John Grey
Der weiße Apache Ronco Band Nr. 115/04
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 st...
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John Grey
Der weiße Apache Ronco Band Nr. 115/04
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Zwölf Jahre alt, von einem weißen Indianerhändler geraubt und an die Apachen verkauft. Um am Leben zu bleiben wird er ein »weißer Apache«. Coyotero – Apachenhäuptling, nimmt Ronco in seinem Tipi auf. Susqueya – Squaw von Coyotero, sorgt für Ronco und ersetzt ihm die Mutter. Carizo – Apachenjunge, stiehlt Roncos Medaillon – und jetzt muß Ronco kämpfen. Natches – Apachenjunge, neidet Ronco die Stellung im Stamm und fordert ihn heraus. James Johnson – Indianerhändler, der aber auch scharf auf Skalps ist.
Der weiße Apache 3. Oktober 1878 Vor wenigen Stunden haben Lobo und ich New Mexico verlassen. Wir befinden uns auf texanischem Boden. Unsere Pferde sind erschöpft. Vor einer halben Stunde haben wir den Pecos erreicht. Wir rasten im Schatten einer Gruppe von Palo-Verde-Bäumen. Es ist Abend. Gerade haben wir gegessen – Bohnen mit Speck, dazu trockenes Brot. Lobo hat sich in seine Decken gerollt. Wir sind hier in Sicherheit und haben unsere Verfolger abgehängt. Die Wellen des Pecos plätschern an die Ufer. Die Abendsonne steht tief im Westen. Sie glüht rot wie ein Edelstein und spiegelt sich im Fluß. Dieser Anblick erinnert mich an meine Kindheit, an die Mission, in der ich aufgewachsen bin, an den Pease River. Ich sitze eng am Feuer und habe mir eine Decke um die Schultern gelegt. Die Nächte sind kühl in dieser Gegend. Neben mir steht ein Blechbecher, der mit Kaffee gefüllt ist. Auf meinen Knien habe ich das Heft liegen. Ich werde meine Geschichte im Sommer 1857 fortsetzen, als ein Indianerkrieg das friedliche Land am Pease River in Elend und Vernichtung stürzte. Ich war von einem verräterischen Armeescout, der mich an eine Gruppe Mimbreno-Apachen verkauft hatte, entführt worden. Für mich war das Pease-River-Valley, war die Mission, waren die guten Padres Vergangenheit geworden …
1. Die Apachen zogen mit mir ostwärts. Der Pease River lag weit hinter uns. Seit Stunden waren wir unterwegs. Die Apachen hatten mich auf eines ihrer gescheckten Ponies gesetzt. Sie hatten meine Füße zusammengebunden, indem sie eine Lederschnur unter dem Bauch des Tieres hindurchgezogen hatten. Meine Hände waren frei. Aber ein Fluchtversuch war sinnlos. Ein untersetzter Krieger führte das Pferd, auf dem ich saß, am langen Zügel.
Die Sonne ging unter. Wir befanden uns nahe der Wüste und ein schwüler Wind strich uns entgegen. Er trug feinen Staub mit sich. Bald waren mein Hals und meine Mundhöhle trocken. Sandkörner knirschten zwischen meinen Zähnen. Ich fühlte ein Brennen unter meiner Zunge. Aber ich wagte nicht, um Wasser zu bitten. Die Apachen tranken nichts. Auch die Frauen und Kinder nicht. Sie und die Pferde schienen es so gewöhnt zu sein. Ich wollte keine Schwäche zeigen. Darum schwieg ich und ertrug den quälenden Durst. Ich wollte genauso zäh sein wie sie. Ich mußte so zäh sein wie sie. Sonst würde ich nicht überleben. Das war mir völlig klar. Auch wenn man erst elf Jahre alt ist, will man leben und begreift schnell, was man tun muß, um es zu schaffen. Ich war das lange Reiten nicht gewöhnt. So gesellten sich zu meinem Durst Schmerzen im Rücken. Die Innenseiten meiner Schenkel waren aufgescheuert. Ich dachte an Flucht. Seit ich mich in Gefangenschaft der Mimbrenos befand, dachte ich kaum noch an etwas anderes. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß es mir gelingen würde. Es kam nur darauf an, den richtigen Moment abzuwarten. Ich weiß nicht, wie lange wir geritten waren, als ein Wasserloch vor uns auftauchte. Ein Tümpel in einer Bodensenke, vielleicht drei Yards im Durchmesser. Am Rand der Senke standen Bäume und Sträucher. Der Boden war mit Kojoten- und Antilopenspuren übersät. Hier hielten wir an. Es war schon spät. Der Glanz der Sonne verblaßte, und die Konturen der Schatten verschwammen. Die Dämmerung sank wie ein dünner Schleier auf das Land. Die Apachen redeten. Ich verstand kein Wort. Ein Krieger trat auf mich zu. Er zerschnitt meine Fußfesseln und hob mich vom Pferderücken. Er trug mich zu einem Pecanbaum und band mich daran fest. Zwei Apachenjungen in meinem Alter näherten sich und starrten mich schweigend aus großen, dunklen Augen an. Ich erwiderte ihren Blick. Ich versuchte, keine Furcht zu zeigen. Es gelang mir recht gut. Nach einer Weile wandten sie sich ab und gingen weg. Die Apachen bauten leichte Zelte. Die Squaws entfachten zwei
Kochfeuer. Kurz darauf kam ein Krieger zu mir und brachte mir Wasser. Er band mich los und führte mich in ein Zelt. Ich erhielt ein Stück gebratene Antilope. Draußen war es jetzt dunkel. Nur die Feuer brannten noch. Die Pferde standen in der Senke mit den Vorderläufen im Wasser und soffen. Ich sah das alles. Ich hatte meinen Kopf aus dem Zelt gestreckt. Irgendwo in der Dunkelheit heulte ein Steppenwolf. Ein paar Krieger saßen um eins der Feuer herum, unter ihnen Coyotero, der Häuptling. Sie redeten. Eine Squaw trat auf das Zelt zu, in dem ich steckte. Sie packte mich wortlos am Kopf und schob mich in das Zeltinnere zurück. Ich wurde wütend. Ich schob meinen Oberkörper wieder aus dem Zelt, obwohl ich an den Händen gefesselt war. Die Squaw stand noch da. Sie schaute mich finster an. Sie stieß mit hoher Stimme ein paar schnelle Worte aus und drohte mit der erhobenen rechten Hand. Ein Krieger näherte sich vom Rand des Lagers. Er hielt eine Lanze in der Faust, deren Spitze aus einer beidseitig geschliffenen Messerklinge bestand, die mit Lederriemen am Schaft befestigt war. Die Squaw sprach heftig auf ihn ein. Der Krieger senkte seine Lanze, richtete die Spitze auf mich und stieß sie auf mich zu. Ich zuckte zurück. Ich schloß die Augen und spürte kühlen, scharfen Stahl an meiner nackten Brust. Der Apache sprach mit dumpfer, gutturaler Stimme. Der Druck der Lanzenspitze verstärkte sich. Es wäre Dummheit gewesen, jetzt noch Widerstand zu leisten. Ich kroch ins Zelt zurück. Die Lanzenspitze war plötzlich weg. Erst jetzt wurde mir bewußt, daß etwas über meine Haut rann. Ich tastete mit den gefesselten Händen danach und fühlte Feuchtigkeit. Es war Blut. Ich verspürte auch einen feinen Schmerz. Ich legte mich auf den sandigen Boden im Zelt und starrte in die Dunkelheit. Der Schmerz ließ rasch nach. Der schmale Riß auf der Brust verkrustete. Ich hörte draußen das Schnauben der Pferde. Das Reden der Krieger verstummte nach und nach. Es wurde still. Ich konnte nicht schlafen. Ich wollte es auch nicht. Zuviel ging
mir durch den Kopf. Irgendwann mitten in der Nacht richtete ich mich auf und kroch zum Zeltausgang. Als ich den Kopf hinausschob, schaute ich in das Gesicht eines jungen Apachen, der mit gekreuzten Beinen vor dem Zelt hockte, ein Messer und eine altertümliche Steinschloßpistole im Gürtel. Ich erschrak und es lief mir kalt den Rücken hinunter. Wie gelähmt blieb ich liegen. Sekundenlang starrte ich in die dunkel glänzenden Augen des Kriegers. Er rührte sich nicht. Mit keiner Regung verriet er, daß er mich überhaupt gesehen hatte, obwohl ich direkt vor ihm am Boden hockte. Er war, wie die meisten Apachen, von untersetzter Gestalt. Er hatte sich eine buntgewebte Decke um die Schultern und den Oberkörper gelegt. Unter der Decke hervor schauten muskulöse, sehnige Unterarme. Sein Gesicht war starr wie eine Maske. Er saß da wie eine Statue. Ich atmete tief durch und schob mich langsam zurück ins Zelt. * Ich floh, sobald sich mir eine Gelegenheit bot. Ich brauchte nicht einmal lange zu warten, und schwer war es auch nicht. Ich hatte Glück. Ich war in der Nacht doch noch eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurde ich durch heftiges Stimmengewirr geweckt. Als ich mich aufrichtete und aus dem Zelt kroch, war die Wache weg. Die Apachen achteten nicht auf mich. Sie standen oberhalb des Wasserlochs zusammen, die Krieger, die Squaws und die Kinder. Sie schauten nach Süden. Dort hatte sich in der klaren Luft des jungen Tages eine dichte Staubwolke zusammengeballt, die sich langsam auf das Wasserloch zubewegte, immer größer wurde und den Apachen erhebliche Kopfschmerzen zu bereiten schien. Ich hielt mich nicht auf. Diese Chance hatte mir der Himmel geschickt. Ich schlug mich seitwärts in die Büsche. Keinem Krieger fiel es auf. Mit gefesselten Händen lief ich durch das dichte Strauchwerk. Tiefhängende Zweige peitschten mir ins Gesicht und
auf meinen bloßen Oberkörper. Ich spürte es kaum. Ich schaute mich nur immer wieder um. Aber mein Verschwinden war noch nicht bemerkt worden. Die Apachen trieben gerade ihre Ponies auseinander und machten sie reitfertig. Ich rannte wie verrückt, obwohl mir jeder einzelne Knochen in meinem Körper wehtat. Die Folgen des langen Ritts vom Vortage zeigten sich jetzt. Meine Glieder waren steif, mein Rücken schmerzte, so daß ich mich kaum bücken konnte. Aber ich lief. Ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen. Als ich das Buschwerk verließ, stolperte ich und stürzte zu Boden. Es war nicht so leicht, mit gefesselten Händen zu laufen, wie ich gedacht hatte. Ich schlug mir das Gesicht auf. Meine Nase blutete. Blut rann mir über die Lippen in den Mund. Ich hätte heulen können. Aber ich sprang auf und hastete weiter. Vor mir tauchte ein Arroyo auf, kaum fünfzig Yards von dem Wasserloch und dem Lager der Apachen entfernt. Ich dachte nicht lange darüber nach. Ich schaute mich nur noch einmal um. Aber ich konnte das Camp nicht mehr sehen. Bäume und Büsche versperrten mir die Sicht. Doch ich war sicher, daß meine Flucht jetzt bemerkt worden war. Im Süden hatte sich die Staubwolke noch vergrößert. Egal, was sie zu bedeuten hatte. Sie würde dafür sorgen, daß kein Krieger sich die Zeit nahm, nach mir zu suchen. Ich stolperte wieder und fiel nach vorn. Ich konnte mich nicht mehr halten, rollte über den Rand des Arroyos und rutschte die schräge Böschung hinunter. Ich hatte Staub und Blut im Mund, als ich auf dem Grund des Arroyos wieder auf die Beine kam. Doch ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich lief und lief. Ich folgte dem Bett des Arroyos nach Südwesten. Die Frühsonne brannte auf meinen nackten Rücken und meinen ungeschützten Kopf. Ich trug immer noch nur den Lendenschurz der Apachen und ein Paar einfache Mokassins. Während ich lief, hörte ich das Donnern von Pferdehufen hinter mir. Ich wandte den Kopf, konnte aber nichts erkennen, da die Wände des Arroyos zu hoch waren. Der Hufschlag entfernte sich.
Die Apachen schienen fortzureiten, und ich triumphierte innerlich. Hatte ich es geschafft? Gefesselt hetzte ich durch das Arroyo. Unzählige Male schlug ich der Länge nach hin, erhob mich wieder, verbiß mir den Schmerz und rannte weiter. Meine Knie und Ellenbogen waren aufgeschrammt und blutig. Ich weiß nicht, wie lange ich so lief. Irgendwann jedenfalls wurde das Arroyo flacher. Er bot kaum noch Schutz. Ich mußte es verlassen. Als ich mich umschaute, war das Land rings um mich her leer. Im Westen und im Süden buckelten sich Hügel. Im Osten dehnte sich die Ebene bis zum Horizont. Hohes Büffelgras bedeckte das flache Land. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich hatte nie gelernt, mich nach dem Stand der Sonne oder nach anderen Merkmalen der Natur zu richten. Es hatte bisher nie eine Veranlassung dazu bestanden. Jetzt war ich hilflos. Das Pease-River-Valley erschien mir in diesem Moment so weit entfernt zu sein wie der Mond. Ich setzte mich ins Gras, um auszuruhen. Die Fesseln löste ich mit den Zähnen. Dann erhob ich mich und setzte mich wieder in Bewegung. Ich lief auf die Hügel im Westen zu. Nicht, weil ich sicher war, daß das die richtige Richtung war, sondern weil ich glaubte, im Hügelland leichter Deckung zu finden. In der Weite des flachen Landes fühlte ich mich so verdammt gottverlassen und jedem Feind schutzlos ausgeliefert. Der Weg war weit. Ich mußte lange laufen, bis ich die ersten Hügel erreichte. Länger, als ich gedacht hatte. Die Sonne stand hoch an Himmel. Es war heiß, und ich hatte Durst, brennenden Durst und ebenso Hunger. Aber nirgends gab es Wasser, und zu essen hatte ich auch nichts. Ich wußte auch nicht, wie ich mir etwas beschaffen sollte. Ich hatte keine Waffe, nicht einmal ein Messer. Meine Lage war ziemlich hoffnungslos. Ich versuchte, die Gedanken daran zu verdrängen. Aber sie kehrten hartnäckig immer wieder zurück. Sie kamen mit dem Durst, mit dem quälenden Hunger. Die Sonne stieg immer höher. Nach wenigen Stunden dachte ich, mein Kopf würde platzen. Die Luft vor meinen Augen flimmerte. Ich
taumelte, ohne es selbst zu merken, und fühlte mich hundeelend. Meine Füße schmerzten. Bei jedem Schritt hätte ich schreien können. Ich bereute schon längst, ins Hügelland geflohen zu sein. Ständig mußte ich Anhöhen hinaufsteigen und wieder hinunter. Ständig mußte ich Hänge überwinden, Grasbuckel und Bodensenken. Ich verlor jeden Sinn für Zeit und Entfernung und hatte keine Ahnung, wie lange ich ziellos und ohne Orientierung herumirrte und mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr. Ich kippte einfach um. Mitten im Schritt. Es war auf einem Hang. Ich rollte durch das hohe Gras hinunter, obwohl ich versuchte, mich im Boden festzukrallen. Ich schaffte es nicht und rutschte bis zum Fuß des Hangs. Dort verlor ich mein Bewußtsein.
2. Der Mann stützte sich auf ein Gewehr, das genauso groß war wie ich. Eine Kentucky-Rifle. Es hatte einen leicht gekrümmten Kolben und einen wuchtigen Außenhahn an der rechten Seite. Perkussionszündung. Die Messingbeschläge am Schaft waren zerkratzt und glanzlos. In der rechten Kolbenseite befand sich ein schmales Fach, das von einer Messingklappe verschlossen wurde und Zündhütchen und Verdämmungsstopfen enthielt. Der Mann war nicht viel größer als sein Gewehr und fast genauso breit. Sein Gesicht schien nur aus Haaren zu bestehen. Sie quollen unter der Bärenfellmütze hervor, sie wucherten auf Kinn und Wangen wie ein dichtes Gestrüpp und bildeten als Brauen fingerdicke Wülste über den Augen. Ich sah dazwischen nur zwei runde Knopfaugen und eine Knollennase. Ich war sicher, daß ich träumte, und schloß wieder die Augen. Als ich sie erneut öffnete, stand der Mann immer noch da. Ich träumte nicht. Die Sonne brannte mir direkt ins Gesicht. Aber ich fror plötzlich. Ich preßte die flachen Hände gegen den Boden und kam mir vor wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und nun zertreten werden
soll. Ich sprang jäh auf. Wilder Schmerz durchraste meine Glieder und Gelenke. Ich schrie, aber ich stand auf den Beinen und drehte mich um. Weiter gelangte ich nicht. Eine harte, hornige Hand erwischte mich an der rechten Schulter. Sie riß mich zurück. Auf einmal war das haarige Gesicht des untersetzten Mannes ganz dicht vor mir. Der Rauch von Holzkohle, Kaminasche, Tabak, Fett und Schweiß nistete in dem struppigen, langen Bart. Die Knopfaugen des Mannes funkelten. Sie waren pechschwarz wie Kohlestücke. Ich wandte den Kopf zur Seite. Meine Haltung entspannte sich. Der eisenharte Griff des seltsamen Mannes lockerte sich. Darauf hatte ich gewartet. Ich riß mich augenblicklich los und jagte davon. Ich gelangte nur wenige Schritte weiter. Der Mann wirbelte sein langläufiges Gewehr am Lauf herum und fuhr mir mit dem Kolben zwischen die Beine. Ich überschlug mich fast. Ich stürzte kopfüber ins Gras und richtete mich mit dreck- und schweißverschmierten Gesicht wieder auf. Meine Nase blutete wieder ein wenig. Da lachte der Mann. Es war ein hohes, meckerndes Lachen. Er stand breitbeinig über mir. Ich konnte in seinen aufgerissenen Mund sehen. Er hatte kräftige, aber gelblich schimmernde Zähne. »Warum läufst du weg, Junge?« Seine Stimme war so wie sein Lachen. Hoch und meckernd. Ich sagte kein Wort und rührte mich auch nicht. »Du bist doch ein Weißer«, sagte er. »Bist du den Rothäuten davongelaufen?« Ich rührte mich noch immer nicht. »Steh auf«, sagte er. Er stampfte mit dem Gewehr ungeduldig auf den Boden. »Kannst du nicht sprechen?« Ich gehorchte und stand auf. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Du siehst aus wie ein Wilder«, sagte er. »Die Indianer hatten mich entführt«, sagte ich. »Ich komme vom Pease River, aus der Mission.« »Kenn ich«, sagte er. Er zog eine Stange Kautabak aus der Tasche und biß sich ein Stück ab, das so dick war wie sein Daumen.
»Wo bist du den Rothäuten weggelaufen?« »Ich weiß nicht.« Ich fuhr mir mit der Rechten unbeholfen über das Gesicht. Ich zitterte auf einmal. Es wurde mir gar nicht richtig bewußt. Ich zitterte nicht aus Angst, sondern vor Schwäche. Das Sprechen fiel mir schwer. Meine Zunge ließ sich kaum bewegen. Meine Kehle war geschwollen. Der Durst war entsetzlich. »Es war an einem Wasserloch«, sagte ich. »Kenn ich«, sagte er. »Hast du Durst?« Ich nickte. Er nestelte die Feldflasche von seinem Gürtel. Ich nahm sie mit beiden Händen, riß den Verschluß ab und trank gierig. Ich schämte mich nicht deswegen. Der Alte beobachtete mich scharf und nahm die Flasche wieder an sich, als ich meinen ersten Durst gestillt hatte. Er drehte sich um. »Komm mit«, sagte er. Ich blieb stehen. Er wandte den Kopf. »Was ist los?« »Ich will nach Hause«, sagte ich. »Weißt du, wie weit es bis zur Mission am Pease River ist?« »Nein«, sagte ich. »Sechzig Meilen«, erklärte er. Ich schwieg erschrocken. »Außerdem bist du in die falsche Richtung abgehauen«, fuhr er fort. »Ich …« Ich setzte an, um etwas zu sagen. Doch ich verstummte sofort wieder. Mutlosigkeit erfüllte mich plötzlich. »Also, komm«, sagte der Alte. »Ich bin Noah McNeal.« Ich folgte ihm. * Er hatte eine Hütte am Rand eines Mischwaldes, unweit von einem schmalen Rinnsal, das jedoch ausreichte, ihn und seine beiden Maultiere mit Wasser zu versorgen. Er lebte vom Fallenstellen. Hinter der Hütte hatte er ein stattliches Lager mit feinen Fuchs- und Biberfellen angelegt. Einmal im Jahr ritt er in eine Stadt und verkaufte seine Beute.
Als ich mich endlich in der Hütte auf einen Stuhl setzen konnte, hatte ich weiche Knie und war sicher, niemals mehr auch nur einen Schritt gehen zu können. Noah McNeal stellte wortlos einen verbeulten Topf auf die Kochstelle, entfachte ein Feuer und wärmte eine Art Brei auf, der nach verbrannten Bohnen, Speck und Fleisch schmeckte. Mir war es völlig gleichgültig, was ich aß. Ich schlang alles in mich hinein. Danach schlief ich fast über dem Teller ein. Ich wankte erschöpft zu dem Deckenlager, das McNeal mir zuwies. Ich schlief bis zum Abend und dann noch die ganze Nacht. Als ich erwachte, ging die Sonne auf. McNeal saß am Tisch und säbelte fingerdicke Kanten von einem Brot herunter. Als er sah, daß ich nicht mehr schlief, richtete er sich auf und schlurfte durch die Hütte. Er trug ein löchriges, fadenscheiniges Unterhemd mit kurzen Ärmeln. Es hing zerfranst um seinen kräftigen Oberkörper und wurde nur noch durch den Schmutz zusammengehalten, der sich im Laufe vieler Jahre in dem Stoff festgesetzt hatte. Aus einer farblosen Unterhose, die ebenso alt und schmutzig war wie das Hemd, ragten kurze, krumme, knotige Beine. Barfuß trat McNeal an mein Lager, schaute auf mich hinunter und grinste. »Na, wieder wach?« Ich nickte. »Wie geht's?« »Mir ist ganz flau um den Magen.« »Kenn ich«, sagte McNeal. Er nickte. »Hunger?« fragte er. »Ja.« »Na, dann komm.« Er schlurfte zum Ofen, rückte den verbeulten Kessel auf die Platte und warf ein paar Reiser in das Feuer. Ich stand auf. »Wo kann ich mich waschen?« »Waschen?« Er starrte mich an, als hätte ich von ihm verlangt, Selbstmord zu begehen. Er fing sich offenbar nur mühsam. »Am Bach«, sagte er kopfschüttelnd. Ich ging hinaus. Jetzt hatte ich doch wieder Schmerzen. Die Strapazen der Flucht hatte ich noch lange nicht überwunden. Meine
Gelenke und Glieder waren von einem heftigen Stechen und Ziehen erfüllt. Bei jedem Schritt rasten Schmerzwellen durch meinen Körper. Draußen war bereits die Sonne aufgegangen. Ein paar grauweiße Nebelfetzen hingen noch in der Morgenluft, die herb auf den Lippen schmeckte. Neben dem schmalen Rinnsal nahe der Hütte hockte ich mich auf den Boden und wusch mir das Gesicht. Das Wasser war eiskalt und klar. Ich trank einige Schlucke und betrachtete mein Gesicht im Wasser. Ein bleiches, zerkratztes Antlitz schaute mir entgegen. Ich blickte prüfend an meinem Körper hinunter. Alles an mir zerkratzt und zerschrammt. Besonders gut sah ich nicht aus. Dabei hatte ich noch Glück gehabt. Ich lebte und war frei. Ich ging zurück in die Hütte. Auf dem Tisch stand ein Blechbecher, der mit Kaffee gefüllt war, daneben eine Schale mit dem gleichen Bohnen-, Speck- und Fleischbrei, den ich bereits am Vortage genossen hatte. Ich schaufelte das wahrscheinlich schon zehnmal aufgewärmte Gericht mit Todesverachtung in mich hinein und spülte mit Kaffee nach. »Bei euch hat es eine Menge Ärger gegeben, wie?« fragte McNeal. Er hockte sich mir gegenüber an den Tisch. Sein Bart hing fast bis auf die Tischplatte. »Die Armee ist erschienen«, sagte ich. »Fast alle Farmen sind niedergebrannt worden. Aus der Mission haben sie eine Festung gemacht.« »Kenn ich«, sagte er. Das schien eine Lieblingsredensart von ihm zu sein. »Ich habe viele Indianerkriege erlebt, mehr als ich zählen kann.« »Ein Armeescout hat mich weggeschleppt und an die Apachen verkauft. Er hat Gold dafür gekriegt.« McNeal schwieg. Er schaute mich stumm an. Dann beugte er sich vor und strich mir über den Kopf. Ich war überrascht, daß er zu einer solchen Geste fähig war. »Ich bringe dich zurück«, sagte er. »Keine Angst. In spätestens zwei Tagen bist du wieder in der Mission.« »Danke«, sagte ich.
»Bedank' dich, wenn wir da sind«, sagte er. »Wir reiten mitten durch Indianerland.« »Wir schaffen es bestimmt«, sagte ich. »Die Armee ist jetzt ja schon fast überall.« »Kenn ich«, sagte McNeal. »Die Armee ist immer da, wo sie nicht gebraucht wird.« Er richtete sich auf und schlurfte durch die Hütte. »Aber ich bring dich schon durch bis zum Pease River.« Er hockte sich auf eine Holzpritsche, die mit Tierfellen gepolstert war, nahm sein langläufiges Gewehr zwischen die Beine, schüttete Pulver aus einem Pulverhorn in den Lauf, schob einen runden Verdämmungsstopfen aus Filz nach und versah eine Kugel vom Kaliber 54 mit einem gut gefetteten Schußpflaster. Er stopfte mit dem Ladestock kräftig nach, als alles im Lauf verschwunden war. Dann setzte er sorgfältig ein Zündhütchen auf den Nippel vor dem wuchtigen Schlaghahn. »Wir reiten nachts«, sagte er. Er strich sich durch den dichten Bart und stellte das Gewehr zur Seite. »Wenn es dämmert, reiten wir los. Schlaf noch ein bißchen. Die Nacht ist lang, wenn man wachen muß.« Er streifte sein Wildlederhemd über, zog Hosen und Stiefel an und verwandelte sich nach und nach wieder in das Ungetüm, als das er am Vortage plötzlich vor mir gestanden hatte. »Ich kontrolliere vorher noch die Fallen. Bleib in der Hütte und rühr dich nicht hier weg.« Er stülpte seine Fellmütze über und ging zur Tür, das Gewehr in der Rechten. Ich schaute ihm nach. Seine Schritte wurden leiser. Ich war allein. Ich erhob mich und schaute mich in der Hütte um. Sie war dürftig eingerichtet, enthielt aber alles, was ein Mensch zum Leben brauchte. An den Wänden waren Borde angebracht, auf denen McNeal seine Besitztümer untergebracht hatte. Viel war es nicht. Eine goldene Uhr mit prächtiger Tombakkette und ein paar blasse Daguerreotypien in silbernen Rahmen, auf denen Frauen und Männer zu sehen waren, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihm aufwiesen. Alles andere waren Gebrauchsgegenstände – Hausrat, Becher,
Teller, Töpfe, Kannen und Tonkrüge mit getrockneten Beeren und Kräutern, mit Pemikan und anderen konservierten Nahrungsmitteln. Ich sah auch mehrere Messer auf einem Regal liegen, kümmerte mich aber nicht weiter darum, sondern legte mich auf meine Decken, um McNeals Ratschlag zu befolgen. * Ich schlief nicht richtig ein. Ich dämmerte nur vor mich hin. Unruhig wälzte ich mich hin und her. Ich dachte an zu Hause, an die Mission. Bald würde ich wieder dort sein. Dabei hatte ich mich doch schon damit abgefunden, daß das alles für mich unerreichbar sei, vorbei für immer. Aber nichts war endgültig. Bald würde ich wieder da sein, wo ich hingehörte. Alles andere war nur ein böser Spuk gewesen. Irgendwann schlief ich dann doch ein. Als ich wieder erwachte, hatte ich einen schweren Kopf. Ich fühlte mich schlapp und unausgeruht. Ich blinzelte in das Licht, das durch die offenstehende Tür in die Hütte flutete. Als ich den Kopf wandte, konnte ich einen Blick aus dem Fenster neben der Tür werfen. Ich sah die Sonne ein gutes Stück westlich vom Zenit stehen. Da richtete ich mich auf. Irgendwie war ich erschrocken. Ich blickte mich um und lauschte. Es war still, fast unnatürlich still. Die Hütte war noch immer leer. McNeal war noch nicht zurückgekehrt. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und ging zur Hüttentür. Es war brütend heiß draußen. Ich ging zum Bach, netzte mein Gesicht und meinen Oberkörper mit kaltem Wasser und trank einige Schlucke. Danach fühlte ich mich besser. Ich kehrte in die Hütte zurück. Auf einem Bord lag ein Brot. Ich nahm es und schnitt einen Kanten ab. Nachdenklich kaute ich. Schließlich ging ich wieder hinaus. McNeal war nirgends zu entdecken. Langsam wurde ich nervös. Ich umrundete die Hütte. Am Stallanbau entdeckte ich im Gras die Stiefelabdrucke McNeals. Ich folgte ihnen. Die Spur führte in den Wald. Ich drang durch das Unterholz und stieß auf einen Trampelpfad. Ich zögerte kurz, dann ging ich weiter.
Der Pfad führte bis zu einer Lichtung. Hier blieb ich stehen und schaute mich um. Da hörte ich Hufschlag. Leise erst, schwach, wie aus weiter Ferne. Ich lauschte angespannt. Die Geräusche des Waldes, das Rascheln und Knacken der Blätter und Zweige, das Singen der Vögel waren auf einmal unnatürlich laut. Ich überquerte die Lichtung und suchte die Fortsetzung des Trampelpfades. Ich fand den Weg rasch. Nach ein paar Schritten hörte ich erneut das dumpfe Hämmern von Pferdehufen, diesmal deutlicher. Ich begann zu laufen und hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Nach fast hundert Yards blieb ich stehen und rang nach Atem. Ich lehnte mich an den Stamm eines riesigen Cottonwoodbaumes. Vor mir befand sich eine Bodensenke. Sie maß etwa fünfzig Yards im Durchmesser und wirkte wie ein riesiger, tiefer Teller. Ich schaute hinunter. Ich sah nur ein paar Büsche und Farne, viel Moos, keine Bäume. Auf einmal sah ich auch Noah McNeal. Er trat aus dem Unterholz und lief von Süden durch die Senke. In der Rechten hielt er sein langläufiges Kentucky-Gewehr, in der Linken hatte er ein Bündel Felle, von denen noch Blut tropfte. Ich wollte aus dem Baumschatten treten und ihm entgegengehen. Da brachen hinter McNeal Reiter aus dem Dickicht: Apachen. McNeal lief noch schneller. Er ließ die Felle fallen, drehte sich um, nahm das Gewehr hoch und feuerte. Einer der Apachen stürzte aus dem Sattel, als die Kugel des Trappers ihn traf. Die anderen ritten weiter. McNeal hatte keine Chance. Ich stand wie gelähmt. McNeal lief genau auf mich zu. Er sah mich nicht. Ich konnte meine Blicke nicht von ihm wenden. Als er stolperte, hätte ich fast geschrien. Aber er fiel nicht. Er fing sich und rannte weiter. Doch die Apachen holten ihn ein. Eine Kriegskeule wirbelte durch die Luft. Noah McNeal wurde an der linken Schulter getroffen und nach vorn geschleudert. Er stürzte zu Boden. Sein linker Arm stand grotesk verrenkt vom Körper ab. Er stieß einen grellen Schrei aus.
Die Apachen sprangen neben ihm aus den Sätteln. Der, der ihn mit der Keule geschlagen hatte, bückte sich über ihn, griff in das volle, graue Haar des Trappers und fuhr mit seinem Messer hinein. Das Brüllen McNeals verstärkte sich. Ich preßte beide Fäuste auf die Ohren, aber meine Blicke hingen wie gebannt auf der Szene. Der Indianer stemmte seinen linken Fuß mitten in das Gesicht McNeals und riß ihm den Skalp ab. Er schwenkte in triumphierend. Ein anderer Krieger hob eine Keule aus Hickory-Holz, an deren Spitze ein faustdicker Dorn aus Wapitihirschhorn angebracht war. Ich zwang mich, wegzusehen, verließ mein Versteck und hetzte den Weg zurück. Jäh riß hinter mir McNeals Schmerzgeheul ab. Ich fror, obwohl es schwül und stickig in dem Dickicht war. Ich erreichte die Lichtung, überquerte sie und lief den Trampelpfad weiter. Der Weg schien jetzt länger zu sein. Meine Füße waren bleischwer. In meinem Schädel tobte ein Dampfhammer. Vor mir schimmerte Licht durch die dicht stehenden Bäume. Ich stürzte darauf zu, brach durch das Unterholz und hastete hinaus auf die Ebene, wo die Hütte stand und das schmale Rinnsal floß. Die stechende Sonne blendete mich. Außer Atem blieb ich stehen. Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Ich zwang mich, ruhiger zu werden. Mir war klar, daß ich wieder fliehen mußte. Aber diesmal sollte mich niemand mehr einfangen. Diesmal wollte ich es klüger beginnen. Ich lief zur Hütte. Hier fand ich eine leere Feldflasche. Ich nahm mir ein Messer von einem Wandbord, griff mir auch den Rest des Brotes, das auf dem Tisch lag, und eilte wieder hinaus. Am Bach hockte ich mich hin, um die Feldflasche zu füllen. Hufgeräusche schreckten mich hoch. Reiter kamen durch den Wald. Ich ließ die Feldflasche fallen und stürmte davon, in der rechten Hand das Messer, in der Linken das Brot. Ich jagte ins Hügelland. Die Sonne brannte mir ins Gesicht. Ich floh und war schon wieder ohne Wasser. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich Flammen am Waldrand lodern. Schwarze Rauchwolken stiegen in den glühenden Himmel. Da hastete ich weiter, obwohl ich völlig ausgepumpt war.
3. Es wurde Nacht. Ich schlief unter einem Mesquitebusch, nachdem ich ein Stück von dem mitgenommenen Brot gegessen hatte. Der Durst quälte mich schon wieder. Aber er war noch zu ertragen. Frierend wachte ich am nächsten Morgen auf. Graue Nebel hingen über dem Land. Die Luft war kühl und klamm. Nur der Durst war nun schlimmer als die Kälte. Ich kroch auf allen vieren durch das Gras und leckte die Tautropfen von den Halmen. Viel half es nicht, aber ich konnte danach das Brennen in Hals und Rachen leichter ertragen. Als die Sonne aufging, war ich bereits wieder unterwegs. Irgendwann an diesem Vormittag verließ ich das Hügelland. Die weite Ebene lag vor mir. Ich war wieder so weit wie schon am gestrigen Morgen. Ich hätte heulen können, verdrängte aber die aufsteigende Mutlosigkeit. Sechzig Meilen, hatte Noah McNeal gesagt. Sechzig Meilen bis zur Mission. Wieviel ist das, sechzig Meilen? Von einem Ende der Welt zum anderen? Ich marschierte los. Ich hatte das Gefühl, in einem Meer von Gras unterzugehen. Gnadenlos brannte die Sonne auf das Land und auf mich herunter. Schon am Vortage hatte meine Haut unter den stechenden Strahlen geschmerzt. Jetzt hatte sie sich auf den Schultern knallrot gefärbt. Ich war überzeugt, daß es auf dem Rücken nicht besser aussah. Ich kriegte einen Sonnenbrand. Das war mir klar. Wenn ich nicht bald einen schattigen Platz zum Ausruhen fand, würde ich auch einen Sonnenstich bekommen, denn ich hatte ja auch keine Kopfbedeckung. Nach etwa einer Stunde war die Haut auf meinen Schultern angeschwollen. Bald würde sie sich pellen. Ich wußte das. Meine Bewegungen wurden immer langsamer, schwerfälliger. Meine Kräfte nahmen ab. Ich quälte mich nur noch mühsam voran. Bei jedem Schritt wurde mir schwindlig. Vor meinen Augen tanzten grellfarbene Punkte. Dazu kam der quälende Durst. Mein Gaumen
schwoll ebenfalls an. Meine Zunge lag wie ein pelziger Fremdkörper in meinem Mund. Übelkeit erfüllte mich. Als mir gegen Mittag ein schwüler Wind von Westen her entgegenstrich, war ich fast am Ende. Ich merkte nicht, daß ich das Brot fallen ließ. Irgendwo brach ich zusammen. Stunden später erst erlangte ich das Bewußtsein wieder. Da war es Nacht und kühl. In meinem Körper aber schienen Feuer zu brennen. Ich hatte wahnsinnige Schmerzen und wurde wie toll vom Fieber geschüttelt. Trotzdem zwang ich mich dazu, wieder aufzustehen. Ich war zäh und ließ mich nicht so rasch unterkriegen. Das war schon immer so gewesen. Jetzt ganz besonders. Ich wankte weiter. Schritt für Schritt. Wie eine Maschine. Ich setzte immer wieder einen Fuß vor den anderen. Aber der Sonnenbrand war stärker. Er warf mich rasch wieder um. Hilflos lag ich im Gras. Wahrscheinlich phantasierte ich, denn mein Fieber stieg in dieser Nacht. Am nächsten Morgen ging es mir besser. Zwar hatten die Schmerzen nicht nachgelassen. Aber das Fieber schien abgeklungen zu sein. Ich fühlte mich trotzdem schwach und sauelend. In der Nähe entdeckte ich ein paar Bäume. Ich wollte aufstehen, aber ich schaffte es nicht. Da kroch ich auf allen vieren in den Schatten und sank hier wieder erschöpft zu Boden. Der Hunger wühlte in meinen Eingeweiden. Trotzdem wurde ich von einem heftigen Brechreiz geschüttelt, brachte aber nur Magensäure heraus. Eine Folge des Sonnenbrandes. Meine Arme und Schultern glänzten noch immer wie rohes Fleisch. Die Haut pellte sich und ließ sich in kleinen dünnen Fetzen abziehen. Aber nicht einmal das konnte ich. Ich war zu schwach. Apathisch lag ich da. Fliegen umschwirrten mich. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu verjagen. Ein paar Krähen flogen vorbei, setzten sich auf tiefhängende Äste des Baumes, unter dem ich lag, äugten auf mich hinunter, krächzten und flogen wieder weg. In mir stieg Angst auf. Der Anblick der Krähen ließ mich an den Tod denken, wenn ich überhaupt etwas dachte. Die Krähen
erschienen stets zuerst. Vielleicht würden schon in der Nacht andere Tiere folgen – Kojoten, Wölfe. Sie würden über mich herfallen. Sie würden mich zerfetzen. Ich konnte mich nicht wehren. Sterben. Die Angst ließ mich für kurze Zeit Schmerzen und Erschöpfung vergessen. Ich konzentrierte meine ganzen noch verbliebenen wenigen Kräfte darauf, nicht liegenzubleiben. Da ich meinen geschundenen, gequälten Körper nicht der stechenden Sonne aussetzen konnte, beschloß ich, erst nach Einbruch der Dämmerung zu versuchen, meinen Weg fortzusetzen. Kurz danach hatte ich das alles wieder vergessen und wimmerte vor Schmerzen, Durst und Hunger. Ich riß Gras aus und stopfte es in den Mund. Ich kaute es und schluckte es hinunter. Minuten später hob sich mein Magen. Ich erbrach alles wieder und sank, noch schwächer als zuvor, auf den Rücken. Ich verlor das Bewußtsein. Wirre Traumbilder durchzuckten mich. Ich sah die Gesichter der guten Padres dicht vor mir. Padre Emanuel, Padre Frastus, Padre Ambrosius und die anderen. Ich sah Clay, meinen Freund, und Bob Danton und die Farmer vom Pease River. Sie sprachen alle mit mir. Aber ich verstand sie nicht. Ihre Gesichter verschwammen bald wieder, verwandelten sich in konturenlose Flecke von verwaschener Farbe. Dann tauchten die Indianerzelte vor mir auf, die Apachen. Das Schnauben eines Pferdes riß mich aus den Fieberträumen. Ich fuhr mit dem Oberkörper hoch und wandte den Kopf. Der Apache befand sich keine zehn Yards von mir entfernt. Ein untersetzter, hagerer Krieger mit sehnigem, nacktem Oberkörper und Armen, unter deren Haut die Sehnen sich fingerdick hervorwölbten. Hinter ihm lag quer über dem Pferderücken eine tote Antilope, in deren Hals noch der Pfeil steckte, mit dem der Krieger sie erlegt hatte. Ich kannte ihn. Ich hatte ihn bei Coyoteros Männern gesehen. Der Schreck durchfuhr mich wie ein Eisguß. Ich sprang auf und begann zu laufen. Sofort zuckten Schwindel in mir hoch. Es wurde mir schwarz vor
Augen. Ich konnte nichts sehen, während ich weiterlief. Ich kam nicht weit. Nach den ersten paar Yards kriegte ich schon die Füße nicht mehr hoch. Den Hufschlag des Pferdes, das dicht hinter mir war, hörte ich nicht. In meinen Ohren war ein Rauschen und Dröhnen. Ich taumelte. Da war der Apache neben mir. Er beugte sich aus dem Sattel und griff mit der Rechten nach meinem Haar. Er faßte meinen Schopf und riß mich nach hinten. Ich kippte sofort um und fiel auf den Rücken. Er sprang aus dem Sattel, zerrte mir das Messer aus dem Gürtel des Lendenschurzes und hob mich hoch. Ich verlor das Bewußtsein. * Das Fieber war gesunken. Ich hatte keinen Durst mehr, nur mein Magen knurrte noch. Ich fühlte kaum noch Schmerz. Die Sonne ging gerade unter. Ein kleines Feuer flackerte unweit von mir. Daneben saß der Apache und kaute auf einem Stück Fleisch. Ich konnte mich nicht rühren. Ich war bis zum Hals in eine Decke verpackt. Aus – vorbei. Alles war umsonst gewesen. Ich war wieder gefangen. Instinktiv spürte ich, daß es diesmal endgültig war. Seltsamerweise war ich nicht einmal deprimiert. Ich war nur müde, und ich wunderte mich, daß es mir so gut ging. Der Apache hatte zu Ende gegessen. Er wischte sich die fettigen Hände an den sehnigen Armen ab. Dann erhob er sich und kam zu mir herüber. Er kniete sich neben mich ins Gras und wickelte mich wortlos aus der Decke. Prüfend betrachtete er meine Schultern und meinen Rücken. Trotz des schwachen Lichtscheins, den das Feuer spendete, konnte ich erkennen, daß die Rötung der Haut zurückgegangen war. Der Apache ging zu seinem Pferd und kehrte mit einer flachen Ledertube zurück. Er preßte eine grünliche Salbe aus der Tube, die er mir auf Schultern und Rücken strich. Sie war kühl und wohltuend. Dann rollte er mich wieder in die Decke ein. Ich wehrte mich nicht. Nicht, weil es sinnlos gewesen wäre, aber ich spürte, daß der Krieger
mir half. Er war weder grob, noch schien er böse über meine Flucht zu sein. Er brachte mir ein bitter schmeckendes Getränk, das er erst am Nachmittag gebraut zu haben schien, nachdem er mich gefunden hatte. Er stützte mit der Linken meinen Kopf, während er mir die Flüssigkeit einflößte. Es war ein Sud aus Sarsaparillastengeln und einigen anderen Kräutern, die das Fieber drückten und die Vergiftung im Körper bekämpften. Ich sank erschöpft zurück, nachdem ich getrunken hatte. Der Krieger trat die Glut des Feuers auseinander und legte sich unweit von mir nieder. Er legte sich auf den nackten Boden, ohne Decke. Nur den Kopf bettete er auf seinen flachen Kissensattel. Da wußte ich, daß er mich in seine eigene Decke gewickelt hatte und nun für sich selbst keine mehr besaß. Ich beobachtete, wie er sich zusammenrollte. Er würde in der Nacht frieren. Sein Oberkörper war nackt. Ich war ihm plötzlich dankbar. Meine anfängliche Furcht verflog. Ich fühlte die Müdigkeit in mir stärker werden, während ich über vieles nachdachte. Die Salbe auf meiner von der Sonne verbrannten Haut schien Wunder zu tun. Ich schlief ruhig ein, ohne noch irgendwelche Schmerzen zu verspüren. * Am nächsten Morgen waren wir bereits unterwegs, als ich erwachte. Ich saß vor dem Krieger auf dem Pferderücken. Meine Glieder waren schwer, und es dauerte eine Zeit, bis ich richtig wach war. Der Kräutersud hatte mich tief und fest schlafen lassen. Mein Sonnenbrand war fast völlig verschwunden. Ich hatte kein Fieber mehr. Wäre ich nicht gefangen gewesen, hätte ich mich fast wohl gefühlt. So aber fraß die Ungewißheit in mir. Ich war sicher, daß ich für meine Flucht bestraft werden würde. Aber was mich erwartete, wußte ich nicht. Der Krieger sprach noch immer kein Wort. Aber was hätte es mir schon genutzt? Ich hätte ihn ja doch nicht verstanden. Trotzdem sehnte ich mich danach, endlich wieder eine menschliche Stimme zu hören. Allein der Klang hätte genügt. Der Krieger aber schwieg und
überließ mich mir selbst und meinen vielen Gedanken. Ich dachte daran, was die Apachen mit Noah McNeal getan hatten. Und von Meile zu Meile, die wir zurücklegten, wurden meine Vorstellungen von dem, was mich erwartete, düsterer. Der Apache rastete nicht, als es Mittag wurde. Er trank nur ein paar Schlucke Wasser und schob sich ein kaltes Stück Fleisch in den Mund, auf dem er in der nächsten Stunde kaute. Ich erhielt ebenfalls Wasser und ein Stück Fleisch. Aber ich schluckte es bald hinunter. Das war ein Fehler. Später lernte ich, daß man weniger Wasser benötigte, wenn man das Fleisch lange kaute, weil das Speichel erzeugte. So hatte ich bald schon wieder Durst. Aber ich kriegte kein Wasser mehr. Der Ritt dauerte Stunden. Der eintönige Trott des Ponys und die Tageshitze wirkten einschläfernd. Ich zwang mich zunächst immer wieder, wach zu bleiben. Schließlich aber sackte ich mit dem Kopf nach vorn und döste vor mich hin. Währenddessen ritten wir Meile um Meile. Das Land um uns her wurde immer karger. Die Vegetation nahm ab. Eine Steppenlandschaft tauchte vor uns auf. Der Boden war hart und steinig, das Gras wuchs nicht flächig, sondern in Büscheln, und war von der Sonne verbrannt und von bräunlicher Farbe. Hier sah es aus, als sei wochenlang kein Tropfen Regen gefallen. Das Land war trocken, und der Wind, der hier beständig wehte, hob den Staub vom Boden auf und trug ihn mit sich. Rötliche vulkanische Felsen erhoben sich wie einsame Wegweiser aus dem Land, riesige, graue Granitblöcke bildeten Monumente der Ewigkeit. Am späten Nachmittag stießen wir auf ein ausgetrocknetes Flußbett und folgten der breiten Rinne nach Südwesten. Berge erhoben sich vor uns. Ich erhielt wieder ein paar Schlucke Wasser und ein Stück Fleisch. Diesmal kaute ich es länger, und meine Mundhöhle wurde danach nicht mehr so schnell trocken und schmerzte nicht mehr. Wir ritten bald durch die Ausläufer der Berge. Hier staute sich die Tageshitze in Mulden und zwischen Felstrümmern. Hier fing sich der heiße Wind, und hier lag das Camp der Apachen.
4. Die Schatten waren schon lang, als wir es erreichten. Es lag in einem schmalen Canyon. Ein paar Feuer brannten. Die Squaws bereiteten das Essen, die Krieger waren mit ihren Waffen beschäftigt. Ein Stück abseits maßen die Jungen ihre Kräfte beim Wettlauf. Ich erregte beträchtliches Aufsehen. Alle strömten zusammen, um mich zu sehen. Der Krieger, der mich gefangen hatte, weidete sich sichtlich in der Bewunderung. Er stieg ab und schilderte dem Häuptling kurz, was vorgefallen war. Zumindest nahm ich das an. Er sprach Mimbreno-Dialekt. Coyotera trat auf mich zu. Ich saß noch immer auf dem Rücken des Ponys. Der Häuptling schaute mich finster an. »Du sehr dumm«, sagte er. »Warum du schon wieder geflohen? Du nicht mehr fliehen, nie mehr.« Er drehte sich um und rief ein paar gutturale Worte. Zwei Krieger holten mich vom Pferd und schleppten mich zu einem mannshohen Felsen. Ich wehrte mich jetzt. Ich trat um mich. Aber das nutzte nicht viel. Mit ausgebreiteten Armen wurde ich an den Felsen gefesselt. Die Lederriemen preßten mich mit dem Rücken hart an den rauhen, kalten Stein. Am liebsten hätte ich geschrien. Aber es hätte nichts eingebracht. So verbiß ich mir den Schmerz. Die beiden Krieger ließen mich stehen und gingen wieder. Kein Mensch kümmerte sich mehr um mich. Statt dessen wurde der Krieger gefeiert, der mich hergebracht hatte. Er übergab den Squaws die Antilope, die er geschossen hatte, und bald scharten sich die Krieger des Stammes um ihn, um seinem Bericht zu lauschen. Mir war das ziemlich egal. Ich mußte mit den Schmerzen fertigwerden, die immer größer wurden. Ich hatte schon kein Gefühl mehr in den Schultern. Die Sehnen in meinen Armen waren überdehnt, das Rückgrat schmerzte in der verkrümmten Stellung, in die ich gezwungen worden war. Die Sonne ging unter. Der schroffe Fels färbte sich in sattes Karmesin. Das letzte Tageslicht sickerte in die engsten Spalten der Berge, schien sich festzuklammern und mit der heraufziehenden Dämmerung einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen.
Es wurde kühl. Ich nahm das alles nicht mehr wahr. Ich war sicher, sterben zu müssen. Meine Schmerzen wurden unerträglich. Die Lederriemen, die mich hielten, schnitten in die Gelenke an Händen und Füßen ein und schnürten den Blutkreislauf ab. Vor meinen Augen drehte sich alles. Verschwommen sah ich einen jungen Apachen vor mir auftauchen. Er war etwas größer als ich und wahrscheinlich etwa vierzehn Jahre alt. Sein Oberkörper war mager, wirkte aber kräftig. Das blauschwarze Haar hing ihm bis auf die schmalen Schultern. Er hatte sich ein grünes Kalikotuch um die Stirn gewunden. Ich atmete tief durch und bemühte mich, ihn anzuschauen. Ich brachte genug Energie auf, um wieder klar sehen zu können. Ich las Haß in den dunklen Augen des Jungen. Er stand nur wenige Schritte von mir entfernt. Stumm starrte er mich an. Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Er hatte seine Gesichtszüge noch nicht so gut in der Gewalt wie die älteren Krieger. Jäh trat er ein paar Schritte auf mich zu, bis er dicht vor mir stand. Dann sprach er plötzlich. Er sprach leise, abgehackt und schnell. In seiner Stimme klang Wut mit. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. Seine Rechte schnellte plötzlich vor. Er umklammerte das silberne Medaillon, das ich an einer schmalen Kette um den Hals hängen hatte. Der Indianer zog daran. Ich zerbiß meine Unterlippe, um nicht zu schreien, als das dünne Kettchen die Haut meines Nackens zerriß. Der junge Apache schien einzusehen, daß es so nicht ging. Er zog mir das Kettchen unsanft über den Kopf und hängte es sich selbst um. Der Schmerz hatte mir unwillkürlich Tränen in die Augen getrieben. Ich rang nach Atem und schrie ihn an. »Gib es mir wieder! Verdammter Hund! Gib mir das Medaillon wieder!« Vermutlich konnte er sich denken, was ich wollte. Er verstand mich genausowenig wie ich ihn. Er grinste nur böse, holte aus und schlug mir die rechte Faust in den ungeschützten Leib. Ich glaubte, zu explodieren und bäumte mich in den Fesseln auf. Aber die Riemen hielten mich fest. Ich konnte weder Arme noch Beine rühren. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, daß mein
Magen nur noch eine glühende Masse war, daß ein Feuer in mir brannte, das mich innerlich auffraß. Mir wurde schwarz vor Augen. »Du – krummer Hund …« konnte ich nur noch flüstern. Da sah ich durch Tränenschleier, daß der Apache sein Messer gezogen hatte und noch näher zu mir trat. Er sprach wieder, leise und schnell. Und dann stach er zu. Er stieß mir das Messer in die Brust. Die Klinge glitt von einer Rippe ab und riß eine große Wunde. Sofort quoll Blut heraus und rann warm über meinen Oberkörper, sickerte über den Lendenschurz und benetzte meine Beine. Ich stieß einen gellenden Schrei aus. Dann sackte mein Kopf nach vorn, und ich spürte nichts mehr. * Ein scharfer Wind strich über schroffe Felsgrate und Plateaus, als ich meine Augen aufschlug. Ich schaute in einen Himmel, der so grau war wie das Gefieder der Wildgänse, die im Herbst immer den Pease River überflogen hatten. Ich fühlte mich leer und schlapp und konnte kein Glied rühren. Das Schnauben von Pferden klang an meine Ohren, Stimmen von Menschen. Ich hatte den Eindruck, daß die ganze Welt schwankte. Dabei war ich es, der hin und her schaukelte. Ich lag auf einem Travois, einem Schleppschlitten, der von einem Apachenpony gezogen wurde. Ich war bis zum Hals in eine Decke gewickelt und mit Lederriemen festgebunden. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich nicht bei Bewußtsein gewesen war. Ich wußte nicht einmal mehr, was passiert war. Es dauerte eine Zeit, bis mir nach und nach alles wieder einfiel – der Indianerjunge, der mir das Medaillon gestohlen, mich geschlagen und mir dann sein Messer in die Brust gestoßen hatte. Als ich daran dachte, fühlte ich unwillkürlich einen scharfen Schmerz in der Brust. Ich schloß die Augen und ließ im Geiste die Bilder der Geschehnisse an mir vorüberziehen. Ich konnte mich jetzt wieder an jede Einzelheit erinnern, auch an das Gesicht des jungen Apachen, an seine haßvoll blickenden Augen,
an seine leise, wuterfüllte Stimme. Ich hatte keine Ahnung, warum er das getan hatte. Ich schlug die Augen wieder auf und blickte zum Himmel. Es war kühl. Als der junge Apache mir das Messer in die Brust gestoßen hatte, war es warm gewesen. An den Tagen hatte brütende Hitze geherrscht. Es war Sommer gewesen. Jetzt war es kalt, und der Himmel war grau und ohne Sonne. Wieviel Zeit war inzwischen vergangen? Tage? Wochen? Monate? Monate … Der Gedanke machte mir Angst. Wie schwer war meine Verletzung gewesen, was war inzwischen alles geschehen? Es war niemand da, den ich fragen konnte. Ich konnte den Kopf auch nicht bewegen, da ich fest auf den Schlitten geschnallt worden war. So sah ich die Apachen nicht. Sie gingen oder ritten voraus. Das Pony mit meinem Schlitten schien an letzter Stelle des Zuges geführt zu werden. Ich spürte kaum Schmerzen. Mein Körper war lediglich von einem tauben Gefühl erfüllt. Ich war kraftlos und schwach. Trotzdem fühlte ich mich nicht schlecht. Ich sah Wolken am grauen Himmel aufziehen. Der Wind trieb sie von Osten heran. Es waren dicke, schwarze Regenwolken. Der Wind schien noch kälter zu werden. Ich fror nicht, da ich in feste Decken gerollt war. Aber der Wind traf mein Gesicht, und die schneidende Kälte spannte meine Haut. Dick und schwer fielen die ersten Tropfen. Immer mehr Wolken zogen auf, bedeckten bald den ganzen Himmel. In der Ferne rollte leise der Donner. Die Tropfen fielen jetzt rascher. Ich bemerkte, daß das Pony, das meinen Schlitten zog, schneller lief. Ich hörte, wie die Krieger ihre Pferde antrieben. Tropfen fielen in mein Gesicht, rollten über meine Wangen, über meine Lippen und in den Mund. Ich schmeckte die Tropfen salzig auf der Zunge. Ich schloß die Augen, als Regen auf meine Stirn klatschte. Dadurch, daß das Pony mit dem Travois nun schneller lief, wurde der Schlitten stärker erschüttert. Ich spürte plötzlich
Schmerzen, nicht besonders stark, aber sie waren da. Mein Gesicht war naß. Meine Decken saugten sich voll Wasser. Es regnete nun fadendicht. Der Himmel verschwand unter bleiernen Regenschleiern. Der Wind wurde stärker, trieb den Regen vor sich her und peitschte ihn gegen die Felsen. Plötzlich stand der Schlitten still. Der Regen prasselte in mein Gesicht. Schwindel wallten in mir auf. Ich hatte das Gefühl, zu ertrinken. Angst erfüllte mich. Ich wollte schreien. Aber ich konnte nicht schreien. Nur ein schwaches Krächzen drang aus meiner Kehle. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Es ging einfach nicht. Meine Augen brannten plötzlich. Sie füllten sich mit Tränen, die über meine Wangen rannen, obwohl ich die Lider geschlossen hatte, und vermischten sich mit dem Regen. Nässe durchzog meinen Körper. Ich fröstelte. Ich bemerkte nicht, daß ich vom Travois gehoben und in ein eilig errichtetes Zelt getragen wurde. Die Apachen hatten in Windeseile, trotz des Regens, mehrere leichte Tipis im Schutz eines überhängenden Felsens errichtet.
5. Auf einmal war es trocken und warm. Jemand trocknete mein Gesicht. Ich wurde aus den nassen Decken gewickelt. Ich war darunter völlig nackt, bis auf eine breite Ledermanschette, die meinen Oberkörper umspannte. Warme Hände rieben mich ab. Ich hielt die Augen geschlossen. Das alles war so unwirklich für mich, daß ich die Illusion, zu träumen, nicht aufgeben wollte. Ich war nicht tot. Ich lebte. Das wurde mir erst nach und nach richtig bewußt. Draußen prasselte der Regen auf die Zeltwand. Der Wind heulte, und das Rollen des Donners verstärkte sich, schien sich zu nähern. Ich nahm den Rauch eines kleinen Feuers wahr. Da öffnete ich die Augen. Ich schaute in die faltigen, lederhäutigen Gesichter von zwei Apachensquaws. Die eine legte Reiser in ein Feuer, das sie in einem Ring von Steinen genau in der Mitte des Zeltes entfacht hatte. Der
Rauch zog nach oben ab. Die andere Squaw rieb mit ihren schwieligen Händen meine Arme und Beine, um die Durchblutung zu fördern. Als sie sah, daß ich ihr dabei zuschaute, erschrak sie, hielt inne und sagte ein paar Worte zu der anderen Indianerin. Die hockte sich neben mich und blickte mich schweigend an. Dann löste sie die Ledermanschette, die meinen Oberkörper umspannte. Ich senkte meine Blicke. Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Ein feuerroter, gezackter Riß überzog meine Brust. An den Rändern hing verkrustetes Blut. Ich schaute rasch zur Seite. Die Squaw erhob sich und verließ das Zelt. Es verging eine nahezu endlose Zeitspanne. Ich schaute aus den Augenwinkeln wieder an meinem Körper hinunter. Jetzt erst wurde mir klar, wie schwerverletzt ich gewesen war. Die Zeltbahn am Eingang wurde plötzlich beiseite geschoben. Ein untersetzter Krieger mit breiten Schultern kroch in das Zelt. Die Squaw neben mir wich sofort zurück. Sie setzte sich neben das Feuer. Der Krieger war Coyotero. Er trug Wildlederhosen und ein Kalikohemd, das völlig durchnäßt war. Er schaute mich stumm an und betastete dann vorsichtig mit den Fingerspitzen seiner Rechten meine Wunde. Ich zuckte zusammen, obwohl ich keinen Schmerz dabei verspürte. »Du wach«, sagte er schließlich. Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich schwieg. »Du zäh«, sagte er. »Ich gewußt. Du werden Apache. Großer Krieger.« Ich antwortete wieder nicht. Ich wunderte mich fast darüber. Vor meiner Verletzung hätte ich wahrscheinlich heftig verneint. »Schlimme Wunde«, sagte er. »Sehr schlimm. Du lange geschlafen. Viele Monde. Zwei oder drei. Viel Blut verloren. Aber bald wieder ganz gesund. Comprende?« Ich nickte. Ich erwiderte offen seinen Blick. »Carizo hat schlecht gehandelt«, sagte er. »Du weglaufen, als er Wache. Er schwer bestraft und sich an dir rächen.«
Da verstand ich ihn. Carizo, das war der junge Krieger, der mich fast umgebracht hatte. Und er hatte sich gerächt, weil ich davongelaufen war, während er hatte auf mich aufpassen sollen. So einfach war das alles. So einfach und doch so schwierig. »Wo ist mein Medaillon?« fragte ich wütend. Coyotero schaute mich verständnislos an. »Medaillon«, sagte ich. »Medaillon, verstehst du nicht?« Ich zeigte auf meinen Hals und malte mit dem Finger einen Kreis auf die Brust. »Ah.« Er nickte. »Carizo hat es«, sagte er. »Ich will es zurückhaben«, sagte ich, »Es gehört mir.« »Wenn gesund, du es dir holen«, erklärte er. Ich schaute in sein Gesicht. Es war ernst und verschlossen. Mir war klar, daß er mir nicht helfen würde. Eigentlich hatte ich das nicht anders erwartet. Dieses Leben war nicht einfach. Das hatte ich schon begriffen. Alles war Kampf. Ich würde kämpfen müssen, um mein Recht zu erhalten. »Wie lange muß ich noch liegen?« fragte ich. »Viel Blut verloren«, wiederholte er. Nachdenklich wiegte er den Kopf. »Bis der erste Schnee fällt, vielleicht länger.« »Ich werde mir mein Medaillon zurückholen«, sagte ich. »Ich lasse mich nicht beklauen. Ich lasse mich auch nicht niederstechen. Sag diesem Carizo, daß er ein feiger Hund ist, weil er mich umbringen wollte, während ich wehrlos war.« Coyotero nickte. Es schien ihn zu beeindrucken, was ich gesagt hatte. Das hatte ich auch beabsichtigt. Oh, ich hatte sehr schnell begriffen, wie ich mich bei den Apachen verhalten mußte. Er sagte einige Worte zu den Squaws. Dann ging er. Die Squaws gaben mir Essen. Eine fertigte ein großes Wundpflaster für mich an. Sie legte es auf meine Brust und band mir die Manschette um. Nach dem Essen fühlte ich mich gut. Die wohlige Wärme im Zelt und das monotone Klopfen des Regens auf die Zeltwand wirkten einschläfernd. Ich schloß die Augen. Zum erstenmal, seit ich bei den Apachen war, fühlte ich mich wohl. In den folgenden Wochen und Monaten lernte ich die Sprache der
Apachen. Ich hatte viel Zeit. Ich lag ja ständig, durfte mich kaum rühren und hatte nichts zu tun. Ich war noch zu schwach, um aufzustehen. Eine alte Squaw umsorgte mich wie eine Mutter. Sie brachte mir die ersten Worte des Apachendialekts bei. Ich lernte recht schnell. So kompliziert sich die Sprache auch anhörte, sie war nicht sehr schwer. Sie hatte nicht sehr viele Worte. Sie war schlicht und zweckmäßig. Bald konnte ich halbwegs verstehen, was um mich herum gesprochen wurde. Das war eine große Befriedigung für mich. Die Heilung meiner Wunde machte gute Fortschritte. Der Schorf darauf wurde erst fester, bröckelte dann schließlich ab und gab eine feuerrote Narbe frei. Der Schnitt war gut zugewachsen. Mit der Zeit schwand auch die Rötung. Es blieb eine wächserne Blässe und eine schmale, gezackte Vertiefung, die aber kaum auffiel, da mein ganzer Körper zu dieser Zeit noch käsig bleich war. Ich war während meiner Krankheit stark abgemagert und konnte meine Rippen zählen. Sie standen deutlich unter der Haut hervor. Mein Haar war lang geworden, fast wie das eines Apachen. Aber es war blond. Damit es mir nicht in die Stirn fiel, hatte ich mir ein handbreites Kalikotuch um die Stirn gewunden. Als der erste Schnee fiel und Coyotero mit seiner Stammesgruppe in den Bergen ein Winterlager aufgeschlagen hatte, war ich soweit, daß ich die ersten Schritte gehen konnte. Ich fühlte mich zwar wacklig auf den Beinen, aber es war immerhin schon ein Fortschritt. Von da an bewegte ich mich täglich mehr, um wieder zu Kräften zu gelangen. Wenn mich niemand sah, wenn ich allein in meinem Zelt war, trainierte ich meine Muskeln. Seltsamerweise dachte ich nicht mehr an Flucht. Überhaupt nicht mehr. Es war sinnlos. Ich hatte mich mit meinem Schicksal abgefunden und konzentrierte mich darauf, mit dem Leben, das mir bevorstand, so gut wie möglich fertigzuwerden. Die Ledermanschette um die Brust trug ich nicht mehr. Nur wenn ich mich heftig bewegte, fühlte ich ab und zu noch ein schwaches Ziehen in der Wunde. Bald ließ auch das nach. Ich war jetzt zwölf Jahre alt, und ich tat alles, um die Folgen der
Verletzung zu überwinden. Carizo, der junge Krieger, der mir sein Messer in die Brust gestoßen hatte, sah ich kaum. Er schien mir aus dem Wege zu gehen. Ich war sicher, daß Coyotero ihm ausgerichtet hatte, was ich gesagt hatte. Einmal ging er dicht an dem Zelt vorbei, in dem ich lebte. Er wußte nicht, daß ich ihn beobachtete. Er trug ein Kalikohemd. Darüber hing an dem Kettchen mein Medaillon. Ich ballte in diesem Moment die Hände zu Fäusten und mußte mich beherrschen, um nicht aus dem Zelt zu stürzen und Carizo das Medaillon abzureißen. Ein Blick auf mich selbst zeigte mir, daß ich noch längst nicht dazu in der Lage war. Ein neues Jahr brach an. 1858. Es wurde Februar. Die Luft war wie Glas, und der Himmel hatte eine eisgraue Farbe. Mein Haar reichte jetzt bis auf die Schultern. Ich hatte mich gut erholt. Ich hatte zugenommen. Ich war auch gewachsen. Meine Schultern hatten sich verbreitert, und an meinen Armen und Beinen bildeten sich Muskeln. Ich brauchte keine Pflege mehr. Coyotero nahm mich in sein Zelt auf. Er hatte drei Squaws. Die älteste kümmerte sich mit Hingabe um mich. Seine zwei Söhne und drei Töchter betrachteten mich mit Mißtrauen. Ich fühlte mich als Eindringling. Aber nicht nur in der Familie Coyoteros, sondern im ganzen Stamm. Ich wurde nicht schlecht behandelt. Trotzdem spürte ich, daß meine Anwesenheit lediglich hingenommen, daß ich selbst aber nicht akzeptiert wurde. Ich gehörte nicht dazu. Manchmal lag ich lange wach auf meinem Lager in den Nächten, in denen die Winterstürme um die Zelte tobten. Ich schaute dann in die Dunkelheit und mußte mit mir kämpfen, um nicht loszuheulen. Ich mußte hart bleiben. Ich sagte mir das immer wieder. Ich durfte nicht aufgeben und keine Schwäche zeigen. Ich mußte zeigen, daß ich mich behaupten konnte. Ende Februar begann der Schnee zu schmelzen, der fast überall meterhoch gelegen hatte. Ich fühlte mich wieder völlig in Ordnung. Niemand wußte, daß ich mit dem Messer, das Coyotero mir geschenkt hatte, außerhalb des Lagers geübt hatte. Ich hatte mir einen alten Ledersack besorgt und
ihn mit Sand gefüllt. Ich hatte mir vorgestellt, der Sack sei Carizo. Dann hatte ich zugestochen. Immer und immer wieder. Anfangs hatte ich mich wie ein Mörder gefühlt, wenn ich übte. Dann hatte ich daran gedacht, daß ich schon so gut wie tot sei, wenn ich Carizo ohne die geringste Übung gegenübertrat. Sicher, ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt drei Männer getötet, einen weißen Banditen und zwei Indianer. Aber das war in Ausnahmesituationen gewesen. Und da hatte ich geschossen. Ich hatte noch nie ernsthaft mit jemandem, Mann gegen Mann gekämpft, schon gar nicht auf Leben und Tod. Genaugenommen war ich Carizo hoffnungslos unterlegen. Die Apachen lernten von Kindesbeinen an, zu kämpfen, zu töten und zu sterben. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren zogen sie bereits in den Kampf gegen die weißen Eindringlinge. Carizo besaß bereits zwei Skalps, wie ich einmal gesehen hatte. Vielleicht würde er bald einen dritten besitzen – meinen. * Ich ließ noch ein paar Tage verstreichen. Die Sonne gewann in dieser Zeit rasch an Kraft. Die Schneedecke schwand. Ein milder Wind strich über die Berghänge. Unten im Tal füllten sich die Flüsse, traten über die Ufer und überschwemmten das Land. Als ich am zweiten oder dritten Tag im März früh am Morgen aufstand, wußte ich, daß ich nicht länger zögern dürfte. Ich ahnte, daß alle, besonders aber Coyotero, auf eine Entscheidung von mir warteten. Coyotero wollte wissen, ob ich würdig genug war, weiter in seinem Zelt, im Zelt des Häuptlings, zu verbleiben. Er sagte zwar nie etwas. Er sprach überhaupt nur selten mit mir. Außer seiner ältesten Squaw Susqueya, die meine Kenntnisse in der Sprache der Apachen erweiterte, sprach niemand mit mir. Ich wurde zumeist gar nicht zur Kenntnis genommen. Das war bitter. Denn ich begann nach und nach, mich bei den Apachen heimlich zu fühlen. Es wurde Zeit, ihnen zu beweisen, daß ich ihnen ebenbürtig war. An jenem Morgen verließ ich das Lager noch vor Sonnenaufgang und schlenderte zu dem Gebirgsbach, der in der Nähe des Camps
vorbeifloß. Hier hockte ich mich hin und blickte schweigend in das kristallklare, eiskalte Wasser. Ich war nicht nervös. Ich war nicht im geringsten beunruhigt. Irgendwie irritierte mich das. Es machte mir auch etwas Angst. War ich etwa doch abgestumpft? Hatte ich keine Skrupel mehr? Hatte ich verlernt, was die Padres mir beigebracht hatten: Du sollst nicht töten! Die Padres … Das war eine andere Welt, eine andere Zeit. In diesem Moment schien es mir, als sei das alles eine Ewigkeit her. Bei den Apachen galten andere Gesetze und andere Gebote. Hier war das Töten eine Frage des Überlebens. Der Tod war nichts Schlimmes, war nichts Außergewöhnliches. Er war gegenwärtig und gehörte zum Leben wie das Essen, das Schlafen und das Trinken. Ich beugte mich ein Stück vor und betrachtete mein Spiegelbild im Wasser. Es war ein anderes Gesicht als jenes, das ich vor einem Jahr in der Waschschüssel meiner Kammer in der Mission angeschaut hatte. Meine Züge waren härter geworden, kantiger. Ich hatte nicht das Gesicht eines zwölfjährigen Jungen. Ich wirkte älter, geprägt von den Erlebnissen, die hinter mir lagen. Ich schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem Bach und klatschte es mir ins Gesicht. Ich fröstelte. Eiskalt rann es mir über das Kinn, den Hals und durch den Kragen meines verwaschenen Kalikohemdes über den Oberkörper. Ich erhob mich. Im Osten ging die Sonne wie eine vollreife Orange auf. Riesengroß, saftig und fruchtig, umgeben von hauchfeinen grauen Nebelschleiern wie Eiswinde, die in der Hitze des Sonnenballs verglühten. Ich zog mein Kalikohemd aus. Der kühle Wind, der mich umfächelte, tat mir wohl. Ich atmete tief durch. Hinter mir hörte ich Geräusche. Das Apachencamp erwachte. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß der Pferdewächter herüberschaute und mich schon länger zu beobachten schien. Ich achtete nicht darauf. Ich ging langsam ins Lager zurück. Ich fürchtete mich in diesem Moment nicht im geringsten davor, selbst getötet zu werden. Ich bezog diese Möglichkeit gar nicht in
mein Denken ein. Als ich die Zelte erreichte, entfachten die Squaws die ersten Kochfeuer. Ich war noch immer fast völlig ruhig. Mein Herz schlug ein wenig schneller. Das war auch alles. Ich ging zwischen den Zelten hindurch. Ein paar Squaws und einige Krieger schauten mich an. Irgend etwas in meinen Zügen oder meinen Augen schien ihnen zu sagen, daß bald etwas geschehen würde. Ich bemerkte, daß einige Krieger mir folgten. Auch ein paar Kinder schlossen sich an. Sie hielten sich in großem Abstand, kamen zögernd, unentschlossen, zweifelnd. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich ging vorbei an Coyoteros Zelt. Der Häuptling schaute heraus und sagte etwas. Ich verstand ihn nicht und hörte auch nicht darauf. In der Mitte des Camps hatte ich Carizo entdeckt. Er striegelte sein Pony. Ich ging geradewegs auf ihn zu. Carizo war breiter als ich, aber genauso groß. Er hatte ein breitflächiges Gesicht, hohe Wangenknochen und schmale, leicht schrägstehende Augen. Seine Nase war schief, seit er im Winter bei einem Reitwettbewerb vom Pferd gefallen und sich das Nasenbein gebrochen hatte. Er war nicht mehr so mager wie noch vor einem halben Jahr, als er mich niedergestochen hatte. Er trug nur seinen Lendenschurz und kniehohe Mokassins. Ich ließ mein Kalikohemd fallen. Meine Schritte verlangsamten sich etwas. Ein paar Yards vor Carizo blieb ich stehen. Jetzt galt meine Aufmerksamkeit nur noch ihm. Ich bemerkte nicht, daß sich in einiger Entfernung die ganze Stammesgruppe zusammenscharte, Männer, Frauen und Kinder, und herüberschaute. Carizo hob den Kopf, als ich stehenblieb. Er blickte mich an. Ich bemerkte einen verächtlichen Zug um seinen Mund und immer noch ein Fünkchen Haß in seinen dunklen Augen. »Ich bin wieder gesund«, sagte ich. Ich sprach ihn im Apachendialekt an. Ich konnte die Sprache fast so gut wie ein geborener Apache. Er antwortete nicht. Ich blickte starr in seine Augen. Er hielt meinem Blick stand, ließ aber die zerfaserte Holzbürste, mit der er
sein Pony gestriegelt hatte, sinken. »Ich war damals gefesselt«, sagte ich. »Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte mich nicht wehren. Es ist leicht, jemanden zu töten, der keine Chance hat, sich zu verteidigen.« »Du bist ja nicht tot«, sagte er. In seinen Augen blitzte es spöttisch auf. »Daran sieht man, daß du nicht einmal einen Gefesselten und Wehrlosen umbringen kannst«, sagte ich. Ich sagte es laut, so laut, daß alle, die zuschauten, es hören konnten. Das Gesicht Carizos wurde starr. »Wer sich an Wehrlosen vergreift, ist ein Feigling«, sagte ich. »Ein stinkender, dreckiger Feigling, den man mit einem Fußtritt zum Teufel jagen sollte. Er ist eine Schande für seinen Stamm.« »Weißauge«, sagte Carizo. Seine Stimme klang leise, und kaum bezähmbarer Haß schwang in ihr mit. »Du hast ein großes Maul und einen kleinen Kopf. Hüte deine Zunge.« »Du bist ein feiger Hund«, sagte ich, »ein hinterhältiger Lump und ein schmutziger Dieb.« Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Rechte zuckte zum Messer. Er besaß ein schweres Jagdmesser mit einer sechs Zoll langen Klinge und einem beschnitzten Horngriff. »Gib mir mein Medaillon wieder, das du mir gestohlen hast«, sagte ich. »Du trägst es auf der Brust, als wäre es dein Eigentum. Dabei hast du es mir gestohlen, als ich wehrlos war, du dreckiger Feigling.« Ich war nun innerlich eiskalt. Mit jedem Wort wurde ich ruhiger und sicherer. Ich kannte die Regeln eines solchen Spiels. Ich hatte sie mir oft genug anschauen können, während des Winters, wenn es Streit im Camp gegeben hatte. Ich wußte, wie ich mich zu verhalten hatte. Carizo griff mit der Linken nach dem Medaillon, das auf seiner Brust baumelte, und hob es an. »Hol es dir«, sagte er. »Versuch es nur, Weißauge. Du hast einen schönen blonden Skalp. Er paßt gut an meinen Gürtel.« »Hoffentlich ist dein Gürtel breit genug, um deine Hose zu halten«, sagte ich. »Wenn du dir vor Angst in die Hosen geschissen
hast, stehst du sonst womöglich ohne da.« Er stieß einen dumpfen Schrei aus, riß sein Messer aus der Scheide und sprang vor. Ich hatte mit seinem Angriff gerechnet. Aber er war schneller, als ich gedacht hatte. Ich konnte gerade noch ausweichen und mein eigenes Messer ziehen, ein langes Häutemesser mit einem lederumwickelten Griff und einer beidseitig geschliffenen Klinge. Carizos Stoß ging fehl. Das Messer raste dicht an meiner linken Schulter vorbei. Carizo wurde vom Schwung seines Angriffs mitgerissen und prallte gegen mich. Ich geriet ins Taumeln. Übel riechender Atem aus dem Mund Carizos traf mich. Ich wandte unwillkürlich mein Gesicht zur Seite und hob mein Messer. Als ich zustach, war Carizo schon wieder weg. Geduckt stand er vor mir. Breitbeinig. Wie eine zum Sprung ansetzende Raubkatze. Seine Muskeln waren gespannt. Er spielte mit dem Messer. Er ließ es rasch von der rechten in die linke Hand fliegen und wieder zurück. Er setzte zu einem Scheinangriff an, stoppte ihn im letzten Moment, wich mir aus und stach wieder blitzschnell zu. Ich wich zurück, suchte nach einer Möglichkeit, seine Deckung aufzureißen, ihn aus dem Konzept zu bringen. Er war geschickt. Er kämpfte nicht zum erstenmal. Er beherrschte jetzt eindeutig die Situation. Das gefiel mir nicht. Aber was sollte ich tun? Er grinste jetzt. Er bleckte sein gelblich schimmerndes, kräftiges Gebiß. Er grinste wie ein Raubtier, das sich seines Sieges gewiß ist und nur auf den geeigneten Moment wartet, um sein Opfer zu zerreißen. Das Opfer war ich. Ich hatte kaum noch eine Chance. Er war der Bessere in diesem Kampf. Wir umschlichen uns. Ich war nicht bereit, ihm eine leichte Beute zu sein. Ich wollte mich wehren – bis zum letzten. Er spielte wieder mit dem Messer. Er ließ es von der Rechten in die Linke überwechseln, stieß es blitzschnell vor, zog es zurück und wirbelte es in der rechten Faust herum. Er wollte mich damit irritieren, nervös machen. Ich ließ mich
davon nicht mehr beeindrucken. Ein Gedanke durchzuckte mich plötzlich. Da wirbelte das Messer wieder durch die Luft. In diesem Moment sprang ich vor und riß mein rechtes Bein hoch. Ich hatte den richtigen Augenblick erwischt. Mein Tritt traf seine linke Hand, das Messer fiel zu Boden. Ich griff zu. Er duckte sich noch tiefer, zog den Kopf ein und fing meinen Angriff ab. Seine Linke versuchte, das Handgelenk meiner zustoßenden Rechten zu fangen. Es gelang ihm nicht, aber er konnte den Stoß ablenken. Ich prallte gegen ihn und riß ihn um. Mit der Linken umklammerte ich seinen Hals. Wir rangen miteinander. Wir rollten über den Boden, ineinander verkrallt. Mal lag er oben, mal ich. Aber ich hatte mein Messer noch. Er war unbewaffnet. Wir kämpften verbissen und verzweifelt. Der Schweiß rann mir in dichten Bahnen über das Gesicht und den Oberkörper. Meine Muskeln waren gespannt. Meine Sehnen vibrierten. Carizo war stärker als ich, aber nicht viel. Ich konnte ihn schaffen. Ich war ganz sicher. Ich drückte ihm die Kehle zu. Er umklammerte mein rechtes Handgelenk, um das Messer von sich fernzuhalten, während er nach Atem rang. Plötzlich riß er beide Knie an den Leib. Ich wurde in den Unterleib getroffen und rollte stöhnend zur Seite. Im selben Moment sprang er auf. Er taumelte. Seine Augen waren fast aus den Höhlen gequollen. Er schnappte keuchend nach Luft, bückte sich und hob sein Messer auf. Ich richtete mich bis auf die Knie auf. In diesem Moment warf sich Carizo mit einem Hechtsprung auf mich, das Messer zum tödlichen Stoß erhoben. Ich wich zur Seite aus und stieß mein Messer hoch. Carizo fiel in die Klinge. Er konnte nicht mehr ausweichen. Sein Mund öffnete sich, seine Augen wurden weit. Ein schwaches Röcheln drang aus seiner Brust. Mein Messer bohrte sich in seine rechte Seite. Sofort spritzte Blut aus der Wunde und netzte warm meine Hand. Carizo stürzte wie ein Stein in den Staub. Pfeifend entwich der
Atem aus seinen Mundwinkeln. Er stemmte sich mit beiden Armen wieder hoch. Er ließ das Messer nicht los, obwohl er große Schmerzen haben mußte. Seine Gesicht wirkte verkniffen. »Hund«, sagte er leise. »Weißer Hund, du.« Ich hatte mich erhoben und hielt mein Messer locker in der Rechten. Ich hatte gewonnen. Das wußte ich. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, ihn leben zu lassen. Aber nicht einmal er selbst würde das verstehen. Apachen hatten ihre eigenen Gesetze. Carizo würde nur bei nächstbester Gelegenheit versuchen, mich zu töten. Er würde es immer wieder versuchen. Und die anderen Krieger würden mich für einen Schwächling halten. Es gab keinen Mittelweg. Ich mußte mich der Welt, in der ich jetzt lebte, anpassen. Ich mußte diesen furchtbaren Kampf hier zu Ende bringen. Wenn ich es nicht tat, würde ich selbst nicht mehr lange leben. Ich verdrängte die Gedanken, die mich nur ablenkten. Ich mußte mich auf Carizo konzentrieren. Er war schwerverletzt, aber noch immer gefährlich. Er kam unsicher auf die Beine. Schwankend näherte er sich mir. Haß und Schmerz hatten sein Gesicht völlig entstellt. Ich ließ ihn nahe heran. Dann erstach ich ihn. Er vollführte eine schwache Abwehrbewegung, war aber viel zu langsam, jämmerlich langsam. Ich stieß mein Messer bis zum Heft in seine Brust, direkt in sein Herz. Diesmal floß nur wenig Blut. Ich zog die Klinge rasch zurück. Carizo kippte um und fiel auf den Rücken. Seine Glieder wurden schlaff. Er war tot. Ich hatte gesiegt. Ich zog die Schultern hoch. Die Sonne stand schräg über dem Camp. Es war bereits sehr warm. Ich aber fröstelte. Sekundenlang stand ich reglos da und konnte kein Glied rühren. Schweigend starrte ich auf die Leiche Carizos. Sein Blut versickerte im Staub. Seine Augen standen weit offen. Ein klarer Frühjahrshimmel spiegelte sich in den Pupillen. Ich drehte mich um. Da standen die Apachen. Die Krieger, die Squaws und die Kinder. Sie schauten mich an. Keiner sprach ein Wort. Auch Coyotero nicht, der Häuptling, der ganz weit vorn stand.
Ich hatte einen der ihren umgebracht. Einen der ihren … Ich war jetzt auch einer der ihren. Ich war ein Apache. Ein Indianer. Ein weißer Indianer. Ich gehörte dazu. Ich hatte zum erstenmal so gehandelt wie sie. Ich hatte sogar so gedacht wie sie. Das schienen sie zu begreifen, die zugeschaut hatten, wie Carizo und ich gekämpft hatten. Ich blickte in ihre Gesichter. In den Augen einiger Krieger las ich Anerkennung. Ich hatte einen jungen Apachen getötet, der älter und erfahrener im Kampf gewesen war als ich. Ich war noch nicht fertig. Ich preßte die Lippen fest zusammen und schluckte das aufsteigende Ekelgefühl hinunter. Dann drehte ich mich um, trat neben Carizo und wälzte die Leiche auf den Rücken. Ich nahm dem Toten mein Medaillon ab, hängte es mir um den Hals, bückte mich, faßte mit der Linken in das fettige, lange Haar Carizos, setzte ihm meinen rechten Fuß in den Nacken und schnitt mit meinem blutbefleckten Messer den Skalp ab. Ich hielt ihn hoch und ließ von dem handtellergroßen Hautfetzen das Blut abtropfen. Dann hängte ich den Skalp an meinen Gürtel. Ich ließ mir nicht anmerken, das sich mein Magen zusammenkrampfte. Auch die zwei Skalps, die Carizo erbeutet hatte, gehörten nun mir. Ich hatte ihn besiegt und konnte mir von ihm nehmen, was ich haben wollte. Auch sein Pony war nun mein Eigentum. Ich wandte mich schnell von der skalpierten Leiche ab. Mit dem Messer in der Hand ging ich davon. Die Apachen machten mir Platz, als ich das Camp verließ. Ich ging dicht an Coyotero vorbei. Sein Gesicht war ausdruckslos. Doch in seinen Augen glaubte ich, Stolz zu bemerken. Ich verließ das Lager und ging zum Bach. Hier kniete ich mich ans Ufer, hielt das Messer ins Wasser und säuberte die Klinge. Danach zog ich meine Mokassins aus und watete in den eiskalten Bach. Ich wusch mir den Staub und das Blut Carizos vom Körper. Ich fror erbärmlich dabei. Aber ich blieb im Wasser stehen. Meine Haut schimmerte bläulich. Ich spürte meine Beine bis zu den Knien hinauf nicht mehr vor Kälte, als ich aus dem Bach stieg und meine
Mokassins wieder anzog. Trotzdem fühlte ich mich nach der Wäsche besser. Als ich ins Camp zurückkehrte, war die Leiche Carizos fortgeschafft worden. Das Pony des Toten stand vor Coyoteros Zelt. Susqueya, die älteste Frau des Häuptlings, erwartete mich. Sie hatte mein Kalikohemd aufgehoben. Sie reichte es mir. Ich streifte es über und kroch in das Zelt. Von der kühlen Ablehnung, die mir bis jetzt von den Mitgliedern der Stammesgruppe entgegengebracht worden war, war jetzt nichts mehr zu spüren. Die Blicke waren freundlicher geworden. Ich wurde respektiert und anerkannt. Ich gehörte dazu. Ich hatte ein neues Zuhause gefunden. Mein Platz in Coyoteros Stammesfamilie wurde nicht mehr angefochten. Carizo hatte Angehörige gehabt. Eltern und Geschwister. Aber mir würde niemand etwas tun. Carizo hatte mich verletzt und bestohlen. Ich hatte fair mit ihm gekämpft und gesiegt. Carizos Vater selbst hatte das Pony seines toten Sohnes gebracht. Es war ein großer Tag für mich.
6. Ich ging zum Bach und trug den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen bei mir, die Carizo gehört hatten. Jetzt gehörten sie mir. Es war ein guter Bogen, aus geschmeidigem Weidenholz geschnitten, schmucklos, einfach. Die Sehne stammte aus dem Vorderlauf einer Antilope. Die Pfeile bestanden aus Hickory-Holz und hatten rasiermesserscharfe Spitzen. Sie steckten in einem Köcher aus Büffelleder, der mit den Symbolen Pautiwas, des Sonnengottes, bemalt war. Als Ziel wählte ich eine verkrüppelte Kiefer und stellte mich in zwanzig Yards Entfernung auf. Ich hielt zum erstenmal in meinem Leben einen Bogen in der Hand. Ich hatte einige Male zugesehen, wie die Apachen damit umgegangen waren. Es hatte sehr leicht ausgesehen. Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Das Spannen des Bogens war schwerer, als ich es mir vorgestellt
hatte. Ich zielte nicht, da ich nicht wußte, wie das mit einem Bogen zu geschehen hatte. Ich schoß instinktiv nach dem Gefühl. Daß es damit nicht weit her war, wurde mir sofort klar. Der Pfeil flog in eine völlig andere Richtung, als ich es gewollt hatte. Er landete an einem Geröllhang, mindestens sechs Yards von der Krüppelkiefer entfernt. Ich legte einen zweiten Pfeil auf die Sehne. Der Erfolg war der gleiche. Der Pfeil segelte elegant über die Kiefer hinweg, erreichte einen Abhang, verschwand vor meinen Augen und ward nicht mehr gesehen. Ich fluchte. Aber ich fluchte in der Sprache der Apachen. Erst fiel es mir gar nicht auf. Als es mir dann bewußt wurde, war ich zunächst überrascht. Dann dachte ich daran, was für ein Leben ich in den nächsten Jahren führen würde. Ich würde ein Apache sein, zwar mit heller Haut, aber ein Apache. Also mußte ich auch sprechen wie ein Apache, zu jeder Zeit. Ich zog meinen dritten Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne, spannte den Bogen und – traf. Der Pfeil blieb in einem Ast der Krüppelkiefer stecken. Das gefiederte Ende vibrierte heftig. Fast hätte ich vor Freude geschrien. Ich übte den ganzen Nachmittag und verfehlte noch häufiger mein Ziel. Bald aber lernte ich, wie ich die Bogensehne und den Daumen meiner Linken, der als Pfeilauflage diente, als Visier benutzen konnte. Als ich am Abend meine Pfeile einsammelte, schmerzten meine Arme vom vielen Spannen des Bogens. Aber ich war glücklich, als ich ins Lager zurückkehrte. Coyotero saß vor seinem Zelt. Er schaute auf den Bogen und sagte kein Wort. Er schien zu ahnen, was ich getan hatte. Ich kroch ins Zelt. Hier war Susqueya. Sie nahm mir den Bogen ab und kämmte mein Haar mit einem Holzkamm. Ohne die Fürsorge der guten Padres in der Mission am Pease River vergessen zu wollen, muß ich sagen, daß sich kaum jemand mit soviel Hingabe und Zärtlichkeit um mich gekümmert hat wie Susqueya, Coyoteros älteste Squaw. Sie sah wirklich einen Sohn in mir. Später erfuhr ich, daß sie einmal einen Sohn gehabt hatte, der in einem Kampf gefallen war.
Ich hatte bei ihr stets das Gefühl, eine Mutter zu haben. Eine richtige Mutter hätte sich nicht liebevoller um mich gekümmert. Später ging ich hinaus, um zu essen. Ich aß jetzt nicht mehr mit den Töchtern Coyoteros und dessen jüngstem Sohn, sondern im Kreis der Krieger. Am nächsten Morgen wurde ich früh geweckt. Verschlafen rollte ich mich herum. Coyotero kniete neben mir. »Wir gehen auf die Jagd«, sagte er. »Komm.« Er erhob sich und verließ das Zelt. Ich richtete mich halb auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Dann erst begriff ich, was Coyotero gesagt hatte. Ich wurde mit auf die Jagd genommen. Das wünschte sich jeder Apachenjunge in meinem Alter. Wer mit auf die Jagd gehen durfte, wurde in die Gemeinschaft der Krieger aufgenommen. Ich streifte die Decke ab und sprang auf. * Als ich aus denn Zelt kroch, standen die Krieger bereits in der Mitte des Zeltdorfes, dort, wo ich am Vortag mit Carizo gekämpft hatte. Sie legten ihren Ponies die Jagdsättel auf, einfache Deckenpolster, die mit einem Riemen unter dem Leib des Tieres festgeschnallt und durch einen leichten Zaum ergänzt wurden. Ich ließ meinen Bogen und den Köcher liegen und lief zum Bach, um mich zu waschen. Erfrischt kehrte ich zurück. Noch hing der Nebel des Morgens in dichten grauen Schwaden zwischen den Felswänden, in den Schluchten, Canyons und Bergtälern. Das schroffe Gestein glitzerte feucht vom Tau. Die Luft war klamm. Mein Pferd stand als einziges noch in dem Seilkorral am Rande des Dorfes. Ich holte es heraus. Es hatte mich zunächst mit einiger Scheu betrachtet, sich jedoch rasch an mich gewöhnt. Es war eine Mustangstute. Es war anspruchslos, genügsam und willig, wie alle Apachenponys. Es war nicht sehr groß, aber sehr kompakt und kräftig gebaut, hatte kurze, starke Läufe, schlanke Fesseln, eine breite, muskulöse Brust und einen gut geformten Kopf mit kurzem
Hals. Sein Fell war rostbraun und schwarz gescheckt. Die Mähne war lang und hatte fast die Farbe meines Haares. Es war ein gutes Pferd, und es gefiel mir. Ich tätschelte ihm den Hals und sprach leise auf es ein. Carizo hatte es Shita genannt. Ich schmeichelte ihm, und es wackelte mit den spitzen Ohren. Ich legte ihm den Deckensattel auf und schob ihm den Lederzaum ins Maul. Shita duldete es ruhig. Ich führte sie zum Dorfplatz. Wenig später ritten wir los. Wir waren etwa zwanzig Reiter. Ich war der jüngste. Wir bewegten uns einen schmalen Wildpfad abwärts und verließen die Berge, als die ersten Sonnenstrahlen den Frühdunst durchbrachen. Wir tauchten in das Hügelland ein, das erst vor wenigen Tagen vom Schnee befreit worden war. Das Gras war noch kurz und hatte eine schmutziggrüne Farbe. Es wuchs nicht flächig. Es gab viele kahle Flecken, wo die schwarzbraune Erde durchschimmerte. Der Boden war morastig. Die Erde hatte sich mit Schmelzwassern vollgesogen. Die Ponies sanken mit den Hufen tief ein. Die Sonne ging auf. Ein kühler Wind umfächelte uns. Wir ritten auf ein ausgedehntes Waldgebiet zu. Ich hielt mich recht gut. Zum ersten Male seit meiner Verletzung saß ich wieder auf einem Pferderücken, noch dazu in einem Indianersattel. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten gehabt, festen Halt auf dem Rücken Shitas zu gewinnen. Ich hatte mich aber bald daran gewöhnt, mich mit den Oberschenkeln festzuklammern und den Bewegungen des Tieres anzupassen. Zwar schmerzten meine Beinmuskeln und mein Rücken schon nach wenigen Stunden. Aber das nahm ich schweigend hin. Alles hatte seinen Preis. Dafür, daß ich mir einen Platz im Kreis der Krieger erobert hatte, konnte ich getrost ein bißchen Kreuzschmerzen in Kauf nehmen. * Wagengeräusche klangen durch den Wald. Wir befanden uns mitten im Dickicht und zügelten unsere Pferde. Zwei Krieger glitten aus den
Sätteln und huschten davon, lautlos wie Wildkatzen. Wir anderen warteten und lauschten angespannt. Wir hörten die Wagengeräusche noch immer. Pferde schnaubten, Wagenräder quietschten leise auf den Achsen, Geschirrketten klirrten. Wenig später kehrten die beiden Kundschafter zurück. »Zwei Wagen«, sagte einer. »Mit weißen Männern.« Er hob einmal die rechte Hand mit gespreizten Fingern und dann noch einmal. Diesmal standen nur der Daumen und der Zeigefinger aufrecht. Vor uns befanden sich also zwei Wagen mit sieben weißen Männern. Ich schaute in die Gesichter der Krieger. Mein Herz pochte plötzlich heftig, und ich hatte ein dumpfes Ziehen in der Magengegend. Ich ahnte, was nun passieren würde. Mir war nicht wohl dabei. Coyotero wandte sich um. Er gab uns ein Zeichen mit dem Kopf. Wir trieben unsere Ponies an und ritten langsam hintereinander durch das Dickicht in die Richtung, aus der die Geräusche ertönten. Helligkeit drang durch die Bäume und Sträucher in das Waldesinnere. Wir näherten uns einem breiten Karrenweg, der den Wald von Norden nach Süden durchschnitt. Männerstimmen waren jetzt zu hören. Coyotero war plötzlich neben mir. »Du bleibst bei den Pferden«, flüsterte er mir zu. Dann war er schon wieder weg. Die anderen Krieger standen bereits neben ihren Tieren. Sie hielten Bogen und Pfeile in den Händen. Geschmeidig huschten sie durch das Unterholz. Ich war allein mit den Pferden. Ich glitt aus dem Sattel. Erst zögerte ich, dann ließ ich die Tiere zurück und lief bis zum Waldrand. Ich hockte mich hinter einen Busch. Da sah ich die Männer. Es waren Büffeljäger aus den Ebenen. Lederhäutige, bärtige, wild aussehende Männer und ein paar blutjunge Burschen, nicht älter als höchstens achtzehn oder neunzehn. Sie saßen in den Sätteln ihrer Pferde oder auf den Böcken von zwei Wagen, die hoch mit Büffelhäuten beladen waren.
Aus den Scabbards an ihren Sätteln ragten die Kolben langläufiger, schwerkalibriger Büffelgewehre. In ihren Gürteln steckten große Häutemesser und Revolver. Zwei von ihnen trugen noch einläufige Armeepistolen. Sie hatten gute Beute gemacht. Die unterhielten sich und lachten ab und zu. Bald würden sie tot sein. Tot … In diesem Moment durchzuckte es mich: Ich muß sie warnen. Es waren Weiße. Sie hatten die Hautfarbe derer, unter denen ich aufgewachsen war. Sie hatten die gleiche Hautfarbe wie ich. Ich preßte die Lippen fest zusammen und schwieg. Ich stand jetzt auf der anderen Seite. Was immer auch geschah. Und dann hätte es mir auch nichts eingebracht, wenn ich jetzt geschrien hätte, wenn ich den Männern auf dem Weg zugerufen hätte, in welcher Gefahr sie schwebten. Sie hätten doch keine Chance gehabt. Aber ich wäre mit Sicherheit dann auch getötet worden. Ich merkte erst jetzt, daß Schweißperlen auf meiner Stirn standen. Schweiß rann über meine Wangen. Ich schmeckte ihn salzig auf den Lippen. Die Luft zwischen den dicht stehenden Bäumen war stickig, heiß und abgestanden. Ich lehnte mich mit dem Kopf an die rissige Borkenrinde eines Baumstammes. In diesem Moment zischten die ersten Pfeile aus dem Unterholz. Sie flogen aus dem Dickicht rechts und links vom Weg. Es war mir schleierhaft, wie es den Kriegern gelungen war, den Weg ungesehen zu überqueren. Aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Sie saßen beiderseits des Wagens und griffen von beiden Seiten an. Der Kutscher auf dem Bock des ersten Wagens, ein weißbärtiger Mann in einfacher Kleidung, warf beide Arme in die Luft und ließ die Zügel des Gespanns los, als ein Pfeil seinen Hals durchbohrte. Gurgelnd stürzte er vom Bock. Der Wagen rollte noch ein Stück weiter, und das linke Hinterrad ging über den Toten hinweg. Blutverschmiert und unnatürlich verrenkt blieb der Mann im Staub des Weges liegen. Zwei Reiter stürzten aus den Sätteln. Ein anderer, den ein Pfeil in
der rechten Seite erwischte, zog einen Revolver und feuerte ziellos ins Dickicht, während er vor Schmerz und Angst laut schrie. Ich sah, wie sie starben. Ich schaute dabei zu. Über meine Lippen kam kein Ton. Der Fahrer des zweiten Wagens versuchte zu fliehen. Er sprang vom Bock, als die ersten Pfeile heranzischten. Er rannte davon. Weit gelangte er nicht. Aus dem Dickicht brachen die Apachen. Sie stürmten auf die Wagen und die Reiter zu. Sie zerrten die noch lebenden Männer aus den Sätteln. Es entwickelte sich ein heftiges Handgemenge. Ein Krieger lief dem fliehenden Kutscher nach. Er lief schnell wie ein Gazelle. Der schwerfällige Büffeljäger hatte keine Chance. Der Krieger holte ihn ein. Er schwang seinen Tomahawk und spaltete dem Mann damit von hinten den Schädel. Der Fahrer taumelte. Sein Kopf war nur noch ein blutiger Klumpen. Er war schon tot, aber er torkelte noch ein Stück weiter, bevor er zusammenbrach. Und selbst da zuckten seine Glieder noch. Ich sah alles, und ich hörte alles. Ich hielt mir die Ohren zu, um die schrillen Todesschreie und das durchdringende Jammern der Verletzten nicht hören zu müssen. In den Augen der Krieger sah ich Haß, nichts als blinden Haß. Ich hatte auf einmal Angst. Erst später begriff ich, was diesen Haß hervorrief, warum es den Apachen Befriedigung bereitete, Weiße zu töten. Jetzt konnte ich nicht mehr länger zuschauen. Ich drehte mich um und lief zu den Pferden zurück. Das Gebrüll der Verletzten und Sterbenden, die von Pfeilen und Messerstichen durchbohrt oder von Kriegskeulen zerschmettert wurden, hallte hinter mir her. Ich hockte mich neben die Pferde und starrte aus brennenden Augen zu Boden. Hier saß ich auch noch, als die Krieger zurückkehrten, und ihre Pferde holten. Es waren nicht alle. Einige fehlten. Sie kümmerten sich kaum um mich. Sie führten ihre Ponies weg, stiegen aber nicht auf. Zögernd folgte ich ihnen. Wir gingen auf den Weg hinaus. Die hochbeladenen Wagen waren weg, die Pferde auch. Sechs oder sieben Tote lagen auf dem Weg.
Sie waren übel zugerichtet und alle skalpiert. Wir gingen an ihnen vorbei, auch an zwei toten Apachen. Ein durchdringendes, klagendes Heulen schallte uns entgegen. Eine Lichtung öffnete sich vor uns. Hier befanden sich die restlichen Apachen und auch Coyotero. Zwischen ihnen lagen drei Weiße am Boden. Sie waren nackt und bluteten aus zahlreichen Wunden. Einer stieß abgehackte, grelle Schreie aus. Er stierte zum Himmel. Die Angst schien seine Sinne verwirrt zu haben. Er nahm nichts um sich herum wahr. Er schrie nur, wälzte sich im Gras herum und wehrte sich heftig gegen seine Fesseln. Vor lauter Angst verzerrte sich sein Gesicht mehr und mehr. Die Apachen hoben drei Löcher im Boden aus. Ich ahnte, was den Gefangenen bevorstand. Ich versuchte, nicht hinzuschauen und sie nicht anzusehen. Aber es gelang nicht, da die Krieger einen Kreis um sie bildeten, einen Kreis, in den ich mich setzen mußte. Ich gehörte dazu. Mir blieb nichts anderes übrig. Für Apachen war es nichts Ungewöhnliches, daß ein Zwölfjähriger anwesend war, wenn Gefangene gemartert wurden. Die drei Männer wurden hochgehoben und in die fertigen Löcher gestellt. Der eine war ein weißhaariger Mann, dessen Körper von Narben übersät war. Er sagte kein Wort. Er wehrte sich auch nicht. Er schien sich auszukennen, und wenn er Angst hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er wurde zuerst eingegraben. Bis zum Hals. Nur noch sein Kopf war zu sehen. Dann kamen die beiden anderen an die Reihe. Sie schrien und heulten vor Furcht und traten um sich. Sie wanden sich und versuchten sich loszureißen. Sie hatten keine Chance. Sie wurden ebenfalls eingegraben und schrien weiter. Ihnen wurden die Skalps abgerissen. Blut rann aus den handtellergroßen Wunden auf dem Schädel, lief in dünnen Fäden über die Gesichter, sickerte in den Boden. Die Apachen suchten Reisig und stapelten es rund um die Köpfe auf. Dann zündeten sie es an. Qualm stieg auf. Die Schreie der Männer wurden lauter. Die Flammen umloderten sie. Bald wurden ihre Stimmen leiser. Schließlich war nur noch ein schwaches Wimmern zu hören.
Ich schloß die Augen und senkte den Kopf, um nicht zusehen zu müssen, wie die Männer starben. Ich begriff in diesem Moment gar nichts. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht gesehen, was weiße Soldaten und Siedler mit gefangenen Indianern anstellten. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis die Reisighaufen niedergebrannt waren. Danach waren die Köpfe der Männer im Boden nicht mehr zu erkennen. Es waren nur noch schwarz verkohlte Kugeln in der Asche der Reisighaufen. Ich erhob mich rasch und drehte mich um. Ich war als erster bei den Pferden und saß noch vor den Kriegern im Sattel, um die Lichtung verlassen zu können. Ohne viele Worte ritten wir davon. Wir nahmen die Wagen mit den Büffelhäuten, die Pferde und die Waffen der Jäger mit.
7. Wir erreichten an diesem Tag das Dorf in den Bergen nicht mehr und rasteten in der Nähe eines Brushgebietes. Ich dachte an diesem Tag und in diesen Stunden merkwürdigerweise überhaupt nicht daran, zu fliehen. Dabei hatte ich Gelegenheiten genug. Ich war frei. Ich war gesund. Niemand bewachte mich. Ich hatte mein Pferd und Waffen. Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich selbst nicht, warum ich damals nicht die Gelegenheit genutzt habe und geflohen bin. Ich fühlte mich wohl bereits zu sehr den Apachen verbunden. Und dann kannte ich das Land nicht. Ich hätte den Pease River und die Mission nicht gefunden. Ich wollte nicht noch einmal die gleiche Enttäuschung erleben wie bei meiner ersten Flucht. Ich blieb bei den Apachen. An diesem Abend schoß ich meine erste Antilope. Es war reiner Zufall. Als ich zu der Buschinsel hinüberging, um mir einen Stock für eine Lanze zu schneiden, tauchte plötzlich ein kleines Antilopenrudel vor mir auf. Ich riß instinktiv meinen Bogen von der Schulter, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne.
Die Antilopen stoben davon. Mein Pfeil aber war schon unterwegs und erwischte eine junge Kuh. Sie knickte mit den Vorderläufen ein und überschlug sich. Dann blieb sie liegen. Ein Glückstreffer. Ich hatte gar nicht gezielt, und war so überrascht, daß ich fast eine Minute reglos stehenblieb und zu dem Tierkörper hinüberschaute, der keine zwanzig Yards entfernt von mir niedergestürzt war. Die anderen Antilopen waren längst verschwunden. Ich setzte mich schließlich in Bewegung. Die Dämmerung lag bereits über dem Land und verdichtete sich rasch. Die Schatten verschwammen. Wind strich über die Ebene. Es war kühl, fast kalt, und ich fröstelte etwas. Ich beugte mich über die Antilope. Mein Pfeil hatte sie von der Seite ins Herz getroffen. Ihre Augen standen weit offen. Es war eine wirklich junge Antilopenkuh. Ihr Fell war samtweich und hell. Es war noch warm. Ich vergaß den Schaft für die Lanze, die ich mir anfertigen wollte, und hob die Antilope auf. Sie war nicht groß, aber viel schwerer, als ich angenommen hatte. Ich stürzte fast, als ich sie auf meine rechte Schulter gewuchtet hatte. Schwerfällig torkelte ich zum Lager zurück. Ein Feuer brannte, als ich es erreichte. Mitten im Camp ließ ich meine Beute wortlos fallen. Die Krieger erhoben sich und schauten erst mich und dann die Antilope an. Ich war stolz auf mich, obwohl ich ja nur einfach Glück gehabt hatte. Coyotero trat neben mich, legte kurz seine kräftige Hand auf meine Schulter und bückte sich über die Antilope. »Wir werden sie enthäuten, zerlegen und mitnehmen«, sagte er. Er lobte mich mit keinem Wort. Das war nicht üblich. Ich war fast ein wenig enttäuscht, obwohl ich die Sitten der Apachen inzwischen kannte. Ich beteiligte mich nicht am Abhäuten und Zerlegen der Antilope. Ich ließ mich abseits im Gras nieder. Schweigend schaute ich zu, wie die Krieger die Fleischbrocken in die blutige, feuchte Haut wickelten. Bis auf eine Hinterkeule. Sie wurde über dem Feuer gebraten. Wir aßen, und es wurde Nacht, eine ungewöhnlich klare Nacht. Der Mond stand im ersten Viertel, und Myriaden von Sternen
übersäten den Himmel. Die Luft war wie Glas. Es war kalt. Wir hatten uns in Decken gerollt und saßen eng am Feuer. Ich blickte in die Gesichter der Apachen. Der flackernde Feuerschein hatte sie in Masken verwandelt, Masken aus gebranntem Ton. Die Flammen spiegelten sich in den Augen der Männer, so daß sie wie schwarze Diamanten schimmerten. Sie sprachen viel. Manchmal lachten sie laut. Alles war anders, als es mir früher immer erzählt worden war. Indianer, so hatten die Farmer am Pease River erzählt, lachten nie. Sie hätten keine Gefühle und wären wie Tiere. Sie könnten nicht menschlich empfinden. Sie redeten wenig. Nichts davon stimmte. Ich wußte es jetzt. Ich fragte mich, warum soviel Falsches erzählt wurde. Indianer reden, feiern und lachen gern, sie haben die gleichen Gefühle wie andere Menschen, nur zeigen sie nicht jedem, was sie empfinden. Sie sind verschlossener, mißtrauischer. Wer ihre Geschichte kennt, wird das verstehen. Sie lieben und hassen wie alle Menschen. Sie sind genauso liebevolle, fürsorgliche Familienväter, wie sie grausame, schreckliche Kämpfer sind. Und sie sind ehrlicher als die meisten Weißen, die ich kennengelernt habe. Vielleicht verstehen sich Weiße und Indianer nicht, weil jeder so viel über den anderen belogen wird. Damals, im Frühjahr 1858, saß ich mit den Apachen Coyoteros am Feuer. Ich hatte längst nicht mehr den Eindruck, mich unter völlig andersgearteten Menschen zu befinden. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung. Das wäre mir nicht zugekommen. Dazu war ich noch zu jung und auch noch zu kurz bei den Apachen. Ich lauschte ihnen. Sie sprachen über die Beute, die ihnen bei dem Überfall auf die Büffeljäger in die Hände gefallen war. In der Nacht brach ein Krieger auf, den Coyotero mit einem Auftrag losschickte, zu einem bestimmten Mann zu reiten, den er James Johnson nannte. Ich war hundemüde und kümmerte mich nicht groß darum. Ich rollte mich noch fester in meine Decke und legte meinen Kopf auf meinen Sattel. Ich sah noch, daß einer der Männer das Feuer auseinander stieß und die Flammen in sich zusammensanken. Dann schlief ich
ein. * Wir ritten westwärts und führten die Wagen mit den Büffelhäuten mit uns. Es war ein schöner Tag. Frühling. Das Land war vom Schnee befreit, vom Winterschlaf erwacht und begann wieder zu atmen. Ich dachte an die Toten vom Vortag. Die Toten … Ob wohl noch viele Männer am Pease River in dem Indianerkrieg gefallen waren? Ich wußte selbst nicht, warum ich plötzlich daran dachte. Ob in der Mission noch an mich gedacht wurde? Ob Clay Wilkins noch manchmal an mich dachte? Ich versuchte, mir Clays Gesicht vorzustellen. Ich erschrak fast, weil es mir nicht richtig gelang. Konnte man so schnell vergessen? Idiotische Gedanken. Sie ließen sich nicht verdrängen. Ich hätte brennend gern Antworten auf diese Fragen gehabt. Als ob sie mir etwas genützt hätten. In wenigen Monaten würde es ein Jahr her sein, daß ich aus der Mission verschleppt worden war. Ein Jahr war eine lange Zeit. Lange genug, um zu vergessen. Hatte man mich vergessen? Coyotero war auf einmal neben mir. Er schaute mich von der Seite an. Anfangs hatte ich sein breitflächiges Gesicht für roh und primitiv gehalten. Inzwischen hatte ich gelernt, mehr zu sehen, als nur die typischen Merkmale seiner Rasse. Erbarmungslose Härte und auch Güte lagen in seinen Zügen dicht nebeneinander. »Du hast ein nachdenkliches Gesicht«, sagte er. Ich antwortete nicht. »Wie alt bist du?« fragte er. »Zwölf«, sagte ich. »Zwölf Sommer.« Er schaute nach vorn. »Als ich so alt war, war das Land noch leer von Weißen, die den Boden mit ihren Eisengeräten aufreißen. Es gab viel mehr Büffel, und es war eine
glückliche Zeit.« Er blickte mich wieder von der Seite an. »Nichts ist ewig. Wir wissen nie, was der Große Geist für ein Schicksal für uns bereithält.« Sein Blick war jetzt so stechend, daß ich den Kopf wenden und ihn ansehen mußte. »Du denkst an die Leute, von denen du stammst.« Konnte er Gedanken lesen? Ich nickte. »Vergiß sie.« Seine Stimme klang rauh. »Ich bin dabei.« »Gut«, sagte er. »Der Vergangenheit soll man nicht nachweinen wie ein altes Weib. Die Vergangenheit stirbt jeden Tag. Wer nur an Vergangenes denkt, vergißt sich selbst und stirbt auch. Wir leben. Du auch.« »Ich weine nicht«, sagte ich. »Niemals.« »Gut«, sagte er. »So soll es sein. Vergiß alles, was war.« Seine Stimme senkte sich etwas. »Du bist klüger als die meisten Jungen meines Stammes in deinem Alter«, sagte er. »Deshalb hast du auch Carizo besiegt, obwohl er stärker war als du. Aber er war dumm. Das war seine Schwäche. Vielleicht wirst du eines Tages Häuptling.« »Vielleicht«, sagte ich. »Apachen brauchen Männer, die denken können und ein starkes Herz haben«, sagte er. »Du bist ein Apache.« Ich nickte stumm. Coyotero ritt wieder voraus. Er hatte recht. Ich hatte mir selbst geschworen, alles Vergangene zu vergessen. Wenn ich mich nicht dazu zwang, würden die trüben Gedanken mich innerlich zerbrechen. Ich hatte mir das alles tausendmal selbst vorgesagt, damals, als ich entführt worden war. Ich durfte diesen Grundsatz nicht aufgeben. Er war lebenswichtig für mich. Es war völlig egal, ob noch weitere Männer am Pease River im Kampf mit den Indianern gefallen waren. Es war völlig egal, ob in der Mission noch an mich gedacht wurde. Alles war gleichgültig. Wichtig war, daß ich besser Bogenschießen lernte, daß ich Spurenlesen lernte, daß ich lernte, besser zu reiten, daß ich lernte, zu kämpfen. Wichtig war, daß ich lernte, in der Wildnis zu überleben. Ich war zwölf Jahre alt. Ich war reifer als Gleichaltrige. Coyotero
hatte es gesagt. Ich fühlte es auch selbst. Das würde mir helfen, und da ich erst zwölf war, hatte ich genug Zeit, um zu lernen. Es wurde Mittag, bis wir das Camp in den Bergen erreichten. Wegen der Wagen mit den Büffelhäuten hatte es länger gedauert. Die Sonne besaß bereits eine erstaunliche Kraft. Zwischen den Felsen staute sich die Hitze, und nichts ließ darauf schließen, daß es erst März war. Wir wurden mit viel Lärm empfangen. Schon weit vor dem Dorf waren wir gesichtet worden. Die Kinder liefen uns entgegen, darunter Jungen, die genauso alt waren wie ich. Ich wurde von ihnen neidisch betrachtet, und bei einigen entdeckte ich Zorn in den dunklen Augen. Ich konnte sie verstehen. Sie waren reinblütige Apachen. Aber ich ritt mit den Kriegern, ein Weißer, der vom Häuptling gekauft worden war wie ein Stück Vieh. Ich begann zu ahnen, daß mein Platz bei den Mimbrenos doch noch nicht so sicher und unanfechtbar war, wie ich nach dem Kampf mit Carizo gedacht hatte. Am Dorfrand warteten die Frauen und Greise. Die Freude über unsere Rückkehr war groß. Nur einige Squaws verhüllten ihre Gesichter und wandten sich ab. Sie gingen davon, während wir inmitten der Zelte anhielten und abstiegen. Es waren die Squaws der Krieger, die bei dem Überfall auf die Büffeljäger gefallen waren. Auch deren Kinder sonderten sich ab und folgten ihren Müttern. Währenddessen wurde meine Antilope den anderen Frauen übergeben. Die vollbeladenen Wagen und die frischen Skalps wurden bewundert. Ich führte Shita in den Seilkorral am Rand des Camps, sattelte sie ab und striegelte sie sorgfältig. Als ich damit fertig war, hatte sich die Begrüßungsversammlung verlaufen. Die Krieger waren zu ihren Squaws gegangen. Am Südrand des Camps sah ich die Witwen der Gefallenen. Die Leichen der Krieger, die auf den Wagen mitgebracht worden waren, waren dort im Gras aufgebahrt worden. Die Witwen hatten sich die Gesichter mit Erde und Asche geschwärzt, und schwarze Gewänder angezogen. Sie stimmten die
Totenklage an. Ihr herzzerreißendes Schluchzen und Schreien hallte durch das ganze Lager. Doch die anderen Squaws gingen ihrer Arbeit nach und achteten nicht darauf. Als ich zum Zelt Coyoteros kam, erwartete mich Susqueya. Ihr faltiges Gesicht strahlte, und ihre Augen leuchteten, als sie mich sah. Ich war ihr Sohn, und ich akzeptierte es, daß sie es so empfand. Sie kleidete mich aus und wusch mich. Sie hatte extra eine Schüssel mit Wasser vom Bergbach geholt. Sie reinigte mich vom Staub des Ritts und schien zu ahnen, daß ich mich noch nicht an das lange Reiten gewöhnt hatte. Sie massierte behutsam meinen Rücken und rieb mich mit Büffelfett ein, wie es bei den Apachen üblich war. Dann bereitete sie mein Lager, und ich schlief tatsächlich für ein oder zwei Stunden. Als ich aufwachte, hatte Susqueya einen Brei aus Kräutern und Fleisch für mich bereitet. Ich aß mit Appetit und trank das quellklare Wasser aus dem Bergbach dazu. Dann ging ich hinaus. Die Sonne war westwärts gezogen. Noch immer hockten am Rand des Camps die Witwen neben den toten Kriegern und sangen die Klagelieder. Ihre Stimmenwaren etwas leiser geworden. Ich ging hinunter zum Bach. Hier waren die Jungen. Ich gesellte mich zu ihnen. Sie schauten mich so an wie vor ein paar Stunden, als ich mit den Kriegern ins Dorf geritten war. Es gefiel mir nicht, daß ich plötzlich eine Sonderrolle spielen sollte. Zwar ritt ich mit den Kriegern, aber ich gehörte noch nicht zu den Männern und saß auch nicht im Rat des Stammes. Unter den Jungen, die nicht mit auf die Jagd reiten durften, waren einige, die älter waren als ich. Auch Natches, der vierzehn und der stärkste unter den Jungen war. Aber er war unbeherrscht, hatte Susqueya mir erzählt. Er war unbesonnen und leichtsinnig. Apachen konnten Mut und Leichtsinn gut unterscheiden. Sie wollten keine Hitzköpfe in den Reihen der Krieger. In den Augen der meisten Jungen sah ich Neid. Bei Natches entdeckte ich Haß, auch wenn er schweigend auf einem großen Stein am Bachufer sitzenblieb. Er hatte das große Wort geführt. Als ich kam, verstummte er. Die Jungen, die um ihn herum am Boden saßen,
erhoben sich, als ich zu ihnen trat. »Na, Weißauge?« sagte einer. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. Ich hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, die Jungen kennenzulernen. Bis zu meinem Kampf mit Carizo vor zwei Tagen hatte ich mich von ihnen ferngehalten und mich darauf konzentriert, Kräfte zu sammeln. Es war das erstemal, daß ich mich nun unter gleichaltrigen Apachen befand. Die meisten waren etwas kleiner als ich und hatten etwas breitere Schultern. Ich schaute sie an. Im Stamm und unter den Kriegern hatte ich mir meinen Platz erobert. Hier mußte ich es noch einmal tun. »Du hast keinen neuen Skalp an deinem Gürtel«, sagte der Junge, der mich als erster angesprochen hatte. Ich kannte ihn flüchtig. Er hieß Parento und schien ganz in Ordnung zu sein. »Nein«, sagte ich. »Wie war das mit den weißen Büffeljägern?« fragte Parento. »Einige Krieger haben neue Skalps an ihren Gürteinhängen.« »Es waren sieben Männer«, sagte ich. »Sie zogen nach Süden mit ihren Wagen. Wir sind über sie hergefallen und haben sie getötet. Ich wurde jetzt von den Jungen umlagert. Ihre Blicke hingen an meinen Lippen. »Sind sie gemartert worden?« »Drei«, sagte ich. »Die anderen sind im Kampf gefallen.« Natches richtete sich nun auch auf. Er hatte bis jetzt schweigsam auf seinem Stein gesessen und so getan, als interessiere ihn das alles nicht. Jetzt trat er zu der Gruppe, die sich um mich geschart hatte. Er war etwas größer als die meisten, so wie ich. »Wie viele weiße Jäger hast du getötet?« sagte Natches. »Einen, zwei, drei oder noch mehr?« Ein höhnischer Zug spielte um seine Lippen. In seinen Augen funkelte es noch immer haßvoll. »Es waren nur sieben«, sagte ich. »Wir waren über zwanzig Krieger. Da kann nicht jeder einen Gegner töten.« »Wenn man mit den Kriegern reitet, ist man selbst noch kein Krieger«, sagte Natches. Die Blicke der anderen wechselten zwischen uns hin und her. Jetzt
war es auch dem letzten klar, was Natches wollte. Ich durfte mich nicht einschüchtern lassen. Alles, was ich bis jetzt erreicht hatte, stand auf dem Spiel. Wenn ich mich falsch benahm, war die gerade errungene Anerkennung wieder verloren. Ich würde nicht mehr akzeptiert werden, sondern das Leben weißer Sklaven führen, das andere entführte weiße Kinder oft erdulden mußten, wie Susqueya mir erzählt hatte. »Wie kannst du darüber urteilen?« sagte ich. »Du bist ja noch nie mit den Kriegern geritten.« Das hatte gesessen. Sein Gesicht verdunkelte sich. Er hatte an der Erwiderung zu kauen. Ich bemerkte aus den Augenwinkeln, daß einige der Jungen grinsten und schadenfroh zu Natches hinüberschauten. Ich spürte die leichte Nervosität, die mich ergriffen hatte, weichen. Natches war zwar ein geborener Apache. Aber er hatte nicht nur Freunde unter den Jungen. Es war gut für mich, das zu wissen. »Das geht dich nichts an«, sagte Natches. »Vielleicht will ich es gar nicht, noch nicht. Ich warte darauf, daß wir wieder in den Krieg ziehen. Dann werde ich dabei sein. Dann werden wir sehen, wer zu Hause bleibt.« »Vielleicht sitzt du noch als alter Mann hier am Bach und wartest darauf«, sagte ich und ließ meine Stimme absichtlich etwas abfällig klingen. Ich setzte mich zwischen die Jungen auf einen Stein und tat so, als ginge Natches mich gar nichts an. »Wann hast du die Antilope geschossen?« fragte Parento. »Am Abend«, sagte ich. »Wir lagerten an einem Wasserloch. Ich wollte mir einen Schaft für eine Lanze schneiden. Da stieß ich auf ein Antilopenrudel.« »Warum erzählst du nicht, wo du gewesen bist, als die Krieger mit den Jägern gekämpft haben«, sagte Natches. Ich schwieg. »Er hat sich im Gebüsch versteckt«, sagte Natches zu den anderen. »Er ist bei den Pferden geblieben und hat sich erst hervorgetraut, als alles vorbei war.« »Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Willst du es abstreiten?« Natches lächelte. Es war ein böses
Lächeln. »Mein Vater hat es mir erzählt.« Sein Vater war unter den Kriegern gewesen. Er war der einzige gewesen, den es gestört hatte, daß ich mitgeritten war. Klar, daß er lieber seinen Sohn unter den Kriegern gesehen hätte. Ich hatte mich von ihm ferngehalten. »Coyotero hatte mir befohlen, als Wache bei den Pferden zu bleiben«, sagte ich. »Ich kann mich der Anweisung des Häuptlings nicht widersetzen. Das steht mir nicht zu.« »Jedenfalls war es bei den Pferden sicherer«, sagte Natches. »Am sichersten war es hier im Dorf«, erwiderte ich. »Das weißt du wohl am besten.« Sein Gesicht verdunkelte sich wieder. »Mich hätte Coyotero nicht bei den Pferden zurückgelassen«, sagte er. »Mich hätte er mit in den Kampf genommen. Er hat schon gewußt, daß er das mit dir nicht tun kann.« »Ich habe immerhin bewiesen, daß ich kämpfen kann«, sagte ich. In mir stieg kalter Zorn auf. »Aus diesem Grund durfte ich mit den Kriegern reiten, während du hier im Dorf bleiben mußtest. Dir springt ja der Neid nur so aus den Augen. Neid und Mißgunst sind keine guten Eigenschaften für einen Krieger.« »Was weißt du schon von den Eigenschaften eines Kriegers? Du – du Weißer …« »Ich bin ein Apache. So gut wie du.« Es ging mir ganz leicht über die Lippen. Ich stieß es spontan aus, ohne lange zu überlegen. »Sicher.« Natches lächelte überlegen. Er hatte meine Stellung untergraben, obwohl ich mich nicht schlecht geschlagen hatte. Deshalb verzichtete er jetzt auf die Fortsetzung des Wortwechsels, weil er sich diesen Vorteil nicht zerstören lassen wollte. »Kommt ihr mit?« sagte er zu den anderen. Sie folgten ihm, als er den Bach abwärts lief. Um mich kümmerte sich keiner mehr. Ich mußte entweder mitlaufen oder allein zurückbleiben. Ich lief mit. Unterhalb des Dorfes verbreiterte sich der Bach und wurde auch tiefer. Die Strömung war stark. Schäumend und brodelnd schossen
die Wasser zu Tal. »Wer schwimmt mit mir um die Wette?« Natches drehte sich um. Er reckte seine breiten Schultern. Er blickte mich an. »Wie ist es?« Ich zog mein Kalikohemd aus der Hose. »Von mir aus.« Meine Stimme sollte gleichgültig klingen. Das gelang auch. In mir aber sah es anders aus. Seit ich verletzt worden war, vor über einem halben Jahr also, war ich nicht mehr geschwommen. Früher war ich im Pease River viel geschwommen, und ich war immer einer der Schnellsten gewesen. Aber das war Spaß gewesen. Hier war es das nicht mehr. Die Spiele und Wettbewerbe der Apachen dienten immer einem ernsten Zweck: sich zu üben, sich auf Kämpfe vorzubereiten, gewandter und stärker zu werden. Wahrscheinlich war Natches einer der besten Schwimmer unter den Jungen. »Noch jemand?« Natches schaute sich um. Noch vier oder fünf wollten mitschwimmen. Ich zog mein Hemd aus und auch die Mokassins. Ein milder Wind strich von den Hängen und umschmeichelte uns sanft. Wir liefen barfuß zu einer Klippe, die etwa zwei Yards über dem Wasser auf den Strom hinausragte. »Wir schwimmen bis zu den Stromschnellen«, sagte Natches. »Wer zuerst ankommt, ist der Sieger.« Ich hatte keine Ahnung, was die Stromschnellen waren. Ich kannte den Gebirgsfluß ja überhaupt nicht. Von dem Startplatz aus waren die Stromschnellen nicht zu sehen. Als ich einmal den Kopf wandte, konnte ich auch das Zeltdorf nicht mehr entdecken. Ich schaute zu Natches hinüber. Er lächelte triumphierend, ohne mich zu beachten. Da fühlte ich wieder Zorn in mir, und ich schwor mir, bis zur Erschöpfung zu kämpfen, um es diesem aufgeblasenen Kerl zu zeigen. Einer der Jungen, die am Ufer bleiben, gab das Startsignal. Wir sprangen kopfüber mit ausgestreckten Armen in den Strom. Es war März, und die Luft war in den südlichen Gegenden von Texas bereits wieder mild und angenehm. Der Fluß aber war noch eisig, angereichert durch die Schmelzwasser. Ich glaubte, in schieres Eis einzutauchen und das Bewußtsein zu verlieren, als ich im Wasser versank. Der Kälteschock ließ mich für
Sekunden fast gefühlslos werden. So spürte ich kaum, daß ich mit dem rechten Oberschenkel über einen Stein schrammte, der aus dem Fluß-bett ragte und mir die Hose zerriß. Ich tauchte auf und rang nach Atem. Die Kälte schmerzte. Sekundenlang waren meine Glieder wie gelähmt. Dann bewegte ich Arme und Beine, und fühlte, wie ich mich langsam an die Temperatur gewöhnte. Als ich den Kopf wandte, sah ich neben mir die anderen Apachen. Wir schwammen fast Kopf an Kopf. Ein kleiner Bursche von vielleicht elf Jahren war allen ein Stück voraus. Mein Atem wurde ruhiger, meine Bewegungen auch. Kraftvoll tauchten meine Hände und Arme ins Wasser. Ich vollführte Kraulbewegungen, wie ich es immer getan hatte, wenn ich mit den Jungen vom Pease River um die Wette schwamm. Ich legte den Kopf ins Wasser und schwamm so, daß ich bei jedem Armschlag seitlich kurz mit dem Gesicht auftauchte und Luft schöpfen konnte. Außerdem konnte ich sehen, in welcher Position sich die anderen Schwimmer gerade befanden. Der anfangs führende junge Apache war zurückgefallen und lag jetzt an letzter Stelle. Natches hatte die Führung übernommen – und ich. Wir schwammen gleichauf. Kopf an Kopf. Er schwamm fast genauso wie ich. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Wahrscheinlich sah ich nicht besser aus. Unter seiner bronzefarbenen, naßglänzenden Haut spielten die Muskeln wie zuckende Fischleiber. Alle anderen blieben nach und nach zurück. Ich hielt mich gut, und darüber wunderte ich mich selbst am meisten. Es muß die Wut gewesen sein, die in mir steckte, die Wut auf Natches, die mich antrieb, so daß ich Kräfte mobilisierte, die ich eigentlich so kurz nach meiner schweren Verletzung noch gar nicht wieder haben konnte. Der Messerkampf mit Carizo war leicht gewesen gegen dieses Wettschwimmen. Da war es auf Schnelligkeit angekommen, auf Reaktionsfähigkeit und Geschicklichkeit. Erst in letzter Linie auf Kraft. Hier aber kam es fast nur auf Kraft an, darauf, wer ausdauernder und zäher war, wer mehr aushielt.
Die anderen Jungen blieben immer weiter zurück. Ich glaubte zu erkennen, daß zwei bereits aufgaben und erschöpft an Land krochen. Meine Arme schmerzten jetzt. Das kalte Wasser machte mir nichts mehr aus. Viel schlimmer war das quälende Stechen und Ziehen in meinen überanstrengten Muskeln. Ich hatte das Gefühl, meine Sehnen würden reißen. Ich schluckte viel Wasser, rang nach Atem, aber gab nicht auf. Ich kämpfte und schwamm, als gelte es mein Leben. Ich wollte es Natches zeigen. Den anderen Jungen auch. Ich wollte ihnen zeigen, daß ich dazugehörte und ihnen ebenbürtig war, daß ich meinen Platz behauptete und zu kämpfen verstand, in jeder Situation und in jeder Lage. Ich schwamm. Meine schmerzenden Arme bewegten sich fast mit mechanischer Gleichförmigkeit. Immer wieder tauchten sie ins Wasser ein, trieben meinen Körper voran, im Gleichklang dazu bewegten sich meine Beine, fast wie von allein. Ich hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis zu dem gesetzten Ziel, den Stromschnellen, war. Ich wußte nur eins: Ich wollte siegen. Vielleicht war Natches noch nie besiegt worden und hatte deshalb das Wettschwimmen vorgeschlagen – im Bewußtsein des sicheren Sieges, um mich zu demütigen. Seine Rechnung sollte nicht aufgehen. Das schwor ich mir. Nur daran dachte ich, wenn ich überhaupt etwas dachte in diesen Augenblicken. Ich hätte fast geschrien. Ich sah, daß Natches jetzt vorn lag. Nicht viel, aber fast eine halbe Körperlänge. Ich biß die Zähne zusammen und gab das letzte. Mein Körper bäumte sich fast im Wasser auf. Ich sah und hörte jetzt nichts mehr. Das Wasser spritzte rechts und links von mir auf, so schnell bewegten sich meine Arme und Beine. Grellfarbene Punkte tanzten plötzlich vor meinen Augen. Alles drehte sich. Ich aber schwamm und wollte lieber untergehen und jämmerlich ersaufen, als schlappmachen. Auf einmal stieß ich an einen Felsen, der vor mir aus dem Wasser ragte. Ich schrammte daran vorbei. Ich hatte das Gefühl, zu fliegen. Mein Körper schoß dahin wie ein Pfeil. Dabei bewegten sich meine Arme und Beine jetzt langsamer und schwerfälliger.
Ich hob den Kopf und ließ meine Arme hängen. Trotzdem riß der Fluß mich mit. Da sah ich, daß Natches längst nicht mehr vor mir war. Ich hatte ihn überholt. Er lag mehrere Längen hinter mir, trieb erschöpft auf dem Wasser und paddelte müde dem Ufer zu. Ich aber war über das Ziel hinausgeschwommen. Ich befand mich inmitten der Stromschnellen und fühlte mich in diesem Moment wie ein hilfloser Spielball. Vor mir tanzte weißgekrönte Gischt auf den Wellen, die gegen die Felsen rechts und links klatschten und gegen die Gesteinsbrocken, die mitten im Fluß lagen und aus dem Wasser ragten. Ich versuchte, gegen den Strom anzuschwimmen, um an Land zu gelangen. Aber ich hatte keine Kraft mehr und hätte es auch, wenn ich nicht erschöpft gewesen wäre, vermutlich nicht geschafft. Ich wurde hochgeworfen wie ein leichtes Stück Holz, wurde unter Wasser gedrückt und kam halb besinnungslos wieder an die Oberfläche. Ich prallte gegen Dutzende von Felsbrocken. Die Strömung hatte mich völlig in ihrer Gewalt. Das Wasser toste und brodelte wie ein Höllenkessel. Niemand wäre auf den Gedanken verfallen, daß es sich um dasselbe Gewässer handelte, das oberhalb von hier neben dem Zeltdorf der Mimbrenos nur ein schmaler, knietiefer Bach war. Ich wurde herumgewirbelt, schlug verzweifelt mit den Armen um mich, um nicht unter Wasser gedrückt zu werden, und wurde mit dem Rücken gegen einen Felsen geschleudert. Ich hatte das Gefühl, mein Kreuz sei gebrochen. Etwas zog mich unter Wasser, ich ertrank fast, wurde wieder nach oben gespült und sah plötzlich vor mir einen Wasserfall. * In vielleicht zwanzig Yards Entfernung schien der Fluß plötzlich aufzuhören und in der Luft hängenzubleiben. Dann sah ich, als ich auf den Abgrund zugeschwemmt wurde, daß der Strom hier einen fast vier Yards tiefen Sprung nach unten vollführte. Nacktes Entsetzen schnürte mir fast die Kehle zu. Wenn ich mir
auch nicht den Hals brach, sämtliche Knochen im Leib würden mir in jedem Fall bei dem Sturz zerschlagen werden. Panische Furcht packte mich. In diesem Moment aber fühlte ich Grund unter den Füßen. Der Strom wurde kurz vor dem Abgrund flacher. Gleichzeitig tauchte ein Fels in der Brandung vor mir auf. Ich zögerte nicht. Instinktiv warf ich mich nach vorn und griff mit beiden Armen zu. Dann hing ich schon an dem Felsen und klammerte mich daran fest wie ein Affe, während die Wellen wie Peitschenhiebe auf meinen Rücken klatschten. Meine Glieder waren steif vor Kälte. Ich brüllte und stemmte mich gegen den Fels, um nicht weggerissen zu werden. Kaum noch zwei Yards entfernt gähnte der Abgrund. Unten sah ich gezackte Felsen zwischen den herabstürzenden Wassermassen wie die Zähne im Maul eines Untiers hervorragen. Ich wandte den Kopf, um nicht hinschauen zu müssen. Da sah ich die Apachenjungen. Sie stürmten am Ufer entlang. So, wie sie auch dem Wettschwimmen gefolgt waren. Es waren vielleicht sechs oder sieben. Die anderen waren zurückgeblieben. Natches sah ich nirgends. Sie blieben jetzt stehen, direkt neben mir. Uns trennten nur drei oder vier Yards, mehr nicht. Doch das war in diesem Moment viel – zu viel. Ich verstand nicht, was sie mir zuriefen. In meinen Ohren rauschte und dröhnte es. Ich spürte, daß mich meine Kräfte verließen. Meine Muskeln schmerzten immer mehr. Schon rutschte meine linke Hand vom schlüpfrigen Fels ab. Ich konnte mich wieder fangen. Aber meine Lage wurde von Minute zu Minute gefährlicher. Da lief am Ufer ein weiterer Indianerjunge heran. Er hielt ein aus Büffelleder geflochtenes Lasso in den Händen und entrollte es. Er wirbelte es über dem Kopf und ließ die Schlinge plötzlich fliegen. Sie prallte an den Felsen, an dem ich hing. Ich wollte danach greifen. Dabei stürzte ich fast in den reißenden Fluß. Die Strömung schien mir in diesem Moment beinahe die Beine wegzuziehen. Noch einmal konnte ich mich fangen. Da flog das Lasso bereits zum zweitenmal durch die Luft.
Diesmal hatte ich Glück, ein unwahrscheinliches Glück. Ich kriegte die Schlinge zu packen. Im selben Moment verlor ich das Gleichgewicht und wurde weggerissen. Ich stürzte ins Wasser, ging unter und schrammte mit dem Leib über den steinigen Grund des Flußbettes. Aber ich hielt mich an der Schlinge fest. Ich wurde bis an die Absturzkante des Wassers getrieben. Dann hatte ich wieder Halt und konnte mich aufrichten. Das Wasser reichte mir jetzt nur wenig über die Knie, aber es spritzte immer wieder bis zu meinen Schultern hoch. Am Ufer hielten die Apachenjungen das Lasso. Mit vereinten Kräften zogen sie mich an Land.
8. Ich erreichte das Ufer, kletterte mit letzter Kraft über die glatten, glitschigen Felsplatten hoch und blieb völlig erschöpft und ausgepumpt liegen. Ich war nicht mehr fähig, auch nur ein Glied zu rühren. Ich lag nur einfach auf dem Rücken und schnappte nach Luft. Schweigend standen die Jungen um mich herum. Ich weiß nicht, wie lange ich lag, bis mein Atem ruhiger wurde. Dann richtete ich den Oberkörper auf. Ich hatte noch immer kein Gefühl in den Muskeln an Armen und Beinen. Meine Sehnen vibrierten vor Erschöpfung. Ich zitterte am ganzen Körper vor Schwäche und auch vor Kälte, obwohl der Wind, der von den Hängen strich, noch immer mild und warm war. »Bist du in Ordnung?« fragte eine Stimme. Ich schaute auf. Ich blickte in das Gesicht des Apachenjungen, der das Lasso gebracht hatte. Es war Esquelin. Er war so alt wie ich und schmächtig. »Danke«, sagte ich. »Wofür?« »Für das Lasso«, erwiderte ich. Er winkte ab. »Du hast Natches geschlagen.« Ich schaute in die Gesichter der anderen Jungen. Sie nickten.
»Er liegt oberhalb von hier«, sagte Parento. »Er ist genauso fertig wie du.« »Er ist ein Mistkerl«, sagte ich. »Ich wußte nicht, wo die Stromschnellen sind und daß dahinter ein Wasserfall liegt.« »Alle anderen haben vorher aufgegeben«, sagte Esquelin. »Nur du und Natches nicht. Und du hast ihn geschlagen.« Ich erhob mich. Fast wäre ich in die Knie gegangen. Ich war noch immer sehr wacklig auf den Beinen. Ich zwang mich, aufrecht zu stehen. Einer der Jungen hatte mein Hemd mitgebracht. Ich streifte es über und stopfte es in die Hose. »Wir wissen jetzt, daß du nicht nur mit den Kriegern reitest, weil du in Coyoteros Zelt wohnst«, sagte Esquelin. »Wieso?« fragte ich. »Natches hat gesagt, daß du nur deshalb mit auf die Jagd genommen worden bist, weil Coyotero dich bei sich aufgenommen hat, weil du in seinem Zelt wohnst und seinen dritten Sohn ersetzen sollst, den die Weißen umgebracht haben. Natches sagt, daß du deshalb vorgezogen wirst.« »Natches redet zuviel«, sagte ich. »Und er ist dumm und feige.« Ich zog auch meine Mokassins wieder an. Nach und nach begann ich mich besser zu fühlen. Gleichzeitig spürte ich erneut heißen Zorn in mir aufsteigen. »Wo ist Natches?« fragte ich. »Wahrscheinlich liegt er noch da, wo er an Land gegangen ist«, sagte Parento. Ich setzte mich wortlos in Bewegung. Ich ging an ihnen vorbei und schritt am Flußufer aufwärts. Seitlich von mir tobte, brodelte und brauste das Wasser, in dem ich noch vor wenigen Minuten um mein Leben gekämpft hatte. * Ich fand Natches tatsächlich noch da, wo er an Land gegangen war. Er lehnte mit bloßem Oberkörper an einem Stein und atmete schwer. Er war genauso mitgenommen wie ich, obwohl er weniger auszustehen gehabt hatte.
Er blieb sitzen und schaute mir entgegen. Die anderen Jungen waren mir gefolgt. Auch bei Natches hockten einige am Boden und starrten mich groß an. Irgend etwas in meinem Gesicht schien sie zu erschrecken. Sie erhoben sich und traten rasch zurück. In gebührendem Abstand blieben sie alle stehen. Ich hielt nur wenige Schritte vor Natches an. »Weiter unten ist ein Wasserfall«, sagte ich. Er erwiderte meinen Blick. »Ich kenne den Fluß. Was erzählst du mir darüber?« »Ich wäre beinahe in den Abgrund geschwemmt worden«, sagte ich. »Man muß eben aufpassen«, erklärte Natches. Seine Stimme klang nicht sehr stark. »Ich hatte von dem Wasserfall keine Ahnung«, sagte ich. »Ich hatte auch keine Ahnung, wie stark die Stromschnellen sein würden.« »Was kann ich dafür?« Ich bemerkte, das Natches' Haltung sich langsam spannte. »Du wolltest mich umbringen«, sagte ich. »Du feiger Hund. Du hast mich mit voller Absicht in diese Falle gelockt. Du hast das Wettschwimmen nur vorgeschlagen, weil du gewußt hast, daß ich den Fluß und die Stromschnellen nicht kenne. Du hast gehofft, daß ich von der Strömung in den Abgrund gerissen werde und mir sämtliche Knochen breche.« »Paß auf, was du sagst.« »Ich passe sehr gut auf«, erwiderte ich. »Aber du anscheinend nicht. Du hast außerdem erklärt, daß ich nur mit den Kriegern reiten dürfte, weil ich im Zelt des Häuptlings wohne.« »Nein.« »Du bist noch feiger, als ich dachte«, sagte ich. »Deine Zunge ist nicht nur einmal gespalten, sondern viele Male. Du stehst nicht einmal zu dem, was du sagst. Du bist vor Neid nicht mehr normal. Und du bist ein heimtückischer, hinterhältiger Schuft.« »Du bist doch freiwillig in den Fluß gesprungen, nicht wahr?« sagte Natches. »Du hast gesiegt. Ich gebe es sogar zu. Du hast gewonnen. Du bist stärker, als ich gedacht habe. Ich habe dich
unterschätzt. Was kann ich dafür, daß du den Fluß nicht kennst. Beleidige mich nicht weiter. Sonst wirst du es bereuen.« Ich schaute ihn stumm an. Dann bückte ich mich wortlos, packte ihn unter den Achseln und riß ihn vom Boden hoch. Er war so überrascht, daß er sich nicht einmal wehrte. Ich aber fiel beinahe um. Die plötzliche Kraftanstrengung war in diesem Moment zuviel für mich. Doch ich verkniff mir meine Schwäche und Erschöpfung. Ich hatte einfach Wut, eine rasende, wilde Wut. Ich holte aus und hämmerte Natches meine Rechte ins Gesicht. Der Schlag warf ihn rücklings gegen den Stein, an dem er gelehnt hatte. Er blutete aus der Nase. Seine Augen schwammen in Tränen. »Dreckstück«, sagte ich. »Dir werde ich es zeigen. Ich werde dir beibringen, wie man kämpft.« Ich schlug abermals zu. Meine Faust traf Natches auf den Mund. Ich war überzeugt, daß Natches mich besiegen konnte, wenn er ausgeruht gewesen wäre. Aber er war nicht ausgeruht, und ich hatte ihn völlig überrumpelt. Ich knallte ihm noch einmal die Faust auf den Mund und dann gegen den Hals. Seine Unterlippe platzte auf. Nach Atem ringend kippte Natches zu Boden. Gurgelnd blieb er liegen. Ich folgte ihm und ließ mein rechtes Bein vorschnellen. Mein Tritt traf Natches in die Rippen. Wahrscheinlich brach sogar etwas. Er heulte auf und wurde von der Wucht des Stoßes herumgerollt. Er stemmte sich mit beiden Händen hoch und starrte mich haßerfüllt an. »Das wirst du bereuen, Weißauge«, stieß er hervor. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Und es war das letztemal, daß mich einer Weißauge genannt hat. Von jetzt an wirst du Ronco zu mir sagen. Das werde ich dir beibringen. Jeder wird das begreifen, sonst wird es schlimm.« Ich trat wieder zu. Fairneß oder kämpferische Sauberkeit waren mir in diesem Moment gleichgültig. Sie zählten hier auch nicht. Hier zählte nur der Sieger. Es war egal, wie der Sieg errungen wurde. Natches hatte versucht, mich mit einem schäbigen Trick, meine Unkenntnis ausnutzend, umzubringen. Jeder wird verstehen, was ich
in diesem Moment empfand. Am liebsten hätte ich ihn totgeschlagen. Mein rechter Fuß traf Natches seitlich an den Hals. Stöhnend wurde er wieder zu Boden geschleudert. »Ich heiße Ronco«, sagte ich. »Du wirst es schon noch lernen. Und ich schätze es nicht, wenn jemand versucht, mich umzubringen.« »Hund!« Natches stemmte sich wieder hoch. »Du weißer Hund.« Er sprang jäh auf und warf sich gegen mich. Ich hatte nicht damit gerechnet und wurde fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber auch Natches' Kräfte waren eingeschränkt. Auch er war erschöpft. Ich empfing ihn mit einem rechten Haken gegen den Kopf. Aufjaulend ging er zu Boden. Ich wartete, bis er sich wieder erhoben hatte, dann schlug ich ihn mitten ins Gesicht. Natches warf schützend beide Arme vor seinen Kopf. Vorher aber erwischte ich ihn noch einmal an der Stirn. Dann rammte ich ihm die Faust in den ungeschützten Leib. Er klappte nach vorn zusammen wie ein Taschenmesser. Ich ließ ihm gar nicht erst die Gelegenheit, an Gegenwehr zu denken. Ich schlug hemmungslos auf ihn ein, ohne Pause. Er kam gar nicht dazu, selbst einen Schlag gegen mich loszulassen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, meine Hiebe abzuwehren. Ich zermürbte ihn methodisch und verprügelte ihn vor den Augen der anderen Jungen des Stammes, obwohl ich mir darüber klar war, daß er mich von diesem Tag an noch mehr hassen würde als bisher. Aber das war mir gleichgültig. Ich mußte klare Verhältnisse schaffen. Das, was Natches getan hatte, durfte ich mir nicht bieten lassen, und ich wollte es auch nicht. Ich schlug ihn wieder zu Boden. Er kroch auf allen vieren vor mir her, um meinen Tritten zu entgehen. Kein Schmerzlaut drang über seine Lippen. Aber er keuchte laut und vernehmlich, und seine aufgeschlagenen Lippen zitterten. Doch er war noch nicht am Ende, noch lange nicht. Ich wollte eigentlich aufhören und ihn jetzt in Ruhe lassen, denn meine Arme wurden immer schwerer und meine Muskeln schmerzten. Meine Fäuste waren aufgeschlagen. Da sah ich, daß Natches einen
faustgroßen Stein vom Boden aufhob, bevor er sich erneut aufrichtete. Mein Zorn kochte hoch. Gerade, als er ausholte und den Stein schleudern wollte, mit dem er mich hätte umbringen können, sprang ich auf ihn zu, hob beide Fäuste, die ich zu einer einzigen gefaltet hatte, und hämmerte sie ihm ins Gesicht. Sein Nasenbein brach. Das Blut schoß über sein Gesicht und traf meine Hände. Natches verlor den Stein in seiner Rechten. Er wurde von der Wucht meines Hiebes zurückgeschleudert, rutschte aus, stürzte rücklings die Böschung hinunter und fiel in den Fluß. Er tauchte unter und kam prustend wieder hoch. Ich sprang ihm nach, stand bis zu den Knien im Wasser und griff, ohne zu zögern, in sein volles Haar. Ich zerrte ihn an seinem Schopf wieder unter Wasser und hielt ihn fest, bis er mit den Armen wild um sich schlug. Da ließ ich ihn wieder an die Oberfläche, damit er Luft schnappen konnte. Dann stieß ich ihn wieder unter Wasser. Und immer wieder. So lange, bis er blau angelaufen und dem Ersticken nahe war. Er schluckte Unmengen von Wasser und konnte schließlich nicht einmal mehr Widerstand leisten. Da ließ ich ihn los. Er fiel ins Wasser zurück und hatte zu kämpfen, um nicht unterzugehen, sondern an Land zurückzukriechen. Ich watete ans Ufer und ging an den anderen Jungen vorbei. Sie starrten mich an, einige mit Begeisterung und Freude, aber alle mit Respekt. Ich hatte es endgültig geschafft. Ich ließ mir nicht, anmerken, wie mies mir selbst zumute war. Am liebsten hätte ich gekotzt, mich hingelegt und geschrien, weil der Schmerz in meinen Gliedern und überall dort, wo ich geprellt worden war, als der Fluß mich gegen die Felsen geworfen hatte, kaum noch zu ertragen war. Aber ich ging weiter, ohne ein Wort zu sagen. Ich kehrte ins Dorf zurück. Ich ging zum Zelt. Und erst, als ich im Innern des Zeltes war und Susqueyas gütiges, lederhäutiges Gesicht vor mir sah, verlor ich meine Beherrschung und sackte zusammen. Fast hätte ich auch noch geheult. Aber so weit ließ ich mich nicht gehen.
Susqueya ließ ihre Webarbeit liegen. Sie kleidete mich aus und massierte meine durchfrorenen Glieder. Sie wickelte mich in warme Decken und kochte mir einen heißen Tee aus vielen Kräutern. Sie rieb meine aufgeschlagenen Faustknöchel und die Schürfwunden, die meinen ganzen Körper bedeckten, mit Salbe ein. Während der ganzen Zeit sagte sie kein Wort. Erst als sie fertig war, schaute sie mich ernst an und fragte: »Wer war es?« Da erzählte ich ihr alles. Sie hörte zu. »Natches wird dich hassen«, sagte sie. »Das ist mir egal«, erwiderte ich. »Ich habe ihm gezeigt, daß ich der Stärkere bin und nicht mir mir spielen lasse. Das nächste Mal bringe ich ihn um.« Ich erschrak fast darüber, als ich das gesagt hatte. Aber eigentlich mehr darüber, daß ich es auch so gemeint hatte. Ich begann wirklich, mich mehr und mehr der Mentalität der Apachen anzupassen. Noch vor einem halben Jahr hatte allein der Gedanke, jemanden töten zu müssen, Abscheu in mir erregt. Heute hatte ich keine Bedenken mehr. Ich hatte schnell gelernt und mich schnell verändert. Coyotero hatte recht: Ich war ein Apache. Ich schloß die Augen. Mein Körper entspannte sich. Die Schmerzen wichen. Irgendwann schlief ich ein. * Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie zerschlagen. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Also erhob ich mich und ging hinaus zum Essen. Die Squaws hatten die Antilope, die ich geschossen hatte, zubereitet. Ich warf ab und zu einen Blick zu den Jungen hinüber. Natches saß unter ihnen. Er sah gar nicht gut aus. Sein Gesicht war verschwollen und von roten Schrammen gezeichnet. Sein linkes Auge war geschlossen und dunkel verfärbt. Er bewegte sich etwas steif. Ich kam mir sehr schlecht vor, fühlte aber eine große Befriedigung in mir. Natches wich mir nach dem Frühstück aus. Ich ging mit den
anderen Jungen zum Bach. Wir rannten um die Wette. Ich wurde zweiter, aber auch nur, weil mir die Erschöpfung des Vortages noch in den Gliedern steckte. Natches lief nicht mit. Er war nicht in der Lage dazu und schien auch keine Lust zu haben. Er redete nicht, hielt sich von mir fern und vermied es, irgendwie im Kreis der Jungen aufzufallen. Wir holten unserer Ponies und ritten zu einem nahen Hochplateau. Ich nahm Esquelin auf Shitas Rücken mit, da er noch kein eigenes Pony besaß. Einige andere Jungen machten es ebenso. Wir erforschten das Bergland dort, wo unsere Ponies Tritt fanden. Wir ritten durch Canyons und Schluchten. Wir scheuchten einige Wildkaninchen auf und konnten zwei davon schießen. Auf dem Hochplateau entfachten wir ein Feuer und brieten unsere Beute. Es war ein schöner Tag, und es war ein guter Tag für mich. Noch nie, auch nicht, als ich mit den Kriegern geritten war, war es deutlicher geworden, daß ich dazugehörte. Wir blieben bis zum Abend und kehrten dann ins Lager zurück. Ich hatte gelernt, wie man ohne Zündhölzer ein Feuer anfachte. Ich hatte gelernt, wie man Kaninchen briet, ohne irgendwelche Zutaten zu besitzen. Ich hatte gelernt, welche Spuren ein Pferd auf steinhartem Boden zurückließ. Das war schon eine ganze Menge. Ich nahm mir vor, öfter auszureiten. Ich mußte noch viel lernen. Es reichte nicht, zäh zu sein und kämpfen zu können. Auch das war mir an diesem Nachmittag klar geworden. Am nächsten Tag kehrte der Krieger zurück, den Coyotero an dem Abend, als ich die Antilope geschossen hatte, fortgeschickt hatte. Er brachte einen Weißen mit, jenen James Johnson, den er hatte aufsuchen sollen.
9. Johnson sah aus, wie ich mir immer einen bösen Geist vorgestellt hatte. Er war sehr groß, fast zwei Yards, dabei klapperdürr. Er hatte schmale, hängende Schultern und ging immer leicht vornübergeneigt. Ein viel zu weites Hemd umflatterte seinen mageren Oberkörper. Seine Hose wurde von breiten Hosenträgern gehalten. Ein
breitrandiger Schlapphut beschattete sein Rattengesicht. Es sah wirklich so aus: wie das Gesicht einer Ratte. Es war sehr schmal, sehr hohlwangig und sehr spitz. Die Nase ragte wie ein Pfeil daraus hervor. Im Gegensatz dazu hatte er eine fliehende Stirn und fast kein Kinn. Der dünnlippige Mund war unter einem dichten grauen Schnauzbart verborgen. Die Ohren waren klein und standen ab. Wie bei einer Ratte. Dazu hatte er vorstehende Zähne, groß und lückenhaft. Unter seinem Hut quoll dünnes, strähniges Haar hervor. Es reichte bis weit über den Hemdkragen. James Johnson – so mußte der Mann aussehen, der die Alpträume erfunden hatte. Er bewegte sich mit schleppenden Schritten. Seine Füße waren viel zu groß. Er hob sie beim Gehen kaum an. Die Absätze schleiften über den Boden. Die langen, dünnen Arme schlenkerten immer neben dem Körper her, als gehörten sie nicht dazu. Am Gürtel hatte Johnson einen Revolver hängen. Das war seine einzige Waffe. Er schien sich sehr sicher zu fühlen. Jedenfalls war er bestimmt nicht zum erstenmal in einem Indianerdorf. Dafür wußte er zu gut Bescheid. Er schien auch einige Krieger zu kennen. Er kaute ständig Tabak. Ab und zu spuckte er ihn aus und schnitt sich einen neuen Priem von einer Kautabakstange. Wir Kinder scharten uns um ihn und sein Pferd, das genauso mager war wie er selbst. Er beachtete uns nicht. Er schlurfte durch die Reihen der neugierig gaffenden Krieger, Frauen und Kinder und wurde von Coyotero empfangen. »Ich fühle mich geehrt, daß du selbst erscheinst, James Johnson«, sagte Coyotero. »Es ist eine Ehre für mich, von großen Häuptling der Mimbrenos empfangen zu werden«, erwiderte Johnson. Er schien es aber nicht besonders ernst zu meinen, denn er spie dabei gelben Tabaksaft aus. Doch er kannte sich in den Höflichkeitsfloskeln der Apachen aus. »Dein Dorf ist gut über den Winter gekommen, wie ich sehe«, sagte er. Er warf einen kurzen Blick über die Zelte. »Wir können nicht klagen. Wie hast du den Winter verbracht,
Johnson?« »Die Geschäfte gehen schlecht, Coyotero, sehr schlecht«, sagte Johnson. »Du sagst immer, deine Geschäfte gingen schlecht«, sagte Coyotero, Er lächelte kaum merklich. »Aber du wirst immer reicher.« »Bei Gott, ich schwöre dir …« Johnson vollführte eine theatralische Geste. »Keinen Cent habe ich bisher in diesem Frühjahr verdient.« Ich lauschte aufmerksam. Der Händler sprach den MimbrenoDialekt ausgezeichnet. Er mußte schon lange im Indianerland leben und sich gut mit Apachen auskennen. »Komm mit in mein Zelt«, sagte Coyotero. »Dann werden wir weiterreden.« Johnson nickte. Er folgte dem Häuptling. Die Krieger, die neugierig zugeschaut und gelauscht hatten, kehrten zu ihren Zelten zurück, nur die Squaws und auch wir Kinder hielten uns in der Nähe des Häuptlingszeltes. Wir hockten uns unweit von Johnsons Pferd auf den Boden. »Johnson wird die Büffelhäute kaufen«, sagte Parento neben mir. Ich schaute ihn an. »Und was wird er dafür geben?« »Gewehre«, sagte er. »Und Pulver und Blei. Johnson gibt immer Pulver, Blei und Gewehre.« »Viel?« »Keine Ahnung. Gold ist ihm lieber als Büffelhäute. Aber Büffelhäute nimmt er auch. Die Weißen sind verrückt auf Gold und Büffelhäute.« Er verzog verächtlich den Mund. »War er schon oft in den Dörfern der Apachen?« »Johnson ist überall«, sagte Parento. »›Wilder Bär‹ hat ihn auch schon in den Forts der langen Messer gesehen. Da hat er mit den Häuptlingen der Weißen an einem Tisch gesessen, Whisky getrunken und Karten gespielt. Er handelt mit jedem. Aber er ist ehrlich, sagt ›Wilder Bär‹.« Wilder Bär war ein älterer Krieger, der Coyoteros engster Vertrauter und Berater war. Er war der Medizinmann des Stammes und genoß großes Ansehen und großen Respekt.
»Mir gefällt er nicht«, sagte ich. »Er sieht aus wie eine Ratte.« »Er gefällt niemandem. Aber er betrügt uns nicht. Auf jeden Fall betrügt er uns weniger als andere Händler.« »Warum brauchen wir Gewehre?« fragte ich. »Wird es wieder einen Krieg geben?« »Es gibt immer Krieg«, sagte Parento. »Wir brauchen immer Gewehre, solange die Weißen Gewehre haben.« Ich schwieg. Ich wartete gemeinsam mit den anderen Jungen. Es verging eine lange Zeit, sicher eine Stunde. Die Sonne stieg ein gutes Stück am Horizont empor. Dann bewegte sich die Plane am Eingang von Coyoteros Zelt. James Johnson kroch zuerst heraus. Ihm folgte Coyotero. Der Häuptling rief noch ein paar Krieger heran. Mit ihnen und den Händler ging er zum Rand des Zeltdorfes, wo die beiden Wagen mit den Büffelhäuten standen. Die Planen über den Wagen wurden gelöst. Johnson kletterte hinauf und prüfte die Häute. Er schnitt ein griesgrämiges Gesicht und schien nicht ganz zufrieden zu sein. Wir Kinder waren ihm und dem Häuptling ein Stück gefolgt. Wir konnten nicht verstehen, was gesprochen wurde. Aber Johnson schien noch zu feilschen. Es ging noch eine Weile hin und her, dann wurde das Geschäft durch Handschlag besiegelt. Die Männer kehrten zurück. Sie gingen an uns Kindern vorbei. Johnson ließ seine Blicke über unsere Gesichter fliegen. An meinem blieb sein Blick haften. Er blieb stehen und schaute mich an. Ich fühlte mich auf einmal nicht sehr wohl. Die Augen Johnsons gefielen mir nicht. Es waren Rattenaugen. Sie hatten fast einen rötlichen Schimmer in den Pupillen. Er schien etwas sagen zu wollen. Wahrscheinlich waren ihm meine helle Haut und mein blondes Haar aufgefallen. Aber er schwieg und ging weiter. Er bestieg sein Pferd und ritt davon. Bald war er verschwunden. Coyotero kehrte zu seinem Zelt zurück und rief die ältesten Krieger und auch Wilder Bär, den Medizinmann, zu sich. Es dauerte nicht allzu lange, dann erfuhren wir, was Coyotero mit
James Johnson, dem Indianerhändler, besprochen hatte. Johnson übernahm die Büffelhäute gegen zehn gute Gewehre und Pulver und Blei für tausend Schuß. Die Häute sollten in einer Woche im Tal der Krähen übergeben werden. Bei dieser Gelegenheit würde James Johnson den ganzen Stamm zu einem Fest einladen. Es sollten ein paar Rinder am Spieß gebraten werden, und es sollte ein Faß Whisky geben. James Johnson hatte in diesem Jahr noch große Geschäfte mit den Apachen vor. Das wollte er feiern und mit den älteren Kriegern des Stammes besprechen. Alles brach in großen Jubel aus. Das war verständlich. Nach dem oft langweiligen, tristen Winterlager in der Abgeschiedenheit der Berge sehnten sich alle nach etwas Abwechslung. Nur ich konnte mich nicht so recht freuen. Ich wußte selbst nicht, warum. Ich zog mich allein zum Bach zurück und übte mich im Bogenschießen. Im Dorf dagegen wurde bereits mit den Vorbereitungen für das Fest begonnen. Es wurde überlegt, was für ein Geschenk für Johnson wohl angemessen wäre. Die Krieger putzten ihre Waffen, da sie in voller Ausrüstung aufmarschieren wollten. Die Frauen mischten Pflanzenfarben für eine prächtige Bemalung und brachten ihre feinsten Gewänder für die Feier in Ordnung. Mir gefiel das alles nicht. Ich schalt mich innerlich einen Miesmacher und Idioten. Wahrscheinlich lag es daran, daß mir James Johnson nicht gefiel, daß ich ihn geradezu widerlich und abstoßend fand und nicht verstehen konnte, daß Coyotero einem solchen Mann traute. Aber das war sicher alles Unsinn. Die Indianer kannten Johnson seit Jahren. Sie schlossen nicht zum erstenmal Geschäfte mit ihm ab, und sogar Wilder Bär sollte gesagt haben, daß James Johnson die Apachen weniger betrog als andere weiße Händler. Was konnte dieser Mann auch dafür, daß er so häßlich war? Ich ließ mich zu sehr von Äußerlichkeiten beeinflussen. Ich war eben noch zu jung. Ich konnte nicht mehr wissen als die erfahrenen Krieger und Häuptlinge. Ich dachte an diesem Nachmittag zuviel. Deshalb schoß ich zu häufig vorbei. Mit jedem Fehlschuß wurde ich ärgerlicher.
Schließlich gab ich es auf, sammelte die heil gebliebenen Pfeile ein und schlenderte zum Dorf zurück. Als ich die Krieger vor den Zelten sitzen sah, die ihre Waffen putzten, dachte ich plötzlich daran, daß ich auch einen Tomahawk brauchte. Ich wünschte mir einen schönen Tomahawk, mit einem scharfgeschliffenen Stahlkopf und einem hohlen Schaft, so daß er als Friedenspfeife zu verwenden war. Coyotero hatte einen solchen Tomahawk. Der Schaft war mit silbernen Nägeln beschlagen und mit Fellstücken und bunten Glasperlen verziert. Coyotero hatte ihn von James Johnson erhalten. Das fiel mir in diesem Moment ein. Parento hatte es noch erzählt, als Johnson gegangen war. Coyotero hatte ihm dafür ein prächtiges Pferd gegeben. Vielleicht hatte auch ich keine andere Möglichkeit, einen Tomahawk zu erhalten, als mich eines Tages an Johnson zu wenden. Ich sollte nicht so schlecht von ihm denken. Ich kannte ihn schließlich nicht. Ich verdrängte meine Abneigung gegen den Händler. Als ich ins Zelt Coyoteros kroch, saß Susqueya darin. Daneben hockte Pahita, die älteste Tochter Coyoteros, die bald einen jungen Krieger heiraten würde. Susqueya empfing mich mit einem Schwall von Worten und schwärmte von dem bevorstehenden Fest. Es gelang ihr sogar, auch bei mir eine gewisse Begeisterung auszulösen. Sie hatte eine Bahn dunkelroten Stoffs vor sich liegen und schnitt die Umrisse für ein Hemd zurecht. Sie erklärte mir, daß sie mir für das Fest ein neues Hemd nähen werde und versicherte, daß es schöner aussehen werde als die Hemden der anderen Jungen. Sie wollte es mit Stachelschweinborsten und Glasperlen verzieren und die Symbole des Sonnengottes daraufsticken. Da vergaß ich alle Bedenken und meine Abneigung gegen James Johnson und freute mich auch auf das Fest. * Wir brachen noch vor Sonnenaufgang auf. Wir nahmen alles mit. Nichts blieb zurück. Die Zelte wurden zerlegt und den Packtieren
aufgeschnallt. Wir wollten nicht mehr in die Berge zurückkehren, sondern nach dem Fest bei Johnson in die Wüste ziehen, zu den anderen Stammesgruppen. Zwei Tage vor unserem Aufbruch war ein Bote eines anderen Stammes erschienen. Er hatte Nachrichten von Mangas Colorados gebracht, dem Häuptling aller Mimbrenos. Er plante erneut einen Feldzug gegen die weißen Eindringlinge und forderte alle Krieger auf, nach Mexiko zu kommen, wo er sich mit seinen Leuten aufhielt. Die Krieger und die Jungen ritten. Die Squaws bewegten sich zu Fuß hinterher. Sie trugen große, schwere Bündel auf dem Rücken, in denen sich Vorräte und die Habe der Stammesgruppe befanden. Wir gelangten nicht sehr schnell voran und ließen uns Zeit. Es dauerte einen Tag, bis wir die Berge hinter uns gelassen und die Ebene erreicht hatten. Wir zogen nach Süden. Das Tal der Krähen lag auf unserem Weg nach Mexiko. Wir hielten uns immer im Schatten des Gebirges. Späher zogen voraus und sicherten unseren Weg. Wir stießen während der Tage, die wir unterwegs waren, nicht ein einziges Mal auf Menschen. Das Land war leer, weit und still, und die älteren Krieger fühlten sich an ihre Jugend erinnert, als alles Land noch den Indianern gehört hatte. Am dritten Tag nach unserem Aufbruch sahen wir das Tal der Krähen vor uns. Es war von dichtem Buschland umgeben und grenzte im Westen an einen Mischwald. Es lag vor uns wie ein riesiger tiefer Teller. Das Gras stand hoch hier. Es neigte sich sanft im Wind. Ich wußte nicht, warum dieses abgeschiedene Tal »Crow Valley« hieß. Ich entdeckte nicht eine einzige Krähe im Buschgebiet. Als wir ankamen, war James Johnson schon da. Er war nicht allein. Fast zehn Männer waren bei ihm. Sie gefielen mir genausowenig wie Johnson selbst. Als ich den hageren, rattengesichtigen Händler jetzt vor mir sah, stiegen all meine geheimen Ängste vor diesem Mann wieder in mir auf. Mir gefiel auf einmal alles nicht mehr. Das Tal, das geplante Fest. Dabei hatten wir uns wirklich alle sehr viel Mühe gegeben. Die Krieger hatten sich mit herrlichen Farben gemalt. Auch ich trug
Farbsymbole in meinem Gesicht. Susqueya hatte mir einen karmesinroten Adler auf die Stirn gemalt und gelbe Striche auf die Wangen. Ich trug mein neues Hemd und hatte auch ein mit Perlen verziertes Stirnband. James Johnson und seine Männer sahen nicht so aus, als hätten sie sich auf die Feier vorbereitet. Sie trugen schmutzige, fadenscheinige Hemden sowie abgewetzte Hosen und hatten Revolver in ihren Gürteln stecken. Ihre Gesichter waren grobschlächtig, ihre Augen glitzerten kalt. Die Begrüßung fiel trotzdem recht herzlich aus. Coyotero legte Johnson die Rechte auf die Schulter, und Johnson nannte unseren Stamm den tapfersten unter der Sonne von Texas. Er führte uns zu dem Platz, wo wir während der Feier rasten sollten. Oberhalb des Tales am Waldrand standen zwei Wagen, deren Ladeflächen von Planen verhüllt waren. Sie wurden von Johnsons Leuten bewacht. Johnson sagte, daß sich darauf unter anderem die Gewehre befänden, die er uns für die Büffelhäute geben wollte. Aber das Geschäft habe ja bis zum nächsten Tag Zeit. Wir schlugen unser Lager auf. Die Leute Johnsons bauten unterdessen zwei große Bratspieße auf und einen Tisch, auf dem das Whiskyfaß stehen sollte. Wilder Bär verteilte einige Trommeln unter die Krieger und kümmerte sich um die Dinge, die er brauchte, um die Geister zu beschwören, damit sie uns wohlgesonnen seien. Darüber verging der Tag. Mit Einbruch der Dämmerung wurden die Feuer entfacht und die geschlachteten Rinder auf die Bratspieße gesteckt. Zwei Johnson-Männer rollten ein großes Whiskyfaß heran und schlugen einen Zapfhahn ein. Sie teilten Blechbecher aus. In diesem Moment fiel mir ein, daß schon einmal für mich viel Unglück mit einem Fest begonnen hatte. Damals hatten die Siedler in der Mission den Sieg über die Apachen gefeiert. Ich verdrängte den Gedanken rasch wieder. Dumpfe, rhythmisches Trommeln hallte jetzt durch das Tal. Mehrere Krieger hockten unweit der Feuer am Boden und hatten die Holztrommeln, die mit Büffelhaut bespannt waren, zwischen ihren Beinen stehen. Sie bearbeiteten sie mit bloßen Händen. Wilder Bär
schüttete ein Pulver ins Feuer, und grüner Rauch stieg auf, der die bösen Geister vertreiben sollte. Wäre ich ein böser Geist gewesen, ich wäre sofort davongelaufen. Der Rauch stank abscheulich. Die Squaws bildeten einen großen Kreis und begannen zu singen. Ihre Stimmen klangen dumpf, und die Melodie war so monoton wie der Trommelschlag. Zwei Squaws drehten die Bratspieße. Die Flammen schlugen hoch, und das Fleisch bräunte sich nach und nach. Die Männer Johnsons teilten Whisky aus. Die Krieger tranken, und sie tranken viel. Ihre Gesichter erhitzten sich, ihre Augen glänzten fiebrig. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie redeten viel und lachten laut, und bald begannen einige zu taumeln und zu torkeln und konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Da wurden die ersten Fleischbrocken von den gebratenen Kälbern geschnitten. James Johnson war überall. Er stand mal am Feuer und half beim Drehen der Bratspieße, mal stand er neben dem Whiskyfaß und füllte Becher nach, dann wieder befand er sich mitten unter den Kriegern, redete und lachte mit ihnen und erzählte von den großen Geschäften, die er mit ihnen tätigen wollte. Wir Kinder saßen ein Stück abseits. Ich durfte an diesem Abend nicht unter den Kriegern sitzen. Dazu war ich noch zu jung. Dies war ein Fest der Männer. Darum erhielt ich auch keinen Whisky, genauso wenig wie die anderen Jungen. Es wurde dunkel. Die Sonne versank, und die Nacht kam. Die Trommelschläge wurden immer schneller, der Singsang der Squaws immer monotoner. Die Krieger hatten zuviel getrunken und waren kaum noch Herr ihrer Sinne. Wilder Bär begann zu tanzen. Er schwang eine Rassel und hüpfte um das lodernde Feuer. Immer mehr Krieger schlossen sich ihm an. Sie bildeten einen dichten Pulk, stampften im Rhythmus der Trommeln und ließen ihre Körper hin und her schwingen. Sie rissen sich die Hemden vom Leib. Ihre muskulösen Körper glänzten vor Schweiß im Feuerschein. Immer heftiger und ekstatischer wurde der Tanz. Die Krieger warfen ihre Lanzen in die Luft. Einige trugen Lederschilde, die sie
aneinanderschlugen. In der Mitte aber tanzte Wilder Bär und sang vom Krieg. Er sang vom Kampf gegen die weißen Eindringlinge, er sang vom Sieg, und er flehte zum Großen Geist um Kraft und Hilfe. Ich verfolgte fasziniert dieses wilde, unheimliche Schauspiel, das ich zum erstenmal in meinem Leben sah. Auch einige der Knaben erhoben sich und drängten in den Kreis, den die Squaws bildeten, um mitzutanzen. Natches war dabei und ein paar andere. Wir anderen erhoben uns und schauten zu. Niemandem fiel auf, daß sich Johnson und seine Männer zurückgezogen hatten. Niemand bemerkte, daß die Händler zum Talrand gingen und die verhüllten Wagen vom Waldrand ins Tal zogen, so daß sie schließlich kaum noch dreißig Yards entfernt vom Lager der Apachen standen. Ich sah es plötzlich, als ich mich umdrehte. Ich war erschrocken, ohne selbst zu wissen, warum. Es konnte durchaus sein, daß Johnson die Wagen hergebracht hatte, um das Tauschgeschäft für den nächsten Tag vorzubereiten. Trotzdem gefiel mir das alles nicht. Aber der Lärm der Trommeln und der Gesang der Squaws und der Krieger erfüllte die Nacht. Die Männer hatten sich in Trance getanzt. Immer weiter griff die Ekstase um sich. Da stand plötzlich James Johnson vor mir. Er tauchte jäh aus der Nacht auf und blickte mich aus seinen Rattenaugen an. Niemand achtete auf ihn, nicht einmal die Jungen, die dicht neben mir standen. Die Blicke aller hingen auf den tanzenden Kriegern. Johnson sagte kein Wort. Er packte mich am Hemd und hob mich hoch. Da begann ich zu schreien. Aber meine Stimme ging im Kriegsgesang der Männer unter. Johnson trug mich weg. Niemand sah es. Ich wehrte mich und trat um mich. Da setzte er mich ab und schlug mir mitten ins Gesicht. Ich schmeckte Blut in meinem Mund. Blut rann aus meiner Nase. Johnson drehte mir die Arme auf den Rücken und schleppte mich weiter. Er brachte mich bis zu den seltsamen Wagen. Er fesselte mich mit Lederriemen an das rechte Hinterrad eines der Wagen. Dann gab er seinen wartenden Männern ein Zeichen.
Ich wandte den Kopf und hatte plötzlich eine wahnsinnige Angst. Da sah ich, daß die Männer Johnsons die Planen herunterrissen. Auf den Ladeflächen der Wagen befanden sich nicht die versprochenen Gewehre. Auf jedem Wagen stand eine Kanone. Die Mündungen der gewaltigen Rohre waren auf die tanzenden Apachen gerichtet, die als eng zusammengedrängter Pulk ein vortreffliches Ziel boten. Ich schrie und war wie von Sinnen. Ich brüllte aus Leibeskräften. Aber die Apachen befanden sich bereits zu sehr in Trance. Der Alkohol hatte ein übriges getan. Johnsons Plan war perfekt. Er hatte Coyoteros Stamm in eine Falle gelockt, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Nur ich würde davonkommen. Warum ich? Ich wußte es nicht. Da krachte die erste Kanone. Es war die Kanone auf dem Wagen, an dem ich festgebunden war. Der Wagen wurde vom Rückstoß bewegt. Das Rad drehte sich ein Stück. Ich verlor das Gleichgewicht und hing für einen Moment hilflos in den Fesseln.
10. Das Donnern der Kanone übertönte alle anderen Geräusche. Die Ladung fuhr hinein in den tanzenden Pulk und mähte fast den halben Stamm nieder. Johnson hatte die Kanone mit Hackbrei, Eisenstücken und rostigen Nägeln geladen. Das Blutbad, das allein der erste Schuß anrichtete, war nicht zu beschreiben. Blutende, schreiende Leiber wälzten sich durch das hohe Gras beiderseits der Feuer. Tote lagen herum, furchtbar zerhackt von der Ladung der Kanone. Der Tanz war vorbei. Das Trommeln und Singen brach jäh ab. Unkontrolliert schreiend torkelten die Apachen, die verschont worden waren, herum, ohne zu begreifen, was geschehen war. Der Alkohol und der wilde Tanz hatten ihre Hirne vernebelt. Ich schrie wieder. Ich rief Coyoteros Namen und den Namen Susqueyas, die wie eine Mutter zu mir gewesen war. Ich zerrte an den Fesseln. Die Lederriemen schnitten tief in meine
Haut ein. Aber ich kam nicht los. Ich hatte keine Chance und mußte zusehen, wie Johnson meinen Stamm niedermetzeln ließ. Die zweite Kanone krachte. Wiederum stürzten Männer, Frauen und Kinder zu Boden. Tot, verletzt, verstümmelt, entsetzlich zugerichtet. Und jetzt erst schienen die Überlebenden aufzuwachen. Sie flohen. Krieger, Squaws und Kinder liefen um ihr Leben. Die Männer Johnsons hielten jetzt Gewehre und Revolver in den Fäusten und schossen über die Lagerfeuer hinweg auf die Fliehenden. Sie schossen so kaltblütig und gefühllos, als veranstalteten sie ein Wettschießen auf Blechbüchsen. Die Squaws und Kinder flohen schreiend. Einige von ihnen entkamen. Die Krieger erreichten das rettende Buschland nicht mehr. Ihre Leichen bedeckten den grünen Rasen. Ich glaubte, ich müßte verrückt werden. Ich bäumte mich in meinen Fesseln auf und schrie, bis mein Hals zu schmerzen begann. Ein Schlag ins Gesicht betäubte mich fast und brachte mich zum Schweigen. Kraftlos hing ich in meinen Fesseln, während ein schwacher Windhauch durch das Tal strich und den stinkenden Pulverdampf vertrieb. Der Geruch von Tod und Vernichtung jedoch ließ sich nicht so leicht vertreiben. Er war zäh und hatte sich im Tal der Krähen festgesetzt. Er hing wie eine Dunstglocke des Grauens über dem Lager der Apachen. Der Boden war mit Blut getränkt, teilweise hatten sich dunkle Pfützen im Gras gebildet. Als ich die Augen wieder öffnete und mich umschaute, sah ich, daß Johnson und seine Männer zwischen den blutigen Leibern hindurchgingen. Ab und zu krachte ein Schuß. Sie töteten alle Verletzten. Dann bückten sie sich und rissen den Toten die Skalps ab – ohne Ausnahme. Den Kriegern, den Squaws und auch den Kindern. Sie hatten Fackeln in den Boden gesteckt, um bei ihrer grausigen Tätigkeit genügend Licht zu haben. Ich glaubte, das alles nicht ertragen zu können. Aber ich konnte nicht wegsehen. Dann kehrten sie zurück, die Arme voller Skalps. Es waren vierzig oder fünfzig, vielleicht sogar sechzig. Ich hatte keine Ahnung, wie
viele von Coyoteros Leuten es erwischt hatte. Ich sah von meinem Platz aus Natches am Boden liegen, Natches, den jungen Apachen, der mich so sehr gehaßt hatte. Er war tot. Unweit von ihm lagen Coyotero und Wilder Bär. Auch sie tot, von den teuflischen Geschossen der Kanonen Johnsons zerfetzt. Nirgends sah ich Susqueya. Aber ich konnte auch nicht den ganzen Platz übersehen. Die Hände Johnsons und seiner Männer waren blutig. Blut bedeckte auch ihre Arme bis zu den Ellenbogen hinauf und ihre Kleidung. Doch sie lachten und rühmten sich ihrer List und ihres großartigen Planes, mit dem sie Coyoteros Stamm in die Falle gelockt und vernichtet hatten. Im Osten zeigte sich bereits ein heller Streifen. Bald würde die Sonne aufgehen. Ich zitterte am ganzen Körper und meinte, mein Schädel würde zerspringen. Ich glaubte, sterben zu müssen. Aber ich starb nicht. Ich lebte weiter und mußte das Grauen um mich herum weiter ertragen. Ich war sicher, es niemals vergessen zu können. Dann, irgendwann, trat Johnson zu mir. Er schaute mich aus seinen Rattenaugen abschätzend an. Er bückte sich und löste meine Fesseln. Fliehen konnte ich trotzdem nicht. Er packte mich am Hemdkragen und hielt mich fest. In seinen mageren Armen steckte überraschend viel Kraft. »Verstehst du, was ich sage?« fragte er. »Du bist doch ein Weißer?« Ich schaute ihn an und sagte kein Wort. Meine Lippen waren dünn wie ein Strich und zuckten etwas. Ich unterdrückte die Tränen, die heiß in meine Augen drängten. »Wie lange bist du schon bei den roten Affen?« fragte Johnson. »Hör mal, verstehst du mich? Kannst du nur den Apachendialekt, oder kennst du deine Muttersprache noch?« Er redete mich in der Sprache der Apachen an. Ich schwieg immer noch. Da wurde er wütend. Er schüttelte mich hin und her. Seine Rattenaugen begannen rötlich zu glitzern. Dann schlug er mit der Linken zu. Mein Kopf wurde von den Hieben hin und her geworfen. Meine Wangen brannten.
»Wenn du nicht willst, werde ich ungemütlich, du Rotznase«, sagte er. »Du glaubst wohl, du könntest wegen der paar Rothäute hier eine Schau abziehen. Sieh dich um. Du könntest auch hier liegen, tot und ohne Skalp. Aber du lebst, weil du eine andere Hautfarbe hast als diese lausigen Rothäute.« »Mörder!« schrie ich ihn an. »Sie gemeiner Mörder!« Er schlug mir die Linke voll auf den Mund. Der Schmerz raubte mir abermals fast die Besinnung. »Weißt du, was mir das hier einbringt?« sagte er. Er machte eine vage Handbewegung, um anzudeuten, was er mit »das hier« meinte. »Zwei Wagenladungen beste Büffelhäute, fast vierzig Pferde und fast zweitausend Dollar Skalpprämien.« Er lachte scheppernd. »Hast du nicht gewußt, daß für Apachenskalps Prämien gezahlt werden? Dreißig Dollar und mehr, Kleiner. Mit zwei Kanonenschüssen habe ich ein Vermögen verdient.« Er lachte wieder. In mir krampfte sich alles zusammen. Am liebsten hätte ich gekotzt. »Du bist mir schon im Dorf aufgefallen«, sagte er. »Du bist ein Weißer. Ich möchte wetten, du hast Angehörige, die dich gern zurückhaben wollen. Das wird ihnen ein hübsches Sümmchen wert sein, denke ich.« Ich hob den Kopf. Durch dichte Tränenschleier schaute ich ihn an. Jetzt verstand ich. Ich war nur am Leben geblieben, weil er hoffte, mich meinen Angehörigen zurückzuverkaufen. Aber ich hatte keine Angehörigen. Ich war ein Waisenkind, aufgewachsen unter Missionsmönchen. Er durfte das nicht erfahren, durchzuckte es mich. Wenn er es erfuhr, würde er mich umbringen. Denn ich stellte keinen Wert für ihn dar. Niemand konnte und würde für mich zahlen. Solange Johnson das aber glaubte, würde er mir nichts antun. Solange er hoffte, mit mir Geld zu verdienen, befand ich mich in Sicherheit. Das mußte ich nutzen. Ich nickte fast mechanisch und preßte leise hervor: »Jawohl, Sir. Das denke ich auch.« Johnson grinste und bleckte seine vorstehenden Rattenzähne. »Na, siehst du, Kleiner. Es geht doch. Du hast deine
Muttersprache nicht verlernt. Deine Angehörigen werden eine wahre Freude an dir haben. Darüber unterhalten wir uns noch.« Er fesselte mir wieder die Hände und ließ mich am Rand stehen. Dann ging er zu seinen Leuten. In diesem Moment haßte ich ihn mehr als alles andere auf dieser Welt. Ich wünschte mir seinen Tod, und ich hätte James Johnson gern selbst umgebracht, schön langsam und genußvoll, damit er etwas davon hatte. Ich hätte ihn gern bei lebendigem Leibe verbrannt, gevierteilt und ihm die Haut in Streifen geschnitten. In diesem Moment begriff ich, warum die Apachen ihre Gefangenen so grausam marterten und zu Tode quälten. Jetzt verstand ich sie und fühlte und empfand genauso wie sie. * Johnson ging zu seinen Leuten. Sie tranken das Whiskyfaß leer, das sie am Vorabend für die Apachen aufgestellt hatten. Viel war nicht mehr darin. Aber es reichte offenbar. Sie feierten ihren »Sieg«. Ich hörte sie grölen und lachen. Mein Magen hob sich, aber ich riß mich zusammen. Wenig später kehrten sie zu mir zurück. Ich wurde losgebunden und auf einen der Wagen gehoben. Hier wurde ich an eine Kanone gefesselt. Wenig später fuhren wir los. James Jonson ritt sein mageres Pferd. Seine Leute lenkten die Wagen, auch die beiden Wagen mit den Büffelhäuten, die Coyotero bei Johnson gegen Gewehre hatte eintauschen wollen, und trieben die Apachenponies. Wir zogen durch das weite Grasland. Die Sonne ging gerade auf, als wir das Tal der Krähen verließen. Bald würde es seinen Namen zu Recht tragen. Bald würden die Aasvögel erscheinen und sich über die Opfer des Massakers hermachen. Der süßliche Blutgestank würde sie anlocken, sie und viele tausend Fliegen und andere Insekten. Weitere Raubtiere würden kommen. In wenigen Tagen würden nur noch Knochen im Tal der Krähen liegen, abgenagte, kahlgefressene Gerippe, die in der stechenden Sonne bleichten. Das Land um uns war leer und still. Ich fragte mich, ob wirklich einige Frauen und Kinder dem Gemetzel hatten entrinnen können.
Ich hatte gesehen, wie einige im Buschland verschwunden waren. Vor der Abfahrt hatten Johnsons Männer noch einmal das Gesträuch am Talrand flüchtig durchkämmt, aber nichts entdeckt. Neben mir hingen die vielen Skalps. Die Mörder hatten sie auf Stangen gebunden und auf die Wagen gelegt, damit die blutigen Hautfetzen in der Sonne trockneten. Der Blutgeruch lockte bald Schmeißfliegen an, die mich aufdringlich umschwirrten. Ich konnte mich ihrer kaum erwehren. Durst quälte mich und Hunger. Die Killer kümmerten sich kaum um mich. Sie sprachen noch immer über ihre »Heldentat« und lobten sich gegenseitig für ihr Geschick, ihre Umsicht und ihre Idee. Sie sprachen auch über mich. Aber ich hörte kaum darauf. Ich dachte an Flucht, an nichts anderes. Diesmal würde ich jedoch nicht vor Indianern fliehen, sondern vor Weißen. Dabei erhielt ich genaugenommen eben das, was ich vor einem halben Jahr noch unbedingt gewollt hatte. Ich sollte zurückgebracht werden, nach Hause. Zwar würde es sicher Schwierigkeiten geben, da ich nun einmal keine Angehörigen hatte, die es James Johnson teuer entlohnen konnten, daß er mich zurückbrachte. Aber irgendwie würde es schon klappen. Doch ich wollte das nicht mehr. Ich wollte zurück zu den Apachen. Nach allem, was geschehen war, fühlte ich mich ihnen stärker verbunden als je zuvor. Ich hatte genug von Weißen wie James Johnson. Meine Welt war die Welt der Apachen. Ich schloß die Augen und legte den Kopf auf den Lauf der Kanone. Ich würde schon einen Ausweg finden, dessen war ich ganz sicher. Irgendwie würde ich fliehen, und irgendwie würde ich mir Shita beschaffen, meine Stute, die in der Herde der Apachenponies mitgetrieben wurde. Vorläufig aber hatte ich kaum eine Chance. Ich war gefesselt, und so konnte ich nur hoffen und abwarten. * Am Abend tauchten eine Stadt und ein Fluß vor uns auf. Lancaster am Rio Pecos. Hier war James Johnson zu Hause. Ein ganzes Stück
außerhalb der Stadt hatte er seine Magazingebäude, Lagerhäuser und Viehkorrals. Johnson hatte es eilig, die Wagen mit den Kanonen in einem Lagerhaus verschwinden zu lassen. Die Indianerponies wurden in einen Korral getrieben. Ich sah von fern die Lichter der Stadt. Einer von Johnsons Männern führte mich zu einem zentral gelegenen Gebäude, das anscheinend als Wohnhaus für Johnsons Angestellte diente. Der Hunger fraß in meinen Eingeweiden, und der Durst quälte mich. Ich hatte Kopfschmerzen und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Die Fesseln an meinen Handgelenken hatten meine Haut aufgescheuert. Ich befürchtete, daß die Schnittwunden sich entzünden würden. Darum kümmerte sich niemand. Die Fesseln wurden mir nicht abgenommen. Aber ich erhielt Wasser und etwas zu essen. Danach kam Johnson zu mir. Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch und schaute zu, wie ich mit den gefesselten Händen den Rest eines steinharten Zwiebacks in meinen Mund schob. »Wie lange warst du bei den Rothäuten?« fragte Johnson. Ich zuckte mit den Schultern. Johnsons Gesicht verzog sich etwas. »Mach keine Sperenzchen, Junge. Das vertrag ich nicht. Also, wie lange?« »Seit vorigem Sommer«, sagte ich. »Na also.« Er grinste selbstgefällig. »Haben sie dich mal mitgenommen, um Weiße abzumurksen?« »Nein«, sagte ich, und ich hatte nicht die geringsten Bedenken, Johnson anzulügen. »Das ist gut«, sagte er. »Dann kommst du wenigstens unverdorben von diesen roten Hunden zurück.« Mir wurde bei diesem kaltblütigen, heuchlerischen Geschwätz übel. Ich sagte nichts darauf. »Und nun das wichtigste«, sagte Johnson. »Wo kommst du her? Weißt du, wie das Gebiet hieß, in dem du gewohnt hast. Alt genug bist du ja, daß du es wissen müßtest. Denk dran, du kannst wieder nach Hause. Also zieh hier keine Schau ab.« »Vom Pease River komme ich«, sagte ich. »Das Farmgebiet?« Johnson legte seine Stirn in Falten. »Das sind
fast zweihundert Meilen von hier.« Er schwieg und schien nachzudenken. »Du stammst also von einer der Farmen?« fragte er nach einer Weile. Ich nickte. Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, wäre mein Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Da war ich ganz sicher. Ich mußte ihm das Gefühl erhalten, daß er mit mir ein Geschäft tätigen konnte. »Wie heißt du?« »Ronco«, sagte ich und fügte hinzu: »Ronco Danton.« »Ronco.« Johnson zog die Augenbrauen hoch. »Komischer Name. Wo liegt die Farm deiner Leute?« »Die Danton-Farm liegt direkt am Fluß«, erwiderte ich. »In der Nähe der Mission.« »In Ordnung.« Johnson erhob sich. »Du bleibst hier, bis einer meiner Leute dort war und mit deinen Angehörigen gesprochen hat. Sind es deine Eltern oder deine Geschwister?« »Meine Eltern«, sagte ich. »Gut.« Johnson winkte einen seiner Männer heran. »Das PeaseRiver-Tal ist bestes Farmland, wie ich gehört habe. Die Leute dort müssen ganz gut betucht sein, nach meinen Informationen. Ich denke, daß sie zweitausend Dollar aufbringen können, um dich zurückzuerhalten. Was meinst du?« »Bestimmt«, sagte ich. »Vielleicht sogar zweitausendfünfhundert«, sagte Johnson. Er wirkte auf einmal gut gelaunt. »Wenn du vernünftig bist, Junge, wirst du es gut bei mir haben. Bis ich Nachricht von deinen Eltern habe, bleibst du hier. Das kann zwei Wochen dauern. Wenn du dich anständig benimmst und keinen Unsinn anstellst, kriegst du alles, was du brauchst. Anderenfalls kann ich verdammt grob werden. Hast du verstanden?« »Jawohl, Sir«, sagte ich. »Vielleicht hast du bei diesen Wilden allerhand Mist gelernt«, sagte Johnson. »Hier bist du wieder unter zivilisierten Menschen. Benimm dich entsprechend. Sonst …« Er grinste böse und sah wieder aus wie eine Ratte. »In meinem Stall hängt ein
Ochsenziemer«, sagt er. »Ich werde ihn bestimmt gebrauchen.« Ich schwieg. Johnson wandte sich dem Mann zu, der inzwischen herangetreten war. »Du bringst den Jungen nach oben«, sagte er. »Sieh zu, daß alles gut verschlossen wird. Dann nimmst du dir ein Pferd, packst die Satteltaschen voll und reitest zum Pease River.« Der Mann nickte. Er packte mich an der Schulter und schob mich durch den Raum, in dem ich gegessen hatte. Ich wurde auf einen Gang hinausgeführt. Von hier aus führte eine Treppe hinauf ins Obergeschoß. Der Mann, den Johnson beauftragt hatte, meine nicht existierenden Eltern aufzusuchen, sprach kein Wort, während er mich die Treppe hinaufstieß. Ich leistete keinen Widerstand. Es wäre sinnlos gewesen. Ich war ganz sicher, daß meine Chance kommen würde. Oben schloß der Mann eine Kammer auf, in der eine trübe Petroleumfunzel brannte. Die Kammer war klein und kärglich eingerichtet. Es gab ein eisernes Bettgestell, einen Stuhl, einen Tisch und einen Kotkübel. Ich stolperte über die Schwelle. Meine Beine waren auf einmal bleischwer vor Müdigkeit. Hinter mir verschloß der Mann die Tür. Er hatte mir vorher noch die Fesseln abgenommen. Eine Flucht schien unmöglich zu sein. Es gab nur ein kleines Fenster auf den Hof hinaus. Aber das war vergittert. Ich schaute hinaus. Unten brannten mehrere Laternen. Männer gingen hin und her. Die Wagen mit den Büffelhäuten wurden abgeladen. Ich ging zu dem Bett und setzte mich darauf. Es war hart. Die Matratze war durchgelegen und das Bettzeug fadenscheinig und klamm. Ich blickte mich in der Kammer um. Alles wirkte trostlos im Moment. Ich sah keine Möglichkeit, etwas zu tun, um meine Lage zu verändern. Ich würde abwarten müssen. Mehr blieb mir nicht. Ich streckte mich auf den Kissen aus, schaute zur Decke hoch und grübelte lange nach. Irgendwann muß ich schließlich eingeschlafen sein.
11.
Ich erwachte, als mir Wasser ins Gesicht klatschte. Mit unwilligem Knurren wälzte ich mich auf die Seite. Da traf es mich ins linke Ohr. Tropfenweise, in steter Monotonie. Ich fuhr hoch. Mein Gesicht war naß und ich fror. Draußen regnete es. Der Wind warf den Regen klatschend an die Fensterscheibe. Genau über dem Bett war eine undichte Stelle in der Decke. Ich setzte mich auf die Bettkante und schwang die Beine auf den Fußboden. Mürrisch beobachtete ich, wie die Tropfen jetzt auf das Kopfkissen fielen. An ein Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Das Bett war zu schwer, als daß ich es allein an einen anderen Platz hätte rücken können. Ich erhob mich und ging zum Fenster. Ich konnte durch die dichten Regenschleier eine Laterne an einem Stalltor auf der Westseite des Hofes erkennen. Das Licht wurde vom Wind hin und her geworfen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich streckte mich und ging zum Bett zurück. Meine Müdigkeit war verflogen. Schweigend schaute ich zur Decke, wo sich ein feuchter Fleck von erheblichem Durchmesser gebildet hatte. Von da tropfte es. Als ich mich auf den Stuhl setzen wollte, durchzuckte mich plötzlich eine Idee. Ich rückte den Tisch neben das Bett, holte den Stuhl, stellte ihn auf den Tisch und stieg hinauf. Es war eine ziemlich wacklige Angelegenheit, aber als ich schließlich aufrecht auf dem Stuhl stand, konnte ich die Decke erreichen. Ich stieß kräftig unter die rissigen Bohlen, an denen sich die Feuchtigkeit gesammelt hatte. Die Bohle gab sofort nach und hob sich ein Stück. Fast hätte ich geschrien vor Freude. Ich kletterte von Stuhl und Tisch und lief wieder zum Fenster. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Ich konnte den Hof zwischen den Magazingebäuden leidlich gut erkennen. Es war kein Mensch zu sehen. Ich zögerte nicht länger, kletterte wieder auf den Tisch, von da aus auf den Stuhl und stemmte beide Fäuste unter das lockere Brett der Kammerdecke, die gleichzeitig das Dach des Hauses bildete. Das Brett war schwer. Ich mußte alle Kraft aufwenden, um es anzuheben. Der Schweiß rann mir in dichten Bahnen über das
Gesicht. Meine Muskeln schmerzten vor Anstrengung. Ich befürchtete ständig, den Halt auf meinem wackligen Podest zu verlieren. Der Regen prasselte durch die breite Lücke in die Kammer und mir ins Gesicht. Ich drückte noch einmal mit aller Kraft gegen das Brett. Da kippte es seitlich um auf das nächste Brett. Eine gut zwölf Zoll breite Lücke hatte sich im Dach geöffnet. Das mußte reichen. Ich war zwar in den letzten Monaten gewachsen. Aber ich war noch immer ein Kind. Ich langte mit beiden Händen auf das Dach hinaus und zog mich hoch. Sekundenlang baumelte ich in der Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn meine Kräfte jetzt versagten, würde ich mitsamt dem Podest aus Tisch und Stuhl zu Boden stürzen. Der Lärm würde die im selben Haus schlafenden Leute Johnsons wecken. Ich schloß die Augen, biß die Zähne zusammen, spannte alle Muskeln, zog mich durch die Lücke hinaus, schwang die Beine hoch, fand Halt und lag schließlich nach Atem ringend auf dem nassen Dach des Gebäudes. Sofort war ich bis auf die Haut durchnäßt. Der Regen klatschte mir ins Gesicht, der Wind blies böig über das flache Dach. Ich hatte mehr Glück als Verstand gehabt. Das Dach bestand aus schweren Brettern, die lose nebeneinandergelegt und an einigen Stellen mit Steinen beschwert worden waren. Vorsichtig tappte ich bis zum Dachrand. Ich kümmerte mich nicht um den Regen. Er störte micht nicht. Mich interessierte nur die Frage, wie ich vom Dach des Hauses nach unten gelangen konnte. Der Regen war mir unter Umständen sogar nützlich. Er zwang alle eventuellen Wachtposten in schützende Häuser und vernichtete alle Spuren der Flucht. Ich lief am Rand des Daches entlang, um die Möglichkeit eines Abstiegs zu sondieren. Es sah nicht gut aus. Das Gebäude war höher, als ich gedacht hatte. Ein Sprung hinunter hätte den sicheren Tod bedeutet. Schwindel stiegen in mir auf, als ich einen Augenblick lang daran dachte. Ich trat rasch einige Schritte vom Abgrund zurück. Langsam ging ich weiter am Dachrand entlang, bis zur Rückseite des Gebäudes. Und hier entdeckte ich den Anbau, einen Schuppen für
Geräte und Gerumpel. Ich legte mich auf den Bauch und reckte den Kopf vor, um die Höhe besser abschätzen zu können. Vom Dach des Anbaus trennten mich nach meiner Schätzung keine drei Yards. Das war einen Versuch wert. Ich krallte mich mit beiden Händen an der vorspringenden Dachkante fest und ließ mich langsam hinuntergleiten. Wenig später hing ich in der Luft, baumelte hin und her uns spähte nach unten. Das Dach des Anbaus schien jetzt auf einmal viel weiter entfernt zu sein, viel tiefer zu liegen. Ich hatte plötzlich Angst, wenn auch nicht viel. Da rutschte ich mit beiden Händen an der regennassen Dachkante ab. * Ich fiel, und es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte ich geschrien. Ich prallte mit beiden Füßen zuerst auf das Dach des Anbaus. Es gab einen dumpfen Knall. Ich überschlug mich, spürte Schmerzen in den Fußgelenken und stürzte bereits über die Kante des Anbaudaches. Benommen richtete ich mich auf. Ich war von Kopf bis Fuß mit Schlamm und Dreck bedeckt. Ich schaute mich um. In den Korrals standen die Ponies. Sie hatten sich unter Schutzdächern zusammengedrängt. Ich lief auf die Koppeln zu. Ich überstieg einen Korralzaun und watete durch den tiefen Morast zu den Pferden hinüber. Nach einigem Suchen fand ich Shita. Sie schnaubte erfreut, als ich ihr durch die Mähne strich. Ich führte sie hinaus in den Regen zum Tor des Korrals. Da sah ich auf einmal Licht an einem der Gebäude aufflackern. Ich ließ Shita stehen, warf mich der Länge nach in den Morast und wartete. Ein Schatten tauchte im Lichtschein auf. Er eilte zu den Lagerschuppen hinüber. Da kroch ich unter dem Korralgatter durch und hastete über den Hof auf das Licht zu. Ich erreichte das Haus und preßte mich hart an die Wand. Langsam schob ich mich bis zu
der halb geöffneten Tür vor, durch die der Lichtschein drang. Drinnen war alles still. Der Mann, der das Haus verlassen hatte, war nirgends zu sehen. Ich warf einen Blick ins Innere. Ich schaute in einen hellerleuchteten Gang mit mehreren Türen. Unweit des Eingangs stand ein breites Regal, in dem zehn Gewehre untergebracht waren, Sharps-Gewehre und Karabiner. Ich lauschte in den Regen, der monoton rauschte. Dann huschte ich ins Haus. Mit wenigen Schritten war ich beim Gewehrregal und hob einen Karabiner heraus. Ich verließ das Haus wieder und rannte über den Hof zum Korral. Am Tor stand noch immer Shita und wartete auf mich. Ich löste die Verriegelung und zog das Torgatter auf. Als ich mit Shita die Koppel verließ, wurde ich entdeckt. Der Mann, den ich das Haus hatte verlassen sehen, marschierte über den Hof. Er watete durch den tiefen Schlamm und die großen Pfützen. Er stand plötzlich keine zehn Schritte vor mir und schien überraschter zu sein, mich zu sehen, als ich es über sein plötzliches Erscheinen war. »Du?« Er beugte sich vor. »Verdammt, wie kommst du hierher?« Ich hob das Gewehr. Ich dachte an das schaurige Gemetzel unter den Apachen und hatte keinerlei Bedenken. »Du bist ja bewaffnet«, hörte ich ihn sagen. Der Wind riß ihm fast die Worte von den Lippen. »Wirf sofort das Gewehr weg, verdammter Bengel. Du bist wohl verrückt geworden. Ich schlag dich tot, wenn du nicht sofort parierst …« Ich schoß, weil ich mich nicht länger aufhalten lassen wollte. Der Rückschlag des Gewehrs war hart. Der Knall war dumpf und verhallte im Regen. Der Killer stand einen Atemzug lang stocksteif da und starrte mich ungläubig an. Dann kippte er langsam nach vorn. Ich drehte mich um und schwang mich auf Shitas ungesattelten Rücken. Ich hatte kein Mitleid mit dem Toten. Ich ritt an dem Mann vorbei. Hinter mir gingen Lichter an, als ich den Hof verließ. Ich ritt in die Nacht hinaus, ohne mich
umzuschauen, tauchte im Regen unter, überquerte den Pecos und jagte davon. * Gegen Mittag des nächsten Tages hörte der Regen schlagartig auf. Es wurde warm. Ich rastete zum erstenmal. Verfolgt wurde ich nicht. Ich legte mich erschöpft unter ein paar Bäumen nieder und schlief bis zum Abend. Dann ritt ich weiter. Ich orientierte mich an den Bergen vor mir. Von da war ich mit den Apachen gekommen. Ich ritt die ganze Nacht. Das Tal der Krähen sah ich nur von weitem wieder. Ich verspürte kein Bedürfnis, hinzureiten. Ich begann statt dessen, nachdem der nächste Tag angebrochen war, die Gegend systematisch abzusuchen. In diesen Stunden dachte ich nicht ein einziges Mal daran, meine Freiheit zu nutzen und zu versuchen, den Pease River zu erreichen. Ich wäre mir wie ein Verräter vorgekommen, wenn ich nach dem schrecklichen Massaker, das James Johnson angerichtet hatte, die Apachen im Stich gelassen hätte. Ich suchte den ganzen Tag und rastete in der folgenden Nacht im Schatten einiger Creosotbüsche. Am nächsten Tag setzte ich die Suche fort. Ich stieß gegen Mittag auf ein Brushgebiet, daß mehrere Hügel wie ein verfilzter Stachelpelz bedeckte. Hier fand ich die Überlebenden des Gemetzels. Als ich bei einigen Teufelsbirnensträuchern mein Pferd zügelte, entdeckte ich eine Frau in zerrissenen Kleidern. Sie hockte neben einem Busch und pflückte Beeren. Als sie mich sah, stieß sie einen Schrei aus und sprang auf. Dann erkannte sie mich. Es war Susqueya. Ich glitt von Shitas Rücken und lief auf sie zu. Sie breitete die Arme aus und preßte mich an ihre Brust. Als ich den Kopf hob, sah ich, daß Tränen aus ihren Augen rannen. Einige davon fielen heiß in mein Gesicht. Sie war schmal geworden in den letzten Tagen. Sie redete und strich immer wieder über meinen Kopf. Schließlich führte sie mich zu einem Versteck in dem
Brushdickicht, in dem sich vier Jungen in meinem Alter, unter ihnen Esquelin, befanden, eine weitere Squaw und Pahita, Coyoteros älteste Tochter, die aber nicht Susqueyas Kind war. Sie war verletzt. Ein Geschoßsplitter hatte ihr den linken Arm aufgerissen. Sie fieberte etwas. Sie alle waren vom Schock der Ereignisse gezeichnet. Ich berichtete, was ich erlebt hatte. Sie erzählten, daß sie vor zwei Tagen noch einmal im Tal der Krähen gewesen waren. Da hätten bereits die Kojoten gehaust, und es habe schrecklich ausgesehen. Ich glaubte ihnen aufs Wort. Wir beratschlagten, was zu tun sei, denn ewig konnten wir nicht in dem Versteck hocken. Ich berichtete ihnen, daß das Land ringsum leer sei. Aus Furcht vor Entdeckung hatten sie sich bis jetzt nicht hervorgetraut. Wir entschieden uns schnell. Zwei Tage, nachdem ich die Überlebenden des Massakers gefunden hatte, brachen wir gemeinsam nach Süden auf. Wir wollten nach Mexiko ziehen, dorthin, wo uns Coyotero hatte hinführen wollen. Wir würden uns dort einer anderen Stammesgruppe anschließen. Es würde ein langer Marsch werden. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete. Der Weg konnte geradewegs in die Hölle führen. Ich zog mit den Apachen …
ENDE
Vorschau Der Mann saß in der Overlandstation und aß grüne Bohnen und ein Steak. Er sah rauh aus und sehr hart. Sein Colt lag griffbereit neben dem Teller. Er blickte nur kurz auf, als der Reverend mit dem gütigen Lächeln auf einem Rollstuhl an seinen Tisch gefahren wurde. Es interessierte ihn auch nicht, daß der Reverend in einer wunderschön gebundenen Bibel blätterte. Auch nicht, daß der Reverend über den Verfall der Sitten lamentierte und meinte, daß alle Menschen Sünder seien. Aber als der Reverend aus der Bibel einen Colt zauberte, da wußte der Mann, daß er sein letztes Steak gegessen hatte. Und als er es wußte, hatte er ein Loch im Kopf – und der Reverend lächelte, denn er konnte wieder eine Prämie kassieren … Die Jagd auf Ronco, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 116 dieser großen deutschen WesternSerie:
Kopfgeld des Satans