Von Sterling E. Lanier erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Hieros Reise 06/3425 In der BIBLIOTHEK DE...
84 downloads
799 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Von Sterling E. Lanier erschien in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Hieros Reise 06/3425 In der BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR: Hieros Reise 06/39
STERLING E. LANIER
Der unvergessene Hiero Science Fiction Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4197
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE UNFORSAKEN HIERO
Deutsche Übersetzung von Reinhard Heinz Das Umschlagbild schuf Karel Thole Die Illustrationen sind von John Stewart Die Karte zeichnete Erhard Ringer Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1983 by Sterling E. Lanier Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1985 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg
ISBN 3-453-31172-8
Für Bruder Pete alias Berwick B. Lanier der aus unerfindlichen Gründen mein Fan bleibt.
Prolog: Neue Mission In den fünftausend Jahren, die seit dem ›Tod‹ vergangen waren, hatte sich die Welt verändert. Gewaltige Wälder und Öden bedeckten das meiste Land. Die einstigen ›Großen Seen‹ bildeten nun eine einzige Inlandsee. Das Klima war wärmer, da sich die Welt mitten in einer zwischenzeitlichen Periode befand. Gewisse Tier- und Pflanzenarten waren ausgestorben, während es bei anderen zu seltsamen Entwicklungen gekommen war. Im einstigen Westkanada lag nun die Republik Metz und rang, von den gelehrten Priestern der Abteien gelenkt, um die Erhaltung der Zivilisation und Wiederauffindung verschollenen Wissens. Aber sie verloren immer mehr an die Unreinen, einer Dunklen Bruderschaft jener, welche die normale Menschheit auszurotten und die Naturgesetze ihren bösen Absichten zu unterwerfen suchten. Sogar die geistigen Kräfte, die in den Abteien ausgebildet worden waren, erwiesen sich als unzulänglicher Schutz vor den jüngsten Übergriffen der Unreinen und ihrer scheußlich mutierten Tierhorden, der Lemuts. Der wohlehrwürdige Abt Kulase Demero war sich sicher, daß ein Mittel zur Vernichtung der Unreinen in den Aufzeichnungen und Artefakten zu finden wäre, die im Zentralarchiv der Abtei verwahrt wurden. Aber das Zusammentragen und Auswerten all dieser offenbar systemlosen Informationen erforderte Zeit und Arbeitskräfte, die er nicht hatte. Derartige Arbeiten wurden, wie er wußte, einst von sogenannten Computern geleistet. Abt Demero hatte keinen Computer – allerdings deutete alles darauf hin, daß ein solches Gerät, vergraben und verschüttet, irgendwo im tiefen Süden noch existierte. Den Computer zu finden und mitzubringen wäre freilich ein gefahrvolles Unternehmen. Wenig war über die Gegenden südlich der Inlandsee bekannt, und der Weg führt durch Länder, die von den Unreinen beherrscht wurden. Für diese abenteuerliche Mission
erwählte Abt Demero seinen ehemaligen Schüler Per Hiero Desteen, einen Priestersoldaten, der sich als Läufer und Ältester Vollkämpfer im Grenzschutz bewährt hatte. Hiero brach auf mit seinem Ellk Klootz, einem weiterentwickelten Elch. Das intelligente, treue Reittier wurde telepathisch gesteuert und war bei jeder Gefahr ein unersetzlicher Verbündeter. Bald gesellte sich zu ihnen Gorm, ein junger Bär, von seinen Ältesten ausgesandt, um die Wege der Menschen zu ergründen. Gorm schickte Hiero die mentale Warnung, daß ein Adept der Unreinen ihm auflauere. Der Bär half ihm, den Adepten und später die gräßlichen Lemut-Horden zu schlagen, die die Unreinen immer zahlreicher auf die Gefährten hetzten. Dann rettete Hiero ein junges Mädchen, das von einem wilden Stamm gefoltert wurde. Sie hieß Lucare und bezeichnete sich als Prinzessin von Dalwah, einer Nation am Lantikmeer. Sie erzählte, aus ihrer ungewollten Ehe davongerannt, von Sklavenhändlern gefangen und schließlich an die Folterer verkauft worden zu sein. Sie war anders als alle Menschen, die Hiero je zu Gesicht bekommen hatte, denn ihre Haut war sehr dunkel und ihr Haar dicht und kraus; sein Volk, die Metz, hatten glattes Haar und eine rosige Haut, denn sie stammten von den Mestizen, einer Mischung aus Frankokanadiern und Indianern ab. Später wurde Hiero von den Unreinen gefangengenommen. In ihrer Festung wurden seine geistigen Kräfte mit Hilfe der entarteten Wissenschaft der Unreinen ausgeschaltet, aber er lernte, bislang unbekannte mentale Kräfte zu nutzen. Damit unterwarf er sich einen Adepten und zwang ihn, ihm bei der Flucht zu helfen. Wieder mit seinen Gefährten vereint, ergründete Hiero seine neuen Fähigkeiten weiter, während er Lucare im Gebrauch ihrer erwachenden mentalen Kräfte unterwies. Auf ihrer Flucht in den Osten waren ihnen die Unreinen dicht auf den Fersen. Aber das Vorankommen wurde immer mühsamer, und schließlich saßen sie in den halb versunkenen Ruinen einer uralten Stadt fest.
Sie wurden gerettet von einem plötzlich auftauchenden Elfer, einem jener geheimnisvollen Wanderer, die das sogenannte Elfte Gebot befolgen: »Du sollst nicht vernichten die Erde oder das Leben, das sie trägt.« Bruder Aldo benutzte die Macht, die er als Elfer über Tiere hatte, um aus der Tiefe ein Ungeheuer zu rufen und die unreinen Angreifer zu vernichten. Dann schloß er sich den Gefährten an, führte sie zu einem Schiff und bewegte Kapitän Gimp dazu, sie über die Inlandsee zu fahren. Sie wurden verfolgt und von den maschinengetriebenen Zerstörern der Unreinen angegriffen, hatten aber die Südküste erreicht, ehe ihr Schiff sank. Zusammen mit Kapitän Gimp und seinen Matrosen stürzten sie sich in die unbekannten Gefahren des südlichen Urwalds – ihrem einzigen Weg in die Sicherheit und zum mutmaßlichen Fundort des Computers, den Hiero suchte. Nach der Begegnung mit einer wunderlichen Frauenrasse, die in den Bäumen lebte, gelangten sie in die Gegend, die auf Hieros uralter Karte bezeichnet war. Dort entdeckte Hiero mit Gorms Hilfe schließlich einen Eingang in eine große unterirdische Anlage voller mysteriöser Apparate. Bevor er die Anlage ganz durchsucht hatte, strömten die Kräfte der Unreinen in den unterirdischen Bau. Hiero konnte gerade noch einen Zeitzünder, den Bruder Aldo ihm gezeigt hatte, in Gang setzen. Dann mußte er mit seinen Gefährten fliehen. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie die gewaltige Explosion, die das ganze Gelände zerstörte. Falls dort je ein Computer gewesen war, so war er nun für immer verloren. Dann deutete Bruder Aldo auf das, was Lucare unten entdeckt und mit heraufgebracht hatte. Sie hielt ein dreibändiges Werk mit dem Titel Principles of a Basic Computer. Mit dieser Anleitung könnten die Abteien ein eigenes Gerät bauen. Nun mußten die Bücher nur noch in den Norden zu Abt Demero geschafft werden. Aber Bruder Aldo hatte andere Pläne mit ihm.
Es brannten zwei Feuer in der Nacht und spendeten das einzige Licht in der finsteren Steppe. Eine kleine Gruppe saß um das eine. Etwas abseits kauerten am zweiten Hiero und Lucare, Bruder Aldo zugewandt. Der Greis blickte in die Flammen. Von seiner Haut, die dunkel wie die von Lucare war, hob sich hell der gezwirbelte weiße Bart ab. »Ich muß wieder nordwärts ziehen«, erklärte Bruder Aldo schließlich. »Ich muß meine Mitbrüder wachrütteln. Seit vielen Leben erstreben wir den Frieden, aber es herrscht kein Friede. Wir stehen vor der Vernichtung und müssen uns dagegen wehren. Es genügt nicht mehr, abzuwarten und den Feind im Auge zu behalten.« Tiefe, traurige Falten gruben sich in sein Gesicht, so daß sich mit einemmal sein hohes Alter erkennen ließ. Hiero blieb stumm. Seine Haut war heller und rosiger als die seiner Gefährten, und sein schwarzes Haar, das bis zu den Ohren reichte, dick und glatt. Mit seiner Hakennase und dem kräftigen, geschmeidigen Körper hätte er fast einer seiner amerikanischindianischen Vorfahren sein können, wäre da nicht der hübsche Schnauzer gewesen; der Bartwuchs deutete auf den kaukasischen Einschlag bei seinen einst verpönten Ahnen hin. Neben ihm saß, offenbar dösend, Lucare, den Kopf auf seine Schulter gelehnt. Lächelnd schmiegte er den Arm fester um ihre Hüfte. Zu seiner Rechten plauderten Kapitän Gimp und die Seeräuber an ihrem Feuer. Zu seiner Linken ragte der Saum des großen Waldes im Dunkeln auf. Er dachte an die seltsamen Baumfrauen und ihre Königin Vilah-ri. Würde er eine davon noch einmal zu Gesicht bekommen? Er vertrieb die Gedanken daran, als Bruder Aldo wieder zu sprechen begann. »Wir haben uns soweit gut geschlagen«, erklärte der Greis. »Wir haben die Unreinen aufgehalten, viele davon vernichtet und das erbeutet.« Er deutete auf das Bündel mit den verschollenen Büchern des Altertums. »Du hast deine Mission erfüllt, Per Hiero. Aber noch
ist dein Werk nicht getan. Die nächste Gefahr droht aus dem Süden. Und dorthin mußt du nun gehen – du und Lucare!« »Und was wird aus den Büchern?« wandte Hiero ein. »Ich muß sie schnellstmöglich zu Abt Demero bringen. In diesen südlichen Prärien habe ich nichts verloren. Ich bin nur hierher gekommen, um das Wissen zu beschaffen, das wir im Norden brauchen.« Der Elfer lächelte kurz. »Mach dir keine Sorgen um Demero, mein Junge. Die Bücher bring' ich in den Norden. Das wird dem Abt durchaus recht sein. Ich kenne Demero – kenn' ihn schon länger, als du lebst. Wer, glaubst du, hat mich mit deinem Schutz betraut? Warum, meinst du, war ich im rechten Moment zur Stelle, als du in der versunkenen Stadt gefangen warst? Überleg doch mal!« Hiero brummte verdutzt. Aber das erklärte viel. Es war kein Zufall gewesen, kein Glücksfall, daß der Elfer rechtzeitig auftauchte. Wie viele andere waren beauftragt worden, diese Mission im Auge zu behalten. Hiero lächelte kläglich. »Ich hätte mir denken können, daß Demero ein paar Trümpfe in der Hand behielte, von denen ich nichts ahnen würde«, räumte er ein. Bruder Aldo kicherte, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich breche bei Morgengrauen in den Norden auf. Ich nehme Gimp und seine Männer mit. Vielleicht können wir irgendwo ein Schiff ergattern. Allerdings muß ich auch Gorm mitnehmen. Ruf ihn!« Hiero schickte rasch einen Gedankenruf in der Wellenlänge des jungen Bären aus. Schläft denn hier sonst keiner? knurrte er im Geist, während er seine Massen neben ihnen niederplumpsen ließ. Hiero lachte. Du hast nichts als Schlafen im Sinn, während wir uns den Kopf zerbrechen müssen. Er beäugte Gorm abschätzig. Es war schier unglaublich, daß sein Volk den Schülern der Abtei nahezu verborgen geblieben war. Ihr Verstand reichte fast an den menschlichen heran, und versteckt konnten sie sich nur so lange halten, weil sie scheu waren. Der ›Tod‹ hatte sonderbare und gräßliche Mutationen hervorgebracht, aber auch
manches Wunder gewirkt, wovon eines Gorms Rasse war, das stille, zurückgezogene Bärenvolk, dessen Weisen Gorm ausgesandt hatten, um Wissen zu sammeln. Du willst, daß ich mit diesem Alten nordwärts gehe, kam Gorms Gedanke. Er schien recht gelassen, und seine Gehirnströme waren klar und ungestört. »Ich will, daß du nirgendwohin gehst ohne mich«, sagte Hiero laut und setzte die Antwort dann in Gedanken um. Er war sich darüber bewußt, wie sehr er seinen Freund Petz vermissen würde. Aber Bruder Aldo meint, es wäre besser, wenn du mit ihm in den Norden ziehst und wieder mit den Weisen deines Volkes in Kontakt trittst. Zu Hieros Überraschung hatte Bruder Aldo seine Gedanken aufgeschnappt – sowohl Gedanken, die er für sich behalten wollte, als auch Gedanken, die für den Bären bestimmt waren. Nun sandte der Greis eine Botschaft, die an Hiero und Gorm gerichtet war. Hört mir gut zu, ihr beiden. Hier spielt sich ein großer Kampf ab zwischen dem Bösen, dem Schlechten und dem, was wir als gut und heilig sehen. Die Ratschlüsse der Unreinen sind uns verborgen, aber mein Orden beobachtet sie schon von alters her. Sie streben die Vorherrschaft an und wollen das Böse Wiederaufleben lassen, das der Welt den ›Tod‹ gebracht hat. Wir müssen zusammenarbeiten, wir von den Aufrechten, Lebensbejahenden, ganz gleich von welcher Gestalt. Wir müssen sie bekämpfen, wo immer sie auftauchen. Das Böse steht auf im Süden, in Dalwah und seinen Nachbarn. Dorthin soll Hiero ziehen mit Lucare – in ihr altes Königreich, in dem ich einst gelebt habe und das ich gut kenne. Und du, Gorm, sollst nordwärts ziehen und deinen Ältesten Bericht erstatten, ihnen unsre Not melden. Was sagst du dazu? Es herrschte Gedankenstille. Dann kam die Antwort des Bären: Ich muß gehn. Zum Teil verstehe ich, was du meinst. So muß es sein,
denn das ist mir von den Weisen meines Volkes aufgetragen worden. Kann ich jetzt schlafen! Gorm ließ es nicht bei Worten bewenden, sondern erhob sich und strolchte in die Dunkelheit davon, wo er sich, wie man bald hören konnte, wieder behäbig ausstreckte. »Nun können wir«, sagte Bruder Aldo, »wieder reden, Hiero. Diese ganze Gedankenübertragerei ist doch ganz schön anstrengend, was?« Er lächelte. Hiero sah keinen Grund zum Lächeln. »Selbst wenn Abt Demero mich ziehen ließe, was könnte ich, glaubst du, im Süden schon ausrichten? Ich weiß bis auf das Wenige, das Lucare mir erzählt hat, nichts über Dalwah. Wie kann ich in einem fremden Land mit anderen Gesetzen und Sitten nützlich sein?« Er neigte den Kopf und drückte seine Wange auf den pechschwarzen Lockenschopf, der an seiner Schulter ruhte. Lucare blickte zu ihm auf aus klaren Augen, in denen keine Spur von Schlaf zu erkennen war. »Was du tun kannst? Lieber Per Hiero Desteen, hast du vergessen, wer ich bin? Mein Vater ist König Danyale von Dalwah, und ich bin der einzige Erbe. Du bist mein Gemahl. Als Prinz des unbekannten Ordens wird man dich akzeptieren.« Sie blickte zu Bruder Aldo. »Ihr habt viele Elfer dort, nicht wahr? Ich hab' sie in den Dörfern helfen gesehen, wenn's Schwierigkeiten gegeben hat. Das heißt also, wir haben dort Verbündete – wenn auch nicht offiziell. Und wir haben Klootz.« Sie stieß einen schrillen Pfiff aus und winkte mit hochgestrecktem Arm. Hiero lächelte, als eine hünenhafte Gestalt mit mächtigen Hufen, die im Kies knirschten, vor das Mädchen trat. Ein gewaltiger Kopf mit wulstigen Lippen und einer schlaffen Schnauze senkte sich herab und stupste mit der breiten, weichen Nase an ihren Haarschopf. Dann wartete der Ellk, um zu sehen, weshalb er gerufen worden war. Als die Menschheit sich nach dem ›Tod‹ wieder erholt hatte, waren die Pferde spurlos verschwunden. Im hohen Norden probierte man in den Abteien und dazugehörigen Gehöften die verschiedensten Tiere
aus, aber diese mutierten Nachkommen der Elche erwiesen sich als die besten. Hiero und Klootz hatten einander vor Jahren bei der jährlichen Kälberwahl ausgesucht und waren seitdem untrennbar. Ob's ihm im Süden gefällt? überlegte Hiero, an seine Gefährtin und Bruder Aldo gerichtet. So was wie ihn gibt's dort nicht. Werden die Leute vor ihm Angst haben? »Nicht Angst«, erwiderte Lucare, während sie dem Ellk übers Bein streichelte. »Man wird ihn bestaunen als ein Tier, wie's noch keiner gesehen hat. Das wird dein Ansehen mehren.« Hiero stand auf und streichelte über das mächtige Schaufelgeweih, wobei er behutsam den Bast abschälte, wo er locker war. Er fühlte die Wärme darunter, wo die Außenhaut des jungen Geweihs noch nicht ganz hart war. Klootz leckte ihm eifrig die Schulter. Aldo fuhr fort: »Bedenke, was du bereits erreicht hast in einem Land, das dir fremd gewesen ist, einzig mit Hilfe von Freunden, die du unterwegs getroffen hast. Du hast eine Prinzessin gerettet, die große Inlandsee überquert und einige deiner schlimmsten Widersacher besiegt. Und du hast einen schier undurchführbaren Auftrag erfüllt.« »Du hast geschafft, was kein anderer geschafft hätte«, fügte Lucare hinzu, nachdem Aldo geschlossen hatte. »Du hast jenen besiegt, der sich Sduna nennt, das Haupt ihres gräßlichen Blauen Zirkels. Du kannst der Führer meines Volkes sein.« Hiero sah verliebt zu ihr nieder. Eine Liebe, groß wie diese, hatte er noch nie erlebt. Freilich dachte er nun an Abt Demero, den grimmigen alten Krieger, der ihn auf diese Mission gesandt hatte. Wäre es im Sinn des Vorsitzenden des Abteirats, daß er mit einem neuen Weib und einer neuen Aufgabe in den Süden zöge? Ihm war, als sähe er vor seinem geistigen Auge das faltige, alte Gesicht mit lächelnder Miene. Ein Zeichen? Hiero zuckte die Achseln und überlegte noch einmal. Vielleicht schnappte er einen schwachen, flüchtigen Gedanken aus großer Ferne auf. Er lächelte und sah zu
Bruder Aldo, einem ebenfalls weisen Greis, der in den Krieg gezogen war, weil er sonst keinen Seelenfrieden gefunden hätte. »Sag Gimp, daß ihr bei Morgengrauen in den Norden aufbrecht. Lucare und ich werden auf Klootz südwärts ziehen. Ich nehme an, du kannst mit deinen Elfern im Süden Kontakt aufnehmen, laß es mich wissen, und wir richten eine feste Verbindung ein.« Er kicherte. »Du sagst, du kennst Abt Demero. Dann sei so gut und halt ihn mir vom Leibe, damit ich nicht verstoßen und exkommuniziert werde. Und nun wollen wir uns ein bißchen aufs Ohr legen.«
1. Das Reich des Ostens Goldenes Sonnenlicht strömte durch die schmalen Fenster des Palastes, und ein großer Gong kündete vom neuen Tag im mächtigen Reiche Dalwah. Von nah und fern hallte das Echo wider, als die Wachen auf den Zinnen und die Posten auf den Brücken und Brustwehren mit ihren kleineren Gongs einstimmten. Die ganze wehrhafte Stadt erschallte in vielstimmigem Geläute. Hiero setzte sich im Bett auf und hielt sich, unmutig knurrend, die Ohren zu bei diesem Getöse. »Das machst du jeden Morgen«, sagte Lucare. »Inzwischen solltest du dich an den Gongschlag gewöhnt haben, würde ich meinen.« Er guckte sie neugierig an, wie sie vor dem Spiegel saß und sich die Lippen und Lider mit der bläulichen Paste in der neuen Modefarbe bei Hof bepinselte. Er schürzte die Lippen und gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Sie blickte mit heiterer Miene zu ihm herüber. »Hab dich nicht so! Ich muß gut aussehen, wenn ich die Edeldamen zum Frühstück empfange. Warum bist du denn die halbe Nacht aufgeblieben? Hast wieder mit unserem Hohepriester über Religion geplaudert?« »Hm.« Er machte sich an dem Tablett mit dem Frühstück zu schaffen, das sie ihm ans Bett hatte stellen lassen. »Der alte Markama ist nicht schlecht für einen Hohepriester – das heißt, einen Hohepriester von Dalwah. Du meine Güte, was ist denn nur mit der Kirche hier passiert? Zölibat für die Priester! Und die vielen sogenannten Klöster, wohin der Adel seine unerwünschten Söhne und Töchter steckt, damit sie dort Bildtafeln bemalen oder nähen und beten den ganzen Tag – und Schweigen und Keuschheit üben! Als ob die Unreinen schon die Herrschaft übernommen hätten und daran arbeiten würden, die Menschen in den Wahnsinn zu treiben.« Seine Miene wurde mit einemmal ernst. »Ich bin mir nicht sicher, ob dies
nicht schon eine Brutstätte der Unreinen ist, wo all ihre Lakaien einen Gedankenschild tragen.« »Hiero!« Sie sah ihn entrüstet an. »Ich weiß, du glaubst das. Aber du hast doch keinen Beweis dafür – 's gibt nur ein paar Leute, deren Gedanken du nicht lesen kannst. Und du hast mir, als du mit mir geübt hast, einmal gesagt, daß manche Leute einen natürlichen Schirm haben, ohne sich dessen bewußt zu sein.« Seufzend beendete er dieses Thema, während sie den Hofball zur Sprache brachte, der an diesem Abend im Palast stattfinden sollte. Nachdem sie gegangen war, um ihren offiziellen Pflichten nachzukommen, zog er sich an und verließ den Palast, um sich im Straßengewirr der Stadt ein wenig die Beine zu vertreten. Er grübelte. Irgendein Unheil braute sich im Königsschloß zusammen. Er fühlte es, obgleich kein klarer Gedanke zu ihm durchdrang. Aber es herrschte eine haßerfüllte Grundstimmung, die sich nicht verbergen ließ vor jemand, der wie er so viel erlebt hatte mit den Unreinen und ihren Waffenbrüdern. Freilich war ihm beste Behandlung zuteil geworden. Als Lucare und er auf Klootz erschienen waren, hatte die Wache am Haupttor salutiert und sie mit allen königlichen Ehren empfangen. Binnen einer Stunde saßen Lucare und er bei ihrem Vater Danyale IX., Erbkönig des Reiches Dalwah. Zu seinem Erstaunen mochte er den König und zeigte Danyale, daß auch er ihn als neuen Schwiegersohn mochte. Der König war groß, kräftig und noch recht muskulös, obschon er ein wenig Fett angesetzt hatte, nun wo er ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hatte. Sein krauses, graumeliertes Haar trug er kurz, und sein stattliches Gesicht mit dem Schnurr- und Kinnbart wirkte ehrlich. Sein Kilt und seine Robe waren aus feinstem Tuch in erlesener Farbe, und er trug viele Ringe und Gehänge. Aber er war nie ohne ein langes, zweischneidiges Schwert, dessen Heft schlicht und abgegriffen war. Sein Händedruck war fest und hart.
War dies der hartherzige Tyrann, dessen einzige Tochter in die Fremde geflohen war, um einer Heirat zu entgehen, die ihr der Vater aus staatsmännischen Erwägungen hatte aufzwingen wollen, wie Lucare behauptete? Danyale kam darauf zu sprechen, als er mit Hiero auf den Zinnen seines Palastes saß. Die allgegenwärtigen Wachen waren mit einer Geste außer Hörweite gewinkt worden, wo sie nun tuschelnd beieinander standen und aus der Entfernung ihren Herrscher und ihren neuen Prinzen beobachteten. »Schau, Hiero, ich weiß, daß Lucare dir von dieser leidigen Heiraterei mit Efrem erzählt haben wird. Aber der Adel hat darauf bestanden – der ganze Rat einschließlich der Kirchenväter. Was sollte ich tun? Weiß Gott, wir brauchen Bundesgenossen. Aber wir hatten nur Chespek. Da Efrem mich fürchtete, habe ich geglaubt, ihn in Schach halten zu können, damit er dem Mädchen nichts tue. Ich weiß so gut wie sie, in welch schlechtem Ruf der Bastard steht. Aber so was, verflixt noch mal, gehört halt zu den Bürden eines Königs, zumal mein einziger Sohn nicht mehr lebt…« Er blickte Hiero in die Augen und verstummte. »Verstehe«, entgegnete der Metz-Priester leise. »Zuerst kommt immer das Reich.« Eigentlich bewunderte er den alten Mann. Es fiel dem König gewiß nicht leicht, sich für etwas zu rechtfertigen, was er als wichtiges und übliches politisches Vorgehen erachtete. Es gab keinerlei Verständigungsschwierigkeiten. Hiero war sehr sprachbegabt und von Lucare auf ihrer Heimreise wochenlang in der Sprache von Dalwah unterrichtet worden. »Was wird Efrem nun tun?« Hieros Frage war mehr als ein Lückenbüßer. Die Priester, durch seine Gaben und sein Geschichtswissen in Erstaunen versetzt, hatten ihm viel erzählt, und noch mehr hatte er durch Gedankensuche herausgefunden. Aber schon aus Gründen der Höflichkeit konnte er Lucares Vater nicht aushorchen. Freilich mußte er wissen, was der alte Mann dachte und wozu er fähig war. Wollte er Dalwah vor den Unreinen und ihren
grausigen Bundesgenossen bewahren – sollte es unter den Fahnen der Abteien fechten – so mußte er noch viel darüber in Erfahrung bringen. Danyale prustete verächtlich. »Er wird kochen vor Wut und schließlich das tun, was die Priester ihm auftragen, wenn er zur Beichte rennt und bekennt, irgendein Sklavenmädchen halb ermordet zu haben. Es ist nicht mit ihm zu rechnen.« Als er Hiero nun musterte, war seine Müdigkeit wie weggeblasen. »Hast offenbar Beziehungen zur Universalkirche, mein Junge. Hat bei euch oben der Adel Macht über die Kirche? Bei uns hier ist's ein ewiger Kampf, die Zügel in der Hand zu behalten und nicht an sie oder – noch schlimmer – die Marionette zu verlieren, die sie vielleicht gegen mich aufstellen. Du scheinst ihre priesterlichen Geheimnisse zu kennen und weißt natürlich über die euren Bescheid. Du könntest mir eine große Hilfe sein«, meinte er schließlich. Schade, meinte Hiero. Danyale war freilich kein Ränkeschmied, sondern ein aufrechter, wenn auch nicht gerade heller Soldat, umringt von einem dekadenten Hofstaat und umzingelt von Intriganten aus sowohl weltlichen als auch kirchlichen Lagern. »Bei uns ist's anders«, wich er aus. »Unser Adel wird vom Kampf gegen die Unreinen so beansprucht, daß wir längst gelernt haben, als eine Säule des Staates zu fungieren und die Kirche als seine zweite zu unterstützen. Und…«, ergänzte er im Nachhinein, »wir haben natürlich keinen König an sich, sondern eine Kammer, einen höchsten Rat aus sowohl kirchlichen als auch weltlichen Mitgliedern.« Das war nur eine halbe Lüge, denn das war der Abteirat auch. Daß es keinen Adel gab, konnte noch warten. »Nun«, begann Danyale bedeutsam, »ich vermute, auch ihr habt eure Geheimnisse. Ich verstehe neuerdings die Welt immer weniger.« Er blickte auf, wobei ein Lächeln über seine vollen Lippen huschte. »Eins noch. Ich bin ehrlich froh, dich zum Schwiegersohn zu haben, ob Prinz oder nicht. Das Verrückte ist, daß ich meine Tochter liebe und mich freue, wenn sie glücklich ist. Aber wichtiger noch …« – er beugte sich vor und tippte Hiero auf die Knie – »Ich
glaube, du wirst mir sehr dienlich sein, mein Junge – mir und Dalwah.« Er stand auf, klopfte dem Metz auf die Schulter und ging seinen Pflichten nach. Er war durchaus eine Herrscherfigur, überlegte Hiero, und vielleicht gar nicht so dumm, wie es den Anschein hatte. Es gab andere ähnliche Begegnungen und gleichfalls Begegnungen mit den Großen des Landes. Markama, der greise Erzpriester, war ein durchaus aufrechter Mann und hätte große Macht ausüben können, wäre er ein besserer Menschenführer gewesen. Aber ihn beschäftigten nur Ritus und geistlicher Obskurantismus. Immerhin war er kein Feind und hatte gewaltigen Respekt vor dem gebildeten Hiero, der die Geheimnisse der Kirche kannte und über die von ihm wirklich gefürchteten und verabscheuten Unreinen Bescheid wußte. Die Geschäfte der Kirche – die Bücher, die Verwaltung, die Schulen und dergleichen – wurden offenbar von einem gewissen Joseato geführt, dem ranghöchsten Priester unter Markama, der ein schmächtiger, blasser Mann und fahriger Mensch war und stets ein Bündel von Papieren mit sich herumtrug. Hiero fand keinen bestimmten Grund für seine Abneigung gegen ihn, wobei freilich sein abgeschirmter Verstand eine Rolle spielte. Ob er unter seiner Robe ein stahlblaues Medaillon, den mechanischen Gedankenschirm der Unreinen trug? Natürlich könnte der Schild, wie Lucare betonte, auch angeboren sein, was nicht selten der Fall war, oder von verkümmerten Geistesübungen herrühren, wie sie selbst in dieser Südkirche noch gepflegt wurden. Es ließ sich nicht feststellen, ob hinter einem guten Gedankenschirm eine geistige oder physikalische Kraft steckte, und er konnte den Priester natürlich nicht darum bitten, sich auszuziehen. Es galt also, Joseato im Auge zu behalten, soweit dies möglich wäre. Gedankenversunken hielt er inne, machte kehrt und begab sich zu den Ställen des Palastes. Es waren zu viele Abgeschirmte hier, die es zu beobachten galt. Da war zum Beispiel Graf Ghiftah Hamili, ein
guter Krieger von hohem Adel und Großgrundbesitzer. Der stille junge Mann hatte einmal um Lucares Hand angehalten und galt viel bei Hofe. Obschon durchaus freundlich, hatte er einen stechenden Blick, den er öfter auf den Priester aus Metz richtete, als diesem lieb war. Schließlich aber hatte Hiero einen verläßlichen Freund gefunden. Ein Laienbruder der Elfer war auf das Betreiben von Aldo und der im Untergrund agierenden Bruderschaft auf ihn zugegangen. Das Mitrash ein Leutnant der Palastwache war, war ein besonderer Vorteil. Tag und Nacht konnte er, ohne Argwohn zu erregen, im stark bewachten Palast ein und aus gehen. Der glatzköpfige, ältere Veteran strahlte Zuversicht und Tüchtigkeit aus. Leider war er nicht sehr gebildet. Obschon sehr hilfsbereit, war er weiter nichts als ein guter, rechtschaffener Soldat, der vom Orden als Akoluth angeworben und als Beobachter in den Palast eingeschleust worden war. Die Verkommenheit und Zerrüttung, die im ganzen Reiche festzustellen waren, betrachtete er mit großer Sorge, aber er war kein Meister des Geistes wie Aldo. Zwar hatte er viele Kontakte und konnte mit anderen Mitgliedern des Ordens in Verbindung treten, aber es dauerte seine Zeit. Und er hatte einen abgeschirmten Verstand – was in seinem Fall bloß gut war. Hiero hatte darum gebeten, daß Mitrash der Hauptmann seiner Leibwache würde, aber der Amtsschimmel wieherte in Dalwahs Heer wie in jeder anderen Armee. Zwischenzeitlich wäre der Mann bei der Hand, um auf Lucare achtzugeben, falls ihr prinzlicher Gemahl in die Ferne gerufen würde. Nun war Hiero beim Stall angelangt. Es war an der Zeit, Klootz und sein neues Reittier, einen Hüpfer namens Segi, zu bewegen. Der riesige Ellk freute sich beim Wiedersehen und stupste Hiero freundschaftlich an – sehr zum Erstaunen der Knechte, die das Tier aus dem Stall führten. Von einem Ellk hatte man in Dalwah noch nichts gehört oder gesehen, und das mächtige, geweihtragende Tier erfüllte alle mit scheuem Respekt, der sich besonders auf seinen
Reiter übertrug. Hiero, dem dies natürlich nicht verborgen blieb, nutzte jede Gelegenheit, sich auf dem hohen, dunkelhäutigen Rücken zur Schau zu stellen, wenn die Schaulustigen zum Abreitplatz strömten. Hinter dem Ellk folgte Segi, den ein Knecht ritt. Beim Erscheinen des Hüpfers schwoll Klootz' mächtiger Rumpf zornentbrannt; hätte der Ellk Segi allein angetroffen, hätte er seinen Rivalen zu Brei gestampft, denn daß Hiero auf einem anderen Tierrücken ritte, kam für ihn nicht in Frage. Segi schien diesen Groll durchaus wahrzunehmen, denn er hielt wohlweislich Abstand zu Klootz. Segi war ein Hüpfer, das übliche Reittier der Kavallerie von Dalwah, eine Mutation, die sich der Mensch als Ersatz fürs längst ausgestorbene Pferd gesucht hatte. Der zahme, gutmütige Segi überragte seinen Reiter um fast zwei Meter. Er ging auf zwei kräftigen Hinterläufen, vom langen, säulenförmigen Schwanz gestützt. Seine winzigen Vorderfüße, so kurz wie der Arm eines großen Mannes, waren weit oben an seiner mächtigen Brust angesetzt. Er hatte ein weiches, braunes Fell, eine Blesse an der Stirn und große Ohren, die er bald nach links, bald nach rechts stellte. Dieses stattliche Tier machte dem königlichen Gestüt alle Ehre und war die geschätzte Hochzeitsgabe für Danyales neuen Schwiegersohn. Hiero wußte nichts über die Abstammung der Hüpfer. Aber er war begeistert von der unbeschreiblichen Bewegung, die sie ihrem Reiter vermittelten, und entschlossen, die keinesfalls einfachen Figuren zu erlernen, die eine gerittene Parade zu einem Spektakel machten, wie es sich kein anderer Kavallerist der Welt erträumen würde, Segi trug seinen schweren, abgewinkelten Sattel hoch am Rücken, wobei der breite Gurt unmittelbar unter den Vorderbeinen verschnallt war. Im Maul hatte er eine Trense, die mit Doppelzügeln verbunden war. Aber anstatt der üblichen Steigbügeln, wie der Ellk sie hatte, steckten die Füße vom Reiter eines Hüpfers in langen, starren Säcken ähnlich der Satteltasche, die Hieros Werfer gehalten hatte. Diese Säcke waren wiederum am unteren Sattelende befestigt und über einen
Drehzapfen mit einem eigenen Bauchgurt versehen, der unterhalb des Sattelgurts festgemacht war. Obgleich es nicht einfach war, aus ihnen herauszukommen, waren diese Bügeltaschen unerläßlich. Davon konnte sich der neue Prinz bald überzeugen, als er sah, wie ein Wächter seinen Hüpfer in Bewegung setzte. Der außerordentlich hohe Sattelrücken bekam ebenfalls neue Bedeutung. Ein normaler Hüpfer – und Segi war der beste – konnte aus dem Stand fast fünfzehn Meter weit springen. Obendrein konnte er in der Luft Haken schlagen, wobei der lange Schwanz als Hebel und Ruder wirkte. In ebenem Gelände konnte ein ganzer Hüpfer atemberaubend schnell rennen oder springen. Als er einer Schwadron der Gardetruppen bei einem Geschwindigkeitsdrill zusah, blieb ihm die Luft weg. Im Gleichschritt ritt Reihe um Reihe an, änderte in der Luft die Richtung und landete in der gleichen wunderbar einheitlich Formation, ohne daß irgendein Paar ausgefallen wäre oder gestockt hätte, bis ein kurzer Hornstoß ein ebenso jähes Stillgestanden gebot. Die langen Lanzen mit ihren Wimpeln erhoben sich zum Salut und wurden mit abgestimmten, fließenden Bewegungen wieder gesenkt. Der im Kriegshandwerk geschulte Hiero staunte nicht schlecht, als er all dies sah. Eine Division dieser wunderbaren Tiere und altgedienten Veteranen als leichte Kavallerie und eine zweite mit dem riesigen Ellk als Nachhut – was wäre das für eine Truppe! Er hätte den ganzen Nachmittag bei den Hüpfern verbracht, wären nicht noch tausend andere Dinge zu erledigen gewesen. Also gönnte er sich nur eine Stunde, wobei er sich genauso lange dem aufgebrachten Ellk widmete, der verächtlich und zornig schnaubte, während sein Herr auf dem Rücken Segis unter Anleitung eines erfahrenen Sergeanten, der nun als königlicher Ausbilder diente, die Sprungfiguren absolvierte. Daß ihr neuer, exotischer Prinz sein wunderliches Tier so rasch zu reiten lernte, verwunderte und erfreute die Männer von Dalwah. Sie waren ahnungslos gegenüber den mentalen Hilfen, die Hiero zu geben verstand, um die unzähligen Übungsstunden auszugleichen, die sie selbst auf dem Exerzierplatz hatten verbringen müssen. Segi
war freilich nicht so intelligent wie Klootz, aber keineswegs dumm, und faßte zu seinem neuen Herrn bald Zuneigung. Nach den jeweiligen Übungen stieg Hiero zu einem Ritt durch die Stadt in den Sattel von Klootz. Die Stadt Dalwah war viel größer als Kalina, die einzige andere Stadt im Reiche, die viele Meilen südwärts lag. Aufgrund seiner Beobachtungen und der Fragen, wie er in einem fort stellte, hatte Hiero, der in nicht geringem Ausmaß auch fremde Gedanken anzapfte und aufschnappte, einiges über sein neues Land erfahren. Er hatte eine leider viel zu kurze Reise zur Küste unternommen und zum ersten Mal den Lantik mit seinen mächtigen, schaumgekrönten Brechern gesehen, die unablässig auf den Strand unter den hohen grünen Dünen rollten. Es war ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, daß man wahrscheinlich der erste Mensch seines Volkes sei, der sowohl den endlosen Ozean des Ostens als auch das Meer im Westen geschaut habe. Jenseits des schäumenden Meeres lag das rätselhafteste aller Mysterien – Europa, das Stammland der Kultur, die Urheimat der Kirche, den Kindern des westlichen Kontinents seit alters unerreichbar. Aber es war keine Zeit für derartiges Träumen, weder heute noch irgendwann anders. Als er auf seinem riesigen Ellk im Geleit von je zwei Hüpfern vor und hinter sich durch die belebten Straßen ritt, wich die Menge scheu zurück und zog zum Gruß Kappe und Helm. Fürwahr wirkte er nun wie ein Prinz, gewandet in purpurrote Seide, aus der Jacke und goldbestickter Kilt gearbeitet waren, während die Lederstiefel und die weichen Reithandschuhe scharlachrot leuchteten. Sein teures Kurzschwert an einem Kreuzgehenk aus goldenen Gliedern hatte er über den Rücken geschlungen. Ein schmaler Goldreif hielt auf seiner Stirn die purpurne Schirmhaube, woran, mit einer Gemmenbrosche von großem Wert befestigt, eine schneeweiße Reiherfeder nickte. Die Dalwahner liebten Farbenpracht und alles Neue und Reizvolle. Ihr neuer Prinz und das viele Gerede um seine Abenteuer und die Art, wie er aus dem Nichts auftauchte und ihre verschollene Prinzessin zurückbrachte, schmeichelten ihrem Stolz.
Während Hiero die Grüße erwiderte, indem er seine Haube antippte, fragte er sich, wer in diesem Meer dunkler Gesichter nicht hinter den Hochrufen und Jubelschreien stünde, die ihm von jeder Gasse und jedem Balkon zuflogen. Hinter so manchem Lächeln, das breit die weißen Zähne zeigte, und hinter verschiedenen geschlossenen Fensterläden lauerte der Feind – um so gefährlicher, weil unbekannt. Dessen war Hiero sich sicher. So sehr er sich auch bemühte, er schnappte keine anderen Regungen auf als den üblichen Neid von einigen Hungerleidern und den Hohn gewisser Adliger, die sich auf ihre hehre Abstammung zu viel einbildeten. Das war völlig normal. Wo sind die bösen Buben, Freund? meinte er zu Klootz, der damit zu kämpfen hatte, sich über das altertümliche, mit allerlei modernem Unrat übersäte Kopfsteinpflaster zu balancieren. Wo sind die Unreinen? Sie sind da, Klootz, sind da, das steht mal fest. Wie finden wir sie bloß, wie können wir sie ausräuchern, bevor sie ausschwärmen und uns schnappen? Von einem lachenden, halbnackten Mädchen kam ein lustiger, derber Zwischenruf über einen möglichen Erben. Hiero zuckte mit gespielter Ahnungslosigkeit die Achseln, woraufhin die Menge in grölendes Gelächter ausbrach. Dennoch vergaß er seine Sorge nicht. Die Feinde waren schlau, aber nicht perfekt. Wenn er auf der Hut wäre und auch Lucare, wie er sie gelehrt hatte, Vorsicht walten ließe, bekäme er vielleicht irgendwann seine Chance. Einstweilen konnte er nur warten und die Augen offenhalten. Zu sehen gab es viel. Da überquerten Männer einer nicht christlichen Religion – so etwas hatte er bisher nur von den Unreinen gekannt – einen Platz. Sie beteten zum gleichen Gott, aber durch einen anderen Propheten, und verehrten den Halbmond. Es waren Mumanen mit schneeweißen Gewändern und grünen Zylinderhüten. Sie lebten in einer großen Kolonie an der südwestlichen Landesgrenze, die sie nur selten verließen, und betrieben hauptsächlich Viehzucht. Berühmt waren sie für ihre Kaw-Herden, das langhörnige Nutztier der Nation. Die Hüpfer verabscheuten sie aus irgendeinem Grund und wollten nichts mit ihnen zu tun haben.
Aber sie waren gute Läufer und besonders als leichtes Fußvolk geeignet, da sie sichere Bogenschützen waren und mit dem Schwert umzugehen verstanden. Mit geschürztem Kilt konnten sie schneller als die eigenen Kaws rennen und dieses Tempo stundenlang durchhalten. Obwohl sie einem fremden Ritus angehörten, stand ihre Loyalität nie in Frage. Bis auf ihre Kleidung sahen sie aus wie alle anderen Dalwahner mit ihrem krausen Haar, dem dunklen Gesicht und den vollen oder auch hageren Zügen mit breiter beziehungsweise gebogener Nase. Sie verbeugten sich vor Hiero, hatten aber nichts Unterwürfiges an sich, und musterten ihn mit scharfen Blicken, wobei sie freilich nur seine Waffen und sein Reittier beäugten, nicht aber all seinen Putz. Nachdem sie vorübergezogen waren, kam eine andere Gesellschaft herbei, diesmal eine Karawane aus bunt gekleideten Kaufleuten, die gerade aus dem Süden eintrafen und noch mit dem Schmutz der Reise besudelt waren. Manche trugen die frischen Male geschlagener Schlachten, und Hiero wußte, sie würden wie alle Reisenden beim Hofchronisten, der über alle Vorgänge im Reich stets im Bilde zu sein hatte, Meldung darüber erstatten. Viele dieser Neuankömmlinge schmückte ein Davidsstern; sie gehörten also jener anderen Religion an, die in Hieros neuem Reich verbreitet war. Wie in jeder anderen Gemeinde waren darunter Reiche und Arme und Vertreter aller Schichten. Sie glaubten zwar an den einen Gott, hatten aber keine Propheten und Heiligen; ihre Priester beriefen sich einzig auf geheime Schriften, die nur für Glaubensbrüder einsehbar waren. Sowohl Davidsjünger als auch Mumanen hielten hohe Hofämter inne, und manche gehörten dem Erbadel an; im Privatleben jedoch blieben sie meist unter sich, wie sie auch selten eine gemischtgläubige Ehe eingingen. Dennoch genossen sie das volle Vertrauen von Danyale und Lucare. »Ich wünschte, ich könnte mir meiner Glaubensbrüder ebenso sicher sein wie der Davidsjünger oder Mumanen«, hatte der König freimütig geklagt. Und tatsächlich
fanden sich viele davon in der Leibgarde und in den einzelnen Milizen, die zusammen die Reichswehr bildeten. Die Straße verengte sich, und sie kamen, wie Hiero sah, zu einer der Brücken mit hoher Brüstung, von denen es in der Stadt ihrer viele gab. Sie überspannten die zahllosen Kanäle, mit denen die Stadt und das ganze Umland durchzogen waren. Diese Wasserstraßen verbanden ein Dutzend träger Flüsse und führten in die Marschen und zu den Buchten des Lantiks. Beim Näherkommen entdeckte Hiero einen neuen Grund für die steinernen Seitenmauern an diesen und allen anderen Brücken im gesamten Kanalnetz. Ein grausiger Schädel mit Schuppen und Reißzähnen im weit aufgerissenen Maul und mindestens zwei Meter lang steckte auf einem dicken Eisenpfahl an der Brückenbrüstung. Aus dem Halsstumpf rann scharlachrotes Blut, das in den Rinnstein sickerte. Als er anhielt, schnaubte Klootz verächtlich und stampfte mit den Hufen, daß es nur so klapperte. Einer von der Nachhut ritt mit seinem Hüpfer neben Hiero und erklärte in der lockeren, vertrauten Art eines altgedienten Kriegers: »Ist Euch wohl was Neues, Hoheit, 's ist ein Grunzer und ein verdammt großer, mit Verlaub, noch dazu. Hab' sie in den Sümpfen brüllen hören, daß man meint, man müßt' taub werden. Komisch, aber es gab sie noch nicht so massenhaft, als ich 'n Kind war – wenn ich nicht irre. Vermehren sich wohl ganz schön, diese Blutsauger. Müssen überall neue Mauern hochziehen, sogar in den Außenbezirken, wie ich mir hab' sagen lassen.« »Bringen Sie irgendeinen Nutzen?« fragte der Metz. »Sehn ja scheußlich aus.« »Nun, geräuchert ist das Fleisch nicht schlecht, hat aber 'nen Fischgeschmack. Und aus den Häuten kriegt man gute Schilde und dergleichen raus, muß sie aber höllisch beizen und trocknen. Ob das die Leute, das Vieh und die Schweine aufwiegt, die die Grunzer sich schnappen, ist 'ne andre Frage. Wenn das Landvolk keinen Brunnen hat, ist's nicht leicht, an Wasser ranzukommen. Sogar ein junger Grunzer, nicht ein Drittel so groß wie der hier, kann ein Kind
zerreißen. Ein junger Vetter von mir ist vor ein paar Jahren aus einem Kahn geschnappt worden; hat 'ne Luke geöffnet, um rauszusehen, aber statt dessen hat ein Grunzer den Kopf reingesteckt. Schwärmen nun mordsmäßig in die Städte, diese Viecher. Wird von Jahr zu Jahr schlimmer.« Während er den braunen Reptilienschädel mit den glasigen Augen betrachtete, überlegte Hiero. Der Wachsoldat sah nur die Folgen. Aber gäbe es auch einen Auslöser, einen Anlaß? Wenn die Wasserund Bootswachen verdoppelt werden mußten, um dieses Geschmeiß – nur eine von verschiedenen feindlichen Arten – abzuwehren, bedeutete das nicht eine deutliche Schwächung des Reiches, wobei die Intelligenzen hinter diesen Übergriffen verborgen blieben? Daß die Herren der Unreinen solcher Tücken fähig wären, daran bestand kein Zweifel. Er hatte im Norden und während seiner jüngsten Reise zuviel dergleichen erlebt. Jedenfalls war dies ein weiterer Faktor innerhalb der wirren Gesamtlage, der zu bedenken wäre. Hieros kleiner Zug überquerte die Brücke und kehrte in einem langen Bogen durch die Stadt zum Palast zurück. Er sollte am späten Nachmittag die Garde besichtigen und eine Gesandtschaft aus dem tiefen Süden empfangen. Danyale war von Herzen froh darüber, daß sein neuer Schwiegersohn für alles Interesse zeigte, und wünschte, daß so viele Untertanen wie möglich Hiero zu sehen und zu hören bekämen. Obendrein galt es, sich auf den großen Hofball, dem ersten der bevorstehenden Sommerfeste, vorzubereiten, der diesmal ebenfalls dem Zweck diente, den neuen Prinzen vorzuführen. Der schmale Mund unter Hieros schwarzem Schnurrbart krümmte sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Man denke nur, es waren ihm von Lucare Tanzstunden verordnet worden! Zum Glück brauchte sie sich auf dem Parkett kaum mit ihm zu schämen. Er hatte ein gutes Taktgefühl, und in den Tänzen der Republik Metz hatte er sich stets als besonderer Könner hervorgetan. Nun trat, als er einen weiteren Platz überquerte und in einem fort zu den unablässigen Grüßen nickte und die Haube antippte, ein
breites Lächeln in seine Miene. Ein dreist gerittener Hüpfer setzte, von der gegenüberliegenden Platzseite kommend, auf ihn zu. Eine aufgeputzte Gestalt winkte von seinem Rücken und führte ihn im waghalsigen Sprung über Kleiderbuden und Gemüsestände. Das keuchende Tier kam mit dumpfem Aufschlag so dicht vor dem verächtlichen Klootz zu stehen, daß keine Hand zwischen sie gepaßt hätte, und aus einem grinsenden Gesicht unter dem scharlachroten Turban leuchteten perlweiße Zähne. »Zum Gruß, edler Prinz aus dem Land der Eisdrachen.« Es war Herzog Amibale Aeo, Lucares junger Vetter, der erst vor einer Woche aus seinem großen Herzogtum im Süden angereist war und den nicht nur Hiero, sondern die ganze Stadt schon ins Herz geschlossen hatte. Dieser Sohn des toten Cousins ersten Grades zum König, der erst neunzehn Jahre jung war und noch den ersten Flaum auf der Oberlippe trug, nahm seinen honorigen Stand mit Gelassenheit. Wenn er nicht auf seinem Hüpfer um die Wette an den Palastmauern galoppierte, jagte er in einem einsitzigen Kanu die wilden Tiere des Flusses. Trotz seiner Jugend hatte er schon eine Reihe von Herzen gebrochen und vertrug den starken Wein Dalwahs so gut wie die Veteranen der Garde. Hinter dem Lachen und munterem Wortschwall, dem Schäkern und Plaudern, verbarg sich, wie Hiero wußte, ein ganzer Mann. Die schrägen Augen waren voller Geist und Witz, und wenn seine Miene gelassen war; hatte sein ovales, dunkles Gesicht, wie der Metz feststellen konnte, markante Züge. Nur angetan mit scharlachrotem Kilt und Stiefeln, stellte er, als er, munter plauschend und mit bloßer Brust neben Hiero einherritt, eine feine Ergänzung zu seinem Gefährten dar. Der schlanke Säbel und Krummdolch an seiner Seite bezeugten, daß er jederzeit kampfbereit war. »Alles klar für den großen Ball, Hiero?« meinte er. »Warte, bis du siehst, was ich anhab'! Ich werd' diesen verstaubten Gestalten im Palast mal zeigen, wie ein Prinz von edlem Geblüt auszusehen hat. Hoffe, du und Lucare habt was Besonderes, woran sie sich die Augen ausglotzen können. Nicht daß ich mir wegen ihr Sorgen mache. Aber bei dir, du fades Nordlicht, hat man, wie ich höre, die Garde
gebraucht, um dich aus deinem Ledergewand zu schälen, mit dem du angekommen bist.« »Mann und Frau in Metz-Tracht«, erwiderte Hiero, der unverwandt vor sich nieder blickte. »Weißes Leinengewand ohne jeden Schmuck. Das hält die bösen Geister fern.« Amibale lenkte seinen Hüpfer geschickt zu einem Strauß scharlachroter Orchideen, den ihm ein kicherndes Mädchen von einem Balkon zugeworfen hatte. Eine Blüte steckte er sich hinters Ohr und die anderen in den Harnisch seines Reittiers, woraufhin er sich wieder Hiero zuwandte und ein entsetztes Gesicht machte. Kaum sah er dem grinsenden Hiero ins Gesicht, als er auch schon in herzliches Gelächter ausbrach, das kein Ende nehmen wollte. »Zum Teufel! Auf deine eiserne Miene fällt wohl ein jeder rein. Aber das wär' dir glatt zuzutrauen. Im Ernst, was trägst du heut' abend wirklich? 's ist, wie du weißt, ein Maskenball – 'ne alte Tradition aus der Zeit, wo man sich bei Festen und dergleichen angeblich vor Meuchelmördern hat fürchten müssen. Nun sag schon«, säuselte er, »ich verrat's keinem, ehrlich!« »Nun, Lucare sagte, es sollte eine Überraschung sein für die Herrschaften, wozu man dich Spitzbube aber nicht zählen kann. Lucare hat mir nicht einmal ihr Kostüm gezeigt. Ich gehe als Blauer Mensch, allerdings in goldverbrämter Seide. In was Aufwendigeres laß' ich mich nicht stecken, darfst mir glauben. Ihr Leute hier in den Sümpfen seid ja richtiggehend putzsüchtig.« Der junge Herzog widersetzte sich dem Seitenhieb nicht. »Es ist unser heißes südländisches Blut, was ihr kühlen Eisbären nicht versteht.« Er schien zu überlegen, während sie auf das Haupttor des Palastes zuhielten und die Wächter abschwenkten. »Blauer Mensch, mh? Das verschleierte Volk vom Rand der westlichen Wüste, 'ne hübsche Verkleidung ist das. Angeblich haben sie das Blau ja von den Wüsten des Todes, da sie als erste nach dem ›Tod‹ diese Gebiete wiederbetreten haben. Angeblich können sie das Feuer des ›Todes‹
im eignen Leib entdecken und somit die Stellen meiden, die noch gefährlich sind.« Während Hiero den Gruß der Wachen erwiderte und Klootz zum Schritt durchparierte, überlegte er, daß es keinen Sinn hätte, seinem Gefährten zu erklären, daß auch er durch die gleiche Methode solche bedrohlichen Stellen ausfindig machen könne. Sachte tastete er sich in Amibales Denken vor, stellte jedoch fest, daß er so dicht wie er selbst abgeschirmt war. Höheren Adligen wurde in den Klosterschulen, die sie in der Jugend meist besuchten, die Technik dazu oft gelehrt, obgleich diese Praktik außer Gebrauch kam, weil die Kirche dafür keine Veranlassung mehr sah. Hiero verabschiedete sich von Amibale und vergaß ihn schnell, als er abstieg und in sein Quartier eilte, da ihn ein neuer Gedanke quälte. Keine Notwendigkeit für Geistesschulung? Und dies zu einer Zeit, da die Unreinen unter Aufbietung aller Kräfte zum letzten Sturm anrannten? Die Fäulnis war tief, sehr tief vorgedrungen in Dalwah. Große Mühen wären erforderlich, sie wieder auszumerzen angesichts der Dummheit und des Aberglaubens, insbesondere wenn die geistigen Führer der Bösen an Ort und Stelle aktiv wären, wie er und Bruder Aldo es vermuteten. Der Metz-Priester kochte innerlich vor Zorn, als er zu seinen Gemächern gelangte, wobei sein Gesichtsausdruck den altgedienten Leibgardisten, der an der Tür Wache stand, so verunsicherte, daß ihm der Gruß im Halse steckenblieb. »Nun«, meinte seine Frau froh, »wir sind allein. Ich spürte eine finstere Wolke über die Treppe kommen; wenn ich dein Gesicht betrachte, weiß ich, wo sie ihren Ursprung hat. Was plagt den mächtigen Meister der Mysterien Metzlands diesmal?« Hiero rang sich ein Lächeln ab, als sie ihn küßte. »Nenn es die maligne Manifestation mörderisch maliziöser Motive in Verbindung…« – er schöpfte Atem – »… mit dem wüsten Wahnsinn und der wütenden Wirrköpfigkeit eurer…« Eine schmale Hand legte sich über seine Lippen.
»Ich weiß, was du meinst, ohne raten zu müssen. Die Dummheit der hiesigen Kirche, der moralische Verfall bei Klerus und Adel, die Blindheit gegenüber den Gegebenheiten und gegenüber dem Feind, der mitten unter uns gerückt ist. Alles richtig, stimmt's?« »Alles richtig. Und schlimmer. Aber ich will dich nicht mit so etwas belästigen an diesem Festtag. Es ist schon später Nachmittag. Ist das dein Ballkleid?« fragte er mit einem bewundernden Blick auf das halb durchsichtige, weiße Gewand, unter dem sie offenbar nichts mehr trug. »Idiot! Das ist ein Hausmantel! Von wegen Ballkleid! Wie könnt' ich mich nur auf so 'nen Bauernlümmel einlassen, der Lumpen nicht von einem ordentlichen Gewand unterscheiden kann?« »Nun«, meinte Hiero, »du hast fast nicht mal solche getragen, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Ein Blick auf die zarte Haut, war's auch ungeziemend, und ich sagte zu Klootz: ›Klootz, alter Knabe‹, sagte ich, ›was braucht's da noch Kleider?‹ Frag ihn doch selber, wenn du mir nicht glaubst!« Er setzte sich in einen breiten Sessel, woraufhin sie kam und sich auf seinen Schoß niederließ. Nach einer Weile richtete sie sich mit ernster Miene auf. »Hast du neue Sorgen? Hast du irgend etwas rausgebracht?« »Nein.« Er stand auf, trat ans schmale Fenster und blickte über die Stadt hinaus, deren Lärm als verzerrtes Echo in ihre Turmgemächer drang. Schließlich gab er zur Antwort: »Aber ich habe den Kopf eines Ungeheuers aus dem Fluß gesehen, der auf einem Pfahl steckte. Der alte Jabbrah von der Garde sagte, dergleichen gebe es seit ein paar Jahren häufiger und sie seien gefährlicher als früher. Könnte sein, daß die Unreinen dahinterstecken. Es gibt nichts, womit sie nicht auf die eine oder andere finstere Weise fertig würden. Aber darum geht's eigentlich nicht, im Moment wenigstens nicht. Was mich besorgt macht, ist das wachsende Gefühl, daß hier vor unsrer Nase etwas zugange ist.
Zuerst war ich sogar gegenüber diesem äffischen Amibale mißtrauisch. Irgend etwas geht vor sich, aber so gut ich auch bin, ich kann es nicht entdecken.« »Liegt wohl viel an den Nerven, und dazu kommt noch, daß du so ein blödes Kostüm, wie du sagst, anziehen und dich den ganzen Abend vorzeigen mußt. Aber wenn du von hier wärst, würdest du gegenüber Amibale auch mißtrauisch sein. Er ist ein junger Balg, freilich auch der nächste in der Thronfolge nach mir, mußt du wissen. Mein Vater hat große Pläne mit ihm, falls er je ein bißchen erwachsener wird. Zum Glück gerät er nicht seiner Mutter nach. Der Vater – Vetter Karimbale also – war ein bißchen dumm. Aber Fuala – puh!« »Was war denn mit ihr?« fragte Hiero, der noch hinab in die Straßen blickte, beiläufig. »Sie ist schon tot, nicht wahr? Ebenso wie der Vater, richtig?« »Mausetot«, sagte sie trocken. »Wurde von einem Liebhaber, einem von vielen, auf dem herzoglichen Ehebett erdolcht. Der Mörder wurde zwischen zwei wütende Hüpfer gespannt, bis es ihn in Teile zerriß. Lèse majesté und dergleichen. Offengestanden war mein Vater froh. Sie kam nicht oft an den Hof. Zu viele Augen. Aber ich kann mich gut an sie erinnern. Weiß Gott, sie war sehr schön, hatte aber etwas durch und durch Schlechtes an sich. Sie hielt sich oft irgendwo im Wald auf, wenn sie daheim im Süden war, und nahm wochenlang Amibale mit – ohne Geleit bis auf ein paar narbige Urwäldler, persönliche Sklaven ihrer Familie. Vielleicht war sie nur ein kleines Luder, ich jedenfalls habe ihr ebensowenig getraut wie mein Vater. Er sagte immer, sie habe politische Ambitionen. Eigentlich regierte sie das Herzogtum, denn ihr dummer Mann tat, was sie sagte. Zuweilen ließ sie Sklaven grausam bestrafen. Nein, Fuala war nicht nett. Amibale kann froh sein, daß sie tot ist – falls sie überhaupt tot ist.« »Du hast gerade gesagt, sie sei mausetot. Darf ich fragen, was ich von dieser Bemerkung halten soll?«
Nun war es Lucare, die den Blick abwandte. Hiero nahm mit Belustigung zur Kenntnis, daß sie verlegen geworden war. »Nicht wenige haben sie für eine Hexe gehalten, und eine Hexe läßt sich natürlich nur auf besondere Weise töten.« Lucare sah ihm ins Gesicht. »Wenn du's unbedingt wissen willst, ich hab' bei ihrem Anblick 'ne Gänsehaut bekommen. Es gibt nicht viel, wovor ich mich fürchte, aber vor ihr hatte ich eine Mordsangst. Freilich ist sie tot, aber sie hatte eine so starke, böse Ausstrahlung, daß mir heute noch ganz anders wird. Karimbale ist einen Monat später gestorben. An einer Krankheit, wie man sagt«, fügte sie scheinbar zusammenhanglos hinzu. »Nun«, meinte Hiero beschwichtigend, »wir alle kennen ein paar Leute, die uns auf die Palme bringen. Apropos Palme, ich muß schnell die Garde besichtigen oder komme zu spät zur Audienz, was die südländische Handelsdelegation auf die Palme bringen wird, denn ich soll sie zusammen mit deinem Vater empfangen. Bis später also, wenn’s losgeht mit der Narretei.« Sie warf ihm ein Kissen nach, als er zur Tür hinausging. Der Ball war tatsächlich ein prunkvolles, farbenprächtiges Schauspiel, wie Hiero es sich nicht hätte träumen lassen. Der Große Saal war hell von Kerzen und Pechpfannen erleuchtet und von tausend Düften erfüllt. Sein azurblaues, goldverbrämtes Kapuzengewand war nur ein Lumpen im Vergleich mit den meisten Kostümen. Der König ging in Purpur und Weiß, schwer mit glitzernden Juwelen behangen. Lucare war in Smaragdgrün gewandet und trug als Schmuck nur den großen Reif der Baumfrauen am bloßen, dunklen Arm; eine grüne Larve zierte ihr hübsches Gesicht. Der Klerus der Universalkirche wohnte dem Ball im Prunkgewand bei, handelte es sich doch um einen Staatsakt, der seines Segens bedurfte. In reichgeschmückten Masken, bunt wie der Regenbogen, wiegte und drehte sich der Adel des Reiches zu den exotischen Klängen der
südländischen Trommeln und Hörner. Die Damen waren nicht schöner geputzt als die Herren. Hiero hatte kaum Gelegenheit, sich mehr als einen allgemeinen Eindruck zu verschaffen. Er lehnte an einer Marmorsäule und betrachtete mit Verwunderung das bunte Treiben, als ein hoher Lakai ihn auf den Arm tippte. »Verzeihung, Hoheit, eine dringende Meldung. Ihr wollt bitte unverzüglich in die Halle kommen. Von Eurer Leibwache denk' ich.« Während er überlegte, was dies zu bedeuten habe, folgte er dem Mann, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam. Beim Verlassen des großen Ballsaals sandte er Lucare einen Gedanken. Sie befand sich mitten auf dem Parkett, wo sie sich pflichtbewußt irgendeinem wichtigen Dümmling widmete, dessen Familie großen Einfluß hatte. Eine Meldung von der Leibwache, Liebling, anscheinend dringend. Bin gleich wieder da. Es kam die scherzhafte, verliebte Antwort: Laß dir Zeit, aber brauch nicht zu lange, Liebling. Du mußt noch mit fünf dicken Damen tanzen, bevor du das Fest verlassen kannst – die Ehre des ganzen Reiches steht auf dem Spiel! Kichernd folgte er dem Mann durch die Tür in ein kleines Nebengemach der Halle. Er war in Gedanken noch bei Lucare, als er plötzlich zu seiner Rechten eine rasche Bewegung bemerkte, hatte aber keine Zeit mehr zum Umdrehen. Es traf ihn auf den Schädel, und er verlor das Bewußtsein.
2. Allein Es dauerte lange, bis er wieder erwachte, wobei er verschiedene Eindrücke bekam – Eindrücke, die aus der Wirklichkeit, wie er wußte, nicht aus Alpträumen stammten. Verschwommene Gesichter tauchten in seinem Blickfeld auf. Er sah das Gesicht von Joseato, der zu ihm herabblickte, während er gefesselt auf einer Bank in einem tiefen Gewölbe des weitläufigen Palastes lag, einer düsteren Kammer, wie er durch den Schleier von Pein und pochendem Kopfschmerz gewahrte. Bald wurde aus dem Gesicht des abgehetzten Kirchenverwalters eine alte, kalte Fratze, aus der spöttische, siegessichere Augen funkelten. Hiero erkannte, daß er Joseatos Augen bisher noch nicht richtig betrachtet hatte und verfluchte sich insgeheim dafür. Aus dem vertrauten Gesicht glotzte der stiere Blick der Unreinen! Hiero wand sich verzweifelt in den Fesseln, die ihn hielten. Dabei bemerkte er ein zweites Gesicht, woraufhin ihm der Schreck die Glieder lähmte. Es war das Gesicht von Amibale Aeo, dessen junge Augen genauso böse funkelten, wobei noch etwas hinzukam: Amibale wirkte ganz irre, irre und feindselig und abschätzig, wie's für die Unreinen typisch war. Erinnerungen wurden in Hiero wach. Sie war eine Hexe. Sie nahm ihn mit in den Urwald. Er spürte wieder einen Stich im Arm und sah, daß Joseato einen Glaskolben hielt, aus dessen Kappe eine blutige Nadel ragte. »Kaltmachen können wir ihn später«, wurde geflüstert. »Aber jetzt noch nicht. Die Prinzessin würd's wohl merken und sofort was unternehmen. Sie sind sich im Norden einig, daß er ihr Gedanken übermitteln kann. Aber wenn sie keinen Tod, sondern nur Stille fühlt, so gibt uns das Zeit. Sie sagen, das hier lähmt die Geisteskräfte, warnen uns aber, auf der Hut zu sein; er ist anders und stark. Er muß sterben – aber nicht hier – nicht hier. Entfernung verringert die Gedankenverbindung. Nicht einmal er kann große Entfernungen
überbrücken – noch nicht. Er muß unter Drogen bleiben. Dann wird er still sein bis zu seinem Tod. Verstanden?« »Klar.« Das bartlose Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, während aus den jungen, glatten Zügen die Augen grausig funkelten. »Ich schaff ihn fort. Geh zum Ball zurück! Ich komme gleich nach. Unsre Abwesenheit darf nicht auffallen. Das hier überlaß´ mir. Eine meiner Karawanen bricht bei Morgengrauen gen Westen auf…« Dann wurde der Schmerz übermächtig, und Hiero sank in Bewußtlosigkeit. In den kommenden Stunden erwachte er in unregelmäßigen Abständen, bald fieberheiß, bald unnatürlich fröstelnd. Er lag, mit schmutzigen Tüchern gefesselt, in einem seltsamen Behältnis, das knarrte, schwankte und stank. Er fragte sich beiläufig, ob er auf einem Schiff fahre, aber das war ja wohl nicht wichtig. Er versuchte, eine kleine Gedankenverbindung aufzubauen, brach sein Bemühen aber rasch wieder ab, als nichts passierte; er ahnte unbewußt, daß er die Fähigkeit dazu verloren hatte. Wie ihm die körperliche Freiheit genommen worden war, so war auch die Kraft seiner Gedanken lahmgelegt. Gleichfalls fehlten ihm offenbar sein Zeit- und Orientierungssinn, so daß er nicht wußte, wie spät es war. Er erinnerte sich dunkel, mit einer scheußlichen Brühe gefüttert worden zu sein. Zwar ahnte er, unter Drogen zu stehen, hatte aber nicht die Kraft, sich zu widersetzen. In seinem komatösen Zustand schluckte er alles, was sie ihm gaben. Die sonderbaren, wilden Gesichter, die er zuweilen erspähte, bedeuteten ihm nicht mehr als jeder andere Bestandteil eines schier endlosen Alptraums. Manchmal war es offenbar hell, manchmal dunkel, was aber keine Rolle spielte. Mit einemmal ertönte ein gräßliches Gekreische, gefolgt von wildem, unartikuliertem Geschrei, zu dem sich Erschütterungen und heftige Bewegungen gesellten. Seine Unterlage machte einen jähen Satz, woraufhin etwas Schweres auf ihn fiel. Die Stoffetzen, in die er gebunden war, zerrissen zum Teil bei den Zuckungen, die durch das schwere Ding über ihm gingen. Schmerz schoß durch seine Beine.
Instinktiv stemmte er sich damit aus Leibeskräften ab, wobei ihm ein kleiner Adrenalinstoß half, so daß ihn die schwere Last nicht erdrückte. Da seine Augen bedeckt waren, konnte er nichts sehen. Seine Hände waren gebunden, aber er konnte sie befreien … Befrei dich nicht! Lieg still! warnte seine innere Stimme. Jede Bewegung wär' tödlich! Er vernahm rasche, flüchtige Laute, die sich anhörten wie rasselndes Metall und knarrendes Leder. Nahebei murmelte eine Stimme, der eine zweite von weiter entfernt antwortete. Er hörte Getrappel wie von rennenden Tieren; dann herrschte Stille. Noch lag er regungslos da, nur darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Ohne es zu merken, fiel er alsbald in tiefen Schlaf. Als er erwachte, war er ziemlich hungrig und durstig. Seine Beine waren offenbar frei, nicht aber die Hände, und auch die Augen waren noch verbunden. Freilich war's ein Kinderspiel, selbst mit gefesselten Händen die Stoffstreifen von den Augen zu entfernen. Blinzelnd sah er sich um im grellen Tageslicht des Nachmittags. Er befand sich in einer Bodenmulde unter dichtem Gestrüpp. Etwas Großes drückte gegen sein Gesicht und ragte, jede Sicht verwehrend, hoch über ihn auf. Ein schon kräftiger Verwesungsgeruch ließ darauf schließen, daß es sich um einen Tierkadaver handelte, wie sich auch zeigte, war Hiero mit Lederriemen in Tücher aus Leinen gebunden. Hiero blieb eine Weile still liegen und lauschte. Eine leichte Brise strich durch das Gebüsch über ihm, aber daneben vernahm er noch ein unregelmäßiges Schnattern und Gackern, das manchmal zu einem gellenden Quaken wurde und wieder verstummte. Es fiel ihm nicht schwer, dahinter das Gekreische von Aasvögeln zu vermuten; hier mußte also der Tod gewütet haben. Seine Gedanken wurden rasch klarer. Er untersuchte seine Hände. Sie waren nicht mit Ketten oder Lederriemen gefesselt, wie er befürchtet hatte, sondern lediglich mit Leinenstreifen. Offensichtlich hatten seine Entführer nicht mit der Möglichkeit einer Befreiung gerechnet.
Es war einfach, die Hände freizubekommen. Daraufhin zog er sich an dem Tier, unter dem er Schutz gefunden hatte, empor. Fünf tote Kaws, das übliche Trag- und Zugtier in Dalwah und im tiefen Süden, lagen auf einer kleinen Lichtung. Hiero spähte über den Kadaver eines sechsten, für dessen Tod der abgebrochene Schaft eines Pfeiles, der einen Fingerbreit neben dem Gesicht steckte, eine hinlängliche Erklärung lieferte. Vier splitternackte Männer lagen mit zusammengekrümmten Leibern beim toten Vieh. Alles war geraubt und geplündert worden bis auf das zerbeulte Blech an Hieros Reittier – seinem Harnisch, wie's schien. Offenbar war Hiero in einer einfachen Sänfte aus Leder und Leinen auf dem breiten Tierrücken befördert worden. Eine Schar schmächtiger, schwarzer Geier mit tranigen, nackten Köpfen zupften das Fleisch von den Leichen. Sie blickten wachsam auf, als Hieros Kopf erschien, und flatterten ins nahe Gebüsch. Sonst regte sich nichts; der einzige Laut war das dumpfe Geschnatter der Aasvögel. Unter Aufbietung aller Kräfte schüttelte Hiero seine Benommenheit vollends ab und überlegte, was hier wohl passiert sei. Die vier Männer und vielleicht noch ein paar mehr hatten ihn fortschaffen wollen und waren neben den Lasttieren gegangen. Bei Dämmerung oder Nacht hatten ihnen Wegelagerer aufgelauert. Hieros Tier war auf der Stelle tot gewesen, aber zum Glück nicht mit seinem vollen Gewicht auf ihn gefallen. Die Wegelagerer hatten ihn bei ihrer hastigen Suche nach Beute übersehen, weil er unter den Trümmern der Sänfte und dem Kaw begraben gelegen hatte. Um nicht entdeckt und verfolgt zu werden, waren die Räuber flugs abgezogen, nachdem sie alles, was sie finden und verwenden konnten, mitgenommen hatten. Hiero, dessen Beine noch genauso taub waren wie sein Verstand, stolperte in die Mitte der Lichtung. Das Krächzen der Vögel war lauter geworden, aber sie flogen nicht davon, als er den Schauplatz aus nächster Nähe besichtigte.
Die Toten waren ihm unbekannt. Was er sah, behagte ihm nicht, insbesondere da er nun sicher sein konnte, daß es sich um seine ehemaligen Entführer oder Bewacher handelte. Auch wenn man ihren qualvollen Tod berücksichtigte, so waren sie doch unerhört bleich, die kleinwüchsigen Leichen. Bleich waren auch ihre Haare, und sie hatten rasierte Gesichter, schmale Augen und hervorstehende Kinnbacken. Irgendwie erweckten sie den Anschein lichtscheuer Geschöpfe. Hiero fragte sich, was für Leute sie seien und wohin sie ihn gebracht hätten. Während er das Dornengestrüpp, das ihn umgab, im schwindenden Licht der Nachmittagssonne beobachtete, rang er darum, seine schlummernden Gedanken wiederzuerlangen, obschon sich ihm noch alles drehte. Allmählich fing er an, nach irgend etwas zu suchen, das ihm nützlich sein könnte. Keine Waffen lagen umher, obgleich der Angriff wohl kaum ohne Kriegsgerät vonstatten gegangen war. Überhaupt nichts lag umher bis auf die Leichen. Die Räuber, die ihn freilich übersehen hatten, hatten ganze Arbeit geleistet. Sogar die Pfeile hatte man wieder mitgenommen – bis auf den Stumpf in seinem Kaw. So fand er weder etwas Brauchbares noch Hinweise über seine Entführer oder deren Mörder. Abgesehen von den getragenen Ledersandalen, die er beim Erwachen anhatte, besaß er absolut nichts. Er machte sich gerade daran, die Spuren, mit denen die Lichtung übersät war, zu erforschen, wobei er nur verwischte Abdrücke von Stiefeln und von wenigen Kaws entdeckte, als die Aasvögel verstummten und aus dem Gebüsch aufflatterten. Aus großer Ferne erklang von Osten das schwache Hornsignal eines Suchtrupps. Hiero erstarrte vor Schreck. Die Vögel hatten sich tief über dem Dornengestrüpp gehalten und waren nicht als Schar hoch aufgestiegen, worüber er froh war. Er wußte nicht, wer dieses Horn geblasen hatte, aber diese Öde barg, was ihn betraf, nichts als Feinde. Und ihnen waren die aufsteigenden Vögel vielleicht aufgefallen.
Abermals ertönte das Horn zu seinem einsamen Ruf. Nun wurde er aus Norden und Süden erwidert, aber beide Signale waren weit entfernt und noch ein gutes Stück östlich von seiner Position. Insgesamt waren es mindestens vier Hörner, die den Standort und Vormarsch signalisierten. Die Gegend wurde in weitem Bogen abgesucht. Wem sonst als ihm konnte die Suche gelten? Ohne lange zu überlegen bückte sich der Metz, von mühsam antrainierten Reflexen geleitet, und hob einen stachligen Zweig mit dürrem Laub auf. Flugs verwischte er alle Spuren seiner Füße in der trockenen Erde. Dann eilte er westwärts, wobei er, soweit möglich, auf kiesigem Gelände lief; andernfalls verwischte er seine Spuren sorgfältig. Er lief schätzungsweise eine halbe Stunde und achtete darauf, die eingeschlagene Richtung beizubehalten. Hinter ihm ertönten nach wie vor die Hörner. Die Entfernung schien noch die gleiche wie beim ersten Signal zu sein, woraus er schloß, daß die Verfolger mit ungefähr gleicher Geschwindigkeit vorankamen. Die Sonne vor ihm ging nun rasch unter und zeigte ihm, daß das Gestrüpp sich lichtete. Es gab mehr sandige, kiesige Stellen, und bald verschwanden das Gebüsch und das spärliche, rauhe Gras fast ganz. Die Farbe des Bodens war von Braungelb in ein bläuliches Grau umgeschlagen. Später veränderte sich das Hornsignal. Wenigstens zwei Bläser riefen mit schnellen, kurzen Läufen zum Sammeln. Hiero schloß daraus, daß sie auf die Toten gestoßen seien. Eisern marschierte er weiter. Wie qualvoll war der Gedanke, daß es sich vielleicht um Freunde handelte, die Lucare geschickt hatte, aber die Chance war zu gering; er hatte keine Ahnung, wo er war oder wie weit man ihn seit seiner Entführung verschleppt hatte, wußte aber, daß er ein gutes Stück Weges zurückgelegt hatte. Wenn das stimmte, bedeuteten der bläuliche Boden und das Fehlen aller Vegetation, daß neue, unbekannte Gefahren seiner harrten. Daß nur mehr vereinzelt Büsche standen, so etwas hatte er schon im hohen Norden erlebt. Es
bedeutete, daß er sich einer Wüste näherte. In diesem Breitengrad von Dalwah war auf den Karten nur eine Wüste verzeichnet – eine Todeswüste. Es dauerte nicht lange, bis Hiero wußte, daß er recht hatte. Das Gebüsch hörte vollends auf; vor ihm erstreckte sich bis zum westlichen Horizont kieselhaltiger Sand, von dem ein bläuliches Glimmen ausging. Hinter sich hörte er wieder die Hörner der Suchtrupps in alter Weise. Hiero blieb keine andere Wahl. Ohne Wasser und Nahrung und Waffen brach er in die Wüste auf, um nicht in die Hände seiner Verfolger zu fallen. Alles wäre besser als die jüngste Gefangenschaft. Als die Nacht hereinbrach, verstummten die Hörner. Aber Hiero schleppte sich unverzagt weiter gen Westen. Inzwischen war sein Tempo langsam und unregelmäßig, und zuweilen strauchelte er. Einmal fiel er auf die Knie. Das Aufstehen forderte ihm am meisten Kraft ab. Er humpelte durch eine flache Senke und gelangte zu einem felsigen Stück, worauf es sich leichter gehen ließ als auf dem Sand. Hier legte er keuchend eine Atempause ein. Er lutschte an einem kleinen Kieselstein; das war besser als gar nichts, aber er brauchte dringend Wasser. Sein gestählter Körper konnte ohne Nahrung auskommen, nicht aber auf Wasser verzichten. Er hob den Blick und ließ ihn über die öde Landschaft gleiten, die sich im Schein des Halbmonds offenbarte. Breite Sandfelder lagen im Süden, so weit sein Auge reichte. Im Osten strebte der Sand dem Horizont zu; Sand fand sich auch im Norden, durchsetzt von Kiesund Steinfeldern. Aber im Westen zeichneten sich schwarze Giebel vom Sternenhimmel ab – vielleicht die Gipfel einer Bergkette oder der zackige Grat eines Kliffs. Mit letzter Kraft raffte er sich hoch. Wenn er irgendwo Zuflucht fände, so in diesen Felsen. Dort gab's vielleicht Höhlen oder
wenigstens Nischen, die ihm vor der Hitze des kommenden Tages Schutz bieten könnten. Dort gab's vielleicht Wasser und Nahrung, wenn er nur ordentlich suchte. Als er sich zum Weitergehen überwand, vernahm er aus südlicher Richtung ein schwaches, fernes Geräusch. Er lauschte angestrengt und versuchte zum hundertsten Mal, mit der Kraft seines Geistes einen Gedanken auf die Suche zu schicken, wie er's sich im vergangenen Jahr mühsam beigebracht hatte. Sein ganzer Leib spannte sich an, als er mit schier körperlicher Anstrengung die Nacht erforschte. Schließlich ließ er mit einem stummen Fluch wieder davon ab. Was immer man ihm auch angetan hatte, es schien eine bleibende Wirkung zu haben. Er war blind im Gebrauch seiner Geisteskräfte. Irgendwie hatte man ihm mit Hilfe der Drogen seine Gaben gestohlen, so daß er in dieser Wüste ohne physische und mentale Waffen völlig hilflos war. Er fluchte abermals und tadelte sich dann dafür. Flüchtig zeichnete er ein Kreuzzeichen auf die nackte Brust und murmelte ein kurzes Reuegebet. Er hatte vergessen, daß er Priester war und als Priester Gott für alle Gnaden danken müsse – auch die Gnade, überhaupt noch am Leben zu sein, zum Beispiel! Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten brach er zu den fernen Bergen auf und kümmerte sich nicht um seine Müdigkeit und den quälenden Durst, der ihm immer schwerer zu schaffen machte. Während des Marsches lauschte er angestrengt. Bis auf das Scharren und Kratzen seiner Ledersandalen brach kein Laut die Stille, dennoch ließ er sich nicht zur Achtlosigkeit verleiten. Seine Gabe, die Gedanken anderer Lebewesen zu erforschen, war vielleicht verlorengegangen; aber einige der in ihm schlummernden Synapsen, die ihn schon so lange beschützt hatten, regten und rührten sich noch, wenn auch zaghaft und ungewiß. Es lag etwas Böses in dieser Nacht! Er wußte es, als stünde es in großen Lettern in den Sand geschrieben. Jemand oder etwas war auf der Pirsch, also mußte er sich, da er keinerlei Waffen besaß, um sich zu wehren, einen Unterschlupf suchen oder beim Versuch sterben. Er zwang sich zum Weitergehen,
indem er sich nur darauf konzentrierte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hinsichtlich seiner mißlichen Lage machte er sich nichts vor. Er befand sich an einem tückischen Ort, von dem nur wenige der mutigen Reisenden, die sich zu ihm vorgewagt hatten, zurückgekehrt waren – einer Todeswüste. Vor Jahrtausenden hatten hier die Höllenfeuer des Atoms gewütet. An den schlimmsten Stellen glimmte noch der fahle Schein absolut tödlicher Strahlung. Freilich handelte es sich hier nicht um eine dermaßen verseuchte Gegend. Wie alle Metz des hohen Nordens konnte Hiero von Natur aus Strahlungen aufspüren und eine gewisse Menge davon vertragen. Er hatte hier ein ödes Stück Land vor sich, dessen tödliche Gammastrahlung sich längst mehr oder weniger erschöpft hatte. Das bedeutete keine Minderung der Gefahr; vielleicht war ihm nur eine Gnadenfrist eingeräumt. Obzwar keine blauen Irrlichter über den Sand und das Geröllfeld huschten, gab es in dieser Gegend weder Wasser noch Leben. Es wuchsen keine Pflanzen, nicht einmal Flechten, wenigstens nicht in dem Stück, das er seit der Abenddämmerung hinter sich gebracht hatte. Dennoch hatte die schwindende Radioaktivität ganz eigene Spuren hinterlassen. Seltsame Lebensformen waren aus grausigen Mutationen hervorgegangen. Es gab sie überall auf der Welt, aber in diesen Wüsten war es angeblich zu besonders seltsamen Auswüchsen gekommen. Mochte die Landschaft im fahlen Licht auch unbelebt erscheinen, so gab es doch Leben von verschiedener Form. Trotz des Verlustes seiner geistigen Kräfte spürte er das. Die Bedrohung, die er witterte, wogte durch seinen brummenden Schädel. Gequält kämpfte er sich weiter, den Blick auf die dunkeln Felsentürme geheftet, die im Westen seiner harrten. Wieder rastete er, um zu verschnaufen, sank aber nur auf ein Knie nieder, weil er befürchtete, nicht mehr die Kraft zum Aufstehen zu finden, falls er sich hinhockte. Und abermals vernahm er jenes Geräusch aus südlicher Richtung. Diesmal war es ein klarer, seltsam hoher, vibrierender Laut wie das Blöken eines Schafes in unvorstellbar kreischenden Tönen. Der Priester und Vollkämpfer,
Soldat und Waldläufer, der Hiero war, spürte einen eisigen Finger entlang seines Rückgrats streichen. Was immer diesen Laut von sich gab, er wollte seinem Urheber keinesfalls über den Weg laufen. Abermals bekreuzigte er sich, stand auf und zog weiter westwärts. Er war in allen Gliedern taub vor Erschöpfung, schleppte sich aber dennoch weiter. Der Schrei stammte sicherlich von einem Raubtier, das seiner Spur folgte. Wie es angelockt worden war und seine Spur aufgenommen hatte, das wußte er nicht, aber daß es ihm folgte, dessen war er sich sicher. Matt kämpfte er sich voran. Als er wieder aufblickte, sah er die Felsen vor sich aufragen. Zu beiden Seiten erhoben sich die Hänge und Felsen aus dem Sand, der in all den mühsamen Stunden sein einziger Begleiter gewesen war. Er bemerkte in einem Felsspalt links von sich ein stachliges Gebilde, das er für eine Art Pflanze hielt, ein sonderbares, unangenehmes Gewächs freilich. Vielleicht fände er hier doch noch Wasser, wenn er nur gründlich suchte. Weiter und immer weiter ging er, während die letzte Feuchtigkeit in seinem Körper ihn mit einer knisternden Schicht aus Sand und Schweiß überzog. Hinter ihm ertönte wiederum der grausige Schrei unter dem weiten Himmel, viel lauter als beim letzten Mal, fremdartig und unheilvoll in jenem unerhört hohen Ton ausklingend, der in jeder Faser seines Körpers schier schmerzte. Diesmal legte er keine Rast ein, sondern schleppte sich mit letzter Kraft voran über das ansteigende Gelände vor sich. Wenn die Nacht stockfinster gewesen wäre, so wäre er recht hilflos gewesen, weil er sich langsam hätte vorantasten müssen. Aber der Halbmond offenbarte ein kleines Tal, das sich ins Gelände schnitt und hinauf zu den höheren Felsen führte – eine schwarze, bedrohliche Schlucht, die ihm nun wie ein Hafen der Zuflucht vorkam. Wenn er nur durchhalten könnte, bis er in den Bergen wäre! Als er die Klamm erreichte, nahm er alle Kraft zusammen und wankte hinein. Der Mond schien nur stellenweise in das Tal, aber es
war hell genug zum Sehen. Der Schieferboden unter seinen Sandalen war brüchig und trügerisch, dennoch kam er einigermaßen gut voran, während er an den Seiten nach einer bergenden Höhle oder einem anderen Versteck Ausschau hielt. Obgleich er hinter sich nichts mehr hörte, ließ er sich nicht täuschen. Was immer ihm folgte, es war ihm dicht auf den Fersen. Wenn er sich nicht bald an einen sicheren Ort flüchten könnte, wär's um ihn schlecht bestellt. Einen Augenblick lang erfüllte sein Denken ein Gesicht, ein hübsches Frauengesicht, dunkel und geheimnisvoll, umrahmt von braunen Locken, mit vollen, sinnlichen Lippen und dunklen, strahlenden Augen. Lucare! Sollte er hier allein und verlassen sterben, ohne sie je wieder lächeln zu sehen? Verzweifelt tapste er durch die enger werdende Schlucht, während er mit geschultem Soldatenblick nach einer Stelle suchte, die ihm wenigstens Deckung und einen Vorteil im drohenden Kampf verschaffen würde. Doch kein Spalt, keine Nische fand sich in den Seitenwänden der Klamm, die immer näher zusammenrückten und schließlich nur mehr wenige Meter auseinanderstanden. Entmutigt blickte er auf; dann sah er es. Ein kurzes Stück voraus machte die ansteigende Schlucht einen Knick nach links. An dieser Stelle ragte aus der südlichen Seitenwand ein turmartiger Vorsprung mit einer schmalen, flachen Kuppe. Aber die Seite dieser aufschießenden Säule war bröcklig und zerklüftet! Einem geübten Bergsteiger freilich hätte das keine große Schwierigkeit bereitet. So müde Hiero auch war, er spürte, wie neue Kraft in 'seine Glieder strömte. Bald war er am Fuße des Spitzfelsen angelangt und hatte sich daran gemacht, ihn zu besteigen, wobei er auf dem Weg nach oben Hände und Füße schnell und sicher ansetzte. Da der brüchige Felsenturm nur gut fünfmal so hoch war wie Hiero selbst, war er rasch oben angekommen. Keuchend zog er sich über den Rand auf die mehr oder weniger flache Kuppe und blickte hinab. Aber er gönnte sich keine Sekunde Rast. Er wußte nicht, was ihm folgte und wozu es imstande wäre, ahnte aber, daß es ihm dicht auf
den Fersen war. Könnte es klettern, wäre seine neue Zuflucht eine mörderische Falle. Sein Blick strich über das schmale Dach des bröckligen Monolithen, wobei seine Augen grimmig funkelten. In Armeslänge lagen mehrere Felsstücke umher, die Witterung und Erosion längst herausgelöst hatten. So leise es ging, rückte er die zwei größten mit letzter Kraft dicht an seine Brust, wobei er sich zwingen mußte, vor Anstrengung nicht grunzend zu schnauben. Dann versuchte er sich zu entspannen, während er unentwegt hinab in die schwarze Schlucht spähte und nach dem Verfolger Ausschau hielt. Da er ahnte, daß es gleich unangenehm würde, war er froh um jede Sekunde, die ihm zum Verschnaufen blieb. Und dann hörte er es. Zunächst drang bloß ein gedämpfter Laut aus der stillen Nacht an seine Ohren, der Laut einer schwerfälligen Bewegung, der sich bald mehrmals wiederholte. Er lauschte den plumpen Tritten irgendeines Kolosses, der sich über den gleichen Weg näherte, den er gerade gekommen war – eines Kolosses, der freilich so unauffällig wie möglich anschlich, um sein Opfer blitzartig zu überraschen. Hieros Augen funkelten zornig. Wenigstens würde er nicht überrumpelt werden. Der Verfolger bekäme zu spüren, daß ein Vollkämpfer aus Metz sich nicht wie ein gejagtes Reh durchs Gelände hetzen ließ. Nach Tagen der Hilflosigkeit endlich eine Chance, sich zu wehren! Immer näher kamen die Laute. Einmal hörte er ein leichtes Poltern auf dem Schieferton, als wäre etwas Schweres auf einen Haufen lockerer Steine getreten. Nun vernahm er ein Atmen, ein heiseres, rauhes Schnauben. Und dann kam es um die Ecke. Mochte Hiero auch schon allerlei wunderliche Schlachten geschlagen haben und an die monströsen Lebensformen, die der ›Tod‹ hervorgebracht hatte, gewöhnt sein, so hielt er doch die Luft an, als er sah, was aus diesem südlichen Ödland auferstanden war, um ihm an den Kragen zu gehn. Im fahlen, ungewissen Schein des Mondes erschienen gewichtige Massen von einer sonderbar blauen Farbe, als hätten die blauen,
giftigen Feuer der großen Wüste ihr grausiges Erbe in der Farbe dieses ihres Sprosses hinterlassen. Der mächtige, ungeschweifte Leib in der Größe des längst ausgestorbenen Pferdes wurde von vier stämmigen Beinen getragen, die in dreizehigen Hufen, wahren Klauen, endeten. Am langen, blau gescheckten Hals entwuchs der gleichfalls pferdeähnliche Kopf, aus dessen wulstigen Lippen allerdings tückische Fangzähne ragten. Und am großen Schädel, dem Ohren fehlten, standen zwei nadelspitze Hörner. Am gräßlichsten allerdings – und das unterschied das Ungetüm von allen normalen Lebewesen – waren seine Augen. Sie saßen tief und funkelten feurig, hatten aber keine Pupillen. Und der Mann, der auf der Felskuppe kauerte, wußte, was er vor sich hatte. Es war der Todeshirsch, worüber er in den alten Schriften Dalwahs gelesen hatte. In grauer Vorzeit waren diese Ungetüme im Süden weit verbreitet gewesen und im Rudel über die verstreut lebenden Menschen hergefallen. Sie kamen aus ihrem Unterschlupf in den Wüsten und rissen alle Warmblüter, die sie erbeuten konnten, so daß sie die an die Wüsten angrenzenden Landstriche entvölkerten, bis die wenigen Stämme, die dort beheimatet waren, in ihrer Verzweiflung fluchtartig die Gegend verließen. Seit Menschengedenken indes war kein Todeshirsch mehr gesehen worden; es rankten sich allerlei Legenden um ihn, der nur mehr im Hirn der Menschen fortlebte. Als Hiero das geifernde Maul sah, wußte er, daß dieses Gebiß, von welchem vorzeitlichen Tier es auch abstammen mochte, kaum zum Äsen gedacht war. Diese Kiefer – wenn auch nicht viel kleiner als bei Klootz – dienten zum Reißen und Beißen von Fleisch, zum Bersten von Knochen und Zermahlen von Sehnen, um den gierigen Raubtiermagen zu sättigen. Hieros Gedanken überschlugen sich beim greulichen Anblick dieser leibhaftigen Erscheinung aus der finsteren Vorzeit. Während er es von oben betrachtete, hob es den Kopf und entdeckte ihn. Abermals schallte sein grimmiger, klagender Ruf durch die stille
Nacht, diesmal nur so laut, daß ihm das ohrenbetäubende Getöse schier die Sinne raubte, als es von den Felswänden widerhallte. Hiero drückte die Augen zu, als dieses abscheuliche Geschrei ihm durch Mark und Bein fuhr. Als das Echo davon verklungen war, schlug er die Augen wieder auf. Gerade in diesem Moment setzte der Wüstenteufel zum Sprung an und riß das Maul auf, daß Hiero sowohl die Hauer als auch die Reißzähne an den Ecken sehen konnte. Dann sprang er. Obgleich darauf vorbereitet, kam dieser Angriff für den Priester aus Metz überraschend. In den gewaltigen Hinterbeinen steckte eine Kraft, die er nicht vermutet hätte, und das monströse Raubtier kam mit diesem einen Satz fast bis an Hiero auf der Felskuppe heran. Einen gräßlichen Moment lang starrte er in die wäßrigen, glänzenden Augen des Ungetüms, kaum eine Schwertlänge von ihm entfernt, während sein stinkender Atem ihm als widriger Dunst entgegenschlug. Dann war es verschwunden, und Hiero hörte ein lautes Poltern, als es zurück zum Fuß des Felsen plumpste. Mit klopfendem Herzen spähte Hiero über den Rand des Monolithen, wobei er die leise Hoffnung hegte, die Ausgeburt hätte sich beim mächtigen Fall sämtliche Glieder gebrochen. In Wirklichkeit kauerte es unverletzt am Boden und funkelte ihn mordgierig an. Es brauchte schon eines himmelhohen Falles, um der Kreatur die Knochen zu brechen. Hiero besann sich auf die alten Schriften, worin von der Unverletzbarkeit dieser Ungetüme die Rede war; sie könnten die schweren Balken wie Grashalme aus den Stadtmauern reißen, wurde da behauptet. Das Untier würde nie durch eigenes Versagen Schaden erleiden. Wenn Hiero überleben wollte, mußte er zum Angriff übergehen, so hoffnungslos dieses Unterfangen auch schien. Wieder richtete das Monstrum sich auf, diesmal allerdings recht behäbig, bis die Vorderbeine mit den mächtigen Hufklauen ganz gestreckt waren. Die drei Krallen an jedem Fuß klammerten sich fest am Fels – ja, bohrten sich ins Gestein, während die drahtigen Sehnen
sich spannten, und zermahlten den Schiefer schnell und mühelos. Vor den Augen des entsetzten Hiero bröckelte die Felsspitze, auf die er sich geflüchtet hatte, allmählich ab. Auch die Hinterbeine höhlten scharrend das erodierte Gestein aus, wobei die grausigen Augen unverwandt zu ihm hochstarrten. Während Hiero zurückwich, drang das Untier empor. Vor seinen ungläubigen Augen drang diese Ausgeburt aus längst vergessenen Zeiten durchs Gestein. Trotz des beeindruckenden ersten Sprunges hätte Hiero ihr das nie zugetraut. Bald würden die Klauen sich höher strecken und über den Rand der Kuppe reichen. Und eine düstere Ahnung sagte ihm, daß dies sein Ende bedeuten würde! Die grausigen Augen ließen sein Blut gerinnen, als er sich auf den Fels duckte. Wie in einem Traum sah er die Krallen der rechten Vorderpranke zum letzten Schlag über den Felsrand stoßen. Flugs erhob er sich und stemmte den größeren der beiden Felsbrocken, die er für einen solchen Moment bereitgelegt hatte, hoch über den Kopf. Es war ein schwerer, scharfkantiger Stein, den er kaum zu heben vermochte. Das Monstrum sperrte das gewaltige, fängebewehrte Maul auf, als es abermals zu seinem markerschütternden Schrei ansetzte. Der Felsbrocken sauste mit aller Kraft, derer Hiero fähig war, nieder. Zwischen die geifernden Lefzen und die mörderischen Reißzähne fuhr er mit der Gewalt und dem Schwung einer Lawine und drang als Geschoß mit tödlicher Treffsicherheit und Wucht tief in den aufgerissenen Rachen. Es krachte, als wäre eine Riesenaxt in einen dicken Baumstamm gefahren. Ein grausiges Röcheln, vom zerfetzten Gewebe und sprudelnden Blut erstickt, gurgelte aus seiner Kehle. Wieder wurde ein mächtiger Fall vernehmbar, zu dem sich das Scharren und Stoßen um sich schlagender Glieder gesellten. Dann trat Stille ein, und der erschöpfte Hiero spürte eine leichte Brise durch sein Haar streichen und das Leben in seinen Adern pulsieren.
Mühsam krabbelte er wieder vor und spähte zum Fuß des Felsen hinab. Er sah alles verschwommen und wußte, daß ihm bald die Sinne schwinden würden, aber ein einziger Blick genügte. Der massige Leib, der schlaff dort unten lag, würde sich nie mehr bewegen. Der lange Hals zitterte noch in den letzten Todeszuckungen, und ein breiter, schwarzer Blutstrom quoll aus dem zerschmetterten Schädel, rann über den Boden der Schlucht und verlor sich in der Dunkelheit. Hieros mörderische Waffe hatte sich tief in den Schädel gebohrt und das entartete Hirn mit dem Sitz des zentralen Nervensystems zerfetzt. Dem Untier, das Widerstand von Seiten seiner Opfer nicht gewohnt war, waren der Mut der Verzweiflung und die Schwerkraft zum Verhängnis geworden. Hiero versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber kam nicht weiter als bis zum Wort ›Gott‹. Dann sank er vor Erschöpfung wie betäubt nieder. Es war kein richtiger Schlaf, sondern die Reaktion seines völlig überanstrengten Körpers und Geistes, eine Art von Trance, in der er wußte, am Leben zu sein, aber zu nichts weiter als bloßem Atmen imstande war. Seine Augen fielen zu, und sein Körper krümmte sich langsam in eine Fötushaltung, während sein Denken eine taumelige Leere überkam. Schließlich schlief er ein, und seine Seele schwebte im Kosmos. Mit einemmal war er hellwach. Er hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu brennen, und seine Zunge war strohtrocken, wie sich zeigte, als er sich damit über die spröden, brüchigen Lippen lecken wollte. Er blinzelte hinauf zur Sonne, die im Zenit stand. Also hatte er viele Stunden geschlafen. Noch vor Mitternacht hatte die Begegnung mit dem ruchlosen Todeshirschen stattgefunden, und nun war es schon wieder Mittag. Obwohl er sich matt und gräßlich müde fühlte, zwang er sich zum Nachdenken, was geradezu physische Anstrengung kostete. Wasser! Wasser und Schutz vor der Sonne. Er könnte ohne Wasser und Sonnenschutz nicht noch einen Tag in der sengenden Hitze dieser öden Wüste überdauern. Er mußte sofort
aufbrechen, solange er in seinen geschwächten Muskeln noch eine letzte Kraftreserve hatte, solange er noch klar denken und nach Hilfe suchen konnte. Ein rascher Blick und der Gestank, der ihm gleichzeitig in die Nase fuhr, machten ihn auf den aufgedunsenen Kadaver seines gestrigen Widersachers am Fuße seiner Zuflucht aufmerksam. Die Verwesung hatte in rasender Elle eingesetzt. Wie er bemerkte, herrschte um den Kadaver herum große Betriebsamkeit. Bleiches, flinkes Geschmeiß war am Riesenaas zugange und bohrte sich nagend in die faulenden Weichteile. Er mußte blinzeln im grellen Tageslicht, als er genauer schaute und spitze Köpfe, schillernde grüne Schuppen, kurze Beine und eine Vielzahl rot funkelnder, runder Augen sah. Offenbar handelte es sich um eine Mischung aus Ratte und Echse, die ihrer Umgebung zwar vorzüglich angepaßt, aber für den Rest der Welt ebenso befremdend war wie das tote Ungetüm. Der Metz blickte sich um und suchte sich auf seiner Plattform noch einmal einen losen Stein; diesmal nahm er einen länglichen, spitzen von der Länge seines Unterarms, der einem Stalagmiten nicht unähnlich war. Es gab zwar bessere Waffen, aber immerhin konnte er sich damit gegen das Getier zur Wehr setzen, sollte sich sein Appetit nicht bloß auf Aas beschränken. Eine andere Wahl blieb ihm sowieso nicht, gemahnte er sich. Er mußte aufbrechen – jetzt oder nie. Er steckte den behelfsmäßigen Steindolch in den Gürtel, der seine zerlöcherte kurze Lederhose hielt. Während des Abstiegs behielt er die Nager wachsam im Auge und achtete auf alle Anzeichen eines möglichen Angriffs. Nachdem er schon mehr als die Hälfte zurückgelegt hatte, bemerkten sie ihn; keins der Tiere rührte sich mehr. Wenigstens ein Dutzend spitzer Schnauzen waren in die Höhe gereckt, während rote Äuglein Hiero stieren Blickes fixierten und die schillernden Leiber völlig regungslos verharrten. Sie waren kurzbeinig und nicht größer als eine Hauskatze, stellten jedoch ob ihrer Vielzahl durchaus eine
Bedrohung für einen ausgezehrten, waffenlosen Mann dar. Hiero fragte sich, ob die scharfen Krallen und Zähne, die er nun zu Gesicht bekam, giftig wären. Immerhin würde es zu allem, was er bisher in dieser sengend heißen Hölle gesehen hatte, passen. Aber es spielte gar keine Rolle. Ihm blieb gar nichts anderes übrig als abzusteigen. Also kletterte er langsam und vorsichtig weiter, jederzeit darauf gefaßt, den Steindolch aus dem Gürtel zu reißen, sollte es brenzlig werden. Als er den ersten Fuß auf den Boden der steinernen Schlucht setzte, spürte er im ersten Moment eine Woge des Hasses. Dann war das grüne Getier explosionsartig verschwunden, so daß nur mehr der stinkende, zerfleischte Riesenkadaver zurückblieb. Hiero lehnte sich matt gegen die Felsenspitze, auf die er sich geflüchtet hatte. Offenbar beruhte seine Abscheu vor dem Getier auf Gegenseitigkeit; da es nicht wußte, wozu er imstande wäre, wollte es ihn anscheinend lieber nicht herausfordern. Das Aas neben ihm stank dermaßen, daß es ihn würgte, also setzte er sich in Bewegung und folgte der Schlucht weiter hinauf. Er konnte nur langsam gehen. Wie war er froh, als er endlich den Fuß des Felsen umrundet hatte und wieder frischere Luft zu atmen bekam, doch währte seine Freude nicht lange. Die sengenden Sonnenstrahlen könnten ihm genauso gefährlich werden wie die Fänge irgendeines Tieres. Vielleicht hätten die Rattenechsen doch das letzte Wort. Eine Stunde später war er wieder am Ende seiner Kraft. Die Schlucht hatte ihn zum Rand eines Hochplateaus geführt. Dieses zerklüftete Tafelland erstreckte sich nur ein kurzes Stück nordwärts, reichte im Süden aber bis zum Horizont – eine brütende Öde aus braun-schwarzen Mineralien. Hie und da ragten verwitterte Felskuppen auf oder deuteten dunkle Schatten auf Höhlen und kraterförmige Mulden oder tiefe Einschnitte und Schluchten hin, wie er eine erklommen hatte. Kein Lüftchen regte sich unter dem blauen Firmament, und die Sonne brannte unbarmherzig auf das düstere, leere Land nieder.
Er wandte den Blick nordwärts und sah, daß das Plateau, der abgetragene Gipfel eines ehemaligen Gebirges, etwa einen Kilometer weit reichte. Von Westen her schloß sich fast bis zum Horizont nackte Wüste an, doch entdeckte er tief im Südwesten gerade noch eine schwache, dunkle Linie. Begannen dort etwa die mächtigen südlichen Wälder? Hiero seufzte. Es spielte keine Rolle mehr. In wenigen Stunden könnte er sich nicht mehr helfen, falls er kein Wasser und keinen Schutz vor der Sonne fände. Hiero sah sich suchend um; bald fiel ihm etwas auf, das ihm neuen Mut einflößte. Ein Stückchen weiter rechts verlief ein niedriger Hügelkamm. Hiero machte große Augen, weil es dort dunstig war und die Luft einen mannshohen Streifen über den heißen Steinen flimmerte. Da kein Wind blies, konnte es sich also weder um aufgewirbelten Staub noch verwehten Sand handeln. Wenn seine müden Augen ihn nicht täuschten, war es dort drüben feucht! Er setzte sich wieder in Bewegung und schleppte sich Schritt für Schritt vorwärts. Er machte sich nicht allzu große Hoffnungen. Falls es sich um Feuchtigkeit handelte, so könnte es durchaus von einem faulen Tümpel mit stinkenden Giften, Metallverbindungen und Mineralsalzen stammen, dessen Ausdünstungen allein schon tödlich wären. Daß so etwas in derartigen Wüstengegenden keine Seltenheit war, wußte er von seinen jüngsten Studien in Dalwah und den früheren in den heimatlichen Abteien des Nordens. Es blieb ihm natürlich keine andere Wahl als weiterzugehen, was er denn auch tat. Bald war er am Fuße des Kamms angelangt, über dem er die seltsam verdichtete Atmosphäre gesichtet hatte. Obschon der Hügel weder hoch noch steil war, machte sich Hiero sehr vorsichtig an den Aufstieg. Seine Knochen waren so entkräftet, schienen so spröde, daß er bezweifelte, ob sie ihn überhaupt noch tragen könnten; daß er ob des quälenden Durstes nicht schon längst den Verstand verloren hatte, war nur seinem eisernen Willen zuzuschreiben.
Langsam kämpfte er sich zum Bergkamm empor und spähte hinüber. Was sich seinem Auge darbot, ließ ihn wieder hoffen; dennoch zwang er sich zur Besonnenheit und rührte sich nicht von der Stelle. Unter ihm lag ein großer, runder Krater mit einst steilen Seitenwänden, die nun allerdings durch Felsstürze und Abbrüche abgeflacht und durch viele Hangrinnen und Schluchten zerklüftet waren. Der Kratergrund war stellenweise eben und mit Sand bedeckt oder aber rauh und mit Geröll überschüttet. Hie und da taten sich am Rand des Kraterbodens Höhlen auf oder wölbten sich schattige Überhänge empor. Und es gab Leben. In Büscheln und zuweilen wirren Klumpen wuchsen auf dem Kraterboden Pflanzen, wie Hiero sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Es handelte sich dabei offenbar um verschiedene Arten. Ein faßförmiges Gewächs von kastanienbrauner und purpurroter Farbe war mit langen, fallenden Wedeln behangen, die bis zum Boden reichten. Eine zweite Gattung glich einem riesenhaften Seestern, getragen von einem fleischigen, braunen Stengel. Diese Gattung wuchs in Büscheln und wirkte somit wie ein Haufen zerfetzter, schäbiger Regenschirme. Kleinere Gewächse, die mit ihren gelblichgrünen, dornigen, buschigen Halmen an Gras erinnerten, standen hüfthoch an den sandigen Stellen. Hiero bemerkte keinerlei Bewegung. Aber auch keine Spuren von Wasser. Abgesehen von den wunderlichen Pflanzen wirkte diese natürliche Arena so trocken wie das Felsland, in das sie gebettet war. Aber es gab Wasser! Sein geschulter Körper, der für viele, seinen Stammvätern unbekannte Eindrücke empfindlich war, spürte es. Sein ganzes System wußte, daß dort unten irgendwo Wasser war. Daß es den Augen bislang verborgen geblieben war, hatte nichts zu besagen. Es gab Wasser, ganz nah – trinkbares, lebensrettendes Wasser!
Abermals ließ er seinen Blick durch die Senke schweifen. Trotz seiner Erschöpfung lenkte ihn die strenge Ausbildung, die er in den Abteischulen erfahren hatte, in seinem Handeln und Denken. Falls dort Wasser wäre, woran er nicht zweifelte, und falls es dort Leben gäbe, wenn auch nur in Form dieser wunderlichen Gewächse, dann drohte dort Gefahr. Die Wasserlöcher in Oasen wurden von den Räubern unter den Tieren umlagert. Noch einmal suchte er den Kraterboden Schritt für Schritt ab, versuchte in die Schatten zu spähen, in die Höhlen zu blicken und unter die Überhänge zu schauen. Nichts rührte sich; das Ganze wirkte wie eine wunderliche Skulptur, wie der Traum eines unbekannten Künstlers. Da er nicht länger warten konnte, ging er ein Stück nach rechts, wo einer der Abbrüche fast bis zum Rand reichte. Langsam kletterte er nach unten, wobei er den stillen Krater keine Sekunde aus den Augen ließ. Je näher er dem Kratergrund kam, desto genauer suchte er nach irgendwelchen Lebenszeichen neben den rätselhaften Gewächsen. Sicherlich müßte es Insekten geben, selbst an einem bizarren Ort wie diesem? Ja, da war was! Unmittelbar unter ihm stand ein kniehoher Hügel mit vielen Öffnungen, an denen in einem fort winzige Tiere ein und aus gingen. Der Ameisenhaufen mit seinem geschäftigen Treiben stimmte ihn froh, denn es war das erste vertraute Bild aus seiner Welt, dem er seit seiner Flucht begegnet war. Entzückt betrachtete er eine Ameisenkolonne, die sich in wenigen Metern Abstand dahinschlängelte. Ihm fiel auf, daß alle ihre Straßen einen weiten Bogen um die Pflanzen machten, aber sein Verstand war vor Erschöpfung schon so getrübt, daß er diese Erkenntnis einfach registrierte, ohne daraus Schlüsse zu ziehen. Das holte er allerdings schleunigst nach. Ein Teil der Kolonne rannte über ein unsichtbares Hindernis neben einer der einzeln stehenden Faßpflanzen. Es ging blitzschnell. Der nächste Wedel schlug peitschenartig hin und her, woraufhin derjenige Teil der Kolonne, der ihm zu nahe gekommen war, verschwand. Der Wedel streckte sich nun empor, und auf dem purpurroten Faß tat sich eine
Öffnung auf, wie Hiero beobachten konnte. Die Öffnung saugte am Wedel, wie ein Kind am Finger lutscht. Dann senkte sich der rein geleckte Wedel und breitete sich wieder schlaff und unscheinbar unschuldig über den weißen Sand. Hiero musterte die Faßpflanze genau. Diese hier war klein, reichte ihm nicht einmal zum Knie; aber weiter draußen im Krater standen manche, die ihm über den Kopf ragten und den Durchmesser eines klösterlichen Weinfasses hatten. Hiero richtete den Blick wieder auf die Ameisen, die ihr Werk fortführten, als wäre nichts geschehen. Allerdings erkannte er nun, daß sie die Pflanzen mieden – Pflanzen aller Art, nicht nur die purpurroten Fässer. Gewiß hatten sie dafür ihren guten Grund. Er setzte den ersten und bald auch zweiten Fuß auf den Kratergrund. Es waren keine Pflanzen in seiner Nähe. Er kehrte sich um und betrachtete den Krater von seinem Boden aus. Hier unten war's nicht mehr so heiß und die Luft ein ganz klein wenig feucht. Wo ist das verdammte Wasser? Doch schon dieser kleine Fluch gab ihm genug Anstoß, sich wieder auf das Rechte zu besinnen. Er sank mit ausgestreckten Armen auf die Knie nieder und ließ sich wie so oft in der Vergangenheit vom Geist leiten. Der lenkte seine Arme in eine nordöstliche Richtung. Hiero stand auf und schlug diese Richtung ein, wobei er vorsichtig alle Pflanzen umging, die ihm im Weg standen. Er stapfte voran und ließ sich von seinem Innern um die Pflanzen führen. In bezug auf sein Reaktionsvermögen hatte er nun jenen Punkt erreicht, von wo aus es kein Zurück mehr gab – einzig sein Unterbewußtsein erkannte die zittrigen Gewächse. Falls eine Faßpflanze sich reckte, wenn er vorüberging, oder ein Büschel des dornigen Grases sich ihm entgegenstreckte, so sah er dies nicht. Wie von einem unsichtbaren Faden geführt, stolperte er ungeschoren von einer Gefahr in die andre; bald wich er seitwärts aus, bald duckte er sich, behielt jedoch stets seine Richtung bei.
Es dauerte nicht lange, da fand er sich unter einem der Überhänge wieder, die er vom oberen Rand aus entdeckt hatte. Die Hitze dort wäre für einen Fremden immer noch unerträglich gewesen. Für ihn freilich, der er direkt aus der sengenden Wüstensonne kam, war es wie ein Schritt aus einem Backofen in einen Eispalast. Das Licht war gedämpft, so daß er Mühe hatte, überhaupt etwas zu sehen. Das große Felsgesims über ihm schirmte die Sonne und in einem gewissen Grade auch die Hitze ab. Hiero spähte angestrengt hinein ins Dunkel. Er stand, wie sich zeigte, am Rande eines klaren, stillen Teiches. Das Wasser reichte nach links und rechts und hinten ins Dunkel so weit, wie er sehen konnte. Der glatte Fels unter seinen Ledersandalen war wohltuend kühl. Unwillkürlich warf er sich mit dem Gesicht zu Boden, daß das Wasser nur so spritzte. Ein Überbleibsel der Schulung, der er sich lange Jahre unterzogen hatte, rettete ihm das Leben. Er trank einen Schluck Wasser, wälzte sich auf den Rücken und ließ sich vom kühlen Naß umspülen. Jeder Mensch mit einem nicht so gestählten Willen wäre auf der Stelle gestorben, indem er sich bis zum Platzen vollgesoffen hätte. Die genossene Ertüchtigung bewahrte Hiero davor. Selbst in dieser extremen Lage sagte ihm etwas, er sei dem Tode nahe, so daß er seinen dürstenden Körper bändigte. Nach einer Weile nahm er einen zweiten kleineren Schluck und nach einer Ewigkeit einen dritten, noch kleineren. Die ganze Zeit über blieb er, halb schwimmend, auf dem felsigen Teichgrund liegen. Das Wasser schmeckte etwas sauer, war aber kühl und rein. Sein Körper, in der Entdeckung und Ausstoßung von Giften trainiert, hätte sich gemeldet, falls auch nur im geringsten etwas damit nicht in Ordnung gewesen wäre. Es war reines Wasser, Sickerwasser vielleicht, das durch das seltsame Gestein wie durch einen Filter drang. Und was war es für eine Wonne, das Naß auf der Haut zu spüren, die es förmlich aufsog oder aufzusaugen schien! Er suhlte sich in einem Meer der Wonnen und ergötzte sich an nassen Phantasien.
Nach dem ungefähr achten behutsamen Schlückchen kam er schließlich wieder zur Vernunft. Er sah mit einemmal die feuchte Felsendecke über sich und erkannte mit überschäumender Freude, daß er noch einmal mit dem Leben davongekommen war und neue Pläne schmieden konnte. Zugleich spürte er ein anderes Bedürfnis, das er lange Zeit verdrängt hatte. Er war hungrig. Er nahm noch einen Schluck – einen mäßigen, um nicht vollgesogen wie ein Schwamm zu werden. Hiero betrachtete flüchtig die Felsendecke über sich und dann wieder den Teich, an dessen Ufer er gelegen hatte. Dies war wohl ein natürliches Auffangbecken, wo sich die seltenen Niederschläge sammelten, um das Ökosystem dieser Oase, dieses wunderliche kleine Nest, in dem er sich wiedergefunden hatte, zu ermöglichen. Oder in das er gestolpert war. Oder – meldete sich eine innere Stimme – geführt worden war. Er überdachte diese letzte Möglichkeit mit größtmöglicher Gelassenheit, aber verstieß sie wieder. Mit dem Verlust seiner geistigen Kräfte war eine Verlegung auf die körperlichen einhergegangen. Er glaubte nicht, daß er geführt werden könne. Schließlich hatte er so viel Wasser zu sich genommen, wie er hinunterbrachte, als er zu frösteln begann. Dies war ihm Warnung genug; augenblicklich stieg er aus dem Wasser. Er setzte sich ans Ufer, das sanft anstieg, und blickte hinaus in den Kessel, der von Felsen umschlossen war. Der Abend nahte schon, also hatte er, wie er nun lächelnd erkannte, fast den ganzen Nachmittag im Wasser gelegen. Trotz der länger werdenden Schatten schien die Sonne noch sehr warm, so daß er bald nicht mehr fror. Als die Dämmerung hereinbrach, beobachtete er erfrischt und gestärkt die wunderlichen Gewächse im Krater; und nun war allerhand zu sehen. In die Büschel war Bewegung gekommen, als striche durch sie eine Brise in der windstillen Luft des Kraters; sie legten sich vor seinen Augen schlafen. Die Faßpflanzen legten ihre langen Wedel schalartig um sich und das Dornengras zog sich in die Erde zurück, so daß über dem Boden nur mehr schwielige braune
Hülsen zurückblieben, die nicht einmal ein Drittel der ursprünglichen Länge ausmachten. Die Seesterne schlüpften in die eigenen Stengel, woraufhin bloß mehr ein dicker Stumpf bar allen Schmuckes übrig war. Das kleine Nest veränderte sein Aussehen drastisch, wodurch es noch stiller wurde. Völlig regungslos verfolgte Hiero, wie die langen Schatten über den Beckenboden krochen. Aus seinem Gürtel zog er allerdings den schmalen, spitzen Stein, den er von jener Felsenspitze in der Schlucht mitgenommen hatte. Er lauschte angestrengt, als sich die Wüstennacht flugs über den Krater senkte. Die erhofften Laute ließen nicht lange auf sich warten. Quieksende, scharrende Geräusche drangen durch die Dunkelheit. Hiero, der sich Nachtsichtigkeit antrainiert hatte, erkannte kleine Schatten, die hie und da über den Sand huschten. Dicht beim Felsen, auf dem er kauerte, stand der kegelförmige Stumpf, worin ein Seestern sich zurückgezogen hatte. Etwas von der Größe eines Hundes mit kurzen Beinen und langem Schwanz watschelte um den Stummel herum und setzte sich auf die Hinterkeulen. Es begann an dem Gewächs zu nagen, wobei die Zähne ordentlich knirschten. Das hätte es bei Tageslicht nicht wagen dürfen, mutmaßte Hiero. Bei Nacht freilich war die Pflanze stoffwechselbedingt zu einem Art Winterschlaf gezwungen; dann war sie wehrlos und verletzbar. Das Tier war kaum eine Armeslänge entfernt, und der Priester schlug blitzartig zu. Krachend barst der breite Schädel, und das Tier fiel leblos zu Boden. Hiero hielt es dicht vors Gesicht, um es zu begutachten. Trotz des spärlichen Lichtes – denn der Mond war noch nicht aufgegangen – konnte er genug sehen. Das Tier sah gar nicht so übel aus, obwohl ihm dergleichen noch nicht zu Gesicht gekommen war. Der Körper mit dem hellen Fell erinnerte in mancherlei Hinsicht an ein Nagetier, zumal es ein entsprechendes Gebiß hatte. Der lange Schwanz wirkte jedoch zu lang für den stämmigen Körper, so daß Hiero sich fragte, ob er nicht
als Greiforgan diene. Dem Tier fehlten äußere Ohren, und die kleinen Augen saßen ungewöhnlich tief im Schädel. Es gehörte eindeutig zu den Säugetieren, und das Blut, das ins Fell sickerte, roch nicht viel anders als Hieros eigenes. Kurz gesagt, es war genießbar. Was nun folgte, wird jeden abstoßen, der ein geregeltes Leben in der Zivilisation gewohnt ist. Hiero konnte sich für das Schickliche oder Notwendige entscheiden. Er war an der Front schwerer Zwiste und bitterer Kriege aufgewachsen, unter so rauhen Bedingungen, daß nur die Härtesten überlebten. Wenn du – in seinem Vokabular – Hunger hast, ißt du. Was du ißt und wie, hängt davon ab, was du kriegen kannst. Wenn du kein Feuer hast, ißt du das Fleisch roh. Er konnte mit seinem Steindolch so viel Fell ablösen, daß er die Zähne in das zähe Fleisch graben konnte. Es war nicht leicht zu kauen, aber er hatte schon Schlimmres gegessen – und gewiß nicht zum letzten Mal –, sagte er sich. Nach einem Dutzend Bissen hielt er so lange inne, wie es dauerte, ein kurzes Dankgebet zu sprechen, woraufhin er weiter aß. Er brachte das sehnige, scharf schmeckende Fleisch ohne besondere Mühe hinunter. Hätte sein Körper darin irgendein fremdes Element oder ein Gift entdeckt, hätte er es sofort wieder ausgeworfen. Freilich war nichts dergleichen enthalten, und schon bald fühlte Hiero sich satt. Er schlug die Reste in die Haut ein, die er abgelöst hatte, und sah sich nach einem Unterschlupf um. Durst und Hunger waren gestillt. Nun brauchte sein entkräfteter Körper nichts dringender als Rast und Ruhe. Sein Blick strich über den mondbeschienen Sand und die kleinen Hügel mit der schlummernden Vegetation, womit die ganze Arena übersät war. An einer bestimmten Stelle zu seiner Rechten hielt er inne. Mehrere runde Löcher, schwarze Kreise im bleichen Gestein der Felswand, waren im düsteren Licht zu erkennen. Kleines Getier tummelte sich draußen im Krater. Der Tod des unseligen Pflanzenfressers hatte keinerlei Aufsehen erregt. Sicherlich war Hiero nicht der erste und einzige, der nachts Beute riß. Er mußte auf
der Hut sein. Leise stand er auf und schlich, das Fleisch in der einen, das primitive Messer in der anderen Hand haltend, zu den Öffnungen, die er entdeckt hatte. Nach vierzig Metern war der Teich zu Ende; gleichzeitig wich das steinerne Gewölbe, das es überspannte, immer mehr zurück, bis es bündig mit der Felswand des Kessels abschloß, so daß Hiero unter freiem Himmel stand. Das kleine Getier der Nacht ließ sich nicht von ihm stören. Im Schein der Sterne und des aufgegangenen Halbmonds ging in der Oase das Leben seinen altgewohnten Gang; daß ein neuer Killer gekommen war, ein viel gefährlicher als je zuvor, blieb unbemerkt. Der Killer freilich war müde, fühlte aber trotz seiner Erschöpfung zugleich einen seltsamen Frieden. Zum ersten Mal seit Tagen – waren es nur Tage? – hatte er nicht mehr das Gefühl, gejagt zu werden, die hilflose Beute von mächtigen Feinden zu sein, denen er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Allein hatte er den Dämon der Finsternis niedergerungen und geschlagen; allein hatte er Wasser, Nahrung und Zuflucht gefunden. Allein hatte er überlebt. Sein Gott hatte sich nicht von ihm abgekehrt, was Hiero mit Freude und Demut erfüllte. Tief in seinem Innern indes fühlte er eine Woge des Stolzes. Die Abteischule konnte keinen Mann aus einem machen, sondern nur einen Mann finden; daraufhin konnte sie ihn lehren, sich selbst zu helfen. Das wollte Gott, und das wollte auch die Universalkirche: Männer und Frauen, die sich selbst helfen können, die bis zum Schluß kämpfen, nie aufgeben. Es war eine einfache Lektion, die wie so viele einfache Lektionen deshalb nicht ganz leicht zu lernen war. Er hielt bei der ersten der Öffnungen inne und untersuchte sie genau. Sie war zu flach – nur eine Nische im Gestein. Die nächste war nicht einmal ein richtiger Spalt, die dritte zu schmal. Die vierte Öffnung jedoch erwies sich als geeigneter. Ein Eingang, so eng, daß er gerade hindurchpaßte, führte in eine runde Höhle, in der er sich hinsetzen oder niederlegen konnte, die aber nicht unnötig groß war. Obendrein war sie an einem Ende zum Teil mit Unrat ausgefüllt – dürrem Zweigwerk, Kies und uralten Knochen. Die Höhle hatte zweifellos schon einem andern als Lager gedient. Hastig räumte
Hiero mit dem Unrat den Eingang zu, bis nur mehr ein Guckloch freiblieb, durch das die Nachtluft drang. Der Höhlenboden bestand ansonsten aus Sand, und einen Teil der weicheren Zweige und Borkenreste, um die es sich offenbar handelte, häufte er als Kissen auf. Er grub Mulden bei den Schultern und Hüften und streckte sich aus, um endlich ruhen und schlafen zu können. Seine Sinne, so meinte er, waren wieder so geschärft, daß sie ihn, falls ihm irgendein Tier an den Kragen wollte, augenblicklich warnen würden, denn der Schnellere trüge den Sieg davon. Jedenfalls konnte er nicht mehr tun. Obschon sein Körper sich entspannte und die Muskeln und Sehnen sich zum ersten Mal seit vielen Stunden lockerten, konnte er keinen Schlaf finden. Er wollte ihn nicht erzwingen. Jede Ruhe, auch bloße Rast mit offenen Augen, war unsäglich wertvoll für ihn. Mochte er auch körperlich erschöpft sein, so war er geistig offenbar rege und frisch. Nun gut. Wenn sein Geist wach war, konnte er Gebrauch davon machen. In seiner jetzigen Lage mußte er alle Möglichkeiten ausschöpfen. Er nahm sich vor zu versuchen, die Kräfte wiederzuerlangen, die er in den alptraumhaften letzten Tagen und Nächten irgendwie eingebüßt hatte. Er richtete sein Denken nach außen, ganz behutsam zunächst, und versuchte, die einst mächtigen Kräfte wiederherzustellen, über die er bis vor kurzem noch verfügt hatte. Er war nun äußerst vorsichtig und versuchte nur, seine Ohren vor den Tierchen zu verschließen, die über den Sand huschten, um sie statt dessen geistig wahrzunehmen und ihre winzige Aura aufzuschnappen – die Impulse, die sie von Nichtlebendigem unterschieden, die zarten Funken von Individualität, die jedem von ihnen eine eigene einzigartige Prägung verlieh. Angenommen, er könnte seine verlorenen Fähigkeiten oder zumindest einen Teil davon wiedererlangen? Könnte er auch das Netz seiner hart erarbeiteten Abwehr wiederherstellen? Falls seine ungelenkten Gedanken durch die Nacht schwärmten, könnten sie nicht andere Gedanken leiten, andere Mächte an seinen Aufenthaltsort führen? Und falls die Unreinen ihn, den
meistgehaßten Feind, wiederfänden, wie könnte er sich dann ihrer erwehren? Er wußte keine Antwort. Dennoch galt es, einen Versuch zu unternehmen. Er hatte wieder einmal keine andere Wahl. Schließlich hörte er auf. Die Blockade war noch wirksam. Er konnte hören und sehen, riechen und schmecken, aber die jahrelange klösterliche Ausbildung, die genetische Fähigkeit des Telepathen, womit er bei der Geburt ausgestattet worden war, all das war verschwunden. Verschwunden waren auch die viel mächtigeren Fähigkeiten, die er sich auf eigene Faust im letzten Jahr angeeignet hatte, die Kräfte, die ihm ermöglicht hatten, bestimmten großen Adepten aus dem feindlichen Lager, Meistern der unreinen Zirkel, zu trotzen. Hiero entfuhr ein erbärmlicher Seufzer, der ihm schier die Kehle zuschnürte. Ungerecht! Es war ungerecht, so beraubt und entblößt zu werden, ungerecht, daß man ihm seine mächtigsten Waffen entrissen, daß man ihn in die Falle gelockt hatte, der Macht entledigt, mit der allein er in den Krieg hätte ziehen könne! Ungerecht! Zur Hölle mit den Unreinen und ihren widrigen Künsten! Mit schier körperlicher Anstrengung schlug er das Selbstmitleid zurück. Er hatte zwar seine geistigen Kräfte verloren, nicht aber die Kraft, die sich von Charakterstärke herleitet. Hatte Abt Demero nicht längst vor verderblichem Gejammer und der Sünde, sich für einen besonderen Günstling des Allmächtigen zu halten, gewarnt? Als Hiero an das strenge, greise Gesicht seines Lehrmeisters dachte, huschte ein zaghaftes Lächeln über sein sonnengebräuntes Gesicht. Ja, ehrwürdiger Vater, dachte er, ich bin wieder ein Mann. Klar, seine hart erarbeiteten Geisteskräfte waren verloren, andererseits hatte er aber in vielerlei Hinsicht unbeschreibliches Glück gehabt. Durch Drogen betäubt und hilflos in Fesseln liegend, war er seinen Feinden dennoch entkommen. Wenn auch nicht mehr telepathisch, so war sein Verstand immerhin wieder klar, so daß er denken und vorausplanen konnte. Er konnte Schlüsse ziehen, er konnte mutmaßen, was ihm widerfahren war, und er konnte sich für die Zukunft etwas vornehmen – unter anderem Rache. Seine
schwarzen Augen verengten sich zu funkelnden Schlitzen. Dafür würden seine Feinde bezahlen – teuer bezahlen! Schließlich schlief Hiero ein. Seine Gedanken waren zur Ruhe gekommen und die Erinnerungen der letzten Tage einstweilen gnädig vergessen. In der kleinen Höhle nahm die Nacht ihren Lauf. Die wunderlichen Gewächse schlummerten noch, während das kleine Getier darum herum das eigene zwergische Drama von Leben und Tod vollzog. Hoch im fernen Norden schob sich einmal etwas Großes und Finsteres vor die Sterne am Firmament. Aber die Nacht verbarg die Höhle, und der Mensch darin schlief in traumlosem Schlummer friedlich weiter.
3. Gelockt – und gefolgt Ein Lichtstrahl fiel, von einem glänzenden Stein reflektiert, in die winzige Höhle und streifte das abgezehrte, bärtige Gesicht des stillen Menschen. Mit einem Seufzer schlug Hiero die Augen auf und spähte durch das Guckloch in der Mauer aus Unkraut, die er am Vorabend aufgeschichtet hatte, aus seinem Unterschlupf. Der Krater hatte sich in der Morgensonne zurückverwandelt zu dem, wie er sich Hieros Augen am Vortag dargeboten hatte. Die wunderlichen Gewächse hatten sich wieder entfaltet und reckten sich dem wärmenden Tagesgestirn entgegen. Ein paar davon sahen zernagt aus, aber keins schien arg ernstlich verletzt. Freilich standen im Moment Hieros eigene Bedürfnisse an erster Stelle. Er inspizierte die Reste seines gestrigen Mahles, was nicht gerade appetitanregend war, begann aber dennoch, das riechende Fleisch abzulösen. Er brauchte etwas zu essen, und das war die einzige Nahrung, die er hatte. Nachdem er gesättigt war, wickelte er die spärlichen Überreste des Tieres in die Haut ein und ging zum Teich, um ordentlich zu trinken. Dann hockte er sich auf den Boden und sah sich um. Als erstes bemerkte er, daß die Überreste des Tieres von den Ameisen völlig abgenagt worden waren. Allerdings war das Fell – wie auch die bleichen Knochen selbst – noch intakt. Hiero betrachtete die umliegenden Felsen. Scharfe Steinsplitter lagen stellenweise herum, wovon einige, wie ihm auffiel, eine metallisch glänzende, flintähnliche Marmorierung hatten. Er stand auf und wurde fleißig. Eine knappe Stunde später, wie ihm seine innere Uhr verriet, bereitete er sich zum Aufbruch von der Oase, freilich in viel besserer Form als bei seiner unverhofften Ankunft. Auf dem Haupt trug er einen seltsamen Hut, den er aus den langen Knochen des verspeisten Tieres und dem Laub einiger kleinerer Pflanzen geflochten hatte. Von seiner Schulter hingen zwei primitive
Beutel aus der Haut desselben Tieres; der eine enthielt Wasser vom Teich (und tropfte fast gar nicht), der andere das restliche Fleisch, einige einfache beinerne Nadeln und ein paar kantige Feuersteine. Hiero hatte sich gewaschen und mit Hilfe von etwas Fett und einigen scharfen Flintsplittern sogar notdürftig rasieren können. Obendrein steckte in seinem Beutel ein schwerer Kieselstein aus einem eisenhaltigen Mineral, womit sich zusammen mit dem Flint, wie er ausprobiert hatte, Funken schlagen ließen. Sollte er geeignetes Brennmaterial finden, könnte er Feuer machen! Am westlichen Rand des wunderlichen Kessels hielt er inne und blickte zurück über das sanft abfallende Gelände. Es gab ihm einen Stich ins Herz. Als er hilflos und verloren umhergeirrt war, hatte die Oase ihm Rettung gebracht. Abermals senkte er das Haupt zum Gebet, woraufhin er sich umwandte und den westlichen Hang vollends bestieg. Er hielt ein gleichmäßiges Tempo ein. In der Rechten trug er den Stein von der Felsenspitze, wo er den Todeshirschen getötet hatte. Dieser hatte nun einen grob behauenen Griff und sah einem einfachen Schwert nicht unähnlich, obschon er statt Schneide lauter Scharten und Spitzen hatte. Nun war Hiero wieder der stechenden Wüstensonne ausgeliefert, deren Licht vom blauen Sand und brüchigen schwarzen Gestein zurückgeworfen wurde. Allerdings war eine erfreuliche Wende festzustellen. Aus schattigen Felsspalten sprossen braune Grasbüschel, die sogar einen Stich ins Grüne aufwiesen. Hie und da traten die ersten faßförmigen Kakteen in Erscheinung. Sie enthielten Flüssigkeit, die man nach Bedarf aus dem stachligen Fleisch ausdrücken konnte. Das Land wurde immer besser! Während er dahintrottete, stellte er mehr oder weniger genaue Mutmaßungen über seinen gegenwärtigen Standort an. Die Sterne, die er am Vorabend gesehen hatte, unterschieden sich kaum vom nächtlichen Firmament Dalwahs, so daß er sich vermutlich nicht recht weit nördlich oder südlich des Palastes befand. Allerdings hatte er eine lange Reise auf dem verdammten Kaw zurückgelegt. Joseatos Bemerkung gegenüber Amibale hatte Hiero
nicht vergessen. Sie wollten ihn weit entfernt und in tiefem Drogenrausch, bevor sie ihm die Kehle durchschneiden würden! Sie hatten gewußt, daß der Schock seines physischen Todes sehr wahrscheinlich jemand wie Lucare, die so auf ihn eingestimmt ist, erreichen würde. Sein plötzliches Verschwinden würde sie zwar in Angst und Sorge stürzen, dennoch behielte sie aber Hoffnung. Also noch einmal – wo war er jetzt? Im Westen. Höchstwahrscheinlich wird man ihn nach Westen zur Grenze des Reiches oder weiter verschleppt haben. Er erinnerte sich an die Karten, die er vom Land und den angrenzenden Gebieten studiert hatte, und konzentrierte sich abermals auf den Sternenhimmel des letzten Abends. Er war nun ein Stück weiter südlich, das stand fest. Nicht viel, aber immerhin so weit, daß sein Orientierungssinn etwas durcheinandergeraten war. Wenn er jetzt nordwärts ginge, käme er vermutlich in weite Ebenen. Dort könnte er auf Menschen stoßen, die vielleicht freundlich wären – oder auch nicht. Jedenfalls war das für Hiero zu riskant. Außerdem mußte er damit rechnen, daß Joseato und Amibale samt den unreinen Kräften, die als Drahtzieher hinter ihnen standen, äußerst vorsichtig wären; ihr sorgsam überdachter Plan bewies, wozu sie imstande waren. Würden sie ihn für tot halten, da die bleichen Zwerge, die ihn in den Westen geschafft hatten, nicht angekommen waren? Ihre Leichen hatten die Suchtrupps mit den Hörnern nicht gefunden. Vielleicht wurden gerade neue Befehle ausgegeben, um Hiero aufzuspüren, wenn das nicht schon geschehen war. Wo würden sie ihn suchen? Nun, im Norden natürlich, woher er ursprünglich gekommen war und wohin er vermutlich zurückkehren würde, um Hilfe zu bekommen. Ohne Waffen würde er es nie wagen, in den Süden oder Osten vorzudringen und in die ausgelegten Netze der Unreinen zu stolpern. Er müßte nordwärts ziehen! Nun, er wollte tatsächlich nordwärts ziehen – aber nicht auf dem Weg, den sie wohl überwachten. Er müßte noch weiter westwärts ausweichen – in das Land, das nicht mehr auf der Karte verzeichnet
gewesen war. Sobald seine Feinde ihn aus den Augen verloren hätten, könnte er sich wieder nach Norden wenden, um schließlich aufzutauchen, wenn keiner damit rechnen würde. Er ließ dabei Lucare zurück, und dieser Gedanke war wie ein Stich ins Herz. Sie war nicht tot, das wußte er, obwohl er seine Geisteskräfte verloren hatte; er und Lucare waren für immer miteinander verbunden, so daß er spürte, wenn sie tot wäre, wie auch sie es wüßte, wenn er sein Leben aushauchte. Als Schutz hatte sie Mitrash von der Garde und die Elfer. Außerdem hatte sie Klootz, der während Hieros Abwesenheit ihr gehorchen würde. Sie hatte ihren Vater, den König, der genug erfahren hatte, um auf der Hut zu sein. Der tolle junge Herzog und der verschlagene Priester hätten kein leichtes Spiel, Lucare zu überlisten. Dalwah standen Schwierigkeiten bevor – ja, es steckte schon mitten drin. Als Prinz und Erbe hatte Hiero versucht, das südliche Königreich gegen die unreine Gefahr zu mobilisieren. Man hatte ihm ins Handwerk gepfuscht, seine Pläne lahmgelegt, wenn nicht gar zerschlagen. Aber er war der einzige Abgesandte der Republik Metz in dieser seltsamen Welt des tiefen Südens. Es war seine Pflicht, das Werk fortzuführen, neue Waffen zu finden und die Stellung zu halten. Seine verlorenen Geisteskräfte würden eines Tages vielleicht Wiederaufleben, aber selbst wenn dem nicht so wäre, machte das nichts. In diesem Fall müßte er sich halt andrer Waffen bedienen. So lange er am Leben war, mußte er weiterkämpfen und alle persönlichen Interessen hintansetzen zum Wohle des höheren Werkes, das ihm die Abteiväter und Bruder Aldo auferlegt hatten. Den ganzen Tag trottete die sonnengebräunte Gestalt geduldig vorwärts. Seinen scharfen Augen entging nichts in der Umgebung, als er Meile um Meile hinter sich brachte. Kleine mausgraue Vögel, die von den kahlen Felsen auf ihn herabspähten, traten in Erscheinung, und die verschiedenen Kakteen und Wüstensträucher wurden immer häufiger. Allmählich und fast unmerklich verschwand die Blautönung des Bodens. Kleine, gestreifte Nagetiere beäugten ihn schnatternd von den Höhleneingängen ihrer Kolonie in einem
sandigen Hang, schienen sich aber vor dem Passanten nicht sonderlich zu ängstigen. Als Hiero zurückblickte, gingen sie schon wieder ihren Geschäften nach, obwohl er noch dicht bei ihnen war. Diese Einstellung der hiesigen Landbewohner behagte ihm, bedeutete sie doch, daß Menschen in dieser Gegend so gut wie unbekannt und folglich nicht gefürchtet waren. Anonym zu bleiben, darauf war er im Moment aus. Jede Meile, die er zurücklegte, führte ihn tiefer in ein Gebiet, wo seine Widersacher ihn nicht vermuteten. Später hätte er genügend Zeit, sich Bundesgenossen zu suchen. Nun galt es, sich rar zu machen, ganz aus dem Andenken der Menschheit zu verschwinden. Als der Tag sich neigte, suchte er nach einem Unterschlupf für die Nacht. Die Nahrung war kein Problem mehr. In seinem Beutel hatte er neben dem ranzigen Fleisch ein Dutzend Kaktusfrüchte, die er sorgfältig von den Stacheln befreit hatte. Im hohen Norden gab es in den kanadischen Wäldern ähnliche Kakteen einer kleineren Sorte, deren Früchte, wie er wußte, sehr nahrhaft waren. Außerdem war er auf ein Bodennest eines recht großen Vogels oder Reptils gestoßen und hatte die vier hühnerartigen Eier aufgebrochen und ausgeschlürft. Ein Läufer aus Metz verstand sich darauf, in freier Wildbahn zu überleben, und Hiero hatte keine Sorge, verhungern zu müssen, insbesondere weil das Land zusehends wirtlicher wurde. Er spürte immer mehr Leben um sich herum. Mit der einbrechenden Dunkelheit kämen auch die Raubtiere hervor. Es war an der Zeit, sich wieder ein geschütztes Lager zu suchen. Bald glaubte er, im Abendrot zu sehen, was er suchte. Eine Stunde später meinte er, sich entspannen zu können, soweit man sich in einer unbekannten Wildnis überhaupt entspannen kann. Er hatte die Anhöhe mit einer steilen Felsseite entdeckt. In dieser Wand war auf halber Höhe ein Sims, der zwar schmal, aber nicht zu schmal war, um sich im Schutze des Felsüberhangs darauf auszustrecken. Zugleich hatte dieser Sims im rückwärtigen Teil eine Mulde, worin Hiero die uralten Reste einer Feuerstelle entdeckte, die hier, vor den seltenen Regenfällen geschützt, unzählige Jahre
überdauert hatten. Unter dem Felsüberhang saß Hiero nun vor dem winzigen Feuer, das er sich aus trockenen Zweigen vom Boden unten gemacht hatte. Nur von Süden aus und von sehr nah hätte man sein kleines Licht sehen können. Der Ruß an der Felsdecke schien uralt – er klebte weiß Gott schon lange dort. Als Hiero mit einem Ästchen die Glut aufrührte, glich er zum Verwechseln einem Apachen aus der grauen Vorzeit; nur der schwarze Schnurrbart deutete auf die gemischte Herkunft der Metz hin. Hiero hatte das Fleisch, das überm Feuer einigermaßen schmackhaft geworden war, und ein halbes Dutzend der süßen, reifen, roten Kaktusfrüchte verspeist. Das Wasser, in der rohen Tierhaut faul geworden, hatte er noch zur Hälfte übrig. Er benötigte es nicht, hob es aber auf; so widerwärtig es auch schmeckte, es war immerhin Wasser. Neben sich auf dem Sims hatte er mehrere lange, abgestorbene Kakteenglieder liegen, deren Stacheln er behutsam abgebrannt hatte. Über dem kleinen Feuer ließen sie sich blitzschnell zu mächtig lodernden Fackeln anstecken, womit er wirksam jedes Tier abwehren könnte, das versuchen sollte, sein Lager zu erklimmen, um sich an ihm gütlich zu tun. Während er sich halb umkehrte, um ein paar Zweige von dem Stoß hinter sich nachzulegen, bemerkte er etwas, das ihm bei der ersten Besichtigung des Felsgesimses entgangen war. In das Gestein hinter und über ihm waren feine Zeichnungen eingeritzt, die nun im Schein des Feuers sichtbar wurden. Sie waren uralt, unendlich alt, und kaum zu entziffern. Dargestellt waren Strichmännchen und unbestimmbare Vierfüßer. Dieser neue Beweis für die frühere Nutzung dieser Höhle durch Menschen – wenn auch vor noch so langer Zeit – stimmte Hiero irgendwie froh. Er schaute aus in das flache Land vor sich, das sich unter Mond und Sternen erstreckte, bis es sich im fernen, dunklen Süden verlor. Die Sterne leuchteten hell. Das Schwarz von Fels und Busch verwandelte das düstere Land in einen Schattenriß, ein einfarbiges Spiegelbild der bunten Welt, die Hiero unter dem azurblauen Himmel des Tages durchwandert hatte.
Ein Heulen erklang in mittlerer Entfernung, zu dem sich bald eine Reihe von ähnlichen, weiter entfernten Lauten gesellte. Dem Klang nach zu urteilen, handelte es sich um ein im Rudel jagendes, größeres Tier. Hiero konnte nur hoffen, daß die Ruhestörer nicht ihm auf der Spur waren, gleichwohl er sich notdürftig gewappnet hatte. Das Geheule erinnerte ihn an den Ruf der Wölfe in seiner nordischen Heimat, obwohl es höher im Ton lag, und er lächelte versonnen. Was immer die Tiere auch suchten, sie waren nicht hinter ihm her, so daß er nur mit halbem Ohr lauschte, während die Meute sich in südlicher Richtung verlief. Nachdem wieder Stille herrschte, ließ er das Feuerchen bis zur Glut niederbrennen. Er wußte, er würde so oft erwachen, wie's erforderlich wäre, um frisches Holz nachzulegen. Nicht zum ersten Mal hing er nun der Frage nach, was ihn erwartete. Alles Spekulieren war unnütz, wie er wußte. Seine Vierzig Symbole, die Zukunftsdeuter, in deren Gebrauch er seit seiner Kindheit unterwiesen worden war, und die dazugehörige Kristallkugel waren zusammen mit seinen übrigen Habseligkeiten in der Stadt Dalwah zurückgeblieben. Selbst wenn er sie bei sich hätte, nützten sie ihm keinen Deut, hatte er doch die Fähigkeiten zum sinnvollen Gebrauch verloren. Er mußte nun der Zukunft entgegensehen wie jeder andere Zeitgenosse auch und nehmen, was Gott und Sein Sohn ihm schickten. Bald sank er in leichten Schlaf, darauf bauend, daß seine Sinne ihn wecken würden, falls Gefahr drohte. Zunächst blieb sein Schlummer traumlos. Nach einer Weile ballte er die Fäuste und biß die Zähne zusammen. Er schlief nach wie vor, und sein Atem ging regelmäßig. Nichts regte sich in der Ebene darunter bis auf jenes Getier, das die Steppen der Welt bevölkert. Kein bedrohlicher Laut brach die Stille der Nacht. Dennoch meldete sich tief im Innern des Kriegers zaghaft eine warnende Stimme. Vielleicht waren nicht alle seine früheren Fähigkeiten ganz lahmgelegt und ausgeschaltet, irgendein überblendeter Schaltkreis in Gang gesetzt. Es kamen ihm Berge in den Sinn – dunstige, purpurne Berge, verschlungene Täler, aus denen Nebel aufsteigt, runde, bewaldete Gipfel mit weichen Matten.
Seltsame Berge, nie im Leben gesehen, viel niedriger als die mächtigen Gebirge seiner fernen Heimat – aber Berge! Er seufzte im Schlaf und bedeckte sich mit einem Arm das Gesicht. Die Berge schwanden aus seinem Traum, aber nicht ganz. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein blieb die Erinnerung daran lebendig. Diese Berge würde er zu sehen bekommen. Sie waren wunderschön. Noch vor Morgengrauen erwachte er und begab sich auf die Jagd. Es blieb nicht lange kühl und frisch, so daß Hiero bald der Schweiß in die Stirn trat, als er am Boden nach Fährten suchte. Schon bald stieß er unter einem niedrigen Baum – einem neuen Zeichen für eine wirtlichere Gegend – auf den Abdruck eines zierlichen Huftiers. Die Spuren waren frisch, und Hiero konnte mit seiner feinen Nase sogar noch den warmen, würzigen Tiergeruch wahrnehmen, wo es sich an der Borke eines Stammes gescheuert hatte. Es war dort ein braunes Haarbüschel hängengeblieben. Hiero folgte der Fährte vorsichtig, wobei ihm auffiel, daß das Tier keinerlei Angst zeigte, sondern träge dahinstakte und sich hie und da ein Maulvoll Laub schnappte. Der leichte Wind stand günstig, so daß es Hieros Witterung nicht aufnehmen konnte. Bald sah er es im Morgengrauen äsen: eine einsame Antilope einer kleinen Rasse mit leierförmigem Geweih und scheckig gestreiftem Fell. Nun griff er zu seiner neuen Waffe, die er sich am Vortag während seines Marsches durch die Wüste gefertigt und vor dem Essen auf dem Sims vollendet hatte. Die Waffe war ihm neu – das heißt, neu war ihm ihr Gebrauch, denn er kannte sie nur aus den Büchern der Abteibibliothek. Neu war sie eigentlich nicht, denn unter den Menschen aller Epochen war sie so verbreitet, daß sie eigentlich als zeitlos gelten mußte. Es hingen von seiner Hand drei Bänder, woran jeweils ein runder Stein baumelte, der fest mit dem Ende verknüpft war. Die drei Bänder aus rohem Leder waren am anderen Ende, wo er sie mit der Hand hielt, verknotet. Nachdem er sich so dicht wie möglich herangeschlichen hatte, sprang er blitzschnell hinter dem tarnenden Gebüsch auf und schleuderte dem verdutzten Tier die Wurfschlinge um die Beine.
Hiero war verblüfft über den durchschlagenden Erfolg, zauderte aber nicht lange, sondern stürzte sich auf das Tier, das sich im Gewirr der Lederzungen mit den Vorderläufen arg verheddert hatte, und schlug ihm den Schädel ein. Der Griff seines Steindolches war dafür wie geschaffen. Während er sich nun ans Abhäuten machte, warf er so manchen stolzen Blick auf seine primitive Bola, die neben ihm auf dem Boden lag. Gleichfalls vergaß er nicht, ein Dankgebet zum Himmel zu schicken. Wenige Minuten später eilte er schon wieder zu seinem Felslager zurück, mit einer Ladung Fleisch versehen, das er in einen Beutel aus Tierhaut eingeschlagen und über die Schulter geschlungen hatte. Um keine Aasfresser anzulocken, hatte er die Überreste, die er nicht verwerten konnte, eingegraben. Daß in dieser einsamen Wildnis tagsüber Raubtiere auf der Pirsch wären, damit rechnete er nicht. Der Priester aus Metz schürte sein Feuer nach und machte sich daran, soviel Fleisch, wie er ohne Mühe tragen könnte, in Streifen zu schneiden und zu räuchern. Gleichzeitig aß er sich ordentlich satt, wobei sein drahtiger Körper mit jedem Bissen neue Kraft bekam. Während seines Mahls betrachtete er die zwei geschwungenen, schwarzen Hörner, die er aus dem Tierschädel gebrochen hatte. Sie wogen nicht viel, und gewiß würde er für sie Verwendung finden, obwohl sie nur von der Länge seines Unterarms waren. Nach dem Essen verstaute er das Fleisch im neuen Sack aus Tierhaut, trank den Rest des trüben Wassers und verwischte mit großer Sorgfalt alle Spuren seiner Anwesenheit. Obendrein besah er sich genau seine Sandalen. Obschon zerkratzt und abgestoßen, bedurften sie noch keiner Reparatur. Bald war Hiero wieder unterwegs und marschierte abermals gen Westen. Vier Tage lang zog er so dahin. Das Buschland wich langsam aber sicher einer immer dichter werdenden Vegetation, obschon das Gelände noch flach und eben wie eine Tafel war, und verwandelte sich bald in eine baumbestandene Savanne, die nichts mehr Wüstenhaftes an sich hatte. Die ersten raren Wasserstellen zeigten sich, zunächst als kleine Tümpel, dann in Form seichter,
schlammiger Bäche, die sich hie und da durch ihr sandiges Bett schlängelten. Außerdem stieg das Land nun allmählich ganz sachte an. Hiero entdeckte keinerlei Spuren von Menschen. Das einzige Anzeichen dafür, daß je Menschen den Fuß in dieses Land gesetzt hatten, war ihm in seinem Lager auf dem Felssims begegnet. Es fiel ihm schwer, die Lehren aus den Klassenzimmern der Republik als wahr zu erkennen und sich vor Augen zu führen, daß dieses endlos weite Land vor Jahrtausenden dicht besiedelt gewesen war – so dicht, daß seine ganze Nation inmitten der Bewohner zahlenmäßig untergegangen und unauffindbar geworden wäre. Nicht zum ersten Mal grübelte er über die große Vergangenheit und die grausigen Verwüstungen, die der ›Tod‹ angerichtet hatte. Die Menschheit hatte, was immer sie sich auch hatte zuschulden kommen lassen, teuer für ihre Sünden bezahlt; das Feuer der Atome und die Geißel der Pest hatten einen unvorstellbar hohen Preis gefordert. Und das wollten die Unreinen wieder in Gang setzen! Hiero biß sich auf die Lippen und gelobte abermals, alles zu tun, was in seiner Macht stünde, um dieses Vorhaben zum Scheitern zu bringen. Auch wenn es keine Menschen geben mochte, so wimmelte das Land geradezu von Tieren. Der Metz hätte dreimal täglich frische Beute erlegen können, wenn er gewollt hätte. Er hätte leicht selber zum Fraß der Tiere werden können, wenn er nicht ständig auf der Hut gewesen wäre. Antilopen verschiedener Arten zogen in starken Herden durch die Savanne, wovon einige Vertreter so groß waren, daß Hiero ihnen lieber aus dem Weg ging. Viele Rassen waren offenbar gerade beim Kalben, so daß Hiero es nicht riskieren wollte, in den Hörnerwald der Kühe und patrouillierenden Böcke zu geraten. Er begegnete auch Rehen, die in Rudeln lebten, obwohl er in dieser Jahreszeit natürlich keine geweihtragenden Böcke zu sehen bekam. Daneben stieß er auf Tiere, die ihm völlig fremd waren. Manche waren winzig, andere aber so groß, daß er einen weiten Bogen um sie
machte. Ein Riesentier erinnerte ihn an den Koloß, der vor Monaten während seiner Reise gen Süden sein Lager im Dschungel zertrampelt hatte. Ein mächtiger Rüssel ragte aus dem wuchtigen braunen Kopf, die Beine glichen Säulen, und das Maul war mit schweren, gebogenen Stoßzähnen bewehrt. An den Wasserläufen stieß er auf ein ähnliches Tier mit glatter Haut und langem Rüssel, das dem andern an Größe nicht nachstand, allerdings kürzere Beine hatte. Alle schienen sie mehr oder weniger Pflanzenfresser zu sein, wobei Hiero sich freilich vorsah, keins davon zu reizen oder zu stören. Einmal bemerkte er in der Ferne ein Rudel, das sich in mächtigen Sätzen vorwärtsbewegte, indem es mit den kräftig entwickelten Hinterläufen sprang. Sicherlich handelte es sich dabei um eine Art Hüpfer, vielleicht die Urform seines verlorenen Reittiers Segi. Traurig dachte er an Segi und Klootz, ließ aber bald von diesen Gedanken ab. Er konnte es nicht ertragen, an Lucare erinnert zu werden, und brauchte seine ganze Kraft und Entschlossenheit zum Weitergehen, wußte er doch, daß er sich mit jedem Schritt mehr von seiner Geliebten und ihrem Vaterland entfernte. Inmitten dieser abertausend Pflanzenfresser schlichen die Fleischfresser herum. Immer wieder mußte Hiero sich auf den nächsten Baum flüchten und einmal sogar seinen Ast in der Krone verteidigen. Eine lohfarbene Großkatze nämlich folgte ihm mit einem einzigen gewandten Satz ins Geäst. Nur mit einem Schlag seines Steinschwertes, das sie am Schädel streifte, wurde er sie wieder los; halb betäubt und blutend fiel sie zum Fuß des Baumes, woraufhin sie fauchend davonhinkte und sich wohl eine leichtere Beute suchte. Freilich hatte er bei dieser Begegnung Glück gehabt. Manche Fleischfresser der Gegend hatten eine Statur, die ihm keine Chance gelassen hätte. Da gab es zum Beispiel eine Raubkatze mit Stutzschwanz und schwarz-gelb gestreiftem Rücken, vor der nur die allergrößten Tiere nichts zu fürchten hatten. Ihre riesigen Reißzähne reichten bis unters Kinn, und sie jagte offenbar mit Vorliebe an den Wasserläufen. Wie wurde Hiero doch vorsichtig, wenn es ans
Trinken oder Füllen des Wasserbeutels ging. Daneben gab es Wölfe, die bis auf das hellere, rötlichere Fell denen seiner nordischen Heimat glichen, und eine Schar kleinerer, schakalähnlicher Räuber, die zum Glück wie die meisten anderen Räuber vorwiegend nachts auf Beutefang gingen. Dann freilich, wenn die Nacht von ihrem wilden Gekreische und Gebrüll widerhallte, saß Hiero in einer hohen Astgabel, die er sich beizeiten vor Sonnenuntergang als Zuflucht erwählt hatte. Natürlich hätte Hiero eine Rast einlegen können, um sich bessere Waffen zu bauen, als er jetzt besaß, aber er wollte keine Zeit verlieren. Irgendein Drang, der zunächst sehr schwach war, aber zusehends stärker wurde, trieb ihn vorwärts, so daß er nur innehielt, wenn es sein mußte. Er erlegte Tiere, die ihm über den Weg liefen, und machte nur Feuer, um ein Minimum an Fleisch zu räuchern. Er war etwas nach Süden abgefallen, tat dies aber, nachdem es ihm aufgefallen war, als belanglos ab. Ohne daß seine geschwächten Sinne es gemerkt hätten, hatte irgend etwas klammheimlich die Steuerung übernommen und lenkte seine Schritte. Freilich blieb es ohne Wirkung auf seine alltäglichen Verrichtungen und ließ ihn nicht unvorsichtig werden. Am sechsten Tag nach dem Aufbruch vom Fels, wo er die alte Asche entdeckt hatte, bestieg er einen Kamm, der höher als alle anderen lag. Er sah tief im Südwesten eine blaue Linie. Es könne sich nur um ein Gebirge handeln, folgerte er aufgeregt. Das waren die Berge, von denen er vor einer Woche geträumt hatte, obschon er sich weder an sie noch an den Traum selbst bewußt erinnerte. Wie wunderschön sie doch waren! Er müsse sie sehen, er müsse dorthin und über ihre Hänge und bewaldeten Höhen wandeln, dachte er. Dieser Wunsch, der sich nun in seinem Verstand einnistete, war für sein eigentliches Ziel nicht hinderlich. Daß er in Wahrheit von seinem westlichen und später nördlichen Kurs, den er vor wenigen Tagen festgelegt hatte, abwich, registrierte er in seinem bewußten Denken gar nicht. Geschickt hatte der Fischer den Köder ausgelegt, und der Fisch schwamm, ohne es zu merken, munter darauf zu.
Das nächste, was ihm auffiel, war etwas ganz anderes, eine rein praktische, nüchterne Feststellung: er wurde verfolgt! Mehrmals an diesem Tag hatte er das Gefühl, etwas sei ihm auf den Fersen. Als es wieder einmal später Nachmittag geworden war und die Sonne tief über dem weiten Land stand, war das Ding, wie er glaubte, immer noch hinter ihm her. Während der letzten Stunden war ihm zweimal aufgefallen, daß ein Stück hinter ihm Vögel aufgestiegen waren. Zwar hatte er nichts anderes Verdächtiges gehört oder gesehen, ahnte aber, daß es ihm – was immer es sein mochte – noch auf der Spur war. Mochten die Kräfte seines Geistes, die telepathischen Netze, auch erloschen sein, so hatte er doch nicht den geringsten Zweifel. Die Sinne und Instinkte eines alterfahrenen Jägers waren nicht stumpf geworden, so daß er den Verfolger gewahr wurde, wie ein Tier Gefahr wittert. Er fragte sich, ob es einer der großen Wölfe sei. Die Vertreter der Katzenfamilie spürten keinen Fährten nach; das hatte sich seit dem Anbeginn der Zeiten nicht geändert. Aber es kämen viele andere Möglichkeiten in Frage. So rechnete er auch mit etwas völlig Unbekanntem, einer Kreatur, die er noch nie gesehen hatte. Die Wildnis des einstigen Nordamerikas barg allerlei seltsames Leben, wie er aus eigener Erfahrung nur allzu gut wußte. Dennoch war ihm die Sache schleierhaft. Was ihm folgte, bewegte sich anscheinend nicht gerade schnell; tatsächlich wurde das Gefühl, etwas sei in der Nähe, zuweilen ziemlich schwach in seinem Bewußtsein, als hätte das Ding von ihm gelassen oder gar kehrtgemacht. Dann meldete sich die Empfindung jedoch mit neuer Kraft, als hätte der Verfolger seine Spur wieder aufgenommen und machte den Rückstand wieder wett. Dieses Zaudern war nicht die Art eines Wolfes. Ob es sich um einen Menschen handelte? Hiero hatte keinen Rauch eines Feuers gesehen, aber vielleicht hatte der andre auch so selten und bescheiden Feuer gemacht. Hiero war sich darüber im klaren, daß er nichts anderes tun könnte, als noch vorsichtiger zu sein und sich unterwegs stets in der
Nähe brauchbarer Bäume zu halten. Was oder wer immer ihm auch folgen mochte, käme irgendwann so dicht heran, daß Hiero einen Blick darauf tun könnte – möglichst von sicherer Warte herab. Während er seine Reise zu den fernen Bergen im Südwesten fortsetzte, hielt er stets nach geeigneten Zufluchtsorten Ausschau. Die folgende Nacht verbrachte er in der Astgabel einer hohen Eiche, blieb aber viele Stunden wach und lauschte in die Dunkelheit hinaus. Freilich klang die Kakophonie der nächtlichen Savanne nicht viel anders als sonst. Das Gekreische und Gebrüll der Jäger und Gejagten unterschied sich kaum von den anderen Nächten. Einmal stapfte eine Gruppe der riesigen Rüsseltiere, die vermutlich zu einem Wasserloch zogen, dicht an seinem Baum vorbei, so daß Hiero sich sehr ruhig verhielt, während die massigen Körper vorüberwankten. Denn war sein Baum auch kräftig und hoch, so wollte er doch nicht erleben, wozu diese gigantischen Schultern, falls gereizt, imstande wären. Bald war die Herde, deren dreifach mannsgroße Kälber in einem fort quieksten, vorbei. Eine ganze Weile später wurde Hiero von zornigem Trompeten geweckt, das die Erde erbeben ließ, obschon es weit entfernt war. Er vermutete dahinter ein Raubtier, vielleicht einen großen Säbelzahntiger, der sich wohl an eines der Riesenkälber herangeschlichen hatte und nun von der Herde verjagt wurde. Im übrigen blieb die Nacht ereignislos, so daß Hiero schließlich in tiefen, ungestörten Schlaf fiel. Als der Morgen dämmerte, brach er wieder in Richtung Berge auf, wobei er einerseits nach Spuren seines Verfolgers spähte und andrerseits die vor ihm liegende Strecke im Auge behielt, um sich nicht zu weit von einem rettenden Baum oder Termitenhügel zu entfernen. Nicht selten höher als die umliegenden Gebüsche, zeigten sich die Insektenburgen nun immer öfter und boten rasche Zuflucht und hervorragende Aussicht. Auf einem solchen Bau bezog er gen Mittag Position, sowohl um zu rasten, als auch um sein kärgliches Mahl aus getrocknetem Fleisch und Beeren zu essen. Das Obst wuchs an den niedrigeren Büschen und erwies sich oft als genießbar und wohlschmeckend.
Mit einemmal flog zeternd und schimpfend nur wenige Meter hinter ihm auf dem Weg, den er gekommen war, eine Vogelschar auf. Während er vorsichtig das Fleisch ablegte, duckte er sich hinter den Rand des Termitenhügels und beobachtete die Stelle. Er rechnete fest damit, nun von seinem rätselhaften Verfolger eingeholt worden zu sein, und wollte diesen auf jeden Fall zu Gesicht bekommen. Hinter sich wußte Hiero eine hohe Baumgruppe, die er sich vorher ausgesucht hatte, sollte sich der von der Sonne gebackene Termitenhügel als unzulänglich erweisen. Es dauerte nicht lange, bis sich das Dickicht teilte. Etwas Wuchtiges zwängte sich langsam durchs Astgewirr. Hiero spannte alle Muskeln, zur blitzschnellen Flucht bereit. Die Masse, die sich heranschob, schien gigantisch. Dann stach ihm etwas Helles, Blitzendes ins Auge, und schon stand es im freien Gelände. Ein freudiges und verdutztes Lächeln zugleich trat in Hieros Züge; am liebsten hätte er laut losgebrüllt. Es näherte sich dem Termitenbau, als suchte er dort die Geborgenheit seines wohligen Stalles, ein kolossaler Hüpfer. Er war mit dem Sattel seines Herrn versehen, dessen Steigbügel hochgeschnallt waren, um nicht lose herabzubaumeln. An seinem Harnisch hing allerlei Ausrüstung, ebenfalls sicher verzurrt. Segi war gekommen, seinen Herrn zu holen. Das stattliche Tier war nicht zu verwechseln. Hiero kannte seinen eigenen Harnisch. Obendrein trug es auf dem Rücken Hieros geliebten Speer, einst Teil von Klootz' Sattel im Norden, der so festgemacht war, daß sich die Spitze beim Gehen nicht im Geäst verfing. Hiero stand auf und glitt langsam den Termitenhaufen hinab, wobei er dem herantrottenden Hüpfer zurief. Segi legte leicht erstaunt ein Ohr zurück, wirkte aber weder beunruhigt noch geängstigt. Nachdem er Hiero lange beschnüffelt hatte, richtete er sich wieder zu voller Höhe auf, lehnte sich auf seinen mächtigen
Schwanz zurück und warf stolze Blicke umher, als wollte er sagen: »Nun, ich hab' das Meine getan. Das übrige liegt an anderen.« Eine lange Zeit stand Hiero, von seinen Gefühlen überwältigt, vor seinem Hüpfer und begrub das Gesicht in seiner großen, braunen Flanke. Mit so was hätte er in dieser öden Wildnis nicht gerechnet! Er mußte sich eine Weile ganz schön zusammennehmen. Segi zuckte hin und wieder mit den langen Ohren, wenn Fliegen ihn belästigten, stand aber ansonsten zufrieden und geduldig vor seinem Herrn und harrte seiner neuen Wünsche. Schließlich gewann Hiero seine Fassung zurück, klopfte dem Hüpfer auf die breiten Flanken und machte sich daran, zu inspizieren, was er ihm mitgebracht hatte. Da war zunächst einmal der kurze Speer, eine Kopie der mittelalterlichen Spieße, wie sie im fernen, vergessenen Europa zur Sauhatz verwendet worden waren. Er löste die Verschnürung und legte den Speer griffbereit neben sich auf den Boden. Schon fand er das nächste Stück, ebenfalls am Sattel befestigt, und ihm hüpfte das Herz vor Freude. Dort hing in lederner Scheide die erlesenste seiner Waffen, das schreckliche Kurzschwert des Nordens, der altertümliche Säbel, den er zum Akademieabschluß in Metz erhalten hatte. Lang wie sein Unterarm, auf einer Seite gebogen, gerade und stumpf an der andern, schimmerte die Machete des einstigen Weltreichs mit seinem öligen Glanz in der Sonne. Das abgegriffene Rangabzeichen mit den verblichenen Buchstaben »U.S.A.« schien gleichsam ein Versprechen aus der Vergangenheit für künftige Siege. Nachdem Hiero sich das Schwert über die Schulter geschnallt hatte, so daß das Gewicht angenehm auf dem Rücken zu tragen war und das Heft griffbereit über der linken Schulter hing, fühlte er sich wieder komplett. Komplett mit Speer und Schwert – ja, da war auch noch sein Dolch mit zweischneidiger 6-Zoll-Klinge und Hirschhorngriff. Schließlich stieß er auf einen breiten Ledergürtel und eine Lederschatulle, die zwar klein, aber schwer war. Würfelzeichen und
Kristallkugel! Desweiteren entdeckte er zwei Päckchen Dörrfleisch, die gut verpackt waren für die lange Reise. Er hätte Freudentänze aufführen können, denn nun stand außer Frage, wer dies geschickt hatte! Wo war bloß ihre Nachricht? Seine tastenden Finger huschten über den Sattel, wie ein Eichhörnchen ein Häuflein Nüsse durchwühlt. Dabei fand er eine kleine Wasserflasche aus Leder, handlich genug, um sie obendrein auch zu Fuß mitführen zu können. Aber wo war bloß die verflixte Nachricht? Daß es sie gäbe, dessen war er sich gewiß. Er zwang sich zum Innehalten und Nachdenken, während der geduldige Segi sich bückte und an seinem schwarzen Fell schnupperte. Gebrauch dein Hirn, Dummkopf! Angenommen, Segi wär' was zugestoßen? Meinst du, sie würd' ihm die Nachricht ans rechte Ohr hängen, damit jeder – auch Feinde – sie lesen könnte? Denk, wie sie für dich gedacht hat, Hornochse! Schließlich fand er sie nach langwieriger Sucherei. Sie war in einem winzigen Päckchen aus feinem, gefettetem Leder verschnürt, kaum größer als sein Fingerknöchel, und steckte tief im hohlen Sattelknauf. Mit zitternden Händen wickelte er es auf und begann, den Brief zu lesen. Über ihm bebten zuweilen die Nüstern des Hüpfers, wenn der sanfte Wind verschiedene Gerüche herantrug. Freilich schien keine Witterung auf Gefahr hinzudeuten, so daß die mächtige Gestalt gelassen auf seinen gewaltigen Hinterläufen hocken blieb, während ihr Herr auf dem Stück Pergament immer wieder die Nachricht von seiner fernen Geliebten las. Geliebter, stand dort, ich weiß, Du bist nicht tot. Wo Du bist und was Dir widerfahren ist, das weiß ich nicht. Die Unreinen haben irgend etwas gemacht. Wenn Du nicht tot bist und ich Deinen Geist nicht erreichen kann, müssen die Unreinen dahinterstecken. Ich hätte Dir dies durch Klootz geschickt, aber er ist weg. Die Stallknechte sagen, er sei in jener Nacht toll geworden und habe schnaubend in
seinem Stall getobt. Als man ihn beruhigen wollte, trat er die Stalltür ein, als wäre sie aus Stroh, und floh durch den Stallhof in die Nacht. Es wurde gemeldet, er habe in der Stunde vor Sonnenaufgang das nördliche Stadttor eingetreten. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden. Vielleicht folgt er Dir, also gib acht! Am Ende des Balls wurde ein Anschlag auf Danyale verübt. Der Attentäter hüllt sich nach wie vor in Schweigen. Der König ist verletzt, wird aber am Leben bleiben. Mein Vetter Amibale ist ebenso verschwunden; keiner weiß oder will sagen, wo er geblieben ist. Auch vom Priester Joseato fehlt jede Spur. Der Hohepriester sagt, er wisse nichts. Die Truppen sind allem Anschein nach loyal, und Mitrash ist bei mir. Er läßt ausrichten, daß er Meldung erstattet hat. Gott stehe Dir bei, Liebster. Segi trägt meinen Auftrag in seinem einfachen Verstand. Falls er Dich finden kann, wird er Dich finden. Komm zu mir zurück! Der Brief war nur mit einem geschwungenen ›L.‹ unterzeichnet. Hiero war froh, daß ihn nun bis auf Segi keiner sehen konnte. Denn hat man schon einmal von einem Vollkämpfer aus Metz, der Elite der nordischen Waldläufer gehört, dem Tränen über das verschwitzte Gesicht kullern? Als er nach einer Weile wieder klar sehen konnte, erfaßte ihn Bewunderung für seine Liebste. Fast noch ein Kind – doch was für eine Frau! Keinen Augenblick hatte sie den Kopf verloren. Hiero war nicht tot, also eine Nachricht überbringen. Klootz war weg, also den besten Ersatz hernehmen – Segi nämlich, den ausgesuchten Hüpfer, der ihn schon kennengelernt und liebgewonnen hatte. Hiero schüttelte bewundernd den Kopf. Er wollte wetten, daß sie bereits die richtigen Befehle an die Truppen ausgegeben habe und sie und Danyale in Sicherheit und das Reich bestmöglich gegen alle Übergriffe gerüstet seien. Und das plötzliche Verschwinden des Herzog Amibale und des Priesters hatten sie argwöhnisch gemacht, auch das stand fest. Das würde es ihnen nicht gerade erleichtern, Lucare zu übertölpeln, selbst während der Abwesenheit ihres Gatten.
Mitrash hat Meldung erstattet, nicht wahr? Ein guter Kerl. Die Meldung war sicherlich an die Bruderschaft des Elften Gebotes gegangen. Auch wenn Bruder Aldo und die Seinen weit weg waren, wüßten sie in diesem Augenblick vielleicht schon, was sich zugetragen habe, und holte zum Gegenschlag aus. Das erleichterte den Metz ungemein. Lucare und ihr Vater waren sicher, soweit man in diesen Tagen überhaupt sicher sein konnte, und das Königreich war gewarnt. Er hatte alle Hilfe erhalten, derer Lucare in dieser Lage fähig war, alles andere läge nun an ihm. Nur die Sache mit Klootz war ihm noch ein Rätsel. Wohin mochte es den Ellk verschlagen haben? Er klopfte Segi wieder und redete ihm gut zu. Der große Hüpfer hatte wahrlich Wunder vollbracht. Durch Sattel und Harnisch behindert, hatte er auf der Spur seines verschollenen Herrn aberhunderte Meilen zurückgelegt. Und obendrein sah er noch ganz passabel aus, als wäre er gut im Futter. Obwohl Hiero allerlei über das Können der Hüpfer erfahren hatte, war er dennoch erstaunt. Auch Segi mußte die grausige Wüste durchqueren und tagelang Wasser entbehren. Im Anschluß daran war er ohne Zaudern weitergezogen, war den Raubtieren ausgewichen, hatte sich hie und da ein Maulvoll Laub geschnappt und keine Pause gegönnt, bis er Hiero fand. Wie viele Menschen, überlegte Hiero, hätten so etwas getan, hätten sich aus reiner Freundschaft in eine unbekannte Wildnis gestürzt? Verdiene ich, verdient irgendein Mensch, so große Hingabe? In wenigen Sekunden war er auf den Termitenhügel gerannt, um seine Habseligkeiten zu holen. In Windeseile hatte er die Bügeltaschen abgelassen und war aufgesessen. Den Kopf hinter dem seines Tieres, ritt er den Hüpfer sachte in südwestlicher Richtung an. Ihre Köpfe ragten in die untergehende Sonne und zu jener fernen, blauen Linie. Die lockenden Berge hatten Hiero noch im Griff; gedankenlos trieb er sein wunderliches Reittier vorwärts, ohne zu ahnen, was ihn an den fernen Hängen erwartete.
4. Finstre Gefahren, finstrer Rat In einem unterirdisch gelegenen Saal war eine Wand mit einem großen Schirm versehen. Blaue Glühbirnen in den bleichen Steinmauern warfen ihr fahles Licht auf die große Tafel aus poliertem schwarzen Marmor. Um die Tafel unter dem Schirm standen vier schwarze Stühle, deren Beine von schauerlich entstellten Figuren dargestellt wurden und deren breite Lehnen und Rücken mit allerlei seltsamen Arabesken und Ornamenten verziert waren. Vom Haupt der Tafel weggerückt, stand ein fünfter Stuhl, größer und reicher verziert als die übrigen. Er allein war unbesetzt. Auf den anderen vier Stühlen saßen oder kauerten vier graugewandete Männer. Wäre ein Fremdling in den Raum getreten, hätte er sie für Vierlinge ein und derselben Mutter gehalten, so ähnlich sahen die vier Sitzenden sich. Alle waren sie glatzköpfig oder hatten Gesicht und Schädel geschoren, daß kein Haar übriggeblieben war. Alle hatten sie eine elfenbeinfarbene Haut. Beim Anblick dieser Gesichter hätte ein Kind unwillkürlich aufgeschrien. Die Augen waren tot, ein grauer Schlund des Nichts, aus denen dennoch ein grausiges Licht leuchtete. Die Mienen waren ausdruckslos, wie versteinert, hatten grimmige und zugleich weiche Züge und wirkten zeitlos und zugleich mumienhaft alt. Nur das Zucken der gräßlichen Augenpaare, die zum Schirm und zurück in die Runde blickten, deuteten auf Leben hin – so auch die ineinander verschlungenen Hände auf der glatten Tafel. Die Gestalten betrachteten aufmerksam den Schirm, aber gelegentlich raunte der eine dem andern etwas zu oder machte flüchtige Notizen auf dem vor sich liegenden Schreibzeug. Der Große Rat der Unreinen, der sogenannten Erwählten Meister, tagte. Obschon die Gestalten bei flüchtiger Betrachtung einander glichen, ließ sich bei genauerem Hinsehen der eine oder andere Unterschied erkennen. Jeder der Männer trug auf seiner grauen Brust ein aufgesticktes Zeichen aus glitzernden Metalldrähten, das jeweils
eine andere Farbe aufwies; das erste war rot, das zweite gelb, das dritte blau und das letzte grün. Keine dieser Farben aber wirkte natürlich, da sie bald ölig schillerten, bald blaß und dunkel wurden. Jedenfalls wechselte der greuliche Farbglanz in einem fort. Beim Giftgrün des vierten Gesellen war's am schlimmsten; es wirkte wie eine grausige Parodie auf das frische, helle Frühlingsgrün in der normalen Welt. Und der Zerstörung dieser Welt – oder ihrer Neuordnung, wie sie's nannten – hatten sich diese Ungetüme verschrieben. Ihre Zeichen bestanden aus Spiralen und Ringen, die dermaßen wundersam verschlungen waren, daß Auge und Verstand dem Muster nicht folgen konnten, als reichten sie scheinbar in eine andere, schlimmere Dimension hinein. Der Schirm selbst war mit einem Gewirr feiner Metalldrähte überzogen, die gleich den Symbolen der Robenträger wahnsinnige Kurven und Winkel beschrieben und hin und her liefen in kühnen Formen, die sich von Augenblick zu Augenblick änderten. Ständig wand und drehte es sich zu neuen, eigentümlichen Figuren. Hie und da flackerten im Drahtgewirr winzige Lämpchen verschiedener Farben auf. Sollte es sich hierbei um Glühlämpchen handeln, so waren sie so seltsam wie der Hintergrund, denn auch sie bewegten sich in scheinbar sinnloser Zufälligkeit, wobei der Schein freilich trog. Denn es war offenkundig, daß die vier Männer das Schaubild verstehen und lesen konnten, wie unsereins eine gedruckte Seite liest. Allerdings war das nur diesen und einem weiteren möglich, handelte es sich doch um den Großen Schirm, in den alles Wissen und Andenken der Unreinen ebenso eingebettet war wie all ihre Pläne und Möglichkeiten der Zukunft. Es hätte ein normales Menschenleben gedauert, nur die Grundlagen zur Interpretation der allereinfachsten und zugänglichsten Geheimnisse zu erlernen. Schließlich wandte sich der Träger des höllischen Grüns vom Schirm ab und musterte seine Ratskollegen nachdenklich. Genau wie der Blaugezeichnete auf irgendeine unerklärliche Weise am jüngsten wirkte, so schien der Grüngezeichnete am ältesten, obwohl sich nicht sagen ließ, warum dieser Eindruck entstand.
»Ich spreche gemäß den Regeln des Großen Rates, vor dem kein Geist als verläßlich gelten und kein Gedanke mit unsren Ratschlüssen betraut werden darf.« Hierbei handelte es sich eindeutig um eine rezitierte Eröffnungsfloskel für die Sitzung. Der Redner sprach leise und zugleich schallend, tonlos und zugleich stimmhaft. Außerdem klang er kühl, schrill und gläsern wie knirschender Firn auf alten Gletschern. »Als Euer Ältester wende ich mich zuerst an den werten Sduna, den Ersten der Bruderschaft vom Blauen Zirkel. Ihm ist die Hauptlast der jüngsten Ereignisse zugefallen. Er und die Seinen haben viel von der Verantwortung dafür zu tragen. Dies sage ich nicht zum Tadel, sondern aus Gründen der Rechenschaftspflicht. Und …«, fügte er hinzu, als Sduna achselzuckend auf seinem Stuhl hin und her rutschte, »aufgrund höherer Weisung.« Als die anderen erstaunt den Blick hoben, führte der Grüngezeichnete die Hand an die Stirn und verneigte sich vor dem großen, leeren Stuhl am Kopfende der Tafel. »Ja«, fuhr er fort, »es erreichte mich, den Ersten, in meiner südlichen Festung des Nachts über den Einen Kreis eine Botschaft. Der Unbekannte, dessen Namen man nicht ausspricht, der NichtSeiende, welcher aber war und sein wird, sandte mir eine Botschaft. Jeder von uns hätte sie empfangen können; warum – abgesehen von Gründen des Alters – ich sie empfing, weiß ich nicht, obwohl ich's mir denken könnte.« Er machte eine Pause. »Ich glaube, und ich habe unterwegs viel darüber nachgedacht, daß ich die Botschaft empfing, weil ich die weiteste Anreise hatte. Meine Meinung, und mehr ist es nicht, lautet: Während in der Außenwelt viele, viele Leben verstrichen sind, ist für uns Vier oder unsere Lehrmeister und Vorgänger nur selten eine persönliche Zusammenkunft erforderlich gewesen. Nun freilich wird es Ernst, weshalb wohl einleuchtet, warum ich, der ich am weitesten entfernt lebe, beauftragt worden bin,
uns zusammenzurufen. Der Namenlose, die Wahl der Wahl birgt viele Geheimnisse. Es mag andere Erklärungen geben, aber ich glaube, das genügt.« Er faltete die bleichen Hände im Schoß seiner Robe. »Möge der werte Sduna nun sprechen und uns seine Sicht der jüngsten Vergangenheit unterbreiten.« Der Meister des Blauen Zirkels verzog keine Miene. Obgleich er hier nicht auf einer Anklagebank saß, wurde er von den anderen kritisch beäugt und überprüft. Sie waren alle gleich, denn der Große Rat war ins Leben gerufen worden, um den ewigen Bruderkrieg zu beenden, der in der Vergangenheit die Pläne der Unreinen immer wieder vereitelt hatte. Waren sie auch gleich, so lag es doch nicht in ihrer Natur, einander vor Schmerz zu bewahren, zumal sie von Kindheit an zum Quälen abgerichtet waren. In die Schwierigkeiten der jüngsten Vergangenheit war jedoch Sduna viel mehr verwickelt gewesen als alle übrigen, weshalb sie ihn aufmerksam beobachteten. Nicht daß sie besonders feindselig waren, aber geringsten Zeichen von Schwäche, von Unentschlossenheit… Im übrigen war da noch der Namenlose, ihr unbekannter Herrscher, der seine Weisungen gegeben hatte. Ob die Weisungen mit den jüngsten Fehlern in Zusammenhang standen? Ob sie gar Befehle für den Fall nachlässiger Führerschaft enthielten? Falls dem Blauen Meister ein Schauder über den Rücken lief, so blieb dies zumindest dem Auge verborgen. Er begann: »Der Tod von Snerg aus dem Roten Zirkel war uns die erste Warnung dafür, daß etwas nicht stimme. Denn seine Leiche blieb lange unauffindbar, obwohl wir wußten, daß es ihn erwischt haben mußte; sein Selbstsucher bewegte sich ständig von uns weg. Wir setzten Getreue – bloße Tiere – auf die Spur. Auch sie wurden getötet. Das war die zweite Warnung, obschon der Tod eines hohen Bruders sicherlich viel schwerwiegender ist.« Keiner sagte etwas, keiner zuckte mit der Wimper bei dieser Klarstellung. Nicht der Blaue Zirkel war als erster berührt worden.
»Dann zog die Kreatur – oder Gruppe – in den Palud, den großen Sumpf, den nicht einmal wir betreten. Dennoch riefen wir etwas, das dort seit unvordenklichen Zeiten haust, obgleich wir dieses uns recht rätselhafte Geschöpf fürchteten. Wir waren überzeugt, es könnte uns dienlich sein. Aber es wurde ebenfalls getötet.« Die gleichförmige Stimme hielt kurz inne. Eine weitere Klarstellung. »Nun machten wir uns allmählich wirkliche Sorgen. Der Eindringling hatte das Gebiet betreten, für das ich zuständig bin. Es war ihm gelungen, den Sumpf zu durchqueren – an sich kein Kinderspiel, wie bekannt ist. Ich berechnete den Kurs, den er nähme, denn er hatte den Selbstsucher entdeckt und zerstört, so daß wir ihm nicht mehr folgen konnten. Und ich habe ihn, wie bekannt ist, gestellt. Man höre und staune! Was hatten wir denn da erwischt? Ein Priesterchen aus den verhaßten Abteien, von der sanften Religion des Altertums, von den Kreuzanbetern. Einen Vagabunden aus diesem Waldläuferpack, halb Soldat, halb Jäger, die sie für ihre blöden Missionen einsetzen. Begleitet wurde er von zwei Tieren und einem Sklavenmädchen, das er Menschenfressern sozusagen vom Tisch weggeschnappt hatte. Dieses Häuflein hatte den ganzen Norden erschüttert und uns angst und bange gemacht!« Er sah einen um den andern an, während er vor dem Weitersprechen offenbar seine Worte abwägte. »Und hier irrte ich, wie ich offen gestehe. Und sollte der Große Plan darunter gelitten haben, so nehme ich meinen Teil der Verantwortung dafür auf meine Kappe. Denn ich konnte einfach nicht glauben, daß dieser höchst gewöhnliche Mensch, mochte er auch tapfer und klug die Gefahren der Wälder bestanden haben, sein konnte, was er war. Wie jeder, der sich mit der Sache befaßte, war ich überzeugt, daß die Abteien oder auch dieser Mensch allein in einer Toten Stadt der Vergangenheit ein Geheimnis gefunden hätte – etwas, womit sich die Geisteskräfte mehren ließen, eine Maschine vielleicht, oder auch eine fremde Droge. Dieses Geheimnis wollten wir ihm auf Maroun, der Toten Insel, die keiner ohne unser Wollen
je betreten hat, ganz gemütlich entlocken. Wir mißachteten die Flucht des Sklavenmädchens und der beiden Tiere völlig; sollen sie in der Öde umkommen, dachten wir. Unwichtig.« Sein elfenbeinener Schädel begann zu wackeln, als er den Kopf schüttelte. »Fehler über Fehler, Irrtum über Irrtum. Der Mann hatte angeborene, angezüchtete Fähigkeiten in seinem Kopf, wovon einige zusammen mit entsprechendem Training ihn hierher in diesen Saal geführt hätten, meine Brüder – gleich uns selbst. Das war letztendlich unser größter Fehler – zu übersehen, was für verblüffende Kräfte dieser angebliche Waldläufer, dieser Halbpriester, im Innersten seines Verstandes verborgen hielt!« Der Nachdruck, die Leidenschaft, die sich ansatzweise in den Schlußsatz eingeschlichen hatte, entlockte Slorn ein ungläubiges Zischeln, das er aber sogleich einstellte, als er den Gesichtsausdruck der Meister vom Roten und Gelben Zirkel gewahr wurde. Denn sie schienen voller Einmütigkeit. »Was dann geschah ist leider allzu gut bekannt«, führte Sduna weiter aus. »Er entwischte. Floh mitsamt seinen Waffen von der Toteninsel, wobei er noch einen Bruder tötete! Der Anführer meiner Heuler, ein dummer Primitivling, erahnte die Flucht auf einer Ebene, die uns verschlossen blieb; der zähe Kämpfer, langjährig von mir ausgebildet, ging ebenfalls drauf. Nun überlegt mal, Brüder, denkt scharf nach! Bis heute wissen wir noch nicht, wie oder durch welche Kraft dies bewerkstelligt worden ist! Unsere Wissenschaften, unsere Aufzeichnungen hier, die wir für die Summe aller bekannten Wissensschätze hielten, bleiben uns eine Antwort schuldig. O ja, der Mann hat seinen Verstand benutzt. Damit hat er den Bruder getötet. Das steht fest. Aber wären wir ohne Waffen und Maschinen dazu auch imstande? Nein, wir alle wissen, das könnten wir nicht. Wie ging's weiter? Mehr durch Glück als durch konkrete Anhaltspunkte spürten wir ihn wieder auf, diesen dummen PriesterMörder, diesen Per Hiero Desteen, von dem wir nun so viel wissen. Und was geschah diesmal mit der zerlumpten Vagabundentruppe? Denn er hatte durch Gedankenverbindung das Mädchen und die
Tiere wiedergefunden, obgleich wir uns das wiederum nicht erklären können. Wie ging's weiter? Diesmal 'ne ganze Schiffsladung, eines der wenigen neuen Schiffe, die von der Kraft des Todes selbst angetrieben werden, Schiff mit Besatzung, noch ein hoher Bruder, Scarn, dritthöchster nach mir und kein leichter Gegner – samt und sonders verschwunden!« Die folgende Pause war unbeabsichtigt und lang. Er gab sich nun keine Mühe mehr, seinen Ärger und Verdruß zu verbergen. Mit Besonnenheit lauschten die anderen und verdauten seinen Redeschwall mit gespannten Mienen. Slorn von den Grünen war nicht minder aufmerksam. »Wir taten unser Bestes. Wir gaben so viele handgearbeitete persönliche Gedankenschirme aus, wie wir hatten, und warnten alle auf oder an den Ufern der Inlandsee; die mit uns verkehrten oder unter unserer Kontrolle standen. Wir alarmierten unsre Brüder vom Gelben Zirkel im Süden. Auch ich begab mich in den Süden. Denn inzwischen war ich überzeugt, welch schreckliche Gefahr uns von diesem Mann drohte, der die Macht hatte, mit seinen Geisteskräften wie mit Blitzen um sich zu schießen. O ja, mittlerweile war ich überzeugt, zutiefst überzeugt! Was dann geschah, ist nicht sicher, aber wir haben einige Hinweise, die wir mühsam zusammengetragen und aneinandergesetzt haben. Sie ergeben folgendes Bild: Irgendwie ist's dem Priester gelungen, die Inlandsee zu überqueren. Auf der Überfahrt kämpfte er schon wieder, nun über ein Schiff samt Besatzung verfügend; wie und wo er dazu kam ist uns ein Rätsel. Er kämpfte gegen einen Piraten, der uns schon lange fügsam ist, und tötete ihn im Zweikampf – und mit ihm einen Glith, die neueste und stärkste Lemut-Züchtung, wie der Feind unsre tierischen Sklaven nennt, die wir uns traditionsgemäß halten. Die Piratenmannschaft kapitulierte. Nicht einmal die Angst vor uns konnte sie dazu bewegen, das alte Seefahrergesetz – der Sieger bekommt die Beute – zu brechen. Wir haben alle verhört, die wir inzwischen erwischen konnten, und so allerhand erfahren, aber es ist langwierig und mühsam.
Diese Schlacht«, fuhr er fort, »verursachte Gedankenstürme. Außerdem wurden Selbstsucher mitgenommen. Wir lokalisierten das Gebiet, berechneten den Kurs und schickten ein zweites der neuen Schiffe aus, diesmal von einem geheimen Hafen nahe Neeyana an der Südküste. Es fand den Feind und zerstörte sein Schiff, gelenkt von Selbstsuchern – den Gedankenschirm, die er erbeutet und an Bord vergessen hatte. Aber wir kamen zu spät! Wir äscherten zwar den alten Kahn ein, aber alle an Bord waren entkommen in den tiefen Wald, in den wir keinen Fuß setzen und der für uns voller Rätsel ist. Hört, Brüder!« Seine nicht gerade angenehme Stimme wurde zu einem Zischeln, einem Geifern in giftiger Erbostheit. »Elfer! Ins Spiel kommt die sogenannte Bruderschaft des Elften Gebotes, unsre alten Erzfeinde, die tier- und pflanzenliebenden Erdwühler, die Viehhirten, die Hebammen für alles, was kreucht und fleucht, die Verehrer nutzlosen Lebens, die Helfer der Schwachen, die Hüter der Armen und Sanftmütigen! Pfui! Elfer!« Sein Zorn würgte ihn schier, doch hatte er bald die Beherrschung wiedererlangt. »Einer von diesem Gezücht war auf dem Schiff mit dem Priester, dem Weib und den beiden Tieren. Er wurde gesehen. Ein alter Mann, offenbar recht hochgestellt in ihrer verderbten Hierarchie, denn die großen Seeungeheuer waren ihm fügsam. Vielleicht hatte er auch etwas mit dem Schiff zu tun, das wir im Norden verloren hatten. Ich war in Neeyana und wandte mich an Bruder Sryath, meinen Kameraden und Meister des Gelben Zirkels hier, um Hilfe und Rat. Und weil ich an ihn die Oberleitung abgetreten habe, möchte ich, daß er selber berichtet, was wir ersonnen haben und was dabei herausgekommen ist.« Sduna lehnte sich zurück, als wäre er erleichtert, sein Teil getan zu haben. Sein Zornausbruch hatte ihm ungewohnte Schweißperlen aus der bleichen Stirn getrieben. Sryath zu Sdunas Linker zögerte kurz, als überlegte er, womit oder auch wie er beginnen sollte. Freilich ließ er den Faden erst gar nicht abreißen.
»Wir, Sduna und ich, versuchten etwas, das längst hätte getan werden sollen, wenn wir nur Zeit gehabt hätten, die wir natürlich nicht hatten.« Er blickte sich um wie einer, der auf eine Herausforderung wartet, aber da er offenbar keine sah, fuhr er fort. »Unsre Überlegung war diese: Warum war der Priester geschickt worden oder warum zog er in den Süden – weit über die Grenzen seines barbarischen Landes hinaus? War er überhaupt geschickt worden oder aus eigenem Antrieb gekommen, um sein Glück zu versuchen? Wir glaubten das weniger, wir beide. Sduna hatte mir einleuchtend dargelegt, daß es sich nicht um einen falschen Alarm handelte, sondern um eine unverhoffte ernste Bedrohung für uns und den Großen Plan. Was suchte er, dieser Priester? Wohlgemerkt ahnten wir damals noch nichts vom Elfer. Diese Kenntnis erlangten wir erst später. Wir faßten zusammen, was wir wußten. Dieser Waldläufer war im Besitze von Snergs Karten; das nahmen wir jedenfalls an. Darauf waren viele Orte des Großen Todes und der Herren der Welt vor dem Tod verzeichnet. Ob dieser Fremdling aus dem einen oder andern Grund auf der Suche nach einem solchen Ort war? Es war denkbar; wenigstens hatten wir keine gegenteiligen Informationen. Sdunas Spitzel durchstöberten den Norden ebenso wie die Späher von Bruder Scarn, meinem Gegenüber und Meister des Roten Zirkels. Aber alle Spione – selbst die, die wir im Norden haben – brauchen Zeit zum Auskundschaften, während wir es höchst eilig hatten und noch haben. Wir mußten uns aufs Raten beschränken und für alle Fälle einstweilen Truppen sammeln. Dies ging sehr rasch. Männer, Tiersklaven aller Art – alle Verfügbaren wurden herangezogen. Es war eine starke Truppe unter dem Befehl von fünf, sechs Brüdern. Und dann erhielten wir Meldung – wenn auch vom Absender unbeabsichtigt! Am östlichen Saum dieses weiten Waldes gebrauchten der Priester und sein Pack ihren Verstand, weil sie sich anscheinend gegen seltsame Lebensformen dieser Gegend zur Wehr setzen mußten. Wir wußten, daß dort grausige Kreaturen hausen, die das
Atom hervorgebracht hat und die uns noch nicht fügsam sind. Es war eine uns fremde Umgebung, die wir nur aus finstren Gerüchten kannten. Viele sind in diesem Land spurlos verschwunden, viele von uns und viele vom Menschengezücht – Kaufleute und dergleichen. Wir studierten die Karten und entdeckten nahebei eine Anlage aus der Zeit vor dem Tod, zu der obendrein ein Eingang verzeichnet war, den wir öffnen könnten. Wir kennen unzählige ähnliche Stellen, die für die künftige Erforschung vermerkt sind. Manchmal dienen sie uns als Schatzkammer, sind aber meist unnütz. Aber das ist ja alles bekannt.« Er blickte sich wieder um, diesmal mit einem kecken Ausdruck im Gesicht; seine Beherrschung ließ allmählich nach, als er zu rechtfertigen versuchte, was dann gekommen war. »Nein, Sduna und ich haben das Heer nicht begleitet. Im Nachhinein kann man sich fragen, ob das nicht ratsam gewesen wäre. Allerdings will ich keine Entschuldigung vorbringen. Wozu züchten und bilden wir uns Knechte und Diener heran, wenn nicht für solche Fälle? Ich frage, ob jemand unsern Mut in Zweifel stellt, ehe ich fortfahre.« Da er nichts in diesem Sinne in den Mienen der anderen entdeckte, sprach er weiter, wobei er die Stimme senkte, als habe ihn ungewollte Scheu ergriffen. »Wer hätte sich das träumen lassen, aber die Truppen wurden zerschlagen, wie's in unsrer ganzen Geschichte ohne Beispiel ist. Wir erhielten Meldung – Gedankenblitze – von unsren Brüdern, daß sie den Ort gefunden hätten, wie er auf der Karte eingetragen sei, und sie ihn nun betreten wollten. Dann – nichts mehr. Alle Gedankengänge verstummten, als sie unter Tage stiegen, wie wir vermuteten. Es trat große Stille ein, die bis heute ungebrochen ist. Viele Tage später entdeckte einer unsrer Späher, der das Gelände mit aller Vorsicht erkundete, ein großes Feld von Moder und Fäule, das sich zersetzte und einen Pesthauch zum Himmel schickte. Wo die Höhle des Mächtigen Todes gelegen hatte, breitete sich nun ein Trümmerhaufen aus, dem ein scheußlicher Brodem entströmte. Nicht das Atom, nicht die Kräfte des Todes, denn diese spüren wir, sondern
eine andere, vielleicht ältere Macht, ein großes Geheimnis der Alten war wohl entfesselt worden. Mehr haben wir über das, was sich zugetragen hat, nicht in Erfahrung gebracht. Hier endet also meine Geschichte.« Womit er, vor sich nieder auf die Tafel blickend, verstummte. Das Schweigen dauerte an, als würde sich keiner getrauen, es zu brechen. Die Bedeutung des Geschilderten, das ihnen im großen ganzen freilich schon bekannt gewesen war, hatte alle in ihren Bann geschlagen. Als schließlich tatsächlich eine Stimme erklang, schienen die eigentlichen Laute dort fehl am Platze. »Aber ich kann noch etwas anmerken, Brüder, und was ich sage, wird uns neuen Mut machen.« Slorn lächelte sogar, freilich nicht aus Frohsinn, sondern tiefempfundener Genugtuung. »Faßt euch ein Herz, Brüder, und hört, welche Kunde ich vom Süden, meinen eigenen fernen Landen bringe! Viel ist mir erst heute von meinem verläßlichen Boten vermeldet worden. Die Sache sieht gar nicht schlecht aus.« Er beugte sich beim Sprechen vor und tändelte mit den Fingern auf der kühlen, glatten Tischplatte. »Uns allen ist bekannt, daß der Priester in Dalwah eingezogen ist und das jahrelange, geduldige Wirken unsrer dortigen Günstlinge und Verbündeten zunichte gemacht hat. Denn horcht, das zerlumpte Sklavenweib, das dieser Holzwurm im fernen Norden aufgelesen hatte, war – man höre und staune! – die verschollene Prinzessin, die Tochter des dummen Königs von Dalwah, die wir längst für tot wähnten. Der Priester wußte dies, päppelte sie hoch und heiratete sie schließlich im läppischen Ritus ihres Volkes. Somit hatte er sich mit einem einzigen unglaublichen Streich zum eigentlichen Herrscher über das Reich gemacht. Ich hatte ein gut Teil des Erfolgs dieser Kreatur reinem Glück und – wie ich offen gestehe – einer zu Hilfe kommenden Nachlässigkeit im Norden zugeschrieben.« Er hatte sich in der Runde umgesehen und jedem Blick standgehalten, ehe er fortfuhr: »Ich möchte mich
nachdrücklich entschuldigen bei jedem hier, der meint, ich hätte seine Bemühungen in der Vergangenheit mit gewisser Geringschätzung betrachtet. Dieser geniale Streich, diese Verbindung mit dem Sitz der Macht hat über Nacht meine Meinung von Per Desteen umgekrempelt. Wenn er ein bloßer Diener der Abteien ist – über die ich nur das wenige weiß, was mir aus euren Landen zugetragen wird –, wer und was sind diese dann? Falls er jedoch, wie ich vermutete, eine seltene Mutation, ein Zufallsprodukt – sozusagen ungeplant und planlos – wäre, dann würde sich vielleicht eine Gelegenheit bieten. Ich ging mit mir zu Rate und ersann einen Plan. Wir haben mächtige Verbündete in diesem Land, selbst in der Königsfamilie, und seine wunderliche Kirche ist von unseren Dienern durchsetzt, die in ihre Geheimnisse eingeweiht sind. Es wurde in unseren geheimen Zentralen eine neue Droge entwickelt, eine Droge, die alle Geisteskräfte abtötet – selbst beim Allerstärksten. Wir haben an solchen experimentiert.« Daß die Experimente vermutlich den Tod von wenigstens einem Mitbruder, der sich Slorns Ungnade zugezogen hatte, zur Folge gehabt hatte, das schien allen in der Runde offensichtlich. Freilich störte sich keiner daran. Denn so erwirbt man Macht und erhält sie sich. »Ich traf mich mit unsern Verbündeten weit entfernt von ihrer Stadt«, fuhr Slorn fort. »Denn ich duldete keinerlei Denkarbeit in der Nähe dieser Priesterkreatur. Er sollte auf nichts Verdächtiges stoßen – und stieß auch auf nichts! Nun hab' ich eine wahre Frohbotschaft, Brüder. Heute kann ich sagen, Per Hiero Desteen – dieser Prinz von Dalwah, dieser Titan, der unsren großen Orden erschüttert hat – ist tot!« Wenigstens einer Kehle entwand sich ein verblüfftes Aufatmen. Es kam allerdings nicht von Sduna von den Blauen, dessen kalte Miene unverändert blieb. »Dieser Priester-Prinz, dieser Landstreicher, dieser Geistesriese bekam schlicht einen Schlag auf den Schädel verpaßt, wurde mit der
neuen Droge, von der ich sprach, vollgepumpt und weit in die Wildnis verschleppt. Er wurde nicht an Ort und Stelle umgebracht, denn die prinzeßliche Dirne, sein Weib, hätte seinen Tod wohl erfühlt und wäre vielleicht gegen unsre Bundesgenossen vorgegangen, ehe diese bereit gewesen wären. Es stimmt. Das ist die unleugbare Wahrheit. Er ist tot, unwiederbringlich tot. Er ist vom Spielbrett abgetreten, Brüder, und wir können wieder sinnen und planen wie einst, nachdem dieser Störenfried beseitigt ist!« Diesmal fiel das Schweigen nicht kurz aus. Die schnurrende Stimme von Sduna, in der nichts Frohes, sondern nur Kaltes lag, brach es schließlich. »Bevor wir jubeln und feiern, Ältester Bruder, habe ich, der ich der Jüngste unter euch, nichtsdestoweniger aber derjenige bin, der diesen Mann am besten kennt, der ihm gegenübergestanden hat und noch lebt, ein paar kleine Fragen. Wer hat den Leichnam gesehen? Ja und außerdem, wie und wo wurde er getötet? Sind deine Bundesgenossen im Besitz des Leichnams? Wenn ja, was wurde damit gemacht? Wenn ihr diese bescheidenen Fragen beantworten könnt, wär' vielleicht auch mir wohler.« Eine leichte Röte stieg dem bleichen Meister der Grüngezeichneten ins Gesicht. Slorn war offensichtlich erzürnt und erstaunt zugleich, so ins Gebet genommen zu werden. Sichtlich gereizt, setzte er krächzend zur Antwort an. »Unser Hauptverbündeter im Königreich ist als Kind unter mir herangezogen worden. Er schickte den durch die Droge betäubten Priester unter strenger Bewachung tief in den Westen – auf Wegen, die nur er selber kennt. Er betraute damit verläßliche Männer, Diener aus Kindertagen, die er in zwei Gruppen losschickte. Dies erwies sich als klug, denn die zweite Gruppe fand die Leichen der ersten. Alle, ich wiederhole, alle waren tot und noch warm. Ich sehe keinen Grund, irgend etwas davon in Frage zu stellen. Wer sie umgebracht hat, das wissen wir nicht; vermutlich eine Bande von Geächteten, die das westliche Sumpfland unsicher machen. Ist das Antwort genug?«
»Ja«, meinte Sduna bedächtig. »Das ist Antwort genug. Aber ich warne euch alle, mit Verlaub, Ältester Bruder, daß dieser Mann nicht leicht zu töten ist. Ich wünschte, ein Bruder, am besten ein hoher, hätte die Leiche gesehen. Ich will, wenn schon, ehrlich sein. Es gefällt mir nicht. Dennoch vielleicht zu Unrecht, was ich mehr hoffe als jeder andere. Das wenigstens dürft ihr mir glauben.« »Sollte es sich als falsch erweisen, werde ich dafür gerade stehen«, fauchte der andere zurück, darüber erbost, daß seinem Triumph so viel Skepsis entgegengebracht wurde. »Aber wir haben schon viel zuviel Zeit damit vergeudet. Daß ein solcher Priester überhaupt in Erscheinung treten konnte, zeugt von einem viel größeren Plan. Wir haben es nun, meine Brüder, mit einem organisierten Komplott gegen uns zu tun. Auf breiter Front fordert man uns heraus, die wir unsren Feinden stets verborgen geblieben sind. Höchst selten hat der Feind bislang einen Bruder zu Gesicht bekommen und die Begegnung lebend überstanden, um davon zu künden. Um unsre Existenz wußte keiner bis auf die Elfer, die verfluchten, verabscheuungswürdigen. Ihr eigenes Credo, alles Leben zu erhalten, nichts zu schaden – das bewahrte uns, waren wir überzeugt, hinlänglich davor, von ihnen beschnüffelt und bespitzelt zu werden. Sollen sie sich umherschleichen, dachten wir, bis der Große Plan in Erfüllung geht, um dann zusammen mit allem anderen Geschmeiß, das für uns ohne Nutzen ist, hinweggefegt zu werden! Aber nun …« Seine Stimme wurde streng. »Was erfahren wir nun? Sie haben zumindest zum Teil von ihrer Torheit abgelassen. Tatkräftig unterstützen sie unsre Widersacher. Das ist schlimm, könnte schlimmer nicht sein. Sie wissen viel über uns. Nur weil sie untätig und dumm waren, ließen wir sie bislang ungeschoren; sie haben uns beobachtet, länger vielleicht, als wir ahnen. Und wenn sie ihr Wissen bloß an andere weitergeben, die nicht so vor Gewalt zurückschrecken, könnte sich das als tödliche Waffe gegen uns erweisen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Der Priester ist tot. Nicht aber, was ihn geschickt hat. Er kam aus dem Norden, von euren Abteien, die ihr angeblich unter Kontrolle
hattet, Brüder. Zwei Staaten im Norden, die beide von den Abteien regiert werden – die Republik Metz im Westen und die Otwah-Liga im Osten – haben diesen gefährlichen Aufrührer hervorgebracht. Von dort kam er. Gibt es dort – was für uns wichtiger ist – seinesgleichen mehr? Wir müssen rasch handeln. Diese Gefahr muß an den Wurzeln ausgemerzt werden – ohne Zaudern! Deshalb – das weiß ich in meinem innersten Sein, wurde ich beauftragt, diesen Rat zusammenzurufen.« Die drei anderen neigten sich vor und lauschten gespannt, als er sein Vorhaben darzulegen begann. An andrer Stelle, fern der tiefen, finstren Stollen der Unreinen, stand ein Hain aus mächtigen Kiefern oder verwandten Nadelhölzern. Flechten überzogen die gewaltigen Stämme, deren alte Borke silbrig glänzte. Inmitten des Gehölzes lag eine Lichtung im Schein des aufsteigenden Mondes, von vielen Schichten abgefallener Nadeln bedeckt. Kein Kraut wuchs auf der ringförmigen Lichtung, obschon das Nadelbett stets frisch und sauber war. Kein Laut brach die Stille der Nacht bis auf den fernen Schrei einer jagenden Eule und das Ächzen des sanften Windes in den hohen Wipfeln. Dennoch war die Lichtung nicht leer. Auch hier hatte man sich versammelt. Dunkle, rundliche Gestalten lagen im Kreis auf dem Boden; nur ihre leuchtenden Augen deuteten auf Leben hin. Große, pelzige Seiten hoben und senkten sich, als das Bärenvolk gespannt zum kleinwüchsigeren Gorm in seiner Mitte blickte. Tiefe Gedanken strömten über geistige Bahnen, die anderen in der Wildnis verschlossen blieben. Geduldig studierten die Weisen des Volkes die Neuigkeiten, die ihnen überbracht worden waren. Sie hatten sich lange vor den anderen empfindungsfähigen Rassen der Welt verborgen gehalten. Nun wollten sie sich nicht zu einer vorschnellen Entscheidung hinreißen lassen, die ihre Zukunft beeinträchtigen könnte. Die Nacht verstrich langsam, während die Gedanken von Verstand zu Verstand strahlten. Vor den Mond glitt schließlich eine
große Wolkenbank. Als das fahle Licht des Nachtgestirns wieder auf die Lichtung fiel, war der kleinwüchsigere Gorm aus der Mitte verschwunden, während die übrigen im Kreise lagen und ihre pelzigen Seiten sich sacht hoben und senkten. Im tiefen Dschungel lag ein stiller Teich, von den Stollen der Unreinen und dem Hain der Bären genauso weit entfernt wie diese voneinander. Hier ragten die Bäume, die sich über das braune Wasser wölbten, so hoch in den Himmel, daß die mächtigen Kiefern im Vergleich dazu wie Schößlinge wirkten. Die gewaltigen Stämme verzweigten sich erst in solcher Höhe in die Hauptäste, daß sie vom Boden fast nicht mehr sichtbar waren. Lange, wirre Lianen und ganze Wälder von Schmarotzern hingen an den aufschießenden Stämmen. In der Mittagshitze schwirrten emsige Insekten umher, lockten die Vögel mit ihren Rufen. Über einen ausgetretenen Wildwechsel näherte sich dem Teich leise ein großes, schwarzes Tier. Es hielt inne, beäugte die Umgebung und hob witternd die geblähten Nüstern in die Luft. Auf dem glänzenden Unterschenkel war die blutende Wunde einer mächtigen Pranke eingegraben. Das große Schaufelgeweih, das es am Kopf trug, war mit Blut verkrustet. Dennoch wirkte das zwar wachsame Tier in keiner Weise ängstlich. Bald hatte es sich davon überzeugt, daß das Gelände sicher sei, woraufhin es langsam in den kleinen Teich glitt, bis nur noch der Kopf aus dem Wasser ragte, wobei die Augen unablässig hin und her rollten und beim geringsten Laut die großen Ohren und wulstigen Lefzen zuckten. Schließlich stieg Klootz mit sauberem, glänzendem Geweih und Fell aus der Suhle ans andere Ufer, wo der Wildwechsel weiterführte. Über diesen verschwand er, so leise wie er gekommen war – gen Norden. Als Hiero erwachte, sah er sich gähnend um und streckte sich. Ein neuer Tag war angebrochen. Von seiner Baumgabel aus konnte er die Savanne weit überblicken; nur hie und da war ihm durch hohe
Baumgruppen wie der seinigen die Sicht verwehrt. Mit jedem Tag stieg das Gelände mehr an und standen die freilich noch recht vereinzelten Bäume dichter. Er bemerkte allerlei Tierherden, die durch die Ebene wechselten. Meist handelte es sich um Antilopen und verwandte Arten, die den Tag im Buschland verbrachten, wo sie vor Insekten und schnellfüßigen Räubern, die im freien Gelände auf sie Jagd machten, geschützter waren. Andere kehrten nach einer gefahrvollen Nacht und einem Besuch im Wasserloch, wo lauernde Räuber sie beim Saufen reißen, ins offene Grasland zurück. Hiero beugte sich aus dem Geäst und rief schallend hinunter. Er hatte sich umgesehen, aber keinerlei Lebenszeichen bemerkt. Sogleich tauchte ein prüfend blickender Kopf aus einem hohen Gebüsch auf; mit einem Satz kam der massige Hüpfer zum Vorschein, munter wie nach einer ruhevollen Nacht im eigenen strohweichen Stall. Hiero kletterte vom Baum und barg Ausrüstung und Sattel, die er am Vorabend in einem Dickicht versteckt hatte. Es war an jedem Morgen eine richtige Erleichterung, daß Segi noch lebte. »Tatsache ist, mein Guter«, sagte Hiero und kraulte den Hüpfer zwischen den langen Ohren, als der den Kopf senkte und ihn beschnupperte, »daß du ein ganz schönes Problem bist. Mir wär's lieber, du wärst nicht hier. Ist das eine Dankbarkeit, was, nach allem, was du für mich auf dich genommen hast, mh?« Eine lange, himbeerrote Zunge leckte über sein Gesicht, und er spuckte und lachte. Aber das war eigentlich kein Scherz. Hiero machte sich ernstlich Sorgen um Segis Sicherheit; eine Lösung war nicht in Sicht. Er selbst hatte es gut, konnte er doch nachts in die Bäume steigen, während Segi, ein Fluchttier der Prärien, in den dunklen Stunden im Gelände ausharren mußte. Es gab zwar noch genügend freie Flächen um sie herum, aber mit jeder Abenddämmerung auf dem Weg in die Berge wurden sie kleiner. Je dichter der Wald wurde, in dem es von hungrigen Mäulern nur so wimmelte, desto mehr verminderten sich
Segis Möglichkeiten zum Selbstschutz. Ein Hüpfer war nur durch die Nase und Ohren und die mächtigen Hinterläufe gegen Angriffe gefeit. Um seine Beine einsetzen zu können, brauchte er Platz zum Springen und Ducken und Hakenschlagen. Und dieser Platz wurde immer beschränkter. Als einzige machbare Maßnahme sah Hiero das völlige Abhalftern und Absatteln des Tieres, so daß es zumindest in seiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt wäre. Allmorgendlich hoffte er mit halbem Herzen, daß es den Hüpfer fort in seine ferne, sichere Heimat gezogen hätte. Mit der Bürde von Sattel und Ausrüstung beladen, hatte er es durch unwegsame, von Raubtieren heimgesuchte Gegenden bis zu seinem Herrn geschafft. Sattel- und zügellos hätte er also eine gute Chance, lebend in den fernen Osten zu gelangen. Aber Segi dachte nicht daran zu türmen. Was immer Lucare seinem einfachen Verstand auch eingeprägt hatte, gepaart mit Segis Liebe zu seinem Herrn war's eine übermächtige Bindung. Er hatte seinen Herrn gefunden und wollte nicht wieder von ihm weichen. Nicht mit Schlägen und nicht mit Worten ließ er sich zum Umkehren bewegen. Als Hiero eines Nachts verstohlen von seinem Baumversteck kletterte und sich unter Lebensgefahr fortzustehlen versuchte, hüpfte das blöde Vieh unverzüglich hinter ihm drein, so daß der Ausflug zum Boden erst recht gefährlich wurde. Dieses Manöver versuchte Hiero erst gar nicht mehr. Wenn seine Geisteskräfte intakt gewesen wären, hätte er den Hüpfer auf der Stelle wegzuschicken vermocht. Wenn… Er seufzte und klopfte gedankenversunken die warme, braune Flanke. Das große Tier war ihm in den letzen Tagen richtig ans Herz gewachsen. Daheim in Dalwah hatte Hiero dem Hüpfer ein schwärmerisches Interesse entgegengebracht, mehr nicht. Nun war es eine tiefe Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte – aber natürlich nicht mit dem Verhältnis zu Klootz vergleichbar. Hiero und der große Ellk waren zusammen aufgewachsen, und Klootz' Intelligenz, Ergebnis jahrhundertelanger Züchtung in den Abteien, war Segis Verstand weit überlegen. Man war sich nicht einmal mehr sicher, wie
gescheit die Ellktiere neuerdings eigentlich wurden. Während Hiero sein kärgliches Frühstück verzehrte, fragte er sich, ob Klootz noch am Leben sei. Er vertrieb den Gedanken an Lucare, der als nächstes kam; für müßige Trauer hatte er keine Zeit. Wenige Stunden später zügelte er Segi und spähte unter vorgehaltener Hand zu den Erhebungen im Westen. Sie ritten nun schon eine ganze Weile durch hochstämmigen Wald. Hiero wußte von sich aus, daß sie einen Ausläufer des großen Dschungels, einen Zipfel des südlichen Waldlands erreicht hatten. Die Bäume um sie herum, die in seiner nordischen Heimat durchaus als stattlich gegolten hätten, waren nur Unterholz des echten Waldes, Ausleger des größten Dschungels, den die Erde je gesehen hatte. Das Feuer des Atoms, der ›Tod‹ mit seinen Grauen, hatten unter anderem ein gewaltiges Größenwachstum vieler Pflanzen zur Folge gehabt. Vom Treibhaus-Effekt, wie die Alten es nannten, wohl noch gefördert, hatten insbesondere die großen Bäume der Nördlichen Tropen, von denen man nun sprach, eine auf der alten Erde beispiellose Stattlichkeit entwickelt. Und jenseits dieser Bäume erhoben sich, wie er glaubte, die purpurnen Berge. Wie er sich doch nach ihnen sehnte! Nur sein Charakter und gesunder Menschenverstand hielten ihn davon ab, sein Reittier in ein übermäßig schnelles Tempo zu treiben. Hätte der Metz noch über eine dritte seiner einstigen Geisteskräfte verfügt, wäre ihm sofort aufgefallen, daß er angelockt wurde und keinesfalls aus eigenem Antrieb handelte, obgleich der Gedanke, der ihn seit Tagen mit sanfter, aber unerbittlicher Gewalt südwestwärts gezogen hatte, mit subtiler Raffinesse ausgelegt war. Hiero wußte freilich, daß er schon vor Wochen alle Fähigkeiten – Gedankenlesen, Schilde, Vorhersage und die blanke Kraft seines einst mächtigen Geistes – eingebüßt hatte. Er hatte Mal um Mal versucht, sich vorzutasten, irgendwo und irgendwie zu lauschen, um eine andere Intelligenz ausfindig zu machen. Jeder Versuch war kläglich gescheitert. Die grausige, von Joseato verabreichte Droge hatte nur zu gut gewirkt. Geistig war Hiero so blind wie ein neugeborenes
Kind und vielleicht blinder, falls der Säugling gute mentale Anlagen hätte. Da er geistig so blind war, glaubte er, auch für Außenstehende nicht wahrnehmbar zu sein. Damit hatte er recht, aber nur zum Teil. Die Droge hatte gewirkt – scheußlich genug. Für die übrige Welt und besonders die Unreinen war Hiero geistig eine Null, eine Leere. Nicht einmal Lucare hätte ihn entdecken können. Der Hüpfer war seiner Duftspur gefolgt, konnte er doch mit seiner feinen Nase mehrere Tage alte Gerüche aufnehmen, wozu auch manche Hunde imstande waren. Aber es gab neben den Unreinen andere Intelligenzen, gleichfalls dem ›Tod‹ entsprungen. Hiero wußte das so gut wie kein anderer. Allerdings war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er auf einer Stufe seines Verstandes, die ihm bislang – selbst im letzten Jahr – völlig verborgen geblieben war, nach wie vor erreichbar, nach wie vor brauchbar und verlockbar wäre. Dennoch war dem so. Den ganzen Tag zog er mit Segi langsam, aber stetig, bergan, wobei er dichtes Laub und eng stehende Stämme mied. Dies wurde von Stunde zu Stunde schwieriger. Das Gelände, längst nicht mehr hilfreich, wurde zum Hemmnis. Bodenfalten kamen zum Vorschein, zunächst noch flach, aber zunehmend steiler werdend. Stellten diese Schluchten zuerst auch noch kein großes Hindernis dar, so waren sie doch die ausgestreckten Finger der Berge, die Klammen, durch die der tropische Regen zu Tal stürzte. Viele der Schluchten führten Wasser, obwohl Trockenzeit war. Bei Nachtanbruch schlug Hiero am Rande einer überschaubaren Klamm, durch die in kiesigem Bett ein Wildbach rauschte, das Lager auf. Er fand eine Felsnische im oberen Hang, die er mit herbeigeschleppten trockenen Ästen und Stämmen verbarrikadierte, nachdem er Segi ins Innere geführt hatte. Hier wären sie zumindest einigermaßen sicher. Natürlich standen ringsherum unzählige Bäume, aber Hiero konnte in diesem dicht bewachsenen Gelände den Hüpfer nicht wehrlos auf dem Boden übernachten lassen.
Segi war der Pferch zunächst zuwider, so daß er nervös wurde, beruhigte sich aber, nachdem Hiero ein kleines Feuer angefacht hatte. Am Boden wuchs feines Kraut, und über die Seiten der Nische rankten sich Sukkulenten. Nach dem Fressen legte sich das große Tier schließlich zum Wiederkäuen nieder. Es schien kein Mond, aber die Sterne waren hell. Hiero durchwachte die meisten Stunden der Nacht und studierte die schwarzen Umrisse der Berge, die nun hoch über ihm thronten. Es war ein altes Gebirge, mutmaßte er, mit abgetragenen Kuppen, ohne scharfe Grate und Spitzen wie die schneebekrönten Gipfel im fernen Nordwesten. Stellenweise reichten die Wälder bis zu den Kuppen. Hiero hatte auch schon blanken Fels gesehen, anstelle von Bäumen mit Moos und Farn bedeckt. Er konnte sich denken, daß es hier steile Felswände gab, die nicht leicht zu überwinden waren. Wie in den letzten Tagen, beschäftigte ihn auch nun das Problem mit dem armen Hüpfer. Wie könnte er Segi dazu bewegen, ihn zu verlassen? Solange sie in diesem zerklüfteten, waldreichen Bergland zusammen wären, lebte Hiero selbst doppelt gefährlich. Er mußte sich sowohl um sich als auch den Hüpfer kümmern, denn Segi hatte längst keinen Platz mehr für die gewaltigen Sätze, die seine einzige Verteidigung waren. Zweimal wurden sie in dieser Nacht gestört. Ein starker Raubtiergeruch deutete auf einen Eindringling hin, und der Hüpfer duckte sich schnaubend in die Felsnische und rollte furchtsam die Augen. Er machte keinen Versuch einer Flucht, sondern verließ sich auf seinen Herrn, was in diesem Fall nur klug war. Hätte er sich mit Bocksprüngen zu wehren versucht, wäre ihr Unterschlupf zum Alptraum geworden. Hiero hockte mit bereitgelegten Waffen am Boden und hielt die Augen offen. Bald glitt lautlos eine Pranke mit rotem Fell und mächtigen gelben Klauen durch die aufgeschichtete Holzbarrikade und tastete prüfend nach einem Halt. Das ging zu weit, dachte Hiero! Mit seinem breiten Speerblatt schaufelte er aus dem glimmenden Feuer feuerrote Glut auf die breite, tastende Pranke. Es folgte ein
Augenblick der Stille; dann wurde die Pranke blitzartig zurückgezogen, und statt dessen drang nun gräßliches Gebrüll über die Barrikade, daß dem Metz fast das Trommelfell geplatzt wäre. Mit ebenso ohrenbetäubendem Fauchen und Knurren wälzte und brach das vor Schmerz rasende Tier durch berstendes Gehölz. Während Hiero ein breites Grinsen aufsetzte und der Hüpfer noch schreckensstarr in der Ecke kauerte, verhallte der Lärm talwärts; das Untier suchte das Weite und womöglich Abkühlung im Fluß für seine verbrannte Pfote. Sodann blieb es eine ganze Weile friedlich, und Hiero döste wie sein Reittier, am Boden kauernd; hin und wieder legte er neues Holz auf das Feuerchen. Daß die umliegende Hügellandschaft voller Leben gewesen ist, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Die Nacht hallte wider vom Gekreische der Jäger und Gejagten. Zuweilen wurde nahebei das Tapsen mächtiger Pranken hörbar, woraufhin Hiero automatisch hellwach wurde. Allerdings wurden die meisten Fleischfresser vom Feuer, von der hölzernen Barrikade und dem gemischten Geruch nach Mensch und Hüpfer offenbar abgestoßen. Es hätte sich nicht ausgezahlt, ganz einzuschlafen, was Hiero nie tat. Das war auch besser so, denn der nächste Angriff vollzog sich so sonderbar, daß er gerade wegen seiner Eigenartigkeit um ein Haar gelungen wäre. Der Metz war schon eine ganze Weile auf ein seltsames Geräusch aufmerksam gewesen, bevor er Gefahr witterte. Es handelte sich um ein weiches Flattern, das ihn an schnelles Fächeln erinnerte und von irgendwo links oben zu kommen schien. Bald nah, bald fern, schwirrte es zuweilen so dicht heran, daß das Rauschen des kleinen Wildbachs darin unterging. Freilich war der Laut überhaupt nur dann zu hören, wenn die Stimmen des Urwalds kurzzeitig verstummt waren. Segi schenkte ihm keine Beachtung, falls er ihn überhaupt hörte, sondern döste weiter, aus halb geschlossenen Augen ins Feuer stierend.
Kurz vor dem ersten Morgengrauen vernahm Hiero wieder das näherkommende Geflatter im Dunkeln. Unwillkürlich legte er ein paar Äste aufs niedergebrannte Feuer. Das Geräusch wurde urplötzlich lauter, und der mächtige Flügelschlag erzeugte einen Luftzug in der Nische, in die Hiero und Segi sich duckten, daß die Glut lichterloh aufflackerte und der Mann auf die Beine sprang. Vor Schreck und Staunen sperrte er den Mund auf. In der Luft vor ihm hing schwerelos eine Dämonenfratze mit großen Zähnen in der runzligen Schnauze unter den leuchtenden Augen und faltigen Ohren wie aus gefettetem Leder. Dieser schauerliche Schädel war allein schon so groß wie ein Weinfaß. Als die grausigen Zähne nach ihm schnappten, wich Hiero zurück und riß abwehrend den Speer hoch. Wieder flatterte das Ungetüm und fachte mit seinen zwischen den Fingern ausgespannten Flughäuten das Feuer noch mehr an. Der Hüpfer stieß einen markerschütternden Angstschrei aus bei diesem Bild des Grauens. Nun allerdings stand der Krieger aus Metz bereit. Sein Speer fuhr in mörderischem Bogen hoch. Obschon das fledermausartige Tier schnell auswich, bohrte sich die Spitze tief in die Schulter, wo der große Flügel mit dem Leib verwachsen war. Mit einem unheimlich schrillen Aufschrei stürzte der unheimliche Geselle in das neblige Tal, aus dem er aufgeflogen war. In Sekundenschnelle war der Spuk vorüber, und Mann und Tier starrten verdutzt ins Leere. Nun bemerkte Hiero auch das erste Grau im Osten. Die lange Nacht war vorüber. In unsäglicher Erleichterung sank er auf die Knie, ohne freilich den Speer aus der Hand zu legen. Während der Himmel allmählich heller wurde und die Stimmen der Nacht mit dem nahenden Tag verstummten, kniete er mit geschlossenen Augen vor dem Allmächtigen und dankte aufrichtig für die Rettung vor den Gefahren
der Dunkelheit. Mit vorgehaltenem Speer betete er für die Zukunft, nicht nur die eigene, sondern auch die Zukunft aller Menschen, aller Tiere und der unbändigen Schönheit des Landes. Er flehte um Kraft in kommenden Prüfungen und Beistand für die Seinen. Als dann die ersten Sonnenstrahlen auf den Fels über seinem Kopf schlugen, fiel er endlich in Schlaf. Segi, der mit dem Nahen des Tages alle Schrecken vergessen hatte, spitzte die Ohren und streckte die Zunge nach einem zarten Kraut aus. Er würde Wache halten.
5. Die Spinne und das Netz Als Hiero erwachte, hatte er Kopfweh. Er fühlte sich nicht gerade müde, aber etwas steif und benommen. Ob das von der Feuchtigkeit komme, fragte er sich. Es war nicht kalt, eher warm, aber es nieselte unaufhörlich. Dies hatte ihn schließlich auch geweckt, obwohl er schon oft im Regen, in schwerem Regen, geschlafen hatte. Vielleicht war in der Nacht vom Wildbach mit dem Nebel irgendein Pesthauch aufgestiegen. In der Regel erfreute Hiero sich bester Gesundheit. Jetzt kannte man in der Welt nur wenige Krankheiten im alten Sinn. Einige alte Orte des ›Todes‹ bargen noch die eine oder andere Schreckensseuche, ging das Gerücht, und alle solchen Stellen wurden, wenn bekannt, tunlichst gemieden. Aber abgesehen von gelegentlichem Schnupfen und einem gebrochenen Bein war dem abgehärteten Metz jede Krankheit fremd. Dennoch tat ihm der Kopf weh. Er schüttelte ihn, als wollte er den Schmerz durch rohe Gewalt vertreiben. Es war nicht einmal so schlimm, nur ein dumpfes Pochen, aber weil er so etwas nicht gewohnt war, störte es ihn sehr. Er müßte etwas dagegen tun, überlegte er, falls es nicht bald aufhörte. Daß der Schmerz aus seinem Unterbewußtsein stammte, das in seinem Namen mit einer äußeren Kraft rang, das kam ihm nicht in den Sinn. In seinem geistigen Dämmerzustand, der die angeborenen und erworbenen Fähigkeiten abgelöst hatte, konnte er so etwas natürlich nicht durchschauen. Zunächst verzehrte er sein Mahl und dachte betrübt über Segi und die zurückliegenden Stunden nach. Noch ein paar Nächte wie diese kämen ihnen teuer zu stehen! Segi war ein ausgesprochenes Tagtier, und obgleich Hiero natürlich nachts hätte reisen können, wäre das in dieser unbekannten Wildnis höchst gefährlich gewesen. Beim Gedanken an das fliegende Ungeheuer der Nacht stieß er einen Pfiff aus. Er war noch nie aus der Luft angegriffen worden, es sei denn, er zählte die Riesenvögel hinzu, vor denen er Lucare gerettet hatte.
Aber das war eine künstliche Situation gewesen, denn die Vögel waren von den Menschenbestien zu ihrem Opfer gelockt worden. Diese dämonische Fledermaus war von nichts anderem als ihrer Freßgier gelenkt worden, daran bestand kein Zweifel. Was war das nur für eine Welt, die solche Ungetüme beherbergte, die einem erst in dem Augenblick bewußt wurden, wo sie über einen herfielen! Er ließ seinen Blick durch die Schlucht schweifen, während er Segi sattelte, entdeckte aber in der Luft nur schwalbenähnliche Vögel, die im Dunst des Bachs Insekten jagten. Die Stimmen der Nacht waren endgültig verklungen; nur gelegentlich vernahm man noch ein mürrisches Brüllen, wenn ein Räuber hungrig in sein Lager zurückschleichen mußte. Seltsame Vögel sangen ihre lieblichen Weisen oder krächzten spöttelnd vom Hang herab, während zu all dem der Bach munter murmelte. Nichtsdestoweniger war Hiero äußerst vorsichtig, als er die Barrikade niederriß und Segi ins Freie führte. Bis auf ein paar niedergetrampelte Büsche war von dem Untier, das die Pranke hereingesteckt hatte, keine Spur mehr zu sehen. Der Mann saß auf, und der große Hüpfer ritt gehorsam an und hoppelte über eine Gasse in den hohen Wald, der mit mäßiger Steigung hinauf in die Berge zu führen versprach. Eine ganze Weile später steckten die beiden tief in den Falten und Schluchten des ansteigenden Berglands. Hiero war sich nicht klar, wohin er wollte, und marschierte offenbar recht ziellos durch die Gegend. Sein Kopfschmerz war stärker geworden, aber er schenkte ihm keine Beachtung mehr. Einem Außenstehenden wäre sofort aufgefallen, daß Hiero starrte und eine verwunderte, gespannte Miene aufgesetzt hatte, als würde ihm gerade irgendein Gedanke erklärt. Oder untergeschoben. Unruhig wurde nicht der Mensch, sondern das Tier; insbesondere seitdem sie die letzten Vogelstimmen hinter sich gelassen hatten. Der Sprühregen hatte aufgehört, aber dafür war Nebel aufgekommen und wand sich in dichten Schwaden um sie, so daß rundherum so gut wie
keine Sicht mehr möglich war. Große, moosbedeckte Felsen tauchten im grauen Brodem auf und verschwanden beim Vorübergehen. Anstelle von Bäumen gab es hier mächtige Aronstäbe und breitblättrige, rhabarberartige Gewächse. Überall standen Farne, wovon manche Arten Stämme von mehreren Fuß Durchmesser hatten, die nicht selten so hoch aufragten, daß sie sich im bleiernen Dunst verloren. Der Weg war schlüpfrig, und die Fußballen des Hüpfers glucksten mit jedem Tritt auf dem weichen Boden. Nervös rollte er die Augen, und unentwegt lauschte er mit zuckenden Eselsohren in das Plätschern und Spritzen der Sturzbäche hinein, die von Hangrinnen und hohen Klammen zu Tal schossen. Selbst ein normaler Mensch ohne Hieros Erfahrung als Waldläufer wäre inzwischen unruhig geworden – ob mit oder ohne zusätzliche Geistesgaben. Hiero aber wirkte wie in Trance. Ein Teil seines Verstandes bemerkte geistesabwesend, daß sie sich im Grunde eines tiefen Tales befanden, das langsam höher führte. Dieser Umstand wurde einfach als belanglos registriert. Als Segi unwillig zu prusten begann und zappelig wurde, brachte Hiero ihn sachte wieder unter Gewalt, so daß das Tier zitternd, aber fügsam weiterging. Seine Zuneigung und langjährige Abrichtung beschwichtigten seine Furcht und seinen animalischen Instinkt, daß etwas nicht stimme. So zogen sie stundenlang weiter. Der Boden, vielmehr die Mischung aus Moos und Morast unter ihren Füßen, wurde wieder eben. Die Steigung war überwunden, und bald ging's ebenso langsam wieder bergab. Die Rinnsale, durch die sie hie und da stapften, flossen nun träge in die gleiche Richtung wie die, in der sie zogen. Die Stille war nicht bedrückend. Bis auf ihr Atmen, das knirschende Leder und Segis plätschernde Füße war im sie umhüllenden Nebel alles still. Nur das Rauschen von Wasser aus der Höhe und das Tropfen von den Blättern drang an ihr Ohr. Es war, als hätten sie sich in eine stille Nebelwelt verirrt, eine Welt der Ruhe und Regungslosigkeit, in der Leben seit Anbeginn nur in Form grauer Nebel und stummer Pflanzen existierte. Diese Welt konnte Bewegung und Hektik alltäglicher Laute und Verrichtungen
entbehren, wäre schier daran zerbrochen. Es war ein Stilleben mit Wasser und Pflanzen, Moos und Fels. Dennoch zogen sie weiter, bald durch Morast, bald über blanken Fels, wo nicht einmal das allgegenwärtige Moos sich hatte einnisten können. Der Nebel, teils leicht, teils dicht, umwallte sie nun in immer dickeren Schwaden und verschluckte sogar die Geräusche, die sie verursachten, als wollte er ihnen die ihm innewohnende Ruhe auferlegen. Hiero merkte bald, daß das Tal breiter wurde. Obgleich der Brodem jede Sicht verwehrte, trog ihn sein Gefühl nicht. Sie befanden sich nicht mehr in einer schmalen Schlucht, sondern in einem weiten Kessel, im Herzen der Berge. Hier wartete etwas auf sie, wie es auf unzählige andere gewartet hatte. Hierher waren sie durch die weite Öde gelockt worden – wozu, das wußte nur der Herrscher dieses Nebelreiches. An diesem vermeintlichen Ziel aller Wünsche hielt der gedankenleere Hiero seinen Hüpfer an und blickte sich um, wobei sich sein Erstaunen in Grenzen hielt. Währenddessen lüftete sich der Schleier des Nebels, so daß er das Wasser sah. Vor ihnen lag ein schwarzer, stiller Teich, dessen Ufer im grauen Dunst verborgen blieben. Sie standen auf einer flachen Sandbank, die riffartig ins Wasser ragte und etwas härter war als der moosbedeckte Morast, den sie so lange begangen hatten. Der Grund bestand nicht aus Gestein, sondern aus aufgehäuftem, weißem Material, wobei hie und da spitze Trümmer aus der modrigen Masse abstanden. Knochen, so weit das Auge reichte; moosbedeckte, alte Gebeine, wovon einige noch recht weiß und frisch wirkten. Sie waren auf einen grausigen Friedhof gestoßen! Wie viele Generationen, wie viele Lebewesen der Außenwelt hatten wohl beitragen müssen, um einen solchen Riesenberg verwesender Skelette aufzuschichten: diese Frage hätte nicht einmal der Bewohner des Sees beantworten können. Ohne Unterschied waren die Zeugen der Vergangenheit vereint. Mächtige Schädel mit bröckligen, ellenlangen Stoßzähnen lagen zwischen zarten Hirnschalen der huftragenden Savannengänger.
Schauerliche Pranken, mit Flechten und Schimmel überzogen, zeugten davon, daß auch die Fleischfresser nicht verschont geblieben waren. Die Schenkel und Hufe, die Cranien und Astragali von allerlei kleinerem Getier mischten sich einträchtig mit den riesigen Rippen und Mittelhandknochen der größten Landbewohner. Aus leeren Augenhöhlen starrten die Geister von Reptilien in aller Gelassenheit auf Säugetiere. Die ganze Evolution hatte hier das gemeinsame Schicksal der Sterblichkeit ereilt. Die einzigen Besieger waren Nässe, Moder und brodelnder Nebel. Die einzige Grabschrift war Stille. Ebenso still wie die Gerippe um sie herum warteten der Mensch und sein Hüpfer. Segi hatte sogar das nervöse Zittern eingestellt und wagte sich nicht zu rühren. Hiero saß regungslos wie eine Bronzestatue auf ehernem Roß. Die zwei Köpfe starrten vor sich auf den dunklen See nieder, langmütig wie die sie umringenden Berge. Der kondensierte Dunst tropfte unbemerkt vom ledernen Stirnband des Metz. Er hatte sich des unnütz gewordenen Hutes längst entledigt. Seine dunklen Augen blickten stier aufs Wasser, ohne zu zucken, ohne Regung und Empfindung. Er wartete auf den Ruf. Doch als er kam, geschah dies so seltsam, daß Hiero bebend hochfuhr. Denn er kam in seinem Verstande. Willkommen, Zweibeiner! Du hast eine für euren Zeitbegriff lange Reise hinter dir. Das Tier, das dich trägt, hat dir geholfen, zu mir zu gelangen. Laß es nun stehen! Es hat seinen Zweck erfüllt, einstweilen zumindest. Wir beide jedenfalls können es nicht brauchen. Geh rechts ums Ufer, da wirst du dich wohler fühlen! Wir haben viel zu bereden, wir zwei. Als die Stimme in seinen Verstand drang, wurde Hiero ein anderer Mensch. Äußerlich blieb er, was er seit langem war, ein Gefangener seines Körpers nämlich, dem Willen fügsam, der ihn rief. Aber die seltsame Stimme hatte in seinem Gehirn all die lange ausgefallenen Schaltkreise in Gang gesetzt, die von der Droge der Unreinen eingeschläfert worden waren. Sie ließen sich zwar nicht von ihm steuern, waren aber aktiviert. Er war wieder imstande, alle
Emotionen zu fühlen, den Geist zu spüren, der sich an ihn wandte, mit seinem ganzen Intellekt auf die Zukunft hinzuplanen, den von der Droge angerichteten Schaden zu begutachten; vor allem aber kam er sich nicht mehr wie ein Gefangener im Kerker seines Schädels vor. Dennoch mußte er gehorchen. Er stieg ab, wie befohlen. Der Hüpfer blieb regungslos wie ein Standbild hocken und starrte aus seinen großen, sanftmütigen Augen ins Leere. Hiero ging entlang des dunklen Wassers vorsichtig über die schlüpfrigen, bröckligen Gebeine. Es war keine menschliche Stimme, die ihn geistig wachgerüttelt hatte. In gewisser Weise glich sie dem Haus, diesem pilzartigen, intelligenten Amalgam, das er weiter nördlich in seinem unterirdischen Stollen vernichtet hatte. Die Ähnlichkeit begründete sich auf eine gewisse Kälte und das Alter. Freilich hörte sie dort aber auf. Das Haus war ein tolles, feindseliges Gebilde gewesen, das alles haßte und verabscheute, was nicht der eigenen fauligen Natur entsprach, und sich mit seinen geil wuchernden Sporen die ganze Welt einverleiben wollte. Der Geist hier, ruhig wie sein Bergsee, war ganz anders: entrückt, gleichgültig, ohne Neid und Haß, denn er stand so hoch über allem, daß er sich solchen Banalitäten nicht hingab. Waren tiefe Emotionen vorhanden, so waren sie gut versteckt. Während Hiero über die Stimme nachdachte und versuchte, die hundertfach aufstiebenden Gedanken zu ordnen, die zusammen mit seinem Verstand plötzlich erwacht waren, tapste er weiter über die moos- und flechtenbedeckten Gebeine. Bald erreichte er das Ende und gelangte in eine kleine Bucht am Ufer des schwarzen Sees. Über dem Wasser hing der Nebel in dichten, wallenden Schwaden. Es wurde heller, als die Sonne wieder zum Vorschein kam und sich schillernd im erstrahlenden Nebel brach. Hiero setzte sich auf ein dickes, grünes Moospolster und betrachtete eine schmale graue Felsspitze, die dicht am Ufer im Wasser sichtbar wurde, als der Nebel sich etwas lichtete. Die Stimme
war nun schon seit einer ganzen Weile stumm geblieben, und sein Verstand konnte nichts registrieren. Dennoch wußte er genau, daß der Rufer noch in der Nähe war und er selbst ohne dessen Erlaubnis zu keiner Bewegung imstande wäre. Von der Stelle, von der er gerade gekommen war, drang ein dumpfer Plumpslaut herüber. Ansonsten blieb es still. Hiero auf seinem Mooslager wunderte sich über das Geräusch. Während er noch verdutzt darüber nachdachte, drang mit einemmal die Stimme wieder in seinen Geist. So, Zweibeiner, du ruhst dich aus. Ich entnehme deinem Empfinden, daß du weder Hunger noch Durst hast. Das ist gut, sehr gut. Dann können wir uns unterhalten. Die seltsame Stimme sprach nicht in Worten, sondern in Bildern. Desweiteren kamen diese Vorstellungsinhalte stockend und mühsam und unterschieden sich völlig von der klaren Gedankenverständigung, die Hiero mit dem heimgekehrten Bären und Kameraden Gorm verwenden konnte. Offenbar hatte das Wesen keine oder wenig Übung. War es auch hochbegabt mit allerlei Fähigkeiten, so mangelte es ihm doch an der nötigen Praxis. Du kannst mit mir sprechen, Zweibeiner, wie du's mit keinem sonst kannst, zumindest nicht in dieser Art. Wisse, es ist keiner hier, den du mit Lauten anreden könntest, wie du's mit deinesgleichen tust. An diesem meinen Platz ist sonst keiner mehr. Sprich also mit mir oder gar nicht. Gespannt versuchte Hiero, sich auf dem Gedankenweg verständlich zu machen. Gleichzeitig bemühte er sich, eine Blockade zu errichten, damit derjenige, der ihn angesprochen hatte, nicht in sein verborgenes, innerstes Denken vorstoßen könnte. Wer bist du? sendete er aus. Was willst du? Warum kann ich dich nicht sehen? Wo bin ich hier? Er hätte wetten können, beim Sprecher eine gewisse Belustigung oder wenigstens Ironie zu spüren. Allerdings schien gegen ihn nichts Niederträchtiges, Feindseliges gerichtet zu sein. Gleichzeitig
erkannte er, daß das Wesen recht hatte. Er sendete nur zu ihm. Seine Fähigkeit war nur auf diesem einen »Kanal« wiederhergestellt worden. Abgesehen von diesem unsichtbaren Gesprächspartner war er nach wie vor von der Welt des Geistes abgeschnitten. Viele, viele Fragen, kam zur Antwort. Du brauchst sie nicht alle auf einmal zu stellen. Aber ich will versuchen, sie dir zu beantworten. Du wirst mich schon noch sehen, also laß dir Zeit. Ich habe meine Gründe, damit zu warten. Du bist sehr ungeduldig – aber seid ihr Zweibeiner das nicht alle! Er ging über die eigene Frage achtlos hinweg und fuhr fort: Das ist mein Platz, der einzige Platz, den ich kenne, vielleicht je kennen werde. Ich habe dich hierher geschafft, was dir, wie ich sehe, nicht entgangen ist, indem ich an deinem Denken gezogen habe – sachte zunächst, aber mit allmählich zunehmender Kraft. Denn ich erkannte deinen Geist als einen, der anders war als alle anderen, die ich bisher erlebt hatte. Viele Neuund Vollmonde sind verstrichen, seit der letzte Zweibeiner hier bei mir war. Es ist schon so lange her, daß ich's vergessen habe. Schien mir nicht wichtig. Es kamen nur sehr wenige, und ihr Geist war blind und töricht, unvernünftig und schreckhaft. Da ich ihren Geist nicht erreichen konnte, habe ich ihnen schließlich den Frieden geschenkt. Ihr sogenannter Verstand war blutrünstig, furchtsam und grausam zugleich, wie's die einfachen Tiere, die zu mir kommen, nicht sind. Wie diese sind sie nicht mehr. Hiero dachte an den moosbedeckten Knochenberg. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Wie lange hauste dieser unsichtbare Bewohner schon hier, und meinte er mit ›Frieden geschenkt‹ und ›sind nicht mehr‹ dieses modrige Beinhaus? Das Wesen, das zu ihm sprach, entdeckte seine Furcht sofort. Hiero wußte, daß er in seiner jetzigen Verfassung nicht in der Lage war, auch nur den geringsten eignen Gedanken abzuschirmen. Fürchte dich nicht! sagte die Stimme mit erstaunlichem Nachdruck. Du bist von keinem Nutzen für mich, wenn du wie die übrigen Vertreter deiner Gattung in Panik gerätst. Ich will dir nichts
Böses. Als ich die Kraft deiner Gedanken spürte, welche die Atmosphäre versengten – denn obgleich dein Geist gebrochen und stumm gemacht worden ist, gewahre ich seine verlorene Macht –, versuchte ich, dich hierherzuziehen. Du warst sehr weit weg, Zweibeiner, und ich konnte dich gerade noch aufspüren. Unter Aufbietung aller Sinneskräfte konnte ich dich eben noch erreichen. Es hat mich erschöpft – ein Gefühl, das ich noch nicht gekannt habe. Als ich deinen Verstand endlich fand, war er blockiert, abgesperrt von allen äußeren Gedanken, selbst den meinen. Der Sprecher machte eine Pause, als suchte er nach einer Formulierung für ungewohnte oder gar völlig neue Gedankengänge. Aber diejenigen, die deinen Verstand vor der übrigen Welt verschlossen haben – denn ich sehe, das wurde dir unfreiwillig und nicht zu deinem Vorteil zugefügt – wußten nichts von mir. Diese Bemerkung war nicht ohne einen gewissen Stolz gefallen, wie Hiero erkannte. Eine große Leistung, der die Stimme sich durchaus rühmen konnte. Ich fand eine kleine Stelle, die nicht von der Blockade betroffen war, ein Loch, könnte man sagen. Und in dieses Loch schickte ich meinen Gedanken, der dich zu mir rief. Es beanspruchte viel Energie. Ich habe immer Hunger. Sogar jetzt nach dem Mahl bin ich hungrig. Ich muß mehr Nahrung anlocken, ehe wir weiterreden können. Auch du, Zweibeiner, mußt essen und ruhen. Geh zurück an den Platz von vorhin und hol die Speise, die du mitgebracht hast; dann kehre hierher zurück und iß und ruhe dich aus! Später können wir weitersprechen. Hab keine Angst! Hier herrsche ich allein, und kein Feind oder Tier kann ohne mein Wollen kommen oder gehen. Gegangen ist noch keiner. In Hieros Verstand wurde es still. Die Stimme war weg. Beim Gedanken an die letzte Äußerung schauerte ihm. »Gegangen ist noch keiner.« Sollte dies auch sein Schicksal sein? Sollte er, von einem namenlosen Wesen tief ins Gebirge gelockt, einsam in diesem See des Nebels vergehen müssen, ohne seine Mission erfüllt zu haben und ohne daß Lucare und die Seinen je davon erführen? Er
bekreuzigte sich. Wenn er je den Schutz des Herrn gebraucht hatte, so jetzt. Nicht die Furcht vor seinem Los und nicht einmal, daß er allein und verlassen sterben müßte, setzten ihm zu, sondern die Vorstellung, so viel auf sich genommen und überwunden zu haben, nur um ein so miserables Ende zu nehmen. Als er jedoch über die Vergangenheit, sowohl die jüngere als auch ältere, nachdachte, schöpfte er neuen Mut. Er besann sich auf die abertausend Meilen, die er aus seiner nordischen Heimat gekommen war, die Erfolge, die ihm beschieden waren, die Feinde, die er besiegt hatte, und insbesondere auf die Frau, die er gerettet und für sich gewonnen hatte. Das war genug. Er war immer noch ein Mensch, seit seiner Jugend zum Kämpfer erzogen. Ein Krieger weiß, wann er kämpfen und wann er warten und der Dinge harren muß. Das Wesen, das er nicht leibhaftig gesehen hatte, hatte ihm kein Haar gekrümmt, sondern sich nur irgendwohin zurückgezogen. Es hatte ihn zum Essen und Ruhen aufgefordert. Also gut, so wollte er das denn tun. Gestärkt und erfrischt, würde er dann schon sehen, was als nächstes zu tun wäre. Hiero machte sich auf den Weg zurück zu der Stelle, wo er den gebannten Segi zurückgelassen hatte. Obwohl es heller geworden war und der Regen aufgehört hatte, hatte er Mühe, auf dem Pflaster aus zersplitterten, gebrochenen und schleimig-schlüpfrigen Knochen zu gehen. Er sah vor sich auf der ›Sandbank‹ einen braunen Haufen und meinte, Segi habe sich hingelegt, obschon der Hüpfer im Nebel eigentümlich kurz wirkte. Dann erkannte er mit Entsetzen, daß das Tier überhaupt nicht da war. Er fing trotz des schlechten Bodens zu laufen an und gelangte keuchend zu dem, was er mit Segi verwechselt hatte. Zu seinen Füßen lagen Sattel und Zaumzeug, komplett mit Zügeln, Stiefeln, Speer und Satteltaschen. Aber von dem braven Tier, das ihm so weit gefolgt war und ihn so geduldig getragen hatte, fehlte jede Spur. Der Hüpfer war verschwunden, als hätte er sich selber das Geschirr abgelegt, um ein kühlendes Bad im
See zu nehmen. Überall auf dem Leder klebte ein klarer, geruchloser Schleim. Hiero zog das große Hausmesser, wirbelte herum, und kehrte sich dem See zu. Nun fiel ihm das dumpfe Plumpsen wieder ein, das er in der moosbedeckten Bucht, in die er gebeten worden war, vernommen hatte. Jetzt wußte er, woher es gerührt hatte! Du Verfluchter! tobte er in seinen Gedanken und schleuderte das Signal so wuchtig, wie er konnte. Komm und schnapp mich! Hör auf mit dem Versteckspiel! Hier steht einer, der sich wehren kann, kein armes dummes Vieh, das dir nichts getan hat! Los, hier steht ein Mann, also trau dich, du Kröte, du…! »Komm, ich warte!« Hiero war so wütend, daß er sein Schwert drohend gegen das Wasser schwang und den letzten Satz laut brüllte. Er bebte vor ohnmächtiger Wut über den feigen Mord am hilflosen Segi, denn er war sich sicher, daß das Tier nicht nur abgemurkst worden war, sondern auch keinerlei Möglichkeit gehabt hatte, sich zu wehren. Aus dem stillen Wasser kam keine Antwort. Keine Welle trübte die glatte Oberfläche; der glitzernde Nebel, bald grau und weiß, bald golden schimmernd, zog ruhig wie eh und je über den Teich, dessen anderes Ufer nicht zu erkennen war. Bis auf das immerwährende Tropfen der Wasserperlen von den Felsen und Blättern blieb alles regungslos. Hiero kämpfte seine Wut nieder. Er war mit süßen Worten eingelullt worden, während Segi in irgendein grausiges Lager verschleppt worden war, um einem widrigen Ungetüm zum Fraß zu dienen. Das erboste ihn. Bald wurde sein flammender Zorn jedoch von einer neuen Empfindung, einem kalten Unwillen, abgelöst. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Sie waren von einer Macht hierhergelockt worden, die sich rühmte, kein Opfer entkommen zu lassen. Sein unseliges Reittier hatte Hiero sein Leben anvertraut – und es verloren. Da sein Gedächtnis wieder in Bestform war, erinnerte er sich ohne Mühe daran, wie Segi versucht hatte, ihn auf dem langen Weg ins Gebirge zu warnen, indem er bockend und
schnaubend alles versucht hatte, seinen Herrn auf die Gefahr aufmerksam zu machen und zum Handeln zu bewegen. Aber gefühllos, betört, gebannt von dem hier lauernden Unding, hatte Hiero das arme Tier einfach weitergetrieben. Und das war die Folge! Nun denn, wie vorhin wollte er einfach dem Rat des Wesens folgen. Er nahm aus der Satteltasche Dörrfleisch und genießbare Wurzeln und aß, wobei er das Wasser keinen Moment aus den Augen ließ. Obschon er nicht damit rechnete, daß etwas aus dem stillen Teich auftauchen würde, ahnte er, daß Segis Würger von dort gekommen war. Die knochenübersäte Sandbank war dafür Beweis genug. Seit Jahrhunderten wohl rief die Stimme, die auch ihn angelockt hatte, ihre Beutetiere herbei, und dieser See war nicht aus Zufall ihr aktives Epizentrum. Hiero hatte keine Möglichkeit, das Wesen jetzt zu erreichen, wäre aber zumindest darauf gefaßt, wenn es zurückkäme. Denn es kam bestimmt zurück. Am moosigen Ufer suchte er sich sorgsam eine trockene Stelle. Im schwindenden Tageslicht – denn er spürte, daß hinter dem Nebelschleier die Sonne unterging – streckte er sich auf dem Boden aus. Sein Speer lag über der Brust und sein Schwert griffbereit daneben. Freilich war ihm klar, nachdem er den ersten Zorn verwunden hatte, daß ihm materielle Waffen wenig nutzen würden. Er sah sie als ein Symbol für seine Bereitschaft, mehr nicht. Daß sein Speer mit dem Querzinken am Blatt die Form eines Kreuzes hatte, bestärkte ihn zusätzlich mit der Gewißheit seines Glaubens. Er wurde mit einemmal schläfrig, fand aber daran nichts seltsam. Als die Nacht anbrach, vergaß er nicht, seine Gebete zu sprechen, wobei er darin auch des guten Tiers gedachte, das ihm bis zuletzt treu gedient hatte. Draußen in den dunklen Wassern des Sees lauschte jemand seinem Beten – jemand Fremdartiges und Einsames. Als Hiero erwachte, war es schon Vormittag, wie ihm seine innere Uhr verriet. Der Nebel war viel dünner als tags zuvor, und die Ufer reichten, wie er nun sehen konnte, weiter, als zunächst vermutet.
Zwar war der Himmel darüber noch bedeckt, aber das Licht der Sonne fiel golden, wenn auch spärlich, durch den wallenden Brodem. Er gähnte und streckte sich; als ihm die Ereignisse des Vorabends wieder in den Sinn kamen, flackerte sein Zorn von neuem auf. Er zog die Knie an, legte sich den Speer über die Arme und blickte finster übers Wasser, das nun silbergrau im hellen Morgen vor ihm lag. Auf seinen Zornausbruch erhielt er sofort Antwort. Ich habe dir unrecht getan, wie ich sehe, verkündete die Stimme in seinem Kopf. Ich habe Einblick in dein Denken erlangt, während du geschlafen hast. Dies gelingt mir nicht so mühelos wie im wachen Zustand. Doch als dein Verstand geruht hat, habe ich in den dunklen Stunden großen Zorn gegen mich entdeckt. Daß ich das Tier, das dich hergetragen hat, getötet habe, das stimmt. Daß ich gewußt habe, damit deinen Zorn zu erregen, stimmt nicht. Zwischen dem Tier und dir hat irgendeine mir unfaßbare Bindung bestanden. Dennoch war es keineswegs dein Freund. Es hat dich getragen wie eine Last, was ihm kaum behagt hat, obschon's für dich bequem gewesen ist. Es trug dich so, wie ein großes Tier ein kleines, das sein Blut saugt, trägt. Dennoch hat es dir weiter nichts verschafft als ein etwas schnelleres und müheloseres Vorankommen. Es folgte eine kleine Pause, als würde der Sprecher mit einer Formulierung ringen. Schließlich sagte er oder schickte er: Ich verstehe den Grund für deinen Zorn nicht, will aber alles in meiner Macht Stehende tun, um Wiedergutmachung zu leisten, falls du mir eine Erklärung für das Ganze gibst. Aus Gründen, die einem Nicht-Telepathen schwer verständlich zu machen wären, verpuffte Hieros Zorn augenblicklich. Er wußte auf der Stelle, daß der Sprecher die Wahrheit sagte. Sein langjährig geschulter und insbesondere in der jüngsten Vergangenheit erweiterter Verstand irrte nicht. Das unsichtbare Wesen, das sich ihm mitteilte, log nicht. Alles, was es sagte, stimmte in seiner Sicht. Es stand wirklich vor einem Rätsel. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier war ihm völlig schleierhaft. Der alte, kühle – warum dachte er nur an dieses Adjektiv? – Verstand, der ihn befragte, war wirklich
verdutzt. Er wollte eine ehrliche Antwort! Hiero legte fast unwillkürlich den Speer weg und stand auf. Am Ende der ›Landzunge‹ kräuselte sich das Wasser. Die unsichtbare Stimme hatte einen Besitzer. Und dieser Besitzer würde sich nun endlich zeigen, wie die Stimme versprochen hatte. Eine rundliche, glänzende, braune Masse hob sich zunächst kuppenartig aus dem Wasser. Es war der Deckel eines riesigen Schädels mit einem Durchmesser von mehreren Ellen. Dann kamen große, runde Augen mit braunen Pupillen und gelbem Rand zum Vorschein. Über den Augen hafteten zwei fleischige Klumpen, die sich ausstreckten und beim Auftauchen schließlich als lange hornige Tentakel entpuppten. Ihre Haut war wie die des Kopfes weich, aber rauh, und braun marmoriert. Es fehlte die Nase, und der Mund bestand nur aus einem Schlitz unter dem kinnlosen Gesicht. Ohren waren ebenfalls nicht vorhanden. Vor den Augen des verblüfften Menschen hob sich der Kopf auf dem glatten, säulenartigen Hals höher und höher; bald neigte sich das Haupt und blickte zu ihm herab. Das Wasser verdrängend, glitt das Gebilde langsam näher. Als es ans Ufer gelangte, hob sich der Hals noch mehr, und ein dicker werdender Leib folgte. Als der Leib ein Stück aus dem Wasser ragte, hielt er inne und kam nicht weiter heraus. In Sturzbächen strömte das Seewasser vom ruhenden Leib. Nun siehst du mich mit eigenen Augen, Zweibeiner, ohne dich zu fürchten wie die unzähligen andern, die mich bislang gesehen haben. Hiero schaute zum Titanen auf. Ganz abgesehen von seinen Geisteskräften, die Hiero für gewaltig einschätzte, hätte er einen Buffer wie eine Ameise zermalmen können. Daß der größere Teil des Leibes noch unter Wasser lag, daran bestand kein Zweifel. Er hatte sich zu diesem Plausch einfach mit dem Vorderteil auf den Fels gestützt. Allem Anschein nach besaß er keinerlei Gliedmaßen, es sei denn, man zählte die fühlerartigen Auswüchse dazu, die sich über den Augen reckten und streckten. Es herrschte eine Weile Stille, während die beiden sich musterten.
Der Mensch nun schickte die nächste Botschaft – eine einigermaßen wirre. Wer bist du? Was bist du? Den du getötet hast, das war mein Freund. Er vertraute mir und kam auf mein Geheiß hierher, obschon er nicht wollte. Weißt du, was ein Freund ist! Noch während er zum mächtigen Verstand vor sich sprach, erkannte er, daß er die letzte Frage natürlich selbst beantwortet hatte. Viele, viele Fragen hat der kleine Zweibeiner wieder. Da Hiero den Erzeuger der Gedankenstimme nun sehen konnte, schienen seine Worte in seinem Kopf zu tönen und zu hallen, was er sich nur einbildete. Ich hab' mir nie Gedanken darüber gemacht, wer ich bin, fuhr der Teichkoloß fort. Ich war stets allein. Mir ist klar, daß Möglichkeiten der Unterscheidung erforderlich sind, wenn es von einer Rasse viele gibt. Aber einen wie mich gibt's kein zweites Mal. Nenn mich, wie du willst. Ich weiß, wer gemeint ist. Daran schloß sich anscheinend eine Pause an. Was ich bin, das kann ich nicht mit Gewißheit sagen. Mein Gedächtnis reicht weit zurück, Zweibeiner – weit zurück in die Zeit, wo ich noch nicht denken konnte. Zurück in die Zeit meiner Anfänge, wo ich nicht denken, sondern nur fühlen konnte! Ich war – muß gewesen sein – ein dummes Tier, eins von dem blöden Vieh, das mir nun als Nahrung dient, dessen Gebeine das Ufer bedecken. Hiero fragte sich, wie lange es gedauert haben mußte, einen solchen Berg von Skeletten aufzuhäufen. Das Wesen aus dem Teich schnappte seinen Gedanken auf. Ja, es hat lange gedauert. Länger, als du denkst! Denn die Knochen, die du siehst, sind nur die Jüngsten. Das ganze Ufer, auf dem du stehst, und alles um dich herum, so weit das Auge reicht, besteht aus Knochen, von Moos und Pflanzen überwuchert. Als ich zu fressen begann, gab es hier nichts als blanken Fels!
Hiero machte große Augen. Wieviel Zeit verflossen sein mußte, damit aus den Gebeinen Bett und Ufer des Sees entstehen konnten! So viel Zeit, versetzte sein Gegenüber, das wiederum den Gedanken aufgelesen hatte, daß ich, der ich nie die Gabe der Zeitmessung beherrschte noch ihrer bedurfte, nicht sagen kann, wie lange. Aber ich kann mich dunkel an etwas erinnern: nämlich an Furcht! Selbst ich, der Einzige, habe Furcht gekannt. Es war ein großes Feuer am Himmel, durch das kleinere Feuer schlugen. Die Erde bebte, und die Gebirge stürzten zu Tal. Es wurde so heiß, daß die Luft schier brannte. Es war eine eigentümliche Hitze, wie man sie sonst nicht kennt; also nicht diejenige, die bei Unwetter vom Himmel schießt, denn diese Hitze kenne ich gut. Erstere, die Hitze von dereinst, machte alles Wasser warm. Ich mußte den See verlassen und mich tief ins Gestein verkriechen. Schließlich getraute ich mich wieder hervor zum Licht und zum kühlen Wasser. An all dies besinnt sich mein Körper, nicht aber mein Verstand. Verstehst du, Zweibeiner? Erst damals sagte ich mir: »Ich bin.« Und ich war noch nicht einmal so groß wie du und trug etwas mit mir herum, das an mir festgewachsen und zu meinem Schutz unerläßlich war. Das ist schon eine Ewigkeit her. Und als ich lernte, Nahrung zu beschaffen, denn ich brauchte ungleich mehr, legte ich ab, was ich mit mir herumtrug. Ich war zu groß geworden dafür. Dennoch bewahrte ich es auf, denn es war das einzige Erinnerungsstück an die alten Zeiten, die Tage der Furcht, als ich zitterte und die Berge bebten. Ich hab's noch, denn ich verwahre es sicher in meinem Körper. Vielleicht wird es dir von meinem Alter und von den davorliegenden Zeitaltern künden. Der riesige Hals schien sich zu kräuseln, als streckte sich der Leib. Der Metz konnte beobachten, wie sich eine nicht besonders große, aber deutliche erhabene Ausstülpung in der weichen, schleimigen, braun marmorierten Haut bildete. Von der Stelle, wo der Leib aus dem Wasser ragte, wanderte der Hautsack nach oben, bis er in der Höhe von Hiero angelangt war. Daraufhin teilte sich die Haut einfach, und das, was die Beule aufgewölbt hatte, kam zum
Vorschein. Es lag auf dem mächtigen Leib und glänzte im weichen Licht, das durch den Nebel drang: ein hübsches, goldenes Schneckenhaus, nicht größer als eine Melone.
Vor den Augen des Priesters teilte sich die Ausstülpung abermals, woraufhin das Schneckenhaus verschwunden war. Er hätte beinahe gelächelt, wäre er nicht so verdutzt gewesen. Eine Schnecke! Dieser Berggott, dieser uralte Titane war eine Schnecke! Seine Verwunderung wurde rasch wieder von nüchternem Denken abgelöst. Was immer dieses Wesen sein mochte, es war sicherlich nichts Verabscheuungswürdiges. Was hatte es nicht alles gesehen! Es war ein Kind des Todes! Denn was waren das Feuer und die Hitze, die huschenden Lichter und die erschütterten Berge anderes als die lebendige Erinnerung daran, was vor unzähligen Jahren die Erde zerstört hatte? Seit jener Zeit hauste dieses Geschöpf in diesen Bergen, wuchs und gedieh, erwarb Weisheit, indem es aus Erfahrung lernte, forschte und grübelte und suchte nach Wissen. Und stets war es allein! Was war das wohl für ein Leben, dieses Leben in jahrtausendelanger Einsamkeit? Hiero bekam Mitleid mit ihm. Er hatte den lebenden Beweis für die These von Bruder Aldo und seinen Elfern vor sich, daß nämlich alles Leben einen Zweck habe? Die Frage war nur, welchen Zweck dieses Wesen hatte? Während er diesen Überlegungen nachhing, wurde er von den großen Bernsteinaugen ohne Lider oder Wimpern beäugt. Und das Gehirn des Riesen war durchaus logisch und verfügte über intakte Erinnerungen der jüngsten Vergangenheit. Zweibeiner, ich habe versucht, dir zu erklären, was ich bin. Wie ich sehe, hast du verstanden, worüber ich froh bin. Trotzdem ist da noch die Sache mit dem Tier, das dich auf seinem Rücken getragen hat. Ich hab's gegessen. Ich entfernte die Dinge, die an ihm waren, denn ich dachte, sie gehörten dir und du brauchtest sie noch. Dann zog ich es ins Wasser. Es spürte nichts, sondern sank in tiefen Schlaf. Und ich aß es. Das tu' ich schon, seitdem ich denken kann. Ich wollte und will dir nichts Böses. Ich wünschte, ich könnte das Tier wieder lebendig machen. Du sollst mir nicht grollen, Zweibeiner, denn ich habe dich nicht hierhergeholt, um dir etwas zuleide zu tun. Ich will
sprechen, endlich zum ersten Mal mit einem anderen sprechen, Gedanken austauschen; nur deshalb habe ich dich hergelockt, wie ich seit alters her Beute anlocke. Obgleich ihn Segis Tod schmerzte, verwarf Hiero nun jeden Gedanken an Rache. An Segis tragischem Ende hatte letztendlich keiner Schuld. Die Riesenmolluske könnte ihm in dieser – und wohl keinerlei – Hinsicht irgend etwas vormachen. Sie hatte keine Erfahrung im Lügen. Wieso sollte sie auch ihre Absichten verbergen? Die Zeitalter, die sie durchlebt hatte, verliehen ihren Äußerungen genügend Beweiskraft. Gefühle waren diesem Wesen, das Jahrtausende ohne Gefährten verlebt hatte, völlig fremd. In all den einsamen Jahren hatte sie nur eine Sache vor dem sicheren Wahnsinn aus Langeweile bewahrt: Neugier auf die Außenwelt, der Drang, in Erfahrung zu bringen, was es sonst noch gäbe neben dem abgelegenen Bergsee, der der Vergessenheit anheimgefallen war. Hiero, selbst all sein Lebtag auf der Suche nach Weisheit, verstand den wißbegierigen Titanen nur zu gut. Er wollte niemandem weh tun, sondern schlicht mit dem ersten Geist, den er in seinem langen Leben aufgespürt hatte, in Verbindung treten. Er überlegte rasch: Du sagst, unwissentlich mein Tier getötet zu haben, das mir teuer war, obwohl du so etwas nicht verstehen kannst. Ich denke, ich glaube dir. Aber neben dieser zugegebenermaßen unbeabsichtigten Tat hast du auch davon gesprochen, den angerichteten Schaden wiedergutmachen zu wollen. Vielleicht hast du mehr angestellt, als du ahnst, denn wisse, ich bin auf einer Mission, einer Reise. Eile tut not, damit meine Feinde, die Feinde alles Guten, die Ziele, die sie sich gesetzt haben, nicht erreichen. Von diesem Weg hast du mich abgelenkt, indem du mich unzählige Meilen von meinem eigentlichen Weg, der im hohen Norden liegt, fortgelockt hast. Dies spricht neben dem Tod des Hüpfers zusätzlich gegen dich, wenn du ehrlich bist. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich habe die Wahrheit gesagt, wenn wahr ist, was ich glaube. Aber ich habe keine Möglichkeit, die Wahrheit abzuwägen, wie du es nennst, obschon ich
erkenne, daß du's kannst und daß unzählige andere es können. Paß auf! Das Wesen machte wieder eine Pause; Hiero wußte nun, daß dies seine Art war, seine Gedanken in Ordnung zu halten. Er mochte keine Unordnung, dieser einsame Geist. Und während Hiero dies dachte, trat beinahe ungewollt ein Name über seine Lippen: »Solitär.« Die große, kühle Stimme hallte von neuem durch die endlosen Windungen seines Verstandes. Aha – du hast mir einen Namen in den Klängen deiner Sprache erteilt! Ich, der ich nie einen Namen hatte oder brauchte, nehme ihn an. Solitär! Zum großen Erstaunen des Menschen tauchten in seinem Verstand die Buchstaben des Wortes in bester Metz-Schrift auf! Der Titane jedoch übermittelte unbeeindruckt weitere Botschaften. Ich habe schon viel, sehr viel von deinem Verstand gelernt. Während du geschlafen hast, habe ich alles Wissen, das er ohne weiteres hergegeben hat, übernommen. Ich habe das Gefühl – und das ist an sich schon etwas Neues –, daß du verstehst, was dies für mich bedeutet. Ich habe neue Gedanken, neue Konzepte in Hülle und Fülle! Seine Begeisterung dröhnte wie der Freudenschrei eines Riesen durch Hieros Kopf. Nun hör, was ich herausgefunden habe, während du geschlafen hast, Hiero! Wieder prägte sich der Name in richtigen Buchstaben seinem Denken ein. Ungeachtet der Verwunderung des Menschen wurde der Gedanke aber fortgeführt. Es besteht ein Risiko, aber nur ein kleines, wie ich meine. Dem steht der gewaltige Gewinn für dich gegenüber, falls du gewillt bist, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenn du die Kraft und den Willen dazu hast, mir auch weiterhin zu vertrauen und zu glauben, daß ich dir nichts Böses, sondern nur dein Bestes will, dann kann ich vielleicht – aber nicht sicher, denn ich weiß eigentlich noch zu wenig – deinem Verstand helfen.
Der Metz hatte sich wieder gesetzt und ruhte behaglich auf einem Polster aus tiefem Moos, während er zu den suppentassengroßen Augen über sich aufschaute. In seinem Kopf freilich ging's hoch her, als er die letzte Bemerkung registriert hatte. Meinem Verstand helfen? Seine schwarzen Augen blickten unruhig zum dunstigen See, dann wieder zu ihm. Mein Verstand – wenn du damit meine Geisteskräfte meinst, die Fähigkeit, in die Ferne zu sehen, mit anderen in Verbindung zu treten – ist tot. All das ist einer von meinen Feinden verabreichten Droge zum Opfer gefallen. Dies ist der hauptsächliche Grund, warum ich durch die Wildnis irre und nicht in offenem Kampf mein Volk ins Feld führe. Wie du, Solitär, selbst gesagt hast, kannst du nur durch einen kleinen Spalt mühsam in meinen Verstand vordringen. Was genau meinst du denn damit? Die große, ruhige Stimme versetzte beschwichtigend: Ich meine damit folgendes, mein… – es folgte ein fast scheues Zögern – Freund. In der endlosen Zeit seit dem ›Tod‹ – wie ihr es nennt, das schreckliche Feuer, das euer Volk einst entfesselt hat; ich weiß nun, daß ihr es wart, mögt ihr auch wie Zwerge erscheinen – habe ich notgedrungen viele Erfahrungen gesammelt. Ich lockte die niederen Tiere nicht einfach nur zum Verspeisen an, obgleich das zunächst der einzige Grund war. Ich hab' mehr mit ihnen gemacht – so auch mit den Pflanzen. Dein Wort dafür lautet: ›Studien‹. Wieder erschienen die flammenden Buchstaben dafür in Hieros Verstand. Du hast Knochen in dir, warmes Blut, behaarte Haut. Du bist zu flinken Bewegungen imstande. All das unterscheidet dich nicht so sehr von dem Tier, das dich getragen hat. Und von den anderen, die in Scharen hierhergezogen sind. Ich habe in ihren Verstand geschaut, Hiero, und dabei viel gelernt. Ich kann Sachen machen, die du noch nicht erlebt hast, Sachen mit meinem Körper, die ich mir selbst beigebracht habe. Denn als ich anfing zu wachsen, wurde mein Verstand schwächer. Nachdem das Feuer erloschen und ins Bergland wieder Leben eingezogen war, kamen auch viele große Tiere, wovon bestimmt einige wie ich zu neuem Leben gelangt waren.
Ich war damals nicht allein im Herzen dieses Gebirges! Es kamen Tiere, die hungrig nach Nahrung suchten wie einst, als ich noch klein gewesen war und meinen einzigen Schutz mit mir herumgetragen hatte – lang war's her! Aber ich ergründete meinen Körper und lernte diesbezüglich eine große Wahrheit. Nämlich daß einer wie ich in der Lage ist, die kleinsten Lebenseinheiten, die du ›Zelle‹ nennst, zu formen! Ja, wie die winzigsten und niedrigsten Tierchen, die um mich herum im Wasser treiben! Gebannt verfolgte Hiero von seinem Platz aus, was nun folgte. Daß so etwas möglich wäre, überstieg sogar seine kühnsten Träume. Aus dem mächtigen Hals, wenn man bei Solitär überhaupt von einem Hals sprechen konnte, wölbte sich wie beim Schneckenhaus wieder eine Ausstülpung hervor. Diesmal war sie allerdings ungleich größer. Sie schwoll an und verdickte sich wie der Stamm eines mächtigen Baumes. Bald war der Tentakel oder falsche Rüssel tatsächlich lang wie der Stamm eines solchen Baumes. Er schwang über dem Kopf des Menschen durch die Luft; von der sich verjüngenden Spitze, nicht dicker als eine Männerfaust, tropfte kühles Teichwasser auf den Zuschauer. Schließlich peitschte der Fühler nach unten, daß es Hiero buchstäblich den Atem verschlug. Er spürte einen kalten Ring an seinem Handgelenk und zappelte im nächsten Moment schon hoch in der Luft, mitten vor dem großen Kopf und keine Handbreit davon entfernt. Binnen eines Augenblicks kauerte er wieder auf seinem Moospolster, während der mächtige Rüssel über ihm hin und her fuchtelte. Sein Griff war zart wie der Kuß seiner Liebsten gewesen. Dann sauste der unglaubliche ›Arm‹ übers Ufer zu der Stelle, von der Hiero gekommen war. Im Bruchteil einer Sekunde war er zurück und hielt den vergilbten Schädel eines längst verblichenen, dreifach mannsgroßen Tiers umschlungen. Ganz beiläufig warf er den Kopf davon, so daß er wie von einem mächtigen Katapult davonflog. Nach einer Weile klatschte er weit außerhalb von Hieros Blickfeld aufs Wasser. Solitärs Stimme polterte durch Hieros Kopf, und diesmal
bestand kein Zweifel – sie drückte Belustigung und Befriedigung zugleich aus. Selbst wenn die großen Tiere meinen Gedanken nun widerstehen könnten, Hiero, so habe ich doch einige andere Möglichkeiten, mich zur Wehr zu setzen, um nicht verspeist zu werden! Aber paß auf, was ich dir jetzt noch zeige! Der gewaltige, braune Pseudorüssel näherte sich bis auf eine Handbreit der Hakennase des Menschen. Langsam wurde sein Ende immer dünner und länger. Bald war es nadelspitz, feiner als die feinste chirurgische Sonde, die Hiero je zu Gesicht bekommen hatte. Doch das eigentliche Wunder folgte erst. Als es so dünn geworden war, daß Hiero es mit den Augen kaum mehr wahrnehmen konnte, glitt es so dicht vor sein Gesicht, daß sein rascher Atem es wärmte. Aus der blanken Spitze sprossen nun drahtähnliche Ranken. Hiero mußte die Augen zusammenkneifen, um die haarfeinen Gebilde überhaupt noch zu erkennen, wobei er sich nicht sicher war, ob er sie sah, so ätherisch wirkten sie. Jedes davon vollführte eigene Bewegungen, doch war genauso kontrollierbar wie die Fühler oder anderen Körperteile der gigantischen Molluske. Eine verwegene Idee nahm in Hieros Verstand Gestalt an – so kühn, daß er sie verworfen hatte, noch ehe sie sich ganz entwickeln konnte. In seinem Kopf setzte sich die mächtige Botschaft freilich dennoch durch. Ja, du hast meinen Vorschlag verstanden. Lang ist's her und längst vergessen, da habe ich so etwas aus meinem Körper geschaffen. Ich, der ich keine Hände habe, keine Gliedmaßen wie du, mußte mir notgedrungen selber welche machen! Es dauerte viele Leben wie das deine, Hiero, so viele, daß ich dich gar nicht damit langweilen will. Stück für Stück, Versuch um Versuch lernte ich, diese aus meinem Fleisch gemachten Werkzeuge zu benutzen. Paß auf! Die drahtförmigen Ranken schienen zu schwinden. Aber an der Stelle, wo sie sich gewunden hatten, zeigte sich ein schwaches
Glitzern, das das Auge gar nicht mehr richtig erfassen konnte, ein gerade noch erkennbares Flimmern. Du kannst sie nicht mehr sehen – oder vielleicht doch. Jedenfalls sind sie noch da und unter meiner Kontrolle; sie sind so winzig, daß sie, von den glättesten und härtesten Steinen vielleicht abgesehen, fast alles durchdringen können. Hiero wartete ab; er konnte sich denken, was gleich kommen würde. Doch die kleinen, ach so kleinen Öffnungen deines Körpers, deiner Haut, wie du sie nennst, und gleichfalls durch die Knochen darunter können sie mühelos hindurch. Wenn du einverstanden bist, Hiero, mein erster Freund, mein erster Denkpartner, will ich damit in dein Gehirn eindringen! Ich will feststellen, was deine Feinde dort angerichtet haben. Und vielleicht – was nicht sicher ist – liegt es in meiner Macht, für Abhilfe zu sorgen. Hiero spürte etwas Neues im Geist dieses wunderlichen Bundesgenossen, eine Regung, die er noch nicht bemerkt hatte. Es war schlicht und einfach Zorn. Das ruhige, unermeßliche Gemüt des großen Mutanten war erbost, daß jemand an seinem Gehirn hantiert hatte. Ein unerhörter Frevel! In all den unzähligen Jahrhunderten, die er mit reinem Denken, verbracht hatte, darauf wartend, mit einer anderen Intelligenz in Kontakt zu treten, hätte er sich so etwas nicht träumen lassen. Warum sollte jemand so etwas auch wollen? Nun freilich wußte er nicht nur, daß so etwas möglich war, sondern auch, daß es getan wurde. Er war für seine Begriffe ganz schön wütend, wodurch er dem Metz richtig sympathisch wurde. Ein außergewöhnliches Angebot, Solitär, gab er zurück. Hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wozu du imstande bist, hätte ich nie geglaubt, daß so etwas möglich wäre. Aber, fügte er hinzu, ich möchte dazu ein paar Fragen stellen. Ich hege keine Zweifel mehr gegen dich und weiß, daß du's nur gut mit mir meinst. Aber bist du dir sicher, daß es mir nicht schaden kann, was du vorhast? Lieber,
viel lieber blind sein wie jetzt und die Sinne eines Tiers haben, als wie ein Vollidiot geistlos dahinzuvegetieren! Die Antwort war ermutigend. Da bin ich mir ganz sicher. Selbst wenn's mir mit meiner langen Erfahrung nicht gelingt, den Schaden zu beheben, so kann es nicht schaden. Du wirst also nicht schlechter dran sein als jetzt. Das ist ein – Versprechen! Solitär prägte das Wort bildlich in Hieros Verstand ein. Was sind deine anderen Bedenken? Du hattest Fragen. Ist das nicht an Bedingungen geknüpft? wollte Hiero wissen. Immerhin hast du mich hierhergeholt, um deinen Wissensdurst zu stillen. Sicherlich hast du noch andere Begehren? Die Gedankenverständigung vollzog sich nun unheimlich locker, falls sich für Solitärs Denkprozesse ein solches Wort verwenden ließ. Ich fordere und verlange nichts. Ich habe ein paar Bitten, aber nur wenn du willst. Auch ein paar Fragen hätte ich. Wenn du mir die beantworten würdest, wäre das Lohn genug! Klar kann ich ein paar Fragen beantworten, dachte Hiero. Wenn das alles ist, schieß los damit! Ich werd' mir Mühe geben, alles zu beantworten, obschon ich hoffe, daß die Fragen nicht zu schwer sind. Was willst du also wissen? Mich interessieren eure menschlichen Stimmungen und Neigungen, kam zur Antwort. Außerdem die ganze Geschichte eurer Rasse, ihre technischen und geistigen Errungenschaften und insbesondere ihre Vergangenheit. Ich würde gern etwas über deine eigenen Geisteskräfte erfahren – auch wie du sie erlangt hast. Ich möchte von den anderen Intelligenzen hören, mit denen du in Kontakt gestanden hast – sowohl von der eignen, als auch von anderen Rassen, die wie ich aus dem Tod hervorgegangen sind. Dann ist da der ›Tod‹ selbst und seine Auswirkungen und Ursachen. Weiter fände ich die Kriege deiner Rasse und den, den ihr gerade führt, interessant. Ich würde gern etwas über eure Feinde erfahren, die ihr ›Unreine‹ nennt, und über die Verbündeten an den Orten, die du durchwandert hast. Was dir sonst noch einfällt, das ich vergessen
habe, würd' ich auch gern erfahren. Und dann bin ich noch ganz gespannt auf die allerwichtigste Frage. Was, in aller Welt, soll das sein? warf Hiero verdutzt ein. Nichts von dieser Welt, erwiderte die Molluske. Zumindest entnahm ich das deinem – Gebet vor dem Einschlafen. Ich bitte um Einsicht in das Wesen und Sein Gottes. »O je«, sagte Hiero laut, »darum hab' ich wohl gebeten, ja!« Sobald ich mit deinem Gehirn fertig bin, wollen wir reden, erwiderte Solitär. Und dann heißt's für dich: Schleunigst aufbrechen. Die Pflicht ruft.
6. Läufer der Nacht Eine Wochenreise nördlich von Solitärs See stützte sich Hiero auf seinen Speer und blickte zurück zum langen Paß, über den er gerade abgestiegen war. Er rastete und ruhte, so gut es ging, ohne in dieser Wildnis sein Leben zu gefährden. Ein paar kleine Vögel zwitscherten im Dickicht, und ein Falke, der fast an die Größe eines Adlers heranreichte, beäugte den Menschen argwöhnisch von seinem Horst auf einem Sims in der Felswand zu seiner Linken aus. Kleine Nagetiere und Eidechsen trippelten hastig durchs Unterholz. Aber es waren keine gefährlichen Tiere in seiner Nähe. Das wußte Hiero. Er war geistig nicht mehr blind, sondern wieder im Besitz seiner gestohlenen Fähigkeiten und konnte mit seinem Geist sehen! Er vermochte in die kleinen, wilden Gehirne um sich herum einzudringen und mit einiger Mühe durch die Augen der huschenden Kreaturen zu sehen! Er polierte gedankenversunken seinen Schild mit dem Arm, während er in der Morgensonne stand. Er hatte Anlaß zur Dankbarkeit – und der Schild war ein weiterer Beweis dafür, denn er war ein Geschenk eines neuen Freundes, von dem er sich nur ungern getrennt hatte. Ich gebe dir dies, Hiero, hatte Solitär zum Abschied gesagt. Du hast mir ein Bild von deinen Kämpfen übermittelt. Bei diesen hast du so etwas verwendet. Vor langer Zeit, als die Welt vielleicht noch von deiner Rasse beherrscht wurde, fiel ein großer Klumpen dieses Materials tief in meinen See. Ich fand ihn – ist auch schon lange her – und bewahrte ihn auf, weil ich nicht wußte, was es war. Aber du kannst das jetzt gebrauchen, meine ich, also hab' ich das Material in der Nacht, während du geschlafen hast, für dich geformt. Trag es, auf daß es dir Schutz gewähre, wie mir mein eigener Schild Schutz gewährt hat, als die Welt jünger war und die Feuer noch nicht gewütet hatten.
Der Metz betrachtete den kleinen Schild voller Freude. Er war rund und sehr leicht und hatte einen Durchmesser von gut zwei Fuß. Die Farbe war graubraun, und die matte Oberfläche reflektierte wenig Licht. Hiero wußte, worum es sich handelte, und versuchte, es der großen Molluske, die dafür starkes Interesse zeigte, zu erklären. Plastikteile kamen bei Erdarbeiten immer wieder zum Vorschein, obschon sie meist bröcklig und wertlos, zuweilen aber auch noch intakt waren. Hieros Mutter hatte einst ein solches Stück besessen, einen Teller mit dem Bild eines seltsamen Tiers, das wahrscheinlich auch dem Tod zum Opfer gefallen war, eines breitschnabligen Vogels in Menschenkleidung. Doch selbst in grauer Vorzeit war Plastik von solcher Dichte und Härte eine Rarität. Einst Versuchsstück in einem längst untergegangenen Laboratorium, war es nun einer neuen Bestimmung zugeführt worden. Der Riese hatte sogar daran gedacht, in die Fläche Löcher einzufügen, die Hiero zum Befestigen der ledernen Armschlaufen brauchte. Darüber hinaus hatte Solitär in die Mitte des Schildbuckels einen schwarzen Stein mit funkelndem Schliff gesetzt. Das ist der härteste, dichteste Stoff, der mir je begegnet ist, erklärte er dem Menschen. Wenn dein Schädel aus diesem Material wäre, wäre unser Versuch zur Wiederherstellung der Geisteskräfte auf alle Fälle gescheitert! Hiero hatte schon den einen oder anderen Diamanten in Frauenhaar oder an Finger und Handgelenk glitzern gesehen. Dieser große Brocken von industriellem Diamantabfall war etwas Neues für ihn. Eigentlich spielte es gar keine Rolle. Er hätte mit Freuden alles genommen, was der große Herr des Sees ihm zu geben geruht hätte. Denn die allergrößte Gabe überhaupt war, wieder im Besitz – leider nicht im Vollbesitz – seiner Geisteskräfte und Sinne zu sein. Als er am Morgen nach der Operation erwacht war, stellte sich heraus, daß Solitär enttäuscht war vom Ergebnis. Der Riese unterbrach Hieros dankbaren Wortschwall mit ständigen Rechtfertigungen. Ich habe nicht alle Verbindungen verstanden, nicht ihren Sinn und Zweck durchschaut. An diejenigen, die mir
schleierhaft waren, wagte ich mich nicht heran. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß ich weniger erreicht habe, als ich gewollt und versprochen habe. Was der Mensch auch versuchte, er vermochte den Riesen nicht aufzuheitern, obschon er ein wahres Wunder vollbracht hatte. Solitär hatte den Menschen in Tiefschlaf versetzt, indem er die hypnotische Kraft seiner großen Augen einsetzte, wobei Hiero freilich keinen Widerstand leistete und möglichst unverkrampft blieb. Vom Sonnenuntergang bis tief in den nächsten Morgen hinein hantierte der seltsame Chirurg die ganze Nacht lang mit den MikroInstrumenten, die sein Körper ausgebildet hatte, an seinem Gehirn. Er stellte allerlei Verbindungen wieder her und besserte operativ Schäden aus, wobei er nur aus dem Gedächtnis und anhand seines Tastsinns vorgehen konnte. Er schuftete wie verrückt. Als er schließlich überzeugt war, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, weckte er seinen Patienten. Mit wachsender Begeisterung stellte Hiero fest, daß seine verlorengegangenen Fähigkeiten wiederhergestellt waren. Die geistige Blindheit war aufgehoben und sein Bewußtsein für anderes Leben wieder vorhanden. Als Solitär einen jungen Bock aus den Tälern anlockte, bemerkte der Metz das näherkommende Tier und konnte sich schließlich in seinen Verstand versetzen. Daraufhin brachte er es nicht mehr übers Herz, zuzulassen, daß der Riese es verspeiste. Solitär wandte leicht beunruhigt ein, irgend etwas müsse er ja essen, da er hungrig sei, woraufhin Hiero aus dem Blickfeld verschwand und sich in ein stilles Eckchen verzog. Was, dem Ruf des Riesen folgend, herbeieilte, das erfuhr der Priester nie; er hoffte nur, etwas Großes, Niederträchtiges und Blutdürstiges. Nachdem Hiero zu ihm zurückgekehrt war, zeigte sich Solitär noch immer besorgt darüber, daß er dem Menschen eine Gabe nicht hatte wiedergeben können. Es handelte sich hierbei um die neueste Errungenschaft Hieros, die Fähigkeit nämlich, einen anderen Geist zu packen und seinem Willen zu beugen. ›Sehen‹ und sich verständigen konnte er so gut wie früher, wenn nicht besser. Aber
zum geistigen Kampf war er nicht mehr befähigt. Der Wirkstoff der Unreinen hatte diese Gabe so gründlich zerstört, daß nicht einmal der geniale Solitär Abhilfe hatte schaffen können. Sodann hatte die angekündigte Fragestunde stattgefunden. Hiero geriet in arge Bedrängnis, den Wissensdurst des Riesen zu stillen. Seine Kenntnisse aus der Klosterschule wurden einer ungeahnt harten Prüfung unterzogen. Was ist das und woher kommt's? lautete die grundsätzliche Frage der Riesenschnecke zu allem. Hiero schauderte insgeheim beim Gedanken daran, was seine Lehrer in der Kirche zu seinen Äußerungen über das Wesen des Allmächtigen sagen würden. Dennoch gab er sich alle Mühe; besser hätt's keiner machen können. Es war gar nicht so schwer, wie er's sich vorgestellt hatte. Solitär war sehr verständig und begriff schnell. Sein unglaublicher Verstand, vollgestopft mit den Erinnerungen und Überlegungen aus fünf Jahrtausenden, bedurfte wenig Hilfestellung, um einem Gedankengang zu folgen. Als Hiero das Wesen der Unreinen erläuterte, erfuhr er auch etwas über den ›anderen Geist‹, wie Solitär ihn bezeichnete. Kommen selten, seine ausgesendeten Impulse, erklärte Solitär. Ist nicht so alt wie ich, das heißt, zumindest hab' ich erst kürzlich seine Existenz entdeckt. Mit ›kürzlich‹ konnten, wie Hiero folgerte, durchaus tausend Jahre oder dergleichen gemeint sein; die mutierte Riesenschnecke hatte wenig Zeitgefühl. Sie scheint Wandlungen unterworfen zu sein, diese Kraft, langfristigen Wandlungen – zumindest für die Begriffe deines Volkes langfristig. Sie bleibt, wie sie ist, diese Kraft, und verändert sich doch. Was er darunter verstand, konnte Solitär nicht erklären, aber in bezug auf andere Aspekte zu der seltsamen Macht wurde er sehr deutlich. Immer wenn ich sie spürte, verbarg ich meine Gedanken. Denn sie hatte etwas an sich, das mir Angst machte. Nachdem du mich gelehrt
hast, daß Zorn ein Kennzeichen ist, weiß ich, wovor ich mich gefürchtet habe. Denn immer, wenn ich sie spürte, spürte ich ihren Zorn. Blinden Zorn gegen jeden und alles. Und sie ist stark, diese Macht! Ich habe von dir viel über deine Feinde, die Unreinen, erfahren. Diese Kraft hat damit Ähnlichkeit, ist aber ungleich stärker. Sie kommt vielleicht von ihnen, denn es scheint sich um ein und dasselbe zu handeln, wenn ich bedenke, was ich von dir erfahren habe. Das letzte Mal, daß ich sie gespürt habe, ist noch nicht lange her; 's war kurz vor deinem Kommen. War schnell und flüchtig wie der Feuerstrahl, der bei Unwetter vom Himmel fällt. Ich bedauere, daß ich dir nicht die Fähigkeit zurückgeben konnte, mit dem Geist zu töten. Du wirst's brauchen. Die Sorge in dem großen Verstand war beeindruckend echt. Solitär war ein recht außergewöhnliches Geschöpf. Wie die meisten Schnecken war es, so hatte Hiero in Erfahrung gebracht, zweigeschlechtlich und somit imstande, sowohl Eier als auch Sperma hervorzubringen. Kaum hatte Hiero diese Entdeckung gemacht, schlug er vor, das Nächstliegende anzugehen: nämlich Nachwuchs zu zeugen, und wenn auch bloß deshalb, um Gesellschaft zu haben. Dies läge sicherlich im Rahmen seiner ganz besonderen biologischen Ausstattung, nicht wahr? Die Reaktion auf diesen Vorschlag war zugleich verblüffend und belustigend. Das wäre nicht recht, kein schöner Gedanke. So was – gehört sich nicht! Na so was! Der Koloß der Berge war prüde! Je mehr man weiß, dachte der staunende Hiero, desto dümmer ist man! Die letzte Mitteilung des Riesen erreichte ihn, als er den See, in den sich der Riese wieder verkrochen hatte, schon weit hinter sich gelassen hatte. Lebe wohl einstweilen, Hiero, neuer Freund. Vergiß nicht die Richtung der Menschen, die ich dir eingeprägt habe! Ich kann sie nicht erreichen, weiß aber, daß sie da sind. Ich spüre sie hin und wieder, obgleich sie geistig weniger befähigt sind als du. Sieh dich vor!
Und vergiß mir nicht den anderen Geist, hieß es weiter, welchen ich aus dem tiefen Süden wahrgenommen habe. Was das ist, das kann ich nicht sagen. Aber ich habe von dir viel erfahren und weiß nun, daß er ein großer Geist ist, größer gar als ich, möchte ich meinen. Aber ein böser, abgrundtief böser. Hüte dich vor ihm! Nochmals Lebewohl! Ich habe viel nachzudenken. Vielleicht treffen wir uns schon eher wieder, als wir uns vorstellen. Ich spüre es! Daraufhin brach die Verbindung und der letzte Kontakt riß ab. Hiero war wieder allein. Nun aber war er geistig wieder wach, gut bewaffnet und gegen alles gefeit, wie diese letzte Woche der Wanderschaft bewiesen hatte. Der ausgeruhte Hiero machte sich im Laufschritt wieder auf den Weg; seine Ausrüstung wippte und schaukelte ordentlich beim Rennen. Den Schild hatte er sicher ins Schwertgehenk auf dem Rücken geschnallt. Außer dem Speer in der Hand und dem Messer im Bauchgurt trug er einen ledernen Tornister, den er sich auch über den Rücken geschlungen hatte. Er enthielt Feuersteine, seinen Schaukristall und die Vierzig Symbole, alles sorgsam in ein gefettetes Ledertuch eingeschlagen. Überdies waren dort frisch gedörrtes Fleisch und einige Wurzeln verstaut, die jedoch eine eiserne Notration darstellten. In dieser wildreichen Gegend sollte er genug Nahrung finden. Lederne Kniehosen, Sandalen und ein Stirnband vervollständigten seinen Besitz. Leichtfüßig eilte er dahin, ohne außer Atem zu kommen. Während er so Meile um Meile hinter sich brachte, überdachte er das Wenige, das er über den Weg nach Norden, dem er folgte, wußte. Bald hatte er das Bergland hinter sich gelassen und kam über die letzten Hänge wieder in eine Savanne. Das Grasland war von Baumgruppen durchsetzt. In der Ferne deuteten hellgrüne Flecken auf Sümpfe hin. Hiero wollte wetten, daß er dort träge Wasserläufe fände, und hoffte, daß keiner davon sich als unpassierbar erwiese, sollte einer seinen
Weg kreuzen. Die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die an kühle Bergluft gewöhnte Stirn. Falls es überhaupt möglich war, wimmelte es hier noch mehr von Tieren als in dem östlichen Gebiet, das er vor Wochen durchquert hatte. Es gab große rote Wölfe und gefleckte Raubkatzen verschiedener Größe. Der gestreifte Säbelzahntiger trieb hier sein Unwesen und übertönte mit seinem Gebrülle alle geringeren Katzen. Scharenweise lebten hier auch großleibige Pflanzenfresser; Zahl und Artenreichtum der verschiedenen Antilopen- und Hochwildarten hätte jeder Beschreibung gespottet. Oft stieß Hiero auf neue Dinge und strengte sich an, alles davon genau zu registrieren. Es gab Herden von – es fehlte jede Bezeichnung dafür – gepanzerten Riesentieren, die mit ihrem Rückenschild seinen Kopf überragten. Allerdings hatten sie Ohren und dreizehige Hufe und waren Warmblüter. Als er in den Verstand der äsenden Tiere eindrang, entpuppten sie sich als bloße Haufen trägen Fleisches. Sie sahen nichts von seiner Größe als Bedrohung an. Einmal lief er zum Spaß über die Rücken einer ganzen Gruppe. Sie schienen es kaum zu merken. Tausende von Vögeln sangen und flogen umher. Viele Arten folgten den Herden und pickten die aufgewühlten Insekten auf, während wieder andere auf den Tieren hockten und den Rücken von Zecken und Lausen befreiten. Aber nicht alles Federvolk war so harmlos. Seine erste Begegnung mit einer anderen Art wäre um ein Haar böse ausgegangen. Der Vogel mußte ihm schon seit einer Weile aufgelauert haben, denn er stürzte aus dem Gebüsch, als Hiero am wenigsten darauf gefaßt war. Von der zweifachen Größe seiner Beute, hatte obendrein einen kräftigen, stark gebogenen Schnabel, über dem ein düsterrotes Federbüschel abstand. Wild flatterte er mit den verkümmerten, nutzlosen Flügeln, als er mit den klauenbewehrten Füßen nach Hiero schlug. Hiero konnte den Stoß mit seinem Schild, den er sich vom Rücken gerissen hatte, gerade
noch abwehren, als der grausige Schnabel nach ihm hackte. Dann flitzte er hakenschlagend wie ein Hase zur nächste Baumgruppe, verfolgt vom rasch aufholenden, wild kreischenden Vogel. Zu seinem Glück hingen vom ersten Baum kräftige Schlingpflanzen, über die er flink wie seine affenartigen Urahnen hinaufkletterte. Um Haaresbreite verfehlte der gräßliche Schnabel dabei seinen sandalenbedeckten Fuß. Keuchend blickte Hiero zum rasenden Monstrum hinab, das kreischend seinem Ärger Luft machte, indem es den Boden unter seiner Zuflucht scharrend aufwühlte. Hiero überdachte, was geschehen sein mußte, und nahm sich fest vor, in Zukunft nicht mehr so unaufmerksam zu sein. Der Riesenvogel dachte in einer anderen Wellenlänge als die Säugetiere, auf die er sich eingestellt hatte. Die Folge war eine Unachtsamkeit, die ihm fast teuer zu stehen gekommen wäre. Er beschloß, nicht nur die Säugetiere, sondern auch alle Vögel und Reptilien im Auge zu behalten. In einer Welt voller mutierter Lebensformen war jede Vorsicht angebracht. Er dachte nur an das Ungetüm vom nebligen Bergsee – und wie es sich unbemerkt bei ihm eingeschlichen hatte. Nachdem er eine lange Zeit unter Aufbietung all seiner Geduld auf dem Baum ausgeharrt hatte, räumte der Laufvogel endlich das Feld und stakte davon. Als er – auf geistigem Wege – sehen konnte, daß er sich weit entfernt hatte, stieg er hinab und machte sich wieder auf den Weg. An diesem Tag wurde er nicht mehr behelligt. Er hielt sich dicht bei den Bäumen oder Termitenhügeln, die wieder anzutreffen waren. Diese Taktik hatte eigene Tücken, da viele Raubtiere gern am Waldessaum lauerten, aber sein wacher Geist sagte ihm rechtzeitig, wann er einen Bogen zu machen hatte, um solchen Unholden aus dem Weg zu gehen. Und stets suchte er sich beizeiten eine Astgabel in einer hohen Krone, bevor die Dämmerung das Hauptheer der Jäger aus ihren Lagern lockte. Oft mußte er sich lange versteckt halten. Ohne seinen wachen Geist hätte zu Fuß diese Gegend nur eine ganze Armee ungeschoren durchqueren können.
Sonnige, heitere Tage, die nur gelegentlich ein Gewitter trübte, vergingen, während Hiero sich ganz auf das Gebiet im Norden konzentrierte. Dort lebten, falls auf Solitär nur ein bißchen Verlaß war, Menschen, obgleich dem Titanen nie bekannt war, was für Menschen das waren – abgesehen von seiner Vermutung, daß sie sich von Hiero unterschieden. So sprach der Metz an jedem Abend zuerst seine Gebete, um dann mit seinem Geist vorzudringen auf der Suche nach Kontakt. Dabei war er sehr, sehr vorsichtig. Er hatte keine genaue Vorstellung davon, was er suchte, wollte aber am allerwenigsten mit einem Unreinen zusammenstoßen. Hiero hatte absichtlich nicht versucht, seinen Kristall zu benutzen, der ihm vielleicht ermöglicht hätte, in einem rein physischen Sinn in große Ferne zu sehen. Indem er in ihn blickte und sich sammelte, war es ihm oft gelungen, das Gehirn eines Vogels, der Meilen hoch im blauen Himmel schwebte, einzunehmen. Aus diesen Vogelaugen schauend, vermochte er, das darunterliegende Land zu erforschen. In diesem seltsamen Land freilich wagte er dies einfach nicht. Der Vorgang war zu raumgreifend und mit zu vielen Zufälligkeiten verbunden. Er könnte allen möglichen Intelligenzen begegnen. Im hohen Norden hatte er einst diese Aufklärungsmethode benutzt und war dabei einem Unreinen ins Gehirn geraten, der in einem Apparat mit Flügeln am Himmel schwebte! Ein Mal war genug. Diesmal wär's einfach zu riskant. Allerdings hatte er noch seine Vierzig Symbole, von denen jedes etwas anderes darstellte. Obgleich er sie schon monatelang nicht mehr benutzt hatte und ihre Verwendung nicht gerade zu seinen besonderen Talenten zählte, waren sie ihm in der Vergangenheit gelegentlich recht hilfreich gewesen. Die Wirkungsweise der winzigen Zukunftsdeuter war sogar in den Abteien zum Teil noch schleierhaft, da alle Spuren ihrer Ursprünge längst verwischt waren. Eine einigermaßen verläßliche Vorschau setzte großes individuelles Geschick voraus, dessen Hiero sich nicht gerade rühmen konnte. Dennoch könnte ein Versuch keinesfalls schaden.
Eines Abends also, eine Woche nach den letzten Ausläufern des Berglands, schichtete er die kleinen Gegenstände auf einem Stück Rinde in seinem Schoß zu einem gemischten Häuflein auf. Er hatte sich zuvor hoch in der Krone eines Baumriesen festgebunden, um in Trance nicht aus seiner Astgabel zu fallen, sollte etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen. Seine Stola hatte er schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber sie war sowieso nur äußeres Zeichen, nicht unerläßliche Bedingung für die folgende Handlung. Er betete um Hilfe und um Führung bei seinem Blick in die Zukunft. Dann stürzte er sich in einen willentlich hervorgerufenen Starrkampf und verschloß sich vor allen äußeren Eindrücken. Sein geistiger Wächter beschützte ihn, und niemand hätte in diesem seinem Zustand seine Gedanken lesen oder lenken können. Bevor er sich in Ohnmacht stürzte, hatte sich die offene Linke auf das Häuflein aus hölzernen Zeichen gelegt. Es war schon stockfinster, als er mit steifen Gliedern erwachte. Der Mond schien auf die Savanne, und die Nacht hallte wider vom Geschrei und Gekrächze der Jäger und Gejagten. Wie er erwartet und gehofft hatte, lagen in seiner fest verschlossenen Faust ein paar von den kleinen Symbolen. Er befreite sich von den Fesseln, die ihn in der Astgabel gehalten hatten, packte die restlichen Zeichen ein und kletterte hinaus zu einem lichten Ast, der voll im Mondschein lag. Erst dort öffnete er die Faust und betrachtete die drei Symbole aus Ebenholz. Der Speer war ihm vertraut. Er bedeutete Kampf oder Jagd oder auch beides. Nichts Neues also. Das nächste war ebenso ein alter Bekannter, das Zeichen mit den winzigen, stilisierten Stiefeln. Auch damit war er schon vertraut. Es bedeutete, daß eine lange Reise bevorstand, was ihm längst klar war. Das dritte allerdings bereitete ihm etwas Kopfzerbrechen. Es war ein Blatt mit einem darübergelegten Schwert! Eigentlich steckte das Schwert, wie sich bei näherem Hinsehen zeigte, mit zwei Stichen im Blatt wie eine Heftnadel in Stoff.
Hiero machte sich lange Gedanken, nachdem er die Zeichen verstaut hatte; was mochte dieses letzte Symbol bedeuten? Es gab verschiedene Möglichkeiten, und jedes Bild bekäme in Verbindung mit den anderen ganz neue Inhalte. Wie schade, daß er diese Kunst nicht besser beherrschte. Er hatte einmal einen Klassenkameraden, der bis zu zwölf Zeichen zog und wirklich komplizierte Vorhersagen aus ihnen ableiten konnte. Krieg und Frieden! Das war's. Aber daß die beiden Zeichen ineinander verschlungen waren, schien zu besagen, daß eine Wahl bestehe. Frieden oder Krieg, Reisen und Schlachten oder auch Jagden. Er lachte leise. Wann hatte sein Leben recht viel anders ausgesehen? Anscheinend sollte es zumindest so bleiben wie bisher. Irgendwann in ferner Zukunft würde er vielleicht aus einer Trance erwachen und Symbole finden, die nur auf Frieden und Ruhe hindeuten würden. Was für Aussichten! Lachend bereitete er sich zum Schlafen vor. Das nächtliche Treiben unter und um ihn herum sperrte er einfach aus seinen Gedanken aus und fiel in einen glücklichen Schlaf, gespannt darauf, was ihm das Morgen brächte.
In einer Kammer zu Sask, der Hauptstadt der Republik Metz, saßen sich zwei alte Männer beim Lampenlicht auf eichenen Bänken an einem schmalen Holztisch gegenüber. Ein jeder hielt einen großen, schaumbedeckten Krug in der knorrigen Hand, und ein jeder trug einen Talar und einen Bart. Damit endete die äußere Ähnlichkeit. Abt Demeros greises Gesicht hatte die Farbe von blankem Kupfer, und der glatte Vollbart unter seiner Hakennase war ergraut. Über den kräftigen Schultern trug er einen schneeweißen Talar und auf der Brust ein schweres Kreuz aus getriebenem Silber an einer massiven Silberkette. An seinem linken Ringfinger steckte ein großer Ring aus gediegenem Gold. Aus seinen braunen Augen über den hohen Wangenknochen strahlten Intelligenz und die Aura eines Führers. Bruder Aldo hatte einen längeren Bart; er war kraus und hing über die schlichte, braune Ordenstracht. Er trug keinerlei Schmuck oder
Zeichen. Seine kleine, leicht aufgestülpte Nase war an der Spitze klobig verdickt und die tiefe Bräune seines Gesichtes fast so dunkel wie der Eichentisch, auf den er die Ellbogen stützte. Aus seinen Blicken leuchteten Weisheit und Frohsinn. Die Jahre hatten ihre Stirn gefurcht, aber trotz ihrer Betagtheit waren sie keineswegs gebrechlich, was jede ihrer Gesten bewies, mochte ihnen auch der Schwung der Jugend fehlen. Nun sprach der wohlehrwürdige Abt Demero, wobei ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zog. »Zum Wohl, Majestät, und willkommen im Norden. Ich wünschte nur, dieses Treffen müßte nicht im geheimen stattfinden. Ich bin dieses verfluchte Versteckspielen müde.« »Demero, alter Narr, ich verfluche den Tag, an dem ich verraten habe, was ich einmal gewesen bin. Haben also in Dalwah vor ein paar Generationen einen König verloren. Der verrückte Kauz ist längst vergessen. Wenn der wohlehrwürdige Vater Abt mich also nicht so nennen wollten.« »Wie der Bruder wollen. In einer Republik sind Könige wohl recht populär, nachdem man den eigenen losgeworden ist. Wir hier hatten auch einen König vor dem Tod, wie bekannt sein wird. Habe keine Ahnung, wer das gewesen ist oder wo er gelebt hat. Ich habe das Gefühl, er hat weit weg gelebt und ist nur gelegentlich auf Visite gekommen. Der Abteiarchivar könnte bestimmt mehr darüber sagen.« Der Weise in der braunen Tracht lachte. »So soll's sein mit den Majestäten – je ferner, desto besser!« Er wurde schnell wieder nüchtern und setzte sich gerade hin auf der Bank ohne Lehne. »Reden wir nicht von Königen! Was uns angeht, ist ein Prinz. Und da gibt's viel zu besprechen. Morgen heißt's für mich, wie gesagt, wieder aufbrechen. Also gehen wir es an! Ich habe schlechte Neuigkeiten aus dem Süden, die euch wenig Freude machen werden.«
Abt Kulase Demero, Oberpriester der Abteien in der Republik Metz, Erster Bannerträger der Universalkirche und Vorsitzender des Oberhauses der Republik, sah seinen Freund durchdringend an. »Geht um Hiero, nicht wahr? Mache mir schon die ganze Woche Sorgen. Er ist so weit weg und ganz allein. Was gibt's Neues? Raus damit, Mann!« »Er ist weg. Vielleicht verschwunden, vielleicht sogar…« Bruder Aldo, der einst einen ganz anderen Rang und Namen getragen hatte, war todernst geworden. »Erst heut' früh kam vom Orden auf wunderlichen Wegen aus dem Süden diese Nachricht. Wenn ich recht verstehe, gab's einen Aufstand, eingefädelt von einem jungen Herzog, der Ansprüche auf den Thron erhöbe, sobald Lucare und ihr Vater tot wären. Soweit nichts Neues in der Geschichte Dalwahs. Aber es kommt noch schlimmer. Der Thronräuber wird von den Unreinen unterstützt. Danyale ist schwer verwundet, aber wird leben. Lucare führt die Geschäfte, und ihr Mann ist wie vom Erdboden verschwunden!« Der Abt überlegte nicht lange. »Falls er tot wäre, hätte es Lucare gemerkt, richtig?« »J-ja.« Aldo nickte bedächtig. »Sie schwört, daß er nicht tot ist. Das läßt uns hoffen, was seine Person angeht. Gott gebe, daß sie recht hat! Ich mag ihn. Allerdings bereitet uns noch etwas anderes Sorgen. Ich vertraue Lucare. Sie wird Dalwah halten, wenn es menschenmöglich ist. Danyale kann ihr beistehen, wenn er schnell wieder auf die Beine kommt. Er ist nicht auf den Kopf gefallen. Aber der Orden meldet, daß die Unreinen auch nicht ruhen. Offenbar sind sie auf dem Vormarsch hierher, in die Republik. Wir vom Ordensrat meinen, daß ihr schnelle Hilfe braucht. Wie geht die Arbeit an dem, was wir aus dem unterirdischen Gewölbe mitgebracht haben, voran?« Unwillkürlich fiel sein Blick auf das elfenbeinerne Pendel, das bewegungslos an hölzernen Querbalken in einer Zimmerecke hing.
Demero folgte seinem Blick. »Dieser Wächter hat uns noch nicht im Stich gelassen. Man kann sich auf ihn verlassen. Wenn sich der Gedanke eines Unreinen herantastet, schlägt es sofort aus. Wir können also unbekümmert reden. Die Sache mit dem Computer läßt sich gut an. Bei der ersten Durchsicht der Bücher, die du gebracht hast, schien es unmöglich, die winzigen Bausteine – Chips, wie sie heißen – herzustellen, aus denen er sich zusammensetzt.« Ein flüchtiges Lächeln trat in seine Miene. »Dann kam einer unserer gescheiten jungen Männer darauf, daß die Teilchen, die mengenweise in unseren Archiven liegen und aus alten Ruinen stammen, in Wirklichkeit solche Bauteile sind, wie sie in den Büchern beschrieben werden. Wir sind nun überzeugt, daß es vor dem Tod Computer in rauhen Mengen gegeben haben muß. Obwohl wir die Bücher und die Teile haben, dauert es natürlich seine Zeit. Wir müssen eine ganz neue Denkweise nachvollziehen. Nach seiner Fertigstellung braucht der Computer eine sogenannte Programmierung. Unsre jungen Männer sagen, sie würden das schaffen – aber es dauert wiederum seine Zeit. Das alte Lied.« Er beugte sich über den grobgezimmerten Tisch. »Wie viele Jahre ist es schon her, Aldo, daß wir uns als Jünglinge – oder Junggebliebene, sollte ich sagen – zum ersten Mal begegnet sind und beschlossen haben, die Kirche und der Orden sollten sich verbünden? Selbst damals wußten wir, daß das Ganze stets ein Wettlauf mit der Zeit wäre. Nun, daran hat sich nichts geändert. Du hast ein hohes Amt im Rat der Elften Bruderschaft. Wo ich stehe, weißt du. Doch nach wie vor ist's die Zeit – sie sind uns voraus, wir sind hintendran. Nichtsdestoweniger müssen wir uns rüsten, so gut wir können. Nun zu diesem Bärentier, den du Gorm nennst. Wird er uns auch tatsächlich von Nutzen sein?« »Von sehr großem – hoffe ich«, erwiderte Aldo überzeugt. »Aber er muß die Zustimmung seines Volkes erhalten. Denn ich denke, es hat auch seine Führer, dieses neue Bärenvolk. Wir wissen von ihnen, obwohl sie nie in direkten Kontakt mit uns getreten sind. Ich lese in deinen Gedanken eine Frage, teurer Freund. Ja, sie sind intelligent
wie wir, obschon anders. Wieviel anders, davon hängt ihre Bereitschaft zum Helfen ab. Und das wird, wie du schon richtig erraten hast, seine Zeit dauern.« »Bei den Bären wiehert der Amtsschimmel!« schnaubte der greise Metz. »Es eilt ja nicht! Auch vom Dammvolk, wenn wir schon von alten Bundesgenossen sprechen, fehlt mir noch jede Antwort. Aber die brauchen ja gleich ein paar Monate, ehe sich was tut. Da werden die Bären vergleichsweise schnell sein.« »Ich bring's zwar ungern zur Sprache, weil's ein neuralgischer Punkt für dich ist«, versetzte Bruder Aldo, »aber wie steht's mit deinem persönlichen Problem im Rat? Die zwei… äh!« Er zögerte. »Nur keine falsche Rücksichtnahme«, fauchte Demero. »Die zwei Verräter. Nun, die Beweise reichen fast aus, um sie an den Galgen zu bringen. Laß noch eine Woche oder so vergehen! Zwischenzeitlich können sie keinen Furz lassen, ohne daß ich's erfahre.« »Ich nehme an, sie können nicht – nun – einfach verschwinden?« »Nein, du friedliebender Elfer! Du bist hier nicht in deinem barbarischen Ex-Königreich im sumpfigen Süden. Wir kriegen sie schon, aber sie müssen erst vor ein ordentliches Gericht.« »Schade. Die rauhen alten Zeiten hatten ihre guten Seiten, finde ich im Nachhinein. Sicherlich ein Symptom des Alters. Nun, was noch? Wie viele Regimenter kannst du in welcher Folge aufbieten? Und die neuen Schiffe, die du bauen läßt? Und was ist vor allem mit der Otwah-Liga? Sie haben in ihren Reihen auch Verräter, wie du weißt.« Die Diskussion wurde immer heftiger und technischer. Als in den frühen Morgenstunden die beiden Männer jeweils ihr Nachtgebet sprachen, hätte Hiero es als sehr tröstlich empfunden, zu wissen, wie sehr seiner darin jeweils gedacht wurde. Den prinzlichen Priester, dem keine dauernde Bleibe gegönnt war, wie es ihm zuweilen schien, bewegten freilich andere Gedanken. Er
saß gerade in der Krone des höchsten Baumes und spähte in die Ferne, um sich Klarheit von dem zu verschaffen, was er sah. Denn was sich in der Ferne seinem Auge darbot, war einigermaßen befremdlich, so daß er die Gegend vor dem Weitermarsch erst näher erkunden wollte. Wie üblich hatte er sich in der Nacht zuvor vorsichtig mit seinem Geist vorgetastet. Diesmal hatte er recht bald eine menschliche Reaktion, die Aura eines wachen Mannes, aufgeschnappt. Nachdem er seine Suche ausgedehnt hatte, stieß er auch auf viele andere. Überdies fand er den Verstand von Frauen und Kindern und spürte das gehäufte Auftreten von Haustieren, vermutlich eine Art von Kaw, wie er sie von Dalwah kannte. Es müßte dort also Dörfer oder irgendeine Siedlung geben. Hiero beschloß, das Gebiet noch genauer auszukundschaften, und versuchte, ob er von einem einzelnen Verstand mehr in Erfahrung bringen könnte. Er wählte dazu einen beliebigen Mann aus, der ihm offenbar ein bißchen näher als die übrigen war. Er peilte ihn an und drang mit seinen Gedanken behutsam in den Verstand seines Artgenossen ein, wobei er mit seinen geschulten Sinnen genau darauf achtete, ob der Mann irgendwie mißtrauisch wurde. Aber er hatte es mit einem sehr einfältigen Menschen zu tun, der überdies so von Angst erfüllt war, daß in seinem Denken kaum Raum für anderes blieb. Gespannt suchte Hiero nach der Ursache dieser Angst, die so überwältigend war, daß sie wie ein Dauerzustand wirkte. Zunächst hielt er sie für eine bloße Angst vor der Dunkelheit. In dieser Wildnis schien die von Raubtieren wimmelnde Nacht berechtigten Anlaß zur Furcht zu geben. Als Hiero aber den Spuren dafür in dem einfachen Gemüt nachging, erwies sich das Ganze als komplexer. Der Mann wußte natürlich um die Tiere und die Gefahr, die sie für ihn darstellten. Aber er setzte sie gleich mit anderen Schrecken der Natur, wie Blitzschlag, Überschwemmung und Waldbrand.
Man müsse sich davor in acht nehmen, mehr nicht. Was er wirklich fürchtete, dermaßen fürchtete, daß es psychotische Ausmaße angenommen hatte, waren – Geister! Hiero wollte mehr über die Geister wissen, wurde aber nicht fündig. Die Angst war in seinem Denken zutiefst verwurzelt, wurde aber gleichzeitig verdrängt. Der Mann konnte es nicht ertragen, bewußt an diese Angst zu denken. An der Oberfläche fand sich nur die Angst vor der Nacht. Alles würde wieder gut, wenn erst der Morgen anbräche. Die Nacht sei ein Übel, mit dem man sich abfinden müsse. Das Gute würde überleben, bis ein neuer Tag wieder Sicherheit brächte. Im großen Ganzen waren das seine oberflächlichen Überlegungen. Hiero drang tiefer. Dort stieß er auf einiges schwer auffindbare Material. So echt die Angst auch war, im Bewußtsein des Mannes fehlte jeder konkrete Auslöser für die nächtliche Panik. Ihm war noch nie ein Geist erschienen. Und er kannte keinen, der schon einmal einen gesehen hatte. Die Geister kamen mit der Dunkelheit. Mauern und Hütten waren für sie kein Hindernis. Sie nahmen, was sie wollten. Wurden sie aus irgendeinem Grund gereizt, verschwand der Verursacher ihres Grolls. Es handelte sich um wandernde Geister, denn sie waren nicht immer da. Der Priester der Gemeinde wußte viel mehr über sie, und der Priester sagte, es sei nicht nur von Nachteil, sie als Nachbarn zu haben, diese Geister. Sie hielten böse Tiere fern, wenn man sie geziemend behandelte. Also war es nur recht und billig, daß man den Geistern hin und wieder ein Tier von der Herde opferte, wenn sie eins wollten. Dieser letzte Gedanke im Verstand des Mannes war mit unterschwelligem Unmut verknüpft. Eins seiner Tiere war kürzlich an der Reihe gewesen. Das machte die Geister nur noch schlimmer! Verwundert und recht enttäuscht zog sich der Metz von diesem einfachen Gemüt zurück. Ein Haufen abergläubischer Viehhirten war ihm keine Hilfe. Er hatte jedoch auch andere und wohl nützlichere Dinge in Erfahrung gebracht. Die südliche Grenze des großen Dschungels, jenes mächtigen Urwalds des Südens, lag keine zwei
Tagesmärsche nördlich vom Dorf. Hiero hatte keine Ahnung, wie weit westlich von Dalwah er in den letzten Wochen gekommen war. Aber nördlich vom Dschungel müßte sich – natürlich in gebührender Entfernung – die Inlandsee befinden. Der Mann, den er ausgeforscht hatte, hatte noch nie davon gehört, was aber nichts zu bedeuten hatte, denn ihm war alles unbekannt, was jenseits des Horizonts lag. Offenbar wurde dieses Gebiet nie von Kaufleuten besucht. Vielleicht hatten sie, wie Hiero sich überlegte, von den Geistern einfach nur gehört! Mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen schlief er ein. Er schlief nicht so gut wie sonst und fühlte sich beim Erwachen steif und verkrampft. Seine Träume hatten von wilden Fluchten über Stock und Stein gehandelt. Aus irgendeinem Grund schwirrten ihm Erinnerungen an eine Jagd durch den Kopf. Sicherlich rührte das von den Vierzig Symbolen und dem gezogenen Speer her. Hiero reckte und streckte seine Glieder und machte ein paar einfache Lockerungsübungen. Dann kletterte er vom Baum, um sich aus den Resten des Fangs vom Vortag ein herzhaftes Frühstück zu bereiten. Gegen Mittag sah er das Dorf, wie er es in der Nacht in Gedanken geschaut hatte. Er konnte mindestens drei Meilen weit zwischen den anderen vereinzelten Baumgruppen sehen. Dann wurde es dunstig in der Mittagshitze. Das Dorf vor ihm war allerdings keine halbe Meile entfernt. Es war umgeben von einem schweren Palisadenzaun, verstärkt durch einen Kranz spitzer Pfähle, die schräg nach außen zeigend in der Erde verankert waren, so daß selbst die großen Tiere mit ausgebildeten Stoßzähnen schwerlich in der Lage wären, ihn zu durchbrechen. Innerhalb des Palisadenzauns stiegen von den Feuerstellen dünne Rauchfahnen auf. Die Hütten waren rund und offenbar strohgedeckt. Es gab Pferche für das Kaw, und mehrere Herden grasten unweit des Dorfes, von winzigen Menschengestalten gehütet. Ein großer Baum wuchs im Herzen des Dorfes, aber es war weit und breit der einzige. Ein Bach lief auf der gegenüberliegenden Dorfseite durch die Weiden und lieferte das nötige Wasser, wenn nicht gerade eine Zeit großer Dürre herrschte, was in diesem
niederschlagsreichen Land eine Seltenheit war. Die letzte Dürre lag zum Beispiel schon über hundert Jahre zurück. Es war ein Bild des Friedens, das Hiero nicht stören wollte. Aber er brauchte dringend Informationen, die er, wie er glaubte, von jenem Priester erhalten könnte, von dem er in der Nacht zuvor durch seinen unfreiwilligen Informanten erfahren hatte. Hiero schickte abermals seine Gedanken aus, stellte aber rasch fest, daß der Mann, den er suchte, zu einer Besorgung in ein anderes Dorf gegangen war, das links von ihm lag, von seinem Standort aus aber nicht mehr zu sehen war. Er überlegte eine Weile und gelangte dann zum Schluß, daß er wenig zu befürchten hätte, wenn er sich zeigte. Er konnte am Dorfrand ein paar kleinere, gepflegte Felder sehen und hatte mit seiner feinen Nase längst den Backgeruch aufgeschnappt. Brot hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr gegessen, und darüber hinaus brauchte er Salz. Diese einfachen Menschen mit ihrer Angst vor der Dunkelheit sähen keine Bedrohung darin, wenn in der Mittagshitze ein einzelner Mann auftauchte. Daß er kein Gespenst sei, wäre offensichtlich! Mit dieser Annahme hatte er vollkommen recht. Als er noch ein ganzes Stück Weges zum Dorf vor sich hatte, sah er aus dem einzigen großen Tor Männer ausschwärmen. Nun konnte er auch sehen, daß in dem einzeln stehenden Baum in der Dorfmitte eine kleine Plattform angebracht war. Die Leute waren also gar nicht so unvorbereitet, wie er geglaubt hatte. Sie hatten ihn gesehen, und nun rückte eine Reihe von Männern langsam gegen ihn an. Als sie näherkamen, legte er vor ihren Augen seinen Speer auf den Boden und erhob die Arme zum alten Freundschaftsgruß. Gleichzeitig erforschte er ihr Inneres nach Spuren von Feindseligkeit. Er fand Vorsicht und Erstaunen gegenüber dem Fremden, aber keinen Groll. Wie er vermutet hatte, fürchteten sie einen einzelnen Mann nicht. Bei den Eingeborenen handelte es sich um einen kleinwüchsigen, vierschrötigen, dunkelhäutigen Menschenschlag von einigermaßen
freundlicher Wesensart. Sie trugen einen einfachen Lederschurz und Sandalen ähnlich den seinen und als Waffe einen Speer, hatten aber anscheinend keinen Schild. Die meisten Speere hatten eine steinerne Spitze, aber hie und da blitzten auch welche aus Metall auf. Sie hatten sie nun gesenkt und warteten offenbar, was der Fremde nun machen werde. Hiero wählte einen älteren, graubärtigen Mann und begrüßte ihn in Batwah, der Handelssprache, die über Tausende von Meilen hinweg verbreitet war. Der Mann plapperte eine Antwort, allerdings in einer anderen Sprache. Aber Hiero war der verblüffte Ausdruck in seinen Augen nicht entgangen; in seinem Verstand fand er die Bestätigung, daß er Batwah schon einmal gehört hatte. Hiero lauschte aufmerksam, als der Mann wieder redete, und verstand diesmal ein paar Brocken, die ihm vertraut vorkamen. Auf der Inlandsee vor einem Jahr hatte er an Bord der Gischtfee mit der bunt zusammengesetzten Besatzung, die Kapitän Gimp aus der ganzen bekannten Welt angeheuert hatte, gesprochen. Später im Wald hatte er sie noch besser kennengelernt. Die Sprache der Eingeborenen nun ähnelte einem Dialekt eines entflohenen Sklaven, der Hieros besonderer Bewunderer geworden war. Somit war er in wenigen Sekunden, unterstützt von seinen fortgeschrittenen Fähigkeiten zum Gedankenlesen, in der Lage, munter darauf los zu reden und sich hinlänglich verständlich zu machen. Die Eingeborenen waren sehr freundlich und bereit, ihm jede Auskunft zu geben, zu der sie imstande waren. Ja, sie hatten Brot und wollten ihm gern soviel davon abgeben, wie er bei sich am Leib tragen könnte. Aber er müsse sich beeilen. Es war schon Nachmittag geworden, und ihm blieb nicht mehr viel Zeit. »Zeit wozu?« fragte Hiero. »Wollte eigentlich heut' nacht in eurem Dorf schlafen. So eilig hab' ich's auch wieder nicht.« Der Älteste, dessen Name sich anhörte wie Grill-Parzer mit einem Grunzlaut dazwischen, wirkte zuerst erstaunt, dann traurig und schließlich nachdenklich.
»Das habe ich befürchtet«, erwiderte er. »Du bist wie die andern – diejenigen, die gekommen sind, als ich noch ein Kind war. Komm mit ins Dorf! Bei uns bleiben kannst du allerdings nicht. Ist nicht erlaubt, bedauere. Nur wer uns geboren worden ist, darf in unsern Mauern wohnen. Ich schicke einen unsrer Knaben voraus, sich ums Brot zu kümmern, so daß es bereitliegt, wenn wir ins Dorf kommen. Dann mußt du wieder gehn, Hiero. Um deinetwillen hoffe ich, daß du schnell rennen kannst.« Einige der Umstehenden nickten beipflichtend mit zotteligem Kopf. »Warum?« fragte der Metz. »Droht Gefahr? Warum kann ich nicht in eurem Dorf bleiben? Ich fresse keine Kinder.« Er war versucht anzumerken, daß er sicherlich öfter ein Bad nehme als mancher seiner neuen Freunde, sah aber schließlich davon ab. »Nein, nein«, antwortete Grill-grunz-Parzer. »Du verstehst nicht. Wir tun dir nichts. Trotzdem mußt du gehn. Du kannst nicht im Dorf bleiben. Das ist ein Gesetz. Und wenn du außerhalb angetroffen wirst, sobald es dunkel geworden ist…« Er schauderte, und Hiero spürte die nackte Angst, die von dem einfachen Gemüt Besitz ergriffen hatte. »Ich kann gut klettern.« Er zeigte mit seinem Speer auf eine ferne Wildherde. »Bisher hat mich noch keiner von denen erwischt, die so was jagen. Wenn Fremde für euch tabu sind, laßt mich wenigstens unter der Mauer oder auf einem der hohen Bäume in diesem Gehölz hier schlafen. So könnt' ich morgen früh zu euch kommen und noch mit eurem Priester sprechen.« Die Schar der Männer beschleunigte plötzlich den Schritt und eilte ins Dorf zurück. Offensichtlich wollten sie nichts von diesem Gespräch mitbekommen. Grill-Parzer hatte stärkere Nerven. Er war zwar in einer mißlichen Lage, fühlte sich dem Fremden mit seiner schönen Sprache gegenüber aber in gewisser Weise verpflichtet und wollte alles in seiner Macht Stehende tun. Er hielt inne und legte dem Metz die Hand vor die Brust, damit er stehenbleibe.
»Als ich noch ein Knabe war, kamen andere Männer. Sie waren nicht wie du, redeten aber in der gleichen Sprache wie du zuerst. Sie wollten mit uns handeln. Für Häute und Felle boten sie Metall und Tuch, wie wir es höchst selten sehen. Wenn wir's sehen, dann bekommen wir's wie damals.« Er rang offenbar mit Erinnerungen, die ihn in Angst und Schrecken versetzten. Wieder wurde Hiero die Furcht gewahr. Diesmal trieb sie ihm den Angstschweiß in die Stirn. Dennoch fuhr er fort: »Wir versuchten alles, sie zum Weiterziehen zu bewegen. Sie waren gut bewaffnet und lachten über uns. Sie lagerten beim Tor und machten viele Feuer. Sie stellten Wachtposten auf und verschlossen das Tor.« Er machte wieder eine Pause. »Am nächsten Morgen waren sie weg. Samt und sonders verschwunden, wie wir es vorausgesehen hatten. Ein starker Haufen von zwei mal zehn Mann und ihre Lasttiere. Die Ausrüstung war zum Großteil noch da. Nach einer Weile gingen wir hinaus und sammelten sie ein und bedeckten ihre niedergebrannten Feuer mit Asche.« Er deutete auf das bronzene Heft eines Dolches, der in seinem Bauchgurt steckte. »Ich hab' damals das Messer bekommen, als wir ihre Sachen unter uns aufgeteilt haben.« Hiero überlegte. Daß die Bangnisse, die diese Leute ausstanden, echt waren, daran bestand kein Zweifel. Es ließ sich nicht verbergen. Geister! Hiero blieb nachdenklich stehen. Die schaurige Geschichte, die er gehört hatte, mußte irgendeinen wahren Hintergrund haben. Was immer diesen Händlern damals widerfahren sein mochte, es steckte jedenfalls mehr dahinter als bloß irrationale Angst. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich sehe, ihr fürchtet die Nacht und das, was in den dunklen Stunden kommt.« Ein sonderbarer Gedanke regte sich in seinem Unterbewußtsein, so daß er hinzufügte, ohne genau zu wissen warum: »Ich fürchte mich nicht vor den Läufern der Nacht.« Der Mann, der vor ihm stand, fuhr zurück, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Er wirbelte herum und rannte zum Tor des
Dorfes, wobei er irgend etwas rief. Ein herbeilaufender Knabe legte hastig das Bündel, das er trug, auf die Erde, und machte ebenfalls kehrt. Alle übrigen Männer stürmten gleichfalls davon, als wäre Hiero irgendein Dämon, der sie auf der Stelle verschlingen wollte. Das Tor, das nur einen Steinwurf entfernt war, begann sich zu schließen, nachdem der letzte Mann hineingelaufen war. Mit einem dumpfen Laut fiel es dann zu. Hiero ging langsam weiter und untersuchte das Paket, das der Knabe mit einemmal fallengelassen hatte. Es handelte sich, wie er vermutet hatte, um zwei Laibe des versprochenen Brotes, das noch warm war vom Ofen und in ein Stück Tierhaut eingeschlagen war. Hiero richtete sich wieder auf und blickte sich um. Die Viehhirten waren mitsamt ihren Herden ebenfalls verschwunden. Die Sonne im Westen näherte sich schon dem Horizont. Hiero sah neugierig zum Dorf und seiner Palisade mit den schrägstehenden, angespitzten Pfählen. Weder über dem Zaun noch auf der Plattform im Baum konnte er einen Kopf entdecken. In der Ferne wirbelten vor der roten Sonne galoppierende Antilopen eine kleine Staubwolke auf. Außer diesen und einigen Geiern, die als schwarze Punkte über den Himmel zogen, regte sich nichts. Hiero schickte seine Gedanken aus, um das Dorf zu erkunden. Was er entdeckte, war eine einzige chaotische Masse von reinstem Grauen, so daß sogar er Mühe hatte, sie zu durchdringen und einen einzelnen Menschen herauszusondern. Verwunderlich war für ihn, daß die Angst derartig stark und lähmend war. Als wäre sie zutiefst verwurzelt, angeboren oder vererbt – überlegte er. Nachdem er das Bündel mit dem Brot aufgehoben hatte, legte er den Speer über die Schulter und hielt auf den nächsten Baum zu, der etwa eine halbe Meile entfernt stand. Ich will verflucht sein, wenn ich renne – war sein letzter Gedanke.
7. Jäger und ihre Beute Hiero hatte sich auf einer breiten Gabel hoch in der äußeren Krone eines Baumes ausgestreckt. In der Ferne brüllte der Säbelzahntiger, woraufhin alles still wurde. Es war eine bewölkte Nacht, und der unstete Mond kam und ging zwischen den ziehenden Wolken. Hiero blickte in Richtung des Dorfes, erkannte aber nur seine düsteren Umrisse als schwarzen, lichtlosen Fleck im wechselhaften Mondschein. Bis auf das gelegentliche Muhen eines Kaws aus einem Pferch war kein Laut aus dem Dorf herangetragen worden, seit er seinen Baum erklommen hatte. Hiero ruhte anscheinend unbeschwert, aber der Speer lag ihm fest in der rechten Hand, während er am anderen Arm seinen Schild trug. Bei Gefahr könnte er den Speer aus der Hand legen und binnen eines Augenblicks das alte Kurzschwert am Rücken ziehen. Er hätte sich keine bessere Verteidigungsstellung suchen können. Nun gab es weiter nichts zu tun als abzuwarten, was die Nacht mit sich brächte. Rechtzeitig bevor die Sonne im Westen unterging, hatte er den Baum erreicht und bestiegen. Er hatte gegessen und sich das grobe Brot munden lassen, das nach all den Wochen ohne Korn köstlich schmeckte. Mit dem Einbruch der Dämmerung hatte er vorsichtig seine Gedanken ausgeschickt, um die Gegend in immer größeren Kreisen zu erkunden. Damit hatte die Überraschung begonnen. Denn beinahe sofort hatte er Kontakt zu anderen Gedanken! Kaum hatte er ihn zart angetippt, zog sich der andere Verstand zurück wie eine Schlange, die sich nach dem Zustoßen wieder einringelt. Anstelle eines Gedankenaustausches gab's nur einen sofortigen Rückzug. Hiero hatte den Eindruck, worauf er gestoßen war, hatte weder gewußt, was es berührt, noch dies wissen wollen. Es verfügte über einen Auslöser-Reflex, der so gut war wie Hieros eigene automatische Absperrung. Was immer das für ein Verstand sein mochte, er war ausgestattet mit einem Sicherheitsfaktor, der ihn im Augenblick des Kontakts ausschaltete. Dies gab einem zu denken.
Hieros diesbezügliche Fähigkeiten waren unter Druck, dem Druck der Unreinen erworben worden. Aber er hatte das Gefühl, daß dieses Wesen auf solches Training verzichten konnte, daß ihm diese Gabe angeboren war. Das Laub des Baumes raschelte im leichten, frischen Wind, der in der kühlen Nacht aufgekommen war. Hiero schickte seine Gedanken abermals aus, um den Verstand wiederzufinden. Und diesmal erlebte er eine neue Überraschung. Seine Muskeln verkrampften sich, als ein Kontakt zustandekam. Es handelte sich um eine ganze Gruppe von ähnlichen Gehirnen – ein Dutzend vielleicht! Wieder löste sein Vortasten die automatische Abschaltung aus, als sie ihm zu entwischen suchten, indem sie sich hinter einem Gedankenschirm von einer Dichte verbargen, die er nicht durchdringen konnte. Doch diesmal hatte zumindest eines der fremden Wesen ihn gespürt – wenn auch nur flüchtig. Hiero schnappte im letzten Moment das Bewußtsein darüber auf. Es wußte vielleicht nicht, was es berührt hatte, wußte aber, daß eine Berührung erfolgt war. Hiero beschloß, eine Weile still zu sein und nichts mehr zu versuchen. Vielleicht könnte er durch eine andere Taktik mehr in Erfahrung bringen. Sein Verstand blieb offen, empfänglich für den geringsten Gedanken von außen. Wenn er wartete, kämen die flüchtigen Wesen, die er aufgespürt hatte, vielleicht zu ihm, um auf ihre Weise neue Kontakte herzustellen. Eine ganze Weile geschah nichts. Als sich schließlich etwas tat, schien es nichts mit ihm zu tun zu haben. Er wurde zunächst durch einen Laut darauf aufmerksam. Weit draußen in der Savanne nordöstlich von Metz und von den stillen Palisaden des Dorfes ertönte das Kreischen eines erschreckten Tiers. Hiero hatte sich längst gewundert, daß überhaupt keine größeren Tiere in der Nähe des Dorfes anzutreffen waren. Zu Beginn hatte er eine ganze Reihe davon bemerkt, allerdings in mittlerer Entfernung. Nach Anbruch der Dunkelheit gab es nun offenbar überhaupt keine – weder Räuber noch ihre Beute. Die einzigen Lebewesen um ihn herum waren Kleintiere. So gab es Schlangen und Eidechsen, Nager und Wiesel
und fuchsartige Jäger. Der Schrei aus der dunklen Savanne stammte von einem großen, einem gejagten Tier in höchster Not. Hiero tastete sich mit seinen Gedanken an es heran und spitzte gleichzeitig die Ohren. Bald hatte er es mit beiden Sinnen entdeckt. Er hörte schwaches Hufgetrappel, und in seinem Denken spürte er die panische Angst eines großen Pflanzenfressers, der um sein Leben galoppierte – galoppierte, bis ihm das Herz im Leib zersprang. Hiero spürte die Richtung; das Tier näherte sich ihm rasch. Der Mond, brach durch die ziehenden Wolken, so daß Hiero die Jagd nun – sichtbar in den Schwarz- und Grautönen einer Radierung – mit den Augen verfolgen konnte. Ein großer Bock mit mächtigen, leierförmigen Hörnern flog in panischer Flucht übers Land. Ihm folgten seine Jäger – und sie boten ein wunderliches Bild. Es waren Zweifüßer, und sie rannten mit einer Geschwindigkeit, die Hiero für unmöglich gehalten hätte. Die schnellsten Läufer aus Lucares Königreich hätten mit ihnen keinesfalls Schritt halten können. Hiero wußte sehr wohl, zu welchen Geschwindigkeiten die großen Antilopen in der Lage wären, aber diese Jäger holten sie spielend ein! Hiero konnte nach längerem Hinsehen erkennen, daß es sich um etwa ein halbes Dutzend der schlanken, hochwüchsigen Räuber handelte. Was immer sie sein mochten, er beschloß, sich jetzt nicht mit seinen Gedanken zu ihnen vorzutasten. Die Jagd hielt geradewegs auf seine Baumgruppe zu. Wenn es sich um die flüchtigen Wesen handelte, die er vorhin auszumachen versucht hatte, woran er nicht zweifelte, so wäre es nur ratsam, sie nicht auf sich aufmerksam zu machen. Dann erkannte er freilich, daß er hierbei gar nichts zu bestimmen hätte. Mit einemmal wurde ihm nämlich klar, daß das gejagte Wild überhaupt nicht bestrebt war, sein Wäldchen zu erreichen! Als Fluchttier der weiten Savanne wollte es vielmehr ins freie Land hinaus. Es kam zu seinen Bäumen, weil ihm keine Wahl blieb. Die unglaublichen Läufer trieben es hierher.
Die große Antilope versuchte mehrmals, zu wenden und auszubrechen. Jedesmal beschleunigte einer der unbeschreiblich schnellen Zweifüßer das Tempo, um die Lücke zu schließen und das Tier zurück in die vorgesehene Richtung zu treiben. Des weiteren wurde das Tier nicht in das Wäldchen gehetzt, wie der Metz nun plötzlich feststellte, sondern ganz speziell zu seinem Baum! Mäuschenstill verfolgte er das Ende. Der in die Enge getriebene Bock wandte sich um und stand mit dem Rücken zum Stamm des Baumes, zu dem er geflohen war. Hätte Hiero einen Zweig fallengelassen, hätte er damit das keuchende Tier mit den gesenkten Hörnern treffen können. Das Ende kam sehr schnell. Einer der düsteren Jäger griff von vorne gegen die Hörner an und wich so flink, daß Hiero den Bewegungen kaum folgen konnte, zur Seite aus, wobei er den gefährlichen Spitzen nur um Haaresbreite entging. Darauf hatten die anderen nur gewartet. Ebenso blitzschnell sprang ein zweiter von der Seite heran und verschmolz mit dem Tiernacken. Die Antilope schüttelte den Kopf und suchte mit den Vorderläufen einen besseren Stand. Ein dunkler Strom ergoß sich von seiner Kehle. Ein letztes Beben lief durch den Körper, dann brach der Bock zusammen, zuckte noch ein paarmal mit den Beinen und rührte sich nicht mehr. Hiero hatte wohl noch nie einen schnelleren Tod gesehen. Als er sich dann nach den Zweibeinern umblickte, um zu sehen, erlebte er die nächste Überraschung. Sie waren weg. Die sechs großen, schlanken Gestalten im Halbkreis vor seinem Baum hatten sich von einem Moment zum andern in Luft aufgelöst, als hätte es sie nicht gegeben. Wäre da nicht der Kadaver der Antilope gewesen, hätte Hiero denken können, er habe das Ganze nur geträumt. Er wartete ungeduldig. Es kam ihm recht unwahrscheinlich vor, daß die Meute das Tier aus purem Zufall so zielstrebig zu seinem Baum getrieben hatte. Nein, irgend etwas war im Anzug; er durfte nicht unvorbereitet sein.
Was kam, war nichts Physisches. Er spürte einfach eine Angst in sich, die immer stärker wurde. Dabei handelte es sich nicht um irgendeinen klaren, definierbaren Denkprozeß, sondern vielmehr um ein Gefühl der Bedrücktheit, ein Gefühl, wie wenn das Barometer fällt und ein Gewitter in der schwülen Luft liegt. Nur war das Ganze bei Hiero mit Angst verknüpft! Etwas war im Anzug, etwas beschlich ihn, und er war ihm hilflos ausgeliefert. Die Nacht war voller gelber oder rötlicher Augen, die durch die Dunkelheit spähten und nur auf ihn gerichtet waren. Der Nachtwind trug einen moschusartigen, scharfen Geruch heran, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Dieser seltsame Gestank erhöhte seine Furcht noch, und schon lockerte sich der Griff seiner Hand um den Speer. Diese Bewegung der Hand löste eine hemmende Wirkung aus. Seine Gedanken wurden wieder klar, und Hiero erkannte, daß er in einen Bann geriet, wie er ihm völlig fremd war. Er, der all sein Lebtag gejagt hatte, wurde nun selbst gejagt. Schlimmer noch, er wurde behandelt, als wäre er schon ein wehrloses Opfer! Er riß sich zusammen und machte sich daran, den wunderlichen Zauber zu erkunden, der ihn immer mehr befiel. Nicht sein Verstand war das Ziel des Angriffs. Eines solchen Übergriffs hätte er sich leicht erwehren können, und es sprachen keine Anzeichen dafür. Was dann? Sein Körper? Bis auf den beißenden Gestank hatte er nichts Physisches bemerkt. Dennoch wußte er ohne den geringsten Zweifel, daß er das Ziel eines konzentrierten Angriffs war. Das starke Angstgefühl war noch vorhanden, aber er hatte es nun bezwungen, so daß es nicht mehr vermochte, ihn zu ungewollten Handlungen hinzureißen. Die Augen waren eine von der Angst hervorgerufene Illusion. Sie waren nicht wirklich zu sehen. Der Geruch, der ihm in die Nase stieg, und der Schweiß, der ihm aus der Haut trat, waren ebenfalls Folgen der Angst, der irrationalen Angst, die sein Verstand zwar
unter Kontrolle hatte, die aber offenbar keinen begründeten Ursprung hatte. So unwahrscheinlich dies auch klingen mochte, er war einem Angriff auf seinen Willen ausgesetzt, der sich auf chemischem Wege vollzog, verstärkt durch gewisse mentale Übergriffe auf sein Gemüt. Hiero kniff nachdenklich die Augen zusammen, als er den biologischen Überfall zu ergründen und zu analysieren begann. Gleichzeitig entschuldigte er sich in Gedanken bei den Dorfbewohnern, die er für so dumm gehalten hatte. Wenn dies eine Probe dessen war, womit sie zu leben hatten, hatte er ihnen mit seinen bisherigen Ansichten zu dieser Sache Unrecht getan. Irgendwie konnten diese Jäger der Nacht ein tiefes, animalisches Niveau der Psyche ansprechen. Der Geruch, vermutlich eine natürliche Verteidigung, war das zweite Angriffsmittel, um die Angst zu vergrößern, die durch Konzentration des Willens ausgelöst worden war. Intellektuelle Fähigkeiten waren wirkungslos gegen eine solche animalische Einwirkung. Ihr Angriff umging den Verstand und traf den Sitz der Gefühle, den gleichen emotionalen Unterbau, der ein Kind weinen oder einen Hund Speichel absondern läßt. Sobald diese Jäger das Gefühlszentrum ihres Opfers im Griff hatten, war es ihnen ausgeliefert. Es war buchstäblich starr vor Schreck, bevor es der eigentliche Tod ereilte. Die tote Antilope hätten die Jäger, falls gewollt, vermutlich völlig lähmen können, so daß sie zu keinerlei Gegenwehr imstande gewesen wäre. Warum nur hatten sie das nicht gewollt? Hiero glaubte, die Antwort zu wissen. Zum ersten Mal, seitdem er ihre Anwesenheit erahnt hatte und wußte, daß ihm ihr Trachten galt, huschte ein grimmiges Lächeln über seine Lippen. Die Jäger verloren allmählich die Geduld. Er spürte den Ärger, der ihn fast wie eine greifbare Woge traf. Warum stieg er nicht von seinem Baum herab, um seine nackte Kehle anzubieten? Aus dem Ärger wurde Zorn, und Hiero spürte ihn flammend unter sich auflodern. Bald würde es heiß hergehen. Diese Kreaturen hatten keinerlei Geduld, falls etwas gegen ihren Willen lief. Nun gut. Hiero hatte die Angst nun fest im Griff, während er noch die Folgen auf
seine Nerven und seinen chemischen Haushalt ergründete. Er war nun selbst ungehalten, aber sein Zorn war eher unterschwellig. Bald würde jemand eine strenge' Lektion erteilt bekommen. Er glitt über den Ast und kletterte vorsichtig zu einer niedrigeren Gabel, während der Wind mit seinen Haaren spielte. Tiefer wagte er sich nicht, denn er hatte die unglaubliche Geschwindigkeit und Wendigkeit der Jäger, die er vorhin erlebt hatte, nicht vergessen. Wäre seine Annahme richtig, hätte er es nur mit jeweils einem Gegner zu tun, zumindest am Anfang. Wieder schob sich eine Wolkenbank vor den Mond. Hiero stählte sich. Er hatte die Entfernungen zu allen Ästen im Geiste gemessen. Sein Schwert trug er in der Hand, der Speer lehnte am Stamm hinter ihm. Es würde hart auf hart zugehen. So was liebten die Angreifer, wenn er sich in ihnen nicht täuschte. Als der Mond verschwand, kam ein erstes warnendes Kratzen von Klauen. Die dunkle Gestalt huschte wie ein Schatten über den Stamm, kein bißchen langsamer als auf dem Boden; Hiero allerdings war darauf gefaßt. Behutsam ließ er die flache Klinge auf den Schädel niedersausen, sobald er in seiner Höhe auftauchte. Dem dumpfen Schlag folgte ein langer, schlürfender, scharrender Sturz, als das halb betäubte Ding sich im Fall abzufangen versuchte. Dann hörte Hiero den Aufprall auf dem Boden, woraufhin er in schallendes Gelächter ausbrach. Er wußte, damit auf aufmerksame, zornige Zuhörer zu stoßen, und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Die Wut, die inzwischen unter dem Baum herrschte, schlug ihm als etwas fast Massives entgegen. Der nächste Angreifer kam langsamer, aber noch ziemlich schnell heraufgeklettert. Hiero verzagte nicht; wieder hieb er mit der flachen Klinge zu. Sein Opfer trug am Arm eine Art ledernes Seil oder Lasso. Sie wollten ihn also lebend, nicht wahr? Wieder folgte ein scharrender, krachender Sturz, diesmal begleitet von einem Schrei, einem hohen, schrillen Laut. Des weiteren wirkte der Fall diesmal wuchtiger, schwerer. Abermals stimmte Hiero ein hämisches Lachen
an und wollte damit jene, für die es bestimmt war, zur Raserei bringen. Tatsächlich war die Reaktion, wie er sie beabsichtigt hatte. Freilich setzten sie ihren Stolz etwas hintan, denn sie griffen nun zu zweit an. Blitzschnell konnten sie auf dem Baum sein; Hiero aber, der sich mit den Beinen fest in der breiten Gabel verspreizt hatte, konnte Arme und Rumpf ebenso schnell bewegen. Der erste Angreifer bekam den Schild ins Gesicht und fiel wie die vorigen benommen zu Boden. Der zweite, der an der Rückseite des Baumes emporgeklettert war, war bis zur ersten Gabelung des Stammes gelangt, ehe ihn die flache Schwertklinge hinterm Ohr traf. Ein Messer fiel klirrend vom Baum, nachdem aus der Hand, die es hielt, alle Kraft geschwunden war. Dieser Jäger nun sollte eine Weile im Baum bleiben! In diesem Augenblick lugte der Mond hinter den Wolken hervor, so daß der Priester zum ersten Mal sah, was da zu seinen Füßen lag. Im Mondschein, der durch die schaukelnden Blätter und Zweige drang, offenbarte sich ihm ein gar liebliches Wesen. Die Gestalt war mindestens so groß wie Hiero und trug ein feines, dichtes Fell, das dunkel auf hellem Untergrund gesprenkelt war. Die Spitzen ihrer Brüste waren ebenso aus blanker Haut wie ihre flache, breite Nase mit den aufgeblähten Nüstern. Die flache, breite Stirn trug ein dunkles, langgezogenes Mal; das fliehende Kinn war gleichfalls flach. Die geschlossenen Augen unter den wulstigen Brauen waren groß, und die feinen, spitzen Ohren saßen höher als in einem Menschengesicht. Der schmale Schädel barg im Hinterkopf genügend Raum für ein großes Gehirn. Während er achtsam auf Bewegungen unter dem Baum lauschte, untersuchte er die langen, dünnen Gliedmaßen. Bis auf den Pelz waren Hände und Füße recht menschenähnlich, aber kein Mensch hat spitze, einziehbare Krallen anstelle von Fingernägeln! Sie war so gut wie nackt mit ihrem breiten, ledernen Lendenschurz, an dem ein Beutel und eine leere Messerscheide hingen. Hiero, dessen Verdacht sich also bestätigt hatte, stand auf.
Katzen! Seit dem ersten schwachen Raubtiergeruch, dem flüchtigen Gedankenkontakt, hatten ihm all seine Reflexe, all seine Erinnerungen, all sein seit der Kindheit erworbenes Wissen über das Tierreich unablässig zugerufen: Katzen! Er stand hier vor einer völlig unbekannten Mutation. Mit Gewißheit war nicht einmal in den Archiven der Abteien etwas darüber zu finden. Diese Nachtläufer waren vermutlich etwas Neues für die Menschheit. Wohl nur die Eingeborenen dieser entlegenen Savannendörfer waren ihnen begegnet und hatten die Begegnung überlebt. Hiero besann sich auf die Geschichte des Ältesten von den Händlern, die still und leise verschwunden waren. Er konnte sich gut vorstellen, was sich an den Feuern abgespielt haben mußte, als die Angst und der Geruch sich auf die arglosen Männer herabsenkten. Dies war also die Ursache für die tief verwurzelte Furcht der Hirten vor der Dunkelheit. Augen im Dunkeln, um sich greifende Angst und zuletzt – Tod! Hiero hörte nun, daß sich unter dem Baum etwas rührte. Wenn genug von ihnen angreifen würden, sobald der Mond wieder verdeckt wäre, könnten sie ihn spielend überwältigen. Zwar müßten viele von ihnen ihr Leben lassen, aber zuletzt ginge es ihm an die Kehle. Es wurde Zeit für eine neue Taktik. Er tastete sich mit seinen Gedanken voran, während er einen Fuß auf den Leib seiner Gefangenen stellte, so daß er unter seiner Sandale das schwache Heben und Senken des Brustkorbs spürte. Diesmal erwischte er auf ihrer sonderbaren Wellenlänge ein junges Wesen, das nicht auswich, ein Wesen in höchster Erregung, rasend vor Wut. Es schickte bereits Impulse, allerdings nicht zu ihm, sondern zu der Katze, die mit einemmal abhanden gekommen war. Hiero hatte es mit dem Führer zu tun, einem Kater, der all sein Lebtag noch nicht derartig dreist herausgefordert worden war. Hiero konnte seine funkelnden Bernsteinaugen, die erregt aufgestellten Rückenhaare, die ausgestreckten Krallen und zurückgelegten Ohren fast sehen.
Die Reaktion zu Hieros Vorstoß auf dem Wellenbereich, den ausschließlich die Katzen nutzten, war zunächst eine verblüffte, dann erzürnte. Aber – das Gehirn unter ihm blieb zugänglich; die Verbindung brach nicht ab. Wo ist die junge Kätzin? Komm runter von diesem Affensitz, oder wir töten dich ganz langsam! Die Mitteilung war für einen mit Hieros Ausbildung unmißverständlich klar. Diese Wesen benutzten untereinander die Gedankenverständigung, so daß ihre Vorstellungsinhalte schnell und deutlich dargestellt waren. Die Verachtung im Wort ›Affensitz‹ war ebenfalls deutlich vernehmbar. Mich zu töten ist nicht so leicht, schickte der Mensch als Erwiderung. Ein paar verstauchte Glieder und brummende Schädel sollten Beweis genug dafür sein. Ich habe deine Kätzin hier in meiner Gewalt. Abgesehen von einem weiteren Brummschädel ist sie unverletzt, aber das kann sich rasch ändern! Er ließ seine Verachtung unmißverständlich durchklingen. Diese Kreaturen trieben ihr Spiel schon viel zu lange! Die Gedankenverbindung brach in der für diese Katzen typischen Weise ab. Allerdings vernahm Hiero von unten ein schnurrendes Gemurmel. Die Katzen waren nicht auf den Kopf gefallen. Ihre gesprochene Sprache könnte er schwerlich belauschen, wobei sie im übrigen nicht genau wußten, wozu er imstande wäre. Deshalb wollten sie lieber Vorsicht walten lassen gegenüber diesem neuen Phänomen. Die Maus zeigte Zähne! Also nur nichts überstürzen und gut überlegen, was zu tun wäre. Mittlerweile spürte Hiero, daß in den Körper unter seinem Fuß allmählich wieder Leben kam. Er bückte sich rasch und löste die Schnalle an seinem Gürtel, woraufhin er ihr die Arme auf den Rücken fesselte. Mit einem kurzen Lederriemen aus seinem Ranzen band er ihr an den Knöcheln die Füße zusammen. Falls ein neuer Angriff käme, wollte er keinesfalls eine Einmischung von seiten einer rasenden Wildkatze dieser stürmischen Gattung riskieren.
Nach einer Weile schickte der Führer eine weitere Mitteilung hinauf. Laß die junge Kätzin runter! Wenn ihr nichts geschieht, überlegen wir uns das Ganze. Andernfalls kommen wir und bringen dich um. Im fahlen Licht des wolkenverhangenen Mondes sann der Metz nach. War das nur Bluff? Die Kreatur unter dem Baum hatte nichts versprochen. Sobald sie die junge Kätzin wiederhätten, könnten sie erneut angreifen und hätten nichts verloren – im Gegenteil. Er hingegen hätte seine Geisel verloren, die ihnen offensichtlich viel wert war. Seine Gedanken überschlugen sich, als er abwägte, was er wußte und was er über diese Wesen erraten hatte, wobei er vor allem ihre Herkunft und ihr wahrscheinliches Verhalten gegenüber einer neuen Situation in Betracht zog. Dem Menschen fiel nicht nur das rücksichtslose Vertrauen auf, sondern noch etwas anderes, nämlich zweierlei, um genau zu sein. Zum einen ein Gefühl der Aufrichtigkeit, als hätte es das Wesen noch nie nötig gehabt zu lügen; zum andern etwas, worauf Hiero von Anfang an gehofft hatte: Neugier. Das würde die Katzen vielleicht nicht umbringen, könnte aber von Nutzen sein. Nicht zum ersten Mal in seinem aufregenden Leben beschloß Hiero, das Wagnis einzugehen. Seine Gefangene hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Aus den länglichen Augen funkelte sie ihn verachtungsvoll an, wobei sich die Sehschlitze zornig verengten. Sie bleckte die scharfen Zähne im breiten, fast lippenlosen Mund, um ihm zu zeigen, was sie bei erster Gelegenheit mit ihm machen würde. Hiero bemerkte die feinen Schnurrhaare auf der Oberlippe und entlang der spitzen Schnauze – denn das war die Nase in Wirklichkeit, stellte Hiero nun fest. Sei schön artig, Schwesterchen. Ich tu dir nichts. Ich lasse dich frei und hinunter. Dein Führer – er übermittelte ihr ein Bild der dominanten Katerpersönlichkeit – hat gebeten, daß ich dich unversehrt zurückgebe. Langsam löste er die Fessel an ihren Beinen und dann an den Armen, wobei er stets wachsam auf mögliche jähe
Bewegungen achtete. Er fürchtete zwar nicht unbedingt den Zweikampf mit diesem Geschöpf, war sich aber darüber im klaren, daß die Zähne und Krallen nicht nur als Zierde dienten. Sie erhob sich ebenso vorsichtig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihr Blick war nicht mehr zornig, sondern verblüfft. Als er ihr das lange Messer reichte, das er schon vorhin aus der Baumgabelung geborgen hatte, machte sie noch größere Augen. Dann steckte sie es in die Scheide am wieder umgeschnallten Gürtel und glitt über den Ast flink den Baumstamm hinunter. Hiero hockte sich zurück und wartete. Er hatte das Gefühl, lange warten zu müssen. Der Morgen graute und der Mond sank unter den Horizont. Ein paar Schakale bellten in der Ferne, und eine große Eule flog in Hieros Baum, bemerkte den Menschen und flatterte mit klagendem, angewidertem Geschrei wieder auf und davon. Aber Hiero wußte, daß er nicht allein war. Er hatte nicht die Absicht, seinen sogenannten Affensitz zu verlassen und nachzusehen, wie viele Augen ihn aus der Dunkelheit anfunkelten. Die einzelnen Gehirne waren ihm versperrt, aber er spürte eine gemeinsame Aura, die wuchs, als immer mehr Wesen der Nacht hinzukamen und sich der Gruppe anschlossen. Unter dem Baum mußte es inzwischen nur so von ihnen wimmeln. Er fragte sich, ob er in dieser Nacht blutig sein Ende finden würde und sprach seine Gebete mit besonderem Nachdruck auf die Tugenden Güte und Barmherzigkeit. Dabei dachte er in erster Linie nicht an seine Person, sondern an jene, die sie besäßen! Der Ruf kam so unverhofft wie alle anderen Reaktionen, die er beim Katzenvolk beobachtet hatte. Wenn du willst, daß dir nichts geschieht, dann steig sofort herunter! forderte der Führer ihn auf. Wir gehn jetzt und nehmen dich mit. Mürrisch fügte er hinzu: Du kannst deine Waffen behalten. Aber versuch nicht, sie zu verwenden! Als er bedächtig den Baum hinabkletterte, jubelte Hiero insgeheim. Es hatte funktioniert! Bis jetzt zumindest hatte er recht behalten. Die nächsten Minuten würden zeigen, ob seine Kehle heil
bliebe. Natürlich gab er sich keinen Illusionen diesbezüglich hin, eine ganze Schar dieser ungewöhnlichen Mutanten auf dem Boden abwehren zu können. Er schickte ein letztes Stoßgebet empor und setzte den Fuß auf die Erde. Es war dunkel unter dem Baum, aber nicht so dunkel, daß er den Kreis großer Gestalten mit den zornig funkelnden Augen nicht hätte sehen können. Er fragte sich, wie viele Menschen in der Vergangenheit mit diesem letzten Bild vor Augen gestorben seien – gelähmt vor Angst und völlig wehrlos. Der Griff um seinen Speer wurde fester. Immerhin hielt sich seine Angst in Grenzen, und wehrlos war er auch nicht. Komm! Es war der Führer, der befahl. Du kannst gehen, wie du es gewohnt bist. Wir werden langsam gehen und warten, langsam wie die Kriecher da drüben. Der verächtliche Gedanke war aufs Dorf gerichtet. Ich bin nicht von da drüben, erwiderte Hiero, wie ihr heut' nacht wahrscheinlich festgestellt habt. Seine Kühnheit ließ den Zorn wieder aufflammen. Diesen Leuten war es völlig fremd, daß ihnen in irgendeiner Weise Widerstand geboten wurde; schon gar nicht von bloßen Menschen. Der große Führer jedoch beherrschte seinen Unmut. Er beugte sich nun über Hiero, den er um einen guten Kopf überragte, wenn der Metz sich in dem düsteren Licht nicht verschätzte. Nein, du bist gewiß nicht wie die. Du kannst sprechen, wie nur (Hiero übersetzte den seltsamen, vokalreichen Ausdruck mit ›Terowär‹; genauer konnte er's nicht wiedergeben) sprechen. So was ist uns neu. Du widerstehst unseren tödlichen Gedanken und sogar dem Todeswind. Das war offensichtlich der beißende Gestank, der den Willen widerstandslos machte. Nein, führ der Katzenmann fort, du bist keiner von da drüben. Vielleicht bist du von einer ganz anderen Rasse. Vielleicht bist du was viel Schlimmeres! Es gibt alte Sagen über solche, wie du's vielleicht bist. Unsere Alten, wenigstens einige davon, erinnern sich,
wie ich, nur noch schwach daran. Wenn du bist, wofür ich dich halte, wünschst du dir, in deinem Baum gestorben zu sein! Sie setzten sich nun in Bewegung und zogen ostwärts durchs hohe Gras der Savanne unter dem bewölkten Himmel. Sie rannten mit mäßigem Tempo, das keineswegs eine Herausforderung für Hieros Laufvermögen darstellte. Der Metz, um den die Wesen der Nacht einen Kreis gebildet hatten, beschloß, dies nicht zur Sprache zu bringen. Vielleicht könnte er später darauf zurückgreifen. Der Führer meldete sich im Verstand des Menschen wieder zu Wort. Der Zweifel, der aus seiner Mitteilung sprach, entging Hiero nicht. Ich persönlich hoffe, daß du nicht bist, wofür wir alle dich halten. Es folgte eine fast unwillkürliche Pause. Du hast Mut. Du bist nur auf mein Wort hin allein heruntergekommen. Obendrein hättest du jene, die du mit deinem großen Messer getroffen hast, leicht töten können, wie diese eingestehen. Wieder eine Pause. Die junge Kätzin mag dich, auch wenn ihr der Schädel brummt. Sie ist eine Hüterin des Windes. Hiero verstand, daß es sich dabei um einen gewichtigen Titel handelte. Junge Kätzinnen, selbst Hüterinnen, spielen mit allem. Sie stehlen den Affen, die hinter der Holzmauer hausen, ihre Jungen, um sie zu Spielgefährten abzurichten. Freilich sterben sie immer. Hiero schickte ein stummes Stoßgebet für die vielen verlorenen Kinder der unglückseligen Dorfbewohner zum Himmel. Sag deinen Namen laut, in deiner Sprache! bestürmte er plötzlich den Führer. Zur Antwort erhielt er einen knurrenden, schnarrenden, grunzenden Laut, den kein Mensch richtig nachahmen könnte. Dennoch versuchte Hiero es und kam schließlich auf etwas wie ›Buorch‹. Er spürte die Belustigung über sein Unterfangen im Denken des anderen. Jeder kleine Fortschritt in dieser Richtung würde sich später vielleicht reich auszahlen.
Nach ungefähr einer Meile meldete sich Buorch von neuem. Du bist ein Jäger wie wir, Fremder. Der Ausdruck bedeutete eigentlich ›Kuriosum‹ oder ›Rätsel‹. Diejenigen von der Holzwand jagen mit Fallen und bedeckten Gruben. Kannst du im Dunkeln jagen wie wir? Ja, dachte Hiero. Aber ich jage langsamer. Ich kann in der Nacht nicht so gut sehen wie ihr. Und ich kann nicht so schnell rennen. So habe ich noch keinen rennen gesehen, meinte er ganz ehrlich. Keiner kann mit uns mithalten, versetzte Buorch voller Stolz. Wir sind die Kinder des Nachtwinds. Dennoch, meinte er, gibt es sogar unter diesem niedrigen Volk gute Jäger, die teilweise der Beute auflauern. Manchmal machen wir Jagd auf sie! Und dabei kommt zuweilen der eine oder andere von uns nicht mehr zurück. Hiero war sich darüber im klaren, daß der Kater eine Rechtfertigung dafür suchte, einen gemeinen Menschen, mochte er auch noch so verwunderlich sein, gleichsam wie einen Ebenbürtigen oder fast Ebenbürtigen zu behandeln. Dem arroganten Führer war dies ein Bedürfnis. Freilich spielte noch ein zweiter Faktor eine Rolle, derjenige nämlich, mit dem der Metz von Anfang an gerechnet hatte: der Führer war neugierig. Er empfand das neue Rätsel als verlockend und wollte keineswegs davon lassen. Das Kätzchen hatte einen neuen Wollknäuel gefunden! Nicht nur die jungen Kätzinnen spielten gern mit allerlei Dingen, wie es schien. Hiero verkniff sich ein Lächeln bei der Vorstellung, der neben ihm tapsende Riese sei einmal ein Kätzchen gewesen. Wir mögen sie nicht, die Affen hinter den Wänden, die von Pflanzen und von ihren zahmen Tieren leben. Die Milch der Tiere ist freilich gut, und wir nehmen uns reichlich davon. Eine Sie – du hast ihr fast den Schädel eingeschlagen – hast du schon kennengelernt. Bald wirst du einer anderen Sie begegnen. Vielleicht erfährst du, warum wir die Kreaturen, die dir viel ähnlicher als uns sind, nicht mögen. Mir fallen schon die schlimmsten Sachen ein. Reden wir nicht mehr, bis wir im Heim/Lager sind. Diese letzten Gedanken waren gar nicht ermutigend.
Seit einer Weile schon hielten sie auf einen dunklen Schatten zu, der sich aus der Ebene erhob. Es handelte sich um eine ähnliche Baumgruppe wie die, in der Hiero Zuflucht gesucht hatte. Nur war sie größer und nicht leer, das spürte der Metz deutlich. Das Katzenvolk vermochte zwar den einzelnen Verstand vor ihm verbergen; als Gruppe aber strahlte es ein Miasma aus, das er als gedankliche Wolke leicht aufspüren konnte. Dieses Gehölz also war ihre Heimstatt. Er hoffte nur, daß es nicht seine letzte Heimstatt würde! In wenigen Minuten gelangten sie an den Saum des Wäldchens und eilten über einen schmalen Pfad durchs Unterholz. Nach vielen wirren Windungen gelangten sie schließlich auf eine Lichtung inmitten dichtstehender Bäume. Hieros Gesichtssinn war so gut ausgebildet, daß er im Dunkeln die vielen Leitern sah, die an den Stämmen festgemacht waren. Zu einer davon wurde er nun von den Katzen freundlich, aber bestimmt geführt. Die Leiter war recht steil und ziemlich hoch. Schließlich standen Hiero und Buorch allein auf dem äußeren Rand einer Plattform, einem Geflecht aus Lianen und Weidenruten, falls Hiero sich nicht täuschte. Allein? Nein. Es war noch jemand anwesend auf einer Matte aus Zweigen an der gegenüberliegenden Seite. Ein glühendes Augenpaar starrte sie aus der Dunkelheit an. Ein Arm winkte. Setzen! Seite an Seite setzten der Kater und der Mensch sich nieder, während die Gestalt vor ihnen sie stumm beäugte. Es wurde kein Versuch unternommen, seinen Verstand zu beschleichen oder mit dem Führer in Kontakt zu treten. Dafür spürte Hiero förmlich, wie die Person überlegte, alte Erinnerungen wachrief, abwägte, einschätzte und verwarf. Sie ließ sich Zeit. Schließlich erhob sie sich von ihrer Matte aus Zweigen, trat ein paar Schritte vor im düsteren Licht und hockte sich vor die beiden. Sie war alt, wie der Metz feststellte, alt und verbraucht. Aber sie sprühte vor Leben, war geistig rege und hellwach, obschon der Körper matt und die Knochen spröde geworden waren. Buorch war
gewiß ein guter Kämpfer und Führer eines Jagd- oder Kriegstrupps. Aber sie war der eigentliche Herrscher! Ich habe keinen Namen, nicht einmal in unsrer eigenen Sprache, Seltsamer! Aus ihren großen Augen funkelte eine innere Glut, aber es fehlte jedes Zeichen von Ungeduld, wie sie ihm selbst bei Buorch aufgefallen war. Ich bin die Sprecherin, ich bin die sich Erinnernde. Seit der vergessenen Zeit, in der wir frei geworden sind, muß eine wie ich das Volk zur Besinnung auf die Vergangenheit zwingen. Es darf die Schlechte Zeit nicht vergessen werden, die wir an einem anderen, einem fernen Ort verlebt haben, bevor unsre Ahnen Sonne und Mond haben aufgehen sehn. Nun kommst du – als erster vielleicht seit der Heranbildung und Benennung einer Sprecherin. Es mag deine Ankunft der einzige Grund dafür sein, daß es mich gibt, mich und die vielen Sprecherinnen vor mir, die der Wind verweht hat. Mit einer geschmeidigen Bewegung rückte sie noch näher zu den beiden. Hiero hatte das Gefühl, daß er nicht umhin könnte, nun darauf einzugehen. Eine vage Vorstellung bezüglich der Vergangenheit dieser Rasse war ihm in den Sinn gekommen, aber er behielt sie lieber für sich und schickte statt dessen eher Schmeichelhaftes hinüber. Zumindest bin ich kein Feind von euch. Ich habe dem Führer hier gesagt, daß ich nicht zu den Leuten der Savanne, den Dorfbewohnern gehöre. Ich denke, er glaubt mir. Die forsche Antwort lautete: Wer hier was zu glauben hat, das ist nicht er, sondern bin ich, Pelzloser. Deshalb bin ich hier. Nach diesem Kontra wurde sie wieder ruhig und wechselte das Thema. Wir sind nicht, wie du offenbar glaubst, Feinde dieser Kreaturen, die draußen in ihren Pferchen hausen und weniger lebendig sind als die Tiere, von denen sie sich ernähren. Nein! Wir benutzen sie. Und sie erfüllen einen zweiten Zweck, der auch dich unmittelbar angeht, denn du hast mit ihnen viel mehr gemein als mit uns. Kannst du dir denken, was für ein Zweck das ist?
Der Priester machte sich rasch Gedanken, die er freilich für sich behielt. Dies war eine schwerwiegende, gefährliche Frage. Er stand sozusagen am Rande eines Abgrunds. Er könnte mit dem nächsten Atemzug tot sein, wenn er die falsche Antwort gäbe. Dennoch konnte er nicht länger zaudern. Also beschloß er, alles zu wagen. Diese Leute da draußen im freien Gelände, die von meiner Art sind, obschon sie einfältig und an sich harmlos sind, dienen als – Beispiel. Sie gemahnen uns an längst vergessene Zeiten. Zeiten, als andere, die ihnen zumindest körperlich glichen, nicht harmlos waren! Er hielt die Luft an und blickte gespannt in die senkrechten Sehschlitze der Sprecherin. Diese, atmete fauchend auf, was Verwunderung und Anerkennung zugleich zum Ausdruck brachte. Du weißt also Bescheid? Und wenn ja, wieviel weißt du? Und vor allem, falls du tatsächlich im Bilde bist, woher stammt dein Wissen? Hiero formulierte seine Gedanken mit höchster Sorgfalt. Die Sache stand immer noch auf Messers Schneide. Eine falsche Bewegung, und der bullige Führer, der so still neben ihm kauerte, spränge ihm an die Kehle und zerfleischte ihn, ehe er sich rühren könnte. Die alte Kätzin brauchte nur zu nicken. Glaube mir, ich weiß nichts, entgegnete er. Aber ich bin in meinem Leben weit herumgekommen. Ich habe viele Länder bereist und gekämpft an der Seite von Bundesgenossen, die ihr euch in euren kühnsten Träumen nicht vorstellen könntet. Auf uns stürzten sich noch viel wunderlichere Gegner, teils von meiner, teils von anderer Gestalt. Die schlimmsten dieser Unholde, meine Erzfeinde, sind äußerlich von meiner Art. Er machte um der Spannung willen eine Pause. Nur äußerlich. Wobei ihnen freilich Haare fehlen, da sie an Kopf und Körper völlig unbehaart sind. Hatten sich nicht soeben die Pupillen verengt? Er fuhr fort: An geheimen Orten, die für gewöhnlich unterirdisch liegen, züchten sie Sklaven, zumeist aus anderen Rassen, die sie in ruchlose Diener des Bösen umwandeln. Wie zum Beispiel diese: Er übermittelte das Bild eines Zottelheulers,
eines Lemuts der Primatenfamilie, und nachdem sie es aufgenommen hatte, offenbarte er ihr eine grausige Menschenratte, das intelligente Riesennagetier. Allmählich wurde die Sprecherin gelöster, lockerte sich ihre Haltung. Aber sie ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Ihr nächster Gedanke hatte etwas Bittstellerisches an sich. Ihr Groll war – zumindest was ihn betraf – verflogen. Nun gut, wenn du's schon nicht weißt, ahnst du vielleicht wenigsten, was für eine Schmach auf uns, den Freiesten der Freien, noch lastet? Ich betrachte es nicht als Schmach, gegen seinen Willen von den Dienern des Bösen gefangengehalten und gemartert zu werden. Mir selbst ist dies widerfahren. Und ich bin entkommen, geflohen! Ja, ich bin noch immer auf der Flucht – zurück in meine nordische Heimat. Genauso sind einst auch die Kinder des Nachtwinds geflohen, um den weiten Himmel zu schauen und Freiheit zu atmen. Auch von Hiero war nun alle Spannung gewichen. Seine wüsten Vermutungen, gestützt auf verschiedene Andeutungen, die die ganze Zeit gefallen waren, erwiesen sich als korrekt. Mit ihrem nächsten Gedanken bestätigte die Sprecherin ihn darin. Zeig mir in deinen Gedanken den Feind! Einen von der Spitze, einen von oben! Dies fiel dem Metz nicht schwer. Das verhaßte Gesicht von Sduna, dem Unreinen Meister, seinem eingefleischten Todfeind, geisterte oft durch seinen Kopf. Die bleiche, haarlose Fratze mit den beinahe pupillenlosen, grausig funkelnden Augen und der boshaften Ausstrahlung nahm vor dem geistigen Auge der Katzendame Gestalt an. Abermals fauchte sie, wie auch der Führer neben Hiero fauchte vor Abscheu, die viele Generationen der Freiheit nicht hatten mildern können; die stolzesten und unabhängigsten Zuchttiere haßten ihre Kerkermeister von einst, die sie für ihre niedrigen Zwecke zu gebrauchen dachten, abgrundtief.
Das sind sie! Der Blitz soll sie erschlagen! Krepieren sollen sie in ihren Höhlen, verrecken diese Folterknechte, die die Jungen und die Alten umgebracht, mit ihren gescheiten Werkzeugen und scharfen Messern an ihnen herumhantiert haben. Denn sie machten uns wehrlos mit ihrem Willen, so daß wir wie gelähmt ausharrten, während sie uns ob unsrer Schmerzen verlachten. Sie würden aus uns etwas Brauchbares machen, sagten sie. Wir wären gute Diener, hätten sie uns erst gebrochen und ganz ihrem Willen unterworfen. Hör zu, Fremdling, der du sie ebenfalls haßt. Ich, die sich Erinnernde, die Sprecherin des östlichen Rudels, will dir von dieser Zeit berichten, wie mir von meiner Mutter berichtet worden ist! Erfahre die Geschichte, die all unsre Jungen erfahren müssen. Denn wenn du sie haßt – und ich spüre, daß du nicht lügst –, dann bist du unser Freund. Sei dir der Hilfe des Rudels gewiß! Endlich konnte Hiero sich vollends gelöst zurücklehnen. Die Unreinen, denen die bloße Vorstellung den Schaum der Raserei vor den Mund getrieben hätte, hatten ihm neue Bundesgenossen gestellt! Als im Osten der neue Tag heraufzog, hörte Hiero von der Gefangennahme des Katzenvolks in einem anderen Land, irgendwo viele Hundert Meilen im Südwesten. Er vermutete, daß die Unreinen die Katzen auf gesteigerte Intelligenz und Vitalität gezüchtet hatten, um aus ihnen eine neue Kriegerrasse zu machen, obschon er dies nicht zur Sprache brachte. Sie sollten sich täuschen! Mit der gesteigerten Intelligenz erhöhte sich der freie Wille. Das Katzenvolk wurde sich darüber bewußt, daß sie Sklaven, nichts als Vieh, Nutztier zur Verwirklichung des Großen Plans waren. Die Gefangenschaft förderte den Gemeinschaftsgeist. Schmerz und Verzicht förderten ihre Verschlagenheit. Sie organisierten sich. Es folgte eine blutige Nacht. Sie entwichen aus den Höhlen und unterirdischen Laboratorien, was auf beiden Seiten große Verluste kostete. Sie hatten ihre Herren dermaßen überrascht, daß die Entkommenen so gut wie gar nicht verfolgt wurden. Und sie rannten,
die Stolzen, die Freien, rannten, bis ihnen das Herz im Leib schier zersprang, rannten mit den Jungen im Arm. Schließlich befanden sie sich außerhalb der geistigen Reichweite, der unsichtbaren Ketten ihrer früheren Herrn, aber liefen dennoch weiter und gelangten eines Tages in ein neues Land. Hier ließen sie sich nieder, vergaßen aber nie, was ihnen geschehen war. Nie wieder würden sie sich so überrumpeln lassen. Die schauerliche Geschichte wurde jedem Jungen eingeschärft, bis sie unauslöschbar ins Rassenbewußtsein eingeprägt war. Als eine umherziehende Siedlergruppe mit ihrem Vieh in die Gegend kam, wachten im Dunkeln geschlitzte Augen. Die einzigen Menschen, mit denen das Katzenvolk Bekanntschaft geschlossen hatte, waren die Unreinen. Also wollte man die Siedler allesamt auf der Stelle umbringen. Aber die Vernunft siegte. Man beobachtete die verhaßten Kreaturen und kam zum Schluß, daß diese Menschen harmlos seien. Die Milch und das Fleisch – falls gewünscht – waren nützlich. Sollen die Siedler in ihrem Dorf bleiben. Wir besteuern sie – und herrschen über sie. Das Joch ihrer Herrschaft war nicht drückend, wenngleich es ein paar strenge Gesetze gab. Jeder Mensch, der die Kinder der Nacht aus der Nähe sähe, müßte sterben. Ausnahmen wären nicht statthaft. Bei den herrschenden Ältesten des Katzenvolkes war man der Meinung, daß die Menschen mehreren Zwecken dienten. Abgesehen von den leicht zugänglichen Speisen, die sie anboten, waren sie ein wandelndes Mahnmal für die Vergangenheit. Des weiteren waren die Dorfbewohner eine Tarnung für die Katzen, wodurch ihnen Zeit zum Handeln bliebe, sollten die Unreinen oder ihre Verbündeten in dieser Gegend auftauchen. Und so spielte es sich schon an die zweihundert Jahre ab, wie Hiero schätzte. Die Dorfbewohner hatten sich bei Nachtanbruch unweigerlich hinter ihre Palisaden zurückgezogen, woraufhin die Kinder der Nacht, die natürlich das Tageslicht scheuten, ausströmten und das Land für sich einnahmen. Als geschickte Jäger hielten sie die Gegend frei von gefährlichen Tieren, womit auch den drei Dörfern geholfen
war. Und das Katzenvolk teilte sich in drei Rudel, eins für jedes Dorf. Es war in gewisser Weise ein grausames Spiel, aber für die Dorfbewohner nicht nur nachträglich. Bald lernten sie die Regeln. Man müsse mit den Geistern leben, zu bestimmten Zeiten auf gewisse Weise Milch und Speisen anbieten. Wer nach der Abenddämmerung spurlos verschwunden ist, dem ist halt ein Geist erschienen. Ihre Angst hielt sie in den Dörfern und dämpfte jede Neugier. Hin und wieder sah ein Mensch, der von der Nacht überrascht wurde und auf einem Baum das Morgengrauen abwartete, in der Ferne eine Meute über die Savanne jagen und erkannte in den rennenden Gestalten die Götter seines Stammes, was auf Respekt und Gesetzestreue eine förderliche Wirkung hatte. Gleichmütig besann sich Hiero darauf, daß er gar oft Menschen gesehen hatte, die ein schlechteres, wenngleich ›freies‹ Leben führten. Eines Tages hätte er oder jemand anders vielleicht Gelegenheit, sich in bezug auf diese zwei gegensätzlichen Kulturen etwas einfallen zu lassen und das Ganze ein bißchen umzukrempeln und auszugleichen. Nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte, ließ die Sprecherin den Mann schließlich zu einer schattigen Plattform führen, wo er sich bei Tagesanbruch schlafen legte. Nun war ihre eigentliche Schlafenszeit angebrochen, obwohl sie weniger Ruhe als die Menschen brauchten und ihren Schlummer hin und wieder mit kleinen Verrichtungen wie Lederarbeiten, Töpfern und Flechten unterbrachen. Am Nachmittag wurde der Mensch von Buorch geweckt. Das ganze Rudel hatte sich auf der Lichtung versammelt, und Hiero wurde nun jedem einzelnen bis zum kleinsten Jungen vorgestellt. Ein Bote wurde zu den anderen zwei Rudeln geschickt, um ihnen das Vorgefallene zu melden. Nach diesem offiziellen Akt wurde Hiero entlassen und konnte sich in aller Freiheit umsehen, was er nun mit größtem Vergnügen tat. Die Katzen standen in mechanischen Dingen auf einer niedrigen Kulturstufe, die den Eingeborenen der Vorzeit entsprach. Als einzige
Waffe benutzten sie das Messer, das vorzugsweise aus Metall und ansonsten aus Flint war. Sie beschafften es sich aus den Dörfern. Mehr brauchten sie eigentlich nicht, wie der Metz selbst erlebt hatte. Ihre unglaubliche Wendigkeit und der Einsatz des Todeswindes machten das Jagen fast zu einfach. Ansonsten hatten sie alles, was sie brauchten. Feuer verwendeten sie nur zum Wärmen und Leuchten, denn ihr Fleisch bevorzugten sie roh. Gelegentlich aßen sie Beeren und Knollen. Verschiedene Heilpflanzen fanden in ihrer dürftigen Heilkunde Verwendung. Eine Kätzin warf durchschnittlich zwei Junge, die Hiero besonders reizend fand. Sie erwählten den neuen, pelzlosen Mann zu ihrem Lieblingsspielzeug; wenn er am Abend durchs Lager schlenderte, trug er für gewöhnlich auf jedem Arm einen zappelnden, schwänzelnden Pelzknäuel. Ihm auf den Fersen folgte eine Schar älterer Kinder oder scheuer Halbwüchsiger, die ihn mit so vielen Fragen gleichzeitig beschossen, daß ihm der Schädel brummte vom vielen Konzentrieren auf die einzelnen Gedanken und vom Beantworten. Er war in jedem Heim willkommen und versuchte, täglich woanders zu speisen. Abends stattete er der Sprecherin einen förmlichen Besuch ab – denn die Katzenmenschen waren sehr förmlich – und plauderte ein Stündchen oder zwei mit ihr, Buorch und der jungen Sprecherin in spe, der Kätzin, die er beim ersten Zusammentreffen niedergeknüppelt hatte. Ihr Name lautete Mrien, soweit er die Laute überhaupt nachvollziehen konnte, und sie berechtigte zu großen Hoffnungen, stand sie doch, so hatte er den Eindruck, ihrer Lehrerin an Intelligenz nicht nach. Die persönlichen Beziehungen der Katzen untereinander waren heikel und oft schwer verständlich. Es gab zwar von tiefer Zuneigung geprägte Paarbindungen, aber alles Geschlechtliche war verpönt. Die Jungen gehörten stets der Mutter, die wiederum bei einem Kater blieb oder den Partner wechselte. Es gab Feste, wie man Hiero gegenüber andeutete, bei denen für kurze Zeit alle Regeln über Bord geworfen wurden. Bei solchen Gelegenheiten verbrannten sie das
Laub gewisser Kräuter und gerieten dabei in höchste Verzückung, um nicht von Rausch zu sprechen. Zum Sprecheramt wurde man erwählt; es erforderte lange Ausbildung. Buorch freilich hatte sich, wie Hiero erriet, die Stelle des Jagd- und Kriegsführers erkämpfen müssen und würde eines Tages wiederum von einem der Jüngeren herausgefordert werden. Sollte er alle diese Rivalitätskämpfe überleben, was zuweilen vorkam, so rückte er in den erlauchten Kreis der Ältesten auf, die der Sprecherin beratend zur Seite standen und die Tradition zu erhalten halfen. In bestimmten Nächten fand sich das Rudel zum »Liederabend« zusammen, um der Runde einen Namen zu geben. Es war dies eine Mischung aus Dichtung und Gesang – oder wie Hiero insgeheim dachte, bloßem Gemaunze. Bald war das gemeinsame Brummen und Schnurren beruhigend, bald taten einem bei dem Gejammer die Ohren weh, wobei Hiero natürlich all dem geschmeichelt Gehör schenkte. In der Woche, die er beim Rudel verbrachte, wurden mehrere Katzenkonzerte zu Ehren seiner Ankunft und der Verbrüderung mit ihm veranstaltet. Hiero empfand das Katzenvolk als höchst angenehm. Er konnte sogar bei einem Problem helfen, das die Ältesten lange beschäftigt hatte; es ging dabei um den steten Rückgang der Geburtenziffer. Hiero stellte fest, daß das Rudel, in dem ein starker Gruppengeist vorherrschte, mehr oder weniger ganz davon abgekommen war, sich mit den beiden anderen Rudeln zu verpaaren. Das hatte eindeutige Inzuchterscheinungen zur Folge. Hiero wies die Sprecherin und den Rat aus alten Männchen höflich darauf hin, daß dies aufzuhören habe und daß die Begegnung zwischen der Jugend aller Rudeln zu fördern sei. Das Einheiraten in fremde Sippen sei anzuregen und das Volk über die Gründe dafür aufzuklären. Man dankte Hiero für seinen Rat und sicherte breite Anwendung auf der Grundlage freier Entscheidung zu. Er hatte dazu seine Bedenken, aber Mrien erklärte ihm im persönlichen Gespräch, daß es in die Tat umgesetzt werde, wenngleich es seine Zeit brauche. Dem Mitglied eines Rudels gebe
man keine Befehle, höchstens verschleierte, sinnige Andeutungen. Damit bewirke man, daß ein jeder eine gewisse Sache als eigene Idee ansehe. Jede zweite Nacht gingen alle Jagdtüchtigen auf die Pirsch. Natürlich mußte der neue Freund dabei sein, wozu man ihn freilich nicht lange zu bitten brauchte. Da er nicht so schnell rennen konnte wie die Katzen, kam das Wild eben zu ihm. Der Wind des Todes wurde nicht eingesetzt, da die Erwachsenen beiden Geschlechts lieber ohne ihn vorgingen, wenn sie nicht in Eile oder im Krieg waren. Hiero brachte nie in Erfahrung, wie er erzeugt wurde, hatte aber den starken Verdacht, daß es sich um das Sekret einer natürlichen Duftdrüse handelte, auf die man durch den Genuß gewisser rarer Pflanzen Einfluß nahm. Dieses Geheimnis wurde von bestimmten Kätzinnen gehütet, die allein diesen Geruch erzeugen konnten. Er war vor langer Zeit entdeckt worden und hatte ihnen auch bei der Flucht aus den Folterkammern der Unreinen geholfen. Ihr liebstes Wildbret wurde in der Gegend immer seltener, aber sie entdeckten einen Vertreter dieser Gattung im Gelände und nahmen den Metz in einer mondhellen Nacht mit hinaus, um zu sehen, was er davon halte. Man stellte ihn an eine bestimmte Stelle nicht zu weit von den Bäumen, was Hiero als Beweis für ihren Takt wertete, und forderte ihn auf, sich bereit zu machen. Er begriff nun, daß ihm die Ehre des Fangstoßes zustand, und fragte sich, um was für ein Tier es sich handelte und ob er ihm überhaupt gewachsen wäre. Die Katzen hüllten sich in Schweigen. Da er ihren wunderlichen Humor kannte, überlegte er schon, ob einer der rüsseltragenden Riesen auf ihn zugetrieben würde. Er war folglich recht erleichtert, als er den wilden Galopp und das zornige Schnauben eines schnellfüßigen Pflanzenfressers vernahm. Als sich ihm das Jagdwild im Mondschein offenbarte, war er sich freilich nicht mehr so sicher. Vom Kopf abwärts hatte das Tier die Gestalt eines riesigen Bockes. Über den tiefsitzenden Augen ragten zwei lange, gerade
Hörner auf, die an sich schon eine gefährliche Waffe darstellten. Aber an der breiten Schnauze stand ein drittes, ein gerader Stamm, der sich in grausige Spitzen verzweigte. Als das rasende Tier nach seinen Folterknechten stieß, die es herantrieben, wunderte sich Hiero, wie sie trotz aller Wendigkeit seinen flinken, tödlichen Sätzen ausweichen konnten. Als das Tier ihn als einsames, fixes Ziel erspähte, blieb ihm keine Zeit mehr zum Überlegen. Diesen schrecklichen Hörnern bei gesenktem Haupt mit vorgehaltenem Speer entgegenzutreten, das wäre offensichtlich schwachsinnig gewesen. Als das Ungetüm also gegen ihn anrannte, schleuderte er ihm den schweren Speer in die Brust und sprang zur Seite, wobei er seinen Dolch zückte und ausholte. Der breite Speer bohrte sich bis zum Ansatz in den Leib. Das mächtige Tier bäumte sich auf. In diesem Augenblick zielte Hiero und warf das Messer aus nur zwei Schritt Entfernung: nicht ins Herz, sondern in das blutunterlaufene Glotzauge. Die Klinge drang bis zum Heft ein und zerfetzte das Gehirn. Röchelnd brach das Tier zusammen. Die übrigen Jäger jubelten stürmisch; erst jetzt spürte Hiero seine weichen Knie. Als sie beim Zerlegen der Beute zum Heimtransport das Tier näher besahen, wurden Hieros Knie nachträglich noch weicher. Wie sich zeigte, waren die Tieraugen von knöchernen Wülsten eingefaßt, so daß sein Messer abgeprallt wäre, hätte er nicht ganz genau getroffen! Er dankte seinem Schöpfer stumm für den Meisterwurf. Hast den guten alten Vier-Hörner prima erledigt, lautete Buorchs freudiger Kommentar. Wir hätten nicht eingreifen können, nicht bei dem kurzen Abstand. Das ist mit ein Grund, warum wir ihn als Beute so schätzen: oft erwischt es dabei den Jäger. Ist immer ungeheuer spannend, die Jagd auf ihn. Hiero bedankte sich in aller Form bei den Jägern für die wunderbare Gelegenheit, die sie ihm eingerichtet hatten. Seine persönlichen Gefühle brauchten sie ja nicht unbedingt zu erfahren!
8. Ein Hafen im Sturm Die Hüpfer, wenngleich ausgesuchte Tiere der Königlichen Garde, waren sehr erschöpft. Den ganzen Tag lang waren sie von einer Front zur anderen gejagt und ihrer hohen Herrin gefolgt. Die Prinzessin war überall. Ihr bunter Helmbusch über dem vergoldeten Harnisch wehte wie eine Kriegsfahne über den Köpfen, wenn sie hier ihre Ulanen sammelte oder dort frische Lanzer nachschickte. An jeder bedrohten Stellung erschien sie und machte durch ihre Anwesenheit den Männern neuen Mut. Dennoch war die Schlacht verloren. Die königliche Armee, die zahlenmäßig weit unterlegen und an den Flanken abgedrängt worden war, mußte den Rückzug antreten. Der rebellische Herzog oder einer seiner füchsischen Kriegsherren hatte seine Taktik gut durchdacht und schneller zugeschlagen, als Lucare oder der König für möglich gehalten hätten. Des weiteren hatte der verschlagene Herzog Kriegslisten gebraucht, die entweder seinem gescheiten Kopf entsprungen oder auf das Zutun der Unreinen zurückzuführen waren. Joseato hatte ebenfalls die Hand im Spiel, aber Amibale, so überlegte Lucare finster, war allein schon gerissen genug. Bei den Bettlern und Dieben und aufgehetzten Straßenhändlern war es zum Aufstand gekommen, als in der Stadt die Armee ausrückte. Er wurde rasch niedergeworfen, und die Aufwiegler wurden sofort gehängt, aber der Zwischenfall hatte viel Zeit und so manches Soldatenleben gekostet. Dies hatte zur Folge, daß die Truppen der beiden königlichen Heere, die sich zwanzig Meilen südlich der Stadt trafen, von den Straßenkämpfen erschöpft und durch die Verluste geschwächt waren. Amibale, ein zugegebenermaßen mutiger Kriegsherr, hatte nicht nur die Streitkräfte seines Herzogtums, sondern auch wilde Haufen aus teilweise fremden Rassen ins Feld geführt. Eine besondere Gefahr stellte eine Schar kleinwüchsiger, stämmiger Männer dar, die als Flankier eingesetzt wurden und von Bögen als auch Blasrohren einen Hagel von Giftpfeilen verschossen. Aber das war noch nicht
alles. Schließlich mischten sich offen die Hexenmeister der Unreinen ein. Ein Regiment aus mutierten Affen, den Zottelheulern, stürmte einen Flügel, während ein Haufen kreischender Menschenratten gegen den anderen anrannte. Obendrein war Amibale so schnell gewesen, daß nicht einmal das ganze königliche Heer rechtzeitig hatte anrücken können. Die mumanische Infanterie aus den westlichen Ebenen war noch nicht angekommen. Kämen sie noch oder nicht? Die Dorfmilizen und die Grenztruppen waren aus Zeitgründen genauso wenig da wie die kühnen Matrosen von den Buchten des Lantiks, wurden aber dringend gebraucht. Also wurde die Schlacht von den Truppen des Hofes und den stehenden Heeren der loyalen Adligen aus dem Umkreis der Hauptstadt bestritten – und verloren. Einmal wäre bei einem massiven Ansturm sogar das Hauptheer kläglich zerschlagen worden, hätte es nicht der unerwartet eintreffende Graf Ghiftah Hamili davor bewahrt. Er faßte sich ein Herz und ritt an der Spitze seiner zwei Lanzerschwadronen gegen den Feind. Hätte Lucare irgendwelche Zweifel zur Person des stillen Grafen gehegt, so hätten sie sich auf der Stelle geklärt, als er wie ein Teufel an der Stirn seiner Hüpfer kämpfte und Amibales Infanterie zurückschlug. Aber es reichte nicht zum Sieg. Allmählich war die ungebrochene Armee zum Rückzug gezwungen, wobei sie die Flanken schützte und in die Reihen des Feindes immer wieder empfindliche Wunden schlug. Aber eine andere Wahl blieb ihr nicht. Gegen Abend besprach sich Lucare mit ihrem Stab, während die angeschlagenen Truppen sich in den Randbezirken der Stadt verschanzten. Noch immer war keine Meldung aus dem Hinterland eingetroffen, und es ging das Gerücht eines neuen schrecklichen Angriffs, der in der Stadt selbst seinen Ursprung habe. In jener Nacht gab es im müden Heer wenig zu lachen.
Um ein Feuerchen hockten vier stumme Gestalten. Das Feuer brannte in der riesigen Stammgabelung eines Mammutbaums, der gut und gerne einem ganzen Dorf hätte Schatten spenden können. Eine fünfte Gestalt stand ein paar Äste höher Wache. Tief unten – sogar bei Tageslicht außer Sicht, die das viele Laub und Schlingpflanzengewirr verwehrte – lag der nachtfinstere Sumpf, aus dem vor einer Ewigkeit der Baum entsprungen war. Hiero besprach sich mit Mrien, Buorch und Zariech, einem kraftvollen jungen Krieger. Der über ihnen wachende Chuirch, der zweite Jüngling, konnte beliebig an ihrem Gedankenaustausch teilnehmen. Für gewöhnlich schwiegen die Jungen, wenn die Alten sprachen, aber wenn sie gelegentlich andrer Meinung waren, so hatten sie ein Recht darauf, angehört zu werden. Es herrschte nun eine Denkpause, denn alle lauschten sie dem Geschrei aus dem Sumpf viele hundert Fuß unter ihnen. Ein grausiges Brüllen drang herauf, ein krächzender Guttural von solcher Lautstärke, daß die duftende Waldluft schier erbebte. Die unzähligen Stimmen der Natur verstummten bei diesem Ruf. Was ist das, Hiero? Buorch wußte wie die übrigen darüber Bescheid, daß Hiero den Verstand andrer Wesen anzapfen konnte, während die Katzen auf das eigene Volk beschränkt waren. Über dem Kopf des Menschen schaukelte eine große, wohlriechende Blüte und verströmte ihr Aroma, während Hiero überlegte. Abermals hallte das mächtige, zornige Grunzen durchs Laub herauf. Schließlich wurde der Metz wieder gelöster und lächelte. Ich weiß es nicht. Ein Elfer – sie gehören zu unsren Freunden, wie ich euch erzählt habe – könnte es wohl feststellen. Sie haben sich auf alle Lebensformen, alles Atmende spezialisiert. Ich kann nicht immer zwischen den vielen niederen Gattungen mit kleinem oder keinem Gehirn unterscheiden. Es könnte ein Reptil sein, eine Schlange oder Echse. Aber ich tippe eher auf Amphibie, also Frosch oder Salamander. Sie haben noch weniger Gehirn als Reptilien. Was ich spüre, ist blinder Zorn einer recht niedrigen Stufe. Mir ist so etwas
schon einmal begegnet – droben im Palud, dem großen Sumpf des Nordens. Ihr Denken geht so schleppend vonstatten, daß sie unaufspürbar sind. Zumindest für mich. Ein Frosch! Wenn's ein Frosch ist, kann er heraufspringen! Dieser Gedanke kam von Chuirch herunter. Was so viel Lärm macht, kann überhaupt nicht springen, versetzte Mrien. Aber trampelt vielleicht einfach den Baum um. Sie schauderte achtungsvoll, wobei sich im Feuerschein das Spiel ihrer Muskeln unter dem getüpfelten Pelz zeigte. Wie bin ich froh, daß wir von Baum zu Baum wandern können und nicht da drunten gehen müssen. Hiero sah davon ab zu erwähnen, daß einige der unglaublichen Froschungetüme aus dem Palud sehr wohl springen konnten. Freilich war er der Ansicht, daß nicht eines von diesen Untieren da unten sein Unwesen trieb, sondern eher irgendein gewaltiges Kriechtier im Schlamm zu Füßen der Bäume lauerte. Die kleine Gruppe war nun seit über zwei Wochen unterwegs gen Norden und durchquerte seit zwei Tagen schon diesen Sumpf. Der Urwald am Fuß der mächtigen Stämme barg viele Gefahren, so daß sie Tag und Nacht auf der Hut sein mußten. Als sie auf die Anfänge dieses weiten Moorlands gestoßen waren, schien jedes Weiterkommen unmöglich, zumal die Katzenmenschen Läufer der Ebene und völlig unvertraut mit dem verwachsenen Morast und seinen Bewohnern waren. Die Bäume jedoch waren weitergegangen; als wäre die dunkle Brühe zu ihren Füßen einfach eine neue Form von Erde, also hatten die Reisenden den logischen Schritt getan. Sie waren in die Luft gegangen. Dadurch verloren sie natürlich Zeit. Manchmal hörten die Lianenbrücken und Riesenbäume unverhofft auf, so daß sie wie aus einer Sackgasse umkehren mußten. Hiero wußte allerdings, wohin des Weges, denn sein innerer Kompaß funktionierte bestens. Des weiteren war durch das Laubdach zumeist der Stand der Sonne erkennbar, so daß sie ihren Kurs nach Norden recht genau einhielten.
Der Weg durch die Kronen brachte weitere Vorteile mit sich. Waren die Katzenmenschen und Hiero gut im Klettern, so fehlte den wirklichen Ungetümen, wovon sich gerade eins unter ihnen suhlte, die Fähigkeit zum Bäumeklettern wahrscheinlich. Die Luft hier oben war frisch und kühl, und es gab reichlich Wild in Gestalt argloser Vögel und Säugetiere. Erst an diesem Nachmittag war Buorch auf einen Nachbarbaum gestiegen und einem großen Vogel an die Kehle gegangen. Er und seine halbwüchsigen Jungen gaben ein stattliches Abendessen ab, wovon noch reichlich fürs nächste Frühstück übrig war. Natürlich war ein solches Leben nie ganz sicher. Einmal mußten sie das Hasenpanier ergreifen, als eine ganze Brut von Baumschlangen sich zügelnd auf sie stürzte. An einer anderen Stelle trafen sie auf feindselige Menschenaffen, die für Hieros Geschmack zu große Ähnlichkeit mit Zottelheulern hatten; die ganze Kolonie folgte ihnen beharrlich ein ganzes Stück Weges und sammelte offenbar Mut zum endgültigen Angriff. Es waren große Tiere mit glänzendschwarzem Fell, einem Stummelschwanz, einem wilden, nackten, grünen Gesicht und abscheulichen Reißzähnen. Als Hiero schon im Begriff stand, seinen Speer zu riskieren und einen davon zu töten, hielt die keifende Truppe wie an einer unsichtbaren magischen Grenze inne. Hiero und seine Begleiter eilten weiter und ließen die bellenden Affen im grünen Meer des Laubes zurück. Die zwei Jünglinge waren erbost darüber, so durch die Gegend gejagt zu werden, und bettelten darum, umkehren zu dürfen, um die ganze Horde auszurotten, aber Buorch setzte diesem Unsinn mit ein paar gefauchten Befehlen ein rasches Ende, und sie fügten sich. Hiero war sich über sein Glück im klaren. Er hatte sich ganz und gar nicht auf die einsame, aber unumgängliche Reise durch den gefahrvollen Urwald des Südens gefreut. Denn zum einen müßte er ja irgendwann schlafen; zum andern war er schon einmal dort gewesen, wenngleich in einem andern Teil, so daß er eine gewisse Vorstellung der dort lauernden Gefahren hatte. Es war für ihn
deshalb eine freudige Überraschung gewesen, als die Sprecherin ihn zu einer kurzfristig anberaumten Versammlung berief und ihm offen darlegte, daß vier Personen ihres Volkes mit ihm ziehen würden. Der Führer, die junge Sprecherin in spe und die beiden Kater hatten sich freiwillig gemeldet und darüber hinaus die vollste Zustimmung der Ältesten gefunden. Hast du auch viele Gefahren gemeistert, so stehen dir noch viel größere bevor, glauben wir. Hiero hatte dem Stamm notgedrungen von einigen seiner jüngsten Abenteuer berichtet und war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm glaubten. Die Kunst des Geschichtenerzählens war in diesem wunderlichen Volk hoch entwickelt. Die Sprecherin legte ihre pelzige Hand mit den nackten Ballen in die seine und fuhr fort: Hiero, du kämpfst gegen den Erzfeind von uns allen. Dein Weibchen kämpft für dich in der Ferne, und sie ist nicht die einzige, die dir beisteht. Du bist unser Freund. Wenn die Schänder, die Kindsmörder, die nackthäutigen Gedankenhäscher siegen, wie lange wären wir dann sicher, wir, die wir vielleicht vergessen worden sind? Nicht lange, meinen wir alle. Es gibt unserer nicht viele, und es kennt uns noch kein Außenstehender bis auf dich. Aber wie lange würde das so bleiben, falls der Feind mit den schrecklichen Maschinen, von denen du gesprochen hast, alle erobern würde, die sich ihm jetzt noch widersetzen? Nein, wir müssen helfen, denn deine Mission – wenngleich wir sie nicht ganz verstehen – ist von höchster Wichtigkeit. Es muß so sein, denn du lügst nicht und hast uns vor Augen geführt, wie sie dich hassen, wie sie dich zu töten versucht haben – nicht ein Mal, sondern oftmals. Du mußt einer ihrer Erzfeinde sein, wenn nicht der größte Feind überhaupt. Freunde sind zum Helfen da, also sei dir unsrer Hilfe gewiß. Der ausgediente, ordentlich gerupfte, alte Buorch kann leicht ersetzt werden. Der wackere Krieger, von dem die Rede war, schnurrte einfach; er wußte, in welchem Zustand er war, zumal er auch danach aussah.
Die Sprecherin seufzte in Gedanken. Ich würde selber mitkommen, um neue Dinge zu sehn und viel von der Außenwelt zu erleben, was mir so verborgen bleiben muß. Aber ich kann Mrien schicken. Sie wird mir Auge und Ohr sein. Ich kann eine andere ausbilden, sollte sie nicht wiederkehren, obgleich sie ein gescheiter Kopf ist. Die beiden Jünglinge sind dumm wie jeder Er, ob jung oder alt. Dennoch zählen sie zu den besten Jägern im Rudel. Sie können viel zu deiner Sicherheit beitragen. Und Mrien besitzt das Geheimnis vom Wind des Todes! Es war nicht einfach gewesen, ihnen allen zu danken, da insbesondere nur er genauer wußte, worauf sie sich eingelassen hatten. Und sie hatten noch etwas getan, ohne darum gebeten worden zu sein, was ihn noch tiefer mit ihnen verband. Sie haben richtiggehend gelobt, die Menschen draußen in den Dörfern in Ruhe zu lassen und keinen davon mehr aus irgendeinem Grund zu töten, während sie selbst sich weiterhin versteckt halten würden. Keine Kinder würden mehr als Schoßtierchen entführt, keine Männer auf Pirsch mehr in einen schrecklichen Tod gejagt. Das waren große Zugeständnisse. Nun saßen sie also hier in der Stammgabelung, sinnierte Hiero, während er die groben Züge mit den braunen, schwarzgestreiften und lebhaft funkelnden Augen betrachtete, die rollenden Muskeln, die elfenbeinweißen, ausgestreckten Krallen an den Gliedmaßen der ruhenden Katzen. Wer hätte so etwas noch vor zwei Wochen gedacht? Denn sie waren ihm freilich eine ungeheuere Hilfe gewesen. Es war nicht einfach, in diesem von Leben strotzenden Urwald Gedanken auseinanderzuhalten; obschon er sich größte Mühe gab, schaffte er es nicht, alle gefährlichen Tiere rechtzeitig aufzuspüren. Die Menschenaffen waren gar nicht dumm gewesen; während er sich auf niedere Fleischfresser und anderes Raubzeug konzentrierte, hatten sie sich unbemerkt angeschlichen. Der junge Zariech hatte das Rascheln des Laubes in den windstillen Kronen vernommen und sie so vor dem Hinterhalt gewarnt. Die Katzen hatten eine Nase, die nicht der Rede wert war; tatsächlich war Hieros
Geruchssinn besser. Aber ihre Augen und Ohren waren ungleich schärfer und im oft düsteren Licht unendlich wertvoll. Es war Mrien gewesen, die die zischelnde Schlangenbrut hatte herangleiten hören, woraufhin die ganze Mannschaft kehrtmachte und sich zum Glück über breite Äste retten konnte. Ihre Hilfe war also nicht zu unterschätzen, wobei ihre Gesellschaft obendrein auch nicht zu verachten war, obschon der gute Chuirch bald ein paar auf die Tatzen bekäme für die Scherze, die er sich erlaubte! Am frühen Morgen eine Riesenraupe aus einer Bromelie auf seinem Bauch zu finden, das war ein starkes Stück! Der PriesterSoldat kicherte insgeheim. Er hatte die angebliche Natter mit einem Angstschrei davongeschleudert, ohne sie überhaupt anzusehen. Buorch, den der Lärm geweckt hatte, wollte dem Bengel buchstäblich das Fell über die Ohren ziehen, aber statt dessen nahm Mrien ihn ins Gebet. Vor der Sprecherin in spe legte Chuirch, beschämt über seine Torheit, bald die Ohren flach, obwohl die Kätzin nicht viel älter als er war. Hiero begnügte sich seinerseits mit dem Hinweis, wie leichtsinnig es sei, jemanden zu erschrecken, der den Kopf voller echter Gefahren habe. Und damit war der Fall erledigt. Lustig war's freilich trotzdem gewesen! Wo wir wohl sind? meinte Buorch nach dem gemeinsamen Schweigen, währenddessen sie dem Ungetüm in seiner darunterliegenden Suhle gelauscht hatten, aus der es sich nun lärmend wieder zurückzog. Kann dieses große Wasser, das Meer, noch weit weg sein, was denkst du, Hiero? Ich hab's mir in deinen Gedanken angesehen, aber es fällt mir offengestanden trotzdem schwer, daran zu glauben. So viel Wasser auf einmal! Oh, es ist schon da, schickte der Mensch zurück. Wir müssen es irgendwie überqueren. Ich muß einfach zurück an die echte Front, in den echten Krieg, um herauszufinden, was meine Leute machen, um von den Unreinen ganz zu schweigen. Ich weiß nicht, ob die Waffe, die ich gefunden habe, die Maschine, die für alle denkt – das war die beste Umschreibung für das Computer-Ding, die ihm einfiel –, überhaupt in meiner Heimat angekommen ist. Ich weiß nicht, ob
mein Land sich noch lange verteidigen kann. Ich weiß nicht, ob Nachrichten aus dem Süden gekommen, sind. Nachrichten von meinem Weibchen und ihrem Land. Das Einzige, was ich weiß, ist, daß es Monate dauern würde, um die Inlandsee herumzugehen, vorausgesetzt, wir kämen überhaupt herum. Wir müssen das Wasser überqueren, und das schnell. Wieder kam Schweigen auf, als die Katzen abermals all die wundersamen neuen Ideen überdachten. Allein das viele Wasser war eine unerhörte Neuheit für jemand, der nur die Rinnsale der Savanne gewohnt war. Und erst die Vorstellung, darauf zu schwimmen in einem Gefährt, das wie ein Stock auf einer Pfütze treibt! Diese Boote, diese Schiffe verstehe ich, glaub' ich, meinte Mrien. Aber wie sie bewegt werden! Ich kann verstehen, wenn man viele Stöcke ins Wasser taucht und schiebt, kann man das Boot-Ding bewegen. Aber daß der Wind selbst das Boot schieben soll, das kann ich nicht fassen! Zum vielleicht fünfzigsten Mal versuchte Hiero zu erklären, was ein Segel sei und wie es wirke. Der wirkliche Witz daran, an dem er freilich nicht teilhaben konnte, war, daß die Katzenmenschen beste Seeleute abgeben würden! Sie waren schwindelfrei und wendige Kletterer – wie Katzen eben. Hiero wollte wetten, daß eine solche Besatzung jede andere bestgedrillte Mannschaft um Längen schlagen würde. Darüber hinaus müßte man sie gar nicht lange drillen, hätten sie erst die Prinzipien des Segelns verstanden. Natürlich käme eventuell das Problem der Seekrankheit auf einen zu, aber Hiero bezweifelte, daß sich seine Freunde von einer solchen Kleinigkeit lange aufhalten ließen. Als sie erschöpft in Schlaf fielen, grinste er immer noch beim Gedanken an eine große Bark wie die Geraubte Braut mit einer Takelage voller flinker, tänzelnder, getüpfelter Wichte. Der nächste Tag bescherte ihnen eine jähe Pause. Bis zum Nachmittag waren sie in den dichtverwachsenen Laubkronen mit den breiten Ästen fast so gut wie auf einer Pflasterstraße
vorangekommen. Da hob Hiero plötzlich die Hand über den Kopf, woraufhin die nachfolgenden Katzen, die sein Signal sofort verstanden hatten, wie festgewurzelt stehenblieben. Hiero hatte wie immer seine Gedanken vorausgeschickt, seine geistigen Fühler aber weiter als sonst ausgestreckt. Dies führte ihn zur Erkenntnis, daß sie bereits an der Inlandsee sein mußten. Eine andere Erklärung ließe sich für die Leere, das Fehlen jeglicher Lebensaura nicht finden. Die üppige Flora in diesem gewaltigen Wald war mit einemmal zu Ende. Ab einer gewissen, deutlich fühlbaren Grenze hatte alles Leben an der Oberfläche aufgehört. Das heißt, alles normale Leben. Nachdem er den anderen mit einer Geste zu schweigen bedeutet hatte, hockte er sich auf den Ast und lauschte mit ganzer Geisteskraft, denn er horchte über eine extreme Entfernung. Zum ersten Mal seit Monaten spürte er Menschen, »zivilisierte« Menschen, um genau zu sein. Allerdings von der falschen Sorte! Er hatte es mit der Besatzung eines unreinen Schiffes zu tun! Das war die einzige denkbare Möglichkeit. Sie befanden sich auf engem Raum; das konnte er mit Leichtigkeit feststellen. Und sie waren draußen in der großen Öde, die er von früher kannte, dem Meer also. Das Meer barg allerlei Lebensformen, die sich jedoch normalerweise nicht an der Oberfläche aufhielten und keinesfalls in Wellenlängen dachten, wie nur der Mensch sie benutzte. Darüber hinaus wäre wohl von den natürlichen Lebewesen des großen Süßwassermeers keines in der Lage, einen unreinen Gedankenschild zu errichten! Er hatte auf seiner Flucht aus dem Norden gelernt, ihn aufzuspüren, wenn er im Einsatz war. In geschlossenem, also abschirmendem Zustand verriet er einem nichts. Aber jetzt wurde damit gerade gesendet. Dadurch konnte der Metz ihn nicht nur aufspüren, sondern auch abhören, was gesendet wurde. Die Meldung war hochinteressant. Keins unsrer Schiffe wurde gesichtet. Nicht mal ein ganz gewöhnliches Handelsschiff. Die Küste westlich von Neeyana ist wie leergefegt. Bis auf deine kommen keine Meldungen. Schlage vor,
einen Bruder in einem der Geheimschiffe zur Aufklärung hinzuschicken. Wir sind zwei Tage von Neeyana, haben aber widrige Winde. Bei den Offizieren und der Mannschaft herrscht der starke Verdacht, irgend etwas sei recht eigenartig. Wir hätten längst die ersten Schiffe des Frühlingsgeschäfts sichten müssen, aber bisher war nichts. Laufen jetzt den Hafen an, wenn keine anderen Befehle kommen. Ende der Mitteilung. Sulkas. Hiero lauschte mit jeder Faser seiner Sinne, konnte aber keine Antwort vernehmen. Falls eine Antwort gegeben wurde, war sie wegen der großen Entfernung für ihn nicht empfangbar. Eigentlich glaubte Hiero gar nicht an die Möglichkeit einer Antwort. Denn dieser Sulkas war keinesfalls ein Mitglied der Unreinen Bruderschaft. Er war zwar intelligent, hatte aber nicht das gleiche Kaliber, die gleiche Ausstrahlung. Eher handelte es sich um einen Handlanger, einen Diener – vielleicht einen Piraten wie Rok die Glatze, dem Hiero und Gimp den Garaus gemacht hatten. Während die Katzen leise miteinander tuschelten, überdachte Hiero, was er gehört hatte. Die Meldung war vermutlich zu einer festgelegten Zeit gesendet worden und bedurfte gar keiner Erwiderung. Fest stand, daß die Unreinen, die den Hafen von Neeyana an der Südküste der Inlandsee fest in ihrer Hand hatten, über irgend etwas beunruhigt waren. Dieses Schiff, dessen Besatzung aus höchstens zwölf Mann bestand, war zum Auskundschaften ausgeschickt worden. Die Männer hatten nichts gefunden, was wiederum sie beunruhigte, denn das Meer sollte um diese Jahreszeit stark befahren sein. Die Meldung war an den Stützpunkt in Neeyana gegangen, damit weitere Maßnahmen eingeleitet würden. Als Vorschlag wurde empfohlen, einen der Brüder, einen robentragenden Zauberer der Unreinen, auf einem ›Geheimschiff‹ auszusenden. Hiero erriet sofort, was gemeint war. Er war einmal Gefangener auf einem solchen Geheimschiff gewesen, das von einer Kraft angetrieben wurde, die er nicht verstand, der gegenüber er aber sehr argwöhnisch war. Er rechnete wie Bruder Aldo von der Elften
Bruderschaft fest damit, daß die Unreinen die Atomphysik beherrschten! Die gesichteten Metallschiffe wurden betrieben mit der Kraft der Atome, der gemiedenen, verabscheuten, gräßlichen! In ihren verborgenen Laboratorien brüteten die Unreinen allerlei Scheußlichkeiten aus. Sie züchteten aus mutierten Tieren Sklaven, wie sie es mit den Katzen versucht hatten. Dies aber war das größte aller Verbrechen, der wiederbelebte Schrecken des Heißen Todes – grausig, daß ein normaler Mensch schon beim Gedanken daran schauderte. Hiero erinnerte sich an das gemeinsame Gefühl des Unwohlseins, das sie befiel, als Lucare, Aldo, der Bär Gorm und er die verschüttete Höhle fanden, wo die alten, plastikummantelten Maschinen der Vorzeit standen, welche die alten Boten des Grauens und der Zerstörung durch die ganze Welt gelenkt hatten. Aldo mit seiner Liebe zu allem Leben wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Während Hiero all Entschluß. Die Unreinen ausgerissen werden, bis Sklaven erstickt werden. würde.
dies überdachte, verfestigte sich sein sollten untergehen, mitsamt den Wurzeln zum letzten Keim im geringsten ihrer Dies war seine Mission, die er ausführen
Schließlich wandte er sich an seine Gefährten. Er wußte, was er tun wollte, obschon es ein bißchen schwierig wäre, es den andern zu erklären. Dennoch durfte er es nicht unversucht lassen. Wir müssen südlich der Hauptstraße sein, die vom Westen in eine Stadt führt, die der Feind beherrscht. Eine alte Straße verläuft von Südosten nach Nordwesten und kommt aus dem tiefen Süden. Wir sind wohl parallel zu ihr gezogen, wenn auch ein gutes Stück von ihr entfernt. Das ist der einzige Weg aus dem Osten in den Hafen von Neeyana, zumindest der einzige durch den Wald. Westlich von Neeyana gibt es andere Straßen und mehr freies Gelände, hoffe ich zumindest, denn ich bin noch nie dort gewesen und habe auch noch keine genaueren Karten darüber studiert. Die Küsten sind sehr gefährlich. Der Verkehr wird hauptsächlich per Schiff abgewickelt.
Weiterhin erklärte er, was er gerade aufgespürt hatte; ein feindliches Schiff sei auf dem Meer unterwegs, und sie müßten von jetzt an alle sehr, sehr vorsichtig sein. Wenn das unreine Schiff nicht weiter als zwei Tagesreisen vom feindlichen Hafen entfernt wäre, dann gäbe es bald Kontakt zu jemandem, dem sie wohl kaum unverhofft über den Weg laufen wollten. Wir müssen unsre Gedanken abschirmen, fuhr er fort. Benutzt untereinander die gesprochene Sprache und sprecht zu mir nur, wenn es unbedingt sein muß. Ihr verwendet einen ungebräuchlichen Wellenbereich, der kaum unter ständiger Beobachtung stehen wird. Das ist gut. Allerdings haben die Unreinen viele Diener, die keine Menschen sind und mit denen sie in Verbindung stehen, also seid auf der Hut, zumal die nichtmenschlichen Lebewesen Augen und Ohren aufmachen und sich aus eigenem Antrieb mitteilen. Wir müssen von jetzt an also wie Schatten schleichen. Unser Feind ist besorgt wegen einer seltsamen Entwicklung auf hoher See, wie's scheint. Ich habe keine Ahnung, was da los sein könnte, aber jede Störung und Ablenkung kann für uns wohl nur von Vorteil sein. Die Katzen hatten keine Mühe, seine Gedanken zu verstehen, obgleich sie in höchste Aufregung gerieten bei der Vorstellung, nun mit den legendären Zaubermeistern, deren Greueltaten und Verbrechen ihnen von Kindheit an eingeprägt worden waren, in Berührung zu kommen. Als Hiero erklärte, daß sein Plan lediglich daraus bestehe, ein kleines Schiff zu entwenden, um damit die Flucht anzutreten, hielten sie das allem Anschein nach für eine durchaus einfache Aufgabe, bei der es lediglich darauf ankomme, ein paar Leute zu überwältigen, die ihnen im Weg stünden. Ich werd' den Todeswind auf sie loslassen. Dann schneid ich ihnen die Kehle durch! Mrien klopfte bei ihrer Drohung auf das Täschchen, das an ihrem Gürtel hing. Es dauerte eine Weile, bis Hiero sie beruhigt und ihnen erklärt hatte, wie viele Unreine es gebe, von ihren Handlangern ganz zu schweigen. Als er sie auch noch überzeugt hatte, sich nicht zu vorschnellen Handlungen hinreißen zu lassen, sondern sich an seine Weisungen halten, konnte er sicher
sein, daß ihr flammender Zorn sie nicht zum Leichtsinn verleiten würde. Mit doppelter Vorsicht setzten sie bis zum Ende des Tages ihren Weg fort, wobei die Katzen Handzeichen benutzten, wenn sie Hiero etwas sagen wollten, und sich untereinander mit ihrem schnurrenden Gebrumme verständigten. In der Nacht kampierten sie wieder auf einer natürlichen Plattform in einem der Baumriesen. Nachdem Hiero sein Fleisch gebraten hatte, löschten sie das Feuer, obschon die Gefahr, sich damit zu verraten, äußerst gering war. Wasser war bislang kein Problem gewesen; es fand sich nicht nur in den Baumgabelungen, sondern auch in den Blattrosetten vieler Scheinschmarotzer. Während die Katzen die dunklen Stunden verschliefen, schickte Hiero seine Gedanken aus, um die nächtliche Landschaft zu erkunden; dabei beschränkte er sich nicht auf die Richtung, in die sie zogen, sondern ergründete auch die anderen Seiten. Er spürte nun – falls seine Sinne nicht trogen – die Stadt Neeyana nordöstlich von ihrem gegenwärtigen Standort. Obgleich er keine einzelnen Gedanken lesen konnte, spürte er die diffuse Ausstrahlung einer Menschengemeinschaft, die sich in seinem Kopf fast wie ein Wärmegefühl bemerkbar machte. Dessen war Hiero sich ziemlich sicher. Es war ursprünglich nicht sein Vorhaben gewesen, diese Stadt anzusteuern oder gar zu betreten. Die Gefahr, von den Unreinen entdeckt zu werden, wäre viel zu groß. Nun wußte er, daß dies der einzig vernünftige Weg wäre, insbesondere wenn sie ein Boot stehlen wollten. Des weiteren kannte er keine anderen Städte im Osten; wenigstens hatte Kapitän Gimp auf der letzten Reise nichts davon erwähnt, obschon die Küste sicherlich besiedelt war. Aber über diese Landstriche im Osten und Westen wußte er kaum Bescheid. Es gab zwar einen Hafen, den die Abteien gelegentlich benutzten, aber er lag an die tausend Meilen nordöstlich. Seine Vorgesetzten hatten ihn gewarnt, als er vor einem Jahr aufgebrochen
war, diesen Hafen zu meiden, da es dort von Spitzeln nur so wimmele und von den Kaufleuten nur ein paar wenige verläßlich seien. Namcush hieß er. Es mündete dort ein Fluß aus den fernen Grenzgebieten der Republik, auf dem reger Handelsverkehr in beiden Richtungen herrschte, obschon die Wasserstraße unsicher war und oft von Überfällen heimgesucht wurde. Der Hafen nützte ihm im Moment sowieso nichts; höchstens im Notfall könnte er ihn ansteuern. Schließlich fiel er in Schlaf, freilich ohne dabei unachtsam zu werden. Sie hatten einen harten Tag vor sich, wie er sich denken konnte. Am nächsten Morgen waren sie noch nicht länger als ein paar Stunden unterwegs, als sie die Straße, nach der sie Ausschau gehalten hatten, weit unter sich erspähten. Auf Hieros Anweisung hin waren sie auf den unteren Ästen der Kronen gegangen, was aber immer noch beträchtlich hoch lag. Der Sumpf hatte am Vortag mit einemmal aufgehört, und nun befand sich unter den mächtigen Bäumen fester Boden. Mrien, die als Späherin an der Reihe und deshalb vorausgegangen war, entdeckte die Schneise zwischen dem Laub und gab den andern ein Zeichen. Sie eilten herbei und sahen sich an, was unter ihnen zum Vorschein gekommen war. Die Handelsstraße war ordentlich ausgetreten und breit, obschon sie in vielen Windungen verlief, da man es nie in Angriff genommen hatte, die mächtigen Urwaldriesen zu fällen, zumindest nicht in dieser Gegend. So schlängelte sich die Straße auf ihrem Weg von Osten nach Westen zwischen den einzelnen Stämmen hindurch. Hiero sah sie nun zum ersten Mal, denn auf seiner früheren Reise in den Süden hatte er sie schon viele Meilen rechts vom jetzigen Standort verlassen. Er wußte allerdings, daß sie nach Neeyana über ein Netz von anschließenden Wegen und Straßen ins ferne Dalwah führte und darauf Waren aller Art transportiert wurden, seien es nun Tuche und Pelze oder Trockenfrüchte und Gewürze oder gar
Sklaven. Vermutlich war auf dieser Straße, an einem südlicheren Abschnitt allerdings, auch seine geliebte Lucare zur Sklavin gemacht und nach Neeyana verschleppt worden. Zumindest wäre das anhand ihrer Schilderung denkbar. Die stille Straße unter dem schattenspendenden Baldachin der Riesenbäume war leer. Hie und da lag in hellen Flecken das durchs Grün schlagende Sonnenlicht darauf ausgebreitet. Während die anderen sich in Geduld faßten, suchte der Metz mit seinem geistigen Auge die nächste Umgebung ab, wobei er äußerste Vorsicht walten ließ. Die Unreinen würden sicherlich nicht darauf verzichten, diese Hauptschlagader des Ost-West-Verkehrs zu überwachen. Einem ihrer Vorposten oder Späher in die Arme zu laufen, wäre wohl das Schlechteste, was der kleinen Gruppe nun passieren könnte. Allerdings konnte Hiero in beiden Richtungen nichts Verdächtiges entdecken, was ihn verwunderte. Die ferne Ballung geistiger Energie, hinter der er Neeyana vermutete, war den ganzen Vormittag über immer stärker geworden, aber warum war näher nichts aufspürbar? Gewiß müßte sich innerhalb seiner geistigen Reichweite irgendein Reisender oder Posten der Unreinen befinden. Er überlegte. Die Gedankenschilde, die von den Unreinen verteilt worden waren, als er aus dem Norden aufbrach, könnten hinter der Stille stecken. Freilich wäre so etwas nicht ganz plausibel. Die Schirme waren eine Rarität, die einen großen Aufwand an Zeit und Handarbeit erforderten. Hiero war sich sicher, daß ein solches Gerät nur an Schlüsselpersonen wie Oberbefehlshaber, Mitglieder der Unreinen Bruderschaft und andere Führungsspitzen ausgegeben würden. Einfache Straßenposten wären wohl kaum damit ausgestattet. Hätte immerhin ihr Hauptmann einen, könnte Hiero zumindest die Gedanken der unterstellten Männer erfassen. Das Ganze war ihm schleierhaft. Indem er seine Gedanken auf der niedrigen Stufe der Katzen hielt, die nur aus nächster Nähe erfaßbar war, gab er seine Befehle aus. Sie würden beidseitig entlang der Straße in Richtung Osten schleichen, sehr langsam und äußerst vorsichtig. Hieros Gefährten sollten sich
untereinander mit ihrem Gemauschel verständigen, was kaum von den unzähligen Waldesstimmen unterscheidbar sein dürfte, sollte es überhaupt Argwohn erregen und gemeldet werden. Er selbst wollte sie mit seinen Gedankennetzen allesamt abschirmen. Mrien bliebe zusammen mit Buorch dicht bei ihm auf der linken Straßenseite, während die beiden jungen Kater auf der rechten gingen. So wurde es beschlossen und bestimmt, woraufhin sie über Lianen und Luftwurzeln nach unten kletterten. Kaum waren sie auf den Erdboden gesprungen, trennten sie sich. Langsam aber sicher kamen sie voran. Das dichte Gewirr des ausladenden Wurzelwerks am Stamm mußte jeweils sorgsam inspiziert und nach dem Erkunden umrundet werden. Das hielt auf, denn die Urwaldriesen hatten oft einen Umfang, dem gegenüber die Rothölzer der Vergangenheit wie Schößlinge gewirkt hätten. Sie versuchten, stets die Straße im Auge zu behalten, während sie gleichzeitig darauf achteten, selbst nicht gesehen zu werden. Hiero hatte sie gewarnt, besonders auf Angriffe von oben zu achten, womit er bald recht bekam, obgleich sie nicht angegriffen wurden. Mit einem leisen Jaulen brachte Chuirch auf der anderen Straßenseite die Gruppe zum Stehen. Dem winkenden Buorch folgend, krochen die drei bis zum Straßenrand, wo sie auf der anderen Seite die getüpfelten Gestalten der jungen Krieger sahen. Chuirch und Zariech deuteten nach oben zur überwucherten Gabelung eines großen Baumes. Bei genauerem Hinsehen konnte Hiero nun im dichten Laubgewirr etwas Fremdartiges ausmachen, das dunkler war und sich durch seine gleichmäßige Struktur unterschied. Eine ganze Weile hatten sie noch die nähere Umgebung erkundet, bevor sie über die herabhängenden, seildicken Lianen hinaufkletterten. Bald standen sie in einem geschickt getarnten Wachturm des Feindes. Es handelte sich dabei um eine überdachte Baumhütte aus Holzbalken, die man mit allerlei Pflanzen und Laubwerk bedeckt hatte, und die einen guten Überblick über die Straße in beiden Richtungen gewährte. Allerdings war das
Wachhäuschen leer. Daß es noch nicht lange leer war, das war offenkundig. In einer Ecke lag reifes, aber noch nicht faules Obst; in einer anderen fanden sie in einem grobgezimmerten Schrank Dörrfleisch und mürbe Kekse. Ein solide verarbeiteter Ledergürtel mit Schnalle und Nieten aus Messing war in der Nähe des grünumrankten Eingangs zusammen mit einem halbvollen Weinschlauch liegengeblieben. Hiero befand den Wein, nachdem er daran gerochen hatte, als genießbar. Es war dieses Häuschen von einem säuerlichen Geruch erfüllt, den Hiero sofort richtig einzuordnen vermochte. Menschenratten, übermittelte er, wobei er den niedrigsten Wellenbereich benutzte. Mit diesem stinkenden Getier, das der Feind hierzulande züchtet, war dieser Wachturm besetzt. Wenigstens ein Mensch war bei ihnen, denn sie trinken nicht das Zeug in dem Lederschlauch. Sie wurden plötzlich abberufen. Der Grund dafür würde mich brennend interessieren. Er überlegte scharf und kam zu einem Schluß. Die anderen vier hockten auf den Hinterläufen, während Hiero sehr behutsam seine geistigen Fühler in Richtung Inlandsee ausstreckte. Das Binnenmeer konnte nicht mehr als ein paar Meilen nördlich von ihrem jetzigen Standort liegen, und Hiero wollte wissen, was an ihrer Flanke vor sich gehe, bevor sie weiterzögen. Er machte bald eine interessante Entdeckung, obgleich er nicht genau erkennen konnte, was er da gefunden hatte. Er stieß auf etwas, das unter einer Metallhülle verborgen war, so daß ihm verschlossen blieb, was sich dort versteckt hielt. Er registrierte lediglich eine Wolke geistiger Aktivität, die er nicht durchdringen konnte. Das Gebilde bewegte sich in seine Richtung, daran bestand nicht der geringste Zweifel, auch wenn es nur langsam näherkam. So etwas wir ihm zum letzten Mal im Jahr zuvor begegnet, als das Schiff der Unreinen mit der Blitzkanone sie in der untergegangenen Stadt an der Nordküste erwischt hatte. Nach einer Weile zog Hiero sich wieder aus dem Gebiet zurück; die unheimliche Energieballung war ihm einfach nicht zugänglich. Statt dessen lenkte er seine Aufmerksamkeit mit noch größerer Vorsicht, falls das überhaupt
möglich war, zum vermeintlichen Standort der Stadt Neeyana. Welche Überraschung! In Neeyana ging es, was die Vielzahl aufgebrachter Gedanken verriet, die Hiero aufschnappte, so turbulent zu, als hätte man mit einem Stock in einen Ameisenhaufen gestochert. Sie waren der Stadt schon viel näher, als er geglaubt hatte; nur noch wenige Meilen trennten sie davon. Nun verstand er, was es mit der leeren Straße und den fehlenden Posten auf sich hatte. Von den verschiedenen Leuten, die er nacheinander anzapfte, brachte er bald in Erfahrung, daß die Stadt angegriffen wurde! Alle verfügbaren Leute wurden an den Küstenstraßen zusammengezogen, um die Verteidigungsanlagen im Hafengebiet zu besetzen. Der Angriff, der die Unreinen so auf Trab gebracht hatte, kam vom Wasser her, und es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, ihn mit den abgeschirmten Denkaktivitäten in Beziehung zu setzen, die er gerade aufgespürt hatte. Was in aller Welt mochte das alles zu bedeuten haben? Hiero schnappte sich schließlich einen Mann, einen von Grund auf bösen Charakter, der anscheinend ein Unteroffizier der Stadtgarnison war. Er befehligte nämlich eine Reihe von Soldaten, die auf einer Straße dicht an der Küste Barrikaden aus Balken und Sandsäcken errichteten und sich wie wild abschufteten. Dem Verstand dieses Mannes entnahm Hiero die Vorstellung einer großen Flotte aus gut dreißig Schiffen, die aus dem Norden angesegelt kam. Des weiteren erfuhr er, daß die Unreinen ebenfalls nicht in der Lage waren, die Besatzung dieser Flotte gedanklich zu erreichen oder zu durchdringen. Diese Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Den gewöhnlichen Soldaten behagte dies ganz und gar nicht! Sie waren es gewohnt, daß unter dem Schutz und der Mithilfe ihrer Dunklen Meister und deren grausigen Mittel und Waffen auf physischem und geistigem Gebiet alles in ihrem Sinne lief, wobei jeder umgebracht wurde, der sich dagegen spreizte. Nun war irgend etwas falsch gelaufen, und die Unreinen Meister hatten zu schnell bekannt werden lassen, daß sie auf den Überraschungsangriff nicht gefaßt gewesen waren. Immer aufgeregter forschte Hiero weiter.
Der Mann, dessen Denken er plünderte, hatte trotz dieser Sorgen nicht alle Zuversicht verloren. Zwei Geheimschiffe rückten gerade an. Die unverhoffte Flotte bekäme schon zu spüren, was es hieße, wenn die Blitzkanonen feuerten. Indem er sich zurücklehnte und sich vor allen äußeren Eindrücken verschloß, konnte er das Kopfweh, das ihm die anstrengende Gedankenleserei eingebracht hatte, lindern. Daraufhin überlegte er, was zu tun sei. Die Entscheidung war nicht einfach. Freilich bekämen sie wohl nie wieder eine bessere Gelegenheit zur unbemerkten Flucht in den Norden als während der Wirren dieses Angriffs, der gewiß von irgendwelchen Verbündeten seines Volkes unternommen wurde. Wenn er mit seinen Gefährten schon nicht zu der seltsamen Flotte vordringen könnte, dann ergäbe sich vielleicht die Gelegenheit, einen ordentlichen Kahn zu stehlen und während der tobenden Schlacht zu fliehen. Man mußte es einfach riskieren. Rasch setzte er seine Gefährten von den Vorgängen in Kenntnis. Wir müssen in die Stadt, in den Hafen, solange alle Augen aufs Wasser gerichtet sind. Haben einen ganz schönen Schreck gekriegt, denn sonst hätten sie nicht alle Patrouillen und Posten zur Verstärkung in die Stadt abgezogen. Vielleicht sind noch ein paar Soldaten auf dieser Seite übrig, aber viele können's nicht sein. Also tötet, wenn's sein muß – aber leise! Weibchen und Junge laßt mir in Ruhe; notfalls nur betäuben oder zum Schweigen bringen. Sie zogen nun in einem viel schnelleren Tempo weiter, wobei Hiero auf der einen und Buorch auf der anderen Straßenseite die Führung übernahm. Während sie durch den Schatten der Bäume und das Licht der Schneisen eilten, konzentrierte sich Hiero auf den unmittelbar vor ihnen liegenden Straßenabschnitt. Er wollte niemandem begegnen und hatte panische Angst davor, jemandem in die Arme zu laufen, der geschützt war durch einen Gedankenschild – jenes Medaillon der Unreinen aus stahlblauem Metall also, an das er sich nur zu gut erinnerte. Selbst in seinen besten Zeiten, als er die Macht gehabt
hatte, jemandem seinen Willen aufzuzwingen und mit Gedanken gar zu töten, war er nicht in der Lage gewesen, diesen Mechanismus zu durchdringen; er war sich sicher, daß es ihm auch jetzt nicht gelänge. Gleichzeitig regte sich tief in seinem Innern irgend etwas anderes aus der Vergangenheit, das er vergessen hatte, das er jetzt aber gebraucht, dringend gebraucht hätte. Es fiel ihm nicht wieder ein, also müßte er wohl warten, bis es von selbst an die Oberfläche seines Bewußtseins käme. Sie hatten im Laufschritt etwa eine Meile zurückgelegt, als Buorch plötzlich den langen, gesprenkelten Arm hob und das Zeichen zum Halten gab. Der Kater huschte über die Straße und nahm Hiero nervös beim Arm, während er die andere Hand ans pelzige Ohr hielt. Sie blieben alle stehen, und Hiero lauschte nach dem Geräusch, das der Kater mit seinem schärferen Gehör ausgemacht hatte. Nun hörte er es ebenfalls, das ferne Rollen, zu dem sich in Abständen ein schrilles Kreischen gesellte. Wenn das nicht der Lärm einer tobenden Schlacht war, hatte Hiero noch keine erlebt! Hin und wieder war nun auch ein Bersten vernehmbar, wie wenn eine Mauer eingestürzt oder ein Baum gefallen wäre. Alle Tierstimmen waren verstummt, und der Wald, vom ungewohnten Tumult in der Ferne erschreckt, hüllte sich in scheues Schweigen. Hiero gab das Zeichen zu schnellerem Tempo, und diesmal rannten sie aus Leibeskräften voran, wobei sie sich möglichst am Rande der Straße hielten. Das Risiko war gering, wie Hiero meinte. Jede geistige Aktivität ging im Kampfgetümmel vor ihnen unter, und Hiero konnte mit jedem Schritt einzelne Leute immer deutlicher erfassen. Die Gedanken geängstigter Frauen und Kinder drangen nun ebenso zu ihm durch wie die Hilflosigkeit gewisser Männer, die nicht am Kampfgeschehen teilnahmen und über die plötzliche Zuspitzung verdutzt waren. Die Unreinen Meister von Neeyana hatten sich in der Vergangenheit sehr im Hintergrund gehalten; der unverhoffte Anzug von Truppen und Lemuts war ein Schock für viele Kaufleute und Städter gewesen, die nicht gewußt hatten oder wahrhaben wollten, wer die eigentlichen Herrscher seien. Nun gerieten diese
Unbeteiligten in Panik und sprengten verschreckt durch die Straßen, um aus dem Gefahrenbereich zu entkommen. Sie näherten sich immer mehr, und schon drang das Geschrei der unseligen Bevölkerung, deren Welt mit einemmal kopfstand, in Hieros Ohren. Was ihm immer noch verschlossen blieb, das waren die Gedanken der Unreinen Meister von Neeyana. Das war, wie er wußte, auf ihre mechanischen Schirme zurückzuführen. Jede Hoffnung, von ihnen etwas Neues in Erfahrung zu bringen, wäre vergeblich. Also versuchte er abermals, mit der angreifenden Flotte, deren Wesen und Herkunft ihm nach wie vor schleierhaft waren, Verbindung aufzunehmen, aber auch sie blieb durch ihren Schutzschild unerreichbar. Er spürte die Masse, die sich da heranwälzte, aber das war schon alles. Das Erkunden des eigenen Weges war anstrengend, und er könnte nicht die ganze Zeit alles im ›Auge‹ behalten, ohne zu ermüden. Daß die Gedankensuche am Körper zehrte, war eine Tatsache. Das Toben der Schlacht klang den Gefährten nun laut in den Ohren. Als der Wald vor ihnen sich endgültig lichtete, stieg beißender, schwerer Rauch in ihre Nasen. In dicken Schwaden quoll er durch die letzten Bäume; schließlich wurde er so dicht, daß er die Sonne verdunkelte und die Katzen sich die Lunge aus dem Leib husteten. Die Gruppe lief nun durch niedriges Gebüsch, angeführt von Hiero, der das blanke Schwert in der Hand und Speer und Schild auf dem Rücken trug. Jedes Töten wäre nun Maßarbeit, aber er hoffte, ohne Zusammenstöße durchzukommen. Zum Geschrei und Gebrüll vor ihnen mengten sich tosende Feuersbrünste und die widerhallenden Donnerschläge, die er vorhin als dumpfes Rollen vernommen hatte. Bald kamen sie in rascher Folge, bald unregelmäßig. Zum Rauch brennenden Holzes gesellte sich ein seltsam bitterer Gestank, ein Brodem, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Ehe sie sich versehen hatten, waren sie in der Stadt. Vor einem Augenblick sich noch durchs Buschwerk kämpfend, standen sie im
nächsten auf einem schmalen Feldweg zwischen schäbigen Hütten, die im dichten Rauch nur umrißhaft zu erkennen waren. Der Gestank nach allerlei Unrat war stark genug, den Rauch des brennenden Holzes zu überdecken. Buorch fauchte, und die Gefährten spannten die Muskeln, als aus dem Dunkel vor ihnen Gestalten auftauchten. Ein jäher Windstoß fegte in diesem Augenblick von der See durch die Gasse und teilte den Nebel, so daß die beiden Gruppen auf einander aufmerksam wurden. Zwei große Menschenratten, die mit Waffen behangen waren und Säcke mit Kriegsbeute oder Vorräten trugen, starrten verdutzt blinzelnd auf die Klinge des Menschen und in die vier finsteren Gesichter der ersten Kinder des Windes, die sie je gesehen hatten – und je sehen würden. Ehe sie auch nur mit den großen Ohren zucken oder die Säcke in den schmutzigen Pfoten loslassen konnten, waren sie erstochen worden und lagen mit aufgeschlitztem Hals in den letzten Zuckungen am Boden. Hiero konnte wieder einmal nur staunen über die unglaubliche Wendigkeit seiner Gefährten, die kampfbereit schon wieder seinen Rücken deckten, als die grausigen Lemuts mit den langen, nackten Schwänzen noch nicht auf der Erde aufgeschlagen waren! Tötet alle Bewaffneten! übermittelte Hiero. Wir müssen weiter und was finden, von wo aus wir was sehen können. Sucht nach was Hohem! Wird hier zwar keine Bäume geben, aber dafür bauen diese Leute Häuser, die viel größer sind als wir. Bei diesem heillosen Durcheinander kann ich unmöglich mit meinen Gedanken horchen. Wir müssen also Augen und Ohren gebrauchen. Hiero versuchte, sich an das zu erinnern, was ihm einst von Gimp und Bruder Aldo über Neeyana berichtet worden war. Auch Lucare hatte hier als verschleppte Sklavin einen unfreiwilligen Zwischenaufenthalt eingelegt. Was wußte er über die Stadt? Sie war sehr alt, so alt, daß sie in irgendeiner Form wohl schon vor dem ›Tod‹ bestanden hatte. Die Unreinen hatten die ganze Stadt
durchsetzt, agierten aber für gewöhnlich im Untergrund. Des weiteren gab es hier ein paar alte Kirchen, die schon baufällig waren und lange keine Priester mehr gesehen hatten. Sie waren aus Stein erbaut und hatten einen Turm. Diese Türme waren vermutlich in der Hand der Unreinen – schon aus Observierungsgründen. Dennoch mußte etwas geschehen. Eigentlich war ja alles gefährlich in diesem rauchenden, stinkenden Labyrinth mit seinen verstörten Bewohnern. Während er noch die Möglichkeiten abwägte, erdröhnte weit vorne abermals ein Donnerschlag. Etwas Wuchtiges schlug auf, so daß die Erde unter den Füßen bebte. Von weiter entfernt drang ein ähnliches Gepolter heran. Was mochte das nur sein? Er mußte eine Stelle finden, von wo aus er etwas sehen könnte! Hiero wandte sich zu den Katzen um. Mit angelegten Ohren und aufgestelltem Rückenhaar standen sie still hinter ihm. Es mußte, überlegte er beiläufig, für sie schrecklich sein, aus der reinen Waldluft in diesen stinkenden, qualmenden Hexenkessel versetzt zu werden, in dem schauerlicher Lärm herrschte und ungeahnte Gefahren lauerten. Aber sie schreckten nicht zurück und waren zum Kampf bereit. Ihr Zutrauen machte Hiero neuen Mut, obschon er sich nicht zum ersten Mal wünschte, nicht die Verantwortung für sie auf seinen Schultern tragen zu müssen. Nun fingen sie an, sich langsam und behutsam durch die grauen Rauchschwaden vorwärtszutasten, wobei sie jede Ecke erkundeten, bevor sie sie umrundeten, und mit gespannten Sinnen nach möglichen Feinden Ausschau hielten, um selbst nicht zuerst entdeckt zu werden. Als eine besonders schwarze Wolke sie einhüllte, teilte Hiero ihnen mit, obschon er nur ungern die verräterische Telepathie benutzte: Nehmen wir uns bei der Hand und bleiben dicht zusammen. Buorch, du gibst uns Rückendeckung. Töte jeden, der nicht zu uns gehört! Er bedauerte, seine Gefährten so bevormunden zu müssen, aber in diesem widrigen Qualm konnte er kein Risiko eingehen. Der Feind hatte Neeyana schon seit einer Ewigkeit in seiner Hand, und ihre
einzige Hoffnung bestand darin, ungesehen und unauffällig zu bleiben. Hiero tapste nun entlang eines hölzernen Pfahlzauns, der das vielstimmige Geschrei sowohl aus seinem Verstand als auch seinen Ohren aussperrte. Hiero war darauf aus, ein solideres Bauwerk ausfindig zu machen. Er spürte das Zittern in der Hand, der feingliedrigen, als er versuchte, durch seinen Arm der Sprecherin in spe neue Kraft zufließen zu lassen. Mrien hätte sich all das – oder irgend etwas davon – nicht träumen lassen! Er hielt sofort inne, als seine ausgestreckte Hand etwas anderes fühlte. Er hatte einen glatten, speckigen Stein berührt, der abgegriffen und schlüpfrig war, was nur auf sein hohes Alter zurückzuführen war. Er blieb stehen und wußte, daß auch die anderen, die ihm folgten, es ihm gleichtun und innehalten würden, sobald sie seine Aufregung und sein Zaudern gespürt hätten. Das Geschrei und Gebrüll kam nicht aus nächster Nähe, obschon es in einem fort erklang. Die heiße Decke aus Rauch und trübem Brodem bedeckte ihn und seine Freunde, aber was mochte sie sonst noch verhüllen? Hiero versuchte, die Zeit zu schätzen, und kam zum Schluß, daß es wohl früher Nachmittag sein müsse. Wieviel Zeit bliebe ihnen also noch, und was sollten sie damit anfangen? Er schauderte unwillkürlich, als nur ein paar Straßen weiter, wie er vermutete, eine Explosion eine Bresche schlug. Das Echo der Schüsse, das während ihres Vorstoßes ziemlich konstant geblieben war, schien nun allmählich schwächer zu werden. Den nächsten Schuß hörte er schon aus viel größerer Entfernung, wahrscheinlich aus der Hafengegend. Er gab mit der Hand das Zeichen zum langsamen Vorrücken. Der Rauch brannte ihm in den zusammengekniffenen Augen, als er sich an der Steinmauer, die er gerade entdeckt hatte, weitertastete. Die nächsten fünf, sechs Schritte wies die Mauer, so weit wie er hinaufgreifen konnte, keinerlei Öffnungen oder besondere Strukturen auf – von kleinen Rissen im alten Mörtel abgesehen. Die großen, unregelmäßigen Steine, die dieser Mörtel verband, waren anscheinend unbehauen und auch sonst in keiner Weise bearbeitet.
Neue Rauchschwaden senkten sich auf sie herab, so daß es ihm schier die Kehle zuschnürte, als er der Mauer weiter folgte. Schließlich hielt er inne. Seine Hand glitt gerade über die Kante eines großen Pfostens aus schwerem, gewachstem Holz. Er bückte sich, um sich zu vergewissern. Es handelte sich nicht um ein Fenster, sondern tatsächlich um eine offene Tür. Im trüben Dunst blinzelnd, lauschte er sowohl mit seinen Ohren als auch seinem Geist.
9. Wechselvolle Winde, wirkungsvolle Winde Es war keine Menschenseele in der Nähe, wie Hiero mühelos feststellen konnte, es sei denn jemand hätte sich hinter einem Gedankenschirm verborgen. Er stand mit seinen Gefährten nun im Erdgeschoß eines höheren Bauwerks, bei dem es sich wahrscheinlich um eine der verlassenen Kirchen handelte, von denen Lucare einmal gesprochen hatte. Unter ihnen in den Kellergewölben und über ihnen im Turm hielten sich fremdartige, feindselige Wesen auf. Aber es schien sich um nicht mehr als jeweils vier oder fünf davon zu handeln. Kurzentschlossen tappte Hiero durch den finsteren, rauchigen Raum zu einer hellen Stelle, wo einfallendes Licht auf den schmalen Treppenaufgang hindeutete. Ihm folgten seine aufgeregt zitternden Gefährten. Ich muß was sehn, übermittelte er. Buorch, du stehst am Fuße dieses Turms Wache. Kommt jemand, töte ihn! Kommen mehr, schick uns eine Warnung und folge uns nach oben! Er war sich darüber im klaren, daß der starke Führer vermutlich nur ungern zurückbliebe, aber genügend Disziplin hätte und verstünde, warum der beste Krieger als Rückendeckung hinten bleiben sollte. Hiero machte sich mit vorgehaltenem Schwert daran, die Stufen der engen Wendeltreppe an der Spitze seiner Freunde zu erklimmen. Die ausgetretenen, uralten Stufen waren morsch und schlüpfrig. Im dichten, nach oben steigenden Rauch mußten sie mit jedem vorsichtigen Schritt stärker gegen verräterischen Husten ankämpfen. Sie gelangten zum ersten Treppenabsatz und schlichen leise weiter. Hiero konnte keinerlei Lebenszeichen in diesem Stockwerk erkennen, obschon eine ramponierte Tür weit offenstand. Es wurde nun immer heller und der Rauch dünner. Sie ließen ein weiteres offenbar leeres Geschoß zurück, woraufhin Hiero seine Freunde mit einem Handzeichen verständigte, sich bereit zu machen. Hinter einer letzten Tür, durch die grelles Tageslicht einfiel, lag das flache Dach des einstigen Kirchturms, nun zur Wehrplattform eines Wachturms
umfunktioniert. Auf sein Nicken hin stürzten sie hinaus. Mochten die Posten darauf in diesen Ungewissen Stunden auch mit vielem gerechnet haben, auf einen Angriff vom Treppenschacht aus waren sie sicherlich nicht gefaßt. Insgesamt waren es ihrer vier, die an der Brüstung standen und nordwärts zur Küste der Inlandsee ausschauten, die von hier aus trotz Dunst und Rauch, die die Stadt darunter einhüllten, sichtbar war. Die zwei Menschenratten und der eine Mensch waren mit durchgeschnittenen Kehlen gestorben, ehe sie den Überfall überhaupt bemerkten. Der vierte Mensch sackte ohnmächtig zusammen, als die eiserne Kante von Hieros linker Hand unmittelbar unter dem Rand seines Eisenhelms auf seinen Nacken niedersauste. Binnen weniger Augenblicke war der Turm eingenommen. Nachdem er den beiden jungen Kriegern befohlen hatte, den Bewußtlosen zu bewachen, trat Hiero an die hölzerne Brüstung, die auf die erlauchten Steine eines noch älteren Mauerkranzes aufgesetzt war, und spähte hinaus. Was sich seinem Auge darbot, war einfach unglaublich! Er wußte bereits, daß große Teile der Stadt in Flammen standen. Die alten Holzbauten, die in der Stadt vorherrschten, brannten wie Zunder. Hie und da ragten noch Gebäude aus Stein, die dem Feuer standhielten, aus dem Wolkenmeer auf. Der Wind wechselte dauernd von Ost nach West und umgekehrt, war böig und wurde mitunter recht heftig. Über die schmalen Straßen rückten die Truppen der Unreinen an und versuchten, zu den Kais zu gelangen, wurden aber durch das Feuer und die Scharen fliehender Zivilisten, die in Panik ausgebrochen waren und in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen suchten, immer wieder zurückgedrängt. Offenbar war man auf schwere Angriffe völlig unvorbereitet, da der Eigendünkel der Unreinen Meister die Erwägung bedrohlicher Attacken gar nicht erst zugelassen hätte. Nun waren sie zum Improvisieren gezwungen und mußten sich mit den Folgen, die so etwas immer mit sich bringt, abfinden. Voller Abscheu verfolgte der Metz, wie sich eine Truppe von Zottelheulern mit dem Schwert einen Weg durch eine Schar
zerlumpter Menschen schlug, die ihnen den Durchgang verwehrten, bis die blutverschmierten Überlebenden verängstigt in die Seitengassen flüchteten. Das alptraumhafte Gekreische und Geschrei drang aus allen Ecken und Enden der Stadt. Der Inlandsee aber galt Hieros Augenmerk, während er alles andere nur am Rande registrierte. Der Angriff hatte sich nämlich auf alle Kais ausgedehnt, und die alten Lagerhäuser und Landungsbrücken standen größtenteils in Flammen, während nur die gemauerten Wände und Mauertrümmer der Hitze standhielten. Was Hiero jedoch am meisten packte, spielte sich auf dem Wasser ab. Es lagen vor der Stadt fünf rechteckige Gefährte, durch den Dunstschleier deutlich sichtbar. An ihren abgeschrägten Seiten öffneten sich in einem fort Luken, aus denen regelmäßig Feuerstöße schossen. Sie hatten keine Segel, dafür aber gedrungene Doppelschornsteine und einen kurzen Achtermast. Als Hiero diesen Mast und seine Beflaggung sah, machte er große Kinderaugen. Da draußen prunkte in Grün auf Schwarz Schwert und Kreuz der Abteien! Die Republik Metz hatte endlich zum Gegenschlag ausgeholt und die Front zum Feind getragen! Mit klopfendem Herzen bemerkte er die vielen ankernden Segelschiffe hinter den fünf seltsamen Zerstörern. Das war kein Strafstoß, sondern ein Vernichtungsschlag. Er verschwendete kaum einen Gedanken auf die schwarzen Mündungen, deren Geschosse in der Stadt detonierten. Das also war die Ursache für das dunkle Donnern, das er die ganze Zeit gehört hatte. Wie die Waffen funktionierten, war für ihn ohne Belang. Anscheinend handelte es sich um eine vergrößerte Form seines längst verlorenen Werfers, seines handlichen Raketenwerfers, den ihm Sduna droben im Norden abgeknöpft hatte.
Die Hände auf die Brüstung gestützt, versuchte er vergeblich, mit der Flotte in Verbindung zu treten. Es half alles nichts. Ein starker Gedankenschirm, der keinen Vergleich mit den Abwehrschirmen der Unreinen zu scheuen brauchte, riegelte alle Gedanken ab, so daß er nicht durchzudringen vermochte. Aber er wußte etwas, das die da draußen unbedingt erfahren müßten, etwas Wichtiges, wovor er sie in jedem Fall warnen müßte! Er hämmerte mit den Fäusten auf die Holzbrüstung, so verzweifelt war er. Eine pelzige Hand tippte ihm scheu auf die Schulter und holte ihn damit wieder in die Wirklichkeit zurück. Es war Mrien. Buorch ist raufgekommen. Sagt, 'ne Menge von den finstren Kerlen sind von drunten gekommen und davon. Haben ihn nicht gesehen. Wenn nicht noch mehr drunten sind, sind wir jetzt allein. Hinter ihr stand die bedrohliche Gestalt des Führers im dünnen Rauchschleier. Wie Hiero feststellte, kam ein starker ablandiger Wind auf. Was tun? Wieder richtete er den Blick auf die angreifende Flotte. Aus der Gedankenübertragung, die er am Vortag aufgeschnappt hatte, wußte er, daß wenigstens zwei unreine Kriegsschiffe in der Nähe waren, die zweifellos vom rasenden Atom angetrieben wurden und auf ihren eisernen Decks jene gefürchtete Waffe hatten, die elektrische Blitze schleuderte. Könnte die Flotte der Abteien diesen Blitzkanonen standhalten? Die neuen Schiffe, durchaus großartige Errungenschaften, wirkten freilich plump und träge wie watschelnde Schildkröten. Ihm fiel auf, daß sie Bug an Heck in einer Linie lagen, wohl um einigermaßen Stabilität zu gewinnen und somit zielsicher feuern zu können, obgleich kein Seegang herrschte. Er wandte sich um und besah sich den am Boden liegenden Gefangenen, der sich kräftig den Hals rieb, während er Hiero und die Kinder des Windes aus ängstlichen Augen anstarrte. Er war wahrlich
nicht schön anzusehen, trug aber feine, saubere Kleider; des weiteren paßten Stiefel und Helm wie nach Maß. Vom Hals baumelte ein metallenes Amulett, die gelbe Spirale der Unreinen Herren nämlich. Er war also ein Offizier, ein Mann von Rang in der feindlichen Hierarchie. Hiero erkundete seinen Verstand und stieß, was ihn nicht verwunderte, auf blanke Schwärze. Zieht ihn aus! übermittelte er im Wellenbereich der Katzen. Binnen eines Augenblicks hatten die scharfen Krallen den Mann bis zur Hüfte entblößt. Das verschlossene Medaillon an der stahlblauen Halskette barg den mechanischen Gedankenschild der Unreinen, der die Aufgabe hatte, ihre Diener und Verbündeten zu schützen. Binnen eines zweiten Augenblicks hatte Hiero ihn abgerissen und über die Brüstung geschleudert. In Batwah, der fast allgemein verständlichen Handelssprache, redete er den Mann dann an. »Sprich die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist! Wenn du lügst, übergeb´ ich dich meinen Freunden hier.« Ihm entging nicht das Schaudern, das über den Gefangenen kam, als er die gelben Schlitzaugen auf sich vereinigt wußte. »Wo sind die Geheimschiffe? Wie viele sind's? Wie viele Mann sind in der Stadt stationiert? Sind weitere unterwegs? Wenn ja, wie viele? Wo sind deine Meister und wie viele von ihnen sind hier?« Als er ihn in rascher Folge mit den Fragen beschoß und kaum auf eine Antwort wartete, beobachtete er den nun ungeschützten Verstand. In dieser Technik war er inzwischen so bewandert, daß das Ganze neuerdings schon automatisch ging. Er konnte seinen Gefangenen nicht zu irgend etwas zwingen; diese Fähigkeit war ihm verlorengegangen. Aber er konnte seine Gedanken lesen. Der Gefangene war kein Feigling und in der Tat ein Mann von Rang, den man in Metz einen Regimentskommandeur geheißen hätte. Sein Name war Ablom Cord, und er verfügte über allerlei interessantes Wissen. Er versuchte zu lügen, aber das spielte für Hiero keine Rolle, obschon er sich natürlich nicht anmerken ließ, daß die Antworten, die er bekam, nicht der Wahrheit entsprachen.
Offenbar waren nicht mehr als zwei der tödlichen Zerstörer in der Nähe, aber diese beiden waren angefordert worden und schon längst auf dem Weg. Die Garnison konnte die Stadt noch halten, aber die Verteidigung würde wohl zusammenbrechen, wenn die Invasion nicht abgewendet werden könnte. In der Stadt selbst gab es keine Blitzkanonen; nur die Schiffe waren damit ausgerüstet. Die Unreinen verfügten über starke Truppen aus nah und fern, die jedoch nicht in Neeyana, sondern in einem geheimen Stützpunkt viele Meilen östlich vom Hafen zusammengezogen wurden. Weitere Truppen waren an der Nordküste der Inlandsee stationiert, denn es war ein großer Feldzug geplant gewesen. Dieser plötzliche Angriff auf Neeyana kam allerdings völlig überraschend. Da keine Zeit mehr war, um Verstärkung anzufordern, hoffte man, daß die Blitzkanonen rechtzeitig einträfen, um das Gleichgewicht der Truppen vorteilhaft zu verändern. Nachdem Hiero alles Nützliche in Erfahrung gebracht hatte, sah er den Offizier nachdenklich an. »Du hast auf jede Frage gelogen«, hielt er ihm vor. »Ich habe dich gewarnt.« Das Signal an Buorch hatte er so schnell übermittelt, daß dem Mann ein Messer in den Hals gefahren war, ehe er merkte, daß sein Todesurteil gesprochen war. Für Hiero war der Fall damit erledigt. Was er in der Vergangenheit des Mannes entdeckt hatte, hätte ausgereicht, ihn ein Dutzend Mal an den Galgen zu bringen; das Niederschlachten wehrloser Frauen war nur eins seiner Verbrechen gewesen. Hiero stieg über den zuckenden Leib hinweg, woraufhin er voller Abscheu merkte, daß seine Sandalen vom Blut schlüpfrig geworden waren, und blickte abermals hinüber zur Flotte der Abteien, die nach wie vor damit beschäftigt war, die Wasserfront durch systematischen Beschuß der Kais zu zerschlagen. Der weiter auffrischende Wind fuhr ihm von hinten ins Haar, daß es nur so flatterte. Er blies nun, von kleinen Schwankungen abgesehen, beständig nach Norden, vom Land zum Wasser. Der Wind, dachte er müßig, dieser Wind – warum mußte er immerzu an den Wind denken? Der Feind rückte sicherlich rasch näher; die grausigen, flinken Todesschiffe, von ihren leisen
Maschinen im schlanken Metallrumpf angetrieben, müßten jetzt schon dicht bei der Stadt sein. Warum, in aller Welt, drehten sich seine Gedanken dauernd um den Wind? Endlich wurde es ihm klar. Das war die Antwort! Er wirbelte herum und gab flugs die Befehle aus, die er mit ein paar Erklärungen unterstrich. In weniger als einer Minute – so rasch vollzog sich der Gedankenaustausch im Wellenbereich der Katzen – war man sich einig. Die kleine Gruppe eilte über die enge Treppe hinunter. Die unteren Geschosse waren anscheinend noch leer. Rauchschwaden wirbelten durch die alte Tür herein. Das Gekreische und Geschrei, das Knistern der Flammen und das Getöse der Bomben und Granaten schlugen ihnen von weitem entgegen. Das Hauptgewicht des Angriffs hatte sich, wie Hiero meinte, ein Stück nach Westen verlagert, als ob die Flotte aus Metz sich in diese Richtung bewegte. Um so besser für ihn, dachte Hiero. Still und leise wie ein Spuk huschten die fünf Gestalten aus der alten Kirche und eilten durch eine schmale Gasse davon. Sie paßten auf wie Wachhunde; allerdings hatte Hiero vor Buorch die Führung übernommen, denn seine menschlichen Fähigkeiten wurden in diesem von Menschen geschaffenen Labyrinth mehr gebraucht als die feineren Sinne des Katzenvolkes. Bald gelangten sie zu einem freien Platz, aber mußten sich sofort unter stinkende Mauern ducken, als ein lauter Menschenhaufen vorüberrannte. Das waren offenbar solche Leute, die die Ereignisse völlig überrascht hatte. Die anscheinend ziellos umherirrende Gruppe verschwand schließlich in östlicher Richtung im Rauch. Hiero gab ein Zeichen, und die fünf Gefährten überquerten schnell den Platz und setzten durch die Trümmer eines niedergebrannten Gebäudes auf die gegenüberliegenden Seite. Sie hatten, sofern der Metz sich nicht täuschte, ein leicht abschüssiges Gelände vor sich. Wenn er anhand seines Blicks vom Kirchturm die Lage richtig einschätzte, würden sie bald auf die Kais stoßen. Einmal tauchte eine laufende Gestalt als
bloßer Schatten in den düsteren Schwaden vor ihnen auf; aber ein Blick auf die fünf Freunde, die sich im dämmrigen Licht als schauerliche Fratzen abzeichneten, genügte, um den erschreckten Läufer schleunigst in die Flucht zu schlagen. Wir müssen jetzt noch mehr aufpassen, übermittelte der Metz. Der Großteil ihrer Truppen steht wohl hier, in Wassernähe. Wir müssen uns durchmogeln und ein Boot finden. Mrien erwiderte: Das Wasser ist nicht weit. Ich riech's schon. Trotz des stinkenden Rauchs riecht es sauber. Mit einemmal – schneller als Hiero gedacht hätte – waren sie da. Eine schmale Gasse mit brüchigem Ziegelsteinpflaster hatte sie zu diesem jähen Ende geführt. Vor ihnen breitete sich ein Gewirr uralter Landungsstege aus, wovor so mancher halb morsche trunken im Uferschlamm lag, während wieder andere, durch Granaten oder Funkenflug entzündet, schwelend vor sich hin brannten. Der Wind blies ihnen nach wie vor in den Rücken, und die Rauchschwaden zogen geradeaus ins offene Meer hinaus. Hiero sah sich genau um; er suchte etwas Bestimmtes. Es waren keine Unreinen da, zumindest nicht in nächster Nähe. Er konnte sie auf beiden Seiten massenhaft spüren, aber in einigem Abstand. Falls den Katzen etwas auffiele, würde er sofort informiert werden, wie er wußte. Das Feuer von den Schiffen konzentrierte sich nach wie vor auf die linke, westliche Seite. Wo sie standen, war es aufgrund irgendeines akustischen Phänomens recht leise, so daß sogar das Plätschern der kleinen Wellen vernehmbar war, die an dem schmalen Strandstück unter der gemauerten Uferstraße leckten. Dann fiel sein suchender Blick auf ein kleines, spitz zulaufendes Gebilde, das halb versteckt unter einem der ramponierten Landungsstege lag und sanft auf dem bewegten Wasser schaukelte. Eben dieses Schaukeln hatte ihm ins Auge gestochen. Er sah noch genauer hin und erforschte gleichzeitig die nächste Umgebung nach anderen Bewegungen. Obschon er nichts entdeckte, meldete sich sein
Instinkt mit einer ersten Warnung. Es war jemand in der Nähe; er wurde beobachtet. Spielt keine Rolle, sagte er sich. Die Zeit drängte viel zu sehr, um jetzt vagen Vermutungen nachzugehen. Er mußte handeln. Wartet hier und haltet nach allen Seiten die Augen offen! übermittelte er. Wenn das da draußen unter dem Holz im Wasser das ist, was wir brauchen, geh' ich euch ein Zeichen. Ohne auf Zustimmung zu warten, stürzte er hinaus auf den offenen Platz, rannte zum Strand hinunter und watete durch das schlammige, ölige Wasser. In kürzester Zeit stand er bei dem kleinen Boot und starrte auf seinen einzigen Insassen – einen Fischer, wie der Metz vermutete. Der Mann hatte offenbar zu fliehen versucht, denn es befanden sich sowohl Ruder als auch ein Netz in seinem Boot. Bis auf das Messer am Bauchgurt war er unbewaffnet; bekleidet war er nur mit einer ledernen Weste und einem Lendentuch. Entweder während der Flucht oder später war er erschossen worden; es ragte mitten aus seinem Rücken die Fiederung eines Armbrustbolzens. Die Ruder lagen noch nebeneinander, so daß Hiero mutmaßte, er habe sie zum Boot getragen, als er als weiteres ungezähltes Opfer des Krieges plötzlich aus dem Leben geschieden sei. Hiero hauchte ein Stoßgebet, sollte der Mann ein rechtschaffener Mensch und kein Unreiner gewesen sein, und kippte den Leichnam dann über den Bootsrand ins seichte Wasser. Nachdem er sich umgedreht und den anderen auffordernd zugewinkt hatte, setzte er sich auf die Mittelbank und machte sich daran, die Lederleine, mit der das Boot an einer Klampe des ramponierten Landungsstegs festgemacht war, zu kappen. Sekunden später eilten die Katzen herbei und kletterten ins Boot, wo sie sich aufgeregt auf den Boden duckten. Im nächsten Augenblick hatte Hiero die Ruder eingelegt und bewegte das Gefährt unter den Pfählen hindurch ins offene Wasser hinaus. Hinter ihm spähte ein Augenpaar, in ohnmächtiger Wut funkelnd, aus einem schmalen Fensterspalt hoch in einer Ruinenmauer. Eine
bleiche Hand spielte nervös an der stahlblauen Kette um den Hals. Kaum war ein Entschluß gefaßt, wurde die Hand gesenkt. Eine Gestalt in Kapuzenmantel wirbelte herum und hastete in eiliger Sache davon. Das kleine Boot war etwa dreimal so lang, wie Hiero groß war, hatte einen hochgezogenen Bug und ein spitzes Heck. Es machte ordentlich Fahrt, als der Metz sich in die Riemen legte. Von den Kindern des Windes, die nach außen hin unerschütterliche Ruhe zeigten, saßen mit klopfendem Herzen jeweils zwei im Bug und zwei hinter dem Menschen im Heck. Obwohl sie vor Aufregung zitterten, wären sie lieber gestorben, als ihre Furcht offenbar werden zu lassen. Als die Wellen höher schlugen, legten sie einfach die Ohren zurück und warteten darauf, daß ihr neuer Freund etwas sagen würde. Hiero prüfte bei der Bestimmung des Kurses ständig den Wind. Sein Plan wies so viele Lücken auf, daß er nur hoffen konnte, mit einer großen Portion Glück damit durchzukommen. Wenn nur der Wind, der von Süden blies, nicht drehen würde! Er blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, was von der brennenden Stadt im dünner werdenden Rauch zu erkennen war. Aha! Da war ja die Flotte aus Metz! Die fünf Kriegsschiffe, die nun mehr denn je wie Schildkröten oder gar schwimmende Scheunendächer aussahen, glitten langsam wieder ostwärts, in seine Richtung, ohne das Feuer einzustellen. Wenn der ablandige Wind ihre Ziele versteckte, so war davon jedenfalls nichts zu merken. Wahrscheinlich boten sich in den Lücken zwischen den Schwaden mehr als genug Zielpunkte an. Weiter draußen kreuzte die Armada aus Segelschiffen, die nur auf ein Zeichen zum Anrücken wartete. Der ablandige Wind über dem braunen Wasser hielt an. Hiero stützte sich auf die Riemen und blickte nach Osten, wobei er nicht nur die Augen, sondern auch seine Gedankenkräfte benutzte. War dort etwas? Am Rande seines geistigen Blickfelds tauchte dieses Etwas auf, um bald wieder zu verschwinden, sich erneut zu zeigen und schließlich zu bleiben. In seinem Innern stellte es sich als
ziehende Wolke, als wehender Schleier dar. Gedanken konnte er freilich keine feststellen, was aber gar nicht nötig war. Schon einmal – damals auf der anderen Seite der Inlandsee – hatte er etwas Ähnliches wahrgenommen. Schiffe kamen aus dem Osten, die schnellere Fahrt machten als alles andere, ob mit Segel oder den neuen Maschinen der Zerstörer aus Metz ausgestattet. Die Geheimschiffe des Feindes, von den verschlagenen Meistern der Unreinen herbeigerufen, eilten Neeyana zur Hilfe. Bald würden sich die Blitzkanonen mit den einfachen Waffen der Flotte aus Metz messen. Hiero hegte keine falschen Hoffnungen, wer als Sieger hervorgehen würde. Die Zerstörer aus Metz waren recht wirksam und hatten Neeyana völlig überrascht. Aber Hiero war überzeugt, daß sie es mit den unreinen Schiffen nicht aufnehmen könnten. Daß hinter der neuen Kriegsflotte Abt Demero und der Abteirat standen, daran zweifelte er keinen Augenblick. Angesichts der kurzen Zeit aber, die den Abteien zur Verfügung gestanden hatte, um die neuen Schiffe zu fertigen, war es allerdings unwahrscheinlich, daß sie den unreinen Schiffen an Stärke und Geschwindigkeit gleichkämen. Mochte die Kriegsflotte aus Metz ein auch noch so stattliches Bild abgeben, ihre plumpen Zerstörer wären bloße Nußschalen im Vergleich zu dem, was von Osten herbeieilte! Mrien, übermittelte er rasch, mach dich bereit! Los, fang an! Der Feind naht. Wir müssen uns alle hinlegen, damit dieses Fahrzeug leer erscheint. Wenn der Feind nur ein treibendes Boot sieht, wird er wohl vorbeifahren, um unsre Freunde anzugreifen. Es war Buorch, der zur Erwiderung gab: Sie ist schon dabei. Und ich kann jetzt auch den Feind sehen. Wie schnell sie kommen! Auch Hiero sah sie nun, die zwei Punkte, die mit hoher Geschwindigkeit entlang der Küste ostwärts sausten und von Minute zu Minute größer wurden. Er rang die Hände. Wenn er doch nur den Gedankenschild seiner Freunde durchbrechen könnte, um sie vor der Gefahr zu warnen! Mit den
andern duckte er sich unters Dollbord und zwang sich zur Ruhe. Als er mit einemmal die Furcht spürte, die ihn ergriff, atmete er erleichtert auf. Denn Mrien hatte ihr Ledersäckchen geöffnet und hantierte darin mit beiden Händen in kreisenden, rührenden Bewegungen. Die Woge der Angst, die auf die Katzen ohne Wirkung blieb, kam von ihrem Rücken und griff sofort in die Chemie seines menschlichen Körpers ein. Der Wind des Todes blies ins Meer hinaus. Die Rauchschleier aus der brennenden Stadt, die entsetzlich im Hals kratzten, waren nun mit einem todbringenden Brodem versetzt. Hiero spähte flugs nach Westen und duckte sich wieder ins Boot. Soweit war alles in Ordnung. Die Flotte der Abteien hatte in sicherer Entfernung eine Linie gebildet, um die Zerstörer zu empfangen. Das Feuer auf die Stadt war eingestellt, und die Segelschiffe waren noch weiter westwärts abgefallen, um hinter den Schlachtkreuzern Deckung zu suchen. Sie kommen, gab Buorch zu verstehen. Nun werden wir ja sehen. Hiero schloß die Augen und begann zu beten. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan; nun konnte nur noch Gott helfen. Vielleicht hatten die Zaubermeister der Unreinen damals, als das Katzenvolk seinem Joch der Sklaverei und Unterdrückung entfloh, bereits gelernt, wie ihre grausige Waffe aufzuheben sei. Während er noch Zwiesprache mit seinem Schöpfer hielt, vernahm er das Geräusch, das er erwartet und befürchtet hatte, das knatternde Zischen der feindlichen Waffe, die ihn schon einmal niedergestreckt hatte. Die Blitzkanone! Ein Schuß konnte sie in Sekundenschnelle auslöschen. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und lugte über das Dollbord. Seine Gefährten folgten seinem Beispiel, und so verfolgten sie alle fünf stumm und ergriffen den Beginn einer schrecklichen Seeschlacht. Die schmalen, schnittigen Kreuzer der Unreinen hatten keine Taktik für eine Auseinandersetzung mit Gegnern, die ihnen annähernd gewachsen wären. Eine solche Strategie hatten sie bislang
gar nicht nötig gehabt, da ihr mysteriöses Gefährt noch nie auf einen ebenbürtigen Widersacher gestoßen war. Also hielten sie einfach auf die Flotte aus Metz zu und feuerten aus den Kanonen auf ihrem Vordeck in rascher Folge. Die beiden Zerstörer lagen dicht beieinander und schienen sich gar ein Wettrennen zu liefern, wer bei der erwarteten Schlacht der erste wäre. Offenbar fiel ihnen das kleine Boot gar nicht auf, das eine Viertelmeile südlich von ihrem Kurs auf dem öligen Wasser trieb. Schon konnten sie erste Treffer verzeichnen. Wie Hiero befürchtet hatte, übertrafen die wunderlichen Blitzkanonen, die eine Art von statischer Elektrizität verschleuderten, die plumpen Geschütze aus Metz an Reichweite. Schon rauchte einer der schwimmenden Kolosse aus einem großen Leck im abgeschrägten Rumpf, obwohl er zusammen mit den anderen vier noch die Linie hielt. Alle Panzerschiffe aus Metz hatten das Feuer eingestellt, denn sie mußten zwangsläufig warten, bis die Zerstörer der Unreinen in Schußweite kämen. Abermals betete Hiero um das Wunder, das er erfleht hatte, während er sich die Augen ausrieb, in die nicht nur der brennende Rauch, sondern auch die eiserne Disziplin, mit der seine Landsleute die Stellung hielten, Tränen getrieben hatten. Und es passierte, wie Wunder manchmal geschehen, besonders wenn Mut und weise Voraussicht dahinterstecken. Die zwei schnittigen Zerstörer der Unreinen waren auf ihrem Weg zur gegnerischen Flotte längst an dem treibenden Boot vorbei, als sie plötzlich durchzudrehen schienen. Eins davon drehte nämlich scharf ab und hielt mit voller Fahrt mitten auf die ungeschützte Flanke des Schwesterschiffs zu. Gleichzeitig verstummte das Knistern der Blitzkanonen, und die Gefährten im Boot vernahmen kreischendes Geschrei, das übers nun stille Wasser hallte. Schwarze Punkte, die sich an der Reling sammelten und in die Fluten stürzten, zeugten davon, wohin die Besatzung der verzauberten Schiffe in höchster Panik floh. Es folgte rasch der letzte Akt. Ohne Steuermann – oder aber es stand ein Irrsinniger auf der Brücke – fuhr dasjenige Schiff,
das der Küste am nächsten war, dem anderen in die Seite, so daß sich der scharfe Bug bei voller Fahrt wie ein Riesenpflug tief in den anderen Rumpf bohrte. Zuerst stieg eine kleine Rauchwolke auf, als die zwei verkeilten Metallkörper zum Halten kamen, dann schlug eine grelle Lohe zum Himmel, vor der sie, die im Boot saßen, sich schützend die Augen bedecken mußten. Das gewaltige Getöse einer Explosion folgte dem Licht, und abermals steckten alle den Kopf unter das Dollbord. Als ein schriller Heulton durch die Luft kreischte, drückten sie sich ganz flach auf den Boden. Ein Wasserguß ging von allen Seiten auf die zitternden Gefährten nieder. Nachdem der Metz die Panik niedergerungen hatte, hob er den Kopf, wobei er gerade noch die hohe Welle herankommen sah. Nach einem Satz zur Mitte tauchte er die Ruder ein und drehte das Boot, so daß der Bug zum heranbrausenden Wasserberg ausgerichtet war. Sie wurden mit dem Wellenkamm hochgeworfen und sanken tief ins nachfolgende Tal, aber Hiero hatte im letzten Augenblick das Boot noch herumreißen können, so daß kaum ein Wassertropfen hereinspritzte. Die zweite und dritte Welle waren schon beträchtlich schwächer und vermochten ihnen nichts mehr anzuhaben. Erst jetzt legte Hiero die Riemen wieder aus der Hand und gab den Katzen das Zeichen zum Aufstehen, damit sie sich besehen könnten, was sie vollbracht hatten. Wo die Schiffe der Unreinen zusammengestoßen waren, lag nun eine große Öllache auf dem Wasser, die sich schnell in den sanften Wellen des Südwinds ausbreitete. Hie und da trieben Holzteile und andere kleine Trümmer. Von Überlebenden fehlte jede Spur. Die grausigen Schiffe, die die Südküste der Inlandsee so lange unsicher gemacht hatten, waren nicht mehr. Mit ihnen untergegangen waren die Kommandeure der Dunklen Bruderschaft und die Besatzung, die aus schaurigen Mutanten und dem menschlichen Abschaum, der sich den Unreinen verschrieben hatte, bestand.
Im Bug von Hieros kleinem Boot saß eine lächelnde Mrien mit einem Lederbeutel im Schoß. Sie hatte die pelzigen Ohren gespitzt und strahlte übers ganze Gesicht, daß die spitzen Zähne nur so blitzten. Der Wind des Todes hatte die Feinde ihrer Rasse vernichtend geschlagen, wie sie und ihre Leute es sich nie hätten träumen lassen. Von dieser Heldentat würden noch ihre Urenkel am Lagerfeuer singen! Ein triumphales Schnurren kam aus ihrem lippenlosen Mund, ein ungestümes Jubelgeschrei, als die Freiesten der Freien den Tod ihrer einstigen Herren feierten. Hiero lächelte, als er die geschwellten Halsmuskeln und die funkelnden Augen sah. Er hätte am liebsten in das Jauchzen eingestimmt, hätten seine Stimmbänder solche Laute hergegeben. Freilich hatte er nicht vergessen, seinem Schöpfer auf seine stillere, doch keinesfalls weniger herzliche Art zu danken. Daß sie großes Glück gehabt hatten, darüber machte er sich nichts vor. Denn Glück hatten sie großes gehabt! Zeitpunkt, Waffe und Wind waren exakt aufeinander abgestimmt gewesen. Mit so etwas konnte man nicht immer – nicht noch einmal rechnen. Und es war noch viel zu tun. Dies war immerhin nur das erste Scharmützel eines gewaltigen Krieges, der sich weit in die Zukunft und über abertausend Meilen erstrecken würde. Widerwillig rüttelte er die Katzen aus ihrem Freudentaumel und brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Freunde, mahnte er, der Krieg ist nicht vorüber. Es gibt noch viel zu tun, und als erstes müssen wir zu meinen Kameraden vorstoßen. Deswegen bin ich den ganzen langen, beschwerlichen Weg aus dem Süden gegangen. Er deutete mit dem sonnengebräunten Arm zur Flotte aus Metz, die ob der unverhofften Wende im Verlauf der Schlacht einigermaßen durcheinandergeraten war. Bleibt ruhig! Ich rudere uns raus zu ihnen. Und betet zu euren Windgöttern, daß meine eigenen Leute ihre Donnerwaffen nicht auf uns losfeuern, bevor ich ihnen sagen kann, wer wir sind!
Eigentlich war's recht einfach. Die Kriegsschiffe aus Metz fuhren langsam wieder ostwärts, und ein aufmerksamer Beobachtungsposten entdeckte das kleine Boot, das zu ihnen ruderte, recht bald. Das Schiff an der Spitze verlangsamte die Fahrt, als Hiero und seine Gefährten sich ihm näherten, wobei der Rauch aus seinem Doppelschornstein versiegte. Aus dem Ruderhaus kamen ein paar Leute und sahen zu ihnen herab. Hiero, dem nicht entging, daß ein paar der runden Mündungen am abgeschrägten Rumpf ebenfalls auf sie gerichtet waren, legte die Riemen ein und stand mit erhobenen Händen auf. Sodann bekreuzigte er sich langsam mit der Rechten an Stirn und Brust, so daß alle diese Handlung deutlich verfolgen konnten. Es herrschte eine Weile Stille, als er, in seinem Fischerboot stehend, nähertrieb. Dann schallte eine donnernde Stimme herüber. »Schaut, schaut, was für ein Schwert! Was für ein dreckiges Gesicht! Was für ein saudummes Grinsen! Hab' ich nicht immer gesagt, er verdirbt nicht so schnell, der lausigste Priester von Metz, der allergrößte Taugenichts der ganzen Republik? Er lebt noch!« Hiero lachte erleichtert. »Was tust du auf diesem abgetakelten Koloß, du Riesentrottel? Dachte immer, dich läßt man gar nicht in die Nähe von Wasser. Hast in deinem ganzen Leben noch nicht gebadet, und zum Schwimmen lernen bist du zu blöd.« Der robuste Mann lächelte gutmütig zu ihm herab. Per Edard Maluin war einen Kopf größer als Hiero und doppelt so schwer. Er war bärenstark und hatte das pausbäckige Gesicht eines unschuldigen Kindes, natürlich in größerer Ausgabe. Er war Veteran des Grenzschutzes und notfalls ein grimmiger Krieger. Obendrein war er Hieros bester Freund; sie hatten sich in ihrer Jugend an der AbteiAkademie ein Zimmer geteilt. »Was sind das für Gesellen, deine Freunde, Kurzer? Du hast vielleicht ein Glück! Hast du gesehen, was wir gerade versenkt haben? Dieses Schiff unter meinem Kommando, schau's dir an! Und die andern.«
Hiero nahm einen Riemen und ruderte an das Riesengefährt heran. Dann sah er mit ungläubiger Miene zu der kleinen Gruppe über sich auf. »Was ihr versenkt habt? Ihr würdet nun in Fetzen und Trümmern auf dem Grund des Meeres liegen, wenn ich und meine vier Kumpel nicht gewesen wären. Was, meinst du, hat den Unreinen den Verstand geraubt, so daß sie sich gegenseitig gerammt haben? Daß sie aus der Ferne dein häßliches Gesicht gesehen haben?« Per Edard kniff die Augen zusammen. Hinter seiner breiten Stirn, die sich nun nachdenklich in Falten legte, steckte ein reger Verstand. »Ihr wart das also? Hätt' ich mir denken können. Warst schon immer König der schäbigen Taschenspieler. Gott sei Dank, möcht' ich sagen. Aber jetzt an Bord, schnell! Wir haben eine Schlacht zu Ende zu führen und müssen dieses Rattennest ausrotten. Da wir neue Gedankenschilde haben, die vollkommen dicht sind, kann ich nicht mit deinen neuen Freunden reden. Komm zu mir auf die Brücke hoch, damit wir wieder ans Werk können!« Die fünf Gefährten verließen ihr kleines Boot und kletterten durch eine schmale Einstiegluke in der Seite des abgeschrägten Rumpfes an Bord. Bald spähten sie durch schmale Schlitze zur rauchbedeckten Stadt, während Per Edard brüllend seine Befehle ausgab. Und bald ließ sie das Getöse der schweren Geschütze von unten und das Beben, das daraufhin durch den Schiffsrumpf lief, allesamt erschaudern. Zwischen den Kommandos für Steuermann, Kanonier, Signalgast und viele andere warf Per Edard seine Fragen ein und gab über die breiten Schultern knappe Erklärungen ab. Er trug die ledernen Kniehosen und das Hemd des Grenzschutzes, aber um die Stirn ein Lederband mit kleinen Visier daran. Über dem Visier war ein silbernes Zeichen eingeprägt, das Hiero noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als er es genauer besah, erkannte er darin ein Segelschiff mit dem Bug nach vorn, als würde es auf den Betrachter zuhalten; den Hintergrund zur Bark bildete ein tauumwundener Anker. »Ach das? Tragen wir alle. Demero hat's, wie gewöhnlich, in einem alten Buch entdeckt. Lauter Unsinn, aber den Männern
gefällt's. Der Admiral ist Oberst Berain von der Beesee-Küste drüben. Seins ist Gold, mit Verlaub. Unteroffiziere und Mannschaften tragen's in Kupfer. Will versuchen, dir ein bleiernes zu besorgen. Wir sind jetzt 'ne richtige Flotte, Hiero!« So redete er drauflos, während die anderen beobachteten, wie die Granaten in der Stadt explodierten. Aus Neeyana wurde ihr Feuer in keiner Weise erwidert. »War verdammt schwer, das ganze Metall für die Geschütze aufzutreiben. Ist 'ne Bronzelegierung aus irgendeiner alten Stadtruine, schätz' ich. Nein, der Rumpf ist nicht aus Metall, nur Holz. Ist aber mit einem keramischen Material überzogen, dünnen Platten daraus. Gibt 'nen recht guten Schutz gegen das meiste, aber natürlich nicht gegen das verfluchte Stromzeug. Ich geb' ja zu, du warst unsre Rettung, Freund. Die Schiffe? Den Kurs halten, ihr kupfernen Dummköpfe! Meint ihr, das ist ein Kanu? Wie sollen die da unten zielen, wenn ihr den Kahn so rumschmeißt? Ach ja, die Schiffe. Nun, Demero hat aus dem Gebiet von Beesee Matrosen zu einem See nördlich von Namcush verlegen lassen. Der See ist recht groß, und das Dammvolk hat geholfen, 'nen Kanal zu graben. Arbeiten jetzt mit uns, mußt du wissen. Viel passiert, seitdem du dich im Süden rumtreibst.« Er versetzte Hiero einen freundschaftlichen Klaps auf den Kopf, der ihn ohnmächtig geschlagen hätte, wenn er getroffen hätte, und brüllte dann wieder die Leute an, die das große Doppelruder bedienten. Sodann wandte er sich wieder an Hiero. »Nichts von dem ganzen Zeug ist neu. Weiß Gott, wo sie das wieder ausgegraben haben. War recht komplett erhalten, das Ganze; brauchten nur Fragen zu stellen, zu denen sich bald Antworten fanden. Abteiarchive, schätz' ich. Haben uns alles gegeben. Wie die blöden Dinger zu bauen sind, wie die Maschinen zu bauen sind. Nennen sie ›Hoch-Druck-Dampfmaschinen‹. Haben ein paar in die Luft fliegen lassen, bevor's mit der ersten geklappt hat. Aber es ist keiner umgekommen dabei. Die alten Schiffe, die wir nachgebaut haben, waren genauso konstruiert, aber mit einer Metallhaut
versehen. Wir hatten keine Möglichkeit, so viel Eisen zu beschaffen, zumindest nicht in der kurzen Zeit. Aber wir haben die Formel für dieses Keramikzeug, das wie Steingut ist, aber zwanzigmal härter. Hat gut hingehauen. Dabei fällt mir ein, bin jetzt richtig froh, daß wir kein Eisen bekommen haben. Diese blöde Stromschleuder auf den unreinen Schiffen hätt' uns, wer weiß, ganz schön geröstet. Jedenfalls konnten wir fünf bauen. Das Dammvolk öffnete seine Schleusen, und so kamen wir flußabwärts nach Namcush. War am frühen Morgen, vor etwa drei Wochen. Wir nahmen zwei Regimenter auf Leichtern ins Schlepptau und hatten diese Stadt binnen einer halben Stunde eingenommen. Nicht ein Schiff entkam uns. Es waren nicht so viele Unreine dort, sondern hauptsächlich betrügerische Kaufleute, zwielichtige Grenzer und waschechte Piraten. Wir warfen alle ins Gefängnis und quetschten sie gründlich aus. Die Piraten wurden gehängt und alle Schiffe im Hafen eingeschlossen. Daß die Unreinen etwas erfahren würden, war somit ausgeschlossen. Dann fuhren wir entlang der Küste hierher. Da wir nicht alle Segelschiffe schleppen konnten, mußten wir recht langsam bleiben, um sie nicht abzuhängen. Aber nun sind wir ja hier. Was gibt's, Junge?« Ein zehnjähriger Knabe war von hinten hinzugetreten und salutierte. »Signal vom Admiral, Käpt’n. Kurs auf die Stadt nehmen, ihm folgen. Er bringt die Truppen an Land, wir geben ihm Deckung.« »Richtig. Feuer einstellen und weiteren Befehl abwarten da unten.« Er richtete sich wieder auf, nachdem er ins Sprachrohr gerufen hatte, und besah sich nun zum ersten Mal die Kinder des Winds genauer. »Deine Freunde bekommen richtige Erste-ReihePlätze, alter Kamerad. Ein Schrank von Kerl, zwei Halbstarke und 'ne richtige Süße. Wo hast du sie denn aufgestöbert? So was Abwegiges hab' ich noch nie gesehen, obwohl ich mich auskenne mit Lemuts – pardon, Fremdlinge!«
Als sein Blick über Mriens weiche Formen glitt, lag darin unverkennbare Bewunderung, die alle gattungsbedingten Unterschiede mühelos überbrückte. Die junge Priesterin warf stolz den Kopf zurück. »Langsam, Freund!« versetzte Hiero. »Die junge Dame, die du gerade angaffst, war einzig und allein verantwortlich für den Untergang der beiden Schiffe der Unreinen, die deine kleine Nußschale ansonsten mit Vergnügen in die Luft gejagt hätten. Du willst wohl, daß ich sie jetzt auf dich hetze?« Per Edard machte große Augen bei dieser verblüffenden Richtigstellung, kannte Hiero aber zu gut, um an seinen Worten zu zweifeln. Nun verbeugte er sich und begrüßte die vier Katzen höchst offiziell. »Es ist mir eine Ehre, den wackeren Kriegern und Freunden meines alten Kameraden gegenüberzustehen. In unser aller Namen möchte ich danken für die Vernichtung des gemeinsamen Feindes. Es soll euer Tun von unseren Führern und Weisen noch geziemend gewürdigt werden. Unterdessen seid ihr unsre Gäste und Freunde. Alles, was in unsrer Macht steht, soll sofort für euch getan werden. Eine Bitte genügt.« Hiero übersetzte und wartete darauf, wer die Antwort geben würde. Wie es sich gehörte, übernahm Buorch diese Pflicht. Trotz des hohen Ranges der Priesterin Mrien in der Rudelstruktur war der große Krieger immerhin Führer dieser Gruppe. Auch wir haben zu danken. Wir sind einen weiten Weg gegangen, um unserm Freund Hiero und den Seinen zu helfen. Wir wollen an eurer Seite kämpfen gegen jene, die ihr ›Unreine‹ nennt. Unser Name für sie ist schlimmer. Mögen wir bald wie wahre Freunde in Gedanken zu euch sprechen können. Gibt es mittlerweile irgendeine Möglichkeit, frische Luft zu atmen. Wir ersticken förmlich im Gestank aus dieser Stadt und von dieser schwimmenden Insel. Wir bitten darum, aber nur wenn's möglich ist. Wenn nicht, werden wir's aushalten. Ansonsten wollen wir mit euch trinken und essen, kämpfen, wenn ihr kämpft, und notfalls mit euch sterben.
Während Hiero die Antwort übersetzte, entging ihm nicht, daß der robuste Edard gerührt war, was gar nicht seiner Art entsprach. »Bitte sag ihnen, Hiero, daß ich sie auf eins der Außenpostenboote bringen lasse, sobald es geht. Draußen in der Bucht wird die Luft frisch sein, und auf 'nem Segelschiff gibt's keinen Kohlen- und Ölgeruch. Wir haben einen Haufen Braunkohle geladen, was zugegebenermaßen recht unangenehm riecht. Im Moment muß ich die Landung decken. Wir setzen die Truppen ans Ufer.« Während Hiero dies seinen Freunden übermittelte, segelten die Grenzschutztruppen durch die gepanzerten Dampfer und näherten sich vorsichtig den ramponierten Landungsstegen. Es wurde nicht mehr gesprochen; man wartete gespannt, ob es zu einem Gegenangriff käme. Hiero versuchte, sich mit seinen Gedanken vorzutasten, und machte eine neue Erfahrung. Der Gedankenschild, mit dem die Kriegsflotte der Abteien geschützt war, schirmte auch ihn ab. Er konnte mit seinen Gedanken weder über die Grenzen des Schiffes hinausreichen, noch Gedanken von außerhalb empfangen. Leise unterhielt er sich darüber mit Per Maluin. »Ja, das stimmt. Abt Demero hat mir von dir erzählt, Hiero. Ich habe mitbekommen, daß du auf diesem Gebiet in den letzten ein, zwei Jahren so'ne Art Weltmeister geworden bist. Nicht wenige von uns versuchen jetzt, es dir gleichzutun. Was werden sie froh sein, dich wiederzuhaben! Die Führung, also der Rat natürlich, war der Meinung, daß es in unseren Reihen unter Umständen ein paar Bösewichte geben könnte. Als wir nun diese Schilde erhielten, wurde beschlossen, daß sie bei jedem wirksam sein müßten, damit keiner die Möglichkeit hätte, das eine oder andere durch verschiedene Lücken weiterzugeben, was uns in einer brenzligen Situation zum Verhängnis hätte werden können. Verstanden?« Hiero nickte, und sie richteten den Blick wieder auf die geordneten Reihen der äbtlichen Infanterie, die nun an Land ging und in die rauchigen Straßen ausschwärmte, um zum Stadtkern
vorzustoßen. Bis auf das ferne Geschrei, das durch den Dunst und das knisternde Feuer herüberhallte, blieb alles still. Es waren keinerlei Anzeichen einer feindlichen Gegenwehr – ob organisiert oder nicht – erkennbar. Ein zweites Segelschiff, ein zweimastiger Küstenfahrer wie das erste, legte an und entlud seine Truppen. Offiziere, von denen Hiero den einen oder anderen wiedererkannte, gaben auf dem Strandstreifen ihre Befehle und führten ihre Leute landeinwärts. Ein Schiff ums andere entledigte sich seiner menschlichen Ladung, bis schätzungsweise zwei Regimenter, also viertausend Mann, abgesetzt waren. Hiero verfolgte das Schauspiel mit gewissem Neid. Er selbst hatte den Rang eines Majors (der Reserve) bei den Spähern, der Elitetruppe aller Verbände. Deshalb wünschte er sich – törichterweise, wie er sich gemahnte –, mit ihnen zu ziehen. Das rührte zum Teil, wie er wußte, daher, daß er als berufsmäßiger Soldat unwillkürlich mitgerissen wurde, wenn er andere zur Schlacht ausrücken sah. Aber er war sich darüber im klaren, daß mehr als das dahintersteckte. Seit über einem Jahr war er nun allein, also von den Menschen seines Volkes abgeschieden gewesen. Er hatte abertausend Meilen zurückgelegt und neue Freunde, eine neue Liebe, neue Würden, lauter Neues gefunden und erworben. Alles war neu für ihn gewesen, und was ihn nun bewegte war einfach nur Heimweh. Als die sonnengebräunten Männer über die Laufplanken eilten und in der düsteren Stadt verschwanden, wollte er einfach dabei sein, wieder zur stolzen Streitmacht – Zug, Kompanie, Bataillon, Regiment, Korps – gehören, in die er hineingewachsen war. Seine Sehnsucht war so alt wie die Menschheit, und er hatte natürlich keine Ahnung, daß ein in Vindobona festsitzender Legionär der Kaiserlichen Zehnten, dessen Kohorte vor seinen Augen den Danuvius überquerte, um eine gotische Reiterei zurückzuschlagen, genauso empfunden hätte. Er war jedoch nicht nur Soldat. Er war auch Priester. So schickte Hiero ein stummes Dankgebet zu seinem Schöpfer und bat um Vergebung seines Stolzes und seines Undanks für die vielen Gnadenerweise, die ihm zuteilgeworden waren. Er wußte, daß die in ihm keimende Unzufriedenheit die Frucht seines Dünkels war. Es
war ihm mehr Gutes geschehen, als er verdiente; daß er kein Recht hatte, so zu fühlen, leugnete er nicht. Und dennoch – wie sehnte er sich danach, mit diesen Männern zu marschieren! Hiero wurde aus seinen Gedanken gerissen, als alle anderen auf der Brücke recht steif und förmlich wurden. Jemand war durch die hintere Kajütstreppe hinzugekommen. Eigentlich mehrere Personen, aber der Mann an ihrer Spitze vereinigte alle Blicke auf sich. Er war nicht mehr jung und hatte eine Glatze, was für einen Metz eine Seltenheit war. Hiero schätzte ihn auf Ende Fünfzig, Anfang Sechzig. Er trug keinen Bart und an der Stirn weder Lederband noch Visier. Statt dessen prunkte an seiner linken Brust das Zeichen mit dem umwickelten Anker und dem Segelschiff, nur diesmal in Gold. Sein von Narben entstelltes Gesicht mit der eisernen Miene erwiderte Maluins Salut mit einem Nicken. Er war wie jedermann mit einfachem Leder bekleidet. An seiner Seite baumelte ein kurzer Säbel. Seine Ankunft war ein Ereignis, dem sich niemand entziehen konnte. Sofort wandte er sich Hiero zu und salutierte ebenfalls mit nach oben gekehrtem Handteller. »Per Desteen? Gratuliere, es bis hierher geschafft zu haben, Justus Berain, Kommandeur dieses Geschwaders. Ich höre merkwürdige Sachen über dich …« – er machte eine Pause – »… und deine Freunde hier. Gehe ich recht in der Annahme, das unreine Gezücht habe sich aufgrund eures Zutuns selbst vernichtet? Laß hören, wir sind ganz gespannt!« Die Geschichte dauerte eine Weile. Nachdem Hiero die Kinder des Windes vorgestellt hatte und die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, trat der Admiral mit den Katzen in Gedankenverbindung. Die ganze Zeit über kamen und gingen verschiedene Boten und Kuriere, die in einem fort für Unterbrechungen sorgten. Hiero lauschte den Meldungen und machte sich ein eigenes Bild von den Vorgängen. Allem Anschein nach wurde in der Stadt kaum Widerstand geleistet. Der Feind war vernichtend in die Flucht
geschlagen und Neeyana so gut wie entvölkert. Den äbtlichen Truppen stellte sich niemand in den Weg. Gelegentlich griffen ein paar Lemuts zur Gegenwehr, konnten aber rasch übermannt werden. Von den Unreinen Hexenmeistern, den Herren der Zirkel, fehlte jede Spur. Viele hundert Leichen von fliehenden Zivilisten beiderlei Geschlechts lagen umher. Stellenweise waren Plünderer aufgetreten, aber dem wurde mit strenger Hand rasch ein Ende gesetzt. »Wenn ich einen Vorschlag machen darf«, begann Hiero, »so sollen sich die Offiziere die Leute vorknöpfen, um herauszufinden, wo sich die Stützpunkte und sein Personal befinden. Die Stadt war sozusagen ein Hauptquartier, und es ist ihnen kaum Zeit geblieben, viel davon zu zerstören. Von den echten Oberspitzbuben gibt's gar nicht so viele. Sie brauchen also viele Diener, Gefolgsleute und dergleichen. Aus denen ließe sich allerhand herausquetschen. Aber vermutlich treiben sie sich in unterirdischen Grüften herum, also sollen unsre Männer um Gottes willen aufpassen, wenn sie in irgendwelche Kellergewölbe steigen.« Berain blickte ihn eine Weile stumm an. Offenbar war er es nicht gewohnt, von Untergebenen dermaßen bestimmte Töne zu hören. Freilich kümmerte sich Hiero kaum darum. Er war Prinz von Dalwah und hatte im letzten Jahr so viel durchgemacht, daß er sich jedem ebenbürtig fühlte. Schon hatte er sich abgekehrt, um abermals die brennende Stadt zu betrachten. Per Maluin allerdings kümmerte sich durchaus darum und wartete schon darauf, daß in dem Augenblick das große Donnerwetter ausbräche. Aber Justus Berain war nicht umsonst der Admiral. Ein Lächeln huschte über seinen verbissenen Mund; das war alles. »Ganz recht, Per Desteen. Hätt' selber darauf kommen müssen. Bist du genug bei Kräften für einen Landgang? Ich geb' dir ein paar Leute mit, denn du hast bestimmt am meisten Ahnung, wo nach solchen Nestern zu suchen wäre.« In wenigen Minuten war alles geregelt. Begierig stieg Hiero an Land, gefolgt von den vier Kindern des Windes, zehn Grenzern aus
Metz und ihrem Unteroffizier am Schluß. Ein junger Leutnant führte sie durch das Straßengewirr, so daß sie trotz des Rauchs und des Durcheinanders um sie herum rasch zum Hauptplatz von Neeyana gelangten. Über hundert Gefangene waren dort unter strenger Bewachung in der Platzmitte zusammengepfercht. Nachdem sich Hiero ausgewiesen hatte, machte er sich unverzüglich daran, die Leute sowohl mit seinen Augen als auch seinem forschenden Geist zu sichten. Er deutete plötzlich auf einen großen Mann, der sich hinter anderen zu verbergen versucht hatte. Holt ihn und zieht ihn aus! Er will sich verstecken und trägt eine von diesen Ketten um den Hals. Vor den verblüfften Augen der Soldaten aus Metz fielen die vier Katzen über die gekrümmte Gestalt her und hatten ihr in Sekundenschnelle den Lederharnisch in Fetzen vom Leib gerissen. Wieder einmal wanderte ein stahlblaues Medaillon mit seiner Kette in Hieros Hand, der das Ding mit den Füßen zertrampelte, wobei der den Offizier der Unreinen keinen Moment lang aus den Augen ließ. Er redete in Batwah auf ihn ein. »Daß du mir ja nicht lügst, Meister der Zweiten Stufe! Du hast eine einzige Chance, deine Haut zu retten, nur eine, wohlgemerkt! Wo ist das Hauptgewölbe? Wo werden die Unterlagen verwahrt? Es trennt dich nur noch eine Sekunde von der Ewigkeit, also raus mit der Sprache!« Der Offizier der Unreinen hätte es auf einen Zweikampf ankommen lassen. War er auch ein böser Mensch, ein ausgesprochener Feigling war er nicht. Aber so unverhofft von den grausigen Katzen ergriffen, ausgezogen und in aller Öffentlichkeit bloßgestellt und seines Schildes beraubt zu werden – all das war zu viel für ihn. Schluchzend warf er sich Hiero zu Füßen. »Gnade!« Er ergriff Hieros Sandalen, woraufhin der Priester ihn wegstieß.
»Du sollst am Leben bleiben, so lange keine Lüge über deine dreckigen Lippen kommt. Antworte auf meine Fragen!« Es klappte besser als erhofft. Obschon kein Adept, war der Wicht dritter Kommandeur der Stadtgarnison und wußte demzufolge nicht wenig. Mit einer Schlinge um den Hals führte er die Soldaten, Hiero und die Katzen wie ein Hund zu einem Türchen, das in die Steinmauer eines nahegelegenen Turms eingelassen war. Das Schloß mußten sie aufbrechen. Hinter der Tür lag, wie Hiero sich gedacht hatte, eine Wendeltreppe. Ausgetretene, schlüpfrige Stufen führten in die dunkle Tiefe. Man wartete kurz, bis Fackeln herbeigeschafft waren, und stieg dann im Gänsemarsch hinter dem Gefangenen mit gezückten Waffen nach unten. Es ging immer tiefer. Die Wendeltreppe wies mehrere Absätze auf, an denen sich aber keine Türen auftaten. Es ging immer weiter, bis Hiero das Gefühl hatte, tief unter der Erde zu sein. Es tauchten bläuliche Leuchtstofflampen auf, so daß man die rauchenden Fackeln löschte. Sie befanden sich nun in einem feuchten Korridor, der in beiden Richtungen verlief und sich in einiger Entfernung im Dunkeln verlor. Im blauen Schein der Leuchtstofflampen, die in regelmäßigen Abständen in die Decke eingelassen waren, war weiter nichts zu erkennen. Keiner mußte zur Stille angehalten werden. Hiero stupste den Gefangenen mit seiner Speerspitze an. Diese Geste reichte aus; er bog nach links und setzte sich widerwillig in Bewegung. Nur ein gelegentliches Rasseln von Metall und Knirschen von Leder war zu hören, als die anderen ihm lautlos folgten. Sie hatten ein weites Stück zurückgelegt und nichts in dem leeren Gang entdeckt, als Hiero plötzlich mit erhobener Linker zum Stehenbleiben aufforderte. Mit seinem Geist war er auf etwas gestoßen. Als er erkannte, was es war, verzog er das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Er fing zu laufen an, wobei er den Gefangenen rücksichtslos vor sich her schubste. Sie gelangten in ein großes, rundes Gewölbe, von dem viele Türen mit schweren Riegeln abgingen. Diese Türen standen alle offen, und es drang ein Gestank
nach Tod und Verwesung aus ihnen hervor, daß ihnen speiübel wurde. Ein Blick in jede Zelle genügte. Männer, Frauen, sogar Kinder – hier lagen die auserwählten Gefangenen der Unreinen in Ketten – allesamt tot. Die wilden Schwertstreiche und klaffenden Wunden der Hingemordeten waren wohl der gnädigste Tod, den sie sich nach all den Qualen hätten wünschen können. Hiero hatte vom Gang aus die letzte Regung eines der Sterbenden aufgeschnappt. »Frische Wunden«, stellte der Unteroffizier fest. »Muß eben erst passiert sein.« »Ja, und wir folgen ihnen. Macht die Augen auf! Der Tunnel führt an der anderen Seite gerade weiter. Dieser Mistkerl hier sagt, die Hauptkammer ihres Rats liegt da vorne, also aufgepaßt!« Die wenigen bleichen Anführer der Unreinen (nur drei an der Zahl), die nicht nach oben hatten fliehen können, hatten einen Augenblick zu lange damit gewartet, den geheimen Ausführungsgang zu öffnen. Hätten sie nicht einem letzten sadistischen Antrieb nachgegeben, die hilflosen Gefangenen in ihren Ketten abzuschlachten, so wären sie vermutlich gerade noch entkommen. Als Hiero mit seinen Begleitern in das große Gewölbe stürmte, hatten sie die gegenüberliegende Tür, die hinter einem Wandbehang verborgen war, noch nicht geöffnet. Statt dessen waren sie damit beschäftigt, den großen Drahtschirm zu zerstören. Obschon die huschenden Lichter darauf nun erloschen waren, konnten sie nicht von diesem Nervenzentrum des Gelben Zirkels lassen und hatten völlig übersehen, daß man ihnen so dicht auf den Fersen war. Ihre grauen Roben, vom angerichteten Blutbad gerötet, wehten mächtig, als sie herumwirbelten, um die Eindringlinge zurückzuschlagen. Ihre Waffen waren kaum erhoben, als die Kinder des Windes schon über sie herfielen. Bald lagen drei schlaffe Gestalten in ihrem stinkenden Blut, während Hiero sich noch umsah und zu fassen versuchte, was für einen Fund sie hier gemacht hatten.
10. Der Norden rüstet Der wohlehrwürdige Abt Kulase Demero, Generaloberer der Republik Metz und Oberbefehlshaber seiner Streitkräfte, war ein vielbeschäftigter Mann. Die hageren Züge seines sonnengebräunten Gesichts waren von Sorgen gezeichnet, und schlafen konnte er nur wenig. Seine Stimmung, keinesfalls immer so ausgeglichen, war nun trocken wie Zunder; wehe dem Unglückseligen, der ihn mit Belanglosem aufhielte und seine kostbare Zeit vergeudete. Im Moment saß er in einer Besprechung und hatte es schwer – schwer, sich in Geduld zu fassen, und schwer, zu verstehen, was er einfach verstehen mußte. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal wünschte er, daß Bruder Aldo, der Obere der Elfer und sein langjähriger geheimer Freund und Bundesgenosse, da wäre. Der Abt war mit guten geistigen Anlagen ausgestattet, was sich auch von seinem Gegenüber sagen ließe, aber der eine von dem ungleichen Paar war Mensch, der andere nicht! Der Abt konnte sich auf dem Gedankenweg so gut wie jeder andere Metz verständigen. Aber nur mit Menschen! Mit einem Seufzen versuchte er noch einmal, zu verstehen, was sein Gegenüber ihm sagen wollte. Charoo, der Chefkonstrukteur – ein bessres Wort gab's nicht – des Dammvolks, drückte sich nicht gerade verständlich aus. Charoo übertraf den alten Mann sogar dann an Größe, wenn er auf dem Hintern hockte, und hatte ungleich mehr Leibesfülle. Sein gedrungener Kopf mit dem Hasengebiß war faßförmig und hatte kleine, pelzige Ohren, die dicht an den ausgeprägten Hinterkopf angelegt waren. Er trug keine Kleidung und brauchte auch keine, da er vom Scheitel bis zum nackten Ruderschwanz in dunkelbraunen, glänzenden Pelz gewandet war. Er winkte nun mit der klauenbewehrten Hand, die eigentümlich zartgliedrig war im Vergleich zum plumpen Körperbau, und seine hellen, runden Augen funkelten gewitzt, als er dem Mann seinen Gedankengang noch
einmal darzulegen versuchte. Er verströmte einen beißenden Geruch, so daß sich Abt Demero nur mit Mühe das Husten verwinden konnte. Ein Duft nach Bibergeil erfüllte das Zimmerchen, als wäre es Charoos Stube draußen auf dem fernen See. Kann Böse – unentzifferbar – nicht machen weg, wenn nicht – unbekannter Gedanke, unwahrscheinliches Konzept – Wasser. Wassermenschen nicht – unkenntliche negative Regung – wir müssen – Gedanke an einen bestimmten Ort, wieder negativ – können nicht weg. Müssen HIER sein – positiver Gedanke. Stille. Die großen, mutierten Biber waren wie andere Lebewesen kurz nach dem »Tod« in Erscheinung getreten. Die scheuen, friedfertigen Tiere hatten sich beständig über die abgelegenen nördlichen Seen ausgebreitet. Da sie gelegentlich gestrandeten Fallenstellern halfen oder verirrte Kinder zurückbrachten, lernten die Bewohner von Metz sie respektieren. Bald bürgerte sich in gemeinsam bewohnten Gegenden ein stiller Tauschhandel ein. Kein Metz ließe sich im Traum einfallen, einem Biber des Dammvolks etwas zu tun, aber rechte Freundschaft wiederum wollte zwischen ihnen nicht aufkommen. Man achtete sich, aber ging sich nach Möglichkeit aus dem Weg. Die Menschen mieden höflichkeitshalber die Seen, und die übergroßen Nager hielten sich von den Siedlungen der Metz fern. Man tauschte Holz und Wurzeln gegen Messer, Werkzeug und Gemüse, aber das war alles. Daß sie äußerst intelligent waren, das war allgemein bekannt, obgleich erst in jüngster Zeit festgestellt wurde, daß sie über eine eigene Schriftsprache verfügten. Es war Abt Demero gewesen, der – angeregt von Bruder Aldo – die ersten Kontakte geknüpft und wohlwollende Aufnahme gefunden hatte, nachdem die Bruderschaft des Elften Gebotes die Grundlage dafür geschaffen hatte. Die Unreinen hatten das Dammvolk in jüngster Zeit immer wieder heimgesucht; immerhin besaßen die großen Nager zwei Dinge, auf die die Dunkle Bruderschaft aus war: Fleisch und Fell! Das machte das Dammvolk zu natürlichen Verbündeten des anständigen Rests der Menschheit, wobei dieses Bündnis sich nicht ohne Schwierigkeiten gestaltete. Das Dammvolk
war nun einmal nicht kriegerisch veranlagt, so daß es gar nicht leicht war, ihnen die Erfordernisse der Stunde nahezubringen. Sie hatten bereitwillig geholfen, die Dämme und Kanäle zu errichten, um die neue republikanische Flotte nach Namcush verlegen zu können, aber der Abt wollte noch viel mehr von ihnen. Womit er nicht durchkam. Zum einen herrschte im Dammvolk eine völlig schleierhafte Hierarchie. Charoo hatte allem Anschein nach allerhand zu sagen, aber wieviel genau, das blieb ein Rätsel. Konnte er für die Mehrheit seines Volkes sprechen oder nur für seine Heimatgemeinde? Mit einem innerlichen Seufzer beugte sich der Abt vor und versuchte es noch einmal. Er wurde durch leises Gelächter an der Kammertür gestört, und wandte schon zornentbrannt den Kopf, um den vermessenen Toren, der die Stirn hatte, ihn zu stören, zur Hölle zu wünschen. Sein Zorn schlug augenblicklich in höchste Freude um. »Hiero!« Er fiel dem jungen Mann um den Hals und klopfte ihm immer wieder auf den Rücken. »Ich wußte, du würdest wiederkommen, aber ahnte nicht, daß es schon so bald wäre. Doch paß auf! Du kannst mir vielleicht helfen. Ich habe die größten Schwierigkeiten, zu verstehen, was dieser ehrenwerte Herr zu sagen hat. Meinst du, du könntest…?« Er hörte zu reden auf, denn Hiero hatte sich seinen Armen entwunden und stand schon stumm vor dem Biber Charoo. Sogleich vollführten seine Hände gewisse komplexe Gesten. Auch Charoo fuchtelte nun mit den Händen herum, wobei er klug die Augen rollte. In dem stillen Zimmer spürte der alte Mann nun die pulsierenden Gedanken, die auf einer unvertrauten Stufe in solch rasantem Tempo hin und her huschten, daß er nichts mitbekam. Die vier Hände führten ihren wunderlichen Tanz fort. Nun berührten und verschlangen sie sich wie in einem unsichtbaren Fadenspiel. So ging es noch eine kurze Weile weiter; daraufhin traten beide zurück und blickten sich an.
Der große Biber schnalzte ermunternd mit der Zunge, was einem Abschiedsgruß gleichkam. Nachdem er sich auf alle viere niedergelassen hatte, watschelte er an den beiden Männern vorbei zur halb offenen Tür hinaus. Draußen im Gang waren noch seine Krallen auf dem Boden zu hören, dann war er in die Nacht verschwunden. »Nun«, sagte der Abt schließlich. »Ich hoffe, du hast aus ihm mehr rausbekommen als ich. Wie wußtest du überhaupt, wenn ich fragen darf, was ich sagen wollte?« Hiero ließ sich auf einem Stuhl nieder und meinte: »Weil ich, ehrwürdiger Vater, sofort nach dir gesucht habe, nachdem mich Maluin hierher nach Namcush gebracht hat. Und auf dem Weg in dieses Haus habe ich euch schon von der Straße aus, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, belauscht.« »Aha«, kam es stotternd vom Oberen. »Das heißt, du konntest Berain dazu bewegen, dich in einem seiner kostbaren neuen Dampfschiffe vorauszuschicken. Nicht gerade einfach, Berain zu was zu überreden. Du bist wirklich mit ungewöhnlichen Gaben begnadet. Mir ist allerhand zu Ohren gekommen, mein Sohn. Ich hoffe nur, daß du dir in deinem Herzen die Gottesfurcht bewahrt hast. Kein Mensch, kein rechtschaffener Mensch mit christlicher Seele hat je solche Gaben gehabt, wie du sie offenbar mitbekommen hast, Hiero. Ich kann nur staunen. Weißt du, was du mit deinen Geisteskräften anrichten könntest, wenn du dich den Mächten des Bösen verschreiben würdest?« Hiero wich seinen strengen Blicken nicht aus. »Du kannst jederzeit meine Beichte hören, sobald du willst, wohlehrwürdiger Vater«, versetzte er kleinlaut. »Aber möchtest du nicht zuerst erfahren, was Charoo und ich besprochen haben?« Die Sache stand für einen Augenblick auf Messers Schneide. Plötzlich kicherte der alte Mann jedoch und setzte sich auf den hölzernen Stuhl, wobei er immerzu lachte und sich die Augen rieb.
»Und ob ich das erfahren will, Spitzbub! Deiner Sünden, wovon es in diesem Jahr auf Wanderschaft reichlich geben muß, können wir uns später annehmen. Nun sag schon, was der alte Wasserpanscher gewollt hat, denn ich hab' ihn einfach nicht verstanden!« »Nun, zunächst haben sie eine komplizierte Zeichensprache als Ergänzung zu ihrer Gedankenübertragung. Hab' mir beim Gespräch einfach was davon auf einer anderen Stufe aus seinem Kopf geholt. Es ist ein ausgefallener Bereich, in dem sich ihr Denken vollzieht, aber längst nicht so ausgefallen wie bei anderen Freunden von mir, die du bald kennenlernen sollst. Zuerst einmal will er helfen, ist sich aber über die Art und Weise im unklaren. Seine Leute sind außerhalb des Wassers etwas unbeholfen, was einleuchtet. Bis auf die jungen Männchen und Weibchen im Frühling entfernen sie sich nur ungern von ihrem jeweiligen See. Sie haben eine unheimlich starke Bindung zum heimatlichen Territorium, wie man sagen könnte. Ich meine, das ist ihnen angeboren. Jedenfalls hat er dir das klarmachen wollen. Sie haben eine Art von Ratsversammlung, in der seiner Stimme großes Gewicht beigemessen wird. Sie ziehen von Siedlung zu Siedlung, von See zu See, aber – und das ist der Haken – jeweils nur für kurze Zeit. Er wollte dir mitteilen, daß man nicht mit ihnen rechnen kann, wenn's um längere Reisen geht. Sie würden dabei glatt überschnappen.« »Aha. Gut, das zu wissen. Wenn's also zu 'ner Schlacht kommt, in der wir sie dabei haben wollen, müssen wir zusehen, daß sie in ihrer Nähe stattfindet, oder ihre Teilnahme ist ausgeschlossen.« »Haargenau«, pflichtete Hiero ihm bei. »Darüber müssen wir uns später noch einmal ausführlich unterhalten. Im Moment brauche ich Hilfe, Vater. Gibt's aus dem Süden irgend etwas Neues? Hast du was von Bruder Aldo gehört? In der Flotte ist über meine Frau nichts Näheres bekannt, aber du wirst inzwischen sicherlich etwas erfahren haben. Was gibt's im Osten Neues? Ist dir etwas, irgend etwas, zu Ohren gekommen?«
Hiero hatte sich lange zurückgehalten, stand aber nun an der Zerreißgrenze. Nur indem er Lucare durch eiserne Selbstbeherrschung völlig aus seinem Denken ausgeschlossen hatte, war er imstande gewesen, sich zu mäßigen. Abt Demero las das Leiden im Gesicht des Jüngeren und wäre überall lieber gewesen als in diesem Zimmer. »Sind euch keine Gefangenen in die Hände gefallen, die was wußten?« versetzte der Abt schließlich. Das war eine Art von Antwort, obwohl er lieber eine bessere Auskunft gegeben hätte. »Nein«, erwiderte Hiero, der nun stumpf vor sich nieder blickte. »Es würden sowieso nur die Adepten etwas wissen, und solche konnten wir nur drei ergreifen, die aber, auf frischer Tat beim Morden ertappt, auf der Stelle getötet wurden.« Das Zimmer wirkte nun düster, obwohl die kleine Lampe nicht niedergebrannt war. »Du verdienst es, die Wahrheit zu wissen«, gestand Demero ein. »Zumindest die ganze Wahrheit, die ich weiß. Bruder Aldo und ich sind viel ältere Freunde, als du dir vorstellst. Seit vielen Jahren stehe ich, was selbst dem Hohen Rat nicht bekannt ist, mit ihm in Verbindung. Er war bestrebt, mich vor den Unreinen und ihren Listen zu warnen, während ich versuchte, ihn und seine Mitbrüder zu einer aktiveren Teilnahme an unserem Kampf zu bewegen. Ich erstattete ihm Meldung, daß und wo du bei der ersten Reise im Süden unterwegs warst, weshalb er überhaupt zu dir stoßen konnte. Lange vor deiner Geburt war er ein hoher Würdenträger in deinem südlichen Reich. Er brachte die Bücher zu uns, die du gefunden hattest, und wir verwendeten sie eifrig. Nur durch sie waren wir in der Lage, schließlich die Computer zu bauen und ihre Handhabung zu lernen. Ohne Computer hätten wir die neuen Schiffe nie so schnell bauen können, denn wir mußten auf altes Wissen zurückgreifen, das erst aufeinander abzustimmen war. Die Computer haben uns viele Monate gespart und tun das jeden Tag aufs neue.
Aber du willst ja von deiner Prinzessin hören. Aldo war kürzlich hier. Er hatte Neuigkeiten aus Dalwah. Es ist dort Bürgerkrieg ausgebrochen: Die Lage ist so ernst, daß er noch in derselben Nacht abgereist ist, um südwärts zu ziehen und mehr in Erfahrung zu bringen.« Der junge Man kehrte sich ab. Hiobsbotschaften aus dem Süden, so schlecht, daß sich Bruder Aldo sofort auf den Weg machte! Doch Lucare war auf die Rebellion nicht unvorbereitet gewesen! Ihr Vater war am Leben gewesen, und sie hatte ihm den treuen Hüpfer Segi schicken können. Sie war also gewarnt. Was mochte nur passiert sein? Er jedenfalls konnte ihr nicht helfen, befand er sich doch über tausend Meilen nördlich. Es blieb nichts anderes übrig als das Credo des Soldaten: Durchhalten! Mit starrer Miene wandte er sich wieder seinem Abt zu. »Ich weiß, du bist bestrebt, mehr zu erfahren, und wirst mich auf dem laufenden halten, Vater. Von hier oben kann ich Dalwah sowieso nicht helfen – höchstens indirekt. Also lassen wir das Thema. Habe ich schon erzählt, daß wir eine unzerstörte Kommandozentrale der Unreinen erobern konnten? Da war ein großer Metallschirm mit aberhundert winzigen Lichtern, aber es fehlte jegliche Energiequelle dafür. Zumindest konnten wir keine finden. Ich ließ das Ding zerlegen, so gut es ging. Hab' kein gutes Gefühl. Sollte wohl schnellstens zum besten Abteipsycher, will aber auch, daß die besten Computermenschen daran gesetzt werden. Ich glaube nämlich, daß es sich um einen Computer handelt, der allerdings durch Gedankenkraft betrieben wird, so daß …« Während der Abt der beherrschten Stimme des Jüngeren lauschte, hatte er Mühe, eine ruhige Miene zu bewahren und bei der Sache zu bleiben. Obwohl der junge Mann sich mächtig zusammenriß, hörte der Abt aus der eisernen Stimme die heftig unterdrückte Gemütserregung heraus. Dennoch konnte er nichts tun, um zu helfen.
Aus dem dichten, grünen Laubwerk des Waldes wechselte ein stattliches, dunkles Tier auf eine Lichtung. Es war Klootz, der in die Mitte der breiten Schneise stakte und dort witternd den Kopf mit der dicken Wamme am Hals in den Wind hob, um zu prüfen, was der Wind in seine breiten Nüstern oder langen Ohren trug. Auf dem Haupt standen anstelle der Geweihschaufeln, die dort in wenigen Monaten wieder prunken sollten, nur die kurzen Stirnzapfen. Er witterte abermals und sog den Duft der mächtigen Nadelbäume und Eichen ein. Dann ließ er sein gewaltiges ›Bah-uh‹ erschallen. Dreimal tönte das kehlige Röhren durch den stillen Wald. Er lauschte still nach einer Antwort, doch wenn eine kam, so wäre sie für menschliche Ohren nicht hörbar gewesen. An einer anderen Stelle, die sein Ruf gerade noch erreicht hatte, hielt ein anderes Tier plötzlich in der Bewegung inne. Es war Gorm, der stehenblieb, sich auf die pelzigen Hinterläufe setzte und lauschte. Seine Ohren und Nüstern zuckten, und seine Augen nahmen einen stieren, konzentrierten Blick an. Dann brummte er zufrieden und machte sich auf den Weg in die Richtung, aus der die Rufe gekommen waren. Klootz senkte den Kopf und trabte besonnen vorwärts über die Lichtung und verschwand im Wald, lautlos wie ein Schatten – aber ein Schatten mit einem Ziel.
Die königliche Armee von Dalwah befand sich auf dem Rückzug. Der klägliche Rest, der von ihr übriggeblieben war, hastete mit letzten Kräften voran. Viele Männer und Tiere hatten schwere Wunden davongetragen. Immer wieder sackten Erschöpfte, die keine Kraft mehr zum Weitergehen hatten, leblos zusammen. Es ergab sich von selbst, daß die gestürzten Männer und Tiere zurückgelassen wurden, denn es war finstre Nacht, und keiner hatte die Zeit oder Kraft, einem Nachbarn wieder auf die Beine zu helfen. Die wenigen Troßwagen, die sie noch besaßen, kamen nicht mit, obschon die Kaws, die vor sie gespannt waren, bis aufs Blut gepeitscht wurden,
um überhaupt noch einen Schritt zu tun. Der König war schon weit zurückgefallen. Die meisten Kavalleristen hatten ihr Reittier verloren und schleppten sich zu Fuß voran. Die überlebenden Hüpfer lahmten und hatten sich wundgelaufen. Es war das Überbleibsel eines geschlagenen Kriegsheers, das nur noch durch Loyalität und Disziplin zusammengehalten wurde. Aber diese brauchten sich rasch auf. Hin und wieder blickten die müden Männer zurück gen Süden, wo eine rote Lohe am Himmel schlug. Die Hauptstadt Dalwah stand in Flammen. Viele Soldaten waren in ihren Mauern geboren und hatten dort ihre Familien. Sie schlossen die Augen, um nichts zu sehen, und versuchten, ihre Gedanken vor dem Grauen zu verschließen, das sich hinter ihnen abspielen mußte. Ihre Königliche Hoheit ritt an der Spitze. Um ihren Hüpfer scharte sich ein Häuflein Berittener. An ihrer Seite befand sich Graf Ghiftah Hamili, der den rechten Arm in einer Schlinge trug und das Kommando führte. Sein dunkles Gesicht mit der Hakennase war starr vor Mattigkeit. Die Armee hatte nun kein anderes Ziel als einen sicheren Ort zum Rasten. Mensch und Tier waren völlig ausgemergelt. Daß am Morgen die Verfolgung wieder aufgenommen würde, darüber war sich jedermann im klaren. Sie waren vor zwei Tagen in die Stadt zurückgefallen, nachdem sie in der ersten Schlacht eine Niederlage erlitten hatten, waren aber insgesamt noch stark und zuversichtlich gewesen. Dort hofften sie ausruhen und die Mauern halten zu können, bis die Truppen aus dem Osten und Westen, die Marschbewohner und Matrosen von der Küste und die Infanterie der Mumanen aus der großen Ebene angerückt wären. Danach wollten sie einen Ausbruch wagen, um den vom Teufel gerittenen, rebellischen Herzog und seine widrigen Bundesgenossen niederzuschlagen. Es geschah jedoch ganz anders; eine Katastrophe bahnte sich an. Die Verschwörung der Bettler und die Straßenunruhen, die sie eine Woche zuvor niedergeworfen hatten, waren nur ein fauler Zauber,
inszeniert, um sie abzulenken und zu übertölpeln. Kaum waren die Stadttore geschlossen worden, als die echten Tumulte ausbrachen. Die Mauersperren in den vergitterten Kloaken und die Einlaßöffnungen der Kanäle wurden einerseits aufgebrochen, andrerseits von Verrätern geöffnet. Dem trüben Wasser entstiegen die schrecklichen Ungetüme der Tiefe, gegen die sich Dalwah seit alters geschützt hatte. Während neue Angreifer von außen die Mauern zu stürmen suchten, hatten die Truppen innerhalb der Stadt mit der in Panik geratenen Bevölkerung und den Scharen riesiger, blutrünstiger Reptilien zu kämpfen. Doch das war nicht alles. Seltsame, menschenähnliche Gestalten, die man kaum zu Gesicht bekam (und sah man sie doch, war die Begegnung tödlich), führten den Angriff der wilden Schuppentiere und fielen mit den grausigen Horden den Verteidigungstruppen in den Rücken. Als dies gemeldet wurde, beriet sich Lucare mit ihrem merklich geschrumpften Stab. Man gab Befehl, sich zum Nordtor durchzuschlagen. Ein Teil der Soldaten schaffte es, aber viele blieben für immer zurück. Als Lucare außerhalb der Nordmauer die Reste sammelte, zeigte sich, daß sie nur noch über ein Viertel der ursprünglichen Stärke verfügte, das zudem in erbärmlichem Zustand war. Es blieb keine andere Wahl als der Rückzug – in wilder Flucht. Man hatte Herzog Amibale und seine Freunde, die Unreinen und ihre Bundesgenossen, völlig unterschätzt. Wenn Lucare nicht schleunigst die übrigen Landesteile zum Widerstand aufstellen konnte, wäre das ganze Reich ein für allemal verloren. Während Lucare benommen durch die dampfende Nacht südwärts ritt, versuchte sie, klare Gedanken zu formulieren. Wie war sie müde! Keiner von ihnen hatte seit drei Tagen ein Auge zugetan. Sie fragte sich, wo Hiero sei. Daß er noch lebte, könnte sich, wie sie zuweilen ahnte, als Irrglaube erweisen. Aber da sie ein so festes Band vereinte, konnte sie einfach nicht fassen, daß er für immer von ihr gegangen wäre. Irgendwie, irgendwann würde er zurückkommen zu ihr. Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Als sie tiefer in den hohen Sattel ihres Hüpfers rutschte, merkte sie nicht, daß Graf
Hamili die Zügel aus ihrer schwachen Hand genommen und einem Gardisten übergeben hatte. Vor Erschöpfung ohnmächtig, ließ sie sich in die Dunkelheit hinein führen.
Hiero fuhr mit einemmal aus dem Schlaf auf. Sein schmales Bett im dritten Stock der neuen Festung bei den Kais von Namcush knarrte, als er sich aufsetzte. Instinktiv griff er nach seinem Schwert. Was hatte ihn geweckt? Er spähte zum offenen Fenster, durch das der fahle Mond schien. Die Losung eines Postens drang in seine Ohren, während er lauschte. Er hörte das Plätschern der Wellen und viele andere Laute der Nacht. Es schien nichts zu sein – aber er hatte gelernt, auf seine Instinkte zu achten. Irgendwo tief in seinem Innern hatte sich eine warnende Stimme gemeldet. Dann vernahm er draußen auf dem Flur ein Scharren wie von Tritten, nicht lauter als ein feines Blätterrascheln. Lautlos wie ein Schatten erhob er sich mit gezücktem Schwert und schlich zur Tür seiner Schlafkammer, wobei er angestrengt lauschte und sich mit seinen Gedanken vortastete. Er fand nichts, kein Denken, keine Gemütsregung. Aber er hatte das Geräusch gehört und ahnte, daß hinter der Holztür etwas lauerte. Ein Hinterhalt! In diesem Haus von Freunden war ein dermaßen abgeschirmter Verstand ein Fremdkörper. Seine Zweifel lösten sich auf dramatische Weise. In der hölzernen Festung tief unter seiner Schlafkammer wurde Alarm geblasen. Gleichzeitig flog mit Getöse die Tür auf, und eine gedrungene Gestalt huschte mit erhobener Hand, in der eine Waffe blitzte, ins Zimmer und zum Bett. Der Meuchelmörder hatte keine Gelegenheit mehr, seinen Irrtum zu erkennen. Hieros scharfes Schwert, das von schräg hinten auf ihn niedersauste, traf ihn mit aller Wucht im Nacken. Ein letztes Grunzen entfuhr seiner Kehle, als ihm die Klinge in den Hals fuhr und ein Blutfontäne im düsteren Licht aufspritzte. Dann schlug er
vornüber der Länge nach zu Boden, von diesem einen Streich niedergestreckt. Hiero wirbelte herum und kehrte sich der dunklen Tür zu, aber der Mörder war offenbar allein gekommen, denn Hiero konnte draußen nichts mehr entdecken. Dennoch blieb er, zum Angriff geduckt, stehen, bis Fackellicht und Männerstimmen im Flur erschienen. Erst jetzt trat er hinaus und rief die Posten an. Zehn Minuten später hatten alle bis auf ihn selbst und den Abt das Zimmer geräumt. Hiero starrte auf den nächtlichen Eindringling, der es auf ihn abgesehen hatte. »Aldo erwähnte sie, fällt mir ein«, erklärte Demero. »Ich glaube, du bist schon einmal einem begegnet – auf der Inlandsee, wenn ich recht unterrichtet bin. Ist ja ein besonders scheußliches Vieh, selbst für einen Lemut, die alle recht scheußlich sind. Wie werden sie gleich wieder genannt?« »Glith. Rok der Pirat hat diesen Namen gebraucht, bevor wir ihn mitsamt dem Vieh getötet haben.« Er betrachtete den grauen Schädel ohne Ohren und Nase, das aufgesperrte Raubtiergebiß und die mächtigen, lang ausgestreckten Glieder mit den feinen Schuppen. Das Untier trug den Harnisch eines Metz, wäre aber nicht einmal im schlechtesten Licht als Mensch durchgegangen. Die schwere Axt, die es geschwungen hatte, lag nun halb unter Hieros Bett. »Wie ist er bloß reingekommen?« überlegte der Abt. »Der Alarm wurde von so 'nem Pendelgerät gegeben, das unsre Wissenschaftler sich ausgedacht haben. Ich hab' dir eins gezeigt, bevor du deine Reise in den Süden angetreten hast, erinnerst du dich?« »Der Alarm wurde zwar gegeben, aber zu spät«, versetzte Hiero, der sich hingekniet hatte, um sich den Kadaver genauer zu besehen. Obgleich das Fenster offenstand, breitete sich im Zimmer ein fauliger Geruch aus. »Sieh doch! Trägt 'nen Gedankenschirm. Hab' ich mir gedacht. Weiß Gott, vielleicht hat mich das gewarnt. Schätze,
ich entwickle großes Feingefühl für lauernde Feinde. War ihm nur um Sekunden zuvorgekommen.« Er zertrampelte die kleine Dose und zerriß die Kette, bevor er fortfuhr: »Was mich interessiert, ist die Frage, wie euer Pendel ansprechen kann, wenn gleichzeitig der Gedankenschild in Betrieb gewesen ist.« »Ich glaube, nicht einmal die Wissenschaftler selbst verstehen ihre Erfindung ganz«, meinte Demero. »Die Warnung kam zu spät, wie du sagst. Aber es gab 'ne Warnung. Vielleicht spricht es, wenn auch langsamer, auf das Gefühl ebenfalls an. Ein hübsches Rätsel, das ich den großen Denkern bei nächster Gelegenheit gern unter die Nase schieben werde. Was mich aber interessiert, ist, wie der Glith überhaupt durch die Wachen kommen konnte.« »Tja, das wiederum kann ich dir wohl beantworten. Laß die Wachen schnellstens von einem Psychmedikus untersuchen, der sein Geschäft versteht. So ein Glith hat mich einmal fast hypnotisiert. Sie haben große mesmerische Fähigkeiten. Ich wette, bei dem einen oder anderen Posten findet sich eine Gedächtnislücke. Diese verdammten Dinger werden vermutlich so gezüchtet. Ist dir sonst noch was aufgefallen, Vater?« »O ja. Ich bin nicht senil, noch nicht, jedenfalls. Er hatte es auf dich abgesehen. Ging ein großes Risiko ein, um dieses Zimmer zu finden, mein Sohn. Und das bedeutet zweierlei. Ich muß die Garnison einer gründlichen Gedankenkontrolle unterziehen. Obwohl ich glaube, du hast recht mit dem, was du sagst; er könnte seine Informationen unter Zwang eingeholt haben. Aber ich denke wie du weiter. Er ist gekommen, um dich zu finden, also ist er geschickt worden. Die Unreinen wissen, daß du hier bist, oder vermuten es zumindest. Vielleicht wurde auch anderswo nach dir gesucht. Der springende Punkt ist, sie wissen, daß du lebst, während wir uns einbildeten, sie wüßten's nicht. Wie haben sie das nur rausgebracht?« »Weiß ich nicht. Aber es ist eigentlich nur eine Möglichkeit denkbar. Jemand oder etwas hat mich in Neeyana gesehen. Anders
kann's nicht sein. Ganz schön fix, die Bürschchen, was?« Mit Grauen warf Hiero einen Blick auf das Untier am Boden. »Komisch, macht mich irgendwie stolz. Die müssen mich ganz gehörig hassen.« Der Abt lächelte. »Du warst nie besonders gut in den klassischen Fächern, Hiero. Aber vor vielen, vielen Jahrtausenden lebte jenseits des weiten Meeres ein mächtiger König mit einem persönlichen Wahlspruch. Weiß nicht mehr viel über ihn, ob er gut oder böse war. Aber an den Wahlspruch erinnere ich mich genau. Oderint, dum metuant. Hassen dürfen sie mich, wenn sie mich nur fürchten – heißt's auf lateinisch. Das also, mein Sohn, ist die Antwort, nicht wahr? Wie ich dir gestern schon sagte, sorge ich mich wegen deiner außergewöhnlichen Fähigkeiten. Dem Feind bist du damit ein Greuel. Ich möchte behaupten, daß sie mehrere Regimenter von uns gegen dich eintauschen würden. Ich hatte gehofft, dich als Geheimwaffe einzusetzen. Nun beschränk' ich mich auf Waffe – Punkt. Hast du irgendeine Idee?« »Ich meine schon«, antwortete Hiero nachdenklich. »Wir sollten wohl dafür sorgen, daß sie nicht zur Ruhe kommen. Wenn du ein paar gute Männer, gute Treiber, erübrigen kannst, nehme ich meine Katzen und geh' auf Jagd. Nördlich vom Palud und östlich von der Grenze zur Otwah-Liga. Dort irgendwo zieht der Feind seine Truppen zusammen. Ich seh's folgendermaßen: Wir haben ihnen in Neeyana einen schweren Schlag verpaßt. Wir konnten die Stadt zwar nicht halten, aber haben sie dafür in Schutt und Asche gelegt. Wir haben ihre Unterlagen gestohlen, ihren Großen Schirm zerlegt und abtransportiert, zwei ihrer besten Schiffe versenkt und drei Meister des Gelben Zirkels getötet. So etwas ist ihnen noch nie widerfahren. Wenn mich nicht alles täuscht, brauchen wir uns nur um zwei Gruppen zu sorgen – den Blauen Zirkel, also Sduna, und den Roten, beide nördlich von der Inlandsee. Ich weiß wohl, wo Sduna sein Hauptquartier hat – auf der Insel Manoun. Wo die anderen stecken, das ist mir unbekannt. Aber ich denke, ein Jagdausflug wäre nun genau das Richtige – eine Mischung aus Strafexpedition und Aufklärungsmarsch. Ich habe schon immer bezweifelt, daß sie von
diesen Schiffen viele haben. So viel Eisen und Technik ist was Rares – sogar für so mächtige Burschen wie die. Ich wette, es sind nicht mehr als zwei oder drei davon in der ganzen Inlandsee übrig. Bruder Aldo hat eins geschnappt und meine Katzen zwei. Ich glaube nicht, daß noch viele übrig sind.« Hiero hatte angefangen, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen, während der Abt mit heimlichem Vergnügen seinen Darlegungen lauschte. »Sicherlich müssen die frisch ausgehobenen Truppen von der Otwah-Liga allmählich eintreffen? Sie haben schon vor meinem Aufbruch in den Süden ihre Hilfe zugesagt.« »Sie haben einen weiten Weg, und da die Unreinen ihnen bislang noch nicht besonders zugesetzt haben, sind sie argwöhnisch und ziehen nur ungern größere Truppenteile aus ihrem Land ab. Du darfst auch nicht vergessen, daß sie nicht so sind wie wir. Sie haben einen viel höheren Anteil des alten weißen Erbguts und zum Teil viele Andersstämmige unter sich. Wir sind ein mehr oder weniger einheitliches Volk. Sie haben viele Unruheherde, die zu beschwichtigen sind, örtliche Unterschiede, verschiedene Volksgruppen, denen dauernd vermittelt werden muß, daß sie Teil des Ganzen sind. Aber sie sind unterwegs. Das wurde mir von ihrem Rat gemeldet.« »Prima«, sagte Hiero. »Aber sag ihnen, sie sollen nördlich der Inlandsee bleiben, das heißt, sie sollen sich unbedingt vom Palud und von den Straßen dort fernhalten. Je weniger der Feind von ihnen mitbekommt, desto besser. Jedenfalls«, fuhr er fort, »sollte ich so schnell wie möglich aufbrechen. Ich will nicht mehr als sechs Mann und meine Kätzchen aus dem Süden. Wir gehen zu Fuß, unberitten, obwohl die Kinder des Windes Klootz locker abhängen könnten.« Ein gequälter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als er an sein verschollenes Reittier dachte, aber er ließ sich weiter nichts anmerken, als er
erklärte: »Zu Fuß ist besser. Wir sind mit dem Gelände nicht vertraut. Ich habe keine Ahnung, was uns da erwartet.« Schwere Tritte dröhnten durch den Gang, woraufhin die mächtige Gestalt des Per Edard Maluin im Türrahmen erschien. Man begrüßte ihn und setzte das Gespräch fort. Es waren nicht viele Sätze gefallen, als der Neuankömmling lauthals unterbrach. »He, he, nicht so schnell. Willst du schon wieder eine Reise tun, während ich auf diesem stinkenden Kahn rumfahre? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Vater Abt, ich flehe dich an! Dieser hilflose Wurm braucht meinen Schutz. Ich trete auf der Stelle von der Flotte aus und komme mit, keine Frage!« Er sah die beiden trotzig an. Demero lachte leise. »Ich weiß nicht, was Justus Berain dazu sagen wird, aber ich werd' ihn schon beschwichtigen können. Ist ja keine Fahnenflucht, wenn ich dich einem Sondereinsatz zuteile. Ich nehme' an, du hast einen Offizier, der dein Schiff übernehmen kann?« Das war eine müßige Frage. Der Muskelprotz mit der großen Klappe hatte es nicht nötig, durch lärmendes Gebaren mangelnde Intelligenz zu überspielen. Er war ein gewitzter Bursche und hätte es nicht versäumt, seine Offiziere schiffstechnisch bis aufs I-Tüpfelchen auf Zack zu bringen, worüber sich alle drei im klaren waren. Hiero war entzückt. Er wußte den Wert seines alten Freundes zu schätzen. Gemeinsam hatten sie früher viele seltsame Pfade beschritten. Den starken Arm und regen Geist an seiner Seite zu wissen, das war sehr tröstlich. Auch der alte Abt war froh. Er hatte Hiero seine Einsamkeit gut nachempfinden können und ahnte, was er durchmachen mußte, da das Schicksal seiner Frau im Ungewissen war und er hin und hergerissen wurde von seinen Gefühlen. Ein bewährter und treuer Freund wäre ihm sicherlich eine große Stütze und Hilfe. »Eine gute Idee, was Edard da vorschlägt. Auch ich habe einen Vorschlag, obschon ich deine Männer nicht für dich aussuchen will. Wir haben da einen jungen Diakon, der gerade die Weihe empfangen hat; es ist nun mein Wunsch, daß er dich begleitet. Er ist hier in der
Garnison, und ich möchte ihn gern wecken und holen lassen. Wenn du ihn dir angesehen hast, werd' ich dir sagen, aus welchem Grund ich ihn dir mitgeben will.« Der Abt rief einen Posten, der im Gang Wache hielt. Bald darauf stand ein junger Mann salutierend in der Tür. Er war nicht größer als Hiero und recht schlank. Er trug das übliche Ledergewand und auf der Brust wie alle anderen das silberne Kreuz und Schwert. Sein Kinn war glattrasiert; auf den ersten Blick wirkte er fast knabenhaft, aber Hiero ließ sich nicht täuschen. Aus den schwarzen Augen unter dem gelben Laub und Merkurstab auf seiner Stirn erweckten einen traumhaft entrückten Eindruck und blickte schier durch sie und das rauchige Zimmerchen hindurch in irgendeine weite Ferne. Hiero spürte sofort eine Woge der Macht, wie er sie selten gewahrt hatte. Diese Kraft unterschied sich von der seinen insofern, als die eigene sich vornehmlich auf Sinne und Denken bezog, während die Kraft dieses Diakons eine seelische war. Hin und wieder brachte die Universalkirche einen großen Führer, einen Seelenheiler hervor; obschon selbst Priester, erfüllte Hiero tiefe Demut vor dem Jüngling, der nun vor ihm stand. In diesem Priester hätte die Kirche dereinst einen großen Propheten und Reformator! Er strahlte so viel Ruhe und Seele aus, daß ihn geradezu ein Nimbus umgab. Hiero wußte von sich aus, daß dieser Mensch zölibatär lebte. Keine weltlichen Bande könnten einen solchen Geist binden. »Das ist Per Cart Sagenay, Hiero. Setz dich, mein Sohn, und hör, was wir dir zu sagen haben! Du hast von Per Desteen und seinen Großtaten im Süden gehört. Per Maluin kennst du ebenfalls. Ich habe sie, besonders Per Desteen, gebeten, sich dich anzusehen. Während wir hier ans Werk gehen, um uns für die große Schlacht gegen den Feind zu rüsten, wird Per Desteen einen Spähtrupp führen, um die Stärke des Feindes zu erkunden. Sie sollen nun entscheiden, ob du sie bei diesem Gang begleiten sollst. Freilich weiß ich, daß du vor allen anderen Söhnen der Kirche meinen Weisungen gehorchen wirst, doch will ich, daß Per Desteen bestimmt, ob er meine Wahl annimmt.«
Hiero zögerte nicht einen Augenblick. »Jeder, den du bestimmst, Vater, wäre mir willkommen. Aber ich möchte gern aus dem Munde von Per Sagenay erfahren, wie er darüber denkt.« Der junge Mann verneigte sich freundlich. Seine wohlklingende Stimme war sanft, aber keineswegs schwach. Sie schien noch im Raum zu klingen, nachdem er zu sprechen aufgehört hatte. Ein großer Redner obendrein, dachte Hiero. Selbstverständlich! »Wohlehrwürdiger Vater, hochwürdige Pers der heiligen Kirche, ich bin schwerlich der größte Krieger auf Erden. Die bescheidenen Gaben, mit denen Gott mich beschenkt hat, liegen eher in Dingen des Geistes. Ich verstehe mich ein bißchen auf die Vierzig Symbole …« Demero fiel ihm ins Wort: »Er bekommt manchmal zwölf auf einmal. So etwas hat's in der Abteischule noch nie gegeben!« Hieros einzige Reaktion darauf war ein geistiges Pah! Das Werfen der vierzig winzigen, geschnitzten Holzsymbole war eine Fertigkeit, die in allen klösterlichen Oberklassen auf dem Lehrplan stand. Hiero bekam immer nur zwei, höchstens drei, und war sich in ihrer Deutung nie ganz sicher. So wie der Durchschnitt. Daß jemand mehr als sechs ziehen und noch dazu sinnvoll auslegen könnte, so etwas hatte er noch nicht gehört. Einen solchen Teilnehmer in der Expedition zu haben, das wäre fürwahr ein – das Wort drängte sich ihm förmlich auf – Segen. Mit einem gequälten Blick zum Abt fuhr Per Sagenay fort: »Ich fühle mich durch diesen Vorschlag geehrt. Wenn's ein Befehl ist, ehrt es mich noch mehr, denn ich bin jung und kenne die Welt außerhalb der Klostermauern kaum. Ich kann nur warten, bis daß ihr euch entscheidet.« Die Entscheidung fiel einstimmig. Sie redeten und planten, bis sich die Morgendämmerung durchs schmale Fenster stahl; dann legten sie sich endlich schlafen, um neue Kräfte zu sammeln, denn der Spähtrupp sollte noch an diesem Abend klammheimlich aufbrechen.
Sduna schäumte vor Wut, aber sein Zorn war kalt und berechnend wie alles an ihm. »Namcush futsch, auch wenn's nicht immer ganz in unsrer Hand war. Keinerlei Vorwarnung! Die zwei Geheimschiffe aus den südlichen Gewässern – futsch! Neeyana gestürmt und geplündert. Nur zwei Brüder von den fünfen dort entkommen. Ist euch klar, Freunde, daß Sryath, Herr des Gelben Zirkels, nun durch die Wildnis irren muß und kaum mit uns in Verbindung treten kann? Wir sind nahezu abgeschnitten vom Süden, der Stütze unsrer Macht! Starn und ich, Meister des Roten und Blauen, sind so gut wie allein. Unsre ganze Stärke und Macht liegt nun hier im Norden.« Im Blauen Rat der Dunklen Bruderschaft schwieg man. Schließlich hob jemand die bleiche Hand. »Immerhin gibt's ein paar gute Nachrichten aus dem Süden, Ältester. Die Wilden von Dalwah sind bezwungen. Die kümmerliche Hure von Prinzessin ist erledigt. Unsere Bundesgenossen haben in unserm Sinn die Herrschaft im Königreich übernommen, nicht wahr?« Sduna brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Im tiefen Gewölbe vor dem großen Schirm mit den Lichtern und Drähten wirkte sein stierer Blick grausig. »O ja, mein Bruder, Slorn hat gute Arbeit geleistet. Er hat das Reich im Süden unter sein Joch gebeugt.« Aus seinen eisigen Augen funkelte das Licht des Höllenschlunds. »Aber wie steht's denn mit seiner nachdrücklichen Zusicherung bezüglich unsres Erzfeindes? Wie steht's denn mit Per Hiero Desteen, dem Prinzen von Dalwah? Dem einzigen, der je von der Toteninsel Manoun entkommen ist? Er lebt noch, Brüder, ist quicklebendig! Soviel zu diesem Geschwätz von wegen Zusicherungen im Süden!« Er senkte die Stimme zu einem Zischeln. »Was heißt's schon, wenn dieses Barbarenreich im Süden gefallen ist? Was bedeutet es für uns, hier und jetzt? Es ist unsre Herrschaft im Norden, die wir seit Jahren ausbauen und festigen, um endlich die Schwächlinge niederzuwerfen, die sich wahre Kirche schimpfen – sie ist bedroht;
sie schwebt in ernster Gefahr. Mag das Königreich Dalwah zerschlagen sein. Mag ihr schnöder König erledigt, die Hure, wie du sie ganz richtig nennst, am Ende sein. Aber was ist mit uns, mit uns im Norden hier?« Erzürnt ging er um den langen, ovalen Tisch herum, einer kleineren Nachbildung der Tafel im Großen Rat. Schließlich blieb er stehen, wobei er seinen Groll mit fast sichtbarer Anstrengung niederrang. »Im letzten Jahr sind zu viele unerwartete Dinge, mit denen wir nie gerechnet hätten, passiert. Des weiteren haben die Elfer den offenen Kampf gegen uns eröffnet; nur ein Tor würde glauben, sie hätten keine Macht. Sie haben den Frieden, wie sie's nennen, aufgegeben und zum ersten Mal in ihrer Geschichte Partei, Partei gegen uns ergriffen. Man bedenke das!« Die vier glänzenden Köpfe, die vier bleichen, regungslosen Gesichter folgten ihm, als er weiterging. »Und Sryath hat ihn gesehen, als er aus den Trümmern von Neeyana geflohen ist. Mir kann keiner ausreden, daß er es war, der unsre Schiffe versenkt hat! Von unsren Spitzeln wurde mir gemeldet, was für plumpe Kähne die Metz ihrer Flotte vorausgeschickt haben. Die haben unsre Schiffe jedenfalls nicht zerstört, möcht' ich wetten. Nein, 's war Per Desteen, den ich auf meine Folterbank flechten werde, wo er langsam sein Leben aushauchen wird. Zur Hölle mit ihm! Er ist selbst 'ne Mutation, nur daß er's nicht weiß. Wie konnte er als todgeweihter, narkotisierter Gefangener im fernen Süden entkommen, um aberhundert Meilen nördlich genau zur rechten Zeit aufzutauchen? Womöglich wissen die verfluchten Elfer mehr darüber. Eins ist gewiß – er bekam Hilfe, worüber wir freilich völlig im dunkeln tappen. Es ist etwas gegen uns im Gang; mir wird das von Tag zu Tag klarer. Etwas Ungreifbares, Tückisches, das unsre Pläne vereitelt, wogegen wir machtlos sind. Ich werd' das ausmerzen oder das ganze Pack ausrotten!« Er blieb stehen und wandte sich wieder den Sitzenden zu. Abermals bezwang er mit fast sichtbarer Anstrengung seinen Unmut, und die Zornesröte, die in seine bleichen Wangen geschossen war,
wich wieder. Er gab Befehle aus, zog Erkundigungen ein und erstellte einen Plan. Seine Genossen beugten sich nach vorne, ergriffen den Stift und notierten, was er ihnen auftrug.
Es wurde weder ins Horn gestoßen noch salutiert, als die Patrouille aus der Festung von Namcush aufbrach. Man hatte bis zur Dämmerung gewartet, um unbemerkt verschwinden zu können. Hiero hatte sich bereits vom Vater Abt in seinem Quartier verabschiedet. Die kleine Gruppe ging nicht durch das Haupttor, sondern eine Seitenpforte. Im Hafen wählte sie die Nebenstraßen, denn nicht einmal den eigenen Wachtrupps wollte man begegnen. In der Nähe des Stadtrands verließ sie den Weg ganz und zog sich in das danebenliegende Gebüsch zurück, das die Bewohner alljährlich niederbrannten, um ihre Gartenparzellen zu lichten. Binnen einer halben Stunde hatte sie die letzten Spuren der Zivilisation hinter sich gelassen und erreichte den südlichen Rand der Taig, des großen Waldgürtels, der sich quer über den Kontinent erstreckte. Ihr Weg führte sie gen Norden. Hiero übernahm die Spitze. Er trug die übliche Kleidung, aber auf seiner Stirn fehlte nun das aufgemalte Zeichen mit Laub und Merkurstab. »Nur Metz, das bin ich nicht mehr, Vater«, hatte er Abt Demero erklärt, dem sein Fehlen aufgefallen war. »Ich kämpfe jetzt für zwei Reiche. Du verzeihst hoffentlich. Immerhin hast du mich in den Süden geschickt. Ich bin der Prinz von Dalwah! Ich kann nicht länger die Farben des Nordens tragen.« Der alte Mann hatte ihn scharf angesehen und ihm dann freundlich die Hand auf die Schulter gelegt. »Mein Sohn, du bist nach wie vor Priester, und das allein zählt vor Gott. Ich bange nicht um deinen Glauben, und der Glaube macht die Menschen aller Länder zu Brüdern. Du trägst noch das Kreuz und Schwert und hast bei der Flotte neue Insignien erhalten. Du gehörst noch zu uns. Wenn wir dich mit einem andern Land teilen, kann das der Kirche nur recht
sein. Du bist ein Missionar, Hiero. Trag, was du willst, und laß dir meinen Segen geben.« Während Hiero dieses Gespräch überdachte, eilte er unter den Kronen mächtiger Kiefern voran. Ich bin noch Priester? Er war sicherlich nicht mehr der gleiche Priester. Wenn er sich mit Per Sagenay verglich, fragte er sich, ob er überhaupt Priester sei. Sogar der alte Demero, den Hiero sehr schätzte, war mehr Kriegsherr und Staatsmann als Heiliger und Prediger. Er seufzte. Nun, sie trugen alle die Liebe zu Gott im Herzen und nannten sich christlich, mehr ließe sich dazu nicht sagen. Der Herr brauchte vermutlich Hilfe verschiedenster Art, selbst die Hilfe von Nichtheiligen. Schließlich schob Hiero diese Gedanken beiseite und blickte zurück zu seinem Trupp. Es waren seine Leute, Mann für Mann, wahrscheinlich die besten, die sich im ganzen Norden aufbieten ließen. Unmittelbar hinter ihm folgte Per Maluin, der am Arm seinen Schild und über der muskulösen Schulter seine liebste Waffe trug, die er jedem Speer vorzog. Es war dies eine große Hippe, eine der ältesten Waffen der Welt, Werkzeug der Bauern im alten Europa und ihr letztes Wort bei Auseinandersetzungen mit ihren feudalen Herren. Auf einem gebogenen Stiel, der einen guten Meter maß, saß eine dünne, sichelförmige, scharfe Schneide, die sich wie eine Streitaxt einsetzen ließ. Dieser Vorfahr aller Stielwaffen war ein grausiges Werkzeug in der Hand eines Meisters, wie Per Edard einer war. Als Hiero zurückblickte, winkte ihm der Riese mit einem frohen Grinsen im Gesicht. Als geborenem Waldläufer waren Per Edard Maluin derartige Missionen eine wahre Wonne. Hinter ihm kamen Buorch, Mrien und Per Sagenay. Zu Hieros Erstaunen hatte sich zwischen dem stillen jungen Diakon und den Katzen eine Freundschaft entwickelt. Des weiteren lernte Per Sagenay erstaunlich schnell, sich auf die ausgefallene Wellenlänge der Kinder des Windes einzustellen. Schon konnte er sich mit ihnen nahezu genauso gut wie Hiero verständigen. So etwas hätte Hiero
nicht bei einem Elfer verwundert, der darin geübt ist, mit anderen Lebensformen Kontakt aufzunehmen, wohingegen der durchschnittliche Metz auf diesem Gebiet sehr wenig Geschick zeigte. Der junge Diakon trug Pfeil und Bogen und Schwert und Dolch; er hatte bescheiden versichert, damit einigermaßen geschickt umgehen zu können. Die beiden jungen Krieger des Katzenvolks, Chuirch und Zariech, liefen jeweils an der Flanke, aber außer Sichtweite; die Verbindung hielten sie durch Gedankenübertragung aufrecht. Zum Schluß folgten wieder zwei Menschen, die allerdings keine Priester waren, obwohl sie im ganzen Land als Legende galten. Es handelte sich um die Zwillinge Reyn und Geor Mantan. Das Alter der beiden dunklen, hageren, gleich aussehenden Männer war unbekannt. Hiero schätzte sie auf Mitte Fünfzig, war sich aber nicht sicher. Als sie vor Jahren in ihre Waldgehöfte heimgekehrt waren, lagen ihre Frauen und Kinder geschunden und niedergeschlachtet in der Asche ihres Heims. Von da an verfolgten sie nur noch ein Ziel: die Unreinen aufzustöbern und zu erschlagen. Sie hatten im Schatten der Wälder schon aberhundert grimmige Schlachten ausgetragen, die beiden schweigsamen Männer, die wenig redeten, aber viel taten. Unzähligen Menschen hatten sie durch ihr plötzliches Auftauchen schon das Leben gerettet, wenn sie irgendwo davon Wind bekamen, daß Lemuts einen Überfall oder Hinterhalt planten. Sie dienten weder der Universalkirche noch einer anderen Körperschaft. Sie traten bald hier, bald dort in Erscheinung, traten immer gemeinsam auf und bekamen vom Volk, was sie brauchten, woraufhin sie wieder untertauchten, um ihren nie endenden Rachezug fortzuführen. Man kannte sie von der Otwah-Liga bis zur Beesee-Küste, und kein Mensch hätte ihnen etwas abgeschlagen, wenn sie um Nahrung oder Hilfe ersuchten. Hiero verglich sie insgeheim mit zwei leisen, scharfen Jagdhunden. Abt Demero hatte seine eigene Methode, mit dem Brüderpaar in Verbindung zu treten,
und es auf rätselhafte Weise herbeigerufen. Er hatte sie überzeugen können, sich dieser Expedition als Freiwillige anzuschließen, und er hatte sogar bewerkstelligt, daß sie sich Hieros Befehl unterstellten, worüber Hiero, selbst einigermaßen dickköpfig, nicht wenig staunte. Das Brüderpaar führte eigene Waffen mit, die ansonsten kaum gebräuchlich waren im Norden; eineinhalb Meter lange Blasrohre aus einem seltenen, dunklen Holz, bestückt mit Pfeilen, deren Spitzen mit einem gefährlichen Gift, einer geheimgehaltenen Eigenmischung, die angeblich den sofortigen Tod auslöste, präpariert waren. Diese Pfeile befanden sich in ihren umgehängten Taschen. Daneben trugen sie lange Messer und im Bauchgurt eine Streitaxt, die an einer Seite mit einem langen Dorn versehen war. In ihrem besudelten Ledergewand wirkten die wilden, grimmigen Kerle wie Boten des Schicksals. Hiero wußte, daß Wäldler und Jäger wie diese weit mehr wert waren als ein ganzer Haufen gewöhnliche Krieger. Selbst die Katzen wichen zurück, wenn sie ihnen zu nahe rückten, so grausig war das Funkeln in ihren Augen. Durch die Fluchten der stattlichen Kiefern und Fichten und die ausladenden Palmendickichte zog der kleine Trupp heimlich wie Gespenster des Weges. Schon erglühte im Osten das Morgenrot und huben die zahllosen Vögel an, mit ihrem Trällern und Flöten den neuen Tag zu begrüßen. Dunkle Zwerge huschten auf verschlungenen Pfaden unermüdlich durch das struppige Baumgewirr, so daß sie nie länger als einen Augenblick sichtbar und im nächsten wieder verschwunden waren, als wären sie nie dagewesen.
11. In der Taig Die Sonne hatte an diesem Spätsommertag im Norden ihren höchsten Stand erreicht. Winzige Mücken schwirrten durch das Sonnenlicht, das schräg durch die stattlichen Bäume einfiel. Hie und da war der Boden besonders schattig, wenn sich ein riesiger Laubbaum, eine mutierte Eiche oder Pappel, gegen die vorherrschenden Nadelgehölze hatte behaupten können. An besonders günstigen Standorten wucherte zwischen den moosigen Dolomit- oder Granitbrocken dichtes Buschwerk; Blaubeeren, Myrten und zahllose andere Pflanzen reckten sich nach der Sonne, wo die Bäume nicht genügend Erde zum Wurzeln fanden. An einem solchen schattigen Platz war im weichen Laub das Lager aufgeschlagen worden. Man hielt Besprechung. Die zwei Mantans waren nicht dabei, da sie an der Peripherie Wache hielten. Hiero saß seinen beiden Amtsbrüdern gegenüber, während die Katzen etwas abseits hockten, denn ihrer Meinung nach ging sie das nichts an. Sie spielten mit ihren Messern, beobachteten die drei Priester aus ihren Schlitzaugen und faßten sich in Geduld. »Schau, Hiero«, drang Maluin in ihn, »wir haben nichts gesehen. Nicht das Geringste entdeckt. Keine Spur, kein verdächtiger Fund, daß sich in dieser Gegend was tut. Wir sind ein gutes Stück südlich von allen Wegen, die unsre Leute benutzen. Anscheinend sind wir auch ein gutes Stück westlich von dem Gebiet, wo du im letzten Jahr zum ersten Mal auf Feinde gestoßen bist. Die Gegend hier ist leer! Hier ist nichts. Also frag' ich dich noch einmal, warum wir hierbleiben müssen. Ich will nicht umkehren, will nicht heim. Ich will weiter, irgendwohin, wo wir was ausrichten, was tun können. Du weißt, ich folge dir, wohin du willst. Aber was bringt es schon, hier rumzuhängen, hier zu warten in diesem einen Gebiet, diesem recht kleinen Gebiet noch dazu? Du sagst, das ist die richtige Stelle. Ich will, weiß Gott, nicht deine Erfahrung herunterspielen. Aber nenn mir doch einen vernünftigen Grund! Per Sagenay denkt genauso. Wir
sind nicht zum ersten Mal hier und haben genügend Erfahrung mit dem Feind. Warum behandelst du uns also wie blutige Rekruten, die von nichts 'ne Ahnung haben?« Er lehnte sich zurück und zündete seine kleine Tonpfeife an. Er war der einzige, der rauchte; während er den Feuerzünder in seiner großen Linken hielt, wirkte er wie der Inbegriff geballter Kraft – gelöst und gewaltig zugleich. Als er Hiero aus zusammengekniffenen Augen über den Rand seiner Pfeife hinweg ansah, hatte Hiero einige Mühe, seinen Blicken standzuhalten. »Wie ich höre, denkst du also genauso, Per Sagenay?« »Nein, nein«, kam die ruhige Antwort. »Doch hat man mich noch nicht gebeten, es mit den Symbolen zu versuchen. Hab' ein bißchen Talent dafür. Während ich, wie Per Edard nicht versäumt hat festzustellen, während ich also tun werde, was du sagst, ist's mir doch etwas schleierhaft, das Ganze. Keine Spuren, keine Anzeichen, die einige der größten Wäldler des Nordens aufspüren könnten. Dennoch meinst du, wir sollten hierbleiben, als würdest du auf etwas warten. Vielleicht könnten wir helfen, würdest du uns erklären, was dich dazu bewegt.« Nachdem seine sanfte, klare Stimme verstummt war, lehnte sich Sagenay wie Edard in das Moos zurück, das in dicken Polstern die Felsbrocken hinter ihnen bedeckte. Schweigen folgte. Hiero stand auf, streckte seine Glieder und setzte sich wieder. Er schien nun den Vogelstimmen zu lauschen, die um sie herum ertönten, wobei er die Augen niederschlug. Nach einer Weile gab er zur Antwort: »Ich könnte euch alles mögliche erzählen, die Vergangenheit aufrollen, meine Sensitivität erklären, ohne wirklich etwas zu sagen. Offengestanden weiß ich's nämlich nicht. Wir sind nun seit über drei Wochen auf der Suche. Vor zwei Tagen spürte ich – anders läßt es sich nicht nennen –, spürte ich, daß wir uns hier an einer kritischen Stelle befinden, an der wir bleiben sollten. Ich kann euch nicht sagen warum. Ich weiß nicht warum. Es lauert hier irgend etwas Feindseliges; ich spür's, ich merk's, kann's aber nicht näher erklären.
Und da ist noch was. Irgend etwas kommt hierher. Die Katzen sehen's nicht, ihr beide seht's nicht, die Mantans, die sich im Wald besser auskennen als wir alle zusammen, sehen's auch nicht. Aber ich! Wir befinden uns sozusagen an einem Sammelpunkt. Ich weiß es einfach. Seit Jahren schon ist dieses ganze Gebiet für die Abteien ein weißer Fleck auf der Landkarte. Wir sind westlich und nördlich davon zugange. Im Südosten liegen Palud und die Inlandsee. Dieses Eck hier aber ist unbekannt. Aber das wißt ihr selber. Ich sag' euch, hier tut sich was. Was deine Gabe angeht, Per Sagenay, ich will sie nicht in Anspruch nehmen, und zwar aus diesem Grund: Der Feind hat mitbekommen, was ich alles kann. Wir hingegen wissen nicht, was er kann, was er in diesem letzten Jahr dazugelernt hat. Was mir in bezug auf diese Gabe einmal fast das Leben gekostet hätte, ist, daß man sich gedanklich öffnet. Das darf nicht sein! Wir stehen unmittelbar vor einer großen Bewegung. Unsre Aufgabe ist es, das zu erkunden, selbst aber unentdeckt zu bleiben. Ich habe mich vorgetastet, weit umgesehen. Dieser Wald um uns herum ist leer, richtig leer. Leer von Gedanken! So was kann nicht sein. O ja, jüngere Lebewesen, das Grokon, das Hochwild, der Hase, die sind da. Aber sie sind eingeschüchtert, verängstigt, und sie kommen recht spärlich vor. Nur harmloses Kleingetier – Vögel, Mäuse, Insekten – ist in üblicher Häufigkeit vertreten.« Er lehnte sich zurück und stützte sich auf einen Ellbogen. Dann fügte er hinzu: »Ihr müßt mir, furcht' ich, einfach vertrauen. Hier wird sich was tun, und darauf müssen wir warten.« Es war Per Sagenay, der die Aussprache beschloß: »Per Desteen, du bist unser Führer. Alles andere ist unwichtig. Die das Böse säen, sind überall um uns herum, und du bist nicht nur unser Führer, du bist auch unser bester Schutz. Allein deine Gedanken zählen.« Die ruhige Stimme ließ eine Lücke im Raum zurück. Maluin knurrte ein paarmal und drohte Hiero dann scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger. Auch er lehnte sich schließlich zurück, und alle drei blickten sie über die Asche ihres winzigen Feuers hinweg in die Ferne. Dennoch waren sie auf der Hut, wachsam gegenüber jeder
Störung im Äther, jedem Zeichen von Unruhe, jedem Hinweis, daß sie nicht allein wären in dem scheinbar friedlichen Wald, der sich quer über den Kontinent spannte. Sie waren von der langen Wanderschaft verdreckt und müde. Von Namcush aus waren sie tief in den Nordosten vorgedrungen, um schließlich in diese fremde Gegend zu gelangen. Nicht einmal die Mantans, die ungeheuer weit in der weglosen Wildnis herumgekommen waren, hatten dieses Gebiet je betreten. Ihr einziger Wegweiser war nunmehr der Instinkt ihres Führers. Hiero hatte seine Gefährten aufgefordert, stets unter den deckenden Baumkronen zu bleiben. Er erinnerte sich genau, nicht allzu weit östlich das erste Fluggerät, das einen feindlichen Adepten hinauf in die Lüfte trug, gesehen und kontaktiert zu haben. Seitdem seine Meldungen darüber durch Bruder Aldo in der Kommandozentrale der Abteien eingetroffen waren, hatte man dort diesbezüglich allerlei Nachforschungen angestellt. So standen ihm nun erste Informationen darüber zur Verfügung. Was er gesehen hatte, war vermutlich ein motorloser Gleitflieger gewesen, wie sie, alten Aufzeichnungen zufolge, in der Vorzeit in Gebrauch gewesen waren. Während seine Steuerung in der Luft theoretisch durchaus verstanden wurde, hatte man keine Ahnung, wie man ein solches Fluggerät vom Boden in die Luft bekäme. Dieser Frage wurde nun eifrig nachgegangen, aber bislang war nur der Feind im Besitz dieses Geheimnisses. Und da ein solches Fluggerät bis jetzt nur von Hiero gesichtet worden war, könnte man davon ausgehen, daß es selten und in der Handhabung schwierig wäre. Der Nachmittag verstrich. Die vier Katzen putzten sich und schliefen, während die Männer sich über dieses und jenes unterhielten. Bis zum Sonnenuntergang waren nur mehr drei Stunden, und dennoch hatte noch nichts den äußeren Frieden des Waldes gestört.
Die Störung kam still und unverhofft. Mit unbewegtem Gesicht trat Reyn Mantan heimlichtuerisch wie ein diebischer Räuber des Waldes vor sie. Seine Worte waren wie immer knapp und bündig. »Hab' Geor alleingelassen und am Mittag 'nen Rundgang ums Lager gemacht. Bin nach Osten, um das Gelände zu erkunden und unser Gebiet ein bißchen zu vergrößern.« Keiner gab zu bedenken, daß sein Befehl gar nicht so gelautet habe. Die Brüder Mantan übernahmen Befehle, wie sie sie fanden, und legten sie aus, wie sie wollten. Sie waren zwar bewährte Kämpfer, aber keine Soldaten; freilich verfügten sie über so große Erfahrung, daß dauernde Maßregelungen fehl am Platz gewesen wären. Nun ging Reyn in die Hocke und zeichnete, nachdem er die dürren Nadeln zur Seite gescharrt hatte, mit der Dolchspitze eine grobe Karte in die Erde. »Wir sind hier, klar? Bin nach Osten und ein bißchen nach Norden.« Er zog eine krumme Linie. »Hier ist ein Steinfeld mit Sumpflöchern. Da ist was, kriegst's nicht zu fassen. Man riecht's förmlich, könnte man meinen. Hab' so was schon mal drüben an der Küste gesehen.« Er bezog sich auf die Beesee-Küste des großen Ozeans im Westen jenseits des Gebirges. »Es bewegt sich, echt, da rührt sich was. Hab's deutlich gemerkt. Vielleicht ist's nicht nur eins. Aber es kommt anscheinend nicht in unsre Richtung, nur nord- und südwärts, als würd's an einer Linie hin und her gehn. Eine Art Grenze vielleicht, und eine Art Wächter. Wollt ihr's sehn?« Die anderen waren auf die Beine gesprungen und die Katzen neugierig nähergerückt. »Was war das drüben an der Küste?« polterte Maluin heraus. »Was bringt dich denn dazu, hier das gleiche zu vermuten?« »Schwer zu sagen. Drüben an der Küste war's eher ein Kreis, ein rundes Loch, aber hatte was ähnliches an sich. Wie ein Gestank, den man nicht riechen kann. Ein schlechtes Gefühl. Wir sind damals
nicht hin, ich und Geor. Nur ein paar Inyans hausen dort in ihren Zelten, aber die sind erst recht nicht ran an das Ding! Angst. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir's uns angesehen. Liegt an euch, was ihr tun wollt. Wollt's euch nur sagen.« Hiero überlegte angestrengt. Einer der größten Waldläufer des hohen Nordens hatte etwas Unerklärliches entdeckt, das ihm nicht geheuer war. Mochte der Mann auch kein Telepath sein, so hatten seine zahllosen Raubzüge gegen die Unreinen sicherlich alle seine Sinne diesbezüglich geschärft. Wie ein Gestank, den man nicht riechen kann! Ließen sich die gedanklichen Ausdünstungen des Feindes denn besser beschreiben? Vielleicht handelte es sich sogar um Ausstrahlungen des Bösen, die der ungeschulte, aber wachsame Waldläufer nur am Rande registriert hatte? Hiero fackelte nicht lange. »Ruf deinen Bruder, und wir brechen auf! Aber nichts überstürzen. Du führst uns, Reyn! Und daß mir keiner irgendwelche Gedanken rausläßt!« Er erklärte den Kindern des Windes in knappen Gedanken sein Vorhaben, und schon setzten sie sich in Bewegung. Man brauchte sich nur das leichte Marschgepäck und die Waffen umhängen, denn der Trupp war stets bereit für alles Unvorhergesehene. Eine ganze Stunde lang huschten sie wie die Schatten der Wildnis zwischen den Baumriesen hindurch. Reyn, zu dem sich bald sein Bruder Geor gesellte, führte den Zug. Da man auf die Flanken verzichtete, folgten alle anderen hintendrein. Mit einemmal blieb der Mann an der Spitze stehen und hob die Hand. Auf Hieros Zeichen hin verteilte man sich und suchte im Gelände Deckung. Hiero selbst duckte sich hinter einen riesigen, modrigen Baumstumpf und schloß die Augen. Mit größter Behutsamkeit tastete er sich in das Gebiet vor, das Reyn ihnen geschildert hatte und das sie nun mit eigenen Augen sehen konnten.
Es handelte sich dabei um ein Gebiet, wie sie es in diesem Waldland des Nordens schon oft durchwandert hatten. Bröckliges Gestein, meist von Gebüsch bedeckt, umschloß eine Senke mit saurem Boden. Hie und da glänzten Tümpel mit dunklem, öligem Wasser im Licht der späten Nachmittagssonne. Bäume gab es nur vereinzelt, und sie waren zumeist unbelaubt und dürr, aber dichtes Schilf und Riedgras verwehrte die Sicht auf die vielen Wasserlöcher. Alle von ihnen bemerkten noch etwas anderes. In dem Sumpfgürtel und umliegenden Gebüsch war es merkwürdig still. Keine Reiher, Enten, Rallen oder anderen Wasservögel tummelten sich im Wasser und Schilf, das sich sanft im Wind wiegte. Der leichte Wind aus dem Norden strich raschelnd durchs hohe Röhricht; ansonsten herrschte Totenstille. Immer weiter streckte Hiero seine geistigen Fühler aus, peinlich darauf bedacht, so behutsam wie möglich vorzugehen, um kein Aufsehen zu erregen. Sein Vorstoß sollte sein wie eine Feder im Wind, ein Hauch, ein Luftzug. Dabei überprüfte er alle Wellenlängen, die er von früheren Erfahrungen kannte, streifte im fliegenden Wechsel alles vom Bereich niedriger Insekten bis zur höchsten Intelligenzebene. Immer weiter tastete er sich mit größter Sorgfalt voran, wobei er sich auf das unmittelbar vor ihnen liegende Gebiet beschränkte. Kontakt! Sofort zog er sich zurück. Dann tastete er sich wieder heran, wobei er sich auf eine ganz bestimmte Stelle konzentrierte. Was er kontaktiert hatte, bewegte sich; wie Reyn berichtete hatte, bewegte es sich weder auf sie zu noch von ihnen fort, sondern hin und her wie auf einer Linie, die quer zu ihrer eigenen Marschrichtung verlief. Hiero packte das Grauen; er mußte die Quelle des »Gestanks, den man nicht riechen kann« aufgespürt haben. Nun war er nicht mit einer Intelligenz in Berührung gekommen, sondern hatte vielmehr das Gefühlszentrum, das wankelmütige Es einer grausigen Kreatur aufgestöbert. Was immer es sein mochte,
sein Verstand war abgeschirmt, wobei der Schirm freilich nicht durch einen mechanischen Schild, wie die höheren Unreinen ihn gebrauchten, aufrechterhalten wurde. Dieser Schirm war eine natürliche Schutzvorrichtung, eine Tarnung vor einer vielleicht entsprechend sensitiven Beute. Hiero erhielt noch einen Eindruck – einen scheußlichen. Er spürte mächtigen Zorn, Zorn über irgendeinen Zwang, dem es nicht beikommen konnte. Des weiteren war es boshaft und grausam, verschlagen und hinterlistig – und insbesondere hungrig, unersättlich hungrig! Was Hiero da spürte, ließ ihn entsetzt hochfahren. Seit seiner Begegnung mit dem blutsaugenden Schimmelpilz, den er Haus genannt hatte, war er nicht mehr auf einen so unstillbaren Jagdtrieb gestoßen. Aber es durfte seinem Trieb nicht frönen, und darin lag die Ursache seines Zorns. Es mußte innerhalb gewisser Grenzen bleiben und konnte sich nicht frei bewegen. Ob es sich um irgendeinen schauerlichen Grenzwächter handelte? Hiero überlegte; gleichzeitig begab er sich in den niederen Bereich der kleinen Vögel und Insekten, um etwas mehr über dieses Gebiet in Erfahrung zu bringen. Der von Steinfeldern und Strauchwerk eingefaßte Sumpfgürtel schien sich sehr weit nach Norden und Süden zu erstrecken. Ihn in seiner gesamten Länge zu erkunden oder zu umgehen, hätte vermutlich wenig gebracht und sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Viel Zeit hatten sie jedoch nicht. Die Führer der Republik brauchten dringend Informationen, die der Spähtrupp noch nicht hatte liefern können. So faßte er schließlich einen Entschluß und gab den anderen das Zeichen zum Rückzug. Nachdem sie eine gute Viertelstunde zurückgegangen waren, scharte Hiero seine Gefährten um sich und erklärte, was er herausgefunden hatte. Danach legte er dar, was er dagegen unternehmen wollte, und gab die Befehle aus. Die drei Priester-Soldaten blieben, wo sie waren, und unterhielten sich gelegentlich im Flüsterton. Die Katzen und die Brüder Mantan
waren in den Wald dahinter verschwunden. Die drei Metz, die nichts anderes tun konnten, beobachteten im Westen die untergehende Sonne und lauschten gespannt in den späten Nachmittag hinein. »Es – oder sie, wenn's mehrere sind – ist hungrig, hungrig wie ein Wolf«, erklärte Hiero. »Die Unreinen, so denk' ich mir, halten es (oder sie) durch eine Art Grenze zurück. Das Ding hat wohl die ganze Gegend leergefressen. Sein Denken ist nicht besonders klar, wenn's überhaupt denken kann. Die beiden Brüder kennen das Wild hier im Norden besser als jeder andere. Sie können Buorch und seinen Katzen zeigen, was sie treiben sollen, sobald sie was finden. Es wimmelt hier zwar nicht gerade von Tieren, aber irgend etwas wird's schon geben weiter hinten; wenn ja, kriegen sie's auch.« Nach einer halben Ewigkeit, wie's ihnen schien, stieß Hiero auf den Gedankenimpuls, nach dem er Ausschau gehalten hatte, und atmete erleichtert auf. »Versteckt euch! Sie haben was und treiben es zu uns her. Hoffentlich werden die Kinder durch die Bäume nicht zu sehr behindert; sind ja eigentlich Jäger der Steppe.« Während sie sich verbargen, warteten die beiden anderen gespannt. Bald konnten auch sie hören, wie in einiger Entfernung ein Tier trampelnd durchs Unterholz brach. Der verängstigte Pflanzenfresser, den Hiero ausgemacht hatte, wurde tatsächlich in ihre Richtung getrieben. Die Katzen machten nicht vom Wind des Todes, sondern von ihren schnellen Läufen Gebrauch, rannten in einer Linie, zeigten sich drohend, falls erforderlich, und schlossen alle Lücken, wollte das Treibwild ausbrechen. Es hatte panische Angst vor den Jägern, aber auch vor dem Gelände, in das es gelenkt wurde. Es wollte nicht dorthin! Hiero, der die Jagd im Geiste verfolgte, staunte von neuem über das Geschick der Katzen, die das Wild trotzdem immer näher brachten. Dahinter nahmen die zwei Brüder die Beine in die Hand, um mitzuhelfen und beim Höhepunkt dabeizusein. Dann sahen die drei Priester es über eine sonnenbeschienene Lichtung zwischen stattlichen Kiefern in schützendes Gebüsch
wechseln. Sie kannten das Tier gut; es war ein großer, gestreifter Hirsch ähnlich dem ausgestorbenen Wapiti, dem amerikanischen Elch der Vorzeit, aber mit zweisprossigem Geweih, von dem jetzt nur die weichen Spieße vorhanden waren. Hiero unterdrückte sein Mitleid für das unselige Opfer. Es war ihr Köder, also sprangen alle Mann auf die Beine und setzten hinter ihm her bis zum Rand des unheimlichen Sumpfes, wo die Katzen, wie sie wußten, schon auf sie warten würden. Als sie ihre pelzigen Freunde erreicht hatten, kamen keuchend die Brüder Mantan angelaufen. Alles duckte sich nun ins Gelände, um über das Strauchwerk auszuspähen. Vor sich sahen sie im Schlamm deutlich die Spuren des Hirsches, der in wilder Flucht vor seinen grimmigen Verfolgern notgedrungen in die Ungewisse Wildnis gestürmt war. Hiero lauschte mit seinem geistigen Ohr. Der Angriff dessen, was dort draußen lauerte, mengte sich plötzlich als hörbares, gequältes Röhren zu seinen geistigen Eindrücken, als der Räuber seine Beute schlug. Nun konnten sie alle den polternden Todeskampf hören; zum Getrampel und Gestampfe gesellte sich ein neuer Laut, ein unheilvolles, gewaltiges Knurren mit einem kichernden, schnurrenden Beiklang, das den Menschen durch Mark und Bein fuhr. Selbst die stolzen Katzen legten bei diesem Gebrüll die Ohren zurück. Alle hatten ihre Waffen bereit, und die Mantans waren wieder zu Atem gekommen. Es bedurfte keines weiteren Zeichens. Alle Mann sprangen auf und rannten, so leise es ging, zum Sumpf, wobei sie über die Schlammlöcher setzten, die Tümpel umliefen und sich weitgehend auf den zutageliegenden Felsen hielten. Draußen hatte der Kampf ein Ende gefunden, aber das Knurren war von einem neuen Geräusch abgelöst worden – dem Mahlen und Knirschen mächtiger Kiefer, weithin durch die Stille des anbrechenden Abends hörbar.
Sie waren dem eigentlichen Sumpfgürtel schon recht nahe, als das Knacken plötzlich verstummte und sie wußten, daß sie entdeckt worden waren. Nun rannten sie um ihr Leben; daß sie dabei einigen Lärm machten, das kümmerte sie nicht mehr. Sie hofften nur, eine freie Fläche zwischen den Felsen, Schlammlöchern und Büschen vorzufinden. Ganz automatisch verteilten sie sich übers Gelände. Fast gleichzeitig gelangten sie an ihr Ziel und blieben stehen. Inmitten einer kleinen, strauchlosen Senke, die mit braunem, im knöcheltiefen Wasser wurzelnder Segge bedeckt war, lag der blutüberströmte, zerfleischte Kadaver des Hirsches, von dem sich nun der Räuber abkehrte und sie aus tollen Augen anfunkelte. Er glich in seinem Äußeren entfernt einem riesigen Bären, als er sich aufrichtete und schwankend auf die säulendicken Hinterbeine stellte; falls jedoch die Bärenfamilie an seinem Erbgut Anteil hatte, so war dieser Einfluß vom Atom längst bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Die ledrige, schmutziggraue, gesprenkelte Haut war nur spärlich behaart. Der mächtige Kopf wies eine kurze Schnauze und winzige, eng anliegende Ohren auf. Lange, drahtige Schnurrhaare standen von den tropfenden Lefzen ab; im aufgerissenen Maul blitzten die blutbesudelten Reißzähne. Die rötlichen Glotzaugen funkelten tobsüchtig, aber es steckte auch ein Funken Verstand in der fliehenden Stirn. Der Beweis dafür das das mannsgroße Aststück, das das Ungetüm drohend in seiner Pranke schwang. An den Vorderbeinen hatte es fünffingrige Hände mit langen Klauen und brauchbaren Daumen. In der knappen Sekunde, die damit verging, daß Ungetüm und Jäger sich abschätzig beäugten, besann sich Hiero auf das, was er einst in der Klosterschule darüber gelernt hatte. Man wußte recht wenig und schon gar keine Einzelheiten, denn wer diesem Grauen der Taig über den Weg lief, der überlebte die Begegnung normalerweise nicht. Es war der Werbär, der nächtliche Räuber, den man am besten durch seine grausigen Hinterlassenschaften kannte, der schleichende Tod, den keiner bezwingen konnte. Zum Glück war dieses Ungeheuer recht selten und lebte wahrscheinlich als
Einzelgänger. All dies war Hiero in Sekundenschnelle durch den Kopf geschossen, ehe der Kampf begann.
Drei Geschosse schwirrten durch die Luft: zwei von den Blasrohren der Mantans, eins vom Bogen Per Sagenays. Die kurzen Bolzen bohrten sich in die blutverschmierte Schnauze, der lange Pfeilschaft des Priesters drang tief in die Magengrube. Das Ungetüm kreischte so schrill, daß die bloße Lautstärke einem schier den Verstand raubte. Mit erhobener Keule torkelte es hochaufgerichtet auf sie zu, wobei mit jedem Tritt Wasser und Schlamm von den flachen Sohlen der Hinterbeine spritzten. Es näherte sich täuschend schnell und hielt auf Per Edard Maluin zu, weil er wohl der größte von ihnen war und ziemlich in der Mitte stand. Die Kinder des Windes warfen sich – zwei auf jeder Seite – dem Tier in die Flanken. Das seichte Wasser konnte sie in ihrem Tempo nicht behindern. Hiero sah, wie Mrien blitzschnell einem Keulenhieb des Werbären auswich. Im nächsten Moment hackten alle vier mit ihren langen Messern auf seine Schenkel ein, brachten ihm mit jedem Stich tiefe, blutige Wunden bei und umschwirrten ihn wie Hornissen, als er stehenblieb, um sie sich zu schnappen. Die Mantans und Sagenay schossen ein zweites Mal. Der Pfeil bohrte sich tief ins Fleisch, und die gefiederten Bolzen fuhren ihm in den gräßlichen Kopf. Hiero war nun dicht bei ihm und schleuderte ihm seinen schweren Speer mitten in den dreckverschmierten, wippenden Wanst. Das heisere Knurren des Werbären wurde abgelöst von einem gellenden, kehligen Schrei, als die Speerklinge in den Bauch schlug. Er sah ein rollendes, rotes Auge, in dem Schmerz und Zorn aufflammten, auf sich gerichtet und lief geduckt durch Segge und Schlamm davon. Ein dritter Pfeil fraß sich mitten in den zuckenden Augapfel. Mein Gott, ist Sagenay ein guter Schütze! Wird denn das verfluchte Vieh nie tot? Es richtete sich wieder auf, ließ die nutzlose Keule fallen und griff sich ans gemarterte Gesicht. Ein letztes ersticktes Heulen entfuhr seiner Kehle. Dann kippte es vornüber in die Suhle und bespritzte sie mit Wasser und Dreck, als es
der Länge nach hinschlug. Es starb nun rasch. Neun keuchende Gestalten standen mit erhobenen Waffen um es herum und blickten einander an. »Bist ein famoser Schütze, Per Sagenay«, lobte Hiero den jungen Mann. »Und ihr auch«, ergänzte er, den Brüdern Mantan zunickend. »Euer Gift hat das Ungeheuer wohl gebremst. Es ließ sich leichter übertölpeln, als ich mir hab' sagen lassen.« Er übermittelte den Kindern des Windes ein eigenes Lob in ihrer Wellenlänge und spürte, wie das sie mit Stolz erfüllte. »Kam gar nicht zum Zug«, knurrte Maluin und senkte seine Hippe. »Hatte es voll auf dich abgesehn, bevor es erledigt wurde, du Hornochse. Eine Sekunde länger, und du hättest alle Hände voll zu tun bekommen. Aber seid nun still, damit ich weitersuchen kann!« Es war keine Sekunde zu früh! Als er im nächsten Augenblick zusammenzuckte und ein erschrecktes Gesicht machte, rissen seine alarmierten Gefährten sofort die Waffen wieder hoch. Eine Stimme, die er seit Monaten nicht mehr vernommen hatte, hämmerte in seinem Kopf wie ein Hammer auf dem Amboß. Paß auf, Hiero! Da ist ein zweiter, von Norden. Wir kommen, aber paß auf… Im selben Moment schlug Hiero eine Woge flammenden Zorns und glühender Mordlust entgegen, wie er sie noch vor einer halben Stunde am toten Ungetüm bemerkt hatte. Sein Weibchen! Er wirbelte herum und verfluchte das schwindende Licht. Auch seine Gefährten kehrten sich blitzartig nach links, so daß dieser zweite Angriff sie wenigstens nicht völlig unvorbereitet traf. Der Neuankömmling brach durch das Strauchwerk und stürmte mit gebleckten Reißzähnen auf sie zu. Er rannte auf den Hinterbeinen, und seine mächtigen, polternden Sätze trugen ihn mit einem Tempo voran, um das ihn jeder Hüpfer beneidet hätte. In jeder
Riesenpranke lagen schwere Trümmer. Schon schleuderte er mit tödlicher Treffsicherheit einen Felsbrocken auf sie. Vielleicht war der schon leicht ergraute Buorch einfach nicht mehr so wendig, vielleicht tat er beim Ausweichen vor lauter Pech einen Schritt in die falsche Richtung. Der Fels – denn es war nichts Geringeres – traf den Kater schmetternd und schleuderte ihn wie eine achtlos hingeworfene, kaputte Puppe zu Boden. Mriens rasender, klagender Aufschrei übertönte das triumphierende Gebrüll des Ungetüms. Abermals fand einer der langen Schäfte mit kupferner Spitze von Sagenays Bogen sein Ziel, diesmal aber nur am Arm. Die Bolzen der Brüder Mantan schwirrten von neuem heran; aus dieser Entfernung konnten sie nicht danebengehen. Aber ihr Gift, für normales Leben absolut tödlich, schien in diesem Ungeheuer nur sehr langsam zu wirken. Hiero hatte seinen Speer aus dem Kadaver des vorigen Gegners gerissen und stand nun mit aufgerichteter Waffe auf diesem Aas, um sich dem neuen Angreifer aus erhöhter Position entgegenzuwerfen. In den verbleibenden Sekunden bis zum Zusammenprall versuchte er, alle Müdigkeit aus seinen Gliedern zu scheuchen. Im düsteren Zwielicht war die dämonische Gestalt schwer auszumachen; immerhin war sie, wie er wußte, ein Geschöpf der Finsternis, das sein tarnendes Grau nicht zu seinen geringsten Waffen zählte. Neben Hiero, wenn auch tiefer, stand der für den Kampf gestählte Per Edard, zum Sprung geduckt, im Schlamm und holte mit seiner grimmigen Hippe, die er beidhändig packte, über die linke Schulter zum Schlag aus. Dann war das Ungetüm über ihnen, und sie hörten zu denken auf. Der zweite Fels, den es in der Pranke trug, war ein länglicher Granitstein; ihn warf es nicht, sondern benutzte ihn als Streitkolben, wie das Männchen das abgerissene Aststück als Keule geschwungen hatte. Hiero schleuderte seinen Speer, aber hörte ihn klirrend am Stein abprallen, noch während das Ungetüm auf ihn einhieb. Er duckte sich vor dem Schlag und wollte ihn mit dem hochgerissenen Schild abwehren, aber die bloße Wucht des Granits warf ihn um, so
daß er mit einem tauben Gefühl in Arm und Schulter über die Seite des toten Werbären in den Schlamm purzelte. Wieder vernahm er das triumphierende Gebrüll; aber als er sich auf die Beine kämpfte und sein Schwert ziehen wollte, wurde aus dem schauerlichen Jubelschrei ein ungeheuer schrilles, gequältes Jaulen. Kaum hatte er sich aufgerichtet, sah er, was geschehen war. Als der zweite Werbär sich gebückt hatte, um Hiero zu zermalmen, hatte Edard seine Chance gesehen und angegriffen. Die große Sense fuhr mit Wucht in den linken Arm des Monstrums. Die verkrüppelte Riesenhand, am Armgelenk durchtrennt, flog in weitem Bogen davon, und das dunkle Blut spritzte in heftigen Stößen in die Luft. Als der Titane auf Edard losging, schlug Hiero mit dem schweren Kurzschwert auf die Lende ein, traf wegen der Entfernung aber nicht richtig. Er suchte einen besseren Stand, wobei er am Rande bemerkte, daß sich wieder einer von Sagenays Pfeilen in die graue Haut gebohrt hatte. Es wird uns alle umbringen, bevor es krepiert – dachte er insgeheim. Wie im Traum beobachtete er benommen, daß der riesige Kopf mit den gelben Reißzähnen sich wieder ihm zukehrte, um den trotzigen Zwerg zu zerfleischen. Er wurde herumgewirbelt wie ein Kreisel und flog meterweit zurück, wobei ihm das Schwert aus der Hand glitt. Die Augen voller Schlamm, lag er wehrlos in der Brühe und konnte nicht sehen, was die anderen sahen, wodurch ihm das dramatische Ende entging. Ein großes, schwarzes Tier brach durch das Riedgras und schoß pfeilschnell heran. Mit der ganzen Kraft seines massigen Leibes, der dem des Werbären fast ebenbürtig war, rammte der Neuankömmling das Ungetüm, wuchtig und präzise wie ein Sturmbock. Mit einem letzten wilden Satz stieß es zwei schwere, messerscharfe Hufe in die Stelle zwischen den Augen des nordischen Ungeheuers. Mit einem grausigen Knacken barst der Schädel; sein grimmiges Knurren verstummte; es war mausetot.
Als Hiero sich hochrappelte und den Dreck aus den Augen wischte, um sich wieder in den Kampf zu stürzen, bemerkte er, daß ihn irgendwie ein großes Vorderbein stützte. Während er noch versuchte, dieses vertraute, aber lange entbehrte Konzept einzuordnen, leckte ihm eine gewaltige Zunge übers Gesicht und schlug ihm dampfender Atem entgegen. Nun war ihm alles klar! »Klootz, du elendes, mistiges Stück Hundefleisch! Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?« Er klopfte ihm zärtlich die mächtige Brust und hielt die Augen geschlossen, um die Tränen der Rührung zu verbergen. Wie viele tausend Meilen hatte das Tier hinter sich gebracht, um ihn zu finden und in diesem Kampf auf Leben und Tod beizustehen? Als er schließlich blinzelnd zu ihm aufsah, beugte sich der lange Hals wieder zu ihm; noch einmal fuhr ihm die Riesenzunge kosend übers Gesicht. Er wischte sich die Augen aus und löste sich von der Seite seines Freundes, und blickte sich um. Maluin stand, auf seine Hippe gelehnt, ein paar Schritte daneben; er war über und über mit Dreck beschmiert, schien ansonsten aber unversehrt. Er winkte Hiero zu und machte sich daran, sich und seine Sense notdürftig vom Schmutz zu befreien, wobei er leise vor sich hin pfiff. Die Mantans und Sagenay zogen ihre Bolzen und Pfeile aus den Kadavern, reinigten sie im Wasser des Tümpels und verstauten sie wieder in ihren Köchern. Dann fiel Hieros Blick auf die drei jungen Katzen, die sich um ein regloses Häuflein im Riedgras versammelt hatten, wobei ihm wieder zu Bewußtsein kam, was Buorch widerfahren war. Er wollte schon zu ihnen eilen, als sich mit einemmal eine sehr verstörte Stimme in seinem Verstand meldete; wie angewurzelt blieb er stehen, so daß Klootz, der ihm gefolgt war, ihn fast überrannt hätte. Hiero, würdest du, sobald der Saustall aufgeräumt ist, deinen Freunden sagen, daß ich keine Zielscheibe sein will für das Zeug, mit dem sie um sich schießen, damit ich hinter den Felsen vorkommen kann. Als Hiero, verdutzt darüber, was und wen er da hörte, herumwirbelte, fuhr die geistige Stimme mit einem bissigen Unterton fort: Klootz hat nicht alles allein gemacht, klar?
Sofort verkündete Hiero atemlos: »Hört mir alle zu! Es ist noch ein Freund von uns hier. Daß mir keiner auf ihn schießt! Er hat Klootz geholfen, zu uns zu finden.« Alle wandten sich um und verfolgten mit Spannung, wie aus dem abseits gelegenen Dickicht eine gedrungene, kugelige Gestalt in dunkelbraunem Pelz erschien und gemächlich zu ihnen wankte. Keiner war gespannter als Hiero selbst. Eine lange Zeit war verstrichen, seitdem sie sich tief im Süden nach der Zerstörung des Hauses und der vergrabenen Stadt getrennt hatten. Wie er feststellte, hatte Gorm sich verändert. Ob der Bär auch an ihm eine Veränderung feststellen mochte? Gorm war unverkennbar größer und länger geworden, so daß er fast schlank wirkte. Er hatte natürlich noch nicht das Gewicht, das er eines Tages erreichen würde – dessen war der Metz sich sicher –, stellte aber nun eine stattliche Erscheinung dar und strahlte Sicherheit und innere Stärke aus, was neu war für ihn. Bei Hiero angelangt, richtete sich der Bär auf den Hinterläufen auf, neigte den Kopf und strich ihm flüchtig mit der Zunge über die Nase, woraufhin er sich wieder auf alle viere hinabließ und wohlig bellte. Ich muß schon sagen, ein nettes Tierchen, das ihr da aufgestöbert habt – kam es von ihm. Ein Glück, daß Klootz deine Witterung bekommen und mich informiert hat. Seit Tagen versuchen wir schon, dieses Gelände zu überqueren, aber wir konnten's nicht riskieren, da wir wußten, daß sie zu zweit waren. Du hast da drüben einen Freund verloren, Hiero. Geh doch und sieh zu, ob du was tun kannst! Sie brauchen deinen Trost. Dann müssen wir schleunigst von hier fort. Während er sich noch über die Geschwindigkeit und Exaktheit von Gorms Gedankenbilder wunderte, ging er hinüber zu den Katzen, die vor ihrem gefallenen Führer standen. Buorch mußte auf der Stelle tot gewesen sein, denn der ganze Brustkorb war zerschmettert. Sein wildes Gesicht hingegen war unversehrt; es
schien ein bitteres Lächeln darin zu liegen, als wäre sein Tod, ja das ganze Universum nur ein weiterer böser Scherz. Hiero legte den Arm um Mriens hängende Schulter und wandte sich in ihrer persönlichen Wellenlänge an die drei Katzen: Er war ein großer Krieger. Er starb, wie er es sich gewünscht hätte, den Heldentod im Kampf gegen unsre alten Feinde. Wenn ihr zum Rudel heimkehrt – und wenn auch ich heimkehre – wollen wir ein Lied für ihn singen, das schon die Jungen lernen und das nicht vergessen wird, so lange es das Rudel gibt. Legen wir nun unsre Trauer ab. Mrien, du bist jetzt Führer. Sag uns, was wir tun müssen, damit er Ruhe findet! Freilich müssen wir uns beeilen. Es wäre ihm nicht recht, daß wir seinetwegen Zeit verlieren. Der Feind ruht nicht. Sie hoben den Leichnam gemeinsam auf und trugen ihn ans trockene Land, wo sie unter einem großen Fels ein Grab aushoben. Mrien sang ein kurzes Klagelied, und Per Sagenay fragte, ob er seinen eigenen Gott für den gefallenen Krieger anflehen dürfte. Scheu stimmten die Katzen dem nach kurzer Absprache zu. Schließlich – übermittelte Chuirch Hiero – sind wir weit von den Nachtwinden über den südlichen Prärien entfernt. Möge euer Gott hier oben helfen, daß sein Geist in unser Land heimkehren kann, wo er Ruhe findet. Hiero brachte zum Ausdruck, daß dies nur vernünftig sei. O Gott, fügte er stumm hinzu, laß dich nicht lumpen. Er ist in Deiner Schlacht gefallen. Ich weiß, daß Du ihm helfen wirst. Nachdem er selbst ein stilles Gebet gesprochen hatte, war der Fall für ihn erledigt. Als sie sich vom einsamen Grab abkehrten, wurde Hiero gewahr, daß Gorm voller Ungeduld war. Er wußte, daß Gorm nicht gerade gottesfürchtig war und jede Hinwendung zum Unfaßbaren als Zeitverschwendung einschätzte. Der Agnostizismus war unter Menschen durchaus verbreitet; daß er sogar unter den neueren Intelligenzen vorkam, das stellte den Glauben, wie er schloß, vor ein ganz neues Rätsel. Er kicherte insgeheim, wußte er doch, daß er
einen jungen Priester bei sich hatte, der recht bald selbst diese Erfahrung machen müßte. Kurze Zeit später hockten sie im Kreis um ein kleines Feuer. Hiero hatte sie eine gute Stunde auf dem gleichen Weg durch die stockfinstere Nacht zurückgeführt; erst als sie sich einigermaßen sicher sein konnten, den unmittelbaren Gefahrenbereich verlassen zu haben, legten sie eine Rast ein. Außerhalb der Runde stand Klootz, der in einem fort die langen Ohren spitzte, die Nüstern blähte und witterte, um zu ergründen, was für Laute und Gerüche der Nachtwind zu ihnen trug. Die Spieße auf seiner Stirn waren schon einen halben Meter lang. Er wirkte abgemagert wie der Bär, war anscheinend aber gut bei Kräften und für alles gewappnet, wie sein jüngster Zusammenstoß bewiesen hatte. Gorm lag in der Mitte und genoß sichtlich die Wärme des Feuers, das in flackernden Lichtreflexen seinen dicken, braunen Pelz umspielte. Wenn er sprach, so kamen seine Gedankenimpulse im Verstand der Empfänger so klar an, daß alle, sogar die Katzen, wie Hiero verblüfft feststellen konnte, ihn unschwer verstanden. Hiero baute um die ganze Runde einen Gedankenschirm auf, woraufhin er nicht ohne Belustigung bemerkte, daß die gleichmütigen, stillen Brüder Mantan zum ersten Mal seit ihrem Kennenlernen verdutzt den Mund aufsperrten und den Hals reckten, um zuerst Gorm und dann sich selbst in höchster Verwunderung zu betrachten. Maluin hingegen lachte, und ein stilles Lächeln huschte über das Gesicht von Cart Sagenay. Zunächst bin ich nur der Vorbote meines Volkes. Die Bären kommen, aber es dauert seine Zeit. Wir leben nicht in Stämmen oder Rudeln, sondern in Familien. Deshalb dauert es, bis alle Kampffähigen gesammelt sind. Die Ältesten haben es angeordnet. Wir ziehen ins Feld. Wir sind nicht schnell zu Fuß und müssen weit in den Norden gehen und dann südwärts schwenken, um auf die Menschentruppen zu stoßen. Wir müssen einen weiten Bogen um alle unreinen Gebiete machen, wo ich Hiero zum ersten Mal begegnet bin, um nicht entdeckt oder gar aufgehalten zu werden. Ich wurde
vorausgeschickt, den Abteien diese Meldung zu überbringen. Unterwegs hörte ich einen seltsamen Laut. Er übermittelte die Vorstellung von einem hilflosen Kitz, das nach seiner Mutter blökt. Es war dieses Monstrum von Grasfresser, das so herzzerreißend nach seinem Hiero schrie. Zum Glück wußte ich noch, wie's aus seiner Kehle klingt, also trat ich mit ihm in Verbindung. Er ist gar nicht so dumm, wie er aussieht, und hat mir viel berichten können. Klootz prustete entrüstet. Offenbar konnte auch er den spottenden Bären wenigstens zum Teil verstehen. Hiero blickte unverwandt vor sich nieder; er war so ausgeglichen und ruhig wie schon lange nicht mehr. Während der Bär sich seine nächsten Formulierungen überlegte, schnappte Hiero eine schrullige Sendung auf, die ganz und gar nicht dem Denken Gorms entsprang! Faul – unbekanntes Konzept – auf Rücken getragen, wenn müde – unbekannt – Kampf! Wo (!) ??? IHN brauchen! Froh stellte Hiero fest, daß Klootz das Gehörte auch kapierte, was er damit seinem Herrn mitteilen wollte. Der große Hirsch kannte seinen Wert sehr wohl und ließ es nicht zu, von seinem aufgeweckten Gefährten herabgesetzt zu werden. Gorm fuhr nun fort. Die Stille wurde nur vom Knistern des Feuers unterbrochen. Hinter ihnen ragte der tiefe Wald als dunkle Wand auf. Die funkelnden Sterne am Firmament spähten durch die Lücken im Laubdach zu ihnen herein. Nun kommt das Wichtigste. Ich habe durch den Ellk und durch Bruder Aldos Boten erfahren, was sich im tiefen Süden zugetragen hat. Schlechte Nachrichten. Freilich können wir nichts dagegen machen. Unsre Verantwortung liegt hier. Der Feind marschiert. Sie sind jetzt, während wir hier sitzen, schon längst unterwegs. Sie gehen im Bogen, genau wie meine Leute, das Bärenvolk, von Osten nach Westen und schließlich Süden. Sie sind jetzt nur mehr zwei Tagesmärsche von uns entfernt. Maluin ergriff das Wort. »Hiero, ich versteh' ihn gut, kann aber nicht zu ihm sprechen. Wieviele kommen? Was weiß er über ihre Schlachtordnung?«
Die Antwort war nicht gerade ermutigend. Alle! Sie bringen jede Einheit, jede Kreatur, die kämpfen kann, mit! Wir kennen viele ihrer geheimen Festungen und unterirdischen Stützpunkte. Wie wir meinen, haben sie wenige, fast nur Weibchen und Junge zurückgelassen. Wenn wir sie schlagen, haben wir den ganzen Norden reingefegt. Falls wir sie schlagen! Die Menschenratten, die Affenviecher, die ihr Zottelheuler nennt, die Teufelshunde, alle sind dabei. Es ist ein mächtiges Heer. Werdet ihr ihm gewachsen sein! Sein von Ungewißheit erfülltes Schweigen lastete schwer auf ihrem Gemüt. Wie steht's mit Maschinen? Die Frage kam von Hiero. Wißt ihr was von den maschinengetriebenen Schiffen? Von den Blitzkanonen? Erinnere dich an das Ding, das mich im letzten Jahr an der Küste niedergeschmettert hat. Was ist mit dem Himmel? Dem Flieger, den wir damals gesichtet haben. Sind solche gesehen worden? Wo und wann, falls ja? Nach all dem haben wir Ausschau gehalten – übermittelte Gorm. Das Schiff wurde einmal gesichtet, aber weit im Osten und schon vor Monaten. Wir wissen nicht, wie viele sie haben. Wir selbst können das Meer und die Inseln nicht beobachten. Die Elfer sind darum bemüht, aber wir haben noch keine frische Meldung. Das fliegende Ding wurde bisher nur von uns beiden bei besagter Gelegenheit gesichtet. Vielleicht hatten sie nur eins, ist's zerschellt. Der Bär wurde nachdenklich. Die Elfer meinen, der Himmel liegt ihnen nicht; warum sonst tun sie in der Hinsicht nichts mehr? Was spräche dagegen, fliegende Geschwader aufzustellen? Nein, ihnen liegt die Nacht und die Heimlichkeit und das Wühlen unter Tage mehr als die klare Luft und der Sonnenschein. Sie scheuen das Licht, was nicht heißt, daß sie am hellen Tag nicht kämpfen könnten, auch wenn's gegen ihre Natur ist. Sie sind wie diese Räuber der Finsternis, die ihr im Sumpf erschlagen habt. Hinterhalt und in den Rücken fallen, unsichtbare Schrecken der lichtleeren Stunden, grausamer, feiger Mord an wehrlosen Alten und Jungen – das sind ihre bevorzugten Praktiken.
Ich hoffe, sie lassen sich nicht alle zu solch fanatischem Kämpfen anspornen wie jene Feinde Gottes, denen wir gerade begegnet sind! Dies kam aus dem klaren, hellen Denken von Cart Sagenay. Es brauchte, wie Hiero überlegte, wenig Anleitung und Übung, um aus dem jungen Priester einen guten mentalen Linguisten zu machen. Hiero entging nicht, daß Gorm dem jungen Mann einen bewundernden Blick zuwarf. Das waren wohl eher Verbündete, und unwillige obendrein. Ich bin der Meinung, wenn wir die nötige Zeit hätten, Hiero, würden wir unreine Geräte finden, zum Beispiel solche, die Gedanken blockieren und die sie um den Hals tragen. Vielleicht haben sie so was dort vergraben, um diese Kreaturen als Wächter an Ort und Stelle zu halten. Aber uns fehlt die Zeit für solch müßige Überlegungen. Der Feind marschiert und rückt rasch näher, um eure Truppen niederzuwerfen. Wo diese sich befinden, wißt nur ihr, ich nicht. Daneben gibt's auch etwas Gutes zu melden, auch wenn's eine recht unsichere Sache ist. Die Ältesten sind genauso wie die Elfer davon überzeugt, daß der Feind überstürzt und nicht in geordneten Linien anrückt. Irgend etwas setzt ihm schwer zu, und die Überlegung ist die, daß er im Affekt zuschlägt, nicht auf eine sorgsam geplante Weise, wie’s sonst seine Art wäre. Das kling ermutigend, nicht wahr? Hiero dachte an die Zerstörung von Neeyana und die beiden versenkten Schiffe und lächelte. Ja, das mußte den Unreinen ordentlich zugesetzt haben! Gorm fuhr fort, indem er Hiero direkt ansprach. Ich glaube, du und ich, wir wissen wohl, wer ihre Truppen anführen wird. Es wird noch weitere geben, die das Kommando haben, aber du und ich wissen, wer dich am meisten haßt und fürchtet, wer nicht ruhen wird, bis du erledigt bist… Sduna! Hiero starrte in die rötliche Glut des niedergebrannten Feuers. Er sah ihn vor sich, den Meister des Blauen Zirkels mit dem bleichen Gesicht und dem Glatzkopf und den pupillenlosen Augen mit dem schaurigen Blick. Freilich würden auch andere von den
hohen Räten des Feindes dabei sein – unreine Adepten, mentale Zaubermeister der schwarzen Kunst, Feinde des Guten. Aber er wußte, daß Gorm recht hatte. Sein größter Widersacher hatte den Befehl über die gewaltigen Truppen, die im Anmarsch waren. Endlich wagten sich die Unreinen hervor aus ihren Schlupflöchern, um die Republik Metz mit einem vernichtenden Schlag zu zerschmettern, ehe sie ihre jungen Kräfte ausbauen und festigen könnte. Falls der Bär recht hätte, könnte das ein gewaltiger Fehler sein. Jahrzehnte der Heimlichkeit, des Hinterhalts, der Ränke und Meuchelmorde waren nicht gerade die beste Vorbereitung auf offene Kriegsführung. Dieser Gedanke stimmte ihn froh. Freilich hatte Gorm auch mit seiner zweiten Äußerung recht. Die Zeit drängte. Löscht das Feuer, damit wir aufbrechen können, übermittelte er. Wir ziehen südwärts zu den Seen. Dort werden wir auf sie treffen. Und die Abteien müssen benachrichtigt werden. Und möge Gott uns beistehen, dachte Per Sagenay.
12. Am Morgen der Schlacht Dichter Nebel lag über dem kühlen Gewässer, das die Metz See der Tränen nannten. Der Sage nach waren dort ein paar Frauen ertrunken, angeblich aus unerwiderter Liebe. Wichtiger schien Hiero freilich der Umstand, daß der See durch den Regenfluß mit dem fernen Namcush verbunden war. Die Verbindung führte durch einen zweiten See, den See des fallenden Laubs, einem langgezogenen, schmalen Gewässer. Der See der Tränen war tief und hatte die Form eines Bumerangs, obgleich der linke Arm um einiges länger war. Es waren einige Inselchen in Sicht, wovon manche lediglich aus ein paar Felsen bestanden, andere mit Wald bedeckt waren, dessen Kronen und Wipfel aus dem rollenden Nebelmeer über dem dunklen Wasser ragten. Wie man beobachten konnte, war da draußen einiges los. Kleine Kähne ruderten flott von Insel zu Insel. Der abziehende Nebel, von der aufgehenden Sonne verscheucht, enthüllte schließlich die dunklen Umrisse einiger großer Segelschiffe. Von verschiedenen Inseln stiegen Rauchfahnen in den Morgenhimmel auf. Es rührte sich einiges, wenn auch nicht allzu viel… Hiero, der rittlings auf Klootz saß, befand sich am Ende einer niedrigen Landzunge, die dort, wo der See einen Knick machte, ins Wasser ragte. Das war eine recht günstige Stelle, die er sich da ausgesucht hatte. Er war Kommandeur der Mitte unter Demero; der alte Mann hatte alle Zweifel bezüglich der Rangfolge ausgeräumt, bevor sie aufgebrochen waren. »Wer kennt den Feind besser als du? Keiner. Wer ist öfter als du auf ihn geprallt und lebt noch? Gleiche Antwort. Justus Berain sagt, es sei ihm jederzeit 'ne Freude, unter dir zu dienen. Willst dich mit ihm streiten? Ich geb' dir Maluin und Sagenay als Stab. Die beiden Mantans wollen unter niemandes Befehl stehen, diese halsstarrigen Teufel. Die ganze Armee weiß von deinen Katzen, die wir als Läufer zum Überbringen schriftlicher Meldungen einsetzen wollen. Maluin hat sich schon 'ne Mannschaft
für die Routinesachen zusammengestellt. Was gibt's noch? Nichts mehr. Ans Werk, mein Sohn! Ich habe zu tun.«
Nun lächelte Hiero bitter, als er durch sein Fernrohr, das er am Sattel trug, blickte. Hinter sich vernahm er das Getuschel der jungen Offiziere und Unteroffiziere. Allmählich kam er zur Einsicht, daß es nicht nur ein ungetrübter Segen war, eine lebende Legende zu sein. Das Staunen im Gesicht der jungen Männer und Frauen, die unter ihm dienten, brachte ihn nahezu in Verlegenheit, wobei er natürlich nichts dagegen tun konnte. Noch einmal konzentrierte er sich auf die Verschiebungen vor sich. Er war auf seine Augen und die Augen anderer angewiesen, denn die äbtlichen Maschinen hatten einen dichten Gedankenschirm über das ganze Gelände gespannt. Vermutlich waren die Unreinen mit den eigenen Truppen genauso verfahren. Die Zeit würde offenbaren, wer von ihnen den gediegeneren Gedankenschutz besaß. Sein Spähtrupp war mit unglaublicher Geschwindigkeit nach Südwesten geflohen, nachdem Gorm sie auf die Bedrohung hingewiesen hatte. Sie hatten in der Tat vier ganze Tage wettgemacht, so unbarmherzig trieb Hiero sie an. Da jede Minute, die sie gewinnen konnten, zählte, mußten diejenigen, die ermüdet waren, auf dem breiten Rücken von Klootz reiten. Dabei handelte es sich meist um den jungen Sagenay, der noch nicht so viel Ausdauer wie die anderen hatte, sich aber nur unter Protest und auf Hieros ausdrücklichen Befehl hin auf den Ellk setzte. Drei Tagesmärsche vor der äbtlichen Front hatte sich dann Geor Mantan den Knöchel verstaucht; fluchend mußte auch er sich tragen lassen, wollte er nicht weit zurückfallen. Sie hatten eine Woche für die Republik und ihre Verbündeten gewonnen. Das könnte in diesem Kampf durchaus entscheidend sein; immerhin waren die Truppen der Otwah-Liga noch ein gutes Stück entfernt und stießen unterwegs schon auf ersten Widerstand. Nicht die ganze Streitmacht von Sduna war in den Westen vorgerückt, und obendrein war in den höheren Rängen der Liga einiges faul, was die Sicherheit anbetraf! Nur weil ich Sduna wie die Pest hasse, sollte ich nicht die Torheit begehen, diesen Mistkerl zu unterschätzen, dachte
Hiero für sich. Dieser Schurke hat Grips und versucht natürlich zu verhindern, daß wir Verstärkung bekommen, falls er davon Wind bekommt. Hoffen wir, er kriegt nicht jede Truppenbewegung mit. Hiero blickte hinab und sah einen jungen salutierenden Leutnant, eine Dame, die er gefällig beäugte. Abgesehen von dem kurzen Lederrock trug sie die gleiche Uniform wie er; diese Frauen, so wußte er, konnten ihre Waffen und ihren Verstand ebenso gut gebrauchen wie die Männer, wenn nicht besser. Zudem war sie äußerst hübsch. »Meldung vom Generalobern. In den tiefen Wäldern etwa zwanzig Kilometer nordöstlich von hier sind schwere Gefechte ausgebrochen. Unsre Schirme werden etwas zurückgenommen, um hinter die feindliche Front sehen zu können. Die Reiterei wurde abgezogen, weil das Gelände zu schwer und unwegsam ist. Weitere Meldung, sobald Neues bekannt wird.« Hiero lächelte zu den blitzenden dunklen Augen hinab, erwiderte ihren Salut, dankte ihr und vergaß sie ganz schnell. Nur vernünftig, die Kavallerie abzuziehen. Ein paar könnten als Kuriere im Wald eingesetzt werden, aber als Einheit ließe sie sich dort nicht manövrieren. Demero hat den ganzen Norden ausgehoben, um die beiden berittenen Regimenter zusammenzubringen. Man muß mit ihnen haushalten. »Per Sagenay«, rief er über die Schulter zurück. »Bring mir bitte den Kartenausschnitt für das gegenüberliegende westliche Gebiet!« Gemeinsam studierten sie sie. Das Gelände dort war sumpfig und teilweise überschwemmt; seichte Tümpel und träge Wasserläufe hielten den Boden naß. Bäume gab es wenig, hauptsächlich Gras und Schilf. Das insgesamt abschüssige Gelände reichte bis zum flachen Seeufer links von ihnen am längeren Schenkel des V. Ufer und Sumpf gingen nahtlos ineinander über. Diese feuchte Zone war etwa einen Kilometer breit. Ein schlechter Boden für die Truppen, wie's schien, aber zugleich von Vorteil aufgrund der natürlichen
Verteidigung, die er bot, indem der Sumpfstreifen einem die Flanke deckte. Die Frage war nur, ob dies für einen anderen hellen Kopf allzu augenscheinlich wäre. Hiero besprach sich kurz mit Sagenay und schickte den jungen Priester dann zur Truppe zurück. Er kritzelte etwas auf ein Stück Reispapier und rief Mrien an seine Seite. Der Nebel über dem See hatte sich in der Morgensonne inzwischen aufgelöst. Das strahlendblaue Wasser vor dem grünen Laubwerk blendete einen förmlich. Bring das unserm alten Führer, dem Weisen! Komm schnell zurück! Heut' gibt's noch viel zu tun. Aller Augen waren auf die schlanke Gestalt gerichtet, als sie wie ein Wirbelwind ihrer Heimat davonschwirrte. Chuirch und Zariech warteten ungeduldig im Hintergrund auf ihren Einsatz. Edard Maluin trat hinzu und klopfte Klootz geistesabwesend den Hals, während er seine mächtige Hippe wie einen Kommandostab in der anderen Hand hielt, so daß die schwere Klinge leicht auf dem Boden auflag. »Was wissen wir über die beiden Flanken, Hiero? Wegen der linken mach' ich mir keine Sorgen. Der Arm des Sees macht dort 'nen Knick von uns weg und läßt sich leicht halten. Die rechte – nun, da ist's heikel. Der See des fallenden Laubs ist nicht besonders breit und wird zum Bogensehnenbach und Regenfluß hin schmaler, 'ne lange Linie, die's bis runter nach Namcush zu schützen gilt.« »Der Abt weiß es, du weißt es, und ich weiß es. Bald weiß es auch der Feind, wenn er's nicht schon weiß. Wir haben vier volle Regimenter des Grenzschutzes und zwei gemischte Regimenter der Miliz, deren Frauen genauso gut ausgebildet sind wie die Männer – keine stehende Garde, aber immerhin. An die siebentausend, wenn man die Hilfstruppen, den Troß und den Nachschub und so weiter mitzählt. Zwei berittene Regimenter. Ein starkes Späher-Bataillon. Gewisse Verbündete aus dem nassen Element, die sich erst noch
bewähren müssen. Des weiteren das, was du draußen auf dem See und östlich und westlich siehst und doch nicht siehst. Die Liga können wir vergessen. Die Leute sind zu spät aufgebrochen und nun weit hinter dem Feind. Vielleicht trudeln sie in einer Woche oder so ein, vielleicht nicht. Was sie hier vorfinden, wenn sie kommen, das ist 'ne andre Frage. Vielleicht ist noch mehr Verstärkung in der Nähe. Ich weiß es nicht, keiner weiß das. Gorm hat sich aufgemacht, das rauszufinden, aber er muß um das Kampfgebiet und die feindlichen Flanken herum, um das festzustellen. Problematisch. Und das war's schon, mein Freund. Mehr haben wir nicht; keine Reserve – bis auf eine kleine, taktische von oben. Das ist unsre erste Armee, genauso wie die Flotte, in der du gedient hast, unsre erste ist. Wir haben noch nie einen so umfangreichen Feldzug unternommen. Das hat hier im Norden noch niemand – auch die Unreinen nicht.« Hiero rutschte in seinem Sattel hin und her und schaute übers Wasser aus. Im Süden, ja im Süden hat's einen derart aufwendigen Kriegszug gegeben. Er verdrängte seine Sehnsucht nach Lucare. Könnte sie nur mit einer leichten Kavallerie auf Hüpfern aus den südlichen Wäldern zu Hilfe eilen. Da könnt' ich ebenso den Himmel um seine Heerscharen bitten. Der Morgen nahm seinen Lauf. Immer wieder kamen Meldungen – Schätzungen über die Truppenstärke der Unreinen, ihre Bewegungen, Verluste bei den eigenen Truppen und anderes, was von Belang schien. Von größtem Belang schien insbesondere dies: Viele, viele leichte Boote wurden herbeigeschafft. Manche waren so groß, daß sie zehn Mann faßten, andere waren Kajaks für nur eine Person. Alle Einheiten der Unreinen waren offenbar reichlich damit ausgerüstet, und sie wurden nun verstärkt an die Spitze gebracht. »Das beweist, daß sie recht genau wissen, wo wir liegen«, meinte Hiero zu Per Sagenay. »Natürlich gibt's in diesem ganzen Gebiet 'ne Unmenge von kleinen Seen und Flüssen, aber ich denke, es steckt mehr hinter dieser Taktik. Das ist kein Troßzug, sondern der Anfang eines Blitzangriffs. Berain und die anderen sind sofort davon zu unterrichten. Ja, alle Einheiten müssen es erfahren.«
Mrien, die längst zurückgekehrt war, kam mit ihren beiden Kriegern herbei. Hintendrein folgten die finster blickenden Brüder Mantan. Wir können den Kampf hören, Hiero. Hörst du's nicht auch? Diese beiden, die Männer mit dem finstren Gemüt, die hören's. Haben's uns durch Zeichen gesagt. »Das stimmt«, räumte Reyn ein. »Die Katzen haben's zuerst gehört, aber jetzt ist's ganz deutlich. Horch selbst!« Hiero lauschte. Er hörte Rufe und Hornsignale vom See und von hinter sich Tritte. Sogar das Plätschern der Ruder eines Wachboots drang an seine Ohren. Dann vernahm er das Brummen in der Ferne. Er lauschte noch angestrengter. Nun konnte er höhere und tiefere Töne unterscheiden, die ihn an das Zirpen von Insekten erinnerten. Alsbald ertönte eine Serie dumpfer Schläge, kaum mehr als ein Beben in der Luft. Das reichte. »Übernimm, Edard!« befahl er Maluin. »Sagenay ist dein Vize, oder wie immer du's nennen willst. Vergiß nicht, was ich sagte! Keine Bewegung vor dem entscheidenden Zeitpunkt. Jetzt wird's ernst.« Er wandte sich den beiden Zwillingen zu und sah sie forschend an. Ihre Mienen blieben verschlossen und kühl. »Könnt ihr zwei mit 'nem Ellk umgehn? Falls ich einen auftreiben kann? Wenn nicht, seid ihr besser dran, wenn ihr hierbleibt.« Geor antwortete für beide. »Klar. Sind auch schon zu zweit auf einem gesessen, wenn wir nur einen hatten. Nimm uns mit!« »Prima. Wir überqueren den See, gleich hier unten links. Ich führe Klootz, bis wir zu 'nem Boot kommen.« Er gab den Katzen das Zeichen zum Folgen. Daß sie mit einer berittenen Truppe nicht Schritt halten könnten, darum machte er sich keine Sorgen; andrerseits wußte er, daß sie eine Trennung von ihm nur schwer verwinden würden. Er winkte seinem salutierenden Stab und ritt langsam über den verschlungenen Pfad westwärts von der felsigen
Landzunge zum Weg, der ans flache Ufer führte. Die fünf anderen rannten hintendrein. In zwanzig Minuten gelangten sie zur kleinen Bucht, in der ein Ruderboot versteckt lag. Nachdem das große Tier verschifft war, stiegen die anderen ein. Auf ein Wort des Unteroffiziers der Bootsbesatzung setzten sich die zehn langen Riemen in Bewegung und ruderten den schwerfälligen Kahn in einem großen nordwestlichen Bogen hinaus in den See. Bald brachten sie die sumpfige Uferzone hinter sich und glitten durch tiefes, klares Wasser. Währenddessen war der Lärm der Schlacht immer lauter geworden. Das helle Klirren von Metall war nun ebenso hörbar wie die silbernen Fanfaren des Feindes und die dunklen Hornstöße der Metz. Darunter mischten sich Rufe und Jubelgeschrei. Der Schlachtenlärm kam unheimlich schnell näher. Die Unreinen mußten mit aller Gewalt und ungeachtet aller Verluste voranstürmen, um ein solches Tempo zu erreichen. Hiero schielte kurz zur Sonne und befragte seine innere Uhr. Es war fast elf. Im Zeitplan war nicht vorgesehen, daß der Feind ein solches Tempo entwickeln würde. Die Ruderer legten sich mächtig ins Zeug, als sie in den Windschatten einer kleinen Insel gerieten. Sie hatten nun drei Viertel der Strecke hinter sich und freie Sicht auf den Knick im See, wobei sich das nördliche Ufer in beiden Richtungen in der Ferne verlor. Der Lärm wurde immer lauter, und schon sah Hiero die ersten Truppen von Metz aus dem Wald brechen und zur langen Reihe von Booten eilen, die aufs Ufer gezogen worden waren. Die winzigen Männer der Bootsbesatzungen halfen, die Verwundeten an Bord zu schaffen. Alles ging schnell und diszipliniert, ohne jede Panik. Während die Boote nacheinander abstießen und hinausruderten, erschienen neue Männer aus dem Wald und nahmen die nächsten Plätze ein. Durch sein Fernrohr konnte Hiero sehen, daß jedes Boot das Ufer erst verließ, wenn sämtliche Plätze belegt waren und der Befehl zum Ablegen gegeben war.
Nun konnte Hiero mit eigenen Augen das Kampfgeschehen verfolgen. Eine Abteilung Bogenschützen hielt inne, schoß einen Pfeilhagel ab, lief zügig zurück und setzte zur nächsten Salve an. Fiel auch der eine oder andere Mann in ihren Reihen, so holte sie doch schnell auf. Plötzlich stürzte der Feind aus dem Wald, ein Pack Pesthunde, auf denen kreischende Lemuts ritten. Die wüsten Gestalten auf den knöchernen Rücken waren Zottelheuler, affenartige Wilde, die Keulen und Äxte schwangen und mit tödlicher Sicherheit ihre Wurfspeere schleuderten. Die mutierten Hunde waren an der Schulter mannshoch und hatten eine nackte, Orange und rot gesprenkelte Haut. Die Ohren hingen lang herab und in ihrem großen Maul blitzten gefährliche Reißzähne. Die Bogenschützen streckten mehr als die Hälfte der Verfolger mit einer neuerlichen Salve nieder und ließen dann den Bogen fallen, als die Überlebenden ihnen unaufhaltsam auf den Leib rückten. Ein dichter Nahkampf brach aus. Die Pesthunde wüteten in den Reihen der Metz und schleuderten die Männer wie Strohpuppen herum, wenn sie sie erst einmal zu fassen bekamen. Die mordgierigen Heuler nahmen keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit, sondern hackten alles kurz und klein, was in der Nähe war. Mit einemmal war alles vorüber, und ein kläglicher Rest der Truppe zog sich weiter zurück von diesem stinkenden Leichenfeld. Es wurden Verwundete mitgenommen, aber nicht viele. Nun waren entlang der ganzen Uferlinie heftige Kämpfe entbrannt. Viele der Boote ruderten nicht mehr, sondern lagen vor Land und gaben mit ihren Geschossen Deckung. Ein Pfeilhagel um den anderen prasselte hernieder. Die letzten Späher mußten sich schon kämpfend zu den Booten durchschlagen. Nun waren nur noch wenige zurückgeblieben. Die Wachboote, die reichlich mit Munition versehen waren, verdoppelten ihre Salven. Ein Haufen Menschenratten mit schuppigem Schwanz, auf den eine solche Salve niederhagelte, fiel reihenweise um.
Die Boote ruderten in den See hinaus. Viele Plätze darin waren leer, wie Hiero betrübt feststellte. Die silberhellen Fanfaren der Unreinen schmetterten in einem fort, woraufhin ihre Krieger sich in den schützenden Wald zurückzogen. Sogleich stellten die Wachboote ihren Beschuß ein und folgten den eigenen Leuten als Nachhut. Das Ufer war mit Toten und Verwundeten übersät, aber ansonsten leer. Hiero bemerkte, daß ihr Kahn auf den Schlamm der Uferzone auflief. Er sprang in den Sattel und ließ Klootz über den flachen, breiten Bug aussteigen. Der Schlamm war hier hüfttief, was den großen Ellk freilich nicht behindern konnte. Mit seinen spreizbaren Hufen war er für solchen Boden wie geschaffen. »Haltet euch an den Steigbügeln fest!« empfahl er den Mantans. »Ihr werdet ein bißchen naß, aber das läßt sich nicht vermeiden. Ihr wolltet ja mitkommen!« Die Katzen waren schon triefend naß. War ihnen der Sumpf auch zuwider, so kamen sie doch gut vom Fleck, als man sich landeinwärts durch Schilf und Tümpel in Bewegung setzte. Von seinem hohen Sattel aus konnte Hiero noch einen Teil des Ufers überblicken. Die äbtliche Nachhut – oder was davon übriggeblieben war – ruderte langsam in den See hinaus. Einige andere Boote waren von den bewaldeten Inseln zu ihnen gestoßen und übernahmen überzählige Männer oder sprangen ein, wo Ruderer fehlten. Ein paar Soldaten waren auf dem südlichen Ufer sichtbar. Hie und da wehte eine Flagge mit dem Grün auf Weiß der Republik. Aber nun änderte sich das Bild. Abermals strömten die Unreinen, jetzt in geordneten Reihen, aus dem Wald am Nordufer. Diesmal waren sie vorbereitet. Bis auf die Offiziere trug jeder Mann und Lemut ein kleines Kanu oder an einem größeren Boot mit. Menschenratten, die von Natur aus gute Schwimmer waren und keine Unterlage brauchten, glitten mitsamt ihren Waffen ins Wasser. Auch dies vollzog sich sehr diszipliniert und ließ auf langen, harten Drill schließen. Hiero erspähte eine Gruppe geschmeidiger, brauner
Gestalten, die schlängelnd ins Wasser tauchte, und entsann sich der großen Otter, die er einst bezwungen hatte. Die Unreinen brachten in der Tat alles zum Einsatz, über das sie verfügten! Wäre es genug? Der Blick aufs ferne Kampfgeschehen wurde nun durch Bäume verwehrt. Die kleine Gruppe drang immer tiefer in das seichte Wasser des überschwemmten Landes vor. Seine Geisteskräfte einzusetzen, das wär in diesem Fall zwecklos. Er hatte lange probiert, damit etwas zu bewerkstelligen. Aber sowohl der Schild der Unreinen als auch der äbtliche Schirm wirkten so nachhaltig, daß sie nicht zu durchdringen waren. Er konnte über kurze Entfernung zu seinen Katzen sprechen, das war schon alles. Vor sich machte er eine Linie schwarzer, beweglicher Formen aus und riß das Fernrohr an die Augen. Danach hatte er die ganze Zeit Ausschau gehalten. Klootz hob das tropfende Maul und röhrte zur Begrüßung. Bald hatten sie eine Erhebung erreicht, die aus dem Gras und Wasser ragte. Hiero war zu seinen neuen Truppen gestoßen. Die zwei Regimenter aus Ellk und Reiter hatten in Gefechtsordnung Aufstellung genommen. Hiero kannte die beiden Obersten, die allerdings älter waren als er. Unter Oberst Saclare hatte er schon einmal gedient, und Oberst Lejus war an der Militärakademie sein Ausbilder gewesen. Sie waren typische Metz und hätten als enge Verwandte von ihm gelten können; stämmige, braungebrannte Männer in den Vierzigern, die mit spielerischer Leichtigkeit im Sattel saßen. Gefolgt von ihren Adjutanten, ritten sie Hiero entgegen und salutierten. Hiero erwiderte den Gruß und verbarg die Verlegenheit, die ihn beschlichen hatte. Oberst Saclare schuf dem sofort Abhilfe. »Es ist uns eine Freude, unter deinem Befehl zu stehen. Lejus und ich wissen von früher, was du kannst.« Ein spöttisches Auge schloß sich zu einem Zwinkern, was allerdings nur aus nächster Nähe zu beobachten war. Das reichte. Alle drei brachen in herzliches Gelächter aus und schüttelten sich die Hände. Hiero hatte den Befehl übernommen und wußte loyale Männer unter sich.
»Ja, ich kann zwei Remonten auftreiben, obwohl wir nicht viele in Reserve haben«, sagte Oberst Lejus zu den Brüdern Mantan, die er neugierig musterte. »Wir haben alle schon von den beiden gehört. Wer kennt sie nicht? Dachte allerdings, sie kämpfen immer allein. Nehm' an, du willst sie an deiner Seite haben. Von deinen Katzen, den hübschen, haben wir auch gehört. Können wohl auf sich selbst aufpassen. Aber komm jetzt! Wir bauen gerade was – wird dich interessieren. War die Idee von Oberst Saclare.« Auf der Kuppe des ›Feldherrnhügels‹ errichten Männer und Ellks ein Gerüst aus drei langen Balken, an das sie eine Leiter stellten, um obenauf eine kleine Plattform zu befestigen. Das ganze Holz war vorgeschnitten und über den Sumpf herangeschafft worden. Bald bot sich Hiero und den beiden Obersten ein ganz neuer Ausblick auf das Schlachtgeschehen, das sie durch ihre Fernrohre gespannt verfolgten. Sie konnten weit entlang des nördlichen Ufers und über den See der Tränen sehen und hatten das Gerüst gerade im rechten Moment erklettert, um einen weiteren Höhepunkt der Schlacht mitzuerleben. Die Truppen der Unreinen aus Menschen und anderen Kriegern strömten immer noch aus dem Wald. Mindestens tausend kleine und große, aber durchweg leichte Boote, die offenbar aus Tierhaut bestanden, hatten die Verfolgung der äbtlichen Nachhut aufgenommen. Die nur langsam vorankommenden Metz waren noch ein gutes Stück vom rettenden Südufer entfernt, obgleich schon viele nicht mehr weit zum Ziel hatten. Hiero fiel auf, daß diejenigen, die dicht vorn waren, anscheinend die ganzen Verwundeten aufgeladen hatten, während die säumigen nur mit Kampffähigen besetzt waren. So weit, so gut, dachte er sich. Aber du meine Güte, wie viele kommen denn da noch aus dem Wald! Und immer noch mehr Boote! Die grausigen Riesenhunde schwammen in Rudeln ebenfalls hinaus. Auf den vorderen saßen Zottelheuler, die die anderen führten; die meisten Heuler fuhren jedoch in Booten. Auch der Strom der Menschenratten, der aus dem Waldrand ins Wasser glitt, hielt an. Hie
und da tauchten die Otter auf, die sich an die Spitze des ganzen Zuges gesetzt hatten. Wann endlich käme das Signal? »Leg das an!« sagte Saclare. Er hielt den ledernen Harnisch der Ellkreiter, auf dem obenauf der bronzene Helm mit Visier lag. Der Oberst und alle anderen steckten schon in ihren Rüstungen. Hiero kämpfte sich geistesabwesend in den Küraß, die Arm- und Beinschienen und merkte nicht einmal, daß die beiden Obersten für ihn die Schnallen schlossen und auf seinem Helm der weiße Federbusch eines Generals prunkte. Sein Augenmerk galt nur dem See. Der Hauptteil des anscheinend endlosen Heers der Unreinen befand sich nun in Höhe der größeren Inseln, deren Bäume tief über dem Wasser hingen. Mit einemmal übertönte ein schmetternder Hornstoß das Geschrei und Gejohle der unreinen Horden. Äste fielen ins Wasser, ganze Bäume stürzten in den See. Aus ihrem versteckten Ankerplatz innerhalb der Inseln fuhr eine Flotte von Schiffen, angeführt von den äbtlichen Dampfern, heran. Schon stiegen die Rauchwolken auf, als ihre Geschütze das Feuer eröffneten. Justus Berain war kein Mensch, der sich drängeln ließ; er schlug erst zu, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Die Geschützpforten an den Dampfern waren erweitert und tiefer angebracht worden, um größere Treffsicherheit und Beweglichkeit zu gewährleisten. Nun wurden die mächtigen Vorderlader nicht mit fester Munition bestückt, sondern mit einem Gemisch aus Keramikscherben, Steinen und Eisensplittern, das überhaus verheerend wirkte. Hinter den Dampfern folgte eine Flotte von schweren Ruderbarken, die zum Schutz der Bogenschützen und Ruderer mit hölzernen Sturmdächern und Schilden aus Weidengeflecht versehen waren. Salve um Salve, die nur auf Kommando abgeschossen wurden, prasselte zusätzlich zu dem Geschützfeuer auf den Feind nieder. Das Ganze blieb nicht lange so einseitig. Obschon ihm das böse Kartätschenfeuer der Dampfer und der niedergehende Pfeilhagel ordentlich zusetzten, griff der Feind an. Abermals ertönten seine
silbernen Fanfaren aus dem Wald, woraufhin sich neue Scharen aus dem Wald in das Getümmel auf dem See stürzten. Hie und da erspähte Hiero in den schwärmenden Horden der Unreinen eine graugewandete Gestalt, die hektisch von einer Stelle zur anderen rannte. Unreine Adepten im offenen Kampf, das war etwas Neues; freilich lernten sie schnell hinzu und waren mit starken Truppen angerückt. Er riß den Blick von der tobenden Schlacht und sah von seinem Ausguck aus nach unten, wo sich ihm ein beruhigenderes Bild bot. Vom fernen Schlachtenlärm unberührt, standen dort knapp viertausend Reiter der äbtlichen Kavallerie neben ihren mächtigen Tieren bereit. Sie waren in vier durchbrochenen Reihen aufgestellt und hielten vor sich die schweren, in einer Linie aufgepflanzten Lanzen. Die Brüder Mantan, gleichmütig wie immer, warteten geduldig am Fuß der Leiter; an ihrer Seite standen die Kinder des Winds. Neben den beiden Tieren, die für die Jäger herangeschafft worden waren, trat Klootz von einem Bein aufs andere. »Dauert nicht mehr lange«, sagte er zu den beiden Obersten. »Sieht gut aus von hier. Flußabwärts am andern See sieht's vielleicht anders aus. Dort haben wir nur einen Dampfer, den neuesten. Dafür haben wir andere Überraschungen parat. Wir werden's bald wissen.« Während Hiero sprach, verfolgten sie das Geschehen auf dem See weiter. So weit das Auge reichte, wütete die Schlacht. Unter dem Rauchschleier mischte sich das Geschrei der Menschen und Tiere mit dem Donner der Geschütze. »Großer Gott. Ich glaube, sie drehen ab«, rief Saclare. »Sie haben genug. Hätte nicht geglaubt, daß der Strom aus dem Wald je ein Ende nimmt. Seht doch!« Nun konnten sie es alle sehen, und Hiero schickte ein herzliches Stoßgebet zum Himmel. Das fürchterliche Gemetzel hatte die unreinen Boote und Schwimmer zurückgetrieben. Die leichten Gefährte, die sie von so weit herbeigeschleppt hatten, konnten den
scharfen Pfeilen und schweren Geschützen nicht standhalten. Die gepanzerten Schiffe kreuzten hin und her und richteten ringsum große Verheerung an; kleinere Boote vor ihrer Schnauze wurden einfach unter dem abgeschrägten Bug zermalmt. Wiederholt versuchte der Feind, aufzurücken und zu entern, wurde aber jedesmal unter schweren Verlusten zurückgeschlagen. Die Barken mit den Bogenschützen folgten im Schutz der fünf Großen und der Wachboote, die so langsam zum anderen Ufer geflohen waren, dann gewendet hatten und wieder zurückgekehrt waren. Viele andere legten vom Südufer ab, um sich dem Gefecht anzuschließen. Hie und da sprang ein Otter an Bord der kleineren Boote oder versuchten Zottelheuler das Entern. Auch Menschenratten probierten diese Taktik, aber die Schutzwände aus Weidengeflecht und Planken hielten die meisten zurück; die anderen waren rasch niedergestreckt. Die Ruderfertigkeit der Infanterie der Unreinen hielt sich in Grenzen, und die Höllenhunde wußten sich im Wasser gar nicht zu helfen. Die vielen Wracks der angreifenden Schiffe trieben als Inselchen im Meer der Leichen. Hinten im Wald bliesen die Fanfaren der Unreinen nun in langen, schrillen Tönen zum Rückzug. Schwimmend und rudernd floh der Feind zum Nordufer. Freilich hatte ein Teil schon das Hasenpanier ergriffen, als das Signal dazu noch gar nicht gegeben war. Entmutigt und geschlagen paddelten die dezimierten, aber zahlenmäßig noch starken Krieger um ihr Leben. Keiner hatte auch nur einen Fuß aufs Südufer gesetzt. Die Kriegsschiffe der Republik nahmen die Verfolgung auf. Ihre Geschütze forderten unablässig Tribut. Mit Feuergarben bestrichen sie das ganze Ufer, und unzählige Pfeile schwirrten durch den Rauch. Ein Blick auf die Sonne über den dunklen Schwaden verriet Hiero, daß es Mittag war und kaum eine Stunde seit dem Wassern der Boote der Unreinen vergangen war. Er fragte sich, wie die Schlacht im Osten verlaufen würde. Die Unreinen verfügten trotz allem noch über gewaltige Truppen und würden verbissen kämpfen, um sich den
Landgang auf der anderen Seeseite zu erzwingen. Ob seine Einschätzung der kommenden Entwicklung korrekt war? »Auf den Posten, meine Herrn!« sagte er leise. »Der Ausguck muß sofort niedergerissen werden! Der Feind könnte ihn sehn, wenn er jetzt käme.« Flugs kletterten sie die lange Leiter hinab. In Sekundenschnelle war das Gerüst zerlegt, während die Stabsoffiziere langsam die Reihen abritten. Oberst Saclare begab sich an den rechten Flügel, Hiero übernahm die Mitte und Oberst Lejus die linke Flanke. Man konnte hören, daß das Geschützfeuer vom See nun nachließ. Dafür gäbe es nur einen Grund, schloß Hiero: fehlende Ziele. Nun drang das Donnern nur mehr vereinzelt von den Rauchschwaden im Südosten herüber. Er wandte sich den Katzen zu, die neben seinem Sattel bereitstanden. Ich habe eine Aufgabe für euch, die nicht ungefährlich ist, übermittelte er ihnen. Wir müssen wissen, ob der Feind kommt und wie schnell. Chuirch, geh du links! Du, Zariech, bleibst rechts! Versucht, mit euren Gedanken zu mir durchzudringen, aber kommt zurück, wenn's nicht klappt! Laßt euch nicht sehen, wenn irgend möglich! Tötet nur, wenn es sonst euer Leben kosten würde! Ich brauche Informationen, keine Leichen. Wollt ihr gehn? Mrien, du hältst dich in der Mitte, gehst aber nicht so weit wie die andern. Du kannst mir vielleicht ihre Gedanken übermitteln. Ohne jede Antwort flitzten sie davon und setzten über Schilf und Tümpel hinweg, als wären sie nicht vorhanden. Husch, waren sie weg. »In trockenem Gelände hätt' ich euch als Späher geschickt«, erklärte Hiero den Brüdern Mantan. »Aber ich will nicht, daß der Feind einen einzigen Ellk zu Gesicht bekommt. Außerdem sind die Katzen in diesem Sumpf viel wendiger.« Sie nickten düster und setzten sich bequem in ihren Sätteln zurecht.
Das Warten fiel ihnen allen nicht leicht. Es wirkte nahezu deprimierend auf Hiero, der deshalb versuchte, sich auf die Zukunft zu konzentrieren, sich allerdings auf die unmittelbare Zukunft beschränkte. Er stand vor zwei Aufgaben, die sich vielleicht mit einem Schlag erledigen ließen. Zum einen – die feindliche Flanke zerschlagen. So kommt doch und beißt euch die Zähne aus, Teufelspack! Zum andern – Sduna finden und töten. Du bist irgendwo da draußen, du Dreckskerl, das weiß ich genau. Einen solch gewaltigen Haufen deiner verräterischen Menschenbande und deiner lausigen Lemuts kannst nur du zusammenhalten. Du hast alles aufgeboten, was du hast, und hättest es auf deiner Insel Manoun nicht ausgehalten. Nein, diesmal bist du dabei und verpestest die Sonne mit deinem grausamen Treiben! Hinter seinem Rücken war in den langen Reihen das aufgeregte Hin und Her bei Reiter und Roß nicht zu übersehen. Alle waren aufgesessen und warteten gespannt auf das Zeichen. Wo bleiben bloß die Katzen? Mriens Gedanken fuhren ihm wie ein Blitz durch den Kopf, als er gerade nach einem hungrigen Mückenschwarm schlug. Wir kehren um! Meine Männchen haben sie gefunden! Sie kommen von den Bäumen – viele, viele. Habt acht! Hiero gab das vereinbarte Handzeichen, und das letzte Zurechtrutschen im Sattel pflanzte sich wie eine Welle von ihm durch die ganzen Reihen fort. Die Kinder des Winds eilten in gewohntem Tempo gemeinsam herbei. Hakenschlagend und geduckt wichen sie den Geschossen aus, die ihnen um die Ohren schwirrten. Getroffen wurden sie nicht. Der General trug keine Lanze. Sein weißer Helmbusch aus Reiherfedern nickte eifrig, als er sein langes Schwert aus der Scheide an Klootz' Sattel zog. Die beiden Mantans, mit Streitäxten bewaffnet, rückten links und rechts von ihm auf. Nun kam die aus Lemuts und Menschen bestehende feindliche Front in Sicht.
Hiero hob das Schwert in seiner behandschuhten Rechten und ließ es mit einemmal niedersausen, woraufhin sie zur Attacke ritten. Komm, Dicker, übermittelte er. Jetzt geht's um die Wurst! Neben den drei führenden Ellks preschten die Läufe der Katzen über die Segge. Hiero umklammerte das Heft im Korb seines Kavalleriesäbels, den er wie eine Lanze nach vorne richtete. Während Klootz größeres Tempo zulegte, wurde auch das Gespritze und Getrampel der angreifenden Reihen dahinter immer lauter. Hiero spähte rasch zu den Seiten. Gut! Man hielt sich an seinen Befehl! Der linke Flügel, die nördliche Linie der Ellkreiter, schwenkte langsam an ihm vorüber, ohne eine Lücke in die Reihen zu reißen. Der rechte Flügel hielt sich zurück, so daß ihre Front sich allmählich zu einem Bogen krümmte. Die linke Flanke würde zuerst zuschlagen, um die gegnerische Front dann aufzurollen und vom Rand des Sumpfes abzuschneiden und ins offene Gelände – weg von jeder Deckung – zu treiben. Nun blieb keine Zeit mehr zum Denken, und Hiero konzentrierte sich auf das, was vor ihnen lag. Die Tage und Wochen des Planens waren vorüber; nun war er nur noch eine Kampfmaschine. In seinem Schlachtfieber setzte Klootz zu einem donnernden Röhren an, und seine Artgenossen dahinter taten es ihm gleich, so daß sich das Gebrüll wie eine Woge durch alle Linien fortpflanzte. Die Unreinen hielten inne und liefen wirr umher. Es konnte der Sumpf den Menschenratten und übriggebliebenen Pesthunden nichts anhaben; sie kamen unbehindert vom Fleck. Nicht so die Männer. Mochten sie auf festem Boden auch disziplinierte und grimmige Kämpfer sein, so kamen sie auf der schwankenden Segge und in den schlüpfrigen Tümpeln und Schlammlöchern doch ordentlich ins Stolpern und Rutschen. Viele der Zottelheuler waren nun zu Fuß; ihnen sagte der Matsch genauso wenig zu wie ihren menschlichen Waffenbrüdern. Als die Linie der mächtigen Schaufelgeweihe und blitzenden Lanzen und Rüstungen vor ihnen auftauchte, wandten sich viele zur Flucht. Andere, die von härterem Schlag waren oder
bessere Offiziere hatten, versuchten, Reihen oder wenigstens eine Schildwand zu bilden. Das Ergebnis war Chaos! Anordnung, Gegenanordnung – Unordnung! Von weit links bis weit rechts warf sich die schreckliche Kavallerie auf sie! Hiero spaltete einem ersten Zottelheuler den Schädel. Während Klootz vorandrängte, holte er zum neuen Schlag aus. Jede Lanze schien einen Feind aufzuspießen, ob von vorne oder hinten. Sogleich wurde der hochgehaltene Stiel zurückgezogen und wieder eingelegt, um erneut zuzustoßen. Es spielte keine Rolle, ob die gegnerischen Kämpfer flohen oder die Stellung hielten. Wenn die Reiter sie verfehlten, so vollbrachten die mächtigen Rosse das Werk mit ihren hackenden, stoßenden Hufen, mit denen sie die Leiber zertrampelten, ihren kräftigen Gebissen, mit denen sie sie erfaßten, um sie zu schütteln und zu zerreißen, woraufhin sie leblos zu Boden fielen. Ein Riesenhund schnappte mit aufgesperrten Fängen nach Hieros Zügelhand. Unwillkürlich ließ er die Zügel fallen und hob den unzerbrechlichen Schild, Gabe seines wunderlichsten Freundes, um das Ungetüm wegzustoßen. Die langstielige Streitaxt von Reyn Mantan fuhr an ihm vorbei, und schon sank das Tier mit klaffendem Schädel zusammen. Die Wucht des Angriffs ließ nach dem ersten Zusammenprall nur wenig nach. Die Reiter ließen nicht mehr vom Feind ab, so daß er sich nicht mehr formieren oder im Gelände verschanzen konnte, während sie allmählich nach rechts schwenkten, bis vor ihnen schon der finstre Wald aufragte. Es kam nun zu schwersten Gefechten, denn der Feind versuchte verzweifelt, sich zu den schützenden Bäumen durchzuschlagen. Armbrustschützen und Speerwerfer der Unreinen, teils Menschen, teils Tier, ließen vom Waldrand ihre Geschosse niederprasseln, was das Zeug hielt, um die Berittenen abzudrängen. Ihre Bolzen und Lanzen fegten gar manchen Reiter aus dem Sattel, aber die riesigen Ellks waren selbst reiterlos nicht scheu. Mit leerem Sattel kämpften sie weiter und hielten die Linien dicht, wie ihnen beigebracht worden war. Wenn eins der wackeren Tiere fiel, schlossen andere, ob mit Reiter oder nicht, die Lücken und
führten den Angriff fort. Die äußerste linke Flanke mußte die schwersten Verluste hinnehmen, aber rückte rasch nach und trieb die kreischenden Lemuts und ihre versprengten Herren hinaus – weg vom bergenden Wald. Hiero war bis jetzt unversehrt, aber seine Rechte erlahmte allmählich vor Anstrengung. Das geliebte Tier, das ihn trug, blutete aus unzähligen kleinen Wunden, denen es aber keine Beachtung schenkte. Klootz' Augen waren rot vom Blutrausch, und seine Raserei ließ ihn keinerlei Schmerz spüren. Reyn Mantan und Mrien mit ihrem langen, blutigen Dolch schützten Hieros linke Seite, während die beiden Kater und Geor Mantan die rechte deckten. Die Mantans hatten irgendeinem Gegner leichte, ovale Langschilde aus vielschichtiger Borke entrissen, womit sie geschickt die Geschosse abfingen, die ihrem General gefährlich werden könnten. Hiero bemerkte das nicht einmal, denn er war nur darauf versessen, alles kaltblütig niederzuhauen, was sich ihm entgegenstellte. Er stach und stieß, hieb und hackte wie ein Besessener auf den Gegner ein. Endlich hatte er den Feind vor sich in Reichweite! Endlich konnte er Rache üben für die Unbill der letzten Monate, die gewaltsame Trennung von seinem Eheweib, den Verrat und die Pein! Tod über sie! Bringt sie um, die Niederträchtigen, auf daß sie für immer vom Angesicht der Erde verbannt seien! Es bedurfte eines kräftigen Rucks am Zügel, um seinen Renner zu parieren, und einer kräftigen Stimme, den Wahnsinn der Schlacht zu durchdringen. Sein erhobenes Schwert sank nieder, und schließlich gewahrte er den Freund, der ihn anbrüllen mußte, um ihn aus seiner Raserei zu reißen. Keuchend bemerkte er erst jetzt, daß Klootz, der vor Erregung noch am ganzen Leib bebte, stehengeblieben war. Hiero rang seine Tollheit nieder und hielt inne, obwohl es schier weh tat, jetzt Ruhe zu geben. »Aufhören, General! Sieh, wir haben sie geschlagen. Ein Viertel ist in den Wald entkommen, mehr nicht. Sieh doch, was passiert!«
Hiero mußte sich schier zwingen, den Kopf zu drehen. Es war Oberst Lejus, der ihn aufgehalten hatte. Mit ungläubigen Augen blickte Hiero, wohin der andere deutete. Die Unreinen, die auf dem See der Tränen eine empfindliche Niederlage erlitten hatten und in den Schutz des Waldes geflohen waren, hatten sich wieder gesammelt. Sie stellten nach wie vor ein mächtiges Heer dar, das ihre Führer in das anscheinend leere Sumpfland zu ihrer Rechten lenkten. Hier sollte es die Verteidigungslinien der Republik umgehen und den langen Arm des Sees umrunden, um dem verhaßten Feind in den Rücken zu fallen. Freilich war es etwas anders gekommen. Der weise, alte Generalabt und Hiero selbst hatten die Unreinen durch ihre Manöver nahezu verleitet, eine solche Taktik ins Auge zu fassen, und hatten mit der vielleicht einzigen Kavallerie in der ganzen Weltgeschichte, die in weichem Boden besser als auf festem kämpfen konnte, bereitgestanden! Das Ergebnis lag nun vor Hieros Augen und war für ihn kaum faßbar, obgleich es nicht zuletzt seiner Mitwirkung zu verdanken war. Von ihren Sammelplätzen im Wald abgeschnitten und durch die Lanzen der Ellkreiter auseinandergesprengt, wurde der klägliche Rest der Unreinen, die in den Sumpf vorgestoßen waren, in erbittertem Kampf zum Seeufer abgedrängt. Unnachgiebig wurde die stolpernde, taumelnde, kreischende Menge zum Wasser getrieben. Die Linie der Ellks wies keine Lücken auf. Die Äbtlichen hatten vielleicht ein Achtel ihrer Berittenen verloren, aber die Verbleibenden waren mehr als genug. Eine dünne Linie deckte ihren Rücken, sollten neue Ströme aus dem nun stillen Wald im Osten brechen. Draußen auf dem Wasser erwartete sie endgültig das Verderben. Still und wachsam lauerten dort die fünf Dampfer. In Verlängerung ihrer Linie lagen, vom Ufer aus außer Sicht, die Barken mit den Bogenschützen. Die späte Nachmittagssonne schien auf ein Bild der Verheerung herab. Hörner ertönten, woraufhin die Kavallerie
innehielt und zu dichteren Reihen aufrückte. Sie bildeten nun einen Halbmond; innerhalb der Sichel wurden die widrigen Krieger unaufhaltsam vorwärtsgetrieben, wo anstelle des unsicheren Standes im Sumpf bald der Boden vollends unter ihnen schwand. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Hiero zufrieden das Schauspiel. »Keine Gnade!« lautete der Befehl. Was der Feind an ihrer Stelle getan hätte, das konnte sich jeder nur zu gut ausmalen. Immerhin durften sie schnell sterben. Seit langen Jahren wurde das Streben der normalen, wiederaufblühenden Menschheit, ein Leben in Frieden und Glück zu führen, von dieser Ausgeburt des Bösen vereitelt. Das war ihr Lohn! Sie hatten sich dem Bösen verschrieben; nun widerfuhr ihnen das, dem sie ihre Seele geweiht hatten. Hinweg mit ihnen vom Angesicht der goldenen Sonne. Für immer! Zum letzten Mal bliesen die Hörner der Äbtlichen zur Attacke. Mit eingelegten Lanzen holte die Sichel zum letzten Schlag aus. Es war ein blutiges Gemetzel. Die Unreinen wurden durchbohrt oder niedergetrampelt oder starben im Wasser, wenn sie sich dem Blutbad entziehen wollten; sollte einer unter den Schiffen hinwegzutauchen versuchen, würden ihn dahinter die kleineren wachsamen Boote, die eine zweite und dritte Reihe bildeten, erwarten. Keiner überlebte. Genau das war die Absicht. Hiero hatte sich abgewandt, als das unausweichliche Ende nahte. Er blickte sich um unter den Berittenen, die ihnen den Rücken deckten und den dunklen Wald abschirmten. Schließlich steckte er den langen Säbel in die Scheide am Sattel. Seine beiden Obersten befanden sich an seiner Seite und sahen ihn auf eine Weise an, die ihn verlegen machte. Was schauen sie mich nur so an? Sie sind meine Ausbilder gewesen, die beiden! Neben seinem Steigbügel verband Mrien mit einem Stoffetzen den Unterarm von Zariech, während Chuirch damit beschäftigt war, den Dreck aus seinem Pelz zu putzen. Auch sie sahen in der gleichen Weise zu ihm auf. Die Brüder Mantan, offenbar unverletzt, saßen in
ihrer gewohnt unerschütterlichen Art hinter ihm in ihren Sätteln, aber auch ihre Augen glänzten! Ich kann nichts dafür, sagte er sich. Hab' ein bißchen mitgedacht, aber es war vor allem Abt Demero. Hab' vielleicht ein bißchen dazugehört. Aber es steht mir nicht zu, das viele Lob! Den Blick in die Ferne gerichtet, trat er in Zwiesprache mit seinem Schöpfer. Vater, bewahre den geringsten Deiner Diener vor der Sünde des Stolzes! Zumal, fügte er kleinlaut hinzu, 's mir nicht zusteht! Gott – oder ein Stellvertreter – sorgte für eine höchst willkommene Überraschung. Ein schmutzstarrender Ellkreiter galoppierte heran und überreichte Saclare eine Depesche. Der Oberst zögerte nicht lange, sondern riß sie auf. »Ha! Was von diesem Abschaum übrig ist, kämpft im Wald ums Leben. Sie werden zu unsren Linien zurückgehetzt – zurückgehetzt, wohlgemerkt! Deine Pläne, General, klappen wie am Schnürchen. Gratuliere. Wer sonst würde Truppen bereitstellen, von denen niemand weiß, um loszuschlagen, sobald der Feind in die Flucht gejagt wäre? Weißt du, General, daß wir überall gewonnen haben?« Er konnte seine Gefühlswallung nicht länger beherrschen. »Truppen, von denen niemand weiß«, wiederholte Hiero leise. »Wir hatten hier die massivsten Angriffe, wie aber steht's mit dem unteren See und den östlichen Flüssen bis runter nach Namcush? Wie steht's damit, Oberst?« »Ich hab' Depeschen«, antwortete ein junger Mann, einer von Saclares Kurieren. Hiero bemerkte, daß der Jüngling einen Arm in der Schlinge trug. Er war an der Front gewesen. »Raus mit der Sprache, Junge.« Der Priester betrachtete mit Mißfallen das Leuchten in den Augen des Jünglings. Wie viele Tote mochte dieser Morgen gefordert haben? »Jeder Landungsversuch drunten wurde zurückgeschlagen. Unsre Schiffe und das Dammvolk hielten allen Vorstößen stand. Wir hatten
dort ein großes Kriegsschiff. Das war genug. Den Rest erledigte das Dammvolk. Der Feind hatte nur einen leichten Flügel in diese Richtung geschickt.« »Also ist keine Landung geglückt. Eine gute Nachricht.« War Hiero auch sehr erschöpft, so harrte seiner doch noch die zweite Aufgabe. Die unreinen Gedankenschilde mußten eigentlich beseitigt und niedergerissen worden sein. Wo also war Sduna? Er besann sich wieder auf das, was der Jüngling gemeldet hatte. Das Dammvolk! Wie viele der jungen Männchen und Weibchen mochten wohl gefallen sein? Der untere See und die Oberläufe der dortigen Flüsse haben vielen das Leben gekostet. Welches Junge möchte nicht, daß Vater oder Mutter zum Nest zurückkämen? Hiero weinte innerlich. Schließlich schob er seine Trauer beiseite. Er hatte den vollen Gehalt der Meldung gar nicht erfaßt. »Truppen, von denen niemand weiß.« Schon gar nicht er selbst! Aber er konnte es sich denken. »Oberst, die Truppen aufstellen!« schmetterte er, daß seine Leute zusammenzuckten. Er mußte sich zur Ruhe zwingen. »Ein großes neues Verbündetenheer rückt von Norden an. Es soll mit allen Ehren empfangen werden. Das unreine Pack ist ins Wasser gejagt worden. Alle verfügbaren Truppen sollen sich zur Parade aufstellen, um unsre Freunde willkommen zu heißen.« Seltsam, die unreinen Gedankenschilde waren weg, vollkommen weg. Hiero war überzeugt, daß Sduna sich abschirmen würde. Aber nein, es war nichts dergleichen zu entdecken. Zu wissen, daß Gorm im Anmarsch war, erfüllte ihn freilich mit großer Freude. Noch froher stimmte ihn allerdings die große Leere im Hintergrund! Die Äbtlichen senkten salutierend die großteils noch blutigen Lanzen, als drei Gestalten aus dem Wald liefen und auf Hiero zuhielten. Mrien kniete sich mit ausgestreckten Armen nieder, und ihre Kater taten es ihr gleich. Für Hiero hatten die Kinder des Windes so etwas 'noch nicht getan, was er ihnen natürlich nicht verübelte.
Gorm war hinter den beiden Gestalten vor ihm nahezu unsichtbar. Die fülligen, geruhsamen Abgesandten des Bärenvolks an der Spitze erreichten die beeindruckende Größe des einstigen Riesenbären. Nur durch die höhere Stirn und dem längeren, eierförmigen Hinterkopf hätten sie sich davon unterschieden. Die plumpen Gesellen konnten schnell laufen, wie sich zeigte, als sie behende den Sumpf überquerten. Der Führer – sein hoher Rang war unverkennbar – richtete sich neben Klootz auf den Hinterläufen auf. Am Rande registrierte Hiero, daß sein Ellk nicht die geringste Furcht vor dem Titanen an seiner Seite zeigte. Der glänzende Pelz verströmte einen scharfen Duft. Ich habe keinen Namen – übermittelte der Riese – und bisher auch keinen gebraucht. Die Menschen, die ihr Elfer-Brüder nennt, haben uns friedliebende Geschöpfe in den Krieg geführt. Was ist Friede? Daß man in Ruhe gelassen wird. Dennoch sind wir in die Schlacht gezogen – und nicht umsonst, wie wir meinen. Sein Gefährte hatte sich kurzerhand in eine Suhle gelegt, in der er sich nun wohlig wälzte. Hiero vermied geflissentlich jeden Blick auf den Jüngsten des Trios. Die Äbtlichen salutierten nach wie vor mit gehobenen Lanzen. Ich vermute, fuhr der gemächliche Bär fort, indem er sich zu ihm beugte, diese Mentalitäten stehen so da, um uns zu ehren. Das ist nicht notwendig. Du bist derjenige, der unsren jungen Vetter mit in den Süden genommen hat. Wir stehn in deiner Schuld. Es fällt dein Feldzug mit der großen Wanderung zusammen. Was wir in den gemeinsamen Kampf einbringen können, das geben wir gern. Zeig ihm unser Geschenk, Kleiner! Gorm trottete nach vorne. Er trug einen Sack aus irgendeinem Rindenmaterial auf dem Rücken. Diesen leerte er nun aus. Die zwei glänzenden Häupter, die zwei Glatzköpfe, die zwei grausigen Fratzen rollten übers feuchte Gras vor Klootz' Füße. Das eine Gesicht war Hiero unbekannt, das andre aber würde er nie
vergessen. Offenbar mit roher Gewalt vom Rumpf gerissen, lag vor ihm der Kopf von Sduna mit qualvoll verzogenem Mund.
Der Führer des Bärenvolkes fuhr fort. Wir dachten, solches Geschmeiß sollte man vom Angesicht der Erde tilgen. Das sind die Führer, die ihr gesucht habt. Ihre Zirkel sind zerschlagen. Wir glauben, das ist nicht zuletzt dein Verdienst, was unser Kleiner eifrig bejaht. Eines Tages mag er wahre Weisheit erlangen. Es liegt nur an ihm und an dir. Wieder neigte sich der riesige Schädel, um ihn zu beäugen. Du bist nach unsren Begriffen ein famoser Kerl. Doch nichts für ungut. Du wirst vielleicht der erste deines Volkes sein, der Erleuchtung findet. Als Hiero seine Fassung wiedererlangt hatte, entschwanden die beiden Riesen schon in den Wald. Er sah vor sich nieder. Gorm war noch da. Sie sagten, ich könne bleiben, ließ ihn der junge Bär wissen. Die Sache ist noch nicht ausgestanden. Wo, Hiero, ist Lucare? Hiero stand wie vom Donner gerührt. Die unerwartete Frage riß alle Barrieren nieder, die er so mühsam in seinem Denken errichtet hatte. Seine Gedanken schienen sich zu sammeln und schossen explosionsartig in einem gewaltigen Impuls hinaus. Lucare!
Epilog Unter sich spürte Lucare, wie der ermattete Hüpfer stolperte und schließlich stehenblieb, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun. Sie blieb eine Weile benommen sitzen, raffte sich dann auf und stieg ab. Ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, so daß sie sich an die keuchende Brust ihres Tiers lehnen mußte, um nicht zusammenzubrechen. Sie bemerkte kaum, daß einer der drei Männer ihrer Garde eine stützende Hand bot. Sie wehrte ihn ab, riß sich zusammen und blickte sich im Gelände um. Drei Männer – nur noch drei! Wie lange war's schon her, daß der Graf mit den übrigen umgekehrt war, um ihr den Rücken zu decken? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange war's her, daß die weiten Wälder sie aufgenommen hatten, worin sie die Verfolger abzuschütteln hofften? Wozu überhaupt das Ganze? Was hätten sie mit all den Wochen der endlosen Flucht gewonnen? Sie konzentrierte sich wieder auf die Umgebung. Vor ihr kam der schmale Pfad, dem sie gefolgt waren, zu seinem Ende. Die Baumriesen wichen einer moosbedeckten Lichtung. Der Tag neigte sich; die Sonne stand schon tief im Westen. Freilich wirkte die Lichtung nach dem tiefen Schatten des Waldes strahlend hell. Immer wieder blickte sie sich um, denn dieser Platz kam ihr merkwürdig vertraut vor. Ihr war, als wäre sie – in einem anderen, glücklicheren Leben – schon einmal hiergewesen. Sie beobachtete, daß die müden Männer ein Nachtlager aus Moos bereiteten und Holz zum Feuermachen sammelten. Zu Abend würden sie essen, was ihnen von der erlegten Beute des Vortags übriggeblieben war. Ein Mann machte sich mit Flint und Stahl daran, die aufgeschichteten Zweige zu entzünden. Darunter lagen die verkohlten Reste eines früheren Lagerfeuers. Abermals meldete sich diese Vertrautheit.
Während sie so neben ihrem Hüpfer stand, beschlich sie ein Gefühl des Argwohns. Der Wald war sonderbar still geworden. Selbst die munter plaudernden Vögel waren verstummt. Sie lauschten angestrengt und fühlten sich mit gespannten Sinnen voran … Lucare! Gerade noch vernahm sie den Ruf am äußersten Rand ihres Bewußtseins, der die Antwort forderte, die in ihr aufwallte. Dann war's vorüber.
Die Nacht hatte sich längst übers Land gesenkt. Fackeln erhellten das Getriebe auf dem Kai, an dem das Kriegsschiff angelegt hatte. In der Kapitänskabine leuchtete eine Kerze zwei weißbärtigen Männern, die an einem Tischchen saßen. Sie blickten gespannt auf, als die Tür sich öffnete, um den jungen Mann einzulassen. »Man sagte mir, daß ich dich hier finde, Vater Abt«, begann Hiero. Dann hielt er inne; ein überraschtes Lächeln trat in sein Gesicht, als Bruder Aldo sich erhob und die Hand zum Gruß reichte. »Hab' gehört, daß du die Schlacht gewonnen hast«, sagte der Elfer. »Schade nur, daß ich ein bißchen zu spät kam und es nicht miterleben konnte. Hiero, du siehst aus, als könntest du eine Woche Schlaf gebrauchen!« »Später. Keine Zeit«, versetzte Hiero. Demero deutete auf einen dritten Stuhl. »Setz dich, mein Sohn! Aldo bringt Neuigkeiten aus dem Süden – böse Neuigkeiten. Aber ich habe versprochen, dir die Wahrheit zu sagen. Die Stadt Dalwah ist verloren, das Heer vernichtend geschlagen. Lucare und der König sind geflohen – man weiß nicht, wohin. Man weiß nicht einmal, ob sie leben …«
»Sie lebt«, versicherte Hiero. »Und ich weiß schon, wo ungefähr.« »Ist sie denn so nah, daß du mit ihr in Verbindung treten kannst?« fragte Aldo ungläubig. Hiero schüttelte langsam den Kopf. »Nein, sie ist viel zu weit weg. Dennoch konnte ich, das weiß ich, kurz mit ihr in Verbindung treten. Deswegen bin ich hier, Vater Abt – ich möchte um Erlaubnis bitten, in den Süden ziehen zu dürfen, um sie zu suchen. Klootz, Gorm und die Katzen begleiten mich. Noch ein paar Freiwillige haben sich gefunden. Sie lassen gleichfalls um Erlaubnis bitten.« »Wie weit südlich willst du?« hatte Bruder Aldo gefragt, ehe der Abt seine Antwort geben konnte. »Wenn du deine Lucare gefunden hast – worum ich bete –, bist du dann bereit, weiter vorzustoßen, wohin nur ein Mann von deinem Kaliber ungestraft gehen kann? Willst du in den tiefen Urwald südlich von Dalwah ziehen, wohin die verfluchte Hexe ihren Sohn Amibale, den Verräter und Waffenbruder der Unreinen, geschafft hat, um ihn dem Bösen zu verschreiben? Denn dort steckt, den spärlichen Beweisen zufolge, die wir gewonnen haben, die Wurzel des Übels, die Quelle der Unreinen, wie wir von der Bruderschaft meinen.« Hiero überlegte und besann sich darauf, daß Solitär gleichfalls von einem bösen Geist im tiefen Süden gewarnt hatte. Freilich stand seine Entscheidung fest. »Wenn ich die Erlaubnis habe – ja.« »Gut.« Der Abt erhob sich, als wäre die Unterredung beendet. »Du bekommst die Erlaubnis – aber erst, wenn ich sehe, daß du in deinem Bett eingepackt bist und den Schlaf nachzuholen gedenkst, den du brauchst.« »Hab' keine Zeit!« wandte Hiero ein. »Der Weg um die Inlandsee dauert recht lange – selbst wenn wir nur Glück haben, was unwahrscheinlich ist. Wir sollten sofort aufbrechen.«
Aldo begann zu kichern, und der Abt lächelte gütig, als er den Arm um Hieros Schulter legte. »Mein Sohn«, meinte er, »hast du wirklich geglaubt, ich wüßte nicht, was los ist, als du unermüdlich deine Vorbereitungen getroffen hast? Oder hältst du es für eine törichte Laune von mir, daß ich für dich dieses Schiff neu bevorraten lasse?« Er schnaubte mit gespielter Entrüstung. »Hiero, ein Schiff kann auch besseren Zwecken als der bloßen Zerstörung dienen. Nun nenn mir schon die Namen deiner Freiwilligen, sollte ich einen übersehen haben. Dann stecken wir dich hier in einer Kabine ins Bett. Wenn du aufwachst, bist du und dein unverbesserliches Pack deiner Prinzessin schon ein gutes Stück näher.«
Die Prinzessin ruhte auf ihrem Lager aus Moos tief im Südosten, fand aber keinen Schlaf. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf. Hiero lebte und war wohlauf und frei! Alle Zweifel, die sie geplagt hatten, waren wie weggefegt, abgelöst von neuer Gewißheit, die ihr der flüchtige Kontakt zu ihm vermittelt hatte. Er würde zu ihr kommen. Und sie würde hier auf ihn warten. Sie ließ den Blick über die Lichtung wandern, die im Schein des fast vollen Mondes lag. Sie hatte ihn wiedererkannt, den Platz; hier hatten sie auf ihrem Weg in den Süden Rast gemacht, unmittelbar bevor sie auf die seltsamen Frauen gestoßen waren, die in diesen Baumriesen lebten. Sie horchte in die Stille des Waldes in dem Wissen, daß damals die gleiche Stille das Kommen von Vilah-ri und ihren Damen angekündigt hatte. Die Baumfrauen würden sich an sie erinnern und ihr und ihren Männern – besonders den Männern! – einen Himmel der Geborgenheit in ihren Baumnestern bieten. Lächelnd drehte sie sich auf die Seite und fiel endlich in Schlaf.
ANHANG Glossar ABTEIEN, die: Theokratische Struktur der Kanda-Konföderation, bestehend aus der Republik Metz im Westen und der Otwah-Liga im Osten. Jede Abtei hat eine militärisch-politische Infrastruktur. Der Abteirat hat etwa die gleiche Funktion wie das Oberhaus im englischen Parlament des 18. Jahrhunderts und alle wissenschaftlichen und religiösen Angelegenheiten in der Hand. BATWAH: Die Lingua franca der Kaufleute; eine Kunstsprache, die rund um die Inlandsee und stellenweise viel weiter gebräuchlich ist. BUFFER: Riesiges Wildrind, vermutlich eine Mutation aus dem Bison, das jahreszeitlich in großen Herden den Westen von Kanda durchwandert. CHESPEK: Kleines Königreich am Lantikmeer, bald mit Dalwah verbündet, bald mit seinem Nachbarn zerstritten. DALWAH: Größter und fortschrittlichster Staat an der Ostküste des Lantiks. Ein Königreich mit gemäßigter Diktatur, in dem der Untertan wenig Rechte hat. Ein sektiererischer Zweig der Universalkirche ist hier verbreitet. DAMMVOLK: Nagetiere mit amphibischer Lebensweise, die fast menschliche Intelligenz und mehr als menschliches Körpergewicht aufweisen und die an den von ihnen geschaffenen Stauseen in der Republik Metz leben. Zum Menschen besteht ein Verhältnis gegenseitiger Duldung. Vermutlich handelt es sich um mutierte Biber. DAVIDSJÜNGER: Mumanen), die
Monotheistische sich von der
Religion (ähnlich den Universalkirche deutlich
unterscheidet und nach eigenen Angaben viel älter ist. Hauptsächliche Verbreitung in Dalwah und Chespek, und zwar in allen Gesellschaftsschichten. (Vgl. Mumanen) DUNKLE BRUDERSCHAFT: So bezeichnen sich die Meister der Unreinen. Die Verwendung des Wortes »dunkel« deutet darauf hin, daß sie die Macht über die Welt anstreben und insbesondere auf der Seite des Bösen stehn und sich mit Greueltaten hervortun. Der echte Satanismus des 20. Jahrhunderts wäre eine Entsprechung. (Vgl. Zirkel, Unreine.) ELFER: Die Bruderschaft des Elften Gebotes (»Du sollst nicht vernichten die Erde oder das Leben, das sie trägt«). Entstanden aus einer Gruppe von Soziologen, die sich nach dem Tod zusammenschlössen, um die menschliche Kultur, die Liebe zu allem Leben und das Wissen darüber zu bewahren. Die Bruderschaft ist in allen Gesellschaftsschichten vertreten und kämpft, obschon sie Gewalt ablehnt, gegen die Unreinen, wobei sie oft im Verborgenen vorgeht. ELLK: Das wichtigste Reit- und Zugtier (obwohl für letzteren Zweck nur minderwertige Tiere in Frage kommen) der Republik Metz, wo es zuerst gezüchtet worden und am verbreitetsten ist, und der Otwah-Liga. Eine große, intelligente Form des einstigen amerikanischen Elchs, dem Riesen der Hirschfamilie. (Schon im alten Skandinavien wurden, wenn auch recht selten, Elche zum Reit- und Zugtier abgerichtet.) GLITH: Eine neue Lemut-Form, von den Unreinen vielleicht aus einem Reptil gezüchtet. Es hat annähernd menschliche Gestalt, Schuppenhaut und große Körperkraft und ist den Dunklen Meistern hörig. GRENZSCHUTZ: Die Armee der Republik Metz. Die Otwah-Liga unterhält eine ähnliche Streitmacht. Es gibt 16 Legionen, selbstverwaltete Einheiten in der Republik Metz. Sie unterstehen nicht dem Reich, sondern dem Abteirat, der stets das Unterhaus (Volksversammlung) über seine Beschlüsse in Kenntnis setzt, die
dann ausnahmslos gebilligt werden. Im Normalfall sind die Offiziere des Grenzschutzes Priester. GROKON: Riesenhafter Nachfahre des Wildschweins aus der Zeit vor dem »Tod«; lebt in den nördlichen Wäldern. Sein Fleisch ist sehr begehrt, doch ist die Jagd gefährlich, da es schlau ist und als ausgewachsenes Tier die Größe des ausgestorbenen Hausrinds erreicht. HÜPFER: Riesenhafte Beuteltiere, bis auf die Größe ähnlich dem alten Känguruh Australiens. Gewiß wurden sie aus mutierten Überlebenden, die während des »Todes« aus zoologischen Gärten entflohen, gezüchtet. Sie sind das Reittier von Dalwah und den angrenzenden Gebieten. INLANDSEE: Das große Süßwassermeer, aus einer Verschmelzung der einstigen »Großen Seen« entstanden, das ungefähr die gleiche Fläche bedeckt. Das Binnenmeer weist viele Inseln auf, ist aber zum großen Teil noch nicht kartografisch erfaßt. Zahlreiche alte Stadtruinen säumen seine Küsten. Es herrscht reger, jedoch von Piraterie beeinträchtigter Seehandel. KANDA: Das Gebiet des einstigen Kanada hat seinen Namen fast unverändert beibehalten, obschon es in Hieros Zeit zu großen Teilen aus unerforschter Wildnis besteht, abgesehen natürlich von der zentral gelegenen Republik Metz und der Otwah-Liga im Westen bzw. Osten. KAW: Ein Trag- und Zugtier, das südlich der Inlandsee sowohl in der Landwirtschaft als auch zur Fleischgewinnung verwendet wird. Es ähnelt dem einstigen Wasserbüffel und stammt vermutlich fast unverändert von irgendeiner damaligen Rinderrasse ab. KINDER DES NACHTWINDS: Eine intelligente, aufrecht gehende Spezies mutierter, menschengroßer Katzen, die ungeheuer schnell laufen können. Von den Unreinen als Kriegerrasse gezüchtet, gelang ihnen die Flucht in ein fernes
Land, wo sie seßhaft wurden. Diese stolzen, lebhaften Wesen sind keineswegs Lemuts. LANTIKMEER: Der Atlantische Ozean mit stark veränderter Westküste. Seit über dreitausend Jahren sind keinerlei transatlantische Kontakte mehr bekannt. LEMUT: Die Bezeichnung für ein Tier oder ein anderes nichtmenschliches Wesen mit menschlicher Intelligenz, das im Dienst der Uhreinen steht. Der Bär Gorm oder das Dammvolk fielen also nicht unter diesen Begriff. Das Wort ist aus »letale Mutation« entstanden, worunter ursprünglich ein Tier verstanden wurde, das aufgrund seiner 'Mutation unter natürlichen Bedingungen nicht lebens- und fortpflanzungsfähig ist. Die Bedeutung hat sich dahingehend geändert, daß »letal« nun »gefährlich für den normalen Menschen«, beziehungsweise »gefährlich für jede nichtmutierte Lebensform« bezeichnet. Es werden laufend neue Arten entdeckt (wie etwa die Froschwesen, denen Hiero begegnet ist). Natürlich sind nicht alle neuentdeckten Lebensformen Lemuts. LOWAN: Ein unheimlich großer, nicht flugfähiger Schwimm- und Tauchvogel, der sich von Fischen ernährt und in entlegenen Gebieten der Inlandsee lebt. Der sehr scheue Lowan hat wenige natürliche Feinde, da ein ausgewachsenes Tier bis zu 25 Meter lang und entsprechend schwer wird. Er kommt sehr selten vor und wird vielerorts für ein reines Fabelwesen gehalten. LUZIN: Eine in den Abteien verwendete Droge, um die Geisteskräfte bei Priestern und Adepten zu erhöhen, insbesondere aber besseren Gedankenkontakt zu ermöglichen. Wirkt bei entsprechender Dosierung auch beruhigend und einschläfernd. MANOUN (oder TOTE INSEL): Ein felsiges Eiland im mittleren nördlichen Teil der Inlandsee, auf dem Hiero gefangengehalten wurde. Wichtiger Stützpunkt des Blauen Zirkels der Dunklen Bruderschaft.
MENSCHENRATTEN: Mannsgroße Nagetiere von großer Intelligenz. Diese grausamen Lemuts werden von den Unreinen häufig als Kämpfer eingesetzt. Es handelt sich vermutlich um eine Mutation von Rattus norvegicus; abgesehen von Gehirnmassen und Körpergröße gleichen sie der ehemaligen Wanderratte. METZ: Die vorherrschende Menschenrasse von Kanda. Der Name stammt vom alten Wort Mestize, womit früher ein Mischling zwischen Weißen und Indianern bezeichnet wurde. Verglichen mit anderen Rassen überlebten weitaus mehr Metz den »Tod«, da sie isoliert in ländlichen Siedlungen und entlegenen Gebieten lebten. So fielen verhältnismäßig wenige den atomaren und biologischen Vernichtungswaffen zum Opfer. Die Metz der Otwah-Liga sind oft von hellerer Hautfarbe, da der weiße Erbanteil höher ist. MUMANEN: Nichtchristliche, nicht-kirchliche Anhänger eines eigenen Monotheismus, offenbar ausschließlich in Dalwah verbreitet. Die Mumanen sind hauptsächlich Viehzüchter und leben in den westlichen Prärien des Königreichs. (Vgl. Davidsjünger) NAMCUSH: Westlich gelegener Hafen der Inlandsee Handel, in dem allerdings auch das Verbrechen Sklavenjäger und Piraten dort bevorzugt ihre Beute Sowohl die Abteien als auch die Unreinen bedienen Stadt, um sich durch Spione gegenseitig zu bespitzeln.
mit regem blüht, da veräußern. sich dieser
NEEYANA: Der größte Hafen in der südöstlichen Inlandsee. Obgleich legitimer Warenumschlagplatz, befindet sich die Stadt fest in der Hand der Unreinen. Das Hauptquartier des Gelben Zirkels der Dunklen Bruderschaft liegt unter ihr. Nichts in ihr entgeht dem Einfluß des Bösen. (Vermutlich aus »Indiana« entstanden). OTWAH-LIGA: Der östliche Bundesstaat der Republik Metz. Die Liga, benannt nach dem alten Ottawa, ist flächenmäßig kleiner als die Republik, von der es durch einen breiten Streifen Wildnis und
Taig getrennt ist, durch den nur wenige Wege führen. Dennoch pflegt man den Kontakt, zumal ein einheitliches Abteiensystem herrscht, das in der Liga die gleiche Funktion ausübt wie in der Republik. PALUD: Riesiges Sumpfgebiet an der Nordküste der Inlandsee. Der Palud wird sogar von den Unreinen gemieden. In dem weiten, unwegsamen Moorland existieren viele fremdartige Lebensformen, die anderswo nicht zu finden sind. Oft wird von schweren Fieberkrankheiten befallen, wer sich in ihn vorwagt. Seine genaue Ausdehnung ist kaum erforscht. PER: Entstanden aus »Pater«. Anrede für einen Priester der Universalkirche von Kanda. POROS: Riesenhafter Pflanzenfresser der südlichen Wälder mit vier Stoßzähnen; erreicht sechs Meter Schulterhöhe. Abstammung unbekannt. SCHLANGENKOPFE: Riesenhafte Reptilien, die in kleinen Gruppen tief in den südlichen Wäldern leben. Sie ernähren sich bevorzugt von weichem Kraut und Obst, fressen aber auch Aas und alles Lebendige, was nicht zu schnell für sie ist. Sie haben Ähnlichkeit mit einem zweibeinigen Dinosaurier, aber stammen natürlich von einem kleineren Reptil aus der Zeit vor dem »Tod« ab. SCHNAPPER: Die kaum veränderte Schnapperschildkröte, doch inzwischen mannsgroß und entsprechend lang. Der Schnapper ist eine weitverbreitete Plage aller größeren Gewässer, denn er ist höchst-angriffslustig und nahezu unverwundbar. TAIG: Der große Nadelwald von Kanda, ähnlich jenem aus dem 20. Jahrhundert; inzwischen kommen in der Taig viel mehr Laubbäume und sogar einige Palmen vor. Die Bäume werden viel höher als früher, sind jedoch nicht annähernd mit den Urwaldriesen im Süden zu vergleichen.
TOD oder HEISSER TOD: Die atomare und bakterielle Verheerung, die vor ein paar Jahrtausenden die wichtigsten Siedlungen und einen Großteil der Menschheit vernichtet hat. Selbst zu Hieros Zeit noch ein Wort des Grauens. »Alles Böse kam mit dem Tod« lautet eine Redensart. TODESHIRSCH: Ein Ungetüm, das in den südlichen Todeswüsten vorkommt, aber sehr selten ist. Die Abstammung dieser gräßlichen Mutation ist unbekannt. Das Raubtier hat Klauen und Hörner. TODESWÜSTEN: Atomar verseuchte Gebiete, wasserarm und vegetationslos oder spärlich bewachsen. Dennoch existieren dort gefährliche, grausige Lebensformen, die sich unter harter Strahlung und härtesten Auslesebedingungen entwickelt haben. Manche Todeswüsten sind aberhundert Quadratkilometer groß; zu Hieros Zeit werden sie gemieden wie die Pest. In Kanda gibt es wenige, aber im Süden sind sie häufig anzutreffen. Die schlimmsten erkennt man nachts an ihrem bläulichen, radioaktiven Glimmen. UNIVERSALKIRCHE VON KANDA: Die Staatsreligion der Republik Metz und Otwah-Liga. Eine Mischung der verschiedenen christlichen Bekenntnisse, besonders geprägt von der Römisch-Katholischen Tradition, obschon zu Rom schon seit Jahrtausenden keine Kontakte mehr bestehen. Der Zölibat ist wie andere Glaubensinhalte der alten Kirche längst abgeschafft. Eine verwandte Sekte mit jedoch deutlich entarteten Zügen ist die Staatsreligion der Ostküstenstaaten wie zum Beispiel Dalwah. UNREINEN, die: Ein allgemeines Wort für die Dunkle Bruderschaft, ihre Diener und Bundesgenossen und alle anderen, intelligent gesteuerten Lebensformen, die die normale Menschheit zu vernichten und Recht und Ordnung dem Joch des Bösen zu unterwerfen suchen. VIERZIG SYMBOLE: Die winzigen, holzgeschnitzten Zeichen, die ein ausgebildeter Priester-Exorzist stets bei sich trägt. Indem
er (oder sie, da es auch sehr befähigte Priesterinnen gibt) sich in Trance versetzt, läßt sich anhand der Symbole zu einem gewissen Grad die Zukunft voraussehen. VOLLKÄMPFER: Ein bestens ausgebildeter Krieger der Republik Metz, der ein (großteils psychologisches) Intensivtraining in der Kriegskunst und Handhabung aller gängigen Waffen absolviert hat. Vollkämpfer werden automatisch Offiziere im Grenzschutz, mitunter aber auch als Waldläufer und für Sonderaufgaben der Abteien eingesetzt. Selten sind sie wie Hiero daneben noch Priester und Exorzisten. Diese Kombination von Fähigkeiten ist sehr gefragt, kommt aber nicht häufig vor. WERBÄR: Eine wenig bekannte Lemut-Art. Eigentlich gar kein Bär, sondern ein gräßliches, räuberisches Nachttier mit spärlichem Fell und seltsamen geistigen Kräften, mit denen es die Beute ins Verderben lockt. Wurde bisher nur wenige Male flüchtig gesehen. Obschon sie zu den Unreinen gehören, sind sie wohl eher ihre Bundesgenossen als ihre Sklaven. Ihre Herkunft ist unbekannt. Zum Glück sind sie äußerst selten. ZIRKEL: Die nach Farben benannten Verwaltungsbezirke der Unreinen und ihrer Meister der Dunklen Bruderschaft. Auf seiner Reise nach Süden und Osten gelangte Hiero durch drei davon, nämlich den Roten, Blauen und Gelben. Bis dahin war über ihre Existenz nichts bekannt. ZOTTELHEULER: Eine der verbreitetsten und gefährlichsten Lemut-Arten. Große, schwanzlose Primaten mit zottigem Fell; die intelligenten Wesen werden von den Unreinen zum Kriegsdienst herangezogen. Sie hassen alle Menschen außer ihren Meistern der Dunklen Bruderschaft. Sie sehen gewissermaßen wie ein Riesenpavian aus und gehen aufrecht.