Höllenjäger Band 12 Der Wall bricht! von Des Romero
Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Ein unmöglicher Ort, so haben...
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Höllenjäger Band 12 Der Wall bricht! von Des Romero
Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Ein unmöglicher Ort, so haben die Priester gesagt. Aber was hätte ich mir darunter vorstellen sollen? Selbst jetzt, da ich an meinem Ziel angelangt bin, fällt es mir schwer - wenn es nicht gar unmöglich ist - meine Umgebung zu erfassen. Ich kann eigentlich nicht hier sein. Die Wissenschaft hält keinen Spielraum für derart abstrakte Unternehmungen bereit. Und doch kann ich es wiederum nicht leugnen, dass diese undenkbare Reise stattgefunden hat. Das Datum ist der 12. Juni 2022. Gemessen zumindest nach meiner Zeiteinteilung, die ich nicht missen möchte und die mir ein Stück Vertrautheit in einer Welt bewahrt hat, die eine ganz andere - und nicht mehr die meine - geworden ist. Die Menschen der Erde hingegen würden sich auf den Sprung ins 22. Jahrhundert vorbereiten, wenn nicht mit der ›großen Wende‹ auch die althergebrachte Geschichtsschreibung verschwunden wäre. Ein totaler Neuanfang mit nur wenigen überschaubaren Altlasten. Wie relativ und dehnbar der Begriff ›Zeit‹ ist, habe ich nun mehrfach schon erfahren. Ihr Wesen ist mir weiterhin unbekannt und sogar unheimlich. Doch gelange ich zu der Annähme, dass sie einzig existiert, um innerhalb der materiellen Welt Hürden und Barrieren zu schaffen. Ja, sie bindet den physischen Menschen fest an sich, lässt ihm keinen Raum zu kontrollierter Bewegung. Der Geist kennt diese Beschränkungen nicht. Er kann überall sein und in Sekundenschnelle das Universum durcheilen. Zeit und Raum sind Beschränkungen der Materie. Nichts anderes. Ohne die materielle Welt mit all ihren Facetten des Lebens bestünde überhaupt kein Grund, irgendetwas räumlich oder zeitlich voneinander zu trennen. Im Grunde schützt die Zeit den Menschen vor sich selbst. Denn würde all das, was er denkt, augenblicklich in Erfüllung gehen - mir schweben da etwa Mordgedanken vor oder
Aussprüche wie: ›Ich wünschte, ich würde sterben!‹ - wäre dies sein eigenes Todesurteil. Da kein einziger Mensch die Kontrolle über seine Gedanken hat, die mitunter ein skurriles Eigenleben entwickeln, würde er sich selbst durch seine eigene geistige Unreife im Weg stehen und ganz ungewollt auslöschen. In so einem Fall gäbe es kein Nachher, kein ›Es tut mir leid‹. Gesagt - getan! Ohne Ausflüchte. Warum dieser Gedanke in meinem Bewusstsein derart präsent ist...? Ich sagte bereits, dass die Erde, obwohl ich sie weiterhin Heimat nenne, kaum noch dem Bild meiner Jugend entspricht. Es gibt Fragmente, die mir sagen, auf vertrautem Boden zu gehen. Doch sind es eher Relikte einer weit zurückliegenden Epoche, die ein für allemal Vergangenheit ist und nicht mehr lebendig wird. Das Phänomen der Zeit scheint für einen Sterblichen nicht begreifbar. Meine Reise zur Erde hat mich in Ereignisse verstrickt, die lange hätten vergangen sein müssen, hat mich mit Personen zusammengeführt, die längst in einem vergessenen Grab hätten vermodern sollen... Ich habe mich zu früh der neuen Mission gestellt. Wie kann ich nach dem Neuen greifen, wenn ich das Alte noch nicht verarbeitet habe? Ich will mich in mich selbst zurückziehen, den Alptraum um mich herum keine Macht über mich erlangen lassen. Ich will sehen, was war, will begreifen, was geschehen ist. Das Gefährliche an den negativen Kräften, den Schatten des Bösen, ist, dass jeder meint, sie erkennen zu können. Doch die Bestie trägt einen Lammpelz... * Theobald Hauser-Bonaffini schlenderte durch die weitläufige Halle des Museo Gregoriano Etrusco. Es ging bereits auf Mittag
zu und der Archivar hatte die vergangenen Stunden damit verbracht, die Katalogisierung einiger Bücherreihen in der großen Bibliothek zu aktualisieren. Einige restaurierte Bände waren hinzugekommen, ein oder zwei ältere hatte er entfernen müssen. Seinem Ermessen oblag es zu entscheiden, welche Werke der ›Prozedur‹ unterzogen wurden. HauserBonaffini musste zugeben, dass er die Möglichkeiten der ›Hohen‹ durchaus bewunderte. Einige Unikate waren in einem äußerst denkwürdigen Zustand, der bezweifeln ließ, sie selbst nach der ›Prozedur‹ in einem halbwegs einwandfreien Zustand zurückzuerhalten. Doch jedes Mal war der Archivar in dieser Beziehung positiv überrascht worden. Nicht, dass er die Bände wie aus dem Ei gepellt in Empfang genommen hätte; das Papier war immer noch verfärbt und auch die kleineren und größeren Risse waren nicht verschwunden, sondern höchstens weniger geworden. Der Zustand des Materials hingegen hatte sich deutlich verbessert. Es besaß eine höhere Stabilität, hatte seine Brüchigkeit verloren. Für Hauser-Bonaffini war es erstaunlich, diese Eigenschaften im Nachhinein beeinflussen zu können. Der Respekt vor seinen Arbeitgebern hätte nicht größer sein können, auch wenn die technischen Details, ja, der gesamte Vorgang der ›Prozedur‹ hinlängliches Befremden bei ihm auslösten. Aber schließlich hatte er hier an Ort und Stelle einen bibliothekarischen Auftrag zu erfüllen. Dafür war er eingestellt worden. Andere Dinge gingen ihn nichts an und wenn er ehrlich war, interessierten sie ihn auch nicht. Um in einem Gebäude zu wohnen benötigte man keinerlei Kenntnisse seiner Architektur. Theobald Hauser-Bonaffini war ein verschlossener Einzelgänger, der am liebsten in Ruhe gelassen wurde. Umgekehrt hielt er es genauso: er mischte sich nicht in die Belange anderer ein, schon gar nicht in jene seiner Dienstherren. Mit dieser Einstellung war er bisher gut gefahren. Er trat hinaus in das orangepurpurfarbene Sonnenlicht, ließ den Blick über den Giardino Quadrato schweifen, genoss
die Friedfertigkeit des Augenblicks und die wärmenden Strahlen und machte sich sodann auf den Weg zur Bibliothek. Die Residenz, so dachte der Archivar, war eine blühende Oase inmitten einer Welt, die sich wieder auf ihre Anfänge besonnen hatte. Die ›große Wende‹ war immer noch ein geflügeltes Wort, mit dem die meisten Menschen allerdings wenig anzufangen wussten. Es gab kaum noch Überlebende, die von der Zeit vor der Veränderung zu berichten wussten, ebenso, wie es nur wenige Dokumente aus diesen lange zurückliegenden Tagen gab. Für Bonaffini waren die alten Geschichten mit ihren ausufernden Vermutungen und spitzfindigen Details, die einige meinten dazu erfinden zu müssen, ohne Bedeutung. Er lebte im Hier und Jetzt. Und so gefiel es ihm. Gleich würde die Marktfrau das Mittagessen vorbeibringen. Sie würde ihn und die wenigen Angestellten innerhalb der Residenz aufsuchen, ein paar Worte plaudern und die Residenz wieder verlassen. So, wie sie es jeden Tag tat. In Hauser-Bonaffinis Augen spiegelte sich so etwas wie Sehnsucht, wenn er an Maria Cicciu dachte und er fragte sich, ob es ihm wohl heute gelingen würde, ihr kurzes Gespräch auf ein Thema zu lenken, das ihm mehr als alles andere am Herzen lag. * Das helle Läuten der Fahrradklingel ließ den vor sich hindösenden Theobald hochfahren. Er war doch tatsächlich für ein paar Minuten leicht eingenickt. In Erwartung seines Mittagessens hatte er keine neue Aufgabe beginnen wollen und sich einfach an den schweren Sekretär unterhalb des Fensters gesetzt. Die warmen Sonnenstrahlen hatten anscheinend ein Übriges getan und ihn schläfrig werden lassen. Schnell rannte er zur Tür des Bibliothekenvorraums und zog die hohen Flügel auseinander.
»Ich wollte dein Essen gerade wieder mitnehmen«, lachte Maria Cicciu ihn an. »Wie oft wolltest du mich denn noch klingeln lassen?« »Entschuldige, ich war in die Arbeit versunken«, schwindelte Bonaffini, weil er der Annahme war, diese Erklärung wäre von größerer Akzeptanz als die schlichte Wahrheit. »Na«, freute sich Maria und lachte ihn an, »wer so viel arbeitet, der braucht auch eine kräftige Mahlzeit.« Theobald konnte sich nur schwer von ihrem Anblick lösen, dem strahlenden Lächeln, den dunklen Augen und dem lausbübischen Kurzhaarschnitt. »Was ist los mit dir?«, fragte Maria fröhlich und zeigte dabei ihre makellosen Zähne. »Bist du in Gedanken immer noch bei der Arbeit?« Sie stupste ihn vorsichtig mit dem Teller an, den sie schon die ganze Zeit in ihren Händen hielt. »Ich? Nein! Es war nur...« Hauser-Bonaffini war verlegen, druckste herum und konnte nicht aussprechen, dass ihn diese Frau wesentlich mehr interessierte als der mit einem Handtuch abgedeckte Teller. »Komm doch bitte herein«, meinte er stattdessen und trat zur Seite. »In die Bibliothek?«, wunderte sich Maria. »Aber... darf ich das denn?« Für gewöhnlich kam es nicht vor, dass Außenstehende Zutritt zu Gebäuden der Residenz erhielten. Theobald wusste nicht, inwiefern die ›Hohen‹ in der Lage waren, die Einhaltung dieses Verbots zu kontrollieren. Diesmal wollte er es darauf ankommen lassen. Kriegte sein Arbeitgeber etwas mit, würde er sich schon irgendwie aus der Affäre ziehen. »Heute darfst du es«, antwortete Theobald. »Weil ich dich dazu einlade.« Maria Cicciu warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu. Aber anders als vermutet hatte sie danach keine Augen mehr für Theobald. Fasziniert und von Ehrfurcht ergriffen ging sie bedächtig über den Mosaikfußboden, während ihr Kopf kaum
sichtbar kreiste und jeden Winkel zu erforschen schien und jedes noch so unbedeutende Detail aufnehmen wollte. Geduldig wartete Theobald eine Weile und als Maria sich dann immer noch nicht mit ihm beschäftigte, richtete der Archivar seine Aufmerksamkeit auf das Nächstliegende. »Gibst du mir den Teller?« Die junge Frau in den beigebraunen Baumwollkleidern und den Bastsandalen reagierte erst beim zweiten Anruf. »Ja sicher. Sofort. Verzeih bitte.« »Nur keine Aufregung«, beruhigte Hauser-Bonaffini sie. »Ich kann mir schon vorstellen, dass das alles sehr spannend für dich ist.« »Ich war doch noch nie in so einem Gebäude«, sagte sie schnell. »Für dich ist das sicher ganz normal...« »Ich habe mich daran gewöhnt«, meinte Theobald. Er setzte sich an den Sekretär und nahm das Handtuch von dem Teller. Es gab weißes Kochfleisch, Dampfkartoffeln und grünes Gemüse. »Setz dich doch bitte zu mir. Nimm dir einen Stuhl von dort hinten.« Es dauerte fast zwei Minuten, bis Maria mit dem Stuhl zurückkam. Sicher hatte sie die Vorhalle weiter studiert und sich nur mit Mühe von dem überwältigenden Anblick losgerissen. »Schmeckt es dir?«, erkundigte sie sich fürsorglich. Ihr Lächeln hatte eher etwas Mütterliches als das, was Theobald gerne darin gesehen hätte. »Du willst es wissen, ja?«, fragte Bonaffini und kam sich gleich darauf dümmlich vor. Kein Grund, nervös zu sein, sagte er sich und straffte sich innerlich. Er schalt sich einen Narren, überhaupt etwas gesagt zu haben und wich ihrem irritierten Blick aus, indem er sich seinem Essen zuwandte. »Ja«, erwiderte Maria, »das will ich.« Sie lachte amüsiert auf und ihr Gesicht bekam wieder diesen unbeschwerten Ausdruck. »Was du für Fragen stellst. Du bist schon ein ungewöhnlicher Mann.«
»Was fragen die Männer dich denn sonst?«, wollte Theobald wissen, ließ dabei das Fleisch auf der Zunge zergehen. Errötete Maria gerade oder hatte es einen anderen Grund, dass sie erst zur Seite und schließlich nach unten schaute. Der Archivar beobachtete sie genauestens und als sie nach einer Sekunde aufsah, da war es Bonaffini, der rasch den Blick abwandte, um sein Belauern zu vertuschen. »Jedenfalls nicht so was«, erhielt er zur Antwort. Das Gespräch verlief nicht unbedingt nach HauserBonaffinis Vorstellungen und drohte, in einer Sackgasse zu enden. Dabei hatte er den entscheidenden Punkt noch gar nicht angesprochen, jenen Punkt, der ihn seine Mahlzeit trotz des Hungers kaum wahrnehmen ließ. »Du bist eine... eine...«, stotterte Theobald und versuchte seine mangelnde Ausdrucksfähigkeit auf das Gemüse zu schieben, indem er so tat, als hätte er sich daran verbrüht. »Noch heiß?«, bekam Maria Cicciu Kulleraugen und lächelte in einer Weise, die signalisierte, dass sie das Spiel des Archivars durchschaut hatte. Er allerdings schien davon nichts zu bemerken. »Und wie!«, nuschelte er, öffnete den Mund und sog scharf die Luft ein. Er kaute den Bissen hoch konzentriert zu Ende und schluckte ihn runter. »Maria«, wagte er einen zweiten Anlauf. »Bitte verstehe mich jetzt nicht falsch. Ich wollte dir nur sagen, dass du eine sehr... eine sehr schöne Frau bist«, spulte er die letzten fünf Worte hastig herunter, als fürchtete er, sich auch daran zu verbrennen. Sie sah ihn mit einem leicht melancholischen Schimmern in den Augen an. »Du hast das sicher schon oft gehört«, schmunzelte er, als Maria nicht reagierte, pickte Fleisch auf seine Gabel und schob es sich in den Mund. Gespielt vergnügt kaute er darauf herum. Auffordernd sah er sie an und nahm auch noch ein wenig von den Kartoffeln.
»Vielleicht habe ich das wirklich«, gab sie Theobald einen vagen Hinweis. »Du weißt es nicht mehr?« Bonaffini durfte das Thema jetzt nicht auf sich beruhen lassen. Nur in Gedanken war er bisher so weit vorgestoßen. Er wusste, dass er sich auf unsicherem Terrain bewegte. Es gehörte nicht zu seinen Stärken, sich für Frauen interessant darzustellen; er war kein Mann, der eine zwanglose, unterhaltsame Konversation führen konnte. In dieser Beziehung und in seiner Beziehung zu Frauen musste er sich selbst eher als unreif bezeichnen. »Ich will es einmal so sagen«, erklärte Maria unterschwellig ernst, »dass sich hinter schönen Worten nicht immer schöne Männer verbergen.« »Du bist enttäuscht worden«, schlussfolgerte Bonaffini. »Und dann komme ich auch noch mit solchen Redensarten daher...« »Es hat nichts mit dir zu tun. Nur mit mir.« »Ich wollte nicht persönlich werden.« »Das musst du aber, wenn du eine Frau kennen lernen möchtest...« Sie hatte die ganze Zeit gewusst, worauf er hinausgewollt hatte. Als sie nun nicht mehr sprach, sondern das Kinn in beide Handflächen legte und die Ellbogen auf die Platte des Sekretärs stützte, da war es Theobald, als hätte er einen Engel vor sich sitzen, ein überirdisches Wesen, das jeden seiner Gedanken bereits kannte, bevor er noch gedacht war. Auch er schwieg nun und konnte nicht einmal sagen, ob ihn die Ruhe glücklich oder ängstlich machte. »Glaubst du«, fasste er sich schließlich ein Herz, »das es möglich wäre, dich näher kennen zu lernen...?« War da ein Seufzen, das über Marias Lippen treten wollte und dann doch nicht zum Vorschein kam. »Ich kann dir darauf keine Antwort geben«, teilte sie Bonaffini mit. »Jetzt noch nicht.« Die Frau nestelte an ihrem Baumwollhemd herum und richtete die absolut korrekt sitzende Knopfleiste.
»Ich sollte besser gehen. Da warten noch ein paar Leute auf ihr Essen.« Um ihre Sprunghaftigkeit abzuschwächen ergänzte sie: »Sieht nicht gut aus, wenn ich es kalt serviere.« »Das stimmt«, bestätigte Theobald mit vollem Mund. »Ist nicht gut fürs Geschäft, verstehe ich schon.« »Das Geschirr komme ich morgen holen«, sagte Maria Cicciu im Gehen. »Und das von gestern auch.« »Natürlich. Mach das.« Er brachte die Marktfrau noch bis zur Flügeltür und sah ihr nach, wie sie davon radelte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich hab's versaut, schüttelte Hauser-Bonaffini den Kopf.
Eine zweite Chance werde ich wohl nicht mehr bekommen.
Er verschloss die Tür und ging zurück zum Sekretär. Nachdenklich speiste er weiter. Weder ihm noch Maria war die Gestalt im Schatten der Arkadengänge aufgefallen, die ebenfalls nicht nur äußerst interessiert der sich entfernenden Frau nachgeschaut, sondern ihr Augenmerk mindestens mit ebensolcher Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte, wo sie hergekommen war und wie lange sie sich dort aufgehalten hatte... * Die Erde hatte mich wieder! Nach all den Jahren! Ich schattete meine Augen gegen die Sonne ab und blinzelte in den Himmel, der sich aus mir ungewohnten Farben zusammensetzte. Ich hatte zwar erwartet, dass mir mehr fremd als bekannt erscheinen würde, doch dieses Orangepurpur hinterließ den Eindruck, mich auf einem unbekannten Planeten zu befinden. »Es liegt an der tonalen Verschiebung«, meldete sich Chebokyn, der zwei Schritte vor mir stand. Er drehte sich zu mir um. »Die Strahlungsfrequenzen haben sich verändert.«
»Du weißt verdammt viel über die neuen Zustände für jemanden, der sein Leben in einem Reimplantationssarkophag verbracht hat.« »Wir hatten alle unsere Aufgaben«, übernahm Mantazz das Wort. »Nicht wenige von uns haben sich zur Zeit der Wende auf der Erde befunden.« »Du redest von den Schläfern auf Col'Shan-duur?«, wollte ich es genau wissen. »Nicht nur. Es gab auch Verbündete auf dem Planeten.« »Leute wie Denningham-Cartlewood, richtig?« »Auch Leute wie ihn. Aber auch Layshi-Pan. Durch das morphogenetische Feld sind jedem alle Informationen zugänglich.« Nun, das konnten wir ein anderes Mal ausdiskutieren. Ich sah mich um. Überall Felsen und schroffes Gestein. Nicht einmal eine Nische, aus der wir aus der Siegelkammer getreten waren. Nichts wies auf ihre Anwesenheit hin. Und trotzdem waren wir gerade hindurchgegangen. »An öffentlichen Plätzen ist sie besser getarnt als in Venora Ghol oder auf Col'Shan-duur.« Chebokyn schien - wie Mantazz und Eleowelia - jeden meiner Gedanken wahrzunehmen, ob ich es nun wollte oder nicht. Sie hatten mir zwar erklärt, dass sie nicht in meinem Kopf schnüffelten, sondern dass ich ihnen mein Denken aufbürdete, doch so ganz konnte ich diese Geschichte nicht glauben. Irgendwann würde ich in der Lage sein, die Aussagen der Höllenjäger zu überprüfen. Irgendwann, wenn auch ich fähig sein sollte, im Geistesgut anderer umherzuwandern. »Könnt ihr mir sagen, wo wir uns befinden?« »Wir sind über die Siegelkammer Schemecca transferiert worden. Demnach befinden wir uns in den Ausläufern des Apennin, ungefähr fünfzig Kilometer vor Rom.« »Wieso habt ihr ausgerechnet diesen Weg gewählt? Das Codefragment, auf das ich es abgesehen habe, befindet sich in Dänemark.«
»Wolltest du dich nicht auch mit den ›Hohen‹ befassen?«, warf Eleowelia ein. »Schon. Sie stellen eine Bedrohung dar, der wir irgendwie Herr werden müssen.« »Das hat sich wohl auch dein spezieller Freund AntoDschagerass gedacht.« »Woher wisst ihr das?«, fragte ich und bemerkte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. »Ist er in der Nähe?« »Davon dürfen wir ausgehen.« Chebokyn ließ mich noch einen Moment schmoren. »Wir sind der letzten Visualisierung der Siegelkammer gefolgt, die immer noch präsent war. AntoDschagerass war der letzte, der vom Siegelgeist überführt worden ist.« »Es hat den Anschein, als wollte er sich ebenfalls mit den ›Hohen‹ beschäftigen.« Mantazz wirkte nachdenklich. »Ihr habt demnach vor, euch erst um die Residenz zu kümmern?«, war ich nicht unbedingt begeistert. Ich wusste aus der Erzählung Gon'O'locc-uurs - des Schreins - dass die ›Hohen‹ sich dort eingenistet hatten. Auf herkömmliche Weise konnte man in die Residenzgebäude überhaupt nicht eindringen, ein Problem, dem wir uns früher oder später stellen mussten. Ich vertraute darauf, dass meine Mitreisenden sich bereits entsprechende Gedanken gemacht hatten. Trotz allem wäre es mir lieber gewesen, erst nach Dänemark aufzubrechen. Wer wusste schon, was oder wer sich uns noch alles in den Weg stellen würde? Ich betrachtete es als großartige Chance, in fast unmittelbarer Nähe meines Bewusstseinssplitters zu sein. »Anto-Dschagerass ist ein starker Verbündeter.« In Eleowelias Stimme vermeinte ich einen Hauch von Hochachtung festzustellen. »Mit ihm an unserer Seite mögen uns Dinge glücken, die unsere kleine Gruppe ansonsten überfordern würde.« Sie wollten sich also freiwillig und ohne jeglichen Zwang in die Höhle des Löwen begeben. Nur ganz kurz kamen mir ihre vorangegangenen Missionen in den Sinn, aus denen sie
praktisch herausgerissen worden waren, als Gon'O'locc-uur die komplette Mannschaft ›aufgeweckt‹ hatte. Was war es, was sie vorher gemacht hatten? Gab es jemanden, der ihre Aufträge koordiniert hatte? Existierte die Tempelanlage Venora Ghol noch? Wo waren all die Layshi-Pan-Meister geblieben? Der Orden war zersplittert, gab ich mir selbst die Antwort. Lord Cyprus Denningham-Cartlewood hatte den alten Mythos aufrechterhalten. Vielleicht hatte es sogar vor der Wende noch eine Handvoll mehr seiner Art gegeben, die, verstreut über den Globus, das Erbe der Höllenjäger verwaltet hatten. Doch die Magie, das Wissen und die Macht dieser Vereinigung hatten sich in den vielen Jahrtausenden zersetzt und waren bruchstückhaft geworden. Die ›Loge der Höllenjäger‹, die es noch bis zum Jahre 2012 gegeben hatte und die sich möglicherweise auch noch in diese fremdartige Gegenwart hatte retten können, war nur ein Schatten des von Saghai-Tan ins Leben gerufenen Geheimbundes. »Fünfzig Kilometer, sagtest du, Chebokyn. Fünfzig Kilometer bis nach Rom.« Ich richtete mich innerlich auf einen längeren Marsch ein. Fliegen würden wir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, obwohl ich wusste, dass die Höllenjäger über Fähigkeiten verfügten, die nicht weit davon entfernt waren. »Bis nach Rom und bis zur Residenz«, ergänzte Chebokyn. »Denn die Residenz ist gestern wie heute das Herzstück einer umfassenden Allmacht, die die Menschen nach ihrem Willen lenkt. Hinter der Residenz verbirgt sich das, was zu deiner Zeit noch als Vatikanstadt bezeichnet worden ist.« * Wie hätte ich reagieren sollen? Seit dieser Kristallstein in mein Leben und das meiner Familie getreten war, hatte ich fast jeden Tag neue erschütternde Fakten über die mir ach so vertraute Welt herausgefunden.
Wie hätte sich jemand an meiner Stelle verhalten, wenn ihm gesagt worden wäre, dass das Zentrum des christlichen Glaubens mit etwa einer Milliarde Anhängern in Wirklichkeit eine Ansammlung von Dunkelmännern war, die ganz gezielt über unser aller Schicksal bestimmten, dir jedoch mit mildtätigem Lächeln deine Sünden vergaben und den Messias predigten und damit in etwa dieselbe Funktion erfüllten wie eine knallbunte, fröhliche Bonbontüte, in der man nur Glyzerindrops fand. »Ich bin erschüttert«, sagte ich in einem Tonfall, der verriet, dass ich eben nicht erschüttert war. Was sollte mich denn jetzt noch aus der Bahn werfen? Selbst wenn ich den untrüglichen Beweis erhielt, dass Mutter Theresa für Drogenkartelle gedealt hatte, dann ließ diese Gewissheit nicht mein Weltbild schwanken, sondern bestätigte eher meine Vermutungen. Eigentlich wollte ich mit diesem Vergleich lediglich ausdrücken, dass die Wahrheit - egal welche es denn nun war - mich nicht mehr zu schrecken vermochte, weil ich sie gar nicht mehr wissen wollte. Jedes aufgedeckte Geheimnis brachte nämlich irgendeine schmutzige Wäsche an den Tag, rührte irgendwo im Kuhfladen herum und deckte die Machenschaften macht- und geldgieriger Institutionen auf. Irgendwann wurde dieses Spiel öde und ich konnte es gar nicht mehr erwarten, mich vom Abendmahl der ungelösten Rätsel zu entfernen, um nicht doch noch eine anrüchige Antwort aufgetischt zu bekommen oder in einen Haufen Scheiße zu greifen. »Ich habe es auch nur der Vollständigkeit halber gesagt«, reagierte Chebokyn gelassen auf meine lapidare Bemerkung. »Wenn du bereit bist, Richard, können wir gehen.« Ich blinzelte in den Himmel mit den eigentümlichen Farben. Die Sonne war ein blasser Fleck hinter bunten Wolken und stand eine gute Handbreit über dem Horizont. »Ein paar Kilometer schaffen wir noch, bevor es dunkel wird«, gab ich das Zeichen zum Aufbruch.
Während sich bereits die ersten Schatten über die Gipfel der entfernten Abruzzen legten, setzten wir vier uns in Marsch. Spätestens am Ende des morgigen Tages wollten wir unser Ziel erreicht haben und die weitere Planung festlegen. Mir entging zu diesem Zeitpunkt völlig, dass wir schon nicht mehr alleine unterwegs waren... *
Trotz deines Versagens wirst du eine neue Chance erhalten.
Der Mann mit dem entstellten Gesicht ließ keine Regung erkennen, als die Worte in seinem Kopf und nur für ihn hörbar aufklangen.
Wenn du dich unter unserer Obhut bewährst, werden wir dich als Überbringer des Neuen Friedens reaktivieren.
Die Hand des Mannes tastete über das entzündete Fleisch um sein linkes Auge. Für einen Moment schien es, als wogte er die erhaltene Strafe mit dem zu erwartenden Lohn ab. Dann aber hielt er sich vor Augen, dass jede Verweigerung gegenüber den ›Hohen‹ sein unumstößliches Ende bedeutet hätte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte ihn diese schreckliche Tortur nur härter gemacht. Er würde seine Aufgabe das nächste Mal anders angehen und sein Scheitern von vorneherein ausklammern. Die Aussicht auf übermenschliche Macht, die ihm versprochen worden war, lockte mehr, als die Furcht ihn schreckte. »Ich stehe wie immer zu eurer Verfügung.«
‹Schwingungsinterferenzen zerebralen Elektrik konstant.›
unbedenklich.
Puls
der
Für den Wartenden war die Verständigung der ›Hohen‹ untereinander nur ein scharfes Rauschen.
Was du uns gemeldet hast, kann unter Umständen von äußerster Wichtigkeit sein. Du wirst deine Beobachtungen fortsetzen und uns regelmäßig Bericht erstatten. »Darauf könnt ihr euch verlassen.«
Die ›Hohen‹ vermieden es, bei Nichtbefolgung ihrer Anweisungen auf eine neuerliche Bestrafung hinzuweisen. Was sie diesem Mann an Schmerzen zugefügt und Grausamkeit angetan hatten, bedurfte keiner weiteren Unterstreichung. Er starrte ausdruckslos auf die ihn umstehenden Robenträger, deren Gesichter er bisher noch nicht zu sehen bekommen hatte und deren Münder sich nie zu bewegen schienen, wenn sie mit ihm sprachen. Auf dieselbe mysteriöse Weise, wie er den inneren Ring der Residenz betreten hatte, verließ er ihn auch wieder... * Die büchergefüllten Regalreihen zogen sich schier endlos durch das Bibliotheksgebäude. Nahm man es genau, konnte es nicht die Aufgabe eines einzigen Mannes sein, dieser Wissensflut Herr zu werden. Brachte man jene Bestände in Abzug, die um das 8. Jahrhundert vor der großen Wende aus nicht geklärten Umständen verschwunden waren, blieben immer noch über 35.000 Bände, die es zu pflegen und bestandsmäßig zu erfassen gab. Denn auch hier blieben nach der Obertonerhöhung Archivlisten aus unerfindlichen Gründen verschollen. Theobald Hauser-Bonaffini hatte sich so manches Mal gefragt, warum all diese Schätze ohne sichtbare Verluste die Zeit der ›großen Veränderung‹ schadlos überstanden hatten. Auch die Gebäude des Residenzkomplexes waren nicht neu errichtet worden, sondern ganz eindeutig Relikte vergangener Jahrhunderte. War die Zeit wirklich vollkommen spurlos an der Architektur vorübergegangen? Und wieso war das so? Nach seinem aktuellen Kenntnisstand hatte die Erde ihr Angesicht radikal verändert, hatte zu neunundneunzig Prozent die Hinterlassenschaften der Jahrtausende hinfort gefegt und sich völlig umgestaltet. Wenig, sehr wenig war verblieben, wie es ursprünglich gewesen war. Die Residenz hingegen war
vollständig erhalten mit all ihren Bauwerken, Kirchen und ausgedehnten Gärten.
Aber du, mein übergewichtiger Freund, hast richtig gelitten in der letzten Zeit.
Bonaffini hatte ein Buch ausfindig gemacht, dass dringend der ›Prozedur‹ unterzogen werden musste, wollte man es auch zukünftigen Generationen noch zugänglich machen. Er hatte etwas Mühe, das sperrige Exemplar an sich zu nehmen und unbeschadet die vielen Leitersprossen hinab zu steigen. Zu starker Druck oder eine heftige Bewegung, so vertrat er die Auffassung, mochten den Band beschädigen. Wenn er daran dachte, dass sich sicher noch unzählige Bücher in ähnlichem Zustand irgendwo in der Bibliothek befanden, dann wurde ihm ganz schummrig und in Gedanken bereits malte er sich aus, in einigen Fällen die wertvollen Folianten nicht mehr retten zu können. Es klopfte. Leise und zaghaft. Oder hatte er sich getäuscht? Immer noch überaus vorsichtig überwand er die letzten Sprossen. Wieder klopfte es und diesmal war Theobald auch sicher, es richtig gedeutet zu haben. Er legte das Buch auf eine Bank und verfiel in schnelles Gehen. Als er die Flügeltür aufzog, war die Überraschung auf seinen Zügen echt. »Maria!«, sagte er laut. »Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist.« »Wenn man so fleißig ist wie du, vergeht die Zeit wie im Flug.« Die junge Frau zeigte augenblicklich ihr ansteckendes Lächeln und zauberte ein ähnliches auch in Bonaffinis Gesicht. »Ich habe eigentlich gar keinen Hunger. Da ist dieses eine Buch...« »Dann darf ich nicht hereinkommen?«, fragte sie. Theobald überhörte nicht die unterdrückte Enttäuschung.
»Doch, doch! Natürlich!«, beeilte er sich zu versichern. »Und ich werde auch essen. Der Appetit kommt ja schließlich beim Essen, nicht wahr?« Sie gingen hinüber zum Sekretär und Maria Cicciu stellte den Teller darauf und nahm das Handtuch herunter. »Sieht lecker aus, Maria. Ehrlich.« Diesmal gab es nur buntes Gemüse, dazu ein Krustenstück Brot. »Eigentlich finde ich dich auch ganz nett«, erklärte Maria ansatzlos und bewirkte damit, dass Bonaffini kurzzeitig mit Kauen aufhörte. »Du bist bestimmt nicht einer von diesen Männern, die einem alles versprechen, nur um... um...« »Nein«, warf der Archivar mit vollem Mund ein. »Nein, ganz sicher nicht.« »Einerseits finde ich es interessant, was du so tust. Andererseits weiß ich nicht, ob das ausreicht...« »Vielleicht denkst du schon zu weit. Ich meine, wir kennen uns ja gar nicht richtig.« »Du würdest das gerne ändern, nicht?« Nicht zum ersten Mal war Hauser-Bonaffini unsicher, ob er aus Marias Worten, dem Tonfall und ihrem Blick die einzig richtigen Schlüsse zog. Ging sie so offen auf ihn zu, um ihn zu ermutigen? Oder hing es schlicht und ergreifend mit der Tatsache zusammen, ihm ihre Gründe zu verdeutlichen, ihn abzuweisen? »Ja, das würde ich sehr gerne«, erwiderte er unbehaglich, weil er sich ihr aus tiefstem Herzen offenbarte und gleichzeitig damit rechnete, von dieser begehrenswerten Frau verletzt zu werden. Doch selbst, wenn dieser schlimmste aller Fälle nicht eintrat, blieb immer noch die Frage unbeantwortet, ob Maria mit offenen Karten spielte? Möglicherweise machte sie sich ja einen Spaß daraus, ihn an der Nase herumzuführen, Zuneigung zu heucheln und sich anschließend an seinem Schmerz zu weiden. Gab es in diesem Spiel, das Liebe hieß, denn überhaupt keine Sicherheiten? War es wirklich so, dass man gezwungen war, sich aufs Glatteis zu begeben?
Spott war etwas, das Theobald Hauser-Bonaffini fürchtete wie nichts anderes. »Ich wohne nicht sehr weit von hier. Dort gibt es wunderschöne Natur, Bäche und Haine.« Maria Cicciu blickte ihn auffordernd an. »Wir könnten spazieren gehen...« »Aber warum so weit laufen?«, war Theobald Feuer und Flamme. »In der Residenz gibt es wunderschöne Gärten und weitläufige Parkanlagen. Außerdem habe ich meine Unterkunft auf dem Gelände.« Die Freundlichkeit im Gesicht der jungen Frau zog sich zurück wie ein verängstigtes Rehkitz. »Was hast du, Maria? Habe ich etwas Falsches gesagt?« Obwohl ansonsten ein oberflächlicher Betrachter in Sachen menschlicher Mimik, war Bonaffini der Sinneswandel seines Gegenübers nicht entgangen. »Nichts von Belang«, wich die Marktfrau aus und unterlegte die Lüge mit einem aufgesetzten Lächeln. »Ich... ich fühle mich in dieser Umgebung... unwohl.«
Selbst ihr ist es aufgefallen, obwohl sie sich nur selten innerhalb dieser Mauern bewegt, fühlte Hauser-Bonaffini einen
Stich in der Magengrube. »Ich komme zu dir«, sagte er rasch. »Es macht keinen Unterschied. Und ich möchte gerne wissen, wo du wohnst. Zeig mir alles.« Sie verabredeten sich für den kommenden Abend an einem bestimmten Treffpunkt außerhalb von Marias Dorf. »Ich werde dort sein, wenn du es wünschst.« Theobald geleitete sie zur Tür, um Maria hinauszulassen. »Das Geschirr!«, rief sie plötzlich. »Fast hätte ich es vergessen!« Sie nahm Theobalds Teller, auf dem sich noch kleinere Essensreste befanden, auf und vergaß auch nicht jenen, den sie gestern nicht mitgenommen und den der Archivar gleich nach Mittag zur Abholung bereitgestellt hatte.
»Scarabese hat sich schon danach erkundigt«, flüsterte sie Theobald im Vorbeigehen zu. »Er ist eine richtige Krämerseele.« »Er ist ein Geschäftsmann«, nickte Bonaffini. »Und wahrscheinlich überaus froh, die Residenzangehörigen bewirten zu können. Sein kleiner Marktstand allein wird nicht allzu viel abwerfen.« Er überlegte. »Paolo Scarabese behandelt dich doch gut, oder?« »Ja, das tut er«, bestätigte Maria nach zwei langen Sekunden. »Das tut er wirklich, Theo.« Wie sie das sagt: Theo, dachte Bonaffini. Aus ihrem Mund
klingt es wie süße Verführung.
»Ich muss los!«, erinnerte Maria und deutete mit der Kinnspitze auf die Teller und Tücher in ihren Händen. Theobald zog die Flügeltüren auf - und in dem Augenblick, da Maria sich umdrehte, schraken sie beide zusammen! »Himmel!«, stöhnte Bonaffini auf. »Was treibst du hier?« Maria Ciccius Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie sah den großen Mann zum ersten Mal, der nun den Ausgang versperrte und sie beide mit kalten Augen musterte. Mit kalten, eisigen Augen, von denen eines aussah, als hätte man eine helle Glasmurmel in einen zerklüfteten Krater gerollt. »Die Hohen sehen es nicht gerne, wenn Fremde in ihr Haus eindringen.« »Sie hat mir das Essen gebracht!«, stellte Theobald sich vor Maria. »Ich habe sie eingeladen. Sie ist nicht unbefugt...« »Die Frau hat im Haus der Hohen nichts zu suchen«, wiederholte der Mann. Er bewegte sich keinen Millimeter und seine Stimme unterstrich noch die Grabeskälte in seinem Blick. »Sie ist schon auf dem Weg«, versuchte der Archivar zu vermitteln. »Sie hat gewartet, bis ich meine Mahlzeit beendet habe.« Einige Momente herrschte Schweigen. Angstvolles, gespanntes Schweigen. »Das sollte sie in Zukunft nicht mehr tun«, sagte der Mann und machte Maria den Weg frei. Eilends schlüpfte sie an
ihm vorbei, nicht ohne Bonaffini allerdings noch ein Augenzwinkern zuzuwerfen, das so viel heißen sollte wie: ›Du weißt Bescheid. Morgen - wie vereinbart.‹ Der Hagere mit dem entstellten Gesicht sah Maria weder hinterher, noch kümmerte er sich um Theobald HauserBonaffini. Er ging weiter seines Weges und war keine Minute später hinter dem Fontana dell'Aquilone verschwunden. Was hat den bloß in diese Ecke getrieben?, wunderte sich Theobald noch Stunden darauf. Normalerweise hält sich
Tjörnsen doch im inneren Ring auf.
Der Archivar fand keine Antwort auf seine Frage und ging ihr auch nicht weiter nach. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt nur noch dem Rendezvous mit Maria. * »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir hängt der Magen bis auf die Knie.« Wir waren bereits einige Kilometer gegangen und dieses Gefühl der Leere in meinem Magen hatte mich tatsächlich ganz plötzlich überfallen. »Hast du keine Vorräte mitgenommen?« Was war denn das jetzt für eine Frage? »Nein«, sagte ich unverhohlen sarkastisch. »Oder siehst du hier irgendwo Proviantbeutel an mir herunterhängen?« »In diesem Fall wirst du dich wohl noch eine Weile gedulden müssen.« Für Chebokyn schien das Thema damit erledigt zu sein. Für mich hatte es gerade erst begonnen. Mir wurde ebenso deutlich klar, dass ich selbst solche Strapazen wie einen längeren Fußmarsch überhaupt nicht gewohnt war. Ich fühlte mich seltsam ausgepowert und es gab deutliche Parallelen zu unserem Abstieg auf das Kr'sch-Deck, bei dem wir uns Hunderte von Metern durch eine schmale Röhre hatten schlängeln müssen. Diese Tortur hatte meine Kräfte beinahe überfordert.
»Denke an das Land, in dem Milch und Honig fließen und freue dich auf die Linderung deiner Beschwerden«, riet mir Eleowelia. »Doch lasse diesen Gedanken nie deine aktive Gegenwart überschatten.« Befand ich mich auf einmal in der ›großen Layshi-PanRätselrunde‹? Merkte denn niemand, dass der Hunger mir allmählich die Eingeweide zuschnürte? Was interessierte mich dieser orakelhafte Blödsinn? »Du bist recht sprunghaft«, amüsierte sich Mantazz und Chebokyn führte fort: »Für eine Person mit einem höheren spirituellen Bewusstsein benimmst du dich ganz schön albern.« »Findet ihr, ja?« Jetzt wurde ich aber echt gereizt. Die Höllenjäger schnappten andauernd meine Gedanken auf und schienen sich im Gegenzug noch über mich lustig zu machen. »Habt ihr schon mal was von gegenseitigem Vertrauen gehört? Haltet euch verdammt noch mal aus meinem Kopf raus!« »Wir haben dir erklärt, wie es sich verhält.« »Und das ist mir völlig gleichgültig! Entweder will man etwas hören oder man lässt es sein. Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr von der letzten Option Gebrauch machen würdet.« Die drei Layshi-Pan blieben stehen. »Wisst ihr jetzt, wo man in dieser Gegend Nahrung bekommt?«, fragte ich eine Idee entspannter. Nein!, hallte das Echo aller gemeinsam in meinem Bewusstsein wider. Gleichzeitig nahmen sie ihre Wanderung wieder auf.
Das ist ja zum Aus-der-Haut-fahren...
Aber was war das? Als ich mich wieder so richtig auf mein Hungergefühl konzentrieren wollte, um die Ungerechtigkeit, die nur mir widerfuhr, in einem Akt der Selbstzerfleischung auszukosten, da griff ich ins Leere. Von einem Atemzug zum anderen hatte es sich aufgelöst, war einfach verschwunden. »Dafür seid ihr verantwortlich, nicht wahr?«
Die Höllenjäger gingen gleich einer verschworenen Gemeinschaft ein paar Schritte voraus. Schnell war ich wieder auf einer Höhe mit ihnen. »Was, bitte, meinst du, Richard?«, gab Chebokyn sich ahnungslos. »Tu doch nicht so!«, blaffte ich ihn an, aber eher im Spaß. »Das mit dem Hunger und so meine ich.« »Geht es dem Herrn Jordan etwa plötzlich besser?«, spöttelte Eleowelia und mir war, als hätte ich gerade das bisschen Respekt, den ich mühsam aufgebaut hatte, wieder eingebüßt. »Es geht ihm wieder besser«, bestätigte ich kleinlaut. »Tut mir leid, Leute, wenn ich etwas forsch gewesen bin.« »Du bist so, wie du bist«, meinte Chebokyn und sah mich dabei ohne Vorwurf an. »Deine Ausbildung reicht noch nicht so weit, deine menschlichen Triebe zu kontrollieren. Dafür zeigen wir Verständnis.« Die Sonne war mittlerweile nur noch eine matte Halbkugel am Horizont, deren Strahlen fast waagerecht die Erde streiften und lange Schatten erzeugten. Mehrere Stunden waren wir bereits marschiert. »Wenn du es möchtest, Richard, übernachten wir hier und gehen morgen weiter.« Das war beileibe eine gute Idee. Meine Füße schmerzten und auch der Rest meines Körpers konnte eine Rast vertragen. Es gab nicht viel vorzubereiten, schließlich hatten wir nichts mitgenommen. Jeder suchte sich eine Stelle abseits des Weges, um sich halbwegs komfortabel zum Schlafen zu betten. Auf ein Lagerfeuer, heißen, duftenden Kaffee und andere Annehmlichkeiten würden wir verzichten müssen. Den drei Layshi-Pan mochte das nichts ausmachen, aber... na ja. Ich schlief unerwartet schnell ein in meiner windgeschützten Ecke. Doch dieser Zustand sollte nicht lange anhalten. Jählings erwachte ich, als irgendetwas meine Kehle zudrückte und mich brutal hochriss.
Eine heisere Stimme krächzte: »War ein gottverdammter Fehler von dir, alleine in dieser Gegend aufzutauchen!« * Bevor ich noch eine wie auch immer geartete Verlautbarung machen konnte, klatschte bereits der Handrücken eines zweiten Angreifers in mein Gesicht. Der Kerl war wie aus dem Nichts vor mir erschienen, ehe ich meine Sinne sammeln konnte. Hart hatte er bei dem Schlag auch meine Nase erwischt. Der scharfe Schmerz ließ das Wasser in meinen Tränenkanälen kochen und verschleierte meinen Blick. Ich spürte die Rinnsale aus den Augenwinkeln über die Wangen laufen. »Aufhören!«, schrie ich fast blind und erhielt einen Tritt in die Seite unter die Rippen. Keuchend wollte ich mich krümmen, doch der Marodeur in meinem Rücken hielt mich eisern fest. Inzwischen war es auch nicht mehr sein stahlharter Griff, den ich am Hals spürte, sondern die kalte Schneide eines Messers oder einer Machete. »Seht nach, was er bei sich hat!«, bellte der Mann hinter mir. Da er in der Mehrzahl gesprochen hatte ging ich davon aus, es mit mindestens drei Gegnern zu tun zu haben. Gierige Hände rissen unsanft an meiner Kleidung, durchwühlten die wenigen Taschen von Hemd und Hose, fanden jedoch nichts darin, was der Rede wert gewesen wäre. »Lasst es gut sein, Jungs«, schnaufte ich. »Bei mir gibt's nichts zu holen.« Kaum hatte ich den Satz vollendet, verschwand der Druck der Messerklinge von meinem Hals. Dafür wurde ich im selben Sekundenbruchteil brutal zu Boden geworfen und landete auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Staub. Mein rechter Arm wurde mir auf den Rücken gedreht und ein blitzschneller Handkantenschlag gegen meinen Oberarm geführt. Ich schrie gellend auf und hörte trotzdem noch das Knacken in meinem Schultergelenk. Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen und ich fühlte mich so hilflos wie selten zuvor.
Wo blieben bloß die Layshi-Pan? Die mussten doch mittlerweile wach geworden sein. »Du hast nichts bei dir, ja?«, fragte die Stimme über mir. »Du gehst kilometerweit durch die Einöde und hast nichts bei dir?« Das hörte sich gefährlich an, wie der Kerl das so sagte. Und kaum hatte ich den Gedanken vollendet, drückte sich der Stahl erneut an meine Halsschlagader. Diesmal so fest, dass ich der Annahme war, bereits das Blut über meine Haut rinnen zu spüren. »Der ist nichts wert!«, grollte ein anderer. »Wir haben unsere Zeit vergeudet.« »Da hörst du's«, wandte sich der Sack mit dem Messer wieder an mich. »Erst laufen wir euch nach und warten, bis deine komischen Kumpane abdampfen - und als Belohnung für unsere Mühe gibt es nicht einmal eine kleine Vergütung.« Ich konnte das dreckige Grinsen auf der Visage des Typen förmlich durch meinen Hinterkopf sehen. »Aber eine minimale Aufwandsentschädigung wirst du uns schon zugestehen.« »Wenn ich aber doch nichts habe!«, prustete ich in den Staub und verarbeitete eigentlich noch die Information, dass Chebokyn und Konsorten spurlos verschwunden waren. Anscheinend bestand dieses Überfallkommando tatsächlich nur aus drei Männern, die sich nicht mit unserer Vierergruppe hatten anlegen wollen. Ich würde - sollte ich überhaupt noch die Gelegenheit dazu bekommen - die Höllenjäger auf jeden Fall ins Gebet nehmen, was sie veranlasst hatte, mich alleine in dieser gottverlassenen Ödnis zurückzulassen. Die Erklärung, auf der Suche nach seltenen Vogelarten gewesen zu sein, wollte ich dabei nicht gelten lassen. »Jeder hat irgendetwas!«, krächzte die Stimme in mein Ohr. »Und wenn es nur sein Leben ist!« Mehr brauchte ich nicht zu hören! Der Druck gegen meinen verdrehten Arm wurde leichter und im Geiste sah ich den Kerl mit dem Messer ausholen, um es mir mit Wucht zwischen die Schulterblätter zu rammen.
Woher ich die Kraft nahm, herumzuschnellen und dem Mörder die Füße in den Unterleib zu rammen, werde ich wohl nie mehr nachvollziehen können. Aber das war noch nicht alles. Meine Wahrnehmung hatte sich scheinbar auch schlagartig enorm erweitert. Ich nahm die Bewegungen der anderen beiden in unvergleichlicher Präzision wahr, handelte mit unglaublichen Reflexen und schickte ihnen ein mächtiges Mantra entgegen, das sie wie von einer Wand abprallen ließ. Es handelte sich bei dem Mantra um ein formelhaftes Wort, das in einer bestimmten Tonlage ausgesprochen werden musste. Ich konnte selbst nicht fassen, dass ich mich in dieser Situation so glasklar daran hatte erinnern können. Von neuem Leben erfüllt sprang ich auf die Füße, registrierte aus den Augenwinkeln die zwei mattgesetzten Angreifer, die sich ihre Schädel hielten und lenkte beinahe spielerisch ein Offensivmudra auf den Messerstecher, dem die Fußtritte wohl noch nicht gereicht hatten. Mehr brauchte ich in dieser Angelegenheit nicht zu unternehmen. Ich fühlte mich siegesgewiss und schaute mit einer Mischung aus Verachtung und Selbstherrlichkeit auf das Trio, das auf Händen und Füßen in der Nacht das Weite suchte. »Gar nicht mal schlecht für einen blutigen Anfänger«, identifizierte ich ohne Mühe Chebokyns Stimme. »Saukomischer Einfall, mich den Geiern zum Fraß vorzuwerfen.« »Du brauchtest eine Portion Selbstachtung«, klärte Mantazz mich auf. »Ich denke, die hast du bekommen.« »Ihr habt nicht eingegriffen?«, war ich nun doch ein wenig misstrauisch geworden. »Niemand von uns hat auch nur einen Finger gerührt.« »Das nenne ich ›echte Freunde‹«, konnte ich eine ironische Bemerkung nicht für mich behalten. »Bedenke doch nur, was du vollbracht hast, Richard. Das Potenzial schlummert in dir. Du musst es lediglich abrufen.«
»Wahrscheinlich sind Extremsituationen dazu besonders gut geeignet.« Ich dachte kurz nach und horchte sodann in mich hinein. »Da ist noch etwas anderes in mir, was sich lange Zeit versteckt gehalten hat.« Ich schirmte so gut es ging meine Gedanken ab, was auch zu funktionieren schien, denn die Mienen der drei Layshi-Pan glichen drei Fragezeichen. »Der Hunger ist wieder da!«, verblüffte ich meine Zuhörer. »Und diesen Umstand rechne ich einfach mal eurem Konto zu.« Chebokyn nickte. »Ich habe die Kontrolle im Energiefluss deiner Wirbelsäulenchakren gelockert«, gestand er ohne Zögern ein. »Wenn du willst, übernehme ich sie wieder.« »Lass gut sein. Ich will mich jetzt einfach nur hinlegen. Sicher werde ich nach den Anstrengungen schnell einschlafen.« »Eine gute Idee. Wir können alle eine Erholung vertragen. Morgen früh berichte ich dir dann von unseren akuten Problemen.« »Wir haben Probleme?«, fragte ich halb schläfrig, halb aufgekratzt. »Gedulde dich bis morgen und schlafe gut.« Rührend, wie sie sich um mich sorgten. Aber ich ahnte schon, aus welcher Richtung der Wind wehte. Lange noch lag ich wach, bis mir schließlich die Augen zufielen. * Die Begegnung mit Maria in den Mittagsstunden war kurz gewesen und nur von den nötigsten Worten begleitet. Theobald Hauser-Bonaffini hatte seine Mahlzeit in der Tür in Empfang genommen, knapp gelächelt und sich in die Bibliothek zurückgezogen. Er wollte jegliches Aufsehen vermeiden, da er davon ausgehen musste, von diesem
Tjörnsen bespitzelt zu werden. Außerdem wollte er Maria keine Schwierigkeiten bereiten. Wenn sich jemand aus der Residenz bei Scarabese über sie beschwerte, mochte sie ihre Arbeit verlieren. Doch Theobald und Maria hatten sich auch so verstanden. Ihr Treffen war arrangiert und sollte in den frühen Abendstunden stattfinden. Ein strahlender Frühlingstag ging langsam zur Neige, als Bonaffini die Bibliothek verließ. Er brauchte sie nicht zu verschließen; wie bei allen Gebäuden innerhalb der Residenz blieb der Zutritt stets gewährleistet. Niemand fürchtete um das unersetzliche Inventar, da nur ausgesuchte Personen eingelassen wurden. Theobald vermutete, dass auch hier eine übergeordnete, von allen unbemerkte Kontrolle und Beobachtung erfolgte. Er tat unauffällig, als er noch kurz an der Flügeltür hantierte und dabei Ausschau nach Ole Tjörnsen hielt, den er immer noch in der Nähe wähnte. Sein suchender Blick konnte nichts Verdächtiges ausmachen, was den Archivar jedoch nur oberflächlich zufrieden stellte. Diesen Tjörnsen durfte er nicht unterschätzen. Bonaffini fragte sich ernsthaft, wieso dieser Mann diesen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte? Er war ihm heute das erste Mal über den Weg gelaufen; es war der erste persönliche Kontakt gewesen. Manche Personen schafften es im Handumdrehen, sich einen Platz in der Erinnerung freizuhalten. Besonders die Negativen unter ihnen. Ich muss auf andere Gedanken kommen, redete sich Theobald aufmunternd zu. Ich habe allen Grund zur Freude
und die lasse ich mir nicht verderben.
Er überquerte die Piazza San Pietro, den Petersplatz und rief sich ins Gedächtnis, dass vor der großen Wende keine vierhundert Meter weiter ein großer Strom geflossen sein sollte. Der Tiber, wurde das Gelesene in ihm lebendig. Über vierhundert Kilometer lang hatte er sich vom Etruskischen Apennin bis zum Tyrrhenischen Meer gezogen. Was immer das
auch bedeuten mochte. Die Begriffe hatten in der Gegenwart keine erwähnenswerte Gültigkeit mehr. Und der Fluss war ebenfalls nicht mehr vorhanden. Stattdessen war überall trockene Erde und spärliche Vegetation, die erst einige Kilometer von der Residenz entfernt unerwartet aufblühte. Maria Cicciu wohnte in Camassei, einer Brettersiedlung, die die Bewohner nach einem Kardinal des neunzehnten Jahrhunderts alter Zeitrechnung benannt hatten. Ganz in der Nähe, so wusste Bonaffini aus den Geschichtsbüchern, hatte es früher einmal einen riesigen Friedhof gegeben, den Cimitero del Verano. Von ihm war zwar nichts mehr übrig, doch hatte der Archivar ein eigenartiges Bauchgrimmen, wenn er daran dachte, in dieser Umgebung wohnen und leben zu müssen. Den meisten hingegen konnte es gleichgültig sein, weil sie von der Existenz dieses Friedhofes höchstwahrscheinlich gar nichts wussten. Die Sonne stand tief und wärmte Bonaffini den Rücken, während er ohne übertriebene Eile die gut fünfeinhalb Kilometer Fußweg in Angriff nahm. Amüsiert verzog er die Mundwinkel, als er daran dachte, dass die Menschen früher so genannte Uhren benutzt hatten, um verbindliche und absolut exakte Zusammenkünfte arrangieren zu können, ohne dass irgendjemand warten musste. Eigentlich, so sagte sich Theobald, eine erschreckende Vorstellung, denn es schaffte nur Einengung und zerstörte den persönlichen Freiraum. Es war damals wohl an der Tagesordnung gewesen, keine Zeit zu haben. Alles war so unfassbar wichtig gewesen, nichts durfte verschoben werden und man hatte sich permanent in Eile befunden. Das eigene Selbst war dabei unterdrückt worden und auf der Strecke geblieben. Wen wunderte es da, wenn die Bevölkerung unter Beschwerden hatte leiden müssen, die es zuvor nicht gegeben hatte. Zivilisationskrankheiten, hatte man schnell eine treffende Umschreibung ersonnen. Damit war dann auch schon alles erklärt und jeder Betroffene konnte sich flugs darauf berufen. Der Selbstbetrug war derart in die
Bewusstseine eingesickert, dass die tatsächlichen Ursachen von niemandem vermisst wurden. Trotz der warmen Sonne schauderte es Bonaffini. Er war dankbar und glücklich, nicht in einer derart schrecklichen Epoche aufgewachsen zu sein. Die heutige Welt erschien ihm reiner, offener - ja, ehrlicher. Eine starke Bindung zur Natur war für den Menschen der Gegenwart selbstverständlich. Die Einheit Mensch - Erde war keine abstrakte Vorstellung, sondern gelebte Wirklichkeit. Sicher gab es noch die ein oder anderen Missstände. Doch das spirituelle Denken, das vorherrschte, würde auch die letzten Überbleibsel einer düsteren Vergangenheit überwinden und zu einer neuen, nie da gewesenen Blüte der Zivilisation führen. Dessen war sich Theobald Bonaffini ganz sicher. Eine knappe Stunde war vergangen, als er den Hain erreichte, wo Maria auf ihn warten wollte. Wenigstens hoffte er, die richtige Stelle ausfindig gemacht zu haben, schließlich war er niemals zuvor hier gewesen und für ihn sah praktisch alles gleich aus. Nur, wer in dieser Gegend aufgewachsen war, dem mochten Unterscheidungsmerkmale auffällig sein. Bonaffini machte einige verhaltene Schritte in das kleine Waldstück hinein und hielt eisern Ausschau nach Maria. Sie würde sich doch wohl nicht vor ihm verstecken? Nach derartigen Neckereien stand ihm wahrhaftig nicht der Sinn. Wenn er sie erst in seinen Armen hielt, dann würde er sich eventuell zu solchem Schabernack hinreißen lassen. Möglich war aber auch, dass sie bereits selbst zu lange gewartet hatte. Trotz aller guter Vorsätze zermürbte diese Warterei und obwohl ihn die Enttäuschung tief traf, konnte er es Maria nicht verdenken, wenn sie irgendwann aufgegeben hatte. Eine Weile noch ging er den Waldweg entlang, schaute sich abseits des Pfades um und ging dazu über - erst leise, dann immer lauter - ihren Namen zu rufen und malte sich gleichzeitig aus, was wäre, wenn Maria ihn gemeinsam mit Freunden - ihren wirklichen Freunden - aus einem sicheren Versteck heraus beobachtete und sie sich alle über ihn lustig
machten. Die Enttäuschung wäre noch zu verkraften gewesen, die Schmach des Spottes hingegen würde sein Leben lange Zeit fast unerträglich machen. Erneut gingen seine Gedanken auf die Reise und schmückten genau jene Was-wäre-wennSituation aus, in der Maria Cicciu zu ihm sagte: »Du Tölpel! Wie konntest du nur annehmen, dass ich jemanden wie dich lieben könnte? Du bist doch kein Mann! Und ich brauche einen echten Mann und keinen, der sich hinter alten Schwarten verkriecht!« Bonaffini spürte deutlich die Leere in sich. Und er wusste plötzlich, dass er zu weit gegangen war. Seine Sinne waren vernebelt gewesen, als er sich auf diese Verabredung eingelassen hatte. Er war eben kein Mensch, der auf Frauen attraktiv wirkte. Wenn er noch eine Chance gesehen hatte, seine Meinung in die andere Richtung zu korrigieren, so war er mittlerweile felsenfest davon überzeugt, in diesem Leben keine traute Zweisamkeit zu finden. Theobald hoffte inständig, sich noch elegant aus der Affäre ziehen zu können. Und zwar bevor wer auch immer auf ihn aufmerksam wurde, wie er einem Mädchen hinterher stieg. Hinter ihm raschelte trockenes Geäst. Schnelle, gedämpfte Schritte kamen auf ihn zu und noch bevor er richtig begriff, was geschah, sprang ihn jemand an und hielt ihm die Augen zu. »Hab ich dich!«, lachte Maria mit ihrer süßen Stimme und nahm die Hände von seinen Augen. Sie packte den Archivar sanft an den Hüften, der sich ihr zudrehte und derart verblüfft war, dass ein ganzes Meer an Empfindungen über ihn hereinbrach. Doch er brauchte nur in ihr Gesicht und die leuchtenden Augen zu sehen, um feststellen, dass von allen Gefühlen die der Freude und Zuneigung überwogen. »Maria! Ich hatte schon nicht mehr geglaubt dich zu finden.« »Ich habe auch schon ziemlich lange gewartet. Aber das ist mir egal. Du bist ja jetzt hier.«
Sie sahen sich einige Momente an und Bonaffini hätte sie liebend gerne in die Arme genommen. Jedoch wollte er nichts überstürzen. Sicher würde sich bald eine bessere Gelegenheit ergeben. Und die würde er dann auf jeden Fall nutzen. So viel stand fest. Sie gingen nebeneinander den Weg entlang und unterhielten sich über allerlei Belanglosigkeiten. Für HauserBonaffini hatte die Situation etwas Surreales. Er ging mit einer schönen Frau, die ihr Interesse an ihm bekundet hatte, ganz allein durch die Natur und trotzdem stand immer noch eine Kleinigkeit zwischen ihnen, eine Sache, die Theobald wohl selbst kaum zu überwinden fähig war. Als er dann ihre Finger an seiner Hand spürte, wie sie die seinen ertasteten, darüber strichen und im Anschluss von ihrer Hand vereinnahmt wurden, da zeigte sich überaus deutlich, worum es sich bei dieser ›Kleinigkeit‹ handelte: es war Theobalds Schüchternheit, die einem umfassenden Gefühl der Verunsicherung entsprang. Er drückte ihre Hand kaum merklich, dann fester, als er an Selbstsicherheit gewann. Maria gab ihm diese Selbstsicherheit durch ihre Unbefangenheit. Sie schien keine Komplexe zu kennen und zeigte ihre Empfindungen. Würde Theobald sie abweisen, wäre auch sie natürlich verletzt. Doch ohne nachzudenken ging sie dieses Risiko ein und war ihrem Begleiter dadurch einen Riesenschritt voraus. Bonaffini konnte nur von ihr lernen. Er nahm sich vor, am heutigen Abend damit anzufangen und wollte seine Zuneigung eindeutig zum Ausdruck bringen. Ihm war durchaus bewusst, dass nicht nur er die Bestätigung seiner Gefühle suchte. Umgekehrt ging es Maria ebenso. Und er wollte diese wundervolle Frau einfach nicht enttäuschen. So ergab es sich, dass er nur wenig später ihre Taille umfasste und Maria sofort reagierte, indem sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte und auch ihn in den Arm nahm. Für Theobald hatte die Nähe Marias etwas von der würzigen Frühlingsluft nach einem erfrischenden Gewitterregen: sie
stärkte die Naturverbundenheit und hinterließ tief empfundenen Frieden. Die Sonne sank schnell, zu schnell, um den Liebenden den nötigen Spielraum zum Er- und Ausleben ihrer neuen Emotionen zu geben. Losgelöst von der Umwelt und nur durch ihr selbst geschaffenes Paradies wandernd kam dann doch der Augenblick inniger Umarmung und leidenschaftlichen Küssens. Theobald ließ sich mitreißen von der Zärtlichkeit Marias, die seine Unerfahrenheit hinwegwischte und ihn zu eigener Initiative anregte. Als sie nach einem langen und intensiven Kuss voneinander abließen, da atmete Maria Cicciu heftig und sah verwirrt aus. Theobald interpretierte ihren Gesichtseindruck zumindest so und war bereits im Begriff sich zu fragen, was er falsch gemacht hatte. Er löste sich aus der Umarmung, zog seine Hände zurück und bemerkte den Widerstand, den Maria ausübte, um erneut seine Berührung zu spüren. »Hör nicht auf«, hauchte sie und sah den Archivar fest an. Ihre Augen spiegelten etwas wider, das weit über das Gefühl des Verliebt seins hinausging. Und hätte Bonaffini ein ausgeprägteres Gespür für Frauen besessen, so hätte er im Spiegel von Marias Augenlichtern Lust und Begierde gesehen. Wieder schmiegte sie sich an ihn, ergriff seine Hände nun fester und führte sie drängend zu ihren Brüsten. »Willst... willst du das wirklich?« Mehr konnte Theobald nicht sagen. Er fühlte sich nicht unbedingt überrumpelt, eher überfordert. Nach seinem Ermessen ging alles so rasch. Sie hatten sich doch gerade erst ein bisschen kennen gelernt, hatten erste zärtliche Bande geknüpft... »Bitte streichle mich.« Maria schloss die Augen, behielt seine eine Hand auf ihrer linken Brust und führte die andere hinab zu ihrem Schoß. »Ich will, dass du mich überall streichelst, Theo.« Sie atmete schwerer und auch Bonaffini konnte sich der emotionalen Wallung kaum mehr entziehen. Die Stimme seiner Furcht, diese erfahrene Frau nicht glücklich machen zu können, wurde stets leiser und war irgendwann verstummt.
Wenige Herzschläge darauf lagen sie bereits im Gras, schälten sich aus ihren Kleidern und erforschten die intimsten Bereiche des Partners. Im Halbdunkel des scheidenden Tages liebten sie sich in freier Natur, bis nur noch der Mond seinen silbrigen Glanz auf die verschwitzten Körper warf und das wechselnde Funkeln der Sterne den Anschein erweckte, als würde der Himmel applaudieren. Eng umschlungen und nur lose mit ihren Kleidungsstücken behangen, um die Nachtkühle abzuhalten, lagen die beiden auf dem Boden, unendlich glücklich und den Kopf voller Träume. »Es war sehr schön mit dir«, sagte Maria leise. »Du bist ein sehr einfühlsamer Mann.« Bonaffini streckte sich, legte den Kopf zurück und schloss die Augen ganz kurz. Dann drehte er sich auf die Seite und sah Maria liebevoll an. »Und du bist eine aufmerksame Lehrerin. Du musst wissen, dass ich vorher noch nie...« Sie drückte ihm zwei Finger auf die Lippen. »Ssschht. Du brauchst mir nichts zu erklären. Es ist schön, so wie es ist. Und ich will niemanden außer dir.« Ihre Lippen fanden sich und es schien, als würden bei jedem neuen Versuch ihre Küsse an Innigkeit gewinnen. »Ich liebe dich«, flüsterte Theobald seiner Maria ins Ohr. Nie zuvor hatte er irgendeinem Menschen Derartiges gesagt. Er hatte seine Gefühle erforscht und war sich sicher, dass er den Menschen Maria liebte, nicht den Körper. Der Orgasmus konnte einem die Sinne vernebeln, doch er glaubte, die Kontrolle zurück gewonnen zu haben. Mit einer solchen Frau an seiner Seite würde er alles erreichen können, was er sich jemals vorgenommen hatte und noch vornehmen würde. Die größte Leere, die es im Leben eines Mannes gab, manifestierte sich im Fehlen des passenden Gegenstücks. Theobald Hauser-Bonaffini glaubte, nun gefunden zu haben, was ihm bisher gefehlt hatte und nach dem er instinktiv wohl immer auf der Suche gewesen war. Er kam sich
vor wie ein anderer Mensch, fühlte sich wie Phönix, der aus der Asche des Untergangs zu neuen Ufern aufbrach. Ihm war, als könnte er es mit jedem Gegner aufnehmen und alles, was sich ihm entgegenstellte, mit spielerischer Leichtigkeit überwinden. Wie saft- und kraftlos er doch bisher sein Leben gefristet hatte. Er würde allerdings noch herausfinden, dass er an Grenzen stoßen sollte, von denen er momentan nicht einmal wusste, dass sie existierten! * Ich fühlte mich, als wäre ich durch die Mangel gedreht worden. Jeder Muskel in meinem Körper machte sich bemerkbar und wollte meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich beschloss, Übernachtungen im Freien aus meinen Freizeitaktivitäten zu streichen. Da konnte man mal wieder sehen, wie wichtig bei einer Missionsplanung die Einzelheiten waren. Sicher hätten mir die Priester auf meine Anfrage hin eine Luftmatratze gezaubert. Ohne wollte ich zukünftig auch nicht mehr aus dem Haus gehen. Es war noch dämmrig, ich war wie gerädert und die Layshi-Pan schienen sich noch im Tiefschlaf zu befinden. »Möchtest du schon aufbrechen, Richard?«, strafte Chebokyns Stimme meinen Eindruck Lügen. »Du bist erst sehr spät eingeschlafen...«
Was dir so alles auffällt.
»Ich liege hier auf tausend spitzen Nadeln«, sagte ich mürrisch. »Mir steht nicht unbedingt der Sinn nach Weiterwandern, aber etwas anderes kann man wohl kaum unternehmen.« »Du müsstest todmüde sein«, meldete sich jetzt auch Eleowelia zu Wort. »Nach den Anstrengungen des...« »Ich bin todmüde!«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Ich spüre jeden Knochen und fühle mich wie halb verdaut!« Ui, da war ich nahe dran, die Beherrschung zu verlieren und
schaltete erst mal zwei Gänge runter. »Ich brauche einen Kaffee und etwas zu essen. Und bitte keine Belehrungen hinsichtlich dieser bescheidenen Wünsche.« Die Höllenjäger erhoben sich nacheinander von ihrem Schlaflager. Ihnen schien die Übernachtung kaum, wenn überhaupt, etwas ausgemacht zu haben. »Hm«, machte Mantazz. »Zu deiner Gemütsverfassung können wir nichts Positives beitragen, doch vielleicht beflügelt dich der Gedanke ein wenig, dass uns die Hetto-Ka'Zam-Inayn auf den Fersen sind.« Ich schluckte und sah vor meinem geistigen Auge die Farbe aus meinem Gesicht schwinden. »Sind das die Probleme, von denen du gesprochen hast?«, wandte ich mich an Chebokyn. Er nickte. »Wann habt ihr die Hettos erspürt?« »Lange vor dem Schlafengehen.« Mein Geduldsfaden wurde einer außerordentlichen Belastung ausgesetzt. »Warum habt ihr mir das nicht gesagt?«, erhob ich nun doch meine Stimme. »Wir hätten die Nacht durch marschieren können und hätten unseren Vorsprung erheblich ausgebaut!« »Du brauchtest Ruhe und deshalb haben wir gerastet.« »Oh nein!«, wedelte ich mit dem Zeigefinger. »Das macht ihr nicht an mir fest! Das schiebt ihr mir jetzt nicht in die Schuhe!« »Rege dich bitte nicht wiederholt unnötig auf«, blieb Chebokyn sachlich. »Früher oder später treffen wir in jedem Fall auf die Hetto-Ka'Zam-Inayn. Es ist vorbestimmt. Alleine deshalb schon, weil sie dasselbe Ziel haben wie wir.«
Die Residenz! Vatikanstadt! Die Biokomponente führt sie auf direktem Weg zum Ausgangspunkt des Schreckens.
»Ich wollte von Anfang an nach Dänemark«, argumentierte ich ein wenig gelassener. »Lasst uns umkehren und erst das Codefragment sichern. Im Anschluss kümmern wir uns um die Hettos und die Hohen.«
Bei meinem Vorschlag hatte ich einen wichtigen Punkt außer Acht gelassen. »Wir können einzig über die Siegelkammer manövrieren«, weihte Chebokyn mich ein. »Gehen wir zurück, laufen wir unseren Feinden schnurstracks in die Arme.« »Also schön«, seufzte ich und fand mich damit ab, dass ich mich aus eigener Entscheidung in diese Situation begeben hatte. Wenn es mir wirklich ernst war mit meinem Vorhaben, den Menschen auf der Erde beizustehen gegen das dunkle Erbe von Amalnacron, dann durfte ich keinesfalls den Schwanz einziehen. Egal, welche Belastungen und sonstigen Herausforderungen noch auf mich zukamen. Eines war mir jedoch unmissverständlich klar geworden: Von nun an hingen uns die Verfolger im Nacken. Sie waren trotz ihrer Verluste immer noch in der Überzahl. Außerdem würden sie uns ebenfalls mit ihren ausgeprägten Sinnen aufgespürt haben. Von nun an mussten wir zu jeder Zeit mit einem Überfall rechnen! * Ein knappes Viertel der Gesamtstrecke bis zur ewigen Stadt, bis nach Rom, hatten wir erst bewältigt, als wir in den frühen Morgenstunden ohne sonderliche Verzögerung die nächste Etappe antraten. Bis zum späten Nachmittag wollten wir in der Nähe der Residenz sein, was durchaus zu schaffen war, sogar, wenn wir zwischenzeitlich einige Pausen einlegten. Ich bemühte mich, meine ehrliche Meinung über diese Wanderung für mich zu behalten. Trotzdem geriet ich schon bald an die Grenzen meiner Duldsamkeit, drohte sie gar zu überschreiten. Jeder Schritt, bei dem ich meine Blasen an den Füßen wahrnahm, erinnerte mich daran, welche Möglichkeiten zur Fortbewegung die Höllenjäger besaßen. Anto-Dschagerass hatte bei seiner Erzählung durchklingen lassen, dass die Layshi-Pan zumindest geringfügige Fähigkeiten im Bereich der
Levitation besaßen. Das war genau das, was wir im Moment brauchen konnten. Unsere eingeschränkte Mobilität machte uns nämlich zu einem leichten Ziel. Zog man weiterhin die Nähe zu unseren Verfolgern in Betracht, zermürbte einen dieses Dahin schleichen mächtig. Ich kam mir vor, als würde ich den Tag vertrödeln, wo es doch so viel zu tun gab. »Die Levitation ist von energetischen Resonanzfeldern abhängig«, hatte man mir einhellig zur Antwort gegeben. »Außerdem, Richard, stammt deine Schilderung der Ereignisse aus einer Zeit, als die Frequenzen der Erde noch nicht diesen enormen Störungen unterlagen. Der Mensch hat in den letzten zwei Jahrhunderten wesentlich dazu beigetragen, Mutter Erde schlimme Wunden zuzufügen. Und davon sind wir letztlich alle betroffen.« Also keine Flugstunde. Meinetwegen. Eigentlich konnte ich mich noch recht glücklich schätzen, in der Gesellschaft dieses Trios zu reisen. Chebokyn sorgte weiterhin dafür, dass mir Hunger und Durst nicht gar zu sehr zusetzten. Er hatte allerdings eindringlich darauf hingewiesen, dass die Manipulation der Chakren den Trieb zur Nahrungsaufnahme nur hemmte, aber nicht beseitigte. Über einen längeren Zeitraum würde ich meinem Körper damit erheblichen Schaden zufügen. Wenigstens die Flüssigkeitsaufnahme sollte nicht allzu lange hinausgezögert werden. Ich rief mir unsere gemeinsame Aufgabe ins Gedächtnis. Nicht, um die Feinheiten unseres Vorgehens abzustimmen, sondern um mich abzulenken. Abzulenken von den vielen bösen, bohrenden Fragen, die sich alle mehr oder weniger mit meiner Zukunft beschäftigten und was ich wohl noch von ihr zu erwarten hätte. Dass ich mich da keinen Illusionen hinzugeben brauchte, hatte ich schon längst bemerkt. Die behütete Zeit als Collegeboy, der es sich mit dem Geld seiner Eltern gut gehen ließ, war für immer vorbei. Die Zeit der Unbeschwertheit, des Nichtwissens war dahin. Fluch oder Segen? Darüber konnte man endlos diskutieren und philosophieren. Im Endeffekt kam es nur auf einen selbst
an, darauf, was man vom Leben erwartete und was man noch erreichen wollte. Ich hatte einen umfassenden Blick hinter die Fassade unserer Welt werfen dürfen, hatte ihre Verlogenheit durchschaut und bekämpfte die Illusion, die sie letztendlich darstellte. Das Schicksal von Milliarden hatte in den Händen einiger Tausend gelegen, die mit List und Raffinesse, aber auch mit einer gehörigen Portion Unverfrorenheit ihre Machtstellung ausgebaut und die Bewohner dieses Planeten zu gefügigen Sklaven erzogen hatten. Fortschritt hatte man das genannt und technologischen Aufschwung. Der Unterschied zur Knechtschaft der Bürger im Mittelalter bestand einzig darin, dass der moderne Mensch seine Fußeisen nicht sehen und nicht spüren konnte. Die Mittel der Versklavung waren deutlich subtiler geworden. Der größte Triumph aber war immer noch, dem Sklaven glaubhaft zu versichern, keiner zu sein... Ich war vollkommen in Gedanken versunken und zuckte heftig zusammen, als Chebokyn, Mantazz und Eleowelia schlagartig in verschiedene Richtungen davon sprangen, den kraftvollen Schwung in einer Flugrolle abfingen und eine typische Abwehrstellung einnahmen. »Komm ganz langsam zu mir rüber, Richard«, raunte mir Chebokyn zu und fixierte irgendeinen Punkt weit hinter mir. Ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller und konnte mir an den Fingern einer Hand abzählen, was die plötzliche Panik zu bedeuten hatte. »Hetto-Ka'Zam-Inayn!«, zischte Mantazz. »Ihre Präsenz ist äußerst machtvoll, obwohl sie noch ein gutes Stück entfernt sind.« Besorgt kniete ich mich neben Chebokyn und suchte den Horizont ab. Tatsächlich sah ich vor der Silhouette der Berge ein paar winzige Punkte, die sich bei genauerer Betrachtung sogar bewegten. »Sie werden uns schnell einholen«, rief Eleowelia einige Schritte entfernt. »Je näher sie der Residenz kommen, je mehr
sie sich diesem Zentrum des Bösen nähern, desto kraftvoller werden sie. Darauf müssen wir vorbereitet sein.« »Eleowelia hat Recht«, sagte Chebokyn, ohne die Punkte aus den Augen zu lassen. »Wir werden nicht weitergehen, sondern genau an dieser Stelle warten und uns in der Meditation stärken. Dann könnten wir eine Chance haben.« »Sonst nicht?«, überkam mich eisiger Schrecken. »Du meinst, die machen uns mir nichts, dir nichts fertig? Willst du das damit sagen?« »So in der Richtung«, gab sich Chebokyn unbekümmert. »Wir werden nun unsere Kräfte sammeln und bündeln. Und du, Richard, wirst mit uns meditieren! Wenn es hart auf hart kommt, können wir jede Hilfe gebrauchen. Wirklich jede!« Meine Hände flatterten, als wir uns setzten und einen Kreis bildeten. Es gab keine physischen Berührungspunkte zwischen uns, nur die Kraft unseres Geistes, die sich um uns potenzierte. Wir dachten nicht an das, was vor uns lag, sondern an die eigene Vitalität und schufen Gedanken, die absolut frei von Negativität waren. Ich verglich die Situation im Nachhinein mit dem Aufladen eines Akkus. Unsere Energien fokussierten sich, das konnte sogar ich feststellen, auch wenn mir die meisten spirituellen Nuancen noch entgingen. Dass es hart werden würde, sollte sich schon bald bestätigen. Allerdings würde sich ebenso zeigen, dass sich einige Dinge anders entwickelten, als wir sie uns ausgemalt hatten. * Die Meditation endete und entließ mich ziemlich berauscht. Ich war in die Energie meiner Mitstreiter eingesunken und hatte ein seltenes Gefühl höchster Erhabenheit aufgenommen, von dem ich mich nur schwer zu trennen vermochte. Noch reichlich trunken von der Kollektivempfindung, die ich alleine niemals hätte erreichen können, entging mir anfangs die
hektische Betriebsamkeit der Layshi-Pan. Als ich schließlich zu mir zurückgefunden hatte, hatte sich die erste Unruhe bereits gelegt. »Die Hetto-Ka'Zam-Inayn sind verschwunden«, sagte Chebokyn seltsam ausdruckslos. »Wir haben die nähere Umgebung sondiert und mental ausgespäht; es hat keinen positiven Kontakt gegeben.« »Seid doch froh«, fand ich daran nichts Beunruhigendes. »Keine Hettos - kein Kampf.« »Leider hat diese Situation kein komisches Element«, wies mich Eleowelia zurecht und drückte meine an sich gute Stimmung ein wenig. »Wir glauben, dass sie bereits unter dem Schutz der Hohen stehen und sich irgendwie tarnen. Nach unserem Ermessen gibt es keine andere Möglichkeit, sich unseren Sinnen zu entziehen.« »Da habt ihr euch die schlechten Nachrichten ja ganz bis zum Schluss aufbewahrt«, teilte ich eine ironische Spitze aus. »Demnach müssen wir nicht nur jeden wachen Moment mit einer Attacke rechnen, sondern können auch erst angemessen reagieren, wenn sie bereits läuft. Mit anderen Worten: Unsere Überlebenschancen, sollten die Hettos sich tatsächlich zeigen, tendieren gegen null!« »Es ist anzunehmen, dass sie der Konfrontation vorerst aus dem Wege gehen«, sagte Mantazz voller Überzeugung. »Nach unserer Auffassung wollen sie sich erst mit den Mächten der Residenz konsolidieren.« »Mir drängt sich gewaltig der Eindruck auf, dass eure Planung sich einzig auf Vermutungen stützt. Könnt ihr vielleicht irgendetwas Konkretes zur aktuellen Lage von euch geben? Vielleicht etwas ganz Klitzekleines, hm?« »Wir haben durch die Meditation eine gute Stunde verloren«, gab mir Chebokyn zu verstehen. »Daher werden wir zügiger marschieren. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit bei der Residenz sein, um uns mit den Lokalitäten vertraut zu machen. Stillt das deinen Durst nach konkreten Informationen, Richard?«
Warum musste er ausgerechnet das Wort ›Durst‹ gebrauchen? »Die Hohen werden doch sofort auf uns aufmerksam werden«, gab ich zu bedenken. »Schließlich dringen wir in ihr Hoheitsgebiet ein.« »Sie werden jetzt schon wissen, dass wir unterwegs sind. Es gibt keine Möglichkeit, unbemerkt heranzukommen. Für einen Angriff sind wir in einer denkbar ungünstigen Position.« »Trotzdem wollt ihr es riskieren. Trotzdem wollt ihr mich bei diesem irrsinnigen Unternehmen begleiten.« »Jede Sache, die sich gegen die negativen Mächte richtet, ist es wert, unterstützt zu werden. Du kennst unsere Gründe.« Ja, die kannte ich. Und die drei Höllenjäger hatten etwas gutzumachen, nachdem sie mir auf der Kr'sh-Ebene in den Rücken gefallen waren. Doch sie sollten die Chance zur Bewährung bekommen; ich wusste, dass es gute Menschen waren und sie ungewollt in den Einfluss des dämonischen Plasmas geraten waren. Ohne ihre Hilfe würde der T'ott'amhanuq aller Voraussicht nach noch vor Ende des Tages eine Legende sein, die von den sich Hilfe erhoffenden Völkern des Universums beweint wurde. Wir gingen stramm voran. Ich biss die Zähne zusammen und agierte nur noch maschinell, setzte einen Fuß vor den anderen, ließ in meinem Kopf unablässig Gebetsformeln ablaufen und achtete nicht auf meinen Körper, der mit allerlei Schmerzsignalen auf sich aufmerksam machen wollte. Es war noch hell, als wir die Vatikanstadt erreichten. Wie erwartet war vom ursprünglichen Rom nichts übrig geblieben. Wir hatten freien Blick auf das, was die Hohen als ihre Residenz bezeichneten. »Dann sehen wir uns doch mal um«, sagte ich abenteuerlustig. »Richard, warte bitte noch einen Moment!« Chebokyns Stimme klang alarmiert. Zuerst war mir nicht klar, warum. Dann sah ich hinauf zum Himmel, wo sich plötzlich dunkle Wolken zusam-
menzogen. Von jetzt auf gleich verdeckten sie das Antlitz der Sonne, wallten auf wie Tintenspritzer in klarem Wasser. Hinzu gesellte sich verhaltenes Donnergrollen. Von meinen Begleitern sah ich lediglich schattenhafte Umrisse, so finster war es geworden. »Von dieser Gespensternummer lassen wir uns nicht beeindrucken«, glitten mir die Worte getränkt von unverständlicher Selbstsicherheit über die Lippen. Keine zwei Minuten später wurde mir bewusst, was für einen Blödsinn ich da von mir gegeben hatte! * Theobald Hauser-Bonaffini beendete einen ausgedehnten Spaziergang in den Gärten der Residenz. Er hatte sich den Morgen über stark verausgabt und ein wenig Entspannung für Körper, Geist und vor allen Dingen für seine Augen gesucht. Das Zusammentragen der Bände, ihre akribische Auflistung und die Sortierung nach Themengebieten beziehungsweise historischer Zeitlinie und Wertigkeit der Ereignisse erforderte meistens ein intensives Einlesen der Texte. Hinzu kam die sich oftmals über eine bis zwei Stunden hinziehende gebückte Haltung am Sekretär. Das Herumstreunen in den Parkanlagen rückte die verdrehten Glieder wieder zurecht. Nicht nur aus diesem Grund war Theobald froh, niemandem Rechenschaft über seine Arbeitszeiten ablegen zu müssen. Wenn man so wollte, hatte er praktisch Narrenfreiheit, sah man von den gelegentlichen Besuchen dieses Robenträgers ab, der allgemein als direkter Untergebener der Hohen eingestuft wurde und eine Art Oberaufsicht ausübte. Sein Gesicht war von tiefen Furchen zerschnitten, wirkte versteinert. Die Augen wurden zu jeder Tageszeit von einer dunkel getönten Brille verdeckt. Denn nirgendwo sonst konnte man die Absichten eines Menschen deutlicher erkennen als in dessen Augen. Handelte es sich somit um einen direkten Hinweis auf die Heimtücke oder Unehrenhaftigkeit dieses Mannes?
Bonaffini hatte sich nie um die Beantwortung dieser Frage bemüht, weil er andere Sachen im Sinn gehabt hatte. Gegenwärtig jedoch spukte sie ihm erneut im Kopf herum, besonders, wenn er sich das Verhalten Tjörnsens vor Augen führte. Hatte der Kuttenträger seinen Lakaien geschickt? Sollte er etwas in Erfahrung bringen, wozu sich der hohe Herr nicht herablassen wollte? Offensichtlich war, dass Maria Cicciu die Observierung wenn man es denn so nennen wollte - ausgelöst hatte. Und zwar bereits nach dem ersten Mal, da er, Theobald, sie in die Bibliothek eingelassen hatte. Das wiederum gab Anlass zu der Schlussfolgerung, nicht nur zufällig entdeckt worden zu sein, sondern permanent unter Bewachung zu stehen, einer Bewachung, die sich gut zu tarnen wusste und keinerlei Aufmerksamkeit erregte. Warum so geheimnisvoll?, fragte sich Bonaffini. Wenn sie
einem nicht trauen, könnten sie Wachen einsetzen, Beamte, bürokratische Kontrollorgane oder was auch immer. Es machte
nur dann Sinn, wenn sein mysteriöser Arbeitgeber seine Angestellten aus der Reserve locken wollte. Das klappte am besten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten... Ich muss vorsichtiger sein, zwang er sich zur Räson. Maria
muss vorsichtiger sein. Ich werde ihr sagen, dass sie mich mittags nicht mehr besuchen kann. Wenn ich sie nicht mehr sehen dürfte oder ihr etwas zustieße...
Theobald ließ den Gedanken unausgesprochen. Er war zu absurd. Die Frau hatte nichts getan. Warum sollten ihr die Hohen ein Leid zufügen wollen? Die Schreckensfratze von Ole Tjörnsen ging Theobald zwar durch Mark und Bein, doch nahm er sich vor, standhaft zu bleiben und sich nicht mehr ins Bockshornjagen zu lassen. Wo sind wir denn hier, puschte er sich hoch und nickte energisch. Die Residenz ist schließlich keine Strafkolonie. Den Begriff hatte er in einem der seltenen Geschichtsbücher gelesen und erst allmählich seinen Hintergrund verstanden. Allem Anschein nach hatte es vor der
Wende entlegene Arbeitslager gegeben, meist Inseln, die mit Kriminellen bestückt worden waren. Weitab vom jeweiligen Mutterland sollte den Gefangenen eine Flucht erschwert werden.
Die Zeiten der Barbarei sind ja glücklicherweise Vergangenheit, schmunzelte Theobald und öffnete die Flügel-
tür zur Bibliothek. Draußen war es trotz des trüben Wetters schwülwarm, sodass ihn die kühle Luft im Innern des Gebäudes herrlich erfrischte. »Ich hab' schon auf dich gewartet, Theo!«, wurde er stürmisch von seiner Freundin begrüßt, die hinter einem hohen Regal vorgeschossen kam und sich auf ihn stürzte, um den verdutzten Archivar zu drücken und zu küssen. Er ließ es geschehen, löste sich dann jedoch energisch von ihr. »Bist du verrückt geworden?«, wies Bonaffini seine Freundin zurecht. »Was hast du hier zu suchen?« »Er hat mich nicht gesehen«, lachte Maria und wusste genau, worauf Theobald anspielte. »Woher willst du das wissen?«, gab er sich mit der Behauptung nicht zufrieden. »Der kann sich sonst wo verstecken! Du weißt doch, dass du als Außenstehende keines der Gebäude betreten darfst.« »Ich dachte, du freust dich«, war ihr Elan halbwegs verflogen. »Das tue ich auch.« Er atmete schwer. »Aber das ist kein Spaß mehr. Bedenke doch die Konsequenzen. Wenn die Hohen dir verbieten, die Residenz weiterhin zu betreten, sehen wir uns viel seltener. Außerdem könntest du deine Arbeit verlieren.« »So weit habe ich nicht gedacht«, bekannte die Marktfrau. »Bist du mir jetzt böse?« Ihre kristallklaren Augen sahen ihn treuherzig an. »Nein«, murmelte er und dann bestimmter: »Nein, bin ich nicht.« Wie konnte er auch? Sie war das liebreizendste Wesen, das er je das Glück gehabt hatte, kennen lernen zu dürfen. Sie
hatte Gefühle und Begehrlichkeiten in ihm geweckt, die viel zu lange brachgelegen hatten. »Beweise es!«, forderte Maria ihn auf. »Bitte?« Theobald Hauser-Bonaffini war in Gedanken gewesen. »Was... wie soll ich...?« Maria Cicciu schmiegte sich an ihn und streichelte über seinen Rücken. »Nimm mich einfach in deine Arme und lass mich deine Liebe spüren.« Er tat, wie ihm geheißen, doch er war nicht bei der Sache. Seine Berührungen waren ohne Ausdruck. Die junge Frau merkte es bereits in den ersten Sekunden und ging nun ihrerseits auf Distanz. »Scarabese erwartet mich sicher schon«, sagte sie ohne das gewohnte Ausmaß an Wärme in ihrer Stimme. »Ich bin um Mittag herum wieder da.« Schnell hauchte sie Theobald einen Kuss auf den Mund, merkte, dass sie wohl doch etwas überstürzt und unfreundlich handelte und streichelte zärtlich seine Wange. »Wir sehn uns!«, war sie schon halb durch die Tür. Bonaffini warf mehrere verstohlene Blicke ins Freie, konnte Tjörnsen allerdings nirgendwo entdecken. Das scheint ja noch mal gut gegangen zu sein, zeigte der Archivar sich innerlich erleichtert und winkte Maria nach, die in die Pedale ihres Fahrrades trat. Zur Mittagszeit würde er sie nicht in die Bibliothek bitten. Dafür musste Maria Verständnis haben. Am Abend sollte ihnen genügend Zeit bleiben, sich ihrer Freundschaft und Liebe hinzugeben. In dem festen Glauben, die Angelegenheit glimpflich überstanden zu haben, drückte Hauser-Bonaffini die Tür ins Schloss. Gute hundert Meter entfernt, im Schutz einer Kapelle und hoch gewachsener Hecken, gingen die Gedanken Ole Tjörnsens exakt in die entgegen gesetzte Richtung. Er würde für sein weiteres Vorgehen nicht einmal die Genehmigung der Hohen einholen.
Ihm war bekannt, dass sie keine unerwünschten Gäste duldeten und er hatte am eigenen Leib erfahren, zu welchen Grausamkeiten sie fähig waren. Darin, umspielte ein grausames Lächeln seine entstellten Züge, würde er ihnen allerdings in keiner Weise nachstehen! * Der Tag war wie gewohnt verlaufen und Theobald Bonaffini konnte auf ein ordentliches Arbeitspensum zurückblicken. Er fühlte sich ein klein wenig matt und ausgelaugt, freute sich nichtsdestotrotz auf die vor ihm liegenden Stunden mit Maria. Er beschloss sogar, das Geschirr mitzunehmen, damit sie es am kommenden Tag gleich parat hatte. Wenn sie dann träumend in der Wiese lagen, würde er ihr die Situation vom heutigen Morgen vernünftig erklären; sicher zeigte sich Maria dann aufgeschlossener und zweifelte nicht mehr an seiner Zuneigung. Diesen Anschein hatte Theobald nämlich in ihr Verhalten interpretiert. Doch ihre Beziehung war noch zu jung, um von solchen Nichtigkeiten überschattet zu werden. Und das soll sich auch in Zukunft nicht ändern, fügte er ergänzend hinzu. Weshalb er sich die letzte Zeit ständig nach Tjörnsen umsah, wollte ihm beim Zuziehen der Bibliothekstür nicht recht einleuchten. Selbst jetzt, da er alleine war und sich weiß Gott nichts hatte zu Schulden kommen lassen, nagte sein Gewissen an ihm, fühlte er sich überwacht und kontrolliert, fieberte er förmlich der Begegnung mit dem Dänen Tjörnsen entgegen, um diese entsetzliche Spannung endlich ablegen zu können, die von der Möglichkeit seines unerwarteten Auftauchens angeheizt wurde. Als er das Residenzgelände ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, fiel Theobald siedendheiß ein, dass er den Teller und das Besteck vergessen hatte. Diese Nervosität bringt mich völlig durcheinander, dachte er leicht gereizt. Er wünschte sich jetzt nur eines, dass Maria
ihn auf andere Gedanken brachte und die dunklen Wolken in seinem Kopf vertrieb. Noch vor Einbruch der Dämmerung war er an dem Hain, an dem ihre erste Verabredung stattgefunden hatte. Dieses Plätzchen hatte sich zu einem geheimen Rückzugsort entwickelt, der ihnen und nur ihnen ganz alleine gehörte. Bonaffini hatte nie darüber nachgedacht in den vergangenen Tagen, doch er hatte Maria immer nur außerhalb des Dorfes gesehen, hatte sie nie daheim bei ihren Eltern abgeholt. Nun, vielleicht waren sie streng religiös und duldeten keine Verbindungen außerhalb der Ehe. Der Archivar hatte davon gelesen und konnte sich durchaus vorstellen, dass sich diese Einstellung über die ›große Wende‹ hinweggerettet hatte. Er war jedoch sicher, dass Maria ihm in dieser Hinsicht, wenn sie es für an der Zeit hielt, reinen Wein einschenken würde. Auf keinen Fall würde er seine Freundin bedrängen. Die Minuten rannen wie trockener Sand durch ein Uhrenglas. Von Maria war weit und breit nichts zu sehen. Da er ihr Faible für Versteck spielen kannte, dachte er sich erst nichts dabei, wurde allerdings schon stutzig, als die Sonne sich senkte und Maria Cicciu weiterhin unauffindbar blieb. Das war kein Spiel mehr! Da steckte etwas anderes dahinter! Bald schon würde er in dem kleinen Waldstück die Hand vor Augen nicht mehr sehen können. Das Mondlicht verlor sich hinter einer Wolkenwand. In der Dunkelheit würde es völlig unmöglich sein, nach Maria zu suchen. Sollte er in ihrem Dorf nach ihr fragen? Möglicherweise war sein Mädchen verhindert. Andererseits wollte er es vor den Leuten und seiner Familie nicht in Verlegenheit bringen. Wenn Maria ihre Gründe hatte, ihn nicht zu sich nach Hause einzuladen, dann mochte er sie durch sein Verhalten in arge Bedrängnis und Erklärungsnot bringen. Und wenn ihr nun etwas zugestoßen war? War es da nicht besser, so viele Menschen wie möglich zu mobilisieren, um das Schlimmste abzuwenden?
Theobald Hauser-Bonaffini rang mit sich und seiner Entschlusslosigkeit. Letzten Endes ging er den weiten Weg zurück zur Residenz. Er konnte nicht ausschließen, dass Maria entgegen seinem Wunsch doch dort aufgekreuzt war. Wenn es ganz schlecht lief, würden sie sich aber auch da verfehlen. Die Situation war verfranst, der Tag gelaufen. Heute würden sich die Liebenden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr über den Weg laufen. Und das wurmte Theobald. Er sehnte sich nach den Liebkosungen Marias, ihrer weichen Haut und dem verführerischen Körper. Aber mehr noch sehnte er sich nach einem Gesprächspartner, dem er seine Sorgen und Nöte mitteilen konnte, der ihn verstand und ihm gut zuredete und vor allen Dingen zuhörte. Seit er seine Eltern bei Unruhen im ehemaligen Deutschland verloren hatte, war er auf sich gestellt gewesen, ein Jugendlicher, der sich von einer Sekunde auf die andere schutzlos einer Welt ausgesetzt sah, die ihm nichts zu geben hatte. Er war bei einer Gastfamilie untergekommen, die ihn einige Jahre als Spielkameraden für ihren eigenen Sohn aufnahm. Doch Theobald war irgendwann von selbst gegangen, hatte sich klammheimlich aus dem Haus geschlichen - ohne ein Wort des Abschieds oder des Danks zu hinterlassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Lange hatte er sich auf eigene Faust durchgeschlagen und bemerkt, dass er alles, nur kein Überlebenskünstler war. Sein Fachgebiet war nicht die Tat, sondern das Wort. Physische Arbeit machte ihm nichts aus, doch stellte er sich teilweise linkisch an und entwickelte eher ein Gespür für Ausdruck und Sprache. Wo sich eine Gelegenheit bot neben der täglichen Prozedur der Nahrungsmittelbeschaffung, stöberte er in Schriften und Büchern. So kam er viel herum, wurde oft und gerne von den Menschen in ihre Behausungen und Hütten eingeladen und konnte dort wiederum neues Wissen anhäufen und neue Schriften studieren. In beinahe jedem Haushalt gab es alte Dokumente, größtenteils noch aus der Zeit vor der ›Veränderung‹. Das Meiste jedoch blieb verschollen, hatte sich
aufgelöst, wie es die Gebäude, Straßen, Flüsse und Berge getan hatten. Das Antlitz der Erde war ein gänzlich neues geworden. Bonaffini konnte nicht mehr sagen, wann es gewesen war, dass er von diesem jungen Mann angesprochen worden war, der ihn bei der Arbeitssuche auf die Residenz verwiesen hatte. Komischerweise suchten die Hohen ausgerechnet einen Archivar für ihre Bibliothek, die von Grund auf auf Vordermann gebracht werden sollte. Unglaublich viel gab es zu sortieren, angefangen bei zigtausenden handgeschriebenen Büchern, über Frühdrucke zu wertvollen Inkunabeln, die um die einhunderttausend und darüber hinaus zählten. Nur zu gerne hatte Bonaffini den Job angenommen. Das war doch genau seine Berufung, das, wozu er sich auserwählt fühlte. Er war kein Gärtner, kein Tischler, nein - er war ein Bücherwurm. Und von da an konnte er den lieben langen Tag seinem Hang frönen, bekam Unterkunft und sogar sein Auskommen, eine Arbeit, die ihm gefiel und seinen Neigungen entsprach. Mitten in der Nacht betrat Theobald Bonaffini das Residenzgelände. Die Müdigkeit überlagerte seine Enttäuschung über die verschwendeten Stunden. Trotz allem war er traurig, Maria nicht angetroffen zu haben. Seine Wohnung befand sich in unmittelbarer Nähe zur Bibliothek und als er das längliche Gebäude mit den Flügeltüren passierte, um sein Appartement an der zur Straße gelagerten Stirnseite des Museumsbaus aufzusuchen, da verhielt er mitten im Schritt und schaute irritiert zu Boden. Ein Gegenstand auf der dunklen Erde reflektierte das matte Licht einer Öllaterne. Als Theobald unschlüssig näher trat und mehr und mehr Details sichtbar wurden, verwandelte sich sein Gehen in einen Laufschritt. Er kniete nieder und hob die Bastsandalette auf, drehte sie zwischen seinen Fingern hin und her und hatte dabei nur den einen Gedanken: Maria! Sie
ist hier gewesen! Und es ist ihr etwas zugestoßen!
Verstört drehte Bonaffini sich im Kreis, hielt Ausschau nach weiteren Hinweisen oder Fundstücken. Gleich darauf rannte er in eine beliebige Richtung, suchte den Boden ab, rannte in eine andere Richtung und tat dasselbe, ohne Plan und ohne Sinn. Nur kurz schlich sich die Ahnung in sein Denken, dass er möglicherweise die Nadel im Heuhaufen suchte und eigentlich nur rein zufällig fündig werden konnte. Wie lange er seinem recht aussichtslosen Treiben nachgegangen war, konnte er nicht mehr sagen. Als er bereit war aufzugeben, da erschien es ihm wie ein Wink des Himmels, auf einen Kleidungsfetzen zu stoßen, den er nicht unbedingt seiner Maria zuordnen konnte, der jedoch in Anbetracht der Umstände durchaus zu ihrer Bluse oder ihrem Rock gepasst hätte. Für den Archivar war es damit vollkommen ersichtlich, dass man seiner Freundin Gewalt angetan hatte. Oder sie hatte, nachdem sie entführt worden war, diese Spur gelegt. Theobald Hauser-Bonaffinis Blut geriet in Wallung. Und daher schenkte er der dritten Möglichkeit keinerlei Beachtung, dass nämlich der vermeintliche Entführer selbst diese Spur gelegt haben könnte, um ihn, Bonaffini, an eine ganz bestimmte Stelle zu locken. Das setzte zumindest die Kenntnis seines Wohn- und Arbeitsplatzes voraus und schränkte die Zahl der infrage kommenden Personen von Anfang an drastisch ein. Der Archivar hatte aber auch so schon den richtigen Namen im Kopf. Ole Tjörnsen!, schrie es in seinem Verstand. Jetzt bist du
eindeutig zu weit gegangen!
Es ging vorbei an der Bibliothek zum Gregorianischen Museum. Dort gab es einen Eingang, der ins Museo Storico führte, in dem sich historische Fahrzeuge und Rüstungen befanden. Gutes Mädchen, dachte Theobald, als er auf eine nur angelehnte Tür stieß, an deren Fuß sich ein weiterer Kleidungsfetzen fand. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Dahinter war es stockdunkel. Es würde eine Weile dauern, bis sich seine
Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, falls das Restlicht überhaupt noch ausreichte, um ein Bild auf seine Netzhaut zu projizieren.
Wenn du hier unten bist, Maria, dann finde ich dich! Tjörnsen kann sich schon mal warm anziehen, wenn ich diesen Vorfall den Hohen melde.
Tapfer und entschlossen tastete sich Bonaffini eine Treppe hinunter. Hätte er die Gabe besessen, in die nähere Zukunft zu schauen, so wäre ihm schreckensstarr bewusst geworden, dass sein Wagemut vor dem Grauen, das ihn erwartete, kampflos würde kapitulieren müssen! * Piazza San Pietro - vielleicht der berühmteste Platz auf der ganzen Erde. Zumindest bis zum Untergang der bekannten Zivilisation. Das dreihundertvierzig Meter durchmessende Oval wurde gesäumt von zwei halbkreisförmigen Vierfachkolonnaden, die sich aus Hunderten von Säulen zusammensetzten und auf deren Balustraden Heiligenfiguren en masse standen. Der fünfundzwanzig Meter hohe Obelisk im Zentrum der Ellipse war ägyptischer Herkunft und angeblich auf Veranlassung Kaiser Caligulas von Heliopolis nach Rom transportiert worden. Erst in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts hatte Papst Sixtus V. ihn an diese Stelle verlegen lassen.
Was einem in absolut unpassenden Momenten so alles durch den Kopf geht...
Ich kannte den Petersplatz lediglich aus den Büchern meines Vaters, diversen Fernsehsendungen und, wenn ich mich recht erinnerte, aus einem Reisevideo, das ich versehentlich für eine Reality-Doku gehalten hatte. Meine erste leibhaftige Konfrontation mit dem unversehrten Kulturerbe der Menschheit stand bevor - und es würde sich in eine Arena der Gewalt verwandeln!
Die Hetto-Ka'Zam-Inayn waren förmlich aus der leeren Luft getreten und hatten uns umzingelt. Sie schienen sich ihrer Überlegenheit sicher zu sein, sonst hätten sie aus dem Hinterhalt einen Überraschungsangriff geplant, der uns augenblicklich Schach und matt gesetzt hätte. Die Möglichkeit dazu hätten sie gehabt. Nichtsdestotrotz war ihr Auftritt nicht minder dramatisch. Schwarzwogende Wolken und entfernten Donnerhall empfand ich durchaus als ansprechendes Szenario für einen Kampf zwischen positiv und negativ ausgerichteten Streitern. »Du solltest jetzt nicht zynisch werden, Richard«, teilte mir Chebokyn mit, der vor dem dunklen Hintergrund des Himmels eine noch dunklere Silhouette bildete und wohl - rein versehentlich - meine Gedankengänge aufgeschnappt hatte. Sieben abtrünnige Höllenjäger, die nun unter dem irreversiblen Einfluss dieser neuartigen Plasmakomponente standen, hatten sich vor uns aufgebaut. Chebokyn ging sie im Geiste der Reihe nach durch und ließ mich daran teilhaben. Da war der geistesgestörte Morias Del'Vander, der von dem kräftigen Jukotur huckepack getragen wurde. Warum sie ihn mitschleppten, war auch Chebokyn ein Rätsel. Weiter standen da die löwenmähnige Fyn, der dürre Semenn-Senn, die Brüder Ismael und Joshua sowie Keefesch. Die Namen Fyn und Jukotur sagten mir auf Anhieb etwas. Ich musste ein wenig in meinem Gedächtnis kramen, um sie zuordnen zu können. Sie waren Bestandteil der Erzählung Anto-Dschagerass' gewesen. Die beiden hatten zu einem Erkundungstrupp unter Meister Pagsha-Tan gehört, der durch den Ausfall einer Siegelkammer vom Tempel Venora Ghol abgeschnitten worden war. Wie es aussah, hatten wenigstens diese zwei den Weg zurück anschließend doch noch gefunden. »Welch unerwartete Freude, den T'ott'amh-anuq samt Eskorte begrüßen zu dürfen«, wandte sich Jukotur an uns. Der höhnische Unterton ließ Böses erwarten. Das glucksende Kichern des irren Del'Vander, der ein verkrümmtes Bündel in
einer Art Stricknetz war, das der neue Anführer sich über die Schulter geworfen hatte, verhieß ebenso wenig Gutes. Die physische und mentale Anspannung meiner LayshiPan-Begleiter übertrug sich beängstigend intensiv auf mich. Sie rechneten mit einer Blitzattacke und wussten nicht, wie sie wirkungsvoll eine Defensive aufbauen sollten. »Wohl eher ein einseitiges Vergnügen«, antwortete ich großspurig. »Mit Unterhändlern der negativen Kräfte haben wir nichts zu schaffen.« Meine Beine wurden plötzlich weich, zitterten unkontrolliert, als könnten sie das Gewicht meines Körpers nicht mehr stemmen. Ich keuchte, denn die Anstrengung, mit der ich mich aufrecht hielt, verlangte mir einiges ab. Konzentriere dich auf deine Energiezentren, schickte mir Chebokyn einen beruhigenden Impuls. Visualisiere den
Energiestrom, der deine Chakren durchfließt und jede Stelle deines Fleisches kräftigt.
Im Angesicht einer zähnefletschenden Meute von Dämonendienern war das kein leichtes Unterfangen. Bei meinen permanenten Schwierigkeiten der mentalen Projektion sowieso. Das Kräftemessen hatte begonnen. Der Gegner hatte sich auch gleich das schwächste Glied in der Kette ausgesucht mich! Langsam kreisten sie uns ein. Die drei Layshi-Pan formierten sich zu einem Triangel; sie standen Rücken an Rücken, sodass ihre Schultern von oben gesehen ein gleichseitiges Dreieck bildeten. Auf diese Weise konnten sie ihre Feinde im Auge behalten und alle Richtungen absichern. Ich stand - vielmehr schwankte ich - abseits meiner Höllenjägergruppe, während der Kreis der Hetto-Ka'Zam-Inayn sich allmählich schloss. »Was immer ihr vorhabt«, ächzte ich und wusste überhaupt nicht mehr, wohin ich meine Aufmerksamkeit richten sollte, »ist aussichtslos. Lasst uns gehen und euch wird kein Haar gekrümmt.« Der Schwächeanfall ließ nur geringfügig
nach; die mentale Fokussierung positiver Energien wollte mir nur bedingt gelingen. Woher ich also die Kraft nahm, den Prahlhans zu spielen, war mir schleierhaft. »Keine Sorge«, erwiderte eine Stimme von rechts oder links oder von ganz woanders. Ich hatte die Orientierung verloren. »Das Schicksal Del'Vanders war uns eine Lehre. Wir werden nicht in deine physische Struktur vordringen oder transzendente Schranken einreißen. Aber wie du an unserem ehemaligen Anführer siehst, gibt es Formen des Todes sogar im Leben.« Ja, bestätigte ich bitter und fand wieder zu mir. Geistige
und körperliche Verstümmelung...
Der hagere Semenn-Senn wirbelte mit seinen schlaksigen Armen. Ihre Konturen verwischten, so schnell war er. Dann verlangsamte sich der Prozess extrem, zeigte die Arme samt den Spuren, die sie auf ihrem Weg hinterließen. Der Effekt glich dem eines Kameraobjektivs mit sehr hoher Belichtungszeit. Ich war wie hypnotisiert, verdrehte die Augen, ohne es zu merken und spürte von anderer Seite Energiefluktuationen, die mich zwar nur streiften, doch trotzdem äußerst intensiv waren. R-i-c-h-a-r-d-!, klang es tief vom Abgrund meines Bewusstseins auf. L-a-s-s - d-i-c-h - n-i-c-h-t - t-ä-u-s-c-h-e-n! Alles verzerrte sich. Hatte Chebokyn das gesagt? Ich befand mich von einem Moment zum anderen in einem Taumel aus Drogentrip und Alkoholrausch. Keine Dimension blieb auf der anderen, alles brach auseinander und setzte sich völlig anders und - falsch! wieder zusammen. Menschliche Konturen verschmolzen mit steinernen Monumenten. Erde, Wasser, Luft und Feuer mischten sich zu etwas vollkommen Unaussprechlichem, das sich von innen her aus sich selbst herauswölbte und meine Realität zerplatzen ließ. Ich befand mich in einem Strudel aus Chaos, aus Aufbau und Zerstörung. Die vertrauten Formen wurden von den platschenden Regentropfen einer neuen Wirklichkeit fortge-
schwemmt. Ringe aus verwirbelter Zeit und aufgestobenem Raum jagten sich auf der einstmals ruhigen und glatten Oberfläche jenes unergründlichen Gewässers, das den Verstand von der Seele trennte. Ein Rauschen und Tosen brandete auf und brachte jede Zelle in mir zum Schwingen. Das Gefühl ähnelte einem Keramikbohrer, der sich tief in den Kiefer fräste. Schlimmer konnte es nicht mehr werden! Und die Ruhe und der Frieden, die dem infernalischen Wüten folgten, waren fast noch weniger erträglich. Bis das Donnern und Kreischen von Neuen begann und seine nicht mehr zu überbietende Intensität noch einmal drastisch steigerte. Oft noch wechselten Lärm und Stille einander ab und jedes Mal wurde das Getöse lauter und der Frieden leiser. Begann ich mich bereits in dem Ringen dieser Gegensätze zu verlieren? Waren meine Strukturen in der Zersetzung begriffen? Ein klares Urteil konnte ich längst nicht mehr fällen, denn meine Sinne waren für die Qualität dieser Wahrnehmungen nicht geschaffen. Zum x-ten Mal tönte der Donner auf - und zum ersten Mal war er anders! Kurz und heftig! Ein Hall, der sich ausbreitete! Eine Frequenz, die sich Platz schuf und alles andere zurückweichen ließ! Eine Verbalschwingung, die keinen Widerstand duldete! »NDSCHOTT OMM-KARR!« Langgezogene Worte, tief und dunkel. Mit unerbittlicher Resonanz. Ich fiel in ein bodenloses Loch, obwohl ich mich um keinen Millimeter rührte. Schreckhaft verschränkte ich die Arme vor dem Gesicht, um es vor einem Aufprall zu schützen. Doch ich schlug nirgendwo auf. Wieder taumelte ich, behielt jedoch die Kontrolle und fühlte auch die Kraft meine Beine durchströmen. »Was, zum Henker, ist los gewesen?«, schüttelte ich den Rest Benommenheit ab, die meinen Verstand noch viel zu
langsam den Druck auf meiner Schulter als die Hand eines Freundes identifizieren ließ. »Es ist wohl angebrachter«, sagte Chebokyn im Beisein von Mantazz und Eleowelia, »wenn du diese Frage dem Mann dort drüben stellen würdest.« * Der schwarze, abgegriffene Ledermantel sprang mich förmlich an. Erst im Anschluss blickte ich in das unebene, furchige Gesicht meines neuen Gegenübers, registrierte das mittellange weiße Haar mit den schwarzen Strähnen. »Anto-Dschagerass«, hauchte ich in einer Mischung aus Erleichterung und dem genauen Gegenteil davon. Der Höllenjäger, der bereits vor über siebzigtausend Jahren dem Orden der Layshi-Pan gedient hatte, kam lässig näher. »Ich hatte nicht erwartet, dass wir uns so schnell wieder sehen«, sagte er nicht einmal unfreundlich und von der Bitterkeit, die unser letztes Treffen überschattet hatte und mit der wir auseinander gegangen waren, war nichts zu spüren. Bewusst abfällig, wie ich ihn kennen gelernt hatte, fiel sein Kommentar über Chebokyn, Mantazz und Eleowelia aus: »Die drei Figuren sind wohl auch nicht die Verstärkung, die du dir erhofft hast, oder, Richard?« Wenn die provokative Formulierung meine Begleiter in irgendeiner Weise betroffen gemacht hatte, so äußerten sie dies nicht. Sie reagierten überhaupt nicht, als hätten sie keinen Ton gehört. Und das wiederum war ein direkter Konter auf die verbale Attacke. »Sie sind anscheinend nicht nur im Kampf Freunde der Zurückhaltung«, trieb Anto-Dschagerass sein Spiel weiter und sah dabei nur mich an, nicht die Layshi-Pan. Er legte mir eine Hand auf den Oberarm - mir, dem blutigen Anfänger! - und nickte mir mehrmals anerkennend zu.
»Deine Entwicklung geht langsam voran. Aber sie geht voran.« Er verzog einen Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns und nur ich konnte es sehen. »Bei einigen wird sie wohl niemals zu Ende sein.« »Arroganz ist keine Tugend des Tüchtigen«, fühlte sich Chebokyn nun doch zu einer Bemerkung veranlasst. »Es bedurfte auch keiner außerordentlichen Anstrengungen, eure Gegner in die Flucht zu schlagen!« AntoDschagerass nahm Chebokyn scharf ins Visier. »Richard hätte tot sein können, wenn die Hetto-Ka'Zam-Inayn mit voller Härte und ohne Gnade zugeschlagen und ihre Überlegenheit nicht sinnloser weise ausgespielt hätten!« »Du weißt vielleicht«, gab Chebokyn zu bedenken, »dass wir den höchsten Grad der Einweihung noch nicht erreicht haben.« »Und trotzdem wart ihr der Meinung, Richard beschützen zu können.« »Unsere Fähigkeiten befinden sich immerhin...« »... knapp über dem Niveau eines Novizen!« Der Höllenjäger legte alle Verachtung in seine Miene, zu der er fähig war. »Lächerlich!« »Hört auf zu streiten!«, ging ich dazwischen und hoffte inständig, einen Einfluss auf Anto-Dschagerass ausüben zu können. Zumindest einen kleinen. »Lasst uns lieber überlegen, wie wir weiter vorgehen.« »Damit kannst du nur dich und mich meinen«, stellte Anto-Dschagerass richtig. »In meinen Planungen kommen diese drei Einfaltspinsel nämlich nicht vor.« »Aber in meinen!«, erwiderte ich schroff. Hoffentlich hatte ich den Bogen damit nicht überspannt. Anto-Dschagerass war ein Einzelgänger und auch mir nicht immer wohl gesonnen, wie er bereits bewiesen hatte. Ich allerdings wollte keinesfalls auf seine Unterstützung verzichten. Ohne ihn rechnete ich mir keine überwältigenden Erfolgschancen für unser Unternehmen aus. Daher hatte ich von Anfang an darauf spekuliert, ihn hier anzutreffen. Der Zufall - sofern es einen solchen überhaupt
gab und daran blieben immer größere Zweifel zurück - hatte es gewollt, dass Chebokyn in der Siegelkammer auf Col'Shanduur der Zielvisualisierung von Anto-Dschagerass gefolgt war. Sein Ziel schien demnach dasselbe gewesen zu sein wie mein eigenes. Trotz dieser äußerst günstigen Konstellation hatte ich meinen Layshi-Pan-Begleitern das Versprechen gegeben, ihre Loyalität unter Beweis stellen zu können. Daran fühlte ich mich gebunden und wollte meinen Entschluss auch Anto-Dschagerass gegenüber durchsetzen. »Soso«, machte der Höllenjäger, tätschelte erst meine Wange, packte mich dann am Hinterkopf und zog mich zu sich heran, um ein intensives Gefühl der Freundschaft und Anerkennung zu vermitteln und Chebokyn samt Gefolge weiter zu demütigen. »Wenn du es so willst. Aber sage deinen Freunden, dass sie mich bei meiner Arbeit nicht behindern sollen. Ich könnte sonst den letzten Funken meiner Gutmütigkeit verlieren.« * Die Dunkelheit war ihm zuwider. Ja, wenn er ehrlich vor sich selbst war, dann fürchtete er sich sogar vor ihr. In der Lichtlosigkeit gab es viel zu viel Raum für seine Ängste und in jedem Winkel, der sich nach und nach aus der Finsternis schälte, als seine Augen sich an sie gewöhnten, warteten seine geheimsten Befürchtungen nur darauf, endlich lebendig werden zu dürfen. Hauser-Bonaffini wusste nicht, worin sich dieser zuweilen traumatische Zustand begründete. Oftmals verbarg sich hinter den Phobien des Erwachsenen ein unerfreuliches Kindheitserlebnis, ein Auslöser, der das seelische Gleichgewicht nachhaltig störte und trotz größten Bemühens nicht ausfindig gemacht werden konnte. Genauso erging es dem Archivar. Er hatte seine instinktive Angst ergründen wollen, war, so weit sein Erinnerungsvermögen reichte, zurückgegangen in seine Jugend und in seine Kindheit. Aber
da war nichts. Nichts jedenfalls, das sich an der Oberfläche seines Bewusstseins befand. In die tieferen Schichten vermochte er nicht vorzudringen. Und so mochte das Sediment unerklärlicher Furcht sich auf dem Grund seines Unterbewusstseins abgelagert haben und sich absolut sicher fühlen vor ungewollter Entdeckung. So komme ich nicht weiter!, gab Theobald einem anderen Gedanken den Vorzug. Ich brauche eine Fackel oder eine
Kerze.
In der Tat wurde es nicht mehr viel heller, als es im Moment war. Es gab weiter unten keine noch so winzige Lichtquelle mehr, keinen Spalt, durch den vielleicht noch etwas Mondlicht - sofern es die träge ziehenden Wolken durchdringen konnte - gefallen wäre oder der milchige Schein einer Straßenlaterne. Bonaffini verharrte einige Minuten auf den Stufen, um eine Bestätigung für seine Annahme zu bekommen. Er hatte sich nicht getäuscht; schwacher Schein fiel alleine durch die offen stehende Tür am zurückliegenden Ende der Treppe. Bis dort, wo er nun stand, reichte die Leuchtkraft schon nicht mehr. Der eiskalte Schauer, der von seinem Nacken ausging und sich bis ins Mark fraß, ließ ihn die Stufen hoch stürmen und ins Freie stürzen. Seine unerfindliche und plötzliche Panik legte sich nur mäßig. Die Pforte zu den unterirdisch gelegenen Museumsräumen erschien ihm wie ein dämonisches Maul, das ihn verschlingen wollte und dieses Mal - wie zur Warnung vor einem neuerlichen Eindringen - noch einmal mit dem Schrecken hatte davonkommen lassen. Doch selbst die düsteren Mauern des Gebäudes atmeten die Bedrohung regelrecht aus. Nur ein Verstandloser würde die Zeichen ignorieren und einen weiteren Vorstoß wagen. Oder jemand, der tiefe Zuneigung für einen anderen Menschen empfand. Gewöhnlich war es so, dass eine starke Emotion immer von der nächst größeren unterjocht wurde. In diesem Fall
musste sich zeigen, ob Bonaffinis Liebe für Maria kraftvoller war, als seine irrationale Beklemmung. Diese Frage hatte er natürlich längst beantwortet. * Er kam wieder, ein Öllicht in der Rechten, das mit einem Glaskörper gegen den Wind geschützt war. Leichteren Herzens als zuvor überwand er die ersten Stufen und ging auch dann noch weiter, als die Lichtaura seiner Lampe bestenfalls noch einen Umkreis von einem bis anderthalb Metern ausleuchtete. Am Fuß der Treppe schwenkte Bonaffini die Lampe herum, um sich einige Orientierungspunkte zu verschaffen. Der hart abgegrenzte Schein riss weniger als erwartet aus der Finsternis. Es war unvermeidlich, sehr nahe an Gegenstände heranzugehen, um ihre Position zu bestimmen und sich in den Räumlichkeiten zurechtzufinden. Allmählich kristallisierte sich ein Gang heraus, der von Rüstungen und allerlei Fuhrwerk gesäumt war. In Bonaffinis Kopf entstand nach und nach ein Gesamtbild der architektonischen Gegebenheiten. So überlegte er jedoch, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, sich im Vorfeld einen Plan des Gebäudes anzusehen. Dagegen sprach die Dringlichkeit der Situation, die es einfach nicht zuließ, die Zeit mit dem Suchen nach einem Grundriss, der möglicherweise nicht einmal existierte, zu vertrödeln. Wesentlich schwerer wog Bonaffinis schlechtes Ortsgedächtnis. Selbst wenn er sich markante Punkte eingeprägt hätte, wäre es ihm äußerst schwer gefallen, den zweidimensionalen Plan in der dreidimensionalen Wirklichkeit umzusetzen. In dieser Hinsicht hakte sein Vorstellungsvermögen gehörig. Niemals seit der Zeit, die er für die Hohen tätig war, hatte es ihn in diesen Bereich der Residenzgebäude gezogen. Mehr als genug hatte er mit seiner gegenwärtigen Arbeit zu tun gehabt, als auch noch Erkundungsrundgänge durchzuführen. Außer bei seinen Erholungsspaziergängen in den Gärten verließ er die Bibliotheken nur nach Feierabend und auch nur, um
seine Wohnung aufzusuchen. Ein Umstand, der sich nun rächen mochte. Theobald überlegte, ob seine Arbeitgeber von den Umtrieben des Dänen wussten. Eigentlich konnte er es sich nicht vorstellen. Obwohl er ihnen nie persönlich begegnet war und sie daher nicht einschätzen konnte, vermutete er jedoch, es mit durchaus ehrenwerten Menschen zu tun zu haben. In seinen Augen erfüllte bereits die Pflege überlieferten Kulturgutes den Tatbestand der Ehrenhaftigkeit. Ausgehend von solchen Voraussetzungen kam Bonaffini zu dem Schluss, dass Tjörnsen offensichtlich auf eigene Rechnung arbeitete. Schlimmstenfalls war er ein Spion, der zur Sabotage ausgeschickt worden war. Elemente aus dem Untergrund waren stets aktiv, blickten neidvoll in jene Richtung und gierig in die andere. Die Reichtümer, die sich in der Residenz anhäuften, waren von unschätzbarem Wert und unersetzlich, sollte ihnen durch höhere Gewalt oder Vorsätzlichkeit Schaden zugefügt werden. Bonaffini dachte erschrocken an den Brand von Alexandria, von dem er vor längerer Zeit gelesen hatte. Die Römer unter Julius Cäsar hatten die ägyptische Flotte mit Brandgeschossen bombardiert und dabei einen Teil der alexandrinischen Bibliothek zerstört. Sogar die Christen hatten sich fast vierhundert Jahre später der Auslöschung des ägyptischen Kulturerbes angenommen. Der Vollständigkeit halber wurde um das Jahr 642 n. Chr. auch der Islam aktiv, nachdem Kalif Omar ibn al-Khattab Alexandria erobert hatte und alle Schriften verbrennen lassen wollte, die nicht mit den Lehren des Korans übereinstimmten. Die Welt ist ein Irrenhaus und wir sind mittendrin. HauserBonaffini schüttelte verständnislos den Kopf. Die fliehenden Schatten, die wie Kobolde im kreisenden Schein der Öllampe davonhuschten und einander jagten, hatten nichts vom unbeschwerten Licht- und Schattenspiel einer mondhellen Sommernacht. Sie wirkten hektisch, lauernd und auf seltsame Weise auch bedrohlich. Die Umgebung war es, die ihnen diesen Odem einhauchte, die Atmosphäre, die
sich mit gespenstischer, drohender Spannung auflud, mit jeder weiteren Sekunde, die sich der Archivar an diesem Ort aufhielt. Ein böser Verdacht schlich sich in seine Gedanken und er fragte sich, ob es ihm zum gegebenen Zeitpunkt überhaupt noch möglich war, den rettenden Ausgang hoch oben an der Treppe zu erreichen oder ob ihm jemand oder etwas bereits den Weg abgeschnitten hatte und in seinem Rücken auf der Lauer lag, um beim Erreichen der größten Panik und geringsten Hoffnung erbarmungslos und mit satanischer Schadenfreude zuzuschlagen. Wovor fürchte ich mich?, fragte sein Verstand. Hier unten
gibt es nichts Übernatürliches. Nur einen Mann, der das Vertrauen der Hohen missbraucht hat. Ich decke seine Machenschaften auf und alles wird wie früher sein.
Nein, nicht ganz so wie früher. Da war noch Maria Cicciu. Um nichts auf der Welt wollte er sie jemals wieder missen. Ob sein ausgeprägtes Gefühl der Zuneigung für die Marktfrau lediglich der fleischlichen Lust entsprach, konnte er nicht sagen. Es war zu schwierig, da zu differenzieren; sie hatte so viele Emotionen in ihm wachgerüttelt. Er wusste nur, dass die Leidenschaft vorhanden war. Eine andere Triebfeder für seine Motivation benötigte er nicht. Weiter ging es durch den stockdunklen breiten Gang. Bonaffini schritt schneller aus, fühlte sich zunehmend sicherer, was den Wegesverlauf anging. Ihm entging bei seiner Suchaktion, dass eine Person, die ihn abpassen wollte, dies ohne Problem und mit minimalstem Aufwand bewerkstelligen konnte. Seine Lampe war wie ein Leuchtfeuer an den Klippen bei sturmdurchtoster Nacht weithin sichtbar. Ohne es zu wollen, machte Theobald sich selbst zur Zielscheibe. Was er sich vorgenommen hatte, war wenig durchdacht. Sogar ein Amateur würde leichtes Spiel mit ihm haben. Geschweige denn ein durchtriebener Sadist wie Ole Tjörnsen. Die Angst vor der Dunkelheit war sein steter Begleiter, jedoch hatte sie sich im Augenblick in einen entlegenen, düsteren Winkel seines Kopfes zurückgezogen und existierte
lediglich als dumpfes Hintergrundrauschen. Verebben würde sie hingegen nie ganz. Irritiert verhielt abrupt er in der Vorwärtsbewegung und rückte das Lampenglas zurecht, das durch den leichten Ruck ein wenig aus der Fassung kippte. Hatte er nicht gerade eine Stimme gehört? Hatte da nicht jemand mit ihm gesprochen? »Maria?«, flüsterte er zaghaft. »Maria, bist du das? Bist du in der Nähe?« Theobald Hauser-Bonaffini hielt die Luft an, um nicht eine Silbe des dünnen Stimmchens zu verpassen, sollte es sich noch einmal melden. Kehr um!, hörte er diesmal überdeutlich. Kehr um, bevor
es keine Umkehr mehr gibt!
Dann war sie wieder da - die Angst! Sie äußerte sich in pochendem Herzschlag und einem elektrisierenden Schauer. Das war keinesfalls Maria gewesen, obwohl Bonaffini nicht unterscheiden konnte, ob ein Mann oder eine Frau gesprochen hatte. Die Stimme war vom Charakter her geschlechtslos. Dass sie da war und sich direkt an ihn richtete war ein überfälliger Beweis für den Verdacht, beobachtet zu werden. War der Sprecher ihm offenbar wohl gesonnen, änderte dies wenig an der Gefährlichkeit der Gesamtsituation. Wer war dieser Warner? Und wie...? Theobald zog die Brauen zusammen. Er hatte die Worte gar nicht gehört. Jedenfalls nicht mit seinen Ohren. Vielmehr waren sie direkt in seinen Verstand eingebrochen, ohne den Umweg über den Schall zu nehmen. Die Haut auf seinem Rücken spannte sich. Zu seiner Furcht gesellte sich noch schmerzhafte Verunsicherung. Schnell überschlug er die Fakten: Maria wurde irgendwo hier unten festgehalten. Mehr als wahrscheinlich war, dass Ole Tjörnsen dahinter steckte. Das große Fragezeichen in der Gleichung war der Unbekannte, der sich auf telepathischem Weg bemerkbar gemacht hatte. Aber war es wirklich eine dritte Person, die Einfluss zu nehmen versuchte? Theobald hatte früher schon von den Empathischen gehört, die
bestimmte Stimmungen wahrnehmen konnten und durchweg wenigstens latent - telepathisch veranlagt waren. Er schloss die Möglichkeit ein, dass sogar Tjörnsen zur Gruppe der ›Schamanen‹ gehörte, wie sie umgangssprachlich genannt wurden. Gerne wurden sie in ausweglos erscheinenden Konfliktsituationen herangezogen, vornehmlich dann, wenn die erzkonservativen Stasisdenker mit den Progressiven im Clinch lagen. Es hatte in der Vergangenheit unschöne Auseinandersetzungen gegeben, an denen die Empathischen beteiligt gewesen waren. Das allerdings wusste Bonaffini nur vom Hörensagen.
Warte nicht länger! Kehr um!
Ein Trick! Es konnte ein Trick sein, um ihn loszuwerden! Theobald atmete heftiger und unregelmäßig. Die Flamme seiner Ölleuchte flackerte unruhig. Als er es merkte, wandte er sich entsetzt ab und versuchte sie zu stabilisieren. Wenn das Licht verlöscht, finde ich nicht mehr raus! Sein Herz drohte den Brustkorb zu sprengen. Seine Entscheidung stand auf der Kippe. Ich muss gehen!, war er überzeugt. Aber... aber ich
komme wieder und hole dich, Maria!
Immer und immer aufs Neue betete er sich vor, dass er keine andere Wahl hatte. Wenn sie beide in diesem verlassenen Loch draufgingen, war niemandem geholfen. Dir wird nichts geschehen!, flehten die Gedanken des Archivars. Er wird dir nichts tun! Bald bin ich wieder bei dir! Trocken war seine Kehle und feucht die Augen, als er langsam rückwärts ging, sich herumdrehte und den Treppenaufgang suchte. Keine fünf Schritte hatte er gemacht, da war sein Rückzug auch schon beendet! Ein spitzer, heller Schrei ließ Bonaffini wie angewurzelt stehen bleiben. Dumpf hallte er aus der Ferne herüber und das Echo brach sich mehrfach an uralten Gewölbewänden. »Neeeiiin! Neeiiiin! Ich will nicht gefressen werden!!!«
* Der Versammlungsraum innerhalb des Vatikanischen Palastes wurde von speziellen Lichtquellen erhellt, die angenehm für die Sinne waren und scharfe, klar konturierte Schatten erzeugten. Vierundzwanzig Humanoide hatten sich eingefunden und umstanden einen ausladenden Konferenztisch, der aus einem eigenartig reflektierenden Metall gefertigt und von einer Art mikroskopisch feinen Gitternetzstruktur überzogen war. Die Humanoiden zeigten sich den Menschen ihrer Umgebung immer in Kuttengewändern, die ihren Anblick verbargen. Unter sich verzichteten sie auf derlei Schönfärberei. Beim Anblick der Gestalten zeigte sich, dass diese lediglich menschenähnlich waren, aber nicht menschlich. »Der Archivar bringt sich in Schwierigkeiten.« »Seine geistige Konstitution zeigt wirkungsvolle Methoden der Einflussnahme«, antwortete einer vom anderen Ende des Tisches. Die Worte, derer er sich bediente, entstammten keiner Sprache, die von Menschen gesprochen wurde. Die außergewöhnliche Akustik der hohen Wände in Verbindung mit der Deckenstruktur ließ sie hohl schallend sekundenlang im Saal nachschwingen. »Er wird für uns noch von Bedeutung sein, wenn die mentale Programmierung abgeschlossen ist. Daher ist seine Unversehrtheit zu garantieren.« »Das Implantat wurde noch nicht aktiviert. Wir können einen anderen nehmen.« »Dazu bleibt keine Zeit. Die Eindringlinge sind nah. Ihnen muss unsere Aufmerksamkeit gelten.« »Sie werden sich nicht aufhalten lassen. Der Wall legt ihnen keine Beschränkungen auf.« »Unsere Pläne könnten gefährdet sein, auch wenn wir nie so nah an ihrer Verwirklichung waren.« Die kalte Logik hinter den Worten ließ den Zweifel beinahe bedeutungslos werden.
»Der neue Frieden muss weiterhin in die Welt hinausgetragen werden. Das Plasma unseres Verbündeten wird eine neue Ordnung einführen.« »Dann kommt bald die Zeit, die Masken fallen zu lassen.« Einige Momente emotionsloser Stille. »Wir werden sie nicht mehr benötigen.« * »Sie werden lange wissen, dass wir da sind«, bemerkte Chebokyn. »Unbemerkt kommen wir nicht in die Residenz.« Anto-Dschagerass würdigte ihn eines undefinierbaren Blickes. »Falls du die neuen Herren dieser einstmaligen Hochburg des Christentums meinen solltest, gebe ich dir Recht. Die Hetto-Ka'Zam-Inayn hingegen werden nichts unversucht lassen, einen Hinterhalt vorzubereiten. Sie befinden sich nun in bester Gesellschaft, was Guerillataktiken angeht.« Süffisant gab er zu bedenken: »Wenn ihr lieber heimkehren wollt, so könnte ich das verstehen.« »Nein«, sagte Chebokyn. »Ganz bestimmt nicht.« Der Höllenjäger blieb weiterhin gelassen und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Kann mir jemand erklären, was mit den Hettos geschehen ist?«, schaltete ich mich ein. »Anscheinend habe ich einen wichtigen Part verpasst.« »Hochwürden dort«, wies Eleowelia lässig mit der Kinnspitze auf Anto-Dschagerass, »hat einige hässliche Dinge vom Stapel gelassen. Das Mantra, was du deiner Aussage nach gehört hast, hätte den Renegaten den Todesstoß versetzt, wenn sie sich nicht aus dieser Frequenz ausgeklinkt hätten.« Schweigend und den Blick in die Ferne gerichtet hörte Anto-Dschagerass zu, was die Layshi-Pan-Frau veranlasste, noch einen unerwarteten Schlusspunkt zu setzen. »Für gewöhnlich wird dieses unvergleichlich machtvolle Mantra gegen Gegner eines größeren Kalibers eingesetzt.«
»Wir sind im Krieg«, rechtfertigte sich Anto-Dschagerass. »Der Maßstab für einen Kampf geht weit über das Attribut der Ästhetik hinaus.« Erst jetzt wandte er ihr den Kopf zu. »Du solltest mich nicht kritisieren, bevor du selbst zu kämpfen gelernt hast!« Nicht die Nerven verlieren!, wandte sich Chebokyn mental an Eleowelia. Gib ihm keinen Anlass für offene Feindse-
ligkeiten. Unsere Gruppe darf in dieser Situation nicht von innen heraus geschwächt werden. Die Hohen sind unsere Gegner, nicht dieser Ordensbruder.
Anto-Dschagerass gab nicht zu erkennen, ob er dem Monolog gefolgt war. Sein Augenmerk galt der Palastanlage zur linken Seite des Petersdoms. »Kannst du es fühlen, Richard?«, fragte er ansatzlos. Ich war mir nicht sicher, was er meinte. Außerdem verarbeitete ich noch die Informationen Eleowelias, wie ich mir ebenso Gedanken um unsere weitere Zusammenarbeit machte. Die Arroganz Anto-Dschagerass' kannte ich bereits aus der Vergangenheit. Mittlerweile konnte ich sie ganz gut einordnen, weil ich viel über die Herkunft und Geschichte des Höllenjägers in Erfahrung gebracht hatte. Als der Heißsporn, der er war, zog er den ehrlichen Kampf einem verlogenen Händeschütteln vor. Selbst sein Meister Zorbac-Tan hatte diese Charaktereigenschaft verurteilt und das schon zu einer Zeit, die lange vor der Entstehung des sagenumwobenen Lemuria gelegen hatte. Wenn man eines von AntoDschagerass sagen konnte, dann, dass er in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Konstanz ans Tageslicht legte. Ob das allerdings der laufenden Mission förderlich war, stand auf einem ganz anderen Blatt. Und noch etwas gab mir zu denken. Chebokyn hatte etwas von einer Einweihung gesagt. Er hatte sogar vom höchsten Grad der Einweihung gesprochen. Plötzlich traten sie wieder in mein Bewusstsein, diese Zweifel an meinem eigenen Höllenjäger-Dasein. Philip Ravenmoor hatte bekräftigt, dass es keine Prüfungen gab. Das Leben selbst stellte den eigentlichen
Test dar und legte die Richtung fest, in der man sich entwickelte. Somit, hatte er mir weisgemacht, war ich schon von Anfang an ein Höllenjäger gewesen. Immer schon. Und diesen Bullshit hatte ich ihm wahrhaftig abgekauft. Auch wenn sich alles in mir dagegen gesträubt hatte, war es meinem ehemaligen Mentor gelungen, mein Ego einzuschmeicheln. Nur zu gerne hatte ich gehört, bereits diesen besonderen Ordensstatus zu besitzen. Und zu wenig hatte ich darüber nachgedacht, dass es einfach nicht sein konnte. Ob es noch Zweck hatte, Ravenmoor/Sha'am-O eine Erklärung abzuringen, bezweifelte ich eher. Mein Vertrauen zu ihm hatte tiefe Risse bekommen, egal, welche Gründe er sich auch zusammenreimen mochte. Unsere Beziehung war insgesamt abgekühlt und ich konnte mir durchaus vorstellen, ganz gezielt von ihm belogen worden zu sein. »Was genau meinst du?«, ging ich nach Bewältigung des Durcheinanders in meinem Kopf auf Anto-Dschagerass' Frage ein. »Sie schirmen sich ab«, erzählte er. »Sie umgeben sich mit einem Panzer aus Angst, der nach außen strahlt und die Menschen von den Palästen fernhält. Sie erzeugen erschreckende Stimmungen, je näher du ihrem Zentrum der Macht kommst. Je näher du den Hohen und ihrem Geheimnis kommst.« »Noch merke ich nichts«, berichtete ich wahrheitsgemäß. »Möglicherweise bist du resistent«, erklärte er mir. »Aber es wird nicht die einzige Hürde sein, die wir zu nehmen haben.« »Du scheinst eine Menge über die Hohen zu wissen«, wunderte ich mich. Anto-Dschagerass antwortete nicht sofort, als müsste er erst abwägen, was ich wissen durfte und was nicht. »Ich beobachte die Stadt seit geraumer Zeit«, hörte ich ihn sagen und war sicher, nur die Hälfte der Wahrheit zu erfahren. Warum hatte er ausgerechnet dieses Ziel gewählt, als er Col'Shan-duur durch die Siegelkammer verlassen hatte?
»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«, hielt ich meine eigentliche Frage noch zurück. Ich blickte in seine Augen, die unnachgiebig wie Fels den Blick in seine Seele verweigerten. Sein Mund war ein gemeißelter Strich in einem ehernen Gesicht. »Dass ich sie alle töten werde...« * Das Versprechen ging mir derart unter die Haut, dass sich auf meinen Unterarmen die feinen Härchen aufstellten. Auch meine drei Beschützer spürten den leisen Schauder; ihre Empfindungen schwangen als sanftes Vibrieren in mir wider. Wenigstens zeigte mir diese Beobachtung den Anstieg meiner eigenen Sensibilisierung im spirituellen Bereich. Die Empfänglichkeit für mentale Signale war schon mal ein Anfang. »Du willst uns nicht zufällig sagen, was du über die Hohen weißt?«, fragte ich lammfromm und unschuldig. »Ich meine, so wie du dich ausdrückst, hattest du bereits mit ihnen zu tun.« »Das ist meine Sache und braucht dich nicht zu kümmern.« Die Antwort kam schroff, schroffer, als ich sie mir vorgestellt hatte. In welches Wespennest hatte ich denn nun wieder gegriffen? »Wenn wir gemeinsam in den Kampf ziehen, sollten wir über den Gegner Bescheid wissen«, gab ich zu bedenken. »Und zwar alle von uns.« »Was hast du in einem Kampf zu suchen, Junge?«, ließ Anto-Dschagerass' spöttische Überheblichkeit es nicht einmal zu, meinen Namen auszusprechen. »Ich schlage nur meine eigene Schlacht. Niemand hat euch zu den Waffen gerufen.« Seine Pupillen wanderten ziellos hin und her, als zeigten ihm seine höher entwickelten Sinne etwas, was seine Augen nicht erkennen konnten.
»Du irrst dich! Es ist auch unser Kampf! Die Erde wird unterjocht von diesen Bestien. Die Menschen müssen sehen, wer sie sind. Und anschließend schicken wir sie zum Teufel!« »Oh, Richard«, verzog Anto-Dschagerass das Gesicht wie nach dem Verzehr einer ungenießbaren Frucht. »Bitte nicht dieser Pathos. Ich habe Schlachtfelder gesehen, die vom Blut falschen Heldenmutes getränkt waren, glaube mir. Alles Menschen wie du, die in maßloser Selbstüberschätzung das alte Spiel ›David gegen Goliath‹ versuchen wollten. Sie wurden allesamt erschlagen, weil ihre Fähigkeiten weit hinter ihren großen Worten zurückstanden. Ich hoffe, du lernst diese Lektion nicht erst dann, wenn du dein dampfendes Gedärm in deinen blutverschmierten Händen halst.« In mir begann es verhalten zu brodeln. »Wir bleiben an deiner Seite!«, erklärte ich hart. »Du wirst dich nicht aus dieser Verantwortung ziehen.« »Sei doch kein gottverdammter Kindskopf!«, schmetterte Anto-Dschagerass und der Anspannung seines Körpers entnahm ich, dass er bereit war, seinen Standpunkt nicht nur verbal zu verdeutlichen. Unerwarteter weise beruhigte er sich schnell wieder. Dafür mochte es mehrere Gründe geben. Entweder hatte er sich in seine Beschützerrolle gefügt und ließ mir meinen Willen, weil er um die Wichtigkeit des T'ott'amhanuq wusste, der nur aktiviert werden konnte, wenn ich am Leben blieb. Oder er erhoffte sich doch eine gewisse - wenn auch nur äußerst geringfügige - Unterstützung von Chebokyn, Mantazz, Eleowelia und mir. Vermutlich war in der vor uns liegenden Auseinandersetzung jede helfende Hand wichtig. »In ein paar Stunden ist es dunkel«, klärte er uns auf. »Dann schlägt unsere Stunde.« Ich fand es jetzt bereits ziemlich düster. Das künstlich erzeugte Gewitter hatte sich bei weitem nicht aufgelöst. Leise grollte es am Himmel. Das Wallen der Wolkengebirge war jedoch erheblich träger geworden. Ich verglich es mit Seeelefanten, die sich schwerfällig um ihre Längsachse drehten und dabei ein Tonnengewicht bewegten. Wahr-
scheinlich würde sich dieses Schauspiel erst verflüchtigt haben, wenn die Sonne untergegangen war. »Weshalb willst du solange warten?«, leuchtete mir das Vorgehen des Höllenjägers nicht ein. Anto-Dschagerass atmete flach durch den Mund ein und stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase wieder aus. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl, ihm nicht bereits im Anfangsstadium unserer Partnerschaft lästig zu werden? »Manchmal öffnen sie den Wall am Abend«, sprach AntoDschagerass sacht, »um ihre Untergebenen hinauszulassen. Manchmal holen sie Leute von draußen herein.« »Scheint ja eine längere Sitzung zu werden. Stundenlang könnten wir auf der Lauer liegen, ohne dass etwas passiert.« »Oh, ich bezweifle, dass sie den Wall in dieser Nacht freiwillig öffnen werden.« »Wozu dann das Warten? Kommst du nicht durch diesen... diesen Schirm?« »Dieser Schirm ist von einer höheren Frequenz als die der Erde. Das Prinzip ist ähnlich dem der Siegelkammern. Wir könnten diese Gebäude betreten, gar kein Problem. Aber wir würden dort niemanden antreffen, weil die Paläste auf dieser Schwingungsebene verlassen sind. Du könntest gleich neben einem Hohen stehen und würdest ihn nicht einmal zur Kenntnis nehmen...« »Worauf, um alles in der Welt, willst du hinaus?« »Wir müssen uns zu ihnen hinaufbegeben, auf ihre Frequenz. Entfällt die Einwirkung der Sonnenstrahlen entstehen flüchtige Berührungspunkte der Frequenzfelder, die sich durch den natürlichen Elektromagnetismus der Erde ausdehnen und kurzzeitig ineinander greifen. Für einen Lidschlag nur. Diese Zeit muss uns reichen.« »Völlig verrückt!«, wehrte ich ab und warf einen hilfesuchenden Blick auf Chebokyn. Der sah geradewegs durch mich hindurch, während Eleowelia mir ein verunglücktes Lächeln schenkte. »Eine derart winzige Zeitspanne kann man überhaupt nicht abpassen!«
»Eben«, gestand mir Anto-Dschagerass zu. »Daher wirst du die Überlappung erspüren müssen, noch bevor sie akut geworden ist.« »Vielleicht sollte ich jetzt schon mal mit Üben anfangen«, war ich gereizt. Anscheinend erwartete der Höllenjäger, dass ich die Segel strich, weil er mir das Unmögliche zumutete. Doch den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Drei Stunden vergingen, bis das letzte Tageslicht versiegt war. Wir saßen relativ geschützt am äußersten Rand der Palastmauern. In der Dunkelheit wirkten die Vatikanischen Paläste wie gewaltige Kathedralen, in denen unbegreiflicher Schrecken hauste. Von unserer Position aus konnten wir den Peters-Platz halbwegs überblicken, ohne selber gesehen zu werden. Nur sporadisch kamen und gingen einige Fußgänger sowie ein, zwei Leute auf Fahrrädern. Sehr spät war noch ein Nachzügler eingetrudelt. Ansonsten wirkte die Umgebung verlassen, fast wie ausgestorben. Ich zweifelte schon daran, wirklich am rechten Ort zu sein, da sprang Anto-Dschagerass aus dem Schneidersitz hoch in die Luft und war in derselben Sekunde auch schon verschwunden. »Der Mistkerl hat uns reingelegt!«, fluchte ich. »Der hat gar nicht vorgehabt, uns mitzunehmen!« »Für uns gibt es andere Aufgaben«, tat Chebokyn gleichgültig. »Der Platz ist nicht so verlassen, wie es den Anschein hat.« »Ja«, bestätigte Eleowelia, »da gibt es eine Person, die nichts Gutes im Schilde führt. Sehr negative Gedanken, die allerdings nur recht unvollständig einzusehen sind.« »Diese Person plant einen Mord. In dieser Nacht.« »Wisst ihr, wo dieser Jemand sich befindet?« Ich war höchst aufgeregt. »Ganz in der Nähe, Richard. Er lauert einer Frau auf, wird sie entführen und...« »Um Himmels willen!«, stieß ich hervor. »Wir müssen etwas unternehmen!«
»Noch nicht!«, hielt Chebokyn meinen Eifer in Grenzen. »Die Konstellation ist ungünstig. Wir müssen noch beobachten.« »Ich verstehe gar nichts«, sagte ich geistesabwesend. »Komm her, Richard, ich zeige es dir.« Eleowelia legte eine Hand auf meine Schläfe, schloss die Augen und ließ mich sehen, was sie sah. Da war ein dunkelhaariges Mädchen, sehr hübsch. Aus ihrem Gesicht schälte sich das eines Mannes hervor, der Mitte zwanzig sein mochte, unwesentlich älter vielleicht. Das dritte Gesicht katapultierte mich geradewegs hinein in einen Alptraum. Ich stöhnte auf, machte einen Satz nach hinten und unterbrach die Visualisierung. »Was ist los mit dir, Richard?« Alle drei sahen besorgt aus. »Ich... ich kenne den Mann! Den letzten, meine ich, den du mir gezeigt hast!« Gott, es konnte nicht sein! »Ein grässlicher Sadist!«, keuchte ich und sah immer noch die Fratze vor mir, aus der mich ein vom Fleisch befreites Glotzauge anstarrte. »Aber er kann unmöglich hier sein! Ich sah, wie er starb! Er ist tot!« Meine Desorientierung zauberte Betroffenheit auf die Gesichter der Layshi-Pan. Bis auch ihre Aufmerksamkeit von einem anderen Ereignis gefangen genommen wurde. »Ein Schrei von unterhalb der Erde!«, konstatierte Mantazz. »Zu weit entfernt, um ihn zu hören, doch ich habe ihn deutlich wahrgenommen.« »Das ist Tjörnsen!«, schrie ich heraus. »Er tötet die Frau! Wir müssen sofort zu ihr!« Von den Höllenjägern folgte nicht eine Silbe des Widerspruchs. *
Der verzweifelte Aufschrei Marias zerriss Theobald Bonaffini fast das Herz und schlug alle andersgearteten Gefühle wie Unsicherheit und Angst schlagartig in die Flucht. »Maria! Halte aus!«, rief er lauthals und wider jegliche Vernunft. »Theo!«, vernahm er den erstickten, weinerlichen Schrei. »Hilf mir! Bitte hilf mir! Komm schnell!« Die lieb gewonnene Stimme erstarb in einem scheußlichen Röcheln. Du kannst nichts mehr tun!, meldeten sich die fremdartigen Stimmen in seinem Verstand zurück. Sei
vernünftig und kehre um!
»Ich höre nicht mehr auf euch!«, zischte Bonaffini unterdrückt. »Ihr habt keine Macht über mich!« Energisch ging er voran und erreichte das Ende der Museumshalle. Eine Tür stand offen und der Archivar konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, wenn er diese Schwelle überschritt, es für ihn kein Zurück mehr gab. Andererseits konnte ein empathisch Veranlagter sicher eine entsprechende Stimmung in ihm hervorrufen, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Das bestärkte Theobald sogar noch mehr, jetzt nicht aufzugeben. Er hätte es so oder so nicht gekonnt, denn er war sich darüber im Klaren geworden, Maria zu lieben. Und diese Liebe kannte keine Schranken... Der Boden war merklich abschüssig. Tiefer und tiefer ging es einen Gang hinab, der wer weiß wo enden mochte. Bitte sag noch etwas, Maria!, flehten seine Gedanken.
Damit ich weiß, dass du noch am Leben bist!
Für Bonaffini war es unmöglich, aufgrund des Schreis die Entfernung zu seiner Freundin abzuschätzen. Je nachdem, wie gut der Schall getragen wurde, konnte sie unter Umständen Hunderte Meter von ihm getrennt sein. Wie schnell er auch voranging, gab es keine vernünftige Schätzung darüber, ob er noch rechtzeitig eintraf, bevor sie...
Nicht dran denken! Nur nicht dran denken!
»Theo!«, brandete der Schrei mit neuer Kraft auf. »Theo! Neeiiiin!!!« Fast wäre Bonaffini das Öllicht aus der Hand gefallen. Nur nicht durchdrehen!, sagte er sich mühsam beherrscht, obwohl jede Faser seines Körpers in die Finsternis zu Maria Ciccius Rettung eilen wollte. Gleichzeitig sponn er bereits Rachepläne für den Fall, dass er seine Freundin nur noch tot bergen würde. Hauser-Bonaffini verfiel in einen Laufschritt und bewegte sich damit schneller, als er seine Umgebung ausleuchten konnte. Die Einflüsterungen unternahmen einen weiteren Versuch, ihn zur Umkehr zu bewegen, doch der Archivar stellte sich taub und so verschwanden die Stimmen schließlich endgültig. Licht!, keimte neue Hoffnung in ihm auf. Ganz schwach
am Ende des Ganges!
Bläuliches Leuchten war vage in der Dunkelheit auszumachen. Erst als Theobald stehen blieb, das Öllicht an die Seite nahm und mit der Hand abdeckte, nahm es eine Idee an Intensität zu. Schon wähnte er sich am Ziel. Schon glaubte er seine Maria zum Greifen nahe. Er stellte das Atmen für einige Momente ein und lauschte in die Dunkelheit. Vielleicht hatte er instinktiv auf eine neuerliche Lautäußerung Marias gewartet. Vielleicht war er auch der Meinung, ihr bereits so nahe zu sein, dass er selbst ihr Atmen zu hören vermochte. Seine Konzentration richtete sich einzig auf das blaue Leuchten. Die Lampe in seiner Rechten beachtete er nicht weiter, bemerkte nicht, dass er sie viel zu schräg hielt und die Glasabdeckung sich löste und klirrend am Boden zersprang. Verflucht!, erschrak er sich, sah, wie die Flamme vom Lampendocht in die Höhe schoss und ließ das Öllicht entsetzt fallen. Dann rannte er weiter, seine einzige Orientierung das blaue Schimmern in unbestimmbarer Ferne. Egal!, riefen tausend Stimmen in seinen Hirnwindungen.
Jetzt ist sowieso alles egal!
Nur Maria war jetzt noch wichtig und dass sie wieder zusammenfanden. Sonst nichts! Angst, Hass und Verzweiflung pochten in seiner Brust um die Wette. In einer derartigen Situation waren sie jedoch keine brauchbaren Verbündeten. Theobald Hauser-Bonaffini wurde sich dessen schlagartig bewusst, als er in das blaue Leuchten eintrat, es durchschritt und mit einem gurgelnden Aufschrei feststellte, mitten in der Hölle gelandet zu sein! * »Wir trennen uns!«, gab Chebokyn das Kommando. »Zu viert stehen wir uns auf den Stiegen und in den engen Gängen nur im Weg!« »Ich gehe mit Richard«, sagte Eleowelia. »Den anderen Einstieg habe ich bereits ausgemacht. Er liegt keine hundert Meter hinter dem Rundbau des Gregorianischen Museums.« »Gut. Mantazz und ich gehen dort weiter.« Chebokyn zeigte auf die offen stehende Tür, die zum Museo Storico führte. »Keine Sorge, Richard«, eröffnete er mir, »wir haben die Architektur sondiert. Unterhalb treffen wir auf jeden Fall wieder aufeinander. Da gibt's gar keine andere Möglichkeit. Außerdem haben wir so die Chance, diesen Tjörnsen in die Zange zu nehmen.« »Dann nichts wie los!«, forderte ich meine Begleiterin auf, die sich auch spontan in Bewegung setzte. Ich beobachtete noch, wie Chebokyn und Mantazz in dem dunklen Eingang verschwanden und heftete mich sogleich an Eleowelias Fersen. Natürlich fand ich es höchst erstaunlich, welche Fähigkeiten die drei Höllenjäger an den Tag legten. Dass AntoDschagerass sie als Stümper und Amateure klassifizierte, zeigte mir sein wohl anderes System der Einschätzung. Dort hatten nur Menschen seines Schlages eine Existenzberechtigung, Menschen, die ihren eigentlich weichen Kern vergruben
und sich durch Skrupellosigkeit profilierten. Eine reine Schutzmaßnahme, die bei den meisten Personen allerdings keinen großen Anklang fand. Aber deshalb war AntoDschagerass ja auch ein Einzelgänger. »Kannst du die Pforte schon sehen?«, fragte ich Eleowelia. »Pssst!«, machte sie nur und ich verkniff mir weitere Kommentare. Stattdessen lauschte ich in die stockdunkle Umgebung, zu der der Mond keinen Zugang fand; die Museumsgebäude deckten ihn aus meiner Sicht völlig ab. Hinzu kam leichte, sich hartnäckig haltende Bewölkung. Ich konzentrierte mich auf Geräusche und versuchte sogar, meinen Blick mental zu erweitern. Hatte ich bei meinen sporadischen Übungen noch einen gewissen Erfolg feststellen können, so ließ der Einsatz unter realen Bedingungen diesen nicht mehr zu. Derart verwinkelt und verschachtelt hatte ich mir die Gebäude nicht vorgestellt. Ohne meine kundige Führerin wäre ich lediglich im Schneckentempo vorangekommen. Und das auch nur mit sehr viel Wohlwollen. »Wo bleibst du denn?«, zischte Eleowelia mir zu. Ich sah ihn zwar nicht, doch konnte ich mir ihren rügenden Gesichtsausdruck sehr genau vorstellen. »Ich bin hier!«, säuselte ich zurück und nahm mir fest vor, meine Gedanken nicht mehr abschweifen zu lassen und die Mission im Auge zu behalten. Es ging um ein oder mehrere Menschenleben. »Ich sehe Chebokyn und Mantazz«, flüsterte die LayshiPan mir zu. »Sie sind bald am Ziel.« »Und siehst du denn jetzt auch den Zugang?« »Gleich dort vorne, seitlich des Steinwalls.« Die Lider meiner Augen kniff ich zusammen und konnte nicht einmal die Mauer sehen. Langsam, entsetzlich langsam wurden mir ihre Konturen geläufig.
»Worauf warten wir?«, sah ich sie fragend an. Ich stand direkt neben ihr und wir beide standen an der Einfassung eines steinernen Pavillons. »Ich... weiß auch nicht genau...« Woher kam diese plötzliche Unsicherheit? Ich wollte ihr gerade diese Frage stellen, als sie kurz entschlossen vorspurtete. Ohne zu überlegen, rannte ich hinter ihr her. Eine Hauswand wuchs vor uns empor. Genaues konnte ich nicht erkennen. »Durch diese Tür müssen wir durch!« Die Layshi-Pan gebärdete sich reichlich hektisch. Immerhin konnte sie an der Stelle, an der ich pure Schwärze sah, eine Tür erkennen. »Verschlossen!« Eleowelia schlug mit der Faust gegen unnachgiebiges Holz. »Aber auf der anderen Seite ist ein Riegel.« Sie nahm einige Schritte Abstand von der Tür, während ich mich gehetzt umsah; die Hast der Höllenjägerin hatte mich angesteckt. Vermutlich wollte sie mit ihren Geisteskräften den Riegel entsperren. So jedenfalls stellte ich es mir vor. Was auch immer sie tatsächlich hatte tun wollen, würde ich niemals mehr erfahren. Die Luft explodierte in Eleowelias Rücken und katapultierte die Frau wie einen Rammbock in die massive Holztür und hindurch. Das Knacken und Splittern stammte nicht nur von den geborstenen Holzbohlen. Ich schrie haltlos auf. Eleowelia hatte keinen Schrei mehr ausstoßen können weder einen aus Verwunderung noch einen aus Schmerz. Die Frau aus dem Orden der Höllenjäger musste noch in derselben Sekunde tot gewesen sein. Von Panik erfüllt machte ich einen großen Satz zu der Tür, die praktisch nur noch ein Loch mit gesplitterten Rändern war und schief und verbogen in den Scharnieren hing. Mir war in dem Moment gleichgültig, was geschehen war und warum. An erster Stelle stand diese Frau, die ich nie richtig hatte kennen
lernen dürfen und der ich bis zur letzten Minute ihres Lebens misstraut hatte. Ich sah ihren zerstörten Körper, der zerrissen und zerquetscht und von elementaren Gewalten unkenntlich gemacht worden war. Heiße Tränen schossen mir in die Augen. So durfte kein Mensch sterben. Es war entwürdigend. Ein höhnischer Fingerzeig auf das Leben an sich. Leider gab man mir keine Gelegenheit, mich den Tränen und der inneren Qual hinzugeben. Was folgte, hätte ich mir an den zehn Fingern abzählen können, aber wirklich daran gedacht hatte ich nicht. »Das Blatt hat sich gewendet«, tönte es hinter mir und brachte meinen Hass zum Siedepunkt. »Jetzt stehst du allein da, Richard...« Jukotur. Fyn. Semenn-Senn. Keefesch. Ismael und Joshua. Und... »Morias Del'Vander scheint eine Menge von dir zu halten. Er wollte dich lebend.« Als ich mich wie in Zeitlupe den Hetto-Ka'Zam-Inayn zuwandte, vollführten meine Gedanken die irrwitzigsten Kapriolen. Im Untergrund lauerte ein wahnsinniger Mörder. Chebokyn und Mantazz liefen vielleicht just in diesem Augenblick in eine weitere Falle. Anto-Dschagerass befand sich an einem Ort, an den wir ihm kaum folgen konnten. Eleowelia war tot und ich in der Gewalt der Hettos. Und damit war ich dann mehr oder weniger auch den Hohen ins Netz gegangen. »Ich schmecke deine Angst auf einer Ebene, die du dir leidlich vorzustellen vermagst.« Jukoturs massiger Körper wurde von einem vereinzelten Mondstrahl gestreift. »Dein weiteres Schicksal liegt nicht mehr in unserer Hand«, fuhr er fort, während ich bereits die geistigen Fesseln spürte, die sich um mich legten. »Für dich ist das in der Tat bedauerlich, denn die Hohen werden dein physisches Ende unglaublich lange hinauszögern!«
* Die Welt hatte sich sprunghaft verändert. Anto-Dschagerass konnte weder Richard noch die drei Layshi-Pan weiterhin sehen; das vertraute Bild war wie durch die Mechanik eines Diaprojektors ausgetauscht worden. Für die Zurückgebliebenen musste es den Anschein gehabt haben, als wäre er beim Hochspringen in einem unsichtbaren Loch verschwunden. De facto hatte er nur mit äußerster Präzision jenen Überlappungspunkt abgepasst, der aufgrund der fluktuierenden Magnetfeldströme die verschiedenartigen Realitätsebenen für maximal eine Sekunde ineinander fließen ließ. Die Schwierigkeit bei diesem Vorgehen bestand darin, den exakten Zeitpunkt der Überlappung vorauszuahnen, sonst war es für eine Reaktion zu spät. Das winzige Zeitfenster ließ keinen Raum für nachträgliche Interaktion. Pass gut auf dich auf, Junge, schickte er Richard einen wohlmeinenden Gedanken nach und widmete sich sodann seiner eigentlichen Aufgabe. Der Palastbau war nicht verschlossen. Ungehindert trat Anto-Dschagerass ein, während seine metaphysische Abtastung ihm vorauseilte und die vor ihm liegenden Gebäudebereiche scannte. Insgesamt machte der Palast einen unbewohnten Eindruck. Das war auch nicht weiter ungewöhnlich, da die so genannten Hohen sich nicht sonderlich oft darin aufhielten. Wenn sie den Kontakt zu den Menschen suchten oder vor Ort einschneidende Maßnahmen durchzuführen gedachten, kamen sie aus ihren... Da ist jemand!, schlugen in Anto-Dschagerass die Alarmglocken an. Seine Sinne hatten die Realität transzendiert und in einem Nebenraum der weiten Prunkhalle eine eilige Bewegung erkannt, die immer noch anhielt und leicht verfolgbar war. Der Höllenjäger fand sich in dem unbeleuchteten Saal mit schlafwandlerischer Sicherheit zurecht, hechtete zu der Tür,
hinter der er den Flüchtenden wusste und schmetterte sie im Laufen mit einem Mantra auf. Der Spitzel will seinen Herren berichten!, zog AntoDschagerass die einzig Sinn machende Möglichkeit in Betracht. Obwohl er sich ganz sicher war, von den Hohen schon längst geortet worden zu sein, war es durchaus denkbar, dass nicht jeder menschliche Helfershelfer darüber informiert worden war. Wenn er diesen Diener der Hohen in die Finger bekam, konnte er womöglich brisante Informationen aus ihm herausholen und in Erfahrung bringen, was dieses Gesindel für Pläne verfolgte. Immer noch im Dunkeln erkannte Anto-Dschagerass die wehende Robe nur wenige Meter vor sich. Da er sich wesentlich besser in der fast lichtlosen Schwärze zurechtfand, über geschulte Reflexe und einen durchtrainierten Körper verfügte, bedurfte es nur weniger ausholender Schritte und eines gezielten Sprungs, bis der Höllenjäger den vermeintlichen Lakai eingeholt und mit der Wucht seines ganzen Körpergewichts zu Boden geprellt hatte. Nicht ohne ein kleines Triumphgefühl zog er den Kopf des Überwältigten zu sich heran und blickte in dem von tiefschwarzen Schatten bedeckten Gesicht auf steinerne Züge und zwei getönte Brillengläser. »Bist du so hässlich, dass du sogar nachts eine Sonnenbrille tragen musst?« Anto-Dschagerass legte nicht einmal Verachtung in seine Stimme, so erbärmlich empfand er sein Gegenüber. »Wie dem auch sei. Ich will von dir Antworten auf ein paar sehr einfache Fragen. Ich bin einigermaßen gereizt und bitte dich in deinem eigenen Interesse, mich nicht anzulügen oder unangemessen lange warten zu lassen.« Er erntete ein Lächeln, in dem jene Verachtung mitschwang, die Anto-Dschagerass seinem Opfer nicht hatte zuteil werden lassen. Hinzu kam eine winzige Portion Spott, für die der Höllenjäger allerdings in seinem aufgeputschten Zustand nicht zugänglich war. Seine Fäuste krampften sich
nachdrücklich in den Robenaufschlag des Gefangenen und schüttelten ihn einmal heftig durch. Keine Reaktion, außer diesem unverständlichen, zufriedenen Lächeln. Anto-Dschagerass wollte ohne Vorwarnung zuschlagen und zwar physisch und abstoßend brutal, um das FrageAntwort-Spiel in Fluss zu bringen - nachdem die Schwarzkutte ihre Innereren ausgekotzt hatte! Der uralte Layshi-Pan wusste, dass die Delinquenten nach einer derart gewalttätigen Attacke immerhin noch eine knappe Minute oder auch zwei lebten und die wichtigsten Fragen beantworten konnten. Licht flammte auf! Grell wie hundert Sonnen und sengend heiß! Anto-Dschagerass hielt den Robenträger nur noch an einem Arm, während der andere sein Gesicht abdeckte, was jedoch nicht viel nützte. Ohnmächtig vor Wut und für mehrere Lidschläge starr vor Hilflosigkeit ging ihm auf, dass seine Absichten gerade im Begriff waren, durchkreuzt zu werden! * Sie wähnten sich ganz in der Nähe von etwas, das die menschliche Vorstellungskraft spielend in ihre Schranken verweisen würde. Katzengleich bewegten sich Chebokyn und Mantazz die Treppe hinunter in die Halle des Museo Storico. Die Dunkelheit kompensierten sie zur Genüge mit ihren anderen Sinnen. Es tat ihnen weh, die negative Aura des unbeschreiblich Bösen zum Greifen nahe zu wissen. Dieses blaue Leuchten markierte den Übergang in die Zone des Grauens. Doch für Zurückhaltung blieb kein Platz mehr. Dazu waren sie nicht ausersehen, dafür hatte man sie nicht trainiert und ausgebildet. Das war es nicht, was der Planet von ihnen erwartete.
»Wenigstens den jungen Mann werden wir noch retten können«, flüsterte Mantazz, der genau wie Chebokyn den gellenden Schrei gehört hatte. »Das Mädchen«, raunte Chebokyn. »Vergiss nicht das Mädchen.« Dann gebot er Stillschweigen. Leicht versetzt nebeneinander gehend pirschten sie sich an das Ende des Ganges heran. Vor dem Eintauchen in die bläuliche Sphäre wandten sie eine Atemtechnik an, die ihr energetisches Potenzial abrufbar und das Gemüt dem Verstand ebenbürtig machte. Vor dem letzten Schritt krümmten sich die Männer plötzlich, verkrampften die Gliedmaßen und konzentrierten sich einzig auf die psychische Pein, den der Todesschrei in ihrem Innern auslöste. »Eleowelia!«, schrie Mantazz und es waren körperhafte Qual und abgrundtiefe Fassungslosigkeit, die in seinem Ausruf mitschwangen. »Die Hetto-Ka'Zam-Inayn haben sie getötet!«, hatte Chebokyn als Erster die Kontrolle über sich leidlich zurückerlangt. »Völlig unnötig! Nur, weil sie es konnten!« »Sie wird wieder in den Kreislauf integriert. Falls sie für den Betrug am Tod und am Leben nicht unverzüglich bezahlen muss.« Chebokyn wusste nur zu genau, was sein Gefährte meinte. Das Rad der Wiedergeburt. Durch die unzähligen Implantationen hatten so viele von ihnen diese kosmische Gesetzmäßigkeit missachtet, ja, sich darüber hinweggesetzt. Ein jeder konnte sich ausrechnen, dass ein derartiges Vorgehen nicht ohne Folgen bleiben konnte. »Karma...«, sagte er kaum hörbar und war bereits zu zwei Dritteln in den farbigen Dunst eingedrungen. »Aktion und Reaktion. Unsere Taten bestimmen unseren Weg.« Seine Miene verhärtete sich, obwohl er keinen Hass, nicht einmal Zorn verspürte. »Und unser Weg führt geradewegs in die Hölle.« Der blaue Schimmer lag jetzt wie eine zweite Haut auf seinem Gesicht.
»Ich bete für Richard um sein Wohlergehen.« Sie stabilisierten ihre mentale Konstitution und wandelten auf dem Pfad des Unvermeidlichen. * Das auf- und abschwellende Brummen hatte die zermürbende Intensität einer Betonfräse. Theobald Hauser-Bonaffini vernahm es noch durch seinen eigenen verhallenden Schrei, wie es sich über seine gesamte Knochenstruktur fortpflanzte. Primär aber registrierte er etwas anderes, etwas, das ihm diesen aus tiefster Seele stammenden gequälten Aufschrei abgerungen hatte. Er stand wenige Meter von einem Bassin entfernt in einem unüberschaubar großen Raum, vielmehr einer Aneinanderreihung von Räumen, die nicht durch Wände voneinander getrennt waren, sondern deren Abmessungen durch Stützpfeiler markiert wurden. Ein gespenstisches weißes Zwielicht herrschte vor, nicht blau, wie man vom Eingang her hätte annehmen können. In dem Bassin schwappte eine teerähnliche, zähe Flüssigkeit hin und her, trat an einigen Stellen über den Rand und lief in langen, schleimigen Fäden an dem gegossenen Zement hinab. Das war es allerdings nicht, was Bonaffini eiskalt in die Glieder gefahren war. Seine Augen waren förmlich von dem länglichen blassgrünen Etwas angezogen worden, das aufgerichtet in einer schwarzen Lache lag, das eine Ende wie verklebt mit zähem Teerschleim. Bereits zwei Wimpernschläge darauf erkannte er Finger, eine Hand, den abgerissenen Unterarm eines Menschen, verätztes Fleisch und verkrustete Narben. Schreien konnte er nicht mehr. Schreien war immer nur die erste Reaktion des Unvorbereiteten. Jetzt stieg die Übelkeit in dem Archivar auf und die beklemmende Vorstellung, der Arm könnte Maria gehören.
Nein,
bitte
nein,
Gott!
Bonaffini schmeckte seine Magensäfte im Mund. Gleich darauf erbrach er einen gelbbraunen Schwall. Er hustete, verschluckte sich und stieß einen Teil seiner Magenflüssigkeit durch die Nase aus. Auch in seinem Darm regte es sich. Theobald kniff den Schließmuskel zusammen und hoffte inständig, sich nicht doch noch in die Hose zu machen. Seine Eingeweide hatten sich völlig verkrampft und beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit. Er beugte den Körper ein wenig nach vorne, um eine gewisse Entlastung zu erhalten und die Muskeln zu entspannen. Wirkliche Erleichterung erfuhr er jedoch nicht. Sein Atem beschleunigte sich, während sich spürbar mehr und mehr Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten, über seine Haut rannen und in die Winkel seiner Augen perlten. »Bist du gekommen, deine Freundin, diese Schlampe, zu holen?«, tönte mit einem Mal eine Stimme scheinbar aus jedem Winkel der unterirdischen Anlage. Theobald verlor noch im selben Moment die Selbstbeherrschung und die Kontrolle über seinen gefüllten Darm. »Tjörnsen, du Schwein!«, krakeelte er wie von Sinnen. »Gib mir Maria wieder!« Widerlich warm rann es an der Innenseite des Oberschenkels sein Bein hinab. »Hol sie dir«, klang es aufmunternd, als spräche Großmutter Wolf mit ihrem Rotkäppchen. »Sie ist hier bei mir. Sie ist so unwahrscheinlich süß. Du solltest sie unbedingt kosten.« Hauser-Bonaffini ignorierte den braunen Matsch in seiner Hose und den Gestank, der von ihm ausging. »Ich krieg dich, Tjörnsen!«, leierte er rau. »Ich krieg dich ganz bestimmt!« Das atmosphärische Brummen, das imaginäre Generatoren von sich gaben, glich einem gefahrverkündenden Warnton. Obwohl es stets dieselbe Intensität hatte, schwoll
der Rückhall in Theobalds Hirnwindungen unaufhaltsam an und würde ihn über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben. »Ich hole dich, Maria«, brabbelte er stumpfsinnig vor sich hin. »Ich hole dich und töte Tjörnsen. Ich hole dich und töte Tjörnsen. Ich hole dich und töte...« Ein Ruck an seiner Schulter hielt den Bibliotheksarchivar zurück. »Das, mein Freund, solltest du besser uns überlassen!« * Mühelos hatten sie Anto-Dschagerass überwältigt. Der Höllenjäger würde noch geraume Zeit an dem Knacks zu knabbern haben, den damit sein Ego erhalten hatte. Trotz aller Schulung und Weisheit, die ihm vermittelt worden waren, hing er an der physischen Existenz und den Möglichkeiten, die sie verlieh. Dazu zählte nun mal das Kräftemessen. Wenn ihm eine Kleinigkeit den Tag versaute, dann war es die, im Kampf den Kürzeren zu ziehen - und zwar in einer Auseinandersetzung wie dieser, in der er schlicht und ergreifend überrumpelt worden war. Aber er würde eine neue Gelegenheit bekommen, dessen war er sich sicher. Der grelle Schein aus einer ganzen Batterie von Lichtstrahlern wurde gedimmt, sodass sich für die Augen eine wesentlich entspanntere Umgebung erschloss. AntoDschagerass stand in unnatürlicher Haltung da, wirkte wie eingefroren und konnte nicht verhindern, dass der Robenträger mit den getönten Brillengläsern sich aufrappelte und vor ihm aufbaute. »Nullpunkt-Energie«, lächelte er hämisch. »Ist nicht angenehm, oder, wenn man seinen Feinden hilflos ausgeliefert ist?« »Ohne diesen Kniff würdest du dich auch nicht so nah an mich herantrauen«, entgegnete der Layshi-Pan frostig. Er versuchte die Bewegungslosigkeit von Kopf und Hals auszugleichen, indem er mit den Augen rollte und nach den
Energie-Projektoren Ausschau hielt. Wenn er sie ausfindig machte, konnte er unter Umständen eine Funktionsstörung bewirken. »Na ja, da magst du recht haben«, wiegte der Lakai der Hohen den Kopf, »zu kämpfen ist nicht das, was man gemeinhin als meine Spezialität bezeichnen würde.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch in diesem Moment fuhr ein meterhohes Schott auf, das in dem Vatikanischen Palast ebenso fehl am Platze wirkte wie Kondome bei einer Kindergartenfeier. »Ah, wir bekommen Besuch«, beschrieb der Kuttenträger, was auch Anto-Dschagerass sehen konnte. »Du scheinst großen Eindruck hinterlassen zu haben, dass die hohen Herren sich deiner persönlich annehmen.« Es wurde noch ein bisschen dunkler in dem Raum. »Sie vertragen das Licht nicht so«, erklärte ihr Vasall eilig, als gäbe es tatsächlich jemanden, den das unter den gegebenen Umständen interessiert hätte. »Ich verabschiede mich nun, großer Krieger. Nur wenigen ist es vergönnt, die Hohen in ihrer wahren Gestalt zu sehen.« Eine Schwarzkutte verschwindet, dachte der Höllenjäger sarkastisch. Und ein ganzes Rudel nimmt ihren Platz ein. Ein gutes Dutzend Vermummter bewegte sich gemessenen Schrittes auf ihn zu. Auf ein geheimes Zeichen hin veränderten die Nullpunkt-Energie-Projektoren ihren Abstrahlwinkel und brachten Anto-Dschagerass in 45-GradSchräglage. »Was soll der Unsinn?«, stieß er verärgert hervor. »Ich kann mich auch so schon nicht bewegen! Habt ihr so große Furcht vor mir?« »Für doppeldeutige oder provokante Äußerungen sind wir nicht empfänglich«, plärrte es aus einem mechanischen Kasten, der bei seinen Gastgebern unter weiten Gewändern verborgen sein musste und nur durch die elektronische Verzerrung der Stimme darauf hinwies, dass diese nicht natür-
lichen Ursprungs war. »Gemeinhin erschien es uns als angemessen, dass du dein Haupt vor uns senkst.« Anto-Dschagerass knirschte mit den Zähnen - das ging nämlich noch, genauso wie das Sprechen. Die EnergieProjektoren setzten lediglich die grobmotorischen Körperfunktionen außer Kraft. »Ihr solltet es wirklich nicht drauf anlegen«, presste er hervor. »Dieser menschliche Sinn für Komik und Theatralik ist besonders ausgeprägt in dir«, stellte der zuvorderst stehende Hohe fest. Er nahm die Kapuze seiner Robe ab und blickte aus großen, dunklen, mandelförmigen Augen auf seinen Gefangenen. »Darin stehst du mir in nichts nach, wenn du glaubst, mich mit deiner hässlichen Fratze einschüchtern zu können! Ihr habt euch kein bisschen verändert.« »Wir kennen uns?«, sprach das Wesen mit dem haarlosen Schädel und der grauen Haut und erweckte den Anflug von Interesse. »Ihr kennt eine andere Identität von mir«, gab AntoDschagerass überraschend bereitwillig Auskunft. »Ich will es mal so sagen: Wir können auf gemeinsame unerfreuliche Erfahrungen zurückblicken. Daher bin ich nicht sonderlich gut auf euch zu sprechen. Ich habe mir fest vorgenommen, euren ganzen erbärmlichen Clan auszurotten.« Leise, aber sorgfältig artikuliert hatte er die Worte ausgesprochen. Das Interesse des Hohen schien jedoch schon wieder verflogen zu sein. »Du stellst keine Gefahr für uns dar«, nahm die Stimme des Hohen erneut den Umweg über den Translator. »Was uns über die Höllenjäger zu Ohren gekommen ist, scheint wohl eher dem Wunschdenken ihrer Anhänger zu entspringen.« »Seid ihr deshalb hier aufmarschiert, um euch einen persönlichen Eindruck des Mythos zu verschaffen?« »Teils, teils. Wir studieren menschliche Gepflogenheiten schon seit Jahrhunderten. Verständnis indes konnten wir für
eure Verhaltensweisen nur in den seltensten Fällen aufbringen.« Der Hohe machte eine Pause und besprach sich in undefinierbaren Lauten mit seinen Landsleuten, die immer noch ihre Kapuzen übergezogen hatten und auch keinerlei Veranstaltung machten, sie abzusetzen. Nur Sekunden später teilte sich das kahlköpfige Wesen mit den großen Mandelaugen wieder vermittels seines Übersetzungskastens mit. »Selbst eure Anatomie gab uns Rätsel auf, obwohl wir euch zu Tausenden seziert haben - mit Einwilligung der damaligen Regierung. Es war die amerikanische, so weit ich mich erinnere. Nun, man hat viel für uns getan und wir haben viel Zeit in eure Erforschung investiert. Den Schlüssel zur Evolution haben wir nicht gefunden. Ebenso wenig ein Mittel für unsere Heilung...« »Erspart mir doch bitte dieses prosaische Gehabe«, gab sich Anto-Dschagerass genervt und gleichsam gelangweilt. Heftig ruckte er an dem Nichts, in dem er hing und fluchte in sich hinein. Wortlos wandte sich der Kahlköpfige ab und gab damit den anderen das Zeichen, ebenfalls zu gehen. Der Layshi-Pan wurde von den Projektorstrahlen weitergereicht und folgte der Gesandtschaft der Hohen, ohne Einfluss auf seine Bewegung ausüben zu können. In dem Nullpunktfeld kollabierte seine Mentalenergie; ein Ausbrechen war unmöglich! Durch mehrere lange Gänge führte sie ihr Weg, bis es über ein Laufband in die Tiefe der Erde ging. Während dieser Zeit hielten die Projektoren Anto-Dschagerass stets im Fokus. Ihre Reichweite war unbegrenzt, Mauern und Stahl kein Hindernis. Aufs Höchste konzentriert versuchte sich der Layshi-Pan zu sammeln, seine Kräfte zu bündeln, um sie im entscheidenden Augenblick orkanartig freisetzen zu können. Ob und wann dieser ausschlaggebende Moment kam, stand noch in den Sternen. Die Korridore wurden zu rechteckigen, plastikverkleideten Röhren. Sie passierten sichtbare und unsichtbare
Kontrollpunkte. Anto-Dschagerass hatte zuweilen den Eindruck, auf einem Raumschiff zu sein und nicht metertief unter den Vatikanischen Palästen. Die Prozession stoppte vor einer kreisförmig ausgeleuchteten Fläche. »Der menschlichen Mentalität entsprechend«, vernahm der Höllenjäger die synthetische Computerstimme des Translators, »möchtest du sicher noch Abschied nehmen von einer dir nahe stehenden Person.« Auf der gegenüberliegenden Seite des gut zehn Meter durchmessenden Lichtkegels war undeutlich ein Huschen zu erkennen, zeichneten sich ganz schwach einige Gestalten vor der finsteren Kulisse ab. Augen blitzten auf. Dann folgten ein paar abgehackte, ruckende Bewegungen. In den beleuchteten Kreisausschnitt flog ein Bündel Mensch, eingerollt wie ein Embryo, stöhnend und lethargisch, als würde der kleinste Fingerzeig ihm unendliche Kraftanstrengungen abringen. Trotzdem schaffte er es, sich auf den Rücken zu drehen, sich auf die andere Seite zu rollen und gleich wieder die Beine an die Brust zu ziehen.
Richard!
Anto-Dschagerass hatte für den Bruchteil einer Sekunde in das Gesicht des Mannes gesehen. Seine Gefühle ließ er sich nicht anmerken, doch er spürte selbst deutlich, dass ihm das Blut aus dem Kopf sackte. »Unsere Verbündeten«, leierte das Sprechmodul des Hohen, »die Hetto-Ka'Zam-Inayn, kennst du. Ihr effektives Vorgehen soll sich für uns auch in der Zukunft als nützlich erweisen. Darum müssen wir zuerst die Katakomben von der menschlichen Verunreinigung säubern.« Er trat in den Kreis. Auf der anderen Seite taten es ihm die Hettos gleich. Kurz tauschten sie einige Blicke miteinander, dann schwärmten die abtrünnigen Höllenjäger aus. Der Hohe, der auch zuvor mit Anto-Dschagerass gesprochen hatte, teilte diesem leidenschaftslos mit: »Ich denke, das Problem ist bald aus der Welt...«
* »Kannst du ihn lokalisieren?« Mantazz sah Chebokyn bei seiner Frage nicht an, sondern griff mit seinen geistigen Fühlern voraus in das Halbdunkel. »Ich sehe etwas«, erwiderte sein Partner, »kann aber auch das Mädchen sein. Der Kerl hat sich möglicherweise irgendwie abgeschirmt.« »Es könnte sich um einen der Empathischen handeln«, warf Theobald Bonaffini schwachbrüstig ein. Er zitterte am ganzen Körper, was vermutlich noch auf die Begegnung mit den zwei Layshi-Pan zurückzuführen war; sie hatten ihn bis ins Mark erschreckt mit ihrem unvorhergesehenen Auftauchen. Und dann hatten sie ihn einfach stehen lassen. »Ein Empath erspürt Gefühlsregungen«, belehrte ihn Mantazz. »Er kann keine Sondierungsblockade errichten.« »Ich hab ihn!«, zischte Chebokyn. »Er hat sich hinter dem Mädchen versteckt. Der scheint zu wissen, wovor er sich in Acht nehmen muss.« »Maria lebt?«, wisperte Bonaffini. Ein verunglücktes Lächeln stahl sich auf seine Züge. Er änderte verträumt die Blickrichtung und hatte sofort wieder den abgerissenen Unterarm im Visier. Sofort sammelte sich Speichel in seinem Mund und der Rest, der noch nicht aus seinem Magen hoch gepumpt worden war, machte sich auf die Reise. Die Höllenjäger verschwanden zwischen den Bassins. Sie verständigten sich über geistige Kommandos und wollten Ole Tjörnsen in die Zange nehmen. Was inzwischen mit Maria geschah oder schon geschehen war, konnten sie allerdings nicht beeinflussen. Das Hintergrundbrummen - vermutlich ausgelöst von Kraftwerksgeneratoren oder ähnlichen Maschinen zur Energielieferung - wurde in immer wiederkehrenden Intervallen laut und dann wieder leise. Chebokyn und Mantazz
umrundeten an entgegen gesetzten Seiten jenes Becken, hinter dem sie Tjörnsen wussten. Noch bevor sie in sein Blickfeld gerieten, schossen sie ein Mudra ab und sprangen gleichzeitig um die Biegung. Tjörnsen war nicht da! Dafür hatte die Attacke der Höllenjäger Maria Cicciu erwischt. Chebokyn und Mantazz wischen betroffen zurück. »Ihr ist nicht mehr zu helfen«, sagte Chebokyn tonlos. Finger- und armdicke Plasmastränge hatten sich schon lange vor dem Eintreffen der Layshi-Pan um den Körper der jungen Frau gewickelt, ihn zerdrückt und waren durch Mund, Nase und Ohren ins Innere gedrungen. Unter der dünnen, leicht transparenten Gesichtshaut waberte es dunkel und unheimlich. »Was geht hier unten nur vor sich?« Der schallende Ruf einer eisigen Stimme, die unzweifelhaft Tjörnsen gehörte, riss die beiden aus ihren Gedanken. »Euer Freund ist in meiner Gewalt! Kommt raus und tut, was ich sage, sonst wird er einen scheußlichen Tod sterben!« *
Wie hatte Tjörnsen sich so gut tarnen können?, wollte es den
Höllenjägern partout nicht in den Kopf. Und was hatte er jetzt vor? Wollte er dem angstschlotternden Mann dasselbe antun, was er mit Maria praktiziert hatte? Was war für ihn damit gewonnen? Tötete er sein Opfer, war es auch um ihn geschehen. Zurückhaltend wanderten Chebokyn und Mantazz zu jener Stelle, an der sie Theobald Bonaffini aus den Augen gelassen hatten. Ole Tjörnsen hielt den Archivar im Würgegriff, beinahe lässig und sah den Höllenjägern ohne die geringste Furcht entgegen.
»Wenn du verhandeln willst, verhandeln wir«, bemerkte Mantazz trocken und zeigte nicht die Spur von Aufregung oder Nervosität. »Wer verhandeln will, sollte auch etwas Wertvolles besitzen«, erwiderte der Däne. Sein Gesicht war schrecklich anzuschauen. Die unregelmäßig ausgeleuchtete Umgebung verstärkte den Eindruck. »Willst du einen Austausch?«, freute sich Chebokyn innerlich, dass die Angelegenheit offensichtlich schneller als erwartet ausgestanden war. Hatte sich der junge Mann erst in Sicherheit gebracht, war es für die Layshi-Pan ein Leichtes, den Killer zu überwältigen. »Nicht so schnell«, drosselte Tjörnsen das Debattierungstempo. »Ich weiß genau, was ihr könnt. So einfach bekommt ihr mich nicht. Und glaubt mir: Ich merke es sofort, wenn ihr mich mental manipulieren und überwältigen wollt. In dem Fall...« Er verdrehte mit einer spielerisch anmutenden, unscheinbaren Bewegung Bonaffinis linken Arm, dass dieser jammernd in die Knie ging. »... ist es um euren Schützling geschehen! Ich stoße ihn direkt in die schwarze Lache am Boden. Das Plasma wird im Bruchteil eines Augenblicks reagieren und in ihn eindringen.« »Das Mädchen ist ebenso gestorben«, entfuhr es Mantazz, der sich im selben Moment wünschte, diese Äußerung im Hinblick auf ihren labilen Freund nicht gemacht zu haben. »Ein Mord mehr oder weniger scheint dir nichts zu bedeuten.« Er merkte, wie Bonaffinis Gesichtsfarbe sich veränderte und es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Weniger als nichts«, bekräftigte ihr entstellter Gegner. Chebokyn und Mantazz tauschten sich kurz aus und schirmten ihre Gedankeninhalte ab. Sie kamen zu dem Schluss, noch eine gewisse Zeit die Hinhaltetaktik zu erproben. Vielleicht lockten sie Tjörnsen damit aus der Reserve. Nicht ganz unwichtig war, ihr Augenmerk auch ab und zu auf die brodelnden Bassins zu richten. An einigen Stellen schwappte die zähe Flüssigkeit deutlich über. Wenn es sich um das han-
delte, was sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermuteten, war äußerste Vorsicht geboten. Erstaunlicherweise war es nun Ole Tjörnsen, der sich von seiner gesprächigen Seite zeigte. »Seht euch nur um«, schwärmte er, »wie alles minutiös für die Rückkehr des Meisters hergerichtet wurde. Sein Leib hat die große Wende überstanden und kann sich ungehindert und besondere Pflege genießend vervielfältigen. Denn nichts von so großer Macht kann einfach ausgelöscht werden.« Rede nur weiter, du Fanatiker, fixierte Chebokyn ihn.
Deine Körperkontrolle hat sich bereits geringfügig reduziert.
Mantazz registrierte die Information und bereitete sich auf einen schnellen Zugriff vor. »Wie wunderbar die Hohen alles arrangiert haben. Die Kraft des Allerhöchsten potenziert sich von Minute zu Minute.« Es sind Zuchtbecken, stellte Chebokyn nüchtern fest. Das
Plasma, das aus der Zysstho-Pest hervorgegangen ist, breitet sich aus wie Bakterien in einer Nährlösung.
Besorgt beobachtete er die Gemütswallungen in Bonaffinis Gesicht. Hoffentlich machte er nichts Unüberlegtes. Du gibst das Zeichen, stellte sich Mantazz unter Chebokyns Befehl. »Der Leib des Herrn wird hinausgetragen in alle Welt. Dann wird er zurückkehren und sie sich Untertan machen.« Das Kommando zum Angriff lag dem Höllenjäger sprichwörtlich auf der Zunge. Ein leises Stechen in seinem Hinterkopf, eine unbegründete Ahnung, ließ ihn zögern. Genau jenen unwesentlich kleinen Zeitraum, der ihm sagte, dass Tjörnsen sie überrumpelt hatte. Sie waren sich so sicher gewesen, hatten sich als Herren der Situation empfunden und nicht bemerkt, dass ihr Feind sie hingehalten hatte und nicht sie ihn. Das närrische, religiös-fanatische Geschwätz war nicht aus dem Munde eines Verblendeten gekommen, sondern dem eines kühlen Taktikers. Und hätten die beiden Höllenjäger nicht im hintersten Winkel ihres Verstandes mit einer Hinterlist gerechnet, sie wären wie ihre Gefährtin Eleowelia rücklings
von den Hetto-Ka'Zam-Inayn hingerichtet worden. Denn genau diese Truppe hatte sich geräuschlos angeschlichen und eröffnete rücksichtslos die Kampfhandlungen. Chebokyn und Mantazz warfen sich in einer Bewegung zu Boden, sodass die durch ein Mudra ausgelösten Pressluftschläge über sie hinwegfegten und eine Säule und den Erdboden erschütterten. Automatisch gingen sie in die Offensive über, blockten ab und teilten aus. Ihre Lage war wenig aussichtsreich; einer Übermacht von drei zu eins hatten sie auf Dauer nichts entgegenzusetzen. Der Grund vibrierte unter den teils heftigen Aufschlägen energetischer Wirbel und mentaler Geschosse. Ole Tjörnsen wollte sich mit seinem Gefangenen in eine Deckung begeben, kam aus dem Gleichgewicht und lockerte seine Umklammerung. Theobald handelte rein instinktiv, riss sich vollends los und flüchtete in die Tiefen der Katakomben. »Ja, renn nur!«, rief Tjörnsen ihm hinterher. »Weit wirst du eh nicht kommen!« Die Flucht des Archivars war ohne Belang. Der Däne hätte ihn sowieso freigelassen, denn die Hohen schienen ihn noch zu brauchen. Maria Cicciu war das Ziel gewesen. Er hatte verhindert, dass sie zu tiefen Einblick in die Geschehnisse innerhalb der Residenz erhielt. Er hatte ihr junges Leben ausgelöscht und an das Fressplasma verfüttert. Er ist entkommen, verarbeitete Chebokyn das Gehörte und wünschte sich inständig, dass Bonaffini es nach draußen schaffte. Jetzt kommt die Endphase unseres verzweifelten
Kampfes!
* Ich hatte das Gefühl, in meine Einzelteile zerlegt und in anderer Reihenfolge wieder zusammengesetzt worden zu sein. Der Schock über Eleowelias grausamen Tod steckte mir dabei ebenso in den Knochen wie die Behandlung, die die Hetto-
Ka'Zam-Inayn mir hatten angedeihen lassen. Sie hatten mich in verachtenswerter Weise zum Spielball ihrer übernatürlichen Kräfte gemacht, mich einige Minuten lang als Punching-Ball, Boxbirne und Sandsack benutzt. Schweren Schaden hatten sie mir allerdings nicht zugefügt, auch wenn ich wie gerädert war. Eine kleine Demonstration ihrer Macht, schätzte ich und ich musste mich schon sehr irren, wenn der geistig verwirrte Morias Del'Vander da nicht seine Finger im Spiel hatte, sozusagen als kleine Wiedergutmachung für die Zerstörung seiner Persönlichkeit. Wie gesagt: eine Vermutung. Es war genauso gut möglich, dass er nicht einmal mehr zu solchermaßen rudimentären Denkprozessen imstande war und die Hettos einfach mal eben etwas Frust abgelassen hatten. Eingerollt lag ich am Boden. Eine angenehme Haltung, die mir Wärme und Geborgenheit vermittelte. Stück für Stück verarbeiteten meine Sinne die träge einfließenden Wahrnehmungen. Ich versuchte eine Bewegung, weil das bisschen Verstand, das meine akute Situation analysierte, der Meinung war, dies wäre nicht unbedingt ein guter Ort, sich schlafen zu legen. Bis auf den Rücken schaffte ich es, zerbiss den Schmerz malträtierter Muskeln und geprellter Knochen und ließ mich zur anderen Seite fallen, auf der ich erneut meine Ausgangsstellung einnahm. Ganz allmählich erst sickerte die Erkenntnis in mein waches Bewusstsein, dass ich meinen Standort gewechselt hatte. In meinen Augen, bekam ich sie denn für einen Moment geöffnet, brannte helles Licht. Außerdem war es kühler als vorher. Um mich herum und nicht einzuordnen hörte ich Stimmen, eigentümlich verzerrt, nicht menschlicher Herkunft und doch Worte einer Sprache sprechend, die ich verstand. Ich hielt meine Augen jetzt länger geöffnet und schaffte es sogar unter Aufbietung eines Großteils meiner Willenskraft, mich auf die Unterarme zu stützen und in kniefälliger Haltung die Lokalität zu untersuchen. Auch das dauerte einige Minuten,
in denen ich mit aufkommender Übelkeit und dem Gefühl kämpfte, dass sich die Puzzleteile meines Körpers aufs Neue umzugruppieren schienen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen musste ich mehr in Erfahrung bringen. Der Schlamassel, in den ich geraten war, hatte ja gerade erst angefangen. Dass mir momentan niemand zu nahe trat konnte ich einzig als die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm interpretieren. Unbehelligt gelang es mir im Anschluss mich ächzend aufzurichten. Anfänglich nur in der Haltung eines Cro-Magnon, mit etwas gutem Willen schließlich gewohnt zivilisiert. Bunte Sternchen zerplatzten vor meinen Augen. Irgendwo in meinem Innern wurden Barrieren niedergerissen, die den Blutfluss aufgehalten hatten. Es kribbelte an zahllosen Stellen, in meinem Kopf kam Schwindel auf und das Stechen und Pieksen in meinen Handgelenken veranlasste mich, diese heftig zu reiben und zu massieren. Mein flimmernder Blick beruhigte sich, den Tränenfilm wischte ich mir aus den Augen... ... und zuckte zusammen, als hätte ich ein Hochspannungskabel berührt! »Krieg dich wieder ein!«, schnappte Anto-Dschagerass, der urplötzlich nicht weit entfernt in mein Blickfeld rückte und irgendwie... herumhing! Meine Gedanken überschlugen sich. Der Höllenjäger war in einem übergeordneten Frequenzfeld verschwunden, das ihn hinter den Wall der Hohen bringen sollte. Wenn wir uns nun gegenüberstanden, konnte das nur bedeuten... »Die Hetto-Ka'Zam-Inayn haben dich verschleppt«, sagte Anto-Dschagerass, dem es merklich unangenehm war, dass ich ihn zur Tatenlosigkeit verurteilt sah. »Jetzt sind sie auf dem Weg zu deinen drei Freunden.« »Eleowelia haben sie bereits erwischt«, antwortete ich bekümmert. »Sie ist tot.« Er ließ sich nicht anmerken, ob ihn meine Aussage in irgendeiner Form berührte.
Ich tappte einige Schritte vor bis zum Rand des ausgeleuchteten Kreises und hatte nicht mehr ganz das Empfinden, auf der Bühne einer Karaoke-Show zu stehen. »Was haben sie mit dir gemacht?« »Haben mich überrumpelt, die Hyänen! Jetzt stecke ich in diesem Kraftfeld und komme nicht heraus!« »Kann ich...?« »Nein!«, erwiderte Anto-Dschagerass schärfer als gewollt. »Da kannst du nichts ausrichten. Außer, du besitzt eine Möglichkeit, ein Nullpunkt-Energiefeld aufzulösen!« Ich tat überlegend und schüttelte den Kopf. Fand er aber bestimmt nicht lustig. »Wer sind diese Hohen?«, wurde ich ernst. »Du scheinst bereits früher Kontakt zu ihnen gehabt zu haben. Oder irre ich mich da?« »Ich hatte bereits Kontakt, ja. In einer anderen Inkarnation.« »Wer sind die?«, wiederholte ich meine Frage. »Außerirdische! Greys!«, spie Anto-Dschagerass aus, während es in meinem Verstand klingelte. Davon hatte ich früher schon gehört. Roswell, Area 51, Schattenregierung kamen mir einige Stichwörter in den Sinn. In der Öffentlichkeit vehement dementiert und der Lächerlichkeit preisgegeben waren diese Mitteilungen einiger Informierter aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwunden und hatten irgendwann lediglich noch märchenhaften Charakter besessen. »Kommen von Zeta Reticulum. Ist ein paar Lichtjahre entfernt. Seit ihrem Vertrag mit der amerikanischen Regierung Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, haben sie weltweit intrigiert, ihre Verbündeten betrogen und grauenvolle Experimente an Menschen durchgeführt, um deren DNS zu extrahieren und für ihre Heilung nutzbar zu machen.« »Sie sind krank?«, fragte ich ungläubig. »Ihre Arbeiter-Klone leiden an einer seltsamen Erkrankung des Verdauungssystems, die ihrer Haut ein
gräuliches Aussehen verleiht. Daher stammt ihr Name Greys die Grauen.« »Ich denke, das reicht nun an Hintergrundwissen!«, schnarrte eine künstliche Stimme. Schlagartig wurde mir klar, dass wir nicht alleine waren! Ich wirbelte herum und sah am gegenüberliegenden Rand der ausgeleuchteten Kreisfläche eine kleine Person in weitem Umhang stehen. Ihr Kopf war kahl und die Augen groß und mandelförmig. »Richard Jordan«, sagte die Gestalt über ihren Translator, »du besitzt eine besondere Art von Genstruktur.« Anto-Dschagerass ruckte wild in dem Fesselfeld hin und her. »Schert euch fort von der Erde, Sternengesindel!«, schrie er aufgebracht. Was ihn so erregte und was er wohl vorausgesehen hatte, offenbarte sich mir erst im zweiten Anlauf, als der Hohe weiter sprach. »Unsere Chirurgen sind begierig darauf, sie zu untersuchen...« * Sein Innerstes war leer und verwüstet. Der fruchtbare Boden, der die Pflanze von Zuneigung und Liebe hervorgebracht hatte, war schwarz und verbrannt. Unbewusst und tief in seiner wahren Gefühlswelt verborgen hatte er sich immer nach jemandem gesehnt, der so war wie Maria. Das Schicksal hatte es schließlich so gewollt, dass ihre Wege sich kreuzten - doch das Glück, das sie erfahren durften, war nur von kurzer Dauer. Die Trennung derart schmerzhaft, dass die Wunden lange nicht verheilen würden. Die innere Leere hielt nicht vor. Aus der Asche der Vernichtung wuchs ein anderer Spross hervor, der ebenso dunkel und verätzt war wie das in Trümmern liegende Land gemordeter Leidenschaft.
Theobald Hauser-Bonaffini war fortgerannt, einfach nur weg, als Tjörnsens Griff sich durch die Erderschütterungen gelockert hatte. Er wusste nicht, wo er sich befand. Wahrscheinlich war er in die falsche Richtung gelaufen und nicht zum Ausgang zurück. Das spielte jedoch keine Rolle mehr. In der vergangenen Stunde hatte er von Liebe und Sehnsucht über Angst und Verzweiflung alle emotionalen Höhen und Tiefen im Zeitraffer durchlaufen. Etwas fehlte aber noch und diese Empfindung war es, die mehr und mehr Raum in ihm einnahm. Der Hass brannte und der Gedanke an Rache überlagerte sein klares Denken, seine Sinne und seinen Geist. Er musste diese Höllenbrut treffen. Hart und empfindlich treffen! Gedankenverloren und mit stierem Blick saß er auf der Erde an eine Wand gelehnt und kaute an den Nägeln. Was konnte er tun? Wie konnte er es Tjörnsen heimzahlen? Tjörnsen und den Hohen. Inzwischen war der Archivar davon überzeugt, dass sie die Drahtzieher waren. Diese unterirdische Anlage war vor ihren Augen entstanden. Der Geschmack von Tod und Verderbnis lag in der Luft, nistete in jeder Ecke und war untrennbar mit den Hohen und ihren Ausführungsorganen verbunden. Hektisch ruckte Bonaffinis Kopf zur Seite. Der Kampflärm hatte sich gelegt. Es war ruhig geworden. Seine Lippen verzogen sich zu einem satanischen Grinsen. Er bleckte die Zähne und lauerte in die Dunkelheit. Die Glut bevorstehenden Wahnsinns loderte in seinen Augen. Schritte näherten sich. Nicht vorsichtig und leise, sondern bestimmt und laut hörbar. »Theobald, komm raus! Ich bringe dich nach oben!« Das war eindeutig die Stimme Tjörnsens. Anscheinend hatten die beiden Helden, die ihm, Bonaffini, zur Seite stehen wollten, bereits das Zeitliche gesegnet. Auch das war eine Angelegenheit, die man mittlerweile beruhigt zu den Akten legen konnte. Es ging nicht mehr ums Überleben. Es ging nur noch um den Tod. Er würde sich
bedingungslos opfern, wenn er Ole Tjörnsen dabei mit sich in den Untergang reißen konnte. »Hier«, zischte Hauser-Bonaffini mit dunkler, hämischer Stimme, in der die Vorfreude auf seine bevorstehende Genugtuung mitschwang. »Ich bin hier.« Das auf- und abschwellende Brummen, das an dieser Stelle besonders laut war, klang wie Musik in den Ohren des Archivars. »Geh da weg, stumpfsinnige Kröte«, bellte Tjörnsen herüber. »Das ist gefährlich!« »So?«, tat Bonaffini dümmlich. »Ist es das?« Über ihm war eine Apparatur in die Wand eingelassen, ein Gehäuse, dessen Frontseite offen stand. Theobald verstand nicht viel von Technik, schließlich gab es auf der Erde so gut wie keine. Seine Kenntnisse stammten alleine aus den Büchern, die er von morgens bis abends studierte. Die vielen Blinksignale und Spannungsblitze in dem Kasten hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und ihn als ein zentrales Versorgungselement ausgewiesen. Ein unglaublich leistungsfähiger Generator, nicht vergleichbar mit den ihm bekannten Dynamotypen, die über Riemenantriebe gespeist wurden. »Auf mit dir und keinen Palaver!«, wurde Tjörnsen ungeduldig und war höchstens noch drei Schritte entfernt. Völlig unvermutet sprang Bonaffini auf und den verblüfften Tjörnsen an. Beide gingen zu Boden und der Archivar hatte plötzlich einen länglichen Gegenstand in der Hand, den er auf den Schädel seines Widersachers schmetterte. Ein Mal tat er es, mit aller Kraft und aller Wut und allem Hass, der ihm innewohnte. Der zweite Schlag wurde bereits in der Luft abgefangen. Tjörnsen prustete laut, sagte aber keinen Ton. Seine Faust spannte sich um Theobalds Handgelenk wie ein Schraubstock, drehte sie in anatomischer Zweckentfremdung und hieb sie dem Archivar samt Backstein selber gegen den Kopf. Erschrocken schrie Bonaffini auf. Er hatte nach seinem Angriff nicht mehr mit Gegenwehr gerechnet und die Zähigkeit
seines Gegners sträflich unterschätzt. Doch mit diesem Fehler würde er nicht lange leben müssen. Tjörnsen fühlte sich sicher und glaubte, die Situation unter Kontrolle zu haben. Theobald taumelte geschwächt. Sein Sehzentrum war gestört und zauberte flackerndes Licht und auseinanderdriftende farblose Ringe in seine Wahrnehmung. »Wenn ich nicht anders lautende Befehle hätte, würde ich dich auf der Stelle töten.« Bonaffini wedelte mit dem Handrücken vor dem eigenen Gesicht herum, um die störenden Reflexe auf den Pupillen zu vertreiben. Undeutlich sah er Tjörnsen, der noch unschlüssig da stand. In seinem Rücken wusste er den Schaltschrank, der die Energie für dieses Laboratorium des Schreckens lieferte. Wie er sie abschalten konnte wusste er nicht. Es gab keinen Hebel oder Schalter. Auf alten Blaupausen hatte er vergleichbare Instrumente gesehen, die jedoch stets über einen Regelmechanismus verfügt hatten. Wenn ihre Funktionsweise dennoch prinzipiell gleich sein sollte, gab es eine weitere Möglichkeit, sie außer Kraft zu setzen. »Ich warne dich ein letztes Mal...«, dehnte Tjörnsen die Worte ungeduldig und wollte noch etwas hinzufügen. Als Theobald Hauser-Bonaffini sich in die offene Energieleitung warf, blieb es ihm im Halse stecken! * Anto-Dschagerass war frei! Gleichzeitig mit der unvermutet eintretenden Finsternis verschwand auch das Nullpunktfeld. Wer oder was auch immer diesen Energieausfall hervorgerufen hatte - es konnte nur als glückliche Fügung betrachtet werden und als einmalige Chance. Ohne Hilfe von außerhalb wäre der Höllenjäger niemals freigekommen. Daher zögerte er nicht eine einzige Sekunde lang! Die Kraft des Angriffsmudras sprengte die Gruppe der Greys auseinander. Die knapp ein Meter fünfzig großen Gestalten wirbelten wie Kegel durcheinander. Auch wenn
praktisch nichts zu sehen war, gab es an den fremdartigen Schmerzlauten nichts zu interpretieren. Mehrmals hintereinander führte Anto-Dschagerass die Attacke aus, bis er ziemlich sicher war, dass ihm keiner der Kahlköpfigen entkommen war. Dann wurde es still. Das Licht flammte wieder auf; die NullpunktEnergieprojektoren hingegen erfassten ihr ursprüngliches Ziel nicht mehr. Anto-Dschagerass hatte seinen Standort verändert und betrachtete nun sein Werk exzessiver Gewalt. »Du hast sie alle getötet«, stellte ich mit flauem Gefühl fest. »Wie vereinbart sich das mit den Lehren der LayshiPan?« »Halte dich da raus!«, erhielt ich barsch zur Antwort. »Die Knirpse waren allesamt Produkte eines Genpools. Zur Arbeit gezüchtet, zur Infiltrierung irdischer Systeme. Ihre eigentlichen Herren hast du noch nicht kennen gelernt. Ich glaube kaum, dass sie jemals leibhaftig auf der Erde waren, die du kanntest. Trotzdem sind sie hier. Wahrscheinlich steht ihr Raumschiff mitten im Vatikanischen Palast.« »Sie sind auf einer übergeordneten Ebene.« »Einem Oberton dieser Dimension. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Ich will die Hetto-Ka'Zam-Inayn haben. Und das Plasma. Es muss doch schon ganz aufgeregt sein, mich in seiner Nähe zu wissen.«
Ich hoffe du löst unsere Probleme mit derselben Gelassenheit, mit der du sie aussprichst, seufzte ich vor mich hin.
»Kannst du dich erinnern, an welcher Stelle die HettoKa'Zam-Inayn mit dir auf dieses Level übergewechselt sind?« Ich hatte völlig verdrängt, dass ich mich auf einer anderen dimensionalen Ebene befand. Ebenso wie Anto-Dschagerass hatte es mich auf eine erhöhte Frequenz verschlagen. Doch von dem Vorgang an sich hatte ich nichts mitbekommen, geschweige denn, dass ich mir in meinem angeschlagenen Zustand die entsprechende Stelle hätte merken können, an
der der Wechsel stattgefunden hatte. Daher musste ich leider verneinen. »Nun gut«, sagte der Höllenjäger aus ferner Vergangenheit nachdenklich. »Das Plasma befindet sich nicht auf diesem Oberton, sonst hätte ich eine Reaktion bemerkt, so, wie es mich anfangs zur Residenz geführt hat. Es wäre zu aufwendig, wieder nach Überlappungspunkten der Frequenzen Ausschau zu halten und diese exakt abzupassen. Wenn wir also momentan nicht durch den Wall können, müssen wir ihn wohl oder übel zerstören.« * Wir erreichten eine weiträumige Halle, die vollkommen leer war. »Da sind wir wohl in einer Sackgasse gelandet«, bemerkte ich frustriert. Beim besten Willen hatte ich keine Ahnung, was Anto-Dschagerass bewerkstelligen wollte. Wie es aussah, hatte er den Mund doch ein wenig voll genommen. »Ich spüre, dass wir richtig sind...«, erwiderte er bedächtig und fing sich ein »Na sicher!« meinerseits ein. »Dann verrate mir bitte, was du hier zu zerstören gedenkst?« In einer ausholenden Bewegung meines Arms umfasste ich das Nichts, das uns umgab. »Lass dich nicht täuschen«, beharrte er auf seinem Standpunkt. »Verdammt! - Ich spüre mit jeder Faser meines Körpers die Anwesenheit von... von etwas! Aber, zum Teufel, ich kann es nicht sehen oder irgendwie erfassen!« Unter mir wölbte sich der Boden. Unsicher tat ich einen Schritt zur Seite und stolperte fast über die nächste Ausbuchtung. Bis ich feststellte, dass da gar nichts war und meine Sinne mir nur einen Streich gespielt hatten. Aber was war mit der Luft los? Ich konnte farbige Spiralen erkennen, die sich ineinander drehten und überkreuzten und wunderschöne komplizierte Muster schufen. Versonnen wiegte ich den Kopf und nahm bewundernd das Atmen der Wände zur Kenntnis,
die sich aufblähten und wieder schrumpften. Immerzu. Seltsame Klänge schlichen sich in meine Gehörgänge und schmiegten sich freundschaftlich um meine Hirnrinde, während die Regenbogenspiralen sich weiter ausdehnten und mich in ihren zauberhaften Reigen aufnahmen. In die sphärische Musik mischte sich ein synchrones, begleitendes Brummen. Formen tropften aus grellem Schein hervor und fügten sich zu einem großen Ganzen. Ich hatte nicht nur den Blick für die Realität verloren, sondern auch für mich. Freudig erregt wollte ich mehr sehen, mehr hören und eins werden mit den Farben, Lauten und Gebilden, die ich immer noch nicht zu begreifen in der Lage war, die jedoch den Hauch einer Erinnerung aufkommen ließen, um was es sich bei ihnen handeln könnte. Lange Dürre traten aus breiten Flachen. Ich musste selber lachen, als ich die Assoziation träge noch einmal in Gedanken vorbeiziehen ließ. Alles war so abstrakt, bizarr verfälscht - und wahnsinnig ulkig! Stand ich noch unbeweglich oder raste ich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch ein Universum, das auf einer Höhe mit mir flog? Grenzen verwischten, Beschränkungen wurden aufgehoben. Das Oben wurde zum Unten. Das Jetzt zum Gleich. Und es machte nicht den geringsten Unterschied. Für einen Augenblick, so winzig und unbedeutend wie er kaum vorstellbar war, spürte ich die Einheit mit allem. Allen Lebewesen, allen Planeten und allen Sternen. Was, so fragte ich mich, sollte es danach für mich noch zu erreichen geben? Sanfte Laute webten mich ein und ich war vernarrt in den Anblick zuckersüßer Farbtupfer und gleißender Lichtfontänen, die aus den Spiralen herausplatzten und metaphysische Abdrücke in der Wirklichkeit hinterließen. Dann ein rüder Knall, Flammen in meinem Blick, die die farbigen Schlieren zu Asche verbrannten. Plötzlich war nur Schwärze um mich herum. Und schließlich nicht einmal mehr das...
* Der Schirm brach zusammen! Sein Gespür hatte Anto-Dschagerass nicht getrogen, das eine gewaltige Veränderung im Anmarsch war. Es kam einer Kettenreaktion gleich, die das energetische Niveau, auf dem sie sich befanden, einbrechen ließ. Die Halle war nun nicht mehr einfach nur leer. Dinge erschienen schwach schimmernd aus dem Nichts, als wären sie noch nicht sicher, sich wirklich manifestieren zu wollen. Sie durchdrangen die Materie und nahmen ihren Raum ein. Dem Höllenjäger war aber durchaus klar, dass er und ich von einem Oberton herunterfielen auf unseren gewohnten dimensionalen Horizont. Die Begleiterscheinungen dieses hyperphysikalischen Vorgangs bekam anscheinend nur ich derart drastisch zu spüren, dass ich der Meinung war, meine Synapsen umkreisten an langen Fäden wie Satelliten den Planeten Jordan. Mehr war ich nicht bereit mitzubekommen. Ich sah nicht die Kolonnen an Plasmabassins, die mit einem Schlag die Halle ausfüllten, erkannte in den materialisierenden Hetto-Ka'Zam-Inayn nur lange Striche, die vom Boden bis zur Decke reichten und registrierte einzig das anhaltende Echo detonierender Farbblasen, die längst einer beschwichtigten Grau-in-Grau-Realität gewichen waren. »Fast perfekt«, flüsterte Anto-Dschagerass und hatte, noch bevor die letzte Silbe über seine Lippen gekommen war, ein Mudra abgefeuert, das die Gruppe der nicht minder verblüfften Hettos auseinanderbrach. Alle kommenden Aktionen nahm mein Verstand lediglich als monotones Brummen wahr, bis ich in die Schusslinie geriet, mir den Kopf hart an einem Pfeiler schlug und umkippte. Anto-Dschagerass konnte man nur als rasenden Engel der Vergeltung bezeichnen. Seine präzisen Attacken, seine unglaubliche Reaktionsfähigkeit und seine Agilität ließen es ihn
beinahe mühelos mit sechs Gegnern aufnehmen. Hinzu kam seine Rücksichtslosigkeit. Er betrachtete die Szenerie mit dem gnadenlosen Auge des Kriegers und würde sich erst zufrieden geben, wenn kein Feind mehr war. Das Fressplasma in den Dutzenden von Zuchtbecken gebärdete sich ungewöhnlich lebhaft, reagierte äußerst heftig auf die Anwesenheit Anto-Dschagerass', dem vor Jahrzehntausenden der Keim Amalnacrons in Cor-Shan eingepflanzt worden war. Beide waren sie Gleiches vom Gleichen. Und sie zogen sich an. Nur würde eine Infizierung durch das Fressplasma auch Anto-Dschagerass innerhalb eines Tages töten. Die geringste Berührung konnte bereits für eine Übertragung reichen. Ich selbst hatte gesehen, wie Ole Tjörnsen das Plasma mit Kindern und Erwachsenen gefüttert hatte. Es war derart aggressiv, dass die Infizierten eingemauert werden mussten, um den Überträger einzudämmen. Die Konzentration des Layshi-Pan spaltete sich auf. Einerseits wehrte er die Hetto-Ka'Zam-Inayn ab und griff sie an, andererseits musste er den schwarzen Schleim, das Blut Amalnacrons, im Auge behalten. So kam es, dass AntoDschagerass mehr und mehr zurückwich, mich beim Kragen packte und aus der Gefahrenzone schleifte. Die Hettos folgten uns nicht und waren wahrscheinlich froh, ihr unheiliges Leben gerettet zu haben; Anto-Dschagerass war für gewöhnlich ein Gegner, den man nur einmal hatte. Ich persönlich wollte ihn nicht zum Feind haben. »Rückzug, Partner!«, raunte er mir zu, obwohl ich halbwegs weggetreten war. »Wenn ich mir Morias und seine Spielgefährten vornehme, dann zu meinen Bedingungen.« Wenn ich nickte, so tat ich das ohne mein Wissen. In die Tanks mit dem Fressplasma kam Unruhe. Eine wichtige Energiequelle war ausgefallen, was sich schon in dem Zusammenbruch des Walls geäußert hatte. Ersatzkonverter waren angesprungen, doch innerhalb kürzester Zeit von den hochenergetischen Störungen aufgebraucht worden. Ohne Energieversorgung würden auch die Wachstumsbedingungen
in den Bassins nicht lange aufrecht gehalten werden können. Das Plasma brauchte eine bestimmte Umgebung, um außerhalb warmen, lebenden Gewebes nicht abzusterben. Klaglos ließ ich mich von Anto-Dschagerass durch die Dunkelheit zerren. Schreckliche Geräusche waren uns auf den Fersen, Geräusche, die Lebewesen von sich gaben, die uns nur allzu gerne einen qualvollen, langwierigen Tod bereiten würden. Ich dachte an den jungen Mann, der seine Freundin retten wollte. Ich dachte an Eleowelia, die einen so sinnlosen Tod gestorben war. Chebokyn und Mantazz - was war aus ihnen geworden? Hatten sie es ebenfalls bis zur Oberfläche geschafft oder hatten sie in den Katakomben der Vatikanstadt ein einsames Grab gefunden? Ich war hilflos, klein und unwichtig. Ich atmete erst wieder auf, als frische Nachtluft meine Lungen füllte. * »War ein Schock, dieser Fall vom Oberton, was?« AntoDschagerass zeigte sich von seiner fürsorglichen Seite. »Dann die Halluzinationen. Ist aber normal.« »Sie sind noch nicht vorbei«, stöhnte ich. »Mein Kopf dröhnt und der Rest ist frisch durch den Fleischwolf gedreht.« »Das sind keine Halluzinationen. Das ist tatsächlich so.« Ich sehnte mich nach einer Handvoll Aspirin und einer Ölmassage von kleinen asiatischen Frauenhänden. »Sie züchten das Plasma unterirdisch und tragen es in die Welt hinaus«, kam Anto-Dschagerass auf den eigentlichen Grund unseres Hier seins zu sprechen. »Wenn diese neue, unschuldige Welt vergiftet worden ist, wird Amalnacron sie im Handstreich nehmen.« »Das Bewusstsein der Menschen hat sich verändert«, wagte ich einen Einwand. »Die negativen Mächte werden nicht so schnell wie früher Halt finden.«
»Es gibt immer noch genug Menschen, denen ihr materielles Wachstum mehr am Herzen liegt, als ihr spirituelles. Solche Menschen sucht unser finsterer Feind. Er wird so lange locken, bis selbst der stärkste Widerstand bricht.« »Was haben wir also letztlich erreicht?«, kämpfte ich für jeden klaren Gedanken gegen das Hämmern in meinem Schädel an. »Wir haben gute Freunde verloren. Und was ist mit diesem Mädchen?« »Es ist tot«, sagte der Höllenjäger tonlos. »Ihr Freund ebenso. Ich habe es in dem Plasma gelesen.« Diese Verbindung zu Amalnacrons fürchterlichem Erbe wurde mir immerfort unheimlicher. »Was wir erreicht haben ist immerhin, dass wir den Ausgangspunkt der Schrecknisse, von denen die Erde heimgesucht wird, ausfindig gemacht haben«, fuhr AntoDschagerass fort. »Viel ausrichten können wir hingegen nicht.« Es kam dem Eingeständnis eines Versagens gleich. »Ist die Gefahr durch die Hohen - die Greys - gebannt?« »Wie ich schon sagte: die Hohen, mit denen wir es zu tun hatten, waren genetisch reproduzierte Handlanger. Und nein, Richard: Die Gefahr ist nicht gebannt.« Mir schien, dass es ihn ordentlich wurmte, tatenlos das Schlachtfeld zu verlassen. »Du könntest das Fressplasma zerstören«, kam mir eine Idee, »so wie auf Col'Shan-duur, als die drei Priester von ihm eingeschlossen waren.« Anto-Dschagerass lachte gezwungen auf. »Hast du die Becken gesehen?«, fragte er mich und sah mich ungläubig an, als hätte ich etwas vollkommen Naives und Dummes von mir gegeben. »Nein«, lenkte er seinen Blick von mir fort, »du hast es nicht.« Er sammelte sich, sah mich wieder an und sprach weiter: »Da sind Dutzende von diesen Bassins. Alle bis zum Rand voll mit dieser Pestilenz. Meiner vorsichtigen Schätzung nach sind in jedem Becken mehrere Tonnen Lebendgewicht von dem Zeug. Die kann ich nicht allemal vernichten...!«
»Hm«, machte ich, »da gibt's doch wirklich etwas, das du nicht kannst.« »Reize mich nicht, Richard«, sagte er mit tiefem Bass und die Gelassenheit in seinen Worten täuschte mich nicht über die unterschwellige Drohung hinweg. »Wir sollten jetzt gehen«, forderte er mich auf, als ich mich gerade langlegen und dem viel tausendfachen Pochen in meinem Körper hingeben wollte. »Dieser Ort ist für uns nicht sicher.« »Die Hohen werden ihre Bestrebungen wieder aufnehmen«, sagte ich enttäuscht. »Natürlich. Egal, welchen Status sie sich gegenüber den Menschen einbilden, sind sie doch nur Vasallen Amalnacrons. Sie sind gefühllos und machthungrig. Allesamt Attribute, die den negativen Kräften in die Hände spielen.« »Schöne Aussichten«, raffte ich mich aus meiner sitzenden Haltung auf. »Du wirst bleiben, oder? Ich meine, du wirst die Sache weiter beobachten?« »Ja«, antwortete Anto-Dschagerass. »Bis die Zeit kommt, einige Rechnungen zu begleichen.« Er half mir auf die Beine und stützte mich. Betrachtete man es genauer, war ich mit einem blauen Auge davongekommen. Die Hettos hätten mir Verletzungen zufügen können, von denen ich mich niemals mehr erholt hätte. »Schaffst du den Weg zurück zur Siegelkammer?«, wollte der Layshi-Pan wissen. Ich war erschrocken. »Du willst mich doch nicht alleine...?!« »Natürlich nicht. Ich aktiviere den Transfer. Du brauchst nur hindurchzugehen.« Ich war beruhigt. Und ich hatte mich damit abgefunden, das Codefragment im ehemaligen Dänemark diesmal wieder nicht zu sichern. Ich war so nahe und doch so weit. Ruhe war jetzt mein vordringlichstes Anliegen, damit Leib und Seele sich selbst heilen konnten.
»Ein Gutes hat meine schlechte körperliche Verfassung«, rang ich dem Ganzen doch noch eine positive Seite ab. »Das Hungergefühl ist wie weggeblasen.« »Gut, gut«, meinte Anto-Dschagerass. »Aber zur Not hätte ich noch eine Kleinigkeit dabei gehabt.« Ich sah ihn verdutzt an. »Du hast etwas zu essen mitgenommen?« Mir drängte sich der Eindruck auf, das Hungergefühl stünde in Abhängigkeit von der Möglichkeit seiner Befriedigung; plötzlich war ein unüberhörbares Rumoren in meinem Magen. »Da ist ein Dorf in der Nähe. Da ich nichts zum Bezahlen hatte, habe ich mir ein paar Kleinigkeiten entliehen.« Er reichte mir ein Stück Brot, das er aus der Innentasche seines Mantels hervorzog. Dazu noch einen roten Apfel. Den Petersplatz ließen wir hinter uns und wanderten hinaus in den neuen Morgen. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich ein trockenes Stück Brot mit solchem Genuss verzehrt. *
Mehrere Stunden später
Ole Tjörnsen hatte den verbrannten Leichnam von Theobald Hauser-Bonaffini zur Entsorgung in eines der Becken geworfen. Sofort hatten sich Plasmaarme gebildet, den Körper umschlungen und in die Tiefe des teerigen Breis gezogen. Die Hohen hatten ihn sogar mental in die weitere Zusammenarbeit mit den Hetto-Ka'Zam-Inayn, den Nachgeborenen, eingeweiht. Tjörnsen hatte ihr Auftreten gegen die beiden Eindringlinge, die ihm ans Leder gewollt hatten, eingehend studiert. Für seinen Geschmack mangelte es ihnen noch an Durchschlagskraft, denn die beiden Beschützer Bonaffinis hatten sich bemerkenswert gegen die Übermacht geschlagen. Zum Ende hin hatten sie ihre Position jedoch nicht mehr halten können und waren geflüchtet. Wohin, konnte er nicht sagen. Sie waren auf jeden Fall noch innerhalb des Re-
sidenzgeländes, höchstwahrscheinlich sogar noch hier in den Palastgebäuden. An sich war es ihm gleichgültig, ebenso wie der Verbleib dieser neuen Verbündeten, die, so die Hohen, den Leib des Allerhöchsten in sich trugen. Er hatte weitere Instruktionen erhalten. Im Innern der Residenzpaläste hatten die wahren Hohen sich ihm offenbart, ganz so wie beim ersten Mal, als er aus seiner Schreibstube zu ihnen gerufen worden war. Das lag aber schon lange zurück und hatte weit vor Theobald Bonaffinis Zeit stattgefunden. Tjörnsen hatte einen neuen Koffer erhalten, mit dem er sein begonnenes Werk in seinem Heimatland vollenden sollte. Ungerne erinnerte er sich an seine erste Mission, die ihn zu seinem Bruder und dessen Familie nach Dänemark geführt hatte. Alle hatten Bekanntschaft mit dem Fressplasma gemacht und er hatte es derart geschickt eingefädelt, dass nicht einmal ein Verdacht auf ihn gefallen war. Doch dann war er aufgeflogen und hatte seine Zelte fluchtartig abgebrochen. Sein Neffe Alf war noch übrig. Ihn wollte er sich nun als nächstes vornehmen, danach die komplette unwissende Dorfgemeinschaft und schlussendlich den gesamten Landstrich. Als Botschafter des Neuen Friedens - so hatten es ihm die Hohen eingeimpft - war es seine Aufgabe, den Leib und das Blut Amalnacrons in die Welt zu tragen. Viele seiner Art waren auf allen Kontinenten unterwegs und wenn er sein Auge im Spiegel betrachtete oder mit den Fingerkuppen über den Wundschorf fuhr, in den der freigelegte Augapfel eingebettet war, dann wusste er genau, dass es diesmal kein Versagen geben durfte. Die Hohen hatten ihn ein Mal bestraft; ein zweites Mal würden sie sich nicht so mildtätig zeigen. Jeder Kampf, aus dem man verwundet aber siegreich hervorging, bedeutete eine neue Chance. Oft, sehr oft war ihm dieser Satz durch den Kopf gegangen. Nun war er eine Doktrin. Fest war sein Griff, der sich um die Kofferhenkel spannte.
Mit dem Auftauchen dieser Fremden war einiges in Unordnung geraten, dachte Ole Tjörnsen bei sich. Er verstand nicht viel von Technik, doch meinte er bei seinem Gespräch mit den Hohen herausgehört zu haben, dass sie mit nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert wurden. Bonaffini, der lausige Krüppel, grinste er boshaft in sich hinein. Schmeißt sich in den Steuerungskasten und legt alles
lahm.
Es war bei weitem keine Bewunderung, die Tjörnsen für den Archivar empfand. Eher war es Verwunderung über die seltsamen Wege, die das Leben zu gehen pflegte. Fünf mächtige Gegner - das hatte er nachträglich erfahren - waren von verschiedenen Seiten her in die Residenz eingedrungen. Fünf Höllenjäger. Ausgebildete Kämpfer aus demselben Orden, aus dem auch die Hettos hervorgegangen waren. Und der Bücherwurm Theobald stellte ihre Macht spielend in den Schatten, indem er sich einfach geopfert hatte. Sicher hatte er nicht diesen enormen Effekt voraussehen können, doch oftmals zeigte sich die eigene Intuition als hilfreicher Berater. Warum nur hörte man so selten auf sie? Warum erst dann, wenn es buchstäblich keine andere Option mehr gab...? Der Däne trat ins Freie. Die Sonne war bereits aufgegangen und zauberte das typische orangeblaue Szenario an den Himmel. Noch war es kühl und der Tau lag auf dem Rasen. Entschlossen machte sich Tjörnsen auf den Weg. Er würde nicht lange zu Fuß gehen müssen, denn er wusste genau, wo er Mitstreiter fand. Sie würden ihn unterstützen, wo es nur ging. Um Transport und Verpflegung brauchte er sich also nicht zu sorgen. Schadenfroh und mit tiefer Befriedigung dachte er an Alf und die anderen Menschen im fernen Dänemark. Sie ahnten nicht einmal, dass der Tod auf direktem Wege zu ihnen unterwegs war.
Ja, dachte Tjörnsen, das wird ein warmer, freundlicher Tag... * »Den Hetto-Ka'Zam-Inayn sind wir entkommen. Aber es ist noch etwas geschehen.« Mantazz starrte in die Finsternis. Trotzdem merkte Chebokyn deutlich, dass er ihn ansah. »Die Obertonerhöhung ist herabgesunken. Die Schranken sind gefallen.« »Ein Bruch im Energieniveau. Die Ursache...« »Dieser junge Mann. Theobald.« Den Namen hatte er der Gedankenmatrix des Archivars entnommen. Er selbst hatte ihn nie genannt. »Seine Existenz ist verlöscht. Er hat den materiellen Körper verloren.« »Für kurze Zeit schien es, als würde das Energieniveau sich wieder stabilisieren.« Chebokyn ließ seine flüchtigen Wahrnehmungen hinsichtlich des Phänomens Revue passieren. »Die dimensionale Verwerfung hat ungeheure Mengen an Energie in kürzester Zeit aufgebraucht. Die Generatoren müssen unter der mechanischen Belastung vollständig ausgebrannt sein.« »Ich kann mich schlecht orientieren«, bekannte Mantazz. »Mein geistiges Auge ist irgendwie getrübt.« »Mir geht es genauso. Sicher die Nachwirkungen der hyperphysikalischen Eruptionen. Unser Blick wird sich klären.« Die Festigkeit, mit der er diese Erkenntnis vortrug, überzeugte Mantazz. Er horchte stetig in sich hinein und vermeinte bereits, eine Verbesserung seiner Wahrnehmung festzustellen. »Sollten wir nicht allmählich wieder an die Oberfläche?«, schlug er vor. Sie hatten abseits des Saales mit den Zuchtbecken Zuflucht in verwinkelten Gängen und Räumen gefunden. Dort, wo sie sich im Moment befanden, gab es kein
Weiterkommen. Es war der letzte Raum am Ende eines Korridors. Darin gab es nur die Tür, durch die sie hineingelangt waren. Der Raum selbst war eher eine Kammer, lieblos verputzt und mit aufgetürmten Holzmöbeln und Pappkartons bestückt. »Wir bleiben vorerst«, bestimmte Chebokyn. »Auf dem Residenzgelände bieten wir ein zu gutes Angriffsziel. Hier unten kanalisiert sich die gegnerische Offensive zwangsläufig und lässt sich kontrollieren.« Zumindest theoretisch, fügte er nur für sich hinzu. Sein versteckter Argwohn sollte sich keinen Tag später bewahrheiten. In tiefer Meditation versunken wurden die Höllenjäger von dem gleißenden Licht überrascht, in dem die der Eingangstür gegenüberliegende Wand wie eine Projektionsfläche erstrahlte. Dem darauf folgenden Sog konnten sie sich nicht widersetzen und wurden hilflos durch die zuvor noch massive Wand transmittiert. Der helle Schein reduzierte sich auf ein Minimum und glühte nach und nach aus. Die Dunkelheit eroberte sich ihr Terrain zurück... * Den Weg nach Schemecca über hatten wir nicht viel geredet, besonders nicht über die geheimnisvolle Verbindung meines Begleiters zu den außerirdischen Greys, die wohl schon seit dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert als politische und weltliche Drahtzieher agierten und dabei ein Schattenimperium hinter den Regierungen der Menschen aufgebaut hatten. Viele Entscheidungen von weltpolitischer Bedeutung erschienen mir vor diesem Hintergrund plötzlich gar nicht mehr so befremdend, viele Ungereimtheiten erschienen in einem neuen Licht. Der 11. September 2001 - ich war noch ein Teenager - diente nur dem Zweck, dem Terrorismus ein einprägsames Gesicht zu verleihen, um im Namen globaler
Sicherheit den einzelnen Bürger stärker zu knebeln, zu überwachen und völlig legal in seinen Grundrechten zu beschneiden. Und ich wettete insgeheim, dass auch hier die Grauen dahinter steckten. Netzhautabtaster an öffentlichen Plätzen, DNS-kodierte Personalausweise, implantierte Strichcodes und Worldnet-Fernüberwachung - das alles passte herrlich ins Gesamtbild. An meinen letzten Tagen auf der alten Erde war dies teilweise schon Wirklichkeit und versuchsweise in einigen Metropolen getestet geworden. London war hiervon nicht betroffen gewesen und wenn doch, ich hätte mir nichts dabei gedacht und wahrscheinlich einen Lobgesang auf die fortschrittlichen Technologien angestimmt. Vier entbehrungsreiche Tage lagen hinter mir, in denen ich so gut wie nichts gegessen und einzig aus Rinnsalen am Wegesrand getrunken hatte. Grußlos waren Anto-Dschagerass und ich auseinander gegangen, als er die Siegelkammer geöffnet hatte und ich eingetreten war. Ohne Komplikationen fand ich mich Sekundenbruchteile später auf Col'Shan-duur wieder; die verkorkste Umgebung hatte schon etwas Einmaliges und dadurch natürlich einen hohen Wiedererkennungswert. Ich war noch nicht weit gekommen, da erreichte mich bereits ein mentaler Ruf.
Wird auch Zeit, dass du hier auftauchst!
»Grüß dich, Philip«, erkannte ich meinen ehemaligen Mentor. »Danke für deine offenkundige Freude über meine Heimkehr.« Ich hatte so viel Ironie in den Satz gelegt, dass sie einem gewöhnlichen Gesprächspartner wenigstens ein sekundenlanges Stutzen abgerungen hätte. Die Dinge überschlagen sich!, ließ sich Ravenmoor/Sha'am-O nicht irritieren. Dein sofortiger Aufbruch
ist erforderlich!
»Lasst mich doch bitte erst mal zur Ruhe kommen, Leute«, seufzte ich laut. Meine Glieder schmerzten immer noch von den Schlägen der Hetto-Ka'Zam-Inayn. Daran würde ich noch geraume Zeit zu beißen haben.
Du kannst deinen Körper in den Inkarnationssarkophagen regenerieren, Richard! Für alles andere ist keine Zeit mehr! Wäre ich doch nur ein paar Stündchen später durch die Siegelkammer gegangen, schickte ich einen ergebenen Gedanken auf die Reise und hatte mich eigentlich schon mit den Tatsachen abgefunden.
Das hätte deine Zeit zur Erfüllung deiner Mission nur unnötigerweise verkürzt, erhielt ich zur Antwort. So, wie es dein törichter Ausflug zur Erde getan hat. Meine Laune unterschritt gerade den Pegel vorurteilsfreier Ausgeglichenheit. Aus diesem Grund sah ich es überhaupt nicht ein, mich auch nur einen Deut schneller zu bewegen. * Der Älteste war nicht halb so hektisch, abweisend und schroff, wie sich mein lieber Freund Philip gebärdet hatte. Er zeigte durchaus Verständnis für meine Situation und den Wunsch, vor allem anderen eine Weile abzuschalten. Dennoch ließ er unnachahmlich nachdrücklich - ohne dabei aufdringlich oder forsch zu wirken, denn das war nicht die Art der Priesterkaste - durchklingen, dass Eile geboten wäre. Eine einzige Frage, teilte ich ihm mit - und der Kreis der Anwesenden, die sich in der Versammlungshöhlung befanden, stimmte sich auf mich ein - läge mir noch sehr am Herzen. Wenn er sie mir beantworten würde oder auch nur den Versuch unternähme, wollte ich mich ohne Murren meiner nächsten Aufgabe unterordnen. »Gon'O'locc-uur hat mir vor seinem Rückzug einen Einblick in die veränderten Verhältnisse auf der Erde gewährt«, begann ich. »Ich konnte die Geschichte eines Mannes von frühester Kindheit bis ins hohe Alter verfolgen. Darin gab es einen weiteren Mann, der im Bunde stand mit den negativen Kräften um Amalnacron und das Fressplasma.« Einen Augenblick überlegte ich, wie ich präzise auf den Punkt
kam. »Dieser Mann, Ole Tjörnsen, starb. Ich habe es deutlich gesehen. Und doch bin ich ihm vorgestern auf der Erde begegnet...«
Deine Frage lautet nun, wie das möglich sein kann. Ich antworte nicht und nickte stattdessen.
Du erinnerst dich an das, was du gelernt hast, Richard. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nicht getrennt voneinander. Der Besuch Nofretetes und Echnatons ist ein lebendiger Beweis für die Gleichzeitigkeit allen Seins. Die Trennung erfolgt lediglich durch die Materie, die das Einssein auflöst und teilt und gruppiert und sortiert. Der Weg von der Materie fort zum Geist wird die Grenzen aufheben und dann wirst du die Einheit von allem erkennen. Ganz zufrieden konnte ich mit dieser Darstellung natürlich nicht sein. »War es jetzt der Tjörnsen aus der Erzählung des Schreins, dem ich begegnet bin oder war es ein möglicher Tjörnsen eines alternativen Zeitstrahls?«
Deine Frage zielt in die richtige Richtung. Gon'O'locc-uur hat dir, aus deiner Sicht, eine Zukunft gezeigt, in der der Mensch Tjörnsen ohne anderweitige Beeinflussung den negativen Kräften zu Diensten war. Diese Zukunft endete mit seinem Tod. Deine persönliche Einmischung und das der Layshi-Pan in den Ablauf der Ereignisse konnte zu diesem Zeitpunkt keine Berücksichtigung finden, da sie noch gar nicht geplant war. »Das heißt, der Kerl könnte möglicherweise dieses Mal mit dem Leben davonkommen...?«
Das ist eher unwahrscheinlich. Die Art eures Eingriffs hat die Variablen bezüglich seines Todes nicht gravierend, wenn überhaupt, modifiziert. »Das könnte tatsächlich der Fall sein«, ging mir ein Licht auf. »Tjörnsen hatte diese scheußliche Verletzung im Gesicht. Sein Auge lag praktisch frei. In der Erzählung damals hatte er anfangs ganz normal ausgesehen, kehrte jedoch Jahre später in das Dorf zurück, in dem er sein Unwesen getrieben hatte,
um seinen Neffen zu töten und das Fressplasma auf die Menschen der Umgegend loszulassen. Die Verstümmelung war eine Bestrafung der Hohen. Da er sie zum Zeitpunkt meines Eintreffens in der Residenz schon hatte, gehe ich davon aus, dass der zweite Teil seines Auftrags, der mir bekannt ist, für ihn noch in der näheren Zukunft liegt. Vielleicht macht er sich gerade auf den Weg nach Dänemark, um sich zu rächen.«
Dann nimmt das Schicksal den Verlauf, der bestimmt ist. »Aber überleg doch! Wenn er - wie auch immer - in dieser
Gegenwart nicht aufgehalten wird, kann er den kompletten skandinavischen Raum mit dem Fressplasma verseuchen!« Der Älteste wartete ab, bis sich meine Aufregung gelegt hatte.
So könntest du dein ganzes Leben und alle folgenden damit verbringen, versäumten Chancen hinterherzulaufen, ohne auch nur das Geringste an reellem Wert zu erreichen. Bedenke: Alles, was ist, findet sein Gegenstück. Selbst der mächtigste Feind wird irgendwann auf einen noch stärkeren Gegner treffen. Das wahre Heil liegt im Ausgleich und damit in der Einheit. »Mit anderen Worten: Nichts ist so unsicher wie die Zukunft.«
Eine Prophezeiung steht immer in Abhängigkeit von den geltenden Umständen. Verändern sich diese, wird auch die Vorhersage wertlos. Da war was dran! Alle, die Nostradamus und andere Propheten der Falschweissagung überführt geglaubt hatten, hätten lieber ihrem Schöpfer danken sollen, dass sich das Gemeinwesen positiv verändert und damit das Eintreffen der Vorhersage verhindert hatte. Bei genauerem Überlegen ein sachliches Faktum und eine logische Konsequenz. Bitte, Richard, hörte ich die Worte des Ältesten freundlich in meinem Geist. Es ist so weit. Ja, bediente auch ich mich nun des gedanklichen Austausches. Ich weiß.
*
Ich habe mir viel Zeit genommen, um nachzudenken. Zeit, die mir die Priester nicht zugestanden haben nach meiner Rückkehr von der Erde und die ich mir nun geflissentlich nehme. Viele komplexe Fragen und Szenarien sind mir durch den Kopf gegangen. Ebenso wie sich mir das Verständnis für die gegenwärtige Situation entzieht, ist es mir nicht gelungen, eine ganz simple Frage zu beantworten: Was bin ich? Ich halte meine Hände vor das Gesicht und alles sieht normal aus, so, wie ich es gewohnt bin. In einem Spiegel, mutmaße ich, würden mich vertraute Züge ansehen. Oder sollte ich der Wahrscheinlichkeit den Vorzug geben, dass meine Sinne - primär die Augen - mich lediglich gewohnt interpretieren, obwohl ich völlig anders bin? Kann ich sein wie ich war in einer Umgebung, die ›unmöglich‹ ist? Kann ich andererseits für diese unbekannte Welt und für mich dieselben Maßstäbe anlegen, die ich in meiner Dimension bereits nutzte und die sich selbst dort verschiedentlich als unbrauchbar erwiesen haben? Ich weiß zu wenig über mich, als dass ich vernünftige Rückschlüsse ziehen könnte über das, was ich wahrnehme. Mein Gehirn übersetzt die Fülle der Eindrücke in eine für mich lesbare Sprache. Damit ermöglicht es mir die Interaktion und bewahrt mich vor dem Irrsinn. Mein erster Kontakt mit dieser Welt war ein Desaster. Ein Neugeborenes kann sich nicht schrecklicher gefühlt haben, herausgerissen aus der wärmenden, behütenden Nährblase im Mutterleib und hinausgeschleudert in kaltes schreiendes flackerndes Chaos. Meine Umgewöhnung findet nicht sprunghaft, aber mit fortschreitendem Aufenthalt immer zügiger statt. Was ich sehe, kommt mir zunehmend bekannter vor. Genauso passt sich mein akustisches Empfinden an. Derart gerüstet kann ich mich auf die Suche begeben. Auf die Suche nach dem
verlorenen Bruchstück des transgenetischen Codes. Denn dazu bin ich hier. Doch das ist nicht die einzige Aufgabe. Die Priester sind beunruhigt über Aktivitäten in dieser theoretischen Sphäre, die nun meine einzige Wirklichkeit ist. Sie befürchten Auswirkungen auf niederdimensionaler Ebene, die wiederum die Makrodimensionalität beeinflussen. Ihre gut kaschierte Hektik ist mir nicht entgangen. Vielleicht bleibt mir weniger Zeit, als ich mir nehmen darf. Vielleicht habe ich im Gegenteil jedoch mehr als mir zusteht. Wie dem auch sei, muss ich etwas sehr Konkretes in Erfahrung bringen: Was ist der Sapukral und was bewirkt er? Ich sehe einen Weg und bunte Scherben, die sich am Himmel zusammenfügen. Langsam sehe ich klar. Was vor mir liegt ist nicht so schlecht, wie es anfangs den Eindruck machte...
Ende