Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 636 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Der Vasall von Falk‐Ingo Klee
Ein Solaner wird k...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 636 Anti‐ES ‐ Das Arsenal
Der Vasall von Falk‐Ingo Klee
Ein Solaner wird kondtioniert
Die Verwirklichung von Atlans Ziel, in den Sektor Varnhagher‐Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden‐X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrages entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer Spur, die in die Galaxis Xiinx‐Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird. Schließlich, gegen Ende des Jahres 3807 Terrazeit, muß die SOL den Sturz ins Nichts wagen, und sie gelangt dabei nach Bars‐2‐Bars, die aus zwei ineinander verschmolzenen Galaxien bestehende Sterneninsel. Die Verhältnisse dort sind mehr als verwirrend, wie die Solaner bald erkennen müssen. Doch sie tun ihr Bestes, die Verhältnisse zu ordnen, indem sie die Völker der künstlich geschaffenen Doppelgalaxien, die einander erbittert bekämpfen, zum Frieden zu bewegen versuchen. Anti‐ES ist natürlich über die jüngsten Aktivitäten der Solaner in Bars‐2‐ Bars informiert. Die in der Namenlosen Zone festgehaltene Superintelligenz beschließt daher Gegenmaßnahmen. Eine davon ist DER VASALL …
Die Hauptpersonen des Romans: Kerness Mylotta ‐ Ein Solaner wird konditioniert. Clya Fersjon ‐ Chefin der Astronomischen Abteilung der SOL. Atlan und Breckcrown Hayes ‐ Sie suchen nach Übergängen in die Namenlose Zone. Tyrol Gutfleisch ‐ Kreuzerkommandant der SOL. Blödel ‐ Der Roboter jagt einen Saboteur.
1. Die Orientierungssysteme der SOL waren so vielfältig wie die eines Lebewesens. Orter und Taster ersetzten quasi den Gesichtssinn, aber es gab noch eine Art drittes Auge – die Astronomische Abteilung. In der Vergangenheit hatten die Sternenkundler oft genug bewiesen, daß sie keinesfalls überflüssig waren. Mehr als einmal waren sie es gewesen, die erste Daten lieferten, dann wieder konnten sie mit wichtigen Details aufwarten, die den Verantwortlichen die Entscheidung erleichterte. Die astronomische Sektion befand sich in der Polkuppel der SZ‐1. Kernstück der technischen Einrichtungen war das SPARTAC‐ Energieteleskop, ein Hochleistungsgerät, das bis zum Jahre 3460 auf der Erde entwickelt worden war und später modifiziert und verbessert auch in den Hantelraumer integriert wurde. Grundsätzlich funktionierte diese Konstruktion wie ein herkömmliches Spiegelteleskop, war einem solchen jedoch durch seine Größe und Genauigkeit millionenfach überlegen, wobei sich die Abmessungen nicht auf die Anlage als solches bezogen, sondern auf die »Brennweite«. Anders als einfache Fernrohre, deren Objektlinse die Bildränder durch Lichtbrechung verfärbt, arbeitet ein Spiegelteleskop mit einem Hohlspiegel. Er fehlte beim SPARTAC‐Energieteleskop, statt dessen erzeugten Projektoren ein Energiefeld, das bis zu sechstausend Kilometer im Durchmesser freischwebend im
Weltraum aufgebaut wurde und sogar in gewissem Maß schwenkbar war, generell aber den Bewegungen der SOL folgte. Das SPARTAC‐Energieteleskop war ein sensibles Instrument, das nur von wenigen Männern und Frauen an Bord der SOL wirklich beherrscht wurde. Zu ihnen gehörte die Chefin der Astronomischen Abteilung, Clya Fersjon. Mitarbeitern, die sich darüber ärgerten, daß sie SPARTAC zwar bedienen konnten, jedoch keine optimalen Ergebnisse erzielten, pflegte sie entgegenzuhalten: »Auch jemand, der gut mit einem Messer umgehen kann, ist deshalb noch lange kein Chirurg.« Es war dann jedesmal Kerness Mylotta, der seine enttäuschten Kollegen tröstete. Er war nicht nur der Stellvertreter von Clya Fersjon, sondern auch derjenige, der so virtuos wie kein anderer auf der Klaviatur von SPARTAC zu spielen wußte. Das lag daran, daß der Solaner nicht nur ein ausgezeichneter Astronom war, sondern auch ein Halbmutant, ein Hyperenergiesensor. Auf Hyperenergieanteile reagierte er so sensibel, als wäre sein Körper ein einziges organisches Meßinstrument von besonderer Güte. Mylotta wußte um seine außergewöhnliche Fähigkeit, hatte aber keine Erklärung dafür. Er sprach auch nicht darüber. Seine Umwelt akzeptierte ihn als SPARTAC‐Spezialisten. Kerness Mylotta war 1,92 m groß, sehr kräftig, fast bullig. Er war ungewöhnlich hellhäutig von fast albinotischem Weiß. Einen sehr scharfen Kontrast dazu bildeten die pechschwarzen Haare, die er halblang trug und über der Stirn mit einem schwarzen Tuch zusammengebunden hatte. Das kantige Gesicht wurde beherrscht von einem kurzgeschnittenen Bart, der Mund‐ und Kinnpartie bedeckte und von buschigen Brauen, die an der Nasenwurzel zusammenstießen und die grauen Augen fast zu überwuchern schienen. Die scharfrückige Nase wirkte wie aus Marmor gemeißelt, kalkige Haut spannte sich über leicht hervortretenden Wangenknochen. Ein Quadratdezimeter schneeweißer Haut, umrahmt von
schwarzem Haupthaar, schwarzem Bart und schwarzen Brauen ließen sein Antlitz dämonisch erscheinen. Dazu trug auch bei, daß er stets eine eng anliegende schwarze Kombination trug. Wer ihn näher kannte, wußte, daß der äußere Schein trog. Mitarbeiter und Vorgesetzte schätzten den vierundfünfzigjährigen Junggesellen als liebenswerten, netten Menschen, der immer entgegenkommend und hilfsbereit war. Niemand wußte dagegen, daß Mylotta genaugenommen ein Bordmutant war. Auf seiner Stirn befand sich ein dunkler Fleck, der an ein drittes Auge erinnerte. Dieses Geheimnis hatte er keinem offenbart, denn er hielt es für eine Art Kainsmal, dessen er sich schämte. Deshalb schlang er stets das schwarze Tuch um den Kopf, oder er verdeckte das äußerliche Zeichen der Mutation durch eine schwarze Mütze mit breitem Schirm, die er tief in die Stirn zog. Kerness Mylotta hatte in den ersten Stunden des 1.1.3754 das Licht der Welt erblickt, also siebenunddreißig Jahre vor dem Tag, als Atlan an Bord der SOL gelangt war. Damals waren die Bordmutanten nicht in die Gemeinschaft integriert worden, ganz im Gegenteil, die sogenannten Monster waren gejagt und getötet worden, wo immer man ihnen begegnete. Besonders die SOLAG hatte sich darin hervorgetan, vornehmlich Brüder der zweiten Wertigkeit, wie die Vystiden genannt wurden. Es waren schlimme Zeiten für alle, die anders waren. Mylottas Eltern hatten nicht zu den Behinderten gehört, sondern zu der großen Gruppe der Solaner, die ihr Dasein mehr schlecht als recht fristete. Kernessʹ Mutter war im zweiten Monat schwanger, als sie von Angehörigen der SOLAG entführt wurde. Ihr Gefährte, sein Vater, hatte versucht, das zu verhindern. Heldenmütig war er mit blanken Fäusten auf die Bewaffneten losgegangen, doch er bezahlte seinen Einsatz mit dem Leben. Vertina Milota‐Ibsend wurde in einen anderen Teil der SOL verschleppt und zum Dienst bei den Ferraten gepreßt. Ungeachtet
dessen, daß sie ein Kind unter dem Herzen trug, mußte sie Arbeiten verrichten, die gesundheitlich bedenklich waren und sie auch unkontrollierter Gammastrahlung aussetzten. Ein paar Freunde, die zu einer der Widerstandsgruppen gehörten, spürten sie auf und verhalfen ihr sieben Wochen vor der Entbindung zur Flucht. Als ihr Kind zur Welt kam – eben Kerness –, erkannte Vertina Milota‐Ibsend, die sich jetzt Eleo Mylotta nannte, daß die verhängnisvolle radioaktive Strahlung nicht ohne Einfluß auf das Ungeborene geblieben war. Trotzdem ließ sie ihren Sohn registrieren, um ihm ein Leben als Außenseiter zu ersparen, vermied aber geschickt entlarvende Informationen und Datenspeicherungen. Kerness Mylotta existierte also offiziell, war jedoch ein unbeschriebenes Blatt. So etwas war natürlich nur möglich bei dem Chaos, das damals auf der SOL herrschte. Vaterlos, doch wohlbehütet von einer fürsorglichen und zugleich wachsamen Mutter, wuchs er auf. An Liebe fehlte es ihm nicht, eher an Erfahrungen, denn sein Umgang wurde sorgfältig ausgewählt. Und seit er denken konnte, trug er einen Pagenschnitt, um das verräterische Mal auf der Stirn zu verdecken. Als seine Mutter mit neunundvierzig Jahren an den Spätfolgen der radioaktiven Strahlung starb, war der achtzehnjährige Junge auf sich selbst gestellt. Er wußte, daß er nicht völlig der Norm entsprach, aber Behinderte sah er zum erstenmal nach dem Tod von Eleo Mylotta alias Vertina Milota‐Ibsend. Es waren bedauernswerte Geschöpfe, deren Erbschäden und organische Fehlbildungen so gravierend waren, daß sie sich nicht kaschieren ließen. Sie taten Kerness leid, aber identifizieren konnte er sich nicht mit ihnen, er fühlte sich ihnen nicht zugehörig. Er hatte immer unter normalen Solanern gelebt, und für einen solchen hielt er sich auch – mit einer Einschränkung: Sie betraf seine besondere Fähigkeit und den augenähnlichen dunklen Fleck auf der weißen Haut. Sein Bemühen, dieses Geheimnis vor allen anderen zu verbergen,
hatte sein Verhalten zum anderen Geschlecht ebenso bestimmt wie ihn das Bild der allgegenwärtigen Mutter geprägt hatte. Es gab eine Menge Mädchen und Frauen in seinem Leben, mit denen er befreundet war, aber vor einer allzu engen Bindung schreckte er zurück. Sah man einmal von seiner Arbeit ab, war er ein ausgesprochener Einzelgänger, doch er haderte nicht mit seinem Schicksal, weil er in seiner Tätigkeit Erfüllung fand und mit seiner Umwelt ausgezeichnet auskam. In besonderem Maß galt das für seine Beziehung zu Clya Fersjon. Er schätzte sie nicht nur aufgrund ihres Wissens und Könnens, er mochte auch ihre joviale, manchmal burschikose Art und ihre Geradlinigkeit. Die Mutter von Zwillingen war dreizehn Jahre älter als Mylotta, keine ausgesprochene Schönheit, aber eine aparte Frau, auf der manches männliche Auge mit Wohlgefallen ruhte. Das zarte Persönchen war mit seinen 162 Zentimetern alles andere als ein Riese, doch das lag wohl daran, daß ihre Vorfahren aus dem Inselreich Ostasiens stammten, dabei war ein negroider Einschlag unverkennbar. Das schwarze Haar war nicht glatt, sondern lockig bis kraus, die Farbe der Haut war ein helles Braun, die Augen dagegen waren mandelförmig. Auch Clya Fersjon mochte ihren fähigen Stellvertreter, ohne zu ahnen, daß dieser sympathische Mann sie umbringen würde. Hätte man Kerness Mylotta gesagt, daß er seine Vorgesetzte ermorden würde, er hätte laut gelacht. Dabei stand das Datum schon fest: Es war der 5. Februar 3808. * .2.3808, Astronomische Sektion, Nachtphase. Üblicherweise war dieser Sektor der SZ‐1 während der Ruhepause ziemlich verwaist, doch angesichts der dramatischen Ereignisse der letzten Stunden und Tage bestand auch für diese Abteilung erhöhte
Alarmbereitschaft. Sechs Wissenschaftler, drei Techniker und zwei angehende Astronomen taten in der oberen Polkuppel Dienst, ferner eine Anzahl Roboter. Sie waren eine Art Eingreifreserve für den Fall, daß ein Defekt auftrat. Alle wichtigen Positionen waren besetzt. Clya Fersjon hatte die Einteilung vorgenommen, und obwohl es ihr aufgrund ihrer Stellung niemand übelgenommen hätte, wenn sie das Bett dem Dienst vorgezogen hätte, war sie auf dem Posten. Zusammen mit Hamilton Zwaykel hielt sie sich in der Auswertungszentrale des SPARTAC auf. Dem dunkelhäutigen Solaner fehlte zwar das Genie eines Kerness Mylotta, aber er war ein erfahrener Mann, der astronomische Daten nicht nur einfach registrierte, sondern auszuwerten und zu interpretieren verstand. Der Panoramabildschirm zeigte die Sonne Czett, jenes Gestirn also, das von dem Planeten Duusnorz umkreist wurde, auf dem die SOL gelandet war. Überraschungen hatte der Stern nicht mehr zu bieten, denn er war bereits vermessen und katalogisiert worden. Über die Monitoren und Datensichtgeräte flimmerten pausenlos Zahlenkolonnen, Formeln, Zeichen und graphische Darstellungen. Die Informationen hatten lediglich statistischen Wert, denn sie zeigten weder gravierende Veränderungen noch eine wie auch immer geartete Bedrohung an. Die Kontrolleuchten strahlten in beruhigendem Grün. Das bedeutete, daß alle technischen Systeme einwandfrei funktionierten und die Verbindungen zu den einzelnen Unterabteilungen und zur Ortungsabteilung intakt waren. Entspannt saßen die beiden Solaner in ihren Sesseln. »Das Abendessen war mal wieder eine Zumutung«, brummte Zwaykel. »Drei Menüs zur Auswahl gab es laut Aushang, dabei wette ich, daß alle drei aus demselben Kessel kamen und erst anschließend mit Aromastoffen angereichert wurden. Zwei schmeckten nach Fisch, das dritte Essen nach überhaupt nichts. Der
Leiter der Robotküche hat diesen Fraß wahrscheinlich noch nicht einmal probiert.« »Also, mir hat es geschmeckt«, sagte Clya Fersjon. Der Astronom richtete sich in seinem Sitz auf und blickte sie entgeistert an. »Ist das dein Ernst?« »Ja. Warum sollte ich dich anlügen?« »Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten …« »Eben.« Die Frau lächelte entwaffnend. »Vielleicht sind es deine Geschmacksnerven, die nicht der Norm entsprechen.« »Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.« Der Wissenschaftler rollte aufgeregt mit den Augen. »Jeder weiß, daß ich eine sehr sensible Zunge besitze. Ich …« Abrupt brach er ab und starrte auf eine Konsole, die übergangslos Rotlicht zeigte. »Was ist denn das?« »Die Anzeige einer Funktionsstörung.« »Das sehe ich, aber was hat das zu bedeuten?« »Daß entweder die Datenleitung unterbrochen ist oder daß das SCN‐Spiegelteleskop ausgefallen ist.« Die Solanerin stellte eine Interkomverbindung zum Observatorium her. »Aber das werden wir gleich genau wissen.« Der Bildschirm erhellte sich und zeigte das Gesicht einer wohlgenährten Frau, die etwa achtzig bis neunzig Jahre alt sein mochte. Sie war übertrieben stark geschminkt, ohne daß das Makeup die männlich‐herben Züge zu verdecken vermochte. »Ich wollte dich gerade anrufen«, schrillte die Dicke mit Fistelstimme. »Das …« »Ist das Teleskop defekt?« unterbrach Clya Fersjon. »Nein, es funktioniert einwandfrei. Die Fehlerquelle muß in der Datenübertragung zu suchen sein.« »Hast du schon entsprechende Maßnahmen eingeleitet?« »Nein, ich wollte dir nicht vorgreifen.« »Gut so, Victorin. Ich kümmere mich darum.« Die Chef‐Astronomin trennte die Verbindung und wählte einen
anderen Anschluß. Hang Vliegen, der verantwortliche Ingenieur, meldete sich sofort. Er grinste spitzbübisch. »Du brauchst nichts zu sagen, Clya, ich weiß Bescheid. Und es ist bereits ein Trupp unterwegs, um den Schaden zu beheben.« »Alle Achtung, du bist wirklich ein fixer Junge«, lobte die Solanerin. »Wie du siehst, haben selbst wir Techniker unsere lichten Momente.« Er tippte mit dem rechten Zeigefinger lässig an die Schläfe und wollte abschalten. »Moment, Clya, die ausgeschickten Roboter melden sich.« Hang Vliegen beugte sich zur Seite und lauschte. Das jungenhafte Grinsen machte dem Ausdruck des Erstaunens Platz. Stirnrunzelnd wandte er sich wieder an die Astronomin. »Es war kein technischer Defekt, sondern Sabotage. Irgend jemand hat einen Teil der Wandverkleidung demontiert und die Leitung zerschnitten.« Überrascht blickten sich die Wissenschaftler an. »Aber wer sollte so etwas tun?« »Ich weiß es nicht. Die Automaten sind unterwegs niemandem begegnet.« Der Ingenieur kratzte sich am Ohr. »Soll ich Meldung machen?« »Nein, Hang. Es ist ja kein gravierender Schaden entstanden, und Hayes und Atlan haben im Moment andere Sorgen.« »Wie du meinst – es ist ja deine Abteilung.« Vliegen schaltete ab, der Sichtschirm wurde dunkel. Gleich darauf zeigte die Kontrolleinheit für das Schmidt‐Cassegrain‐Norwood‐ Spiegelteleskop wieder Grünwerte. »Nur ein Verrückter kann so etwas tun!« sagte Hamilton Zwaykel im Brustton der Überzeugung. »Kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken, nachts durch das Schiff zu geistern und Leitungen zu kappen.« »Logisch ist eine solche Tat nicht«, stimmte Clya Fersjon zu. Nachdenklich rieb sie ihre Fingerspitzen aneinander. »Dennoch
muß der oder die Unbekannte sich etwas dabei gedacht haben, ausgerechnet diese Verbindung zu durchtrennen.« Der dunkelhäutige Mann drehte spielerisch seinen Sessel, dabei fiel sein Blick eher zufällig auf eine externe Eingabeeinheit für die Positronik der Astronomischen Abteilung. In fluoreszierenden Lettern stand auf dem Datensichtfeld: DIESE KONSOLE ARBEITET NICHT MIT DEM SYSTEM. Der Astronom gab einen erstickten Laut von sich. Alarmiert schreckte Clya Fersjon hoch. Ihr Blick folgte dem ausgestreckten Arm. Auf Anhieb erfaßte sie nicht nur die Störung als solche, sondern auch Art und Ursache. »Die Leitung ist intakt. Nach der Meldung zu urteilen muß die Verbindung zur Positronik gestört sein oder …« »Oder jemand hat von einer Sub‐Konsole aus diesen Anschluß blockiert«, ergänzte Zwaykel. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, sprang er auf und eilte zu einem anderen Terminal. Wie eigenständige Lebewesen huschten seine Finger über die Tasten. Die Solanerin beobachtete ihn stumm. An seiner Mimik konnte sie ablesen, daß er keinen Erfolg hatte. Sie behielt recht. »Die Blockierung läßt sich nicht aufheben. Sage Hang Bescheid, er soll seine Roboter in den Positronik‐Raum schicken.« Wortlos nahm Clya Fersjon den Interkom in Betrieb. Bevor der Ingenieur seiner Verwunderung über den erneuten Anruf Ausdruck geben konnte, sagte sie schnell: »Mich hat keineswegs die Sehnsucht nach dir übermannt, sondern ein weiterer Defekt.« Mit wenigen Worten erklärte sie, was vorgefallen war. »Du mußt deine Robbies noch einmal in Marsch setzen.« »Ihr haltet mich aber ganz schön auf Trab, dabei hatte ich mich auf eine ruhige Nacht eingerichtet.« »Wir haben erhöhte Alarmbereitschaft«, sagte sie mit süffisantem Lächeln. »Oder hast du das vergessen?«
»Nein.« Vliegens Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich habe das auf die anderen bezogen, nicht auf mich.« »Jetzt weißt du, daß das auch für dich gilt, und schon kommt bei dir Freude auf, wie ich sehe.« Griesgrämig desaktivierte der Techniker sein Gerät. Die Solanerin wußte, daß er weder beleidigt war noch sich über die Arbeit ärgerte – dazu kannte sie ihn schon zu lange und zu gut. Die gegenseitigen Sticheleien und Anspielungen gehörten einfach dazu, wenn Leute verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiteten. »Das kann kein Zufall mehr sein, Clya.« Zwaykel marschierte unruhig auf und ab. »Da ist jemand, der es darauf anlegt, die Astronomische Abteilung lahmzulegen. So ähnlich hat es vor rund zwei Monaten auch mit den Schrumpfmikrokoben angefangen.« »Ich denke, diese Gefahr ist ein für allemal beseitigt, Hamilton.« Der dunkelhäutige. Mann schien den Einwand nicht gehört zu haben. »Die Voraussetzungen sind ähnlich. Es geschah während der Ruhephase, und ich hatte Dienst. Zuerst waren es nur technische Defekte und kurzfristige Ausfälle, und dann … Ich darf gar nicht daran denken, sonst schnappe ich nachträglich noch über.« Er gestikulierte heftig. »Planeten, die einfach wachsen wie Lebewesen, Sonnen, die ihr Volumen vervielfachen und ihre Spektralklasse trotzdem nicht ändern – welcher Astronom verkraftet das geistig?« »Wir wissen doch mittlerweile, daß die Sterne und ihre Trabanten nicht vergrößert, sondern im Gegenteil die SOL verkleinert wurde, Hamilton.« »Natürlich, hinterher ist man ja immer schlauer, aber kannst du dir vorstellen, was ich durchgemacht habe? Die Ortungsabteilung hatte die gleichen Ergebnisse wie ich – zwei unabhängig und nach völlig anderen Kriterien arbeitende Systeme kommen zu einer übereinstimmenden Schlußfolgerung. Keiner kann ermessen, wie mir in diesen Stunden zumute war.« Er hatte sich in Eifer geredet. »Keiner. Du nicht, Kerness nicht und erst recht kein Psychologe,
denn alles, was ich wußte, hatte plötzlich keine Gültigkeit mehr.« Der Interkom‐Anschluß sprach an. Das stoppte nicht nur den Redefluß des Wissenschaftlers, sondern enthob seine Vorgesetzte auch einer Antwort. Als Clya Fersjon auf Empfang ging, stabilisierte sich das Bild von Hang Vliegen. »Fast habe ich den Eindruck, daß du einen persönlichen Feind hast, Clya, aber keine Sorge, dieser geheimnisvolle Jemand ist ein ziemlicher Dilettant, der sich vor der Technik zu fürchten scheint.« »Könntest du etwas deutlicher werden?« »Vorhin wäre es beispielsweise kein Problem gewesen, noch zwei Dutzend andere Kabel zu durchtrennen, doch das mysteriöse Wesen begnügte sich damit, eine Leitung zu kappen. Es hätte die gesamte Positronik lahmlegen können, doch aus unerklärlichen Gründen wurde nur die eine Verbindung gestört.« Der Ingenieur hob zwei eckige Behälter hoch, so daß sie von der Aufnahmeoptik erfaßt wurden. »Elektromagneten, verbunden mit Energieblöcken. Sie waren an Anschluß 7 abgelegt, an den der blockierte Terminal angeschlossen ist. Ziemlich primitiv, wie gesagt, aber wirksam, denn der Datenfluß wird selbst durch sonst vernachlässigbare elektromagnetische Felder beeinflußt.« »Bei einer kabellosen Verbindung wäre das nicht passiert«, ärgerte sich Zwaykel. »Nein, aber nicht alles, was technisch machbar ist, rechtfertigt auch den Aufwand.« Vliegen stellte die Quader ab. »Und du darfst nicht vergessen, wie arbeitsintensiv die Folgen sind. Eine Leitung ist wartungsfrei, erfolgt der Informationsaustausch per Funk, müssen Sender und Empfänger in zeitlichen Abständen inspiziert, vielleicht sogar justiert werden, zudem wird mehr Energie benötigt usw. Diesen Schaden konnten wir ganz einfach beheben, indem wir die Magneten entfernten, im anderen Fall wäre wohl der Sender beschädigt oder gar zerstört worden.« »Schon gut«, beschwichtigte der Astronom. »Ich sehe ein, daß auch schlichte Technik ihre Vorteile hat.«
»Manchmal soll das sogar für schlichte Gemüter gelten«, grinste der Techniker und verabschiedete sich. »Alter Spötter!« raunzte der dunkelhäutige Solaner, doch der Ingenieur hörte ihn nicht mehr. Er hatte kaum ausgesprochen, als der Interkom‐Anschluß erneut ansprach. Clya Fersjon ging auf Empfang und staunte nicht schlecht, daß es schon wieder Vliegen war. Diesmal grinste er nicht. »Es dürfte euch entgangen sein, daß sich jemand an eurem Laser‐ Hologramm‐Projektor zu schaffen gemacht hat, oder?« Wie von Fäden gezogen, ruckten die Köpfe der beiden Wissenschaftler herum. Der Anzeige war zu entnehmen, daß das Gerät in Betrieb genommen worden war, allerdings nicht von sachkundiger Hand, denn mehrere erforderliche Nebenaggregate waren nicht zugeschaltet worden. Da die Anlage mit maximaler Energie beschickt wurde, waren einige Impulstransformer ausgefallen. Zwaykel stieß eine Verwünschung aus und desaktivierte den Projektor. »Ist das Reparaturkommando schon unterwegs?« erkundigte sich die Chef‐Astronomin. Hang Vliegen nickte stumm. »Hör mal, Clya, fändest du es nicht endlich an der Zeit, die Zwischenfälle zu melden? Dahinter steckt doch Methode.« Der Ingenieur wirkte ungewöhnlich ernst. »Wir könnten die gesamte Astronomische Sektion von Robotern abriegeln lassen und systematisch durchkämmen.« Die Solanerin dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte sie: »Ich habe das schon ins Kalkül gezogen, mich aber dagegen entschieden. Meiner Meinung nach besteht zwischen diesen Vorgängen und dem äußeren Geschehen um Duusnorz und dem verschwundenen Mond Lootyndol kein Zusammenhang. Hinzu kommt, daß die angerichteten Zerstörungen relativ harmlos sind – es sind eher Dummejungenstreiche als wirkliche Sabotageakte.« »Zugegeben, aber wir können uns nicht einfach damit begnügen,
die Schäden zu reparieren, die ein Phantom anrichtet.« »Ich habe nicht die Absicht, die Sache auf sich beruhen zu lassen, doch ich will das Rätsel selbst lösen. Und ich bin sicher, daß mir das auch gelingt, wenn mir Kerness dabei hilft.« Der Techniker seufzte. »Da ich dich nicht umstimmen kann, hoffe ich wenigstens, daß der Unbekannte ein Einsehen hat und seine Aktivitäten einstellt.« Das geheimnisvolle Wesen tat Hang Vliegen den Gefallen nicht. Noch mehrmals mußten die Roboter ausrücken, um Instandsetzungen vorzunehmen. In den frühen Morgenstunden schließlich endete der Spuk so plötzlich, wie er begonnen hatte. Clya Fersjons Versuch, Licht in das Dunkel der mysteriösen Anschläge zu bringen, scheiterte, zumal sich auch Mylotta keinen Reim darauf machen konnte. Immerhin bestärkte er seine Vorgesetzte darin, richtig gehandelt und nichts gemeldet zu haben. Später ergab sich dann keine Gelegenheit mehr dazu, die nächtlichen Ereignisse zu untersuchen, weil sich die Ereignisse förmlich überschlugen. Der verschwundene Mond Lootyndol tauchte auf und raste auf den Landeplatz der SOL zu. Lediglich Hayesʹ schnellem und konsequenten Handeln war es zu verdanken, daß die Gefahr gebannt und der Himmelskörper vernichtet werden konnte, ohne großen Schaden anzurichten. Eine besondere Entdeckung gelang bei den Astronomen um Kerness Mylotta mit dem SPARTAC‐Energieteleskop: Sie konnten das Erscheinen des Mondes im Bild festhalten. Viel war nicht zu erkennen: Eine schwarze Fläche, darin ein paar Energiefäden und ein kleiner, löchriger Asteroid. Die Wissenschaftler vermochten damit nicht viel anzufangen, doch Atlan konnte einen Bezug dazu herstellen. Er erkannte in dem Mond den Planetoiden, auf dem er Anti‐ES in der Vergangenheit begegnet war, und den Raum, aus dem der Himmelskörper kam, identifizierte er als die Namenlose Zone.
Das war etwas, was die Astronomen mangels ausreichender Daten allenfalls sekundär beschäftigte. Die SOL befand sich auf dem Flug nach Anterf, und eigentlich bestand für Clya Fersjon kein Grund mehr, sozusagen außer der Reihe die Nachtwache in der Astronomischen Abteilung zu übernehmen, dennoch entschloß sie sich dazu. Sie wollte wissen, ob sich der Unbekannte wieder bemerkbar machte – und sie wollte ihn stellen. * Mitternacht war bereits vorüber, die Ziffern der Datumsanzeige waren auf den 5.2.3808 gesprungen. Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht hatte sie Victorin Voile zum Dienst in der SPARTAC‐ Auswertungszentrale eingeteilt, weil sie selbst mobil sein wollte. Von ihrem Vorhaben hatte sie niemandem etwas erzählt. Ausgerüstet war sie mit einem handlichen Funkgerät, das es ihr ermöglichte, den Sprechverkehr zwischen dem wachhabenden Techniker und den Wartungsrobotern abzuhören. Bisher war es auf der dafür reservierten Frequenz still geblieben. Lautlos wie ein Schemen huschte Clya Fersjon durch die menschenleeren, nur spärlich erleuchteten Gänge. Ganz bewußt bevorzugte sie jene Sektoren, die gestern verschont geblieben waren, in der Hoffnung, daß der geheimnisvolle Zerstörer sich von den gleichen Überlegungen leiten ließ – vorausgesetzt, er setzte sein Werk fort. Insgeheim rechnete sie damit, doch als es auf zwei Uhr zuging, war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher. Ein wenig müde lehnte sie sich an die Wand eines Korridors, der direkt unterhalb des Observatoriums vom zentralen Antigravschacht zu den einzelnen astronomischen Abteilungen führte. Nachdenklich blickte sie zur Decke empor. Daß jemand Schäden verursachte, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand wieder zu
beheben waren, war zumindest ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, daß er sich dafür ausgerechnet die Astronomische Sektion ausgesucht hatte. Nach allgemeinem Verständnis war einem Saboteur daran gelegen, sein zerstörerisches Tun so effektiv wie möglich zu gestalten, und das bedeutete, daß er sich nicht wahllos eine Abteilung vornahm, sondern diejenige, die für die Funktion des Ganzen am wichtigsten war und anschließend noch einmal abwog, welcher Anlage innerhalb dieser ohnehin schon wichtigen Einrichtung besondere Bedeutung zukam. Der geheimnisvolle Täter hatte sich von völlig entgegengesetzten Kriterien leiten lassen, was nicht gerade für eine verstandesmäßige Orientierung sprach. Völlig unlogisch aber war es, sich mit einem einmaligen Auftritt zu begnügen, nur – war das für diese Art von Intelligenz nicht die Norm? Wirres Denken, wirres Handeln – Antilogik? Was lag näher als die Gedankenassoziation Antilogik – Anti‐ES? Unbewußt schüttelte die Solanerin den Kopf. Nein, diese Wesenheit steckte mit Sicherheit nicht hinter den Anschlägen, dessen war sich Clya Fersjon sicher. Eine Kreatur, die Anti‐ES gehorchte, würde sich nicht mit solchen Lappalien begnügen oder so dilettantisch vorgehen, außerdem bewies der Einsatz Lootyndols deutlich, daß die negative Superintelligenz gezwungen war, die SOL von außen anzugreifen. Ein feiner Summton ließ die Astronomin aus ihren Gedanken aufschrecken. Elektrisiert schaltete sie das Funkgerät ein und preßte es an ihr linkes Ohr. »… Defekt beseitigt. Der Zentral‐Antigrav kann wieder ohne Gefahr benutzt werden. Diagnose für statistische Auswertung: Kode 1‐Rot, Schlüssel 10, Untergruppe 1, Einstellung 0, Steuerungskoeffizient 0. Datei AZ, Ziffer 999. Einspielung: Beschädigung der plombierten Etagensteuerung durch Gewalteinwirkung von außen, ein durch unsachgemäße Handhabung herbeigeführter Kurzschluß der Gravitationssensoren
IML‐709 verbunden mit der Zerstörung der Überwachungseinheit QSRT‐97.835‐LK‐23‐P. Der dadurch bedingte Ausfall der Schwerkraft innerhalb eines Stockwerks hätte für die Benutzer des Antigravs keine nachteilige Folgen gehabt. Die Alarmierung erfolgte um 2.12.19 Uhr, Eintreffzeit 2.14.03 Uhr. Die Reparatur wurde um 2.19.11 Uhr beendet, defekte Teile wurden ausgetauscht und das Warnsystem getestet. Die anschließende Funktionsprüfung ergab, daß alle Systeme einwandfrei arbeiten. Gerätetyp ZA‐3‐B4713‐J‐6, Ausführung Beta. Standort: SZ‐1, AA, Ebene 3. Koordinaten …« Die Frau hatte genug gehört und schaltete ab. Für sie persönlich gab es keinen Zweifel daran, daß der geheimnisvolle Unbekannte wieder zugeschlagen hatte, allerdings hatte er diesmal in Kauf genommen, daß Menschen zu schaden kamen – oder wußte er, daß in Wahrheit gar nichts passieren konnte? Das wiederum stand in deutlichem Widerspruch zum technischen Verständnis, das der zweifellos Verrückte bisher gezeigt hatte. Von zwiespältigen Gedanken erfüllt, eilte die Wissenschaftlerin zum nächsten Verteiler. Das technische Kauderwelsch des Automaten interessierte sie nicht, sagte ihr auch nichts – außer der Bezeichnung SZ‐1, AA, Ebene 3: Es bedeutete, daß sich der Täter ein Stockwerk tiefer betätigt hatte. Bisher hatte es der nächtliche Zerstörer stets vermieden, zweimal hintereinander auf dem gleichen Deck Schäden anzurichten. Es war der einzige Anhaltspunkt, den Clya Fersjon hatte. Daraus folgernd erhob sich die Frage: Wechselte er nach oben oder nach unten? Sie entschied sich für ersteres und postierte sich so, daß sie in die Transportröhre einsehen konnte, ohne selbst gleich aufzufallen. Das kleine Funkgerät hatte sie weggesteckt und desaktiviert, um sich nicht durch den Meldesummer zu verraten. Die zierliche Frau spürte, daß ihre Hände feucht wurden, der Herzschlag beschleunigte sich, unterschwellige Furcht erfüllte sie, doch nun gab es kein Zurück mehr. Innerlich verwünschte sie ihren Leichtsinn, nicht wenigstens einen Paralysator mitgenommen zu
haben. Wenn der Unbekannte handgreiflich wurde, blieb ihr nur die Flucht. Mit angehaltenem Atem stand sie da und lauschte. War da nicht ein Geräusch, ein Scharren, wie es entstand, wenn Metall über Metall fuhr? Clya Fersjon konzentrierte sich ganz auf ihr Gehör, aber der Laut wiederholte sich nicht. Sie beugte sich etwas vor – und zuckte zurück wie von der Tarantel gestochen. Im Antigravschacht war eine dunkle Gestalt aufgetaucht. Die Astronomin fühlte ein Prickeln auf der Haut – das mußte der geheimnisvolle Täter sein! Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Mit einer elastisch wirkenden Bewegung verließ der Unbekannte das aufwärtsgerichtete Transportfeld und wandte sich zielstrebig nach links, ohne sich umzusehen. Unwillkürlich preßte die Solanerin beide Hände vor denen Mund. Das Gesicht hatte sie nicht erkennen können, weil es von einer Kopfbedeckung beschattet wurde – es war eine Mütze mit breitem Schirm, wie sie Kerness trug. Und es war nicht nur die Mütze, die sie an ihren Stellvertreter erinnerte, sondern auch die hünenhafte, bullige Statur, der für ihn charakteristische Gang. Der Verdacht, der sich ihr förmlich aufdrängte, ließ sie im ersten Augenblick schwindeln. Sollte wirklich Mylotta der Täter sein? Alles in ihr sträubte sich dagegen. Welches Motiv sollte dieser so sympathische Mann haben, diese Verrücktheiten zu begehen? Und dann die stümperhafte Ausführung – sie lag weit unter seinem geistigen und technischen Niveau. Nein, Kernessʹ unvermutetes Auftauchen mußte einen anderen Grund haben, einen sehr plausiblen – er wollte auch den Übeltäter fangen. Ja, so mußte es sein. Schon wollte sie ihn anrufen und sich zeigen, unterließ es dann aber, weil ihre Neugier geweckt war, wie Kerness das Problem lösen wollte. Die Astronomin beschloß, ihm heimlich zu folgen und ihn zu beobachten.
Auf leisen Sohlen schlich Clya Fersjon hinter ihrem Mitarbeiter her. Sehr gelegen kam ihr dabei, daß Mylotta sich keine Mühe gab, besonders vorsichtig zu sein, er drehte nicht einmal den Kopf. Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen. Die Frau mußte nicht erst die Bezeichnung lesen, um zu wissen, welcher Raum dahinter lag: Es war ihr eigenes kleines Reich, ein Mittelding aus Büro, Labor und Arbeitszimmer. Was hatte Kerness vor? Wollte er hier dem Unbekannten eine Falle stellen, ihm auflauern? Warum ausgerechnet hier? Der Solaner zog ein kleines Kästchen aus seiner Kombination und preßte es gegen die positronische Verriegelung. Der Durchlaß öffnete sich, automatisch ging das Licht an. Für Sekundenbruchteile schien der dunkle Schatten der breitschultrigen, schwarzgekleideten Gestalt den ganzen Flur auszufüllen, dann war er hinter der Tür verschwunden, die sich selbsttätig wieder schloß. Die Frau huschte heran und preßte ihr Ohr gegen das nicht sonderlich massive Schott. Nicht der kleinste Laut war zu hören, so daß sie sich entschloß, nachzusehen, was ihr Mitarbeiter da drin trieb. Sie legte eine Hand auf die Kontaktplatte und schloß die Augen, um durch die taghelle Beleuchtung des Arbeitszimmers nicht geblendet zu werden. Geräuschlos glitten die Flügelhälften auseinander. Sie öffnete die Augen wieder – und blieb wie vom Donner gerührt auf der Schwelle stehen. Mylotta hockte auf dem Boden und wandte ihr den Rücken zu. Neben ihm stand ein mit dem Spektroheliographen verbundenes Analyse‐ und Wiedergabegerät, dessen Verbindung zur Zentraleinheit gerade von dem Astronomen gekappt wurde. »Kerness, was tust du denn da?« Der Solaner ließ die primitive Zange fallen, sprang auf und drehte sich um. Aus schmalen Augenschlitzen starrte er seine Vorgesetzte an, dann setzte er sich in Bewegung und war mit wenigen Schritten
bei der Frau. »Kerness, was ist denn? Warum sagst du nichts?« stieß sie furchtsam hervor. Der Hüne gab keine Antwort. Clya Fersjon schrie auf und wollte weglaufen, doch Mylotta riß sie zurück. Seine Rechte schoß vor und traf sie mit solcher Wucht am Kopf, daß sie einen Genickbruch erlitt. Die zierliche Solanerin war auf der Stelle tot. 2. Als Clya mir am Morgen des 4. Februars von den Vorkommnissen in der Astronomischen Abteilung berichtete, wußte ich bereits davon. Ich kannte auch den Täter – ich selbst hatte die Schäden verursacht. Stundenlang war ich durch meine eigene Sektion gegeistert und hatte Leitungen durchtrennt, Terminals gestört und Geräte lahmgelegt. Es war kein Anfall von Vandalismus, auch keine Bewußtseintrübung oder eine andere psychische Störung, nein, ich war dazu gezwungen worden. Es läßt sich nur schwer in Worte fassen, wie das geschah – es war eine Beeinflussung von innen und außen zugleich … Es kam ganz plötzlich über mich. Ich hatte mich in meiner Kabine bereits zur Ruhe begeben und genoß diese Dämmerphase zwischen Wachsein und den Vorboten des Schlafs, die völlige Entspanntheit von Körper und Geist, als ich unvermittelt aus diesem behaglichen Zustand herausgerissen wurde. Bevor ich wußte, wie mir geschah, erfüllte mich eine Aura der Niedertracht, der Schlechtigkeit und des Hasses, der Zerstörung und der Feindseligkeit, daß ich erschauderte. Da war auf einmal nichts Menschliches mehr in mir, meine Gefühle waren ausschließlich negativ, mein Verstand war verdrängt und hatte keine Macht mehr über den Körper.
Instinktiv versuchte ich, das Böse zu bekämpfen und niederzuringen, doch es gelang mir nicht. Ich erschrak zutiefst, als ich nicht einmal einen positiven Gedanken zustande brachte. Ich formulierte Liebe, und ich fühlte Haß, ich dachte an Freundschaft und verspürte Feindschaft, Freude geriet mir zu Wut, Glück zu Not, Geborgenheit zur Verdammung. Elend löste in mir Verzückung aus, Schmerz Wohlbehagen, Neid, Quälerei, Vernichtung, Unfriede, Mißgunst, Rachsucht empfand ich mit wohligem Schauer. Dann wurde es still in mir, die bösen Empfindungen verblaßten. Dann, ganz plötzlich, als sich schon glaubte, der Spuk wäre vorbei, legte sich ein ungeheurer Druck auf Stirn und Schläfen, gleichzeitig griff eine eiskalte Hand nach meinem Herzen und preßte es zusammen. Ich wollte aufschreien, mit Händen und Beinen um mich schlagen, um mich aus dieser mörderischen Umklammerung zu befreien, aber ich konnte mich nicht rühren. Die Todesangst drohte mir die Sinne zu rauben, zugleich verspürte ich, daß sich ein Teil von mir an dieser grauenhaften Furcht weidete und sie begierig in sich aufnahm. Ich weiß nicht, ob ich das Bewußtsein verlor, ich erinnere mich nur noch, daß die gräßliche Angst und der furchtbare Druck verschwunden waren. Zitternd lag ich da, ausgepumpt, erschöpft, ich schwitzte und fror abwechselnd. Ich lauschte in mich hinein, furchtsam tastend, bereit, meine geistigen Fühler sofort wieder zurückzuziehen, wenn sie das absolut Negative berühren sollten, doch da war nichts mehr von dem Bösen, das Macht über mich hatte. Ich war wieder ich selbst, Kerness Mylotta, der Astronom, der freundliche Mensch, der das Leben positiv sah. Vorsichtig bewegte ich die Lippen und formte lautlos das Wort »Liebe«. Es gelang mir, es behielt seinen Sinn, es veränderte sich nicht, ich spürte eine warme Regung in mir. Der Begriff stabilisierte sich, verselbständigte sich, wurde zu einer ganzen Kette von
positiven Empfindungen: Vertrauen, Glück, Innigkeit, Verbundenheit, Zärtlichkeit. Ich war unendlich erleichtert. Etwas hatte versucht, mein Ich zu unterjochen, etwas unsagbar Böses, doch ich hatte ihm widerstanden, wenn ich auch nicht wußte, wie mir das gelungen war. Eigentlich seltsam – den Versuch einer geistigen Beeinflussung hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Wie eine körperliche Berührung etwa oder als mächtigen psionischen Impuls, dem ein Lebewesen nichts entgegenzusetzen hatte, ein Befehl, dem man gehorchen mußte. Wenn von Völkern die Rede war, die Anti‐ES beeinflußt hatte, dann hatte ich das mit Geschöpfen ohne eigenen Willen verbunden, mit einer Art von biologischen Robotern. Sie konnten sich frei bewegen, aber nur im Rahmen ihres Programms. So war es nicht, dessen war ich nun sicher, doch wie war es dann? Ich wußte es nicht, denn bei mir war der Versuch einer Beeinflussung gescheitert. Und ich hatte keinem anderen Paroli geboten als dem so übermächtigen Anti‐ES. Daß dieses Wesen hinter dem Angriff steckte, stand für mich außer Zweifel. Aber warum war es ausgerechnet an mir gescheitert? Ob es mit meiner besonderen Fähigkeit zusammenhing, daran, daß ich kein normaler Solaner war? Hatte meine Mutation es abgewehrt? Welchen Wert sollte ausgerechnet ich für Anti‐ES haben? Nach allem, was ich von dieser Wesenheit wußte, überließ sie nichts dem Zufall. Es konnte daher kein Versehen sein, daß ich konditioniert werden sollte, aber aus welchem Grund? Ich gehörte nicht zur Schiffsführung und nicht zu Atlans Team und hatte auf die Geschicke der SOL so gut wie keinen Einfluß. Vergeblich zermarterte ich mir das Hirn. Noch während ich nach befriedigenden Antworten suchte, muß ich eingeschlafen sein, doch der Geist fand keine Ruhe. Wirre Träume plagten mich und schreckten mich schließlich aus dem Schlummer. Es war 23.56 Uhr –
viel zu früh, um aufzustehen, aber trotz aller Müdigkeit wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Grübelnd lag ich auf meiner Liege, als ich auf einmal das unbestimmte Gefühl hatte, aufstehen zu müssen. Ich kämpfte dagegen an, doch der innere Zwang war stärker. Kaum hatte ich mich erhoben, da kam das Böse mit Macht über mich, der Drang zur Zerstörung wurde auf einmal übermächtig. Ich kämpfte mit eisernem Willen dagegen an, krallte mich an einem Sessel fest, bis mir der Schmerz die Tränen in die Augen trieb – und zog mich an im Bewußtsein, verloren zu haben. In ohnmächtigem Zorn erkannte ich, daß ich hinters Licht geführt worden war. Während ich mich gerettet wähnte, war ich in Wirklichkeit schon beeinflußt und gezwungen, einer fremden Macht zu gehorchen. Ich sah noch aus wie Kerness Mylotta, bewegte mich wie Kerness Mylotta, sprach wie Kerness Mylotta, aber ich war es nicht mehr selbst – ich war eine Kreatur des Bösen, ein Handlanger von Anti‐ES. Ich war nicht vierundfünfzig Jahre alt geworden, um anschließend ein Dasein als seelenlose Hülle zu führen, als ein Mensch, der seines freien Willens beraubt war. Bemüht, nicht an das zu denken, was ich vorhatte, griff ich in Ermangelung einer anderen Waffe zu einem Messer, um mich selbst umzubringen. Das heißt, ich wollte es, aber es blieb bei dem Versuch. Als ich die Hand ausstreckte, versagten meine Muskeln einfach ihren Dienst, und obwohl ich vor Anstrengung zitterte, gelang es mir nicht, die Finger zu krümmen. Entsetzt erkannte ich, daß ich mir nicht einmal mehr selbst den Tod geben konnte – ich mußte lachen, weil es ein negatives Überwesen so wollte. Ich gab meinen Widerstand auf. Innerlich gebrochen kam ich dem Drang nach, die Astronomische Abteilung aufzusuchen. Dort mußte ich immer wieder dem unheilvollen Zwang folgen, etwas zu zerstören, wurde gleichzeitig aber auch dahingehend beeinflußt, mich zwischendurch zu verbergen, um nicht festgesetzt und erkannt
zu werden. Die Schäden, die ich anrichten mußte, waren keineswegs gravierend. Das machte mir ein wenig Hoffnung, daß ich doch noch nicht so vollkommen beherrscht wurde, wie es den Anschein hatte. In den frühen Morgenstunden ließ der geistige Druck völlig nach, er verschwand ganz einfach, als hätte er nie existiert. Unangefochten erreichte ich meine Unterkunft und warf mich aufs Bett. Ich ekelte mich vor mir selbst und schämte mich für das, was ich getan hatte – zu tun gezwungen worden war. Atlan, der High Sideryt und fast einhunderttausend Artgenossen kämpften ums Überleben, um die Unversehrtheit der SOL – und ich fiel ihnen in den Rücken. In meiner Verzweiflung faßte ich den Entschluß, mich Clya zu offenbaren. Mir war klar, daß die Verantwortlichen gar nicht anders konnten, als mich zu töten, aber mit diesem Konflikt konnte ich ohnehin nicht weiterleben. Von Erleichterung erfüllt, schlief ich ein. Schon vor meinem offiziellen Dienstbeginn traf ich in der Astronomischen Abteilung ein. Geduldig hörte ich meiner Vorgesetzten zu, doch als ich ihr das mitteilen wollte, was mich betraf und bewegte, erlebte ich eine Art Schock. Ich wußte, was mit mir los war, ich wußte, was ich getan hatte, aber es gab so etwas wie eine Gedanken‐ und Willensblockade, die verhinderte, es auszusprechen. Ich fühlte mich elend und krank, dennoch versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen und wie immer meine Arbeit zu tun – noch besser zu tun als vorher. Wie gewohnt kümmerte ich mich um SPARTAC und fuhr die Aufzeichnungen ab. Besonderes gab es nicht zu sehen, und ich wollte schon die Speicherung anordnen, als ein Ausschnitt meine Aufmerksamkeit erweckte. Seltsame Flecken waren zu erkennen, die praktisch über ganz Bars‐2‐Bars verteilt waren. Da die Aufnahmen vorher und nachher nichts mehr davon zeigten, kam ich zu dem Schluß, daß ein Fehler in der Energiemodulation der
SPARTAC‐Projektoren dafür verantwortlich war. Den Verursacher dafür kannte ich. Es gelang mir nicht, diese Bilder auf Anhieb zu deuten und zu erfassen, was es mit den Flecken auf sich hatte. Bevor ich mich näher damit beschäftigen konnte, erfaßte das SPARTAC‐Energieteleskop eine akute Gefahr: den Mond Lootyndol. Er sorgte nicht nur bei uns, sondern wahrscheinlich überall innerhalb der SOL für Aufregung. Der High Sideryt erwies sich einmal mehr als der richtige Mann am richtigen Platz. Dank seiner Tatkraft und Entschlossenheit verpuffte dieser heimtückische Angriff nahezu wirkungslos. Als ich ein paar Minuten Luft hatte, kümmerte ich mich noch einmal um die Aufzeichnung, genauer gesagt, ich kodierte sie mit meiner Benutzer‐Identifikation. Sah man einmal von SENECA und der Schiffsführung ab, war sie damit jeglichem Zugriff entzogen. Daß Clya und Hamilton dieser Ausschnitt entgangen war, fand ich angesichts der nächtlichen Ereignisse nicht verwunderlich. Die Stunden vergingen wie im Flug, und ehe ich michʹs versah, traf meine Ablösung ein. Ich wechselte mit dem Kollegen ein paar belanglose Worte und zog mich in meine Kabine zurück. Mir stand weder der Sinn nach Gesellschaft noch nach Essen – ich hätte nicht einen Bissen hinuntergebracht. Nun, da ich nicht mehr gefordert wurde, kamen sie wieder, diese schrecklichen Gedanken, die den ganzen Tag wie sprungbereite Raubtiere darauf gelauert hatten, mich zu überfallen. Du bist ein Knecht, raunte es in mir. Wehre dich! dröhnte es in meinem Kopf, und eine andere Stimme wisperte: Gegen Anti‐ES kann man sich nicht auflehnen. Du mußt es akzeptieren, sonst tötet es dich.« »Es ist mir verdammt egal!« schrie ich unbeherrscht. »Ich fürchte den Tod nicht, im Gegenteil, ich will sterben!« Entnervt ließ ich mich in einen Sessel sinken. Diese inneren Stimmen gaben keine Ruhe, Verstand, Gefühl und Selbsterhaltungstrieb stritten miteinander.
»Aufhören, hört ihr? Schweigt auf der Stelle, ich befehle es euch!« Dein Körper gehört dir nicht mehr! Diese Stimmen machten mich noch rasend. Ich mußte sie zum Schweigen bringen, sie betäuben. Betäuben, das war die Lösung, nur wie sollte ich das anstellen? Wenn ich einen Medo um ein starkes Schlafmittel bat, würde er mich untersuchen, und da ich organisch gesund war, würde er mir das Medikament verweigern. Plötzlich fiel mir ein, daß ich irgendwo noch einen Behälter mit Alkoholkonzentrat haben mußte. Ein Buhrlo hatte mir die Flasche vor etlichen Jahren geschenkt, weil ich ihm einen Gefallen getan hatte. Alkohol – das war es! Augenblicklich machte ich mich auf die Suche und wurde nach wenigen Minuten fündig: »Synthoschnaps – 51% Vol.« stand auf dem schon ein wenig verblaßten Etikett. Die Zahl sagte mir nichts. Ich öffnete das bauchige Gefäß und trank einen ordentlichen Schluck. Gleich darauf hatte ich das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Hustenanfälle schüttelten mich, ich würgte und japste, röchelnd rang ich nach Luft, mein Blick war tränenumflort. Endlich gelang es mir, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ächzend ließ ich mich in einen Sessel fallen. Bei allen Raumgeistern, welch ein Gift! Und da sollte es tatsächlich Menschen geben, die dieses Gesöff freiwillig zu sich nahmen. Ich betrachtete die Flasche in meiner Rechten. Sie enthielt einen Liter einer wasserhellen Flüssigkeit, von der mittlerweile zwei Fingerbreit fehlten. Am liebsten hätte ich den Synthoschnaps wieder im Schrank deponiert, aber wenn ich von der Verpackungseinheit auf wirksame Dosis schloß, mußte ich wohl oder übel noch einige Kubikzentimeter in mich hineinschütten. Das Brennen war verschwunden, vom Magen breitete sich im ganzen Körper eine wohlige Wärme aus. Vielleicht war das Zeug doch nicht so übel, wie es den Anschein hatte. Mit Todesverachtung nahm ich den nächsten Schluck. Diesmal hielten sich die Reaktionen
in Grenzen. Noch ein tiefer Zug, und schon war die Flasche zu einem Viertel geleert. Ich fühlte mich auf einmal leicht und unbeschwert, fast körperlos. Die Stimmen in mir wisperten immer noch, doch sie störten mich nicht mehr. Sollten sie doch quatschen. Als ich mir vorstellte, was sie jetzt für blöde Gesichter machen würden, weil ich sie ausgetrickst hatte, mußte ich lachen. Moment mal, seit wann hatten Stimmen Gesichter? Ich kicherte. Wenn ich einem Psycho‐Medo berichten würde, daß ich in mir Stimmen hörte, die Gesichter hatten – der würde glatt überschnappen und sich positronisch in die Luft sprengen! Vor Vergnügen schlug ich mir auf die Schenkel und lachte, bis mir die Tränen kamen. Welch ein Spaß! Wo kam denn plötzlich das zweite Bett her? Und auch das Schott war auf einmal doppelt da! Das ging nicht mit rechten Dingen zu, also entschloß ich mich, nachzusehen und stand auf. Verflixt, was war denn mit Cara Doz los? Alles drehte sich, dabei steuerte sie sonst doch immer ganz manierlich. Ob sie Liebeskummer hatte? Oder Kreislaufstörungen? Was war mit Hayes los? Warum merkte er nicht, daß seine Emotionautin die SOL in ein Karussell verwandelte? Verdammt, meine Beine waren ja auf einmal aus Gummi – und störrisch dazu, sie gehorchten mir nicht, zumindest nicht wie gewohnt. Mit den Gravitatoren war auch etwas nicht in Ordnung, denn ich hatte Mühe, mein Gleichgewicht zu bewahren. Mich abstützend, kämpfte ich mich zu dem geheimnisvollen Doppelbett vor und ließ mich einfach darauffallen. Ich landete unsanft. Irgendwie hatte ich mein Lager weicher in Erinnerung. Als ich unter mich sah, erkannte ich, daß ich auf dem Boden lag, dann blickte ich nach vorn und stellte fest, daß sich die Liege direkt vor mir befand – nur eine Liege, die aber seltsam unscharf war. Ihre Konturen tanzten auf und ab. Wie war so etwas technisch überhaupt machbar? Die Antwort darauf mußte ich wissen, nur – mein Kopf war auf
einmal wie ein leerer Speicher. Das Gedächtnis schaltete auf stur, und der Verstand mußte sich irgendwo außerhalb meines Körpers tummeln. Sollte dieser Idiot doch machen, was er wollte, ich würde auch ohne ihn zurechtkommen. Er hatte mich sowieso in meiner bittersten Stunde schmählich im Stich gelassen und sich vor diesem lächerlichen Anti‐ES verkrochen. Das würde ich ihm nie verzeihen! Wer war schon Anti‐ES? Irgendeine Wesenheit, die zu feige war, sich zu zeigen. Sie kämpfte heimtückisch aus dem Hinterhalt heraus, bediente sich anderer Völker und strotzte nur so vor Hinterlist. Sie glaubte, einen Solaner wie mich rekrutieren zu können, aber da hatte sie sich gründlich getäuscht. »He, Anti‐ES, wo bist du? Warum läßt du dich nicht blicken? Hast du etwa Angst vor mir?« Ich erhielt keine Antwort. »Hör zu, du hast verloren. Kerness Mylotta hat keine Angst vor dir, hast du das verstanden? Und ich lasse mich weder von dir beherrschen noch werde ich dir gehorchen – niemals!« Wie ich nicht anders erwartet hatte, schwieg diese Kreatur und schluckte die Beleidigung einfach. Zweifellos war dieses vermeintliche Überwesen eine Kriechnatur, ein Duckmäuser, der kuschte, wenn man ihm nur ordentlich Bescheid sagte. Plötzlich erinnerte ich mich an den gestrigen Abend und an die vergangene Nacht. Gegen meinen Willen war ich als Saboteur unterwegs gewesen. Anti‐ES hatte mich zu seinem Werkzeug gemacht, und ich hatte tun müssen, was es verlangte. Der Gedanke, daß es heute versuchen würde, mich wieder unter seine Knute zu zwingen, reizte mich zu schallendem Gelächter. Ich hatte nicht nur getrunken, ich war auch betrunken – ach was, stockbesoffen war ich. Es sollte mich mal in diesem Zustand losschicken … Kurz nach Mitternacht wurde ich wach. Warum lag ich denn vollständig bekleidet vor meinem Bett? Wo kam denn der Alkohol her?
Auf einmal wußte ich es wieder, und im gleichen Augenblick spürte ich auch wieder diesen Drang zur Zerstörung. Keine Spur von einem Rausch, mein Kopf war klar wie immer, mein Gang sicher, also nützte auch der Schnaps nichts. Bewußter hätte mir Anti‐ES nicht vor Augen führen können, daß ich verloren hatte. Resignation bemächtigte sich meiner, doch sie wurde von einem anderen Gefühl überlagert. Nein, es war keine Empfindung, es war diese Beeinflussung. Sie zwang mich, meine Unterkunft zu verlassen und in die Astronomische Abteilung zu gehen – und zu zerstören. Meines eigenen Willens beraubt, machte ich mich auf den Weg. * Nachdem ich den Antigrav beschädigt hatte, wartete ich ab, bis die Roboter wieder verschwunden waren, dann benutzte ich den Transportschacht, um zu jener Ebene zu gelangen, die die Arbeitszimmer beherbergte. Es war nicht meine eigene Entscheidung, ich mußte es einfach tun, ohne zu wissen, warum. Ein Ziel wäre so gut oder so schlecht gewesen wie das andere, aber mir blieb nichts selbst überlassen. Eine Art von Impuls drängte mich dazu, jenen Raum aufzusuchen, der Clyas kleines Reich war. Die positronische Verriegelung des Schottes zu überwinden, war ein Kinderspiel, da ich als Stellvertreter der Chef‐Astronomin über einen Kodegeber verfügte, der mir innerhalb der Abteilung Zutritt zu jedem Raum verschaffte. Automatisch ging das Licht an. Mit einem Blick erfaßte ich, daß alles so war wie immer. Ohne es steuern zu können, marschierte ich zu dem mit dem Spektroheliographen verbundenen Analyse‐ und Wiedergabegerät, stellte es auf den Boden und durchtrennte mit einer einfachen Zange die Anschlußleitung, »Kerness, was tust du denn da?«
Ich kannte die Stimme nur zu gut. Sie gehörte Clya, meiner direkten Vorgesetzten. Vor Freude hätte ich am liebsten aufgeschrien. Das Spiel von Anti‐ES war aus, sie hatte mich nicht nur überrascht, sondern auch als den geheimnisvollen Täter entlarvt. Erleichtert ließ ich das Werkzeug fallen, sprang auf und drehte mich um. Impulsiv wollte ich auf sie zulaufen und sie umarmen, doch dazu kam es nicht. Etwas schien in mir zu explodieren. Und dann erfüllte mich auf einmal diese Aura der Niedertracht und des Hasses. Jede positive Regung in mir erstickte, das Böse triumphierte – und ich mußte ihm gehorchen. Du mußt unentdeckt bleiben! Sie hat dich gesehen, und sie wird dich verraten! Das darf nicht geschehen! Bringe sie zum Schweigen! Ich weiß nicht, ob diese Stimme in mir war oder durch den Raum dröhnte, jedenfalls war dieser Befehl so mächtig, daß alles andere keine Gültigkeit mehr besaß. BRINGE SIE ZUM SCHWEIGEN! Automatisch setzte ich mich in Bewegung und war mit wenigen Schritten bei der zierlichen Frau. »Kerness, was ist denn? Warum sagst du nichts?« BRINGE SIE ZUM SCHWEIGEN! Clya schrie auf und wollte weglaufen, doch ich bekam sie zu fassen. BRINGE SIE ZUM SCHWEIGEN! Ich war nicht mehr Herr meiner selbst. Ohne es bewußt zu wollen, ballte sich meine Rechte zur Faust, schoß nach vorn und traf Clya am Kopf. Das Geschrei verstummte, ihr Körper wurde schlaff und entglitt mir. Erst als ich mich über sie beugte, erkannte ich, daß sie tot war. Ich hatte sie umgebracht! ES MUSSTE SEIN! SCHAFFE SIE FORT! Wie betäubt nahm ich den leblosen Körper auf den Arm und trug ihn aus dem Zimmer. Meine Schritte wurden zu einer kleinen Halle gelenkt, die als Ersatzteildepot diente. Mit meinem Kodegeber verschaffte ich mir Zutritt und legte die Tote neben einem Regal ab.
Gleich daneben verharrte in einer Nische ein desaktivierter Wartungsroboter. IHR TOD MUSS WIE EIN UNFALL AUSSEHEN! In meinem Bewußtsein bildeten sich detaillierte Anweisungen, denen ich nachkommen mußte. Ich machte mich über die abgeschaltete Maschine her und begann, mit dem vorhandenen Werkzeug das Programm zu verändern. Zuerst verankerte ich eine automatische Zeitsteuerung, die den Robot täglich zwischen 24.00 und 5.00 Uhr einschaltete und koppelte dieses Programm mit dem Befehl, daß sich der Automat eine halbe Stunde vor Ablauf der Aktivphase hierher zurückzog. Dann kam der schwierigere Teil. Ich mußte die Steuerung so manipulieren, daß die Maschine nichts mehr reparierte, sondern im Gegenteil zerstörte und beschädigte, ohne daß die Demolierungen wirklich gravierend waren. Gleichzeitig mußte ich darauf achten, daß die Umprogrammierung nicht als solche offensichtlich wurde, sondern durch einen Defekt von Chips und Schaltkreisen hervorgerufen worden war. Als ich diese Arbeit beendet hatte, war ich schweißgebadet. Niemand, dessen war ich mir sicher, würde erkennen, daß das fehlerhafte Verhalten der Maschine bewußt herbeigeführt worden war. Daß der Roboter über eine Abschaltautomatik verfügte, war durchaus nicht so ungewöhnlich, denn die Mehrzahl war nicht ständig im Einsatz, sondern nur zeitweilig, vornehmlich dann, wenn die Kontroll‐ und Wartungsarbeiten den üblichen Ablauf nicht störten. Dafür, wer die Zerstörungen angerichtet hatte, gab es nun eine plausible Erklärung, nun mußte ich noch Clyas Tod als Unfall darstellen, und dabei war ich auf die Hilfe des Roboters angewiesen. Ich befahl ihm, den Antigrav dieses Decks und der beiden darunterliegenden Ebenen lahmzulegen, zugleich präparierte ich den Memospeicher dahingehend, daß meine Anweisung nach Ausführung gelöscht und durch Pseudoinformationen ersetzt
wurde. Ohne innere Anteilnahme nahm ich die leblose Gestalt auf und folgte dem Automaten, der vorausschwebte. Als wir die Transportröhre erreichten, zerstörte die Maschine mit ihren Werkzeugarmen blitzschnell die Steuereinrichtung und verschwand im Schacht nach unten. Da sie über eigene Antigraveinrichtungen verfügte, was sie nicht auf das Gravitationsfeld angewiesen. Ich wartete fünfundvierzig Sekunden, dann warf ich die Tote in den Antigravschacht. Wie ein Stein fiel sie in die Tiefe. Rasch zog ich mich zurück, verbarg mich in meinem Arbeitszimmer und kehrte nach einer Weile zur Transportröhre zurück. Die Schäden waren bereits behoben, der Antigrav wieder intakt. Ungesehen gelangte ich in meine Kabine zurück, zog mich hastig aus und legte mich hin. Gewissensbisse hatte ich nicht. Der Leichnam hatte sich nicht mehr im Schacht befunden, also mußte ihn der Robottrupp gefunden und geborgen haben. Ich rechnete damit, daß man mir in Kürze, wahrscheinlich noch in dieser Nacht, einige Fragen stellen würde. Darauf war ich vorbereitet. * Der Tod von Clya Fersjon war Hayes gemeldet worden, der eine Untersuchung anordnete. Bjo Breiskoll nahm sich der Sache an. Durch ihn erfuhr die Schiffsführung erstmals von dem geheimnisvollen Unbekannten, der die Astronomische Sektion unsicher gemacht hatte. Diesen Jemand hatte man dingfest machen können – es war ein Wartungsroboter, dessen Programm durcheinandergeraten war. Für eine Manipulation fand man keine Anhaltspunkte. Die Aussagen von Hamilton Zwaykel, Hang Vliegen und Kerness Mylotta ergaben übereinstimmend, daß Clya Fersjon die Anschläge
selbst aufklären wollte. Unter diesem Aspekt ergab sich folgende Rekonstruktion: Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sich die Chef‐Astronomin auf die Lauer gelegt, um den Täter zu stellen. Das mußte ihr wohl auch gelungen sein, doch der Automat hatte versucht, durch den Antigravschacht zu fliehen und vorher die Steuerung der oberen Ebene zerstört. Ob Clya Fersjon das im Eifer der Verfolgung übersehen hatte oder das Risiko eingegangen war, ein Stockwerk im freien Fall hinter sich zu bringen, mußte dahingestellt bleiben. Unterstellte man letzteres, so war die Solanerin mit Sicherheit davon ausgegangen, ein Deck tiefer vom Gravitationsfeld sanft gestoppt und aufgefangen zu werden. Da aber die Maschine auch die entsprechenden Einrichtungen der beiden nächsten Etagen zerstört hatte, stürzte die Frau ab und mußte dabei so unglücklich gegen die Schachtwand oder einen Ausstieg geprallt sein, daß sie sich das Genick gebrochen hatte. Da sowohl die geheimnisvollen Vorgänge als auch der Tod von Clya Fersjon aufgeklärt waren, wurden keine weiteren Nachforschungen betrieben, zumal ein Telepath der Sache nachgegangen war. Die Schiffsführung wäre alles andere als beruhigt gewesen, wenn sie gewußt hätte, das Anti‐ES den frischgebackenen Chef‐ Astronomen zu einer Art Trojanischem Pferd umfunktioniert hatte. Ungeachtet dessen, daß Mylotta zum Zeitpunkt des Verhörs unbeeinflußt war, hätte der Katzer ohnehin nichts herausgefunden – die »anderen« Gedanken des Wissenschaftlers entzogen sich selbst dem fähigsten Mutanten. Für einen Telepathen war Kerness Mylotta ein ganz normaler Solaner, nicht jedoch für Anti‐ES. Es hatte noch große Pläne mit dem Hyperenergiesensor. 3.
Clyas Tod machte mir sehr zu schaffen, besonders aber, daß sie durch meine Hand gestorben war. Ich hatte sie auf dem Gewissen, doch das wußte niemand, weil ich es nicht sagen konnte. Zeit meines Lebens würde mir dieses düstere Geheimnis auf der Seele liegen. Wenn ich wenigstens dafür büßen mußte, aber nein, als wenn man mich verhöhnen wollte, hatte man mich quasi zur Belohnung auch noch zum Chef‐Astronomen gemacht – mich, ihren Mörder. Um den quälenden Selbstvorwürfen wenigstens tagsüber zu entgehen, vergrub ich mich in meine Arbeit. Ich war es Clya und allen anderen schuldig, daß ich meine ganze Kraft zum Wohl der SOL gab, denn Schaden hatte ich ja genug angerichtet. Und ich war sicher, daß irgendwann die nächste Persönlichkeitswandlung eintreten würde. Ich mußte die Zeit nutzen, in der ich unbeeinflußt war. Erst jetzt fand ich die Muße, mich intensiv mit der SPARTAC‐ Aufzeichnung zu beschäftigen, die diese merkwürdigen Flecken zeigte. Es waren in Bars‐2‐Bars insgesamt neununddreißig. Die üblichen Methoden der Astronomie und der Astrophysik versagten, als es darum ging, sie einzustufen. Daß es mir dennoch gelang, sie gewissermaßen zu vermessen und in ein Koordinatenraster zu bringen, überraschte mich in doppelter Hinsicht. Ich wußte von meiner besonderen Sensibilität, was Hyperenergieanteile betraf, aber ich hatte diese Fähigkeit bisher immer instinktiv und nie bewußt oder gar gezielt eingesetzt. Nun, da ich mir den Kopf darüber zerbrochen hatte, was die Flecken bedeuten mochten und ich sämtliche Register meines Könnens gezogen hatte, um hinter das Geheimnis zu kommen, hatte ich entdeckt, daß der dunkle Fleck auf meiner Stirn so etwas wie ein »drittes Auge« war – es befähigte mich zu den Leistungen eines Hyperenergiesensors. Auf einmal empfand ich dieses Mal weniger als Makel denn als eine großartige Erweiterung meiner Möglichkeiten, von der ich in Zukunft regen Gebrauch machen würde. Mir war, als wäre mir eine neue Dimension erschlossen
worden. In Ermangelung einer besseren Definition nannte ich diese Punkte »Dimensionsknoten«. Im Dialog mit der Positronik der Astronomischen Abteilung versuchte ich, theoretische Daten für ein hypothetisches Modell zu erstellen, doch mit dieser Art Problemkonfrontierung war der Rechner überfordert. Daß es so war, merkte ich erst, als SENECAS Symbol auf dem Display erschien. Natürlich wußte ich, daß die Separat‐Positronik mit der Bio‐Positronik zusammenarbeitete, aber es kam selten genug vor, daß sich SENECA wie in diesem Fall direkt einschaltete. Mit seiner wohlmodulierten Stimme sagte er: »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei diesen Dimensionsknoten um die Ausstrahlung der Nabel von Bars‐2‐Bars handeln kann, die in die Namenlose Zone führen. Ich habe alle Angaben gespeichert und meine Erkenntnisse an Atlan weitergeleitet.« Mir schwirrte der Kopf. Namenlose Zone – das war doch dieser geheimnisvolle Raum, aus dem nach Aussage des Arkoniden der verschwundene Mond Lootyndol aufgetaucht war. Und in dieser Dimension, die sich uns entzog, sollte sich auch Anti‐ES aufhalten. Ich jubilierte innerlich. Sollte es ausgerechnet mir mit meinem Hinweis gelungen sein, uns alle unserem Ziel ein kleines Stückchen nähergebracht zu haben? »Es war eine weise Entscheidung, dich zum Chef‐Astronomen zu machen, Kerness. Leute wie dich kann die SOL nie genug haben.« SENECAS Lob machte mich stolz, doch dann ging mir der – bestimmt nicht so gemeinte – Doppelsinn des letzten Satzes auf. Ich mußte an das denken, was ich getan hatte. Clya tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Wie weggewischt war auf einmal die Freude über meinen Erfolg. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund und nur noch eine Wunsch: Möge es mir und den Solanern gelingen, Anti‐ES das heimzuzahlen, was es mir und der SOL angetan hatte.
* Die SOL war startklar. Noch immer befand sie sich auf Anterf. Bei Atlan und Tyari war ein seltsames Objekt aufgetaucht, das fast pausenlos sein Aussehen veränderte, aber nie größer wurde als 30 mal 50 Zentimeter. Es nannte sich Porter und behauptete, von Wöbbeking‐NarʹBon geschickt worden zu sein. Nach Porters Aussage war Wöbbeking nicht bereit, direkt in Bars‐ 2‐Bars zu erscheinen. Logischerweise konnten die beiden den Wahrheitsgehalt dieser Information nicht nachprüfen, doch was dieses »Ding« das mal wie ein Gerät, dann wieder wie eine Maschine oder ein Lebewesen aussah, über Sanny, Kik und Asgard zu berichten wußte, klang glaubhaft. Man hatte vermutet, daß es sogenannte Nabel zur Namenlosen Zone gab – Porters Geschichte bestätigte das. Ausführlich erzählte er, wie es Sanny und Kik ergangen war; wie Asgard sich absetzen und fliehen konnte, als die beiden anderen verschleppt wurden und in die Gewalt der menschenähnlichen Gyranter gerieten. Mit Hilfe eines anderen Gefangenen namens Pork, der sich selbst als entkommenen Multi bezeichnete, gelang den Festgesetzten die Flucht. Ein Transmitter beförderte sie an einen anderen Ort, der sich im wesentlichen vom Ausgangspunkt nur dadurch unterschied, daß hier alles viel gewaltiger war. Und wieder machten Gyranter Jagd auf die Entkommenen. Pork war es, der etwas spürte – die Verzahnung der Intelligenzen Tyar und Prezzar. Mehr noch, vermochte er zu berichten, daß beide in einer Riesenanlage festgehalten wurden und gegeneinander kämpften, weil sie sich gegenseitig für Helfer von Anti‐ES hielten, das sie inzwischen als den Urheber erkannt hatten. Da der Prezzar‐ Instinkt wußte, daß Tyar ein Wesen aus sich abgesondert hatte, das ihm helfen sollte – Tyari –, schuf er eine Art Gegenstück. Das
merkwürdige, menschenähnliche Wesen war Mjailam. Noch unfertig, geisterte er durch die Station und wurde ebenfalls von den Gyrantern verfolgt, dennoch fand er genug Zeit, sich zu vervollkommnen. Das Zusammentreffen mit Mjailam nutzte nicht nur Sanny, Kik und Porter, sondern auch diesem. Als unschätzbarer Vorteil erwies sich die Fähigkeit von Prezzars Ableger, sich ähnlich wie ein Teleporter fortzubewegen. Die Häscher hatten dadurch immer das Nachsehen, doch als sie ihren Herrn anriefen und Anti‐ES eingriff, war das Schicksal der vier besiegelt. Pork wurde getötet, und bevor es den drei anderen an den Kragen ging, konnte die Molaatin Mjailam dazu überreden, zu fliehen und sich in Bars‐2‐Bars umzusehen. Sie konnte nur hoffen, daß er das tat, da sie und Kik gefangen und mit einer geistigen Fessel zusammengekettet wurden. Äußerlich unverändert, bildeten sie nun eine Einheit, die gezwungen war, eng zusammen zu handeln und keinen eigenen Willen mehr besaß. Als eine Art Anti‐Friedenstruppe wurden sie von der Wesenheit losgeschickt, um dafür zu sorgen, daß es zu keiner Verständigung zwischen den Beneterlogen und den Anterferrantern kam. Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Geistig aneinandergekettet, tauchten plötzlich Sanny und Kik auf. Der Aktivatorträger erfuhr, daß sie sich unverwundbar machen konnten wie die Schattenwesen – die Gyranter. Zeit, um das nachzuprüfen, blieb dem Aktivatorträger nicht. Sannykik vernichtete Porter und verschwand spurlos. Während sich der Arkonide darin bestärkt sah, eine dieser Nabelstationen aufzuspüren, hatte Tyari ganz andere Vorstellungen, wie man zum Erfolg kommen konnte. Sie war davon überzeugt, daß das Problem nur dann gelöst werden würde, wenn sie sich mit Mjailam verbündete, um Tyar und Prezzar gemeinsam zu befreien. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte sie sich mit einem Gleiter ab, und erstmals merkte Atlan, daß er sein Herz an Tyari verloren hatte.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – verzichtete er auf eine Verfolgung. Die Wissenschaftler und Ortungsspezialisten wurden angewiesen, sich darauf zu konzentrieren, bei dem bevorstehenden Flug nach unbekannten Stationen im Innern von Monden oder Planeten zu suchen. Und dann, kurz bevor die SOL im Begriff war, Anterf zu verlassen, platzte Mylotta respektive SENECA mit der Nachricht von den Dimensionsknoten dazwischen. * »Mit Kerness haben wir wirklich eine guten Griff getan«, freute sich Hayes. »Als Chefastronom scheint er ein wahrer Teufelskerl zu sein.« Der Aktivatorträger nickte zustimmend. »Ja, seine Entdeckung erspart uns eine mühselige und zeitraubende Suche. Und ich glaube nicht, daß SENECA sich irrt mit seiner These, daß diese Dimensionsknoten die mysteriösen Nabel sind, die in die Namenlose Zone führen. Wir sind Anti‐ES wieder ein kleines Stück näher gekommen.« Du hast noch nicht gewonnen. Anti‐ES wird nicht nur versuchen, die SOL auf Distanz zu halten, sondern auch danach trachten, sie zu vernichten, warnte der Logiksektor. Dessen bin ich mir durchaus bewußt, gab der Unsterbliche gedanklich zurück. Lyta Kunduran, die wie immer den Dialog mit der Bio‐Positronik führte, trat an den Tisch und breitete eine bedruckte Folie aus, die SENECA erstellt hatte. »Ich denke, wir warten noch, bis der Fachmann kommt«, schlug der High Sideryt vor. Als wäre damit ein Stichwort gefallen, betrat Kerness Mylotta die Zentrale. Er sah sich suchend um. Der narbengesichtige Solaner
erhob sich und winkte ihm. Der Astronom wurde per Handschlag begrüßt und gebeten, Platz zu nehmen. Ohne Umschweife kam Breckcrown Hayes gleich zur Sache. »Wie du dir sicher denken kannst, verstehen wir auch ein wenig von der Materie, aber da dir nicht nur der Ruhm als Entdecker gebührt, sondern du auch der unbestrittene Experte auf der SOL bist, liegt uns daran, gewisse Erläuterungen von dir direkt zu bekommen.« Mylotta hob abwehrend die Hände. »Wir sollten von meiner Person nicht soviel Aufhebens machen. Ich habe nur meine Pflicht getan und eine Beobachtung ausgewertet, so gut es ging. Die Hauptarbeit damit hatte meine Positronik und wohl auch SENECA, der ja schließlich auch die entsprechenden Schlüsse daraus gezogen hat. Wenn einem Ehre gebührt, dann ihm.« »In dieser Beziehung bin ich zwar anderer Meinung als du, doch ich verstehe deine Beweggründe. Beginnen wir also, mit der Arbeit.« Der Wissenschaftler studierte den Plan kurz, dann deutete er auf einen der neununddreißig besonders markierten Punkte des Koordinatennetzes von Bars‐2‐Bars. »In der Nähe dieses Knotens ist die SOL in das Normaluniversum zurückgefallen, als sie damals aus Xiinx‐Markant kam.« Suchend glitt sein Finger über die Folie und verharrte schließlich auf der Stelle. »Wir befinden uns ungefähr hier. Wie ihr seht, ist eines dieser Gebilde nicht weit entfernt – überschlägig berechnet etwa zwischen einhundert und einhundertfünfzig Lichtjahre. Es ist kein Problem, das genau zu ermitteln.« »Das kann SENECA tun«, meinte Atlan. »Schon geschehen«, sagte »Bit«, die über ein Steuergerät nach wie vor direkt mit der Bio‐Positronik verbunden war. »Es sind exakt 128 Lichtjahre.« »Sind Informationen über diesen Sektor gespeichert?« Wieder einmal mehr bewies die Stabsspezialistin, daß sie nicht
umsonst den Spitznamen »Bit« bekommen hatte. Ein Monitor erhellte sich, der direkt von der Bio‐Positronik mit Daten beschickt wurde. SONNENSYSTEM OHNE EIGENNAME, UNBEWOHNT, KATALOG‐NUMMERNBEZEICHNUNG B‐727/M. STERN DER SPEKTRALKLASSE M. DURCHMESSER DES ZENTRALGESTIRNS 3,657 MILLIARDEN KILOMETER, DICHTE 1/85.000 g/cm3. OBERFLÄCHENTEMPERATUR 3.500 GRAD KELVIN, INNENTEMPERATUR 875 MILLIONEN GRAD. UMKREIST WIRD DIE SONNE VON 13 KLEINPLANETEN, DEREN RADIUS ZWISCHEN 1.280 UND 2.890 KM BETRÄGT. DETAILINFORMATIONEN … Es folgte eine Reihe von Angaben, die die Masse betrafen, die siderische Umlaufzeit, die Neigung des Sonnenäquators gegen die Ekliptik, Daten über die Trabanten und was der Dinge mehr waren. Hayes winkte ab. »Vorerst reicht es mir, zu wissen, daß wir es mit einem der seltenen Roten Riesen und unbewohnten Welten zu tun haben.« Er warf dem Aktivatorträger einen prüfenden Bück zu. »Ich denke, wir sollten versuchen, dem Rätsel des Knotens auf die Spur zu kommen.« »Das ist ganz in meinem Sinn.« Der narbengesichtige Solaner grinste. »Denkst du, daß ich das nicht gewußt habe, Atlan?« »Doch, aber ich war sicher, daß du dich so und nicht anders entscheiden würdest«, sagte der Arkonide lächelnd. Hayesʹ Grinsen vertiefte sich. Über die Rundspruchanlage der Zentrale gab er die Anweisung zum Start. Das Ziel hieß B‐727/M. * Ich war froh, als ich mich endlich in meine Kabine zurückziehen
konnte. Es war nicht meine Art, mich wichtig zu machen, und ich hatte es noch nie gemocht, im Mittelpunkt zu stehen. Nun war ich durch meine Entdeckung zu einer Art astronomischen Supermann geworden, zu einem wissenschaftlichen Mitarbeiter von Atlan und Breckcrown Hayes. Übereinstimmend hatten sie mir erklärt, wie wertvoll meine Arbeit für sie und die SOL wäre. Zurück konnte ich nun nicht mehr. Als Berater der Schiffsführung war ich herausgerissen aus der Anonymität der Gemeinschaft, ich war nicht mehr einfach ein Mann, der seine Pflicht tat, sondern jemand, der über das Schicksal anderer mehr oder weniger mitbestimmte. Daß die Solaner wissen wollten, wer dieser Mensch war, der da so unerwartet in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten war, konnte ich verstehen, doch ich fühlte mich alles andere als wohl in meiner Haut, zumal ich wußte, welche Schuld ich auf mich geladen hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu erfrischen, und ging in die Naßzelle. Automatisch streifte ich das Stirntuch ab und ließ kaltes Wasser über mein Gesicht laufen. Das kühle Naß tat mir gut. Wie einfach wäre doch das Leben, wenn man all das, was uns bedrückte und quälte, so von sich abwaschen könnte. Den Kerness Mylotta, der ich noch vor wenigen Tagen war, würde es nie mehr geben. Ob man mir das schlechte Gewissen ansah? Spiegelte sich die innere Not, in der ich mich befand, in meiner Physiognomie wider? Forschend betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel – und erschrak zutiefst. Der dunkle Fleck auf meiner Stirn hatte sich verändert. Er war größer geworden und sah fast aus wie ein richtiges Auge – durchscheinend und von dunkelblauer Farbe. Mir schwindelte, die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Reflexhaft suchte ich nach einem Halt und krallte mich irgendwo fest. Seit ich denken konnte, hatte das Mal das gleiche Aussehen gehabt, und nun hatte es sich umgewandelt. In was, warum, welche Ursache gab es dafür? Mein Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren, was die Augen
gesehen hatten, suchte jedoch gleichzeitig nach einer plausiblen Erklärung. Taumelnd tappte ich, mich immer wieder abstützend, in den Wohnraum zurück und ließ mich in einen Sessel fallen. Die Gedanken überschlugen sich förmlich, aber sie waren chaotisch, ohne Logik. Kerness Mylotta! Ich zuckte regelrecht zusammen, so stark und mächtig war die Stimme, die meinen Namen rief. Nein, das war kein Ruf, jedenfalls kein akustischer, diese Stimme erklang in mir, in meinem Innern, sie erreichte direkt mein Gehirn. Mein konfuser Geist schwieg plötzlich und zog sich in sich selbst zurück. Kerness Mylotta! hallte es nach. Anti‐ES! Du mußt Anti‐ES seien! Ja, ich bin es, und ich spreche über einen Nabel zu dir, die du zu meinem Ärgernis erkannt und ihre Positionen an die Solaner und an Atlan verraten hast. Du mußt das auf der Stelle rückgängig machen! Lösche alle Daten über die Nabel und sorge dafür, daß Atlan keine weiteren Nachforschungen anstellt! Aber das ist … Ich dulde keinen Widerspruch! Du hast zu gehorchen, und du wirst gehorchen, Kerness Mylotta, weil ich es so will! Der geistige Impuls verstummte. Ich fühlte mich leer und ausgebrannt, aber da war dieser ultimative Befehl, dem ich mich nicht widersetzen konnte. Jede Faser meines Körpers drängte mich, das zu tun, was die Wesenheit verlangt hatte, mein eigener Wille war regelrecht ausgeschaltet, dabei war mein Wahrnehmungsvermögen in keiner Weise beeinträchtigt. Mechanisch band ich mir das Stirntuch um und verließ meine Unterkunft. Der schummrig erleuchtete Korridor war menschenleer, niemand beobachtete, daß ich meine Kabine verließ. Auf leisen Sohlen huschte ich davon und bog nach einer kurzen Strecke in einen anderen Flur ab. Orientierungsschwierigkeiten hatte ich nicht – den Weg zur Astronomischen Sektion hätte ich selbst mit
geschlossenen Augen gefunden. Trotz aller Heimlichkeit ließ sich die Begegnung mit einigen Solanern nicht vermeiden. Ein Pärchen war darunter, das sich selbstvergessen an den Händen hielt und mich nicht beachtete, zwei Techniker, die flüchtig grüßten, aber auch einige Bekannte, denen die Neugier im Gesicht geschrieben stand. Um einem Schwätzchen zu entgehen, täuschte ich durch geschäftige Eile und scheinbare Selbstvergessenheit dringende Aufgaben vor. Tatsächlich blieb ich unbehelligt. Dieses Abblocken von Kontakten war nicht meine eigene Entscheidung, ich mußte es einfach tun. Der Befehl, die Daten zu löschen, besaß höchste Priorität, ohne daß mir das ständig eingehämmert wurde – ich hatte das dringende Bedürfnis, es zu tun. Nein, es war anders, fordernder: Ich war wie ein Süchtiger, der spürte, daß die Wirkung der Droge nachließ, und danach trachtete, erneut in den Besitz des Rauschmittels zu gelangen. Mein Verstand analysierte das klar und deutlich, nur – ich konnte diese Erkenntnis nicht verwerten. Anti‐ES hatte meinem Willen seinen Willen aufgepropft – und dem hatte ich nichts entgegenzusetzen. Vielleicht hätten mich die Mutanten von diesem unseligen Zwang befreien können, aber es war mehr eine hypothetische Überlegung. Immerhin hatte sich Bjo Breiskoll nach Clyas Tod ausführlich mit mir unterhalten, ohne daß er etwas bemerkt hatte. Das war natürlich nur eine Annahme, aber sicherlich hätte man mir andernfalls nicht das Vertrauen entgegengebracht, quasi als Berater der Schiffsführung zu fungieren. Eigentlich war es merkwürdig, daß ich einerseits beeinflußt war und etwas tun mußte, was ich nicht wollte, andererseits blieb ich der Realität verbunden und konnte objektiv urteilen. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes eine gespaltene Persönlichkeit, gezwungenermaßen Opfer und Täter in Personalunion. Genaugenommen war ich jemand, der von der allgemeinen Norm abwich, aber ich hatte mich immer als Solaner gefühlt. Und nun war
ich unversehens aus meinem beschaulichen Dasein als Wissenschaftler herausgerissen worden. Wie gerne hätte ich zu den Durchschnittsmenschen gehört, aber Anti‐ES hatte ein Monstrum aus mir gemacht, einen Mörder und Saboteur, während Atlan und Hayes mich als so etwas wie einen Super‐Astronomen betrachteten. Noch akzeptierte mich die Gemeinschaft, noch wußte sie nichts von meiner Doppelfunktion, aber es würde der Tag kommen, an dem ich entlarvt oder sterben würde. Die Vorstellung, den Tod zu finden, möglicherweise schon in wenigen Tagen, machte mich nicht bange, ich wünschte ihn fast herbei. Stets hatte ich zum Wohl der SOL und ihrer Besatzung gearbeitet, tat es noch, doch dann wurde ich gezwungen, meine Solidarität ins Gegenteil zu verkehren und Freunde und Artgenossen zu bekämpfen. Warum ausgerechnet ich? Ich war ein einfacher Astronom, ein kleines Rädchen im Getriebe, was konnte ich Anti‐ES nützen? Ein Stabsspezialist, jemand vom Atlan‐Team oder der High Sideryt selbst hatten von ihrer Funktion her schon ganz andere Möglichkeiten als ich. In Gedanken versunken betrat ich die SPARTAC‐Zentrale. Außer Sur Dersau hielt sich niemand in dem Raum auf. Der schlacksige Zwei‐Meter‐Mann lümmelte sich in einem Sessel herum und hob lässig die Hand, als er mich erblickte. »Hallo, Kerness. Hast du Schlafstörungen oder treibt dich die Bürde der Verantwortung in diese heiligen Hallen?« »Weder noch.« Mir war nicht nach Scherzen oder Unterhaltung zumute. »Ich will noch einen Dialog mit der Positronik führen, um einige Details abzuklären.« »Das kann ich für dich tun«, bot Dersau an. »Du mußt mir nur sagen, was du willst, dann kannst du dich aufs Ohr legen und hast die Daten morgen früh zur Verfügung.« Surs Kollegialität kam mir alles andere als gelegen, dabei duldete das, was ich tun mußte, keinen Aufschub. »Danke, Sur, aber die Informationen sind in drei Minuten
abgefragt. Es würde weit mehr Zeit in Anspruch nehmen, bis ich dir erklärt hätte, was ich benötige.« »Dein neuer Job scheint mit einer Menge Streß verbunden zu sein.« »Es geht«, sagte ich lapidar und steuerte die Kommandokonsole an. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß er mich beobachtete. Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, rief die mit meiner Benutzer‐Identifikation kodierte Datei auf und löschte sie. Das war eine Sache von fünfzig, sechzig Sekunden. Die betreffenden Speicher der Astro‐Positronik waren nun leer und enthielten keinerlei Angaben mehr über die Dimensionsknoten. Wider Willen verspürte ich eine gewisse Befriedigung, gleichzeitig wurde ich unruhig. Einen Teil des Befehls hatte ich ausgeführt, doch eben nur einen Teil, und die Zeit drängte. Ich erhob mich aus meinem Sitz und strebte zum Ausgang. »Das war ja wirklich kurz und schmerzlos. Noch nicht einmal den Drucker hast du benutzt.« »Auch das Oberstübchen vermag einiges zu speichern.« Dersaus Schwatzhaftigkeit ging mir auf die Nerven. »Gute Nacht, Sur.« »Gute Nacht, Kerness.« Ich hatte das Schott fast erreicht, als er mir zurief: »Übrigens: Wenn ich wieder mal während der Nacht Dienst habe und du das Bedürfnis verspüren solltest, hier aufzukreuzen, sage mir rechtzeitig Bescheid.« »Warum?« »Weil du mich sonst vielleicht schlafend vorfinden würdest, und das muß einen denkbar schlechten Eindruck bei dir hinterlassen«, kicherte Dersau. Erleichtert atmete ich auf. Im ersten Augenblick hatte ich befürchtet, daß er Verdacht geschöpft hatte, aber seine Worte bewiesen, daß ihm nur daran gelegen war, eins seiner Späßchen loszuwerden, über die nur er selbst lachen konnte.
Ich machte, daß ich hinauskam, bevor der Witzbold vom Dienst weitere Proben seines Könnens gab. Als ich auf dem Gang stand, stutzte ich plötzlich. Noch vor einer Viertelstunde hatte ich den Tod förmlich herbeigesehnt, gewünscht, daß ich entlarvt wurde, und nun hatte ich mich auf einmal geängstigt, durchschaut worden zu sein. Dieser elementare Umschwung der Gefühle verunsicherte mich, doch zum Nachdenken kam ich nicht. Wieder wurde ich innerlich bedrängt, endlich tätig zu werden. Immer deutlicher manifestierte sich der Befehl, und diesmal wurde auch mein Verstand miteinbezogen, ohne daß ich es verhindern konnte. Noch einmal hatte ich einen lichten Moment, so etwas wie einen Gedankenblitz, der mir deutlich machte, daß Anti‐ES mich endgültig unterjocht hatte, dann gewann die Beeinflussung völlig die Oberhand. Automatisch setzte ich mich in Bewegung, um zu dem Ziel zu gelangen, das mir vorgegeben wurde … * SENECAS Alarm riß nicht nur Atlan und Hayes aus dem wohlverdienten Schlaf, sondern auch die Stabsspezialisten, die keinen Dienst hatten, sowie Breiskoll und Nockemann. Hals über Kopf verließen sie ihre Unterkünfte und fanden sich in der Zentrale ein, wo sie von einem aufgeregten Gallatan Herts empfangen wurden. Einige hatten sich in der Eile nur etwas übergeworfen, andere waren in ihre Kombinationen geschlüpft und nestelten an den Verschlüssen herum, um sie zu schließen. Den Vogel schoß der Galakto‐Genetiker ab. In Alarmen ungeübt und nicht gerade der Schnellste, hatte er sich damit begnügt, seine alte abgeschabte Jacke über den Pyjama zu streifen und die ausgetretenen Freizeitsandalen
anzuziehen. Niemand hatte sich die Zeit genommen, Toilette zu machen. Die Haare waren ungekämmt und standen wirr von den Köpfen ab, Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen der Männer, rotgeränderte Augen und übermüdete Gesichter verrieten, daß der Körper noch nicht zu seinem Recht gekommen war, sich zu regenerieren. Allein der Arkonide machte einen frischen, ausgeruhten Eindruck, doch das war bei einem Aktivatorträger auch nicht weiter verwunderlich. »Auf SENECA ist ein Anschlag verübt worden.« Die Worte des zwergenhaften, leicht verwachsenen Solaners schlugen unter den Versammelten wie eine Bombe ein. Schlagartig verschwand die Müdigkeit, keiner dachte mehr an Schlaf. Ein Anschlag auf die biopositronische Hyperinpotronik! Allein der Gedanke daran war so ungeheuerlich, daß es sogar dem hartgesottenen Kämpfer Atlan für einen Moment die Sprache verschlug, nicht jedoch Blödel, der seinem Herrn und Meister wie ein Schatten gefolgt war. »Hatten der oder die Täter Erfolg? Wenn ja, ist SENECA noch funktionsfähig? Art und Ausmaß der Schäden, welche Maßnahmen wurden eingeleitet?« Herts schnappte nach Luft und starrte den Roboter an wie einen Geist. »Hat er jetzt hier das Sagen?« stieß er krächzend hervor. »Du sollst nicht immer so vorlaut sein, Blödel!« rief der Wissenschaftler seinen positronischen Assistenten zur Ordnung. »Ich bitte mir ein bißchen mehr Respekt aus.« »In deinem Aufzug wirkst du nicht gerade wie eine Autoritätsperson, Chef.« »Du unterläßt auf der Stelle deine anzüglichen Bemerkungen!« keifte Nockemann. »Man hat SENECA überfallen, und du Dummkopf mokierst dich über meine Kleidung. Es ist unglaublich.« »Ich habe mich nach SENECAS Zustand und dem Tathergang
e
rkundigt und bisher keine Antwort darauf erhalten«, verteidigte sich die mobile Laborpositronik. »Von dir lasse ich mich nicht ausfragen«, kreischte der Stabsspezialist. »Nachdem ihr nun euren Auftritt hattet, wäre es sicherlich von Interesse, zu erfahren, was sich zugetragen hat«, sagte Atlan sarkastisch. »Gallatan, du hast das Wort.« »Kurz gesagt, jemand hat versucht, sich gewaltsam Zutritt zu der Kugel zu verschaffen, in der SENECA untergebracht ist.« »Und was ist mit ihm?« erkundigte sich der High Sideryt. »Nichts.« »Er ist also unversehrt?« »Ja.« Breckcrown Hayes wurde ärgerlich. »Wenn du mit Blödel im Clinch liegst, so ist das deine Sache, aber verschone uns bitte damit. Laß dir also nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und sage uns endlich, was du weißt.« »Viel gibt es da nicht zu erzählen. Die Biopositronik mußte nicht einmal ihre Abwehrmechanismen einsetzen – ich meine damit die Schutzschirme und andere Verteidigungssysteme – denn der Attentäter scheiterte bereits an der besonders gesicherten Schleuse. Der Schaden, den er anrichtete, ist bereits behoben, doch leider gelang es ihm, unbemerkt zu entkommen.« »Das ist wirklich mehr als dürftig.« Der Arkonide wirkte nachdenklich. »Es gibt nur einen Anhaltspunkt: Es kann sich um keinen Positronikfachmann gehandelt haben, denn sonst hätte er wenigstens die einfacheren Sperren überwunden.« Zur allgemeinen Überraschung meldete sich SENECA. »Meine Überwachungssensoren haben den Täter optisch erfaßt und aufgezeichnet. Hier sind die Aufnahmen.« Ein Sichtschirm erhellte sich und zeigte das Bild eines jungen Mannes. Er war sehr schlank, fast schmächtig und hellhäutig. Das Antlitz war ebenmäßig, ohne besonders hervortretende Merkmale –
ein typisches Dutzendgesicht. Was ins Auge stach, waren die feuerroten Haare, die das bartlose Gesicht umrahmten wie lodernde Flammen. »Dem Aussehen nach muß es sich um einen Solaner handeln«, meinte Curie van Herling. »Meiner Schätzung nach wird er zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt sein.« »Was für ein Motiv sollte er haben? Jeder weiß, das SENECA für die SOL unersetzlich ist, zugleich ist jedem bekannt, daß die Biopositronik so gut wie unangreifbar ist.« Hage Nockemann gestikulierte heftig. »Wenn ich zudem berücksichtige, wie dilettantisch dieser Rotschopf vorgegangen ist, zwingt sich mir der Schluß auf, daß er im Oberstübchen nicht ganz richtig ist.« »Wenn ich dich recht verstanden habe, Chef, hast du bereits einen bestimmten Verdacht, nicht wahr?« »Nein, warum?« »Weil du so konkret geworden bist. Stübchen ist ein kleiner Raum, und das ›Ober‹ besagt, daß es sich auf einer Ebene befinden muß, die zu einer der Polkuppeln gehört. Interpretiere ich das richtig?« »Ganz und gar nicht, du Trottel!« zeterte der Wissenschaftler. »Jeder in dieser Runde weiß, daß mit dem ›Oberstübchen‹ das Gehirn gemeint ist, nur du vorlauter Nichtsnutz bist ahnungslos. Wann hörst du endlich auf, von Dingen zu reden, von denen du nichts verstehst?« »Für diese Mißverständnisse kann ich nichts«, beklagte sich Blödel. »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich so zweideutig ausdrückt: Mal meinst du das, was du sagst, wörtlich, dann wieder willst du es im übertragenen Sinn verstanden wissen.« »Wenn du so intelligent wärst, wie du tust, würdest du den Unterschied kennen.« »Eben nicht. Du legst dich aufs Ohr, du fühlst jemandem auf den Zahn, du prüfst etwas auf Herz und Nieren, machst eine Nagelprobe, dann läuft dir eine Laus über die Leber, du schreist dir die Seele aus dem Leib oder legst der und der dein Herz zu Füßen.«
»Die letzte Formulierung stammt nicht von mir«, erregte sich der Galakto‐Genetiker. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und wer ihn genau kannte, wußte, daß es nicht nur Zorn, sondern auch Scham war. »Wie kommst du dazu, mir ein solches Zitat unterzuschieben?« »Nun, vor einiger Zeit …« »Blödel, du hältst auf der Stelle den Mund. Wir orientieren uns nicht nach dem, was war, sondern an dem, was ist. Und da ist dieser Rotschopf, der versucht hat, SENECA auszuschalten. Konzentrieren wir uns also auf die Realitäten.« Atlan hatte dem Disput keine Beachtung geschenkt und sich leise mit Hayes beraten. Nun griff er den Faden auf. »Bleiben wir in Ermangelung eines Namens also bei der Bezeichnung ,Rotschopf. Es ist sicher, daß der Mann SENECA unbekannt ist, denn sonst hätte er uns Daten oder wenigstens einen Hinweis gegeben. Breckcrown und ich sind daher übereingekommen, diesen Rotschopf suchen zu lassen. Wir müssen herausfinden, was ihn bewogen hat, diesen unsinnigen Anschlag auf die Biopositronik zu begehen.« Der Arkonide machte einen entschlossenen Eindruck. »Dank Kernessʹ Erkenntnissen sind wir Anti‐ES einen Schritt näher gekommen und haben vielleicht in Kürze die Möglichkeit, eins seiner größten Geheimnisse zu enträtseln. Wir müssen damit rechnen, daß die Wesenheit mit allen Mitteln verhindern wird, daß wir verwertbare Informationen über diese Nabel erhalten. Das bedeutet für uns erhöhte Wachsamkeit – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Wir müssen uns blind auf die SOL und ihre Besatzung verlassen können, wenn Anti‐ ES angreift, und deshalb müssen wir diese mysteriöse Tat aufklären, denn später haben wir keine Zeit mehr dazu. Welche Verwirrungen ein Saboteur in den eigenen Reihen anrichten kann, wenn wir alle Kräfte für die Verteidigung benötigen, brauche ich euch ja nicht zu sagen.« Die Versammelten nickten beifällig. »Glaubst du, daß Anti‐ES hinter diesem Rotschopf steckt und ihn
zu dem Attentatsversuch angestiftet hat?« fragte Lyta Kunduran. »Ich wollte, ich wüßte es.« Die Miene des Aktivatorträgers spiegelte Zweifel wider. »Ein altes terranisches Sprichwort sagt: Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – und das war in der Vergangenheit ja oft genug der Fall. Einige Katastrophen, die über uns und die SOL hereingebrochen sind, kündigten sich durch scheinbar belanglose Kleinigkeiten an – denke nur an die Schrumpfmikrokoben. Gegen diese These spricht das laienhafte Vorgehen von Rotschopf, dieser kindlich‐naive Versuch, SENECA Schaden zuzufügen.« »Jedenfalls werden wir auf der Stelle mit unseren Nachforschungen beginnen«, versicherte der High Sideryt. Er ließ sich in seinem Sessel nieder und schaltete die Rundrufanlage ein, so daß man ihn überall in dem riesigen Schiff hören konnte. Natürlich galt das auch für den Unbekannten, aber wenn erst einmal seine Identität feststand, würde man seiner schon habhaft werden. Hayes machte keine großen Worte. Knapp und präzise informierte er die Bevölkerung des Hantelraumers und bat sie um Unterstützung bei der Suche nach dem Rotschopf. Zentral gesteuert erschien auf allen Monitoren und Schirmen dessen Bild. Der narbengesichtige Mann beendete seine kurze Rede mit einem Appell. »Versteht die vielbeschworene Solidarität aller Solaner jetzt nicht falsch, indem ihr versucht sein könntet, den Gesuchten zu decken. Uns ist weniger daran gelegen, ihn zu bestrafen, als vielmehr seine Beweggründe für die Tat zu erfahren. Wer also glaubt, diesen Mann zu kennen oder im Zusammenhang mit dem Anschlag auf SENECA eine wichtige Beobachtung gemacht hat, kann sich direkt an die Schiffsführung wenden. Alle Hinweise werden auf Wunsch vertraulich behandelt – das versichere ich ausdrücklich. Ich rede nicht der persönlichen Bespitzelung das Wort, aber in dieser Sache sind wir auf euch angewiesen, deshalb bitte ich nochmals um eure
Mithilfe.« Innerhalb der nächsten zwei Stunden wurden Atlan, Hayes und den Stabsspezialisten sieben Rothaarige präsentiert, die zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit mit Rotschopf hatten, doch allesamt als Täter nicht in Frage kamen. Die Telepathen Breiskoll und Sternfeuer bestätigten das übereinstimmend. Als weitere Informationen und Tips ausblieben, dämmerte es den Verantwortlichen, daß sie sich mit dem Gedanken vertraut machen mußten, daß ein Fremder an Bord war. Viel Zeit, um diese Erkenntnis zu verarbeiten und entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen, blieb nicht, denn die SOL hatte mittlerweile ihr Ziel erreicht. Notgedrungen kommandierte man einige Roboter als zusätzlichen Schutz der Biopositronik ab und setzte alle anderen entbehrlichen Automaten zur Suche nach dem Eindringling ein. Atlan war nicht der einzige, dem die Situation Unbehagen bereitete. Es gab nur eine Alternative, und die hieß Umkehr und Rückzug, doch davon wollte weder der Arkonide noch Hayes etwas wissen. Man wähnte sich kurz vor dem Ziel, und da brach wieder das terranische Erbe durch: Bangemachen gilt nicht, und Schwierigkeiten sind dazu da, um beseitigt zu werden. Fast zweitausend Jahre alt waren diese Redewendungen, doch noch immer wurde die Mentalität der Solaner gerade in Krisen und Zeiten der Bedrängnis von der Veranlagung ihrer Vorfahren bestimmt, nur – damals waren die Gegner der Menschen aus Fleisch und Blut. Die Bewohner Terras hatten damals nicht im Traum daran gedacht, daß sie eines Tages gegen nahezu unüberwindliche Wesenheiten wie Anti‐ES antreten würden – die Solaner wußten es nicht nur, sie wagten es sogar. In dieser Auseinandersetzung gab es keinen zweiten Sieger, das war diesem Völkchen um Atlan und Hayes bewußt, und dennoch waren fast einhunderttausend Individuen bereit, die Herausforderung anzunehmen – allen Widrigkeiten zum Trotz.
4. Atlan und Hayes waren übereingekommen, mit der SOL auf Distanz zu bleiben; den direkten Vorstoß zur roten Sonne und ihren Begleitern sollte eine Flotte von Beibooten durchführen. Anders als sonst führte der Arkonide das Unternehmen nicht selbst an. Er wollte in Mylottas Nähe bleiben und an der Auswertung der Daten mitwirken, Informationen sammeln und hoffte, so zu Erkenntnissen zu kommen, die aufschlußreicher waren als Beobachtungen direkt vor Ort. In einem Abstand von 19,44 Milliarden Kilometer zu dem mächtigen Gestirn ging der Hantelraumer in Warteposition und befand sich damit außerhalb der stark elliptischen Bahn des äußersten Kleinplaneten. Mit einem Durchmesser von 2.560 Kilometern war er zugleich der kleinste Trabant und fast ein Drittel kleiner als Luna, während der größte den Querschnitt des Jupitermonds Ganymed nur geringfügig übertraf. Die dreizehn Satelliten umkreisten ihr Gestirn in einem Gürtel zwischen elf und siebzehn Lichtstunden Entfernung. Trotz dieser gewaltigen Dimensionen war auch der sonnenfernste Begleiter noch eine merkurähnliche Welt mit extremen Hitzegraden. Allen gemein war – und das war relativ ungewöhnlich – eine große Dichte, die zwischen 3,9g/cm3 und 6,7g/cm3 schwankte. Der Anteil von Metall an ihrem inneren Aufbau mußte also überdurchschnittlich hoch sein. Keiner der öden Brocken besaß eine Atmosphäre. Abgesehen davon, daß die Masse zu gering war, wirkte die Gravitation des Roten Riesen wie ein interstellarer Staubsauger, der jegliche ungebundene Materie an sich riß. Die Rotationszeit der Kleinplaneten war lang – keine lag unter 49,7 Tagen, und das bedeutete nicht nur eine starke Aufheizung der
Tagseite, sondern auch eine Abkühlung der Nachtseite auf Werte von minus 180 Grad C und darunter. Daß sich unter derart extremen Bedingungen kein Leben entwickeln konnte, lag auf der Hand. Siebenundfünfzig Einheiten wurden ausgeschleust, eingeteilt in dreizehn Verbände. Sie bestanden vornehmlich aus Kreuzern und Korvetten, doch wurden auch einige Space‐Jets mitgeführt, die vor allem Messungen durchführen und Koordinationsaufgaben übernehmen sollten. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, führten die Raumer mehrere kurze Linearmanöver durch. Das geschah mit größter Vorsicht und unter Einsatz des gesamten technischen Potentials, unterstützt von den Anlagen der SOL, die pausenlos die zu untersuchenden Objekte und den Raum absuchten. Einer der Kleinplaneten mußte mit der von Mylotta ermittelten Strahlungsquelle identisch sein, aber welcher? Und welche Gefahren barg er? * Tyrol Gutfleisch war der Kommandant der MT‐2, Eigenname KRAFTWERK. Ihm unterstellt waren noch zwei 60‐Meter‐Korvetten und eine zwölf Meter durchmessende Space‐Jet. Ihr Ziel war der vierte Satellit, vom Systemzentrum aus gesehen. Drei Überlichtetappen hatten die Schiffe hinter sich gebracht, nun tasteten sie sich behutsam an den noch knapp dreihunderttausend Kilometer entfernten Planeten heran. Der Kreuzer und die anderen Beiboote hatten sich in ihre Schirmfelder gehüllt, Orter und Taster liefen auf Hochtouren, ohne daß etwas Ungewöhnliches zu entdecken war. Die Raumer standen nicht nur untereinander in Funkverbindung, sondern hatten auch Kontakt zu den anderen Verbänden und zum
Mutterschiff. Jeder Befehlshaber war so über den aktuellen Stand der Dinge informiert und bekam einen Überblick über den Verlauf der Aktion. Bisher war eine Erfolgsmeldung ausgeblieben. Wenn die Planetoiden wirklich ein Geheimnis bargen, wie angenommen, dann mußte es hervorragend versteckt und getarnt sein. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete der zur Fülle neigende, bärbeißig wirkende Gutfleisch den Panoramaschirm. Er zeigte die dunkle, von Kratern übersäte Oberfläche des öden Brockens, auf den die KRAFTWERK zuhielt. »Yesica!« bellte er. »Was hältst du von der Sache?« Die neben ihm sitzende schlanke Frau zuckte erschreckt zusammen. Sie war nicht nur die Stellvertreterin des Kommandanten, sondern zugleich auch seine Gefährtin, doch im Dienst ließ der braunhäutige Solaner keine privaten Privilegien gelten. Bei einem Einsatz behandelte er seine Partnerin mit der gleichen Barschheit wie alle anderen, die seinem Kommando unterstanden. Normalerweise hätte eine solche Verbindung nach kurzer Zeit in die Brüche gehen müssen, doch man munkelte, daß Tyrol in den eigenen vier Wänden das Regiment an seine Yesica hatte abtreten müssen. Wer sich nun wann und an wem schadlos hielt, hatte von der Kreuzerbesatzung noch niemand herausgefunden. »Mußt du denn immer gleich so losbrüllen?« »Mit Flüstern hätte ich deine Aufmerksamkeit bestimmt nicht erweckt«, grollte der Zwei‐Zentner‐Mann. »Ich habe dich gefragt, was du von der Sache hältst.« »Das war nicht zu überhören«, gab Yesica le Ro‐Gutfleisch spitz zurück. »Und?« »Den bisherigen Werten nach zu urteilen, handelt es sich bei B‐ 727/M‐IV um einen Gesteinsklumpen mit hohem Metallanteil. Das ist zwar nicht sonderlich häufig, andererseits doch wieder gewöhnlich. Jedenfalls ist an diesem Trabanten nichts Mysteriöses.«
»Ich rechne auch nicht mit einer Überraschung«, brummte Tyrol Gutfleisch zustimmend. Er warf einen Blick auf die Anzeigen und schaltete sich in den Funkverkehr ein. »Sobald der Abstand zu B‐ 727/M‐IV 15.000 Kilometer beträgt, gehen wir in einen Orbit. Ich nehme mir den Äquator vor, die SATURN untersucht die Nordhälfte und die ZEDER die südliche Halbkugel. Die genauen Daten werden von unserer Positronik direkt überspielt.« »Hast du uns vergessen, oder sollen wir derweil Däumchen drehen?« erkundigte sich der Kommandant der Space‐Jet. »Keine Sorge, Serge, für dich habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht.« Ein Lacher erschütterte den massigen Mann und hallte wie ein Donnerschlag durch die Zentrale. »Du wirst deine Flunder als Sensor einsetzen und Feinanalysen anstellen, überlappende Messungen ausloten und rein wissenschaftlich tätig sein.« Serge Mangsystok trennte die Verbindung mit einer Verwünschung. »Einfaltspinsel!« schnaubte Gutfleisch. »Soll doch froh sein, daß er eine ruhige Kugel schieben kann.« Er blickte sich wild um, doch niemand in seiner Nähe grinste oder ließ despektierliches Verhalten erkennen. »Volle Konzentration, höchste Einsatzbereitschaft. Ich erwarte, daß alles wie am Schnürchen klappt. Versager dulde ich nicht in meiner Nähe, Pannen sind für mich ein Fremdwort. Und den Neulingen in meiner Mannschaft sei gesagt: Jeder kann sich profilieren, aber nicht auf Kosten anderer. Wir sind ein Team, ein verdammt gutes Team sogar, doch Stars haben auf der KRAFTWERK keine Zukunft. So, genug der Worte, jetzt will ich Taten sehen. An die Arbeit, ihr Faulpelze!« Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich der Solaner zurück und registrierte wohlwollend, daß seine Autorität ungebrochen war. Hektische Betriebsamkeit erfüllte die Zentrale. »Das scheint ja ein richtiges Ekel zu sein«, raunte ein junger Techniker einer älteren Kollegin zu. »Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich nicht als Ersatz für Fehdor eingesprungen.«
»Du darfst das nicht so wörtlich nehmen«, gab die Solanerin leise zurück. »Tyrol nennt das Vergatterung, die zur Stärkung der Moral dienen soll. Es ist so etwas wie eine Zeremonie, die ihm selbst am meisten gibt. Er liebt markige Worte, ist im Grunde genommen aber kein schlechter Kerl. Du …« »He, was gibt es denn da zu flüstern, Ertina?« ließ sich der Kommandant lautstark vernehmen. Er schien seine Augen überall zu haben. »Verabredungen und andere privaten Dinge könnt ihr besprechen, wenn wir wieder an Bord der SOL sind.« »Ich habe Pantel nur erklärt, was er zu tun hat«, antwortete die Technikerin geistesgegenwärtig. »Soll das heißen, daß wir einen Anfänger an Bord haben?« entsetzte sich der gewichtige Solaner. »Nein, Tyrol. Es ist nur so, daß es bei uns gewisse Aufgabenverschiebungen gibt, die auf anderen Schiffen nicht die Norm sind.« »Aus gutem Grund.« Der massige Mann nickte befriedigt. »Würde Ordnung und Disziplin überall so groß geschrieben wie auf der MT‐ 2, wäre mir vor Anti‐ES nicht bange, aber leider läßt sich die SOL nicht mit der KRAFTWERK vergleichen. Wäre ich der High Sideryt, ich würde mit eisernem Besen kehren und den Weichlingen Zucht und Selbstdisziplin beibringen. Ich …« »Du solltest jetzt besser aufhören, zu reden. Ein Vorturner mit Übergewicht macht eine denkbar schlechte Figur«, sagte seine Frau sanft, aber bestimmt. Sie sprach so leise, daß nur ihr Mann sie verstand. »Kümmere dich lieber um deine eigentlichen Aufgaben.« Gutfleisch schluckte, verzichtete jedoch auf eine Erwiderung. »Ich will dieses Thema nicht weiter vertiefen, doch ihr alle wißt, daß es mir am Herzen liegt. Beweist mir und euch, daß ihr zur Elite der SOL gehört.« Der einhundert Meter durchmessende Kreuzer hatte die angegebene Distanz erreicht und schlug eine Umlaufbahn ein. Die Geschwindigkeit war so bemessen, daß der Planetoid in jeder
Stunde 6,3 mal umrundet wurde, die Korvetten kamen trotz angepaßter Triebwerksleistung sogar auf einen Faktor 6,8, weil ihr Orbit modifiziert war. Tief unter der KRAFTWERK glitt die lebensfeindliche Oberfläche des Kleinplaneten dahin. Die Ausschnittsvergrößerung zeigte eine zernarbte Kruste mit Schründen, Aufwerfungen und Gräben, Geröll und erstarrten Gesteinsmassen. Übergangslos wechselten Licht und Schatten, was den Brocken nicht nur trostlos, sondern auch unwirklich erscheinen ließ. Von technischen Anlagen zeigte sich keine Spur. Gutfleischs Miene wurde immer mürrischer, doch plötzlich zuckte er wie elektrisiert zusammen. Die Taster schlugen an, allerdings war die optische Darstellung des Echos unscharf und verwaschen. »Stop!« brüllte der Solaner. Der Pilot reagierte sofort und gab Gegenschub. Der Antrieb heulte auf, leichte Vibrationen schüttelten die MT‐2, als die Vorwärtsbewegung aufgehoben und umgekehrt wurde. Wie ein rüttelnder Greif verharrte der Kreuzer auf der Stelle, derweil waren die Ortungsspezialisten bemüht, exaktere Daten zu bekommen. »Was ist denn?« schrie der Kommandant ungeduldig. »Seid ihr eingeschlafen?« »Es gibt da gewisse Schwierigkeiten«, meldete der Cheftechniker. »Die Impulse werden verfälscht. Ich tippe auf Neutralisationsfelder, die die Reflexe verändern.« »Mensch, Mayk, halte dich jetzt nicht mit langatmigen Erklärungen auf!« dröhnte Gutfleisch. »Wir sind fündig geworden!« Er war in seinem Element. »Es gibt hier niemanden, dem daran gelegen wäre, uns Masse vorzugaukeln, wo keine ist. Wir haben das gefunden, was wir gesucht haben. Wir groß ist der Hohlraum?« »Auf den Meter genau will ich mich nicht festlegen, aber unsere KRAFTWERK müßte er aufnehmen können.« »Donnerwetter!« entfuhr es dem massigen Mann. »Ein solches Loch so ausgezeichnet zu tarnen, spricht für eine fast perfekte
Technik.« Er riß sich den Mikrophonring heran. »An alle Einheiten. Hier spricht Gutfleisch, Kommandant der MT‐2. Wir haben auf B‐ 727/M‐IV etwas entdeckt. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine Höhle, die durch Energiefelder gesichert ist. Erbitte Anweisungen für weitere Vorgehen.« Hayes meldete sich. Er ließ sich noch einmal genau schildern, was Gutfleisch festgestellt hatte beziehungsweise vermutete. Der High Sideryt teilte dessen Schluß, daß die Technik mindestens solanischen Standart haben mußte, und das sprach dafür, daß es sich um eine von Anti‐ES geschaffene oder in dessen Auftrag erstellte Einrichtung handeln mußte. Ob sie allerdings mit einer Nabelstation identisch war, ließ sich nicht sagen. »Tyrol, wir müssen diesen Hohlraum untersuchen.« »Keine Frage. Ich bin dein Mann!« Unwillkürlich mußte Breckcrown Hayes über den Eifer des anderen lächeln. »Gut, ich hatte ohnehin vor, dir die Leitung des Unternehmens zu übertragen. Du hast völlige Handlungsfreiheit und kannst nach eigenem Ermessen entscheiden, nur eins bitte ich mir aus: Keine unnötige Gewaltanwendung, der Schaden durch Waffeneinsatz muß so gering wie möglich gehalten werden. Zerstörte Anlagen helfen uns nicht weiter.« »Du kannst dich auf mich verlassen!« versicherte der Kommandant im Brustton der Überzeugung. »Vermeidet jedes Risiko! Setze Roboter ein, wo immer es geht und sieh dich vor! Die Anlage ist mit Sicherheit geschützt. Wenn du den Eindruck hast, daß die Sache zu gefährlich wird, zieht euch zurück! Euer Leben ist mir wichtiger als Informationen.« Hayes Stimme hatte einen besorgten Unterton. »Benötigst du noch Unterstützung? Eine spezielle Ausrüstung oder Experten?« »Jeder auf der KRAFTWERK ist ein Spezialist«, sagte Gutfleisch stolz. »Wenn wir es nicht schaffen, schafft es niemand.« »Kein falsch verstandenes Heldentum«, warnte der
narbengesichtige Solaner nochmals. »Wir bleiben in Funkverbindung.« Tyrol Gutfleisch nickte und blendete sich mit einem Tastendruck aus. »So, jetzt könnt ihr zeigen, was ihr bei mir gelernt habt und was in euch steckt.« Hintereinander rasselte er ein Dutzend Namen herunter. »Ihr werdet mich begleiten. Marsch, Schutzanzüge anlegen!« Er wandte sich an den Piloten. »Ab nach unten!« »Soll ich landen?« »Habe ich das gesagt?« Gutfleisch bleckte die Zähne. »Wo ein Hohlraum ist, muß es auch einen Eingang geben. Yesica, stelle ein Kommando aus fünfzehn Robotern zusammen und schleuse sie aus. Sie sollen bestens ausgerüstet sein – Waffen, Flugaggregate und … na, ja, du weißt schon.« »Ich hätte sie bestimmt nicht aus der Schleuse gestoßen in der Hoffnung, daß sie weich landen«, lautete der bissige Kommentar. »Wenn du einen derart niedrigen Intelligenzquotienten hättest, wärst du auch gar nicht auf mein Schiff gekommen«, polterte der braunhäutige Mann. »Die Automaten sollen gleich damit beginnen, nach einem Einstieg zu suchen.« Gutfleisch sprudelte noch eine Reihe von Anordnungen hervor, die seine Mannschaft regelrecht durcheinanderwirbelte, dann ließ er sich eine Funkverbindung zu den ihm unterstellten Einheiten geben. »DIE SATURN bleibt im Orbit, die ZEDER landet«, er sah kurz auf die mit Daten versehene Hardcopy von der fraglichen Stelle, »im Planquadrat G‐7, blaues Feld, Rastergröße 9. Serge, deine Flunder wird vielleicht gebraucht. Hör auf mit dem Meß‐Firlefanz und komm auf fünfzig Meter herunter. Gleiche Position wie die ZEDER, Raster 8. Das wärʹs für den Augenblick.« Er stemmte sich aus dem Sessel und stapfte zu dem Schrank, in dem die Ausrüstungsgegenstände untergebracht waren, riß seinen Schutzanzug vom Haken und zwängte sich in die Kombination. Bedächtig überprüfte er die einzelnen Aggregate auf ihre
Funktionstüchtigkeit, vergewisserte sich, daß die Ladung des Kombistrahlers in Ordnung war und verstaute in den Taschen allerlei Utensilien, die ihm nützlich erschienen. »Höhe zwölfhundert Meter«, meldete der Pilot. »Sinkgeschwindigkeit jetzt 78 Meter pro Sekunde.« »Konstant halten bis Bodenabstand 100, dann stoppen und parken.« Raumfahrer, die vorher auf anderen Schiffen Dienst getan hatten und zur KRAFTWERK abkommandiert waren, hatten mit Gutfleischs salopper Ausdrucksweise ihre Probleme, sein eingespieltes Team verstand ihn auf Anhieb. Schwerfällig kehrte er an seinen Platz zurück und überflog die Kontrollen. »Yesica, was ist mit den Automaten?« »Sind schon von Bord!« »Tüchtig, tüchtig, meine Liebe.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht, verschwand jedoch sofort wieder, als sein Blick auf eine ältere Technikerin fiel, die sich mit ihrem Raumanzug abmühte. »Ertina, was ist? Warum bist du noch nicht auf dem Weg zur Schleuse? Kannst du denn nicht wenigstens einmal nur die zweitletzte sein?« »Die Klimaregulierung funktioniert nicht«, jammerte die Solanerin. »Wenn ich die Heizung einschalte, springt die Kühlanlage an.« »Ich werde verrückt.« Tyrol Gutfleisch war drauf und dran, sich die Haare zu raufen. »Und um das festzustellen, brauchst du eine geschlagene Viertelstunde?« Er holte tief Luft und brüllte: »So was von Unfähigkeit ist mir mein Lebtag noch nicht unter die Augen gekommen! Zieh den Fetzen aus und gib ihn zur Reparatur, du Null! Du bist von der Einsatzliste gestrichen!« Der Solaner war außer sich. Er schnaubte wie ein gereizter Stier und stampfte wie ein Rachegott durch die Zentrale. Jeder machte sich klein und versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu
verhalten. Ertina wußte, daß jede Rechtfertigung den Kommandanten nur noch wütender machte. Widerspruchslos schlich sie zu ihrem Sitz und nahm das Corpus delicti mit. »Parkposition erreicht!« »Unterlaß gefälligst die dummen Bemerkungen!« fuhr Gutfleisch den Piloten an. »Oder glaubst du, ich habe keine Augen im Kopf?« Er wandte sich an seine Frau. »Yesica, warum melden sich die dämlichen Automaten nicht?« »Vermutlich haben sie noch nichts entdeckt.« »Dumme Antworten kann ich mir selbst geben.« Zornig blickte der schwergewichtige Mann sich um. »Bin ich denn nur von Versagern umgeben?« »Wir sprechen uns später noch, geliebter Gatte!« zischte Yesica. »Papperlapapp!« Ihr Angetrauter war so in Rage, daß ihn selbst eine solche Drohung nicht zu schrecken vermochte. »Was ist mit der ZEDER und Serges Flunder?« »Sie haben soeben ihre vorgesehene Position eingenommen«, sagte Ertina zaghaft. »Habe ich dich gefragt?« »Nein, daß heißt – doch. Es betrifft mein Aufgabengebiet.« »Und was macht der Kasper neben dir? Hält der nur Maulaffen feil? Haben wir ihn als Ballast mitgenommen oder was?« »Eike ist Systemkoordinator.« »Meinst du, daß wüßte ich nicht? He, Kerl, warum sagst du es nicht selbst? Hat es dir die Sprache verschlagen, oder bist du stumm?« Der Funkruf des Robotkommandanten enthob den jungen Mann einer Antwort. »K‐2DW17‐3271 an Kommandant von MT‐2. Eingänge, Schächte oder irgendwelche Steuerungselemente, die uns Zugang zur vermuteten Station verschaffen könnten, konnten weder angemessen noch geortet werden. Die optische Überprüfung blieb ebenfalls ergebnislos. Ich erwarte neue Befehle.«
»Was soll man von euch Blechidioten auch anderes erwarten«, ärgerte sich Gutfleisch. Er runzelte die Stirn. »Ein Mittel, das Problem zu lösen, wäre der Einsatz der Bordwaffen, aber das sollte wirklich nur die letzte Möglichkeit sein.« Nachdenklich ging er auf und ab, dann erhellte sich sein Gesicht plötzlich. Wäre es nicht denkbar, daß es eine Sensorik gibt, die auf eine bestimmte Masse wie etwa die eines Raumschiffs reagiert? So‐Eun, wir machen die Probe aufs Exempel. Landeversuch ohne Einsatz der Antigravtriebwerke. Mit flinken Fingern nahm der Pilot verschiedene Schaltungen vor. Langsam, fast zeitlupenhaft sank die KRAFTWERK dem Boden entgegen. Die Züge des mandeläugigen Mannes verrieten innere Anspannung und höchste Konzentration. Trotz positronischer Unterstützung war ein solches Manöver alles andere als einfach, denn es war völlig unüblich und verlangte selbst alten Hasen alles ab. Unzählige Augenpaare verfolgten die Anzeige des Höhenmessers. Noch sieben Meter, fünf, vier, drei. Der Wechsel der Digitalziffern verlangsamte sich weiter. 2,9, 2,6, 2,3, 2,2, 1,9, 1,7. »Stop!« Der schwergewichtige Mann wirkte sichtlich enttäuscht. »Der Test war negativ. Aufsteigen auf vorherige Höhe.« Der Pilot verstand sein Handwerk. Bevor die Landeteller sich in den Untergrund bohren konnten, schoß die MT‐2 raketengleich nach oben und erreichte innerhalb weniger Sekunden ihre ursprüngliche Position. »Wir gehen erneut direkt im Zielgebiet herunter. Diesmal werden ausschließlich die Antigraveinrichtungen eingesetzt.« »Was versprichst du dir davon?« fragte seine Gefährtin. »Einen Erfolg, was sonst?« »Und wenn es wieder nicht klappt?« »Dann versuchen wir es nochmals auf andere Weise«, grollte Tyrol Gutfleisch. »Und nun sei bitte ruhig. Wenn ich etwas hasse, ist es
Pessimismus, der jedes positive Ergebnis von Anfang an in Frage stellt.« »Zweckoptimismus ist pure Augenwischerei.« »Warte es ab. Es wird sich erweisen, wer recht hat.« Nahezu schwerelos schwebte die KRAFTWERK der Oberfläche entgegen. Man spürte deutlich die Spannung, die sich der Besatzung erneut bemächtigte. Glutfleischs Blicke huschte zwischen den Anzeigen und dem Bildschirm hin und her. Würden sie diesmal Erfolg haben? Wenn ja, was erwartete sie? Gab es automatische Abwehranlagen, die den Kreuzer unter Feuer nahmen? Noch elf Meter, neun, acht … Und dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Die schroffen Bodenformationen verloren ihre Farbe, wurden transparent und lösten sich scheinbar in Nichts auf. Ein quadratischer Schacht mit steil abfallenden Wänden wurde sichtbar, der von düsterem roten Licht erfüllt war. Die Kantenlänge betrug exakt 142,5 Meter. Der Kommandant atmete geräuschvoll aus. »Damit habe ich nicht gerechnet.« Er schien immer noch nicht fassen zu können, was sich da draußen getan hatte. »Die perfekte Tarnung. Ich tippe auf Formenergie.« Kein Widerspruch regte sich. Die Männer und Frauen in der Zentrale waren nicht weniger überrascht als ihr Vorgesetzter. Der Pilot, der sich schon innerlich darauf eingestellt hatte, das Schiff erneut nach oben zu steuern, ließ den Kreuzer bewegungslos über der riesigen Öffnung verharren, die über zwanzigtausend Quadratmeter groß war. »Der Stollen führt senkrecht nach unten«, las Ertina von ihren Instrumenten ab. »Die Tiefe beträgt vierhundertneununddreißig Meter.« »Wir riskieren es. Sage Mangsystok und den Robotern Bescheid, daß sie uns folgen sollen«, wies Tyrol Gutfleisch den Funker an. Sanft wie eine Feder sank die KRAFTWERK dem Schachtende
entgegen. Niemand sprach ein Wort, die Stille war fast beängstigend. Einige fühlten unterschwellige Furcht in sich aufsteigen, und sogar der bärbeißige Kommandant konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Das düstere Rot wirkte wie eine einzige Drohung. Die Kontrollen gaben keinen Aufschluß darüber, was sie vorfinden würden. Energie wurde angemessen, aber der Pegel veränderte sich kaum. Es wurden also weder zusätzliche Kraftwerke aktiviert noch Großverbraucher eingeschaltet wie Schirmfelder. Imposante Metallansammlungen wurden ausgemacht und eine Flut von Hohlräumen. An dieser Stelle mußte der Planetoid durchlöchert sein wie ein Schweizer Käse. Erste grobe Analysen kamen auf eine Ausdehnung von mehr als fünfzig Kilometern, aber wahrscheinlich war die Anlage noch weitläufiger. Daß ein solches Riesengebilde nicht auf Anhieb geortet worden war, sprach für eine großartige Technik, die den Solanern großen Respekt einflößte, sie zugleich aber auch zur Vorsicht mahnte. Wer es verstand, eine Station so hervorragend zu tarnen, der hatte auch bestimmt dafür gesorgt, daß sie vor fremden Zugriff geschützt war. Triumph empfand niemand, nicht einmal Gutfleisch. Mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete er die hereinkommenden Bilder. Die KRAFTWERK hatte die untere Ebene erreicht. An den Schacht schloß sich eine gewaltige Halle an, die fast Hangargröße besaß, aber allein von ihrer Form her schon exotisch war. Was sich ursprünglich wie ein Oktaeder darstellte, entpuppte sich als die Spiegelung einer Pyramide. Ob dieser optischen Täuschung eine besondere Bedeutung zukam, vermochten die Raumfahrer nicht zu erkennen. Die Halle war völlig leer. Es gab keine Anzeichen für technische Einrichtungen irgendwelcher Art, Ausgänge schien es nicht zu geben. Auch hier herrscht dieses merkwürdige Zwielicht aus düsterem Rot, daß direkt aus den Wänden zu dringen schien. Auf Geheiß des Kommandanten steuerte der Pilot den Kreuzer ein
wenig zur Seite, um der nachfolgenden Space‐Jet Platz zu machen. Behutsam setzte So‐Eun die MT‐2 auf. Obwohl ihre Landeteller auf dem Untergrund Halt fanden und nicht wegsackten oder eintauchten, hielt er die Antigravtriebwerke in Betrieb und drosselte ihre Leistung nur ganz allmählich. Erst als er sicher war, daß der vermeintliche Schnitt durch das Oktaeder in Wahrheit der Boden der Pyramide war, schaltete er die Maschinen ab. Zu aller Verwunderung spiegelte sich das Beiboot nicht wider. Das ließ eigentlich nur den Schluß zu, daß es auf einer transparenten Unterlage stand und der Körper doch ein Achtflächner war, aber dagegen sprach, daß die Taster keinen Hohlraum anzeigten. Einigermaßen verwirrt nahm Gutfleisch Kontakt zur SOL auf. Das gelang anstandslos. Um Sachlichkeit bemüht, schilderte der massige Mann Atlan und Hayes seine ersten Eindrücke. Der Bericht verfehlte seine Wirkung nicht bei den beiden, veranlaßte sie jedoch zugleich, nochmals vor einem vorschnellen Handeln zu warnen. Der Solaner versprach, auf der Hut zu sein und Risiken zu meiden. »Wie willst du weiter vorgehen?« erkundigte sich der Arkonide. »Ich habe bereits einen Erkundungstrupp zusammengestellt. Wir werden gleich von Bord gehen, dabei wird uns eine Roboteskorte begleiten. Ob wir Erfolg haben werden, weiß ich nicht, denn es hat den Anschein, als wenn es gar keinen Zugang zu dieser Halle gäbe, doch das ergibt keinen Sinn. Wir werden sehen.« »Bis später, Tyrol. Hals‐ und Beinbruch!« Gutfleisch gab die Verbindung an den Funker zurück, sprach noch mit Serge und beorderte dann die mittlerweile eingetroffenen Roboter zum Ausstieg. »Yesica, du übernimmst hier das Kommando. Du hast einstweilen nichts anderes zu tun, als Kontakt zur SOL, den beiden Korvetten und zu uns zu halten.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ der schwergewichtige Solaner die Zentrale und machte sich auf den Weg zur Schleuse, wo die anderen Mitglieder des Expeditionskommandos bereits
warteten. * Alle hatten ihre Raumanzüge geschlossen, verzichteten jedoch darauf, die Individualschirme und die Flugaggregate zu aktivieren. Es bestand auch keine Notwendigkeit dazu. Dichtgedrängt, flankiert von den Kampfmaschinen und Vielzweckautomaten, schritten sie über den glatten, wie poliert wirkenden Boden dahin. Auch diesmal zeigte sich das schon vorhin beobachtete Phänomen: Sie spiegelten sich nicht auf dem Untergrund, sahen aber deutlich die auf dem Kopf stehende Pyramide. Als der Trupp etwa einhundert Meter zurückgelegt hatte, meldete ein Roboter: »Das Vakuum verschwindet. Die Halle wird mit einem Gemisch aus Sauerstoff und Edelgasen geflutet, vornehmlich Helium.« »Wie gelangt diese Kunstatmosphäre in die Pyramide?« »Das ist nicht feststellbar.« Der Kommandant schluckte. Eine Anlage, die die Funktion einer Schleuse erfüllte, konnte noch so perfekt sein, aber wenn sie mit Luft geflutet wurde, entstanden winzige Strömungen und minimale Turbulenzen, die meßbar waren – hier galt das nicht. Allmählich wunderte er sich über nichts mehr und nahm es fast wie selbstverständlich hin, daß die geringe Gravitation des Kleinplaneten auf eine künstliche Schwerkraft von 0,85 g erhöht worden war. Eine automatisch arbeitende Station benötigte weder eine Atmosphäre noch eine Gravitation, die fast solanischen Standard erreichte. Beides war immerhin mit einem gewissen technischen Aufwand verbunden und erforderte zusätzliche Energie. Bedeutete ihr Vorhandensein, daß es hier Lebewesen gab? Ein spitzer Schrei in seinem Helmfunkempfänger riß Gutfleisch
aus seinen Gedanken. Reaktionsschnell zog er seinen Strahler, doch da war niemand, der sie bedrohte. Seine anfängliche Erleichterung schlug in blankes Entsetzen um, als er erkannte, was sich tat. Ein Rhombus von etwa siebzig Metern Kantenlänge, auf dem sie gerade standen, senkte sich auf einer Seite nach unten, während das entgegengesetzte Ende gleich einer Wippe anstieg und sich vom übrigen Untergrund löste. Eine Öffnung tat sich auf. Der Gleichgewichtssinn reagierte nicht auf die Lageveränderung, das Gefühl, zu fallen, kam nicht auf. Da auch keine Gewichtsveränderung zu spüren war, konnte das nur eines bedeuten: Ringsumher war die Schwerkraft aufgehoben oder vermindert worden, nur innerhalb der Fläche war sie unverändert und wirkte so, daß die Unterlage trotz ihrer Neigung subjektiv als waagrecht empfunden wurde – wenn man die Augen schloß. Einen Moment lang war der Kommandant wie vom Donner gerührt, dann fiel die Starre von ihm ab. »Schaltet die Triebwerke ein!« brüllte er mit sich überschlagender Stimme. »Benutzt die Flugaggregate!« Tyrol Gutfleisch wußte nicht, ob ihn jemand hörte, ob ihn überhaupt jemand verstand. Ohrenbetäubendes Gekreisch drang aus seinem Helmfunkgerät, alle schrien durcheinander. Die Drehbewegung wurde schneller, schon befand sich die Plattform im rechten Winkel zum Boden. Zwei, drei Personen nahmen tatsächlich ihr Fluggerät in Betrieb, hatten jedoch Orientierungsschwierigkeiten, weil die Informationen des Gesichtssinns in krassem Gegensatz zu denen der Gleichgewichtsorgane standen. Als sich das Gehirn endlich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, war es bereits zu spät: ‐Die eine Spitze des Rhombus kippte nach vorn und rastete kaum merklich ein, dann war die entstandene Öffnung in Form einer Raute wieder verschlossen. Verwirrt sahen sich die Solaner um. Der Schwenk um 180 Grad bedeutete logischerweise, daß sie sich kopfüber an der Decke des
darunterliegenden Raums befinden mußten, doch dem war nicht so. Oben und unten waren keineswegs verkehrt – Augen und Gleichgewichtssinn übermittelten übereinstimmend, daß der Körper auf dem Boden stand. Einzig und allein der Verstand rebellierte dagegen, mußten sich aber dann der Erkenntnis beugen, daß alles relativ war: Der Boden der Pyramide befand sich unter den Füßen, und die Spitze hoch darüber. »Tyrol, was ist passiert? Was ist mich euch? Tyrol, antworte!« Gutfleisch erkannte sofort die Stimme seiner Gefährtin. Erleichtert registrierte er, daß die Funkverbindung ungestört war. »Yesica, wir sind unversehrt, aber ich will verdammt sein, wenn ich so etwas schon einmal erlebt habe. Wir sind in der darunterliegenden Pyramide.« »Demnach existiert sie doch, obwohl …« »Augenscheinlich, aber das ist nicht ausschlaggebend. Wir befinden uns direkt unter euch und spazieren an der Decke entlang. Es ist verrückt.« »Wie soll ich das verstehen?« »Kommandant, wir haben mehrere Schotte ausgemacht.« »Ich erkläre es dir später, Yesica! Du hast gehört, was die Roboter festgestellt haben. Wir werden die Halle verlassen und uns außerhalb umsehen. Kommt, Leute!« Wie eine Schar aufgeregter Hühner folgten die Solaner Gutfleisch und dem Robotkommandanten, der sie zielstrebig zur linken Seite führte. Erst als sie dicht davor standen, erkannten die Männer und Frauen übermannshohe Sechsecke, die in regelmäßigen Abständen in die Wand eingelassen waren. »Die Erbauer dieser Anlage scheinen eine besondere Vorliege für geometrische Figuren gehabt zu haben«, brummte der Kommandant. »Wir nehmen den mittleren Ausgang.« Einer der Automaten rollte nach vorn. Geräuschlos wich das Hexagramm in die Wand zurück und gab den Blick frei auf einen wabenförmigen Gang, der sich nach wenigen Metern verzweigte.
Ein fluoreszierendes blaues Leuchten mit hohem Violettanteil erfüllte diesen Abschnitt, ein kaum hörbares Summen war zu vernehmen. Wieder übernahmen die Maschinen die Vorhut. Die Menschen folgten ihnen bis zum Verteiler und blieben stehen. Unschlüssig sahen sie sich um. Die Flure sahen alle gleich aus, es gab keine Markierungen oder Hinweise irgendwelcher Art. Einem Imker hätte sich unwillkürlich der Gedanke aufgedrängt, sich in einem überdimensionalen Bienenkorb verirrt zu haben. »Welchen Korridor nehmen wir, Kommandant?« fragte K‐2DW17‐ 3271. »Eigentlich ist es ja egal, nur ich möchte nicht, daß wir uns verirren.« »Wir können Zeichen in die Verkleidung einbrennen.« »Das wird nicht nötig sein«, schnarrte ein Spezialrobot, dessen Körper mit Meßfühlern förmlich übersät war. »Die Bodenbeläge der einzelnen Flure sondern unterschiedliche synthetische Duftstoffe ab.« »Darauf muß man erst einmal kommen.« Gutfleischs Stimme klang sarkastisch. »Traust du dir auch zu, wieder zurückzufinden?« »Gewiß.« »Gut, dann wirst du uns führen. Wir gehen geradeaus weiter.« Der Automat schwebte auf seinem Prallfeld voraus. Der Gang war breit genug, daß fünf, sechs Solaner nebeneinander gehen konnten. Vor und hinter ihnen flogen, liefen und rollten die Roboter, unübersehbar die wuchtigen Kampfmaschinen, die sich bis jetzt als überflüssig erwiesen hatten. Es war offensichtlich, daß man sich durch ein hochmodernes Labyrinth bewegte, nur war von der eigentlichen Technik so gut wie nichts zu sehen. Es gab kein Gegenstück zu den obligatorischen Interkom‐Anschlüssen an Bord der solanischen Raumschiffe, keine Nischen, in denen Wartungs‐ oder Feuerlöschrobote verharrten. Das
Licht wurde auf unerklärliche Art und Weise erzeugt, und wie die Belüftung funktionierte, war ebenfalls ein Rätsel. Der Flur war schnurgerade und endete nach knapp zweihundert Metern vor einem doppelflügeligen Schott in Sechseckform, dessen Maße mit denen des Gangs identisch waren. Was anfänglich nach einer Sackgasse aussah, erwies sich beim Näherkommen als Gabelung, an der sich der Korridor nach links und rechts verzweigte. Auch hier wirkte alles wie ausgestorben. Bisher hatte sich weder ein Roboter noch ein Lebewesen blicken lassen, dabei war es unvorstellbar, daß das Eindringen in die Station unbemerkt geblieben war. Gutfleisch konnte sich keinen Reim darauf machen. Daß die Anlage intakt war, hatte sich bereits herausgestellt, daß die Fremden keinen Widerstand entgegensetzte, widersprach jeglicher Logik. Niemand verließ sich ausschließlich auf eine Tarnung, am allerwenigsten Anti‐ES. Plötzlich kam dem Solaner eine geradezu abenteuerlicher Gedanke. War es denkbar, daß man sie für die Schattenwesen hielt, die äußerlich nicht von Menschen zu unterscheiden waren? Es war das Tagesgespräch auf der SOL gewesen, doch spezielle Einzelheiten waren ihm nicht zu Ohren gekommen, nur, daß sie mit Anti‐ES in Verbindung gebracht wurden. Waren sie die Wächter dieser Anlage, hielt man sie für Artgenossen? Der Kommandant der KRAFTWERK schalt sich innerlich einen Narren. Ein Volk, das über diesen Standard verfügte, mußte längst herausgefunden haben, daß sie anders waren. »Hinter dem Tor muß sich eine technische Einrichtung befinden. Ich kann erhöhte energetische Abstrahlungen anmessen«, meldete eine Maschine. »Wir sehen uns das mal näher an«, bestimmte der Kommandant. Auf der einen Seite war er froh, daß die Marschiererei vorerst ein Ende gefunden hatte, auf der anderen Seite hatte er ein ungutes Gefühl. »Wir gehen kein Risiko ein. Geht ein paar Schritte zurück
und aktiviert die Schirmfelder. K‐2DW17‐3271, wir lassen dir und deinesgleichen den Vortritt.« »Geht in Ordnung, Kommandant!« Der tonnenschwere Kampfroboter hüllte sich in seinen körpereigenen Schutzschirm. Die baugleichen Automaten folgten seinem Beispiel. Während zwei gewissermaßen als Rückendeckung des Trupps die Nachhut bildeten, traten die anderen vier vor und formierten sich zu einer Art Schild, der die Solaner zusätzlich schützen sollte. Mit leisem Zischen glitten die Flügelhälften zurück. Sofort verharrte die Maschine im Schritt und stand da wie ein ehernes Monument, bereit, sich von einer Sekunde zur anderen in ein Tod und Verderben bringendes feuerspeiendes Ungeheuer zu verwandeln. Die Solaner hatten ihre Waffen gezogen und hielten den Atem an, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Keiner war völlig ohne Furcht, man erwartete förmlich eine Reaktion, aber jeder rechnete damit, wenigstens den ersten Angriff zu überstehen und unversehrt zu bleiben. Der erwartete Überfall blieb aus, es geschah – nichts. »Es besteht keine Gefahr!« Die Worte des Automaten wurden mit Erleichterung registriert, alles drängte nach vorn, um einen Blick in den Raum zu werfen. Er entpuppte sich als eine riesige Halle, in der sich dicht an dicht völlig fremdartige Maschinen und Aggregate aneinanderreihten. War alles, was man bisher gesehen hatte, noch streng geometrisch und übersichtlich gewesen, so hatten die Solaner nun den Eindruck, daß ein Wahnsinniger hier seiner Phantasie freien Lauf gelassen hatte. Da gab es grotesk verformte Spiralen und Türmchen, faustartige Gebilde, die neun oder zehn Meter hoch waren, verdrehte Säulen, Kuppeln, die an Schneckenhäuser erinnerten, quader‐ähnliche Brocken, die aussahen, als beständen sie aus erstarrter Lava,
deformierte Pilze und verbeulte Gitterkonstruktionen. Die meisten Formen waren unbeschreiblich, doch allen war gemein, daß sie in schreienden Farben gehalten waren – bonbonrosa, giftgrün, blutrot, knallgelb. Einige Männer und Frauen schüttelten sich unwillkürlich. Sie waren nicht die einzigen, die sich zugleich fragten, nach welcher Gesetzmäßigkeit diese Produktionsstätte oder was immer es auch sein mochte, geplant und erbaut worden war. Der Robotkommandant überschritt die Schwelle – und erstarrte mitten in der Bewegung, dann wich er zurück. Alarmiert rissen die Solaner ihre Waffen hoch. »Ein Sperrfeld hat sich aufgebaut!« meldeten mehrere Automaten gleichzeitig. Gutfleisch gab sich keinen Illusionen hin. Das, was eigentlich zu erwarten gewesen war, war nun eingetreten, doch daran, einfach aufzugeben, verschwendete er keinen Gedanken. Er hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, sich darauf eingestellt, daß es kein Spaziergang würde, aber ein Energieschirm vermochte ihn nicht zu schrecken. Ohne lange nachzudenken, entschied er: »Wir nehmen die rechte Abzweigung!« Der Pulk aus Menschen und Maschinen setzte sich in Bewegung kam aber nicht weit. Unsäglich fremde Gestalten kamen ihnen entgegen, Roboter, so deformiert und so grell lackiert wie die Maschinenkolosse. Daß ihre Absichten nicht friedlicher Natur waren, zeigte sich sofort: Sie eröffneten das Feuer. Die Schutzschirme der Kampfmaschinen flammten auf, hielten der Belastung jedoch stand. Sie schossen sofort zurück, trafen auch, konnten aber ebenfalls keinen Erfolg verbuchen. »Zurück!« brüllte Gutfleisch. »Wir ziehen uns zurück!« Geschützt durch die Automaten, eilten die Solaner zur Abzweigung und erlebten eine neue, unangenehme Überraschung: auch durch den anderen Flur bewegten sich die alptraumhaften Synthowesen auf sie zu. Ganz offensichtlich wollten sie den Trupp in die Zange nehmen und ihm den Rückweg abschneiden. Zu allem
Übel waren sie deutlich in der Überzahl. »Schneller!« Mit raumgreifenden Schritten bahnte sich der Kommandant einen Weg nach vorn und setzte sich an die Spitze seiner Leute. Vor ihm stürmten die eigenen Roboter durch den Gang und warfen sich den Angreifern entgegen, hinter ihnen versuchten die restlichen Maschinen, die Stationsautomaten aufzuhalten. Das Fauchen der Strahler wurde von vereinzelten Detonationen übertönt, Rauchschwaden breiteten sich aus und erschwerten die Sicht. Wie Blitze zuckten die Entladungen aus dem dunklen Qualm hervor, Teile der Wand‐ und Deckenverkleidung wurden verflüssigt, ohne jedoch in Brand zu geraten. Die fremden Maschinen setzten ihre Waffen ohne Rücksicht auf Zerstörungen ein. Notgedrungen überließen die Solaner den aktiven Part nicht ausschließlich den Automaten, sondern verteidigten ihr Leben selbst, allen voran Gutfleisch. Zusammen mit vier besonders couragierten Begleitern pirschte er sich an den eigenen Robotern vorbei und riskierte einen Versuch, die Klammer aufzubrechen. Ein Energiestrahl raste über ihre Köpfe hinweg, hinter ihnen explodierte eine Maschine. Komprimierte Luft orgelte durch den Korridor, eine Druckwelle erfaßte die fünf Männer und riß sie von den Beinen. Das war ihr Glück, denn in Brusthöhe schlugen mehrere Feuerstöße in die dahinterliegende Wand und ionisierten die Abdeckung. Wütend riß Gutfleisch noch im Liegen den Strahler hoch und betätigte den Auslöser fast eine Sekunde lang. Ob er getroffen hatte, konnte er nicht erkennen, aber eine Detonation bewies ihm, daß die Angreifer erneut dezimiert worden waren. Vier oder fünf von ihnen hatten bisher dran glauben müssen, drei Ausfälle gab es auf der eigenen Seite, und glücklicherweise war kein Menschenleben zu beklagen. Kriechend, mit den Fingern tastend, schob der Kommandant sich
ein Stück nach vorn. »Bleibt hinter mir«, raunte er, als ihn jemand am Bein berührte. »Tyrol, wir müssen Verstärkung von der KRAFTWERK herbeirufen! Allein schaffen wir es nicht!« »Unterstützung ist bereits unterwegs«, erklang Yesicas Stimme in den Helmfunkempfängern. »Könnt ihr noch ein paar Minuten durchhalten?« »Wir müssen, mein Schatz!« stieß Gutfleisch grimmig hervor. »Übrigens: Vielen Dank, daß du so gut aufgepaßt hast.« Die Sicht hatte sich weiter verschlechtert, Freund und Feind waren kaum noch voneinander zu unterscheiden, doch immer, wenn sich ein greller Körper aus dem Dunst herausschälte, feuerten die Solaner ihre Waffen ab. Ein Aufschrei ließ den schwergewichtigen Solaner herumfahren, Röcheln und Stöhnen war zu hören. »Verdammt, was ist passiert?« »Letima hat es erwischt. Ihr Schutzschirm ist zusammengebrochen. Ihre linke Schulter sieht ziemlich böse aus.« »Halte noch ein wenig aus, Letima, unsere Leute sind auf dem Weg hierher. Wir schaffen es! Kleine, hörst du mich?« Eine Antwort blieb aus. Mit tonloser Stimme sagte der Sprecher: »Sie ist tot.« Gutfleisch gab einen erstickten Laut von sich. »Das werden mir diese Teufel büßen!« Er stemmte sich hoch und ging in die Hocke. Mit beiden Händen umklammerte er die Waffe, schwenkte sie hin und her und feuerte, was das Zeug hielt. Wut und Trauer beherrschten ihn. Ohne Rücksicht auf sich selbst hockte er deckungslos im Flur und löste seinen Strahler aus, wieder und wieder. Um ein Haar wäre ihm das zum Verhängnis geworden. Ein Energiestrahl traf ihn in Brusthöhe und überlastete seinen Körperschirm. Die Hülle wurde instabil, verfärbte sich und brach zusammen. Mit einem lauten Knall stellte der Projektor seinen
Dienst ein. Die kinetische Energie war so groß, daß er davongewirbelt und gegen eine Wand geschleudert wurde. Benommen blieb er liegen. »Tyrol, bist du verletzt?« rief eine aufgeregte Männerstimme. Yesica meldete sich. »Was ist mit Tyrol? Nun sag schon!« »Er ist getroffen worden!« »Oh mein Gott? Lebt er noch?« »Macht euch keine Sorgen, ich bin in Ordnung!« stieß Gutfleisch mit schwerer Zunge hervor. »Kümmert euch nicht um mich, sondern paßt lieber auf, daß uns diese Wahnsinnsmaschinen nicht überrennen.« »Vorsicht, Tyrol!« Einen Kampfroboter hatte es erwischt. Er war nicht zerstört worden, aber sein positronisches Innenleben mußte irreparable Schäden erlitten haben. Torkelnd und mit starker Schlagseite bewegte er sich durch den Flur, geriet endgültig aus dem Gleichgewicht und stürzte polternd zu Boden. Im letzten Augenblick war es dem massigen Solaner gelungen, sich zur Seite zu rollen, sonst wäre er von dem Koloß zermalmt worden. Taumelnd kam Gutfleisch hoch und lehnte sich an die Wand. Seine Knie zitterten, der Atem ging stoßweise. »Bist du okay, Tyrol?« »Ja, Yesica, nur ein paar blaue Flecken, nichts weiter.« »Ich habe eine schlechte Nachricht für euch. Der andere Trupp ist ebenfalls von Robotern angegriffen worden. Ihr müßt versuchen, euch zu uns durchzuschlagen.« »Wir werden alles auf eine Karte setzen.« * Tatsächlich schaffte es das tapfere Häufchen Solaner, den Kordon zu
durchbrechen und sich abzusetzen, aber weitere zwei Frauen und vier Männer verloren dabei ihr Leben, und nur zwei Kampfroboter überstanden die schweren Kämpfe unbeschadet. Noch einmal gerieten sie in arge Bedrängnis, als ihnen in der unteren Pyramide Automaten auflauerten. Es war Serge, der ihnen die Rettung brachte. Angesichts des rücksichtslosen Vorgehens der stationseigenen Maschinen verlor auch Yesica le Ro‐Gutfleisch alle Hemmungen. Durch Einsatz der Bordwaffen schuf sie eine Öffnung, die groß genug war, um die Space‐Jet durchzulassen. Kompromißlos griff der Beibootkommandant die bunten Robots an. Den überlegenen Systemen eines Raumschiffs hatten sie natürlich nichts entgegenzusetzen und wurden reihenweise vernichtet, doch dann bauten sich Sperrfelder auf, die die Space‐Jet zurückdrängten. Da sich die Überlebenden bereits an Bord befanden, sah Mangsystok keine Veranlassung, ein Risiko einzugehen und flog in die obere Halle zurück. Per Transmitter wurden die Besatzungsmitglieder des Kreuzers zur MT‐2 befördert. Das andere Kommando der Solaner hatte sich ohne zusätzliche Unterstützung zur KRAFTWERK durchschlagen können, aber auch erhebliche Verluste erlitten. Dem bärbeißigen Tyrol Gutfleisch standen Tränen in den Augen, als er Hayes berichten mußte, daß das Unternehmen fehlgeschlagen war und er die Namen der Toten durchgab. »Ärger hätte es uns kaum treffen können«, klagte der Kommandant. Als hätte er damit ein Stichwort geliefert, gab der Funker eine Meldung durch: »Notruf von der SATURN und der ZEDER. Sie werden von Abwehrforts angegriffen!« »Bei allen Raumgeistern!« polterte Gutfleisch lös. »Sage ihnen, daß wir schon unterwegs sind. Breckcrown, ich melde mich später noch einmal.«
»Wir kommen euch mit der SOL zu Hilfe!« entschied der High Sideryt spontan und schaltete ab. Mit einer wilden Bewegung aktivierte Tyrol Gutfleisch die Rundrufanlage. »Wir starten auf der Stelle. Wenn Hindernisse auftauchen, werden sofort die Geschütze eingesetzt. Alarmstufe 1!« So‐Eun war auf dem Posten. Mittels der Antigravtriebwerke hob die KRAFTWERK ab und schwebte zum Schacht, dann stieg sie mit wachsender Geschwindigkeit empor. »Es haben sich Sperrfelder aufgebaut!« Die Geschützbedienungen schalteten sofort. Die Transformkanone in der oberen Polkuppel trat in Tätigkeit und feuerte direkt hintereinander zwei Geschosse mit einem Abstrahlkaliber von je 1.000 Gigatonnen ab. Die Explosionen waren so gewaltig, daß das Schiff förmlich gebremst und nach unten gedrückt wurde, doch dank den eingeschalteten Schirmfeldern blieb es unbeschädigt. Auch die Sperrfelder verkrafteten diese ungeheuren Energien, nicht jedoch die Röhre selbst. Das obere Teil wurde regelrecht weggesprengt und zu einem nierenförmigen Trichter erweitert, der es weit größeren Raumern als der MT‐2 ermöglichte, neben den Energieschirmen ins Freie zu gelangen. Der Kreuzer wurde durchgerüttelt und zusätzlich beschleunigt, als die Atmosphäre der Pyramide explosionsartig entwich und sich verflüchtigte. Fast wäre es zu einem Zusammenprall zwischen der KRAFTWERK und der dicht folgenden Space‐Jet gekommen. Kaum, daß die Oberfläche erreicht war, beschleunigte der Pilot mit vollen Werten. Wie eine Kanonenkugel wurde das Beiboot in den Raum katapultiert. Auf Anhieb wurden fünf durch Schutzschirme gesicherte Festungen ausgemacht und gleich attackiert. Für die SATURN sah es nicht gut aus. Drei Forts gleichzeitig hatten sie ins Visier genommen. Sie suchte ihr Heil in der Flucht und setzte auch ihre Geschütze ein, aber selbst ein Volltreffer vermochte den planetengebundenen Waffensystemen nichts anzuhaben,
während im Gegenzug die Schirme der Korvette deutliche Wirkung zeigten. Und dann wurde auch die ZEDER getroffen. »Gutfleisch an SATURN und ZEDER: Beide Schiffe sind sofort aufzugeben, die Besatzungen kommen über Transmitter an Bord der KRAFTWERK!« »Tyrol, mit der SATURN könnten wir es schaffen …«, drang es verzerrt aus dem Empfänger. »Noch ein paar Sekunden, und wir …« »Das ist ein Befehl!« brüllte der Solaner in das Mikrophon. Der Kreuzer wurde von einem Schlag erschüttert, Vibrationen durchliefen das Material, Decken und Wände erzitterten. Sprunghaft schnellte die Schirmfeldbelastung auf achtundsiebzig Prozent hoch. »Jetzt haben sie sich auch auf uns eingeschossen«, sagte Yesica le Ro‐Gutfleisch unbehaglich. »So‐Eun, wenn du bei deinen Flugmanövern nicht bald ein bißchen mehr Phantasie zeigst, wird es uns gehen wie den beiden Korvetten«, grollte der Kommandant. »Doch das lasse ich nicht zu, verstehst du? Es hat bereits genug Tote gegeben. Warum zeigst du nicht einen Hauch von der Genialität einer Cara Doz, zum Teufel?« »Sie ist eine Emotionautin.« »Dann stelle dir vor, du wärst einer der Brick‐Zwillinge!« Der schwergewichtige Mann tat dem Piloten unrecht. Er bemühte sich, die Flugbahn durch unvorhersehbare Manöver schwer berechenbar zu mache, aber hohe Geschwindigkeiten ließen keine abrupten Richtungswechsel zu – ebensowenig wie räumlich enge Figuren. Auf die Geschwindigkeit kam es aber letztendlich an, um der Reichweite der Abwehranlagen so schnell wie möglich zu entkommen. Dort, wo sich eben noch die SATURN befunden hatte, entstand ein greller Glutball, der sich rasch ausdehnte und wie eine Sternschnuppe verging. »Die Mannschaften der beiden Korvetten sind eingetroffen«,
meldete der Transmitterraum. Gutfleischs verkniffenes Gesicht entspannte sich ein wenig. Er ließ sich mit Mangsystok verbinden. »Serge, für dich und deine Leute wäre es auch besser, eure Flunder aufzugeben und zu uns an Bord zu kommen.« »Ich weiß nicht, Tyrol, dein Kahn ist doch jetzt schon hoffnungslos überladen.« Zwei Salven trafen die ZEDER. Für Sekundenbruchteile sah es so aus, als könnten ihr die Energien nichts anhaben, dann wurde sie von einer Explosion zerrissen und verwandelte sich in eine Wolke expandierter Trümmer und ionisierten Gases. »Das war der Untergang einer Korvette.« Der Blick des Kommandanten wurde unnachgiebig. »Serge, wir opfern die Space‐ Jet. Schalte den Autopiloten ein – Ziel: Eins der Forts. Ihr kommt auf die MT‐2.« Mangsystok erkannte, daß diese Entscheidung unumstößlich war. Schweren Herzens sagte er zu und trennte die Funkverbindung. Einige Treffer hatte die KRAFTWERK bereits anbringen können, doch ihre Transformkanonen hatten noch keine der Abwehranlagen ausschalten können. Gutfleisch hoffte, daß umgekehrt auch der Kreuzer durchhalten würde. Neben der MT‐2 entstand eine Sonne, dann eine zweite hinter ihr. Unschwer war zu erkennen, daß sich vier der Waffenkuppeln auf dieses Ziel konzentrierten. Mittlerweile hatte die Space‐Jet ihren Kurs geändert und raste im Zickzackkurs wieder auf den öden Brocken zu. Mehrmals entging sie nur knapp den Energiesalven, doch da sich Serge bereits über Interkom gemeldet hatte, brauchte niemand um das Leben ihrer Insassen zu zittern. Es war eine Art Duell zweier rechnergestützter Systeme, nichts weiter. Ärger stand es da schon um die KRAFTWERK. Ein Wirkungstreffer warf das Schiff aus seiner Bahn und machte es zum Spielball voll entfesselter Kräfte. Flackernd brachen die
Schutzschirme zusammen. Haltlos wurden die Solaner in ihren Sesseln hin‐ und hergeworfen, oben und unten war nicht mehr auseinanderzuhalten. Das Licht erlosch, die Andruckabsorber arbeiteten unregelmäßig. Verstrebungen und Zwischenwände knackten unheilvoll, Schotte knallten zu, die gesamte Schiffszelle ächzte wie ein waidwundes Tier. Selbst das durchdringende Geheul einer Sirene vermochte diese Geräusche nicht ganz zu übertönen. Tief im Innern des Raumers erklangen dumpfe Explosionen, das Dröhnen des Antriebs war verstummt. Der Panoramabildschirm war ausgefallen, Instrumentenabdeckungen zerbrochen, Apparaturen teilweise aus ihren Verankerungen gerissen. Rauch zog durch die Zentrale, es roch nach Ozon und angesengtem Kunststoff. Das zaghafte Grün einiger Kontrolleuchten wurde von der Vielzahl der Rotlichter fast völlig überstrahlt. Beinahe widerwillig sprang die Notbeleuchtung an. Trotz der nicht unbeträchtlichen Schäden hielten sich die Zerstörungen in der Zentrale in Grenzen. Wesentlich schlimmer war, daß der Transmitter ausgefallen und der Normalantrieb nahezu unbrauchbar geworden war. Da die Geschwindigkeit der KRAFTWERK noch nicht so hoch war, daß sie in den Linearraum überwechseln konnte, war es ihr unmöglich geworden, den Kleinplaneten zu verlassen. Unter Aufbietung all seines Könnens gelang es dem Piloten, den Kreuzer einigermaßen heil zu landen. Dabei hatte er das Glück des Tüchtigen auf seiner Seite, denn der Absturz der Space‐Jet zerstörte das Abwehrfort, das dem Schiff endgültig den Garaus machen wollte. Gutfleisch befehligte nur noch ein besseres Wrack. Er und seine Leute waren auf Hilfe von außen angewiesen, doch die SOL hatte selbst Probleme.
5. Ich fühlte mich elend wie nie zuvor in meinem Leben, elend und abgrundtief schlecht. Als Beauftragter von Anti‐ES hatte ich versagt, und ich mußte dessen Wut fürchten, weit schlimmer jedoch war, daß ich mitschuldig war am Tod von Solanern, die in den Planetoiden eingedrungen waren. Dieser innere Zwiespalt ging fast über meine Kräfte, doch ich konnte mich niemandem anvertrauen, weil die innere Sperre bestand. Als sollte ausgelotet werden, wieviel Leid ein Mensch ertrug, wurden dann auch noch die Beiboote auf dem Kleinplaneten angegriffen, und es war damit zu rechnen, daß sie zerstört wurden und ihre Besatzungen dabei umkamen. Warum diese sinnlose Vernichtung von Leben, warum diese Grausamkeit? Was nützte Anti‐ES ein solcher Akt der Unmenschlichkeit? Das hatte mit Machtdemonstration nichts mehr zu tun, das war ein Verbrechen, wie es kein schlimmeres gab – das war Mord! Was hätte ich darum gegeben, meine Qual hinausschreien zu dürfen, jedem zu sagen, welcher Teufel Anti‐ES war und daß ich der Knecht des Bösen war, aber ich brachte kein Wort über die Lippen, saß stumm da, hoffend, fiebernd, daß sie es schaffen würden. Und dann existierte nur noch der Kreuzer! Mein Magen hatte sich zusammengekrampft, ich fror und schwitzte gleichzeitig. Sie mußten es schaffen, denn noch mehr Schuld konnte ich einfach nicht auf mich laden – es hatte schon genug Opfer gegeben. Zu allem Unglück wurde die SOL, die der bedrängten MT‐2 zu Hilfe eilen wollte, auch noch von automatischen Abwehreinrichtungen auf den anderen Planetoiden attackiert und bedrängt. Mein Gott, sollte denn alles umsonst sein, traf es nun auch noch dieses mächtige Schiff und seine Besatzung? Für mich wäre der Tod eine Erlösung gewesen, doch für die anderen … Nein, das durfte nicht geschehen! Zu meiner Erleichterung konnte der Hantelraumer alle Angriffe
abwehren, aber ich durchlitt dabei alle Abgründe und Tiefen der Gefühlsskala. Uns lief die Zeit weg! Noch immer hatte ich das schreckliche Bild vor Augen, als die KRAFTWERK getroffen wurde und schutzlos dem kahlen Brocken entgegentrudelte. Es war furchtbar! Es erleichterte mich nur wenig, daß sie notlanden konnte, denn noch war die Mannschaft ja nicht gerettet! Wieder bangte ich um ihr Leben. Mehr als hundert Solaner … Beiboote wurden ausgeschleust. Sie riskierten es, den vierten Trabanten anzufliegen, um die Männer und Frauen aufzunehmen und in Sicherheit zu bringen, während die SOL die Forts in heftige Gefechte verwickelte und eines nach dem anderen niederrang. Dabei wurde der Kleinplanet ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Das Blut in meinen Ohren rauschte. Wie aus weiter Ferne vernahm ich Atlans Stimme. »Wir werden hier nichts erreichen, dazu hat Anti‐ES seine Nabel zu gut geschützt.« Ich begriff den Sinn der Worte nicht, war mit meinen Gedanken ganz woanders. Viele konnten gerettet werden, aber nicht alle. Ich hatte unsägliche Schuld auf mich geladen, die Last wollte mich schier erdrücken. »Ich würde mich gern zurückziehen«, hörte ich mich sagen. »Natürlich, Kerness. Ruhe dich ein wenig aus!« Seih denn keiner, was mit mir los war? Stand mir das schlechte Gewissen nicht im Gesicht geschrieben? Oder konnte sich ein Mensch gegen seinen Willen so völlig verstellen? Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, zu meiner Kabine zu gelangen. Ich wollte allein sein, doch ich war es nicht. Vor meinem geistigen Auge tauchten Menschen auf – Tote. Ihre ausgestreckten Arme deuteten anklagend auf mich. »Mörder!« schrien sie. »Rotschopf!« Ja, ich war ein Mörder, und ich war Rotschopf, den man vergeblich gesucht hatte …
* Nach wie vor hielten sich Hage Nockemann und Blödel in der Zentrale der SOL auf. Mylottas Fertigkeiten und seine Entdeckung hatten ihr Interesse geweckt, ohne daß sie von der Wahrheit auch nur etwas ahnten. Die Scientologen beschäftigten sich primär mit den Nabelenergien und hofften, mehr darüber herauszufinden. Zumindest vorerst wurde ihnen die Möglichkeit dazu genommen, weil der arg ramponierte Planetoid mit der Station sich ohne äußere Ursache selbst zerstörte. An Bord des Generationenschiffs gab es lange Gesichter, als diese Ortungsmöglichkeit plötzlich verschwand. »Nach den gemachten Erfahrungen in diesem System wird Anti‐ ES seine wichtigen Objekte in Zukunft wohl noch besser tarnen«, sagte Breckcrown Hayes bedächtig. »Sehr wahrscheinlich sogar.« Atlan nickte. »Das dürfte vor allem für den Hauptnabel gelten. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, daß es diese Anlage nicht war.« Darin stimmten alle Anwesenden überein, mehr noch, sie waren wie der Arkonide davon überzeugt, daß sie den Hauptnabel bisher nicht einmal gefunden hatten. »SENECA besitzt ja noch die übrigen Positionsdaten. Um keine unnötige Zeit zu verlieren, schlage ich vor, daß er den nächstgelegenen Nabel ermittelt und wir dorthin fliegen.« Zur allgemeinen Überraschung meldete sich die Biopositronik ohne eine direkte Aufforderung. »Die Koordinaten wurden gelöscht und sind nicht mehr verfügbar.« Diese Nachricht löste unter den Versammelten große Aufregung aus. Nockemann hielt es nicht mehr in seinem Sessel, er sprang auf. »Wer um alles in der Welt soll das denn veranlaßt haben?« »Lyta Kunduran!«
Die Nennung des Namens hatte die Wirkung einer Bombenexplosion und ließ jedes Gespräch auf der Stelle verstummen. Ungläubigkeit zeichnete sich auf den Gesichtern ab, Betroffenheit, Verständnislosigkeit, beinahe kindliches Staunen. Niemand wollte es so recht glauben, aber die Hyperinpotronik konnte nicht lügen. Unzählige Augenpaare richteten sich auf »Bit«, die wie vom Donner gerührt war. Schon signalisierte der eine oder andere Blick unausgesprochenes Mißtrauen. »Aber das stimmt nicht«, stammelte die Stabsspezialistin. »Warum hätte ich das tun sollen?« »Du hast die Daten gelöscht«, beharrte SENECA. »Du mußt dich einfach täuschen. Diese Anweisung habe ich dir nie gegeben.« »Lyta sagt die Wahrheit«, bestätigte Breiskoll, und auch Federspiel versicherte: »Sie ist absolut unschuldig.« »Dann«, sagte der Aktivatorträger sehr bestimmt, »muß SENECA manipuliert worden sein. Wir müssen mit allen Mitteln versuchen, dieses Rotschopfs habhaft zu werden.« »Das haben wir bisher vergeblich versucht. Wo sollen wir denn noch suchen?« Auf Hertsʹ Frage wußte weder Atlan noch sein Logiksektor eine Antwort. Wieder einmal stand es um die Sache des Arkoniden und seiner Mitstreiter nicht gut. In B‐727/M hatte man nur herbe Verluste erlitten und so gut wie nichts erreicht, und zu allem Übel hatte man noch etwas an Bord, das sich nicht greifen ließ. Damit nicht genug, war ihnen auch die Möglichkeit genommen, konkrete Ziele anzusteuern, was Anti‐ES betraf. Der Unsterbliche wußte, daß es in Bars‐2‐Bars nunmehr noch achtunddreißig Übergangsstellen und den Hauptnabel geben mußte, doch dieses Wissen und die vielleicht noch grob bestimmbaren Positionen nutzten wenig. Das Fiasko im System des Roten Riesen hatte gezeigt, daß den Dimensionsknoten kaum beizukommen war. Atlan widersprach daher auch nicht, als Hayes die Rückkehr nach
Anterf anordnete und zugleich Anweisung gab, daß sich während des Fluges alle konzentriert um die Lösung des Problems kümmern sollten, das in Ermangelung einer anderen Definition »Rotschopf« genannt wurde. Besonders die Scientologen nahmen sich diesen Appell zu Herzen. Wie nicht anders zu erwarten, rief diese Formulierung Nockemanns bei Blödel einen Heiterkeitsausbruch hervor, den der Genetiker allerdings durch massive Drohung schnell unter Kontrolle bekam. * Ein wesentlicher Vorteil der Roboter gegenüber Menschen besteht darin, daß sie keinen Schlaf benötigen, und Blödel bildete darin keine Ausnahme. Während sein Herr und Meister sich zur Ruhe gelegt hatte, um Körper und Geist zu regenerieren, geisterte er durch das gewaltige Generationenschiff in der vagen Hoffnung, dem Fremden auf die Spur zu kommen. Wie gewohnt hielt sich die mobile Laborpositronik im Mittelteil auf, denn dort liefen alle Fäden zusammen. Wer immer einen wirksamen Anschlag auf die SOL verüben wollte, kam an dem zylindrischen Verbindungsstück nicht vorbei, denn hier befand sich nicht nur die Zentrale, sondern auch die besonders gesicherte Kugel mit SENECA. Mensch und Maschine hatten sich hier, was die Scientologen betraf, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Scheinbar ohne System patroullierte der kauzig gestaltete Roboter durch die größtenteils menschenleere Gänge. Mit Zustimmung Nockemanns, Atlans und der Schiffsführung hatte er einige Vorkehrungen getroffen, die zum Erfolg führen sollten. Blödel bewegte sich gerade auf einen Flur zu, der zur Zentrale führte, als ein Mikrosensor ansprach. Er reagierte nicht nur auf die eingespeisten Daten von »Bit«, sondern auch auf das Bild von
Rotschopf. Das Signal ließ erkennen, daß eindeutig die Stabsspezialistin identifiziert worden war. Durch einen Kontrollanruf versicherte sich Blödel, daß Lyta Kunduran nach wie vor in der Zentrale Dienst tat, dann wieselte er los, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Die Geschwindigkeit die er dabei entwickelte, war beachtlich. Es wäre naheliegend gewesen, der falschen Solanerin zu folgen, doch der Roboter entschied sich dagegen. Abkürzungen nehmend, eilte er ihr entgegen und bewegte sich dann gemächlich weiter. »Hallo, Lyta, so spät noch unterwegs?« »Wie du siehst – ja.« »Wer hat denn jetzt das Kommando über die SOL? Ich meine, ist dein Platz im Augenblick nicht woanders – in der Zentrale?« »Was kümmert dich das?« »Lyta Kunduran hat sich nach Federspiels Aussage nicht vom Fleck gerührt. Das bedeutet, daß du eine Doppelgängerin bist, und wahrscheinlich bist du auch der gesuchte Rotschopf, stimmtʹs?« Die vermeintliche Frau wartete nicht ab, bis Blödel sie ergriff, sondern warf sich auf dem Absatz herum und rannte wie von Furien gehetzt davon. Sofort folgte ihr der Roboter und alarmierte über Funk andere Automaten, die in gleicher Mission unterwegs waren. Die mobile Positronik holte auf. Schon fuhr sie ihre Tentakelarme aus, als die Verfolgte plötzlich eine Waffe zog und auf Nockemanns Assistenten feuerte. Zum Glück für diesen hatte sie schlecht gezielt, aber Blödel war unbewaffnet und sah sich gezwungen, auf, Distanz zu gehen und Deckung zu suchen. Die Fremde rannte weiter. Natürlich gab der Roboter nicht einfach auf, aber er hielt notgedrungen einen größeren Abstand. Entkommen konnte sie nicht, denn überall waren Maschinen postiert, die sich an seinen Standortmeldungen orientierten und den Ring immer enger zogen. Lytas Ebenbild bog in eine Abzweigung ein, die zu einem
Verteiler führte. Um nicht in einen Hinterhalt zu geraten, wartete Blödel einige Sekunden, dann sauste er wie ein Irrwisch um die Ecke, doch ihm wurde nicht aufgelauert. Zweihundert Meter vor ihm bewegte sich die falsche Solanerin durch den Gang – und dann tauchten Kampfmaschinen auf und versperrten ihr den Weg. Sofort löste sie ihren Strahler aus, aber die Roboter hüllten sich gedankenschnell in ihre körpereigenen Schutzschirme. Wirkungslos verpufften die Salven, dann war einer der Automaten heran und entriß ihr die Waffe. »Wer immer du auch bist, das Spiel ist aus«, sagte Blödel mit seiner männlich klingenden, knarrenden Stimme. Das Gesicht von Lytas Doppelgängerin verzog sich zu einer Grimasse, dann verwandelten sich ihre Züge auf einmal – ihre ganze Gestalt änderte sich, wurde männlich. Vor dem Scientologen stand ein schlanker, jugendlicher Solaner mit rotem Haar – Rotschopf. »Also doch!« konstatierte Nockemanns Mitarbeiter. Ansatzlos schnellte sich Rotschopf nach vorn. Blödel reagierte sofort auf den Angriff, doch der Fremde täuschte ihn mit einer Körperdrehung, unterlief seine ausgestreckten Arme und katapultierte sich mit weiten Sprüngen davon. »Er darf nicht entkommen!« rief Blödel. »Das ist kein Mensch!« Die Kampfmaschinen setzten ihre Paralysatoren ein, ohne daß Rotschopf Wirkung zeigte. »Halt, stehenbleiben!« Das Wesen ignorierte den Anruf und lief weiter, obwohl die Automaten einen Warnschuß abfeuerten, der dicht über die flammendrote Mähne hinwegstrich. Und dann geschah etwas, mit dem niemand rechnen konnte. Wohl in der Annahme, daß seine Verfolger auf die Beine schießen würden, sprang der Pseudo‐ Solaner unvermittelt empor – genau in eine Salve hinein, die die Automaten abgegeben hatten, um ihn nochmals zur Aufgabe zu bewegen.
Die vernichtenden Strahlen, die wirkungslos verpufft wären, töteten den Flüchtenden auf der Stelle. Wie vom Blitz gefällt brach er zusammen, und kaum, daß sein Körper den Boden berührte, begann er, sich zu verformen. Dafür konnte unmöglich die freigesetzte Energie verantwortlich gemacht werden. Kleidung, Haare, Kopf, Gliedmaßen und Torso verwandelten sich in eine amorphe Masse, die semitransparent, fast farblos war wie Froschlaich. Die ursprünglichen Konturen verschwanden, die gallertartige Substanz zerfloß wie klebriger Brei zu einer Art Riesenamöbe. In dem Bewußtsein, nicht mehr helfen zu können, beobachtete Blödel den Vorgang mit wissenschaftlicher Akribie. Er bedauerte, daß Rotschopf getötet worden war, aber es hatte sich um einen Unfall gehandelt, an dem die Kampfmaschinen schuldlos waren. Vorsichtig nahm die mobile Laborpositronik eine Zellprobe und schob sie zur Analyse in ihren Körper. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. »Es handelt sich eindeutig um ein Fremdwesen, das seine Struktur verändern konnte«, erklärte sie, obwohl die anwesenden Roboter damit kaum etwas anfangen konnten. »Die treffende Bezeichnung dafür wäre wohl ›Molekülverformer‹. Aus diesem Grund haben wir Rotschopf auch nicht aufspüren können, weil er in der Lage war, jede beliebige Gestalt anzunehmen.« Blödel zwirbelte seinen grünen Plastikbart – eine Geste, die er seinem Herrn und Meister Nockemann abgeguckt hatte. »Ein schrecklicher Gedanke, wenn er als ich aufgetreten wäre. Nicht einmal Bjo und Federspiel hätten den Unterschied herausfinden können, und möglicherweise hätte man den Falschen gejagt und sogar zur Strecke gebracht – eine gräßliche Vorstellung.« Er musterte die schleimige Masse. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie dieses Wesen auf die SOL kommen konnte.«
* Die stundenlange intensive Suche hatte schließlich auch Erfolg. In einem kaum benutzten Lagerraum fand man versteckt hinter leeren Containern zahlreiche Ausrüstungsgegenstände, wie sie von den Anterferrantern benutzt wurden. Damit stand fest, daß der Molekülverformer unbemerkt auf Anterf an Bord gegangen sein mußte. Da er sein Aussehen beliebig verändern konnte, war es für ihn kein Problem gewesen, als Solaner getarnt ins Schiff zu gelangen. Natürlich vermutete man, daß Anti‐ES dahintersteckte, aber da die Gefahr nun gebannt war, beließ man es dabei, für die Zukunft zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen anzuordnen, um eine Wiederholung auszuschließen. Atlan und Hayes waren zufrieden, daß alles so gut ausgegangen war. Natürlich war das auch Hage Nockemann, obwohl er ein wenig grantig darüber war, daß Blödel wieder einmal im Alleingang gewonnen hatte. Daß in Wahrheit alle hinters Licht geführt worden waren und die Sicherheit nur trügerisch war, wußte niemand – bis auf einen, aber der konnte nichts sagen. Mehr noch: Er galt als absolut loyal und unverdächtig – und er lebte noch. Sein Name: Kerness Mylotta. 6. Ich war in einen unruhigen Schlaf gefallen und schreckte immer wieder daraus hoch, weil mich wirre Träume plagten. Am meisten erschreckten mich Bilder, die immer wiederkehrten: Ich befand mich in der SPARTAC‐Zentrale und betrachtete die Projektion mit den neununddreißig Dimensionsknoten, als diese plötzlich zu pulsieren begannen. Hyperenergien schossen daraus hervor, griffen nach mir und umschlangen mich wie klebrige Fäden. Am ganzen Körper
gefesselt und unfähig, mich zu wehren, wurde ich in die Projektion hineingezogen, schnell und immer schneller. Sterne sausten an mir vorbei, Planeten und Sonnensysteme, längst war die SOL verschwunden, und dann hatte ich auf einmal das Gefühl, zu fallen. Tintige Schwärze umgab mich, ich wollte schreien, aber kein Ton kam über meine Lippen. Etwas fing mich sanft auf, dann war da völlig unerwartet ein ganz eigenartiges, fast mystisches Licht, glitzernd und fremd. Ich erkannte, daß ich in ein Netz gefallen war – ein Netz mit neununddreißig Knoten. Von diesen Fäden ging das merkwürdige Leuchten aus. Von unten drang düsteres Zwielicht herauf. Voller Schrecken stellte ich fest, daß ich nicht in dem Netz lag, sondern außen daran festklebte. Tief unter mir befand sich ein gewaltiger Abgrund, der nur darauf zu warten schien, mich zu verschlingen. Totenschädel grinsten mich an, und Knochenhände winkten mir zu. Krampfhaft versuchte ich, mich festzukrallen, aber ich hatte plötzlich keine Finger mehr. Und dann verlor ich den Halt, stürzte den Skeletten entgegen … und wachte schweißgebadet auf. Schwer atmend blieb ich liegen, ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft. Die Gerippe – das waren die Solaner, an deren Tod ich mitschuldig war, und die Nabel waren zweifellos das Symbol für Anti‐ES, aber was … Kerness Mylotta! Diese Stimme! Ich kannte sie – und ich fürchtete sie. Anti‐Es! Ich habe dich nicht gerufen! Werde nicht anmaßend! Glaubst du, ich brauche deine Einwilligung, um mit dir zu sprechen, du Nichts? Etwas preßte mein Gehirn mit solcher Kraft zusammen, daß mir der Schmerz fast die Besinnung raubte. Bitte nicht, du bringst mich ja um! Warum fürchtest du dich auf einmal vor dem Tod! Hast du ihn nicht herbeigesehnt, wolltest du nicht sogar Hand an dich selbst legen?
Ja, aber jetzt will ich leben! Weil ich will, daß du lebst, dabei hätte ich guten Grund, deinem ursprünglichen Wunsch nachzukommen. Du hast versagt! Ein grimmiger Impuls traf mich, der mir körperliche Qualen bereitete. Ächzend krampfte ich mich zusammen. Nicht, bitte nicht … Hör auf zu winseln, ich bringe dich nicht um, im Gegenteil, ich verzeihe dir, denn ich benötige dich noch als Helfer. Was … was soll ich tun! Nicht jetzt, du Dummkopf! Die Stimme klang ärgerlich. Ich habe große Pläne, und du spielst bei deren Realisierung eine bedeutende Rolle, Kerness Mylotta! Warum gerade ich? Weil du eine besondere Veranlagung besitzt! In Zukunft benötigst du auch keine zweite Persönlichkeit mehr wie die als Rotschopf. Ich habe dein drittes Auge aktiviert, so daß du mittels gespeicherter Hyperenergien von Zeit zu Zeit Pseudowesen erzeugen und als gelenkte Helfer einsetzen kannst, wie du es ja bereits getan hast. Lyta Kunduran und Rotschopf. Ganz recht. Die falsche Lyta Kunduran hat SENECA überlistet und zur Löschung der Nabeldaten veranlaßt. Sie verging, dafür entstand der fiktive Rotschopf scheinbar aus ihr heraus. Durch das Ende seiner Existenz sind alle Spuren verwischt worden, die dich als Urheber entlarven könnten. Die Stimme in mir schwieg. Schon dachte ich, Anti‐ES hätte sich wieder zurückgezogen, als es sich erneut meldete. Ich werde dich und deine Position weiter stärken, du wirst so mächtig werden wie Anti‐Homunk. Ich werde all deine Wünsche erfüllen, denn du wirst durch mich zum absoluten Herrscher. Niemand wird es mit dir aufnehmen können. Ein homerisches Gelächter erschütterte mich innerlich. Außer mir natürlich! Kann ich auch die Herrschaft über die Solaner und die SOL bekommen?
Ein Schwall von Ablehnung überflutete mich. Nein, niemals, es wäre außerdem absurd, denn beide werden in Kürze nicht mehr existieren, weil sie ausgeschaltet werden. Durch die Nabel, die nun nicht mehr gemessen und registriert werden können, werde ich eine Flotte der Gyranter schicken, um die SOL zu vernichten. Und ich? Was geschieht mit mir? Du wirst rechtzeitig gerettet. Ich lasse meine Helfer nicht im Stich. Aber Anti‐Homunk … Ein peinigender Impuls traf mich, glühende Messer bohrten sich in meinen Leib. Ich schrie auf. Du wirst solche Fragen in Zukunft nicht mehr stellen, Kerness Mylotta, denn ich werde deinen Willen durch meinen ersetzen. Du wirst mein gehorsamer Diener sein, mein Sklave, mein Werkzeug. Daß ich dich trotzdem belohnen werde, zeigt meine Großmut. Der Schmerz ebbte ab. Ich vermerkte es mit Dankbarkeit und Erleichterung zugleich. So ist es recht. Du darfst nie vergessen, daß ich ab jetzt dein Herr bin. Ich bin es auch, der dich jederzeit strafen und dir das Leben nehmen kann. Ich werde gehorchen. Wieder erfüllte mich das hallende Gelächter. Du mußt gehorchen, Kerness Mylotta! Das Lachen verhallte. Ich konzentrierte mich. War da nicht etwas Tastendes, etwas, was meinen Geist berührte, ihn zurückdrängte? Nimmst du mir jetzt meinen Willen? Ihr Sterblichen habt wirklich eigenartige Vorstellungen davon, was und vor allem wie eine Super‐Intelligenz ist. Diese Feststellung klang geradezu belustigt. Es wäre überhaupt kein Problem, dich so zu konditionieren, daß du schlagartig deine eigene Persönlichkeit verlierst, aber dann wärst du ziemlich wertlos für mich – wie eine Bombe, die auch nur einmal eingesetzt werden kann. Nein, du hast für mich einen höheren Stellenwert. Du sollst nicht nur eine Super‐, sondern auch eine Langzeitwaffe sein. Eingedenk der schmerzlichen Erfahrungen verdrängte ich die
Frage, die ich auf der Zunge hatte, und bemühte mich an Banalitäten zu denken. Du kannst mir nichts verheimlichen, Kerness Mylotta, auch wenn du es versuchst, dröhnte es in meinen Kopf. Für dich mag es einen Widerspruch geben zwischen der Aussage, daß die SOL in Kürze vernichtet wird und ich dich als Langzeitwaffe betrachte, aber ich plane in anderen Zeiträumen. Und was die Ausschaltung deines Willens angeht: Ich werde dich den Gegebenheiten entsprechend schrittweise anpassen, damit deine Umwelt keinen Verdacht schöpft. Niemand wird etwas merken. Ich selbst auch nicht? Natürlich wirst du Veränderungen an dir feststellen, aber du kannst sie nicht rückgängig machen. Macht hat ihren Preis! Deutlich hörte ich den Unwillen heraus und versteifte mich innerlich, aber kein strafender Impuls traf mich. Damit du mich besser verstehst, und ganz in meinem Sinn handeln kannst, will ich dir die beiden Ziele nennen, die ich vorrangig verfolge: Der Zustand von und in Bars‐2‐Bars mit den Übergangsstellen darf nicht verändert werden. Wer ihn stört, muß beseitigt werden. Es gehört zu deiner Aufgabe, mich darin zu unterstützen. Mechanisch nickte ich. Eine zusätzliche Nabelstation ist noch in Arbeit. Sie wird entsprechend geändert, und mit ihrer Hilfe werde ich Bars‐2‐Bars in einen Galaktischen Strudel verwandeln, der Wöbbeking‐NarʹBon anziehen wird. Er ist es, den ich dringend zu meiner Vervollkommnung benötige. Ich erwartete noch weitere Informationen, doch die Stimme in mir schwieg. Mir schwirrte förmlich der Kopf. Mit den Begriffen Bars‐2‐ Bars und Wöbbeking‐NarʹBon vermochte ich durchaus etwas anzufangen, aber was bedeutete »Galaktischer Strudel«, in welchem Zusammenhang stand das alles? Atlan wußte es sicherlich, vermutlich auch Hayes, aber sie konnte ich nicht fragen, denn sie waren die Gegner von Anti‐ES und damit auch automatisch meine Feinde. Seltsam, noch vor wenigen Stunden hatte ich sie als Freunde und
Verbündete betrachtet, erst jetzt durchschaute ich sie als das, was sie wirklich waren: Machthungrige, skrupellose Verbrecher, denen jedes Mittel recht war, um der Wesenheit, der ich diente, ihre angestammten Rechte zu entreißen, um selbst deren Position einzunehmen. Und die dummen Solaner halfen ihnen in ihrer Ahnungslosigkeit dabei. Die gräßlichen Visionen von vorhin waren verschwunden, ich fühlte mich leicht und beschwingt, fast ein bißchen euphorisch. Warum hatte ich mich eigentlich dagegen gewehrt, für Anti‐ES tätig zu werden? Gab es mir nicht all das, was ich immer gewollt hatte? Zufriedenheit, Selbstwertgefühl, Gelöstheit, innere Gelassenheit, ja sogar Lebensfreude? Hatte ich nicht jetzt erst ein wahrhaft erstrebenswertes Ziel vor Augen? Meine Abneigung, Anti‐ES in seinem berechtigten Begehren zu unterstützen, war mir auf einmal völlig unverständlich. Nicht, daß mich die Aussicht auf Macht lockte, nein, man mußte einfach der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Ich weiß nicht, wie lange ich auf meiner Liege hockte und über entsprechende Strategien nachdachte, dann kamen mir auf einmal Zweifel. War wirklich alles so schlecht gewesen, was Atlan und der High Sideryt getan hatten und noch tun wollten? Waren wir alle – mich eingeschlossen – wirklich so negativ orientiert? Von widerstreitenden Gefühlen erfüllt, ließ ich mich zurücksinken. Unbewußt streifte mein Blick die automatische Datumsanzeige: Es war der 11.2.3808. ENDE Die SOL ist wieder auf Anterf gelandet, wo man sich in Sicherheit wähnt. Doch diese Sicherheit ist trügerisch, wie sich bald herausstellt. Anti‐ES zieht seine Fäden – und lenkt die GESCHÖPFE DES NICHTS …
GESCHÖPFE DES NICHTS – das ist auch der Titel des Atlan‐Bandes der nächsten Woche. Als Autor zeichnet Peter Terrid.