Rainer Erler
Das Blaue Palais Der Verräter Roman Originalausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag
Dieses Buch entstand nach ...
26 downloads
428 Views
654KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Rainer Erler
Das Blaue Palais Der Verräter Roman Originalausgabe
Wilhelm Goldmann Verlag
Dieses Buch entstand nach der Fernsehreihe »Das Blaue Palais« von Rainer Erler, die von der Bavaria Atelier GmbH, München, produziert wurde. Die fachliche Beratung hatte Professor Dr. Heinrich Hora, Rensselaer Technological University, Hartford/Connecticut. Das Umschlagfoto zeigt Werner Rundshagen in der Rolle des Physikers Siegmund von Klöpfer.
Made in Germany • 6/79 • 1. Auflage •1112 © 1979 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Rainer Erler Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh Verlagsnummer: 3757 Lektorat: Martin Vosseler • Herstellung: Lothar Hofmann ISBN 3-442-03757-3
Das Blaue Palais Hinter der brüchigen, blauen Fassade des alten Palais, in seinen Nebengebäuden, malerisch über den verwilderten Park verstreut, haben sich junge Wissenschaftler zusammengefunden, um frei und unabhängig neue Aspekte unserer Zukunft zu erforschen. Sie wissen, daß sie dabei moralische Grenzen überschreiten müssen. Der Verräter Obwohl im Plenum des Instituts sein Antrag abgelehnt wurde, arbeitet Laser-Spezialist Klöpfer an seinem Projekt weiter. Er will mit energiereichen Laserstrahlen im Infrarot-Bereich den Stickstoff der Luft zu Stickoxyden verbrennen: eine Vorstufe zur Kunstdünger-Herstellung. Nach einer spektakulären Explosion im Laser-Labor erhärtet sich der Verdacht unter den Kollegen, daß sich hinter Klöpfers Experimenten mehr verbirgt als die humane Idee einer neuen KunstdüngerSynthese. Der italienische Chemiker Polazzo rechnet nach und kommt zu einer apokalyptischen Vision: Klöpfers Experimente könnten zu einer gefährlichen Kettenreaktion führen, die unsere Atmosphäre und damit alles Leben vernichtet.
1 Klöpfer unterbrach seine Ausführungen und schwieg. Für Sekunden schloß er die Augen, preßte die Lippen aufeinander und drückte die Kreide gegen die vollbeschriebene Tafel, bis die Spitze brach. Die Splitter rieselten zu Boden. Klöpfer sah ihnen nach. Dann feuerte er den Rest der Kreide in den Papierkorb. »Da meine Ausführungen offenbar nicht interessieren…« Er sah sich um. Das Gewisper und Getuschel war verstummt. An einigen Pulten brannte Licht, die randlose Brille von SuShu-Wong glänzte im Dunkel der großen Halle. Mehr war von dieser Jury, die über sein Projekt zu befinden hatte, die über seine Pläne nun beraten sollte, nicht zu sehen. Die Kollegen des Blauen Palais, die sich wie jeden Donnerstagabend in der Halle zum Erfahrungsaustausch versammelt hatten, empfand er plötzlich als Feinde. Feinde, die es darauf abgesehen hatten, sein Projekt zu Fall zu bringen. Louis Palm, der Leiter des Palais, von allen gewählt, um die Geschäfte zu führen und die Spielregeln der Zusammenarbeit zu überwachen, beugte sich vor. Das Licht der Pultlampe fiel auf sein markantes Profil. Er lächelte und versuchte es wieder mal mit Charme und Diplomatie: »Herr von Klöpfer, fahren Sie doch fort, bitte. Wir müssen doch zu einem Ergebnis kommen. Es ist lange nach Mitternacht.« »Wenn man meinen Antrag als letzten auf die Tagesordnung setzt…« Klöpfer schien unversöhnlich. Er vergrub die Fäuste in den ausgebeulten Taschen seines weißen Labormantels. »Daran erkenne ich doch bereits die Einstellung des Hauses – und der jüngeren Kollegen!«
Aber Palm schüttelte nur den Kopf. »Sie irren sich. Ich bin schuld. Ihr Projekt fordert mit Abstand den größten Anteil von unserem Gesamtetat. Deshalb steht es am Ende der Liste. Und damit wir in Ruhe und ohne zeitliche Begrenzung darüber diskutieren können. Ihr Antrag erhält zuwenig Details. Sie haben jetzt und hier Gelegenheit, uns alle von der Wichtigkeit und auch von den Erfolgsaussichten Ihres Projektes zu überzeugen. Sie sollten das jetzt tun. Und wenn während Ihrer Ausführungen einige Kollegen es eben an der nötigen Konzentration fehlen ließen… Bitte entschuldigen Sie das. Wir haben ja alle einen anstrengenden Tag hinter uns.« »Ich ebenfalls!« Klöpfer ließ sich auf den Stuhl neben dem Lesepult fallen. Er fühlte sich matt und mutlos und ausgesprochen deplaziert in diesem Haus. Ein Institut, in dem sich junge Wissenschaftler verschiedener Nationalitäten und Fachrichtungen zusammengefunden haben, um unabhängig und frei zu forschen. Frei von den bürokratischen Zwängen staatlicher Institutionen. Frei auch von den Zielforderungen der Industrie. Aber leider gar nicht frei von den Sorgen um den Etat. Geld war stets knapp. Und so war die Idee von der Unabhängigkeit und Freiheit eine Illusion. So jedenfalls sah es Klöpfer. Er warf noch einen kurzen Blick in die Runde, die da vor ihm im Dunkeln saß. Dann stand er auf, knöpfte den weißen Labormantel umständlich zu, nahm den Papierkorb hoch und begann nach der Kreide zu suchen. »Gut. Sie wünschen eine detaillierte Begründung. Bitte. Ich fange gerne noch mal von vorne an.« Er hatte die Kreide gefunden, säuberte sie an seinem Mantel, stellte den Papierkorb zur Seite und ging wieder zur Tafel. »Wenn ein sehr energiereicher Strahl eines Impuls-Lasers hier auf gefrorenen Stickstoff trifft«, er skizzierte das sehr lässig an der Tafel, »dann tritt auf der anderen Seite stimulierte Raman-
Strahlung aus.« Er deutete das mit kräftigen, dicken Strichen an. Die Kreide brach wieder ab. Aber Klöpfer ließ sich nichts anmerken. Er dozierte weiter mit verhaltener Aggressivität. »Trifft diese Strahlung, diese Raman-Emission, auf ein normales Stickstoff-Sauerstoff-Gemisch, also auf Luft unter normalen atmosphärischen Bedingungen, reagiert der Stickstoff mit dem Sauerstoff. Er ›verbrennt‹ zu Stickoxyd…« Klöpfer schrieb N2O3. »Zu Stickstofftetroxyd.« Er schrieb N2O4 an die Tafel. »Und schließlich zu Pentoxyd, N2O5.« Palm war vermutlich der einzige in diesem Kreis, der sich der Tragweite von Klöpfers Überlegungen bewußt war. »Das alles haben Sie bisher nur rechnerisch ermittelt, ja?« Klöpfer wandte sich an Palm: »Ja. Aber die Grundlage dazu lieferten Vorexperimente von Orajevski vom Moskauer Lebedew-Institut und meine Rechnungen über Gleichgewichte.« Da flammte ein Licht auf. Polazzo, ein junger Chemiker, temperamentvoller Venezianer mit einer schwarzen Löwenmähne, hatte mit der flachen Hand auf den Druckschalter seiner Pultlampe geschlagen. Enrico Polazzo war Chemiker. Und für gewöhnlich startete er seinen Einstieg in einen Disput mit einem nicht zu überhörenden Akzent. »Alles sehr einleuchtend, Herr Kollege: Ein Laserstrahl verbrennt den Stickstoff der Luft. Beim alten Haber-Bosch-Verfahren geschieht das mit einem elektrischen Lichtbogen. Der Unterschied ist nicht sehr gewaltig. Die Ammoniaksynthese, wie sie überall auf der Welt praktiziert wird!« Innerhalb weniger Sätze waren die Fronten abgesteckt. Klöpfer ahnte, was ihm bevorstand. Wenn sich Polazzo in die Sache verbiß, wenn er gegen den Etat, gegen Klöpfers Projekt votierte, konnte dieser einpacken. Zeit gewinnen, dachte Klöpfer. Ich muß Zeit gewinnen.
Ebenso umständlich, wie er seinen Mantel zugeknöpft hatte, knöpfte er ihn nun wieder auf. »Nach meinen Berechnungen…« Aber schon nach diesen drei Worten unterbrach ihn Polazzo: »Ich gebe ja zu: Laser ist gerade in Mode!« Nicht provozieren lassen, dachte Klöpfer. Ganz ruhig. Er atmete tief durch und begann von neuem: »Nach meinen Berechnungen…« Weiter kam er nicht. Polazzo warf noch schnell einen kurzen Einwand hinterher: »Der elektrische Lichtbogen dort – der Laserstrahl hier. Wo ist der Witz, frage ich mich.« Klöpfer hatte den Rest der Kreide in seiner Manteltasche zerkrümelt. »Hat man denn hier keine Möglichkeit, seine Darlegungen…« Er brach selbst ab. Nach einer erregten Atempause fuhr er fort: »Lassen Sie mich doch einen Gedanken zu Ende führen, bevor Sie Ihre Einwände…« Polazzos Pultlicht verlöschte. Palm klopfte auf seinen Tisch, wandte sich mißbilligend zu den Kollegen um, die den Beginn des Disputs flüsternd kommentierten. Er hob die Hand, fuhr sich durchs Haar, dann deutete er mit einer einladenden Geste zu Klöpfer, zur Tafel: »Bitte, fahren Sie doch fort.« Da das Flüstern nicht verstummte, wandte er sich abermals kurz um, bevor er zu Klöpfer weitersprach: »Sie beschrieben in Ihrem Antrag eine neue, rationellere Art der Kunstdüngerherstellung. Sie haben demnach durchgerechnet, welche Energie Sie aufwenden müssen – zum Beispiel im Vergleich zu dem eben erwähnten Haber-BoschVerfahren…?« Er machte eine Pause, gab Klöpfer die Möglichkeit zu einer Erklärung. Aber Klöpfer schwieg. »Sie wissen ja selbst«, fuhr Palm fort, »alles ist zuerst einmal eine Frage der Effektivität.«
Klöpfer nahm die Hand aus der Manteltasche und winkte ab. »Wir sind nicht hier, um der Industrie das Kalkulieren abzunehmen. Die Effektivität wird sich zeigen!« Er wischte den Kreidestaub, den er an seinen Fingern bemerkt hatte, am Revers des Mantels ab. Palm war aufgestanden und lehnte sich im Verlauf seiner nächsten Sätze gegen die abgegriffene Marmorsäule, die die rissige, stuckverzierte Decke des Saales trug. »Ich muß Ihnen widersprechen: Nur wirtschaftlich sinnvolle Methoden haben eine Chance auf dem Markt. Wir sind den Leuten, die unser Institut finanzieren, Rechenschaft schuldig. Die wollen wissen, was mit dem Etat geschieht.« Klöpfer setzte sich wieder auf seinen Stuhl neben dem Vortragspult. »Wir sind hier, um neue Methoden zu entwickeln – und zwar im Hinblick auf die Zukunft!« »Richtig«, sagte Palm, »aber auch hier muß der Einsatz sich lohnen oder zumindest im vernünftigen Verhältnis zu einem kalkulierbaren Erfolg stehen.« Klöpfer lachte trocken auf. »Da kann ich ja gleich direkt für die Industrie arbeiten. Wozu bin ich hier in diesem Institut?« »Verstehen Sie nicht?« Palm war nähergekommen. »Ich will, daß Sie uns überzeugen!« »Ohne eigene Experimente?« wollte Klöpfer wissen. »Also ohne Investitionen, ja?!« »Die Effektivität läßt sich doch errechnen!« Palm ließ nicht locker. »Ich meine den Energieverbrauch. Und die Kosten für einen Prototypen einer solchen Anlage. Wenn Sie sich über die theoretischen physikalisch-chemischen Zusammenhänge – wenn Sie da so sicher sind!« »Wenn ich sicher wäre«, konterte Klöpfer, »müßte ich nicht experimentieren. Sie lehnen also ab!?« Er stand auf.
»Nein!« sagte Palm und ging zu seinem Platz zurück. »Fahren Sie fort!« Er setzte sich. »Warum sind Sie so aggressiv?« Klöpfer antwortete nicht. Er stand unschlüssig neben der Tafel und betrachtete seine Skizze. Ohne seine Pultlampe wieder mit Effekt einzuschalten, suchte Polazzo einzulenken: »Die Verbrennung von Stickstoff zu Stickoxyden, aus denen man Kunstdünger herstellen kann, wird heute sehr wirtschaftlich im Großen betrieben. Die Energie wird durch Braunkohle geliefert.« »Wie lange noch?« entgegnete Klöpfer. Er wirkte sehr müde. »Wie lange reicht der Vorrat an Braunkohle oder anderer fossiler Energie?« »Atomstrom. Man wird Strom aus Kernenergie verwenden!« Polazzo lachte. »Ja, ja. Ich kann mir die Einwände, die jetzt kommen, denken. Aber wie auch immer: Strom braucht Ihre Anlage doch auch? Oder?« Klöpfer nickte, aber dann schränkte er ein: »Der Verbrauch eines Impuls-Lasers steht in keinem Verhältnis zu einem Lichtbogen. Das ist das eine. Und das andere: Ich sagte ja bereits, die Synthese funktioniert unter normalen atmosphärischen Bedingungen. Sie brauchen einen starken Laser und einen Behälter mit normaler Luft. Ein Minimalaufwand, gemessen an den Hochdruckanlagen des herkömmlichen Verfahrens. Und denken Sie bitte an die Entwicklungsländer. Dort steigt der Bedarf an Kunstdünger sprunghaft an. Mit dieser Methode, die keine hohen Investitionen verlangt, könnten diese Länder autark werden. Natürlich kostet es Geld, mein Verfahren zu entwickeln. Aber wir betreiben hier schließlich Grundlagenforschung für die Zukunft.« »Sehr richtig!« Palm erhob sich wieder. »Ich glaube, Ihre Ausführungen genügen im Augenblick. Wir werden
abstimmen: Zur Debatte steht als Punkt drei: Ein Riesenimpuls-Jodlaser, Verstärker, optische Bänke, Umspannanlage, Kondensatorbatterie, ein Satz nichtlineare Kristalle… Wir haben die Liste ja vor uns.« Er blätterte in den Papieren, blickte plötzlich auf: »Ach ja, Herr von Klöpfer, warum eigentlich diese teuren Kristalle?« »Auch ein vierstufiger Laser liefert nicht die nötige Energie. Obwohl wir synchron von verschiedenen Seiten – auf einen einzigen Punkt, auf das Target…« Klöpfer machte eine entsprechende Handbewegung, demonstrierte das Zusammentreffen der Strahlen. »Sie verstehen das?« »Natürlich«, sagte Palm. »Natürlich verstehen wir das. Nur, bevor wir jetzt abstimmen: dreihundertsechzigtausend Mark. Das ist kein endgültiger Kostenvoranschlag, das ist Ihre grobe Schätzung. Und selbst wenn das Projekt auf unserer Etatliste landet- ich sehe in absehbarer Zeit keine Chance, bei der Höhe dieses Betrages!« »Wozu dann dieses ganze Theater?« Klöpfer war aufgesprungen. »Wozu diese Abstimmung?« »Es ist das Statut unseres Hauses«, entschuldigte sich Palm. »Sinnlos wird die Sache nur, wenn wir über Beträge abstimmen, die wir uns nicht leisten können!« Aber Klöpfer winkte ab: »Ich muß Ihnen widersprechen. Die ganze Methode ist sinnlos. Und zwar grundsätzlich. Da urteilen Kollegen anderer Fachrichtungen, die sich weder für meine Pläne noch für meine Ausführungen interessieren – ja, lassen Sie mich ausreden! –, urteilen Kollegen über mein Projekt ohne ausreichende Information, ohne Interesse, befinden durch Handaufheben über das zukünftige Schicksal einer Idee, die im Interesse der Menschheit verwirklicht werden muß…« Die Unruhe im Saal nahm zu. Ein Zwischenruf wurde laut. Er kam vermutlich von Büdel. »Scheißpathos!« Und der
holländische Biochemiker de Groot rief: »Neunzehntes Jahrhundert!« Aber Klöpfer war nicht zu stoppen: »Da wird ein Projekt zu Fall gebracht, fahrlässig, absichtlich, aus kleinkarierten Überlegungen, aus Laune und politischem Kalkül, aus Antipathie, aber in erster Linie aus Rivalität!« »Schwachsinn!« rief Sibilla Jacopescu, die aparte Rumänin. Laut genug, daß Klöpfer es trotz des lautstarken Protests, der von allen Seiten losbrach, hören mußte. »Seien Sie doch keine Pharisäer!« fuhr Klöpfer fort. »Wir sollten untereinander ehrlich sein und zugeben, daß letzten Endes jeder nur an seinem eigenen Forschungszweig, an seinen eigenen Ideen, an seinen eigenen Versuchen interessiert ist. Jeder will für sich die Wahrheit finden. Wir sind in diesem Haus nicht eine Gruppe von Kollegen, sondern eine Schar unverbesserlicher Egoisten. Einzelgänger! Alles andere ist Schönfärberei. Das junge Forscherteam des Blauen Palais – eine fromme Lüge!« Palm hob beide Hände und mußte seine ganze Autorität ins Feld führen, um den Protest zu stoppen: »Halt… halt, halt! Kollege Klöpfer wirft hier gerade einen Aspekt in die Diskussion, den wir ernsthaft und schonungslos diskutieren sollten!« »Aber doch nicht mehr heute nacht!« Sibilla lehnte sich ermattet gegen die Schulter de Groots und schloß die Augen. »Ich finde…«, Büdel begann zögernd und nachdenklich, »daß die subjektiven Empfindungen unseres Kollegen Klöpfer eine Debatte wert sind. Wobei ich hinzufügen muß, daß dieser Konflikt, der meines Erachtens keiner ist, schon seit geraumer Zeit in der Luft liegt. Und jetzt so nebenbei mal darüber reden, das ist doch Unsinn und führt zu nichts. Ich schlage vor, wir bringen den Etat über die Runden. Stimmen ab. Versuchen, das
bißchen Geld, das das Kuratorium uns zukommen läßt, gerecht zu verteilen.« »Gerecht?« Klöpfer war an Büdel vorbeigegangen und setzte sich hinter eines der Pulte in der ersten Reihe. »Gut«, sagte Palm, als sich kein Widerspruch meldete. »Stimmen wir ab.« Er ging nach vorn, stellte sich neben das Lesepult und blätterte in seinen Papieren. »Yvonne, lesen Sie vor. Es waren drei Punkte.« Yvonne, die zierliche Französin, die ihren Akzent vermutlich nur deshalb pflegte, weil er so erfolgreich war, verließ ihren Platz an der Seite Polazzos und setzte sich leger auf die Schreibtischplatte: eine Louis-XVI.-Intarsienarbeit auf einem Stahlrohrgestell. Es war nicht der einzige Stilbruch in dem umfunktionierten Palais. »Zuerst Biologie. Ein Gefriertrockner mit Vakuum. Voranschlag zwölf hundertfünf zig.« Sibilla hob zuerst die Hand. Das Gerät war für ihr Labor geplant. Jeroen de Groot folgte. Dann stimmten Polazzo, Carolus Büdel und schließlich Palm für den Antrag. Als Palm um Gegenstimmen bat, meldete sich Su-Shu-Wong zu Wort: »No money – kein Geld!« Mehr hatte er nicht vorzubringen. »Ja, ja, Mister Wong, ich weiß.« Palm lächelte und verschränkte die Arme. »Im Prinzip haben Sie recht. Sie sind hier der Finanzminister und…« Wong unterbrach ihn: »No finance – kein Etat! No money!« »Ja, aber irgendwie müßte das zu schaffen sein«, wandte Palm noch ein. »Enthaltungen?« Er blickte in die Runde. Nach kurzem Zögern hob Klöpfer seine Hand, ohne irgendeinen der Kollegen anzusehen. »Eine. Danke.« Palm machte sich eine Notiz. »Antrag eins kommt also in die Etatliste.«
Da wandte sich Klöpfer zu Sibilla Jacopescu um: »Kommt in die Liste. Natürlich. Wer kann Ihnen schon einen Wunsch abschlagen?!« Sibilla sah Klöpfer feindselig an: »Wie meinen Sie das, bitte?« »Ich stelle nur fest«, fuhr Klöpfer fort, »Ihre biochemische Abteilung hat niemals Schwierigkeiten bei der Etatverteilung. Woran mag das liegen? An Ihrem Charme? An Ihren Beziehungen?« Da fing ziemlich unvermittelt Sibillas rumänisches Temperament zu brodeln an: »Werden Sie nicht unverschämt, ja? Sie müssen doch zugeben – meine kleinen Wünsche im Vergleich zu Ihren Forderungen… Aber weinen Sie nicht gleich! Sie können ja immer noch umsatteln und meine Ratten füttern!« Ihr Zorn war kaum gezügelt. Klöpfer hätte besser daran getan zu schweigen. Aber eigensinnig fuhr er fort: »Effektivität! Darum geht es doch wohl: Effektivität! Ihr Rattenzirkus lohnt also Investitionen. Einmalige Dressuren. Zukunftsorientierte Forschung. Im Gegensatz zu meiner Arbeit!« Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Palm hielt ihn zurück: »Bitte, bleiben Sie! Wir müssen beschlußfähig bleiben.« Klöpfer blieb stehen und wandte sich nur zögernd um. »Außerdem«, fuhr Palm fort, »habe ich eine herzliche Bitte: Wir wollen uns bemühen, sachlich zu bleiben. Danke.« Er wandte sich wieder an Yvonne. »Wir machen weiter. Der nächste Punkt, Antrag zwei…« Yvonne las aus der Liste: »Nummer zwei: Lichtbogenspektrograph. Antrag von Enrico Polazzo. Achtzehntausendsechshundert.« »Ein gebrauchtes Gerät. Sehr günstig, sehr gut erhalten, second hand…« Polazzo hob gleichzeitig die Hand, um für
seinen Antrag zu stimmen. Die anderen folgten, einer nach dem anderen – mit Ausnahme von Wong und Klöpfer. »Danke«, sagte Palm und notierte das Ergebnis. »Wer ist dagegen?« »No money – kein Geld – wirklich!« Wongs Einwand war der gleiche wie eben. »Mister Wong…« Palm trat ins Dunkel des Saales, wo sich Wong hinter einer Säule verbarrikadiert hatte. »Da wir Sie haben, als unser Finanzgenie, wird es doch sicher einen Weg geben, glauben Sie nicht? Sie sparen das woanders ein. Ich bin sicher.« »Ja, sicher«, wandte Carolus Büdel ein, »am Essen!« Das Gelächter war nicht sehr heiter gemeint. Offenbar war das ein wunder Punkt in der Haushaltsführung des Palais. Palm ging allerdings nicht weiter darauf ein: »Mister Wong, Sie haben das bisher immer geschafft. Ich hoffe, es klappt auch diesmal.« Und ohne Wong die Möglichkeit zu einem weiteren Einwand zu lassen, fuhr er fort: »Gibt es Enthaltungen?« Er sah sich um. Und tatsächlich, Klöpfer meldete sich wieder. Palm nahm das zur Kenntnis, setzte die Enthaltung ins Protokoll und wandte sich wieder an Yvonne: »Wieder nur eine. Der Lichtbogenspektrograph kommt auf die Liste. Vorausgesetzt, daß Mister Wong irgendwie die Finanzierung schafft!« Dann setzte Palm sich und lehnte sich zurück. »Der letzte Punkt. Punkt drei.« Eine Handbewegung zu Yvonne. Die las von der Liste ab: »Letzter Punkt. Vierstufiger Jodlaser für Herrn von Klöpfer.« Die Pause war lang. Es war nicht nur die Erschöpfung nach diesem langen Tag- es war die Ruhe vor dem Sturm. So empfand das jeder im Saal. Und keiner machte den Anfang. Langsam wandte Klöpfer sich wieder ab, ging zwei Schritte in Richtung der breiten Treppe, die nach oben führte, als Palm ihn anrief: »Herr Kollege von Klöpfer…«
Klöpfer blieb stehen. Er fühlte sich alt. Alt und überflüssig. Im Kreis dieser jungen Kollegen, die alle noch den Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Karriere vor sich hatten, merkte er plötzlich, daß alles, was einen Kampf lohnen würde, längst hinter ihm lag. Er hatte seine Chancen gehabt. Das war vorbei. Viel war nicht dabei herausgekommen. Und als der Zufall ihn in dieses Palais geführt hatte, in diese Gruppe progressiver, junger, vitaler Wissenschaftler, die alle noch den Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten hatten, da hatte er geglaubt, es gebe einen zweiten Anfang für ihn. Noch mal von vorne anfangen. Die Fehler der Jugend vermeiden, aber das Kapital der Jugend, die Zeit, den Optimismus, die Selbstüberschätzung, einbringen dürfen. Er war ein Fremdkörper geblieben. Skeptisch, hölzern, verbissen. Er hatte keine Geduld mehr, etwas in kleinen, realistischen Schritten zu erreichen. Er mußte es zwingen. Jetzt! Oder er mußte gehen. »Herr Kollege von Klöpfer…«, hatte Palm ihm nachgerufen. Was wollten die noch von ihm? Sie sollten ihn doch besser in Ruhe lassen. Er wollte nach oben, schlafen. Ehrgeiz. Verbissenheit. Was soll das alles? Schluß, aus. Eine neue Generation war jetzt am Zug. Neunzig Prozent aller Wissenschaftler, die diese Menschheit bisher in fünftausend Jahren hervorgebracht hatte, arbeiteten und wirkten heute. Und die meisten waren noch keine fünfunddreißig. Klöpfer war Ende fünfzig. Und wenn man ihm jetzt die Chance für einen ehrenvollen Abgang bot, bei dem er sein Gesicht nicht verlor – er würde gehen. »Sagen Sie«, wandte sich Palm wieder an ihn, »gibt es da nicht irgendeine Möglichkeit – bitte, verstehen Sie das richtig – aber der Betrag ist für unsere Verhältnisse einfach zu hoch… Gibt es keinen Kompromiß?«
»Ich mache keine Kompromisse!« Da war er wieder, dieser Stolz, diese Verbissenheit. Klöpfer war unflexibel geworden. Und er hatte Angst. Die Angst, aus dem Rennen zu sein. Endgültig… »Also gut«, sagte Palm. »Wer ist für diesen Antrag – in der vorliegenden Form?« Klöpfer warf nur einen kurzen Blick auf das schweigende Auditorium, das im Dunkeln saß. Er begann wieder seinen Mantel zuzuknöpfen, während er langsam den ganzen Weg zur Tafel zurückging, langsam, voller Resignation und Müdigkeit. Er ergriff einen Lappen, der am Boden lag, mit einer mühsamen Geste. Dann begann er die Tafel abzuwischen. Seine Berechnungen. Seine Skizzen. »Danke, daß Sie mir vorhin zugehört haben!« »Wer ist für diesen Antrag?« wiederholte Palm. Klöpfer hörte diese sinnlose Aufforderung und ließ sich nicht in seiner Tätigkeit stören. Dann ging er endgültig. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, den Lappen voller Kreidestaub immer noch in der verkrampften Hand, ging er zur Treppe. Er konnte nicht sehen, daß Sibillas Hand sich hob. Er hörte nur die Frage von Palm: »Ja? Bitte?« Und er hörte Sibillas Antwort: »Ich bin dafür!« Da blieb Klöpfer stehen. Eine Hand nach der anderen ging nach oben, zögernd zwar, aber das spielte keine Rolle mehr. Nur Wong murmelte etwas vor sich hin, was wie »No money« klang. Aber das nahm nun keiner mehr ernst. Klöpfer nickte, während Palm die Stimmen notierte, und ging grußlos nach oben, Stufe um Stufe, ohne sich nochmals umzusehen.
2 Schon mittags war die Dämmerung über das Land gefallen, zusammen mit einem dünnen, eisiggrauen Nebel. Aus den zahlreichen Fenstern hinter der blauen Fassade des Palais fiel das kalte Licht der Leuchtstoffröhren. Labors, Arbeitsräume, Bibliothek, die Halle, die Verwaltungs- und Büroräume von Palm, Yvonne und Wong. Die Mitarbeiter standen an den Fenstern, blickten hinunter in den Hof. Dort hatte sich ein Schwertransporter tief in den aufgeweichten Kies gewühlt. Drei Männer in Overalls und mit blauen Schutzhelmen luden mit Hilfe eines Auslegerkrans lange Eisenschienen ab. Das heißt, im Augenblick standen sie alle unschlüssig herum, während die Last über ihnen am Haken schwebte. Kühn, der Hausmeister des Palais, der das Abladen überwachen sollte, hatte Palm zu Hilfe geholt. Jetzt traten beide aus dem Portal ins Freie. Palm schlug den Kragen seines Jacketts hoch. Aber das half wenig gegen die beißende, feuchtklamme Kälte, die einen überfiel. »Das hätte man doch vorher wissen müssen…!« Palm sah sich hilflos um. Kühn nickte hinter ihm. »Mir war das von Anfang an klar. Ich habe auch mehrfach darauf hingewiesen. Aber Herr Doktor von Klöpfer meinte, ich soll mich da raushalten. Er würde das persönlich und rechtzeitig klären.« »Mit mir hat er nicht gesprochen. Kein Wort. Seit drei Wochen. Wo ist er überhaupt?« Palm blickte zur Fassade hoch, wo die Mitarbeiter hinter den Fenstern miteinander diskutierten. Klöpfer war nicht darunter.
»Vermutlich ist er unten im Labor«, mutmaßte Kühn. »Labor?« Kühn traf ein strafender Blick, so, als sei es seine Schuld. »Er könnte sich ja zum Beispiel selbst darum kümmern, wenn seine Geräte eintreffen, oder?« Palm war sichtlich verärgert. »Ich würde Sie bitten, Herr Professor Palm, das Herrn Doktor von Klöpfer persönlich zu sagen.« Wenn Kühn, das altersgraue Faktotum des Hauses, unsicher war, wurde er förmlich. Der ganze Vorgang war ihm ungemein peinlich. Er hatte das Gefühl, zwischen den Fronten zu stehen. Denn mit Klöpfer verband ihn einiges. Als vor etlichen Jahren Kühns feinmechanische Werkstatt gegenüber der Braunschweiger Uni pleite machte, hatte ihn Klöpfer als Techniker an die TU geholt. Und ebenfalls durch Klöpfers Vermittlung war Kühn schließlich im Blauen Palais gelandet. Daß er dort nun in erster Linie Klöpfers Apparaturen betreute, verstand sich von selbst. Und außerdem – aber das war mehr eine stille Übereinkunft: Beide trauten keinem unter dreißig. Wong war inzwischen erschienen und kontrollierte Lieferscheine und Frachtbriefe. Er hatte seinen Abakus mitgebracht, sein chinesisches Rechenbrett. Jetzt schnippte er mit großer Fingerfertigkeit die einzelnen Kugeln auf ihrer Achse hinauf und herunter, und verglich die Resultate mißtrauisch durch seine dicken Brillengläser mit den von einem Computer ausgedruckten Frachtraten. Palm und Kühn waren inzwischen in der Remise verschwunden und die hinter einer großen, chaotisch vollgestellten Werkstatt liegende Wendeltreppe hinuntergestiegen. Der Kellergang war sehr spärlich erleuchtet, nur über einer der Eisentüren flammte in regelmäßigen Abständen ein Leuchtkasten auf und erfüllte den schmalen, langen Raum mit feuerrotem Licht: »Nicht eintreten! Laser!«
Während Kühn sich entspannt an die Mauer lehnte, wartete Palm nervös und mit der Klinke in der Hand auf das Verlöschen des Warnzeichens. Als nichts geschah, horchte er an der Türe, schließlich klopfte er, erst zaghaft und vorsichtig, schließlich mit der ganzen Kraft seiner Fingerknöchel. »Herr von Klöpfer…!« Palm lehnte den Kopf gegen die Eisentür, um die Antwort nicht zu überhören. Aber es kam keine Antwort. Klöpfer erschien persönlich. Er schob seine dunkle Schutzbrille nach oben und sah sich geblendet um. »Ach, Sie sind es! Warum kommen Sie nicht herein?« Damit wandte er sich ab und verschwand wieder in seinem Labor. Palm zeigte auf den rot aufflammenden Lichtkasten: »Das Zeichen. Das Warnzeichen brannte. Es brennt immer noch…!« Damit folgte er Klöpfer in den abgedunkelten Raum. Klöpfer hantierte an einem Schaltkasten. Das Warnlicht verlöschte, und die Leuchtstoffröhren des Labors flammten auf. »Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür.« Klöpfer hatte sich an Kühn gewandt, der immer noch unentschlossen draußen stehen geblieben war. »Ihre Apparaturen sind eingetroffen, die optischen Bänke«, begann Palm nach einer Pause leicht gereizt die Konversation. »Ich weiß!« entgegnete Klöpfer. »Herr Kühn hat mich informiert.« Er setzte sich an seinen Schreibtisch und machte sich Notizen. »Sie haben offensichtlich kein sehr großes Interesse.« Palm war nähergetreten und versuchte, Klöpfer über die Schulter zu blicken. »Soll ich beim Abladen helfen?« Klöpfer blickte kurz auf. »Sie könnten sich Gedanken darüber machen, wo die Apparaturen aufgestellt werden sollen. Ich dachte, das sei längst entschieden, jetzt höre ich von Yvonne…«
Klöpfer lachte kurz auf und unterbrach damit Palm. »Von mir wollten Sie es ja nicht hören, Herr Palm!« Er widmete sich wieder seinen Notizen, während er weitersprach. »Ich habe bereits vor Wochen in einer Notiz darauf aufmerksam gemacht, daß die ganze Unternehmung sinnlos sei. Ich habe nun ziemlich exakte Berechnungen angestellt. Sie haben mich damals zu einem Kompromiß gezwungen…« »Ein sehr teurer Kompromiß – und Sie waren damit einverstanden!« Palm hielt sich nur mühsam zurück. »Ich war damit einverstanden, ja. Das ist meine Schuld. Aber inzwischen weiß ich es besser. Es funktioniert nicht, kann nicht funktionieren. Die Anlage ist viel zu schwach. Das habe ich Ihnen mitgeteilt. Und Sie haben darauf nicht geantwortet.« Palm zog sich einen Hocker, der vor einem Spektrographen stand, neben Klöpfers Tisch und setzte sich. »Ich habe von Ihnen nichts erhalten. Keine Notiz, keine Berechnung. Sie haben seit Wochen mit mir nicht geredet, Herr Klöpfer. Wir arbeiten, wohnen, essen unter einem Dach. Und Sie weichen mir aus.« Er holte tief Luft, sah zu Kühn, der scheinbar unbeteiligt neben einer Apparatur stand und irgendwelche Details zu studieren schien. »Ich habe versucht, mehrmals versucht, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen, Herr Klöpfer. Sie haben jede Diskussion mit mir und anderen Kollegen des Hauses abgebrochen und sich hier unten in Ihrem Keller vergraben.« »Ich hatte hier unten sehr Sinnvolles zu tun. Das Ergebnis meiner Arbeit liegt, wie schon gesagt, seit Wochen auf Ihrem Tisch. Wenn die dort herrschende Unordnung Sie daran gehindert hat, den Fall zur Kenntnis zu nehmen – also dafür kann ich nichts!« Jetzt blickte Klöpfer Palm voll ins Gesicht. »Und darüber zu reden«, fuhr er fort, »dazu bestand wirklich keine Notwendigkeit mehr.«
Palm sah sich um. Kühn reagierte immer noch nicht, Klöpfer schrieb wieder kleine Zahlenkolonnen auf das Papier. Einer von uns ist verrückt, zumindest nicht mehr zurechnungsfähig, dachte Palm. Er faßte sich an die Stirn. »Ja…« Klöpfer lehnte sich plötzlich zurück und schaute zur Decke, in das Gewirr von schwarzen Kabeln, die mit Bindfäden und Drähten provisorisch aufgehängt waren. »Ich war sehr überrascht, daß die Apparatur nun doch noch hier eingetroffen ist. Wirklich sehr überrascht.« Tief durchatmen, dachte Palm. Ganz tief durchatmen. Und er versuchte es sogar. Dann erst setzte er das Gespräch fort: »Und?« fragte er. »Wie geht’s weiter?« »Ich weiß nicht«, antwortete Klöpfer, ohne den Blick von dem Kabelwirrwarr zu nehmen. »Alles wieder aufladen und zurückschicken?« wollte Palm wissen. Klöpfer nickte nur, und erst nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Das Sinnvollste – vielleicht. Das Billigste bestimmt.« Da richtete sich Kühn plötzlich auf und meldete sich zu Wort. »Es war eine Spezialanfertigung, wenn Sie erlauben.« Er kam näher. »Drei Monate Lieferzeit. Alles angefertigt nach den Berechnungen des Herrn von Klöpfer. Ich glaube nicht…« Er brach ab, als er Palm in die Augen sah. »Ich glaube auch nicht!« sagte der nur. Und dann stand er auf. »Wann haben Ihre Berechnungen den Irrtum oder wie immer Sie das nennen… Seit wann wissen Sie, daß die kleinere Anlage, auf die Sie sich eingelassen haben, nicht funktioniert?« »Seit vier Wochen!« »Vor vier Wochen war die Anlage längst im Bau. Da gab es nichts mehr zu stornieren. Herr von Klöpfer, die Apparaturen sind eingetroffen. Bitte, kümmern Sie sich um die Aufstellung.« Palm ging zur Tür, ohne sich umzublicken.
»Wo?« Klöpfer war nun ebenfalls aufgestanden. »Wo soll ich sie aufstellen lassen? Hier unten?« Er zeigte auf den vollständig mit Apparaten zugestellten Kellerraum. »Oder draußen auf dem Gang?« Palm bemühte sich, den Sarkasmus zu überhören. Er blieb in der offenen Tür stehen, sah sich um. »Wo hatten Sie die Aufstellung geplant?« wollte er wissen. »Es gibt nur einen Raum, der lang genug ist und der die schweren Fundamente der optischen Bänke trägt: der erste Stock. Links neben der Bibliothek. Der Raum ruht auf dem Tonnengewölbe der Wirtschaftsräume. Ich spreche vom sogenannten Großen Salon.« »Dort arbeitet Herr Polazzo!« Palm zog die Eisentür nochmals zu und drückte sie ins Schloß. »Der Raum wird sehr selten benutzt. Er steht fast leer«, erwiderte Klöpfer. Palm nickte kurz, dann drückte er die Tür wieder auf. »Gut. Dann sprechen Sie mal mit ihm!« »Mit Polazzo?« Klöpfer sah Palm zweifelnd an. »Wieso ich?«
3 »Das ist nicht dein Ernst!« Polazzo war stehen geblieben und sah Yvonne fassungslos an. »Ich soll da raus?« Die beiden hatten sich auf dem Treppenhaus zufällig getroffen. Aber vielleicht war es gar kein Zufall. Vielleicht hatte Yvonne mit ihrer delikaten Mission ihn einfach abgepaßt. »Sie sagen, es ist die einzige Möglichkeit…!« »Wer sagt das?« Polazzo wollte es genau wissen. »Wer hatte die Idee mit diesem Raum?« »Palm und Klöpfer und Kühn…« Sie lächelte ihn an, aber er blieb ernst. »Aha!« Er nickte nur kurz. Die eine Ader auf der linken Seite seines Halses schwoll gefährlich an. Yvonne kannte dieses Zeichen. »Und ausgerechnet dich haben sie vorgeschickt, mir das schonend beizubringen, was?« Er drehte sich wortlos um, ging wieder nach oben, kramte den Schlüssel aus seiner Tasche und schloß die breite, weißlackierte Tür auf, die in den fraglichen Raum zu führen schien. Zögernd war Yvonne ihm gefolgt, war hinter ihm eingetreten. Statt des üblichen, etwas abgetretenen Intarsienparketts, das in allen repräsentativen Räumen des Palais zu finden war, hatte man im Zuge irgendeines Umbaus den Boden mit Asphalt ausgegossen. Irgendwo waren noch Reste von irgendwelchen Fundamenten verschraubt. Aber bis auf einen vollgepackten Schreibtisch und einen Berg ausrangierter Apparaturen, die in der Ecke lagen, war der Große Salon tatsächlich leer. Polazzo stand trotzig in der Mitte des Raumes und starrte auf den Schreibtisch, auf dem sich alte Zeitungen stapelten. »Ich hatte fest vor, irgendwann hier herauf zu ziehen. Mein Labor ist längst zu klein – zu voll und zu eng!«
Er warf einen kurzen, zornigen Blick auf Yvonne, die durch diesen ehemaligen Salon wanderte und schließlich aus dem Fenster in den Hof hinunterschaute. »Ich denke nicht daran, den Raum freizugeben. Hast du das verstanden?« Yvonne nickte nur. Draußen hielten die Arbeiter der Spedition sich immer noch an ihren Bierflaschen fest und diskutierten. »Du kannst allen sagen, daß ich bleibe!« Polazzo hatte einen Fuß auf den Schreibtisch gesetzt und knotete das Schuhband neu. Dann setzte er den Fuß wieder auf den Boden, schlüpfte aus seinem weißen Mantel, knüllte ihn zusammen und feuerte ihn in die Ecke. Das waren so die subtilsten Ausbrüche seines romanischen Temperaments, die für gewöhnlich größere Explosionen einleiteten. »Wo ist dieser Palm überhaupt – und dieser Klöpfer. Wo sind die? Warum kommen die nicht selbst?« Er hatte plötzlich losgebrüllt. In dem leeren Raum vervielfachte sich der Schall. Yvonne war zusammengezuckt, und es schien ihr, als sei Enrico Polazzo selbst erschrocken über die Gewalt seiner Stimme. »Sie sind unten«, Yvonne begann sehr zaghaft, sehr vorsichtig. »Sie sind alle unten im Archiv!« »Archiv! Gute Idee!« Polazzo bückte sich wieder nach seinem Mantel, schüttelte ihn aus, warf ihn über den Zeitungsstapel auf dem Schreibtisch. »Ein Riesenraum, dieses Archiv«, fuhr er fort. »Kaum genutzt – und bestimmt groß genug für dieses Millionenobjekt des Kollegen Klöpfer.« Aber Yvonne hatte sich vom Fenster abgewandt, war wieder in die Mitte des Raumes gekommen und schüttelte den Kopf. »Geht nicht, Enrico. Leider. In das Archiv kommt die große Kondensatorbatterie für den Laser.«
Bevor Polazzo darauf eingehen konnte, war Palm eingetreten. Er deutete die plötzliche Ruhe völlig falsch: »Ich danke Ihnen, daß Sie Verständnis haben, Herr Polazzo.« Er trat zu ihm, nahm ihn freundschaftlich am Arm. »Ich finde das sehr kollegial. Wirklich.« Ohne auf irgendwelche Einwände zu warten, ging Palm weiter in den Raum. Er schien ihn offenbar mit Schritten auszumessen. Dann trat er ans Fenster, öffnete einen der Flügel und lehnte sich hinaus. Immer noch lief die Maschine des Schwerguttransporters. Kalter Dieselqualm wehte herauf, Lärm, ein eisiger, feuchter Hauch aus dem Park. »Wo kann ich Ihren Schreibtisch hinbringen und die anderen Dinge, Herr Doktor Polazzo?« Kühn war lautlos und überraschend hinter Polazzo getreten und hatte begonnen, die alten Zeitungen vom Tisch zu räumen. »Am besten, Sie stellen alles auf den Hof!« Polazzo griff nach seinem Mantel, drehte sich um und ging. Wortlos drängte er sich an Klöpfer vorbei, der hereingekommen war und sich umsah. Er hielt einen Plan in der Hand. »Herr Kühn.« Kühn hatte gerade den alten Schreibtisch angehoben und wollte ihn zur Tür schleppen. Jetzt stellte er ihn wieder ab. Klöpfer legte den Plan auf den leeren Tisch. »Hier – der Grundriß. Die Fundamente der optischen Bänke. Es ist alles genau eingezeichnet. Mit Maßangaben. Wenn Sie noch Fragen haben – ich bin unten im alten Labor. Ich danke Ihnen!« Damit wandte er sich um und verließ den Raum. Palm war vom Fenster her an den Schreibtisch getreten und blickte Kühn über die Schulter. Yvonne trat ebenfalls dazu. »Ein fertiger Plan?« Palm nahm die Skizze hoch, betrachtete sie durch seine Lesebrille, die er aus der Brusttasche seines Jacketts genommen hatte. »Ein Plan mit allen Details?«
Er schaute über die Glaser seiner Brille hinweg auf Kühn und fuhr nach einer Pause fort: »Der ist doch sicher schon seit Tagen oder Wochen fertig, dieser Plan. Oder was meinen Sie, Herr Kühn?« Er reichte den Plan weiter. Kühn nahm ihn, legte ihn wieder auf den Schreibtisch, um ihn zu studieren. »Ach ja«, sagte er, »der Herr Doktor von Klöpfer. Der ist noch von der alten Schule – und in allen Dingen sehr genau…!« Zwei Stunden später hatte Kühn mit Hilfe des Krans die Fundamente und die T-Träger der optischen Bank durch die Fenster in den »Großen Salon« dirigiert und an den vorgesehenen Punkten millimetergenau aufstellen lassen. Die Neugierde der anderen Institutsmitarbeiter hatte nachgelassen. Nur Jeroen, der Biochemiker, und Sibilla standen in der offenen Tür der Remise und beobachteten die langen Stahlschienen, die an der blauen Fassade entlang nach oben schwebten. »Nach meiner Meinung: keinerlei Chancen!« Polazzo war dazugetreten und gab seinen bissigen Kommentar: »Auf diesem Forschungsgebiet ist doch für Einzelgänger kein Platz.« Er wickelte sich fester in seinen dünnen, weißen Labormantel. »Mit einigen hunderttausend Mark – die uns allen hier bitter fehlen – ankämpfen wollen gegen die Superetats der Supermächte…!« Er lachte und wandte sich ab. Aber dann fügte er noch hinzu: »Laserforschung- an sich ist sie sinnvoll. Aber so…« Die Schiene der optischen Bank war im Raum verschwunden. Der Haken des Krans senkte sich wieder in den Hof und wurde anschließend an einige Holzkisten befestigt. »Nur eines steht fest…« Polazzo war nochmals zurückgekommen und zu Sibilla und Jeroen getreten, »wir anderen sind bereits abgemeldet und werden an die Wand
gedrängt. Klöpfers Projekt hat eindeutig Priorität.« Damit wandte er sich endgültig zum Gehen, lief davon, sprang über die Pfützen, die sich in den Rinnen gebildet hatten, die der Schwerguttransporter hinterlassen hatte, und verschwand im Pavillon, der einsam zwischen dürren Büschen mitten auf einem ungepflegten, herbstlichen Rasen stand. Licht flammte hinter den bunten Scheiben des Pavillons auf. Ohne auf Polazzos Kommentare näher eingegangen zu sein, gingen Jeroen und Sibilla in die Remise, stiegen schweigend die knarrende Holztreppe nach oben, schlüpften durch die Plastikvorhänge, die ihnen mit dem Überdruck der Laborräume entgegenwehten und so die Atmosphäre der Räume weitgehend steril hielten. Die weißen Ratten schnupperten mit ihren rosa Schnauzen durch die Käfiggitter. Die Mäuse rasten in ihrer Trommel, die sich mit leisem Kreischen drehte, und spielten Dauerlauf bis zum Exzeß. Und die Kaninchen mit dem traurigen Blick und den nervösen Schnauzen trampelten ihren Morsecode von Stall zu Stall. Sibilla kontrollierte Trinkwasser und Futter in den automatischen Vorratsbehältern, sprach leise auf ihre Schutzbefohlenen ein. Jeroen hatte sich wieder hinter sein Mikroskop gesetzt. Beide schwiegen immer noch, während der Kran des Transporters mit schrillem Sirren Kiste um Kiste in das neue Laserlabor hievte.
4 Das dünne Stahlband sprang auseinander. Es klang wie das Bersten einer Gitarrensaite, als Kühn mit einer Zange die Umhüllung einer langen, schmalen Holzkiste löste, Draht um Draht. Als er den Deckel geöffnet hatte, kam unter Plastikwolle schließlich ein Metallbehälter zum Vorschein. Klöpfer öffnete ihn persönlich, nahm mit weißen Leinenhandschuhen, die er nur zu diesem Zweck angelegt hatte, einen violett schimmernden Glasstab heraus. Der Stab, den er gegen das Licht hielt, war fast einen Meter lang und knapp mit einer Hand zu umspannen. »Hier – das Herzstück unseres neuen Lasers.« Klöpfer sah sich kurz um, zu Kühn, der sein Werkzeug abgelegt hatte und nähertrat. »Hübsche Farbe.« Kühn betrachtete den Stab aus respektvoller Entfernung. »Ja…« Klöpfer drehte den Stab vor dem hellen Tageslicht des Fensters. »In das Glas sind Neodym-Atome hineingemischt.« Vorsichtig legte er den Stab in die dafür vorgesehene Halterung auf der optischen Bank. »Und regt man diese Atome nun durch Lichtblitze an, aus dieser Entladungslampe, zum Beispiel…« Er hatte sich ein Fotoblitzgerät vom Regal geholt, es eingeschaltet und hielt es nun über den Stab. »… dann geben sie ihrerseits Strahlungsenergie ab – in Form von Licht. Und es ist sehr spezielles Licht…« Mehrmals hintereinander zündete Klöpfer die Blitzlampe, aber nichts geschah. »Die Wirkung unseres kleinen Blitzgeräts ist sehr schwach – aber immerhin. Das von den NeodymAtomen abgegebene Licht wandert nun im Stab hin und her – die Enden hier sind ja verspiegelt und werfen den Strahl immer
wieder zurück –, bis die Strahlung so stark ist – sie verstärkt sich ja immer mehr –, daß sie den Spiegel durchbricht.« Kühn war nahe an das verspiegelte Ende des Stabes getreten, hatte sich gebückt und auf das Resultat der Demonstration gewartet. »Ich sehe nichts…« Jetzt richtete er sich wieder auf. »Natürlich. Ich sagte doch, das Gerät ist zu schwach. Aber das vom Stab emittierte Licht ist meßbar. Wenn es auch für Sie nicht sichtbar ist.« Klöpfer legte das Blitzgerät wieder in das Regal. »Aber warten Sie bis zur nächsten Woche. Da haben wir die Hüllen mit den Blitzröhren um den Stab montiert.« Langsam wanderte Klöpfer durch den Raum, an den langen Schienen der optischen Bänke entlang, auf denen bereits Linsensysteme, Spiegel und Verstärker montiert waren. »Bei jeder Entladung schießt dann das Licht aus dem Stab, durch den Spiegel hindurch, scharf gebündelt, fokussiert durch die optischen Systeme, gebrochen, umgelenkt durch die Spiegel, verstärkt – und trifft hier auf den Behälter mit dem gefrorenen Stickstoff…« Er blieb nachdenklich stehen, betrachtete lange das »Target«, das Ziel seines Laserstrahls am Ende der Schiene, die wie ein Mäander, immer wieder rechtwinklig umgeleitet, in zahlreichen Reihen den ganzen Raum ausfüllte. »… nächste Woche. Ich hoffe, wir sind dann so weit. Ein Laserblitz von einer Nanosekunde, einer Milliardstel Sekunde, kaum wahrnehmbar, aber von ungeheurer Energie, wird dann durch die Anlage jagen und hier auf den Behälter treffen. Dann wird sich zeigen…« Wieder brach er ab und schwieg eine Weile. Er ging zurück, schraubte hier, veränderte dort. »Ich bin sehr froh darüber«, fuhr Klöpfer schließlich fort, »sehr froh darüber, daß Sie sich hier so gut eingearbeitet haben, Herr Kühn.« Er nickte ihm anerkennend zu und Kühn lächelte stolz zurück. »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Doktor von
Klöpfer. Wirklich. Ich bin immer für Sie da. Die ständigen Handlangerdienste hier im Haus – da mal und dort irgendwas – das habe ich langsam satt.« Er griff nach seiner Bierflasche, die zur Hälfte geleert auf einem Regal in greifbarer Nähe stand, und nahm einen tiefen Schluck. »Wir müssen den Rubinlaser noch mal anschließen, um mit dem Dauerstrahl die Fokussierung zu justieren. Kommen Sie.« Klöpfer nahm das kleine, handliche Lasergerät, das heute bereits zur Ausrüstung jeder Tiefbaufirma gehörte, von seinem Labortisch und setzte es dicht hinter den Neodymstab auf eine dafür vorgesehene Platte. Kühn schloß das Kabel an das Netz. Ein leuchtendroter Strahl lief von Linse zu Linse, von Spiegel zu Spiegel, ließ alle Gegenstände, die er traf, blutrot aufflammen, blieb auf den Zwischenstrecken allerdings unsichtbar. Nur die Staubteilchen, die langsam durch die Luft wirbelten, blitzten für Sekundenbruchteile leuchtendrot auf, wenn sie in den Laserstrahl gerieten.
5 In dieser Woche, wie in den Wochen zuvor, bekamen die übrigen Bewohner des Blauen Palais Klöpfer und Kühn nur selten zu Gesicht. Auf dem Hof stapelten sich leere Kisten und Kartons, und der Wind blies hin und wieder helle Holzwolle-Ballen hinüber zur Remise. Das Laub, das Kühn noch rechtzeitig zu Haufen gekehrt hatte, wirbelte hinterher und verteilte sich wieder über Hof, Rasen und Park. Hinter den Fenstern des ersten Stocks schien das Licht nicht mehr zu verlöschen. Es brannte bis zum frühen Morgen. Handwerker waren aus der nahen Kreisstadt gekommen, neugierig wie alle Außenstehenden hatten sie das Institut des Blauen Palais betreten und waren enttäuscht, ohne Sensationen erlebt zu haben, wieder abgefahren. Sie hatten lediglich die breite, weißlackierte Holztür zum großen Salon im ersten Stock gegen eine schmalere Stahltür ausgewechselt und einen Leuchtkasten darüber montiert mit der Warnung: »Nicht eintreten! Laser in Betrieb!« Daneben wurde ein gelbes Blinklicht und eine Feuerhupe installiert. Sozusagen für den Notfall. Diese ganzen langwierigen und intensiven Vorbereitungen entfachten bei den übrigen Institutsmitarbeitern keinerlei Interesse. Es war durchaus einmal üblich, ein Projekt, die Realisierung einer Idee, ein Experiment ohne laufende Informationen, sozusagen im stillen, vorzubereiten und durchzuführen. Erst die Ergebnisse, die positiven wie die negativen, wurden dann öffentlich mitgeteilt und diskutiert.
Aber diesmal umgab die Arbeit dieses Teams im ersten Stock etwas anderes. Das roch nach Geheimnistuerei, wirkte subversiv und störte das Gefühl der Solidarität in diesem Hause sehr nachhaltig. »Na, Herr Kühn, wie sieht’s aus? Klappt alles?« Büdel traf auf der Treppe mit Klöpfers Faktotum zusammen. Aber Kühn antwortete nur: »Mahlzeit, Herr Büdel«, nickte freundlich und wankte blaß und übernächtigt nach unten. Unten in der alten Schloßküche, die mit modernen Geräten ausgestattet war, fischte sich Kühn zwei Packungen irgendeines Fertigmenüs aus der Tiefkühltruhe und ging damit zum Mikrowellenherd, um sie zu erhitzen. »Nanu, Herr Kühn, doppelte Ration zur Feier des Tages?« Polazzo hatte sich gerade sein Gulasch angewärmt und machte auf das Klingelzeichen hin den Herd wieder frei. »Nein, nein«, Kühn winkte müde ab. »Das zweite Menü ist für Herrn Doktor von Klöpfer.« Er schob die Pakete in ihren Silberfolien in den Herd, riegelte zu und drückte die entsprechenden Knöpfe. »Ach, Klöpfer verläßt sein Labor jetzt überhaupt nicht mehr?« Polazzo war neben Kühn stehen geblieben und versuchte die heiße Folie seines Menüs abzuziehen. »Ein, zwei Tage noch!« Kühn setzte sich ermattet auf einen der altmodischen Küchenhocker, die aus der Zeit übriggeblieben waren, als in diesem Raum noch hochherrschaftlich und wesentlich besser gekocht worden war. Yvonne hatte in der Zwischenzeit die Tiefkühltruhe inspiziert und offenbar nicht das Gewünschte gefunden. Jedenfalls kam sie mißmutig mit ihrem Päckchen zum Herd, schnupperte über Polazzos Essen, das dieser gerade auf ein Plastiktablett stellte. »Auch nur Gulasch. Zum Kotzen. Wo ist Sauerbraten? Wo Rehragout?«
»Vermutlich aus.« Polazzo grinste Yvonne an. »Du wolltest doch sowieso abnehmen, oder?« »Aber nicht heute. Und nicht unter Zwang.« Yvonne ging weiter zum Herd und wandte sich an Kühn: »Und was haben Sie gewählt, Herr Kühn?« Der blickte erstaunt auf das Mädchen vor ihm, als sei er gerade erst erwacht und käme von weit her. »Gewählt? Bitte?« »Zum Essen?« Sie zeigte auf die Menüs im Herd. »Ich weiß nicht, Fräulein Yvonne. Wirklich. Ich habe nur irgend etwas aus der Tiefkühltruhe… Keine Ahnung, was drin ist.« »Ich finde das sehr kulturlos von Ihnen!« sie hockte sich neben Kühn, nicht auf einen Hocker, sie schwang sich auf den alten, überdimensionalen Kohleherd, der mit Plastikfolie abgedeckt war und als Ablage diente. »Sehr kulturlos und sehr deutsch!« In solchen Augenblicken fühlte sich Yvonne diesen barbarischen Teutonen sehr überlegen. »Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, Fräulein Yvonne. Nur – im Augenblick haben wir einfach ganz andere Sorgen – ganz andere Probleme – wenn Sie das verstehen, der Herr Doktor von Klöpfer und ich.« Der Herd gab ein Klingelzeichen von sich, und Kühn war damit von der weiteren Konversation Yvonnes erlöst. Aber in der Tür stand Polazzo, löffelte sein Gulasch im Stehen, und es hatte den Anschein, als hätte er auf Kühn gewartet. »Der neue Spektrograph ist eingetroffen, Herr Kühn. Wann hätten Sie Zeit, ihn zu montieren?« Kühn drängte sich an Polazzo, so schnell er konnte, vorbei, was nicht einfach war, denn er jonglierte zwei Tabletts samt Bier- und Mineralwasserflaschen – letztere vermutlich für Klöpfer. »Noch ein, zwei Tage, Herr Doktor Polazzo. Ich sagte es doch schon. Ein, zwei Tage noch…«
Er war bereits draußen auf dem Gang, der sich als weißgekalktes Gewölbe über die ganze Länge des Palais zog, als Polazzo ihm noch nachrief: »Ich dachte immer, Sie wären für uns alle da, Herr Kühn. Nicht nur für einen!« »Nur noch ein, zwei Tage. Bestimmt…« Kühn rief es zurück, ohne sich umzusehen, bevor er die Treppe erreichte, die nach oben führte.
6 Aber nicht nur im ersten Stock, im »Großen Salon«, wurde in dieser Nacht gearbeitet. Auch unter dem Dach klapperte um diese Zeit noch eine Schreibmaschine. Polazzo diktierte Yvonne das Protokoll seiner letzten Experimente. Sie trug über einem winzigen Minislip mit Blumenmuster Polazzos grüne Pyjamajacke und hatte ihre sonst ordentlich hochgesteckten braunen Locken gelöst, die nun wie eine Löwenmähne über ihre Schultern fielen. »Die Spektrogramme… zeigen eine deutliche… Abschwächung… im Bereich… der Natriumlinie. Punkt.« Die Tasten klapperten, aus dem Lautsprecher tönte Vivaldi, und Polazzo versuchte sich zu konzentrieren. Er hatte seine Notizen auf dem Fußboden ausgebreitet und sie im Liegen sortiert und studiert. Nun war er aufgestanden und hatte sich hinter Yvonne postiert. »… Natriumlinie. Punkt«, wiederholte sie und hielt inne. »Hast du’s?« fragte Polazzo überflüssigerweise. »Sicher. Ich habe es…« Sie sah sich nicht um, sondern lehnte sich genüßlich zurück, als er beide Hände, die Fingerspitzen zumindest, auf ihre Schultern legte. »Ja – Natriumlinie…« Er wußte nicht recht weiter. Ganz andere, unwissenschaftliche Gedanken kreuzten sein Gehirn – und nicht nur dieses. »Sag mal«, fuhr er nach einer langen Pause fort, »wenn wir hier arbeiten, kannst du dann nicht irgendwas anderes, etwas Dienstliches anziehen?«
Sie hatte langsam die Knie hochgezogen, erst das linke, dann das rechte, und nun umklammerte sie ihre nackten Beine und stellte die Fersen vor sich auf die Kante des Stuhls. »Da ich privat arbeite für dich – ich ziehe an, was ich will!« Die Situation brachte ihre deutschen Grammatikkenntnisse etwas durcheinander. »Es stört dich?« fügte sie hinzu und sah sich um. Polazzo hatte seine Fingerspitzen über ihren Nacken wandern lassen, jetzt schickte er sie weiter auf Erkundungsreise. »Es erinnert mich unentwegt daran, daß es Wichtigeres gibt als Spektrallinien…«, sagte er leise. Sie lächelte höchst zufrieden: »Danke. So war es auch gemeint…!« Sie atmete tief, schloß die Augen und versuchte sich auf seine Fingerspitzen zu konzentrieren, die eigenartige Umwege machten. »Wieviel hast du noch?« wollte sie wissen, und als er nicht antwortete, öffnete sie die Augen und wandte sich ihm zu. »Zu diktieren, meine ich…« »Kommt darauf an.« »Worauf?« Aber bevor er antworten konnte, flackerte das Licht der kleinen Schreibtischlampe, die den düsteren, vollgestellten Mansardenraum ohnehin nur spärlich beleuchtet hatte. »Oh, was ist das?« Das Licht flackerte weiter, schien für Bruchteile von Sekunden sogar zu verlöschen. »Du kennst das nicht? Du gehst zu früh ins Bett. So geht das jetzt bis zum Morgen. Seit einigen Nächten schon. Die Spannung sackt ab. Kollege Klöpfer strapaziert unser Netz.« »Klöpfer?« Sie wickelte sich fester in die Pyjamajacke und stellte die Füße wieder auf den Boden, ohne den Blick von der flackernden Lampe zu nehmen. »Ja«, sagte Polazzo, »er experimentiert bereits, unten im Großen Salon. Nacht für Nacht.« Er hatte seine neugierigen
Fingerspitzen zurückbeordert und wieder ordentlich auf ihre Schultern gelegt. »Was macht er?« wollte Yvonne wissen. »Ich weiß es nicht genau. Er versucht seinen Laser zu zünden.« Polazzo lachte plötzlich auf. »Erinnert mich an einen Bericht aus der Todeszelle eines amerikanischen Zuchthauses. Immer wenn das Licht flackerte, dann wußten sie: Jetzt wird er wieder ausprobiert – Generalprobe – der elektrische Stuhl. Und morgen früh ist wieder einer von ihnen dran!« Er riß die Hände ruckartig von ihrer Schulter, zuckte zusammen mit einem zischenden Laut. Yvonne schrie auf vor Schreck, dann schaute sie sich zu ihm um. Er stand verkrampft und paralysiert hinter ihr, und es dauerte einige lange Sekunden, bis sie darüber lachen konnte. Aber dann flackerte das Licht schon wieder, und Yvonne wurde langsam ein wenig hysterisch deswegen. »Das ist schrecklich! Immerzu! Er soll aufhören!« »Ja, sag es ihm!« Polazzo bückte sich und sammelte mit raschen Griffen seine Notizen ein. »Schalt aus. Wir hören auf!« Als sich Yvonne nicht weiter rührte, griff er selbst ein. Er stellte den Schalter der Schreibmaschine auf »o« und löschte die Stehlampe. Das Licht einer kalten Winternacht drang durch das kleine Mansardenfenster in den Raum, und die beiden brauchten lange, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Polazzos Finger waren wieder durch die Löwenmähne bis zum Nacken vorgestoßen und hatten den bereits erkundeten Weg von neuem erobert. Sie faßte nach hinten, über sich, erwischte seine Ohren* zog seinen Kopf langsam zu sich herunter.
Der Raum war erfüllt von Vivaldi – aber erst jetzt bemerkten die beiden, wie die Musik im Rhythmus der Stromschwankungen jaulte. »Das ist nicht zu ertragen!« Yvonne ließ Polazzo los und sprang auf. Sie zog den Stecker des Plattenspielers aus der Steckdose. Der Vivaldi verstummte. »Wir werden die nächsten Wochen, vielleicht Monate damit leben müssen!« Polazzo kam durch die Dunkelheit zu Yvonne, die sich auf das Bett gehockt hatte und damit anfing, sich in die Decke zu wickeln. »Vielleicht«, fuhr Polazzo fort, während er Yvonne aus Decke, Pyjamajacke und Minislip wieder auszuwickeln begann, »vielleicht bekommen wir morgen zum Frühstück auch eine sensationelle Erfolgsmeldung aus dem Großen Salon serviert…«
7 Die Augen geschützt durch eine dicke, schwarze Brille, starrte Klöpfer auf den Glasbehälter. Er hatte sich tief heruntergebeugt, stützte sich mit der rechten Hand gegen das Fundament der optischen Bank, die linke hatte er hoch erhoben. »Herr“ Kühn!« Kühn setzte nun seinerseits die Brille auf und trat an den Schaltschrank. Er drückte die roten Tasten, eine nach der anderen. Auf den sieben Meßinstrumenten gingen die Zeiger langsam nach oben. Als die Spannung einen bestimmten Wert erreicht hatte, blieben sie stehen. Rote Lampen leuchteten auf – ebenfalls eine nach der anderen. »Spannung ist da.« Kühn rief es quer durch den Raum. »18 kV!« Klöpfer gab das Zeichen mit seiner linken Hand, und Kühn löste den Schuß. Der Knall einer Entladung füllte den Raum, aber der Blitz, der durch die Anlage zuckte, sich brach und teilte, verstärkt wurde und umgelenkt in zahlreichen Spiegeln, gebündelt und fokussiert wurde auf einen einzigen, winzigen Punkt, war kaum wahrzunehmen. Eine Nanosekunde – eine Milliardstel Sekunde. Der Reflex der Blitzröhren, die den Neodymstab umgaben, war bestenfalls zu registrieren als Widerschein, der durch Ritzen und Öffnungen in der Ummantelung austrat und den die Wände des Raums nun reflektierten. Klöpfer starrte immer noch in das Glasgefäß. Langsam nahm er die schwarze Brille ab, ohne den Blick von diesem Target, diesem Ziel zu wenden. Feine braune Spuren eines Gases, wie
Dampf- oder Nebelstreifen, sanken langsam in dem Gefäß zu Boden. Jetzt erst sah er sich um. »Nehmen Sie die Spannung weg, Herr Kühn.« Kühn nickte, schaltete auf Null und gab die Rückmeldung. »Spannung ist auf Null.« Klöpfer fuhr sich über die Augen, über das eingefallene, unrasierte Gesicht. Er wirkte müde, übernächtigt und deprimiert. »Nichts. Neodym ist zu schwach.« Er ging zu den Ventilen, drehte die Hähne zu, die die Apparatur mit den Gasflaschen verband, klappte die Ummantelung des Lasers auf. Kühn hatte ebenfalls seine Brille nach oben geschoben, trug sie nun auf der Stirn und kam um die Anlage herum zu Klöpfer. »Was dann?« fragte er. »Ja, was dann?« wiederholte Klöpfer und dachte nach. »Farbstoff-Laser vielleicht, oder mit Gasen, Joddämpfe, wie ursprünglich geplant. Oder Kohlendioxid. Aber das war für uns hier ja alles unbezahlbar…« Er betrachtete den Neodymstab, der langsam abkühlte. »Man kann die unterschiedlichsten Substanzen zum Lasern bringen, also ihre Atome durch Energiezufuhr zur Emission von kohärentem Licht anregen, Kristalle, Metalldämpfe…« Wieder schwieg er und starrte auf den Neodymstab seiner ersten Stufe. »Dieser Laser hier, dieser Kristallstab, war aber auch sehr teuer«, warf Kühn in die Diskussion. »Teuer – aber zu schwach. Ich hätte keinen Kompromiß eingehen dürfen, Herr Kühn… Keinen Kompromiß.« Klöpfer schob mit einer nervösen Geste die grauen Haare aus der Stirn und setzte sich auf einen Hocker. »Vielleicht sollten wir’s noch mal versuchen, Herr Doktor von Klöpfer.« Kühn nickte Klöpfer aufmunternd zu, wie ein Schuljunge, der den Anführer der Clique zu einem neuen
Streich anstiften will. »Ich bin sicher, Sie schaffen es irgendwann.« Aber Klöpfer blieb müde und schlaff auf seinem Hocker sitzen. In der Hand hielt er die schwarze Schutzbrille und ließ sie an den abgegriffenen Gummibändern pendeln. Sein zerknitterter, angeschmutzter Labormantel hing bis zum Boden. Er war offen. Darunter trug Klöpfer die ebenfalls geöffnete Weste eines Anzugs und ein krawattenloses Hemd. Er warf einen Blick auf den Neodymstab. »Erst abkühlen lassen, Herr Kühn. Wir haben ja Zeit. Es wird sich auch bei den nächsten zehn oder hundert oder tausend Experimenten nichts ändern. Die Versuchsbedingungen bleiben ja die gleichen. Wir müßten neue…neue…« Aber es fiel ihm nichts weiter dazu ein. Nicht im Augenblick. Er sah keinen Weg mehr weiterzukommen. Da stand er auf, knöpfte seinen Labormantel zu und ging unschlüssig die Anlage entlang. »Das Besondere am Laserlicht ist seine Kohärenz, wie wir das nennen. Seine absolute Gleichförmigkeit.« Kühn hatte sich an den Laborschreibtisch gelehnt und hörte zu, interessiert, ehrlich interessiert sogar. Wenn Klöpfer keinen Weg mehr sah, verlegte er sich aufs Dozieren. Und Gott sei Dank hatte er in Kühn ja einen Zuhörer. Es war ja immer möglich, aus den theoretischen Überlegungen plötzlich auf eine neue Idee, eine neue Methode zu kommen, die Versuchsanlage zu modifizieren, um neue Ergebnisse zu erhalten. »Normales Licht«, fuhr Klöpfer fort, »verhält sich wie eine Menschenmenge, die aus einem Fußballstadion strömt: ein völlig wirrer Haufen, der nach allen Richtungen auseinander läuft. Laserlicht dagegen verhält sich wie eine Kompanie Soldaten, die exakt geradeaus und im Gleichschritt marschiert – uniformiert, einfarbig also. Laserlicht ist extrem einfarbig.«
Er trat ans Fenster und sah hinaus in den Park, in diesen grauen, unfarbigen Wintertag. »Nur – eine Kompanie ist in unserem Fall hier viel zu schwach.« Er wischte mit dem Ärmel des Mantels über die beschlagenen Scheiben. »Für meine Stickoxidsynthese brauche ich mindestens eine Armee…!« Er schwieg. Einzelne, dünne Flocken wirbelten durch die kahlen Bäume, trieben gegen die Fenster, lösten sich auf. Drüben in der Remise flammten die Lichter auf. Sibilla wanderte zwischen ihren Rattenkäfigen herum. Jeroen erschien mit nacktem Oberkörper an einem Fenster ein Stockwerk darüber, blickte mißmutig in den tristen Hof, erkannte Klöpfer hinter den beschlagenen Scheiben des »Großen Salons« und nickte ihm zu. Klöpfer nickte zurück und wandte sich ab. Er kam zurück in den Raum, warf einen Blick auf den Schaltschrank, dessen Lichter verlöscht waren. Dann klappte er die Ummantelung mit den Blitzröhren wieder um den Neodymstab. Kühn war diensteifrig dazugetreten und half die Verschlüsse einhaken und sichern. »Gut«, sagte Klöpfer, »versuchen wir es noch mal!« Er ging zu seinem Beobachtungsplatz neben dem Glasgefäß. »Stickstoff?« Kühn sah auf das Manometer. »Zwei Strich unter Maximum.« »Genügt. Warnlampe einschalten draußen an der Tür.« Er beugte sich wieder tief herunter, setzte die Schutzbrille auf und stützte sich gegen das Fundament. »Spannung?« Kühn hatte wieder die einzelnen Knöpfe gedrückt, die Zeiger näherten sich den roten Markierungen. »Augenblick noch…« Er schob die Brille von der Stirn über die Augen. Klöpfer hob die linke Hand. »Spannung ist da!« rief Kühn. Da öffnete sich die Tür zum Labor.
8 »Aus!« rief Klöpfer. »Aus! Ausschalten! Hauptschalter! Spannung weg!« Er ließ den Arm sinken und sah Palm und Sibilla entgegen, die eingetreten waren. »Draußen brennt das rote Licht! Was soll ich noch machen, damit hier keiner reinlatscht!« Er hatte sich aufgerichtet und die Schutzbrille heruntergerissen. »Soll ich abschließen? Und dann ist im Ernstfall der Ausgang blockiert!« Er ließ sich resigniert auf seinen Hocker fallen. »Glauben Sie mir, es macht keinen Spaß, in einem Laserstrahl zu erblinden!« Palm hatte bisher keinen Versuch unternommen, Klöpfer zu unterbrechen. Er war an der Tür stehen geblieben und hatte versucht, mit einem Lächeln die hochgehenden Wogen der Erregung etwas zu glätten. Sibilla war allerdings sehr beeindruckt. »Entschuldigung«, murmelte sie, und mit einem Blick zu Palm fügte sie hinzu: »Ich wußte ja nicht…« Da löste sich Palm von der Türe, sein Lächeln verschwand schlagartig, er ging mitten in den Raum, unter den schwarzen Kabelsträngen hindurch, die bündelweise von der Decke hingen, um Apparate und Schienen herum und versuchte in dieser drangvollen Enge nichts zu berühren. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten…« Er war auf der anderen Seite der optischen Bank stehen geblieben und sah auf Klöpfer, der keine große Notiz von ihm nahm. »Ach ja«, antwortete dieser nur. »Keine sehr erfreuliche Nachricht!« fuhr Palm fort. Klöpfer nickte nur, dann blickte er auf. »Ja, tut mir leid. Aber eine große Überraschung kann es ja kaum für Sie gewesen sein. Es war ein Versuch, mit untauglichen Mitteln doch noch
zu einem Ergebnis zu kommen. Nun ja. So stehen die Dinge…« Er stand auf und ging in die hinterste Ecke des Raumes. Palm folgte ihm auf der anderen Seite der Anlage, durch Spiegel und Linsensysteme und die Schiene der optischen Bank immer von Klöpfer getrennt. »Wir haben Ihnen zugestanden, was im Bereich des Möglichen lag.« Palm sah sich zu Sibilla um, aber die blieb hinter der Anlage verschwunden. »Ich habe Sibilla mitgebracht«, fuhr Palm fort. »Sie hat damals Ihren Antrag unterstützt.« Klöpfer war stehen geblieben, lehnte sich gegen die Wand, die an dieser Stelle nicht zugestellt oder mit Kabelsträngen drapiert war. »Ja, ja – die Sache mit dem Kompromiß!« Er knöpfte seinen Labormantel wieder auf. »Zuwenig investieren heißt falsch investieren! So wirft man das Geld zum Fenster hinaus.« Er ließ die Schutzbrille an den Bändern kreisen, dann steckte er sie ein und verbarg auch die Hände in den ausgebeulten Taschen seines Mantels. »Wenn es Sie interessiert«, fuhr er schließlich fort, »führe ich Ihnen das Ganze gern einmal vor.« Ohne auf Palms Antwort zu warten, ging er zum Schaltschrank, nahm dort von einem Haken zwei Schutzbrillen, reichte eine Sibilla, die in seiner Nähe stand, und warf Palm die andere über die Anlage hinweg zu. »Setzen Sie das auf und gehen Sie dort in die Ecke. Sie können das Target von dort beobachten.« Er schaltete den Hauptschalter, den Kühn beim Eintreten von Palm und Sibilla umgelegt hatte, wieder ein und drückte die roten Knöpfe. »Herr Kühn, pumpen Sie Stickstoff ins Rohr. Wir sind schon auf Minimum.« Kühn nahm eine bauchige blaue Stahlflasche mit langem Hals aus der Ecke und öffnete den Thermosverschluß. Dann
füllte er den Behälter der Anlage, während die Dämpfe schwer zu Boden sanken. »Flüssiger Stickstoff«, erklärte Klöpfer beiläufig und zeigte auf den Behälter, der im Strahlengang des Lasers auf der optischen Bank montiert war und in den Kühn jetzt das flüssige Gas pumpte. Die Luftfeuchtigkeit schlug sich auf dem extrem kalten Behälter nieder und bildete dicke Eiskrusten. »Hier ist normales Luftgemisch.« Klöpfer zeigte auf den Glasbehälter, das »Target«. »Sind Sie bereit?« Kühn nickte, gab das Zeichen und stellte den Thermosbehälter mit dem flüssigen Stickstoff zurück. Dann übernahm er Klöpfers Position am Schaltschrank. »Spannung ist oben.« Klöpfer übergab Kühn die Anlage und ging zum »Target«. Wieder bückte er sich zu dem Glasbehälter, setzte seine Brille auf, hob die Hand und gab das Zeichen. Mit lautem Knall entluden sich die Blitzröhren. Die Ahnung eines hellen Schimmers blieb als Reflex an den Wänden, als, Eindruck auf der Netzhaut der Betrachter zurück. Irgend etwas glimmte in dem Glasbehälter, ein dünner bräunlicher Nebelstreif sank zu Boden. Aber nach Bruchteilen einer Sekunde war der Effekt bereits wieder zu Ende. »Ja, das war’s!« Klöpfer riß sich die Brille herunter und wandte sich ab. »Keine Reaktion. Zumindest keine nennenswerte Ausbeute. Bewiesen ist nur: Ich habe prinzipiell recht, meine Berechnungen stimmen. Aber wir brauchen viel mehr Energie. Entweder wir investieren weiter: Umstellung auf einen vierstufigen Jodlaser, so wie ursprünglich gefordert – dazu nichtlineare Kristalle zur Frequenzverdoppelung – oder wir stellen die Versuche ein!« Er setzte sich vor seinen Schreibtisch und drehte sich auf dem Stuhl Palm und Sibilla zu, die etwas ratlos hinter der Anlage standen.
»Das klingt alles nach Erpressung!« Palm reichte Kühn seine Schutzbrille. Sibilla trug ihre immer noch vor den Augen. Das rötlich-blonde Haar, der helle Teint und die schwarze, runde Brille, das wirkte wie ein Bild aus einer utopischen Horrorvision. »Ein stärkerer Laser – oder wir lassen das Ganze.« Klöpfer wandte sich zu seinem Schreibtisch und begann mit den Eintragungen in das Versuchsprotokoll. »Sie waren bereit, mit einer Anlage dieser Größenordnung…« Palm machte noch einmal einen Vorstoß, um mit Vernunft die festgefahrenen Fronten zu klären. »Ich war bereit, es zu versuchen«, entgegnete Klöpfer. »Die Anlage war eingetroffen, Sie ließen mir keine Wahl!« »Diese Anlage überstieg unsere Möglichkeiten bereits bei weitem.« Das war der erste Satz, den Sibilla in die Diskussion warf, seit sie den Raum betreten hatte. »Ich weiß nicht, ob wir weitere Mittel für dieses Projekt…?« Sie warf Palm einen Blick zu. »Also Schluß? Ja?« Klöpfer hatte sich wieder den beiden zugewandt. »Ja!« sagte Palm und sonst nichts. »Eine klare Entscheidung!« Klöpfer stand auf, ging an Kühn vorbei, der schweigend und peinlich berührt von dieser Auseinandersetzung immer noch vor dem Schaltpult stand, und schaltete die Anlage ab. Die Glimmlampen erloschen, das Summen, das den Raum erfüllte, erstarb und hinterließ eine erschreckende Stille. Dann kam Klöpfer zurück, kramte in der Schublade seines Schreibtisches und legte eine Visitenkarte auf das Versuchsprotokoll. Er las den Namen, die Firma, drehte die Karte um, um eigene Notizen zu entziffern, dann sah er Palm und Sibilla herausfordernd an: »Für den Fall, daß Sie einverstanden sind…«, er nahm die Karte in die Hand, dachte
kurz nach, fuhr dann schließlich fort: »… vielleicht eine Möglichkeit…« Palm machte eine auffordernde Geste, wollte nach der Karte greifen, aber Klöpfer hatte sich bereits wieder abgewandt und die Karte in die Brusttasche seines Anzugjacketts gesteckt, das am Haken einer Kabelstütze hing. »Ich hätte da eine Chance, mir die zusätzlichen Apparaturen privat, also leihweise, zu beschaffen. Den Jodlaser und die Kristalle.« Klöpfer zog seinen Labormantel aus, knöpfte die Weste zu, schlüpfte in das Jackett seines Anzugs und sah abwartend auf Palm und Sibilla. Palm dachte nach, aber auf den erwartungsvollen Blick von Klöpfer nickte er schließlich zustimmend. »Gut«, sagte Klöpfer. »Ich sehe, das ist offenbar auch in Ihrem Sinn!« Und damit verließ er rasch den Raum.
9 »Sind Sie angemeldet?« Die ältliche Sekretärin in dem abgetragenen Jerseykostüm musterte den Besucher, der hinter einer Art Ladentheke stand, mit erstauntem Mißtrauen. »Nein, leider, ich hatte…« Klöpfer unterbrach seine Antwort und suchte in der Tasche seines Regenmantels. Er fand schließlich die Besuchskarte, die gleiche, die er bereits Palm vorenthalten hatte. Jetzt allerdings gab er sie weiter: »Hier. Ich werde erwartet. Herr Köster gab mir seine Karte…« »Richtig. Die Karte von Herrn Köster. Aber er hat mir nicht gesagt, daß er heute noch jemand erwartet. Wie war, bitte, Ihr Name?« Sie reichte die Karte zurück und beobachtete geduldig, wie Klöpfer in seiner Brieftasche wühlte. »Klöpfer. Mein Name ist Klöpfer. Ich bin Wissenschaftler und Herr Köster… ja, hier. Das ist meine Karte und… auf englisch. Ich habe sie auf einem Kongreß in den USA… und die Adresse hat sich seither geändert… ja.« Er fühlte sich nicht gut, war nervös, zerstreut. Die ganze Situation paßte ihm nicht besonders. Diese Sekretärin, die ihn zu verhören schien, die ihn immer noch prüfend betrachtete, kaum, daß sie seine Visitenkarte überflogen hatte, diese beiden Damen im Hintergrund, die ihre Arbeit an den Schreibmaschinen unterbrochen hatten und ihn nun ebenfalls kritisch musterten, die schmuddelige, abgewohnte Einrichtung dieses Büros, das er in dieser Form nicht erwartet hatte, das alles war verwirrend und, so empfand er es wenigstens, in gewisser Weise diskriminierend. Man behandelte ihn, wie man einen unangemeldeten Vertreter abzufertigen pflegt. »Ich bin
nicht für heute… auch nicht für irgendeinen bestimmten Termin… verstehen Sie mich recht…« Klöpfer war sich seiner Unsicherheit bewußt, und das störte ihn am meisten. »Ja«, sagte die Sekretärin schließlich nach einer langen Pause, »wenn Sie warten wollen…?« Und als Klöpfer sich dazu nicht äußern mochte, fuhr sie fort: »Ich werde sehen, wo ich einen der Herren noch erreichen kann.« Sie ging zu einem der Telefone, das inmitten offenbar unerledigter Post zu ertrinken schien, und wählte eine Nummer. Es war eine sehr kurze Nummer, drei oder vier Zahlen nur. Klöpfer konnte das Rufzeichen durch den ganzen Raum hören, trotz des Geklappers der beiden Schreibmaschinen. Denn die beiden Damen hatten das Interesse an ihm verloren und setzten ihre Arbeit fort. Die Sekretärin wartete. Offenbar meldete sich niemand. »Es ist bereits nach fünf. Ein Zufall, daß Sie hier noch jemand angetroffen haben…« Sie versuchte es mit einer anderen Nummer. Wieder ohne Erfolg. »Nehmen Sie doch Platz!« Sie deutete zum Fenster. Tatsächlich stand hinter Klöpfer ein einsamer Besucherstuhl. Er dankte und setzte sich. Immer noch las die Sekretärin auf seiner Besucherkarte, während sie auf das Rufzeichen hörte. Dann schüttelte sie den Kopf, legte auf und ging in einen Nebenraum. Klöpfer sah sich um. Hinter ihm hatte ein Wagen gehupt. Ein Lastwagen hatte offenbar die Einfahrt dieses kleinen Hofes versperrt, und ein schwarzer Mercedes kam nicht daran vorbei. Jetzt stieg der Fahrer aus und sah sich um. Das Gebäude gegenüber schien eine Fabrik zu sein. Hinter Drahtglasfenstern brannten die Lichter, und es zeichneten sich die Umrisse irgendwelcher Maschinen ab. Hin und wieder ging ein Schatten vorüber. Offenbar wurde auch dort länger gearbeitet, als es üblich war.
Ein Fahrer war über den Hof gekommen, hatte irgendwelche Papiere in der Hand und bestieg seinen Lkw. Langsam fuhr er rückwärts aus der Einfahrt, gefolgt von dem schwarzen Mercedes. Der Lärm des Lastwagens hatte den kleinen Hof erfüllt – und nun war plötzlich wieder absolute Stille. Die beiden Damen hatten ihre Schreibarbeit eingestellt und deckten gerade schweigend ihre Maschinen zu. Eine trug schmutziges Kaffeegeschirr durch den Raum und stellte es in einen Schrank. Offenbar war dort eine Spüle eingebaut, denn Klöpfer hörte das Rauschen eines Wasserhahns, das Plätschern des Strahls in die Tassen, das Klappern des Geschirrs. Er fühlte sich elend. Aufstehen und gehen. Einfach weggehen und das Ganze vergessen. Aber er wußte nicht, wie es dann weitergehen sollte. Die Damen hatten Mäntel aus einem Schrank geholt und zogen sie nun an. Schweigend. Keine beachtete Klöpfer, und trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, daß sie nur wegen ihm schwiegen. Als sie den Raum verließen, murmelte die eine ein beiläufiges »Guten Abend«, ohne Klöpfer anzusehen. Die andere nickte nur, wenn auch ungefähr in Klöpfers Richtung. Dann war er allein. Ein Telefon schnarrte plötzlich. Es war ein Apparat ganz in Klöpfers Nähe, und er schrak zusammen. Es schnarrte immer wieder, sieben- oder acht- oder gar zehnmal. Aber niemand erschien. Er hatte immer noch seinen Mantel an und war fest entschlossen, innerhalb der nächsten drei Minuten den Raum zu verlassen. Er redete sich ein, das Ganze sei ein Mißverständnis, die falsche Adresse, die falschen Leute. Wenn er den Raum hier
betrachtete und das Milieu richtig einschätzte, war er ohnehin fehl am Platz. Er fingerte in der Tasche seines Mantels, fand die Karte dieses Herrn Köster und studierte sie. Zum hundertstenmal vielleicht. Eine Dutzendkarte. Ein Dutzendname. Richard Köster. Und diese Firma: »Köster & Co. Import – Export.« Die Kartons, die in einer Ecke gestapelt waren, sahen nicht nach wissenschaftlichen Instrumenten aus. Pappkartons von der billigsten Sorte. Abgegriffen und mit eingedrückten Ecken, verschlissen auf dem Transport, mit Etiketten beklebt und mit Nummern und Zeichen bemalt. Es waren fremde Zeichen. Arabisch, dachte Klöpfer, oder japanisch. Japanisch oder chinesisch. Der Unterschied war ihm nicht sehr geläufig. Gab es überhaupt einen? Ein Bild hing an der Wand: Ein Vogel in einem Baum. Ein Zweig mit Blüten. Kirschblüten. Japanisch oder chinesisch? Daneben hing der Kalender einer Spedition. Weltweit. Ein rotes Plastikviereck war über die Zahlenkolonnen der Tage dieses Monats geschoben und markierte diesen Tag. Der Tag war vorüber. Es war dunkel geworden auf dem Hof. Eine diesige Dämmerung. Und die Lichter der kleinen Fabrik waren auch erloschen. Das Gebäude schien leer. Nur über Klöpfer brannte noch eine einsame Lampe. Er fühlte sich angestrahlt und ausgestellt hinter diesem vergitterten Fenster im Hochparterre. Weggehen und das Ganze vergessen. Er fühlte sich immer noch schlecht. Ein obskures, undurchsichtiges Geschäft war ihm angeboten worden. Vage und unverbindlich. Und vor langer Zeit. Weiß Gott, ob die sich noch an ihn erinnerten. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die offerierte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wenn
es überhaupt noch Hilfe gab und Interesse an seiner Person und an seiner Arbeit. Wieder schnarrte das Telefon, verstummte aber nach dem dritten Signal. Vielleicht galt das mir, dachte Klöpfer. Sie wußten ja schließlich, wo er zu finden war. Wer wußte es? Die Sekretärin, die verschwunden war? Die für ihn nach Herrn Köster zu fahnden schien? Als er sich zum wiederholten Mal fragte, warum er nicht einfach ging, hörte er Schritte hinter der Tür zum Treppenhaus, ein Schlüssel öffnete das Schnappschloß, ein fülliger Mann betrat etwas atemlos das Büro. Er sah sich nur kurz um, dann trat er auf Klöpfer zu, der sich rasch erhob. »Ich bin untröstlich. Wirklich. Sie haben gewartet…« Er war tatsächlich atemlos und reichte Klöpfer die Hand. Eine kalte, feuchte, fleischige Hand. »Klöpfer.« Klöpfer nickte und wollte den anderen beruhigen. Wollte ihm mitteilen, daß er sich wegen der Wartezeit keine Gedanken zu machen brauche, wollte sich entschuldigen wegen des unangemeldeten Überfalls. Aber der andere drückte ihn förmlich zurück auf seinen Stuhl und quoll über vor Höflichkeit. »Aber nein, mein lieber Herr Doktor von Klöpfer. Bitte, behalten Sie doch Platz. Ich freue mich, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben…« Er griff über die Ladentheke und hob einen der Bürostühle hoch. Die Füße mit den Rollen verfingen sich an der Tischplatte, aber schließlich schaffte er es und ließ sich neben Klöpfer schwer auf diesen schmalen Drehstuhl fallen. »Sie erinnern sich also, Herr Köster. Es war Anfang des Jahres in Genf…« Da wehrte der andere ab: »Nein, nein…!«
Aber Klöpfer fuhr fort: »Doch, ich bitte Sie, es war in Genf. Ich erinnere mich genau. Sie sprachen mich an – nach meinem Referat über Farbstoff-Laser. Und Sie luden mich ein…« Aber der andere winkte immer noch freundlich ab und unterbrach. »Nein, Sie irren sich, Herr Doktor. Wirklich. Ich war nicht in Genf, war nicht auf diesem Kongreß. Wir haben uns noch nie getroffen, leider. Sie verwechseln mich mit Herrn Köster. Den haben Sie dort getroffen. Und Herr Köster wird sich sehr freuen, wenn er hört, daß Sie seiner Einladung gefolgt sind.« Ein Irrtum also, eine Verwechslung. Klöpfer hätte schwören können, dieses pfiffige, feiste Bubengesicht schon einmal gesehen zu haben. Aber vielleicht war diese servile Höflichkeit, die dieser alerte Mann aus allen Poren zu schwitzen schien, im Geschäftsleben sozusagen handelsüblich und austauschbar. »Mein Name ist Weigand. Ich bin über alles informiert…« Klöpfer nickte nur. Er war irritiert. »Ihr Referat hat damals allgemein großes Interesse ausgelöst«, fuhr er fort, während er sich mit dem Handrücken über die glänzende Stirn fuhr, »nicht nur bei uns!« Das ist doch nicht wahr, dachte Klöpfer. Kein Mensch, außer diesem verdammten Köster, der ihn anschließend ansprach und an den er sich nicht mehr erinnern konnte, hatte sich ernsthaft für seine Ausführungen interessiert. So schien es ihm damals wenigstens. »Und wenn Sie Hilfe brauchen«, hatte dieser Köster damals gesagt, »oder irgendeine Unterstützung, Mittel, um in dieser Richtung weiter…« Was weiter –? Weiterzuforschen? »Wo ist Herr Köster?« Mehr fiel Klöpfer im Augenblick nicht ein.
»Sie können mit mir verhandeln.« Der füllige Herr machte auch weiterhin keine Anstalten, Klöpfer in sein Büro, in irgendeinen Verhandlungsraum zu führen. Er blieb kleben auf diesem unterdimensionierten Sekretärinnenstuhl und lehnte sich gefährlich weit zurück. Und dann lachte er plötzlich und unvermittelt. »Ja, wirklich! Ich habe alle Vollmachten!« Er fuhr sich durch das fettige Haar. Dann beugte er sich wieder nach vorn, ein altes Bubengesicht, rund und durchaus sympathisch, mit einem gewissen Charme in den Augenwinkeln, die weiterzulächeln schienen, auch wenn er ernst und sachlich auf den geschäftlichen Teil übergewechselt war: »Sagen Sie mir Ihre Wünsche, Herr Doktor von Klöpfer… Was können wir für Sie tun?«
10 Ein Wagen war in den Hof gefahren und hatte gehalten. Die Scheinwerfer erloschen. Der Motor wurde abgestellt. Es war Klöpfers alter VW, aber Klöpfer stieg nicht aus. Er blieb sitzen und wartete. Der Regen trommelte auf das Dach, lief in Bächen über die Scheibe und ließ die gelben Scheinwerfer, die sich auf der Allee dem Tor und dem Schloßpark näherten, zu bizarren Lichterspielen verschwimmen. Ein zweiter Wagen war nun in den Hof des Blauen Palais gefahren, hielt direkt vor dem Portal. Der Fahrer stellte ebenfalls Scheinwerfer und Motor ab und sprang aus dem Wagen. Ein hagerer, junger Mann. Er schlug eilig den Kragen hoch, zog eine Baskenmütze aus der Tasche und über den Kopf, entriegelte die Heckklappe seines Citroen Break und begann Plastikbahnen von irgendwelchen Gepäckstücken, die im Wageninneren gestapelt waren, wegzuziehen. Klöpfer war nun doch ausgestiegen und hatte das Portal aufgeschlossen. Das Hoflicht flammte auf. Als Jeroen wach wurde, sah er Sibilla aufrecht auf der Kante des breiten Bettes knien. Sie lehnte sich auf das Fensterbrett und sah nach draußen. Das Hoflicht schimmerte auf ihrer nackten Haut, ließ die geöffneten rötlichen Haare glänzen. »Was ist los?« Aber Sibilla schwieg. »Ist dir nicht kalt?«
Sie antwortete nicht, sah nach draußen, wischte mit dem Handballen die kleine, beschlagene Scheibe sauber und reagierte nicht auf ihn. »Hörst du nicht? Sibilla!« Da wandte sie sich kurz zu ihm um, machte mit dem Kopf eine Bewegung zum Fenster und sah wieder nach draußen. Jeroen schlug die Decke zurück, kroch auf die andere Seite des Bettes und richtete sich auf. Draußen strömte der Regen, Windstöße ließen die Hoflampe pendeln, dann sah Jeroen die beiden Wagen vor dem Portal. Zwei Gestalten in durchnäßten Mänteln schleppten längliche, glänzende Metallkoffer, die sie sorgfältig unter Plastikfolien vor dem Regen schützten, über den Hof, stapelten sie hinter dem geöffneten Portal. »Klöpfer?« fragte Jeroen. Sibilla nickte. »Und der andere?« »Kenne ich nicht…«, flüsterte sie. Warum flüstert sie? dachte Jeroen. Niemand hört uns hier oben, niemand sieht uns hier im Dunkeln hinter den halbbeschlagenen Scheiben. Er legte seine Hand auf Sibillas nackten Rücken. Die Haut war kalt. Wer weiß, wie lange sie schon hier am Fenster saß. Er rückte hinter sie, umfing sie, um sie zu wärmen, ließ seine warmen Hände über ihre Arme, ihre Brüste gleiten. »Du wirst dich erkälten…« Aber sie schüttelte nicht einmal den Kopf, war völlig versunken, völlig gefangen in dieser nächtlichen, subversiven Szene. »Was laden sie ab?« fragte Jeroen. »Irgendwelche Apparate. Was weiß ich?!« flüsterte sie. »Wir sollten die Kollegen informieren, Palm und die anderen!«
»Er weiß es. Er hat nichts dagegen, daß Klöpfer sich notwendige Geräte anderweitig beschafft.« »Zu welchem Preis?« wollte Jeroen wissen. »Und warum liefern die nachts – und nicht am Tag?« Sie lehnte sich zurück, an ihn, nahm seine Hände, spürte seine Wärme. »Weiß ich nicht. Ist mir auch ziemlich egal…« Sie schloß die Augen, lehnte ihren Kopf an den seinen. Merkwürdig, dachte er, eben war es ihr noch nicht egal. Eben hätte sie eine Lungenentzündung riskiert vor Neugierde. »Komm«, sagte er, »leg dich hin, deck dich zu.« Er ließ sie los, kroch zurück über das Bett. »Ich geh nach unten, geh rüber zu Palm…« »Nein! Bleib hier!« »Ich will wissen, was das soll. Wir arbeiten hier alle zusammen, heißt es immer – und jetzt diese Heimlichkeiten!« Er griff nach seinem Bademantel, der an einem Nagel hing, den er selbst irgendwann in das alte Gebälk dieser ehemaligen Gesindestube geschlagen hatte. Aber der Aufhänger des Bademantels hatte sich verhakt, und voller Ungeduld riß Jeroen die Schlaufe ab. »Bleib hier!« rief sie ihm flüsternd vom Bett aus zu. »Es regnet, Palm weiß Bescheid, dich geht’s nichts an – und ich brauch dich hier!« Er fand den Ärmel seines Mantels nicht. »Mir ist wirklich sehr kalt geworden!« fuhr sie fort. Da ließ er den Mantel einfach fallen und kam zu ihr. Sie hörten noch, wie das Portal ins Schloß fiel, wie der fremde Wagen gestartet wurde und abfuhr, wie der Regen gegen die Scheiben pladderte. Aber es schien, als interessierten sie sich nicht mehr sehr dafür.
»Das muß alles nach oben!« Klöpfer schlüpfte aus seinem nassen Mantel und warf ihn über das Treppengeländer. »Ja, natürlich«, antwortete Kühn, »das schaffen wir schon, Herr Doktor von Klöpfer…« Er nahm eine kleine Holzkiste auf die Schulter, die überraschenderweise so schwer war wie Blei. »Vorsicht! Vorsicht, Herr Kühn!« Klöpfer war hinzugesprungen, bereit, die Last aufzufangen. Aber Kühn schaffte es wirklich auch allein. So schleppten sie Stück um Stück, Kiste um Kiste, Metallkoffer um Metallkoffer, nach oben. »Wir schließen sofort an.« Klöpfer hatte einen der Behälter geöffnet. »Heute nacht noch?« Kühn schien nicht gerade von Begeisterung erfüllt. »Ja. Heute nacht noch. Mal sehen, wie weit wir kommen…« Es war gegen Morgen, als Yvonne wach wurde und sich umdrehte. Die Wand vor ihr war erleuchtet gewesen, jetzt sah sie Enrico Polazzo neben sich auf der Bettkante sitzen. Er starrte auf die Nachttischlampe, die in Abständen unruhig flackerte. »Was ist?« »Klöpfer ist zurück«, antwortete Polazzo. Sie richtete sich auf. Durch das Mansardenfenster drang der erste Schimmer der Morgendämmerung. Und das Licht der Lampe flackerte – und flackerte… »Unheimlich!« Er nickte nur. »Sag den anderen Bescheid!« Sie hatte sich neben ihn gesetzt und starrte nun auch in das Licht der Lampe.
»Ich werde mich hüten. Rivalität!« Polazzo lachte. »Ist doch so, oder? Man kommt sofort in den Verdacht der Rivalität…« Er löschte die Lampe und legte sich zurück. Der helle Schimmer, der durch das Mansardenfenster fiel, blendete sie nun mehr als diese flackernde Lampe. Sie schloß die Augen, legte sich zurück, drehte sich wieder zur Wand. »Was tut er eigentlich?« wollte sie wissen. »Er zündet den Laser. Schuß um Schuß… Lädt auf – zündet – lädt auf…!« Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und blickte zur Decke. »Er weiß, was er tut…!« Und nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Und Palm vertraut ihm, und Sibilla auch…« »Und du nicht?« Polazzo lachte leise vor sich hin. Eifersucht, dachte er, alles nur Eifersucht. Und wer ist frei davon? »Warum antwortest du nicht?« Yvonne hatte sich ihm wieder zugewandt und den Arm um ihn gelegt. »Wer das meiste Geld verbraucht… muß ja wohl am erfolgreichsten sein.« Er wußte nicht, ob sie seinen letzten Satz noch gehört hatte, vielleicht war sie auch schon wieder eingeschlafen. Er hörte ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem dicht an seinem Ohr und versuchte, an nichts mehr zu denken. An nichts mehr zu denken… Nichts mehr zu denken… Er schloß die Augen – sah das Licht flackern – und flackern. Nichts mehr denken… Verdammte Eifersucht… Los! Versuch endlich, tief zu schlafen… tief zu schlafen. Er versuchte es, aber es mißlang.
11 Kühn zitterten die Hände. Er starrte auf den dampfenden, braunen Strahl, der aus dem Thermosbehälter in den Pappbecher floß. Dann füllte er den zweiten Becher mit Kaffee. Er spürte den Blick von Carolus Büdel, der hinter ihm wartete, bis er an die Reihe kam, und der ihm offenbar auf die Hände sah. Er versuchte sie ruhig zu halten. Aber es gelang nicht so recht. Er fühlte sich abgeschlagen und übermüdet und von allen beobachtet, die um diese Tageszeit in der Küche auftauchten, um Kaffeepause zu machen. »Sagen Sie schon, Herr Kühn…« Büdel betrachtete immer noch Kühns Hände, während dieser versuchte, aus den übervollen Bechern nichts zu verschütten. »Bitte?« Kühn war stehen geblieben. »Was haben Sie gemacht? Ihre Hände…« Büdel nahm einen Schluck aus seinem Becher. Und als er ausatmete, ohne den Becher abzusetzen, beschlug seine Brille durch den Dampf. Er nahm sie ab. »Diese braunen Flecke…« »Ach so.« Kühn schien seltsamerweise erleichtert. »Das meinen Sie.« Er stellte die beiden Becher auf das Fensterbrett und spreizte die Finger seiner abgearbeiteten, breiten Hände. »Ich habe keine Ahnung, was das ist. Geht auch nicht ab.« Büdel betrachtete die schwieligen Finger aus der Nähe. »Die sind verätzt. Angegriffen durch Säure. Xanthopoteinreaktion.« »So – ja – möglich…« Kühn mochte es nicht, wenn man ihn in wissenschaftliche Diskussionen verwickelte, denen er nicht folgen konnte.
»Wie ist das passiert?« Büdel hatte seinen Becher abgestellt und nach Kühns Händen gegriffen. »Ich weiß nicht. Spür auch nichts…« Kühn entzog seine Hände Büdels weiterer Untersuchung, nahm die beiden Becher und wandte sich zum Gehen. »Verzeihung. Ich muß nach oben. Der Kaffee wird kalt, für Herrn Doktor von Klöpfer.« Er ging an Polazzo vorbei, der an einer alten Semmel kaute und dazu seinen Orangensaft trank. »Hast du die Hände von Kühn gesehen?« Büdel war zu Polazzo getreten und putzte die Gläser seiner Brille mit seinem aufgeknöpften Hemd. Polazzo nickte nur. »Und?« fragte Büdel weiter. Polazzo zuckte die Schultern. »Was ›und‹?« »Was hat der gemacht?« Büdel hatte die Stimme gesenkt. Jeroen war aufmerksam geworden und schaute herüber, auch Wong, der sich Tee aufbrühte. »Salpetersäure…!« Polazzo spülte die trockene Semmel mit dem Rest des Orangensaftes hinunter, warf den leeren Becher in den Plastiksack und ging. »Salpetersäure? Wieso? Wie kommt der an so was ran?« Büdel war Polazzo durch den langen Kellergang gefolgt und redete weiter flüsternd auf ihn ein. »Wenn sich Stickoxide in Wasser lösen, bildet sich Salpetersäure.« Polazzo stieg langsam die ausgetretenen Steinstufen hinauf. »Die Feuchtigkeit der Hand genügt«, ergänzte er. Büdel war unten an der Treppe stehen geblieben. Jetzt kam er rasch hinterher. »Stickoxide?« Er hatte Polazzo eingeholt. »Was heißt das?« Polazzo ging weiter, ohne sich umzusehen. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach oben, in Richtung des Großen Salons, als er das Treppenhaus erreichte. Dicke Bündel schwarzer Kabel
führten vom Keller her hoch in den ersten Stock, verschwanden in einer ausgesparten Öffnung über der Tür in Klöpfers Laserlabor. Das Warnlicht brannte und blinkte rot. Das ganze Treppenhaus erstrahlte im rhythmischen Widerschein dieses roten Lichts. Polazzo nickte, scheinbar ohne rechten Grund. Mit der Zungenspitze spürte er Krümel und Reste dieser trockenen Semmel auf, die sich zwischen Zähnen und Backentasche eingenistet hatten. Und dann warf er Büdel, der immer noch mit einem fragenden Blick hinter ihm hergelaufen war, eine letzte Bemerkung zu, bevor er in seinem kleinen Labor am Ende des Ganges verschwand. »Das heißt… das heißt, Klöpfer hat es geschafft!«
12 Der explosionsartige Knall erschütterte das ganze Haus. Irgendwo splitterte Glas, rieselte herabgestürztes Mauerwerk. Eine unsichtbare Faust hatte die schwere Eisentür zum Großen Salon aufgerissen, eine Sturmbö ließ sie wie ein Segel in ihren Angeln flattern, dann krachte sie wieder ins Schloß. Braunroter Rauch war ins Treppenhaus gewirbelt und verdunkelte die ohnehin düstere Notbeleuchtung der Nacht. Die Feuerhupe gellte durch das ganze Gebäude. Das gelbe Blinklicht kreiste und warf rasende Strahlenbündel in den Rauch. Das rote Warnschild über der Tür »Nicht eintreten – Laser in Betrieb« war verschwunden. Polazzo war als erster die breite Treppe hochgehastet, hatte den Not-Aus-Schalter gedrückt und versuchte, die verklemmte Tür aufzureißen. Büdel erschien mit dem Feuerlöscher, den er auf halber Höhe des Treppenhauses aus der Halterung gerissen hatte. Aber die wuchtige Eisentür war nicht mehr zu öffnen. Erst als Palm dazugetreten war und sich von innen her jemand gegen die Tür geworfen hatte, gab sie nach, stürzte zusammen mit Mauerbrocken, Verankerung und Stock nach außen ins Treppenhaus. Kühn war ins Freie getaumelt, inmitten dichter braunroter Schwaden, hustete, röchelte, war nahe am Ersticken und brach am oberen Treppenabsatz zusammen. Das braunrote Gas reizte die Schleimhäute, ließ die Helfer zurückweichen. Sie flüchteten hustend in die entlegensten Ecken des oberen Stockwerks. Fenster wurden aufgerissen,
Türen. Die Rufe und Anweisungen gingen im allgemeinen Chaos unter. Büdel versuchte immer wieder mit seinem Feuerlöscher in das Labor einzudringen. Aber die dichten Schwaden, die aus der zerstörten Türöffnung quollen, verhinderten jeden Versuch. »Klöpfer…!« schrie jemand. »Wo ist Klöpfer?« Palm hatte sich ein Tuch vor den Mund gepreßt und stieg über den Schutt und die eingestürzte Eisentür hinweg, als zwischen den Rauchschwaden Klöpfer erschien. Er hielt die Arme vor sein Gesicht und stolperte langsam, Schritt für Schritt, hinaus in das Treppenhaus. Erst am Geländer ließ er die Arme sinken und sah sich vorsichtig um. Er gewahrte die erstaunten Gesichter von Palm, Polazzo und Büdel. Unten an der Treppe standen Yvonne und Sibilla. Wong trat gerade dazu, schließlich Jeroen in einem Bademantel, ein Handtuch um den Hals. Klöpfer hustete, dann knöpfte er seinen Labormantel auf, der braunrot überstäubt war, und streifte ihn vorsichtig ab. Und dann sagte er nur laut und vernehmlich: »Es funktioniert…!« Palm war als erster zu einer Reaktion fähig. »Konnten Sie das nicht weniger spektakulär beweisen?« sagte er und verließ die Türöffnung, aus der immer noch Rauch quoll. Aber die braunroten Schwaden verteilten sich bereits, wurden vom Luftstrom, der durch die zerbrochenen Fenster ungehindert in das Labor eindrang, verwirbelt und durch das Treppenhaus und die geöffneten Türen ins Freie gedrückt. Die Sicht klärte sich. Büdel hatte das Labor untersucht, kam mit seinem unbenutzten Feuerlöscher zurück und klemmte ihn wieder in die Halterung. Inzwischen hatten sich alle Mitglieder des Blauen Palais vor dem Großen Salon versammelt. Kühn war wieder auf die Beine gekommen. Er preßte sich Zellstoff vor den Mund und folgte Palm und Klöpfer in das Labor.
»Der Behälter mit dem Luftgemisch ist geplatzt.« Klöpfer untersuchte die Reste des großen Glasbehälter, des »Target«. Der obere Teil war abgesprengt. Die Scherben waren weit verstreut. »Die Reaktion war heftiger als erwartet. Mit der neuen Verstärkerstufe haben wir jetzt eine Leistung von gut einem Terawatt – allerdings nur eine Nanosekunde, eine milliardstel Sekunde lang.« Er versuchte die Halterung des zerstörten Behälters zu lösen, Kühn kam ihm dabei zu Hilfe. »Wieviel faßt so ein Behälter?« wollte Polazzo wissen. »Zwanzig Liter?« »Ja, so ungefähr«, antwortete Klöpfer. »Normales Luftgemisch. In Bruchteilen einer Sekunde in Stickoxide umgewandelt.« Palm nickte anerkennend, obwohl das Chaos, das die Explosion angerichtet hatte, finanziell noch nicht überschaubar war. »Sehr schön. Wirklich. Es freut mich, daß Sie recht behalten haben. Über Details sprechen wir noch, ja?« Klöpfer lächelte. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen Klöpfer Emotionen zu zeigen schien. Er lächelte. Und allen Anwesenden wurde dies bewußt. »Ich halte Sie auf dem laufenden…« Klöpfer wandte sich ab, ging zum Schaltschrank, der längst abgeschaltet war, und ließ einen überflüssigen Routineblick über die Manometer und Skalen gleiten. Dann wandte er sich an Kühn, der immer noch mit einem dicken Packen Zellstoff vor dem Mund etwas hilflos mitten im Raum stand. »Na, Herr Kühn, wie geht’s?« Der nickte erst nur, dann nahm er den Zellstoff vom Mund, so, als müßte er erst wieder lernen, ohne Probleme zu atmen. »Danke, geht schon wieder.« Er lächelte nun ebenfalls. »Wir machen Schluß. Schluß für heute. Lassen Sie alles liegen, wo es liegt. Schlafen Sie sich aus. Aufräumen können wir morgen…«
Die Mitarbeiter des Blauen Palais waren einer nach dem anderen nach draußen gegangen. Palm hatte sich in der aufgesprengten Tür noch einmal umgesehen und Klöpfer einen Gruß zugewinkt, bevor er verschwand. Das war ungewöhnlich. Aber Klöpfer nahm es trotzdem kaum zur Kenntnis. Denn auf der anderen Seite der Laserapparatur, von ihm getrennt durch optische Bank, Verstärkerstufen, Kabel, Spiegel und Linsensystemen, stand Sibilla. Sie hatte immer noch ihr Taschentuch vor dem Mund, sah sich um und machte keine Anstalten, den anderen zu folgen. Klöpfer hatte plötzlich das Gefühl, daß zwischen ihnen beiden etwas zu besprechen war, etwas aufzuklären. Er wandte sich an Kühn, der immer noch in den Scherben an der Fensterseite herumstapfte. »Ach ja, Herr Kühn, schalten Sie den Generator im Keller ab. Und dann gute Nacht.« Kühn zog die Mütze und verschwand. Der Luftzug wirbelte Papiere vom Tisch. Klöpfer bückte sich, hob sie auf und beschwerte sie mit einem Metallblock auf seinem Labortisch. »Ist viel kaputt gegangen?« Sibilla eröffnete die Konversation. Klöpfer schüttelte den Kopf. »Glas. Das Glas der Fenster. Der Behälter. Einige Spiegel und Linsen. Und natürlich die Tür. Die Eisentür samt ihrer Verankerung. Ich glaube, das ist alles.« Über allen Geräten, Instrumenten und Apparaten lag eine dünne braunrote Staubschicht. Sibilla wischte mit dem Finger über einen der Spiegel. »Lassen Sie das lieber…« Klöpfer reichte ihr ein Tuch, um sich die Hand daran abzuwischen. »Sie verätzen sich die Haut.« Sie nahm das Tuch, dann wanderte sie schweigend an dem Laser entlang, hin und zurück, folgte dem großen Knick, dem
kleinen, diesem Mäandermuster mit seinen schwarzen Zylindern, in denen dicke Kabelbündel verschwanden. »Ja«, sagte sie und blieb stehen. »Ich möchte Ihnen eigentlich nur gratulieren.« Sie lächelte ihn an, aber er blieb ernst und abwartend. »Sind Sie zufrieden?« wollte sie wissen. »Das war erst mein Anfang!« gab er zurück. »Es ist wichtig, die Reaktion unter Kontrolle zu bringen.« »Lief sie unkontrolliert ab?« Sie kam näher zu ihm, aber es war kein Verhör, es war Interesse, es war Anteilnahme an seiner Arbeit. Das spürte er. »Ein gewisser Überraschungseffekt war dabei. Das gebe ich zu.« Er kam nun seinerseits näher. »Übrigens: Ich danke Ihnen, daß Sie sich für meine Arbeit eingesetzt haben…« Er reichte ihr die Hand über die Geräte hinweg. Sie nahm die Hand. Es war keine Geste des Abschieds. Es war der erste Kontakt dieses Mannes mit einem anderen Mitarbeiter dieses Hauses seit seiner Ankunft. »Ihr Erfolg ist ja auch unser Erfolg… nach den Statuten des Blauen Palais…« Sie hätte diesen Satz besser für sich behalten. Er zog seine Hand unsicher zurück, nickte ihr nur kurz und abschließend zu und wandte sich ab.
13 »Er lügt!« Polazzo war aufgesprungen. »Aber ich bitte Sie…« Palms Versuch, die Wogen der Erregung zu glätten, waren zum Scheitern verurteilt. Trotzdem suchte er einzulenken: »Das sind doch Unterstellungen, Herr Polazzo, Behauptungen, und Sie können doch nicht ernsthaft…« Aber Polazzo unterbrach ihn und argumentierte weiter voller Aggression: »Klöpfer lügt! Er plant, etwas und verschleiert.« Jeroen und Büdel saßen in der Ecke von Palms Büro, Yvonne hockte hinter ihrem Schreibtisch, Wong war dazugetreten und Sibilla. »Rechnen Sie doch nach«, fuhr Polazzo fort. »Er sagt selbst, die Impulsdauer ist eine Nanosekunde. Der energiereiche, nadeldünne Laserstrahl existiert also nur für die Dauer einer Milliardstel Sekunde. Wieviel Stickstoff verbrennt in dieser Zeit?« Polazzo ging zu der kleinen Tafel, die hinter Palms Schreibtisch an die Wand geschraubt war, griff zur Kreide und begann zu rechnen: »Die Ausbeute einer Reaktion dieser Art ist bestenfalls in Milligramm zu berechnen. Und wieviel Stickoxid ist tatsächlich entstanden? Der ganze Raum war doch erfüllt von diesen braunen Schwaden! Der Behälter war gesprengt…« Ein Teil der Tafel war mit Zahlen bereits bedeckt, als Sibilla in die Diskussion einzugreifen begann: »Er gibt doch selbst zu, die Wirkung seines Experiments habe ihn überrascht!« Polazzo unterbrach seine Berechnungen und legte die Kreide mit Nachdruck auf Palms Schreibtisch zurück: »Und genau das
glaube ich nicht!« Er sah von einem zum anderen. »Er wirkte sehr zufrieden. Nein! Ich habe einen ganz anderen Verdacht.« Polazzo senkte die Stimme. Das gab dieser Diskussion etwas Konspiratives. »Kunstdünger…« Polazzo lachte. »Das klingt so unverschämt friedlich und human. Neue Methode für unterentwickelte Länder. Segen für die Menschheit…« Er schüttelte den Kopf. Seine aufgesetzte Heiterkeit hatte etwas Sarkastisches. »Möglich«, fuhr er fort, »daß als Nebenprodukt tatsächlich Stickoxid entsteht…« »Nebenprodukt?« Palm unterbrach Polazzo. »Sie verdächtigen ihn?« Mit einer großen Handbewegung wischte Polazzo Palms Einwand vom Tisch: »Ich stelle nur fest, etwas stimmt nicht mit diesem Versuch!« »Das ist doch sehr vage…«, wandte Palm ein. »Ich werde Ihnen Beweise liefern!« Polazzo war erregt, durch den Raum gegangen und vor Palm stehen geblieben. »Sie waren von Anfang an gegen dieses Projekt!« Palm stand auf. Er ging zum Fenster. Aus dem Großen Salon im ersten Stock fiel ein Lichtschein auf die gegenüberliegende weißgekalkte Mauer der Remise. Sonst verschluckte die Nacht alle Einzelheiten von Hof und Park. »Richtig!« antwortete Polazzo. »Ich hatte sofort den Verdacht…« »Welchen Verdacht?« wollte Palm wissen. »Welchen Verdacht?« Die Pause war lang. »Wir sind keine Heiligen«, fuhr Palm schließlich fort. »Es ist schwer. Aber wir sollten uns wenigstens bemühen, keine Rivalität unter Kollegen…« »Rivalität!« Polazzo war erregt auf Palm zugegangen. Jetzt stand er dicht vor ihm und funkelte ihn zornig an: »Rivalität!
Jede Kritik an der Arbeit von Kollegen wird hier mit dem Argument ›Rivalität‹ abgewürgt.« Er wandte sich ab, atmete heftig und schlug mit der rechten Faust in die offene linke Hand. »Aber bitte! Ich werde Fakten sammeln. Ich werde Berechnungen anstellen…« »Ja, tun Sie das!« Palm war bemüht, diese aggressive und einseitige Diskussion zu beenden. »Tun Sie das – aber vergessen Sie nicht: Jeder in diesem Hause hat die Chance, seine Ideen – im Rahmen des Möglichen – zu realisieren.«
14 In den folgenden drei Wochen drehte sich das Interesse des Blauen Palais einzig und allein um das Laserexperiment. Eine fremde Firma hatte nach Klöpfers Plänen ein Gerüst aus Stahlrohren vor das Eckfenster des Großen Salons montiert und die optische Bank ins Freie verlängert. Teile der Apparatur, besonders der Behälter mit dem flüssigen Stickstoff, wurden nun außerhalb des Labors plaziert, in das optische Gesamtsystem integriert und genauestens in den Strahlengang des Lasers einjustiert. »Wenn Sie schon die überaus ernste Befürchtung haben, die Luftmenge in meinem Labor könnte für diese Art der Versuche nicht ausreichen, dann gehe ich dorthin, wo sie in unbegrenzter Menge vorhanden ist: ins Freie!« Das war Klöpfers Erklärung, als Polazzo sich nach Sinn und Zweck der Konstruktion vor dem Laborfenster erkundigte. Klöpfer stand oben auf dem Gerüst und justierte ein Linsensystem. Und Polazzo war von der Remise herübergekommen und durch den frisch gefallenen Schnee zur Fassade des Palais gestapft. Jetzt stand er unter dem Gerüst und rief nach oben: »Nirgends ist Luft in unbegrenzter Menge vorhanden! Weder drinnen noch draußen. Das müßte Ihnen doch bekannt sein, Herr Kollege…!« Aber Klöpfer antwortete nicht mehr auf diesen berechtigten Einwand. Er verließ das Gerüst und kletterte durch das Fenster in sein Labor. Am nächsten Tag wurde ein weiteres, kleineres Gerüst mitten im Hof errichtet. Es sollte einen Metallspiegel tragen, der
genau im Strahlengang des Lasers lag. Kühn war dabei, den Spiegel auszurichten. Klöpfer gab ihm über ein Funksprechgerät genaue Anweisungen. »Noch zehn Grad neigen. Zehn Grad. Weiter neigen. Gut so…« Klöpfers Stimme kam verzerrt aus dem kleinen Lautsprecher des Geräts und hallte über den ganzen Hof. Polazzo hatte das Portal verlassen und war langsam über den Hof geschlendert. Unter dem Gerüst war er stehen geblieben und hatte Kühn bei seiner Arbeit zugesehen. Über Funk kamen inzwischen weitere Anweisungen: »Etwa vier Zentimeter nach links. Den ganzen Spiegel. Vier Zentimeter.« Kühn drückte den Knopf seines Geräts und antwortete: »Vier Zentimeter nach links. Verstanden.« Dann rückte er die Spiegelkonstruktion in die angegebene Richtung und schraubte sie fest, als die Nachricht durchkam: »In Ordnung, Herr Kühn. Lassen Sie alles so und fixieren Sie!« Polazzo stand immer noch unbemerkt unter dem Gerüst, als Kühn die Leiter herunterstieg. »Kalt, was?« bemerkte Polazzo, als Kühn sich die Hände rieb und die klammen Finger anhauchte. Kühn war nicht weiter erstaunt, Polazzo hier zu treffen. Er nickte nur kurz, lächelte und sagte: »Man kann keine Handschuhe trägen, bei dieser Arbeit. Da geht’s ja um Millimeter. Dazu braucht man Gefühl.« Polazzo sah sich um. Hof und Dächer waren schneebedeckt. Nur unter dem Gerüst war der Boden morastig zertrampelt. Kühn hatte unter seinen grauen Arbeitsmantel eine alte Strickweste gezogen. Trotzdem schien er zu frösteln. Er schlug die Arme mehrmals um den Körper, dann wärmte er sich mit den Händen die Ohren. »Wozu der Spiegel da oben?« wollte Polazzo wissen.
»Er reflektiert den Strahl, lenkt ihn ab nach oben. Macht ihn unschädlich…« Kühn hatte seine Mütze abgenommen und fuhr sich durchs Haar. »Herr Doktor von Klöpfer denkt an alles«, fuhr er fort. »Glauben Sie mir! An alles!« Er setzte die alte, speckige Mütze wieder auf, als aus dem Gerät, das er in der Tasche seines Arbeitsmantels trug, Klöpfers Stimme ertönte: »Herr Kühn, bitte, kommen Sie herein. Kommen Sie ins Labor!« Kühn nahm das Gerät heraus, drückte die Sprechtaste und antwortete kurz: »Bin schon unterwegs…« Er steckte das Gerät ein, machte aber keine Anstalten zu gehen. Klöpfer stand hinter dem Fenster des Labors und beobachtete, wie Kühn und Polazzo sich eingehend zu unterhalten schienen. Schließlich kamen beide durch die verschneite Wiese auf das Portal des Palais zu, immer noch in ein Gespräch vertieft, das sie hin und wieder zum Stehenbleiben veranlaßte. »Was hat Polazzo Sie gefragt?« wollte Klöpfer wissen, als Kühn in das Labor des Großen Salons zurückgekehrt war. »Worüber haben Sie sich unterhalten?« »Über das Wetter. Es riecht nach Schnee.« Kühn hing seine Mütze an den Haken und knöpfte seinen Arbeitsmantel auf. »Außerdem wollte Herr Polazzo wissen, wieviel Energie wir in die beiden Laser hineinpumpen.« »Und?« Klöpfer kam näher. »Sie haben es ihm gesagt?« Kühn nickte und schlüpfte aus dem Mantel. »Soviel ich eben wußte.« Klöpfer machte eine Pause, dann kam er um die ganze Anlage herum und redete leise auf Kühn ein: »Ich hatte Sie doch gebeten, Herr Kühn, über unsere Versuche nicht zu reden, bis wir fertig sind mit der Reihe!« Kühn hatte seine Strickweste abgelegt und ordentlich zusammengelegt. Jetzt sah er Klöpfer erstaunt an:
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich dachte immer, es sei in unserem Interesse, wenn auch die anderen hier im Hause über unsere Pläne informiert sind.« Er zog seinen grauen Arbeitsmantel wieder an und holte sich eine halbleere Bierflasche aus dem Regal. »Herr Palm sagte neulich selbst, in diesem Haus habe es noch nie Geheimversuche gegeben. Er bat mich um die Montageskizzen.« »Sie haben sie ihm hoffentlich nicht gegeben, Herr Kühn!« »Warum nicht?« Kühn setzte die Bierflasche ab und stellte sie zurück. »Er wollte sie nur fotokopieren. Sie liegen jetzt wieder in ihrem Fach.« Klöpfer war sprachlos. Er ging zu seinem Labortisch, öffnete die Schublade, überzeugte sich selbst. »Fotokopien von meinen Plänen! Herr Kühn, wissen Sie, was das bedeutet?« Er kam zurück. »Das ist ein Vertrauensbruch, Herr Kühn. Niemand in diesem Hause hat das Recht…« Er brach ab und schaute Kühn abwartend an. Der hatte sich auf einen der hohen Arbeitshocker neben der zweiten Verstärkerstufe gesetzt und wich Klöpfers Blick keineswegs aus. »Sie merken das nicht so, Herr Doktor von Klöpfer. Früher war ich für alle da. Aber seit ich bei Ihnen für das neue Projekt arbeite…« Er blickte sich scheu zu der Eisentür um, die nach der Explosion wieder fest und schalldicht eingemauert worden war. Trotzdem senkte er die Stimme: »Man begegnet mir mit Mißtrauen. Nicht alle Damen und Herren dieses Hauses, aber ich spüre das ganz deutlich. Einige schweigen plötzlich, wenn ich zu ihnen trete. Andere stellen Fragen. Ich finde, je offener wir über alles reden…« »Wir haben nichts zu verbergen, Herr Kühn!« Klöpfer setzte sich Kühn gegenüber auf den Labortisch und stellte die Füße auf den Drehstuhl. »Nichts zu verbergen, glauben Sie mir. Aber trotzdem gibt es Regeln. Wir reden nicht über das Projekt, nicht über Einzelheiten, bis wir durch sind. Ich muß
Sie darum bitten, Herr Kühn, daß Sie schweigen, bis ich alle Daten und Ergebnisse selbst bekanntgegeben habe.« Er griff nach dem dicken Buch, in das er handschriftlich alle Fakten und Ergebnisse protokolliert hatte, und schlug es auf. »Haben Sie das auch weitergegeben, Herr Kühn?« »Das Versuchsprotokoll? Nein, ich bitte Sie…« Kühn schob diese Unterstellung weit von sich. Aber dann fügte er hinzu: »Es hat mich auch niemand darum gebeten.« Klöpfer nickte nur. Dann stand er auf, legte das Protokollbuch in die Schublade und schloß ab. Den Schlüssel steckte er ein. Kühn beobachtete das mit einem seltsamen Blick. »Ich schätze Ihre Mitarbeit wirklich sehr, Herr Kühn«, fuhr Klöpfer fort. »Und glauben Sie mir, Loyalität – ich meine Loyalität mir gegenüber – soll Ihr Schade nicht sein.« »Danke, Herr Doktor. Ich verstehe das alles sehr gut«, beteuerte Kühn. »Das freut mich. Ich sehe, wir sind uns einig.« Klöpfer ging an Kühn vorbei und legte ihm kurz und sehr vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. »Nur…« »Was nur?« Klöpfer sah Kühn an, der seinen Einwand nicht so recht formulieren konnte. »Ich weiß nicht… Ich habe ja volles Vertrauen zu Ihrer Arbeit und zu diesem Projekt. Nur…?« »Sprechen Sie’s aus, Herr Kühn.« Klöpfer war dicht neben Kühn stehen geblieben und sah ihn prüfend an. »Was gibt es für Einwände?« »Ganz ungefährlich scheint das Ganze ja wohl nicht zu sein.« Kühn hatte Mut gefaßt. »Ungefährlich?« »Ja«, fuhr Kühn fort, »man liest ja sehr viel Erschreckendes über Laser-Todesstrahlen…«
Klöpfer lachte. »Science-fiction. Sensationsmacherei von Leuten mit zuviel Phantasie.« Dann wurde er ernst. »Ich gebe zu, jede Erfindung kann mißbraucht werden. Jede Idee. Es liegt an uns Wissenschaftlern, und zwar an jedem einzelnen, das zu verhindern.« »Lasergesteuerte Bomben. Laserkanonen, die Flugzeuge abschießen sollen und Weltraumsatelliten.« Kühn hatte sich anscheinend informiert. Klöpfer nickte nur, dann wanderte er durch das Labor und begann zu dozieren: »Die Möglichkeiten des ›neuen Lichts‹ sind überwiegend friedlich: Man operiert mit Laserskalpellen, man telefoniert auf Laserstrahlen – ein einziger Strahl transportiert Hunderttausende von Gesprächen gleichzeitig, dazu Hunderte von Farbfernseh-Programmen. Und nicht wie bei einem Sender, ausgestrahlt nach allen Seiten, was einem großen Verlust an Energie gleichkommt – nein, direkt gerichtet, exakt gezielt. Nichts geht da verloren.« Er hatte sich in Begeisterung geredet. Die Möglichkeiten, die sein Tätigkeitsfeld umfaßte, schienen eine große Faszination auf ihn auszuüben. »Denken Sie mal an folgendes, Herr Kühn«, fuhr er fort, »Signale aus dem Kosmos! Signale von anderen intelligenten Wesen, die uns Botschaften senden, Informationen. Kontakte mit fernen, hochentwickelten Zivilisationen… Gezielt mit Laserstrahlen, das wäre eine durchaus ernstzunehmende und erfolgversprechende Methode. Denn wer wagt schon zu behaupten, daß wir die einzigen intelligenten Wesen im All sind. Vermutlich gibt es auf Millionen Planeten auch Millionen Zivilisationen wie die unsere. Aber das ist nur ein Aspekt.« Klöpfer war ans Fenster getreten. Es hatte angefangen zu schneien. Große, schwere Flocken pendelten von einem dunkelgrauen Himmel, tanzten gegen die Scheiben, wurden
wieder hochgewirbelt und verschwanden in der Masse der schwebenden weißen Punkte. Der Spiegel auf dem Röhrengerüst, keine sechzig Meter vom offenen Fenster des Labors entfernt, war kaum noch auszumachen. »Radar, Sie kennen das sicher, Navigation und Sicherheit auf dem Meer, in der Luft. Ebenfalls mit Laserstrahlen in ungeahnter Perfektion zu realisieren. Entfernungsmessung, Landvermessung. Die Liste ist lang. Im Augenblick arbeiten bereits mehr Menschen mit Laserstrahlen, als Abitur gemacht haben. Keine Straße, keine Brücke wird gebaut, kein Tunnel gegraben – ohne die Hilfe von Laser…« »Ja«, ergänzte Kühn, »und jetzt noch Ihre Idee – Kunstdünger für die Dritte Welt…« Klöpfer sah Kühn etwas abwesend an, bevor er ihm zustimmte. Aber dann blickte er plötzlich zur Decke, starrte auf das Gewirr von bunten Kabeln und sprach, als hätte er eine Vision: »Wenn es uns gelingt, die Verbrennung der beiden Hauptbestandteile der Luft…« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er fortfuhr: »Nicht nur mit einem kurzen Laserimpuls von Sekundenbruchteilen Dauer…« Er holte Luft und fuhr sich nervös über die Augen: »Mit einem Dauerstrahl. Ja. Herbeigeführt durch einen Dauerstrahl…« »Soviel Energie werden wir nie zur Verfügung haben«, entgegnete Kühn und holte damit Klöpfer von seinem Höhenflug zurück. »Was heißt hier ›nie‹? Herr Kühn, ich bitte Sie…!« Klöpfer trat vom Fenster zurück. »Wir haben die Mittel nicht. Ja, gut. Noch nicht! Aber irgendwann…« Er hatte sich wieder abgewandt, starrte in den Hof, in das immer dichter werdende Schneetreiben und dann auf seine Uhr. »Irgendwann! Glauben Sie mir: irgendwann…!« Er nickte und stützte sich schwer auf das Fensterbrett mit seiner abgeblätterten weißen Farbe. »Man
wird uns helfen!« fuhr er fort. »Mit diesem Projekt ist man überall willkommen! Wer die Möglichkeiten dieser Methode richtig erkennt…« Er hustete nervös und sah wieder auf seine Uhr, dann wiederholte er: »… die Möglichkeit erkennt, die Atmosphäre dieses Planeten zu beherrschen…« Klöpfer schwieg plötzlich, als habe er bereits zuviel gesagt, zuviel verraten – oder zumindest zuviel laut gedacht und spekuliert. Er öffnete das Fenster, das im Augenblick noch die gedachte Linie der optischen Bank, die Linie eines Strahls unterbrach, der von den verschiedenen Verstärkerstufen durch das Linsensystem zu dem seltsam geformten Behälter mit den eingeschliffenen Quarzscheiben führte. Quarzscheiben in Edelstahlfassungen. Angeschlossen an ein Röhren- und Schlauchsystem für den flüssigen Stickstoff. Der Spiegel da draußen auf dem Hof war immer noch nicht zu ahnen. »Wenn der Schneefall nicht nachläßt…« Wieder sah Klöpfer auf seine Uhr. »Wie auch immer… Punkt vier zünden wir den ersten Schuß.«
15 Mit rasender Geschwindigkeit spuckte der Schnelldrucker des Rechners Daten aus. Büdel und Polazzo hatten dem Computer alle verfügbaren Fakten eingegeben, jetzt warteten sie auf das Ergebnis. Vor Stunden schon hatten sie sich im ehemals gräflichen Weinkeller vergraben, der, völlig umgebaut und klimatisiert, zur Rechenzentrale umfunktioniert worden war. Sie hatten versucht, Klöpfers Versuchsanordnung anhand gewisser Informationen zu rekonstruieren und mögliche Resultate der geplanten Experimente zu errechnen. Immer wieder hatten sie das Programm modifiziert, Zwischenergebnisse ausgewertet, Detailerkenntnisse mitverwertet und die verschiedenen Möglichkeiten extrapoliert. Jetzt hatten sie alle denkbaren Ergebnisse des Experiments schwarz auf weiß. »Schlimmer, als ich befürchtet habe…!« Polazzo schleppte den langen bedruckten Streifen hinter sich her und ließ sich in einen der altersschwachen Sessel fallen. Büdel kontrollierte nochmals alle Zeilen des Programms auf dem Schirm des Monitors nach. »Stickstoffoxidationen sind endotherm. Ohne jede Ausnahme!« rief er Polazzo über den Lärm des Druckers hinweg zu. »Man muß mehr Energie hineinstecken, als herauskommt. Schaltet man den Laser ab, bricht die Reaktion zusammen.« »Eben nicht!« Polazzo schwang den Papierstreifen wie ein Banner und zeigte auf etliche kritische Daten. »Offenbar spielt die Luftfeuchtigkeit eine Rolle.« »Das Labor ist relativ trocken«, warf Büdel ein.
»Die Salpetersäureerzeugung kann explosionsartig erfolgen, wenn Wasser dabei ist – wasserhaltige Luft, starker Regen oder Schneefall wie heute mittag. Die Zahlen sind eindeutig!« Polazzo war aufgesprungen. »Wo ist Palm?« »In seinem Büro vermutlich.« Büdel war die dramatische Wendung, die Polazzo bestimmten Situationen zu geben pflegte, durchaus vertraut. Das romanische Temperament schlug hin und wieder zu. Aber dieses mal war Büdel selbst beunruhigt. Er hatte alle Fakten nachgeprüft. Und wenn das stimmte, was der Rechner eben ausgedruckt hatte, dann spielte Klöpfer offenbar mit einer Katastrophe. »Sie müssen Klöpfers Versuche stoppen, bevor der Teufel los ist!« Polazzo war, von Büdel gefolgt, ohne jede Anmeldung in Palms Büro gestürmt und hatte den ausgedruckten Papierstreifen auf den Schreibtisch geknallt. Gemeinsam mit Büdel erklärte Polazzo die eingesetzten Parameter und kommentierte das Ergebnis. Aber Palm ließ sich weder von Polazzos Temperament und seiner Panik noch von der errechneten Apokalypse anstecken. Er blieb kühl. »Ich bin nicht die Exekutive des Palais«, sagte er. »Bringen Sie alle Kollegen des Hauses zusammen – inklusive Klöpfer natürlich –, und wir stimmen ab.« Polazzo machte diese Ruhe wahnsinnig. Er hatte eine Horrorvision, und Palm kam ihm mit demokratischen Spielen. »Irgendwann…«, begann er von neuem, aber mit gesteigerter Intensität und Lautstärke. »Irgendwann – heute noch -zündet Klöpfer seinen nächsten Versuch. Sie sind bereits mit dem Aufbau fertig. Justieren nur noch ein bißchen herum. Ich hoffe nur, er weiß selbst nicht, was er da tut!« Büdel kam Polazzo zu Hilfe. Mit seiner ruhigen, überlegenen Schweizer Art hatte er gewisse Chancen, Palm zu beeindrucken. »Wir haben gemeinsam gerechnet: Der Laser
zündet eine Milliardstel Sekunde lang. Dann macht sich die Reaktion selbständig. Entlang des Strahls bildet sich ein Plasmabündel – und von daher scheint sich eine Art Kettenreaktion aufzubauen.« Palm nahm sich das ausgedruckte Protokoll des Rechners noch mal vor. »Der Stickstoff reagiert mit dem Sauerstoff immer noch«, fuhr Polazzo fort, »selbst wenn der Impuls des Lasers längst abgeklungen ist. Etwa drei bis vier Sekunden lang. Das ist das Milliardenfache der Impulsdauer.« »Ja«, ergänzte Büdel, »und das würde auch das erklären, was neulich im Labor vorgefallen ist. Wir haben die Werte hier im zweiten Abschnitt eingesetzt!« »Welche Werte?« wollte Palm wissen. »Rauminhalt – Temperatur…?« »Ja, natürlich. Alles, soweit es uns bekannt war und sich sonst irgendwie ermitteln oder berechnen ließ.« Polazzo fing an zu resignieren. Aber dann brach das theatralische Temperament wieder durch. Er sprang auf und gestikulierte mit großer Lautstärke: »Wir müssen den Versuch stoppen! Jetzt! Sofort! Er soll im Freien stattfinden, wie Sie wissen. Im Freien! Alles ist aufgebaut.« Er war ans Fenster getreten. Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Der Spiegel auf seinem Gerüst war klar zu erkennen. »Hier!« Polazzo zeigte hinaus. »Jeden Augenblick können die zünden! Und solange eine Kettenreaktion nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann…« Palm winkte ab. »Bei jedem Gewitter, bei jedem Blitz bilden sich Stickoxide – ohne jede Kettenreaktion. Und was ist Klöpfers Laserstrahl gegenüber einer Blitzentladung mit ihrer ungeheuren Energie…«
Polazzo lachte: »Das gerade wissen wir ja nicht! Keiner kann die Verantwortung übernehmen, daß schon alles ›irgendwie gut gehen wird‹! Weil nämlich keiner von uns wirklich weiß, was unter diesen extremen Bedingungen wirklich geschieht!« Palm reichte das Protokoll des Rechners Polazzo über den Tisch. »Sie dramatisieren alles!« Das war Palms einziger Kommentar. Er war nicht zu beeindrucken. Aber auch Palms Ignoranz beeindruckte Polazzo keineswegs. »Niemand weiß es«, fuhr er fort. »Es kann gut gehen – es kann aber auch, wenn Klöpfer immer größere Energiemengen in seinen Versuch hineinpumpt, plötzlich das Ende unseres Planeten bedeuten. Die Reaktion macht sich selbständig. Läßt sich nicht mehr stoppen. Und alles Leben erstickt unter braunroten Schwaden von Stickoxid.« Polazzo rang nach Luft. Er war tatsächlich erregt. Aber nun senkte er plötzlich seine Stimme, um sein apokalyptisches Bild voller Genuß auszumalen: »Salpetersäure zerfrißt die Gebirge, neutralisiert sich in Jahrhunderten und hinterläßt schließlich einen gutgedüngten Boden für die nächste Lebensphase dieser Erde. Und die beginnt wieder – beim Punkt Null…!«
16 Der »Countdown« hatte begonnen. Ohne die hektische Unruhe zu bemerken, die sich im Palais ausbreitete, verfolgte Klöpfer konzentriert und systematisch die letzten Vorbereitungen seines Versuchs. Alle Teile der Anlage, die Laser und Blitzgeneratoren, die Verstärkerstufen, alles wurde ein letztes Mal durchgecheckt. Die optischen Systeme, die Linsen und Spiegel wurden neu justiert. Um 15 Uhr 32 war es soweit. Die Anlage war bereit. Die Kontrollampen an der »control + display console« brannten. Die Zeiger der sieben Instrumente im Schaltschrank zeigten eine Spannung von 18 kV. »Wir können«, sagte Kühn. »Spannung ist da, Herr Doktor von Klöpfer!« Nach dem in jeder Beziehung durchschlagenden Erfolg des letzten Versuchs war Kühn eine leichte Nervosität anzumerken. Aber Klöpfer reagierte nicht. Er stand am offenen Fenster und blickte über den Hof. Der Schneefall hatte fast völlig nachgelassen. Kühn hatte zwar den Spiegel auf dem Gerüst in der Mitte des Hofes sorgfältig gereinigt. Seine Fußstapfen vom Portal zum Gerüst und zurück waren die einzigen Spuren im Schnee. Klöpfer sah auf seine Uhr. Eine gewisse Unruhe hatte ihn erfaßt, die nicht unbedingt mit dem bevorstehenden Experiment zusammenhängen mußte. Er schien seiner Sache ja sicher. Er ging zurück zu seinem Labortisch, schloß ein Seitenfach auf und nahm ein Fernglas heraus.
Ein Fernglas, dachte Kühn, das ist seltsam. Wozu das Fernglas in einem Laserlabor? Aber dann glaubte er den Grund zu verstehen: Klöpfer hatte das Glas angesetzt und blickte über den Hof. Der Spiegel, natürlich… dachte Kühn. Aber er irrte sich. Klöpfers Blick ging weiter, über den Spiegel als Target des Strahls und über die Umfriedung des Parks hinaus. Die Mauer in diesem Teil des alten gräflichen Besitzes war zum Teil zusammengestürzt. Niemand im Palais kam auf die Idee, für die Reparatur der alten Parkmauer Geld aufzuwenden. Klöpfers Blick wanderte weiter. Die Schloßallee mit den hundertjährigen Ulmen lag dicht verschneit. Keine Fahrspur, keine Fußstapfen deuteten darauf hin, daß dieses blaugetünchte, alte Gemäuer tatsächlich bewohnt war. Die Welt rings um das Palais schien ausgestorben, erstarrt in einem Winterschlaf. Nur die Krähen drüben an der Landstraße erhoben sich schweigend und segelten ruhig über die verschneiten Felder und Wiesen. Ein Wagen hatte sie offenbar aufgestört. Ein Citroen, der mit gelben Lichtern durch diese Wintereinsamkeit fuhr. Er verließ die Landstraße, blieb hinter dem Erlenbruch für eine halbe Minute verborgen, dann blitzten die gelben Lichter zwischen den weißen Stämmen der Birken drüben am Moor. Schließlich bog der Wagen in die Schloßallee ein. Die Lampen erloschen. Klöpfer nahm das Glas für kurze Zeit ab und sah sich um. Kühn stand immer noch aufmerksam und bereit am Schaltschrank und blickte abwartend auf Klöpfer. »Sofort, Herr Kühn…« Klöpfer nickte ihm beruhigend zu. »Wir haben noch Zeit. Ich sagte, um vier.« Es fehlten noch acht Minuten. Klöpfer starrte wieder durch das Glas, aber der Wagen war verschwunden. Keine Fahrspur kreuzte in den Hof. Der Weg
durch das Tag und Nacht offenstehende Tor, das windschief in den altersschwachen Angeln hing, war immer noch jungfräulich verschneit. Nur drüben im Park, dort, wo die Mauer zusammengebrochen war, bemerkte Klöpfer durch das Glas irgendeine Bewegung. Dort stand der Citroen, von dem noch erhaltenen Mauerteil gegen Blicke aus dem Palais geschützt, auf einem Forstweg, der rings um den Park durch das Unterholz führte. Ein hagerer Mann, mit Baskenmütze und in einen dünnen Trench gehüllt, hatte den Motor abgestellt und war ausgestiegen. Er wechselte einige Worte mit einem beleibten Herrn auf dem Beifahrersitz. Dann öffnete er die Heckklappe und nahm aus einem Koffer ein Kamerastativ und eine Spezial-High-Speed-Kamera. Beides baute er rasch und routiniert hinter einem Mauervorsprung auf. Dann erst verließ der Begleiter den Wagen: Weigand, der feiste Herr mit dem runden Bubengesicht. Er blickte hinüber zum Palais, dann gab er mit einem weißen Taschentuch ein Zeichen. Es war fünf Minuten vor vier, als Klöpfer, scheinbar unmotiviert, zumindest für Kühn, den Arm hob, als gebe er ein Zeichen. Immer noch starrte er durch das Fernglas, und Kühn wußte nicht, ob die Handbewegung Klöpfers irgend etwas mit ihm zu tun haben konnte. »Gilt das mir?« fragte er. »Countdown…?« Klöpfer fuhr herum. »Nein – halt – noch nicht!« Er wirkte verstört, sprach zu laut. Und Kühn nahm die Hand wieder vom Schaltpult und trat einen Schritt zurück. »Noch vier Minuten!« In diesem Augenblick klopfte es an die Eisentüre des Großen Salons. Die Klinke wurde bewegt, aber die Tür war verriegelt.
»Hallo, Herr Klöpfer!« Es war die Stimme von Palm. »Hören Sie mich?« Das Klopfen wurde stärker. »Bitte, machen Sie auf, Herr Klöpfer. Wir müssen mit Ihnen reden!« Palms Stimme und das anschließende Klopfen einer Faust wirkten drängend. Aber Klöpfer reagierte nicht. Kühn wurde unruhig. »Soll ich aufmachen, Herr Doktor?« Er wandte sich zur Tür. »Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind!« Offenbar hatte Palm die Stimme Kühns gehört. Jetzt wandte er sich an ihn: »Herr Kühn! Hören Sie… Ich muß Sie bitten, aufzuschließen und herauszukommen…« Kühn zögerte. »Die Tür bleibt zu. Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Klöpfer sah wieder nach draußen. Dann griff er zu seiner Schutzbrille, legte sie zurecht und stülpte die Ohrenschützer über. »Wir können die Tür doch nicht aufbrechen…«, hörte Kühn Palm draußen sagen. Und Büdel antwortete: »Nein, das können wir nicht! Das schafft keiner von uns. Dazu brauchen wir Herrn Kühn!« Irgendeiner lachte. Dann mischte sich offenbar Yvonne in den Disput: »Die Kondensatorbatterie. Im Archivkeller. Wir nehmen den Strom weg…« »Nein«, sagte Palm. »Solche Methoden lehne ich ab!« »Es ist die einzige Chance, das Experiment zu stoppen!« Das war die Stimme von Polazzo. Und Palm antwortete: »Nein! Ein derartiger Eingriff in die Arbeit eines Kollegen… auf Mutmaßungen hin…« »Mutmaßungen…?« antwortete Polazzo. »Ich bitte Sie… Das sind doch Beweise!« »Es sind Spekulationen, Herr Polazzo!«
Aber dann klopfte es wieder energisch gegen die Tür und Palm rief gegen die Stahltür: »Herr Klöpfer…! Stellen Sie bitte das Experiment zurück, bis wir geredet haben. Wir haben wichtige Fragen an Sie!… Hören Sie mich?« Aber Klöpfer hörte ihn nicht. Er sah nach draußen, hatte sich unter seinen geräuschabsorbierenden Kopfschützern verschanzt und kontrollierte wieder seine Uhr. »Noch drei Minuten!« Er hob drei Finger und wandte sich rasch zu Kühn um. Der nickte nur, hob ebenfalls drei Finger und trat wieder an das Schaltpult. Aber dann rief er plötzlich zur Tür: »Ja, hallo, Herr Palm! Wir hören Sie! Und Herr Doktor von Klöpfer…« Er wurde unterbrochen. Klöpfer hatte trotz Lärmschutz Kühns Kontaktaufnahme bemerkt und sich die Ohrenschützer heruntergerissen. »Herr Kühn«, zischte er, »seien Sie still! Ich wünsche keine Störung! Gehen Sie zurück an Ihren Platz. Bitte!« Aber Kühn ging nicht zurück. »Sie bringen mich in eine dumme Situation, Herr Doktor von Klöpfer…«, verteidigte er sich. »Ich wünsche keine Störung, haben Sie verstanden?« Er wandte sich ab, setzte die Ohrenschützer wieder auf und sah auf seine Uhr. »Wenn ich denke, was für Möglichkeiten ich überall habe…«, murmelte er. »Möglichkeiten – mit dieser Methode! Überall! Und hier…?!« Da hatte Polazzo draußen vor der Tür die rettende Idee: »Das Fenster! Das Fenster ist offen zum Hof!« Er rannte los, die Galerie entlang, nahm zwei, drei Stufen auf einmal und verschwand unten in der Eingangsdiele. Die anderen folgten ihm, so rasch sie konnten.
17 Die Spezialkamera war in Anschlag gebracht. Der hagere Mensch mit der Baskenmütze klemmte sich hinter das Okular. Weigand sah auf seine Uhr, dann lehnte er sich über den verschneiten Mauervorsprung. Sie warteten. Da kam ein Mann mit wehendem weißen Labormantel aus dem Portal gestürzt und rannte die Fassade entlang zu dem Gerüst, das in den Hof hinausragte und einen Teil von Klöpfers Apparatur trug. Er rief etwas, das bis zur Parkmauer nicht zu verstehen war. Klöpfer erschien oben am Fenster und blickte herunter. Als schließlich die übrigen Mitarbeiter des Blauen Palais ebenfalls aus dem Portal gestürmt und unterhalb von Klöpfers Versuchsanordnung eingetroffen waren, war die Debatte bereits im vollen Gang. »Sie können das nicht verantworten«, rief Polazzo nach oben, »solange Sie nicht sicher sind!« »Ich bin sicher! Gehen Sie zwanzig Meter zurück!« antwortete Klöpfer. »Wenn auch nur die geringste Möglichkeit einer unkontrollierten Reaktion…« Aber Klöpfer unterbrach Polazzos temperamentvolle Warnung und rief ebenso laut hinunter in den Hof: »Gehen Sie zwanzig Meter zurück. Alle! Zu Ihrer eigenen Sicherheit!« Da war Sibilla vorgetreten, während die andern noch zögerten, teils stehen blieben, teils sich in die Einfahrt der Remise zurückzogen. »Warum sind Sie so stur?« rief sie Klöpfer zu. »Diskutieren Sie doch erst…«
Aber Klöpfer war nicht bereit nachzugeben: »Ich diskutiere nicht mehr. Ich liefere Beweise. Das ist eindeutiger. Gehen Sie zurück! Das Experiment läuft!« Er hob den Arm – das Signal für Kühn, der hinter ihm am Schaltpult stand –, aber nicht nur für ihn. Mit der freien Hand stülpte Klöpfer sich die Ohrenschützer über den Kopf und zog die schwarze Brille über die Augen. »Warum haben Sie es so eilig…?« rief Sibilla, während sie sich zu den übrigen Kollegen in den Vorraum der Remise zurückzog. Aber Klöpfer hörte sie nicht mehr. Sie hielten sich die Ohren zu. »Er ist wahnsinnig!« sagte Polazzo noch und lehnte sich resigniert an die Wand. »Wahnsinnig… wahnsinnig!« Da gab Klöpfer das Zeichen. Der Knall war gedämpft. Er kam aus dem Labor im ersten Stock. Doch bis er die Zuschauer unten im Hof erreichte, war das Ereignis bereits vorbei. Ein elektrisches Knistern, ein greller, kurzer Blitz, den der Spiegel auf dem Gerüst senkrecht in den grauen Winterhimmel reflektierte. Ein Fauchen und Rauschen erklang, das schlagartig wieder abebbte. Und dort, wo eben noch der grell leuchtende Strahl zu sehen war, hatte sich eine langgestreckte rotbraune Wolke gebildet, breitete sich aus, verdünnte sich, wurde von Windböen verwirbelt und löste sich auf. Klöpfer hatte die Schutzbrille hochgeschoben und betrachtete das sichtbare Ergebnis seines Versuchs mit großer Befriedigung. »Ihre Erregung war ziemlich überflüssig«, rief er Polazzo zu, der sich aus der Zuschauergruppe vor der Remise gelöst hatte, um den ganzen Verlauf des Strahls überschauen zu können. »Haben Sie tatsächlich eine Katastrophe erwartet?«
Polazzo schwieg. Er war langsam zu dem Gerüst mit dem Spiegel gegangen und hatte den Schnee untersucht, der unter dem Strahlengang lag. Palm trat zu ihm. Aber die beiden sprachen kein Wort miteinander. Da rief Klöpfer ihnen zu: »Gehen Sie zurück! Ich demonstriere Ihnen das gerne noch mal. Aber diesmal mit hundertprozentiger Leistung. Das erste Mal hatte ich gedrosselt.« Er wandte sich um zu Kühn, der ebenfalls ans Fenster getreten war, um zu sehen, was geschehen war. Aber er war zu spät gekommen. Die Spuren waren längst verweht. »Neu laden, Herr Kühn!« Der nickte und ging zurück. Klöpfer nahm vorsichtig einige Filterscheiben aus dem Strahlengang vor der ersten Verstärkerstufe und schraubte eine Irisblende auf. »Fertig!« rief Kühn ihm zu. »Geladen. 18 kV.« Klöpfer ging zum Fenster, setzte die Brille auf, stülpte die Ohrenschützer über und hob die Hand. Aber drüben an der Mauer rührte sich nichts. Klöpfer wartete, nahm schließlich die Schutzbrille wieder ab, griff zum Fernglas – aber die Anwesenheit Palms und Polazzos, die unten vor dem Tor der Remise abwartend standen, ließ ihn zögern. Schließlich setzte er das Glas vor die Augen, kontrollierte scheinbar den Spiegel auf seinem Gerüst, dann schwenkte er weiter zur Parkmauer. Er sah den hageren Menschen mit der Baskenmütze an seiner Kamera hantieren. Offensichtlich legte er gerade eine neue Rolle Film ein. »High Speed«, hatten sie ihm gesagt. Um alle Phasen des Versuchs wenigstens annäherungsweise aufzunehmen, raste der Film mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Kamera. Trotzdem war es unwahrscheinlich, daß sich der ultrakurze Blitz überhaupt aufzeichnen ließ.
Weigand erschien hinter dem Mauervorsprung und schwenkte sein Taschentuch. »Fertig«, rief Klöpfer und setzte das Fernglas ab. Keiner hatte Verdacht geschöpft. Er schützte seine Augen hinter der schwarzen Brille, dann hob er die Hand. Er wartete noch genau zehn Sekunden, dann gab er das Zeichen. Der Knall war der gleiche. Auch der Blitz, der wie eingeritzt in der Luft zu stehen schien, war nicht anders als vorher – und doch. Ein Zischen begleitete das elektrische Knistern. Eine blendende Helle zuckte in der Mitte des Spiegels auf, silberner Dampf wurde explosionsartig und strahlenförmig auseinandergeschleudert. Der Strahl hatte offenbar den Spiegel durchschlagen, war nicht in den grauen Winterhimmel abgelenkt worden, sondern bohrte sich durch Gebüsch und Geäst in den Stamm einer der uralten Ulmen nahe der Parkmauer. Es prasselte im Holz, Flammen züngelten hoch. Die braunrote Spur entlang des Strahls war rasch verweht, als der Baum bereits in hellen Flammen stand. Polazzo war als erster in die Remise gestürmt, hatte einen der Feuerlöscher vom Haken gerissen. »Es brennt«, schrie Yvonne, als ob irgendeiner das Schauspiel versäumt hätte. Büdel kam mit einem zweiten Löschgerät und folgte Polazzo, der so sinnlos und zwecklos in das Gebüsch bei der Parkmauer gestürmt war. Über ihnen brannte der Baum, in fünf oder sechs Meter Höhe. Selbst von der Krone dieser brüchigen, abbruchreifen Mauer aus war es unmöglich, diesen Brand zu löschen, Da neigte sich der riesige Baum – ein prasselndes Ächzen –, knickte ab, gerade an der Stelle, wo der Strahl den Stamm getroffen hatte,
und stürzte mit seinen weitausladenden Ästen herunter auf Polazzo und Büdel, die inmitten des dichten Gesträuchs nicht mehr flüchten konnten. Flammen wirbelten, Funken sprühten. Als Palm, Jeroen und die beiden Frauen zur Unglücksstelle kamen, taumelten ihnen bereits Polazzo und Büdel aus dem Qualm entgegen. Sie waren bis auf etliche Schrammen offenbar unverletzt, was reiner Zufall war. Der brennende Stamm, der nun im Gebüsch lag, war rasch gelöscht. Der Stumpf des Baumes, hoch über ihnen, glühte noch und rauchte. Die Flammen waren erloschen. Inzwischen kam Klöpfer über den Hof. Die schwarze Schutzbrille trug er immer noch über der Stirn. Kühn folgte ihm, lief an ihm vorbei, um bei der Löschaktion zu helfen. Klöpfer sah sich um. Keiner beobachtete ihn. Er sah hinüber zur Parkmauer. Aber die Augenzeugen seines Experiments waren während des allgemeinen Tumults abgefahren. Die Spuren des Wagens führten weiter hinein in den Wald, denn der Rückweg zur alten Allee war durch herabgestürzte, brennende Äste versperrt gewesen. Büdel war eben über die Mauer geklettert und hatte die letzten Brände gelöscht – die frische Spur im Schnee war ihm offenbar entgangen. Nur Sibilla war aufmerksam geworden. Vielleicht war es Klöpfers intensiver Blick gewesen oder die Neugierde, was hinter der Mauer noch geschehen sein konnte. Vielleicht war es aber auch nur Instinkt. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gesträuch, kam genau zu der Stelle, wo die Reste der umgestürzten Mauer die Augenzeugen verborgen hatten. Sie kletterte über die Steine, sprang auf der anderen Seite hinunter auf den verschneiten Waldweg – und hob etwas auf.
Es war eine gelbe Schachtel mit grüner Aufschrift. Viel verstand sie nicht von diesen Dingen, aber das Markenzeichen war ihr vertraut. Eine leere Filmschachtel, achtlos weggeworfen. Sie steckte sie ein. Dann folgte sie den frischen Spuren weiter in den Wald, hörte die Rufe der Kollegen, fernes Motorengeräusch. Drüben, hinter den Birkenstämmen verschwand gerade ein grauer Citroen Break mit gelben Scheinwerfern in der einsamen Winterlandschaft.
18 Kühn reichte den schweren Metallspiegel weiter an Palm. Der Laser hatte ein kreisrundes Loch heraus gestanzt. Auf der Rückseite waren die Ränder blasig und rauh. Die verspiegelte, polierte Oberfläche war nun matt und grau überdampft und um das eingebrannte Loch schwärzlich verschmaucht. »Ein Fehler in der Interferenzschicht«, verteidigte sich Klöpfer. »Der Spiegel hat die Energie geschluckt, statt sie zu reflektieren!« »Ja«, sagte Palm, »er ist verdampft.« Er maß das Loch mit der Spanne seiner Hand. »Zehn oder zwölf Zentimeter. Die Hitze, die nötig ist, ein Loch dieser Größe aus fünf Millimeter Edelstahl herauszubrennen, ist zu berechnen. Aber wir kommen dabei nur auf Mindestwerte. Die effektive Leistung des Lasers war wesentlich höher. Wie hoch war sie wirklich, Herr Klöpfer?« Klöpfer schwieg, und Palm fuhr fort: »Sie sind also nicht bereit, diese Frage zu beantworten?« »Sie werden zu gegebener Zeit alle Informationen erhalten.« »Zu gegebener Zeit?« Palm gab sich damit nicht zufrieden. »Nach den Statuten dieses Hauses ist jeder von uns verpflichtet, jederzeit sämtliche Pläne, Absichten und Ergebnisse den Kollegen offen darzulegen. Wir müssen durch Ihr Verhalten zu der Ansicht kommen, daß Sie versuchen, uns zu täuschen…« Klöpfer hatte in der Zwischenzeit Kühn den beschädigten Spiegel abgenommen und neben seinem Labortisch abgestellt. Jetzt ging er um die Anlage herum auf die andere Seite und schien irgendwelche Kabelverbindungen zu kontrollieren. Das Verhör behagte ihm nicht. Er widmete sich irgendwelcher
Tätigkeiten und betrachtete das Gespräch mit Palm als beendet. Die übrigen Mitglieder des Blauen Palais standen neben Palm und schwiegen ebenfalls. Aggressivität, Feindschaft lag in diesem Schweigen. Da wandte sich Palm sehr überraschend und sehr spontan zu Klöpfers Labortisch um. Er griff nach dem dicken Buch, dem Versuchsprotokoll, sammelte alle erreichbaren Schriftstücke ein, Pläne, Skizzen, Notizen, öffnete die Schublade, entnahm ihr wahllos weitere Papiere und Aufzeichnungen. Bis Klöpfer Palms Absicht bemerkte, war es längst zu spät. »Was machen Sie hier…?« Klöpfer trat an die Apparatur, die ihn wie eine Barriere von Palm und von seinem Labortisch trennte. »Ich setze Ihr Einverständnis voraus«, erklärte Palm, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, »wenn ich jetzt Ihre Unterla gen und Berechnungen für unbestimmte Zeit an mich nehme, um sie zu prüfen.« »Lassen Sie das!« Klöpfer stürzte, erregt um die Anlage herum zu Palm. »Lassen Sie die Finger davon! Das ist Diebstahl!« Es war ein weiter Weg. Die übrigen Mitarbeiter blockierten den engen Gang zwischen den beiden Verstärkerstufen. »Niemand stiehlt Ihnen etwas!« Palm reichte alle Papiere, die er eingesammelt hatte, über den Laser hinweg an Yvonne – auf die andere Seite zurück. Es war wie ein Kinderspiel. Ein Ball wechselte von Hand zu Hand. Unerreichbar für den, der ihn jagt. »Das kommt alles in den Stahlschrank in meinem Büro«, sagte Palm, und Yvonne verließ den Raum, bevor Klöpfer sie erreichen konnte. »Ich protestiere! Das ist mein geistiges Eigentum!« Klöpfer war über die Maßen erregt.
Aber Palm winkte ab: »Ergebnisse, die hier erzielt werden, sind auch das Eigentum des Blauen Palais. Beruhigen Sie sich, Herr Kollege…« »Ich bin nicht Ihr Kollege!« Klöpfer stützte sich auf die blanke Schiene zwischen den beiden Verstärkerstufen. »An diesen Tag werden Sie noch denken…« Er atmete schwer, um seine Erregung zu unterdrücken. »Denken Sie doch einmal an die Verantwortung«, fuhr Palm nach einer Pause fort, »die wir als Forscher unserem Gewissen gegenüber – und auch gegenüber der Allgemeinheit…« Weiter kam er nicht. Klöpfer hatte sich aufgerichtet. Mit einer Intensität, mit einer Lautstärke, die ihm keiner zugetraut hätte, konterte er: »Das sind doch Phrasen, Herr Palm!« Er kam näher. »Sie sind kein Forscher, sonst wüßten Sie, was es heißt, eine Idee zu haben und an der Nachprüfung der Wahrheit gehindert zu werden.« Er war stehen geblieben und sah von einem zum anderen. »Wir entreißen der Natur ihre Geheimnisse – das ist unsere Aufgabe. Es geht um Erkenntnis. Ich will es wissen! – Mich interessieren die Tatsachen! Die Zusammenhänge! Und da kommen Sie mit Ihrer kleinbürgerlichen Moral!« Er war voller Sarkasmus, als er nach einer kurzen Atempause weitersprach: »Es muß also jeder Gedanke ungedacht bleiben, der mißbraucht werden kann? Ja? So meinen Sie das doch?« Palm hatte die Hand gehoben, um Klöpfers Ausbruch zu stoppen. »Davon war nicht die Rede!« entgegnete er. »Aber es ist ein interessanter Aspekt, der Sie offenbar sehr beschäftigt…« Er suchte der Diskussion einen sachlicheren, ruhigeren Ton zu geben: »Wir haben uns hier im Blauen Palais zusammengefunden, um uns gegenseitig zu helfen – und zwar nicht nur fachlich. Für alles, was hier geschieht, tragen wir gemeinsam die Verantwortung!«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht!« Klöpfer wandte sich ab und ging in die entfernteste Ecke des Raums. Palm blickte von einem zum anderen, dann nickte er kurz und verließ den Raum. Einer nach dem anderen folgte ihm – auch Kühn. Nur Sibilla, die als letzte die schwere Stahltüre erreichte, blieb noch einmal stehen, kam dann zögernd zurück. Die Stahltür fiel krachend ins Schloß. Plötzlich war Stille in diesem Raum. Kein Transformator summte, kein Gerät stand unter Strom. Die Lichter waren alle erloschen, die »display + control console« wirkte tot. Klöpfer kam aus seiner Ecke, ging zu seinem Labortisch – da bemerkte er Sibilla, die neben der Tür auf der anderen Seite des Lasers stand. »Und?« fragte er. »Was gibt’s denn noch?« Sein Unmut war keineswegs verflogen, seine Aggressivität nicht abgeklungen. »Hier!« Sibilla hatte aus ihrem Labormantel etwas hervorgeholt, eine gelbe Pappschachtel, und reichte sie nun Klöpfer über die Geräte hinweg. Klöpfer kam näher, zögerte, dann griff er danach. »Was ist das?« »Sieht aus wie eine leere Filmschachtel, oder was meinen Sie?« Sie erntete auf ihren Kommentar hin nur einen mißtrauischen Blick von Klöpfer. »Was soll ich damit?« Er drehte die Schachtel hin und her und hoffte, er könne seinen Verdacht – oder besser noch ihren – damit zerstreuen. »Ich würde vorschlagen – Sie werfen sie weg oder geben sie zurück. Ihren Freunden. Oder Geldgebern…« Sie ließ sich Zeit und studierte Klöpfers Gesicht. Er wird unruhig, dachte sie. Er wird sehr unruhig, sehr unsicher… »Ich hoffe«, fuhr sie schließlich fort, »Ihr Show-Experiment hat Ihre Freunde überzeugt… Ich meine, daß das Geld bei Ihnen gut angelegt
ist…« Sie wollte noch fragen, wer diese Freunde seien und wie hoch der Preis für Klöpfer sei… Aber dann dachte sie, es sei genug. Genug für diesen Augenblick… Es wird noch andere Augenblicke geben, das zu fragen und eine Antwort zu fordern, dachte sie. Sie konnte nicht wissen, daß es vorläufig keinen Augenblick dieser Art mehr geben würde. So verschenkte sie die Gelegenheit und ging grußlos hinaus. Sie hörte ihn noch rufen: »Sibilla!« Es war ein unterdrückter Ruf, spontan und voller Angst. Aber sie drehte sich nicht mehr um. Und die Stahltür fiel ohnehin sofort ins Schloß.
19 »Was hast du?« fragte Polazzo halb im Schlaf. »Nichts.« Yvonne saß auf der Bettkante, in der gleichen Haltung wie damals er und starrte auf die Nachttischlampe. »Nur…« Sie zögerte. »Das Licht flackert wieder…« Er richtete sich auf, blickte mit schlaftrunkenen Augen auf die Lampe, auf Yvonne. Dann sank er zurück und drehte sich zur Wand. »Laß es flackern…«, brummte er. »Laß es flackern…« Sie ließ es flackern, und es beunruhigte sie. »Ich möchte wissen, woran er jetzt arbeitet.« Polazzo atmete tief. »Du möchtest es wissen – ich nicht!« Er lachte darüber, aber sie reagierte nicht darauf. Dann drehte er sich zu ihr um, lehnte sein Gesicht gegen ihren nackten Rücken, kratzte mit seinen Fingernägeln zärtlich über ihre Haut – aber sie rührte sich nicht. »Mach das Licht endlich aus… Kannst du nicht schlafen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, solang ich nicht weiß, was er treibt.« »Er hat den Planeten nicht verwüstet – der Idiot bin ich! Okay! Er hat ein Riesenspielzeug erfunden, und er wird damit spielen – solange man ihn läßt. Auch okay… Was beunruhigt dich?« Offenbar dachte sie lange nach. Zumindest antwortete sie nicht. »He…« Er biß sie vorsichtig in eine besonders weiche Stelle. »Hörst du nicht?« Da stand sie auf, griff nach dem türkisfarbenen Morgenmantel, den er nicht mochte, und zog ihn an.
Schade, dachte er, als ihr nackter Körper in dem gräßlichen Synthetikgewebe verschwand. Er schloß die Augen und fragte: »Wo gehst du hin?« »Nachsehen. Was er treibt…« Er hörte die Tür, die sie schloß, und ihre Schritte draußen auf dem Gang. Er wollte wissen, ob sie die flackernde Lampe gelöscht hatte. Aber irgendwie schaffte er das nicht mehr. Braunrote Schwaden senkten sich vom Himmel und verhüllten die Erde. Er versuchte hindurchzufliegen, aber seine Flügel waren naß und schwer. »Was kümmert dich das«, fragte sein Vater und warf die Lampe vom Tisch. Sie versank in der Lagune, und blaue Blasen stiegen auf und zerplatzten. Die Lagune schien zu kochen, und sein Vater lachte über ihn. Da beschloß er, nicht weiterzuträumen, und rannte davon. Aber es rannte niemand hinter ihm her… Yvonne war die Holztreppe von den Mansardenzimmern heruntergekommen. Die Notbeleuchtung brannte im Treppenhaus wie jede Nacht. Es war still im Palais. Nirgends klapperte eine Schreibmaschine wie so oft zu dieser Stunde, nirgends wurde diskutiert, keiner hörte Musik. Das riesige Palais wirkte tot, unbewohnt und kalt. Sie fror. Mit nackten Füßen ging sie weiter, spürte die Eiseskälte der Marmortreppe, die zum ersten Stock hinunterführte. Sie sah die offene Stahltür zum Großen Salon. Ein Holzkeil war unter die Tür geschoben worden, um sie offen zu halten. Aber Klöpfers Labor wirkte verlassen. Die Lampe über dem Labortisch brannte zwar, aber niemand war zu sehen. Und die Lampe schien zu flackern. Es schien ihr, als sei der Mäander der optischen Bank merkwürdig leer. Leer und kahl und abgeräumt. Aber sie konnte sich auch täuschen. So genau hatte sie die Anlage nie
studiert. Und dieses diffuse Licht war schwach und warf zu bizarre Schatten über Geräte und Instrumente. Als sie das Labor verließ, hörte sie ein Geräusch. Sie mußte lachen, aber wer briet um diese Zeit Spiegeleier? Es brutzelte und knisterte, und Yvonne schien sogar den Duft zu riechen. Sie ging die Galerie entlang, sah einen seltsamen Flackerschein am Ende des Ganges in Palms Büro, dachte: Feuer, es brennt, aber dann ging sie weiter, durchschritt das große Vorzimmer und stand hinter Klöpfer. Der lag am Boden in einem etwas altmodischen Kamelhaarmantel, in Anzug und Krawatte, die schwarze Schutzbrille über den Augen und klammerte sich an irgendein schweres Gerät. Der Raum war voller Qualm. Ein beißender, scharfer Rauch. Sie wollte sich bücken, nach diesem so merkwürdig verkrampft und verkrümmt daliegenden Mann, als ein gleißender Strahl aus dem Gerät zuckte und sich in den Stahlschrank zu bohren schien. Yvonne schrie auf, sprang zurück und machte Licht. »Licht aus!« Klöpfer hatte den Strahl abgeschaltet und sich zu Yvonne umgedreht. »Schalten Sie das Licht aus! Los!« wiederholte er. Aber Yvonne war viel zu erschrocken und erstaunt, um zu gehorchen. Da wälzte sich Klöpfer auf den Rücken, richtete das schwere Gerät gegen die Decke. Der Strahl zuckte auf, blendend und grell. Traf die Kugellampe. Sie zerplatzte mit einem dumpfen Knall und erlosch. Splitter fielen von der Decke, zerscherbten weiter auf dem Parkett. Der Raum lag wieder im Dunkeln. Wieder hatte Yvonne aufgeschrien. Sie versuchte das, was hier geschah, zu begreifen, als Klöpfer sie ansprach: »Kommen Sie herein. Los!« Sie stand in der offenen Tür: Eine reizvolle
Silhouette vor dem schummrigen Licht des Vorzimmers. Und sie rührte sich nicht. »Los, kommen Sie!« flüsterte er. »Warum?« fragte sie und suchte sich vorsichtig zurückzuziehen. »Halt! Bleiben Sie da!« Aber sie blieb nicht stehen, machte einen Schritt zurück – da zuckte der grelle Strahl neben ihr in die Tür, fraß sich prasselnd durch die Füllung. Rauch stieg auf… Wieder hatte sie aufgeschrien. Aber sie wagte nun nicht mehr, sich zu bewegen. Was will er? dachte sie. Was will er von mir? Er ist wahnsinnig geworden. Bestimmt ist er wahnsinnig. Aber was will er von mir? »Ich muß Sie bitten hereinzukommen, Yvonne. Bitte!« Er schob die Brille hoch, und sie konnte im schwachen Licht, das durch die Tür fiel, seine Augen sehen. »Kommen Sie herein und schließen Sie die Tür.« Sie trat vor, schloß die Tür. Für einen Augenblick war es absolut dunkel im Raum. Dann flammte die Schreibtischlampe auf. Klöpfer hatte sie nicht eingeschaltet, er lag immer noch am Boden und zielte mit dem Laser in ihre Richtung. Aber hinter dem Schreibtisch saß Kühn. Beide sind wahnsinnig, dachte sie. Beide. Oder Kühn ist genauso hier hereingeraten wie ich… »Was wollen Sie von mir?« fragte sie schließlich, als die Stille fast unerträglich wurde. »Sie müssen mir helfen!« sagte Klöpfer. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde schreien!« Da mischte sich Kühn in das Gespräch: »Niemand hört Sie hier unten, Fräulein Yvonne. Es ist vermutlich besser, Sie tun, was Herr Doktor von Klöpfer Ihnen sagt!« Das einzige Tröstliche, das einzige Beruhigende in dieser Situation war die väterliche Stimme von Kühn.
»Was denn…? Was soll ich denn…?« Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Es war nicht nur die Kälte, die in ihr hoch kroch. »Sie wissen, wie gefährlich ein Laserstrahl sein kann…« Klöpfer sprach ganz ruhig auf sie ein. »Der hier ist schwach. Aber er wäre trotzdem in der Lage, das Schloß des Stahlschranks herauszubrennen. Nur- es ist mühsam. Und es dauert lange. Helfen Sie mir!« Er fuhr sich mit dem Rücken seiner freien Hand über die Augen. Jetzt sah sie, daß er Handschuhe trug. Gelbe Lederhandschuhe mit langen Stulpen, wie Kühn sie immer benutzte, wenn er Geräte montierte. »Sie wissen, wo der Schlüssel für den Stahlschrank ist«, fuhr Klöpfer fort. »Sie kennen die Kombination.« Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Aber sie schwieg und rührte sich nicht. »Verstehen Sie nicht? Ich brauche meine Aufzeichnungen!« »Die liegen oben bei Palm«, log sie. »Oben in seinem Zimmer.« Aber Klöpfer schüttelte den Kopf. »Sie sind hier drinnen. Ich weiß es. Helfen Sie mir…« Als sie weiterhin nicht reagierte, schob Klöpfer die schwarze Brille wieder über seine Augen, richtete den Strahl des Lasers gegen die Tür des Stahlschranks. Zischend fraß er sich in schmelzendes Metall – dann wanderte er weiter – über die Wand – Putz platzte ab, Tapeten verglimmten – wanderte weiter durch den Raum – hinterließ häßliche, dunkle, rauchende Spuren… »Helfen Sie mir! Schließen Sie auf!« »Herr Kühn…!« rief sie, aber der rührte sich nicht. Wir sind beide in der Falle, dachte sie. Ob Enrico mich vermißt? Herunterkommt? Rechtzeitig…?
Der Strahl wanderte über die Holztäfelung – Flammen züngelten hoch – näherte sich ihr… »Diese Aufzeichnungen sind mein Eigentum. Ich kann nicht mit leeren Händen…« Klöpfer verstummte. Der Strahl wanderte weiter, erfaßte die Stehlampe neben dem Tisch, zerschnitt den Metallfuß, die Lampe knickte ab und erlosch. Eine Bodenvase zersprang. Wieder schrie Yvonne auf. »Nein! Nein!« Da unterbrach Klöpfer den Strahl. Und aus der absoluten Dunkelheit kam seine Stimme, höflich, aber bestimmt: »Helfen Sie mir, bitte! Schließen Sie auf…!«
20 Das Feuersignal gellte durchs Haus. Licht flammte auf – im Erdgeschoß, hinter den Fenstern der Mansarde. Stimmen wurden laut, Rufe. Das Palais erwachte zu hektischem Leben. Die Mitarbeiter stürzten auf die Gänge, sammelten sich auf der Galerie, schwärmten aus, suchten nach der Ursache des Alarms, fanden schließlich Yvonne, die verstört hinter der Eingangstür stand. Sie hatte den Alarm ausgelöst. Aber in diesem Augenblick hatte Klöpfers VW, gefolgt von einem Citroen Break mit gelben Lichtern, den Hof des Palais längst verlassen. »Er ist weg…!« Yvonne hatte sich lange genug beherrscht, jetzt warf sie sich Polazzo an die Brust, der nichts verstand und nichts begriff. Kühn erschien auf der Treppe und sah keinen Grund mehr, die Wahrheit zu verschweigen: »Herr Doktor von Klöpfer ist abgereist. Er hat alles mitgenommen…« Der Vorsprung war nun groß genug, er konnte jetzt reden. Das Verhör fand im Großen Salon statt, in Klöpfers Laserlabor. Kühn saß auf einem der hochbeinigen Hocker und gab bereitwillig Auskunft. »Sie haben ihm geholfen, bei seiner Flucht, ja?« wollte Palm wissen. »Ich habe es nicht verhindert«, antwortete Kühn. Anhand einer provisorischen Inventarliste versuchte Polazzo die fehlenden Geräte zu ermitteln: »Die Kristalle sind weg, die wichtigsten optischen Komponenten. Linsen, Spiegel,
Polarisatoren. Außerdem die gesamte zweite Verstärkerstufe…« »Stimmt das?« fragte Palm. Kühn nickte nur. »Und Sie haben die Gerate demontiert?« Wieder nickte Kühn. »Was noch, außer diesen Dingen?« »Das Pulsschneidesystem. Aber nichts, was zum Haus gehört.« »Wo ist er hin?« Es war lange nach Mitternacht. Polazzo hatte Yvonne längst zu Bett gebracht. Jetzt saß der alte Mann in diesem Kreuzverhör und war am Ende seiner Kräfte. Aber Palm war nicht bereit, dieses inquisitorische Fragespiel zu beenden. »Wo ist er hin?« Kühn zuckte die Schultern und schwieg. »Reden Sie doch! Mein Gott, Sie helfen nicht nur uns, Sie helfen ihm! Sie müssen es doch begriffen haben: Klöpfer ist in irgendeine Sache verstrickt… Irgendwelche Leute, irgendwelche Kreise haben Interesse an seiner Arbeit, an seinem Projekt. Und diesen Leuten ist er jetzt ausgeliefert, und dem Zugriff ihrer Helfershelfer, die sich seiner Idee bemächtigen werden. Er braucht unter Umständen unsere Hilfe…« Kühn schüttelte wieder den Kopf. »Er ist freiwillig fort. Und es schien nicht so, als ob er auf Ihre Hilfe wert legen würde, Herr Professor Palm.« »Sie sind Angestellter dieses Hauses, Herr Kühn«, fuhr Palm nach einer Pause fort, »Mitarbeiter des Blauen Palais – nicht Angestellter des Herrn von Klöpfer. Warum wollen Sie ihn decken? Was verbindet Sie mit ihm? Daß er Sie hierhergebracht hat? Ist das alles?«
»Das verstehen Sie nicht, Herr Palm…« Kühn schloß die Augen, und seine Antworten wurden immer leiser. »Sehen Sie, endlich hat mich einer der Herren hier… hat mich Anteil nehmen lassen an seiner Arbeit. Hat mich akzeptiert. Nicht nur als Handlanger… irgendwelche Montagen, Reparaturen… nein, nein. Richtig als Mitarbeiter.« Er lehnte sich erschöpft gegen einen der Kabelbäume, die vom Fundament der letzten Stufe – die verschwunden war – zur Decke strebten und sich dort verzweigten. »Doch«, sagte Palm, »das verstehe ich, Herr Kühn.« Er sah sich um. Fast alle Mitarbeiter des Hauses waren noch in diesem Raum versammelt, standen oder saßen herum, in Morgenmänteln, Pullovern und Trainingsanzügen, so, wie sie der Feueralarm aus ihren Zimmern getrieben hatte. »Wir werden Ihre Position im Hause neu regeln«, fuhr Palm fort, »das verspreche ich Ihnen.« Er machte eine Pause und sah Kühn eindringlich an. »Aber zuerst müssen Sie uns helfen.« Kühn schloß wieder die Augen. »Wo finden wir Klöpfer, Herr Kühn?« Kühn schlief nicht. Es war auch nicht die Müdigkeit allein. Es war eine Art Totstelleffekt, sich der Tortur, der Inquisition entziehen. Nichts mehr hören, nichts mehr sehen – nichts mehr antworten müssen… »Herr Kühn… Sie wissen es hoffentlich selbst: Sie haben an einem riskanten und gefährlichen Experiment mitgearbeitet. Wenn Klöpfers Projekt in die falschen Hände gerät… mißbraucht wird… Sie machen sich mitschuldig, das ist Ihnen doch klar…?« Kühn öffnete wieder die Augen – aber sonst kein Einverständnis, keine Zustimmung. »Also… Wo ist er hingefahren?« »Frankfurt… Flughafen… Mehr weiß ich nicht…«
Palm nickte. »Gut, Herr Kühn.« Er ließ ihm Zeit. »Und weiter? Wohin fliegt er?« »Ich weiß es nicht. Wirklich.« Palm stand auf. »Er hat seine Helfershelfer angerufen. Ja? Und Sie waren dabei. Haben zugehört. Und er hat nicht erwähnt, wohin? Nein? Aber wann? Er hat über die Zeit gesprochen, ja? Wann fliegt er? Wann muß er dort sein, in Frankfurt? Wann geht die Maschine?« Vielleicht dachte Kühn nach. Vielleicht wollte er Zeit gewinnen. Schließlich sagte er: »… nach halb neun…«
21 »Halt – bleiben Sie stehen!« Der hagere Mann mit der Baskenmütze und dem lappigen Trench stoppte den Gepäckträger mit seinem überladenen Karren. Eine Kehrmaschine mit ihrem rotierenden Warnlicht, das sich auf den glatten Betonwänden spiegelte, kreuzte mit enervierendem Kreischen ihren Weg. »Warten Sie noch!« Der Mann mit der Baskenmütze sah sich um, Klöpfer war ihnen gefolgt. Er schleppte einen schweren Aktenkoffer aus glänzendem Aluminium, den er nicht aus der Hand geben wollte. Das übrige Gepäck war auf dem Karren gestapelt. Metallkoffer von ungewöhnlichem Format, unförmige, längliche Behälter, die in keiner Weise den Normen von Luftgepäck entsprachen. Er war völlig außer Atem, als er seinen Begleiter und den Gepäckträger eingeholt hatte, nickte ihnen nur kurz zu. Dann überholte er sie, ging ungeduldig und gehetzt weiter, blieb wieder stehen, wartete. Er war ohne jede Orientierung. Er hatte auch keinen Blick für die blauen Piktogramme, die überall den Weg zu den Flugsteigen wiesen. Sie liefen durch den schier endlos langen Korridor, diesen breiten Flur der Verteilerebene des Terminal Mitte, wie sich der Frankfurter Flughafen gerne nennt, von der Tiefgarage hinauf zu der Abflughalle B. Es war zehn Minuten vor acht. Der Flug wurde bereits aufgerufen, als Klöpfer und sein Begleiter am Counter eintrafen.
Die Groundhosteß warf nur einen kurzen Blick auf das umfangreiche Gepäck, dann auf das Ticket: »Sie haben dreißig Kilo frei. Den Rest geben Sie besser auf – als Fracht.« »Es sind wissenschaftliche Instrumente. Sie müssen mit. Mit der gleichen Maschine!« Klöpfers Begleiter hatte einen starken französischen Akzent. Die Groundhosteß schüttelte den Kopf: »Gepäck von diesem Format befördern wir nicht.« »Schicken Sie mir Ihren Passageleiter. Oder den Station Manager.« Der Herr mit der Baskenmütze legte ein Bündel Hundert-Dollar-Noten auf den Counter. »Wo bezahle ich für Übergepäck?« »Augenblick, bitte…« Die Groundhosteß hatte einen Knopf gedrückt. Ein junger Mann trat aus einem der Büros im Hintergrund und zog seine Uniformjacke gerade. »Für PA-nullzwo«, sagte die Hosteß und zeigte auf die Metallkisten. »Wie ist die Auslastung?« Der junge Mann beugte sich über den Monitor des Computer-Terminals, während die Hosteß den Code eintippte. »Zweiter Aufruf!« sagte Klöpfer. Er sah sich unruhig um. »Keine Sorge, bitte!« Der Uniformierte lächelte ihn an. »Sie kommen bestimmt mit. Es geht nur um die Kisten. Wieviel Kilo?« »Wissenschaftliche Geräte. Instrumente, die ich dringend…« Der Herr mit der Baskenmütze stoppte Klöpfers Erklärungen und half dem Gepäckträger, die Behälter auf die Waage zu zwängen. Die Groundhosteß las das Gewicht auf der digitalen Anzeige ab. »Okay!« Der Uniformierte nickte. »Das geht in Ordnung.« Er gab der Groundhosteß ein Zeichen, die tippte die Kilos ein und schrieb die Labels aus.
»Sie zahlen dort drüben.« Der Uniformierte zeigte auf einen Counter gegenüber. »In Dollar.« Klöpfers Begleiter winkte mit dem Geldbündel. »Ja, ich sehe…« Der Uniformierte rechnete um und las ab: »Dreitausendzweihundertfünfzig. Hier Ihre Rechnung.« Er übergab den Coupon. »Ihre Bordkarte. Ausgang B-39. Danke und guten Flug.« Die Groundhosteß lieferte ihr Routinelächeln ab. Bei Passagieren der Ersten Klasse mit Übergepäck für dreitausend Dollar legte sie noch eine Kleinigkeit drauf. Aber Klöpfer würdigte es nicht mehr. Er fühlte sich schlecht. Krank vor Unruhe und Ungeduld, übernächtigt und zerschlagen, folgte er seinem Begleiter, der sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Die Angst, in letzter Minute noch entdeckt und aufgehalten zu werden, verursachte ihm Übelkeit. Er mußte ja Aufmerksamkeit erregen: sein grauer Nadelstreifenanzug staubig und zerknittert; das durchgeschwitzte Hemd; die verrutschte Krawatte; der von der Arbeit am Laser, am Stahlschrank, von der nächtlichen Flucht angeschmutzte helle Kamelhaarmantel, den er offen wie einen seiner Labormäntel trug; der Gürtel, der am Boden nachschleifte; der Aktenkoffer aus Aluminium, den er ängstlich an sich preßte… das alles mußte ihn ja verdächtig machen. Er blickte sich nicht um, wollte keinen neugierigen Blicken begegnen, starrte seinem Begleiter auf den Rücken, durfte ihn nicht verlieren. Da blieb dieser stehen, reichte ihm die Hand: »Machen Sie’s gut. Professor…« »Sie lassen mich allein?«
Der andere nickte, schob Klöpfer in die Reihe, die sich vor der Paß- und Sicherheitskontrolle gebildet hatte. »Sie werden es schon schaffen…!« In diesem Augenblick erreichten Jeroen und Sibilla über die Rolltreppe die Abflughalle B. Die Chance, in diesem Labyrinth, in dieser wartenden, hastenden, unruhigen Menge einen Menschen zu finden, war gering. Es war bereits kurz nach acht. Auf der großen Tafel waren in dieser einen Stunde zwischen acht und neun Uhr zwölf internationale Abflüge angezeigt. Ein großer Teil war bereits abgefertigt, die grünen Lampen blinkten, die »Check-in«-Zeit war abgelaufen. Wenn man schon Klöpfers nicht mehr habhaft werden konnte, so war es wenigstens möglich, das Ziel seiner Flucht zu erfragen. Mit dem Abflugplan dieser einen Stunde in der Hand rannte Sibilla von Counter zu Counter und spielte den Groundhostessen ihre Komödie vor: »Verzeihen Sie, ich suche meinen Mann… ich glaube, er ist in Ihrer Maschine……. Mein Name ist Klöpfer… von Klöpfer…« Ihre Verzweiflung wirkte nicht besonders echt, sie war eine miserable Schauspielerin, aber die Solidarität der Frauen untereinander brachte ihr Erfolg auch außerhalb der Legalität Passagierlisten werden vor Dritten nicht offengelegt. Ohne Ausnahme tippten die Groundhostessen den Code in den Computer und kontrollierten die Namen ihrer Passagiere auf dem Monitor. Klöpfer flog weder nach Amsterdam, noch nach Karachi, Kuweit, Johannesburg, Warschau, Istanbul. Auch nicht nach Stockholm oder London, über Damaskus nach Teheran oder die Route Dakar-Rio-Buenos Aires.
»Unter falschem Namen vielleicht?« Jeroen war ebenfalls herumgeirrt, ohne Erfolg, und traf Sibilla am verabredeten Punkt. »Dazu braucht er einen falschen Paß!« »Das ist doch kein Problem…« Jeroen lachte und sah sich um. »Wieviel Passagiere mit falschen Pässen fliegen hier täglich ab?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sibilla, »aber vielleicht liest du auch zuviel Krimis.« »Oder zuviel in der Zeitung. Vierzigtausend Ostspione in unserer Republik. Alle mit legalen Pässen?« »Kommt auf die Zeitung an, in der das steht…« Sie studierte die Anzeigetafel. »Vielleicht hat Klöpfer gelogen oder Kühn ihn falsch verstanden. Oder Klöpfer hat Kühn absichtlich in die Irre geführt, oder er fliegt Inland, nach Köln oder Hamburg oder München…« »Oder – oder – oder…« Jeroen steuerte auf einen frei gewordenen Sitz zu, vor den ein kleiner Fernsehschirm montiert war. Ein Western lief noch für das eingeworfene Geld. »Bleib hier – ich mach weiter…« Sibilla lief davon, ohne auf Antwort zu warten. Es war nicht die letzte Maschine, nicht die letzte Chance -es war ausnahmsweise die vorletzte, die Erfolg brachte: »Tokio?« »Ja. Erster Klasse. Hier: Klöpfer… sehen Sie?« Sibilla beugte sich über den Counter, stieg auf die Waage. Auf dem Monitor stand es: Samuelson, Textor, Schmidt A. Schmidt F. Zanussi, Huang, Szemanczky, Sakurai, Klöpfer… »Ein Glück, daß er Erster Klasse fliegt. Unter Economy hätten wir uns totgesucht. Die Maschine ist ausgebucht.« Sie sah Sibilla mitleidsvoll an. »Er hat Ihnen nicht gesagt, daß er… daß er wegfliegt?« Sibilla schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.
»Soll ich irgend etwas unternehmen? Ich könnte ihn ausrufen lassen. Über Tower und Cockpit…« Sibilla antwortete nicht sofort. »Viel Zeit haben Sie nicht mehr. Die Maschine ist bereits auf dem Weg zum Runway. Und nächster Stopp ist Delhi 22 Uhr 40.« Sibilla stieg von der Waage, schüttelte den Kopf. Zwei weitere Hostessen waren dazugetreten. Die kleine menschliche Tragödie, die sich abzuspielen schien, sprach sich herum. Ein Funke Anteilnahme in einem Gewühl von über dreißigtausend Schicksalen täglich. »Ihr Mann ist abgehauen…« Weitere Erklärungen waren nicht nötig. »Tokio«, ergänzte Sibilla. »Nein. Hongkong. PA-nullzwo geht nach Tokio. Die Route, verstehen Sie. Er fliegt nur bis Hongkong?« »Und Erster Klasse?« fragte Sibilla. »Was kostet das?« Ein kurzer Zahlencode. Die Hosteß las vom Schirm: »3389 DM. Einfach. Die Südroute über Delhi.« »Und das hat er hier bar bezahlt?« »Nein. Hier wird nur eingecheckt. Tickets gibt’s da drüben. Reservations – Booking. Oder im Stadtbüro…« »Bar bezahlt hat er nur sein Übergepäck«, mischte ein Uniformierter sich ein. »3250 US-Dollar.«
22 »Hier ist es.« Jeroen trat auf die Bremse und hielt. Ein niederer Gebäudekomplex hinter dem Frankfurter Osthafen. Schrott und Chemikalien und Brachland und dahinter der Main. Das Tor zum Hof stand offen. Und neben dem Tor war ein buntes Sammelsurium an Firmenschildern angebracht. »Köster & Co. – Import – Export«, las Jeroen. »Wer geht rauf?« »Du bist dran«, sagte Sibilla und lehnte sich zurück. Der 2 CV schaukelte im Wind, der in Böen über das flache Land wehte. Hier unten im Maintal lag kein Schnee mehr. Die Landschaft war grau und braun und trist, von unzähligen Hochspannungsmasten durchzogen, die die dürren, ärmlichen Pappeln am Fluß überragten, zerschnitten von Schnellstraßen, zersiedelt und profitabel verwüstet. Jeroen zögerte immer noch, betrachtete diese Gegend, das Gebäude, schließlich stieg er aus. Er überquerte den Hof, als ein grauer Citroen Break durch das Tor fuhr und neben einer der Eingangstreppen hielt. Zwei Männer saßen im Wagen, sahen kurz auf Jeroen, der nach dem richtigen Eingang fahndete, und blieben fürs erste sitzen. »Ich komme wegen einer Auskunft…« Jeroen lehnte sich über eine Art Ladentheke und lächelte die Sekretärin, die sich ihm zuwandte, mit dem ganzen Charme, dessen er fähig war, an. Sie lächelte zurück, spannte weiter den Bogen in ihre Maschine und bedauerte: »Ja, bitte, aber es ist außer uns
niemand da.« Sie schaute zu ihrer Kollegin, die in einer Ecke Kartons aufeinander stapelte. »Ich bin sicher, Sie können mir helfen…« Er hatte einen Zettel aus seiner Manteltasche geholt und auf die Theke gelegt. »Sie haben für einen Freund von mir einen Flug gebucht, und Sie haben ihm auch das Ticket bezahlt. Das habe ich eben von der Fluggesellschaft erfahren, mit der er abgeflogen ist. Ein Ticket um fast dreieinhalbtausend Mark. Nach Hongkong…!« Er sah die Sekretärin erwartungsvoll an. Sie lächelte noch immer, versuchte immer noch, das Blatt in ihre Maschine zu spannen. »Ja, natürlich«, sagte sie, »auf den Namen ›Klöpfer‹.« »Richtig!« Jeroen richtete sich auf. Der Sache nachzugehen, das fing so kompliziert an – und jetzt war alles so einfach… Hinter Jeroen war ein Mann eingetreten und unbemerkt stehen geblieben. Ein feister Mann mit einem runden Bubengesicht. »Sie wollen vermutlich zu mir?« Er reichte Jeroen die Hand. »Weigand…« Jeroen war zu erstaunt, um die dargebotene Hand sofort zu ergreifen. Aber dann begrüßte er den fremden Menschen, der ihn forschend ansah, und murmelte seinen Namen: »De Groot…« »Wie bitte?« fragte der andere zurück. »De Groot. Jeroen de Groot. Ich bin Niederländer.« Der andere nickte nur, ließ sich Zeit, Jeroen anzusehen. Dann bot er ihm nicht etwa den Besucherstuhl an, der neben dem Fenster dieses kleinen Büros hinter dem Nierentisch stand, er machte vielmehr eine Handbewegung in Richtung seines Büros, eine Ehre, die Klöpfer nicht widerfahren war. »Bitte!« Der Anflug eines Lächelns. »Kommen Sie mit…« Er ging voraus, öffnete die Tür und überließ Jeroen, der ihm folgte, seiner ganzen Überraschung.
Drachen, aus Seide und Papier, bunte, gefiederte Fabelwesen, Fächer aus Pergament und Plastik, Lampions, rote Manschetten und Quasten, dazwischen Blumen, Blumen, Blumen, aus jedem nur denkbaren Material, aus Seide und Tüll und Flaum. Traumgespinste und billigster Kitsch wirr durcheinander. Das stand und lag herum, Gestecke und Sträuße und aufgeklebt auf Kartons. Das hing von der Decke als Girlande, schlang sich um Säulen. Glitzerkram und Flitter. Randvoll der ganze Raum, zugedeckt alle Tische, zudekoriert alle Wände. Fast kein Platz für einen Schreibtisch. Aber auch der hatte kaum Platz für Schreibgerät und Korrespondenz. Ein Stuhl für Besucher. Weigand machte ihn frei, warf bunte Kartons daneben auf den Boden. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Was kann ich für Sie tun?« Aber Jeroen nahm nicht Platz. Er war zu verwirrt. Er sah sich um, bückte sich unter den Girlanden hindurch, sah den Fabelwesen in die feuerspeienden Rachen und hatte es aufgegeben, irgend etwas begreifen zu wollen. »Sie sind das erste Mal hier?« »Ja…« Jeroen lachte. Er fand das alles absurd. »Wir wollen seit Jahren umziehen«, versuchte Weigand sich zu entschuldigen. »Aber es lohnt eigentlich nicht. Also bleiben wir eben hier in unserer malerischen Enge. Mein Büro ist auch unser Ausstellungsraum. Hier können die Kunden sehen, was wir haben. Und wir haben viel. Viel zuviel!« Er hatte sich hinter den Schreibtisch gesetzt, zwei Gläser aus dem Seitenfach genommen und auf den einzigen freien Platz des Tisches gestellt. Dann bückte er sich und brachte eine Flasche zum Vorschein. Billiger Weinbrand. »Kognak?« fragte er. »Ja, gern!« Jeroen hatte das Gefühl, er hätte einen verdient. Weigand goß in die beiden Schwenker ein, reichte einen über den Tisch. »Zum Wohl.« Beide tranken. Jeroens Blick
wanderte zu einer Reihe grotesker Masken, die ihn aus toten Augen anzustarren schienen. Schlitzäugige Fratzen mit schiefen Mäulern. »Und Sie handeln damit?« Es war die überflüssigste und dümmste Frage, die Jeroen stellen konnte. »Sicher.« Weigand sah Jeroen erstaunt an. »Ich dachte, Sie kommen deswegen…« »Nein.« Jeroen riß sich los von diesem exotischen Karnevalszauber. »Ich bin eigentlich gekommen…« Da unterbrach ihn Weigand. »Ach ja – um Ihren Freund Klöpfer zu treffen. Ich habe es eben gehört. Draußen. Sie haben ja nach ihm gefragt.« Er übersah Jeroens verdutzten Blick und fuhr fort: »Ja, da haben Sie Pech. Den habe ich nach Hongkong geschickt. Eben, vor zwei Stunden. Wir kommen gerade vom Fugplatz, Monsieur Ginsburg und ich…« Er machte eine flüchtige Geste zur Tür. Jeroen drehte sich um. Da stand ein hagerer Mann in einem dünnen Trench, nickte ihm zu und steckte gerade eine Baskenmütze in die Tasche seines Mantels. »Aha…« Jeroen versuchte, einen Sinn in der Geschichte zu sehen, in diesem freimütigen Geständnis, das so wenig nach Konspiration klang. »Ja, ich komme auch gerade vom Fugplatz«, fuhr er fort. »Aber Klöpfer war schon weg.« Er sah jetzt von einem zum anderen: »Jetzt möchte ich Sie fragen: Was tut Klöpfer in Hongkong? Und warum zum Teufel schicken Sie ihn hin? Was haben Sie für ein Interesse…?« Weigand lachte auf, schaute zu diesem Monsieur Ginsburg, der ebenfalls lachte, die Arme verschränkte und sich gegen die Tür lehnte. »Klöpfer – in Hongkong? Was Klöpfer in Hongkong tut? Sie fragen das im Ernst?« Er konnte sich gar nicht beruhigen. »Sie sind doch sein Freund. Das müßten Sie doch wissen…« Wieder lachte er, dann trank er seinen Weinbrand mit einem Zug aus, wollte sich nachgießen,
zögerte, hielt die Flasche Jeroen entgegen: »Noch einen?« Aber der schüttelte nur den Kopf. »Klöpfer kauft ein für uns…« Weigand goß sich vorsichtig ein. »Jedes Jahr das neue Sortiment. Blumen, Fächer, Lampions. Wir sind ziemlich ausverkauft. Der Winter, Silvester, der Karneval, das ist unsere Hauptsaison für Papier. Jetzt kommen die Blumen.« Jeroen hatte sein Kognakglas wieder abgestellt und versuchte einen Einwand: »Ich spreche von dem Physiker, dem Laserspezialisten, Doktor Siegmund von Klöpfer. Ich fürchte…« Er brach ab. Weigand hatte aufgehört zu lachen, jetzt beugte er sich vor, mit halboffenem Mund, als hätte er nicht richtig verstanden. »Siegmund von Klöpfer? Physiker?« Er schüttelte den Kopf, sehr ernst, sehr überzeugend. »Nein. Also unser Herr Klöpfer heißt schlicht Hans Klöpfer, ist Diplomkaufmann, zweiundfünfzig Jahre und bald zwanzig Jahre Angestellter unseres Hauses… Also das ist bestimmt eine Verwechslung.« Er lehnte sich zurück. Jeroen wandte sich zur Tür um. Aber der hagere Mensch, dieser Monsieur Ginsburg, hatte den Ausstellungsraum unbemerkt verlassen.
23 »Hier, ein Trostpreis!« Jeroen klopfte mit einem Zweig gelber Papierorchideen gegen das Fenster des 2 CV. Sibilla schreckte auf. »Du hast geschlafen?« fragte Jeroen. Aber sie schüttelte nur den Kopf, klappte das Fenster hoch und griff nach den Blumen. »Wie schön!« sagte sie und blickte ihn fragend an. »Ich dachte, damit ich nicht mit leeren Händen komme.« Er ging um den Wagen herum und ließ sich hinter das Steuer fallen. »Dein Klöpfer – der nach Hongkong fliegt – ist ein ganz anderer.« Er startete den Wagen und fuhr los. »Bist du sicher?« wollte sie wissen. »Ziemlich sicher!« antwortete er. »Und ich bin ziemlich sicher, daß es unser Klöpfer ist. Sogar sehr sicher!« Ein grauer Citroen Break hatte sich ebenfalls in Bewegung gesetzt und langsam den Hof verlassen. Jetzt folgte er den beiden. Sibilla sah sich um. »Du kannst ihn im Rückspiegel sehen.« »Wen?« fragte Jeroen. »Den grauen Wagen – den Fahrer mit der Mütze. Du kennst beide.« »Woher?« »In der Nacht, als die Geräte kamen. Es hat in Strömen geregnet. Aber ich hab’ ihn wiedererkannt. Den hageren Mann. Und den Wagen auch.« Wieder sah sie sich um, und Jeroen folgte ihrem Blick. Er sah den Wagen im Rückspiegel. Da es auf der Hanauer Landstraße
diesig wurde, hatte der Fahrer die gelben Scheinwerfer eingeschaltet. Er war selbst im dichtesten Verkehr genau auszumachen. »Und als der Baum brannte, stand der Wagen hinter der Mauer.« Jeroen sah Sibilla skeptisch an. »Du hast ihn gesehen?« »Er fuhr weg, als ich dazukam. Aber ich bin sicher.« »Du hast nie mit mir darüber geredet.« Das klang wie ein Vorwurf, wie Mangel an Vertrauen, Geheimniskrämerei. »Ja, ich weiß.« Sibilla atmete tief ein und lehnte sich zurück. »Damals dachte ich, da wäre nichts, um darüber zu reden…« »Ja«, sagte Jeroen, »es schien vielleicht so. Aber alles wäre anders gekommen. Oder?« Er sah kurz zu ihr hinüber. Sie hatte die Augen geschlossen. »Da lebt man nun zusammen .« Weiter sprach er nicht. Beide schwiegen, bis sie bei Enkheim die Schnellstraße verließen. Rechts lag der Main, schwarz und schmutzig. Am Ufer und an den vertäuten Kähnen hatte sich weißer Schaum angesammelt. Es roch nach Schwefel, dabei war weit und breit keine Raffinerie. Ein endloser Fahrzeugstrom kroch hinter ihnen auf diesem Schnellweg den Fluß entlang und verlor sich im diesigen Tag. Der Wagen mit den gelben Lichtern war allerdings verschwunden.
24 »Wann trifft die Maschine mit dem Lampionverkäufer in Hongkong ein?« Palm wollte es wissen, als Jeroen und Sibilla ausführlich von ihren Recherchen und ihren Vermutungen berichtet hatten. »PA-nullzwo: elf Uhr fünfundzwanzig Ortszeit«, las Sibilla von ihren Notizen ab. »Mister Wong?« Palm öffnete die Tapetentür, die sein Büro von der Buchhaltung trennte – heute wie zu Zeiten der gräflichen Güterverwaltung. Wong tauchte verwirrt aus seinen Zahlenkolonnen auf. »Zeitdifferenz – zu Hongkong…« Aber Wong verstand ihn nicht. »Elf Uhr fünfundzwanzig Ortszeit Hongkong. Wie spät ist es hier bei uns?« erklärte Palm. »Oh… oh…« Wong verschob Kugeln auf seinem Rechenbrett. »Morgen früh halb fünf… Differenz sieben Stunden«, lautete die Auskunft. »Danke, das war’s schon.« Palm ging zurück zu seinem Sessel, lehnte den Kopf gegen die geschnitzte Lehne und schloß die Augen. »Denken wir doch mal alle nach, wie man Klöpfer am treffendsten beschreiben kann. Das Äußere, das Gesicht, die Figur, die Brille… Aber auch die Kleidung… Yvonne!« Sie kam aus ihrem Büro herüber. »Erzählen Sie uns, was hatte Klöpfer an, als er floh. Oder besser, schreiben Sie’s auf. Und Kühn soll kommen. Wir brauchen eine Liste des gesamten Gepäcks, mit dem er reist. Sein Aluminium-Aktenkoffer ist schon mal sehr typisch und
auffällig. Aber wie viele Metallkoffer und Kisten hatte er bei sich? Und Mister Wong…!« Wieder störte Palm sein Finanzgenie, wie er ihn nannte, hinter der Tapetentür und riß ihn aus seinen Zahlenmeditationen. »Mister Wong… haben Sie eigentlich noch Freunde in Hongkong?« Wong schob die Brille mit den dicken Gläsern hoch, und ein Strahlen ging über sein Gesicht: »Freunde – in Hongkong… o ja… gute Freunde… sehr gute Freunde…« Er öffnete seine Schreibtisch-Schublade, legte einen ganzen Stapel abgegriffener Fotos auf den Tisch und verteilte sie gleichmäßig über die Fläche. Freundliche Chinesen lächelten die Betrachter an, Kinder und Greise, ganze Sippen und auch wunderschön gesoftete Einzelporträts. »Und hat einer von diesen Freunden Telefon?« wollte Palm wissen. »Telefon – alle haben Telefon…« Wong sah Palm sehr zuversichtlich an, ohne das Geringste begriffen zu haben. Sie klärten ihn auf. Und Wong war fasziniert. Klöpfers Steckbrief wurde erstellt, und Wong übertrug ihn sich in eine Flut winziger, krauser Schriftzeichen, die mehrere Blätter füllten. Pünktlich um Mitternacht war es soweit. Die Welt ist doch klein, dachte Sibilla, als Wong 0-0-8-5-2-5 in die Tasten seines Telefons tippte und damit Kowloon erreichte. Weitere sieben Zahlen, und Wong war am Ziel. Die Geschäftigkeit des Morgens hatte ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Zwei junge Männer fegten Gemüsereste von der Straße, wichen den Handkarren aus, die Obst und Kistenstapel durch die Enge dieser Gasse transportierten, die sich Woo Sung Street nannte, als ein schriller Schrei aus dem kleinen Restaurant gellte. Eine uralte Chinesin in langem, engem,
schwarzem Kleid war zur Tür gehumpelt und schrie es nun über die ganze Straße hinweg: »Telefon aus Europa.« Die beiden jungen Männer ließen ihre Reisstrohbesen fallen und rannten in das Haus. Dort versammelte sich nach und nach die ganze Sippe und lauschte fasziniert dem lauten, freudigen Begrüßungszeremoniell, das der Dienstälteste der Familie am Telefon dem fernen Mister Wong entgegenbrachte. Auch Wong brüllte in seinen Apparat, unnötigerweise, denn der Satellit über dem Indischen Ozean hatte Europa und Südostasien in Zimmerlautstärke miteinander verknüpft. Wong brüllte also mehr aus Tradition und Gewohnheit Klöpfers Steckbrief und seine mutmaßliche Ankunftszeit in das Mikrophon, und fünf zehn tausend Kilometer entfernt huschte ein feiner Pinsel über Reispapier und notierte alle Einzelheiten. Ehrfürchtig standen die Mitarbeiter des Blauen Palais um Wongs Schreibtisch, lauschten dem gutturalen Singsang seiner Sprache, den offenen Vokalen und den unzähligen Tonhöhen und ahnten nicht, wie riskant das Unternehmen war. Zahllose Fehldeutungen von Begriffen waren in die akustische Übermittlung dieser Sprache einprogrammiert. Denn das Wort »shih« konnte Löwe bedeuten oder Stadt oder Lehrer, Geschichte, Stein, Leiche, Raum oder Zeit, die Zahl zehn, erkennen, schwören, bedienen – je nach Tonhöhe und Zusammenhang. Ebenso ehrfürchtig stand die Sippe der Wongs oder Huangs an der Theke des Restaurants »Tien Heung Lau« in Kowloons Woo Sung Street Nummer 138 bis 140 und ahnte, daß ein wichtiger, hochpolitischer und geheimer Auftrag aus Europa sie aus den rund zwei Millionen Sippen dieser britischen Kronkolonie herausgehoben hatte.
Als Wong den Hörer auflegte, zog er als erstes seine altmodische Taschenuhr. »Oh…«, stöhnte er. »Teuer! Viel Zeit! Viel Geld!« Dann erst wischte er sich mit Kleenex den Schweiß von der Stirn. An diesem Mittag blieb das Restaurant »Tien Heung Lau« geschlossen. Zwei rote Schriftzeichen hinter der verschlossenen Glastür teilten das den hungrigen Kunden mit. Das war außergewöhnlich in einer Stadt, da Service zu jeder Tag- und Nachtzeit obligatorisch ist, sofern er Geld bringt – und sei es noch so wenig. In einer Stadt, in der der Gruß zum Abschied »Make good business«, »Make good money« lautet. Aber diesmal ging es nicht um das gute Geschäft, das gute Geld. Der dienstälteste Sohn der Familie, der erste Koch des Restaurants, war mit seinen sämtlichen Brüdern unterwegs in einer ehrenvollen und unbezahlten Mission.
25 Der Flug mit der Nummer »PA-nullzwo« näherte sich gegen elf Uhr Ortszeit, das war 03.00 Uhr GMT, dem chinesischen Festland. Der Anflug führte über den Golf von Tonkin und die Insel Hainan mit einem Kurs von 38°32' über das Südchinesische Meer. Der Pilot der Maschine war in Delhi, dem letzten Stopp, zugestiegen. Er war im Besitz einer Speziallizenz, die jährlich zu erneuern war und ohne die kein Verkehrspilot in Hongkong landen durfte. Die Gründe dafür waren zahlreich und den Passagieren, Gott sei Dank, unbekannt. Wie üblich wehte der Wind in mittlerer Stärke von See her auf das Festland zu. Der Vormittag war ruhig, der Warteraum über Hongkong leer. Der erste Teil des Anflugs war problemlos. Mit normaler Sinkgeschwindigkeit verließ der Jumbo seine Reiseflughöhe von über 30000 Fuß und näherte sich der schwärzlichen Fläche des Meeres. Eine ganze Flotte bauchiger Dschunken hatte mit geblähten, dunklen Segeln den Perlfluß verlassen und erreichte zwischen dem portugiesischen Macao und den der britischen Kronkolonie vorgelagerten Inseln die offene See. Sie kamen ausnahmslos aus Kanton und liefen Kurs auf Kowloon und Shanghai. Aber nun wurde es dramatisch. Die Maschine »PA-nullzwo« hatte das erste Funkfeuer der Ansteuerung passiert und änderte ihren Kurs nach Nord I2°22'. Links lag nun die Insel Lantau mit ihren malerischen Klöstern, rechts Victoria, die eigentliche Insel Hongkong, in
ihrem Nordteil zugepflastert mit Häuserschluchten, Wolkenkratzern und Hütten, die wie ein Pilzgeflecht über die Hügel wucherten. Aber rechts voraus genau in der Anflugshöhe versperrten die »Neun Drachen« den Kurs der Maschine, sieben zackige Felsmassive, die die dichtgedrängten Gassen der Altstadt Kowloon überragten. Die Maschine sank weiter, reduzierte ihre Geschwindigkeit, passierte das Funkfeuer Stonecutter Island und erreichte das Festland. Ein überfülltes Hafenbecken, Gewimmel in den Gassen, schmutziggraue Hochhausfassaden, die die schmale Anflugschneise begrenzten, bunte Schriftzeichen, Reklameschilder auf Dächern und Masten, auf gleicher Höhe wie die einfliegenden Passagiere. Aber die blickten, zu ihrem Glück, nur nach rechts oder links – nicht geradeaus: Dort ragten die »Neun Drachen« steil vor der Maschine in den azurblauen Himmel, eine unüberwindliche Barriere. Genau über einem vorausberechneten Punkt zog der Kapitän den 180 Tonnen schweren Vogel nach Steuerbord, folgte den roten Lampen, die auf Dächern und Antennen, auf Felsvorsprüngen, Terrassen und auf der Spitze der Friedhofspyramide Pui-Man-Tsuen montiert waren, in einer langen Schleife. Der Jumbo flog mitten durch die Stadt. Die freundlichen Anwohner der Flugschneise hatten es sich erst in letzter Zeit abgewöhnt, den Passagieren zuzuwinken. Der Ansturm landender Maschinen war ihnen etwas zu groß geworden. Aber dreißig Meter neben den Flügelspitzen lasen dickfellige Chinesen in Ruhe ihre Zeitung. Die Maschine hatte ihren Kurs um fast neunzig Grad geändert, sank nun auf die Höhe der Hütten, überquerte die
Hochstraße in einer gerade noch akzeptablen Höhe, um die doppelstöckigen Busse nicht zu behindern, und landete mit Kurs 135 auf der im Meer – wenn auch etwas knapp – auf geschütteten Landebahn Kai Tak. Manchmal, wenn launige Passagiere eine Maschine füllen, wird beim Aufsetzen applaudiert. Aber auch diese Sitte schwindet im Zeitalter der Riesenvögel. Fünfzig Passagiere sind zu beeindrucken, auch wenn sie nur zehn Prozent der Probleme mitbekommen haben – aber vierhundertfünfzig...? Einer dieser Ignoranten hieß Klöpfer. Er hatte nichts bemerkt, gar nichts. Nicht die Dschunken, nicht die Tempel von Lantau, obwohl sie auf seiner Seite lagen, nicht die Schwierigkeiten der Landung und dieses Stadtrundfluges. Er hatte viele Stunden erschöpft geschlafen und sich erst nach dem Start in Delhi sicher gefühlt. Dann breitete er seine Papiere vor sich aus und vertiefte sich in Berechnungen. Erst das Aufsetzen der Maschine, das Aufheulen der Schubumkehr, das vehemente Abstoppen des Jumbos dicht vor den blauen Wogen der Victoria Bay machten ihm bewußt, daß er in Hongkong gelandet war. Das Ziel war erreicht.
26 »Herr – Professor – Klöpfer -?« »Ja!?« Klöpfer war eben im Begriff, seinen Paß wieder einzustecken, da lächelten ihn zwei jugendliche, wache Augen hinter runden Brillengläsern an. Der smarte, schlanke Chinese mit den bewundernswerten Deutschkenntnissen reichte ihm die Hand. Klöpfer wechselte den Paß in die Linke, klemmte seinen schweren glänzenden Aktenkoffer unter den Arm und schüttelte die dargebotene Hand. »Willkommen – in Hongkong. Mein – Name – ist – Liung.« »Freut mich.« Klöpfer lächelte zurück. »Das – hier – ist – Mister – Wang. Das – hier – ist – Mister – O’Yang.« Zwei etwas beleibtere, ältere Chinesen waren hinter Liung aufgetaucht. Händeschütteln. Lächeln. »Bitte – kommen – Sie. Ihr – Gepäck…« Liung ging voraus, die beiden anderen ließen Klöpfer den Vortritt. Höfliche Gesten, Lächeln, Verbeugungen… Die Metallkoffer und Kisten passierten den Zoll ohne Schwierigkeiten. Liung präsentierte den Beamten irgendein amtliches Schriftstück, das offenbar Eindruck machte. Chinesische Polizisten in britischen Kolonialuniformen waren behilflich und öffneten die Glastüre, die zu den Parkplätzen führte. Klöpfer wurde samt seinen Geräten hinausgeschoben in den schwülen, feuchten Smog dieses Mittags, der wie eine Glasglocke über die Stadt gestülpt war, unbeweglich über ihr lastete und sogar dem steifen Seewind
trotzte, der von der Küste direkt hinauf zu den Gipfeln der »Neun Drachen« wehte und die graue Stadt unberührt unter sich liegen ließ. Ein schwarzer Straßenkreuzer wartete mit Chauffeur. Der zog die Mütze, verstaute mit dem Träger das umfangreiche Gepäck. »Ich würde als erstes gerne ins Institut… Sie verstehen das sicher.« Klöpfer war voller Tatendrang und voller Neugierde. Auf den fragenden Blick Liungs wiederholte er: »Ich möchte in mein Labor. Mit meinen Geräten hier…« Jetzt hatte Liung offensichtlich verstanden. Er beriet sich mit seinen Begleitern auf kantonesisch. Es war ein ausführlicher Disput. Schließlich wandte sich Liung wieder an Klöpfer, öffnete ihm den Wagenschlag und erklärte: »Wir – finden – Ihren – Wunsch – sehr – gut, – Professor – Klöpfer. Wir – bringen – Sie – zuerst in – Ihr – Hotel!« Höfliche Geste, ein Lächeln, eine Verbeugung. Klöpfer war verunsichert. Er wollte ein Mißverständnis aufklären, aber er begann zu ahnen, daß nichts aufzuklären war. Er hatte das Gefühl, sehr weit fort zu sein, sehr weit entfernt. In Asien nämlich. Und er begriff, daß er wohl einiges lernen mußte. Er stieg also ein und ließ sich in die Polster fallen. Rechts und links neben ihm nahmen die beiden schweigsamen Begleiter Platz, füllten jeden Zentimeter dieses Raumes, der Sitzbank, nahmen ihm jede Bewegungsfreiheit. Liung stieg vorn ein, wandte sich kurz um zu Klöpfer, nickte ihm zu, dann gab er dem Fahrer Anweisungen. Leise und sanft setzte sich der schwere Wagen in Bewegung. Ein weiterer Wagen setzte sich in Bewegung, ein kleiner Lieferwagen mit einer bunten Bemalung. Knusprig gebratene
Pekingenten mit langen, dünnen Hälsen hingen von ebenfalls gemalten Haken über die ganze Fläche des Wagens. Auf der Hecktür hielten zwei Eßstäbchen einen gebratenen Fisch. Dazwischen waren rote Schriftzeichen eingestreut, die Klöpfer natürlich nicht als Name und Adresse des Restaurants »Tien Heung Lau« in der Woo Sung Street Nummer 138 bis 140 entziffern konnte. Er hatte den Lieferwagen nicht im geringsten beachtet, auch nicht die Gruppe junger Männer, die sich seit seiner Begrüßung durch diesen Mister Liung immer in seiner Nähe herumgetrieben hatten. Die jungen Männer diskutierten, glotzten ihn schamlos an, wisperten, schauten ihm nach, und nun folgten sie, nachdem sie fast vollzählig im Lieferraum des Wagens untergekrochen waren. Die Fahrt ging über die Hochstraße hinüber nach Kowloon City. Achtstöckige Blocks, ohne jede Unterbrechung, säumten den Weg. Die winzigen Fenster waren mit den rostigen Kästen der Klimaanlagen fast vollständig ausgefüllt. Dahinter kämen die bunten Häuser einer Flüchtlingssiedlung der fünfziger Jahre in Sicht, wie sie überall in Hongkong zu finden waren. Die durchgehenden Balkone zogen sich Stockwerk um Stockwerk um die Gebäude und hingen voll mit flatternder Wäsche. Es war Mittagszeit. Aus allen Türen und Toren und Portalen quollen die Menschen, die das Privileg einer freien halben Stunde hatten. Sie strömten die engen Straßen hinauf und hinunter auf dem Weg zu irgendwelchen billigen Imbißstammquartieren, die an jeder Ecke zu finden waren. Die Garküchen auf offener Straße waren umlagert. Die Gäste standen herum und schaufelten sich mit Stäbchen den Reis in den Mund. Bratenduft, Gewürze und Smog mischten sich zu
einer verführerischen, staubigen Komposition, die von Block zu Block, von Straße zu Straße neue Nuancen zeigte. Klöpfer saß eingeklemmt zwischen seinen Betreuern und versuchte hin und wieder einen Blick auf diese exotische Welt zu erhaschen. Aber dann irrten seine Gedanken wieder ab. Das Institut, die Aufgaben, die auf ihn warteten, die Erwartungen, die man offenbar von ihm und seinem Projekt hegte. Er kannte seine Auftraggeber nicht. Ein staatliches Institut, hatte Weigand gesagt. Aber welchen Staates, hatte er vergessen zu erwähnen. Und Klöpfer hatte nicht weiter gefragt. Aus dem Radio tönte aggressiver Singsang. Werbespots auf chinesisch. Durchmischt von klagenden Tönen irgendwelcher Schnulzen. Pentatonik. Hin und wieder amerikanische Texte, von chinesischen Mädchen guttural und melodisch gesungen. Sie tasteten sich von Rotlicht zu Rotlicht. Der Lieferwagen des Restaurants hielt sich immer hinter ihnen. Ein ganzer Block war beflaggt. Die Farben der chinesischen Republik auf Formosa, dazwischen riesige Bilder von Tschiang Kaischek. Auf dem Warenhaus gegenüber das Bildnis von Mao, umrahmt von den Fahnen der Volksrepublik. Die ehrwürdigen Toten, hier wurden sie noch verehrt, hatten noch keine Nachfolger gefunden. Bevor sie die Südspitze der Halbinsel Kowloon erreichten, wo die Züge nach Peking, nach der Volksrepublik den kleinen Bahnhof dieser britischen Kolonie verließen, bogen sie ab auf ein Gewirr sich überschneidender Straßen. Die Zufahrt zum Tunnel. Aber alle Fahrspuren waren blockiert, die Wagen stauten sich in endlosen Reihen vor den Mautkassen. Klöpfer blieb Zeit, die Sportler im nahen Park bei ihren Übungen zu betrachten. Tai Chi Ch’uan – Schattenboxen. Gymnastik in Zeitlupe. Studenten und Greise kämpften sich
durch zähen Teig, schwammen durch Schaum, jeder tanzte sein Soloballett einer fremden Kontemplation. Ritualisierte Selbstverteidigung plus Meditation. Dann verschwanden sie im Tunnel, der die Insel Victoria mit dem Festland verband. Gelbe Lampen flogen vorbei, spiegelnder Schimmer, dutzendfach reflektiert von Scheibe und poliertem Lack. Durch braunen Nebel hindurch tauchte das Tageslicht wieder auf. Hundert Hupen brandeten gegen die Mauern, verfingen sich in der Röhre des Tunnels. Rush hour – aber zu jeder Tageszeit. Sie waren im Manhattan Asiens gelandet. Wanchei. Die Welt der Suzi Wong? Die malerische Postkartenidylle der alten chinesischen Gassen war zweckmäßigen Hochhausbauten gewichen. Exxon, Shell, Texaco, IBM und so weiter. Sechstausend Bankfilialen laut Adreßbuch. Nur Anzugund Hemdenschneider gab es noch mehr. Hilton, Sheraton, Intercontinental, Mandarin-Hotel. Aber die Fahrt ging daran vorbei, ging weiter. Die Szenerie änderte sich. Doppelstöckige Straßenbahnen kreischten auf ausgefahrenen Schienen. Hennessy Road, Queensway, Des Voeux Road. Buntgestrichene, verkommene Arkaden auf der ganzen Länge dieser Straßenzüge. Die Fassaden ertranken in Kalligraphie. Schriftzeichen bis unter das Dach. Auch in China macht Werbung Konsum erst schön. Make good money. Make good business. Aber chinesisches business. Das unfarbige, sterile Europa, das kalte zweckmäßige Amerika, beide waren in dieses vitale, total überbevölkerte Viertel noch nicht vorgedrungen. Im Schrittempo ging es durch diese Straßen, durch diese sich hektisch hin und her schiebende Menschenmenge.
Ein weißer Tropenhelm ragte über dieses Meer wogender Köpfe. Weiße Handschuhe regelten den Verkehr. Aber Straßenbahnen und Wagenkolonnen hatten sich längst in diesen Menschenmassen festgefressen.
27 »Wir – sind – da!« Liung hatte sich umgesehen und Klöpfer zugenickt. Der Fahrer öffnete den Schlag, der linke Begleiter quälte sich aus dem Wagen, Klöpfer folgte, sah sich um. Neugierige waren stehen geblieben, in Sekundenschnelle hatte sich eine Menschentraube gebildet. Stumme, ernste Gesichter, abwartend, fast feindselig. »Das Institut?« fragte Klöpfer. Eine chinesische Wohn- und Geschäftsstraße im Zentrum. »Das Labor?« wiederholte er. Liung lächelte verbindlich: »Dort – drüben.« Höfliche Geste. Klöpfer klammerte sich an seinen Aluminiumkoffer. »Labor – Institut…«, fuhr Liung fort, »sehr – gut!« und er ergänzte, als Klöpfer sich anschickte, diese vollgestopfte, nahezu unpassierbare Straße zu überquerten: »Dort – ist – das – Hotel.« Hotel »Tai Koon«. Vier Stockwerke Galerie zur Straße. Der Eingang unter den Arkaden zwischen Gemüse und Musikkassetten. Im Erdgeschoß eine unbesetzte Rezeption. Blinde Spiegel, schüttere Topfpalmen, ein zerschlissener Ledersessel. Das Scherengitter des Aufzugs öffnete sich, Klöpfer wurde hineingeschoben, Liung und die zwei Begleiter folgten. Der Liftboy war zahnlos und vielleicht hundert Jahre alt. Sein Unterhemd war verschwitzt und mehrfach geflickt. Er trug fleckige Khaki-Shorts und Plastiksandalen und blickte Klöpfer unverschämt neugierig ins Gesicht.
Die gichtigen Finger hatten einen der abgegriffenen Knöpfe gedrückt. Ein Zeiger rotierte um ein Zentrum, langsam hob sich der Lift, Kabelstränge wanderten nach unten, der Zeiger blieb stehen: »II.« Die dürren Greisenarme öffneten das Scherengitter mit Mühe. Klöpfer stand in einem offenen Flur und war entsetzt. Er wollte protestieren, aber die höflichen Gesten, das Lächeln… Liung nahm ihn am Arm, führte ihn weiter. Zwei alte Chinesen saßen auf einer Bank vor der abgeblätterten Wand. Vor ihnen stand ein Spucknapf. Der Rezeptionist hatte einem der Begleiter einen Schlüssel übergeben. Der Pappkern einer leeren Klosettpapierrolle war daran mit einer Schnur befestigt. »Das ist das Hotel?« fragte Klöpfer, als er die offene Galerie erreichte. »Hotel – ja.« Liung sah keinen Grund für Klöpfers Entsetzen. Von unten brandete der Verkehrslärm hoch, das Brodeln der zehntausend Stimmen, Hupen in allen Tonlagen des Diskants, Proben aus den Musikkassetten der Händler in den Arkaden. Das mischte sich zu einem infernalischen Hörerlebnis, das kein Europäer mehr vergißt. Liung hörte es nicht. Er führte Klöpfer die Galerie hinunter. Am Ende saß ein Mann und sah ihnen entgegen. Er hatte seine Zeitung sinken lassen und schaute interessiert über die schmalen Gläser seiner Lesebrille hinweg. Ein Europäer. Aber Klöpfer beachtete ihn nicht. Einer von Liungs Begleitern hatte die weiß gestrichene Holzwand, die der offenen Galerie gegenüberlag, nach Zeichen abgesucht. Die standen neben jeder der schmalen Türen, die wie in einer Badeanstalt in Kabinen zu führen schienen. Jetzt hatte er eine der Kabinen aufgeschlossen. Freundliche Geste zu Klöpfer, ein Lächeln.
»Hier?« Klöpfer scheute zurück. Der Raum war nach oben offen. Ein Drahtgitter verhinderte Übergriffe von nebenan. Ein großer Ventilator drehte sich, verwirbelte die heiße, stickige, schwüle Luft und ließ das Moskitonetz flattern. Das hing schlaff und mehrfach geflickt auf ein Bett, eine Lagerstätte, die die ganze Kabine in ihrer Breite auszufüllen schien. Davor ein Tisch, ein Hocker, ein Spucknapf. »Nein! Das ist unzumutbar. Ich bitte Sie!« Klöpfer hatte sich an Liung gewandt, der ihn erstaunt durch seine dicken, runden Gläser anstarrte. Er schien den Protest nicht zu verstehen, gab sich aber den Anschein größten Interesses. »Unzumutbar!« wiederholte Klöpfer. »Es gibt internationale Hotels hier in Hongkong…!« Liung ging nicht darauf ein. Er begann Klöpfers Protest seinen beiden Begleitern zu übersetzen. Da meldete sich der Europäer, der immer noch unbeachtet hinter Klöpfer am Rand der Galerie saß und die Szene beobachtet hatte, zu Wort. »Beruhigen Sie sich. Das ist schon in Ordnung hier.« Er nahm die Brille mit den schmalen Gläsern ab und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. »Vielleicht ein wenig ungewohnt, ein wenig überraschend. Mag sein.« Er faltete die Zeitung, die er gelesen hatte, sorgfältig zusammen. »Es ist das letzte oder eines der letzten wirklich alten und klassischen Hotels dieser Stadt. Und es hat seine Vorteile.« Er stand auf und kam näher. »Man wird Sie hier in Ruhe lassen. Das Haus ist sehr diskret«, fuhr er fort. »Und es ist wegen Ihrer Sicherheit. Das ist sehr viel wert in einer Stadt wie Hongkong.« Klöpfer betrachtete das gutgeschnittene, schmale Gesicht des anderen, nicht gerade jung, aber von überzeugender Intelligenz und Verbindlichkeit. Er kannte dieses Gesicht, wußte aber nicht, woher. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Dieses
Deutsch mit dem starken amerikanischen Akzent. In der Hand die »New York Times«… »Wer sind Sie?« wollte Klöpfer wissen. »Sie wohnen hier?« Statt einer Antwort reichte ihm der Fremde die Hand: »Willkommen. Ich hoffe, der Flug war angenehm.« Klöpfer nickte. »Danke. Ja…« »Mein Name ist Parker. Fred B. Parker. Vielleicht erinnern Sie sich. Wir sind Kollegen. Rensselaer Polytechnic Institute, Hartford, Connecticut, USA.« Er lachte. »Das heißt, früher einmal!« Bei Klöpfer dämmerten Bilder, Ereignisse: »Ja, mein Gott, natürlich. Parker. Wir kennen uns! Second Workshop Conference des RPI in Troy, New York«. Er starrte den anderen an wie ein Phantom. »Was tun Sie hier?« »Ich forsche. Nichts weiter.« Es war mehr als das typisch amerikanische Understatement. »Tun wir doch alle!« fuhr Parker fort. Und nach einer kleinen Pause kam er zur Sache: »Ich habe Ihren Bericht eingehend studiert. Ich habe ihn auf vielerlei Umwegen erhalten. Und ich bin beeindruckt. Mein Kompliment.« In diesem Augenblick hatte Klöpfer seine berechtigten Frustrationen, dieses Hotel betreffend, bereits vergessen. Auch den Verkehrslärm, diesen infernalischen Radau. »Ach ja?« Das war scheinbar alles, was er dazu zu sagen hatte. »Ja«, führte Parker weiter aus, »es scheint Ihnen gelungen zu sein, die Intensität Ihrer Anlage auf ebenso einfache wie geniale Art zu steigern. Wir sind an diesem Trick sehr interessiert!« »Das ist kein Trick!« wehrte Klöpfer ab. »Ich weiß. Natürlich. Aber wir nennen das so. Verzeihen Sie!« Er berührte kurz Klöpfers Schulter mit der Hand. Eine freundschaftliche, beschwichtigende Geste. »Sie müssen
wissen«, fuhr er fort, »ich bin schuld, daß Sie hier sind! Die Einladung…« Aber an dieser Stelle unterbrach ihn Klöpfer voller Ungeduld. »Man hat mir angedeutet, ich soll hier in Hongkong eine Art Institut übernehmen.« Der andere machte eine vage Geste. »Mitarbeiten. Nicht übernehmen. Und auch nicht in Hongkong hier.« Klöpfer überhörte die eigenartigen Zwischentöne in Parkers Kommentar. Er ergänzte seine Vorstellungen: »Mir ist in erster Linie daran gelegen, meine Methode zur Erzeugung von Stickoxiden…« Jetzt unterbrach ihn Parker: »Ja, wir wissen davon… es steht ja sehr ausführlich in Ihrem Bericht. Nur – wir sind an diesem Projekt speziell nicht so sehr interessiert. Wir haben ein anderes Ziel. Ein wirklich sehr großes Ziel, glauben Sie mir. Und es fehlen uns dabei noch ein paar kleine Steine in unserem Mosaik. Und einer dieser Steine sind vielleicht Sie – und Ihre Methode der Frequenzverdopplung…« Klöpfer atmete tief ein, ohne den Smog zu spüren, der die Augen reizte und die Lungen. »Nein!« Es klang wie eine endgültige Ablehnung, und Parker blickte ihn erstaunt an. »Nein, das war so nicht verabredet. Wir hatten vereinbart: Ich kann frei arbeiten… und es stehen ausreichend Mittel bereit…« Der andere hob die Hände wie zu einer Entschuldigung: »Es gibt oft Umwege. Zwischenstationen. Aber ich kann Sie nicht zwingen mitzuarbeiten. Ich will Sie auch nicht… überreden. Verkaufen Sie uns Ihren Trick, Ihr Know-how, Ihre Berechnungen…« Klöpfer sah ihn fassungslos an: »Verkaufen? Zu welchem Preis?«
»Oh, das Institut ist nicht kleinlich!« Parker wandte sich zur Balustrade dieser Galerie und stützte sich auf. Die Straße war nun endgültig verstopft. An der nächsten Ecke waren drei oder vier doppelstöckige Straßenbahnen eingekeilt. Klöpfer war dazugetreten, schaute ebenfalls hinunter in das Chaos. Der Polizist mit dem weißen Tropenhelm und den Handschuhen hatte seine Kreuzung im Stich gelassen und verhandelte mit einer Gruppe junger Männer, die mit ihrem Lieferwagen auf dem Bürgersteig zu parken versuchten. Die Seite des Wagens war mit Pekingenten bemalt, die knusprig braun in Reih und Glied aufgehängt waren. Aber das alles interessierte Klöpfer nicht so sehr. Er wandte sich wieder an Parker, um seinen Standpunkt klar zu formulieren: »Ich suche die Möglichkeit zu arbeiten. Weiterzuarbeiten. Verstehen Sie?! Ich brauche den Job.« Er sah sich nach seinen Begleitern um, nach Liung, aber die standen abseits und warteten geduldig auf das Ergebnis dieses Disputs. »In den USA, in Europa«, führ Klöpfer fort, »ist das in meinem Alter nicht mehr so einfach.« Es war ihm offenbar nicht leicht gefallen, das einmal auszusprechen. Als Parker darauf nicht antwortete, stellte Klöpfer die entscheidende Frage: »Woran arbeiten Sie? Was ist das Ziel, von dem Sie reden?« Parker zögerte nur kurz, dann ging er nicht weiter darauf ein. »Überschlafen Sie das alles. Sie haben eine anstrengende Reise hinter sich. Sie haben außerdem Zeit. Viel Zeit.« Er nahm sein Jackett von der Lehne des Stuhls, schob die zusammengefaltete Zeitung in eine der Außentaschen. »Vielleicht ergibt sich sogar die Möglichkeit, Ihr Projekt, diese Stickstoffoxidation, gewissermaßen am Rande weiterzuführen.« Aber Klöpfer ließ nicht mehr locker: »Woran arbeiten Sie?«
»Wir!« verbesserte Parker. »Wir!« Er sah sich um, dann wandte er sich wieder an Klöpfer: »Es ist wirklich ein sehr großes Ziel. Und Sie sollten sich ernsthaft überlegen, daran mitzuarbeiten – auch wenn Ihr Anteil noch so klein sein mag.« Er ging ein paar Schritte die Galerie entlang in Richtung des Lifts. Klöpfer folgte ihm. »Übrigens…«, Parker wandte sich noch einmal um, ohne stehenzubleiben, »finanziell werden wir uns immer einig.« Dann reichte er Klöpfer die Hand, immer noch im Gehen, im Hinausschlendern, ganz leger, ganz amerikanisch, frei und unverkrampft. »Ja, und nochmals – verzeihen Sie die Unterbringung hier in diesem Hotel. Aber glauben Sie mir, es hat alles seinen Sinn!« Er ging, verschwand hinter dem Scherengitter des Lifts, winkte einen flüchtigen Gruß, ließ Klöpfer allein zurück – allein mit diesen drei freundlichen Begleitern, die geduldig auf ihn zu warten schienen, allein mit diesem infernalischem Höllenlärm der Straße, allein mit einer Enttäuschung und einer schwerwiegenden Entscheidung.
28 Die Ratten hatten ihren irren Tag. Es mußte am Wetter liegen. Über Nacht war es mild geworden, frühlingshaft. Der laue Wind peitschte Wolkenreste über einen blaßblauen Himmel und taute die letzten Schneereste fort. Und die Ratten rappelten in ihren Käfigen, bissen sich und quiekten jämmerlich. Sibilla und Jereon mußten ihr Experiment abbrechen und brachten die unruhigen Tiere zurück in die Boxen. Unterwegs sah Sibilla, wie Palm und Wong das Portal des Blauen Palais verließen und über den Hof auf die Remise zukamen, wo im ersten Stock die Biochemie residierte. Sie hatte gute Lust, eines der kleinen Fenster aufzureißen, damit der laue Wind diesen ganzen Rattenmief aus dem Labor wirbeln konnte. Aber die Räume standen unter dem keimfreien Überdruck einer sehr speziellen Klimaanlage. Die garantierte zwar sauberes Arbeiten und weitgehend unverfälschte Ergebnisse der Versuche, aber mit dem Gestank mußte man sich eben abfinden. Palm und Wong traten ein. Sie schlüpften durch die Schleuse, wo ihnen dicke Plastikvorhänge um die Ohren wehten. Sibilla stand schon erwartungsvoll bereit. »Wir haben ein Nachricht.« Palm nahm Wong einen engbeschriebenen Zettel aus der Hand. »Sie hatten recht: Ihr Klöpfer war der Richtige – der unsrige. Er ist tatsächlich in Hongkong.« Jeroen trat dazu, schlüpfte aus seinem Labormantel und hing ihn ordentlich an den dafür vorgesehenen Haken, der sein
Namensschild trug. »Was gibt’s Neues?« fragte er und nahm das engbeschriebene Blatt, das Sibilla ihm lächelnd reichte. »Aha!« Er hatte einen verdutzten Blick darauf geworfen und dann Wongs chinesische Notizen zurückgegeben. »Hotel ›Tai Koon‹«, erklärte Wong. »Des Vœux Road 707. Victoria Central District. Zweiter Stock. Hotel letzte Kategorie. Nicht gut für Europäer. Aber auch nicht viel Geld. Nicht teuer…« Jeroen schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Kante eines Tisches und sah Palm verständnislos an. »Das kriege ich alles nicht zusammen: Lampioneinkäufer, Erster-Klasse-Flug, letztklassiges Hotel, der Flitterladen im Frankfurter Osthafen…« Sibilla hing sich mit beiden Händen zärtlich an seine Schulter. »Du bist eben Biochemiker und kein Sherlock Holmes. Oder?« Er lachte und faßte sie um die Taille. Palm war ernst geblieben. »Den Flitterladen sehe ich mir persönlich an, heute nachmittag.« Er wandte sich ab und trat ans Fenster hinter Sibilla. Und dann fuhr er fort: »Nachdem ich Sie zum Flughafen gebracht habe…« Sibilla stutzte, dann sah sie sich um. »Wen?« »Sie!« Kein Zweifel, Palm schaute sie an. »Mich? Zum Flughafen? Wieso?« Palm atmete tief ein und nahm einen Anlauf. »Ja, Sibilla. Sie…« Er kam näher und versuchte seine Überredungskünste mit einem charmanten Lächeln einzuleiten. Sibilla kannte den Trick. Es war ihr nicht sehr wohl dabei. »Sie sind nämlich der einzige Mensch in unserem Team, von dem ich annehme, daß er einen gewissen… Einfluß auf Klöpfer haben könnte. Fliegen Sie hin!«
Sibilla war sekundenlang sprachlos. Dann lachte sie, wenn auch nervös und unsicher. »Ich soll nach Hongkong? Das ist doch nicht Ihr Ernst!« Palm sah kein Problem in dieser Idee. »Reden Sie mit ihm!« »Schade ums Geld. Ein teures Gespräch und ziemlich sinnlos.« Sibilla hatte sich aus Jeroens freundschaftlichzärtlicher Umarmung befreit und war zu ihren Ratten gegangen. Die starrten nun mit großen roten Knopfaugen durch die Gitterstäbe ihrer Käfige und verhielten sich ausnahmsweise einen Augenblick lang still. »Klöpfer verkauft sich doch an jeden, der ihm die Mittel für weitere Forschungen gibt«, sagte sie schließlich. »Und was kann ich ihm bieten? Soll ich ihm den Nobelpreis versprechen?« Jeroen lachte. Als einziger. Da fand Palm es an der Zeit, die Diskussion abzubrechen und autoritär zu entscheiden: »Ihr Flug ist schon gebucht.« Und bevor sie protestieren konnte, fuhr er fort: »Klöpfers Idee darf nicht in fremde Hände kommen. Das muß man ihm klarmachen – weiter nichts.« Abschließend versuchte er wieder einzulenken: »Sibilla… Versuchen Sie es wenigstens!« »Riskier nichts!« sagte Jeroen, als er mit Sibilla die Wartehalle B des Frankfurter Flughafens durchquerte. »Polazzo meinte, es geht um das Schicksal der ganzen Menschheit«, entgegnete sie und lachte. Aber Jeroen blieb ganz ernst. »Polazzo redet viel und laut. Riskier trotzdem nichts. Was geht uns beide die ganze Menschheit an…?!« Sie reihte sich ein in die Schlange vor der Paß- und Sicherheitskontrolle. »Geh jetzt!« flüsterte sie. »I hate goodbyes!« »Ich liebe Abschiede auch nicht, aber…« Er sah auf die Reihe der Wartenden, rechnete die Minuten aus, die es noch
dauern würde, bis sie hinter dem grauen Vorhang verschwand, um nach Waffen abgetastet zu werden. Da schüttelte sie leicht den Kopf, schloß die Augen, zog sein Gesicht zu sich herunter. Eine leichte, letzte Berührung, dann schob sie ihn fort, wandte sich ab. Und Jeroen ging rasch davon, drängte sich durch die Menschen, ging hinüber zu Palm, der diskret am Ausgang gewartet hatte. Eine knappe Stunde später waren sie am Osthafen, fanden die Straße, das Gebäude- nur das Schild »Köster & Co. – Import – Export« fanden sie nicht. Ein leerer Fleck auf der Mauer, vier Schraubenlöcher, das war alles. Jeroen ging voraus, Palm folgte, über den Hof, die kleine Treppe hinauf – die Tür zum Büro, zum »Flitterladen« stand offen. »Nein, kein Irrtum!« sagte Jeroen, »es war hier!« Aber der Laden war leer. Das Büro der Sekretärinnen wie auch Weigands »Ausstellungsraum« waren völlig ausgeräumt. Die Böden waren mit Zeitungspapier und Plastikfolie abgedeckt. Ein Maler stand auf einer Staffelei und strich die Decke. »Ist niemand hier?« fragte Jeroen, und der Maler antwortete lachend: »Doch: ich!« Er schob sich mit der freien Hand seine Mütze aus Zeitungspapier aus der Stirn und sah auf die beiden verdutzten Besucher herunter. »Wo sind die Besitzer dieser Büros?« fragte Palm. »Sind sie ausgezogen?« »Keine Ahnung«, sagte der Maler und setzte seine Arbeit fort. »Soviel ich weiß, stehen die Räume seit dem Sommer leer.«
»Nicht gut möglich«, sagte Jeroen. »Vorgestern war ich hier. Da war alles dekoriert, das Büro im Betrieb…« Der Maler tauchte eine Rolle in den Kübel und blickte kurz herunter. »Kann ich mir gar nicht vorstellen.« »Seit wann sind Sie denn hier?« wollte Jeroen wissen. »Seit heute morgen…« Ohne herunterzusteigen versetzte der Maler die Staffelei um einen Meter. Wie auf Stelzen rückte er Schritt um Schritt zur Seite. »Und da war alles schon ausgeräumt?« »Natürlich! Ich sag doch: unbenutzt seit Wochen, soviel ich weiß.« »Und niemand war heute hier außer Ihnen? Kein Mensch?« Wieder lachte der Maler, bevor er Jeroen eine Antwort gab: »Doch. Wir waren zu dritt. Die zwei Kollegen sind schon weg. Ich mach noch bis fünf.« Er tauchte die Rolle wieder in den Kübel und setzte seine Arbeit fort, ohne die Besucher weiter zu beachten. Als sie die Stufen herunterkamen, flüsterte Jeroen Palm noch zu: »Sibillas Maschine landet in Delhi zwischen. Wir müssen sie ausrufen lassen, da raushalten, zurückfliegen lassen…« Aber Palm reagierte nicht.
29 Die Hitze war unerträglich. Der Ventilator kreiselte, drehte sich langsam, aber er milderte nicht den Schweiß auf Klöpfers Gesicht. Der saß auf diesem hochbeinigen Lager mit der harten Matratze, hatte das Moskitonetz zurückgeschlagen und wartete auf eine Antwort. Aber es kam keine. Der deutschsprechende Liung und die beiden Begleiter sahen ihn nur erwartungsvoll an. Sie hatten die schmale Holztür mit den Lüftungsschlitzen hinter sich geschlossen. Jetzt wirkte die Schlafkabine in ihrer Enge wie ein Gefängnis. Eine Verhörsituation? Einer der Begleiter saß auf dem einzigen Hocker des Raumes, die beiden anderen lehnten an der Wand. Der Lärm der Straße drang ungehindert in den Verschlag, kam von der Galerie, schien sich dort zu fangen und zu vervielfachen und senkte sich von oben durch die offene, maschendrahtgeschützte Decke mitsamt der feuchten Hitze und der stickigen Luft in die Kabine. Da ihm niemand antwortete, da er keine weitere Erklärung erhielt und keinen Widerspruch, sondern anscheinend nur freundliches Interesse, setzte Klöpfer seine Rede fort: »Ich bin nicht Zulieferer von Mosaiksteinen, von ›kleinen Tricks‹, die noch fehlen. Ich bin gewohnt, selbständig zu arbeiten, eine Idee konsequent zu realisieren – allein! Oder zumindest in leitender Funktion… ›Mitzuarbeiten‹, ein kleines Rädchen zu sein für eine große Idee, das ist für viele vielleicht ein verlockendes Angebot. Aber nicht für mich.« Er wischte sich
den Schweiß, der ihm in kleinen Bächen in die Augen lief, mit dem Ärmel seines offenen Hemdes von der Stirn. Seine Begleiter hatten kaum Glanz auf dem Gesicht, trotz ihrer korrekten dunklen Anzüge, ihrer enggebundenen Krawatten, ihrer sorgsam zugeknöpften Jacketts. Sie hörten ihm immer noch zu, konzentriert und erwartungsvoll. »Es gibt genügend Leute, genügend Institute, die meine Arbeit, mein Know-how zu schätzen wissen. Mit diesem Projekt kann ich überall hin. Überall! Nur hier bin ich offenbar falsch am Platz. Man hat mich getäuscht! Hat sich auch in mir getäuscht. Falsche Versprechungen…« Er brach ab. Liung hatte zu einem der beiden Begleiter etwas gesagt. Nun sprachen die beiden miteinander, ruhig, ohne Emotionen. Nur der dickere, der auf dem Hocker saß, zeigte, während er redete, wiederholt auf Klöpfer. »Bitte?« Klöpfer war plötzlich verunsichert. Liung klärte ihn schließlich auf: »Ein – Angebot – Sie – haben – akzeptiert.« »Ich habe nicht akzeptiert«, widersprach Klöpfer entschieden. »Gut, ich bin hierhergeflogen, aber unter anderen Voraussetzungen. Ich bitte Sie, das einzusehen!« »Ich – bin – nur – Dolmetsch«, entschuldigte sich Liung. »Und ich dachte, Sie hätten hier etwas zu sagen.« Klöpfer schien entmutigt. »Nichts – zu – sagen – nur – zu – dolmetschen.« Liung lächelte verbindlich. »Aber Ihre Kollegen hier…!« Klöpfer zeigte auf die anderen beiden. Wieder begann ein chinesisches Frage-und-Antwort-Spiel, dem Klöpfer nicht folgen konnte. Liung übersetzte schließlich wieder auf deutsch: »Beide – sagen – sie – sind – nur – hier – damit – Sie – sich – wohlfühlen!«
»Damit ich mich wohlfühle?« Klöpfer lachte laut auf. »Aber ich fühle mich nicht wohl. Ich fühle mich hier eingesperrt unter, unzumutbaren Bedingungen. Besorgen Sie mir einen Rückflug nach Europa. Mit der nächsten Maschine. Bringen Sie mich hier heraus!« Die drei Chinesen berieten. Liungs Antwort an Klöpfer war kurz: »Sie – haben – beide – nur – Vollmacht – zu – sorgen – daß – Sie – sich – wohlfühlen.« Klöpfer lehnte sich zurück. Er begann das Spiel zu durchschauen. »Danke, ich verstehe…« Er starrte auf den Ventilator, der sich langsam mit seinen ausladenden Flügeln über ihm drehte. »Sie können mich nicht zur Mitarbeit erpressen. Begreifen Sie das nicht? Kein Wissenschaftler arbeitet unter Zwang. Nirgends auf der Welt. Für kein Regime. Alle Ergebnisse, und wenn sie noch so erschreckend sein sollten, entstehen freiwillig und aus Überzeugung. Das sollten Sie wissen.« Klöpfer schwieg, Liung ebenfalls. Er hielt es wohl nicht für wert, das alles zu übersetzen. Vielleicht hatte er es auch nicht verstanden. Aber das war Klöpfer bereits gleichgültig. Die Pause, die folgte, dieses Schweigen, erschien ihm bedrückend, schließlich unerträglich. »Gut. Bringen Sie mich noch mal mit Parker zusammen.« Klöpfer richtete sich wieder auf, wischte die feuchten Handflächen am Laken des Bettes ab. »Wenn er mir erklärt – offen erklärt –, worum es geht – woran er wirklich arbeitet – das Ziel, von dem er sprach…« Liung nickte. Er öffnete die Tür hinter sich, diesen Verschlag mit seinen Luftschlitzen, der direkt zur Galerie führte. Draußen saß Parker. Er saß auf dem gleichen Stuhl wie das letzte Mal und las in der »New York Times«.
Nach einer Weile blickte er auf, sah die geöffnete Tür, erkannte Klöpfer, nickte ihm zu und begann die Zeitung zusammenzufalten. »Hallo!« Die schmale Lesebrille steckte er in die Brusttasche seines Hemdes.
30 »Hallo, Taxi!« Sibilla hob eine Hand, aber auch dieser Wagen brauste an ihr vorbei. Sie wirkte unternehmungslustig und ausgeruht. Die siebzehn Stunden Flug waren ihr nicht anzumerken. Sie hatte sich umgezogen, die Wintersachen in ihren kleinen Koffer gepackt. Jetzt trug sie einen hellen Hosenanzug aus Seide und war von den übrigen Touristen, die in Hongkong gelandet waren, kaum zu unterscheiden. »Hallo, Taxi!« Ein Polizist nahm sich schließlich ihrer an. Die Trillerpfeife brachte einen der gelben Wagen zum Stehen. »Na bitte…«, hieß die Geste des Uniformierten in seinen kurzen britischen Hosen. Und Sibilla schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln. »Hotel Tai Koon, please!« Sie las ab: »Des Vœux Road Central 707.« Der Fahrer sah sie fragend an. »Tai Koon Hotel«, wiederholte sie, aber der Fahrer verstand sie nicht. Da zeigte sie ihm den Zettel mit den chinesischen Schriftzeichen, den Wong mitgegeben hatte. Der Fahrer blickte lange darauf, dann auf Sibilla. Schließlich winkte er ab, schüttelte den Kopf. Da trat der Polizist an das offene Fenster. »What’s the problem, Miss?« Sie erklärte es ihm, zeigte den Zettel, hörte gespannt auf den chinesischen Disput, der sich zwischen dem Fahrer und dem Uniformierten entspann. Der schob schließlich den
Tropenhelm in den Nacken, beugte sich vertraulich zu Sibilla, zeigte auf die Schriftzeichen Wongs und stellte richtig: »Tai Koon – Chinese Hotel – not for you! Not for Europeans!« Nicht für Europäer? Er mußte gelogen haben. Denn weithin sichtbar für jeden, der zu dieser Stunde die Des Vœux Road Central passierte, standen zwei Europäer auf der Galerie der zweiten Etage des »Tai Koon Hotel«, stützten sich auf die Brüstung, blickten auf den wogenden Verkehr hinunter, ohne ihn wahrzunehmen, und waren in eine fachliche Diskussion verwickelt. »Vertrauen gegen Vertrauen«, erklärte Klöpfer. »Das ist die einzige Basis, die ich akzeptiere.« Parker nickte. »Okay!« Er hatte eine orangefarbene Mappe, die mit Gummischnüren verschlossen war, vor sich auf die Brüstung gelegt. »Wir arbeiten mit vier Lasern. Jeder ist siebzig Meter lang. Sie sind über ein Spiegelsystem kreuzförmig angeordnet – zielen alle auf einen Punkt.« »Siebzig Meter?« Klöpfer wollte sicher gehen. Aber Parker bestätigte es noch mal: »Siebzig. Ja.« Er öffnete die Mappe, schlug eine Skizze auf, deutete auf den Schnittpunkt der Linien: »Das Target: Wasserstoffplasma, gefrorener Wasserstoff von 0,5 Grad Kelvin in einem extremen Hochvakuum, umgeben von starken elektrischen und magnetischen Feldern.« Klöpfer hatte seine Brille hochgeschoben, jetzt blickte er Parker zweifelnd an: »Wozu? Was beabsichtigen Sie? Kernfusion? Das können Sie vermutlich einfacher…« Aber Parker unterbrach ihn, schüttelte den Kopf und sprach es wie eine banale Selbstverständlichkeit aus: »Antimaterie!« Nach einer kurzen Schrecksekunde lachte Klöpfer laut auf. Parker blieb ernst: »Lachen Sie nicht. Wir haben bereits Ergebnisse. Einer unserer letzten Versuche ergab bis zu zehn hoch minus sieben Gramm Antiwasserstoff.«
»Zehn hoch minus sieben Gramm? Das ist doch nicht möglich! Sie wollen mich mit Science-fiction ködern. Mit Utopie…« Aber Parker blätterte auf Klöpfers lautstarken Einwand nur ruhig in der orangefarbenen Mappe und deutete auf ein Blatt mit Zahlenkolonnen: »Hier ein paar Ausgangswerte. Sie können nachrechnen.« Klöpfer beugte sich über die Zahlenreihen. »Noch einfacher«, setzte Parker hinzu, »Sie kommen mit ins Institut.« Klöpfer richtete sich auf, ließ die Brille wieder vor die Augen gleiten. »Sie sind sehr geschickt, Fred B. Parker…!« Parker kommentierte weiter seine Unterlagen: »Die hochenergetischen Laserstrahlen, synchron von vier Seiten, Impulse von einigen Nanosekunden, übersteigen die relativistische Schwellintensität um einhundert. Wir haben etwa 1020 Watt pro qcm. Aber die Energie reicht noch nicht aus. Wir werden daher jede Methode testen, die die Intensität erhöht. Auch die Ihre. Das ist alles!« Klöpfer schien sich umzusehen, aber vermutlich nahm er seine Umgebung nur noch undeutlich wahr. »Das ist alles…?! Sehr bescheiden…!« Er strich sich über das verschwitzte Hemd, das an seinem Körper klebte, fuhr sich nervös über die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. »Antimaterie… Wenn sie mit normaler Materie – mit Luft, mit der Wandung des Behälters – zusammenkommt, mit der ganz gewöhnlichen Materie, aus der unser Planet besteht -zerstrahlt beides! Beide löschen sich aus. Nichts bleibt Ihnen. Nichts!« »Ja«, sagte Parker, »außer Energie, außer Gammastrahlen und Mesonen. Das ist richtig.« Er schloß die Mappe, legte die Gummischnüre sorgfältig über die Ecken. »Alles ist nur noch eine Frage der Ausgangsenergie – und eine Frage der Zeit, natürlich.« Er ging zu seinem Stuhl, griff nach der Jacke, der
»New York Times«, nach einer dünnen Kollegmappe. »Übrigens«, fuhr er fort, »das Hochvakuum, das die Antimaterie vor der normalen Materie der Umgebung schützt, funktioniert bereits. Auch die Kühlung. Auch die Isolation der extrem niedrigen Temperatur von minus zweihundertzweiundsiebzigeinhalb Grad.« Klöpfer hatte sich gegen die Säule der Galerie gelehnt und putzte seine Brille. »Antimaterie…!« Er hatte es immer noch nicht recht begriffen. »Energieprobleme der fernen Zukunft wären damit gelöst, nicht wahr? Hier – behalten Sie’s erst mal und rechnen Sie nach…« Parker reichte Klöpfer die orangefarbene Mappe. Dieser nahm sie zögernd. »Aha – Vertrauen gegen Vertrauen!« »Aber nicht hier…« Parker machte eine abwertende Geste zu dieser Umgebung. »Nehmen Sie sich Zeit. Kommen Sie mit.« »Wohin?« »Ein kleines Stück mit dem Schiff. Großzügige Anlagen, beste Unterbringung in einer bezaubernden Landschaft.« Er blieb abwartend vor Klöpfer stehen, ein lächelnder Verführer. »Parker…«, Klöpfer sah ihn prüfend an, »für wen arbeiten Sie?« Aber Parker war auf diese Frage vorbereitet: »Spielt das noch eine Rolle? Bei diesem Projekt? Ist das Energieproblem nicht ein Problem der ganzen Menschheit?« Beide standen sich nun abwartend gegenüber. Parker ließ sich Zeit, ließ Klöpfer Zeit. »Habe ich überhaupt noch eine Wahl?« wollte der wissen. »Nein! Jetzt eigentlich nicht mehr. Nachdem ich Ihnen alles erzählt habe, nachdem Sie alle meine Berechnungen in der Hand halten…« Parker steckte die zusammengefaltete »New York Times« wieder in die Außentasche seines Jacketts und verschloß die nun leere Kollegmappe. »Packen Sie nun Ihren
Koffer. Wir treffen uns dann auf dem Schiff.« Er nickte Klöpfer abschließend zu und ging die Galerie hinunter. Nach einigen Schritten wandte er sich noch einmal um und deutete auf die Mappe in Klöpfers Hand: »Und passen Sie mir auf diese Reiselektüre gut auf. Sie ist nur für Sie. Sie wissen ja: Vertrauen gegen Vertrauen…«
31 Sibilla schrak zusammen. Aber was sich da neben ihr bewegte, war ihr eigenes Spiegelbild in den trüb gewordenen Spiegeln des Hotelfoyers. Die Rezeption war unbesetzt. Sie klopfte auf den Tisch, rief – ohne Erfolg. Draußen plärrten Schlagersternchen von Discountkassetten, schwatzten die Verkäufer des Gemüseladens. Der riesige Ventilator, der an der Decke rotierte, ließ die schütteren Palmen rascheln und fächelte über die losen Kalenderblätter an der Wand. Ein ungeduldiges Schrillen kam vom Ende des Ganges. Dort war ein zahnloser Greis mit eingefallenen Wangen aufgewacht, erhob sich mühsam von seinem Hocker, wankte in den offenstehenden Lift. Sibilla hatte ihn bemerkt, war zu ihm hingelaufen, erreichte ihn, bevor er das Scherengitter schließen konnte. Immer noch schrillte das Signal. Auf einem Kasten mit zerbrochener Scheibe war ein Metallplättchen mit einer II heruntergeklappt. Unwillig öffnete der Liftmann nochmals das Gitter, ließ Sibilla mit ihrem Gepäck hindurchschlüpfen. Dann drückte er den Knopf. Immer wieder schrillte die Glocke. Der alte Mann starrte auf Sibilla und schien in seinem zahnlosen Mund auf einer Kugel zu kauen. Das verschwitzte Unterhemd, die fleckigen Shorts, die Plastiksandalen und diese ausgemergelte Gebrechlichkeit – Sibilla wandte sich ab. Der Lift hielt. Das Gitter wurde aufgeschoben. Sibilla bückte sich nach ihrem Koffer. Als sie hochkam, um auszusteigen, stand sie Klöpfer gegenüber.
Der schaute sie an wie ein Phantom. Einer seiner drei Begleiter machte zu Sibilla eine höfliche Geste, sie solle aussteigen. Aber sie schüttelte nur völlig verwirrt den Kopf. Daraufhin schoben die drei Begleiter Klöpfer in den Lift und wandten sich ab, in Richtung des Gitters, das geschlossen wurde. Die gichtigen Greisenfinger drückten den untersten Knopf. Der Lift surrte, sackte kurz durch, dann schwebte er nach unten. Kabelstränge wanderten nach oben, ein ölverschmiertes Stück Mauer zog hinter dem Gitter vorbei. Und Klöpfer und Sibilla berührten sich fast. »Halten Sie sich heraus…!« flüsterte er ihr zu. »Sie können nichts mehr für mich tun!« Liung sah sich um, hatte sich aber wohl getäuscht. Der Lift hielt. Die drei Begleiter schoben Klöpfer hinaus auf den Gang, durch das leere Foyer, an der Treppe, an der unbesetzten Rezeption vorbei und schließlich in den Fond eines schwarzen Wagens, der direkt vor dem Ausgang des Hotels auf dem Gehsteig parkte. Sibilla war wie versteinert stehen geblieben. Jetzt lief sie hinterher, aber bevor sie den Wagen erreichte, war der im Verkehrsgewühl verschwunden. Ebenso der Lieferwagen des Restaurants »Tien Heung Lau«. Sie kam zurück in das Foyer. Da rief eine Stimme sie an, auf deutsch: »Hallo, kann ich Ihnen helfen?« Sibilla sah sich um. Auf der Treppe stand ein Europäer, ein fülliger Mann in einem weißen Seidenanzug, einen hellen Strohhut in der Hand, und blickte sie aus einem runden Bubengesicht pfiffig an. Bevor ihm Sibilla in ihrer Verblüffung antworten konnte, kam er bereits die letzten Stufen herunter.
»Das hier ist aber kein Hotel für junge Damen. Wer hat Ihnen denn das empfohlen?« Sie wandte sich wieder dem Ausgang zu – aber der Fremde kam hinter ihr her, redete weiter auf sie ein in seiner etwas plumpen und vertraulichen Art: »Also von sich aus würde doch kein Europäer auf die Idee kommen, hier wohnen zu wollen.« Sibillas Mißtrauen war plötzlich wach: »Woher wissen Sie, daß ich Deutsch verstehe?« Das Bubengesicht wurde noch pfiffiger: »Vielleicht durch den Anhänger an Ihrem Koffer: Frankfurt-Hongkong. Und wie eine Amerikanerin sehen Sie wirklich nicht aus.« Sibilla nahm ihren Koffer fester in die Hand: »Es gibt noch andere Möglichkeiten, oder…?« Das rumänische R rollte in diesem Augenblick besonders stark. »Gut«, sagte er, »dann war es bei mir eben Instinkt.« Einige neugierige Weiber waren im Hoteleingang stehen geblieben und beobachteten die beiden Europäer offen und ohne Scham. Der alte Mann vom Lift starrte sie immer noch aus seinem düsteren Käfig an. »Danke«, sagte Sibilla und: »Auf Wiedersehen…« Sie Wandte sich zum Ausgang. »Haben Sie wirklich hier ein Zimmer gesucht?« rief der Mann ihr noch nach. Sie stand schon halb auf der Straße, unter den Arkaden. Um sie herum fluteten die Menschenmassen. Klöpfer war mit seinen drei chinesischen Begleitern verschwunden. Sein Gepäck hatte er offenbar dabei. Es gab kaum eine Chance, ihn wiederzufinden. Aber vielleicht erhielt sie im Hotel Auskunft. Bei diesem Mann, der hier zu wohnen schien. Sie drehte sich also wieder um, ging zurück ins Foyer. »Nein«, sagte sie, »kein Zimmer. Ich suche einen Freund –
einen Bekannten. Er soll hier wohnen. Ein Europäer. Und ich wollte mich nach ihm erkundigen. Das ist alles.« »Die Rezeption ist oben.« Der Mann mit dem Bubengesicht war ihr entgegengekommen. »Sie sprechen Chinesisch?« wollte er wissen. »Nein, natürlich nicht. Aber man wird Englisch verstehen!« Sie hatte ihren Koffer nur kurz abgesetzt. Jetzt griff der Mann danach: »Das ist unwahrscheinlich in diesem Haus. Aber lassen Sie mich Ihnen helfen. Kommen Sie. Gehen wir nach oben.« Sie nahmen nicht den Lift, sie gingen über die enge, steile Treppe mit dem abgewetzten Reisstrohteppich. Die exotische Atmosphäre des Hauses verwirrte sie zusehends, besonders, da sie es nicht mit Klöpfer und seinen mutmaßlichen Auftraggebern in Zusammenhang bringen konnte. Hotelgäste saßen herum, schweigende alte Männer. Sie rauchten, beobachteten aufmerksam jede Bewegung dieser Europäer, spien in die überall herumstehenden weißen Näpfe. Manche trugen runde Kappen, dazu lange, schwarze Seidenmäntel. Und sie hatten Zeit. Der füllige Herr mit dem weißen Tropenanzug und dem Bubengesicht radebrechte auf kantonesisch mit dem Portier. Das machte Eindruck auf Sibilla. »Dieser Herr Klopfer oder Klöpfer ist abgereist, höre ich eben. Er hat das Hotel vor wenigen Minuten verlassen – mit seinem ganzen Gepäck!« »Wo ist er hingefahren? Bitte, fragen Sie ihn. Hat er etwas hinterlassen?« Sibilla konnte ihre Erregung, ihre Enttäuschung nur schwer verbergen. Der Portier antwortete ausführlich auf alle diese Fragen. »Er hat nichts hinterlassen. Tut mir leid. Vielleicht ist er zurück nach Europa. Vielleicht in ein besseres Hotel…«
Der Herr im weißen Anzug zuckte bedauernd die Schultern. »Aber Sie sollten Ihren Namen und die Adresse Ihres Hotels hinterlassen. Vielleicht sucht er nach Ihnen.« Sibilla nickte, ergriff einen bereitliegenden Filzschreiber und Papier. »Sibilla Jacopescu« schrieb sie darauf. Indiskreterweise sah ihr der füllige Herr über die Schulter. »Oh, das klingt rumänisch…« »Es ist rumänisch!« »Dann wird es Zeit, daß auch ich mich vorstelle. Weigand. Michael Weigand.« Sie sah ihn einen Augenblick lang nachdenklich an. Ihr war, als hätte sie diesen Namen in irgendeinem merkwürdigen Zusammenhang schon einmal gehört. Aber es fiel ihr nicht ein, in welchem. »Ihr Hotel.« Weigand deutete auf den Zettel mit Sibillas Namen. »Schreiben Sie Ihr Hotel dazu…« »Ich habe noch keines.« »Dann müssen wir eines für Sie suchen!« Sie zögerte. Dann zerknüllte sie das Papier mit ihrem Namen und steckte es in die Tasche ihrer Jacke. Sie hatte plötzlich Bedenken, hier ihre Spur zu hinterlassen. »Danke«, sagte sie. »Es ist nicht nötig. Ich schaffe das allein.« An der Treppe wandte sie sich um. »Sie waren sehr freundlich. Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.« Diesmal meinte sie es endgültig. »Und wie finden Sie ihn?« wollte Weigand wissen. Er blieb oben stehen, aber sie unterbrach ihren Weg nun kein zweites Mal. »Ich fahre zum Flughafen zurück. Vielleicht treffe ich ihn dort«, sagte sie kurz. »Sicher«, rief er ihr nach. »Auf Wiedersehen.« Er wartete noch, bis sie das Foyer verlassen hatte, dann trat er zu dem hageren Mann, der hinter einer Zeitung verborgen in der Ecke neben der Portiersloge saß. Monsieur Ginsburg trug heute weder Baskenmütze noch Trench.
»Du kennst den Liegeplatz?« Ginsburg nickte und ließ die Zeitung achtlos auf den Boden fallen, während er sich erhob. »Fahr mit dem Schiff«, fügte Weigand hinzu. »Um fünf seid ihr zurück. Ich warte in Aberdeen auf der Dschunke von Liao.« Wieder nickte Ginsburg. »Und was passiert mit ihr?« »Kümmere du dich um Klöpfer«, antwortete Weigand und eilte grußlos die Treppe hinunter. Sibilla stand mit Koffer und Umhängetasche nur wenige Meter vom Hoteleingang entfernt im dichtesten Verkehr und hielt nach einem Taxi Ausschau. Sie war die einzige Ausländerin weit und breit und auch die einzige, die nicht mitschwamm in diesem Strom schiebender, stoßender Menschen. Lastträger hasteten im Gedränge vorbei, die Bambusrohre auf den schmächtigen Schultern bogen sich unter der Last. Handkarren und Fahrradrikschas, buntbemalte Lieferwagen, Straßenkreuzer-Ruinen, das schob sich im Schrittempo die Straße hinunter, hupend, klingelnd, schreiend. Da packte jemand Sibilla am Arm, zog sie zurück in den Hoteleingang. Es war Weigand. »Verzeihen Sie – aber Sie sind hier nicht in Frankfurt und nicht in London. Auch nicht in Bukarest.« »Ja, das sehe ich«, antwortete sie und ging einen Schritt zur Seite, um Abstand von diesem Mann zu gewinnen. »Dann haben Sie sicher auch bemerkt, daß Sie in dieser Gegend hier kein Taxi bekommen.« Er hatte seinen Strohhut abgenommen, wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch über die Stirn. Dann nahm er die Sonnenbrille ab. »Auf die Gefahr hin, daß Sie mich völlig falsch verstehen – und für wesentlich aufdringlicher halten, als ich in Wirklichkeit bin…« Er lachte, machte eine Pause, wirkte plötzlich wie ein schüchterner Schuljunge, als er fortfuhr:
»Aber der Flughafen liegt wirklich auf meinem Weg. Ich fahre Sie dort vorbei.« Sibilla zögerte. Dann warf sie einen Blick hinaus in dieses bunte, laute Chaos und nickte ihm schließlich zu. »Na gut. Obwohl ich es Ihnen trotzdem nicht glaube – das mit ›direkt am Weg liegen‹…« Er lächelte entschuldigend, ein ertappter kleiner Schwindler: »Diese Erfahrung haben Sie also bereits gemacht – daß ein Mann Ihnen zuliebe auch mal einen kleinen Umweg in Kauf nimmt.« Er nahm ihren Koffer, setzte den Strohhut wieder auf, ging voraus: »Kommen Sie, mein Wagen wartet in der Nähe.«
32 »Celia« war im Anmarsch, der dritte Taifun des Jahres. Die Wirbelstürme, die regelmäßig die Küsten des Südchinesischen Meeres verwüsteten, wurden mit anmutigen Mädchennamen von A bis Z durchgezählt. Und nun war »Celia« an der Reihe, bei der jedoch eine gewisse Chance bestand, daß sie noch vor der Küste abdrehen würde. Nur – auf solche Prognosen verließen sich Seeleute ungern. Aber es lag nicht nur an »Celia«, daß der Hafen von Yau Ma Ti, der große »Typhoon Shelter« Hongkongs, mit Dschunken und Sampans vollgestopft war bis zum letzten Liegeplatz. Schon seit dem ersten Tageslicht wurden die Schiffe aus Kanton, aus der Volksrepublik, gelöscht und beladen. Der west-östliche Tauschhandel war in vollem Gang. Agrarprodukte gegen Maschinen, Textilien gegen Elektronik, Kunstgewerbe gegen Stahl. Auf blankpolierten Bohlen rutschten die Stauer barfuß hinter Kisten und Tonnen im steilen Winkel und in halsbrecherischer Fahrt von der Kaimauer auf die Schiffsdecks hinunter. Ein Heer von bunten Ameisen bewältigte den Umschlag von Tausenden von Tonnen Gütern ohne Kräne und Förderband. Es war Ebbe, die Schiffe lagen tief unten in dem schwarzen, stinkenden Wasser. Oben auf der Kaimauer hielt ein dunkler Wagen. Klöpfers Begleiter quälten sich aus dem Fond, nahmen Klöpfer in die Mitte, blickten erwartungsvoll hinunter auf das Schiff.
Es war eine der üblichen Dschunken. Das dunkle Holz war geschwärzt von Teer und Öl, das Deck mit Korbflaschen und Ballen und mit plastikabgedeckten Kartons beladen. Und inmitten dieser Ladung stand Parker und winkte mit seiner zusammengefalteten Zeitung zu Klöpfer hinauf. Der winkte zurück. Er war in sein Jackett geschlüpft, hatte seine Krawatte geradegezogen, seinen Kamelhaarmantel und den silbernen Aktenkoffer ergriffen. Eine Reise ins Ungewisse stand ihm bevor. Schauerleute waren die steile, schmale Gangway hochgeklettert, zerrten aus dem Kofferraum des Wagens Metallkisten und Koffer und schafften sie nach unten. Klöpfer stand oben am Kai und bangte um jedes Stück. Ein Chinese war an Deck geklettert und stand nun hinter Parker. Hier hat jeder seinen Begleiter, dachte Klöpfer, und er wußte nicht recht, ob die Übelkeit von diesem Gestank kam, der über dem Hafen lag, dieser Mischung aus Kloake und Dieselöl, faulendem Obst, Abgasen und Schweiß – oder ob es die Angst war, die ihn plötzlich überfiel. Das Ziel? Wo lag das verdammte Ziel dieser Reise? Liung war verschwunden. Die Geräte waren an Bord. Nun war die Reihe an ihm. Die beiden Begleiter nahmen ihn in die Mitte, faßten ihn unter, führten ihn zu der Gangway. Und dann ging alles sehr schnell. Der Laderaum eines kleinen, buntbemalten Lieferwagens, der in der Nähe stand, öffnete sich. Ein halbes Dutzend junger Männer stürmte heraus. Einer der beiden Begleiter wurde mit einem Kantholz brutal ins Gesicht geschlagen, der andere stürzte von der Mauer, schlug gegen die Gangway, versank fürs erste in der stinkenden, schwarzen Brühe des Hafens.
Sechs Hände hatten Klöpfer gepackt und zerrten ihn rückwärts von Kaimauer und Gangway weg. Einer seiner Begleiter war aufgesprungen, da blitzte ein Messer. Schon krümmte er sich im lehmigen Staub neben dem Fahrer. Parkers Begleiter zog eine Pistole, hielt mit beiden Händen in Richtung von Klöpfer, aber bevor er abdrücken konnte, schlug ihm Parker die Waffe aus der Hand. Der Schuß ging ins Leere. Klöpfer wurde abgedrängt, weitergeschoben. Rückwärts stürzte er in den geöffneten Laderaum. Hände packten zu, zerrten ihn weiter, warfen den Mantel auf ihn. Der Wagen fuhr an. Die jungen Männer rannten hinterher, sprangen nacheinander in den Laderaum. Eine Staubwolke wirbelte hoch. Lastträger wichen zur Seite. Neugierige standen im Weg, als Liung, der zurückgekehrt war, die Verfolgung aufnehmen wollte. Er kam zu spät. Auch der hagere Monsieur Ginsburg, der eben aus einem Taxi stieg und nicht begriff, was vorgefallen war. Zwischen Kistenstapeln, Gemüsebergen und den bunten Ameisen war der kleine Wagen längst verschwunden.
33 Der Flughafen war wie ausgestorben. Bis auf einen Auskunftsschalter waren alle Abfertigungscounter unbesetzt. Die mittägliche »rush hour« war vorbei. Hongkong war nur Zwischenstation. Und die nächsten Maschinen wurden erst am späten Nachmittag erwartet. »Tut mir leid«, sagte Weigand, als Sibilla in der leeren Abflughalle stand. Sie notierte sich die nächsten Flüge, nach Taiwan, Osaka, Tokio und Bangkok, dann lief sie schweigend zum Ausgang. »Was kann ich noch für Sie tun?« fragte Weigand, als sie das Gebäude verlassen hatten. »Nichts mehr. Danke. Ich werde ihn schon finden.« Sie versuchte ein Lächeln, lief neben ihm her zum Parkplatz. »Mein Koffer ist noch in Ihrem Wagen. Ich werde ihn hier irgendwo unterstellen und mich dann auf die Suche machen.« Weigand sah sie zweifelnd an: »Hongkong zählt über vier Millionen Einwohner – offiziell. Inoffiziell sind es über sechs, vielleicht auch acht. Und diese Millionen leben verstreut über 200 Inseln und 60000 Wohnboote. Ja, und hier in Kowloon und in den angrenzenden New Territories. Wenn ein Mensch hier verschwinden will – oder verschwinden soll…« Sie waren am Wagen angekommen. Weigands Fahrer, in Uniform und mit weißen Handschuhen, klemmte sich die Mütze unter den Arm und riß den Wagenschlag auf. »Was haben Sie bisher von dieser Stadt gesehen?« wollte Weigand wissen. Sibilla zuckte die Schultern, sah sich um. »Nicht viel.« Sie griff nach ihrem Koffer, der vor dem Rücksitz stand. »Vor
zwei Stunden bin ich angekommen. Dann sofort zu diesem Hotel, wo wir uns getroffen haben. Jetzt wieder hier…« Der Fahrer hatte ihr den Koffer abgenommen, den sie ihm nur zögernd überließ. Weigand gab ihm auf chinesisch Anweisungen, dann erklärte er: »Er wird ihn deponieren. Im Flughafen. Und den Coupon auf Ihren Namen hinterlegen. So…!« Er nahm sie am Arm und hatte offenbar keinen Instinkt dafür, daß sie sich diesem Zugriff entziehen wollte. »Jetzt habe ich eine Idee!« sagte er. »Wir fahren wieder nach Victoria hinüber, auf die eigentliche Insel Hongkong. Aber nicht noch einmal durch den Tunnel. Wir fahren mit dem Fährschiff. Oder fliegen gleich von hier mit dem Hubschrauber. Na?« Er sah sie erwartungsvoll an. Aber Sibilla schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit für Sightseeing. Wirklich nicht.« Als sie jedoch sein enttäuschtes Bubengesicht sah, fügte sie hinzu: »Es sei denn – Sie helfen mir suchen!« »Das ist eine gute Idee!« Weigand schien richtig beglückt zu sein. »Aber wenn das Erfolg haben soll, müssen Sie mir schon ein wenig mehr erzählen – über sich – und über ihn…« Der Hubschrauber, der sie zur Insel Victoria hinüberbringen sollte, flog dicht über das Häusermeer der Halbinsel Kowloon, über die Schnellstraßen – wie üblich stauten sich die Fahrzeuge in der Einfahrt zum Tunnel –, dann zog er tief über die Wasserfläche des Victoria Harbour. Wegen der Taifunwarnung hatten sich die Dschunken zu dichten, runden Pulks zusammengeschlossen, Bug an Bug, wie verängstigte Schafe, die ihre Köpfe zusammenstecken. »Die kommen aus Kanton, die großen Dschunken, aus der Volksrepublik China.« Er mußte brüllen, um den Lärm des Helikopters zu übertönen. »Wenn die Taifunwarnung vorüber ist, segeln sie wieder nach Hause, den Perlfluß hinauf.« Und
dann fügte er hinzu: »Maos Reich ist nah. Es führen tausend Wege dorthin…« Eine seltsame Erklärung, dachte Sibilla, wer war dieser Mann? »Was machen Sie beruflich?« wollte sie wissen, aber sie mußte zweimal laut fragen, bis er es verstand. »Ich handle, wie fast jeder hier in dieser Stadt. Exportiere, importiere, alles, was sich lohnt.« »Was lohnt sich denn am meisten?« »Elektronik und Maschinen von Japan nach China.« »Und Sie leben in dieser Stadt?« »Hier und in London, und hin und wieder in Tokio, Singapur, Manila. Aber hauptsächlich hier.« Er gab bereitwillig Auskunft. Aber dann fragte er: »Und Sie? Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Biologin.« »Aha – und Ihr Freund ebenfalls?« »Mein Freund ebenfalls, ja… oder wen meinen Sie?« »Ich meine den Mann, den Sie suchen!« Sibilla lachte. Diese Konversation, gegen den Motorenlärm des Rotors geschrien, hatte etwas Groteskes. »Den meinen Sie?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, der ist Physiker.« »Und da gibt es gemeinsame Interessen?« Weigand sah sie zweifelnd an. »Auch«, gab sie zu, »natürlich…« Doch dann schränkte sie seine Vermutungen ein: »Aber ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden. Er ist ein Kollege, weiter nichts.« Weigand nickte ernst: »Ja, da muß ich Sie falsch verstanden haben – wenn eine Frau nach Hongkong fliegt, um einen Mann zu suchen!« Sie hatten die Insel wieder erreicht. Der Pilot zog abenteuerliche Schleifen um die Wolkenkratzer von Wanchei, dann flog er über die dichtbesiedelten Hügel mit ihren
Verschlägen und Hütten, die, aus Abfällen und Schrott gebaut, an die Hänge geklebt waren. Dazwischen ein riesiger Golfplatz, eine Pferderennbahn, von Friedhof en auf allen Seiten umgeben, Sportstadien, Parks und dann wieder die grauen Häuserzeilen, auf deren flachen Dächern ein Meer von Wäsche flatterte. Am Hafen der Causeway Bay landeten sie schließlich. »Hier?« fragte Sibilla. »Hier sollen wir ihn suchen?« Märchenhafte, groteske Figuren starrten sie an, aus Gips, aus Beton, bunt bemalt mit komischen, angsterregenden, mythologischen Fratzen. Eine fernöstliche Geisterbahnwelt, an einen Berghang geklebt. »Es sind immer die gleichen Plätze, wo man die Fremden trifft.« Sie stiegen steile Treppen nach oben zu einer weißen Pagode. »Tiger Balm Garden«, erklärte Weigand. »Der Erfinder der Tigersalbe hat ihn der Öffentlichkeit gestiftet. Tiger Balm ist ein Gemisch aus Kampfer, Eukalyptus, Minzölen, eine ziem lich scharfe Sache und offiziell gegen Rheumatismus und Schnupfen…« »Und inoffiziell?« wollte Sibilla wissen. Weigand machte eine vage Handbewegung. »Chinesen schätzen so scharfe Sachen an den intimsten Stellen ihres Körpers. Sie können es ja mal probieren.« Sibilla lachte und wandte sich ab. Japanische Touristen waren aufgetaucht und fotografierten die bizarren Skulpturen aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln. »Wir sind wirklich falsch hier«, sagte Sibilla. »Er ist kein Tourist. Es geht um etwas… etwas ganz anderes.« »Klingt sehr geheimnisvoll.« Weigand war stehen geblieben. Ein Rudel roter Gipsschweine mit riesigen Geweihen versperrte den Weg.
»Um was geht es denn wirklich?« fuhr Weigand fort. Er kann mir nur helfen, dachte Sibilla, wenn ich ihn informiere. »Eine Erfindung«, bekannte sie. »Es geht um eine Erfindung, die nicht ungefährlich ist- und die er besser nicht gemacht hätte.« »Ich verstehe.« Weigand drehte sich um und ging den steilen Weg wieder hinunter. »Jetzt rennt er durch Hongkong, um seine Idee meistbietend zu verkaufen.« »Nein, das glaube ich nicht.« Sie bemühte sich, mit Weigand Schritt zu halten. »Er sucht wohl nach Möglichkeiten, das Projekt weiterzuentwickeln. Dazu braucht er Geld und Labors…« Weigand wandte sich skeptisch um: »Und die bietet man ihm hier? In Hongkong?« »Ja«, sagte Sibilla, »offenbar.« Weigand schüttelte den Kopf und ging weiter. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß hier entsprechende Institute existieren.« Dämonen mit ausgebreiteten Armen ragten über den Weg, waren bereit, den Fremdling zu ihren Füßen zu verschlingen. »Aber ich kann mir vorstellen«, fuhr Weigand fort, ohne auf die Dämonen über ihm zu achten, »daß Sie plötzlich in einem blutigen Agentenkrimi landen, daß Sie sich zwischen den Fronten rivalisierender Interessengruppen wiederfinden, die sich schonungslos bekämpfen. Hat Sie bisher niemand aufgefordert, Ihre hübsche Nase aus solchen Geschichten herauszuhalten?« »Ich muß verhindern, daß seine Erfindung in falsche Hände kommt.« Weigand schien echt belustigt von Sibillas Auftrag. »Wer sind die Leute mit den falschen Händen? Kennen Sie die?« »Nein…« »Sehr gefährlich, einen Feind zu haben, den man nicht kennt. Oder, was meinen Sie?«
Sibilla antwortete nicht. Sie blickte Weigand nur irritiert von der Seite an. »Ich bewundere Sie!« Das Bubengesicht meinte es offenbar ehrlich. »Sie trauen sich sehr viel zu!«
34 »Kommen Sie mit!« Der füllige Mann balancierte leichtfüßig über eine schmale Planke, erreichte das kleine Boot, half Sibilla über die niedrige Bordwand. »Die meisten Menschen hier in Abardeen leben auf solchen Sampans, auf Wohnbooten.« Die Besitzer des Bootes sahen die beiden Fremden weder erstaunt noch feindselig an. Sie blickten kaum von ihrer Arbeit auf. Auf Deck verstreut lagen Kartons und allerlei bunter Krimskrams aus Federn und Plastik. »Hier wird gearbeitet, gekocht, gegessen, geschlafen. Oft sind es mehr als zehn, zwölf Personen – auf einem Boot – in höchstens zwei Räumen.« »Und wovon leben die?« »Heimarbeit. Sie sehen doch…« Kinder und Greise, Frauen, Männer, alle waren damit beschäftigt, aus vorgefertigten und offenbar angelieferten Einzelteilen Blumen zusammenzustecken. Weigand ging weiter. Ein schmaler Übergang führte zu einem zweiten Boot, zu einem dritten, einem vierten. Ein Labyrinth von Booten, alle dicht an dicht vertäut, und überall das gleiche Bild: Lampions, Fächer, Blumen aus Plastik, aus Papier und aus Federn. »Ach, die kommen von hier?« Sibilla hatte sich niedergehockt. Dort wickelten Kinder schmale grüne Streifen um die Drahtstengel gelber Papierorchideen.
»Ich habe eine von diesen Blumen. Genau die gleiche!« Sie hatte ihre Umhängetasche geöffnet und die gelbe Orchidee herausgesucht, die Jeroen ihr vor dem mysteriösen Haus am Frankfurter Osthafen überreicht hatte. »Das ist doch nicht möglich!« Weigand hatte sich gebückt und die beiden Blumen verglichen. »Ja, in Deutschland bekommen«, fuhr Sibilla fort. »Genau die gleiche. Geschenkt von einem Freund…« »Das ist wirklich ein Zufall!« Weigand sah Sibilla und ihre beiden gelben Blumen merkwürdig an. »Das war vor drei oder vier Tagen«, versuchte Sibilla sich zu erinnern. »Mein ganzes Zeitgefühl ist durcheinander.« Weigand hatte nach den beiden Blumen gegriffen – die Kinder sahen von ihrer Arbeit auf und beobachteten die beiden Europäer mit großem Interesse. »Was kostet so etwas in Deutschland? Im Laden?« Sibilla zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Habe keine Ahnung…« »Drei, vier Mark, vermutlich…« Er hatte Münzen aus der Tasche seines Seidenjacketts gefischt und sie den Kindern gegeben. »Rechnen Sie es mal aus«, fuhr er fort. »Verpackung, Zoll, Fracht. Der Exporteur will verdienen, der Importeur in Deutschland, der Einzelhändler dort, der Großhändler hier. Wieviel bleibt da übrig für die Leute auf den Sampans, die die Blumen machen? Wieviel Zeit steckt da drin? Wie viele macht man am Tag? Die Leute hier arbeiten immerzu, solange das Tageslicht reicht. Und können kaum davon leben.« Er überreichte ihr die beiden Blumen, dann wandte er sich zum Gehen. »Kommen Sie…« Er wanderte weiter, von Sampan zu Sampan, von Boot zu Boot. Sibilla folgte ihm, so gut sie konnte. Der füllige Mann entwickelte eine geradezu erstaunliche Behendigkeit, schlüpfte unter Sonnensegeln und Tauwerk
hindurch, unter Wäsche und trocknenden Fischen. Er balancierte über morsche Bretter und dazwischen vertäute Balken und Ruderboote. Für Sibilla war es ein verwirrender Eindruck. Es war ihr peinlich, über diese fremden Boote zu gehen, m fremdes Territorium einzudringen, diese Leute zu stören. Die hielten in der Arbeit inne, starrten sie an – und plötzlich hatte sie Weigand aus den Augen verloren. »Herr Weigand!« rief sie. Aber es kam keine Antwort. Das Geschwätz der Leute auf den Booten, Kindergeschrei, das Tuckern der Wassertaxis, die zwischen den vertäuten Sampans, zwischen den endlosen Reihen dieser unüberschaubaren Siedlung herumkreuzten, verschluckte ihre Rufe. Sibilla lief weiter, stieg über Bordwände und Kinder hinweg, über Blumen und Lampions, über Schachteln, Säcke und Holz, kletterte über Planken und Bretter, schlüpfte durch diese Vielfalt von Aufbauten, Segeln und Tauen, von aufgespannten Matten, von Sichtblenden, Netzen, Fähnchen, Topfpflanzen, Körben und Stangen. Wie aus grauem, glasigem Pergament geformt hingen in langer Reihe Tausende von Tintenfischen zum Trocknen in der Sonne. Auf einigen Decks waren Sardinen körbeweise zum Dörren ausgebreitet. Schwarzrußige Töpfe standen auf qualmenden Herden, ganze Sippen hockten um Schalen mit Reis oder Fisch, schaufelten sich mit den Stäbchen die Bissen in den Mund. Menschen – Menschen… Sibilla blieb stehen. Sie hatte jede Orientierung verloren. Ihre Rufe nach Weigand verhallten ungehört. Sie geriet in Panik. Ohne nachzudenken, ohne sich einen Überblick zu verschaffen, rannte sie weiter von Boot zu Boot.
Gar nicht weit von ihr stand Weigand auf dem Bug eines Schiffes, das am Ende einer Reihe lag und in das Wasser des Hafens hineinragte. Er erwartete eine Dschunke. Die hatte sich vom gegenüberliegenden Kai gelöst und hielt nun geraden Kurs auf ihn. Der hagere Mann, der vorn auf der Dschunke stand, hatte Weigand etwas zugerufen, und dieser antwortete: »Das ist nicht möglich!« »Doch«, rief der andere, »entführt! Und wir suchen ihn seit Stunden!« »Fahren Sie ins Office. Ich rufe an!« Weigand wandte sich ab, als der andere ihm nachrief: »Soll ich das Mädchen übernehmen?« Weigand winkte ab: »Die richte ich mir ab. Die findet ihn leichter als wir!« Er sah sich um. Auf der Nebenreihe der Sampans, nur durch einen schmalen Kanal von ihm getrennt, war Sibilla aufgetaucht. Sie hatte Weigand entdeckt, vielleicht auch seine Stimme gehört. Auf jeden Fall schien sie erleichtert. »Herr Weigand…« Aber Weigand kam ihr zuvor: »Wo stecken Sie denn?« rief er über das Wasser. »Sie waren plötzlich weg! Vorsicht! In dieser Stadt kann es gefährlich sein, sich zu verlaufen…« Sie trafen sich schließlich in der Mitte eines Stegs. »Geben Sie mir Ihre Hand!« befahl er und lachte. Sie gehorchte, und er führte sie an Land.
35 Auf den beiden schwimmenden Restaurants »Tai Pak« und »Sea Palace« im Hafen von Aberdeen wurden tausend Lampen entzündet. Die beiden buntdekorierten Schiffe, ausstaffiert wie chinesische Paläste in Disneyland, leuchteten in die beginnende blaue Dämmerung hinein. »Ist es schön?« fragte Weigand. »Wunderschön!« lachte Sibilla. »Dort drüben essen wir jetzt!« Er bestimmte das einfach und war über Sibillas Widerspruch sehr erstaunt. »Nein!« Sie schüttelte ganz entschieden den Kopf. »Wirklich nicht! Sie fahren mich durch die Stadt, zeigen mir alles, opfern mir Ihre Zeit. Warum?« Weigand setzte wieder sein pfiffiges Bubengesicht auf. »Weil es mir Spaß macht. Darum. Und ich esse immer um diese Zeit. Und ungern allein.« Er gab ihr zehn Sekunden Bedenkzeit, dann fügte er hinzu: »Sie würden mir wirklich eine Freude machen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.« Sie sah ihn an, dann die beiden gelben Orchideen, diese zufälligen Zwillingsblumen, die sich hier gefunden hatten. Und dann stimmte sie zu. »Also gut. Hier?« »Oder woanders. Wo Sie wollen.« »Ich habe doch keine Ahnung- oder doch, ja, halt: Ich habe eine Adresse…« Sie suchte in ihrer Umhängetasche, fand schließlich ein Kuvert mit einem Zettel, den Wong – allerdings in lateinischer Schrift – für sie geschrieben hatte. »Ein Restaurant?« wollte Weigand wissen und griff nach dem Zettel.
Aber sie gab ihn nicht aus der Hand. »Tien… Heung… Lau…«, buchstabierte sie. »Ist es hübsch?« wollte Weigand wissen. »Ich kenne es doch nicht. Ich habe nur die Adresse von Freunden.« »Ich kenne es auch nicht.« Weigand entzifferte den Notizzettel: »Woo Sung Street. Das ist wieder drüben in Kowloon. Sicher eines von den kleinen, sehr typischen Restaurants in der Nähe des Hafens. Mehr für Einheimische. Wollen wir’s probieren?« »Ich weiß nicht…« Sibilla hielt immer noch unentschlossen den Zettel mit der Adresse in das Licht der Straßenlampe. »Das Risiko ist klein«, sagte Weigand. »Man ißt überall gut, rund um die Welt, wo Chinesen kochen. Die betreiben diese Kunst dreitausend Jahre länger als wir.« »Gut«, sagte sie und steckte den Zettel ein, »sehen wir’s uns an.« Die Fahrt mit der Fähre in den beginnenden Abend hinein war ein Traum. Die Lichter der Hochhäuser des Central District spiegelten sich im Wasser. Auf der anderen Seite färbte der Himmel über den »Neun Drachen« sich mit blutroten Federn. Der Wind hatte gedreht, wehte jetzt kräftig vom Land her hinaus auf die See, wo der Wirbelsturm »Celia« sein Unwesen trieb und sich dem Kontinent nur zögernd näherte. Die Fähre dümpelte gegen die leichte Dünung. Irgendwo auf einem der Hügel wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Die bunten Sterne stiegen still und stumm über die scharfen, schwarzen Kanten der Berge. Eine Hochzeit, vielleicht, oder das Fest eines der Stadtviertel. Dort zogen jetzt feuerspeiende Papierdrachen mit Trommeln und Gongs durch die Straßen und vertrieben die Geister.
Das Gebäude der Peking-Oper, nur aus Bambusstangen errichtet, glänzte in voller Festbeleuchtung, als sie an der Ferry Street anlegten. Die Boote ringsherum waren mit bunten Fähnchen und Bändern geschmückt. Ein Mann im Opernkostüm mit grellweiß geschminktem Gesicht winkte Neugierige und Touristen zu sich heran. Von irgendwoher tönte monotoner, kehliger Gesang. Weigand wollte eine der Rikschas nehmen, aber Sibilla weigerte sich. Die ausgemergelten Greise, die für billiges Geld einen anderen Menschen durch die Straßen schleppen sollten, das ging ihr gegen die Menschenwürde. »Aber wenn wir ihn nicht mieten, verdient er nichts«, wendete Weigand ein. »Zahlen Sie ihn, und wir laufen!« schlug Sibilla vor. »Bravo!« sagte Weigand, tat es, und sie wurden den Greis nun nicht mehr los. Mit leerer Rikscha trabte er hinter ihnen durch das Gewühl der Gassen. Sie überquerten »Poors Man’s Nightclub«, den abendlichen Flohmarkt um Temple, Nanking und Shanghai Street. Fliegende Händler hatten im Schein von Petroleumlampen ihre Stände aufgeschlagen; Schallplatten und Radios, Bücher, Schuhe, Textilien und tausenderlei Jahrmarktsartikel wurden über die ganze Breite der Gassen angeboten, dazwischen Obst und Gemüse, Werkzeug und alle Arten Seegetier. Pekingenten baumelten an ihren Hälsen zwischen den Laternen der Straßenrestaurants, und alle Düfte Asiens schwebten durch die feuchtheiße Luft dieses Abends. »Hier ist es.« Weigand zeigte auf das kleine Restaurant an der Ecke zur Woo Sung Street. »Tien Heung Lau«, entzifferte er die Schriftzeichen über der Tür. »Es ist wirklich nicht für Europäer«, sagte er, »aber was kümmert uns das. Gehen wir hinein.«
Gäste und Personal blickten nicht besonders erstaunt, als die beiden Europäer eingetreten waren. Einer der runden Tische war gerade frei geworden. Ein Kellner nahm das Tischtuch samt Geschirr und Speisereste an den vier Ecken und trug alles hinaus. Ein zweiter bot den Gästen den freien Platz an, während ein dritter das neue Tuch über den Tisch breitete, ein vierter Schalen und Stäbchen bereitlegte und ein fünfter die Karte überreichte. Er klopfte Weigand vertraulich auf die Schulter und zeigte auf den alten, trüben Spiegel an der Mittelsäule, der von oben bis unten mit Schriftzeichen bedeckt war. Die Empfehlungen des Abends. Sibilla hatte sich umgesehen, dann suchte sie in ihrer Tasche, fand das verschlossene Kuvert, winkte damit einen der Kellner heran und überreichte es ihm. Der warf einen kurzen Blick auf den Brief, las die von Wong gemalten Schriftzeichen, brach in eine Flut von Begrüßungen aus, verneigte sich und rannte damit in die Küche. »Was war denn das? Ein Brief?« wollte Weigand wissen. »Ja, an den Besitzer. Ein Empfehlungsschreiben, nehme ich an. Ich glaube, ich habe hier Freunde.« Sie hatte Freunde. Und die Freunde kamen durch das ganze Lokal gerannt. Der Chefkoch in Schürze, die Küchenjungen, der Gemüseputzer, sämtliche Kellner, die alte Großmutter von der Kasse hinter dem Glas verschlag. Die komplette Sippe versammelte sich um den Tisch und redete auf Sibilla ein. Sie hatten wichtige Nachrichten für sie. Man bat sie, aufzustehen, mit nach oben zu kommen. Nur – sie verstand es nicht. Einer verstand es allerdings – Weigand. Und er hörte mit großem Interesse zu. »Was ist los – what happened?« fragte Sibilla. »I don’t understand – ich verstehe nicht. Was wollen sie?« Aber als sie
sich an Weigand wenden wollte, ihn um Aufklärung bitten, war er verschwunden. Sibilla war irritiert, sie stand auf, sah sich um, ging zur Tür, warf einen Blick auf die Straße. Doch Weigand war wie vom Erdboden verschluckt.
36 Irgend jemand nahm Sibilla am Arm, führte sie durch die Küche, wo offene Flammen an bauchigen Eisentöpfen hochschlugen, durch einen schmalen Gang, vorbei an Obstkisten und Behältern mit Fischen und Gewürzen. Die drängende, gestikulierende Sippe folgte, schob sie, zog sie, eine Treppe hinauf, noch eine. Ein langer Gang, vollgestellt mit Nähmaschinen. Auf dem Fußboden stapelten sich Jeansteile, Halbfertigfabrikate für die Heimarbeiter. Eine Tür war verriegelt. Der Chefkoch stieß sie auf. Zwei alte Frauen in schwarzen, glänzenden Anzügen blickten erstaunt auf die hereindrängende Menge, zeigten nach hinten, redeten, wurden beiseite geschoben. Ein verschlissener Vorhang öffnete sich. Dahinter saß Klöpfer. Er hockte auf einem altmodischen, niederen Stuhl, hatte Papiere, irgendwelche Berechnungen rings um sich auf den Fußboden gebreitet und blickte erschrocken auf. Er erkannte Sibilla, wirkte zwar erleichtert, starrte sie aber trotzdem verzweifelt und fast feindselig an. Die hereindrängende Menge, die laute, schwatzende Sippe, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Sie sind hier…?« sagte Sibilla. Außer ihr und Klöpfer waren schließlich nur noch die beiden alten Frauen in dem Raum; sie warteten neugierig, was nun geschehen würde. Es geschah sehr wenig. Klöpfer sammelte hastig seine ausgebreiteten Papiere ein. Währenddessen sprach er mit Sibilla. »Ich hoffe, Sie begreifen nicht ganz, was Sie da angerichtet haben. Mit diesem Kidnapping, diesen Gangstermethoden!« Er lehnte sich erschöpft zurück und sah Sibilla an. »Daß man mich hierher
verschleppt hat, das ist mein Todesurteil.« Vorsichtig schichtete er die Blätter in seinen Aluminiumkoffer. »Wissen Sie, in welchen Verdacht ich jetzt geraten bin? In welche ausweglose Situation?« Eine der alten Frauen war nähergekommen, hinter Klöpfer getreten und entzündete auf dem kleine Hausaltar Räucherstäbchen. Die ganze Situation war ihr wohl nicht geheuer. Jetzt versuchte sie die Geister zu besänftigen und zu bestechen. »Ich hatte ja vorher schon keine andere Wahl mehr als mitzuspielen. Ich bin eben in eine Falle gegangen – gut, ja – mein Risiko. Meine eigene Verbohrtheit. Aber jetzt, nachdem mir Parker seine Pläne offenbart hat, seit ich das hier in Händen halte…« Er zeigte Sibilla eine orangefarbene Mappe. Fotokopien von Diagrammen. Zahlenkolonnen. »Was ist das?« fragte sie. »Berechnungen!« Er legte die Mappe zurück in seinen Koffer. »Eine unvorstellbare Sensation! Ich meine, wenn das zutrifft, wenn das stimmt. Und es scheint zu stimmen.« Er verschloß den Koffer vorsichtig. »Und Parker gibt mir das einfach: Vertrauen gegen Vertrauen. Reiselektüre…« Er lehnte sich wieder zurück, lockerte seine Krawatte. »Ein spontaner Akt der… der Kollegialität! Und ich verschwinde damit!« Er war aufgestanden, hatte sich vor den Hausaltar mit seinen Postern und Figuren, den glimmenden Stäbchen, den bunten Streifen Lackpapier mit den krausen Zeichen gestellt – ohne das alles zu bemerken. »Die dürfen mich damit nicht entkommen lassen!« Er atmete tief. »Wenn es offenkundig wird, woran die arbeiten… wie weit die bereits sind…« »Wer arbeitet woran?« Sibilla war dicht hinter ihn getreten. Sie sah die alten Frauen hinter dem Vorhang lauern wie Schatten, sah ihre Brillengläser im Dunkeln blinken. »Wer darf Sie nicht entkommen lassen? Wer ist wie weit?«
Aber Klöpfer schüttelte den Kopf. »Nein!« Er sah sie kurz an, bevor er sich wieder setzte. »Vertrauen gegen Vertrauen!« Und schließlich fügte er hinzu: »Bitte, halten Sie sich da heraus!« Sie fragte nicht weiter. Er erzählte von sich aus, stockend zwar, aber genau und ausführlich, was geschehen war, vor und auch nach ihrer Ankunft im Hotel »Tai Koon«, am Hafen, schließlich hier. »Wenn Sie nun hingehen zu diesem… diesem…« Sie hatte den Namen von Klöpfers Kollegen nicht behalten. »Parker.« Er fuhr sich über die Stirn. Es war schwül und stickig im Raum. Beißender Rauch kam durch die Ritzen der Läden, die zum Hof führten. Auch die Geräusche der Küche drangen herauf. »Wo finde ich den? Und ich weiß ja nicht mal, für wen der arbeitet. Welche Position der innehat, in diesem Institut. Vielleicht sitzt der genauso in der Falle, dient nur als Köder, wer weiß?!« Er betrachtete seine feuchten Handflächen. »Und zwischen mir und ihm sind immer nur die anderen anzutreffen, die für mein ›Wohlergehen‹ sorgen sollen – für meine ›Sicherheit‹. Dabei bin ich für die nur noch eine Zielscheibe, weiter nichts.« Da drangen plötzlich Schreie herauf, Rufe auf dem Hof. Irgendwo fiel ein Schuß. Klöpfer war hellwach. Die beiden alten Frauen brachen in ein schrilles Wehklagen aus. Sie hatten die Katastrophe schließlich vorausgesehen, die dieser Fremde ins Haus bringen würde. Ein zweiter Schuß war gefallen. Die Schreie setzten sich auf der Straße fort. Da wurde die Tür aufgerissen. Einer der Küchenjungen stürmte in den Raum, redete schnell und eindringlich auf Klöpfer ein, löschte das Licht, drückte den Laden vorsichtig auf, sprang hinaus, hinunter auf ein flaches Dach, das über
dem nächsten Stockwerk lag, winkte den beiden, ihm zu folgen. »Wir müssen verschwinden!« zischte Sibilla Klöpfer zu, der keine Anstalten traf, den Raum auf dem Fluchtweg zu verlassen. »Sinnlos…«, sagte er nur. »Sie müssen weg!« »Wohin?« fragte er. »Ich bin fertig, kaputt, bankrott!« Sie nahm ihn am Arm. »Los, kommen Sie!« »Wo soll ich noch hin?« Er hatte den Aluminiumkoffer unter den Arm geklemmt, hatte nach Jackett und Mantel gegriffen – aber er blieb stehen, wo er stand. »Wenn Sie wirklich eine Weltsensation in Ihrem Koffer haben…« Sie redete hektisch auf ihn ein. »Sie können überall hin damit. Sie müssen weitermachen. Das ist doch die Basis für einen neuen Anfang!« Er rührte sich nicht. Der Küchenjunge winkte. Der Lärm von unten war verstummt. Irgendwo ertönte eine Polizeisirene. »Glauben Sie mir«, Sibilla rüttelte Klöpfer am Arm, rüttelte ihn wach, »das ist kein Vertrauensbruch. Das ist nur Ihr legitimes Recht, daß Sie das auswerten! Man hat Ihnen eine Falle gestellt, hat Ihr Projekt vernichtet, unmöglich gemacht. Greifen Sie hier zu und machen Sie damit weiter, wenn Sie schon annehmen, daß es eine wichtige Sache ist – für alle!« Da nickte Klöpfer, rannte zum Fenster, sprang hinunter auf das Dach, samt Koffer und Mantel. Er wartete nicht auf Sibilla, sondern folgte dem Küchenjungen auf Schleichwegen hinunter in den nächsten Hof. Er bemerkte nicht, daß Sibilla ihm folgte, hörte nicht, wie die Tür im zweiten Stock aufgebrochen wurde, hörte auch nicht die Schüsse, die fielen.
37 Ein Gewirr verwinkelter Höfe. Ein Sarglager. Verlassene Werkstätten. Durchgänge, Treppenhäuser. Ein Gewölbe voller Teekisten. Eine Tür wurde entriegelt und Klöpfer in eine belebte Gasse hinausgeschoben. Er schaute sich nicht um, rannte los, allein, den glänzenden Aktenkoffer, den Mantel, das Jackett an sich gepreßt. Er hörte rasche Schritte hinter sich, hektisches Atmen. Die Flucht ging die Gasse hinunter, dann quer durch den »Poor Man’s Nightclub«. Klöpfer drängte sich durch die Menge, zwischen den Verkaufsständen hindurch. Er wurde angerempelt, zur Seite gestoßen, stieß zurück, drängte weiter. Er spürte es: Die Rufe galten ihm, die bösen Blicke. Er bog in eine Seitengasse ein. Stufen führten nach unten, unendlich viele Stufen. Er taumelte, stürzte, fing sich an Menschen, die herumstanden, die ihn zurückstießen, prallte gegen Sibilla. Sie war ihm die ganze Zeit gefolgt. Jetzt bemerkte er sie. »Sie sind immer noch hier?« keuchte er. »Verschwinden Sie doch endlich! Halten Sie sich da heraus!« Sie packte ihn am Ärmel: »Gehen Sie doch langsam, unauffällig! Keiner folgt uns.« Aber er riß sich los, hetzte weiter. Er hatte jede Orientierung verloren, vielleicht nie besessen. Er war einfach gerannt, hatte sich höchstens bemüht, die Richtung beizubehalten. Aber nun war er seiner Sache nicht mehr sicher, stand verzweifelt in der Mitte einer belebten Kreuzung, blickte sich um.
Er sah Sibilla auf der anderen Straßenseite. Sie schien ihm etwas zuzurufen, winkte. Er rannte los, verlor seinen Mantel, schaffte es mit knapper Not, dicht vor einem Bus die Straße zu überqueren. Atemlos lehnte er sich an einen hölzernen Leitungsmast und schloß sekundenlang die Augen. Dann lief er weiter. Eine Sackgasse endete vor einem Ruinenfeld. Abbruchgebiet. Stadtsanierung. Zwischen Baumaschinen und Schutt rannte Klöpfer auf eine Mauer zu. Ein Teil war eingestürzt. Klöpfer kletterte über die Reste und befand sich im Hof einer Resettlement-Anlage. Wohnblöcke im dichten Geviert. Kasernierte Flüchtlinge. Die standen in Gruppen herum und schwatzten, Kinder spielten, Greise blickten von ihrem Brettspiel hoch. Klöpfer lief dicht an der Mauer entlang. Er spürte, wie alle Blicke ihm folgten. Ein Trampelpfad führte einen Hügel hinauf, durch Schutt und Unrat. Klöpfer kletterte, rutschte ab, erblickte Sibilla hinter sich, nahm keine Notiz mehr von ihr, kletterte weiter. Er erreichte eine Plattform. Eine Straße führte wieder hinunter zur Siedlung, zur Stadt. Aber hinter einem Tor begann ein Gewirr kleiner und kleinster Treppchen, die alle zum Gipfel dieses Hügels strebten. Klöpfer stieg hinauf, Stufe um Stufe. Ohne Atem, ohne Kraft, ohne Ziel. Er stolperte, tastete sich weiter durch diese Finsternis. Terrasse folgte auf Terrasse, Treppe auf Treppe. Dazwischen leuchteten die langen Reihen weißer Grabsteine. Der Hügel wurde schmaler, bestand nur noch aus Treppen, Terrassen und Steinen, eine Stufenpyramide inmitten dieser Stadt, zwischen Wohnblöcken und Werften.
Unten lag die brodelnde Stadt mit ihrem Lichtermeer, die spiegelnde Fläche des Hafens. Klöpfer ließ sich einfach fallen, hinter irgendeinem dieser breiten Grabsteine, oben auf dem Grat des Hügels, auf der Spitze dieser Pyramide. »Und weiter?« fragte Sibilla, die neben ihm stehen blieb. Er schüttelte nur den Kopf, lehnte sich erschöpft an den Stein, preßte immer noch den glänzenden Koffer an sich und rang nach Atem. »Und wenn sie… wenn sie jetzt kommen…«, flüsterte er. »Es ist mir gleichgültig…« Er schloß die Augen. Sie setzte sich neben ihn, schaute auf die Stadt hinunter, hörte auf das dumpfe Brodeln, auf die fernen Hupen und Sirenen. Musik, Menschen, eine halbe Million Autos. Signale der Schiffe. Das Hämmern in den Werften mit dem blauen Flackerlicht der Schweißarbeiten an den halbfertigen Schiffsrümpfen. Klöpfer war langsam umgesunken. Den silbernen Aktenkoffer hatte er unter sich begraben. Sein Gesicht lag nun auf der glattgetretenen, kalten Steinplatte zwischen verwitterten Plastikblumen, den Scherben eines Räuchergefäßes und verwaschenen roten Bändern. Mit einer vorsichtigen, fast mütterlichen Geste legte Sibilla ihm die Hand auf die Schulter, hob schließlich sein Gesicht, bettete seinen Kopf auf ihren Schoß, deckte das Jackett über seinen schweißnassen Körper. Sie spürte sein Zittern, seinen heißen Atem auf ihrer Haut, beugte sich zu ihm und legte ihre Stirn auf sein schütteres graues Haar. So saßen sie lange. Ein Regenschauer ging über sie hinweg, Sturmböen tobten über die Spitze dieses seltsamen Hügels. Es waren die Ausläufer von »Celia«, die die Küste zu verschonen schien. Und das Brodeln der Stadt brandete zu ihnen herauf die ganze lange Nacht.
Eine blaugraue Dämmerung stieg über dem Meer hoch, diese kurze Spanne Zeit, die in den Tropen den Tag ankündigt. Dann erschien die Sonne zwischen schwarzen Wolkenfetzen und ließ das Meer zwischen den zweihundert Inseln wie geschmolzenes Blei aufblinken. Nebelschleier hingen zwischen Buchten und Bergen, und dicht über ihre Köpfe hinweg brauste ein vierstrahliger Jet, donnerte mit aufheulenden Triebwerken auf die Landebahn zu, die direkt unter dem Hügel lag. Klöpfer war wach geworden. Er richtete sich auf, fuhr sich durch das nasse Haar, löste den verkrampften Griff der Hand, mit der er immer noch den Koffer umklammert hielt. Dann sah er Sibilla an. »Guten Morgen«, sagte sie und lächelte ihm zu. Er nickte nur, lächelte zurück. Dann schaute er sich um: Die Gräber, die diesen Pyramidenhügel überwuchert hatten, die bunten Wohnblocks des Resettlements mit den großen Nummern und Schriftzeichen an den verwaschenen Fassaden, mit den Balkons, auf denen die Wäsche flatterte. Das Gewirr von Hütten, Holz und Wellblech, das den Fuß des Hügels bedeckte bis zu den Werften unten am Wasser. Rauch stieg von tausend Feuerstellen hoch. Sirenengeheul der Fabriken. Schichtwechsel. Die Maschine hatte dicht vor dem Wasser am Ende der Rollbahn gestoppt, hatte gewendet und rollte nun zurück, auf die Gebäude des Flughafens zu. »Wir sollten uns auf den Weg machen…« Sibilla zeigte auf die Maschine. »So weit kommen wir nicht. Sie werden mich abfangen. Am Schalter erwarten.« Sibilla schüttelte den Kopf: »Dort ist überall Polizei.« »Die Polizei ist käuflich. Überall auf der Welt!« Er blickte resigniert hinunter auf diese greifbar nahe Chance einer Flucht.
»Vielleicht«, sagte Sibilla. »Aber wir werden es auf jeden Fall versuchen. Wir haben keine andere Wahl!« Sie stand auf. Die nassen Kleider. Der kühle Morgenwind, der über den Hügel wehte. Sie fröstelte. »Wie kommen wir da hinunter?« fragte Klöpfer mit dem Blick auf die Landebahn. »Zu Fuß – irgendwie.« Sie lachte und ging voraus. Sie stiegen die vielen tausend Stufen hinunter, kletterten den Trampelpfad entlang und über die Mauer. Sie durchquerten die wilden Siedlungen dieser Hütten aus Blech und Holz, wateten durch den Morast der offenen Kloaken, stiegen über Berge verwesenden Abfalls. Sie ignorierten die neugierigen Blicke, die ihnen aus Ritzen und Türen unverhohlen nachstarrten. Der beißende Rauch der Feuerstellen wehte ihnen entgegen. Staub wirbelte hoch. Sie stiegen über Stacheldraht, liefen über einen Streifen Brachland mit Disteln und Dornen und erreichten die Schnellstraße. Sie überquerten sie bei dichtestem Verkehr. Hupen, Rufe. Das Kreischen von Bremsen. Sie durchschritten ein offenstehendes Tor, gingen an zwei verdutzten Wachtposten vorbei und an den Frachtschuppen entlang. Eine der Lagerhallen war unverschlossen. Durch die breiten Tore fuhren Gabelstapler und luden Kisten auf bereitstehende Lastwagen. Die bunten Ameisen waren wieder am Werk, schleppten die schwersten Lasten und immer im Laufschritt. Und dahinter lag das Flugfeld. Die gelandete Maschine wurde bereits wieder beladen. Normales Reisegepäck auf zwei vollgestapelten Karren. »Cathay Pacific stand auf dem Rumpf.«
Sie erreichten die Gangway gleichzeitig mit dem Aufsichtsbeamten, der sie verfolgte. Reisepaß. Zwei Stewardessen kamen ihnen erstaunt von oben entgegen, schließlich der Kopilot. Sie hatten Flugtickets zurück nach Europa, aber nicht für diese Linie. Sie baten um Polizeischutz. Die nassen Kleider, überhaupt der ganze Aufzug: Gejagt von einem Gangstersyndikat. Das klang glaubwürdig in dieser Stadt, und dafür hatte jeder Verständnis. Der Kapitän bat sie in die Maschine, verständigte Zoll und Polizei. Die Untersuchung war kurz. Eine der Stewardessen erledigte die Umbuchung der Tickets und besorgte Sibillas Koffer aus der Gepäckaufbewahrung. Fünfunddreißig Minuten später startete die Maschine mit weiteren zweiundsechzig Passagieren in Richtung Taiwan. Drei Stunden Aufenthalt im Transitraum von Taipets. Weiterflug nach Osaka, dann Tokio. Klöpfer witterte in jedem Europäer den Verfolger. Er verbarg sich jeweils bis kurz vor dem Abflug, mischte sich in die Mitte der Warteschlangen, verlor seinen scheuen Blick, das Kennzeichen des Gejagten erst, als sie Tokio hinter sich hatten. Die Flucht war gelungen.
38 Tundra – Seen – Berge – Gletscher… »Alaska…«, sagte Sibilla, als wieder Land unter ihnen war. »Der neunundvierzigste Bundesstaat der USA«, fügte sie hinzu. »Du bist in Sicherheit.« Er lehnte sich kurz zurück und schloß die Augen. Vor ihm stand der geöffnete Aktenkoffer, lagen Taschenrechner und Schreibzeug. Er hatte wieder seit Stunden gearbeitet. Jetzt schien er müde, erschöpft. Aber da kam schon die Stimme der Stewardeß aus dem Lautsprecher, auf englisch, auf japanisch. Leuchtzeichen flammten auf. »Pack ein, schnall dich an«, sagte Sibilla. »Wir landen zwischen, tanken auf. In Anchorage.« Die Maschine zog eine große Schleife über den Meeresarm des Cook Inlet, senkte sich zwischen die schwarzen Berge mit den verschneiten Gipfeln, überflog die Stadt, einen See, auf dem Hunderte von Wasserflugzeugen parkten, dann setzte sie auf. Dreihundertsechzig Japaner und fünfzehn Europäer verließen die Maschine und strömten in den Transitraum, zu Souvenirs und Air Port Art, zu indianischen Schnitzereien (Made in Hongkong), zu Eskimokunst (Made in Taiwan), zu arktischem Plüsch und Plunder. Als Sibilla aus dem »Ladies’ Powderroom« trat, war Klöpfer in der Masse der herumirrenden Passagiere nicht zu entdecken. Sie suchte, im Coffeeshop, in der Lounge, in der Bar, zwischen Postkartenständern, wartete vor dem »Men’s Restroom« – aber sie fand ihn nicht. Schließlich hörte sie durch Zufall seine Stimme.
Er stand in einer dieser offenen Telefonzellen, die nur durch Sichtblenden voneinander abgeteilt waren. »Homer… yes, I understand…«, hörte sie ihn sagen. »The road to Homer… yes. Kenai, Kasiloff, Ninilchik, Homer… okay… Very glad to meet you…« Dann legte er auf. »Hier bist du?« rief Sibilla. »Schnell, zweiter Aufruf. Wir fliegen weiter.« Er steckte gerade sein Notizbuch ein, griff wieder nach seinem Koffer. »War das so dringend?« fragte sie. »Wen hast du angerufen?« Aber Klöpfer antwortete nicht sofort. Er hatte wieder einmal seinen etwas verstörten, unruhigen Blick. »Du hast gesagt, du freust dich, ihn zu treffen… Wen wirst du treffen?« wollte sie wissen. Sie waren an der Rolltreppe angekommen, die nach unten in den Transitraum führte. »Ich hatte versprochen, mich zu melden, für den Fall, daß ich hier aufkreuze…« Er hatte immer noch diesen zerknitterten Anzug an, das gleiche Hemd, die gleiche schlechtgebundene Krawatte. Er besaß nur noch diesen Koffer mit dem brisanten Inhalt. Alles andere war wohl unwichtig geworden für ihn. »Hast du gewußt, daß du jemals im Leben hier in Alaska…« Aber dann unterbrach sie sich, als er kurz zu ihr herüberblickte. »Sibilla…« Sie waren unten angekommen, und er zögerte weiterzusprechen: »Ich… ich fliege nicht weiter mit. Ich bleibe hier!« »Wo ›hier‹?« Sie war völlig überrascht. »Ein Institut in der Nähe. Sie erwarten mich.« Er reichte ihr die Hand zum Abschied, aber sie achtete nicht darauf. »Wer erwartet dich? Amerikaner?«
Er nickte. »Ja. Untersteht der Navy. Ich kenne die Leute von einem Kongreß. Sie suchen Spezialisten. Für Laser.« »Für Krieg, ja? Für Rüstung?« wandte sie ein. »Nein, nein. Das glaube ich nicht«, verteidigte er sich. »Sie bauen Ortungsgeräte. Für Nachrichtenübermittlung haben sie… Die haben hier ja alle Möglichkeiten. Und…« Er sah sie nachdenklich an: »Wo soll ich in Zukunft hin? Ins Blaue Palais? Ich habe nicht mehr viel Chancen…« Sie schaute auf seinen Koffer, in der er eine »Sensation« versteckt hatte, wie er behauptete. »Ich verstehe. Deshalb dein Vorschlag: zurück über die Polroute, ja?« »Ehrlich gesagt, ja!« Er nickte, dann reichte er ihr nochmals die Hand. »Du mußt gehen, deine Maschine…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme mit.« »Nein!« sagte Klöpfer mit Nachdruck. »Die erwarten nur mich!« Der Transitraum hatte sich geleert. Drei Groundhostessen zählten die zurückgegebenen Transitkarten. Eine blickte erwartungsvoll auf Sibilla. Aber die zögerte noch.
39 Der silberne Überlandbus verließ Anchorage auf der Staatsstraße Nummer 1 gegen Mittag. Die Stadt, obwohl fast 5000 Kilometer vom eigentlichen Mutterland der USA entfernt, glich erschreckend den Ansiedlungen des Mittelwestens, Flache Bauten, Supermärkte, Tankstellen, Motels. Ein Wald von Leitungsmasten und Fernsehantennen. Nur draußen am Stadtrand ahnte man noch etwas vom Pionierstil vergangener Tage. Das Wasser der Bucht, an der sie meilenweit entlangfuhren, war still und schwarz wie Öl. Schwarz waren auch die Berge ringsherum. Nur der Portage-Gletscher schob seine grellweiße Zunge bis hinunter ins Tal. »Stanley leitet das Institut.« Klöpfer tauchte aus seinen Gedanken auf und versuchte Sibilla in seine Überlegungen einzubeziehen. »Er arbeitet an blau und grün emittierenden Argonlasern für Unterwasser. Er hat auch so etwas wie einen abstimmbaren Laser für Dauerstrahlbetrieb im Sinn – also wahlweise jede Farbe des Spektrums als kohärentes Licht. Du verstehst das?« Sibilla nickte. »So ungefähr, ja.« »Das heißt, er hat daran gearbeitet, vor zwei Jahren. Er ist vermutlich längst weiter.« Er schwieg wieder, versank in Nachdenken, nahm seine Umgebung nur noch unbewußt wahr. Fischer saßen im Bus und Jäger in ihren buntkarierten Wolljacken, Eskimos, die hier in den Süden des Landes versprengt worden waren. Mongolische Gesichter, Indianer, auch Russen. Denn die waren die ersten, die diesen Teil des
Kontinents besiedelt hatten, bis die USA Alaska dem Zaren für ein Butterbrot abgekauft hatten. Sie hatten das Ende der Bucht erreicht. »Portage« stand auf dem Ortsschild. Aber der Ort war verschwunden, versunken im Schlamm beim letzten Erdbeben Mitte der sechziger Jahre. Autodächer sahen noch vereinzelt aus dem sandigen Boden, die Dächer der Tankstelle am Abzweig nach Whittier und zum Gletschersee. Riesige, bizarre, abgestorbene Bäume mit glänzenden, silbrigen Stämmen ragten aus dem Schlamm. Hohes braunes Riedgras bedeckte den Boden bis hin zum Wasser der Bucht. Klöpfer hatte für all das keinen Blick. »Ich hätte mich bei euch nicht einmauern sollen«, begann er von neuem. »Das war ein Fehler.« Aus dem Lautsprecher des Busses tönte laute Musik, unterbrochen von lokalen Werbespots. »Das Palais liegt etwas außerhalb der Welt…« Er stellte den silbernen Koffer, den er bisher auf seinen Knien festgehalten hatte, zwischen den Füßen auf den Boden, zwischen Erdnußschalen und Papier. »Du bereust es – die Zeit bei uns?« fragte Sibilla. Er nickte. »In gewisser Weise – ja.« Sie sah nach draußen. Magere arktische Fichten ragten aus dem moorigen Boden, dahinter erstreckte sich die Tundra bis zum Fuß der nächsten Bergzüge. »Und du könntest hier leben?« wollte sie wissen. Er sah flüchtig in diese malerisch trostlose Einöde hinaus. »Natürlich, ja. Warum nicht?« »Es ist eine Stunde nach Mittag. Seit zwei Stunden ist es hell, in zwei Stunden wird es wieder dunkel.« Sibilla beobachtete die dunklen Wolkenbänke, die über das Land trieben. »Im Sommer«, widersprach Klöpfer, »geht die Sonne überhaupt nicht unter…«
»Richtig«, sagte Sibilla, »und fünf Monate im Jahr geht sie nicht auf. Dann bleibt der Boden gefroren. Und im Sommer taut nur der oberste Meter auf…« Aber Klöpfer war bereits wieder bei einem anderen Thema. »Stanley war selbst am Apparat. Er erinnerte sich sofort an unser Gespräch, damals auf dieser Workshop Conference. Er würde es begrüßen, wenn ich käme, meinte er. Er würde es begrüßen…« Dann schwieg er. Sie fuhren zwei Stunden und durchquerten nur drei Orte. Supermarkt, Tankstelle, Motel. Das war jeweils alles, was zu sehen war. Die Siedlungen lagen abseits der Straße. Auch die Bohrstellen der Oil Companies. Nur in Soldotna parkten zwanzig Schulbusse in einer Reihe. Dann kam Ninilchik. Ein kleines Fischernest an der Küste. Ein paar bunte Holzhäuser, eine Konservenfabrik. Und hoch über dem Ort eine russische Kirche und ein Friedhof. Es begann gerade zu dämmern, als der Bus die Endstation erreichte. Weiße Bergriesen schimmerten von der anderen Seite des Cook Inlet herüber, der großen, weiten Bucht, die sich wie ein gigantischer Fjord in das Land hineinzog, bis hinauf nach Anchorage. Fischer und Jäger, Russen, Indianer und Eskimos zerstreuten sich, verschwanden spurlos in diesem Nichts einer Siedlung. Der Busfahrer zeigte hinüber zu einer kleinen Tankstelle. Dort reparierte ein Mann den Reifen seines Wagens. Klöpfer gab ihm die Adresse. »Navy Institute, you know?« Der Fahrer nickte. Noch eine knappe halbe Stunde, meinte er, dann sei sein Taxi startklar für die letzte Etappe. »Warum holen die dich nicht ab?« Sibilla sah sich um. Zwei Huskies, die hellen Schlittenhunde des Eskimos, balgten sich vor einer der Hütten. Ein Mann kam heraus und trat das Knäuel auseinander.
»Wir sprachen nicht darüber. Ich wußte auch nicht, wo es liegt.« Klöpfer fröstelte in seinem Anzug. »Wir hätten einen Wagen nehmen sollen. Einen Mietwagen«, fügte er hinzu. Dann ging er weiter, vorbei an dem ärmlichen Coffeeshop, den ihnen der Taxifahrer empfohlen hatte, hinunter zum Strand. Ein fernes, gewaltiges Donnern und Bersten kam über das Wasser der Bucht und fesselte seine Aufmerksamkeit. Drüben, auf der anderen Seite, brachen Gletscherteile von Wolkenkratzergröße in das aufstiebende Wasser der Bucht. »Gewaltig, was?« Klöpfer sah sich zu Sibilla um. Die hatte sich in ein Cape gewickelt und wanderte hinter ihm zwischen den riesigen, ausgebleichten Treibholzstämmen her, die den Strand bedeckten. Es ist das erste Mal, dachte sie, daß er seine Umgebung wahrnimmt. Vielleicht interessiert es ihn als Physiker, mit welchen Energiemengen die Natur leichtfertig umgeht. Klöpfer hatte sich auf einen der Stämme gesetzt. »Du weißt, was Antimaterie ist?« fragte er unvermittelt. »Nein?« Sibilla war neben ihm stehen geblieben, erstaunt über seinen raschen Einstieg in ein neues Thema, und beobachtete dabei den zerberstenden Gletscher auf der anderen Seite des Fjords. »Hier auf unserem Planeten«, fuhr Klöpfer fort, »in unserem Sonnensystem, gibt es nur eine Form der Materie: Der Atomkern ist positiv geladen – die Elektronenhülle negativ. Bei Antimaterie ist das umgekehrt.« Wieder stürzte eine Eiswand ins Meer. Aber Klöpfer achtete nicht mehr darauf. »Materie und Antimaterie können nicht nebeneinander existieren. Wenn sie sich zu nahe kommen, löschen sich die Atome gegenseitig aus – zerstrahlen in Energie.« Er hatte seinen Metallkoffer auf die Knie gelegt und öffnete ihn. »Nach gewissen Theorien besteht die Hälfte aller Materie
im Kosmos aus Antimaterie. Die gewaltigen leeren Räume dazwischen verhindern eine Katastrophe.« Er nahm Parkers orangefarbene Mappe aus dem Koffer, dazu eigene handschriftliche Notizen. »Es scheint zu stimmen: Mit der nötigen Energie ist im Hochvakuum durch Laser Antimaterie zu erzeugen und aufzubewahren. Und wenn das im Großen gelingt, sind in Zukunft alle Energieprobleme gelöst. Wirtschaftlich, wirkungsvoll und vor allem sauber. Es gibt keine Rückstände, keinen radioaktiven Abfall. Antimaterie zerstrahlt unter der Einwirkung normaler Materie vollständig in Energie. Dabei werden unvorstellbare Energiemengen frei: Mit einem Kilo gefrorenem Antiwasserstoff kann eine Stadt wie New York zwei Jahre mit Energie versorgt werden – sofern es gelingt, die Umwandlung langsam, gebremst, nach und nach zu vollziehen. Wenn das plötzlich geschieht, werden in Bruchteilen einer Sekunde elf Megatonnen Sprengkraft frei, mehr als bei der größten Wasserstoffbombe.« Er sah gespannt auf Sibilla, wartete auf ihre Reaktion. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und warf einen Blick auf seine Notizen. »Ein Kilo«, fuhr er fort, »nur eine Handvoll…« Er zeigte ihr die geringe Menge. »Sorgsam abgeschirmt in einem Hochvakuum, isoliert bei minus 272 Grad.« Er hielt ihr die orangefarbene Mappe hin: »Eine brisante Reiselektüre, was?« Sie nahm die Mappe, schlug sie auf, warf einen Blick auf die Zahlenreihen und Diagramme. »Ich bin Biologin«, sagte sie und gab die Mappe zurück. »Und daran arbeitest du jetzt?« »Nein, Parker tut das.« Er legte die Mappe oben auf seinen Koffer. »In Hongkong. Oder irgendwo in dieser Gegend. Das war die Sensation, von der ich gesprochen habe. Antimaterie. Aber jetzt, wo sich unsere Wege trennen… Ich sehe keinen Grund mehr, dir die Geschichte zu verschweigen.«
»Ich fahre mit bis zu diesem Institut. Auch wenn dir das peinlich ist…«, sagte Sibilla mit einem Lächeln. »Du wirst mich nicht los.« »Darum geht es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Es geht um etwas sehr Grundsätzliches, was ich jetzt erst begriffen habe: Erkenntnisse sind nicht unser persönliches Eigentum, sind nicht das Eigentum von Gruppen oder Staaten, die diese Erkenntnisse mißbrauchen können. Ich werde Stanley die Aufzeichnungen Parkers auf den Tisch legen – es ist schön, wenn man nicht mit leeren Händen kommt. Aber ich werde ihn auch zwingen, dieses Projekt zu veröffentlichen. Es geht alle an. Alle, die daran mitarbeiten können, alle, die es weiterentwickeln können. Wissenschaft muß öffentlich sein, damit einzelne Erkenntnisse nicht in den falschen Händen bleiben. Du verstehst mich?« »Ja…« Sie nickte und meinte es ernst. »Politiker werden kontrolliert«, fuhr er fort, »durch Parlamente und die Medien, durch die Presse, das Fernsehen, durch die Öffentlichkeit. Wer kontrolliert die Wissenschaft? Und wer wird die Welt in Zukunft mehr verändern? Die Politiker – oder die Wissenschaftler? Und ob diese Veränderungen zum Guten oder zum Schlechten tendieren, das muß geprüft werden und kontrolliert. Durch die Öffentlichkeit. Hier…« Er hielt ihr Parkers orangefarbene Mappe wieder hin. »Nimm sie an dich – zumindest, bis wir dort sind.« »Warum?« Sie sah ihn merkwürdig an. »Ich weiß es nicht. Nimm sie, bitte.« Da hupte das Taxi oben an der Straße. Sie stand auf, nahm die Mappe und steckte sie unter ihr Cape, während Klöpfer den Koffer schloß. Auf der anderen Seite des Fjords donnerte wieder ein Stück des Gletschers berstend ins Wasser.
40 Die Dämmerung kam langsam, leise. Sie ließ sich Zeit hier im Norden. Das Taxi fuhr noch ohne Licht auf dieser schnurgeraden, schmalen Landstraße durch die Taiga. Der Fahrer hörte Musik, pfiff die Melodien mit. Es waren seine eigenen Kassetten mit den üblichen Dauerbrennern vom letzten Jahr. Sibilla und Klöpfer saßen im Fond des Wagens und schwiegen. Er hatte wieder seinen Koffer auf den Knien und widmete der bizarren Landschaft, die hinter den beschlagenen Scheiben vorüberzog, kaum einen Blick. Seen tauchten auf, Tümpel im Moor blinkten hinter den niederen schwarzen Fichten und dem Buschwerk der Tundra. Dunkelblaue Berge begrenzten den Horizont, baumlose, kahle Felsrücken, die eine Meile entfernt sein konnten oder zehn oder hundert. Es gab weder Maßstab noch Markierung in diesem Land. Seit sie vor einer halben Stunde von der Hauptstraße nach Homer abgebogen waren und auf der Straße fuhren, die zu dem Navy-Institut führen sollte, hatten sie keine Siedlung mehr gesehen, kein Blockhaus; keinem Wagen waren sie mehr begegnet. Deshalb war Sibilla erstaunt, als hinter ihr Lichter auf tauchten. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern folgte ihnen ein Wagen und näherte sich mit raschem Tempo durch die Staub fahne, die sie hinter sich herschleppten. Der Wagen hupte.
Sibilla wischte die Rückscheibe klar und schaute hinaus. Die Lichter blendeten sie. Wieder hupte der Wagen. Aber der Fahrer des Taxis ließ sich nicht irritieren, er behielt sein Tempo bei, blieb auf seiner Spur in der Mitte der Straße und pfiff vor sich hin. Der andere hatte sie eingeholt und setzte zum Überholen an. Die Straße war schmal, fast zu schmal für dieses Manöver. Aber der fremde Wagen versuchte es trotzdem. Der Taxifahrer murmelte einen Fluch, als er zur Seite gedrängt und zum Bremsen gezwungen wurde. Die Hupe des anderen gellte ohne Unterbrechung. Kies und Sand spritzten gegen Scheibe und Blech. Dann setzte sich der fremde Wagen vor das Taxi, hielt mit kreischenden Bremsen, rutschte über den Sand der Straße, stellte sich schließlich quer und versperrte den Weg. Nur mit knapper Not kam das Taxi rechtzeitig zum Stehen. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter und brüllte dem anderen eindeutige Verwünschungen zu. Aber dann verstummte er schlagartig. Aus dem Fond des fremden Wagens waren zwei Jäger ausgestiegen. Sie trugen die typischen bunten Jacken, karierte Schildmützen und Patronengürtel um den Leib. Sie griffen hinter sich nach ihren Waffen, doppelläufigen Büchsen, und legten sie aus der Hüfte heraus auf den Fahrer an. »Was wollen die?« flüsterte Klöpfer. »Geld? Ein Überfall?« Der Fahrer des fremden Wagens stieg aus, ein hagerer Mann mit einer Baskenmütze und in einem lappigen Trench. Monsieur Ginsburg. Klöpfer hatte ihn sofort erkannt. Ginsburg deutete auf Klöpfer und winkte ihm herauszukommen.
Aber Klöpfer rührte sich nicht, blieb, wo er war, schluckte, preßte den Metallkoffer an sich und atmete hastig. Da drehte der Beifahrer des fremden Wagens langsam die Scheibe herunter. »Aber das ist doch…«, Sibilla war völlig überrascht, fast erfreut, »… das ist doch nicht möglich: Herr Weigand!« Als sie es gerufen hatte, war ihr im gleichen Augenblick der Zusammenhang klar. Die Falle. Das Hotel. Weigand, den sie auf die Spur gebracht hatte. Klöpfers Flucht. Die Orchideen in ihrer Tasche. Alles. In einer kurzen Sekunde. Aber die Erkenntnis kam zu spät. Klöpfer sah Sibilla entsetzt an. Sie kannte Weigand, also… Er zog den falschen Schluß. »Ach, so ist das – ein Komplott…«, zischte er, stieß die Wagentür auf, sprang hinaus und rannte mit dem Koffer quer über die Straße und in das sumpfige Gelände hinein. Einer der beiden Jäger schoß in die Luft. Dann sah er auf Ginsburg, der ein Zeichen gab, Klöpfer zu folgen. Also liefen sie beide hinterher, gemächlich. Sie kannten diese Landschaft. Sie waren ihrer Sache sicher. Weigand schaute ihnen nach, ebenso Ginsburg und Sibilla. Nur der Taxifahrer hatte sich nach dem ersten Schuß unter sein Steuer geworfen und war dort liegen geblieben. Die Jäger verschwanden im niedrigen Dickicht der Tundra. Ein Schuß. Sibilla zuckte zusammen, begann zu zittern. Wieder ein Schuß. Weigand war ausgestiegen, hatte sich gegen das Dach seines Wagens gelehnt und versuchte die Treibjagd im Auge zu behalten. Die Jäger waren kurz auszumachen, als sie quer durch ein Moorstück liefen, sich teilten, um das »Wild« einander zuzutreiben.
Wieder fiel ein Schuß, ein zweiter kurz darauf. Sibilla hielt die Hand vors Gesicht – aber dann hörte sie nichts mehr. Die Jagd war vorbei. Die Jäger kamen angelaufen. Einer trug den glänzenden Aktenkoffer^ warf ihn Ginsburg zu. Weigand ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen, schlug die Tür zu, ohne Sibilla noch einen Blick zu gönnen. Die Jäger verschwanden im Fond des Wagens. Ginsburg startete ihn,wendete und fuhr mit durchdrehenden Reifen los. Der Wagen war längst am Horizont verschwunden, als Sibilla immer noch wie gelähmt im Wagen saß und sich an die orangefarbene Mappe klammerte, die sie unter ihrem Cape verborgen hielt.
41 Die Beerdigung fand in aller Stille statt. In Ninilchik. Eine tiefstehende Mittagssonne spiegelte sich im Fjord, im Cook Inlet, in der Katchemak Bay und tauchte den kleinen Ort an der Küste in ein warmes gelbes Licht. Außerhalb des orthodoxen Friedhofs neben der kleinen russischen Kirche aus weiß gestrichenem Holz war ein Grab geschaufelt worden. Der Boden war nicht mehr gefroren. Vier Männer schleppten den hellen Fichtensarg aus einer der Hütten. Ein Polizeiwagen parkte daneben, ein gelbes Taxi. Nur wenige folgten der sterblichen Hülle dieses fremden Mannes hinauf auf den Hügel. Darunter war eine Frau in einem langen dunklen Cape. Ein starker Wind von See her peitschte das dürre Gras vom letzten Herbst zwischen den weißen Doppelkreuzen und ließ die Gebinde und Kränze aus Plastikblumen rasseln, die schon jahrelang dort hingen. Es starb hier nicht jedes Jahr ein Mensch. Seit der Goldrausch verebbt war, der auch über diesen Teil Alaskas im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts hereingebrochen war, herrschte wieder Ruhe. Selten kamen Fremde. Es gab keine Presse, keine Fragen. Und auch die Formalitäten, die diesen Toten betrafen, waren rasch erledigt. Jetzt wurde der Sarg auf Bohlen über die offene Grube gestellt. Die Sargträger zogen Seile unten hindurch – dann warteten sie auf ein Zeichen von Sibilla. Die nickte ihnen zu. Kein weiteres Ritual, keine Gebete, keine Reden. Die Bohlen wurden herausgezogen und der Sarg in die Grube versenkt.
Nachdenklich blickte Sibilla in das offene Grab. Sie suchte etwas in ihrer Tasche, fand es: zwei gelbe Orchideen aus Papier. Sie warf sie hinunter auf den Sarg und wandte sich ab. Am Zaun blieb sie stehen, blickte über den Fjord hinweg, zu den weißen vergletscherten Bergen. Immer noch brachen riesige Stücke des Gletschers berstend ins Meer. Der Seewind trug das Donnern herüber. Ein Fischkutter nahm Kurs auf das offene Wasser des Cook Inlet. Ein Hund wurde verjagt. Die Totengräber hatten begönnen, das Grab zuzuschaufeln. Die Polizisten setzten ihre Mützen wieder auf, salutierten. Und aus der nahen Kirche kam der Küster, ein mongolisches Eskimogesicht, voller Neugierde quer durch den Friedhof. Am Zaun, bei Sibilla, blieb er stehen. Er witterte in die milde Luft dieses sonnigen Tages, lächelte und sagte: »Fine day…« Und er erwartete Zustimmung. »Fine day«, sagte Sibilla, nickte und ging den schmalen Weg zum Hafen hinunter. Zwei Tage später ging sie über den Hof des Blauen Palais. Ein sanftes Grün lag über dem Park, die ersten Blüten standen im Rondell vor dem Portal. Sie stellte ihren Koffer vor der Remise ab, ging zuerst ins Palais, in das Zimmer von Palm. Nach der üblichen Begrüßung legte sie eine orangefarbene Mappe auf den Tisch, Parkers Berechnungen, die Reiselektüre. »Sie sind Physiker«, sagte sie. »Es wird Sie interessieren, und Sie werden begreifen, worum es geht.« Palm nahm die Mappe, schlug sie auf, überflog die Zahlenreihen und Diagramme, las Überschriften und Schlußfolgerungen. »Klöpfer bittet Sie, das zu veröffentlichen«, sagte sie und ging.