Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs (ProSieben-Edition) Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem A...
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Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs (ProSieben-Edition) Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte. Aus dem Amerikan. von Antje Görnig. - 2001
ISBN 3-8025-2784-4
Das Buch »Angel -Jäger der Finsternis.
Der Todesgott« entstand nach der gleichnamigen
Fernsehserie (Orig.: Angel) von Joss Whedon und David Greenwalt,
ausgestrahlt bei ProSieben.
© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher
Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH
Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 1999.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Angel. Not forgotten.
™ und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation.
All Rights Reserved.
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2001
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Gaja Busch
Produktion: Wolfgang Arntz
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2000
Satz: Kalle Giese, Overath
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-2784-4
Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:
www.vgs.de
Prolog
In der Nähe von Nias, Indonesien, 1863 Die Toten jagten sie. Sie war verflucht, und die Verfluchten waren ihre Beute. Im Wind kauten sie an ihren Haaren, im Regen nagten sie an ihren Knochen. Die Toten waren immer hungrig. Während sie durch den Dschungel kroch, schlitzten sie ihr die Haut mit ihren Reißzähnen auf und tranken ihr Blut mit den Enden ihrer knochigen Fingerspitzen. Die Geister labten sich an ihrem lebenden Fleisch. Doch es waren die Organe, die die köstlichen Schätze darstellten. Am begehrtesten war ihr Herz. Die Knochen ihrer Arme und Beine brachen knackend, während die Toten sie verschlangen, um an die Delikatesse zu gelangen. Die Trommeln waren die Herzschläge der Toten, die immer schneller wirbelten, je mehr sie sie umzingelten. Je näher sie dem Tod kam, desto lauter spielten die Trommeln. Bald würden sich die Schläge dem Rhythmus ihres Herzens anpassen und ihn verändern. Sie würden einen Funken erzeugen wie zwei Stöcke, die aneinander gerieben wurden. Dann würde ihr Herz Feuer fangen und sie von innen her verbrennen, bis nichts als ein Haufen Asche zurückblieb. Sobald ihr Körper nur noch eine bloße Erinnerung war, würde sich ein dämonischer jin ihrer Seele bemächtigen und sie verschlingen. Sie würde der Vergessenheit anheim fallen und sich nicht mehr an ihr Leben oder ihr Ich erinnern können. Nichts von ihr würde auf dieser Welt fortbestehen. Sie würde einfach verschwinden, für immer. Nur Latura, der Gott der Toten, konnte sie jetzt noch vor diesem Schicksal bewahren, denn er beherrschte die Dämonen. Wenn er ihnen befahl, die verfluchte Frau zu verschonen, würden sie es tun. Und er würde sie erretten, weil nur sie allein die Worte kannte, die ihm Zugang zur Welt der Menschen verschaffen konnten. Latura hauste in der Unterwelt, nur in Gesellschaft von Dämonen und Toten. Seine Welt kam dem Vergessen so nahe, wie es überhaupt nur möglich war. Sie war der Stoff, aus dem die Hölle war. Sie war die Hölle selbst. 3
Laturas Zwillingsbruder Lowalangri war der Gott des Himmels, der Herrscher des Firmaments, der die menschliche Rasse erschaffen hatte. Und während die Menschen sich veränderten und Abenteuer erlebten, blieben die Toten stets die Gleichen. Sie waren statisch. Latura sehnte sich danach, aus der Unterwelt aufzusteigen und unter den Lebenden zu wandeln. Dafür brauchte er jemanden, der unzählige Opfer darbringen und die Zahl der Toten mehren würde, damit er für eine Weile aufhören konnte, ihre leblosen Körper einzusammeln. Jemand, der lebte, der seinen Namen sprechen und unheilige Riten und Rituale durchführen würde, um die magische Energie zu konzentrieren und ihm die Kraft für die Reise zu geben. Er musste außerdem ein Gefäß haben – einen lebenden Körper, in dem er wohnen konnte. Und damit dieser Körper nicht in Flammen aufging und Latura zurück in die Tiefe stürzte, musste er entsprechend vorbereitet werden. Die Dienerin wusste jetzt, dass ihr Geliebter dieses Schicksal für sie geplant hatte, und sein Verrat traf sie bis ins Mark. Kaum hatte er erkannt, dass sie Bescheid wusste, hatte er ihr seine Liebe gestanden und ihr erklärt, dass er ohne ihr Opfer keinen Erfolg haben würde. Aber sie wusste zu diesem Zeitpunkt, dass auch das eine Lüge war. Er hatte seinen eigenen Tod vorhergesehen, und er musste jemanden zurücklassen, der sein Werk fortsetzen würde. Tat er dies nicht, würde Latura seine Seele an die Toten verfüttern. Und so wurde sie, unter Androhung derselben Strafe, Laturas neue Dienerin. Schnell musste sie die Riten und Beschwörungsformeln lernen, bevor ihr Geliebter entdeckt und getötet wurde – oder Latura in seiner Enttäuschung und seinem Zorn ihrer beider Seelen an die jin verfüttern und sie für immer zu Staub zermahlen würde. Doch jetzt war ihr Geliebter tot, und sie allein kannte die Worte, die Latura befreien konnten, weshalb ihr die »Ehre« erspart blieb, ihm als Gefäß zu dienen. Sie war in Sicherheit. Solange die Geheimnisse Laturas nicht niedergeschrieben wurden. Da die Dienerin nicht schreiben konnte, hatte sie alles auswendig ge lernt. Und dieses Wissen würde sie jetzt am Leben erhalten, sofern nicht jemand versuchte, ihr unter Folter das verbotene Wissen zu entlocken. Wenn sie gewusst hätte, was es hieß, diesem Gott zu dienen, hätte sie niemals die Reise angetreten, die sie jetzt so bitter bereute. Ihre einzige Hoffnung war, den Seelenfressern ins Jenseits zu entkommen und als Phantom zu existieren. Im Elend zwar, aber zu existieren. 4
»Latura«, flüsterte sie und ließ Worte folgen, die für sie keinen Sinn ergaben und zu keiner Sprache dieser Zeit und dieser Welt gehörten. Aber sie beschwörten ihn herauf, wenn auch nur als unsichtbare Macht. »Latura.« Blitze zuckten, Wind heulte durch den Dschungel. Vögel schwärmten kreischend aus, als die Bäume schwankten und umstürzten. »Latura.« Im dampfenden Dschungel wurde es kalt, so unglaublich dies auch war, und ein fauliger Gestank stieg wie Nebel vom Boden auf. Panik breitete sich unter den Tieren des Urwalds aus. Die Trommeln verstummten. Sie drückte ihr Gesicht gegen den Boden und schloss die Augen. Die Erde bebte und wölbte sich auf; Bäume wurden entwurzelt und uralte Steine hochgeschleudert, als der Gott der Toten über die Erde schritt. Feuer flackerten auf und formten einen Ring um sie. Die Welt ging in Flammen auf. Sogar der feuchte Dschungel geriet in Brand. Sie spürte die Hitze, roch den Rauch, aber sie bewegte sich nicht. Der gefürchtete Herr der Schatten hob sie hoch und trug sie auf seinen Schultern durch das Gewirr der Ranken und das üppige, urwüchsige Unterholz. Dampf stieg von dem dichten Bambus auf. Tiere kreischten. Einige von ihnen starben. Schlangen glitten davon. Krieger in schwarzen Jacken und mit Federkronen durchbrachen mit wilden Schreien das Dickicht. Ihre Speere teilten die Bambusstangen, während sie sich ihr näherten. Sie war im Reich der Nias, einem Volk, das aus Kopfjägern und Kan nibalen bestand. Latura hatte ihr befohlen, zu ihnen zu gehen, und versprochen, dass sie ihr nicht den Kopf abschlagen würden. Sie zitterte heftig. Als seine Badui – Heilige und Ausgestoßene zugleich – war ihr jeder Kontakt mit der Außenwelt verboten. Die Badui durften ihr Haar nicht schneiden, keine vierbeinigen Tiere essen, kein Geld berühren. Sie durften weder ehebrechen noch stehlen. Um Latura zufrieden zu stellen, hatte sie viele dieser Dinge getan. Sie, die sich selbst als die Dienerin bezeichnete, weil ihr Name zu einem anderen Leben gehörte, hatte ihr Haar geschnitten, sodass es ihr nur noch bis zu den Schulterblättern reichte. Sie hatte heimlich einen verheirateten Mann geliebt, den Baduihäuptling, der Latura verehrte. Ihr Geliebter war leidenschaftlich, stattlich und Furcht erregend gewesen und hatte Latura in seinem und in ihrem Namen Opfer dargebracht, aufgrund dessen sie zu Laturas treuen Dienern geworden waren. 5
Bis zu diesem Tag wusste sie nicht, wie er die Verbindung zu Latura aufgenommen hatte, und nun war dieses Geheimnis mit ihm gestorben. Kurz vor seinem Tod hatte er jedoch sein Blut mit ihrem gemischt und ihr so die Fähigkeit gegeben, mit Latura Zwiesprache zu halten. Sollte es ihr nicht gelingen, den Gott in die Welt zu bringen, war es ihre Pflicht, einen neuen Diener zu erschaffen, bevor sie starb. Latura kam zu ihr in Gestalt eines Wirbelwinds aus Feuer und verriet ihr viele Geheimnisse über das Leben und den Tod. Er lehrte sie Beschwörungen und Zaubertränke. Er konnte Krankheiten heilen und den körperlichen Zerfall aufhalten, und er versprach, ihr die magischen Worte beizubringen, die sie auf ewig vor dem Tod verschonen würden. Wenn sie ihm nur treu diente. Aber in den drei verbotenen Dörfern der Badui war es unmöglich, Geheimnisse zu bewahren. Latura, der grausame und böse Gott der Toten, war ein verbotener Gott. Aufgrund dessen hatte der Geliebte der Dienerin sie vor seiner Ermordung durch seine eigenen Leute angefleht zu fliehen, solange sie noch Gelegenheit dazu hatte. Und als die Baduidörfler sie jagten, beschützte Latura sie als Ge genleistung für ihren Schwur, zu den Nias zu gehen. Zuerst rief er die Dunkelheit, und der Himmel füllte sich mit tief hängenden Wolken. Dann rief er die Hitze, und der Dschungel zischte und dampfte. Die Dorfbewohner verfolgten sie weiter, woraufhin Latura eine Horde Dämonen schickte. Versteckt im Dschungel beobachtete sie, wie die grünhäutigen Ungeheuer ihren Verfolgern – und vielen ihrer Verwandten – die Köpfe abschlugen und ihnen das Herz aus der Brust rissen. Das waren die Glücklichen unter ihnen. Für die anderen war der Tod qualvoller. Ihre Herzen fingen Feuer und verbrannten in ihrer Brust, sodass auch ihr Blut in Flammen aufging und sich ihr Körper in Asche verwandelte. Bei diesem Anblick zitterte die Dienerin. Sie und ihr Geliebter hatten Latura ihre Seele geschenkt, und sie war für immer sein. Sie würde ihm bis zum Ende aller Tage dienen, obwohl ihr Dorf sie verflucht hatte, denn ihr Treueschwur war der stärkere Fluch. Jetzt, als die Kopfjäger sie einkreisten, weinte sie so heftig, dass Blut aus ihren Augen floss. Unter Geheul feuerten sich die Krieger gegen seitig an, während sie mit erhobenen Speeren auf sie zustürmten. Sie betete zu den Göttern, die sie längst verstoßen hatten.
6
Venice Beach, heute »Niemand lebt ewig.« Danny Elfman, Oingo Boingo In der hellen Meeressonne glitt Meg Taruma auf ihren Inline-Skates dahin und hörte sich die Musik von Oingo Boingo an. Die kalifornische Gruppe hatte sich vor einem Jahrzehnt aufgelöst, und ihr Kopf, Danny Elfman, war seitdem ein berühmter Filmmusikkomponist. Oingo Boingos makabrer Sinn für Humor und ihre mitreißenden Rhythmen waren zeitlos, und sie bedauerte, dass sie sie nie live gesehen hatte. Seit sechs Monaten führte Meg ein neues Leben. Sie wohnte jetzt in einem prächtigen viktorianischen Herrenhaus, von dem es hieß, dass das große, mit Schindeln gedeckte Gebäude mit seinen Erkerfenstern und eindrucksvollen Ecktürmen einst einem Zauberer gehört habe und später von seinen Nachlassverwaltern in ein Apartmenthaus umgewandelt worden sei. Nachts knarrten die Treppen, und der Wind pfiff durch die Kamine, und obwohl es unheimlich war, machte es Spaß, dort zu wohnen. Erinnert ein wenig an Jusef, dachte Meg leise lachend. Venice Beach selbst war so, wie sich jedes indonesische Kind Süd kalifornien in seinen Träumen vorstellte: hip, verrückt, sexy. Meg hatte sich sofort zu Hause gefühlt, als Jusef sie hierher gebracht hatte. Sie wusste einfach, dass dieser Ort für sie bestimmt war. Und das Apartment in dem viktorianischen Gebäude – »Casombra« mit Namen – war die einzige Wohnung, die sie sich angesehen hatten, bevor er einen Einjahresmietvertrag für sie abgeschlossen hatte. Seit drei Monaten studierte sie Gesang und Tanz, während er sie als Leadsängerin seiner neuen Band aufbaute. In Asien war Jusef Rais ein berühmter Rockstar. Aber er wollte mehr. Er wollte Amerika erobern. Um das zu erreichen, hatte er die Band Bahasa Fusion gegründet, und Meg glaubte fest daran, dass er die asiatische Antwort auf Ricky Martin sein würde. Mit ihr an seiner Seite. Jusef war der einzige Sohn einer unvorstellbar reichen indonesischen Familie, den Raises. Sein Vater, Bang, war eine Kultfigur in Indonesien und wurde von den Menschen genauso verehrt wie gefürchtet. Tausende wollten, dass er das Land führte, egal, ob als Präsident, als Premierminister oder als Diktator. Jusef fürchtete seinen Vater zutiefst, was Meg nur zu gut verstand. Sie würde alles tun, um nicht in der Nähe von Bang Rais sein zu müssen. 7
Pak Rais jagte ihr eine Heidenangst ein. Er beobachtete sie ständig und studierte sie ohne Unterlass. Jusef versuchte dies mit einem Lachen und der Bemerkung abzutun, dass sie eine schöne Frau sei und sie dem alten Mann sein Interesse schwerlich übel nehmen könne. Sie hatte Jusef nie erzählt, dass sein Vater sie an all die Männer erin nerte, die nach dem Tod ihrer Familie gekommen und gegangen waren, denn sie war sich nicht sicher, ob er das verstehen würde. Als Indonesier wussten sie beide, dass die Behandlung, die sie erfahren hatte, eine Folge des von ihr eingeschlagenen Weges gewesen war. Die Frau, die von einem Mann erwartete, dass er sich gegen seine Natur verhielt, musste sich über Probleme schließlich nicht wundern. Aber all das warf bloß einen kleinen Schatten auf einen ansonsten sehr sonnigen Tag. Zunächst hatte Jusef Angst gehabt, sein Vater würde seine Pläne durchkreuzen. Schließlich mussten sich in Indonesien Söhne auch wie Söhne verhalten. Aber Bang hatte nachgegeben und sich entschieden, Jusefs Vetter Slamet zum nächsten Rais zu machen, der all ihre geschäftlichen Interessen vertrat. Jusef zog nach Los Angeles, wo die Familie ein Anwesen besaß, und machte sich daran, in Amerika ein Star zu werden. Slamet und Bang kamen häufig mit einem großen Gefolge zu Besuch und blieben oft monatelang. Laut Jusef planten Bangs treue Anhänger eine Übernahme der Re gierung, doch das war etwas, mit dem sich Meg nicht beschäftigte. Auf Jusefs Anweisung hin konzentrierte sie sich auf ihre Musik, ging regelmäßig ins Fitnessstudio, nahm Tanzunterricht und skatete, so oft sie konnte. Dadurch hatte sie einen schlanken, athletischen Körper bekommen, den sie mit der passenden Kleidung unterstrich. Mit ihrer abgeschnittenen Jeans und dem knappen, verführerischen Top musste sie grinsen, als ein paar der Bodybuilder, die auf dem glitzernden Sand trainierten, ihr nachpfiffen. Sie hatte ihr unglaublich langes, glattes schwarzes Haar am Hinterkopf hochgesteckt, und es löste sich aus der Spange, als sie schneller wurde. Sie schüttelte ihre Haare, und die Testosteron-Brigade applaudierte. Mit der rechten Hand umklammerte sie ihre McDonald's-Tüte. Sie wusste, dass sie zu spät zur Probe kam. Aber Jusef würde ihr verzeihen. Schließlich war er derjenige, der sie die ganze Nacht wach gehalten hatte, während sie einfach nur so dahingeschmolzen war. Apropos dahinschmelzen ... Sie lachte leise, fühlte sich gut, fühlte sich jung, fühlte sich endlich sicher. Sie würde nie wieder Mary Margaret Taruma sein wie damals auf 8
den Killing Fields, als alles Gute auf der Welt in Stücke gerissen worden war. Sie zuckte wie unter einem körperlichen Schmerz zusammen, als die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten, doch sie verdrängte sie. Seit fünf Jahren arbeitete sie schon daran, sie auszulöschen, und dank Jusef waren sie fast verblasst. Sie skatete weiter, während sie Jusefs neue Komposition vor sich hin pfiff. Der Song hieß »Raising the Dead«, und sie hoffte, dass er ein Hit werden würde, der ihnen einen Platz im Mainstream sicherte. Los Angeles stand total auf Ethnomusik, und ihre Band, Bahasa Fusion, setzte sich hauptsächlich aus Indonesiern zusammen. Wenn über die Hälfte der in L. A. geborenen Kids Nichtweiße waren, dann gab es eine Menge Raum für Sachen, die das sprengten, was Jusef »die Weiß brotgrenze« nannte. Jusef war groß für einen Indonesier, mit stacheligen schwarzen Haaren und diesen großen Augen, die bis zum Grund der Seele zu blicken schienen, wenn sie einen ansahen. Sein fein geschnittenes Gesicht und das breite, strahlende Lächeln genügten, um sie dazu zu bringen, alles zu tun, was er wollte. Oh, Meg, du bist wirklich in einer schlimmen Lage, sagte sie sich. Aber es war überhaupt nichts Schlimmes daran. Okay, hin und wieder gab es ein paar Schatten. Aber damit kam sie zurecht. »He, Baby, was geht ab?«, rief jemand. Es war der krummbeinige alte Mann, der in einem leer stehenden Haus ein paar Blocks von ihrem entfernt lebte. In einem grellorangenen Trainingsanzug und einem altmodischen Hut mit einer langen Feder stand er am Maschendrahtzaun, wo er immer auf Meg wartete. Sie brachte ihm jeden Morgen einen Egg McMuffin. Er erzählte allen, dass er mit Bö Diddley gesungen hätte, aber das stimmte nicht. »Guten Morgen«, sagte sie, als sie abbremste. »Tingtang wallawalla bingbang«, erwiderte er. »Hab ich's richtig aus gesprochen?« Sie kicherte. Er hatte entschieden, dass der unsinnige Satz »Guten Morgen« auf Indonesisch bedeutete. »Fast perfekt«, versicherte sie ihm. Sie reichte ihm die McDonald's-Tüte mit dem Egg McMuffin und dem Becher heißen Kaffee. Hungrig blickte er hinein. Soweit sie wusste, war dies alles, was er jeden Tag aß. »Du bist ein gutes Mädchen«, sagte er und nahm das Sandwich heraus. »Muchas gracias, amiga linglang.« 9
»Gern geschehen.« Sie lächelte ihn an. »Passen Sie gut auf sich auf.« »Ich kannte Bö Diddley«, erklärte er. »Ja, ich weiß.« »Er hat mir immer zwei Egg McMuffins gebracht«, fügte er hinzu. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen morgen zwei bringe?« »Inky dinky parlez-vous.« Glücklich biss er in das Sandwich. »Rama lama ding dong.« »Bis später.« »Chattanooga choo-choo. Do-wah-diddy-diddy.« Sie winkte ihm zum Abschied zu und skatete davon. Ein paar Blocks weiter würde sie Olive LaSimone treffen, eine ältere Dame, die behauptete, einst ein Stummfilmstar gewesen zu sein. »So berühmt wie Mary Pickford«, pflegte sie zu sagen, während sie die Geranien vor ihrem Apartment goss. Ihr gefärbtes Haar hatte den selben Orangeton wie die Blumen. Da es keinerlei Aufzeichnungen über eine Schauspielerin namens Olive LaSimone gab, erklärte sie immer: »Pickford ließ alles über mich löschen. Sie war eifersüchtig.« Jusef fand die arme alte Olive komisch. »Sie ist wie die alten Ägypter«, hatte er Meg erst gestern Nacht erklärt. »Sie denkt, dass sie ewig lebt, wenn man sich an sie erinnert. Alle Menschen in Los Angeles glauben das, und deshalb wollen auch alle Filmstars werden. Einmal auf Zelluloid gebannt, werden sie niemals sterben.« Meg hatte einwerfen wollen, dass dies in gewisser Hinsicht auch stimmte, aber es hätte zu sehr nach Widerspruch geklungen. Und das mochte Jusef nicht. Das Meer war blau, die Luft salzig. Sie war jung. Es gab keinen Grund, Jusef zu verärgern oder den Frieden zwischen ihnen zu stören. Er brauste leicht auf. Ihre Skates waren schnittig und schön; sie flog fast über den Boden wie eine geflügelte Göttin. An den Müllcontainern, eine ihrer Land marken, hüpfte sie mit einem eleganten Sprung vom Bürgersteig. Dann glitt sie über die Straße, war mit einem Satz auf dem anderen Bürgersteig und bog um die Ecke. Das Apartmenthaus, in dem Olive wohnte, lag direkt... Meg starrte auf den rauchenden Schutthaufen, wo das Gebäude gestanden hatte. Und die verkohlte Leiche auf dem Bürgersteig. Dann schrie sie. Eine blonde Frau in einem khakifarbenen Regenmantel, die müde und zerknittert wirkte, ließ ihre Dienstmarke aufblitzen und sagte: »Gehen 10
Sie bitte weiter.« Aber Meg war wie gelähmt. Sie starrte weiter auf die Leiche, konnte den Blick nicht abwenden. Olives Körper war zu einer schwarzen Masse zusammengeschrumpft. Meg hätte nicht einmal gewusst, dass es Olive war, wenn nicht die Strähne grellorangenen Haares an dem Schädel und die Fetzen von Olives buntem Hauskittel an dem verkohlten Körper geklebt hätten. Es ist nicht passiert, dachte sie, als alte Erinnerungen in ihr hoch stiegen. Es ist nie passiert. Sie zitterte plötzlich. Die Polizistin sah sie forschend an und sagte: »Kannten Sie diese Frau? Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Unter der geschäftigen morgendlichen Stadt Los Angeles schreckte Angel aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas stimmt nicht, dachte er.
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Erstes Kapitel
Los Angeles, zwei Wochen später Flammen schlugen durch den Boden des verdreckten Apartments in East L. A., als Angel den riesigen Dämon mit Flügeln packte, der sich um seine Brust und seinen Hals gewickelt hatte. Die Monsterschlange zischte und wand sich und versuchte mit aller Kraft, das Leben aus sei nem Opfer förmlich hinauszupressen. Was ein völlig sinnloses Unter fangen war, denn Angel war ja bereits tot. Genau genommen, jedenfalls. Die weiß glühende Kreatur verstärkte ihren Druck und brannte sich in Angels Schulter und Oberkörper. Gut, dass er nicht atmen musste. Aber schlecht, dass er den Schmerz spürte. Schlimmer noch, ich habe keine Marshmellows mitgenommen. Das Apartment glich einem Inferno. Stapel aus Lotterielosen, Wett scheinen und ausländischen Tageszeitungen gingen in Flammen auf, als die abgewetzten Möbel in der Hitze praktisch explodierten. Angel war entsetzt. So was muten die Ausbeuterbetriebe also ihren Arbeitern als Wohnung zu. Dabei sind das sogar noch die guten Unter künfte. Jene, die man bekommt, wenn man seine eigenen Leute aus beutet. Illegale Arbeiter hausten unter schlimmeren Bedingungen als der durchschnittliche amerikanische Häftling. In Hochsicherheitstrakten. In Haftanstalten, wo die Gefangenen rebellierten und Aufseher töteten, weil sie es satt hatten, wie Tiere zu leben. Bei jedem Schlag der großen schwarzen, ledrigen Schwingen der Schlange züngelten die Flammen höher. Eine Lampe mit rotem Seidenschirm fing Feuer und brannte wie eine Fackel. Horden pa nikerfüllter Ratten huschten durch den Abfall. Einer der Nager ver wandelte sich in einen zuckenden Flammenball, fiel dann durch den aufgeplatzten Boden und verschwand. Auf einer Kiste mit versengten Nähmaschinenteilen lagen ein Fächer, der mit einem grüngesichtigen Dämonen bemalt war, und eine verschrumpelte Styroporschüssel von Rice King. Beides ging in Flammen auf. 12
Während Angel mit dem Monster kämpfte, erschien plötzlich die Gestalt eines hoch gewachsenen Mannes im Türrahmen. Angels Meinung nach war er einfach wie ein Geist aus dem Nichts aufgetaucht. Obwohl seine Gesichtszüge von den Flammen verborgen blieben, konnte Angel seine schwarz gekleidete Silhouette erkennen. Der Mann sagte nichts, tat nichts. Er beobachtete nur. Als es Angel gelang, wieder seine Hände um den dicken Leib der Schlange zu legen, schnippte der Mann mit den Fingern. Darauf ver wandelten sich die Hautschuppen der Schlange in scharfkantiges Glas, das Angels Handflächen und Fingerspitzen zerschnitt. Mit einem durchdringenden Zischen bäumte sich die Schlange auf. Abgrundtiefe Bösartigkeit leuchtete in ihren Augen. »Ihr Arbeiter werdet hier drinnen verbrennen!«, schrie Angel. Der Mann ballte die Fäuste, streckte die Arme aus und spreizte die Daumen ab. Von seinen Knöcheln zuckten blaue, knisternde Flammen durch den kleinen Raum. Ohne einen Moment zu zögern, ließ Angel den Kopf der Schlange los und zog das Kinn ein. Die Augen auf das ultragrelle Leuchten der magischen Energie gerichtet, packte er die dicken Schuppen der Schlange und hielt sie vor sich, um sich vor dem Energieausbruch zu schützen. Sekunden bevor sie getroffen wurde, grub die Schlange ihre nadel spitzen Fänge in Angels Schädeldecke. Doch als die blaue Energie in ihren Körper eindrang, kreischte sie wütend auf und ließ von ihm ab. Angel gelang es auch, den zweiten magischen Angriff des Mannes mit dem Körper des Ungetüms abzuwehren. Schlangenfetzen klatschten auf den Boden, während sich Angel gerade noch rechtzeitig duckte, bevor eine weitere Salve aus blauen Flammen aus den Händen des Mannes hervorschoss. Angel warf sich zur Seite und suchte Deckung hinter einer Kleiderpuppe. Der Mann murmelte etwas in einer Sprache, die er nicht kannte. Dann pfiff eine Phalanx aus gebogenen, scharfen Messern wie eine Raketensalve durch die Luft und bohrte sich in die Kleiderpuppe. Aus den Öffnungen quoll Blut. Es kochte und rauchte. Wieder bewegte der Mann seine Hände und schuf etwas, das Angel als Nächstes angreifen sollte. Diesmal waren es nicht eine, auch nicht zwei, sondern gleich drei geflügelte Schlangen. Angel riss zwei der Messer aus der Kleiderpuppe und stieß damit nach zwei der Kreaturen. Sie kreischten und wanden sich wie Aale am Angelhaken, bevor Angel sie in die Flammen schleuderte, wo sie in 13
einem Schauer aus kleinen Stücken explodierten. Die dritte, noch immer unversehrt, segelte über Angels Kopf hinweg. Der Mann klatschte in die Hände, woraufhin sich ein menschlicher Totenschädel zwischen ihnen bildete, der mit glühenden Augen und klappernden Zähnen direkt auf Angel zuflog. Dieser stürzte sich auf den Schädel, packte ihn mit beiden Händen und schleuderte ihn zu Boden. Der Schädel kreischte wie ein gepfählter Vampir und explodierte, wie ein solcher, in einer Staubwolke. Die dritte Schlange nutzte diesen Moment, um Angel erneut zu attackieren. Diesmal ließ sie sich auf den heißen Boden fallen und schlängelte blitzschnell auf ihren Gegner zu, der erst im letzten Moment in die Luft sprang. Während die Schlange sich vom Boden abstieß und auf ihn zuflog, landete Angel sicher hinter ihr. Seine Stiefelabsätze bohrten sich durch die brennenden Dielenbretter, und er landete absichtlich auf dem Rücken, in sicherer Entfernung von der brüchigen Stelle. Die Schlange fiel durch das neu entstandene Loch im Boden, bevor auch sie explodierte und einen Schauer aus halb gekochtem Fleisch in alle Richtungen schickte. Einige Brocken landeten auf dem Ärmel von Angels schwarzem Ledermantel. »He«, protestierte der Vampir. Auf der anderen Seite des Raumes begann das Haar des Fremden zu rauchen. Licht umflackerte ihn und brachte seine Gesichtszüge zum Vorschein. Diesen nach zu urteilen war er Asiate, wahrscheinlich Malaie. Buschige Brauen über Augen, die wie schwarze Löcher aussa hen, gekrümmte Nase, fliehendes Kinn. Aus seiner Nase und seinen Augenhöhlen strömte schwarzer Rauch. Er hob eine Hand und zeigte auf Angel, während seine leeren, toten Augen, eingefasst in blasenwerfendes Fleisch, scharlachrot leuchteten. »Du«, sagte er, obwohl sich seine Lippen nicht bewegten, »Halb lebender. Diese Welt will dich nicht. Du wirst niemals sicher sein, und du wirst einsam sterben und vergessen werden. Mein Gott wird deine Seele essen.« Ein Feuersturm brauste durch das Zimmer, und kurz darauf wurde Angel von einem heulenden Wirbelwind aus Feuer eingeschlossen. Der Raum war nur noch ein rauchender Strudel aus Orange und Rot. Tentakel peitschten durch die Luft und griffen wie Finger nach ihm. Sie zerrten an seiner Kleidung, seinen Haaren, seinem Gesicht. Sein Mantelschoß ging in Flammen auf, und er löschte das Feuer mit den Händen. Seine Haut warf Blasen und selbst seine Augen wurden heiß. 14
Dann wurde das Feuer blau, sodass alles in dem Raumjetzt dieselbe leuchtende Farbe wie die knisternde Energie hatte, die von dem hoch gewachsenen Mann ausgegangen war. Das Blau flackerte, bevor es sich schließlich verhärtete und erstarrte. Überall bildete sich Eis. Wo eben noch Flammen getanzt hatten, knisterten und glitzerten jetzt Eiszapfen. Raureif überzog die Fenster und die toten Ratten, die überall herumlagen. Im Innern des Feuers tauchte genau an der Stelle, an der der Mann gestanden hatte, plötzlich eine schöne, schlanke Frau auf. Sie konnte nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein. Sie warf ihr blauschwarzes Haar hin und her, als würde sie unter einem Wasserfall tanzen, und Blätter aus Gold glitzerten und funkelten darin. Die Robe aus goldenem Stoff glänzte übernatürlich grell, und als sie mit ihren gekrümmten Händen langsame Bewegungen machte, schim merten Dutzende von goldenen Haarspangen. Sie hatte goldene Fin gernägel, die fast zehn Zentimeter lang waren, und Leggings aus dunk lerem Gold umschmiegten ihre festen Schenkel. Ihre Knie waren gebeugt und ihre Füße verkrümmt, während sie wie in Zeitlupe tanzte. Angel erinnerte es an siamesische Scherenschnittfiguren, deren ornamentierte Oberflächen für das verzauberte Publikum, das die mythischen Aufführungen zehn oder zwölf Stunden lang ohne Pause verfolgte, unsichtbar blieben. Und an exotische Länder, wo Männer in safrangelben Roben sich in Meditationen und Ritualen verloren. Er hörte Tempelglocken, das rhythmische Trommeln von Bambus auf Stein und den hellen, klaren Sopran eines jungen Mädchens. Er war an derartigen Orten gewesen, hatte an derartigen Orten gelebt. Langsam streckte sie ein Bein nach hinten und legte den Kopf zur Seite. Während sie ganz sacht ihr Gewicht verlagerte, malte sie einen Kreis in die Welt aus blauem Eis. Als sie sich drehte, entdeckte sie ihn. Und hörte auf zu tanzen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie öffnete den Mund und formte Worte, die er zwar nicht hören konnte, die er aber nichtsdestotrotz ver stand: Hilf mir. Langsam schmolz das blaue Eis und brachte einen Raum zum Vor schein, der wie ein versunkenes Wrack aussah. Wo die Flammen bis zur Decke gestiegen waren, gab es jetzt nur noch Aschehaufen und die verkohlten Überreste der Möbel. Das schwarz gewordene Gemälde einer fruchtbaren Berglandschaft löste sich von der Wand und landete in einer halb verbrannten Kiste. 15
Angel sah eine Ratte mit rauchendem Rücken, die über seinen Schuh huschte und verschwand. Von dem wunderschönen Mädchen fehlte jede Spur. Ebenso wie von dem magiekundigen Fremden. In der Ferne hörte Angel einen Schrei, der Sekunden später vom wilden Sirenengeheul der Krankenwagen und Feuerwehrautos übertönt wurde. Seine Schritte gingen in dem Lärm unter, als er durch den Raum stapfte und durch die Tür schoss. Er stürzte die Treppe hinauf, wobei er zwei, drei Stufen auf einmal nahm und jeden Moment damit rechnete, dass sie unter ihm nachgeben würden. Doch das taten sie nicht, und er erreichte unbeschadet den Trep penabsatz. Er rannte zur nächsten Tür, die verrußt war und rauchte wie die Wände ringsum. Hinter ihr schluchzte und klopfte jemand, doch als Angel die Tür öffnen wollte, war die Klinke glühend heiß. Plötzlich brach das Treppenhaus krachend in sich zusammen, was wie das Gebrüll eines riesigen sterbenden Dämonen klang. Das Schluchzen verwandelte sich in Schreie der Todesangst. »Alles okay!«, schrie Angel gegen den Lärm an. Er legte seine Schulter an die Tür und drückte mit aller Kraft, doch das Holz gab nicht nach. Also trat er zurück und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Das Holz splitterte, und im gleichen Moment drang Rauch heraus und traf ihn unvorbereitet. Er hustete und wich einen Schritt zurück, als eine Hand durch einen der Risse schoss und Angels Hosenbein packte. »Helfen Sie uns!«, hörte er jemanden flehen. Es war die Stimme einer jungen Frau. »Angel?«, rief eine zweite Frauenstimme. Sie gehörte Nira Surayanto, seiner Klientin, die ihn um Hilfe gebeten hatte und der Grund war, wieso er in dieser Nacht hierher gekommen war. »Nira?«, schrie er. »Bringen Sie uns hier raus! Wir kriegen keine Luft mehr!« Nira hustete laut. »Gehen Sie von der Tür weg!«, befahl Angel, bevor er sich gegen das Holz warf und es durchbrach. Das Zimmer war voller Rauch. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch den Nebel. Eine Hand umklammerte seine. Und plötzlich war er von mindestens einem halben Dutzend junger Frauen umringt, von denen keine älter war als achtzehn, sowie einer Horde Kinder. Sie zerrten an ihm und schrien, als würden sie ertrinken. 16
Rasch führte er alle hinaus auf den Korridor, während Nira noch immer seine Hand festhielt. Sie war etwa achtzehn, klein und dünn, mit schwarzen Haaren, die bis zum Kinn reichten. Ihre Jeans und ihr orangenes T-Shirt waren voller Ruß. Sie blickte zu ihm auf, wobei sich ihre Fingernägel in seinen Hand ballen bohrten, und brach in Tränen aus. Doch als zwei andere Frauen ebenfalls zu weinen begannen, wischte sich Nira die Augen ab und redete energisch auf die beiden ein. Fast augenblicklich kehrte Ruhe ein. Angel beobachtete, dass die Tränen ihre rußverschmierten Gesichter in monströse Masken verwandelt hatten. »Nira, brennt es dort drinnen?«, fragte er, während er sie an den Schultern packte und ihr ins Gesicht sah. Der Rauch, der aus dem Zimmer drang, umwallte sie in dichten, öligen Schwaden. »Ja.« »Sind alle in Sicherheit?« »Ja, pak«, versicherte sie nach einem schnellen Blick in die Runde. »Kommt«, drängte er, war sich jedoch bewusst, dass ihnen der Fluchtweg aus dem Haupteingang des Gebäudes versperrt war. In diesem Augenblick brach eine Gruppe von Feuerwehrmännern durch die Haustür. Einer von ihnen sah zu Angel hinauf und rief: »Nicht bewegen! Der Boden kann jeden Moment nachgeben. Mann, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.« »Glauben Sie an Wunder?«, fragte Nira Angel. »Manchmal schon«, antwortete der jahrhundertealte Vampir. Die Feuerwehrleute brachten eine große Leiter herein und lehnten sie an das obere Stockwerk, das bedrohlich ächzte. Sie beeilten sich, die Frauen herunterzuholen, ehe die Decke nachgab. Die Brandmeisterin winkte Angel herunter, doch der war der Ansicht, dass es keinen Sinn machte, die Überlebenden dem Risiko auszusetzen, hinabzustürzen, indem er den instabilen Treppenabsatz verließ, auf dem er stand, nur damit eine andere Person seinen Platz einnehmen konnte. Daraufhin warnte die Brandmeisterin ihn vor einem möglichen Leck in der Gasleitung, wodurch das gesamte Gebäude explodieren konnte. »Ihre Familie wird uns bis in alle Ewigkeit verklagen, wenn Sie mit in die Luft gehen.« »Ich habe keine Familie«, sagte Angel ausdruckslos. »Und ich gehe nirgendwohin.« Vielleicht erkannte sie, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten, denn sie nickte ihm nur kurz zu und fauchte dann: »He, Leute, bewegt eure Hintern. Wenn dieser Mann hochgeht, wird einer von euch dafür bezahlen müssen.« 17
Alle arbeiteten fieberhaft. Die Brandmeisterin gab den Feuerwehrleuten Befehle, während sich Angel um die Überlebenden kümmerte. Zwei von ihnen hatten eine Rauchvergiftung erlitten und mussten auf Tragen die Leiter hinuntergelassen werden. Ein kleines Mädchen, das sich am Rücken schwere Verbrennungen zugezogen hatte, kniff zwar die Augen vor Schmerz zusammen, weinte aber nicht. Angel hätte sich viel besser gefühlt, wenn sie nicht so tapfer und gefasst gewesen wäre. Er fand, dass es besser war, wenn sie ihre Angst herausließ, denn nur so konnte sie das Geschehene verarbeiten. Als Nira zu einem Krankenwagen gebracht wurde, ging Angel neben ihrer Trage her und sagte: »Ich werde später nach Ihnen sehen. Ich brauche Ihre Hilfe, um diesen Leuten das Handwerk zu legen.« »Nein«, keuchte sie, als sie die Sauerstoffmaske vom Gesicht ge nommen hatte. »Sie haben mich herausgeholt. Das ist alles, was ich von Ihnen wollte.« Sie hustete, bevor sie mit heiserer Stimme weitersprach. »Ich werde Sie bezahlen, sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Ich habe etwas Geld gespart, für meine Familie in der Heimat, und ...« »Das eilt nicht«, unterbrach er. »Aber die Sache ist noch nicht vorbei, Nira.« »Aber...« »Helfen Sie mir zu verhindern, dass dies noch anderen Menschen passiert«, bat Angel. Ihm war nicht klar, ob sie über den Einsatz von Magie Bescheid wusste, aber er wollte darüber nicht in der Öffentlich keit reden. »Sie hätten mich fast umgebracht«, krächzte sie. »Dieser Mann ... er kam die Treppe herauf, nachdem ich Sie angerufen hatte. Er sagte, wir würden großartige Opfer abgeben.« »Miss, behalten Sie bitte die Maske auf«, sagte einer der Sanitäter. Nira kam der Anweisung nach. Ihre großen Augen blieben auf Angel gerichtet, als man sie in den Krankenwagen hob. Und als dieser davonfuhr und sich langsam seinen Weg durch die Menge der Schaulustigen bahnte, die sich inzwischen eingefunden hatten, sah Angel ihm nach. Unter den Neugierigen befanden sich hohläugige Junkies sowie großäugige Kinder und Frauen aus der Nachbarschaft, die sich bekreuzigten, was ihm größeres Unbehagen bereitete als alles andere. Angel konnte nicht genau einschätzen, wie lange es dauerte, bis die Umgebung abgesperrt war. Das passierte Vampiren manchmal. Er lebte 18
schon so lange, dass Stunden manchmal wie Minuten vorbeiflogen, während andersrum Minuten auch schon mal zu einer Ewigkeit wurden... »Frage: Ignorieren Sie alle Police Officers oder nur die, die Sie ken nen?« Angel blinzelte und sah, dass Detective Kate Lockley vor ihm stand. Ihre blonden Haare waren zu einer improvisierten Gretchenfrisur verdreht, und sie trug einen khakifarbenen Regenmantel. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, aber das war egal, denn sie sah mit oder ohne gleich schön aus. In der Hand hielt sie einen Regenschirm. Angel blickte überrascht zum Nachthimmel auf und stellte fest, dass es regnete. Er hatte es nicht einmal bemerkt. »Nur die, die ich kenne«, erklärte er schließlich. Sie seufzte. »Ich habe Sie gefragt, was Sie hier machen.« »Ich genieße la vida loca.« Er wollte ihren guten Willen nicht auf die Probe stellen – sofern sie welchen hatte – und fügte deshalb schnell hinzu: »Eine der Überlebenden ist eine Klientin. Offenbar haben die Chefs dieser Schlepperbande die Mädchen – asiatische Immigrantinnen – mit dem Versprechen hierher gelockt, ihnen Englisch beizubringen und anständige Jobs zu verschaffen, um sie dann als billige Arbeitskräfte zu missbrauchen. Hauptsächlich als Näherinnen. Oder sie wurden an andere reiche Asiaten als Hausmädchen und Kellnerinnen verliehen.« »Und als Prostituierte?«, fragte Kate scharf. »Hat Ihre Klientin als Prostituierte gearbeitet?« Angel zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht, dass davon die Rede war.« »Haben diese Frauen eine Aufenthaltsgenehmigung? Oder sind sie illegal hier?« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Kate, regen Sie sich ab. Immerhin sind die Frauen in diesem Feuer fast umgekommen.« »Ich kann nicht einfach wegsehen, nur weil die Frauen einen schweren Tag hatten, Angel«, erklärte sie mit blitzenden blauen Augen. »Wir haben Gesetze in diesem Land. Die, was Sie vielleicht überraschen wird, dazu da sind, derartige Situationen zu verhindern.« »Sie haben Recht. Es überrascht mich.« Er wandte sich zum Gehen. »He.« Ihr Ärger nahm zu. »Seien Sie mir gegenüber nicht so selbst gerecht. Mein Job ist es, andere zu beschützen und für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen.« Angel fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er war müde und er war schmutzig. Und außerdem rückte der Morgen immer näher. 19
»Ich will Ihnen nicht weismachen, dass ich unsere Einwanderungs politik für fair oder gerecht halte«, fügte sie schnell hinzu. »Aber so ist nun mal die gültige Politik. Diese Leute wollen ein besseres Leben, aber wenn sie illegal in unser Land kommen, machen sie sich und ihre Kinder automatisch zu Opfern.« »Alles, was manche ›dieser Leute‹ wollen, ist leben. Und zwar ohne Hunger. Oder politische Verfolgung.« »Wollen Sie etwa bei der nächsten Wahl kandidieren?«, fauchte sie. Sie starrten sich an. Kate gab als Erste seufzend nach. Vielleicht war sie zu müde für eine Auseinandersetzung. Normalerweise gab sie nicht so schnell klein bei. »Wenn Sie mir den Namen dieser Frau nicht geben, dann werde ich ihn vom Krankenhaus bekommen«, sagte Kate, diesmal etwas sanfter. »Nira Surayanto. Sie rief an, weil sie von ihrem ›Aufseher‹ bedroht wurde, und es scheint, als habe er heute Nacht versucht, sie zu töten.« Er wünschte, er hätte länger mit Nira reden können. »Mit ihrem Anruf bei mir hat sie eine Menge riskiert.« »Ich bin froh, dass sie es getan hat«, sagte Kate schlicht. »Aber könn ten Sie in Zukunft vielleicht mich anrufen, damit ich eingreifen kann? Mir einfach Bescheid geben, wenn irgendetwas schief läuft? Dafür bin ich da, wissen Sie?« »In Ordnung, Commissioner Gordon.« Sie lächelte bei dieser Anspielung auf Batman. »Ich sehe ziemlich dumm aus, wenn Sie immer als Erster am Tatort sind.« »Sie sehen nie dumm aus, Kate«, entgegnete Angel und meinte es ehrlich. Sie seufzte und fuhr sich, vielleicht unbewusst, genau wie er mit den Fingern durchs Haar. »Was ist mit Ihnen los, Angel? Was machen Sie wirklich in Los Angeles?« »Ich bin auf der Suche nach dem großen Durchbruch«, sagte er. Alte Fragen, alte Lügen. Sie winkte ab. »Sie haben das Recht, nach Hause zu gehen und sich zu waschen, bevor Sie auf die Wache kommen, um Ihre Aussage zu machen.« »Heute Abend«, erklärte er. »Ich komme zu Ihnen und sage Ihnen alles, was ich weiß. Aber im Moment bin ich völlig erledigt. Geben Sie mir den Tag, um mich auszuruhen.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist eine sehr lange Zeit für die Aussage eines Augenzeugen.« »Das Feuer war schon ausgebrochen, als ich ankam«, warf er ein. 20
»Es gibt eine Leiche«, entgegnete sie ausdruckslos. »So seltsam es auch klingen mag, ich denke, dass sie womöglich das Feuer ausgelöst hat.« Er sah sie an. Sie schnaubte. Offenbar wollte sie ihm keine Details anvertrauen. »Hören Sie, ich habe ein paar merkwürdige Mordfälle, die möglicher weise mit diesem bezaubernden Vorfall hier in Verbindung stehen.« »Oh!« Er zog erwartungsvoll die Brauen hoch, doch sie schüttelte den Kopf. »So, wie ich das sehe, ist das nicht Ihre Angelegenheit.« »Zumindest solange mich niemand bittet, es zu meiner Angelegenheit zu machen.« »Was ich nicht tun werde«, sagte Kate mit Nachdruck. »Und sollte jemand anders auf Sie zukommen, erwarte ich, dass Sie mich infor mieren.« Angel salutierte müde und ging hinein in die Dunkelheit. Nicht in diesem Leben, dachte er. Die meisten Leute, denen Angel half, konnten aus verschiedenen Gründen nicht zur Polizei gehen. Cordelia nannte sie »die Hilflosen«, und Angel war ihre letzte Hoffnung. Und in gewisser Weise waren sie auch seine. Er warf einen Blick über die Schulter. Kate sah ihm frustriert nach, dann duckte sie sich unter das gelbe Band der Polizeiabsperrung und scheuchte die Cops herum, während sie mit der Brandmeisterin redete. Ihr Handy klingelte, und sie nahm das Gespräch entgegen. Eine Million Dinge auf einmal. Wie immer. Die Sonne war kurz davor aufzugehen; er konnte ihre Kraft selbst in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen spüren. Doyle würde jetzt aus den Clubs nach Hause schwanken, während Cordelia wahrscheinlich schlief und von Ruhm und Reichtum träumte. Wenn er sich recht entsann, hatte sie heute einen Vorsprechtermin. Es ist bloß ein weiterer zauberhafter Dienstag, dachte er, als er in sein Kabrio stieg und den Motor anließ. Derselbe alte Trott. Ich brauche ein Hobby. Oder Urlaub. Aber Angel, der einzige existierende Vampir mit einer menschlichen Seele, konnte sich weder das eine noch das andere leisten. Er war nach Los Angeles gekommen, um Frieden zu finden und seine Liebe zu Buffy Summers, der Vampirjägerin, zu vergessen. Doch das hatte er noch immer nicht geschafft. 21
Er fuhr durch die Straßen, lenkte seinen Wagen auf den überdachten Parkplatz und ging zu seinem Haus. Er musste so schnell wie möglich ins Innere, denn die Sonne musste jeden Moment aufgehen. Er schloss sein Büro auf, trat über die Schwelle und warf die Tür hinter sich zu. Rasch sah er sich um – das durchgesessene Sofa, die Schreibtische und Stühle, die ihn an einen alten Detektivfilm aus den dreißiger Jahren erinnerten Der Anrufbeantworter blinkte, und während er an das Gerät trat, ging ihm das Bild der goldenen Frau durch den Kopf. Er drückte auf die »Play«-Taste. »Ehm«, machte eine Frauenstimme. »Ich brauche Hilfe. Ich ...« Dann war ein Klicken zu hören. Die Anruferin hatte aufgelegt. Oder jemand anders hatte die Verbindung unterbrochen. Angel wählte die 69, nur um von einer ausdruckslosen Computer stimme darüber informiert zu werden, dass der Anruf nicht zurückver folgt werden konnte. Handy, dachte er. Wer immer sie auch war, er hoffte, dass sie noch einmal anrufen würde. Wenn sie konnte.
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Zweites Kapitel
In den letzten Minuten der Nacht Tief unter dem Anwesen, in dem Tempel, den Jusef Rais für Latura erbaut hatte, schrie ein junges Mädchen namens Julie Gonda auf und fiel zu Boden, als er ihr das Handy entriss und auf den Beton schleuderte. »Wen hast du angerufen?«, fragte Jusef scharf. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, und er hörte ihre leisen Schluchzer. Sie weiß, dass ihr Leben in meiner Hand liegt. Es gibt niemanden in ihrer Welt, der stärker ist als ich. Ich bin ihr Gott. Er packte sie an den Haaren, riss ihren Kopf zurück und zwang sie, ihn anzusehen. Die Angst auf ihrem Gesicht war das stärkste Aphrodi siakum überhaupt, aber obwohl er sie begehrte, würde er sie nicht berühren. Als Opfer für Latura war sie weitaus geeigneter. Latura. Er wusste nicht einmal, wie sein Gott aussah. Er, sein Vater und sein Vetter Slamet hatten versucht, einen Tempel zu bauen, der dem Herrn der Toten gefallen würde. Sie mussten Erfolg gehabt haben, denn der Gott gewährte ihnen weiter seine Gunst. Genauer gesagt, er gewährt mir seine Gunst, dachte Jusef zufrieden. »Er hat mir gesagt... er...«, krächzte Julie schließlich, brach jedoch plötzlich ab, als hätte sie erkannt, dass sie schon zu viel gesagt hatte. »Decha? Decha Sucharitkul?«, fragte er. Sie keuchte. Mit dem Absatz seines Schuhes zertrat er die Überreste ihres Handys, als ihm dämmerte, dass er es besser nicht getan hätte. Schließlich hätte er damit viel leichter herausfinden können, wen sie angerufen hatte. Und wie es ihr gelungen war, das Gerät unter der Erde zu benutzen. Nun, ich kann es mühelos aus ihr herausfoltern. »Ihr Verräter mit euren Pagern und Handys. Ihr seid wirklich Mitleid erregend.« Er zerrte heftiger an ihr, und sie schrie auf, als er dabei ein dickes Haarbüschel aus ihrer Kopfhaut riss. Um sie zum Schweigen zu bringen, kniete er sich auf ihre Brust. Sie hustete. »Decha hat dir gesagt, dass ich bei ihm war, nicht wahr? Er hat sich in ein Zimmer geschlichen, dich angerufen und dir gesagt, die Luft sei rein, 23
um sich hierreinzuschleichen und meinen Tempel zu entweihen, oder?« »Er war schon entweiht, als er gebaut wurde«, sagte sie mutig. Er dachte darüber nach. »Richtig.« Er und die anderen hatten den Tempel so gut sie konnten gebaut, doch da ihre Informationen sehr lückenhaft gewesen waren, mussten sie improvisieren. Sie nahmen an, dass der Gott der Toten Bilder des Todes in seiner heiligen Stätte verlangte, und sie hatten ihr Bestes getan, um diesen Wunsch zu erfüllen: Die Wände waren mit Darstellungen von Massenfolterungen, Hinrichtungen und Leichenbergen bemalt, alles Opfer von Katastrophen und Seuchen. Aufgeschichtete Totenschädel von Menschen und Tieren säumten die Wände wie Regale, Kerzen glommen in den Augenhöhlen. Auf den Schädeln lagen schriftliche Zauberformeln oder mandi, geschrieben auf Bambusstangen und Borke wie in alten Zeiten. Es waren Gebete, mit denen um Schutz oder Rache oder Hilfe bei der Suche nach Laturas Buch gebeten wurde. Und damit die Gedanken reale Formen annahmen, war das Blut ihrer Opfer über die Formeln gespritzt worden. Denn wie es in vielen Religionen hieß: Das Blut ist das Leben. Eimer mit Blut standen in den vier Ecken des Tempels, der aus gewachsenem Gestein gehauen worden war. Die ursprünglichen Besitzer des Anwesens, das aus den zwanziger Jahren stammte, hatten die unterirdischen Räume nicht genutzt. Laut Angabe des Maklers, der das drei Morgen große Grundstück an Jusefs Familie verkauft hatte, waren die Kavernen ursprünglich angelegt worden, um als Lager für schwarzgebrannten Alkohol zu dienen. Dieser Plan war jedoch nie ver wirklicht worden, und die Kavernen hatten seitdem leer gestanden. Was die Beleuchtung des Tempels anging, so war es Jusef nach eini gen Diskussionen gelungen, die anderen zu überzeugen, kein elektrisches Licht zu benutzen. Das begründete er damit, dass sich Latura in den alten Tagen den kannibalistischen Kopfjägern von Nias am nächsten gefühlt hatte, die Fackeln als Wärme- und Lichtquelle verwendet hatten. Feuer war für sie ein Gott, und deshalb würde es Laturas neuen Tempel erleuchten. Ruß schwärzte die pompöse Decke, die von indonesischen Künstlern in Form eines Brustkorbes gestaltet worden war. Die einzelnen Rippen reichten vom Scheitelpunkt des hohen Raumes bis hinter die aufgeschichteten Totenschädel. Der Opferaltar selbst war buchstäblich das Herz des Raumes. Ebenfalls aus Stein gehauen, war er mit Metall verkleidet – Jusefs einzige Konzession an die Veränderungen, die die Zeit Laturas Vermächtnis zugefügt hatte. Wenn die Opfer auf ihm verbrannt wurden, verstärkte das 24
Metall ihre Qualen. Und Qualen waren wichtig für Latura, zumal Schmerz und Angst die einzigen Gefühle waren, die ihm in der Unter welt zur Verfügung standen, da sie den Verdammten und den Sterbenden gehörten. Ein Abbild von Latura, Dämonengott der Schatten, umarmte den Altar. Auch bei dieser Darstellung ihres Meisters hatten sich Jusef und die anderen um Korrektheit bemüht, wenngleich sie nur vage Hinweise auf sein wahres Aussehen gehabt hatten und nicht wussten, wie nahe sie der Realität gekommen waren. In den Dschungeln von Java hatten sie den Erzählungen gelauscht, die seit der Ersten Dienerin von Generation zu Generation in Form von Liedern und Tänzen weitergegeben worden waren. Anhand dieser Legenden hatten sie in Stein gehauen, was sie für Laturas Gesicht hielten: einen Albtraum aus Narben, Wunden und einem breiten, klaffenden Maul. Sein gigantischer Kopf und die riesigen glühenden Augen überragten seine dreizehn Arme, die mit Kämmen aus scharfen, rostfreien Messern gespickt waren. Jusef wusch die Messer nie ab, sodass ganze Lagen aus verkrustetem Blut die Klingen überzogen. Er hatte gelernt, dass unter dem Verfall das existiert, was nicht rostet: das ewige Leben. Weitere Klingenkämme überzogen Laturas sieben gebeugte Beine, die in mit Schwimmhäuten und Klauen besetzten Massen aus Stein endeten. Außerdem hatte er einen gegabelten Schwanz und riesige Schwingen, die den Altar besitzergreifend umfassten. Maden und Insekten krabbelten Tag und Nacht über den Altar, auf dem sie über zweihundert Menschen hier geopfert hatten, und noch viele mehr daheim in Indonesien. Aber diese Gonda war dabei, das Werk zu zerstören, indem sie das Ritual der Reinigung begonnen hatte, das Jusef nicht kannte. Links vom Altar befand sich eine reine Stelle, die frei von Laturas unheiliger Macht war. Das bedeutete, dass ihre magischen Bemühungen Erfolg gehabt hatten, auch wenn sie sie nicht zu Ende führen konnte. Entweder hatte die Opposition mehr Bruchstücke des verschollenen Wissens über Latura gesammelt als er und seine Familie, oder sie besaß tatsächlich das Buch. Dieser Gedanke war fast unerträglich, aber wie sein Vater immer zu sagen pflegte: Rechne mit dem Schlimmsten und hoffe auf das Beste. So oder so würde er alles erfahren haben, was dieses Mädchen wusste, bevor es auf dem Altar starb. »Fassen wir noch einmal zusammen«, sagte er ruhig. »Ich nehme an, du hast unseren Freund Decha vor einiger Zeit angerufen, um dich zu 25
vergewissern, dass die Luft rein ist. Hast du ihn gerade angerufen, um ihn wissen zu lassen, dass du hier eingedrungen bist?« Sie nickte. »Ja.« »Lügnerin!«, schleuderte er ihr entgegen. »Ich sage die Wahrheit«, protestierte sie. Ihre Stimme bebte. »Bitte, Pak Rais, du musst mir glauben.« Er packte sie wieder an den Haaren und zerrte sie über den Steinboden. »Er ist tot«, sagte er ruhig. »Er ist schon seit Stunden tot. Als er sich weigerte, mir etwas Nützliches zu verraten, habe ich sein Herz entzün det.« Obwohl ihr die Tränen in die Augen traten, blieb ihr Gesicht starr wie eine Maske. Ihr Mut beeindruckte ihn. Er sagte: »Du kannst nicht mit einem Toten sprechen, ganz gleich, wie leistungsstark dein Handy auch sein mag.« Sie lächelte ihn tatsächlich an. »Du hast Recht«, sagte sie. Dann würgte sie plötzlich, und er starrte sie verdutzt an. Blut und Speichel benetzten ihre Lippen. »Nein!«, schrie er. Sie lächelte erneut. Und einen Moment später schoss Blut wie ein Geysir aus ihrem Mund und bespritzte ihn. Ein ganzer Schwall traf sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn, während ihr Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde. »Hör auf, hör auf damit!«, rief er. Auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus Triumph und Traurigkeit zu sehen, bevor ihr Körper schlaff wurde und ihre Augen ins Leere blickten. Sie war tot. »Latura, iss ihre Seele!«, kreischte er, während Speicheltropfen aus seinem Mund flogen. Er ließ die Leiche fallen und richtete sich auf. Vor seinem Gott ballte er die Fäuste und schüttelte sie. »Latura, zieh sie zu dir in die Hölle!« »Dafür ist es ein wenig zu spät«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit. Jusef fuhr herum. Ein blauer Lichtfunke tanzte in der Schwärze der Kaverne. Er wuchs und wirbelte herum, wobei er sowohl an Größe als auch an Geschwindigkeit gewann. Sein Vater erschien, umhüllt von blauer Energie. »Vater?«, fragte Jusef überrumpelt. »Wie ... wie ist das möglich? Bist du ein Geist?« 26
»Wenn du meinst«, entgegnete Bang Rais. »Du ahnst nicht, wozu ich fähig bin Jusef.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber ich wusste ziem lich genau, wozu du fähig bist. Manchmal.« Das blaue Leuchten erlosch. Bang Rais, einer der gefürchtetsten Menschen Asiens, bedachte seinen Sohn mit einem verächtlichen Blick. »Du dachtest, du könntest mich täuschen«, sagte er. »Du dachtest, du könntest mich belügen.« Mit einem bedrohlichen Ausdruck auf dem Gesicht trat er auf seinen Sohn zu. »Du dachtest außerdem, ich wäre in Djakarta und dass ich keine Ahnung hätte, dass du versuchst, mich um die Unsterblichkeit zu bringen.« »Nein, Vater«, sagte Jusef, während er zurückwich. »Wenn du irgend etwas gehört hast, dann ist es eine Lüge. Es sind meine Feinde, die ver suchen, Zwietracht zwischen uns zu säen.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Versuch nicht, deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Du hast Decha Sucharitkul getötet, als du ihm das Versteck des Buches entlocken wolltest. Und als das Apartment in Brand geriet, hast du keinen Gedanken an die Konsequenzen verschwendet.« »Es schien keine zu geben«, sagte Jusef kläglich. Sein Vater verengte die Augen. »Aber du wusstest nicht, dass dort Frauen waren, die einer unserer Aufseher oben eingesperrt hatte, weil er sie zu Prostituierten machen wollte. Eine von ihnen hatte bereits jemanden angerufen und um Hilfe gebeten. Diese Hilfe kam auch, und zwar rechtzeitig. Nur war sie kein Mensch, mein Sohn. Sondern ein Dämon.« Bang Rais starrte seinen Sohn an. »Da es mir nicht gelungen ist, den Dämon zu töten, wird er jetzt der Spur folgen, die du hinterlassen hast.« »Wer? Was für eine Art Dämon?« »Das ist für dich ohne Bedeutung. Denn du wirst sterben.« Jusef hob die Hände. »Vater, nein, du verstehst das falsch.« Bang Rais ging auf ihn zu. Er war groß und muskulös. Doch da ihn seine magische Reise in den Tempel – auf Wegen, die Jusef unbekannt waren – ausgelaugt hatte, war er im Moment sehr erschöpft. Das ist meine einzige Chance, mich zu retten, dachte Jusef verzweifelt. Aber was kann ich tun? Ich beherrsche die Magie nicht wie mein Vater. Ich weiß nicht einmal, wie diese Gonda es geschafft hat, ihr Handy hier unten zu benutzen. Dieses Mädchen ... Plötzlich hatte Jusef eine Idee. Die Reinigung. Er trat auf seinen Vater zu und sagte: »Vater, geht es dir nicht gut?« 27
Und im nächsten Moment packte er Bang Rais, der ihn überragte, und schleuderte ihn auf die Stelle, die Julie Gonda geweiht hatte. Es hieß – obwohl es nie überprüft worden war –, dass Latura jeden verließ, der auf heiligem Boden wandelte. Jusef hoffte, dass der Gott einen gereinigten Teil seines eigenen Tempels als heilig ansehen würde. Sein Vater war verwirrt. »Was machst du da?« Während er darauf achtete, dass er die gereinigte Stelle nicht betrat, zog Jusef einen Talisman aus der Tasche und hielt ihn vor sich. Es war eine Miniaturversion des Zeichens von Latura: ein brennendes Herz im Maul eines Dämonenschädels. »Gott der Mysterien, lass sein Herz erstarren«, sang er. »Damit es nicht mehr schlägt. Damit kein Blut mehr fließt.« »Jusef!«, schrie sein Vater ihn an. »Hör auf!« »Beende sein Dasein«, fuhr Jusef unbeirrt fort. »Er ist ein reines Wesen. Er ist ein Wesen des Guten. Fühle das Gute in ihm und vernichte es.« »Nein!« Gerade als Bang sich auf Jusef stürzen wollte, schrie er auf, griff sich ans Herz und kippte nach vorn. Mit einem dumpfen Klatschen schlug sein Gesicht auf dem Beton auf, dann quoll Blut heraus. Bang lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und rührte sich nicht. Jusef beobachtete ihn über eine halbe Stunde lang wachsam. Und als er überzeugt war, dass sein Vater tot war, lachte Bang Rais' einziger Sohn laut auf, bis sein Gelächter in Weinen überging. Später am Morgen Meg schluchzte noch immer, als Jusef das Tanzstudio in Venice Beach betrat, das nicht weit von ihrem Apartment entfernt lag. Dort probte die Band immer dann, wenn kein Tanzunterricht stattfand. Gitarren, Schlaginstrumente und ein Schlagzeug nahmen einen Teil des Raumes ein, der Rest wurde von den traditionellen Instrumenten der uralten Gamelanmusik von Bali in Beschlag genommen: der Ugal, einem xylofonähnlichen Instrument; Gongs, Trommeln, Becken und einer gangsa, das mit Hämmern gespielt wurde. Jusef, der vorher geduscht hatte, roch nach Sandelholzseife und Ko kosnussshampoo. Er trug schwarze Jeans, Cowboystiefel und ein schwarzes T-Shirt. Trotz ihres Nervenzusammenbruchs vergaß Meg einen Moment lang ihren Kummer, als sie ihn sah. Das Wort »Honig« kam ihr in allen Sprachen in den Sinn, die sie beherrschte: in Bahasa 28
Indonesisch, Englisch, ihrer javanischen Muttersprache und Nieder ländisch. »Meg, was ist los?«, fragte er zutiefst besorgt und kniete neben ihrem Stuhl nieder. Da der Rest der Band nach draußen gegangen war, um zu rauchen, waren sie ungestört. »Es hat ein weiteres Feuer gegeben«, sagte sie. In den zwei Wochen seit Olives Tod waren drei weitere Gebäude niedergebrannt. »Sie haben es in den Nachrichten gesagt.« »Und es hat in dir alles wieder aufgewühlt«, sagte er. Sie nickte. »Hat dich die Polizei erneut angerufen?«, fragte er. Sie hatten sie in zwei Fällen kontaktiert. Weil sie Olive kannte. Zumindest hatten sie dies als Grund angegeben. Doch Meg fragte sich, ob die Polizei über ihre Vergangenheit Bescheid wusste. »Nein. Aber derselbe Detective, die Frau, die mit mir gesprochen hat, war in den Nachrichten. Detective Lockley.« »Haben sie schon irgendwelche Hinweise?«, fragte er, während er ihre Schulter streichelte. Sie lehnte sich an ihn und spürte, wie die Muskeln seiner Brust gegen ihre Wangenknochen drückten. Es gab niemanden auf Erden, der so stark und mächtig war wie Jusef und der sich so gut um sie kümmern konnte wie er. »Davon war nicht die Rede. Es war ein Apartmenthaus im Textilviertel. In den Nachrichten hieß es, die Bewohner hätten dort unter schrecklichen Bedingungen gelebt. Der Mann, dem das Haus gehört, behauptet, er habe nicht gewusst, wofür es genutzt worden sei. Er habe es nur vermietet.« »Die Polizei hat nicht angerufen«, wiederholte er. Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte sie?« Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« Er lachte und fuhr sich mit der Hand durch das unglaublich seidige und volle Haar. Seine Wimpern waren lang und strichen über ihre Haut, als er seine Stirn an ihre drückte. »Es hieß, dass man den Opfern möglicherweise einen mit Benzin gefüllten Autoreifen um den Hals gelegt und ihn dann angezündet hat«, fuhr sie mit gepresster Stimme fort. »In Afrika soll diese Methode weit verbreitet sein.« »Es ist auch eine Hinrichtungsart im organisierten Verbrechen«, erklärte Jusef. »Bei Gangs hier in den Staaten ist sie auch recht beliebt. Ein ziemlich qualvoller Tod, wie ich gehört habe.« Sie schauderte. »Als ich aufwuchs, hieß es immer, Amerika sei ein gewalttätiges Land. Ich hatte ja keine Ahnung.« Er seufzte. »Ich hätte dich nicht hierher bringen dürfen.« 29
Sein reuevoller Tonfall rührte sie. »Aber Indonesien ist auch gefähr lich.« »Hätte mein Vater dort die Macht, dann könnte man um ein, zwei Uhr morgens allein spazieren gehen, ohne dass einem etwas zustößt«, sagte Jusef grimmig. »Die Welt fährt zur Hölle, Meg. Und Menschen wie mein Vater haben die Aufgabe, sie zu retten.« Indem er allen die Freiheit nimmt. Jeden einsperrt, der es wagt, den großen Bang Rais zu kritisieren, dachte sie. Aber das behielt sie für sich. »Ich werde dich beschützen«, versprach Jusef ihr. Dann hob er ihre Hand zu seinen weichen Lippen und küsste ihre Knöchel. »Du bedeutest mir alles. Es gibt auf der ganzen Welt niemanden, der so ist wie du.« »Klingt beinah glaubwürdig für mich«, murmelte sie, nur um seinen Widerspruch zu provozieren. »Es ist wahr. Ich weiß es ganz genau.« Er lächelte sie an. »Du bist ein zigartig. Unersetzlich.« Sie rümpfte die Nase und versuchte die schlimmen Erinnerungen zu verdrängen, indem sie sich auf ihn konzentrierte – so wie er es ihr beigebracht hatte. »Es klingt so, als wäre ich eine Mingvase«, entgegnete sie scherzhaft. »Oder ein anderes kostbares Gefäß«, erwiderte er. Dann stand er auf und zog sie hoch. »Bereit zum Arbeiten?« Sie nickte. »Das ist meine Meg. Ich hole die anderen wieder rein.« Er zog eine Zigarette aus einer Schachtel, die auf einem gelben, dreibeinigen Schemel lag. »Du kannst dir in der Zwischenzeit das Gesicht waschen.« Jusef ging durch den Raum zur Hintertür, wo die anderen rauchten. Meg warf noch schnell einen Blick in den Spiegel. »Gott, ich seh aus wie der Tod«, murmelte sie. Dann wandte sie sich ab und wusch sich das Gesicht.
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Drittes Kapitel
Später am Nachmittag »Mein Atem ist so frisch«, trällerte Cordelia Chase, während sie die Treppe des Cooper Buildings hinaufstieg. Sie befand sich im Textil viertel, mitten in Downtown Los Angeles - allerdings nicht, um auf Schnäppchenjagd zu gehen. Denn sich an schäbigen Ziegelsteingebäuden vorbeizudrücken und Kleidung in Läden anzuprobieren, in denen die einzige Umkleidekabine aus einer Decke bestand, die über ein Seil geworfen worden war, stand nicht gerade ganz oben auf ihrer Wunschliste. Früher habe ich nie auch nur einen einzigen Blick auf ein Preisschild geworfen, dachte sie bedrückt. Jetzt habe ich ständig Geldsorgen. Es war der trockene, heiße Nachmittag eines langen Tages, den Angel nicht gerade leichter gemacht hatte. Gerade als sie sich an diesem Morgen auf ihren Vorsprechtermin vorbereitete, hatte er angerufen und sie gebeten, seinen Anrufbeantworter zu überprüfen, während er den Tag über schlief. Er hatte irgendetwas von einem Feuer in der vergangenen Nacht und einem unterbrochenen Telefonanruf gemurmelt und dass es überaus wichtig sei, auf eventuelle Anrufe eines Mädchens namens Nira sofort zu reagieren. Gründe hatte er natürlich keine angegeben. Vielleicht bedeutet Nira, dass er über Buffy hinweg ist, dachte Cor delia und betrachtete das Gedränge in dem Geschäft zu ihrer Rechten. Er ist zwar erst ein paar Monate hier in L. A., aber, he, schließlich war er es, der mit Buffy Schluss gemacht hatte. Trotz der zunehmenden Verbreitung von Billigläden war das Textil viertel von L. A. noch immer berühmt, zumal es nach wie vor ein Para dies für Schnäppchenjäger war, die auf der Suche nach Armani und Hugo Boss und ähnlichen Edelmarken waren. Die Käufer wurden in Bussen hierher gekarrt – zum Teil sogar aus Las Vegas. Hoffentlich ist es die Reise wert. Für sie und für mich. Hoffentlich ruft Nira an, wenn es das ist, was er will. Und nur weil Angel erschöpft war, musste sie das Telefon im Auge behalten. Er hatte ihr erklärt, dass er nicht gut geschlafen habe und dringend eine Ruhepause brauche. Wieso? Stirbt er etwa, wenn er nicht genug Schlaf bekommt? 31
Aber vielleicht ist er am Ende doch noch nicht über Buffy hinweg. Um nett zu sein und, na ja, ihren Job zu behalten, hatte sie verspro chen, den Anrufbeantworter regelmäßig abzuhören –, auch wenn dadurch ihre Vorbereitungen für das Vorsprechen erschwert wurden. Aber wer für einen Superhelden arbeitete, musste wohl mit so etwas rechnen. Sie runzelte die Stirn, während sie all die verschiedenen Frauen und Mädchen beobachtete, die ihre Einkaufstüten abgestellt hatten und Spandex-Hosen anprobierten. Nein, nein und nochmals nein, dachte sie kopfschüttelnd angesichts der modischen Entgleisungen um sie herum. Wenn die Leute mehr Modezeitschriften lesen würden und Einkaufsberater hätten, käme es gar nicht erst zu all diesen Fehlgriffen. Sie sah sich einen Rock an, seufzte und hängte ihn wieder zurück. Schließlich hatte sie im Moment sowieso keine Gelegenheit, ihn zu tragen. Und auch diese Wildlederjacke war viel zu warm für das Klima in L. A. Aber wieder zurück zu Angel. Sie hatte getan, um was er sie gebeten hatte, obwohl dies für sie und ihre potenzielle Karriere nicht gerade von Vorteil gewesen war. Früher hätte sie alle Anrufe per Handy erledigt. Und Daddy hätte die Rechnung bezahlt. Es war ihr peinlich, das Münztelefon im Castingbüro zu benutzen, während alle anderen die Ohren spitzten, um sie, die Konkurrenz, einzuschätzen und vielleicht ein paar Hinweise auf andere Vorsprechtermine zu erhaschen. So etwas machte einfach keinen Spaß. Aber auch schon vorher war ihre Stimmung nicht gerade die beste gewesen. Sie hatte vom Santa Ana – einem heißen Wind, der durch die Canyons von L. A. pfiff und die Feuchtigkeit aus jeder Pore saugte – stechende Kopfschmerzen bekommen. Und, um die Wahrheit zu sagen, war sie außerdem ziemlich deprimiert, was vorkam, wenn man überall abgelehnt wurde. Sie empfand fast so etwas wie Mitgefühl für die Verlierer, die sie rou tinemäßig hatte abblitzen lassen, wenn sie sie im Bronze zum Tanzen aufgefordert hatten. Sie verließ das Cooper Building auf wunden, brennenden Füßen – diese blöden billigen Schuhe! – und schlenderte durch die Fashion Alley. Dort standen Ständer voller Kleider direkt auf der Straße, und der Körpergeruchspegel hatte aufgrund des dichten Gedränges einen neuen Rekordstand erreicht. Einige Touristinnen in übergroßen T-Shirts und Leggings – so out, selbst im Land des Out, das in diesem Fall wohl Michigan war – posierten für Fotos vor einem Gebäude, das etwas 32
malerischer als die anderen war. Die meisten von ihnen – die Gebäude, nicht die Frauen – waren Lagerhäuser und Fabriken aus Ziegelstein, die in den zwanziger Jahren erbaut wurden und von denen es wegen der Erdbeben nicht mehr viele in Südkalifornien gab. »Lasst uns im Pantry essen! Es gehört dem Bürgermeister«, sagte eine der Frauen, während Cordelia sich fragte, ob sie sich jemals in ihrem Leben wieder Urlaub leisten könne. »Mein Atem ist so frisch!«, sagte sie mit größtmöglicher Überzeu gung, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzusinken. »Aber davon abgesehen geht es mir sauschlecht.« Nach diesem Vorsprechen würde man sie bestimmt nicht zurückrufen. Der gelangweilte Blick der Castingagentin während des Vorsprechens hatte Bände gesprochen. Oder vielleicht war es auch die Art gewesen, wie sie Cordelia unterbrochen und »Die Nächste« gesagt hatte. Was ist es diesmal?, hätte Cordelia fast gefragt. Ist meine Nase zu groß? Ist sie zu klein? Irgendwas ist es immer in dieser Stadt. Sie blieb auf der Straße stehen und strich sich die Haare aus der Stirn. Ihre Waden taten weh und ihre Füße brannten. Blöde Schuhe. Es wäre sowieso nur ein dämlicher Werbespot gewesen. Es wäre ihr peinlich gewesen, darin mitzuspielen. In Sunnydale war ich diejenige, nach der alle anderen Mädchen an der Sunnydale High beurteilt wurden. Auf der Cordelia-Chase-Skala, die von eins bis zehn ging, war ich eine zwölf. Aber in Hollywood – nur zwei Stunden von ihrer Heimatstadt entfernt, aber im Grunde auf einem anderen Planeten – war sie nicht der Paradiesvogel, der von allen anderen gehasst wurde, weil er so schön war. Hier war sie eher das hässliche Entlein. Zumindest hatte ein Castingagent Cordelias Manager erzählt, ihre Brauen seien zu buschig. Ausgerechnet ihre Brauen, die absolut glatt waren. Nasen ließen sich operieren. Zähne ließen sich verschönern. Man konnte sich die Lider tätowieren lassen, Collagen in die Lippen spritzen, das Fett am Kinn absaugen, die Brust vergrößern, das Gesicht liften oder gleich den ganzen Körper aufmöbeln lassen. In Los Angeles konnte man fast alles mit seinem Körper machen – sofern man das nötige Kleingeld hatte –, um sein Aussehen zu verbessern. Oder es mit Piercings und ähnlichen Dingen zu verschlechtern. Also musste sie annehmen, dass es nicht an ihrem Körper lag, da sie eigentlich hinreißend aussah und nur allzu bereit war, sich Schönheits operationen zu unterziehen. Die Ablehnungen waren auch nie mit ihrer 33
mangelnden Schauspielkunst begründet worden, sodass es etwas sein musste, das die Castingagenten nicht in Worte fassen konnten. Sie jedoch konnte es. Es liegt an meiner Kleidung. Früher – in Sunnydale, als ihre Eltern noch nicht ihr ganzes Geld an das gierige Finanzamt verloren hatten, das zweifellos genug andere Leute kannte, denen es Geld abknöpfen konnte, um das lächerliche Defizit auszugleichen, das durch die Steuerhinterziehung ihres Vaters entstanden war –, früher war sie aus vielerlei Gründen einkaufen gegangen. Zum Spaß. Um den hohen Standard aufrechtzuerhalten, den sie gesetzt hatte. Oder um das Modeniveau an der Sunnydale High zu heben (was nicht gerade schwer gewesen war). Sie war außerdem einkaufen gegangen, weil – seien wir ehrlich – der Umgang mit Buffy und dem Rest der Scooby Gang ihre Garderobe arg in Mitleidenschaft gezogen hatte. Sie wusste nicht, wie viele schöne Kleidungsstücke sie weggeworfen hatte, weil die Blutflecken nicht mehr herausgegangen waren. So gesehen konnte man sagen, dass Buffy und Willow mit ihren schäbigen Klamotten besser dran gewesen waren, denn schließlich waren Dämonenschleim und Monstereingeweide aus Polyester viel leichter zu entfernen als aus Naturfaserstoffen. Und wenn nicht, konnte man die Sachen einfach entsorgen, ohne dass es einem Leid tun musste. Aber jetzt, wo sie es mit Leuten zu tun hatte, die wichtig für sie waren und die sich in der Mode genauso gut auskannten wie sie, hatte sie nicht das Geld, um sich so zu kleiden, dass sie als Millionärin durchgehen konnte. Eigentlich hatte sie nicht einmal das Geld, um wie eine Sozialhilfeempfängerin auszusehen. »Ich kann mir nur Klamotten leisten, die vor zwei Jahren in Mode waren und jetzt in irgendwelchen Secondhand-Läden hängen«, murmelte sie vor sich hin, als sie eine grellgrüne Seidenbluse von einem überfüllten runden Kleiderständer nahm, an dem ein Pappschild mit der Aufschrift TIEFSTPREISE hing. Kein Wunder, das würde sonst auch niemand kaufen. Das ist die hässlichste Farbe, die ich je gesehen habe. Darin würde ich wie ein Zombie aussehen. Und ich weiß, wovon ich rede. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als hübsche neue Kleidung, elegante Schuhe und die Möglichkeit, einen Einkaufsbummel zu machen, wenn ihr danach war. Einkaufen war nur eins der vielen Vergnügen, die sie sich nicht mehr leisten konnte, und es 34
erinnerte sie jedes Mal daran, dass sie auf der Überholspur ins Nichts war. »Oh nein, bitte, nicht«, sagte ein Mann. Cordelia fuhr zusammen und blickte auf. Wow, dachte sie, während sie verblüfft blinzelte. Hallo, was für eine Augenweide. Der junge Mann, der ihr die Bluse aus der Hand nahm, bot schlichtweg einen überwältigenden Anblick. Er schien Mitte zwanzig zu sein und war trotz seines lässigen Auftretens extrem gut gekleidet. Cordelia hatte einen Blick für edle Kleidung und wusste, wann sie ein Fünfzig-DollarT-Shirt vor sich hatte. Seine schwarze Jeans saß hauteng und seine abgewetzten Cowboystiefel passten perfekt dazu. Er roch nach Geld und einem Hauch Bijan for Men. Hoch gewachsen, mit makelloser, kakaobutterbrauner Haut und einem Gesicht, das so ausdrucksstark und fein geschnitten war wie das von Brad Pitt. Unter seinen kurzen, stacheligen schwarzen Haaren lagen dunkelbraune, mandelförmige Augen. Er hätte wie Harrison Ford ausgesehen, wenn Harrison Ford Mitte zwanzig und in Japan geboren worden wäre. »Diese Farbe passt überhaupt nicht zu Ihrem Teint«, sagte er. Während er freundlich lächelte, um seine Kritik zu entschärfen, streifte er die Bluse wieder über den Bügel und hing sie zu den anderen hässlichen Blusen und Pullovern zurück an den Ständer. »Äh«, machte sie, viel zu fasziniert, um einen vernünftigen Satz von sich zu geben. Wurde hier etwa gerade die Cordelia Show gedreht? Oder war sie gestorben und gen Himmel gefahren? Er legte den Kopf zur Seite. »Vous me comprenez?« Er ist Franzose, dachte sie entzückt. Oh, wieso habe ich Französisch nur für eine tote Sprache gehalten und mir die Fingernägel nicht in einem anderen Kurs lackiert? »Äh, ich bin Amerikanerin«, antwortete sie auf Englisch. Mit leichtem Akzent sagte er in ihrer Muttersprache: »Tut mir Leid, dass ich so offen war. Aber meine Familie ist in der Bekleidungsbranche, und ich kenne mich mit so was aus.« Er zuckte die Schultern. »Aber natürlich ist es Ihre Entscheidung.« Er neigte kurz den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Warten Sie!«, rief sie. »Ich wusste, dass mir diese Farbe nicht steht.« Sie räusperte sich und wies auf den Ständer. »Da ist zu viel Gelb drin.« Er strahlte. »Zu viel Gelb.« »Ich würde darin wie eine Leiche aussehen.« »Es wäre ein Desaster.« Er lächelte und legte die Handflächen nach asiatischer Sitte aneinander. »Ich bin Jusef Rais.« Er sagte es, als musste 35
sie ihn kennen. Wäre er eine bekannte Größe in der Unterhal tungsindustrie gewesen, hätte sie ihn auch gekannt. Schließlich las sie jeden Tag Ted Casablancas E! Online-Klatschreport an Angels Com puter. »Hi.« Sie wollte seine Geste schon nachahmen, sagte sich dann aber, dass es künstlich wirken würde, und lächelte nur. »An dem ganzen Ständer gibt es nichts, das Ihnen steht«, sagte er. »Das sind Sachen für Bankkassierer.« Er rümpfte die Nase. »Oder Büroangestellte.« Kein Grund zu erwähnen, dass ich Sekretärin bin, dachte sie. Vor allem, da ich den Job nur angenommen habe, um Angel zu helfen. Und, okay, damit ich essen kann. »Sie sind hier, um ...?«, fragte sie. »Jemanden zu treffen.« »Oh.« Sie war enttäuscht. Hätte ich mir denken können. Er lächelte. »Und das habe ich auch.« Volltreffer, dachte Cordelia glücklich. Endlich! »Kaufen Sie hier oft ein?«, flirtete sie. Er lachte leise. »Nein. Aber uns gehören eine Menge Läden in der Gegend. Ich komme hin und wieder her, um nach dem Rechten zu sehen.« Eine Menge Läden? Davon? Trotz ihrer Euphorie rümpfte sie die Nase. »Um nach dem Rechten zu sehen? Indem Sie den Leuten abraten, etwas zu kaufen?« »Das könnte man sagen. Ich habe Sie davon abgehalten, diese Bluse zu kaufen, nicht wahr?« »Wie ich schon sagte«, verteidigte sie sich, »ich wusste, dass sie mir nicht steht.« »Sie sollten einmal unseren Ausstellungsraum besuchen«, fuhr er fort. »Wir sind auf indonesische Stoffe spezialisiert. Und Batik wird jetzt wieder aktuell.« »Ja.« Sie nickte, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was »Batik« war. »Es ist wirklich, äh, schön. Ich finde es toll.« »Wir lassen es von unseren Mitarbeitern hier herstellen.« Hier im Gegensatz zu wo? »Toll«, sagte sie begeistert. Er legte den Kopf zur Seite. »Sie sind Schauspielerin, nicht wahr? Ich habe Sie irgendwo schon einmal gesehen.« »Wahrscheinlich nicht. Ich habe eine Menge Indie-Sachen gemacht.« Erklärend fügte sie hinzu: »Independent-Filme. Was man in Programmkinos sieht.« Wenn überhaupt. »Aber keine, äh, Sie wissen schon, Filme über Lesben und Ähnliches.« 36
»Wir haben ein kleines Studio in Indonesien. In Djakarta.« »Oh.« Sie zog die Brauen hoch. Ein Studio? Er besitzt ein ganzes Studio? In Indonesien ... wo zum Henker liegt Indonesien? Dort wird es wohl keinen Club Med geben, sonst hätte ich davon gehört. Wer hätte denn ahnen können, dass ein paar der nutzlosen Fakten, die man in der High School lernt, sich irgendwann doch als nützlich erweisen würden? Wie Französisch. Oder Geografie. »Haben Sie irgendwelche Filme gemacht, die ich vielleicht gesehen habe?«, fragte sie ihn. »Eigentlich nicht.« Er grinste sie an. »Wir produzieren eine Menge Indie-Sachen, wie Sie sagen, nur eben in anderen Sprachen. Mandarin. Tagalog. Und natürlich Bahasa-Indonesisch.« »Oh, natürlich.« Sie nickte, als wusste sie, wovon er sprach. »Das ist die volle Wahrheit, und ich versuche auch nicht, Sie zu beeindrucken. Ich bin sicher, dass sie ständig irgendwelche Kerle treffen, die behaupten, in der Filmbranche zu sein.« »Oh, natürlich«, antwortete sie leichthin. »Auf jeder Party. Sie wissen ja, wie das ist.« Genau, die Partys, auf die sie nicht mehr gehen konnte, weil sie jetzt für Angel arbeitete. Der ja nur nachts arbeiten konnte, wenn die Partys stattfanden. »Vielleicht könnten Sie für uns arbeiten.« Er griff in seine Tasche und reichte ihr eine Visitenkarte. Dabei berührten sich ihre Finger, sodass sie die Karte beinahe fallen gelassen hätte. Das hat geknistert. Entweder ist es ein knochentrockener Tag, oder ich bin elektrisch geladen. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er es auch gespürt. Cordelia senkte den Blick und betrachtete die Karte, um ihre Reaktion zu verbergen. Früher konnte ihr in puncto Coolness niemand das Wasser reichen, doch aufgrund der Tatsache, dass sie in Los Angeles ignoriert wurde, war sie ein wenig aus der Übung geraten. Die Schrift auf der Karte war golden und nur schwer zu lesen. Da war eine Art Hahn oder etwas Ähnliches abgebildet. Sie entschied, sie später genauer unter die Lupe zu nehmen, und warf sie in ihre Handtasche. »Nun«, sagte Jusef und sah sich um. »Es sieht so aus, als würde mein Vetter nicht kommen.« Seine Stimme hatte jetzt einen Unterton, der vorher nicht da gewesen war. Er verengte die Augen und schaute miss billigend um sich. »Ich habe Sie vom Einkaufen abgehalten«, fügte er schließlich hinzu. »Nein, das ist schon okay«, wehrte sie ab. »Wie Sie schon sagten, hier gibt es eigentlich nichts Vernünftiges und ...« Sie riss die Augen auf. 37
Er trug eine Rolex. Eine wunderschöne, teure Rolex. Als ihr dämmerte, dass er bemerkte, wie sie die Uhr anstarrte, sagte sie hastig: »Oje, wie die Zeit vergeht. Es ist fast Sonnenuntergang.« »Ihr Filofax ruft«, entgegnete er und schwieg für einige Sekunden. Als er kurz darauf wieder in den Flirtmodus umschaltete, funkelten seine Augen. »Haben Sie eine Verabredung?« Schön war's. Das Gespräch mit ihm war alles, was sie in den letzten Monaten an Verabredungen vorzuweisen hatte, sofern man ihr zufälliges Zusammentreffen als solche bezeichnen konnte. Es muss an meiner Kleidung liegen. »Slamet, da bist du ja«, sagte Jusef, als ein junger Mann auf sie zueilte. »Jusef, wo zum Teufel hast du gesteckt?«, wollte der Neuankömmling wissen. »Ich habe hier gewartet, wie verabredet.« »Hör bloß auf. Wir wollten uns doch am Haupteingang treffen.« Cordelia starrte ihn an. Er hätte fast Jusefs Zwillingsbruder sein kön nen – was bedeutete, dass er unglaublich gut aussah –, nur mit dem Unterschied, dass er ziemlich fertig zu sein schien. Seine Augen waren geschwollen – vom Weinen, vermutete sie –, und sein wirklich schöner blaugrauer Anzug sah aus, als hätte er damit an einem Spinnkurs teil genommen. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein«, sagte der Neue – Salami? – mürrisch, bevor er abbrach und Cordelia anstarrte. »Mein Gott, sie sieht genau wie Meg aus«, entfuhr es ihm. Jusef zuckte die Schultern. »Ein wenig. Und mir fällt gerade ein, dass ich noch nicht mal Ihren Namen kenne.« »Cordelia Chase«, informierte sie ihn und Salami. »Schauspielerin«, fügte Jusef hinzu. »Oh«, meinte Salami ohne rechten Schwung. Nach einer Pause sagte Jusef: »Mein Vater ist heute gestorben.« Was dir egal zu sein scheint, dachte sie. Doch da es die Etikette ver langte, legte sie ihre Hand an die Brust und sagte: »Das tut mir schrecklich Leid. Ehrlich.« Er machte ebenfalls ein trauriges Gesicht. »Mein Dad war schon recht alt. Aber es ist immer schockierend, wenn der Tod eine Seele aus dem Leben reißt. Sie wissen, was ich meine?« »Äh, ja.« Sofern es keine Monsterseele ist. Obwohl die meisten von ihnen keine Seele haben. Was wohl einer der Gründe ist, wieso sie Monster sind. Abgesehen von ihrem Hang, Menschen umzubringen. Er betrachtete sie aufmerksam. »Was weiß jemand wie Sie schon vom Tod?« 38
Hast du ein paar Stunden Zeit?, dachte sie, aber das behielt sie für sich und sagte stattdessen: »Sie wären überrascht.« »Wir müssen gehen«, erklärte Salami. Cordelia wandte sich an Jusef. »Es war ... nett... mit Ihnen über hässliche Klamotten zu plaudern.« Jusef ergriff ihren Ellbogen und führte sie ein paar Schritte weiter. »Am Begräbnis meines Vaters dürfen nur die nächsten Verwandten teilnehmen«, sagte er. »Aber kann ich Sie vielleicht zum sedhekah einla den?« Sie zögerte. »Ich schätze, das hängt davon ab, was das ist.« »Es ist ein traditioneller Leichenschmaus, mit dem man dem Ver storbenen seinen Respekt erweist.« Er streckte eine Hand aus. »Da wir ziemlich verwestlicht sind, gibt es auch noch einen großen Empfang für die Geschäftspartner meiner Familie. Beides wird auf unserem Anwesen stattfinden.« »Ihrem Anwesen«, wiederholte sie langsam. »In Indonesien laden wir jeden zum Begräbnisempfang ein. Je mehr Gäste kommen, desto größer ist nämlich die Ehre der Familie. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie kämen«, erklärte er. »Zur Beerdigung Ihres Vaters.« »Ja.« Er meinte es ernst. »Nun ja.« Sein Lächeln, bei dem er leicht die Nase kraus zog, war hinreißend. »Ich würde mich geehrt fühlen.« Komm schon, sag zu, dachte sie. Kostenloses Essen und gut ausse hende Männer. Gut aussehende Männer, die Filme machen und Geschäftspartner und ein Anwesen haben. So verrückt ist es nun auch wieder nicht. Richtig? »Ich werde meinen Chef fragen müssen, ich meine, meinen Agenten«, sagte sie. Erfolgreiche Schauspielerinnen arbeiteten nachts nicht als Sekretärinnen. »Sie sind ein umsichtiges Mädchen. Das gefällt mir.« Erwies auf ihre Handtasche. »Meine Telefonnummern stehen auf der Karte. Auch die von meinem Handy.« Er klopfte auf seine Hemdtasche, und sie sah, dass sie leicht gewölbt war, was zweifellos an einem hochmodernen Mobiltelefon lag. »Wir haben noch mindestens drei Stunden bis zum sedhekah. Slamet und ich müssen jetzt nach Hause, um die Leiche für das Begräbnis zu waschen.« Iiih. So genau wollte ich es gar nicht wissen, dachte sie. 39
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie noch nie einen Toten gewaschen hatte. Zwar hatte sie vor einiger Zeit die Einzelteile einer Leiche wie ein Puzzle zusammengesetzt, und daheim in Sunnydale fand man schließlich Tote an den abwegigsten Stellen – im Kühlraum der Cafeteria, in Auras Turnhallenspind, auf dem Rücksitz ihres Wagens. Aber eine zu waschen war etwas Neues für sie. »Es ist ein Ritual«, erklärte er ihr. »Meine Familie legt sehr großen Wert auf Rituale.« »Ich verstehe«, brachte sie matt hervor. »Rufen Sie mich in drei Stunden an«, schlug er vor. »Dann dürften wir fertig sein. Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen einen Wagen, der Sie abholt.« Etwa eine Limousine? Sind wieder die glücklichen Zeiten angebro chen? »Ich bin eine Fremde«, erinnerte sie ihn. »Ich meine, das ist schließlich eine Art Familienangelegenheit« – die Angelegenheit einer reichen Familie, also halt die Klappe! – »und was soll ich überhaupt anziehen?« »Etwas Schwarzes, wenn Sie so etwas haben.« Er sah sie auf eine Weise an, die ihre Wangen brennen ließ. »Sie müssen in Schwarz wun dervoll aussehen.« »So ist es«, bestätigte sie. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. Seine Fingernägel waren makellos. Ein paar Meter weiter, knapp außer Hörweite, ging Salami ungeduldig auf und ab. Er schien stinksauer zu sein. Vielleicht ist er eifersüchtig, dachte sie hoffnungsvoll. Oder vielleicht glaubt er, dass die Familie mich verfluchen wird, wenn ich bei der Neil-Sedaka-Feier auftauche. »Ich könnte etwas Aufheiterung gebrauchen«, fügte Jusef hinzu. »Ich bin sozusagen das schwarze Schaf der Familie.« »Oh. Nun ja. Ich bin ein heiteres Mädchen, wie jeder bestätigen wird, der mich näher kennt.« Sie streckte ihre Hand aus. »Ich werde mein Bestes tun.« »Danke.« Er schenkte ihr das Lächeln eines traurigen Jungen. »Ich weiß nicht, ob Sie an Karma glauben, aber ich tu's.« »Ich weiß nicht genau.« Sie hob die Schultern. »Manchmal scheint es so, als hätten manche Leute mehr Pech als andere.« Wie ich mit meiner Schauspielkarriere. »Und Glück auch«, fügte sie hastig hinzu, denn natürlich war es das, was er gemeint hatte. »Lassen Sie uns herausfinden, ob unsere Begegnung Glück war. 40
Ich halte es nicht für einen Zufall, dass Sie diese grauenhafte Bluse genommen haben in dem Moment, als ich Sie sah.« Er nahm ihre Hand. Salami winkte ihm zu. »Jusef, wir müssen gehen.« »Schon gut, Slamet«, nickte er. »Oh, er heißt Slamet«, murmelte sie. »Das bedeutet ›Glück‹ auf Indonesisch.« »Mein Name bedeutet Cordelia.« Jusef sah sie forschend an, und sie hatte das Gefühl, in seinen aus drucksvollen braunen Augen zu schwimmen. »Ich hoffe, Sie rufen an.« »Okay«, krächzte sie. »Geben Sie uns drei Stunden«, bat er sie. »Ich werde das Handy bei der Beerdigung abschalten.« Sie nickte leicht überrumpelt, bevor sie ihm »Viel Glück« wünschte. Dann machte sie, so lässig wie möglich, auf ihren superhohen Absätzen kehrt und ging davon. Ich habe eine Verabredung zu einem Begräbnis. So was ist nur in L. A. möglich, dachte sie. Und natürlich in Sunnydale, aber in dem Fall wären die beiden verkleidete Dämonen oder so. Sie warf einen Blick über die Schulter und war ein wenig enttäuscht, als sie sah, dass sie in der entgegengesetzten Richtung verschwanden. Allerdings war es ohnehin Zeit für sie, ins Büro zu gehen, denn Angel würde in Kürze aufwachen, und sie wollte herausfinden, ob seine Nira ihn angerufen hatte. Und wer sie eigentlich war. Auf halbem Weg zur Bushaltestelle – es war demütigend, in Los Angeles kein Auto zu haben –, spürte sie einen Ruck an ihrer Hand tasche. »He«, rief sie und fuhr herum. Sie senkte den Blick und sah ein kleines Mädchen, das seine kleine Hand in ihre Handtasche gesteckt hatte. Erst jetzt bemerkte Cordelia, dass sie den Reißverschluss nicht zugezogen hatte, als sie Jusefs Karte hineingeworfen hatte. Mit einem ernsten Blick starrte die Kleine Cordelia an. Ihr Gesicht war mondförmig und ihre Augen glichen zwei dunklen Sicheln. Ihr langes schwarzes Haar war zu zwei Zöpfchen geflochten und ihre Schneidezähne fehlten. Mit den himbeerroten Shorts und dem ärmellosen Batikoberteil sah sie ganz niedlich und überhaupt nicht wie eine Diebin aus. Langsam zog das Mädchen seine Hand zurück. »Wolltest du was aus meiner Handtasche klauen?«, fragte Cordelia barsch. Die Kleine starrte sie weiter an. Cordelia runzelte die Stirn. »Kannst du mich verstehen?« 41
Sie starrte immer noch, was Cordelia auf die Nerven ging. »Mach das ja nie wieder. So was darf man nicht. Du handelst dir damit nur eine Menge Ärger ein, und die Polizei wird dich ins Gefängnis werfen. Böses Mädchen«, sagte sie und zog demonstrativ den Reißverschluss ihrer Handtasche zu. »Nein, nein.« Sie drohte der Klei nen mit dem Finger und ging weiter. Nach etwa fünf Sekunden sah sie sich um. Die Kleine starrte ihr noch immer nach. Dann gesellte sich ein Junge zu ihr, der nur etwas größer war als sie und ebenfalls ein Batik-T-Shirt trug. Er verpasste er dem kleinen Mäd chen eine schallende Ohrfeige. Die Kleine wich zurück, blieb aber stumm. »He!«, schrie Cordelia. Das Mädchen drehte sich wieder zu Cordelia um, während Blut an ihrem Kinn hinunterlief. Der Junge zog an ihrem Arm und schrie etwas in einer fremden Sprache. Als sie nicht reagierte, schlug er sie wieder. Und während das Blut auf ihr farbenprächtiges Top tropfte, blieb ihr Blick weiter auf Cordelia gerichtet. »Hör auf damit, du Rowdy!«, schrie Cordelia. Sie rannte auf die bei den kleinen Kinder zu, doch eine entgegenkommende Passantin – eine gebeugt gehende Frau mit kurz geschnittenen grauen Haaren – versperrte ihr den Weg. »Verzeihung«, sagte Cordelia aufgeregt und drängte sich an ihr vorbei. Die beiden Kinder waren verschwunden, hatten sich praktisch in Luft aufgelöst. Verdutzt blickte sich Cordelia nach allen Seiten um. Sie konnten unmöglich weggelaufen sein. Sie hätte sie gesehen. Die grauhaarige Frau streckte eine Hand aus und sagte: »Geld?« Sie hatte mandelförmige Augen und ein rundes Gesicht. Sie sah erschöpft und verhärmt aus. »Ich habe nur das Geld für meinen Bus«, erwiderte Cordelia. »Du reiches Mädchen«, sagte die Frau anklagend und streckte weiter ihre Hand aus. »Gib mir Geld.« »He, verschwinde.« Cordelia trat einen Schritt zurück. »Ich habe kein Geld, okay? Nur Kleingeld für den Bus.« In diesem Moment tauchten die beiden kleinen Kinder aus dem Nichts auf und rannten auf Cordelia zu. Und während diese die zwei anstarrte, packte die alte Frau ihre Handtasche, klemmte sie unter ihren Arm wie eine Footballspielerin und verschwand mit erstaunlicher Geschwindigkeit in einer Gasse. Die beiden Kinder folgten ihr schnell und anmutig wie kleine Gazellen. 42
»He!«, schrie Cordelia. Sie trippelte auf ihren hohen Absätzen hinterher, doch ihr war klar, dass sie entweder ihre Handtasche verlieren oder sich die Fußknöchel brechen würde. Sie blieb stehen und streifte ihre Schuhe ab. Und als sie den drei Gestalten so graziös nachsetzte, wie sie es auf der Modelschule gelernt hatte – damals, als sich ihre Eltern derartige Dinge noch leisten konnten –, waren diese schon fast aus ihrem Blickfeld verschwunden. »Ihr habt mein Busgeld!«, brüllte sie. Sie lief an einem völlig verdreckten Mann mit leeren Augen vorbei, der sie stumm ansah, und funkelte ihn an. »Helfen Sie mir!« »Hamse was Kleingeld für mich? Ich bin Veteran«, sagte er. Sie stürmte an ihm vorbei. Straßenschmutz verdreckte ihre Strümpfe. Sie musste würgen, lief aber weiter. Als sie Glasscherben vor sich glitzern sah, verlangsamte sie ihren Schritt und spähte in die Gasse. Da war nichts zu sehen außer Dunkelheit und nichts zu hören außer dem schmutzigen Mann, der hinter ihr herschlurfte. »Hamse was Kleingeld?«, fragte er. Sie musterte ihn. »Nein«, sagte sie. »Aber ich wette, Sie haben was.« Sie streckte ihre Hand aus. »Geben Sie mir fünfunddreißig Cents.« Der Mann blinzelte. In diesem Moment gellten die Schreie los.
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Viertes Kapitel
»Wie wir im alten Land zu sagen pflegten«, brummte Doyle Angel zu, während die beiden in Angels Büro standen, »igitt.« In der Dämmerung war Angel hochgeschreckt, nachdem er die wirren Träume von der Hölle, dem Feuer und der tanzenden, in Gold gekleideten Frau gehabt hatte. Und von dem Chihuahua aus den TacoBell-Werbespots hatte er geträumt. Jetzt betrachteten er und Doyle gerade die Autopsiefotos, die Angel vom Laborcomputer der Pathologieabteilung des Police Departments heruntergeladen hatte. Kate wusste nicht, dass er mühelos dazu in der Lage war – und es auch tat –, wenn sie ihm gegenüber ein ungewöhnliches Verbrechen erwähnte. »Igitt ist das richtige Wort dafür«, erwiderte Angel und blickte von dem Foto zu der Uhr an der Wand. »Wo bleibt Cordelia? Sie müsste längst hier sein.« »Vielleicht hat sie die Rolle bekommen«, sagte Doyle hoffnungsvoll. Er hatte eine Schwäche für Cordelia, das wusste Angel, nur hatte er nicht die leiseste Ahnung, ob aus dieser Schwärmerei jemals mehr werden würde. Sein irischer Landsmann war nicht reich, und bis jetzt hatte er die Tatsache, dass er ein Halbdämon war, für sich behalten. Was vielleicht daran lag, dass Cordy noch kein einziges gutes Wort über Dämonen verloren hatte. »Das wäre toll«, sagte Angel. Doyle runzelte die Stirn. »Aber in diesem Fall hätte sie uns angerufen, oder? Ich meine, wir sind ihre engsten Freunde. Dann hat sie die Rolle wahrscheinlich doch nicht bekommen. Vielleicht war sie so deprimiert, dass sie in eine Kneipe gegangen ist, um ihren Kummer zu ertränken.« Er sah besorgt aus. »Cordelia Chase?« Angel schüttelte den Kopf. »Sie würde niemals allein in eine Bar gehen. Selbst wenn sie alt genug wäre, um Alkohol zu trinken.« Er zuckte die Schultern. »Geben wir ihr noch ein paar Minuten.« »Bevor wir was tun?«, fragte Doyle unglücklich und griff nach dem Telefon. »Ich rufe sie zu Hause an.« »Gute Idee«, nickte Angel. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Computermonitor. Die Farbaufnahme drehte ihm zwar 44
den Magen um, kam ihm aber irgendwie vertraut vor. Er hatte etwas Derartiges schon einmal gesehen, wenngleich er nicht sagen konnte, wo und wann. Kate vertraut mir also nicht genug, um mir alles zu erzählen, aber damit hätte ich auch nicht gerechnet, dachte er mit einem grimmigen Lächeln. Es waren Brandopfer – in diesem Punkt hatte sie nicht gelogen –, aber es steckte noch viel mehr dahinter. Angel wusste, obwohl er nicht ganz sicher war, woher, dass diese Per son von innen her verbrannt war. Aber kann ein brennender Körper ein ganzes Apartmenthaus in Brand setzen? »Ich habe nur ihren Anrufbeantworter erwischt«, berichtete Doyle. Dann sagte er in die Sprechmuschel: »Cordelia, hier ist Doyle. Wir machen uns ein wenig Sorgen um dich. Wenn du nicht kommen kannst, dann gib uns Bescheid, okay? Habe ich schon erwähnt, dass ich es bin, Doyle?« Angel lächelte vor sich hin. Als hätte sonst noch jemand diesen Akzent. »War das mal ein Mensch?«, fragte Doyle, als er auflegte. »In der Tat«, bestätigte Angel, während er mit der Maus den Cursor über die schwarzen und roten Stellen in der unteren linken Ecke des Bildschirms bewegte. »Kate hat mir erzählt, dass es einige merkwürdige Mordfälle gegeben hat. Ich frage mich, ob das die Leiche ist, die sie gestern Nacht in Niras Haus gefunden hat«, fügte er hinzu. »Was denkst du?«, fragte Doyle und zog eine Grimasse. Angel starrte das Foto durchdringend an, während vor seinem geis tigen Auge Bilder entstanden, die nicht aus seinen Träumen stammten und auf denen auch keine Chihuahuas vorkamen. »Spontane menschliche Selbstentzündung?«, sagte Doyle in das ausgedehnte Schweigen hinein. »Hast du schon mal davon gehört? So was gibt es tatsächlich.« »Ja. So was gibt es«, antwortete Angel bedächtig. Die Bilder erinnerten Angel an Dinge, die er schon seit langem unterdrückte, und als er sich ihnen öffnete, fielen ihm weit mehr Ein zelheiten ein, als ihm lieb war. Oder als er ertragen konnte. »Angel?«, fragte Doyle. »Glaubst du, dass wir es hier mit Selbst entzündung zu tun haben?« Es war Doyles irischer Akzent, der Angel zurück nach Galway brachte, in jene Zeit, als er noch ein Mensch gewesen war. 45
Und wieder wurde er von seinen Erinnerungen überwältigt. Galway, 1752 »Granny Quinn ist tot. Lass uns zu ihr gehen und bei ihrem Leichnam etwas wünschen«, flüsterte Doreen Kenney Angelus zu, als sie ihn ver schämt von sich stieß. Sie lagen in der Scheune ihres Vaters im Heu, während die Sonne fast untergegangen war und die karmesinroten Strahlen durch die Dachluken fielen. Doreens Haare waren feuerrot, und manche sahen dies als Beweis dafür an, dass sie eine Hexe war. Angelus war bereit, das zu glauben, denn allein ihr Blick genügte, um ihn zu entflammen. »Granny ist tot, und das Einzige, was man für ihre morschen Knochen noch tun kann, ist, ein Gebet zu sprechen«, entgegnete Angelus gereizt. »Und wir beide haben in unserem Leben bestimmt schon genug für die Toten gebetet. Für die, die wir liebten. Für Verwandte und Freunde. Was haben wir mit der alten Vettel zu schaffen?« In Galway war der Tod ein ständiger Begleiter; Babys, kleine Kinder und alte Leute starben, Bettler verhungerten, und Krankheiten kamen öfter, als dass sie fernblieben. Und kaum ein Haus blieb für immer verschont, ob es nun katholisch oder protestantisch, arm oder reich war. »Moira sagte, wer sich in Gegenwart einer aufgebahrten Leiche etwas wünsche, bekomme, was er wolle.« »Und wenn dem so ist, warum ist Moira dann mit ihren neunzehn Jahren noch Jungfer?«, spottete Angelus. Doreen blickte verwirrt drein. Schon immer hatte Angelus sie für etwas dumm gehalten, was keine schlechte Sache bei einem Weib war, denn schließlich wollte man nicht, dass sie sich über zu viele Dinge den Kopf zerbrach. Frauen hatten wichtigere Dinge zu erledigen, wie sich um ihre Männer und Babys zu kümmern. Bei Dorrie wusste man allerdings nie, ob ihr Verstand die Richtung einschlagen würde, in die man sie lenken wollte, oder ob sie unterwegs hängen blieb. »Ich will damit sagen, dass Moira eine Menge Chancen hatte, ein paar Wünsche auszusprechen«, erklärte Angel. »Und wir beide wissen, dass sie nicht einen einzigen Verehrer hat. Was bei ihren Zähnen auch weiter kein Wunder ist.« Er schauderte. »Und bei diesem Atem.« »Das ist nicht nett von dir«, sagte Dorrie und grinste dann. »Aber es stimmt. Und Granny Quinn könnte für Abhilfe sorgen, dessen bin ich mir sicher.« 46
»Es ist ein kalter Tag«, führ Angelus fort, »und wir haben Besseres zu tun, als den Leichnam einer weisen Frau zu verspotten.« »Weise Frau? Sie war eine Hexe, und du weißt das«, sagte Doreen und zog einen Schmollmund. »Ihre verfluchte Seele wird heute Nacht den Teufel im Wald treffen. Auf einem Besenstiel wird sie nackt mit ihm davonfliegen.« Ihre grünen Augen leuchteten vor Erregung. »Ah, meine bezaubernde Doreen, ich wünschte, du würdest nackt auf meinem Besenstiel fliegen«, scherzte er, während er ihre Hand ergriff, um sie dahin zu legen, wo es ihm das größte Vergnügen bereitete. Sie brach in Gelächter aus und entzog ihm ihre Hand. »Angelus, du weißt, dass ich meine Keuschheit noch immer habe und sie keinem Mann schenken werde, der nicht mein Ehemann ist.« »Sicher, und du weidest dich an meinem Leiden«, stöhnte er. »Mein Vater wird mir nicht die Mittel geben, um mir ein Weib zu nehmen. Wenn es nach ihm geht, werde ich noch Jahre von ihm abhängig sein.« »So lange werde ich nicht warten«, sagte sie spitz. Ihr Vater war ein wohlhabender Mann, und sie hatte eine beträchtliche Mitgift zu erwarten. Der alte Patrick Kenney wollte sie verheiraten, solange sie noch in der Blüte ihrer Jahre stand; sie war sechzehn, und es wurde höchste Zeit für sie, einen passenden Gatten zu finden. Und genau dieser Gatte hätte Angelus als Landadeliger sein können, wäre sein Ruf nicht so schlecht gewesen. Patrick Kenney hielt ihn für einen Prasser und Schurken. Und in beiden Punkten entsprach die Meinung des Gentleman der Wahrheit. »Doreen, wenn ich könnte, würde ich.« Er legte seinen Arm um ihre Hüfte. »Noch in diesem Moment.« Kichernd drückte sie sich an ihn. »Ja, das würdest du, Angelus. Daran habe ich keinen Zweifel.« Er hielt den Atem an. »Aber du wirst es nicht tun.« Und bevor er Gelegenheit hatte zu pro testieren, fügte sie hinzu: »Wie dem auch sei, bring mich jetzt zu Granny Quinn, und dort kannst du einen Wunsch aussprechen, der vielleicht wahr werden wird.« Sie küsste ihn lange und leidenschaftlich, und hätte sie in diesem Moment von ihm verlangt, den gesamten Friedhof umzugraben, um so ihre Gunst zu gewinnen, er hätte es getan. »Es heißt, dass du selbst eine Hexe bist«, flüsterte er. Sie verspannte sich. »Nimm das zurück, Angelus.« Ihre Stimme war kalt wie Stein. »Nimm das zurück, oder ich werde nie wieder ein Wort mit dir reden, solange ich lebe.« Er blinzelte. »Sicher. Aber das glaubst du doch wohl selbst nicht.« 47
»Kein einziges Wort.« Sie löste sich von ihm und strich ihr Kleid glatt, während er aufstand. In diesem Moment verschwand die Sonne, und die Farben in der Scheune verblassten zu einem trüben Grau. Und als Angelus Doreen ansah, hätte er schwören können, dass er ein anderes Gesicht sah – grausig deformiert und mit rot glühenden Augen, die voller Wut waren. Es musste wohl an dem Spiel von Licht und Schatten liegen, denn als er sie anblinzelte, sah er nur noch seine wunderschöne Doreen. »Lass uns nicht gehen«, stieß er hervor. »Das bringt nur Unglück.« »Was? Ist er etwa ein Feigling?«, stichelte sie. »Dann werde ich mir einen anderen Begleiter suchen müssen.« »Nein, das wirst du nicht.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ihr Blick wanderte über seinen Körper und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Dann bist du also eifersüchtig?«, fragte sie. »Natürlich.« »Oh, Angelus, du bist so ein Tölpel«, schalt sie ihn sanft. »Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein.« Das brachte ihn zum Schmelzen, und er sagte sich, dass die seltsame Erscheinung eine Täuschung gewesen war, hervorgerufen durch das Spiel des Lichtes und seine närrische Einbildung. Schließlich waren die Nächte lang, und die Welt langweilte ihn. Eine derartige Situation verlangte nach kühnen Plänen – vielleicht sollte er Galway verlassen und versuchen, in der Fremde sein Glück zu machen. Dann konnte er sich ein Weib wie Doreen zur Frau nehmen. »Doreen«, sagte er zärtlich, »ich liebe dich.« »Mich – und all die anderen Mädchen in Galway«, neckte sie ihn. »Nein, niemals«, sagte er nachdrücklich. »Und ich nehme alles zurück, sollte ich je etwas Kränkendes zu dir gesagt haben. Verzeih mir, liebstes Mädchen. Du hast mein Herz gewonnen.« »Und deine Seele?« Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Dennoch lachte er. »Falls außer Gott noch jemand sie haben will«, meinte er, »dann gehört sie dir.« Sie drehte ihm den Rücken zu und hob den Kopf. Durch das Fenster schien der Vollmond, und er war überrascht, dass er so schnell aufgegangen war. In seinem Licht sahen Doreens rote Haare jetzt gelb aus. Er hatte es ihr nie gesagt, aber eigentlich zog er blonde Mädchen den rot- oder schwarzhaarigen vor. 48
Sie drehte ihm weiter den Rücken zu, als sie sagte: »Komm jetzt. Wir werden Granny Quinn besuchen und herausfinden, was du willst.« Mit zwei der edlen Rösser ihres Vaters – Angelus ritt auf Chieftain und Doreen auf Black Silky – galoppierten sie durch die Dunkelheit, wäh rend sich das Salz und der Gestank des Hafens wie Rauch verdichtete. Kräftiger Wind bauschte Doreens karierten Mantel, während die Hufe von Black Silky rhythmisch auf den ebenholzschwarzen Boden trommelten. Ihre Familie war nicht so alt wie Angelus', aber die Ken neys waren immer reich gewesen. Manche behaupteten, dass die Familie – alles Rotschöpfe – mit den Geistern im Bunde war und so ihr Vermögen zusammengerafft hatte. Gebildete Menschen ignorierten diesen Klatsch jedoch, der einzig von Neid geprägt war. Wolken rasten am Himmel dahin, als würden sie die beiden verfolgen, und Angelus gab seinem Pferd die Sporen. »Doreen«, schrie er, »ein Sturm kommt auf!« Doch sie galoppierte weiter und vergrößerte ihren Vorsprung. Er konnte nicht sagen, ob sie ihn nur ignorierte oder ob sie ihn nicht hören konnte. Und während ihr Pferd an Schnelligkeit gewann, blähte sich ihr Mantel wie die Schwingen eines großen Vogels. Sie duckte sich, und als sie dahinjagte, sah es aus, als hätte sie keinen Kopf. Blitze zuckten am Himmel, und Chieftain warf seinen Kopf zurück, während er verängstigt wieherte. Ein weiterer Blitz riss die Wolken auf, und Regen stürzte nieder. Von den grünen Hügeln stieg dampfender Nebel auf und wallte über Angelus' Weg. Er dachte kurz daran, die Straße zu verlassen, um irgendwo Schutz zu suchen. Seine Ängstlichkeit beschämte ihn, doch jede Faser seines Körpers protestierte gegen dieses Abenteuer. Es war einfach töricht, bei diesem Wetter weiterzureiten. Davon abgesehen hatte er eine Verabredung mit Bess in Mistress Burtons Gesellschaftshaus. Bess war seine Favoritin, denn sie hatte keine Illusionen über Ringe und Versprechen, und wenn sie ihn reizte und sein Blut in Wallung brachte, gab sie ihm auch, was er verlangte ... Hinzu kam, dass er sich nicht sicher war, ob er wirklich einen Blick auf Granny Quinns Leichnam werfen wollte. Die alte Vettel, die ganz allein gelebt hatte, stand in dem Ruf, mit Leuten zu reden, die außer ihr niemand sehen konnte. Es gab Gerüchte über einen Geliebten, dessen Knochen in ihrem Garten vergraben waren, nachdem er sich als untreu entpuppt hatte. Es hieß, dass man im Winter um Mitternacht den Wind durch seinen Brustkasten pfeifen und das Klappern seiner Zähne hören könnte. Weibergeschwätz, sagte sich Angelus. 49
In diesem Moment riss Doreen ihr Pferd herum und winkte ihm zu, sich zu beeilen. Er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit und dem Wind nicht sehen, aber irgendwie war er sich sicher, dass sie ihn auslachte. Verärgert trieb er sein Pferd an. Granny Quinn hatte in einer armseligen Hütte gelebt. Ratten raschelten in dem Abfallhaufen, der sich neben ihrer Behausung türmte, und es stank nach Torf, Schlamm und den Kadavern kleiner Tiere, die wie Sonntagswäsche an einer Leine vor der Tür hingen. Ein großes Feuer, das im Garten loderte, tauchte die verwitterten Steinwände der Hütte in gelbes Licht. Angelus erinnerte es an die alten Zeiten, als man Feuer gemacht hatte, um die Toten zu wärmen, bevor sie sich auf den Weg ins Totenreich begaben. Um das Feuer drängten sich mindestens sechs oder sieben Leute – bis auf eine Ausnahme alles Frauen. Die meisten der Weiber hielten sich Taschentücher vor das Gesicht und weinten. Eine andere, die ihren Mund mit ihrem Schal bedeckt hatte, jammerte laut genug, um die Toten zu wecken. Angelus war überrascht, dass sich so viele Trauergäste eingefunden hatten, egal, ob sie nun dafür bezahlt wurden oder nicht. Granny Quinns Besucher – aus Scham stets um Heimlichkeit bemüht – waren nur in dunklen, mondlosen Nächten zu ihr gegangen, um vor ihrer Tür um Liebestränke, Heilkräuter und Gifte zu bitten. Die Frau, die ihren Mund mit dem Schal bedeckt hatte, sang jetzt in einer alten Sprache, während die Flammen des Feuers flackernd ihr Gesicht erhellten. Angelus lauschte, und seine Verwirrung wuchs: Sie war eine bean caointe, ein professionelles Klageweib, dessen war er sich sicher. Und dennoch galt ihr Klagelied einem ertrunkenen Kind. Der einzige Mann war wie ein aranischer Fischer gekleidet. Seine Kleidung war steif und grob, und er trug einen breitkrempigen schwarzen Hut. Als er sich zu Angelus umdrehte, löste sich das Ge heimnis um die Trauernden und das Klagelied: Er hielt ein totes Kind in einem weißen Unterkleid in seinen Armen – dem Aussehen nach zu urteilen ein Junge von vier oder fünf Jahren. Um den Hals des Kindes lag noch immer Seetang, und seine kleinen Füße waren blau vor Kälte. Schweigend sah der Fischer Angelus an, bevor eine einzelne Träne über sein Gesicht rann. Doreen sprang von ihrem Pferd, ohne das tragische Bild eines Blickes zu würdigen. Mit großen Schritten lief sie um das Feuer herum und hinein in Granny Quinns Hütte. 50
Angelus war jedoch wie gebannt. Erblieb auf Chieftain sitzen und erwiderte den Blick des Fischers, der noch kein Wort gesprochen hatte. Sein totes Kind in den Armen, stand er da wie eine Steinstatue auf einem Grab. Dieser Mann ist tot, genau wie sein Kind, dachte Angelus. Und auch für mich ist Galway der Tod. Tag für Tag. Denn hier erwartet mich nichts anderes als Zank und Streit mit meinem Vater, der selbst ein toter Mann ist. Das Klagelied der jammernden Frauen wurde lauter, untermalt vom Prasseln des Feuers. Sie sangen weiter, und Angelus hörte wie in Trance zu. Als er sich schließlich wieder rührte, hatte er das Gefühl, sich für einige Zeit verloren zu haben; durch die Flammen blickte er zu der windschiefen Tür der Hütte hinüber und fragte sich, was Doreen dort drinnen wohl trieb. Wahrscheinlich betete sie. Ein plötzlicher unerbittlicher Windstoß fegte über die Szenerie und hüllte die um das Feuer Versammelten in tiefe Dunkelheit. Von einem Moment zum anderen wurde die Luft winterlich kalt. Die Klageweiber verstummten. Alle bekreuzigten sich gleichzeitig, während sie sich erstaunt umsahen, doch außer dem Heulen des Windes und Angelus' eigenem Herzschlag war alles still. Bis mit einem Mal ein trauriges Stöhnen erklang, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Es sammelte sich wie Nebel auf der kalten Erde, stieg dann spiralförmig in die Höhe und wurde zu einem schrillen Kreischen, das die verängstigten Rufe der Trauernden über tönte. »Nein! Du kannst meinen Paddy nicht haben!«, schrie der aranische Fischer, wobei er das Kind an sich drückte, auf die Knie sank und sich schützend über das Bündel beugte. Angelus stemmte sich gegen den aufziehenden Sturm und trat an seine Seite. Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter und sagte: »Was ist das? Was ist das für ein Lärm?« »Seid Ihr denn kein Ire?«, rief der Fischer. »Das ist die Banshee, die Todesfee, die gekommen ist, um meinen Sohn zu holen! Ich kam hierher, um mir über Grannys Knochen zu wünschen, dass er mir zurückgegeben wird, aber jetzt wird die Banshee ihn holen!« Er schluchzte. »Patrick! Oh, Paddy, geh nicht mit ihr fort!« Die anderen schrien. Doch Angelus verdrehte angesichts dieses Aberglaubens die Augen. »Das ist doch nur der Wind, Mann!«, donnerte er. In diesem Moment verwandelte sich das Stöhnen in ein Kreischen, und als der Wind immer wilder blies, stolperten die Frauen davon. Das Feuer, 51
von den Böen entfacht, spuckte einen Funkenschauer aus, der an den Schweif eines Kometen erinnerte. Der Fischer hob seine Arme über den Kopf und betete in armseligem Latein vor sich hin. Dann trat Doreen aus der Hütte, und Angel konnte für einer Moment ihr Profil sehen, das irgendwie verunstaltet aussah. Ihre Kapuze tauchte Stirn und Nasenrücken in Schatten, aber mit ihren Wangen und ihrer Kinnlinie schien etwas nicht zu stimmen. Und während sie ganz langsam die Hände zur Kapuze hob und sie zurückschlug, machte sie eine Vierteldrehung zum großen Feuer und sah direkt hinein. Ihr Gesicht war aschfahl, unter ihren Augen lagen schwarze Ringe und ihre Lippen waren grau. Ihr feuerrotes Haar war schneeweiß geworden. Angelus starrte sie an. »Dorrie?«, murmelte er, obwohl niemand, am allerwenigsten sie, ihn hören konnte. Unsicher stemmte er im brausenden Sturm einen Fuß gegen den Boden. Der Wind war so kalt, dass seine jungen Gelenke schmerzten und der Speichel auf seinen Lippen zu Eis gefror. Ihr Blick wanderte vom Feuer zu ihm. Dann hob sie eine Hand und streckte einen Finger aus, während sie langsam – nach vorn gebeugt und schlurfend – losging. Sie bot einen grässlichen Anblick. »Die Todesfee!«, kreischte der Fischer und umklammerte sein Kind. »Nein, nein! Gott und all Seine Engel haben meinen Paddy in ihrer Obhut!« Verzweifelt sah er Angelus an. »Er ist nicht getauft! Sie wird ihn mitnehmen!« Angel starrte Doreen mit offenem Mund an. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er solche Angst gehabt. Doreen – oder was immer aus ihr geworden war – schrie ein Wort in einer Sprache, die er nicht verstand, und kurz darauf hörte der Wind auf. Der Fischer brabbelte und weinte und klammerte sich an sein Kind. Doreen starrte die beiden an, bevor sie ihr Gesicht zu einem grausigen Lächeln verzog. Sie hatte nur noch ein paar Zähne im Mund. »Angelus«, sagte sie. »Wünsch dir etwas. Wünsch dir, dass ich jung bin und schön und deine Braut.« Sie streckte ihre Arme aus. »Wünsche es dir, und ich werde dein sein.« Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht sprechen. Doch als sie einen weiteren Schritt auf ihn zutrat, riss Angelus sich aus seiner Erstarrung und wich hastig zurück. Mit dem Zeichen gegen den bösen Blick versuchte er, sie abzuwehren, doch sie kam immer näher. Der Fischer blickte gequält zu ihm auf. »Wünscht Euch, dass sie mein Kind verschont«, flehte er. 52
Die Gestalt sah erst den Fischer an und dann seinen toten Sohn. Als wäre es ihr völlig gleichgültig, zuckte sie die Schultern. »Wenn das dein Wunsch ist«, sagte sie zu Angelus, »wird er dir gewährt.« Sie bewegte ihre Hüften. »Oder du kannst Doreen und all ihren Reichtum haben. Du musst es nur sagen.« »Tut es für mein Kind, Mann!«, bettelte der Vater. »Rettet die Seele meines Kindes!« Das muss ein Traum sein, dachte Angelus, als er sich rührte. Ein Albtraum, ganz gewiss. Aber er wusste, dass er wach war. Dann eben ein Trick. Habe ich dasselbe Gesicht nicht schon vorhin in der Scheune gesehen? Ich weiß nicht wie, aber ihre Schwestern und sie erlauben sich gewiss einen Streich auf meine Kosten. So was wie Magie gibt es nicht. Ich habe nie daran geglaubt und tu es auch jetzt nicht... »Du musst nicht daran glauben«, sagte das Schreckgespenst, als hätte es seine Gedanken gelesen. »Es ist nicht nötig. Du hast die Möglichkeit, dein Leben für immer zu ändern. Du musst nur deinen Wunsch aussprechen, Angelus.« Er straffte seine Schultern und befeuchtete seine Lippen. »Ich muss daran glauben, um ihn aussprechen zu können.« »Um der Liebe Gottes willen, nein!«, rief der verzweifelte Fischer. »Sagt ihr, sie soll fortgehen!« »Willst du Doreen und ihre Mitgift haben?« Ihre Stimme war ein Flüstern, dennoch konnte er jedes Wort deutlich verstehen, als wären ihre grauen Lippen an sein Ohr gepresst. »Oder willst du Galway für immer verlassen? Ich glaube, du möchtest gern nach London. Du kannst London haben. Und Paris. Sogar die Kolonien.« »Ich werde meinen eigenen Weg machen«, sagte Angelus trotzig. Als sie in Lachen ausbrach, klang es wie das Röcheln einer Frau, die entsetzliche Schmerzen hat. »Du findest doch nicht einmal allein den Weg vom Schulhof, Master Angelus. Du bist ein Lügner und ein Betrü ger, und du hast alles, was du konntest, von deinem Vater gestohlen, ohne dass er dich wie einen gemeinen Dieb davongejagt hat. Deiner Mutter hast du das Herz gebrochen, und deine Schwestern sind die Einzigen, die dich noch immer lieben. Du hast die Herzen vieler Mäd chen gebrochen, von denen einige ihren Weg zu dieser Tür hier gefunden haben, um deine Brut loszuwerden. Auf deine Art bist du also auch noch ein Mörder.« Sie hob einen knochigen Finger. »Und du wirst eines Tages für deine Morde mit dem Tod bezahlen. Du wirst für alles leiden, was du getan hast, auf eine Weise, die du nicht erahnen und die ich dir nicht einmal erklären kann.« 53
Sie stach mit ihrem Finger in seine Richtung. »Und wenn du einsam stirbst, wird niemand um dich trauern.« Bei diesen Worten machte der Fischer das Zeichen gegen den bösen Blick in Angelus' Richtung, der sich mit der Hand durchs Haar fuhr und nervös den Kopf schüttelte. Es hieß, dass tote Augen in die Zukunft sehen konnten. Also würde er wegen Mordes gehängt werden, oder? Zorn kochte in ihm hoch. Das ist alles nur eine Scharade, sagte er sich. Doreens Familie ist reich; sie kann mühelos ein paar Scharlatane anheuern, um jene Verehrer abzuschrecken, die ihr nicht passen. »Dann werde ich eben nicht sterben«, schleuderte er ihr trotzig ent gegen. »Ich werde niemals sterben. Das ist mein Wunsch.« Sie lachte krächzend. »Törichte Kreatur! Du hast damit deine eigene Verdammnis besiegelt. Denn du, mein hochmütiger Junge, solltest eines wissen: Gottes Kinder sterben. Alle. Und jene, die nicht sterben, sind nicht die Seinen. Sie gehören dem Teufel.« Während sie sprach, sah sie das tote Kind an. Der Vater des Jungen klammerte sich an ihn und brüllte: »Erzengel Michael! Sankt Patrick! Oh, ihr Heiligen, helft mir in meiner Not!« Die Frau lachte wieder. »Junger Mann«, sagte sie, und für ihn klang ihre Stimme sanft, »die Seele deines Kiemen ist längst im Himmel. Gott begehrt die Unschuldigen, und dieses Kind gehörte gewiss dazu. Hör auf mit dem Gejammer und troll dich nach Hause.« »Barmherziger Gott«, murmelte der Mann und bekreuzigte sich. Unsicher stand er auf und lief davon. Die Frau wandte sich wieder Angelus zu. »Damit bleibst nur noch du für die Banshees und die Wilde Jagd. Bald wirst du Dämonenfutter sein.« »Nicht ich, sondern du, Vettel!«, brüllte er. Im Nu brauste der Wind wieder los, stärker als jeder, den Angelus bisher erlebt hatte, selbst auf dem Meer. Er zerrte an ihm, und er musste sich gegen ihn stemmen. Der Wind hob Doreen – oder was immer sie war – in die Luft und ließ sie direkt ins große Feuer fallen, wo sie sofort in Flammen aufging. Sie kreischte und wand sich; Haare, Kleidung, Gesicht – alles verbrannte binnen Sekunden. Das Feuer loderte hoch und verwandelte sich in einen Berg aus Flammen, die brüllend hinauf zum Himmel stiegen, bis sie außer Angelus' Sichtweite waren. Er war sich sicher, dass man das Feuer, das dem Schweif eines Kometen glich, wohl noch in Dublin sehen konnte. Es war wie eine Brücke zur Hölle. 54
Angelus wollte auf sein Pferd steigen, doch das Tier sträubte sich. Es wieherte und bäumte sich auf, warf sich herum und trabte davon. Black Silky galoppierte hinterher, und die Pferde verschwanden schnaubend in der Dunkelheit. »Verflucht sollt ihr sein!«, schrie Angelus ihnen hinterher. In diesem Moment erlosch das Feuer, und nicht einmal ein glim mender Scheit war übrig geblieben. Es war, als hätte es nie ein Feuer gegeben. Bis auf die Leiche, die im Mondlicht rauchte. Bis auf sie. Zögernd trat er näher. Das Licht war trübe, aber was er zu Gesicht bekam, vertraute er niemals einer anderen Seele an: Die Leiche war irgendwie geschmolzen und geschrumpft, wenngleich die Gesichtszüge unversehrt geblieben waren. Als wäre eine Kerze von innen nach außen gebrannt, ohne die äußere Hülle in Mitleidenschaft zu ziehen. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und floh in die Dunkelheit. Er brauchte die ganze Nacht und den halben nächsten Tag, um nach Galway zurückzukehren, und als man ihn fragte, wo er gewesen sei, behauptete er, betrunken in einem Straßengraben gelegen zu haben. Betrunken zu sein war schließlich besser, als verrückt zu sein. Doreen Kenney wurde nie wieder gesehen, und obwohl man überall nach ihr suchte, schaute niemand in Granny Quinns Hütte nach. Soweit Angelus wusste, ging nie wieder ein Mensch zu Granny Quinns Behausung, auch nicht, um zu begraben, was dort lag. Vierzehn Tage später wurde er zu Angelus, der mit dem Engelsgesicht – der grausamste Vampir, der je gelebt hatte. Sofern man das, was er war, als Leben bezeichnen konnte.
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Fünftes Kapitel
Bist du Mensch oder Tier?«
»Mensch.«
»Wie ist dein Name?«
»Ich habe ihn vergessen.«
– Altindonesischer Tanz Nias, 1863 »Latura«, flüsterte die Dienerin, als die Kopfjäger näher rückten. Sie schloss die Augen und zuckte zusammen, als ein Speer so dicht an ihrem Hals vorbeiflog, dass sie den Luftzug spüren konnte. Er hatte Dämonen geschickt. Und Flammen. Sicherlich würde er sie jetzt nicht im Stich lassen. »Latura, hilf deiner Dienerin«, murmelte sie. In diesem Moment zogen sich die Kopfjäger zurück, ihre wilden Gesichter erschöpft und misstrauisch. Während sie vor sich hin mur melten, sanken sie nacheinander auf die Knie und drückten ihre Stirn gegen den Boden. Ein Gewicht legte sich auf die Schultern der Dienerin, und als sie den Kopf hob, musste sie einen Schrei unterdrücken. Was sie sah, war grausig. Es war weder Hand noch Kralle noch Klaue noch irgendetwas anderes, das sie beschreiben konnte, und dennoch erfüllte es die Funktion einer Hand. Es war ledrig und dunkelgrün, und während sie es anstarrte – unfähig, ihren Blick zu lösen – veränderte und verwandelte es sich. Es sah fast wie ein Gesicht aus, bevor es zu langen, seilähnlichen Tentakeln wurde, die sich wanden und durch die Luft peitschten. Was wie purpurner, giftiger Nebel war, verwandelte sich in eine tropfende Flüssigkeit, die nach Tod roch. Sie war jetzt allein, als die Flüssigkeit in sie floss. Sie schwebte in der Dunkelheit und spürte, wie die Flüssigkeit sich durch ihren Körper bewegte. Sie konnte nicht atmen. Eisige Kälte ließ ihr Blut erstarren; für zwei, drei, vier Schläge setzte ihr Herz aus und konnte sie nicht länger am Leben halten. Der Gott hat mich verraten, dachte sie verzweifelt, als sie zu sterben begann. 56
Dann hob sie vom Boden ab und glitt durch die Luft. Zur gleichen Zeit setzte ihr Herzschlag wieder ein, und für einen Moment glaubte sie, dass sie selbst flog. Dann erkannte sie jedoch, dass etwas ihre Kleidung gepackt hatte und sie durch die Lüfte trug. Sie sah sich um und blickte nach oben. Es war eine gigantische Schlange mit Flügeln, einem riesigen Kopf, rot glühenden Augen und einem vor Zähne starrenden Maul. Zähne so lang wie ihr Unterarm hatten die Bluse der Dienerin zerrissen, und während sie an zerfaserten Stofffetzen hoch über dem Boden hing, stieg sie immer weiter nach oben. Sie schrie, als sie und das Monster den Pulk der Krieger unter sich ließen und höher und höher stiegen, bis sie glaubte, das Gesicht des Mondes mit ihren Fingerspitzen berühren zu können. Als sie einen Blick über die Schulter warf, entdeckte sie flackernde gelbe Punkte am Boden. Sie sah genauer hin. Es waren die Krieger, die in Flammen aufgegangen waren und herumrannten, um sie so zum Löschen zu bringen. »Nein«, bat sie flüsternd, aber tief in ihrer Seele hörte sie die Antwort des Gottes: Doch. Los Angeles, heute In Indonesien war es Brauch, dass die Familien sich um ihre toten Ver wandten kümmerten und die Leichen mit ihren eigenen Händen wuschen und salbten und in Leinentücher wickelten. Wurde der Verstorbene verbrannt, war es an ihnen, das Streichholz zu entzünden. Wurde der Tote begraben, war es an ihnen, die Grube auszuheben und den Leichnam hineinzulegen. In dem dunklen, von Weihrauch geschwängerten Raum nahmen die beiden Rais-Vettern die Waschung von Bang Rais' Leichnam vor. Meg war sich nicht sicher, ob sie wussten, dass sie da war. Als Jusefs Protege – und Geliebte – war es ihr erlaubt, nach Belieben zu kommen und zu gehen, und sie kam oft zum Meditieren hierher, wie Jusef es ihr beigebracht hatte – um die Erinnerungen in Schach zu halten und für den Moment zu leben. Es war sehr dunkel und still gewesen, und am Brunnen mit seinem schwimmenden Lotos hatte sie die Müdigkeit übermannt, sodass sie sich auf den dahinter liegenden Seidenkissen ausgestreckt und gedöst hatte. Heute Nacht würden das sedhekah und der Empfang stattfinden, und sie würde nach traditioneller Art den barong tanzen, bevor ... Bevor... 57
Nein, dachte sie und ließ alles los. Sie ergab sich dem Schlaf. Als sie erwachte, war der Rais-Patriarch unweit vom Eingang des Rau mes nackt auf gelber und roter Seide aufgebahrt. Sie setzte sich auf, nicht sichtbar für andere, da der Brunnen sie verdeckte, und unbemerkt, weil der Tod im Zimmer war, der eifersüchtig Aufmerksamkeit einforderte. Bang Rais. Er ist wirklich tot, dachte sie schaudernd. Es gab viele in ihrem Land, die glaubten, dass er niemals sterben würde. Sie hatte bereits in den Nachrichten gehört, dass mindestens ein Dutzend Men schen Selbstmord begangen hatten aus Verzweiflung über sein Dahinscheiden. Er sah im Tode genauso Ehrfurcht gebietend wie im Leben aus. Ungewöhnlich groß für einen Indonesier - ein Meter neunzig -, muskulös und sportlich gebaut, mit kantigem Kinn und ausdrucksstarkem Gesicht, hatte er etwas Furchteinflößendes an sich gehabt. Es war ein Schock gewesen, als sein Herz – ganz ohne Vorwarnung und ohne Krankheit, die ihn geschwächt hätte – zu schlagen aufgehört hatte. Laut Jusef, der bei ihm gewesen war, als er starb – in seinem Zimmer, wo er mit seinem Sohn über die Zukunft Indonesiens disku tierte –, hatte er nicht einmal über ein Taubheitsgefühl in seinem linken Arm oder Brustschmerzen geklagt. In dem einen Moment hatte er gelebt und im nächsten aufgehört zu existieren. Viele tausend Indonesier hatten zu ihren Göttern gebetet, er möge die Führung ihres Landes übernehmen. Präsident, Diktator, König, Gott – ihnen war es gleich, als was er sich bezeichnete. Hauptsache, er führte sie und nährte sie und verhinderte, dass ihre Kinder an vermeidbaren Krankheiten starben. Was würde jetzt aus Indonesien werden? Was wird aus der Band? Wird Jusef die Familie übernehmen müssen, oder kümmert sich Slamet weiter um die Geschäfte? Meg beobachtete, wie die beiden Vettern den Leichnam wuschen. Jusef tauchte eine Kelle in eine große Glasschüssel mit Wasser, auf dem frische gelbe Blüten mit roter Staude trieben und den Raum mit Blumenduft erfüllten, der den beginnenden Verwesungsgeruch über lagerte. Er goss das Wasser auf die Brust seines Vaters, während Slamet mit der Hand durch die wohlriechende Flüssigkeit fuhr, als würde er ein beschlagenes Autofenster abwischen. Anschließend beugte sich Jusef zum Ohr seines Vaters und flüsterte: »Wie ist es, Vater? Bist du im Totenreich willkommen, oder bist du dort ein Fremder?« 58
»Nicht«, knurrte Slamet. »Wir werden ihn zurückholen.« »Aber wir haben das Buch nicht«, sagte Jusef. »Und wir wissen nicht, wie. Außerdem ist er tot. Wir können nur einen lebenden Menschen unsterblich machen, aber keinen Toten wieder auferstehen lassen.« Er schöpfte noch mehr Wasser. »Und das auch nur in der Theorie. Schließlich haben wir es noch nie getan.« »Darüber bist du doch froh«, schleuderte ihm Slamet entgegen. »Und du versuchst nicht mal, es zu verbergen.« »Natürlich bin ich nicht froh.« Jusef seufzte. »Nach all dieser Zeit ist mein Vater gestorben.« »Du weißt, dass er nicht sterben konnte. Du weißt, dass er der Günst ling des Gottes war. Irgendetwas ist nicht in Ordnung. Jemand hat unsere Magie durchbrochen.« »Slamet, es war Bestimmung«, sagte Jusef. »Nicht sein Karma.« Slamet hat Recht, dachte Meg. Jusef ist froh, dass sein Vater tot ist. Aber wovon reden sie? Sie wollen ihn zurückholen? Wiederauferstehung der Toten? Unsterblichkeit? Welches Buch? Sie zitterte plötzlich. Eine Stimme in ihrem Kopf antwortete: Du weißt, welches Buch, Meg. Du weißt es. Das Zittern wurde stärker, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde... Als sie die Augen öffnete, saß Jusef mit einer Kerze in der Hand vor ihr. Das warme gelbe Licht ließ sein kurzes Haar blauschwarz schimmern. »Bist du okay, Baby?«, fragte er sie. Sie blinzelte. »Was ist passiert?« »Du hattest einen Anfall«, erklärte er. »Kannst du dich nicht erin nern?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an gar nichts.« Sie sah sich um, stellte fest, dass sie in Jusefs Quartier auf dem Anwe sen waren. Das Bett war zerwühlt, zwei Lautsprecher und ein Verstärker standen zwischen dem Bett und dem angrenzenden großen Bad. »Wir wollten am Begräbnistanz arbeiten«, erklärte er ihr. »Dann bekamst du einen deiner Anfälle. Ich habe ihn nur mit Mühe unter Kontrolle bekommen.« Sie berührte ihren Kopf. Hinter ihrer Stirn pochte es. »Danke«, sagte sie leise. »Ich muss bei den Vorbereitungen für das Begräbnis helfen, aber ich habe unseren Arzt angerufen. Bleib hier und ruh dich aus, okay?« 59
Plötzlich flackerte etwas in ihrer Erinnerung auf. Es hatte mit den Vorbereitungen für das Begräbnis zu tun. Wie sie am Brunnen saß, während er mit Slamet redete über... über... Sie versuchte sich zu konzentrieren. Aber ihr fiel es nicht ein. Jusef nahm ihre Finger und küsste ihren Handrücken. »Ruh dich aus, Meg.« Sie nickte und sank zurück aufs Bett. Er schüttelte ein Kissen auf und schob es unter ihren Kopf. Dann zog er liebevoll die Decke bis zu ihrem Kinn hoch und küsste ihre Stirn. »Ich komme später wieder«, versicherte er. »Schlaf jetzt, okay?« »Es muss schlimmer geworden sein«, sagte sie. »Ich hatte schon so lange keinen Anfall mehr.« »Aber nein«, wehrte er ab, und sie lächelten sich traurig an. Vor rund einem Jahr, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, hatte Meg den ersten Anfall bekommen. Spezialisten in Djakarta hatten festgestellt, dass Meg an einem seltenen Gehirntumor litt, den man normalerweise nur bei älteren Menschen fand. Neben anderen Dingen führte er zu einem Flüssigkeitsstau, der durch ein dünnes Plastikröhrchen abgeleitet wurde, das unter ihrer Haut von ihrem Schädel zu ihrem Hals führte. Wenn man wusste, wohin man sehen musste, konnte man die leichte Wölbung des Röhrchens an der linken Seite ihres Halses erkennen. Der Tumor war inoperabel. Auf ihren Computertomografie-Auf nahmen hatte sie gesehen, wie er wuchs. Früher oder später würde er sie umbringen. Die meiste Zeit konnte sie ein normales Leben führen. Es gab sogar Tage, an denen sie ihre Krankheit völlig vergaß. Dies hatte sie vor allem den Hypnosesitzungen zu verdanken, die Jusef mit ihr abhielt und die er zuerst dazu benutzt hatte, damit sie andere Dinge vergaß. Sie schloss die Augen. Und träumte. Er war ein Mensch und doch wieder nicht. Er lebte, aber sein Herz schlug nicht. Wenn sie ihn rief, kam er zu ihr. Sie öffnete den Mund und flüsterte: »Angel.« »Was?«, fragte Angel, als er aus seinen Träumereien hochschreckte. »Ich sagte, sie antwortet noch immer nicht«, erwiderte Doyle. Angel schüttelte den Kopf. Der Lärm der Stadt verdrängte die letzten Reste der Erinnerung an jene seltsame Nacht in Galway. Er wusste noch jede Einzelheit bis hin zur Kleidung, den Gerüchen, den Gefühlen; er wusste auch, wie er sich in den Jahren, nachdem er seine Seele 60
zurückbekommen hatte, selbst gequält hatte. Wie er jeden Moment endlos analysiert, jeden Fetzen Erinnerung durchleuchtet hatte. Hatte dieser Wunsch in jener Nacht seine Schöpferin Darla in sein Leben gerufen? War er in eben jenem Moment verdammt worden? Er würde es natürlich nie mit Sicherheit sagen können. Und es spielt eigentlich auch keine Rolle, nicht wahr? Die Dinge sind so, wie sie sind. Ich bin zu dem geworden, was ich bin. Aber dennoch konnte Angel nicht aufhören, darüber nachzudenken, konnte den Erinnerungen nicht entfliehen. Es war das, was die Zigeuner gewollt hatten, oder? Er sollte bis in alle Ewigkeit bereuen, was ihn zu einer der bösesten Kreaturen gemacht hatte, die die Hölle jemals auf die Welt losgelassen hatte. Es hieß, dass die Beichte gut für die Seele sei. Aber welches Gute sollte aus diesen Qualen entstehen, die er durchlitt? Sie werden mich davon abhalten, es je wieder zu tun, dachte er. Solange ihm wahres Glück verwehrt blieb – oder, wie Doyle sagen würde, solange ich mir selbst das wahre Glück verwehre –, würde er seine Seele behalten. Reue war die Eigenschaft, die die Menschen von den Dämonen unterschied, zumindest laut der Zigeunersippe der Kal derash, die ihn für den Mord an ihrer Lieblingstochter verflucht hatte. Folgerte demnach daraus, dass die reinste Form der Existenz das Leiden war? Er konnte es nicht glauben. »Es ist gar nicht ihre Art, nicht anzurufen«, sagte er zu Doyle. »Davon rede ich doch schon die ganze Zeit«, entgegnete Doyle ungeduldig. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört, nicht wahr?« Das Telefon klingelte, und als Angel abnahm, wechselten er und Doyle einen erleichterten Blick. »Cordelia«, begann Angel. »Nein, tut mir Leid. Ich bin's, Kate«, sagte der Police Detective. »Ich glaube, ich habe einen Ihrer Klienten hier. Was überaus aufschlussreich ist.« »Nira? Im Gefängnis?« »Im Leichenschauhaus. Frisch eingeliefert. Na ja, eigentlich haben wir die Leiche schon gestern Nacht bekommen, aber es hat eine Weile gedauert, bis wir sie identifizieren konnten.« Am anderen Ende der Leitung raschelte Kate mit Papieren. Er war überzeugt, dass sie über das Opfer sprach, dessen Autopsiefoto gerade auf seinem Bildschirm zu sehen war. Er fragte sich, ob sie vielleicht wusste, dass er sich nach Belieben in ihr System einhacken konnte, und ihn auf diese Weise wissen lassen wollte, dass ihr seine Aktivitäten nicht 61
verborgen blieben. »Thailänder«, sagte sie schließlich. »Familienname ist Sucharso undso. S-U-C-H-A-R-I-T-K-U-L. Vorname Decha.« Die goldene Frau aus meiner Vision? »Der Name sagt mir nichts. Warum glauben Sie, dass sie meine Klientin war?« »Er. Weil er Ihre Karte hatte.« Das weckte sein Interesse, denn schließlich gab es nur wenige Men schen, die seine Karte hatten – trotz Cordelias Bemühungen, die Pri vatdetektei »Angel Investigations« bekannt zu machen, vorzugsweise unter »hilfsbedürftigen Leuten, denen wir eine Rechnung schicken können«. Hatte dieser Fall irgendetwas mit dem Feuer von gestern Nacht zu tun? »Wissen Sie irgendetwas über meinen neuen Freund Decha Sucha ritkul?«, fragte Kate. »Größe etwa einsachtzig. Gewicht hundertsechzig Pfund, aber das ganze Fett ist weg. Ich habe meine Leute auf seinen Visumstatus angesetzt. Wie viel wollen Sie wetten, dass er illegal hier war?« Falls das ein Köder war, biss er nicht an. »Was war die Todesursache?« »Würde das Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen?«, fragte sie lauernd. Er ging nicht darauf ein, und sie seufzte. »Er wurde Opfer eines Brandes. Wie ich Ihnen bereits erzählt habe. Merkwürdige Geschichte.« Dann ließ sie die Bombe platzen. »Er war die Leiche in dem Apart mentfeuer von gestern Nacht, Angel. Ich habe Ihnen von dem Fall berichtet.« Angel sah auf seinen Computer. Spontane menschliche Selbstent zündung, hörte er Doyle in seiner Erinnerung sagen. Er hatte einmal ein Foto von einem Mann gesehen, der in Flammen aufgegangen war. Der Kerl hatte halb verbrannt in einem Polstersessel gesessen. Seine Beine waren unversehrt gewesen, doch von der Hüfte aufwärts war alles zu Asche verbrannt. Er fragte sich, ob die Frau in dem blauen Feuer irgendetwas mit dem toten Mann auf dem Bildschirm zu tun hatte. Vielleicht war sie seine Freundin. Oder seine Schwester. Sie ist wahrscheinlich nicht einmal real, erinnerte er sich. Schließlich habe ich sie nur aufgrund magischer Kräfte gesehen, nicht auf dem Video einer Partnervermittlung. »Halten Sie es nicht auch für einen erstaunlichen Zufall, dass Sie beide am selben Ort waren?« »Was für Ausweispapiere hatte er bei sich?«, fragte Angel. 62
»Ob Sie's glauben oder nicht, alles, was er bei sich hatte, war ein Buch, in das er seinen Namen geschrieben hatte. ›»Englisch als Zweitsprache.‹ Wirklich komisch. Seine Englischlehrerin wurde ebenfalls Opfer eines Brandes. Ihr Name war Olive LaSimone.« »Woher wissen Sie das alles?« »Ach, Angel, Sie wissen doch, dass ich nicht alles ausplaudere, nur weil Sie so nett fragen«, erwiderte sie. »Ich kann Ihnen nicht helfen«, erklärte Angel ehrlich. »Ich habe nie mit ihm gesprochen.« »Haben Sie in der letzten Zeit mit anderen asiatischen Immigranten gesprochen?«, fragte sie. »Wenn ich Sie recht verstanden habe, ist die Frau, die Sie gestern Nacht alarmiert hat, Indonesierin.« »Nicht, dass ich wüsste.« »Okay. Einen Moment.« Sie deckte die Hörmuschel ab, als sie kurz mit jemand sprach. »Wie es scheint, gibt es einen neuen Fall«, eröffnete sie ihm dann. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendetwas über meinen toten Freund erfahren, okay? Der Gerichtsmediziner sagt, dass der arme Kerl höchstens sechzehn war. Ich muss jetzt zu einem anderen hübschen Tatort, aber ich hoffe, Sie rufen mich an, sobald Sie etwas herausgefunden haben.« »Sicher.« Oder auch nicht. Er legte auf. »Das war sicher Kate Lockley«, stellte Doyle fest. »Gehen wir.« Angel griff nach seinem Mantel. »Um Cordelia zu suchen?« Angel nahm seine Schlüssel. Und zuckte zusammen, als sich die Wunde an seinem Kopf, die ihm die Schlange zugefügt hatte, bemerkbar machte. »Bist du okay, Mann?«, fragte Doyle. Da klingelte das Telefon, und wieder war es Angel, der den Hörer abnahm. »Ja?« »Angel? Oh, mein Gott, ich bin's, Cordelia!«, schrie Cordy. »Ich bin in ... Wo bin ich denn? In einem Obdachlosenasyl?« »Cordelia, wenn du einen Vorschuss auf dein Gehalt brauchst...« »Ich bin nicht obdachlos«, unterbrach sie. »Die Polizei hat mich hier her gebracht!« »Die Polizei?« Sie schnaufte. »Kannst du nicht herkommen? Irgendwas Unheimliches geht hier vor sich, und ich werde auf keinen Fall den Bus nehmen.« 63
»Okay. Gib mir die Adresse.« »Seine Karte war in meiner Handtasche!«, jammerte Cordelia. »Beruhige dich.« Angel hatte keine Ahnung, wovon sie eigentlich redete. »Mich beruhigen? Ich hatte eine Verabredung zum Begräbnis eines stinkreichen Kerls!« »Okay, Cordy. Wir machen uns jetzt auf den Weg.« Als sie ihm die Adresse nannte, sah ihn Doyle sichtlich besorgt an. »Was war mit der Polizei?«, wollte er wissen, als Angel aufgelegt hatte. »Das finden wir heraus, sobald wir dort sind.« »Aber ihr geht es gut?« Doyle starrte ihn stirnrunzelnd an. »Ihr geht es doch gut, oder?« »Ich will es mal so ausdrücken: Was ihr am meisten Sorgen machte, war die Tatsache, dass sie die Telefonnummer irgendeines Kerls verloren hat.« »Oh.« Doyle war erleichtert. »OA.« Und dann verletzt. »Er ist aber tot, glaube ich«, fügte Angel hinzu. »Oh?« Doyle strahlte. »Dann wird es mit den beiden wohl nichts werden. Ein toter Kerl würde ein Mädchen wie Cordelia zu Tode lang weilen.« Mit einem matten Lächeln verließ Angel das Büro und ging durch den Korridor zum überdachten Parkplatz, wo sein Kabrio stand. Sie stiegen ein und fuhren los. Plötzlich stöhnte Doyle auf, und kurz darauf wurde sein Dämonen gesicht – eine Art stachelgespickter blauer Nagelkopf – sichtbar. Obwohl der Dämon von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde, fuhr Angel weiter, denn er wusste, dass Doyle eine Vision hatte und er im Moment ohnehin nichts für ihn tun konnte. Schließlich kehrte Doyles menschliches Gesicht wieder zurück, während er ächzend ausatmete. »Was hast du gesehen?«, fragte Angel. »Diesmal war es besonders schlimm«, stöhnte Doyle. »Schmerzhaft?« »Was ich gesehen habe, meine ich.« Er schnitt eine Grimasse. »Es war eine wirklich schöne junge Frau. Und sie war verbrannt, Angel. So wie die Person auf dem Autopsiefoto.« »Trug sie goldene Kleidung?« Doyle sah ihn neugierig an. »In der Tat.« »Ich habe sie auch gesehen. Gestern Nacht«, sagte Angel, während er links abbog. 64
Doyle war sichtlich überrascht. »Wirklich? Das ist ja ganz was Neues.« »Ich habe sie tanzen gesehen.« »In meiner Vision war sie eindeutig verbrannt. Kein hübscher Anblick.« Doyle ächzte erneut und schloss die Augen. »Sie ist in einem Club«, sagte er. »Club Ko-soundso. Ich kann es nicht deutlich erkennen.« Angel runzelte die Stirn, aber er wusste, dass Doyles Visionen manchmal unklar und verschwommen waren, sich am Ende jedoch immer als richtig erwiesen. Es waren Bilder der Leute, die Angel nach dem Willen der zuständigen Mächte retten sollte. Eine brennende Frau, dachte er. Eine gemeinsame Vision von Doyle und mir. Das war tatsächlich etwas Neues. Und er hatte das Gefühl, dass etwas Großes dahinter steckte. Ein Police Officer tauchte auf der Bildfläche auf, kurz nachdem das Geschrei ausgebrochen war. Er rannte sofort los, und Cordelia rief ihm nach, dass er ihre Handtasche zurückbringen sollte, hatte jedoch keine Ahnung, ob er sie überhaupt gehört hatte. Sein Partner Jason brachte sie ins Obdachlosenasyl, wobei er die ganze Zeit in sein Funkgerät sprach und Zahlen statt Worte herunterrasselte, sodass sie keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Nachdem sie Angel angerufen hatte, zog sie ihre Strumpfhose aus, wusch sich die Füße und schlüpfte wieder in ihre Schuhe, diesmal ohne Strumpfhose. Jetzt saß sie auf einem Metallklappstuhl mit einer Tasse Kaffee in der Hand und einem Doughnut mit Puderzucker, der in einer Papierserviette auf ihrem Schoß lag. Vor ihr stand ein Mann, der zwar nicht Mr. Kleingeld war, aber aus derselben Liga stammte. »Ich war noch ein Kind, als Pearl Harbor angegriffen wurde«, sagte er. »Ein Kind wie du. Und heute verkauft mein Sohn Computer an die Japaner. Was hältst du davon?« »Äh«, machte Cordelia. »Was soll ich schon davon halten?« »Er sagt, er habe sich in das Land verliebt. Er will, dass ich nach Tokio ziehe.« Er deutete mit einem Finger auf sie. »Also, was hältst du davon?« Sie verzog das Gesicht. »Dasselbe wie gerade«, entgegnete sie. Plötzlich hielten mehrere Streifenwagen mit quietschenden Reifen vor dem breiten Glasfenster des Asyls. Police Officer sprangen heraus und rannten vorbei. »Wow, was ist passiert?«, fragte Cordelia, wobei sie sich zu halber Größe aufrichtete. 65
»Irgendein Verbrechen«, kommentierte der Mann. »Was denkst du denn?« »Ich denke, Sie sollten an irgendeinen Ort ziehen, an dem es schöner ist«, sagte sie, während sie die Polizei beobachtete. Diese Person, die ich schreien gehört habe, muss ... schwer verletzt sein. Sie hoffte inständig, dass es nichts Schlimmeres war. Die Männer um sie herum ignorierten das Geschehen. Laut ihrem Pearl-Harbor-Freund war es fast Zeit zum Abendessen, und das schien alles zu sein, was ihre umnebelten Gehirne interessierte. Sie war entnervt. Und darüber hinaus konnte sie nicht aufhören, an ihren Freund Xander zu denken – wenngleich er nicht mehr ihr Freund gewesen war, als sie Sunnydale verließ. Sie hatte irgendwie immer erwartet, dass er wie diese stinkenden alten Kerle enden würde. Aber nach allem, was sie gehört hatte, half er Buffy und Giles weiterhin bei ihrem Kampf gegen die Vampire und erwies sich dabei als eine große Hilfe. Er ist nicht mehr der Volltrottel von früher, dachte sie ein wenig wehmütig. Immer mehr Cops tauchten auf und gingen wieder. Während sie in ihre Walkie-Talkies sprachen, wurde Cordelia immer nervöser. Unter den Männern im Obdachlosenasyl entstand Unruhe. Gulaschzeit, vermutete Cordelia. Makkaroni mit Käse. Und ich bin so hungrig, dass ich was essen werde, wenn sie mir etwas anbieten. Sofern sie von Papptellern essen. Doch der wahre Grund für diese Unruhe war die Ankunft von Angel und Doyle. Angel tauchte in der Tür auf, hoch gewachsen und gut aussehend, aber auch gleichzeitig sehr ernst und gebieterisch. Er strahlte diese Zuversicht aus, die den Eindruck vermittelte, als könnte und würde er jedes Problem seiner Mitmenschen lösen. Um ihnen dann hoffentlich eine Rechnung auszustellen, dachte Cordelia, als sie winkte. Schließlich geben die Leute Hunderte von Dollar für ihre Haustiere aus. Angel rettet Menschen das Leben. Sie stand auf. »Angel, hier drüben!« Ihr Doughnut fiel zu Boden, und ihr neuer Freund stürzte sich wie der Blitz darauf und stopfte das ganze Ding in den Mund, ohne es auch nur abzuwischen. »Iiih«, machte Cordelia. Dann rief sie laut Angels Namen. Diesmal sahen die beiden Männer sie und eilten zu ihr hin. »Cordelia, was ist passiert? Was machst du hier?«, fragte Doyle, die Stirn in Sorgenfalten gelegt. 66
»Ich bin überfallen worden«, erzählte sie atemlos. »Von zwei kleinen Kindern und einer alten Dame, die mich beschimpfte, weil ich kein Kleingeld hatte. Und dann ist sie mit meiner Handtasche und den kleinen Kindern abgehauen, die vorher schon versucht hatten, sie mir zu klauen.« Sie schniefte. »Okay, es war kein richtiger Überfall, da ich nicht ver letzt wurde.« »Das ist ein übles Viertel«, murmelte Doyle. »Dann brach plötzlich dieses Geschrei los«, fügte Cordelia hinzu, während sie an ihrem Kaffee nippte. Der Santa-Ana-Wind wurde stärker, und die Scheiben der großen Fenster, die zur Straße hin lagen, vibrierten und klirrten. »Deshalb brachte mich mein Freund, Police Officer Jason, hierher, bevor er losgezogen ist, um die Sache zu überprüfen«, fuhr sie fort. »Aber eigentlich hatte das Geschrei da schon aufgehört, und ich weiß nicht, ob er noch zurückkommt oder nicht.« Sie schnüffelte. »Riecht das für euch nach Steak? Denn mein Freund, Mr. Isst-den-Doughnut-vom-Boden, hat mir gesagt, dass es Makkaroni mit Käse zum Abendessen gibt.« Sie bemerkte den Blick, den Doyle und Angel wechselten. »Wir sehen uns mal um«, sagte Angel. Dann wandte er sich zum Gehen und Doyle folgte ihm. »Oh, nein«, protestierte sie, »lasst mich hier nicht allein.« Sie machte ein paar Schritte, aber ohne ihre Strumpfhose rieben ihre billigen Schuhe an neu entstandenen Blasen. »Autsch!« »Setz dich und trink deinen Kaffee«, befahl Angel. Sie sah ihm nach, als er mit Doyle davonging. »Ich esse kein Fleisch. Ich bin Libertarier«, informierte sie der stin kende Mann. Sein Mund war vom Puderzucker schneeweiß. »Es gibt heute Makkaroni mit Käse.« »Das ist... schön«, sagte sie und humpelte dann zu ihrem Stuhl zurück, um sich zu setzen. Ungeduldig warf sie einen Blick über die Schulter und hoffte, dass Angel und Doyle bald zurückkommen würden. Das kleine Mädchen, das beim Diebstahl ihrer Handtasche geholfen hatte, starrte sie durch das Fenster an. »He!«, rief Cordelia. »Bleib stehen, Diebin!« Während sie zur Tür humpelte, zögerte die Kleine einen Moment und rannte dann weg. Sie hatte sich Cordelias Handtasche über die Schulter gehängt, doch sie war so klein, dass die Tasche fast den Boden berührte. »Gib sie mir zurück!«, schrie Cordelia. »Oder wenigstens Jusefs Visi tenkarte!« 67
Die Kleine warf ihr einen verängstigten Blick zu und rannte weiter. Cordelia kam der Gedanke, dass es vielleicht eine Falle war, aber hier ging es um ihre Sachen, und sie würde ihren Besitz nicht kampflos aufgeben. Schließlich gehörte ihr nicht mehr besonders viel. Und außerdem war Jusefs Telefonnummer in der Tasche. »Angel! Doyle!«, schrie sie. »Helft mir!« Sie humpelte in eine andere Gasse, in der noch mehr Unrat lag als in der ersten, aber Gott sei Dank kein Glas. Der Gestank war dafür umso schlimmer und erinnerte sie an verbranntes Steak. Sie hatte keine Chance, das kleine Mädchen einzuholen. Und als sie stehen blieb und frustriert mit den Zähnen knirschte, hörte sie nur noch Schritte, die in der Ferne verschwanden. In diesem Moment kam Doyle um die Ecke gestürmt und rief: »Was ist los?« »Das kleine Miststück, das meine Handtasche geklaut hat, ist gerade wieder aufgetaucht, um mich zu verhöhnen«, sagte Cordelia wütend. »Wo habt ihr gesteckt? Ihr tragt doch keine billigen hochhackigen Schuhe und hättet sie prima schnappen können.« Sie spähte in die Gasse hinein, die mit gelbem Polizeiband abgesperrt war. Zwei oder drei Police Officers hielten davor Wache, während sich ein anderer in eine Mülltonne übergab. »Was ist da los?« Doyles wurde blass. »Sie haben etwas gefunden, Cordy.« Sie starrte ihn entsetzt an. »Doch nicht das kleine Mädchen!« »Nein. Die Leiche eines Erwachsenen.« Er hielt sie zurück, als sie sich die Sache näher ansehen wollte. »Das ist nichts für dich. Glaub mir, Cordelia.« Mann, Kate wird ziemlich sauer sein, dachte Angel. Es gibt keinen Quadratzentimeter Boden, auf dem die Cops nicht herumgetrampelt sind. Hatten sie denn nicht Der Knochenjäger gesehen? Während die Police Officers damit beschäftigt waren, alle Spuren am Tatort zu verwischen, hatte Angel die große Fabrik an der Ecke umrundet und war eine schwankende Feuerleiter hinaufgeklettert. Von dort aus war er lautlos und geschmeidig von einem Dach zum anderen gesprungen. Jetzt beobachtete er das Geschehen von einem anderen Gebäude aus, das nach menschlichen Exkrementen stank. Er duckte sich und horchte. Sie hatten die Leiche eines Mannes gefunden, der schrecklich ver brannt war. Sein Name war Ernesto Torres, in seiner Tasche befand sich ein Schlüsselbund mit nummerierten Schlüsseln, und er hatte trotz des 68
warmen Abends eine Jacke getragen, in der ein Bündel Parkscheine steckte. Die Polizei vermutete, dass die Jacke nur deshalb unversehrt war, weil Torres sie abgestreift hatte, als er in Flammen aufgegangen war. Offenbar hatte Mr. Torres häufig an einem Ladedock fünf Blocks südlich vom Fundort seiner Leiche geparkt. Angel prägte sich schnell die Adresse ein und beschloss, sie sich als Nächstes anzusehen. In diesem Moment traf der Gerichtsmediziner ein, einige Zeit später kam auch Kate. Wie Angel erwartet hatte, explodierte sie, als sie sah, wie die Cops auf den Spuren herumgetrampelt waren. Sie schrie so laut, dass man noch einen Block weiter jede Silbe verstehen konnte. Als er ins Obdachlosenasyl zurückkehrte, durchsuchte Cordy mit Doyle zusammen ihre Handtasche. Gut. Doyle hat sie gefunden, dachte Angel erleichtert. »Was ist los?«, fragte Cordy, als sie Angel bemerkte. Doch der sah nur in Doyles Richtung und schüttelte den Kopf. Dieser schnitt eine Grimasse. »Lass mich mal sehen, ob alle deine Kreditkarten noch da sind«, sagte er zu Cordy. »Was ist passiert?«, fragte Cordelia Angel und fügte an Doyle gewandt hinzu: »Ich habe keine Kreditkarten. Weil ich nämlich auch keinen Kredit habe. Okay, ich geb's zu – ich habe eine. Ich konnte es nicht über mich bringen, sie zu zerschneiden. Aber sie ist ungültig.« Mit der Präzision eines Revolverhelden schlug sie ihre Brieftasche auf und zog eine American-Express-Platinkarte heraus. »Aus meinen besseren Tagen«, murmelte sie und steckte sie wieder in die Brieftasche, bevor sie das Portemonnaie öffnete. »Mein Busgeld ist noch da. Und hier ist Jusefs Visitenkarte.« »Von dem toten Kerl?«, fragte Angel. »Glaub mir«, warf Doyle eilig ein, »du würdest nicht mit einem Toten ausgehen wollen. Vielleicht hast du ja was anderes gehört, aber sie sind nicht gerade gute Unterhalter und ...« »Angel, sieh mal«, unterbrach ihn Cordelia, während sie die Karte betrachtete. Angel nahm die Karte in die Hand. Auf der Rückseite, in fast unle serlicher roter Tintenschrift, standen die Worte HILF UNS, LADY. WIR SIND ENTFÜHRT CELIA SUCHARITKUL. Derselbe Name wie Kates vorletztes Brandopfer. »Sie wurden entführt?«, sagte Cordelia. »Wir müssen die Polizei informieren.« 69
Angel drehte die Karte wieder um. Der Name Jusef Rais war mit der selben roten Tinte umkreist. »Er ist nicht tot«, sagte Cordelia zu Doyle. »Ich habe nur eine Einla dung zur Beerdigung seines Vaters bekommen.« »Oh«, machte Doyle. »Du hast also kein Rendezvous mit einem Toten.« »Nun, ich hoffe nicht«, sagte Cordelia giftig. »Ich meine, ich arbeite für einen – nimm's nicht persönlich –, und denke, damit tummeln sich schon genug Tote in meinem Leben, oder? Mein Agent muss übrigens auch tot sein, weil er mir nie irgendwelche Engagements besorgt.« »Vielleicht ist Cordys Verabredung das neue Brandopfer«, sagte Doyle zu Angel. »Nein!«, entfuhr es Cordelia. »Nein! Meine Dates sterben nur in Sunnydale, okay? Nicht auch noch hier!« »Sofern er sich nicht den Decknamen Ernesto Torres zugelegt hat, ist er wahrscheinlich noch am Leben«, beruhigte Angel sie. Für einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen. »Also liegt da hinten ein Toter?«, stellte Cordelia fest und wurde blass. »Ja«, erwiderte Doyle zerknirscht. Sie seufzte. »Ich hatte gehofft, es wäre nur irgendetwas Ekelhaftes, dessen Anblick du mir ersparen wolltest«, sagte sie zu Doyle und schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Was ich übrigens sehr nett von dir fand. Aber weißt du, daheim in Sunnydale habe ich alle möglichen ekelhaften Dinge gesehen und es dennoch geschafft, liebenswert und attraktiv zu bleiben.« »Und der Trend setzt sich fort«, versicherte Doyle aufmunternd. Sie nahm das Kompliment an, aber Angel konnte erkennen, wie erschüttert sie war. »Glaubt ihr, dass mein Date diese Kids entführt hat?«, fragte sie. »Vielleicht wollte die Kleine nur, dass du Kontakt mit ihm auf nimmst«, spekulierte Doyle. »Könnte doch sein, dass sie mit ihm ver wandt ist.« »Das sollten wir überprüfen«, meinte Angel. »Hast du Lust auf ein Begräbnis, Doyle?« »Zu meiner Zeit habe ich ein paar wirklich gute erlebt«, sagte Doyle. Cordelia blickte unbehaglich drein. »Äh, Leute, ich weiß nicht, ob es eine Gästeliste oder so gibt...« »Wir werden uns schon irgendwie Zutritt verschaffen«, erwiderte Angel. »Eine kleine Spionageaktion«, nickte Doyle. 70
»Wir bringen dich jetzt nach Hause. Anschließend machen Doyle und ich uns ans Werk. Wolltest du dir ein Taxi nehmen?« »Jusef schickt mir eine Limousine«, sagte sie und hob ihr Kinn. »Ich soll ihn anrufen.« »Okay«, sagte Angel und begutachtete seine Kleidung. »Wir sollten uns besser umziehen. Damit wir nicht auffallen.« Er warf Cordelia einen Blick zu. »Reiche Leute?« »Sie haben ein eigenes Filmstudio in Indonesien.« Doyle machte ein geknicktes Gesicht. »Wann sollst du ihn noch mal anrufen?« »Drei Stunden nach unserem Treffen ...« Sie warf einen Blick auf Doyles Uhr. »Oh, nein, in anderthalb Stunden! Ich muss mich umziehen! Meine Haare!« Sie griff sich an den Kopf. »Ich sehe grauenhaft aus!« Doyle und Angel wechselten einen weiteren Blick. »Was ist?«, fragte Cordelia. »Die Welt zu retten«, sagte Doyle gedehnt, »ist nicht bloß ein Job. Es ist ein Abenteuer.« In diesem Moment hörte er Schritte hinter sich. »Um wie viel wollt ihr wetten, dass Kate wissen will, was wir hier machen?«, sagte Angel. Er hätte die Wette nicht verloren.
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Sechstes Kapitel
»Sie an, sieh an, wenn das nicht der geheime Kreuzzügler ist«, sagte Kate trocken, als sie sich zu Angel, Doyle und Cordy gesellte. »Und Sie sind rein zufällig in Tatortnähe meines brandneuen Mordfalls, nehme ich an.« »Damit hat es nichts zu tun«, warf Cordelia ein. »Kleine Kinder haben meine Handtasche geklaut. Und es sieht so aus, als wurden sie entfuhrt. Oder vielleicht war es auch nur ein Trick. Jedenfalls gab mir ein verrückter Mann mit einem extremen Körpergeruchsproblem Kleingeld, um Angel anzurufen, damit er mich abholt.« Cordelia sah sich um. »Hier muss irgendwo ein netter Police Officer namens Jason sein, der meine Aussage bestätigen wird. Er ist übrigens Single«, fügte sie für den Fall hinzu, dass Kate auch einer war. »Entführt?«, wiederholte Kate. Schweigend reichte ihr Angel Jusefs Karte. »He«, protestierte Cordy, doch Kate sah sie scharf an. »Kann ich mir vielleicht die Nummer abschreiben?«, fragte Cordy mit dünner Stimme. Während Kate die Karte studierte, drehte sie sie ein paar Mal um. »Kennen Sie Jusef Rais?«, fragte sie Cordelia schließlich. »Ich gehe zur Beerdigung seines Vaters. Hoffe ich«, fügte sie hinzu und sah die Karte an. »Fangen wir ganz von vorn an«, entgegnete Kate geduldig. »Okay. Zwei Kinder haben mir aufgelauert«, sagte Cordy. Als Cordelia erzählte, was passiert war, hörte Angel nur mit halbem Ohr zu. Die Wunde an seinem Kopf schmerzte, und er hatte das Gefühl, als würde sich sein Gehirn in Eis verwandeln, sofern so etwas überhaupt möglich war. Doyle musterte ihn forschend. »Was ist los?«, fragte er leise. Angel sagte: »Etwas hat mich gebissen. Wir sollten uns besser darum kümmern, wenn wir wieder in meiner Wohnung sind«, antwortete Angel. Doyle legte den Kopf zur Seite. »Wenn du ›etwas‹ sagst, dann war es wohl kein Hund und auch keine Katze?« Angel nickte. »Definitiv keine Katze.« »Und dann muss sie das da auf die Karte geschrieben haben«, beendete Cordelia ihren Bericht. 72
Kate sah Angel schief an. »Wie es scheint, ist der Berg zum Propheten gekommen.« Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: »Sie sollten doch auf die Wache kommen, um Ihre Aussage zu dem Kerl in dem Apartment zu machen. Und jetzt sind Sie an dem Ort, an dem es einen neuen Todesfall gegeben hat. Obendrein haben wir es möglicherweise mit einer Entführung zu tun haben, in die jemand verwickelt sein könnte, mit dem Ihre Sekretärin ein Rendezvous hat.« »Es ist eine Beerdigung«, stellte Cordelia richtig. »Nicht direkt ein Rendezvous.« Kate ignorierte sie. »Wenn Sie es endlich schaffen, in mein Büro zu kommen, werden Sie keine Aussage machen, sondern ein ganzes Buch schreiben müssen.« »Für einen Roman ist meine Aussage völlig ungeeignet«, erwiderte Angel. »Zu viele Zufälle.« »Ma'am.« Hinter Kate war ein Police Officer aufgetaucht. »Wir müs sen noch die Zuständigkeit festlegen.« Sie kommentierte diesen Satz mit Worten, die Angels Meinung nach nicht druckreif waren. »Gehen Sie ja nicht weg«, warnte sie die drei und sah Cordelia und Doyle eindringlich an. »Das gilt für alle.« Cordelia runzelte die Stirn und hob gestikulierend die Hand. »Aber ich muss meine ...« »Ja?«, fauchte Kate. Cordelias Schultern sackten nach unten. »Nichts«, sagte sie matt. »Das ist wohl heute nicht mein Tag.« Doyle sah Cordelia mitfühlend an und machte ein paar Schritte auf sie zu. Kates funkelnder Blick ließ ihn erstarren. »Ich bewege mich nicht von der Stelle«, versicherte er, während er die Hände halb hob. Dann wandte er sich an Cordy. »Ist es wirklich so schlimm?«, fragte er sie. »Schlimmer«, versicherte diese. »Ich habe schließlich nicht darum gebeten, in der Nähe eines Mordtatorts ausgeraubt zu werden, okay?« Daraufhin stapfte Kate davon. »Puh«, machte Doyle. »Die hat wirklich Haare auf den Zähnen.« »Sie hat auch einiges am Hals«, erwiderte Angel, während er ihr nachstarrte. »Diese Obdachlosen bekommen heute Abend Makkaroni mit Käse«, erklärte Cordelia. »Und was Kate betrifft – ich könnte schwören, dass ich sie in einer Episode von Zauberhafte Hexen gesehen habe.« 73
Wenn man reich ist, kann man eine Menge cooler Sachen machen, dachte Jusef. Zum Beispiel kann man andere Leute dazu bringen, eine Menge böser Dinge zu tun. Die kurzhaarige ältere Dame, die aufs Anwesen gebracht worden war, hatte um ihr Leben gefleht und dann ihre Komplizen verraten. Es war der Junge gewesen, der einem von Jusefs Brüdern von ihr erzählt hatte. Letzterer hatte ihn und das Mädchen bei dem Versuch bemerkt, Ernesto Torres Leiche zu beseitigen, und als die beiden in Panik weggerannt waren, hatte er den Jungen gefangen. Das Mädchen war jedoch entkommen. Offenbar hatte die alte Frau einige ihrer kleinen Mündel aus dem illegalen Betrieb zu Taschendieben ausgebildet. Kleinkriminalität dieser Art hatte die Rais-Familie jedoch streng verboten, denn es war äußerst unklug, auf derart billige und überflüssige Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Aber die Frau hatte unbedingt Geld für ihre Überfahrt gebraucht, denn sie wollte dem Wunsch ihrer todkranken Tochter in Bangkok nachkommen, ihre Mutter noch ein letztes Mal sehen zu wollen. Selbst ein Straßenkind, das zum Überleben Brieftaschen und Schmuck gestohlen hatte, war sie nach Thailand gegangen, als Mao in China die Macht übernommen hatte, und hatte sich dort als politische Aktivistin betätigt. Dafür war sie verfolgt und ins Gefängnis gesteckt worden, wo sie eine Faszination für Amerika – einem brutalen Land, in dem es nichtsdestotrotz Gedankenfreiheit und Unabhängigkeit gab – entwickelt hatte. Jahre später hatte sie einen ihrer ehemaligen Mitgefangenen auf der Straße getroffen, und der hatte ihr angeboten, sie nach Amerika zu bringen. Hätte sie damals nur gewusst, dass es bloß ein Trick war, um sie zu versklaven und zu einer verabscheuungswürdigen Kollaborateurin zu machen, die kleine Kinder zwang, bis zum Umfallen zu arbeiten. Da sie es nicht ertragen konnte, sie so leiden zu sehen, hatte sie einige der Kinder als Taschendiebe angelernt und ihnen gegen einen Anteil an ihrer Beute die Arbeit in dem illegalen Ausbeuterbetrieb erspart. Sie fälschte Unterlagen, trug ihre angeblich geleisteten Arbeitsstunden ein und schwindelte, was die Menge der von ihnen hergestellten Stoffe anging. In der Hoffnung, Gnade von Jusef zu erhalten, hatte sie all das zuge geben und sogar angeboten, ihren gesamten Profit aus ihren illegalen Aktivitäten abzuliefern. 74
Dass sie es jedoch mit Dämonen zu tun hatte, die auf der falschen Seite kämpften, ahnte sie nicht. Und so war sie einen langsamen und sehr qualvollen Tod gestorben. Jetzt warfen die Fackeln im Tempel von Latura Schatten auf das Gesicht des kleinen Jungen, der zitternd vor Jusef stand. Verhärmt und erschöpft, wie er war, sah er wie ein alter Mann aus ... mit dem einzigen Unterschied, dass er nicht mehr lange genug leben würde, um ein alter Mann zu werden. Das große Rad des Karma dreht sich eindeutig zu meinen Gunsten, dachte Jusef. Der Name des kleinen Jungen war Kliwon Sucharitkul, der jüngere Bruder dieses Narren Decha. Decha, ursprünglich ein Gefolgsmann, war zum Verräter geworden, als er die Nerven verloren und versucht hatte, das Werk aufzugeben. Und Latura war kein Gott, der Verrat duldete. Kliwons bleistiftdünne Handgelenke waren an die Wand gekettet, während Tränen über sein gelbbraunes Gesicht rannen und sein blaues Batikhemd benetzten. Jusef hatte noch nie jemanden so viele Tränen vergießen sehen. Es war unheimlich, dass das Kind derart weinen konnte, ohne einen Laut von sich zu geben, doch gleichzeitig war es überaus faszinierend. Mit einer Kapuzenrobe bekleidet, stand Jusef vor dem Jungen und sagte auf Bahasa-Indonesisch: »Du weißt, warum ich wütend bin, nicht wahr?« Kliwon senkte den Kopf und Jusef seufzte. Unter seiner Kapuze klickte er nachdenklich mit den Zähnen. War er selbst jemals so demütig gewesen? Wohl kaum. Sein Vater hatte stets gelacht und ihm erzählt, dass er stolz und ehrgeizig auf die Welt gekommen sei. Von einem Tyrannen wie seinem Vater war dies in der Tat ein großes Lob. Aber nachdem Jusef Bang erklärt hatte, dass er Musiker werden wolle, kam kein Lob mehr über dessen Lippen. Erst als er sich den Mysterien des Okkulten zugewandt hatte, war sein Vater wieder sein Freund gewesen. Oh ja. Zumindest für eine kurze Weile. Er erinnerte sich noch gut an den letzten Tag, an dem es ihm noch wichtig gewesen war, was sein Vater dachte. An den Tag, an dem er zum Mann – Laturas Mann – geworden war. Und an eine der seltsamsten Nächte seines Lebens.
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Paris, 1996 Da war ein Mann. Oder war es eine Kreatur? Jusef wusste nicht genau, was von beidem zutraf. Aber dieser Mann konnte nicht getötet werden. Jusef hatte dies nur zufällig entdeckt, als er eines Nachts, nachdem er mit einer Gruppe am Montmartre gejammt hatte, die Straße hinunter zur nächsten Metrostation gegangen war. Er war nach rechts in die Rue Mariotte gebogen und ohne Eile wei tergeschlendert, obwohl es schon drei Uhr morgens war. Auf Leib wächter hatte er verzichtet, denn sie passten nicht zu seinem Stil. Und dann hatte er die Kampfgeräusche gehört. Und das Knurren. Im trüben Licht der Straßenlaternen hatte sich ihm ein Bild geboten, das ihn förmlich hypnotisierte: ein großes Wesen mit dem Körper eines Mannes, aber dem Gesicht eines Dämonen. Sein Haar war schwarz, sein Gesicht bleich. Er trug einen langen schwarzen Mantel. Dieser Mann kämpfte mit einem Geschöpf, das seinesgleichen zu sein schien – eine Kreatur mit grotesken Gesichtszügen und langen, spitzen Zähnen. Mit ihren unglaublichen Kräften schlugen sie so heftig aufeinander ein, dass sie durch die Luft flogen und gegen die Zie gelwände der Gasse prallten. Immer wieder griff die andere Kreatur fauchend an, aber für Jusef stand fest, dass der Große gewinnen würde. Die Verletzungen, die beide davontrugen, waren entsetzlich; normale Menschen wären längst an ihnen gestorben. Und dann, plötzlich, stach der Große mit einem Stock – oder einem Zauberstab – auf seinen Gegner ein. Und dieser explodierte in einer Staubwolke. Jusef hatte das Gefühl, sich in Stein verwandelt zu haben. Vor Erstaunen war er wie gelähmt. Der Sieger wandte sich ab, rannte die Gasse hinunter und wurde von der Nacht verschluckt. Es war vorbei. Von diesem Moment an war es Jusefs Ziel, eine vergleichbare Macht zu erlangen. Er engagierte Detektive, Medien und Wahrsager und kaufte teure okkulte Werke. Dann machte er die ersten Entdeckungen. Wundervolle Entdeckungen, mit deren Hilfe er seine Karriere vorantrieb. Sein Vater, der überall seine Spione hatte, erfuhr natürlich davon und machte Jusefs Hoffnungen und Träume zunichte. Aber fast noch schlimmer war, dass er Jusefs schwachsinnigen Vetter Slamet ins Spiel 76
brachte. Jusef war es ein Rätsel, warum sein Vater eine derart hohe Meinung von Slamet hatte, dem es an Ehrgeiz und Intelligenz mangelte, und das nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Vater, Sohn und Neffe entwickelten ihre magischen Kräfte immer weiter. Und während Bangs Macht in Indonesien wuchs und wuchs, wetteiferten die Staatsführer aller Länder um seine Gunst. Amerikani sche Generäle scherzten darüber, dass man »mehr Bang für sein Geld« bekam. Nach einiger Zeit durchschaute Jusef den unausgesprochenen Handel seines Vaters: Sein Sohn sollte sich ruhig hier und dort ein paar Tricks zu Nutze machen, um seine Karriere voranzutreiben, aber die wahre Macht musste Bangs ehrgeizigen Plänen dienen. Nur dann würde er es Jusef ersparen, die Geschäfte der Familie zu übernehmen, etwas, das sein Sohn zutiefst verabscheute. Nach weiteren Entdeckungen machte Jusef die ultimative Entdeckung: das Geheimnis ewigen Lebens. Latura war der Gott der Toten. Wer ihm diente, konnte ewig leben. Bang machte klar, dass, wenn jemand in der Familie das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten würde, er es war. Aber wie konnte er erwarten, dass ich ihm das Geheimnis des ewigen Lebens verraten würde, wenn nur einer von uns unsterblich werden kann?, fragte sich Jusef. Bang hatte seinem Sohn schließlich auch nicht verraten, wie man sich als körperloses blaues Licht von einem Ort zum anderen bewegen konnte. Und was war mit dem Dämon, der ihm entkommen war? Gegen was hatte sein Vater in der letzten Nacht seines Lebens gekämpft? Jusef fragte sich, wie Slamet sich wohl fühlte, jetzt, wo Bang tot war. Die Götter hätten Bang Rais vor allem Unbill schützen müssen. Jusefs Vater und Slamet hatten viele Schwüre geleistet und Hunderte von Menschen hier und in Indonesien geopfert, um Bang vor Krankheiten und Verletzungen zu bewahren. Und ihre Anstrengungen waren belohnt worden, was man daran erkennen konnte, dass zahlreiche Attentate auf Bang fehlschlugen. Aber ihr Wissen über Latura wies zahlreiche Lücken auf und basierte einzig auf einigen Seiten aus dem Tagebuch eines katholischen Priesters aus dem achtzehnten Jahrhundert. Obwohl es ihnen gelungen war, Laturas Macht anzuzapfen, hatten sie es nicht geschafft, direkten Kontakt mit dem Gott aufzunehmen. Dann brachte Jusef etwas Wundervolles in Erfahrung: Es gab ein Buch, eine schriftliche Aufzeichnung allen Wissens, das erforderlich war, um Latura in diese Welt zu holen. Den Gott zurückzuholen war der 77
Preis, den man für das Geschenk des ewigen Lebens zahlen musste. Dieses konnte jedoch nur einer Person zuteil werden, und zwar derjenigen, die Opfer bringen und die Riten und Zauberformeln lernen würde. Jemand, der Latura ein geeignetes Gefäß bereitstellte, in dem er auf Erden wandeln konnte. Wie das gehen sollte, war in besagtem Schriftwerk erklärt. Jusef war sich ziemlich sicher, dass es in einer kleinen Kirche unweit von Nias aufbewahrt wurde. Also schickte er Männer los, um danach zu suchen. Zum gleichen Zeit punkt begann Jusef, seinen Vater systematisch hinters Licht zu führen. Er gründete die Bruderschaft von Latura, einen streng geheimen Kult von Akolythen. Er fragte sich, ob Bang auch davon erfahren hatte, so wie er auch herausgefunden hatte, dass sein Sohn ihn belog. Es spielt keine Rolle. Er ist Futter für die Würmer, sagte er sich ner vös. Kurz nach der Gründung des Kults hatte Jusef erfahren, das das Buch nach Amerika geschmuggelt worden war. Offensichtlich hatte jemand den brillanten Einfall gehabt, es als Lehrbuch zu tarnen. »Englisch als Zweitsprache« – was für ein gelungener Scherz. Sofort hatte Jusef angefangen, die Besitzer dieses Buches ausfindig zu machen, und herausgefunden, dass sie alle interessanterweise derselben katholischen Pfarrei in Los Angeles angehörten. Der Priester dieser Pfarrei stammte aus Indonesien und war zur selben Zeit untergetaucht, als Jusef all diese Informationen bekommen hatte. Und ich werde dieses verdammte Buch finden, selbst wenn ich dabei jeden Menschen in Los Angeles umbringen muss. Apropos umbringen ... »Du hast nicht versucht, diese junge Dame zu bestehlen, oder?« Der Junge gab keine Antwort. Stattdessen senkte er den Kopf und weinte noch heftiger. Jusef entschloss sich zu warten. Wenn er irgendetwas als Sohn von Bang Rais gelernt hatte, dann die Tatsache, dass derjenige, der den ersten Schritt machte, immer verlor. Dann deutete er in die Dunkelheit, wo heftiges Flügelschlagen von den rußigen, blutgetränkten Wänden widerhallte und Klauen auf dem glatten, feuchten Boden klickten. Der Junge zerrte verzweifelt an seinen Ketten und rief: »Nein! Nein, pak!« »Aber deine Schwester hat die junge Frau bestohlen. Und du hast versucht, sie dafür zu bestrafen.« Die alte Frau hatte es ihm vor ihrem Tod erzählt, in der Hoffnung, dass er den Jungen verschonen würde. 78
»Sie hat nichts getan. Und ich habe nicht... ich habe sie nicht geschlagen, um sie zu bestrafen. Sie sagte, ich wäre dumm. Deshalb habe ich's getan.« Der Junge blickte zu ihm auf. Nur um ihn einzuschüchtern, trat Jusef einen Schritt zurück in die Schatten, was ihn wie ein Gespenst aussehen ließ. »Bitte, pak.« Das stammelnde Kind verfiel in seinen gutturalen und unangenehmen Heimatdialekt. Irgendetwas über seine Mutter und dass es ihr das Herz brechen würde, wenn ihre Kinder starben. Dass die Behörden nach ihnen suchen würden. »Du nichtswürdiger kleiner Sklave«, sagte Jusef verächtlich. »Glaubst du wirklich, dass mich dein Flehen berührt? Mich, Jusef Diener von Latura? Wie sehr du seine Macht doch unterschätzt!« Der Junge bettelte und flehte weiter, während seine Schluchzer immer lauter wurden. Viel zu laut. Jusef blickte nach oben und dachte an die vielen Men schen, die Gäste, die über das Anwesen spazierten. Er sah wieder den Jungen an, der sich jetzt nach vorn warf und dabei die Haut an seinen kleinen Handgelenken in Fetzen schnitt. Blutstropfen flogen durch die Luft. In der Dunkelheit schabten die Klauen gierig über den Beton. »Wo ist meine Schwester?«, schrie der Junge. »Was haben Sie mit meiner Schwester gemacht?« Jusef betrachtete das Kind fast freundlich. »Das wäre meine nächste Frage an dich gewesen«, informierte er den Jungen. »Da du offenbar nicht weißt, wo sie ist, hast du gerade dein eigenes Todesurteil unter schrieben.« Der Dämon – Jusefs Dämon – kroch in den Lichtkreis der nackten Glühbirne an der Decke. Vierbeinig, die Haut leuchtend grün, mit rohen Gesichtszügen, die tief in sein karmesinrotes Fleisch geschnitzt waren, und mit Flügeln, die so schnell wie die eines Kolibris flatterten. Wild kreischend stürzte er sich auf Kliwon. »Ich weiß, wer das Buch hat!«, schrie der Junge. Jusef war verblüfft. »Halt!«, befahl er dem Dämon. Doch es war zu spät, denn das weit aufgerissene Maul verschlang schon den Kopf des jungen. Zwar verriet ein leises Wimmern, dass das Kind noch am Leben war, aber es war eindeutig zu spät. Langsam setzte sich Jusef auf den Boden und lauschte in der Dun kelheit den Schlürf- und Kaugeräuschen. Er blickte zu dem Altar seines 79
Gottes hinüber und murmelte: »Für dich, mein dunkler Herr. Ein weiteres Opfer.« Aber jetzt zu seiner Schwester, dachte er. Celia. Das hat Vorrang. Jusef war ruhig und gefasst, als er den Tempel verließ und sich zu sei nem Vetter gesellte, der die Gäste begrüßte. Das sedhekah würde in Kürze beginnen, und der allgemeine Empfang hatte bereits begonnen. Jusef fand Slamet am Eingang des palastartigen Familienhauses. Es war ein Monument des Art deco, über das in Dutzenden von Zeit schriften geschrieben worden war. Die klaren Linien waren mit malvenund lavendelfarbenen Neonröhren betont, die eine fantastische Skulptur von Diana beleuchteten, die mit ihrem Bogen in einem Vollmond über der Doppeltür abgebildet war. Glassteine glühten warm im Kerzenlicht. Obwohl der Leichnam von Bang Rais in der Erde ruhte, war im Wohnzimmer ein Altar als Gedenkstätte aufgebaut worden. Die Gäste waren eingeladen – genauer gesagt, es wurde von ihnen erwartet –, den Göttern und dem Geist des lieben Verstorbenen ihren Respekt zu erweisen. In seinem elegant geschnittenen schwarzen Anzug sah Slamet durch und durch wie der trauernde Lieblingsneffe eines sehr reichen Mannes aus. Jusef trug ebenfalls Schwarz, einen topmodischen italienischen Anzug mit einem kragenlosen weißen Hemd. An seinen Füßen befanden sich jedoch Cowboystiefel. Er bemerkte Slamets missbilligenden Blick und grinste unwillkürlich. Was für ein engstirniger Mensch mein Vetter doch ist, dachte er. In diesem Moment rollte ein Polizeiwagen durch das Tor. Slamet zog die Brauen hoch und warf Jusef einen beunruhigten Blick zu. »Und jetzt?« Jusef zuckte die Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« »Diese Toten«, flüsterte Slamet. »Bist du sicher, dass sie unsere Spu ren nicht zurückverfolgen können?« Jusef verdrehte die Augen. »Fängst du schon wieder damit an?« »Warum hast du sie nicht auf weniger auffällige Weise getötet?«, fuhr Slamet fort. »Oder sie woanders umgebracht?« »Ich wollte unsere Feinde einschüchtern«, informierte Jusef ihn. »Sie wissen lassen, dass wir die Macht haben. Und sie glauben lassen, dass wir das Wissen haben.« »Aber sie wissen, dass wir das Buch nicht haben«, sagte Slamet leise. »Woher? Woher sollen sie das wissen? Zum Teufel, sie glauben, dass es zwei Bücher gibt. Aber es könnten auch zwanzig sein. Das alles sind 80
doch Überlieferungen, vermischt mit Legenden, Slamet. Weißt du, wie viele ›echte Kreuze‹ es in Europa während der Zeit der Kreuzzüge gab?« In diesem Moment trat eine wunderschöne Inderin mit ernstem Gesicht auf sie zu. Jusef verbeugte sich schweigend und sie verneigte sich ebenfalls. Sie bekleidete ein hohes Amt in der indischen Regierung, oder zumindest hatte sie das einmal. Jusef konnte sich beim besten Willen nicht mehr an ihren Namen erinnern. »Madame Krishnamurti«, sagte Slamet respektvoll. »Danke, dass Sie zu unserem Empfang gekommen sind.« »Madame«, echote Jusef. »Vielen Dank.« »Mein Beileid zum Tod eines großen Mannes«, entgegnete sie und ging weiter. Als der Polizeiwagen anhielt, sagte Slamet: »Was soll das? Vor allen Augen? In der Nacht von Onkels Beerdigung!« »In Indonesien wäre das nicht möglich«, stimmte Jusef zu. Die Beifahrertür öffnete sich und eine blonde Frau stieg aus, die Jusef bekannt vorkam. Natürlich. Sie war in den Nachrichten gewesen und hatte über die Brände gesprochen. Mit Meg gesprochen. »Mr. Rais?«, fragte sie. Ich werde es Slamet überlassen, dachte er und verhielt sich schweig sam. »Jusef Rais?«, fügte sie hinzu. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus, aber es gelang ihm, seine Fassung zu bewahren. Sie klappte eine Lederbrieftasche auf und ließ ihre Marke aufblitzen. »Ich bin Detective Lockley vom L. A. P. D. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Es findet gerade der Begräbnisempfang für meinen verstorbenen Vater statt«, erwiderte Jusef. »Kann ich Ihnen vielleicht zu einem ande ren Zeitpunkt helfen?« »Tut mir Leid«, sagte sie entschuldigend, aber es war klar, dass es sie nicht kümmerte, wer gestorben war oder was vor sich ging. »Gehen wir ins Haus, wo wir ungestört sind«, schlug Jusef vor. Slamet wollte ihnen folgen, doch die Frau hielt ihn mit einer Hand bewegung davon ab. »Im Moment brauche ich nur Ihren Bruder«, informierte sie ihn. »Er ist mein Vetter«, sagte Slamet mit gerunzelter Stirn. Dann wandte er sich an Jusef: »Soll ich unseren Anwalt anrufen?« »Sie erwarten Schwierigkeiten?«, fragte der Detective lauernd. 81
Slamet wurde rot, und Jusef hätte ihn am liebsten auf der Stelle erwürgt. »Nein, nein«, beeilte sich Slamet zu sagen und strafte damit seine eigenen Worte Lügen. »Es ist bloß so, dass wir sehr reich sind, verstehen Sie, und sehr bekannt. Wir müssen an unsere Stellung in der Gesellschaft denken.« »Ich verstehe.« Sie zuckte die Schultern. »Sie können anrufen, wen Sie wollen, Mr. Rais. Ich möchte Ihrem Vetter nur ein paar Fragen stellen.« Sichtlich verärgert stapfte Slamet davon. Jusef dagegen entschloss sich, weiterhin höflich zu sein. Lächelnd sagte er: »Ich nehme an, da Sie im Dienst sind, kann ich Ihnen keinen Champagner anbieten.« »Nicht für mich, danke«, sagte sie schroff. Jusef führte sie ins Haus, wo sie eine Reihe Diener mit schwarzen Trauerbändern um den linken Oberarm passierten und einen Salon betraten, den seine Mutter sehr geliebt hatte. Sie war vor vier Jahren gestorben, und Jusef vermisste sie noch immer. »Hübsch«, sagte der Detective. Sie setzte sich in einen Korbsessel mit ballonförmiger Rückenlehne. Das Zimmer war mit rotem Jasmin geschmückt. Jusef nahm ihr gegenüber Platz, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände. »Heute Abend hat ein kleines Mädchen einer Freundin von Ihnen die Handtasche gestohlen«, begann der Detective. »Der Name des Mädchens ist Celia Sucharitkul.« Jusef konnte nicht verhindern, dass er bei dem Namen zusammenfuhr. Als er sah, dass sie es bemerkt hatte, bemühte er sich um einen besorgten Gesichtsausdruck. »Ich fürchte, sie ist ausgerissen«, erklärte er und beugte sich leicht nach vorn. »Sie hatte sich mit ihren Brüdern gestritten.« »Das sind ...?« Er dachte einen Moment nach. Wie hieß der Kleine noch gleich? »Kliwon«, sagte er. »Und Decha.« »Decha wurde tot aufgefunden.« Er fuhr hoch. »Was?« »Verbrannt. Wir haben überall in der Stadt eine ganze Reihe ähnlicher Mordopfer gefunden. Wissen Sie etwas darüber, Mr. Rais?« »Nein. Natürlich nicht.« Meg hatte Jusef gesehen und wollte zu ihm gehen, doch jetzt blieb sie stehen und horchte. Ihr Herz hämmerte. 82
Sie sind wegen mir hier, dachte sie. Sie denken, dass ich etwas damit zu tun habe. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Olives entstellten Leichnam. Ihr drehte sich der Magen um, und fast hätte sie sich übergeben. Dann, ebenso deutlich, tauchte das Bild eines Mannes auf. Er war extrem bleich, und seine Augen und Haare waren schwarz. Er blickte verwirrt drein, so als könnte er sie ebenfalls sehen. War er ein Engel? »Angel?«, flüsterte sie. »Können Sie mir helfen?« Angel stopfte weißen Salbei und Rosmarin in etwas, das wie ein Tee-Ei aussah. »Ja, Doyle?«, sagte er. Dieser blickte von einem dicken alten Lederbuch auf und reckte den Kopf. »Ja, Mann?« »Hast du nicht gerade meinen Namen gesagt?«, fragte Angel und runzelte die Stirn. Doyle schüttelte den Kopf. »Nein. Ist das nicht das zweite Mal, dass dir so was passiert?« »Ja.« Angel berührte die Bisswunde an seinem Kopf. »Ich erinnere mich, dass Buffy einmal mit Dämonenblut in Berührung kam. Und danach konnte sie die Gedanken anderer Menschen hören.« »Telepathie«, sagte Doyle hilfsbereit. Angel legte den Talisman hin, den er vorbereitete, und blätterte in dem Buch, aus dem er das Herstellungsverfahren entnommen hatte. Es handelte sich um eine Übersetzung mit dem Titel Das dämonische Kompendium und enthielt einige Informationen über asiatische Dämonen. »Ich habe zu irgendjemandem Kontakt, ich weiß nur nicht, zu wem.« Er blätterte ungeduldig weiter. »Wenn du zufällig die lateinische Originalausgabe dieses Werkes bei eBay siehst, lass es mich wissen. Ich vertraue keinen Übersetzungen.« »Das ist ein seltenes Werk«, sagte Doyle, während er auf das Buch deutete. »Es gibt davon nur ein paar Exemplare.« Ich will mich nicht erinnern, flüsterte eine Stimme in Angels Kopf. Angel blinzelte. »Diesmal hab ich sie deutlich gehört. Es ist eine Frauenstimme. Sie klingt jung. Und sehr verängstigt.« Angel und Doyle sahen sich an. »Vielleicht ist es die Frau aus unserer gemeinsamen Vision«, vermutete Angel. Doyle hielt die Skizze hoch, die Angel angefertigt hatte. Sie hatten sie zusammen gezeichnet und waren nach sorgfältigem Studium schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Kleidung javanisch und ihre Tanzpose balinesisch war. 83
Indonesisch. Rais war ein indonesischer Name. Nach ein paar Minuten im Internet hatte Angel herausgefunden, dass die Raises eine sehr vermögende Familie mit großem Einfluss in Asien und den USA waren. Die Hauptquelle ihres Wohlstands war die Textilindustrie. »Die Limousine ist gleich hier«, rief Cordelia sie in diesem Moment an. »Der Fahrer hat mich gerade auf meinem Handy angerufen, um es mir mitzuteilen.« Sie hatten sie mit zu Angel genommen, um dort weiter an den rätselhaften Verbrennungsfällen arbeiten zu können. Und obwohl Cordelia nicht besonders begeistert gewesen war, hatte sie es verstan den. »Okay. Die Party geht los«, sagte Angel. Er und Doyle trugen schwarze Anzüge, verzichteten aber auf Mäntel, da die Nacht warm war. Mit dem Aufzug fuhren sie nach oben, wo sie Cordelia trafen, die nervös auf und ab ging. Doyles Augen weiteten sich bei Cordelias Anblick. »Du siehst großartig aus«, sagte er bewundernd. Das tat sie wirklich. Sie hatte das Haar zu einem Chignon gebunden, ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht, und ihr schwarzes Kleid war tief ausgeschnitten, ohne unzüchtig zu wirken. Sie trug ein pechschwarzes Halsband und einen dazu passenden Armreif, schwarze Strümpfe und schwarze Stöckelschuhe. »Ihr seht auch nicht gerade übel aus«, meinte sie anerkennend. »Hier.« Angel reichte ihr eine kleine Cloisonnékugel, die Cordelia mit angewidertem Gesicht zur Kenntnis nahm. »Iih. Wozu soll das gut sein? Es stinkt.« »Es ist ein Talisman«, erklärte Angel nachsichtig. »Er soll das Böse abwehren, sofern meine Nachforschungen richtig waren. Ich brauche unbedingt die lateinische Originalausgabe.« »Hast du es schon bei Shopping.com versucht?«, fragte Cordelia. »Ich habe den halben Tag – die halbe Mittagspause – damit verbracht. Sie haben lauter tolle Sachen. Die ich mir allerdings nicht mehr leisten kann.« »Es kommen schon noch bessere Zeiten«, versicherte ihr Doyle. »Steck den Talisman in deine Handtasche«, forderte Angel sie auf. »Lieber nicht«, rief Cordelia und schauderte theatralisch. »Ich habe mehrere Stunden in der Gesellschaft der hygienisch Vernachlässigten verbracht und mich gerade mit teurem Parfüm im Wert von zwanzig Dollar besprüht. Außerdem ist das meine gute Handtasche für den 84
Abend, und ich kann mir keine neue leisten, wenn der Gestank nicht rausgeht.« Angel hielt ihr den Talisman weiter hin. »Möchtest du lieber zu Asche verbrennen?« »Nimm ihn«, drängte Doyle. Dann sah er Angel an. »Und wo ist mei ner?« »Ich habe drei gemacht.« Angel wies zum Schreibtisch, auf dem die beiden anderen lagen. Er gab Doyle einen und steckte den anderen in die Tasche seines Anzugs. »Okay. Doyle, du hältst dich an Cordy, und ich folge euch«, sagte Angel. »Wenn sie dich abweisen, werden sie mich wahrscheinlich auch nicht reinlassen.« Er sah Cordelia an. »Und was machst du, wenn wir nicht reinkom men?« »Einen Anfall vortäuschen«, erklärte sie, »worin ich gut bin. Wie du weißt.« »Ja, das weiß ich«, bestätigte Angel. »Oder du sagst, dass es dir nicht gut geht«, schlug Doyle vor. »Egal, wie du es machst«, sagte Angel. »Hauptsache, du verschwin dest von dort. Du gehst auf keinen Fall rein, ohne dass mindestens einer von uns dich begleitet.« »Okay.« Dann hatte sie offensichtlich einen Einfall und straffte sich. »Seid ihr sicher, dass ich kein Mikrofon tragen soll? Oder eine Perücke? Oder soll ich mir einen künstlich klingenden ausländischen Akzent wie Doyle zulegen?« »Cordy, du steigerst dich zu sehr da rein«, warnte Angel. »Schalt mal 'nen Gang runter, okay?« »Und zu deiner Information, mein Akzent klingt nicht >künstlich<«, sagte Doyle pikiert. »Ich wurde mit diesem Akzent geboren.« »Nun, Angel ist auch Ire, und er läuft nicht herum und imitiert einen Kobold.« »Er hat auch sein Heimatland viel früher verlassen als ich.« »Okay, okay. Kein Grund, sich aufzuregen«, riet Cordelia ihm. »Für unsere Mission brauchst du eine kühle Frische.« Angel musterte sie. »Wofür war noch mal dein letztes Vorsprechen?« »Für eine Mundwasserwerbung.« Doyle trat ans Fenster und spähte durch die Jalousien. »Die Limousine ist da.« »Es geht los«, flüsterte Cordelia. »Nervös?«, erkundigte sich Doyle. 85
Cordelia schnaubte. »Ja, genau. Die Königin der Coolen ist nervös, nur weil sie mit einer Limousine zum Anwesen einer reichen Familie fährt, um dort an einer Beerdigung teilzunehmen. Ich bitte dich.« »Hol einfach tief Luft«, schlug Doyle vor. Sie verdrehte die Augen. »Kommt, gehen wir. Ich hoffe, dass es dort ein Büfett gibt, denn ich sterbe vor Hunger.« Doyle und Cordelia gingen hinaus, während Angel einen Moment im Hausflur wartete, um ihnen einen kleinen Vorsprung zu geben. Der Chauffeur stieg aus und öffnete die Tür. Als seine beiden Fahr gäste an ihm vorbeikamen, bedachte er Cordelia mit einem seltsamen Blick und starrte dann für einen Moment ihre Handtasche an. Er sah nach links, dann nach rechts und schüttelte kurz den Kopf, als würde er jemandem, der sich in der Dunkelheit verbarg, ein Zeichen geben. Angel konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Und dieses Gefühl, das er sogar am ganzen Körper spüren konnte, zog sich von der schmerzhaften Schlangenbisswunde an seiner Schädeldecke bis in seine Zehen. Dann machte Angel ein paar Schritte auf die Haustür zu, öffnete sie und trat hinaus in die Nacht.
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Siebtes Kapitel
Als sich Angel dem überdachten Parkplatz näherte, wo sein Wagen stand, war er überzeugt, Schritte hinter sich zu hören. Sogleich griff er zu einem alten Trick, indem er seine Schritte beschleunigte und gleich darauf wieder langsamer wurde. Wer auch immer ihn beschattete, war entweder gut oder nur ein Produkt seiner Einbildung. Die Tür Nummer eins ist die richtige, dachte er, als etwas Hartes seine Schultern traf. Er ließ sich nach vorn fallen, während er gleichzeitig nach hinten trat und seinen Fuß in die Magengrube des Angreifers rammte. Ohne einen Moment zu zögern, drehte er sich um neunzig Grad und versetzte diesem einen weiteren Tritt. Sein schwarz gekleideter Angreifer hatte lange, zu einem Zopf gebundene Haare und eine hässliche Narbe an der linken Gesichtsseite. Das Tattoo eines Totenschädels war in das Narbengewebe hineingearbeitet worden, und als der Mann vor Schmerz zusammenfuhr, schien das Tattoo zu zucken und sich zu winden. Angel drehte sich um weitere neunzig Grad und verpasste dem Mann einen Stoß, der ihn zurückstolpern ließ. Schnell trat Angel auf ihn zu und gab ihm erneut einen Stoß. »Wer bist du?«, fragte er. »Wer hat dich geschickt?« Der Mann hustete Blut. Dann, bevor er sein Gesicht schützen konnte, schlug Angel ihm direkt auf die Nase. Aufheulend ging der Fremde in die Knie. Er senkte den Kopf und stützte keuchend die Hände auf den Boden. Angel trat ihm mit voller Wucht auf die rechte Hand, und mit einem Aufschrei kippte der Mann nach hinten. »Wer hat dich geschickt?«, fragte Angel, während er seinen Angreifer am Kragen packte. »Ich bin ein Diener Laturas«, krächzte der Mann. Blut tropfte über sein Kinn. »Wer ist das?« Der Mann spuckte einen Zahn aus. Dann weiteten sich seine Augen und er sagte: »Töte mich jetzt, oder mein Herr wird es tun.« »Vielleicht sollte ich es deinem Herrn überlassen.« »Nein«, flehte der Mann. »Dann wird Latura meine Seele essen.« 87
»Ist Latura dein Kampfsporttrainer?« Der Mann riss die Augen auf, doch sein Blick glitt an Angel vorbei, der einen derartigen Blick schon früher gesehen hatte. Er wusste, was er tun musste. Er ließ sich zu Boden fallen und rollte aus dem Weg, als der zweite Angreifer sich auf ihn stürzte. Von seinem eigenen Schwung getragen, prallte der zweite Angreifer gegen den Mann auf dem Boden. Kurz darauf schrien beide vor Schmerz und Wut auf. Bevor der zweite Kerl sich wieder aufrappeln konnte, war Angel an seiner Seite und verdrehte ihm mit aller Kraft den linken Arm. »Noch zwei Zentimeter, und er wird brechen«, versprach Angel ihm. Der Mann stöhnte. »Bitte, nicht. Latura, ich bin dein Diener.« Angel runzelte die Stirn. »Hat dein Boss eine Adresse?« Der Mann schwieg. Dann schrie er vor Schmerz auf, als Angel seine Drohung in die Tat umsetzte. Der Schrei erinnerte Angel an früher. Es gab eine Zeit, in der ich derartige Dinge zum Vergnügen getan habe, dachte er. Es hat mir Spaß gemacht, Menschen zu quälen. Jetzt geht es nur darum, meinen Job zu erledigen. Tränen rannen über das Gesicht des Mannes, und er murmelte etwas, das Angel nicht verstehen konnte. »Wenn nötig, werde ich dir noch mehr Schmerzen zufügen«, versprach Angel. »Sag mir, wer Latura ist.« »Mein Gott«, flüsterte der Mann. »Ich werde dich nur noch einmal fragen.« »Mein Gott. Er ist mein Gott.« Ah. »Und warum hast du mich angegriffen?« Der Mann konnte kaum noch sprechen. »Unsere Pflicht... ist es, die Familie zu beschützen. Ich ... ich weiß nicht, warum ich Sie angreifen sollte.« »Wer ist dein Auftraggeber?« »Mustafa. Der Chauffeur.« »Der Limousine?«, fragte Angel alarmiert. Der Mann nickte und brach dann in Tränen aus. Angel zog ein Handy aus der Tasche und wählte Cordelias Nummer. Er wartete, während es klingelte. Und klingelte. Und klingelte. Währenddessen verschmolz eine Gestalt in der Dunkelheit wieder mit den Schatten. Jusef wird das gar nicht gefallen. 88
»Sind wir hier in einem Film oder was?«, flüsterte Cordelia Doyle auf geregt zu. »Welcher Film? Big Trouble in Little China"?«, murmelte Doyle. Sie hatten das indonesische Äquivalent des Checkpoint Charlie passiert, und was da jetzt vor ihnen aufschwang, waren massive, jade grüne Torflügel. Doyle gefiel überhaupt nicht, was er da sah. Noch weniger gefiel ihm, dass er Angels Kabrio aus den Augen ver loren hatte, was angesichts dieses ganzen Gewimmels und Tumults kein Wunder war. Es erinnerte ihn an das Treiben am Grenzübergang zwischen Tijuana und San Diego, montagmorgens, wenn alle Dienstund Kindermädchen sowie Gärtner und sonstige Hausangestellte zu ihren Arbeitsstellen strömten. »Es ist einfach ...«, begann Cordelia, doch ihr fehlten die Worte, was durchaus verständlich war. Da waren Laternen und Fackeln, chinesische Gongs und riesige Statuen unheimlich anmutender Kreaturen, die wie eine Mischung aus Alligatoren, Schlangen und Dämonen aussahen. Lebensgroße Formschnitte von Affen und Elefanten wurden von Dutzenden kleiner Glühbirnen beleuchtet. Dazu wimmelte es von Leuten in Anzügen und Abendkleidern, die Kristallgläser in den Händen hielten und sehr, sehr reich aussahen. Zu ihrer Rechten parkten Bedienstete in schwarzen Hosen und weißen Hemden mehr BMWs, Jaguars und Mercedes ein, als man bei den meisten Händlern finden konnte. Dort fuhr ein klassischer T-Bird. Oh Gott, und ein Lotus. »Wow, was für eine Beerdigung«, murmelte Cordelia. »Ausgesprochen prunkvoll«, stimmte Doyle zu und drehte sich wieder um. »Entspann dich«, flüsterte Cordelia. »Mein Handy hat nicht geklingelt. Er muss also hier irgendwo sein.« Das beruhigte Doyle ganz und gar nicht. Das Ganze war nicht gerade ein narrensicherer Plan, und ihm und Angel war diese Tatsache durchaus bewusst. Es wäre besser gewesen, Angel hätte angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass er auf das Anwesen gelangt war. Vielleicht war aber auch der Akku seines Handys leer oder der Empfang gestört – es gab viele Möglichkeiten. Sie konnten nicht sicher sein, dass er es geschafft hatte. Der Wagen hielt an. Die Tür wurde geöffnet. »Hi«, sagte Cordelia strahlend. Ihre Augen leuchteten, als eine männliche Hand sich ihr entgegenstreckte und sie anmutig aus der Limousine stieg. Höchstwahrscheinlich ging ihr jetzt der Film Wie angle ich mir einen Millionär durch den Sinn. 89
Als Doyle ausstieg, sah er Cordelia vor einem gut aussehenden Mann in hipper Kleidung stehen. Über Doyles Anwesenheit schien er nicht besonders begeistert zu sein, aber Doyle reagierte nicht darauf. Es war ihm egal. »Selamat malam«, sagte der Mann und an Doyle gewandt, als wäre dieser der Einzige, der eine Übersetzung brauchte: »Guten Abend.« »Ebenfalls«, antwortete Cordelia, aber Doyle konnte erkennen, dass sie aus irgendeinem Grund enttäuscht war. »Doyle, das ist Slamet Rais. Slamet, mein Freund Doyle.« »Ah, Sie haben ein Date mitgebracht.« Slamet klang verletzt. Cordelia lächelte. »Nein. Er ist nur ein Freund.« Sie fügte schüchtern hinzu: »Ihr Vetter sagte, je mehr Leute kommen, desto größer wäre die Ehre für Ihren Onkel.« »In der Tat.« Slamet bot Doyle seine Hand an. »Willkommen.« Als Doyle dem Mann die Hand schüttelte, blickte Cordelia zu dem Gewimmel der Leute und ankommenden Autos hinüber. »Suchen Sie jemanden?«, fragte Slamet Rais freundlich. Er weiß, dass etwas im Busch ist, dämmerte es Doyle. Vielleicht hat er die Talismane bemerkt. Doyle streckte seine Hand nach Cordelia aus. »Ich denke, wir sollten besser gehen ...«, fing er an. Doch genau in diesem Moment trat ein anderer Mann zu Slamet. Ein wahrhaft kräftiger, großer Mann. Kurz darauf kam noch einer. Und noch ein paar. »Bitte, das sedhekah wird in Kürze beginnen«, sagte Slamet, während er die Handflächen aneinander legte und sich knapp verbeugte. »Oh, gut«, sagte Cordelia, ohne den warnenden Blick zu bemerken, den Doyle ihr zuwarf. Sekunden später setzte sich die Gruppe in Bewegung und betrat das Haus. »Okay, jetzt zu Ernesto Torres«, sagte der blonde Detective zu Jusef. »Er war einer Ihrer Angestellten?« »Nein, nein«, erwiderte Jusef amüsiert. »Wir haben für ihn Fabrik räume gemietet. Ich glaube, es gab einige Verstöße gegen die Bauord nung, aber zwei Monate später meldete der Bauinspektor, dass alles in Ordnung gebracht worden sei. Sie können die Unterlagen einsehen.« Das stimmt nicht, dachte Meg. Ernesto Torres war der Aufseher einer Nähergruppe. 90
»Kann ich bitte den Totenschein Ihres Vaters sehen?«, fragte der Detective plötzlich. Meg stockte der Atem. »Detective«, sagte Jusef, »wir sind zwar rund um den Pazifik geschäft lich aktiv, aber meine Familie stammt aus Indonesien. Wir praktizieren adat, was bedeutet, dass wir uns an unsere Bräuche halten. Unser Glaube verlangt, dass die Familie persönlich die Rituale durchführt, die bei einem Todesfall vorgeschrieben sind. Die Waschung des Leichnams, die Vorbereitung des Scheiterhaufens, all das wird von den Verwandten des Verstorbenen übernommen.« »Was hat das mit seinem Totenschein zu tun?«, fragte Kate. Meg konnte es kaum fassen. In Indonesien wagte es niemand, derart respektlos zu einem Rais zu sprechen. »Was ich damit sagen wollte, war, dass wir auch unseren eigenen Arzt haben. Er hat den Totenschein ausgestellt. Der Leichnam meines Vaters hat nach seinem Tod das Anwesen nicht verlassen.« Jusef hatte die Stimme leicht erhoben. Er ist wütend, dachte Meg. »Sollten Sie uns also aus irgendwelchen Gründen nicht trauen ...« »Wussten Sie, dass Mr. Torres' Leiche nach seinem Tod zu einem anderen Ort geschafft wurde?«, wechselte sie das Thema. Für einen Moment herrschte Stille. Dann sagte Jusef: »Nein, das wusste ich nicht, Detective. Woher auch?« »Offenbar wurde er in einem Lagerhaus ermordet.« Sie warf einen Blick auf das Notizbuch in ihrem Schoß. »Und anschließend sieben Blocks weiter zu einem weniger abgeschiedenen Ort gebracht. So als hätte jemand gewollt, dass er gefunden wird.« Jusef zuckte die Schultern. »Ich kann mir keinen Grund dafür vor stellen.« »Vielleicht wollte jemand eine Warnung hinterlassen.« »Gut möglich«, räumte er ein. »Oder vielleicht wollte jemand, dass er von uns gefunden wird.« »Auch das ist möglich. Detective, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir haben einen Brauch namens sedhekah. Dabei handelt es sich um eine Zeremonie, die übrigens in diesem Augenblick beginnt. Und da ich der Sohn der Familie bin, muss ich anwesend sein.« »In Ordnung.« Kate klappte ihr Notizbuch zu und griff nach einer schwarzen Ledertasche. Meg, die bisher unbemerkt das Gespräch belauscht hatte, zog sich weiter ins Dunkle zurück. »Noch einmal mein Beileid, Mr. Rais.« »Danke.« 91
Sie waren beide aufgestanden, und Jusef ergriff die Hand, die die Frau ihm zum Abschied hingestreckt hatte. »Ich finde allein hinaus«, erklärte sie. Sobald der Detective den Raum verlassen hatte, verlor Meg die Beherrschung. Eilig rannte sie zu Jusef, der sie verblüfft anstarrte. »Baby«, sagte er und streckte die Arme aus. »Ich habe Angst«, murmelte sie. »Ich hänge da mit drin. Ich weiß nur nicht, wie.« Er zog sie an seine Brust und streichelte ihr Haar. Dann führte er sie zu einem der Sessel und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Dann kniete er vor ihr nieder und nahm ihre Hände. »Schau mir in die Augen, Meg«, sagte er. Sie gehorchte. »Sieh genau hin. Sieh dich selbst, wie du bist. Die Meg, die ich liebe.« Sie lächelte kurz. »Sieh die wunderschöne Frau, die ich liebe. Schau sie dir von Kopf bis Fuß an.« Sie entspannte sich langsam, die Muskeln in ihrem Rücken und ihren Schultern lockerten sich. Ihr Kopf fühlte sich schwer an, und sie wusste, dass sie hypnotisiert wurde. Sie hatte dies schon hundertmal erlebt, und jedes Mal fiel es ihr leichter, sich hinzugeben. »Du bist ein Gefäß aus purem Licht«, sagte er leise. »Ein vollkomme nes Gefäß. Sprich es mir nach, Meg.« »Ein Gefäß«, flüsterte sie. »Ja. Jeder Moment deines Lebens. Jeder Tag deines Lebens. Das große Rad hat sich gedreht, um dich hierher zu bringen.« »Ja.« »Schließ jetzt deine Augen. Sieh genau in die Flamme.« Es war ein Trick, den er ihr beigebracht hatte, um ihr zu helfen, in den hypnotischen Zustand zu fallen. Sie sollte eine Statue visualisieren und in den leeren Augenhöhlen der Statue eine Flamme. Und in der Flamme sich selbst, wie sie tanzte. Sie war von Kopf bis Fuß in Gold gehüllt und tanzte den barong; ihr Kostüm bestand aus purem Gold. Sie war eine Tempeltänzerin. Sie war schon immer eine Tempeltän zerin gewesen, die durch die Zeit glitt. Mit ihren Händen und Füßen würde sie die Götter heraufbeschwören. Würde sie den Gott heraufbeschwören. Latura, sagten ihre Hände. Latura, sagten ihre Füße.
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Nias, Indonesien, 1863 Die Dienerin bebte, als die Köpfe gebracht wurden. Im getrockneten Zustand waren sie geschrumpft, und die Gesichterwirkten unmenschlich. Das Fleisch der Toten kochte in den Töpfen. Der Häuptling, der sie für seine Familie beansprucht hatte, verfolgte anerkennend, wie die Sklaven seiner Söhne mehr und mehr Köpfe brachten. War denn außer diesem Clan überhaupt noch jemand am Leben? »Mein Haus erweist dir eine große Ehre«, sagte der Häuptling zu ihr. »Jetzt wirst du meinen Sohn heiraten. Und ihm deine Magie schenken.« Der Bräutigam war jünger als sie, stark und männlich. Er und seine Krieger hatten bei einem einzigen Angriff mehr Köpfe erbeutet als irgendjemand zuvor. In ihrer Welt wurden Bräute mit Köpfen gekauft, und noch nie zuvor hatte sie so viel Tod gesehen. Bei jedem verwesenden Kopf, der vor ihre Füße geworfen wurde, schloss sie die Augen und sang: »Für dich, Latura, Gott der Unterwelt.« Sie wollte nicht der Auslöser für all dieses Gemetzel sein, aber war sie nicht die Botin des Todes? Wenn der Gott unter den Lebenden wandelt, wird er alles vernichten, was er berührt. Alles, was er ansieht. Alles, was sein Atem streift. Davon war sie überzeugt. Tief in ihrem Innern, wo Latura jetzt hauste. Plötzlich warf sie sich vor dem stolzen jungen Mann zu Boden, schüttelte ihr Haar zur Seite und entblößte ihren Nacken. »Köpfe mich lieber«, flehte sie, »statt mich zu heiraten.« Für einen Moment rührte sich niemand. Niemand sprach und niemand atmete. Dann traf irgendetwas ihren Kopf, schnell und zielsicher, und sie brach unter der Wucht des Schlages zusammen. Nein, ich will nicht sterben, dachte sie in diesem Moment verzweifelt. Sie wusste damals nicht, dass kein Mensch jemals sterben wollte. Sie wollten höchstens vom Schmerz erlöst werden. Und vom Schrecken des Augenblicks. Aber sterben? Niemals. Als sie erwachte, befand sie sich im Haus der Häuptlingsfamilie. Ihr Bräutigam war bei ihr und schenkte ihr ein Kind. Ihre Tochter wurde im folgenden Sommer geboren – in den Adern floss das Blut der Dienerin. Diese weinte angesichts des Schicksals, das auf ihr Kind wartete. 93
Und so versuchte sie diesmal einen Handel mit Latura zu schließen: »Wenn ich alles niederschreibe, was ich weiß, wirst du sie dann ver schonen?« Der Gott stimmte zu und versprach, dass ihre Tochter ein gutes, wenn auch kurzes Leben führen und dass er ihr sicheres Geleit zum Hause seines Zwillings Lowalangri im Himmel gewähren würde. Im Gegenzug ritzte die Dienerin, die die Künste der Kopfjäger gelernt hatte, seine Beschwörungsformeln in Bambusstäbe. Es dauerte Monate, und während dieser Zeit versteckte sie die Stäbe unter ihren Habseligkeiten. Als sie fertig war, erzeugte der Gott ein großes Feuer, das durch das Dorf raste und alles niederbrannte bis auf die Bambusstäbe. Und das Kind der Dienerin, das schreiend in den verkohlten Ruinen lag, bis eine Gruppe holländischer Missionare eintraf und es fand. Sie konnten die Stäbe nicht entziffern, und es kümmerte sie auch nicht. Aber eine freundliche Nonne, die vermutete, dass sie wichtige Informationen über die Herkunft des Kindes enthielten, sammelte sie sorgfältig auf, brachte sie zu ihrem Lager und legte sie neben das schlafende Baby, das auf den Namen Maria getauft worden war. Obwohl Slamet sich mit Cordy und Doyle unterhielt, war es eindeutig, dass er mit den Gedanken woanders war. Cordelia störte es allmählich, dass er sie ständig berührte, schließlich hatte er noch vor kurzem eine Leiche angefasst. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Offensichtlich hatte sie die Zeit, in der sie mit Toten in Berührung kam, noch nicht hinter sich gelassen. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie gelegentlich Angel umarmte. »Diese Leichenwäsche ist also eine indonesische Sitte«, fuhr sie fort, hauptsächlich, um irgendetwas zu sagen. Ihr dämmerte, dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte – aus Nervosität wegen der Vor sprechprobe –, und ihr Magen knurrte. Sie lachte, um es zu übertönen, und Slamet warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Ich kann verstehen, dass meine Worte Sie amüsieren«, erwiderte er. »Schließlich besteht mein Land aus vierzehntausend Inseln.« Er streckte seine Hände aus. »So etwas wie ›Indonesisch‹ gibt es eigentlich nicht. Vielleicht abgesehen vom Bahasa-Indonesisch, unserer Hauptsprache. Aber selbst das ist nicht Indonesisch, sondern Malaiisch.« »Oh, ja«, sagte sie strahlend, während sie sich fragte, wo zum Henker sie auf einer Karte jemals vierzehntausend Inseln gesehen hatte. Slamet, Doyle und sie schlenderten unter Reihen von roten und gelben Lampions entlang und passierten lange, mit weißen Leinentüchern 94
gedeckte Tische, hinter denen Männer in Smokings standen. Diese füllten Gläser mit Strömen von Champagner, während andere Kellner mit großen Messingtabletts Schlange standen, um die Getränke abzuholen. »Wir sind keine Muslime«, sagte Slamet. Er sah zu einem Kellner hinüber, und schon eilte dieser mit einem kleinen goldenen Serviertablett heran, auf dem zwei Gläser standen. Slamet nahm beide und reichte eins davon Cordelia und das andere Doyle. »Auf das Karma«, sagte er, »die große Drehung des Rades.« »Gleichfalls«, prostete Cordelia zurück. Doyle warf ihr einen warnenden Blick zu. Trotzdem nahm Cordelia einen winzig kleinen Schluck. Sie musste irgendetwas in den Magen bekommen, bevor sie Alkohol trank. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, nahm Slamet ihr Glas und sagte: »Bitte folgen Sie mir. Das sedhekah findet in einem besonderen Haus statt. Die anderen Gäste hier nehmen am normalen Empfang teil.« Cordelia war geschmeichelt, zur Elite zu gehören. Was auch völlig richtig ist, erinnerte sie sich. Und wie es normalerweise auch der Fall wäre, wenn Daddy nicht sein ganzes Geld verloren hätte. Slamet schnippte mit den Fingern, und ein anderer Diener eilte herbei, einen kleinen schwarzen Schal in der Hand. »Bitte, Miss Chase, seien Sie nicht beleidigt. Aber dies gehört zur Tradition«, erklärte Slamet. »Bitte?« Er breitete den Schal aus und hielt ihn hoch. »Adat verlangt, dass die Frauen den Weg zum Ort des sedhekah nicht sehen dürfen. Daheim in Indonesien dürften Sie nicht einmal daran teilnehmen.« »Sie wollen, dass ich eine Augenbinde trage?«, fragte sie ungläubig. Sie sah Doyle an, doch der runzelte nur die Stirn. »Nur für kurze Zeit. Vielleicht zwei Minuten.« Er lächelte. »Wir sind an einem öffentlichen Ort. Hier wird Ihnen nichts geschehen.« Sie legte ihre Hand an die Brust. »Da dies Ihr Anwesen ist, handelt es sich eigentlich nicht um einen öffentlichen Ort. Oh.« Sie starrte Doyle an. Er starrte zurück. Kein öffentlicher Ort. Angel braucht eine Einladung, um auf das Anwesen zu gelangen, sonst kann er keinen Fuß darauf setzen. Es war Teil seines Daseins als Vampir: Er konnte nur dann ein Haus betreten, wenn man ihn dazu einlud. 95
Sie sah an Doyle vorbei und entdeckte einen Streifenwagen, der langsam durch die Menge Richtung Tor fuhr. »Wir werden sorgfältig beschützt«, sagte Slamet mit einem Blick in dieselbe Richtung. »Denn als reiche Leute sind wir immer vorsichtig und bemühen uns stets um ein gutes Verhältnis zu den Behörden und dem Land, in dem wir zu Gast sind.« Er ergriff ihre Hand und hauchte einen KUSS auf ihre Knöchel, um sie dann mit seinen dunklen, tiefgründigen Augen anzusehen. »Ihnen wird kein Leid geschehen. Das verspreche ich.« »Was ist mit mir?«, fragte Doyle. Slamet lachte leise. »Ihnen wird auch nichts passieren.« »Sie haben nur eine Augenbinde«, erwiderte Doyle und deutete auf die Augenbinde. »Sie sind ein Mann«, sagte Slamet. »Genau.« Doyle klang, als wäre er sich dessen nicht ganz sicher. Dann wandte er sich an Cordy. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich würde lieber gehen, wenn du nichts dagegen hast.« Sie zögerte. Dann dachte sie: Was tue ich eigentlich? Es ist definitiv Zeit, von hier zu verschwinden. »Okay, Doyle«, sagte sie und an Slamet gewandt: »Es tut mir schreck lich Leid. Er hat seit, äh, dem Krieg eine Menge Gesundheitsprobleme.« »He«, protestierte Doyle, hielt aber dann klugerweise den Mund. »Krieg?« Slamet blickte verwirrt drein. »Ja. Nun ... die Limousine?« »Natürlich. Ich lasse sie herholen.« Slamet wirkte unentschlossen. »Es kann ein paar Minuten dauern.« »Aber sie stand doch gerade noch da«, wandte Cordelia ein. »Es ist ziemlich voll auf dem Anwesen«, erklärte Slamet und winkte einen stämmigen Mann zu sich. Der Kerl trug einen Anzug, aber er sah ganz und gar nicht wie ein Anzugträger aus. Eher wie der Muskelmannam-Strand-Typ. Er kam herüber und legte die Hände aneinander. »Kümmern Sie sich bitte um unsere Gäste«, wies Slamet ihn an. Dann neigte er den Kopf und ging davon. »Mir gefällt das nicht«, murmelte Cordelia. »Mir auch nicht«, gab Doyle leise zurück. »Und bei den vielen Leuten hier kann ich mir auch nicht den Weg nach draußen freikämpfen.« Sie schloss die Augen und murmelte: »Ich lade dich ein, ich lade dich ein, ich lade dich ein.« »Schlage dreimal die Hacken zusammen«, riet ihr Doyle. »Oh. Okay.« Sie gehorchte. 96
Dann fügte er im amüsierten Tonfall hinzu: »Und jetzt sprich mir nach. ›Zu Hause ist es am schönsten.‹« »Haha. Sehr witzig.« Sie öffnete die Augen. »Es funktioniert nicht, hm?« »Cordy, wenn man Vampire auf so einfache Weise einladen könnte, würde diese Beschränkung wenig Sinn machen.« »Und was jetzt?« »Es ist ziemlich kompliziert«, erklärte er. »Glaube mir, es ist kompli ziert.« Er verdrehte die Augen. »Genauso wie die Tatsache, dass Men schen Schlaf brauchen.« »Okay.« Sie verstand nicht, wovon er sprach, aber sie nahm an, dass es keine Rolle spielte. »Lass uns einfach von hier verschwinden, okay?« Dann seufzte sie. »Warum entpuppen sich nur alle reichen Männer in dieser Stadt als böse? Als ich noch Geld hatte, war ich nicht böse.« »Man muss böse sein, um in dieser Stadt reich zu werden«, meinte Doyle. »Oder vielleicht begegnest du unglücklicherweise immer nur Männern, die das glauben.« Slamet fand Jusef in einem der Zimmer. Meg war bei ihm. Sie saß zusammengesunken in einem der hochlehnigen Korbsessel, die Slamets Tante – Jusefs Mutter – so geliebt hatte, und Jusef saß ihr gegenüber. Er hatte ein Handy in seinem Schoß liegen und nippte an einem Glas Champagner. Eilig lief Slamet zu ihnen und stutzte dann, als er die junge Frau genauer ansah. Ihre Augen waren glasig und ihre Kinnlade hing herab. Erneut fiel ihm auf, dass sie, abgesehen von ein paar kleinen – und kaum merkbaren – Unterschieden, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Cordelia Chase hatte. »Slamet«, sagte Jusef. »Gut, dass du kommst.« Er klopfte auf sein Handy. »Ich habe ein paar interessante Neuigkeiten. Als die Limousine Cordelia Chase abgeholt hat, waren zwei Männer bei ihr.« Slamet runzelte die Stirn. »Zwei?« »Und alle drei trugen Schutzamulette gegen diverse Unterarten von asiatischen Dämonen.« Slamet öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. »Und sie schien so ein nettes Mädchen zu sein«, sagte Jusef gedehnt. »Irgendeine Teufelei ist im Gange. Sie wissen, wer wir sind.« »Es waren also zwei Männer.« Jusef trank erneut einen Schluck Champagner. Erwirkte entspannt, aber Slamet sah, dass seine Hand zitterte. 97
Wenn Jusef Angst hat, stecken wir in ernsten Schwierigkeiten, dachte er besorgt. »Sie ist aber nur mit einem gekommen«, informierte Slamet ihn schließlich. »Ich weiß. Der andere hat zwei meiner besten Männer zu Brei geschlagen.« Er leerte das Champagnerglas. »Aber hör dir das an, Slamet. Irgendjemand hat die Leiche von Ernesto Torres an einen öffentlichen Ort geschafft.« »Wer sollte so etwas tun?«, fragte Slamet, nun noch besorgter. »Jemand, der will, dass wir erwischt werden.« Ohne Vorwarnung schleuderte Jusef sein Glas auf den Boden. Das zerbrechliche Kristallgefäß zersplitterte in Dutzende von glitzernden Scherben, die durch die Luft flogen. »Ein Verräter. Wir scheinen eine Menge davon in unseren Reihen zu haben, nicht wahr?« Slamet fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Was sollen wir jetzt tun?« »Ja?«, fragte Jusef plötzlich scharf. Ein Diener war aufgetaucht und stand in der Tür. Er sprach leise und respektvoll. »Pak, die Gäste warten auf den Beginn des sedhekah.« »Was sollen wir jetzt tun?«, wiederholte Slamet. »Hat das Ganze überhaupt noch einen Sinn? Jetzt, wo dein Vater tot ist...« Jusef brachte ihn mit einem finsteren Blick zum Schweigen. Eilig schloss Slamet den Mund. »Wir kommen gleich«, fauchte Jusef. »Ja, pak«, erwiderte der Diener. Er neigte den Kopf und zog sich zurück. »Alles bricht auseinander«, bemerkte Slamet mit schriller Stimme. »Beruhige dich«, bellte Jusef. »Lass mich nachdenken.« Meg war dort in dem Raum. Sie konnte sich nicht bewegen, aber sie konnte sehen und hören und denken. Sie sah, wie Jusef die Injektionsspritze aus einem Lederetui nahm. Sie sah, wie er sie in eine Phiole steckte und aufzog. Sie war jetzt mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt. Nein, flehte sie, als er die Spritze an ihrer Schädeldecke ansetzte. Er stach die Nadel hinein. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihre Schädeldecke duchdringen konnte. Irgendwann hatte sie einmal gehört, dass das Gehirn keinen 98
Schmerz empfand. Wenn nötig, war es sogar möglich, ohne Anästhe-tika eine Gehirnoperation durchzuführen. Aber sie spürte jeden Millimeter der scharfen Nadel, als diese sich in ihren Kopf bohrte. Noch nie hatte sie solche Schmerzen empfunden. Sie ließen ihre Augen hervorquellen und brennen. In ihrer Nase pochte es, und ihr Hinterkopf fühlte sich an, als wäre er in Flammen aufgegangen. Er bringt mich um, dachte sie in Panik. Sie versuchte, sich mit aller Willenskraft zu wehren, ihn aufzuhalten. Aber sie konnte nur schlaff in ihrem Sessel liegen, wie eine Marionette, und ihn anstarren. »Meg?«, fragte er, während sein Gesicht näher kam. »Meg, bist du wach?« Wie lange tust du mir das schon an?, dachte sie. Warum tust du mir das an? Sie sagte nichts, tat nichts. Er schien zufrieden zu sein, dass sie bewusstlos war. Er steckte die Spritze zurück ins Etui und klappte es zu. In der Stille des Salons war das Geräusch so laut, dass Meg aus dem Sessel gesprungen wäre, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Was sie nicht war. Aber vielleicht rettet mir das jetzt das Leben. »Wenn ich bis zehn gezählt habe, wachst du auf«, sagte er zu ihr. »Meg, wenn ich bis zehn gezählt habe, wirst du dich an nichts mehr von dem hier erinnern.« Doch, das werde ich. Ich werde mich an alles erinnern. Angel? Ich werde mich an alles erinnern. Angel? »Eins, zwei, drei, vier ...« Cordy und Doyle überlegten noch immer, was sie tun sollten. Cordy umklammerte das Handy in ihrer Handtasche. »Vielleicht kann ich die Polizei erreichen«, sagte Cordelia. »Wenn diese Leute harmlos sind, werden sie wütend sein wegen der peinlichen Situation, in die wir sie gebracht haben. Aber das ist wahr scheinlich auch schon alles, was wir zu befürchten haben«, stellte Doyle fest. »Wenn sie so leicht aus der Ruhe zu bringen sind, ist es besser, wenn sie wissen, dass die Polizei unterwegs ist.« »Also gut.« Cordelia klappte ihr Handy auf. »Oh.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Der Akku ist leer.« 99
In diesem Moment rollte die Limousine heran. Und Jusef Rais kam direkt auf sie zu. »Ich hörte, dass einer von Ihnen krank sei«, sagte er. »Das tut mir sehr Leid.« »Ja. Und deshalb müssen wir gehen«, sagte Cordelia entschlossen. »Jetzt.« Josef öffnete die Limousinentür. »Darf ich Sie mal anrufen?«, fragte er. »Oh. Gott, ich bin überrascht, dass Sie das noch immer wollen«, sprudelte Cordy unbedacht hervor. »Das wäre nett.« »Haben Sie eine Visitenkarte?«, erkundigte er sich. »Irgendetwas zum Aufschreiben?« »Äh, nein, leider nicht.« »Und was ist das?«, fragte er. Cordelia und Doyle drehten sich um, und Cordelia musste schlucken. Eine von Angels Visitenkarten lag auf dem Ledersitz. »Oh, gut, ich dachte schon, ich hätte sie verloren«, sagte sie. Doyle machte einen Schritt auf die Tür zu, um sie an sich zu nehmen, aber Jusef war schneller. »Angel Investigations?«, fragte er nach einem langen Blick auf die Karte. Die Adresse kennt er ja wohl jetzt, sagte sich Doyle. »Oh ...«, machte Cordelia. »Das ist die Visitenkarte eines Freundes«, erklärte sie. »Er ist so eine Art Schutzengel. Für hilflose ... Straßenkin der«, schloss sie lahm. Sie sah Doyle an. »Ja«, bestätigte dieser. »Wir helfen ihm hin und wieder.« »Zumindest früher einmal. Jetzt sind wir eigentlich keine Freunde mehr«, fuhr sie fort. »Es war einfach alles zu ... schmuddelig, verstehen Sie? Ich meine, diese Kids waschen sich kaum.« Sie zuckte die Schultern. »Ich soll diese Karten verteilen, aber ich vergesse es ständig.« »Sie haben also keine Verbindung mehr zu ihm, zu diesem Freund?«, fragte Jusef. »Nein. Ich habe bestimmt schon seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen.« »Ich auch nicht«, sagte Doyle und streckte seine Hand nach der Karte aus. »Am besten werfen wir sie weg.« »Schreiben Sie doch Ihre Telefonnummer auf die Rückseite«, sagte Jusef zu Cordelia. »Oh.« Sie zuckte die Schultern. »Haben Sie einen Kugelschreiber?« Er zog einen wunderschönen Mont-Blanc-Füller aus der Tasche, und sie kritzelte nach einem bewundernden Blick eine falsche Nummer auf 100
die Karte. »Hier.« Sie gab sie ihm. »Nun, es ist wirklich schade, dass Sie nicht länger bleiben können«, sagte Jusef ernst. »Danke für die Einladung. Gute Nacht«, erwiderte sie. »Gute Nacht«, fügte Doyle hinzu. Dann ergriff Jusef ihre Hand und hauchte einen KUSS auf ihre Fin gerknöchel. Doyle nahm ihre andere Hand und zog sie in den Wagen. Doch kaum war die Limousine losgefahren und näherte sich dem Tor, glaubte Doyle einen Schrei zu hören. Cordelia hielt die Luft an. »Was war das?«, fragte sie Doyle. Sie drückte ihr Gesicht gegen das getönte Glas und versuchte das Fenster herunterzudrehen. Es bewegte sich nicht. Doyle beugte sich zu der Sprechanlage, die sie mit dem Chauffeur verband. »Haben Sie das gehört?« »Ja, pak. Es war ein Pfau«, erwiderte der Mann. »Oh.« Cordelia sah Doyle an und rang sich ein leises Lachen ab. »Um Himmels willen, das klang ja, als würde jemand umgebracht.« »Ja, ibu«, sagte der Chauffeur. »So klang es wirklich.« Als sie durch den Checkpoint Charlie fuhren, breitete sich ein süßer Geruch in der geräumigen Karosse aus. Doyle warf Cordelia einen besorgten Blick zu. »Vielleicht ist es ein Autodeodorant«, sagte sie hoffnungsvoll. »Siehst du irgendwo einen dieser kleinen Weihnachtsbäume hängen?« »Cordy, gib mir deinen Talisman«, konnte Doyle gerade noch sagen. Dann fiel sein Kopf nach hinten und prallte gegen den Sitz. »Doyle? Doyle?«, rief Cordy verzweifelt. »Hilfe!« Sie trommelte gegen die Scheibe, die sie vom Fahrer trennte, doch der reagierte nicht. »Nein! Hilfe!« Sie versuchte zu erkennen, ob ein kleiner Weih nachtsbaum am Rückspiegel hing, aber das Glas zwischen ihr und dem Chauffeur war zu stark getönt. Um sie herum drehte sich alles. Ich lade dich ein. Ich lade dich ein, dachte sie benommen. Sie ver suchte, gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen. Angel, ich schicke dir ein SOS. Antworte, bitte. Bitte, bitte, bitte. Ihr fielen die Augen zu. Die Limousine rollte weiter. 101
Achtes Kapitel
Auf dem Weg zum Rais-Anwesen bekam Angel einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit. Er stand da und kochte vor Wut, während der Cop ein großes Theater machte, Angels Führerschein und die Fahrzeugpapiere sehen wollte und immer wieder betonte, dass während seiner Schicht niemand die Höchstgeschwindigkeit um sechzig Kilometer pro Stunde überschreite. So etwas passiert in Filmen nie, dachte Angel, während er darauf wartete, dass seine tadellosen Papiere auch für tadellos befunden wur den. Okay, vielleicht jemandem wie Indiana Jones. Keine schlechte Gesellschaft. »Okay. Es ist alles in Ordnung«, erklärte der Gesetzeshüter. »Aber wenn Sie so weitermachen, wird die nächste Beerdigung Ihre eigene sein. Oder die von jemand anderem«, schloss er schwungvoll. Obwohl es Angel schwer fiel, den Mund zu halten, gelang es ihm doch. Sogar den Strafzettel und das damit verbundene astronomisch hohe Bußgeld akzeptierte er mit einiger Würde. »Versuchen Sie nicht, Einspruch dagegen zu erheben«, fügte der Cop hinzu, als Angel den Motor anließ. »Ich halte in meiner Abteilung den Rekord für die meisten Schuldsprüche.« Selbst bei diesen Worten blieb Angel ruhig. Aber als er losfuhr, war er so wütend, dass er spüren konnte, wie er sich in sein wahres Selbst zu verwandeln begann. Die Bestätigung bekam er, als er mit den Fingerspitzen über sein Gesicht fuhr und spitze Vampirzähne und eine hervorspringende Stirn berührte. Es war natürlich sinnlos, in den Rückspiegel zu schauen. Die Vampirverwandlung erinnerte ihn daran, dass das Rais-Anwesen Privatbesitz war, und er schwerlich in absehbarer Zeit eine Einladung bekommen würde, es zu betreten. Wissen sie, dass ich ein Vampir bin?, fragte er sich. Sind ihnen die Talismane aufgefallen, oder wussten sie bereits, wer ich bin? Und küm mert es sie überhaupt? Und wer ist Latura? Während er wie ein Verrückter fuhr – bereit, willens und in der Lage, einen weiteren Strafzettel aufgebrummt zu bekommen –, hoffte er, dass er das nächste Mal gelassen bleiben würde. In L. A. konnte die Raserei 102
auf den Straßen schnell zu einer Gewohnheit werden. Doch es standen Leben auf dem Spiel, und jede Sekunde zählte. Das Leben der Menschen, die mir nahe stehen, dachte er. Ich habe schon zu viele Freunde begraben. Dabei bin ich doch unter anderem hierher gezogen, um keine Freunde mehr zu haben. Und wie es schien, würden ihn die zuständigen Mächte nicht so leicht vom Haken lassen. Doyle liebte es, darauf hinzuweisen, dass er jemanden nur retten konnte, wenn er ihn vorher kennen gelernt hatte. »Knüpfe Kontakte. Misch dich unter die Menschen.« Andernfalls, so Doyle, würden sie ihm nichts bedeuten, und die Menschheit würde eine gesichtslose Masse für ihn bleiben. Was war denn daran so schlimm? Die Sorge um seine Mitmenschen machte ihn wahrscheinlich menschlicher und weniger dämonisch, vermutete Angel. Schließlich waren Menschen für Dämonen nichts als Beute. Dadurch wurden sie völlig austauschbar. Und verloren ihre Einzig artigkeit. Ihren Seelen nahm es die Bedeutung. Was Angel wieder zum Thema Reue brachte. Solange er sich an seine Opfer erinnern konnte, an jedes einzelne Gesicht, jeden einzelnen Namen, sofern er ihn kannte – solange er unter seinen Taten litt, solange blieb seine eigene Seele heil. Kein Mensch ist eine Insel. Er konnte fast Doyles Worte hören. Genau, und es gibt eine Menge Fische im Meer. Wie Cordelia sagen würde. Hilf mir. Angel, hilf mir. Beinah hätte er abrupt gebremst. Es war wieder die Summe dieser Frau. Und sie wusste, wer er war. Hilf mir, antwortete er für den Fall, dass es eine zweiseitige Verbin dung war. Meg blickte zu Jusef auf und versuchte, die Angst in ihren Augen zu verbergen. Er legte den Kopf zur Seite. »Geht es dir gut?«, fragte er. Sie hatte Probleme beim Gehen. Es kam ihr vor, als wäre sie von Kopf bis Fuß betäubt. »Ich möchte, dass du heute Abend tanzt«, sagte er. »Kannst du das für mich tun?« 103
Kann ich dir ein Messer ins Auge rammen?, dachte sie wuterfüllt. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Wie immer. »Nach der Feier gehen wir in den Club, okay? Zur Entspannung.« Sie nickte. »Ich bin ziemlich verspannt.« »Das spüre ich«, entgegnete er, während er sie musterte. »Hat dir die Sitzung nicht geholfen?« »Wenn man die Umstände bedenkt, geht es mir recht gut.« Sie berührte ihren Kopf. »Ich habe leichte Kopfschmerzen.« Er betrachtete sie traurig, und ihr war klar, dass er versuchte, alles auf den Tumor zu schieben. Ich habe gar keinen, dämmerte es ihr. Er wollte mir nur einreden, dass ich sterbe, um das tun zu können, was er mit mir vorhat. Sein Arm lag wie eine Eisenklammer um ihrer Hüfte. Sie lächelte ihn traurig an und sagte: »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich kurz hinlege? Ich möchte mich vor dem Auftritt ein wenig ausruhen.« »Wir machen dein Debüt daraus«, schlug er vor. »Ich lade ein paar Leute in den Club ein und zeichne alles auf, okay?« »Damit würde ein Traum Wirklichkeit werden.« Sie glaubte nicht an das, was sie sagte. Vielleicht war es früher ein Traum gewesen, aber jetzt nicht mehr. Dann dachte sie: Vielleicht sind die Spritzen gegen den Tumor. Viel leicht habe ich alles missverstanden. Er wollte es mir nur nicht sagen, weil er mich nicht ängstigen oder mir keine falschen Hoffnungen machen wollte. Sie sah zu ihm auf. »Jusef?« Sein Lächeln war einfach umwerfend. »Ja?« Sie suchte in seinem Gesicht nach der Wahrheit. Und als sie sah, dass seine Augen einen wachsamen Ausdruck annahmen, sagte sie sich, dass dies nicht der Fall wäre, wenn er nichts zu verbergen hätte. Innerlich zitterte sie. Ich kann ihn nicht darauf ansprechen, dachte sie. Wenn ich etwas sage, wird er wissen, dass ich den Glauben an ihn verloren habe. »Was denn, Meg?« »Glaubst du, dass wir berühmt werden?« »Das garantiere ich dir.« Angel raste auf das Anwesen zu und zermarterte sich währenddessen den Kopf nach einem Plan. Aber als das Tor vor ihm auftauchte, hatte er noch immer keinen. 104
Ich habe nicht genug Informationen, dachte er frustriert. Ich weiß nicht, gegen was ich kämpfe. Abgesehen von einer verdammt brutalen Tötungsmethode. Er fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab und beobachtete das Tor. Wenn jemand zu Fuß vorbeikäme, könnte er sich anschließen, seinen Charme einsetzen und vielleicht mit demjenigen auf das Anwesen gelangen. Womit wir wieder bei dem Misch-dich-unters-Volk-Punkt wären, dachte Angel. Und das bei meinem nichtexistenten Charme. Er dachte an seine Jugend in Galway, an seine Zeit als Herzensbrecher, als er fast jede Maid umgarnt und überredet hatte, mit ins Heu zu kommen. Selbst stolze Schönheiten wie Dorrie. Er fragte sich, was wohl aus ihr geworden war. Nias, 1920 »Warum Nias?«, sagte Alice Kenney zu Pater van der Putten. »Warum nicht?«, antwortete dieser. »Ich habe mich schon immer zu diesem Ort hingezogen gefühlt.« Sie zog ihren Topfhut in die Stirn. Ihre Füße brannten in ihren schwarzen Stiefeln, und die Sonne schien so grell vom Himmel, dass Alice nicht mehr weit von einem Sonnenbrand entfernt war. Die Mos kitos stachen sie; wenn sie nicht an einem Hitzschlag starb, dann gewiss an Blutverlust. »Es hat für die Eingeborenen eine große mystische Bedeutung«, informierte der holländische Pater sie in sehr gutem Englisch. Sie fragte sich, ob er darum gebeten hatte, an diesen Ort versetzt zu werden, oder ob es reiner Zufall gewesen war. »Sie glauben, dass einer ihrer Götter unter dem Dorf wohnt. Eine Art höllischer Dämon«, fuhr er fort. »Du liebe Zeit.« Sie berührte ihre Brust, wo ein wunderschönes kel tisches Kreuz über ihrer weißen Bluse hing. »Das Ganze ist natürlich Aberglaube«, fügte er hinzu, und sie lächelten sich leicht belustigt an. Dann sagte Alice: »Ich nehme an, man kann von Wilden, die mitten im Nichts hausen, nicht allzu viel Kultur erwarten. In meiner Familie gab es vor langer Zeit eine Tante, die von ihren Verwandten für eine Hexe gehalten wurde.« »Wie faszinierend.« Er zog seine Brauen hoch. »Ich interessiere mich sehr für derartige Dinge. Deshalb habe ich auch darum gebeten, hierher geschickt zu werden.« Ah. Das beantwortet schon mal eine Frage. 105
Die andere lautet... Wie aufmerksam ist er als Priester? Der Pater sah recht gut aus. Und Alice war, trotz ihres Wunsches, ihr Vermögen für gute Taten zu spenden, noch immer eine junge Frau. In dieser Zeit ist siebenundzwanzig noch immer jung, dachte sie trotzig. Aber sie wusste, dass ihre Familie daheim in Galway froh gewe sen war, als sie ins Ausland ging. Sie hatte bisher keinen passenden Mann gefunden, und es war bedrückend für eine Familie, die aus lauter schönen Menschen bestand, dass sie als einzige ledige Frau mög licherweise als alte Jungfer enden würde. Also ist es zum Teil ein Segen, dachte sie. Ich kann all die Dinge tun, die mir zu Hause verwehrt bleiben, weil es sich für eine schöne Frau nicht schickt. »Das hier ist Ihre Unterkunft«, erklärte Pater van der Putten. Sie blieb vor einem zauberhaften Häuschen aus Holz stehen, das einem Baumhaus mit Chintzvorhängen und einem Ziegelschornstein ähnelte. Allerdings war ihr schleierhaft, wieso jemand in diesem Treibhausklima ein Feuer machen sollte. »Ich nehme an, Sie wollen sich vor dem Abendessen ein wenig aus ruhen«, fuhr er fort, als er die Tür öffnete. Das Haus war zwar klein, dafür aber sehr gemütlich. In dem einzigen Raum standen ein Feldbett, ein Holzstuhl und ein winziger Tisch. Sie bemerkte außerdem eine Öllampe und mehrere Kerzen sowie ein großes und ziemlich grausiges Kruzifix über dem Bett. Die Wunden Christi waren tief und sehr blutig. Sie musste schlucken, entschloss sich aber, den Priester nicht darauf anzusprechen. »Ziehen Sie ...?« Sie lachte. Er lächelte sie an. »Ja?« »Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich hier zum Abendessen umziehen.« »Das tun wir.« Er wies auf seinen Priesterkragen. »Ich werde meine besten Sachen anziehen. Und die guten Schwestern ebenso.« Seine Worte machten sie verlegen. Sanft sagte er: »Bitte tragen Sie, was für Sie in dieser Hitze am bequemsten ist. Wir legen zwar Wert auf Rituale, aber nicht auf Förm lichkeiten.« Sie lachte über seinen Scherz. »Ihr Englisch ist ausgezeichnet.« »Ich wünschte, das träfe auch auf mein Javanisch zu«, gestand er. »Ich scheine mich jenen, mit denen ich mich so gern verständigen will, nicht verständlich machen zu können.« »Nun, Pater, bedenken Sie, dass es Primitive sind.« »Ich versuche es«, seufzte er. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Jedenfalls weiß ich, dass alle das heutige Abendessen genießen werden, 106
da wir einen so reizenden Gast in unserer Mitte haben.« »Reizend dürfte nicht ganz das richtige Wort sein.« Sie errötete. Ihre Blicke trafen sich, aber er sah nicht weg. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde sogar ein wenig spitzbübisch, geradezu verführerisch. »Sehr reizend«, gab er zurück. Dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich. Und als sie sich entkleidete, war ihr deutlich bewusst, dass er irgendwo dort draußen war. Sie behielt nur ihr Unterkleid an, während sie Strümpfe und Unterwäsche auszog. Sie legte sich auf das Feldbett – saubere Laken; lieber Gott, wie waschen sie hier draußen wohl? – und versuchte daran zu denken, wieso sie hier war. Die Barmherzigen Schwestern in Galway hatten ihr von Nias erzählt. Das exotische Java war ein heidnisches Land voller Geheimnisse, aber auch voller tödlicher Krankheiten und Ignoranz. Alice, eine gebildete Frau, konnte so viel Gutes hier bewirken, indem sie den Nonnen und dem Priester half, den Eingeborenen die Vorzüge einer Bildung nahe zu bringen. Die kleine Kirche von Unserer Frau der Ewigen Gnade kämpfte gegen die Unwissenheit an, und sie konnte sicherlich eine weitere zivilisierte Weiße inmitten all dieser... Gelben gut gebrauchen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich so zivilisiert bin«, sagte sie leise zu dem Moskitonetz, als sie es über sich zuzog. Die Moskitos summten um ihre Ohren und machten einen erstaunlichen Lärm. Es klang fast wie Donner. Nein. Wie Trommeln. Oder ist es mein Herz? Sie war der absolute Mittelpunkt beim Abendessen, was schon allein deshalb gut war, weil sie weder wusste, was sie da aß, noch den Wunsch verspürte, es herauszufinden. Das Essen war extrem heiß und zum Teil zäh und ledrig. Es musste sich um eine fremde Fleischsorte handeln. Sie ließ ihr Essen fast völlig unberührt, redete aber dafür umso mehr in ihrem gebrochenen Holländisch. Der Eifer, mit dem die Nonnen sie bedrängten, von »zu Hause« zu erzählen, womit sie ganz Europa meinten, rührte sie fast zu Tränen. Ihre Sehnsucht nach der Heimat ließ sie an ihrem eigenen Entschluss zweifeln, mindestens sechs Monate hier zu bleiben. Sie war hier draußen im Dschungel auf sich allein gestellt. Doch ihr Tagebuch war eine große Hilfe. 107
20. April 1920 Ich bin jetzt seit drei Wochen hier, und ich denke, ich habe mich inzwi schen recht gut eingelebt. Ich helfe den Schwestern jeden Morgen die Kirche zu putzen, bevor wir das Frühstück zubereiten. Pater van der Putten, der einzige Mann in unserem Hennenstall, scheint es zu genie ßen, wie ein Gockel herumzustolzieren. Ich muss gestehen, dass die Schwestern, obwohl sie die Bräute Christi sind, seine Aufmerksamkeiten genießen, wie seine Komplimente über ihre rosigen Wangen und leuchtenden Augen. Die rosige Farbe kommt allerdings vom Sonnenbrand, ansonsten sehen sie allesamt recht ledern und ältlich aus. Im Vergleich zu ihnen bin ich eine taufrische Debütantin. Was für eine Ironie, dass der einzige gut aussehende Mann in dieser Gegend sich an sein Gelübde hält, zumindest bis jetzt. In der Nacht höre ich die Moskitotrommeln, wie ich sie zu nennen pflege. Inzwischen warte ich sogar auf sie und kann ohne sie nicht ein schlafen. Es ist unheimlich, wie sehr ihr Summen dem Schlag richtiger Trommeln ähnelt. Ich habe dieses Phänomen den anderen gegenüber mehrfach erwähnt, aber niemand stimmte mir in dieser Hinsicht zu. Sie haben sich gefragt, ob es vielleicht an meinem Häuschen liegt, dass das Summen der Moskitos so klingt. Aber ich denke, es liegt allein an meiner Einbildungskraft. »Oder vielleicht an Ihrer Hexenkunst«, sagte Pater van der Putten nach der gestrigen Vesper. »Das Ungeheuer in der Tiefe ruft Sie.« Er hat dabei leise gelacht, aber ich bin der Ansicht, dass er es zum Teil ernst gemeint hat. Irgendwann im Juni, 1920 Ah, da haben wir's. Es muss mindestens Juni sein. Doch ich weiß nicht mehr, welcher Tag es ist. Nur die Monate kann ich noch verfolgen. Pater van der Putten meint, dass ich, wenn ich länger als ein Jahr hier bleibe, auch die Monate nicht mehr verfolgen kann. Gütiger Himmel! Was ist das für ein Leben. Ich habe endlich die Eingeborenen kennen gelernt. Es ist unglaublich, wenn man sich vorstellt, dass sie zu Barbareien fähig sind, die jedes normale irische Mädchen vor Grauen aufschreien lassen würden. Zu mir sind sie zwar sehr freundlich, aber Pater van der Putten hat mir erzählt, dass ihre Krieger kurz vor meiner Ankunft einen Raubzug unternommen haben. In ihrer traditionellen Kleidung – schwarze Jacken und 108
Federkopfschmuck wie Raubvögel – haben sie zehn Männer aus einem anderen Dorf massakriert und ihre Köpfe mitgenommen. Der Pater hat mir erklärt, dass sie dies tun, weil »der Gott in der Tiefe« ihnen mitgeteilt habe, dass er in Kürze emporsteigen werde, wenn man ihm ein Gefäß bereitstelle. Er glaubt, dass es sich bei dem Gefäß um den großen Ring aus Totenschädel handele, den sie mit den erbeuteten Köpfen angelegt haben. So wahr ich hier stehe, sie haben ihn mir bei meinem ersten Besuch gezeigt – und dabei gelächelt und wild gestikuliert. Der Häuptling hat einen Sohn, der vielleicht acht Jahre jünger ist als ich, und er scheint zu erwarten, dass sein Sohn und ich heiraten. Oder wie auch immer eine Verbindung zwischen zwei Menschen bei ihnen genannt wird. Der gute Pater hat gescherzt, dass er eine gute katholische Hochzeit durchführen werde, und auch die Nonnen finden das alles sehr erheiternd. Ich muss gestehen, dass er sehr gut aussieht und wohl gebaut ist, aber natürlich ist der Gedanke lächerlich. Als Angel aus dem Wagen stieg, bemerkte er einige Pfeffersträucher zu seiner Rechten, deren Duft die ganze Luft erfüllte. Er hatte keine Ahnung, ob Doyle und Cordelia in Schwierigkeiten waren - an Schlimmeres wollte er gar nicht erst denken -, aber hier waren die Sträucher und rochen nach Pfeffer, als wäre die Welt in bester Ordnung. Im Staub der Stadt war das Böse zu Hause. Doch hier draußen in der Natur schienen Kämpfe gegen die Mächte der Finsternis fehl am Platze zu sein. Kurz nachdem er sich ins Gebüsch geschlagen hatte und zwischen den Bäumen weitergeschlichen war – ein Schatten, der mit den Schatten verschmolz –, hallte der Lärm des Beerdigungsempfangs zu ihm herüber. Schließlich entdeckte er einen knöchelhohen Elektrozaun und beschloss, sich von ihm fern zu halten. Ich hätte ein paar Waffen mitnehmen sollen, dachte er. Spätestens nach dem Überfall vor dem Haus. Die Angreifer waren allerdings unbewaffnet gewesen, sah man von ihren Kampfsportkenntnissen ab. Angel ging weiter, und während er nach einer Lücke in der Umfrie dung des Anwesens suchte, wäre er fast gegen die Mauer des Nach bargrundstücks gelaufen. Kalifornier waren dafür bekannt, dass sie ihre Grundstücke mit Mauern umgaben. 109
Doch diese bot ihm anscheinend keine Möglichkeit, auf das Anwesen zu gelangen. Auf einmal hörte er jemanden flüstern: »Sind Sie das?« Er blieb stehen. Würde er atmen, hätte er jetzt den Atem angehalten. Er bemühte sich, möglichst unauffällig zu bleiben. »Ich bin es.« Die Frau in seinem Kopf. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass sie hinter ihm stand. »Wie sind Sie hierher gekommen?«, fragte er grußlos. Sie gab keine Antwort, sondern starrte nur mit bleichem Gesicht starr geradeaus. »Oh nein!«, rief sie plötzlich, griff sich an den Kopf und brach in Trä nen aus. »Es ist weg. Es ist alles weg!« Dann fiel sie in Ohnmacht. Nias, 1997 Die Nachtluft war erfüllt von dem durchdringenden Gestank verbrannten Menschenfleisches, der den Geruch von brennenden Autoreifen und Öl und Eukalyptusbäumen überlagerte. Unerklärlicherweise konnte Meg trotzdem den schwachen Duft ihres Parfüms über dem kupferähnlichen Geruch des Blutes wahrnehmen, das über ihr Gesicht rann. Sie waren im Morgengrauen gekommen, die Tageszeit, die Meg am liebsten war. Die Stille erinnerte sie an den Himmel; Sandelholz süßte die Luft, und die Affen raschelten im dichten Unterholz. Sie und ihre kleinen Mündel, mit fünf und sechs Jahren die jüngsten Internatsschüler im Orden Unsere Frau der Ewigen Gnade, waren auf dem Weg zur Messe gewesen. Aus dem Dschungel hatten sich plötzlich maskierte Männer mit wil dem Geheul auf sie gestürzt und mit ihren Waffen auf sie geschossen. Die Mädchen hatten geschrien und waren in alle Richtungen davon gelaufen, nur um am Ende von den Soldaten gefangen genommen und verschleppt zu werden. Dann gingen sie auf Meg los wie die orang pendek, halb Mensch, halb Tier, in einem Tohuwabohu aus Gewehren und Masken und Fäusten. Die kleinen Mädchen standen alle in einer Reihe und sahen mit an, wie die Angreifer sie schlugen und ihr Schlimmeres antaten. Mehr als einmal kämpfte sie gegen die Bewusstlosigkeit an. Sie musste tun, was in ihrer Macht stand, um ihre Mädchen zu beschützen. 110
Stunden vergingen. Sie ließen sie in ihrem Blut auf dem Boden liegen, warteten, bis sie wieder zu sich kam - nur um sie dann erneut zu quälen. Der Himmel hing jetzt tiefer und das Tageslicht war fort, doch die Nacht wurde von Feuern erhellt. Die Unterkünfte brannten, und die Kirche einer alten holländischen Missionsstation war eine rauchende Ruine. Schließlich packte einer von ihnen sie an den Haaren, riss ihren Kopf zurück und hielt ihr eine blutverkrustete Machete an die Kehle. »Wo ist das pustaha lakek?«, fragte er mit gutturaler Stimme. Sie war wie betäubt. Vor Verzweiflung lachte sie sogar. Der Mann schlug ihr mit der flachen Seite der Klinge hart ins Gesicht. »Sag es uns, oder wir werden die Mädchen der Reihe nach töten.« Obwohl sie gegen ihre Hysterie ankämpfte, kam ihr alles auf schreckliche Weise unerträglich komisch vor. Es war wie eine dieser Gruselgeschichten über einen Brandstifter, der beim Anzünden der Kerzen auf einer Geburtstags torte ums Leben kam. Nur dass das, was ihr und ihren kleinen Mädchen passierte, die Wirklichkeit war. »Es existiert überhaupt nicht«, brachte sie hervor, während in ihrer Kehle erneut schier unkontrollierbares Gelächter aufstieg. Sie öffnete die geschwollenen Augen, doch alles war blutig und verschwommen. »Es ist ein Mythos.« Der Legende nach war Vorjahren eine Irin hierher gekommen und hatte sich einem begrabenen Gott hingegeben, was sie schließlich in den Wahnsinn trieb. Sie verbrachte den Rest ihres Lebens eingesperrt in der Kirche und kritzelte wie besessen in ein pustaha lakek, ein magisches Buch. Solche Bücher wurden in Indonesien auf Borke geschrieben, meistens in Sanskrit. Doch dies und die Tatsache, dass die Frau kein Sanskrit verstand und gewiss kein leeres Buch aus Borke in ihrem Besitz hatte, wurde von der Legende völlig ignoriert. Aber wie dem auch sei, es hieß, dass dieses pustaha lakek näheren Aufschluss über Latura, den uralten Todesgott, gab. Die Originallehren des Latura waren von einer Baduifrau weitergegeben worden, die unter den Nias gelebt hatte. Es hieß, dass ihre Nachfahren alle Worte der unheiligen Lehre auswendig lernten. Dann war die irische Frau gekommen und hatte alles nieder geschrieben, wodurch Latura ein heiliges Buch besaß wie so viele Gottheiten der Antike. Um Latura heraufzubeschwören, musste man die richtigen Zauber- und Beschwörungsformeln aufsagen und die entsprechenden Opfer bringen. Schließlich waren seine ersten Anhänger Kannibalen und Kopfjäger gewesen. 111
Aber bei dem Versuch, Latura in die Welt zu holen, hatte das Herz der verrückten Irin Feuer gefangen, und sie war von innen her verbrannt. Das Buch hingegen blieb von den Flammen verschont. Und würde man ihre Überreste ausgraben, würde man auf ein Skelett stoßen, dessen Arme das Borkenbuch an ihren Brustkasten drücken. Megs spiritueller Ratgeber Pater Hendrik hatte Meg anvertraut, dass sie im Jahr 1983 tatsächlich ein Buch gefunden hatten, das mit den verkohlten Überresten einer fünfzig Jahre alten Frau begraben worden war. Aber die Arme hatte eine christliche Bibel gehalten, kein verfluchtes Buch des Teufels. Meg erkannte nun, dass sich die Geschichte herumgesprochen haben musste – höchstwahrscheinlich hatten die Dienstboten geredet –, und jetzt hatte jemand, der zutiefst böse war, es auf das Buch des Latura abgesehen. Pater Hendrik, stets ihr Fels in schwierigen Zeiten – er hatte ihre Eltern getraut und all ihre Brüder und Schwestern getauft –, lag in dieser Schreckensnacht auf der Krankenstation. Er litt schon seit sechs Tagen an einer geheimnisvollen Krankheit, und der örtliche dukun behauptete, er sei von einem Feind verflucht worden. Meg war schockiert, als sie erkannte, dass sie trotz ihrer christlichen Erziehung überzeugt war, dass der Anführer dieser Männer jener war, der dafür gesorgt hatte, dass Pater Hendrik krank wurde. Mit schwarzer Magie und traditionellen, verbotenen Ritualen. »Wo ist das Buch?«, herrschten die Männer sie wieder und wieder an, während sie sie brutal schlugen. Sie drohten, sie zusammen mit den Kindern in die brennende Kirche zu werfen. Dann zerrten sie Pater Hendrik von seinem Krankenbett. Meg war schockiert, als sie ihn in seinem Krankenhemd sah. Das leuchtend rote Haar war ausgefallen, das Gesicht verhärmt und grau. Er war kaum mehr als ein Skelett, während er vor einer Woche trotz seines Alters noch wie das blühende Leben ausgesehen hatte. Pater Hendrik und Meg sahen sich an. Jeder war vom Anblick des anderen gleichermaßen schockiert. »Mary Margaret«, stöhnte er, hob eine zittrige Hand und versuchte das Zeichen des Kreuzes zu machen. Doch einer der Männer schlug ihm mit der Faust auf die Schulter, sodass Pater Hendrik aufschrie und nach vorne stolperte. »Sag es uns, oder er stirbt«, drohte der Anführer. »Meg, tu es nicht«, stieß Pater Hendrik hervor. Der Anführer warf seinen Kopf zurück und lachte. »Behauptest du immer noch, dass es kein Buch gibt?«, fragte er und versetzte Meg einen Stoß. 112
Sie starrte den Priester verwirrt an. Natürlich gab es kein Buch. Oder hatte er sie belogen? »Er weiß, wo es ist«, erklärte der Anführer, und schon konzentrierten sie all ihre Grausamkeit auf den Priester. Meg wurde ohnmächtig, als seine Schreie immer schriller wurden. Als sie wieder zu sich kam, hatten sie ihn an Händen und Füßen gefesselt. Der Pater lag neben ihr. Sein Krankenhemd war voller Blut und sein Gesicht so zerschunden, dass es kaum noch menschlich aussah. Er sah ihr direkt in die Augen und sagte leise: »Irgendwo muss ein kris sein.« Er warf seinen Peinigern einen schnellen Blick zu, aber sie hatten es nicht gehört. »Ich weiß jedoch nicht genau, wo.« Dann waren die Männer wieder bei ihnen, hielten ihren Kopf fest und zwangen sie mit anzusehen, wie Pater Hendrik in die rauchende Kirche geworfen wurde. Es dauerte sehr lange, bis er starb, da das Feuer nur noch schwelte. Nach ihm kamen die zwölf holländischen und holländisch-indone sischen Nonnen dran. Und als alle tot waren, schickte der Anführer Männer in Megs Dorf und quälte sie, indem er ihr in allen Einzelheiten beschrieb, was sie dort tun würden. Stunden später kehrten die Männer zurück – mit dem Kopf ihres Vaters. Meg betete, dass ihre Mutter, eine religiöse Frau, ebenfalls tot war und nicht solche Qualen erdulden musste wie sie selbst. Kurz vor dem Morgengrauen sagte der Anführer: »Ich bewundere deine Loyalität dem Zauberer gegenüber, dem du dienst. Wir wissen von deinen starken Blutsbanden zu dem Buch. Aber die Zeit ist gekommen, um den Rest zu erzählen. Oder unser Meister wird beim ersten Licht des Tages deine Seele essen. Glaube mir, der Tod ist diesem Schicksal bei weitem vorzuziehen.« Sie war verwirrt. Blutsbande? »Welchen Rest?«, fragte sie flehend. »Welcher Rest denn?« Was als Nächstes geschah, hatte Meg immer für eine Horrorvision gehalten, erzeugt durch Angst und Qual. Der Anführer, von dem durch das Feuer nur noch Umrisse zu erkennen waren, klatschte in die Hände. Dann rissen er und seine Männer gleichzeitig ihre Masken herunter. Meg und die kleinen Mädchen schrien auf. Sie erbrach Blut. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so etwas Abscheuliches gesehen. Die Gesichter der Männer waren von einem erschreckend kranken Grün; Stirn und Wangen wiesen tiefe, rote Striemen auf, die pulsierten und nässten. Ihre Augen waren länglich und gelb und die 113
Pupillen schmal und rautenförmig. Die Ungetüme wanden sich und zischten sie an wie Giftschlangen. »Wir sind jin«, erklärte ihr der Anführer. »Dämonen. Wir erheben uns aus den Gruben, um die Seelen der Toten zu fangen, wenn sie gen Himmel fliegen. Ich kann dir versichern, dass unser Meister heute gut gespeist hat.« Meg schluchzte. »Ich weiß doch nichts. Ich weiß doch nichts.« »Haltet sie fest«, befahl der Anführer. Sein Gesicht zog sich plötzlich in die Länge. Es maß jetzt mindestens einen Meter von der Stirn bis zum Kinn; sie verfolgte entsetzt, wie ihm überall im Gesicht Zähne wuchsen, und sogar aus seinen Augenhöhlen traten Zähne hervor. »Da ist so viel Dunkelheit in dir«, zischte er mit leiser, krächzender Stimme. »So viel zu essen.« Die Zähne lösten sich von seinem Gesicht und hingen jetzt nur noch an dünnen, pulsierenden, blauen Fäden. »Das Buch – wo ist es?« »Ich weiß es nicht, bitte, bitte!« Die Zähne pfiffen wie Kugeln durch die Luft. Der erste durchbohrte ihre Wange, und sie kreischte wild auf und schloss die Augen. Auf einmal spürte sie nichts mehr. Und als sie die Augen öffnete, war der Dämon verschwunden, und mit ihm seine Gefolgsleute. Nur noch ein Schauer aus schimmernden blauen Funken war zu sehen. In der Ferne schrie jemand. Dann brach Meg zusammen.
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Neuntes Kapitel
Cordelia träumte vom Einkaufen. Alle Geschäfte boten allein ihre Größe an, und alle Schuhe waren nicht nur modisch, sondern auch gut für ihre Füße. Sie musste die Absätze nur drei Mal zusammenschlagen, um ... »Zu Hause ist es am schönsten«, murmelte sie. »Miss, Miss, wachen Sie auf«, sagte ein Mann mit einem Akzent. Halb trug er sie, halb schleifte er sie an die warme, frische Luft. Ihr Kleid verfing sich an einem Dornenbusch, aber er blieb nicht stehen. Ihre Strumpfhose war zerrissen. Sie hustete, und als sie versuchte, die Lider zu öffnen, verdrehten sich ihre Augen. Jemand klopfte ihr auf den Rücken. »Autsch!«, schrie sie und löste sich aus den Armen des Unbekannten. Er war ein zerbrechlich wirkender Mann mit walnussbrauner Haut, der die Kutte eines katholischen Priesters trug. Neben ihm stand das kleine Mädchen, das die Nachricht in ihrer Handtasche hinterlassen hatte, und starrte sie durchdringend an. »Celia?«, sagte Cordelia benommen. Die Kleine lächelte. »Das bin ich, ibu.« »Mein Name ist Cordelia«, sagte Cordy und rieb sich die Stirn. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen. »Wo ist Doyle? Und was ist pas siert?« »Ich bin Pater Wahid«, erklärte der Priester sanft. »Ihrem Freund ist nichts passiert.« Er deutete nach rechts auf die Limousine, die in einem seltsamen Winkel auf der leeren Straße stand. Sie befanden sich auf einem Hügel über den Lichtern der Stadt. »He«, rief Doyle, während er den Kopf aus der Tür der Limousine streckte und ihr ein schiefes Lächeln schenkte. »Wie geht's?« »Das weiß ich noch nicht«, gab Cordelia zurück. »Was haben Sie getan, Pater, die Limousine gestohlen?« »Nein, nein«, sagte Pater Wahid rasch. »Wir haben Ihnen das Leben gerettet. Man wollte Sie umbringen.« »Sie aufschlitzen«, fügte das kleine Mädchen in einem bizarr-fröh lichen Tonfall hinzu. »Celia«, mahnte der Priester. »Wo ist der Fahrer?«, fragte Cordelia und versuchte aufzustehen. Dann zuckte sie zusammen. »Mein Kopf bringt mich um.« 115
»Wir haben ihn niedergeschlagen«, informierte der gute Pater sie. »Was nichts ist im Vergleich zu dem, was er Ihnen antun wollte. Zur Hölle mit ihm!« »Pater, sagen Sie nicht Hölle«, bat Celia, wobei sie seine strenge Stimme nachahmte. »Vergib mir, mein Kind.« In diesem Moment näherte Doyle sich ihnen mit unsicheren Schritten, und der Pater lächelte ihn gutmütig an. »Wie fühlen Sie sich?« »So, wie wenn ich eine Vision habe«, sagte er zu Cordelia. Und an den Priester gewandt: »Als hätte jemand eine Explosion in meinem Kopf ausgelöst.« Dann musterte er den Priester. »Wer sind Sie überhaupt und wie haben Sie uns gefunden?« »Und was wollen Sie?«, fügte Cordelia hinzu. »Zunächst einmal Ihr Leben retten«, erklärte Pater Wahid und wies mit leiser Selbstironie auf seinen Priesterkragen. »Ich bin ein Diener Gottes«, stellte er fest. »Und zweitens, da wir alle gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen, möchte ich, dass wir unsere Kräfte vereinigen.« »Und dieser Feind ist...?«, fragte Cordelia argwöhnisch. Der Priester zuckte die Schultern, als wäre die Antwort offensichtlich. »Der Teufel.« Sie wechselte einen Blick mit Doyle und straffte dann ihre Schultern. »Klingt einleuchtend.« »Woher wissen Sie, dass wir gegen den Teufel kämpfen?«, fragte Doyle. »Schließlich könnten wir auch für ihn arbeiten und bei der Totenwache für Bang Rais nur zu viel getrunken haben, was unsere Bewusstlosigkeit im Fond der Limousine erklären würde.« Pater Wahid legte den Kopf zur Seite. »Sie wissen wohl nichts von den jin, oder?« »Pater, ich bin Ire«, gab Doyle zurück. »Ich kenne jede Form von Alkohol, ob nun gebraut oder gebrannt.« »Das ist ja mal wieder so typisch«, warf Cordelia ein. »Hast du jemals Champagner probiert?« Doyle dachte einen Moment nach. »Kann ich nicht behaupten, nein.« Sie nahm es befriedigt zur Kenntnis. Dann wandte sie sich wieder dem Priester zu. »Okay«, sagte sie. »Also Gin.« »Jin. Dämonen. Agenten des Übernatürlichen. Es gibt gute und böse.« 116
»Das ist schwer zu glauben.« Cordelia verdrehte die Augen. »Was die guten angeht, meine ich. Ich habe noch keinen Dämonen getroffen, den ich leiden konnte. Von meinem Boss einmal abgesehen. Aber der ist auch ein Sonderfall.« Pater Wahid runzelte die Stirn und sah Doyle an. »Aber was ist mit...? Nicht weiter wichtig.« »Angel ist ein Sonderfall«, wiederholte Cordelia. »Aber ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass er ein guter Dämon ist. Ein guter Kerl vielleicht.« Sie rümpfte die Nase. »Jedenfalls kein besonders guter Boss, denn die Bezahlung ist mies. Aber andererseits will er den Leuten, denen er hilft, auch keine Rechnungen schicken, und ...« Pater Wahid räusperte sich. »Ich habe einige jin, die mir bei meinem Kampf helfen.« »Engel«, warf Celia ein. Der Priester strich ihr übers Haar. »Engel. Was sonst könnten sie sein?« »Dämonen?«, spekulierte Doyle. »Das haben wir gerade durchgekaut«, sagte Cordelia ungeduldig. »So etwas wie einen guten Dämon gibt es nicht.« »Richtig. Das hatte ich vergessen«, meinte er gedehnt. »Meine jin haben die Talismane entdeckt, die Sie trugen. Und die auch die Raises bemerkt haben. Sie kamen zu mir geflogen und informierten mich. Und Celia und ich haben den Entschluss gefasst, unser Versteck zu verlassen, um Sie zu retten.« »Also sind diese jin so eine Art Brieftauben«, sagte Cordelia. »Eher wie die Sonden in Star Wars«, antwortete Pater Wahid. »Okay. Das ist alles gut und schön. Sofern man daran glaubt«, mur melte Cordelia. »Aber was hat das mit dem Kampf gegen die Raises zu tun? Ich meine, Teufel, Raises. Das ist nicht gerade, äh, nun ja, das selbe.« Pater Wahids Gesichtszüge verhärteten sich, und seine blauen Augen wurden stählern. Er sagte: »Die Raises haben Schwache und Hilflose zu Hunderten, wenn nicht gar Tausenden massakriert. Sie haben Legionen von illegalen Einwanderern in diese Stadt gebracht, nur um sie praktisch zu Tode schuften zu lassen und dann ihrem Gott zu opfern«, sagte er. »Demnach sind Sie ein politischer Aktivist.« Doyle rieb sich die Schläfen. »Was in Ordnung ist, denn wir brauchen derartige Leute. Aber diese Raises scheinen über unheimliche Kräfte zu verfügen, wenn sie Menschen von innen her verbrennen können.« »Sie beten Latura an, den Gott der Toten«, erklärte der Priester. »Latura verlangt hunderte von Opfern. Mit den entsprechenden Riten 117
und Beschwörungsformeln kann er außerdem heraufbeschwört werden, um auf Erden zu wandeln. Sollte das geschehen, dann wird alles, auf das sein Auge fällt, und alles, was er berührt, in Flammen aufgehen und sterben. Anschließend wird er ihre Seelen verschlingen und ihren Platz im Universum für immer auslöschen.« »Sie meinen, sie werden sterben«, sagte Cordelia. »Der Platz, der für sie allein bestimmt war, wird leer bleiben. Dadurch wird die Stabilität des gesamten Systems für immer zerstört sein.« »Und es, äh, wird umkippen?«, warf Cordelia ein. Pater Wahid seufzte schwer. »Die Welt wird im Chaos versinken – für immer.« »Das hört sich nicht gut an.« Cordelia schüttelte den Kopf. »Das hört sich gar nicht gut an«, stimmte der Priester zu. »Wie kann man diese Leute aufhalten?«, fragte Doyle. »Sie verfügen nicht über das gesamte Wissen, das sie brauchen, um ihr Ziel zu erreichen«, sagte der Priester, während er wild gestikulierte. »Alle Schriften über Latura sind in einem einzigen Buch enthalten. Dem einzigen seiner Art. Und wenn sie dieses Buch finden, ist die Welt verdammt.« »Wissen Sie, wo es ist?«, fragte Doyle. Der Priester nickte bedächtig. »Sie haben es«, erkannte Cordelia. Er nickte wieder. »Und ich brauche Ihre Hilfe, um es zu behalten«, sagte er. »Morgen Nacht stehen die Sterne günstig. Für den Triumph des Bösen wird es in den nächsten sechshundertsechsundsechzig Jahren keine derart günstige Konstellation mehr geben. Ich weiß jedoch nicht, ob den Raises das bewusst ist. Aber Latura weiß es.« Cordelia runzelte die Stirn. »Das dürfte genügen. Ich verlange eine Gehaltserhöhung. Und ein Aspirin. Pater, haben Sie Aspirin da? Oder Tylenol?« »Wie können wir Ihnen helfen?«, warf Doyle ein. »Wenn die Raises noch nicht wissen, dass ich das Buch habe, werden sie es auf jeden Fall in Kürze erfahren. Sie suchen schon sehr lange nach mir. Und es kann sein, dass mich einer ihrer jin entdeckt hat, als ich meinen Schlupfwinkel verließ. Wenn das der Fall sein sollte, werden sie all ihre Dämonen und dunklen Kräfte gegen mich aufbieten. Sie sind gefährliche Gegner, glauben Sie mir.« »Wenn Sie es sagen«, murmelte Cordelia. Ehe er darauf reagieren konnte, fügte sie hinzu: »Bin ich eigentlich die Einzige, die sich Sorgen um Angel macht?« 118
Doyle sah sie an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das bist du nicht«, erklärte er. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte Meg zu Angel, als er sich an der Mauer über sie beugte. »Auf dem Anwesen wimmelt es nur so von Wachen. Wenn man Sie entdeckt, wird man Sie töten.« Ihre Besorgnis rührte Angel. »Ich bin nur schwer totzukriegen«, ver sicherte er ihr. »Sie kennen die Raises nicht. Sie haben keine Ahnung, wozu sie fähig sind.« Er sah sie durchdringend an. »Und Sie? Haben Sie einfach daneben gestanden?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste es nicht. Selbstjetzt bin ich mir noch nicht ganz sicher.« »Meg«, sagte er traurig. »Überall in der Stadt sind Menschen auf grausige Weise gestorben.« »Aber wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass Jusef dafür verantwortlich ist. Wir haben keine Beweise«, sagte sie schrill. »Sehen Sie mich an.« Angels Stimme klang freundlich und sanft. »Meg, sehen Sie mich an. Irgendwie sind wir geistig miteinander ver bunden. Wir teilen unsere Gedanken.« Sie ließ den Kopf hängen. »Er hat mich gerettet«, murmelte sie. Nias, 1998 Im Dschungel lag Meg auf dem Boden, während der Regen sie durchnässte und die Sonne sie versengte. Dem Tode nahe, fiel sie ins Delirium. Sie phantasierte, von einer irischen Frau mit roten Haaren, die ihrem Körper entstieg und ihre Fesseln löste. »Du sollst immer an mich denken«, sagte die Frau zu Meg. »Ich bin Doreen Kenney. Du bist von meinem Blut und gehörst nicht zu diesen Leuten. Wie du, meine Nachfahrin, wurde ich für tot gehalten, doch ich habe überlebt. Raum und Zeit haben ihre Macht über uns verloren, mein Mädchen. Denk immer daran. Und lebe.« Wochen später im Krankenhaus erzählte man Meg, sie habe sich irgendwie selbst befreit und sei zwei Wochen allein durch den Dschungel geirrt. Ihre kleinen Schutzbefohlenen jedoch wurden nie wieder gesehen. Und ihre Familie war abgeschlachtet worden, wahrscheinlich von denselben Männern, die sie für tot gehalten und zurückgelassen hatten. 119
Mary Margaret Taruma – Mary Margaret Kenney – oder wer immer sie auch war, verlor ihren Halt in der Welt, als ihr ihre Identität entglitt. Sie machte drei Versuche, ihr Leben zu beenden, und wurde in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Dort vegetierte sie vor sich hin und versuchte den Ärzten zu erklären, dass sie, solange sie nicht wirklich wusste, wer sie war, keinen Grund mehr sehe, ein Leben zu Ende zu führen, das vielleicht jemand anders gehöre. Daraufhin diagnostizierte man bei ihr Wahnvorstellungen. »Es hat absolut keinen Sinn, einfach so zu leben«, beharrte sie. »Wenn ich keine Vergangenheit habe, habe ich auch keine Zukunft.« Man verabreichte ihr Medikamente. Man unterzog sie einer Schocktherapie. Und allmählich vergaß sie alles, was im Dschungel geschehen war. Oder genauer gesagt, sie verdrängte es. Begrub es so tief, dass niemand, nicht einmal sie selbst, Zugang zu diesen Erinnerungen hatte. Aber sie waren nicht vergessen. Dann, eines Tages wurde sie unerklärlicherweise entlassen. Sie kamen zu ihr, gaben ihr eine Jeans, ein Paar Tennisschuhe und ein T-Shirt – keinen BH – und führten sie zum Tor der Anstalt. Sie öffneten es und sahen sie erwartungsvoll an. So ging sie hinaus, zunächst von ihrer Freiheit überwältigt. Aber schon sehr bald dämmerte ihr die Wahrheit, die Janis Joplin schon besungen hatte: Freiheit war nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts mehr zu verlieren hatte. So griff sie zu Drogen und zu schrecklichen Mitteln, diese zu bezahlen. Ein Jahr schleppte sich dahin. Und dann war Jusef Rais aufgetaucht. Er hatte sie in einer Bar entdeckt, wo sie tanzte – oh, nicht die Art Tanz, die sie als Kind gelernt hatte; nicht die alten, stolzen Gesten des barong. Nein, dies war das traurige Herumgehüpfe verlorener Frauen, die von desinteressierten Verlierern begafft wurden. In dieser Nacht ging ein Raunen durch die Menge, als Jusef herein kam, in schönen Kleidern, in jeder Hinsicht das perfekte Bild eines Indonesiers aus der Oberoberschicht: ein Mann, der es geschafft hatte. In dem stickigen, verrauchten Raum, der nach den Ausdünstungen menschlicher Körper und billiger Zigaretten roch, wirkte er kultiviert und elegant. Schweigend setzte er sich und beobachtete sie. Ihr Gesicht brannte vor Scham. Und als er sich mit dem Manager unterhalten hatte, winkte dieser sie nach dem dritten ihrer drei vertraglich vereinbarten Tänze zu sich. »Mr. Rais will dich allein sehen«, sagte er. 120
Sie wappnete sich innerlich. Als er sie angesehen hatte, hatte er jemand gesehen, den er kaufen konnte. Warum hatte sie nur zugelassen, dass sie am Leben blieb? Mit dem letzten Rest ihrer Würde weigerte sie sich, sich in ihrem Tanzkostüm von ihm begaffen zu lassen. Stattdessen zog sie ihre Stra ßenkleidung an – ein verblichenes, billiges Kleid – und wusch das dicke Make-up von ihrem Gesicht. Als sie das Hinterzimmer betrat – das für »Privatpartys« reserviert war –, stand er auf und applaudierte leise. »Ich wusste, dass ich Recht habe«, sagte er. Er spendierte ihr ein Glas Wein, das sie in zwei Schlucken leerte. Der Alkohol machte sie mutig, und sie fragte: »Wie viel werden Sie meinem Boss für mich bezahlen?« Er lächelte. Seine Zähne waren strahlend weiß. Er sagte: »Ich möchte dir einen Job in einer Band anbieten«, sagte er. »Einen richtigen Job. In einer richtigen Band. Ich besitze einen Club in Kalifornien. Wenn du mit mir kommst, werde ich dafür sorgen, dass du ewig lebst.« Sie glaubte ihm kein Wort. Meg sah Angel an und murmelte: »Die Erscheinung sagte, ich sei von ihrem Blut. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber ich glaube, dass Jusef es weiß. Auf irgendeine Weise bin ich mit all dem verbun den.« Während er sie durch die Pfeffersträucher führte, fragte er: »Wenn Sie das glauben, wie können Sie dann von mir verlangen, nicht hinein zugehen und meine Freunde zu retten?« Sie sah verängstigt drein. »Aber Sie kennen mich. Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der mich kennt.« »Nein, ich kenne Sie nicht«, sagte er ehrlich. Denn wenn es so wäre, würdest du mich kennen. Du würdest wissen, was ich bin. Doch du weißt es nicht. »Ich bin von einer Art Dämon gebissen worden, und Ihnen hat man irgendein Serum injiziert, das ähnliche Nebenwirkungen haben muss. Ich halte es bloß für einen Zufall, dass eine Gedankenverbindung zwischen uns besteht.« »Karma«, sagte sie und lächelte matt. »Was würde Pater Hendrik dazu sagen? Ich bin Katholikin. Wir glauben nicht an Karma.« »Vielleicht sollten Sie das aber«, murmelte Angel. Ihre Geschichte war unglaublich. Wenn es stimmte, was sie ihm erzählt hatte, bestand die Möglichkeit, dass sie eine Nachfahrin von Dorrie Kenney war – oder was immer aus Doreen geworden war. 121
Die Frau, die mich zerstört hat, dachte er. Ist sie zurückgekehrt, um ihr Werk zu vollenden? »Sie müssen mir helfen«, sagte er nachdrücklich. »Aber ich verstehe nicht, wieso ich Sie aufs Anwesen einladen muss? Sie können doch einfach hineingehen.« Angel blickte auf sie hinunter. »Vertrauen Sie mir«, bat er, »und tun Sie es. Sie können sich frei bewegen. Niemand wird Sie dort fragen, wohin Sie wollen. Gehen Sie einfach hinein und laden Sie mich ein.« »Sie sind ein Zauberer«, vermutete sie. »Mein Apartmenthaus hat früher einem Zauberer gehört. Aber ich glaube, er war bloß ein Künstler. Kein richtiger Zauberer.« Er fragte sich, ob sie so viel redete, weil sie Angst hatte. Schließlich ging sie ein großes Risiko für einen Fremden ein. »Kommen Sie«, sagte Meg und ging neben ihm zum Wachhäuschen. Nach ein paar Schritten war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Sie lächelte gelassen, nahm seine Hand und strahlte den Wachposten an. »Musikkritiker«, informierte sie ihn. »Vom Rolling Stone.« Der Wächter winkte sie durch. Als Angel an ihm vorbeiging, sagte der Mann: »Einen Moment, pak.« Meg hielt den Atem an. Angel zog höflich die Brauen hoch und sagte: »Ja?« »Ich bin völlig anderer Meinung als Sie, was Powerman 5000 angeht«, sagte der Wachmann ernst. »Diese Kritik ist nicht von mir.« »Oh.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das freut mich. Andernfalls müsste ich Sie jetzt vielleicht erschießen.« Er lachte. Angel lächelte. »Ich werde es weitergeben.« Meg führte ihn zu dem Anwesen. Dann drehte sie sich mit ausge streckten Armen zu Angel um und sagte: »Kommen Sie herein.« Er folgte der Einladung. Die Party oder die Totenwache war in vollem Gang, und es herrschte großes Gedränge. Angel suchte nach Cordelia und Doyle, aber ihm wurde sehr schnell klar, dass es fast unmöglich sein würde, sie zu finden. »Sehen Sie. Da ist Jusef«, murmelte Meg und drehte sich um, damit dieser sie nicht sah. Angel verfolgte, wie zwei andere Männer zu Jusef Rais traten. Sie schauten sich zunächst ein wenig um, bevor sie schließlich in einem kleinen Haus neben einem Teich voller Frösche und Karpfen ver schwanden. »Was ist das?«, fragte Angel, sobald die Luft rein war. 122
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie dort drinnen gewesen.« Also entschloss sich Angel, einen Blick hineinzuwerfen. »Warten Sie am Wachhäuschen auf mich, okay?«, sagte er zu Meg. »Sie müssen von hier verschwinden.« Als sie unsicher dreinblickte, berührte er ihren Arm. »Meg, Jusef hat Sie missbraucht. Er hat sie vergiftet.« »Oder mir experimentelle Medikamente verabreicht.« »Er benutzt Sie für irgendetwas. Vertrauen Sie mir.« Sie holte tief Luft. »Am Wachhäuschen«, wiederholte sie. Angel nickte und wandte sich ab. »Seien Sie vorsichtig«, rief sie leise. Warum jetzt damit anfangen?, dachte er. Er drängte sich durch die Menge hindurch und näherte sich langsam dem Haus. Das mit blauen Schindeln gedeckte Dach war eckig und hoch, steil abfallend und an den Enden gebogen. Die Außenwände waren weiß verputzt. Hölzerne Laufstege führten über den Karpfenteich und endeten an der Haustür. Als Angel weiterging, eilte ein Mann an ihm vorbei, der ein Bündel unter den Arm geklemmt hatte, das wie eine zusammengefaltete schwarze Robe aussah. Oh, oh, Kostüme, dachte Angel. Ich habe keins dabei. Was nun? »He«, sagte er zu dem Mann. Der Mann drehte sich um, er wirkte überrascht. »Tut mir Leid«, sagte er mit schwerem Akzent. »Das hier ist privat.« »Ich weiß«, erwiderte Angel. Er winkte den Mann zu sich heran. »Es ist nur, die Sache ist die ...« Angels Stimme war kaum zu hören. »Tut mir Leid, ich kann Sie nicht verstehen.« Der Mann trat näher. »Bitte?« »Ich nuschele«, nuschelte Angel. »Sprechen Sie bitte lauter«, sagte der Mann und stellte sich direkt vor Angel. Angel legte dem Mann eine Hand auf die Schulter. »Dies ist meine erste Zusammenkunft, und ich habe meine Robe vergessen.« »Das stimmt doch gar nicht.« Der Mann runzelte die Stirn. Dann öff nete er den Mund, als wollte er schreien. Angel verstärkte den Griff um dessen Schulter und rammte ihm dann die Finger der anderen Hand direkt in den Solarplexus. Der Mann krümmte sich, doch Angel hielt ihn aufrecht und zerrte ihn in den Schatten des kleinen Hauses. 123
Dort hinter einigen Büschen ließ er den Mann zu Boden sinken, hob die Robe auf und schlüpfte hinein. Sogar mit Kapuze, dachte er zufrieden. Hoffentlich gibt es kein Passwort. Er schickte seine Gedanken hinaus. Meg? Er wartete. Meg? Keine Antwort. Schlimmer noch, er spürte die Verbindung nicht mehr. Für einen Moment machte er sich Sorgen um sie, doch dann bog er hastig um die Ecke und trat vor die Tür in der Frontseite des Hauses. Er stieß sie auf. Und stand vor einer Treppe, die nach unten führte. Wäre er einfach hineingestürmt, wäre er die Stufen hinuntergefallen. Mit der größten Selbstverständlichkeit, so als hätte er jedes Recht dazu, stieg er die Treppe hinab. Zwei Türen befanden sich am unteren Ende, eine zu seiner Linken, eine zu seiner Rechten. Um wie viel wollen wir wetten, dass ich sterben werde, wenn ich die falsche öffne? In diesem Moment kam ein Mann aus der rechten Tür, der sich gerade die Hände abtrocknete. Erblickte auf und nickte Angel knapp zu, als dieser den Kopf einzog, sich an ihm vorbeidrängte und die Tür festhielt, bevor sie zufallen konnte. Er ging hinein. Und fand sich auf der Herrentoilette wieder. Am Urinal stand ein Mann in einer Robe und sah kurz in seine Richtung, ehe er sich wieder auf sein Geschäft konzentrierte. Wenn man schon mal in Rom ist..., dachte Angel. Gelassen durch querte er den Raum und ging in eine der Kabinen. Pater Wahid legte den bewusstlosen Limousinenfahrer hinter ein paar Büschen ab und sagte: »Wenn ich kein Priester wäre, würde ich diesen Mann töten.« »Das wäre eine gute Idee«, sagte Cordelia und verzog das Gesicht. »Aber das wären Schuhe von Ferragamo für weniger als fünfzig Dollar auch, und Sie wissen, dass es das nicht geben wird.« »Ich hätte als Beispiel die Kernfusion genommen«, warf Doyle ein. Doch als er ihren Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Aber Schuhe sind auch gut.« Das besänftigte sie. 124
Dann trat Doyle zu der Limousine, deren Beifahrertür offen stand. »Ich werde fahren«, sagte er. »Du kannst eine Limousine fahren?«, fragte Cordelia. »Ich bin beeindruckt.« »Sicher.« Nicht, dass ich je eine besessen hätte. Sie stiegen ein und Celia schmiegte sich an den Priester, der seinen Arm um sie legte und sagte: »Wir müssen irgendwohin, wo wir sicher sind.« »Ich bin dafür, dass wir zu Angels Wohnung fahren«, erklärte Cor delia. »Nicht, dass es dort total sicher ist, aber Angel wird entweder dort auftauchen oder anrufen. Außerdem gibt es dort tonnenweise Waffen.« »Es wäre wundervoll, wenn er den kris hätte«, sagte Pater Wahid. Doyle ließ den Motor an. Gangschaltung, dachte er, während er diese angestrengt musterte. Um was handelt es sich dabei, und noch wichtiger, wie benutzt man sie? »Was ist ein kris?«, fragte Cordelia. »In den alten Zeiten waren es heilige Schwerter. Sie konnten Worte ›schneiden‹. In Indonesien glauben wir an mandi. Gedanken nehmen Form an, wenn man sie ausspricht. Sie werden real, verwandeln sich in Worte, die aneinander gereiht, große Macht besitzen. Sie können Zauberformeln werden.« Celia hob die Hand, als wäre sie in der Schule. »Und Gebete.« »Ja, mein Kind«, stimmte der Priester zu. »Wie in den Comics?«, fragte Cordelia. »Diese kleinen Blasen, die Worte enthalten?« Der Priester lächelte. »So ungefähr. Jedenfalls gibt es einen kris – nur einen –, der die Macht des Buches von Latura beschneiden kann. Wenn ich ihn hätte, könnte ich das Buch vernichten.« »Nun, Angel hat eine Menge Waffen«, sagte sie. »Wir haben also noch einen weiteren Grund, zu seiner Wohnung zu fahren. In Ordnung?« Doyle holte tief Luft und drückte den Fuß aufs Gaspedal. Im gleichen Moment schoss der Wagen nach hinten. »Ups. Rückwärtsgang«, brummte Doyle. »Ich wusste es.« Pater Wahid, der neben Cordelia saß, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet. »Dem schließe ich mich an«, sagte Cordelia. Wider Willen war Angel von der monumentalen, aber grausigen Architektur des unterirdischen Tempels beeindruckt. Von der gerippten Decke; den hunderten, wenn nicht gar lausenden menschlichen 125
Totenschädeln an den Wänden. Und den schrecklichen Wandgemälden – den schlimmsten aller Gestalt gewordenen Albträume. Ich möchte zu gern wissen, was der Bau gekostet hat, dachte er. An Dollar, aber auch an Menschenleben. Er betrachtete die dämonische Statue, die den Metallaltar umfasste – Klauen, Stachelkämme, Tentakel, Reißzähne –, alles war blutverkrustet. Das also ist das große Ding, wie es Spike, meine alte Vampirnemesis und idiotischer »Enkel« – sozusagen – nennen würde. Die anderen Männer standen in ihren langen schwarzen Roben um ein Feuer, das in der schüsselförmigen Platte eines kunstvoll verzierten Messingtisches brannte, der dem Altar ähnelte. Angel hielt sich vorsichtshalber etwas abseits. Schließlich sah er nicht im Geringsten wie der Mann aus, dessen Robe er gestohlen hatte. Einer der anderen Männer hielt einen kleinen Gong hoch und schlug mit einem Gummihammer dagegen. Ein melancholischer Klang ertönte. »Im Namen von Latura«, intonierte er. »Latura«, wiederholten die anderen im Chor. »Bang Rais ist tot. Er wird nicht wieder auferstehen.« Er wartete und lächelte dann. »Sein Sohn Jusef wird niemals sterben.« »So soll es sein«, sang die Gruppe. »Wir haben Latura viele Opfer gebracht. Wir haben alles getan, was er verlangt hat. Lasst uns weiter seine Gebote befolgen.« »Latura.« »Ich habe das Buch aufgespürt.« Alle, Angel eingeschlossen, drehten sich zum Altar um. Ein hoch gewachsener Mann stand auf der polierten Metallplatte. Er öffnete die Arme, und Flammen leckten vom Sockel hoch und umloderten ihn in sicherer Entfernung. Dann schlug er seine Kapuze zurück, und für einen Moment glaubte Angel, es wäre sein Widersacher aus dem brennenden Apartmenthaus. Aber obwohl dieser Mann dem anderen sehr ähnelte, war er zweifellos viel jünger. »Ich, Jusef Rais, habe das Buch gefunden«, wiederholte er. »Und jetzt werde ich die jin losschicken, um es zu holen.« Die anderen brachen in Jubel aus und schüttelten ihre Fäuste. Angel tat es ihnen nach. Imitation. Nicht nur die ehrlichste Form der Schmeichelei, sondern auch eine Überlebenstechnik. Während die anderen jubelten, flatterten große grüne, fliegende Ungeheuer hinter dem Altar hervor. Sie hatten stumpfnasige Gesichter 126
mit klaffenden Mäulern voller spitzer Zähne. Ihre Reptilienaugen belauerten die Gruppe, während schwarze, gegabelte Zungen aus ihren Mäulern schossen, von denen Geifer tropfte. »Sie sind hungrig«, erklärte Jusef. »Wenn sie mir das Buch bringen, werden sie zu Fressen bekommen.« »Latura!«, rief der Mann neben Angel. Die anderen fielen in den Singsang ein, der mindestens fünf Minuten dauerte. Was genau genommen eine sehr lange Zeit ist. »Sobald das Buch in meinem Besitz ist, werde ich Latura tausende von Opfern bringen.« »Latura!« »Ich werde die Worte sprechen, die unseren Schreckensherrn aus seiner ewigen Hölle der Finsternis fuhren werden.« »Latura!« »Ich werde ihm das Gefäß geben, in dem er wieder geboren wird.« »Latura!« »Sehet! Das Gefäß!« Der Mann drehte sich um, bückte sich und hob etwas auf. »Latura!« Er drehte sich wieder der Gruppe zu und richtete sich dabei geschmeidig auf. »Latura!« Eine Frau, gefesselt und geknebelt, lag schlaff in seinen Armen. Ihre Augen waren leer und tot. »Latura!« Es war Meg.
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Zehntes Kapitel
Sie befanden sich bereits in der Nähe von Angels Apartment, als Doyle gerade ein Gefühl für die Steuerung der Limousine bekam. Er hielt es nicht für eine besonders gute Idee, mit einem derart auf fälligen Wagen vor dem Gebäude vorzufahren, vor allem, da ihnen diese Lockley im Nacken saß. Deshalb parkte er ein paar Blocks weiter in einer Seitenstraße. Als er den Grund dafür den anderen erklärte, murmelte Cordelia: »Nun, es gibt einen Gott«, und Pater Wahid kicherte sogar. Sie hielten sich in den Schatten und wichen den Nachtschwärmern aus. Ein Bettler war jedoch besonders aggressiv und machte eine derartige Szene, dass Doyle schließlich kapitulierte und ihm einen Eindollarschein gab. Zumindest hoffte er das, schließlich war es zu dunkel, um es mit Sicherheit sagen zu können. »Danke, Mann«, sagte der Bettler und trat unter eine Straßenlaterne. Er trug die zerlumptesten Jeans, die Doyle je gesehen hatte. Sowie ein zerrissenes T-Shirt mit einem großen, wild aussehenden Komododrachen. Unter dem Aufdruck standen die Worte CLUB KOMODO. »Moment«, rief Doyle, aber Cordelia drängte sich an ihm vorbei und sagte: »Wir sollten uns besser beeilen, Doyle.« Er drehte sich um und stellte fest, dass alle ihn ansahen. Habe ich das Kommando? »Ich gehe zuerst rein«, erklärte er. »Und sehe mich um.« »Gute Idee«, nickte Cordelia. Dann legte sie ihm sanft ihre Hand auf die Schulter und sagte: »Sei vorsichtig.« »Gute Idee«, sagte er, wobei er sie ein wenig nachäffte. Sie lächelten sich an. Dann überquerte er den Parkplatz und betrat das Haus. Auf halbem Weg durch den Flur hörte er oben aus dem Büro stampfende Schritte von Füßen, die jeder fünfzig oder sechzig Pfund zu wiegen schienen. Die Decke über ihm bebte bei jeder Bewegung. Er überlegte. Was immer da oben war, schien riesig zu sein und hatte wahrscheinlich Zähne so groß wie Aktenschrankschubläden. Wenn es Waffen gab, die dieses Etwas aufhalten konnten, dann befanden sie sich wahrscheinlich unten, aber Doyle war sich nicht sicher, ob Angel 128
irgendetwas auf Lager hatte, das dem Wesen auch nur eine Delle zufügen konnte. Während er noch überlegte, sprang die Bürotür zum Flur auf, und die Kreatur stapfte auf den Korridor, drehte sich um und sah ihn an. Sie war eine Mischung aus Leguan und Säugetier mit einem riesigen, klaffenden Maul und den rot leuchtenden Augen eines Reptils, die extrem kalt und Furcht erregend wirkten. Die Füße waren mit Schwimmhäuten ausgestattet und endeten in dicken, dornigen Nägeln, die in der Mitte gespalten waren, fast wie Hufe. Das Ungeheuer war über und über mit verfilztem Haar bedeckt, das aus der glatten und harten, wie Stein wirkenden Haut herauswuchs. Es starrte Doyle an, wandte sich dann ab und kehrte ins Büro zurück. Großartig. Und jetzt? Dann hörte er das Quietschen des Aufzugs. Gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen. Doyle stürzte ins Büro. Irgendwie hatte die Kreatur es geschafft, sich in den Aufzug zu zwängen. Unter ihrem Gewicht war das Kabel gerissen und die Kabine bis in den Keller gestürzt. Schritte drangen durch die offene Tür. Kurz darauf erschien Cordelia auf der Schwelle, gefolgt von dem Priester und dem kleinen Mädchen. »Jau!«, rief Cordelia, als sie sah, was passiert war. »Es ist ein jin«, erklärte der Priester. »Eine Art Dämon.« »Wundervoll. Ich hoffe nur, es ist gut versichert«, brummte Doyle. »Es ist wirklich wundervoll«, sagte Pater Wahid aufgeregt. »Oder vielmehr, es könnte wundervoll sein. Jemand muss glauben, dass Ihr Freund etwas Wertvolles in seinem Besitz hat.« Er lächelte. »Ich wette, dieser Jemand ist Jusef Rais. Und das, wonach er sucht, ist der kris.« »Ich versteh das nicht«, sagte Cordelia. »Wieso sind Sie sich da so sicher?« »Wegen der jin«, erklärte er. »Sie sind von Natur aus wie ...« Er dachte einen Moment nach. »Wie diese Schweine in Frankreich, die nach Trüffeln graben. Oder unsere Jagdhunde. Sie sind auf eine bestimmte Sache abgerichtet.« »Wie kommt es dann, dass sie Ihr Buch nicht gefunden haben?«, fragte sie hartnäckig. »Ich habe es mit Hilfe übernatürlicher Mittel versteckt«, sagte er. »Aber mein Zauber wird immer schwächer.« »Das ist Willow daheim in Sunnydale auch immer passiert«, nickte Cordelia. »Es war, als würde sich ihre Magie erschöpfen.« Sie sah Doyle 129
an. »Willow Rosenberg. Ich bin sicher, Angel und ich haben dir von ihr erzählt.« Doyle nickte. »Die Hexe.« »Ich glaube, ›Wicca‹ ist politisch korrekter«, informierte ihn Cordelia. »Nun, was immer sie auch ist, wir könnten sie jetzt gebrauchen, um nach unten zu gelangen«, meinte Doyle. »Dieses Ding sitzt im Aufzug fest, und es ist nicht glücklich darüber.« Besorgt verfolgten sie, wie sich die Kreatur in dem zerstörten Auf zugkäfig hin und her warf. »Jemand muss nach unten in Angels Apartment gehen«, sagte Cordy. »Da bewahrt er nämlich seine besten Waffen auf.« Alle Köpfe drehten sich in Doyles Richtung. Er seufzte. »Wisst ihr, als ich diesen Auftrag bekam, wurde mir versichert, dass ich nur der Bote sein würde. Es war nicht die Rede davon, gegen Ungeheuer in Aufzügen kämpfen zu müssen.« »Hier«, sagte Cordelia und reichte ihm einen Baseballschläger. Doyle legte seine Hände um den Schläger und näherte sich dem Wesen. Es funkelte ihn an und brüllte wie das gefangene, verletzte, wütende Monster, das es war. »Sollte ich überleben, werde ich einen Beschwerdebrief an die zuständigen Mächte schreiben«, erklärte Doyle. Angel griff mit seinen Gedanken nach Meg, aber er konnte sie nicht erreichen. Vielleicht fürchtet sie sich so sehr, dass man sie nicht erreichen kann. Die robenbekleidete Gruppe der Sektierer löste sich auf. Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, als mit den anderen zu gehen. Im Moment. Er blickte zu ihr herüber. Ich komme zurück. Nichts deutete darauf hin, dass sie ihn gehört hatte. So gelassen wie möglich schlenderte er aus der Kaverne und stieg die Treppe hinauf. Niemand stellte sich ihm entgegen. Die anderen waren in Hochstimmung und schwatzten über Opfer und Dämonen, als würden sie das Footballspiel vom vorigen Abend diskutieren. Als er hinausging, begegnete er Jusef, der zusammen mit Meg eine andere Treppe hinaufkam. Sein Anzugjackett war über ihre Schultern geworfen, was Angel vermuten ließ, dass ihre Hände noch immer gefesselt waren. Sie bewegte sich wie ein Zombie. Sie verschwanden hinter der nächsten Ecke. 130
Angel wollte ihnen gerade folgen, als sein Handy klingelte. Er fuhr zusammen und zog es aus der Tasche. »Oh, Gott sei Dank!«, schrie Cordelia. »Du lebst! Soweit man bei dir von Leben reden kann. Angel, du musst sofort herkommen. Du hast so ein Schwert, das wir brauchen, denn da ist ein Monster im Aufzug.« Trotz der ernsten Situation fragte er: »Hast du einen Klempner gerufen?« »Haha. Sehr witzig. Wirklich. Wir brauchen dich. Ich kann nicht am Handy darüber sprechen, vor allem, wenn du dich irgendwann mal für ein öffentliches Amt bewerben willst. Irgendjemand könnte nämlich gerade zuhören. Also komm nach Hause, okay?« Meg, es tut mir Leid, dachte er. »In Ordnung. Ich komme so schnell ich kann.« Er beendete die Verbindung und steckte das Handy in die Hosenta sche. Unbehaglich zog er die Robe über seinen Kopf und ging zurück zu der Stelle, wo der Kerl lag, den er niedergeschlagen hatte. Er legte die Robe neben ihn auf den Boden und ging über die Brücke, die den Karpfenteich überspannte. Niemand beachtete ihn, als er sich dem Tor näherte. Doch gerade als er in sein Kabrio steigen wollte, stürzte sich eine große, geflügelte Kreatur von oben auf ihn. Es war eine Dämonen schlange, von der gleichen Art wie die, gegen die er in dem brennenden Apartment gekämpft hatte. Nur viel, viel größer. Der Dämon packte Angel mit kräftigen, messerscharfen Zähnen an der Hüfte. Er blutete, als ihn die Kreatur vom Boden hob. Binnen Sekunden waren sie hundert Meter über dem Boden. Ein Sturz würde ihn nicht töten, solange sein erstarrtes Herz nicht durchbohrt wurde, aber der Griff der Schlange war mörderisch. Und es sah nicht so aus, als würde sie ihn in naher Zukunft loslassen. Sie schlug weiter mit den Flügeln und glitt durch die Luft. Es sah auch nicht danach aus, als würde sie in nächster Zeit nach einem Landeplatz Ausschau halten. Also blieb es beim Fliegen. Das nächste Mal nehme ich den Bus, dachte Angel, als sich die Klauen der Schlange tiefer in sein Fleisch gruben. Der Mond, groß und gelb, ließ seine blutverschmierten Hände schmutzig grau erscheinen. Die Kreatur flog noch immer weiter. Angel dämmerte halb bewusstlos vor sich hin, als die Schlange plötzlich das Maul aufriss und den Vampir mit lautem Zischen weckte. 131
Flammen schossen aus ihrem Maul und verbrannten einen Schwarm Vögel. Jene, die verschont geblieben waren, rasten im Sturzflug davon. Die Schlange folgte ihnen nicht, sondern flog weiter geradeaus, ohne auch nur einen Zentimeter nach rechts oder links von ihrem Kurs abzuweichen. Was ist, wenn wir die Berge erreichen?, fragte sich Angel. Wird dieses Wesen von einer Art Autopilot gesteuert? Nach einer Weile erkannte er, dass er wieder in seinen Dämmer zustand gesunken war. Er schreckte hoch und hob langsam den Kopf. Es kam ihm vor, als würde er so viel wie ein Auto wiegen. Sie hatten eine weite Strecke zurückgelegt. Die glänzenden, spie gelnden Wolkenkratzer der City von Los Angeles waren zum Greifen nahe – so nahe, dass es aussah, als würden sie mit einem von ihnen zusammenprallen. »Zieh hoch«, grunzte Angel. »Zieh hoch!« Er zerrte an den Klauen und versuchte sich zu befreien. Die Kreatur zischte, öffnete ihr Maul und spuckte Feuer. Was nun?, dachte Angel. Dann erkannte er, was vor sich ging: Die Schlange forderte ihr eigenes Spiegelbild an der Glasverkleidung des Hotels heraus, das früher als das Bonaventure bekannt gewesen war. Sie schlug wild mit den Flügeln, gewann an Geschwindigkeit und öff nete erneut das Maul. Die Flammen, die sie spuckte, schössen wie große Feuerbälle durch den Nachthimmel und trafen die Außenwand des Hotels. In der Hitze des Gefechts verstärkte sie ihren Griff um Angel. Menschen schrien, während Angel gegen die Klauen trommelte und frustriert mit den Zähnen knirschte, als die Kreatur ihn weiter festhielt. Er wappnete sich für den Aufprall, indem er den Kopf einzog und die Beine an die Brust zog. Die Anstrengung war fast zu viel für ihn. Buffy, dachte er, vergiss mich nicht. Die Schlange griff die Wand des Hotels an, das sofort anfing zu brennen. Die Flammen rauschten wie ein riesiger Wasserfall. Die Welt verwandelte sich in einen brausenden Feuersturm; Explo sionen dröhnten, und die Druckwellen warfen Angel hin und her und rissen ihm fast die Haare vom Kopf. Dann stürzte er. Durch Rauch und unglaubliche Hitze und lautes Geschrei. Er fiel wie ein Stein. Das wird wehtun, dachte er und versuchte krampfhaft, die Muskeln zu entspannen. Das erhöhte die Chancen, glimpflicher davonzukommen, wenn überhaupt. Es sei denn, dies ist Stirb langsam V, und ich lande im Pool oder auf einer Markise ... 132
Doch es passierte weder das eine noch das andere. Bin ich verletzt? Er wusste es nicht, als er bewusstlos wurde. Doyle holte tief Luft. »Ich würde ja ›Für die Königin und das Vaterland‹ rufen, aber wir haben vor ein paar Monaten unsere eigene Regierung bekommen«, sagte er. »Das wollte ich dich schon lange fragen«, flötete Cordelia. »Hast du eine Green Card? Denn wenn du illegal in diesem Land bist, könnte Angel ins Gefängnis wandern. Und eine Geldstrafe aufgebrummt bekommen, weißt du?« Doyle sah sie verblüfft an. »Ich bin von den zuständigen Mächten hierher geschickt worden«, erinnerte er sie. Sie zuckte die Schultern. »Okay. Wie schön für dich. Die können ja dann jemanden zur Einwanderungsbehörde schicken, wenn Angel eingesperrt wird. Mehr sag ich dazu nicht.« Sie wies auf das Monster. »Das war's«, fügte sie hinzu. »Du kannst jetzt gegen dieses unheimliche Ding kämpfen.« Doyle holte erneut Luft und hob den Baseballschläger über den Kopf. »Attaaacke!«, schrie er, als er sich auf die Kreatur stürzte. Sie brüllte und wackelte mit dem Hinterteil. Doyle ließ den Schläger niedersausen und traf sie mit voller Wucht. Das Ding explodierte in hunderte von Teile. Sie waren spröde und glänzten wie gebranntes Porzellan und gingen wie ein Regenschauer auf ihn nieder. Dann fielen sie klappernd zu Boden, was wie das Prasseln von Schrotkugeln klang. Für einen Moment herrschte fassungslose Stille im ganzen Raum. Dann hüpfte Celia jubelnd auf und aß. »Gute Arbeit«, lobte Pater Wahid. »Machen wir mit dem kris weiter«, sagte Cordelia. »Unten. Lasst uns unten nachsehen. Jetzt.« Als Meg die Augen öffnete, war sie verwirrt und desorientiert. Sie lag in ihrem Bett auf dem Rais-Anwesen und nickte vor sich hin, als die Erinnerung zurückkehrte. Ich habe Jusef nach unserer Hypnosesitzung gesagt, dass ich mich hinlegen werde, um etwas zu schlafen. Er musste mich allein lassen, um das sedhekah zu leiten. Irgendetwas nagte an ihr. Doch während sie still dalag und sich den Kopf zermarterte, fiel ihr nichts ein. Sie drehte sich auf die Seite. Sie war so erschöpft, als wäre sie stundenlang gejoggt. 133
Ich muss vorsichtig sein. Schließlich hat der Arzt mir gesagt, dass zu viel Sport das Wachstum des Tumors beschleunigen kann, erinnerte sie sich. Und ich möchte noch sehr, sehr lange leben. Ihr Lächeln war bittersüß. Sie stand endlich kurz davor, berühmt zu werden, und musste jetzt besonders auf ihre Gesundheit achten. So muss sich auch Naomi Judd gefühlt haben. Als sie aufhören musste, nachdem sie so hart gekämpft hatte, um bis an die Spitze zu gelangen. Nun, wie Jusef zu sagen pflegt: Wunder geschehen jeden Tag. Sie gähnte und streckte sich. Mein Kopf tut weh, dachte sie. Und wie. Sie ignorierte den Schmerz und setzte sich auf. Keine Zeit zum Ausruhen. Auf uns wartet eine Show. Wir werden den alten Bang Rais mit einem Konzert verabschieden, das uns zu einer Mainstream-Band machen wird. Sie lächelte und ging unter die Dusche. Angel erwachte langsam und unter Schmerzen. Er wusste nicht, wo er war, nur dass es dunkel und überall um ihn herum Rauch war. Alles tat ihm weh, und er war sich nicht sicher, ob er sich bewegen konnte. In seinem geschwächten Zustand würde es ihm noch viel schwerer fallen, mit seinen Verletzungen zurechtzukommen. Er hob den Kopf. Es war stockfinster. Der Rauch ließ seine Augen tränen, und alles drehte sich um ihn. Während er scharf einatmete – nicht, weil er es musste, sondern nur aus Gewohnheit –, hob er den Kopf und stöhnte. »I-irgendjemand«, hörte er ein heiseres Flüstern, gefolgt von heftigem Husten. »Hallo?«, brachte Angel hervor. »Ich bin ...« Die Stimme brach ab. Angel drehte sich auf die Seite, um sich für einen Moment auszuruhen. Dann stützte er sich auf die Ellbogen. »Hallo?«, rief die Stimme weinerlich. »Ich bin hier. Halten Sie durch.« Der Rauch hob sich, und als Angel über den Betonboden kroch, schien er sich zu lichten. Glasscherben bohrten sich in Angels Hände, als er sich weiter schleppte. Er schien Stunden zu brauchen, um einen Meter zurückzulegen. Dann berührte seine Hand einen spitzen, hochhackigen Schuh. Einen Damenschuh. Er hörte ein fast unmenschlich klingendes Stöhnen. Dann krächzte die Stimme: »Ich dachte, Sie wären tot.« 134
»Ich bin hier.« Er legte seine Hand sanft auf ihren Spann, und sie brach in Tränen aus. »Oh, Gott sei Dank«, murmelte sie. »Ich habe solche ... solche Angst. Mir ist kalt.« Sie stand unter Schock. »Hier ist mein Mantel«, sagte er zu ihr, als er bemerkte, wie kalt es in dem Raum war, in dem sie sich befanden. Mühsam streifte er den Mantel ab. Er klebte an seinem oberen Rücken und seinen Trizeps, was bedeutete, dass er dort blutete. Ich muss durch ein Fenster gefallen sein, dachte er. Oder ein Oberlicht. Das Bonaventure hat außerdem gläserne Aufzüge. Und ein Drehrestaurant. »Hier«, sagte er. »Ich decke Sie mit meinem Mantel zu.« »Danke«, flüsterte sie. Die Frau weinte. »Sagen Sie mir bitte Ihren Namen.« »Angel.« »Sind Sie hispanischer Abstammung?« »Nein. Ire.« »Sie klingen nicht irisch.« Ihre Stimme hörte sich jetzt etwas kräftiger an, war aber noch immer kaum hörbar. Mit ihr zu reden, war der beste Weg, sie davon abzuhalten, in Panik zu geraten. Oder das Bewusstsein zu verlieren. »Ich bin schon seit langer Zeit von zu Hause weg«, erklärte er. »Ich bin aus L. A.«, sagte sie und schwieg dann. »Heute ist mein Hochzeitstag.« »Oh.« Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fragte sich, was aus ihrem Mann geworden war. Ob er in blinder Panik nach ihr suchte oder ob er in dem Feuer verletzt worden war. Oder Schlimmeres. »Unser fünfzigster. Unser goldener.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Angel heiser. »Mein Mann ist seit fast einem Jahr tot.« Sie fröstelte und schwieg. »Ich bin allein hier.« Er erkannte jetzt, dass der Schuh, den er berührt hatte, mit Perlen verziert war. Sie hatte sich fein gemacht, um auszugehen. Offenbar allein. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Wir hatten keine Kinder.« Sie hustete wieder. »Natürlich auch keine Enkel. Mein Mann war Professor.« Der Husten überwältigte sie. Angel tastete nach ihrer Schulter und drückte sie sacht, um sie zu trösten. Mehr konnte er nicht für sie tun. 135
Verlor sie wegen des Rauchs das Bewusstsein, würde er ihr keine Mundzu-Mund-Beatmung geben können, denn er hatte nicht die nötige Lungenkapazität. Schließlich brauchte er keine Luft. »Wir haben Freunde«, murmelte sie zusammenhanglos. »Aber viele von ihnen sind tot.« Er hielt weiter ihre Schulter. »Aber ich ...« Sie holte Luft. »Ich habe etwas getan.« Er schloss die Augen. Sie nahm an, dass sie hier sterben würden, und sie wollte ihm jetzt ihr tiefstes und dunkelstes Geheimnis verraten. »Ich hatte ein Baby. Als ich ein junges Mädchen war.« Sie weinte wie der. »Mein ganzes Leben habe ich mich gefragt, war es ein Junge oder ein Mädchen?« Sie senkte ihre Stimme. »Er war Asiate. Es war sehr unschicklich.« »Sie durften ihn nicht heirateten«, vermutete er. »Er hat mich geliebt...« Ihre Stimme erstarb wieder. Angel hörte das Prasseln der Flammen und das Brausen der Feuer winde. Das Feuer kam näher. »Ich werde mich ein wenig umsehen«, sagte er. »Vielleicht finde ich einen Weg nach draußen.« »Nein«, flehte sie. »Lassen Sie mich nicht allein.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Bitte, junger Mann. Ich habe solche Angst.« Er wollte protestieren, gab dann aber nach. »In Ordnung.« »Mein Kind müsste jetzt erwachsen sein.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Aber ich habe mir immer ein Mädchen vorgestellt.« Zwischen den Hustenanfällen weinte sie heftig. »Ich weiß nicht ein mal, ob sie von mir weiß. Damals haben die Leute den Kindern nicht gesagt, dass sie adoptiert waren. Und auch mir war das Ganze unan genehm. Ich habe nicht einmal meinem Mann erzählt, dass ich ein Baby hatte.« Angel blinzelte überrascht. »Wir waren damals so unschuldig«, fügte sie mit einem reuevollen Lachen hinzu. »Wahrscheinlich hielt er meine kleinen Schwanger schaftsstreifen bei einer Frau für normal. Ich hatte auch nicht viele«, fügte sie stolz hinzu. »Aber Sie haben es ihm nie erzählt.« »Ich habe es ihm nie erzählt«, flüsterte sie. »Um genau zu sein, habe ich es niemandem erzählt. Meine Mutter schickte mich fort, um das Baby zu bekommen. Das war zu jener Zeit so üblich. Weder meine Freundinnen noch meine Schwestern wussten Bescheid.« Ihre Stimme wurde schwächer. »Niemand hat es je erfahren.« 136
»Sie haben es für sich behalten«, sagte er. »Es war mein Geheimnis«, murmelte sie. »Ein derartiges Geheimnis, ein derart schreckliches Geheimnis, lässt einen nicht richtig leben. Zuerst dachte ich, ich würde es vergessen.« Ihr Kummer schmerzte ihn, als er ihre Tränen auf seiner Hand spürte. »Aber wie hätte ich das je tun können?« »Ich weiß es jetzt«, sagte er. »Ich weiß es, und bevor ich ... sterbe, werde ich es jemandem erzählen.« »Sie verstehen es«, wunderte sie sich. Wieder schwieg sie lange Zeit. Dann sagte sie: »Wie kommt es, dass ein junger Mensch wie Sie einen derart tiefen Schmerz kennt?« »Bei Ihnen war es doch genauso.« »Bei mir war es genauso.« Sie holte tief Luft. »Ich bin Roberta Anne Hartford. Mein Mädchenname war Anderson. Ich habe meine Tochter im Jahr 1947 in Cincinnati geboren. Ich nannte sie Mae, weil es chinesisch klang.« Sie straffte sich. »Ich habe ihren Vater nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.« »Ich werde es herausfinden«, versprach Angel ihr. »Aber erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Alles.« »Ich habe nichts vergessen«, antwortete sie. »Ich kann mich zwar nicht an die Nummer meines Führerscheins erinnern, und manchmal muss ich sogar überlegen, wie alt ich bin. Aber an ihn erinnere ich mich noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen.« Sie hustete wieder. »Er war achtzehn, als wir uns trafen. Er war hier, um sich zum Ingenieur ausbilden zu lassen.« Während sie ihm die ganze Geschichte erzählte, wurde ihre Stimme immer heiserer und schwächer, und ihre Augen tränten vom Feuer und vor Kummer. Aber sie erzählte weiter, während die Feuerwehrleute auf die Wände einschlugen, um die beiden zu retten. Selbst als ihre Brust von so viel Rauch gefüllt war, dass sie sich hob und senkte wie die eines Kolibris, hörte sie nicht auf zu reden. Sie erzählte weiter, als die Sanitäter eine Taschenlampe auf ihr altes, aber noch immer schönes Gesicht richteten und erklärten: »Sie ist tot, Sir. Es tut uns schrecklich Leid.« Selbst als die Decke über ihre reglose, zerbrechliche Gestalt gebreitet wurde, erzählte sie ihre Geschichte. Und als Angel der Trage nach draußen folgte, war er mit jeder Faser seines Körpers entschlossen, sich an sie zu erinnern.
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Elftes Kapitel
»Da ist es!«, schrie Pater Wahid. Es war ein silbern-schwarzes, gefährlich gebogenes Schwert. Er zer schnitt damit die Luft. »Das also ist ein kris«, stellte Doyle fest und sah es sich genauer an. »Ehrlich gesagt bin ich ein wenig enttäuscht. Ich habe es mir irgendwie magischer vorgestellt.« »Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen«, erwiderte Pater Wahid. »Vermutlich.« »Jetzt muss ich das Buch holen«, erklärte er, ganz offensichtlich in Hochstimmung. Ich schätze, da wir jetzt alles zusammen haben, dachte Cordelia, können wir über Los gehen und 200 Dollar kassieren. »Doyle, du begleitest ihn«, sagte Cordelia. Doyle nickte. »Du bleibst hier und kümmerst dich um das kleine Mädchen.« »Sicher«, stimmte sie zu. »Steck mein Handy ein, es liegt noch in der Limousine. Wenn Angel anruft, sag mir Bescheid.« Doyle nickte. »Sicher.« Dann wandte er sich an Pater Wahid. »Sie haben uns noch nicht verraten, wo das Buch ist«, erinnerte er ihn. »Meine Vision hatte irgendetwas mit Meg Taruma zu tun, und sie ist nicht hier. Ich brauche mehr Informationen, damit ich ein klares Bild für Angel zeichnen kann.« »Vision?«, fragte der Pater ausdruckslos. »Sie ist in einem Club.« Das T-Shirt! Doyle schlug sich an die Stirn. »Club Komodo.« Er sah den Priester erwartungsvoll an. »Bitte. Sie müssen es Cordy erzählen, damit sie es Angel sagen kann. Und wir haben nicht vor, es den Raises zu verraten.« Doch der Priester war noch immer unschlüssig. »Ich habe das Ge heimnis schon so lange gehütet«, sagte er, während seine Hände zit terten. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es gewesen ist, sich zu verstecken und bei jedem Geräusch zu denken, dass der Tod kommt, um mich zu holen.« Er hustete in seine Hand. »Und ich bin krank.«
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So ein Jammerlappen, dachte Cordelia leicht verärgert. Wir haben uns doch gerade geeinigt, und ich für meinen Teil bin bereit, den Bösen in den Hintern zu treten. Wie Buffy immer sagte. Sie lächelte vor sich hin. Wow, wir schlagen uns fast so gut wie die Jägerin. Nur dass es uns bisher nicht gelungen ist, die Bösen davon abzuhalten, die Welt übernehmen oder vernichten zu wollen. Wobei in unserem Fall die Vernichtung wahrscheinlicher ist. »Sagten Sie nicht, dass die Sterne heute Nacht günstig stehen?«, fragte Doyle. »Dass es die mächtigste aller Nächte ist und so weiter?« Der Mann seufzte und ließ die Schultern hängen. »Sie haben Recht. Wenn mir etwas zustößt, wird ein anderer das Werk vollenden.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Es gibt da ein Lagerhaus, in dem ein illegaler Betrieb untergebracht ist. Die reinste Hölle. Einige meiner Gemeindemitglieder arbeiten dort in der Hoffnung, eines Tages ihre Überfahrt bezahlen zu können und das wundervolle Leben zu führen, das sie hier zu finden glaubten. Ich habe das Buch in einer Ausgabe von >Englisch als Zweitsprache« versteckt.« »Ja, ein paar Unschuldige mussten bereits sterben, weil die Raises nach der Ausgabe gesucht haben, die das Buch enthält«, bemerkte Doyle. »Nicht, dass wir Ihnen die Schuld daran geben«, fügte er hastig hinzu. »Genau«, sagte Cordelia. »Denn uns ist klar, dass manchmal Men schen sterben, auch wenn diese nicht direkt in eine Sache verwickelt sind.« »Also gut. Der illegale Betrieb«, sagte Doyle. »Das echte Buch von Latura ist in diesem Lagerhaus, das sich auf der Seventh Avenue befindet.« »In der Nähe der Fashion Alley«, nickte Cordelia. »Danke, Pater«, sagte Doyle. »Ich bete zu Gott, dass ich damit nicht unser Todesurteil unter schrieben habe«, murmelte Pater Wahid. »Besser unseres als das der Welt.« Doyle lächelte matt und wandte sich dann an Cordelia. »Sag Angel, er soll sich den Club Komodo ansehen. Vielleicht ist das nur ein anderer Name für die Hölle.« Sie schluckte. »Was für eine Überraschung.« In seinem Kühlschrank hatte Angel einen Beutel mit gefrorenem Schweineblut, drei Scheiben Brot und eine Scheibe Cheddarkäse. Mit knurrendem Magen machte Cordy Celia ein Sandwich, und während Celia es hinunterschlang, mummelte Cordy an der überzähligen Brot scheibe. 139
Die gute Nachricht ist, dass ich wahrscheinlich abnehmen werde, dachte sie. Die schlechte Nachricht ist, dass ich, wenn wir alle sterben, so viel abnehmen werde, dass nichts mehr von mir übrig bleibt. Nachdem Celia sich vor den Fernseher gesetzt hatte, ging Cordy nervös auf und ab. Genau in dem Moment, als sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte, klingelte endlich das Telefon. »Ich bin es«, sagte Angel. »Oh, Angel! Gott sei Dank!« »Wir haben keine Zeit für Scherze«, erklärte Angel. »Hast du was für mich?« »Es gibt da einen Club namens >Club Komodo<. Doyle wusste zwar nicht wo, aber er war Teil seiner Vision.« »Dann werde ich ihn finden«, versicherte Angel. »Warte!« Aber Angel hatte bereits aufgelegt. Eine der Sanitäterinnen, die ihn gerettet hatten, nahm Angel mit dem Auto mit. Sie hatte Feierabend und versicherte ihm, dass Santa Monica auf ihrem Weg läge. Schließlich war eine Stunde Fahrt bis zum Arbeitsplatz nichts Ungewöhnliches. Sie war eine typische Texanerin mit langen, glatten schwarzen Haaren, und sie vertrieb sich die Fahrtzeit, indem sie abwechselnd mit ihm flirtete oder ihm detailliert von den schlimmsten Unfällen erzählte, die sie als Sanitäterin erlebt hatte. »Motorräder sind eindeutig am schlimmsten«, sagte sie und wich dem Gegenverkehr aus. Hupen dröhnten, als sie fröhlich ein anderes Auto von der Fahrbahn abdrängte. Sie fährt ja noch schlechter als Cordelia, sofern das überhaupt möglich ist, dachte Angel und wappnete sich für den unvermeidlichen Zusammenstoß. »Bei uns heißen sie nur Horrorräder.« Ihr Lächeln war makaber. »Nein, warten Sie.« Sie nickte. »Am schlimmsten sind diese Brandopfer, mit denen wir es in der letzten Zeit zu tun haben. Ich weiß nicht, was mit denen passiert ist, aber sie sind definitiv schlimmer als die Motorräder.« Bingo, dachte Angel. Er fragte bedächtig: »Brandopfer?« »Es sind diese Gangs. Mit Sicherheit«, sagte sie nachdrücklich. Das Mondlicht glitzerte auf dem schwarzen Wasser, und plötzlich erinnerte sich Angel an seinen Traum von Buffy, was ihm einen Stich versetzte. Damals in Sunnydale hatte der Bürgermeister – der selbst ein aufstrebender Dämon gewesen war – die meisten der übernatürlichen 140
Zwischenfälle in Sunnydale »Gangs auf PCP« in die Schuhe geschoben. Es war lächerlich, aber die braven Bürger der Kleinstadt auf dem Höllenschlund hatten ihre Köpfe in den Sand gesteckt und die Erklärung akzeptiert. Die Angelenos waren fast genauso wenig bereit, die Wahrheit über die dunkle Seite zu akzeptieren. »Warum sagen Sie das?«, fragte er. »Warum Gangs?« »Nun, ich bin kein Cop«, verteidigte sie sich. »Aber heutzutage sind es immer die Gangs.« Schulterzuckend fügte sie hinzu: »Neue Leute kommen her, versuchen fremdes Territorium an sich zu reißen, und alle werden sauer.« »Und töten Zivilisten?« Sie musterte ihn. »Sicher. So ist das Leben.« »Inwiefern unterscheiden sich die letzten Brandopfer von den anderen?«, fragte er. »Sie sind von innen her verbrannt«, erklärte sie. »Wir vermuten, dass sie gezwungen wurden, irgendeine brennbare Flüssigkeit zu schlucken. Das Material muss sich mit Zeitverzögerung in ihnen entzündet haben. Außerdem war irgendeine Sauerstoffquelle nötig, damit es in Brand geriet. Und dann – bumm. Wie bei einem Flammenwerfer.« Sie zuckte die Schultern. »Ich jedenfalls möchte im Schlaf sterben. Oder beim Sex.« Sie grinste ihn an. »Bezeichnet man den Orgasmus nicht aus bestimmten Gründen auch als den ›kleinen Tod‹?« Ehe er antworten konnte, sagte sie: »Es gibt da einen Film mit Madonna, in dem sie Männer durch Sex tötet. Tut mir Leid, aber das ist einfach lächerlich. Außerdem extrem egoistisch.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich habe Feierabend, und ich rede noch immer wie eine Dame. Ansonsten mache ich allerdings nichts wie eine Dame.« Sie bog auf die rechte Fahrspur und entging nur um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem Mercedes. Der andere Fahrer hupte. »Ich bin Bodybuilderin«, redete sie weiter. »Ich glaube, ich hätte einige der Kerle, mit denen ich geschlafen habe, töten können, wenn ich es gewollt hätte.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Und ich schätze, manchmal hätte man als Frau nicht übel Lust dazu, wenn der Typ sich wie ein Schwein benimmt. Manche Männer verändern sich, wenn sie bekommen haben, was sie wollen.« »Hmm.« Sex und bittere Konsequenzen. Das Gespräch wurde ihm ein wenig zu intim. »Wie viele waren es? Todesfälle, meine ich.« »Mindestens ein Dutzend.« Sie verzog das Gesicht. »Sie stinken.« In der Tat. Der Tod riecht schlecht. 141
Er nickte höflich und deutete dann durch die Windschutzscheibe und sagte: »Die Bremsleuchten sind an.« »Das sehe ich.« Seine Begleiterin seufzte, trat aber nicht auf die Bremse. »Es stimmt, was man in dieser Stadt sagt. Alle netten Männer sind schwul oder verheiratet.« Er sah sie neugierig an, und sie lachte. »Nun, zum Teufel, ich glaube nicht, dass Sie schwul sind. Aber in Ihren Augen ist keine Versuchung. Dabei wissen wir beide ganz genau, dass nichts dabei wäre, wenn wir es heute Nacht miteinander trieben. Mehr sollte eine Lady nicht sagen.« Er gab keine Antwort. Sie lachte erneut, wobei sie wie ein Fernfahrer wieherte. »Die Männer hier draußen sind einfach keine Cowboys. Zum Teufel, wenn das so weitergeht, gehe ich nach Dallas zurück.« In der Nähe des Piers hielt sie auf einem Hotelparkplatz an und winkte ihm zum Abschied zu, als er ausstieg. »Wenn Sie mal wieder einen lebensgefährlichen Unfall haben, fragen Sie nach Jessie«, sagte sie. »Ich werde sicher gut für Sie sorgen. Niemand kann so gut Intubieren wie ich.« Sie rümpfte die Nase. »Fragen Sie ruhig meine beiden letzten Freunde.« Angel lächelte. »Danke.« »Passen Sie auf sich auf. Und sollten Sie Ihre Meinung ändern, warten in meiner Wohnung eine Flasche George Dickel und ein gewisser Dwight Yoakum auf Sie. Und Dwight, tja, sagen wir, er arbeitet für mich. Bevor ich's vergesse, ich habe meine Telefonnummer auf Ihre Unterwäsche geschrieben, während der Arzt Sie untersucht hat.« »Ein anderes Mal«, entgegnete Angel freundlich. »Oh, klar, natürlich. Übrigens habe ich auch eine Dusche.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Nicht dass Sie stinken. Sie riechen nur nach Rauch.« Er stand am Pier und sah in der Ferne die Silhouette eines Beton gebäudes, auf dem mit flackernder Neonschrift »Club Komodo« stand. Er eilte zu dem Haus und blickte gerade zu dem Schild empor, als jemand auf den darunter liegenden Balkon trat und zum Sprung ansetzte. »Meg, nein!«, schrie Angel. Sie blinzelte und runzelte die Stirn. »Wer?«, sagte sie. Dann verwandelte sich ihr Gesicht in die grausige Maske, die Angel damals in der dämmerigen Scheune gesehen hatte, in jener Nacht, als er und Dorrie zu Granny Quinns Haus geritten waren. Sie – oder was immer es war – starrte ihn an und sagte: »Das Böse hat ein gutes Gedächtnis, Angelus. Es kann nachtragend sein. Und es kann hassen und Rache üben. Aber das Gute? Das Gute muss vergeben. Es 142
muss vergessen. Deshalb wird man dich vergessen. Das Böse in dir wird deine erbärmlichen Versuche der Reue vereiteln. Wie kannst du hoffen, jemals unter den wahren Engeln zu wandeln? Du bist ein Massenmörder. Du gehörst zu uns.« Er starrte sie verständnislos an. »Bist du Meg Taruma?«, fragte er, während er einen Schritt näher trat. Sie zuckte die Schultern. »Der eine Name ist so gut wie der andere. Aber ganz gleich, wie du mich nennst, ich werde zurückkehren. Weil das Böse ewig existiert. Das ist die Wahrheit der Unsterblichkeit.« Dann sprang sie von dem Gebäude und landete mit dem Rücken auf dem Straßenpflaster. In Angels Apartment tauchte plötzlich eine blau schimmernde männliche Gestalt auf. Der Mann war groß für einen Indonesier, muskulös und kräftig, mit einem kantigen Kinn und einer Hakennasse. Seine Name war Bang Rais. Er hatte es gewagt, seinen sterblichen Körper aufzugeben, hatte alles riskiert, um das ewige Leben zu erlangen. Hatte Jusef vergessen, dass Latura nur einem Menschen die Unsterblichkeit schenken würde? Glaubte er, dass der Gott seinem treuesten Diener den Rücken zukehren würde, nur weil ein ungeduldiger junger Mann sich das wünschte? Ich habe für Latura mehr Menschen getötet, als du dir vorstellen kannst, dachte Bang Rais. Ich habe ganze Dörfer und ganze Volks stämme ausgerottet. Aber wichtiger noch, ich habe andere dazu gebracht, in meinem Auftrag für Latura zu töten, indem ich sie glauben ließ, sie könnten an meine Stelle treten. Mein Sohn hat Dutzende gefoltert. Er lernte das Geheimnis, wie man ihre Herzen verbrennen kann, und er dachte, er könnte mir meinen Platz rauben. Aber ich habe ihn in Atem gehalten, indem ich Menschen tötete und ihre Leichen an öffentlichen Plätzen deponierte. Ich habe viele falsche Spuren gelegt. Er sah sich um und ging in die Küche. Und die ganze Zeit habe ich seine Aufmerksamkeit von der Wahrheit abgelenkt. Denn siehe ... In seinem Büro im »Club Komodo« nahm Jusef den Telefonhörer ab und sagte: »Legt die Feuer.« Überall in Los Angeles wurden Nummern gewählt und klingelten Telefone. 143
Benzinkanister wurden ausgekippt, Streichhölzer angezündet. Nacheinander flammten Feuer auf und loderten hoch. Und die Menschen schrien. Einwanderer, Männer und Frauen, hinter verschlossenen Türen eingesperrt, damit sie keine Pause machen konnten. Kinder, vom Rauch eingehüllt. Sirenen heulten durch den Verkehr von Los Angeles. Die Stadt füllte sich mit Rauch, während die Zahl der Todesopfer stieg. Und stieg. Und stieg. Es wird Zeit, dachte Jusef, nahm seine Gitarre und betrat die Bühne. Die Band wartete bereits. »Meg?«, rief er. Als sie nicht auftauchte, blickte er ins Publikum, das geduldig wartete, und führ mit den Fingerspitzen über die Saiten. Die Gamelan-Musiker ließen ihre Hämmer über die Tonleiter wandern und schlugen die Becken. Die exotische, uralte Musik Indonesiens füllte den Raum. Schwungvoll betrat Slamet die Bühne, während er einen kleinen Stoß Bambusstangen vor der Brust hielt. Sie waren die Originalschriften der Tochter der Ersten Dienerin, die in all den Jahren von den guten Patern der Kirche von Nias gehütet worden waren. Aus ihnen hatte Jusef erfahren, dass ein pustaha lakek geschrieben worden war und ein weiteres von Latura durch die Trommeln seines Volkes, den Kopfjägern von Nias, diktiert werden würde. Es würde fal sche Informationen beinhalten und es würde jene, die es benutzten, daran hindern, Unsterblichkeit zu erlangen. Er hatte all das gewusst, aber er hatte seinen Vater in dem Glauben gelassen, er habe die Oberhand. Jusef hatte Bang absichtlich umgebracht. Er hatte so getan, als sei er auf der Suche nach dem Buch, und war dabei auf die Idee gekommen, es in der Ausgabe von ›Englisch als Zweitsprache‹ zu verstecken, weil ihm, Jusef, dieses Buch aus seiner Schulzeit verhasst war. Er hatte sehr wohl gewusst, dass dies Laturas besondere Nacht war, in der die dunklen Mächte ihre größte Stärke erreichten. »Meg?«, rief er wieder. Bang Rais, in seiner höher entwickelten Form, lächelte das Gefäß an, das Latura in die Welt bringen würde. Die Lektüre von Laturas Buch hatte ihm verraten, wonach er suchen musste. Und das war nicht Meg gewesen. 144
Ihr Blut hatte auch nichts Besonderes an sich. Das hatte er nur erfunden, um seinen Sohn und, wenn nötig, auch seinen Neffen abzulenken und in die Irre zu führen. Ich habe sie alle zum Narren gehalten, dachte er. Am Ende werde ich es sein, der die Unsterblichkeit erlangt. »Celia, Angel hat eine Dose Sprite«, sagte Cordelia, als sie sich vom Kühlschrank abwandte. »Möchtest du sie haben?« Als sie keine Antwort bekam, drehte sich Cordelia um – und sah die Gestalt. Sie ließ die Dose auf Angels Teppich fallen. »Es ist zu spät«, war alles, was er sagte. Dann verschwand er und nahm Celia mit sich. Angels Handy klingelte, während er Meg Taruma in den Armen hielt. »Angel, dieser blaue Kerl hat gerade Celia entführt, und ich wette, dass sie auf dem Weg zu dem Buch sind«, sprudelte Cordelia hervor. »Beruhige dich.« »Das Gefäß ist Celia Sucharitkul«, sagte sie. »Nicht Meg. Das war alles eine Lüge.« »Gib mir die Adresse«, sagte er. Cordelia gab sie ihm und fügte hinzu: »Ich mach mich jetzt auf den Weg dorthin.« Angel trug Meg. Er wusste nicht genau, was sie jetzt war oder was mit ihr geschehen war, aber er fühlte sich mit ihr verbunden. Im Innern war sie süß und verängstigt und dringend auf Hilfe angewiesen. Und während sie im Sterben lag, sah er plötzlich ihr Leben vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen: Sie war eine ganz normale junge Frau gewesen, die in einem ganz normalen Teil von Djakarta gelebt hatte. Der einzige Höhepunkt ihres Tages war die Fütterung ihrer Katze gewesen, an deren Namen sie sich nicht erinnerte. Sie war nie in Nias gewesen. All das existierte nur in ihrem Kopf. Es war nichts als eine Lüge. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Die Injektionen«, sagte sie. »Sie haben mich dazu gebracht, ein ganzes Leben zu erträumen.« Es war irgendeine Droge gewesen, die ihr Gehirn stimuliert hatte, falsche Erinnerungen als real erscheinen ließ. »Aber wir sind miteinander verbunden«, flüsterte sie ihm zu. »Das sind wir«, bestätigte er. 145
Aber war es wirklich so? Und war er tatsächlich von einer Schlange gebissen worden? Derartige Gedanken führen nur in den Wahnsinn, sagte er sich. Als Meg starb, weinte sie. »Ich war nicht ich«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich werde sterben, und ich werde nie erfahren, wer ich war.« Angel hielt sie in seinen Armen. Als sie verstummte, sah er in kalte, leere Augen. Auch er wusste nicht, wer sie war. Der illegale Betrieb lag in einem Teil des Textilviertels, der noch düste rer und schmutziger war als der Rest. Er war nicht weit von der Stelle entfernt, wo Celia Cordelias Handtasche gestohlen hatte. Doyle folgte dem Priester die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dort stieß er eine Tür auf und starrte angewidert in einen dreckigen, stinkenden Raum, der voller Nähmaschinen war. Unter einigen lagen verschiedene Dinge wie z. B. ein Teddybär und ein kleiner Stapel Kin derbücher. Pater Wahid bückte sich und wühlte in den Büchern herum. Hier also wurden die Kleinen gefangen gehalten und zum Arbeiten gezwungen. Der Raum war dunkel und schmierig. Und als Doyle tiefer hineinging, fand er eine Treppe, die nach unten führte. Ein Haus voller Geheimnisse. Er stieg die Stufen hinab und betrat einen Raum. Wo das, was er sah, ihm den Magen umdrehte. Es war ein grausiger Ort. Die Wände waren mit Bildern von Folte rungen und verschiedenen Hinrichtungsarten bemalt. Von der Decke hingen Totenschädel und Knochen. Leichen, die gerade angefangen hatten zu verwesen, türmten sich auf dem Boden. Im Zentrum des Raumes stand ein großer Steintisch. An ihn gefesselt war die kleine Celia. »Das Gefäß«, sagte eine Stimme hinter Doyle. Es war Pater Wahid. Er trug eine schwarze Robe, und während Doyle ihn anstarrte, hörte er Flügelschläge über sich. Zwei abscheuliche fliegende Monster mit rissiger grüner Haut, jedes so groß wie ein Löwe, befanden sich unter der Decke und schlugen mit den Flügeln. Beide hatten etwas Rundes im Maul, das sie gleichzeitig zu Boden fallen ließen. Es waren die Köpfe von Jusef und Slamet. Pater Wahid warf den Kopf zurück und lachte. »Sie hielten sich für so gerissen«, sagte er. »Sie haben so viel gelogen und betrogen, dass sie 146
schließlich nicht mehr wussten, ob sie sich auch gegenseitig belogen hatten. Am Ende belogen sie sich selbst. Ich bin der wahre Diener. Ich bin derjenige, der unsterblich werden wird.« Doyle zuckte die Schultern. »Das ist mir völlig egal«, sagte er. Und stürzte sich mit dem Schwert auf den ehemaligen Priester. Angel verfolgte, wie der Gerichtsmediziner Megs Leichnam abtrans portierte. Anschließend winkte er ein Taxi heran, um zu der Adresse zu fahren, die Cordelia ihm gegeben hatte. Als das Taxi hielt, stieg er ein und saß für einen Moment schweigend da. »Zum Rais-Anwesen«, sagte er schließlich. »Es liegt oben in den Hügeln. Ich zeige Ihnen den Weg.« Doch der Taxifahrer kannte sich aus, und sie kamen schnell voran. Dann, als sie eine Weile gefahren waren, bemerkte Angel, dass sich die Nacht dem Ende zuneigte. Er war nicht einmal sicher, ob er es noch rechtzeitig bis zu dem Anwesen schaffen würde. Es spielt keine Rolle, dachte er. Der Taxifahrer redete ununterbrochen, doch Angel hörte nicht hin. Vor seinem geistigen Auge ließ er stattdessen sein Leben Revue passieren. Denn es könnte gut sein, dass dies das Ende ist. Was war ihm vorhergesagt worden? Dass er allein und vergessen sterben würde? »Wir sind da«, erklärte der Taxifahrer. »Ich glaube nicht, dass man mich durch das Tor fahren lässt.« »Ist schon okay.« Angel stieg aus und gab dem Mann genug Geld, damit er davonfuhr. Dann wandte er sich an den Wächter. »He!«, sagte er – und schmetterte ihm die Faust gegen das Kinn. Der Wächter brach zusammen. Ein anderer schrie: »Halt!« und zielte mit einer Waffe direkt auf Angel, der schneller wurde und sich gleichzeitig duckte. Der Schuss ging über ihn hinweg. Angel rammte den Mann und lief weiter. Schüsse verfolgten ihn, als er die Tempeltreppe hinuntersprang und zwei, drei, vier Stufen auf einmal nahm. In der Finsternis des Tempels flackerte eine einzelne Fackel. Die Statue von Latura, die extrem gewachsen war, schlug auf einen großen Schwärm fliegenderem ein, bevor sie sie packte und in ihr Maul schob. »Granny Quinn«, rief Angel. Die Statue erstarrte und drehte dann ihren hässlichen Steinkopf in seine Richtung. Feuer brannten in ihren Augen. 147
»Granny Quinn«, sagte Angel wieder. »Das ist nicht mein Name.« Die Stimme war so laut, dass es in den Ohren schmerzte. Und die Feuer in den Augen waren so heiß, dass Blasen auf Angels Gesicht und Armen entstanden. »Das Böse ist dein Name, nicht wahr?«, fragte Angel. »Wenn du so willst.« Die Statue ballte eine Faust und ließ sie neben Angel niedersausen. »Und wie lautet deiner? Kronprinz von Nichts?« »Das alles wurde für mich inszeniert, nicht wahr?«, fragte Angel und trat näher. »Eine Art Experiment, um zu sehen, welchen Weg ich wählen würde. Denn ein Teil von mir ist böse ...« »Sehr böse«, bestätigte die Statue und entblößte riesige Reißzähne, als sie ihn angrinste. »Und ein Teil von mir ist gut.« Angel war es schwergefallen, die Worte auszusprechen. Deshalb wiederholte er sie. »Ein Teil von mir ist gut.« Die Statue lachte. »Jeder hat Finsternis und Licht in sich.« »Aber nicht so wie ich. Ich bin einzigartig. Und genau das macht mich zu dem perfekten Gefäß.« »Interessant«, sagte die Statue. »Das ist es doch, was dir fehlt. Interesse. In dieser Hinsicht ist die Geschichte von Latura wahr. Der Tod ist begrenzt. Und das Leben ist – zumindest für die meisten Menschen – nur ein Übergang.« »Was es sinnlos erscheinen lässt.« »Um mich herum leben alle und sterben. Sie entscheiden sich für das Licht oder die Finsternis. Ich bin der Einzige, der weiterlebt und weiterkämpft. Ich bin der wahre Gott der Toten. Ich bin derjenige, der aus der Unterwelt aufstieg, um für immer unter den Menschen zu wandeln.« »So viel Stolz«, sagte Angel und drohte ihm spöttisch mit dem Finger. »Du bist nur ein Dämon. Ein gerissener, gelangweilter Dämon«, sagte Angel. Die riesige Steinfigur neigte den Kopf. »Golgothla ist mein Name, Vampir. Und du hast Recht. Du bist es, den ich will. Nicht den Diener. Nicht das Gefäß. Nicht Doreen, Alice, Meg, Hendrik, Wahid oder Bang. Du bist einzigartig.« Der Dämon zuckte die Schultern. »Aber jetzt, wo du Bescheid weißt, ist das Spiel zu Ende. Es ist uninteressant geworden. Doch wenn ich dich entkommen lasse, wirst du früher oder später eine Möglichkeit finden, mich zu vernichten.« 148
Die Kreatur ballte die Faust und schlug nach Angel. Dann trat sie ihn, und der Vampir flog durch die Kaverne. An der Felswand prallte Angel ab und landete auf dem Rücken. Er war so benommen, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Der Boden bebte, als die Dämonstatue auf ihn zustapfte. Ihr Gelächter löste Felsbrocken von der Decke, die auf Angels Kopf und Brust regneten und ihn wund schlugen. Wie in Zeitlupe rollte Angel zur Seite, bevor er sich aufrappelte, eine klassische Kickboxer-Verteidigungshaltung einnahm und auf den nächsten Schritt des Angreifers wartete. Dann erkannte er, wie das Spiel aussah: Er konnte nicht sterben. Sein Leben war ihm von den zuständigen Mächten zurückgegeben worden, und er konnte es nicht einfach wegwerfen. Das war es, was ihn interessant machte. Folglich hatte er etwas zu verlieren, und die Risiken waren groß. Also, was soll ich tun? Kämpfen bis zum Umfallen? Bis ich sterbe? Bis er das Interesse an mir verliert? »Für dich macht es keinen Unterschied, nicht wahr?«, sagte Angel. »Wie dieser Kampf ausgeht, ist gar nicht so wichtig.« »Natürlich ist es wichtig. Schließlich könntest du mich vernichten«, flüsterte die Statue mit verführerischer Stimme. »Dich? Das bezweifle ich«, erklärte Angel. »Du hast kein wahres Selbst. Wenn du in dieser Gestalt stirbst, wirst du einfach in einer anderen wieder auferstehen. Das Böse lebt ewig.« »Wie zynisch«, sagte der Dämon. »Das erweckt in dir den Wunsch aufzugeben, nicht wahr?« »Nein.« Angel hob sein Kinn. »Es erweckt in mir den Wunsch, auch ewig zu leben.« Dann stürzte er sich auf den Dämon und schlug wild auf ihn ein. Dessen fliegende Diener griffen Angel an, bissen ihm ins Gesicht und in den Kopf und zielten nach seiner Kehle. Plötzlich explodierte der Boden und albtraumhafte Kreaturen eruptierten wie ein Lavageysir. Angel tötete so viele, dass er sie nicht mehr zählen konnte. »Schon müde?«, schleuderte er dem Monster entgegen, »schon gelangweilt? Du willst mich gar nicht töten. Denn ich bin der Beste, den die gute Seite hier unten hat.« »Genug!«, donnerte der Dämon. Und explodierte in hunderte von Bruchstücke, von denen jedes sich in ein Gesicht verwandelte, aber es war immer dasselbe. Sie alle schrien vor Wut und Enttäuschung, bevor auch sie explodierten. 149
Und dann die daraus entstandenen Bruchstücke. Und dann die daraus entstandenen. Bis Angel erschöpft in einem Meer aus Sand lag.
Epilog
»Es wird dir vergeben, nicht vergessen.« – The Corrs Eire Shaor war ein seltsamer, aber wunderschöner Ort: eine authentische irische Arbeiterkneipe, die mitten in West Hollywood lag. Angel wusste nicht, wie Doyle sie gefunden hatte, aber er war von der Entdeckung des Halbdämons angenehm überrascht. Als Doyle Angels Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er: »Das ist viel besser als eine leere Bibliothek, eh?« Die beiden saßen in Sichtweite des Dartboards, tranken Bier und verfolgten schweigend das Match. Aus der Musikanlage ertönten irische Gruppen: The Chieftains, The Corrs, Clannad. Harfenmusik. Ein romantisiertes Irland, sicher. Cordelia hätte es wahrscheinlich gefallen, aber sie hatte ein Ren dezvous mit Jason, dem Polizisten. »Bist du je in der IRA gewesen?«, fragte Doyle, als er nach seinem Bierglas griff und einen Schluck nahm. »Sinn Fein und all das?« Erwies auf den Namen der Kneipe, der übersetzt ›Freies Irland‹ bedeutete. Angel sah ihn neugierig an. »Warum fragst du?« »Weißt du noch, wie sie Gerry Adams nicht in die Staaten einreisen lassen wollten? Wo sie doch all diese irischstämmigen Kennedys haben und so.« »Sie?« »Die Amerikaner.« Doyle runzelte die Stirn. »Was hast du denn gedacht, wen ich meine? Die Menschen?« Angel sagte nichts. »Vergiss nicht, ich bin halb menschlich.« »Wie könnte ich das vergessen?« Doyle überhörte es. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, sagte er: »Ich habe Heimweh, weißt du.« Mit dem Boden seines Glases malte er kleine Kreise auf den Tresen. 150
»Mir gefällt es hier schon, aber in der Heimat ist es etwas einfacher, sich durchzuschlagen«, fügte er schließlich hinzu. »Dich als Mensch auszugeben, meinst du wohl«, stichelte Angel. »Du bist ein alter Zyniker.« Doyle musterte ihn. »Im Irland von heute wärst du genauso fehl am Platz wie hier. Ganz gleich, wohin du gehst, du bist ein Fremder in einem fremden Land.« Angel sah ihn an. »Es ist kein fremdes Land.« Doyle schnaubte. »Los Angeles? Komm schon. Es ist der bizarrste Ort auf Erden.« »Ganz und gar nicht«, widersprach Angel. »Sie sind tofufressende Sonnenanbeter. Du gehörst nicht dazu. Du gehörst nicht hierher.« Angel sagte nichts. »Außerdem muss es für dich sein, als würdest du jeden Tag durch ein Minenfeld wandern, wenn du siehst, wie die Menschen ihr Leben führen und Pläne machen, ohne etwas von den Schrecken zu ahnen.« Angel sah ihn an. »Sie können miteinander ins Bett gehen, ohne befürchten zu müssen, anschließend zur Hölle zu fahren. Wenigstens jene, die keine Katholiken sind.« »Doyle«, sagte Angel müde. »Nun, toll, dass du es zugibst. Ein Vampir mit einer Seele ...« Er zuckte die Schultern. »Du bist schon ein komischer Vogel.« Angel hob sein Bier. »Ja«, sagte er. »Zumindest für eine Weile.« Vielleicht aber auch für immer. »Auf Irland«, sagte Angel. Doyle lächelte matt und hob sein Glas.
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