Silber Grusel � Krimi � Nr. 388 �
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 388 �
Desmond Black �
Der Wolfskreis �
Der Mann blieb stehen. Ein kaltes Prickeln durchlief seinen Körper, sein Gesicht verzerrte sich. Er lehnte sich schwer atmend an die Hauswand. Dunkelheit umgab ihn. Schweiß trat auf seine Stirn, und er hatte das Gefühl, sein Hemdkragen wäre zu eng. Mit einem Ruck riß er ihn auf. Der Hals schwoll an, ein heftiges Zittern erfaßte die Gestalt. Aus der Tiefe der Kehle drang ein dumpfes Knurren. Der Brustkorb blähte sich. Die Knöpfe sprangen vom Hemd, und dichtes, struppiges Haar kam zum Vorschein. Der Mann gab hechelnde Laute von sich. Seine Augen nahmen einen eigenartigen Glanz an. Er starrte auf seine Hände, die sich allmählich verwandelten und zu Pfoten wurden. Scharfe Krallen schimmerten im Licht des Mondes. Das Gesicht des Menschen verformte sich. Zuerst bedeckte es sich mit Haaren, dann traten die Augen zurück, die Ohren wurden spitz und wanderten nach oben. Zuletzt stieß eine feuchte Schnauze nach vorn… Der Wolf war fertig! * Jill Santelli, 25, schwarzhaarig und bildhübsch, entstammte einer musikalischen Familie. Ihr Vater war Sänger im Chor der Mailänder Skala und ihre Mutter in Italien eine bekannte Pianistin gewesen. Von ihrer Jugend hatte Jill nicht viel gehabt, denn ihre Eltern gingen häufig auf Tournee. Das hieß für sie: ein paar Tage in dieser Stadt in einem Hotel, eine Woche in jener Stadt im Hotel – keine Freunde. Das hörte erst auf, als Jill Santelli alt genug war, um ihren eige3 �
nen Weg zu gehen. Trotz der Nachteile, die ein Künstlerleben mit sich brachte, gehörte ihre Liebe ebenfalls der Musik. Sie spielte sechs Instrumente. Violine am besten. Mit 21 ging sie nach England. Sie ließ sich in London nieder, und seither gehörte sie dem Orchester eines bekannten Musicaltheaters an. Ihren Geigenkasten unterm Arm, verließ sie das Theater kurz vor Mitternacht. Der Pförtner, ein alter grauhaariger Mann mit gutmütigen Augen, lächelte ihr freundlich zu. »Wieder mal geschafft, Miß Santelli?« »Ja, Mr. Corner.« »Das Publikum hat heute wieder mal getobt.« »Es war phantastisch. Eine Bombenstimmung. Ich liebe Abende, an denen die Zuschauer so richtig mitgehen.« »Das wünschen sich alle, die im Showgeschäft tätig sind. Ein Publikum, das auf seinen Händen sitzt und zu faul zum Applaudieren ist, ist jedem Künstler ein Greuel.« Jill Santelli wünschte James Corner eine gute Nacht. Er gab diesen Wunsch zurück, die junge Dame trat durch die Bühnentür ins Freie und sog genießend die Luft ein. Es war Frühling. Die Natur schickte sich an, allmählich zu erwachen, und auch in den Menschen entwickelten sich gewisse Triebe. Es war eigentlich ungewöhnlich, daß eine so hübsche junge Frau wie Jill Santelli keinen festen Freund hatte. Sie war gegen eine zu frühe Bindung. Man hatte ihr die Jugend gestohlen, und sie mußte versuchen, wenigstens einiges davon nachzuholen. Erst wenn sie das Gefühl hatte, nichts versäumt zu haben, wollte sie sich nach einem Gefährten fürs Leben umsehen. Dafür war es aber noch zu früh. »Jill!« rief plötzlich jemand hinter ihr. »Jill, so warte doch!« Sie drehte sich um. Bruno Boyar eilte auf sie zu, einer ihrer nettesten Kollegen, immer freundlich und hilfsbereit. Sie konnte 4 �
von ihm alles haben. Er sah nicht übel aus, hatte dichtes, dunkles Haar, war groß und breit in den Schultern. Er wäre gern mehr gewesen als nur Jills Kollege. Sie wußte das natürlich und schirmte sich automatisch vor ihm ab. Das bedeutete aber keinesfalls, daß sie ihn nicht mochte. Ihre Beziehung sollte nur nicht auf eine Einbahnstraße zusteuern, in der eine Umkehr nicht mehr möglich war. »Wir haben heute noch keine zehn Wörter miteinander geredet«, sagte er vorwurfsvoll. Sie lächelte. »Wir mußten ja auch arbeiten.« Er spielte mehrere Blasinstrumente. Meistens wurde er als Posaunist eingesetzt. »Manchmal habe ich das Gefühl, du gehst mir aus dem Weg«, sagte er. »Stimmt das, Jill?« Sie lachte. »Wie kommst du denn darauf?« »So etwas spürt man. Warum bist du so abweisend zu mir, Jill? Du weißt, was ich für dich empfinde. Magst du mich nicht?« »Doch, du bist ein lieber Kerl, Bruno.« »Aber du willst nichts von mir wissen.« »Das ist doch Unsinn. Ich kann dich wirklich gut leiden.« »Darf ich dich nach Hause bringen?« »Nein.« Die Antwort kam rasch und entschieden. Er nickte. »Da siehst du’s. Nicht mal das erlaubst du mir. Wie sollen wir da denn einander näherkommen?« »Hoppla, du entwickelst ja Frühlingsgefühle!« »Stört dich das?« »Aber nein. Es muß wohl so sein.« »Dich läßt der Frühling völlig kalt, nicht wahr?« »Das ist nicht wahr. Ich liebe es, zu beobachten, wie die Knospen wachsen und die ersten Blüten unser Auge erfreuen.« »Erwacht in dir nicht auch die Sehnsucht, mit jemand zusammen zu sein?« 5 �
»Nein.« »Und das findest du nicht eigenartig?« »Absolut nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Also da stimmt etwas nicht. Hat dir mal ein Mann sehr wehgetan, Jill? Ich könnte diesem Idioten den Hals umdrehen. Wie soll ich das reparieren, was er kaputtgemacht hat? Ich müßte Psychiater sein, um den Weg zu deinem Herzen zu finden… Dort drüben steht mein Wagen. Ich bitte dich, steig ein. Gönn mir wenigstens die Freude, dich noch ein bißchen in meiner Nähe zu haben.« »Na schön, du Quälgeist, aber ich erlaube dir nicht, einen Umweg zu machen. Du fährst wie immer nach Hause. Ich fahre ein Stück mit und gehe den Rest des Weges zu Fuß. Versprochen?« Er seufzte. »Versprochen, aber unter Protest.« Er blickte zum tintenfarbenen Nachthimmel empor. »Warum muß ich bloß ein so sonderbares Mädchen lieben?« »Niemand zwingt dich dazu.« »Doch, der Zwang ist in mir. Ich kann nichts dagegen machen.« Bruno Boyar schloß seinen silbermetallicfarbenen Datsun Stanza auf. Jill glitt auf den Beifahrersitz. Den Geigenkasten stützte sie vor sich auf den Boden. Bruno Boyar zündete die Maschine. Mit dem Drehen des Startschlüssels schaltete sich das Autoradio ein. Mantovani und seine singenden Geigen erfüllten im Stereosound das Fahrzeug. Boyar fuhr los. Er redete viel. Jill Santelli fand, daß er besser daran getan hätte, hin und wieder zu schweigen. Vielleicht wäre dann heute abend mit ihnen beiden etwas passiert… Aber der junge Mann konnte das nicht wissen. Er glaubte, Jill wollte unterhalten werden und kam vom Hundertsten ins Tausendste. Sie fuhren am Regent’s Park vorbei und erreichten wenig spä6 �
ter Paddington. »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Jill Santelli. »Darf ich dich nicht doch…« »Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast?« »Ja, natürlich. Ich dachte nur…« »Besser, du denkst nichts«, sagte Jill schmunzelnd. »Du scheinst mir eine zu ausgeprägte Phantasie zu haben.« Er schaute sie nachdenklich an. »Hör mal, was willst du damit sagen?« »Es sollte nur ein harmloser Scherz sein« erwiderte Jill. »Tut mir leid, daß er danebengegangen ist.« »Der Gedanke, dich allein nach Hause gehen zu lassen, gefällt mir gar nicht, Jill.« »So war es abgemacht.« »Nachts treibt sich lichtscheues Gesindel in dieser Gegend herum.« »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich kann sehr gut auf mich aufpassen«, entgegnete Jill Santelli. Um sein seelisches Leiden zu mildern, rutschte sie ein Stück auf ihn zu, küßte ihn auf die Wange und flüsterte: »Wenn mir mal nach einem sehr guten Freund zumute ist, Bruno, bist du der erste, der es erfährt, okay? Mehr kann ich dir im Moment nicht versprechen. Du mußt mir Zeit lassen, dann… vielleicht…« »Ich lasse dir soviel Zeit, wie du brauchst.« »Ich danke dir für dein Verständnis. Ich weiß, daß ich ein bißchen verrückt bin.« »Das stimmt nicht.« »Ich bin anders als andere Mädchen.« »Das macht deinen besonderen Reiz aus.« »Das hast du lieb gesagt, Bruno. Hab Geduld mit mir. Gute Nacht!« »Gute Nacht, Jill! Wenn du nicht schlafen kannst und mit je7 �
mand sprechen möchtest, ruf mich an. Am Telefon besteht für dich keine Gefahr, daß ich dir zu nahe komme.« Sie stieg aus und drückte ihren Geigenkasten mit beiden Armen gegen die Brust. Ihr Lächeln verriet ihm, daß er trotz allem Chancen bei ihr hatte. Er mußte nur den richtigen Zeitpunkt erwischen. Auf den mußte er warten können, dann würde es zwischen ihm und Jill wunderbar werden. Die junge Frau winkte. Er winkte zurück und fuhr weiter, ohne zu ahnen, daß er sie zum letztenmal lebend gesehen hatte… * Der Werwolf pirschte durch die Dunkelheit, ein kraftstrotzendes Monster, weiß schimmerndes Raubtiergebiß mit mörderischen Reißzähnen, krallenbewehrte Pranken, Mordlust in den brennenden Augen. Er suchte ein Opfer. Ihm war es gleich, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt. Ein Mensch mußte es sein… Nur ein Mensch, in dessen Fleisch er seine Zähne schlagen, dessen Blut er trinken konnte. Ziellos jagte das Monster durch die finsteren Straßen. Plötzlich verharrte der Werwolf und spitzte die Ohren. Trippelnde Schritte… Er zog die Luft prüfend ein und nahm Witterung. Ein Opfer… Endlich… * Jill Santelli lächelte. Bruno Boyar war ein guter Kerl. Es tat ihr leid, daß er ihretwegen so litt, aber sie konnte es im Augenblick nicht ändern. Hätte sie sich aus Mitleid mit ihm einlassen sollen? Nein! Wenn es passierte, mußten sie es beide wollen und soweit war Jill noch nicht. Aber sie konnte sich vorstellen, daß es mit ihr 8 �
und Bruno eines Tages klappen würde, vorausgesetzt er brachte die dafür erforderliche Geduld auf. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Jill beschäftigte sich in Gedanken weiterhin mit Bruno Boyar. Wenn er ihr Partner fürs Leben werden sollte, wenn sie ein Kind von ihm bekam, würde sie ihren Beruf an den Nagel hängen, obwohl sie ihn liebte und er sie ausfüllte. Sie wollte nicht, daß ihr Kind eine Jugend ähnlich der ihren hatte. Ihr Kind sollte bei der Mutter aufwachsen, die Zeit hatte. Bei ihr sollte das Kleine nicht hin- und hergeschubst werden und in Hotelkorridoren spielen müssen… Jill Santelli lachte in sich hinein. Mädchen, du bist deiner Zeit weit voraus, dachte sie, soweit sind wir ja noch gar nicht. Ihr Gedanke riß jäh ab. Ein Geräusch war an ihr Ohr gedrungen. Sie wandte sich während des Gehens halb um und erblickte… einen Werwolf! * Bruno Boyar hatte den Eindruck, an diesem Abend bei Jill Santelli einen Schritt weitergekommen zu sein. Er liebte sie aufrichtig und war nicht bloß auf ein flüchtiges Abenteuer aus. Dafür war ihm Jill viel zu schade. Wenn sie ihn um Zeit bat, wollte er sie ihr lassen. Gut Ding braucht Weile, dachte er und schmunzelte. Boyar lenkte seinen Datsun Stanza die Chepstow Road entlang. Er würde vor Jill Santelli zu Hause sein, eine Dusche nehmen und sie vielleicht anschließend anrufen. Dagegen konnte sie nichts haben. Er wußte, daß sie ein Nachtmensch war. Sie ging immer erst zu Beginn des neuen Tages zu Bett. Sein Anruf würde sie also nicht stören. Er blinkte rechts, lächelnd ließ Bruno Boyar den Wagen ausrol9 �
len. Er war zu Hause. * Jill Santelli traute ihren Augen nicht. Grauenerregend sah das kraftstrotzende Monster aus. Die Augen des Ungeheuers schienen zu glühen. Eine blutrote Zunge hing aus dem Maul der Bestie. Die junge Frau sah das schreckliche Raubtiergebiß und zitterte wie Espenlaub. Daß es solche Scheusale gab, hätte sie nicht für möglich gehalten, aber dieser Wolf war echt. Das war kein verkleideter Mensch, dem es gefiel, nachts junge Mädchen zu erschrecken, die sich auf dem Heimweg befanden. Der Werwolf knurrte. Seine Lefzen entblößten die gefährlichen Reißzähne. Jill Santelli ließ vor Schreck beinahe den Geigenkasten fallen. Sie begriff, daß sie für eine zweite Flucht nicht mehr genügend Kraft besaß. Sie lief um ihr Leben und durfte es doch nicht behalten. Der Wolf war nicht hinter, sondern vor ihr. Sie bemerkte es erst, als sie gegen seinen muskulösen, breiten Körper prallte. Ihrer Kehle entfuhr ein langgezogener, schriller Schrei. Die Bestie packte mit den Pranken zu. Gleichzeitig stieß die Wolfsschnauze vorwärts. Das letzte, was Jill Santelli in ihrem Leben sah, waren die Reißzähne des Monsters. Eine Sekunde später spürte sie die an ihrem Hals. Und ihr Ende war gekommen… * Das lauwarme Wasser spülte den Badeschaum von Bruno Boyars schlankem Körper. Die weißen Flocken drehten sich über dem Abfluß. Der Nackte in der Wanne ließ Wasser in den geöffneten Mund dringen und spuckte es gegen die geflieste Wand. 10 �
Er drehte die Dusche ab, zog seinen weinroten Frotteemantel an, machte einen lockeren Knoten in den Bindegürtel und verließ das Bad. Nun müßte Jill aber zu Hause sein, dachte Boyar und trank den Rest seines Scotch. Dann griff er erneut nach dem Telefonhörer und wählte noch mal Jills Nummer. Er ließ den Ruf ein dutzendmal abgehen. Die Frau hob jedoch nicht ab. Er drückte auf die Gabel und wählte noch mal. Es kam mitunter zu Fehlschaltungen. Diese Möglichkeit wollte Boyar sicherheitshalber ausschließen. Wieder ließ er es lange läuten, doch Jill ging nicht ran. Seine Stirn kräuselte sich. Hatte er Grund, sich Sorgen zu machen? Hätte er darauf bestehen sollen, Jill vor ihrem Haus abzusetzen? Das hätte wenig Sinn gehabt. In diesem Fall wäre sie erst gar nicht in seinen Wagen eingestiegen… Beunruhigt legte er den Hörer in die Gabel. Nachdenklich blickte er auf seine schlanken, feingliedrigen Hände, und er wußte nicht, was er tun sollte. * »Entsetzlich«, sagte Detective Sergeant Robert Farr kopfschüttelnd. »Mir dreht es bei diesem Anblick den Magen um, Sir.« »Mir auch«, sagte Inspektor Ken Denner, sein Vorgesetzter, ein Mann, der ganz und gar nicht wie ein Polizeiangehöriger aussah, eher wie ein überbeschäftigter Manager. Die Standscheinwerfer leuchteten die Szene taghell aus. Außerhalb des Parks standen einige Polizeifahrzeuge. Polizisten in Uniform und in Zivil bevölkerten den nächtlichen Park. Es gab auch etliche Schaulustige, die sehen wollten, was passiert war. Denner wies auf die Leute. »Ich möchte wissen, wo die waren, als die junge Frau Hilfe brauchte.« 11 �
»Eine ähnliche Frage stellen sich bestimmt auch diese Menschen: Wo war die Polizei?« bemerkte Farr, ein rundlicher, grauhaariger Mann mit buschigen Augenbrauen. Der Polizeiarzt trat zu ihnen, ein Brillenträger, sein Pyjama schaute unter dem Trenchcoat hervor. Man hatte den Mann aus dem Bett geholt. »Nun, Doc?« fragte Denner. »Die Tote sieht aus, als wäre sie durch den Wolf gedreht worden.« »Das ist bereits die sechste Leiche, die so aussieht«, knurrte der Inspektor. »Und ich weiß immer noch nicht, wer der Killer ist. Allmählich kriege ich Minderwertigkeitskomplexe.« »Verständlich«, meinte der Arzt. »Irgendein Hinweis, der uns weiterbringt, Doc?« »Tut mir leid, Denner.« »War ja nur eine Frage. Kann man wenigstens behaupten, es wäre in allen sechs Fällen derselbe Täter gewesen?« »Könnte sein. Oder…« »Ja?« »Oder die anderen Morde haben dazu verleitet, sie nachzuahmen.« »Es muß sich um einen Wahnsinnigen handeln«, äußerte Detective Sergeant Farr mit belegter Stimme. Für die fünf vorangegangenen Bluttaten gab es kein ersichtliches Motiv. Der Täter schien wahllos zugeschlagen zu haben, mit einer Grausamkeit, die ihresgleichen sucht. »Wenn es ihn überkommt, zieht er los und fällt über ein x-beliebiges Opfer her.« »Es ist besonders schwierig, einen Verrückten zu finden«, meinte der Polizeiarzt. Denner nickte. »Weil er unberechenbar ist. In einen normalen Verbrecher kann ich mich hineindenken und möglicherweise voraussehen, was er als nächstes beabsichtigt. Bei einem Irren ist 12 �
das unmöglich. Was für ein Mordwerkzeug benützt der Kerl, Doc?« »Fragen Sie mich etwas Leichteres, Denner. Für mich haben die sechs Toten eines gemeinsam.« »Was?« wollte Ken Denner wissen. »Sie sehen alle aus, als wären sie zerfleischt worden.« Inspektor Denner hob eine Braue. »Was raten Sie mir? Soll ich vielleicht nach einem großen Hund suchen?« »Das mit dem Zerfleischen ist nur meine persönliche Meinung, davon wird nichts im Bericht stehen.« »Wann kann ich damit rechnen?« wollte Denner wissen. »Morgen nachmittag.« »Okay. Legen Sie sich wieder aufs Ohr, Doc.« »Nach diesem Anblick werde ich kaum ein Auge schließen.« »Sind Sie’s immer noch nicht gewöhnt?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nicht so etwas, Denner. Das sprengt den Rahmen des Üblichen.« Er ging. »Sechs Leichen, Farr«, sagte Ken Denner und schüttelte sich. »Meine Güte, ich krieg’ eine Gänsehaut.« »Die ist durchaus berechtigt«, bemerkte Robert Farr. »Wenn der Killer in dem Tempo weitermordet, ist das Dutzend bald voll.« »Sie machen mir Hoffnung«, brummte der Inspektor mißmutig. »Haben Sie nichts auf Lager, womit Sie mich stärken können?« »Tut mir leid, Sir.« � »Wer war das Mädchen?« � »Jill Santelli. Fünfundzwanzig Jahre alt.« � »Verheiratet?« � »Nein, Sir.« � »Beruf?« � »Künstlerin. Sie spielte Geige und gehörte einem Orchester � 13 �
an.« Der Detective Sergeant nannte das Musicaltheater, in dem Jill Santelli allabendlich gearbeitet hatte. Er wußte das aus den Papieren, die er bei der Toten gefunden hatte. »Befand sie sich auf dem Heimweg?« fragte Denner. »Ja, Sir. Sie wohnte zwei Straßen von hier entfernt.« »Verdammt, hätte sie’s nicht noch schaffen können?« »Dann hätte man uns zu einer anderen Leiche gerufen«, meinte Robert Farr ernst. »Irgend jemand hätte es heute nacht erwischt. Wenn der Killer loszieht, gibt er erst Ruhe, wenn er ein Opfer gefunden hat. Erst dann ist sein Tötungstrieb befriedigt, und er geht nach Hause.« »Sie erwecken den Eindruck, hinlänglich informiert zu sein«, sagte Ken Denner gallig. »Verraten Sie mir, wo er wohnt, und ich verspreche Ihnen, er tötet nie wieder einen Menschen.« »Wissen Sie, was ich jetzt gern wäre, Sir?« »Nein. Was?« »Hellseher. Dann wäre dieser verdammte Fall im Handumdrehen gelöst.« Denner zog den Handrücken unter der Nase durch. »Morgen wird mir der Chef wieder aufs Dach steigen. Darauf freue ich mich am meisten.« Er imitierte die Stimme seines Vorgesetzten und nahm auch dessen charakteristische Haltung an. »›Wie ist so etwas möglich, Inspektor Denner? Sechs Tote in so kurzer Zeit! Und Sie haben noch nicht mal den geringsten Anhaltspunkt!‹ Tut mir leid, Sir. ›Davon habe ich nichts, Denner! Die Öffentlichkeit wird unruhig! Was soll ich denn der Presse sagen? Daß es Ihnen leid tut?‹ Natürlich nicht, Sir. ›Ich erwarte von Ihnen mehr Einsatz, Inspektor!‹ Jawohl, Sir. ›Entlarven Sie endlich diesen Massenmörder, sonst brauchen wir bald eine Rechenmaschine, um die Opfer zu zählen.‹« »Sie sprachen vorhin von der Presse«, sagte der Detective Sergeant, als Denner schloß. »Da ist sie schon.« 14 �
Ken Denner wandte sich um. Eine Unmutsfalte erschien über seiner Nasenwurzel. »Der hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt«, sagte er verdrossen. Diese abfällige Bemerkung galt Marshal Elliott, einem Reporter, den seine Mutter mit Schlangengift großgezogen haben mußte, und der diese außergewöhnliche Nahrung gut vertragen hatte. Er war Mr. Poison – Mr. Gift – persönlich. Seine Artikel glichen zumeist handfesten Beleidigungen. Er griff jeden an und war wohl der einzige Mensch auf der Welt, der keinen Freund hatte. Seltsamerweise schien er auch noch stolz darauf zu sein. Er schoß Fotos vom Tatort und von der Leiche. Die Tote wurde gleich darauf fortgebracht. Elliott stellte einem Polizeibeamten Fragen, der Mann zuckte aber mit den Schultern. »Wie schafft er’s bloß, immer als erster am Tatort zu sein?« knurrte Ken Denner. »Wahrscheinlich hört er den Polizeifunk.« »Oder er ist der Kerl, den wir suchen!« Robert Farr sah den Inspektor groß an. Denner winkte ab. »Vergessen Sie, was ich eben gesagt habe, Sergeant. Das ist natürlich Unsinn.« Ein Kollege von der Spurensicherung kam zu Denner. »Was gefunden?« erkundigte sich der Inspektor. »Ich wollte, ich könnte Ihnen eine Freude bereiten, aber…« »Schon gut.« »Ist deprimierend, zu wissen, daß man seine Arbeit bereits zum sechstenmal umsonst getan hat.« »Dafür können Sie nichts«, tröstete Denner den Mann und entließ ihn. Es blieb nicht aus, daß Marshal Elliott auf sie zukam. Er grinste penetrant. »Da stehen Sie an, Inspektor, was?« »Hat Ihnen schon mal jemand einen Zahn ausgeschlagen, Elliott?« 15 �
»Nein.« � »Dann passen Sie auf, daß es heute nicht passiert.« � Der Reporter lachte. »He, Inspektor. Warum denn so pressefeindlich? Sie befinden sich in einer Lage, in der Sie eine gute Presse brauchen.« »Ich bin auf Ihre Schreibereien nicht angewiesen, Elliott.« »Irrtum, Sie brauchen Publicity.« »Ich bin nicht Sammy Davis junior.« »Aber Ihr Image ist angekratzt, mein Lieber. Da bringt ein Kerl sechs Menschen um, und Sie sind nicht in der Lage, ihn unschädlich zu machen. Wenn Ihre Erfolglosigkeit noch eine Weile anhält, können Sie Ihren Hut nehmen. Man wird Sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.« »Hoffentlich falle ich dann auf Sie.« � »Was tun Sie, um den Killer zu erwischen, Inspektor?« � »Alles, was ich kann.« � »Und Sie denken, das reicht?« � »Wollen Sie statt mir weitermachen?« fragte Ken Denner ärgerlich. »Bitte.« Marshall Elliott wehrte grinsend ab. »Das ist nicht mein Job, Inspektor.« »Ist ja auch leichter zu kritisieren, als zu zeigen, wie man’s besser macht.« »Der Killer tanzt Ihnen auf der Nase herum, Denner. Wie lange wollen Sie sich das noch bieten lassen?« »So lange, bis ich ihn habe.« »Wie viele Menschen werden noch ihr Leben verlieren…« Denner starrte den Reporter wutentbrannt an. »Mann, wenn Sie mir nicht sofort aus den Augen gehen, verliere ich meine Beherrschung!« Elliott bleckte die Zähne. »Nur zu, Inspektor. Schlagen Sie! Hauen Sie mir eine runter vor so vielen Zeugen. Sie können sich 16 �
denken, was das für ein Fressen für mich wäre…« Ken Denner ließ den Reporter stehen und ging. Detective Sergeant Farr hinderte Marshall Elliott daran, dem Inspektor zu folgen. Denner setzte sich in seinen Dienstwagen und fuhr los. * Der Werwolf fühlte sich großartig. Er hatte Menschenfleisch und Menschenblut in sich. Unglaubliche Kräfte durchpulsten ihn. Nachdem er den Park verlassen hatte, legte er sich in der Nähe auf die Lauer. Er sah, wie die Polizeifahrzeuge eintrafen. Dumpfes Knurren entfuhr seiner Kehle. Er leckte sich die Schnauze. Die Zunge wischte das Blut ab, das noch an den Lefzen klebte. Das Monster blickte an sich hinunter. Seine Kleidung war vom Blut des Opfers befleckt. Er mußte sie verbrennen, sobald er nach Hause kam. Unbemerkt verließ er seinen Beobachtungsposten. Niemand sah, wie er sich davonstahl. Er wählte für seinen Heimweg schmale, finstere Gassen, wo ihm keine Passanten begegneten. Die Gier war gestillt. Wann würde sie ihn wieder übermannen? Morgen? Übermorgen? Es gehörte zu seinem Wesen, daß er Menschen anfiel… * »Jill?« fragte James Corner, der Theaterportier, erschüttert. »Jill Santelli?« Ken Denner nickte. »Sie war schon fast zu Hause.« »Das arme Mädchen. Wie schrecklich.« Corner schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht fassen, es will mir nicht in den Kopf. Vor kurzem habe ich noch mit ihr gesprochen und jetzt ist sie tot!« 17 �
»Manchmal geht so etwas entsetzlich schnell.« »So ein sauberer, vitaler Typ. Bei allen beliebt. Seriös und grundanständig. Die war nicht so wie andere in ihrem Alter: Mal dieser, mal jener, was kann schon passieren… Nein, so war Jill Santelli nicht. Ich habe nie eine Tochter gehabt, aber wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich mich gefreut, wenn sie so gewesen wäre wie sie.« Denner bot dem Pförtner eine Zigarette an. � Sie rauchten. � »Haben Sie irgendeinen Verdacht, Inspektor?« erkundigte sich � Corner. »Leider nein. Jill Santelli scheint nicht das erste Opfer des Kerls zu sein, den wir suchen. Er hat schon sechsmal zugeschlagen.« »Das ist ja furchtbar. Ein Massenmörder…« »Ist Ihnen jemand aufgefallen, Mr. Corner, der sich offensichtlich für Jill Santelli interessierte? Ist ihr jemand gefolgt? Hat jemand vor dem Theater auf sie gewartet?« James Corner schüttelte den Kopf. »Sie verließ nach der Vorstellung das Gebäude, aber draußen wartete niemand. Bruno Boyar, der Posaunist lief ihr nach und bot ihr an, sie nach Hause zu bringen. Sie wollte zuerst nicht, stieg aber dann doch in seinen Wagen.« »Die beiden waren Kollegen?« »Ja, aber Bruno wäre gern mehr gewesen. Er war verliebt in die Kollegin. Ich konnte das durchaus verstehen. Die beiden hätten gut zusammengepaßt.« »Aber?« � »Es wollte irgendwie nicht so recht klappen.« � »Woran lag das wohl?« � »An Jill. Sie schien keinen festen Freund haben zu wollen.« � »Ärgerte das Bruno Boyar?« � James Corner nebelte sich mit blauem Dunst ein. »Vorsicht, In18 �
spektor! Vergaloppieren Sie sich nicht… Bruno Boyar ist ein Prachtbursche. Dem können Sie keinen Mord anhängen und schon gar nicht einen sechsfachen!« »Ich hatte auch nicht die Absicht.« »Dann ist es gut«, sagte Corner. Ken Denner ließ sich die Adresse des Musikers geben, bedankte sich für die Auskünfte und ging. * Der Werwolf huschte in eine Hauseinfahrt. Wieder entstand dieses schmerzhafte Ziehen in seinem Körper. Er krümmte sich zusammen, während sich das Fell, das seinen Körper bedeckte, auflöste. Menschenhaut kam zum Vorschein. Die Schnauze bildete sich zurück und wurde zum Gesicht eines Mannes. Die Pranken wurden zu starken Händen… der Wolf existierte nicht mehr! Nur das Blut an der Kleidung blieb. Vorsichtig trat der Mann aus der Hauseinfahrt. Er bog um die nächste Ecke, faßte in die Hosentasche, zog einen Schlüsselbund heraus, schloß das Tor jenes Hauses auf, in dem er wohnte, und fuhr mit dem Lift nach oben. Wenig später betrat er seine Wohnung. Er warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Er fühlte sich, als habe er einen Rausch. Das Blut pochte in seinem Kopf. Er genoß dieses Gefühl. Unbesiegbar kam er sich vor, weit über den Menschen stehend. Er entkleidete sich rasch und warf alles, woran Blut klebte, in den schwedischen Kanonenofen. Er goß Whisky drauf und warf vier Streichhölzer, die er auf einmal anriß, in den Ofen. Die Kleider gingen sofort in Flammen auf. Der Mann schlüpfte in seinen bequemen Hausrock und begab sich zum Telefon. In rascher Aufeinanderfolge tippte er sechs Ziffern. 19 �
Am andern Ende läutete es. Jemand hob ab. Eine männliche Stimme meldete sich mit: »Ja?« Der Mann, der vor kurzem noch ein Wolf gewesen war, grinste. »Ich hab’s getan!« »War’s schwer?« »Ja und nein. Es kostete Überwindung.« »Wie fühlst du dich jetzt?« »Entschieden besser.« »Dann bist du ab heute«, sagte der Mann am anderen Ende des Drahtes, »ein vollwertiges Mitglied.« * Der nächste Morgen sah trüb aus. Es roch nach Regen. Dicke, dunkelgraue Wolken hingen über der Stadt, als wollten sie das Häusermeer erdrücken. Wie befürchtet kassierte Inspektor Denner von seinem Vorgesetzten den Rüffel. Denners Chef wetterte gehörig und schluckte während einer halben Stunde zwei Magentabletten. Der Inspektor konnte seinem Chef lediglich versichern, daß wirklich alles getan würde, um die grauenvolle Mordserie aufzuklären und zu stoppen. Denner und seine Leute arbeiteten beinahe rund um die Uhr. Mehr konnte man von ihnen nicht verlangen, und doch wurde noch mehr gefordert, nach dem Rezept: Nur wer Erfolg hat, wird in Ruhe gelassen! Denner stand am Fenster und blickte hinaus. Robert Farr trat ein. Ohne sich umzuwenden sagte der Inspektor: »Habe ich Ihnen von meinem Freund Bill Hamilton erzählt?« »Von dem Amerikaner? Ja.« »Er kommt heute nach London und wird bei mir wohnen. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte er sich nicht aussuchen kön20 �
nen. Ich werde kaum Zeit für ihn haben.« Denner hatte Bill Hamilton während eines Mittelmeerurlaubes in Tunesien kennengelernt. Das lag allerdings vier Jahre zurück. In der Zwischenzeit hatte der Inspektor einmal seine Ferien bei Hamilton in den USA verbracht, und die offen gebliebene Gegeneinladung wollte Ken Denner in diesem Jahr einlösen. Er hatte nicht ahnen können, daß der Termin so ungünstig liegen würde. Absagen wollte er dem Freund aber nicht. Damit hätte er Bill wahrscheinlich vor den Kopf gestoßen. »Ich muß ihn nachher vom Flugplatz abholen«, fügte Denner hinzu und warf einen Blick auf seine Uhr. »Davor findet aber noch ein Besuch bei Bruno Boyar statt.« * Boyar war totenblaß. Er wußte bereits, wie Jill Santelli geendet hatte, und er litt unter diesem Verlust sehr. Mit zitternder Hand bot er dem Inspektor Platz an. Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Ken Denner hatte sie bereits im Büro gelesen und sich über Marshal Elliotts Artikel grün und blau geärgert. Der Reporter war mit hinterhältigsten Geschützen aufgefahren. Er rächte sich auf seine unnachahmliche Weise dafür, daß Denner ihn in der vergangenen Nacht so unfreundlich behandelt hatte. Er forderte offen Inspektor Denners Posten. Geschickt setzte er seine Nadelstiche. Versteckt gab er dem Leser zu verstehen, daß es im ganzen Polizeiapparat keinen unfähigeren Mann gab als Denner. Die Formulierungen waren messerscharf und dennoch so gedrechselt, daß man Marshall Elliott nicht an den Wagen fahren konnte. Wenn Denner eine Ehrenbeleidungsklage angestrengt hätte, wäre er damit vor Gericht garantiert ohne Aussicht auf Erfolg 21 �
gewesen. »Man hebt Sie nicht gerade in den Himmel«, sagte Bruno Boyar und wies auf die Zeitung. »Marshall Elliott ist ein Schmierfink. Er hat noch an keinem ein gutes Haar gelassen«, erwiderte Denner. »Es war bereits der sechste Mord.« »Das ist leider wahr, Mr. Boyar.« Bruno Boyar senkte den Blick. »Ich hab’s geahnt«, sagte er leise. »Ich hab’s befürchtet.« »Was? Daß Jill Santelli etwas zustoßen wird?« »Ich nahm sie in meinem Wagen mit.« »Aber Sie setzten sie nicht vor dem Haus ab, in dem sie wohnte. Warum nicht?« »Sie wollte nicht, daß ich ihretwegen einen Umweg mache.« »Warum nicht?« Boyar hob die Schultern. »Vielleicht dachte sie, sie wäre mir sonst etwas schuldig. Ist natürlich purer Unsinn. Sie hätte von mir alles verlangen können, ohne daß ich an irgendeine Gegenleistung gedacht hätte, aber das sah sie wohl nicht ein.« Denner fragte, wo Jill ausgestiegen wäre. Bruno Boyar sagte es ihm und fuhr fort: »Als ich heimkam, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich war aus einem mir unerfindlichen Grund beunruhigt. Deshalb rief ich Jill an. Aber sie hob nicht ab. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Am liebsten hätte ich meine Wohnung noch mal verlassen und wäre zu ihr gefahren, aber ich befürchtete, Jill könnte das falsch verstehen und einschnappen. Deshalb blieb ich zu Hause.« »Sie hätten ihr nicht mehr helfen können«, sagte Ken Denner. »Wenn Sie denken, daß das ein Trost für mich ist…« »Als Sie Jill aussteigen ließen, ist Ihnen da jemand aufgefallen?« forschte der Inspektor und musterte den Posaunisten kühl. 22 �
»Nein. Es war kein Mensch auf der Straße.« »Sie fuhren auf kürzestem Weg nach Hause?« »So ist es.« »Und begegneten niemand?« »Das ist in dieser Zeit nicht ungewöhnlich, oder?« »Stimmt«, sagte Denner. Er hatte befürchtet, daß Bruno Boyar ihm nicht helfen konnte. Der Besuch war reine Zeitverschwendung, aber er gehörte zur Routinearbeit. Manchmal brachten solche Gespräche auch etwas. Der Inspektor sah auf die Uhr und stellte fest, daß es Zeit war, zum Airport zu fahren. * Es regnete. Dicke Tropfen fielen vom Himmel. Zuerst waren auf dem Asphalt nur ein paar dunkelgraue Flecken zu sehen, dann verwandelte sich die Straße jedoch innerhalb weniger Minuten in einen glänzenden Spiegel. Bruce Constantine stand am Fenster. Gegen die Scheiben klatschten die Regentropfen. Er zog an seiner Zigarre und blies den Rauch gegen das Glas. Langsam drehte er sich um. Er war kein schöner Mann. Das Gesicht wirkte grob geschnitten, das Profil mit dem gebrochenen Nasenbein wenig anziehend. Die Ohren waren zu groß und standen leicht ab. Constantine drückte die Zigarre in den Aschenbecher, der auf dem Schreibtisch stand. Er setzte sich und war froh, jetzt nicht aus dem Haus zu müssen. Er verdiente zur Zeit viel Geld und handelte mit allem, was Profit versprach. Er hätte mit seinem Leben eigentlich zufrieden sein müssen war es aber nicht. Deshalb hatte er beschlossen, es von Grund auf zu ändern. An der gegenüberliegenden Wand hing eine alte holländische Uhr. Trotz ihres hohen Alters ging sie immer noch auf die Minu23 �
te genau. Sie zeigte Bruce Constantine an, daß die Freunde, die er erwartete, bald eintreffen würden. Als erster läutete Steve Atherton. Constantine verließ sein Arbeitszimmer, um den Freund einzulassen. »Überpünktlich wie immer«, sagte Bruce Constantine anerkennend. »Auf dich kann man sich verlassen.« »Ein Mistwetter ist das«, erwiderte Atherton, trat ein und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Bei dem Regen ertrinkt eine Ente.« Constantine schloß die Tür. »Du kriegst einen Whisky, damit du nicht krank wirst.« Er grinste. »Ich dachte, ich kann nicht mehr krank werden.« »War bloß ein Scherz von mir. Krankheiten existieren für uns nicht mehr, mein Junge, darauf kannst du dich verlassen.« Steve Athertons Augen leuchteten vor Begeisterung. Er war Pilot von Beruf und kannte die ganze Welt. Bruce Constantine hatte er auf den Philippinen kennengelernt. Etwa vor einem Jahr. Kurz darauf wurden sie unzertrennliche Freunde. Sehr schnell stellte sich heraus, daß sie viele gemeinsame Interesse hatten. Vor allem der Aberglaube und alles, was damit zusammenhing, interessierte sie sehr. Geschichten über Dämonen faszinierten sie. Alles, was mittelbar oder unmittelbar mit Höllenwesen zu tun hatte, lenkte sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich. Auch Atherton war mit seinem Leben nicht zufrieden. Auch er wollte einen neuen Weg einschlagen, und gemeinsam mit Bruce Constantine hatte er es getan. »Angenommen, ich stürze mit dem Jet ab«, sagte der Pilot. Constantine zuckte grinsend mit den Schultern. »Du würdest es überleben, mein Junge. Dich hält eine Kraft aufrecht, die nicht von dieser Welt ist, deshalb kann dich auch nichts Irdisches vernichten.« »Vor einigen Dingen muß ich mich aber doch in acht nehmen.« 24 �
»Ja. Das sind Kruzifixe, Weihwasser, Feuer und geweihtes Silber. Das können wir nicht vertragen. Damit könnte man uns gefährlich werden. Aber wer weiß das schon.« Atherton wiegte den Kopf. »So unbekannt ist das nicht.« Bruce Constantine legte dem Freund die Hand auf die Schulter. »Hab keine Angst, Steve. Die Probleme, die wir früher hatten, sind für uns bedeutungslos geworden. Worauf wir jetzt noch zu achten haben, ist eine Kleinigkeit.« Als nächster traf Red Chapman, ein Tiefbauingenieur, ein. Zehn Minuten später erschienen Tom O’Toole und Mike Buttons gemeinsam. Tropfnaß. Auch sie schimpften über das Wetter. Constantine forderte sie auf, sich an der Bar zu bedienen. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. O’Toole, Besitzer eines Gartencenters, hob grinsend sein volles Glas. »Heute ist ein großer Tag, Freunde.« »Wir stehen kurz vor einem historischen Ereignis«, tönte Buttons, Leiter einer prominenten Künstleragentur. »Heute schließt sich der Kreis«, ergänzte Constantine stolz. »Sechs sind wir schon. Der siebte Mann wird sich uns bald anschließen. Die Sieben war von jeher eine magische Zahl. Zu siebt dürfen wir die stärkste Unterstützung von den Mächten der Finsternis erwarten. Zwischen der Hölle und unserer Sieben wird eine untrennbare Verbindung entstehen. Wir alle wußten mit unserem bisherigen Leben nicht viel anzufangen. Wir hatten Langeweile. Die Tage und Nächte ödeten uns an. Damit ist es nun vorbei. Wir haben ein Ziel vor Augen. Tage und Nächte – vor allem die Nächte – werden uns in Hochspannung halten. Wir wissen endlich, wofür wir leben und kennen unsere Bestimmung. Jeder von euch weiß, was von ihm erwartet wird. Wer diese Erwartungen erfüllt, dem steht eine bessere Zukunft bevor.« Es läutete. Bruce Constantine begab sich erneut an die Tür. Er 25 �
ließ den Schriftsteller David Shane und dessen Freund, den Bauunternehmer Sid Barringer, ein. Shane sah aus wie der nette Junge von nebenan. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn mit einem solchen Zirkel in Zusammenhang zu bringen. Barringer wirkte nervös. Er war leicht übergewichtig, hatte ein rundes Gesicht und braune Knopfaugen. Constantine begrüßte vor allem ihn herzlich, denn er war das siebte Mitglied des Kreises. Es hatte zwischen ihnen bereits ein Vorgespräch gegeben. Constantine hatte herausfinden wollen, wie sehr sich Barringer magischen Dingen verbunden fühlte und Monsterwesen akzeptierte. Das Gespräch war zufriedenstellend ausgefallen. Constantine hatte die Überzeugung gewonnen, daß Sid Barringer gut in seinen Kreis paßte, und heute sollte dieser Eintritt erfolgen. Ein Schritt war das, der einigen Mut erforderlich machte, denn wer sich dazu entschloß, für den gab es kein zurück mehr, der blieb an höllischen Mächten kleben und kam nicht mehr von ihnen los. »Die Nummer sieben«, sagte Constantine grinsend. »Da bin ich«, erwiderte Barringer. »Sei mir herzlich willkommen. Du willst den großen Schritt also wagen.« »Ich bin dazu fest entschlossen.« »Wunderbar. Auf die Gefahren habe ich dich bereits aufmerksam gemacht.« »Ich will in den Wolfskreis aufgenommen werden!« Constantine schlug dem siebten Mann lachend auf die Schulter. »Das ist ein Wort. Komm, ich mache dich mit den anderen Mitgliedern des Kreises bekannt. Es sind alles Männer in gehobenen Positionen, die wie du in ihrem bisherigen Leben keinen Sinn sahen.« 26 �
Constantine reichte den Neuen herum. Steve Atherton, Red Chapman, Tom O’Toole, Mike Buttons schüttelten ihm die Hand und hießen ihn, genau wie Bruce Constantine, in ihrer Mitte willkommen. Sie duzten sich von Anfang an. »Bist du aufgeregt?« fragte Constantine den Neuen. »Ein wenig schon«, gab Barringer zu. »Das waren wir alle. Das muß so sein. Es geht vorbei. Möchtest du vorher noch etwas trinken?« »Ja.« »Steve!« sagte Constantine. »Gib ihm was.« »Gern. Was soll’s denn sein?« Barringer entschied sich für Wodka. Constantine sagte: »Es ist im Keller alles für die Zeremonie vorbereitet. Wenn du ausgetrunken hast, gehen wir hinunter.« Sid Barringer leerte sein Glas auf einen Zug. »Schon geschehen.« Constantine lachte. »Du scheinst es nicht erwarten zu können, dem Ritual beizuwohnen.« »Seit Tagen denke ich an nichts anderes.« »Dann komm!« Die Männer begaben sich in den Keller und betraten einen großen schwarzen Raum, in dem sieben hochlehnige Stühle standen. Es hätte elektrisches Licht gegeben, doch das schaltete Bruce Constantine nicht ein. Er zündete sieben Fackeln an, die in eisernen Wandringen steckten. Das blakende Feuer ließ düstere Schatten an der Wand tanzen. David Shane trat neben Barringer. »Wie gefällt es dir hier unten?« »Ich habe eine eigenartige Empfindung.« »Bruce hat aus diesem Raum eine schwarze Höhle gemacht. Damit ist nicht die Farbe gemeint, die uns umgibt. Sie zielt nur auf optische Wirkung ab. Mit schwarz meine ich die Finsternis, 27 �
das Dämonische, die Unterwelt, von der du deine Kräfte erhalten wirst, wie sie uns allen zur Verfügung stehen.« Barringer leckte sich ungeduldig die Lippen. »Ich brenne darauf.« Constantine bat die Freunde, Platz zu nehmen. Es gab eine Sitzordnung. Der letzte, siebte Stuhl war für Barringer bestimmt. Er betrachtete die hohe Lehne. In das schwarze Ebenholz war kunstvoll der Kopf eines Wolfs geschnitzt. So lebensecht, daß Barringer meinte, der Schädel könne sich jeden Augenblick bewegen. Die Stühle standen im Halbkreis um einen steinernen, schwarz gestrichenen Sockel, zu dem drei Stufen hinaufführten. Auf diesem schwarzen Altar standen Gegenstände, die für schwarze Messen verwendet wurden. Bruce Constantine wartete, bis alle Männer ihren Platz eingenommen hatten, dann stieg er gravitätisch die Stufen zum Altar hoch. Er griff nach einer Wolfspfote, die auf dem Stein lag und wandte sich seinen Freunden zu. »Ihr wißt, weshalb wir uns hier eingefunden haben. Der Kreis braucht ein siebtes Mitglied, und Sid Barringer ist fest entschlossen, sich uns anzuschließen, so zu werden wie wir und dem Unheil zu dienen. Wenn einer von euch einen Einwand vorzubringen hat, dann möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.« Constantine wartete. Langsam blickte er in die Runde. Er schaute die Männer nacheinander an. Atherton, Chapman, O’Toole, Buttons, Shane… Keiner sagte ein Wort. Stille herrschte im Raum. Nur ab und zu war das Knistern der brennenden Fackeln zu vernehmen. Constantine hatte nichts anderes erwartet. Er nickte zufrieden. »Dann laßt uns jetzt ein schwarzes Gebet sprechen, um uns die Mächte der Finsternis gewogen zu machen«, sagte er, begab sich 28 �
zu seinem Stuhl und setzte sich ebenfalls. Worte hallten in dem Raum. Sätze – Gelöbnissen gleich – wurden gesprochen. Schwarze Mächte wurden, bildlich gesprochen, in den Himmel gehoben, alles, was gegen sie war, verdammt. Nach diesem Zeremoniell erhob sich Bruce Constantine wieder, rückte auf dem Altar eine Feuerschale zurecht und entzündete die schwarze Flüssigkeit, die darin glänzte. Das Feuer leckte mit breiter, spitz zulaufender Zunge nach oben. Die Farben Gelb, Rot und Orange waren in ihm. Sein Licht ließ Bruce Constantines Gesicht zur Fratze werden. Das Feuer wirkte kurz ein. Es entzündete in seinem Innern eine kalte Flamme – das Feuer des Unheimlichen. Er fühlte es in sich hochschlagen, und ein dumpfes Knurren entfuhr seiner Kehle. Langsam drehte er sich um. Sein fester Blick richtete sich auf den Neuen. »Bist du bereit, Sid Barringer?« »Ja«, sagte der Novize ernst und erhob sich. Constantine wies mit der Wolfspfote auf ihn. »Entkleidet ihn!« befahl er. David Shane und Mike Buttons führten den Befehl unverzüglich aus. Barringer ließ es geschehen. Nackt trat er bis vor die Stufen. Constantine forderte ihn auf, zu ihm zu kommen. Er bestrich den Nackten mit einer Salbe aus dem Fett einer Katze, dem Anissamen und Opium beigemengt waren. Dabei murmelte er: »Herr der Finsternis! Wolfsgeist! Hört mich! Macht diesen Mann zum Werwolf – kühn und stark! Macht ihn zum Schrecken aller und verleiht ihm die Gier des Wolfes!« Constantine reichte dem Nackten einen breiten Gürtel aus Wolfsfell mit der Aufforderung, ihn umzubinden. Gehorsam reagierte Sid Barringer. Bruce Constantine trat hinter den Altar und schob einen pechschwarzen Vorhang zur Seite. An der Wand leuchtete eine but29 �
tergelbe Scheibe. Ein magischer Mond. Constantine hatte die Metallscheibe anfertigen lassen, und nach monatelanger Beschwörung erreichte er, daß das Reich der Finsternis diesen künstlichen Vollmond mit schwarzer Magie vollpumpte. Von diesem Mond bezogen die Mitglieder des Wolfskreises ungeheure Kräfte. Das magische Licht pulsierte und legte sich fahl auf die Gesichter der Anwesenden. Sie schienen in seinem Schein zu baden. »Knie nieder!« verlangte Bruce Constantine. Sid Barringer gehorchte, breitete erwartungsvoll die Arme aus und starrte den künstlichen Vollmond an. »Sprich mir nach«, sagte Constantine. »Wolfsgeist!« »Wolfsgeist!« rief Barringer feierlich. »Mach mich zum Werwolf!« »Mach mich zum Werwolf!« wiederholte der Novize. »Ich dürste nach Blut, menschlichem Blut!« Sid Barringer wiederholte. »Gib es mir«, fuhr Bruce Constantine fort. »Gib es mir heute nacht!« Auch das sprach Barringer nach. »Großer Wolfsgeist! Gib es mir, und ich bin mit Leib und Seele dein!« »Großer Wolfsgeist!« rief Barringer erwartungsvoll. »Gib es mir, und ich bin mit Leib und Seele dein!« Constantine berührte mit der Wolfspfote den Kopf des Neuen. Dann trat er zurück und überließ Barringer der finsteren Macht, die eine fühlbare Konzentration in diesem schwarzen Raum aufgebaut hatte. Würde die Hölle diesen Mann akzeptieren? Wenn ja, würde in wenigen Augenblicken die Metamorphose einsetzen. Wenn nein, würde Sid Barringer unter schrecklichen Qualen sterben… Die Männer warteten gespannt. Langsam vertropften die Sekunden. Nichts passierte. Ergeben kniete Sid Barringer 30 �
vor dem Altar. Das Böse war aktiviert. Nichts konnte mehr rückgängig gemacht werden. Die Dinge hatten unaufhaltsam ihren Lauf genommen. Barringer konnte nur noch hoffen, daß die Hölle ihn akzeptierte. Die Spannung trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Forschte die Unterwelt jetzt nach, ob er für ein Leben als Werwolf geeignet war? Banges Warten… Plötzlich spürte Sid Barringer ein kaltes Brennen in seinen Gliedern und ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Körper. Plötzlich setzte die Metamorphose ein. Er wurde zum erstenmal in seinem Leben zum Wolf. Constantine begrüßte das siebte Mitglied des Wolfskreises und betonte: »Nun mußt du dich dieser Mitgliedschaft würdig erweisen.« Barringer wußte, was das bedeutete. Er mußte töten. Heute nacht… * Inspektor Ken Denner ging in der Ankunftshalle des Flughafens auf und ab. Die Maschine aus New York würde in wenigen Minuten landen, hatte soeben eine sympathische Mädchenstimme verkündet. Von der großen Anzeigentafel las Denner ab, wo sein Freund Bill Hamilton erscheinen würde: Gate 21. Dort postierte er sich. Während er auf Hamilton wartete, dachte er über die grauenvolle Mordserie nach. Sie beschäftigte ihn nahezu pausenlos. Er fragte sich, wie er diesem grausamen Killer das Handwerk legen konnte. Der Täter hinterließ niemals Spuren, schlug blitzschnell zu und verschwand gleich wieder. Niemand hatte ihn bisher gesehen. Es gab keine Motive für die Morde. Der Kerl suchte wahllos seine Opfer. Es waren zumeist Frauen, aber er hatte auch 31 �
zwei Männer umgebracht. Am Kiosk hingen die Tageszeitungen. Die Mordserie hatte die tagespolitischen Ereignisse ins Blattinnere verdrängt. Dicke Lettern verkündeten, was sich in der vergangenen Nacht ereignete, die Zeitungen fanden reißenden Absatz. Der Inspektor schüttelte den Kopf. Er konnte die Sensationslust der Menschen nicht verstehen. Gierig verschlangen sie die Berichte. Es hatte mitunter den Anschein, als würden sie sich daran ergötzen. Wie hätten sie wohl reagiert, wenn sie gewußt hätten, daß sie das nächste Opfer der Bestie – so wurde der Mörder von manchen Zeitungen genannt – sein würden? Die Mädchenstimme meldete sich wieder und teilte allen, die es interessierte, mit, daß die Maschine aus New York soeben gelandet sei. Ken Denner versuchte abzuschalten und für kurze Zeit nicht an den Fall zu denken. Hier konnte er ihn doch nicht lösen. Er wollte sich auf Bill Hamilton konzentrieren, der bei ihm wohnen würde. Platz genug war in seiner Junggesellenbude. Sie würden einander nicht auf die Nerven fallen. Denner bedauerte nur, daß er nicht allzuviel Zeit für den Freund erübrigen konnte. Bill würde sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt allein anschauen müssen. Ken beabsichtigte, ihm eine Sightseeing-Tour vorzuschlagen. Eine Woche wollte Bill Hamilton bleiben. Vielleicht habe ich Glück, dachte der Inspektor. Vielleicht gelingt mir das Kunststück, den Killer heute oder morgen zu fassen. Dann nehme ich mir Urlaub und widme mich nur noch meinem amerikanischen Gast. Nach und nach erschienen die Passagiere. Sie warteten auf ihr Gepäck. Damit mußten sie dann durch den Zoll. Ken Denner postierte sich so, daß Bill Hamilton auf jeden Fall an ihm vorbeikam. 32 �
Ein blondes, blauäugiges Mädchen fiel ihm auf. Etwa 23 Jahre alt, gut gekleidet. Sie trug einen roten Hosenanzug, der ihre attraktive Figur wie ein Futteral umhüllte. Ihr blondes Haar war lang, die Augen strahlten blau. Man konnte die Attraktive einfach nicht übersehen. Sie mußte einem einfach auffallen, denn sie stach aus der Masse heraus. Sie ging an Ken Denner vorbei. Ihr Gepäck lag auf einem vierrädrigen Wagen, den sie vor sich herschob. Ihr suchender Blick streifte ihn kurz. Denner wollte sie anlächeln, aber da schaute sie schon wieder woanders hin. Anscheinend rechnete sie damit, abgeholt zu werden. Denner konzentrierte sich wieder auf die Personen, die durch den Zoll kamen. Sein Freund war nicht dabei. Als letzter watschelte ein schwitzender Geschäftsmann durch die Kontrolle. Dann kam niemand mehr. Ken Denner wurde nervös. Hatte er Bill Hamilton übersehen, weil ihn die Blondine abgelenkt hatte? Er begab sich zur Information und ließ Bill Hamilton ausrufen. Es kam sogleich über sämtliche Lautsprecher: »Mr. Hamilton! Mr. Bill Hamilton aus New York! Bitte kommen Sie zur Information, Mr. Bill Hamilton zur Information…« Doch der Erwartete erschien nicht. Ken erkundigte sich, ob Bill überhaupt an Bord der Maschine war. Eine Kontrolle der Passagierliste ergab, daß ein Bill Hamilton nicht mitgeflogen war. »Na so was«, sagte der Inspektor enttäuscht. Da reservierte er extra für Bill eine Stunde von seiner kostbaren Zeit, und dann kam der Bursche in London gar nicht an… Verstimmt verließ er das Flughafengebäude. Draußen sah er die Blonde wieder. Sie stand neben ihrem Gepäckwagen und hielt nach einem Taxi Ausschau, aber weit und breit war keines zu sehen. Ken Denner war von der Schönheit fasziniert. Der Anblick 33 �
brachte etwas in ihm zum Schwingen, das er nicht kannte. Er mußte die Blonde einfach ansprechen und ihr seine Hilfe anbieten. »Hat man Ihnen das letzte Taxi vor der Nase weggeschnappt?« fragte er lächelnd. Sie seufzte. »Leider ja.« »Ich will nicht aufdringlich sein, aber wenn Sie möchten, stehe ich Ihnen mit meinem Wagen gern zur Verfügung.« Ihr Blick wieselte an ihm hinauf und hinunter. Sie schien Männern gegenüber äußerst vorsichtig zu sein. Eine merkbare Kühle schlug ihm aus ihren Augen entgegen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, sagte er: »Mein Name ist Ken Denner. Inspektor Ken Denner. Wenn Sie meinen Ausweis sehen wollen…« Sie taute merklich auf. »Nicht nötig, ich glaube Ihnen, Inspektor.« »Nehmen Sie mein Angebot an?« »Gern.« »Das freut mich. Es gibt mir Gelegenheit, mal wieder zu beweisen, daß der Spruch stimmt.« »Welcher Spruch?« »Die Polizei dein Freund und Helfer. Bleiben Sie hier stehen… Laufen Sie nicht weg… Ich hole nur schnell meinen Dienstwagen. Sollten Sie in der Zwischenzeit ein Taxi erblicken, ignorieren Sie es. Wenn Sie mit mir fahren, sparen Sie Geld.« Sie lachte. »Ich werde warten.« Als er mit dem Wagen zurückkam, sah er, wie sie tatsächlich ein Taxi unbeachtet ließ. Das freute ihn. Er glaubte, einen guten Eindruck auf sie gemacht zu haben, und hoffte, daß sie noch nicht vergeben war. Seit er sie gesehen hatte, war er völlig durcheinander und schrecklich aufgeregt. Hatte es bei ihm eingeschlagen? Er hatte oft davon gehört, aber immer gedacht, daß ihm so etwas nicht passieren könne. Liebe auf den ersten Blick! 34 �
Das sollte es angeblich geben… aber doch nicht für einen nüchternen Polizeibeamten, der fast täglich mit Gewalttaten konfrontiert wurde. Oder etwa doch? � Er stoppte den Wagen und stieg rasch aus. � »Ich hätte schon ein Taxi gekriegt«, sagte sie. � »Ich hab’s gesehen. Freut mich, daß Sie es nicht genommen haben, Miß…« »Shane. Felicia Shane.« Er öffnete den Kofferraum und verstaute ihr Gepäck. »Sie sind mir schon in der Ankunftshalle aufgefallen«, sagte er. »Sie schienen jemand zu suchen.« Felicia Shane nickte. »Meinen Bruder. Er hat versprochen, mich abzuholen, doch er ist nicht gekommen.« »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihrem Bruder bin. Wie hätte ich sonst Gelegenheit gehabt, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Die Blonde lachte. »Er ist ein zerstreuter Kerl und hat den Ankunftstermin bestimmt verschwitzt. Wahrscheinlich sind alle Schriftsteller so. Sie leben in einer anderen Welt, haben zu viele Dinge in ihrem Kopf. Besonders David.« »Was schreibt er denn? Romane?« � »Auch. Und Sachbücher.« � »Worüber?« � Sie zuckte mit den Schultern. »Verhaltensforschung und all � so’n Zeug. Kennen Sie David Shane nicht?« »Tut mir leid«, sagte Ken Denner verlegen. »Mein Beruf läßt mir wenig Zeit zum Lesen.« »Davids Bücher werden gut verkauft.« »Ich verspreche Ihnen, mir eines zu besorgen und natürlich auch zu lesen. Jetzt, wo ich die Bekanntschaft der reizenden Schwester des Autors gemacht habe, ist das geradezu Pflicht.« 35 �
Sie stiegen ein. Denner zündete die Maschine und ließ die Scheibenwischer im Schnellgang ticken. Dann fuhr er los. »Wohin darf ich Sie bringen?« erkundigte er sich. Sie sagte es ihm. »Hatten Sie beruflich auf dem Airport zu tun?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Ich bin ebenso wie Sie versetzt worden. Ich wollte einen Freund abholen, aber er war nicht in der Maschine. Ihm muß kurz vor der Abreise etwas dazwischengekommen sein. Er wollte eine Woche bei mir wohnen. Ehrlich gesagt, ich bin nicht traurig, daß er es nicht geschafft hat zu kommen. Ich stecke im Moment ohnedies bis über die Ohren in Arbeit.« »Wofür sind Sie zuständig? Rauschgift? Sitte? Diebstahl?« »Mord.« »Oh.« Felicia Shane schwieg eine Weile und sah zum Seitenfenster hinaus. »Werden in London denn so viele Menschen umgebracht?« »Mehr, als Sie denken. Aber reden wir von Erfreulicherem. Was hatten Sie in New York zu tun?« Die Blonde senkte den Blick. Es hatte den Anschein, als wollte sie nicht darüber sprechen. Schließlich sagte sie: »Ich hatte vor, Amerikanerin zu werden.« »Tatsächlich? Warum? Gefällt es Ihnen nicht, als Britin herumzulaufen?« »Ich war ein Jahr lang mit einem Amerikaner verlobt.« »Ach so. Ich verstehe.« »Vergangene Woche ist die Verlobung geplatzt, und nun kehre ich in die Heimat zurück – um eine Erfahrung reicher.« »Und enttäuscht von den Männern.« »Vielleicht.« »Hat er Sie betrogen?« »Am laufenden Band, aber er stellte sich dabei so geschickt an, 36 �
daß ich es nicht merkte. Eine gute Freundin sagte mir schließlich, was für ein Leben mein Verlobter führte. Wahrscheinlich wollte sie sich an ihm rächen. Als ich ihn zur Rede stellte, stritt er es nicht mal ab. Daraufhin sagte ich ihm good bye, und der Fall war für mich erledigt.« »Hat er nicht versucht, Sie zurückzugewinnen? Hat er nicht versprochen, sich zu ändern?« »Doch. Aber ich glaubte ihm nicht. Die Katze läßt das Mausen nicht, das ist ein altes, wahres Sprichwort.« »Ich kenne Ihren Ex-Verlobten nicht, aber er muß ein Dummkopf sein. Eine Frau wie Sie zu betrügen… Und das schon vor der Ehe…« »Besser als nach der Hochzeit.« »Da haben Sie allerdings recht.« Die Fahrt dauerte noch zehn Minuten. Ken Denner unterhielt sich mit seinem Fahrgast hervorragend. Sie hatten die gleiche Wellenlänge. Beide spürten das. Ken hatte das Gefühl, Felicia schon seit Jahren zu kennen. Die geplatzte Verlobung erklärte ihm ihr vorsichtiges Verhalten, Männern gegenüber. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Sie hätte wohl nicht so viel Zutrauen zu ihm gefaßt, wenn er einen anderen Beruf hätte. In Gesellschaft eines Polizisten fühlte sie sich sicher. Zum erstenmal schlug Ken Denner daraus Kapital. Sie erreichten das Haus, in dem David Shane wohnte. Felicia gestattete ihrem Chauffeur, ihr Gepäck bis zum Fahrstuhl zu tragen. Mit hochkommen durfte er nicht. »Darf ich Sie wiedersehen?« fragte er zum Abschied. »Ich… weiß nicht… Sie kennen ja meine Geschichte. Ich habe kein Glück mit Männern. Wahrscheinlich ist es auch umgekehrt so.« »Ich würde Ihnen gern beweisen, daß nicht alle Männer so sind wie Ihr Amerikaner.« 37 �
»Ich bin eben erst angekommen und habe den Schock der Trennung noch nicht ganz verdaut.« »Ich werde Sie anrufen, okay? Erlauben Sie’s mir?« »Einverstanden. Vielen Dank für die Hilfe.« »Gern geschehen. Ich habe zu danken… Sie hätten nichts Besseres tun können, als nach London zurückzukehren«, sagte der Inspektor lächelnd. Felicia Shane ließ die Lifttür zuklappen. Die Kabine setzte sich in Bewegung, und Ken Denner verließ das Haus. Er hatte das Gefühl, auf Wolken zu schweben. Eine nie dagewesene Hochstimmung erfüllte ihn. Plötzlich wußte er, daß er ein Leben lang auf diese blonde Frau gewartet hatte. Er fuhr in sein Büro zurück, wirkte vital und tatendurstig. Detective Sergeant Farr fragte: »Na, haben Sie Ihren amerikanischen Freund in Empfang genommen?« »Bill? Nein, der war nicht in der Maschine.« � »Und das stimmt Sie so fröhlich, Sir?« � »Ich bin heute meinem Glück begegnet, Sergeant.« � »Wie darf ich das verstehen, Sir?« � Ken Denner winkte ab. »Lassen wir das.« � »Wie Sie meinen. Was hat Ihr Besuch bei Bruno Boyar � ergeben?« »Nichts.« Robert Farr seufzte. »Wenn das so weitergeht, versetzt man uns zur Verkehrspolizei.« Denner zog sich in sein Office zurück. Er rief einen nahegelegenen Blumenladen an und bat, in seinem Namen ein Dutzend roter Rosen an Miß Felicia Shane zu schicken. Fünf Minuten später erreichte ihn ein Anruf aus New York. Bill Hamilton sprach über das Transatlantikkabel mit ihm. »Bill, du alter Halunke!« rief Ken Denner aufgekratzt. 38 �
»Bitte sei mir nicht böse, Ken, aber ich konnte New York nicht verlassen.« Der Inspektor lachte. »Das ist mir mittlerweile aufgefallen.« »In meiner Firma geht es drunter und drüber. Ich kann unmöglich weg. Die Arbeiter streiken. Die Bank droht, meinen Kredit zu sperren. Ich stecke in großen Schwierigkeiten.« »Das tut mir aufrichtig leid, Bill.« »Mach dir um mich keine Sorgen, ich kriege das schon wieder hin. Aber ich brauche zwei Wochen, um durch diesen Schlamassel hindurchzukommen.« »Ich drück’ dir die Daumen.« »Danke, Ken. Ich wollte dich anrufen, damit du nicht umsonst zum Airport fährst, aber…« »Vergiß es, Bill. Es war sehr wichtig für mich, diese Fahrt zu unternehmen. Ich habe auf dem Flughafen ein reizendes Mädchen kennengelernt.« »Freut mich für dich, mein Junge. Wenn deine Einladung bestehen bleibt, komme ich in vierzehn Tagen darauf zurück.« »Natürlich bleibt sie bestehen, und in zwei Wochen bist du mir noch willkommener als heute. Im Moment schlagen nämlich auch hier die Wellen ziemlich hoch.« Denner erzählte dem Freund von der grausigen Mordserie, die er aufzuklären hatte. »Ich hätte kaum Zeit für dich gehabt«, fügte er abschließend hinzu. »In vierzehn Tagen sieht die Sache bestimmt ganz anders aus. Für uns beide. Hals- und Beinbruch für deine Firma.« Ken Denner legte auf. Er war mit der Entwicklung der Ereignisse zufrieden. Insgeheim hoffte er, daß er nun auch mit seinem Job mehr Erfolg hatte. Er ahnte nicht, was für Schicksalsschläge für ihn bereitlagen… *
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David war nicht zu Hause. Ärgerlich setzte sich Felicia auf ihren Koffer und wartete. Eine halbe Stunde verging. Dann betrat jemand das Haus. Der Lift fuhr hinunter und kam gleich wieder hoch. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und David Shane trat aus der Kabine. Als er Felicia sah, zuckte er zusammen, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. »Hallo, David«, sagte Felicia vorwurfsvoll. »Nett von dir, daß du mich abgeholt hast, wie wir es vereinbart hatten.« Er wand sich. »Tut mir leid, Felicia. Ich hatte keine Zeit.« Sie ging auf ihn zu und wollte ihn zur Begrüßung küssen. Immerhin hatten sie einander über ein Jahr nicht gesehen. Doch er wandte sich der Tür zu und schloß auf. »Komm rein.« Er half ihr mit dem Gepäck, gab der Tür mit der Ferse einen Stoß, und sie fiel ins Schloß. »Willkommen daheim«, sagte er, aber es klang nicht sehr begeistert. Felicia ging ins Wohnzimmer. Es hatte sich an der Einrichtung nichts verändert. Alles stand noch, wo es vor einem Jahr gestanden hatte. Ein vertrautes Bild. Die Wohnung war groß und gehörte ihnen beiden. Sie hatten sie von ihren Eltern geerbt. Felicia suchte kurz ihr Zimmer auf. Auch hier hatte David nichts verändert. Sie kehrte in den Livingroom zurück, spreizte die Arme ab und sagte: »Da bin ich also wieder, Bruderherz. Mir kommt vor, als würdest du dich nicht darüber freuen.« »Quatsch, natürlich freue ich mich.« »Man sieht es dir nicht an.« »Was erwartest du von mir?« »Daß du ein bißchen mehr Herzlichkeit zeigst.« »Dazu bin ich im Moment leider nicht in Stimmung.« »Hast du Sorgen?« 40 �
»Vielleicht.« »Schwierigkeiten mit dem Schreiben?« Er schüttelte den Kopf. »Ich könnte Tag und Nacht an der Schreibmaschine sitzen. Die Nachfrage nach Manuskripten war noch nie so groß.« »Wenn du mit mir über deine Probleme sprechen willst… Wir haben immer über alles geredet. Es würde mich freuen, wenn es zwischen uns wieder so werden würde wie früher. Vielleicht mußt du dich erst wieder an mich gewöhnen. Wenn du jemand brauchst, der dir zuhört, komm zu mir… Ich möchte, daß du weißt, daß ich von nun an wieder ganz für dich da bin.« Er streifte den schwedischen Kanonenofen mit raschem Blick. Darin hatte er in der letzten Nacht seine blutbesudelten Kleider verbrannt. Wenn Felicia gewußt hätte, was aus ihm geworden war… Er gehörte seit kurzem dem Wolfskreis an, war zur Metamorphose fähig und konnte sich nach Einbruch der Dunkelheit in einen reißenden Wolf verwandeln. In ihm steckte ein gefährliches Monster, vor dem sich Felicia in acht nehmen mußte. Es wäre besser gewesen, wenn sie nicht hierhergekommen wäre. Hier war sie in Gefahr. Die Bestie in ihm würde darauf keine Rücksicht nehmen, daß sie seine Schwester war. Aber wie sollte er Felicia das beibringen? Er durfte nicht offen darüber reden. Niemand durfte den Wolfskreis verraten. Der Verräter würde von den anderen Wölfen in Stücke gerissen werden. David Shane war durch seine Arbeit auf Bruce Constantine gestoßen. Er hatte über das Verhalten von Wölfen geschrieben und wollte in seinem Buch auch dem Werwolf ein Kapitel widmen. Jemand nannte ihm Constantines Namen, und er führte mit diesem außergewöhnlichen Mann viele Gespräche. Aus einem Kapitel über Werwölfe wurde schließlich ein eigenes Buch. Das Thema faszinierte David Shane so sehr, daß er sei41 �
ne Studien auch noch weiter betrieb, als er das Manuskript bereits beim Verlag abgeliefert hatte. Eines Tages eröffnete ihm Bruce Constantine, daß im Prinzip aus jedem Menschen ein Werwolf werden könne. Die Voraussetzung wäre nur, daß ihn die höllischen Mächte akzeptierten. So reifte in David Shane allmählich der Entschluß, sich dem erforderlichen Ritual zu unterziehen. Er erfuhr von Constantine, der mehr und mehr Vertrauen zu ihm gewann, daß es bereits einen Wolfskreis gab, dem fünf Mitglieder angehörten. Shane wurde als sechster in die Runde aufgenommen, und der Wolf in ihm hatte auch schon seinen ersten Mord auf dem Gewissen… Jill Santelli. In der kommenden Nacht war Sid Barringer an der Reihe. Wenn Felicia von alldem gewußt hätte… Es klopfte. David Shane begab sich in die Diele und öffnete die Tür. Draußen stand ein Bote mit einem Rosenstrauß. »Wohnt hier Miß Felicia Shane?« »Ja.« »Ich soll die Blumen für sie abgeben.« »Danke.« Shane griff in die Tasche und gab dem Boten ein paar Schilling Trinkgeld. Er brachte die roten Rosen seiner Schwester. »Kaum bist du hier, schickt dir auch schon jemand rote Rosen«, stellte er beunruhigt fest. Sie zwinkerte belustigt. »Ich habe eine Eroberung gemacht.« »Reicht dir eine geplatzte Verlobung nicht?« »Was erwartest du von mir? Daß ich ins Kloster gehe?« Shane grinste kalt. »Das ganz bestimmt nicht.« Felicia nahm ihm die Rosen aus der Hand. LIEBE GRÜSSE VON KEN DENNER stand auf der Karte, die zwischen den blutroten Blüten steckte. »Wer ist Ken Denner?« wollte David Shane wissen. »Ein Polizeiinspektor der Mordkommission.« 42 �
David Shane zuckte kaum merklich zusammen. Ach, der Ken Denner war das, dachte er, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. Inspektor Denner sollte die bestialische Mordserie aufklären, die zur Zeit die Öffentlichkeit bewegte. Denner und seine Kollegen gingen davon aus, daß sie nur einen Täter finden mußten, aber das stimmte nicht. Es gab sechs Täter: Bruce Constantine, Steve Atherton, Red Chapman, Tom O’Toole, Mike Buttons und… David Shane! Und in der kommenden Nacht würde es sieben Täter geben, Sid Barringer kam noch hinzu… Sieben Opfer – sieben Mörder. Vorläufig… »Wie kommst du denn an Denner?« fragte Shane vorsichtig. Seine Schwester erzählte es ihm arglos. Sie konnte den Grund für sein Interesse nicht ahnen. Wenn Sid Barringer zum vollwertigen Mitglied des Wolfskreises aufgerückt war, würde Nacht für Nacht ein Wolfsrudel durch die Stadt ziehen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Felicia nahm eine leere Vase, füllte sie mit Wasser und stellte die Rosen hinein. David hatte sich verändert. Vielleicht hatte sie ihn auch ein bißchen anders in Erinnerung. Er schien ernster geworden zu sein. Früher war er für jeden Scherz zu haben. Heute nicht mehr. Sie würden sich erneut aneinander gewöhnen müssen. Felicia wollte dem Bruder das Zusammenleben so leicht wie möglich machen. Sie wußte, daß er absolute Ruhe brauchte, wenn er arbeitete, und sie würde ihn beim Schreiben bestimmt nicht stören. Das Telefon schlug an. David legte das Gespräch in sein Arbeitszimmer. Das hätte er früher nicht getan. Hatte er kein Vertrauen mehr zu Felicia? Vor einem Jahr hatte es zwischen ihnen keine Geheimnisse gegeben. Würde sich dieses Mißtrauen zerstreuen lassen? Oder hatte David Schlimmes zu verbergen? 43 �
Während er telefonierte, sah sich Felicia die Bücher an, die im vergangenen Jahr von ihm erschienen waren. David hatte fleißig gearbeitet. Felicia entdeckte sechs neue Werke. Im Themenkreis war eine merkbare Wandlung festzustellen. Der Bogen spannte sich von der Verhaltensforschung bis zum Okkulten, zum Geister- und Dämonenglauben, zu Satansmessen und Berichten über reißende Werwölfe. David Shane kehrte aus seinem Arbeitszimmer zurück, als Felicia gerade in seinem letzten Buch blätterte. »Was ist das denn für ein blutrünstiges Thema?« sagte das Mädchen schaudernd. »Werwölfe… Igitt.« »Alles, was damit zusammenhängt, fasziniert mich ungemein«, bekannte Shane. »So etwas kaufen die Leute?« »Sie sind verrückt danach.« »Wenn ich es richtig sehe, versuchst du zu beweisen, daß es Werwölfe tatsächlich gibt.« »Okay.« »Sind das bloß Spekulationen, David? Oder weißt du es definitiv?« »Ich weiß es mit hundertprozentiger Sicherheit«, antwortete der Schriftsteller. Ich bin ja selbst einer, dachte er. »Hör zu, ich muß beruflich weg. Es kann spät werden. Du brauchst nicht auf mich zu warten.« Er ging ohne ein weiteres Wort. Als er im Lift stand, dachte er: Ich muß mir etwas einfallen lassen. Felicia darf nicht in meiner Nähe bleiben, sonst ist sie verloren. Der Mensch in ihm nahm noch Rücksicht auf die Schwester. Die Bestie würde sich jedoch wahrscheinlich über diese Barriere eiskalt hinwegsetzen. *
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Träge schlich die Dämmerung auf die Stadt zu. Sid Barringer wartete voller Ungeduld auf die Dunkelheit. Er hatte sich dem Wolfsritual unterzogen und war fortan zur Metamorphose fähig. Davon wollte er nach Einbruch der Dunkelheit Gebrauch machen, um zu einem vollwertigen Mitglied des Wolfskreises zu werden. Das erreichte er nur, wenn er Menschen angriff. Am späten Nachmittag hatte es aufgehört zu regnen, aber die Straße glänzte immer noch feucht. Ruhelos ging Barringer in seiner Wohnung auf und ab. Hin und wieder drangen Wolfslaute aus seiner Kehle. Das Telefon läute. Das Klingeln riß Barringer buchstäblich herum. Er griff mit der rechten Hand – noch war sie eine Hand, bald würde sie eine tödliche Pranke sein – nach dem Hörer. »Hallo!« »Bist du auf die Nacht vorbereitet?« fragte Bruce Constantine am andern Ende des Drahtes. »Ich habe Hunger«, stöhnte Sid Barringer. »Ich habe mich quer durch den Eiskasten gefressen. Es nützt nichts.« Constantine lachte. »Es ist eine andere Art von Hunger, Bruder. Den kannst du nur mit Blut stillen.« »Noch nie habe ich eine Nacht so herbeigesehnt«, keuchte Barringer. »Es dauert nicht mehr lange. Gerade werden die Straßenlampen eingeschaltet. Ich wünsche Erfolg auf deinem ersten Streifzug. Ruf mich an, nachdem du’s getan hast.« »Okay«, sagte Barringer und legte auf. Er machte in der Wohnung kein Licht, genoß die zunehmende Finsternis, und als es nicht mehr dunkler werden konnte, setzte die Verwandlung ein. Aus dem Bauunternehmer Sid Barringer wurde ein Monster… *
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Der Nightclub war gut besucht. Auf einer kleinen Bühne entkleideten sich zwei rothaarige Stripperinnen. Offenkundig Zwillinge. Das war nicht bloß ein Gag des Veranstalters. Die beiden waren tatsächlich eineiige Zwillinge. Ihre Proportionen waren sehenswert. Sie machten alles synchron. Jede schlängelnde Bewegung vollführten sie in exaktem Gleichklang. Sie rollten die Netzstrümpfe an ihren endlos langen Beinen hinunter, hakten das schwarze Korsett auf, wiegten sich zu der schwülen Musik, die aus den Lautsprechern drang, und blickten schwitzenden und grinsenden Männern herausfordernd in die Augen. David Shane saß an der Bar, leckte sich die Lippen und mußte sich zwingen, nicht zur Bühne zu sehen. Er war hier, um sich mit Bruce Constantine zu treffen. Die Bestie durfte nicht aus ihm hervorbrechen. Das hätte ein Chaos gegeben. Er winkte dem Keeper, wies auf sein leeres Glas und sagte: »Mach die Luft raus, George.« »Ist bereits dein fünfter Scotch.« »Na und?« herrschte Shane ihn an. »Bist du nicht dazu da, um ihn zu verkaufen? Denkst du, ich kann nicht bezahlen, was ich trinke?« »Entschuldige. Ich dachte, wenn du mit dem Wagen da bist…« »Überlaß das Denken den Pferden, die haben größere Köpfe.« »Okay, David.« Der Keeper goß erneut ein. Shane griff nach dem Glas. Zum Teufel, er hatte ein Problem am Hals, und das hieß Felicia. Sie kümmerte sich so gern um seine Angelegenheiten. Das war schon früher so gewesen. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie gesagt: »Jetzt gibt es nur noch uns beide, David. Wir müssen zusammenhalten und immer füreinander da sein.« Das hatte früher seine Richtigkeit gehabt, aber seitdem hatte sich alles geändert. Shane bewahrte ein gefährliches Geheimnis, 46 �
und wenn Felicia es herauszukriegen versuchte, steckte er in einer Zwangslage. Jemand setzte sich neben ihn. Er drehte den Kopf und stellte fest, daß es Bruce Constantine war. »Da ist etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte«, sagte Shane. Constantine bestellte sich Gin-Tonic. »Schieß los«, erwiderte er. »Ich habe eine Schwester.« »Ist mir bekannt. Sie ging nach Amerika.« Shane grinste. »Du bist nicht auf dem laufenden, Bruder. Sie war in Amerika. Ihre Verlobung platzte. Seit heute ist sie wieder zu Hause.« Constantine sah ihn beunruhigt an. »Zu Hause? Etwa bei dir?« Shane nickte. »Die Wohnung gehört ihr zur Hälfte. Sie macht von ihrem Wohnrecht gebrauch.« »Weißt du, was das für Schwierigkeiten geben kann, David?« »Natürlich weiß ich das.« »Junge, du mußt zusehen, daß du das Mädchen so rasch wie möglich los wirst. Sie kann nicht in der Wohnung bleiben.« »Weißt du, was noch hinzu kommt?« »Was?« »Daß sie sich mit Inspektor Ken Denner angefreundet hat. Du weißt, wen ich meine. Das ist der Inspektor, der…« »Ich weiß, wer Denner ist«, knurrte Bruce Constantine, und seine Augen flackerten unstet. »Er ist hinter uns her. Ich habe mir bereits überlegt, ob wir uns nicht um ihn kümmern sollten. Er könnte uns Schwierigkeiten machen…« »Bestimmt keine ernstlichen«, sagte Shane zuversichtlich. »Wenn er nach deiner Schwester verrückt ist und spitzkriegt, was mit ihrem Bruder los ist, könnte er für uns zu einer echten Gefahr werden. Die Liebe zu Felicia könnte ihn über sich selbst hinauswachsen lassen.« »Er kann uns trotzdem nichts anhaben.« 47 �
»Vergiß nicht, es gibt Möglichkeiten, uns gefährlich zu werden, Bruder. Wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Deshalb muß Felicia raus aus deiner Wohnung.« »Es ist auch ihre Wohnung. Ich kann sie nicht hinauswerfen. Das würde sie erst recht stutzig machen.« »Brich einen Streit vom Zaun, tu irgend etwas, um sie loszuwerden. Oder…« »Ja?« Bruce Constantine blickte seinem Spießgesellen fest in die Augen. »Oder sie muß dein nächstes Opfer sein!« * David Shane schluckte. Gerade das wollte er vermeiden. Felicia war seine Schwester, und er schüttelte entschieden den Kopf. »Das möchte ich nicht, Bruce.« »Soll ich es tun? Oder jemand anders aus dem Kreis?« »Darum geht es nicht«, beeilte sich Shane zu sagen. »In jedem Fall würde Ken Denner auf den Plan gerufen, und der Bulle würde viele Fragen stellen, und vielleicht würde er hinter unser Geheimnis kommen. Das wäre unklug. Einer solchen Gefahr dürfen wir uns nicht aussetzen.« Constantine lachte frostig. »Das ist zwar ein gutes Argument, aber in erster Linie geht es dir dabei um deine Schwester. Gib zu, daß ich dich durchschaut habe.« David Shane antwortete nicht, wandte sich um und blickte zur Bühne, wo der Doppel-Strip gerade in die Endphase ging. Sofort brannte wieder das Verlangen in ihm, sich in einen Wolf zu verwandeln… »Sid ist bestimmt schon unterwegs«, sagte Bruce Constantine hinter ihm. »Ich habe mit ihm telefoniert. Er konnte es nicht erwarten, bis es dunkel wurde. Sobald er getan hat, was er tun 48 �
muß, ist der Wolfskreis geschlossen.« * Sid Barringer durchstreifte einige finstere Hinterhöfe. Hechelnd kletterte der Werwolf auf eine Backsteinmauer, verharrte einen Augenblick und schaute durch offene Fenster in erhellte Wohnräume. Eine dicke, etwas schlampige Frau trug ein Tablett ins Wohnzimmer und setzte sich. Ein Mann trat rauchend ans Fenster, nahm noch einen Zug von der Zigarette und schnippte die Kippe in den Hof. Die Glut beschrieb einen Bogen. Als die Kippe aufschlug, spritzten nach allen Seiten Funken. Das Monster preßte sich an die Hausmauer. Der Mann wandte sich um. Er hätte das Ungeheuer sehen können, entdeckte es jedoch nicht. Er verschwand aus dem Blickfeld des Wolfes. Zwei Fenster weiter flimmerte ein Farbfernseher. Eine fünfköpfige Familie saß davor. Der hungrige Blick des Wolfes glitt weiter. Er war entschlossen, in eine dieser Wohnungen einzudringen und über sein ahnungsloses Opfer herzufallen. Ein weiteres Licht flammte auf. Barringer sah eine Neunzehnjährige in Jeans und Rollkragenpulli. Sie öffnete den Schrank, kramte darin und holte frische Wäsche und ein Kleid heraus. Dann zog sie den Pulli aus. Sie trug einen transparenten BH, der ihren üppigen Busen kaum bändigen konnte. Danach beförderte sie den Reißverschluß der Jeans nach unten und stieg aus den Hosen. Ein winziger Slip zeichnete sich scharf auf ihrer hellen Haut ab. Der Wolf stieß einen gierigen Laut aus… * 49 �
Sie hieß Angela Hayes, arbeitete in einer Apotheke, war brünett und hatte eine gute Figur. Ihre Eltern hatten nie Schwierigkeiten gehabt, sie zu erziehen. Sie schlug von selbst den rechten Weg ein, und auf diesem wandelte sie immer noch. Seit vier Monaten hatte sie einen Freund. Ihre Eltern hatten nichts dagegen. Er war ein anständiger Junge, und sie wußten, daß sie ihrer Tochter blind vertrauen konnten. Tatsächlich war Angela mit ihrem Freund noch nicht intim geworden. Er durfte sie küssen, und sie gestattete ihm auch, ihre Brüste zu streicheln, aber mehr durfte er sich noch nicht herausnehmen, und er akzeptierte das auch. Sie wollte sich dafür Zeit lassen. Chris, ihr Freund, verstand das und drängte nicht. Er konnte warten. Er war sicher, daß Angela ihn eines Tages dazu auffordern würde. Angela wollte mit Chris ausgehen. In fünfzehn Minuten würde er sie abholen. Sie mußte sich beeilen. Chris liebte es nicht, zu warten. Wenn sie ihn also nicht vergrämen wollte, mußte sie sich sputen. Rasch hakte sie den BH auf. Das zarte, transparente Ding flatterte gleich darauf aufs Bett. Angela griff nach dem bereitliegenden, spitzenbesetzten Büstenhalter, schob die Träger hoch, plazierte ihre vollen schönen Brüste in den Körbchen und griff nach dem Verschluß. Da hörte sie auf einmal ein böses Knurren. Es kam vom Fenster her. Wie von der Tarantel gestochen wirbelte das Mädchen herum… und blickte in die behaarte Fratze eines Werwolfes. * In diesem Augenblick sprang die Bestie über die Fensterbank. � Geifer tropfte aus der offenen Schnauze. Die rote Zunge wischte � 50 �
gierig darüber. Angela Hayes hatte das Gefühl, in einem entsetzlichen Alptraum zu sein. Fassungslos starrte sie das Ungeheuer an, das sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Ihr Herz schien hoch oben im Hals zu klopfen. Die Neunzehnjährige zitterte. Todesangst schnürte ihr die Kehle zu. Kalter Schweiß brach aus ihren Poren. Verstört hob sie die Arme zur Abwehr. Langsam, wie in Zeitlupe, wich sie zurück. Das Monster bleckte die Zähne. Die Augen waren stechend auf das bestürzte Mädchen gerichtet. In Angelas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ihre Eltern waren zu Hause. Sie hielten sich nebenan auf, sahen fern und hatten keinen blassen Schimmer, welches Grauen sich hier abspielte. Sie waren davon nur durch eine dünne Wand getrennt. Der Wolf kam näher. Angela Hayes sah sich gehetzt um. Würde sie es schaffen, die Tür zu erreichen? Konnte sie noch fliehen? Das kraftstrotzende Scheusal hob die rechte Pranke. Angela sah, wie die Bestie sich zum Sprung duckte. Neben dem Schrank stand ein alter Kleiderständer. Ein Erbstück ihrer Großmutter. In ihrer Verzweiflung packte Angela ihn mit beiden Händen. Wie eine Lanze klemmte sie ihn sich unter den Arm, und als der Werwolf sich abschnellte, rammte sie ihm den Ständer gegen die Brust. Der Körper des Monsters prallte gegen den Kleiderständer. Angela wurde durchgeschüttelt. Beinahe hätte sie die ungewöhnliche Waffe verloren. Erschrocken packte sie fester zu, denn sie glaubte, sich das Scheusal nur damit vom Leib halten zu können. Der Wolf knurrte zornig. Die Gegenwehr des Mädchens mißfiel ihm. Er hieb mit seinen Pranken nach dem Ständer. Angela ließ das schwere Stück hin und her pendeln. Mehrmals schlug 51 �
das Monster daneben. Das machte den Wolf noch wütender. Sein nächster Schlag traf das Holz und prellte es dem Mädchen, das sich tapfer wehrte, aus den Händen. Der Kleiderständer krachte auf den Boden. Angelas Eltern hätten das eigentlich hören müssen, doch die schauten weiterhin ahnungslos auf den Bildschirm. Die Lefzen hoben sich. Es sah aus, als würde der Werwolf höhnisch grinsen. Erneut wich Angela zurück. Sie stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Entsetzt stellte sie fest, daß das Untier sie in die Ecke abgedrängt hatte. Sie konnte weder nach links noch nach rechts ausweichen. Das Gefühl, verloren zu sein, war entsetzlich. Angela fing an, wie am Spieß zu schreien. »Paaaaaa!… Maaaaa! Hiiilfeee! Zu Hilfeeeeee!« Und die Bestie spannte schon wieder die Muskeln… * Das Ehepaar Hayes saß bequem vor dem Fernsehapparat. Mr. Hayes’ Beine lagen auf dem Glastisch, eine Dose Kräuterbier stand in Reichweite. Relaxing in Vollendung. Der Mann bot ein Bild absoluter Zufriedenheit. Seine Frau saß neben ihm, besserte Wäsche aus und warf hin und wieder einen Blick auf den Bildschirm. Ein Familienidyll, wie man es seit der Erfindung des Fernsehens überall auf der Welt antraf. Es wurde ein Film von Vittorio de Sica gezeigt. Mit Sophia Loren und Marcello Mastroianni in den Hauptrollen. Amüsant. Manchmal zum Lachen. In langen Passagen zum Lächeln. Vor allem Mr. Hayes unterhielt sich köstlich. Seine Frau lächelte verständnisvoll. Sie wußte, daß ihr Mann für die Loren schwärmte, seit es sie gab. Er hatte alle ihre Filme gesehen. Auch den, der jetzt im Fernsehen lief. Der italienische 52 �
Kurvenstar war sein großer Schwarm. Früher hatte Mrs. Hayes es bedauert, daß sie ihrem Mann nicht annähernd soviel wie diese Sexbombe bieten konnte, und es hatte sogar eine Zeit gegeben, da war sie auf die Diva sogar eifersüchtig gewesen, doch das hatte sich mittlerweile gelegt. Die Leinwandschöne war für den kleinen Mr. Hayes unerreichbar, würde es immer bleiben. Auf sie eifersüchtig zu sein, war dumm und unnötig. Nebenan war Gepolter. Mr. Hayes schaute seine Frau an. »Was macht Angela denn?« Mrs. Hayes zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie versehentlich den Kleiderständer umgeworfen.« »Das Zimmer ist doch wirklich nicht so klein, daß sie…« Plötzlich schrie Angela. So schrill und markerschütternd, daß Mr. Hayes entsetzt aufsprang und heiser hervorstieß: »O mein Gott!« * Das Monster wuchtete sich vorwärts. Angela Hayes ließ sich fallen, riß die Arme über den Kopf und hörte nicht auf zu schreien. Ihre Schreie wurden auch von den Nachbarn gehört. Viele Menschen erschienen entsetzt an den Fenstern. Mit ratlosen Blicken bemühten sie sich, festzustellen, aus welcher Wohnung die gellenden Hilferufe kamen. Angela Hayes versuchte auf allen vieren an den Beinen des Werwolfs vorbei zu fliehen. Er schlug mit seiner Pranke auf ihren Rücken. Sie dachte, ihr Kreuz wäre gebrochen, stieß einen Schmerzensschrei aus und streckte sich. Schritte… Mr. Hayes rammte die Tür auf. Als er die Bestie sah, glaubte er, den Verstand verloren zu haben. Er war völlig verstört. Ohne zu überlegen, stürzte er sich auf das Ungeheuer. Angelas Leben war 53 �
in Gefahr. Das ließ Hayes über sich selbst hinauswachsen. Um seine Tochter zu retten, war er zu jedem Risiko bereit. Er prallte gegen den Rücken des Werwolfs, legte den Unterarm um dessen Kehle und riß ihn zurück. Die Bestie fauchte, schüttelte sich und wollte Hayes abwerfen, doch der Mann ließ nicht los. »Hinaus, Angela!« brüllte er. »Schnell! Steh auf! Mach schnell!« In der Tür erschien Angelas Mutter. Sie wurde schlagartig bleich, als sie ihren Mann mit dem Ungeheuer kämpfen sah. Angela weinte. Ihre Nerven waren dem Horror nicht gewachsen. »Geh, Angela!« schrie Mr. Hayes wieder. »Um Himmels willen, beeil’ dich!« Angelas Mutter kam ihr zu Hilfe. Mit beiden Händen packte sie atemlos zu, zerrte ihre Tochter hoch und aus dem Zimmer. In der Diele brach Angela wieder zusammen. Mr. Hayes wußte nicht weiter. Was sollte er mit dem Monster tun? Er war dem Gegner nicht gewachsen. Die Flucht ergreifen? Würde es ihm gelingen, den Raum zu verlassen und den Wolf einzuschließen? Das Scheusal drehte sich mit ihm. Es wurde ein wilder Tanz, doch Hayes ließ sich nicht abwerfen. Da rammte ihm die Bestie den Ellenbogen gegen die Rippen. Hayes stieß die Luft pfeifend aus. Er schrie auf, sein Arm schnellte förmlich von der Kehle des Untieres weg, und er krümmte sich unter heftigen Schmerzen. Das Monster wirbelte herum. Aus blutunterlaufenen Augen starrte es den Mann an. Das Mädchen war ihm entkommen. Um ein vollwertiges Mitglied des Wolfskreises zu werden, mußte die Bestie einen Menschen töten… Knurrend stürzte sich der Werwolf auf Hayes. Der Mann wich instinktiv zur Seite. Er fiel gegen die Wand. Neben seiner Schulter, über dem Bett seiner Tochter, schimmerte Metall. Ein Kruzifix, das Angela zur Einsegnung bekommen hatte. 54 �
Das war die Rettung! Hayes’ Finger umschlossen blitzschnell das Kruzifix. Er riß es vom Haken und hielt es der Bestie entgegen. Das Wunder, auf das Hayes kaum zu hoffen wagte, geschah. Der Werwolf heulte auf, riß die Pranken hoch und sprang entsetzt zurück. Das verlieh Hayes so viel Mut, daß er das Monster angriff. Der Wolf schnellte herum und hetzte stöhnend zum Fenster. Die Panik zwang ihn, den Raum auf der Stelle zu verlassen. Ein wilder, kraftvoller Satz… Der Werwolf katapultierte sich aus dem Fenster, fiel vom ersten Stock in den finsteren Hof und rannte davon. Schwer atmend, mit schweißnassem Gesicht und zitternd, lehnte sich Hayes an die Wand. Er drehte das Kruzifix um, sah es tief bewegt an und flüsterte: »Danke, du hast uns das Leben gerettet.« * Ein neuer Abend. Inspektor Ken Denner fragte sich, was er bringen würde. Würde der Wahnsinnige wieder kommen? Würde der Triebtäter erneut losziehen, um sich ein Opfer zu holen? Denner trat vor den großen Stadtplan, der an der Wand hing. Stecknadeln mit großen roten Köpfen markierten die Stellen, wo die Morde verübt worden waren. Die Nadeln steckten fast ausnahmslos in Paddington. Diesem Umstand hatte Ken Denner selbstverständlich Rechnung getragen. Es trieb sich viel Polizei in diesem Stadtteil herum. Geschulte Leute hielten die Augen offen und hatten den Auftrag, jede verdächtige Person sofort festzunehmen und bei Denner abzuliefern. Drei Männer waren bisher angeschleppt worden. Denner hatte sie sich gründlich angesehen. Es hatte sich 55 �
aber herausgestellt, daß sie als Täter nicht in Frage kamen. Denner hatte sie wieder laufen lassen. Seufzend wandte er sich um. Sein Blick fiel auf das Telefon. Sollte er Felicia Shane kurz anrufen und fragen, ob sie seine Rosen erhalten hatte? Würde sie das aufdringlich finden? Das Telefon läutete und riß ihn aus seinen Gedanken. Er hob ab und meldete sich. Der Anrufer war Marshal Elliott, jener Reporter, der bei Ken Denner stets für erhöhten Gallenfluß sorgte. »Hallo, Inspektor«, sagte Elliott. Seine Stimme klang wie immer ätzend. »Was wollen Sie?« reagierte Denner barsch. »Wie hat Ihnen mein Artikel gefallen? Haben Sie ihn gelesen?« »Wenn ich Sie ernst nehmen würde, müßte ich Sie zum Duell fordern.« »Sie sollten mich ernst nehmen, Denner, denn wenn Sie nicht bald Erfolg haben, werde ich der Mann sein, der Sie zu Fall bringt.« »Ich habe keine Angst vor Ihnen. Sie sind nichts weiter als ein kleiner Schmierfink.« »Meine Meinung interessiert die Leser.« »Mich nicht.« »Sie sollten besser nicht den Fehler machen, mich zu unterschätzen.« »Soll das eine Warnung sein?« »Schon möglich.« »Stecken Sie sie sich an den Hut. Ich bin nur an sachlicher Kritik interessiert.« »Wenn der Killer heute nacht wieder zuschlägt, wenn es Ihnen abermals nicht gelingt, ihn zu erwischen, sind Sie fertig, Denner. Dann rollt Ihr Kopf.« »Mein Lieber, Sie überschätzen sich maßlos«, erwiderte der Inspektor trocken und knallte den Hörer in die Gabel. 56 �
Im selben Moment platzte die Tür auf, und Detective Sergeant Farr wirbelte herein. »Sir! Inspektor! Verdammt, es ist gut, daß Sie sitzen…« »Was ist los?« fragte Ken Denner beunruhigt. So aufgeregt hatte er Robert Farr noch nie erlebt. »Der Killer…« »Hat er wieder zugeschlagen?« »Ja… Das heißt, er wollte…« »Wo? Wieder in Paddington?« Denners nervöser Blick richtete sich auf den Stadtplan. »Ja…«, preßte der Detective Sergeant heiser hervor. »Sir, wir haben es mit keinem gewöhnlichen Mörder zu tun. Wir lagen mit unserer Vermutung, der Killer müsse ein Verrückter sein, falsch. Er… er ist ein… Werwolf!« * Denner hatte das Gefühl, ein Eissplitter würde ihm ins Herz dringen. Er sprang auf. »Ein Werwolf? Ein Monster? Sind Sie sicher, Sergeant?« Farr nickte hastig. »Diesmal gibt es viele Zeugen.« »Was hat die Bestie getan?« Der Detective Sergeant berichtete. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Ken Denner veranlaßte sofort, daß das Gebiet rund um den Tatort hermetisch abgeriegelt wurde. Er dachte an die Worte des Polizeiarztes, dessen persönliche Meinung es gewesen war, Jill Santelli wäre von einem großen Hund zerrissen worden. Der Hund… ein Wolf. Der Doc hatte nicht viel danebengetippt. Denner ließ den Polizeiapparat auf Hochtouren arbeiten. Er begab sich mit Sergeant Farr in die Funkzentrale und kümmerte sich persönlich um den Einsatz der Streifenwagen. Er ordnete 57 �
Straßensperren an und verlangte von allen Leuten sofortige Meldung, falls sich das Monster irgendwo blicken ließ. Funksprüche schwirrten hin und her. Denner setzte alle verfügbaren Fahrzeuge ein. Mit schmalen Augen knurrte er: »Diesmal müssen wir ihn kriegen, Sergeant. Die Familie Hayes hatte großes Glück. Die Bestie wird versuchen, anderswo zuzuschlagen. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen.« Farr atmete schwer aus. »Wie wollen wir ihn daran hindern, einen weiteren Mord zu verüben?« »Das weiß ich noch nicht, aber irgendwie müssen wir dem Monster beikommen. Kennen Sie jemand, der über Werwölfe Bescheid weiß?« Farr schüttelte den Kopf. »Dann werden wir uns wohl oder übel selbst helfen müssen«, sagte Denner grimmig. Er wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen. »Ein Monster in unserer Stadt: Darauf wäre ich nie gekommen!« * Felicia Shane bezog ihr Zimmer. Ihr Bruder ließ sich den ganzen Tag nicht mehr blicken. Er rief auch nicht an. Der Abend kam, und das Mädchen las David Shanes letztes Buch, das sich so intensiv wie kein anderes Werk mit Werwölfen befaßte. Felicia berührte die Begeisterung unangenehm, mit der ihr Bruder dieses Buch geschrieben hatte. Die grausamen Taten schienen David zu faszinieren. Er schilderte sie in erschreckenden Einzelheiten, und Felicia wurde das Gefühl nicht los, daß ihr Bruder das Treiben der unheimlichen Wölfe guthieß. Sie kannte David besser als jeder andere, und sie konnte zwischen den Zeilen lesen. Sie bekam mit, was David nicht geschrieben, aber mit Sicherheit gedacht hatte, und das erschreckte sie. 58 �
Er mußte sich zu diesen Bestien hingezogen fühlen. Felicia bekam während des Lesens ein schlechtes Gewissen. David war immer schon ein wenig wankelmütig gewesen, sein Charakter war labil. Solange sie mit ihm zusammengelebt hatte, hatte sie ihn bewußt und unbewußt zum Guten hin beeinflußt. Als sie nach Amerika ging, beraubte sie ihn eines wichtigen Halts. Die gute Stütze existierte nicht mehr. War David im vergangenen Jahr ein anderer geworden? Sie versuchte sich einzureden, daß sie sich das nur einbildete. Aber hatte sie nicht gleich bei ihrer Ankunft festgestellt, daß sich David verändert hatte? Zu seinem Nachteil. Was für Freunde hatte er jetzt? Wer hatte ihn angerufen? Mit wem war er in diesem Augenblick zusammen? Felicia spürte beim Lesen seines Buches, daß sie sich um ihn Sorgen machen mußte. Sie hätte ihn nicht allein lassen dürfen. Ein gefährlicher Geist wohnte in ihm. Würde sie David wieder ändern können? Würde er auf ihren guten Einfluß noch ansprechen? Sie wollte zu seiner Rettung beitragen, was sie konnte. David durfte diese gefährliche Einstellung nicht behalten. Er bewegte sich mit seinen Ideen haarscharf an der Grenze. Ein Schritt nur noch zur Seite und er stand dort, wo sich die Blutrünstigen befanden, über die er geschrieben hatte. Verunsichert und beunruhigt legte sie das Buch weg. Sie stand auf und ging im Living-room hin und her, am Wohnzimmerschrank vorbei. Ihre Fingernägel fuhren an einer Kante entlang. Eine der Laden war nicht ganz hineingeschoben. Sie wollte es tun, da fiel ihr der Papierstreifen auf, der heraushing. Felicia zog die Lade auf, und ihr Blick fiel auf Zeitungsartikel, die David ausgeschnitten hatte. Sie berichteten von insgesamt sechs grauenvollen Morden. Man schrieb von einem wahnsinnigen Mörder. Es war von einer Bestie die Rede. Und dieses Wort hatte David rot unterstrichen. 59 �
Bestie! Gingen diese schrecklichen Morde, die – auch das erfuhr Felicia aus den Artikeln – Inspektor Ken Denner aufklären sollte, auf das Konto eines Werwolfes? Wußte David mehr, als in der Zeitung stand? Aus welchem Grund hatte er diese Artikel gesammelt? Sollten sie für Studienzwecke dienen? Beabsichtigte er, sie für ein neues Buch zu verwenden? Felicia schauderte. Was war mit ihrem Bruder los? Sie hatte Angst vor der Antwort auf diese Frage und überlegte, ob sie mit Ken Denner darüber sprechen sollte, unterließ es dann aber, ihn anzurufen. * Die Panik steckte immer noch im Wolf. Er hatte den Anblick des Kreuzes nicht ertragen. Heftige Schmerzen hatten seinem Leib zu schaffen gemacht. Die Bestie war konfus. Der Mißerfolg fraß mit glühenden Zähnen an ihren Eingeweiden. Während der Werwolf durch den dunklen Hof hetzte, schrien die Menschen an den Fenstern. »Dort läuft er!« »Mein Gott, das ist ja gar kein Mensch!« »Das ist ein Monster!« »Ein Wolf!« »Ein Werwolf!« »Polizei! Polizei!«… Sid Barringer, die Bestie, überkletterte die Backsteinmauer, auf der er kurz zuvor gesessen hatte. Er stürmte in die Finsternis, hörte Polizeisignale, rannte durch eine Hauseinfahrt, erreichte eine enge Straße und lief diese entlang. Er schaute nicht, wohin er eilte. Hauptsache er kam schnell genug von hier weg. Ein Streifenwagen bog um die Ecke. 60 �
Der Werwolf stieß ein Knurren aus. Er riß die Pranken hoch, als die Scheinwerfer ihn erfaßten, und sprang hinter einen Kastenwagen, in der Hoffnung, daß ihn die Polizisten nicht bemerkt hatten. * Doch der Wolf war ihnen aufgefallen. Sie hätten mit Blindheit geschlagen sein müssen, ihn nicht zu sehen. Der Fahrer hieß Bordley, sein Kollege Megger. Mit offenen Augen durchstreiften sie das Gebiet. Megger biß sich nervös auf die Unterlippe. Es war nicht jedermanns Sache, Jagd auf ein Ungeheuer zu machen. Diese Treibjagd konnte jederzeit für einen der Jäger tödlich enden. Gegen gewöhnliche Verbrecher getraute sich Megger jederzeit hart vorzugehen. Aber bei einem Monster war das etwas anderes. Er hoffte insgeheim, daß nicht sie das »Glück« haben würden, die Bestie zu entdecken. »Dort vorn!« rief Bordley plötzlich aufgeregt. Megger zuckte zusammen. Im selben Moment sah auch er das Ungeheuer. Es sprang blitzschnell hinter einen Kastenwagen. »Verdammt, daß es diese Viecher wirklich gibt, habe ich bisher für unmöglich gehalten«, stöhnte Megger. »Ich dachte, das wären bloß Spukgestalten.« Bordley gab Gas. Der Streifenwagen schoß die schmale Straße entlang auf den Kastenwagen zu, hinter dem sich der Werwolf befand. Megger hakte das Mikrofon los und setzte sich mit der Zentrale in Verbindung. »Wir haben ihn entdeckt! Äh… Hier ist Wagen siebzehn…« Er gab die genaue Position durch. »Schicken Sie Verstärkung! Aber schnell! Wir werden versuchen, das Biest inzwischen festzunageln –« Bordley stoppte das Fahrzeug. 61 �
Die Polizisten rammten die Türen auf und federten aus dem Wagen. Die Dienstwaffen flogen förmlich in ihre Hände. Mit bis zum Zerreißen gespannten Nerven näherten sie sich dem Kastenwagen. Sie wußten, daß der kleinste Fehler sich rächen würde, deshalb waren sie auf der Hut, wie nie zuvor in ihrem Leben. * Der Werwolf blieb nicht in Deckung. Er wollte sich von den Polizisten nicht stellen lassen. Rasch stemmte er sich von dem Kastenwagen ab. Während der Patrol Car darauf zufuhr, setzte sich Sid Barringer ab. Als Bordley und Megger das kantige Firmenfahrzeug erreichten, befand sich das Monster nicht mehr dahinter. Es hetzte um die nächste Ecke und verschwand in einem düsteren Durchgang. Wie bei einer Sternfahrt näherten sich die Patrol Cars aus allen Richtungen der Straße, in der das Monster entdeckt worden war. Barringer ließ ein Fahrzeug vorbei, dann tauchte er wieder auf. Rasch verließ er den Durchgang. Es fiel ihm noch schwer, sich auf das Wolfsein einzustellen. Er hätte nicht so konfus zu sein brauchen. Mit gewöhnlichen Kugeln konnte man ihn nicht zur Strecke bringen. Natürlich wußte er das. Aber irgendwo in seinem Hinterkopf hing die Befürchtung, einer der Polizisten könnte seine Waffe mit geweihtem Silber geladen haben. Er lief im Zickzack durch den Bezirk, wechselte immer wieder die Richtung, versteckte sich, wartete und hastete weiter. Vor zwei Sperren kehrte er rasch um. Er fand keinen Fluchtweg. Überall waren Polizisten postiert. Das machte ihn rasend. Er knurrte gereizt. Als Wolf hatte er keine Chance, seinen Jägern zu entwischen. Er mußte sich zurückverwandeln. Als Mensch konnte er jede Sperre passieren, ohne 62 �
daß die Polizei Verdacht schöpfte. Aber wie würde der Wolf in ihm sich verhalten? Er war aufgeregt, hochgradig nervös. Er merkte, daß sich der Polizeiring immer enger zusammenzog. In großer Eile nahm er menschliche Gestalt an. Dann ging er auf eine der Polizeisperren zu. Sie war mit vier Mann besetzt. Zwei Streifenwagen standen quer auf der Fahrbahn. Sie waren so aufgestellt, daß sich ein Fahrzeug nur langsam hindurchschlängeln konnte. Ein Auto rollte auf die Sperre zu. Zwei Uniformierte kontrollierten das Fahrzeug. Diese günstige Gelegenheit wollte sich Sid Barringer nicht entgehen lassen. Mit forschem Schritt näherte er sich der Sperre. Zwei Polizisten versperrten ihm den Weg. »Dürfen wir Ihre Papiere sehen, Sir?« Barringer rang sich ein nervöses Lächeln ab. »Was ist denn hier los?« »Ihre Papiere bitte.« In Barringers Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Durfte er sich ausweisen? Er besaß keine falschen Dokumente. Konnte ihm etwas passieren, wenn er seine Papiere zeigte? Eigentlich nicht. Er griff umständlich in die Innentasche seines Jacketts und wies sich aus. »Was tun Sie in dieser Gegend, Mr. Barringer?« »Ich… habe einen Kunden besucht. Ich bin Bauunternehmer.« »Würden Sie uns den Namen des Kunden nennen?« »Hören Sie, was soll das? Wie behandeln Sie mich denn? Bin ich vielleicht ein Verbrecher?« »Wir tun unsere Pflicht, Mr. Barringer, bitte haben Sie Verständnis. Wie heißt Ihr Kunde?« Sid Barringer spürte, wie die Wogen der Erregung über ihm zusammenschlugen. Er schaffte es nicht mehr länger, den Wolf 63 �
in sich zu unterdrücken. Die Bestie brach aus ihm hervor… � *
Aufschreiend sprangen die Polizisten zurück. Dadurch wurden die beiden Kollegen auf die Bestie aufmerksam. Alle vier griffen zu den Waffen. Der Werwolf streckte einen von ihnen mit einem Prankenhieb nieder, dem zweiten schlug er die Reißzähne in die Schulter. Der Mann brüllte und torkelte zurück. Die restlichen zwei Uniformierten eröffneten das Feuer auf das Ungeheuer. Lange Mündungsblitze zuckten aus den Läufen ihrer Waffen. Das Echo der krachenden Schüsse pendelte zwischen den Häuserfronten. Drei, vier Kugeln fuhren in den Wolfsleib. Das Monster zuckte, knurrte, heulte – doch anhaben konnten die Geschoße der Bestie nichts. Mit langen Sätzen ergriff das Scheusal die Flucht. Ein Polizist sprang in den Dienstwagen. Er riß das Handmikrofon vom Haken. »Hier Wagen neunzehn, Sergeant Flood. Wir hatten ihn gestellt: Er war zuerst nur ein unscheinbar aussehender Mann. Sein Name: Sid Barringer. Beruf: Bauunternehmer. Er gab an, einen Kunden besucht zu haben. Dessen Namen wollte er nicht nennen. Plötzlich verwandelte er sich in dieses schreckliche Monster! Wir eröffneten das Feuer auf ihn, aber er hat unsere Kugeln wie Bonbons geschluckt. Er hat unsere Sperre durchbrochen, ist jetzt zur Blomfield Road unterwegs! Verdammt, wir haben einen Verletzten… Schickt schnellstens eine Ambulanz! Ende!« * »Blomfield Road!« stieß Ken Denner aufgeregt hervor. Jede Meldung erreichte ihn unverzüglich. Er saß mit dem Detective Ser64 �
geant im Dienstwagen. Sie waren kurz vor Paddington. Farr lenkte das Fahrzeug. Er hatte vorgehabt, die Harrow Road zu erreichen. Die Funkmeldung veranlaßte ihn aber zu einer Kurskorrektur. Er bog in die Edgware Road ein und fuhr auf Druck. Ken Denners Gesicht wirkte in diesem Moment wie aus Granit gemeißelt. »Wir müssen ihn kriegen«, keuchte er. »Koste es, was es wolle! Wir müssen die Bestie schnappen!« Robert Farr fuhr in die Blomfield Road. Neben ihm richtete sich der Inspektor plötzlich ruckartig auf. »Dort läuft er! Hinterher, Farr!« Der Detective Sergeant führte den Befehl sofort aus. Der Werwolf stoppte kurz und drehte sich um. Die häßliche Fratze war verzerrt. Das Untier stand im gleißenden Licht der Halogenscheinwerfer und setzte seine Flucht unverzüglich fort. »Auf den Gehweg!« schrie Denner. »Sir?« »Rauf auf den Gehweg, Farr! Und bleiben Sie auf dem Gas!« Robert Farr riß das Fahrzeug auf den Bürgersteig. Der Polizeiwagen raste hinter dem Monster her. Die Entfernung verringerte sich von Sekunde zu Sekunde. »Halten Sie auf ihn drauf!« schrie Denner. »Nicht bremsen, Farr! Auf keinen Fall bremsen!« »Ich soll ihn… über den Haufen fahren?« »Gibt es eine andere Möglichkeit, mit ihm fertig zu werden?« »Keine Ahnung.« »Na also.« Sechs Meter lagen noch zwischen Wolf und Fahrzeug. Das Monster begriff, was ihm drohte… Fünf Meter!… Der Werwolf lief, so schnell er konnte… Vier Meter!… Es war eine mörderische Hetzjagd… Drei Meter!… Die Bestie mobilisierte ihre übernatürlichen Kraftreserven, konnte aber unmöglich schneller sein als das Auto… Zwei Meter!… Robert Farr biß die Zähne zusam65 �
men. Gleich würden sie das Ungeheuer erwischen. Der Detective Sergeant starrte auf den breiten Rücken des Killers, auf dessen Konto – das war die allgemeine Meinung – sechs Morde gingen… Ein Meter!… Das Dröhnen des Polizeifahrzeugs hing so laut hinter dem Werwolf, daß er sich entschloß, sich mit einem gewaltigen Satz auf die Fahrbahn in Sicherheit zu bringen. Während des Laufens setzte er zum Sprung an. Zu spät! Er kam nicht mehr dazu, sich abzuschnellen. Der Wagen erwischte ihn mit voller Wucht. Die Fahrzeugschnauze hieb gegen das Untier. Der Körper des Monsters bog sich zurück. Der Wolf schlug mit den Schulterblättern auf der Motorhaube auf, vollführte eine schwungvolle Rolle rückwärts, flog über das Wagendach und landete hinter dem Polizeifahrzeug auf dem Asphalt. Robert Farr rammte den Fuß gegen das Bremspedal. Der Wagen stand auf kürzeste Distanz. Ken Denner sprang hinaus und riß seine Smith & Wesson aus der Schulterhalfter. Der Wolf lag auf dem Bürgersteig und rührte sich nicht. Gespannt näherte sich der Inspektor der Bestie, die auf dem Bauch lag. Die Reglosigkeit konnte eine Falle sein, deshalb ließ es Denner nicht an der nötigen Vorsicht mangeln. Sein aufgeregter Blick streifte den Revolver in seiner Rechten. Eigentlich konnte er damit gegen den Werwolf nichts ausrichten. Er steckte die Waffe trotzdem nicht weg. Sie verlieh ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Ein gerüttelt Maß an Selbsttäuschung war hier mit dabei, das gestand er sich offen ein. Robert Farr eilte zu ihm. Auch er hielt seine Dienstwaffe in der Hand. Gemeinsam traten sie an den Reglosen heran. Der Detective Sergeant beugte sich über die Gestalt. »Vorsicht«, warnte Ken Denner. Der Inspektor faßte das Monster an. Nichts passierte. Er drehte die Gestalt auf den Rücken und bekam gerade noch die letzte Phase der Rückverwandlung mit. 66 �
Vor Denner und Farr lag ein Mensch. Der Inspektor hakte die Handschellen von seinem Gürtel los und fesselte den Ohnmächtigen damit. * Zwanzig Minuten später saß Sid Barringer auf dem Verhörstuhl. Seine Hände waren immer noch gefesselt. Er war wenige Augenblicke, nachdem sie ihm Ken Denner angelegt hatte, zu sich gekommen. Aus grimmigen Augen starrte er den Inspektor an. Trotz prägte seine Züge. Er war nicht bereit, ein Geständnis abzulegen. »Sechs Morde gehen auf Ihr Konto!« sagte Denner hart. »Das stimmt nicht, Inspektor«, erwiderte Barringer. »Ich habe noch keinen einzigen Menschen umgebracht!« Denner zählte die Namen der Opfer auf. Zuletzt nannte er Jill Santelli. »Wollen Sie uns weismachen, daß Sie diese Namen alle vergessen haben? Okay, dann werde ich Ihnen die Fotos zeigen.« Detective Sergeant Farr reichte dem Inspektor die Bilder von den Toten. Denner hielt sie Barringer einzeln vor die Augen. Nach jeweils einer Minute wies er die nächste Aufnahme vor. »Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun«, beharrte Sid Barringer. Robert Farr nahm dem Inspektor die Fotos wieder ab. Dem Detective Sergeant war heiß. Er öffnete drei Knöpfe seines Hemdes. Von diesem Moment an befiel Barringer eine gewisse Unruhe, die dem Inspektor aber nicht sofort auffiel. »So!« ereiferte sich Denner. »Sie haben nichts damit zu tun.« »Richtig.« »Und wer hat damit zu tun?« Barringer grinste. »Das verrate ich nicht.« 67 �
»Heißt das, Sie wissen es?« hakte Farr ein. Barringer mied es, ihn anzusehen. Er senkte unruhig den Blick. »Aus mir kriegen Sie nichts raus. Geben Sie sich keine Mühe!« »Hauptsache, wir haben Sie erst mal«, sagte Denner. »Damit ist für Sie überhaupt nichts gewonnen«, erwiderte Barringer. »Die Mordserie hat ein Ende. Ich sehe das schon als Erfolg an.« »Es wird weitere Tote geben.« »Nicht, solange Sie sich auf Nummer Sicher befinden.« »Täuschen Sie sich nicht, Denner!« Jetzt fiel dem Inspektor zum erstenmal die Unruhe des Mannes auf. Irgend etwas schien ihn an Sergeant Farr zu stören. »Wie wurden Sie zum Werwolf, Barringer?« wollte der Inspektor wissen. »Womit haben Sie die Fähigkeit der Metamorphose erreicht?« »Das ist ein Geheimnis, das ich niemals preisgeben werde! Und Sie werden es niemals lüften, Inspektor!« »Ich habe Zeit.« »Sie werden sich wundern. Wenn Sie wüßten, was alles auf Sie zukommt…« Detective Sergeant Farr trat vor. Sid Barringer zuckte heftig zusammen. »Was wissen Sie, Barringer?« fragte Farr schneidend. »Gehen Sie weg!« knurrte Sid Barringer. »Bleiben Sie mir vom Leib!« Inspektor Denner grinste kalt. »Was hat er bloß gegen Sie, Farr?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Sergeant. »Vielleicht gefällt ihm mein Gesicht nicht.« Ken Denner fiel es in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Er sah ein kleines Silberkreuz, das Farr an einer Kette um den Hals trug. Das irritierte Barringer. »Würden Sie mir das Kreuz kurz leihen, Sergeant«, sagte Den68 �
ner. Farr nahm es mitsamt der Kette ab und ließ es in Denners hohle Hand fallen. Der Inspektor nahm die dünne Kette mit zwei Fingern und ließ das Kreuz knapp vor Barringers Gesicht hin und her pendeln. Die Wirkung war verblüffend. Sid Barringer schrie wie auf der Folter. Sein Gesicht verzerrte sich, als hätte er arge Schmerzen. Er drehte und wand sich. »Weg! Tun Sie das Ding weg!« brüllte er. »Ich ertrag’s nicht! Ich kann das nicht ertragen!« »Sie sind vom Bösen besessen«, stellte Ken Denner eisig fest. »Ja«, gab Barringer zu. »Gestehen Sie, daß Sie bereits sechs Menschen auf dem Gewissen haben!« »Nein!« »Sie haben es getan!« »Ich war’s nicht!« »Wer sonst hat die Morde verübt? Die Leichen waren grauenvoll verstümmelt. Das muß ein Werwolf getan haben!« »Das stimmt.« »Sie sind ein Werwolf!« »Aber ich habe noch nicht getötet. Ich wollte es heute abend zum erstenmal tun…« Denner musterte den Mann überrascht. »Dann gibt es also noch einen Werwolf? Wer hat die sechs Morde verübt, Barringer?« »Sechs verschiedene Täter.« Denner warf dem Sergeant einen erschrockenen Blick zu. »Heißt das, es gibt außer Ihnen noch weitere sechs Wölfe?« »Ja!« schrie Barringer qualvoll. »Tun Sie endlich dieses Kreuz weg!« »Ich denke nicht daran. Erst will ich alles von Ihnen wissen. Wieso sind Sie zur Metamorphose fähig?« 69 �
»Ich unterzog mich dem Ritual.« »Welchem Ritual?« »Durch das ein Mensch die Fähigkeit zur Metamorphose erhält.« »Wer hat dieses Ritual ausgeführt?« »Bruce Constantine, der Leiter des Wolfskreises.« »Adresse«, verlangte Ken Denner. Der Detective Sergeant zückte Kugelschreiber und Notizbuch und schrieb mit. »Aus wie vielen Mitgliedern besteht der Wolfskreis? Aus sieben?« »Ja.« »Und jeder muß gewissermaßen als Einstand einen Menschen töten.« »So ist es«, bestätigte Sid Barringer. »Ich flehe Sie an, tun Sie endlich dieses Ding weg, Sie wissen nicht, wie Sie mich damit quälen.« »Denken Sie, Sie dürfen von mir Mitleid erwarten?« schrie Denner den Mann an. »Um ein Haar hätten Sie einen Menschen umgebracht. Sie sind eine Bestie, ein Mensch, der das Verwerflichste getan hat, was man tun kann: Sie haben sich freiwillig dem Bösen zugewandt. Warum? Warum haben Sie das getan? Wer sind Ihre Komplizen? Wie heißen die anderen Mitglieder des Wolfskreises?« Barringer wollte nichts mehr sagen. Da schwang Ken Denner das Kruzifix gegen das Gesicht des Mannes. Sid Barringer stieß sofort wieder ein furchtbares Gebrüll aus. »Die Namen der andern!« verlangte der Inspektor gnadenlos. »Steve Atherton…« »Adresse!« Sid Barringer nannte sie. »Weiter!« befahl Denner. »Red Chapman… Tom O’Toole… Mike Buttons…« Zu allen Namen nannte er die Adressen. 70 �
»Und?« sagte Ken Denner hart. »Einer fehlt noch. Wer ist der siebte?« »David Shane«, antwortete Sid Barringer. Das war für Denner, als hätte ihn ein schwerer Schlag auf den Kopf getroffen. David Shane, der Schriftsteller! Shane, der Bruder von Felicia, deren reizende Bekanntschaft er erst heute auf dem Airport gemacht hatte… * Bruno Boyar kam nicht über den Verlust von Jill Santelli hinweg. Er litt schrecklich darunter. Je länger er darüber nachdachte, um so schlimmer wurde es. An Arbeit konnte er nicht denken. Er rief im Theater an und meldete sich krank. Man wußte, wieviel er für Jill empfunden hatte und zeigte Verständnis dafür, daß er heute abend nicht spielen konnte. Ruhelos wanderte er im Zimmer hin und her. Er besann sich des Besuches von Inspektor Denner. Der Mann gab bestimmt sein Bestes, aber ein Erfolg blieb ihm bislang versagt. Vielleicht sollte die Sache jemand in die Hand nehmen, der mehr Glück hatte. Boyar bildete sich nicht ein, besser zu sein als Ken Denner, aber vielleicht hatte er in diesem einen Fall mehr Glück als der Inspektor. Diese Idee fraß sich schnell in Bruno Boyar fest. Bisher hatte er nie Verständnis gehabt, wenn Menschen, was vorkam, das Gesetz selbst in die Hand nahmen, aber all diese Fälle, von denen er erfahren hatte, waren ihn nicht persönlich angegangen. Dieser tat es, und auf einmal dachte er anders. Er redete sich ein, etwas tun zu müssen. War es verkehrt, der Polizei zu helfen? War es nicht eigentlich seine Pflicht, die Polizei zu unterstützen? War er dies nicht auch 71 �
Jill Santelli schuldig? Was konnte er denn sonst noch für sie tun? Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch zur Decke. Ein Verrückter trieb in London sein Unwesen, und eigentlich sollte jeder Mensch in der Stadt versuchen, ihm das Handwerk zu legen. Dunkel erinnerte sich Bruno Boyar an einen Schulfreund, der ihm vor Jahren mal über den Weg gelaufen war. Howard Gordon war sein Name. Boyar hatte zunächst vermutet, aus Gordon wäre ein reicher Geschäftsmann geworden, so elegant war das Auftreten des Schulfreundes gewesen, aber dann hatte sich herausgestellt, daß Howard Gordon Zuhälter geworden war. Vier oder fünf Girls stopften ihm mehr Geld in die Brieftasche, als er ausgeben konnte. Gordon hatte sich über dieses Wiedersehen gefreut. »Wenn du mal eine Superpuppe vernaschen möchtest, laß es mich wissen«, hatte er gesagt. »Dann schicke ich dir was Schnuckeliges. Für dich wäre die Kleine selbstverständlich gratis. Ich werde doch von einem guten alten Freund kein Geld nehmen, da müßte ich mich ja schämen. Solltest du sonst was brauchen… Ich habe gute Beziehungen. Du triffst mich jeden Abend im Trocadero.« Bruno Boyar dachte mit finsterer Miene daran. Jetzt brauchte er etwas von Howard. Er verließ sogleich die Wohnung und fuhr zum Trocadero. Als er nach Howard Gordon fragte, kannte den zunächst niemand. Als Boyar dann aber erwähnte, er wäre ein alter Schulfreund von Howie, schickte man ihn ins Hinterzimmer, wo Gordon mit Freunden pokerte. »Bruno!« rief der Zuhälter überrascht und erfreut aus. Er hatte zehn Pfund zugenommen, seit sie sich das letztemal gesehen hatten. »Jungs!« sagte er zu den Typen, die mit ihm am Tisch saßen. »Das ist mein Schulfreund Bruno Boyar. Er hat mir immer geholfen, wenn mein Grips nicht reichte. Was führt dich hierher? 72 �
Möchtest du ein Spielchen mit uns machen? Ganz seriös, versteht sich. Ohne Tricks.« »Ich muß dich sprechen, Howard.« »Schieß los.« »Unter vier Augen.« »Ich habe keine Geheimnisse vor meinen Freunden.« »Du hast sicher von dieser bestialischen Mordserie gelesen.« Gordons schwarze Brauen zogen sich zusammen. »Dem Kerl, der das getan hat, gehört das Handwerk gelegt.« »Gestern hat er Jill Santelli umgebracht«, sagte Bruno Boyar heiser. Es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu reden. »Wir waren Kollegen. Jill spielte im selben Orchester wie ich. Für mich war sie viel mehr als nur eine Kollegin.« Gordon nickte. »Ich verstehe. Tut mir leid für dich, alter Junge. Kann ich irgend etwas für dich tun?« »Ich… ich will versuchen, den Kerl zu finden.« Gordon schüttelte langsam den Kopf. »Laß das lieber bleiben. Das ist eine haarige Sache.« »Spar dir deine Ratschläge«, sagte Bruno Boyar trotzig. »Was ich von dir brauche, ist eine Waffe. Kannst du mir eine besorgen? Ich zahle jeden Preis.« Howard Gordon musterte den Schulfreund nachdenklich. »Es muß dich verdammt schmerzhaft erwischt haben.« »Das hat es auch. Kannst du mir helfen?« »Du gehst ein großes Risiko ein. Wenn die Polizei dich mit ’ner Kanone erwischt, für die du keinen Waffenschein hast…« »Kannst du mir helfen?« fragte Boyar noch mal. »Ja oder nein.« Howard Gordon streckte die Hand über den Tisch aus, schnippte mit dem Finger und sagte zu dem Mann, der ihm gegenübersaß: »Clips, gib mir deinen Ballermann.« Wortlos angelte der Angesprochene sein Schießeisen aus der Schulterhalfter und legte sie in Gordons Hand. Der gab sie an 73 �
Bruno Boyar weiter. »Gefällt dir der Engelmacher?« erkundigte sich Howard Gordon sachlich. »Was soll die Pistole kosten?« fragte Bruno Boyar. »Nichts«, sagte Gordon. »Ist mir ein Vergnügen, meinem alten Schulfreund ein Geschenk machen zu können. Gib ihm die Reservemagazine, Clips.« Der Angesprochene trennte sich auch davon. Boyar steckte sie in die Außentasche seines Jacketts, und die Colt-GovernmentPistole schob er in seinen Gürtel. »Danke«, sagte er. »Paß gut auf dich auf, mein Junge«, sagte Howard Gordon, und Boyar ging. * Ken Denner wünschte sich, sich verhört zu haben, aber das war nicht der Fall. Sid Barringer hatte deutlich den Namen des Schriftstellers genannt und wiederholte ihn auf Verlangen des Inspektors. Denner war verständlicherweise deprimiert. Daß Felicia von David Shanes Doppelleben wußte, konnte er sich nicht vorstellen. Sie war ein Jahr in den USA gewesen. In dieser Zeit war es im Wesenszug des Schriftstellers zu einer gefährlichen Wandlung gekommen. Nun war Felicia heimgekehrt. Sie ahnte garantiert nicht, in was für einer Gefahr sie sich befand. Ihr Bruder war eine Bestie. David Shane konnte sich jederzeit in einen reißenden Werwolf verwandeln. Wenn das geschah, war Felicia verloren… Er war mit seinen Gedanken so weit weg, daß er nicht merkte, daß er Sid Barringer mit dem Kreuz immer noch peinigte. Der Besessene hielt die Folter nicht mehr aus. Wut und Angst kamen 74 �
aus ihm heraus. Mit tierischem Gebrüll federte er auf einmal hoch. Ken Denner sprang erschrocken zurück. Auch Robert Farr machte Platz. Barringer wurde zum Wolf! Da ihn das Kruzifix nicht mehr unmittelbar in Schach hielt, tauchten neue Kräfte in seinen Raubtierkörper. Er sprengte mühelos die Handschellen und stürmte auf die Tür zu. Farr wollte ihn aufhalten und erhielt einen Schlag, der ihn zu Boden warf, die Bestie rammte die Tür auf und jagte aus dem Vernehmungszimmer. Für einen Moment war Ken Denner perplex. Dann eilte er zu Farr, der sich benommen aufrappelte. »Sind Sie okay, Sergeant?« »Ja, Sir. Kümmern Sie sich um den Wolf!« Denner rannte bis zur Tür. Er sah das Monster den Gang entlanglaufen. Soeben erreichte es die Treppe. Denner machte auf dem Absatz kehrt, stürzte zum Telefon und schlug Alarm. Der Werwolf durfte das Gebäude nicht verlassen. Das war leichter gesagt, als getan. Die Bestie ließ sich nicht aufhalten. Zwei Männer stellten sich dem Ungeheuer in den Weg. Sie legten ihre automatischen Waffen auf das Scheusal an. Schüsse peitschten. Kugeln trommelten gegen die breite Brust des Untieres, doch damit war es nicht zu stoppen. Wenn die Polizisten sich nicht rasend schnell in Sicherheit gebracht hätten, hätten sie garantiert ihr Leben verloren. Der Wolf hetzte aus dem Polizeigebäude. Von diesem Augenblick an war die Bestie wieder frei und mordgieriger als zuvor. * Bruno Boyar erfüllte Ratlosigkeit. London ist ein riesiger Kom75 �
plex. Wie fand man in ihm einen einzigen Mann? Wie schaffte es die Polizei immer wieder, Mörder ausfindig und unschädlich zu machen? Boyar gewann mehr und mehr den Eindruck, daß er sich zuviel zumutete. Die Aufgabe war zu groß für ihn… unlösbar. Wie kam er darauf, allein mehr Erfolg haben zu wollen als der ganze Polizeiapparat? Entmutigung stellte sich ein. Dann fiel Boyar plötzlich eine Verhaltensweise ein: Die meisten Täter zieht es irgendwann zum Tatort zurück. Von diesem Moment an wußte Boyar, wohin er sich begeben mußte: in diesen Park in Paddington, in dem Jill Santelli in der vergangenen Nacht ihr Leben verlor. Er hoffte, Glück zu haben. Vielleicht kehrte der Killer dorthin zurück. Bruno Boyars Wangenmuskeln zuckten, seine Augen verengten sich. Wenn es ihm gelingen sollte, Jills Mörder zu stellen, würde es ihm nicht leicht fallen, den Kerl zu schonen. Beim Park stieg Bruno Boyar aus seinem Datsun Stanza. Wehmütig warf er einen Blick auf den Beifahrersitz. Gestern saß da noch Jill, und heute war sie… im Leichenhaus. Tränen füllten seine Augen. Selbst wenn sie jemand gesehen hätte, hätte er sich ihrer nicht geschämt. Verzweiflung und unendliche Traurigkeit erfüllten ihn. Er ließ die Fahrzeugtür zuschnappen und begab sich in den Park. Er hatte viele Fotos in der Zeitung gesehen und eine Skizze. Er wußte genau, wo es passiert war, und wagte nicht, geradewegs auf die Stelle zuzugehen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen Ort aufzusuchen. Er streifte im Kreis herum und zog die Kreise langsam enger, bis er den Schauplatz des Verbrechens erreichte. Ein unbeschreibliches Gefühl der Erregung durchpulste ihn. Vor seinem geistigen Auge erschien Jill Santellis Gesicht, das er nie wieder sehen konnte. Ein geheimnisvoller Killer hatte das 76 �
Leben der Neunzehnjährigen ausgelöscht. Am nächsten Tag sollte Jill beerdigt werden. Ihre sterbliche Hülle würde im tiefen Grab ewige Ruhe finden. Boyar riß sich von diesen Gedanken los. Er wollte nicht mehr daran denken, wie es mit Jill weiterging. Er wollte sie lebend in Erinnerung behalten. Ein Geräusch! Ein morscher Ast war gebrochen… da mußte jemand draufgetreten sein. Bruno Boyar kreiselte herum. Seine Hand zuckte zum Gürtel. Er riß die Government heraus. Hochgradige Nervosität befiel ihn. Seine Augen versuchten die schwarze Dunkelheit zu durchdringen. Jemand streifte durch die Finsternis, kein Zweifel. Der Mörder? Gespannt wartete Boyar. Er hatte geglaubt, er würde Angst haben, wenn es zur Begegnung mit dem Killer kam, aber er stellte fest, daß er sich nicht fürchtete. * Ken Denner war dem Verzweifeln nahe. Wie hatte so etwas passieren können? Dem Werwolf war die Flucht gelungen. Der ganze Aufwand mußte jetzt noch mal erfolgen. Wahrscheinlich würde es beim zweitenmal noch schwieriger sein, das Monster einzufangen. Die Erfahrung machte den Werwolf klug. Er würde sich besser vorsehen. Der Inspektor setzte sofort wieder alle verfügbaren Beamten auf die Fährte des Untieres. Robert Farr saß im Sessel, seine Schläfe war geschwollen und blau. Er schüttelte immer wieder den Kopf und stöhnte: »Wir waren zu sicher, Sir. Wir hätten viel mehr aufpassen müssen.« »Das weiß ich!« knurrte Denner unwillig. Er dachte an seinen 77 �
Vorgesetzten, der Gift und Galle spucken würde, wenn er von diesem Mißgeschick erfuhr. Aber was geschehen war, war nicht mehr rückgängig zu machen. »Wir hätten den Werwolf töten müssen«, sagte der Detective Sergeant. »Der Mann ist nicht mehr zu retten. Die Bestie ist aus ihm nicht mehr herauszureißen. Sie bleibt bis zu seinem Ende in ihm. Zwischen dem Monster und Barringer besteht eine untrennbare Verbindung, das hat er selbst gesagt. Man kann so ein Ungeheuer nicht einfach einsperren und vergessen. Das ist zu gefährlich. Der Wolf würde nur auf die Chance lauern, auszubrechen.« »Alles richtig«, sagte Ken Denner unruhig. »Aber womit hätten wir die Bestie erledigen sollen?« »Es gibt einige Möglichkeiten: Werwölfe können zum Beispiel keine Silberkugeln vertragen.« »Verraten Sie mir, woher ich die im Handumdrehen kriege!« verlangte der Inspektor. Farr hob überfragt die Schultern. »Silberne Dolche, silberne Messer, silberne Schwerter«, sagte Denner grimmig, »all das wären Waffen, mit denen man einem Werwolf den Garaus machen kann, aber wer besitzt sie?« »Auch mit Feuer kann man sie vernichten.« Ken Denner riß plötzlich die Augen auf. Er schnippte mit dem Finger. »Das ist die Lösung, Farr! Feuer! Sind Sie wieder einsatzbereit?« »Ich denke schon, Sir. Was soll ich tun?« »Besorgen Sie mir einen Flammenwerfer aus dem Waffendepot.« * Sid Barringer rechnete damit, daß die Treibjagd auf ihn sofort � 78 �
wieder voll einsetzte. Er sah auch mehrere Streifenwagen, die die Straßen absuchten, doch ehe neuerliche Sperren errichtet werden konnten, schlüpfte der Werwolf unbemerkt durch die Polizeikette, die noch nicht ganz geschlossen war. Ziellos rannte das Monster durch die dunklen Straßen. Plötzlich stutzte der Werwolf. Seine Raubtiernase nahm einen scharfen Geruch wahr. Er war auf die Spur eines anderen Wolfes gestoßen. Sie war zwar schon fast vierundzwanzig Stunden alt, aber Barringers ausgeprägter Geruchssinn registrierte die Ausdünstung noch sehr genau. Instinktiv folgte er der Raubtierspur – es handelte sich um die von David Shane –, die ihn dorthin führte, wo in der vergangenen Nacht Jill Santelli ein grausames Ende gefunden hatte. Die Wolfsgestalt tauchte in die Finsternis des Parks und löste sich in der undurchdringlichen Schwärze beinahe völlig auf. Das Monster huschte an Bäumen vorbei, durchstreifte Gebüsche und spürte, daß es sich einem Ort näherte, an dem ein Mensch gestorben war. Die Aufregung sträubte das Fell des Werwolfs. Er stutzte auf einmal. Da war noch ein anderer Geruch… Die Bestie sog witternd die Luft ein. Gier drohte das Scheusal zu übermannen. Zitternd vor Erregung näherte es sich dem Unbekannten. Dabei trat es auf einen morschen Ast. Das Knacken alarmierte den jungen Mann, den der Wolf in diesem Moment erspähte. Das Monster sah, wie sein Opfer sich umdrehte und eine Pistole aus dem Gürtel riß. Gierig leckte sich die Bestie über das Maul. Dieses Opfer schien ihm sicher… *
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Als Sid Barringer über Angela Hayes herfiel, sagte Bruce Constantine, er wolle nach Hause gehen und sich den Polizeifunk anhören, denn so würde er am schnellsten von Barringers Tat erfahren. »Ich komme mit dir«, entschied David Shane. Es zog ihn nicht heim. Am liebsten wäre er für immer von Felicia ferngeblieben, um sie nicht zu gefährden. »Okay«, sagte Constantine. Shane bezahlte, und die beiden verließen den Nightclub. In Constantines Haus lauschten sie dann dem Funkverkehr der Polizei und erfuhren von Sid Barringers Mißerfolg. Constantine sprang auf und rannte im Zimmer hin und her. »Verdammt, er ließ sich vertreiben!« »Er wird ein anderes Opfer finden«, versuchte Shane den Aufgebrachten zu beschwichtigen. Er fühlte sich für Barringer in gewisser Weise verantwortlich, denn er hatte ihn in den Wolfskreis eingeführt. Constantine wies auf den Radioapparat. »Hörst du? Sie veranstalten eine großangelegte Treibjagd auf Sid.« »Sie werden ihn nicht stellen. Er kann jede Sperre durchbrechen. Sie können ihm nichts anhaben.« »Er ist der Schwächste von uns. Vielleicht hätten wir jemand anderen in unseren Kreis aufnehmen sollen.« »Daran ist nun nichts mehr zu ändern, Bruce. Sid ist und bleibt dabei.« »Vorausgesetzt, man bringt ihn nicht zur Strecke.« »Das schafft keiner.« Gespannt hörten sich Constantine und Shane weiter an, was passierte. Die Polizeiaktion lief auf Hochtouren. Das Gebiet, in dem sich der Werwolf befand, wurde hermetisch abgeriegelt. Constantine und sein Freund vernahmen immer wieder die Stimme Inspektor Denners, der den Großeinsatz leitete. 80 �
Constantine knirschte mit den Zähnen. Er trommelte telefonisch die Mitglieder des Wolfskreises zusammen. Sie sollten sich so rasch wie möglich in seinem Haus einfinden. »Wir werden eine Art Kriegsrat halten«, sagte Constantine, nachdem er die Anrufe hinter sich gebracht hatte. Sie hörten weiter den Funkverkehr der Polizei. Die Mitglieder des Wolfskreises trafen nacheinander ein. Steve Atherton war wieder der erste. Dann kamen Mike Buttons, Tom O’Toole und Red Chapman. Vereint erfuhren sie, auf welche Weise Ken Denner den Werwolf schnappte. Constantine hieb mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt, jetzt sitzt Sid Barringer fest. Denner wird ihn mit Fragen löchern.« »Keine Sorge, Sid verrät nichts«, versicherte Shane. »Und wenn Denner doch eine Möglichkeit findet, Sid zum Reden zu bringen?« »Wie denn?« »Sid wurde mit einem Kruzifix vertrieben. Wenn Denner sich daran erinnert, besorgt er sich eins, dann redet Sid Barringer wie ein Wasserfall.« Red Chapman sagte: »Wir müssen Sid loseisen.« Tom O’Toole fügte hinzu: »Und zwar verdammt schnell.« Mike Buttons: »Bevor Denner auf die Idee mit dem Kreuz kommt.« Atherton: »Man müßte Denner unter Druck setzen, damit er Sid laufen läßt.« Shane: »Womit denn unter Druck setzen?« Constantine blickte Shane starr an. »Ich weiß, wie! Deine Schwester ist sein wunder Punkt… Er wird alles tun, um zu verhindern, daß ihr ein Haar gekrümmt wird. Felicia ist unser Trumpf, mit dem wir den Inspektor in die Knie zwingen können.« David Shane schluckte. »Vielleicht schaffen wir das auch ohne 81 �
Felicia.« »Hol sie her, David!« verlangte Bruce Constantine. Alle blickten Shane hart an. »Ja«, sagte auch Mike Buttons. »Hol deine Schwester her, dann frißt uns der Bulle aus der Hand.« Der Schriftsteller leckte sich die Lippen. »Hört mal, vielleicht…« Constantine fiel ihm unwirsch ins Wort: »Weißt du nicht, wohin du gehörst, David? Wenn du zu schwach bist, deine Schwester hierher zu bringen, wird es jemand anders tun müssen.« David Shane senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, sagte er heiser. »Ich gehe schon.« * »Der Flammenwerfer liegt im Kofferraum Ihres Dienstwagens, Sir«, sagte Detective Sergeant Farr. »Hoffentlich fährt Ihnen in den nächsten Stunden hinten keiner drauf, sonst…« Ken Denner wühlte sich durch das Telefonbuch. »Welche Nummer suchen Sie?« fragte Robert Farr. »Die von David Shane. Ich muß seine Schwester warnen. Sie hat keine Ahnung, was mit ihrem Bruder los ist, sie weiß nicht, daß sie sich in großer Gefahr befindet. Sie muß schnellstens raus aus dieser Wohnung. Hoffentlich kommt meine Warnung nicht zu spät.« Denner fand die Nummer des Schriftstellers. Er zog mit dem Kugelschreiber einen Strich darunter und wählte. Am andern Ende der Leitung läutete es zwar, aber es ging niemand ran. Das konnte mehrere Gründe haben. Zum Beispiel den, daß niemand zu Hause war. David Shane streifte in diesem Moment vielleicht gerade durch die Stadt, und Felicia aß irgendwo allein zu Abend. 82 �
Es war aber auch möglich, daß Felicia nicht mehr abheben könnte, weil ihr Bruder bereits über sie hergefallen war und sie getötet hatte… Denner ließ aufgeregt den Hörer in die Gabel fallen. Er beschloß, nach dem Rechten zu sehen. Sorgen wie um Felicia hatte er sich noch um keinen Menschen gemacht. Die Unruhe trieb ihn aus dem Polizeigebäude. * Bruno Boyar vernahm ein Knurren. Sekunden später traute er seinen Augen nicht, denn aus der Dunkelheit schälte sich kein Mensch, sondern eine grauenerregende Bestie. Ein Werwolf! Boyars Verstand drohte auszusetzen. War Jill Santelli diesem Scheusal zum Opfer gefallen? Wie vor den Kopf geschlagen starrte Boyar das Monster an. Schieß, raunte eine innere Stimme… Mechanisch hob er die Waffe und zielte auf das widerliche Gesicht. Das Untier kam näher. Boyars Hand zitterte so sehr, daß er die Pistole auch mit der anderen Hand halten mußte. Er krümmte den Finger. Der Schuß krachte. Boyar schloß unwillkürlich die Augen, riß sie aber gleich wieder auf. Die Kugel schlug gegen die Stirn des Werwolfs. Er kläffte und warf sich nach vorn. Bruno Boyar sprang erschrocken zur Seite. Er drehte sich. Die Bestie verfehlte ihn. Er setzte dem Wolf die Government an den haarigen Hals und drückte erneut ab. Aber auch mit diesem Schuß erreichte er nichts. Nicht die geringste Verletzung wies die Bestie auf. Das hatte Bruno Boyar befürchtet. Niemand konnte mit diesem Höllentier fertig werden… Boyar wich zitternd zurück. Obwohl es keinen Sinn hatte, schoß er das Magazin auf den Werwolf leer. Das Monster kas83 �
sierte die Treffer unbeschadet. Als die Government nur noch klickte, schleuderte Boyar sie dem Ungeheuer in die behaarte Fratze, schnellte herum und ergriff in heller Panik die Flucht. Doch Barringer wollte endlich sein Opfer. Deshalb ließ er den jungen Mann nicht entkommen. Hechelnd hetzte er hinter dem Fliehenden her. Boyars Vorsprung war gering. Er konnte ihn nicht halten. Innerhalb weniger Sekunden schrumpfte die Distanz auf ein Nichts zusammen. Der Werwolf stieß sich ab. Gestreckt flog er durch die Luft, hackte seine Krallen in den Rücken des Opfers und riß es nieder. Boyar stieß einen markerschütternden Schrei aus und wehrte sich verzweifelt gegen die Angriffe des Ungeheuers. Das Monster riß sein Maul weit auf. Boyar sah die blitzenden Reißzähne. Wie lange Dolche kamen sie ihm vor. Der Wolfsschädel zuckte auf ihn nieder. Der am Boden Liegende dachte, daß ihn dasselbe Schicksal ereilen würde wie Jill Santelli. Doch da prallte plötzlich grelles Licht gegen den Wolf. Es irritierte die Bestie. Motoren dröhnten. Zwei Scheinwerferpaare stachen in die Dunkelheit und trafen die Bestie voll. Polizeifahrzeuge rasten in den Park, quer über den Rasen auf die Stelle zu, wo der Werwolf sein Opfer niedergerissen hatte. Die Schüsse hatten die Polizisten alarmiert. Sie hatten auf der Suche nach dem Monster in der Nähe ihre Runden gedreht, und dieser Umstand rettete Bruno Boyar das Leben. Das Monster schleuderte den Patrol Cars ein Wutgeheul entgegen und ergriff die Flucht. Es wollte sich nicht noch mal fangen lassen. Mit langen Sprüngen jagte es auf eine Buschwand zu, die es gleich darauf verschlang. Zurück blieb Bruno Boyar, zwar verletzt, aber lebend und er würde auch am Leben bleiben… *
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Felicia Shane war zu Hause, als Ken Denner sie anrief, aber sie stand unter der Dusche und hörte das Läuten wegen des rauschenden Wassers nicht. Die junge Frau genoß das angenehme Prickeln auf ihrer zarten Haut. Als sie aus der Duschkabine trat, hingen an ihrem schönen Körper die Wassertropfen wie glitzernde Glasperlen. Sie nahm einen weißen Frotteemantel vom Haken und zog ihn an. Dann begab sie sich in die Küche, um zu sehen, was sich im Kühlschrank befand. Bevor sie die Eiskastentür öffnete, hörte sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. David kam. Sie verließ die Küche, um ihn zu begrüßen. Sofort keimte wieder der Verdacht in ihr auf, daß mit ihm etwas nicht stimmte. Er wirkte äußerst nervös und mied es, sie direkt anzusehen. Er schien die Treppe hochgerannt zu sein, denn er keuchte. Ab und zu drang ein knurrendes Hüsteln aus seiner Kehle. »Du warst lange weg«, begann Felicia die Unterhaltung. »Ich sagte doch, es wäre beruflich, und du sollst nicht auf mich warten.« »Ich hatte nichts Besseres zu tun, als zu warten«, erwiderte Felicia. »Hast du Hunger?« David Shane erschrak. Sah sie ihm das an? Verdammt, ja, der Wolf in ihm hatte großen Hunger. »Soll ich uns eine Kleinigkeit zubereiten?« fragte Felicia. »Nein. Ich muß noch mal weg.« »Wieder beruflich?« »Ja.« »Das kann ich fast nicht glauben. Was hast du denn so Wichtiges zu tun?« »Diesmal wirst du mich begleiten«, sagte Shane. »Es ist schon spät. Ich habe keine Lust, jetzt noch auszugehen.« »Zieh dich an, Felicia!« 85 �
»David, ist etwas nicht in Ordnung? Du weißt, daß du dich mir anvertrauen kannst. Ich bin deine Schwester. Vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu haben. Wenn ich dir helfen kann…« »Du hilfst mir, indem du mitkommst«, erwiderte Shane. »Seit meiner Rückkehr werde ich das Gefühl nicht los, daß dich ein Geheimnis umgibt, David. Wir sollten darüber reden. Jetzt gleich. Man soll seine Probleme nicht auf die lange Bank schieben.« »Es ist jetzt keine Zeit zum Reden.« »Was drängt dich denn?« fragte Felicia und trat näher. Shane mußte seine gesamte Willenskraft aufbieten, um die Bestiengefühle, die in ihm steckten, zu unterdrücken. Seine Schwester wollte ihn berühren. Er zuckte zurück. »Dich bedrückt etwas«, stellte Felicia fest. »Sag mir, was es ist, David.« »Zieh dich an!« knurrte er. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. »Hörst du nicht, was ich sage? Du sollst dich anziehen.« »Mit dir stimmt was nicht, David.« »Keine Debatten, Felicia…« »Du hast dich verändert, zu deinem Nachteil. Mir kommen beinahe Zweifel, ob du noch derjenige bist, von dem ich mich vor einem Jahr verabschiedet habe.« Nein, dachte er erregt, der bin ich nicht mehr. »Beeil’ dich!« keuchte er ungeduldig. »Ich habe dein Buch über Werwölfe gelesen«, sagte Felicia. »Das kannst du mir alles ein andermal erzählen.« »Nein, ich will jetzt mit dir darüber sprechen. Dieses Buch hat mich zutiefst erschreckt. Du stellst dich eindeutig auf die Seite dieser Monster. Zwischen den Zeilen kann man herauslesen, daß du die grausigen Taten dieser Ungeheuer nicht verurteilst. Das beunruhigt mich, David. Du schreibst so, als wärst du einer von ihnen…« 86 �
Das bin ich, dachte Shane, als ich dieses Buch schrieb, war ich noch kein Wolf, aber ich dachte bereits wie einer. Und inzwischen bin ich auch einer geworden. Was weißt denn du, Felicia… »Und in einer Lade des Wohnzimmerschranks fand ich ausgeschnittene Zeitungsartikel«, fuhr die blonde Schwester fort. »Sie berichten von grauenvollen Morden, die eine Bestie verübt haben soll. Was hat das alles zu bedeuten, David?« Mit Shanes Beherrschung war es vorbei. »Das hat es zu bedeuten!« schrie er, und im selben Moment setzte die Metamorphose ein… * Robert Farr war dem Inspektor noch nachgelaufen und hatte ihm sein Kreuz gegeben. »Vielleicht hilft es Ihnen ein bißchen«, hatte er gesagt. Ken Denner hatte das Polizeigebäude verlassen und befand sich auf dem Weg zu Felicia. Seine Gedanken kreisten ununterbrochen um sie. Würde er sie lebend wiedersehen? Oder würde er in Kürze vor einer schrecklich verwüsteten Leiche stehen? Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Herz zusammen. Ihr darf nichts passieren, dachte er. Sein Kopf war erhitzt. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Sie muß am Leben bleiben. Auch für mich… Denner fuhr so schnell, wie er es verantworten konnte. Fest hielt er das Lenkrad umklammert. Seine Nervenstränge waren gespannt. Es war ihm verwunderlich, wie er für Felicia, die er heute erst kennengelernt hatte, so viel empfinden konnte. Der Keim der Liebe war auf fruchtbaren Boden gefallen. Denner blinkte links und bog ab. Das Haus, in dem Felicia Shane mit ihrem Bruder David wohnte, kam in Sicht. Was würde 87 �
sich in wenigen Minuten herausstellen? * Felicia prallte zurück. Was sie insgeheim befürchtet hatte, wurde ihr in diesem schrecklichen Moment bestätigt. David, ihr Bruder, hatte sich in eine reißende Bestie verwandelt. Die hübsche Neunzehnjährige preßte die Fäuste an die Wangen und stieß erschüttert hervor: »David! Mein Gott!« Er wollte sie packen, aber Felicia sprang zur Seite. Er knurrte ungeduldig. Seine Krallen erwischten den Bademantel. Das häßliche Ratschen von zerreißendem Stoff war zu hören. Der Ärmel klaffte auf. Felicia stieß einen schrillen Schrei aus. Sie hatte panische Angst vor ihrem Bruder. Sie hielt ihn für einen sechsfachen Mörder. Einen anderen Grund, weshalb er sich die Zeitungsartikel aufgehoben hatte, konnte sie sich nicht denken. Sie floh vor ihm ins Wohnzimmer. Er jagte sie, aber Felicia schrie immer wieder gellend. Der Werwolf versuchte sie zu stellen. Felicia warf ihm alles entgegen, was sie heben konnte. Das Wohnzimmer verwandelte sich im Handumdrehen in ein Trümmerfeld. Felicia versuchte die Tür zu erreichen, die aus dem Apartment führte. Das Monster ließ es nicht zu. Shane stellte seine Schwester, und es hatte den Anschein, als wollte er sie nun nicht mehr zu Bruce Constantine bringen, sondern… * Ken Denner hörte die verzweifelten Schreie des Mädchens, als er � die Treppe hinaufhastete. Er forcierte sein Tempo, weil er sich � vorstellen konnte, was sich in diesem Moment in Shanes Woh88 �
nung abspielte. Die Schreie ließen ihn hoffen, Felicia noch retten zu können. Er erreichte die Wohnungstür. Mit wuchtigem Tritt zertrümmerte er das Schloß. Er riß seine Smith & Wesson aus der Schulterhalfter und stürmte in das Apartment. Er sah Felicia und den Werwolf. Keine Sekunde später hätte er eintreffen dürfen. Felicia schien noch unverletzt zu sein. Denner fiel ein Stein vom Herzen. »Shane!« schrie er. Der Kopf der Bestie ruckte in seine Richtung. Wilde Glut war in den Augen des Werwolfs zu erkennen. Haß, Verachtung, Hohn, Triumph – alles glaubte Denner aus dem Blick des Ungeheuers zu lesen. Auch Triumph, denn das Monster fürchtete den Revolver nicht, den Ken Denner in der Faust hielt. »Weg von dem Mädchen!« keuchte der Inspektor. Der Werwolf knurrte feindselig und rührte sich nicht von der Stelle. »Weg von Felicia, Shane!« sagte Denner kalt. Er wußte, daß er mit seiner Waffe gegen den Werwolf nichts ausrichten konnte, deshalb griff er zu einem Bluff. »Ich warne Sie! Meine Waffe ist mit geweihten Silberkugeln geladen!« Die Bestie zuckte zusammen, war verunsichert. Denner zeigte die Zähne. »Seit ich weiß, daß ich es mit Werwölfen zu tun habe, habe ich mich entsprechend vorgesehen.« Shane hatte Angst vor den geweihten Silbergeschossen, die sich angeblich in Denners Waffe befanden. Für einen Moment dachte die Bestie an einen Bluff und wollte einen Angriff riskieren, doch dann überlegte sie es sich anders. Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß der Inspektor die Wahrheit sagte. »Nun, Shane«, sagte Denner in der Hoffnung, daß der Werwolf auf den Trick hereinfiel. Die Spannung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. »Gehen Sie zur Seite!« David Shane fügte sich scheinbar. »Felicia«, sagte Denner. »Kommen Sie, er wird Ihnen nichts 89 �
tun. Er weiß, daß ich schieße, wenn er auch nur den Versuch macht, Sie anzugreifen.« Felicia setzte sich hölzern in Bewegung. Da handelte Shane. Mit einem wilden Satz befand er sich hinter seiner Schwester und preßte sie als Kugelfang gegen seinen behaarten Körper. Felicia schluchzte verzweifelt auf. Leichenblaß war sie einer Ohnmacht nahe. Ken Denner war entsetzt, daß er im Augenblick nichts für sie tun konnte. Shane schob das Mädchen vor sich her. Sein Knurren zwang Denner, zur Seite zu weichen. Shane drängte seine Schwester an dem Inspektor vorbei. Er drehte sich mit ihr, so daß sie sich immer zwischen ihm und Denners Revolver befand. Denner litt unter dieser Situation. Der Werwolf beabsichtigte, sein Opfer zu verschleppen, und der Inspektor sah keine Möglichkeit, das zu verhindern. Tränen rannen dem verängstigten Mädchen über die Wangen. Shane verließ mit Felicia die Wohnung. Er erreichte mit ihr die Treppe. Du darfst ihn nicht fortlassen, dachte Denner gehetzt, du mußt alles riskieren. Und er setzte alles auf eine Karte. Im Karacho sauste er aus dem Apartment und warf sich auf den Wolf. Es gelang ihm irgendwie, das Mädchen der Bestie zu entreißen. Felicia erhielt von ihm einen unsanften Stoß, der sie zu Boden warf. Er klammerte sich an das Ungeheuer. Sie stürzten beide und kugelten die Stufen hinunter. Die abgerundeten Kanten hämmerten schmerzhaft in Denners Körper. Er biß die Zähne zusammen. Einmal überschlugen sie sich noch. Dann war die rasante Talfahrt zu Ende. Der Werwolf sprang auf. Ken Denner kam nicht so schnell auf die Beine. Die Bestie hieb nach seinem Revolverarm. Denner sprang zurück. Die Wolfspranke traf lediglich die Smith & Wes90 �
son. Der Schlag riß dem Inspektor die Waffe aus den Fingern. Die Bestie glaubte Oberwasser zu haben. Eine Verletzung durch geweihte Silberkugeln war nicht mehr zu befürchten. Shane trachtete plötzlich nach Denners Leben. Der Inspektor wich den mörderischen Hieben immer wieder aus. Er besann sich des kleinen Silberkreuzes, das ihm Sergeant Farr mitgegeben hatte. Blitzschnell zog er es aus der Tasche. Unter dem nächsten Prankenhieb tauchte er durch und konterte mit dem Kruzifix. Der Wolf zuckte wie unter einem Stromstoß zusammen. Sein Geheul ließ das Treppenhaus erzittern. Ken Denner schlug noch mal zu. Das kleine Kreuz mit der großen Wirkung landete zwischen den Augen der Bestie. Das machte David Shane restlos konfus. Er gab Fersengeld. Menschen wagten sich aus ihren Wohnungen. Denner rief einer Frau zu, sie solle sich um Felicia kümmern, dann hob er seinen Revolver auf und rannte hinter Shane her. * Die erneute Erfolglosigkeit ärgerte Sid Barringer maßlos. Er hatte fest damit gerechnet, zum vollwertigen Mitglied des Wolfskreises aufzurücken, aber Polizisten hatten ihn verjagt. Er hatte die Flucht ergriffen wie ein Feigling. Warum war er nicht geblieben? Warum hatte er sich nicht zum Kampf gestellt? An seinen Krallen klebte das Blut des jungen Mannes. Viele Gedanken stürmten durch seinen Kopf. Er dachte vor allem daran, daß ihn Ken Denner mit Hilfe des verwünschten Kreuzes gezwungen hatte, zum Verräter zu werden. Die Polizei wußte nun über den Wolfskreis Bescheid. Wie wür91 �
den Bruce Constantine und die andern das aufnehmen? Würden sie wütend über ihn herfallen und ihn zerfleischen? Er mußte sie warnen. Er mußte die Scharte, für die er verantwortlich war, auswetzen. Rasch nahm er menschliche Gestalt an, und er hatte Glück. Auf seinem Weg zu Constantines Haus hielt ihn kein Polizist auf, obwohl er einigen begegnete. Er läutete. Constantine öffnete. Barringer vernahm den Polizeifunk, der aus dem Radio drang. Constantine wußte also über alles Bescheid. »Tut mir leid«, sagte Sid Barringer und trat ein. Er stellte fest, daß sich außer David Shane sämtliche Mitglieder des Wolfskreises in Constantines Haus aufhielten. Wollten sie über ihn zu Gericht sitzen? »Ich… Ich habe zweimal versagt«, gestand Barringer zerknirscht. »Denner hat mich gefoltert. Mit einem Kruzifix. Ich… ich konnte nicht anders. Ich mußte ihm alles sagen, was er wissen wollte. Ich hatte keine Möglichkeit, zu schweigen. Jeder von euch hätte geredet.« Zu Barringers großer Erleichterung nickte Bruce Constantine. »Ken Denner ist gefährlicher, als ich dachte.« »Die Polizisten werden hierher kommen.« »Wir brauchen sie nicht zu fürchten«, sagte Constantine. »Ich verstehe nicht. Wo ist Shane?« »Denner ist in Felicia Shane verliebt«, erklärte Constantine. »David wird seine Schwester hierher bringen. Dann haben wir nichts mehr zu befürchten. Denner wird alles unternehmen, damit unserer Geisel nichts passiert.« »Ich wäre so gern heute nacht vollwertiges Mitglied des Wolfskreises geworden«, sagte Barringer. »Die Nacht ist noch nicht um«, erwiderte Constantine. »Wir werden Ken Denner mit Hilfe des Mädchens in eine Falle locken, und du wirst ihn töten!«
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Shane sprang in seinen Wagen. Während er die Tür zuschlug, nahm er menschliche Gestalt an. Er startete den Motor und raste los. Daß Inspektor Denner ihm folgte, fiel ihm nicht auf. Die Stellen, wo ihn das silberne Kruzifix berührt hatten, brannten höllisch. Shane fragte sich, ob sich in Denners Revolver tatsächlich geweihte Silberkugeln befunden hatten. Er glaubte es nicht. Hätte der Inspektor in diesem Fall nicht versucht, die Waffe bei der erstbesten Gelegenheit auf ihn abzufeuern? Denner hatte nicht geschossen. Der Grund lag auf der Hand, und Shane ärgerte sich, weil er auf den Trick hereingefallen war. Er raste wie irrsinnig durch die Straßen. Mit Felicia als Faustpfand konnten sie nicht mehr rechnen. Sie würden sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Er erreichte Constantines Haus, sah die Wagen von Buttons, O’Toole, Chapman und Atherton, verließ in großer Hast sein Fahrzeug und eilte zum Eingang. Er läutete Sturm. Es dauerte endlos lange, bis geöffnet wurde. Shane erblickte Sid Barringer. Shane stürmte in das Haus. Sie vergaßen beide, die Tür zu schließen. »Wieso bist du hier?« fragte der Schriftsteller aufgeregt. »Ich dachte, die Bullen hätten dich geschnappt.« »Ich konnte türmen.« »Wo sind die anderen?« »Im Keller.« »Komm.« »Wo ist deine Schwester?« »Erfährst du gleich«, sagte Shane und eilte mit Barringer in den Keller. Auch Constantine fragte sofort: »Wo ist deine Schwester?« »Ich wollte sie herbringen. Sie hätte mitkommen müssen, aber 93 �
da kam mir der Inspektor in die Quere«, antwortete David Shane und berichtete mit einem Wortschwall, was sich ereignet hatte. Die Mitglieder des Wolfskreises reagierten auf den Bericht mit verständlicher Nervosität. Bruce Constantine sah ein, daß sie nicht länger hier bleiben konnten. Ihr Geheimnis existierte nicht mehr. Denner wußte genauestens Bescheid, und er würde einen Weg finden, um mit ihnen abzurechnen. »Wir brauchen ein neues Versteck«, sagte Constantine, und alle nickten. * Ken Denner hatte Shane verfolgt, ohne von diesem bemerkt zu werden. Der Schriftsteller war bestimmt der Meinung, Denner wäre bei Felicia geblieben. Der Verfolger sah Shane aussteigen und wenig später in Constantines Haus verschwinden. Ganz kurz erkannte der Inspektor Sid Barringers Gesicht. Und von Barringer wußte er, daß dieses Haus dem betuchten Geschäftsmann Bruce Constantine gehörte. Denner verließ den Dienstwagen, öffnete den Kofferraum und schnallte sich die Tanks des Flammenwerfers auf den Rücken. Ein schwarzer Schlauch verband die Düse mit den Tanks. Der Inspektor eilte auf das Anwesen zu. Die Tür stand einladend offen. Ken Denner nahm diese Einladung sofort an. Gespannt betrat er das Haus. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er wußte nicht, wie viele Gegner sich bei Constantine aufhielten, und jederzeit konnte eine der Bestien über ihn herfallen. Mißtrauisch registrierte er jedes Geräusch. Er kontrollierte jeden Raum, an dem er vorbeikam, mit einem gewissenhaften Blick. Stimmen drangen an sein Ohr. Wenn ihn nicht alles täuschte, kamen sie aus dem Keller. Mit wachsender Spannung stieg der 94 �
Inspektor die Stufen hinab. Es war waghalsig, was er tat. Vernünftiger und ungefährlicher wäre für ihn gewesen, wenn er gegen die Werwölfe ein Großaufgebot der Polizei eingesetzt hätte. Aber er konnte nicht warten. Sechs Menschen hatten auf grauenvolle Weise ihr Leben verloren. David Shane hätte beinahe seine Schwester umgebracht. Das Maß war mehr als voll. Deshalb war es Denner unmöglich, sich noch in Geduld zu fassen. Ihm bot sich eine echte Chance, die Werwölfe zu vernichten, und er wollte diese um jeden Preis nützen. Die letzte Stufe. Eine Tür. Ken Denner atmete tief durch, dann rammte er die Tür auf… * Er sprang in den schwarzen Raum. Kräfte prallten spürbar gegen ihn. Höllenkräfte… Die Mitglieder des Wolfskreises wichen bis zum Altar zurück. Panik verzerrte ihre Gesichter. »Da bin ich«, rief Denner hart. »Und jetzt wird abgerechnet!« Er zählte sieben Mann. Besser hätte es sich gar nicht treffen können. Alle sieben Mitglieder des Wolfskreises waren versammelt. Der Inspektor schaute Barringer und Shane an. »So rasch sieht man sich wieder!« »Sie haben viel Mut, Denner!« rief Shane krächzend. »Allein hierherzukommen…« »In die Höhle des Löwen«, fügte Denner hinzu und grinste kalt. »Ich muß mich korrigieren: dies ist eine Wolfshöhle. Freut mich, daß ich das gesamte Rudel antreffe.« Es zuckte nervös in Barringers Gesicht. »Verdammt, Denner, wir sorgen dafür, daß Sie hier nicht lebend rauskommen.« »Ich denke, ich brauche vor euch keine Angst zu haben. Immerhin bin ich im Besitz eines Flammenwerfers, wie ihr seht. 95 �
Und das ist nicht alles!« »Wir sind sieben.« »Der erste, der angreift, geht in Flammen auf. Ich weiß, daß man Monster mit Feuer vernichten kann.« Bruce Constantine sagte kein Wort. Sie saßen in der Klemme. Aber Constantine hatte noch eine Hoffnung, sie standen unter dem Schutz des schwarzmagischen Vollmondes, der die Verbindung zwischen ihnen und den Mächten der Finsternis darstellte. Würde der künstliche Mond es zulassen, daß Denner die Oberhand behielt? Oder würden die schwarzen Mächte rettend eingreifen? Constantine merkte plötzlich, daß sich etwas tat. Unsichtbare Kräfte attackierten Ken Denner. Sie drangen in seinen Kopf, versuchten sein Denkvermögen zu lähmen und wollten ihn zwingen, den Flammenwerfer abzulegen. Der Polizist erkannte, daß die gefährliche Kraft von diesem buttergelben Vollmond ausging, und er wehrte sich verbissen dagegen. Vor seine Augen senkte sich ein trüber Schleier. Dahinter, wie Schemen, standen die Mitglieder des Wolfskreises, die sich in diesem Augenblick in Monster verwandelten. Himmel, alles hatte so einfach ausgesehen. Würden die Bestien doch noch ungeschoren davonkommen? Die Werwölfe näherten sich. Denner stand wie gelähmt. Von Sekunde zu Sekunde wuchs die Gefahr für ihn. Die unsichtbare Kraft nagelte ihn fest. Er konnte weder fliehen, noch zurückweichen. Denners Herz trommelte wie verrückt gegen die Rippen. Er war unfähig, einen Entschluß zu fassen. Er vermochte den Flammenwerfer nicht gegen die gefährlichen Ungeheuer zu richten. Ein Wolf drängte sich vor, Sid Barringer, die anderen überließen ihm den Inspektor nur widerwillig. In ihnen allen loderte entsetzliche Gier. 96 �
Barringer griff an. Da schaltete sich Ken Denners Selbsterhaltungstrieb ein, den er nicht mit Gedanken beeinflussen mußte. Er handelte wie ein Roboter, drückte aber nicht auf den Knopf des Flammenwerfers, sondern riß sein Silberkreuz heraus. Das Monster heulte und brüllte. Es torkelte durch den schwarzen Raum, stieß gegen die Wand und brach zusammen. Buttons und O’Toole wuchteten sich gleichzeitig vorwärts. Sie erreichten Denner gar nicht, denn sie verloren alle Energie im Angesicht des ihnen entgegengehaltenen Kreuzes. Atherton, Chapman und Constantine erging es nicht anders. Denner schickte außerdem eine heiße Feuerwolke zur Decke, um dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten. Nur David Shane hatte nicht den Ehrgeiz, so zu enden wie seine Komplizen. Er hatte auch wenig Lust, zu kämpfen. Er wollte fliehen. Wild stürmte er auf die Kellertür zu. Es sah fast so aus, als würde er es schaffen, denn Ken Denner reagierte langsam. Aber dann drehte sich David Shane doch um und sah die lange Feuerlohe, die hinter ihm zur Decke raste. Die Bestie bog das Kreuz durch, als Denner zur Stelle war und das Silberkreuz zeigte. David Shane brach röchelnd zusammen, die Flammen erloschen, es war vorbei mit ihm. Um ganze Arbeit zu leisten, richtete Ken Denner den Flammenwerfer gegen den schwarzmagischen Mond. Das Feuer prallte gegen die Scheibe und brachte sie zum Schmelzen. Flüssiges Metall tropfte auf den Boden, und nachdem der letzte Tropfen herabgefallen war, war Denner wieder völlig klar. Mit leichter Verwunderung stellte er fest, daß er es geschafft hatte. *
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Felicia Shane weinte, als er ihr erzählte, was für ein Ende ihr Bruder genommen hatte. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Sie ließ es geschehen. »David war nicht mehr zu retten. Seine Seele gehörte der Finsternis. Er war nur noch äußerlich ein Mensch. In seinem Innern schlummerte jedoch die Bestie, die Nacht für Nacht zum Vorschein gekommen und unglückliche Menschen angefallen hätte.« »Ich weiß«, schluchzte Felicia. »Du mußtest es tun. Ich darf dir deswegen nicht böse sein… Warum? Warum mußte das alles passieren? Nun bin ich allein auf der Welt.« Denner nahm ihr blasses Gesicht in seine Hände, schaute ihr in die blauen Augen, schüttelte den Kopf und sagte: »Nicht allein, Felicia. Wenn du erlaubst, werde von nun an ich an deiner Seite sein.« Sie nickte, und sie wußte, daß sie das wollte. Schon auf dem Airport hatte sie gefühlt, daß sie füreinander bestimmt waren… ENDE
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