoffe, es geht schon wieder aufwärts, nicht wahr?" Er deutete auf den Gips. Karl mußte jetzt so um die sechzig sein. Er hatte schlohweißes, längeres Haar, das ziemlich tiefe Geheimratsecken auswies, einen imposanten Schädel mit markanten, meist freundlichen Gesichtszügen. Seine Gesichtshaut war fast immer tief gebräunt, was einen eindrucksvollen Kontrast zu seinen wasserblauen, übrigens extrem weitsichtigen Augen bildete. Er hatte einen recht korpulenten, etwas kurzen Körper und war immer auf das Sorgfältigste gekleidet. Eigentlich sah er aus wie ein Professor aus dem Bilderbuch. Im Gegensatz dazu war er jedoch niemals zerstreut und konnte sich alle wichtigen Vorgänge mühelos merken. Ich berichtete ihm von unserer Entdeckung heute morgen und deutete ein paar der Konsequenzen an, erwähnte aber nicht, daß ich noch eine Kopie der Daten zuhause hatte. Karl runzelte besorgt die Stirne und seufzte. "Allmählich bereue ich es, daß ich diesen Auftrag überhaupt an Land gezogen habe, was?" meinte er. "Und dabei dachte ich damals, das wäre ein gefundenes Fressen für uns." Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und legte die Fingerspitzen aufeinander. "Ich habe mich in den letzten Tagen umgehört, nicht wahr? Es gab aber nichts zu hören. Keine Gerüchte, kein Geschwätz weder über die SecureData noch über die Interbank. Dann habe ich
versucht, Schmeiter persönlich zu erreichen. Schließlich haben wir den Auftrag ihm zu verdanken, wie? Er war nicht zu sprechen, oder ... ließ sich verleugnen. Ich bat um einen Rückruf, aber er hat sich nicht gemeldet. Tja." Er machte eine Pause, wie wenn er einen Kommentar von mir erwartete. Ich schwieg. "Vielleicht", fuhr er mit träumerischer Stimme fort, "sollten wir die Sache auf sich beruhen lassen, oder? Letztendlich ist der SecureData ja kein großer Schaden entstanden. Es gibt noch andere interessante Kunden für uns, nicht?" Ich wandte ein, daß immerhin ein Unbekannter im System der SecureData herumgepfuscht hatte. Karl zuckte die Achseln und sah mich mit seinen hellen Augen aufmerksam an. "Na schön. Und was sollen wir dagegen machen? Geschehen ist geschehen und offiziell durften wir die Daten gar nicht mehr haben, nicht?" Ich mußte zugeben, daß dies so sei. "Na, also. Vielleicht ist es ganz gut so. Ich denke, du solltest die Sache jetzt erstmal vergessen und dir ein paar Wochen Genesungsurlaub gönnen. Dein Arzt wäre sicher nicht begeistert, wenn er wüßte, daß du dich im Büro herumtreibst." Ich schaute ihn an. Karl lächelte väterlich besorgt. "Wir brauchen dich, Albert. Aber nicht als Halbinvaliden. Du mußt schauen, daß du dich so schnell wie möglich erholst. Wie wär's, wenn du einfach ein paar Tage irgendwo hinfährst und dich mal so richtig verwöhnen läßt?" Ich sagte, daß ich es mir überlegen würde. "Und was die Manipulation an unserem Rechnersystem angeht...", begann ich wieder. "Ja, da müssen wir natürlich was unternehmen", sagte Karl energisch. "Ich werde gleich mit Tom darüber reden und Mark bitten, die 'firewall' herunterzulassen. Vielleicht sollten wir uns sogar vorerst ganz vom Netz trennen, wie? Am nächsten Montag
diskutieren wir dann das Problem mit den anderen, nicht wahr?" Eine 'firewall' ist ein Mechanismus, der ein subnet, wie das der SecureData, nach außen hin völlig abschirmt. Nur email Kontakt ist dann noch möglich. Und auch der kann unterbunden werden, wenn es der Systemadministrator so entscheidet. Leider behinderte dies aber die tägliche Arbeit enorm. Ich nickte zustimmend und verabschiedete mich von Karl. In meinem Büro ging ich rasch die Tagespost durch und schaute in meine mailbox. Unter anderem war eine email von Becker darin. Er schrieb, daß etwas 'sehr Ernstes' passiert sei und ich mich sofort mit ihm in Verbindung setzen solle. Ich blickte auf den header der mail. Sie war heute morgen um 6:45 Uhr abgeschickt worden. Ich überlegte, ob ich Becker anrufen sollte, entschied mich aber, ihn lieber gleich in seinem Büro aufzusuchen. Ich blickte auf die Uhr in meiner workstation. Es war sowieso schon höchste Zeit. Der Wagen wartete wahrscheinlich schon unten. Ich zog mir mühsam den Mantel über den Gips und ging in Richtung Lift. Als ich an Karls Büro vorbeikam - die Tür stand wie immer halb offen - hörte ich plötzlich meinen Namen. Automatisch blieb ich stehen und hörte deutlich Karls Stimme aus seinem Zimmer dringen. "Ja ... Sie haben gewiß recht ... ja ... ich finde auch, daß es ein Fehler war ... ja ... eine sehr unglückliche Situation, aber daß Kohler ... ja ... nein ... nein, ich glaube nicht, daß Destouches vorhatte ... nein, das kann ich mir nicht vorstellen ..." Ich lauschte wie gebannt. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich ein fremdes Telefongespräch belauschte. Ich blickte den Gang entlang. Niemand zu sehen. Ich sagte mir, daß es das einzig Vernünftige wäre, weiterzugehen und das Gehörte zu vergessen. Natürlich blieb ich stehen. Es kam aber nicht mehr viel. "... ja, nicht wahr? ... ja ... ich denke,
daß es sich alles aufklären läßt, aber mir sind jetzt die Hände gebunden, nicht? ... gut ... ja ... ganz meinerseits, Herr Schmeiter ... Auf Wiederhören." Der Hörer wurde aufgelegt und ich hörte Karl mit den Papieren rascheln. Er seufzte laut und murmelte etwas, was ich nicht verstand. Ich wandte mich ganz langsam um und ging weiter in Richtung Lift. Ich bemühte mich, nicht in den Gang zurückzublicken, falls Karl etwa aus seinem Büro schaute, um zu sehen, wer da eben vorbeigegangen war. Mein Puls war höher, als mir lieb war. Im Aufzug lehnte ich mich an die Wand, schloß die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Auf der Strasse stand ein beiger Audi 80 im Parkverbot und ein junger Mann in Zivil lehnte an der Fahrertüre. Er kam ein paar Schritte auf mich zu und fragte: "Albert Destouches?" Ich nickte. "Mein Name ist Zelzel. Ich soll Sie zum Polizeipräsidium bringen", sagte er freundlich. "Könnten Sie sich bitte als Polizeibeamter ausweisen?" sagte ich müde. Er sah mich erstaunt an. "Äh, ja sicher. Moment." Er fummelte eine Weile in diversen Taschen seiner Sportjacke herum, bis er seinen Dienstausweis fand. Ich nickte und reichte ihm seinen Ausweis zurück. "Sie müssen schon Entschuldigen, aber in den letzten Tagen sind mir ein paar merkwürdige Dinge passiert..." Er lächelte nur unverbindlich und öffnete mir die Beifahrertüre. Im Polizeipräsidium in der Metzstrasse erwartete uns bereits an der Pforte ein etwas älterer Beamter mit ergrautem Schnurrbart. Er stellte sich mit Hübner vor und führte mich wortlos in sein Büro im dritten Stock. An seinem Türschild sah ich zu meinem nicht geringen Erstaunen, daß er im Morddezernat arbeitete. Ich sagte ihm als erstes, daß Becker mich heute morgen kontaktiert hatte und ich erwartet hatte, ihm hier zu treffen. Hübner blickt mich ein paar Sekunden nachdenklich an und
griff dann zum Telefon. Nach weiteren fünf Minuten war Becker bei uns. Er begrüßte mich sehr reserviert und sah reichlich ernst drein. "Also", begann ich, "was ist denn so Gravierendes geschehen, daß der Fall dem Morddezernat überwiesen wurde. Ist das Mädchen plötzlich gestorben, oder was? Es hieß doch, sie sei nicht ernsthaft verletzt." Ich meinte natürlich das Mädchen, das bei der Explosion meines Volvos verletzt worden war. Die Reaktion war einigermaßen erstaunlich. Hübner fuhr auf, wie von der Tarantel gestochen. "Wie... was haben Sie da eben gesagt? Woher wissen Sie...? sprudelte es aus ihm heraus. Becker unterbrach ihn rasch: "Er meint das Mädchen, das vorgestern im Zusammenhang mit der Autobombe am Kaiserplatz verletzt wurde." "Ach so." Hübner beruhigte sich wieder etwas und schaute fast ein wenig enttäuscht und mißtrauisch zu Becker hinüber. Ich blickte verwirrt von einem zum anderen. Hübner ergriff wieder das Wort, nachdem er sich Stift und Papier zurechtgelegt hatte. Es folgten die üblichen Fragen zur Person. Personalausweis bitte. Danke. Derzeit wohnhaft in ... und so weiter. Mir lag ständig auf der Zunge zu fragen, was denn eigentlich los sei, aber ich riß mich zusammen und beantwortete die einleitenden Fragen rasch. "Zunächst ein paar Routinefragen: Berichten Sie uns kurz, wo Sie sich seit gestern Mittag bis jetzt aufgehalten haben." "Gestern?" fragte ich verblüfft und schaute Becker an. Der nickte ernst. "Aber ich dachte, ... Na schön. Sie bestimmen die Spielregeln." Ich berichtete knapp was seit gestern vorgefallen war. Bei der Geschichte mit dem silbergrauen Wagen wurden die beiden aufmerksam, stellten einen Haufen Zwischenfragen und sparten auch mit Tadel nicht. "Mann, Albert. Wieso hast du nicht die Kripo verständigt. Wir hätten die Burschen
hopp nehmen und für 48 Stunden festhalten können", seufzte Becker. Ich zuckte mit den Achseln. "Ich habe die Kerle nicht ernst genommen. Meiner Meinung nach waren das keine Profis, sondern irgendwelche Wichtigtuer, die sich als Detektive aufspielen wollten." Becker und Hübner wechselten einen Blick. "Und dann sind Sie also direkt nach Hause gefahren und dort geblieben bis...", nahm Hübner den Faden wieder auf. Ich vervollständigte meinen Bericht und Hübner machte sich weiter Notizen. "Können Sie sich an die Nummer des Taxis erinnern?" fragte Hübner. Natürlich konnte ich das nicht. Als ich geendet hatte, fragte mich Becker über Helen aus. Ich wurde langsam nervös. Schließlich konnte ich mich nicht mehr beherrschen und sagte: "Meine Herren. Lassen Sie doch endlich das Katz-und-Maus-Spiel. Ich bin doch kein Idiot. Was haben Sie mir vorzuwerfen. Heraus damit oder ich spreche nur noch im Beisein meines Anwalts." Becker schaute wieder auf Hübner, aber der nickte nur schweigend. "Hör zu", sagte Becker, "etwas Schreckliches ist geschehen. Helen Hortek wurde heute morgen tot aufgefunden." Mir blieb die Luft weg. Ich konnte nur noch Becker ins Gesicht starren. Helen tot. Die kleine Helen. Die junge, fröhliche Helen. Die Helen, die so gerne küßte. Die blitzgescheite, tüchtige Helen. Tot aufgefunden. Einfach so. Tot aufgefunden. Ausgelöscht. Sinnlos zerstört. Und ich war schuld. Ich fühlte es bis ins innerste Mark. Es war ganz gewiß: ich war schuld an ihrem unschuldigen Tod. Sonst wäre ich nicht hier. Ich konnte es nicht, wollte es nicht glauben. Das kann nur ein Traum sein, redete es an meiner Oberfläche, gleich wird sich alles aufklären. Es muß sich um eine andere Helen handeln. Ganz sicher. Das war es. Nicht meine Orchidee, meine geliebte Helen. So versuchte sich mein Bewußtsein verzweifelt vor der
fürchterlichen Erkenntnis schützen, die tief in mich eingedrungen war wie ein glühender Dolch und die von tief unten zu mir heraufschrie: Du bist schuld! Du hast sie umgebracht! Du hast sie in dieser Nacht leichtfertig alleingelassen! Und alle wußten es schon, daß du sie umgebracht hast. Jeder konnte das Mordmal auf deiner schweißglänzenden Stirne sehen, die du bis vor wenigen Minuten noch frech und unwissend stolz zur Schau getragen hast. Mörder. Wieder ein Mörder. Oh Gott, ich wünschte, ich hätte sie niemals getroffen. Niemals getroffen. Niemals. "Was sagt er?" fragte Hübner. "Er hat einen Schock." Das war Beckers Stimme. Ich wollte nichts mehr sagen. Ich wollte nichts mehr hören. Ich wollte nur in meiner Selbstanklage versinken und nicht mehr aufwachen. Ich riß die Arme nach oben, um mir die Ohren zuzupressen. Dabei traf mich der schwere Gips an der Schläfe. Mir wurde kurz schwarz vor Augen. Dann konnte ich wieder klar sehen. Becker stand vor mir und hielt meine Hände umklammert. Hübner telefonierte aufgeregt. Ich verstand nicht, was er sagte. Auch Becker sprach zu mir, aber seine Worte drangen nicht zu mir durch. Ganz automatisch, ohne daß ich es wollte, begann ich langsam zu sprechen: "Ich ... nicht nochmal ... ich kann das nicht ... ich kann nicht nochmal ... mein Gott ... bitte ... ist es wieder meine Schuld? ... ich habe sie im Stich gelassen ... ich habe sie wieder im Stich gelassen ... ich bin schuld ... Oh Gott, ich konnte doch nichts machen ... ich bin schuld, daß sie tot ist ... ich habe nicht aufgepaßt und nun ist sie gestorben ..." Die ganzen Bilder kamen wieder herauf, von weit unten, wo sie lange Zeit barmherzig eingeschlossen waren. Sie kamen wie ein niemals endendes Blitzlichtgewitter und überschwemmten mein armes Gehirn. Tracy in ihrem Bettchen. Die süße, kleine, kranke Tracy. Das blonde
Schwesterchen, das behütet und geschützt werden mußte. Der graue, große Teddy, den sie immer festhielt, wenn es wehtat. Das Gestell mit der Infusion und der großen Glasampulle mit dem gelben Stoff, der sie am Leben hielt. Die Türe und der Kramladen. Heuler hieß der Besitzer. Nur mal schnell ein Comic-Heft holen. Dauert nur ein paar Sekunden. Der Windstoß und mein Erstaunen, daß so etwas einfaches wie eine geschlossenen Türe zum Schicksalsschlag gegen meine geliebte Tracy ausholen konnte. Der Kampf mit der Türe, der ratlose Heuler, die Polizei und schließlich die Niederlage. Das verzerrte Gesichtchen und der verkrümmte, kleine Körper in dem zerwühlten Bettchen. Das Gesicht meiner Mutter, die tapfer versuchte, nun wenigstens noch das andere ihrer Kinder vor dem Verderben zu retten. Vor der Selbstzerstörung. Und ich war schuld. Auch wenn alle versicherten, daß ich keine Schuld hatte. Tief im Inneren wußte ich: Du warst schuld. Ohne dich könnte Tracy, könnte Helen noch leben. Ein kalter Schlag traf mich ins Gesicht und verscheuchte für den Moment die Visionen. Becker stand vor mir mit einem leeren Glas in der rechten Hand. Von meinem Gesicht tropfte es auf meine Jacke. "Mann, Albert! Komm zu dir!" rief Becker und rüttelte an meiner linken Schulter, was ziemlich weh tat. Ein dritter Mann in Zivil mit einer Nickelbrille schaute ihm besorgt über die Schulter. Hübner war momentan nicht zu sehen. "Kannst du mich hören, Al. Antworte endlich!" Ich nickte benommen. "Okay, es geht schon. Ich ... es war nur ...", stotterte ich hilflos. Becker drehte sich zu dem Fremden um. "Ich glaube, er hat sich wieder gefangen, Doktor. Wir kommen jetzt schon zurecht. Danke fürs Kommen", sagte er. Der Fremde lächelte und drängte Becker sanft, aber bestimmt zur Seite. Er tastete nach meinem Puls und untersuchte sorgfältig meine Augenlider.
Dann lächelte er wieder und sagte zu mir: "Körperlich sind Sie ok. Epileptiker sind wohl auch nicht? Nein?" Ich schüttelte müde den Kopf. "Ich habe nur ... die Nachricht hat mich umgehauen. Tut mir leid. Es geht jetzt schon wieder." Der Doktor nickte und wandte sich an Becker: "Ich bin die nächste Stunde in meinem Büro. Rufen Sie sofort an, wenn es noch einmal Schwierigkeiten geben sollte. Und noch etwas: Begleiten Sie ihn nach Hause. Lassen Sie ihn in diesem Zustand nicht alleine gehen." Becker nickte und bedankte sich noch einmal. Hübner brachte mir heißen Kaffee in einem Pappbecher. Ich verbrannte mir die Zunge daran. Kein Zucker drin. Es war mir egal. Der heiße Kaffee half etwas. "Tut mir leid, daß ich so überreagiert habe", sagte ich zu niemandem Bestimmten. Becker antwortete: "Du fühlst dich schuldig, hast du gesagt?" Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nickte. "Aber wer ist Tracy?" wollte er wissen. Ich seufzte. "Tracy ist ... war meine kleine Schwester. Sie litt an einer seltenen Form von Epilepsie. Nur durch ständige Zufuhr von Medikamenten konnte sie überleben. Sie ist gestorben, als ich sechzehn war." Ich nahm einen Schluck Kaffee. "Durch meine Schuld", fuhr ich fort. "Ich möchte nicht weiter darüber reden." Hübner nickte zustimmend und sagte: "Und jetzt fühlen Sie sich für den Tod von Helen Hortek verantwortlich. Warum?" Ich sagte nichts. Becker antwortete statt mir: "Weil er sie gestern Nacht allein gelassen hat, obwohl diese Typen vor ihrem Haus herumlungerten." "Ich dachte, sie hätten es nur auf mich abgesehen", sagte ich hilflos. "Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß sie Helen etwas antun könnten."
"Sie wurde heute morgen etwa um sechs Uhr dreissig vom Küster der Elisabethkirche im Hypopark gefunden", sagte Hübner langsam. "Schwer verletzt und stark unterkühlt. Sie erlag eineinhalb Stunden später im Krankenhaus Rechts der Isar ihren Verletzungen. Sie ist nicht mehr zum Bewußtsein gekommen." Ich sagte nichts und sah auf meine durchnäßten Knie. "Sie war gefesselt, mit einer blauen Wäscheleine. Es ist schwer festzustellen, wann sie dorthin gebracht wurde. Bis jetzt gibt es keine Spuren oder Hinweise auf den oder die Täter." Ich hob den Kopf und blickte Becker an, der schweigend in seinem zurückgekippten Bürostuhl saß und mich aufmerksam beobachtete. "Ich verstehe", sagte ich und mußte räuspern. "Besteht dringender Verdacht gegen mich oder kann ich jetzt gehen?" Becker beugte sich vor. "Albert. Gibt es wirklich nichts, womit du uns weiterhelfen könntest? Was ist los mit der Interbank? Wie hängt das Ganze zusammen? Die Interbank ist doch Kunde von euch, oder?" Ein Versuchsballon, dachte ich. Becker konnte das gar nicht wissen. Ich schüttelte den Kopf. "Ich kann ohne Erlaubnis des Konsortiums keine Auskünfte über die Kunden der SecureData geben", leierte ich herunter. Bevor ich noch ausgesprochen hatte, sprang Becker ungeduldig auf und trat an das altmodische Sprossenfenster. "Verdammt, Albert. Es geht hier um mehr als um Geschäftsdiskretion", rief er und zählte an seinen Finger ab: "In deinem Wagen wird ein Sprengsatz installiert. Du wirst beschattet. Du besuchst das erste mal ein Mädchen, das du vorher noch nie getroffen hast. Am nächsten Morgen ist sie tot. Willst du warten, bis es dich auch noch erwischt? Dann stehen wir mit ganz leeren Händen da."
Ich schwieg. "Ich hätte gute Lust, Sie hierzubehalten", knurrte Hübner. "Könnte er das?", fragte ich Becker. Der hatte mir den Rücken zugewandt und zuckte mit den Schultern. Hübner sagte resigniert: "Ich könnte schon, aber nur für 24 Stunden. Und was hilft das schon? Also gehen Sie schon. Daß Sie sich das nächste Mal ein bisserl eher an uns wenden, brauche ich ja wohl nicht extra zu betonen." Er klang reichlich sarkastisch. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich stand auf und ging. Ich bezahlte mein Taxi schon in der Franz-Joseph-Strasse und ging langsam die Elisabethstrasse hinunter. Erst nachdem ich zweimal an meinem Haus vorbeigeschlendert war und niemanden bemerkt hatte, der sich für das Haus interessierte, betrat ich meine Wohnung. Schon in der Diele bemerkte ich eine Veränderung. Mein alter Schlapphut, den ich ab und zu bei Regen trug, hing nicht so am Haken wie sonst. Jemand, der sich sicher nicht für den Hut sondern den Inhalt meiner Jackentaschen interessierte, hatte ihn wohl heruntergestoßen und anschließend wieder aufgehängt. Ich nahm die große Maglite aus dem Schirmständer und durchkämmte vorsichtig die Wohnung. Niemand. Aber überall kleine Veränderungen. Ausnahmsweise schloß ich die Türe und versuchte, allerdings nicht sehr erfolgreich, mich zu entspannen. Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Ich ging nicht hin. Es läutete vier Mal, mein Anrufbeantworter hob ab und spulte seine Nachricht ab. Als Antwort kam nur das Freizeichen. Der Anrufer hatte aufgelegt. Plötzlich stürzte ich ins Badezimmer und übergab mich heftig ins Waschbecken. Es war kurz und heftig, aber anschließend fühlte ich mich besser. Ich ging ins Arbeitszimmer und warf mein Notebook an. Oberflächlich war noch alles in Ordnung. Ob jemand den Rechner in Betrieb genommen und nach den Interbankdaten gefandet hatte, konnte ich nicht feststellen, da so ein kleines System
keine Logging-Funktion hat. Immerhin, er war noch da. Ich legte das Band mit den Interbankdaten ein und überspielte sie in ein mit Paßwort geschütztes Verzeichnis unter einem unverfänglichen Namen. Während das Band gelesen wurde, erledigte ich mehrere Telefonate. Das Band wurde zurückgespult und ausgespuckt. Ich legte ein frisches Band ein und kopierte die Interbankdaten darauf. Es läutete. Ich nahm wieder die Maglite in die Hand und öffnete vorsichtig. Das E-Netz Handy, das ich bestellt hatte, wurde von einem Fahrradboten überbracht. Es hatte einen fantastischen Preis, wenn man bedachte, wie weit die Preise vor kurzem in den Keller gefallen waren. Ich bezahlte mit Kreditkarte. Dann bat ich den Boten, ein kleines Päckchen mit zu seiner Filiale zu nehmen und an jeden zu übergeben, der sich danach erkundigte und meinen Namen nennen konnte. Der junge Mann betrachtete mißtrauisch das in braunes Packpapier gewickelte Teil und meinte zurückhaltend, daß es sich doch hoffentlich um keine Drogen oder Sprengstoff handele. Ich wickelte es aus und zeigte ihm, daß es nur eine Kassette enthielt. Er notierte sich noch einmal meinen Namen und steckte es ein. "Wenn sich bis nächste Woche niemand meldet, können Sie es getrost wegwerfen", sagte ich noch. Er nickte ungeduldig und verschwand. Im Laufe der nächsten Stunde erhielten jeweils ein Taxifahrer, ein Pizzabote und Elmar, der Gehilfe vom Delikatessen-Maier in der Hohenzollernstraße, kleine Päckchen zum Mitnehmen. Anschließend begab ich mich in meinen uralten Keller und entledigte mich dort des letzten Päckchens. Ich hatte mich kaum hingesetzt, als es schon wieder an der Tür klingelte. Ich überlegte, ob ich noch jemanden herbestellt hatte. und öffnete vorsichtig einen Spalt. Zu meinem Erstaunen erblickte ich Joan, das rothaarigen Wunder aus dem Kaisergarten. "Guten Tag, Albert. Darf ich hereinkommen?"
lächelte sie. Wieder die seltsame, betont sorgfältige Artikulation. Ich bat sie kühl, aber höflich einzutreten. Sie stöckelte, ohne sich umzudrehen, langsam vor mir her bis ins hintere Eckzimmer. Dort wandte sie sich in einer raschen Bewegung zu mir um. Die rote Mähne flog. "Eine sehr hübsche und geschmackvolle Wohnung, Albert. Leben Sie allein hier?" Ich nickte und bot ihr einen Sessel an. Sie setzte sich und schlug die langen Beine dekorativ übereinander. An den kleinen, wohlgeformten Füßen trug sie elegante Schuhe aus Schlangenhaut mit sehr hohen Absätzen. Ihre Zehennägel waren nicht lackiert, aber gut gepflegt. "Sie wundern sich sicher, daß ich so einfach hier hereinschneie. Ich wollte eigentlich vorher anrufen, aber ich hasse diese Telefonbeantworter. Und da ich sowieso in der Gegend war ..." Sie schaute mich prüfend an. Ich schwieg zurückhaltend. "Das letzte Mal waren Sie gesprächiger, Albert. Sie sollten den Gips in einer schwarzen Armschlinge tragen; das wirkt sehr edel. Um die Wahrheit zu sagen, ich wollte einfach wissen, wie Sie diesen schrecklichen Unfall überstanden haben. Eine entsetzliche Geschichte." Im hellen Tageslicht sah man, daß sie älter war, als ich sie bei unserer ersten Begegnung eingeschätzt hatte. Das Makeup war diesmal etwas sparsamer zur Anwendung gekommen und ließ Einiges an Fältchen erkennen. Das rote, prachtvolle Haar wirkte allerdings echt. Sie war geschmackvoll und teuer gekleidet. Die Absätze ihrer Stilettos waren sicher nicht mehr waffenscheinfrei. Aus einer winzigen Tasche aus Schlangenleder, die sie an einer langen Goldkette trug, holte sie eine kurze Spitze und lange braune Zigaretten hervor. Ich gab ihr höflich Feuer. Die Zigarillos hatten ein Aroma wie Zimt und Nelken. Ich sah, daß sogar die Spitze mit Schlangenhautimitat
überzogen war. Sie blies den ersten Lungenzug schräg in die Luft, lächelte madonnenhaft und sagte: "Albert. Wir beide sind zu intelligent, als daß wir lange Zeit mit unnötigem Vorgeplänkel vergeuden sollten. Sie haben etwas, das für bestimmte Leute, die ich kenne, äußerst wichtig sein könnte, und ich kann Ihnen den Kontakt zu diesen Leuten erleichtern." Sie wartete auf eine Reaktion meinerseits. Also hob ich vielsagend die Augenbrauen. "Meine ... Bekannten, die an dieser Sache interessiert sind", fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, "möchten gerne mit Ihnen ins Geschäft kommen. Wieso sollen wir gegeneinander arbeiten? Kooperativ kommt man immer schneller und unauffälliger zum Ziel, finden Sie nicht auch?" Ich bestätigte diesen Gemeinplatz und fragte unverblümt, worum es sich denn sowohl bei der fraglichen Sache als auch bei ihren 'Bekannten' handele. Joan lächelte und drehte ihre Spitze zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Der Aschekegel an der Spitze des Zigarillos war schon bedrohlich lang geworden und ich fürchtete um meine rohseidenen Sesselbezüge. "Worum es sich handelt, ist Ihnen bekannt. Halten Sie mich nicht für naiv. Ich weiß genau, wieviel Sie wissen, oder zu wissen meinen." Sie lachte kurz. Es klang nicht sehr fröhlich. "Meine Freunde sind bereit, Ihnen eine angemessene Entschädigung für Ihre bisherigen ... Unannehmlichkeit zu bezahlen. Sie sollten sich Ihre Antwort gut überlegen." Ich versuchte, meine aufsteigende Wut niederzukämpfen. "Wofür genau?" fragte ich ruhig. Joan schaute mich fragend an. "Wenn es sich bei der fraglichen Sache um das handelt, was ich meine, gibt es für die Bemühungen Ihrer 'Freunde' zwei mögliche Motive", erklärte ich. "Das erste mögliche Motiv wäre, daß sie die Sache wirklich wollen. Das zweite wäre, daß sie lediglich verhindern wollen, daß
irgendjemand außer ihnen in den Besitz der fraglichen Sache oder etwa einer Kopie davon gelangt. Was also genau wollen Ihre 'Freunde'?" "Beides", kam nach ein paar Sekunden die Antwort. "Sie wollen die Sache und die Garantie, daß niemand sonst davon Kenntnis erlangt." Sie lächelte nun nicht mehr. Ich schüttelte den Kopf. "Wissen Sie, Joan, es kommt mir schon etwas seltsam vor, daß Ihre Freunde erst jetzt auf die Idee kommen, die Sache auf friedliche Weise zu regeln. Schließlich haben die Aktionen ihrer 'Freunde' in den letzten Tagen soviel Staub aufgewirbelt, daß auch die Ordnungshüter nicht mehr ganz untätig bleiben können. Mich zum Beispiel haben sie zur Zeit sogar unter Mordverdacht. Und da glauben Sie, daß ich in so exponierter Lage auch noch Geschäfte mit Ihren 'Freunden' abwickeln kann?" Bei dem Wort 'Mordverdacht' war Joan deutlich zusammengezuckt; sie versuchte aber geschickt, ihre Überraschung zu überspielen. "Meine Freunde können das mühelos so arrangieren, daß es nicht weiter auffällt. Machen Sie sich da keine Sorgen. Hauptsache, Sie arbeiten mit uns zusammen und versuchen keine Tricks." Sie kramte wieder in ihrer Minitasche und zog eine weiße Karte hervor, mit Nichts darauf als einer handgeschriebenen Adresse. Sie flippte sie auf den Tisch und sagte: "Kommen Sie morgen um zehn Uhr zu dieser Adresse und fragen Sie nach Joan. Dort wird man Ihnen ein angemessenes Angebot unterbreiten." "Und wenn ich nicht komme?" Sie lächelte wieder. "Sie werden schon kommen, wenn Sie nur einen Funken Verstand haben." Sie erhob sich und ging, ohne sich umzudrehen, zur Türe. Im Flur drehte sie sich noch einmal um und sagte: "Wie
schade, daß wir uns nicht unter angenehmeren Umständen kennenlernen konnten, Albert. Leben Sie wohl." Ich kehrte langsam ins Zimmer zurück, wo immer noch schwach der exotische Duft von Joans Zigarillos schwebte. Ich holte mir einen Drink aus der Küche, löschte alle Lichter und setzte mich in meinen Denkerstuhl vor das Westfenster. Es war noch hell, aber die Sonne drang nicht durch die hohen Wolken. Ein fieses hellgraues Licht machte alle Dinge blaß und gleichzeitig kontrastlos. Ein paar Blätter segelten lustlos durch die Luft. Ich versuchte, die Fakten logisch zu ordnen, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich war auf einmal sehr müde. Das Einzige, was mir inzwischen klar war, führte lediglich zu unangenehmen Konsequenzen und ich scheute mich, danach zu handeln. Ich dachte lange an Helen. Irgendwann muß ich wohl eingenickt sein, denn das Klingeln des Telefons riß mich aus dem Schlummer. Es war schon dämmrig. Etwa sechs Uhr, dachte ich, während ich mich zum Telefon tastete. Es war Su-Lin. Sie ließ gleich einen ganzen Schwall von aufgeregten Worten auf mich los, kaum daß ich mich gemeldet hatte. Ich unterbrach sie und fragte, von woher sie anrufe. Von zuhause. "Gut", sagte ich, "leg sofort auf. Ich rufe zurück." "Aber warum...", begann sie, aber ich legte einfach auf. Ich suchte nach dem E-Netz Handy und schaltete es an. Die Batterie war zum Glück einigermaßen voll. Ich wählte SuLins Nummer. Als sie sich meldete, erklärte ich ihr: "Tut mir leid, daß ich dich unterbrochen habe, aber es ist besser, wenn ich dich per Handy anrufe. Das kann man nicht so leicht abhören." Genauer gesagt, gibt es bis jetzt überhaupt keine vernünftige Methode ein Gespräch in Cellular Network abzuhören, aber in den nächsten Jahren werden sich unsere Geheimdienste schon noch etwas einfallen lassen.
"Also, was gibt es denn Schreckliches?" fragte ich. Su-Lin berichtete mir aufgeregt, daß Karl heute nachmittag jedem erzählt hätte, ich sei auf Genesungsurlaub. Davon wüßte sie ja gar nichts. "Ich auch nicht", sagte ich trocken. "Und sonst?" Der zweite Teil war mehr persönlicher Natur. Die 'rote Hexe' habe sich heute Mittag wieder an Phil herangemacht. 'Sich an ihn 'rangewanzt' war der präzise Ausdruck, den Su-Lin verwendete. Phil habe sie 'zufällig' im Sokoha getroffen und Mühe gehabt, sie wieder los zu werden. "Wie eine Klette hat sie sich an ihn gehängt", schimpfte Su-Lin. "Und außerdem hat sie..." "Woher weißt du das alles?" unterbrach ich kurzerhand den Redefluß. Phil habe es ihr gerade berichtet. Er sei überhaupt nicht mehr an ihr interessiert, aber das wolle oder könne diese Person wohl nicht begreifen. Während Su-Lin redete, formte sich in meinem Kopf das erste Mal ein vernünftiger Plan. Vielleicht hatte ich die ganze Sache bisher einfach zu passiv über mich ergehen lassen. Aber das konnte so nicht weitergehen. Schließlich hatte ich auch noch eine Verantwortung gegenüber den Lebenden. "SuLin", unterbrach ich sie wieder, "du wirst das jetzt nicht gleich verstehen und ich habe auch keine Zeit, es dir ausführlich zu erklären, aber ich glaube, wir müssen auf eine kleine Dienstreise gehen." Verblüfftes Schweigen am anderen Ende. "Sagtest du Dienstreise?" kam es dann ungläubig. "Ja, wie schnell kannst du abreisefertig sein?" "Aber ... aber wohin denn? Und warum? Ich kann doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Und im Büro weiß auch keiner was davon. Und die vanKopen Geschichte liegt noch unerledigt auf meinem Schreibtisch. Wie lange willst du überhaupt weg? Ich will Phil nicht so
lange allein lassen. Nicht, solange diese rothaarige Hexe noch in der Gegend ist ..." "Su-Lin! Hör mir zu!", sagte ich eindringlich. "Wir sind beide in eine ernste Sache hineingeschlittert und ich kann es nicht riskieren, daß noch einmal jemand versucht, dich oder mich umzubringen. Wir müssen - zumindest kurzfristig - von der Bühne verschwinden." Wieder Schweigen in der Leitung. "Su-Lin? Bist noch dran?" "Ja, aber übertreibst du da nicht ein wenig? Ich meine, es ist doch gar nichts weiter passiert...", wandte Su-Lin ein. "Ich will auch gar nicht warten, bis noch etwas passiert", knurrte ich grimmig. "Also, kommst du mit oder nicht?" "Nein!" erwiderte sie trotzig. "Ich sehe das gar nicht ein. Du siehst bloß Gespenster, Al. Schlaf dich erstmal aus. Morgen sehen wir uns ja im Büro." Es klickte. Sie hatte einfach aufgelegt. Ich wollte schon die Wahlwiederholung drücken, ließ es dann aber doch sein. Ich packte rasch ein paar Kleidungstücke in einen kleinen Schalenkoffer, dazu mein Notebook und die Maglite. Nachdem ich ein paar Minuten den Hinterhof beobachtet hatte und einigermaßen sicher was, daß sich dort niemand verborgen hielt, verließ ich das Haus durch die Kellertüre und gelangte durch ein paar Hausflure auf die Bauerstrasse. Mit dem Koffer in der rechten Hand war ich noch unbeholfener als sonst und mehr als einmal verfluchte ich lautlos den Gips. Das Licht in der Wohnung hatte ich brennen lassen. Am Kurfürstenplatz wartete ich am Taxistand, bis ein Fahrer nachrückte, der meinen Vorstellungen entsprach. Er trug eine Lederweste mit ärmellosem T-Shirt, aus dem oben das blonde Brusthaar quoll. Goldkettchen, weithin sichtbare Tätowierung am linken Arm, den er dekorativ auf das geöffnete Fenster gestützt hielt. Das Macho-Outfit wurde durch eine praktisch
undurchsichtigen Sonnenbrille und eine Bayern-MünchenIdioten-Kappe vervollständigt. Im Rückfenster baumelten ein weiteres Dutzend Fußballwimpel. Genau der richtige Typ. Ich nahm sein Taxi und ließ mich zu Su-Lins Wohnung in Nymphenburg fahren. Jetzt kam das Schwierigste. Irgendwie mußte ich Su-Lin da heraus holen, ohne daß mögliche Beobachter aufmerksam wurden. Dazu war es zu allererst notwendig, daß sie die Notwendigkeit dazu einsah. Ich konnte sie schlecht mit Gewalt mitnehmen. Schon gar nicht mit nur einem funktionierenden Arm. Ich ließ den Taxifahrer in der Parallelstrasse halten. Da, wo nach meiner Schätzung ungefähr die Rückseite von Su-Lins Haus liegen mußte. Dann bezahlte ich ihn und fragte leutselig: "Was kostet es, wenn Sie mit einem Fahrgast etwa eine halbe Stunde in der Stadt herumfahren?" "Mei", überlegte er, "so grob fünfunddreissig Mark, vielleicht. Warum?" "Es geht um einen Spaß, den wir uns für einen Kollegen ausgedacht haben. Der Strizzi trifft sich mit seiner G'spusi immer in dem Haus da drüben." Ich deutete zu Su-Lins Haus hinüber. "Im Büro wissen das alle, aber seine Frau ahnt von nichts. Wir haben ihm immer schon angedroht, daß seine Frau mal einen Detektiv hinter ihm herschicken wird. Aber er gibt immer großmächtig an und sagt, davor habe er keine Angst. Da haben wir anderen beschlossen, ihm mal so richtig aufzuziehen. Wir wollen sehen, ob er nicht nervös wird, wenn vor dem Haus plötzlich ein Taxi steht und er dann vielleicht denkt, es sei der Detektiv, den seine Frau hinter ihm herschickt." Die dunklen Brillengläser wandten sich langsam dem Haus und dann wieder mir zu. Ich fuhr hastig fort: "Deshalb möchten wir gerne, daß Sie jetzt dann da hinüberfahren und sich genau gegenüber von dem Haus hinstellen. Sie sollen
nichts weiter tun, als das Haus eine halbe Stunde lang zu beobachten. Dafür zahle ich Ihnen fünfzig Mark." Der Taxifahrer guckte mich durch seine Blinden-Brille an. Ich konnte nicht erkennen, ob er kapiert hatte und über den Preis nachdachte, oder ob die komplizierte Geschichte seine 500 grauen Zellen bereits in die Überlastung getrieben hatte. "Und was mach' ich, wenn der Typ herauskommt und mich anstänkert?" "Dann fahren Sie einfach weg, aber dazu wird es nicht kommen, weil ich und meine Kollegen uns unten im Hausflur verstecken und dort auf ihn warten werden. Da geh' ich jetzt nämlich auch hin", fügte ich rasch hinzu, um seiner nächsten Frage zuvorzukommen, warum ich denn nicht im Wagen sitzenbleiben und den Detektiv selber spielen würde. "Ich kann leider nicht im Wagen sitzenbleiben, weil dann könnte er mich ja erkennen und sofort kapieren, daß wir dahinter stecken." Ich zählte fünf Zehnmarkscheine auf die Rückenlehne. Der neugebackene Detektiv guckte auf das Geld, dann wieder zu Su-Lins Haus und wieder auf das Geld. Schließlich nickte er. "Is' gebongt. Soll ich auch mal aussteigen und zu den Fenstern hinaufgucken?" Nanu, ich hatte den Mann wohl unterschätzt. Der war ja geradezu kreativ. Kreativität soll man nicht unterdrücken. Je auffälliger sich der Typ verhielt, desto besser. Also nickte ich aufmunternd. "Sie könnten vielleicht sogar eine Zeitung lesen. In den Fernsehkrimis tun das Detektive auch dauernd." Ich schärfte ihm noch einmal die genaue Adresse ein und stieg aus. Der Weg über die Hinterhöfe war diesmal etwas mühsamer, weil ich mich hier nicht so gut auskannte. Zweimal mußte ich wieder umkehren, weil Mauern oder Zäune den Weg versperrten. Aber schließlich erreichte ich Su-Lins Haus und betrat es durch die glücklicherweise
unverschlossene Kellertüre. Ich versteckte den Koffer unter der Treppe und stieg in den zweiten Stock zu Su-Lins Appartment. Vor ihrer Wohnungstüre saß Mephisto, der schwarze Kater, und putzte sich. Als Su-Lin öffnete, schoß er zwischen ihren Beinen hindurch wie ein schwarzer Blitz in die Wohnung. "Al", sagte sie überrascht, als sie mich vor ihrer Türe stehen sah, und ließ mich herein. Zuerst wollte sie sich auf gar keine Diskussion einlassen. Als ich ihr aber von Helen berichtete, wurde sie still und hörte zu. Während ich noch sprach, spähte ich durch die herabgelassene Jalousie auf die Strasse. Mein Taxifahrer hatte sich richtig postiert. Er lehnte an seinem vorderen Kotflügel und tat so, als ob er in der Abendzeitung lesen würde. Alle paar Minuten musterte er auffällig Su-Lins Haus. "Komm mal vorsichtig ans Fenster", sagte ich zu Su-Lin, die immer noch unentschlossen war. "Siehst den Typ da drüben? Genau so einer steht auch vor meinem Haus." Su-Lin schluckte sichtbar, als sie meinen Dummy-Ganoven erblickte. "Ich bin über die Hinterhöfe gekommen. Und genauso sollten wir auch wieder verschwinden, bevor es zu spät ist", sagte ich drängend. Su-Lin wollte gerade etwas sagen, als sich auf der Strasse laute Stimmen erhoben. Ich huschte wieder zum Fenster. Ein dunkler BMW hatte neben dem Taxi gehalten und jemand, den ich von hier aus nicht erkennen konnte, sprach durch das herabgelassene Fenster mit dem Taxifahrer. Es gab eine kurze, heftige Auseinandersetzung, wobei wir nur die recht laute Stimme des Taxifahrers hören konnten. Er fuchtelte energisch mit seiner zusammengerollten AZ herum. Plötzlich aber beruhigte er sich, ging ohne ein weiteres Wort zu seinem Wagen und fuhr weg. Der andere Wagen beschleunigte rasch und verschwand ebenfalls. Er hatte getönte Scheiben und ein Rosenheimer Kennzeichen. Ich memorierte es in meinem Gedächtnis. "Was war das denn?" fragte Su-Lin
etwas blaß um die Nase. "Wachablösung", erklärte ich lakonisch, obwohl in meinem Gehirn auch die verschiedensten Hypothesen durcheinanderschossen. Polizei? Die richtigen Beschatter? Oder was ganz anderes? Vielleicht jemand, der dringend ein Taxi brauchte und ein gutes Trinkgeld versprach? Egal. Jedenfalls war Su-Lin jetzt ohne weitere Bedingungen bereit, sich ein paar Tage in meine Obhut zu begeben. Sie packte sich rasch das Nötigste zusammen, während ich ein Taxi in die Parallelstrasse bestellte. "Mephisto muß aber mit", sagte Su-Lin entschlossen. "Ich habe niemanden, der auf ihn aufpassen kann." Ich schaute skeptisch auf das pechschwarze Katzentier, das lässig auf einem ziemlich ramponierten, besticktem Kissen thronte und rhythmisch mit der Schwanzspitze zuckte. Der Kater starrte emotionslos zurück. "Er wird brav sein", versicherte Su-Lin, während wir versuchten, Mephisto in der Küche einzukreisen. "Er ist das Reisen gewohnt." Mephisto schaffte es noch, seine ausdrückliche Mißbilligung an der ganzen Aktion in Form zweier langer Kratzer auf meinem rechten Handrücken zu verewigen. Dann hatte ihn Su-Lin am Nackenfell und stopfte ihn vorsichtig in den kitten carrier. Wir verließen ungehindert und - soweit ich feststellen konnte - auch unbeobachtet Su-Lins Wohnung und ließen uns in die Innenstadt fahren.
6 Su-Lin war schweigsam. Das war mir nur recht; ich hatte ebenfalls keine besondere Lust auf small talk. In meinem Kopf kaleidoskopte es heftig. Aus dem kitten carrier drangen bisweilen bösartige Fauchgeräusche. Ich lutschte an meinen beiden Kratzern und betete, daß der Deckel des kitten carrier halten würde "Kennen Sie das IN Cafe?", fragte ich den Fahrer. Der nickte wortlos und bog an der richtigen Kreuzung ab. Das IN Cafe hieß nicht etwa deshalb so, weil es gerade 'in' war. Der Begriff 'in' war sowieso schon wieder 'out'. Inzwischen redeten die Kids nur noch von 'hip', allenfalls konnte ein Lokal 'cool' sein. 'IN' bedeutete in diesem Falle 'Internet'. Im IN Cafe hatte jeder Tisch ein X Terminal, mit dem eine Verbindung zum Internet möglich war. Naja, fast jeder. Sagen wir, immerhin 20 von 50. Ich kam nicht sehr häufig hierher, da mir das Publikum nicht besonders gefiel. Es handelte sich größtenteils um 'newbankers', die sich mit ihrem Notebook Computer abschleppten und sich damit wer weiß wie 'hip' vorkamen. In Wirklichkeit traf man hier selten jemanden aus der richtigen Hackerszene. Echte Hacker gehen überhaupt nicht ins Cafe. Sie leben von Nescafe und Call-a-Pizza und verlassen ihr Terminal nur im Notfall oder um aufs Klo zu gehen. Daher rechnete ich auch nicht damit, hier Bekannte zu treffen. Ein offensichtlich selektiv taubstummer oder aber sehr unhöflicher Kellner wollte uns an einen Tisch direkt am Eingang führen. Wir lehnten ab und nahmen einen Tisch im hinteren Bereich - das Lokal war nur halb gefüllt. Wir verlangten eine Benutzerkennung für das lächerlich kleine X Terminal an unserem Tisch und loggten uns ein. Als erstes erschien natürlich die Speisekarte auf dem Display und verlangte freundlich unsere Bestellung. Wir klickten zweimal 'Cappuccino' an und schickten die
Bestellung ab. Su-Lin blickte sich nervös um und beklagte sich halblaut, daß ich sie ohne Vorwarnung hierhergeschleppt habe, ohne daß sie Gelegenheit gehabt hätte sich aufzuhübschen. Außerdem komme sie sich mit den Koffern blöd vor. Also brachte ich die Koffer zur Theke und stellte sie in einem Hinterzimmer ab. Ich mußte wegen meines Gipsarmes zweimal gehen. Der taubstumme Kellner war offensichtlich auch noch selektiv erblindet, denn er zuckte nicht mal mit der Wimper, anstatt mir zu helfen. Su-Lin verschwand inzwischen, um ihr Outfit auf ein der Umgebung angemessenes Niveau zu trimmen. Ich loggte mich bei meiner Maschine bei der SecureData ein und schaute nach mail. Das meiste war wie üblich Schrott. Aber eine mail war von Viktor und eine von Abel Jurafsky. Die mail von Viktor war ziemlich lang. Su-Lin kam zurück. Sie hatte ihren Zopf mit einem komplizierten schwarzen Kamm hochgesteckt und sich etwas fein gemacht. Ich drehte das Terminal so weit, daß sie bequem mitlesen konnte und rief Viktors mail auf den Bildschirm. Er schrieb: Hi Al! Na, gut nach Hause gekommen? Wir haben uns krank gelacht, wie die Kiste hochgegangen ist :-D :-D Die beiden Typen, die drin sassen, sind dann ziemlich schnell Richtung Ostbahnhof verschwunden. Sie sahen recht auffaellig aus. Der eine war klein und schmächtig und trug eine dunkle Brille. Der andere war ein Schrank und bewegte sich wie ein Baer. Beide nicht besonders alt, schaetze ich, Haarfarbe konnten wir nicht erkennen, Kleidung dunkel, aber nichts besonderes. Irgendjemand hat noch in der Nacht den Wagen abgeholt. Wer es war, wissen wir aber nicht (man muss ja auch mal schlafen :-). Wie versprochen, habe ich mir die Autonummer notiert: M-KI 9878 Ausserdem konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und hab noch ein bisschen 'gestoebert': Der Wagen ist auf eine internationale Autovermietung in Muenchen
zugelassen. Gluecklicherweise haben die auch einen Zentralcomputer. Nach einigem Suchen habe ich den Vorgang gefunden: Der Wagen wurde schon am Mittwoch dieser Woche fuer 10 Tage gemietet, und zwar von einer Frau: Johanna van Dyken, Holländerin (zumindest ist eine Passnummer mit hollaendischer Nationalitaet im Rechner eingetragen), keine Adresse, bezahlt mit American Express Card Nummer 2342 9783 8783 0021 Im Moment (Fr morgen 9:22) ist der Wagen immer noch als vermietet eingetragen. Ich habe leider keinen Zugang zu American Express geschafft, aber in USA habe ich einen Rechner gefunden, der einen mehr oder weniger aktuellen Spiegel der Validierungsdaten von allen wichtigen Creditkarten enthaelt. Leider war da nicht viel eingetragen. Immerhin: die Karte ist gedeckt und der Name stimmt ueberein. Abrechnende Bank ist uebrigens die Holland PKO Bank Amsterdam (BLZ 307 700 10). Die Karte ist gedeckt bis zum Betrag von $ 15.000,- woechentlich. Muss also ein dickes Konto dahinterstehen. Wenn ich es noch schaffe, in American Express direkt reinzukommen, kriege ich vielleicht noch die Adresse raus. ttfn, Viktor Ich speicherte Viktors mail ab und sah mir die von Abel an. Er schrieb nur einen einzigen Satz: "Wenn der Feind unsichtbar zu sein scheint, liegt dies manchmal nur daran, daß man ihn noch weit vor der Stadt waehnt." (Altes Sprichwort der Taoisten) Typisch Abel. Ich zuckte die Achseln und löschte die mail. Ich stellte mit dem Befehl finger fest, daß Viktor noch an seinem Rechner eingeloggt war und versuchte ihn anzutalken. Das window teilte sich in zwei Bereiche und nach ein paar Sekunden erschien in der oberen Hälfte: Hi Al! Was gibts? Ich tippte im Telegrammstil einen kurzen Bericht, was alles passiert war, seit wir telefoniert hatten. Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: Sonja ist gerade gekommen; sie liest
auch mit. Das mit Helen ist schrecklich. Meinst du, das waren die beiden Typen, die wir hochgenommen haben? Ich schrieb zurück, daß wir es nicht wüßten. Dann fragte ich, ob wir für ein paar Tage bei ihnen unterkommen könnten. Ich hatte keine Lust, in ein Hotel zu ziehen. Dort mußte man sich anmelden und eventuell auch ausweisen, und wer wußte, wie intensiv sich unsere Verfolger bemühen würden, uns wieder aufzuspüren. Al, hier ist Sonja. Ihr koenntet doch in Viktors alte Wohnung in der Ungererstrasse ziehen. Dort ist fast alles noch vorhanden, was ihr braucht. Bettzeug usw. kann ich euch heute abend vorbeibringen. Dort findet euch garantiert niemand. Ihr haettet sogar Telefon dort. Ich schaute fragend zu Su-Lin hinüber. Sie nickte, wenn auch nicht sehr begeistert. Ich tippte zurück, daß wir ihr Angebot dankbar annehmen würden und wann wir uns dort treffen sollten. Nach einigem Hin und Her einigten wir uns auf halb sieben, damit Sonja noch Zeit hatte, ein paar Decken und andere Utensilien für uns zu besorgen. Dann trennten wir die Verbindung. Su-Lin schlürfte nachdenklich ihren Cappuccino und streichelte Mephisto, den sie todesmutig aus dem kitten carier befreit und auf ihren Schoß gehoben hatte. Mephisto schnupperte mißtrauisch an der Maus und blickte sich neugierig um. Ich machte Su-Lin ein Kompliment, wie sie es fertigbrächte, sogar während ihrer eigenen Entführung so bildhübsch auszusehen. Su-Lin lächelte schwach. Immerhin, ein positives Zeichen. Der warme Cappuccino belebte uns etwas und wir debatierten etwa eine Stunde lang angeregt darüber, was wir jetzt machen sollten. Allerdings ohne Ergebnis. Schließlich sagte Su-Lin kategorisch: "Egal. Ich werde auf jeden Fall zu allererst diese blöden Daten analysieren. Vielleicht hilft uns weiter, wenn wir endlich wissen, was daran so gefährlich ist."
Ich nickte zustimmend, dachte aber, daß es ganz schön schwierig sein würde, etwas zu finden, von dem wir beide keine Ahnung hatten, wie es aussah. Ich dachte flüchtig an Reinhard. Vielleicht wäre er bereit, uns mal eine Stunde seiner kostbaren Zeit zu widmen. Gegen sechs Uhr ließen wir uns von einem mürrischen, jungen Taxifahrer mit intellektuellem touch in die Ungererstrasse fahren. Horden von weißrot gekleideten Fußballfans zogen durch die Leopoldstrasse und machten Randale. Viktor stand schon vor dem Haus auf der Strasse und schaute nach uns aus. Das Appartment war nicht gerade das, was man ein kuscheliges Liebesnest nennen würde. Eher eine reichlich ungemütliche Hackerbude. Sonja war auch schon da und versuchte, den gröbsten Verhau in die Ecken zurückzudrängen. Su-Lin begrüßte sie scheu, aber Sonja verscheuchte jede Zurückhaltung sofort mit ihrer angeborenen Herzlichkeit. Fröhlich plaudernd zog sie SuLin hinter sich her und zeigte ihr das kleine Appartment. Es bestand nur aus zwei Zimmern und einer winzigen Küche. Im größeren Zimmer hatte Viktor wohl seine Computer stehen gehabt. Jetzt waren nur noch diverse Leitungen und Installationen an der Wand zu sehen. Ein häßliches Sofa, ein sehr großer, massiver Tisch und drei Stühle vervollständigten die Einrichtung. Im zweiten Zimmer befand sich nichts außer einem großem fleckigen Futon und massenweise Bücher und Zeitschriften. Viktor stand breitbeinig im größeren Zimmer, die Hände in den Hosentaschen und grinste. "Kaum zu glauben, daß ich bis vor kurzem hier gehaust habe", meinte er kopfschüttelnd und stieß mit dem Fuß gegen einen Karton voller Computerschrott. "Jetzt könnt' ich's hier nicht mehr aushalten." Ich packte den Laptop aus und stellte ihn auf den Tisch. "Kann ich deinen Telefonanschluß benutzen?" fragte ich
und betrachtete die moderne Steckdose an der Wand. "Ab morgen", lächelte Viktor. "Ich habe mir gleich gedacht, daß du online gehen willst. Die Telecom hat zugesagt, bis morgen freizuschalten. Na, mal sehen. Hey, weißt du eigentlich, daß das da mal das Non-Plus-Ultra war? Ich war einige Zeit lang der einzige Privathacker in München, der sich einen ISDN-Anschluß leisten konnte." Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. "Ab morgen also", fuhr er fort. "Du kannst mir die Gebühren dann irgendwann mal ersetzen. Die Anschlüsse sollten auch für dein Modem passen. Wenn nicht, findest da hinten irgendwo ...", er deutete vage auf zwei drei Kartone, die mit Computerteilen und Kabeln vollgestopft hinter dem Sofa lungerten, "... bestimmt die passenden Adapterkabel." Ich versprach dies zu tun und bedankte mich für seine Weitsicht. Sonja hatte sogar Tiefkühlkost mitgebracht, so daß wir vorerst gar nicht aus dem Haus gehen mußten. Sonja und Viktor blieben zum Abendessen, welches Su-Lin und ich gemeinsam in der winzigen Küche zusammenzauberten, und wir klöhnten bis spät in die Nacht. Su- Lin taute merklich auf und war fast wieder so fröhlich und unbeschwert wie sonst. Sie erzählte uns Geschichten von ihrem Vater - eine schier unerschöpfliche Quelle haarsträubendster Begebenheiten. Su-Lins Mutter war sehr früh, noch in Vietnam verstorben. Su-Lin hatte sie nicht mehr gekannt. Ihr Vater, ein Abkömmling einer reichen Handelsfamilie in Saigon, war kurz nach dem Vietnamkrieg nach Europa gekommen. Er hatte sich zunächst in London niedergelassen, war aber dann schon bald nach München übergesiedelt. Angeblich, weil ihm das verklemmte Wesen der Londoner Bevölkerung auf die Nerven gegangen sei. Su-Lin war damals erst acht Jahre. In München hatte ihr Vater in fernöstliche Importwaren investiert, und der Markt boomte - besonders während der
Flower Power Bewegung - dermaßen, daß er in kurzer Zeit sein Vermögen vervielfachen konnte. Gleichzeitig entwickelte er sich zum geizigsten Menschen unter dem weißblauen Münchner Himmel. Die Anekdoten, die seine übertriebenen Sparsamkeit zum Thema hatten, würden ein ganzes Buch füllen. Zum Beispiel hatte in seinem Kontor jeder Angestellte einmal täglich Anspruch auf eine Tasse Tee. Damit sich die Kosten dieser in einer schwachen Stunde eingeführten Sozialleistung nicht ins Uferlose entwickelten, besorgte er den Tee eigenhändig beim Großhändler. Nicht nur die billigste Marke - das verstand sich von selbst - sondern auch noch in Großmarktpackungen zu zehn Kilogramm. Natürlich verlor der Tee nach etwa einem Jahr jegliches Aroma und schmeckte selbst dem abgebrütesten Gaumen nur noch nach aufgegossenem Heu. Su-Lins Vater jedoch bestand darauf, daß der Tee zu Ende verwendet würde, was zur Folge hatte, daß schon bald nur noch er selber mit trotziger Miene seinen Tee trank, der schon seit Jahren in seinem Kontor vor sich hin gammelte. Su-Lins Vater hatte in München ein altes Bürgerhaus erworben, in dem sich neben seiner eigenen Wohnung und dem Handelskontor auch noch einige Mietwohnungen befanden. Nachdem sich die Mieter im obersten Geschoß jahrelang über das undichte Dach beschwert hatten, welches noch aus der Jahrhundertwende stammte, ließ er schweren Herzens das gesamte Dach neu decken. Als ihm der Handwerker die Rechnung präsentierte, versuchte er zunächst den Preis zu drücken, wie er es bei seinen Großhandelsgeschäften gewohnt war. Da kam er aber bei einem gestandenen Münchner Handwerker an die falsche Adresse. Der schrie Zeter und Mordio und drohte gleich mit dem Kadi. Su-Lins Vater überlegte ganz richtig, daß er vor Gericht den besseren Stand haben würde, wenn er nachweisen konnte,
daß der Handwerker schlechte Arbeit geleistet hatte. Also stieg er eines Tages gegen fünf Uhr nachmittags, ohne jemanden von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen, durch eine Dachluke auf das scheinbar flache Dach. Wer schon einmal auf ein Hausdach geklettert ist, weiß, wie sehr sich der Mensch in der Beurteilung von Steigungen irrt. Das Dach sah nur von unten so flach aus. Erst als Su-Lins Vater - immerhin schon um die sechzig Jahre alt - rittlings auf dem First saß, bemerkte er, daß es leichter war hinaufals wieder hinunterzuklettern. Nach einer halben Stunde Zauderns gab er seinen Stolz auf und begann um Hilfe zu rufen. Es hörte ihn aber niemand, und zudem kam die Dämmerung. Erst gegen acht Uhr begann sich die alte vietnamesische Haushälterin, die er aus seiner Heimat mit nach Deutschland gebracht hatte und die bei Su-Lin die Mutterrolle versah, begann sich diese also Gedanken zu machen, warum ihr Herr so lange auf dem Speicher blieb. Gegen zehn Uhr war allen inzwischen alarmierten Hausbewohnern klar, daß sich der Hausherr nicht aus eigener Kraft würde retten können. Und niemand verspürte große Lust, bei Dunkelheit hinauf auf ein mittlererweile durch den Nachttau feucht-glitschiges Dach, zwanzig Meter über der Strasse, zu steigen und den ohnehin wegen seines Geizes nicht sehr beliebten Hausherrn zu retten. Also alarmierte man die Feuerwehr. Die rückte sofort mit ihrer größten Drehleiter an und schwenkte die Gondel aufs Dach hinauf. Zuerst klappte allerdings die Koordination zwischen Feuerwehrleitung und Leiterführer nicht so ganz optimal, was dazu führte, daß eines der Fenster im obersten Stockwerk eingedrückt und die funkelnagelneue Regenrinne zur Strasse hin eine ordentliche Delle bekam. Dann gab es noch eine weitere Komplikation, da die beiden Feuerwehrmänner in der Gondel irrtümlich davon ausgegangen waren, daß es sich um ein verirrtes Kätzchen
handelte, und nun zu ihrem Erstaunen ein ausgewachsenes Mannsbild einsam in der Dunkelheit auf dem First sitzend vorfanden. Für einen dritten Mann war aber in der Gondel kein Platz. Zu guter Letzt, gegen Mitternacht, wurde Su-Lins Vater unversehrt, aber durchgefroren auf dem sicheren Boden abgesetzt. In den nächsten Tagen bezahlte er nicht nur zähneknirschend die ausstehende Rechnung für das Dachdecken, weil sich der Handwerker andernfalls geweigert hätte, auch nur einen Handschlag zur Beseitigung der neu entstandenen Schäden zu tun, sondern mußte auch noch für den Feuerwehreinsatz und die Reparaturen der dabei verursachten Schäden berappen. Mit dreiundsechzig Jahren verkaufte Su-Lins Vater sein Handelshaus und ging in den Ruhestand. Er ließ sich unverzüglich von einem Spezialisten der Geriatrie untersuchen und ein Gutachten anfertigen, aus welchem hervorging, wie lange er, ausgehend von seinem derzeitigen - übrigens ausgezeichneten - Gesundheitszustand, voraussichtlich noch zu leben habe. Das Ergebnis teilte er jedoch niemandem mit, sondern schloß sich damit für drei Tage in sein Zimmer ein. Danach erschien er wieder mit einer umfangreichen Bestellliste, die er an ein Großhandelshaus weitergab. Alsbald wurden in sein Haus geliefert: 18 Strohhüte, 10 Hosen, 22 Hemden, alle im gleichen Schnitt und gleicher Farbe, 18 Garnituren Unterwäsche, 6 Paar gleiche Schuhe, 3 Mäntel, einen Schirm und 36 Paar Strümpfe. Er packte dies alles in seinen uralten Mercedes, dazu mindestens 15 Kilo alte Papiere und Unterlagen. Daraufhin erklärte er kurz der versammelten Hausgemeinschaft, daß er nicht beabsichtige, in den ihm verbleibenden Jahren seiner Umgebung als tatteriger Greis auf den Wecker zu fallen, so wie er als Kind in Vietnam die Alten erlebt habe. Sprachs, stieg ins Auto und wollte
losfahren. Leider hatte er, um Benzin zu sparen, den Mercedes schon seit über einem Jahr nicht mehr benutzt. Beim Versuch, den Wagen anzulassen, kam es zu drei gewaltigen Fehlzündungen, von denen die letzte und heftigste den ohnehin schon mehr als altersschwachen, weil nie erneuerten Auspuff vom Motorblock sprengte. Zu seinem großen Ärger mußte Su-Lins Vater eine Woche warten, bis sein Wagen wieder in einigermaßen benutzbaren Zustand war. In dieser Woche versuchte alle Welt, ihn von seinem irrwitzigen Vorhaben abzubringen, aber er stellte sich stur und antwortete einfach nicht mehr. Sechs Tage später verschwand er tatsächlich in einer Nacht- und Nebelaktion und bis jetzt hat außer seinem Vertrauensanwalt, der auch die Verwaltung seines Vermögens innehat, niemand mehr ein Lebenszeichen von ihm vernommen. Su-Lin schlief diese Nacht friedlich zusammengerollt neben mir auf dem harten Futon. Ich lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen und dachte wehmütig an die schönen Reitstunden, die wir vor gar nicht langer Zeit noch zusammen verbracht hatten. Daran war jetzt natürlich gar nicht mehr zu denken. Su-Lin redete sowieso fast nur noch von ihrem Phil. Ich hatte ihr versprechen müssen, daß sie sich mit Phil treffen könne, obwohl mir bei der Sache nicht ganz wohl zumute war. Mir träumte. Ich lag auf einer Bahre, mit dicken roten Stoffen verhüllt und konnte mich nicht rühren. Ich blickte nach oben, wo ein riesiger Kessel oder Tank über mir schwebte und sich langsam neigte. Über den Rand purzelten Ringe, Ketten Armreife, alles aus massivem Gold. Die Schmuckstücke prasselten auf mich und die Bahre und erzeugten ein kreischendes Geräusch. Der Strom von Gold schwoll langsam an, weil sich der Kessel immer mehr neigte. Der reiche Fall aus Gold und Geschmeiden dröhnte mir schmerzhaft in den Ohren und drohte mich ganz zu
bedecken, zu ersticken. Schweißgebadet erwachte ich. Das Geräusch hielt jedoch an. Fünf Sekunden lang lauschte ich verwirrt auf das Kreischen und Rauschen. Dann begriff ich: es waren Vögel, irgendwo draußen vor dem geöffneten Fenster. Ich stand vorsichtig auf, um SuLin nicht zu wecken. Wir hatten die Balkontüre angelehnt gelassen. Ich trat auf den Balkon. Der Betonboden war unangenehm kalt. Es war noch stockdunkel, aber das Licht der Stadt erzeugte einen schwachen Widerschein am Himmel. Unmittelbar vor dem Balkon befand sich ein großer Laubbaum. Aus diesem drang das Kreischen, Zwitschern und Flattern von unzähligen gefiederten Geschöpfen. Ich lauschte fasziniert. "Wasn los", murmelte Su-Lin hinter mir, "was isn das?" Sie hatte sich in die Decke gewickelt und stand blinzelnd hinter mir. "Vögel", sagte ich und legte meine Arme um sie. Su-Lin schmiegte sich an mich. "Vögel? Was machen die da? Was sind das für Vögel?" "Ich weiß nicht. Stare, glaube ich", erteilte ich gehorsam Auskunft. "Ich dachte, die leben in Kästen", murmelte SuLin, die Augen schon wieder geschlossen. Ich lächelte. Dann hob ich sie hoch und trug sie zurück ins Bett. Su- Lin schlief schon wieder, als ich sie zudeckte. Ich lauschte noch lange dem Starengetöse und dachte an Helen. Fast den ganzen nächsten Tag verbrachten wir am Rechner. Wir analysierten die Interbankdaten systematisch nach dem Ausschlußverfahren. Das heißt, wir gingen die Dateien mehrfach der Reihe nach durch und entschieden nach immer schärferen Kriterien, welche sich überhaupt lohnten, genauer betrachtet zu werden. Z.B. sonderten wir gewisse Standarddateien, wie Lohnbuchhaltung etc. gleich aus. Gegen Mittag, während ich uns in der Küche ein paar Sandwiches zubereitete, rief Su-Lin plötzlich: "Schau mal.
Ich hab' hier die Personaldaten des Managements gefunden." Ich ging hinüber ins Zimmer und warf einen Blick auf den Bildschirm. "Wenn du Kohler und Pauli findest, dann druck sie ruhig aus", sagte ich. Su-Lin nickte und bald darauf begann der Drucker zu zirpen. "Weißt du, was komisch ist?" fragte sie kurz darauf, den Blick unverwandt auf das Display gerichtet. "Kohler und Pauli scheinen immer in den selbem Firmen gearbeitet haben." Ich nahm die Ausdrucke zur Hand und überflog die Lebensläufe der beiden. Es stimmte. Kohler und Pauli waren erst seit knapp zwei Jahren bei der Interbank. Pauli hatte drei Monate nach Kohler einen Arbeitsvertrag bei der Interbank unterschrieben. Beide gaben als vorherigen Arbeitgeber die Frankfurter Niederlassung der amerikanischen Constitution Bank an. Und davor waren beide längere Zeit bei der Germania Bank beschäftigt. "Schaut mir ganz wie eine alte Seilschaft aus", murmelte ich. "Sieh mal: immer hat zuerst Kohler die Firma gewechselt, und Pauli ein paar Monate danach. Sieht so aus, als ob Kohler seinen Kollegen immer in seine neue Firma nachgeholt hatte." Su-Lin nickte. "Soll ich es abspeichern?" "Mhm. Sind wir dann mit dem Vorsortieren durch?" Es blieben immerhin noch fast 1.4 MB übrig. Dann begann der mühsame Teil. Die Daten mußten von Hand durchgesehen werden, da wir ja nicht wußten, wonach wir suchen sollten. Wir wechselten uns ab und machten uns Notizen, wenn etwas interessant erschien. Gegen Abend hatten wir den Datenberg und uns selber geschafft. "Das war's", stöhnte Su-Lin und schloß die letzte Datei. Ich machte uns zwei Drinks und wir nippten erschöpft daran, während wir die magere Ausbeute betrachteten. Insgesamt nur sechs Teile schienen uns nicht ganz astrein. Alle sechs
Kandidaten betrafen Kundengeschäfte. Allerdings fehlte uns das Hintergrundwissen, um damit etwas anfangen zu können. Draußen war es schon dämmrig, als ich mich aufmachte, um uns etwas zum Abendessen zu besorgen. Instinktiv blickte ich mich mehrmals um, während ich die Ungererstrasse entlang zum nächsten Supermarkt ging. Su-Lin hatte darauf bestanden, daß Phil sie heute treffen durfte. Ich hatte selber mit ihm telefoniert und ihm klargemacht, daß er eventuell verfolgt werden würde. Er wollte um halb sieben hier sein. Als ich vom Einkaufen zurückkehrte, war es bereits Viertel vor sieben. Su-Lin war schon reichlich nervös und hinterließ in der ganzen Wohnung schwarze Seidenfäden, die sie sich unablässig aus ihrem Bolerojäckchen zupfte. Mephisto, der das alte Sofa zu seinem Stammplatz erkoren hatte, verfolgte mit halb geschlossenen Augen ihre unruhige Wanderung durch die Zimmer. Ich bereitete inzwischen Kalbssteaks mit ganzen Champignons in Sojasauce und Mangochutney. Dazu Backbananen und Süßkartoffeln. Es war mir sogar gelungen, einen einigermaßen guten Chardoney aufzutreiben, wenn auch keinen Mondavi. Um halb acht läutete es endlich. Su-Lin stürzte zur Türe, wo ich sie gerade noch abfangen konnte. Ich fragte durch die geschlossenen Türe, wer da sei. Phils fröhliche Stimme meldete sich und sagte den vereinbarten Satz, den wir für den Fall, daß alles in Ordnung sei, ausgemacht hatten. Erst dann ließ ich Su-Lin ihrem Götterknaben öffnen. Phil befreite sich mühsam von Su-Lins stürmischem Empfang und grinste mich verlegen an. "Was hättest du gemacht, wenn ich jetzt den anderen Satz gesagt hätte?" erkundigte er sich bei mir. "Ich hätte mir Su-Lin geschnappt und ab über den Balkon", sagte ich ernsthaft. Phil lachte unsicher. "Aber jetzt mal Spaß beiseite. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, daß sich jemand an mein Auto gehängt hat.
Deshalb habe ich den Wagen am Harras stehen lassen und bin mit der U-Bahn weiter. Ich bin schon bei der Station Giselastrasse ausgestiegen und habe mich solange in Schwabing herumgetrieben, bis ich sicher war, daß mir niemand gefolgt ist." "Dann hoffen wir mal, daß deine Taktik erfolgreich war", kommentierte ich trocken. Ich betete zu den Göttern, daß er sich getäuscht hatte. Ich mochte Phil sehr gern - sein sonniges Gemüt war einfach zu ansteckend. Aber erfahrene Beschatter in die Irre führen, das traute ich ihm doch nicht zu. Phils gute Laune wirkte ansteckend und verscheuchte unsere depressive Stimmung. Su-Lin konnte kaum die Finger von ihm lassen; sogar zwischen den Gängen hielt sie unter dem Tisch seine Hand fest. Zumindest nahm ich an, daß sie seine Hand hielt. Ich hatte keine Lust, es nachzuprüfen. Nach dem Abendessen verzogen sich die beiden diskret in das hintere Zimmer und ich klemmte mich ans Telefon. Reinhard war ausnahmsweise mal zuhause. Ich schilderte ihm die Situation und bat ihn um seine Hilfe. CONTINUE "Wir haben zwar ein paar Unstimmigkeiten entdeckt, wissen jetzt aber nicht, wie ernst die eventuell sind. Könntest du mal kurz vorbeikommen?" "Gleich?" fragte er ungefähr so begeistert, wie wenn ich ihm eine Steuernachzahlung angekündigt hätte. "Warum nicht?" "Na, schön. Dafür schuldest du mir aber mindestens eine Flasche Spezielles", antwortete er seufzend und ließ sich den Weg zu Viktors Appartment beschreiben. Eine Flasche 'Spezielles' war die unter uns übliche Währungseinheit, wenn es um den Ausgleich von Gefälligkeiten ging. Es konnte alles Mögliche sein, mußte aber was Besonderes, eben etwas 'Spezielles' darstellen. Ich setzte mich wieder an den Laptop und druckte die fraglichen Dateien aus. In das leise Sirren des Tintenstrahldruckers mischten sich die
ersten lieblichen Geräusche aus dem Nachbarzimmer, die anzeigten, daß sich die beiden nach einem Tag schon sehr vermißt hatten. Reinhard klingelte nach einer Rekordzeit von nur fünfzehn Minuten an der Türe. Ich öffnete, wieder mit der Maglite in der rechten Hand. "Ho", rief Reinhard überrascht. "Ich bin es wirklich! Kein Grund, mir den Schädel einzuschlagen!" Er sah sich in der Wohnung um, wie ein Paradiesvogel, der aus Versehen in einen Hühnerstall geraten war. Er trug eine makellos weiße Samtjacke mit bernsteinfarbenen Hemd und Halstuch. Dazu elegant geschnittene Hosen aus hellbraunem, weichem Leder. Sein kurzgeschnittenes Haar glänzte wie sein schwarzer Schnurrbart. Reinhard war schwul und machte seit circa sechs Jahren auch keinen Hehl mehr daraus. "Wie bist du denn an diese Bruchbude gekommen?" fragte er geringschätzig. Ich mußte lächeln. Reinhard konnte gut spotten. Er lebte in einem ererbten Stadthaus aus der Jahrhundertwende. Fast schon ein Palast, mit der entsprechenden Einrichtung natürlich. Das Dachgeschoß hatte er sich - teilweise mit Zuschüssen aus der Stadtkasse - zu einem supermodernen Studio ausbauen lassen. Sein Prunkstück war ein riesiges Badezimmer mit Panoramablick über die Münchner Innenstadt. Die Glaskuppel über dem Hot Tub ließ sich elektrisch öffnen, so daß man zur Winterzeit im dampfend heißen Wasser in der eiskalten Luft hoch über den Dächern der Münchner Altstadt thronte. Oder im Sommer bei Föhn den Blick auf die Berge genoß. Reinhard bezeichnete sich selbst als 'Loutrophilen', als Badeliebhaber. Ich klärte ihn kurz über die Hintergründe auf und fragte nach Neuigkeiten in Sachen Interbank. Er sah mich nachdenklich an. "Wenn diese Geschichte mit Helen und die Autobombe etwas mit der Interbank zu tun haben,
steckst du ganz schön tief in der Sch.....", sagte er, "und ich bin ein Idiot, daß ich überhaupt hier sitze." Ich nickte zustimmend und goß ihm ein Glas Wein ein. "Du kannst ja wieder gehen", meinte ich harmlos. "Allerdings erfährst du dann wahrscheinlich niemals, was die Burschen so rabiat gemacht hat." Reinhard lachte. "Immer noch die gleichen Psychotricks. Mit denen hast du schon deinen armen HeteroKlassenkameraden immer die Mädels ausgespannt." In diesem Moment drang wieder, leise zwar, aber unmißverständlich, Su- Lins lieblicher Gesang aus dem Nachbarzimmer. Reinhard hob fragend die Augenbrauen. Ich deutete auf Mephisto, der, die Pfoten untergeschlagen, auf dem Sofa saß und Reinhard distanziert betrachtete. "Rollig", sagte ich und hoffte, daß Mephisto mir diesen Spaß verzeihen würde. "Nebenan sitzt der zugehörige Kater und leidet." "Aha, so ...", meinte Reinhard zweifelnd. "Komisch, das klingt fast wie ..." "Katzen können unglaublich menschliche Töne hervorbringen. Vor allem verliebte Kater", ergänzte ich. "Soso", sagte Reinhard mißtrauisch. "Ich wußte gar nicht, daß du zwei Katzenviecher hast. Naja, ist ja auch egal. Schauen wir uns mal deine Dateien an. Ich habe ja auch nicht viel Zeit. Muß um halb elf noch im Perseus sein ..." Wir gingen gemeinsam die Ausdrucke durch, die Su-Lin und ich heute produziert hatten. Reinhard brauchte dazu nicht mal eine halbe Stunde. "Alles Mumpitz!" resümierte er, nachdem er das letzte Blatt aus der Hand gelegt hatte. "Peanuts, lächerliche Dingelchen. Wegen sowas lockst du keinen Börsenfuchs aus seinem Bau. Es muß einen anderen Grund haben, daß sie hinter dir her sind." Ich seufzte und massierte mir die Finger der linken Hand. "Das ist alles, was wir haben", wandte ich ein. "Und sie
wissen, was wir haben, weil ich dafür gesorgt habe, daß sie problemlos eine Kopie in die Finger bekommen." Ich erzählte Reinhard von den vielen Bändern, die ich angefertigt und an die verschiedenen Boten weitergegeben hatte. "Mindestens zwei davon sind abgeholt worden. Ich habe heute herumtelefoniert. Von wem, kannst du dir denken." Reinhard zuckte die Achseln. "Nun, und? Vielleicht wissen sie ja jetzt auch, daß sie wegen eines falschen Alarms einen Menschen umgebracht haben. Macht das die Sache besser? Du wirst jetzt so oder so nicht ruhen, bis du herausgefunden hast, wer dafür verantwortlich ist. Da sie sich das denken können, werden sie weiterhin versuchen dich ruhigzustellen. Was ist eigentlich aus dem Treffen geworden, daß dir diese Joan vorgeschlagen hatte?" "Ich bin einfach nicht hingegangen." Reinhard nickte zustimmend. "War bestimmt besser so", sagte er trocken. "Ich glaube nicht, daß du heil zurückgekommen wärst." Wir guckten beide nachdenklich in unsere Weingläser. "Sagt dir der Name 'Sirville' etwas?" fragte ich unvermittelt. Reinhard blickt auf und sah mich scharf an. "Wieso... na egal. Der einzige Sirville, den ich kenne, ist der Vorstandssprecher der Germania Bank, beziehungsweise er war es." "Was ist er jetzt?" fragte ich. "Sag mal, lebst du hinter dem Mond, oder was? Arthur Sirville wurde bei einem Bombenattentat 1988 von den 'Roten Zellen' ermordet." Natürlich. Jetzt fiel mir wieder ein, woher ich den Namen kannte. Die Sache hatte damals viel Wirbel gemacht, weil die schon fast totgeglaubten 'Roten Zellen', kurz RZ, so ganz unerwartet einen erfolgreichen Anschlag inszeniert hatten. "Sonst kennst du niemanden mit diesem Namen?" fragte ich. Reinhard nahm einen Schluck und schüttelte
langsam den Kopf. Ich stand auf und ging zum Fenster. Su-Lin lieblicher Gesang aus dem Nachbarzimmer war schon lange verstummt. Die Stare sammelten sich schon wieder in der Akazie vor dem Fenster. "Das war damals eine ziemlich komische Sache", meinte Reinhard hiner meinem Rücken. "Das mit Sirville, meine ich." "Wieso?" "Naja, Arthur Sirville hat sich Ende der achziger Jahre in bestimmten Bankerkreisen ziemlich unbeliebt gemacht. Damals wurde viel über das Schuldenproblem der Dritten Welt diskutiert. Sirville war einer der wenigen, die sich für einen generellen Schuldenerlaß eingesetzt hatten. Doch komisch, daß so jemand ausgerechnet von Linksradikalen um die Ecke gebracht wurde, nicht?" Ich lehnte mich mit dem Rücken ans Fenster und sah Reinhard fragend an. Er grinste verschmitzt. "Natürlich", fuhr er fort, "hat Sirville das nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit propagiert. In dem Kredit hingen außer den meisten deutschen Großbanken auch einige amerikanische Konsortien mit drin. Hier in Deutschlang gehen die Banken dabei kein so großes Risiko ein, weil per Gesetz ein Betrag in der Höhe des Darlehens steuerfrei auf Eis gelegt werden muß. Ein Schuldenerlaß hätte der Germania Bank zwar weh getan, aber sie nicht in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Andererseits haben amerikanische Banken keine solche Absicherung - bei gleichzeit erhöhter Gewinnspanne, versteht sich. Wenn der Kredit also wirklich geplatzt wäre - so wie Sirville das gefordert hatte - dann hätte das für einige amerikanische Banken das Aus bedeutet." "Na, und?" fragte ich. "Die Germania Bank hätte sie für ein Butterbrot erwerben können." "Ich verstehe", sagte ich, und Reinhard nickte. "Aber, wie gesagt, das sind alles nur Gerüchte und Spekulationen.
Wahrscheinlich weiß heute niemand mit Sicherheit, was Sirville damals bezweckt hatte. Es kann auch ein ganz anderer Grund gewesen sein." "Wurde der Kredit damals wirklich erlassen?" Reinhard grinste wieder. "No, Sir. Thanks God." "Hm. Welche Banken wären denn mit drin gehangen?" Reinhard blies die Backen auf. "Oh, in Deutschland so ziemlich alle größeren, wir auch. In USA... warte mal, auf jeden Fall die Jefferson & Barclay, die haben in allen Drittweltkrediten ihre Finger drin. Dann die Constitution Bank und die Washington Credits, und sicher noch ein Haufen kleinerer Fische, die ich nicht alle kenne." Ich drehte mich wieder zum Fenster und beobachtete eine Weile die unbekümmerten Stare in der Akazie. "Das ist doch zum Aus-der-Haut-fahren", schimpfte ich. "Wir wissen ziemlich genau, wer zur Rechenschaft zu ziehen ist, aber beweisen können wir nichts." Reinhard nickte wieder mit stoischer Miene. "Geht mir fast täglich so", seufzte er und schenkte sich den Rest Rotwein ein. "Kaum bist du zehn Jahre in der Branche, schon hast du dich dran gewöhnt." Er stand auf. "Ich muß jetzt los. Bin schon viel zu spät dran. Vergiß die Flasche Spezielles nicht." Ich bedankte mich für seine Hilfe. "Kann sein, daß ich dich nochmal anrufe. Mach's gut." Wir standen schon im Flur, als sich hinten im Zimmer leise die Türe öffnete. Su-Lin lugte um die Ecke, mit nichts am Leibe als einem riesigen Federkissen, das sie sich dekorativ vor die strategisch entscheidenden Stellen hielt. Sie lächelte Reinhard, der wie vom Donner gerührt dastand, scheu an und schlüpfte flink wie ein Wiesel an uns vorbei ins Badezimmer. Reinhard holte tief Luft und warf mir einen vernichtenden Blick zu. "Liebestoller Kater!" schnaubte er. "Ich hätte es mir gleich denken können!"
Er verschwand kopfschüttelnd und lachend im Treppenhaus.
7 Das Telefon holte mich aus dem Tiefschlaf. Ich wollte in alter Gewohnheit auf die Armbanduhr schauen und verfluchte wieder mal den verwünschten Gips. Mephisto, der mich heute Nacht gnädigerweise als Bettgenossen auf dem uralten Sperrmüllsofa akzeptiert hatte, gähnte mir ausgiebig ins Gesicht und streckte die Krallen aus. Er hatte ziemlichen Mundgeruch. Während ich noch überlegte, ob es sich nach dem vierten Klingeln überhaupt noch lohnte aufzustehen, da mit hoher Wahrscheinlichkeit der Anrufer genau dann auflegen würde, wenn ich das Telefon gefunden hätte, während ich also meiner Müdigkeit entsprechend langsam versuchte, zu einer definitiven Entscheidung über Aufstehen oder Nicht-Aufstehen zu kommen, hatte Su-Lin schon abgehoben. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ ich mich auf das Sofa zurücksinken, wobei ich bemerkte, daß ich sämtliche ausgeleierte Sprungfedern an meiner malträtierten Wirbelsäule abzählen konnte. Su-Lin sprach mit Sonja, soweit kam ich schon mit. Sie schlüpfte ins Zimmer und zerrte die widerspenstige Telefonschnur hinter sich her. Su-Lin trug einen grün schillernden Sarong und hatte nasse Haare. Sonst trug sie nichts. Anscheinend kam sie gerade aus der Dusche. Während sie sich mit dem Telefon zu mir durchkämpfte, sprach sie mit Sonja: "Doch, er ist schon wach. Moment." Und dann an mich gewandt: "Guten Morgen. Sonja ist dran. Viktor hat noch was gefunden, was dich vielleicht interessiert." Ich gab ihr einen züchtigen Guten-Morgen-Kuß auf die Wange und nahm den Hörer. "Guten Morgen, Sonja." "Guten Morgen ist gut", spottete Sonja, "weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ihr seid mir ja Langschläfer. Wir haben es heute früh schon mal probiert, aber es ist keiner
'rangegangen. Was habt ihr den die ganze Nacht getrieben?" Su-Lin, die eng an mich geschmiegt versuchte mitzuhören, errötete glücklich. Ich dagegen blickte wehmütig auf die drei leeren Weinflaschen und antwortete wahrheitsgemäß: "Ich habe zusammen mit einem Freund ein paar Weinflaschen geleert. Was gewisse andere Leute die 'ganze Nacht getrieben haben', darüber möchte ich mich am Telefon nicht weiter verbreiten. Au!" Su-Lin hatte mich an empfindlicher Stelle gezwickt. "Hä? Kapier' ich jetzt nicht", wunderte sich Sonja. "Na, ist ja auch egal. Viktor hat heute Nacht noch ein paar interessante Sachen 'rausgebracht, die er dir eigentlich selber mitteilen wollte. Aber er mußte heute früh dringend weg und meinte, solche Sachen sollte man lieber nicht per email schicken. Deshalb ruf' ich jetzt an. Hast du was zum Schreiben da?" Ich stolperte zu Viktors Sperrmülltisch und wühlte nach Papier und Kugelschreiber. "Schieß los." "Also. Wir haben zuerst noch einmal versucht, bei American Express direkt 'reinzukommen, aber das hat nicht funktioniert. Weder hier noch in den USA. Die haben inzwischen auch dazugelernt. Dann hat Viktor sich in den Buchungscomputern von ein paar größeren Fluglinien umgeschaut. Du weißt ja, daß manche Fluggesellschaften von ihren Stammkunden ziemlich viele Daten speichern, damit sie bei telefonischen Buchungen schneller abwickeln können. Unter anderem sind auch fast immer eine oder mehrere Creditcards dabei. Mit ziemlich viel Glück hat Viktor heute Nacht dieselbe Nummer im Buchungsrechner von UNITED gefunden." Ich mußte zwischenfragen: "Welche selbe Nummer?" "Na, die von der Johanna van Dyken natürlich. Wir wollten doch die Adresse herausbekommen. Und jetzt halt dich
fest: bei UNITED war gar nicht Johanna van Dyken als Name eingetragen, sondern Johanna Kohler." Su-Lin neben mir holte scharf Luft. "Van Dyken muß ihr Mädchenname sein", fuhr Sonja fort, "denn sie hatte offensichtlich mal einen gültigen Paß auf den Namen. Die angegebene Adresse stimmt mit der von Franz Kohler in Grünwald überein. Das haben wir leicht nachprüfen können." "Wow", sagte ich leise, "endlich mal eine handfeste Verbindung. Joan, Johanna, wir hätten es uns ja gleich denken können, daß das kein Zufall war. Wie habt ihr das alles so schnell herausbekommen?" Sonja lachte. "Eine schlaflose Nacht im Internet, wie sonst? Ein bißchen Glück war allerdings auch dabei", gab sie zu. "Aber es geht noch weiter. Alles was jetzt kommt, bleibt allerdings strikt unter uns, klar? Wenn es jemals offiziell an die Luft kommt, wissen wir von gar nichts." "Alles klar. Ich bin ganz Ohr." "Viktor hat sich heute morgen ein bißchen in den Rechnern der Interbank umgeschaut." Ich hatte es schon geahnt. Viktor und Sonja spielten gern mit dem Feuer. Ich holte tief Luft und sagte: "Hör mal. Das war nicht besonders schlau. Ihr wißt doch, daß wir es mit ziemlich skrupellosen Typen zu tun haben. Wenn die euch ausfindig machen..." Sonja unterbrach mich brüsk: "Wir sind kein Risiko eingegangen. Die Verbindung wurde in USA von einem 'stealth daemon' aufgebaut. Selbst wenn sie Spuren von uns finden, was ich nicht glaube, da die Sicherheitsmaßnahmen geradezu lächerlich waren, selbst dann können sie vergeblich nach der Adresse suchen. Wie wir an den 'stealth daemon' herangekommen sind, brauchst du und darfst du auch gar nicht wissen."
Ein 'stealth daemon' ist ein Computer im Internet, der jedesmal, wenn er ans Netz geht, unter einer anderen Internet-Adresse erscheint. Dadurch ist es praktisch unmöglich, einen Einbruch, der von einem solchen - quasi virtuellen - Rechner aus verübt wird, zurückzuverfolgen. Vom Netz aus gesehen existiert dieser Rechner nämlich nur solange, wie die Verbindung aufrecht erhalten wird. Meines Wissens werden 'stealth daemons' nur vom Pentagon und wahrscheinlich nur für Spionagezwecke verwendet. Viktor und Sonja hatten ihre Karten voll ausgespielt, um uns zu helfen. "Na gut", sagte ich, "ihr seid die Profis hier. Habt ihr was Brauchbares gefunden?" "Tja, da sind wir uns nicht ganz sicher. Eigentlich haben wir nur nach keywords gesucht, weil wir nicht viel Zeit hatten. Wir haben den Begriff 'SecureData' ziemlich häufig gefunden, ein paar Mal deinen Namen, aber das war alles nicht besonders interessant. Es handelte sich fast immer um Texte, die du mit einem user 'kpauli' ausgetauscht hast." Das stimmte. 'kpauli' war die Benutzerkennung von Pauli, dem Sicherheitsmann der Interbank. "Aber dann haben wir uns einige Sachen genauer angeschaut und eine mail mit folgendem Inhalt gefunden. Moment." Man hörte Papier rascheln. "Also", fuhr Sonja fort, "die mail ist adressiert an 'kpauli'. Der Inhalt besteht nur aus einem Satz: 'Von K. Altmann erfahre ich gerade, daß D. bei Routine-Analysen Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit den SILONA-Geschäften gefunden hat. Muß ich mir Sorgen machen?' Unterschrift: Schmeiter." "Von wann ist die mail?" fragte ich, während ich fieberhaft auf die Rückseite einer Werbesendung kritzelte. "Die mail wurde am Mittwoch um 9:23 Uhr von Benutzer 'eschmeiter' abgeschickt und um 9:24 empfangen. Der Benutzer 'kpauli' hat aller Wahrscheinlichkeit nach um 10:03 Uhr die mail
gelesen, da sie zu diesem Zeitpunkt aus der Systemmailbox in sein Homedirectory kopiert wurde." "Sonja, du bist ein Schatz", freute ich mich. "Wenn du jetzt hier wärst, würde ich dir einen dicken Kuß geben. Nimm ihn wenigstens durchs Telefon." Sonja lachte. "Igitt. Das klingt ja schauerlich. Heb dir den lieber für später auf. Also, vergiß bitte nicht, daß es diese Informationen offiziell gar nicht gibt, ok? Wir sind jetzt für eine Woche in den Bergen beim Zelten. Ihr könnt in Viktors Appartment bleiben, solange ihr wollt. Spätestens nächste Woche sind wir wieder erreichbar." Ich bedankte mich noch einmal und Sonja verabschiedete sich. Su-Lin löste sich von mir und schaute mich mit großen Augen an. "Aber, das würde ja bedeuten...", stammelte sie. "Das muß noch gar nichts bedeuten", sagte ich nachdrücklich, "aber die Indizien häufen sich jetzt doch auffallend, nicht wahr? Karl hat den Auftrag bei der Interbank beschafft. Über Schmeiter. Wer weiß, vielleicht sogar gegen den ausdrücklichen Willen von Kohler, dem Vorstandsvorsitzenden der Interbank, und nur, weil Karl mit Schmeiter befreundet ist. Du weißt ja, wie man sich unter Freunden lukrative Aufträge zuschanzt. Möglicherweise erfährt Schmeiter von Karl, daß wir in Besitz von Daten sind, über die er sich eventuell 'Sorgen machen' muß. Schmeiter alarmiert sofort Kohler, welcher sich noch viel mehr Sorgen über die SILONA Geschäfte macht und prompt versucht, uns umzulegen. Als dies nicht klappt, hetzt er seine Frau zuerst auf Phil und dann auf mich und versucht, als das nicht klappt, unser Schweigen zu erkaufen. Als ich mich unvorsichtigerweise ausgerechnet mit Helen, seiner Sekretärin, treffe, dreht er durch." "Die Geschichte hat nur einen Haken", sagte Su-Lin und ich nickte düster. "Die Daten scheinen völlig harmlos zu sein. Oder wir - und Reinhard - haben das Wesentliche
übersehen", bestätigte ich ihren Gedanken. "Aber das ist doch unlogisch. Wenn die entscheidende Sache so schwer zu erkennen ist, dann müßten Kohler und Pauli doch nicht so in Panik verfallen." Ich stand auf und tappte ins Bad. Su-Lin klopfte und sagte durch die Türe, daß sie Semmeln und Kaffee holen würde. Ich erledigte meine Morgentoilette, holte mir aus der Küche einen Campari gegen den Kater und setzte mich wieder ans notebook. In meiner mailbox war gähnende Leere. Ich überlegte kurz, ob ich Becker eine mail schicken sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Was hatten wir schon in der Hand? Fast nichts. Nur Vermutungen und einige Informationen, die wir offiziell gar haben durften. Es klingelte dreimal kurz, dann zweimal kurz und einmal lang. Die Morsezeichen für die Buchstaben SU. Das Erkennungsmerkmal, das ich mit Su-Lin vereinbart hatte. In Gedanken ging ich zur Türe und öffnete. Die Türe wurde heftig aufgerissen und traf mich schmerzhaft an der rechten Schulter. Ich taumelte nach hinten in den Flur und ruderte heftig mit dem Gips, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Ein untersetzter, drahtiger Bursche stand, wie aus dem Boden gewachsen vor mir und grinste mir ins Gesicht. Er war ganz in Grau gekleidet, hatte extrem kurze, weiß gebleichte Haare und eine lächerlich dunkle Sonnenbrille. Was er in mir unter die Nase hielt, war weniger lächerlich: ein stumpfnasiger, silbrig glänzender Revolver. Er hielt die Waffe locker in der linken Hand. Mit der freien Rechten machte er eine beschwichtigende Bewegung und sagte mit sanfter Stimme: "Ganz ruhig, Freund. Überhaupt kein Grund, sich aufzuregen. Wir wollen doch so früh am morgen die lieben Nachbarn nicht aufstören? Ganz ruhig." Durch die offene Türe trat mit einem einzigen, riesigen Schritt ein baumlanger Kerl in den Flur und drückte die
Türe mit dem Rücken zu. Er hielt mit dem linken Arm SuLin fest; ihre Beine baumelten hilflos einen halben Meter über den Fußboden. Mit der anderen Hand, die die Ausmaße einer Bratpfanne hatte, hielt er ihr den Mund zu. Der Handrücken war mit dickem schwarzen Haar bedeckt; auch aus seinem Hemdkragen quoll das Fell hervor. Sein Gesicht war ungefähr so sensibel wie das einer Dampfpresse. Der weißhaarige Gnom nahm die Sonnenbrille ab und entblößte ein Paar wässrig-blauer Augen. Er schwenkte lässig seine Waffe in Su-Lins Richtung. "Beim ersten lauten Muckser bricht er ihr das Genick, klar? Wir wollen uns nur unterhalten." Er deutete mir mit der Waffe, vorauszugehen. Ich ging langsam in das erste Zimmer und drehte mich hinter dem Tisch um. Der baumlange Kerl hatte Su- Lin wieder auf den Boden gestellt, hielt sie aber mit eisernem Griff am Oberarm fest. Su-Lin schaute mich verzweifelt an und biß sich auf die Lippen. Der Gnom war an den Tisch getreten und befingerte interessiert das angeschaltete notebook. Den Revolver hielt er mehr oder weniger auf meinen Bauch gerichtet. Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, packte er in einer fließenden Bewegung die Maglite, die auf dem Tisch lag, und schlug hart gegen den LCD-Schirm des Computers. Wir zuckten alle zusammen; der Schirm erlosch sofort. Drei weitere Schläge zertrümmerten das restliche Gehäuse gründlich. Der weißhaarige Gnom blickt auf sein Werk und lächelte. Dann blickte er zu seinem Partner und sein Lächeln gefror zu einer Grimasse. Er zuckte kurz mit dem Kopf. Sein Gorilla schubste Su-Lin brutal in meine Richtung und machte sich, ohne uns weiter zu beachten, daran die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Ich legte SuLin schützend meinen rechten Arm um die Schultern und beobachtete den Gnom, der mit seinen wässrigen Geieraugen abwesend aus dem Fenster starrte. Die Pistole
hielt immer noch lässig auf uns gerichtet. Sein riesiger Partner rumpelte im Nachbarzimmer. Mephisto floh fauchend in die Küche. Su-Lin rieb sich den Oberarm. Vier rote Male zeichneten sich dort deutlich ab. Ich schob SuLin langsam hinter mich, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. Dann machte ich einen halben Schritt in Richtung Fenster. Ohne mich anzusehen, hob er die Maglite, die er immer noch in der Hand hielt und blendete mir ins Gesicht. "Wir wollen doch hier nicht den Helden spielen? Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn schon am Vormittag geschossen wird", sagte er leise und blickte weiterhin aus dem Fenster. Er gluckste einmal, wie wenn ihm ein ganz besonders guter Witz eingefallen wäre. "Ok", sagte ich, "nehmen wir mal an, es fällt hier ein Schuß. Ringsherum wohnen Leute. Innerhalb von Minuten ist hier der Teufel los." Er drehte ganz langsam den Kopf und schaute mich voller Verachtung an. "Erstens wirst du den Teufel in diesem Fall ganz woanders erleben. Und zweitens sind wir schon längst über alle Berge, bevor einer von deinen 'Leuten' auch nur kapiert hat, daß hier eine neue reality show abläuft." Er gluckste wieder. Es klang nicht gerade ermutigend. "Was wollt ihr?" versuchte ich das Gespräch am Leben zu erhalten, denn er schaute schon wieder gelangweilt in den Garten. Es kam keine Antwort. "Wie habt ihr uns gefunden?" versuchte ich es noch einmal. Er lächelte träumerisch in die Fensterscheibe. "Du glaubst, du bist so schlau, was? So schlau. Ein schlaues Bürschchen. Ein Schlaumeier. Aber dann loggt er sich ausgerechnet über eine ISDN Leitung bei seiner Heimat ein." Er schnalzte mißbilligend mit der Zunge und schüttelte tadelnd den Kopf. "Das war leider gar nicht schlau. Denn bei Anrufen über ISDN kann man die Nummer des Anrufers feststellen. Ganz einfach nicht wahr,
Schlaumeier?" Er grinste süffisant. "Wenn du ganz bescheiden ein normales Telefon verwendet hättest, wären wir nicht hier. Aber der Schlaumeier ist sich sicher zu fein für so was." Er gluckste, nahm das Handy vom Tisch und steckte es in die Jackentasche. Das Filzen der Wohnung dauerte nicht lang. Nach nur zehn Minuten tauchte die menschliche Dampfpresse aus dem Bad auf, das sie sich als letztes vorgenommen hatte. Was er gesucht und ob er es gefunden hatte, erfuhren wir nicht. Der weißhaarige Gnom zwang uns beide, ordentliche Kleidung anzulegen, und wählte sogar eigenhändig aus unseren Koffern aus, was wir anziehen sollten. Dann befahl er uns, zu zweit hinunter auf die Strasse zu gehen und direkt vor dem Haus zu warten. Wir gehorchten ohne Widerspruch. Draußen war es kühl und trostlos. Der Münchner Himmel war herbstlich verhangen. Ein böiger Wind blies bunte Blätter die Ungererstrasse entlang. Wenig Verkehr. Ich zauderte. Wäre ich allein gewesen, hätte ich einen Sprint riskiert. Aber zusammen mit Su-Lin und dem Gips - das Risiko war zu groß. Zwei Minuten später tauchten die beiden hinter der Hausecke auf. Sie mußten die Wohnung über den Balkon verlassen haben. Ich ärgerte mich, daß ich nicht doch etwas unternommen hatte. Der Kleinere hielt die linke Hand ostentativ in der Jackentasche verborgen und grinste mich triumphierend an. "Guter Bluff, wie?" meinte er leise. "Und klappt immer. Vorwärts! Nach rechts, Schlaumeier!" Wir gingen zügig die Ungererstrasse entlang in Richtung Münchner Freiheit. Su-Lin und ich voran, untergehakt, wie man uns befohlen hatte; drei Schritte hinter uns die beiden Gangster. Es begegneten uns kaum Menschen, von einem Polizisten oder Streifenwagen ganz zu schweigen. An der Münchner Freiheit stiegen wir glücklicherweise nicht in die U-Bahn, wie ich befürchtet hatte, sondern wurden weiter die Leopoldstrasse hinuntergetrieben. "Wohin gehen wir",
verlangte ich zu wissen. "Schnauze. Schau nach vorne", war die Antwort. Ich biß mir auf die Lippen und suchte verzweifelt nach einem Trick, wie wir den beiden supercoolen Gangstern entkommen konnten. Zweifellos würden wir von diesem Ausflug nicht mehr zurückkommen, wenn nicht bald etwas geschah. Die Leopoldstrasse war belebter als die Ungerer. Einige japanische Reisegruppen zogen brav hinter ihrer blauweiß gewandeten Reiseführerin her. Italienische Schulklassen bewiesen anschaulich, daß die mittlere Lautstärke, die zur Kommunikation notwendig ist, mit sinkenden Breitengraden proportional zunimmt. Kein Polizist weit und breit. Vor der 'Brezen' stand wie immer der Bauernfänger von der Scientology- Sekte und quatschte die vorbeischlendernden Passanten an. Es handelte sich seit Jahr und Tag immer um denselben Typen. Groß, mit kurzem, braunen Haar und eng stehenden Augen, unauffällig gekleidet. Oft, wenn er mich zum ich-weiß-nichtwievielten Male ansprach, lag es mir auf der Zunge zu fragen, wieso die Oxford-Methode denn bei ihm offensichtlich nicht anschlagen würde. Denn ein einigermaßen intelligenter Mensch könne doch nicht den größten Teil seines Lebens mit einer so sinnlosen Tätigkeit vergeuden. Aber dann erinnerte ich mich jedesmal an die peinlichen Diskussionen, die ich seinerzeit mit zwei weiblichen Zeugen Jehovas über ein ähnliches (im Grunde aber exakt das gleiche) Thema geführt hatte, und hielt meine Zunge lieber in Zaum. Interessanterweise hemmte mich dabei nicht die Angst, mich auf eine Diskussion einzulassen, in der ich eventuell unterliegen könnte, sondern vielmehr die Angst, mir die peinlichen, weil unendlich dummen, Argumente der Gegenseite anhören zu müssen. Als unsere Gruppe vorbeikam, präsentierte er SuLin die ewig gleiche Frage der Dianetiker: "Entschuldigen Sie. Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?"
Wir blieben stehen und Su-Lin schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. "Aber natürlich dürfen Sie das", zwitscherte sie. Der Dianetiker war begeistert. Wahrscheinlich war das die erste positive Antwort seit drei Monaten. Und jetzt gleich vier potentielle Opfer auf einmal, denn unsere beiden Bewacher rückten dicht auf, so als ob sie zu uns gehörten. Der Dianetiker stürzte sich mit Feuereifer in sein Programm. Er holte eine ziemlich schlechte Graphik mit Einsteins Konterfei in einer Zellophanschutzhülle hervor und hielt sie Su-Lin unter die Nase. "Wissen Sie, wer das ist?" fragte er. Su-Lin nahm das Blatt und tat so als überlege sie. Verstohlen schoß sie einen Seitenblick auf mich ab. Ich zuckte ganz leicht mit den Schultern. "Nein, wer ist das?" erwiderte sie und reichte das Blatt zurück. Der Scientology-Anhänger begann, ein wirres Kuddelmuddel über Genies, SuperGedächtnis, Erfolg und die sogenannte Oxford-Methode abzuspulen. Gnom drängte sich von hinten seitlich an mich; ich konnte den harten Lauf des Revolvers an meiner Hüfte spüren. Ich blickte die Strasse hinauf und hinunter. Nichts. Kein Polizist weit und breit. Nicht mal eine Politesse. Es war zum Verzweifeln! "Entschuldigen Sie", unterbrach Gnom lächelnd den Fanatiker. "Schätzchen, wir kommen zu spät zu unserem Fototermin. Wir müssen das auf später verschieben, nicht wahr?" Er faßte Su-Lin am Oberarm und zog sie langsam, aber unerbittlich weiter. Su-Lin wehrte sich und versuchte schwach zu protestieren. Instinktiv trat ich zwischen die beiden und Gnom starrte mir ins Gesicht. Ich überlegte rasch, ob er auf der belebten Strasse einen Schuß riskieren würde. Ich konnte seine Augen durch die verdammte Sonnenbrille nicht erkennen. Er lächelte immer noch. Etwas an seinem Lächeln sagte mir, lieber kein Risiko einzugehen. Ich trat zurück und nahm Su-Lin wieder
an Arm. Wir marschierten weiter die Leopoldstrasse entlang. Ich mußte einen Weg finden, Gnom für ein paar Sekunden so zu beschäftigen, daß er keinen sicheren Schuß mehr auf uns absetzen konnte. Aber wie? Die leise Stimme von Gnom ertönte nahe an meinem Ohr: "Du glaubst doch nicht, daß du mit mir Faxen machen kannst, Schlaumeier? Ich habe nicht den Auftrag, euch unbedingt lebend abzuliefern, verstehst du? Schlaumeier?" Drei Fußballfans ganz in blauweiß zogen torkelnd vorbei. Warum sind eigentlich fast alle Fußballvereinsfarben blauweiß oder rotweiß? Vielleicht sind das die einzigen Farben, die Fußballfans mit ihren alkoholumnebelten Gehirnen noch unterscheiden können. Einer der Blauweißen trug einen Schal mit dem Schriftzug 'TSV 1860 München'. Sechziger also. Wir überquerten gerade die Trautenwolfstrasse, als uns eine größere Abteilung der anderen Partei entgegenkam. Nach ihren Mützen zu schließen handelte es sich um rotweiße Bayern-Fans. Diese Gruppe - etwa fünfzehn an der Zahl - war schon etwas weiter fortgeschritten und probte vorsichtshalber schon mal die entsprechenden Schlachtrufe und Schmähtiraden auf die bösen Sechziger. Gnom machte Anstalten, der Gruppe nach links auszuweichen, aber ich ging stur weiter, mitten durch sie hindurch. Plötzlich riß ich Su-Lin herum, so daß wir gegen Gnom und seinen baß erstaunten Kompagnon Front machten und brüllte, so laut ich konnte: "Laßt's bloß eure Pfoten von meina Freindin, ös scheiß Sechzga! Bayern vor, no a Tor! Haut's die Sechzga in die Fressen! Giesinger Gschwerl, boanigs! Schaut's, daß 's weidakemmts!" Meine Stimme überschlug sich. Eine halbe Sekunde lang standen alle wie erstarrt, einschließlich der Bayern-Fans, die schwankend halt gemacht hatten und mich aus alkoholisch-glasigen Augen anstarrten. Dann machte die
Dampfpresse einen drohenden Schritt in meine Richtung. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes, aber die BayernAnhänger konnten ja nicht wissen, daß der arme Kerl immer so bescheuert aussah. Das war der Auslöser. Zwei warfen sich von hinten auf die Dampfpresse und rissen sie fast zu Boden. Eine Bierflasche klirrte irgendwo auf das Pflaster. Ein anderer umklammerte Gnom von hinten mit beiden Armen und hob ihn in die Luft, während eine rotweiß gewandete Furie mit spitzen Schuhen gegen seine Scheinbeine trat. Ein Messer blitzte in der riesigen Hand der Dampfpresse. Dann wurde das Handgemenge unübersichtlich. Japaner flohen schweigend die Leopoldstrasse hinunter. Italienisches Gezeter hub an. Ein Kellner aus der Brezen kam laut schimpfend angelaufen. Ich packte Su-Lin bei der Hand und rannte mit ihr in die Trautenwolfstrasse hinein. Wir rannten so schnell und so lange wir konnten und wechselten bei jeder Kreuzung die Richtung. Irgendwo in der Nähe des Englischen Gartens hielten wir an und verbargen uns in einem Hauseingang. Zuerst brachten wir beide kein Wort hervor; der Sprint hatte uns den Atem genommen. "Ich werde nie mehr über Fußballfans lästern", brachte ich mühsam hervor. Ich spähte, immer noch nach Luft ringend, in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ein dunkler, flacher Wagen schob sich ganz langsam die Strasse entlang. So, als ob er eine Hausnummer suchen würde. Er bog zwei Blöcke weit von uns entfernt nach links ab. "Oh, Gott", keuchte Su-Lin, "ich habe gedacht, ich sterbe vor Angst." Sie schluckte mühsam. "Sie haben schon auf mich gewartet, wie ich aus dem Haus gekommen bin. Dann haben sie mich im Hausflur festgehalten und zehn Minuten gewartet, damit du dich nicht wunderst, wenn ich so schnell zurückkomme, und ..." Sie begann zu schluchzen. "Schon gut", unterbrach ich sie und strich ihr übers Haar. Ich spähte
wieder um die Ecke. Ein Schreck durchzuckte mich: derselbe dunkle Wagen bog wieder langsam in unsere Strasse ein. Diesmal nur noch einen Block von uns entfernt. Er näherte sich im Schrittempo. Durch die dunkel getönten Scheiben konnte ich nicht erkennen, wer oder wenigstens wieviele Personen in dem Wagen saßen. Ich drückte probeweise gegen die Haustüre hinter uns. Sie war fest verschlossen. "Was ist los?" fragte Su-Lin mit beginnender Panik in der Stimme. Ich gab keine Antwort, sondern drehte mich um und läutete rasch bei vier Wohnungen. Nichts geschah. Ich hörte das Brummen des Motors näher kommen. Su-Lin spürte die Gefahr und drückte sich zwischen mich und die Türe. Ich stand mit dem Rücken zur Strasse, als der Wagen direkt hinter uns, keine drei Meter entfernt zum Stehen kam. "Wenn ich 'jetzt' rufe, rennst du nach links und versuchst zu verschwinden. Ich versuche es nach rechts", flüsterte ich Su-Lin ins Ohr. Sie zitterte. Eine Autotüre klappte auf und eine bekannte Stimme rief fröhlich: "Su? Albert? Was macht ihr denn da?" Wir fuhren beide herum. Es war Phil, tatsächlich Phil. Er stand da, frisch und fröhlich wie immer, den Arm lässig auf die geöffnete Fahrertüre gestützt und lächelte uns fragend an. "Ist das ein neues Spiel oder was? Was macht ihr hier überhaupt? Ich wollte gerade einen Parkplatz suchen und ..." Der Rest ging in der stürmischen Begrüssung von Su-Lin unter. Aus mir entwich die Spannung wie aus einem angestochenen Luftballon. Ich drückte Phil schweigend die Hand und ließ mich mit weichen Knien auf den Rücksitz seines Wagens fallen. Su-Lin klärte Phil über die Umstände auf, während er seinen Wagen aus Schwabing heraussteuerte.
8 Der linke Arm schmerzte wieder empfindlich. Trotzdem war es eine Wohltat, die müden Knochen auf der seidenweichen Steppdecke auszustrecken und nur einfach dazuliegen, zu denken und zu warten, daß der lange ersehnte Schlaf einen übermannte. Im Moment wenigstens drohte keine Gefahr. Hoffte ich zumindest. Diese pragmatische Einschränkung holte mich aus dem Fastschlaf wieder zurück in die Wachheit. Ich blickte auf die schwach leuchtenden Ziffern der Uhr, die in das Kopfende des riesigen Bettes eingelassen war. Sie zeigte halb zwölf. Es war also immer noch Sonntag; einer der längsten Sonntage in meinem Leben. Durch das geöffnete Fenster drang das beruhigende Hintergrundgeräusch der Großstadt herein. Der schwere Samtvorhang, nicht ganz zugezogen, bewegte sich langsam im Luftzug. Ich streckte noch einmal genießerisch meine Knochen, und wieder meldete sich der vermaledeite Gips. Nachdem Phil uns am Englischen Garten aufgegabelt hatte, waren wir stundenlang ziellos durch München gekurvt. Phil bestand hitzig darauf, daß wir sofort zur Polizei fuhren. Su-Lin und ich wehrten uns gegen diese an sich vernünftige Lösung, konnten aber keine schlüssigen Argumente vorbringen. Im nachhinein glaube ich, daß wir uns beide einfach scheuten, die ganze Katastrophe, in die unsere Firma, die SecureData, da verwickelt war, an die große Glocke zu hängen, indem wir zur Kripo gingen. Phil konnte dies natürlich nicht nachvollziehen und empörte sich über unsere Unvernunft. Schließlich hielten wir erschöpft an einem der zahlreichen McDonalds - ich glaube, es war irgendwo in Giesing - um unseren brüllenden Hunger mit Fast Food und Kaffee zu stillen. Die gefüllten Mägen besänftigten uns alle drei etwas, und wir begannen, konstruktiv zu planen,
anstatt sinnlos zu streiten. Zunächst mußten unsere dringendsten Nöte gelöst werden. "Zu mir könnt ihr nicht kommen, weil sich die Kerle jetzt bestimmt an mich halten werden, um euch zu finden", sagte Phil sachlich. Trotzdem merkte man deutlich, daß er dies mehr bedauerte, als es die allgemeine Höflichkeit erforderte. "Wir könnten in ein Hotel gehen", überlegte ich laut. Zum Glück hatte ich mit meiner Jacke auch meine Brieftasche mitgenommen, so daß es uns zumindest an Plastikgeld nicht mangelte. "Aber dann besteht die Gefahr, daß sie uns über die vorgeschriebene Meldung ans Fremdenverkehrsamt wieder aufspüren. Denn, wenn ich mit Creditkarte zahle, muß ich meinen wahren Namen angeben." "In Viktors Wohnung können wir natürlich auch nicht zurück. Armer Mephisto", sagte Su-Lin. "Aber irgendwo müssen wir doch heute Nacht unterkommen. Wir können doch nicht im Auto übernachten!" Phils Augen bekamen einen schwachen, romantischen Glanz. "Zelten?" schlug er vor. Su-Lin verdrehte die Augen. Ich schüttelte den Kopf. Mir schwebte etwas ganz anderes vor. "Was erwarten unsere Gegner denn jetzt von uns?" fragte ich. Allgemeines Schweigen. Dann meinte Su-Lin zögernd: "Daß wir uns verstecken und möglichst nicht auffallen." "Eben", erwiderte ich und lächelte sie an. Zwei Stunden später fuhr ein eleganter dunkler Wagen in die Auffahrt des Hotels Bayerischer Hof am Promenadeplatz ein. Der junge, gut aussehende Fahrer sprang eifrig heraus und öffnete hastig den hinteren Schlag. Ein auffällig gekleideter Mann in den mittleren Jahren mit distinguierter Erscheinung entstieg langsam dem Wagen und streifte mit kritischem Blick die Hotelfront und den Eingang, so als ob er sich noch jeden Moment anders entscheiden und seinem Fahrer Anweisung zur Weiterfahrt geben könnte. Die wenigen Domestiken vor
der pompösen Eingangstüre nahmen unwillkürlich Haltung an. An den Schläfen bereits deutlich angegraut, machte der ankommende Gast dennoch einen jugendlichen Eindruck. Die scharfen Augen blickten streng unter buschigen, eigenartig zerzausten Augenbrauen hervor; der verkniffene Mund war zusammengepresst und zog sich an beiden Mundwinkeln nach unten. Er war hoch gewachsen und hielt sich militärisch steif. Der offiziershafte Eindruck wurde noch verstärkt durch den Umstand, daß er den linken Arm steif in einer schlichten, schwarzen Schlinge trug. Gekleidet war er in eine Mischung aus Uniform und Jagdanzug; dazu trug er schwarze Schaftstiefel. Der Fahrer stand abwartend da, die Hand immer noch am Türgriff. Der Herr - denn um einen solchen handelte es sich offensichtlich im wahrsten Sinne des Wortes - beugte sich steif zu dem geöffneten Wagen hinunter und bellte ein paar Worte in einer Sprache, die keiner der Hotelangestellten verstand. Eine zierliche, entzückend gekleidete Asiatin beugte sich daraufhin aus dem Inneren des Gefährts und wandte sich mit deutlich überakzentuiertem Deutsch an den jungen Fahrer: "Seine Hoheit wünschen hier zu logieren. Bitte verlassen Sie, daß das Gepäck besorgt wird." "Selbstverständlich, Prinzessin", beeilte sich der Fahrer zu erwidern und reichte ihr die Hand, um beim Aussteigen behilflich zu sein. Die Prinzessin entstieg, nein, sie entschwebte dem Wagen und folgte langsam dem Herrn mit der unbekannten Aussprache in die Hotelhalle. Dort lauerte bereits der Portier, um die hohen Gäste zu begrüßen, alarmiert durch einen der zahlreichen, von den Gästen meist unbemerkten Informationskanäle, die für das Funktionieren eines wirklich erfolgreichen großen Hotels so unentbehrlich sind. Der Herr mit der Armschlinge strahlte eine solche Autorität aus, daß der Portier unwillkürlich einen langen Diener ausführte, während er den
offensichtlich bedeutenden Gast mit wohlgesetzten Worten willkommen hieß. Der militärische Herr bellte etwas mit solcher Lautstärke, daß das allgemeine Hintergrundgeräusch der Hotelhalle für einen Augenblick erstarb und sich alle Augen der kleinen Gruppe am Empfang zuwandten. Der Portier lächelte unsicher und wiederholte seine Begrüßungsfloskeln auf alle Fälle noch einmal auf französisch. Der Herr blieb abrupt stehen und durchbohrte den Portier mit seinem strengen Blick, erwiderte aber keinen Ton. Seine zierliche Begleiterin trat einen Schritt hinter ihn an seine linke Seite und sagte laut und deutlich: "Seine Hoheit, Fürst Michail Petrowisch Tchostiassow, wünscht sich in Ihrem gastlichen Hause unterzubringen, wenn es in Ihrem Vermögen liegt. Wir kommen direkt von der Hotel Vier Jahreszeiten, wo eigentlich die Planung war, zu logieren. Jedoch hat seine Hoheit entschieden, daß die Räumlichkeiten dort seiner Person nicht abgebracht waren. Unser Fahrer hat daraufhin den Vorschlag erzeugt, sich hierher zu vergeben." Während dieser langen Rede inspizierte der mit 'Fürst' titulierte mit ungeduldigen, ruckartigen Kopfbewegungen die Hotelhalle. Überall, wo sein stechender Blick hinfiel, senkten sich verwirrte Augen. Seine Begleiterin unterbrechend bellte er wieder einige kurze Worte. Die Asiatin wandte sich wieder an den Portier: "Seine Hoheit möchte Ihnen sein Wohlgefallen über dieses Lokal vermitteln. Er wünscht eine zusammenhängende Flucht von drei Zimmern mit telefonischer Anlage." Der Fahrer betrat die Halle, gefolgt von drei Pagen, die mit schweren Koffern beladen hinter ihm hertrotteten. Der Portier wollte die erlauchten Gäste zur Rezeption komplimentieren, aber der Fürst winkte unwirsch ab und steuerte ohne Umschweife auf den Aufzug zu. Der Portier zögerte und holte sich per Blickkontakt Rat beim
Empfangschef, der aus seinem Büro hinter der Rezeption erschienen war, um zu erfahren, wer da eingetroffen sei. Der Empfangschef winkte dem Portier, schnell zu machen: der Gast hat immer recht, zumindest in gut geführten Häusern. Und wer hätte es gewagt, den Bayerischen Hof in München als schlecht geführt zu bezeichnen? Also eilte der Portier mit dem Generalschlüssel bewaffnet hinter dem Fürsten her, der sein kleines Gefolge bereits ungeduldig in den großen Aufzug geführt hatte. Die beiden Suiten im ersten Stock schienen dem militärischen Herrn aus irgendeinem Grunde zu mißfallen. Er brummte und schüttelte mißbilligend den Kopf, während der Portier ihn ängstlich beobachtete. Erst im vierten Stock fand sich eine Flucht von drei Räumen, verbunden jeweils durch doppelte Flügeltüren und ganz in der südöstlichen Ecke gelegen, die den hohen Herrn zufriedenstellte. Er drückte seine Zustimmung durch mehrere gutturale Laute aus, brummte schließlich zufrieden und bedeutete seinen Fahrer mit einem Kopfnicken, die Hotelangestellten zu entlohnen, was dieser relativ großzügig ausführte. Drei Minuten später krümmten wir uns alle drei vor Lachen in den großzügigen Sesseln und Sofas der Suite. "Oh, mein Gott!" ächzte Phil, unser 'Fahrer'. "So was Verrücktes habe ich noch nie erlebt." Su-Lin, die sich eines der Sofakissen vor das Gesicht hielt, um ihren Lachkrampf etwas zu dämpfen, stöhnte, sie habe schon Seitenstechen vor Lachen. "Du hast deine Rolle perfekt gespielt", lobte ich sie. "Mit dem Text, den du mir eingetrichtert hattest, war das nicht schwer", kicherte sie und trocknete sich die Lachtränen. "Vorsicht, du färbst den Sofabezug mit deiner silbernen Haartönung", warnte sie mich. "Na, gut", meinte Phil fröhlich. "Wir sind, ohne uns auszuweisen, in ein Hotel eingezogen. Ist das jetzt strafbar?"
Ich schüttelte den Kopf. "Schwerlich. Eher hat die Hotelleitung gegen irgendeine unbedeutende Verordnung verstoßen. Hauptsache für uns ist: wir haben ein Dach über dem Kopf, ohne daß man uns so leicht aufspüren kann, und wir haben ein Telefon." Ich deutete auf das moderne Tastentelefon auf dem Beistelltischchen. "Hoffentlich nicht wieder ISDN", murmelte Su-Lin und nahm probeweise den Hörer ab. "Kaum", erwiderte ich. "Und jetzt würde ich vorschlagen, daß die Prinzessin mit Unterstützung ihres Fahrers dem Fürsten ein angemessenes Dinner besorgt, während ich hier ein paar Telefongespräche führe. Und denk daran", fügte ich an Phil gewandt hinzu, "ein Fahrer küßt seine Herrin nicht, zumindest nicht in der Öffentlichkeit." Eine Stunde später verspeisten wir einen 'Rustikalen Imbiß', den der Zimmerservice gebracht hatte. "Und jetzt?" fragte Su-Lin nach der Bayerischen Creme. "Jetzt verbringen wir einen ruhigen Abend und warten erst einmal die Reaktion auf meine Telefonate ab. Wie wär's, wenn ihr ein wenig ausgehen würdet?" Obwohl Su-Lin der Meinung war, sie habe nichts anzuziehen, fand sich doch noch ein Fetzen Stoff, der sie ganz reizend kleidete, oder vielmehr entkleidete, und die beiden zogen los. Ich mixte mir einen steifen Campari und setzte mich im Dämmerlicht an den neuen Laptop, den Phil uns besorgt hatte. Ich nahm Verbindung zu einer guten Search Engine im Internet auf und ließ mir alle Web-Seiten mit 'Sirville' und 'RZ' ausgeben. Schon bald stieß ich auf eine Artikelserie von einem gewissen Anthony Scotti, der sich offensichtlich beruflich mit Personenschutz beschäftigte. Einer der Artikel behandelte den Anschlag auf Arthur Sirville am 29. Oktober 1988. Außerdem fand ich einige Reports des 'Office of the Coordinator for Counterterrorism, Philip C. Wilcox' im U.S. State
Department über die Terrorismus -Aktivitäten der letzten Jahre. Ich druckte mir alles aus und studierte die Texte sorgfältig. Arthur Sirville war knapp 150 Meter von seinem eigenen Haus entfernt in seinem gepanzerten Wagen ermordet worden. Er fuhr in einem Konvoi von drei Fahrzeugen. Jeweils im vorderen und hinteren Fahrzeug Personenschutz, er allein mit dem Fahrer im mittleren Fahrzeug. Die Routen wurden täglich von einem Computerprogramm per Zufall ausgewählt, aber die Passage des Anschlags dicht an seinem Haus mußte immer durchfahren werden. Eine Sprengladung von circa 22 Kilogramm TNT war in einem Kinderschulranzen versteckt, der wiederum auf dem Gepäckträger eines ziemlich teuren und neuen Fahrrads befestigt war. Das Fahrrad stand schon mehrere Tage dort am Straßenrand, bevor der Anschlag passierte. Die Sprengladung detonierte genau in dem Augenblick, als Sirvilles hintere Wagentüre sich genau auf der Höhe des Fahrrads befand. Sirville saß hinten rechts. Die Wagentüre wurde eingedrückt und Sirville sofort getötet. Die Sprengladung war so präzise berechnet, daß der Fahrer mit Verletzungen davonkam. Der exakte Zündzeitpunkt wurde durch eine Lichtschranke gesteuert, die offensichtlich erst nach dem Durchfahren des ersten Fahrzeugs scharf gemacht worden war. Die spätere Untersuchung zeigte, daß die Terroristen einen erheblichen Aufwand betrieben hatten: es waren 200 Meter Kabel, zum Teil unter der Straßendecke vergraben worden. In einem Bekennerschreiben übernahm die linksradikale Terrorgruppe 'Rote Zellen' die Verantwortung für den Anschlag. Einige Zeit später wurden ein rauschgiftsüchtiger Student und ein Taxifahrer mit Kontakten zu den RZ festgenommen und der Tat beschuldigt. Die Tat konnte ihnen jedoch nicht nachgewiesen werden. A. Scotti betont in seinem Artikel, daß das Attentat durch Verwendung
eines sogenannten 'surveillance program' hätte verhindert werden können. Ein solches Programm speichert ein detailiertes Modell der Umgebung und der Wege des zu schützenden Objekts und wird ständig mit Daten von außen gefüttert, zum Beispiel durch Videokameras oder Patrouillenberichte. Eine Abweichung von der Norm wird automatisch detektiert und dem Personenschutz gemeldet. Auch die amerikanischen Berichte waren sehr interessant: alle Autoren ließen durchscheinen, daß sie die RZ eigentlich nicht für besonders gut organisiert hielten. Außerdem sei nach dem Zusammenbruch des Kommunismus jegliche finanzielle Unterstützung aus dieser Richtung versiegt. Auch die terroristischen Vereinigungen im nahen Osten wären immer weniger daran interessiert, ihre ohnehin knapp gewordenen Ressourcen in den sinkenden Stern der RZ zu investieren. Ich wollte die Unterlagen schon weglegen, als ich noch auf eine kleine Notiz von A. Scotti stieß. Er hatte den Namen und die Geschäftsadresse der Firma angegeben, die damals den erfolglosen Personenschutz Sirvilles durchgeführt hatten. Ohne lange zu überlegen griff ich zum Telefon. Ein ziemlich mißtrauischer Angestellter debattierte fast eine halbe Stunde mit mir, bevor er mich weiterverband. Eine müde Stimme meldete sich. Nein, seinen Namen dürfe er mir nicht nennen. Vorschrift. Ich solle meine Fragen stellen und er werde mir dann sagen, ob er sie beantworten könne. "Waren Sie mit dem Personenschutz Arthur Sirvilles betraut?" fragte ich. "Unter anderen, ja." "Waren Sie für die Überwachung des Fahrwegs zuständig?" "Nein." "Gibt es einen plausiblen Grund dafür, daß das Fahrrad, obwohl es schon einige Tage vorher dort am Straßenrand
plaziert wurde, nie genauer untersucht wurde oder zumindest seine Herkunft geklärt wurde?" Kurzes Schweigen, dann kam die Antwort: "Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben." Ich überlegte eine Moment. "Wurde für die Überwachung ein Computer eingesetzt?" "Ja." "Wie war der Name des verwendeten SurveillanceProgramms?" "Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben." "Warum nicht?" Ich hörte, wie er den Hörer mit der Hand bedeckte und im Hintergrund mit jemanden sprach. Dann meldete er sich wieder: "Der Name des Programms war 'SURVEY'. Es wird nicht mehr verwendet. War das jetzt alles?" "Ja. Ich bedanke mich. Sie haben mir weitergeholfen." Er legte ohne Gruß auf. Plötzlich war alles klar und paßte zusammen. Manchmal bedarf es nur einer winzigen Verbindung zweier Informationen, von denen man von sich aus niemals auch nur im Traum angenommen hätte, daß sie zusammengehören. 'SURVEY', na klar. Gegen halb neun läutete das Telefon. Reinhards zögernde Stimme meldete sich. "Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, obwohl ich es für hirnrissig und gefährlich halte. Warum gehst du nicht mit dem, was du weißt zur Polizei. Du hast doch Beziehungen..." "Ich habe die Polizei schon eingeschaltet. Zumindest indirekt." "Was immer das heißen mag", sinnierte Reinhard sorgenvoll. "Glaub ja nicht, daß ich dich zu irgendeinem ominösen Treffen begleite. Es reicht mir schon, daß das Gerücht aus meiner Ecke kommen mußte." "Hast du nicht ...", begann ich. "Doch, habe ich", unterbrach er mich unwirsch. "Aber man weiß ja nie. Ich
werde mich jedenfalls die nächsten Tage von der Öffentlichkeit fern halten. Du hältst mich auf dem Laufenden, ok?" "Ist gebongt. Hast du SILONA erwähnt?" "Natürlich! obwohl die meisten von meinen Kumpels mich jetzt wohl für übergeschnappt halten..." "Danke, Reinhard. Ich schulde dir inzwischen schon eine ganze Menge..." "Vergiß es. Viel Glück und bleib am Leben, ok. Apropos, wie geht's eigentlich deinem Arm?" "So, so." "Paß auf, daß du nicht noch mehr lädiert wirst", warnte er mich noch zum Abschied und legte auf. Ich wartete. Es wurde dunkel im Zimmer, aber ich war zu träge, aufzustehen und das Licht einzuschalten. Außerdem konnte ich im Dunkeln besser nachdenken. Helens Gesicht tauchte unvermittelt in aller Realität vor meinem inneren Auge auf. Die aufregenden Ereignisse der letzten Tage hatten den unmittelbaren Schmerz überlagert; jetzt kam alles wieder hoch. Aber anders: ich hätte es früher nicht für möglich gehalten, aber jetzt fühlte ich nur noch Haß und alttestamentliche Vergeltungssucht in mir. Ein paar Minuten schwelgte ich in 'längeren Gedankenspielen', was ich mit dem Mörder alles anstellen würde. Fruchtlose Fantasien, aber sie halfen mir, den Druck in meiner Seele etwas abzubauen. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken. Was war mit Becker los? War er nur deshalb etwas säuerlich, weil ich mich erst jetzt an ihn gewandt hatte, und noch dazu unter dem Vorbehalt, daß es sich dabei um einen privaten Kontakt handelte? Oder steckte mehr dahinter? Er hatte auf mich den Eindruck gemacht, als wüßte er etwas sehr Wichtiges, könne sich aber nicht entscheiden, damit herauszurücken. Oder... Ein ganz neuer Gedanke schoß mir durch den Kopf. Vielleicht traute
er mir nicht mehr. Er hatte schon bei der offiziellen Vernehmung nach Helens Tod ein paar unangenehme Andeutungen gemacht. Oder war das sein Kollege? Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Vielleicht sollte ich es auch mal mit der Oxford- Methode probieren. Harhar. Gegen elf Uhr legte ich mich nebenan aufs Bett und schloß die Augen. Das elektronische Düdeln des Telefons riß mich aus dem Schlummer. Die Uhr zeigte halb drei Uhr morgens. Jemand hatte mir die Steppdecke über die Füße gezogen. Su-Lin und Phil mußten nach Hause gekommen sein. Ich tastete nach dem Lichtschalter und verfluchte wieder einmal den Gips. Schließlich schaffte ich es, mit der rechten Hand den Hörer zu erwischen "Hallo?" "Guten Morgen. Auftragsdienst. Spreche ich mit Herrn ...", die junge, professionelle Stimme stockte,"... Michail Tchostiassow?" "Am Apparat." "Es tut mir leid, daß ich Sie geweckt habe. Aber in ihrem Auftrag heißt es, daß Sie sofort und jederzeit über hinterlassene Nachrichten informiert..." "Ja, schon gut", unterbrach ich ungeduldig. "Haben Sie eine Nachricht für mich?" "Ja, der Anrufer wollte keinen Namen nennen und keine Telefonnummer hinterlassen. Die Nachricht lautet: 'Wenn Sie an einer Verwertung der IBD interessiert sind, schlagen Sie per Fax ein Treffen mit den interessierten Abnehmern vor. Faxnummer: 089/4500345." "Das ist alles?" fragte ich enttäuscht. Die junge Dame vom Auftragsdienst bestätigte dies. Ich angelte mir einen Bogen Briefpapier und Kugelschreiber vom Schreibtisch und ließ mir den Text noch einmal langsam vorlesen. "Der Anrufer hat übrigens zweimal angerufen", fügte sie noch hinzu. "Das erste Mal um 1:52 Uhr. Da wollte er aber keine Nachricht hinterlassen. Und das zweite Mal um 2:12 Uhr."
"Aha, danke", erwiderte ich, "es war also eine männliche Stimme?" Das könne sie nicht sagen, da sie den Anruf nicht selber entgegengenommen habe. Ich bedankte mich und legte auf. Mephisto, der in königlicher Erdbebenstellung auf einem dunkelblau bezogenen Sessel thronte, starrte mit weit geöffneten Augen herüber. Seine Ohren zuckten vor und zurück. Wo kommt der denn her, dachte ich schlaftrunken. Ich wählte eine andere Nummer und nach sehr langem Läuten meldete sich Beckers verschlafene Stimme. "Sie haben angebissen", sagte ich nur. Auf der anderen Seite der Verbindung blieb es kurz still. Dann stöhnte Becker: "Ach, du bist das! Ich hätte es mir ja gleich denken können. Wer ruft schon um diese Zeit an." "Na, hör mal! Bist du Kriminalbeamter oder ich?" regte ich mich gut gelaunt auf. "Was soll ich denn da als Steuerzahler dazu sagen. Geradezu empörend sowas!" "Halt die Luft an! Was hast du eben gesagt?" "Sie haben tatsächlich angebissen. Und zwar schneller, als wir erwartet hatten." "Oh, Gott! Und? Hast du etwa schon ein Treffen mit ihnen verabredet? Hoffentlich nicht..." "Nein, ich hab gerade erst die Nachricht vom Auftragsdienst erhalten. Aber..." "Du machst nichts, bis wir morgen telefoniert haben, klar?" unterbrach mich Becker. "Klar?" Ich zögerte. Mein angeborener Widerspruchsgeist regte sich. Becker hatte immer eine so verdammt bevormundende Art, die mir auf die Nerven ging. Andererseits mußte ich zugeben, daß er in diesem Falle recht hatte. "Ok", sagte ich. "Ich rufe dich an. Du weißt ja nicht, wie du mich erreichen kannst." "Ein Glück", stöhnte Becker. Er ächzte noch etwas, dann rief er entsetzt: "Mensch, weißt du eigentlich, daß es mitten
in der Nacht ist. Und ich dachte, du bist nur ein Frühaufsteher. Es ist ja erst drei Uhr!" Er knallte, ohne einen Kommentar meinerseits abzuwarten, den Hörer auf die Gabel. Ich kontrollierte kurz, ob alle brav in ihren Betten, oder vielmehr, in ihrem Bett lagen, löschte das Licht und schlief sofort wieder ein. Noch vor dem Frühstück holte ich Phil aus Su-Lins Armen und schickte ihn los, ein paar Besorgungen zu machen. Dann setzte ich ein entsprechendes Fax auf und bat Su-Lin, es persönlich abzuschicken. Nach dem Frühstück telefonierte ich nochmals mit Becker. Wir sprachen sehr lange miteinander und versuchten, die Situation so umfassend wie möglich vorzubereiten. Einige meiner Ideen gefielen Becker überhaupt nicht, aber es gelang mir, ihn umzustimmen. Nach dem - übrigens vorzüglichen - Frühstück kam der schwerste Teil: Ich mußte Su-Lin überzeugen, daß ich allein gehen mußte. Phil protestierte zwar auch zuerst, aber er akzeptierte meine Argumente eher als Su-Lin, wenn auch zögerlich. Su-Lin dagegen war fest davon überzeugt, daß ich ohne ihre und Phils Hilfe niemals lebend wiederkommen würde. Trotzdem half sie mir abwechselnd schimpfend und schniefend, meine Verkleidung, die Phil am morgen vervollständigt hatte, wieder anzulegen. Gegen Mittag betrachtete ich kritisch das Ergebnis unserer Bemühungen im Spiegel. Ein großes Problem war der Gips. Er ließ sich einfach nicht geeignet kaschieren. Und unsere Gegner wußten, daß dies ein fast untrügliches Erkennungsmerkmal war. Ich überlegte einen Moment, dann griff ich zum Telefon und ließ mich mit dem Schwabinger Krankenhaus verbinden. Nach einer Buchbinder-Wanninger-Serie von falschen Verbindungen, schaffte ich es tatsächlich, den freundlichen jungen Chirurgen ans Telefon zu bekommen, der mich erst vor ein paar Tagen verarztet hatte. Er hörte sich meine erfundene
Geschichte zuerst erstaunt, dann skeptisch und schließlich amüsiert an. Ich erzählte ihn, daß ich heute abend eine Termin für Probeaufnahmen in einem Filmstudio hätte. Ich sei irrtümlich von der Annahme ausgegangen, daß es sich dabei nur um Gesichtseinstellungen handele, aber soeben habe mich der Regisseur angeläutet und darauf bestanden, daß wir auch einige Aufnahmen aus der Totale schießen würden. Der Regisseur wisse nichts von meinem Unfall und dem Gipsarm. Und wenn er es erfahren würde, wäre ich die Rolle sofort los, den er, der Regisseur, sei bekannt dafür, daß er arbeitsunfähige Schauspieler sofort feuern würde. Die eigentlichen Aufnahmen begännen erst in vier Monaten, und ob es daher nicht möglich sei, nur für ein paar Stunden den Gips abzunehmen. Es sei doch so wichtig, etc, etc. Der Chirurg ließ sich überzeugen. Aber er bestand darauf, daß er mich vorher sehen müsse, und erst dann seine endgültige Zustimmung geben könne. Ich vervollständigte meine Ausrüstung und ließ mich von Phil ins Schwabinger Krankenhaus fahren. Eine Stunde später konnte ich erleichtert meinen befreiten Arm betasten. Selbst die frische Luft fühlte sich auf der bleichen Haut köstlich an. Eine Schwester war so freundlich, den Arm vorsichtig mit einer Waschlotion zu reinigen, und verpaßte mir eine straffen Verband und ein Dreieckstuch, in dem ich den Arm tragen sollte. Der Verband fiel unter dem Jackenärmel nicht auf. Ich versprach tausend Eide, daß ich auf den Arm achtgeben, vor allem nichts in die linke Hand nehmen, auf gar keinem Fall - Gott bewahre! - etwas Schweres hochheben und nach den Aufnahmen sofort wiederkommen würde. Die tausend Eide genügten aber nicht: ich mußte es ihnen noch schriftlich geben, daß ich das alles auf eigene Verantwortung täte, usw. Am Bonner Platz verabschiedete ich mich von Phil und schärfte ihm noch einmal ein, auf Su-Lin aufzupassen und keine wie
auch immer gearteten Aktionen zu starten, bevor sie nicht von mir gehört hätten. "Ich habe das Handy dabei", beruhigte ich ihn. "Ich melde mich, sobald ich kann." Phil schüttelte immer noch zweifelnd den Kopf. "Da fällt mir etwas ein", sagte ich, "wieso war heute morgen das schwarze Katzenvieh in meinem Zimmer? Erzähl mir bloß nicht, es hätte von alleine ins Hotel gefunden." Phil wich meinem Blick aus. "Naja, gestern abend ... Su-Lin meinte, daß wir ihn doch nicht einfach so zurücklassen könnten. So ganz allein in der fremden Wohnung..." Ich starrte ihn an. "Und da haben wir uns gedacht", fuhr er unsicher fort,"wir schauen mal vorsichtig nach und holen ihn, wenn die Luft rein ist. Es war auch wirklich niemand da", versicherte er hastig." Ich stöhnte nur und stieg ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. Als ich bereits die ersten Stufen in den muffigen UBahn-Schacht hinunterstieg, rief Phil mir durch das geöffnete Wagenfenster noch hinterher: "Grüß Adolphine von mir!" Bevor ich fragen konnte, was das nun wieder bedeuten sollte, war er schon abgefahren. Ich zuckte mit den Achseln und verschwand im Untergrund. In Thalkirchen lungerte ich eine Zeitlang an einem Zeitungskiosk herum und beobachtete die Umgebung. Nach meiner Uhr war ich noch fast vierzig Minuten zu früh dran. Als der Zeiger auf Viertel vor drei rückte, tippte ich eine Nummer in mein Handy, das Phil mir heute morgen besorgt hatte. Becker meldete sich fast sofort: "Wo ...?" "Noch in Thalkirchen." "Ich habe mir die Stelle angeschaut. Gefällt mir nicht besonders. Was Besseres ist dir nicht eingefallen? Wenn was passiert, habe ich kaum eine Chance, schnell zur Stelle zu sein."
"Es darf eben nichts passieren", antwortete ich. Mein Puls straffte meine ruhige Stimme Lügen. "Da er mich schlecht in aller Öffentlichkeit niederschießen kann, wird er versuchen, mich da hinaus zu lotsen. Bis dahin muß ich genügend aus ihm herausgebracht haben, daß es für dich reicht. Wenn wir dann bei dir vorbeikommen, ..." "Ja, ja, ich weiß", unterbrach mich Becker nervös. "Das haben wir heute morgen schon zur bis zum Erbrechen durchgekaut. Aber wenn es eben nicht so läuft, wie du dir das ausmalst ... Die Sache gefällt mir gar nicht." Ich blickte wieder auf die Uhr. Zwölf Minuten vor drei Uhr. "Also", sagte ich energisch. "Wir machen es jetzt so, wie wir es besprochen haben, ok? Zum Umdisponieren bleibt jetzt keine Zeit mehr. Ich gehe jetzt los. Sobald ich jemanden sehe, wähle ich durch." "Na, schön", kam die Bestätigung und ich unterbrach die Verbindung. Ich vergewisserte mich, daß die Nummer von Beckers Handy gespeichert war, steckte das meinige in die Außentasche meiner Safarijacke und marschierte los in Richtung Thalkirchener Brücke. An der Kasse des Tierparks Hellabrunn war erwartungsgemäß - immerhin war es Montag nachmittag - kein besonderer Andrang. Genauer gesagt, war ich der einzige Besucher weit und breit. Und aus dem herzerbrechenden Seufzen, mit dem der Kassenbedienstete seine Zeitung zusammenfaltete und mir eine Eintrittskarte verkaufte, schloß ich, daß wohl auch vor mir schon länger niemand eine Eintrittskarte verlangt hatte. "Entschuldigen Sie", fragte ich höflich den gestreßten Angestellten, der gerade die AZ wieder aufschlug. "Haben Sie zufällig einen Freund von mir gesehen. So groß etwa, mit kleinem Kopf, ziemlich gut angezogen, hat hellblaue auffällige Augen..." Ich machte ein paar illustrierende Handbewegungen, die die Zookassenoberaufsichtsperson mit den trägen Blick eines
kranken Flußpferds verfolgte. Er schüttelte lediglich den Kopf und seufzte erneut mitleidserregend. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich das Kopfschütteln nicht so sehr auf die Beantwortung meiner Frage bezog, sondern vielmehr zum Ausdruck bringen sollte, welch eine Zumutung solche Fragen im Allgemeinen darstellten. Ich zuckte mit den Achseln und suchte auf den zahlreichen, ikonographischen Hinweisschildern nach dem kürzesten Weg zum Terrarium. Dies erwies sich schwieriger als ich angenommen hatte. Der planende Geist, der hinter der Anlage der Zoowege steckte, war offensichtlich der festen Überzeugung gewesen, daß jemand, der Krokodile liebte, auch eine angeborene Zuneigung zu allen möglichen anderen Zoobewohnern haben müsse. Ich merkte bald, daß sich diese Einschätzung ganz generell auf alle Tiergattungen erstreckte: Praktisch fast alle Wegweiser zeigten in dieselbe Richtung, so daß ich gezwungenermaßen nacheinander eine Vielzahl von Tierbehausungen abschritt, während sich die Rundtour in einem großen Bogen endlich dem ausgehandelten Treffpunkt näherte, dem Terrarium, das, etwas abseits vom Hauptstrom der Besucher in einem flachen und düsteren Gebäude untergebracht war. Ich ging zunächst langsam daran vorbei und versuchte, über die zahlreichen Hecken einen Blick auf die Seiten und die Rückwand des dunkelgrün gestrichenen Gebäudes zu werfen. Kein sehr übersichtliches Gelände; da hatte Becker schon recht. Andererseits mußte es für ihn doch ein Leichtes sein, sich hier irgendwo zu verbergen. Ich konnte ihn jedenfalls nicht entdecken. Gut so. Wenn ich ihn nicht fand, würden auch meine 'Geschäftspartner' keine Lunte riechen. Auch sonst war niemand zu sehen. Dieser Teil des Tierparks war offensichtlich weniger frequentiert als die großen Säugetierhäuser und die Vogelvoliere. Ich schaute noch
einmal auf die Uhr. Noch vier Minuten. Ich öffnete die mit 'Eingang' sinnig gekennzeichnete Schwingtüre und betrat das Terrarium. Es hatte sich nicht viel verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Mit einem Blick sah ich, daß meine Geschäftspartner noch nicht eingetroffen waren; der langgestreckte Raum war leer. Ich schritt langsam die klimatisierten Glasvitrinen ab. Plötzlich stutzte ich und beugte mich etwas vor, um die Beschriftung besser lesen zu können. "Draco volans, Flugdrache, Südasien, weiblich, 1976, 'Adolphine', gestiftet von der Fa. Adolph Reithmeier" Ich durchsuchte mit den Augen das winzige, mit grellgrün leuchtenden Pflanzen fast ausgefüllte Terrarium nach etwas Geflügeltem. Endlich entdeckte ich den kleinen reglosen Körper ganz oben in der linken Ecke. Den langen Schwanz hatte der Drache dekorativ um einen Ast geschlungen. Überhaupt nicht geflügelt. Daß eine Firma ausgerechnet einen Flugdrachen stiftete. Nicht sehr publikumswirksam. Vielleicht war er von der Post falsch zugestellt worden und niemand wollte das eklige Tier mit nach Hause nehmen. "Hallo, Adolphine", sagte ich leise, "ich soll dich von deinem Freund Phil grüßen." Adolphine reagierte keinen Millimeter, wie alle ihre Stammesgenossen in den umliegenden Glaskästen. Ich richtete mich wieder auf und hinter mir knisterte etwas ganz leise. Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich holte ganz langsam Luft und fuhr plötzlich herum. Nichts. Niemand war unbemerkt in den düsteren Raum getreten. Ich bewegte ein wenig den Hals, um die steif gewordenen Nackenmuskeln zu entkrampfen. Dabei knisterte es wieder, diesmal laut und deutlich. Der Waschzettel meines Khakihemdes rieb sich am Kragen der Jacke. Ich schüttelte den Kopf und schritt langsam weiter die Reihe der kleineren Terrarien entlang bis zum Bereich der Großechsen. Ein imposantes Nilkrokodil lag zur Bildsäule
erstarrt halb im brackigen Wasser. Es hätte genausogut ausgestopft sein können. Nur die winzigen Augen funkelten bösartig. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes residierten die Schlangen. In den meisten Glaskästen sah man lediglich unförmig zusammengeknäulte Haufen schimmernder Haut. Häufig konnte ich nicht mal ausmachen, ob es sich um ein, zwei oder mehr Exemplare handelte, wo Kopf und Schwanzende lagen. 'Giftzähner (Proteroglypha)' las ich ein belehrendes Emailschild. Ich schaute mir ein paar der gut bewaffneten Giftschlangen an. 'Uräusschlange oder Aspis (Naia haie), Afrika', ein ziemlich dickes Monstrum mit derben Schuppen. Gleich benachbart ein bekannterer Name: 'Kobra oder Brillenschlange (Naia tripudians), Indien. Ich konnte aber keine Brillenzeichnung erkennen. Überhaupt schien sie ihrer afrikanischen Nachbarin zu ähneln. Ich übersprang ein paar Glaskästen mit 'Korallenottern'. 'Echte Giftschlangen, Vipern oder Ottern' stand auf dem nächsten Emailschildchen. 'Vipera' leite sich von 'Vivipara', die lebendig Gebärende ab, stand da. Aber es gebe auch Vipern, die Eier legten. Ich guckte in ein paar der kleineren Glasbehausungen, in der Hoffnung irgendwo einen Blick auf eine Lebendgeburt zu erhaschen. 'Kettenviper (Vipera russelli)', ein guter Name. Ich konnte mir richtig vorstellen, wie die Kettenviper mit ihren Ketten 'russelt'. Die 'Gabunviper (Bitis gabonica)' lag auch nur apathisch in der Ecke. "Interessieren Sie sich für Giftschlangen?" Zum Teufel, hatte er mich erschreckt. Ich hatte nichts bemerkt; er stand plötzlich hinter mir. Allein. Es war Kohler, ganz ohne Zweifel, obwohl er der dramatischen Situation angemessen mit Hut, Handschuhen und dunkler Brille ausgestattet war. Ich konnte nicht erkennen, ob er mich bereits erkannt hatte. Kohler zeigte in einen dünnen Lächeln seine kleinen, viel zu ebenmäßigen Zähne.
"Faszinierende Lebewesen. Manche von ihnen können es monatelang ohne jegliche Nahrung aushalten. Die meisten ziehen es allerdings vor, alle paar Wochen ein kleines Säugetier lebendig zu verschlucken. Niemand weiß genau, wie lange diese Beutetiere im Magen der Schlange noch weiterleben, bis die Verdauungssäfte der Schlange ihren Organismus soweit zerstört haben, daß das kleine Herz aufhört zu schlagen." Ich holte Luft und räusperte mich. "Ich nehme stark an, daß sie schon vorher an Sauerstoffmangel eingehen", sagte ich im nüchternen Ton. Kohler, der sich zur nächstgelegenen Glasscheibe hinuntergebeugt hatte und eine große Klapperschlange (Crotalus horridus) bewunderte, zuckte mit dem Kopf und schaute mich aufmerksam lächelnd an. "Sie lassen sich nicht leicht beeindrucken. Ihr Denken bleibt immer in rationalen Bahnen, Herr Tchostiassow. Oder soll ich lieber sagen: Destouches?" Er richtete sich langsam auf und trat einen Schritt zurück. "Ich bedauere es sehr, daß ich nicht schon eher mit Ihnen auf vernünftiger Basis verhandeln konnte. Unter rational denkenden Menschen muß eine beiderseitig zufriedenstellende Einigung möglich sein, die auf theatralische Effekte verzichten kann." Ich spürte, wie in mir die Wut hochstieg und mir die Kehle zuschnürte. Helens Tod war also ein 'theatralischer Effekt'! Siedendheiß fiel mir das Handy ein. Ich steckte die Hand in die Jackentasche. Sofort wurde das kühle Lächeln auf Kohlers Gesicht um dreissig Grad kälter und er fuhr ebenfalls blitzschnell mit der linken Hand in die Tasche. Ich drückte auf die Wahlwiederholung und fischte nach dem Kaugummipäckchen, das ich vorsorglich in die selbe Tasche gesteckt hatte. Während ich mir einen Kaugummi in den Mund schob, entspannte sich Kohler wieder. Wir schwiegen beide zehn Sekunden. "Sie haben gar nichts zu
sagen?" stellte Kohler schief lächelnd fest. "Ich bin hier mit einen Herrn namens Friedrichs verabredet", sagte ich langsam, "Sie kenne ich unter dem Namen Kohler." Er deutete lächelnd eine Verbeugung an. "Nehmen Sie diesen Namen als meinen zweiten." "Nun, gut", fuhr ich fort, "Sie haben sich mit mir in Verbindung gesetzt, warum?" "Herr Destouches", erwiderte er nachsichtig, "lassen wir doch die Spielchen. Sie haben Informationen, deren Publikation mich ... und andere ... in Schwierigkeiten bringen könnte. Ich bin Geschäftsmann und rechne nicht gerne mit unbekannten Größen. Daher habe ich kein Interesse daran zu warten, bis Sie sich entscheiden, aus diesem Wissen Kapital zu schlagen. Ich möchte die Angelegenheit ein für alle Mal geregelt wissen." "Um welche Informationen handelt es sich?", versuchte ich es mit einen Schuß ins Blaue. Er zog die Augenbrauen hoch. "Was soll das?" entgegnete er im leisen, vorwurfsvollem Ton. "Wir beide wissen, wovon ich rede." Ich versuchte, dran zu bleiben. Hoffentlich konnte Becker einigermaßen verstehen. Kohler sprach leider sehr leise. "Gesetzt den Fall", sagte ich und blickte träumerisch hinauf zu den Oberlichtern, "daß ich mehrere Informationen besitze, die nach meiner bescheidenen Einschätzung für Sie und ihre Bank wertvoll sein könnten." Das Lächeln erlosch auf seinen Lippen, als ob es ausgeknipst worden wäre, und er durchbohrte mich mit einem raschen Blick. "Sie bluffen", sagte er leise. "Es gibt nicht nur die SILONA Geschäfte", murmelte ich auf's Geratewohl. "Wir sollten lieber über Paulis SURVEYProgramm verhandeln..." Die Reaktion war erstaunlich. Kohler wurde plötzlich ganz blaß, dann bildeten sich auf Stirn und Wangenknochen rote Flecken. "Woher zum Teufel... ", begann er, dann
verstummte er und starrte mich nur noch an. Ich sah, wie es hinter seiner Stirne arbeitete. Kohler war nicht dumm. Ein Vorstandsvorsitzender einer erfolgreichen Bank darf nicht dumm sein. Es war nur ein Schuß ins Blaue gewesen. Und er wußte mehr von diesem Spiel als ich. Trotzdem war er in einer derartigen Streßsituation, daß er wohl kaum den kühlen Kopf behielt, den er jetzt brauchte. Ich sah an seine Augen, daß er zu einen Ergebnis gekommen war. "Das können Sie gar nicht wissen!" zischte er böse. "Diese Information war nicht in den Analysedaten enthalten, die Sie offiziell bei uns erhoben haben. Wir dachten nur, daß sie darin sein könnten, weil... aber das geht Sie nichts an. Sie oder jemand anderes haben bei uns spioniert!" Er war jetzt sichtlich wütend. Offensichtlich gehörte er der Sorte von Business Man an, die alles im Griff haben wollen und leicht die Fassung verlieren, wenn irgendetwas ihr geplantes Konzept über den Haufen wirft. Ich wandte mich wieder halb den Giftschlangen zu. Soweit ich es überblicken konnte, hatte sich keine auch nur einen Millimeter gerührt, seit ich hier stand. "Sie irren sich. Ihre eigene Frau hat mich darauf gebracht. Ich sehe jetzt, daß Sie wohl an ein ganz anderes Geschäft gedacht haben als ich", sagte ich im gelangweilten Ton, um ihn zu provozieren. "Ich hätte nicht gedacht, ..." "Schluß jetzt!" Kohler stand da, mit entschlossenen Gesichtsausdruck und einer flachen, schwarzen Pistole in der linken Hand. Der Lauf war genau auf mein Gesicht gerichtet. An der Art, wie er die Waffe hielt, sah ich, daß er nicht zum ersten Male eine Pistole in der Hand hielt. Allerdings zitterte der Lauf ganz, ganz leicht. Seine Haltung war plötzlich eigenartig verkrümmt. Der Kopf war weit nach vorne gestreckt und die rechte Schulter schien höher zu sein als die linke. Den linken Arm mit der Waffe hielt er weit vor sich ausgestreckt.
Wie auf dem Schießstand. Nur in billigen Fernsehkrimis halten die Gangster ihre Magnums locker vor dem Bauch. Wer wirklich mit Waffen umgeht, weiß, daß eine so gehaltene Handfeuerwaffe dem Schützen beim Abfeuern empfindlich verletzen kann. Ich guckte in den Lauf der Pistole und fühlte, wie sich an meinem Haaransatz Schweißtropfen bildeten. Ich wandte mich ihm langsam wieder zu, zwang mich, den Blick von der Waffe abzuwenden und ihm in die Augen zu blicken. Seine Augen flackerten. Ich sagte: "Mein lieber Kohler. Seien Sie doch nicht kindisch. Sie haben doch selbst vorhin gesagt, rational denkende Menschen können auf theatralische Effekte verzichten." Er sagte nichts. Langsam begann ich zu erzählen: "Sie oder Ihr sauberer Komplize Pauli haben irrtümlich angenommen, in den Daten, die wir routinemäßig im Rechnersystem der Interbank erhoben haben, seien irgendwelche Hinweise auf ein Surveillance- Programm namens 'SURVEY' enthalten. 'SURVEY' wurde vor einigen Jahren von einer Firma benutzt, die den Personenschutz bei der Germania übernommen hatten. Sie und Pauli waren damals Angestellte der Germania Bank." Keine Reaktion. "Unter anderen Topmanagern wird auch Arthur Sirville, der damalige Vorstandssprecher der Germania Bank, von dieser Firma geschützt. Leider umsonst. Im Oktober 1988 wird er durch eine Bombe am Straßenrand getötet. Der Personenschutz hat versagt; das Surveillance-Programm hat den Topmanager nicht retten können, obwohl das Fahrrad mit der Bombe schon einige Tage zuvor an der Stelle des Attentats stand. Wahrscheinlich, um den Fahrer an den Anblick zu gewöhnen. Ist das nicht eigenartig? Dabei hätte das Programm 'SURVEY' doch jede Veränderung der Umgebung anzeigen müssen, nicht wahr? Gerade deshalb
werden ja Computer für diese kitzlige Aufgabe verwendet: weil ihnen nichts entgeht." Wieder machte ich eine Pause, in der Hoffnung, daß Kohler sich dazu äußern würde. Aber er schwieg weiter. "Sirville wird also liquidiert. Den Anschlag schreibt man irgendeiner passenden linken Terrorgruppe zu. Es gibt ja genügend davon, nicht wahr? Später werden ein paar harmlose Sündenböcke verhaftet, bei denen jedem einigermaßen vernünftig denkenden Mensch sofort klar wird, daß sie so einen Profi-Job niemals hingekriegt hätten. Die wahren Täter werden nie gefunden und langsam wächst Gras über die Sache. Und dann, Jahre später, wird Pauli, der interessanterweise immer noch in derselben Firma arbeitet wie Sie, reichlich nervös, als irgendjemand Andeutungen über belastende Daten bei der Überprüfung durch die SecureData verbreitet. Und nicht nur das." Kohler Wangenmuskeln zuckten. "Nein, auch Sie reagieren mit Panik." "Pauli ist ein Vollidiot", spuckte Kohler zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Allerdings", bestätigte ich, "denn in Wirklichkeit ist in den Daten nicht der kleinste Hinweis auf 'SURVEY' zu finden. Pauli hat sich ganz umsonst in die Hosen gemacht. Ihre damaligen Auftraggeber werden nicht begeistert sein, wenn das alles ans Licht kommt. Wer weiß? Vielleicht stehen jetzt Sie und Pauli auf der Abschußliste." Kohlers Mundwinkel verzogen sich zu einer verächtlichen Grimasse. "Geben Sie sich keine Mühe. Sie unterschätzen die Amerikaner gewaltig." Kohler nahm den Kopf zurück und versuchte, sich zu entspannen. "Wie, zum Teufel, sind Sie überhaupt von 'SURVEY' auf das Sirville- Attentat gekommen?" wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf "Das tut nichts zur Sache. Dagegen ließe sich leicht nachprüfen, daß Pauli schon bei
der Germania Bank als Sicherheitsmann für die Rechentechnik gearbeitet hat. Das Programm 'SURVEY' oder irgendetwas, was damit zusammenhängt, muß schwer auf seinem Gewissen lasten, meinen Sie nicht? Jedenfalls wechseln Sie ein Jahr nach dem Anschlag auf Sirville zur deutschen Niederlassung der Constitution Bank und fliegen plötzlich die Leiter hinauf. Keine drei Monate später landet auch Pauli bei Ihnen. Zufall? Ein merkwürdiger Zufall ist auch, daß es ausgerechnet die Constitution Bank ist, den genau die wäre binnen kurzen von Sirvilles Plänen ruiniert gewesen..." "Das reicht!" unterbrach mich Kohler scharf. Ich konnte sehen, daß er einen Entschluß gefaßt hatte. Langsam drehte ich meinen Kopf wieder zu den Terrarien der Giftschlangen und fuhr fort: "Glauben Sie wirklich, ich sei so naiv, daß ich mich hierher begebe, ohne mich vorher abzusichern?" "Das wird sich noch herausstellen!" preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang. Sie gehen vor mir und verhalten sich vernünftig, sonst garantiere ich für nichts." Seine Stimme war merklich ruhiger geworden. Anscheinend hatte er sich wieder gefangen und verfolgte nun einen bestimmten Plan. Vielleicht sogar den Plan, den er ohnehin hatte ausführen wollen. Er steckte die Hand mit der kleinen Waffe wieder in die Manteltasche und deutete zum Ausgang. "Darf ich bitten? Aber nicht zu hastig. Schön ruhig." Er wich in einem kleinem Bogen nach hinten aus, während ich langsam an ihm vorbei zum Ausgang ging. Er blieb immer drei Schritte von mir weg. Ich drückte die gräßlich quietschende Pendeltüre auf und ließ sie direkt hinter mir zufallen. Aber er war auf der Hut und fing die Türe auf. "Weiter!"
Ich ging langsam bis zum Hauptweg und blieb dort stehen. Weit und breit niemand zu sehen. Oder doch: rechter Hand tauchte eine fünfköpfige Familie auf, die langsam auf uns zutrödelte. Kohler hatte sie auch erblickt. "Hier lang!" Er deutete nach links. Wir marschierten langsam ungefähr hundert Schritte. Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln etwas Kleines von rechts durch die Luft fliegen. Augenblicklich ließ mich fallen. Noch bevor ich auf die rechte Schulter abrollte, hörte ich links im Gebüsch ein lautes Krachen. Kohler, der die Waffe bereits in der Hand hielt, drehte sich instinktiv in die Richtung des Lärms und spähte in die uns umgebenden Hecken. Diese winzige Ablenkung genügte Becker, der bereits hinter ihm stand, um ihm mit seiner schweren Dienstwaffe die Pistole aus der Hand zu schlagen. Er traf dabei Kohlers Handgelenk. Kohler stieß einen unterdrückten Schrei aus - ob vor Wut oder vor Schmerz, konnte ich nicht sagen - und ging in die Knie. Die kleine, flache Pistole flog ein paar Schritte weiter auf den Weg. Becker hatte Kohlers linke Hand bereits in der Handschelle und zerrte ihn wieder auf die Beine, während Kohler noch immer versuchte, mit der freien Rechten die Pistole am Boden zu erreichen. Ich rappelte mich auf und schnappte mir rasch die Waffe. "Idiot", knurrte Becker, der sich bemühte, Kohlers rechte Hand zu fesseln. "Jetzt hast du die Fingerabdrücke verwischt." Ich zuckte mit den Achseln, sicherte die Waffe und steckte sie in die Jackentasche. Kohler hielt jetzt die Augen geschlossen und wehrte sich nicht mehr. Auf seiner Stirn und Wangenknochen erschienen wieder die roten Flecken. Becker winkte mir ungeduldig. "Los, komm schon! Ein bißchen dalli! Wir sollten schauen, daß wir hier wegkommen. Noch irgendjemand streift hier durch die Büsche!"
Wir schoben und zogen Kohler den Weg zurück, den wir gekommen waren, weil in dieser Richtung der Ausgang lag. Wir kamen nicht weit. Vor dem flachen Bau mit seinen stummen Bewohnern stand eine untersetzte, in einen grauen Wollmantel gehüllte Gestalt, die uns den Rücken zukehrte. Als wir nur noch fünf Meter entfernt waren, drehte sie sich langsam um und schaute uns traurig entgegen. Es war Tom. Tom Günthner, mein eigener Chef. Er war sehr bleich. Seine sonst so robuste, breite Gestalt schien zusammengesackt und ohne inneren Halt zu sein. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, wie in Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Schlages. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder. In Toms Hand befand sich ein Revolver. Ich stöhnte innerlich. Heute schien alle Welt mit Artillerie herumzulaufen; nur ich nicht. Ausgerechnet Tom. Plötzlich wurde mir einiges klar. Tom stand da und lächelte traurig. Seine Halbbrille saß ganz vorne auf seiner Nase und er schob sie mit der linken Hand bedächtig wieder nach oben. Becker, gehandikapt durch den sich wehrenden Kohler, starrte auf die Waffe in Toms ruhiger Hand. Er selbst hatte seine Dienstwaffe schon längst wieder ins Halfter geschoben, um beide Hände frei zu haben. "Lassen Sie mich sofort los!" zischte Kohler wütend und riß an Beckers Griff. Becker reagierte nicht. "Lassen Sie mich sofort los und öffnen Sie die Handschellen. Er wird sonst schießen." Tom hob tatsächlich die Waffe etwas und zielte auf Beckers Kopf. "Tom", krächzte ich. Meine Stimme versagte, und ich mußte schlucken. Tom schüttelte den Kopf ohne den Blick von Becker zu wenden. Seine Brille begann wieder nach unten zu rutschen "Das hat keinen Sinn, Albert." Seine Stimme war nüchtern und beherrscht wie immer. An Becker gewandt fuhr er fort: "Wenn Sie die Handschellen
nicht öffnen, sehe ich mich leider gezwungen, Sie ins Bein zu schießen und mir die Schlüssel selbst zu nehmen." Becker zuckte zusammen Er hatte im Laufe seiner Karriere schon einmal einen Schuß ins Bein bekommen, der nie wieder ganz ausgeheilt war. Damals war der Täter paradoxerweise sein eigener Chef gewesen. Er ließ Kohler los, der jetzt ruhig dastand, und holte langsam die Schlüssel aus der Außentasche seiner dunklen Lederjacke. Kohler drehte sich halb um und hielt ihm die gefesselten Hände hin. Tom beobachtete alles sehr genau. Ab und zu schossen seine Augen auch kurz zu mir herüber. Aber im Großen und Ganzen konzentrierte er sich auf Becker. Ich drehte den Kopf, um nach der Familie von vorhin auszuschauen. Es war keine Menschenseele mehr zu sehen. Kohler schnaubte erleichtert und herrschte Becker an: "Heben Sie die Arme! Na, wird's bald, die Arme hoch!" Becker blickte nur auf Tom. Dieser machte eine aufmunternde Bewegung mit der Waffe. Ein paar Sekunden später hatte Kohler sowohl Beckers als auch seine eigene Pistole an sich genommen. Jetzt stand er da und überlegte, während Tom uns beide in Schach hielt. Ich sah an Toms Augen, daß im Moment jeder Versuch, mit ihm zu reden, völlig sinnlos war. Er hatte seinen 'deterministischen' Blick eingeschaltet, wie er in der Firma immer genannt wurde. Normalerweise bedeutete dies, daß er sich von einem einmal gefaßten Entschluß durch nichts und niemanden abbringen ließ. Auch wenn man noch so viele überzeugende Argumente auf Lager hatte, wenn Tom diesen Blick aufsetzte, konnte man genausogut versuchen, mit einem Kaktus zu diskutieren. Hinter uns quietschte laut die Pendeltüre des Terrariums. Wir fuhren alle herum. Tom senkte hastig die Pistole. Vor der zufallenden Türe des Terrariums stand ein Mädchen in einem dunkelblauen Kostüm. Sie hielt nichts in den locker herabhängenden
Händen und stand ganz ruhig da. Sie schaute uns an mit einem angedeuteten Lächeln, als ob sie uns alle kannte und nur darauf wartete, daß wir sie begrüßten. Es war Helen. Ich glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Neben mir hörte ich einen Laut, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte: ein tiefes, ja tierhaftes Stöhnen, so als ob aller Schmerz der Welt plötzlich über einem unglücklichen menschlichen Wesen hereingebrochen wäre. Kohler starrte mit irrem Blick auf die unheimliche Erscheinung, während aus seinem weit geöffneten Mund und ohne Unterlaß dieser unmenschliche Laut hervorbrach. Beide Arme abwehrend vor sich ausgestreckt brach er ganz langsam in die Knie. Tom schaute irritiert von Kohler zum Terrarium. Er begriff nicht, was hier passierte. Ich auch nicht. Mein Gehirn war ganz leer. Ich war keines Gedankens und keiner Bewegung mehr fähig. Ich starrte nur auf die geliebte Gestalt dort vor der schäbigen grünen Türe und erwartete, daß sie sich jedem Moment in Luft auflöste. Nicht so Becker. Er stürzte sich wie ein Panther auf Tom und warf ihn ins Gras. Die grüne Türe hinter Helen sprang erneut auf und spuckte Madeleine Kortner aus, die sofort die Dienstwaffe im Anschlag hatte und mit überschnappender Stimme schrie: "Polizei. Alles hinlegen! Waffe fallenlassen!" Helen duckte sich und hob schützend die Arme vor den Kopf. Diese allzu menschliche Bewegung ließ irgendetwas in meinem Gehirn umschnappen, so daß ich sie plötzlich nicht mehr als übernatürliche Erscheinung sah, sondern als meine geliebte, lebendige Helen. Helen, die sich schützen mußte, also lebte. Helen, die beschützt werden mußte. Diese Erkenntnis durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag. Kohler neben mir hatte wohl ebenfalls den ersten Schock überwunden, denn er fummelte an seiner Jackentasche herum, obwohl Madeleines Revolver praktisch auf ihn gerichtet war. Ich drehte mich um meine
eigene Achse und legte mein ganzes Körpergewicht in einen Schlag gegen Kohlers linke Schläfe. Er kippte ohne einen Laut zur Seite. In meinem linken Arm knirschte etwas sehr häßlich und mir wurde schwarz vor Augen. Vor Schmerz.
9 Diesmal ging es nicht ohne Schelte ab. Ein angegrauter Oberarzt persönlich begab sich in die Unfall-Aufnahme, um sich das Malheur anzusehen und mir die Leviten zu lesen. Nicht gerade sanft drehte und manipulierte er an meinem geschwollenen linken Arm herum und brummte wütend in seinen nicht vorhandenen Bart. Mir war das alles ziemlich egal. Helen saß mir gegenüber und lächelte scheu. Sie hatte darauf bestanden, bei mir zu bleiben, als die Schwester sie sanft ins Wartezimmer dirigieren wollte. Und als diese darauf insistierte, daß nur Familienangehörige und nur in Ausnahmefällen usw., hatte Helen einfach erklärt, es handele sich um ihren Verlobten. Das sei Familienzugehörigkeit genug. Basta. Seit ich sie wie eine überirdische Erscheinung wiedergesehen hatte, waren wir keinen Augenblick für uns allein geblieben. Erst jetzt in der Ambulanz des Krankenhauses, als der brummige Oberarzt für einen Moment den Raum verließ, um irgendein dringend benötigtes Folterinstrument zu besorgen, erst jetzt waren wir allein und sprachen trotzdem kein Wort. Wir lächelten, schauten uns an und konnten uns nicht sattsehen. Schließlich beugte sich Helen langsam vor, blickte mir ernsthaft- forschend ins Gesicht und schlang ihre Arme vorsichtig um meinen Hals. Ich legte ihr unbeholfen den rechten Arm um die Taille, bemüht den verletzten Arm so wenig wie möglich zu bewegen. An meinem Ohr flüsterte Helen: "Ich hab immer gewußt, daß du mir gut bist." Sonst nichts. Ich bekam kein Wort heraus. Sie küßte mich ganz sanft auf dem Mund und ließ mich los. Ein paar wertvolle Sekunden lang vergaß ich alles, was hinter mir und vor mir lag, und war einfach nur glücklich. Später, es wurde schon dunkel, holte uns ein brummiger, dicker
Kriminaler mit einem zivilen Polizeiwagen ab und fuhr uns ins Präsidium. Becker war heftig in Aktion. Eine Weile saßen wir nur stumm in seinem Büro und beobachteten seine und Madeleine Kortners Geschäftigkeit. Das lokale Betäubungsmittel, das sie mir im Krankenhaus verabreicht hatten, machte mich müde. Einerseits wollte ich soviel erfahren, aber andererseits wußte ich: es ist alles vorbei und wir haben soviel Zeit zum Reden. Ein ganzes Leben. Es muß nicht alles jetzt gleich geschehen. Becker war anderer Meinung. "So", rief er und knallte den Hörer auf die Gabel. "Jetzt haben auch den Dritten im Bunde." Er lehnte sich zufrieden zurück und reckte die Arme, soweit er konnte. "Soeben haben sie Pauli in seiner Wohnung in der Egbertstrasse abgeholt. Fehlen nur noch Johanna Kohler und die beiden Möchtegern-Killer, dann haben wir alle im Kasten." Er klopfte zufrieden mit einer Minicassette auf die Schreibunterlage. "Das bricht ihm das Genick! Ich habe es vorhin abgehört. Man kann jedes Wort verstehen, daß ihr beide im Terrarium gesprochen habt." Ich nickte müde. Helen sagte nichts. Becker blickte uns prüfend an. "Ihr schaut beide ziemlich fertig aus", bemerkte er. "Ich würde vorschlagen, ihr unterschreibt mir nur noch das Vorabprotokoll, damit ich die Haftbefehle begründen kann, und dann verzieht ihr euch." Er lächelte Helen an. "Du brauchst jetzt zwar keinen Polizeischutz mehr, aber Madeleine ist sicher bereit ..." "Nein", sagte Helen entschlossen, "ich bleibe lieber bei Albert. Das heißt, wenn du willst ..." Als Antwort ergriff ich ihre Hand und küßte sie. "Nun gut, äh", sagte Becker und wühlte heftig in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch, um seine Verlegenheit zu verbergen. "Wo sind denn jetzt die verdammten Protokolle? Madeleine! Madeleine!!"
Er sprang wieder auf und rannte aus dem Zimmer. Helen beugte sich vor und lächelte geheimnisvoll. "Gehen wir zu mir oder zu dir?" fragte sie. Ich lachte. "Ich habe noch einen halben Hofstaat im Bayerischen Hof installiert, den ich aus seiner Pflicht entlassen muß", sagte ich und erzählte ihr die Geschichte von unserer Maskerade. "Du bist verrückt und ein Schuft", sagte Helen liebevoll. "Ich habe es von Anfang an gewußt: Du bist verrückt, genau auf die nette Art, die ich unwiderstehlich finde." Sie gab mir noch einen Kuß, diesmal schon etwas leidenschaftlicher. Ein Räuspern unterbrach uns bei dieser dieser angenehmen Beschäftigung. Madeleine brachte uns die Papiere zur Unterschrift. Dann verabschiedete sie sich herzlich von Helen. Die beiden flüsterten noch ein paar Sätze und kicherten, während ich mich mit meinen Mantel abquälte und mich von Becker verabschiedete. Wie üblich gab er mir nicht die Hand, sondern knurrte nur durch die Zähne: "Bis morgen, Privatschnüffler!" Nach unserem üblichen Ritual antwortete ich: "Angenehme Nachtschicht, Plattfuß!" Er grinste und winkte mit der Hand. Ich beugte mich weit über seinen Schreibtisch und sagte leise: "Ich sollte dich eigentlich dafür umbringen, weißt du?" Er beugte sich ebenfalls verschwörerisch nach vorn und flüsterte: "Aber zu meinem Glück bist du viel zu happy, deine Helen wiederzuhaben, stimmt's?" Im Taxi erfuhr ich endlich, was es mit dem Versteckspiel auf sich hatte. Helen war in der Nacht tatsächlich in ihrem Appartment überfallen und mit Chloroform betäubt worden. Als sie wieder zu sich kam, lag sie völlig nackt im Dunkeln und jemand versuchte, ihr die Kehle zuzudrücken. In Todesangst versuchte sie sich zu befreien, aber ihr Gegner war stärker. Sie verlor das Bewußtsein und erwachte erst wieder im Krankenhaus der Bundeswehrhochschule in
Neubiberg. Becker hatte den Zusammenhang mit dem Bombenattentat gerochen und ihre geheime Verlegung dorthin veranlaßt, um sie vor weiteren Anschlägen zu schützen. Die behandelnden Ärzte sagten, sie habe es nur der Ungeschicklichkeit des Mörders zu verdanken, daß sie noch lebte. Als sie eingeliefert wurde, litt sie an starker Unterkühlung und gleichzeitig an Sauerstoffmangel, verursacht durch eine lebensgefährliche Quetschung des Kehlkopfs. Sonst war sie unverletzt. Höchstwahrscheinlich hatte Helen nur deshalb die Nacht überlebt, weil infolge der Betäubung und der anschließenden Unterkühlung ihr Körpers viel weniger Sauerstoff verbraucht hatte, als normalerweise. Ähnlich wie Ertrunkene, die oft aus eiskaltem Wasser noch lebend geborgen werden können, obwohl unter normalen Umständen niemand eine so lange Zeit ohne Sauerstoff überleben kann. "Becker hat mich nach meiner Entlassung bei Madeleine einquartiert", erzählte Helen weiter, während wir durch das dunkle München kurvten. "Er hat mir verboten, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen und Madeleine hat mich kaum noch aus den Augen gelassen. Sie ist großartig", fügte sie echt weiblich, ohne jedweden Zusammenhang hinzu. "Auch mit dir durfte ich nicht reden", fuhr sie mit leiser Stimme fort. "Hermann hat tatsächlich auch dich im Verdacht gehabt." Ich nickte und sie drückte im Dunkeln fest meine Hand. Ich wußte, was das bedeuten sollte. Sie hatte nie an diese Theorie geglaubt. Sie schmiegte sich enger in meinen Arm. "Es war Kohler, nicht wahr?" flüsterte sie nach einer Weile. "Höchstwahrscheinlich", antwortete ich. "Wie er auf deinen unerwarteten Anblick reagiert hat, war ziemlich eindeutig, aber leider kein Beweis." "Aber warum?" fragte Helen. "Ich weiß es nicht, aber ich ahne es. Alles, was wir wissen, ist, daß er verzweifelt war
wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Er hat alles versucht, um zu verhindern, daß bestimmte Dinge an die Öffentlichkeit kommen. Und ich war der Anlaß, daß er dich verdächtigte. Es tut mir leid." Sie hob meine gesunde Hand und streichelte sie an ihrer zarten Wange. "Sei nicht dumm! Du konntest gar nichts davon wissen." In der Suite des Fürsten Michail Petrowisch Tchostiassow trafen wir sein treues Gefolge in heller Aufregung an. SuLin und Phil waren heilfroh, mich relativ gesund wiederzusehen. Sogar in den grünen Augen von Mephisto glaubte ich ein schelmisches Zwinkern zu erkennen. Su-Lin wollte mich gar nicht mehr loslassen, bis ihr Blick auf Helen fiel, die bescheiden in der Türe stand. Die beiden so ganz verschiedenen Mädchen beäugten sich zurückhaltend, aber nicht unfreundlich, wie es sehr hübsche Frauen häufig tun, wenn sie auf Geschlechtsgenossinen treffen, von denen sie instinktiv spüren, daß sie ihnen ebenbürtig sind. Während ich sie einander vorstellte und ein paar erklärende Worte sprach, tastete Su-Lin instinktiv nach Phils Hand, der hinter ihr stand. Helen bemerkte die Geste und ihr Lächeln vertiefte sich. Ich hatte das Gefühl, daß die beiden gut miteinander auskommen würden. Nach einem kurzen Kriegsrat beschlossen wir, heute Nacht noch die fürstlichen Privilegien auszukosten. Insgeheim graute mir schon vor der Rechnung morgen früh. Aber was war alles Geld der Welt gegen die Freude mit Helen in einem Raum zu sein, mit ihr ein Bett zu teilen, in ihren Armen einzuschlafen. Am nächsten Morgen düdelte uns - wie könnte es anders sein - das Telefon aus den Federn. Der Empfangschef war dran. Er entschuldigte sich tausendmal für die ungebührliche, weil viel zu zeitige Störung. "Aber es ließ sich leider nicht umgehen, Ihre durchlauchtigste Hoheit zu stören, weil sich hier im Empfang ein Kriminalbeamter in
Zivil befindet, der durchaus darauf besteht, mit Ihrer Durchlaucht zu sprechen. Obwohl ich ihm hundertmal versichert habe, daß Ihre Durchlaucht durchaus nicht vor 10 Uhr morgens gestört werden möchte, und ..." "Geleiten Sie ihn herauf", sagte ich schlaftrunken, "und lassen Sie ein reichliches Frühstück für fünf Personen in meinem Salon servieren." Ohne die Antwort abzuwarten, legte ich auf. Das Schmerzmittel wirkte nicht mehr. Der linke Arm tobte wieder in seinem jungfräulich-frischen Gipsverband. Der neue Gips war womöglich noch schwerer als der alte. Helen verschwand gerade im Bad. Ich bewunderte ihre wohlgeformte Gestalt mit den langen auberginfarbenen Haaren von hinten. Ihr 'doppel-kühles Hinterteil' war so ziemlich das Schönste, was ich seit langer Zeit gesehen hatte. Sie guckte verstohlen über die Schulter und lächelte zufrieden, als sie meinen anerkennenden Blick auf ihrem Körper bemerkte. Dann schloß sie die Türe endgültig hinter sich. Im Salon klopfte es. Genauer gesagt, es donnerte gegen die Türfüllung. Ich gürtete mich mühsam in einen flauschigen Bademantel und ließ den tobenden Becker herein. "Seid ihr jetzt völlig übergeschnappt?! Eine halbe Stunde habe ich gebraucht, um herauszufinden, daß der durchlauchtigste Fürst Michail in Wirklichkeit du bist, und eine weitere halbe Stunde bis ich den sturen Portier dazu gebracht habe, dich herauszuklingeln!" Ich lud ihn zur Versöhnung zu einem fürstlichen Frühstück ein, zu dem ich auch meine Gefolgschaft aus den Betten trieb. "Und?" fragte ich schließlich Becker. "Was 'und'?" knurrte Becker. "Nichts 'und'. Bis jetzt schweigen alle drei beharrlich, außer wenn Kohlers Staranwälte aufkreuzen. Erzähl du uns lieber, was es mit dem mysteriösen 'SURVEY' auf sich hat. Damit wir endlich wissen, was noch
alles auf uns zukommt. Ich hab' so ein Gefühl in den Nieren, daß die Sache noch nicht gegessen ist." Ich nickte und goß mir noch eine Tasse Kaffee ein. "Eigentlich ist das Ganze nur einem Riesenzufall zuzuschreiben. Ich fange am besten noch einmal ganz von vorne an. Ende der achtziger Jahre arbeiten Pauli und Kohler beide für die Germania Bank. Wie lange sie sich schon vorher kannten, weiß ich nicht, aber sie standen auf jeden Fall auf ziemlich vertrautem Fuß miteinander. Zur gleichen Zeit verfolgt Arthur Sirville, der Vorstandssprecher der Germania Bank eine Firmenstrategie, die ihn in bestimmten Kreisen nicht gerade beliebt macht. Er propagiert einen totalen Schuldenerlaß für einen der gigantischen Kredite an die Länder der Dritten Welt. Natürlich bezweckt er etwas damit: Er hofft, einige amerikanische Konkurrenzbanken schlucken zu können, wenn sie durch den geplatzten Kredit geschwächt sind. Auf der anderen Seite beschließt man, daß Sirville zu gefährlich ist, als daß man tatenlos zusehen dürfte. Also wird ein Killerkommando angeheuert, das den Topmanager mit absolut professioneller Methode beseitigt." "Moment", unterbrach Becker mich. "Wieviel davon ist beweisbar und wieviel ist reine Spekulation?" "Alles Spekulation", antwortete ich, "bis jetzt. Sirville wurde von Profis beschützt. Unter anderem benutzten die beauftragte Firma ein sogenanntes SurveillanceProgramm. Das ist im Prinzip ein genaues Computermodell der Umgebung des zu schützenden Objekts mit exakt vorgeschriebenen Überwachungsprotokollen. Das Programm soll alle ungewöhnlichen Veränderungen rechtzeitig anzeigen, damit der Personenschutz so früh wie möglich auf einen möglichen Anschlag aufmerksam wird. Dieses Programm hieß 'SURVEY'."
"Woher weißt du das?" wollte Helen wissen. "Ich habe die Firma ausfindig gemacht und einfach gefragt." "Nein, ich meine, woher wußtest du überhaupt den Namen 'SURVEY'?" "Joan hat versucht, mich damit zu provozieren, damals, als ich zusammen mit Su-Lin im Kaisergarten nach Phil gesucht habe. Damals konnte ich allerdings überhaupt nichts damit anfangen. Und jetzt kommen wieder unsere Freunde ins Spiel. Tatsache ist nämlich, daß das Programm 'SURVEY' versagt hat. Sirville wurde von einer Bombe getötet, deren Installation eigentlich schon Tage vorher hätte auffallen müssen. Aber nichts geschah: keinerlei Vorwarnung, daß etwas gegen Sirville im Gange sei. Jahre später stöbern wir von der SecureData auftragsgemäß im Rechnersystem der Interbank herum, und auf einmal spielen alle verrückt. Zuerst Pauli: Er will sofort seinen Chef und Komplizen Kohler informieren, wird nicht gleich vorgelassen und benutzt ausgerechnet das Wort 'Sirville' als Sesam-öffne-Dich. Sofort wird unser Auftrag gekündigt und die Interbank, sprich Pauli und Kohler, wollen sofort die von uns erhobenen Analysedaten zurückhaben. Unmittelbar darauf macht sich die zwielichtige Joan an Phil heran, versucht, mich mit dem Wort 'SURVEY' zu provozieren, und ich werde beinahe in die Luft gesprengt. Nun frage ich mich, was kann die beiden so aufgescheucht haben?" "Du meinst, Pauli hat damals - vor dem Anschlag - auf Kohlers Anordnung das Surveillance-Programm sabotiert?" fragte Su-Lin atemlos. Ich nickte. "Und er hatte irgendwo in seinen Daten noch ein Beweisstück dafür, ein Programm, eine Datei, was weiß ich? Vielleicht hat er es aufgehoben, um im Notfall gegen seinen Komplizen Kohler etwas in der Hand zu haben. Jedenfalls war er plötzlich überzeugt, wir
hätten das Beweisstück für seine und Kohlers Beteiligung am Sirville- Attentat in den Händen." "Und?" Becker beugte sich weit vor. "Habt ihr es tatsächlich gefunden?" "Nein", sagte ich, und Su-Lin schüttelte den Kopf. "Das ist der größte Witz an der ganzen Geschichte: In den AnalyseDaten ist definitiv nichts davon enthalten. Es ist mir schleierhaft, wieso Pauli auf diese Idee kam." "Jedenfalls", nahm ich den Faden wieder auf, "versuchen sie, erst mich zu beseitigen, und dann Helen, weil sie befürchten, sie könnte etwas ausplaudern - was ja auch gar nicht so falsch war." Helen lächelte verlegen. "Als das nicht klappte, versuchte Kohler, mein Schweigen zu erkaufen - zumindest tat er so. Naja, und den Rest kennen ja alle schon." Becker räusperte sich. "Also bleiben noch einige offene Fragen: Stimmen die Hintergründe zu Sirvilles Ermordung, so wie du es dargestellt hast? Hat Pauli wirklich dieses Programm sabotiert? Hat Kohler noch mehr Dreck am Stecken? Wie paßt Schmeiter in das Ganze? Warum war Günther dahinein verwickelt? Wenn wirklich diese amerikanische Constitution Bank dahintersteckt, kann das noch einen gewaltigen Wirbel geben - falls die beiden endlich singen." "Außerdem: Wo ist eigentlich diese Joan abgeblieben? Und welche Rolle spielen Tom und Karl bei der ganzen Sache?" meldete sich Su-Lin zu Wort. "Eine schmutzige und eine traurige", erklang eine bekannte Stimme. In der geöffneten Türe standen Karl Altmann und - Schmeiter. "Es tut mir leid, aber die Türe war nur angelehnt, nicht wahr?", sagte Karl entschuldigend. "Dürfen wir eintreten?" Schmeiter wirkte müde und verbraucht. Helen holte ihm einen Stuhl aus dem Nachbarzimmer und er ließ sich schwer auf die Polster fallen. Karl erschien quirlig und
aufgedreht wie immer. Nur seine Augen verrieten, daß auch er müde und besorgt war. Als alle wieder saßen blickte Karl Becker abschätzend, aber freundlich an. "Können wir offen sprechen? Ich meine, können wir davon ausgehen, daß im Interesse unserer beiden Firmen nicht gleich alles an die große Glocke gehängt wird, was hier besprochen werden muß?" Becker versteifte sich. "Ich denke", sagte ich ruhig aber bestimmt, "daß wir das in der jetzigen Situation erst dann entscheiden können, wenn die Sache restlos aufgeklärt ist." Karl nickte lächelnd und anerkennend. "Du hast dich tapfer geschlagen, Al. Und immer besonnen", sagte er lächelnd. "Wenn ich geahnt hätte, in was ich dich da verstricke, hätte ich gewiß die Finger davon gelassen." Er warf einen kurzen Blick auf Schmeiter, der still neben ihm saß und ständig die Finger streckte und zusammenballte. "Soll ich ...?" Schmeiter nickte düster. "Nun ja", begann Karl und faltete die Hände. "Die Sache schien ja am Anfang ganz harmlos, nicht wahr? Mein alter Studienkollege Anton Schmeiter hier ist, wie Sie alle mittlererweile wissen, schon lange im Aufsichtsrat der Interbank. Eigentlich wollte er sich schon letztes Jahr aus dem aktiven Geschäft zurückziehen, aber einige hartnäckige Gerüchte über den amtierenden Vorstands-Chef Kohler ließen ihm keine Ruhe. Wie so oft im Geschäftsleben der ganz Großen hatte er keinerlei Beweise oder auch nur handgreifliche Hinweise für irgendwelche Unregelmäßigkeiten, aber sein finanzwirtschaftlicher Instinkt und seine Menschenkenntnis warnten ihn, daß irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, wie?" Karl machte eine Pause und schaute nachdenklich in seine Kaffeetasse. "Schließlich wandte er sich an mich und schlug mir vor, die SecureData solle sich mal mit der
Sache befassen. Ich machte ihn klar, daß die SecureData immer nur mit ihrem Auftraggebern zusammen-, aber niemals gegen ihren Auftraggeber arbeiten könne. Außerdem hatten wir wohl kaum eine Chance ausgerechnet von denen, die wir überführen wollten, freiwillig die entscheidenden Informationen zu erhalten, nicht? Wir ließen den Plan also fallen. Aber nach drei Monaten kam Anton wieder zu mir und unterbreitete mir eine neue Idee." Schmeiter rückte unruhig auf seinem Stuhl und räusperte sich. "Vielleicht erzähle ich jetzt besser weiter", sagte er. Seine Stimme war überraschend leise. Ich hatte vorher noch nie Gelegenheit gehabt, mich mit ihm zu unterhalten. Unsere bisherigen Kontakte beschränkten sich auf die wenigen Male, wo ich ihn bei Kohler angetroffen hatte. Aber immer hatte Kohler das Wort geführt und Schmeiter sich im Hintergrund gehalten. Aufmerksam, aber ohne sich einzumischen. Er blickte an die Decke, wie um seine Gedanken zu sammeln. "Es war eine für mich unerträgliche Situation entstanden", begann er mühsam. "Ich wußte praktisch sicher, daß Kohler seinen Posten mißbrauchte, um auf Kosten der Interbank in die eigene Tasche zu wirtschaften. Schlimmer noch: Ich war mir sicher, daß er bereits eine relativ große Anzahl von Mitarbeitern in seine illegalen Geschäfte mit einbezogen und dadurch auch in der Hand hatte. Denn an vielen Stellen traf ich plötzlich auf Mitarbeiter, die sich mir gegenüber äußerst vorsichtig verhielten. Ganz im Gegensatz zu früher - wie Sie vielleicht w'ssen, war auch ich einmal ... im Vorstand der Interbank ganz im Gegensatz zu früher also, kam ich mit vielen Leuten nicht mehr klar. Sie waren .... tja, eingeschüchtert, hatte ich den Eindruck." Er überlegte einen Augenblick. "Vielleicht ... jetzt im Nachhinein betrachtet, war dies vielleicht auch teilweise bedingt durch mein wachsendes Mißtrauen. Eventuell habe
ich einigen Leuten auch Unrecht getan. Nun, das wird sich demnächst noch herausstellen. Jedenfalls konnte ich mich nicht dazu durchringen, einfach zur Kriminalpolizei zu gehen, weil ich es nicht über's Herz brachte, die Firma, die ich selber mitaufgebaut hatte, zu ruinieren. Außerdem hatte ich keinerlei Beweise." Helen sah Schmeiter mitfühlend an und goß ihm Kaffee nach. Alle im Raum Anwesenden hingen an seinen Lippen. Er nahm einen Schluck und fuhr müde fort: "Und dann hatte ich diese unselige Idee, mit der ich zu Karl ging. Ich schlug ihm folgenden Plan vor: Ich wollte veranlassen, daß die SecureData mit einer routinemäßigen Sicherheitsüberprüfung der Recheneinrichtungen der Interbank beauftragt würde. Dazu hatte ich durchaus noch den notwendigen Einfluß im Aufsichtsrat, der ja auch kontrollierend tätig sein soll. Außerdem erwartete ich in dieser Richtung auch keinen Widerstand, da sich die Betroffenen sicher rechtzeitig schützen konnten, wenn eine solche Überprüfung angekündigt wurde." "Nachdem die üblichen Datenexzerpe an die SecureData gegangen waren, ließ ich das Gerücht verbreiten, daß die Leute von der SecureData bei ihren Untersuchungen auf Unstimmigkeiten gestoßen waren. Die Gerüchte drangen, wie von uns vorgesehen, bis zu den Leuten mit dem entsprechenden schlechten Gewissen vor und wurden von diesen natürlich auch Kohler zugetragen. Ich hoffte, daß er sich durch irgendeine Reaktion darauf aus der Deckung locken lassen würde. Nie im Leben aber hätte ich mir träumen lassen, daß er zu gewaltsamen Mitteln greifen würde." Schmeiter blickte uns nacheinander in die Augen. "Bitte glauben Sie mir. Ich hätte niemals das Risiko auf mich genommen, daß einer von Ihnen durch mein Täuschungsmanöver in ernsthafte Gefahr geriete. Für
Kohler und Pauli muß weit mehr auf dem Spiel gestanden haben, als ich geahnt hatte." Karl räusperte sich. "Und dann geschah noch etwas, was wir niemals für möglich gehalten hatten, nicht wahr?" Ich nickte. "Tom." "Ja, Tom. Er hat sich verführen lassen. Wir wissen nicht, was Kohler ihm geboten hat, aber es muß beträchtlich gewesen sein, was?" Einen Augenblick war es so still in der Suite, daß man die anfahrende Strassenbahn an der Haltestelle Promenadeplatz bimmeln hören konnte. Dann stand Becker auf und räusperte sich. "Das klingt alles sehr plausibel und logisch, aber gibt es dafür auch Beweise? Ich muß Sie darüber aufklären, daß gegen Sie beide derzeit ebenfalls wegen Mittäterschaft in dieser Sache ermittelt wird. Und dieser Fall beschäftigt sich immerhin mit dreifachem Mordversuch." Karl nickte lebhaft. "Natürlich ist uns das klar", rief er. "Was denken Sie, warum wir alles versucht haben, um Sie aufzutreiben. Nachdem Albert nicht mehr auffindbar war, habe ich mich direkt an die Polizei gewandt ..." Schmeiter unterbrach ihn mit ruhiger Stimme: "Wir haben keinerlei Beweise, außer unseren eigenen Aussagen, der Tatsache, daß Kohler tatsächlich die Interbank in Millionenhöhe betrogen hat und der Tatsache, daß in den Daten, die Destouches von Pauli erhalten hatte, tatsächlich keine relevanten Informationen enthalten sind. Glauben Sie mir: Niemand bedauert diese ganze Entwicklung mehr als ich!" Er hob die Arme in einer hilflosen Geste. Das Telefon klingelte. Su-Lin hob ab und reichte den Hörer weiter an Becker. "Für Sie." "Becker. Was gibt's? Woher wißt ihr überhaupt...?"
Er verstummte abrupt. Dann sagte er nur noch zweimal ja und einmal nein, notierte sich eine längere Passage, in seinem Notizbuch und verabschiedete sich kurz angebunden. Er legte den Hörer ganz zart auf die Gabel und ließ seine Hand darauf liegen. Auf einmal ganz blaß im Gesicht sah er uns nacheinander an. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte: "Kollege Rütgers hat soeben aus Versehen das Band gelöscht." Zuerst reagierte niemand. Dann sagte ich vorsichtig: "Doch nicht etwa das Band mit Kohlers Aussage..." Becker nickte schwer. Ich holte tief Luft und sagte: "Na, dann brauchen wir uns über das Sirville-Attentat wohl keine Gedanken mehr machen. Glück für die Constitution Bank." "Abwarten", knurrte Becker grimmig. "Wir werden sie schon noch zum Reden bringen."
10 "Dann gibst du einfach 'netscape' ein und es öffnet sich ein Window mit dem WWW Browser. So." Helen schob sich eine Stück Lindt-Schokolade in ihr süßes Mäulchen und sah mich zweifelnd von der Seite an. "Glaubst du, ich kann mir das alles auf Anhieb merken? Warum läßt du mich nicht ein paar Notizen machen?" "Überhaupt nicht nötig, meine Königin", winkte ich ab. "Ich hab' die wichtigsten Schritte schon in einem Dokument zusammengefaßt, das automatisch auf deinem Window erscheint, wenn du dich einloggst. So, jetzt hat sich der Browser geöffnet und wartet auf deine Befehle. Wenn du jetzt nichts machst, lädt er in ein paar Sekunden ein voreingestelltes Dokument, die sogenannte Home Page. In deinem Falle ist dies die Home Page der SecureData. Da sind wir schon. Jetzt kannst du alles anklicken, was blau unterlegt ist, manchmal auch Bilder oder andere Icons, und der Browser lädt die dahinter befindlichen Dokumente herunter." Ich klickte auf ein Icon mit dem Schriftzug 'Employees' und eine weitere Page mit vielen Namen erschien. "Da bist du", rief Helen und zeigte mit schokoladenverschmiertem Finger. "Dreckbär! Jetzt kann ich deine Fingerabdrücke auf dem Schirm bewundern! Mach du mal weiter." Helen klickte sich munter durch meine persönliche WWW Home Page. "Was ist das da?" Ein anderer Schokofinger deutete auf ein kleines Icon. "Dahinter verbirgt sich ein Bild oder eine Graphik. Der Browser ist so eingestellt, daß er Bilder zunächst mal nicht überträgt, um die download Zeiten über Telefonleitung zu minimieren. Besser nicht anklicken..." Aber es war schon zu spät. Das gräßliche JPEG Bild von mir erschien langsam auf dem Display und wurde immer
weiter verfeinert, während die Bytes über die Modemleitung hereinpurzelten. "Aber das ist doch süß ...", begann Helen, obwohl ich ihr da ganz gewiß nicht zustimmen konnte. Bilder von mir sind bestimmt alles andere als süß. Dazu habe ich einen viel zu ausgeprägten mißmutigen Gesichtszug. Dieses Bild hatte Abel mit einer Minivideokamera geschossen, während irgendeiner Planungssitzung. In diesem Moment sagte das Powerbook: "Oops!" Im Terminal-Window erschien die Meldung: 'User viktor wants to talk to you. To reply please enter: talk
[email protected]' "Das kenn' ich", rief Helen stolz. Und mit einer einzigen fließenden Bewegung ihrer flinken Finger hatte sie den Befehl eingegeben. Während die Verbindung zu Viktors Rechner aufgebaut wurde, vergrub ich mein Gesicht in Helens duftendes Haar und küßte sie sanft den schlanken Hals hinauf bis zu ihrem Ohr. "Nicht! Das kitzelt. Ich dachte, du wolltest mir was beibringen..." "Aber nur, weil du wissen wolltest, was ich 'die ganze Zeit vor der blöden Kiste da mache'. Ich hatte was viel Unterhaltsameres vorgeschlagen, nämlich ..." "'Blöde Kiste' habe ich nicht gesagt!" "Aber so was Ähnliches!" Unser lieblicher chat wurde von Viktor unterbrochen, der endlich zu tippen begann. Das Window teilte sich in zwei Schreibbereiche und im oberen Teil erschien: Hi, Grizzly! Mann, ist das eine lahme Verbindung! Laesst du dir die Bytes einzeln durchsagen??? :-( "Grizzly?", fragte Helen verwundert. "Mein neuester Spitzname im Internet Relay Chat, kurz IRC. Wahrscheinlich bezieht er sich auf die bedauerliche Tatsache, daß ich das für Hacker astronomische Alter von dreissig bereits überschritten habe."
Hallo? Klappt was nich??? :-D "Am besten antwortest du ihm mal, sonst loggt er sich wieder aus", deutete ich auf den Schirm. Helen begann, mit einer Affengeschwindigkeit zu tippen. Wenn man sah, mit welcher Geschwindigkeit die Zeichen auf dem Bildschirm erschienen, konnte man über die verzweifelten Bemühungen einiger Ingenieure, ein automatisches Diktiergerät mit Spracheingabe zu entwickeln, nur müde lächeln. Hi Viktor. Hier ist Helen. Grizzly steht hinter mir, aber er traut sich nicht zu tippen, weil er sich nicht blamieren moechte. Habt ihr euren Campingtrip gut ueberstanden? Eine Weile blieb der Schirm unverändert. ... Moment mal. Das ist jetzt ein bisschen viel auf einmal. Ist das die Helen, die ... ich meine ... ich dachte ... Al! Verarschst du uns jetzt? Das waere ziemlich geschmacklos!!!!! :-(((( Nein, Viktor. Ich bin wirklich DIE Helen. Wenn du willst, kannst du mich anrufen und meine Stimme hoeren. Leider kennen wir uns ja noch nicht. Ich weiss nur noch, wie ihr uns damals von den Typen vor meinem Haus in Haidhausen befreit habt. Hm, das ist aber echt eine tolle Neuigkeit!!!!! :-) = Sonja :-D = Viktor Gratulation zur Wiederbelebung, sozusagen. Aeh, entschuldige, ich bin wohl etwas durcheinander. Ich geb mal an Sonja weiter Hallo Sonja. Hi Helen, unbekannterweise. Wir sind ja quasi Nachbarn, gell? Ist Al auch bei dir? Seid ihr gerade gegenueber? Zweimal ja. AlGrizzly steht hinter mir und wir sind in meiner Wohnung in Haidhausen. Dann kommt doch einfach mal herueber. Hier sieht's zwar aus wie in einem Pfadfinderlager, aber ich glaube, wir wuerden dich gerne kennenlernen ... Helen, hier ist wieder Viktor: sag Al, ich habe auch einen weissen Mondavi hier. Dann kommt er sofort! ;-D "Laß mich auch mal ran", sagte ich und Helen nahm widerwillig ihre Hände von der Tastatur. Das chatten schien
ihr Spaß zu machen. Hi Sonja und Viktor. Hier ist Grizzly. Wir kommen gerne auf einen Sprung vorbei. Jetzt gleich oder wollt ihr euch erst mal auf den zivilisatorischen Standard Mitteleuropas bringen? Ich glaube, das ist eine gute Idee. Sonja stinkt wie ein Iltis ödkä vsäsakefijf r q^2eswsaa Aeh, sorry. Sonja hat mit dem Rucksack nach mir gehauen und ich bin mit dem Ellenbogen auf die Tastatur gekommen. Was ich sagen wollte: Kommt doch in einer halben Stunde, ok? Ok, wir bringen was zu essen mit. DAS IST EINE SEHR GUTE IDEE! ABER BITTE NUR HACKERGERECHTE KOST !!! Cu Die talk Verbindung wurde unterbrochen. Helen schaute mich fragend an. "Unter 'hackergerechter Kost' meint Viktor natürlich Pizza. 'Cu' ist die Abkürzung für 'see you', also so was wie 'bis gleich'." "Aha. Und was bedeuten diese kryptographischen Zeichen da?" Sie deutete auf :-) und :-D. ":-) bedeutet ein Smily, also Freude, Lächeln. :-D heißt entsprechend lautes Lachen. Wenn du den Kopf auf die linke Seite legst, kannst du es besser erkennen. Man nennt solche Zeichen emoticons." Helen betrachtete den Chat mit schiefgelegtem Kopf. "Dann heißt ;-) wohl Augenzwinkern?" "Genau und :-* heißt ..." Ich demonstrierte lang und anschaulich, was das Emoticon :-* bedeutete. "Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit", flüsterte Helen, als sie wieder zu Atem kam. Ich drängte sie behutsam zum nächsten Sessel hinüber. Helen kicherte, während wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib zerrten. "Das ist unfair! Du hast es viel leichter mit meinen Klamotten. Warum hast du immer so komplizierte Hosenverschlüsse?" "Dafür finde ich bei dir ein - übrigens ganz entzückend kleidsames - Teilchen mehr, als du bei mir, meine Königin",
erwiderte ich, während ich den erwähnten Traum in Weiß bewundernd entfernte. Die Aktivitäten der nächsten Viertelstunde verhinderten jede weitere Unterhaltung, wenn man mal von zärtlichem Geflüster und atemlosen Gestammel absah. Mit etwas Verspätung läuteten wir gegenüber bei Sonjas Appartment. Gleichzeitig mit uns traf auch der Pizzabote ein, dem ich die vier Pizzas gleich abnahm. Sonja öffnete die Türe, braungebrannt und sportlich flott gekleidet wie immer. Viktor dagegen merkte man den anstrengenden Ausflug schon etwas mehr an. Er saß apathisch in die Ecke eines hübsch gestreiften Sofas geschmiegt, hatte die Beine hochgelegt und hielt ein Weißbierglas in der Hand. Als er Helen ansichtig wurde, erhob er sich immerhin und beglückwünschte sie zu ihrer Rettung. "Aber eins muß ich dir gleich sagen", fuhr er fort und fixierte sie mit kritischem Blick. "Laß dich ja nicht mit dem da ein." Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich. "Der zieht den Ärger an, wie die Fliegen den Honig. Nicht auszuhalten mit dem Kerl." Helen lächelte ihn fröhlich an. "Zu spät", sagte sie glücklich und schmiegte sich an mich. "Ich hab's ja geahnt", stöhnte Viktor in gespielter Verzweiflung. "Ich ..." "Jetzt ist's aber genug", schimpfte ich, auf Viktors kleines Schauspiel eingehend. "Wer hat denn vor nicht mal drei Jahren seine Sonja in so eine grässliche Geschichte hineingezogen?" "Das war etwas ganz anderes", protestierte Viktor. "Wir wurden das Opfer einer Internetverschwörung, die ..." "Sein wievieltes Weißbier ist das?", fragte ich Sonja, die uns inzwischen etwas zum Trinken reichte. Sonja lachte und bat Helen, Viktors Geschwafel nicht allzu ernst zu nehmen. "Wieso? Er ist doch sehr nett. Selbe Sorte, nehme ich an?"
Sonja verdrehte die Augen und lachte wieder. "Ich fürchte, ja." Sie blickte Viktor zärtlich an. "Da kannst du mal sehen, was auf dich zukommt", meinte sie mit einem Seitenblick auf mich. Ich erkundigte mich höflich nach ihrem Campingtrip in den Alpen. Viktor stöhnte nur. Sonja berichtete mit Begeisterung in den Augen von den herrlichen Erlebnissen, die sie im Karwendel gehabt hatten. "Von wegen herrlich", maulte Viktor. "Soll ich dir mal meine 5000 Mückenstiche zeigen?" fragte er Helen. "Jetzt nicht. Danke", lächelte Helen. Sonja guckte spöttisch. Dann tuschelte sie eine Weile Helen ins Ohr und beide brachen in schallendes Gelächter aus. Ich schaute Viktor fragend an. "Was war denn so komisch? Ich möchte auch mal lachen." Viktor zögerte und fuhr sich mit beiden Händen durch das struppige Haar, aber dann erklärte er: "Ich habe ... an einer äußerst exponierten Stelle einen Wespenstich abgekriegt. Naja, es war nicht sehr schmerzhaft, aber - wie soll ich sagen, äh ..." "Es war bombastisch", platzte Sonja heraus, und beide Mädchen prusteten wieder los. Viktor wandte ihnen würdevoll den Rücken zu. "Naja, wenn man so einen Stich in ein Körperteil erhält", erklärte er ernsthaft, "ein Körperteil, das an sich schon unter gewissen Umständen zum Anschwellen neigt, dann kannst du dir ja vorstellen ..." Ich winkte ab. "Hab schon kapiert. Sonja war sicher begeistert." "Mhm." Sonja und Viktor wollten andererseits ganz genau wissen, wie es uns inzwischen ergangen war. Und so berichtete ich zum x-ten Male die ganze Geschichte, während die anderen drei die Lage ausnutzten und mir auch noch die halbe Pizza wegfraßen. "Nun ja", sagte Viktor mit vollem Mund und schob sich das letzte Stück meiner Funghi in
den Rachen, "ihr habt aber auch ganz schön Schwein gehabt. Hätte leicht eine der vielen Pistolen mal losgehen können, oder?" "Und was passiert jetzt?" wollte Sonja wissen. "Also, die drei Haupttäter Kohler, Günthner und Pauli sitzen in U-Haft. Die beiden Möchtegern-Killer Gnom und Dampfwalze sind flüchtig. Becker meint, daß sie schon außer Landes sind. Dasselbe gilt für Kohlers Frau Joan alias Johanna. Vermutlich hat Kohler sie schon vor dem letzten Wochenende in Sicherheit gebracht." "In der Interbank ist die Hölle los", fuhr Helen fort. "Gegen sechs weitere Angestellte und ein paar Verbindungsleute bei anderen Banken wird ebenfalls ermittelt. Noch ist niemandem klar, wo das ganze veruntreute Geld eigentlich hingeflossen ist." "Wahrscheinlich längst auf schweizer Nummernkonten", brummte Viktor und schenkte sich noch ein Glas ein. "Gibt's für euch wenigstens eine Belohnung?" "Nö", schüttelte ich bedauernd den Kopf, "von wem denn auch?" "Und die ganze Geschichte um das Attentat auf Sirville wird systematisch unter den Teppich gekehrt", fuhr Helen fort. "Becker war fuchsteufelswild, als er von seinem Chef persönlich die Anweisung bekam, sich nicht mit unbeweisbaren Spekulationen abzugeben." "Trotzdem hofft er immer noch, daß Kohler oder Pauli eine Aussage dazu machen", fügte ich hinzu. "Und wo sind SuLin und Mephisto?" fragte Sonja. Helen und ich, wir wechselten einen Blick und mußten lachen. "Ihr werdet es nicht glauben, aber Su-Lin und Phil haben ihre Rollen im Bayerischen Hof so gut gefallen, daß sie einfach dort geblieben sind", sagte Helen. "Sie meinten, es werden die lustigsten Flitterwochen, die man sich vorstellen kann."
"Vor allem Flitterwochen vor der eigentlichen Hochzeit", ergänzte ich. "Und Mephisto bekommt täglich von einem livrierten Diener Wiskas für Katzenkinder serviert", vervollständigte Helen kichernd. Im Flur düdelte es. "Nanu? Unser Telephon klingt aber anders", meinte Sonja. "Habt ihr ein Handy dabei?" Ich ging hinaus und nahm das Gespräch entgegen. Es war Becker. "Gut, daß ich dich erreiche. Es ist etwas ziemlich Unangenehmes passiert." Er machte eine seiner berühmten Kunstpausen. "Kannst du reden?" "Na klar", erwiderte ich ungeduldig. "Ich bin hier nur bei Viktor zum Abendessen." "Oh, Gott. DER Viktor? Laß bloß die Finger von dem. Der zieht den Ärger an, wie Honig die Fliegen. Wußtest du, daß er beim BND ist?" "Logo. Laß Viktor mal meine Sorge sein. Was ist passiert?" "Kohler ist tot. Er hat sich gestern Nacht in der U-Haft die Zunge durchgebissen und ist langsam verblutet." Ich pfiff durch die Zähne. "Ja, kann man wohl sagen", fuhr Becker fort. "Er hat wohl gedacht, daß er nach Paulis Geständnis nicht mehr viel Chancen hatte." "Welches Geständnis?" wollte ich wissen. "Naja, eigentlich gibts gar kein Geständnis, aber ich hab' ihm erzählt es gebe eins." Ein paar Sekunden blieben wir beide stumm. Dann seufzte Becker und fuhr fort: "Na, wie dem auch sei. Er hat hoch gesetzt und alles verspielt. Und wie ein großer Spieler wußte er auch, wie man gründlich verliert. Hör zu: ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, es kommt noch was auf uns zu, ok?" "Wie kommst du darauf?"
Am anderen Ende blieb es etwas still. "Ich weiß nicht", sagte er schließlich zögernd. "Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl in den Nieren. Außerdem..." "Was?" "In Kohlers Zelle haben wir eine komische Sache gefunden..." "Jetzt mach's nicht so spannend. Dir muß man ja jedes Wort aus der Nase ziehen. Was habt ihr gefunden?" Becker holte hörbar tief Luft. "An der Wand, in der Zelle, in der Kohler... verblutet ist, haben wir am morgen eine eigenartige Zeichnung entdeckt. Er muß sie mit den Fingern gemalt haben, mit seinem eigenen Blut. Jedenfalls glauben wir das ... Sie stellt eine grobe Skizze einer Schlange dar mit einem ganz eigenartigen Muster auf dem Rücken." "Kohler war ein Fan von Giftschlangen. Das wissen wir ja." "Schon. Die Schlange hat ein weit aufgerissenes Maul und zeigt ihre Giftzähne. Vor diesem aufgerissenen Maul hat er ein riesiges A hingemahlt." Wir schwiegen beide ein paar Sekunden. "A wie Albert Destouches", sagte ich. "Könnte auch A wie Anton Schmeiter sein. Wir können ihn nicht mehr fragen." "Hm." "Naja, wie dem auch sei, Privatschnüffler. Ich wollte es dir nur mitteilen. Du hörst von mir, wenn sich etwas tut..." "Kannst du mir ein Photo von der Zeichnung besorgen?" "Ja, ich glaube, ich hab' eins da. Ich scanne es ab und schicke dir die Graphik als email, ok?" "Ok, danke für den Anruf." "Ciao, Privatschnüffler." "Servus, Plattfuß." Ich unterbrach die Verbindung und steckte das Handy weg. Der kleine Flur in Sonjas gemütlicher Wohnung war fast dunkel. Nur durch die angelehnte Türe zum Wohnzimmer drang ein schmaler Lichtstreifen herein und fiel über wirr
durcheinander gestapelte Gepäckstückeund Teile der Campingausrüstung. Die Stimmen der anderen hörte man gedämpft, aber fröhlich aus dem Wohnzimmer. Warum nimmt sich jemand freiwillig die Möglichkeit an diesem einzigartigen, ja , einzigen Erlebnis teilzunehmen, das wir Leben nennen? Selbst im Gefängnis, selbst in Armut und Elend ist es doch immer noch besser zu leben - auch wenn man leidet - als gar nicht mehr zu sein. Ich hatte bisher im Tod niemals ein Gegenstück zum Leben gesehen. Das Leben ist alles, der Tod ist nichts. Und das Nichts gibt es nicht. Also ist er auch kein Gegenstück. Er ist weniger. Warum sich also absichtlich aller Dinge berauben? Die vielen Menschen, die sich aus was für Gründen auch immer das Lebens nehmen, ich habe sie nie ganz verstanden. Gut, einige schon. Wenn dir der Tod qualvoll und unvermeidlich sicher ist, ok. Aber aus Ehrgefühl? Liebeskummer? Schande? Oder gar materiellen Verlusten? Der Tod als Flucht aus der ultimativen Falle? Unsinn! Wenn ich flüchten will, suche ich einen Ausweg aus einer Situation. Der Tod aber ist kein Weg; er führt nirgendswo hin. Die nächste Stufe erreichen. In der Entwicklung nicht stehenbleiben. Kohler hatte sich dieser Möglichkeit für immer beraubt. Ich trat durch den Türspalt in das warme Licht des Wohnzimmers, zu den lebhaften Stimmen der Freunde, ins Leben. ENDE