Kai Engelke
Der Totdenker
Roman
1. Auflage 2005
ISBN 3-934927-61-0
© Leda-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten
Leda-Verlag, Kolonistenweg 24, D-26789 Leer
[email protected]
www.leda-verlag.de
Lektorat: Maeve Carels
Satz: Heike Gerdes
Titelgestaltung: Andreas Herrmann
Druck: Bariet, Ruinen
Printed in EU
DAS BUCH: Was der Ich-Erzähler, der relativ erfolglose Schriftsteller und Journalist Karl Urban (48), am Anfang noch für Zufälle hält, verdichtet sich für ihn langsam zur Gewissheit: Er ist davon überzeugt, allein durch seine Imagination die Dinge verändern zu können. Im Verlauf eines geschilderten Jahres im Leben des Karl Urban bildet er sich sogar ein, in der Lage zu sein, allein mit der Kraft seiner Gedanken zu töten. Er sucht nach Beweisen und so beginnt er eine Reihe höchst fragwürdiger Experimente. Im gleichen Maße, wie er sich in seine abseitige Gedankenwelt hineinsteigert, entfremdet er sich seiner Familie, Freundschaften zerbrechen, sein soziales Umfeld gerät aus den Fugen. Urban wird für sich und seine Umwelt immer mehr zur Gefahr. DER AUTOR: Kai Engelke, geb. 1946 in Göttingen, aufgewachsen in Hildesheim, Berlin und Wyk auf Föhr, Internatsschüler in Marburg/Lahn, Abitur in Gießen, Redaktionsvolontariat bei dpa in Frankfurt/Main, Pädagogikstudium in Hildesheim; bisher 26 Einzelveröffentlichungen bzw. Herausgaben, zwei CDs, Beiträge in mehr als 100 Anthologien sowie in Rundfunk und TV; Leitung der „surwolder literaturgespräche“ von 1981 bis 1988; mehrere Literaturpreise; Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und im Syndikat; künstlerische Leitung der 38. Landesliteraturtage Niedersachsen/Bremen 2001. Letzte Veröffentlichungen: „Blut, Schweiß & Träume“, Boxerroman, (Friedland 2000); „Der Vollzeiterschrecker“, Kriminalgeschichten (Leda-Verlag Leer 2002); „Das Pferd im See.“ Gedichte, Lieder, Erzählungen von Josef Hermann Engelke, herausgegeben von Kai Engelke (Leda-Verlag Leer 2005). Kai Engelke lebt mit seiner Familie als Schriftsteller, Kulturjournalist und (Teilzeit-)Grundschullehrer im Emsland.
Auch wenn die Namen einiger Personen der Zeitgeschichte verwendet wurden, so steht dennoch fest: Dieses ist ein fiktionales Werk! Sämtliche Geschehnisse, sofern sie sich nicht tatsächlich und nachweislich zugetragen haben, sind frei erfunden und entstammen der Phantasie des Autors. Dieses Buch hat Ähnlichkeit mit dem, was zuweilen die reale Welt genannt wird, ohne jedoch dieser genau zu entsprechen.
Meiner Frau Ulrike danke ich für die familiäre Geborgenheit, die es mir ermöglichte, halbwegs unbeschadet in die seelischen Abgründe eines Totdenkers hinab zu steigen. Peter Gerdes danke ich für manch guten Rat und für die langjährige kriminelle Kumpanei.
Maeve Carels danke ich für ihre souveräne Lektoratsarbeit, die ich als erfrischend hilfreich und notwendig empfunden habe. K. E.
„Wäre ich mit der Fähigkeit begabt, auf telepathischem Wege zu morden, es zöge sich eine Schneise des Schreckens rund um den Erdball.“ (Robert Gernhardt)
1
Nach allem, was bisher geschah, hätte ich damit rechnen müssen. Es war doch eigentlich vorhersehbar. Obwohl, von Vorhersehbarkeit will ich in diesem Zusammenhang lieber nicht sprechen, eher von Logik. Ach was, alles Blödsinn! Hilflose Erklärungsversuche, wo es nichts zu erklären gibt! Georgs Tod ist unfassbar für mich, trotz allem. Er quält mich, macht mich fertig. Wie soll es weitergehen? Was geschieht mit mir? Was soll ich tun? Und vor allem: Wie komme ich hier wieder raus? Sie haben mich gegen meinen Willen hierher gebracht. Ich betone ausdrücklich: Ich bin nicht freiwillig hier! Aber ich werde das Beste daraus machen, das können Sie mir glauben. Zuerst schreibe ich alles auf, um Klarheit zu gewinnen, dann werde ich meine Schlüsse ziehen und dann werden wir weitersehen. Und auch das ist irgendwie typisch: Da stirbt ein Mensch, der einmal mein Freund war, und was tue ich? Ich ergehe mich in Selbstmitleid, rede nur von mir, denke nur an mich. Ich bin schon wie er. Jedenfalls habe ich seinen Tod mit verursacht, das steht außer Frage, das ist eine Tatsache. Dennoch: Niemand wird mir etwas nachweisen können. Aber das ist eher zweitrangig. Ich werde mit dieser Schuld leben müssen. Ich allein. Es ist keine Schuld im juristischen Sinne, aber ich habe ihn umgebracht. Er hätte noch nicht sterben müssen. Jetzt noch nicht. Und vor allem nicht durch mich. Georg ist nicht mehr da, hat sich abgesetzt und mich zurückgelassen mit meinen Qualen. Und es ist ja nicht nur Georg. Es sind auch all die anderen, mit deren Schicksal ich mich herumquälen muss. Ich habe all das nicht so gewollt. Wer
hat mir diese Bürde aufgezwungen? Was habe ich verkehrt gemacht? Was hätte ich anders machen müssen? Was hätte ich denn anders machen können? Die Dinge nahmen ihren Lauf, wie unter Zwang. Ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendjemand mich letztlich zur ausführenden Nebenfigur eines teuflischen Planes degradierte. Aber wer? Wer verfolgt da welches Ziel? Und was soll dieser Plan? Wieso gerade ich? Schon wieder spreche ich nur von mir. Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich bin ja nun mit mir allein. Christine kann mir jetzt auch nicht mehr helfen. Ich habe sie ohnehin schon viel zu tief in meinen Schlamassel hineingezogen. Und letztlich bin ich es ja, der mit all dem fertig werden muss. Kann ich das überhaupt schaffen? Wird es mich letztlich nicht erdrücken? Wird es mich zerquetschen wie eine lästige Zecke? Noch habe ich Kraft, noch bin ich nicht am Ende. Ich werde kämpfen. Es hätte so schön sein können. Ich stelle mir vor: Ich sitze in meinem Wintergarten, es ist Wochenende, ein paar freie Tage liegen vor mir. Wenn ich meinen Blick schweifen lasse, sehe ich nur Grün. Die Vögel singen, als wollten sie sich bedanken für das Körnerfutter und die Fettringe, die ich ihnen im Winter spendierte. Und das Gebrüll der Rinder hat aufgehört. Vielleicht aus Resignation. Sie brüllen ununterbrochen, wenn der Bauer ihnen die Kälbchen wegnimmt. Sie rufen nach ihren Kindern. Jetzt ruft nur noch ein Tier, die anderen verstummten nach und nach. Haben sie sich in ihr Schicksal gefügt? Wissen sie, dass sie gegen die Macht des Bauern keine Chance haben? Oder vergessen sie irgendwann einfach ihre Kinder? Eine Amsel hüpft über die Obstwiese, trägt einen Wurm im Schnabel. Ich sah sie schon gestern und vorgestern. Jetzt blinkt die Sonne zwischen den Blättern hindurch. Hoch am Himmel dröhnt ein Flugzeug. Das ist die Route von Hamburg nach Amsterdam. Manchmal stelle
ich mir vor, was die Menschen dort oben in diesem Augenblick wohl gerade machen: Manche reden miteinander, viel Geschäftliches, aber natürlich auch Privates, sie trinken Kaffee, Tee oder Coca Cola, sehen sich Trickfilme an oder verfolgen die Flugroute auf einem Monitor, ohne wirklich zu wissen, dass sie gerade das Emsland überfliegen, einige schlafen oder lesen, andere blicken aus dem Fenster, direkt zu mir herunter, einer massiert seine Waden aus Angst vor Thrombose, sein Nachbar hält die Augen geschlossen, aber er schläft nicht, er heckt einen Mordplan aus, die beiden hinter ihm sind frisch verliebt, wollen ein Wochenende in Amsterdam verbringen, ein Mann geht auf die Toilette, ein Kind weint – so kann es doch sein, gerade in diesem Augenblick. Noch einmal blinkt das Flugzeug silbrig in der Sonne, dann ist es nicht mehr zu sehen und auch das Dröhnen verklingt. Im Raum neben mir all meine Bücher. Sie vermitteln mir Sicherheit und Lebendigkeit. Das Paradies habe ich mir immer wie eine Art Bibliothek vorgestellt, soll Jorge Luis Borges einmal gesagt haben. Recht hat er. In der Küche werkelt meine Frau Christine. Aber bitte keine voreiligen Rückschlüsse. Die herkömmliche Rollenverteilung ist bei uns mehr oder weniger aufgehoben. Ich fühle mich für die Küchen- und Hausarbeit mindestens ebenso verantwortlich wie meine Frau. Bin ja schließlich einer aus der viel gerühmten und viel geschmähten 68er-Generation. Im Moment ist sie halt an der Reihe. Unser Sohn Paul ist nahezu erwachsen. Er wohnt schon seit längerer Zeit nicht mehr bei uns. Er studiert in Oldenburg Physik und Chemie. Das sind sicherlich interessante Bereiche, doch mir völlig fremd. Vielleicht braucht er das, um sich abzugrenzen.
Was soll ich Ihnen über mich erzählen? Was wollen Sie wissen? Ich heiße Karl, Karl-Wilhelm Urban. Den Wilhelm lasse ich meistens weg. Nachher kommt noch jemand auf die Idee, Willi zu mir zu sagen. Außerdem heißt mein Nachbar Willi, ich mag ihn nicht besonders. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich Ihnen später erzähle. Ich habe eigentlich zwei Berufe, Journalist und Schriftsteller. Journalist war ich ursprünglich tatsächlich aus Berufung. Solange ich denken kann, wollte ich Reporter werden. Mein Vater war auch Journalist, ein ziemlich guter sogar, ein Könner auf seinem Gebiet. Er starb sehr früh. Vielleicht bin ich damals auch Journalist geworden, um etwas von meinem Vater zu bewahren, am Leben zu halten. Seit ein paar Jahren versuche ich mich als Schriftsteller durchzuschlagen. Nicht gerade einfach, das kann ich Ihnen sagen, vor allen Dingen, wenn man eine Familie hat. Jeder erzählt von den hohen Werten der Literatur, doch bezahlen will niemand dafür. Wahrscheinlich ist Literatur unbezahlbar, wie überhaupt fast jede Kunst unbezahlbar ist. Das wahre Leben, das einzige von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur, sagte Marcel Proust. Und Zoe Jenny formulierte einmal: Die Literatur ist für mich der einzige Ort, wo man nicht lügen kann. Mag ja alles stimmen, hört sich auch ganz gut an, doch der normale Schriftsteller, wobei ich die wenigen Groß-Autoren und die paar schnöseligen PopLiteraten einmal bewusst ausklammere, der ganz normale Schriftsteller kann in der Regel von seiner Arbeit nicht leben, geschweige denn eine Familie ernähren. Und kommen Sie mir nicht mit Qualität! Die hat nachweislich mit dem Erfolg des jeweiligen Autors nichts zu tun. Okay, jedenfalls fast nichts. Schauen Sie sich doch einmal die Machwerke der hochgelobten Stars der Literaturszene an: Ist meistens nichts
als langweiliger Quark! Heiße Luft! Schlecht bis allenfalls durchschnittlich. Man muss halt das Handwerk beherrschen und ein gewisses Quantum Verrücktheit mitbringen. Das ist eigentlich schon alles. Neunundneunzig Prozent Transpiration und ein Prozent Inspiration, so sieht’s doch aus! Ansonsten muss der Autor zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort den richtigen Gesprächspartner treffen. Glück gehört also dazu. Und das ist nun mal nicht jedem beschieden. Ich kenne so viele Kolleginnen und Kollegen, die sind tausendmal besser als mancher der Feuilleton-Lieblinge. Aber sie kommen dennoch über einen gewissen regionalen Bekanntheitsgrad nicht hinaus. Ich will ja nicht unbescheiden erscheinen, aber zu denen zähle ich mich auch. Na ja. Mit diesem Zustand muss man sich ja nicht für alle Ewigkeit abfinden, aber für den Moment akzeptieren muss man ihn schon. Sonst verbittert man. Aber ich will Sie nicht mit meinen berufsspezifischen Problematiken langweilen. Die Literatur hat mir auch etwas ganz Besonderes gebracht, nämlich meine Frau Christine. Ich lernte sie während einer Lesung kennen. Sie war damals noch Studentin. Sie fiel mir sofort auf mit ihren langen, blonden Haaren und dem ebenmäßig geschnittenen Gesicht. Als sie nach der Lesung nach vorne ging, um sich ein Buch signieren zu lassen, bewunderte ich ihre Figur, faszinierte mich ihre ganze Erscheinung. Ich konnte den Blick kaum von ihr wenden. Seit dieser Zeit sind wir unzertrennlich. Christine ist Lehrerin und wurde im Anschluss an ihr Studium nach Papenburg ins Emsland versetzt. Ich bin mit ihr gegangen. Für mich als Autor ist es ja ziemlich egal, wo ich lebe. Vielleicht ist die ländliche Region sogar eher positiv, die Provinz birgt eine Fülle von Möglichkeiten. Ein unbestelltes Feld. Ich bin jetzt achtundvierzig Jahre alt, etwas übergewichtig zwar, aber ansonsten fühle ich mich noch ganz fit. Meine Ehe ist
glücklich. Natürlich hatten wir unsere Krisen, ziemlich heftige sogar, und das ist ja auch irgendwie ganz normal. Doch wir haben das schlingernde Schiff unserer Partnerschaft letztlich doch immer wieder in ruhigere Gewässer manövrieren können, Christine und ich. Nein, wirklich, uns geht es gut. Das heißt: Es könnte uns wirklich gut gehen, wären da nicht Georg und all die anderen, deren Tod mir schwer auf der Seele liegt. Mehr, als meine Frau ahnt. Ich erzähle ihr nicht viel von dieser Seite meiner Existenz, ich will sie nicht zusätzlich belasten. Sie hört mir zwar dann und wann zu und nimmt mich auch ernst, doch zum Schluss sagt sie immer: „Das bildest du dir ein. Das gibt es doch gar nicht. Du musst nicht immer alles auf dich beziehen. Wahrscheinlich gibt es ganz einfache Erklärungen, die mit dir nicht das Geringste zu tun haben.“ Aber was soll ich denn machen? Ich weiß ja genau, dass es doch etwas mit mir zu tun hat. Ich weiß es eben. Wer, außer mir, kann das wissen? Ich habe es ja erfahren müssen. Vor einiger Zeit hat sie mir sogar geraten, eine Therapie zu machen, einen Seelenklempner zu Rate zu ziehen. Aber wozu denn? Ich kenne doch die Zusammenhänge. Ich müsste ihm alles erklären, und der würde sowieso nichts verstehen. Meine speziellen Probleme kommen in psychologischen Lehrbüchern nicht vor. Muss ich mir Vorwürfe machen? Womöglich geht es denen jetzt besser, viel besser als mir sogar. Wer weiß? Der Tod ist unvermeidlich, unwiderruflich, unerbittlich, zeit- und grenzenlos. Der Tod kann Erlösung sein, nicht nur für Kranke und Alte. Vielleicht oder sogar wahrscheinlich kann der Tod auch das Ziel sein. Natürlich: Der Tod ist das Ziel unseres Lebens. Von daher – das erscheint mir logisch – ist der Tod, nämlich die Trennung von Körper und Seele, der heiligste Moment im Leben eines jeden Menschen. Nicht, dass Sie denken, ich wäre
ein gläubiger Mensch. Nein, das bin ich nicht. Aber dennoch: Man macht sich halt so seine Gedanken. Manchmal schleichen sich Vorstellungen in meinen Kopf, die machen mir richtig Angst, da muss ich mich ungeheuer anstrengen, um sie wieder loszuwerden. Haben Sie schon einmal ein Messer betrachtet, natürlich haben Sie das, ich meine so eins mit einer langen, scharf geschliffenen Klinge, vielleicht in der Küche oder im Garten beim Grillen, während zur gleichen Zeit Ihre Partnerin oder Ihr Freund Ihnen den Rücken zudrehte, möglicherweise, weil sie Kartoffeln schälte oder er die Würstchen umdrehte, und haben Sie dabei diese hypnotische Wirkung des Messers gespürt, wie es Sie förmlich aufforderte, es augenblicklich in die Hand zu nehmen, um – ich mag es gar nicht aussprechen… na ja, um es… Jedenfalls müssen Sie sich mit größter Willensanstrengung zusammenreißen, ihr das Messer nicht mit aller Kraft in den Rücken zu stoßen, ihn nicht hinterrücks brutal zu erdolchen. Was hat Ihre Partnerin Ihnen angetan, dass Sie solche hasserfüllten Gedanken empfinden? Nichts? Und hat Ihr Freund wirklich einen solch erniedrigenden Tod verdient? Nein, natürlich nicht! Und dennoch: Dieser Aufforderungsschrei des Messers klingt in Ihren Ohren: Nimm mich und stich zu! Dieser Aufforderungsschrei ist Realität, Sie können sich ihm nicht entziehen. Woher kommt er, dieser Schrei? Aus einem kranken Hirn? Diese Erklärung wäre zu einfach, es sei denn, Sie erklärten neunzig Prozent der Menschheit für geistesgestört. Sie sollten sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen, allein schon, um es zu beherrschen, sich von ihm nicht überrumpeln zu lassen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir. Ich weiß, wovon ich rede. Bei mir persönlich liegen die Dinge sogar noch etwas komplizierter. Ich benötige nämlich kein Messer, um Jemanden vom Leben zum Tode zu befördern. Bei mir ist das
nämlich so… – Wie soll ich es Ihnen erklären, dass Sie mich nicht von Anfang an für völlig übergeschnappt halten? Es ist wirklich nicht einfach, das können Sie mir glauben. Ich will es einmal so formulieren: Einzig und allein der Tatsache, dass ich ein absolut willensstarker und disziplinierter Charakter bin, verdanken viele Menschen meiner Umgebung ihr Leben. Das sollte vorerst genügen. Vielleicht, nein, sogar bestimmt, erzähle ich Ihnen später Genaueres.
Kürzlich las ich von einem Wissenschaftler, dessen erklärtes Lebensziel es war, den Menschen das ewige Leben, die Unsterblichkeit zu verschaffen. Was für eine Horrorvorstellung! Ewiges Leben! Das wäre ja entsetzlich! Nie käme man zur Ruhe, und über kurz oder lang wäre die Erde gnadenlos übervölkert, es wäre nicht genügend Platz für alle da, von der Nahrung einmal ganz zu schweigen, Kranke würden endlos leiden, Alte mutierten zu Zombies – nur ein wirres Hirn kann sich so etwas ausdenken. Nein, nein, der Tod ist das Ziel, der Tod ist die Erlösung, der Tod ist gnädig. Oder sind das letztlich doch wieder nur Rechtfertigungsversuche eines Schuldigen? Ich weiß es nicht, und wenn ich ehrlich bin, will ich es auch gar nicht mehr wissen. Jedenfalls tut mir die Vorstellung gut, dass Georg und all die anderen jetzt am Ziel sind. Und vielleicht ist dieses Ziel ja der Beginn eines neuen Weges. Eine neue Chance. Wer weiß das schon? Und ich habe sie ihnen ermöglicht. … und die Liebe ist unsterblich und der Tod nur ein Horizont und der Horizont nur die Grenze unseres Blickes. Hab ich neulich irgendwo gelesen. Klingt doch gut, oder? Andererseits ist es anmaßend von mir festzulegen, was gut für Georg ist und was nicht. Das hätte er doch selbst bestimmen müssen. Aber so wie es nun einmal gekommen ist,
so habe ich es ja auch nicht gewollt, wirklich nicht. Georg Gollwitz war mein Freund. Das weiß jeder, der uns kennt. Natürlich, bekannt war auch, dass wir uns häufiger stritten. Ziemlich heftig sogar. Aber das hat uns auch Spaß gemacht, wirklich. Meine Frau nannte unsere Kabbeleien immer Hahnenkämpfe, sie mochte es nicht, wenn wir stritten. Es nervte sie. Es waren sportliche Wettkämpfe. Wer ist der Stärkere? Wer behält die Oberhand? Wer gewinnt am Schluss? Und was immer wesentlich war: Wir konnten beide zurückstecken, wenn wir merkten, dass der andere im Recht war, dass der andere über die besseren Argumente verfügte. Das kann auch nicht jeder. Außerdem kann es nur vorwärts gehen, wenn man sich aneinander reibt, wenn man darüber hinaus bereit ist, Neues anzunehmen, auch Ungewohntes, vielleicht sogar Unerfreuliches oder Unbequemes. Ja, unsere Meinungsverschiedenheiten brachten uns voran, irgendwie. Aber in den vergangenen Jahren hatte Georg sich verändert. Er redete immer häufiger nur noch von sich, interessierte sich nicht mehr für meine Arbeit, beharrte auf seinen Standpunkten, er blieb halt an einem Punkt stehen. Er war kaum noch bereit, sich zu bewegen. Damit brach er letztendlich unsere stille und bewährte Übereinkunft, er führte unseren Kampfstil ad absurdum. Unsere Streits kosteten nur noch Kraft, aber sie brachten uns nicht mehr weiter. Es ergab kaum noch einen Sinn, sich mit ihm zu streiten. Aber er hörte nicht auf. Manchmal hatte ich den Eindruck, Georg argumentierte nur noch aus Prinzip gegen mich, nicht aus sachlicher Überzeugung. Vertrat ich eine Meinung, so war Georg bemüht, mir einzureden, dass ich völlig danebenlag. Spaßeshalber vertrat ich einmal etwas gegen meine eigene Überzeugung und prompt polemisierte er heftig dagegen. Es konnte passieren, dass er am nächsten Tag genau das Gegenteil sagte, vorausgesetzt, ich äußerte seine Meinung vom Tag zuvor. Ich
weiß nicht, ob er es nicht merkte oder aber mich einfach nur ärgern wollte. Es ist so unnötig. Man kann seine Kräfte doch für sinnvollere Dinge verwenden. Er konnte sehr verletzend sein. Ich gebe zu, dass ich zuweilen auch nicht davor zurückschreckte, ihn unfair, quasi unter der Gürtellinie, zu attackieren. Ich kannte seine Schwachstellen, seine wunden Punkte zur Genüge. Es war wie in der Kindheit: Aus Spaß wurde Ernst. Aber da war nun einmal keine Mutter, die sagte: „Nun hört mal auf, Jungs! Spielt etwas anderes!“ oder „Karl, komm sofort ins Haus, und du, Georg, gehst für heute am besten mal nach Hause!“ Niemand setzte uns eine Grenze und so eskalierte die Sache wohl. Ich habe das nicht gewollt. Jedenfalls nicht so, wie es nun gekommen ist, wirklich, das müssen Sie mir glauben. Georg war doch mein Freund! Und es gab ja tatsächlich auch andere Zeiten. Was hatten wir früher für Spaß miteinander! Einmal feierten wir ein rauschendes Fest, nur wir beide. Zuerst kochten wir gemeinsam, aßen zusammen, aber richtig mit Stil, weißes Tischtuch, Servietten, gute Gläser, mehrere Gänge, erzählten uns Geschichten. Im Laufe des Abends tranken wir, außer Wein, eine ganze Flasche Artischockenlikör, ein Teufelszeug! Hörten Rock’n’Roll dabei, aber richtig laut, die Stereo-Anlage bis zum Anschlag aufgedreht, Link Wray, Robert Gordon, die Stray Cats. Dann tanzten wir wie wild durch die ganze Wohnung und grölten die Songs mit, bis sich schließlich die Nachbarn über unseren Lärm beschwerten. Über jeden Blödsinn konnten wir lachen, aber auch ganz ernsthafte Gespräche führen. Damals konnte er noch zuhören. Später interessierte er sich ja nur noch für sich selbst. Ich habe ihn übrigens als Künstler durchaus bewundert. Eine Zeitlang dachte ich, diese Liedermacherei sei doch längst
Vergangenheit! Wer will das Geklampfe und diese ewig gut gemeinten Texte denn noch hören? Der Baum ist mein Freund – fiderallala, Kriege sind doof – tirallala, alle Politiker sind blöd – hoppsassa! Das ist doch alles 70er-Jahre-Kram, Anachronismus pur! Doch damit tat ich Georg Unrecht. Er hatte nämlich noch viel mehr drauf als Ringelreihenklänge und Zeigefingerpoesie. Er war ein richtig guter Varietekünstler, trug, in Lumpen gekleidet, Francois-Villon-Balladen vor – „Ich bin Franzose, was mich bitter kränkt, geboren in Paris, das bei Pontoise liegt, an einem klafterlangen Strick gehenkt, und spür am Hals, wie schwer mein Hintern wiegt.“ Herrlich! Er bewahrte durch ungezählte Konzerte das originale Liedgut seiner oberhessischen Heimat – er kommt ja ursprünglich aus Marburg – vor dem Hinabsinken in die Vergessenheit, vertonte Texte von Bertolt Brecht, Charles Bukowski, Erich Fried und Wolf Wondratschek und stellte fast im Jahresrhythmus ein neues Literatur- und Musikprogramm auf die Bühne. Nein, nein, in dieser Beziehung lasse ich wirklich nichts auf ihn kommen. Er war ein Künstler und nicht der schlechteste. Leider gelang ihm nie der ganz große Durchbruch, der überregionale Erfolg. Irgendwie stand er immer in der zweiten Reihe. Und genau das war sein Problem. Ständig hatte er das Gefühl, benachteiligt zu sein, nicht das zu bekommen, was ihm eigentlich zusteht. Das machte ihn bissig, gereizt, wohl auch verbittert. Na ja, und dann die Frauen. Georg hatte zwar regelmäßig seine Liebschaften, heute hier – morgen dort, doch lange hielt das nie. Er war halt ein Vagant, ein fahrender Sänger. Aber tief in seinem Innern, da schlummerte eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Wärme, nach einer Familie. Das weiß ich, das hat er in Nebensätzen mehr als einmal angedeutet, auch wenn er manchmal das Gegenteil behauptete.
Seltsam, wie schnell man von einem Menschen, der gerade noch da war, in der Vergangenheit spricht. Ob er mich beneidete wegen meiner Familie, wegen meines Hauses im Grünen, wegen meiner Art zu leben? Ich weiß es nicht. Aber es ist wahrscheinlich. Einmal sagte er zu mir: „Du musst dich entscheiden: Entweder du bist Künstler oder aber du bist Familienvater. Beides zusammen geht nicht. Das eine schließt das andere aus. So einfach ist das.“ Ja, so einfach war das. Er hatte halt seine Entscheidung getroffen. Manchmal, wenn er bei uns im Haus am langen Tisch saß, im Kreise meiner Familie, da blühte er richtig auf. Lief förmlich zu Höchstform auf, gab den Alleinunterhalter, brachte alle zum Lachen. Anschließend fuhr er zurück nach Bremen in seine gemietete Wohnung, verbrachte manchen Abend Wein trinkend alleine vor dem Fernsehgerät oder auf der Suche nach ein bisschen menschlicher Nähe in einer der vielen Szenekneipen im Ostertorviertel. Er war privilegiert, aber einsam. Wöchentlich hatte er Kontakte und Begegnungen, die andere vielleicht nur einmal im Leben haben, um später ihren Enkeln immer wieder davon zu erzählen: „Ich hab damals mit Hannes Wader ein Bier getrunken“ oder „Ich plauderte mit Konstantin Wecker nachts um halb zwei an der Hotelbar über Literatur.“ Doch letzten Endes war er immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, und in den entscheidenden Momenten war niemand da, ihn aufzufangen. Deshalb war unsere Freundschaft für ihn von so großer Bedeutung. Und deshalb wurde er schließlich zum Opfer. Zu meinem Opfer.
Draußen scheint noch immer die Sonne. Seit einiger Zeit höre ich Möwen schreien, direkt über unserm Haus. Unermüdlich ziehen sie ihre Kreise, so als seien sie auf der Suche. Meine
Frau entdeckte die Möwen schon lange vor mir. Aber was suchen sie hier, mehr als hundert Kilometer vom Meer entfernt? Ist ihre Anwesenheit ein Zeichen? Mir scheint, da gerät etwas aus den Fugen.
2
Hast du im Ernst geglaubt, Georg, du könntest ungestraft versuchen, meine gesamte Existenz zu gefährden, sie gar der Gefahr der Vernichtung auszusetzen, hast du das wirklich geglaubt, nur, weil es dir gefällt, dich mal eben in mein Leben einzumischen, auf deine zerstörerische Art? Dachtest du tatsächlich, damit kämst du durch? Die einfachsten Regeln der Vernunft hätten dein Leben retten können, du Narr! War es denn meine Schuld, wenn du diese jedermann zugänglichen Gesetze missachtetest? Die Verantwortung lag doch bei dir, bei niemandem sonst.
Erinnerst du dich an unsere gemeinsame Reise nach Cornwall? Ich war auf der Suche nach frischen Impulsen für meine Texte, und du wolltest endlich mal wieder ein paar neue Songs schreiben. Christine fand die Idee gut, dass wir zu zweit einfach mal losfahren, nur wir beide, und auch deine damalige Freundin – hieß sie Evita? – hatte nichts gegen unseren Männerausflug einzuwenden. Old friends on tour. Hoch über dem Meer wanderten wir oberhalb der Felsenküste den legendären Coast-Path entlang. Immer wieder passierten wir senkrecht abfallende Felswände, bedrohliche Steilabhänge, bizarre Schluchten. Entdeckten aber auch idyllische Badebuchten, kleine Sandstrände, völlig menschenleer, hörten den Wind brüllen und die Möwen schreien. Dreißig, vierzig Meter unter uns schlug wütend der Atlantik mit Urgewalt die Wassermassen gegen die Felsen. Um nebeneinander her zu gehen, war der Pfad zu schmal. Du marschiertest vor mir her,
ahnungslos, wie du im Grunde immer ahnungslos warst. So sehe ich es heute. Und dann ging es irgendwann in meinem Kopf wieder los – ein Gedankengewitter, zwanghaft, gewalttätig, geriet mir schnell außer Kontrolle: Stürz ab, Georg! Ein kleiner Fehltritt, nur dreißig Zentimeter zur Seite, mehr ist nicht nötig! Na los, mach schon! Dreißig Zentimeter bis zur Ewigkeit. Der Tod ist nicht Bestrafung, er ist das Ziel, Georg, die Erfüllung! Ich hatte ja damals noch keinen Grund, dich zu töten. Du warst ja mein Freund. Und dann war da noch ein anderer Gedanke, der mir damals häufiger durch den Kopf ging und der jetzt, dort oben, über dem Meer, bruchstückhaft in meinem Hirn wieder auftauchte: Wenn die Besitzlosigkeit, die manche durchgeistigten Menschen anstreben, das Tor zur Erlösung darstellt, dann muss doch in letzter Konsequenz absolut jeglicher Ballast abgeworfen werden, nicht nur der materielle, sondern auch der geistige; dann muss auch der Kopf gereinigt und befreit werden vom Gedankenmüll der Zeit. Und welcher Kopf ist gereinigter und befreiter als ein toter Kopf? Natürlich: Besitz zeigt mir, dass ich existiere. Die Dinge, die mich umgeben, die ich sorgsam aussuchte und während einer langen Zeit zusammentrug – sie sind Teile meiner Persönlichkeit, mit ihrer Hilfe kann ich mich meiner Existenz versichern. Schaut her! Ich bin, wie ich lebe. Aber ist es letztlich nicht armselig, das eigene Dasein ausschließlich an materielle Dinge zu binden? Sollte ich tatsächlich auf mein dürftiges Eigentum angewiesen sein, um überhaupt zu spüren, dass ich auf der Welt bin? Bin ich selbst denn so unbedeutend, dass ich nichts wäre, ohne mein Eigentum? Ist das, was ich habe, schon meine ganze Identität? Niemals! Es ist völlig anders! Ich definiere mich nämlich über mein Bewusstsein!
Kein Zaun, keine, auch nicht die kleinste, Barriere stand zwischen dir und der Tiefe, Georg, zwischen dir und der endgültigen Gedankenbefreiung. Und noch immer stolpertest du vor mir her, ich dicht hinter dir, rechts von uns endlose Schafweiden und links der Abgrund. Wir schwiegen. Das donnernde Tosen des Wassers tief unter uns machte ein Gespräch ohnehin nahezu unmöglich. Von Zeit zu Zeit drehtest du dich zu mir um und zeigtest stumm auf irgendeine Felsformation oder zu einer kleinen Bucht, auf die du meine Blicke lenken wolltest. Das war freundlich von dir. Ein unsicherer Schritt von mir hätte genügt, ich wäre ein kleines Stück nach vorne gestrauchelt, hätte dich angestoßen, so mit einem kaum merklichen Drall schräg nach links – und dann wärst du weg gewesen, Georg. Ein für alle Mal. Aber das ist nicht mein Stil. Ich erledige die Dinge auf elegantere Weise. Oh, Georg, eine Wurzel, da, noch eine und… Jeder nächste Stein kann dein Verhängnis sein, Georg! Oder sollte ich sagen: dein Schicksal, vielleicht auch einfach nur: dein Glück? Mach’s gut, Georg! Ich habe dich nicht berührt, damals, das weißt du, du bist ja selbst mein Zeuge. Jedenfalls war es so, dass du tatsächlich stolpertest, du verlorst das Gleichgewicht. Die Kontrolle über deine Bewegungen kam dir abhanden. Es hatte etwas Lächerliches, wie du da herumhampeltest, es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte laut zu lachen angefangen. Wie eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte, sacktest du zu Boden, versuchtest irgendwo einen Halt zu finden, es gelang dir aber nicht, es gab ja nichts, an dem du dich hättest festhalten können, so rutschtest du über die steinerne Kante des Pfades hinweg, ganz langsam, wie in Slow-Motion, dein Rucksack zog dich nach unten in die Tiefe.
Und dann trafen sich unsere Blicke. Nie werde ich deine Augen vergessen, wie sie gleichermaßen Panik und Unverständnis signalisierten, deine Finger, wie sie sich vergeblich bemühten, sich in den von Tausenden Füßen polierten Stein zu krallen. Ich habe nichts gesagt und du auch nicht. Stand wie angeschraubt und betrachtete das absurde Schauspiel. Plötzlich warst du verschwunden, einfach nicht mehr da. Völlig lautlos abhanden gekommen. Ha! Behutsam streifte ich meinen Rucksack vom Rücken, stellte ihn ab und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Abgrund zu. Dann sah ich dich ein paar Meter tiefer auf einem schmalen Felsvorsprung liegen, unbeweglich, mit verdrehten Gliedern. Der Rucksack hing noch immer an dir, baumelte über dem Abgrund. Später sagte man mir, du habest nur überlebt, weil ich sofort Hilfe herbeigeholt hatte. Du hast also dein Leben mir zu verdanken, Georg. So sagen jedenfalls die Leute. Glaub es nur! Ich weiß es besser. Beherzige meinen Rat: Erlaube niemals den Fakten, die Sicht auf die Wahrheit zu verstellen.
3
Zu der Zeit, als ich Christine kennen lernte, verdiente ich meinen Lebensunterhalt hauptsächlich als freier Mitarbeiter beim Göttinger Anzeiger. Das war ein Job mit vielen Möglichkeiten. Der Chefredakteur mochte mich. Er gewährte mir alle Freiheiten. Ich konnte schreiben, was ich wollte, alles wurde gedruckt. In der Hauptsache belieferte ich das Feuilleton. Ich besuchte Konzerte, Theateraufführungen, schrieb auch über neu erschienene Bücher. Den Daumen nach oben oder unten zu richten, machte mir Spaß. Bald war ich als Kritiker anerkannt und geachtet. Manche fürchteten mich sogar. Als ich den Organisatoren eines Rockkonzerts öffentlich Versagen vorwarf, nachdem es während der Veranstaltung zu massiven Ausschreitungen zwischen Publikum und Ordnungskräften gekommen war, gab es ein riesiges Echo. Die ganze Stadt diskutierte den Fall. Es tobte eine richtige Schlacht mit Gegendarstellungen, offenen Briefen, schließlich sogar einer Podiumsdiskussion mit Vertretern aller Beteiligten. Ähnliches geschah, als ich die Texte eines bekannten Schlagersängers in meiner Zeitung als jugendgefährdend bezeichnete, weil er zur Lösung pubertärer Probleme lediglich kitschige Träume anzubieten hatte. Manchmal schrieb ich auch politische Kommentare. Nachdem ich mehrfach für eine kommunistische Gruppierung Partei ergriffen hatte, deren demokratische Rechte von allen Seiten beschnitten wurden, so sah ich es damals jedenfalls, informierte die Anzeigenabteilung unserer Zeitung den Chefredakteur über einen dramatischen Rückgang der Werbeaufträge. Der Anzeigenchef führte diesen
Umstand auf die Wirkung meiner politischen Artikel zurück. Manche Werbekunden sollen ihm auch direkt signalisiert haben: „Solange der Urban bei euch sein Unwesen treiben darf, solange bekommt ihr von uns nicht einen einzigen Auftrag mehr.“ Mein Chefredakteur sah die Pressefreiheit in Gefahr – redaktionelle Inhalte wegen Werbeanzeigen verändern, so weit kommt es noch… – und ermunterte mich, genauso weiterzuschreiben wie bisher. Das war im Oktober. Am 31. Dezember stellte der Göttinger Anzeiger nach mehr als fünfzig Jahren sein Erscheinen für immer ein. In der allerletzten Ausgabe gab es ein Abschiedsfoto, auf dem die gesamte Redaktionsmannschaft zu sehen war: ich vorne in der Mitte sitzend, die Redaktionssekretärin auf meinem Schoß, links von mir der Chefredakteur, rechts von mir der Sportreporter. Dass der hauptamtlicher Mitarbeiter des Verfassungsschutzes war und mir über einen längeren Zeitraum hinweg mit seinen Spitzelberichten zu schaden versuchte – allerdings vergeblich, wie sich später herausstellte – das wusste ich damals natürlich noch nicht. „Na, hast du es endlich geschafft, deine Zeitung in die Knie zu zwingen?“, fragte meine Freundin Christine augenzwinkernd. Ich fand das nicht so komisch. Ein paar Jahre später, uns hatte es inzwischen schon ins Emsland verschlagen, gründete ich, gemeinsam mit ein paar Mitstreitern, in Papenburg ein alternatives Blättchen mit dem Namen De Spökenkieker. Voller politischem Elan, angereichert mit Idealismus bis unter die Haarwurzeln, wollten wir das Monopol der örtlichen, rechtskonservativen Tageszeitung knacken. Wieder schrieb ich Konzertberichte, Theaterkritiken und Buchrezensionen. Auch den einen oder anderen politischen Kommentar wollte ich mir natürlich nicht verkneifen. Mein Ton war inzwischen zwar leidenschaftlicher,
schärfer geworden, doch die Reaktionen schienen mir verhaltener, leiser als noch vor kurzem in Göttingen. Das mag mit den unterschiedlichen Mentalitäten der Regionen Göttingen und Emsland, sicherlich auch mit dem Stadt-LandGefälle zusammenhängen. An mir lag es jedenfalls nicht. Zuerst liefen die Dinge prima. Die Auflage unserer Zeitung stieg stetig, wir wurden zu einer festen Größe im hiesigen Kulturbetrieb, man beachtete uns, die Leute fragten kurz vor Erscheinen: „Wann kommt endlich der neue Spökenkieker?“ Natürlich finanzierten wir unsere Zeitung mit Werbeanzeigen. Doch als hätten wir den Gipfel überschritten, rollte die Kugel schon bald donnernd talwärts. Die Nachfrage stagnierte eine Weile, ging dann langsam zurück, wir mussten die Auflage senken, was viele Anzeigenkunden veranlasste, ihre Aufträge zurückzuziehen. Und eines Tages stellten wir fest: Es hat keinen Zweck mehr, wir hören besser auf. Der Spökenkieker verschwand wieder aus den Regalen der Buchläden und Kioske. „So langsam“, sagte Christine, „drängt sich mir der Verdacht auf, als habe dieses Desaster mit dir zu tun.“ Natürlich meinte sie es nicht ernst, machte nur Spaß. „Hör bloß auf“, sagte ich und starrte in die hinterste Ecke unseres Gartens, obwohl es dort nichts zu sehen gab, außer ein paar Büschen und den Birken dahinter. Seit ich einen Bleistift halten kann, schreibe ich Gedichte. Ich habe mich auch schon an einen Roman gewagt, doch davon später. Über die Qualität der allerersten Werke (und auch mancher danach) wollen wir lieber nicht reden. Meistens sind die Frühwerke bedeutender Künstler – so sagt man – nur mit viel Wohlwollen zu ertragen. Für die frühen Werke des Karl W. Urban gilt dieses allerdings nicht. Sie sind auch mit viel Wohlwollen kaum zu ertragen. Während der Pubertät und in der Zeit danach war ich kaum noch zu bremsen. Meine
lyrische Produktion war gewaltig. Liebesgedichte en masse, eins zu eins umgesetzt, zu hundert Prozent authentisch, kaum Metaphern, wenig gestaltete Sprache. Ich war schon Ende zwanzig, als ich die Zeit für gekommen hielt, ein paar Literaturzeitschriften mit meinen Elaboraten zu beglücken. Die Reaktionen waren eher ernüchternd. Die meisten Zeitschriften winkten ab, ich lernte die ganze Palette der Standardabsagen kennen: Passt nicht in unser derzeitiges Profil, wir haben ohnehin schon viel zu viel Material, unsere Planung für die nächsten zwei Jahre ist abgeschlossen, wir haben unsere eigenen Autoren – ich gehörte jedenfalls nicht dazu. Umso größer war die Freude, als das eine oder andere Magazin später doch bereit war, das Risiko einzugehen, ein Gedicht des in Literaturkreisen völlig unbekannten Karl W. Urban zu drucken. Doch die nächste Ernüchterung folgte umgehend, nämlich in Form von Verrissen: Nichtssagende Pamphlete, überflüssiges Geschreibsel, Phrasenmäher, Plapperschlange. Er ist der Pickel auf der Nase der deutschen UndergroundLiteratur. Immerhin war ich jetzt Teil der Nase dieser Szene, zu der ich doch so gerne gehören wollte. Und dann bekam ich die Oldenburger Blätter in die Hände, ein Literaturmagazin, von dem ich schon mehr als einmal gehört hatte. Der Herausgeber, ein Drucker mit literarischen Ambitionen, suchte einen zweiten Mitarbeiter. Das war meine Chance. Ich bewarb mich und voller Stolz konnte ich schon in der nächsten Ausgabe im Impressum meinen Namen lesen: Redaktionelle Mitarbeit: Karl W. Urban. Als Journalist hatte ich in der Frankfurter Rundschau, im Berliner Tagesspiegel und in anderen überregionalen Zeitungen veröffentlicht. Doch mit den Oldenburger Blättern war es etwas anderes: Ich berichtete nun nicht über Banküberfälle und Zugunglücke, sondern über Poesie. Das hatte etwas mit Geist zu tun, mit
Hochkultur sozusagen. Und das Schönste war: Ich gehörte zur Redaktion. Vielleicht ahnen Sie schon, worauf das Ganze hinauslief. Zufall oder nicht: Es gab nur eine einzige Ausgabe mit meinem Namen im Impressum der Oldenburger Blätter. Nicht, dass Sie denken, der Herausgeber wäre mit meiner Arbeit unzufrieden gewesen, nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich bekam eine ganze Menge Lob, auch von manchen Lesern. Der Herausgeber teilte mir einfach mit, er habe sich nunmehr entschlossen, das Erscheinen der Oldenburger Blätter nach mehr als vierzig Ausgaben ersatzlos einzustellen. Er hatte halt andere Pläne. Schon war ich meinen Hochkultur-Job wieder los. Und bald reifte in mir die Erkenntnis: Die Poesie ist halt nicht nur ein bunter Schmetterling, sondern auch ein grauer Regenwurm. Und meine Freundin Christine, die inzwischen meine Frau geworden war, frozzelte: „Wenn einem Herausgeber irgendeiner Zeitung die Konkurrenz zu stark wird, dann muss er einfach versuchen, dich bei der Konkurrenz…“ „Tu mir bitte den Gefallen und sprich nicht weiter“, sagte ich. Sie sah mich erstaunt an. So ganz allmählich kam mir die Sache wirklich merkwürdig vor.
4
Ach, Georg, wenn du dieses Trauerspiel hier miterleben könntest! Es würde dir die Kehle zuschnüren, du würdest kaum noch Luft zum Atmen bekommen: vor Lachen oder vor Wut, je nachdem. Viel lieber würde ich mit dir jetzt einen Rotwein trinken und darüber streiten, ob Morning has broken aus der Feder von Cat Stevens stammt oder aber eine uralte gälische Melodie ist. Vielleicht würde ich sagen, natürlich ist der Song von Cat Stevens, das weiß doch jeder! Und du würdest dich lachend über meine vermeintliche Ahnungslosigkeit in Sachen Musik amüsieren, und dann würde ich mich schließlich von dir doch noch überzeugen lassen und gerne zugestehen, dass du im Recht bist. Einmal mehr. So wie es umgekehrt auch oft der Fall war. Und dann warst du auch immer bereit zu sagen Okay, hab ich mich eben geirrt, kann ja vorkommen. Aber es hätte doch so sein können, das musst du auch zugeben… Der Weg bis hin zur endgültigen Klärung, das spielerische Infragestellen der Kompetenz des jeweils anderen, unsere Hänseleien, Wortverdrehungen und Sticheleien – das hat uns doch immer Spaß gemacht. Weshalb – um alles in der Welt – hast du bloß diesen leichten Weg verlassen und hast wirklich zugebissen? Dir musste doch klar sein, dass das nicht gut gehen kann! Du wusstest doch genau, in welche Gefahr du dich begabst! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass du da jetzt in dieser Kiste liegst, kalt, regungslos, leblos, für alle Zeit. Mensch, Georg, das kann doch gar nicht sein! Und diese ganzen Leute hier, die sollen alle etwas mit dir zu tun gehabt haben? Manche sehen so fremd aus. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die mich alle heimlich anstarren. Hinter meinem
Rücken. Wenn ich es nicht sehen kann. Womöglich wissen die ja mehr über mich, als ich ahne. Natürlich habe ich mit deinem Tod zu tun. Das gebe ich ja zu. Aber du auch. Du trägst mindestens die gleiche Schuld wie ich. Und was geht das die hier an? Du bist weg und ich bin noch hier. Mich starren sie an. Und dich heben sie heuchelnd in den Himmel. Allerdings, tauschen möchte ich auch nicht mit dir. Ich möchte schon noch eine Weile hier bleiben, auch wenn manches mir zunehmend aus den Fugen gerät und es den Anschein hat, dass die Dinge mir nach und nach entgleiten, dass ich die Kontrolle verliere. Ich muss mich zusammenreißen, dann bin ich stark. Dann kann ich sogar noch stärker sein als alle anderen. Ich muss meine Fähigkeiten bündeln, dann kann mir kaum noch etwas passieren. Ach, Georg, du Idiot! Genau wie du rede ich nur über mich. Weißt du noch? Treffen sich zwei Freunde und der eine, ein Dichter, quatscht andauernd nur von sich. Als es ihm endlich selbst auffällt, sagt er zu dem anderen: Wir reden die ganze Zeit nur über mich, lass uns doch mal über dich sprechen. Wie gefällt dir eigentlich mein neues Buch? So sind wir doch auch. Sag mal, diesen Pastor, kanntest du den überhaupt? Der redet ja einen Stuss zusammen! Dem Herrn in seinem unergründlichen Ratschluss hat es gefallen, unseren Georg zu sich zu nehmen. Was für ein Blödsinn! Und der Biermann! Wenn du den jetzt sehen könntest. Der ist ja noch viel kleiner, als er im Fernsehen immer aussieht. Vielleicht ist er deswegen so giftig. Ob der Bodyguards hat? Aber eines muss man ihm lassen: Er ist hier, er ist gekommen, dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. So viele andere sehe ich nicht, Leute, die vorgaben, deine Freunde zu sein. Was tut der Biermann jetzt? Der geht nach vorne und fängt an zu singen. Einfach so, ohne Gitarre. Mensch Georg, der singt ein
Abschiedslied für dich, ein jiddisches Lied. Du, ich glaub, ich fang gleich an zu heulen. Was sagt der jetzt? Dem lieben Herrgott mag es ja gefallen haben, Georg aus unserer Mitte zu reißen, mir jedenfalls gefällt es überhaupt nicht. Aber ich bin ja auch nicht der liebe Gott. Mein lieber Schwan, das ist mutig! Das hätte ich mich nicht getraut! Das hätte dir gefallen. Das Gesicht von dem Pastor müsstest du mal sehen! Ach, jetzt haut er ab. Pfaffen, Mäuse, Ratten, Maden Scheiden selten ohne Schaden. Altes deutsches Sprichwort. Georg, du hast mich manchmal bis aufs Blut gereizt, gerade in den letzten Jahren, mehr als früher. Und oft mit Absicht, das unterstelle ich jetzt einfach mal so. Aber unser gemeinsamer Weg, den wir gingen, der bleibt. Es ist bitter, beim Abschied von Menschen zu wissen, dass man über kurz oder lang ohne sie auskommen kann und auch wird. Aber fehlen, Georg, fehlen wirst du mir dennoch.
So stelle ich mir deine Beerdigung vor, Georg. So hätte es doch sein können, oder? Verzeih mir, Georg! Ich weiß, ich sollte so etwas nicht denken. Aber was soll ich denn machen? Es kriecht in meinen Kopf, nistet sich ein, hakt sich fest und ich bekomme es nicht mehr heraus. Und dann schreibe ich es auf, um es loszuwerden. Verzeih mir!
5
„Und denk dran“, sagte meine Mutter immer. Nur: „Und denk dran.“ Das gehörte zu unserem Geheim-Code. Es bedeutete, ich solle nicht vergessen zu beten. Sie hatte – ebenso wie ich – mit der Kirche nicht allzu viel am Hut. Aber manches, was in der Bibel steht, hatte doch eine große Bedeutung für sie. So zitierte sie oft aus der Bergpredigt, und Jesus Christus war ein ganz besonderer Mensch für sie, die mit Abstand wichtigste Figur in der Bibel. Denk dran… Sie vertraute auf die Kraft des Wünschens. Und das keineswegs nur im positiven Sinne. Sie konnte den Menschen auch Böses wünschen. Mehr als einmal erlebte ich, wie sie Menschen verfluchte. Ob sie mit ihren Verwünschungen Erfolg hatte, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, dass sie über ungeheure mentale Energien verfügte. Sie war in der Lage, Menschen kraft ihrer Worte und Gedanken nicht nur zu beeinflussen, sondern auch zu steuern. Eine der größten Anstrengungen, die ich jemals leistete, war es, mich aus dem Bannkreis meiner Mutter zu befreien, um erwachsen zu werden. Bis ins hohe Alter hinein versammelte sie – meist wesentlich jüngere – Menschen um sich, die sie veranlasste, die eigene Gedankenwelt abzuschalten, um dafür vorbehaltlos ihre Gedankenwelt, die Gedankenwelt meiner Mutter, zu übernehmen. Das war durchaus eine Art von Gehirnwäsche. Meine Mutter leerte die Gehirne anderer Menschen und füllte sie mit ihrem eigenen Gedankengut wieder auf. Meine Mutter war in der Lage, Zombies zu erschaffen. Sie war eine Menschenfängerin.
Wenn meine Mutter mir – zu welchem Anlass auch immer – den Daumen drückte, dann war ich sicher, dass es half. Andererseits hatte ich aber auch Angst vor ihren bösen Gedanken. Und die konnte man schnell auslösen, sobald man sich nämlich von ihrer Linie entfernte. Ging es mir schlecht, hatte ich oft den Verdacht, meine Mutter habe ihre Hände im Spiel. „Siehst du“, sagte sie, „ich habe dir gleich gesagt… aber du… du wolltest ja nicht auf mich hören.“ Hatte ich jedoch etwas erreicht, ein Vorhaben verwirklicht oder einmal einfach nur Glück gehabt, dann sagte sie: „Vergiss niemals, das hast du nur mir zu verdanken. Ich habe für dich gewünscht. Ich habe meine Kraft für dich gegeben.“ Das machte mir Angst. Ich sah kaum eine Möglichkeit für mich, etwas aus eigener Kraft zu schaffen. „An mich denkt niemand. Du musst mir auch etwas Kraft zurückgeben, Karl. Wünsche mir Gutes!“ Was habe ich mich für sie konzentriert! Die Hände rechts und links an meine Schläfen gelegt, die Augen fest geschlossen, versuchte ich, gedanklich das Glück für sie herbeizuzwingen. Es ist mir wohl nicht gelungen. Andererseits wäre es ihr ohne meine innere Kraft vielleicht noch viel schlechter ergangen. Womöglich habe ich damals ja doch schon etwas bewirkt mit der Kraft meiner Gedanken. Meine Mutter konnte ein Stück weiter in die Zukunft blicken als die meisten anderen Menschen. Es kam vor, dass sie Vorhersagen machte, die dann auch tatsächlich eintrafen. Sie nannte den Namen eines völlig unbekannten Musikers und sagte: „Der wird bald berühmt.“ Und so geschah es. Oder sie zeigte auf das Foto eines Schauspielers mittleren Alters und prophezeite seinen baldigen Tod, der dann auch prompt eintrat. Einmal behauptete sie steif und fest, ein bestimmter Politiker habe seine Frau umgebracht. Ein paar Monate danach wurde er
verhaftet. Mordverdacht! Das waren allerdings eher Fingerübungen für meine Mutter. Wesentlich bedeutsamer, aber auch anstrengender war es für sie, Menschen aus ihrer direkten Umgebung zu lenken und zu beeinflussen. Wenn sie beispielsweise mir oder meiner Schwester eine Bürde abnahm, so beschwerte sie sich zunächst selbst mit dieser Last – so sagte sie – und hatte anschließend schwer zu kämpfen, diese Last wieder abzuwerfen. Auch wenn sie Gutes für uns bewirkte, kostete sie das körperliche Anstrengungen, die sie nicht selten aufs Krankenlager warfen. Sie war dann völlig ausgepumpt und kraftlos. Dafür erwartete sie Dankbarkeit, die sie in dem Maße, wie sie meinte, dass sie ihr zustünde, natürlich nur selten bekam. Das wiederum führte zu Konflikten, die schon mal in bösen Verwünschungen enden konnten. „Ich weiß es genau“, sagte sie einmal zu mir, „du wirst mich eines Tages umbringen.“ Von diesem Zeitpunkt an hatte ich ständig die Befürchtung, während einer der vielen Auseinandersetzungen mit ihr die Beherrschung zu verlieren und womöglich etwas Unbedachtes, etwas Schreckliches zu tun, etwas, das außerhalb meiner Kontrolle lag. Von Zeit zu Zeit probierte ich meine eigene Gedankenstärke aus. Einmal wünschte ich, dass Christine genau in diesem Augenblick anrufen möge. Das Telefon klingelte, ich ging hin, nahm ab, es war wirklich Christine. Was hat es zu bedeuten, wenn du leise vor dich hin summst Yesterday… schaltest das Radio ein und Paul McCartney beendet die Zeile… all my troubles seemed so far away…? Nur ein Zufall? Als es meiner Schwester, die etwa zweitausend Kilometer entfernt von uns lebt, einmal gesundheitlich sehr schlecht ging, spürte ich das genau. Ich rief sie an und sie schilderte mir eine
mehr als unangenehme Krankheit, unter der sie seit kurzem zu leiden habe. Mit uns ist es manchmal wie bei Zwillingen, die auch über eine große Entfernung gegenseitig spüren können, wenn es dem anderen nicht gut geht. Es gab natürlich auch Rückschläge: Als ich einmal die Augen schloss und mich heftig darauf konzentrierte, dass eine Tasse, sobald ich die Augen wieder öffnete, zehn Zentimeter weiter rechts stehen sollte, da dachte die Tasse nicht im Traum daran, sich auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen. Und dennoch kann ich nicht gänzlich falsch liegen. Immerhin sind die spektakulären Forschungsergebnisse einer Versuchsreihe des amerikanischen Pear-Labors in Princeton nicht völlig von der Hand zu weisen. Zahlreiche Versuchspersonen waren dort nämlich in der Lage, allein durch ihre Willenskraft das Verhalten von Zufallsgeneratoren zu beeinflussen. Als jedoch die gleiche Versuchsreihe in Deutschland wiederholt wurde, konnten die amerikanischen Ergebnisse nicht bestätigt werden. Allerdings ist auch dieses Phänomen bekannt: Je mehr man versucht, parapsychologische Ereignisse mit sogenannten objektiven Methoden nachzuweisen, desto mehr entziehen sie sich den Nachforschungen. Das liegt halt in der Natur dieser Phänomene. Haben Sie schon einmal etwas vom Brain-ComputerInterface (BCI) gehört? Informatiker des Berliner FraunhoferInstituts für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik entwickelten und programmierten das BCI gemeinsam mit Neurologen der Charite. Es geht darum, dass Gelähmte in Zukunft künstliche Gliedmaßen allein mit ihrer Gedankenkraft steuern oder Autofahrer ohne Tritt aufs Pedal ihr Fahrzeug bremsen können. Schon heute ist es möglich, den Cursor auf einem Computerbildschirm allein durch die Energie der Gehirnströme zu bewegen.
In den siebziger Jahren unternahmen US-amerikanische Militärs Experimente, die Kampfpiloten in die Lage versetzen sollten, Flugzeuge per Gedankenkraft zu steuern. Eines ist jedenfalls sicher: Meine eigenen telekinetischen Fähigkeiten bedürfen wohl noch einiger Übung. Sooft es mir möglich ist, gehe ich barfuß. Ich brauche den Kontakt zur Erde. Vor mir liegt ein weiter Weg.
6
Eine ganze Weile verdiente ich meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Konzertberichten und Plattenkritiken. Sex And Drugs And Rock ‘n’ Roll – kennen Sie vielleicht noch, falls Sie so etwa in meinem Alter sind. War in den 70er Jahren ein großer Hit. Ian Dury and the Blockheads, ein kleiner, klotzköpfiger Mann mit verkrüppelten Beinen. Ging immer am Stock. Das kam von der Kinderlähmung. Dury war einer der Helden der britischen Punk-Bewegung. Ein PopAnarchist, der seine Straßenjungenmentalität pflegte und seine körperliche Versehrtheit als Stilelement benutzte. Freund Hinkebein, der Glöckner von Big Ben. Der Dilettantismus des Punks, der in jenen Tagen, nach all der künstlich hochgezüchteten Rock-Theatralik der Jahre zuvor, durchaus seine Berechtigung hatte, war seine Sache dennoch nicht. Dury kreierte ungewöhnliche Melodieführungen, schrieb realitätsnahe Texte, in denen die Zukurzgekommenen die Helden sein durften, und instrumentierte seine Kompositionen vielfältig und abwechslungsreich. Satte Bässe wechselten mit präzisen Schlagzeugpassagen, Saxofone wetteiferten mit Bläsersätzen, Gitarre und Piano setzten zusätzliche Akzente. Und über allem der Sprechgesang des Ian Dury, lieblich bis aggressiv, hypnotisch bis suggestiv. Ian Dury, der Kamikaze-Romantiker, bediente sich hemmungslos im großen Werkzeugkasten der musikalischen Spielarten: Es gab Jazz-Rock-Elemente ebenso wie ReggaeAnleihen, Funk-Soul-Passagen und Rock-’n’-Roll-Parodien der 50er Jahre.
Es muss in den frühen 80er Jahren gewesen sein, als mir, wohl mehr durch Zufall, meine erste Ian-Dury-Platte in die Hände kam: New Boots And Panties. Ich lernte Sex And Drugs And Rock ‘n’ Roll kennen und lieben, ebenso das wunderbare Hit Me With Your Rhythm-Stick und dass herrlich obszöne Wake Up And Make Love With Me, und noch ein paar andere Juwelen, die zwar auch gut, aber nicht so bekannt waren. Ich spielte die LP so lange, bis sie fast nur noch undefinierbare Kratzgeräusche von sich gab. Und dann geschah das Seltsame: Die Platte verschwand. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie verlieh und nicht zurückbekam, vielleicht habe ich sie auch irgendwohin mitgenommen und dort vergessen – jedenfalls war sie weg. Ich sah alle meine fünftausend LPs einzeln durch, es kann ja schon mal vorkommen, dass eine Platte beim Zurückstellen in einem Doppelalbum verschwindet, passionierte Plattensammler wissen, wovon ich spreche. Aber nichts, Ian Dury war und blieb verschwunden. Wollte anscheinend nichts mehr mit mir zu tun haben, verweigerte sich mir. Zur Strafe vergaß ich ihn. Ein paar Jahre lang. Es gab so viele andere Musiken. Er war halt weg und es war mir eine Zeitlang völlig egal. So schien es. Doch dann, das war wohl Ende der 90er Jahre, fand ich bei meinem Plattendealer in Oldenburg ein Doppelalbum, allerdings schon als CD: Reasons To Be Cheerful. Ian Dury war wieder da. Ich trug ihn nach Hause – und war glücklich. Kurzzeitig überstrahlte er all meine in der Zwischenzeit neu zusammengetragenen CD-Schätze. Das war Musik der Spitzenklasse! Sogar im Auto hörte ich die wiedergefundenen Songs. Ständig entdeckte ich Ungewöhnliches, Ungehörtes, Spannendes. „Nun hör dir das mal an“, forderte ich meinen Sohn Paul auf. Wir fuhren auf der Autobahn Richtung Norden, es muss in der Nähe von Heide gewesen sein, und wir schwelgten gemeinsam
in den lange vergessenen und für Paul ganz neuen Klängen des tragikkomischen Rock-Unikats Ian Dury. Es ist ja nicht selbstverständlich, wenn Vater und Sohn sich in derselben Musik wiederfinden können. Jedenfalls hatte ich Dury wieder. Er war wieder da. Am darauf folgenden Tag las ich in der Tageszeitung die Todesnachricht. Ian Dury war ganz plötzlich gestorben. Dabei war er noch gar nicht alt. Ich habe Christine nichts davon erzählt. Und dann Ben Webster. Der spielte das Tenorsaxofon, dass du dachtest, diese Töne sind nur für dich allein bestimmt. Eine Legende: teilte sich die Bühne mit Thelonious Monk, Duke Ellington, Lester Young, Miles Davis, Coleman Hawkins. Für nur ein einziges Konzert ist er nach Europa gekommen. Hildesheim, Bischofsmühle. Ein kleiner Jazz-Keller. Da passen normalerweise achtzig Leute rein. Heute sind es mindestens hundertfünfzig. Die Luft ist stickig, du kannst kaum atmen, aber egal: Der Meister ist da, er wird spielen. Nur für uns und dann gleich wieder zurück in die USA. Er wird zur Bühne geleitet, muss gestützt werden, taumelt kurz, lässt sich auf einen Stuhl fallen, greift nach seinem Instrument und versetzt dich schon nach den ersten Tönen in eine andere Welt. Ganz vorne an der Bühne verliert eine Frau das Bewusstsein. Sie sinkt einfach in sich zusammen. Umfallen kann sie nicht, dafür stehen die Leute zu dicht gedrängt beieinander. Man bringt sie aus dem Raum. War es die Begeisterung oder war es die Luft? Wohl beides. Webster spielt jedenfalls weiter. Erlebt so etwas wohl nicht zum ersten Mal. Plötzlich, mitten im Stück, ich glaube, es war The Touch Of Your Lips, fängt einer zu rufen an: We want the blues! Und noch einmal: We want the blues! Zwei, drei andere rufen mit: We want the blues! Das sind die gleichen, die bei jedem Dixieland-Konzert schon nach den ersten drei Takten Ice-Cream! Ice-Cream! grölen. Aber was
haben die in einem Ben-Webster-Konzert zu suchen? Und wieder: We want the blues! Die ersten Zuhörer drehen sich schon um und werfen vorwurfsvolle Blicke in Richtung der Störer. Webster lässt sein Saxofon sinken, auch seine beiden jungen Begleitmusikanten – Kontrabass und Schlagzeug – unterbrechen ihr Spiel. Webster lässt seine Augen rollen. Mit Recht ist er wütend. Absolute Stille herrscht im kleinen JazzKeller. „What the hell do you think this is?“, brüllt er heiser. Schüttelt noch ein paar Mal sein Haupt und setzt sein Spiel exakt dort fort, wo er aufgehört hatte. Die Störer verstummen für den Rest des Konzerts. Zwei weitere Zuhörer fallen in Ohnmacht und müssen an die frische Luft bugsiert werden. Ich verlasse den Jazz-Keller spät in der Nacht mit dem Gefühl, ein Stück Jazz-Historie miterlebt zu haben. Weniger als eine Woche verging, bis mich die Todesnachricht erreichte. Ben Webster war in den USA gestorben. Wahrscheinlich war das Konzert in Hildesheim sein letzter öffentlicher Auftritt. Und ich war dabei.
Kultur-Sommer in Oldenburg. Die Sonne scheint, es ist heiß. Auf dem Schlossplatz haben sie eine riesige Bühne errichtet. Art Blakey tritt auf, einer der bedeutendsten Schlagzeuger der Jazz-Geschichte. Ein kleiner alter Mann, weiß gekleidet, der ständig grinst und dabei behäbig sein Schlagwerk bearbeitet. Um sich herum mindestens fünfzehn ganz junge Musiker, manche scheinen kaum älter als sechzehn Jahre alt zu sein. Könnten seine Enkel sein. Ich kämpfe mich durch die Menschenmenge, möchte den Meister aus der Nähe erleben. Das ist für mich das Reizvolle an Live-Konzerten: Du empfindest eine ganz spezielle Atmosphäre, Hitze, Schweiß, die Schwingungen ähnlicher Empfindungen, und vor allem, du
kannst deinen Helden nahe sein, sie direkt bei ihrer Arbeit beobachten. Tonkonserven ermöglichen zwar oft ein viel differenzierteres Klangerlebnis als Live-Konzerte, doch fehlt ihnen der Reiz des Originalen, sie sind halt Industrieprodukte. Immer wieder nimmt Art Blakey einen tiefen Schluck aus einer Flasche ohne Etikett. Whiskey? Bier? Oder gar eine Aufbaumedizin? Er gewährt jedem seiner jungen Mitmusikanten einen ausführlichen Soloauftritt und verbindet alle Teile mit seinen kunstvollen Drum-Fill-Ins, kurzen Soli, sparsam aber meisterhaft. Auch er wird schließlich nach dem Auftritt – wie Ben Webster – von zwei kräftigen Männern rechts und links untergehakt und von der Bühne geleitet. Seine Band spielt ohne ihn noch eine halbe Stunde weiter. Ich habe Art Blakey bei seinem letzten Konzert erlebt. Ich war ganz in seiner Nähe. Zwei Tage später war er tot. Seltsam, wie Menschen, manchmal durch Kontinente voneinander getrennt, ein paar Jahrzehnte lang ihrer Wege gehen, jeder für sich und dann, gemessen an dem, was vorher war, sich nur für Augenblicke begegnen und wieder fort sind, manchmal für alle Zeit. Und doch scheint nichts Zufälliges an solchen Begegnungen zu sein.
7
Heute: Es ist wieder kühler geworden. Die Sonne verschwand schon früh hinter den Wolken. Ein leichter Wind bewegt die Blätter im Garten. Es sieht nach Regen aus. Das Jahr ist noch jung, aber die Zeit des Flieders liegt schon wieder ein paar Wochen zurück. Bald wird der Mohn blühen und danach freue ich mich auf die Sonnenblumen. So verfliegt die Zeit, und noch immer ist es mir nicht gelungen, Gestern, Heute und Morgen miteinander in Einklang zu bringen.
Gestern: Ich sehe vor mir die Ankunft der Menschen aus dem anderen Deutschland. Wir erwarteten sie an diesem nasskalten Märzabend im Jahre 1990 auf der Burg Waldeck im Hunsrück zu einem deutsch-deutschen Schriftstellertreffen. Und plötzlich tauchten sie schemenhaft aus dem Dunst im Dämmerlicht auf. Sechs Gestalten bewegten sich auf uns zu. Das waren sie also, diese Menschen aus diesem fremden Land. Und ich empfand einmal mehr dieses Erstaunen: Sie waren ja gekleidet wie wir, sprachen tatsächlich unsere Sprache, wenn auch in ungewohnter Färbung. Sie saßen mit uns am Tisch, aßen und tranken mit uns, lachten mit uns. Dennoch war Fremdheit zwischen uns, die Mauer war ja noch nicht weg, sie war existent, spürbar da, stand zwischen uns, fast wie ein leiser, unausgesprochener Vorwurf. Unsere zaghaften Begegnungen waren wie ein Beschnüffeln, ein Abtasten, ein Umeinanderherumschleichen. Und Spannung entstand, manchmal kaum zu ertragen. Es gab aber auch Austausch, Annäherung gar.
Am nächsten Morgen kam eine weitere Gruppe auf der Burg an. Unter ihnen der kleine Mann mit den wirren weißen Haaren. Ich sehe ihn, wie er zu Fuß, auf die eigenen Kräfte vertrauend, den asphaltierten Weg herab kommt, sehe auch seine Frau, beide mit wachem Blick die Umgebung in sich aufnehmend, so viel lebendiger als die meisten Anderen, an Jahrzehnten wesentlich Jüngeren. Lächelnd geht er auf mich zu, reicht mir die Hand zur Begrüßung. Wir sitzen auf einer Bank in der Sonne, und er will alles wissen über die Burg Waldeck im Hunsrück, über ihre Geschichte, ihre heutige Bedeutung als Begegnungsstätte der Kulturen, und er erzählt von Salecina im schweizerischen Engadin, über diesen alten Gebäudekomplex in den Bergen, Schnittpunkt so vieler Wege und Gedanken rund um den Globus. Er lädt mich ein, ihn dort zu besuchen. Spricht über Zusammenhänge, knüpft unermüdlich am Netzwerk des Fortschritts. Obwohl manche seiner Worte wie verbrauchte DDR-Parolen klangen, war er ein Utopist, ein Visionär, voller Pläne, voller Kraft, nach mehr als achtzig Jahren noch immer nicht resigniert, ein Sozialist – dennoch oder jetzt erst recht. Die Kollegen aus dem anderen Deutschland wahrten Abstand. Ich sprach mit ihm über die herbe Schönheit des Hunsrücks, über Literatur, Musik, Kunst, auch darüber, dass wir bald etwas essen könnten und – natürlich – über das Wetter der Region. Er macht es mir leicht, dieser große Bruder im Geiste, ihm auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Wir sehen uns noch öfter in diesen Tagen auf der Burg Waldeck im Hunsrück. Er ist als Referent gekommen, ich als berichtender Journalist. Er vermittelt mir das Gefühl, dass wir am Beginn eines neuen Weges stehen, den wir ein Stück gemeinsam gehen werden. Darauf freue ich mich. Später schreibe ich den ersten Brief an ihn, kündige meinen baldigen Besuch in Salecina an, lege eine von mir
herausgegebene Broschüre dazu, die die Tage auf der Burg Waldeck dokumentiert. Natürlich kommt auch er darin vor. Ein paar Tage später die Postkarte aus der Schweiz im Kasten. Auf einer Schwarz-Weiß-Abbildung ist sein Salecina zu sehen, geduckte Steinhäuser auf einer Bergwiese in der Sonne, dunkle Wälder dahinter und über allem das schneebedeckte Gebirge, zum Teil vom Nebel umhüllt. Lieber Karl, schreibt er, herzlichen Dank für deinen Brief und das Waldeck-Heft. Wir haben uns über die darin enthaltene Würdigung sehr gefreut und über das ganze Heft. Wegen Salecina: Melde dich gleich an, denn auch im Sommer ist der Platz rar. Vielleicht treffen wir uns. Teile mir mit, wann du ankommst. Herzlich Theo Pinkus Am selben Tag lese ich im Spiegel, ganz hinten im Heft, auf der vorletzten Seite diese Meldung: Theo Pinkus, 82. Über 70 Jahre hinweg ist der schweizerische Buchhändler und Antiquar der roten Fahne gefolgt, ein Zürcher Unikum. Jude und noch dazu Kommunist. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die damals noch bitterarmen Schweizer seinem deutschen Vater das Bürgerrecht gegen bar verkauft. Der so erworbene rote Pass schützte den Nonkonformisten Pinkus – einen kleinen Mann mit wehenden Haaren, flink zu Fuß, in der Hand immer eine abgeschabte Aktentasche (wegen der Bücher) – vor den mörderischen Nachstellungen dieses Jahrhunderts. In Zürich baute der gelernte Buchhändler eine „Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ auf, bestehend aus 30 000 Bänden. Seine verwinkelte Buchhandlung in der Altstadt wurde in den sechziger Jahren zum Wallfahrtsort der neuen Linken. Pinkus selber blieb der großen Sowjetunion und der kleinen DDR bis zu ihrer Implosion in Liebe zugetan. Vergebens warb er im letzten Jahr im Ost-Berliner „Haus der jungen Talente“ für eine sozialistische Alternative. Die jungen Talente wollten
nicht so wie er und die Arbeiter erst recht nicht. Theo Pinkus starb am vorvergangenen Sonntag in Zürich an einer Lungenembolie.
Das ist nun wirklich eine andere Dimension! Zuerst ging es um eher unwichtige Geschehnisse. Seltsame Zufälle, die niemandem ernsthaft wehtaten. Zeitungen, Tassen, Telefone, Lieder! Später ging es um Menschen, die ich aus der Ferne betrachtete. Doch nun ist es jemand, dessen Persönlichkeit und Werk mir schnell wichtig zu werden begannen. Jemand, dem ich tatsächlich und persönlich begegnete, jemand, mit dem ich zu tun haben wollte. Jemand, den nicht nur ich, sondern der auch mich betrachtete. Was hat das alles zu bedeuten? Christine hält mich für verrückt. Zuerst war sie es ja, die frotzelte und stichelte: „Du machst sie alle fertig! Du bist der Zeitungs-Killer! Karl Urban, der Niedermacher!“ Aber jetzt will sie davon nichts mehr wissen. Irgendwie ist ihr die Angelegenheit wohl auch ein wenig unheimlich geworden. „Du steigerst dich da in etwas hinein. Das sind doch nur Zufälle. Das hat mit dir nicht das Geringste zu tun. Hör auf zu spinnen!“ „Zufall ist das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und Absicht entzieht.“ „Was?“ „Na ja, das ist die Definition des Begriffs Zufall. Stammt von den Gebrüdern Grimm, wenn ich mich nicht irre.“ „Ach Karl, hör auf, mir Märchen zu erzählen!“, sagt Christine, während sie mit einer unwilligen Handbewegung ein paar Krümel vom Tisch fegt. „Du versuchst, Sinn im Unsinn zu ergründen. Du suchst nach Gesetzmäßigkeiten, wo es keine gibt.“
„Und was macht dich so sicher, dass es diese Gesetzmäßigkeiten nicht gibt?“, frage ich sie. „Ich weiß es nicht, aber ich glaube es.“ „Siehst du, da kommen wir der Sache schon näher. Ich glaube nämlich, dass es für alles auf dieser Welt Gesetzmäßigkeiten gibt. Es fällt uns nur oft sehr schwer, sie zu erkennen.“ „Du willst dich einfach nicht damit abfinden, dass es mitunter gar kein System zu erkennen gibt. Wir sollten nicht alles zu erklären versuchen. Vielleicht ist es auch ganz gut, manches nicht zu verstehen. Man kann nicht jedes Geheimnis lüften.“ Es tut mir gut, ab und zu mit Christine über diese Dinge zu reden, und im Grunde bin ich sogar ihrer Meinung. Aber dennoch: An Zufälle mag ich nicht mehr glauben. Ich fühle mich in meinen Grundfesten erschüttert. Vielleicht spreche ich mal mit Georg. Jedenfalls habe ich doch niemandem etwas Böses gewünscht! Im Gegenteil! Ich wollte doch nur ein Stück mit ihm gehen. Mit Georg? Nein. Mit Theo Pinkus. Weiter nichts. Das kann es doch nicht gewesen sein! Habe ich ihm Unglück gebracht, einfach nur durch meine Nähe? Unsinn! Er war ein alter Mann, blickte auf ein erfülltes Leben zurück. Hatte ganz einfach sein Werk vollbracht. Der Tod ist das Ziel. Das weiß ich doch! Aber ein eigenartiges Gefühl bleibt.
Die Sonne ist wieder da. Ein Vogel ruft immer den gleichen Ruf. Es klingt wie eine Warnung. Eine Unruhe liegt über dem Land.
8
„Georg, ich brauche mal deinen Rat. Ich hatte dir doch von den Zeitungen erzählt…“ „Ich lese gerade neu entdeckte Erzählungen von Erich Maria Remarque. Die Titelgeschichte heißt Der Feind. Die werde ich wahrscheinlich in mein neues Programm einbauen. Sehr eindrucksvoll, sage ich dir. Ein junger Soldat macht sich so seine Gedanken über den Krieg. Er glaubt, dass alleine die Waffen Krieg verursachen. Erst durch Waffen werden die Menschen zu Soldaten. Na ja, und dann illustriert er diese Einsicht mit einer Episode aus dem sogenannten Frankreichfeldzug. Deutsche und Franzosen liegen sich in Schützengräben direkt gegenüber. Eines Tages taucht über dem Schützengraben der Franzosen ein Papp-Schild mit der Aufschrift Attention! auf. Die Deutschen halten auch ein Schild hoch: Compris! Dann erscheinen auf beiden Seiten weiße Tücher als Friedenszeichen. Ein französischer Soldat kriecht unter dem Stacheldraht auf die Deutschen zu und legt in der Mitte zwischen den beiden Schützengräben ein Paket mit kleinen Geschenken für die Deutschen ab. Die Deutschen machen es ebenso. Das geht immer hin und her, bis eines Tages ein junger deutscher Major ankommt. Die Deutschen können die Franzosen aus Angst vor Strafe nicht warnen, und als wieder einer der französischen Soldaten sich blicken lässt, um Geschenke für die Deutschen zu deponieren, da knallt der deutsche Major den Franzosen ab. Ein Höllenfeuer geht los und die Feindseligkeiten fangen wieder von vorne an und zwar noch schlimmer als zuvor. Das baue ich in mein AntikriegsProgramm ein. Wie findest du das?“
„Finde ich gut. Sag mal, Georg, ich…“ „Im September habe ich zwei Auftritte. Ganz in eurer Nähe. Am sechsten September in Leer im Kulturspeicher und am zwanzigsten in Emden, auf dem Restaurant-Schiff im Hafen. Kannst du ja hinkommen. Kann ich dann bei euch pennen? Den ersten Auftritt mache ich zusammen mit Edgar, du weißt schon, mit dem habe ich doch auch das Brecht-Programm gemacht. Hast du doch gesehen, damals in Bremen. Die Emden-Geschichte mache ich alleine. Da bringe ich dann auch den Remarque-Text. Geiles Programm! Und wie geht es dir?“ „Ooch, im Prinzip ganz gut. Ich wollte dich ja eigentlich mal etwas fragen. Erinnerst du dich noch…“ „Ja, ich hab auch ein neues Lied geschrieben. Das passt gut in mein Antikriegs-Programm. Eigentlich sollte ich besser Friedens-Programm sagen. Ich glaube, das ist eins meiner besten Lieder überhaupt. Ist mir gut gelungen. Du kennst doch Prisoner 562 von Derroll Adams, was er nach dem Text von Oswald Andrae geschrieben hat. So in der Art, ich meine von der Grundaussage her, musst du dir meinen neuen Song vorstellen. Eine Art Ballade…“ „Prisoner 562 hat Dick Gaughan gesungen.“ „Blödsinn! Das war Derroll Adams. Hab ich doch selbst live gehört, damals auf dem Festival in Ingelheim.“ „Ich hab die CD. A Different Kind Of Love Song. Von Dick Gaughan. Da ist der Song drauf.“ „Quatsch! Der ist von Derroll Adams. Weiß ich jetzt auch nicht, auf welcher CD oder LP der ist. Aber ich hab’s ja live gehört. Von Derroll.“ „Egal. Ich sehe nachher mal nach. Dann kann ich’s dir genau sagen.“ „Brauchst du gar nicht. Ich weiß das auch so. Hab neulich nach einem Konzert Wizz Jones getroffen. Der hat jetzt weiße Haare. Ganz kurz geschnitten. Sieht ganz anders aus als früher.
Macht aber noch immer ‘ne geile Mucke. Vielleicht mach ich mal was mit ihm zusammen. Wir kennen uns ja noch aus alten Zeiten, damals beim Pauler im Studio in Northeim. Ich hab derben Stress im Moment. Ziemlich viele Auftritte. Dieses Wochenende bin ich schon wieder unterwegs. Zuerst Göttingen, dann Braunschweig, Goslar, glaube ich, dann zwei Tage frei und am Sonntag schon wieder Folk-Festival in Venne. Weiß gar nicht, wie ich das alles auf die Reihe kriegen soll.“ „Georg, ich wollte dir eine Frage…“ „Kommst du auch nach Venne? Das ist echt klasse da. Wie ‘n kleiner Familienbetrieb. Jeder kennt jeden, tolle Atmosphäre. Und immer gutes Wetter. Da werd ich auch zum ersten Mal meinen neuen Song spielen. Der ist übrigens direkter, irgendwie auch melodischer, als Prisoner 562 von Dick Gaughan.“ „Aber du hast doch gesagt…“ „Was soll ich gesagt haben?“ „Du hast doch behauptet, Prisoner 562 singt Derroll Adams.“ „Quatsch! Hab ich nie gesagt! Der ist von Dick Gaughan oder genauer gesagt von Iain MacKintosh.“ „Georg, weißt du was? Manchmal hasse ich dich.“ „Welche Laus ist dir denn jetzt schon wieder über die Leber gelaufen? Bist du mies drauf oder was?“ „Nee, is nix. Aber jetzt halt doch endlich mal die Klappe und lass mich dich etwas fragen. Ich hab da so ein Gefühl. In den vergangenen Monaten kam es häufiger vor, dass ich jemandem begegnete oder mich mit ihm beschäftigte – und plötzlich war der tot.“ „Was erzählst du da? Das hört sich ja gefährlich an! Bleib mir bloß vom Leib mit solchen Storys, sonst bin ich auch bald hinüber.“
„Georg, ich mein’s ernst! Hältst du es für möglich, dass es so etwas gibt?“ „Warte mal, da fällt mir eine Geschichte ein, die ich neulich in der Zeitung las. Wie war das? Überschrift: Von der Imagination getötet! Ich glaube, das passierte in Indien. Ein berühmter Arzt erhielt die Erlaubnis, an einem zum Tode verurteilten Attentäter ein Experiment durchzuführen. Der Arzt schlug dem Delinquenten vor, ihn verbluten zu lassen. Das sei absolut schmerzfrei. Der Verurteilte war einverstanden. Jetzt legte man ihn auf einen Tisch, band Arme und Beine fest und verband ihm die Augen. Unter dem Tisch standen an allen vier Ecken Gefäße, in die man Wasser tropfen lassen konnte. Die Gefäße und vor allem das Wasser hatte das Opfer vorher natürlich nicht gesehen. Dann ritzte der Arzt dem Verurteilten die Haut an Hand- und Fußgelenken ein, allerdings ohne ihn wirklich zu verletzen. Anschließend ließ der Arzt das Wasser in die Schalen tropfen, so dass der Verurteilte meinte, sein Blut fließen zu hören. In Wirklichkeit verlor er nicht einen einzigen Tropfen Blut. Die herumstehenden Ärzte unterhielten sich mit der Zeit immer leiser, um das Opfer glauben zu machen, seine Lebenskräfte schwänden dahin. Er hörte nur noch das vermeintliche Tropfen seines Blutes, bis schließlich auch die Wasserzufuhr eingestellt wurde und endlich im Raum absolute Stille herrschte. Der Gefangene verlor das Bewusstsein und starb, nahezu unverletzt, ohne auch nur einen einzigen Tropfen seines Blutes verloren zu haben. Er starb durch seine Vorstellungskraft.“ „Das ist ja Wahnsinn! So etwas gibt es?“ „Wenn ich’s dir doch sage.“ „Bis dann, Georg.“ „Tschüss!“
Genau so verliefen immer häufiger die Gespräche mit Georg: Kommunikation ohne Begegnung, Anliegen ohne Widerhall. Du bekommst jedenfalls nicht das Echo, das du dir wünschst oder erwartest. Es geht mir nicht um Zustimmung, sondern um Teilhabe. Doch es kam vor, dass Georg mich nicht sah, obwohl ich ihm direkt gegenüberstand. Ich äußerte eine Meinung, und er sprach dagegen. Keineswegs aus Überzeugung, sondern aus Prinzip. Ich sagte: „Es ist heute aber heiß draußen.“ Darauf er: „Gestern war es noch viel heißer.“ Ich sagte: „Die Musik von Lucinda Williams gefällt mir ausgesprochen gut.“ Und er fragte: „Kennst du eigentlich die Alben, die sie vor ihrer kommerziellen Phase machte? Die sind wirklich gut.“ Natürlich ging er davon aus, dass ich diese frühen Alben nicht kenne; also konnte er mir indirekt wieder einmal Ahnungslosigkeit unterjubeln. Selbstverständlich interessiere ich mich nur für die kommerzielle Allerweltsware. Er dagegen, als wirklicher Kenner, zieht natürlich die wahre Kunst vor, zu der ich keinen Zugang habe. Das lief sogar so, wenn ich ihm etwas Positives sagte, wenn ich ihn beispielsweise lobte: „Dein Konzert gestern Abend, das war wirklich spitze!“ Dann er: „Ich war nicht gut drauf gestern. Sonst bin ich besser.“ So entsteht Einsamkeit. Was war das für eine Geschichte? Tod durch Imagination. Aber hat das wirklich etwas mit mir zu tun? Der Verurteilte in Georgs Geschichte sollte sterben, und das war ihm bewusst. Er glaubte fest an seinen bevorstehenden Tod. Die Menschen, die ich meine, hätten vielleicht noch gar nicht sterben müssen und – soweit ich es sehe – rechneten sie auch nicht mit ihrem Tod. Das sind zwei völlig unterschiedliche Phänomene. Oder?
Wieder der Blick nach draußen. Der hohe Himmel über dem Emsland. Ein grau-weiß getigerter Kater schleicht über die Obstwiese. Er belauert einen Vogel. Der Tod des Vogels steht kurz bevor. Er ahnt nichts von seinem bevorstehenden Ende. Aber ich sehe die Zusammenhänge, sehe Täter und Opfer. Das Gezirpe der singenden Vögel wird verhaltener, immer leiser. Die Geräusche scheinen in der Tiefe des Raumes zu verklingen, bis endlich völlige Stille herrscht. Der Kater kauert sich tief ins Gras. Die Muskeln seiner Hinterläufe sind angespannt. Sein Schwanz zuckt kaum merklich hin und her. Er setzt zum Sprung an.
9
Meine Begegnung mit Alf liegt schon etwas länger zurück. Auch diese Geschichte muss ich erzählen, um Klarheit zu gewinnen. Georg brachte ihn damals zum ersten Mal mit zu uns ins Haus. Vom ersten Moment unserer Begegnung war ich fasziniert von seinem Charisma. Er war ein ganz besonderer Mensch, das spürte ich sofort. Seinen Namen hatte ich schon öfter gehört. Ich wusste, dass er mit Hannes Wader zusammengearbeitet hatte, auch mit Henning Venske und Knut Kiesewetter. Irgendwann hatte ich ihn auch im Fernsehen gesehen. Das muss die Aufzeichnung einer Veranstaltung in Fiete Kays Kneipe in Bredstedt gewesen sein. Alf, zwischen all den lauten Musikanten und aufgedrehten Moderatoren, hob sich ab vom Rest, war einfach anders. Trug mit leiser, aber dennoch energischer Stimme ein paar seiner Gedichte vor. Kurz und prägnant. Schon damals wirkte er abgeklärt auf mich, vielleicht sogar ein wenig weise. Nun saß er bei mir zu Hause am langen Küchentisch und war nichts anderes als ein freundlicher Gast. Er sprach wenig und beobachtete viel. Ein anderer Gast in unserem Hause, ein Schriftsteller aus Hamburg, trank fast eine ganze Kiste Bier alleine aus und fing gegen Mitternacht an, wirre Parolen zu grölen. „Salon-Marxisten seid ihr allesamt! DDR-Knechte! Wenn ihr das Sagen hättet, säßen die Sowjets schon längst in Bonn und ich in Moabit!“ Zwar war er betrunken, doch wollten wir anderen seine Anschuldigungen, seine Tiraden nicht dulden und argumentierten auf das Heftigste dagegen. Ein hitziges Wortgefecht begann, das mit dem Hinauswurf dieses unangenehmen Zeitgenossen endete. Wir waren sehr betrübt,
die gute Stimmung war dahin, das Treffen eigentlich verdorben. Während wir aufgebracht und zum Schluss auch aggressiv versucht hatten, den Hamburger niederzubrüllen, hatte Alf nur ein paar Sätze an ihn gerichtet. Leise und freundlich. Er hatte den Hamburger nicht beschimpft wie wir, er war inhaltlich auf ihn eingegangen, hatte seine Behauptungen ganz ruhig, aber bestimmt widerlegt. „Ist euch Mode-Linken eigentlich klar, wem wir Deutschen unseren bevorstehenden wirtschaftlichen Untergang und unser kulturelles Unglück zu verdanken haben? Ist euch das überhaupt klar? Dem Türkengesockse, den Yugos, den Spaghettifressern, den Zitronenschüttlern und was wir da sonst noch durchzufüttern haben, denen haben wir das zu verdanken!“ „Deinen relativen Wohlstand, mein lieber Kerl, den hast du in der Tat den zugewanderten ausländischen Mitbürgern zu verdanken“, sagte Alf. „Ohne deren Arbeits- und Kaufkraft könntest du hier wohl kaum bei uns sitzen und in Ruhe dein Bier trinken. Die Ausländer sind der Motor unserer Wirtschaft. Außerdem leben wir in Europa. Grenzen werden in der Zukunft eine immer geringere Rolle spielen, bis sie eines Tages gänzlich überflüssig sein werden.“ Ich bewunderte Alf. Als er Christine und mich später zu sich nach SchleswigHolstein in sein Haus hinterm Deich einlud, fühlten wir uns geehrt. Natürlich fuhren wir hin. Er feierte ein großes Fest. Verband Freude und Engagement miteinander, indem wir einerseits tranken und tanzten, erzählten, sangen und lachten, andererseits aber auch Aufräumarbeiten im Watt leisteten und auf diese Weise aktiven Umweltschutz betrieben. Alf war ein militanter Umweltschützer, als dieses Wort noch gar nicht existierte. Er organisierte Umweltaktionen gegen sämtliche öffentliche Bedenkenträger. Setzte sich über bürokratische
Hürden hinweg, machte, was er für notwendig erachtete. Damals wurde er belächelt. Aber er war ein Vorreiter, einer, der seiner Zeit weit voraus war. Wir begannen uns Briefe zu schreiben, telefonierten öfter miteinander. Alf wurde unser Freund. Und wieder geschah es: Eine Verwandte schickte uns eine Zeitungsnotiz mit dem Begleitsatz: „Vielleicht interessiert euch dieser Artikel. Kanntet ihr den nicht?“ Ja, den kannten wir. Er hatte uns sogar sehr nahe gestanden, schon nach kurzer Zeit. Alf hatte in seinem Auto gesessen, so berichtete die Zeitung. Irgendwo am Deich. Es hatte vier Tage gedauert, bis Spaziergänger auf das Auto mit dem reglosen Mann darin aufmerksam wurden. Der Mann im Auto war tot. Herzinfarkt. Später hörte ich, diese Geschichte sei unwahr. In Wirklichkeit sei Alf in den Armen einer käuflichen Dame gestorben. Schön wäre es für Alf gewesen, weniger angenehm für die Dame. Aber egal: Für mich stellt sich die Frage, inwieweit ich etwas mit Alfs Tod zu tun habe. Worin liegt meine Verantwortung? Wofür habe ich mich zu verantworten?
Der Kater hat den Vogel inzwischen erwischt. Er tat es nicht aus Hunger, es war sein Jagdinstinkt. Er wollte töten. Er musste töten. Weiter nichts. Sturm ist aufgekommen. Ein heißer Sommersturm. Reißt im Frühsommer gesunde Äste von den Bäumen und die Blütenköpfe von den Rosen. Die Sonne scheint, die Bäume stöhnen. Wir werden uns in Acht nehmen müssen.
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Ein paar seiner Gedichte kannte ich seit Jahren. Fast jedem, der Bücher liest, ist schon einmal Ottos Mops über den Weg gehoppelt. Und wer jemals sich mit Antikriegs-Poesie beschäftigte, der hörte wahrscheinlich auch schon im schtzngrmm Ernst Jandls Maschinengewehr rattern. Die Mündung war freilich auf die Kriegstreiber gerichtet, jene sauberen Herrschaften, die niemals einen Schützengraben betreten würden. Das überlassen sie lieber denen, die sie dort zum Kämpfen und Sterben hinschicken. Ernst Jandl? Klar, kenne ich. Das ist doch dieser österreichische Poet mit den komischen Gedichten! War der nicht mal Lehrer? Ja, Lehrer war der auch. Und einer der wirklich großen Autoren des vergangenen Jahrhunderts dazu. Aber das wurde mir erst relativ spät klar. Nämlich als ich eine CD in die Hände bekam: ernst jandl, laut und leise, aus der kürze des lebens, dieter glawischnig, ndr bigband. Was für eine Aufnahme! Zu den Texten, deren Hintergründigkeit und Tiefe, deren Witz und Schärfe sich dir oft erst beim zweiten oder gar dritten Hinhören erschließen, zu diesen Texten also kamen nun zwei weitere Komponenten: die hochprofessionelle und spielfreudige NDR-Bigband mit ihrem Leiter und Pianisten Dieter Glawischnig. Außerdem dabei Altmeister wie Manfred Schoof/Trompete oder Herb Geller/Saxofon. Aber vor allem: die Stimme von Ernst Jandl. Erst durch diese Stimme begannen die Texte wirklich zu leben. Wer einmal Jandls Stimme hörte, wird bei der Lektüre seiner Gedichte automatisch diese knarzende, R-rollende Stimme hören, ob er will oder nicht. Ich wollte.
In Hannover gab es einen Jazz- und Lyrikabend. Eine Konzert-Lesung mit Ernst Jandl und der NDR-Bigband, in der gleichen Besetzung wie auf der CD. Natürlich bin ich hingefahren. Dieser Abend war für mich eine Offenbarung. Der kleine, alte Jandl verfügte über eine poetische Kraft, die ich in dieser Weise noch nicht erlebt hatte. Seine Präsenz war mehr als beeindruckend. Er lebte seinen Satz Dichtung, bisweilen, ist ein blutiges Geschäft, zwischen Selbstverletzung und Selbstzerfleischung. Ich ahnte und verstand als Zuhörer die Übereinstimmung von Urheber und Werk. Später kaufte ich seinen Gedicht- und Prosaband aus dem wirklichen leben. Ich hatte vor, mich nun intensiver mit diesem Künstler zu beschäftigen. Mich ihm zu nähern. Dann die Todesnachricht: Jandl, der so vom Tod besessen war und gleichzeitig so zäh am Leben hing, war in Wien gestorben, wenige Wochen vor seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag. Sogleich wieder die bange Frage: Was ist womöglich mein Anteil an diesem Tod?
Ich sollte auf Christine hören. Sie hat Recht. Ich bilde mir das alles nur ein. Im Grunde sind meine Befürchtungen doch weiter nichts als freche Überheblichkeit, Ausdruck ungeheurer Selbstüberschätzung. Ich sollte mich nicht so wichtig nehmen. Aber dennoch: Was ist eigentlich los mit mir? Bin ich noch Herr meiner selbst? Wer führt mich auf welchen Weg? Und Jandl? Der Tod war ihm doch nahe. Er bezeichnete sein Geschäft als blutig und verletzte und zerfleischte sich selbst. Er allein trägt die Verantwortung für seinen Tod. Was habe denn ich damit zu tun? Nichts! Absolut nichts!
Jesus ist gefallen. Ich sah ihn heute Mittag. Er hängt jetzt kopfüber an seinem Kreuz, an diesem Folterinstrument, das sie Kruzifix nennen und sich in Miniaturform um den Hals hängen. Er hat seine Position verloren. Ich habe es selbst gesehen. Ich bin mit dem Fahrrad an Jesus vorbeigefahren. Vielleicht hat ihn der Wind, der heftige Wind, zu Fall gebracht?
11
Ich möchte Ihnen von einem sonderbaren Erlebnis erzählen. Es geht eigentlich um eine Zahl, genauer gesagt um die Zahl 225. Diese Zahl verfolgt mich nun schon seit ein paar Jahren. Ein Musikstück, das mir gefällt, dauert genau zwei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden. Ich schaue nachts auf die Uhr: zwei Uhr fünfundzwanzig. Der Tageskilometerzähler zeigt die Zahl 225. Das Nummernschild des Wagens vor mir: HH-P 225. Noch zweihundertfünfundzwanzig Kilometer bis Paris. So geht es ständig. Sie müssen wissen, dass 225 früher die Postleitzahl von Husum, der grauen Stadt am Meer, war, und dort lebte meine inzwischen verstorbene Mutter. Ich begann die Zahl 225 als Zeichen zu sehen, die meine Mutter mir übermitteln wollte. Auf der Reise in den Süden Frankreichs lese ich in einem Buch die kurze Biografie des Dichters Ferdinand Hardekopf. Meine Mutter hatte mich früher schon einmal auf ihn aufmerksam gemacht. Trotz seiner künstlerischen Bedeutung, so schreibt der Biograf, tauche Hardekopf in keiner einzigen Anthologie mehr auf, seine Bücher seien nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Drei Bücher habe ich auf die Reise mitgenommen. Eins davon ist eine Lyrik-Anthologie. Ich blättere nach und tatsächlich, was ich vermutete, bewahrheitet sich: Die Sammlung enthält – entgegen der Behauptung des Biografen – auch ein Gedicht von Ferdinand Hardekopf. Es trägt den Titel „Spleen“ – ein vollmondiges Spukgedicht, nachts um drei Uhr zwei. Gerade will ich das Buch wieder zuklappen, um in meiner Biografie weiterzulesen, da fällt ein Regentropfen auf die Buchseite, direkt auf die
Seitennummerierung. Sie erraten, auf welche Seitenzahl der Regentropfen fiel? Ich kann es beweisen, die Buchseite ist an dieser Stelle noch immer leicht gewellt. In den vergangenen Jahren verbrachten wir unseren Urlaub oft an der Côte d’Azur, genauer gesagt: in Cavaliere auf einem Parkplatz. Cavaliere ist ein Dorf am Meer und unser Parkplatz ein terrassiertes Gelände mit Palmen, Korkeichen und Olivenbäumen. Dort stellen wir unser Wohnmobil ab, schauen immer wieder zum Wasser hin, trinken Rotwein und beobachten Menschen. Früher machten hier drei-, viermal in der Woche die unterschiedlichsten Spektakel Quartier: Toro Piscine, Stiere im Wasserbecken, Guignol, der französische Kasper, verschiedene Zirkusse und Varietes, und Les Cascadeurs walzten mit ihren Big-Wheels Autos platt. So gab es immer etwas zu gucken, aber manchmal war es auch sehr laut und hektisch. Inzwischen hat der Parkplatzbesitzer überall kleine Bäumchen gepflanzt, und die Spektakel haben keinen Zutritt mehr. Hundert parkende Autos bringen wahrscheinlich mehr Geld als durchreisende Spektakel. Uns soll’s recht sein. Ein Hund kläfft. Seine Besitzer – kann man ein Lebewesen besitzen? – haben ihn in ihrem Camper zurückgelassen. Er jammert und jault. Zwei braun gebrannte Jungs versuchen ein Moped anzuschieben. Ihre nackten Fußsohlen wirbeln gelblichen Staub auf. Sie lachen. Es ist heiß. Ein Dieselmotor läuft schon seit über einer Stunde. Immer wieder springt der Ventilator an, weil der Motor überhitzt ist. Wahrscheinlich wollen sie die Batterie aufladen, nachdem der Kühlschrank zu viel Energie verbraucht hat. Das ist uns früher auch passiert. Die Butter zerfloss, die Milch wurde sauer, und die Wurst konnten wir wegwerfen. Sogar der Käse schwitzte. Inzwischen betreiben wir unseren Kühlschrank mit Gas. Da kann nicht viel passieren.
Auch hier weht ein heißer Wind. Wie zu Hause. Kann ich meinen Befürchtungen, meinen Ahnungen entfliehen? Nein, sicherlich nicht. Allerdings habe ich in den vergangenen Tagen nur selten an tote Menschen gedacht, tote Menschen, die mir einmal nahe standen. Eher an Ameisen, die es auf unsere Essensvorräte abgesehen hatten. Ich habe sie getötet. Mit der bloßen Hand. Alle. Ein junger Holländer geht über den Platz. Er trägt rechts und links jeweils einen schwappenden Wasserkanister. Sein muskulöser Oberkörper und der buschige Schnauzbart stehen in seltsamem Gegensatz zu der Kindlichkeit seines Gesichts. Die Belgier links von uns sind unfreundliche Menschen. Sie grüßen nie und küssen dafür ständig ihr neurotisches Hündchen, das viel Ähnlichkeit mit einer Fledermaus hat. Die Italiener rechts von uns sind freundlich. Sie grüßen lächelnd und behandeln ihren Hund, wie man einen Hund behandeln sollte: voller Zuwendung und gleichzeitig konsequent. Christine und ich haben keinen Hund. Wir sind eher Katzenmenschen. Hunde sind Rudeltiere und unterwerfen sich. Katzen sind Einzelgänger. Man ist Hundebesitzer, aber man hat eine Katze. Eine Katze kann man nicht besitzen. Der kindliche Holländer kommt zurück. Er schleppt nun ein volles Chemieklo vor der Brust. Sein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt. Um seinen Hals baumelt ein Goldkettchen. Der kroatische Italiener hinter uns versucht verzweifelt, ein Surfbrett startklar zu machen. Es will ihm trotz größter Anstrengung nicht gelingen. Schweiß rinnt ihm in Bächen über Stirn und Brust, seine Schläfenadern treten bläulich hervor. Sein Sohn, kaum sechs Jahre alt, erteilt altkluge Ratschläge. Immer wieder fordert der Vater den Kleinen auf, endlich den Mund zu halten, jedoch vergeblich. Es kommt, wie es kommen muss, der Mann verliert die
Beherrschung. Wild gestikulierend schreit er das Bürschchen an: „Terroristo afghano!“ Den Kleinen scheint das kaum zu beeindrucken. Ungerührt setzt er seine Belehrungen fort. Auch die väterliche Bezeichnung heruntergekommener Taliban vermag den Knirps nicht zu bremsen. Der Vater gibt auf. Zwar ist das Surfbrett noch immer nicht mit einem Segel versehen, doch der Kleine hat sich ganz eindeutig als der Stärkere von beiden erwiesen. Zwischen den Pinien und Zypressen blinkt blau das Meer. Segel sind zu sehen. Der Wind trägt immer wieder Kinderjuchzen zu uns herüber. Unter den Pinien am Strand versammeln sich um die Mittagszeit mehrere Großfamilien. Sie stellen drei, vier Campingtische zu einer langen Tafel zusammen, hocken sich auf ihre Klappstühlchen und essen gemeinsam, palavern und trinken, später lassen die Männer die Boule-Kugeln rollen, die Frauen reden derweil über die Vergangenheit und planen die Zukunft. Der Bus nach St. Tropez hält an, ein paar Menschen steigen zu, der Motor heult auf, die Fahrt geht weiter. Ein Hubschrauber knattert über den Platz. Er transportiert einen Wassersack. Ganz in unserer Nähe brennt es schon seit ein paar Tagen. Es gab bereits mehrere Tote. Das Feuer kommt näher. Fernes Hundegebell, das Weinen eines Babys und das ewige Schnarren der Zikaden vereinen sich zu einem südfranzösischen Mittagskonzert in sengender Hitze. Nach und nach kommen die Menschen vom Strand zurück, jeder sucht sich ein Stückchen Schatten, um der unerträglichen Hitze zu entkommen. Die Zeit scheint für eine Weile stillzustehen. Erst spät am Nachmittag wird sich der Strand noch einmal füllen. Man betrachtet und lässt sich betrachten, kühlt sich im klaren Wasser ab, bestreicht die geröteten Hautpartien sorgfältig mit Sonnenschutzcreme des höchsten Lichtschutzfaktors, und dann ist bald schon wieder die Zeit zum Einkaufen gekommen. Das
Abendgericht muss vorbereitet werden. Steht der Wein auch kühl? Haben wir ein frisches Baguette? Die Pate de Forestiere wird bald alle sein und Eau de Minerale gazeuse brauchen wir noch. Der Geruch verschiedener Gewürze hängt in der Luft, Thymian, Rosmarin, Oregano, Knoblauch, manchmal aber auch zusätzlich die Ausdünstungen des primitiven Entsorgungsrohrs für die Chemietoiletten. Weiter unten auf dem Parkplatz treiben Windböen Staubwolken vor sich her, lassen rot-weiße Absperrbänder wie Drachen im Wind knattern. Noch immer ist es heiß. Autos fahren emsig die Strandpromenade auf und ab, als hätten sie kein Ziel. Manchmal lässt ein Ferrari-Fahrer den Motor seines Boliden aufheulen. Man soll gefälligst hinschauen und den Knaben für eine wichtige Persönlichkeit halten. Das gleiche Ziel verfolgen die Jungs mit den Geländemotorrädern. Sie lassen ihre Enduros steigen wie junge Mustangs. Immer wieder. Gockelspiele in jedem Fall. Ein englisches Wohnmobil fährt so heftig in den kargen Schatten eines dürren Baumes, dass es ein paar Äste abreißt, die vorher noch Schatten spendeten. Zwei Holländer spielen Boule, misstrauisch beobachtet von einheimischen Touristen, die jeden Fehler gnadenlos registrieren. Der Wind schlägt ein Stahlseil rhythmisch an einen metallenen Fahnenmast. Als gebe jemand ein Signal. Ein Warnsignal. Überhaupt scheinen hier alle auf irgendetwas zu warten. Der Belgier wartet darauf, dass der Italiener einen Fehler beim Einparken begeht, die Pferdefamilie auf der dürren Weide hinter uns wartet auf ihre tägliche Heuration, Christine wartet auf einen Anruf von zu Hause und ich warte auf den allabendlichen Ruf des Nachtvogels. Am nächsten Morgen fahren Christine und ich nach Marseille, um unseren Sohn Paul vom Airport abzuholen. Paul hat Liebeskummer. Seine Freundin hat ihn verlassen. Wir
hatten ihm angeboten, eine Woche mit uns an der Côte d’Azur zu verbringen. Er wirkt schmal und blass. Wir wollen versuchen, ihn ein wenig aufzumuntern.
Später, in Cavaliere, sagt er zu mir: „Komm, lass uns bis zur Boje schwimmen.“ „Na klar, schwimmen wir bis zur Boje, kein Problem!“ Noch liegen wir am Strand, lesen, schauen aufs Meer, reden über dieses und jenes. Vielleicht vergisst er ja die Boje, dann muss ich ihm nicht beweisen, dass ich kein alter Mann bin – inzwischen, nach all den Jahren. „Ich denke, das war genug Strand für heute“, sage ich, aber Paul hat die Boje nicht vergessen. „Erst zur Boje und dann zum Camper, okay?“, sagt er. Wir gehen ins Wasser, Paul und ich. Mit ruhigen Zügen schwimmen wir in Richtung Boje. Eigentlich sieht sie gar nicht so weit entfernt aus. Aber ich weiß, wie man sich auf dem Wasser in Entfernungen täuschen kann. Ich erzähle Paul, wie ich als Student mit einem Freund einmal – eigentlich aus Versehen, wir hatten uns verquatscht und nicht auf die Zeit geachtet – vom jugoslawischen Festland bis zur Insel Krk in einem Gummiboot paddelte, wie das Boot dann auf unerklärliche Weise verschwand und wir zu Fuß zurückschwimmen mussten. Damals, als Vierundzwanzigjähriger, spürte ich meine physischen Grenzen. Das war ein echter Härtetest. Davon erzähle ich Paul, während wir schwimmen, und die Boje will und will nicht näher kommen. Er hört interessiert zu, stellt auch ein paar Fragen, die ich ihm beantworte. „Habt ihr denn gar nicht bemerkt, dass ihr viel zu weit vom Festland weggerudert seid? Wie ist das Boot denn
verschwunden? Wurde es geklaut? Ist es weggetrieben? Wie lange wart ihr denn unterwegs?“ Die Boje scheint noch ebenso weit entfernt wie vor zwanzig Minuten. Eigentlich möchte ich jetzt zurückschwimmen, aber ich sage nichts. „Kannst du noch?“, fragt Paul. „Ja“, sage ich, „kein Problem!“ „Ich meine, wenn du möchtest, können wir umdrehen“, sagt Paul. „Nein, schon okay“, sage ich, „lass uns weiterschwimmen.“ Er spricht völlig entspannt, so, als säßen wir uns an einem Caféhaustisch gegenüber. „Hast du was Neues geschrieben in letzter Zeit?“, fragt er. Ich habe das Gefühl, dass er meine Unsicherheit spürt und mir durch seine wie beiläufig geäußerten Fragen das Gefühl vermitteln möchte: Alles okay, wir haben die Sache im Griff! Aber so ganz funktioniert es nicht. Die Boje kommt kaum näher. Im gleichen Maße, wie Paul mir stark erscheint, fühle ich mich hinfällig und ausgepumpt. Jetzt könnte ich meine vermeintlichen Kräfte gebrauchen. Wenn ich als Person… wenn meine Nähe… vielleicht sogar nur meine gedankliche Nähe… wenn meine Gedanken ausreichen, den Tod eines Menschen zu verursachen… vielleicht… weshalb kann ich dann nicht… die Kräfte bündeln, umdrehen, Leben bewahren, statt Leben beenden… Ich müsste doch mich retten können, das sollte doch möglich sein. Pauls Frage. „Ja, ich habe vor etwa zwei Wochen wieder zu schreiben begonnen. Aber nach einer euphorischen Anfangsphase ging’s nicht mehr so recht voran. Es stockte und bremste. Weiß auch nicht so genau… Wahrscheinlich fehlt mir die Ruhe, die Muße.“
Die Boje – so weit entfernt. Mein Atem geht schneller, ich spüre leichten Schmerz in meinen Bronchien. Wenn ich die Boje erreichte, könnte ich mich für eine Weile an ihr festhalten, ein wenig ausruhen, neue Kräfte sammeln. „Komm“, sagt Paul lächelnd, „lass uns umkehren. Scheiß auf die Boje, wir sind lange genug unterwegs.“ Er sagt es mir zu Gefallen. Eigentlich möchte er weiterschwimmen. Aber da er wohl merkt, wie meine Kräfte schwinden, und sie schwinden tatsächlich, redet er so, als sei es ihm gleichgültig, ob wir es bis zur Boje schaffen oder nicht. Das war doch sein Ziel, das wollte er doch. „Gut“, sage ich, „schwimmen wir zurück.“ Der Strand, an dem Christine auf uns wartet, ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Flimmernder Dunst liegt über Land und Meer. Paul sieht freundlich zu mir herüber, schwimmt ganz locker. Ich versuche, auch locker zu wirken. Ich muss ihn ja schaffen, den Weg zurück. Nicht weit von uns gleitet ein Boot vorbei. Dort möchte ich jetzt sein. Soll ich rufen? Nein! Das wäre das Eingeständnis meiner Kraftlosigkeit. Ich muss mich auf meine eigenen Kräfte verlassen. Mein Atem wird schneller, unruhiger. Immer häufiger atme ich tief durch. Ich stelle mir einen Lauf vor, vielleicht sogar unter erschwerten Bedingungen: Es ist heiß, nirgendwo ein Baum, der Schatten spenden könnte, ich habe Durst, mein Puls rast, meine Knie werden weich, die Brust schmerzt. Ich kann nicht mehr. Ich kann wirklich nicht mehr. Vielleicht hab ich vorher getönt: Ach, alles kein Problem, den Lauf absolviere ich mit links. Und nun ist Schicht. Meine Kräfte sind frühzeitig verbraucht. Hab mich halt verschätzt. Peinlich! Aber egal! Ich gebe einfach auf, bleibe stehen, beuge mich nach vorne, lasse die Arme baumeln, atme ganz gleichmäßig durch, lasse die
anderen an mir vorbeilaufen, egal! Ich suche mir ein schattiges Plätzchen, jemand reicht mir eine Flasche Mineralwasser. Aber hier? Ich bin im Wasser. Kein Grund unter den Füßen. Wie viel Meter Wasser mögen unter uns sein? Vier Meter? Acht Meter? Zum Ertrinken reichen auch zwei Meter. Und wenn ich einen Krampf bekomme? Hier kann ich nicht aufgeben, ich muss weiterschwimmen. „Alles klaro?“, fragt Paul. „Alles okay!“, sage ich. Ich stelle mir vor, wie es sein wird, wenn ich aufhöre zu schwimmen, die Beine nach unten sinken lasse und tatsächlich weichen Sandboden unter den Füßen spüre. Eine schöne Vorstellung. „Was ist?“, fragt Paul, „das ist doch keine Entfernung für uns, oder?“ „Ich bin ein alter Mann“, sage ich. Und das ist keine Koketterie, ich fühle es so, jetzt, in diesem Augenblick, in dieser Situation. „Du bist kein alter Mann“, sagt Paul, und er lächelt wieder. „Schau dir doch mal die Männer in deinem Alter an.“ Er meint es ernst. Der Strand kommt nun doch schnell näher, schneller als die Boje vorhin. Auf einmal habe ich das Gefühl, ich komme heil wieder zurück. Dann lasse ich tatsächlich die Beine nach unten sinken. „Paul, ich kann den Boden spüren!“, rufe ich. Es ist nicht nur ein Gefühl der Erleichterung. Es ist auch die Gewissheit, noch einmal davongekommen zu sein. „Als ich eure Köpfe schon fast nicht mehr erkennen konnte, wie Stecknadeln, so klein waren sie, da habe ich gedacht, das ist doch nicht nötig, das muss doch nicht sein, so weit rauszuschwimmen“, sagt Christine, „das ist doch leichtsinnig!“
„Ach was“, sagen Paul und ich fast gleichzeitig, „das ist doch gar nicht so weit, das sieht von hier nur so aus, haben wir doch locker hingekriegt!“
12
In den USA (wo eigentlich sonst?) soll es in den siebziger Jahren eine Geheimgesellschaft gegeben haben, deren Ziel ein recht ungewöhnliches war, um es einmal vorsichtig zu formulieren. Die Mitgliedschaft war ausschließlich angesehenen und vor allem begüterten Menschen vorbehalten. Die Aufnahmekriterien waren elitär und die Beiträge überdurchschnittlich hoch. Außerdem setzte die Gesellschaft eine großzügige Spendenbereitschaft als selbstverständlich voraus. Man musste eine längere Zeit, vielleicht zehn oder mehr Jahre, Mitglied sein, um die Dienste dieser ehrenwerten Gesellschaft in Anspruch nehmen zu können. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen lag es daran, dass man sich zunächst in den Augen der übrigen Mitglieder zu bewähren hatte. So wurde man beobachtet, taxiert und bewertet und – wenn man Glück hatte – eines Tages für würdig befunden, die Dienste der Gesellschaft in Anspruch nehmen zu dürfen. Ich glaube, es war sogar so, dass nach einer erfolgreichen Inanspruchnahme die Mitgliedschaft endete. Alles lief auf den Tag X hinaus – und danach kam nichts mehr, war’s einfach vorbei. Die Mitglieder der Gesellschaft lebten überall in der Welt verteilt, in jedem Erdteil, auf jedem Kontinent. Und da es sich um einen sehr großen Bund handelte, mit mehreren tausend Mitgliedern, konnte es sehr lange dauern, bis der Einzelne an die Reihe kam. War es dann eines Tages endlich so weit, dann ging es zunächst darum, der Gesellschaft den eigenen Wunsch nicht nur mitzuteilen, sondern auch ausführlich zu begründen. Fiel die Begründung dürftig aus, überzeugte sie das
Entscheidungsgremium nicht, dann konnte es geschehen, dass sich das Mitglied wieder hinten anzustellen hatte, was durchaus weitere zehn oder mehr Jahre des Wartens zur Folge haben konnte. Es soll Mitglieder gegeben haben, die niemals in den Genuss der Dienste ihres Geheimbundes kamen, da sie zuvor verstarben. Dieses Risiko wurde natürlich in den Statuten angesprochen und von jedem Neumitglied – neben all den anderen Bestimmungen – zur Kenntnis genommen, anerkannt und unterschrieben. Ziel der Gesellschaft war es, jedem ihrer Mitglieder die einmalige Möglichkeit zu gewähren, sich eines Todfeindes ein für alle Mal zu entledigen. Dabei kam es darauf an, dass die zu beseitigenden Personen tatsächlich üble Geschöpfe waren, die es – zumindest in den Augen der Gesellschaft – nicht verdient hatten, am Leben zu bleiben und damit weiterhin Schaden anzurichten. Selbstverständlich ließ sich die Gesellschaft nicht dazu benutzen, harmlose Zeitgenossen, die allenfalls eines ihrer Mitglieder ein wenig geärgert hatten, vom Leben zum Tode zu befördern. Da mussten schon richtige Beweise auf den Tisch gelegt werden, Zeugen wurden angehört, es gab Beratungen, mehrere Gremien beschäftigten sich mit dem Anliegen, das Ganze glich einer Gerichtsverhandlung – die freilich in den allermeisten Fällen mit einem Todesurteil endete. Nun verfügte die Gesellschaft aber keineswegs über Berufskiller oder Auftragsmörder. Jedes einzelne Mitglied war an der Vollstreckung des Urteils beteiligt. Das wiederum hatte den notwendigen Nebeneffekt, dass nichts nach außen drang. Jedes Mitglied war – aufgrund seiner eigenen Beteiligung an früheren Vollstreckungen – mitschuldig, das heißt: erpressbar. Jeder war daran interessiert, dass die Geheimgesellschaft eine Geheimgesellschaft blieb. Nehmen wir einmal an, ein Mitglied war an der Reihe, hatte seinen Antrag gestellt und begründet, das
Entscheidungsgremium hatte einen positiven Entschluss gefasst, das heißt: Der Antrag war genehmigt – dann wurde ein Vollstreckungsdatum festgesetzt. Sämtliche Mitglieder wurden umgehend informiert. Sie erhielten einen dicken Umschlag, in dem mehrere Fotos des Delinquenten enthalten waren, darüber hinaus seine Lebensgeschichte sowie eine detaillierte Aufzählung seiner Verfehlungen. Jedes Mitglied hatte sich zunächst eingehend mit der Person des Delinquenten zu befassen. Dann endlich kam der Tag der Vollstreckung. Das Opfer, das heißt, der zum Tode Verurteilte, wusste von alledem nichts. Niemand hatte ihn informiert. Er lebte völlig ahnungslos in New York oder in Lüneburg oder in Amsterdam oder wo auch immer. Er ging seinen üblichen Beschäftigungen nach, arbeitete in seinem Büro oder in seiner Werkstatt, in einem Supermarkt oder auf dem Feld. Ging nach Hause oder noch auf ein Bier in eine Kneipe, schlief mit seiner Frau oder spielte mit seinem Kind. Inzwischen kam der Zeitpunkt der Vollstreckung näher und näher. In vielen Ländern der Erde beschäftigten sich zur gleichen Zeit mehrere tausend Menschen mit dieser einen Person. Je näher der bewusste Zeitpunkt rückte, desto mehr ging die bloße Beschäftigung in Konzentration über. Stellen Sie sich einmal vor, zweitausendfünfhundert Menschen, verteilt über die ganze Erdkugel, denken zu einem bestimmten Zeitpunkt alle gleichzeitig an Sie. Es ist die Verschmelzung von zweitausendfünfhundert Einzelbewusstseinen zu einem gigantischen Kollektivbewusstsein. Und dieses Überbewusstsein denkt nichts Positives. Es wünscht Ihnen Unheil, Verderbnis, es wünscht Ihnen den Tod. Dieses Phänomen ist in der Fachliteratur keineswegs unbekannt. Man spricht von einer fokussierten Bannung.
Am Dienstag, dem 27. März, exakt von sechzehn Uhr zwanzig bis sechzehn Uhr dreißig, konzentrieren sich zweitausendfünfhundert Menschen, die sich zuvor intensiv mit Ihrer Persönlichkeit befasst haben, mit all ihrer zur Verfügung stehenden Geistes- und Vorstellungskraft auf Ihren Tod. Sie kennen diese Menschen nicht. Aber diese Menschen kennen Sie! Vielleicht sitzen Sie gerade an einem Tisch, haben sich einen Kaffee aufgebrüht und sind dabei, einen Brief zu schreiben. Zur selben Zeit legen zweitausendfünfhundert Menschen die Hände an die Schläfen, schließen die Augen und konzentrieren sich auf Sie. Sie schicken Ihnen böse Energie, negative Energie. Plötzlich entgleitet Ihnen der Bleistift. Sie ergreifen ihn, um weiterzuschreiben, doch der Stift rutscht unkontrolliert übers Papier. Sie greifen nach der Tasse, um sich mit einem Schluck Kaffee zu beruhigen. Ihre Hand zittert jedoch so stark, dass Sie den Kaffee verschütten, die Tasse fällt zur Erde, zersplittert. In Ihrem Kopf gerät alles durcheinander: Es blitzt und donnert, Rufe und Schreie vernehmen Sie, Licht und Dunkelheit in rasendem Wechsel, kein klarer Gedanke mehr möglich. Sie stehen auf, wollen die Situation verändern, vielleicht dadurch das Chaos in Ihrem Kopf beeinflussen. Ihre Beine gehorchen nicht wie sonst. Jeder Schritt, den Sie tun, erfordert ungeheure Anstrengung. Aber wie soll die Konzentration eines Einzelnen standhalten können mit der destruktiven Wucht der geballten Gedanken von zweitausendfünfhundert anderen Menschen? Sie haben keinerlei Chancen mehr, Sie wissen es nur noch nicht. Sie verlassen den Raum, stolpern die Treppe hinunter, nur raus aus diesem Haus, weg von diesem Ort! Sie wollen fliehen, wissen zwar nicht wovor und wohin, doch dass Sie hier nicht bleiben können, das ist Ihnen schon klar. Sie taumeln auf die Straße. Das Licht blendet, Sie halten schützend Ihre Hände vor die
Augen und laufen weiter. Nur weg von hier! Alles ist so grell, so laut, so wirr! Zweitausendfünfhundert Gedankenblitze haben Sie am Kragen gepackt, sich in Ihren Armen, in Ihrem Bauch, in Ihren Beinen eingenistet, festgekrallt. Zweitausendfünfhundert Gedankenblitze zucken durch Ihren gemarterten Kopf, der zu platzen droht, es gibt kein Entrinnen mehr, es ist zu spät, es ist aus, vorbei. Von Ferne hören Sie Autohupen, Reifen quietschen. Egal, Ihnen ist nun alles egal. Alles ist ohnehin so weit entfernt. Und schließlich ist es irgendwie zu Ende. Aber das ist nicht mehr Ihre Sache. Zweitausendfünfhundert Menschen spüren, dass ihre Arbeit getan ist, sie beenden ihre Sitzung, vernichten sämtliche Unterlagen und gehen wieder an ihre alltäglichen Verrichtungen, und irgendwann erfahren sie, dass sie – gemeinsam mit zwei-tausendvierhundertneunundneunzig Gesinnungsgenossen – ihr Ziel erreichten: Das Urteil ist vollstreckt. Und jeder weiß: Es kommt der Zeitpunkt, an dem er selbst an der Reihe ist, an dem er bestimmen darf, wer zu sterben hat. Und mit einem Schlag wird mir klar: In diesen Fällen wissen die Delinquenten nichts von dem, was auf sie zukommt. Das bedeutet: Es muss doch noch eine andere Dimension des Tötens durch Vorstellungskraft existieren. Bisher ging ich immer davon aus, eine Grundvoraussetzung des Tötens durch Geisteskraft sei, dass das Opfer von seinem bevorstehenden Tod weiß und auch an diese Art des Sterbens beziehungsweise Tötens glaubt. Diese US-Geheimgesellschaft hat meinen Überlegungen einen ganz neuen Aspekt hinzugefügt. Oder habe ich das alles nur in einer Geschichte gelesen? Vielleicht im Kino gesehen? Hat es mir jemand als angeblich wahre Geschichte erzählt?
Man kennt ja diese unglaublichen Storys, die sich dann im Nachhinein als bloße Hirngespinste oder Aufschneidereien herausstellen. Oder habe ich alles nur geträumt?
13
Träume. Aus welchen Bewusstseinsschichten kommen sie zu uns herüber? Was haben sie zu bedeuten? Was soll ich mit ihnen anfangen? Was bewirken sie? Meistens erinnere ich mich nicht an meine Träume. Manchmal ist da nur so eine diffuse Stimmung, ein vages Gefühl. Wenn ich weiter nachspüre – sehe ich vielleicht ein Bild. Dann noch ein Bild, plötzlich eine ganze Sequenz von Bildern, wie ein Film. Je länger ich mich auf die Bilder einlasse, desto zahlreicher werden sie. Da bilden sich Strukturen, eine ganze Geschichte. Möglicherweise völlig abstrus. Fremd. Rätselhaft. Aber es kommt alles aus meinem Kopf. Was hat diese Geschichte mit mir zu tun? Ich könnte es nachlesen bei Sigmund Freud, auch könnte ich einen Seelenfachmann befragen. Ich kann mich aber auch auf meine eigenen Kräfte verlassen und die Lösung selbst suchen. Neulich bröckelten mir im Traum ein paar Zähne aus dem Mund. Unangenehme Vorstellung! „Das ist ein böses Zeichen“, wusste Georg sofort, „dann stirbt jemand aus deiner engeren Umgebung.“ Blödsinn! Esoterischer Quatsch! Es sind noch alle am Leben. In der Zeitung las ich neulich über die italienische Schönheitskönigin Marcella Mariani. Sie hatte einen Brief an ihre Mutter geschrieben: „Liebe Mama, ich habe in der letzten Nacht einen furchtbaren Alptraum gehabt. Mir träumte, dass unser Flugzeug in eine tiefe Schlucht abstürzte. Ich will dir nicht Angst machen, Mama, aber mein Herz klopft. Trotzdem wage ich es nicht,
von diesem Flug zurückzutreten. Man könnte sonst über mich lachen. Liebe Grüße, Marcella.“ Als Marcellas Mutter diesen Brief erhielt, war ihre Tochter schon zwei Tage tot. Ihr Flugzeug war in eine Schlucht gestürzt. Niemand hatte überlebt. Das ist seltsam, aber nachvollziehbar. Wenn jemanden die Angst vor dem Fliegen erst einmal gepackt hat, dann sind auch die Alpträume nicht mehr weit. Aber da ist noch eine andere Ebene des Träumens. Ich denke an ein Erlebnis aus meiner späten Schulzeit. Ich wohnte damals zur Miete in einem kleinen möblierten Zimmer. Da war ein Riesenschrank – viel zu wuchtig für die Größe des Räumchens – der drohte mich nachts manchmal zu erschlagen, bewegte sich dann auf mich zu, wenn ich auf meinem Bett lag – unter mir der Bücherstapel als Ersatz für das abgebrochene Bein. Der Schrank und auch das Bett gehörten nicht mir, sie waren Eigentum meiner Vermieterin, deren Hauptanliegen war, ihre Unansehnlichkeit über den Tag zu retten. Und dann der alte Küchentisch, der mir als Schreibunterlage diente – der hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Mindestens fünf verschiedene Anstriche verdeckten den Blick auf sein wahres Wesen aus Kiefernholz. Zwei Bierdeckel unter einem seiner farbumkleisterten Holzbeine ermöglichten mir ein wackelfreies Schreiben. Das lange Holzbrett an der Wand hatte ich, entgegen der ausdrücklichen Weisung meiner Vermieterin, keine Löcher in die Wände zu bohren, mit Dübeln befestigt. Wo sonst hätte ich meine Bücher deponieren können? Mein Nachbar, ich wusste nicht einmal seinen Namen, jedenfalls bewohnte er die Kammer gleich nebenan, der hatte mir eine Bohrmaschine geliehen und ich hatte sodann mit ihrer Hilfe vier Löcher in die Wand gebohrt, um das Brett für meine Bücher, den Staub und die Spinnen anzuschrauben.
Mein Nachbar war, so glaubte ich, Student der Philosophie. Er wohnte erst seit vier Monaten hier. Zwei- oder dreimal hatte ich ihn bisher gesehen: einmal, als ich den Bohrer auslieh und dann noch einmal an der Bushaltestelle. Da übersah er mich. Vielleicht war ihm gerade nicht nach Reden zumute. Nachts hörte ich ihn manchmal in seinem Zimmer hin- und hergehen. Einmal ist unsere Vermieterin unten an die Treppe gekommen und hat heraufgekeift, er solle sich doch endlich hinlegen, dieses ewige Knarren des Fußbodens, das sei ja unerträglich, sie müsse morgen wieder früh aufstehen (weshalb eigentlich?), sie könne es sich schließlich nicht leisten, bis in die Puppen im Bett liegen zu bleiben. Er antwortete ihr nicht, aber die Schritte verstummten. Schon mehrmals hatte ich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich meinte, er fühlte sich vielleicht sehr einsam. Kein einziges Mal in den vergangenen Wochen hatte er Besuch bekommen. Ich hatte jedenfalls niemanden gesehen, der zu ihm wollte. Während all der Nächte, wenn ich nicht gerade unterwegs war, hatte ich Geräusche aus seiner Kammer gehört. Auch am Tage. Er war eigentlich immer zu Hause. Niemals war Musik bei ihm zu hören, immer nur diese Schritte. Ich selbst stellte mein Radio nur noch ganz leise, ich wollte ihn nicht stören. Meine Gitarre stand seit Wochen unberührt in der Ecke. Wie gerne hätte ich manchmal ein paar Lieder gezupft, aber vielleicht wäre er dann in seinen Studien unterbrochen worden, so dachte ich mir. Später erzählte Frau Klein, unsere Vermieterin, mir hinter vorgehaltener Hand, dass er gar kein Student sei. Das habe sie von ihrer Nichte erfahren, die müsse es ja wissen, die sei nämlich an der Universität als Schreibkraft beschäftigt. Frau Klein wollte ihn nun aus dem Haus werfen, weil er sich beim Einzug als Philosophiestudent ausgegeben hatte. Ich fragte sie, ob er denn seine Miete regelmäßig bezahle.
„Sicher“, antwortete sie, „aber man lügt doch nicht! Ich dulde in meinem Hause keine Lügner!“ Ich verspürte keinerlei Bedürfnis, mit Frau Klein noch länger über ihren zweiten Untermieter zu palavern, und so stieg ich die steile Holztreppe empor. Ich nahm mir vor, noch einmal zu versuchen, mit meinem Nachbarn in Kontakt zu kommen. Weshalb hatte er sich als Student ausgegeben? Warum verließ er so gut wie nie sein Zimmer? Wovon lebte er eigentlich? Wo kam er her? Was für Pläne hatte er? Oben angelangt wartete ich, bis Frau Klein unten die Tür wieder hinter sich verschlossen hatte. Ich stand nun im unausgebauten Teil des Dachbodens, umgeben von Socken, Unterhosen, Hemden und Laken, die hier zum Trocknen an einer Wäscheleine hingen. Hinter der Tür des Nachbarn war kein Laut zu vernehmen. Ich gab mir einen Ruck und trat auf seine Tür zu, die direkt neben der meinen lag, ich klopfte – keine Reaktion. Ich klopfte ein zweites Mal, diesmal etwas kräftiger – wieder nichts. Na ja, dachte ich, das ansonsten Unübliche ist wohl eingetroffen, er ist halt nicht zu Hause. Ich schloss mein Zimmer auf, ging hinein, ließ mich auf meine Matratze fallen und wunderte mich, dass ich noch nicht einmal seinen Namen kannte. Während ich so dalag, hörte ich plötzlich wieder diese Schritte aus seinem Zimmer. Er ging auf und ab. Drei Schritte hin, drei Schritte zurück. Er musste also doch in seiner Kammer gewesen sein, als ich anklopfte. Wäre er erst in der Zwischenzeit die Treppe heraufgekommen, ich hätte das Knarren der Stiegen gehört. Eigenartig, dachte ich, aber was soll’s, dann eben nicht. Ich griff nach meinem Buch – Nachtflug von Antoine de SaintExupery – und versuchte zu lesen. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass ich zwar etliche Seiten angestarrt, die Buchstaben
wohl auch mit den Augen einzeln abgetastet, nicht jedoch deren Sinn begriffen hatte. Ich schob das Buch auf das Nachttischchen mit der geklebten Marmorplatte oben drauf, entkleidete mich, streckte mich auf dem Bett aus, schaltete das Radio ein, die Lampe aus und hörte auf die Musik. Sie sendeten gerade eines dieser nicht enden wollenden Popstücke, bei denen die ewige Wiederholung ein und desselben Kompositionsschnipsels irgendwann zu nerven beginnt. Also drehte ich am Senderwahlknopf und fand auch tatsächlich die Musik, nach der mir im Moment zumute war: die Symphonie Nummer vierzig in G-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart. Irgendwann schlief ich ein und wachte erst von einem scharfen Zischlaut wieder auf. Es war inzwischen nach Mitternacht, keine Sendungen mehr im Radio – so war das damals. Ich schaltete den Kasten aus, drehte mich auf die Seite – und konnte nicht mehr einschlafen. Und da waren sie wieder, diese Schritte von nebenan. So langsam wandelte sich mein anfänglich freundliches Interesse für diesen Menschen in eine gereizte Ungehaltenheit. Wenn er doch nur endlich Schluss machen wollte mit dieser ewigen Hin- und Herrennerei! Endlich war es still und ich kam zur Ruhe. Kurz darauf geschah es: Ich war soeben dabei, die sanfte Grenze zwischen Wachsein und Schlaf zu passieren, ich könnte heute beim besten Willen nicht mehr sagen, welchem der beiden Zustände ich in diesem Moment näher war – jedenfalls kam mein Nachbar durch die Wand. Mein Nachbar, dieser in sich gekehrte junge Mann, der falsche Student, der Hin- und Herwanderer, er kam durch die Wand, einfach durch die Wand, ging zwei Schritte auf mich zu und flüsterte – sein Gesicht sah verzerrt aus, irgendwie verschoben – Hilf mir! Du musst mir helfen! Hilf mir doch!
Er streckte mir seine Hände entgegen. Im nächsten Augenblick saß ich aufrecht in meinem Bett, das Herz schlug mir bis in den Hals, und dann war mein Nachbar wieder verschwunden. Ich horchte in die Richtung seines Zimmers: Stille, Totenstille! Was, um alles in der Welt, war das eben? Ein Traum! Oder doch nicht? Der schrille Schrei eines Vogels drang von draußen durch die Fensterritzen. Langsam ließ ich mich in mein Bett zurücksinken. Ich wagte kaum, mich zu bewegen. Irgendwann bin ich dann doch noch eingeschlafen. Am Morgen wachte ich von mehreren gedämpften Stimmen auf, sie kamen von unten. Ich trat an mein Fenster und sah, wie sie ihn hinaustrugen, meinen Nachbarn. Ich fühlte mich zerschlagen und elend, wie nach einer durchzechten Nacht. Ich schlich wieder ins Bett zurück. Eine Stimme war nicht gedämpft, die war eher schrill: „Aufgehängt hat der sich! In meinem Haus! Diese Schande!“, keifte Frau Klein. Nur zwei Schritte entfernt, hinter einer dünnen Wand, dachte ich. An diesem Tag bin ich im Bett geblieben. Wo ich bin, sterben Menschen, schon damals war es so. Aber ist der Tod nicht überall? Die große Pappel im Garten hat die meisten ihrer Blätter abgeworfen. Dabei ist der Herbst noch weit. Seit Wochen schon fiel kein Regen mehr. Die Pappel kann ihre Blätter nicht mehr versorgen. Aber sie wird nicht sterben. Sie wartet auf den kühlen Regen.
14
Mein Nachbar Willi rückt mir auf die Pelle, kommt mir einfach zu nahe. Jeder halbwegs sensible Mensch ist doch von einem unsichtbaren Bannkreis umgeben, den es zu respektieren gilt. Darüber braucht man überhaupt nicht zu reden, das weiß man eben. Mein Nachbar ist kein sensibler Mensch, er ist ein einfach strukturierter Landwirt, ein tumber Bauer. Sein untersetzter Körper steckt meistens in einem ausgewaschenen Schlosseranzug, auf dem Kopf trägt er ein abgegriffenes Hütchen aus rissigem Kunstleder, die Schweinsäuglein irren unruhig hin und her, als gelte es, den Hof jederzeit vor feindlichen Eindringlingen zu schützen. Weshalb tragen Bauern eigentlich immer Schlosseranzüge? Gibt es dafür einen triftigen Grund? Strafgefangene tragen auch Schlosseranzüge. Willi ist kaum in der Lage, über die Grenzen seines Hofes und der angrenzenden Gehöfte hinauszublicken. Er ist ein Gefangener seines bäuerlichen Triebes. Und er weiß nichts von Bannkreisen. Er missachtet meine Privatsphäre. Es widerstrebt mir auch, von meinem Nachbarn zu sprechen. Er ist nicht meiner. Willi gehört sich selbst, ich will ihn nicht haben, er stört meine Kreise. Früher war das anders, da lag sein Hof auf der anderen Seite der Straße, etliche Büsche, Bäume und ein langgestrecktes Feld zwischen uns. Da habe ich nicht sonderlich viel von ihm mitbekommen, und das war auch gut so. Geschützt durch die räumliche Distanz pflegten wir immerhin so etwas wie einen freundschaftlich nachbarschaftlichen Umgang miteinander – natürlich wohldosiert, meistens am Neujahrstag, und das hatte dann auch wieder für ein Jahr zu genügen. Doch dann hat er in einem
Anfall geistiger Umnachtung – obwohl das eigentlich kaum denkbar ist, da ein Anfall geistiger Umnachtung stillschweigend voraussetzt, dass zuvor eine gewisse geistige Erleuchtung vorhanden gewesen sein muss, aber lassen wir das – dann hat er jedenfalls seinen Hof verkauft und von dem Erlös quasi vor meiner Nase, auf alle Fälle in Sichtweite, ein neues Haus gebaut. Ursprünglich wollte er die Landwirtschaft mehr oder weniger aufgeben, so sagte er jedenfalls damals. Ein paar Pferde wollte er halten, Hühner und Gänse. Es sich gut gehen lassen. Später vielleicht noch zwei oder drei Kühe. Doch schon bald kam bei ihm mit Macht der innere Bauer wieder zum Vorschein. Vermutlich, weil das Bauerndasein das Einzige ist, was er halbwegs überblickt und beherrscht. Er fährt sehr gerne Trecker, kann stundenlang mit seinem Frontlader spielen und liebt seine Motorsäge. An manchen Tagen sägt er Stunde um Stunde in seinem Wäldchen. Die Säge heult, die Baumstämme krachen – das macht ihm Spaß. Dann muss der Frontlader ran. Und immer Vollgas, da freut der Willi sich. Und wenn Willi eine Zigarette raucht oder ein Butterbrot isst, dann steht der Frontlader derweil mit laufendem Motor auf dem Feld – in seiner und meiner Sicht- und Hörweite. Mit dem Frontlader holt er die gefällten Bäume aus dem Wäldchen und transportiert sie auf die kleine Weide, nicht weit entfernt von unserem Haus. Natürlich müssen die Baumstämme entastet und anschließend in gleich lange Teile zerschnitten werden. Die wirft er dann auf einen Anhänger. Das gibt jedes Mal ein donnerndes Geräusch. Es klingt, als würde im Hafen ein Schiff beladen. Dazwischen das Gekreisch der Säge, der Frontlader steht natürlich währenddessen mit blubberndem Motor und Dieselwolken ausstoßend auf der kleinen Weide. Zwischendurch setzt sich der Bauer in das Führerhäuschen seines Frontladers und fährt ein paarmal Hin und her. Einen anderen Sinn als den, dass er einfach mal ein bisschen fahren
muss, habe ich bisher beim besten Willen nicht erkennen können. Ich nehme an, dass die meisten Tätigkeiten meines Nachbarn, der nicht mein Nachbar ist, Zwangshandlungen sind. Er ist ein kranker Mann. Er sollte mir leid tun. Aber so weit bin ich noch nicht, eine derartige menschliche Größe vermag ich vor dem Hintergrund des nervenden Verhaltens meines Nachbarn nicht aufzubringen. Im Gegenteil, ich hasse ihn. Aber lassen Sie mich weitererzählen. Natürlich ist das Wäldchen meines Nachbarn nicht groß genug, als dass er tage-, wochen- und monatelang immer nur Bäume fällen könnte. So schnell wächst kein Baum nach. Da muss er sich schon noch ein anderes, ein zusätzliches Betätigungsfeld suchen. Zuerst hatte er fünf Rinder. Die grasten friedlich auf der kleinen Weide und störten niemanden. Fünf grasende Rinder auf einer Weide können eine durchaus beruhigende Wirkung auf den Betrachter ausüben. Ländliche Idylle, ein Stückchen heile Natur, Kühe statt Bush – diesen Slogan hätte ich jederzeit unterschrieben. Doch es blieb nicht bei fünf Rindviechern. Zuerst wurden Kälbchen geboren. Da waren die Rindviecher schon nervöser. Vorbei war’s mit der ländlichen Ruhe. Denn kaum entfernte sich eines der Jungtiere nach Ansicht der jeweiligen Mama mal ein paar Meter zu weit aus dem vorgeschriebenen Kuhradius, der im Übrigen in seiner Grundstruktur durchaus mit meinem verletzten Privatsphärenbannkreis zu vergleichen ist, nur eben in umgekehrter Richtung, aber machen Sie das mal einem tumben Bauern klar, da ging das hysterische Gemuhe schon los. Und aus lauter Solidarität oder Blödheit, wer weiß das schon so genau, fielen alle übrigen Kühe in das Kuhgezeter ein, völlig ohne Sinn und Verstand, denn ich gehe davon aus, dass außer der Kuhmutter keiner anderen Kuh klar war, weshalb sie muhte. Und wenn ich’s mir recht überlege, wusste
wahrscheinlich noch nicht einmal die betroffene Kuhmutter selbst, weshalb sie sich die Lunge aus dem Leib brüllte. Das wäre ja auch noch alles zu ertragen gewesen, aber mein Nachbar, der nicht mein Nachbar ist, beließ es nicht bei den fünf Rindern, zuzüglich der dazugehörigen Jungtiere. Willi schaffte nach und nach noch weitere Rindviecher an, handelte dabei sicherlich unbewusst und stumpf, von einem bisher noch unerforschten Bauerninstinkt getrieben, intellektuell etwa auf der gleichen Stufe wie seine Tiere. Schließlich drängelten sich mehr als dreißig Kühe auf der viel zu kleinen Weide. Hinzu kam eine unübersehbare Zahl an Kälbern, und wenn dann mal eins der Kälber den vorgeschriebenen Kuhradius… Sie wissen Bescheid und können sich die Situation vorstellen. Ich jedenfalls kann das Geblöke nicht mehr ertragen, ich verliere noch den Verstand. Am schlimmsten ist die trügerische Ruhe zwischen den einzelnen Muh-Attacken. Ständig bin ich darauf gefasst, warte förmlich darauf, dass das Gebrüll wieder mit Urgewalt über mich hereinbricht. Es ist ein permanenter Alarmzustand. Vor ein paar Wochen kam mein Nachbar, der nicht mein Nachbar ist, wieder einmal mit seinem Frontlader angeblubbert. Zog einen Anhänger hinter sich her, der voll beladen mit undefinierbaren Gerätschaften war. Nun kann ich ja durch die Büsche nicht alles genau erkennen, manches entzieht sich auch vollends meinem Blick – Gott sei Dank – doch bekam ich immerhin ziemlich genau mit, dass er mal wieder hin- und herfuhr. Zehn Meter in die eine, zehn Meter in die andere Richtung. Das ging so ein paar Stunden. Hospitalismus, diagnostizierte ich. Wahrscheinlich sperrte seine Frau ihn öfter mal ein, und hier offenbarten sich mir nun die unausweichlichen psychosomatischen Folgen jahrelanger Gefangenschaft.
Ganz so war es dann doch nicht, wie sich später aufgrund akribischer Nachforschungen meinerseits herausstellte. Er schuf baggernd die Grundvoraussetzungen für ein Fundament. Die Grundlage jeder Basis ist das Fundament, schoss es mir reflexartig durch den Kopf, doch was hatte er denn nun konkret vor? Ich sollte es schon sehr bald erfahren, denn bereits am folgenden Tag begann er tatsächlich mit Sand, Zement und Wasser zu hantieren, indem er das Fundament für ein Gebäude von nicht unerheblicher Größe goss, begleitet von dem ewig rumpelnden Geräusch eines betagten Betonmischers. Und das alles quasi auf meiner Grundstücksgrenze. Dann war zwei Tage Ruhe, abgesehen von den immer wiederkehrenden Geräusch-Angriffen der Rindviecher. Aber wenn Sie nun glauben, mein Nachbar (Sie wissen schon) hätte aufgegeben, dann kennen Sie meinen Nachbarn schlecht. Er wartete lediglich ab, bis der Beton ausgetrocknet war. Und nun ging es erst richtig los. Willi kam nicht alleine. Er brachte noch drei weitere Männer mit und außerdem zwei Anhänger voller Bretter, Metallträger, Werkzeuge und sonstiger Utensilien, die meistens mit Krach verbunden sind. Sie begannen zu sägen, zu bohren und zu hämmern und riefen sich obendrein zwischendurch immer wieder kurze Sätze zu, in einem Dialekt, den ich nicht verstand. Es muss sich um eine mir bis dahin unbekannte emsländische Stammessprache gehandelt haben. So ging es vier Tage. Um es kurz zu machen: Sie bauten eine Scheune. Am fünften Tage kam der Frontlader erneut zum Einsatz. Mein Nachbar fuhr wieder stumpfsinnig hin und her. Er konnte allerdings seinem Hospitalismusschub einen gewissen Sinn verleihen, indem er Strohballen transportierte. Von der Weide in die Scheune und wieder zurück, und wieder von der Weide in die Scheune und wieder zurück… War es reiner Zufall oder muss ich letztlich meinem Nachbarn zugestehen, dass er womöglich in der Lage ist, kraft seines
dann ja wohl doch vorhandenen, wenn auch begrenzten Verstandes die zwanghaften Auswirkungen seiner Erkrankung zumindest scheinbar in sinnvolle Handlungen umzuwandeln? Ich weiß es nicht und es ist mir auch ziemlich egal. Fest steht jedenfalls: Er nervte! Und die Aussicht, dass die brüllenden Rindviecher nun ihre Heimstatt direkt vor meiner Nase finden sollten, machte mich auch nicht gerade fröhlicher. Wenn ihm nichts Besseres einfällt, fährt Willi Gülle. Ich hab keine Ahnung, wie viele tausend Liter in seinen Tankwagen passen. Den leert er jedenfalls auf seinem Feld, zuckelt gemächlich wieder zurück zu seinem Güllekeller, füllt den Tank erneut, um das stinkende Gebräu wieder und wieder aufs Land zu pumpen. Ein beißender Geruch, der sogar in den Augen brennt, hängt dann für Stunden in der Luft. Manchmal habe ich den Eindruck, mein Nachbar macht das alles nur, um mich zu quälen. Keine Mühe scheint ihm zu groß zu sein, um mich fertig zu machen. Ich glaube, er hasst mich. Er hat mir den Krieg erklärt. Eine seiner perfidesten Methoden, mich zu demütigen, besteht darin, dass er – nachdem er einmal wieder zwei oder vier Stunden mit dem Traktor hin und her gefahren ist – so tut, als habe er seine Arbeit nun beendet und fahre jetzt endlich heim, um den Traktormotor abzustellen und – sofern die Kühe einmal nicht schreien – Ruhe einkehren zu lassen. Gerade, wenn ich erleichtert aufatmen will, wendet er den Trecker und fährt wieder zurück, direkt auf mich zu, lenkt den Trecker bis an meine Grundstücksgrenze, fährt dann quer und beginnt das Spiel von neuem: hin und her und hin und her. Ich bin sicher, ich habe ihn schon einmal grinsen sehen, hinter seiner Windschutzscheibe. Ich könnte schwören.
Neulich las ich, Walter Kempowski habe das an sein Grundstück angrenzende Feld in seinem Dorf Nartum gekauft, um in Ruhe arbeiten zu können. Wie gut ich ihn verstehen kann! Aber so ein Feld ist teuer. Das kann sich nicht jeder leisten. Ich habe nun mal nicht so viel Geld wie Walter Kempowski. Ich werte schließlich keine Tagebücher fremder Leute aus, ich schreibe meine Geschichten noch selbst. Aber so ganz stimmt das ja auch nicht, wenn ich’s recht bedenke. Zur Zeit diktiert mir mein Nachbar, der nicht mein Nachbar ist, meine neueste Geschichte. Und so geht sie weiter: Die Rinder sind da, die Kälber sind auch da, die Scheune ist fertig gebaut, der Wald ist mehr oder weniger abgeholzt -aber die dröhnenden Maschinen müssen laufen, sonst ergibt das bäuerliche Leben keinen Sinn! Und wo befindet sich der geeignete Ort für solches Tun? Natürlich direkt an der Grundstücksgrenze zum empfindlichen Nachbarn. Was kann ein Mensch im Laufe seines Lebens Schlimmes anstellen, dass der Herrgott ihm zur Strafe Willi schickt? Gestern rückte Willi wieder an. Diesmal mit seiner Frau Roswitha im Schlepptau. Mit ihr arbeitet er anscheinend besonders gern. Kann sie hierhin und dorthin schicken, sie fragt nicht, murrt nicht, sie funktioniert nur – genau wie sein Traktor. Nachdem er nun wieder ein paar Stunden mit seinem Schlepper viereinhalb Meter hin und viereinhalb Meter her getuckert war, sie währenddessen irgendwelche Gegenstände zur Seite geräumt und seine Befehle ausgeführt hatte, während gleichzeitig die Rinder ihr Höllenkonzert erklingen ließen – da ist, ich muss es einfach so sagen, das innere Güllefass bei mir übergelaufen. Ich habe ihn verflucht. Oder anders gesagt: Ich habe ihn verwünscht, ihn in Gedanken zum Teufel gejagt, ihm die Pest an den Hals gedacht, ich stellte mir heftig vor, dass er stirbt, verendet, seine Seele für immer aushaucht. Ich bündelte
all meine Gedankenkraft, versah sie mit negativer Energie der übelsten Sorte und schleuderte sie, wie einst Zeus, in Richtung meines ungeliebten Nachbarn, der nicht mehr mein Nachbar sein sollte. Ich wünschte, er wäre tot. Das war gestern.
Heute Morgen rief mein Nachbar von der anderen Seite an, der mit der grellen Hundepfeife, von der er immer behauptet, nur sein Hund könne sie hören – was für ein Unfug! Ich jedenfalls kann sie sehr gut hören, diese blöde Pfeife. Dieser Nachbar also rief an und sagte, wobei seine Stimme einen verschwörerischen Ton annahm: „Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, Willi ist tot. Ist in seinen Güllekeller gefallen. Keiner weiß, wie das passieren konnte. Roswitha hat ihn gestern Abend überall gesucht, ist dann ins Bett und heute früh zur Polizei. Dann haben sie ihn im Güllekeller gefunden. Ersoffen. In der eigenen Scheiße ersoffen. Musst du dir mal vorstellen. Ist das nicht entsetzlich?“ Schlagartig wurde mir bewusst, dass meine Imagination die Dinge wohl tatsächlich verändern kann. „Ja, entsetzlich“, sagte ich und legte den Hörer auf die Gabel. Wir haben ja noch so ein altmodisches Telefon, bei dem man wirklich von Auflegen sprechen kann, wenn man das Gespräch beenden will. Der Herrgott hat also doch ein Einsehen gehabt und Gnade walten lassen. Mein Hundepfeifen-Nachbar, der auch nicht mein Nachbar ist, plant seit längerer Zeit eine Hunde-Pension. Mir wird jetzt schon ganz übel, wenn ich mir das ewige Gekläffe vorstelle. Er sollte vorsichtig sein. Er sollte sich wirklich überlegen, was er tut. Für die Folgen seines Handelns ist jeder schließlich selbst verantwortlich.
Und Jesus kann ihm dann irgendwann auch nicht mehr helfen. Der ist nämlich nun endgültig verschwunden von seinem Kreuz am Wegesrand. Hat sich vom Acker gemacht. Nur ein heller Schatten auf dem verwitterten Holzkreuz erinnert noch an Jesus. Es regnet jetzt. Endlich regnet es.
15
Der Blick nach draußen: Eine Obstwiese, Birn-, Apfel- und Kirschbäume, Äpfel im regenfeuchten Gras, gelbe Äpfel, hellgrüne mit roten Einsprengseln, manche mit braunen Druckstellen, andere schon einseitig oder sogar völlig verfault. Schnecken und Ameisen finden reichlich Nahrung, natürlich auch die Vögel. Im vergangenen Jahr beobachtete ich einen Igel, der sich bis in den Winter hinein von den Apfelresten ernährte. Die ersten Krähen rufen, der Sommer neigt sich seinem Ende zu. Immer wieder empfinde ich den Frühling als die schönste der Jahreszeiten: Alles ist neu, das Leben erwacht, endlich wird es wieder heller. Die Sommersonne streichelt meine Haut, doch ihre Wärme weckt schon die leise Furcht vor der Kühle des Herbstes, vor dem immer schneller sich drehenden Rad der Zeit. Kündigt er sich dann an, der Herbst, genieße ich auch ihn. Es gibt kaum einen schöneren Anblick als sanft hügelige Felder im Sonnennebel. An den Winter mag ich noch nicht denken. Nach welchem Ordnungsprinzip lässt der Apfelbaum seine Früchte fallen? Ist es Zufall, wenn mehrere Früchte, gemeinsam mit herabgewehten Blättern und Zweigen, ein Ensemble bilden, wie es ein Künstler nicht effektvoller hätte arrangieren können? Ein Apfel, der auf das gläserne Dach meines Wintergartens stürzt, zerplatzt, hinterlässt ein paar Tropfen seines Saftes auf dem Glas, ein schmales Rinnsal fließt herab, der Apfel landet im Gras, wo er regungslos mit aufgerissener Oberfläche liegen bleibt. Der Fäulnisprozess kann beginnen.
Es gibt Menschen, die faulen schon, bevor sie zur Erde fallen. Vielleicht sind sie auch schon längst ganz unten und haben es nur noch nicht bemerkt.
Mit Georg nach Holland. Nur wir beide. Christine hat keine Zeit, sie muss Klausuren korrigieren. Schade! Und dennoch: Ein netter Nachmittag soll es werden, weiter nichts. „Bist du eigentlich glücklich mit Christine?“, fragt Georg. „Wieso fragst du?“, sage ich, und Georg scheint in Gedanken schon längst wieder ganz woanders zu sein. Schweigend blickt er aus dem Autofenster. Schmucke Bauernhäuschen huschen vorüber. Sorgfältig gepflegte Vorgärten, alles sehr ordentlich, fast klinisch sauber. Ausrangierte landwirtschaftliche Gerätschaften wie Pflüge, Holzkarren mit Speichenrädern und steinerne Tröge bilden ebenso ein schmückendes Ambiente wie purer Kitsch: tönerne Zwerge, Rehlein, bunte Miniwindmühlen. Die fehlenden Gardinen ermöglichen bei den meisten Häusern den kompletten Durchblick. „So offen wie ihre Häuser sind die Bewohner mit Sicherheit nicht“, sinniert Georg. „Aber es ist ein sympathischer Zug, nicht alles zu verriegeln und zu verrammeln“, gebe ich zu bedenken, „als hätten sie nichts zu verbergen.“ „Geheimnisse findest du meistens in den Köpfen der Menschen, nicht in ihren Behausungen“, doziert Georg. Damit hat er wohl Recht. Wir erreichen Winschoten, suchen und finden einen Parkplatz, gleich neben der alten Kirche am Marktplatz, schlendern durch die schmale Fußgängerzone. „Nett hier“, sagt Georg. Er wirkt dennoch gelangweilt. „Früher war hier bedeutend mehr los“, sage ich, „interessantere Geschäfte, Christine und ich haben immer irgendetwas gefunden, was uns gefiel. Inzwischen kommen
mir die Läden wie genormt vor, überall gibt es das Gleiche zu kaufen: die gleichen Jeans, die gleichen Pullover, die gleichen Schuhe. Und was haben wir alles gegessen, Christine und ich! Zuerst heißen Fisch auf dem Markt, total frisch und zart. Danach hatten wir immer Appetit auf etwas Süßes, wir kauften uns Karamellen oder auch die duftenden Kräuterbonbons. An dem Stand mit den heißen Apfeltaschen, Appelbollen, sagen die Holländer, kamen wir nie vorbei, ohne uns zwei von den leckeren Dingern einzuverleiben. Zwischendurch knabberten wir geröstete Nüsse. Manchmal sind wir tatsächlich noch indonesisch-chinesisch essen gegangen. Unterwegs naschten wir von den verschiedenen Käsesorten, die wir für zu Hause eingekauft hatten. Christine sagte immer: Eine Fahrt nach Holland hat sich nur dann richtig gelohnt, wenn uns auf dem Nachhauseweg schlecht ist. So war das damals.“ „Beeindruckend“, sagt Georg. „Jetzt weiß ich auch, woher du dein Übergewicht hast. Kein Wunder!“ „Na hör mal, so oft sind wir schließlich auch nicht nach Holland gefahren“, protestiere ich. Na gut, ein anderes Thema: „Christine und ich haben neulich Donovan in einem Konzert live erlebt. Das war aber nicht so besonders. Viel zu laut, viel zu hektisch. Die Regler aufgerissen, fast bis an die Schmerzgrenze. Er dachte wohl, er muss es wie sein ewiges Vorbild Bob Dylan machen. Der wollte ja damals nicht länger die Erwartungen seiner Fans erfüllen, hängte seine akustische Protest-Gitarre an den Nagel und spielte fortan nur noch elektrisch. Nur tat er’s zwanzig Jahre vor Donovan.“ Ich habe den Eindruck, er hört mir überhaupt nicht zu. Ich möchte ihm etwas erzählen, und er wirkt völlig gleichgültig. „Ich hab im Anschluss an das Konzert noch ein kurzes Gespräch mit seinem Tonmann geführt. Auf meinen Einwand, dass das ganze Konzert absolut übersteuert gewesen sei, zog er
bedauernd die Schultern nach oben und meinte: What can I do, he pays my money.“ Keine Reaktion von Georg. Desinteressiert geht er neben mir her. Es macht keinen Unterschied, ob ich ihm etwas erzähle oder nicht. Dale Carnegies Klassiker Wie man Freunde gewinnt fällt mir ein. Eine seiner wichtigsten Regeln: Zuhören können. Wenn Georg allerdings etwas zu erzählen hat, erwartet er von mir Anteilnahme und ungeteilte Aufmerksamkeit. Meistens tue ich ihm den Gefallen. Bin halt so blöd. „Du erzählst heute ziemlich viel von Christine“, sagt Georg. „Na und? Warum denn nicht? Sie ist ja schließlich meine Frau. Wir haben mehr als das halbe Leben miteinander verbracht. Außerdem hab ich die meiste Zeit von Holland und vom Essen erzählt“, sage ich. „Ich meine ja nur“, murmelt Georg. Dann laufen wir wieder eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Klappern zuerst die Geschäfte auf der rechten Seite ab, auf dem Rückweg die auf der gegenüberliegenden Seite. Das dauert nicht lange. Winschoten ist ein kleines Städtchen. „Hast du Lust, noch weiterzufahren? Vielleicht nach Groningen? Da ist mehr los als hier“, sage ich. „Zum Beispiel gibt es dort einige billige und gute Antiquariate.“ „Warum nicht?“, sagt Georg. So gehen wir zum Auto zurück und fahren nach Groningen. Auf der Fahrt dorthin will uns kein gescheites Gespräch gelingen. Wir wechseln nur ein paar knappe Sätze miteinander. Georg erzählt mir noch nicht einmal, wie erfolgreich seine letzten Auftritte waren, was für berühmte und wichtige Leute er traf und in was für exklusiven Veranstaltungsorten er demnächst auftreten wird. Durchaus ungewöhnlich. In Groningens Innenstadt pulsiert das pralle Leben. Ein Vielvölkergemisch schiebt sich in zwei gegensätzlich
verlaufenden Strömen durch die City. Du hörst Gesprächsfetzen in den unterschiedlichsten Sprachen: englisch, deutsch, niederländisch, französisch, chinesisch, türkisch, und überall Musik. Straßenmusikanten, Drehorgelspieler, Zauberer, Pantomimen, Obstverkäufer, zusätzlich noch elektronische Klänge aus den vielen HiFi-Läden. Groningen ist eine wirklich europäische Stadt. Georgs und meine Kommunikation scheint gestört zu sein. Da ist etwas zwischen uns. Etwas anderes als das übliche Gerangel um Recht haben oder nicht Recht haben. Aber was? „Sag mal, Georg, ist irgendetwas?“, frage ich. „Was soll sein?“, fragt er zurück und blättert offensichtlich gelangweilt in einem Kunstbuch, das er einem der zahlreichen Ständer mit Niedrigpreisangeboten entnommen hat, die hier alle paar Meter an der Straße stehen. Er stellt das Buch zurück und schlendert zum nächsten Ständer. „Was meinst du, sollen wir uns eine Weile trennen? Dann kann jeder gucken, wo er Lust hat, und nachher treffen wir uns wieder.“ „Gute Idee“, sagt Georg. „Wo und wann?“ Ich schaue auf die Uhr. „Jetzt ist es kurz vor sechzehn Uhr. Sagen wir: in anderthalb Stunden, um siebzehn Uhr dreißig, genau hier, vor diesem Antiquariat?“ „Okay“, sagt Georg, grinst kurz zu mir herüber, und schon ist er im Gewimmel der Menschen untergetaucht. Scheint heute irgendwie nicht sein Tag zu sein, denke ich und gehe in den nächsten Plattenladen, um nach gebrauchten CDs zu sehen. Früher konnte man in Holland Platten kaufen, die bei uns noch gar nicht auf dem Markt waren, manchmal sogar zu äußerst günstigen Preisen. Ich erinnere mich an eine LP der Gruppe Ladysmith Black Mambazo – wunderschöner afrikanischer A-cappella-Gesang. Kannte zu der Zeit bei uns noch kein Mensch. Es ging ja nicht nur um die Musik, sondern
auch um ein gewisses Gefühl von Exklusivität. Das ist nun vorbei. Das Angebot ist in Deutschland und Holland inzwischen mehr oder weniger identisch, und die Preise liegen noch höher als bei uns. Aber man kann ja trotzdem mal gucken. Fündig werde ich allerdings nicht. In dem Antiquariat mit den vielen Stockwerken – ich komme jedes Mal hierher, wenn ich in Groningen bin – finde ich eine Heine-Ausgabe in zwei Bänden: Memoiren, Buch der Lieder, Gedichte, Reisebilder, Gedanken über Deutschland. Und gar nicht mal teuer. Hat sich also doch noch gelohnt, der Ausflug, denke ich. Ich setze mich in ein Café, bestelle einen Cappuccino und blättere in meiner Neuerwerbung. So lässt es sich leben. Holländische Kaffeehaus-Gedanken-Fragmente: Heinrich Heine – dieser Feingeist, gefangen in einem hinfälligen Körper. Seine Gedanken, sein Geist sind lebendig, entfalten nach wie vor ihre Kraft, auch ohne den Körper. Die Trennung von Körper und Geist bedeutet den Tod, so sagt man. Aber die Kraft des Geistes kann auch ohne den Körper leben und wirken. Müsste es nicht möglich sein, den Geist gezielt auszusenden, um eine von mir gewollte Aufgabe zu erfüllen? Wäre die dafür nötige Kraft dann verbraucht und würde mir fehlen oder kehrte sie – quasi nach getaner Arbeit – wieder zu mir zurück? Aber das ist schon wieder eine andere Frage. Ich könnte meine inneren Kräfte bündeln und sie aussenden. Ich drücke jemandem die Daumen, ich wünsche jemandem Glück, ich verfluche jemanden, ich wünsche ihm den Tod, ich töte jemanden durch meine konzentrierte Gedankenkraft. Ich habe es ja aller Wahrscheinlichkeit nach auch schon getan. Morgen wird mein Nachbar beerdigt. Der Glaube kann Berge versetzen. Etwa gegen siebzehn Uhr fünfzehn bezahle ich und gehe in Richtung unseres verabredeten Treffpunktes. Ich bin fünf Minuten vor der Zeit dort. Das entspricht eigentlich auch
meiner Art. Ich hasse es, zu spät zu kommen, allein schon deshalb, weil ich es absolut nicht leiden kann, zu warten. Ich beobachte die Passanten. Das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wie die Menschen sich kleiden, wie sie sich bewegen, wie sie miteinander reden, ihr Mienenspiel, ihre Stimmen. Und immer sind es nur winzige Ausschnitte völlig unterschiedlicher, einander fremder Lebenswege, die sich vor deinen Augen für kurze Zeit kreuzen, manchmal nur für Sekunden. Sie kommen aus dem Nichts, sind urplötzlich da, durchqueren deinen Weg und verschwinden wieder im Nichts, für immer. Irgendjemand sagte einmal, dass nichts Zufälliges an solchen Begegnungen sei. Wer weiß? Mittlerweile ist es siebzehn Uhr dreißig, Georg allerdings ist nirgendwo zu erblicken. Was bleibt mir also anderes übrig, als zu warten. Lehne mich an die nächste Hauswand, kreuze das rechte Bein lässig vor das linke, jedenfalls bilde ich mir ein, dass meine Haltung etwas Lässiges an sich haben müsse, und setze meine Passantenbeobachtungen fort. Mir scheint, dass in Holland weniger Übergewichtige die Straßen bevölkern als in Deutschland. Und fast alle Menschen sind auffallend modisch gekleidet. Kaum jemand, der ungepflegt oder gar abgerissen wirkt. Und sehr viele junge Menschen. Nun kann Georg aber mal aufkreuzen, schon zehn Minuten über die Zeit. Wahrscheinlich ist er irgendwo hängen geblieben, stöbert vielleicht zwischen alten Büchern oder probiert gerade eine Jeans an. Und mich, beziehungsweise unsere Verabredung, hat er natürlich vergessen. Langsam beginne ich ungeduldig zu werden. Zu spät kommen, jemanden warten zu lassen, das heißt, ungefragt seine Zeit zu blockieren, es hat auch etwas mit Rücksichtslosigkeit zu tun. Georg zwingt mich, etwas zu tun, was ich nicht tun möchte, was ich als überflüssig und sinnlos empfinde. Es sei denn, es gibt wirklich triftige Gründe für seine Unpünktlichkeit.
Oder habe ich mich geirrt? Haben wir womöglich eine andere Zeit vereinbart? Nein, siebzehn Uhr dreißig, das weiß ich doch genau. Oder einen anderen Treffpunkt? Genau hier, vor diesem Antiquariat haben wir uns getrennt, und hier wollten wir uns wieder treffen. Es ist nun fast achtzehn Uhr, eine halbe Stunde über die Zeit. Es wird doch nichts passiert sein? Vielleicht ist er angefahren worden und liegt nun verletzt in einem Krankenhaus. Oder ein Überfall, ein Raub? Jemand hat ihn niedergeschlagen. Unsinn, alles nur Einbildung. Georg ist ein Idiot, er lässt mich hier hängen. Ich bin wütend, wütend auf Georg und auf die blöde Situation, in die er mich zwingt. Und einfach losgehen und ihn suchen kann ich auch nicht. Bestimmt taucht er dann genau in dem Moment auf, an dem ich gerade losgehe. Aber was soll ich machen? Meine Beine fangen an zu kribbeln. Ich kann nicht so lange stehen, dann bekomme ich Kreislaufprobleme. So beginne ich, zehn Schritte in die eine und zehn Schritte in die andere Richtung zu gehen, wobei ich mich bemühe, das Antiquariat nicht aus den Augen zu lassen. Inzwischen ist der Strom der Fußgänger deutlich übersichtlicher geworden, es sind bei weitem nicht mehr so viele Menschen unterwegs wie noch vor einer halben Stunde. Aber von Georg keine Spur. Bis halb sieben, denke ich, und keine Minute länger. Ich warte noch bis halb sieben und dann haue ich ab. Soll er doch sehen, wie er nach Hause kommt. Ich nehme mein Handy aus der Jackentasche und versuche, Christine zu erreichen. Ich will ihr sagen, dass es etwas später wird. Allerdings bekomme ich keine Verbindung, der Anschluss ist besetzt. Also lehne ich mich erneut an die Hauswand, nehme Band eins der HeineAusgabe aus meiner Plastiktüte und blättere fahrig in dem Buch herum. Natürlich finde ich keine Ruhe, auch nur drei Zeilen mit Verstand zu lesen. Zurück mit dem Buch in die Plastiktüte und immer wieder die abwechselnden Blicke zur
Uhr und auf die Straße. Kein Georg weit und breit. Dafür immer weniger Passanten. Okay, ich habe ihm eine Stunde gegeben, denke ich, das reicht. Übel gelaunt stapfe ich in Richtung Auto. Ich habe getan, was ich konnte, mehr darf er von mir nicht verlangen. Jetzt ist der Zug halt abgefahren, jetzt werden wir uns mit Sicherheit nicht mehr treffen. Aber ist es meine Schuld? Nein! Dann erreiche ich den Parkplatz. An meinem Auto lehnt Georg und telefoniert. „Das gibt’s doch gar nicht! Ich kann’s nicht glauben! Sag mal, bist du bescheuert oder was?“ Ich bin richtig wütend. Langsam dreht Georg sich um, sieht mich völlig emotionslos an und beendet das Telefongespräch. „Da bist du ja endlich! Jetzt warte ich hier schon mehr als eine Stunde auf dich. Finde ich überhaupt nicht lustig! Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Aber davon scheinst du ja meilenweit entfernt zu sein.“ „Nun halt aber mal die Luft an“, unterbreche ich seinen selbstgefälligen Redefluss. „Du warst es doch, der mich warten ließ. Ich hab mir die Beine in den Bauch gestanden und wer nicht kam, warst du! Was erzählst du für einen Scheiß?“ Er geht tatsächlich davon aus, dass wir uns hier auf dem Parkplatz verabredet haben. Ein Missverständnis. Dumm gelaufen. Er ist fest davon überzeugt, dass ich mich irre, und ich weiß, dass ich im Recht bin. Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu streiten. Schweigend fahren wir nach Hause zurück. Wir verhalten uns wie ein altes Ehepaar, das sich – in der Gleichförmigkeit erstarrt – nichts mehr zu sagen hat. Er kommt auch nicht mehr mit zu uns herein wie sonst. Er steigt in sein Auto, sagt mürrisch „Tschüss“ und fährt davon. Ein schöner Ausflug! „Wo hast du Georg denn gelassen?“, fragt Christine. „Ist beleidigt abgedampft“, sage ich.
„Habt ihr euch wieder gestritten?“ „Ja, er ließ mich warten und behauptete, ich hätte ihn warten lassen. So ein Blödsinn!“ „Wie die Kinder“, spottet Christine. „Wirklich wie die Kinder!“ „Hab vorhin versucht, dich anzurufen, war aber besetzt.“ „Ja“, sagt Christine. Mehr sagt sie nicht. Ich setze mich ins Wohnzimmer und beginne zum dritten Male in meinen HeineBänden zu blättern.
16
Noch immer sind so viele Fragen offen, noch immer schlage ich mich hilflos durch den Dschungel der Ungewissheiten. Ständig nur Vermutungen, Annahmen, Eventualitäten. Beweisen lässt sich bisher noch überhaupt nichts. Habe ich es letztlich doch nur mit Zufällen zu tun? Es gibt keine Zufälle – wie oft schon in der Vergangenheit hörte und las ich diesen Satz! Doch was nutzt mir solch eine Feststellung? Auch wieder nur eine Vermutung. Was kann ich tun, um mir Klarheit zu verschaffen? Gibt es realistische Möglichkeiten, die Ungewissheiten in Gewissheiten zu verwandeln? Alle meine Versuche, Sinnfragen zu beantworten, bleiben immer nur Interpretationen. Die Wirklichkeit gibt ihren Sinn nicht preis. Meine Gedanken springen. Es will mir nicht gelingen, das Chaos des bereits Geschehenen zu strukturieren. Ich sollte nicht, wie es die meisten Politiker tun, hektisch reagieren, sondern lieber versuchen, ganz gelassen zu agieren. Das setzt allerdings voraus, dass ich zuvor ein Mindestmaß an Klarheit gewinne. Was mich ängstigt, ist das Nichtgreifbare, die Ungewissheit, das Unerklärliche. Was ist bisher geschehen? Ein paar Menschen, oft dazu noch sehr alte, verließen dieses Leben, während oder nachdem ich an sie dachte. Dabei lagen jeweils Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Kilometern zwischen uns. Weder habe ich Hand an diese Menschen gelegt, noch beauftragte ich irgendjemanden, ihnen etwas zuleide zu tun. Ich habe mich lediglich gedanklich mit ihnen beschäftigt. Und meine Gedanken waren, bis auf eine Ausnahme, durchweg positiver Natur. Diese Menschen bedeuteten mir etwas, ich habe sie
gemocht, ich achtete und bewunderte sie. Ich wollte das Gegenteil dessen, was letztlich passierte, ich wollte, dass sie leben. Wie kann ich mich dann trotzdem, und wenn auch nur andeutungsweise, für ihren Tod verantwortlich fühlen? Das ist doch eigentlich völlig abwegig! Wenn dich allerdings erst einmal solch eine Idee gepackt hat, dann entwickelst du eine immer stärker werdende Sensibilität für alles, was in irgendeiner Weise mit dieser Idee zusammenhängen könnte. Überall vermutest du Bestätigungen deiner Befürchtungen. Und wenn du lange genug suchst, findest du sie auch: Geheimgesellschaften überdrehter USAmerikaner und abstruse Experimente in Indien zum Beispiel. Einerseits beruhigt mich das Ordnen der Geschehnisse, da es bei nüchterner Betrachtung doch eher den Anschein hat, dass der Tod all dieser Menschen mit mir, als vermeintlich telepathisch begabter Person, nicht das Geringste zu tun hat. Verstehen Sie, was ich meine? Nein? Sehen Sie, da geht es Ihnen wie mir. Ja, und andererseits ist da mein Nachbar Willi. Ihm galt meine verzweifelte Wut, womöglich sogar mein Hass. Und zwar in gebündelter Form. Ich habe ihn verflucht und verwünscht, das ist sicher. Und er hat nicht überlebt, das ist auch sicher. Er wohnte nicht Hunderte Kilometer von mir entfernt, sondern vielleicht nur dreihundert Meter. Auch ihn habe ich nicht berührt. Zwar sah ich ihn an seinem Todestag, doch nur aus der Entfernung. Ich sprach kein einziges Wort mit ihm. Und was gehen mich die Praktiken einer mörderischen USGesellschaft an? Was habe ich mit seltsamen Experimenten in Indien zu tun? Eigentlich nichts! Wahrscheinlich ist, dass ich ein völlig normaler Mensch bin, dem die Phantasie ab und zu Trugbilder vorgaukelt. Doch ebenso wahrscheinlich ist, dass ich ein Mörder bin, der
lediglich mit einer ungewöhnlichen Waffe tötet. Die Qual der Ungewissheit bleibt vorerst bestehen. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als zu experimentieren. Ich muss eine ganze Reihe von Versuchen durchführen, um mir meiner eigenen Möglichkeiten und der damit verbundenen Risiken bewusst zu werden. Ich werde mich kundig machen, Fachliteratur lesen und – es muss einfach sein – mit Menschen experimentieren. Dabei werde ich mich auf das Böse, auf das Negative konzentrieren müssen. Das Gute, das Positive, das wünschen die meisten von uns – zumindest ihre eigene Person betreffend – ja ohnehin. Meine Versuche ergeben nur einen Sinn, wenn ich gegen den Willen meiner Versuchspersonen agiere. Ich muss sie dazu bringen, nach meinem Willen zu handeln, sie müssen wie Marionetten sein, ich muss es schaffen, sie in den Tod zu treiben, ohne sie zu berühren, ohne überhaupt in der Nähe gewesen zu sein, ausschließlich mit meiner geballten Gedankenkraft. Das wäre das perfekte Verbrechen. Kein Kommissar der Welt hätte auch nur den Hauch einer Chance, mich zu überführen. So etwas ist in keiner Strafprozessordnung vorgesehen. Theoretisch könnte ich sogar einen Mord öffentlich ankündigen. Wenn ich später durch mein Alibi beweisen kann, dass ich zur Zeit der Tat gar nicht am Tatort war, wer sollte mir etwas anhängen? Hinzu kommt ja noch, dass meine Opfer keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung aufweisen. Selbstverständlich würde ich nur den übelsten Zeitgenossen, die ich überhaupt irgendwo finden kann, die Ehre erweisen, an meiner Versuchsreihe teilzunehmen. Auf diese Weise trüge ich sogar – das quasi als erfreulicher Nebeneffekt – zur Hygiene unserer maroden Gesellschaft bei.
Was ist nur aus mir geworden? Woher kommen diese schrecklichen Gedanken? Bin ich womöglich selbst Werkzeug eines fremden Willens, der mich zwingt, Böses zu tun? Eines steht fest: In jedem Menschen ruht der Keim für einen Mord. Dass er nicht aufgeht, ist meistens nur dem Zufall zu verdanken. Schon wieder dieser Zufall! Was sind denn eigentlich Zufälle? Letztlich doch nur Konstellationen und Geschehnisse, deren Ursprünge sich mir momentan nicht erschließen wollen. Wenn ich sie durchschaute, wären sie keine Zufälle mehr. Noch vor gar nicht so langer Zeit blickte ich dankbar rückwärts, mutig vorwärts und gläubig aufwärts. Heute blicke ich grimmig abwärts. Ich kann nichts dafür, dass ich so geworden bin. Ich habe niemals den Wunsch verspürt, Menschen zu töten. Es ist mir zugefallen. Man hat es mir aufgezwungen. Vorerst jedenfalls kommt es darauf an, Gewissheit zu erlangen. Mediziner wissen, dass ein Mensch mit der geistig-seelischen Kraft, die er in sich trägt, sich selbst töten kann. Allein nur durch seine Vorstellung. Weshalb sollte er diese gleiche Kraft nicht auch gegen andere statt gegen sich selbst richten können? Ein Voodoo-Priester kann das. Er formt aus dem Harz des Gummibaumes eine Figur, die den dem Tode Geweihten darstellen soll. Dann durchbohrt er die kleine Figur mit einem spitzen Zweig und lässt das Harz über einer Flamme schmelzen, wobei er magische Zauberformeln murmelt. Der Verurteilte wird zuerst einen höllischen Schmerz in seiner Brust spüren, als habe ihn jemand mit einem Dolch durchbohrt, und wird dann innerhalb kürzester Zeit sterben, ohne dass ihm ein äußeres Leid angetan wurde. Pointing the bone ist eine weitere Methode der VoodooMeister, einen Verurteilten vom Leben zum Tode zu befördern. Ein Menschenknochen wird zu einem Zaubergerät präpariert, indem er mit Gegenständen aus dem Besitz des
Opfers behängt wird. Das können Haare, Zähne, ein Stück Stoff oder auch eine Porzellanscherbe sein. Dann wird der Knochen auf den Verurteilten gerichtet und der VoodooMagier spricht seine Zauberformel: „Möge dein Skelett übersättigt werden mit der Fäulnis und dem Verderben meines Stöckchens! So, dass dein Fleisch verfault und sein Gestank die Würmer, die im Boden leben, anzieht, damit sie kommen und es fressen. Möge der Wind deine Haut schrumpfen lassen wie ein Blatt vor dem Feuer und dein Blut trocknen wie Schlamm in einem Tongeschirr.“ Die Wirkung tritt unverzüglich ein, der Verdammte steht wie angewurzelt da, starr vor Schreck, zunächst völlig regungslos, bleich, mit weit aufgerissenen Augen, er ist im wahrsten Sinne des Wortes entgeistert, seine Augen werden glasig wie bei einem Betrunkenen, sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, er versucht zu schreien, doch es will ihm nicht gelingen, nur gurgelnde Laute verlassen seinen Mund, vor dem sich bereits Schaum bildet, er beginnt am ganzen Körper zu zittern, seine Arme und Beine verkrampfen sich, sie wollen ihm nicht mehr gehorchen, er taumelt, torkelt, stürzt zu Boden, bleibt für Momente bewegungslos liegen, so dass seine Verwandten, Nachbarn und Freunde ihn schon für tot halten, doch dann beginnt er sich zu winden, wälzt sich hin und her, stöhnt, schreit, quält sich wie im Todeskampf. Schließlich scheint er sich zu beruhigen, kriecht in seine Hütte, verweigert Essen und Trinken, will niemanden mehr sehen, mit niemandem mehr sprechen, und nach wenigen Tagen ist er tot. „Wenn der Meister eine Puppe von dir macht und sie schlägt, dann schlägt er dich, wenn er sie bespuckt, dann bespuckt er dich und wenn er sie vergräbt, dann vergräbt er dich. Dann wirst du sterben“, sagt Josef aus Port-au-Prince, Haiti. Mord
auf Distanz, Mord mit spirituellen Mitteln, das perfekte Verbrechen eben. Ich träume eine Voodoo-Zeremonie: Der Magier singt ein Totenlied, stößt zwischendurch immer wieder spitze Schreie aus, springt auf, schwingt eine Peitsche und singt weiter. Er taumelt wie in Trance, scheint völlig weggetreten, hypnotisiert von seinem eigenen Sing-Sang. Schließlich verharrt er wie angewurzelt, die Augen weit aufgerissen. „Er wird sterben! Ich schwöre, in weniger als zwei Tagen ist er tot!“, schreit er. Er wendet sich seinem Auftraggeber zu: „Bezahl mich nicht, wenn er in zwei Tagen noch lebt“, krächzt er, spuckt auf ein am Boden liegendes Holzkreuz und geht langsam weg. „Ihr Weißen denkt immer, dass ihr alles erklären könnt“, sagt Josef leise in meinem Traum, „dabei wisst ihr nichts. Gar nichts!“
Ich jedoch bin kein Voodoo-Priester und ich lebe auch nicht auf einer Südseeinsel. Ich bin eben ein Weißer, der Schriftsteller Karl Urban, in dessen Umgebung Menschen auf ziemlich rätselhafte Weise zu Tode kommen. Ich habe mich auch nicht vor meinen Nachbarn gestellt und ihn verzaubert. Ich habe ihm lediglich die Pest an den Hals gewünscht. Ich muss herausfinden, ob ich für seinen Tod verantwortlich bin oder nicht.
17
Christine hat sich verändert in letzter Zeit. Sie ist zurückhaltender geworden, vielleicht sogar etwas distanziert mir gegenüber. Kann mich kaum erinnern, wann wir das letzte Mal zärtlich zueinander waren. Es werden die beruflichen Anforderungen sein, die sie belasten. Wir sollten mal wieder gemeinsam Urlaub machen, irgendwohin fahren, wo niemand etwas von uns will, wo wir wieder zu uns und zueinander finden können. Möglich, dass sie auch meine Probleme nerven. Es wird besser sein, ich erzähle ihr nichts mehr von meinen düsteren Geheimnissen. Ich werde sie in Zukunft für mich behalten. Wer weiß, was sonst noch geschieht? Das sind meine Angelegenheiten und ich muss sehen, wie ich damit klarkomme. Wichtig ist es für mich jetzt, Gewissheit zu erlangen: Können meine Gedanken wirklich töten oder nicht? Unmöglich, Christine da weiter mit hineinzuziehen. Das muss ich alleine durchstehen. Ich muss tatsächlich Versuche machen. Allerdings stehe ich damit vor nahezu unlösbaren Problemen. Einerseits sollte es jemand aus meiner engeren Umgebung sein – so wie Nachbar Willi, andererseits sollte es ein Arschloch sein – auch so wie Nachbar Willi. Mir fällt auf Anhieb niemand ein. Es wird mir also nichts anderes übrig bleiben, als die Bekanntschaft eines fiesen Zeitgenossen zu suchen. Ich muss mich bemühen, jemanden aufzugabeln, der es verdient hat, zu sterben. Andererseits gilt es zu vermeiden, allzu intensiv an Menschen aus meinem engeren Umfeld zu denken, Menschen, an denen
mir gelegen ist. Ich muss verhindern, dass ich noch einmal die falsche Person umbringe. Mein Gott, wo bin ich gelandet? Worauf habe ich mich eingelassen? Lauter Zwänge, deren Auswirkungen verheerend sein können. Bin ich ein unbescholtener, ganz normaler Bürger, der glaubt, ein Mörder zu sein, oder bin ich ein Mörder, der glaubt, ein unbescholtener, ganz normaler Bürger zu sein? Wie komme ich an jemanden heran, der es nicht verdient, weiterhin am Leben zu sein? Existiert überhaupt so jemand? Habe ich das Recht, das Leben eines Menschen, und sei er ein noch so verabscheuungswürdiges Wesen, mit meinen Mitteln zu beenden? Ach was, weg mit den Zweifeln! Der Mensch an sich ist eine Bestie. Ich habe den Glauben an das Gute im Menschen schon längst verloren. „Optimisten“ ist eine Umschreibung für naive Zeitgenossen, die einfach nur schlecht informiert sind. Manche sagen: typisch alter Mann! Hat nicht mehr viel Leben vor sich und macht nun alles mies, um den Gedanken an sein bevorstehendes Ende besser ertragen zu können. Was für ein Unsinn! Erstens bin ich erst achtundvierzig, habe also noch gut und gerne zwanzig Jahre oder sogar mehr zu leben, und zweitens sind es Erfahrungen und Einsichten, halt die traurigen Ergebnisse einer längeren Weltbetrachtung, die mein Denken bestimmen. Der Mensch an sich ist auf Zerstörung programmiert, das sollte sich doch inzwischen herumgesprochen haben. Ist die Menschheit nicht von Anfang an damit beschäftigt gewesen, den eigenen Untergang zielgerichtet und planvoll zu inszenieren? Und es wird ihr gelingen, das ist gewiss. Sie hat die Mittel und auch den Willen, ihr Ziel zu erreichen. Es ist lediglich eine Frage der Zeit. Der Mensch ist nicht gut, er ist böse. Alles andere ist Fassade. Was kommt es da auf ein Schwein mehr oder weniger
an? Im Gegenteil: Ich helfe doch nur, den Weltenplan zu erfüllen. Und in der Zwischenzeit gewinne ich neue Einblicke in das Innere eines ganz normalen bösen Menschen. Womöglich besteht der Sinn des Lebens in der abschließenden Erkenntnis, dass es heilsam für die Erde wäre, sie vom bösartigen Leben zu befreien. Vielleicht bin ich ein Vorreiter, ein Auserwählter gar, der dazu bestimmt ist, auf besondere Weise mitzuhelfen, dass das vollendet wird, was vollendet werden muss. Also, nichts wie weg mit den hinderlichen Bedenken. Im Gegenteil: Ich sollte nach vorne schauen. Was also ist zu tun? Ich kann mir denken, wie Sie über mich denken. Ihnen muss meine Denkungsart fremd vorkommen. Sie leben ja auch in einer anderen Welt. Wahrscheinlich halten Sie mich für krank. Vielleicht haben Sie Recht. Aber ist nicht unsere Welt auch krank? Ich will nicht schon wieder versuchen, mich zu rechtfertigen. Sie würden es ohnehin nicht verstehen, weil Sie nicht verstehen wollen. Ich bin kein Monster. Ich bin lediglich jemand, der eine lange Strecke durch dieses Leben gegangen ist. Mit offenen Augen allerdings. Mir braucht niemand mehr etwas vorzumachen. Auch Sie nicht! Hören Sie mir einfach zu. Ich will meine Geschichte weitererzählen. Weiter nichts. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Warten Sie mit Ihrem Urteil, bis meine Geschichte zu Ende erzählt ist. Womöglich ist es auch Ihre Geschichte, wer weiß?
Schon wieder sitze ich in meinem Wintergarten. Draußen ist es dunkel. Ich kann den Vollmond durch die inzwischen fast kahlen Äste schimmern sehen. Er ist von einem Dunstring umgeben. Manchmal, wenn ich steil nach oben blicke, funkeln dort Sterne. Im Moment nicht. Die große Entfernung will sich mir heute nicht erschließen. Mein Blick bleibt auf die kurze
Strecke reduziert: faulende Äpfel auf der Wiese, braune Blätter, dahinter schwarz. Ansonsten: Regungslosigkeit. Die einzige Bewegung um mich herum ist meine schreibende Hand. Stille. In den Scheiben die Verdoppelung der Wirklichkeit: die Sitzbank, die Palme, die Lampen, der Tisch, ich. Jetzt brüllt eine Kuh, eine Autotür wird zugeschlagen, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, Christine ruft: „Hallo!“ Eine andere, eine parallele Welt. „Hast du schon gehört? Willi ist eines natürlichen Todes gestorben. Die Untersuchungsergebnisse schließen Fremdverschulden einwandfrei aus. Er muss gestolpert sein. Vielleicht stieg er auch ein Stück in die Grube hinein und verlor dann durch die Gase das Bewusstsein. Hineingeschubst hat ihn wohl niemand. Durch die Wohnung getorkelt ist er, kurz vor seinem Tod, der Willi. Obwohl er überhaupt nichts getrunken hatte zu dem Zeitpunkt, sagt Roswitha. Wirres Zeug hätte er gebrabbelt, die Augen ganz weit aufgerissen, so etwas wie Panik im Gesicht, totale Angst hätte der gehabt. Dann war er nach draußen gewankt, aber Roswitha hat sich nichts weiter dabei gedacht. Ist ja schon immer ein bisschen komisch gewesen, der Willi. Hatte wohl mal wieder seine fünf Minuten, meinte Roswitha. Wird mit seinen Kumpels noch einen trinken gegangen sein. Sie guckte noch ein bisschen fern und ging dann ins Bett. Als er am nächsten Morgen nicht neben ihr im Bett lag, er hätte ja auch schon längst die Kühe füttern müssen, da ist sie zur Polizei gegangen. Na ja, und dann haben sie ihn in der Gülle gefunden. Ich hätte es Roswitha nicht verdenken können, wenn sie da ein bisschen nachgeholfen hätte… Aber so war’s wohl nicht. Jedenfalls hat sie jetzt ihre Ruhe.“
Ich auch, denke ich und nehme einen tiefen Schluck vom schweren Rotwein.
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Mein Freund Rudko fällt mir ein. Erscheint plötzlich auf meinem inneren Bildschirm. Hab bestimmt seit mehr als einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Weshalb muss ich gerade jetzt an ihn denken? Hat das etwas zu bedeuten? Existiert im Moment eine innere Verbindung zwischen ihm und mir? Will er mir etwas mitteilen? Das ließe sich auch per Telefon erledigen. Dazu benötigte er keine telepathischen Wege. Allerdings tut Rudko sich etwas schwer mit dem Telefonieren. Und Briefe zu schreiben liegt ihm schon mal überhaupt nicht, höchstens E-Mails ab und zu. Was will er von mir? Er steht nun virtuell direkt vor mir: leicht nach vorn gebeugter Oberkörper, nicht übermäßig groß, grauer Stoppelbart, etwas unzeitgemäße Vokuhila-Frisur, schwarzes Guinness-T-Shirt überm gewölbten Bauch (siebter Monat), leicht verschleierter Blick vom Rotwein der vergangenen Nacht, vielleicht auch vom Bier, da legt sich Rudko nicht so fest, Zigarette im Mundwinkel, Gitarre in der einen, Computer-Maus in der anderen Hand. Er schaut mich so auffordernd an. Das ist nicht gut, Rudko, wirklich nicht! Du ahnst ja nicht, in welcher Gefahr du dich befindest! Ich wünsche dir nichts Böses, im Gegenteil, doch manchmal passieren trotzdem schreckliche Dinge, wenn ich an bestimmte Menschen denke. Rudko, es ist besser, du verschwindest aus meinem Bewusstsein. Glaube mir, hau ab, bevor es zu spät ist. Lass dich so schnell nicht wieder blicken, ich will doch noch das eine oder andere Bier mit dir trinken, vielleicht noch ein paar Lieder zusammen singen. Hab keine Lust, an deinem Grab zu stehen und deinen zu frühen Tod zu betrauern. Und
was soll deine Frau dazu sagen? Sie ist jung, hat das ganze Leben noch vor sich. Nee, Rudko, das geht nicht, verschwinde aus meinen Gedanken! Es ist besser für dich, für uns. Ich werde mich jetzt zwingen, an jemand anderen zu denken. Ich stelle mir Dieter aus Oldenburg vor. Da ist er schon. Rudko, ich hab gesagt, du sollst weggehen, ich will mich jetzt mit Dieter beschäftigen. Ich habe meine Gründe. Verschwinde! Ich kann Dieter nicht riechen. Kennen Sie das? Sie kommen in die Nähe eines bestimmten Menschen und stellen fest: Ich kann ihn nicht riechen. Ich meine das ganz wörtlich. Dieter riecht nicht gut. Es gibt Tage, da stinkt er. Dieter stinkt mir! Ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Hab allerdings nie viel von ihm gehalten. Und dennoch ist er mir immer wieder über den Weg gelaufen. Irgendwie werde ich ihn nicht los. Er ist wie eine Klette. Zwar hab ich ihn seit sehr langer Zeit schon nicht mehr gesehen, darüber bin ich auch ganz froh, doch weiß ich, dass er sich oft und immer wieder in meiner direkten Nähe aufhält. Man kann sagen, er verfolgt mich. Besucht meinen Hunde-Nachbarn und fragt ihn nach mir aus. Mein Nachbar hat es mir erzählt. Erst gestern. „Ist der Karl zu Hause?“, hat Dieter meinen Nachbarn gefragt. Was geht es den Kerl an, ob ich zu Hause bin oder nicht? Ist dann um mein Haus geschlichen, mein Nachbar hat’s mit eigenen Augen gesehen. Aber weshalb? Was will er von mir? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Auch während ich dieses hier schreibe, in meinem Wintergarten sitzend – es ist dunkel draußen und Regentropfen klatschen auf das Glasdach – halte ich es für möglich, dass Dieter mich aus einiger Entfernung beobachtet. Vielleicht ist er sogar ganz nahe. Ich könnte ihn nicht sehen, aber er könnte mich sehen. Ich sitze quasi im Rampenlicht und er im dunklen Parkett. Ich fühle mich beobachtet. Und bedroht. Dazu habe ich auch ein paar Gründe. Dieter neigt zu unüberlegten Gewalttätigkeiten. Das hat er in der
Vergangenheit mehr als einmal unter Beweis gestellt. Hat mehrere Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung am Hals gehabt. Schon als Kind war er ständig in Prügeleien verwickelt. Und außerdem war er ein Waffenfetischist. Besorgte sich als Jugendlicher scharfe Handfeuerwaffen und ballerte damit in der Gegend herum. Ich gebe zu, ich habe auch geschossen, damals. Hab mich von ihm überreden lassen. Wir schlichen durch den Wald, mit einer echten Pistole in der Tasche. Dann schossen wir auf Dosen und auf Baumstümpfe. Als ich später begann, mich für Mädels zu interessieren, da hatte Dieter auch weiterhin nichts als Waffen im Kopf. Ich glaube, er entwickelte schon damals einen massiven Minderwertigkeitskomplex. Versuchte sich Kraft und Macht von der Waffe zu borgen. Ein paar Jahre nach unseren Schießübungen im Wald überfiel Dieter seine erste Bank in Oldenburg. Mit einer Motorradsturmhaube maskiert, stürmte er in den Schalterraum, schoss dreimal in die Decke und schrie: „Überfall! Geld her oder ich schieße alles hier über den Haufen!“ Das klappte wirklich. Mit einer Plastiktüte voller Geld entkam Dieter unerkannt. Das machte ihm Mut für die zweite Bank. Auch dort kriegten sie ihn nicht. So ging es eine ganze Weile weiter. Dieter machte reiche Beute. Er hätte gut leben können, hätte aufhören und eine neue Lebensphase beginnen können. Doch er wollte nicht aufhören. Es war wohl wie ein Sport, vielleicht auch wie eine Sucht. Er entwickelte den Ehrgeiz, weiterzumachen, ohne erkannt und geschnappt zu werden. Das gab ihm den gewissen Kick. Endlich füllte sich sein langweiliges Leben mit Sinn und Abenteuer. Dann beging er den entscheidenden Fehler: Er weihte einen Komplizen in seine wirren Pläne ein und sie überfielen eine Bank zu zweit. Auch dieser Coup klappte zunächst. Dieter hinterließ eine angeblich funkgesteuerte Bombe im Schalterraum. Nur eine Attrappe, wie sich später herausstellte.
Niemand wagte es, sich seinen Anweisungen zu widersetzen. „Wer ist der Bankräuber mit der Bombe?“, fragten die Zeitungen. Es dauerte nicht lange, da verplapperte sich Dieters Kumpan. Hat Dieter dann unter dem Vernehmungsdruck bei der Kripo verpfiffen. Sieben Jahre Knast waren das Ergebnis. Bewaffneter Raubüberfall ist schließlich keine Kleinigkeit. Mein Fehler war, dass ich mich um ihn zu kümmern begann. Ich besuchte ihn ein paarmal im Knast, hab ihm dann, nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, in Oldenburg eine Wohnung und sogar eine Arbeit als Friedhofsgärtner besorgt. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich wurde ihn nun nicht mehr los. Als er bemerkte, dass ich mich zurückzog, machte er meinem Sohn Paul Geschenke, nahm ihn zu Ausflügen mit, versuchte mit allen Mitteln, den Jungen auf seine Seite zu ziehen, was ihm natürlich auch gelang. Und irgendwann machte er sich sogar an Christine heran, wenn ich nicht da war. Überhäufte sie mit Komplimenten, brachte ihr Blumen und Pralinen mit und lud sie ins Kino ein. Ich habe ihn dann endgültig vor die Tür gesetzt. Seit der Zeit umschleicht er mich. Unsichtbar. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich beobachtet. Gerade jetzt, in diesem Moment, starrt er mich an. Er fixiert mich mit seinem flackernden Blick. Was mag in seinem Kopf vor sich gehen? Was sind seine Pläne? Oder handelt er völlig planlos? Ist er ein Gehetzter, der mehr oder weniger unbewusst agiert und selbst nicht weiß, was er in den nächsten zwei Stunden tun wird? Das macht ihn umso gefährlicher. Hasst er mich? Will er mir schaden? Will er mich gar töten? Ich weiß, er ist krank, hat nicht mehr viel zu verlieren. Vielleicht kauert er in der Werkstatt hinter mir, glotzt durchs spinnwebverhangene Fenster direkt zu mir herüber, wie ich hier am Tisch sitze und schreibe. Ich drehe ihm sogar den Rücken zu. So biete ich ihm ein perfektes Ziel. In der
Werkstatt hängen mehrere Hämmer unterschiedlicher Größe an der Wand. Auch ein paar Messer liegen dort herum. Die Tür zur Werkstatt ist nie verschlossen. Ich stehe auf, um auf die Toilette zu gehen. Wie zufällig blicke ich kurz über meine Schulter zur Werkstatt hinüber. Nur schemenhaft ist das Fenster in der Dunkelheit zu erkennen, ein schwarzes Loch. Ob jemand dort lauert? Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es. Ich bin sogar sehr sicher, dass Dieter in der Nähe ist. Ich spüre es. Ich kann ihn förmlich riechen. Er hat mir den Krieg erklärt und ich nehme seine Kriegserklärung an. Nun kommt es darauf an, wer schneller, wer stärker ist. Und was ist mit meinen Experimenten? Wollte ich mir nicht Gewissheit darüber verschaffen, ob ich tatsächlich in der Lage bin, mit der Kraft meiner Gedanken den Zufall beziehungsweise das Noch-nicht-Geschehene in eine bewusst geplante und herbeigeführte Aktion zu verwandeln? Die Gelegenheit ist günstig, könnte besser gar nicht sein – und auch das ist mit Sicherheit kein Zufall. Ich war schon immer stärker als Dieter, und mental bin ich ihm ohnehin überlegen. Er hat keine Chance. Er hätte wissen müssen, worauf er sich einlässt. Er hätte mir nicht zu nahe kommen dürfen. Ich lege den Stift auf das beschriebene Papier und schließe die Augen. Meine linke Hand umschließt meine rechte Faust. Ich wehre Dieter nun nicht mehr ab, im Gegenteil, ich zwinge ihn herbei, ganz nahe herbei. Sein unangenehmer Geruch sticht mir in die Nase. Ganz deutlich sehe ich seine Körperumrisse, umglüht von einem Lichtschein. Ich höre ein Knistern, als entlade sich elektrische Energie. Er steht unter Spannung, Hochspannung, jeder Fluchtversuch wäre jetzt zwecklos, zu spät. Er ist außerstande, sich zu rühren, ist wie mit Dübeln an den Steinboden fixiert. Er glüht, er brennt, er wird kleiner,
rutscht in sich zusammen. Er schmilzt wie ein unförmiges Stück Stearin auf einer heißen Herdplatte. Der bläuliche Lichtschein wird schwächer, die Glut erlischt, es qualmt und riecht nach verbranntem Fleisch. Es stinkt. Dieter hat aufgehört zu existieren. Ich öffne die Augen, nehme den Stift wieder in die Hand und schreibe weiter. Das Gefühl der Bedrohung ist verschwunden, wie weggewischt, ich fühle mich erleichtert und frei. Glauben Sie wirklich, dass etwas nur deshalb unmöglich ist, weil es die Wissenschaft nicht erklären kann? Wir leben gewöhnlich in jener Realität, die unser Verstand erfassen kann. Wer sich mit außersinnlichen Wahrnehmungen beschäftigt, gilt als unrealistisch. Wirklich ist nur, was wir sinnlich wahrnehmen können, was der Logik der Naturwissenschaft entspricht. Aber diese Wirklichkeit gibt unserem Leben keinen Sinn, sie lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Angesichts der Unendlichkeit der Zeit und des Universums muss die Wissenschaft schnell an ihre Grenzen geraten. Unser kleiner Verstand kommt ja schon ins Schleudern, wenn uns Orte, an denen wir zuvor nie waren, beim ersten Besuch irgendwie vertraut vorkommen oder wenn unsere Träume manchmal die Realität vorwegnehmen. Sobald wir dem Unerklärlichen begegnen, wissen wir nicht mehr, ob es die Welt, wie wir sie zu erleben glauben, wirklich gibt oder ob sie nur in unserer Vorstellung existiert. Wissen Sie eigentlich, dass die Buddhisten zwischen Wirklichkeit und Wahrheit einen Unterschied machen? Sie sagen, Wirklichkeit ist das, was auf uns direkt einwirkt, was wir glauben durch den Filter unserer Erfahrung wahrzunehmen. Wahrheit dagegen ist das, was tatsächlich ist. Wahrheit und Wirklichkeit müssen nicht identisch sein. Wir sollten also der Wirklichkeit misstrauen und die Wahrheit suchen.
Morgen früh werde ich in die Werkstatt gehen. Auf den Steinplatten wird ein schwarzer, brandiger Fleck zu sehen sein, vielleicht ein paar Aschereste. Ich werde den Hammer an seinen Platz zurückhängen.
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Ich fahre mit dem Zug nach Hannover zum Schriftstellerkongress. Es fällt mir schwer, mich auf Gottfried Benns Schriften zu konzentrieren, meine Reiselektüre. Er berichtet von einer englischen Spionin, die 1915 von den Deutschen erschossen wurde. Benn war als Arzt sowohl Zeuge ihres Prozesses als auch ihrer Hinrichtung. Zwar klingt so etwas wie Mitleid zwischen seinen Zeilen, doch sieht er in ihrem gewaltsamen Ende auch eine gewisse Logik: Sie war in den Krieg eingetreten, und der Krieg vernichtete sie. So einfach ist das. Beim Essay Können Dichter die Welt verändern? schlafe ich ein. Nicht etwa, weil mich der Inhalt nicht interessierte, nein, das ist es ganz gewiss nicht, eher im Gegenteil, ich bin einfach nur müde. Ich bin sehr oft müde in letzter Zeit, muss mich zuweilen zwingen, dieses oder jenes zu tun, um nicht nur dauernd zu schlafen. Mein Bewusstsein verweigert sich immer häufiger dieser Welt. In Hannover angekommen, steige ich in ein Taxi, um mich zu meinem Hotel bringen zu lassen. Der Taxifahrer fühlt sich von mir gestört. Nur ungern unterbricht er seine Lektüre, der er sich offensichtlich mit größerer Konzentration widmet, als ich meinem Benn. „Was lesen Sie denn da Spannendes?“, versuche ich ein Gespräch, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich sei ein hochnäsiger Fahrgast, der es nicht nötig hat, sich mit Chauffeuren in Gespräche einzulassen. „Schopenhauer. Über die Ästhetik in der Kunst“, sagt der Taxifahrer.
„Interessant“, sage ich, „lesen Sie solche Sachen denn aus rein persönlichem Interesse oder hatten Sie früher beruflich mit derartigen Themen zu tun?“ „Ich bin promovierter Soziologe“, sagt der Fahrer, ohne jegliche Bitternis in der Stimme, „und nun fahre ich Taxi. Ich studiere weiterhin die Verhaltensweisen der Menschen.“ „Was für ein Landsmann sind Sie?“, frage ich. „Iraner“, sagt der Fahrer, wobei er mich kurz von der Seite mustert. „Und Sie, was machen Sie?“ „Schriftsteller. Ich besuche den Autorenkongress, der an diesem Wochenende hier in Hannover stattfindet.“ „Schreiben Sie auch Gedichte?“ „Ja, das heißt, ich schrieb Gedichte. Heute eher weniger. Eigentlich überhaupt nicht mehr. Weshalb fragen Sie?“ „Ich habe viele Gedichte geschrieben. Auch im Iran veröffentlicht.“ So lasse ich mich von diesem Schopenhauer lesenden Poeten ins Hotel kutschieren, in meinem Hinterkopf eine leise Ahnung von verkehrter Rollenverteilung.
Zwei Stunden später in der ehemaligen Bettfedernfabrik: Ein Poetry-Slam, jener Dichterwettstreit, in dessen Verlauf das Publikum einen Sieger kürt und hochgestochene Traktate in der Regel kaum eine Chance haben. Die Mehrzahl der Vortragenden ist sehr jung, Anfang zwanzig vielleicht. Ihre Texte sind voller Wut, manchmal zeigt sich auch Hass auf gesellschaftliche Zustände oder politische Verfehlungen. In ihren Gedichten lassen sie ganz selbstverständlich Che Guevara, Michail Bakunin und Bommi Baumann auferstehen. Offene Sympathie für die RAF wird artikuliert, für Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof.
Revolutionsgedichte. Pamphlete gegen das Großkapital. Sie borgen sich meine abgelebte Jugend für ihre Jetztzeit. Die Sympathie des Publikums gilt jedoch keinem dieser Revolutionspoeten, auch nicht dem glatzköpfigen Jung-Arzt mit seinen durchaus originellen Benn-Adaptionen, sie gilt einer älteren Frau mit Dauerwelle. Sie trägt ihre Gedichte zum Teil in Rap-Form vor. Handwerklich gut gemacht, inhaltlich witzig bis entlarvend oder einfach nur frech: Das Christkind kommt aus’m Tannenwald den ganzen Kopp voll Hannen Alt wirres Zeug, das lallt es vor die Hauswand knallt es hei, wie es durch die Tannen schallt sacht zu mei’m Mann und mir grüß Gott ihr vier nu bin ich wieder hier frohe Ostern und happy new year! Zu Fuß gehe ich zurück zum Hotel. Berlin-Kreuzberg-Flair in Hannover-Linden. Mehr türkische als deutsche Geschäfte, noch spät am Abend pulsierendes Leben auf der Straße, überall palavernde Gruppen von Menschen, die unterschiedlichsten Sprachfetzen dringen an mein Ohr. Multi-Kulti ist angesagt. Im Hotel werfe ich mich müde aufs Bett, schalte den Fernseher ein. Etwas Zerstreuung, Entspannung. Stattdessen flimmern Schwarz-Weiß-Bilder über den Bildschirm. Bücherverbrennung. Eine hysterische Stimme brüllt in theatralischem Ton: „Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Theodor Wolff!“ Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblatts, 1933 nach Frankreich emigriert, 1943 in Nizza verhaftet und ins Lager Sachsenhausen verschleppt. Im
gleichen Jahr im Israelitischen Krankenhaus in Berlin-Moabit verstorben. Vermutlich an den Folgen der KZ-Folter. Wie Carl von Ossietzky. Der iranische Taxi-Dichter, der smarte Arzt-Poet mit BennNähe, die Bücherverbrennung – alles Zufälle? Ich kann’s nicht glauben. Ein wenig fühle ich mich als Spielball vermeintlich höherer Mächte. Was sind meine eigenen Möglichkeiten? Bin ich frei? Meine Tante fällt mir ein. Bei allem was geschieht, sagt sie immer: Es soll eben so sein. Das ist Fatalismus! Wenn mir keine Einflussmöglichkeiten bleiben, keine Gestaltungsmöglichkeiten – welchen Sinn hat dann mein Dasein? Getriebener zu sein? Spielball des Schicksals? Erfüllungsgehilfe einer unbekannten Instanz?
Am nächsten Morgen in die Universität. Dort möchte ich am Symposion „Von der Schreibgruppe zur Literaturwerkstatt“ teilnehmen. „So geht es ja nicht! Hier können Sie nicht tagen! Ich habe hier eine Vorlesung zu halten! Meine Studierenden warten draußen!“ Der aufgeregte Hochschullehrer mit den wirren Haaren und dem abgetragenen Anzug bedrängt gestikulierend eine freundlich lächelnde Dame, Typ makrobiotische Töpferin mit Lehrauftrag an der Waldorfschule. Letztere verweist auf ihre Nichtzuständigkeit und entfernt sich fluchtartig – noch immer lächelnd. Der Hochschullehrer dreht sich mehrmals um seine eigene Achse und sucht nach Zuständigkeiten. Langsam füllt sich der Hörsaal. Meine Menschenkenntnis sagt mir: Der größte Teil der hier Anwesenden – mich vielleicht nicht ausgeschlossen – gehört in eine therapeutische Schreibgruppe mit dem Ziel, die eigenen Unzulänglichkeiten schreibend zu bewältigen. Ein paar Studierende hocken in den
Reihen, des weiteren fünf, sechs ältliche Autorinnen und Autoren, die sich eine – vielleicht die letzte – Chance erhoffen. Schließlich geht es auch um das Thema „Schreiben lernen? Schreiben lehren!“ Ein zerknitterter Jungautor zerreißt unaufhörlich beschriebene Papiere, wahrscheinlich seine Manuskripte. Und los geht’s. Ein blau gewandeter Professor hält einen eitlen Einführungsvortrag. „Wie ich bereits in meiner Antrittsvorlesung betonte…“ Er vertritt überdies die Auffassung, dass Autorenlesungen die Lektüre ersetzen und daher besser nicht subventioniert werden sollten. Niemand protestiert. Die verschiedenen Begrüßungsformeln und Gemeinplätze dehnen sich fast bis zur Mittagspause. Nichts Neues bisher. Nach der Mittagspause soll es ganz konkret werden, mit Visionen und Realismen professioneller Autorenausbildung. Da, ein bekanntes Gesicht! Interesse zeigen macht sich immer gut. „Moin, Klaus!“ „Ach, der Karl!“ „Woran arbeitest du denn gerade so?“ „Also, ich mach da grad so ‘n poetisches Projekt über das Phänomen Zeit, verstehst du? Ich werde den Leuten mal zeigen, wie sie das Korsett Zeit ablegen können.“ „Hört sich gut an“, kontere ich geschickt. Wir gehen gemeinsam in die Mensa zum Essen. Der blau gewandete Prozessor hält Hof. Ein paar etablierte Autoren kuscheln sich in die Nähe der Ministerialdirigentin. Meine anthropologischen Feldstudien sowie zwei Cappuccino verkürzen die Mittagspause. Es folgt der zweite, der angeblich wichtigere Teil des Symposions.
Mein Kollege mit dem Zeit-Projekt verabschiedet sich schon jetzt. „Ich setz mich mal ganz nach hinten, muss nachher bisschen früher weg, hab nicht so viel Zeit heute.“ Der blaue Professor ist nicht mehr erschienen. Der Vertreter des Schriftstellerverbandes teilt mit, dass sein Vortrag etwas dröge ausfallen werde. Er hält Wort. Versprochen ist versprochen. Das Fazit seines Vortrags lautet: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Wieder etwas dazugelernt. Der Satz „Meine Freunde im Osten würden es Kollektiv nennen, ich sag einfach mal Gruppe…“ provoziert eine Absolventin des damaligen Johannes-R.-Becher-Instituts dermaßen, dass sie an den Verursacher dieses ungeheuerlichen Satzes ein paar aufgebrachte Worte des Unverständnisses beziehungsweise der Unvereinbarkeit ost-westlicher Befindlichkeiten richtet. „Denken Sie da mal drüber nach!“ Bedenklich! Nein, das war wirklich nicht das, was ich mir vorgestellt, was ich erhofft hatte. Aber wie sagte schon Adorno? „Das Publikum hat ein Recht darauf, nicht zu bekommen, was es verlangt.“
Spät am Abend lande ich in einem griechischen Restaurant. Gerade habe ich einen Platz gefunden, da kommt ein junger Mann zur Tür herein. Rucksack auf dem Rücken, wirkt ein bisschen abgerissen, dünn und blass. Zum Essen kommt der sicherlich nicht hierher, obwohl er es nötig hätte. Unruhig streift sein Blick durch den Raum. Zielstrebig geht er zu einem kleinen Tisch, an dem ein Paar sitzt. Legt ein Kärtchen ab und ein Plüschtier dazu. Ach so, betteln will der. Dann kommt er auch zu mir an den Tisch. Die gleiche Prozedur wie zuvor. Auf dem schmuddeligen Kärtchen steht:
Ich bin taub und Sie essen hier. Bitte kaufen Sie mir diesen Schlüsselanhänger für drei Euro ab. Sie ermöglichen damit meinen Lebensunterhalt. Herzlichen Dank! Ich mag mich nicht zu Mildtätigkeit nötigen lassen. Gerade kaufte das Paar dem jungen Mann ein Bärchen ab, während ich mir ein Stück Lamm in Basilikumsahnesoße in den Mund schob. Ob der tatsächlich taub ist? Oder ist das Ganze nur ein abgekartetes Spiel? Lacht er sich vielleicht draußen ins Fäustchen über die Blödheit der Leute? Egal! Auch ich fingere drei Euro aus meinem Portemonnaie und schiebe sie ihm über den Tisch. Sein devot-trauriger Gesichtsausdruck verschwindet augenblicklich, er strahlt mich förmlich an, bietet mir sogar die Auswahl zwischen Bärchen, Hündchen und Häschen an. Ich entscheide mich für das Hündchen, obwohl ich Hunde eigentlich gar nicht leiden mag. Vielleicht bin ich ja doch ein guter Mensch.
Am Sonntagmorgen steht ein Besuch in der vietnamesischen Pagode auf dem Programm. Deutsch-vietnamesisches LyrikProjekt. Alles ein wenig ungeordnet. Trommeln – ohrenbetäubend laut. Fremdartige Gesänge. Der vietnamesische Literaturprofessor übersetzt noch Texte, die zehn Minuten später von der Bühne aus öffentlich vorgetragen werden sollen. Auskünfte über Verlauf und Dauer der Veranstaltung sind trotz mehrmaliger Nachfrage nicht zu bekommen. Alle sind sehr freundlich. Ein vielfüßiger bunter Drache tobt zu dröhnendem Trommelklang über die Bühne. Die Kinder haben ebenso viel Spaß wie die Erwachsenen. Der lächelnd gereichte Imbiss ist scharf und schmeckt vorzüglich. Von irgendwoher fliegt mir ein Satz zu: Nicht nach Glück zu suchen, sondern glücklich zu sein – das ist Weisheit.
Inzwischen sitze ich wieder einmal in meinem Wintergarten, um all das hier aufzuschreiben. Um mich herum die Dunkelheit dieses nasskalten Novemberabends, in meinem Rücken, wie meistens, die hölzerne Garage, in der Dieter… Ach was, das ist vorbei. Doch angreifbar, verwundbar bin ich weiterhin. Das Telefon unterbricht mein Schreiben. Es ist Rudko. Noch mal Schwein gehabt, Rudko! Hatte ich Ihnen von meinem Kater erzählt? Natürlich hatte ich, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Das war im Sommer, er tötete einen Vogel, einfach so, aus purer Mordlust. Vor einer Stunde ist er selbst zum Opfer geworden. Der Hund meines Nachbarn hat ihn erwischt. Packte ihn im Genick und zerbiss ihm das Rückgrat. Legte seine Beute dann im Gras ab, direkt vor die Füße meines entsetzt stotternden Nachbarn und verschwand. „Der ist tot“, sagte mein Nachbar. In dem Augenblick hob der Kater seinen blutverschmierten Kopf und starrte uns mit weit aufgerissenen Augen an. „Das sind nur die Nerven, der ist tot“, sagte mein Nachbar immer wieder. Christine weinte. Auch ich zitterte am ganzen Körper. Wir haben den Kater im Garten begraben. Fressen und Gefressenwerden. Oder um es anders auszudrücken: Töten und Getötetwerden. Am nächsten Tag brachten mir zwei Kinder einen kleinen Kater, den sie, scheinbar herrenlos, auf dem Spielplatz gefunden hatten. Er blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Aber er lebte. Diesen Blick kannte ich. Wenig später hörte ich eine Frau an der Kasse im Supermarkt sagen: „Ja, ja, Katzen haben sieben Leben.“ Bestimmt alles nur Zufälle!
Mein Blick geht hin zum Hibiskus. Heute Mittag war die Blüte noch weit geöffnet. Reckte sich der fahlen Sonne entgegen. Nun ist sie schon fast ganz geschlossen. Morgen wird sie zu Boden fallen. Eine neue Knospe macht sich bereit.
20
Was ist nur mit Christine los? Sie bat mich gestern Abend, unser Schlafzimmer zu verlassen. Hat mich quasi rausgeschmissen. Ich schlafe jetzt in unserem Gästezimmer. Sie sagt, sie hat Angst vor mir. Ich sei ihr irgendwie unheimlich geworden. Dabei hab ich sie doch kaum belästigt mit meinen Angelegenheiten. Außerdem hab ich ihr gesagt, das sei doch ohnehin alles nur Quatsch mit der ganzen Totdenkerei. Wäre doch alles nur für meinen Roman. Ausgedacht und phantasiert. Zuerst glaubte sie mir. Lachte über meine Geschichten. Manchmal lacht der Mensch ja auch vor Schreck. Lachen kann Ausdruck von Entsetzen sein. Zumindest machte sie sich lustig über meine Beschäftigung mit übersinnlichen Phänomenen. Seit der Sache mit Willi denkt sie anders darüber. Sie meint, ich wäre krank. Sie will mir mal wieder eine Therapie aufschwatzen. Ich soll einen Psychotherapeuten aufsuchen und ihm von meinen Schwierigkeiten erzählen. Aber das werde ich nicht tun. Der versteht doch überhaupt nicht, worum es geht. Kennt doch nur seine Lehrbücher. Und in denen ist nichts verzeichnet über den Tod durch Vorstellungskraft. Womöglich hält der mich am Ende auch für krank oder gar für verrückt und steckt mich in eine Klapsmühle. Ich habe versucht, Christine zu belauschen, als sie mit Georg telefonierte. Ein paar Sätze konnte ich aufschnappen. Sie beschwerte sich über mich. Ich sei so anders geworden, würde mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen und ansonsten stundenlang vom Tod palavern. Bei meinem Freund hat sie sich über mich beklagt! Das ist Verrat! Ich bin sehr enttäuscht.
Auch Georg kann ich also nicht mehr trauen. Er hat mir nichts gesagt von dem Telefonat mit Christine. Sie verbünden sich gegen mich. Ich fühle mich ausgegrenzt. Wer ist eigentlich noch für mich da? Wem kann ich noch vertrauen? Und wer ist gegen mich? Wer sind meine Feinde? Willi – und Dieter habe ich jedenfalls ausgeschaltet. Die können mir nicht mehr schaden. Von Rudko habe ich nichts zu befürchten. Der ist harmlos.
Christine ruft mich in ihr Arbeitszimmer. Sie will mit mir sprechen. „Bitte jetzt nicht, Christine! Keine Zeit! Ich habe zu arbeiten!“ Das wird kaum Eindruck auf sie machen, befürchte ich. Ich glaube, sie hält ohnehin nicht allzu viel von meiner Arbeit. Na ja, irgendwie hat sie ja auch Recht. Was ist mir denn bisher gelungen auf schriftstellerischem Gebiet? Ein paar armselige Gedichtbändchen, ein Roman und ein kaum beachtetes Sachbuch über Vortragstechniken, dabei ist das ein wichtiges Thema. Sie müssten die Herren Kollegen und die Damen Kolleginnen einmal vortragen hören. Zum Weglaufen ist das! Nicht zum Aushalten! Da schreiben die manchmal durchaus brauchbare Texte, aber die Art und Weise, wie sie die vorlesen, gleicht dem Wetterbericht in der Tagesschau. Ach was, der ist dagegen noch hochdramatisch vorgetragen und dramaturgisch genial aufgebaut. Es bleibt dem Zuhörer nichts anderes übrig, als einzuschlafen. Einschlafen. Ich bin so müde! Mein erster Roman war auch nicht gerade der Renner. Der Verlag nahm ihn schon nach kurzer Zeit aus dem Programm. Dabei ist es ein guter Roman, das können Sie mir glauben. Hab alles bedacht, was einen Erfolgsroman ausmacht: eine nicht alltägliche Geschichte, ein gesellschaftliches Problem, einen
ungewöhnlichen Helden, samt Gegenspieler, etwas Sex & Crime und natürlich eine sorgfältige Sprache. Aber es hat dennoch nicht funktioniert. Ja, und nun möchte ich einen Kriminalroman schreiben. Der soll natürlich anders werden als die üblichen. Ich möchte niemanden erschießen, erstechen oder vergiften und dann die Leser und den Kommissar raten lassen, wer’s denn nun gewesen ist. Das gibt’s doch alles schon bis zum Abwinken. Nein, mich interessiert eine andere Thematik: Tod durch Vorstellungskraft! Wenn Sie nun allerdings glauben, Christine lasse sich einfach nur durch den schüchternen Hinweis auf meine Arbeit von ihrem Ziel abbringen, augenblicklich mit mir zu sprechen, da kennen Sie Christine aber schlecht. „Karl, komm doch bitte einmal zu mir! Ich möchte mit dir reden!“ Das klingt nicht gut. Hört sich wie eine Vorladung, nicht wie eine Einladung an. Widerwillig gehe ich zu ihr rüber. „Christine, bitte, ich arbeite. Wie soll ich mich konzentrieren, wenn du dauernd nach mir rufst?“ So sensibel müsste sie doch nach all den gemeinsamen Jahren sein, dass sie bemerkt, wenn ich nicht gestört werden möchte. „Setz dich!“ Der Ton in ihrer Stimme gefällt mir überhaupt nicht. Was will sie mir sagen? Eine Beichte vielleicht? Oder Vorwürfe, dass ich nicht genug im Haushalt getan habe in letzter Zeit? Vielleicht hat sie einen Liebhaber. „Nun setz dich doch mal! Du machst mich ganz nervös, wenn du da so am Türrahmen lehnst!“ Sie ist sauer, gereizt. Ich setze mich auf die kleine rote Couch in ihrem Arbeitszimmer. Sie thront hinter ihrem Schreibtisch, Heftstapel rechts und links von ihr – wie Schießscharten einer Trutzburg.
„Karl, ich habe dir etwas zu sagen. Ich will auch nicht lange drum herum reden. Ich möchte mich von dir trennen. Oder anders gesagt: Ich will die Scheidung.“ Ich habe das Gefühl, als hätte mir jemand das Dach über dem Kopf weggesprengt – oder den Kopf? Das Blut sackt in meinen Bauch, mir wird übel, ich glaube, ich muss mich übergeben, ich beginne stoßweise zu atmen, doch dann, seltsamerweise – ebenso plötzlich wie das Chaos über mich herfiel – normalisiert sich alles wieder, ich kann wieder klar denken, es ist, als wüsste ich schon seit Wochen, seit Monaten, dass Christine mich verlassen will. Mir ist nicht mehr schlecht, mein Atem geht ruhig und mein Blut fließt dort, wo es fließen soll. Christine schaut mich auffordernd an. „Ja“, sage ich. „Was heißt: ‚ja’?“, setzt Christine augenblicklich nach. „Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Nur ‚ja’? Ist das alles? Nach all den Jahren sagst du einfach nur ‚ja’?“ „Ja“, sage ich, stehe auf und gehe aus dem Zimmer. Sie will mich verlassen. Alles wird sich ändern. Nichts in meinem Leben wird mehr so wie vorher sein. Sie lässt mich allein. Ein anderes, ein neues Leben beginnt. Ich bin achtundvierzig Jahre alt. Ich bin noch kein alter Mann. Ich kann noch einmal neu beginnen. Aber weshalb verlässt sie mich?, schießt es mir in den Kopf. Weshalb? Bin ich ihr wirklich so unheimlich geworden? Empfindet sie gar einen körperlichen Widerwillen gegen mich? Sind wir uns fremd geworden? Hat sie tatsächlich Angst vor mir? Oder hat sie einen Liebhaber? Will sie sich verwirklichen? Weibliche Midlifecrisis? Stehe ich ihr im Wege? Es war doch eine gute Ehe, die wir führten. Gut, ich gebe zu, ich bin ein wenig sonderbar geworden in letzter Zeit. Aber wir hätten doch über alles reden können. Weshalb dieser kategorische Beschluss? Oder soll es ein Schuss vor den Bug sein? Will sie mich disziplinieren? Meint sie es wirklich ernst?
Und was wird Paul sagen? Paul, unser Sohn, was wird er sagen? Andererseits bekomme ich die Chance, völlig ungestört für meinen Roman zu recherchieren und ihn zu schreiben. Niemand wird mich unterbrechen. Niemand wird über mich lachen, niemand wird mich in die Ecke drängen, niemand! Ich werde mich von keinem Menschen mehr in die Ecke drängen lassen! Soll sie mich doch verlassen! Soll sie doch hingehen, wo der Pfeffer wächst! Ist mir doch egal! Ich werde weiterhin, allerdings ungestört, meine Versuche machen und parallel dazu alles aufschreiben. Vielleicht entsteht so der Jahrhundertroman, wer weiß? Realistischer, authentischer geht es wirklich nicht.
Prost! Ich trinke auf mein Leben. Wenn ich mein Glas erhebe, um daraus zu trinken, wenn ich also mit dem Glas am Mund nach oben schaue, dann kann ich durch das gläserne Dach meines Wintergartens hindurch ein paar Sterne funkeln sehen. Und wenn ich noch mal schaue, sehe ich mich selbst, gespiegelt dort oben im Glasdach, vor den Sternen. Natürlich kann ich mir einreden, dass mir Christines Entschluss nichts ausmacht. Könnte ganz cool die Vorteile einer Trennung auf den Tisch legen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Ein neuer Anfang, eine neue Chance. Aber dann ist da noch die andere Seite. Die lässt sich beim besten Willen nicht wegdrücken. Wie soll ich es Ihnen sagen? Ich liebe Christine nämlich. Wir waren ein Paar seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Wir haben unser halbes Leben miteinander verbracht. Wir hatten Vertrauen zueinander. Und das soll jetzt alles vorbei sein? Ich kann sie nicht verstehen. Ich kann doch nichts dafür, dass in meiner Nähe Menschen sterben. Und es weiterhin einfach so geschehen lassen, kann
ich auch nicht. Ich muss der Sache doch auf den Grund gehen. Außerdem glaubt sie mir ohnehin nicht. Aber weshalb hat sie dann Angst vor mir? Wie soll es weitergehen? Will sie woanders leben? Will sie das Haus behalten? Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu schwanken. Ich kann jetzt hier nicht bleiben. Ich muss hier raus! Jetzt sofort! Ich fahre nach Oldenburg und weiter bis ins Dorf Neusüdende. Bluegrass-Konzert im alten Lindenhof. Ich bin schon häufiger hier gewesen. Der Veranstalter begrüßt mich per Handschlag. „Na, Karl, alte Eule? Mal wieder paar Takte Bluegrass tanken?“ „Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen. Brauchte Tapetenwechsel.“ „Da ist Neusüdende genau richtig, lass dir das vom alten Klaus gesagt sein. Viel Spaß noch. Ich muss weiter.“ Und schon ist er wieder im Menschengewühl verschwunden. Das Publikum ist wie eine große Familie hier. Man kennt sich vom Sehen. Mit dem einen oder der anderen hat man auch schon mal ein paar Worte gewechselt oder ein Bier getrunken. Pünktlich wie immer geht es los. Der Veranstalter klettert auf die Bühne, fingert an einem der vielen Mikrofone herum und ruft dann „Test! Test! Test!“ Er erschrickt vor der Lautstärke seiner eigenen Stimme. „Kann man mich hören, Erwin?“ Der lange Tonmann nickt und fummelt weiter an seinen Reglern. „Leute, ganz toll, dass ihr alle gekommen seid, an diesem trüben Novemberabend. Nee, wirklich. Ohne euch würde das alles hier nicht möglich sein, und das wisst ihr ja auch. Aber ich muss es immer wieder sagen.“ Klaus holt tief Luft. „Und nun, direkt aus den USA, für euch, hier in Neusüdende, heute Abend: das Laurie-Lewis-Trio!“ Die Künstlerin kommt aus der Dekoration auf die Bühne, eine aparte Dame mittleren Alters, in der Hand eine Violine,
ihr folgt eine jüngere Frau mit strubbeligen Haaren, die Bassistin, und zuletzt erscheint ein elegant gekleideter Herr mit einer Mandoline. Die drei gehen direkt zu den Mikrofonen und beginnen ohne Einleitung zu spielen. Ein wunderbar elegisches Stück, eine Instrumental-Ballade, zart vorgetragen, sehr viele Nuancierungen, das Publikum lauscht atemlos. Viel Beifall anschließend. Es ist gut, dass ich hergekommen bin, denke ich. Laurie Lewis sagt das nächste Stück an. Es ist ein Song über ein Paar, das sich nach ewigen Zeiten harmonischen Zusammenseins trennt. „Es ist konsequent“, sagt die Sängerin. „Es ist einfach nur Aufgeben“, sagt der Mandolinenspieler. Für ein paar Momente hatte ich meine eigene Situation vergessen. Hier kann ich also auch nicht länger bleiben. Ich muss wieder weg. „Karl, was ist los?“, höre ich die Stimme des Veranstalters hinter mir. „Nichts!“, rufe ich zurück und gehe zu meinem Auto. Ich sitze in der Falle.
Ob sie Georg erzählt hat von ihren Plänen, mich zu verlassen? Ich muss mir etwas einfallen lassen, um Christine zurückzugewinnen. Ich will sie nicht verlieren. So schnell gebe ich nicht auf. Ziellos fahre ich mit dem Auto durch Oldenburg. Was soll ich tun? Wo soll ich hin? Wo ist mein Platz? Ich möchte nicht allein sein. Möchte unter Menschen sein, die mich nicht kennen. Die mir keine Fragen stellen. Ich, ich, ich. Muss mich von mir selbst ablenken. Nicht ständig in mich hineinschauen, sondern aus mir heraus. So parke ich meinen Wagen am Pferdemarkt. Nasskalt ist es. November eben. Mich fröstelt. Vom Parkplatz aus gehe ich außen um den großen Kreisel herum, in dessen Mitte die
Kanincheninsel liegt. Sie ist neben dem Lappan und dem Pulverturm fast so etwas wie ein Wahrzeichen der Stadt. Umbraust vom täglichen Autostrom leben auf einer mit Gras bewachsenen Verkehrsinsel – es gibt auch ein paar Büsche – etwa vierzig bis fünfzig Kaninchen. Fast immer sind Salatblätter und Möhren zu sehen. Irgendwelche tierlieben Menschen bringen den Langohren ihr tägliches Futter. Heimlich, weil’s verboten ist. Vor ein paar Jahren wurden die Kaninchen von städtischen Angestellten getötet. Angeblich wegen der Seuchengefahr. Ein paar Monate später war die Insel wieder belebt. In letzter Zeit sah ich allerdings kaum noch Kaninchen. Und jetzt ist überhaupt keins zu sehen. Wahrscheinlich haben sie sich vor der Kälte in ihren Erdlöchern verkrochen.
Das Havanna. Eine urige Kneipe mit kubanischem Flair. Ich bestelle mir ein Weizenbier und betrachte die Leute. Das habe ich schon immer gerne getan. Die meisten sind zu zweit oder in Gruppen hier. Fast alle sind jünger als ich. Aber ich denke, ich falle nicht weiter auf. Und noch ein Weizenbier. Die Musik ist laut. Salsa. Die Gäste unterhalten sich brüllend. Ich blättere in einem Veranstaltungsmagazin. Meine Augen tasten die Zeilen ab, jedoch ohne deren Sinn aufzunehmen. Ich kann mich nicht auf das Gelesene konzentrieren. Menschen sitzen an Tischen und reden. Es wird viel gelacht. Einige essen, eine Kellnerin wieselt zwischen der Theke und den vollbesetzten Tischen hin und her. Sie ruft Bestellungen zur Küche hinüber. Ein paar Gäste tanzen, und ich trinke mein drittes Weizenbier. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich an Ihren Tisch setze?“ Eine Frau, wohl ein paar Jahre jünger als ich. Ich habe sie nicht kommen sehen. Sie sieht angenehm aus. Halblange, aschblonde Haare, etwas herbes Gesicht, aber ebenmäßige
Züge, ein lebendiges, ungeschminktes Gesicht, schlank ist sie, und eine unaufdringliche Eleganz geht von ihr aus. „Natürlich nicht, bitte schön!“, sage ich und weise auf den unbesetzten Hocker. Sie greift nach der Speisekarte und beginnt zu lesen. Ich beobachte weiter die übrigen Gäste. An einem Tisch, vorne, gleich beim Eingang, wird sehr aufgeregt gesprochen. Zu verstehen ist wegen der lauten Musik nichts. Aber an den Gesichtsausdrücken und Gesten lässt sich ablesen, dass man sich nicht einig ist. Zeitweilig reden mehrere dieser Leute gleichzeitig. Offensichtlich ist ein heftiger Streit entbrannt. Vielleicht aber auch nur eine temperamentvolle politische Diskussion. An den meisten anderen Tischen wird gelacht. Schräg links jedoch sitzt ein Paar an einem kleinen Tisch und schweigt. Sie starren mit gesenktem Blick auf ihre Hände oder zu irgendeinem imaginären Punkt und sprechen nichts. Sie sehen sehr traurig aus. Ich stelle mir vor, jemand beobachtet unseren Tisch. Was würde er von uns denken? Auch wir ein Paar, das sich offensichtlich nichts zu sagen hat. Sie studiert aufmerksam die Speisekarte und er betrachtet die Leute. Vielleicht sind sie schon seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, haben zwei gemeinsame Kinder und jeder noch ein weiteres Kind aus früheren Beziehungen. Haben viel erlebt, gestritten, geliebt, gelacht und geweint, bis die Gleichgültigkeit einkehrte. Die Langeweile. Der Hass. Alles, was sie heute noch verbindet, ist der Hass. Der Alkohol beginnt zu wirken. Ich spüre diese verführerische Leichtigkeit, dieses vermeintliche Gefühl von Unbesiegbarkeit, dieses losgelöste Sichemporschwingen ins Hier und Jetzt – das meistens wenig später in den freien Fall mündet, in die dumpfe Lethargie, in die lächerliche Hilflosigkeit und schließlich in den totalen Kontrollverlust.
Aber noch bin ich oben – und bestelle mein viertes Weizenbier. „Man muss auch einmal über seinen Schatten trinken können“, sage ich in Richtung der charismatischen Dame neben mir. Sie lenkt den Blick von ihrer Speisekarte, mit der sie sich noch immer eingehend beschäftigt, in meine Richtung, ihr Gesichtsausdruck sagt mir allerdings, dass sie mich entweder nicht verstanden hat oder aber meinen Spruch total daneben findet. „Wie bitte?“, fragt sie. „Ich sagte, man muss auch einmal über seinen Schatten trinken können.“ Verlegen nippe ich an meinem Weizenbier, das plötzlich irgendwie bitter schmeckt. „Aha“, sagt sie und wendet sich wieder ihrer Speisekarte zu. Blödmann, sage ich zu mir, etwas Intelligenteres ist dir wohl nicht eingefallen. Außerdem muss ich ja nicht mit ihr reden und sie nicht mit mir. Niemand zwingt uns zur Konversation. „Sind die Rollos gut hier? Kann man die essen?“ „Klar“, sage ich, „kann ich nur empfehlen. Allerdings sind sie sehr scharf gewürzt.“ „Umso besser“, sagt sie und lächelt mir zu. Die Kellnerin kommt an unser Tischchen. Gestresst, aber trotzdem freundlich. Ich bestelle ein Weizenbier und die elegante Frau ein Rollo auf mexikanische Art und ein Mineralwasser. „Was sagten Sie vorhin? Ich hab Sie akustisch nicht verstanden. Es ist ziemlich laut hier.“ Sie scheint also doch nicht völlig abgeneigt zu sein, mit mir in Kontakt zu treten. Was sagte ich denn vorhin? Ich hab’s glatt vergessen. Ein anderer Spruch fällt mir ein. „Wer nicht am Trinken Freude hat, der ist ein Narr. Euripides, griechischer Philosoph.“ „Prost“, sagt sie und hält mir ihr Wasserglas entgegen, das die Kellnerin ihr gerade hinstellt.
„Prost“, sage ich und unsere Gläser berühren sich. Ich fühle mich auf eine unerklärliche Weise zu ihr hingezogen. Ist es ihre Ausstrahlung, meine Einsamkeit oder beides? Und was hat es schon zu bedeuten, wenn zwei Gläser sich berühren? Ich muss an Christine denken. Was sie wohl jetzt gerade in diesem Augenblick tut? „Ich bin zum ersten Mal hier, aber es gefällt mir gut“, sagt sie. „Ich komme öfter mal hierher. Man trifft immer interessante Leute, und die Musik ist auch nicht schlecht“, sage ich. Sie isst schweigend ihr Rollo, was sie zu genießen scheint. Ich merke, dass ich nicht mehr klar denken kann. Ich habe das Gefühl, dass meine Sätze nicht so klingen wie in nüchternem Zustand. Wie gerne würde ich mit der interessanten Frau über interessante Dinge sprechen, doch fürchte ich, dass ich dazu gar nicht mehr in der Lage bin. „Haben Sie Kummer?“, fragt sie, indem sie ihren leer gegessenen Teller von sich wegschiebt. Kummer, was für ein Wort! Ich muss an einen Kummerkasten denken, an Sorgentelefone, Telefonseelsorge, Lebenshilferubriken in Frauenzeitschriften, Friseur, Arzt, Wartezimmer. „Kummer? Nein. Das heißt, eigentlich doch. Aber wie kommen Sie darauf?“ „So etwas sieht man. Wollen Sie reden?“ Sie ist bestimmt fünf oder gar zehn Jahre jünger als ich. Und dennoch wirkt sie auf mich wie eine Mutter. Sie strahlt Sicherheit aus, Geborgenheit, vielleicht sogar Weisheit. Oder bilde ich mir das nur ein in meinem Suff? „Reden? Worüber denn?“ „Na, über Sie. Über Ihren Kummer zum Beispiel. Oder einfach nur so.“ „Einfach nur so?“ „Es muss ja nicht sein.“
„Entschuldigen Sie, ich bin ein wenig durcheinander.“ „Wollen wir ein wenig nach draußen gehen? An die frische Luft? Es ist leiser draußen.“ Während ich aufstehe, merke ich, dass ich mich am Tisch festhalten muss, um nicht zu schwanken. Ob sie meine Unsicherheit bemerkt? Natürlich merkt sie das! Ahnt sie, dass ich betrunken bin? Was hat sie mit mir vor? Ich gehe zur Kasse, bezahle meine Biere und gehe weiter, durch die zwei Türen hindurch nach draußen. Die kühle Nachtluft tut gut. Ich atme tief durch. Da steht sie plötzlich hinter mir. Ich drehe mich zu ihr um, und sie sagt mit ihrer warmen, dunklen Stimme: „Ich heiße Karla.“ „Ich heiße Karl“, sage ich und wir beginnen beide zu lachen. Wir lachen immer weiter, immer lauter, schließlich prusten wir gackernd unsere Namen: „Karla! Karl! Karl! Karla!“ Unsere Gesichter sind einander ganz nahe jetzt, und dann hört das Lachen auf. Wir sehen uns in die Augen, und es ist, als erkennen wir uns. Ich greife nach ihren Händen und sie lässt es geschehen. Unsere Gesichter, unsere Münder bewegen sich langsam aufeinander zu. Es ist wie ein Zwang. Ich hasse Zwänge! „Ich kann nicht“, sage ich, „es tut mir leid, wirklich.“ „Schon okay“, sagt sie, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort ins Havanna zurück. „Karla?“ Die äußere Eingangstür schlägt hinter ihr zu, sie ist verschwunden. Ich gehe, wanke um die Kanincheninsel herum zu meinem Auto. Auch jetzt ist kein Kaninchen zu sehen. Falls es noch welche gibt, schlafen sie. Außerdem ist es spät und kalt. Kein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Ich stehe vor meinem Auto und weiß, dass ich nicht mehr fahren sollte. Ich steige trotzdem ein, fahre zwei, drei Straßen weiter und halte vor einer Kneipe, die von außen einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck
macht. Der äußere Anschein trifft auch für das Innere und seine Gäste zu. Eine Spelunke. Genau das Richtige für mich. Wie gut, dass man auch trinken kann, ohne fröhlich zu sein, denke ich und bestelle ein Bier.
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„Sehr geehrter Herr Urban, wie wir Ihnen bereits telefonisch andeuteten, entspricht das von Ihnen beantragte Projekt Poesie im Labyrinth nicht den derzeit gültigen Kriterien unserer Projektförderung. Wir müssen Ihnen daher leider mitteilen, dass wir Ihr Projekt nicht fördern können. Wir wünschen Ihnen für Ihre weitere literarische Arbeit viel Freude und Erfolg und verbleiben mit freundlichen Grüßen, Ihre Karin Seiters.“ Blöde Ziege! Jedes Jahr schicken die mir erneut Aufforderungen, ein literarisches Projekt zu beantragen, rufen sogar bei mir zu Hause an, meistens in der Mittagszeit, und jedes Mal lehnen sie es wieder mit irgendwelchen fadenscheinigen Begründungen ab. Was soll der Zirkus? Literaturbüros scheinen mir eher Literaturverhinderungsinstitutionen als Fördereinrichtungen zu sein. Laden sowieso nur ihre speziellen Lieblinge ein, die ohnehin schon von den Buchhandlungen und Bibliotheken hofiert werden. Unsereins ist da wohl allenfalls gut für die Statistik. Das nächste Mal reagiere ich gar nicht mehr. Schicke denen höchstens ihre bürokratischen Formbögen kommentarlos zurück. Abgelehnt! Literaturbüro – das Wort an sich ist schon ein Widerspruch. Literatur und Bürokratismus schließen einander aus. Braucht dieses Land Literaturbüros? Es gibt zuweilen Einrichtungen in der Kulturlandschaft, die mit ihrer Entstehung zugleich ihre Daseinsberechtigung erzeugen. Lächerlich! Es gab ein lebendiges literarisches Leben in Deutschland auch vor der Installierung von Literaturbüros, und es wird ebenso eine
interessante Literaturszene nach dem Verschwinden von Literaturbüros geben. Reagiere ich wie eine gekränkte Künstlerseele? Und wenn schon! Die können mir jedenfalls mal den Buckel runterrutschen! Ich werde mich um lebendigere Angelegenheiten kümmern als um Literaturbüros. Zum Beispiel um Freunde. Ich hasse Anrufbeantworter! Also gut: „Hallo Rudko! Ich bin’s, Karl. Sag mal, was macht ihr denn an Silvester? Ich hab noch nichts vor. Wollen wir im kleinen Kreis was Schönes kochen und ein bisschen feiern? Ruf doch mal zurück. Am besten abends. Tschüß.“ Rudkos Frau Ingrid ruft an. „Lass uns das mal nächste Woche besprechen. Wir haben uns noch nicht festgelegt, ist noch alles offen. Aber vielleicht verreisen wir auch.“ Bloß nichts Konkretes, ja nicht festlegen, vielleicht kommt ja doch noch ein attraktiveres Angebot. Oder sie hat schon von Christines und meinen Schwierigkeiten gehört. Da sind die Leute ja sehr vorsichtig, erst recht Freunde. Sich bloß in nichts hineinziehen lassen! Man könnte ja mit der Nase auf seine eigenen Troubles und Ungereimtheiten stoßen. Macht doch alle, was ihr wollt, denke ich. Dann bleibe ich an Silvester eben alleine, ziehe mir irgendeine blöde Witzshow in der Glotze rein oder ein paar Videos, und um Mitternacht gehe ich vor die Tür, um mir das Feuerwerk anzusehen. Im Briefkasten ein dicker Umschlag, er enthält Kurzgeschichten, die ich vor längerer Zeit an eine Illustrierte schickte. Es ist für einen Autor kein angenehmes Gefühl, die eigenen Texte zurückgeschickt zu bekommen. Es ist, als erzählst du jemandem etwas für dich Wichtiges, und dein Gegenüber interessiert sich nicht die Bohne für dich, reagiert überhaupt nicht, sagt höchstens: Lass mich zufrieden mit deinem Kram! Außerdem arbeitet die Redaktion der
Illustrierten nur noch mit Literatur-Agenturen zusammen. Das vereinfache die Angelegenheit ungemein, teilt man mir mit. Man braucht sich halt nicht mehr mit den lästigen Autoren herumzuplagen. Das ist ja alles gut und schön, nur, mit den Agenturen ist es wie beim Hauptmann von Köpenick: Erfolg hast du nur, wenn eine Agentur deine Interessen vertritt, und eine Agentur nimmt dich nur auf, wenn du Erfolg hast. Mein Verleger ruft an. Die Verkaufszahlen meines letzten Buches, „Vortragstechniken für Rezitatoren“, stagnieren. „Wenn nichts Entscheidendes passiert, muss ich den Titel über kurz oder lang verramschen“, sagt er ungerührt. Es sieht allgemein schlecht aus. Die Leute kaufen immer weniger Bücher. Er steckt nun schon seit ein paar Monaten in den roten Zahlen. Das übliche Gejammer. Ich getraue mich nicht, ihm meinen neuen Roman anzukündigen. Stattdessen frage ich, wie es denn mit der Verlagsplanung für das kommende Jahr aussieht. Er scheint meine Gedanken zu erraten. „In diesem Jahr brauchen Sie nichts mehr zu schicken. Unsere Planungen für die nächsten eineinhalb Jahre sind abgeschlossen. Wir müssen wahrscheinlich sogar bereits zugesagte Projekte canceln, sonst ist es nicht zu schaffen.“ Downloaden, performen, canceln – was für tote Wörter! Journalistisch läuft schon lange nichts mehr. Die Zeitungsredaktionen schicken die freien Mitarbeiter als Erste in die Wüste. Seit das Anzeigengeschäft überall stark rückläufig ist – man setzt mittlerweile auch mehr auf das Internet – können die sich zusätzliche Mitarbeiter gar nicht mehr leisten. Langsam wird es eng für mich. Persönlich ohnehin und nun auch noch beruflich und damit finanziell. Bleiben mir noch die Lesungen als halbwegs lukrative Einnahmequelle. Lesungen sind für mich im Grunde noch immer die wichtigste und auch schönste Art der Literaturvermittlung: Ich als Person verwandele mich in mein
Buch und meine Texte werden vor dem Publikum zur Realität. Zwar ist auch dieses Geschäft härter und unerfreulicher geworden, doch ist mein Bekanntheitsgrad als Autor mittlerweile immerhin für einige Veranstalter Grund genug, mich einzuladen. Vor ein paar Jahren verschickte ich fünfzig Infobriefe an fünfzig Veranstalter und heraus kamen etwa fünfundzwanzig Lesungen. Kein schlechter Schnitt. Heute ist es so, dass bei fünfzig Werbebriefen maximal eine Lesung zustande kommt, manchmal auch gar keine. Dann hockst du am Telefon und rufst nach einer Woche die Veranstalter an, die du angeschrieben hast. „Tut mir leid, dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Der Herr Dingenskirchen, der bei uns für Lesungen zuständig ist, der ist zurzeit krank.“ „Lesungen? Machen wir doch schon seit zwei Jahren nicht mehr! Das rechnet sich halt nicht. Wir müssen ja auch kaufmännisch denken!“ „Unser Programm steht für die nächsten zwei Jahre fest. Vielleicht melden Sie sich im übernächsten Frühjahr noch einmal.“ „Am besten rufen Sie so gegen achtzehn Uhr noch mal an.“ Um achtzehn Uhr wirst du auf zwanzig Uhr vertröstet und um zwanzig Uhr auf den folgenden Vormittag, und am folgenden Vormittag nimmt keiner mehr ab, und dann fragst du dich: Wer bin ich eigentlich? Ein Bittsteller? Ein Almosenempfänger? Ein Schmarotzer? Habe ich das wirklich nötig? Offensichtlich lautet die Antwort: leider ja. Zum Glück gibt es – wie gesagt – einige Veranstalter, die fühlen sich geehrt, wenn du bei ihnen liest, freuen sich auf dein Kommen, und das sagen sie dir auch. Dann ist es ein bisschen so wie früher und du denkst, vielleicht bist du doch ein wichtiger Mensch.
Und dennoch überfällt mich manchmal für Sekunden eine Melancholie, die sich wie eine Ahnung von Wahnsinn, Apokalypse und Tod anfühlt. So schnell, wie sie kommt, ist sie meistens auch schon wieder verschwunden und alles ist so, wie es vorher war. Ich folge einer Einladung nach Magdeburg. Dort gibt es den Ritterkeller, eine urige Kneipe in mittelalterlichem Look. Ich soll dort Gruselgeschichten lesen. Der Veranstalter will sich im Vorfeld nicht auf ein Festhonorar einlassen. Er sagt, er wolle mir geben, was er ermöglichen kann und außerdem werde er mich fürstlich bewirten. Na, und die Fahrtkosten würde er selbstverständlich auch erstatten. Normalerweise lasse ich mich auf solche schwammigen Vereinbarungen nicht ein. Meistens schließe ich einen Vertrag, in dem alle wichtigen Dinge, wie Thema und Dauer der Veranstaltung, Honorar, Fahrtkosten, Übernachtung, Plakate, Pressematerial und so weiter genau festgelegt sind. Ich habe mit präzisen Übereinkünften die besten Erfahrungen gemacht. Doch in diesem Fall liegt es ein wenig anders. Ich möchte an besagtem Wochenende ohnehin Freunde in der Nähe besuchen, und außerdem macht der Veranstalter am Telefon einen äußerst seriösen und sympathischen Eindruck. Nun sitze ich im überheizten Zug nach Magdeburg und beobachte Menschen. Sammle Rohmaterial für meine Geschichten. Der Mann mir gegenüber spricht Wichtiges in sein Handy: „Ich bin jetzt hier im Zug… Ja… Hier liegt auch noch etwas Schnee… Ist aber nicht mehr so kalt wie gestern… Eben war’n wir noch im Westen, jetzt schon im Osten… Ich denke mal, in eineinhalb Stunden.“ Die junge Frau neben ihm hat etwas strähnige Haare. Sie wühlt in ihrem Eastpack-Rucksack. Die drei Schwarzen im Flur sind bestimmt Drogendealer. Die junge Frau ist fündig geworden. Sie verweigert sich fortan ihrer Umgebung, indem
sie sich die Ohren mit den Kopfhörern eines tragbaren CDPlayers verstopft. Schneefelder dehnen sich asymmetrisch in mein Gesichtsfeld, ein paar entfernte Rehe schauen gleichgültig zu uns herüber, graue Häuser huschen vorbei, Fabrikruinen, verblassende Graffitis, verwaiste Schrebergärten, graue Sträucher, verlassene Häuser mit starrenden Fensterhöhlen, Autowracks. Ich muss an die Geisterdörfer der Goldgräber im Westen der USA denken. Wieder einmal fällt es mir schwer, mich auf meine Reiselektüre zu konzentrieren: Erzählungen von Edgar Allen Poe. Wir haben Verspätung. Ein Selbstmörder hat sich vor unseren Zug geworfen.
Der Ritterkeller sieht wirklich gut aus. Ein mittelalterliches Gewölbe, gekalkte Steinwände, massive Holztische, klobige Stühle, Ritterrüstungen in den Ecken, Streitäxte an den Wänden und Porträts edler Herrschaften, Fahnen mit fürstlichen Symbolen. Das Bier wird in Zinnhumpen kredenzt, und die deftigen Essensportionen, auf Holzbrettern oder in gusseisernen Pfannen serviert, sehen aus, als könnten sie jeweils eine ganze Familie satt machen. Der Veranstalter begrüßt mich freundlich. Er zeigt mir den Vortragsraum, etwas abseits vom Schankraum gelegen, jedoch mit gleicher Ausstattung. Gegen zwanzig Uhr, die Lesung soll um zwanzig Uhr dreißig beginnen, sitze ich noch immer alleine im Vortragsraum. Eine nette Serviererin hat mich inzwischen mit einem Glas Rotwein erfreut. Ich packe meine Bücher aus, rücke die Leselampe zurecht, blättere noch einmal in meinen Manuskripten. Zwanzig Uhr fünfzehn, noch immer niemand gekommen. Nebenan lärmen ein paar Essensgäste. Vielleicht wollen sie ja im Anschluss an ihr Mahl meine Lesung besuchen. Ich gehe noch einmal auf die Toilette, kämme mich, betrachte mich im
Spiegel und schlendere wieder zurück in den Vortragssaal. Inzwischen werden ja wohl die ersten Gäste eingetrudelt sein. Irrtum. Noch immer bin ich allein. Der Veranstalter kommt herein. Er sieht nicht mehr so freundlich aus wie vorhin. Er wirkt nervös und gereizt. „Ich habe getan, was ich konnte“, sagt er ungefragt, „Plakate aufgehängt, Presse informiert, sogar ein paar Leute extra angeschrieben und sogar persönlich angesprochen.“ Vier Menschen kommen zur Tür herein. Na bitte, jetzt geht’s los. Es sind meine Freunde Hans und Ursel mit zwei ihrer Bekannten, die ich wiederum nicht kenne. Dann kommen noch zwei Männer in den halbdunklen Raum – Pressevertreter. Wer sagt’s denn? Der Veranstalter und seine Frau gesellen sich noch zu uns – so sind es also insgesamt acht Zuhörer, die vor mir sitzen und auf meine Geschichten warten. Naja, es hätte noch schlimmer kommen können. Ich trage meinen Nadelstreifenanzug. Den habe ich mir extra für öffentliche Auftritte angeschafft. Früher ging ich in den Klamotten auf die Bühne, die ich auch sonst trug. Bis ein Kollege mir eines Tages sagte: „Die Leute kommen extra zu dir, sie nehmen sich Zeit für dich, zahlen Eintritt und erwarten etwas Besonderes. Dieser Erwartungshaltung solltest du nicht nur mit deinen Inhalten, sondern auch mit gewissen Äußerlichkeiten entgegenkommen. Alles andere ist arrogant und unprofessionell.“ Das leuchtete mir ein. Seither trete ich öffentlich nur im Anzug und mit blank geputzten Schuhen auf. Ich lese also meine Geschichten, erzähle etwas zu den Schreibanlässen und beantworte zum Schluss die üblichen Fragen. „Kann man denn vom Schreiben leben?“ „Wenn man gut ist, ja!“ „Woher bekommen Sie Ihre Ideen?“
„Man muss nur zuhören und hinsehen. Die Ideen sind auf der Straße, im Café, im Bus, im Reisezug, bei der Arbeit – überall.“ „Ist es schwierig, einen Verlag zu finden?“ „Ja!“ Ich sagte die Unwahrheit, behauptete ich, dass mir Lesungen mit geringem Publikumsinteresse nichts ausmachten. Man versucht dann halt zu retten, was zu retten ist, um sich auf diese Weise selbst zu trösten. „So etwas passiert auch viel Berühmteren als dir.“ „Die Begegnungen bei Lesungen mit einem kleinen Publikum sind meistens viel intensiver.“ „Es hat ja auch schon ganz andere Lesungen gegeben, mit hundert und noch mehr Menschen.“ „Der Buchverkauf war immerhin ganz gut.“ Also: abgehakt! Das kleine Publikum verabschiedet sich, mit freundlichem Applaus. Manchmal ist das Klatschen des Publikums nicht Beifall, sondern Ausdruck kollektiven Mitleids. Meine Freunde werde ich morgen besuchen, muss ja auch noch mit dem Veranstalter den geschäftlichen Teil abwickeln. Von sich aus tut er allerdings nichts. Erst nachdem wir eine weitere halbe Stunde über irgendwelche Belanglosigkeiten daherredeten, sage ich: „Wir müssten noch abrechnen.“ „Abrechnen? Was denn abrechnen?“ „Na ja, mein Honorar.“ „Wissen Sie, was ich heute an Eintrittsgeldern eingenommen habe? Nichts! Sollte ich denn von Ihren Freunden Eintritt kassieren? Ich habe keine Einnahmen!“ „Ja, und was ist mit meinem Honorar?“ „Ich hab nichts!“, ruft er weinerlich.
„Ja, hören Sie mal, Sie können doch nicht davon ausgehen, dass ich zweihundert Kilometer fahre, bei Ihnen eine Lesung mache und dann ohne einen Cent wieder abfahre!“ Der Veranstalter stiert vor sich auf den Fußboden und schweigt. Dann verlässt er den Raum und lässt mich mit der jungen Serviererin allein. Uns beiden ist die Situation mehr als peinlich. Nach etwa fünf Minuten kommt er zurück und drückt mir einen Geldschein in die Hand. „Hier, fünfzig Euro. Sind Sie damit einverstanden?“ „Fünfzig Euro, für eine Autorenlesung, zweihundert Kilometer Fahrt und eine Übernachtung?“, frage ich einigermaßen ungläubig. Der Veranstalter beginnt hysterisch zu kreischen: „Sie ruinieren mich! Diese fünfzig Euro sind alles, was ich heute im Lokal verdient habe! Ich gebe Ihnen alles, was ich habe! Ich bin so blöde! So blöde bin ich! Immer wieder falle ich auf so was rein! Ich bin zu gut, ich bin einfach nur zu gut! Ich bin eben kein Geschäftsmann, wieso bin ich so weichherzig, all mein Geld herzugeben? Elvira, haben Sie mal hundert Euro, können Sie mir hundert Euro borgen, die ich diesem Mann hier schenken kann?“ Mit dieser letzten Frage wendet er sich an die Serviererin, die wiederum wendet sich peinlich berührt ab. „Schenken? Ich will nichts geschenkt haben!“, sage ich. „Ich will lediglich für meine reelle Arbeit bezahlt werden. Das ist alles!“ Und wieder verschwindet der Veranstalter in seinem Kabuff hinter dem Schankraum. Grußlos. Ich stehe auf, nicke der Serviererin zu und verlasse das Lokal, inzwischen hat es zu regnen begonnen, nur schnell zum Bahnhof. Aber wer weiß, was mich zu Hause erwartet? Immerhin weiß ich jetzt, was ein Jammer-Ossi ist. Wieder etwas dazugelernt.
Noch drei Wochen bis Weihnachten. Die Menschen um mich herum verfallen in die übliche Hektik. Jeder hatte sich zwar fest vorgenommen, schon vor Monaten sämtliche Geschenke zu besorgen oder – noch revolutionärer – am besten gleich auf jegliches Schenken und Beschenktwerden zu verzichten, doch dran gehalten hat sich – wie immer – keiner. Draußen scheint die Sonne. Osterstimmung im Dezember. Während ich einmal mehr feststelle, dass die Werte sich verschieben -tatsächlich oder lediglich in meiner Vorstellung? – fällt mir ein, dass ich mit meinen geplanten Experimenten in Verzug geraten bin. Ein weit entfernter Düsen-Jet zeichnet eine schneeweiße Kondenslinie in den frühlingsblauen Spätherbsthimmel. Ein Schwarm Tauben macht sich über die letzten Äpfel in meinem Obstgarten her. Ein welkes Blatt taumelt unaufgeregt zur Erde. Ich kann nichts hören, keine Geräusche dringen an mein Ohr. Sogar bei meinen Nachbarn ist alles ruhig. Eine seltsame Stille liegt über dem Land. Die Ruhe vor dem Sturm? Ich habe kaum noch Geld, dafür viele unbezahlte Rechnungen. Für meine tägliche Weinration reicht es noch. Ich trinke mehr als sonst. Christine und ich leben getrennt unter einem Dach. Sie ist mir so vertraut und doch gleichzeitig so fremd geworden. Unser Haus ist groß, wir gehen uns aus dem Weg. Ich sehe sie nur noch selten. Manchmal, wenn sich eine Begegnung nicht vermeiden lässt, gehen wir wortlos aneinander vorbei. Gestern Abend nicht. „Meinst du wirklich, dass wir einfach so weiterleben können, als sei nichts geschehen?“ „Was ist denn geschehen? Außer, dass du mich grundlos aus unserem gemeinsamen Schlafzimmer verbannt hast, fällt mir nichts ein.“ „Ich möchte, dass du ausziehst.“ „Christine, dies hier ist mein Zuhause!“
„Du gehst und kommst, wann du willst, du arbeitest schon seit langem nicht mehr ernsthaft, du beschäftigst dich mit obskuren Theorien und steigerst dich in irgendwelche Wahnideen hinein und du trinkst erheblich zu viel. Ich kann so nicht leben, Karl, und ich will es auch nicht. Glaubst du nicht, es ist besser für uns beide, wenn du dir irgendwo eine kleine Wohnung mietest und nur dir selbst gegenüber verantwortlich bist? Dann kannst du dich vielleicht auch wieder besser auf deine Arbeit konzentrieren. Das hast du doch selbst schon so oft gesagt.“ „Und wovon soll ich eine Wohnung bezahlen?“ „Du wirst doch wohl nicht völlig aufhören zu arbeiten! Werd endlich erwachsen, Karl, und übernimm Eigenverantwortung!“
In unserem Garten leben zwei Igel. Ein großer dicker und ein kleiner dünner. Sie haben unter den Büschen, im Laub ihr Zuhause. Dort werden sie auch den Winter überstehen. Wie ich die beiden beneide!
22
Ich bin nach Oldenburg umgezogen. Hab mein Haus im Emsland verlassen, in dem ich fast die Hälfte meines Lebens verbrachte und in dem meine Frau nun alleine wohnt. Wie muss Christine sich fühlen? Noch ist sie stark, aber sie wird einsam sein. Vielleicht, wenn die Wogen sich geglättet haben, wird sie Sehnsucht nach unserer Gemeinsamkeit empfinden. Wird sie mich dann zurückrufen? Georg hat mir beim Auszug geholfen. Hab meine Bücher eingepackt, meine Schallplatten, meine CDs, Klamotten, den Futon aus dem Gästezimmer, einen Tisch und zwei Stühle, den alten Eichenschrank. Alles andere hab ich zurückgelassen. Ich kann doch nicht mein eigenes Haus plündern. Werd mir ein paar Möbel aus Haushaltsauflösungen besorgen. Ich wohne jetzt in einem Mietshaus. Hab keinen Garten mehr. Aber wenigstens einen Balkon. Der Balkon gibt den Blick frei in einen groß angelegten Innenhof, immerhin Rasen und ein paar Birken sind zu sehen. Über mir wohnt eine Studentin. Wenn meine Musik zu laut ist, klopft sie mit einem Besenstiel auf ihren Fußboden. Dann drehe ich die Musik leiser. Mir fällt dieser alberne Spruch ein: Ein Mann muss in seinem Leben ein Haus bauen, einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen und ein Buch schreiben. Haus? Na klar, habe ich gebaut. Na, und Paul ist doch ganz wohlgeraten. Ganze Wälder habe ich im Laufe meines Lebens gepflanzt, in meinem Garten und auch anderswo. Und meine Bücher? Reden wir nicht weiter drüber! Hab jedenfalls alles erledigt. Ich bin sozusagen fertig. Könnte also abtreten. Was soll ich denn noch?
Richtig! Zwei Angelegenheiten gibt es auf alle Fälle noch zu klären: Ist meine Imagination tatsächlich in der Lage, die Dinge zu verändern, ist sie sogar in der Lage, Menschen zu töten? Und natürlich meine ungelöste Beziehung zu Christine. Ich fühle mich wie ein schlafwandelnder Harlekin auf dem First eines Hauses in einer Vollmondnacht. Schlafwandlern geschieht nichts, so sagt man. Wacht auch über mich ein Schutzengel? Doch bevor ich meine Experimente weiter vorantreibe, bevor ich mich um Christine bemühe, muss ich zunächst Geld auftreiben. Von irgendetwas muss der Mensch ja leben. Ich öffne die zweite Flasche Rotwein. Es ist ein Beaujolais Villages Primeur, der erste Wein dieses Jahres. Er ist jung und spritzig, wie ich es nicht mehr bin. Zwölf Komma fünf Prozent Alkohol. Ich brauche die Wirkung, um auf Touren zu kommen. Ich muss nachdenken.
In Cafés und Kneipen sitzen zuweilen Menschen, die allein sein wollen, ohne dabei auf Gesellschaft zu verzichten. Genau so empfinde ich im Moment. Zu Fuß gehe ich von meiner neuen Behausung in Richtung Havanna. Einmal quer durch die ganze Stadt. Im Havanna angekommen, bestelle ich an der Theke, wie meistens, ein Weizenbier und lasse meine Blicke schweifen. Ganz hinten, in der äußersten Ecke, als wolle sie ganz für sich sein, sitzt eine Frau und liest. Ich erkenne sie. Es ist Karla. Meinen ursprünglichen Wunsch nach Einsamkeit ignorierend, greife ich nach meinem Glas und gehe zu ihr. „Ist hier noch ein Platz frei?“ Die übliche Anmache. Etwas ruckartig hebt sie ihren Kopf, als habe ich sie erschreckt. Doch fängt sie sich augenblicklich wieder. „Setz dich“, sagt sie lächelnd. Wir reden wie alte Bekannte, wie Freunde. Es ist, als kennten wir uns schon eine Ewigkeit.
Seit dieser zweiten Begegnung sehen wir uns nun häufiger. Meistens treffen wir uns im Havanna. Ich habe sie aber auch schon einmal ins Kino eingeladen und sie mich zum Essen in ein kleines indisches Speiselokal. Das Essen dort war nicht besonders, dafür gestalten sich unsere Gespräche nach und nach intensiver. Sie ist verheiratet, lebt aber schon seit längerer Zeit getrennt von ihrem Mann. Vielleicht war es unklug von mir, aber ich erzählte ihr von meinem Verdacht – oder soll ich es Überzeugung nennen? – auf telepathischem Wege töten zu können. Sie lachte nicht, sah mich nur ganz ernst an. Wir gehen im Schlosspark spazieren. Reden kaum. „Wollen wir zu mir gehen?“, sagt sie plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung. Mir will auf die Schnelle keine geistreiche Antwort einfallen, so nicke ich mit dem Kopf, und wir ändern die Richtung. Ihre Wohnung liegt hinter dem Theater, in dem Viertel mit den schönen Patrizierhäusern, die noch vor fünfundzwanzig Jahren abgerissen werden sollten. Mehrere Bürgerinitiativen verhinderten damals den geplanten Frevel. Alte Bausubstanz, aufwändig renoviert, diese Gebäude ähneln eher Villen als normalen Wohnhäusern. Innen geräumige Treppenhäuser, Marmorböden, blank polierte Handläufe aus Holz an den Treppen. Die Räume hoch und mit Stuckatur verziert. Sieht nach Geld aus, denke ich. Karla passt in dieses Ambiente städtischer Noblesse. Ich weniger, bin wohl eher der ländliche Typ. Sie schließt ihre Wohnungstür auf und macht einen Schritt zur Seite, um mir den Vortritt zu lassen. Ein gelungenes Ensemble aus modernen und antiken Möbeln erwartet mich. An den Wänden ein paar großformatige Originalradierungen und Plakate verschiedener Kunstausstellungen. Die Wohnung ist insgesamt recht spärlich möbliert, was ihr eine gewisse
Weitläufigkeit verleiht. Die üblichen Kinkerlitzchen fehlen völlig. „Schau dich nur ein wenig um“, sagt sie und verschwindet in der Küche. Sie kommt mit zwei Longdrinks zurück, die sie auf dem gläsernen Couchtischchen abstellt. Beide wissen wir, wohin die Reise geht. Sie lässt sich in das Ledersofa fallen und sagt: „Komm!“ Ich gehe zu ihr. Es ist wie ein Ritual. Eine gewisse Zwangsläufigkeit spult sich selbst ab. Wir beginnen uns gegenseitig zu streicheln. Ich spüre so etwas wie Befreiung dabei, zum ersten Mal mit ihr allein zu sein. Unsere Bewegungen werden bald schneller, fordernder. Wir haben etwas in Gang gesetzt, dass sich nun nicht mehr bremsen lässt. Der point of no return ist überschritten. Sie knöpft meine Hose auf und umfasst meinen Schwanz mit ihrer kühlen Hand. Ganz langsam bewegt sich ihre Hand auf und ab. Durch ihre dünne Bluse hindurch knete ich ihre Brüste, wobei sie wohlig stöhnt. Gemeinsam befreien wir sie von ihrem Höschen. Vorsichtig streichle ich ihre Scham, und trotz des rauschhaften Empfindens stelle ich freudig fest: Ich bin nicht der Einzige mit einer Erektion. Mit meiner Zunge vollende ich das begonnene Werk, bis ihr ganzer Körper sich schließlich zitternd zusammenzuziehen scheint, um sich kurz darauf mit einem lang gezogenen Seufzer zu entspannen. Zwei, drei Mal atmet sie tief durch, dann setzt sie sich rittlings auf mich, und ohne unsere Hände zu Hilfe zu nehmen, gleite ich tief in sie hinein. Den langsam kreisenden Bewegungen ihres Beckens vermag ich nur kurze Zeit standzuhalten. Ich habe das Gefühl, in ihrem Unterleib zu explodieren. Wir verharren eine Weile bewegungslos ineinander. Nur unser noch immer heftiges Atmen ist zu hören. „Das musste sein“, sagt sie endlich. „Das war nötig“, antworte ich. Sie löst sich von mir, nimmt ihre Kleidungsstücke und geht zum Badezimmer. Ich bleibe
noch etwas in der Halbschrägen liegen, höre das Wasser rauschen, greife nach dem Cocktailglas, nehme einen Schluck, und da kommt sie auch schon zurück. „Du kannst“, sagt sie. Lächelnd deutet sie in Richtung Badezimmer. Wenig später sitzen wir wieder gemeinsam auf ihrem Ledersofa. Wir halten uns an den Händen. Wie ein frisch verliebtes Paar. „Was ist eigentlich mit deinem Mann?“, frage ich. „Was soll mit ihm sein?“, fragt sie zurück. „Weshalb lebst du nicht mit ihm zusammen?“ „Das ist eine unerfreuliche Geschichte“, sagt sie, „eigentlich eine richtig miese Geschichte.“ „Magst du darüber sprechen?“ „Nicht jetzt, vielleicht später“, sagt sie.
Später bedeutet zwei Tage darauf. „Erich ist Rechtsanwalt. Er ist ein Schwein. In jeder Beziehung. Beruflich und privat. Erspar mir Einzelheiten.“ „Hat er dich schlecht behandelt?“ „Schlecht behandelt ist gar kein Ausdruck. Er hat mich gequält. Er ist ein Sadist. Er hatte Spaß daran, mich zu erniedrigen und zu betrügen. Und als Rechtsanwalt ist er der übelste, hinterhältigste, gemeinste Zeitgenosse, den du dir vorstellen kannst. Aber er hat Geld. Solche Leute haben meistens sehr viel Geld.“ „Erzähl mir mehr von ihm“, fordere ich sie auf. „Weshalb interessiert dich der Kerl?“ „Weil du mich interessierst“, sage ich. Karla erzählt und beantwortet alle meine Fragen. Sie und ich haben einen gemeinsamen Bekannten, nämlich meinen Schriftstellerkollegen Rolf Hartmann. Der hatte vor ein paar
Jahren im Auftrag eines namhaften Reißverschlussherstellers die Geschichte des Reißverschlusses geschrieben. Solche Auftragsarbeiten bringen zwar wenig Ruhm und Ansehen, doch unter Umständen sehr viel Geld ein. Rolf hatte sich damals von Dr. Erich Morgenstern juristisch beraten lassen und in diesem Zusammenhang mit dem Mann so seine Erfahrungen gemacht. Was er mir erzählte, genügte, um Morgenstern einigermaßen zu verachten. Nach ein paar Wochen kannte ich Dr. Erich Morgenstern besser, als seine Frau ahnte. Wenn Sie mich nach meinem Urteil über diesen Mann fragen, so sage ich einfach mal: ein Arschloch!
Karla und ich sehen uns bald täglich. Es ist eine schöne Zeit. Christine ist in meiner Gefühlswelt ein wenig in den Hintergrund getreten. Doch das brauche ich auch für mein Selbstwertgefühl. Trotzdem weiß ich: Ich liebe sie noch immer. Eines Tages sagt Karla voller Leidenschaft: „Ich wünschte, er wäre tot!“ Das könnte ich als Hilferuf auffassen, vielleicht sogar als Bitte. Das ist ein Auftrag, ganz klar! Was ich über Morgenstern weiß, sollte genügen. In meiner Wohnung im Nordwesten Oldenburgs sitze ich allein am Küchentisch, schließe die Augen, lege die rechte Hand über die zur Faust geballte linke und führe beide Daumen an meine Stirn. Ich versuche mich auf Dr. Erich Morgenstern zu konzentrieren. Obwohl ich mir nacheinander alle Szenen vorstelle, die Karla und Rolf mir plastisch schilderten, fällt es mir wider Erwarten schwer, Zugang zu Erich Morgenstern zu finden. Da bremst etwas, da steht etwas zwischen uns, es ist anders als sonst. Es strengt mich an. Ich schaffe es nicht.
Ich sitze noch immer am Küchentisch, atme wie ein Langstreckenläufer oder wie nach einem Zusammensein mit Karla. Plötzlich fällt es mir ein, natürlich: Ich weiß nicht, wie dieser Kerl aussieht. Bin ihm nie begegnet, habe noch nicht einmal ein Foto von ihm gesehen. Ich breche meine Sitzung ab. Doch ehe ich überhaupt an etwas anderes denken kann, da klatscht mir mit voller Gewalt das Böse ins Gesicht. Mir wird speiübel, ich würge, bekomme kaum noch Luft zum Atmen, kann plötzlich fast nichts mehr sehen, alles verschwimmt vor meinen Augen, ich übergebe mich, kann nicht aufstehen, meine Arme und Beine wollen mir nicht mehr gehorchen, ich will schreien, doch kein Laut verlässt meinen Mund, ich glaube, ich muss sterben. Doch dann ist es fast ebenso schnell wieder vorbei, wie es über mich kam. Ich komme wieder zu mir, kann mich wieder bewegen. Das war die Wucht meiner eigenen Gedanken, die – da sie kein Ziel fand – zu ihrem Ursprung zurückkehrte.
„Karla, hast du ein Foto von deinem Mann?“ „Wie bitte? Was soll das denn?“ „Ich würde gerne mal sehen, wie der aussieht.“ Zwar habe ich längst eine ganz bestimmte Vorstellung, doch muss die ja nicht der Wirklichkeit entsprechen. Ich muss wissen, wie dieser Mann aussieht. „Hier“, sagt sie und hält mir ein Foto unter die Nase. Der sieht doch eigentlich ganz nett aus, denke ich. Meine Vorstellung war tatsächlich eine völlig andere. „Der sieht ja direkt sympathisch aus“, sage ich, während ich weiterhin den jugendlich wirkenden Mann mit den dunklen Augen und den halblangen, vollen Haaren betrachte.
„Das dachte ich früher auch“, sagt Karla, wobei sie kurz von ihrem Buch aufsieht. „Der hat mich übrigens gestern nach Monaten zum ersten Mal angerufen. Es ging ihm ziemlich schlecht. Er dachte, er müsste sterben. Aber das ist typisch für ihn: Solange er obenauf ist, bin ich Luft für ihn, und sobald es ihm mies geht, bin ich wieder gut genug.“ „Was hatte er denn?“ „Keine Ahnung. Das wusste er selbst nicht. Inzwischen geht’s ihm aber wieder besser.“ „Aha“, sage ich und lasse das Foto in meiner Jackentasche verschwinden.
Der zweite Versuch verläuft tatsächlich völlig anders. Wieder sammle ich meine inneren Kräfte, um sie zu bündeln. Ich lade sie auf mit negativer Energie. Ich befehle ihnen, zu zerstören, zu töten. Schließlich gebe ich ihnen eine Richtung – Erich Morgenstern. Und diesmal spüre ich meine Kräfte entschwinden, sie verlassen meinen Körper, sie schwärmen aus, sie haben einen Auftrag, sie folgen meinem Befehl. Regungslos hocke ich an meinem Küchentisch, bin nicht imstande, Außenreize wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu verarbeiten. Absolute Konzentration auf das Ziel. Irgendwann komme ich wieder zu mir. Als ich meine Sitzung begann, war es draußen hell, jetzt ist es stockdunkel. Ich blicke zur Uhr und stelle fest, dass drei Stunden vergangen sind, seit ich begann, mich auf Morgenstern zu konzentrieren. Ich hätte geschworen, es wären nur wenige Minuten gewesen. Nun bin ich wieder zurück und fühle mich völlig entkräftet. Ich versuche aufzustehen, um mich ein wenig hinzulegen. Meine Beine wollen mir nicht gehorchen. Ich rutsche seitlich vom Stuhl und krieche zum Bett. Mühsam ziehe ich mich hoch, Zentimeter für Zentimeter, bis ich endlich schwer atmend auf
meinem Bett liege, am ganzen Körper zitternd, die Augen geschlossen, mir ist kalt, ich ziehe eine Decke über mich, dann schlafe ich ein. Das aufdringliche Schrillen des Telefons weckt mich. Karla ist am Apparat. „Ich denke, du solltest es von mir als Erster erfahren: Erich ist tot. Mit dem Auto verunglückt. Die Polizei sagt, sie wissen nicht, wie das passieren konnte. Ist in einer Kurve einfach geradeaus gefahren und dann an einem Baum zerschellt. Er muss auf der Stelle tot gewesen sein.“ „Und wie geht es dir jetzt?“ „Was soll ich sagen? Ich empfinde am ehesten wohl so etwas wie Gleichgültigkeit. Wenn ich ehrlich bin, vielleicht sogar so etwas wie Erleichterung. Ich wusste ja nie, was ich noch von ihm zu erwarten hatte.“ „Und weshalb meinst du, sollte ich vom Tod deines Mannes als Erster erfahren?“ „Weil ich dachte, es interessiert dich. Und übrigens: Das Foto brauchst du mir nicht zurückzugeben. Du kannst es behalten oder vernichten.“
Mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, dass Karla mich in eine feste Partnerschaft hineinmanövrieren will. Das ist aber nicht das, was ich will. Ich möchte zu Christine zurück. Und ich möchte mein Zuhause wiederhaben. Ich sollte aber auch nicht unfair Karla gegenüber sein. Ein ausführliches Gespräch wird nötig sein. Ich werde ihr erklären, wie es in mir aussieht, was ich fühle und empfinde und kann nur hoffen, dass sie versteht. Auch wenn es Christine nicht gäbe, hätte eine Beziehung zwischen Karla und mir kaum eine Chance. Kennen Sie das? Sie finden jemanden äußerst sympathisch, absolut reizvoll und begehrenswert – und dennoch wissen Sie mit
ziemlicher Sicherheit, dass eine dauerhafte Partnerschaft undenkbar ist, einfach nicht in Frage kommt. Vielleicht müsste etwas Spektakuläres geschehen, damit Christine und ich wieder zueinander finden.
Karla hat ein großes Herz. Ich wusste, dass sie mich versteht. „Glaubtest du wirklich, mir war nicht klar, dass du die ganze Zeit zu deiner Christine zurückwolltest?“, sagt sie. „Es war jedenfalls eine schöne Zeit mit uns und das genügt mir.“ Das nenne ich Größe, das ist Souveränität. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich mein Leben meistern sollte, wenn auch von Karlas Seite noch Schwierigkeiten zu erwarten wären. Nun kann ich mich auf das Wesentliche konzentrieren: den ultimativen Abschluss meiner Experimente, natürlich die Geldbeschaffung und schließlich die Versöhnung mit Christine. Vor ein paar Tagen rief ich sie an, um die Lage zu sondieren. Sie hat sich offensichtlich gut eingelebt in ihre neue Lebenssituation. Ich hatte den Eindruck, es ginge ihr richtig gut. Auch ohne mich. Noch scheint sie mich nicht zu vermissen. Doch das wird sich ändern. Und wenn nicht von alleine, so muss ich notfalls ein wenig nachhelfen. Ich verfüge über keinerlei geregelte Einkünfte. Andererseits muss ich meine Miete bezahlen, den Unterhalt für mein Auto, und etwas essen und trinken muss ich auch. Das mit dem Trinken habe ich noch immer ganz gut im Griff. Zwar öffne ich die erste Flasche mittlerweile schon am frühen Nachmittag, aber außer Rotwein kommt mir nichts ins Glas. Höchstens mal ein Bier, wenn ich richtig durstig bin. Ich kenne Leute, die brauchen schon bald nach dem Aufstehen ihre erste Ration. Mein Freund Jan-Peter aus Leipzig zum Beispiel, ein begnadeter Chansonnier, der trinkt nach dem Frühstück sein Morgenbier, dann noch eins und noch eins, das zieht sich so
bis gegen Mittag hin. Sein Mittagessen besteht in der Regel aus mehreren Gläsern Whisky pur. Es kann auch ein guter Cognac sein. Gegen Nachmittag verputzt er eine Flasche Wodka. Abends steigt er dann wieder auf weichere Drogen um, meistens in Form einer Flasche Weißwein. Und am nächsten Morgen geht das Ritual wieder von vorne los. Davon bin ich weit entfernt. Wenn ich wollte, könnte ich jederzeit ganz aufhören. Aber ich will ja gar nicht. Trinken hat für mich vor allem mit Genuss zu tun, auch mit Kultur. Weintrinken macht mir halt Spaß. Es gehört untrennbar zu mir, ist Teil meiner Persönlichkeit. Weshalb also sollte ich aufhören? Vielleicht für Christine? Na ja, das ist so eine Sache. Je mehr sie mich drängte, meinen Weinkonsum einzuschränken, desto weniger war ich dazu bereit und in der Lage. Hat sicherlich etwas mit Trotz zu tun. Fühlte mich bevormundet. Ich müsste die Entscheidung selbst treffen, aus eigenem Antrieb. Nicht, weil jemand es von mir verlangt. Eigentlich albern. Aber so bin ich nun mal.
23
„Professioneller Autor schreibt Ihr Leben auf. Sie erzählen, ich schreibe. Ihr Leben als Buch.“ – Das ist eine gute Geschäftsidee, damit müsste sich Geld machen lassen. Für ihre Eitelkeit sind die Leute immer bereit zu zahlen. Diese Kleinanzeige veröffentliche ich in mehreren überregionalen Zeitschriften. Die neuen Druck- und Vertriebsverfahren vereinfachen die Sache ungemein. Book on demand. Das bedeutet, dass der Autor lediglich ein paar Euro für die Bearbeitung und Bereitstellung seiner Daten, sprich: seines Manuskripts, berappen muss, ansonsten wird das Buch nur bei Nachfrage gedruckt. Es muss also keine komplette Auflage mehr vorfinanziert und gelagert werden. Der Vertrieb läuft größtenteils übers Internet. Genial einfach. Das kann ich den Leuten anbieten und sie auf diese Weise obendrein vor dem Zugriff der Haie des Buchmarktes, nämlich der Druckkostenzuschussverlage, bewahren. Eine saubere Sache. Ich werde mich pro Arbeitstag bezahlen lassen. Sagen wir zweihundert Euro pro Tag. Das sollte genügen. Drei Interessenten melden sich, lauter ältere Menschen. Ein Arzt, ein Boxer und eine Studienrätin. Ich entscheide mich zunächst für den Boxer und bitte die Studienrätin und den Arzt um etwas Geduld. Das Leben eines Boxers, das verspricht am ehesten eine interessante Story. Ich rufe ihn an. „Josef Reinhardt?“ „Karl Urban, guten Tag. Sie hatten sich auf meine Anzeige gemeldet. Sie spielen mit dem Gedanken, Ihre Biografie zu veröffentlichen?“
„Ja, das ist richtig. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich möchte mein Buch im Prinzip schon selbst schreiben. Worauf es mir ankäme, wäre eine kompetente Hilfe im Sinne eines Lektorats. Außerdem wäre mir an dem sachlichen Gesamturteil eines Außenstehenden gelegen.“ „Das ließe sich machen. Was meinen Sie, wollen wir uns einmal treffen und die Details besprechen? Wo sind Sie zu Hause?“ „In Oldenburg, wie Sie. Hätten Sie morgen Nachmittag Zeit?“ Natürlich habe ich Zeit. Der ahnt ja nicht, wie viel Zeit ich habe! Dennoch sage ich: „Warten Sie einen Augenblick. Ich muss mal eben in meinen Terminkalender schauen.“ Er soll ja nicht den Eindruck gewinnen, ich hätte nur auf seinen Anruf gewartet. Obwohl es ja der Wahrheit entspräche. „Sie haben Glück, morgen Nachmittag passt mir. Sagen wir fünfzehn Uhr?“ „Fünfzehn Uhr ist okay. Kennen Sie das Grand Café? Dort gehe ich manchmal ganz gerne hin. Ich mag die Atmosphäre dort.“ „Kenne ich. Also: morgen Nachmittag, fünfzehn Uhr.“ Das Grand Café: Ich fühle mich dort immer wie im Ballsaal der Titanic. Der morbide Charme einer vergangenen oder sollte ich sagen: untergegangenen Epoche. Ein Boxer also. Klang ganz nett. Ich bin gespannt. Ich lerne neue Menschen kennen, ich bekomme Rohmaterial für neue Storys und Geld bringt’s auch. Hoffentlich.
Obwohl er ganz und gar nicht wie ein Boxer aussieht, erkenne ich ihn sofort. Es wird seine Ausstrahlung sein. Etwas Besonderes geht von ihm aus. Groß ist er, gut gebaut, schwarze, leicht wellige Haare, ein fein geschnittenes Gesicht
mit einem dunklen Teint. Entweder hat er nur sehr wenige Kämpfe bestritten oder er ist ein hervorragender Boxer gewesen, der es verstand, sein Gesicht vor allzu vielen Treffern zu bewahren, denn er hat nicht die übliche Boxernase und auch keine Blumenkohlohren. Als er mich zur Tür des Grand Café hereinkommen sieht, steht er von seinem Platz am Fenster auf und geht ein paar Schritte auf mich zu, er ist noch größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, streckt mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. Auffallend schlanke Finger, stelle ich fest. Nein, wie ein ehemaliger Boxer sieht er wirklich nicht aus. Wie alt mag er sein? Vielleicht Ende vierzig, Anfang fünfzig – mein Alter etwa. „Sie sind Herr Urban, nehme ich an.“ Eine sonore Stimme, könnte Radiosprecher sein. „Und Sie Josef Reinhardt, stimmt’s?“ „Stimmt genau“, sagt er und weist auf einen freien Stuhl an seinem Tisch im überfüllten Grand Café. Er macht auf Anhieb einen sympathischen Eindruck auf mich. Von diesem Mann würde ich gerne mehr erfahren. Ich kann mir gut vorstellen, dass er eine Menge zu erzählen hat. Und genau deswegen bin ich ja auch hier. „Erlauben Sie mir eine Frage, Herr Reinhardt, weshalb wollen Sie eigentlich Ihre Biografie schreiben?“ „Ach wissen Sie, ich meine… Es ist gut, dass Sie mich das gleich am Anfang fragen. Es geht mir nicht um Eitelkeit, das dürfen Sie mir glauben. Es geht mir im Grunde… um die Sichtung dessen, was mir vorliegt. Hört sich blöd an, ich weiß… Ich möchte mein Leben ordnen, möchte Klarheit in meine Vergangenheit bringen, um die Gegenwart bewusster zu erleben… und die Zukunft klüger gestalten zu können, soweit ich dazu in der Lage bin, selbstverständlich. Verstehen Sie, was ich meine? Und einmal ganz abgesehen davon: So uninteressant war mein bisheriges Leben nun auch nicht.“
Zwischen seinen Sätzen, die er sorgfältig abzuwägen scheint, macht er größere Pausen. Er wirkt wie ein Intellektueller auf mich, nicht wie ein Faustkämpfer. Krieger und Gelehrter. Eigenartiger Mann! Aber ich kann ihn verstehen, sehr gut sogar. Im Grunde geht’s mir wie ihm. Auch ich bringe die Ereignisse der vergangenen Jahre zu Papier, um manches begreifen zu können. Schreibend denkt sich’s am besten, das weiß jeder Schriftsteller, sogar mancher Tagebuchschreiber. Und nur schreibend will es gelingen, angefangene Denkprozesse wenigstens annähernd zu Ende zu bringen. Alles andere ist Chaos. „Erzählen Sie weiter“, sage ich. „Ich bin Sinto“, sagt er – und schlagartig fällt es mir wieder ein: Natürlich, Joschi Reinhardt, der Zigeuner-Boxer! Skandalumwitterter Sportstar der siebziger Jahre. Deutscher Meister im Halbschwergewicht. Kurz nach seinem Triumphkampf Aberkennung des Titels unter irgendeinem umstrittenen Vorwand. Eine Weile wurde damals in den Zeitungen noch diskutiert, ob man ihm den Titel zu Recht oder zu Unrecht weggenommen hatte. Danach war es still geworden um den Ausnahmeboxer, der noch einige Jahre zuvor Hätschelkind der Medien gewesen war. Ein klassischer Fall für die Rubrik Was macht eigentlich…? „Ich kenne Sie“, sage ich. „Hab damals einiges über Sie gelesen.“ Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Jeder, der in der Öffentlichkeit steht oder stand, freut sich, wenn er erkannt wird. Dabei spielt es auch kaum eine Rolle, wenn der Gesprächspartner das Wiedererkennen womöglich nur aus Gefälligkeit vorspielt. Ein Kellner in weißem Hemd und mit bordeauxroter Schürze kommt an unseren Tisch, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich ordere einen Cappuccino.
Wir treffen uns nun regelmäßig. Joschi Reinhardt erzählt mir seinen Werdegang. Es sind spannende, ergreifende, alles andere als alltägliche Episoden aus dem ungewöhnlichen Leben eines außergewöhnlichen Menschen. Ich zeichne alles mit meinem kleinen Tonbandgerät auf, um es anschließend zu Hause zu Papier zu bringen. So entsteht das Rohmaterial für das geplante Buch. Wir kommen uns näher. Auch er stellt mir zwischendurch Fragen und ich erzähle ihm von mir. So etwas wie Vertrauen entsteht zwischen uns. Neben all den Diskriminierungen, die er als boxender Zigeuner auch in unserer heutigen Zeit noch zu erleiden hatte, lässt mich besonders die Geschichte um seine Tante Alisha aufhorchen: eine nüchterne Frau, die sich in früheren Jahren aufopfernd um den jungen Joschi Reinhardt gekümmert hatte. Joschi hatte, entgegen allen Warnungen, in seiner Sturmund Drangzeit die verschiedensten Drogen ausprobiert. Dabei war er an unreines, wohl mit Opium versetztes Cannabis geraten. Das hatte geschafft, was viele seiner Boxgegner niemals schafften: Es hatte ihn glatt umgehauen. Hilflos lag er, außerstande, sich zu bewegen, zwei Tage und drei Nächte auf einem staubigen Dachboden, vor der Tür zu seinem möblierten Zimmer. Es war niemand da, der ihn fand und sich hätte um ihn kümmern können. Und besagte Tante Alisha träumte genau diese Situation: Ihr Neffe, hilflos auf einem staubigen Dachboden liegend, und kein Mensch weit und breit, der ihm helfen könnte. Das Besondere an der ganzen Sache war nur, dass sie zu diesem Zeitpunkt etwa dreihundert Kilometer entfernt von Joschi lebte und auch in keinerlei telefonischem oder brieflichem Kontakt mit ihm stand. Sie erzählte ihrem Mann diesen Traum, der maß der Geschichte jedoch keine besondere Bedeutung zu. Doch Alisha ließ der Traum nicht los. Schließlich machte sie sich auf den Weg, um selbst nach
ihrem Neffen zu sehen. Und tatsächlich fand sie ihn, genau so, wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte. Offensichtlich hatte Joschi Energien ausgesandt, Signale, die stark genug waren, um viele Kilometer entfernt von seiner Tante empfangen zu werden. Wahrscheinlich rettete sie ihm damals sein Leben. „Das Beste, was ich über meine Jugend sagen kann, ist, dass ich sie überlebt habe“, sagt Joschi.
„Weshalb haben sie dich denn nun tatsächlich um deinen Titel betrogen?“, frage ich ihn eines Tages. „Weil ich ein Zigeuner bin“, sagt er. „Aber allein deshalb kann man doch keinen Menschen betrügen“, sage ich. „Nein“, sagt er, „allein deshalb kann man eigentlich keinen Menschen betrügen. Und dennoch taten sie es und tun es bis auf den heutigen Tag. Ein paar Jahrzehnte zuvor haben sie Menschen sogar gefoltert und ermordet, nur weil sie Zigeuner waren, vergiss das nicht.“
Ich habe schon einen Titel für das Buch. Es soll „Blut, Schweiß & Träume“ heißen. Als Joschi mir auch erzählt, wie er als Kind krank werden wollte, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erwecken, da bringt er mich auf eine Idee.
Paul besucht mich in meiner Kemenate. Stolz erzählt er, dass er soeben sein Zwischenexamen bestanden hat. Seine Bewertungsnote: 2,25. „Wann gehst du wieder nach Hause zurück?“, fragt er. „Bald, Paul“, sage ich, „schon sehr bald.“
24
Karla hat ihr Verhalten mir gegenüber kaum verändert, obwohl ich ihr sage, dass ich mir eine Zukunft mit ihr nicht vorstellen kann. Sie lebt ohnehin eher im Hier und Jetzt als im Morgen. Sie steht halt über den Dingen. Wir gehen gemeinsam essen, ins Kino und gelegentlich auch ins Bett. Wir bilden eine Zweckgemeinschaft. „Karla, könntest du dir vorstellen, mir einen wirklich großen Gefallen zu tun? Einen Gefallen, der vielleicht sogar gegen deine eigenen Interessen verstößt?“ „Wie soll ich das verstehen? Du sprichst in Rätseln.“ „Ich suche nach einer Möglichkeit, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Ich möchte wieder so leben wie früher.“ „Niemand kann so leben wie früher“, sagt sie lakonisch. Natürlich weiß sie nicht, worauf ich hinaus will. Ich muss versuchen, es ihr vorsichtig zu erklären. „Was würdest du tun, wenn ein Mensch, dem du einmal sehr nahe standest, plötzlich lebensbedrohlich erkrankte?“ „Selbstverständlich würde ich versuchen, ihm so gut ich kann zu helfen“, sagt sie ohne zu zögern. „Genau das meine ich, Karla. Und eben das ist mein Plan.“ Ihr eben noch entspanntes Gesicht nimmt den Ausdruck von Ungeduld und beginnender Gereiztheit an. „Vielleicht sagst du mir endlich einmal, worauf du eigentlich hinaus willst. Ich weiß nämlich absolut nicht, was du meinst. Rede doch mal Klartext!“ „Was glaubst du, würde Christine tun, wenn ich im Sterben läge?“
„Keine Ahnung. Mit Sicherheit würde sie an dein Krankenbett eilen und dir die Hand halten.“ „Mehr nicht?“ „Ja, was denn? Was sollte sie denn sonst noch tun?“ „Zu mir zurückkommen!“ „Ach so, langsam dämmert es mir. Du willst also sterben, damit Christine zu dir zurückkommt?“ „Karla, bitte! Sei nicht albern! Ich könnte mir denken, richtig heftig zu erkranken, ich meine kontrolliert zu erkranken, und Christine dadurch zu bewegen, ihre Meinung über mich zu revidieren.“ „Das kann nicht dein Ernst sein! Ein derartiger Meinungswandel wäre nicht auf Überzeugung aufgebaut, sondern auf Mitleid. Und Mitleid kann durchaus sogar eine subtile Form der Verachtung sein. Das kann doch nicht das sein, was du wirklich willst!“ „Du hast Recht, zuerst wäre es vielleicht tatsächlich Mitleid, aber später könnte sich das Mitleid doch in ein echtes Gefühl verwandeln. Das wäre doch denkbar, oder?“. „Mitleid, was es auch immer sei, ist ein echtes Gefühl“, korrigiert sie mich. „Du weißt ganz genau, was ich meine!“, sage ich. „Und du meinst, das funktioniert wirklich?“ „Es ist einen Versuch wert.“ „Und wie stellst du dir dein Krankwerden oder Fast-Sterben vor?“ „Da müsstest du mir helfen. Ich nehme irgendein Gift, und du findest mich rechtzeitig, bringst mich ins Krankenhaus, damit sie mir dort den Magen auspumpen, und benachrichtigst Christine.“ „Ein absurder Plan!“
„Ich weiß. Wirst du mir helfen?“, frage ich, um die Sache konkret werden zu lassen. „Ich muss darüber nachdenken“, sagt Karla.
Das muss ich auch. Ist das Risiko nicht letztlich doch zu groß? Gibt es überhaupt eine reelle Erfolgschance? Zwei Tage später legt Karla mir einen weißen Briefumschlag ohne Aufschrift auf den Tisch. „Hier. Du hast es so gewollt.“ „Was ist das?“ „In dem Umschlag sind fünfzehn Rizinussamen. Sei vorsichtig, dass sie nicht herausfallen. War schwer genug, sie zu besorgen.“ „Und was soll ich damit? Ich leide nicht an Verstopfung.“ „Wer redet denn von Verstopfung? Die Dinger sind hochgiftig. Wenn du mehr als zwanzig Stück davon zu dir nimmst, dann lohnt sich das Magenauspumpen nicht mehr. Dann gehst du über den Jordan. Unwiderruflich!“ Das Blut schießt mir in den Kopf, mir wird abwechselnd kalt und heiß. Ich habe das Gefühl, auf einer Brüstung über einem Abgrund zu stehen. Aber sie hat Recht, das Ganze ist schließlich meine Idee gewesen. „Und was passiert, wenn ich die fünfzehn Dinger esse?“ „Dir wird schlecht, du wirst wahrscheinlich Magenkrämpfe bekommen und dann das Bewusstsein verlieren.“ Worauf habe ich mich eingelassen? Bin ich eigentlich wahnsinnig geworden? Das ist doch eine Schnapsidee! Und was ist, wenn Christine überhaupt nicht reagiert? Vielleicht ist sie ja froh, mich endlich los zu sein. Und Karla? Sie wirkt so sicher, aber weiß sie wirklich Bescheid über die Wirkung dieser kleinen Körnchen, die wie Sesamsamen aussehen? „Karla, soll ich’s tun?“
„Es ist deine Entscheidung.“ „Meinst du, es könnte funktionieren?“ „Natürlich funktioniert es, die Dinger sind ziemlich gefährlich.“ „Nein, ich meine mit Christine. Denkst du, sie wird es sich anders überlegen?“ „Möglich wäre es“, sagt Karla und wiegt vieldeutig ihren Kopf. „Karla, ich lege mein Leben in deine Hände. Weißt du, was das bedeutet? Und bist du absolut sicher, was die Wirkung der Dinger betrifft?“ „Du kannst dich auf mich verlassen. Hundertprozentig. Das verspreche ich dir.“ Sie wühlt in ihrer schwarzen Umhängetasche und holt eine Banane und ein beschriebenes Stück Papier hervor. „Mit der Banane zusammen kannst du die Rizinussamen bequem runterkriegen. Aber vorher musst du diesen Zettel hier unterschreiben. Nur für alle Fälle.“ Sie schiebt mir die Banane und den Zettel über den Tisch. Ich lese den Text auf dem Zettel: Hiermit bestätige ich, Karl Urban, dass ich selbst und aus freien Stücken, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, eine gewisse Anzahl Rizinussamen zu mir nehme. Die mit der Einnahme verbundenen Risiken sind mir bewusst. Karl Urban „Wozu das denn?“, frage ich. „Karl, man kann doch nie wissen. Ich habe wirklich keine Lust, als Mörderin dazustehen, falls wider Erwarten etwas schief geht. Es ist dein Plan, deine Entscheidung, und du hast mich gebeten, dir zu helfen. Dann muss ich mich auch ein wenig absichern. Das musst du verstehen.“
Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Also unterschreibe ich den Wisch. „Okay, Karla, alte Freundin, es geht los. Und sobald ich erste Wirkungen verspüre, rufst du den Krankenwagen.“ „Ja, natürlich! Was denkst du denn? Du kannst dich auf mich verlassen.“ Ich lege die fünfzehn Rizinussamen in einer Reihe vor mich auf den Tisch, öffne die Banane und beiße ein Stück ab. Ich kaue das abgebissene Stück zu Brei und schiebe mir vorsichtig fünf Samenkörnchen seitlich in den Mund. Diese Prozedur wiederhole ich, bis alle Rizinussamen in meinem Bauch verschwunden sind. Da ist plötzlich ein Gefühl, als habe jemand den Stecker aus der Steckdose gezogen. Ich fühle mich abgetrennt vom Leben, ausgeschaltet. Ich habe die Kontrolle über mich abgegeben. Sie liegt nun in Karlas Händen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Es rast förmlich. Ist es die Aufregung oder bereits die Wirkung des Giftes? „Karla, ich glaube, es beginnt zu wirken.“ „Unsinn, so schnell geht das nicht!“, sagt sie, wobei sie mich interessiert beobachtet. „Hier ist Christines Telefonnummer. Und du rufst bestimmt an?“ „Ich habe es dir versprochen.“ Mir wird schlecht. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich verspüre einen Brechreiz. Mein Herz rast wie nach einem Langstreckenlauf. Ich muss auf die Toilette. Ich versuche aufzustehen. Mir wird schwindelig. Karla stützt mich. Vor meinen Augen sehe ich tanzende Kreise. „Karla, ich glaube, es ist so weit. Du musst jetzt den Notarzt rufen.“ „Ja, meinst du? Muss ich das?“ „Um Himmels Willen! Karla, bitte! Ruf an!“
„Nein, das werde ich nicht tun?“ „Karla, was ist? Ruf an! Schnell! Bitte!“ Ich schwanke hin und her, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten, sie tritt zur Seite und lässt mich einfach los, ich torkele unkontrolliert, falle auf den Boden, ich muss würgen, es schmeckt bitter, in meinem Kopf hämmert es, Blitze zucken wild durcheinander. Mit letzter Kraft versuche ich Worte zu formen. Meine Stimme, mein Mund wollen mir nicht mehr gehorchen. „Bitte… Karla… ich flehe dich… ruf an…“ „Ich wüsste nicht, weshalb ich anrufen sollte. Du wolltest doch sterben, oder? Ich hab’s sogar schriftlich von dir. Und du hast ja auch nichts dabei gefunden, mich zu verlassen! Hast sogar die Frechheit besessen, mich um Hilfe zu bitten, zu deiner Christine zurückzugehen. Dachtest du wirklich, dass ich dir dabei behilflich bin, mich endgültig zu verlassen? Dachtest du tatsächlich, ich bin so blöd? Hast du das wirklich geglaubt?“ Bevor sie aus dem Zimmer geht, reißt sie die Telefonschnur aus der Steckdose. Mir wird schwarz vor Augen. Ein schrilles Lachen begleitet mich in die Bewusstlosigkeit. Karlas Lachen.
Ich rase durch Zeit und Raum. Fliege wie ein menschliches Geschoss, unkontrolliert drehe ich mich um meine eigene Achse, schlage Purzelbäume auf meiner Irrfahrt, Kreissägen kreischen in meinem Kopf, grinsende Fratzen starren mich an, Messer zerfleischen meinen Bauch, giftige Greifer grabschen gierig nach mir, zerkratzen mir das Gesicht mit ihren scharfen Krallen, eine wahnwitzige Fahrt durch die Hölle, Blitze zucken in allen Farben.
Da boxt jemand blutüberströmt gegen ein vielköpfiges Monster mit drei, vier, fünf Armen. Eine Menschenmenge johlt. Ich erkenne Joschi, zuerst unscharf, dann sehe ich ihn ganz deutlich. Er kämpft verzweifelt, aber es ist ein aussichtsloser Kampf, Joschi kann ihn nicht gewinnen, niemals, er ist hoffnungslos unterlegen. Mir wird klar, dass das Monster mich töten will. Joschi versucht mich zu retten. Er kann es nicht schaffen. Das schuppige Wesen schmettert ihn immer wieder zu Boden, und immer wieder rappelt Joschi sich auf, bis er schließlich mit zerschlagenen Gliedern auf dem Ringboden liegen bleibt. Das Wesen drischt und tritt weiter und weiter auf Joschi ein. Es zermalmt ihn. Es tobt völlig entfesselt. Ich stehe wie gelähmt dabei, gänzlich außerstande, mich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Mir ist klar: Ich bin als nächstes Opfer dran. Eine unsichtbare Meute grölt und kreischt hysterisch Hassparolen: „Zermatsch ihn! Reiß ihm die Eingeweide raus! Zerquetsch seinen Kopf! Lösch ihn aus! Kill ihn!“ Ich weiß nicht, gelten diese Rufe Joschi oder gelten sie schon mir? Wahrscheinlich uns beiden. Joschi wollte mich retten. Er hat diesen Kampf für mich ausgefochten. Er hat sich für mich geopfert.
„Herr Urban! Herr Urban! Wachen Sie auf! Die Augen öffnen, Herr Urban!“ Die Höllenfahrt ist zu Ende. Ich bin angekommen. Aber wo nur? Was erwartet mich hier? „Herr Urban! Hallo! Aufwachen!“ Jemand schlägt mit der flachen Hand vorsichtig gegen meine Wangen. „Hallo! Augen auf!“
Mühsam öffne ich die Augen. Weißgekleidete Menschen sehen mich an. Im Gegensatz zu den Horrorgestalten von vorhin wirken sie freundlich. Einer von ihnen ist Georg. Ich starre ihn an. „Georg, Joschi ist tot.“ „Wer ist Joschi?“, fragt Georg. „Du lebst jedenfalls. Scheint ja noch mal gut gegangen zu sein. Du hast unwahrscheinliches Glück gehabt.“ „Sie befinden sich in einer Klinik“, sagt einer der Weißgekleideten, wohl ein Arzt. „Sie hatten eine lebensbedrohende Vergiftung. Die toxikologische Analyse ergab Rizinus“, sagt er, mit einem Seitenblick zu Georg und wieder zu mir gewandt: „Kein Problem kann so gravierend sein, Herr Urban, dass man sein Leben dafür wegwirft. Sie werden wieder Lebensmut fassen, ganz bestimmt. Fürs Erste ist alles überstanden. Sie hatten viel Glück. Was Sie jetzt brauchen, ist Ruhe. Dann sehen wir weiter.“ Später bin ich mit Georg allein. „Was ist passiert?“, frage ich ihn. „Das wollte ich dich auch gerade fragen. Karl, warum hast du das getan?“ „Was getan?“ „Weshalb hast du versucht, dich umzubringen? Was ist los mit dir?“ „Ich wollte mich nicht umbringen! Ich bin doch nicht bekloppt!“ „Und weshalb, um alles in der Welt, schluckst du dann eine tödliche Menge Rizinussamen?“ „Rizinussamen?“ Ja, natürlich! Karla! Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich kann mich wieder an meinen Versuch erinnern, Christine zurückzugewinnen. Karla wollte mir helfen. Karla! Plötzlich klingt mir ihr Lachen im Ohr, ihr entsetzliches Lachen.
Bitte, Karla, ruf an! Du hast mich verlassen und jetzt verlasse ich dich! Um Gottes Willen, Karla, du wolltest mich töten! „Ich wollte dich besuchen, Karl“, sagt Georg. „Hatte Lust, mal wieder mit dir auf die Piste zu gehen, so wie früher. Ich war schon vor deiner Haustür angekommen, da kommt mir aus deiner Wohnung eine Frau entgegengestürzt. Sah übrigens gut aus. Als sie mich sah, rannte sie grußlos an mir vorbei. Die Tür stand offen. Ich fand dich reglos am Boden liegend. Hab sofort den Notarzt gerufen, und der veranlasste alles Nötige. Jetzt sind wir übrigens quitt.“ „Quitt? Wieso?“ „Ich sage nur Cornwall.“ „Ach, das meinst du…“ „Als ich mich später nach dir erkundigte, sagten sie etwas von Rizinussamen. Hier, ich hab mich mal schlau gemacht.“ Georg reicht mir ein Büchlein mit dem Titel GiftpflanzenKompass. „Sieh mal auf Seite achtunddreißig nach.“ „Rizinus, Wunderbaum. Vorkommen: In Gärten und Anlagen als Zierstrauch. Aussehen: Kleiner Baum, der in sehr vielen Varianten vorkommt. Blütezeit: Sommer. Fruchtreife: Herbst. Giftige Samen! Vergiftungszeichen: Brechdurchfälle, Krämpfe, Herzjagen. Erste Hilfe: Magenund Darmentleerung. Sofort ins Krankenhaus. Anmerkung: Schon ein Samen führt zu Vergiftungen. Mehr als zehn Samen sind tödlich!“ Mehr als zehn Samen sind tödlich? „Georg, Karla wollte mich umbringen! Sie hat mir fünfzehn Samen gegeben! Und außerdem musste ich unterschreiben, dass ich das freiwillig tue!“ „Ich verstehe überhaupt nichts mehr, und wer ist Karla? Deine neue Flamme?“
„Mach keine Witze!“ Mühsam erkläre ich ihm meinen gescheiterten Plan mit Christine. Ein Vorhaben, das mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Georg stiert vor sich auf den Boden und sagt gar nichts mehr. „Kannst du bitte Christine anrufen und ihr sagen, dass ich hier in der Klinik bin?“ Jemand klopft an die Tür des Krankenzimmers.
Es ist Christine. Georg steht auf und verlässt wortlos den Raum. Man kann Rücksichtnahme auch übertreiben, denke ich. Christine setzt sich zu mir ans Bett und greift nach meiner Hand. Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Verrückt und alles andere als ungefährlich, doch mein Plan scheint zu funktionieren. „Karl, was machst du denn für Sachen?“ „Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben kann.“ „Nun komm erst einmal wieder auf die Beine und dann sehen wir weiter.“ „Christine, ich möchte nach Hause.“ „Wir werden in Ruhe über alles reden. Es hat keinen Sinn, wenn wir die Dinge überstürzen.“ Was soll ich von ihren Worten halten? Weicht sie mir aus, oder sorgt sie sich wirklich um mich? Wir schweigen eine Weile. Christine streichelt meine Hand wie mechanisch, immer an derselben Stelle. Obwohl ich es schön finde, dass sie mich berührt, ist es ein unangenehmes Gefühl auf der Haut. Es tut fast weh. Draußen stürmt es. Der Wind heult ums Haus und wirbelt tote Blätter durch die Luft. In drei Tagen ist Weihnachten. Ich könnte heulen. Niemals habe ich mir etwas aus Weihnachten gemacht. Im Gegenteil, ich fand den Rummel um dieses Fest des Konsums schon immer abstoßend und lästig wie eine unbezahlte Rechnung. Doch solch eine Haltung
kann sich wohl nur leisten, wer aus einem gesicherten Umfeld, aus einem Gefühl der Stärke heraus agiert. Sobald du am Boden liegst und angreifbar bist, fallen nicht selten auch die selbstgerechten Urteile und Vorurteile, kehren sich gar in ihr Gegenteil um. Eine weinerliche Sentimentalität umklammert meine Seele. Wie gerne würde ich mit Christine Weihnachten feiern! Ich glaube, ich liebe sie noch immer. „Ich muss jetzt wieder gehen. Hab noch Verschiedenes zu erledigen. Erhol dich gut, Karl. Ich rufe dich an, okay?“
Ich bin nicht länger Bestandteil ihrer Welt. Was hat sie zu tun? Was muss sie erledigen, was ist wichtiger, als mit ihrem todkranken Ehemann ein bisschen Zeit zu verbringen? Ich weiß es nicht, und sie wird es mir auch nicht sagen. Sie geht, und ich kann sie nicht halten. Ich bin allein. Mühsam richte ich mich auf, lasse die Beine seitlich aus dem Bett hängen und stelle mich auf die Füße. Mit zittrigen Beinen gehe ich zur Waschecke und schaue in den Spiegel. Da bin ich wieder. Was ist das für ein Gesicht, das mich da betrachtet? Ist es ein bedeutendes oder eher ein blasiertes Gesicht? Stolz oder gedemütigt? Stark oder kraftlos? Ich fürchte, es ist ein unehrliches Gesicht. Da spielt jemand Theater, will eine bestimmte Wirkung erzielen, will etwas verbergen, will die Wahrheit verstecken. Ich sehe ein verbrauchtes Gesicht. Kann dieser Mensch ein gleichwertiger Partner sein für eine Frau wie Christine? Falten auf der Stirn, Falten rechts und links vom Mund, Tränensäcke unter den müden Augen, erste Ansätze eines Doppelkinns, unrasierte, graue Haut – wenig attraktiv. Karl Urban, du bist fertig, sage ich zu mir, jetzt bist du doch ein alter Mann, und es ist deine eigene Schuld. Wie konntest
du von Karla erwarten, dir bei deinem irrsinnigen Plan behilflich zu sein? Sie hasst dich mit Recht. Du hast sie benutzt und verletzt. Und wie kannst du so naiv sein, dir eine reelle zweite Chance bei Christine auszurechnen? Du bist uninteressant geworden für sie. Reiß dich zusammen, Karl Urban, komm auf die Füße! Noch ist es nicht zu spät. Ich werde um Christine kämpfen. Und ich muss meine Mission erfüllen. Ein einziges Mal noch werde ich versuchen, mit meiner Willenskraft zu töten, nur noch ein einziges Mal. Dann endlich habe ich Gewissheit und kann die Dinge ruhen lassen. Das bin ich mir und Christine schuldig. Zurück zum Bett. Meine Beine zittern. Ich lege mich wieder hin. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Und still. Auch der Wind hat sich beruhigt. Ich habe Durst. Ich brauche Alkohol. Ich kann nicht klar denken. In drei Tagen ist Weihnachten.
25
In der Nacht fiel Schnee. Die Sonne scheint. Postkartenwetter. Schnee ist gnädig, er verdeckt Hässliches und macht die Landschaft schön. Er dämpft hektische Geräusche und schenkt Stille. Zwei Amseln streiten um einen Apfelrest – lautlos. In mir ist es nicht still, ich hänge schief im Leben. Alles ist ungeklärt, unaufgeräumt, bedrohlich. Ich sollte mein Leben ordnen. Meine Bilanz mit achtundvierzig Jahren ist nicht die schlechteste, doch entwickeln sich die Dinge nicht nach vorne, sondern rückwärts. Das muss ich ändern. Mit einem „Na, dann frohe Weihnachten, Herr Urban!“ haben sie mich nach fünf Tagen aus der Klinik entlassen. Immerhin habe ich nun meine Bücher wieder, meine Musik und auch den Wein. Das Telefon klingelt. Es ist Joschi. Er will wissen, wie weit ich mit der Arbeit an seiner Lebensgeschichte bin. „Sei mir nicht böse“, sage ich zu ihm, „ich muss im Moment an meiner eigenen Lebensgeschichte arbeiten. Ich melde mich bald bei dir, versprochen. Und schöne Feiertage wünsche ich dir.“ Ich glaube, er hält mich nun für unzuverlässig. Schade. Karla werde ich wohl nicht mehr Wiedersehen. Ich hörte, sie sei nach München umgezogen. Sie hat versucht, mich zu töten. Sie muss mich sehr geliebt haben. Christine zögert meine Heimkehr hinaus. Ich fürchte, sie will nicht mehr mit mir leben. Es erscheint mir zunehmend schwieriger, sie umzustimmen. Ich öffne die zweite Flasche Côte du Rhone. Die erhoffte Wirkung bleibt jedoch aus. Statt heiterer Gelassenheit empfinde ich nur bleierne Schwere.
Vielleicht sollte ich mit etwas Whisky nachhelfen. Ich will mich betäuben. Muss mich ablenken. Georg hat sich seit meiner Entlassung aus der Klinik nicht mehr blicken lassen. Ich werde ihn anrufen. Zu Hause meldet er sich nicht, also versuche ich es mit seiner Handynummer. „Georg Gollwitz!“ „Ja, Karl hier. Hallo, Georg. Was tust du gerade?“ „Moin. Was ich mache? Wieso?“ „Ich wollt mich einfach mal melden…“ „Was soll ich schon machen? Nix Besonderes jedenfalls… Ich… Ja, also… Ich…“ Er zögert, sucht nach Worten. „Ich häng am Telefon und mach Auftritte für’s nächste Jahr klar. Im Januar hab ich bisher erst zwei Gigs und im Februar nur einen. Wovon soll ich leben? Es wird eng!“ „Zwei Tage vor Weihnachten telefonierst du noch mit Veranstaltern?“ „Was bleibt mir anderes übrig? Das Geschäft ist hart. Wenn ich’s nicht mache, schnappt mir ein anderer den Job vor der Nase weg. Du hast ja keine Ahnung!“ „Glaubst du denn, mir geht’s anders als dir? Ich muss mich doch auch um alles alleine kümmern“, gebe ich zu bedenken. „Woll’n wir uns hier gegenseitig was vorjammern oder was? Weshalb rufst du eigentlich an?“ Ungeduld klingt in seiner Stimme. „Ach, ich dachte nur, wir könnten uns mal wieder treffen, bisschen erzählen und ‘ne Flasche Wein aufmachen“, sage ich. „Ich trinke keinen Alkohol mehr, schon seit mehr als zwei Monaten, hast du das gar nicht bemerkt?“ „Okay, war ja auch nur so ‘ne Idee.“ Offensichtlich ist ihm an Kontakt mit mir im Augenblick wenig gelegen.
„Mach ‘s gut, Georg, und falls wir uns vorher nicht mehr sehen, ich wünsch dir jedenfalls frohe Weihnachten. Ach so, was machst du eigentlich Silvester?“ „Weiß noch nicht, mal sehen…“ Das war deutlich. Mit mir scheint er Silvester jedenfalls nicht verbringen zu wollen. Wer nicht will, der hat schon. Scheiße! „Tschüss dann.“ „Ja, tschüss.“ Nervös und unkonzentriert blättere ich in der NordwestZeitung. Da steht etwas über einen Raubmord an einer alten Frau in Oldenburg, in der Alexanderstraße. Für ein paar Euro schlug ihr jemand am vergangenen Freitag den Schädel ein. Der Täter handelte mit äußerster Brutalität, wird berichtet. Die Polizei geht davon aus, dass der flüchtige Mörder über ein ungewöhnlich ausgeprägtes Aggressionspotential verfügen muss. Wo war ich am vergangenen Freitag? Ich kann mich nicht erinnern. Was habe ich am Freitag getan? Verdammt noch mal, ich weiß es nicht! Könnte ich mit absoluter Gewissheit behaupten, am letzten Freitag nicht in der Alexanderstraße gewesen zu sein? Nein, das könnte ich nicht! Ich kann mir nicht mehr trauen. Vielleicht gelingt es mir wenigstens, etwas zu schreiben?
Vor mir ein leeres Blatt Papier. Fast vorwurfsvoll fordernd. Na los, schreib doch, wenn du kannst. Du hast dich doch stolz immer als Schriftsteller bezeichnet, oder? Mach schon, du Versager! Oder hast du etwa nichts mehr zu sagen? Sind deine Worte am Ende alle nur heiße Luft gewesen? Hast du immer nur getäuscht, all die Jahre? Die Leere des weißen Papiers kann der Feind des Schreibers sein. Wütend knülle ich ein Blatt nach dem anderen zusammen und werfe es in den
Papierkorb. Wollen doch mal sehen, wer am Ende der Stärkere ist! Schließlich schreibe ich:
Jahreswechsel Nicht die Ahnung der Endlichkeit lässt uns innehalten in dieser Stunde nicht die Ehrfurcht vor der Größe der Zeit vermag zu bremsen unseren Wahn nicht das klägliche Bilanzieren all unserer Verfehlungen zwingt für Momente uns zum Schweigen nicht das Anschwellen einer fiktiv-banalen Zahl erschüttert unser Gemüt es ist – lasst es mich so sagen – das zage Hoffen geliebt zu werden – über den Tod hinaus
Obwohl ich mehr als eine Flasche Wein und zwei Gläser Whisky intus habe, setze ich mich in mein Auto und fahre los. Einfach so. Nachdem ich eine ganze Weile ziellos in der Stadt umhergeirrt bin – ich habe übrigens den Eindruck, dass ich nicht der Einzige bin, der sich so verhält – parke ich den Wagen in der Nähe des Oldenburger Hafens und gehe Richtung Innenstadt. Ich lande in einer kleinen arabischen Rollo-Kneipe, im Bistro Tandour, hier kann ich alleine unter Menschen sein. Pop-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, Musik der sechziger Jahre. Eigentlich spielen sie hier meistens ganz gute Musik. Das Personal ist sehr freundlich. Draußen flimmert noch immer die Sonne. Ich mag die großformatige, gerahmte Fotografie an der Wand. Sie ist von Dennis Stock. Paris – Café de Flore. Das war das Stammcafé von Jim
Morrison, sogar Picasso kam manchmal mit Freunden hierher, trank seinen Café au lait und signierte, statt zu bezahlen, eine Serviette, was für den Wirt immer mit einem Riesengewinn verbunden war. Das Foto zeigt eine Feierabendszene. Die Caféhausstühle sind schon hochgestellt. Zwei Liebende küssen sich, sie nehmen ihre Umgebung nicht wahr, nur sich selbst. Ein Kellner, der offensichtlich das Café schließen möchte, wartet geduldig, auf seinen Besen gestützt, auf die jungen Leute. Auf dem Boden verstreut liegt Unrat. Während ich den scharf gewürzten Rollo esse und ein Weizenbier trinke, wandert mein Blick immer wieder zu den anderen Fotos an der Wand. Auf jedem der vier symmetrisch angeordneten Bilder sitzen Menschen in einer großräumigen Luxus-Limousine: drei schwarze Basketballspieler, lachend. Vielleicht haben sie gerade ein Spiel gewonnen. Auf dem Foto daneben drei mies gelaunte Karnevalisten, fast schon ein Klischee. Dann ein traurig dreinblickender Radrennfahrer mitsamt seiner demolierten Rennmaschine – offensichtlich kein Gewinner. Und schließlich zwei dicke, mit Orden und Schärpen behängte Köche – der eine schläft, der andere lacht. Diese irgendwie intellektuell wirkenden Bilder stehen in eigenartigem Kontrast zur Schlichtheit des Interieurs und seinem ebensolchen Publikum, mich eingeschlossen – oder gerade nicht? Kann ich mich auf meine Wahrnehmungen überhaupt noch verlassen? Am geöffneten Fenster für den Straßenverkauf fragt ein deutscher Kunde dümmlich grinsend, indem er auf eine Teigrolle deutet: „Was tust du mit diesse Brott?“ Er hält sein Kauderwelsch wohl für eine ausländergerechte Sprache. Der arabische Wirt antwortet in korrektem Deutsch: „Ich kann Ihnen ein Rollo mit Hähnchenfleisch, mit Lammfleisch oder auch mit Schweinefleisch zubereiten, ganz wie Sie wollen.“
„Mach mir Rollo mit Schweinefleisch. Ist möglisch in drei Stucke sneiden?“, fragt der Deutsche. „Selbstverständlich“, sagt der Wirt und macht sich kopfschüttelnd an die Arbeit. In mir so ein schwebendes Gefühl der Zuneigung zu diesen Menschen hier, früher hätte ich es Solidarität genannt, gepaart aber auch mit nur mühsam unterdrückter Überheblichkeit und dem vermeintlichen Bewusstsein außergewöhnlicher Geisteskraft. Was wirklich glaube ich denn zu können, was andere nicht können? Ich weiß es selbst nicht. Bin ja nicht einmal in der Lage, die nervend quietschende Teigknetmaschine zu ertragen, geschweige denn, sie mental in ihre Schranken zu verweisen. Meine Lebenspfeiler bestehen nicht mehr aus Gewissheiten, nur noch aus vagen Ahnungen und Vermutungen. Außer einem immer stärker werdenden Gefühl der Melancholie bringt mir der Aufenthalt hier auch nichts mehr. Mein Namenszug auf einer Serviette wird hier nicht als Zahlungsmittel anerkannt. Also lege ich einen Zehneuroschein auf den Tisch und gehe zurück zum Auto. Wieder auf die Straße und dann – wir werden sehen. Wie ferngesteuert lenke ich das Auto aus der Stadt heraus, in nordwestlicher Richtung zur B 401, Richtung Emsland. Egal, denke ich, quälst du deine Seele halt noch ein bisschen weiter, schlimmer kann’s ja kaum kommen, begibst du dich halt in’s Zentrum deines Verlustes. Und je näher ich Christine, je näher ich meinem Haus komme, desto enger schnürt sich der Gürtel um meine Brust. Und dann sehe ich das Auto mit dem Bremer Kennzeichen, es parkt direkt neben Christines altem Käfer. Es ist Georgs Auto. Ich wende und fahre zurück nach Oldenburg. Die Sonne ist hinter dunklen Wolken verschwunden, es ist kälter geworden und nasser Schnee fällt vom Himmel.
Weihnachten verbrachte ich trinkend vor dem Fernseher. Die künstliche Feierlichkeit der dargebotenen Fernsehbilder harmonierte bestens mit meiner eigenen Erbärmlichkeit. Kling, Glöckchen, klingelingeling, verschneite Bergdörfer im Lichterglanz, professionell erwartungsfrohe Familiengesichter in der Glotze und ein sich betäubender Verlierer, unrasiert, ungewaschen, düster vor sich hin brütend vor der Glotze. Draußen peitschte der Regen durch die menschenleeren Straßen und schwemmte die letzten Schneereste weg. Am Neujahrsmorgen nahmen sie mir den Führerschein ab. Ich hatte… Ach was, ist doch eigentlich egal… Interessiert doch eh kein Schwein! Wieso, in aller Dreiherrgottsnamen, fahren diese Scheißbullen auch ausgerechnet… Das kann ich doch nicht ahnen, bin schließlich kein Hellseher… Woher soll ich wissen, dass diese Schweine… Scheißbullen! Aber mit mir kann man das ja machen… klar, ist ja bloß der blöde Karl Urban, den machen wir mal so richtig nieder, zur Sau machen wir den, dass er keine Sonne mehr sieht, das Arschloch! Und wenn er dann am Boden liegt und keinen Mucks mehr von sich gibt, dann treten wir ihm noch mal ordentlich in die Fresse… Ist doch völlig egal… Schert sich doch eh keine Sau drum! So sieht’s nämlich aus! Genau so sieht’s aus! Wieso ich so verbittert bin? Weshalb fragen Sie mich das? Ich und verbittert? Woher denn? Ha! Ist doch alles easy, okie dokie, alles im grünen Bereich, alles klar auf der Andrea Doria, Tatsache! Nein, lassen Sie nur, ich hab keine Probleme. Ich komm schon alleine klar. Hab bisher ja auch alles alleine auf die Reihe gekriegt. Nein, wirklich, geben Sie sich keine Mühe! Da machen Sie sich nämlich nur ihre zarten Hände schmutzig, Ihre Feiner-Pinkel-Hände, die besudeln Sie sich nur an mir, und das wollen Sie doch sicher nicht. So weit geht die Hilfsbereitschaft dann auch nicht, hab ich Recht? Sie können mich hier ruhig
liegen lassen, lassen sie mich nur verrecken hier in diesem Dreck. Meine Bude ist sowieso nur noch ein stinkender Müllhaufen! Was soll ich da denn noch? Da wartet niemand auf mich! Nirgendwo wartet irgendjemand auf mich! Da können Sie Gift drauf nehmen! Da kann ich doch genauso gut hier auf der Straße krepieren. Gehen Sie nur schön nach Hause, zu Ihrer aufgetakelten Alten, die Sie bestimmt schon seit zehn Jahren nicht mehr ranlässt, und scheren Sie sich zu Ihren wohlgeratenen Kindern. Haben sicher alle Abitur und studieren. Sehen Sie, hatte ich auch nicht anders erwartet. Nun hauen Sie schon ab und lassen Sie mich endlich in Ruhe! Sie wollen doch nur Ihr Gewissen beruhigen mit Ihrem… Samaritergetue. Sie sind doch auch nur einer von diesen penetranten Saubermännern, die grundsätzlich immer alles richtig machen! Ich muss gleich kotzen! Verschwinden Sie endlich, Sie Arschloch! Und fassen Sie mich nicht an! Ich kann das nicht ertragen! Lassen Sie mich zufrieden, scheren Sie sich zum Teufel! Verpiss dich, blöde Sau!
Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen für meine Ausfälle gestern. Es tut mir wirklich leid. Bitte glauben Sie mir! Ich habe es nicht so gemeint. Bitte verstehen Sie auch ein wenig meine persönliche Situation. Versuchen Sie es wenigstens. Ich bin aus meiner Rolle gefallen. Ich will wirklich nicht behaupten, dass man mich hinausgestoßen hat. Es wird wohl so sein, dass ich mich selbst zu weit über die Brüstung beugte, sei es aus Neugier, Abenteuerlust oder purer Dummheit, jedenfalls verlor ich mein Gleichgewicht und kippte hinaus. Nun hänge ich verkehrt im Leben. Ich sollte auch weniger trinken, ich weiß. Wenn Realität und Delirium sich so vermischen, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann, dann wird es gefährlich, dann geraten die
Werte ins Wanken, und es gibt buchstäblich keinen Halt mehr. Dann gibt’s kein Halten mehr.
Nun hocke ich im Oldenburger Rathauskeller. Noch sitzen nur wenige Gäste an den Tischen, hauptsächlich ältere Leute. Das war früher anders. Da fanden hier auch Jazz-Konzerte statt oder sogar Chanson-Abende. Ich verspüre Hunger, möchte eine Kleinigkeit essen. „Tut mir leid, die Küche öffnet erst um achtzehn Uhr“, sagt die Serviererin. Ein südländischer Typ, hübsch, schwarze Augen, schwarze Haare, nicht groß, ein wenig drall, freundlich. „Darf ich Ihnen inzwischen etwas zum Trinken bringen?“ Ich bestelle einen Tomatensaft. Links von mir tauschen sechs alte Männer gewichtige Argumente aus: „Jau, so is dat!“ „Nee, nee, du.“ „Ick segg di dat!“ „Wenn du dat seggst…“ „Jau!“ „Un du?“ „Geit so, un sülmst?“ „Ach, ja…“ „Muscha, neech?“ „Mien Reden!“ „Kannst nix an doon!“ „Ick segg di dat!“ Rechts von mir sitzt eine Frau allein am Tisch. Wahrscheinlich sieht sie wesentlich älter aus, als sie in Wirklichkeit ist. Ihre Augen sind nahezu wimpernlos und rotumrändert. Sie nippt an ihrem Kaffee. Ich versuche in einem Gedichtband zu lesen, den ich vorhin antiquarisch kaufte.
Wolfgang Hilbig, Die Versprengung. Die Gedichte kommen mir sehr abstrakt vor, wollen sich mir nicht auf Anhieb erschließen. Das soll wohl bei moderner Lyrik so sein. Eine zweite alte Frau setzt sich an den Tisch der einsamen Kaffeetrinkerin. „Ach, du bist schon da?“ „Ja, ich sitze schon seit einer dreiviertel Stunde hier.“ „Und?“ „Schon zweimal fragte mich heute jemand, wie’s meinem Mann geht. Schon zweimal! Ich halte das nicht aus!“ „Das kann ich gut verstehen“, sagt die Hinzugekommene und beginnt in ihrem Handtäschchen zu kramen. Eine dritte alte Frau kommt an den Tisch. Sieht so aus, als träfen sich hier ehemalige Klassenkameradinnen oder pensionierte Kolleginnen irgendeiner Firma. „Tach zusammen!“, ruft sie fröhlich in die Runde, wobei sie mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopft. „Sag mal, Else, wie geht es eigentlich deinem Mann?“ Else fängt zu weinen an. Ich kann mich nun überhaupt nicht mehr auf Wolfgang Hilbig konzentrieren. Langsam füllt sich das Lokal, immer mehr Menschen kommen herein. Die Kellnerin bringt mir ein Schollenfilet mit Bratkartoffeln und Remouladensauce. Ich bin der erste Gast, der etwas zu essen bekommt. Hinter mir reden drei elegant gekleidete Männer über die Durchmesser von Heizungsrohren. Es fällt mir auf, dass an keinem Tisch Männer und Frauen zusammen sitzen. Ich bin der Einzige, der an einem Tisch alleine sitzt. Die Kellnerin fragt mich, ob ich noch ein weiteres Getränk wünsche. Ich zögere kurz und bestelle dann ein großes Bier. Gleich wird Georg kommen. Wir müssen reden.
„Viel Zeit habe ich nicht, muss noch proben für meine neue CD. Nächste Woche geht’s ja schon ins Studio. Und da kann ich mir kein Herumexperimentieren mehr leisten. Die Produktionskosten sind extrem hoch. Selig sind die Doofen, denn sie wissen, was sie tun. Weißt du, von wem das ist? Wolfgang Neuss! Hatte ich dir überhaupt schon von meinem Neuss-Programm erzählt? Es wird Zeit, dass seine Texte wieder auf die Bühne kommen. Ganz wichtiger Mann! Na ja, mein Bühnenprogramm und die CD werden vielleicht so etwas wie ein notwendiger Neuanfang sein.“ Der Kellnerin gelingt es nur mit Mühe, Georgs Redefluss für einen Moment zu unterbrechen. Er bestellt ein Mineralwasser und ich ein zweites Bier. So sehr ich Georg als Mensch und auch als Künstler schätze, so sehr ist er andererseits jemand, der eigentlich gar keinen Gesprächspartner braucht. Er genügt sich selbst. Ist das nicht ein Widerspruch gerade für jemanden, der auf einer Bühne vor Publikum agiert? Am Frauentisch wird es immer lauter und gedrängter. Sie haben schon Stühle von anderen Tischen dazugestellt, damit jede von ihnen Platz bekommt. Die Wasserrohr-Manager essen schweigend. Die alten Männer vergleichen palavernd die Bierpreise in ihrer Dorfkneipe mit denen des Ratskellers. „Zur Produktion eines Schriftstellers gehören nicht nur Bücher, sondern auch Gedanken“, fährt Georg fort, „auch Neuss. Das solltest gerade du dir mal zu Herzen nehmen.“ Er lacht meckernd, als sei der Gedanke von ihm, nippt kurz an seinem Wasserglas und schaut wie prüfend in die Runde des Lokals. Mich hat er noch nicht einmal angesehen, seit seiner Ankunft. „Das wird eine echte Herausforderung. Im Grunde eine reine Literaturproduktion, ein Hörbuch quasi. Das ist ein wachsender Markt. Das Ganze natürlich unterlegt mit Musik. Eine Pauke werde ich wohl nicht einsetzen, das wäre dann
doch wohl ein bisschen zu platt. Aber ein Schlagzeug, Gitarre und Bass, is’ klar. Weißt du eigentlich, wie schwierig es heutzutage ist, gute Bassisten zu bekommen? Fast unmöglich. Ich habe einen begnadeten Bassmann, der spielt auch Kontrabass. Wahrscheinlich nehme ich noch ein Saxofon dazu…“ „Du, Georg…“ „Jeder hat sowieso seinen eigenen Blues, ohne Rock ‘n’ Roll hätten wir zwei Millionen Arbeitslose mehr, ohne Rock ‘n’ Roll hätten wir immer noch Marcuse, Adorno, Horkheimer, ohne Rock ‘n’ Roll gäb’s keine industrielle Belebung, Schallplatten-Mono-Stereo-Industrie, ohne Rock ‘n’ Roll würden sich nicht so viele Leute scheiden lassen und anderswo zusammenfinden…“ Jedes Mal falle ich erneut darauf herein: Georg redet und redet, zeitweilig bilde ich mir sogar ein, er redet mit mir, manchmal denke ich sogar, er geht auf mich ein, er meint wirklich mich mit dem, was er sagt. Aber dann bemerke ich plötzlich, dass er nur ein Programm abspult. Ich meine das ganz wörtlich. Er zitiert aus seinen Bühnenprogrammen, und diese Rock ‘n’ Roll-Geschichte ist auch aus einem Bühnenprogramm, natürlich von Wolfgang Neuss. Sogar am Telefon hat er das schon mit mir gemacht. Er missbraucht mich zu Übungszwecken als Minipublikum. Ich bin doch nicht sein Sparringspartner! „Georg! Georg, kannst du jetzt bitte einfach mal die Klappe halten und aus deinem Programm aussteigen? Es gibt nämlich auch noch das reale Leben! Wir sind hier auf keiner Bühne, und mich interessiert momentan nicht die Bohne, was du gerade für Zeug einstudierst. Kann ich jetzt vielleicht einmal mit dir vernünftig reden?“ Sein Gesichtsausdruck zeigt eine Mischung aus Verständnislosigkeit und gespieltem Mitleid. Ich bilde mir ein,
sogar Angst in seinem Gesicht lesen zu können. Auf einmal ist seine dargebotene Selbstsicherheit wie weggewischt. Er wirkt nervös, unsicher, wie aus dem Gleis geworfen. Wieder und wieder nimmt er kleine Schlucke aus seinem Wasserglas, spielt fahrig mit einem Bierdeckel und lässt seine Augen im Raum umherirren. Ich schweige und Georg wird immer unruhiger. Der Bierdeckel fällt zu Boden, Georg hebt ihn auf. Er scheint unter einer großen Anspannung zu stehen. „Was is?“, fragt er, wobei er konsequent meinem Blick ausweicht. „Das wollte ich dich fragen, Georg. Was ist eigentlich los?“ „Ich weiß nicht, wovon du redest!“ „Ich glaube, du weißt ganz genau, was ich meine.“ „Ja…“ „Was, ja?“ „Ich meine… Ich weiß… was du meinst.“ „Was meine ich denn?“ Immer wieder entgleitet der Bierdeckel seinen Fingern, schließlich lässt er ihn auf dem Boden liegen, greift sich einen neuen und beginnt, kleine Stücke aus dem lädierten Pappdeckel herauszubrechen, die er vor sich zu einem Häufchen türmt. „Findest du nicht, dass es jetzt ein bisschen blöd wird? Du fragst mich, was du meinst?“ Ganz unvermittelt, fast ohne Vorwarnung, nähern wir uns mit Riesenschritten dem Eigentlichen. Ich habe das Gefühl, dass wir gegenseitig in unsere Köpfe hineinblicken können. Ich weiß, wie es in Georg aussieht, und er sieht mich, ohne mich anzuschauen. Mein Herz schlägt bis in den Hals hinein. Es pocht und hämmert. Georg hat Angst, ich auch. Von seinem Bierdeckel ist nur noch ein kläglicher Rest übrig, den er unablässig zwischen seinen Fingern hin und herdreht.
Wie ferngesteuert sage ich, was ich die ganze Zeit sagen will: „Georg, was ist mit Christine und dir?“ „Es tut mir leid“, murmelt er kaum verständlich. „Was tut dir leid?“ „Du weißt es doch schon die ganze Zeit.“ „Ich weiß gar nichts!“, sage ich laut. Meine Stimme zittert. Die Frauen vom Nebentisch haben ihr Geschnatter eingestellt und schauen zu uns herüber. „Vielleicht sagst du mir jetzt endlich mal, was los ist!“, zische ich ihn an. „Christine und ich sind ein Paar, schon seit mehreren Monaten. Eigentlich, seit du in Oldenburg bist. So ist das eben. Du wirst dich damit abfinden müssen.“ Langsam scheint er seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. „Das sind die Tatsachen, Karl. Was das für unsere Freundschaft bedeuten wird, werden wir sehen. Ich muss los.“ Er steht auf, fingert einen Fünfeuroschein aus der Tasche, legt ihn neben sein Wasserglas, klopft mir auf die Schulter und sagt: „Mach’s gut, Karl.“ Dann verlässt er das Lokal. Mach’s gut, Karl! Der Satz dröhnt in meinem Kopf. Mach’s gut, Karl!
Was, um alles in der Welt, soll ich denn jetzt noch gut machen? Was bleibt mir denn noch übrig? Georg, du hast versucht, mich zu zerstören, ist dir das eigentlich klar? Eiskalt, skrupellos, zynisch – und dann besitzt du die Frechheit, zu mir Mach’s gut! zu sagen. Was soll ich mit solch einem Wunsch anfangen? Ich will dich nie wieder sehen! Du bist nicht mehr mein Freund! Ich hasse dich! Du bist für mich gestorben, hörst du? Vielleicht weißt du es noch nicht, aber du bist tot für mich! Es ist auf einmal so still im Rathauskeller. Ich habe das Gefühl, dass mich alle anstarren. Ich gebe der Kellnerin ein
Zeichen, bezahle die Rechnung und stehe auf, um zu gehen. Meine Beine gehorchen mir nicht so wie sonst. Ich muss mich zwingen, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Ich glaube, ich bewege mich wie eine Marionette. Die Bewegungen sind nicht selbstverständlich, etwas ist anders. Ich spüre die Kraft aus meinem Körper entweichen. Ich fühle mich müde, so unendlich müde. Ich darf meine Kraft aber nicht entschwinden lassen, im Gegenteil! Ich brauche sie noch, ich muss sogar neue Kraft aufbauen. Ich werde sehr viel Energie benötigen, vielleicht so viel wie noch nie. Ich werde Georg töten müssen. Ich liege auf dem Bett in der Kammer, die mein gegenwärtiges Zuhause darstellt. Es geht mir schon wieder viel besser. Ich atme ruhig und gleichmäßig, in tiefen Zügen. Ich bin nun ganz bei mir, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Meine Augen sind geschlossen. Und da taucht er auch schon vor mir auf. Ich kann ihn ganz deutlich sehen: Da bist du ja, Georg! Kannst mich nicht sehen, aber ich dich! Wie er da auf der Bühne herumhampelt… lächerlich! Vor fünfundzwanzig, dreißig Leuten. Buhlt um sie, scharwenzelt um sie herum, umgarnt sie, schleimt sich ein. Zwischendurch klatschen sie immer wieder in ihre Hände. Mitleidsapplaus. Er fühlt sich tatsächlich als Star und ist doch nichts als ein armseliges Würstchen. Glaubst du wirklich, Georg, im Nachbarort deines grandiosen Auftritts weiß auch nur ein einziger Mensch, wer Georg Gollwitz ist? Georg, du hast ausgespielt, du bist fertig, Vorhang, Schlussapplaus, Ende! Er weigert sich, die Bühne zu verlassen. Gibt Zugaben, die keiner verlangt hat, die kein Mensch hören will. Sie sind müde, sie wollen nach Hause, merkst du das denn gar nicht, Georg? Hätten ohnehin lieber einen belanglosen Krimi in der Glotze angesehen, als sich von einem abgetakelten Altkünstler die Zeit stehlen zu lassen. Deine beste Zeit – sofern es sie jemals gab – ist längst Vergangenheit! Es wird peinlich, Georg, ist dir
nicht bewusst, wie du dich lächerlich machst? Du bist zu einer Witzfigur geworden. Die Leute lachen. Sie lachen aber nicht über deine Sprüche, sie lachen über dich. Er hört mich nicht, macht einfach weiter. Einige Leute verlassen schon den Raum. Aber Georg kennt keine Gnade. Spielt einfach weiter, immer weiter, unerbittlich. Okay, Georg, dann machen wir es eben auf deine Art. Spiel, sing, hör nicht auf! Egal, was passiert, los, Georg, mach weiter! Zeig’s ihnen, mach sie fertig! Sie haben’s nicht anders verdient! Nur keine Schwäche zeigen jetzt! Gib alles, Georg! Wozu hast du denn zwanzig, dreißig Programme drauf? Hau sie ihnen um die Ohren! Du wirst doch noch locker zwei, drei Stunden weitermachen können, oder? Keine Müdigkeit vortäuschen, Georg! Ich weiß, dass du noch viel zu geben hast! Aber mich führst du nicht hinters Licht! Mich nicht! Komm schon, mach weiter! Mach weiter! Egal, was das dämliche Publikum denkt, fühlt, sagt! Du musst deine Mission erfüllen! Du wirst tun, was ich dir sage! Ich befehle es dir. Mach weiter! Hör nicht auf, jetzt! Weiter, weiter! Der Saal ist leer. Niemand mehr da. Alle weggegangen. Gnadenlos alle rausgespielt. Aber Georg, auf dieser kleinen Bühne, Georg spielt weiter, wie ich es ihm befohlen habe. Er spielt sich die Seele aus dem Leib, spielt mehr als die halbe Nacht. Singt Brecht-Lieder, spielt Tucholsky-Szenen, singt Lieder in seiner hessischen Mundart, liest eigene Texte, fremde Texte, schrammelt dazu wie wild auf seiner Gitarre herum – seine Stimme ist heiser, überschlägt sich, versagt an manchen Stellen, weiter, weiter, bis schließlich nur noch ein Krächzen zu hören ist. Georg hockt auf seinem Bühnenstühlchen, in sich zusammengesunken, bewegt die Lippen, kein Laut verlässt mehr seinen Mund. Seine Augen flattern, seine Hände zittern, er kann die Gitarre nicht mehr halten, sie entgleitet seinen Fingern und fällt dröhnend zu Boden. Das teure Stück! Hat
mehr als zweitausend Euro gekostet. Nun sind Hals und Kopf vom Korpus getrennt, Saiten wie offen liegende Sehnen, gesplittertes Holz erinnert an geborstene Menschenknochen, Risse durchziehen den geschwungenen Körper, das edle Instrument hat nur noch Schrottwert. Und dann endlich kippt Georg zur Seite, fällt schlaff auf die Bühnenbretter und bleibt reglos dort liegen. Ein schöner Tod! Welcher Künstler wünscht sich nicht, auf der Bühne sein Leben zu beschließen? Zwar war niemand da, deinen Bühnentod zu bewundern, aber dennoch: Du hast es geschafft, Georg, was willst du mehr? Applaus! Mach’s gut, Georg, mach’s gut!
26
Es geht mir nicht gut. Die Anstrengung mit Georg war wohl zu gewaltig. Das steckt man nicht so einfach weg. Das ist sein Werk, er zwang mich, ihn zu töten, um mich zu demütigen. Er hat es geschafft! Ich bin leer, ausgebrannt. Dabei wäre es doch notwendig, meine Lebenssituation endlich wieder in den Griff zu bekommen. Zwei, drei Lesungen im Monat, das bisschen Zeilenhonorar, die paar Tantiemen – das reicht nicht zum Überleben. Und ans Schreiben ist zur Zeit schon gar nicht zu denken. Mir fehlen die Ruhe und die Kraft, etwas Neues zu beginnen oder auch nur etwas Altes zu reparieren. Was ist mit mir? Ich habe das Gefühl, als raube mir jemand die Lebenskraft. Dabei ist es doch vorbei. Ich müsste mich doch erholen, wieder zu mir kommen! Worauf habe ich mich eingelassen? Georg, bist du es, der mich lähmt? Willst du dich an mir rächen? Willst du mich zum zweiten Mal zum Opfer machen? Willst du mich nun endgültig zerstören? Nein, ich fühle es genau, es ist nicht Georg. Von ihm geht keine Gefahr mehr aus. Ich habe ihn entmachtet, ihn liquidiert – deshalb fühle ich mich ja so schwach. Schleier vor meinen Augen. Ich kann nicht mehr deutlich sehen. Draußen ist es dunkel, Regen klatscht gegen die Fensterscheiben. Die Fenster sind schwarze Löcher. Mein Kopf dröhnt, rasender Schmerz durchfurcht mein Gehirn. Mit zittrigen Fingern reiße ich ein Streichholz an, um die Kerzen am Leuchter anzuzünden. Die kleinen Kerzenflammen spiegeln sich in den Fensterscheiben, allerdings flackern sie unruhig hin und her, obwohl sich im Zimmer kein Lüftchen regt. Vielleicht noch ein Räucherstäbchen: Tibetan Sandalwood. Ich mochte den
Geruch immer. Er erinnert mich an positive Kräfte aus einer anderen Welt. Ein Glas Wein: ein guter Corbiere aus dem Jahr 2000. Fehlt noch ein wenig Musik: Beyond the Missouri Sky mit Charlie Haden und Pat Metheny. Möglicherweise gelingt es mir doch noch, meinen miserablen Zustand ins Positive umzukehren. In meinem Magen rumort es. Ich muss mich setzen, meine Knie zittern zu stark. Das Gefühl verlässt meine Füße, meine Beine. Als gehörten sie nicht mehr zu mir. Alles taub. Es kriecht langsam höher, immer höher, ins Becken, in den Bauch, ich sterbe ab. Die Kerzenlichter flackern wie kurz vor dem Erlöschen. Das Räucherstäbchen verbrennt viel zu schnell, es riecht entsetzlich, der Wein schmeckt scheußlich, er brennt auf meiner Zunge, und die Musik ist unerträglich. Das, was ich einmal als harmonisch und friedlich empfand, klingt jetzt dissonant und aggressiv. Es kriecht in meine Brust, mein Herz rast, ich beginne zu keuchen. Meine Arme, was ist mit meinen Armen? Sie sind gefühllos. Nun erreicht es die Schultern, den Hals, es kriecht mir in den Hals, ich bekomme kaum noch Luft. Was ist das? Was geschieht mit mir? Ein Sinfonieorchester setzt ein, nur eine einzige Tonlage zunächst, ganz unten beginnend, zuerst leise, dann langsam anschwellend immer lauter, immer höher, wie damals in dem Beatles-Song Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band. Die Geigen, Bratschen, Celli, Oboen, Klarinetten, Pauken und Trompeten, Fanfaren und Trommeln, immer höher, immer lauter, ich halte es nicht mehr aus, das kann niemand ertragen, mein Kopf wird jeden Augenblick platzen, mein Körper vibriert. Lauter, höher, es ist ein Kreischen, Donnern, Blitze zucken durch den Raum, der Dirigent wirbelt wie wild mit den Armen, feuert das Orchester an, und sie haben gemeinsam nur ein Ziel: Sie wollen mich zerstören. Der Dirigent dreht langsam seinen Kopf in meine Richtung, so, als wolle er die
Wirkung seines teuflischen Tuns überprüfen, gleichzeitig fährt er fort, das Orchester anzutreiben, es vorwärts zu peitschen, alles aus ihm herauszuholen, tödliche Töne. Jetzt kann ich sein Gesicht sehen, er grinst mich an. Nein, das kann ich nicht glauben, nein, das kann nicht wahr sein, das ist unmöglich! Es ist RUDKO! Rudko benutzt das Orchester als Waffe. Rudko will mich vernichten! Er will mich töten! Ich hätte es wissen müssen! Rudko, was tust du? Was habe ich dir denn getan? Rudko, bitte, hör auf! Ich flehe dich an, lass mich am Leben! Rudko! Es kostet mich größte Anstrengungen, mein Bewusstsein ins Diesseits zurückzuzerren. Ich schiebe sie weg, diese Chimäre, die mich zerstören will. Ach was, alles nur ein Traum! Oder? Aber es war mehr als ein Traum. Eine Halluzination? Ich habe sie doch selbst gehört, diese Töne. Und ich habe Rudko doch gesehen. Seine grinsende Grimasse. Aber warum nur? Gab sich immer so harmlos, tat freundlich mit mir, und in Wahrheit hatte er es auf mein Leben abgesehen. Perfides Monster – perfekte Maske! Er kann es wohl nicht ertragen, dass ich über Kräfte verfüge, die ihm nicht gegeben sind. Es geht ihm um Macht, um Herrschaft. Aber nicht auf meine Kosten! Nicht mit mir! Du hast deine Chance verspielt! Und nun ist es zu spät! Da hast du dich verhoben, mein lieber Kerl! Du hältst dich wohl für einen mächtigen Zauberer, der mich mal eben so vernichten kann, nachdem er mich die ganzen Jahre für seine düsteren Zwecke benutzte! Du hast meine Ehe zerstört, meine berufliche Existenz kaputtgemacht, mir meine Freunde genommen, mich hierher auf den Müll geworfen, aber mein Leben, mein Leben kriegst du nicht! Kennst du denn nicht die Geschichte jenes armseligen Schwarzmagiers, der einen anderen Zauberer totbeten wollte? Seine bösen Kräfte prallten an dem Opfer ab und kamen zurück zu dem, der sie aussandte. Der Schwarzmagier hat
seine eigene Attacke nicht überlebt. Er starb, dieser Dummkopf, durch die Kraft seiner eigenen Gedanken. Lass dir das eine Lehre sein! Und komm mir nicht mehr zu nahe! Nie wieder! Sonst zerstört dich nämlich der Bumerang-Effekt, mein Freund. Wer weiß, vielleicht bist du ja schon längst zum Opfer deiner eigenen negativen Projektion geworden. Es ist ein altes Gesetz, dass eine vergeblich ausgeschickte Projektion wieder zu ihrem Ursprung zurückkehrt. Hast du das nicht gewusst, du Anfänger? War dir das nicht klar, du Dilettant? Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht, du hast dich mit dem Totdenker angelegt, und das hättest du lieber bleiben lassen sollen. Jede Verzauberung wirkt leider nur einmal tödlich. Du bist ein erbärmlicher Wicht! Deine Kräfte reichen nicht aus, dich mit dem Meister zu messen! Du hättest dir ein anderes Opfer suchen sollen! Und es gibt ein weiteres Gesetz: Hat ein Opfer eine Verzauberung überlebt, kann es nie wieder betroffen sein. Nie wieder, Rudko! Danke, Rudko, du hast mich noch stärker gemacht. Du hast mir die Zweifel genommen, die Schuld! Ich ahnte es! Ich wusste es! Ich bin unschuldig! Ich bin immun! Ich bin unverwundbar! Ich bin unsterblich! Danke, Rudko!
„Christine, es tut mir leid, aber du störst. Ich meditiere gerade. Ich muss dringend meine inneren Kräfte erneuern. Ich brauche sie zum Überleben.“ „Karl, ich rufe dich doch nur an, um zu fragen, wie es dir geht. Weiter nichts.“ „Mach dir keine Gedanken. Mir geht’s ausgezeichnet. Ich habe alles im Griff. Ich bin unverwundbar. Niemand kann mich mehr töten. Und Rudko schon mal gar nicht. Er versuchte mich zu verzaubern, zu bannen. Wahrscheinlich schon seit Jahren!“
„Karl…“ „Aber ich bin stärker als er. Er hat sich verrechnet und wahrscheinlich schon selbst vernichtet. Ich werde…“ „Wovon sprichst du? Und wer ist Rudko? Wer soll das denn sein?“ „Mein früherer Freund Rudko, natürlich! Tu nicht so, als ob du ihn nicht kennst! Du bist ihm oft genug begegnet. Du hast ihn nie gemocht. Vielleicht hast du ja gespürt, dass er mich umbringen will. Womöglich wolltest du mich sogar vor ihm beschützen. Aber noch bin ich stark genug. Ich kann mich wehren!“ „Karl, ich kenne keinen Rudko, und du hast niemals einen Rudko als Freund gehabt, das wüsste ich doch! Was hat das alles zu bedeuten, Karl? Kein Mensch will dich töten. Was ist bloß los mit dir? Hat sich übrigens Georg in den letzten Tagen mal bei dir gemeldet?“ „…“ „Karl, ich habe dich etwas gefragt!“ „Was?“ „Ob du etwas von Georg gehört hast?“ „Von Georg? Wieso?“ „Na, hör mal, das wäre doch denkbar! Schließlich wart ihr früher mal die besten Freunde.“ „Früher…“ „Hast du nun von ihm gehört oder nicht?“ „Georg? Was faselst du andauernd von Georg? Georg ist tot! Der ist tot, tot, tot! Kapiert?“ „Um Himmels Willen, Karl, was soll das denn heißen? Sag doch so etwas nicht! Bitte beruhige dich doch!“ „Dann frag mich nicht so ‘n Scheiß!“ „Möchtest du, dass ich dich besuche?… Karl?… Bist du noch dran?“ „Wenn du unbedingt willst…“
Christine kommt. In Begleitung eines fremden Mannes. Sie hält mich nun endgültig für verrückt. Dabei ist sie selbst verrückt. Tut so, als kenne sie Rudko nicht und erzählt mir was von Georg. Und dieser Kerl, den sie da zur Verstärkung mitgebracht hat, wer weiß, was das für ‘ne Lusche ist? Behauptet, er heiße Hans-Hermann und sei ein Kollege von ihr, der Frechling! Von dem hat sie jedenfalls noch nie erzählt. Wahrscheinlich ist er ihr neuer Liebhaber, ja, genau, so wird es sein! Geschmacklos, das Ganze! Die wollen mich demütigen, die beiden, die wollen mich endgültig auf den Boden zwingen. Und was soll das Gequatsche über Georg? Georg ist tot. Ich habe ihn selbst umgebracht. Es war seine eigene Schuld. Er hätte mir nicht zu nahe kommen dürfen. Ich musste ihn doch töten. Die sind beide verrückt! Völlig abgedreht sind die! Christine fängt an, in meinen Sachen zu wühlen. „Was tust du da?“, frage ich. Dieser Hans-Hermann steht dabei und grinst blöde. „Ich packe ein paar Sachen zusammen.“ „Du bist hier bei mir zu Gast.“ „Ich weiß, Karl. Wir wollen dir doch nur helfen. Bitte vertraue uns. Wir fahren jetzt gemeinsam nach Wehnen ins Landeskrankenhaus. Ich habe uns dort angemeldet. Dort arbeiten Leute, die ihr Handwerk verstehen. Ist ja auch nur für eine begrenzte Zeit. Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst, Karl, darauf kannst du dich verlassen und HansHermann auch, ganz bestimmt.“ Dem soll ich vertrauen? Wie komme ich denn dazu? Ich weiß ja gar nicht, wer das ist! Die sind wirklich verrückt, denke ich, völlig durchgeknallt. Was habe ich mit ihrem Hans-Hermann zu schaffen? Am besten tust du, was sie von dir verlangen. Bloß nichts machen, was sie aufregt, sonst wird es nur noch schlimmer. Wer weiß, wozu die fähig sind? Also füge ich mich und gehe mit ihnen.
Nach nur kurzer Fahrt kommen wir an. Christine spricht mit verschiedenen Leuten, Hans-Hermann und ich stehen dämlich daneben. Ich weiß nicht, was ich mit dem reden soll. Meine Geschichte geht den ja auch nichts an. Ich kenne den doch gar nicht!
Inzwischen bin ich schon ein paar Wochen hier. Meine Bücher fehlen mir doch sehr. Sie haben mir nur einige wenige gestattet. Außerdem könnte ich mir welche aus der Anstaltsbibliothek ausleihen, sagen sie. Aber was soll ich mit Utta Danella und Willi Heinrich anfangen? Was den Alkohol betrifft, habe ich das Schlimmste überstanden. Die erste Woche war am härtesten. Inzwischen kann ich auch schon einmal an etwas anderes denken als an Wein oder Whisky. Christine besucht mich regelmäßig. Manchmal in Begleitung dieser lächerlichen Figur, die sich Hans-Hermann nennt. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken. Und zum Schreiben. Wie sagte Joschi? Schreibend denkt es sich am besten. So kriege ich die Vergangenheit vielleicht doch noch in den Griff. Ich habe nämlich mit der Arbeit an einem neuen Buch begonnen. Oft bin ich so müde. Das wird wohl an den Medikamenten liegen. Trotzdem zwinge ich mich, jeden Tag wenigstens ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Kein Tag ohne Zeile.
Der Doktor kommt. Unterbricht meine Arbeit. Zwingt mir das auf, was er Gesprächstherapie nennt. „Das Prinzip Zufall, Herr Urban, bestimmt unser ganzes Leben. Das sollten Sie endlich anerkennen. Dann wären wir schon einen wesentlichen Schritt weiter.“
Jetzt fängt er damit wieder an, der weiß doch nicht, wovon er redet! „Doktor, ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen, die Sie nachdenklich machen sollte: Da lässt ein Mann aus irgendeiner Laune heraus in einer Silvesternacht einen kleinen Gasballon in den Himmel steigen. Der Gasballon trägt ein Kärtchen mit dem Namen des Mannes. Der Wind weht den Ballon Hunderte von Kilometern weit übers Land. Irgendwann platzt die dünne Ballonhülle und sinkt zu Boden. Ein zweiter Mann findet die Ballonreste mitsamt dem daran hängenden Kärtchen. Er glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, als er die Adresse seines Freundes liest, den er vor Jahrzehnten aus den Augen verlor. Die beiden finden sich wieder. Und Sie wollen mir wirklich erzählen, das soll nur ein Zufall sein?“ „Herr Urban, jetzt passen Sie einmal auf: Es gibt eine unendliche Reihe von Möglichkeiten menschlichen Handelns und eine ebenso unendliche Reihe völlig verschiedener Geschehnisse, das werden Sie nicht bestreiten.“ „Warum sollte ich?“ „Okay, so weit sind wir uns also einig. Eine unendliche Reihe birgt nun natürlich auch eben jene zugegebenermaßen erstaunliche Möglichkeit, die Sie mir gerade in Ihrer Geschichte erzählten. Herr Urban, nur durch Zufälle kann Neues in die Welt gelangen. Wenn wirklich alle Erscheinungen gewissen Gesetzmäßigkeiten unterlägen, dann wäre der Lauf der Welt irgendwann vorhersehbar. Das wäre doch schrecklich! Wo alles, was geschieht, vorhersehbar wäre, da herrscht Stillstand. Und, Herr Urban, das müsste Ihnen als Künstler doch klar sein: Kreativität beruht auf nichts anderem als Probieren und Kombinieren von Erscheinungen, die zuvor scheinbar nichts miteinander zu schaffen hatten.“ Der Mann scheint unbelehrbar zu sein. Er will einfach nicht verstehen. Er soll nur nicht glauben, mich mit seinem
pseudophilosophischen Redefluss einlullen zu können. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Er bemerkt noch nicht einmal, wie er sich widerspricht. „Genau das tue ich doch, ich stelle Zusammenhänge her, die zuvor noch niemand bemerkte, und ich ziehe meine Schlüsse daraus.“ „Das menschliche Hirn, Herr Urban, neigt zu Vereinfachungen. Sie ziehen voreilige Schlüsse und schaffen sich lediglich die Illusion von Erklärbarkeit. Das ist auch völlig verständlich, denn jeder Mensch möchte ein möglichst großes Maß an Sicherheit erreichen. Und je mehr Sie meinen, erklären zu können, desto größer erscheint Ihnen Ihre persönliche Sicherheit. Alles Unbekannte macht Angst, ich weiß das. Ich rate Ihnen als Mensch und als Arzt: Lassen Sie den Zufall geschehen, geben Sie dem Zufall eine Chance!“ Dieser Mensch treibt mich noch in den Wahnsinn! Eines Tages wird er einsehen, dass ich im Recht bin. Ich werde es ihm beweisen! Er soll mich in Frieden lassen, ich habe zu arbeiten.
Die Tage werden wieder länger, und manchmal scheint die Sonne. Dann gehe ich im Park spazieren. Ich habe sogar schon ein paar Krokusse gesehen und Schneeglöckchen. Es riecht nach Frühling. Mir ist, als falle ganz allmählich der Hass von mir ab. Meine Mission ist nahezu erfüllt. Mir bleibt nur noch, alles aufzuschreiben. Das zweite Gesicht – ich benötige es nicht mehr. Ich fühle mich erleichtert. Vieles ist so unwichtig für mich geworden. So auch der Hass. Vielleicht, so denke ich mir, macht ja mein Gefangensein in mir selbst meine Einsamkeit aus. Aber auch meine Einzigartigkeit. Manchmal frage ich mich natürlich, ob meine neuerdings mildere Betrachtungsweise der Dinge etwas mit der
Angst vor dem Tode zu tun haben könnte. Man kennt sie ja, diese greinenden Greise, die reumütig in den Schoß des Glaubens zurückkehren, aus purer Angst vor dem Jenseits. Nein, das ist es bei mir ganz gewiss nicht. Ich bin unsterblich. Wie sollte ich da Angst vor dem Sterben haben? Ich bin ein außergewöhnlicher, ein ganz besonderer Mensch, ein Auserwählter. Ja, das bin ich. Das habe ich schon als Kind gespürt: Das Schicksal hat etwas Besonderes mit mir vor. Ich bin nicht wie andere. Ich bin einzigartig. Sagen Sie bitte nicht: Jeder ist auf seine Weise einzigartig. Das träfe nicht das, was ich meine. Es kommen immer wieder Menschen auf die Erde, die auserwählt sind, etwas zu leisten, was nur sie allein leisten können, kein anderer. Das ist ihre ganz spezielle Aufgabe. Wollen Sie bestreiten, dass ich über Fähigkeiten verfüge, die einzigartig sind? Sicher wollen Sie das nicht! Und dennoch: Manchmal plagt mich so etwas wie eine leise Ahnung der Mittelmäßigkeit. Es hat vielleicht etwas mit fehlendem Selbstwertgefühl zu tun. Nicht jeder Auserwählte verfügt über ein robustes Selbstbewusstsein. So quäle ich mich manchmal mit meiner Schriftstellern, bringe mit Mühe zwei, drei Seiten pro Tag aufs Papier, und am Abend habe ich trotzdem das Gefühl, nichts Gescheites produziert zu haben. Mittelmaß, sofern es sich auf ein künstlerisches Talent bezieht, kann möglicherweise gleichbedeutend mit einer Art Werkzeug sein. Es kommt – wie meistens – darauf an, wie das Werkzeug eingesetzt wird. Ist es denn nicht denkbar, auch mit mittelmäßigem Werkzeug ein Kunstwerk zu schaffen? Ja, und der große Bluesmusiker Alexis Korner sagte einmal: „Niemals ist es mir gelungen, auch nur annähernd das erklingen zu lassen, was ich tief in meinem Innern empfand.“ Aber sind Zweifel nicht auch ein Charakteristikum aller großen Geister? Meine Vorzüge liegen wohl auf einem
anderen Gebiet: Ich kann mit meiner Vorstellungskraft die Dinge verändern. Dort in den Zweigen des Haselnussstrauches schaukelt ein schlaffer roter Luftballon an einer weißen Plastikschnur. Am anderen Ende der Schnur flattert ein vom Regen durchnässter Papierfetzen im Wind. Eine Adresse aus Holland kann ich entziffern. Viele hundert Kilometer übers Land zu mir herübergeweht. Ich werde dem Doktor nichts davon erzählen. Er ist kein Auserwählter.
Ich sitze auf einer Bank im Park. Zum ersten Mal in diesem Jahr. Ich schließe die Augen, lasse die noch etwas dünne Sonne auf mein Gesicht scheinen und betrachte, was ich sehe: Ein Mann schaut nach links, nach rechts, noch einmal nach links, überquert dann eine viel befahrene Straße, er ist überwiegend schwarz gekleidet, aber gut gelaunt, in ein paar Jahren wird er Pfeifenraucher sein, so stelle ich mir vor, ich könnte ein Ziel für ihn erfinden, aber ich kenne es nicht; ein zweiter Mann, wohl ein Musiker, überquert zur gleichen Zeit eine andere, ebenfalls viel befahrene Straße, auch er ist hauptsächlich schwarz gekleidet, man könnte sagen: Er ruht in sich, allerdings wird er in einigen Jahren kein Pfeifenraucher sein, er wird niemals mehr Tabak rauchen, da bin ich ganz sicher; sein Ziel erfinde ich: Es ist zunächst ein türkischer Imbiss, später eine Fahrschule, er möchte den Motorradführerschein machen, er lebt allein, das soll hier genügen. Ein Teller fällt zu Boden und zerbricht, jemand füllt ein Weinglas bis zum Rand, ein Baby schreit, ein Saxofon röhrt auf, Regen fällt vom Himmel, jemand ist glücklich, jemand weint, ein Vogel ruft, jemand verweist auf einen Widerspruch, sein Gegenüber weigert sich jedoch, zu verstehen, ein Tier wird gequält, ein Mann und eine Frau
lieben sich auf einer Wiese, jemand erfährt von seiner unheilbaren Krankheit, ein Politiker unterschreibt zwei Dokumente und schraubt anschließend umständlich seinen Füllfederhalter zu, jemand versteckt sich, jemand lacht, jemand gewinnt, jemand glaubt zu verlieren, ein Mädchen ruft nach seinem Vater und erhält keine Antwort, jemand resigniert, die Sonne scheint dünn, Wolken ziehen von Nordwesten auf, ein paar Kinder spielen Fußball, zwei Autos rasen aufeinander zu, sie werden in wenigen Augenblicken zusammenstoßen, eine Frau wird geschlagen, sie wehrt sich nicht, jemand legt Blumen auf Georgs Grab, ein Kind wird geboren, Gräser wiegen sich im sanften Wind, jemand sprüht Pflanzengift, ein Motor brummt, jemand denkt angestrengt nach, eine schöne Frau duscht, eine kinderreiche Familie sitzt beim Abendbrot, jemand empfindet Gelenkschmerzen, Dielen knarren, ein Baum wird gefällt, jemand liest ein Buch, zwei Freunde telefonieren miteinander, ein Essen wird mit zu viel Pfeffer gewürzt, eine Firma meldet Konkurs an, jemand verabschiedet sich, noch ein Mann schaut nach links, eine dicke Frau schaut nach rechts, eine Blume wird gepflückt, ein Hund bellt einen Jogger an (der tut nichts, der will nur spielen), jemand macht das Geschäft seines Lebens, jemand ist enttäuscht, ein Schriftsteller schreibt eine Geschichte, ein Sänger singt ein Lied von Georg, für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen, ein Flugzeug fliegt nach Amsterdam, ein Apfel fällt vom Baum, eine Katze fängt einen Vogel, zwei Igel gehen über die Wiese, eine Malerin malt ein Bild, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, alles bleibt, wie es wird, niemand erkennt die Zeichen, jemand handelt richtig, ein anderer irrt sich zum wiederholten Male, ein Haushalt wird gegründet, ein Haus wird abgerissen, eine Ehe wird geschlossen, ein Vater verlässt seine Familie, eine Ehe wird geschieden, ein Baum
wird gepflanzt, ein Mädchen verliebt sich – am Tag nach meinem Tod. Meine Reise ist zu Ende, ich öffne die Augen, mir ist etwas kalt geworden, Zeit, ins Haus zu gehen, pünktlich um siebzehn Uhr dreißig wird das Abendmahl serviert. Vor mir die schwere weiße Tasse auf klobigem Unterteller. Jugendherbergsgeschirr! Das aufgeregte Geplapper der anderen Gäste. Das immer gleiche Wurst- und Käsesortiment genügt ihnen als Anlass endloser Erörterungen. Und dieses kindische Gehampel und Gezappel am Tisch. Wenn sie ahnten, wie sie mir auf den Geist gehen, wie sie mir den letzten Nerv rauben! Jeden Abend aufs Neue. Einfältiges Volk! Aber die Tasse, die schwere weiße Tasse mit dem Pfefferminztee, sie hat etwas Aufforderndes. Das können die anderen natürlich nicht sehen, das empfinde nur ich. Ich kann es ja noch einmal versuchen. Wer sollte mir das verbieten? Mir kann nichts mehr passieren. Die Hände an die Schläfen, die Augen schließen. Ich könnte ja auch Kopfschmerzen haben. Dann sitzt man halt so. Was in meinem Kopf geschieht, das sieht ja keiner. Niemand kann mir in den Kopf gucken, niemand! Auch der Doktor nicht! Nun beweg dich, Tasse, verändere deine Position. Komm schon, lass mich nicht im Stich! Und wenn es nur fünf Zentimeter sind oder wenigstens drei Zentimeter, die kannst du mir doch schenken. Gib mir drei Zentimeter, Tasse, bitte! Der Unterteller sollte doch kein Problem für dich sein, nimm ihn einfach mit! Für dich sind es nur drei Zentimeter, für mich die Bestätigung eines ganzen Weltbildes, den Gefallen kannst du mir doch tun. Und dann dieses plötzliche, letztlich doch unerwartete Klirren und Scheppern zerberstenden Porzellans. In den Schrecken mischt sich augenblicklich ein Gefühl des Triumphes, das Empfinden von Genugtuung, unglaublicher Stärke und das endgültige Wissen um meine Macht.
„Na, wie geht’s uns denn heute?“ – die obligatorische, eigentlich völlig sinnentleerte Frage des Doktors. „Schon viel besser!“, sage ich und lächle ihn freundlich an. Der Doktor kommt immer wieder auf meine psychokinetischen Fähigkeiten zu sprechen. Er will Einzelheiten wissen, der neugierige Hund. Ich erzähle ihm aber nichts. Er hat ohnehin keine Ahnung von verschiedenen Wirklichkeitsebenen und höheren Wahrheiten. Ich muss allerdings höllisch aufpassen, dass er meine Aufzeichnungen nicht in die Finger bekommt. Schließlich schreibe ich über all die Dinge, die ihn besonders interessieren. Aber wenn er allzu lästig wird, dann weiß ich ja, was ich zu tun habe. Er soll sich nur in Acht nehmen. Ich habe keine Angst vor ihm. Der amerikanische Zauberer und Forscher James Randi bietet eine Summe von einer Million US-Dollar für die Bestätigung einer paranormalen Begabung. Ich habe es gestern in der Zeitung gelesen. Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen. Das Geld ist mir sicher. Außerdem wäre der Mann ein geeigneter Gesprächspartner für mich, meinen Sie nicht auch? Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss zurück an mein Buch. Ich arbeite jetzt schon am vierten Kapitel. Es geht darin um Georgs Beerdigung.
Ich bin kein Menschenfeind, wirklich nicht, aber wenn Sie mich einmal besuchen wollen, seien Sie pünktlich und bleiben Sie nicht so lange.