Everett Jones
Der Weg nach Vera Cruz Ronco Band Nr. 380/57
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jah...
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Everett Jones
Der Weg nach Vera Cruz Ronco Band Nr. 380/57
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine eigene Geschichte.
Er schildert den Weg, den er gehen mußte – bis zu dem schrecklichen Tag, an dem er das Massaker im Halcon Canyon als einziger überlebte und als Verräter, Mörder und Feigling gebrandmarkt wurde. Bis zu diesem Tag war sein Leben wie das vieler anderer verlaufen, die die Wirren des Bürgerkrieges überstehen mußten und sich nach Ende des großen Blutvergießens in den Westen aufmachten, um einen neuen Anfang zu finden. Erst der große Schicksalsschlag vom Halcon Canyon warf RONCO aus der Bahn, und für lange Jahre mußte er als Geächteter um sein Leben kämpfen …
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Er hat zwar versprochen, drei Flüchtlinge nach Vera Cruz zu bringen, aber als Gefangener geht das schlecht. James Boulder – Der englische Arzt hatte sich nur um verwundete Soldaten gekümmert, aber jetzt mußte er selbst um sein Leben fürchten. Laureen Gilbert – Die junge Französin hat ihren Mann verloren und flieht mit ihrer kleinen Tochter Marie. Mahon Tabor – Der schurkische Zahlmeister von Fort Calhoun hat erkannt, was der ehemalige Scout Ronco für ein Kaliber ist – und will ihn vernichten.
Der Weg nach Vera Cruz 20. Juni 1882 Ich denke oft viel nach. Mitunter empfinde ich Angst vor dem nächsten Tag. Dabei dürfte sich ein Mann in meiner Situation genau dieses nicht erlauben. Angst vor dem Tod habe ich nicht, zumindest glaube ich, sie nicht zu haben. Dem Tod bin ich schon so häufig begegnet, daß ich meine, er hätte seinen Schrecken für mich verloren, wie alles seine Schrecken verliert, wenn es alltäglich wird. In Gefahr schwebte ich immer. Kein Tag verging, der mir nicht irgendwelchen brandheißen Ärger brachte, und das von Kindesbeinen an. Damals, nach dem fürchterlichen Massaker im Halcon Canyon, war es für mich ein grausamer Schock, was ich alles entdecken mußte. Zum Beispiel, daß die Regierungsbehörden gar nicht immer so gradlinig handelten, wie sie taten, und allzu häufig ein doppeltes Spiel betrieben. So suchten sie angeblich nach den Waffenschiebern, die man für den Indianeraufstand am Rio Doro verantwortlich machte, aber gleichzeitig taten sie sich mit diesen Halunken zusammen, um Juarez in Mexiko mit Gewehren, Revolvern, Munition und Sprengpulver zu beliefern und damit seinen Krieg gegen den fremden Kaiser im Lande zu unterstützen. Ich mußte damals immer mehr erkennen, daß ich drauf und dran war, gegen einen massiven Felsen aus Granit anzurennen, gegen den ich nie eine Chance haben konnte. Sie hatten mich zum Mörder gestempelt und schienen auch tatsächlich die Macht zu haben, über mein Leben zu entscheiden. Vielleicht wäre es klüger von mir gewesen, aufzugeben und in der Weite der Wildnis zu verschwinden. Leider lag mir das nicht. Ich befand mich auf dem Weg durch Mexiko. Das Land lag nach dem Sturz von Kaiser Maximilian in einem Taumel von Freude, Angst und Terror. Die Revolution hatte Kräfte freigesetzt, die sicherlich nur schwer wieder zu zügeln sein würden. In den weiten Teilen des Landes regierten Mordbanden. Und mitten da hindurch
wollte ich meine Freunde nach Vera Cruz begleiten. Blieb die Frage, ob wir dort auch ankommen würden. Ich hoffte es jedenfalls. Und ich hoffte auch, in der Küstenstadt die Spur meiner erbarmungslosen Gegner wieder aufnehmen zu können. Doch eine Menge sprach dagegen, daß mir dies gelingen würde. Ich spielte mit meinem Leben. Das ist auch heute nicht anders als damals – 1867…
1. Die Büsche standen so dicht auf der Flanke des Hügels, daß sie mich und meinen Falben verbargen. In der frühen Morgenstunde war die Luft klar und rein, und so reichte mein Blick weit nach Süden hinunter über das Flachland. Im Westen tauchten Reiter aus einem Waldstück auf. Gewehrschlösser und Kolbenplatten funkelten im Sonnenlicht. Ich zog instinktiv den Kopf des Falben weiter nach unten und dichter gegen meinen Arm. Es waren Juaristas, eines jener kleinen Kommandos, die in diesen Tagen überall herumstreiften und nach versprengten Resten der geschlagenen Kaiserarmee suchten, nach Beamten, geflohenen Höflingen, Agenten und Glücksrittern, die in den Jahren der Revolution gegen Juarez und seine Rebellen gekämpft hatten. Jetzt hatten sie gesiegt. Der Kaiser war gefangengenommen worden und hatte mit einem Prozeß zu rechnen, dessen Ende aller Voraussicht nur sein Tod sein konnte. Wer auf seiner Seite stand, hatte auch nichts anderes zu erwarten. Als Amerikaner war man in diesen Tagen besonders gefährdet. Zwar kleidete ich mich wie ein Mexikaner und sprach auch fließend spanisch, aber meine Haut war doch eine Nuance heller als die der Mehrheit der Einheimischen. Zudem erweckte mein hellblondes Haar schnell Mißtrauen. Es waren fünfzehn Reiter. Sie ritten in der weiten Talsenke an einer Reihe Saguaro-Kakteen entlang und entzogen sich bei den anschließenden Yuccasträuchern für eine Minute völlig meinem Blick. Doch hinter den Yuccasträuchern lenkte der Anführer der mit Waffen und Patronengurten behängten Reiter sein Pferd jäh herum
und hielt direkt auf die Hügelflanke zu. Wenn er so weiterritt, mußte er unmittelbar auf mich stoßen. Sie waren alle eingeschwenkt und näherten sich im Trab der Hügelflanke. Höchstens noch dreihundert Yards trennten sie von mir. Das Gestrüpp wurde von ihnen einfach niedergewalzt. Ich konnte nicht länger warten und darauf hoffen, daß sich bei ihnen ein Sinneswandel vollzog, der sie abermals eine neue Richtung einschlagen ließ. Ich fürchtete sogar, daß sie mich bemerkt hatten und dies nur noch nicht zu erkennen gaben. So nahm ich den Zügel länger, drehte mich herum und hob den Fuß an, um ihn in den Steigbügel zu schieben. Der Falbe schnaubte und bewegte sich. Ich schwang mich in den Sattel. Jetzt sahen sie mich über dem Gestrüpp. Und ich erkannte, daß ihnen meine Anwesenheit bisher noch nicht bekannt gewesen sein konnte. Denn sie zügelten die Pferde und schauten überrascht zu mir herauf. Die Sekunde ihres Erschreckens genügte mir, den Falben herumzureißen und hügelauf das Weite zu suchen. Geschrei ertönte hinter mir. Der Anführer der Juariatas gab einen Befehl. Gewehre entluden sich. Kugeln pfiffen durch das Dickicht. Die Hufe des Falben trommelten über die Hügelflanke. Ich duckte mich auf den Hals des Tieres, dessen Mähne mir ins Gesicht wehte. Zu meinem Glück hatte ich nicht weit unterhalb der Hügelkuppe gestanden, so daß ich die Höhe schon nach wenigen Sekunden erreichte. Mein Pferd flog darüber hinweg und ging die Nordflanke in einem so hohen Tempo an, daß ich in Sorge war, es könnte stürzen und meine Flucht damit beenden. Doch der Falbe lief mit traumwandlerischer Sicherheit über den abschüssigen, unebenen Boden. Geborstenes Gestein, Geröll, Felsbrocken und Sand wechselten auf dem Boden der Halde in schneller Folge. Überall dazwischen stand Gestrüpp wie auf der anderen Seite. Es dauerte nur zwei Minuten, bis die Verfolger die Höhe erreichten. Ich war in diesem Moment schon am Fuß des Hügels und feuerte aus meinem Navy-Colt hinter mich. Damit konnte ich zwar keinen Mexikaner treffen, vertraute aber auf die moralische
Wirkung. Sie schossen zwar noch hinter mir her. Aber das Krachen brach bald ab. Ich ritt im Galopp weiter und schwenkte nach Osten ab. So vermochte ich sie einige Sekunden später wieder zu sehen. Sie hielten noch auf dem Hügel. Ihnen schien klargeworden zu sein, daß die Kondition meines Pferdes zu gut war, als daß sie es hätten einholen können. Vielleicht waren sie schon lange unterwegs gewesen. Noch einmal entluden sich die Gewehre, doch das Pfeifen der Kugeln hörte ich nicht mehr. Zudem erreichte ich hohe Saguarokakteen, die mir wieder Deckung verschafften. Hin und wieder sah ich die Reiter. Doch als ich am Ende der Kakteen anlangte, zogen sie ihre Pferde bereits herum und tauchten auf der Südseite des Hügelrückens unter. Sanft lenkte ich das Pferd wieder nach Norden. Vielleicht wollten die Kerle mich nur täuschen, folgten dem Hügelrücken nach Osten und ritten dann an anderer Stelle doch noch herüber. So bewegte ich mich davon weg und brachte rasch eine weitere halbe Meile zwischen mich und die lange Erhöhung, die das unwegsame und unübersichtliche Gelände teilte. Nach weiteren zwanzig Minuten sah ich in der Ferne das Schimmern auf den Dächern des Ranchos. Dort hatte ich meine Begleiter zurückgelassen, als ich in der Nacht aufgebrochen war, um zu erkunden, wie sicher wir uns fühlen durften. Seit wir aus Queretaro geflohen waren, hatten wir hier zum erstenmal Ruhe gefunden. Aber ich war nicht sicher gewesen, ob man uns nicht doch noch verfolgte. Denn immerhin war mindestens einer meiner Begleiter, der englische Arzt James Boulder, ein gesuchter Fremder. Nicht minder scharf waren manche Einheimischen darauf, auch mich zu erwischen. Auch Laureen Gilbert, die Frau eines getöteten Hoflieferanten des Kaisers, befand sich in ständiger Gefahr. Und mit ihr natürlich ihre Tochter Marie. Aber nachdem wir sicher waren, daß man uns zumindest von Queretaro aus nicht verfolgte, wuchs meine Zuversicht, daß ich den Engländer Doc Boulder sowie die Französin Laureen Gilbert und ihre Tochter nach Vera Cruz bringen konnte. Dort sollte ein Kapitän
warten, der sie auf seinem Schiff mit nach Europa nehmen würde. Das Buschland war viel dürftiger. Bald vermochte ich den Rancho mit seinen großen Korrals um die drei ebenerdigen Gebäude aus weißen Adobelehm deutlich zu sehen. Das Windrad stand bewegungslos auf seinem Gerüst über den glitzernden Dächern. Auch das Vieh in den Korrals bewegte sich nicht. Bei meiner Annäherung trat ein junger Mexikaner mit einem Gewehr in der Armbeuge aus dem Haupthaus. Der Blick des jungen Burschen war finster, als er sein Gewehr auf mich richtete. Ich ließ den Falben langsamer gehen und schlug rechts den Poncho zurück, damit mein Revolver in der Halfter sichtbar wurde. Der junge Mexikaner schien das aber nicht zur Kenntnis zu nehmen. Der Falbe blieb am Rand des Hofes stehen. »Hallo«, sagte ich gedehnt. »Ist irgend etwas passiert?« Noch ein paar Herzschläge lang musterte mich der junge Mann, dann drehte er sich um und verschwand im Haus. »Taubstumm, wie?« Kopfschüttelnd ritt ich weiter. Die Tür der Scheune am Ende des Hofes hinter dem Windradgerüst wurde geöffnet. Ich sah Doc James Boulders mittelgroße, schlanke Gestalt und das in der Sonne heller erscheinende, dunkelblonde Haar. Erleichtert atmete ich durch, zügelte bei dem Mann das Pferd und saß ab. »Ist etwas passiert?« »Die beiden jungen Burschen, die uns gestern abend empfingen, sind nicht allein hier«, erwiderte der dreißigjährige Engländer. »Sondern?« fragte ich. »Ein älterer Mann gehört auch noch dazu. Der Vater, denke ich. Der war in einem Nest, das es nördlich von hier geben muß. Seit er vor einer Stunde zurückkehrte, scheinen die uns zu bewachen.« Ich schaute über die Schulter und sah hinter einem kleinen Fenster des Haupthauses den jungen Burschen, der mit einer demonstrativ wirkenden Geste seinen Gewehrlauf herausschob. »Da sehen Sie es!« »Ja.« Ich führte den Falben an Doc Boulder vorbei in die Scheune und lächelte Laureen Gilbert und ihrer fünfjährigen Tochter Marie
aufmunternd zu. Marie lag im Stroh. Sie sah krank aus. Laureen, ihre Mutter, kniete neben ihr, befeuchtete ein Tuch in einem Eimer und legte es ihr auf die Stirn. Laureen war eine zierliche, mittelgroße und schwarzhaarige Person, die Energie und Kraft ausstrahlte. Sie hatte ein schmales, längliches Gesicht mit hohen Backenknochen und großen, ausdrucksvollen Augen von dunkler Farbe. Sie hatte längere Zeit in dem kaiserlichen Lazarett geholfen, in dem Doc Boulder Arzt war. Der Tod ihres Mannes vor einigen Tagen hatte sie schwer mitgenommen, obwohl sie sich bemühte, davon nichts merken zu lassen. »Marie hat leichtes Fieber«, sagte der Arzt hinter mir. »Kein Wunder bei dem, was sie mitmachen muß«, erwiderte ich. Boulder trat an meine Seite, nahm mir den Zügel des Falben ab und führte ihn zu den beiden anderen Pferden in der hinteren Scheunenecke. Laureen richtete sich auf und trat mir entgegen. »Wie sieht es draußen aus, Ronco?« »Die Juaristas sind überall und nirgends«, sagte ich mit gesenktem Kopf. Doch dann schaute ich auf und sie an. »Hinter uns ist niemand mehr her.« »Aber seit der ältere Mann eintraf, ist hier alles verändert. Sie stehen uns feindlich gegenüber.« »Hat jemand zu Ihnen etwas gesagt?« »Nein. Ich spüre es, Ronco. Diese Leute wollen, daß wir verschwinden. Sie haben uns auch nichts mehr zu essen gebracht, obwohl ich darum bat.« »Ja, das ist wahr.« Doc Boulder verließ die Ecke. »Aber die Hauptsache ist, daß man uns nicht verfolgt. Dann kann auch niemand wissen, wo wir zuletzt waren.« »Heute mißtrauen die Leute jedem«, sagte die junge Frau. Plötzlich wurde ihr Blick starr und richtete sich an mir vorbei.
2.
Wie einem Zwang folgend drehte ich mich um. Die beiden jungen und ein älterer Mexikaner standen im Hof neben dem in der Sonne weißleuchtenden Haupthaus. Alle drei hielten sie Gewehre in den Händen, die sich auf uns richteten. »Mein Gott«, flüsterte Laureen. Ihre Hand tastete langsam zum Hals hinauf. »Keine Panik«, murmelte ich. Boulder griff in die Tasche, wo er seinen kleinen Taschenrevolver stecken hatte. Doch ich griff nach seinem Handgelenk, schüttelte den Kopf und zog seine Hand zurück. »Den lassen wir stecken, Doc. Und ganz ruhig bleiben!« Ich ließ den Arm des Engländers los und ging auf das offene Scheunentor zu. Sie rückten mir schon entgegen. Ihre Gesichter wirkten finster und verschlossen und verrieten auch ohne Worte, daß wir hier unerwünscht waren. Der ältere der Männer war sicher schon sechzig. Er war etwas kleiner als seine drahtigen Söhne, trug aber wie sie zerlumpte, ärmliche Leinenkleidung, Sandalen an den Füßen und einen Sombrero aus Stroh auf dem Kopf. Die Gewehre der drei schienen das Beste zu sein, was sie besaßen, es waren moderne Mehrladewaffen aus den USA, solche, wie Mahon Tabor in dieses Land schmuggelte. »Was ist los?« fragte ich. »Wir kamen gestern hier an und erhielten die Erlaubnis, einige Tage zu bleiben.« »Dafür haben wir bezahlt!« sagte der Engländer. »Und nicht schlecht, möchte ich behaupten!« »Es ist mein Rancho und nicht der meiner Söhne«, entgegnete der ältere Mann. »Ich war in einer Stadt acht Meilen nördlich von hier.« »So?« sagte ich gedehnt. »Und was soll uns daran interessieren, daß Sie in einer Stadt waren?« »Man sucht nach ein paar Leuten, die aus Queretaro flüchteten«, erklärte der junge Mann links des älteren. »Darunter ein blonder Amerikaner und eine Französin, die ein Kind bei sich haben soll.« »Ich habe es doch geahnt!« stieß die junge Frau leise hinter mir hervor. »Na und?« fragte ich. Meine Hand näherte sich dem Revolvergriff und berührte ihn.
»Wir wollen damit nichts zu tun haben«, erwiderte der ältere Mann. »Wir haben hier in Frieden gelebt. Immer war das so. Immer hielten wir uns aus den Streitigkeiten um die Macht heraus. Wir hatten nichts mit den Rebellen und nichts mit dem fremden Kaiser zu tun. Wir züchten nur Vieh und bauen Mais an. Haben Sie verstanden?« »Sie wollen also, daß wir verschwinden?« Boulder trat an meine Seite. »Verstehen wir Sie richtig?« »Es könnte sein, daß ihr verfolgt werdet und man Spuren findet, die hierher führen!« stieß der zweite junge Mexikaner hervor. »Was heißt das?« Boulder streckte die Hand wieder in die Tasche, in der er den kleinen Revolver bei sich trug. Die Mexikaner schwiegen. Doch ihre schußbereiten Waffen waren weiter auf uns gerichtet. »Ihr wollt also nichts riskieren und uns für den Fall, daß Verfolger auftauchen und nach uns fragen, als Gefangene präsentieren, was?« Ich lächelte scharf. Auf englisch sagte ich zu Doc Boulder: »Dagegen müssen wir was tun, Doc. Und zwar sofort. Sie nach links. Laureen, zurück!« Im selben Moment warf ich mich nach rechts, schrammte gegen den Torpfosten und zog den Revolver. Der junge Bursche vor mir feuerte. Die Kugel pfiff vorbei und traf die Rückwand der Scheune. Laureen stieß einen Schrei aus. Das Kind weinte. Boulder landete auf der anderen Torseite im Sand und zerrte die kleine Handfeuerwaffe aus der Tasche. Ich schoß. Der junge Kerl vor mir wurde in den Arm getroffen und ließ das Gewehr aus den Händen fallen. Mit schmerzverzerrtem bösen Gesicht schwankte er wimmernd zurück. Der ältere Mann und sein anderer Sohn zögerten, da sie von Boulder und mir mit den Waffen bedroht wurden. »Werft sie weg!« befahl ich wieder auf spanisch. »Na los!« Der Ranchero blickte auf seinen wimmernden Sohn, der die rechte Hand auf den linken Arm preßte. Da öffnete der Mann die Hände. »Wir wollen mit so was nichts zu
tun haben. Wir sind friedliche Leute, die nur ihrer Arbeit nachgehen.« Auch der andere junge Bursche ließ sein Gewehr fallen. Doc Boulder erhob sich und schlug über seine staubige Hose. Ich ging auf die Mexikaner zu, stieß erst den älteren Mann an mir vorbei und dann den jungen Burschen. Der Verletzte folgte seiner Familie danach von selbst. »Was soll jetzt werden?« fragte Laureen. »Wir werden sie fesseln«, entschied ich. »Wir binden jeden von ihnen in einer anderen Ecke fest. Dann dürften wir genügend Vorsprung gewinnen, um vor denen sicher zu sein. Doc, kümmern Sie sich um ein paar geeignete Stricke?« Der Engländer wandte sich dem Korral zu. Lassos hingen über dem Zaun. Der Boulder brachte zwei davon in die Scheune, wo er sie mit seinem Messer zerschnitt. Während ich die Mexikaner weiterhin mit dem Colt in Schach hielt, wurden sie von dem Engländer jeder für sich in drei verschiedenen Ecken ans Gebälk gebunden. Die bis in die Erde reichenden Dachstützen waren dick und aus festem Holz. Allein würden die Mexikaner sich nicht befreien können. Das bedeutete jedoch für sie insofern keine Gefahr, als ich ganz sicher damit rechnete, daß bald suchende Soldaten auftauchen mußten. Sie waren überall und würden auch hier erscheinen. »Sei still, Marie«, sagte Laureen Gilbert, die bei ihrer Tochter kniete. Ich führte die Pferde in den Hof und schaute mich um. Noch lag das weite, unter dem Sonnenlicht gleißende Land scheinbar verlassen um den Rancho. Doc Boulder trat mit seinem Sattel nach draußen und legte ihn seinem Pferd auf. »Wir brauchen zumindest für Marie etwas zu essen. Obwohl uns eigentlich allen der Magen knurrt. Oder Ihnen nicht?« »Doch. Ich sehe nach.« Der Zügel des Falben glitt aus meiner Hand, ich wandte mich dem Haupthaus zu. Drinnen sah es ziemlich wüst nach Männerwirtschaft aus. Alles verfügbare Geschirr stand benutzt in einer großen Waschschüssel neben der Wasserpumpe, von der aus ein rostiges Eisenrohr in den
festgestampften Lehmboden führte. Auch der Tisch war mit Tellern, Messern und Mahlzeitresten überladen. Ich durchsuchte den aus Brettern gezimmerten Schrank, die in die Wand eingelassene Speisekammer und die Kisten, die auch als Bänke um den Tisch dienten. Außer etwas Ziegenkäse und einem halben Maisbrot fiel mir nichts in die Hände. Sie waren wirklich arme Leute, die offenbar nicht einmal eins der wenigen, mageren Langhorns schlachteten, so daß man fürchten mußte, sie könnten eines Tages an ihrem Geiz zugrunde gehen. Ich legte für das gefundene Essen ein paar Kupfermünzen auf den überladenen Tisch – reichliche Bezahlung für das alte Maisbrot und den Käse, der nur ein übriggebliebener Rest war. Als ich in den Hof trat, hatte der Doc alles für den Abritt vorbereitet. Laureen und ihre Tochter saßen bereits auf dem einen Pferd. Boulder saß eben auf. Seine Kiefer begannen zu arbeiten, als er das Brot in meiner Hand sah. Ich warf es ihm zu, gab Laureen den Ziegenkäse und ging hinter die Pferde, um das Tor zu schließen. »Er ist verletzt!« rief der ältere Mann und schaute zu seinem von der Kugel getroffenen Sohn. Das Tor loslassend ging ich hinein und auf den Getroffenen zu, dem aber Doc Boulder bereits den Arm verbunden hatte. Ich sah nur flüchtig danach, weil es mir dumm erschien, etwas zu kontrollieren, was der Doktor viel besser konnte als ich. »Wir werden hier umkommen!« erklärte der Ranchero wütend. »Man wird euch finden«, erwiderte ich. »Die Juaristas suchen überall. Sie sind bald hier und werden euch befreien. Sie werden dann überzeugt sein, daß ihr gute Landsleute für sie seid.« Ich lächelte verächtlich. »So wie ihr auch für den fremden Kaiser welche gewesen sein dürftet.« »Wir gehen nur unserer Arbeit nach!« rief der ältere Mann. »Alles andere ist uns egal!« Mein Blick glitt noch einmal durch die Scheune, in der wir gehofft hatten, uns ein paar Tage von den Strapazen der Flucht erholen zu können. Aber vielleicht war es besser, daß wir weiterritten und
versuchten, möglichst schnell zur Küste zu gelangen. Ich ging hinaus, schloß das Tor und stieg auf mein Pferd. Doc Boulder warf mir ein Stück des harten Maisbrots zu. »Das ist so alt wie die Berge in der Sierra. Beißen Sie sich nicht die Zähne daran aus, Ronco!« »Ich werde es ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen«, versprach ich lächelnd. Marie hatte sich beruhigt und wurde von Laureen mit kleinen Bissen Brot und Ziegenkäse gefüttert. Aber sie war vom Fieber schon so sehr geschwächt, daß sie nur noch lustlos aß. Ich sah dem Doktor an, daß er in erheblicher Sorge um das Kind war. »Also los!« Ich lenkte den Falben am Schuppen des Ranchos vorbei und ritt nach Nordosten. Sie folgten mir. Wir ritten hinaus in das bald wieder von Kakteen, hostartigen Tannengehölzen, Yuccasträuchern und Rotdorn überwucherte Land. Oftmals bedeckte geborstene, graue Lava streckenweise den Boden. Feiner Staub wurde von den Hufen unserer Pferde aufgewirbelt und hing hinter den Tieren wie ein Polster dicht über dem Boden. Ich ritt in einen Graben hinunter und im steinigen Bett weiter nach Norden und hoffte, daß sich spätestens hier unsere Spuren für eventuelle Verfolger für immer verlieren würden. Unser Problem, mehr und bessere Verpflegung und auch Medikamente für Marie zu erhalten, löste sich damit allerdings noch nicht. Mit Sorge dachte ich daran, daß in der Stadt im Norden, die der Ranchero aufgesucht hatte, von uns gesprochen worden war. Bald verließ ich den Arroyo und lenkte den Falben nach Osten. Niemand von uns sprach ein Wort. Immer wenn ich hinter mich schaute, sah ich Laureen Gilberts sorgenvolles Gesicht und ihre schmale Hand, die das Kind vor ihr auf dem Pferd festhielt. Je mehr Stunden vergingen, um so mehr schien es mir, als würde das schöne Gesicht der Französin härter, als würde ihre alte Energie mehr und mehr zurückkehren. Das steigerte meine Zuversicht, daß wir es schaffen könnten, Vera Cruz zu erreichen. Doc James Boulder ritt am Schluß unseres kleinen Zuges. Er schaute hin und wieder zurück, ohne dort jemals etwas anderes als
das karge, ausgedörrte Land zu sehen. Erst gegen Mittag fanden wir einen armschmalen Wasserlauf. Er plätscherte noch relativ kühl aus einer Spalte im felsigen Hang eines Hügels und verdunstete wenige Yards weiter in seinem steinigen Bett auf den heißen, abgewaschenen Steinen. Ich stieg ab, reinigte mir die staubigen Hände im glasklaren Wasser, legte sie danach zusammen, fing das Wasser damit auf und trank es. Da es nicht alkalihaltig schmeckte und genießbar erschien, nickte ich den anderen zu und nahm Laureen das schlafende, vom Fieber gezeichnete Kind ab. Während sich die anderen am Wasser stärkten, ging ich durch die trockene Rinne zurück und beobachtete nun meinerseits das schwer überschaubare Gelände im Westen. Der Engländer trat zu mir herüber. »Wir müssen irgendwo für eine Weile bleiben, Ronco. Wegen Marie.« »Ich weiß.« »Und zwar bald!« »Ja«, sagte ich leicht ungeduldig. »Aber wo? Sie braucht auch etwas Kühle. Schatten! Also mindestens ein Dach. Sehen Sie irgendwo ein Dach oder was anderes, was dazu dienen könnte?« Doc Boulder schaute sich gar nicht erst um, weil es nichts gab, was zu Maries Schutz vor der Hitze geeignet gewesen wäre. »Gute Lebensmittel wären das Wichtigste. Heilkräuter, wie es sie in jedem Gemischtwarenladen gibt, selbst im kleinsten Dorf noch. Das würde dem Kind bestimmt schnell wieder auf die Beine helfen.« »Wir halten an, sobald sich dazu eine Möglichkeit bietet.« Ich wandte mich um und ging zur anderen Seite zurück. Marie war munter. Ihr Gesundheitszustand war jedoch so angegriffen, daß sie apathisch in den Armen ihrer Mutter ruhte, mich zwar anschaute, aber nicht zu sehen schien. »Wir reiten weiter«, entschied ich in einem Ton, der Widerspruch ausschloß. »Ich helfe Ihnen, Laureen!« Ich nahm der Frau das Kind ab und wandte mich den Pferden zu. Laureen stieg in den Sattel. Ich gab ihr das fiebernde Kind hinauf, holte die beiden leeren Flaschen, die wir hatten und füllte sie am Creek. Boulder nahm mir eine davon ab.
Minuten später lag der kurze Creek schon hinter uns, und wir hielten weiter Ausschau nach einem Unterschlupf. * Die Sonne tauchte langsam in einen blutroten Streifen am fernen Horizont im Westen. Ihre letzten, langen Strahlen vergoldeten das große Kreuz auf einem fernen Kirchturm und ließen die weiße Wand des Gemäuers hell erstrahlen. Die ferne Stadt mußte in einer Senke liegen, in die wir vom Standort, an dem wir hielten, nicht hineinschauen konnten. Aber sie war nicht weiter als zwei bis drei Meilen entfernt. Eine Dunst- und Staubglocke stand darüber bewegungslos über dem Land. »Eine Stadt«, sagte Laureen. Neue Hoffnung schimmerte in ihren Augen, als sie mich anschaute. Auch der Engländer wandte mir das Gesicht zu. »Wissen Sie, wie sie heißen könnte?« »Nein.« »Soll ich mal hinreiten?« »Auf keinen Fall heute abend«, erwiderte ich. Der Engländer zeigte Überraschung. »Wann dann?« »Morgen früh. Dann herrscht Leben in den Straßen, und viele Leute bemühen sich um Lebensmittel und andere Dinge. Dann kann man sich viel unauffälliger bewegen als am Mittag oder am Abend, wenn die Straßen wie leergefegt sind.« »Ja, das stimmt«, sagte die Französin. »Wir haben nie gelernt, was man auf der Flucht alles bedenken muß, James.« Ich spürte, daß sie mich beide anblickten, vermied es aber, daß mein Blick den ihren kreuzte. Statt dessen wendete ich den Falben nach Osten und ritt auf ein scheunenartiges Lehmgemäuer zu, das halbverfallen in einem Kakteengewirr stand. Das Dach hing auf einer Seite schon so weit über der eingestürzten Wand, daß zu befürchten war, es könne jede Minute ganz einfallen. Ich hielt neben dem losgerissenen, umgefallenen und zersplitterten Tor und saß ab. In der ehemaligen Scheune, um die es keine Felder mehr gab, weil
das Land offenbar aufgegeben worden war, sah ich einen alten, morschen Wagen, über dessen Räder und Planken sich Spinnengewebe wie ein mausgrauer Vorhang woben. Eine rostige Egge lag in einem abgeteilten Verschlag, der ebenfalls keine Tür mehr hatte. Altes Stroh bedeckte den Boden. Schaufeln, Spitzhacken und ein Rechen bildeten einen Haufen an der Nordwand. »Scheint zu einem aufgegebenen Rancho gehört zu haben«, sagte der Engländer an der Tür. »Hier jagt uns sicher keiner fort.« Ich ging zurück, nahm der Französin das Kind ab und hielt es, bis Boulder eine Decke an der Wand nahe des Tores ausgebreitet hatte und ich Marie darauf betten konnte. Laureen setzte sich zu dem Kind. »Ich reite morgen früh in die Stadt«, erklärte ich. »Vorausgesetzt es streicht während der Nacht niemand hier herum. Wir werden wachen, Doc. Abwechselnd.« James Boulder nickte. Wir führten die Pferde in die Scheune und sattelten sie ab. Unser Wasser wurde mit ihnen geteilt und nur ein Rest für Marie aufgehoben. Sie lag mit geschlossenen Augen auf der Decke. Rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Sie redete im Fieber und streckte abwehrend die Arme aus, als wollte sie eine Gefahr von sich abhalten. Doc Boulder zog mich zur Seite und flüsterte: »Sie müssen vor allem an Heilkräuter denken, Ronco. Aber auch an etwas, das kräftigt. Wenn man zum Beispiel einen guten Rinderknochen mit noch etwas Fleisch dran auf treiben könnte …« »Ich weiß schon, was Sie meinen«, entgegnete ich, hob mein Gewehr auf und verließ die halbverfallene Scheune. Die Sonne war verschwunden. Noch stand ein heller Streifen im Westen über den Hügeln. Doch auch er verschwand langsam. Am Himmel erglühten die Sterne, und der Mond warf silbernes Licht auf die Wildnis. Kojoten heulten in der Ferne. Ich klemmte die Spencer mit dem Ellenbogen gegen die Hüfte und ging langsam in einem großen Kreis um das alte Gemäuer. Das Heulen der Kojoten wurde lauter. Sie wagten sich näher
heran. Ihre Lage war auch nicht besser als unsere. Es gab kein Wild in dieser trockenen, verlassenen Gegend, über das sie hätten herfallen und ihren Hunger stillen können. So wagten sie sich mitten im Sommer an uns Menschen heran. Irgendwann erschien Boulder, stülpte seinen Hut auf und nahm mir das Gewehr ab. »Die verdammten Bestien lassen mir keine Ruhe. Zur Hölle, Ronco. Versuchen Sie es.« »Die greifen nicht an«, erwiderte ich. »Nicht zu dieser Jahreszeit. Denn so schlimm wie im Winter ist ihr Hunger jetzt doch nicht. Ab und zu finden sie etwas.« »Ihr Wort in Gottes Ohr«, murmelte der Engländer. Ich ging in die Ruine und legte mich in der Nähe der Frau nieder. Laureen und ihr Kind schliefen. Das beruhigte mich einigermaßen.
3. Die Kojoten hatten sich wirklich nicht ganz an uns herangewagt. Und Menschen waren auch nicht aufgetaucht. So verließ ich die anderen beim ersten Sonnenschein und erreichte das kleine Nest in der langen Mulde zur günstigsten Stunde. Ich hatte meinen Hut tief in die Stirn gezogen und den Poncho über den Navy-Colt geschlagen, um einen friedlichen Eindruck zu erwecken und für einen Einheimischen gehalten zu werden. Außerdem lenkte ich meinen Falben immer möglichst dicht an den Häusern entlang und blieb auf der Ostseite, um den Schatten für mich zu haben. Lebhaftes Treiben erfüllte den Ort. Frauen und Männer waren unterwegs. Kinder tollten auf den Straßen. »Soldaten!« rief plötzlich eine Stimme. Ich drängte den Falben gegen die Wand und zog den Hut rasch noch tiefer in die Stirn. Soldaten sprengten im Galopp aus einer Gasse und vorbei. Ein schwarzbärtiger Offizier in einer goldgeschmückten Phantasieuniform führte sie an. Niemand beachtete mich. Ich schnalzte mit der Zunge und ritt die Gasse weiter hinauf. Meine Blicke versuchten alles zu sehen, und bald war ich überzeugt,
daß ich unbeachtet blieb. Von mir schien hier niemand etwas zu wissen. Es hatte sich also gelohnt, einen ganzen Tag lang nach Osten zu reiten. Da es keine Telegraphenverbindung in dieser Richtung gab, wuchs meine Sicherheit so sehr, daß ich bei einem Mann anhielt, der unter einem Vordach im knarrenden Schaukelstuhl saß und eine dicke Zigarre rauchte. »Entschuldigen Sie«, sagte ich, bemüht, ein gutes Spanisch zu sprechen. Der Mann schaukelte nicht mehr und nahm die Brasil aus dem Munde. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er mich. »Ich suche ein Geschäft, in dem es Heilkräuter und Lebensmittel gibt. Wo kann ich beides finden, Senor?« »Reiten Sie um die Plaza herum und halten Sie bei Senor Perez. Er handelt mit allem, was Mexiko derzeit zu bieten hat. Sie sind fremd in Porfriar.« Mir war sofort klar, daß Porfriar der Name der Stadt sein mußte, den ich aber nirgendwo hatte lesen können. »Ja«, sagte ich schnell. »Ach so.« Der Mann lehnte sich zurück und klemmte die dicke Zigarre zwischen die Lippen. »Danke, Senor.« Ich tippte an meinen Hut, lächelte freundlich und ritt schnell weiter. Die Plaza bestand aus einem großen, gepflasterten Rund mit einem Brunnen in der Mitte, über dem eine Holztrommel als Winde angebracht war. Die Eimer wurden daran an einem langen Seil in die Tiefe gelassen. Ein auf der Brunnenmauer stehender Mann in Hemdsärmeln bewerkstelligte dies. Hinter ihm standen Frauen in langer Schlange, um bedient zu werden. Wanderte ein voller Wassereimer über die neben dem Mann nasse Mauer, dann wechselte eine Kupfermünze den Besitzer. »Pablo Perez«, stand über dem Gemischtwarenladen neben der Kirche.. Es stand keine Menschentraube vor dem Geschäft, aber drinnen war es gerammelt voll. Ich hielt davor, stieg ab und band den Falben an die dafür vorgesehene Zügelstange im Schatten der Kirche. Aber kaum war ich drinnen, da hörte ich draußen Rufe und sah Menschen mit leeren und vollen Eimern von der Plaza rennen. Das Pflaster an dem Brunnen hallte wider unter den Hufeisen von
Pferden. Der schwarzbärtige Offizier in der Phantasieuniform tauchte vor seinen Soldaten auf. Sie ritten um die Plaza herum und hielten ausgerechnet vor dem Geschäft, in dem ich mich befand. »Heilige Jungfrau Maria!« rief die Frau hinter dem belagerten Tresen. Sie verlor ihr Fleischermesser und ein Steak aus den Händen und kippte von einem Schwächeanfall überwältigt um. Auch der Mann, neben dem sie eben noch gestanden hatte, wurde bleich. Menschen flohen nach draußen. Ich schob mich gegen die Wand und verfluchte mich, weil ich zu schnell von der Tür weg an die Wand getreten war und nun keine Fluchtmöglichkeit hatte. Aber mit mir blieben mehr als ein Dutzend weiterer Männer und Frauen im Laden, die es hinaus nicht mehr schafften. Ein paar der hastig Fliehenden wurde zurückgeschoben. Soldaten drangen ein. »Perez?« rief der Schwarzbart. Der Mexikaner hinter dem Tresen zog den Kopf zwischen die Schultern. »Sind Sie Perez?« fragte der Offizier streng. »Ja, Senor.« »Sie sind verhaftet!« Sein Blick flog über die Runde und glitt auch über mich hinweg. »Alles was hier steht, ist verhaftet!« Die wild aussehenden Juarista-Soldaten drängten herein. Eine Frau wurde gegen mich gestoßen und versperrte mir zusätzlich den Weg zur ohnehin besetzten Tür. Die Soldaten bahnten sich mit Gewalt eine Gasse bis an die Theke und warfen diese kurzerhand um. Der Mann dahinter wurde mit zwei Gewehrkolben zusammengeschlagen, an den Beinen ergriffen und hinausgezerrt. Zwei weitere Soldaten zerrten die in Ohnmacht gefallene Frau hinterher. »Ihr seid alle verhaftet!« rief der Schwarzbart wieder. »Wer eine Waffe bei sich trägt, soll sie abliefern. Los, los, hinaus mit euch Kaiserpack!« »Wir haben mit dem Kaiser nichts zu tun!« rief eine Frau empört. »Wir sind nur hier, um Lebensmittel zu kaufen!« »Er war ein Spitzel des Kaisers in Porfriar!« schrie der Offizier. »Und wer bei ihm kauft, ist auch einer.«
Die Frau vor mir wurde am rechten Arm gepackt und hinausgestoßen. Der Offizier schaute mich streng und durchbohrend an. Ich schlug den Poncho zurück, weil ich wußte, daß meine Lage noch prekärer werden mußte, wenn sie den Navy-Colt später bei mir entdeckten. Der Offizier in der Phantasieuniform sah ihn, zückte seinen Revolver und richtete ihn auf mich. Mir wurde recht mulmig in dem stickigen, von Schweißgeruch erfüllten Gemischtwarenladen, den ich besser nicht betreten hätte. Der Schwarzbart stieß mir die achtkantige Mündung seines Revolvers über der Gürtelschnalle gegen den Poncho, von dem der Staub rieselte. Mit der anderen zog er mir den Navy-Colt aus der Halfter. »Den Patronengurt!« befahl er. Die anderen wurden alle wenig sanft nach draußen befördert. Ich schnallte den Patronengurt ab und gab ihn dem Offizier. Alle anderen waren schon draußen. Nur ein Teil der gefährlich ausschauenden Juaristas trat wieder ein. Sechs Gewehre richteten sich auf mich. Ich konnte nur hoffen und beten, daß keiner so nervös und rachedurstig war, den Finger zu krümmen. »Ein Gringo«, sagte einer verächtlich. Eiskalt rann es mir über den Rücken. Ich meinte, der Boden würde sich unter meinen Füßen bewegen. Der durchbohrende Blick des Offiziers hatte etwas Glitzerndes angenommen, was ihn wie einen Fisch aussehen ließ, der versehentlich aufs Trockene geraten war. »Ich bin kein Gringo«, erklärte ich forsch. Mir blieb gar nichts weiter übrig. Ein Amerikaner, der nicht auf Seiten der Juaristas stand, hatte bei denen keine Chance und nur noch mit einer Kugel zu rechnen. »Blonde Mexikaner gibt es nicht«, sagte der Soldat. »Das ist nicht wahr!« stieß ich heftig hervor. Mein Blick war auf den Offizier gerichtet, weil nur er hier die Entscheidungen zu treffen hatte. »Natürlich gibt es das. Vielleicht nicht sehr oft.« »Nein«, sagte der Soldat gereizt. Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwann einmal soll ein Ire
unter meinen Vorfahren gewesen sein, Teniente. Daher die blonden Haare.« »Ein Ire?« fragte der Schwarzbart. »Ja, Teniente.« Ich fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn in der Anrede zum Capitan zu befördern. »Was ist ein Ire?« »Ein Mann von einer grünen Insel in Europa«, entgegnete ich rasch. »Sie kamen in großer Zahl herüber. Aber die Amerikaner mochten sie nicht. So geriet einer von ihnen hierher. Schon vor langer Zeit.« Der Offizier hatte keine Ahnung, von was ich redete, und das schien mein Glück zu sein. Denn um seine Unwissenheit zu kaschieren, fiel ihm nichts anderes ein, als den Eindruck zu erwecken, er glaube mir. An die anderen Soldaten gewandt sagte er: »Er redet wie einer, der immer hier lebte. Vera-Cruz-Dialekt.« Sein Blick fiel wieder auf mich. »Ja«, erwiderte ich schnell und strahlte ihn an. »Ich habe in VeraCruz im Hafen gearbeitet.« »Er lügt!« beharrte der Soldat, der klüger als der Offizier war, aber weniger vom Glück begünstigt zu sein schien. Das wunderte mich insofern nicht, als für die höheren Chargen aller Armeen keine Leute gebraucht wurden, die denken konnten, da diese oft genug mit dem Empfang mitunter recht sinnloser Befehle kollidieren konnte. »Verhaftet«, erklärte der Offizier und ging damit jeder weiteren Diskussion mit seinen eigenen Leuten aus dem Weg. Dies zeugte immerhin davon, daß er nicht ganz und gar auf den Kopf gefallen sein konnte. Sie packten mich, bugsierten mich durch den Laden und mit einem Stoß in den Rücken hinaus. Ich stolperte über die Schwelle und stürzte auf die Straße. Doch sie zerrten mich sogleich wieder auf die Füße und jagten mich mit den anderen weiter. Quer über die Plaza wurden wir zu einem langen Mietstall getrieben, in dem keine Pferde mehr standen. Dafür war er schon von rund zwanzig anderen Gefangenen bevölkert. Sorgenvolle Gesichter starrten durch das Halbdunkel des langen Gebäudes, in dem es außer
der Tür nur an Lichtschächte erinnernde, winzige Fenster gab, die man mit Latten kreuz und quer vernagelt hatte. »Viva, Benito Juarez!« brüllte jemand sinnlos. Ein weiterer Stoß beförderte mich in eine Box, raubte mir den Boden unter den Füßen und ließ mich ins Stroh fallen. Geschrei und Weinen umgaben mich, untermalt von den barschen Befehlen unserer Peiniger. Ich fragte mich, ob mich der Teufel geritten hatte, in die Stadt zu reiten. Ich hatte doch genau gewußt, wie brutal sie vorgingen und wie gering die Chance war, ihnen wieder zu entwischen, wenn man in ihre Fänge geriet. Und dahin gerieten wesentlich mehr Menschen als nur entfernt mit dem Regime des fremden Kaisers wirklich zu tun hatten. Es war sozusagen wie beim Hobeln, wobei eben auch Späne fallen. Die Mexikaner wurden in die Boxen getrieben, und wer dabei nicht schnell genug lief, den beförderten sie mit Hieben hinein. »Was habt ihr mit mir vor?« rief der Ladenbesitzer Perez vor dem zum Gefängnis umfunktionierten Mietstall. Ein paar Soldaten trieben ihn und seine Frau wie Vieh vorbei. An der Tür zogen zwei Posten mit angeschlagenen Gewehren in den Händen auf. Draußen patrouillierten weitere Juaristas. »Ich hatte mit den Kaiserlichen nie zu tun!« rief ein Mann beschwörenden Tones. »Hör auf, Jose«, meldete sich eine andere Stimme. »Sie werden es nachprüfen, wenn du an der Reihe bist, oder sie werden es lassen. Es ändert sich nichts, wenn du herumschreist.« »Im Gegenteil«, sagte ein dritter Mann. »Wenn man ihnen mißfällt, machen sie kurzen Prozeß!« Alles deutete daraufhin, daß sich die Soldaten zunächst einmal mit unserer Gefangenennahme begnügten. So streckte ich meinen müden Körper im Stroh aus und beschloß zu schlafen und Kräfte zu sammeln. An Flucht war mindestens im Moment nicht zu denken.
4. Die Sonne stand so hoch am Himmel, daß von der Ruine der Scheune in der Einöde fast kein Schatten mehr in den leuchtenden
Sand gezeichnet wurde. Doc Boulder stand unter dem Torbalken und schaute nach Süden. Im Dunst war der ferne Kirchturm der ihm unbekannten Stadt nicht zu erkennen. Erst am Abend, wenn die Luft für eine halbe Stunde kühler und klar wurde, würde er ihn wieder sehen können. »Sehen Sie ihn, James?« fragte die Frau. Der Engländer wandte sich um. Sein Blick lag mitfühlend auf der jungen, ihm gleichaltrigen Frau, die bei Marie kniete. Dem Kind ging es noch schlechter. Manchmal redete es laut und unzusammenhängend im Fieber und immer wieder focht es Kämpfe mit imaginären Feinden aus, die in seiner Phantasie auftauchten. »Er müßte längst zurück sein«, sagte die Frau. »Vielleicht kam etwas dazwischen?« »Was?« Der Engländer hob die Schultern. »Vielleicht hat sein Pferd ein Eisen verloren und er muß es beschlagen lassen. Oder er muß auf eine nicht vorrätige Ware warten.« »Das glauben Sie doch alles selbst nicht.« Laureen ging auf ihn zu. Er schaute in ihre dunklen Augen, die ihn mit magischer Kraft anzogen. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, da er sich längst im klaren darüber war, daß er sie liebte. Er meinte auch bei ihr Zuneigung zu entdecken. Doch er wagte nicht, durch eine Geste zu verraten, was er dachte und fühlte. Daß es ihr ähnlich gehen könnte, darauf kam er nicht. So kurz nach dem Tod ihres Mannes hielt er es auch nicht für möglich. Dabei übersah er allerdings, daß er der einzige Mensch war, der ihr aus dem alten Bekanntenkreis verblieb, der einzige, an den sie sich auch in Zukunft halten konnte. Denn Ronco hatte ihrem Mann nur versprochen, sie möglichst sicher nach Vera Cruz zu begleiten. Das aber war nur eine Etappe, wenn auch die mit Abstand gefährlichste auf ihrem weiteren Lebensweg. »Es könnte schon sein, daß er einfach nur aufgehalten wurde«, sagte Boulder. »Vielleicht …« Er brach ab. »Was wollten Sie sagen?« »Ich meine, vielleicht sollte ich in die Stadt reiten und …«
»Nein, nein!« unterbrach sie ihn hastig. In dieser Minute vermochte Doc James Boulder Sorge und Angst in ihren Augen zu erkennen. »Sie haben ja Angst um mich«, sagte er erstaunt. »Ja, ich habe Angst um Sie und Angst davor, plötzlich mit Marie ganz allein zu stehen.« Sie griff nach seinem Arm. Der Engländer spürte die Wärme ihrer Finger und den Druck durch den Stoff. Doch bevor er etwas sagen konnte, ließ Laureen seinen Arm los, wandte sich ab und ging zu dem Kind zurück. James Boulder folgte Laureen und setzte sich ihr gegenüber bei dem Mädchen auf den Boden. Marie schlief jetzt fest und phantasierte nicht mehr. »Soll ich ihr ein paar Wadenwickeln anlegen?« fragte Laureen. »Nicht jetzt. Im Augenblick scheint es ihr etwas besser zu gehen. Wenn wir Lebensmittel erhielten, wäre sie bestimmt in kurzer Zeit wieder richtig auf den Beinen.« Boulder rückte gegen die Wand und schloß die Augen. »Sind Sie müde, James?« »Es geht.« »Doch, Sie sind sehr müde, das sehe ich Ihnen an. Kein Wunder, Sie haben höchstens zwei Stunden von achtundvierzig geschlafen, nicht wahr?« Er hatte die Augen wieder geöffnet und lächelte müde. »Ja, so ungefähr.« »Schlafen Sie nur, ich halte die Augen offen.« Der Engländer nickte der Französin zu und schloß wieder die Augen. Doch er dämmerte nur vor sich hin. Zu viele Ängste plagten ihn, als daß er richtig hätte einschlafen können. Das Stroh raschelte leise. Laureen ging vorbei. Danach war es eine Weile still. Aber vielleicht war James Boulder doch noch eingeschlafen und dachte nur, es wäre still. Er zuckte zusammen und fuhr in die Höhe, als die Französin einen Schrei ausstieß. »Was ist denn los?« Er hatte keine Ahnung, ob nur Minuten oder eine ganze Stunde verstrichen waren.
Laureen stand im Torausschnitt der Ruine und deutete hinaus. Er war mit zwei Schritten neben ihr, sah eine Staubwolke im Nordwesten und darunter einen Reiterpulk, der sich näherte. »Soldaten!« rief die Frau entsetzt und bleich wie eine neue Lehmwand, die in der Sonne getrocknet war. Die Geschosse in den Schultergurten der Uniformierten funkelten in der Sonne. »Die reiten hierher«, sagte die Frau. Ihre Hände schlossen sich um seinen Arm wie die eines Ertrinkenden um den Rettungsring, der ihm in letzter Minute zugeworfen wird. James Boulder trat mit ihr zurück, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie fest an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen und als könne sie das schützen. Der Hufschlag hallte dumpf in der Ruine wider, klang den beiden verzweifelten Menschen aber wie Hohngelächter in den Ohren. Laureen lief der Schweiß in Bächen über das weiße Gesicht. Boulder blickte auf die Reiter. Es schien ihm, als würden sie bei Beibehaltung ihrer derzeitigen Richtung um einige hundert Yards an der Ruine vorbeireiten. Da es hier absolut nichts gab, was einen Menschen interessieren konnte, hoffte er darauf, daß sie geradeaus weiterritten. Schritt um Schritt zog er sich mit der Frau zurück, um nicht gesehen zu werden. Sie erreichten ihre leise schnaubenden Pferde. James Boulder ließ die Französin los. »Halten Sie Ihrem Tier die Nüstern zu, Laureen, damit die Pferde uns nicht verraten.« Er zeigte ihr, wie sie es machen müßte. Sie nickte und war bemüht, ihre Angst zu überwinden. Das Kind schlief noch. Der Hufschlag hallte durch die Ruine. Von dort, wo Laureen und der Engländer standen, waren die Reiter nicht mehr zu sehen. Doch schon bald tauchten sie wieder in ihrem Blickfeld auf und ritten jenseits der Kakteen und Büsche nach Südosten. Der Scheunenruine genau gegenüber hielten sie an und schauten herüber. Laureen meinte, ihr Herzschlag würde aussetzen. Ein Anfall von Schwäche ließ sie taumeln. Boulder ließ den Kopf seines Pferdes los
und fing die Frau auf. Mit ihr trat er gegen die Wand zurück, beobachtete aber weiter die Soldaten. »Es geht schon wieder.« Laureen befreite sich aus seinem Griff, wandte sich um und schaute hinaus. Die Soldaten schienen uneins zu sein, ob sie hinüberreiten oder den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen sollten. Laureen tropfte der Schweiß vom Kinn. Boulders Pferd schlug mit dem Schweif nach einer Stechfliege, die sich immer wieder in sein Fell setzen wollte. Das Zirpen des Tieres war das einzige Geräusch in der verfallenen Scheune. »Ich halte das nicht mehr aus.« Laureen sank langsam in die Knie. In diesem Augenblick gab der Offizier einen Befehl und winkte mit der Hand voraus. Die Reiter setzten ihre Pferde in Bewegung und entfernten sich. James Boulder atmete auf und wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel vom Gesicht. Laureen richtete sich zitternd und mit weichen Knien auf. Draußen verlängerte sich die Staubfahne. Einer nach dem anderen verschwanden die mexikanischen Soldaten, und es war rasch zu hören, wie sich auch der Hufschlag ihrer Pferde entfernte. »Sie haben uns nicht gesehen.« Laureen schüttelte den Kopf, weil sie es nicht begriff. Der Engländer zog sie an sich und streichelte über ihr dunkles Haar. Er spürte, wie sehr sie immer noch am ganzen Körper bebte und das Bedürfnis hatte, bei ihm Schutz zu finden. Bald darauf verklang der Hufschlag. Boulder ließ die Französin los, ging zum Eingang der alten Scheune, schaute hinaus und sah im lichten Staub die Reiter im Südosten. »Reiten sie zu der Stadt?« fragte die Frau. Er wandte sich um. »Nein.« »Gott sei Dank dafür. Ronco hätte ihnen genau in die Arme reiten können!« Marie bewegte sich im leise raschelnden Stroh und schlug mit den Händen um sich. Wieder phantasierte sie im Fieber. James Boulder schaute nach Süden. Undeutlich meinte er im Dunst den Kirchturm in der Ferne zu sehen. Aber er bemerkte davor
nichts von einem Reiter, nichts von Ronco, den er herbeisehnte und um den seine Sorge ständig wuchs. * Das Heulen der Kojoten erschallte in nächster Nähe und weckte ein nervenaufreibendes Echo in der Ruine. James Boulder lag aneinander geschmiegt mit Laureen Gilbert im Stroh und lauschte auf das Heulen der Tiere, die um die verfallene Scheune zu schleichen schienen. Ein lauter Windstoß strich über das wüstenartige Land und ließ das Gestrüpp um das Gemäuer leise rascheln. Laureen hob den Kopf. »Hören Sie einen Reiter, James?« »Nein, es nähert sich kein Reiter.« Er sah ihr Gesicht wie einen hellen Fleck in der tiefen Nacht der Ruine. Aber das Schimmern ihrer Augen erkannte er deutlicher, und es zeigte ihm alle Höllen, durch die sie ging. Er wußte auch nicht, wie es geschah, daß er sie auf einmal küßte. Doch als er ihre Hände im Nacken spürte, wußte er, daß sie darauf schon lange gewartet haben mußte. Marie phantasierte leise, blieb aber still neben ihnen liegen. »Ist es ein Unrecht, was wir tun?« fragte die Frau. »Nein, Laureen.« »Mein Mann ist erst wenige Tage tot.« »Es ist eine schreckliche Zeit für uns, Laureen. Nichts ist so, wie es als normal unter den Menschen verstanden wird. Alles ist anders. Nur gemeinsam haben wir eine Chance, zu entkommen und ein neues Leben zu beginnen. Ich glaube, wenn dein Mann uns sehen und etwas sagen könnte, er wäre einverstanden.« »Ja, das glaube ich auch. Allein könnte ich es mit Marie nicht schaffen. Und er würde es verstehen. Ich bin ganz sicher, daß er es verstehen würde!« Er zog sie dichter an sich und küßte sie wieder. »Und wir werden es auch schaffen. Du wirst es sehen.« Minutenlang lagen sie ruhig nebeneinandergeschmiegt und lauschten auf das aufreibende Heulen der Kojoten.
»Ihr Instinkt sagt ihnen, daß wir am Ende sind und zu einer leichten Beute für sie werden, wenn sie nur lange genug warten.« Laureen befreite sich sanft aus seinen Armen und stand auf. »Ihr Instinkt trügt sie.« Auch James Boulder erhob sich. »Wir werden keine Beute für die Kojoten und schon gar keine leichte. Wir schaffen es, die Heimat zu erreichen. Wir müssen nur fest daran glauben.« »Ja, wir schaffen es.« Laureen blickte auf das fiebernde Kind. »Für Marie.« Sie gingen gemeinsam zu dem zertrümmerten Tor vor dem großen Loch in der Wand und schauten nach Süden, wo in der Dunkelheit der Nacht die kleine Stadt lag, zu der Ronco vor ungefähr achtzehn Stunden geritten war. »Er sagte während der letzten Nacht, daß ich unter allen Umständen bei dir bleiben sollte, Laureen, was auch passiert.« »Auch wenn er nicht zurückkehrt?« »Ich denke, gerade das dürfte er damit gemeint haben«, erwiderte der Engländer. »Was werden wir tun?« »Noch wollen wir warten.« Sie gingen wieder hinein und legten sich ins Stroh. Draußen strichen die Kojoten um die Ruine, standen lauernd zwischen den Kakteen und beobachteten mit ihren grünschillernden Augen das alte Gemäuer.
5. Im Dämmerlicht eines neu heraufziehenden Tages stand ich in der Box des Mietstalles wie in einer offenen Gefängniszelle. Durch das kleine, mit Latten vernagelte Fenster mir gegenüber vermochte ich den Hof und die Remise dahinter zu sehen. Nebelschwaden glitten wie schwebende Polster über den Boden. Die kühle Nacht verlor sich langsam. Mauern und Dächer schälten sich aus der weichenden Finsternis. Manche Gefangenen hinter den Bretterwänden in meiner Nähe schnarchten. Ich fragte mich, wie sie so fest schlafen konnten, da
doch das Schicksal jedes einzelnen von uns in diesen Stunden mehr als ungewiß war. Andere wälzten sich ruhelos im raschelnden Stroh von einer Seite auf die andere. Im Hof, an der offenen Stalltür und am Tor des Hofes standen überall Posten. Am Abend war die Einheit verstärkt worden, und ein Capitan hatte das Kommando übernommen. Weitere Soldaten marschierten mit geschulterten Gewehren von der Straße in den Hof und nahmen in Reihe Aufstellung vor dem Stall. In der Stadt ertönte ein Kommando. Ketten klirrten. Perez, der Händler, in dessen Laden mich die eindringenden Soldaten wie alle anderen dort überrascht hatten, wurde von ein paar Juaristas in Ketten gefesselt heranbugsiert. Mit Kolbenhieben stießen sie ihn in den Hof des Stalles. »Sie werden ihn töten«, flüsterte ein Mann rechts von mir hinter der dürren Bretterwand. Die Posten schauten nach draußen und hatten die Gewehre angeschlagen. Es mußten mehrere Dutzend Waffen sein, die sich in diesen Minuten auf den todgeweihten Händler richteten und ihm jegliche Hoffnung auf eine Verlängerung des Lebens nahmen. Der Teniente mit dem finsteren, schwarzbärtigen Gesicht tauchte auf einem großen Pferd auf und gab Befehle. Perez wurde weitergezerrt und an einen Pfosten der Remise gestoßen, an dem sie ihn festbanden. »Gnade!« schrie eine verzweifelte Frauenstimme. Ich schaute zum Zaun und erkannte die Frau des Händlers, die heranstürzte, von den Juaristas allerdings dann festgehalten wurde. »Wieso ist die denn hier?« schimpfte der Offizier auf dem großen Pferd. »Seid ihr verrückt? Könnt ihr nicht besser aufpassen? Schafft sie weg!« »Gnade!« rief die Frau. Die Soldaten zerrten sie über die Straße. Aber noch immer versuchte sie, sich aus den Griffen der Peiniger zu befreien. »Gnade!« schrie sie verzweifelt. »Er hat doch nichts getan! Sie haben bei uns gekauft und waren Kunden wie andere!« Man schleppte sie um die Plaza herum und verschwand mit ihr
hinter der Kirche. Mein Blick wanderte zu dem Schwarzbart zurück, der gerade von dem großen Pferd stieg und einem sehr stoppelbärtigen, schmutzigen Soldaten den Zügel gab. Er betrat den Hof und deutete mit einer Handbewegung an, daß seine Männer vom Exekutionskommando die Gewehre anlegen sollten. Ich konnte durch das Fenster nur ein Gewehr und die Schulter eines Mannes sehen. Deutlicher erkannte ich das Gesicht des Händlers, das grau wie Asche in einer Lavawüste erschien. Schwarze Ringe hatten sich während der Nacht unter seinen Augen gebildet. Er war um viele Jahre gealtert. Gepeinigt schienen sie ihn auch zu haben, vielleicht, um dabei etwas von ihm zu erfahren, was er möglicherweise selbst nicht wußte. Er war ein kleines, unbedeutendes Licht in der Hierarchie dieses Nestes gewesen, wie mir ein einziger Blick mühelos verriet. Aber vielleicht ging es auch gar nicht darum, vielleicht sollte an ihm nur ein Exempel statuiert werden, was die anderen abschreckte und ihre Angst vor den neuen Herren vergrößerte – damit sie in Zukunft leichteres Spiel hatten, die Bevölkerung unter Druck zu halten. Der Händler zitterte am ganzen Körper wie dürres Laub in der Sonne. »Feuer!« befahl der schwarzbärtige Teniente. Die Gewehre krachten. Ein lautes Wummern hallte durch die noch stille Stadt. Mündungsflammen durchbrachen den frühen Morgen. Pulverrauch zog träge vor dem Mietstall vorbei und hüllte den Schwarzbärtigen ein. Der Teniente schien belustigt und zufrieden zu grinsen. Zwei Soldaten schritten durch den aufreizend laut knirschenden Sand des Hofes auf die zusammengesunkene Gestalt zu und schnitten sie los. »Er ist tot, Teniente«, meldete der eine Juarista. Der Schwarzbart nahm dem Soldaten neben sich den Zügel des großen Pferdes ab, saß auf und ritt weg. Irgendeiner, den ich nicht sah, gab ein barsches Kommando. Die Soldaten zogen ab. Nur die Wachen und der Tote vor der Remise blieben zurück. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der von einem
Maulesel gezogene zweirädrige Karren des Totengräbers auftauchte. Mühsam hob der Mexikaner den Toten auf den Karren und fuhr weg. Kein Wort war zwischen ihm und den Posten gewechselt worden. * Es knackte und ächzte im Dach des Stalles, als wolle das alte Gemäuer unter der gnadenlosen Last der Hitze stöhnen. Die Soldaten hatten wieder damit begonnen, das Nest nach Leuten durchzukämmen, die man der Kumpanei mit dem fremden, verhafteten Kaiser verdächtigte. So füllte sich der Stall mehr und mehr. Schon hatte ich die Box mit zwei weiteren Männern zu teilen. Sie waren ältere, vermutlich völlig harmlose Gestalten, die keiner Staatsmacht gefährlich zu werden vermochten, und so fragte ich mich allmählich, ob es nur darum ging, den Menschen Angst einzuflößen und die für eine Revolution nun nicht mehr benötigten, eigenen Soldaten weiterhin zu beschäftigen und von anderen, vielleicht klügeren Gedanken abzuhalten. »Sie werden uns alle töten«, sagte der eine Mann resignierend. »Den Kaiser auch«, sagte der andere. »Sie wollen ihn erschießen, habe ich gehört. So wie Perez erschossen wurde.« Ich saß an die Wand gelehnt und schaute durch das lattenvernagelte kleine Fenster in den Hof. Goldener Sonnenschein lag auf dem Dach der Remise. Davor waren ein paar Tische aufgebaut und hochlehnige Stühle dahinter gestellt worden. Eben schleppten einige Soldaten Kisten herbei, die sie umgestülpt vor die rohen Holztische stellten. »Es ist ein Capitan in der Stadt«, fuhr der Mann rechts von mir fort. »Er stellt gar keine Fragen. Sie holen die Männer einfach aus den Häusern. Einfach so.« Der andere schaute mich an und sagte: »Gringos wären gute Freunde, hat er gesagt.« »Wer?« fragte ich erstaunt. »Der Capitan.« »Wieso denn das?« »Sie haben den Juaristas gegen den Kaiser geholfen.«
»Ach so. Na ja, stimmt ja auch – oder?« »Doch. Die Gringos wollen die Fremdherrschaft in Mexiko auch nicht. Sie haben Juarez Waffen geliefert. Viele Waffen. Aber meistens denkt man daran schon nicht mehr.« »Da ist er ja«, erwiderte der andere Mann, der hinausschaute. Ich sah einen mehr breiten als großen Mann mit einem runden Gesicht, kleinen Augen und flacher Stirn. Er trug eine amerikanische Armeehose mit gelben Streifen an den Nähten, eine braune Jacke und riesige Goldpaletten auf den Schultern, die an einen französischen Offizier erinnerten. Vielleicht handelte es sich um entsprechende Beutestücke. »Ja, das ist er«, sagte der andere. Sie schauten mich beide durchbohrend an. »Was habt ihr denn?« Ich blickte von einem zum anderen. »Du siehst aus wie ein Gringo, Amigo«, erklärte der ältere. »Wenn du einer bist, dann sag es ihm, und er läßt dich laufen.« »Wenn man dem nur trauen dürfte«, entgegnete ich. »Jeder hier denkt und sagt doch etwas anderes. Jeder, wie es ihm gerade einfällt.« »Er muß die Gringos jedenfalls in guter Erinnerung haben«, beharrte der Mexikaner. »Ganz anders als der Teniente. Der scheint sie zu hassen. Ist vielleicht mal von einem Amerikaner geleimt worden.« Soldaten liefen geschäftig hin und her. Ich beschloß, mich als Amerikaner zu erkennen zu geben und fieberte der beginnenden Vernehmung – um nichts anderes konnte es sich bei den Vorbereitungen handeln – entgegen. Tatsächlich begannen die Verhöre schon bald. Bis man mich jedoch hinaus in den heißen Hof holte, vergingen noch mehrere Stunden. Meine Blicke wanderten rasch von Gesicht zu Gesicht. Vier Männer saßen hinter den zusammengeschobenen Tischen. Ich kannte keinen von ihnen und war auch fest davon überzeugt, daß hier keiner etwas von dem wußte, was mit mir in Queretaro zu tun hatte. Ich war ein Fremder für sie. Ein Soldat bohrte mir die Mündung seines Gewehres in den
Rücken und befahl, daß ich mich auf die umgestülpte Kiste zu setzen hätte. Ich tat dies, versuchte, meine Freundlichkeit zu bewahren und sagte: »Capitan, daß man mich einsperrt, muß ein Mißverständnis sein. Ich bin Amerikaner aus dem Norden. Nebraska.« »Americano?« Das runde Gesicht und die kleinen, blitzenden Augen erstrahlten freundlich. »Ja, Capitan!« »Und wieso bist du hier?« fragte der Mann. »Ich habe General Juarez unterstützt«, behauptete ich dreist. »Gegen den fremden Kaiser und seine Truppen aus Europa. Und gegen die Feinde von Juarez im eigenen Volk.« Ein neues, freundliches Grinsen traf mich. Die vier Soldaten berieten leise miteinander. Danach schaute der Offizier mich forschend an. »Wieso bist du hier, wenn du für den General gekämpft hast? Wieso bist du nicht mehr bei ihm?« »Er hat gesiegt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wollte ihm nur zum Sieg verhelfen und dann wieder heim. Was sollte ich noch hier?« Der Offizier schaute die anderen an. Sie wiegten die Köpfe nach rechts und links und schienen nicht zu wissen, ob meinen Worten zu trauen wäre. Dann eine Handbewegung des Offiziers. Gleich zwei Posten zerrten mich von der Kiste und beförderten mich in den Stall zurück. Ein Stoß schleuderte mich in die Box. Ich stolperte über die Beine der anderen und landete im Stroh. Der nächste Mann wurde hinausgestoßen. Kaum saß er auf der umgestülpten Kiste, da wurde der Offizier laut. Er polterte herum, beschimpfte den Mann, und die Wächter schlugen ihn mit ihren Gewehrkolben zusammen. Der Gedanke an Flucht begann mich zu beschäftigen. Denn so dumm und einfältig der Offizier mit dem runden Gesicht auch immer sein mochte, einfach laufenlassen wollte er mich jedenfalls nicht. Der Teniente und zwei andere Männer schleiften weitere Gefangene in den Hof und beförderten sie später mit Tritten in den Mietstall zurück.
Inzwischen war ich an die Wand gekrochen und setzte mich. »Hat er es nicht geglaubt, daß du ein Gringo bist?« fragte der Mann. »Habe ich euch gesagt, ich wäre einer?« »Du hast es nicht gesagt, aber du bist einer. Hat er es dir nicht glauben wollen?« »Keine Ahnung.« »Was wollten sie wissen?« »Nichts.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht«, gab ich zurück. »Aber es würde mich nicht wundern, wenn die einfach ein paar von uns herausholen und vor die Remise stellen.« »Du meinst, um uns zu töten?« »Sicher nicht, um mit uns zu pokern«, entgegnete ich sarkastisch. »Aber warum?« »Einfach so. Damit es die anderen sehen und noch mehr Angst kriegen. Um was anderes geht es doch nicht.« Ich beobachtete die Posten und sah auf einmal, daß unsere Bewachung eigentlich recht lasch gehandhabt wurde. Aber bevor es wieder Nacht war, konnte man an Flucht nicht ernsthaft denken. Dann würden sie in den Kneipen sitzen, sich besaufen und später grölend mit kichernden Mädchen durch die Stadt ziehen, wie wir es letzte Nacht gehört hatten. »Jeder steckt in dieser Gefahr«, sagte ich leise. »Dagegen hilft nur eins: abhauen!« Sie schauten sich beide sofort angstvoll nach den Wächtern an der Tür um. »Abhauen«, sagte ich noch einmal leise, aber sehr eindringlich. »Das ist unsere Chance!« Die beiden Männer blickten mich an. »Man muß es den anderen beibringen«, erklärte ich. »Wenn wir alle auf einmal während der Nacht auf die Wächter losgehen, was kann uns da groß passieren?« »Er hat recht«, pflichtete der Mexikaner links von mir bei. »Alles hängt davon ab, wie geschlossen man es tut und wie schnell wir
dabei sind.« »Und wie erfahren es die anderen?« Ich beugte mich vor, um noch leiser sprechen zu können. »Wir müssen versuchen, in die anderen Boxen zu gelangen. Einfach in eine andere gehen, wenn ihr geholt werdet und zurückkehrt. Das können die Wächter sich kaum merken!« * Die Nacht breitete sich wie ein schwarzes Riesentuch langsam über dem Land aus. Die rohen Tische hatte man in die Remise geschoben. Die Stühle standen darauf. Ein Posten ging im Hof vor den lattenvernagelten Fenstern langsam auf und ab, das Gewehr an einem breiten Lederriemen rechts über der Schulter. Zwei weitere Posten standen an der Tür. Doch auch am Tor hielt sich noch ein halbes Dutzend der Juarista-Soldaten auf. »Noch nicht«, flüsterte ich dem weißhaarigen Mann zu, der vor wenigen Minuten als letzter vom Verhör entlassen worden war und zu mir kam. Wir schauten hinaus und warteten. Es würde sicher noch längere Zeit dauern, bis die Soldaten alle in den Kneipen der Stadt saßen und sich dem Alkohol und den leichten Mädchen widmeten. Wenn wir eine Chance haben wollten, ihnen wirklich zu entrinnen, dann mußten wir darauf warten, mußten auf ihre Trunkenheit bauen und die daraus resultierende Unfähigkeit, uns wirkungsvoll aufhalten oder verfolgen zu können. Ich schaute zu dem kleinen Fenster hinaus. Die Remise ließ sich kaum noch erkennen. In ihr hatte ich während der Unterhaltung mit dem einfältigen Offizier Pferde gesehen, auch meinen Falben mit der löwengelben Mähne und einen ganzen Berg Waffen, unter denen sich auch mein Navy-Colt und der Spencer-Karabiner befinden mußten. Sie galt es unter gar keinen Umständen zu vergessen. Meine Gedanken wanderten zu dem verfallenen Gemäuer zurück, in dem ich die beiden verzweifelten Menschen mit dem kranken Mädchen zurückgelassen hatte. Bange fragte ich mich, wie sie die
Zeit überstanden haben mochten und wie es ihnen, vor allem Marie, wohl ging. Ich dachte aber auch an die Flucht aus Queretaro und der immer noch bestehenden Möglichkeit, daß von dort jemand hier auftauchte und von den Ereignissen berichtete oder mich gar erkannte. So war ich heilfroh, den ganzen, langen Tag ohne solche zusätzliche Gefahren hinter mich gebracht zu haben. Ein Pochen links von mir ließ mich auf die Trennwand aus rohen Brettern blicken. »Sind wir soweit?« fragte eine erregte Stimme. »Nein, um Himmels willen!« erwiderte ich beschwörend. »Wartet ab! Es dauert noch ein paar Stunden, bevor wir es versuchen können!«
6. Laureen konnte die Reiter nicht sehen, die sich der verfallenen Scheune näherten. Aber sie hörte genauso deutlich wie James Boulder, daß der Hufschlag immer deutlicher wurde. Er schallte aus südöstlicher Richtung an ihre Ohren. »Es könnten die zurückkehrenden Soldaten sein, die wir gestern sahen.« Angstvoll schaute sie den Engländer an. »Was sollen wir tun? Sie reiten genau auf uns zu!« »Ja, diesmal scheinen sie direkt hierher zu kommen. Wir müssen uns verstecken. Hole das Kind, Ich nehme die Pferde!« Boulder, der nach Südosten geschaut hatte, wandte Laureen Gilbert das Gesicht zu. Große Angst schien sie zu beherrschen. Sie zitterte, und ihr Gesicht war seltsam bleich. Ihre Augen blickten wie ein gehetztes, in die Enge getriebenes Wild, das keinen Ausweg mehr sieht. »Aber wohin, James?« »Wir verstecken uns hier draußen. Bei den Kakteen im Norden. Es ist jetzt so dunkel, daß sie direkt vor uns stehen müßten, wollten sie uns sehen.« »Sind wir drinnen nicht sicherer?« »Nein, keinesfalls.« Er ergriff ihren Arm und führte sie gewaltsam
in die Scheune. »Bestimmt sind es die Soldaten, die wir schon sahen. Die suchen nach uns!« »Schnell, hole Marie!« Er ließ sie los, ging durch das Dunkel dahin, wo er die Pferde wußte, fand die Tiere und führte sie aus der Scheune. Laureen hatte das Kind in den Armen und folgte ihm. Draußen hielt der Engländer an, setzte das halb schlafende, halb wache, kranke Mädchen auf das eine Pferd und befahl Laureen, Marie festzuhalten. Der Hufschlag brauste wie Donnergrollen in ihren Ohren. So rasch sie konnten, entfernten sie sich von der Scheune. Die hohen Kandelaber der Saguaro-Kakteen tauchten vor ihnen auf. Sie hielten an und blickten zurück. »Halte die Pferde, Laureen!« Die Französin nahm Boulder die Zügel beider Pferde ab. Der Engländer hob das Mädchen herunter. »Wo sind wir?« lallte Marie. »Sei still.« Er strich ihr sanft über das dunkle Haar und schaute an ihrem Kopf vorbei in Richtung der Scheune, die sie nur noch in vagen Umrissen zu erkennen vermochten. Der Hufschlag verstummte da drüben. Metall klirrte gegeneinander. Sattelleder knarrte. Eine Fackel wurde angezündet. In ihrem zuckenden, gespenstischen Licht konnten sie die Reiterschar sehen. »Ja, es sind wirklich Soldaten«, murmelte Boulder gepreßt. »Wieder dieselben!« flüsterte Laureen erregt. »Die sind von Queretaro und suchen nach uns. Die sind hinter uns her! Ob sie Ronco gefunden haben?« »Aber sie ritten doch nicht zu der Stadt.« »Das ist seltsam, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht gehen sie davon aus, daß wir uns in keine Stadt wagen werden.« »Ja, vielleicht.« Ein barscher Befehl tönte herüber. Ein paar Reiter saßen vor der Ruine ab und drangen ein. Der Fackelhalter war unter ihnen. So
konnten die beiden Flüchtlinge nichts von den anderen und ihren Pferden erkennen. Plötzlich begann Marie zu weinen. Boulder zuckte zusammen, stand aber wie erstarrt, unfähig, etwas zu tun. Nur Laureen reagierte, wirbelte herum, kniete bei Marie auf den Boden und hielt ihr den Mund zu. Ein paar Sekunden vergingen für sie wie die Ewigkeit. Sie warteten auf eine Reaktion von den Reitern vor dem alten Gemäuer. Es erfolgte aber keine. Die Männer um den Fackelträger traten aus der Scheune und jemand rief: »Da ist niemand, Teniente.« »Sie haben Marie nicht gehört«, flüsterte Laureen. Boulders Gestalt streckte sich erleichtert, er atmete tief durch. »Aber im Stroh hat jemand gelegen«, fuhr der Mann vor der Scheune fort. »Und Pferde standen auf der anderen Seite.« »Wir sollten vielleicht alles absuchen«, sagte eine zweite Stimme. »Die ganze Umgebung, Teniente. Die verstecken sich eventuell nur jetzt vor uns.« Eiskalt rieselte es dem Arzt aus England über den Rücken, grau wandte sich sein Gesicht der jungen Frau zu, die ihn ebenfalls anstarrte. Dann hob Laureen das Kind wieder auf, ohne daß sie sich darüber verständigt hätten. James Boulder nahm ihr Marie ab, setzte sie auf Laureens Pferd und trat etwas zur Seite, damit die Französin ihr Kind festhalten konnte. Boulder nahm die Zügel und bewegte sich weiter nach Norden. Neue Kakteen tauchten aus der Dunkelheit auf, wanderten langsam vorbei und versanken im Dunkel. Doch als der Mann zurückschaute, hatte er den Eindruck, sie hätten sich noch gar nicht von der alten Ruine entfernt. Die Soldaten schwärmten aus und verließen den Lichtkreis der brennenden Fackel. Boulders Schritte beschleunigten sich, Laureen schaute nur noch nach hinten. Sie erreichten dichtes Buschwerk und einen Graben, der im Frühjahr Schmelzwasser aus der Sierra führte. Boulder durchbrach es. Mit lautem Rascheln schlug das Geäst hinter den
beiden Tieren zusammen. Berstend brach trockenes Holz unter den Hufen. Im Graben blieben sie stehen und lauschten. Das alte Gemäuer, den Fackelträger und weitere, eventuell dort verbliebene Soldaten vermochten sie nicht mehr zu sehen. So konzentrierte sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was sich hören ließ. »Hast du es schon gemerkt?« fragte Laureen nach einiger Zeit leise. »Was meinst du?« »Die Kojoten heulen in dieser Nacht nicht.« »Sie sind geflohen.« Boulder hob das Kind vom Pferd, legte es auf den Boden und überließ Laureen, die niederkniete, die weitere Sorge. Er richtete sich auf und zog den kleinen Revolver aus der Hosentasche. Unter seinem Daumen spannte sich der Hammer mit einem Klicken. Laureen blickte zu ihm hoch. Doch sie schwieg. James Boulder hob die Hand. Der kleine Revolver und sein Handrücken streiften die raschelnden Äste der strohtrockenen Büsche auf der Flanke des Grabens. * James Boulder dachte, daß Stunden vergangen wären, seit sie hier in der flachen Mulde Schutz gesucht hatten. Es raschelte vor ihnen. Er zog den Kopf ein und kämpfte gegen die Schwäche an, die ihn verführen wollte, durch die Büsche zu brechen, um die Gegner zu sehen und der Nervenanspannung ein Ende zu setzen. Doch ein neuerlicher Blick auf Laureen ließ ihn innehalten. Die junge Frau kniete auf dem Boden und hielt dem Kind den Mund zu. Boulders Hand mit dem Revolver zitterte. Schweiß lief ihm aus den Haaren, über die Stirn und in die Augen. Er rann über seine Wangen und den Hals und klebte ihm das Hemd im Rücken zwischen den Schultern auf die Haut. Er fragte sich, ob er auch wirklich abdrücken würde, wenn der junge Mexikaner jetzt vor ihm das Gestrüpp teilte und er sein Gesicht sah.
Das Rascheln näherte sich. Jetzt schien der Soldat nur noch zwei Yards entfernt zu stehen. Schon meinte der englische Arzt, daß sich die dürren Äste bewegten. Heftiger zitterte seine Hand, die die kleine Waffe hielt. Da erstarrte vor ihm die Bewegung. Von weiter hinten ertönte ein Befehl. Undeutlich erkannte Boulder den Mann hinter den Büschen, der sich bewegte. Wieder war ein Kommando zu vernehmen. Der Mexikaner schien sich abzuwenden. Hinter ihm schlug das Gestrüpp zusammen. Ein Ast auf dem Boden barst unter seinem Stiefel. Sanft bewegten sich noch die Zweige. Laureen Gilbert richtete sich auf und trat an die Seite des Engländers. »Er wurde zurückgerufen«, sagte Boulder, der das Glück, nicht entdeckt worden zu sein, noch nicht zu fassen vermochte. »In letzter Sekunde. Noch ein Schritt von ihm, und er hätte mich sehen müssen. Begreifst du das?« Die Französin faltete die Hände und schaute zum finsteren Himmel hinauf, an dem, fernen Lichtern gleich, hell die Sterne blinkten. »Er hat uns noch nicht verlassen, James.« Es dauerte nicht mehr lange, dann erklang Hufschlag über das Land. »Sie reiten weg.« Der Engländer entspannte den Hammer seines kleinen Revolvers und steckte ihn in die Tasche. Sie lauschten den sich entfernenden Geräuschen nach, bis diese kaum noch zu vernehmen waren. »Wir müssen weg.« Boulder schaute auf die Frau. »Wir können nicht länger warten, Laureen!« Die Französin nickte, weil sie seine Überzeugung teilte. Und sie sagte: »Sie könnten wieder hier nach uns suchen.« »Ja.« Auch James Boulder ließ die klare Logik vermissen, die ihm hätte sagen müssen, daß sie am sichersten in dem alten Gemäuer aufgehoben waren, weil die Soldaten kaum noch einmal dort suchen würden. Eher nahm er das Gegenteil an. Laureen nickte noch einmal, als er sie wieder anschaute. Da
wandte er sich den Pferden zu und zog die Sattelgurte nach. Er beglückwünschte sich nachträglich noch dazu, bereits vor dem Dunkelwerden den Abritt vorbereitet zu haben. Als hätte er geahnt, daß die Soldaten zu dem Gemäuer zurückkehren würden. Er half Laureen in den Sattel und reichte ihr das schlafende Kind hinauf. Dann saß er selbst auf und lenkte sein Pferd durch den Graben nach Osten. Gestein klirrte unter den Hufen und verriet dem Engländer, daß Laureen ihm folgte. Sie ritt an seine Seite. »Wir werden Vera Cruz allein erreichen können, James?« »Ja, Laureen. Wir schaffen es.« »Aber es ist noch weit, nicht wahr?« »Sehr weit.« Er schaute sie an. »Ich weiß, wir müssen vorher unbedingt Lebensmittel beschaffen. Vor allem Lebensmittel.« »Aber wo?« Laureen blickte verzweifelt auf das apathisch in ihren Armen liegende, kranke Kind, während sie selbst den eigenen, nagenden Hunger verspürte, der sich nicht länger ignorieren ließ. »Laß uns erst einmal die Nacht durchreiten«, fuhr der Engländer fort. »Soweit wir es schaffen.« »Vielleicht kehrt Ronco doch noch zu der alten Scheune zurück«, erwiderte sie. »Nein, das ist unmöglich. Nachdem er in der ersten Nacht nicht zurückkehrte, bestand praktisch keine Hoffnung mehr, Laureen. Das weißt du doch auch. Wir wagten es nur nicht, darüber zu sprechen. Er ist unseren Feinden in die Arme gelaufen. Vielleicht – vielleicht ist er schon tot.« Sie entfernten sich in dem von Gestrüpp flankierten Graben nach Osten und tauchten im Dunkel der Nacht unter.
7. Drüben, von den Dachbalken der Remise, hing eine brennende Sturmlaterne. Mein Blick war durch das mit Latten vernagelte, kleine Fenster darauf gerichtet. Ich erkannte auch die Waffen auf den zusammengeschobenen Tischen. Es waren so lächerlich wenige, daß ich meinen Spencer-Karabiner und den Navy-Colt unter ihnen leicht
entdecken konnte. Hinter den Tischen stand mein Falbe. Die löwengelbe Mähne hob ihn deutlich von den anderen Tieren ab. Durch eine breite Ritze in der Trennwand zur nächsten Box sah ich die Tür und die beiden dort stehenden Soldaten. Sie hatten sich der unhandlichen Gewehre entledigt und Revolver in den Händen. Aber ihre Aufmerksamkeit galt weniger uns Gefangenen, als vielmehr dem turbulenten Treiben auf der Plaza, vor allem der Bodega, wo sich angetrunkene Juaristas mit kichernden Barmädchen amüsierten. Lieber als hier an dem alten Stall wären sie da drüben gewesen. Ein Mexikaner glitt in die Box, die ich mit zwei anderen teilte. Ich lehnte an der rückwärtigen Wand und schaute auf den Mann, dessen Gesicht ich jedoch nur als hellen Klecks erkannte. Die beiden anderen erhoben sich aus dem leise raschelnden Stroh. Ein Blick durch die Ritze zeigte mir, daß die beiden Wächter nicht aufmerksam geworden waren. »Die anderen wollen noch warten«, flüsterte der zu uns gestoßene Mann. »Wie lange denn noch?« gab ich leise, aber schroff zurück. »Bis sie die Wachen verstärken? Im Hof ist schon keiner mehr. Aber wenn die Mädchen schlafen gehen oder sich die Liebhaber ausgewählt haben, müssen wir mit weiteren Posten rechnen!« »Die anderen meinen, zwei, drei Stunden nach Mitternacht wäre es günstiger«, entgegnete der Mexikaner flüsternd. »Weil die Wächter dann müde und unaufmerksam wären.« Die beiden anderen schauten mich fragend an. Ich fluchte leise und sagte: »Es sind viel mehr Juaristas als Mädchen da drüben. Noch nicht einmal jeder zweite wird eins davon abschleppen können. Und was tun die anderen, die dann wütend sind?« »Die passen .doppelt und dreifach so gut wie vorher auf uns auf!« bestätigte der eine Mann kopfnickend. »Das ist wahr, Pablo.« »Aber Castro meint, es wäre besser, bis nach Mitternacht zu warten«, beharrte der zu uns gestoßene Mann. »Castro?« fragte ich. »Wer ist denn das?« »Der ehemalige Alkalde«, erklärte einer meiner Mitgefangenen. »Er meint, wir könnten dann diese Rebellen überwältigen und die
Ordnung in der Stadt wiederherstellen.« »Was?« Ich beugte mich vor, weil ich dachte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Was will er? Was denn für eine Ordnung?« »Die alte Ordnung«, raunte der Mann uns zu. Ich schaute die anderen an und begriff schlagartig, was mir während der ganzen Gefangenschaft entgangen war. Es handelte sich wirklich um kaisertreue Leute, die glaubten, das mexikanische Geschichtsrad noch einmal zur Monarchie zurückdrehen zu können. »Oder willst du etwas anderes, Gringo?« fuhr der Mann mich an. »Eigentlich will ich nur hier heraus und weg«, erwiderte ich. »Ich dachte, dir gefällt an unserem Plan was nicht.« »Jeder muß tun, was er für richtig hält. Aber das Senor Castro so lange warten will, halte ich für sehr gefährlich. Jetzt hätten wir eine gute Chance. Wir müßten mit zwei oder drei Mann auf den Heuboden klettern und durch die Ladeluke über der Tür auf die Posten springen, während hier unten ein paar dafür sorgen, daß die Kerle abgelenkt sind. Danach wäre es eine Kleinigkeit, daß alle den Stall verlassen. Jedenfalls jetzt ist das so.« Die beiden anderen blickten den dritten Mexikaner an. »Er hat recht«, bestätigte der Mann rechts von mir. »Jetzt wäre das günstig. Und sein Plan ist gut!« Der andere nickte dazu mehrmals, während er ebenfalls beinahe schon beschwörend auf den Boten des abgesetzten Alkalden schaute. »Also, ich werde es Castro sagen.« Der Bote wandte sich ,ab und schlich aus der Box. Die Posten merkten nichts. Bald kehrte der Mann zurück und nickte. »Einverstanden. Castro sagt, so könne es gehen. Wir wollen den Stall ohne Aufsehen verlassen. Die Wächter müssen lautlos überwältigt werden. Ihr drei sollt nach oben klettern. In zehn Minuten. Mercedes wird die Wächter ablenken. Ihr könnt sie sehen, wenn sie in den Hof tritt.« Ich schaute die beiden anderen an. »Mercedes ist ein Mädchen aus der Bodega«, erklärte einer der Mitgefangenen. »Castro hat eben mit ihr gesprochen«, setzte der Bote hinzu.
»Wo denn?« »Sie ist hinter dem Stall. Wartet hier, bis ihr sie sehen könnt.« Der Mexikaner drehte sich um und glitt aus der Box. Das Mädchen tauchte wenige Minuten später am Tor auf. Mercedes war eine rassige, schwarzhaarige Schönheit, hochgewachsen, schlank und langbeinig. Sie trug ein bis zum Nabel ausgeschnittenes, glänzendes Seidenkleid von leuchtend weißer Farbe, warf die schöngeschwungenen, geheimnisvoll schimmernden Locken mit einer eigenwilligen Kopfbewegung zurück und lockte die Wächter mit dem sanften Lächeln ihrer ausdrucksvollen Mandelaugen. »Donnerwetter«, entfuhr es mir. Beide Posten traten einen Schritt hinaus. »Schnell!« Der Mann rechts von mir stieß mich an. »Ja.« Ich löste den Blick von der Schönheit, die ein alter Alkalde vor seinen Karren hatte spannen können, glitt aus der Box und zur hinteren Wand, von der eine Leiter zum Heuboden hinaufführte. Die beiden Mexikaner folgten mir, ebenso die Blicke der Mitgefangenen, die jetzt unserer Befreiung entgegenfieberten. Durch die Luke schimmerte schwacher Lichtschein, der mir den Weg wies. »Wer bist du?« fragte einer der in der Stadt fremden Soldaten. »Mercedes ist mein Name. Habt ihr Zeit?« Das Mädchen lachte lockend. »Ihr müßt aufpassen, was?« »Kannst du nicht näher kommen?« »Warum ich?« Das Mädchen lachte wieder. »Habt ihr vielleicht keine Beine?« Ich erreichte die Luke und löste den Riegel, der die beiden Hälften in geschlossener Stellung zusammenhielt. Die Flügel schwangen von allein ein paar Zoll nach außen. Der Lichtschein der Sturmlaterne traf die beiden Gesichter meiner Mitgefangenen. Sie atmeten keuchend, was ihre Aufregung verriet. Ich schob die Lukenflügel langsam weiter nach den Seiten, mußte aber dann zu einer Seite treten, weil ich nicht mehr beide zu erreichen vermochte. Einer der beiden Männer half mir. Der andere raunte: »Meine
Nerven stehen das nicht durch!« »Bleiben Sie hinter uns«, gab ich ebenso leise zurück. Mein Blick fiel auf den zweiten Mann. Er nickte mir zu, was heißen sollte, daß seine Nerven besser wären und er den Plan mit ausführen wollte. Die Luke stand offen. Die beiden Wächter befanden sich genau unter uns. Mercedes, das aufreizende, langbeinige Mädchen, hatte sich vom Tor ein paar Schritte genähert. Hinter der Plaza wurde plötzlich geschrien. Mädchen kreischten und flohen. »Was ist da los?« rief jemand auf der Plaza. Mercedes blickte erschrocken zu mir hoch. »Zum Teufel, jetzt keilen sich die Soldaten um die Weiber!« flüsterte der Mexikaner neben mir. »Ausgerechnet jetzt!« »Das ist doch günstig«, erwiderte ich. »Da haben sie keine Blicke für uns. Los!« Vor der Bodega hinter der Plaza schienen inzwischen alle Soldaten aufeinander einzudreschen. Der Mexikaner und ich sprangen aus der Luke und rissen die beiden Wächter mit uns um. Sie verloren die Waffen und kamen so nicht dazu, die anderen Juaristas durch Schüsse zu alarmieren. Mercedes wirbelte herum und lief davon. Sie wollte mit dieser Sache nicht in Zusammenhang gebracht werden, falls sie zum Scheitern verurteilt sein sollte. Ich rollte von dem Soldaten, der nach mir trat und auf die Beine sprang. Jedoch reagierte ich nicht minder schnell, duckte mich unter dem Kinnhaken des anderen weg und rammte ihm die Schulter in den Leib, als er von der Wucht des fehlgegangenen Schlages mitgerissen gegen mich prallte. So vermochte ich ihn zurückzustoßen, richtete mich auf und schlug zu. Getroffen taumelte er mit rudernden Armen in den Stall und wurde hinterrücks von einem der Mexikaner mit einem Knüppel zusammengehauen. Castro war ein weißhaariger Mann, der sofort das Kommando übernahm, einen der beiden Revolver vom Boden aufraffte und zur Straße stürmte.
»Viva Maximilian!« brüllte der alte Mann und feuerte über die Plaza. Ein paar der Befreiten liefen davon. Die meisten folgten Castro, der rief: »Beschafft euch Waffen, Leute! Jetzt jagen wir die verdammten Rebellen in die Wüste!« Ich befreite mich aus dem zum Tor strebenden Sog, hastete zur Remise, brachte meine Waffen an mich und holte den Falben. Knatterndes Gewehrfeuer und Befehle ertönten rund um die Plaza. Ich schwang mich in den Sattel, trieb den Falben an und galoppierte hinter den Häusern in die Nacht hinaus. Wie ein Spuk blieb die kleine Stadt hinter mir zurück, doch noch lange konnte ich das Schießen und Schreien der Menschen hören. Offenbar gab es noch mehr Anhänger des verhafteten Kaisers in Porfriar, die davon träumten, die alten Zeiten noch einmal zurückholen zu können. »Lauf!« rief ich dem Falben zu. »Nur fort von diesen Verrückten, die sich gegenseitig umbringen.« * »Doc?« Ich beugte mich seitlich aus dem Sattel und schaute in die Dunkelheit der Ruine. Das eine Wort weckte ein gespenstisches Echo in dem alten, verfallenen Gemäuer, daß ich meinte, drinnen wäre jemand, der mich auslachen wollte. Eine Antwort erhielt ich nicht. So saß ich ab, ließ den Zügel aus der Hand gleiten und betrat die Scheune. Das Stroh raschelte unter meinen Stiefeln. Ängstlich schnaubte das Pferd, weil plötzlich die Kojoten in der Nähe heulten. Meine Hand lag auf dem Griff des Colts, während meine Blicke durch das Dunkel schweiften. Ich wußte, daß sie die Ruine verlassen haben mußten. Ich war zu lange ausgeblieben. Sie hatten nicht erhalten, was sie dringend brauchten, vor allem für Marie, und waren zusätzlich wahrscheinlich in Panik geraten. Meine Überzeugung war es, daß diese Panik sie dazu losgetrieben hatte, die Scheune zu verlassen. Die Kojoten heulten schaurig den Mond an, dessen Licht nicht die
Kraft hatte, die Nacht zu erhellen. Ich ging zu dem Falben zurück, führte ihn um die Ruine herum und hoffte, auf dem Boden Spuren zu entdecken. Das war nicht der Fall. Mir wurde klar, daß in dem harten Sand, der stellenweise wie festes Granitgestein verdichtet war, an die Verfolgung einer Spur nicht zu denken war. Ich schaute nach Osten, wo ich weit jenseits der wüstenähnlichen Prärie und der Hügel das Meer wußte. Dahin wollten Boulder, die Frau und das kleine, kranke Kind. Nur dort konnte ich hoffen, sie noch aufzuspüren und wenn möglich, vor neuen Gefahren zu bewahren. So saß ich wieder auf und ritt davon. Als mein Blick noch einmal nach Süden wanderte, erhellte Feuerschein den fernen Horizont. In Porfriar schienen die Kämpfe einem Höhepunkt anzustreben. Was ich mir dabei nicht vorstellen konnte, war ein Sieg jener Männer, die sich mit mir als Gefangene in dem Mietstall befunden hatten. Ihre Uhr war abgelaufen, was sie verfochten, lag, zur Geschichte geworden, bereits in der Vergangenheit, nur sie wußten es noch nicht. Ich ritt nach Osten.
8. Den ganzen Tag über hatte ich mich bemüht, die Deckung der wenigen Buschgürtel auf meinem Weg zu nutzen, um von eventuellen Beobachtern nicht bemerkt zu werden. Inwieweit mir das gelungen war, wußte ich nicht. Reiter begegneten mir jedenfalls nicht. Am Nachmittag hatte ich ein paar Hütten von Campesinos beobachtet, doch erst als es dämmerte, wagte ich mich an sie heran. Es waren sechs Hütten, die ein winziges Dorf bildeten, umgeben von Maisfeldern und ein paar Korrals mit mageren Rindern, schwarzen Schweinen, Ziegen und Maultieren darin. Kein einziges Pferd war zu sehen. Das allein verriet mir, daß hier kein Hinterhalt, keine Falle zu erwarten war, da alle Soldaten, die wir gesehen hatten, beritten gewesen waren.
Die Bewohner der ärmlichen Hütten waren in Lumpen gekleidet, erbarmungswürdig abgemagerte Leute, von denen nur einer eine alte Sharps 52 in den Händen hielt. Ich war überzeugt, daß sie keine weiteren Waffen hatten. Mein Poncho war über den Colt geschlagen. Das Gewehr ließ ich im Scabbard. Im übrigen war ich entschlossen, wieder ganz den Mexikaner zu spielen, um der beinahe schon natürlichen Welle der Feindschaft zu entgehen, die überall den Fremden zunächst entgegenschlug. So war auch meine spanische Anrede stark auf Chihuahua gefärbt, als ich den Falben zügelte und sie um Nahrung bat, wobei ich nicht vergaß, sofort Bezahlung dafür anzubieten und Geld aus der Hosentasche zu holen. Sie quittierten das Funkeln der Münzen mit wohlwollendem Lächeln und hießen mich, abzusitzen. Ich wurde in eine Hütte eskortiert und reichlich mit Maissuppe, Ziegenkäse und Brot bewirtet. Nur mit Fleisch schien es mau auszusehen. Doch mein Hunger war so groß, daß ich nichts vermißte und die sonst eher fade erscheinende Maissuppe wie ein köstliches Menüverschlang. Ganz nebenbei fragte ich nach einem Mann und einer Frau, die mit einem Kind unterwegs sein müßten. Doch die Leute schüttelten die Köpfe. Nach dem Essen drängte mir der Besitzer der Hütte noch eine selbstgewickelte Zigarre auf, die ich wenigstens zur Hälfte bei ihm sitzend rauchen mußte, bevor an Aufbruch zu denken war. »Sie gehören zu Maximilians Leuten?« fragte der Mann schließlich. Er hatte sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Die anderen standen an der offenen Tür, lauschten auf jedes Wort und betrachteten uns. »Nein«, erwiderte ich abwehrend. »Er gehört vielleicht zu den Soldaten, die wir sahen«, meinte ein Mann. Überrascht blickte ich über die Schulter. »Nein, ich bin allein unterwegs und gehöre zu niemandem. Ich habe meine Arbeit im Norden verloren und will versuchen, an der Küste eine zu finden. Vielleicht in Vera Cruz. Wohin ritten denn die Soldaten?« »Nach Osten.« Der Sprecher trat in die Hütte und lehnte sich gegen die weiße, hartgebrannte Lehmwand. »Es war ein Gringo
dabei.« Ich war hellwach und starrte ihn an. »Ein Americano?« »Ja.« »Wie sah er aus?« »Wie soll er schon ausgesehen haben.« Der Mexikaner zuckte mit den Schultern. »Wie ein Gringo eben. Er trug einen langen Staubmantel und einen Hut mit einer so großen Krempe, daß man sonst nicht viel von ihm sah.« »Woher willst du dann wissen, daß er ein Gringo war, Jorge?« fragte der Mann am Tisch. Ich lehnte den Rücken an und rauchte. Der Tabak war unerhört stark und reizte mich zum Husten. Nur mit Gewalt unterdrückte ich ihn. »Ich war ganz in der Nähe im Maisfeld und habe ihn deutlich gesehen«, erklärte der andere Mann. »Er war eben ein Gringo.« Ich dachte an Mahon Tabor, den ehemaligen Zahlmeister aus Fort Calhoun, der zu meinem Schicksal geworden war an den Mann, der einen Waffentransport über den Rio Grande hierher gebracht hatte und wahrscheinlich in viele andere, lichtscheue Geschäfte auch noch verwickelt war, auch wenn ich darüber nichts oder noch nichts wußte. »Und die sind nach Osten?« versicherte ich mich. »Ja, sage ich doch.« »Wann?« »Vor zwei Stunden, vielleicht auch vor drei.« Der Mann trat an den Tisch. »Du kennst ihn, den Gringo?« »Ich weiß nicht, ob es der ist, den ich kenne«, wich ich aus. »Er schien die Soldaten anzuführen.« »Dann ist es sicher nicht der, den ich kenne«, sagte ich schnell. »War wohl ein Irrtum.« Der Mann trat an die Wand zurück. An der starken Zigarre ziehend erhob ich mich. »Ich muß weiter. Vielen Dank, Senor.« Ich nickte dem Mann und seiner verhärmten Frau zu und ging hinaus. Sie winkten mir nach und schienen keinerlei Mißtrauen gegen mich zu hegen.
Die Dunkelheit verschluckte mich und den Falben jenseits der Maisfelder im Osten. Eine Stunde später sah ich Lichtschein über das flache Land fallen. Er schien aus zwei Fenstern zu dringen, die ziemlich dicht beisammen standen. Vermutlich nur eine einzige, erleuchtete Hütte. Als ich mich weiter genähert hatte, erkannte ich, daß es ein Rancho war. Zwei größere Adobelehmhütten wurden von einer Reihe Scheunen und Schuppen umgeben. Ein Korral zog sich eine sanfte Hügelflanke im Osten hinauf. Mehr vermochte ich nicht zu erkennen. Hinter dichtem Sagebuschwerk zügelte ich den Falben, saß ab und band das Pferd an die Äste. Ich umging das Dickicht, lockerte den Colt in der Halfter und wagte mich dichter an das Anwesen heran. Bis zum Zaun des Korrals hatte ich nur wenige Yards zurückzulegen. Aber die Umzäunung war sehr lang, was für die Bewohner den Vorteil hatte, daß sie ihre wenigen Rinder lange Zeit darin grasen lassen konnten, ohne sie beaufsichtigen zu müssen. Im Schatten des Brettergeheges sah ich nicht mehr als eine ganze Anzahl Pferde, die im Hof angebunden standen. Insofern sich jemand in den Schutz des Zaunes duckte, mußte ich mit ihm zusammenstoßen, wenn ich weiterging. Ich tat es trotzdem, wollte ich doch erfahren, wem die vielen Pferde gehörten. Durchaus hielt ich es für möglich, daß Mahon Tabor, der Mann im langen Staubmantel, mit seinen mexikanischen Soldaten hier zur Rast abgestiegen war. Bei den Pferden tauchte ein Mann auf. Ich blieb am Zaun stehen und preßte mich gegen die Bretter. Der mexikanische Soldat umging die leise schnaubenden Tiere, blieb stehen und blickte in meine Richtung. Noch tiefer duckte ich mich an den Zaun und den Boden und fürchtete, vielleicht doch bemerkt zu werden. Doch da drehte der Soldat sich um und ging zur anderen Seite zurück. Sonst schien niemand im Hof zu sein. Dafür konnte ich um so mehr Männer hinter den erleuchteten Fenstern sehen, von denen sich das eine in der westlichen Hausfront befand. Ich gab mir einen Ruck, stieß mich vom Zaun ab und lief zu dem
weißen Haus hinüber. Von der Ecke aus blickte ich wieder in den Hof. Der Wächter schien auf der anderen Seite zu sein. Sehen konnte ich ihn nicht. Noch ein paar Herzschläge lang beobachtete ich den Hof und die Pferde, um ganz sicher zu sein, daß der Mann mich nicht bemerkte. Da tauchte er wieder auf, ging um die Tiere herum, verharrte einen Moment und setzte seinen Weg zur anderen Seite fort. Beruhigt schob ich mich an der Wand bis zum Fenster weiter und spähte hinein. Ja, es war Mahon Tabor. Ich erkannte ihn sofort. Er saß im Staubmantel, den großen Hut auf dem Kopf auf der mir gegenüberliegenden Stirnseite des Tisches, hatte sich gegen die hohe Lehne seines Stuhles gelehnt und paffte aus einem in seinem Mundwinkel hängenden Zigarillo graublaue Wolken über den Tisch. Sie drehten sich unter der Lampe und schienen von ihrer Wärme angezogen zu werden. Ich konnte vierzehn Soldaten zählen, die mit Tabor um den Tisch saßen und tafelten. Ein hemdsärmliger, eher ärmlich aussehender Mann bediente sie und verneigte sich, wenn sie ihn ansprachen. Seine Unterwürfigkeit sprach für mich Bände. Er hatte Angst vor diesen Soldaten, die noch vor kurzer Zeit Rebellen gewesen waren. Es waren stoppelbärtige, finster aussehende Kerle. In der Tat schien Tabor ihr Anführer zu sein, denn er redete am meisten, fuchtelte mit den Händen herum, und die anderen nickten nur und versuchten sich möglichst nicht zu sehr stören zu lassen. Sie schaufelten Steaks, Maisbrot, Kartoffeln, Salat, Käse und Leberpastete in sich hinein und trieben die dicke Frau an, mehr davon aus der Vorratskammer zu holen. Der Ranchero indessen hastete mit einem großen Tonkrug um den langen Tisch und kam nicht nach, den Männern schnell genug Pulque in die Gläser zu füllen. »Er war also nicht hier?« fragte Mahon Tabor, als der Ranchero bei ihm verharrte. »Nein, Senor.« »Wenn du lügst, hängen wir dich zweimal auf!«
Die wilden Kerle brachen in grölendes Gelächter aus. Die Frau stand mit eingezogenem Kopf an der Anrichte und schaute angstvoll auf ihren Mann. »Wenn er gelogen hat, hängen wir ihn auf.« Mahon Tabor hatte den Zigarillo aus dem Mundwinkel genommen. »Haben Sie es gehört, Senora?« »Ja, Senor.« »Es war also bestimmt kein blonder Bursche hier, der sich Ronco nannte?« Ich hatte nicht angenommen, daß er hinter mir her sein könne, und so traf mich die Nachricht wie ein Schlag ins Gesicht. »Es war niemand hier, Senor«, versicherte die dicke Frau. »Keiner, der sich Ronco nannte und auch sonst niemand.« »Ich muß diesen Kerl finden«, sagte Tabor. Seine linke Hand knallte zur Faust geballt auf den Tisch. »Ich muß ihn finden. Er ist irgendwo hier in der Gegend unterwegs.« Der Ranchero mit dem Tonkrug in den Händen stand noch neben dem Amerikaner, dem er das Glas vollgeschenkt hatte. »Was ist denn mit ihm, Senor?« »Er ist ein kaiserlicher Agent. Hat mehrere Verstecke von General Juarez verraten und einmal sogar französische Söldner zu einem Arsenal geführt, in dem von uns erst ein paar Tage zuvor Tausende von Gewehren und Munition untergebracht worden waren. Damals glaubten wir, die Revolution wäre für immer verloren.« »Er hat hundertfach den Tod verdient!« rief einer der wilden Soldaten aus dem Haufen. Ein anderer erhob sein Glas. »Tod dem Gringo-Schurken Ronco!« Sie stimmten alle ein. Mir ging das ziemlich tief unter die Haut. Auch wenn Mahon Tabors Schauergeschichten über mich erfunden waren, blieben sie dennoch wirkungsvoll. Wenn man mich irgendwo festhielt und diesen Halunken auslieferte, würde ich kaum Gelegenheit finden, mich zu rechtfertigen. Ich konnte von Glück reden, daß Mahon Tabor nicht während meiner Gefangenschaft in Porfriar erschienen war. Es wäre mein Ende gewesen. »Er ist mit noch ein paar Leuten hier unterwegs«, sagte Tabor
wieder an den Ranchero gewandt. »Sie wollen vermutlich versuchen, sich zur Küste durchzuschlagen.« »Ich versichere Ihnen, es war bestimmt niemand hier«, erklärte der Mann mit dem schweren Tonkrug noch einmal nachdrücklich. Ich schob mich zurück. Was ich erfahren hatte, reichte. Zunächst einmal galt es, mir diese gefährlichen Verfolger vom Halse zu schaffen. James Boulder und Laureen schienen mit dem Kind bereits weiter im Osten zu sein und waren zum Glück hier offensichtlich nicht gewesen. So hatte Tabor von ihnen keine Spur und war nur auf Mutmaßungen angewiesen. An der Ecke drehte ich mich zur anderen Seite und spähte ums Haus. Der Pferdewächter tauchte gerade vor den Tieren auf, blieb ein paar Herzschläge lang stehen und ging weiter. Er stiefelte ständig rund um die Pferde. Ich mußte ihn außer Gefecht setzen und die Gäule wegjagen. Wenn ich das mit ein paar Revolverschüssen tat, mußten sie die ganze Nacht lang nach den Tieren suchen und vielleicht noch am Morgen damit beschäftigt sein. In dieser Zeit konnte ich viele Meilen zwischen mich und sie bringen und wieder nach Nordwesten abschwenken. Damit rechneten sie vielleicht nicht und würden später in der verkehrten Richtung suchen. Der Wächter tauchte wieder auf, blieb ein paar Sekunden stehen und ging weiter. Ich mußte zur anderen Seite des Hauses, wollte ich ihm in den Rücken gelangen und ihn betäuben, ohne daß er die anderen warnen konnte. * Der Mexikaner bewegte sich so regelmäßig um die mehr als ein Dutzend Pferde herum, daß man eine Uhr danach hätte stellen können. Ich belauerte ihn von der östlichen Hausecke aus und hoffte inständig, daß nicht ein anderer Soldat aus dem Haus trat, der den Mann ablösen und dessen Rhythmus unterbrechen würde. Denn
wenn der nächste andersherum um die Pferde ging, mußte ich wieder zur Westseite, um hinter ihn gelangen zu können. Der Wächter tauchte auf. Ich schob mich zurück und hörte das leise, monotone Knirschen des Sandes unter den Stiefeln des Juarista-Mannes. Ich zählte die Schritte und wußte so jede Sekunde genau, wo er sich befand. Dann mußte der Punkt erreicht sein, an dem er mir den Rücken zukehrte. In dieser Sekunde zog ich den Colt, sprang um die Ecke und hinter dem Mann her. Bevor er meine Schritte hörte und reagieren konnte, war ich hinter ihm, holte aus und schlug zu. Er strauchelte, drohte umzukippen und wurde von mir aufgefangen. Ich zerrte ihn um die Ecke zum Schuppen und in das Dunkel, in dem ich ein paar zerschnittene Lassos vorsorglich bereitgelegt hatte. Ich fesselte ihn, stopfte ihm das eigene Taschentuch in den Mund und band ihm das Halstuch so über das Gesicht, daß er den Knebel nicht ausspucken konnte. Aufatmend verließ ich den Schuppen und wischte mir den Schweiß vom Gesicht. Das war geschafft. Der zweite Teil war einfach, wenn ich bei dem ursprünglich gefaßten Plan blieb. Aber genau das erschien mir immer zweifelhafter, je länger ich darüber nachdachte. Denn wenn nur ein Pferd oder zwei den Hof entgegen meiner Annahme doch nicht verließen, dann konnten genausoviele Soldaten, wie Pferde auf dem Rancho verblieben, die anderen Tiere verfolgen und schneller einfangen. Vielleicht hatte ich die Bande dann doch nach kurzer Zeit wieder auf den Fersen. Eine andere Möglichkeit boten die Lassos, die im Schuppen von einem Träger herabhingen. Wenn ich damit die Pferde der Soldaten aneinanderhalfterte und erst einmal weit genug hinaus in die Nacht führte, war ich die Verfolger wirklich los. Noch unentschlossen schaute ich zum Hof. Noch immer bestand die Gefahr, daß jeden Augenblick ein neuer Posten das Haus verließ, der den Gefesselten abzulösen gedachte und nicht vorfand. Daß er sofort Alarm schlug, hielt ich für eine Selbstverständlichkeit. Dennoch holte ich die Lassos aus dem Schuppen und lief wieder zum Hof. Mein Blick flog zur geschlossenen Haustür hinüber, wanderte weiter und erfaßte das Fenster.
Sie tafelten noch in der Hütte. Mahon Tabor saß zurückgelehnt, den Stummel des Zigarillos zwischen den Lippen und den breitrandigen Hut so weit nach hinten geschoben, daß sein schmales, dunkles Gesicht und der krause Haaransatz deutlich wurden. Der Ranchero ging noch um den Tisch und schenkte Pulque ein. »Lima, du kannst Lopez jetzt mal ablösen!« befahl Tabor. Ich stand wie erstarrt und schaute das Haus an. Die Pferde waren noch nicht einmal losgebunden, geschweige denn ihre Zügel mit den Lassos verbunden und aneinander gehalftert. Ein nicht sehr großer, schlanker Mann goß sich den Inhalt seines Glases hinter die wulstigen Lippen, stellte es auf den Tisch, stand auf und rülpste. Er wandte sich der Tür zu. Ich lief hinüber, weil ich sofort handeln mußte. Die Angeln knarrten, die Tür öffnete sich. Eine Lichtbahn fiel aus dem Haus, wurde länger und traf die Pferde. Der Kerl rülpste wieder, trat nach draußen und schloß die Tür. Er hatte mich noch nicht bemerkt, obwohl ich neben ihm an der Wand kauerte. Ich hatte alles auf eine Karte gesetzt und schien damit auch noch Glück zu haben. In die Höhe federnd schwang ich meinen Colt hoch und zuckte nach vorn. Der Kerl wurde hart getroffen, von mir aufgefangen und an die Seite des Hauses gebracht, wo ich ihn niederlegte. Ich durfte mich nicht mehr damit aufhalten, auch ihn noch in den Schuppen zu bringen und kunstvoll zu fesseln und zu knebeln. Soviel Zeit würden sie mir nicht mehr lassen. Ich lief zurück und band hastig die Pferde aneinander. Niemals zuvor war mir aufgefallen, daß eine derartige Arbeit so zeitraubend sein könne. Drinnen schlugen sich die anderen Kerle immer noch die Bäuche voll. Mahon Tabor kaute auf seinem Zigarillostummel herum und schaute immer öfter aufs Fenster. Da ich nicht annahm, daß er mich in der Dunkelheit sah, knotete ich weiter und hatte endlich das letzte Pferd erreicht. »Wo bleibt er denn?« fragte Tabor. Ich band den letzten Zügel fest, mußte aber noch meinen Falben holen. Drinnen stand ein Mann auf und ging zum Fenster. Wenn er es
öffnete, mußte er mich bemerken. In derselben Sekunde wankte der neue Wächter um die Ecke der weißen Hütte und feuerte aus dem Colt in die Luft. Die Pferde wieherten und liefen gegeneinander. Ich schwang mich einfach auf das erste und gab ihm die Sporen. Der Soldat feuerte wieder. Die Kugel pfiff bösartig über mich weg und verlor sich in der Nacht.. Die Tür wurde aufgerissen. »Da ist einer!« brüllte der Kerl und schoß noch einmal. Die Pferde gehorchten mir. Zusätzlich von den Schüssen angetrieben jagten sie im dichten Pulk dahin. Ich hoffte, daß keins stürzte und die anderen mitriß. Hinter mir ertönten Schreie. In der aufwirbelnden Staubwand hasteten die anderen aus dem Haus, und alle feuerten sie hinter mir her. Ich ritt in einem großen Bogen um den Rancho herum und erreichte nach fünf Minuten meinen Falben hinter den Sagebüschen. Dort zügelte ich das Pferd, sprang ab, stieg in meinen Sattel und befestigte das letzte Lasso am Zügel des ersten Pferdes. Sie schienen mich noch ungenau sehen zu können, denn sie schossen. Als ich aus dem Schutz des Sagebusches ritt, sah ich sie. Von Osten stürmten sie heran. Ihre Gewehre entluden sich. »Vorwärts!« rief ich den erschrockenen Tieren zu. Es war leicht, sie zu dirigieren und zu einer schnellen Gangart zu bewegen. Der Staub trieb träge über den Ranchero und hüllte die enttäuscht feuernden Kerle ein, die von Mahon Tabors Kraftausdrücken zu immer neuer Verschwendung ihrer Munition aufgefordert wurden. Ich ritt schon südlich des Korrals dem sanften Hügel im Osten entgegen und über die Kuppe hinweg. Sie schossen immer noch, schienen also nicht sehen zu können, daß ich längst außerhalb des Bereichs war, den sie mit ihren Gewehren erreichen konnten. Sie liefen mir sogar nach, erreichten auch die Hügelkuppe und feuerten wieder. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits eine ganze Meile von dem Rancho entfernt und konnte von den Kugeln nicht mehr
getroffen werden. Dennoch nahm ich die Pferde drei weitere Meilen mit, befreite sie dann von den Lassos und verknotete die Zügel hinter ihren Hälsen, damit sie nicht darauf traten und stürzten. Dann schoß ich aus meinem Colt in die Luft. Sie stoben vor mir nach Osten, Süden und Norden. Mir war es egal. Nur daß keins umkehrte, mußte ich vermeiden. Aber da ich hinter ihnen schoß, versuchte das keins der Tiere. »So, nun sucht mal schön. Und viel Vergnügen.« Ich blies den Rauch von der Mündung des Colts, schob ihn in die Halfter und schlug den Poncho darüber. Ohne Hast ritt ich nach Nordosten. Im gleichen Augenblick fühlte ich mich recht sicher. Da auch während des Tages nirgendwo Telegraphenleitungen zu sehen gewesen waren, konnte ich getrost davon ausgehen, daß Tabor auch solche Wege der Hilfeanforderung versperrt blieben. Klar war mir hingegen, daß sein Haß auf mich jetzt noch größer sein würde. Auch wenn er mich nicht gesehen haben sollte, würde er es mir anlasten. Aber mein eigentliches Problem, Laureen Gilbert, den Engländer und das kleine, kranke Mädchen zu finden, war damit nicht gelöst. Ich fühlte, daß Eile geboten war. Ich mußte sie bald finden, da ich sie der Verzweiflung nahe wähnte. Denn schließlich suchte man auch nach ihnen. Sogar Tabor hatte sie erwähnt, wenn auch eher andeutungsweise als direkt, da sie für ihn nicht so wichtig waren wie für andere Leute des neuen Regimes. Mahon Tabor wollte vor allem mich. Und das hatte mit den Juaristas genau genommen gar nichts zu tun. Ein weiterer Hügel blieb hinter mir zurück. Vor mir dehnte sich unübersichtliches Buschland. Manchmal standen hohe, winterharte Fichten in den Mulden längs der ausgetrockneten Rinnen. Überall konnte Gefahr lauern. Ich zog das Gewehr aus dem Sattelschuh und repetierte es. Wenigstens wollte ich mein Leben teuer verkaufen, wenn ich den Häschern begegnete, die überall waren.
9.
Laureen kauerte an einen Baum gelehnt im diffusen Dunkel eines Nadelgehölzes und blickte auf das Kind im Moos. Maries Wangen waren eingefallen. Die Knochen schienen sich durch die Haut zu bohren. Der Anblick erinnerte die Frau an den fürchterlichen Hunger, der auch in ihr wühlte und Gedanken an anderes kaum noch zuließ. Es raschelte im Gestrüpp. Maries Augenlider zuckten, hoben sich jedoch nicht. Laureen hob langsam den Kopf und sah James Boulder. Die Hände des Engländers bewegten sich zusammengelegt zu ihr hinunter, während er in die Hocke ging. »Ich habe ein paar Beeren sammeln können. Sie sind alle eßbar!« Die junge Frau griff danach und fütterte das kranke Kind. An sich selbst dachte sie nicht. »Sind die Soldaten noch in der Nähe?« »Nein.« Boulder dachte an die Reiter, die sie überraschend gegen Mittag gesehen hatten. Er log, als er behauptete, daß sie weg wären, denn er hatte sich gar nicht mehr aus diesem Wald gewagt, in den sie geflüchtet waren, um nicht bemerkt zu werden. »Nein, sie sind weg«, sagte er noch einmal mit Nachdruck. »Das ist gut.« Laureen fütterte das Kind. Marie aß mit geschlossenen Augen und vielleicht auch ohne zu merken, was sie tat. Hin und wieder schob Laureen sich selbst eine Beere in den Mund und kaute darauf herum. Ihren Hunger konnte das nicht stillen. Der Mann richtete sich auf, ging zu den Pferden und holte die Flasche, in der sich noch etwas Wasser befand. Sie teilten es und saßen dann rechts und links von Marie. »Trotzdem ist es besser, wenn wir den Wald noch nicht verlassen«, sagte Boulder vorsichtig. Laureen schaute auf. Eine Falte schien von der Nasenwurzel aus ihre Stirn zu teilen. »Falls sie noch in der Nähe sind«, fügte er erklärend hinzu. Laureen fütterte Marie die letzten Beeren. »Ist noch Wasser da?« »Nein.« »Gibt es im Wald keins?«
»Ich habe keinen Creek und keine Quelle finden können.« Er kniete, beugte sich über das Kind und untersuchte es. »Wie geht es ihr, James? Ganz ehrlich!« Er hob langsam den Kopf und schaute sie ernst an. »Nicht sehr gut, Laureen. Aber eigentlich ist nur der Hunger, ihre Krankheit. Gutes Essen und ein paar Kräuter würden sie sehr schnell wieder auf die Beine bringen.« Laureen lächelte müde. James Boulder setzte sich. Es rauschte in den Wipfeln der Tannen. Die Bäume bogen sich unter heftiger werdendem Wind, und manchmal brach berstend ein Ast ab und fiel zu Boden. »Es scheint Regen zu geben«, sagte Laureen, die nicht einmal versuchte, den Himmel hinter den Bäumen zu sehen. »Ist noch etwas, James?« »Was soll sein?« »Ich weiß nicht. Du siehst aus, als hättest du noch etwas auf dem Herzen.« »Ich war am Rande des Waldes, Laureen.« Ihre Aufmerksamkeit nahm zu. »Und?« »Dort gibt es eine Wagenstraße.« Laureens Haltung spannte sich. »Eine Straße, die in eine Stadt führt?« Der Arzt hob die Schultern. »Ich habe zwar keine Stadt sehen können weit und breit, aber dennoch muß eine Straße eigentlich zu einer führen. Ich dachte …« Er brach ab. »Was, James?« »Ich dachte, wenn ich es versuchen würde, allein in diese Stadt zu reiten, vielleicht könnte ich beschaffen, was wir dringend brauchen. Geld haben wir ja.« Laureen lehnte den Rücken wieder gegen den Baum. »Sicher ist es nicht sehr weit in die Stadt«, redete Boulder weiter. »Vielleicht nur drei oder vier Meilen.« »Wir brauchen unbedingt Lebensmittel und Heilkräuter für Marie.« Die Französin schaute auf das Kind. »Ja.« Boulder erhob sich und blickte zu den sich heftiger unter
dem Wind biegenden Wipfeln hoch. »Es wird Sand über die Prärie fliegen und die Sicht verschlechtern. Das ist sicher gut.« »Und wenn du die Straße verlierst und dich verirrst?« »Nein, es sind tief eingeprägte Radrinnen, die ich nicht verlieren kann.« »Wie lange ist es eigentlich her, seit wir die Ruine der alten Scheune verließen?« »Zwei Tage. Oder drei.« Boulder strich sich über die Stirn. »Ich weiß es nicht mehr.« »Ich muß noch immer an Ronco denken. Was mag nur mit ihm geschehen sein?« »Wir konnten nicht länger auf ihn warten.« »Das wollte ich damit nicht sagen, James. Ich dachte nur …« Die junge Frau brach hilflos ab. Der Wind verstärkte sich. Vor dem Wald flogen bereits Staubfahnen nach Norden. Aus den Kronen der Tannen losgerissene Äste fielen nach unten. Marie begann wieder zu phantasieren und abwehrende Handbewegungen zu vollführen. Laureen kniete, streichelte und beruhigte das Kind. »Ich kann es nicht länger mit ansehen.« James Boulder erhob sich. »Ich muß die Stadt suchen, in die die Wagenstraße führt. Warte hier, bis ich zurück bin.« Die Französin hob den Kopf. Boulder ging zu den Pferden, sattelte ein Tier und saß auf. Noch immer schweigend blickte Laureen Gilbert ihn an. Angst lag in ihren Augen. »Ich kehre bestimmt zurück.« »Ronco wollte auch bestimmt wieder zu uns stoßen, James.« Sie erhob sich. »Und er hat das wirklich gewollt.« »Du mußt jetzt nicht daran denken. Es ist wegen Marie. Ich muß einfach versuchen, Lebensmittel zu kaufen, und das kann ich am besten und unauffälligsten in einer Stadt. Denke jetzt nicht über das nach, was hinter uns liegt.« Laureen kniete wieder. »Also.« Boulder hob die Hand und trieb sein Pferd an.
»Viel Glück, James«, murmelte die Frau so leise hinter ihm her, daß er es nicht mehr hörte. Tränen liefen über ihre Wangen. Der Reiter verschwand im Halbdunkel des Waldes. Noch eine Weile drangen die Geräusche an die Ohren der lauschenden Frau, dann war der über den Wald hinwegheulende Wind lauter. Laureen wurde von furchtbarer Angst gepackt. Das plötzliche Alleinsein mit dem kranken Kind drohte über ihre Kräfte zu gehen. Sie war versucht, aufzuspringen, ihm nachzulaufen und darum zu bitten, daß er bleiben möge. Aber dann schaute sie wieder auf das kleine Mädchen und sagte sich, daß sie es für Marie durchstehen mußte. Vielleicht hatte James Boulder wirklich mehr Glück als Ronco. Sie setzte sich, faltete die Hände und betete, weil sie eine gläubige Frau war, half ihr dieses Zwiegespräch mit ihrem Gott über die trostlose Stimmung. Langsam fühlte sie die Fähigkeit wieder in sich wachsen, durch alle Wirrnisse und Ängste zu finden und die ferne Heimat zu erreichen. Auf einmal lächelte sie zuversichtlich zu ihrer Tochter hinunter und wischte die letzten Reste der Tränen von den Wangen.
10. Der Wind schleuderte losgerissenes Gestrüpp über das karge Sandland. Die Büsche am Rand der Wagenstraße wurden gepeitscht und verloren immer mehr Äste, die mitgerissen vom Sturm in den Staubwehen verschwanden. Ich stand in einem bunkerartigen Unterschlupf, der vor langer Zeit einmal in eine Hügelflanke getrieben worden war. Die vordere Bretterwand war verfallen. Die Decke in der Hügelflanke hielt jedoch noch. Da der Wind über den Hügel strich, vermochten seine Kräfte die Vernichtung nicht fortzusetzen. Der Falbe hinter mir schnaubte leise und stieß mich mit seinen Nüstern an. Ich achtete nicht darauf, sondern beobachtete weiter die Straße, wie ich das nun schon den zweiten Tag tat. Bei klarem Wetter hatte ich die Stadt in der Nähe sehen können. Ich dachte und
hoffte, daß Boulder und Laureen Gilbert vielleicht hier auftauchten. Es gab nur sehr wenige Städte auf dem Wege zur Küste. Die primitiven Wagenstraßen waren auch nicht zahlreicher. Daran knüpften sich alle meine Hoffnungen, diese Menschen noch einmal zu sehen und auf dem weiteren, noch über hundert Meilen weiten Weg begleiten und schützen zu können. Sie mußten irgendwo in eine Stadt, um das zu beschaffen, was ich in Porfriar nicht hatte holen können. Sie brauchten es dringend, dringender als irgendwann vorher. Die Staubwehen über der Straße flogen so dicht und schnell dahin, daß ich die Büsche davor mitunter nicht mehr sah. Wenn sich jetzt ein Reiter über die Radrinnen bewegte, konnte er mir trotz aller Aufmerksamkeit entgehen. Das Pferd schnaubte und stieß mich wieder an. »Was ist denn nur?« fragte ich ärgerlich. Ein Kugelbusch rollte vom Sturmwind getrieben die Hügelflanke hinunter und blieb im Dickicht vor der Straße hängen. Auf einmal war es mir, als bewege sich ein Reiter über die Straße. Ich kniff die Augen zusammen, um in der mit Sand angereicherten Luft mehr zu erkennen, doch ich sah nur den fliegenden Staub und die gebeutelten Büsche. Und doch wurde ich das Gefühl nicht mehr los, daß dort eben ein Reiter gewesen war, als mich das Pferd ablenkte. War es James Boulder vielleicht gewesen? Schwere Regentropfen fielen vom Himmel und trafen klatschend den ausgedörrten Boden. Die Sicht wurde dadurch vorerst noch nicht besser. Ich mußte es genau wissen. Keine Macht dieser Welt vermochte mich länger in dem halbverfallenen Erdbunker zu halten. So zog ich dem Falben den Sattelgurt nach, stieg in den Sattel und ritt hinaus und den sich biegenden Büschen entgegen. Der heftige Wind packte mich und das Pferd und schob uns der Wagenstraße entgegen. Als ich das Pferd auf den Radrinnen nach Norden lenkte, erhielten wir den Sturm von der Seite. Er schien das Tier vom Weg und mich aus dem Sattel schieben zu wollen. Aber wir stemmten uns gegen ihn und folgten den Wagenspuren.
Der Regen nahm zu und siegte gegen den abflauenden Wind. Der Staub wurde mehr und mehr aus der Luft gewaschen, was die Sicht erheblich verbesserte. So konnte ich schon bald ein Stück der Straße übersehen und meinte nun wirklich einen Reiter vor mir zu haben. Nahe war aber auch die Stadt, deren erste Hütten den Weg bereits flankierten. Ich trieb den Falben zum Trab an, was das Tier mit einem unwilligen Schnauben quittierte. In der nächsten Minute erkannte ich, daß es kein Irrtum war. Da vorn ritt jemand, der aus derselben Richtung kam wie ich. »Los, schneller!« rief ich dem Pferd zu. »Wir müssen ihn einholen!« Es gelang mir jedoch nicht. Zwar rückte ich dem Reiter näher, doch da befanden wir uns bereits in einer Straße, die rechts und links dicht an dicht Häuser einengten. Männer und Frauen waren unter den langen Vordächern zu sehen. So konnte ich den Reiter voraus nicht einfach anrufen, da ich ja immer noch nicht wußte, ob es der Gesuchte auch wirklich war. Der Mann hielt sein Pferd vor einem Geschäft an und stieg ab. Für einen Moment sah ich das stoppelbärtige Gesicht des anderen über dessen Sattel erscheinen. Ich zögerte und parierte den Falben. Da wandte der Mann sich ab, ging hastig auf das Geschäft zu und betrat es. »Natürlich ist er das«, sagte ich im Selbstgespräch. »Wir sehen alle nicht mehr besonders vorteilhaft aus. Los, weiter!« Der Falbe bewegte sich vorwärts. Der Mann war im Laden verschwunden. Durch die offene Tür sah ich Männer und Frauen dicht gedrängt vor dem Tresen, hinter dem ein kleiner Mann im grauen Kittel hantierte. Es war James Boulder, der englische Arzt. Jeder Irrtum schied aus. Der Mann zog gerade eine Frau an der Schulter herum und steckte ihr eine Münze zu. Sie ließ ihn daraufhin an sich vorbei, und Boulder wiederholte seinen Versuch, schneller den Tresen zu erreichen, auf dieselbe Art bei einem Mann, den er obendrein auf spanisch
ansprach. Er schien krampfhaft bemüht zu sein, als Mexikaner zu gelten, um so Fragen aus dem Wege zu gehen. Ich saß ab und band mein Pferd an die Zügelstange, unter der ich hinwegtauchte. Regenwasser schwabte von meiner Hutkrempe. Ich nahm den Hut im Schutze des Vordaches ab und schlug damit über meinen nassen Poncho. Ich stülpte den Hut auf und betrat den Laden, blieb aber an der hinteren Wand und damit außerhalb des Gedränges an der Theke. »Gestatten Sie?« Boulder zog direkt am Tresen abermals eine Frau an der Schulter herum. »Ich bin sehr in Eile, Senora. Da, für Sie!« Boulder steckte der Frau eine Münze zu. Der kleine Mann im grauen Kittel blickte ihn groß und böse an. Boulder fiel nicht nur durch sein unzivilisiertes Äußeres auf, das seinen langen Aufenthalt in der Wildnis deutlicher als sonst irgend etwas verriet, nein, es mußte vor allem der Akzent beim Sprechen sein, der verriet, daß er nicht hierher gehörte, vermutlich gar nicht nach Mexiko. »Was starren Sie mich so an?« fragte der Engländer den Händler. »Ich möchte Brot, Speck, Zucker, Salz und auch Eier und Kaffee. Und ich brauche ein paar Heilkräuter gegen Fieber, falls Sie so etwas haben. Da! Ich kann bezahlen.« Er zeigte Geld in der offenen linken Hand. Der Händler starrte ihn immer noch an. Im Laden wurde es auf einmal merkwürdig still. Boulder blickte auf die anderen, dann wieder auf den kleinen Mann im grauen Kittel. »Was ist los? Wollen Sie mir nichts verkaufen? Gefällt Ihnen mein Geld vielleicht nicht?« Der Mann riß mit einer langsamen Bewegung eine Tüte von einem Nagel an der Wand neben dem Regal, drehte sich um und tat Verschiedenes hinein. Die Menschen schwiegen immer noch. Der Händler drehte sich um und legte die Tüte auf den Tresen. »Brot noch«, sagte Boulder hastig. »Und Mehl und Speck. Und Zucker fehlt.« »Sie wollten auch Kaffee. Ich habe hier nur noch eine kleine Menge.« Der Händler zuckte bedauernd mit den Schultern, aber
seine Blicke schienen den Engländer durchbohren zu wollen. »Ich muß erst noch welchen holen.« »Haben Sie Heilkräuter?« »Ja, die sind hier.« Der Mann langte unter den Tresen und legte pulverisierte Kräuter in einer weißen Schachtel auf die Ladentafel. »Warten Sie, ich hole noch Kaffee.« Der Ladenbesitzer wandte sich ab und verschwand durch die Hintertür. Mir war sofort klar, daß dieser kleine Kerl mit den durchbohrend blickenden Augen keinen Kaffee holen, sondern die Behörden verständigen wollte. So zwängte ich mich in die Menge, ergriff Boulders Arm und rüttelte ihn. Er schaute über die Schulter. Scharf blickte er mich an. »Sind Sie es denn wirklich?« »Schnell, bezahlen Sie, wir müssen weg!« stieß ich hervor. »Er holt mir noch Kaffee!« »Bezahlen Sie, Doc!« zischte ich. »Schnell!« James Boulder warf alles Geld aus seiner Hand auf den Tresen, ergriff die Tüte, die Schachtel und das Brot und drängte sich aus der Menge. Ich nahm ihm das Brot ab und stopfte es unter das Hemd, während wir aus dem Geschäft hasteten. »Was ist denn los?« »Der hat gemerkt, daß Sie kein Mexikaner sind, Doc. Wir müssen schnell fort.« »Aber wieso sind Sie denn hier?« »Das kann ich Ihnen später erklären.« Ich löste den Zügel von der Stange und kroch unter ihr durch. Danach nahm ich Boulder noch die Tüte ab und stopfte sie schnell in die Satteltasche. Es regnete immer noch. Die Luft war dadurch noch reiner geworden. Ich schaute über den Sattel, konnte aber noch niemanden sehen, der heranstürmte, um uns aufzuhalten. Doch unter den langen Vordächern standen noch immer viele Menschen rechts und links der Straße. Sie schienen auf etwas zu warten. »Ich muß noch in die Bodega, Ronco!« Ich wirbelte herum und sah Boulder über den anderen Sattel
hinweg an. Wassertropfen hingen an seinen schmutzigen Bartstoppeln. Das Wasser hatte helle Rinnen in den Dreck auf seinem Gesicht gegraben. »Was sagen Sie?« »Ich brauche ein bißchen Alkohol. So was wirkt bei Kranken wahre Wunder.« »Sie sind verrückt, Doc. Jeden Augenblick kann Miliz auftauchen und uns festsetzen. Los, steigen Sie auf!« Ich drehte mich wieder um und schwang mich in den Sattel. Niemand schien uns aufhalten zu wollen. Der Weg zur Behörde schien von diesem noch etwas außerhalb gelegenen Laden recht weit entfernt zu sein. Das war unser Glück. Ich lenkte den Falben auf das Ende der Stadt zu und wartete, bis der Engländer bei mir war. Dann ging es im Galopp aus dem Nest hinaus. Der Regen traf uns gegen die verschmutzte Kleidung und in die Gesichter. Ich schaute noch mehrmals zurück. Aber es folgte uns niemand. Erleichtert atmete ich auf und ließ das Pferd langsamer gehen. Im Regen sah ich bald darauf den Hügel nahe der Wagenstraße und den Erdbunker in seiner Flanke. Ein kleiner Bach rann von der Kuppe hinunter und fraß am verfallenen Dach. Vielleicht würde der Bunker noch an diesem Tage den Weg alles Irdischen gehen. Doc Boulder begann von den Erlebnissen der letzten Tage zu berichten, und ich nahm mit Spannung jedes seiner Worte auf. Ohne daß er es sagte, wurde dabei klar, daß ich von ihnen für tot gehalten worden war. Hin und wieder schaute ich noch zurück, konnte aber keine Reiter in der Regenwand entdecken. Inzwischen hatte der Engländer auch erzählt, wo und unter welchen Umständen er Laureen und das Kind zurückgelassen hatte. Er schien danach noch etwas sagen zu wollen, zögerte aber. Ich merkte es und schaute ihn an, während ich den Falben parierte. »Was ist noch, Doc?« »Eigentlich nichts, was ich unbedingt sagen muß«, erwiderte der Mann etwas unwirsch. Er hielt ebenfalls und schaute zurück. »Und doch sollten Sie es vielleicht wissen.« »Also was?«
»Es waren für uns schreckliche Nächte, Ronco.« »Kann ich mir denken. Und?« »Laureen und ich sind uns dabei nähergekommen. Wieso, weiß ich eigentlich auch nicht. Es geschah einfach so. Wir lieben uns. Klingt das kurz nach dem Tod ihres Mannes sehr schlecht?« »Nein, überhaupt nicht«, entgegnete ich. »Nein?« Er schaute mich sprachlos an. »Nein, Doc. Hier draußen in der Wildnis gelten andere Gesetze als in der Zivilisation. Ich kann mir schon denken, wie Ihnen und Laureen zumute war. Außerdem haben Sie die Frau schon vorher geliebt.« »Ich?« Boulder staunte. »Haben Sie selbst das denn nicht bemerkt?« Nunmehr war es an mir, verwundert zu sein. »Nein.« »Dann wird es ja höchste Zeit, daß es Ihnen jemand sagt.« Ich blickte wieder hinter uns. In dem Regen folgte uns niemand. Das Wetter verhinderte eine Verfolgung. »Wie heißt das Nest eigentlich, in dem wir waren?« fragte Boulder. Er schaute ebenfalls zurück. Das Wasser rann von seiner Hutkrempe und ergoß sich wie ein Sturzbach über das Sattelhorn. »Retaro«, sagte ich. »Was?« »Die kleine Stadt heißt Retaro.« »Ach so. Entschuldigen Sie, ich hatte es schon wieder vergessen. Wollen wir weiter?« Ich nickte. Nebeneinander ritten wir wieder an. »Hinter der Bodenwelle da vorn«, Boulder streckte die Hand aus, »finden wir ein Wäldchen. Darin habe ich Laureen und das Kind zurückgelassen.«
11. Die Frau schien über dem Kind eingeschlafen zu sein. Wir waren schon bei ihr, als sich ihr Körper bewegte.
»Laureen, sieh nur, wen ich unterwegs traf!« rief der Engländer. Ihr Oberkörper richtete sich auf. Der Blick, der mich aus ihren dunklen Augen traf, schien aus einer weit entfernten, fremden Welt ins Jenseits zurückzukehren. Aber er verriet auch Staunen. Und sie schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie sah. »Es ist Ronco!« rief der Doc und stieg ab. »Sie hatten ihn in Porfriar gefangengenommen. Aber er konnte fliehen.« Ich saß ab, leerte meine Satteltasche und brachte der Frau, was Boulder ihr in Retaro gekauft hatte. Der Engländer erzählte indessen, was alles passiert war. Ich erbot mich, im Walde nach trockenem Holz für ein Feuer zu suchen, damit ich Grund hatte, sie für ein paar Minuten allein zu lassen. Ich nahm die leeren Flaschen mit und entfernte mich von den drei Menschen und Pferden. Der heftige Regen hatte das Dach der recht dicht stehenden Tannen fast überall durchdrungen. Naß glänzte das Moos. Die Suche nach trockenem Holz gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hatte. Um so leichter vermochte ich dafür einen Bach zu finden, eigentlich mehr ein Rinnsal, das mitten durch den Wald plätscherte. Ich ging bei dem klaren Wasserlauf in die Hocke und füllte die Flaschen. Dabei überlegte ich, ob es nicht besser wäre, den Engländer mit der Frau und dem Kind weiterhin allein den Weg nach Vera Cruz fortsetzen zu lassen, während ich vorausritt. Schon unterwegs hierher hatte ich den Gedanken erwogen. Jetzt entschloß ich mich, es den anderen möglichst schonend beizubringen. Es war für sie vorteilhafter. * Ich saß auf einer trockenen Stelle und lehnte den Rücken gegen den Baum hinter mir. Marie ging es besser. Im Flammenschein sah ihr schmales Gesicht gerötet aus. Ihre dunklen Augen blickten lebhafter als in den vergangenen Tagen. Laureen wickelte ihre Tochter wieder in eine Decke. Boulder kauerte rechts von mir am Feuer, sah Laureen zu und
sagte: »Wie schnell ein Kind wieder auf die Beine gebracht werden kann. Du wirst sehen, morgen ist sie wieder völlig gesund, Laureen.« »Hoffentlich.« Die Frau drehte sich um, schob den Sattel zurecht und setzte sich darauf. Der Wind war eingeschlafen, es regnete auch nicht mehr, die Nacht war über das Land gesunken. »Also, Sie bleiben dabei, daß es besser wäre, Sie reiten voraus?« fragte Boulder. »Ja, das ist bestimmt besser«, erwiderte ich. »Auch wegen Mahon Tabor, der nach mir sucht. Der verzweifelt nach mir sucht, möchte ich sagen. Und noch etwas: In Vera Cruz werden viele Ausländer sein, die schnell außer Landes wollen. Ich könnte mir denken, daß dort ein ziemliches Gedränge herrscht und man nicht so schnell wegkommt, wie man will. Die Abreise von Ihnen muß vorbereitet werden. Ich könnte das tun und bin sicher allein viel schneller als Sie mit dem Kind.« Die beiden blickten auf Marie. Laureens Tochter hatte die Augen wieder geschlossen und schien von einer Minute zur anderen eingeschlafen zu sein. »Sie schläft ihrer Genesung entgegen«, murmelte Doc Boulder. »Aber Sie haben natürlich recht. Ein Mann allein ist schneller als wir alle zusammen.« »Wenn Sie sich lange in Vera Cruz aufhalten müssen, werden Sie auch von vielen Menschen gesehen«, sagte ich. »Die Gefahr, doch noch erkannt und verhaftet zu werden, besteht bis zur letzten Minute.« Boulder nickte mir zu. »Ich will versuchen, daß Sie gleich bei der Ankunft in der Stadt auf ein Schiff können. Wir müßten uns vor Vera Cruz verabreden. Das ist besser.« »Mein Mann hat gesagt, wir sollten uns an Kapitän Pierre Giscard halten«, wandte Laureen ein. Boulder und ich waren überrascht und starrten sie an. »Wann denn?« fragte ich erstaunt. »Es war das letzte, was er mir sagen konnte. Er muß Pierre Giscard auch bereits eine Nachricht zugeschickt haben, daß sein
Schiff uns mitnehmen soll.« »Welches Schiff?« fragte ich. »Die ›Sainte Johanna‹ aus Marseille.« Laureen öffnete die Tasche an ihrem Sattel und entnahm ihr einen Beutel, in dem Geldstücke leise klimperten. »Es sind Goldpesos. Kümmern Sie sich darum, daß Kapitän Giscard auf uns wartet, Ronco.« Ich griff am Feuer vorbei nach dem Beutel und nahm ihn an mich. »Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten in Vera Cruz eine Weile gelebt?« wandte ich mich an Doc. »Ja.« »Dann nennen Sie einen Treffpunkt, den ich finden kann.« Ich schob den Beutel mit den klimpernden Goldmünzen in die eigene Satteltasche. »Die Straße führt zwei Meilen vor der Stadt an einem Wäldchen entlang. Wir werden dort warten«, sagte er. »Gut.« Ich schloß die Satteltasche. »Wann wollen Sie reiten?« erkundigte sich die Frau. »Mein Pferd und ich haben tagelang nichts weiter getan als geschlafen und gewartet.« Ich lächelte der Französin über das Feuer hinweg zu. »Wir brennen darauf, wieder etwas zu tun.« »Also wollen Sie gleich aufbrechen?« »Ja, Madam.« »Wir wünschen Ihnen alles erdenkliche Glück, Ronco. Und wir danken Ihnen von Herzen für Ihre Hilfe. Wenn Kapitän Giscard vielleicht doch schon abgereist sein sollte, dann buchen Sie für uns auf einem anderen, bald abfahrenden Schiff, nicht wahr?« »Natürlich, Madam. Ich rechne damit, daß Sie zwei Tage nach mir dort eintreffen können.« Mein Blick kehrte zu dem Doktor zurück. »Kann ich den Wald leicht finden?« »Es gibt nur dieses eine Wäldchen westlich der Stadt. Es ist nicht zu verfehlen.« »Gut, Doc.« Ich erhob mich, nahm meinen Sattel auf und ging zu den Pferden. Laureen und Boulder folgten mir und überhäuften mich mit Danksagungen, was mir allmählich unangenehm wurde, da ich das für reichlich übertrieben hielt. So war ich nicht ganz glücklich, als
das Pferd gesattelt war. Laureen holte mir noch Proviant und gab mir eine der von mir aufgefüllten Flaschen. Sie küßte mich zum Abschied und wäre wohl bis zum Saum des Waldes mitgelaufen, hätte ich sie nicht ermahnt, bei ihrer Tochter zu bleiben. So begleitete mich Boulder bis zur Straße. Naß glänzte das Land im Mondschein. »Morgen wird alles blühen«, sagte Boulder. »Dann sieht das ganze Land wie Europa zu Ostern aus.« »Ich rechne damit, daß Sie zwei Tage nach mir Vera Cruz erreichen«, erwiderte ich, ohne auf Europa zu Ostern einzugehen. Mich bewegten andere Gedanken. »Ja. Und wenn …« Er brach ab. »Was wollten Sie sagen?« »Na ja, wir haben schon einmal auf Sie gewartet, Ronco. Entschuldigen Sie, aber das kann doch wieder passieren.« »Natürlich«, sagte ich. »Mahon Tabor hat mich sicherlich längst überholt, während ich tagelang an der Straße nach Retaro wartete, ob Sie wohl dahin kämen, Doc. Er kann mich sehen, bevor ich ihn bemerke. Aber ich hoffe, ihm aus dem Wege gehen zu können. Also, wenn Sie mich dort im Wald vor Vera Cruz vergebens ein paar Stunden erwartet haben, dann reiten Sie in die Stadt und zum Kai. Aber das Geld …« Ich verstummte und starrte ihn an. An alles hatte ich gedacht, aber nicht daran, daß auch das Geld weg war, wenn ich Pech hatte. »Ich glaube, Laureen hat noch einen Beutel von dem Zeug.« erwiderte Boulder. »Machen Sie sich also darüber keine Gedanken.« Ich saß auf, tippte an meinen Hut und lenkte den Falben nach Osten. Das Gras sprießte bereits höher und hatte eine sattgrüne Farbe erhalten. Auch das Buschwerk in der Nähe zeigte Blätter, die so schnell aus dem vorher strohtrockenen Geäst schossen, daß es wie ein Naturwunder auf mich wirkte. Zurückschauend konnte ich Doc James Boulder am dunklen Waldrand schon nicht mehr erkennen. So vermied ich es, nochmals grüßend die Hand zu heben. Denn vielleicht war er schon
zurückgegangen, damit Laureen nicht unnötig lange allein mit dem genesenden Kind in der Dunkelheit wartete. Ich trieb den Falben zu einer schnelleren Gangart an und entfernte mich rasch.
12. Um den durch das Land streifenden Suchkommandos aus dem Wege zu gehen, war ich gezwungen, jede nur mögliche Deckung zu nutzen. Sah ich eine Hütte der Campesinos oder einen Rancho, bei dem keine gesattelten Pferde auf die Juaristas hinwiesen, so ritt ich hin, gab großzügig jeweils eine von Laureen Gilberts goldenen Münzen aus und erkundigte mich nach den Häschern. So hatte ich auch keine Not, mir genügend Wasser und Verpflegung zu beschaffen, und ich war jeweils einigermaßen sicher, nicht in die Hände der Juaristas geradewegs hineinzureiten. Erst nach vierzehn Tagen erreichte ich ein Waldstück im Westen von Vera Cruz. Ich ritt mitten hindurch, um die Örtlichkeiten wenigstens oberflächlich kennenzulernen. Vom Ostrand des Gehölzes aus sah ich die große Stadt mit ihren weiß-leuchtenden Häusern, ihren Kirchen, Amtsgebäuden und den Entladeanlagen vor dem sich blau ausdehnenden Meer, das zum Horizont hin einen Bogen beschrieb und im Dunst unterging. Die Straße nach Vera Cruz lag unter grellem Sonnenlicht. Yuccasträucher und Kakteen standen reichlich am Wege und ließen das Terrain vor der großen Hafenstadt unübersichtlich erscheinen. Ich hielt eine Weile am Waldrand und beobachtete vorsichtshalber genau das letzte Wegstück, bevor ich im Menschengewühl untertauchen konnte. Dabei fiel mir auf, daß diese Straße nicht so verlassen war, wie sie den Anschein erweckte. Die Uniformen der Soldaten hoben sich vom Sand und dem Buschwerk kaum ab, so daß ich sie erst nach einer Weile richtig sah. Sie hatten die Straße unter strenger Kontrolle. Überall vor Vera Cruz bewegte es sich in den Büschen und bei den Kakteen, die rote Blüten wie Blumen aus ihrem grünen Fleisch trieben. Es schien auch hier geregnet zu haben, obwohl im Sand darauf nichts mehr
hindeutete. Ich stieg ab, lockerte dem Pferd den Sattelgurt und drängte es tiefer in den Wald zurück. Es galt, abzuwarten. Ich konnte nur in der Nacht versuchen, die Wächter zu umgehen und die Stadt unbemerkt zu erreichen. Nach ungefähr einer halben Stunde sah ich einen Reitertrupp aus Vera Cruz kommen und sich auf der Wagenstraße nähern. Es handelte sich um Uniformierte, wie ich erkannte. Sie trugen gekreuzte Patronengurte über Schultern, Rücken und Brust. Im Sonnenschein funkelten die Geschoßhülsen. Meine Aufmerksamkeit lag aber mehr auf dem Mann, der sie anführte. »Mahon Tabor«, murmelte ich. Unverkennbar handelte es sich um den ehemaligen Zahlmeister von Fort Calhoun, den Waffenschieber von heute und meinen gnadenlosesten Jäger von morgen, wie mir bereits schwante. Ich drängte das Pferd noch weiter zurück. Äste schlugen vor mir zusammen. Die Reiter näherten sich weiter. Meine Sorge, von ihnen entdeckt zu werden, wuchs. So führte ich den Falben herum und tiefer in den dunklen Wald. Mahon Tabor war in Vera Cruz gewesen und hatte dort nach mir gesucht. Davon war ich fest überzeugt. Und jetzt ritt er nach Westen zurück, hoffentlich nicht gerade dahin, von wo ihm James Boulder und Laureen mit dem Kind entgegenkamen. Das mußte verhängnisvoll werden. Aber ich konnte nicht mehr umkehren, um sie zu warnen. Ich mußte darauf hoffen, daß sie Glück hatten. Schon konnte ich sie hören. Der Hufschlag hallte hundertfach durch den Wald, Waffen schlugen klirrend gegeneinander. Auf einmal wurde es still. Der Widerhall verlor sich im fahlen Halbdunkel. Ich hielt dem Pferd die Nüstern zu und lauschte. Mahon Tabor gab einen Befehl. Pferde schnaubten. Neuer Hufschlag traf meine Ohren. Herumliegendes Geäst barst unter den Hufen. Ein eisiger Schreck durchfuhr mich. Sie drangen in den Wald ein.
Hatten sie mich vielleicht am Saum des Gehölzes aus der Ferne doch sehen können? Die Geräusche wurden immer lauter und deutlicher. Aber wegen des vielfachen Echos verstand ich nicht, was sie sich zuriefen. Äste bewegten sich. Ich trat weiter zurück und neben den Kopf des Pferdes. Vor mir senkte sich ein Ast nach unten. Mein Herz schlug schneller, weil ich wußte wie gering meine Chance war, wenn sie mich jetzt bemerkten. Denn so groß, daß ich mich hier noch einmal vor ihnen verbergen konnte, war der Wald nicht. Ich würde hinausreiten müssen. Und das auf einem Pferd, das vier Tage lang durch erbarmungslose Hitze und Staub getrabt war. Da sah ich einen der Soldaten. Sein schwarzbärtiges Gesicht stand sekundenlang in einem Sonnenstrahl, der das Dach des Waldes durchbrach und bis auf den Boden reichte. Der Juarista hielt sein Gewehr an der Hüfte angeschlagen und würde sicherlich bei der ersten verdächtigen Wahrnehmung schießen. »Ganz still«, flüsterte ich dem Falben zu. Dreißig Yards trennten mich von dem Mann, eine lächerlich geringe Distanz. Wenn er genau zu mir herüberschaute, mußte er mich trotz der Äste dazwischen sehen. Dabei hatte ich meine Spencer noch nicht einmal in den Händen. Aber die brauchte ich auch nicht. Meine Hand ertastete den abgewetzten Griff des Colts. Ich zog ihn aus der Halfter und legte den Daumen auf den Hammer. Ihn zu spannen wagte ich nicht, da zu befürchten stand, daß er es hörte. Der Soldat schaute zur anderen Seite und danach zu mir herüber. Schweiß lief mir in die Augen. Jetzt mußte er mich sehen. Meine Hand mit der Waffe hob sich an. Da schaute er nach Westen und führte das Pferd weiter. Ich begriff kaum mein Glück und ließ den Colt wieder sinken. Sollte er mich tatsächlich nicht bemerkt haben? Es schien so. Weiter südlich sah ich weitere Soldaten. Auch hinter mir raschelte es unüberhörbar, und als ich mich umwandte, entdeckte ich sie auch da. Mahon Tabor ließ das Gehölz durchkämmen. Aber wie durch ein Wunder stand ich an einer Stelle, der sich keiner näherte. Freilich, sie
hatten nicht jeden Fußbreit Boden im Gehölz absuchen können. Das war ausgeschlossen. Die Geräusche entfernten sich. Ich sah keinen mehr. Mahon Tabors barsche Stimme ertönte, doch das Echo verzerrte seinen Ruf, und so verstand ich ihn nicht. Danach wurde es still. Ich blieb fast noch eine Stunde lang am selben Fleck stehen, lehnte mich nur gegen einen Baum und überdachte die Lage, in die ich geraten war. Sie schien mir eher schlechter als besser zu werden. Doch schließlich gab ich mir einen Ruck, führte den Falben dem östlichen Saum des Gehölzes entgegen und beobachtete die Straße. In kleinen Trupps tauchten immer wieder Soldaten auf, die nach Norden und Süden ritten. Ihre Geschäftigkeit verriet, daß auch an eine Entspannung der Lage in Mexiko derzeit noch nicht zu denken war. Fieberhaft suchten die Juaristas nach tatsächlichen oder vermeintlichen Feinden. Dort unten befand sich so etwas wie eins ihrer Hauptquartiere. Auch daran konnte kein ernsthafter Zweifel bestehen. Ich würde trotzdem hinreiten und nach der ›Sainte Johanna‹ aus Marseille Ausschau halten, so wie ich es versprochen hatte. Ich blickte schärfer hinaus in den Dunst über dem Golf und gewahrte nun auch schwach ein paar große Rahsegler, die auf der Reede vor Anker lagen. Es würde nicht allzu schwierig sein, zu erkunden, ob sich die »St. Johanna« darunter befand. * Wie das leise Säuseln des Windes klangen die vielfältigen Geräusche von Vera Cruz durch die Nacht bis an meine Ohren. Die Tausende von winzigen Lichtpunkten der Stadt schimmerten zu mir herüber. Ich führte den Falben aus dem Wald, zog den Sattelgurt nach und saß auf. Ein paar Yards weiter folgte ich der Straße, dann bog ich vor ihr nach Norden ab. Ich wollte einen Bogen schlagen und von Norden in die Stadt reiten. Die Gefahr, einer Streife dabei in die Hände zu geraten, bestand trotzdem. Doch schätzte ich sie geringer ein, als wenn ich der Straße folgte. An ihr warteten mit Sicherheit
einige Posten. Das Pferd bewegte sich langsam auf die Lichtpunkte zu. Die Nacht war sehr dunkel. Die Yuccasträucher und Biberschwanzkakteen auf dem Sandboden sah ich erst, wenn sie direkt vor meinem Pferd auftauchten. Nach einer halben Stunde hatte ich mich der Stadt beträchtlich genähert und lenkte das Pferd noch weiter in nördliche Richtung. Als Orientierung dienten mir dabei die äußersten Lichtpunkte von Vera Cruz. Dort mußten die letzten Hütten stehen. Das Pferd schnaubte leise und blieb stehen. Ich lauschte in die Dunkelheit, griff beinahe instinktiv nach vorn und zog die Spencer aus dem Scabbard. Nichts rührte sich. Nur die nun eher einem fernen Singen ähnliche Geräuschkulisse der Stadt umgab mich. »Weiter«, sagte ich zu dem Pferd und schlug ihm sanft die linke Hand gegen den Hals. Die auf den Boden schlagenden Hufe ließen den Sand knirschen. Kleine Kakteen schienen vor mir aufzutauchen. Sie bewegten sich, und plötzlich sah ich, daß es keine Pflanzen waren. Reiter hielten dort. Ich riß den Falben sofort nach links herum und gab ihm die Sporen. »Vorwärts, vorwärts!« zischte ich. Das Pferd streckte sich. Gewehre wurden abgefeuert. Mündungslichter zuckten durch die Nacht und zeigten die Reiter in ihrem bizarren Licht deutlicher als vorher. Kugeln pfiffen über mich weg. »Schneller, schneller!« rief ich dem Falben zu. Die Hufe trommelten über den harten Sand. Gestrüpp flog vorbei, nur schemenhaft für Sekundenbruchteile zu erkennen. Die Soldaten schossen wieder. Abermals hörte ich das Pfeifen in der Luft und hatte das Glück, nicht getroffen zu werden. Sie folgten mir. Aber der Falbe hatte sich in den letzten Stunden ausruhen können und war in der Lage, ein beachtliches Tempo vorzulegen. Als sie wieder feuerten, war bereits zu hören, daß sie an Boden verloren. Ich frohlockte und beschleunigte die Gangart meines Pferdes
durch neue Zurufe. Dabei lenkte ich es sanft nach rechts, um in die Nähe der äußersten Hütte am Stadtende zu gelangen. Die Enttäuschung ließ die mexikanischen Soldaten immer schneller, aber nicht wirkungsvoller schießen. Sie konnten mich kaum erkennen, da ich von ihnen auch nichts weiter als die Stichflammen ihrer Gewehre sah. Bald waren die Hütten am Stadtrand erreicht. Niemand zeigte sich. Drinnen verloschen sogar die Lampen, als wollte man mit dem, was hier draußen vorging, nichts zu tun haben. Ich sprengte um die erste Hütte, an einem schiefhängenden, teilweise eingestürzten Zaun entlang und in eine dunkle Gasse. Hart zügelte ich den Falben, sprang ab und zog das Tier um einen hohen Bretterschuppen herum, durch einen Hof und hinter ein Lager. Dort hielt ich an. Die Reiter jagten heran. Schemenhaft sah ich sie am Lager vorbeihuschen. Vor einer Hütte hielten ein paar, während die anderen, nach den Geräuschen zu urteilen, weitergaloppierten. Ein Krachen war zu hören. Offenbar schlugen sie mit Gewehrkolben gegen eine Tür. Ein Befehl ertönte. Ich wollte das Pferd schon weiterführen, als vor mir eine Gestalt auftauchte. Herumwirbelnd schlug ich das Gewehr an der Hüfte an. »Wenn du schießt, werden es die Soldaten hören«, sagte der Mann und rückte näher. Er trug einen großen Sombrero und war einen ganzen Kopf kleiner als ich, dürr von Gestalt und in zerlumptes Leinenzeug gekleidet. Der Mexikaner trat dicht an mich heran und schob das Gewehr zur Seite. »Er ist weiter«, sagte ein anderer Mann laut vor der Hütte, bei der ein paar Soldaten gehalten hatten. »Da entlang.« Gleich darauf war wieder Hufschlag zu hören. Der Rest der Soldaten entfernte sich nach Osten. »Mein Bruder hat sie weitergeschickt«, erklärte der Mann vor mir. »Es tauchen jetzt oft Reiter auf, die unbemerkt in die Stadt wollen. Und das ist schwierig.« Ich lauschte dem sich entfernenden Hufschlag, blickte aber den kleinen, abgerissenen Mann vor mir dabei an. »Wir helfen, wo wir können«, fuhr der Mexikaner fort. »Und wir
stellen keine Fragen. Wenn du an mir vorbei zur nächsten Gasse und dann nach rechts gehst, wird dich niemand mehr behelligen, und du erreichst direkt das Hafenviertel.« »Das Hafenviertel?« staunte ich. »Alle Fremden kommen nach Vera Cruz, weil es hier einen Hafen gibt, in dem auch noch Schiffe liegen. Schiffe, die über See in fremde Länder fahren werden und auf denen man untertauchen kann, wenn man Geld hat. Wer nach Vera Cruz reitet, der hat auch Geld, weil er das weiß.« Ein zweiter Mann tauchte am Ende des Lagers auf und näherte sich. Er hielt einen Colt in der Hand. »Sie sind weg«, sagte er. »Was wollt ihr dafür haben?« fragte ich. Sie grinsten beide. »Gib uns, was es dir wert ist«, sagte der Mann, der sich mir zuerst genähert hatte. Ich schob das Gewehr in den Scabbard und gab dem Mann einen Goldpeso. Das matte Schimmern der Münze verriet dem Mexikaner sofort, was es war. Er nickte und wandte sich ab. »Viel Glück, Amigo.« Der zweite Mexikaner folgte dem Bruder. Sie verschwanden am Ende des Lagers. Ich atmete auf, wischte mit dem Ärmel über das Gesicht und führte das Pferd weiter. Dabei war ich sicher, daß noch lange nicht alles ausgestanden war. Denn bestimmt durchkämmten die Juaristas auch die Stadt. Aber dort waren viele Menschen, und in dem Gewimmel mußte es mir eigentlich gelingen, unterzutauchen. In mir würde kaum jemand einen Ausländer erkennen, der schnell das Land verlassen wollte. Ich fand bald einen Mietstall, führte den Falben hinein und weckte den im Stroh schlafenden, unwahrscheinlich dicken Mexikaner. Der Kerl fuhr erschrocken in die Höhe und zog ein Messer hinter dem Gürtel hervor. »Lassen Sie das!« befahl ich ruhig. »Ich möchte nur das Pferd unterstellen.« Der nun munter gewordene Mann schob das Messer wieder hinter den Gürtel. »Entschuldigen Sie.« Ich brummte etwas Unverständliches, gab ihm einen Peso und
führte den Falben selbst in eine der leeren Boxen, wo ich ihn absattelte. »Wielange werden Sie das Pferd bei mir lassen?« fragte der runde Mann. Ich drehte mich um und erkannte ein Lauern in seinen Augen. »Sie wollen wissen, ob ich beabsichtige, auf ein Schiff zu gehen, nicht wahr?« »Manchmal lassen sich die Leute nicht mehr sehen. Aber hat man dann einen Gaul verkauft, damit Platz im Stall wird, dann stehen sie auf einmal wieder da und wollen ihn holen. Dann ist auch gleich der Teufel los.« »Ich werde auf kein Schiff gehen«, entgegnete ich. »Haben Sie verstanden, Senor? Ich hole das Pferd wieder ab. Aber ich lasse mich auch hin und wieder hier sehen. Sicher jeden Tag mindestens einmal. Wagen Sie es nicht, ihn zu verkaufen.« Ich überlegte, ob ich mein Gewehr mitnehmen sollte, verwarf den Gedanken jedoch. Mit der Waffe würde ich den Soldaten nur unnötig auffallen, ohne daß ich sie zur eventuellen Verteidigung in den Gassen würde gebrauchen können. »Und passen Sie mir auf mein Eigentum auf«, setzte ich hinzu. Der Mann blickte mit schiefem Gesicht auf den Peso. »Morgen kriegen Sie wieder einen«, versprach ich, drehte mich um und verließ den Stall. Drei Minuten später stand ich am Rande einer Gasse und hatte das Hafenviertel vor mir. An den Kais lagen keine Schiffe. Alle warteten draußen auf Reede, weit genug vom Land entfernt, um in die Wirren des Landes nicht hineingezogen zu werden. Aber dennoch nahe genug, um sich Bedrängter und Verfolgter annehmen zu können und so zu einer gut zahlenden Menschenfracht zu gelangen. Ein Ruderboot glitt in das schimmernde Dunkel des Golfs hinaus und verschwand. Vor den Kneipen standen knapp bekleidete, grell bemalte Mädchen, die auf Kundschaft warteten. Ein Betrunkener taumelte zu einer Laterne, hielt sich an ihr fest und rutschte langsam zusammen. Ein Haufen Matrosen zog grölend die Straße zu den Lagerhallen hinunter, die wie große, drohende Klötze im Dunkel bei den Kais
standen. Irgendwo in dieser Gegend mußte ich mir zuerst einmal ein Quartier beschaffen, damit ich von der Straße verschwand und vor Spitzeln, mit denen ich überall rechnen mußte, sicher war. Ich verließ den Schutz der finsteren Ecke und schlenderte auf die Straße hinaus. »He!« rief mir ein Mädchen zu und winkte heftig. Schnell ging ich vorbei. Nur keine Aufmerksamkeit erregen, nie in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Ich wußte, wie wichtig das sein würde. An der nächsten Kneipe hielt mich ein schwankender Seemann an, der Feuer haben wollte und sich an mir festhalten mußte, um nicht zu Boden zu gehen. »Ich habe kein Feuer«, sagte ich, befreite mit Gewalt meinen Arm und drängte mich in der Menge weiter. Eine Prügelei zwischen zwei wie Seeräuber wirkenden Seeleuten in Ringelhemden war – mitten auf der Straße im Gange. Ich drängte gegen die Menschenmauer, die die Szene umstand und die beiden anfeuerte. Fäuste flogen und trafen ihre Gesichter. Der eine brüllte. Der andere lachte. »Hau ihn zusammen, Louis!« brüllte ein bulliger Amerikaner. Rasch eilte ich an der Menschenmauer entlang um den »Ring« herum und erreichte die andere Seite. Eine finstere, unansehnliche Kneipe in einem handtuchschmalen, drei Stockwerke hohen Holzhaus erschien mir gut geeignet, unauffällig zu bleiben. Ich ging hinein und sah in dichten Rauchschwaden eine Menschentraube vor einem Tresen. Gegenüber standen Tische unter trübe brennenden Lampen, die sich kaum selbst zu erhellen vermochten. Sofort erhob sich ein Mädchen in einer dunklen Ecke und war bei mir, noch bevor ich überhaupt daran denken konnte, neuerlich die Flucht zu ergreifen. »Hallo, suchst du Unterhaltung?« Ihre großen, schwarzen Mandelaugen strahlten mich an, die weißen Arme glitten wie Schlangenleiber an mir hinauf und schlossen sich um meinen Hals. Ihr heißer Körper mit den prallen Brüsten preßte sich gegen mich.
»Ich suche eher jemanden, der sich hier auskennt«, erwiderte ich. »Und ein Zimmer.« »Kannst du beides von mir kriegen.« Sie küßte mein stoppelbärtiges Gesicht und zog mich an den Rand des Tresens. Der Wirt war ein finsterer Kerl unbestimmbaren Alters. Das Mädchen sagte, was ich wollte, und ich legte einen Goldpeso auf den Tresen. Der Mann schnappte sich das Geld, nickte und gab dem Mädchen einen Schlüssel. »Gehen wir!« Sie küßte mich wieder und zog mit mir quer durch die schmalbrüstige Kneipe zu einer Treppe im Hintergrund, die wir hinaufstiegen. Ich war von Mißtrauen erfüllt, sagte mir aber gleichzeitig, daß ich Hilfe in der fremden Stadt dringend brauchte. Anders konnte ich den französischen Kapitän nicht finden. Das Mädchen führte mich in ein schäbiges Zimmer, das nicht viel breiter als die Tür und das Fenster auf der anderen Schmalseite war, dafür lang wie ein Gang. Ein altes Bett mit vergilbtem Messinggestell stand darin, eine Waschschüssel und einem Drahtständer, darüber ein fast völlig erblindeter Spiegel und daneben ein schmaler, spindartiger Schrank aus Holz, der schief an der Wand lehnte, weil ihm ein Bein fehlte. Sie drehte sich im Kreise im Raum, während ich die Tür noch schloß und mich dagegen lehnte. »Wie gefällt es dir?« »Schön häßlich«, entgegnete ich. Sie lachte perlend und blieb stehen. »Ich bin Teresa.« Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich nennen sollte. Doch sie rückte schon wieder auf mich zu. Hell wie Sterne strahlten ihre Augen. Sie küßte mich. »Sei still!« »Ich wollte nur meinen Namen sagen.« »Du wolltest mich anlügen, Amigo. Alle Fremden, die nach Vera Cruz kommen, lügen uns an. Sie wollen fort, wollen unerkannt bleiben und sind auf der Flucht. Keiner würde es wagen, seinen richtigen Namen zu sagen.«
»Na gut.« Ich lächelte schief. »Wenn du es schon weißt, ich suche nach einem französischen Kapitän, der Giscard heißt. Pierre Giscard. Von der ›Sainte Johanna‹ aus Marseille.« Sie trat zurück. Ich zog zwei funkelnde Goldmünzen aus der Tasche, hielt die Hand offen vor mich und sagte: »Suchst du ihn für mich?« Sie schaute von meinem Gesicht auf das Geld. Ihre schlanken Finger nahmen die Pesos, während sie mich abermals küßte. »Soll ich ihn hierher bringen?« »Ist mir egal. Wenn er einen anderen Treffpunkt bevorzugt, gehe ich auch dorthin. Weißt du denn, ob sein Schiff noch hier ist?« »Die ›Sainte Johanna‹ liegt auf der Reede. Immer wenn die Flut einsetzt, schwenkt sie herum, und man kann dann den Namen an ihrem Heck lesen. Am Abend war Flut, und das Schiff war auch noch da.« »Du kennst dich gut aus, Teresa.« »Alle hier im Hafenviertel kennen sich aus. Das gehört zum Geschäft.« Sie drehte sich um, ging zum Fenster und öffnete es. Teresa trug ein kurzes, schwarzes Kleid, das vorn und hinten tief ausgeschnitten war und somit ein Minimum an Stoff darstellte. Die schwarzen Locken fielen über ihre Schultern und auf dem Rücken weit nach unten, so daß sie den hinteren Ausschnitt fast völlig verdeckten. Kühle Nachtluft strich von See herein. Teresa wandte sich um. »Ich weiß, wer dieser Kapitän ist. Und ich werde ihn finden. Warte hier, bis ich zurück bin.« Sie ging wieder auf mich zu. Ich trat zur Seite, damit die Tür frei wurde. »Danke, Teresa.« »Du brauchst dich nicht zu bedanken. Du hast doch bezahlt. Soll ich dir noch etwas zu essen hochbringen?« »Das wäre sehr nett.« Sie nickte und ging hinaus. Die Tür schloß sich. Ich lauschte ihren rasch verklingenden Schritten nach und fragte mich dabei, ob ich ihr auch trauen dürfte. Bestimmt gab es in jeder Kneipe Spitzel, und das konnten die leichten Mädchen ebensogut wie Männer sein, die sich als Säufer, Spieler oder Tagediebe tarnten.
Jemanden mußte ich – vertrauen. Mein Gefühl sagte mir, daß Teresa eine gute Wahl war. Aber sicherer fühlte ich mich danach immer noch nicht. Ich ging zum Fenster und schaute über das miese Viertel hinweg auf das Meer. Unten, auf der Hafenstraße, pulsierte das farbig schillernde Leben dieser Stadt. Menschen aus Spanien, Frankreich, Österreich und den Staaten kamen hierher und versuchten, auf Schiffe zu gelangen. Sie alle waren im Schlepptau des fremden, aus den Alpen stammenden und von den Franzosen auf seinen überseeischen Thron gehobenen Kaisers hier gelandet und hatten auf die Erfüllung ihrer vielfältigen Wünsche gehofft. Und nun standen sie vor den Trümmern, fühlten sich ungerecht von dieser fremden Welt und von Gott behandelt und konnten nur noch hoffen, das nackte Leben und das, was man in den Taschen mit sich trug, zu retten. Sicher dachte Teresa, ich wäre auch einer von ihnen. Vielleicht sollte ich die Kneipe verlassen und beobachten, ob sie allein zurückkehrte oder Soldaten mitbrachte. Doch noch bevor ich zu einem Entschluß gelangte, war sie wieder da. Ich hörte ihre Schritte, die Tür öffnete sich, und als ich mich umwandte, stand sie schon in der Tür. »Er bereitet dir etwas zu essen«, sagte sie. »Und den Franzosen habe ich auch getroffen.« »Das ging aber schnell.« »Zufall.« Ich ging auf sie zu. Teresa schloß die Tür. Wieder traf mich das Strahlen ihrer Augen. »Zuerst dachte ich, du seist Mexikaner«, sagte sie leise. »Ich will nicht mit dem Schiff fahren, Teresa. Ich bin für Freunde hier. Was hast du vereinbart?« »Noch gar nichts. Ich weiß doch nichts, konnte ihm also auch nicht sagen, um was es geht.« »Sage ihm einen Namen und daß es wichtig wäre. Laureen Gilbert ist der Name. Ich bin ein Bekannter von ihr.« »Also gut.« Ich gab ihr noch eine goldene Münze. »Zeig sie ihm, damit er weiß, daß es sich lohnen wird. Er wird gut bezahlt. Mit goldenen Münzen, die ihren Wert behalten, egal, was mit dem Kaiser
passiert.« »Den Kaiser werden sie töten«, sagte Teresa. Ihre Augen blitzten. »Mehr hat er auch nicht verdient.« »Wer sagt das?« »Alle sagen es.« Sie wandte sich ab und ging wieder hinaus. »Teresa!« Ich trat in die offene Tür. Sie wandte sich um und sagte: »Ich bin in zwei oder drei Minuten zurück. Du kannst mir vertrauen, auch wenn ich gegen diesen Fremden und seinen Hofstaat bin. Die anderen werden für uns auch nichts Besseres bringen. Alle denken nur an sich. Menschen sind so.« Sie drehte sich heftig um und ging weiter. Zurücktretend schloß ich die Tür, ging zum Bett und setzte mich.
13. Teresa lag neben mir im Dunkel auf dem Bett. Es war heiß im Zimmer. Ihr Körper wärmte zusätzlich wie ein Ofen und trieb immer neuen Schweiß aus meinen Poren. Ich konnte nicht schlafen, obwohl ich müde war. Das Mädchen beobachtete mich aus großen, wachen Augen und schien nun doch noch herausfinden zu wollen, wer ich war und was mich hierher getrieben haben könnte. Für mich hingegen stand endgültig fest, daß ich ihr vertrauen konnte. Ohne etwas zu sagen, blickte sie mich lange Zeit an. Dann drehte sie sich um, stand auf und suchte ihre spärlichen Kleider im Dunkel auf dem Boden zusammen. Sie zog sich schnell an, trat ans Fenster und atmete tief durch. »Ich glaube, es wird Zeit.« Ich setzte mich auf den Bettrand und zog mich an. »Wo will er mich treffen?« »Ich werde es dir zeigen.« Sie kehrte zurück und setzte sich neben mich. »Du kannst mir vertrauen.« »Ich hatte angenommen, er käme hierher.« »Nein. Hierher wagt er sich nicht.« »Was ist mit ihm und seinem Schiff los?« »Die französische Regierung hatte es lange Zeit gechartert. Und es stand Kaiser Maximilian als Frachter zur Verfügung. Niemand weiß genau, was er transportierte. Auf jeden Fall hat er die Fremden
unterstützt und muß nun die Einheimischen fürchten. Man sagt, er habe Waffen, Pulver, Soldaten aus Frankreich und alles, was dieser fremde Herrscher sonst noch brauchte, hierher nach Mexiko gebracht und dafür auf dem umgekehrten Weg die geplünderten Schätze unseres Landes mitgenommen.« »Ist das Schiff noch von den Franzosen gechartert?« »Sicher nicht. Du weißt doch, wie sie sind. Wenn eine Herrschaft zu Ende geht, bauen sie sofort auf die nächste. Aber illegal versuchen sie möglichst viel zu retten. Er wird deine Freunde an Bord nehmen, das glaube ich. Es ist jetzt sein Geschäft.« Ich stand auf, zog den verstaubten Poncho über und folgte dem Mädchen zur Tür. Teresa geleitete mich durch den dunklen Gang zu einer Holztür an ihrem Ende. Sie führte zu einer quadratischen, yardgroßen Plattform hinaus, von der aus eine Leiter hinunter in den finsteren Hof zu erkennen war. Sie stieg hinunter und schleppte mich an stinkenden Müllkippen vorbei durch enge Gassen zu einem Silo, dessen Tor einen Spalt offenstand. »Er wartet hier drin.« Sie ließ meinen Arm los. Ich schaute sie fragend an. »Ich bleibe hier und passe auf.« »Danke, Teresa.« Ich betrat den Silo. Die Dunkelheit in dem hohen Gemäuer war vollkommen. Gegenstände um mich herum konnte ich bestenfalls ahnen. »Kapitän Giscard?« fragte ich. »Hier.« Ein Schwefelholz flammte auf und beleuchtete einen kleinen, breitschultrigen Mann, zehn Yards von mir entfernt. Blitzende Augen und ein scharfgeschnittenes Gesicht waren zu erkennen. Darum Kisten, Fässer, Säcke und Pakete, soweit der zuckende Flammenschein reichte. Der Mann ließ das Schwefelholz fallen. Die Flamme verlosch. Das Dunkel war wieder um mich. »Also?« fragte der Kapitän barsch. »Wer sind Sie?« »Mein Name ist Ronco.« Ich ging genau fünf Schritte weiter vorwärts und mußte nun eine Kiste neben mir haben, die größer war als ich selbst. »Und weiter?«
Ich berichtete von Gilberts Tod, von Laureen, ihrer Tochter, dem englischen Arzt, unseren Abenteuern unterwegs und von dem Geld, das ich von Laureen erhalten hatte. Danach herrschte eine volle Minute Schweigen zwischen uns. Sehen konnte ich den Mann nicht. »Und wann, sagten Sie, müßten diese Leute hier sein?« »Ich schätze übermorgen, Monsieur.« »Das ist noch verdammt lange hin.« Giscard fluchte leise. »Aber es ist richtig, daß ich von Gilbert eine Nachricht erhielt und er darum bat, daß ich warten möge. Ich warte seit vier Tagen. Wenn sich die Juaristas bis zu meinem Schiff hinauswagen würden oder sonst etwas cleverer wären, hätten sie mich längst einen Kopf kürzer gemacht.« »Werden Sie warten, oder muß ich versuchen, ein anderes Schiff für meine Bekannten zu finden?« fragte ich schroff. »Verdammt, verdammt, ich dachte, die wären endlich hier!« schimpfte der kleine, energische Franzose. »Vielleicht treffen sie auch schon in der nächsten Nacht ein«, erklärte ich. »Genau kann ich das ja nicht wissen.« »Ich habe noch andere Flüchtlinge an Bord, die mich bedrängen, den Anker zu lichten.« »Das kann ich verstehen, Monsieur. Deshalb frage ich ja.« »Haben Sie das Geld mit?« »Ich gebe Ihnen die Hälfte davon.« Das hatte ich schon entsprechend vorbereitet, so daß ich nur noch den Beutel mit dem angebotenen Anteil aus der Tasche ziehen mußte. Ich ging weiter, bemüht, meine Schritte hörbar werden zu lassen. »Hier, Monsieur!« Giscard kam mir entgegen und nahm den Beutel. Undeutlich sah ich einen hellen Fleck, der sein Gesicht sein mußte. »Ich schicke morgen und übermorgen eine Stunde nach Mitternacht das Boot herüber. Der Name ›Sainte Johanna‹ steht am Bug. Es wird hier im Silo landen. Haben Sie verstanden?« »Ja, Monsieur.« »Dann vergessen Sie es nicht.« Der Kapitän wandte sich ab. Seine Schritte entfernten sich. Als sie verklangen, klappte am anderen Ende des Silos eine Tür. Danach hörte ich nichts mehr. Noch ein paar Herzschläge lang lauschte ich, dann drehte ich mich um, ging zurück
und traf die Mexikanerin draußen an der warmen Wand. »Ist alles in Ordnung?« »Ich denke schon, Teresa. Vorausgesetzt, meine Bekannten treffen rechtzeitig in Vera Cruz ein. Länger als zwei Tage scheint er nicht mehr warten zu wollen.« Wir gingen gemeinsam zum Kai hinter dem hohen Lagerhaus und sahen ein kleines Boot lautlos hinaus in die Weite des Golfs gleiten, den Schiffen auf der Reede entgegen, die wir ungenau im silbernen Mondlicht erkannten.
14. Zur selben Stunde befanden sich Doc James Boulder, Laureen Gilbert und ihre schlafende Tochter unterwegs nach Osten. Marie hatte sich wieder völlig erholt. In den Armen ihrer Mutter schlief sie während des langsamen Rittes. Plötzlich zügelte Boulder sein Pferd und griff zu der Frau hinüber. Das Herz schlug ihm heftig. Laureen stieß einen leisen Schrei aus. Reiter waren vor ihnen auf einer Bodenwelle aufgetaucht. Sie hielten und starrten hinauf zu den schwarzen Silhouetten, bei denen drohend die Waffen und Patronen schimmerten. »Soldaten«, flüsterte die Frau. »Marie, du sprichst kein Wort. Kein einziges Wort, verstanden?« Das Mädchen nickte nur und klammerte die kleinen Hände angstvoll an die Arme der Mutter. Die Reiter verließen die Bodenwelle und näherten sich, und schon nach Sekunden war deutlich zu erkennen, daß es sich in der Tat um Soldaten des neuen Regimes handelte. »Denke an das, was ich dir sagte!« stieß Boulder hervor. Laureen nickte. Die Reiter sprengten im Galopp heran. Hart wurden die Pferde gezügelt, Staub quirlte auf und hüllte die Flüchtlinge ein. Kalt blickende Augen musterten sie. James Boulder bemühte sich um ein reines Spanisch, als er sagte: »Wir sind von der Straße nach Vera Cruz abgekommen, Senor. Können Sie uns sagen, ob wir sie im Norden oder im Süden suchen
müssen?« Der Offizier, ein nicht übermäßig intelligent erscheinender, junger Mann, war so verblüfft, daß er den Mund aufsperrte. »Wir, meine Frau, das Kind und ich, kommen von einem Besuch bei meiner Schwester«, redete Boulder mutig geworden weiter. »Sie und ihr Mann bewirtschaften einen Rancho und wurden oft von den Truppen des Kaisers um ihr weniges Vieh gebracht. Aber zum Glück ist das nun vorbei. Sie atmen auf, Senor. Viva Benito Juarez!« »Viva, Juarez«, sagte Laureen leise. »Jetzt haben wir uns auf dem Rückweg verirrt«, redete Boulder weiter. »Die Straße ist im Süden«, erwiderte der Offizier. »Danke, Senor. Herzlichen Dank.« Boulder lüftete flüchtig seinen Hut. »Dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten.« Der Engländer und Laureen trieben die Pferde an und ritten nach Süden. Sie lauschten dabei ängstlich hinter sich, hörten aber nichts. »Haben die uns das wirklich abgenommen?« fragte Laureen schließlich. »Glauben die tatsächlich, wir seien ein Ehepaar aus Vera Cruz?« Boulder schaute zurück. Die Soldaten setzten eben die Pferde in Bewegung und ritten weiter nach Westen. Sie ließen die Pferde noch ein paar Minuten langsam gehen, dann aber wurden sie angetrieben! »Schnell, schnell!« rief der Engländer. »Bevor denen nachträglich etwas verdächtig erscheint und sie umkehren!« James Boulder konnte, als er später sein Pferd zügelte und zurückschaute, das unwahrscheinliche Glück gar nicht fassen. Die Soldaten waren ihnen nicht gefolgt.
15. Ein leises Zischen ließ mich das Pferd zügeln und aus dem Sattel gleiten. Meine Hand fiel auf den Griff des Colts. Ich versuchte, im Dunkel des Gehölzes etwas zu erkennen, was mir jedoch nicht gelang.
»Doc?« fragte ich leise. »Er ist es, Laureen«, klang es durch den Wald. »Ja, wir sind hier, Ronco!« Erleichtert führte ich das Pferd weiter und fand die drei Menschen und ihre beiden Pferde auf einer kleinen Lichtung. Laureen lachte erleichtert auf und umarmte mich. »Wer ist das?« fragte Marie. Ich ging in die Hocke, streichelte ihr Gesicht und sagte: »Du hast dich, gut erholt, Marie. Ich bin Ronco.« Boulder zog mich wieder in die Höhe, und in der Tat hatten wir keine Zeit zu verlieren. Ich erklärte, was ich erreicht hatte und daß in zwei Stunden das Boot der »Sainte Johanna« am Kai von Vera Cruz auf sie warte. Außerdem sagte ich ihnen, daß wir einen weiten Bogen nach Süden schlagen müßten. Ich hatte am vergangenen Tag herausfinden können, daß es dort unmöglich war, den Militärstreifen zu entgehen und unbemerkt in die Stadt zu gelangen. Sicher durften wir dessen aber nicht sein. Bald befanden wir uns unterwegs. Boulder trieb immer wieder zur Eile an, obwohl die Zeit gut reichen mußte. Denn wenn wir genötigt werden sollten, einer Streife aus dem Wege zu gehen und uns dabei von der Stadt zu entfernen, statt uns ihr zu nähern, würden wir das Boot sowieso nicht mehr erreichen. Wir hatten jedoch Glück und erreichten nach einer Stunde die Hafengegend von Süden aus. Die Pferde ließen wir in einer Gasse hinter einem geteerten Holzlagerschuppen zurück. Ich gab Boulder den verbliebenen Rest der Goldpesos und sagte ihm, daß sie die zweite Hälfte der Passage noch bezahlen müßten. Dann führte ich sie zu dem Silo weiter, in dem ich sie bis zur Ankunft des Bootes verstecken wollte. Als ich das Tor aufschob, huschte eine Gestalt drinnen aus dem Dunkel. Ich lief ihr sofort nach, warf mich blindlings vorwärts, packte Stoff und riß einen Kerl um. Ich landete auf ihm, wurde aber zur Seite gestoßen. Zugleich sprangen wir auf. Meine Faust stach auf Verdacht vorwärts und traf das Gesicht. Der Kerl stöhnte, prallte gegen eine Kiste und brach zusammen.
»Doc, Licht!« Boulder betrat den Silo und rieb ein Schwefelholz an der Wand an. Im zuckenden Lichtschein, der Schatten über die Gegenstände tanzen ließ, sah ich ein fremdes, bärtiges Gesicht. »Wer ist das, Ronco?« »Keine Ahnung. Irgendein Spitzel, der vielleicht letzte Nacht das Boot hier sah und was hörte.« »Was soll er gehört haben?« »Vielleicht, daß die Seeleute sagten, sie kämen heute wieder«, erwiderte ich. »Dabei könnte er sich gesagt haben, daß es sich vielleicht lohnen würde, auf die Fahrgäste zu warten.« »Ja, könnte sein.« Boulder ließ das fast abgebrannte Holz fallen und zündete ein neues an. Der Kerl war mit dem Hinterkopf gegen die Kiste geschlagen und hatte das Bewußtsein verloren. Ich schleifte ihn tiefer in den Silo, gefolgt von dem Engländer, der immer neue Schwefelhölzer anzündete. Bald fand ich ein paar Leinen, mit denen der Mann gefesselt wurde. Da er kein Taschentuch hatte, riß ich ein Stück seines fadenscheinigen Hemds ab und stopfte es ihm in den Mund. Mit einer weiteren Leine, die ich ihm um den Kopf schlang und ebenfalls vorn in den Mund zwängte, wurde er daran gehindert, den Knebel bei seinem Erwachen ausspucken zu können. »Ronco, ein Boot!« rief Laureen an der Tür. »Was denn, jetzt schon?« fragte Boulder. »Die nehmen es mit der Zeit vielleicht nicht so genau.« Ich ging an dem Arzt vorbei und hinaus. Es war das Boot der »Sainte Johanna«, das am Kai gerade anlegte. Zwei finstere Gesellen saßen darin, hielten das Boot an der Mauer fest und schauten hoch. »Die Leute sind da. Madam Gilbert wird auf der ›Sainte Johanna‹ den Rest der Passage entrichten.« »Ist nicht unsere Sache, Monsieur. Aber Beeilung. Wir können uns hier nicht lange aufhalten!« Die Blicke der beiden Männer huschten am Kai entlang, der noch verlassen in der Nacht lag. Ich wandte mich um. »Schnell, schnell!«
Es war keine Zeit für eine lange Abschiedsszene geblieben. Kaum saßen die drei Menschen aus Europa in dem schaukelnden Boot, da legten sich die beiden Seeleute in die Riemen und pullten von der Pier weg. »Ronco!« rief Laureen. »Ich wollte Ihnen noch soviel sagen!« Ich winkte dem Boot nach. »Danke für alles!« rief die Frau. »Gute Reise!« rief ich. Auch Boulder rief noch etwas zu mir herüber. Marie plapperte dazwischen. Das kleine Boot glitt auf die Reede hinaus und tauchte im Dunkel über dem Meer unter. Ich wandte mich um, ging zurück, schloß die Tür des Silos und dachte, daß man den gefesselten Kerl bei Tagesanbruch bestimmt finden würde. Um den brauchte ich mich nicht weiter zu kümmern. Für mich war es das beste, rasch zu verschwinden. Nur zu Teresa wollte ich noch einmal. Doch als ich in die Nähe der Kneipe gelangte, sah ich plötzlich Mahon Tabor wieder. Er stand inmitten eines Rudels schmutziger Soldaten, von denen er sich durch den langen Staubmantel abhob. Ich trat sofort zurück und schob mich in eine Nische. Gegen die vielen Männer hatte ich keine Chance, zumindest nicht in dieser Stadt, in der vielleicht Dutzende von Männern über mich herfielen, wenn Tabor ein Kommando gab. Teresa trat aus der Kneipe. »Hallo!« rief sie und winkte Tabor. Der Kreis der Soldaten schob sich auseinander. »Hallo, suchst du Unterhaltung?« fragte Teresa und lächelte Mahon Tabor an. Er ging auf sie zu, griff in die Tasche und gab ihr ein paar Münzen. Sie lachte, als sie danach griff. »Ich suche einen blonden jungen Mann.« »Einen blonden Mann?« Teresa lachte wieder. »Du hast viel Geld, was?« Tabor gab ihr noch mehr Geld. »Suchst du auch ein Zimmer?« fragte sie. »Ich weiß vielleicht ein besonders schönes Zimmer, in dem du auf ihn warten könntest.« »Verdammte Schlange«, murmelte ich.
Während Mahon Tabor mit dem Mädchen im Haus verschwand, schob ich mich weiter zurück. Es gelang mir, unbemerkt hinter die Kneipe zu gelangen und den in meinem Zimmer aufspringenden Lichtschein zu sehen. Teresa erschien am Fenster. Sie wirkte im Lichtschein größer und schlanker, als sie war, und sie schien zu mir nach unten zu blicken. Dann drehte sie sich um und sagte laut: »Du kannst hier auf ihn warten. Es ist sein Zimmer.« Ich ging zurück bis zum Zaun. An der Plattform bewegte sich die Tür. Teresa trat nach draußen und stieg die Leiter hinunter. Sollte sie mich gesehen haben? Sie ging über den Hof und lächelte, als sie bei mir stand. »Warum hast du das getan?« »Ich habe dich gesehen – mit der schönen Frau, die zu unseren Feinden gehört. Und ein Gringo war auch dabei.« »Ein Engländer«, verbesserte ich. Mir wurde erst in diesem Augenblick klar, daß sie mich die ganze Zeit für einen Mexikaner gehalten haben mußte, und dabei beließ ich es auch. »Aber da oben ist auch ein Gringo«, setzte ich hinzu. »Ich weiß.« »So, du weißt es?« »Ja. Ich dachte, du wärst mit der schönen Frau weggefahren und hättest mich schon vergessen. Da wollte ich das Geld nehmen, daß er so freimütig anbot. Dann sah ich dich hier.« Ich schaute wieder zu dem hellen Fenster hinauf. »Seine Leute sind überall«, sagte das Mädchen. »Du hast ihn also in das Zimmer gebracht, aber geglaubt, ich wäre weggefahren?« fragte ich. »Ja.« Ich mußte lächeln. Sie war noch raffinierter, als ich angenommen hatte, dafür viel weniger die Schlange, die ich zuletzt in ihr vermutet hatte. Sie lächelte wieder, schmiegte sich an mich und küßte mich. »Ich weiß noch ein anderes Zimmer, in dem sie dich nicht suchen. Komm, Amigo mio!« Ich ging mit ihr, während Mahon Tabor in dem schlauchartigen
Zimmer über der finsteren Kneipe auf mich warten konnte, bis er schwarz wurde. Teresa schickte einen Freund los, der Mahon Tabor und seine Kerle dabei beobachtete. Drei Tage lang. Dann schien ihm endlich zu dämmern, daß er von der Mexikanerin geleimt worden war. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die »Sainte Johanna« bereits auf hoher See. Als Teresas Freund die Nachricht brachte, daß Mahon Tabor mit seinen Leuten die Stadt verlassen habe, galt es auch für mich, Abschied zu nehmen. Teresa schien es erwartet zu haben. Sie sagte nichts dazu, küßte mich nur inniger als zuvor und begleitete mich zum Stall. Ein letztes Mal winkte sie mir zu, dann wandte sie sich schnell ab und lief im Gewirr der engen Gassen davon. Ich verließ Vera Cruz auf den Spuren von Mahon Tabor, dem ehemaligen Zahlmeister von Fort Calhoun. Nachdem Laureen Gilbert, ihre Tochter und der Engländer James Boulder in Sicherheit waren, hoffte ich die Zeit zu finden, mich um die eigenen Angelegenheiten kümmern zu können. Ich mußte an Mahon Tabor dranbleiben, um herauszufinden, was er jetzt tun würde, was für ihn außer den Waffengeschäften und der Suche nach mir noch wichtig war und mit welchen Leuten er sich traf. Denn der Indianerüberfall im Halcon Canyon, den man mir anlastete, mußte tatsächlich eine große Manipulation gewesen sein, ein finsteres, einträgliches Geschäft irgendwelcher Leute. Wenn ich jemals eine Chance haben wollte, meine Unschuld zu beweisen, dann mußte ich den wahren Sachverhalt aufklären. Dabei gab ich mich keiner Illusion hin. Ich würde noch näher an die Hölle herangeraten, als das ohnehin bereits der Fall war …
ENDE
Vorschau Ronco stieß das Gewehr durch die Fensterscheibe und rief in das Klirren: »Hände hoch!« Harry Flint zuckte zusammen. Seine Rechte fuhr zum Colt. Ronco feuerte. Erde spritzte dicht neben dem Verbrecher auf. Harry Flint ließ sich durch den Warnschuß nicht stoppen. Er riß den Colt aus der Halfter. Ein Wolf und mehrfacher Mörder wie er ergab sich nicht kampflos. Sein Revolver blitzte und krachte. Fast im selben Sekundenbruchteil drückte auch Ronco ab und ließ sich fallen. Er robbte unter dem Fenster vorbei um die Ecke der Hütte. Er hörte Schritte, dann folgte ein dumpfer Aufprall. Harry Flint war aus dem Fenster gesprungen. Die Hütte war für ihn zur Falle geworden. War er verletzt? Wahrscheinlich, denn jetzt sah ihn Ronco – Flint lief taumelnd zum Korral … Das ist Ronco, der Texas Ranger. Lesen Sie nächste Woche Band 381 dieser großen deutschen Western-Serie:
Die Goldkatze