Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Joe Alex Der Tod spricht in meinem Namen
Kriminalroman...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Joe Alex Der Tod spricht in meinem Namen
Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Die letzten Worte des Theaterstückes sind verklungen. Der Vorhang senkt sich, und im Saal herrscht tiefe, andächtige Stille. Endlich bricht donnernder Beifall los, und das Publikum verlangt nach dem Hauptdarsteller Stephen Vincy. Doch Vincy erscheint nicht. Die enttäuschten Zuschauer, unter ihnen auch Inspektor Parker, Joe Alex und dessen Freundin Caroline Beacon, verlassen das Theater. Parker, der mit Alex und Miss Beacon den Abend im Klub der Grünen Feder ausklingen lassen will, erhält dort die Nachricht, daß Stephen Vincy ermordet in seiner Garderobe aufgefunden worden sei. Damit ist für Inspektor Parker der nette Abend im Kreise seiner Freunde beendet, und der Dienst beginnt. Natürlich kann Alex der Bitte des Inspektors, ihn an den Tatort zu begleiten, nicht widerstehen. In Vincys Garderobe bietet sich ihnen ein seltsamer Anblick: Vincy liegt friedlich auf seinem Sofa – nur der Dolch in seiner Brust stört das Bild –, in der Hand hält er einen weißen Umschlag, und neben dem Sofa steht ein großer Korb mit herrlichen Rosen …
Joe Alex
Der Tod spricht In meinem Namen
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Verlag Das Neue Berlin
Der Alte: Nein, ich spreche nicht heute abend. Ich habe einen Berufsredner bestellt, er spricht in meinem Namen.Du wirst schon sehen. Die Alte: Wird das tatsächlich heute abend sein? Eugène Ionesco
I. EINE ETWAS ZU GROSSE HANDTASCHE
Als Inspektor Benjamin Parker, der in seinem tadellos geschneiderten Abendanzug durchaus nicht wie ein Beamter des Scotland Yard wirkte, an der Wohnungstür von Joe Alex klingelte, band sich dieser gerade die Krawatte. Auch er erinnerte kaum an einen Autor von Kriminalromanen. Er war ein großer, gutaussehender junger Mann, weder düster noch wortkarg, obwohl letztere Eigenschaft Amateurdetektiven gern zugeschrieben wird. Und niemand, der zum erstenmal Caroline Beacon sah, hätte in ihr eine vielversprechende Archäologin vermutet. Sie war ein außerordentlich schönes Mädchen, sehr ruhig, und ähnelte mit ihrem blonden, zu einem langen Schweif gebundenen Haar eher einer Schauspielerin als einer jungen Wissenschaftlerin. Im Moment saß sie, bereits im Abendkleid, auf der Sessellehne und schaute Joe Alex zu, der mit seiner Krawatte kämpfte, bemüht, die Hemdbrust nicht mit den Fingern zu berühren. »Am Ende wirst du siegen«, meinte sie leichthin. 7
»Der Mensch siegt schließlich immer über die Materie …« »Mit den Jahren, die vergehen, schwindet auch meine diesbezügliche Überzeugung.« Alex betrachtete lächelnd seine schöne Freundin. Dann blickte er auf die Uhr und sagte, ohne von der Krawatte zu lassen: »Ben Parker müßte eigentlich gleich klingeln …« In dem Augenblick klingelte der Inspektor. Alex stellte ihn Caroline vor und wies auf einen Sessel, besann sich jedoch und rief: »Junge, hilf mir bloß!« Der Inspektor band ihm die Krawatte, und alle setzten sich. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, mein Wagen steht vor der Tür«, sagte Alex. »In fünf Minuten können wir an Ort und Stelle sein. Du solltest dich unbedingt noch stärken«, wandte er sich an den Inspektor und warf dann einen Blick auf Caroline. »Trinkst du einen Schluck mit uns?« »Notfalls auch allein …« Miss Beacon lächelte bescheiden. »Sie trinken Whisky wohl ohne Soda, Inspektor? Ich ebenfalls, aber etwas weniger.« Joe schenkte ein und setzte sich. »Gut, daß ihr euch endlich kennengelernt habt«, sagte er zufrieden. »Ich habe es gern, wenn meine Freunde scharenweise auftreten.« Caroline lächelte, während Parker leicht den Kopf neigte. 8
»Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben«, flüsterte er und fügte dann mit normaler Stimme hinzu: »Ich habe viel über Sie gehört, nicht nur von Joe. Allerdings war mir, als hätte ich in der Presse von Ihrer Abreise gelesen. Sicherlich irre ich mich, doch als über die Expedition nach Persien berichtet wurde, glaubte ich auf Ihren Namen gestoßen zu sein.« »Nein, Sie irren sich nicht. Aber wir sind nicht gefahren, denn der Leiter der Expedition, Sir Thomas Dodd, ist schwer erkrankt. Dadurch waren viele Veränderungen notwendig, und die ganze Angelegenheit wurde um zwei Monate verschoben. Angeblich geht es ihm besser, aber ich glaube nicht, daß er fahren kann. Sir Thomas mußte operiert werden. Krebs … Nun, lassen wir das Thema, das ist eine traurige Geschichte. Joe, rasch noch für jeden einen Whisky, und dann wollen wir aufbrechen! Ich bin sehr neugierig auf diese ›Stühle‹ Nett von Ihnen, Inspektor, daß Sie uns eingeladen haben. Wir waren den ganzen Vormittag von Torquay mit dem Wagen unterwegs, so daß ich kaum Zeit hatte, nach Hause zu fahren, um mich umzukleiden …« Der Inspektor bemerkte, daß Caroline Beacon bei diesen Worten leicht errötete, während Alex nach der Flasche griff und eilig einschenkte. Als er diese Beobachtung blitzschnell in einen Zusam9
menhang mit den drei Koffern brachte, die in der Diele standen, begriff er, daß Caroline Beacon wirklich heute den ganzen Tag mit Joe Alex im Wagen unterwegs gewesen war, aber kaum zu Hause vorbeigeschaut hatte und heute wahrscheinlich nicht mehr dorthin gelangen würde. Er fragte sich, weshalb diese beiden interessanten, alleinstehenden jungen Leute, die mindestens seit einem Jahr einer ohne den anderen nicht auskommen konnten, nicht einfach heirateten. Doch Inspektor Parker hatte in seinem Leben schon vor ganz anderen Problemen gestanden, und dieses hier brauchte er zum Glück nicht zu lösen. Ihm fiel plötzlich nur ein, daß die eigentliche Annäherung zwischen Caroline und Joe Alex vor fast genau einem Jahr erfolgt war, als Joe und er das Rätsel um den Tod ihres gemeinsamen Freundes und Kriegskameraden Ian Drummond lösten … Also ist schon ein volles Jahr vergangen, dachte er mit leiser Verwunderung, wie wir sie häufig angesichts der dahineilenden Zeit empfinden. Er schüttelte diese Gedanken ab und sagte, um die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen: »Diese Aufführung soll wohl sehr modern sein. Und ich muß gestehen, daß für einen gewöhnlichen Polizisten moderne Kunst etwas schwierig ist.« »Ich habe das Stück gelesen«, erwiderte Caroline, »und ich meine, daß daran nichts Sonderbares 10
ist. Es sagt einfach, daß das menschliche Leben ein Nonsens ist, daß es zu nichts führt, zu nichts dient, daß keiner sich an den anderen erinnern wird und niemand einem anderen etwas erklären kann.« »Hm …«, brummte Parker, »wenn ein solches Verhältnis eines lebendigen Menschen zum Leben nicht sonderbar ist, dann …« Er hielt inne und blickte auf die Uhr. »Wir müssen jetzt gehen. Aber ich hoffe, Sie sind so freundlich und erklären mir das nach der Vorstellung, und zwar mit Ihren eigenen Worten, so daß ich es auch verstehe.« »Nur Mut!« brummte Alex, doch es war nicht ersichtlich, ob er damit den Inspektor oder Caroline meinte. Caroline erhob sich und nahm Parkers Arm. »Die moderne Kunst dient dazu, das Unbewußte im Menschen und die verborgenen Motive seines Handelns aufzudecken.« »Dann hätte sie ja fast die gleiche Aufgabe wie die Polizei«, sagte Alex lachend. Sie gingen hinunter zum Wagen. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Crosby Street und hielten vor einem hell erleuchteten Gebäude, an dessen Fassade, in Höhe des ersten Stockwerks, eine flimmernde Leuchtschrift entlanglief: HEUTE DIE STÜHLE … HEUTE DIE STÜHLE … HEUTE DIE STÜHLE … Sie betraten das Theater. 11
»Nur noch eine Zigarette!« bat Alex. »Sonst quäle ich mich gegen Ende des Aktes. Wenn ich länger als eine Stunde nicht rauche, werde ich unruhig.« Im Rauchsalon herrschte noch lebhaftes Treiben. Sie setzten sich zu dritt an ein Tischchen, das ein wenig verborgen in einer Ecke stand, und steckten sich Zigaretten an. »Die Vorstellung ist gut besucht«, bemerkte Parker. »Mir scheint, ein Autor, der den Menschen sagt, daß ihr Leben keinen Sinn hat, verdient so viel daran, daß wenigstens sein eigenes Leben sinnvoller wird.« Alex lachte. Caroline schüttelte mißbilligend den Kopf und öffnete schon den Mund zu einer Antwort, doch da fesselte eine kleine Gruppe von Personen, die neben dem Eingang zum Foyer stand, ihre Aufmerksamkeit. Caroline deutete mit dem Blick in jene Richtung. »Das sind sie, Joe. Die Familie von Sir Thomas Dodd. Seine Frau, die Tochter und ihr Verlobter.« »Ist das Anne Dodd?« fragte Parker, indem er auf das hübsche junge Mädchen in dem einfachen, doch überaus eleganten Kleid wies. »Ja. Haben Sie von ihr gehört?« »Nicht viel. Ich weiß nur, was in der Presse stand. Seit vierzehn Tagen ist sie eines der reichsten Mädchen in England. Eine Erbschaft, glaube ich.« »Ja. Ihr Großonkel ist gestorben, Sir Hugh Garry, 12
der Kohlepotentat. Sie selbst war wohl am meisten erstaunt über diese Erbschaft, denn sie lernte Sir Hugh als kleines Mädchen kennen und hat ihn nicht öfter als fünf- oder sechsmal im Leben gesehen. Doch als sie ihn einmal während seiner Krankheit besuchte, sie war damals noch ein Kind, pflegte sie ihn hingebungsvoll, sie wich keinen Schritt von seinem Lager und weinte, wenn die Erwachsenen sie fortzubringen versuchten. Nach einigen Tagen wurde er gesund, und nichts deutete darauf hin, daß er nach Jahren daran denken würde. In seinem Testament schrieb er jedoch, dies sei der einzige Fall in den letzten vierzig Jahren seines Lebens gewesen, daß ein Verwandter ihm uneigennützig Sympathie bekundet habe. Nun ja, Geld bringt nicht immer Freude. So hat er also dieser einen Person, die ihm Mitgefühl zeigte, ohne mit seinem Geld zu rechnen, alles verschrieben. Er war übrigens Junggeselle und konnte damit anfangen, was er wollte.« »Ja. Davon habe ich gelesen. Es war das kürzeste Testament. Die Presse hat es ungekürzt zitiert: Ich verschreibe mein ganzes Vermögen, ohne jede Einschränkung, meiner Verwandten Anne Dodd. Sollte sie jedoch, was Gott verhüten möge, vor dessen Erwerb sterben, so geht es in das Eigentum meiner weiteren Familie über, wobei mich nur beerben kann, wer mit mir durch Blutsbande verbunden ist, nicht durch Hei13
rat … Auf diese Weise wurde dieses schöne Mädchen die Besitzerin der astronomischen Summe von fünfundzwanzig Millionen. Wenn ich mich recht entsinne, soll die Übergabe der Erbschaft in einigen Wochen erfolgen.« »Und dieser junge Mann erhält die Summe zusammen mit ihrer Hand?« fragte Joe. »Ja. Zum Glück ist er selber reich genug, um nicht als Mitgiftjäger zu gelten. Außerdem haben sie sich verlobt, ehe jemand auch nur davon träumen konnte, daß Anne ein solches Vermögen erben würde. Im Augenblick der Verlobung war er es eigentlich, der ein nicht sonderlich vermögendes Mädchen heiraten wollte. Er ist Charles Cresswell, Lord Conthorpes zweiter Sohn.« »Einer der besten Schützen und Fechtmeister, die wir haben«, bemerkte Parker. »Ich hatte mal in einer Angelegenheit mit ihm zu tun, die einen seiner jungen Freunde betraf. Ein guter Junge. Sportler, aus guter Familie und ohne Beruf, mit einem Wort, er besitzt alles, was man von einem Engländer aus der Gesellschaft verlangt.« »Trotzdem sehen sie nicht so aus, als machten diese fünfundzwanzig Millionen sie besonders glücklich«, bemerkte Alex. »Sie wirken eher wie Leute, die mit tausend Pfund jährlich auskommen müssen.« »Wahrscheinlich hat sich wieder Sir Thomas’ 14
Gesundheit verschlechtert«, sagte Caroline, »aber wieso sind sie dann im Theater …? Außerdem hat Mama Dodd eine entsetzliche Handtasche.« »Hören wir auf, über unsere Nächsten zu tratschen. Es genügt, daß sie über uns tratschen«, brummte Alex, betrachtete aber trotzdem ein wenig genauer die Tasche, die Mrs. Angelica Dodd, Annes Mutter, in der Hand hielt. In der Tat, die Tasche war weitaus größer als die üblichen Theaterwinzigkeiten und offenbar ziemlich ausgestopft. Angelica Dodd war keine sehr große Frau, ihr Gesicht mit den feinen, ausdrucksvollen Zügen trug noch deutlich die Spuren einstiger Schönheit. In gewisser Weise war sie sogar schöner als ihre Tochter, obwohl ihre Wangen nicht mehr die Frische besaßen, die über das zwanzigste Lebensjahr hinaus kaum erhalten bleibt. Sie stand zwischen den jungen Leuten und fächelte sich diskret mit dem Programm. Dann nickte sie Anne zu und wandte sich zum Foyer. »Gehen wir!« Caroline erhob sich aus dem Sessel und folgte den drei Personen, die soeben in der Tür verschwanden. Ein Klingelzeichen ertönte. Der Saal war gefüllt. Das Licht wurde ein wenig dunkler, als wollte es mahnen, die Plätze rascher einzunehmen. Alex kaufte zwei Programme – eines gab er Caroline, das andere Parker. Sie setzten sich. Ihre Plätze befanden sich in der Mitte der vierten 15
Reihe. Dicht vor ihnen, etwas weiter links, saß Angelica Dodd, flankiert von ihrer Tochter und deren Verlobten. »Hervorragende Plätze!« Caroline lächelte Parker zu. »Die vierte und fünfte Reihe sind mir am liebsten. Es ist nicht so nahe, daß man die Schminke sieht, und doch nahe genug, um jede Zuckung im Gesicht des Schauspielers wahrzunehmen. Leute, die etwas von der Sache verstehen, behaupten übrigens, daß man sich von diesen Plätzen aus ein Stück ansehen sollte, weil dort der Regisseur sitzt, wenn er die Proben leitet.« Alex beugte sich vor und warf einen Blick in das Programm, das Caroline auf dem Schoß hielt. Er las die Besetzung: DER ALTE – 95 Jahre alt – Stephen Vincy DIE ALTE – 94 Jahre alt – Eve Faraday SPRECHER – 45 bis 50 Jahre alt – Henry Darcy sowie viele andere Personen Regie: HENRY DARCY Im selben Moment verlosch das Licht ganz. Für eine Weile herrschte völlige Dunkelheit, die lediglich vom schwachen Schein der roten Sicherheitslämpchen über den Eingangstüren erhellt wurde. Doch sogleich flammten im Rücken der Zuschauer zwei große Scheinwerfer auf und warfen 16
ihr grelles Licht auf den Vorhang. Kaum wahrnehmbar für das Publikum, ging der Vorhang hoch, und die Scheinwerferkegel hoben aus der Leere des Bühnenraums die Gestalten zweier alter Menschen ans Licht. Sie saßen beide auf Stühlen und waren recht merkwürdig gekleidet. Der Alte trug eine lockere graue Jacke, die aus einem Sack genäht zu sein schien. An den Schultern waren Epauletten befestigt. Die dunkelblaue Hose war nach Husarenart mit einem breiten roten Streifen versehen. An den Füßen hatten sowohl er als auch die Alte abgetragene warme Hausschuhe. Die Alte steckte in einem unförmigen Kleid, das in Schnitt und Farbe der Jacke des Alten ähnelte. Alex, in den Anblick der Kostüme und des Bühnenbildes vertieft, überhörte zwei oder drei Sätze, doch gleich darauf erreichte der Text sein Ohr. Der alte Mann stand auf und trat an eines der beiden Fenster, die links und rechts in der Dekoration angebracht waren. »… Ich will schauen, die Boote auf dem Wasser machen Flecke auf die Sonne«, sagte er träumerisch. »Du kannst ja gar nichts sehen. Es scheint gar keine Sonne. Es ist Nacht, Schätzchen.« »Aber es ist noch Schatten.« Der Dialog ging weiter, die Sätze folgten rasch aufeinander, und Alex begriff sofort, von den ersten Worten an, daß er Zeuge eines nicht alltägli17
chen Kunstereignisses war. Der Text entblößte auf einfache und erschreckende Weise die Tragödie des heutigen Menschen, seine zerronnenen Hoffnungen, die unermeßliche Einsamkeit, die unerfüllten Träume und die platte Wirklichkeit des Daseins, dessen einziger Weg der Weg zum Grabe ist. Die Regiekonzeption war durch und durch modern. Die Schauspieler, die die alten Menschen darstellten, trugen Masken, die an griechische erinnerten und das Altsein symbolisierten. Stimmen und Bewegungen unterlagen nicht den Gesetzen des Alters, sondern demonstrierten die ewige, tragische Jugend und Naivität des Menschen gegenüber dem Schicksal. Auf diese Weise brauchten die Schauspieler nicht alte Menschen darzustellen, sondern schufen auf der Bühne etwas viel Wichtigeres: Sie gaben eine Synthese des Alters, sie spielten alle alten Menschen, in Vergangenheit und Gegenwart, was diesem erstaunlichen Stück nahezu die Dimension einer griechischen Tragödie verlieh. Alex blickte zur Seite auf Parker. Der Inspektor saß leicht vornübergeneigt, die Lider hatte er zusammengekniffen, und von Zeit zu Zeit nickte er unmerklich, gleichsam zur Bestätigung. Caroline saß völlig regungslos, doch ihre Augen leuchteten wie zwei blaue Sterne. Das Stück war an dem Punkt angelangt, da der Alte, nachdem er alle Leute, die er in der Vergan18
genheit gekannt hatte und die heute noch etwas bedeuteten, zu sich geladen hatte und nun auf ihr Erscheinen wartete. Es kam natürlich niemand, aber die Vision der beiden Alten hielt an. Die imaginären Gäste trafen nacheinander ein, und die alten Leute trugen zu allen Türen Stühle für diese Schatten der Vergangenheit herein. Stephen Vincy war unvergleichlich, er verneigte sich vor der Luft, reichte die Hand, bot all den Unsichtbaren so suggestiv den Arm, daß sich dieses Theater der Erscheinungen mit greifbaren Wesen zu füllen schien. Im Augenblick geleitete er einen neuen imaginären Gast herein: die Schöne. Die tiefe, samtene Stimme des Schauspielers verwandelte sich plötzlich in das Gurren einer Taube: »Ich bin furchtbar aufgeregt … Sie sind es wirklich … Ich habe Sie geliebt, es ist hundert Jahre her … Sie haben sich so verändert … Sie haben sich aber gar nicht verändert. Ich liebe Sie.« Ich liebe Sie … Und fast weinend sprach Vincy weiter: »Wo ist der Schnee vom Vorjahr noch?« Fasziniert von der Stimme des Schauspielers, berauscht von der tragikomischen Situation, vernahm Alex plötzlich ein leises, kurzes Schluchzen. Für einen Moment wandte er den Blick von der Bühne ab. Wer weinte da? In England begegnete man selten Menschen, denen während einer Theatervor19
stellung Tränen kamen. Man war hier nicht in Italien, sondern in dem ruhigen, ausgeglichenen London. Zu seinem Erstaunen gewahrte er, daß es Mrs. Angelica Dodd war, die weinte. Sie weinte nicht in des Wortes wahrer Bedeutung, aber sie betupfte sich mit dem Taschentuch die feuchten Augen. Merkwürdig, dachte Joe, dessen Leidenschaft es war, Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen. Ich hätte schwören können, daß diese Frau ihre wahren Gefühle zu verbergen vermag, erst recht, wenn es sich um »Theaterrührung« handelte. Doch Mrs. Dodd hob schon wieder den Kopf, und er bemerkte, daß sie das Gesicht ihrer Tochter zuwandte und sie mit einem leisen, verzeihenden Lächeln bedachte. Kurz darauf ging der erste Teil der Vorstellung zu Ende, und die Lichter leuchteten auf.
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II. VIN-CY! VIN-CY! VIN-CY!
Das Klingelzeichen, das zum Einnehmen der Plätze rief, ertönte zum zweitenmal – lang und durchdringend. Caroline trank den Kaffee aus, den Alex ihr vom Büfett gebracht hatte. Der Rauchsalon war vom Stimmengewirr erregter Gespräche erfüllt. Die Leute diskutierten leidenschaftlich, die Anteilnahme war groß. Sie standen auf. »Wenn ich mir das so ansehe«, sagte Parker kopfschüttelnd, als dringe dieser Gedanke erst jetzt in sein Bewußtsein, »begreife ich absolut nicht, weshalb die Menschen Verbrechen begehen. Entschuldigt bitte diesen beruflichen Tick, aber ein Verbrechen ist doch schließlich ein sehr ernstes Ereignis im Leben eines Mörders, meist das entscheidende. Wozu denn töten? Wozu die Existenz eines anderen Menschen vernichten, wenn er und ich und wir alle so hoffnungslos, so entsetzlich zum Tode verurteilt sind? Wäre es da nicht anständiger, sein Leben ruhig zu durchlaufen, darauf bedacht, daß es erträglich ist, sowohl für uns als auch für andere, die ebenso verurteilt sind wie wir? 21
Nach diesem Stück sieht die Welt doch wie eine Gefängniszelle aus, aus der nur ein Weg hinausführt: zum Schafott. In der Zelle aber sollte Solidarität herrschen.« »Ein Mörder«, erwiderte Alex, »denkt ähnlich und doch ein wenig anders. Selbst wenn er, wie Ionesco, davon ausgeht, daß alle Menschen sterben müssen und daß von ihnen nichts Persönliches übrigbleibt, so kann er doch auch zu dem Schluß gelangen, daß man dann einen Menschen, den man haßt, ruhig töten kann, weil man ja sein ohnehin unabwendbares Ende nur beschleunigt und sich selbst damit gleichzeitig ein angenehmes Leben schafft. Jedes Verbrechen hat sein grundlegendes Motiv. Indem der Mörder jemanden vernichtet, gewinnt er etwas: Schätze, Liebe, die Befriedigung seines Racheinstinkts. Manchmal ist es zu weit getriebene Notwehr, manchmal Leidenschaft. Doch jedes dieser Motive kann vom Mörder als absolute Notwendigkeit dargestellt werden, und je mehr die Literatur versuchen wird, die Menschen davon zu überzeugen, daß ihre Existenz vorübergehend und nicht sonderlich wichtig ist, desto mehr werden sich die Mörder in ihren eigenen Augen gerechtfertigt fühlen. Zum Glück rekrutieren sie sich nur selten aus den Reihen der Liebhaber moderner Literatur.« »Genug!« sagte Caroline. »Einer von euch be22
schäftigt sich damit, Menschen auf dem Papier umzubringen, und der andere, die Mörder in der Wirklichkeit zu fassen. Denkt jedoch daran, daß neunundneunzig Prozent aller Menschen nie einen Ermordeten gesehen haben, und wäre nicht die Presse, hätten sie auch nicht von ihm gehört. Verbrechen geschehen immer irgendwo weit weg, und niemand glaubt wirklich daran, solange er nicht damit in Berührung kommt. Das Verhältnis zum Verbrechen gehört nicht zu den grundlegenden Merkmalen einer Weltanschauung.« »Dessen bin ich nicht so sicher«, bemerkte der Inspektor. Sie verstummten. Um das Thema zu wechseln, sagte Caroline: »Man muß zugeben, daß auch die Regie hervorragend ist. Vincy allerdings übertrifft sich selbst in der Rolle des Alten.« »Dann wollen wir mal ein bißchen Eve Faraday loben. Weißt du, daß sie fünfundzwanzig Jahre alt ist?« erklärte Alex. »Sie ist ein großes Talent.« »Ja, aber …« In diesem Moment erloschen die Lichter. Caroline wandte sich ab und schaute unverwandt auf den herabgelassenen Vorhang, als wollte sie ihn mit den Blicken durchbohren und die handelnden Personen hervorholen. Die Scheinwerfer flammten auf. 23
Die Pause hatte den Gang der Vorstellung nicht aufgehalten. Unterdessen waren auf der Bühne die Reihen der Stühle angewachsen, sie bildeten bereits ganze Berge und Schluchten, inmitten derer, wie in einer gespenstischen Landschaft, sich die Schauspieler bewegten. Die Ansammlung imaginärer Gäste hatte schon phantastische Ausmaße angenommen. Zweihundert, dreihundert Stühle … und die beiden Alten trugen immer neue herbei. Die Atmosphäre verdichtete sich zusehends. Der Alte und die Alte sprachen mit den nicht Anwesenden, tadelten sie, überschütteten sie, mit Komplimenten, geleiteten sie zu ihren Plätzen. Doch Alex, der kein Auge von den Schauspielern wandte, hörte einen etwas anderen Ton heraus als am Anfang. Vincy war härter geworden, er war mehr Symbol denn Mensch, sein Text kam jetzt, als wollte er dem Zuschauer nicht sagen: »Da bin ich, der Schauspieler, ich verwandle mich in die Gestalt, die ihr seht!«, sondern vielmehr: »Ich drücke nur diese Gestalt aus und möchte euch mit ihrer Hilfe mit den Ideen des Autors bekannt machen!« Alex zog diese zweite Konzeption vor. Sie war weniger melodramatisch und dem heutigen, denkenden Menschen näher. Eve Faraday hingegen verlor sich etwas in ihrer Rolle und schien die gewaltige Konzeption, die sie 24
sich im ersten Teil des Stückes auferlegt hatte, nicht durchzuhalten. Aber vielleicht drängte die blendende, sich mit jeder Sekunde steigernde Kreation ihres Partners sie einfach in den Schatten? Sie wirkte ein wenig grau angesichts dieses Feuerwerks menschlichen Geistes, zu dem Vincy allmählich wurde. Doch die Schlußszene mit dem Selbstmord des greisen Paars wurde dann doch noch zu einem großen Konzert des Spiels beider. Ihr Abschied auf dem Fensterbrett und dann der Sprung in die Tiefe, in das unten tosende Meer, waren erschütternd. So endet jeder Mensch, sagte Ionesco den Zuschauern, ohne Rücksicht darauf, wieviel Mühe er für dieses Leben aufwendet und wie es ihm gelungen ist, das Leben zu meistern. Aber die Art und Weise, wie Vincy seinen selbstmörderischen Sprung ausführte, war unerwartet voller Herausforderung und Glauben, voller Optimismus und verwegener Naivität. Ein Sprung in die Zukunft, nicht in das Nichts. Eve Faraday fiel hinunter wie ein Bündel, wie ein Gegenstand, der den Menschen begleitet. Der Wind blähte nun die Fenstervorhänge auf der Bühne, sie wehten wie Fahnen. Das Licht wurde allmählich heller, intensiver, es erreichte den Kulminationspunkt und blendete fast die Zuschauer, denn es wurde von den weißen, leeren Wänden der Dekoration zurückgeworfen. Durch die große 25
Mitteltür trat derjenige, welcher der Welt die Gedanken und Ideen des Alten übermitteln sollte. Es trat der Sprecher ein. Gekleidet war er genauso wie der Alte, aber er trug keine Maske. Sein Gesicht beschattete ein großer schwarzer Hut. Und erst jetzt spielte sich das eigentliche Drama ab. Aus dem Munde des Sprechers drang ein unartikuliertes Gestammel. Mehrmals setzte er zu dem an, was seine Ansprache darstellen sollte. Dann gab er es auf und schaute sich ratlos um. Neben ihm stand eine große schwarze Tafel. Der Sprecher ergriff mit der linken Hand ein Stück Kreide und versuchte zu schreiben. Doch die Buchstaben ergaben das gleiche Gestammel, dessen Inhalt nur sein konnte: »Es hat alles keinen Sinn, das menschliche Dasein ist unproduktiv, tragisch durch die Unmöglichkeit des Handelns und die Unmöglichkeit einer Verständigung …« Der Vorhang senkte sich langsam. Im Saal herrschte weiterhin Stille, tiefe, konzentrierte Stille. Bis endlich donnernder Beifall losbrach. Der Vorhang hob sich. Mitten auf der Bühne stand noch der Sprecher. Die Ovationen, die ihm in diesem Moment zuteil wurden, waren eindeutig an ihn adressiert, an den Regisseur dieser erschütternden Vorstellung. Der Sprecher, Henry Darcy, verbeugte sich leicht. Doch die Zuschauer hörten nicht auf zu klatschen. Sie warteten auf die beiden Helden des Abends. 26
Der Vorhang senkte sich und ging wieder hoch. Von links betrat mit leichtem, jugendlichem Schritt Eve Faraday die Bühne. Die Maske hielt sie vor sich in der Hand. Sie stand aufrecht und bot den Blicken der Zuschauer ihr schönes, helles Gesicht, das so unähnlich jenem anderen Gesicht war, das sie in der Hand hielt und das soeben noch eins war mit ihrer ganzen Gestalt. Der Beifall brandete wieder auf und schwellte ab. Brandete wieder auf. »Vin-cy!« rief eine einzelne Stimme, und sofort griffen andere diesen Ruf auf. »Vin-cy! Vin-cy! Vincy!« Die Blicke richteten sich nach rechts, woher er nach den Gesetzen der Bühnensymmetrie hätte erscheinen müssen. Der Vorhang senkte sich noch einmal und ging noch einmal hoch, zeigte jedoch wieder nur Eve Faraday und Henry Darcy. Das Publikum klatschte unermüdlich. Die Rufe »Vincy! Vincy!« unterbrachen die Bravorufe und lösten sich wieder im Beifall auf. Der Vorhang ging noch dreimal hoch. Eve Faraday und Henry Darcy standen reglos, gleichsam beschämt durch die Ovationen für einen Abwesenden. Schließlich fiel der Vorhang endgültig. Im Zuschauerraum wurde es hell. Stephen Vincy war nicht erschienen. Die ein wenig enttäuschten Zuschauer begaben sich langsam zu den Garderoben. 27
»Ist es nicht seltsam?« sagte Caroline, während sie mit der Hand in den Ärmel des Mantels schlüpfte, den ihr Parker hielt. »Man sollte doch meinen, daß es für diese Leute, die mit unerhörtem Einsatz darum kämpfen, dem Publikum zu gefallen, eine große Genugtuung sein müßte, im Augenblick eines solchen Triumphes im Rampenlicht zu erscheinen. Ich habe Vincy schon oft gesehen und hatte immer den Eindruck, daß er dies genießt. Bei anderen Vorstellungen war er sogar ein wenig altmodisch. Er legte die Hand aufs Herz, verneigte sich tief wie ein Schauspieler des vergangenen Jahrhunderts. Dabei gab es doch kaum einmal so elementare Ovationen. Eine solche Reaktion des Saals erlebt man selten. Aber heute ist er nicht herausgekommen.« »Vielleicht sind das gerade ihre Methoden«, brummte Alex. »Wenn ich euch so sehr gefalle, will ich so tun, als wäre mir euer Beifall gleichgültig. Dann gewinne ich, außer der Bewunderung, auch eure Achtung. Ein solcher Gedankengang ist durchaus möglich. Aber vielleicht war er auch nur in Eile? Vielleicht wollte er rasch zu einem Rendezvous oder zum Zug?« Inmitten der Menge, die sich jetzt noch angeregter unterhielt als während der Pause, verließen sie das Theater und stiegen in den Wagen. Der Klub 28
der Grünen Feder, dessen Mitglied Alex war, lag ein Stück Weges vom Chamber Theatre entfernt, so daß sie erst nach einer Viertelstunde dort anlangten. Die ganze Zeit über schwiegen sie, mit ihren Gedanken noch bei dem Stück. Erst als sie auf den bequemen, weichen Stühlen Platz nahmen und Alex einen Imbiß und Getränke bestellte, wich diese Stimmung. »Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Einladung«, sagte Caroline zu Parker. »Das war ein unvergeßlicher Abend. Ich glaube, daß wir noch oft darüber sprechen werden … Ach, schade, ich hatte eben nicht daran gedacht, daß in Kürze unsere Expedition auf die Reise geht …« Sie wurde nachdenklich und sah dann Alex an. »Aber vielleicht raffen sich die Herren mal zu einem Besuch auf, wenn der Inspektor Urlaub hat?« Parker lächelte. »Wir kennen uns schon fast zwanzig Jahre, der hier anwesende Joe Alex und ich, und wir haben gemeinsam Tausende von Abenteuern erlebt, traurige und lustige. Aber in Persien waren wir zusammen noch nicht. Von dem Vergnügen, Ihnen dort zu begegnen, natürlich ganz abgesehen. Hat die Expedition schon einen fest umrissenen Plan? Das heißt, wissen Sie schon, was Sie ausgraben wollen und wo?« Eine Unterhaltung über Archäologie kam. in Gang, und Alex hörte mit Vergnügen, aber auch 29
mit einer gewissen Verwunderung Caroline zu, die sich aus einem hübschen, nicht allzu klugen und nicht übermäßig geistreichen jungen Mädchen plötzlich in einen Menschen verwandelt hatte, der mit großer Sicherheit über äußerst komplizierte Dinge sprach, der die Daten und Fakten über die Zeiten, von denen er, Alex, nur sehr verschwommene Vorstellungen aus seiner Schulzeit und aus einigen populärwissenschaftlichen Büchern hatte, förmlich aus dem Ärmel schüttelte. Caroline, die Wissenschaftlerin, Caroline, die Forscherin, das war jemand ganz anderes als die Caroline im dekolletierten Abendkleid mit dem langen, hoch über dem Nacken zusammengehaltenen Haarschweif. Man hätte meinen sollen, die eine müßte häßlich und klug sein und eine Nickelbrille tragen, während die andere imstande sein sollte, angenehm über moderne Kunst zu plaudern und ausgezeichnet zu tanzen. Außerdem durfte sie eine unverbindliche Freude für den schwer arbeitenden Mann sein. Bisher hatte er nur letztere gesehen, jetzt begriff er, daß Caroline, ehrlich gesagt, gebildeter war als er. Er unterbrach sie mit keinem Wort. Er hörte zu, als sie Parker die alte Geschichte der Länder des Nahen Ostens so klar und leicht verständlich, dabei aber auf so vollkommene Weise erklärte, daß hier, in der Unterhaltung mit einem Laien, ihr großes pädagogisches Talent auf30
blitzte. Sie geriet dabei in Eifer, der Pferdeschwanz flog hin und her, wenn sie den schlanken, glatten Hals bewegte, und die jungen blauen Augen strahlten bald, und bald blickten sie nachdenklich. Parker lauschte ebenfalls mit großer Anteilnahme. Caroline hielt inne und lachte leise. »Gieß mir etwas ein, Joe!« sagte sie. »Ich habe mich verrannt. Die Archäologie ist nicht nur mein Beruf, sondern auch meine große und einzige Liebe. Ich könnte damit jeden zu Tode langweilen, sofern er es mir nur gestattet.« Joe wurde sich plötzlich bewußt, daß sie noch nie mit ihm über diese Dinge gesprochen hatte. Offenbar habe ich es ihr nicht gestattet, dachte er erstaunt. »Caroline«, sagte er, »du bist die größte Überraschung dieses Abends!« Doch er irrte sich, denn im selben Augenblick beugte sich der Ober über ihren Tisch und sagte halblaut: »Mister Parker wird am Telefon verlangt.« »Ich bitte um Entschuldigung.« Der Inspektor stand auf und entfernte sich. »Caroline«, sagte Joe, »oh, meine schöne Caroline.« »Nicht wahr? Ich bin nicht häßlich. Hast du mich ein bißchen gern?« »Mehr als mein Leben.« Er wurde ernst. Sie lachte. 31
»Nein. Hab keine Angst. Ich werde dich nicht beim Wort nehmen und dich nicht heiraten. So ist es besser. Wir gehören zusammen, aber nur so weit, wie wir selbst es wollen. Und keiner zwingt uns zu irgend etwas. Wenn ich dich heiratete, würde ich nur dauernd Staub wischen und lüften. Wenn ich das jetzt mache, so denke ich mir, daß ein wenig frauliche Anmut dabei ist, denn schließlich kehre ich wieder in meine eigene Wohnung zurück, und du bleibst allein und kannst tun, was du willst. Aber ich fühle mich wohl, so mit dir …« »Und ich mit dir«, sagte Joe Alex. »Am liebsten würde ich schon nach Hause gehen. Du setzt Teewasser auf, und dann hören wir im Radio Musik. Weißt du, so ganz leisen Jazz.« »Ausgezeichnet, Joe. Und dann schlafen wir ein, und das Radio spielt bis zum Morgen. Wenn wir aufwachen, spricht es leise über Rübenzucht oder über einen Kongreß der Postangestellten. Gut. Joe! Laß uns rasch das Essen beenden, und dann gehen wir …« Doch auch sie irrte sich, denn im selben Augenblick kehrte Ben Parker zum Tisch zurück und sagte, ohne sich zu setzen: »Entschuldigt mich bitte, ich muß gehen.« »Weshalb?« fragte Alex. »Kann dir denn deine Arbeit nie eine ruhige Stunde gönnen? Ist etwas geschehen?« 32
»Ja«, erwiderte Parker. Er setzte sich, beugte sich zu ihnen vor und sagte halblaut: »Stephen Vincy, der Darsteller des Alten in der heutigen Aufführung der ›Stühle‹, wurde soeben in seiner Garderobe tot aufgefunden, mit einem Dolch im Herzen.«
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III. VERGISS NICHT, DASS DU EINEN FREUND HAST
Caroline erstarrte, das Glas Wein an den Lippen, dann stellte sie es langsam zurück auf den Tisch, aber sie sagte kein Wort. »Wieso denn?« Joe sprang auf und setzte sich sofort wieder. »Wann ist das geschehen? Das ist doch …« Er hielt inne. »Weiß man schon, wer ihn getötet hat?« »Vorläufig weiß man noch gar nichts. In wenigen Minuten holt mich unser Wagen hier ab. Sergeant Jones ist schon an Ort und Stelle. Der Nachtportier hat den Toten gefunden und sofort den Theaterdirektor, Mister Davidson, angerufen, der wiederum mich kennt, so daß er sich sofort mit meinem Apparat im Yard verbinden ließ. Sergeant Jones hatte dort Dienst. Ich befahl ihm, an den Tatort zu fahren, denn von uns zum Chamber Theatre sind es nur wenige Schritte. Danach schickt er den Wagen gleich zu mir. Er muß jeden Moment hier sein …« Er schaute auf die Uhr, sah dann Alex voll an. »Hast du Lust mitzukommen, Joe?« fragte er ohne Umschweife. 34
»Ich? Ja, selbstverständlich, wenn du meinst, daß …« »Deine Kenntnis des Milieus kann sich als sehr wichtig erweisen. Du weißt bedeutend mehr über das Theater als ich. Außerdem haben wir heute gemeinsam die Vorstellung gesehen …« Er wandte sich an Caroline: »Entschuldigen Sie, Miss Beacon, das ist sicherlich sehr unhöflich von mir. Wir sind zusammen hergekommen, und nun verlassen wir Sie plötzlich alle beide. Aber …« Er hob ratlos die Schultern. »Selbstverständlich!« Caroline stand auf. »Gehen wir. Gib mir nur die Schlüssel zu deinem Wagen, Joe. Ich fahre damit nach Hause und bringe ihn dir morgen früh zurück.« Als Parker sich entfernt hatte, um die Mäntel aus der Garderobe zu holen, fügte sie halblaut hinzu: »Gib mir rasch deine Wohnungsschlüssel, denn meine sind in einem der Koffer, die bei dir stehen.« »Warte auf mich …« Joe berührte leicht ihre Schulter. »Ich kann Parker die Bitte nicht abschlagen, und außerdem … in einer Stunde bin ich bestimmt zu Hause.« »Bist du nicht, aber das macht nichts. Die Männer haben ihre Passionen, ebenso wie die Frauen. Ich schlafe wie ein Murmeltier, wenn du kommst. Weck mich, ja? Ich setze Teewasser auf, und dann können wir Jazz hören, so wie du wolltest. Das 35
wird dir bestimmt guttun, denn in wenigen Minuten wirst du auf einen Toten blicken, und auf Tote blickt man nie ungestraft. Das erinnert uns immer an das Wichtigste … Mein Gott, ich muß wohl sehr müde sein. Es ist entsetzlich. Da hat man einen Menschen umgebracht, den wir vor zwei Stunden gesehen und beklatscht haben, und ich denke daran, mich hinzulegen und zu schlafen. Wahrscheinlich bin ich von der Fahrt so müde … Gib mir die Schlüssel!« fügte sie hastig hinzu, denn Parker erschien bereits mit den Mänteln. Joe drückte ihr unauffällig die Schlüssel in die Hand. »Auf Wiedersehen, Caroline«, sagte er herzlicher als beabsichtigt. Herzlichkeit lag ein wenig außerhalb der Grenzen ihrer Beziehung. Sie behandelten sich immer wie Kameraden, manchmal wie Freunde, nie wie Verliebte. Zu dritt gingen sie hinunter auf die Straße. Caroline stieg in Joes Wagen und ließ den Motor an. Sie winkte ihnen zu, und das Auto schoß davon wie ein Torpedo. An der nächsten Kreuzung wäre sie beinahe mit einer großen schwarzen Limousine zusammengestoßen, die mit quietschenden Reifen und in voller Fahrt um die Ecke schleuderte und einen Augenblick später vor den beiden Männern hielt. »Steig ein!« rief Parker. 36
Diesmal war die Fahrt wesentlich kürzer. Das Auto jagte dahin, als ginge es nicht durch die Stadt, sondern eine abgelegene Landstraße entlang. Zweimal schaltete der Fahrer vor größeren Kreuzungen die Sirene ein, und die Limousine raste heulend dicht an den Stoßstangen der eilig bremsenden Autos vorbei. »Ein großartiges Mädchen!« sagte der Inspektor unerwartet. »Was?« fuhr Alex aus seinen Gedanken auf. »Wer?« »Miss Caroline Beacon. Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die auf eine solche Nachricht hin nicht hundert abwegige Fragen gestellt hätte. Ein Schatz!« »Hast du wirklich jetzt darüber nachgedacht?« fragte Alex erstaunt. »Nein. Aber ich möchte nicht über diesen Mord nachdenken, ehe ich nicht etwas mehr erfahre. Nichts ist bei der Untersuchung eines Falles so hinderlich wie Voreingenommenheit oder ein Verdacht, den man im voraus faßt. Dann ist man unwillkürlich versucht, die Fakten der eigenen These anzupassen, was fatale Folgen haben kann: Der Blick verliert an Schärfe, dadurch bleibt die Wahrheit leicht unbemerkt, die ja ohnehin meist anders aussieht, als wir uns das anfangs vorgestellt haben. Deshalb der Versuch, meine Aufmerksamkeit von diesem Mord abzulenken. Die Presse wird sich 37
darauf stürzen, es wird großes Aufsehen geben, schon wieder … Deshalb möchte ich den Mörder innerhalb von vierundzwanzig Stunden hinter Schloß und Riegel haben. Ganz gleich, wie einfach oder schwierig das sein wird.« »Vielleicht gibt es schon Spuren, die es dir gestatten, ihn in einer halben Stunde festzunehmen.« Parker schüttelte den Kopf. »Mir gefällt die Sache schön jetzt nicht sehr. Wenn der Schauspieler nicht herausgekommen ist, um sich zu verbeugen, und dann in seiner Garderobe geblieben ist, ohne daß einer seiner Kollegen oder wenigstens der Garderobier bemerkt hätten, daß etwas nicht in Ordnung ist, dann bedeutet das doch, daß der Mörder nicht im Affekt, sondern mit Überlegung gehandelt hat, daß er den entsprechenden Augenblick abpaßte, um die Spuren hinter sich zu verwischen … Aber greifen wir den Tatsachen nicht vor.« »Das meine ich auch. Er kann doch ebensogut eine Stunde nach der Vorstellung getötet worden sein. Vielleicht hat er Besuch bekommen, oder es hat ihm jemand aufgelauert.« Parker legte den Finger an die Lippen. »Lassen wir die Prophezeiungen. Warten wir ab.« In diesem Moment bremste der Wagen kurz. 38
Alex blickte aus dem Fenster und bemerkte, daß sie am Haupteingang des Theaters vorbeifuhren und in eine schmale, stille Gasse einbogen. Nach einem Dutzend Yards hielt das Auto. Sie stiegen aus. Vor ihnen befand sich der Nebeneingang des Chamber Theatre. Einige Steinstufen führten zu einer verglasten, mit einem kunstvollen Gitter versehenen Tür hinauf. Daneben verkündete ein blitzendes Schild: CHAMBER THEATRE • EINGANG NUR FÜR DAS THEATERPERSONAL. Parker sprang sofort die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Quietschen der Bremsen hatte eine große, breitschultrige Gestalt in Polizeiuniform auf den Plan gerufen. »Wohin wollen Sie …?« Der Polizist verstummte. Er gab die Tür frei und salutierte in strammer Haltung. »Guten Abend, Herr Inspektor. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie nicht erkannt habe.« »Guten Abend, Constable«, antwortete Parker und schaute sich um. Der Eingang wurde von einer starken Glühbirne beleuchtet, die über dem Fensterchen der Portierloge angebracht war. Der gelbe Vorhang hinter der Scheibe war zugezogen. Von der Loge führten einige Stufen zu einem kleinen Podest hinauf. In der Wand zur Linken befand sich eine geschlossene Tür mit der Aufschrift: GARDEROBE DES TECH39
NISCHEN PERSONALS, dahinter ging ein Korridor ab, aus dem gerade der junge, pausbäckige Sergeant Jones auftauchte. »Guten Abend, Chef!« Er bemerkte Alex und hob erstaunt die Brauen, doch im nächsten Augenblick hellte sich sein Gesicht auf. »Guten Abend, Sir. Da begegnen wir uns also wieder unter so schrecklichen Umständen. Daraus wird sicherlich ein neues Buch, nicht wahr?« »Jones!« sagte Parker. »Ihre literarischen Interessen werden Sie außerhalb der Dienststunden befriedigen. Vorläufig berichten Sie, was hier geschehen ist.« »Jawohl, Chef! Die Leiche fand der Nachtportier …«, Jones blickte auf die Uhr, »vor zwanzig Minuten, um zwölf Uhr fünf, als er nach dem Schichtwechsel seinen Rundgang durch das Gebäude machte, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Er rief sofort Direktor Davidson an, der sich mit uns in Verbindung setzte. Direktor Davidson ist in seinem Zimmer und wartet auf Sie, Chef, so wie Sie das gewünscht haben. Soviel ich sehen konnte, wurde Stephen Vincy durch einen Dolchstoß getötet. Oder er hat sich selbst umgebracht, obwohl das unwahrscheinlich ist. Er liegt in seiner Garderobe auf der Chaiselongue. Mehr weiß ich vorläufig nicht. Arzt, Fotograf und Daktyloskop sind benachrichtigt und müssen gleich hier sein. Weder 40
Direktor Davidson noch der Portier haben irgend jemanden über das Verbrechen informiert, so daß außer ihnen und uns noch kein Mensch etwas weiß.« »Der Bursche, der Stephen Vincy erdolcht hat, weiß es ebenfalls«, erwiderte Parker mit einem düsteren Lächeln, »aber hoffen wir, daß er in Kürze noch ein paar andere Dinge erfährt, die für ihn weniger angenehm sein dürften als das Morden von Schauspielern in ihren Garderoben. Gehen wir!« Sie stiegen die Stufen hinauf und bogen in den Korridor ein. Dort gab es nur eine einzige Tür, auf der linken Seite, ziemlich weit hinten; am Ende des Korridors ging im rechten Winkel ein breiter Gang ab. Gegenüber der Tür, an der kahlen Wand, prangte in großen, schwarzen Lettern die Aufschrift RUHE! »Dieses Zimmer hier, Chef!« sagte Jones und wies auf die einzige Tür im Korridor. Vor der Tür stand ein großer, untersetzter Mann in Zivil. Beim Anblick des Inspektors nahm er Haltung an. »Ist das Vincys Garderobe?« »Ja, Chef.« »Stephens!« Der Mann in Zivil trat näher und stand stramm. »Gehen Sie zu Direktor Davidson, der mich erwartet, und sagen Sie ihm, daß es noch eine Weile 41
dauern wird. Ich habe vorher noch gewisse Formalitäten zu erledigen.« »Jawohl, Chef.« Detektiv Stephens machte kehrt und verschwand in dem nach rechts abbiegenden breiten Gang. »Wo ist der Nachtportier, der den Toten gefunden hat?« »In der Portierloge. Aber ich habe ihm befohlen, den Vorhang zuzuziehen, und ihm verboten, im Gebäude umherzulaufen. Er wartet, bis Sie ihn rufen, Chef. Soll ich ihn holen?« »Noch nicht. Vorläufig sehen wir uns mal den Tatort an, ehe der Arzt und die übrigen Leute kommen. Wir möchten ungestört sein, Jones. Benachrichtige mich, wenn die anderen eintreffen. Komm, Joe.« »Jawohl, Chef«, sagte Jones. Parker trat zu der nur angelehnten Tür auf der linken Seite des Korridors und stieß sie leicht mit dem Fuß auf. Auf den Korridor fiel ein schmaler Streifen grellen Lichts. Der Inspektor ließ Alex den Vortritt, während er die Klinke fürsorglich mit dem Ellenbogen schützte. In Stephen Vincys Garderobe war es ungewöhnlich hell. Von der Decke hing eine mehrere hundert Watt starke Glühbirne herab, und zu beiden Seiten eines großen Spiegels, der auf einem niedri42
gen Toilettentisch lehnte, brannten zwei große Wandleuchten. Davor stand ein bequemer, einfacher Stuhl mit Lehne. Die rechte Wand nahm fast gänzlich ein großer, zweitüriger Schrank ein, links stand ein Tischchen mit zwei Stühlen und gegenüber der Tür eine schmale, mit hellem, geblümtem Stoff bezogene Chaiselongue. Auf der Chaiselongue lag Stephen Vincy, lang ausgestreckt, die linke Hand auf dem Herzen; die rechte hing kraftlos herab und berührte fast den Fußboden. Dicht vor der Chaiselongue stand ein großer Korb mit roten Rosen, schlank und elegant wie Balletteusen. Der Inspektor trat näher und beugte sich über den Leichnam. Alex gesellte sich zu ihm, und so blickten sie beide eine Weile schweigend auf den Toten. Die auf der Brust liegende Hand des Toten umschloß den Griff eines Vergoldeten Dolches, als wollte sie ihn aus der Wunde reißen oder als ruhte sie nach dem selbstmörderischen Stoß aus. Wahrscheinlich war es eine letzte Reflexbewegung des Sterbenden gewesen: der Wunsch, sich von dem Fremdkörper zu befreien. Die Wunde mußte schrecklich sein, denn der Dolch war bis zum Griff eingedrungen. »Das sieht nicht nach Selbstmord aus«, murmelte Parker. »Es ist nicht einfach, sich ein Messer so tief hineinzustoßen, wenn man auf dem Rücken 43
liegt. Eher kommt Mord in Frage. Der Arzt wird wohl das gleiche sagen. Obwohl es selbstverständlich besser wäre, wenn es sich um Selbstmord handelte …« Er hielt inne und fügte nach einer Weile ebenso leise hinzu: »Viel besser … Wenn jemand sich das Leben nimmt, dann macht er zwar eine Dummheit, aber er nimmt nur, was ihm gehört. Nimmt er es jedoch einem anderen …« Wieder hielt er inne. »Ja. Es wird wohl doch Mord sein. Der Mörder hat sich vorgebeugt und das ganze Gewicht seines Körpers in den Stoß gelegt. Vincy starb im Bruchteil einer Sekunde … Und was meinst du?« Alex antwortete nicht. Er stand da und blickte in das schöne, fast ruhige Gesicht des toten Schauspielers. Die ersten grauen Haare an den Schläfen. Dichte, dunkle Brauen. Großer, sinnlicher Mund. Gerade, prächtige Nase. Wie anders dieses Gesicht als jenes, das seine Maske am Abend auf der Bühne dargestellt hatte. Jenes war alt und unbeweglich gewesen. Dieses zeugte selbst nach dem Tode von Lebenslust. Vincy trug noch immer sein merkwürdiges Kostüm, das ihn teils als Militärperson, teils als Pensionär darstellte. Eine graue, sackähnliche, unförmige Jacke mit steifen Epauletten auf den Schultern. Husarenhosen mit einem breiten roten Streifen 44
und weiche Hauspantoffeln an den Füßen. An der Stelle, wo die Klinge steckte, war ein schmaler, dunkler, feuchter Rand sichtbar. Darüber hinaus war kein Blut zu sehen. Aber auf der rechten Brustseite zeichnete sich, auf dem hellgrauen Jackenstoff ein greller roter Streifen ab. Parker beugte sich darüber. »Schminke, nicht wahr?« fragte Alex, ohne sich zu bewegen. »Ja …« Der Inspektor richtete sich auf. »Mit dem Verbrechen hat das nichts zu tun«, brummte Alex. »Es ist während der Vorstellung passiert, in dem Moment, wo die Alte den Alten umarmt und das Gesicht an seine Brust schmiegt. Eve Faraday ist … wesentlich kleiner als er, da mußte sie ihn einfach beschmieren …« Er zeigte auf Vincys Gesicht. »Sie sind beide tüchtig geschminkt, denn der Regisseur verwendet in dieser Aufführung ungewöhnlich starke Scheinwerfer. Betrachte ihn genauer: Er hat eine dicke Schicht Schminke auf den Lippen, ebenso ist die Umrandung der Augen nachgezeichnet. Das übrige Gesicht hat er sich natürlich nicht geschminkt, da er in einer Nylonmaske spielte.« »Ja …« Parker beugte sich noch einmal über den Toten. Ohne den Dolch zu berühren, las er die Inschrift: »Vergiß nicht, daß du einen Freund hast.« »Wie?« Alex verstand nicht. Der Inspektor rief ihn durch eine Handbewegung näher heran. Joe 45
bückte sich. Auf dem Griff war die Inschrift graviert, die Parker soeben vorgelesen hatte. »Vergiß nicht, daß du einen Freund hast …« Der Inspektor kratzte sich am Kopf. »Ich will hoffen, daß der Tod nicht von der Hand einer geheimen Vereinigung oder Sekte erfolgt ist. Aber so etwas gibt es ja wohl nicht mehr. Der letzte Fall dieser Art ereignete sich im Jahre achtzehnhundertneunundneunzig. Das zwanzigste Jahrhundert ist da weit weniger romantisch. Die Menschen töten ausschließlich aus persönlichen Motiven. Doch warten wir ab. Vielleicht war es doch Selbstmord?« Da er keine Antwort vernahm, wandte er den Kopf, um zu sehen, was mit Alex war. Joe stand vor dem Blumenkorb und betrachtete die Rosen. »Sie sind herrlich …«, flüsterte er. »Genau am richtigen Ort. ›Der Verstorbene ruhte inmitten eines Blumenmeers …‹ So heißt es doch in den Zeitungen, nicht wahr?« Er betrachtete noch einmal den Korb und beugte dann tief den Kopf. Nach einer Weile legte er sich auf den Fußboden neben die Chaiselongue. »Worum geht es?« fragte der Inspektor. »Paß auf, daß du nicht irgend etwas berührst.« Alex schüttelte schweigend den Kopf und schob sich dann bis zu den Schultern unter die Chaiselongue, bemüht, von innen in die halbgeschlosse46
ne Hand des Toten zu blicken, die den Fußboden berührte. »Er hält etwas in der Hand«, sagte er, »ein zerknülltes Stück Papier.« »So?« Parker kniete sich hin. »Das muß leider noch warten. Ich will nichts anfassen, ehe nicht der Daktyloskop und der Arzt kommen …« Es klopfte, und im Türspalt erschien Sergeant Jones’ pausbäckiges Gesicht. »Alle sind schon da, Chef: Doktor, Fotograf und Daktyloskop.« »Her mit ihnen«, sagte Parker und folgte ihm auf den Korridor. Alex klopfte sich den Anzug ab und schaute sich um. Irgend etwas fehlte ihm in diesem Bild. Aber was? Er blieb stehen und schaute sich noch einmal stirnrunzelnd um, bemüht, den Gedanken, der irgendwo in der Tiefe des Hirns steckte, an die Oberfläche des Bewußtseins zu ziehen. Nachdenklich rieb er sich die Stirn. Nein. Er kam nicht darauf. Dabei hätte er schwören können, daß er es wußte, daß er im nächsten Augenblick ausrufen würde: »Ich hab’s!« Er ging zur Tür, blickte noch einmal auf den Leichnam Stephen Vincys und die ihn umgebenden Gegenstände zurück und trat auf den Korridor, wo Parker mit halblauter Stimme den um ihn versammelten Leuten Instruktionen erteilte. »Nun, dann an die Arbeit, meine Herren!« 47
schloß er. »Vor allem möchte ich den Zettel sehen, den der Tote in der Hand hält. Rufen Sie mich, wenn es soweit ist. Ich möchte nicht auch noch hineingehen und bei der Arbeit stören. Es werden sich ohnehin genügend Leute gleichzeitig in der Garderobe aufhalten.« Er nickte Alex zu, und als dieser zu ihm aufschloß, lenkten sie ihre Schritte zur Portierloge.
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IV. IM THEATER WAR ER VERHASST
Als sie vor der Portierloge anlangten, ging der Inspektor hinein und bedeutete diskret dem diensthabenden Polizisten, den Raum zu verlassen. Der Polizist rückte das Riemchen unterm Kinn zurecht und ging hinaus. Parker setzte sich und bot den anderen Stuhl dem grauhaarigen, bleichen Mann an, der sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte. »Sie sind der Nachtportier dieses Theaters, nicht wahr?« »Ja, Sir!« Der Mann sprang auf, doch auf ein Zeichen des Inspektors hin setzte er sich wieder. »Wie heißen Sie?« »Soames, Sir, George Soames.« »Arbeiten Sie schon lange hier?« »Achtunddreißig Jahre, Sir.« »Auf demselben Posten?« »Jawohl, Sir.« »Erzählen Sie uns, wie Sie den Leichnam gefunden haben.« Parker holte sein Notizbuch hervor. Alex lehnte an der Wand und betrachtete das Gesicht des alten 49
Mannes. Man sah es ihm an, daß Vincys Tod oder vielleicht auch einfach die Tatsache, daß er es war, der die Leiche entdeckte, großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. »Ich bin also wie immer um zwölf gekommen, um Gullins abzulösen …« »Gullins? Ist das der Tagesportier?« »Ja, Sir, alle vierzehn Tage wechseln wir die Schicht. Mal hat er Nachtschicht und ich Tagschicht, und dann umgekehrt.« »Gut. Sie sind gekommen, um Gullins abzulösen, was weiter?« »Ich bin hereingekommen, Sir, und da hat er schon auf mich gewartet. Eine Weile haben wir über dies und jenes geredet, wie immer …« »Wie lange haben Sie sich unterhalten?« »Vielleicht eine Minute oder zwei, Sir. Dann ist er gegangen. Ich habe hinter ihm die Tür abgeschlossen und gleich mit meinem Rundgang begonnen; durch alle Garderoben und über die Bühne, das ist Vorschrift. Es muß immer nachgesehen werden, ob nicht jemand leichtfertig einen Brand verursacht oder ob vielleicht irgendein Kabel einen Kurzen hat. Das ist ein Theater, Sir, hier arbeiten viele Leute, und Unvorsichtige gibt es überall … Manchmal glimmt so ein Feuer mehrere Stunden, ehe es ausbricht …« »Ja. Sie haben also Ihren Rundgang begonnen.« 50
»Ich habe die Tür zur Garderobe des technischen Personals geöffnet, mich dort umgeschaut und bin dann weitergegangen …« »Und wenn in diesem Augenblick jemand am Eingang klingelt, was dann?« »Nachts hat eigentlich keiner etwas im Theater zu suchen, wenn nicht gerade Nachtprobe ist. Aber selbst wenn es mal passieren sollte – die Nachtklingel ist sehr laut, und wenn es im Theater still ist, dringt sie überallhin, Sir. Ich würde sie also bestimmt hören.« »Gut. Was war weiter?« »Ich ging den Korridor hinunter, und die erste Garderobe war die von Mr. Vincy. Durch das Schlüsselloch habe ich Licht gesehen, und obwohl Gullins mir nichts gesagt hat, daß Mr. Vincy noch im Theater ist, habe ich doch lieber erst angeklopft. In diesen achtunddreißig Jahren im Theater hat man schon so manches erlebt. Vielleicht war jemand bei Mr. Vincy? Schauspieler haben zuweilen so späte Gäste. Irgendwelche Damen, die sie besuchen … Sie wissen ja, Sir, die Atmosphäre der Theatergarderobe hat solche Anziehungskraft …« »Ja, ich weiß. Und weiter?« »Ich habe also angeklopft. Und als niemand antwortete, habe ich noch einmal geklopft. Als auch diesmal niemand antwortete und ich sah, daß von innen der Schlüssel steckt, habe ich die Tür 51
geöffnet, denn ich dachte mir, daß Mr. Vincy bestimmt vergessen hat, das Licht zu löschen, als er ging.« »War die Tür abgeschlossen?« »Nein. Ich habe nur die Klinke heruntergedrückt, da ging sie auf. Zuerst habe ich gedacht, daß Mr. Vincy schläft oder vielleicht einen Schluck zuviel getrunken hat, Sir. Solche Dinge habe ich oft genug erlebt. Dann ruft man ein Taxi und trägt zusammen mit dem Chauffeur den Betreffenden zum Auto, damit er zu Hause aufwacht.« »Ja. Aber Mr. Vincy hat nicht geschlafen.« »Richtig, Sir. Wie ich also näher trat und sah, daß ihm dieser Dolch im Herzen steckte, war ich vor Schreck wie gelähmt und fing an zu zittern, ich konnte mich nicht bewegen, aber auch nicht den Blick von ihm losreißen. Doch dann habe ich mich überwunden und trat näher, um zu sehen, ob er noch lebt. Ich habe mich gezwungen, ihn zu berühren …« »Was haben Sie berührt?« »Seine Stirn, Sir. Ich habe ihm die Hand auf die Stirn gelegt, aber die war schon ganz kalt. Mir wurde klar, daß er tot ist, und da standen mir die Haare zu Berge. Schließlich war ich allein im ganzen Gebäude, und der Mörder konnte sich irgendwo hier versteckt halten. Ich lief also aus der Garderobe, rannte zu meiner Portierloge, schloß mich ein 52
und rief Herrn Direktor Davidson an. Dann habe ich mich nicht mehr von der Stelle gerührt, bis die Polizei und der Herr Direktor kamen, ich habe nur gebetet und gewartet …« »Konnte der Mörder, falls er noch im Hause war, in der Zwischenzeit fliehen?« »Fliehen, Sir?« Der Alte überlegte. »Auf keinen Fall, Sir. Das Theater wurde vor zwei Jahren umgebaut, und der ganze rückwärtige Teil der Bühne ist vom Zuschauerraum durch eine feuerfeste Wand abgegrenzt. In dieser Wand gibt es nur drei kleine Durchgänge, die von dem Gang aus hinter die Kulissen führen, und einen schmalen Korridor zum Foyer. Aber die haben alle Stahltüren und automatische Schlösser. Nach der Vorstellung verschließt sie der Inspizient und gibt den Schlüssel beim Portier ab, so daß dies hier der einzige Ausgang ist. Die Fenster sind ebenfalls vergittert, noch aus der Zeit, als sich in diesem Hause das Komödientheater befand, vor fünfzig Jahren. Ich war damals noch ein kleiner Junge …« »Moment mal …« Parker ging auf den Korridor hinaus, und Joe hörte, wie er zu Jones sagte: »Nehmen Sie ein paar Leute und durchsuchen Sie das ganze Theater vom Boden bis zum Keller. Stellen Sie fest, ob der Mörder das Haus verlassen konnte oder ob nicht irgendwo ein Fenster oder eine Tür aufgebrochen ist.« 53
»Jawohl, Chef.« Parker kehrte in die Portierloge zurück. »Wäre es nicht möglich, daß dieser Gullins, Ihr Kollege, eine fremde Person durchgelassen hat, ohne sie zu bemerken?« »Das weiß ich nicht, Sir. Ich glaube es nicht, denn von hier aus sieht man die ganze Treppe, Sir, und wenn das Personal gegangen ist, wird die Tür abgeschlossen, also wohl kaum.« »Weshalb sollte Gullins die Tür abschließen, wenn Mr. Vincy doch noch gar nicht gegangen war?« »Das eben weiß ich nicht, Sir …« Der Alte zögerte. »Als ich kam, war die Tür abgeschlossen …« »Haben Sie mir noch etwas zu sagen?« fragte Parker rasch. »Nein, nein, nichts …« Der Alte zögerte wieder. »Nein, nichts, Sir.« »Denken Sie daran, daß hier ein Mensch ermordet wurde!« Der Inspektor stand auf und trat zu ihm. »Wenn Sie irgendeine Kleinigkeit bemerkt haben, und sei es die geringste, dürfen Sie sie nicht verheimlichen, selbst wenn Sie der Meinung sein sollten, daß sie keinerlei Bedeutung hat.« »Jawohl, Sir!« Der Portier sprang auf und nahm dienstliche Haltung an. »Setzen Sie sich.« Parker legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang ihn, sich zu setzen. Ohne 54
die Hand herunterzunehmen, beugte er sich über ihn. »Sprechen Sie, Soames, aber sagen Sie die ganze Wahrheit, sonst könnten Sie zur Verantwortung gezogen werden, weil Sie der Polizei Informationen, die für die Untersuchung wichtig sind, verheimlicht haben.« »Aber das ist doch nichts Wichtiges, Sir, denn …« »Darüber werde ich befinden. Sprechen Sie, bitte.« »Also, Sir, es handelt sich nur darum, daß dem Gullins gestern ein Kind geboren wurde. Gestern nacht. Ein Sohn … Er hat also die ganze letzte Nacht nicht geschlafen, und anschließend ist er natürlich zur Arbeit gekommen …« »Ja, und?« »Na ja, als ich kam und an die Tür klopfte, antwortete er nicht. Ich mußte ein paarmal klingeln. Erst dann ist er wach geworden. Aber sagen Sie das bitte nicht Herrn Direktor, sonst würde Gullins die Arbeit verlieren … Dabei … seine Frau hat ihm doch gerade das dritte Kind geboren … Das wäre schrecklich für ihn!« »Ich verstehe. Keiner wird davon erfahren, der es nicht erfahren muß. Aber welche Bedeutung hat das Ihrer Meinung nach?« »Na, die Bedeutung, Sir, daß er, William Gullins, verpflichtet war, ein Viertel vor zwölf alle Garderoben und die Bühne zu kontrollieren, um 55
mir das Theater nach seinem Rundgang zu übergeben. Das ist Vorschrift. Wenn er also geschlafen hat, so heißt das, daß er den Rundgang nicht gemacht hat. Sonst hätte er Mr. Vincy gefunden. Außerdem war er wohl schläfrig und hat nicht auf das Schlüsselbrett geschaut, sonst hätte er bemerkt, daß der Schlüssel zu einer Garderobe fehlt. Und wenn dieser Schlüssel gefehlt hat, dann war er verpflichtet nachzusehen, weshalb. Beim Hinausgehen geben alle ihre Schlüssel ab. Die Schlüssel zu den einzelnen Garderoben geben immer die Garderobiers ab, weil sie etwas länger bleiben als die Schauspieler, um die Garderoben in Ordnung zu bringen. Ich weiß nicht, wie das heute war. Wahrscheinlich hat Mr. Vincy Ruffin fortgeschickt …« »Wer ist Ruffin?« »Oliver Ruffin ist der Garderobier, der in den ›Stühlen‹ Mr. Vincy bedient hat.« »Ich verstehe. Das heißt also, daß Ihrer Meinung nach Gullins eingeschlafen ist. Und wenn er geschlafen hat, dann kann hier sonst etwas passiert sein. Ist es so?« »Ja, Sir. Aber sagen Sie es bitte …« »Sie können ganz beruhigt sein. Uns geht es darum, den Mörder zu finden, und nicht um die Frage, ob Ihr Kollege, der ja wohl müde sein durfte, wenn er die ganze vorherige Nacht auf einen Stammhalter warten mußte, die Vorschriften ein56
gehalten hat. Haben Sie keine Angst, es wird ihm nichts passieren, wenn er uns die Wahrheit sagt. Und Sie können überzeugt sein, daß er sie sagt. Direktor Davidson wird nichts erfahren.« »Ich danke Ihnen, Sir …« Der alte Mann erhob sich. »Soll ich gehen, Sir, oder bis zum Ende meines Dienstes hierbleiben?« Parker sah ihn aufmerksam an. »Sind Sie verheiratet?« »Ich bin Witwer, Sir.« »Und Sie haben Kinder?« »Zwei Töchter, Sir.« »Wohnen die bei Ihnen?« »Nein, Sir. Sie sind beide verheiratet. Die eine lebt in Schottland und die andere gar in Australien. Ihr Mann hat dort Arbeit bekommen.« »So wohnen Sie also allein?« »Ja, Sir.« »Gut. Gehen Sie nach Hause, aber daß Sie zu keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen sagen, bis Sie sich morgen früh wieder hier melden. Jetzt schlafen Sie noch ein wenig. Heute nacht wird die Polizei an Ihrer Stelle das Theater bewachen.« Er lächelte. »Aber denken Sie an Ihre Schweigepflicht.« »Jawohl, Sir.« »Und sparen Sie sich den Weg zu Gullins, um ihn zu warnen, daß die Polizei von seiner Neigung 57
weiß, während der Arbeit zu schlafen, denn in einer Minute fährt ein Auto zu ihm und überholt Sie sowieso.« Der alte Mann blieb wie angewurzelt stehen, doch dann huschte ein Lächeln über sein runzliges Gesicht. »Aber Herr Direktor Davidson erfährt doch nichts, nicht wahr?« »Ich sagte es Ihnen schon.« »Nun, dann kann ich beruhigt schlafen gehen. Von mir erfährt kein Mensch etwas. Gute Nacht, meine Herren!« »Gute Nacht, Soames!« Der Portier ging hinaus. Im Fensterchen erschien das Gesicht des diensthabenden Polizisten. Parker nickte, und im nächsten Augenblick wurde an die Tür geklopft. »Ich bin’s, Chef«, sagte Sergeant Jones. »Wir haben das Theater durchsucht wie einen Heuhaufen, aber eine Stecknadel haben wir nirgends gefunden. Alle Eingangstüren und Fenster sind in Ordnung. Es gibt sogar eine Alarmanlage im Haus, ebenfalls unberührt. Der Mörder mußte hier durch diese Tür hinausgehen.« »Gut. Lassen Sie sofort den Portier holen, der Tagdienst hatte. William Gullins heißt er. Haben Sie die Adresse?« »Wir haben bereits die Adressen des gesamten 58
Personals und aller Schauspieler. Es fährt gleich jemand los, um ihn zu holen.« »Wenn man ihn bringt, soll er hier, in der Portierloge, auf mich warten.« »Jawohl, Chef.« Parker wandte sich an Alex. »Ich mache dich jetzt mit Herrn Direktor John Davidson bekannt, dem Alleinherrscher dieses Theaters und meinem ständigen Lieferanten von Eintrittskarten für die ersten Reihen. Komm, Joe.« Sie verließen die Portierloge und gingen den Korridor entlang, ohne in Vincys Garderobe zu schauen. Die Tür war nur angelehnt, und sie hörten deutlich die Geräusche, welche die dort arbeitende Equipe verursachte. Als der Arzt Schritte vernahm, erschien er in der Tür. »Ich würde ihn gern mitnehmen und eine genaue Sektion durchführen, obwohl alles eindeutig zu sein scheint.« »Gut Nehmen Sie ihn mit. Selbstmord ist doch wohl ausgeschlossen, nicht wahr?« »Völlig. Kein Mensch ist imstande, auf dem Rücken liegend, sich einen solchen Stoß zu versetzen. Der Tod ist sofort eingetreten.« »Können Sie schon einen ungefähren Zeitpunkt nennen?« »Schätzungsweise zwischen neun und zehn Uhr, eher jedoch gegen neun.« 59
»Um neun Uhr fünfzig habe ich ihn noch auf der Bühne gesehen«, sagte der Inspektor höflich, »und der neben mir stehende Mr. Joe Alex hat ihn ebenfalls gesehen, ganz zu schweigen von achthundert anderen Personen, die wir zu Zeugen nehmen können.« »Wirklich?« Der Arzt hob die Brauen. »Dann mußte er natürlich später sterben. Aber nicht später als um zehn, wobei mir auch diese Zeit unwahrscheinlich erscheint. In den Kopfmuskeln beginnt schon die Todesstarre, dabei …«, er blickte auf die Uhr, »ist es doch erst ein Viertel vor eins.« »Das ist schon Ihr Reich, Doktor.« Parker hob abwehrend die Hände. »Wir warten auf Ihre Diagnose. Ich möchte so schnell wie möglich die annähernde Zeit des Todeseintritts erfahren.« »Dann muß ich ihn sofort mitnehmen, sobald die da drinnen mit den Aufnahmen fertig sind.« »Gut, nehmen Sie ihn mit. Ich warte auf Ihren Anruf.« Der Arzt kehrte kopfschüttelnd in die Garderobe zurück. Parker und Alex setzten ihren Weg fort. Als sie das Ende des Korridors erreichten, blieb der Inspektor stehen. Vor ihnen, im rechten Winkel, verlief ein breiter Gang, der vermutlich mit einer Wand an die Bühne grenzte, denn es gab hier nur vier schmale Stahltüren, die mit der Aufschrift 60
RUHE! versehen waren. In der gegenüberliegenden Wand befanden sich überhaupt keine Türen, einige Meter weiter zweigte jedoch ein weiterer Korridor ab, der parallel zu dem verlief, den sie gerade heraufgekommen waren. »Ein gutgebautes Theater«, sagte Alex. »Keine Tür liegt gegenüber der Wand, hinter der sich die Bühne befindet. Dadurch werden eventuelle laute Geräusche und Stimmen auf ein Minimum reduziert.« Der zweite Korridor, in den sie nun einbogen, hatte auf jeder Seite drei Türen. Dann folgte ein Stück nackter Wand und schließlich eine offene Tür mit der Aufschrift GARDEROBEN UND OBERE ETAGE • DIREKTOR • BÜFETT. In der Tür stand ein Polizist in Zivil, der bei Parkers Anblick Haltung annahm. Hinter dieser Tür führte eine steile Treppe hinauf. Oben angelangt, kamen sie am Büfett vorbei, das im Dunkeln matt glänzte, dann an mehreren Türen, bis sie schließlich vor der letzten, mit der Aufschrift DIREKTION, standen. Parker klopfte und öffnete sie, noch ehe eine Antwort erfolgte. »Bitte, treten Sie ein, meine Herren! Bitte sehr …« Direktor Davidson war ein hochgewachsener Mann mit dunklem Teint und schmalem, nervösem Gesicht. Er sprang hinter seinem Schreibtisch auf und ging Parker mit ausgestreckter Hand entgegen. Danach blickte er fragend auf Alex. 61
»Das ist Mr. Joe Alex, der bekannte Autor von Kriminalromanen und mein inoffizieller Mitarbeiter«, sagte Parker aufrichtig. »Wer würde Ihren Namen nicht kennen!« Direktor Davidson schüttelte Alex herzlich die Hand. »Ich habe wohl alle Ihre Bücher gelesen! Und ich wiederhole es immer wieder: Für einen Geschäftsmann ist ein guter Kriminalroman besser als Urlaub. Man kann ein paar Stunden abschalten, endlich an etwas anderes denken als an diese verdammten Geschäfte …« Dann wandte er sich Parker zu: »Mein Gott«, seufzte er … »mein Gott! Was sagen Sie dazu, Inspektor?« »Was ich dazu sage?« Parker breitete mit der ihm eigenen Geste der Ratlosigkeit die Arme aus. »Vor allem möchte ich erfahren, was Sie davon halten! Bei Ihnen laufen doch alle Fäden zusammen. Alles, was das Theater betrifft, geht über Ihren Schreibtisch. Könnten Sie uns die Persönlichkeit des Toten nicht kurz skizzieren? Sein Verhältnis zu den Kollegen, die letzten Vorkommnisse hier am Theater und so weiter. Vielleicht hatte er Feinde? Vielleicht ist etwas geschehen, was Licht in die Angelegenheit bringen könnte? Bevor ich mit dem Verhör der Schauspieler und des technischen Personals beginne, würde ich gern von Ihnen hören, was Sie von alldem halten.« »Was ich davon halte?« Der Direktor deutete 62
mechanisch auf die tiefen Ledersessel und bot Zigarren an. Dann rieb er sich das Kinn. »Ehrlich gesagt, denke ich unausgesetzt darüber nach, schon seit einer Stunde, seitdem Soames bei mir angerufen hat. Ob Vincy Feinde hatte? Ja, er hatte welche! Ich würde sogar sagen, er wurde von allen gehaßt, und ich kenne einige Leute, die ihn wohl kaltblütig hätten umbringen können. Heute morgen erst hatte ich selbst große Lust, ihn die Treppe hinunterzuwerfen …« Er hielt inne. »Es ist schrecklich, so über einen Toten zu sprechen.« »Noch schrecklicher ist es, nicht über einen Toten zu sprechen, wenn sich der Mörder in Freiheit befindet und die Polizei auf möglichst viele Informationen angewiesen ist«, sagte Parker trocken. »Erzählen Sie uns in wenigen Worten, was Ihrer Meinung nach von Bedeutung sein könnte: Skizzieren Sie uns die Person Stephen Vincy vor dem Hintergrund seiner Arbeit und seiner Beziehungen zu den Menschen in diesem Theater.« Mr. Davidson überlegte eine Weile, doch dann begann er zu sprechen …
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V. DIREKTOR DAVIDSONS ERZÄHLUNG
»Ich habe sowohl sehr viel als auch sehr wenig zu berichten. Nichts, was nach meinem Dafürhalten auf den Mörder hindeuten könnte, aber sehr viel über Vincy selbst und sein Verhältnis zu den Menschen.« »Vielleicht könnten Sie zunächst versuchen, uns das psychische Profil Vincys zu zeichnen?« sagte Parker leise. »Ich hätte das gern irgendwie geordnet …« Er lächelte entschuldigend. »Zuerst möchte ich wissen, was für ein Mensch er war, welche Informationen Sie über sein Privatleben haben, und schließlich, welcher Art seine Beziehungen zum Ensemble und zur Theaterdirektion waren, einverstanden?« »Gut. Fangen wir also mit dem ersten Punkt an. Wie war Stephen Vincys psychisches Profil …« Der Direktor überlegte eine Weile. »Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich weiß nicht, ob er das besaß, was wir ein dezidiertes psychisches Profil nennen, das heißt einen geformten, unveränderlichen Charakter, obwohl er ihn längst hätte haben müssen, immerhin war er knapp fünfzig. Er war 64
sehr anmaßend, sogar hochmütig, aber das ist ein Charakterzug vieler Schauspieler, eher ein Berufsmerkmal als eine persönliche Eigenschaft. Sie ergibt sich aus einer Art Notwehr. Jemand, der unaufhörlich mit Hunderten von Zuschauern konfrontiert ist, deren Wohlwollen er sich ein Leben lang stets von neuem zu sichern wünscht, muß daran glauben, daß er mehr wert ist als andere, daß er unersetzlich und unwiederholbar als Erscheinung ist. Nur die intelligentesten Schauspieler wissen um ihre Schwächen, obwohl auch sie sich nur ungern zu ihnen bekennen. Doch Vincy war nicht intelligent in der allgemeinen Bedeutung dieses Wortes. Er war ein geschickter Schauspieler, verstand es, mit den Menschen zu sprechen, konnte zauberhaft sein, wenn er jemanden für sich gewinnen wollte. Ihn jedoch einer irgendwie gearteten Tiefe zu verdächtigen, wäre meines Erachtens ein Fehler. Offen gesagt hielt ich ihn für einen sehr beschränkten Menschen. Er besaß auch nicht das, was wir Verhaltensethik nennen. Wichtig für ihn war, was ihm Nutzen bringen konnte, und er war immer bereit, jede Gemeinheit zu begehen, um seine Lage zu verbessern. Ich weiß, daß er vor etwa fünfzehn Jahren in einen Falschspielerskandal verwickelt war. Er betrog beim Pokern, und man ertappte ihn auf frischer Tat. Ich weiß auch, daß er sich von der Frau eines sehr reichen Mannes aushalten ließ, mit 65
der er nur des Geldes wegen zusammen lebte. Sie gab ihm sogar große Summen, die er jedoch durchbrachte, ebenso wie den Rolls Royce und die Villa am Stadtrand, die sie ihm geschenkt hatte. Aber auch das liegt lange zurück. Vielleicht zehn Jahre. Das Üble an der Affäre war, daß Vincy jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, erzählte, daß es eine solche Dame gibt und wer sie ist. Offenbar war er der Meinung, daß sie auf diese Weise seiner Schönheit und Schauspielkunst so etwas wie Tribut zollte. Er war übrigens sehr begabt, das steht außer Zweifel. Aber er war kein Genie. Er ist nie ein wirklich großer Schauspieler geworden. Ich glaube, daß dem seine Eitelkeit und seine Unfähigkeit, sich guten, intelligenten Regisseuren unterzuordnen, im Wege stand. Er war ein Schauspieler alten Datums, viel älteren Datums, als sein Geburtsschein dies vermuten ließe. Er gehörte zur Kategorie jener Stars des neunzehnten Jahrhunderts, für die der Verfasser des Stückes und dessen Text unwichtig waren, unwichtig waren für sie auch die Partner und die Vorstellung als Ganzes sowie deren Leitgedanke – von Bedeutung war nur ihre Gestalt auf der Bühne. So reagierte er fast allergisch, wenn er in irgendeiner Szene in den Hintergrund treten mußte, weil sich dies einfach aus dem Inhalt des Stückes ergab. Er ließ sich in keine Regiekonzeption einpassen, was einen Schauspie66
ler in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Zeit von den großen Aufführungen ausschließen muß. Wer möchte schon mit einer Gestalt zu tun haben, die sich nicht in den allgemeinen Plan einordnen läßt und eine harmonische Probenführung unmöglich macht? Deshalb wohl auch kam er an keinem der großen Häuser an und wird kaum in die Geschichte des englischen Theaters eingehen, obwohl er vielleicht aufgrund seines überdurchschnittlichen Talents ein gewisses angeborenes Recht dazu hatte. In den ›Stühlen‹ war er ausgezeichnet, obwohl, wenn Sie Darcy fragten, wie sehr er sich mit ihm abgequält hat, er Ihnen einen ganzen Roman erzählen könnte. Die Konzeption dieser Rolle, das ist Darcy, nicht er. Doch um auf sein psychisches Profil zurückzukommen, so meine ich, daß er ein schwacher, beschränkter und skrupelloser Mensch war. Gleichzeitig besaß er viel Charme, vor allem im Umgang mit Frauen, die ihm in seinem Leben viel geholfen und, wie ich glaube, auch geschadet haben, denn sie verdarben ihn. Seine Skandale und Skandälchen mit Frauen gingen in die Tausende …« »Und was meinen Sie«, sagte Parker nachdenklich, »könnte er Kontakte zur Verbrecherwelt gehabt haben?« »Kaum. Ich glaube es jedenfalls nicht. Dazu hat67
te er keinen Anlaß. Obwohl … Aber das ist kein Indiz …« »Was?« fragte der Inspektor. »In letzter Zeit, das heißt seit etwa einer Woche, benahm sich Vincy ganz erstaunlich, selbst für einen Mann wie ihn. Anfangs glaubten alle, er sei verrückt geworden. Er verkündete nämlich jedermann, daß er die Absicht habe, ein eigenes Filmstudio zu gründen, um sich endlich der Welt als ein Laurence Olivier vorzustellen. Auf die Frage, woher er das Geld für ein solches Vorhaben nehmen wolle, lächelte er geheimnisvoll und meinte achselzuckend, dies sei eine Kleinigkeit. Als man mir das hinterbrachte (denn, wie Sie wissen, wird im Theater dem Direktor immer alles hinterbracht), lachte ich natürlich darüber. Keiner kannte besser als ich seine Einkünfte. Ich muß in diesen Dingen auf dem laufenden sein, weil ich dauernd mit Schauspielern zu tun habe und wissen muß, wieviel der einzelne ›wert‹ ist, wie man so sagt. Doch Vincy veränderte sich von Tag zu Tag, bis er schließlich heute morgen zu mir in dieses Arbeitszimmer kam und für sein weiteres Auftreten eine geradezu astronomische Summe verlangte. Dabei benahm er sich unerhört herablassend, sowohl mir gegenüber als auch gegenüber der Idee des Chamber Theatre, das, wie Sie wissen, ausschließlich der modernen Kunst und ihrer Verbreitung dient. 68
Unter den gegenwärtigen Umständen, so sagte er, interessiere ihn ein Auftreten in ähnlich unsinnigen Stücken für geringeres Geld überhaupt nicht. Sollte er die verlangte Summe nicht bekommen, so wollte er vom Vertrag zurücktreten. Ich schluckte meinen Zorn hinunter, obwohl sein Benehmen völlig idiotisch war, und sagte ihm in aller Ruhe, daß er das Recht habe, den Vertrag zu brechen und das Theater zu verlassen, sogar schon morgen, nur müsse er mir den Verlust ersetzen, und das wäre eine Menge Geld. Ich würde nämlich die Rückzahlung aller Unkosten für die Einstudierung des Stückes und die Bezahlung der Schauspieler, des technischen Personals und so weiter fordern, ebenso für die notwendige Unterbrechung, bis ein entsprechender Nachfolger gefunden und in die Rolle eingeführt worden sei. Das würde jetzt, da die Saison begonnen habe und in allen Theatern die Verträge unterschrieben worden seien, natürlich nicht ganz einfach sein. Darüber zerbreche ich mir übrigens schon den Kopf seit dem Augenblick, da ich diese schreckliche Nachricht erhalten habe. Schauspieler sind abergläubisch. Womöglich findet sich keiner, der die Rolle des ermordeten Kollegen übernehmen will …« »Ja. Gewiß …« Parker räusperte sich. »Entschuldigen Sie. Ich bin vom Thema abgewichen. Also, meine Antwort stimmte ihn doch 69
etwas nachdenklich, trotzdem kündigte er den Vertrag und erklärte, daß er mit dem Auslaufen der ›Stühle‹ seine Zusammenarbeit mit dem Ensemble für beendet ansehe, was ihm natürlich laut Vertrag zusteht. Das hätte er mir nicht eigens zu erzählen brauchen. Doch das waren nicht die einzigen Symptome eines Verhaltens, auf welches das Ensemble anfangs hinter seinem Rücken mit einem Tippen an die Stirn reagierte und das nach einigen Tagen alle sehr ernst nahmen, mich eingeschlossen. Ein Schauspieler kommt doch nicht zum Theaterdirektor und kündigt den Vertrag, noch dazu in einem solchen Ton, wenn er nicht wesentlich günstigere Bedingungen in Aussicht hat. Ich habe also diskret nachgeforscht und kann mit voller Gewißheit feststellen, daß kein Filmstudio und kein Theater mit ihm irgendwelche Verhandlungen aufgenommen hat. Deshalb ist die Angelegenheit für mich völlig unverständlich. Ich kann mir nicht vorstellen, woher er die notwendigen Gelder beziehen wollte. Bestimmt nicht aus seiner Schauspielerei und den damit verbundenen Einkünften …« »Hat er denn seinen künftigen Reichtum oder jene großartige Perspektive noch auf andere Weise demonstriert?« fragte der Inspektor. »Aber ja! Die Situation im Theater war schon seit langem sehr gespannt. Eve Faraday war bis zu 70
dem Augenblick, da sie Vincy kennenlernte, mit Henry Darcy so gut wie verlobt. Darcy hatte sie in einem der Amateurensembles entdeckt und eine Schauspielerin aus ihr gemacht. Dann muß sie sich jedoch in Vincy verliebt haben, oder er hat ihr einfach den Kopf verdreht, denn sie brach mit Darcy und wurde von nun an nur noch in Vincys Gesellschaft gesehen. Dies geschah vor drei Monaten, vierzehn Tage nachdem die Proben zu den ›Stühlen‹ begannen. Dieser Mensch hatte einen ungeheuren Einfluß auf Frauen. Sie muß ihn wohl doch geliebt haben, denn Darcy ist immerhin einer der besten und begabtesten Leute an unseren Theatern. Wenn sie ihn heiratete, würde sie glücklich und berühmt werden. Aber wer versteht schon eine Frau? Jedenfalls zuckte Darcy nicht mit der Wimper, wie man so schön sagt, obwohl er täglich mit den beiden zusammentreffen mußte, denn das Schicksal wollte es, daß sie gerade in einem Stück spielten, in dem nur zwei Schauspieler mitwirken. Darcy führt Regie und tritt außerdem in einer kurzen Szene als Sprecher auf. Er hatte dauernd mit ihnen zu tun, mußte mit ihnen diskutieren, sie einweisen, zweimal täglich mit ihnen zusammentreffen. Aber ich habe schon ganz andere Dinge am Theater gesehen! Eve gegenüber verhielt Darcy sich weiterhin sehr herzlich. Wahrscheinlich liebt er sie noch immer. Doch sie hat über jenem anderen die 71
ganze Welt vergessen. Angeblich hat Vincy ihr erzählt, daß er sie heiraten möchte, daß er mit ihr eine Familie gründen und endlich zur Vernunft kommen will. Aber wer kann schon sagen, was er ihr wirklich versprach und welchen Einfluß er auf sie hatte? Ich denke mir, daß er mit dieser schlimmen Eigenschaft auf die Welt gekommen ist, die Fliegenpapier besitzt. Die Frauen flogen auf ihn und konnten dann nicht mehr von ihm loskommen. Er aber trennte sich von ihnen, ohne zu zögern, sobald sie ihm über waren oder wenn er sie nicht mehr brauchte. Ebenso war es mit Eve. Vor einigen Tagen kam es zwischen ihnen zu einem Riesenkrach im Theater. Das heißt, Eve nahm daran kaum teil, nur er, Vincy. Er schrie sie an und beschimpfte sie mit den gemeinsten Worten, daß sie sich an ihn klammert, daß sie sein Leben einengt, daß sie überhaupt kein Recht auf ihn hat, daß sie ihm ein Klotz am Bein ist. Das war einen oder zwei Tage, nachdem er begonnen hatte, die Gerüchte von seinem Vermögen in Umlauf zu setzen. Offenbar war er zu dem Schluß gekommen, daß eine Ehe mit einer jungen, bereits bekannten, aber noch nicht allzu berühmten Schauspielerin für ihn jetzt keinen Sinn mehr hatte. Er trug sich mit phantastischen Plänen, in denen sie keinerlei Rolle mehr spielen konnte. Nach dieser Auseinandersetzung brach er mit ihr und sprach mit ihr kein Wort 72
mehr außerhalb der Bühne. Auf der Bühne benahm er sich, als hätte er es mit einer Schlange zu tun. Nebenbei gesagt, kam es während dieser Auseinandersetzung noch zu einem anderen Zwischenfall. Als Vincy mit erhobener Stimme Eve beschimpfte, war Darcy noch nicht im Theater. Meiner Meinung nach hat er diesen Zeitpunkt absichtlich gewählt. Er wollte sie öffentlich demütigen, es jedoch vermeiden, daß ihm die Zähne eingeschlagen wurden. Denn Darcy hätte es Vincy bestimmt nicht erlaubt, sich ihr gegenüber so zu benehmen, auch wenn sie ihn seinetwegen verlassen hatte. Sie müssen nämlich wissen, daß wir im Theater einen Inspizienten namens Jack Sawyer haben, einen jungen, ziemlich schmächtigen Burschen, einen Studenten, der sich bei uns etwas hinzuverdient, um sein Medizinstudium beenden zu können. Der Inspizient hielt sich damals in der Nähe auf, und als Vincy Eve so ordinär beschimpfte, trat er zu ihm und sagte, daß ein Mann nicht das Recht habe, sich auf diese Weise einer Frau gegenüber zu benehmen. Hier muß gesagt werden, daß für Stephen Vincy das technische Personal überhaupt nicht existierte, er zählte es nicht zu den Menschen. Er behandelte es wie ein Feudalherr seine Untertanen, ja wahrscheinlich noch schlimmer, denn er bemerkte es überhaupt nicht. Vincy und Henry Darcy sind große, stattliche 73
Männer, aber dieser Inspizient ist eigentlich ein Hänfling. So versetzte ihm Vincy ohne lange zu überlegen eine Ohrfeige. Der Geohrfeigte ergriff ein Beil, das ein Feuerwehrmann auf einen Schemel im Korridor gelegt hatte, und hätte wahrscheinlich damit auf Vincy eingeschlagen, wären nicht einige Leute dazwischengegangen, die rasch herbeigeeilt waren. Die Angelegenheit hätte für Vincy sehr unangenehm enden können, aber auf meine Bitte hin nahm Sawyer eine schriftliche Entschuldigung Vincys an, dem ich ankündigte, daß er für einige Monate ins Gefängnis kommen könnte. Ins Gefängnis wäre er natürlich nicht gekommen, aber eine Geldstrafe wäre fällig gewesen. Ich wollte die Angelegenheit irgendwie aus der Welt schaffen. Im Theater erschweren solche Streitigkeiten und Auseinandersetzungen ungemein die Arbeit und wirken sich sofort auf das Spiel des Ensembles und den Verlauf der ganzen Vorstellung aus. Doch das war noch nicht alles. Eve wurde damals natürlich ohnmächtig, so daß wir uns eine halbe Stunde um sie bemühen mußten, ehe sie wieder ganz da war, danach bekam sie noch einen Weinkrampf, und die Vorstellung mußte mit einer viertelstündigen Verspätung beginnen. Als Darcy kam – er tritt erst gegen Ende des zweiten Aktes auf –, erfuhr er sofort, was vorgefallen war, und ging in der Pause in Vincys Gar74
derobe. Dort kündigte er ihm in aller Ruhe an, daß er ihn, sollte Vincy noch ein einziges unhöfliches Wort gegenüber Eve Faraday gebrauchen, erschlagen würde wie einen tollwütigen Hund. Danach ging er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinaus. Der Garderobier Ruffin, der dabei war, weil er sich während der Vorstellung ständig in Vincys Garderobe aufhalten muß, obwohl er ihn fürchtet wie die Pest, weil Vincy ihn abscheulich behandelt, dieser Ruffin also erzählte mir, Vincy sei weiß geworden wie eine Kalkwand und habe regelrecht gezittert vor Angst. Erst die Durchsage im Lautsprecher, daß die Pause beendet sei und Vincy sich zum Auftritt fertigzumachen habe, zwang ihn, sich zusammenzunehmen. Danach entschuldigte er sich sofort in aller Form bei Eve, aber die Beziehungen zwischen ihnen waren damit – wie sich nun herausstellt, ein für allemal – abgebrochen.« »Ja …« Parker schrieb etwas in sein Notizbuch und erhob sich. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Direktor. Was Sie uns da erzählt haben, ist jedenfalls unerhört interessant. Daraus lassen sich viele Schlüsse ziehen, voreilige Schlüsse möchte ich allerdings vermeiden …« Er brach ab. »Es ist Nacht«, sagte er zögernd, »meinen Sie nicht, daß Sie ein wenig Schlaf verdient hätten? In den nächsten Stunden werden wir Sie wahrscheinlich nicht brau75
chen, bis zum Morgen. Sollte sich etwas Unvorhergesehenes ereignen, werde ich Sie leider telefonisch wecken müssen. Ich hoffe jedoch, daß dies nicht nötig sein wird.« »Ich kann auch hier übernachten«, sagte Mr. Davidson. »Ich übernachte häufig im Theater, wenn ich viel Arbeit habe oder wenn Generalproben mit langen Pausen dazwischen stattfinden. Ich habe hier ein kleines Sofa, auf dem ich schon mal ein Nickerchen machen kann, der diensthabende Portier weckt mich dann telefonisch.« »Wie Sie wünschen, Herr Direktor. Eine Bitte jedoch habe ich: Erzählen Sie bitte auch weiterhin niemandem von dem Vorfall. Morgen muß es die Presse ohnehin erfahren, aber je später die Reporter uns auf den Pelz rücken, um so besser. Die Vorstellung müssen Sie wohl vorläufig absetzen?« »Die ›Stühle‹ – ja. Aber wir haben ein zweites Stück, das so gut wie fertig ist und das parallel zu den ›Stühlen‹ vorbereitet wurde, weil ich nicht wissen konnte, welchen Anklang die Vorstellung beim Publikum finden würde. Solche Stücke füllen einem manchmal die Kasse, oder aber man kann sie nach zwei Aufführungen absetzen. Dieses hier war ein Riesenerfolg …« »Soweit ich die Menschen kenne«, sagte Parker, »wird der Erfolg dadurch nur noch gesteigert werden.« 76
»Das vermute ich auch«, Mr. Davidson nickte vor sich hin, »obwohl man im Theater nichts voraussehen kann …« »Wie die heutige Nacht beweist«, schloß der Inspektor in einem Anflug von Galgenhumor. »Noch etwas, Herr Direktor, der Form halber hätte ich gern gewußt, wie Sie den heutigen Abend verbracht haben.« »Ich? Ach so, natürlich. Ich war zum Empfang beim Lord Mayor. Der Empfang begann um fünf und zog sich bis gegen elf Uhr hin. Danach bin ich mit zwei Freunden nach Hause zurückgekehrt. Es handelte sich um einen Empfang für Theaterdirektoren. Kontakte des Magistrats zu Persönlichkeiten der Kunst. Die Direktoren des Beatle Theatre und des Theaters der Burleske tranken bei mir noch ein Gläschen und verließen mich kurz vor Soames’ Anruf … Zum Glück, denn ich hätte mich kaum zurückhalten können, ihnen diese Neuigkeit zu erzählen, und so wäre ganz London schon jetzt voll davon, ganz zu schweigen von den Reportern, die mir unten die Eingangstür stürmen würden. Ich denke schon mit Entsetzen daran, wie viele Fragen ich morgen werde beantworten müssen.« »Und ich!« Parker seufzte. »Aber die Menschen wollen die Zeitung lesen, und die Zeitungen wollen die letzten Nachrichten bringen. Dagegen läßt 77
sich nichts machen. Ich danke Ihnen noch einmal, Herr Direktor. Sie bleiben also hier?« »Ja. Ich werde die ganze Zeit in meinem Zimmer bleiben, um Sie nicht zu stören. Aber ob ich schlafen kann, das weiß ich nicht …« »Versuchen Sie es zumindest«, sagte Inspektor Benjamin Parker und verließ das Zimmer, gefolgt von Joe Alex.
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VI. DIESE DAME GING VIERTEL NACH ZEHN HINEIN …
Auf der Treppe blieb Parker kurz stehen. »Sag bitte noch nichts, Joe. Dieser Fall könnte uns mehr Schwierigkeiten bereiten, als ich ursprünglich dachte. Wir wissen noch gar nichts.« »Ich hatte nicht die Absicht, irgend etwas zu sagen«, brummte Alex. »Ich habe den ganzen Tag im Wagen, im Theater und im Restaurant zugebracht. Um sieben Uhr morgens bin ich aufgestanden. Jetzt ist es ein Uhr nachts. Meinst du, daß ich unter diesen Umständen unbedingt geschwätzig sein müßte? War ich übrigens jemals geschwätzig?« Parker lächelte. »Nein. Geschwätzig warst du nie. Das ist wahr. Aber willst du wirklich jetzt gehen?« »Um nichts in der Welt! Das habe ich doch nicht behauptet.« »Ausgezeichnet!« Sie setzten ihren Weg fort. Alex und Parker kannten sich seit vielen Jahren, seit dem Kriege, den sie gemeinsam an Bord eines britischen Bombers erlebt hatten. Es gab eine Zeit, da ständen sie einander näher als Brüder. Alex wußte, 79
daß der Inspektor trotz des Lächelns bekümmert war. »Ich werde jetzt den Portier vom Tagdienst vernehmen und anschließend die übrigen, falls er uns nichts Neues mitteilen kann. Aber ich habe den Eindruck, daß wir von ihm etwas erfahren müßten. Der Mörder konnte nur an seinem Fensterchen vorbei in das Theater gelangen und wieder hinausgehen … Aber warten wir es ab.« Auf dem Gang hinter der Bühne begegneten sie Sergeant Jones. »Sie haben soeben diesen Pförtner gebracht, Chef!« »William Gullins?« »Jawohl, Chef! Er ist in der Portierloge. Ein Polizist bewacht ihn. Er zittert am ganzen Leibe, denn seine Frau liegt im Krankenhaus. Sie hat gerade entbunden. Er heult wie ein Schloßhund, Chef. Deshalb wollte ich zu Ihnen, wir wissen nicht mehr, was wir mit ihm machen sollen.« »Er wird gleich aufhören«, murmelte Parker und beschleunigte den Schritt. Bei ihrem Anblick nahm der Polizist in der Portierloge, der gebeugt über einem verzweifelt schluchzenden Mann stand, Haltung an, zog aber gleichzeitig eine Miene, als wüßte er nicht, was er mit diesem erstaunlichen Geschöpf anfangen sollte, das da, den Kopf in den Armen verborgen, auf dem Stuhl hockte. Der In80
spektor bedeutete dem Polizisten wortlos, den Raum zu verlassen, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, beugte er sich herab und sagte ruhig: »Gullins, wir haben Sie hergeholt, um Sie wegen eines Mordes zu vernehmen. Falls Sie diesen Mord begangen haben, tun Sie recht daran, Ihr Schicksal zu beweinen. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, so vergeuden Sie nur Ihre und unsere Zeit. Nach der Vernehmung will ich Sie mit dem Wagen nach Hause bringen lassen. Ein Mann sollte zu Hause bei seinen Kindern sein, wenn seine Frau im Krankenhaus liegt. Nun, so seien Sie also vor allen Dingen ein Mann!« Wie unter der Berührung eines Zauberstabes hob Gullins den Kopf und ließ die Arme sinken. Sein Gesicht war tränenüberströmt, doch nicht Verzweiflung malte sich darauf, sondern grenzenloses Erstaunen. »Wegen eines Mordes?« flüsterte er. »Was denn, o mein Gott! Also hat man das Theater nicht bestohlen? Man hat es nicht bestohlen?« »Nein!« sagte Parker entschieden und setzte sich ihm gegenüber. »Das Theater ist nicht bestohlen worden, während Sie im Dienst schliefen. Als die Polizei Sie abholte und nicht mit Ihnen reden wollte, sondern Sie nur aufforderte mitzukommen, waren Sie überzeugt gewesen, daß es sich um einen Diebstahl handelt und daß man Sie wegen Vernachlässigung Ihrer Pflichten zur Rechen81
schaft ziehen oder Sie verdächtigen würde, mit den Dieben gemeinsame Sache gemacht zu haben. Nichts dergleichen, Gullins! Zwischen zehn Uhr und zehn Uhr dreißig wurde in seiner Garderobe der Schauspieler Stephen Vincy ermordet, und wir möchten von Ihnen genauestens wissen, was Sie an diesem Abend gemacht und beobachtet haben.« »Mr. Vincy ermordet!« sagte Gullins. »Mr. Vincy! Und ich war hier, hinter der Wand … O mein Gott … Sagen Sie: zwischen zehn Uhr und zehn Uhr dreißig?« »Ja. Das habe ich gesagt.« »Dann war sie es!« »Wer?« fragte der Inspektor rasch und beugte sich vor. »Diese … diese Dame, die ein Viertel nach zehn kam, mehrere Minuten bei ihm blieb und dann wieder ging.« »Dann war also um diese Zeit eine Dame hier?« »Ja … Mr. Vincy hat mir angekündigt, daß sie kommen würde, also habe ich sie hereingelassen. Es war ja nicht die erste, die ich auf diese Weise hereinließ … Aber diese war älter als andere … Als all die anderen …« »Wie alt mochte sie sein?« »Vierzig vielleicht … Vielleicht auch etwas älter! Bei diesen wohlhabenden Damen weiß man nie 82
Bescheid. Sie sind so gepflegt, daß sie manchmal jünger aussehen …« »Sehr richtig. Und wie war sie gekleidet?« »Sie trug einen dünnen schwarzen Mantel und hatte ein kleines Hütchen auf, so ein modisches, halbrund und grau … Und Schuhe, glaube ich, auf sehr hohen Absätzen. Aber sie selbst war nicht sehr groß.« »Würden Sie sie wiedererkennen?« »Ich glaube … ich glaube schon, Sir.« »Schön. Ist Ihnen an ihr nichts aufgefallen? An ihrer Kleidung, vielleicht an ihrem Verhalten?« »Sie schien ein wenig verlegen zu sein, aber ich habe nicht weiter darauf geachtet, denn schließlich war sie nicht vom Theater, und Fremde sind hinter den Kulissen oft ein wenig schüchtern, Sir.« »Gewiß. Und mehr können Sie uns über sie nicht sagen?« »Wohl kaum, Sir … Ach so! Eins vielleicht noch, aber das ist wahrscheinlich ohne Bedeutung. Diese Damen haben doch immer zu ihren Abendkleidern so schöne kleine Täschchen, entweder aus Goldlamé oder aus Silberfäden oder noch andere, aber sie sind immer sehr klein. Meine Frau hat mich mal darauf aufmerksam gemacht, als sie hier bei mir in der Portierloge saß, daß das ein herrliches Leben sein muß, wenn man in der Handtasche nichts mit sich herumzu83
tragen braucht außer Puder, Lippenstift und Taschentuch …« »Gut. Ihre Frau hat recht, ein solches Leben ist bestimmt bequemer. Aber was war mit dieser Dame?« »Das ist es ja, Sir. Diese Dame hatte eine richtige große Tasche, eine ganz andere als all die Damen zu ihren Abendkleidern. Sie hielt sie sehr tief, so daß ich sie vom Fensterchen aus gar nicht bemerkt habe. Aber ich sah ihr nach, als sie die Treppe hinaufging, und da habe ich die Tasche gesehen. Im Augenblick dachte ich mir nichts. Dabei hatte sie bestimmt die Pistole darin.« Parker sah Alex, der soeben einen leisen Pfiff ausgestoßen hatte, vielsagend an. »Mr. Vincy wurde mit einem Dolch ermordet«, murmelte der Inspektor. »Dann hatte sie da drinnen bestimmt den Dolch, Sir. Aber konnte ich denn das ahnen?« »Nein. Das konnten Sie nicht, allerdings hätten Sie später Ihren Rundgang durch das Theater machen können, dann brauchten Sie jetzt nicht zu weinen und hätten keine Gewissensbisse. Gibt es hier ein Telefonbuch?« »Was?« sagte der Portier Gullins. »Ja, Sir! Natürlich gibt es das!« Er sprang auf und reichte dem Inspektor das Buch. Parker reichte es Alex. »Such mir doch bitte mal die Nummer von Mr. Charles Cresswell, ja, Joe?« 84
Alex nickte und begann in dem Buch zu blättern. »Erzählen Sie mir nun noch rasch, wie Sie diesen Abend verbracht haben, von Beginn der Vorstellung an bis zu dem Augenblick, als Ihr Kollege Sie fünf vor zwölf weckte.« »Jawohl!« Gullins setzte sich und überlegte. »Also, zu Beginn der Vorstellung war alles wie gewöhnlich, kein Fremder betrat das Haus. Später, vielleicht zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung, kam der Garderobier von Mr. Vincy, Oliver Ruffin, zu mir in die Portierloge. Wir unterhielten uns ein bißchen, denn er hatte viel Zeit. Nachdem Ruffin Mr. Vincy beim Umkleiden behilflich gewesen war, hatte ihn dieser gleich hinausgeschickt und ihm befohlen, die Garderobe nicht mehr zu betreten, weil er Gäste erwarte. Ruffin sollte mir Bescheid sagen, daß ihn eine Dame besuchen wird, die ich hereinlassen soll, aber er wußte nicht, ob sie in der Pause kommt oder erst nach der Vorstellung. Dann war also Pause, Ruffin saß noch immer bei mir. In der Pause kam ein Blumenbote mit einem Korb Rosen für Mr. Vincy. Ruffin blieb bei mir sitzen, denn er wurde erst wieder gegen Ende der Vorstellung gebraucht, um Mr. Darcy beim Umkleiden zu helfen. Mr. Darcy spielt in diesem Stück erst ganz zum Schluß, aber seit jenem Krach zwischen Mr. Vincy und Miß Faraday kam er im85
mer vor Beginn der Vorstellung und zog sich sofort um. Er trägt übrigens das gleiche Kostüm wie Mr. Vincy, nur ohne Maske, dafür tritt er aber mit Hut auf, so daß Ruffin mit ihm keine großen Scherereien hat. In diesen modernen Stücken, sagt Ruffin, ist eines sehr gut: Die Kostüme sind aus dem ersten besten Zeug gemacht und haben keinerlei Spitzen oder Stickereien wie früher. Man braucht sich damit nicht so abzuquälen.« Parker sah Alex von der Seite an und öffnete den Mund, als wollte er Gullins unterbrechen, doch Joe schüttelte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung den Kopf. In der Hand hielt er das geschlossene Telefonbuch, den Finger hatte er zwischen zwei Seiten geschoben. Parker wandte sich wieder dem Portier zu. »Ruffin saß also nach der Pause noch eine Weile bei mir, und dann tauchte auch schon meine Schwester auf, die gerade mit dem Zug aus Manchester angekommen war, um zu Hause ein wenig auszuhelfen, weil meine Frau gestern niedergekommen ist, also hab’ ich ihr ein Telegramm geschickt, denn zu Hause habe ich noch zwei Kinder, und ich mache ja zwölf Stunden Dienst, noch dazu Tagdienst … Als sie also mit ihrem Koffer hier ankam, sagte Ruffin, daß er in die Garderobe von Miss Faraday will, um noch ein bißchen mit Susan zu reden. Miss Faraday stand gerade auf der Bühne.« 86
»Wer ist Susan?« »Das ist die Garderobiere von Miss Faraday, die Frau von Malcolm Snow, einem Bühnenarbeiter, der für den Vorhang verantwortlich ist. Sie ist eine große Klatschtante. Aber das ganze Theater war ja neugierig, wie diese Affäre nach dem großen Krach zwischen Miss Faraday und Mr. Vincy enden wird, denn Miss Faraday ist doch vorher, wie man so sagt, mit Mr. Darcy gegangen … Ruffin ist also auf ein Schwätzchen zu Susan gegangen, und mich hat er mit meiner Schwester allein gelassen. Dann war auch bald die Vorstellung zu Ende, denn lang ist sie ja nicht, es soll sogar ein Einakter gewesen sein, bloß daß Mr. Darcy zwischendurch eine Pause gemacht hat, damit mehr Stühle auf die Bühne getragen werden können. Mit diesen Stühlen ist das immer ein richtiger Zirkus, weil es schwierig ist, sie in einer bestimmten Ordnung aufzustellen. Zweihundertfünfzig Stühle müssen während der Pause auf die Bühne gebracht und aufgestellt werden, die Leute haben ganz schön zu rackern, um das zu schaffen … Wovon habe ich doch gleich gesprochen? Ach so … Nach der Vorstellung habe ich also meine Schwester mit einem Taxi nach Hause geschickt, so dicke hab’ ich’s ja auch nicht, aber man ist halt immer unruhig, wenn die Kinder allein zu Hause sind. Eins ist zehn Jahre alt und müßte eigentlich schon vernünftig sein, aber dafür ist das 87
andere erst vier; sie müssen alleine schlafen gehen und sich auch Abendbrot machen. Meine Schwester ist also in ein Taxi gestiegen und nach Hause gefahren. Und ich habe gewartet, daß alle das Theater verlassen. Es waren auch schon fast alle fort, als diese Dame kam … Sie fragte, ob Mr. Vincy da sei. Ich sagte, ja, der ist oben, und so ging sie hinauf. Danach ist wohl keiner mehr gegangen, und ich habe hier gesessen, und die Augen fielen mir schon zu, denn die ganze vorherige Nacht habe ich ja nicht geschlafen und bin am Morgen wieder zum Dienst gegangen. Ich erinnere mich, daß diese Dame wieder gegangen ist, aber ich war schon so schläfrig, daß ich hinter ihr die Tür abgeschlossen und mich mit dem Schlüssel in der Hand ans Fensterchen gesetzt habe, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt. Ich dachte mir, ich mach’ ein kurzes Nickerchen, und wenn Mr. Vincy gehen will, wird er mich schon wecken, dann springe ich auf und laß ihn hinaus. Na, und kaum daß ich die Augen geschlossen hatte, klingelte Soames auch schon an der Eingangstür. So schien es mir wenigstens, denn in Wirklichkeit muß ich gut anderthalb Stunden geschlafen haben. Aber nach diesen Aufregungen und Erlebnissen in der vergangenen Nacht könnte ich wohl fünf Tage schlafen … Jetzt ist mir der Schlaf vergangen«, sagte er ein wenig verwundert. »Ich bin überhaupt nicht müde.« 88
»Schon gut«, sagte Parker. »Das kommt alles wieder. Aber vorher müssen Sie noch Ihre Erzählung beenden.« »Das ist wohl schon alles, Sir. Soames klingelte, und ich war so schläfrig, daß ich gar nicht mehr an Mr. Vincy dachte und auch nicht daran, daß ich noch einen Rundgang zu machen hatte, bevor ich ging. Außerdem wußte ich natürlich, daß Soames das gleich erledigen würde, denn er ist ein sehr gewissenhafter Mensch. Wer hätte aber auch ahnen können, daß hier so etwas Entsetzliches passiert. Als Soames kam, hat er bestimmt bemerkt, daß ich geschlafen hatte, aber er war nicht weiter erstaunt, denn alle im Theater wußten ja, daß uns ein Sohn geboren wurde. Die Belegschaft hat sogar ein bißchen Geld gesammelt und es mir als Geschenk übergeben … Das ist hier ein sehr angenehmes Theater, Sir, und es geht wirklich kameradschaftlich zu. Keiner achtet darauf, ob jemand Arbeiter oder Künstler ist. Eine gute Atmosphäre, wie man so sagt, aber von uns erlaubt sich auch keiner plumpe Vertraulichkeiten, denn wir wissen natürlich, daß ein Regisseur oder Schauspieler kein Portier ist. Trotzdem ist einer dem anderen gegenüber höflich. Mr. Vincy war vielleicht der einzige … Doch von Toten soll man nicht schlecht sprechen. Er lebt nun nicht mehr, und wenn jemand ihm etwas nachzutragen hatte, so muß er ihm jetzt verzeihen, nicht wahr, Sir?« 89
»Gewiß.« Parker nickte. »Gehen Sie jetzt nach Hause, Gullins, und schlafen Sie aus. Vielleicht gelingt es mir, Herrn Direktor Davidson nicht darüber zu informieren, daß Sie im Dienst geschlafen haben, als das passierte. Aber denken Sie daran, daß Sie das nächste Mal Ärger bekommen könnten. Ein Vater von drei Kindern muß etwas pflichtbewußter sein.« »Ich danke Ihnen, Sir …« Gullins’ Stimme erbebte wieder gefährlich, »ich hatte mir schon die größten Sorgen gemacht, daß …« »Schon in Ordnung. Gehen Sie jetzt.« »Gute Nacht, die Herren.« »Gute Nacht, gute Nacht.« Parker gab dem Diensthabenden ein Zeichen, der daraufhin den zitternden, doch bereits unsicher lächelnden Gullins hinausließ. »Was nun?« fragte Joe. »Fahren wir jetzt zu Mr. Charles Cresswell, dem Verlobten von Anne Dodd? Ich meine, ja.« »Ich bin der gleichen Meinung.« Parker lehnte sich aus dem Fensterchen und traf seine Anordnungen. Einen Augenblick später saßen sie bereits im Wagen, der mit Vollgas startete und eine lange, gerade Straße entlangjagte, die von zwei Reihen hoher alter Häuser gesäumt wurde. Dann bogen sie ab, fuhren durch zwei oder drei schmale Gassen, bis sie ein Villenviertel erreichten. Nach einer Wei90
le hielten sie vor einem im Dunkeln liegenden Haus, das von den hohen Bäumen eines großen Gartens halb verborgen wurde. Die Pforte war geschlossen. Parker stieg aus und drückte auf den Klingelknopf. Im Haus blieb es dunkel. Der Inspektor drückte noch einmal auf die Klingel, doch gleichzeitig ging in einem der Fenster im Erdgeschoß das Licht an. Dann war das leise Knarren einer Tür zu vernehmen. »Wer ist da?« fragte eine heisere greise Stimme. »Ich möchte Mr. Charles Cresswell sprechen!« rief Parker ebenso laut. »Was ist?« Schlurfende Schritte näherten sich, und auf dem Gartenweg, der von dem Lichtstreif aus dem Fenster und dem Schein einer Straßenlaterne erhellt wurde, erschien eine gebeugte Gestalt in einem dunklen, langen Schlafrock. »Wer ist denn da?« Alex bemerkte, daß in der oberen Etage ebenfalls Licht aufleuchtete. »Polizei«, sagte Parker, als der alte Mann so nahe war, daß man nicht mehr allzu laut zu sprechen brauchte. »Wir möchten Mr. Charles Cresswell sprechen, falls er zu Hause ist.« »Polizei …« Der alte Mann trat noch näher und betrachtete sie aufmerksam. »Hier mein Ausweis.« Parker schob ein kleines, 91
dunkles Kärtchen durch das Eisengitter. Der alte Mann nahm es in die Hand, holte aus der Tasche des Schlafrocks eine Taschenlampe und entzifferte in ihrem Licht den Inhalt des Kärtchens. »Ja …«, meinte er zögernd, »aber wieso Polizei?« Seine Stimme klang ungläubig. »Hier war noch nie irgendein Polizist …« Doch da vernahmen sie auf dem Gartenweg schon schnelle, entschlossene Schritte. »Was gibt es dort, John?« fragte eine junge Männerstimme. »Ich bin Inspektor des Scotland Yard«, sagte Parker scharf, »und mache Sie darauf aufmerksam, daß ich im Augenblick meinen dienstlichen Pflichten nachgehe. Ich möchte Charles Cresswell sprechen, falls er zu Hause ist. Sollte er nicht anwesend sein, dann bitte ich, mir zu erklären …« »Ich bin Charles Cresswell«, sagte der junge Mann und trat näher. »Öffne die Pforte, John.« Der alte Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Pforte. Im Vorbeigehen nahm Parker wieder seinen Ausweis an sich. »Entschuldigen Sie, daß wir Sie zur Nachtzeit stören müssen«, sagte er höflich, »aber es sind gewisse, ziemlich dramatische Umstände eingetreten, und wir nehmen an, daß Sie uns in dieser Angelegenheit einige Auskünfte geben könnten.« »Ich?« fragte Charles Cresswell lachend. Alex ge92
wahrte im Dunkeln zwei Reihen weißer, gleichmäßiger Zähne. »Ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor. Aber da die Herrschaften ihrer amtlichen Tätigkeit nachgehen, bleibt mir nichts anderes übrig …« Er trat zur Seite und wies mit einer einladenden Geste auf den Weg, der zum Haus führte. Parker ging voran, neben sich den Hausherrn. Alex folgte ihnen durch den dunklen Garten. Er dachte nach. Ja, jetzt hatte das wohl keinerlei Bedeutung mehr … Aber ihm war in diesem Augenblick klargeworden, was ihm vorhin in Vincys Garderobe keine Ruhe gelassen hatte. Sollte sie sie mitgenommen haben …? Sie waren vor der Eingangstür angelangt. Cresswell ging als erster hinein und machte in der Diele Licht. Wortlos wies er auf eine Tür zur Rechten. Der Raum war nicht sonderlich groß und teils als Arbeitszimmer, teils als Bibliothek eingerichtet. Alex bewunderte den herrlichen Gobelin, der an der Wand hing. »Liege?« fragte er impulsiv. »Ja!« Charles Cresswell betrachtete ihn neugierig. »Für einen Polizisten haben Sie recht originelle Interessen.« Alex wollte seine Anwesenheit in diesem Haus erklären, doch Parker hob die Hand. Sie setzten sich. »Was kann ich für Sie tun?« sagte Cresswell. »Ich bin ehrlich erstaunt über Ihren Besuch. Mit der Polizei hatte ich eigentlich noch nie …« 93
»Doch, Sie hatten«, entgegnete Parker höflich. »Wenn ich mich recht erinnere, unterhielten wir uns vor drei Jahren über Claudius Clavearege, Ihren Freund, der in gewisse … nun … Angelegenheiten verwickelt war. Ich irre mich doch wohl nicht?« »Ach, Sie sind das!« Cresswell lachte. »Sie kamen mir gleich irgendwie bekannt vor! Ich ahnte jedoch nicht … Ja, das stimmt, vor drei Jahren sprachen Sie mit mir über den armen Claudius.« »Heute hingegen möchte ich Sie bitten, uns zu erzählen, wie Sie den gestrigen Nachmittag und Abend bis zum jetzigen Augenblick verbracht haben.« »Ich?« »Ja. Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß Sie ganz unbewußt fast Zeuge eines Mordes geworden sind. Jedenfalls könnten Sie zur Aufklärung beitragen, indem Sie uns den Verlauf des gestrigen Nachmittags und Abends schildern. Ich möchte in meinen Andeutungen nicht zu weit gehen, um Sie in Ihrer Aussage nicht zu beeinflussen.« »Das erscheint mir völlig unmöglich«, sagte Cresswell, »ich habe doch gestern nachmittag und am Abend …« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, schließlich würden Sie mich wohl nicht mitten in der Nacht nur zum Spaß wecken, nicht wahr? Folglich will ich Ihnen erzählen, meine Herren, was sich ereignet hat. Und ereignet hat sich eigentlich nichts … Um vier Uhr fuhr ich zu meiner Verlob94
ten, Miss Anne Dodd, und hielt mich in ihrem Hause bis Viertel vor acht auf. Unsere Hochzeit steht kurz bevor, und so haben wir etwas ganz Banales besprochen: die Trasse unserer Hochzeitsreise. Wir möchten England für einige Monate verlassen und rund um die Welt fahren. Aber wie Sie wissen, kann man auf verschiedene Weise um die Welt fahren. Wir haben also die Zeit sehr angenehm verbracht, indem wir einen Stapel bunter Prospekte, die ich mitgebracht hatte, betrachteten und heftig diskutierten. Danach aßen wir etwas in der Art eines späten Vesperbrots in Gesellschaft von Mrs. Angelica Dodd, der Mutter meiner Verlobten. Ihr Mann ist ernstlich krank, so daß er daran nicht teilgenommen hat. Erst kurz bevor wir ins Theater fuhren, kam er zu einer Tasse Kaffee herunter. Wir sahen uns die ›Stühle‹ von Ionesco an. Nach der Vorstellung brachte ich Anne nach Hause und fuhr anschließend direkt hierher. Allein möchte ich jetzt keine Nachtlokale besuchen, und meine Verlobte fühlt sich durch die Krankheit ihres Vaters ein wenig gehemmt … Ich kehrte also nach Hause zurück, aß zum Abend, nahm ein Bad und legte mich schlafen. Geweckt wurde ich durch eine Unterhaltung im Garten. Das ist alles.« »Ich danke Ihnen vielmals.« Parker erhob sich. »Nur noch eine kurze Frage: Waren Sie im Theater allein mit Ihrer Verlobten?« 95
»Nein«, Cresswell hob die Brauen, »Annes Mutter war ebenfalls dort.« »Aber Sie haben soeben die Umschreibung gebraucht: ›Ich brachte Anne nach Hause.‹ Das ist doch wohl so zu verstehen, daß Sie auch Ihre künftige Schwiegermutter nach Hause gebracht haben?« »Nein. Sie verabschiedete sich nach der Vorstellung von uns. Sie habe noch etwas in der Nähe zu erledigen, sagte sie, und wolle mit einem Taxi nach Hause zurückkehren. So sind wir also allein gefahren.« »Ich danke Ihnen nochmals und bitte um Entschuldigung wegen der nächtlichen Störung.« Parker lächelte. »Mir scheint, Sie haben mir da sehr geholfen, obwohl ich dessen natürlich noch nicht sicher bin. Auf Wiedersehen, Mr. Cresswell!« Damit ging er hinaus, den erstaunten Hausherrn auf der Schwelle seines Zimmers zurücklassend. Alex folgte schweigend seinem Freund.
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VII. EIN LEERER BRIEFUMSCHLAG
Als die Pforte hinter ihnen ins Schloß fiel, blieb Parker, die Hand auf den Kotflügel des Wagens gestützt, stehen. »Was würdest du an meiner Stelle im Augenblick tun?« fragte er. »An deiner Stelle würde ich zum Theater zurückfahren, um zu hören, was die Untersuchung der Leiche und der Fingerabdrücke ergeben hat, vor allem aber, um zu erfahren, was für ein Papier Vincy in der Hand hielt. Darüber hinaus gibt es noch eine Frage, auf die ich eine Antwort suche, obwohl ich noch nicht darüber sprechen möchte.« »Und danach?« »Danach würde ich mich zu Mrs. Angelica Dodd begeben und sie fragen, was sie nach der Aufführung der ›Stühle‹, von dem Augenblick des Abschieds von Tochter und künftigem Schwiegersohn bis zur Rückkehr nach Hause, getan hat.« »Ja, du hast recht. An meiner Stelle werde ich dasselbe tun.« Parker verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stieg in den Wagen. Kaum hatten sie sich in Bewe97
gung gesetzt, begann er zu sprechen, halb zu sich selbst, halb an Alex gewandt. »Wir wissen, daß um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn eine Dame Vincys Garderobe betreten hat. Der Arzt nennt Vorläufig die gleiche Zeit als äußerste Grenze für den Eintritt des Todes, obwohl er ein bißchen die Nase gerümpft und erklärt hat, das sei zu spät. Die Tatsachen beweisen jedoch etwas anderes. Das medizinische Wissen kann nicht mit der Genauigkeit eines Chronometers operieren. Die Vorstellung begann um acht, um neun begann die Pause, die ungefähr bis Viertel nach neun dauerte, danach erschien Vincy wieder auf der Bühne. Um zehn war die Vorstellung beendet. Ich habe selbst auf die Uhr geschaut. Wieviel Minuten vor Schluß der Aufführung mag Vincy die Bühne verlassen haben?« »Etwa sieben bis acht Minuten«, antwortete Alex ein wenig zerstreut. »Eben! Also haben wir ihn um einundzwanzig Uhr zweiundfünfzig noch gesehen. Einige Zeit brauchte er bis zur Garderobe. Und in der Tür wurde er ja auch nicht umgebracht. Er mußte sich erst hinlegen und dieses Papier zur Hand nehmen, das wir sogleich kennenlernen werden. Alles zusammen mag vier bis fünf Minuten gedauert haben. Das heißt, daß er um einundzwanzig Uhr sechsundfünfzig noch gelebt hat. 98
Kein Arzt der Welt wird mir einreden, daß er nach mehreren Stunden den Zeitpunkt des Todes mit der Genauigkeit von weniger als einer halben Stunde bestimmen kann. Folglich konnte er sogar um zweiundzwanzig Uhr fünfundzwanzig sterben. Mir genügt jedoch der Zeitpunkt zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Hier stimmt alles überein …« »Absolut«, murmelte Alex. »Sehr richtig. Außerdem hatte Mrs. Dodd diese merkwürdige Tasche bei sich. Miss Beacon hat uns darauf aufmerksam gemacht. Zum Glück achten Frauen auf solche Dinge. Cresswell hat seine Schwiegermutter nicht nach Hause gebracht. Was sonst mochte sie in dieser Gegend zu tun haben außer einem Besuch bei Vincy? Sie wartete ab, bis die Schauspieler und das Personal das Theater verlassen hatten, und ging nach einer Viertelstunde hinein. Vincy wartete auf sie …« »Und sie tötete ihn«, brummte Alex wieder. »Fügst du die Tatsache hinzu, daß Vincy seit einer Woche von einem ihn erwartenden phantastischen Vermögen faselt, und eine zweite Tatsache, daß nämlich Mrs. Dodds Tochter fünfundzwanzig Millionen geerbt hat, dann kannst du eine weitere Schlußfolgerung daraus ziehen.« »Die hab’ ich bereits gezogen. Vincy hat wahrscheinlich Mrs. Dodd erpreßt. Ich weiß noch nicht, 99
welchen Hintergrund diese Erpressung hatte. Aber vielleicht war er ihr Geliebter?« »Auch das ist möglich …« Alex gähnte. »Ebenso konnte er der Geliebte ihrer Tochter gewesen sein, die, bevor sie heiratete, ihre Liebesbriefe loskaufen wollte. Eine Millionärin kann für so kompromittierende Dokumente viel bezahlen, viel mehr als die bescheidene Tochter eines Archäologen, die sie noch vor wenigen Wochen war. Vielleicht hat sie ihre Mutter gebeten, die Angelegenheit zu erledigen.« »Auch das ist möglich. Sogar noch eher als jene andere Version. Vielleicht gibt es noch weitere Verwicklungen, aber ich bin überzeugt, daß ich mit solchen Überlegungen nicht allzuweit von der Wahrheit entfernt bin. Die Sache konnte sich so abgespielt haben, daß sie bei ihrem Eintritt die günstige Gelegenheit erkannte und sich des Erpressers entledigte. Danach ist sie davongelaufen.« »Auch das ist möglich … Obwohl mich ihre Dummheit in Erstaunen setzt. In ein leeres Theater zu gehen, den Portier nach Mr. Vincy zu fragen, ihm bei voller Beleuchtung gegenüberzustehen und dann zu töten. Dann dürfte Mrs. Dodd keine allzu hohe Meinung von der Polizei haben. Es muß schon eine recht naive Person sein, die da glaubt, sie könne in so charakteristischer Kleidung, nach einer Theateraufführung, wo sie außer von 100
uns von vielen Bekannten gesehen wurde, einfach jemanden umbringen und sich dann im Londoner Nebel auflösen, der übrigens heute nicht für Geld und gute Worte zu haben ist. Aber wer weiß, vielleicht war es trotzdem so?« »Zweifelst du daran?« fragte Parker. »Ja, daran zweifle ich.« »Welche andere Lösung siehst du? Nach ihr hat doch niemand mehr das Theater betreten oder verlassen. Wenn sie es nicht getan hat, dann konnte es nach ihr nur der Portier William Gullins getan haben, den man aller möglichen Dinge verdächtigen könnte, aber doch wohl nicht, daß er vierundzwanzig Stunden, nachdem sein drittes Kind das Licht der Welt erblickt hat, einen Mord begeht.« »Vielleicht lebte Vincy nicht mehr, als sie die Garderobe betrat«, flüsterte Alex. »Warum hat sie dann nicht Alarm geschlagen? Sie findet einen Toten und geht ohne ein Wort hinaus? Weshalb, um Himmels willen?« »Wenn die Dinge so stehen, wie du anfangs sagtest, und Vincy sie oder ihre Tochter erpreßt hat, dann mochte der Anblick des toten Schauspielers mit dem Dolch in der Brust für sie durchaus eine Erleichterung gewesen sein. Vielleicht blieb sie noch einige Minuten, um nach den Briefen oder nach dem zu suchen, was er ihr für den Inhalt der ausgestopften Tasche versprochen hatte. Danach 101
ging sie hinaus, nur von dem Wunsch erfüllt, daß sie nie jemand finden möge. Aber natürlich konnte sie ihn auch töten … Obwohl … Ja. Eigentlich hast du recht. Für meine These spricht nur ein Argument, das sich aus der Situation ergibt, außerdem wissen wir noch zuwenig. Ich glaube schon, daß sie dort war. Wir müssen zu ihr fahren. Das alles ist richtig. Aber mir scheint, daß nicht sie ihn getötet hat, obwohl ich es nicht beschwören möchte.« »Würdest du wetten?« »Ja. Ich würde wetten, daß nicht sie es war, und zwar um eine größere Summe. In diesem Fall werfe ich nur meine Überzeugung in die Waagschale und, wie gesagt, ein gewisses Situationsdetail.« »Schade, daß ich nur ein bescheidener Polizeiinspektor bin«, sagte Parker. »Vermutlich könnte ich heute eine ganze Menge verdienen, ich brauchte nur mit dir zu wetten. Du schreibst Kriminalromane und glaubst, daß die Leute immer absolut logisch handeln, wenn sie morden. Aber je näher der Zeitpunkt einer solchen Tat heranrückt, desto größer wird die Nervenanspannung, und der Mörder handelt schließlich unpräzise, er läßt Spuren zurück, die er vermeiden könnte. Ein Mörder ist in der Regel kein Genie. Nicht Genies befassen sich mit Mord, sondern gewöhnliche, niederträchtige Menschen.« »Ich fürchte, dieser Mörder ist intelligenter, als du glaubst.« 102
»Wirklich?« Im Schein der vorbeihuschenden Straßenlaternen bemerkte Alex, daß der Inspektor ihn aufmerksam betrachtete. »Hast du denn eine andere Lösung?« fragte Parker. »Vorläufig habe ich leider zwei Lösungen«, sagte Joe. »Lösung ›A‹ und Lösung ›B‹.« »Ist Mrs. Dodd Lösung ›A‹ oder ›B‹?« »Mrs. Dodd ist bestenfalls ›c‹, und zwar ein kleines ›c‹, kein großes. Die Schwierigkeit besteht darin, daß manche meiner Beobachtungen zu ›A‹ passen und manche zu ›B‹. Es sind aber immer noch zuwenig. Entscheidend wird wahrscheinlich eine Durchsuchung von Vincys Garderobe sein.« »Was erwartest du, dort zu finden?« »Die Frage ist, was ich dort nicht zu finden erwarte …« Alex rieb sich nachdenklich die Stirn. »Doch vorläufig wissen wir noch nicht genug. Ich schwebe ein bißchen in den Wolken. Du hast recht. Kehren wir in das Theater zurück, um zu hören, was uns der Arzt und der Daktyloskop zu sagen haben, und um unsere Schlußfolgerungen aus der Durchsuchung der Garderobe, und dem Inhalt des Zettels zu ziehen, den Vincy in der Hand hielt. Danach wird sich zeigen, ob ich nur ein phantasierender Autor von Kriminalromanen bin oder ob ich vielleicht recht habe.« 103
»Du setzt mich in Erstaunen …«, begann Parker; Seine Stimme klang nicht mehr so selbstsicher wie vorhin, als er seinen Monolog begann. Der Wagen hielt, und sie erblickten die ihnen bereits bekannte Vortreppe und den Seiteneingang des Chamber Theatre. Sergeant Jones saß im Korridor vor der Garderobe des Toten auf einem Klappstühlchen und rauchte eine Zigarette. »Was gibt es Neues?« fragte Parker. »Die Ergebnisse der Fingerabdrücke sind da, Chef. Das heißt, es gibt gar keine. Auf der Klinke sind nur die von Soames, dem alten Portier, der um zwölf die Garderobe betreten hat. In der Garderobe selbst nur die des Toten und des Garderobiers Ruffin. Ich habe ihn kommen lassen, Chef, um sie vergleichen zu können. Er ist noch hier, weil ich mir dachte, daß Sie vielleicht mit ihm sprechen möchten. Auf dem Mordwerkzeug gibt es keinerlei Spuren. Der Mörder trug Handschuhe.« »Gut«, murmelte Parker. Er kehrte in die Portierloge zurück und rief den Arzt an. »Hallo!« meldete sich der Doktor. »Ich untersuche ihn zum zweitenmal. In einer halben Stunde rufe ich Sie an. Wann, sagen Sie, konnte er frühestens sterben?« »Um einundzwanzig Uhr sechsundfünfzig.« »Dann tauge entweder ich nichts als Arzt oder 104
Sie als Detektiv, oder meine chemischen Reaktionsmittel taugen nichts.« »Und wann ist er Ihrer Meinung nach gestorben, Doktor?« »Das sage ich Ihnen in einer halben Stunde!« Am anderen Ende der Leitung fiel der Hörer auf die Gabel. »Teufel noch mal«, knurrte Parker. In kurzen Worten unterrichtete er Alex, der mit Jones plauderte, über den Verlauf des Gesprächs mit dem Arzt. Stephen Vincys Garderobe war erleuchtet wie vorhin. Alex’ erster Blick galt der Chaiselongue an der Wand. Sie war leer. Man hatte den Leichnam hinausgetragen. Stephen Vincy würde nie mehr hierher zurückkehren, sich nie wieder vor den Spiegel setzen, um sich zu schminken … »Mein Gott!« seufzte der Inspektor und ging noch einmal zur Tür. »Jones, was ist mit dem Zettel, den er in der Hand hielt?« »Das war kein Zettel …« Der Sergeant hob bedauernd die Schultern. »Es war ein weißer Briefumschlag, völlig leer, ohne Adresse.« »Keinerlei Fingerabdrücke darauf?« »Nur seine.« »Hervorragend«, brummte Parker und schloß die Tür. Er drehte sich um. Alex stand vor der offe105
nen Schublade des Toilettentisches. Der Inspektor trat neben ihn. In dem Schub befanden sich Reste von Schminkstiften in einer einfachen Holzschachtel, eine mit Puder bedeckte Hasenpfote, mit weiblichen Vornamen unterschriebene Glückwunschkärtchen vom Tag der Premiere. Parker legte sie beiseite. Außerdem Prospekte der Firma MercedesBenz und Cadillac sowie eine Menge Fotos von Stephen Vincy, bereits mit seinem Autogramm versehen. Die Unterschrift wirkte gekünstelt, in der Manier der dreißiger Jahre. Ein wenig Geld: zwölf Pfund in Banknoten und eine Silbermünze. Eine bezahlte Telefonrechnung. Eine billige Buddhafigur mit rundem Bäuchlein, wahrscheinlich ein altes Maskottchen. Die kaum erwartete Fotografie der Atombombenexplosion auf dem Bikini-Atoll, ferner Schlüssel; ein Sicherheitsschlüssel, ein gewöhnlicher, der dritte ganz klein, vom Briefkasten. »Ich schicke gleich ein paar Leute in seine Wohnung«, sagte Parker. »Sofern sich natürlich Mrs. Dodd nicht zu der Tat bekennt.« »Wer weiß, vielleicht bekennt sie sich auch dazu?« Alex stand vor dem großen Schrank, den er soeben geöffnet hatte. »Ich glaube, sie bekennt sich sogar bestimmt dazu.« »Ja. Dann können wir uns die weitere Untersuchung sparen, es sei denn, um Schuldbeweise zu 106
sammeln. Aber Vincys Wohnung kann noch ein paar Stunden warten. Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er trat näher und begann mit Alex die Taschen des Toten zu durchsuchen. Sie enthielten nur unbedeutende Kleinigkeiten und ein Blatt Papier, aus dem Notizbuch gerissen, auf dem in der Schrift des Verstorbenen lange Zahlenkolonnen standen: Kauf eines Filmstudios – 200 000 Gagen der Schauspieler und des Personals für den ersten Film – 40 000 Werbung – 20 000 Kostüme und Dekorationen – 50 000 Unvorhergesehenes – 20 000 Insgesamt: 310 000 (330 000) erforderliche Reserve – 170 000. Insgesamt: eine halbe Million! Die letzte Zahl war mehrfach mit Rotstift unterstrichen. Parker hob den Kopf und sah Alex an. »Was sagst du dazu? Der hat also in aller Ruhe auf einem Zettel berechnet, wieviel ihn ein Filmstudio kosten wird! Eine halbe Million! Kleinigkeit!« »Ich glaube, er hatte dafür eine gewisse Grundlage«, sagte Alex und sah sich in dem Zimmer um. 107
Er bückte sich und warf einen Blick in den Schrank, wo einige Paar Schuhe standen. Dann legte er sich auf den Fußboden und schaute unter den Schrank. Schließlich stand er auf und nickte vor sich hin, als wollte er sägen, daß er genau das angenommen hatte. Parker beobachtete ihn interessiert, in der Hand hielt er noch immer den Zettel mit den Berechnungen des Verstorbenen. »Was suchst du denn?« fragte er. »Im Moment nichts mehr. Ich glaube nun alles zu wissen. Natürlich könnte das auch völliger Unsinn sein, achte also nicht weiter auf mich. Du hast mich mitgenommen, weil du meintest, ich könnte dir behilflich sein. Ich werde versuchen, mit dir über alle Verdachtsmomente zu sprechen, die du vorbringst, sobald du das für richtig hältst. Aber vorläufig sind wir noch mitten im Wald. Seit unserer Ankunft hier im Theater sind gerade mal hundert Minuten vergangen. Kein Mensch verlangt von dir, den Mörder in so kurzer Zeit zu fassen. Es fehlen uns noch so viele Angaben. Du hast noch nicht das Personal vernommen. Wir waren nicht bei Mrs. Dodd. Vielleicht war sie einfach bei ihrer Schneiderin, und in der Tasche hatte sie Stoff für ein Kleid. Die Schneiderin und fünf ihrer Gehilfinnen können ihr womöglich ein so unerschütterliches Alibi verschaffen, daß alle 108
deine Kombinationen daran zerschellen. Und schließlich kann es ebensogut eine andere Dame gewesen sein. Dann muß man von neuem beginnen. Über das Mordwerkzeug wissen wir auch nicht viel. Ich denke, daß es lohnt, den Garderobier zu vernehmen. Gehört der Dolch Vincy, dann müßte ihn der Garderobier irgendwann einmal gesehen haben. Oder auch nicht, falls Vincy ihn gestern zum erstenmal mitgebracht hat. Aber woher hätte der Mörder dann den Dolch? Weshalb hat Vincy gelegen, als er den tödlichen Stoß erhielt? Und dann gibt es noch eine Frage, auf die wir, wie mir scheint, unbedingt eine Antwort finden müssen und über die ich, wie ich schon sagte, vorläufig nicht sprechen möchte, weil sie die Angelegenheit nur komplizieren würde. Was Mrs. Dodd betrifft, so habe ich da meine eigene, scheinbar nicht ganz ernst zu nehmende Konzeption, nach der sie nicht die Mörderin sein kann. Aber natürlich kann sie es sein. Ganz ausgeschlossen ist das nicht …« »Ja …« Parker nickte. Er trat an den Tisch und legte darauf das Blatt mit den Berechnungen des Toten. Dort lag bereits der Dolch, in ein weißes Leinentuch gewickelt, daneben der leere, zerknüllte Umschlag, weiß und nichtssagend. »Ja. Ich denke ähnlich …« Er zeigte Alex sein Notizbuch. Auf der letzten Seite standen in großer Schrift zwei kurze 109
Sätze: 1. Garderobier Ruffin vernehmen – Dolch! 2. Mrs. Dodd: War sie hier? Weshalb? »Selbstverständlich!« Joe nickte. »Das vor allen Dingen. Wir dürfen auch nicht vergessen, was uns Direktor Davidson erzählt hat. Vincy Wurde im Theater gehaßt. Er hat den jungen Burschen geohrfeigt, der dann mit dem Feuerwehrbeil auf ihn losgehen wollte. Er hat eine Kollegin sitzenlassen, die er vorher einem Kollegen wegnahm. Er hat ihr eine Szene gemacht, sie ordinär beschimpft. Den Garderobier hat er behandelt wie den letzten Dreck. Und wieviel Dinge wissen wir noch nicht?« »Am Ende werden wir alles erfahren.« Parker ging zur Tür. »Jones!« »Ja, Chef!« »Bring mir den Garderobier Ruffin!« »Jawohl, Chef!« Parker kehrte um und setzte sich an den Tisch. Nachdenklich blickte er auf die leere Chaiselongue, neben der der Korb mit den roten Rosen noch immer das Zimmer mit zartem, süßlichem Duft erfüllte, der ein wenig an Blutgeruch erinnerte.
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VIII. ICH WEISS, WO DIE MASKE IST
Der Garderobier Oliver Ruffin war ein kleines Männchen mit einem Gesicht, das Alex im stillen mit dem einer erschrockenen Maus verglich. Als Ruffin die Garderobe betrat, schloß er die Augen und öffnete sie mühsam. »Setzen Sie sich«, sagte Parker und wies auf einen Stuhl neben dem Tisch. Alex stand reglos an der geschlossenen Tür. Der Inspektor ging mit großen, langsamen Schritten im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen, trat an den Tisch und schlug das weiße Leinentuch auseinander. »Kennen Sie das?« fragte er, während er sich über den Sitzenden beugte und ihm in die Augen schaute. »Ob ich das kenne?« Ruffin blickte auf den Dolch, und seine Lippen begannen zu zittern. »Damit also hat man Mr. … Mr. Vincy ermordet?« »Stellen Sie mir keine Fragen, sondern beantworten Sie die meinen«, sagte Parker ruhig. »So können wir die Vernehmung schneller beenden. Ich habe gefragt, ob Sie diesen Gegenstand kennen.« 111
»Ja … Jja. Das ist der Dolch von Mr. Vincy. Er hat ihn immer im Schubkasten seines Toilettentischchens aufbewahrt … Dort drüben …« Mit einer schüchternen Bewegung wies er auf das Tischchen unter dem großen Spiegel. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Zuletzt? – Gestern, als ich die Garderobe aufräumte. Ich stelle nach jeder Aufführung die Schachtel mit der Schminke in den Schubkasten, und da hab’ ich ihn gesehen.« »Sind Sie sich sicher?« »Ganz sicher, Sir. Das ist doch kein alltäglicher Dolch, den kann man kaum verwechseln. Auf dem Griff steht geschrieben: Vergiß nicht, daß du einen Freund hast … Mein Gott!« Er schloß wieder die Augen. »Hat Mr. Vincy nie zu Ihnen oder zu jemand anderem in Ihrer Gegenwart gesagt, woher er den hat?« »Nein, Sir … Das heißt, ja, Sir. Einmal sagte er in meiner Gegenwart zu Miss Faraday, daß er ihn von einem Schulfreund bekommen hat. Er sah diesen Dolch als Talisman an, der ihm Glück brachte. Der Ärmste ahnte bestimmt nicht, daß …« »Ganz bestimmt nicht. Und nun erzählen Sie uns, Ruffin, was Sie gestern gemacht haben – von dem Moment an, wo Sie das Theater betraten, bis zu dem Moment, wo Sie es verließen.« 112
»Das gleiche wie immer, Sir … Das heißt, nicht ganz das gleiche, weil der Abend etwas anders verlief. Ich komme immer vor den Schauspielern und vergewissere mich, ob alles gesäubert und gebügelt ist. In diesem Stück bediene ich sowohl Mr. Vincy als auch Mr. Darcy, weil beide ohne Kostümwechsel spielen und Mr. Darcy nur für einen Augenblick auf die Bühne geht, ganz zum Schluß des Stückes. Sie tragen die gleichen Kostüme, sehr einfache Kostüme, man braucht sich damit nicht abzuplagen. Die Schuhe brauche ich auch nicht zu putzen, denn sie haben beide so komische Hausschuhe an. Der Regisseur hat bestimmt, daß das Kostüm halb militärische Kleidung und halb Bettlerkleidung sein soll …« Er zuckte die Achseln. »Aber dem Publikum gefällt das«, stellte er mit Verwunderung fest. Dann, als fiele ihm wieder ein, was der Inspektor von ihm wollte, fügte er hinzu: »Ich bin also gekommen und habe zuerst alles in Mr. Vincys Garderobe zurechtgelegt, danach bin ich in Mr. Darcys Garderobe gegangen und habe ebenfalls alles vorbereitet. Anschließend habe ich bei Susan Snow vorbeigeschaut, das ist die Garderobiere von Miss Faraday. Miss Faraday war schon da, denn bekanntlich kommen die Schauspielerinnen immer früher als die Schauspieler. Wahrscheinlich haben sie mehr Arbeit mit ihrem Haar. Ich bin also nicht hineingegangen, sondern habe nur eine Weile mit 113
Susan auf dem Korridor geplaudert und bin zur Portierloge gegangen. Dort habe ich mich eine Zeitlang mit Gullins unterhalten, wir sprachen über das Fußballtoto. Man möchte ja endlich mal was gewinnen, aber es ist sehr schwer, das Richtige zu treffen. Gullins möchte auch unbedingt gewinnen, denn ihm wurde schon das dritte Kind geboren. Bei uns spielt übrigens das ganze Theater, und gestern war gerade Freitag, der letzte Termin, um die Scheine abzugeben … Ich habe also in der Portierloge gesessen und auf Mr. Vincy und Mr. Darcy gewartet. Zuerst ist Mr. Vincy gekommen, ich bin ihm in die Garderobe gefolgt und habe ihm beim Ankleiden geholfen. Dann hat er mich zu Gullins geschickt und ihm ausrichten lassen, daß er auf eine Dame warte, die entweder in der Pause oder nach der Vorstellung kommt. Bei der Gelegenheit hat er mir auch gesagt, daß er mich nicht mehr braucht, ich soll mich in der Garderobe nicht mehr blicken lassen. Ich habe mich nur erkundigt, ob ich später noch die Maske abholen soll. Denn diese Masken müssen nach jeder Vorstellung in Spiritus gespült werden. Die Schauspieler schwitzen unter den Nylonmasken, deshalb muß man sie gleich durchspülen, sonst trocknet der Schweiß ein, und sie werden ganz rauh … Aber Mr. Vincy sagte …« Er hielt inne, da er sah, daß der Inspektor nicht mehr auf ihn schaute. 114
Parker hatte sich Alex zugewandt, der lächelnd an der Tür stand, in der gleichen Haltung wie vorhin. Der Inspektor nickte vor sich hin, als täte er sich selbst leid wegen seines fehlenden Scharfblicks. »Ist das die Frage, die du dir beantworten willst?« fragte er halblaut. Alex nickte wortlos, ohne daß das Lächeln von seinem Gesicht verschwand. Parker drehte sich wieder zu Ruffin. »Erzählen Sie weiter.« »Ich habe also Mr. Vincy gefragt, ob ich nach der Vorstellung kommen soll, um die Maske durchzuspülen, aber Mr. Vincy sagte, daß er das selber tun will, ich soll ihm ja nicht unter die Augen treten. Ich habe also Mr. Vincy zu Ende angekleidet, und als er seinen Auftritt hatte, ging ich in die Garderobe von Mr. Darcy, der soeben gekommen war. Mit Mr. Darcy habe ich noch weniger Arbeit, denn er zieht sein Kostüm selber an und aus. Dabei ist er schamhaft wie ein Fräulein. Ich darf nie dabeisein. So hab’ ich ihn also nur abgebürstet und ihm gesagt, daß ich heute die ganze Zeit bei ihm bleibe, weil Mr. Vincy einen Gast erwartet und allein sein möchte. Aber er sagte mir, daß er mich ebenfalls nicht braucht. Also hab’ ich nur seinen Hut auf dem Tisch zurechtgelegt, denn Mr. Darcy tritt immer in einem großen schwarzen Hut auf – als der 115
Sprecher, der nicht spricht –, und bin wieder hinausgegangen. Die Vorstellung hatte schon begonnen. Ich schaute bei Susan vorbei, und wir unterhielten uns eine Weile über die Szene zwischen Mr. Vincy und Miss Faraday, als dieser junge Inspizient mit dem Beil auf ihn losging. Er hätte ihn damals umbringen können. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, wie man so sagt.« »Und dann? Was haben Sie dann gemacht?« »Dann ging ich zu Gullins in die Portierloge und saß dort bis zur Pause und die ganze Pause hindurch, denn Mr. Vincy hatte mir verboten, bei ihm aufzutauchen, und Mr. Darcy brauchte noch nicht auf die Bühne.« »Ist in der Pause jemand ins Theater gekommen?« »Nein, Sir, nur ein Blumenbote brachte Blumen für Mr. Vincy, ich zeigte ihm also die Garderobe und kehrte zurück in die Portierloge. Wir redeten noch dies und jenes, bis Gullins’ Schwester kam, die ist aus Manchester angereist, um sich ein paar Tage lang um die Kinder zu kümmern. Ich hab’ mich davongemacht, weil ich mir dachte, daß sie sich bestimmt über ihre Familienangelegenheiten unterhalten möchten. Ich ging in Mr. Darcys Garderobe, aber der war nicht mehr da. Er sieht sich die Aufführung gern aus den Kulissen an und war deshalb früher auf die Bühne gegangen. So schaute 116
ich also noch mal bei Susan Snow vorbei, die am ganzen Leibe zitterte, denn Mr. Vincy hatte es wieder einmal nicht ausgehalten und Miss Faraday angeschnauzt, weil sie ihm aus Versehen auf der Bühne das Kostüm mit Schminke beschmiert hatte. Miss Faraday braucht in letzter Zeit nicht viel, sie ist ein einziges Nervenbündel, und so ist sie weinend in ihre Garderobe gekommen. Mr. Darcy begleitete sie, denn sie taumelte, und dann beruhigte er sie zusammen mit Susan. Er soll sehr auf Mr. Vincy geschimpft haben. Wir unterhielten uns also mit Susan Snow darüber, wie sie die ganze Pause hindurch Miss Faraday beruhigte und sie dann bis zur Bühne begleitete. Dann war die Vorstellung zu Ende, und Mr. Vincy zeigte sich nicht mehr, um sich vor den Zuschauern zu verneigen. Darüber waren alle sehr aufgebracht, aber offen sagte keiner etwas, weil das schließlich seine Sache ist. Ich stand mit Susan vor der Garderobe, und als Mr. Darcy mit Miss Faraday von der Bühne kam, wartete ich auf dem Korridor, bis er mich rief, dann hängte ich sein Kostüm weg, bürstete ihm den Anzug und half ihm in den Mantel. Mr. Darcy schminkt sich in diesem Stück etwas länger ab als Miss Faraday, weil er keine Maske trägt und das ganze Gesicht beschminkt hat. Als er damit fertig war, war auch ich soweit. Er wusch sich und klopfte an die Tür von Miss Faradays Garderobe. Miss 117
Faraday war bereits angezogen, so daß sie zusammen das Theater verließen, während ich noch eine Weile auf dem Korridor wartete, wo auch Susans Mann, Malcolm Snow, war, der bei uns den Vorhang bedient. Bei ihm stand John Knithe, der Souffleur. Anschließend gingen wir zu viert zur Spätannahmestelle, um die Toto-Scheine abzugeben, denn Susan glaubt ebenfalls fest daran, daß sie irgendwann einmal das große Los gewinnt, und so spielt sie ihren eigenen Schein und ihr Mann den seinen.« »Aus dem, was Sie sagen, geht hervor, daß Sie weder nach der Vorstellung noch in der Pause auch nur einen Augenblick lang allein waren.« Ruffin überlegte. »Ja, Sir. Nicht einen einzigen Augenblick. Das hat sich so ergeben.« »Gut. Und jetzt geben Sie mir Mr. Vincys Maske.« »Sofort, Sir.« Ruffin stand auf und ging zum Schrank. Er öffnete ihn und streckte, ohne hinzusehen, die Hand aus. Eine Weile suchte er, dann blickte er hinein. »Offenbar hat Mr. Vincy sie woandershin gelegt.« Er schaute sich um. Dann trat er an den Tisch und zog den Schubkasten heraus, stand ratlos davor. Schließlich bückte er sich. »Unter dem Schrank oder unter der Chaiselongue ist sie ebenfalls nicht«, sagte Alex. 118
»Wo ist sie dann geblieben?« fragte Ruffin. Parker öffnete schon den Mund. »Das ist unwichtig«, sagte Alex zum Erstaunen des Inspektors. Der sah seinen Freund an, aber Alex gab ihm ein kaum wahrnehmbares Zeichen mit dem Kopf. »Vorläufig sind Sie frei«, sagte Parker. »Sie können jetzt nach Hause gehen. Denken Sie daran, daß Sie bis morgen früh niemandem erzählen dürfen, was sich hier ereignet hat. Ist Ihnen das klar?« »Ja, Sir. Selbstverständlich, Sir. Gute Nacht, die Herren.« Ruffin zog sich seitlich zur Tür zurück und verschwand. Sobald die Tür ins Schloß gefallen war, drehte sich Parker auf dem Absatz um und sah Alex an. »Um Himmels willen, Joe. Ich habe mich im Augenblick dir gegenüber loyal verhalten. Es war mir nicht aufgefallen, daß die Maske fehlt. Du wußtest es von Anfang an. Aber das muß doch etwas bedeuten? Wo ist sie? Weshalb wolltest du nicht, daß ich ihn weiter befragte? Die Maske kann schließlich in der Untersuchung noch eine wichtige Rolle spielen. Wenn Vincy sie noch trug, als er hier hereinkam, und später außer dem Mörder niemand hier war, dann kann sie doch nur der Mörder mitgenommen haben. Weshalb? Und außerdem, warum wolltest du, daß ich Ruffins Ver119
nehmung abbreche? Ich glaube dir, Joe, weil du mich noch nie hinters Licht geführt hast. Aber andererseits bin ich der verantwortliche Beamte, der diesen Fall untersucht. Ich weiß noch nicht viel, das stimmt. Du machst den Eindruck, als hättest du etwas in petto. Ich will dir glauben. Am Ende kommt es nur darauf an, daß der Mörder gefaßt und seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Ich habe keinerlei persönlichen Ehrgeiz, was die Zusammenarbeit mit dir betrifft, aber …« »Aber schließlich bin ich nur ein bescheidener Beobachter, der nach einem Thema für ein Buch sucht. Und du wirst den Mörder verhaften. Du bist eine Berühmtheit in deinem Beruf, und das verdankst du doch nicht mir. Das hier ist unser gemeinsames Spiel, Ben. Aber das wissen nur wir beide. Diesmal, so scheint es mir, habe ich die Wahrheit früher erblickt als du. Erlaube mir, sie noch ein oder zwei Stunden für mich zu behalten. Du kannst schließlich ebensogut noch darauf stoßen, und ich könnte mich auch geirrt haben. Eigentlich zittere ich die ganze Zeit davor, daß ich mich irre. Die Wahrheit erscheint mir zu phantastisch, als daß ich so ohne weiteres daran glauben könntet Doch gleichzeitig …« »Gleichzeitig?« »Gleichzeitig sehe ich noch immer zwei Lösungen: ›A‹ und ›B‹ Die Maske paßt zu der Lösung ›A‹, 120
doch für eine Lösung ›B‹ sprechen ebenfalls einige Argumente, die sich mit Hilfe der Lösung ›A‹ nicht erklären lassen. Im übrigen weiß ich im Augenblick, wer der Mörder ›A‹ ist, und habe keine Ahnung, wer der Mörder ›B‹ sein könnte. Es kommt selten vor, daß die Spuren in zwei entgegengesetzte Richtungen führen.« »Und Mrs. Dodd ist weiterhin weder ›A‹ noch ›B‹?« »Weder ›A‹ noch ›B‹«, sagte Alex seufzend. »Allerdings würde ich mich nicht allzusehr wundern, wenn sich herausstellte, daß sie ihn getötet hat. An diesem Fall ist etwas Ungewöhnliches, was mir den Atem benimmt. Zuweilen spüre ich, daß mir die Fakten im Kopf durcheinandergeraten.« Parker trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. »Also gut. Sprich nicht von deinen Fakten, wenn du nicht magst. Schließlich kennst du nicht mehr als ich, weil wir uns seit unserer Ankunft nicht getrennt haben. Ich will glauben, daß dich der Himmel erleuchtete und du den Weg durch dieses Labyrinth gefunden hast. Ich jedenfalls muß zu Mrs. Dodd fahren.« »Unbedingt!« sagte Alex entschieden. »Ich glaube, daß dies für die Untersuchung sehr wichtig sein wird.« »Sollte es sich herausstellen, daß sie den Bur121
schen umgebracht hat, und vorläufig deutet der gesunde Menschenverstand auf sie und nur auf sie, obwohl du für sie ein mir nicht näher bekanntes Alibi siehst, dann wirst du mir eine Flasche erstklassigen Wein spendieren müssen. Die heutige Nacht in deiner Gesellschaft kostet mich eine Menge Nerven …« Er beendete den Satz nicht. »Und was ist mit der Maske?« fragte er gezwungen. »Ich weiß, wo die Maske ist«, murmelte Alex. »Natürlich hat sie der Mörder ›A‹ mitgenommen. Dem Mörder ›B‹ wäre sie zu nichts nütze gewesen.« »Du weißt, wo sie ist?« »Ich war nicht an dem Ort, wo sie ist, aber ich könnte meinen Kopf dafür geben, daß ich sie finde, sobald ich nur will. Finde ich sie nicht, dann kannst du mich einen Esel nennen und mich außerdem nach Hause schicken, damit ich ausschlafe.« »Vielleicht sollte ich das sofort tun?« Parker kratzte sich am Kopf. »Ich weiß, daß du bestimmt irgend etwas im Ärmel verbirgst, aber dein Geschwätz hindert mich daran, klar zu denken. Willst du mich jetzt an den Ort führen, wo sich die Maske befindet?« »Wozu? Laß sie dort ruhig liegen. Vorläufig möchte ich, daß wir an den Ort fahren, an den dich dein Pflichtgefühl seit einer halben Stunde hinzieht: zu Mrs. Angelica Dodd.« »Endlich ein vernünftiges Wort«, knurrte Parker und ging voran zur Tür. 122
IX. DER DOLCH
Das Zimmer, in dem sie Platz nahmen, um auf Mrs. Angelica Dodd zu warten, war nicht groß, aber mit vollendetem Geschmack eingerichtet. Als sich die Tür hinter dem ein wenig erschrockenen, verschlafenen Stubenmädchen schloß, blickte Parker auf die Uhr. »Kurz nach zwei«, brummte er. »Eine abscheuliche Zeit, um unschuldigen Personen Besuche abzustatten. Schon deswegen sollte sich Mrs. Dodd als die Mörderin erweisen.« »Um der Polizei zu gestatten, die guten Sitten zu wahren? Ja, das ist ein Grund.« »Ich fürchte, sie hatte noch einige andere«, entgegnete Parker leise. »Jetzt wird sie sich bestimmt eine halbe Stunde ankleiden …« Er hatte den Satz noch nicht beendet, als die Tür aufging und Mrs. Dodd eintrat. Sie trug ein einfaches dunkles Kleid sowie Strümpfe und Schuhe auf hohen Absätzen, und auch ihre Frisur zeugte davon, daß sie sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte. Alex konstatierte das ohne Verwunderung. »Womit kann ich Ihnen dienen?« fragte sie, 123
nachdem sie noch einmal einen kurzen Blick auf die Visitenkarte des Inspektors in ihrer Hand geworfen hatte. Dann hob sie rasch den Kopf. »Nehmen Sie bitte Platz, meine Herren.« Sie schien sehr beherrscht, trotzdem gewahrten die beiden Männer mit geübtem Blick eine gewisse Spannung in ihrem Benehmen. Sie setzte sich zuerst und wies mit ihrer zarten, wohlgeformten Hand auf die Stühle ihr gegenüber. Parker setzte sich schwerfällig und schwieg eine Weile, den Blick auf die Platte des Tischchens gerichtet, auf dem zwei Tonaschenbecher standen. »Es sieht so aus«, sagte er unvermittelt und sah sie voll an, »daß eine ganze Reihe von Indizien …«, er unterbrach sich wieder, seufzte dann und fuhr fort: »Ich will offen zu Ihnen sein. Vor wenigen Stunden wurde der Schauspieler Stephen Vincy in seiner Garderobe ermordet. Es gibt Indizien dafür, daß die Person, die diesen Mord hätte begehen können, sich in diesem Hause befindet. Ich möchte, daß Sie mir ohne Umschweife sagen, was Sie dazu zu sagen haben.« Angelica Dodd hielt Parkers Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Alex schien es nur, daß sie tief Luft holte, als der Inspektor den Namen des Schauspielers nannte. »Ist das alles, was Sie mir mitzuteilen haben?« fragte sie. 124
»Nein, das ist nicht alles. Die Person, deren Beschreibung und Kleidung auf Sie zutrifft, hat Vincy in dessen Garderobe ungefähr zum Zeitpunkt des Mordes aufgesucht. Der Portier hat diese Person gesehen und ist überzeugt, sie bei einer Konfrontation wiederzuerkennen. Außerdem wissen wir, daß Sie gestern abend die Aufführung der ›Stühle‹ besucht und sich dann von Ihrer Tochter und deren Verlobten verabschiedet haben, mit der Begründung, Sie hätten in der Nähe eine bestimmte Angelegenheit zu erledigen. Können Sie uns sagen, was das für eine Angelegenheit war?« »Ja, das kann ich.« Angelica Dodd nickte. »Ich hatte etwas im Theater zu erledigen.« »Was war das?« »Ich mußte Stephen Vincys Garderobe aufsuchen, weil ich ihn töten wollte.« Nach dieser ruhigen Aussäge trat Schweigen ein, das unerwartet von Alex unterbrochen wurde. »Und Sie haben ihn getötet?« fragte er. »Ja. Selbstverständlich. Deswegen war ich ja bei ihm. Auf diesen Augenblick habe ich seit langem gewartet.« Parker hob den Kopf, und Alex bemerkte seinen flüchtigen, triumphierenden Blick. »Sie geben also zu, Stephen Vincy gestern abend in seiner Garderobe im Chamber Theatre getötet 125
zu haben?« Die Stimme des Inspektors klang jetzt sehr offiziell. »Ich habe dem, was ich gesagt habe, nichts hinzuzufügen.« Angelica Dodd erhob sich, als wollte sie ihnen zu verstehen geben, daß man eine Dame wohl zum Tode verurteilen könne, sie jedoch nicht entgegen ihrem Willen ausfragen dürfe. »Augenblick bitte«, sagte Alex. »Und Sie haben ihn mit einem Dolch getötet?« »Ja … mit einem Dolch mit vergoldetem Griff, auf dem die Worte eingraviert sind: Vergiß nicht, daß du einen Freund hast.« »Und weshalb haben Sie das getan?« »Ich fürchte, das werden Sie nie erfahren, meine Herren.« »Im Gegenteil!« Alex stand ihr gegenüber und betrachtete sie ruhig. »Ich weiß es bereits. Stephen Vincy hat Sie erpreßt und Sie gezwungen, die Aufführung der ›Stühle‹ zu besuchen, um bei dieser Gelegenheit eine gewisse Transaktion zu erledigen. Sie erklärten sich einverstanden, ihn in der Pause oder nach der Vorstellung aufzusuchen, um ihm Schmuck und Geld auszuhändigen, das er unverzüglich von Ihnen verlangte, andernfalls drohte er, Ihrer Tochter zu schaden. Deshalb hatten Sie eine so große Tasche bei sich. In diese kleinen Theatertäschchen paßt ja nichts 126
hinein außer Opernglas und Taschentuch. So war es doch, nicht wahr?« Angelica Dodd sah ihn mit vor Erstaunen geweiteten Augen an. Doch sie antwortete nicht. »Das war übrigens seit Beginn der Untersuchung klar.« Alex schnippte leicht mit den Fingern. »Mich interessiert etwas anderes: Wann haben Sie die Inschrift auf dem Dolch lesen können?« »Die habe ich schon hundertmal gelesen …« Mrs. Dodd hatte ihre Ruhe zurückgewonnen. »Ich kenne diesen Dolch auswendig.« »Haben Sie ihn dem Schubfach entnommen?« Wieder sah sie ihn verwundert an, nickte jedoch sogleich. »Ja. Dem Schubfach im Schreibtisch meines Mannes.« »Was?« rief Parker, doch Alex hob mit einer beschwichtigenden Geste die Hand. »Könnten Sie uns die Stelle zeigen, an der der Dolch gelegen hat?« »Ja … natürlich … Mein Mann bewahrte ihn zusammen mit verschiedenen Kleinigkeiten auf, wie sie jeder Mann besitzt. Er befand sich hier, in diesem Schreibtisch.« »Wo genau?« Mrs. Dodd zuckte noch einmal leicht mit den Schultern, dann ging sie zu dem Schreibtisch und 127
zog das mittlere Schubfach heraus. »Hier lag er, ganz oben …« Sie streckte den Arm aus und folgte dann unwillkürlich der Bewegung ihrer Hand mit dem Blick. Eine Weile stand sie wie versteinert. Dann schwankte sie. Parker sprang hinzu und stützte sie. »Sie ist ohnmächtig geworden, glaube ich …«, sagte er und blickte in das Schubfach. Auch er erstarrte. Alex trat hinzu und nickte verständnisvoll. In dem Schubkasten lag ein Dolch, genau der gleiche Dolch, mit dem man Stephen Vincys Brust durchbohrt hatte.
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X. ANNE DODDS ELTERN
Alex schaute sich um, nahm eine Karaffe vom Tisch, goß Wasser in ein Glas und hielt es Mrs. Dodd an die Lippen, die im selben Moment die Augen öffnete. Sie machte sich aus Parkers stützendem Arm frei und ging schwankenden Schritts zu einem Stuhl. Dann setzte sie sich und verbarg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern begannen zu beben, und sie weinte still vor sich hin. Parker sah Alex über den Kopf der schluchzenden Frau hinweg an. In seinen Augen lag so viel Ratlosigkeit und so großes Erstaunen, daß Joe kaum merklich lächelte. Er überließ Mrs. Dodd ihren Tränen, trat zu dem offenen Schubkasten und entnahm ihm den Dolch. Parker gesellte sich zu ihm. »Sie sind völlig gleich«, flüsterte er. Plötzlich fuhren beide herum. In der offenen Tür stand ein leicht ergrauter, nicht sehr großer und schmächtiger Mann im Pyjama, über den er einen Morgenrock gezogen hatte. »Was geht hier vor?« fragte er ruhig. »Sind Sie Einbrecher?« 129
»Im Gegenteil.« Parker trat auf ihn zu. »Ich bin Inspektor des Scotland Yard, und dieser Herr ist mein Mitarbeiter. Wir haben Sie im Zusammenhang mit dem Mord aufgesucht, der an dem Schauspieler Stephen Vincy verübt wurde.« »Was?« sagte der Mann im Morgenrock. »Stephen ist tot?« Er stützte sich mit der Hand am Türrahmen. Einen Augenblick lang fürchtete Alex, er könnte ohnmächtig werden wie vorhin seine Frau. Doch Sir Thomas Dodd beherrschte sich. In sehr gerader Haltung trat er ins Zimmer und schloß hinter sich die Tür. Erst jetzt, da er sich im Lichtschein befand, sahen die beiden Besucher, wie bleich er war. Außerdem mußte er wirklich sehr krank sein, denn seine Haut war erdfahl, und die Augen glänzten etwas fiebrig. Angelica Dodd hob den Kopf, wischte rasch die Tränen fort und erhob sich. »Weshalb bist du aufgestanden, Tom? Du sollst doch deine Ruhe nicht unterbrechen!« Sie sprang auf, lief zu ihm und geleitete ihn zu einem Stuhl. Doch Sir Thomas schob ihren Arm behutsam beiseite, setzte sich selbst und bedachte sie mit einem Lächeln. »Du weißt doch, daß das unwichtig ist«, murmelte er. Dann blickte er zu Alex hinüber, der noch immer den Dolch in der Hand hielt. »Und weshalb haben Sie das aus meinem Schubfach geholt?« 130
»Meine Herrschaften …« Parker zögerte. »Es tut mir leid, daß ich weiterhin hier in meiner offiziellen Funktion auftreten muß, aber leider wurde ja der Mord verübt, und wir müssen die Wahrheit erfahren. Ihre Frau hat soeben zugegeben, Stephen Vincy ermordet zu haben …« »Das ist doch absurd!« unterbrach ihn Sir Thomas und gebot mit einer befehlenden Geste Schweigen. »Hast du etwas Ähnliches gesagt, Liebling? Falls dieser Mensch lügt, setze ich mich sofort mit dem zuständigen Staatssekretär in Verbindung …« »Der Herr spricht die Wahrheit. Ich habe es gesagt.« »Wie bitte?« Das Gesicht des berühmten Archäologen wurde noch bleicher. »Wieso denn? Weshalb?« »Weil … weil …« »Sie widerrufen also Ihre Aussage von vorhin?« fragte Parker. »Ja, ich widerrufe sie.« Sie wischte die letzte Spur einer Träne mit dem Taschentuch fort. In diesem Augenblick schien sie wieder völlig beherrscht. »Also gut …« Parker zog ebenfalls sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Es tut mir leid, Sir. Ich weiß, daß Sie erst kürzlich operiert wurden und daß Ihr Gesundheitszustand nicht der beste ist. Ich möchte nicht mitten in der Nacht diese gespenstische Szene in die Länge ziehen. 131
Aber hier gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die uns Ihre Frau Gemahlin erläutern muß. Aus ihren Worten geht unzweideutig hervor, daß sie am Tatort war. Sie nannte mir sogar das Mordwerkzeug. Dann wollte sie uns den Ort zeigen, dem sie den Dolch entnommen hatte, und zeigte uns in der Tat einen völlig gleichen Dolch. Dabei ist sie ohnmächtig geworden. Ich möchte, daß Sie sich dessen bewußt werden, daß ich die ganze Wahrheit erfahren muß, andernfalls bin ich zu meinem größten Bedauern gezwungen, Sie, Madam, unter Mordverdacht zu verhaften. Dann berichtet morgen die gesamte englische Presse darüber, bringt auf den ersten Seiten halbspaltige Fotos von Ihnen und zieht Ihre Familie durch den Schmutz. Wenn Sie also nicht Stephen Vincy getötet haben und eine Chance sehen, dies zu beweisen, dann bitte ich Sie zu sprechen. Ich bitte, mir auch zu sagen, wieso sich in Ihrem Besitz der gleiche Dolch befindet, mit dem Vincy ermordet wurde und den er schon seit Jahren besaß. Ich bitte Sie, mir zu sagen, was sich in der prallgefüllten Handtasche befand, mit der Sie in Vincys Garderobe gingen, und wieso Sie überhaupt dorthin gingen, diese Tatsache jedoch vor Ihrer Tochter und dem künftigen Schwiegersohn verbargen? Ich möchte die ganze Wahrheit wissen, und es ist meine Pflicht, sie um jeden Preis zu erlangen. Nur 132
wenn ich die Wahrheit kenne, werde ich den Mörder finden. Wollen Sie uns nun die ganze Wahrheit sagen, oder ist es Ihnen lieber, daß diese Wahrheit etwas später sowieso ans Tageslicht kommt, allerdings in Verbindung mit einem Riesenskandal; denn der Mord an einem Schauspieler wie Vincy wird sicherlich großes Aufsehen erregen und keine geringe Sensation für die Zeitungen darstellen …« »Ich will es Ihnen erzählen«, sagte Sir Thomas Dodd leise. »Tom!« rief seine Frau. »Diese Leute haben kein Recht. Niemand darf …« »Ich fürchte, meine Liebe, daß sie am Ende doch die Wahrheit erfahren …« Ihr Mann hob bedauernd die Schultern. »Schließlich gibt es Daten, Dokumente … Wenn die Polizei erst einmal anfängt nachzuforschen, bekommt sie schließlich alles heraus. Und du möchtest doch wohl nicht gerade jetzt des Mordes angeklagt werden?« Er wies auf den Dolch, den Alex in der Hand hielt, und sagte leise, mit einem warmen Lächeln: »Mein armes, dummes Kindchen. Dabei hätte es doch genügt, mich zu fragen …« »Darf ich Ihre Worte dahingehend verstehen, daß Sie eine Aussage machen möchten?« Parker setzte sich und schlug sein Notizbuch auf. »Eine Aussage?« Sir Thomas sah ihn freundlich 133
an und lächelte etwas nachsichtig. »Vor zwei Monaten wurde ich am Arm operiert, Krebs … Nach dieser Operation sollte ich wenigstens für ein Jahr Ruhe haben. Doch seit einigen Tagen verspüre ich wieder Schmerzen …« »Tom! Warum hast du mir nichts davon erzählt?« In den Augen seiner Frau gewahrten Parker und Alex stummes Entsetzen. Sie sahen, daß sie die Lippen zusammenpreßte. »Ach, das ist doch halb so schlimm«, sagte sie fast heiter. »Bestimmt sind es noch die Folgen jener Operation. Es kommt schon vor, daß man noch Schmerzen hat, die dann schließlich ganz verschwinden.« »Nein, meine Liebe. Als ihr im Theater wart, habe ich George Amstrong angerufen und ihn gefragt, ob er mich empfangen kann.« Er sah Parker an. »Amstrong ist einer unserer besten Fachärzte für Geschwulstkrankheiten. Er hat mich operiert.« Parker nickte schweigend. »Aber wir sind vom Thema abgewichen«, sagte Sir Thomas. »Sie fragten mich, ob ich eine Aussage machen möchte. Um zehn Uhr erklärte mir mein Freund, Doktor Amstrong, ich würde … gesund werden. Als ich jedoch darauf bestand, die Wahrheit zu erfahren, und ihm sagte, daß jeder Mensch die Chance haben müsse, sich auf die letzte Reise vorzubereiten, und ihm außerdem erklärte, daß meine persönlichen und beruflichen Angelegenheiten von mir das volle Bewußt134
sein meiner Lage erfordern, änderte er ein wenig seine Meinung. Er sagte es nicht geradeheraus, stellte jedoch fest, daß man bei einer Krebserkrankung immer auf alles gefaßt sein müsse. Außerdem kenne ich diesen Schmerz, so daß mich niemand betrügen kann …« Seine Frau schloß die Augen. Er strich ihr übers Haar und richtete sich im Stuhl auf. »Siehst du, meine Liebe, ich habe nun vielleicht ein etwas anderes Verhältnis zum Leben als vorher. Ich weiß, weshalb du dich zu der Tat bekannt hast. Als du in seine Garderobe kamst und den Dolch erblicktest, dachtest du, ich hätte ihn getötet. Deswegen hast du dich dazu bekannt, als diese Herren hierherkamen. Mein dummes, tapferes Kindchen. Dabei war dein Opfer völlig unnötig.« »War es so?« fragte Parker. Mrs. Dodd nickte wortlos. »Darf ich fragen, weshalb Ihre Frau sofort glaubte, Sie hätten ihn getötet? Unter vielen anderen Fragen, auf die wir noch keine Antwort erhalten haben, würde mich auch diese sehr interessieren.« »Ich glaube nicht, daß sich jede dieser Fragen einzeln beantworten läßt«, sagte Sir Thomas mit ruhiger, müder Stimme. »Sie müssen entweder die ganze Wahrheit erfahren oder gar nichts. In dieser Situation wird sie sich nicht verheimlichen lassen …« Er sah seine Frau an. »Ich möchte nur hinzufügen, daß mit dieser 135
Geschichte die Ehre zweier Frauen und die eines Mannes verknüpft ist, außerdem das Glück meiner ganzen Familie und ihre Zukunft. Können Sie mir die Gewähr absoluter Diskretion geben, wenn ich mich bereit erkläre, Ihnen zu erzählen, was außer Stephen Vincy kein Mensch weiß?« »Ich war Offizier der Luftstreitkräfte Seiner Königlichen Majestät und bin Polizeioffizier unseres Königreiches«, sagte Parker. »Mein hier anwesender Mitarbeiter war ebenfalls Offizier der Luftstreitkräfte während des Krieges, er ist Träger höchster Auszeichnungen, vor allem aber ein englischer Gentleman. Trotzdem kann ich ihnen nicht mehr versprechen, als daß niemand jemals auch nur ein Wort von dem erfährt, was zwischen uns hier verhandelt werden wird, sofern Mrs. Dodd unschuldig ist. Andernfalls bin ich verpflichtet, die Rechtsformel zu wiederholen: ›Sie sind des Mordes an Stephen Vincy verdächtig, und ich mache Sie im Namen des Gesetzes darauf aufmerksam, daß von diesem Augenblick an jedes von Ihnen gesprochene Wort gegen Sie verwendet werden kann. Außerdem mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie keinerlei Aussagen zu machen brauchen, ehe Sie sich nicht mit Ihrem Rechtsberater verständigt haben …‹« Er hob bedauernd die Hände. »Ich trete im Namen des Gesetzes auf, Sir. In dieser Situation kann ich nichts weiter hinzufügen.« 136
»Das genügt.« Sir Thomas neigte leicht den Kopf. »Ich muß Ihnen vertrauen und freue mich, daß Sie mir gerade mit diesen Worten geantwortet haben. Das war aufrichtig.« Er sah seine Frau an. »Vielleicht möchtest du dich lieber hinlegen, Liebes?« Parker hob erstaunt die Brauen, doch Mrs. Dodd kam ihm zuvor. »Nein. Ich bleibe. Wenn wir schon durch das hindurch müssen, dann wollen wir es gemeinsam tun.« »Gut.« Sir Thomas neigte abermals den Kopf. »Damit Sie, meine Herren, verstehen, was heute nacht geschah, müssen wir uns um mehr als zwanzig Jahre zurückversetzen. Ich war Stephen Vincys Schulfreund …« Er dachte kurz nach. »Ich war nicht nur sein Schulfreund, sondern sein Freund überhaupt. Wir waren unzertrennlich. Am stärksten verband uns die gemeinsame Liebe zum Theater. Gemeinsam besuchten wir alle Aufführungen, gemeinsam gründeten wir einen dramatischen Zirkel an der Schule, dessen Stützen wir beide waren. Das mag Ihnen vielleicht komisch vorkommen, aber ich besaß angeblich großes schauspielerisches Talent. Nach Beendigung der Schule ging ich nach Oxford, denn mein Vater, der Archäologe war, wollte nichts davon hören, daß ich auf der Bühne auftrete. Abgesehen davon, interessierte mich auch die Archäolo137
gie seit meiner Kindheit. Unser Haus lebte das Leben früherer Jahrhunderte, es gab darin eine Fülle von Schalen, Statuetten und Geräten, die ich unter der Anleitung meines Vaters verstehen und lieben lernte. Vincy hingegen bemühte sich um ein Engagement an einem Theater. Als wir uns damals trennten, bestellten wir jene zwei Dolche. Da war sicherlich viel jugendliche Romantik dabei, aber es sollte bedeuten, daß jeder von uns immer im Leben auf die Freundschaft des anderen bauen könne. Stephen gelang es, irgendwo in der Provinz unterzukommen; später, als ich Oxford beendete, befand er sich zwar in London, aber es ging ihm nicht sonderlich gut. Er besuchte mich damals häufig. Nach dem Tode meines Vaters erbte ich dieses Haus und ein kleines Vermögen in bar. Stephen wohnte eine Zeitlang bei mir, ich fütterte ihn durch, wenn er kein Geld hatte (und er hatte selten welches), und bemühte mich, unsere Freundschaft aufrechtzuerhalten, so gut ich konnte. Das war so bis zu dem Augenblick, da ich Angelica Crawford kennenlernte, das Mädchen, in das ich mich verliebte und das ich heiraten wollte; sie liebte mich ebenfalls. Damals geschah etwas, was einen Schatten auf unser ganzes Leben warf, einen Schatten, der in diesem Augenblick auch dieses Zimmer erfüllt. Natürlich machte ich die beiden miteinander bekannt, in dem Glauben, daß mein einziger Freund und mein einziges 138
Mädchen ebenfalls Freunde werden würden. So geschah es auch. Es geschah sogar mehr. Eines Tages schrieb mir Angelica einen kurzen Brief, dessen Inhalt mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Sie verließ mich, um zu Stephen zu gehen. Ich ertrug es, denn ich mußte es ertragen. Stephen war schon etwas früher von mir fortgezogen. Ich suchte ihn nicht mehr. Außerdem wurde sein Name rasch bekannt. Es verging ein halbes Jahr, dann ein ganzes. Eines Tages hatte ich im Süden von England zu tun. Wir waren mit Ausgrabungen an einem Druidenhügel beschäftigt, in der Nähe eines Städtchens, in dem die Mitglieder der Expedition wohnten. Dort traf ich Angelica. Wir begegneten uns auf der Straße. Sie wollte vorbeigehen. Ich hielt sie an. Ich wußte noch nichts und fragte nach Stephen … Da erfuhr ich die Wahrheit. Sie wohnte mit ihrem Kind, einem kleinen, zwei Monate alten Mädchen, bei ihrer alten Tante, der sie erzählt hatte, sie sei Witwe; ihr Mann sei kurz nach der Trauung bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich ging mit ihr. Da standen wir also über der Wiege dieses Kindes und sahen uns an. Ich liebte sie noch immer. Ich glaube, daß auch sie mich liebte, selbst damals. Aber wir schauten auf uns wie die Überlebenden eines Sturms, der Haus und Hoffnungen davongetragen hat. Und zwischen uns lag dieses kleine, schlafende Kind. Ihr Kind und das Stephen Vincys, der sie ver139
lassen hatte, ohne sich darum zu kümmern, was aus ihr und seinem Töchterchen geworden war. Geheiratet hatte er sie natürlich nicht. Sein Ruhm wuchs damals. Wozu sollte er sich mit einer Familie belasten? Später heirateten wir. Ich brach gerade zu einer Expedition nach Ägypten auf. Dort verbrachte ich zwei Jahre. Angelica und die Kleine fuhren mit einem anderen Schiff. Trauen ließen wir uns in Kairo, fast heimlich. Später richtete ich es so ein, daß Anne Papiere erhielt, die anderthalb Jahre vordatiert waren. So ohne weiteres läßt es sich ja nicht feststellen, ob ein Mädchen drei oder viereinhalb Jahre alt ist. Der Aufenthalt in Ägypten war uns dabei eine Hilfe. Kein Mensch merkte etwas. Ich war damals ein junger, unbekannter wissenschaftlicher Mitarbeiter, für mein Leben interessierte sich niemand. Dafür reiste ich viel in der Welt umher, und kein Mensch hatte einen Grund anzunehmen, daß Anne nicht mein Kind sei. Die Jahre vergingen, fast zwanzig Jahre. Und erst jetzt, als ein Cousin meines Vaters starb und ein so großes Vermögen hinterließ, meldete sich Vincy. Er kannte die Wahrheit, obwohl sie ihm gleichgültig gewesen war. Er begegnete einmal Angelica auf der Straße und fragte mit fröhlichem Lächeln, wie es ihr gehe. Vielleicht hat sie einen Fehler gemacht, aber sie sagte ihm die ganze Wahrheit und behandelte ihn wie einen Nichtsnutz, der er ja auch war. Vincy versuchte ihr etwas zu er140
klären, doch sie drehte sich um und ging davon. Ich denke, daß er sich darüber gefreut hat. Seit jenem Augenblick verging vielleicht ein Dutzend Jahre oder mehr. Vor einer Woche rief er Angelica an und verlangte sie zu sehen. Als sie ablehnte, drohte er, alles aufzudecken. Anne hat natürlich keine Ahnung, daß sie seine … daß sie mit ihm verwandt ist. Ich bin ihr Vater, und Gott ist mein Zeuge, daß niemand mehr als ich diese Bezeichnung verdient hat. Angelica erzählte mir von Vincys Anruf. Wir überlegten, was zu tun sei. Es war offenkundig, daß die Pressenotiz über Annes Erbschaft diese verspäteten väterlichen Gefühle in ihm geweckt hatte. Doch Vincy befand sich in einer außerordentlich günstigen Situation. Erstens konnte er die ganze Angelegenheit ausposaunen und damit ein großes Unglück über unsere Familie bringen, denn ich glaube, daß dies für das Mädchen ein großer Schock wäre, um so mehr, wenn sich herausstellte, daß ihr Vater ein so niederträchtiger Schurke ist. Zum anderen hat ihr Großonkel in seinem Testament die Einschränkung gemacht, daß ihn nur direkte und nicht angeheiratete Verwandte beerben können. Als meine Tochter ist Anne seine Verwandte, als Vincys Tochter ist sie es selbstverständlich nicht. Eine schreckliche Ironie des Schicksals: Jetzt, wo ihr das Glück so unwahrscheinlich zulächelte, erschien plötzlich wieder das Gespenst, das einst an ihrer Wiege gestanden und ihr 141
Leben zu vernichten gedroht hatte. Im übrigen liebt Anne sehr den jungen Cresswell, der ebenfalls bis über beide Ohren in sie verliebt zu sein scheint. Zum Glück verhielt es sich schon so, ehe sie die Erbschaft bekam. Hätte Vincy diese Geschichte an die große Glocke gehängt, dann wäre Cresswell womöglich zu ihm gefahren und hätte ihn geohrfeigt, aber seiner konservativen Familie gegenüber hätte er sich in einer komplizierten Situation befunden. Er ist der Sohn eines Lords, und Anne hätte plötzlich als das uneheliche Kind eines Schauspielers dagestanden … Es war einfach entsetzlich. Vincy rief regelmäßig zweimal täglich an. Am Ende entschlossen wir uns nachzugeben. Was bedeutet schon Geld im Vergleich zu dem Unglück, das über uns hereinbrechen konnte. Hinzu kommt, daß ich schwer krank bin, so war der Gedanke, Anne könnte eines Tages fast mittellos dastehen und sich gesellschaftlich in einer so mißlichen Lage befinden, noch dazu belastet mit so traurigen Erfahrungen am Anfang einer vielversprechenden Jugend, für uns unerträglich. Vor drei Tagen erhielt Anne die Erbjuwelen im Werte von einer halben Million Pfund. Es handelt sich um eine prächtige Kollektion Brillanten. Sie stellt natürlich nur einen Teil des Vermögens dar, aber ich hatte den Eindruck, daß Vincy sich mit einer nicht gar so großen Summe zufriedengeben würde. Angelica traf sich mit ihm in ei142
nem Café. Zynisch erklärte er ihr, er sehe nicht den geringsten Grund, weshalb seine Tochter die unrechtmäßige Erbin eines solchen Vermögens werden sollte, ohne mit ihrem alternden Vater zu teilen. Angelica sagte ihm, daß achtzig Prozent des Vermögens in Bergwerken und Immobilien angelegt seien, Bargeld gebe es nicht viel. Vincy erklärte, er wolle eine halbe Million, die ihm den Weg zu wirklichem Ruhm auf dieser Welt ebnen würde, wo sich ohne Geld kein Talent über das Mittelmaß der Meinungen beschränkter Kritiker erheben könne. Wenn er eine halbe Million erhalte, sei er bereit, nie zu Anne über seine Rechte ihr gegenüber zu sprechen. Angelica war einverstanden, aber sie sagte, daß das eine Weile dauern werde. Daraufhin zog Vincy eine Zeitung aus der Tasche und sagte, er sei bereit, einige Wochen auf das Bargeld zu warten, doch nur dann, wenn er als Pfand jene Juwelen erhalte. Ihm würde sie niemand stehlen, weil niemand auch nur. annehmen könne, daß sich etwas Ähnliches in seinem Besitz befinde. Die Juwelen waren von Anne im Banksafe auf meinen Namen hinterlegt worden. Ich habe sie mir herausgeben lassen. Um den Schein zu wahren, sollte Angelica heute zusammen mit Anne und Charles ins Theater gehen. Hinterher wollte sie ihm die Tasche mit den Juwelen in die Theatergarderobe bringen. Er bestand darauf, daß dies in der Theatergarderobe geschehe. Vielleicht 143
hatte ihn der Wert der Juwelen ein wenig benommen gemacht, und ihm wurde nun klar, welch ein Vermögen sie darstellten, aber vielleicht fürchtete er auch, Angelica könnte versuchen, ihn zu überlisten. Jedenfalls bestand er darauf, und sie mußte wieder nachgeben. Gestern abend fuhr sie mit den jungen Leuten ins Theater, danach trennte sie sich von ihnen unter dem Vorwand, sie habe in der Nähe noch etwas zu erledigen, und ging in Vincys Garderobe … Mehr weiß ich nicht. Als ich um elf Uhr nach Hause kam, war sie schon in ihrem Zimmer und sagte mir nur: ›Ich habe Kopfschmerzen. Morgen erzähle ich dir alles …‹« Er wandte sich seiner Frau zu, die während der Erzählung reglos dagesessen hatte, mit steinernem, bleichem Gesicht. »Alles übrige müßtest du berichten, Liebes.« »Ich habe nicht viel zu sagen …« Sie holte tief Luft. »Ich fühlte mich die ganze Zeit nicht sehr wohl. Außerdem … außerdem hat mich dieses Stück ein wenig aus der Fassung gebracht. Meine Vergangenheit, alles, was gewesen ist, stand wieder vor mir, als er den Alten spielte. Mir kamen die Tränen. Doch das ging vorüber. Im zweiten Akt spürte ich nicht mehr diesen Kontakt zu ihm. Er spielte rationaler, und das half mir. Ich umklammerte die Tasche, die zu meinem Kleid etwas komisch wirkte und die mit kostbaren, in 144
Leinenläppchen gewickelten Brillantkolliers ausgestopft war. Doch die waren mir völlig gleichgültig. Ich wollte das hinter mir haben und endlich wieder zu Hause sein. Außerdem … außerdem … hegte ich weiterhin meine Befürchtungen. Ich glaubte ihm nicht. Ich glaubte nicht, daß er es dabei bewenden ließe. Ich fürchtete, er könnte sich betrinken und dann alles ausplappern, oder er würde einfach überall herumerzählen, daß Anne seine Tochter sei … Im stillen hörte ich ihn sagen: ›Diese Anne Dodd … Ach, das ist mein Töchterchen … Die hat mir von ihrem Vermögenchen ein halbes Milliönchen gegeben …‹ Er verkleinerte gern die Wörter …« Sie verbarg das Gesicht in den Händen, faßte sich aber sofort wieder. »Dann betrat ich die Garderobe und sah, daß Vincy auf der Chaiselongue lag. Das war merkwürdig, denn die Tür zu seiner Garderobe war von außer verschlossen, und ich mußte den Schlüssel herumdrehen, um eintreten zu können. Aber schließlich ging es nicht an, daß ich auf dem Korridor wartete, wo mir jemand begegnen konnte, vielleicht ein Bekannter. Er bewegte sich nicht. Ich begriff noch nicht. Ich schloß hinter mir die Tür und trat näher. Da sah ich, daß in seiner Brust ein Dolch mit vergoldetem Griff steckte …«
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XL DIE ÄUSSERSTE GRENZE DER TATZEIT
»… ein Dolch, wie Sie ihn schon so oft zu Hause gesehen hatten. Sie wußten nicht, daß die etwas exaltierten jungen Leute zwei völlig gleiche Dolche anfertigen und die Worte, die an ihre Freundschaft erinnerten, eingravieren ließen. Diese Dolche überlebten jene Freundschaft um viele Jahre«, fuhr Alex unverhofft fort, »doch das wußten Sie nicht. Sie dachten sich nur, aber vielleicht dachten Sie es gar nicht, sondern Ihr Instinkt schlug Alarm und rief Ihnen zu, daß Ihr Mann vor Ihnen hier gewesen sei und Vincy getötet habe. Was taten Sie dann? Sind Sie sofort hinausgerannt?« fragte er und beantwortete sich die Frage selbst. »Kaum. Schließlich sind Sie auch Mutter, nicht nur Ehefrau. Fieberhaft begannen Sie nach dem zu suchen, weswegen Sie hergekommen waren, das heißt nach Ihren eigenen Briefen, nach den Briefen, in denen Sie ihm mitgeteilt hatten, daß Sie ein Kind erwarteten. Vielleicht hatten Sie ihm auch gleich nach der Geburt des Kindes geschrieben. Vielleicht schien es Ihnen damals, daß ohne Rücksicht darauf, was geschehen war, der Mann von dieser Tatsache erfahren sollte, 146
weil ihm das die letzte Chance gab, seine Ehre zu retten. Sie wollten einfach, daß er sich als besser erweise, als er war. Das ist verständlich. Selbst wenn Sie Ihren Irrtum begriffen hatten. Vor Jahren hatten Sie sich beim Schreiben des Briefes von demselben Instinkt leiten lassen, der Ihnen jetzt befahl, die Garderobe des Toten zu durchsuchen. Ich verstehe Sie. Aber Sie fanden die Briefe nicht, nicht wahr?« Zu Parkers Verwunderung antwortete Angelica Dodd leise: »Nein, ich fand sie nicht, aber woher wissen Sie das?« »Eine einfache Schlußfolgerung.« Alex nickte mehrmals. »Vincy hätte Sie nicht so schamlos erpressen können, ohne einen einzigen Beweis in der Hand zu haben. Und was wäre ein besserer Beweis als Briefe, von Ihrer Hand geschrieben? Als Sie die Briefe nicht fanden, verließen Sie das Theater und fuhren mit einem Taxi nach Hause. Das ist alles, nicht wahr? Ihr Mann war noch nicht zu Hause, also täuschten Sie Kopfschmerzen vor; Sie fürchteten eine Begegnung mit ihm, weil Sie glaubten, er habe Vincy getötet. Noch hofften Sie, daß es niemand erfahren würde. Doch als wir dann kamen, beschlossen Sie, daß der Mann, den Sie lieben, der Ihr Kind liebt, vielleicht mehr, als wenn es einfache 147
Blutsbande wären, der Ihnen so viel geopfert und ein Leben lang so viel Gutes für Sie getan hat, für diesen Akt äußerster Notwehr nicht büßen sollte. Deshalb sagten Sie: ›Ich habe ihn getötet!‹ Und waren bereit, alle sich daraus ergebenden Konsequenzen zu tragen. Ihr Mann ist krank. Die Vorstellung, daß ihn eine lange, anstrengende Untersuchung erwartete, der Gedanke an die Erniedrigung während der Gerichtsverhandlung, wo alles an den Tag kommen würde, war Ihnen unerträglich. Lieber hätten Sie sich etwas ausgedacht über sich und Vincy, um dem Vater die Tochter und der Tochter den Vater zu erhalten … Vielleicht haben Sie das alles auch nicht so präzise gedacht. Sie wußten nur, daß – sollte die Polizei kommen – Sie bereit waren, die Verantwortung zu übernehmen für all das, wofür Sie in gewisser Weise vor Jahren der Anlaß gewesen waren. Und dann haben Sie im Schubfach den Dolch erblickt … Sie begriffen plötzlich, daß nicht Ihr Mann getötet hatte, und zogen die Aussage zurück. Das entspricht doch wohl der Wahrheit, nicht wahr?« Angelica Dodd nickte stumm. Ihr Mann verbarg das Gesicht in den Händen. »Mein Liebes …«, flüsterte er kaum vernehmlich. »Es tut mir leid …« Alex erhob sich. »Es tut mir so sehr leid, daß ich das alles erwähnen mußte. 148
Aber die Wahrheit muß festgestellt werden, und es gibt keinen anderen Weg, als sie auszusprechen.« Er sah Parker an. Der Inspektor schloß sein Notizbuch und stand ebenfalls auf. Man sah ihm an, daß er mit sich kämpfte. »Leider«, sagte er. »Leider …« Ein Blick zu Alex. Joe stand völlig reglos, doch seine Äugen gaben ihm ein kaum wahrnehmbares verneinendes Zeichen. »Leider«, Parker atmete erleichtert auf, als hätte er die Lösung der ihn quälenden Frage gefunden, »bin ich nur Polizeibeamter, und obwohl ich Ihnen glauben möchte, so war doch Mrs. Dodd die letzte Person, die den Toten gesehen hat, ja, selbst in Ihrer beider Erzählung gibt es gewisse belastende Indizien …« Alex räusperte sich laut. »Ich bin also leider gezwungen«, schloß Parker rasch, »vor Ihrem Hause einen Polizisten in Zivil zu postieren, während Mrs. Dodd in der nächsten Zeit auf keinen Fall die Wohnung verlassen darf … bis zu dem Augenblick, da wir Sie von der Aufhebung dieser Anordnung benachrichtigen. Ich hoffe, daß die Angelegenheit in nächster Zeit geklärt wird. Das ist alles, was ich im Moment für Sie tun kann.« Sir Thomas Dodd erhob sich und streckte ihm 149
die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen«, sagte er herzlich. »Ich verstehe, daß Sie mit Ihrem ritterlichen Verhalten in gewisser Hinsicht gegen die bestehenden Vorschriften verstoßen haben. Aber ich versichere Ihnen, daß … daß …«, er stockte, »daß Sie ein echter Gentleman sind.« Parker errötete und zog sich rasch in die Diele zurück. Als sie sich auf der Straße befanden, ging er zum Wagen und rief den Detektiv Stephens heraus. »Ich habe Sie mitgenommen, Stephens, damit der Mörder verhaftet und abtransportiert wird. Leider werden Sie jetzt eine halbe Stunde hier vor dem Hause stehen müssen, bis ein Agent aus der Zentrale Sie ablöst. Dieses Haus darf nicht verlassen werden von Mrs. Angelica Dodd, einer zierlichen, dunkelhaarigen Frau im Alter von fünfundvierzig Jahren. Sollte das Haus einen Hintereingang haben, so daß sie in eine andere Straße entkommt, dann machen Sie sich nichts daraus. Wir sperren an ihrer Stelle Mr. Joe Alex ein, den naivsten Menschen unter der Sonne!« »Jawohl, Chef!« sagte der Detektiv Stephens und lächelte Alex zu. Dann nahm er seinen Spaziergang vor dem Haus auf. Der Wagen setzte sich in Bewegung. »Du wirst es nicht bereuen«, murmelte Alex. »Ich habe es nur deshalb getan, weil aus deinem ganzen Verhalten hervorgeht, daß du den Mörder 150
schon auf der Gabelspitze hast. Deine Kenntnisse überraschen mich. Aber du weißt nicht alles. So weißt du zum Beispiel nicht, wohin wir jetzt fahren!« »Vermutlich zu Doktor George Amstrong, dem bekannten Facharzt für Geschwulstkrankheiten«, flüsterte Joe. »Oder irre ich mich?« Parker öffnete den Mund, schloß ihn wieder und sagte dann halblaut: »Großer, allmächtiger, unsterblicher Gott!« Er beugte sich zu dem Fahrer vor: »Columbus Street vier!« rief er ihm fast wütend zu. Der verschlafene Doktor Amstrong führte sein Besucherbuch sehr genau. In der letzten Zeile stand die Eintragung: Sir Thomas Dodd, Besuchszeit 9.20 Uhr bis 10.45 Uhr abends, und dann eine Reihe lateinischer Wörter. »Führen Sie das Besucherbuch Ihrer Patienten immer genau auf die Minute?« fragte Parker erstaunt. »Ja«, antwortete der Arzt. »Mich interessiert das Problem der Rationalität der Untersuchungen. Ich schreibe sogar eine Fachbroschüre darüber. Mir scheint nämlich, daß die Ärzte zuviel Zeit einfach vergeuden. Diese Angaben helfen mir festzustellen, wie lange bei mir die Untersuchungen bestimmter Erkrankungen dauern.« »Und wie ist es um die Gesundheit von Sir Thomas Dodd bestellt?« 151
»Ihnen kann ich ja mit Rücksicht auf Ihr Amt die ganze Wahrheit sagen. Aber ich denke, daß die Natur sie ohnehin in Kürze an den Tag bringt. Ich halte Sir Thomas’ Zustand für hoffnungslos. Nach der Operation hatte ich noch eine gewisse Hoffnung. Jetzt gibt es bereits Neubildungen. In einigen Tagen kann eine massive Verschlechterung des Zustandes eintreten. Und wenn nicht in einigen Tagen, dann in einigen Wochen. Die Frage ist nur, wie schnell das neue Gewebe wuchert. Ich fürchte, in Dodds Fall wird das unerhört schnell vonstatten gehen. Er ist heute in seinem Wagen zu mir gekommen. Ich hatte ihm das schon vor längerer Zeit verboten. Immerhin könnte er einen Schwächeanfall bekommen. Womöglich haben die Metastasen bereits auf das Hirn übergegriffen. Unter diesen Umständen darf man nicht mit dem Leben spielen, zumal es nicht nur das eigene ist, sondern zum Beispiel auch das von Passanten. Ich habe ihn nach Hause gebracht …« Parker bedankte sich, und sie gingen. Auf der Straße schlug sich der Inspektor mit der Hand vor die Stirn. »Wozu bin ich überhaupt hergekommen?« sagte er. »Dodd kann ihn doch gar nicht getötet haben. Wenn er ab neun Uhr zwanzig beim Arzt war, hat er ein hundertprozentiges Alibi. Und außerdem: Er hat doch das Chamber Theatre überhaupt nicht 152
betreten! Der Portier hat alle Hereinkommenden gesehen, und auf einem anderen Wege konnte er das Gebäude nicht betreten. Ich muß doch verrückt sein!« »Der größte Kummer mit euch Berufskriminologen ist der, daß ihr es nicht lassen könnt, die Glaubwürdigkeit aller Beteiligten zu überprüfen. Ihr wollt unbedingt jemanden bei einer Lüge ertappen. Dabei muß man den Mörder immer über das Motiv suchen. Dort, wo es einen Ermordeten gibt, muß auch derjenige sein, der ihn ermordet hat. Und der muß einen Grund haben, um zu morden. Haben mehrere Personen einen Grund hierfür, dann muß man diejenige Person finden, die die Tat so ausführen konnte, wie sie ausgeführt wurde, und unter den Umständen, unter denen sie erfolgt ist. Sollte es durch irgendein Wunder zwei solcher Personen geben, dann wird es immer gelingen, eine zu eliminieren. Darüber denke ich nämlich gerade nach. Ich habe zwei Mörder, und getötet konnte schließlich nur einer haben. Aber ich weiß nicht, welcher.« »Und wie hast du zum Beispiel Mrs. Dodd eliminiert?« fragte Parker ohne Ironie. »Du imponierst mir heute, Alter. Mein Polizeigewissen will dir nicht glauben, aber ich selbst, privat, neige allmählich zu der Annahme, daß du im Verlaufe dieser …«, er schaute auf die Uhr, »knapp drei Stun153
den eine ganze Menge entdeckt hast. Beantworte mir jedoch die Frage nach Mrs. Dodd.« »Ich schäme mich fast«, flüsterte Alex. »Mein Argument ist so unernst, daß ich bereit bin, umzukehren und sie zu verhaften.« »Nein!« sagte Parker. »Entkommen kann sie mir schließlich nicht. Selbst wenn du dich irrst und sie dem dort postierten Stephens entkommt, wird die Polizei sie finden. Darüber mache ich mir keine Gedanken. Sprich!« »Von ihrer Unschuld überzeugte mich die Tatsache, daß Vincy auf dem Rücken liegend getötet wurde.« »Was ist schon dabei? Töten Frauen etwa nicht Männer, die auf dem Rücken liegen? Ich könnte ein Dutzend Beispiele anführen …« »Einverstanden, aber nicht diese Frau, nicht diesen Mann, vor allem aber nicht unter diesen Umständen.« »Und weshalb?« »Hier betreten wir schon das Reich der Phantasie, nichtsdestoweniger ist sie für mich so maßgebend, als wäre ich dabeigewesen, es sei denn, du kannst meinen Gedankengang widerlegen. Stell dir also folgende Situation vor: Du bist Stephen Vincy und erwartest die Frau, die dir Juwelen aushändigen will, welche den phantastischen Wert von einer halben Million Pfund Sterling haben. Du 154
weißt, daß sie einen solchen Wert besitzen, du weißt, daß diese Frau kommt. Mit ihrem Kommen verbindest du aus verständlichen Gründen alle Hoffnungen für eine radikale Veränderung deines Schicksals. Und nun? Würdest du, selbst wenn du imstande wärst, dich für einen Augenblick hinzulegen und nicht ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen, würdest du, falls du dich wirklich hingelegt hast, bei ihrem Eintritt nicht aufstehen? Könntest du dich überhaupt während ihres kurzen Aufenthalts hinlegen, während du in der Hand eine Tasche voller Schätze hast? Legt sich jemand, der mit einem so unwahrscheinlichen Abenteuer konfrontiert wird, plötzlich rücklings auf die Chaiselongue? Eigens deswegen, damit diejenige, die die Juwelen gebracht hat, hinter seinem Rücken den Schubkasten öffnen und den Dolch herausnehmen kann, von dessen Existenz sie nichts wußte? Nein. Vincy konnte unter diesen Umständen nicht liegen. Angelica Dodd hingegen ist eine so zierliche und körperlich eine so ausgesprochen schwache Frau, daß man kaum annehmen kann, sie hätte ihm mit solcher Kraft die Brust durchbohren, ihn auf die Chaiselongue legen und einen Selbstmord vortäuschen können. Außerdem sagt ja wohl die medizinische Analyse, daß er liegend gestorben ist, nicht wahr? Nein, mein Lieber, obwohl ein solches Argument vielleicht belanglos erscheint und ein 155
Gericht lange darüber debattieren würde, so bin ich doch psychologisch in hohem Maße gerechtfertigt. Millionen nimmt man nicht im Liegen entgegen, noch dazu in der Garderobe, in aller Eile, wenn die Person, die sie gebracht hat, gleich wieder gehen will. Vor allem hätte Vincy die Tasche geöffnet und ihren Inhalt überprüft, ehe er ihr die Briefe gegeben hätte. Und dann hätte Angelica Dodd keinen Grund gehabt zu bleiben, während er sich aufs Ohr legte. Wozu sollte er auch? Es war doch schon nach der Vorstellung. Er konnte nach Hause gehen. Er hatte eine halbe Million bei sich! Und er hätte längst abgeschminkt und angekleidet sein müssen! Seitdem er die Bühne verlassen hatte, waren zwanzig Minuten vergangen, denn Mrs. Dodd war ein Viertel nach zehn gekommen, und er war kurz vor zehn abgetreten. Hast du eine Antwort darauf?« Parker nickte. »Du hast recht. Das läßt sich schwer beantworten. Aber hast du eine Antwort darauf?« »Ich sage dir ja, ich habe zwei. Einer der beiden, die ich verdächtige, muß Vincy getötet haben. Die Vernehmungen können natürlich meine Ansicht noch radikal ändern. Die Untersuchung kann etwas zutage fördern, was wir noch nicht wissen, was wir nicht voraussehen konnten. Aber nach allem, was ich bisher gesehen habe, drängen sich zwei 156
Lösungen auf, entweder ›A‹ oder ›B‹. Mrs. Dodd schließe ich aus. Der Detektiv Stephens vergeudet seine Zeit vor ihrem Haus. Aber lassen wir den Detektiv Stephens. Was beabsichtigst du jetzt zu tun?« »Ich möchte das gesamte Theaterpersonal vernehmen, und dann wollen wir weitersehen«, brummte Parker. »Ehrlich gesagt, bin ich heute so froh wie noch nie, daß ich dich zur Zusammenarbeit mit uns eingeladen habe. Ich sehe in diesem Fall nicht ganz durch. Aber schließlich sind noch keine drei Stunden vergangen. Du hast recht, kein Mensch verlangt, daß ein Mörder innerhalb weniger Stunden gefaßt wird.« Eine Weile schwiegen sie. Der Wagen raste durch die leeren Straßen. »Ja …« Joe Alex schloß die Augen. »Das ist ein ungewöhnlicher Fall. Eines ist mir immer noch nicht klar …« »Was?« »Zuweilen habe ich den Eindruck, als hätten ihn zwei Leute, unabhängig voneinander, ermordet. Ich habe es noch nie erlebt, daß die Spuren in zwei entgegengesetzte Richtungen führen. Da benehmen sich zwei Menschen so, als hätten sie ihn ermordet und wollten hinter sich die Spuren verwischen. Aber weshalb? Weshalb? Es gab doch nur einen Mörder, und er hat allein gehandelt.« »Ich will gleich tot umfallen«, knurrte Parker »ich will tot umfallen und ohne Begräbnis ver157
scharrt werden, wenn ich hier wenigstens einen Mörder sehe …« »Du wirst ihn sehen«, flüsterte Alex verträumt. Plötzlich fuhr er auf seinem Sitz hoch. »Was ist denn eigentlich mit der Tatzeit? Der Doktor kann doch unmöglich so lange brauchen, um das festzustellen. Offenbar stimmt da was nicht. Du wirst sehen, das Untersuchungsergebnis wird eine Sensation sein.« »Meinst du?« »Ich bin überzeugt. Die Haare werden uns zu Berge stehen, wenn wir erfahren, wann Vincy wirklich gestorben ist. Aber gewinnen wir dadurch Klarheit, wer ihn getötet hat? Ich fürchte, nein …« »Wunderbar!« sagte Parker. »Großartig! Ausgezeichnet! Ich bin richtig gerührt von deinem Optimismus. Ich mag nämlich fröhliche, heitere Jungs!« »Ben …«, sagte Alex leise. »Was ist?« »Wenn du mit dem Doktor sprichst, fragst du ihn mal, so für alle Fälle, ob Vincy von einem Linkshänder ermordet worden sein könnte?« »Was sagst du da?« Parker sah ihn kopfschüttelnd an. Doch Alex bemerkte zu seiner Verwunderung, daß der Inspektor breit lächelte. »Joe, ich fühle mich hilflos wie ein Kind, aber ich beginne zu begreifen. Ich beginne zu begreifen, Joe!« 158
»Dann bist du in einer glücklicheren Situation als ich. Ich habe noch nicht begriffen.« Der Inspektor rieb sich die Hände und pfiff leise durch die Zähne. »Ja«, sagte er halb zu sich selbst, halb zu dem Freund. »Das ist mir durch den Kopf gegangen, als wir mit Davidson sprachen, doch dann habe ich es wieder vergessen. Ich habe zu sehr an Mrs. Dodd gedacht. Der Fall schien mir so klar zu sein …« »Klar?« Alex öffnete die Augen und sah ihn an. Er war sehr ernst in diesem Moment. »Für mich ist hier überhaupt noch nichts klar, obwohl ich manchmal glaube, alles zu wissen, absolut alles.« Der Wagen hielt. Parker sprang hinaus wie ein fünfzehnjähriger Junge, lief in die Portierloge und griff zum Apparat. »Sind Sie es, Doktor? Ja … Ja … Was? Ja … Das befreit natürlich von jedem Verdacht eine äußerst sympathische Dame, der ich im Grunde meines Herzens nur das Allerbeste wünschte. Andererseits kompliziert es die Angelegenheit. Sagen Sie Doktor, hätte er auch von einem Linkshänder ermordet werden können? Wie bitte? Nein … Sie schließen es aus … Ja, danke … Gute Nacht, Doktor.« Er ließ den Hörer sinken und sah Alex an, der in der Tür stand und eine Gold Flake anzündete, die er einem prallen Lederetui entnommen hatte. »Weißt du, was er gesagt hat, Joe?« 159
»Er hat gesagt, daß ein Linkshänder den Mord nicht ausführen konnte. Und was ist mit der Tatzeit?« »Er hat wörtlich gesagt: ›Der Mord wurde zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr ausgeführt. Diese Zeit wurde auf keinen Fall überschritten.‹ Seiner Meinung nach geschah der Mord viel früher, aber er müsse sich den Tatsachen beugen. Er sagte: ›Ich werde vor jedem Gericht als Sachverständiger auftreten und unter Eid aussagen, daß jemand, der angeklagt wird, diesen Mord auch nur eine Minute nach dieser Zeit Verübt zu haben, unschuldig ist!‹ Vincy wurde mit der fechten Hand ermordet. Darauf weisen der Wundwinkel und die Ränderzeichnung hin. Du weißt sicherlich, daß beim Zustoßen eine bestimmte Spezifik existiert …« »Ich weiß.« Alex nickte. »Das vereinfacht vieles. Jedenfalls kannst du einen Wagen schicken, der den Detektiv Stephens abholt, und Mrs. Dodd anrufen, daß sie vom Hausarrest befreit ist. Um zehn Uhr abends saß sie zwei Yard von mir entfernt im Zuschauerraum.« Parker tat dies sofort, und als er den Hörer auflegte, war ihm die Erleichterung anzusehen. »Ganz gleich, wer der Mörder ist – ich freue mich, daß es nicht diese arme Frau ist, die in ihrem Leben genug durchgemacht hat, und zwar durch 160
die Schuld dieses Toten. Jetzt möchte ich Direktor Davidson wecken, falls er eingeschlafen ist, und mich eine Weile mit ihm über die Leute unterhalten, die wir vernehmen werden. Das wird es uns einfacher machen, die richtigen Fragen zu stellen.« »Ich glaube, der Gedanke ist nicht schlecht«, sagte Alex und nickte. »Gehen wir!« Parker öffnete die Tür der Portierloge. Wieder liefen sie durch den Korridor, vorbei an der Tür von Stephen Vincys Garderobe, die noch immer hell erleuchtet war.
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XII. ZWEITES GESPRÄCH MIT DIREKTOR DAVIDSON
Auf dem Korridor stießen sie auf Sergeant Jones, der inmitten der Aufschriften RUHE! gleichmäßig auf und ab schritt und dabei laut und falsch »Que sera, sera« vor sich hin pfiff. »Jones!« »Ja, Chef?« »Du machst mir in deutlicher Handschrift eine Aufstellung des gesamten Personals. In einer Viertelstunde möchte ich hier Henry Darcy sehen – und dann, der Reihe nach, die übrigen. Zum Schluß bringt ihr Eve Faraday. Ich möchte nicht, daß sie sich sehen. Es gibt hier genügend freie Räume. Teilt alle so auf, daß sie sich nicht sprechen können und daß diejenigen, die schon verhört worden sind, den anderen nicht erzählen können, wovon die Rede war.« »Jawohl, Chef!« Jones entfernte sich in Richtung der Portierloge. Der am Ende des Korridors, am Treppenaufgang stehende Polizist nahm Haltung an, als Parker bei ihm stehenblieb. 162
»Ist Direktor Davidson heruntergekommen?« »Nein, Inspektor.« »Und ist jemand zu ihm hinaufgegangen?« »Auch nicht, Inspektor. Außer unseren Leuten läuft niemand im Hause herum.« »Gut.« Sie gingen die Treppe hinauf. Auf ihr Klopfen antwortete Davidson sofort: »Herein!« Man sah ihm an, daß er sich weder hingelegt noch ein Auge zugetan hatte. Er saß am Tisch unter der Lampe und las. »Ein Kriminalroman!« sagte er seufzend und legte das Buch resigniert beiseite. »Ich konnte nicht einschlafen. Wissen Sie schon etwas?« Parker nickte. »Ja, wir wissen schon eine ganze Menge. Aber leider wissen wir noch nicht, wer Stephen Vincy umgebracht hat. Deshalb möchten wir gern noch einmal Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehmen. Vielleicht könnten Sie uns kurz erzählen, was Sie über die Mitglieder Ihres Ensembles, auch des technischen Personals, wissen, die sich gestern zur Tatzeit im Theater aufhielten.« »Ich fürchte, daß ich über das technische Personal kaum etwas werde sagen können. Für diese Angelegenheiten habe ich einen Leiter, der dieses Personal engagiert und entläßt, ebenso wie die Leute in der Schneider-, Tischler- und Malerwerk163
statt. Soll ich ihn rufen?« »Nein. Vorläufig nicht. Aber über die Schauspieler können Sie uns doch etwas sagen, nicht wahr?« Davidson überlegte eine Weile. »Die einzigen Personen, über die ich etwas sagen kann, sind Henry Darcy, Eve Faraday und der Inspizient, Jack Sawyer. Die anderen kenne ich kaum.« »Gut. Dann erzählen Sie uns doch bitte etwas über sie. Nicht vom Standpunkt der Untersuchung aus, sondern allgemein.« »Schön. Also Darcy … Der Junge hat einen komplizierten Weg hinter sich, und er hat viel durchgemacht. Geboren ist er im Zirkus, in der Familie eines Zauberkünstlers und Stimmenimitators. Mit der Arena hat er schon als siebenjähriger Junge Bekanntschaft geschlossen. Wie üblich in solchen Familien, trat er zunächst mit Vater und Mutter auf. Das Zirkuswissen geht dort vom Vater auf den Sohn über. Er soll sehr begabt gewesen sein. Als sein Vater starb, verließ er den Zirkus und trat als Imitator und Taschenspieler in Music-Halls auf. Er war sehr intelligent, offenbar las er damals schon viel, sonst wäre er jetzt, mit fünfunddreißig Jahren, nicht so gebildet. Als der Krieg ausbrach, ging er zur Armee und wurde schwer verwundet. Man schickte ihn als Invaliden aus dem Lazarett in Indien in die Heimat zurück. Er hat mir mal 164
davon erzählt. Wie er sagt, hat er Tag und Nacht gelesen und sich gebildet, weil er Theaterregisseur werden wollte. Die Verwundung an der Front und seine Begabung, die man offenbar erkannte, ebneten ihm gleich nach dem Kriege den Weg zur Theaterschule. Er war dort sehr beliebt. Die Leute, die ihn damals unterrichteten, aber auch seine Mitschüler, berichten nur Gutes über ihn. Ich glaube auch nicht, daß er sich seitdem geändert hat. Er ist ungewöhnlich begabt. Meiner Meinung nach ist er der interessanteste Regisseur unserer jüngeren Generation. Er ist unaufhörlich auf der Suche, entwickelt auf dem Hintergrund der Stücke seine eigenen, originellen Konzeptionen, und die Theaterwelt gibt sehr viel auf seine Meinung. Er ist zuletzt in Mode gekommen, und die Inszenierung der ›Stühle‹ brachte ihm einen großen, von der ganzen Kritik bestätigten Erfolg. Selbst der konservative Teil der Theateröffentlichkeit muß anerkennen, daß es an dieser Aufführung geniale Züge gibt. Was noch? Über die Geschichte mit Eve Faraday habe ich bereits berichtet. Er hat sie kennengelernt, als man ihn zu einer Begegnung mit der Laiengruppe einer Spinnerei in der Provinz einlud. Er fuhr hin. und war von dem Talent eines der Mädchen richtiggehend benommen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und hieß Eve Faraday. Das ist übrigens ihr richtiger Name. Darcy hat aus ihr eine Schauspiele165
rin gemacht. Ich glaube, er liebt sie sehr. Die Geschichte mit Vincy war für ihn ein schwerer Schlag. Ich war jeden Tag während der Proben hier und hatte fast täglich mit ihm die verschiedensten Besprechungen, die die Vorbereitungen zur Premiere betrafen. Ich habe gesehen, wieviel ihn das kostete. Aber er bewahrte absolute Ruhe. Er ist ein unerhört beherrschter Mensch. Nerven scheint er überhaupt nicht zu haben. Ich habe nie erlebt, daß er einen Schauspieler angefahren hätte. Dabei passiert das häufig genug. Ich habe bei ihm auch nie etwas von Hysterie bemerkt, die doch unter Theaterleuten so verbreitet ist …« Er verstummte und blickte nachdenklich vor sich hin. Offenbar hatte er über Darcy alles gesagt, was er für wesentlich hielt. »Wie ist die Inszenierung der ›Stühle‹ eigentlich vonstatten gegangen?« fragte Alex scheinbar gleichgültig, doch Parker, der ihn gut kannte, hob die Brauen und sah ihn interessiert an. »Wie meinen Sie das?« Davidson begriff nicht. »Nun, hatte er schon eine fertige Konzeption vor Beginn der Proben, oder nahm er während der Vorbereitungen zur Premiere noch Veränderungen vor?« »Ja … Einiges hat er geändert. Zunächst wollte er das Stück ohne Pause spielen, denn Ionesco hat es ja als Einakter geschrieben. Doch dann kam er zu 166
dem Schluß, daß zwei Schauspieler es nicht schaffen, die notwendige Anzahl von Stühlen auf die Bühne zu tragen, so daß er beschloß, das Stück an einer bestimmten Stelle zu unterbrechen und den Zuschauern eine Ruhepause zu gönnen. Unterdessen stellt das technische Personal auf der Bühne zweihundert oder dreihundert Stühle auf, die phantastische Schluchten und Korridore bilden. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit Vincy.. Vincy wollte um nichts in der Welt mit einer Maske spielen. Es handelt sich um dünne Nylonmasken, die eng am Gesicht anliegen, eine Mimik des Schauspielers jedoch unmöglich machen. Henry erklärte ihm geduldig und hartnäckig, daß schon im alten Griechenland die Schauspieler des Aischylos, Euripides und anderer in Masken spielten. Schließlich versprach er ihm, daß ihm diese Aufführung, obwohl man sein Gesicht nicht sehe, große, hervorragende Kritiken einbringen würde. Vincy glaubte es ihm. Und das trat dann auch ein.« »Und weshalb hat er die Rolle des Sprechers selber übernommen, statt sie einem der Schauspieler zu übertragen?« »Ihm lag sehr viel an dieser Aufführung, und so war er der Meinung, daß die Anwesenheit des Regisseurs bei jeder Vorstellung dazu beitragen würde, die Schauspieler im Zaume zu halten. Sie wissen ja, wie die Schauspieler beim zehnten- oder 167
zwölftenmal ›sich freispielen‹! Sie verändern Gesten und Stimme, und die Vorstellung platzt aus allen Nähten. Henry Darcy ist ein Anhänger jener Richtung, die die absolute Unterordnung des Schauspielers unter die allgemeine Regiekonzeption propagiert.« »Ich wüßte gern, weshalb der Sprecher ohne Maske auftritt«, sagte Alex. »Das hat natürlich nichts mit dieser Untersuchung zu tun, aber die Frage habe ich mir schon während der Vorstellung gestellt.« »Danach habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, der Sprecher sei doch kein anderer als der Alte selbst, das heißt das, was von dem Alten übrigbleiben würde. Der Alte glaubt daran, daß das, was von ihm bleibt, den Sinn seines Lebens erklären könnte. Deshalb ist der Sprecher genauso gekleidet wie der Alte. Nur eine Maske trägt er nicht, er braucht sie nicht mehr. Er ist ja nicht der Alte, sondern die Idee, der Schatten, der vom Gedanken des Menschen übriggeblieben ist. Deshalb trägt er den großen, samtenen Hut der Künstler der Boheme. Es zeigt sich jedoch, daß jener Schatten des menschlichen Gedankens keinerlei Kontakt zu denen hat, die zurückgeblieben sind. Er stammelt und tritt ab.« »Ja …« Alex nickte. »Ich verstehe.« »Und Eve Faraday?« sagte Parker. »Hält sie ihn auch für einen so begabten Mann?« 168
»Ganz bestimmt. Sie glaubt an ihn wie an den lieben Gott. Ich meine, daß dies für beide eine schreckliche Tragödie war. Sie, hat ihn ebenfalls sehr geliebt, und vielleicht liebt sie ihn noch immer. Ich denke schon. Und er sie auch. Solche Menschen wie Darcy hören nicht auf, die Frau zu lieben, die sie im Stich gelassen hat. Sie können mir glauben. Ich weiß nicht, was dieser Vincy an sich hatte, daß er sie weggeblasen hat wie eine Kerze, noch ehe sie zur Besinnung kommen konnte. Wahrscheinlich wußte sie selbst nicht, wie ihr geschah. Doch in diesem Menschen war etwas, dem kaum eine Frau widerstehen konnte. Sein Zauber war unerbittlich. Eve ist ein begabtes Mädchen, bescheiden in ihrem Auftreten, still, intelligent. Das sind Eigenschaften, wie man sie selten bei aufsteigenden Theater- oder Filmstars findet. Ich wünsche ihr und ihm das Beste. Was dabei herauskommt, wird das Schicksal zeigen.« »Dann wäre uns nur noch Jack Sawyer geblieben.« »Hier kann ich mich kurz fassen. Jack Sawyer ist der Sohn meines Schulfreundes. Er studiert Medizin. Ich habe ihm Arbeit am Theater verschafft, weil sein Vater verstorben ist und der Junge seine hinfällige Mutter unterhalten muß. Gleichzeitig versetzt ihn das in die Lage, sein Studium zu beenden. Soweit es geht, achten wir darauf, daß die Ar169
beit am Theater in den Vormittagsstunden nicht mit seinen Vorlesungen kollidiert. Darcy verehrt er. Er ist auch sehr anstellig. Inspizient zu sein ist gar nicht so einfach, wie es scheint. Über seine Auseinandersetzung mit Vincy wissen Sie ja wohl Bescheid?« »Ja.« Parker stand auf. »Haben Sie vielen Dank, Herr Direktor. Sollte ich Sie noch einmal in Anspruch nehmen müssen, so gestatten Sie doch wohl, daß ich vorbeikomme?« »Selbstverständlich. Ich bin Junggeselle. Allein würde ich es in dieser Nacht zu Hause nicht aushalten. Ich bleibe hier. Schlafen kann ich ohnehin nicht. Und gleich am frühen Morgen muß ich mich nach einem Vertreter für Vincy umsehen. Und dann die Reporter! Ich mag gar nicht daran denken!« »Ich ebenso!« Parker ging zur Tür. »Vielleicht versuchen Sie doch einzuschlafen? Müßte ich nicht arbeiten, ich schliefe jetzt wie ein Murmeltier.« Er lächelte und ging hinaus. Alex folgte ihm stumm wie ein treuer, unzertrennlicher Schatten.
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XIII. FRAGE NUR KEINEN VON IHNEN NACH DER MASKE!
Parker setzte sich in der Garderobe des Ermordeten an den Tisch und las mit halblauter Stimme die Liste der Personen vor, die sich während der Vorstellung oder danach im Theater aufgehalten hatten. 1. Stephen Vincy – Schauspieler 2. Henry Darcy – Regisseur 3. Eve Faraday – Schauspielerin 4. Jack Sawyer – Inspizient 5. Richard Caruthers – Elektriker 6. Malcolm Snow – verantwortlich für Vorhang 7. Oliver Ruffin – Garderobier 8. Simon Formes – Feuerwehrmann 9. William Gullins – Portier 10. John Knithe – Souffleur 11. Susan Snow – Garderobiere Mit seinem Füllhalter ergänzte er: 12. Angelica Dodd – (hat ein Alibi) gekommen 22.15 Uhr. »Außerdem zwei Bühnenarbeiter, die nach der 171
Pause, nachdem sie die Stühle aufgestellt hatten, nach Hause gingen. Ihre Namen lauten Stanley Higgins und Joshua Braddon. Ich schreibe sie für alle Fälle mit auf.« »Sind das alle?« fragte Alex. »Ausnahmslos alle.« »In Ordnung.« Alex lächelte kaum merklich, wurde aber sofort wieder ernst. »Weshalb lachst du?« fragte Parker. »Willst du etwas sagen?« »Nein. Überhaupt nichts. Vielleicht nur, daß du keinen der Verhörten nach Vincys Maske fragst.« »Nein? Warum nicht?« »Tu das für mich. In einer Stunde sage ich dir alles über sie. Zumindest hoffe ich das.« Parker zögerte. »Einverstanden«, murmelte er endlich. »Heute herrschst du. Erweise dich als großer und kluger Herrscher.« »Ich will versuchen«, erwiderte Alex bescheiden, »mir die Anerkennung der Polizeikräfte Ihrer Königlichen Majestät zu verdienen. Sollte ich jedoch einen Mißerfolg erleben, dann versinke ich wohl vor Scham in den Boden.« »Nun dann versuchen wir es eben ohne Wunder, dafür jedoch ruhig und mit Bedacht«, sagte der Inspektor. »Aber fangen wir in Gottes Namen an. Jones!« 172
»Ja, Chef?« Der runde, à la Gérard Philipe geschorene Kopf des Sergeanten erschien im Türspalt. »Bitte Mr. Henry Darcy zu mir.« »Jawohl, Chef!« Wenig später betrat Henry Darcy das Zimmer. Er war hochgewachsen, noch jung, und man hätte ihn schön nennen können, wäre nicht die allzu hohe Stirn gewesen, die stark vorgewölbt war und ein wenig zuviel Platz einnahm, wodurch die Proportion des Schädelbaus gestört wurde. Alex sah ihn zum erstenmal, rechnete man nicht die Episode auf der Bühne, wo ein Teil seines Gesichts unter dem Rand des großen schwarzen Hutes verschwand. Er bemerkte, daß Darcy sich ruhig, fast gleichgültig in der Garderobe umsah und daß sein Blick auch auf der Chaiselongue nicht länger verweilte. »Bitte, setzen Sie sich.« Parker wies auf einen Stuhl. »Sie wissen sicherlich schon, wer wir sind. Ich untersuche den Mord, der an einem Ihrer Kollegen, Stephen Vincy, verübt wurde. Haben Sie uns in dieser Angelegenheit etwas mitzuteilen?« Darcy schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Sir.« Das war alles. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme. »Haben Sie nichts Ungewöhnliches bemerkt, vielleicht während der Vorstellung oder auch später?« 173
»Nein.« »Hm …« Parker überlegte. »Vielleicht beschreiben Sie uns dann so genau wie möglich jede Minute, die Sie gestern abend im Chamber Theatre verbracht haben.« »Selbstverständlich. Ins Theater bin ich wenige Minuten vor Beginn der Vorstellung gekommen. Da ich gegen Ende des zweiten Aufzuges auftrete und eigentlich die Vorstellung abschließe, brauchte ich mich nicht zu beeilen. Andererseits wollte ich während der ganzen Vorstellung im Theater anwesend sein. Im Ensemble hat es gewisse Auseinandersetzungen gegeben … zwischen Miss Faraday und dem Verstorbenen, Stephen Vincy. Da die beiden die Hauptrollen spielten, die einzigen Rollen eigentlich, wollte ich lieber an Ort und Stelle sein, um nötigenfalls weiteren Mißverständnissen vorzubeugen, die zweifellos die Aufführung beeinträchtigt hätten.« »War das der einzige Grund?« fragte Parker ruhig. »Nein. Es war der ›amtliche‹ Grund, wenn ich das so bezeichnen darf. Der ›private‹ Grund war der Wunsch, Eve Faraday vor Vincys Flegeleien zu bewahren. Er war ein Feigling, und da ich ihm angedroht hatte, ihm den Hals umzudrehen, falls er sie noch einmal beleidigt, durfte ich damit rechnen, daß meine Anwesenheit ihn davon abhält.« 174
»Sie haben also gedroht, ihn umzubringen, nur weil er sich Miss Faraday gegenüber unhöflich geäußert hat?« »Ja.« »Um Himmels willen – warum denn nur?« »Nicht deshalb, weil ich ihn töten wollte. Ich glaube nicht, daß ich überhaupt einen Menschen töten könnte … nicht einmal Vincy, der nach meiner Überzeugung keinen Pfifferling wert war. Ich meine, daß niemand das Recht hat, einen anderen Menschen zu töten, unter keinem Vorwand, außer in äußerster Notwehr, wenn es ums Überleben geht. Aber natürlich auch dann nur mehr zufällig. Die Absicht eines Mordes dürfte im Kopfe keines anständigen Menschen existieren, denn ein Mord tilgt nie ein Unrecht, er ist im Gegenteil ein Angriff auf die ganze Menschheit, auf all das, was ihren eigentlichen Sinn ausmacht. Ich halte selbst die amtliche Todesstrafe für ein Verbrechen.« »Bravo!« sagte Alex halblaut. Darcy blickte rasch zu ihm hinüber; da er jedoch sah, daß Alex nicht spottete, neigte er gleichsam dankend den Kopf. »Aber danach hatten Sie mich ja nicht gefragt. Ich habe so mit ihm gesprochen, weil, wie ich schon sagte, Vincy ein Feigling war und ich auf jeden Fall erreichen wollte, daß er die Person, die mir sehr nahesteht, nicht mehr verletzte. Ich liebe 175
Eve Faraday, und das sollte mich entschuldigen.« »Gut …« Parker nickte wieder. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Sprechen Sie bitte weiter.« »Ich zog das Kostüm an und schminkte mich schon vor Beginn der Vorstellung, um später den Kopf frei zu haben. Als die Vorstellung begann, stellte ich mich in die Kulissen und schaute zu. Mir fiel auf, daß Vincy nervös war, zwei- oder dreimal ›verschluckte‹ er einige Sätze des Textes, was die Zuschauer nicht bemerkten, denn er ist ein erfahrener Schauspieler und weiß sich in solchen Augenblicken zu helfen. Doch mir war klar, daß er erregt war, deshalb wich ich nicht von meinem Platz, in der Befürchtung, daß etwas geschehen könnte. Und wirklich, in dem Moment, wo die Alte, also Eve, den Alten umarmt und sich an ihn schmiegt, bemerkte ich, daß er sie fast von sich stieß und ihr dann, als sie die Stühle aufstellten, ein paar Worte zuflüsterte. Auch das konnten die Zuschauer nicht wahrnehmen, aber ich, der ich in diesem Stück jedes Beben in der Stimme kenne, merkte sofort, daß Eve aufgewühlt war. Als der erste Aufzug beendet war und endlich der Vorhang fiel, machte Vincy auf dem Absatz kehrt und verschwand in den Kulissen, während sich Eve, wankend und weinend, die Maske vom Gesicht riß. Ich lief zu ihr und führte sie in ihre Garderobe. Es stellte sich heraus, daß sie ihm das Kostüm mit 176
Schminke beschmutzt hatte …« Darcy hielt inne und überlegte kurz. »Ja …«, fügte er hinzu. »Ich führte sie in ihre Garderobe und versuchte gemeinsam mit der Garderobiere, sie zu beruhigen. Sie bekam einen Weinkrampf und konnte sich gar nicht beruhigen. Bei Schauspielerinnen verlaufen solche Sachen sehr dramatisch, weil während der Vorstellung die Nerven ohnehin gespannt sind. Dann klopfte ein Arbeiter an die Tür, den der Inspizient geschickt hatte. Bei der Aufstellung der Stühle war ihnen ein Fehler unterlaufen. Ich begab mich gemeinsam mit dem Arbeiter auf die Bühne und blieb dort einige Minuten. Dann ging ich quer über die Bühne zu der Tür, die Vincys Garderobe gegenüberliegt. Dort begegnete mir der Elektriker Caruthers. Am Kabel eines Scheinwerfers war gegen Ende des ersten Aufzuges ein Fehler aufgetreten. Das Licht spielt in meiner Aufführung eine wichtige Rolle, so daß ich dem, was Caruthers sagte, zu folgen versuchte. Aber ich bekam nicht viel mit, ich war einfach zu wütend. Vor der Tür zu Vincys Garderobe fertigte ich Caruthers mit ein paar Worten ab. Außerdem sollte in drei Minuten der Vorhang hochgehen. Ich trat ein … Vincy saß auf der Chaiselongue und starrte auf den Blumenkorb … Auf diesen dort. Ich trat näher. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, ich 177
wollte ihm eine ’runterhauen. Doch er stand rasch auf und entschuldigte sich lang und breit. Er sagte, er habe heute einen schrecklichen Tag, er leide an Kopfschmerzen, und außerdem habe er irgendwelche Sorgen. Und daß er mir das Wort gebe, so etwas würde sich nie mehr wiederholen. Meine Wut verflog, als er so redete. Und er verstand es, unerhört überzeugend zu reden. Nun … jedenfalls ging ich wortlos hinaus, in der Überzeugung, daß sich etwas Ähnliches nicht mehr wiederholen würde.« »Ganz bestimmt nicht«, flüsterte Alex. Darcy sah flüchtig zu ihm hinüber und fuhr fort. »Während des zweiten Aufzuges stand ich ununterbrochen in der dunklen Kulisse und schaute dem Spiel zu, bis die Zeit für meinen Auftritt kam. Dann gab es die Ovationen des Publikums. Vincy erschien nicht. Ich glaubte, die Kopfschmerzen sind daran schuld oder er fühlt sich beleidigt und will mir, dem Regisseur, zu verstehen geben, daß er für mich und diese Rolle nichts als Geringschätzung übrig hat. In den letzten Tagen hat er sich übrigens ein wenig seltsam benommen und dauernd behauptet, daß er von diesen Narreteien mit Masken und ähnlichem genug hat und vom Theater fort will … Ich verließ die Bühne gemeinsam mit Eve Faraday, dann schminkte ich mich ab, zog mich um und rief den Garderobier, damit er mir 178
den Anzug ausbürstet. Ich schaute bei Eve hinein, die schon angekleidet war, aber noch ihre Toilette beendete, denn bei Frauen dauert das immer etwas länger. Dann verließen wir gemeinsam das Theater. Das ist alles.« »Und Sie haben nichts Ungewöhnliches bemerkt, nirgends?« »Nein … Eines vielleicht … Aber das hat wohl nichts zu bedeuten. Auf dem Weg zum Ausgang, als wir an der Tür von Vincys Garderobe vorbeikamen, trat ich auf etwas. Ich bückte mich. Es war ein Schlüssel. Ich sah, daß das Schlüsselloch noch erleuchtet war, deshalb steckte ich den Schlüssel in das Schloß. Ich dachte mir, Vincy habe vielleicht nach der Vorstellung die Tür so hinter sich zugeknallt, daß der Schlüssel herausflog. Drinnen rührte sich nichts, deshalb sagten wir uns, Eve und ich, daß er sicherlich schon gegangen sei. Das ist nun wirklich alles.« »Ihren Worten entnehme ich, daß Sie von dem Augenblick an, wo Sie von der Bühne gegangen sind, bis zum Verlassen des Theaters unablässig in der Gesellschaft anderer Menschen und keinen Augenblick allein waren …« »Nein. Ich war allein in meiner Garderobe. Der Garderobier wartete auf dem Korridor, bis ich ihn rief.« 179
»Einen anderen Ausgang hat Ihre Garderobe nicht?« »Sie hat nicht einmal ein Fenster.« »Schön. Ich danke Ihnen, Mister Darcy. Darf ich Sie bitten, in Ihre Garderobe zu gehen und dort eventuell auf eine erneute Aufforderung zu warten. Es tut mir leid, daß ich Sie um halb vier Uhr morgens darum bitten muß, aber vielleicht brauchen wir von Ihnen noch einige Erläuterungen. Ich danke Ihnen nochmals.« »Ich stehe Ihnen zur Verfügung.« Darcy erhob sich. Parker begleitete ihn bis zur Tür und winkte Jones heran. »Ist der Inspizient Jack Sawyer schon hier?« »Ja, Chef.« »Schicken Sie ihn mir in fünf Minuten.« »Ja, Chef!« Der Inspektor kehrte um und setzte sich. »Was denkst du, Joe?« »Ich denke, daß ich jetzt schon weiß, wer Stephen Vincy getötet hat. Aber so völlig sicher bin ich mir immer noch nicht.«
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XIV. ES KONNTE IHN KEINER TÖTEN
Als sich die Tür hinter dem letzten Angestellten des technischen Personals des Chamber Theatre schloß, seufzte Parker schwer. »Nun ist nur noch Eve Faraday geblieben«, brummte er. »Wenn sie nicht sogleich erscheint und uns mit einem zauberhaften Lächeln mitteilt, daß sie diesen Burschen umgebracht hat, dann weiß ich nicht, was ich tun soll. Aber selbst wenn sie sich dazu bekennen wollte, könnte ich ihr nicht glauben! Sieh selbst. Lassen wir Stephen Vincy beiseite, der ermordet wurde, und Angelica Dodd, die erst nach der Tat hinter die Kulissen kam, dann bleiben uns zwölf Personen. Uns interessiert, was sie getrieben haben, nachdem Vincy die Bühne verlassen hatte. 1. Henry Darcy: Er betrat die Bühne, wenige Sekunden nachdem Vincy sie verlassen hatte, konnte ihn also nicht in dessen Garderobe ermorden, weil er nicht rechtzeitig hätte zurückkommen, können. Danach stammelte er seinen Monolog, dann begleitete er Eve Faraday zur Garderobe, während er selbst in die seine ging, was der Garderobier bestä181
tigt, der sich nicht von der Tür entfernte, weil er darauf wartete, daß Darcy ihn rief. Außerdem befanden sich auf dem Korridor Malcolm Snow, der Mann, der den Vorhang bediente, und der Souffleur John Knithe. Sie warteten auf Susan Snow, die noch Eve beim Ankleiden half; Darcy hat drei Zeugen, die sich nicht von seiner Garderobentür entfernten und ihn dann sahen, als er zu Eve hineinging. Eves Garderobe hat ebenfalls kein Fenster und nur diese eine Tür, die Darcys Tür gegenüberliegt. Aus jener Tür kam er zusammen mit Eve, die er in seinem Wagen, der vor dem Theater stand, zu einem Abendessen mitnahm. Amen. Keinen Augenblick allein!, 2. Eve Faraday: Sie hat noch nicht ausgesagt, aber wir haben die Aussagen Darcys, der Garderobiere Susan Snow und anderer. Sie stand nach ihrem Abgang von der Bühne in der Kulisse, und der Inspizient wie auch der Souffleur standen dicht neben ihr. Dann ging sie hinaus, um sich zu verbeugen. Darcy begleitete sie geradewegs zu ihrer Garderobe. Alles andere … wie weiter oben. Keinen Augenblick allein! Amen. 3. Oliver Ruffin – der Garderobier: Bevor Vincy die Bühne verließ, saß er in Eve Faradays Garderobe und unterhielt sich mit Susan Snow bis zu dem Augenblick, wo sie den Beifall am Ende des Stückes vernahmen. Nun gingen sie beide hinaus und war182
teten auf die Schauspieler. Dann … wie oben … keinen Augenblick allein! Amen. 4. Susan Snow – Garderobiere: wie oben, keinen Augenblick allein! Amen. 5. Malcolm Snow – der Mann am Vorhang – und 6. John Knithe – Souffleur: Sie sagen beide aus, daß sie zu dem Zeitpunkt, als Vincy die Bühne verließ, beieinander standen und über Fußballtoto diskutierten. Das ganze Theater spielt Fußballtoto! Dann gingen sie beide auf den Korridor, vor die Garderoben von Eve Faraday und Darcy, und füllten dort, auf Susan Snow wartend, die Scheine aus. Anschließend gingen sie mit ihr und Ruffin zu viert zu einer Toto-Spätannahmestelle. Keinen Augenblick allein! Amen. 7. Jack Sawyer – Inspizient: Er war sehr nervös wegen des Ablaufs der Vorstellung. Zuerst hatte Vincy Eve Faraday aus dem Gleichgewicht gebracht, dann, in der Pause, kamen die Bühnenarbeiter mit dem Aufstellen der Stühle nicht zurecht, so daß auch er durcheinandergeriet und den Regisseur holen mußte. Für die Zeit nach der Vorstellung besitzt er ein Alibi, das zusammenhängt mit 8. Simon Formes – diensthabender Feuerwehrmann hinter den Kulissen – und 9. Richard Caruthers – Elektriker. Richard Caruthers hatte vor der Pause Schwierigkeiten mit dem Scheinwerfer. Während der Pause versuchte er, den Schaden zu beheben, 183
doch dies gelang ihm nicht. Als er Darcy auf der Bühne erblickte, trat er zu ihm und fragte, was er tun soll, falls der Scheinwerfer verlischt, doch Darcy schien mit seinen Gedanken woanders zu sein und antwortete ziemlich zusammenhanglos. Caruthers begleitete ihn zur Tür von Stephen Vincys Garderobe, dann kehrte er rasch um, weil die Vorstellung gleich wieder beginnen sollte. Kaum hatte er sein Türmchen erklommen und den Scheinwerfer ausprobiert, ging der Vorhang hoch. Von Darcy trennte er sich etwa drei Minuten vor Beginn des zweiten Aktes. Der Scheinwerfer flackerte jetzt immer häufiger, und Caruthers spürte den Geruch von verbranntem Gummi. Deshalb gab er dem Feuerwehrmann Simon Formes und dem Inspizienten ein Zeichen. Bis zum Ende der Vorstellung mußte er mit dem Scheinwerfer manipulieren, doch dann untersuchten sie sofort zu dritt das Kabel, fanden die beschädigte, schmorende Stelle, behoben den Fehler und gingen zusammen zur Garderobe für das Personal, wo auch der Feuerwehrmann seine Mütze zurückgelassen hatte, weil er seinen Dienst mit Helm versieht. Keiner der drei trennte sich auch nur einen Augenblick von den anderen nach der Vorstellung. Amen! 10. William Gullins – Portier: Der saß bis zum Schluß der Vorstellung in der Portierloge mit seiner Schwester, die er zweiundzwanzig Uhr zehn in ein 184
Taxi setzte; die vier Personen, die gerade das Theater verließen, um zur Toto-Annahmestelle zu gehen, sahen, wie sie in das Taxi einstieg. Einer von ihnen scherzte sogar, daß Gullins nicht zu spielen braucht, weil er es sich leisten kann, die Mädchen im Taxi nach Hause zu bringen. Zweiundzwanzig Uhr aber ist die Grenze, außerhalb der unser Polizeiarzt unter Eid aussagen will, daß Vincy schon tot war. Also hat Gullins ihn auch nicht umgebracht. Amen. 11. und 12. Die Arbeiter Stanley Higgins und Joshua Braddon standen, nachdem sie die Stühle auf der Bühne aufgestellt hatten, noch eine Weile mit dem Inspizienten und verließen dann das Theater, weil die Dekorationen vor der Vorstellung auseinandergenommen werden. Außerdem gibt es nur eine Dekoration, und die Veränderung besteht darin, daß diese Stühle in der Pause aufgestellt werden. Deshalb dürfen sie in diesem Stück früher nach Hause gehen, sie haben sonst nichts mehr zu tun. Als Vincy starb, waren sie schon seit einer halben Stunde nicht mehr im Theater, was der Portier Gullins bestätigt, der sie gehen sah. Amen! Das sind schon alle. Durch die Tür, die vom Zuschauerraum hinter die Bühne führt, hat niemand das Gebäude betreten, weil die Tür nur auf der Kulissenseite eine Klinke hat, so daß jeder, der hinein möchte, klingeln muß. Die Klingel war seit dem 185
Abend zuvor kaputt, und Caruthers hatte vergessen, sie zu reparieren. Damit alles noch komischer ist! Niemand stattete den Schauspielern hinter den Kulissen einen Besuch ab. Niemand ist durch den Eingang neben der Portierloge hereingekommen, weder vor der Vorstellung noch während der Vorstellung, noch nach ihrer Beendigung. Die einzige Person, die hereinkam, war Angelica Dodd. Der Kreis schließt sich. Daraus ergibt sich, daß keiner Stephen Vincy töten konnte.« »Sei guten Muts«, sagte Alex düster lächelnd. »Man hat ihn ja ermordet.« »Ja, das ist wahr.« Parker seufzte. »Man hat ihn getötet, und außerdem haben wir noch nicht Eve Faraday vernommen. Jones!« »Ja, Chef?« »Bitten Sie Miss Eve Faraday herein … Oder lieber nicht. Vielleicht gehen wir lieber in einen anderen Raum. Ist noch etwas frei?« »Ja, Chef.« Jones wies ihnen den Weg. Sie passierten den Hauptgang und bogen in den zweiten Korridor ein, der parallel zu jenem verlief, in dem sich Vincys Garderobe befand. Die ersten beiden Türen, die einander gegenüberlagen, führten zu den Garderoben von Eve Faraday und Henry Darcy. Die übri186
gen Räume waren frei. Vor ihnen spazierte der Detektiv Stephens auf und ab. Jones hatte in ihnen einen Teil der zu vernehmenden Personen untergebracht, aber eine Garderobe war nicht besetzt. Dorthin führte er den Inspektor und Alex. Nach einer Weile trat Eve Faraday ein. Sie war ein junges, nicht allzu großes Mädchen mit ruhigem, schönem Gesicht, das von langem, glattem dunklem Haar umrahmt war. Die olivfarbenen großen Augen waren ein wenig gerötet. Parker wies auf einen Stuhl und wiederholte die Höflichkeitsformel, die er gewöhnlich Frauen gegenüber gebrauchte, die er vernehmen mußte. Dann bat er sie, den vergangenen Abend zu beschreiben. Doch Eves Aussage erbrachte nichts Neues. Sie bestätigte alles, was Darcy und andere gesagt hatten. »Überlegen Sie jetzt bitte, ob Ihnen während der Vorstellung, davor oder danach etwas aufgefallen ist.« »Nein … nichts …« Sie zögerte. »Ja?« Der Inspektor machte eine einladende Handbewegung. »Sagen Sie es uns, selbst wenn Sie Ihre Beobachtung für völlig unwichtig halten. Man weiß nie, was man bei einer Untersuchung gebrauchen kann, solange sie nicht beendet ist.« »Eines vielleicht … Aber das ist eine Kleinigkeit … Im zweiten Aufzug gibt es eine Episode, 187
wo ich, das heißt die Alte, aus Furcht vor dem Gedanken an den Tod über die ganze Bühne laufe, auf den Alten zu, ihn heftig umarme und mich aus ganzer Kraft an ihn schmiege … Im ersten Teil gibt es eine ganz ähnliche Situation, obwohl ich da nicht erst über die Bühne laufe, sondern ihn umarme, während ich vor ihm stehe. Das war auch die Szene im ersten Teil, als Steph … als Mr. Vincy mich zurückstieß, weil ich ihn mit Schminke beschmiert hatte. Im zweiten Teil achtete ich nun schon darauf, während ich über die Bühne lief, und drehte den Kopf zur Seite. Dadurch schmiegte ich mich sogar noch fester an ihn … und …« »Und da nahmen Sie einen kleinen, harten Gegenstand in seiner Jackentasche über der Brust wahr. Ist das richtig?« sagte Alex. »Ja! Aber woher wissen Sie das?« »Ich vermutete es.« Parker sah ihn erstaunt an, sagte jedoch kein Wort. »Wie benahm sich Vincy während der Vorstellung? Das interessiert uns sehr. Meinen Sie nicht, daß die Erregung, die man ihm im ersten Teil wohl anmerkte, im zweiten Teil verschwunden war, so als wäre der Anlaß behoben?« »Ja!« Eve Faraday nickte energisch. »Ähnliches dachte ich auch. Ich fürchtete diesen zweiten Aufzug, weil ich völlig fertig mit den Nerven war 188
und … Ich fürchtete, ich könnte auf der Bühne losheulen, wenn er wieder etwas sagt oder tut … Ein Schauspieler kann etwas sagen oder tun, ohne daß das Publikum es bemerkt, während der Partner alles genau mitbekommt. Ich zitterte vor Angst, denn das wäre das schlimmste gewesen. Die Privatangelegenheiten gehen niemanden etwas an, aber während der Vorstellung den Vorhang fallen lassen … das versteht niemand, der nicht Schauspieler ist …« »Wir versuchen das trotzdem zu verstehen. Welchen Eindruck hatten Sie also im zweiten Teil?« »Vincy hatte sich verändert. Er spielte schnell. Er blieb nicht ein einziges Mal stecken, verdrehte nicht den Text. Und er war kühler. Es spielte sich ganz ausgezeichnet mit ihm, so gut wie noch nie. Zum Schluß dachte ich kaum noch an unsere Angelegenheiten. Ich war wie verzaubert und habe vielleicht deshalb selber etwas schlechter abgeschnitten. Er hat mich einfach überrascht.« Alex nickte verständnisvoll. »Haben Sie sich nicht auch gesagt, daß es doch eigentlich lieb von ihm war, sich die Schminke von der Jacke zu wischen?« »Nein.« Eve hob erstaunt die Brauen. »Warum sollte ich? Solche Dinge gehören doch zu den Pflichten eines Garderobiers. Ich habe keinen Gedanken darauf verwendet. Das hatte nichts mit der 189
Situation zu tun, die zwischen uns entstanden war. Das heißt, es kam mir überhaupt nicht in den Kopf, daß das von seiner Seite aus eine Geste sein könnte., Schließlich war er nicht …« »Natürlich nicht.« Alex stand auf. Parker erhob sich ebenfalls. »Wir danken Ihnen, Miss Faraday«, sagte der Inspektor. »Falls Sie noch nicht zu müde sind, würden wir Sie bitten, noch ein wenig in Ihrer Garderobe zu warten. Ihre Aussage könnte noch gebraucht werden. Sie können sich dort sicherlich hinlegen, nicht wahr?« »Ach, ich werde wohl nie wieder einschlafen«, sagte Eve Faraday mit plötzlicher Verzweiflung, wandte den Kopf ab und ging, die Tränen unterdrückend, hinaus. »Die Ärmste …« Alex blickte ihr nach. »Während der ganzen Vernehmung hat sie sich so tapfer gehalten. Aber es genügte ein einziges Wort über eine ganz gewöhnliche menschliche Tätigkeit, zum Beispiel über den Schlaf, und sie verlor die Beherrschung.« »Miss Faraday und ihr Schlaf sind mir jetzt nicht so wichtig!« sagte Parker erregt. »Kannst du mir endlich erklären, wohin wir gehen, wohin ich gehe, und mit mir die ganze Untersuchung?« »Wir gehen alle einen kurzen, schmalen Pfad entlang, der uns zum Mörder Stephen Vincys 190
führt«, flüsterte Joe Alex verträumt. »Und mein nächster Schritt auf diesem Pfad wird eine kleine Bitte an dich sein.« »Welche?« »Ich möchte dich um eine Taschenlampe und den Schlüssel zu der Tür bitten, die vom Gang zur Bühne führt.« Parker wandte sich um. »Jones!« »Ja, Chef?« Der Sergeant erschien in der Tür wie jenes Spielzeug, das auf einen Knopfdruck hin aus der sich öffnenden Schachtel springt. »Eine Taschenlampe und den Schlüssel zur Tür, die zur Bühne führt!« »Jawohl, Chef!« Der Kopf verschwand. »Gleich bekommst du deine Taschenlampe«, sagte Parker. »Was brauchst du noch, um mich dorthin zu führen, wohin ich seit zwölf Uhr fünfundzwanzig, das heißt seit meiner Ankunft hier, gelangen möchte.« Alex blickte auf die Uhr. »Es ist fünf vor halb sechs. Ich verspreche dir, daß du in einer Stunde erfährst, wer der Mörder ist, obwohl ich noch nicht mit völliger Sicherheit weiß, wer es ist. Aber die Tatsache, daß Vincy nicht umgebracht werden konnte und trotzdem umge191
bracht worden ist, hilft uns wohl doch sehr. Überlege mal.« »Erstens …«, sagte der Inspektor und hielt plötzlich inne. »Großer Gott!« rief er. »Großer, allmächtiger Gott!« »Wir bitten ihn noch mal her, gut? Aber du erlaubst, daß diesmal ich mich mit ihm unterhalte?« »Einverstanden!« sagte Parker und ging zur Tür, um Sergeant Jones den entsprechenden Befehl zu erteilen.
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XV. DER TOD SPRICHT IN MEINEM NAMEN
»Seit wann vermutest du das schon?« fragte Parker. »Den ersten Verdacht schöpfte ich in dem Augenblick, als …« Jones klopfte an und ließ Henry Darcy eintreten. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Alex höflich. »Wir müssen Sie leider noch einmal belästigen. Es handelt sich um die Ergänzung einiger Informationen, die Sie uns vorhin gegeben haben. Eine erste Untersuchung hat erbracht, daß Stephen Vincy von keiner der anwesenden Personen ermordet werden konnte … nachdem er die Bühne verlassen hatte. Einerseits haben alle möglichen Verdächtigen ein Alibi, und andererseits begrenzt die ärztliche Untersuchung die Tatzeit eindeutig. Vincy kann spätestens fünf bis sieben Minuten nach Verlassen der Bühne getötet worden sein, was wiederum unmöglich ist, weil innerhalb dieser fünf, nun, sagen wir, zehn Minuten keiner der im Theater anwesenden Personen die Tat ausführen konnte. Daraus ergibt sich nur eine Schlußfolgerung, nicht wahr?« 193
Er verstummte. Henry Darcy, der seinen Ausführungen schweigend gefolgt war, nickte, sagte jedoch kein Wort. »Die einzig logische Schlußfolgerung ist die Feststellung, daß Stephen Vincy starb, bevor er die Bühne verließ«, fuhr Alex fort. »Das scheint unmöglich zu sein. Wir, der hier anwesende Inspektor Parker und ich, haben gestern zufällig die Aufführung besucht und mit eigenen Augen gesehen, daß er bis zum Schluß gespielt hat. Wir stehen also gewissermaßen vor einem ungelösten Rätsel, das nicht nur ein Kriminalrätsel, sondern auch ein Theaterrätsel ist. Immerhin ist es der erste Fall, daß ein Schauspieler seine Rolle nach dem Tode spielen würde. Was meinen Sie, ist das möglich?« »Wohl kaum …« Darcy lächelte unwillkürlich, wurde aber sofort wieder ernst und preßte die Lippen aufeinander. »Eben!« Alex setzte sich bequemer zurecht. »Ich war der gleichen Meinung. Einerseits ist das unmöglich, andererseits habe ich es mit eigenen Augen gesehen, also muß es doch wohl eine Lösung dieses Rätsels geben. Können Sie, ein Mann des Theaters, uns diese Lösung nennen?« Henry Darcy zuckte mit den Schultern. »Haben Sie die Absicht, noch lange derartigen Unsinn zu erzählen, und das um fünf Uhr morgens Leuten, die noch kein Auge zugetan haben?« 194
»Nein. Nicht mehr lange. Außerdem wird es sich gleich herausstellen, daß das gar kein Unsinn ist. Die einzige Lösung dieses Rätsels, die Lösung, die Sie uns nicht nennen wollten, lautet: Ein Schauspieler kann nach seinem Tode nicht spielen, also muß ihn wohl jemand vertreten haben! Aber wer? Kennen Sie vielleicht jemanden am Theater, unter den Menschen, die hinter der Bühne anwesend waren, jemanden, der imstande wäre, die Stimmen anderer Menschen nachzuahmen, der das ganze Stück auswendig kennt ebenso wie die feinsten Nuancen des Spiels und der szenischen Situationen, der schließlich die gleiche Statur hätte wie Vincy, die gleiche Größe, und der die Gelegenheit gehabt hätte, Vincys Garderobe zu betreten, die Maske mitzunehmen, in dieser Maske hinter die Kulissen zu treten und das Spiel zu beginnen? Das sind sehr viele Qualifikationen auf einmal, die da erforderlich wären. Nun, überlegen Sie doch mal.« Darcy zuckte noch einmal mit den Schultern. »Das ist purer Unsinn. Ich habe dem Spiel zugeschaut und muß Ihnen sagen, daß ich nicht den geringsten Zweifel daran habe, wer gespielt hat!« »Davon bin ich völlig überzeugt. Aber vielleicht könnten Sie jetzt mit uns hinter die Bühne kommen. Ich möchte, daß Sie uns eine bestimmte Situation darstellen. Als Regisseur der Aufführung kennen Sie doch deren Verlauf auswendig.« 195
Darcy stand wortlos auf. Schweigend schritten sie über den Korridor bis zu der Tür mit der Aufschrift RUHE! Der Inspektor öffnete sie. Drinnen war es völlig dunkel. »Würden Sie bitte alle Lichter hinter der Bühne und auf der Bühne einschalten?« sagte Alex. Darcy drang in die Dunkelheit ein, nach einer Weile vernahmen sie das Klicken des Schalters. Es war weiterhin dunkel, doch von der Bühne her drang ein schwacher Schein hinter die Kulissen. Sie traten ein. »Haben Sie alle Lichter eingeschaltet?« »Alle, die gewöhnlich bei einer Vorstellung brennen«, sagte Darcy, der neben ihnen im Halbdämmer stand. »Hinter den Kulissen ist es immer dunkel, andernfalls würde ein Lichtschein auf die Bühne fallen.« »Ja, aber es ist doch bestimmt möglich, die ganze Hinterbühne zu erleuchten. Während der Proben braucht die Verdunkelung sicherlich nicht eingehalten zu werden, und es wäre auch schwierig für die Schauspieler, sich ungehindert zu bewegen.« »Selbstverständlich.« Darcy tastete mit der linken Hand über die Wand und bediente zwei weitere Schalter. Hoch oben flammte eine Reihe schwacher Glühbirnen auf. Sie befanden sich jetzt in einem langen, schmalen Gang, der hinter der eigent196
lichen Bühne entlanglief. Gebildet wurde dieser Gang durch einen schweren schwarzen Vorhang, der bis zur Decke hinaufreichte. Zu seinen beiden Seiten öffneten sich die Kulissen. »Vielleicht könnten wir auf die linke Seite hinübergehen, auf die Seite, nach der hin Vincy die Bühne verließ.« Alex ging voran, Darcy und Parker folgten ihm. Nach einer Weile standen sie in dem breiten, leeren Kulissenflügel, in den der helle, halbrunde Bühnenhorizont mündete, der die eigentliche Bühne abschloß. Um auf sie zu gelangen, mußte man sich der Wand nähern, welche die Kulissen vom Zuschauerraum abgrenzte. Dort gab es einen schmalen Durchgang. Alex zwängte sich hindurch und blieb stehen. Vor sich hatte er nun die halbrunde Wand der eigentlichen Bühne, darin befanden sich mehrere Türen und ein offenes Fenster, vor dem Musselingardinen hingen. Sonst war es hier völlig leer. »Durch dieses Fenster springt der Alte, wenn er zum Schluß Selbstmord begeht, nicht wahr?« »Ja.« Darcy nickte. »Und die Alte springt auf der gegenüberliegenden Seite’hinaus und sieht ihn dann nicht mehr, bis zu dem Augenblick, wo sie von verschiedenen Seiten auf die Bühne kommen, um sich zu verbeugen. Und der Sprecher?« 197
»Der Sprecher tritt durch die Mitteltür ein, die auf den Gang hinter der Bühne hinausführt, den wir soeben benutzt haben.« »Dann hat er auch keinerlei Kontakt zu dem Alten? Und der Souffleur, befindet er sich während der Handlung auf dieser Seite?« »Das ist verschieden. Vincy vergaß häufig seinen Text. Der Souffleur kannte schon die Klippen. Die Souffleure streichen sich schon während der Proben die Stellen an, die einem Schauspieler besondere Schwierigkeiten bereiten. Ein guter Souffleur ist bemüht, sich so nahe wie möglich an der Stelle aufzuhalten, an der sich der Schauspieler in jenem gefährlichen Augenblick befinden wird. Meistens jedoch hält er sich auf der anderen Seite der Kulissen auf. Der Zugang zur Bühne ist dort breiter, und man sieht auch besser, was sich auf ihr abspielt. Jene Seite hat andere Aufbauten, weil dort die Stühle gelagert sind, die während der Pause hineingetragen werden.« »Schön. Aber am Ende ist das nicht so wichtig. Der Alte springt durch jenes Fenster … Er trägt immer noch die Maske … Der Sprecher kommt durch die Tür, die hinter die Bühne führt. Nach welcher Zeit ungefähr?« Darcy seufzte. »Ich weiß nicht, wozu Sie alle diese Angaben brauchen, aber wenn Sie sie haben müssen, nun, 198
der Sprecher betritt nach etwa zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Sekunden die Bühne. Diese Zeit wird benötigt, um stufenweise das Licht zu verstärken, Wind auf die Gardinen zu lenken und so weiter.« »Fünfundzwanzig Sekunden … Notfalls auch dreißig …« Alex näherte sich dem Durchgang zwischen Bühne und Kulissen und verschwand plötzlich. Nach einer Weile sah ihn Parker zu seinem Erstaunen aus dem Fenster springen, durch die Kulisse laufen und hinter dem Bühnenhorizont verschwinden. Darcy stand reglos und starrte auf einen unsichtbaren Punkt am Fenstervorhang. »Da bin ich!« rief Alex und erschien wieder in demselben Fenster, aus dem er vorhin gesprungen war. »Das hat fünfzehn Sekunden gedauert! Zehn Sekunden muß man für die Maske rechnen. Doch das habe ich noch nicht geprüft. Gehen wir! Vielleicht kommen Sie mit mir, denn ich möchte Sie noch etwas fragen.« Darcy stapfte neben ihm her, während Parker, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ihnen folgte. Als sie eine breite, dunkle Kulisse erreichten, blieb Alex stehen. »Während der Vorstellung ist es hier völlig dunkel, nicht wahr?« »Ja.« 199
Joe schaute sich um. An der Wand bemerkte er einen hohen Feuerlöscher, daneben eine Kiste mit Sand. »Eigentlich könnte es nur hier sein«, sagte er leise und trat an die Kiste. Er. leuchtete sie mit der Taschenlampe ab. Dann schüttelte er den Kopf. »Sollte ich mich irren?« Plötzlich bückte er sich und langte hinter den Feuerlöscher. »Da ist sie! Natürlich ist sie da! Woanders konnte sie ja gar nicht sein!« »Was denn?« fragte Parker, obwohl er bereits wußte, welche Antwort er erhalten würde. »Sie!« rief Alex und strich einen zerknüllten weißen Stoffetzen glatt. Im Schein der Taschenlampe erkannten sie, daß er Vincys furchterregendes, entstelltes Gesicht mit dem grauen Nylonhaar zwischen den Fingern hielt. »Die Maske!«
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XVI. MÖRDER »A«
Die Rückkehr zur Garderobe fand unter völligem Schweigen statt; nur Alex pfiff leise vor sich hin. »Setzen Sie sich«, sagte Alex, als Parker, der als letzter hereingekommen war, die Tür hinter sich geschlossen hatte. Das Gesicht des Inspektors wirkte konzentriert und entschlossen. Er ließ kein Auge von Darcy, der ruhig Platz nahm und erwartungsvoll den Kopf hob. »Ich glaube, nach dieser Demonstration habe ich nicht viel hinzuzufügen«, begann Alex. »Die Sache ist klar. Natürlich nur, soweit Sie davon betroffen sind. Schon während der Vorstellung fiel mir der Unterschied bei Vincys Spiel im ersten und zweiten Teil auf. Doch weshalb sollte ich meinem subjektiven Urteil vertrauen. Jemand, der in lebendigem, emotionalem Kontakt zu Vincy stand und ihn seit langem kannte, berichtete während des Verhörs: ›Im zweiten Aufzug spürte ich nicht mehr diesen Kontakt zu ihm …‹ Miss Faraday sagte aus: ›Vincy hatte sich verändert. Er spielte schnell, blieb nicht ein einziges Mal stecken. So gut war das Zusammenspiel mit ihm noch nie … Ich war wie ver201
zaubert …‹ Doch anfangs erschien mir eine solche Geschichte zu phantastisch. Abgesehen davon, hatten wir keinerlei Grund anzunehmen, daß Vincy schon früher umgebracht worden war. Nur der Arzt hat etwas opponiert und behauptet, er sei früher umgekommen. Außerdem fehlte die Maske in der Garderobe. Doch die hätte auch Ruffin mitnehmen können. Erst später, als sich herausstellte, daß Vincys Garderobe nach der Vorstellung niemand betreten hatte außer der Person, die ihn nicht getötet hatte und nicht den geringsten Grund besaß, die Maske mitzunehmen, wurde die Angelegenheit übersichtlicher. Auch andere Elemente spielten eine Rolle: Die phantastische Konzeption, die besagte, Vincy sei in der Pause umgekommen und ein anderer habe für ihn weitergespielt, war nur unter folgenden Bedingungen akzeptabel: 1. Derjenige, der für Vincy spielen wollte, mußte ungefähr die gleiche Größe und Statur haben. 2. Er mußte ein gleiches Kostüm tragen, denn Vincy wurde ja ermordet, ohne daß man ihm das Kostüm weggenommen hatte. 3. Er mußte imstande sein, seine Stimme und seine Bewegungen nachzuahmen. 4. Er mußte den Text des Stückes auswendig kennen. 5. Er mußte das Schauspielerhandwerk kennen. 202
6. Er mußte jede Einzelheit der Inszenierung kennen, sonst würde seine Partnerin sofort merken, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. 7. Er mußte die Chance haben, Vincys Platz einzunehmen, das heißt, er mußte sich im Theater hinter den Kulissen befinden. 8. Er mußte wissen, daß Vincy in der Pause ermordet wurde, das heißt, er mußte sicher sein, daß er nicht gleichzeitig mit ihm auf der Bühne erscheint. 9. Er mußte dafür sorgen, daß niemand die Leiche findet, während er ihn auf der Bühne vertrat. Fände jemand die Leiche, dann mußte diese ganze Maskerade zu einem belastenden Element für den Spielenden werden. 10. Er mußte die Maske aus der Garderobe des Toten mitnehmen und sie dann verstecken, weil er dort nicht mehr hineingehen durfte, andernfalls würde er sein Alibi vernichten, das doch darauf beruhen sollte, daß Vincy angeblich eine Stunde später ums Leben gekommen war als in Wirklichkeit. Während des Verhörs stellte sich heraus, daß es einen solchen Menschen gab, der ausnahmslos alle obengenannten Bedingungen erfüllte. Dieser Mensch waren Sie. Wenn Sie Stephen Vincy ermorden wollten, dann mußten Sie als Regisseur des Stückes ›Die Stühle‹ die Sache folgendermaßen inszenieren: 203
1. Eine solche Konzeption des Stückes finden, daß Vincy mit Maske und Sie ohne Maske spielen würden. 2. Den Einakter durch eine Pause von etwa einer Viertelstunde unterbrechen, während der Sie Vincy töten konnten. 3. Für einen genügenden Zeitraum sorgen zwischen Vincys Abgang von der Bühne mit Maske und dem Auftritt des Sprechers, den Sie ohne Maske spielten. 4. Selbstverständlich in dem gleichen Kostüm spielen wie Vincy. Besaßen Sie eine solche Konzeption, dann genügte es, eine solche Vorstellung abzuwarten, während der Sie sicher sein konnten, daß Vincy in seiner Garderobe allein war. Dann hätten Sie ruhig hineingehen, ihn ermorden und für ihn spielen können. Seine eigene Garderobe hätte es deshalb sein müssen, weil: 1. Sie ihm die Maske wegnehmen müßten; 2. Sie ihn einschließen müßten, damit ihn niemand findet, während Sie spielten. Als Sie aussagten, Sie seien auf einen Schlüssel getreten, während Sie neben Eve Faraday hergingen, und hätten ihn in das Schlüsselloch gesteckt, war mir sofort klar, daß Sie ihn einfach in der Hand hielten und sich bückten, um vorzutäuschen, 204
daß Sie ihn aufheben. Doch wo war der Schlüssel, als Sie die Rolle des Alten im zweiten Aufzug spielten? Als Eve Faraday aussagte, ihr sei etwas Unbedeutendes aufgefallen, während sie sich im zweiten Akt an den Alten schmiegte, unterbrach ich sie und fragte, ob sie nicht einen kleinen, harten Gegenstand in seiner Jackentasche gespürt habe. Sie gab das erstaunt zu. Das war jener Schlüssel, den Sie später vor der Tür von Vincys Garderobe ›fanden‹. Wie die Geschichte vonstatten ging, habe ich Ihnen soeben auf der Bühne demonstriert und dabei die Maske an dem einzigen Ort gefunden, an dem sie sich befinden konnte. Dort war wahrscheinlich auch Ihr Hut versteckt bis zu dem Augenblick, wo Sie die Maske verbargen und den Hut hervorholten, um die letzte Episode des Sprechers zu spielen, sich dann vor dem Publikum zu verbeugen und scheinbar verwundert darauf zu warten, daß Vincy erscheine, von dem Sie wußten, daß er nie wieder von einer Bühne herab den begeisterten Zuschauern danken würde. Dann mußten Sie alles so arrangieren, daß Sie nicht einen Augenblick lang allein im Theater blieben und auch danach nicht, denn Sie wußten ja nicht, ob erst der Portier während des Rundganges den Toten finden würde. Deshalb haben Sie Eve Faraday zum Abendessen eingeladen und sich ein ›absolutes‹ Alibi geschaffen, wobei Sie davon ausgingen, daß 205
die ganze Welt davon überzeugt sein müßte, Vincy sei nach der Vorstellung umgebracht worden, das heißt zu einer Zeit, als Sie ihn nicht töten konnten. Anfangs glaubte ich, dies alles sei unmöglich, obwohl es immer mehr einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit bekam. Und doch war es so. Ein gewisser Unterschied im Spiel war natürlich vorhanden, denn ein Mensch kann nie die absolute Kopie des anderen sein. Hier muß ich Ihnen ein Kompliment machen: Sie haben wesentlich besser gespielt als Vincy, der übrigens im ersten Aufzug ebenfalls ganz ausgezeichnet spielte. Daß Eve Faraday den Unterschied bemerken würde, brauchten Sie nicht zu befürchten. Schließlich liegt die Maske fest an und ist mit künstlichem Haar bedeckt, Sie hingegen haben sich von Kind an beruflich damit beschäftigt, die Stimmen von Menschen und Tieren nachzuahmen. Vincys Stimme, alle ihre Schattierungen waren Ihnen ja von den langen Proben her bestens vertraut. Sie haben allen Proben beigewohnt und seiner Stimme, je nach der Situation auf der Bühne, die entsprechende Intonation verliehen. Den Text mußten sie auswendig kennen, und wie sich herausstellte, kannten Sie ihn sogar besser als Vincy, der häufig steckenblieb. Nur eine Kleinigkeit haben Sie nicht beachtet: Der erste Akt endete mit einem Streit zwischen Vincy und Eve, weil sie ihm das Kostüm mit Schminke beschmutzt 206
hatte. Im zweiten Akt jedoch war das Kostüm sauber. Eve Faraday hat das selbst zugegeben, als ich ihr die entsprechende Frage stellte … eine etwas verfängliche Frage vielleicht. Das gab mir die Gewißheit, daß sie mit Ihnen nicht gemeinsame Sache gemacht hat. Doch darüber später. Ich bemerkte nur, daß Sie Ihre Aussage für eine Sekunde unterbrachen, als Ihnen das wieder einfiel. Ich könnte wetten, daß Sie vor einer Stunde, als Sie von der ersten Vernehmung in Ihre Garderobe zurückkehrten, Ihr eigenes Kostüm ebenfalls mit Schminke beschmierten, damit die Polizei vor einem Rätsel steht, wenn es ihr gelingen sollte, auf eine Spur zu stoßen. Zum Schluß möchte ich hinzufügen, daß Sie einen sehr wichtigen Grund hatten, Stephen Vincy zu töten, einen Grund, um dessentwillen schon viele Morde auf dieser von Leidenschaften geschüttelten Welt verübt wurden.« Alex hielt inne. Eine Weile herrschte in der Garderobe Schweigen. »Haben Sie meinen Gedankengängen etwas vorzuwerfen?« »Nein.« Darcy runzelte die Stirn. »In gewisser Weise sind Sie genial. Ich hätte nie geglaubt, daß die Polizei über solche Köpfe verfügt.« Alex räusperte sich und schielte zu Parker hinüber, der ungeduldig auf seinem Stuhl herumrückte, aufstand und sagte: »Sie geben also zu, Stephen Vincy gestern abend in dieser Garderobe zwischen 207
einundzwanzig und einundzwanzig Uhr fünfzehn ermordet zu haben?« »Nein«, sagte Henry Darcy und schüttelte den Kopf. »Ich gebe es nicht zu.« Alex hob beschwichtigend die Hand. »Nun, ich habe Ihnen doch nicht einen Augenblick lang unterstellt, daß Sie ihn getötet haben. Ich weiß, daß Sie ihn nicht getötet haben.« Diesmal sah er nicht zu Parker hinüber. Er vernahm nur einen unterdrückten Laut, der an das Wörtchen »Was?« erinnerte, und dann das Knarren des Stuhls, auf den sich der Inspektor fallen ließ. »Sie wissen, daß ich ihn nicht getötet habe?« Darcy rieb sich die Stirn. »Also doch … Also … Aber … ich habe ihn getötet!« sagte er mit plötzlicher Verzweiflung, seine bisherige Beherrschung verlierend. Alex hörte, daß Parker sich wieder auf seinem Stuhl bewegte. »Nein. Sie haben ihn nicht getötet. Und um Sie zu beruhigen, will ich Ihnen sagen, daß Eve Faradays Alibi unerschütterlich ist. Selbst wenn sie es unbedingt gewollt hätte, konnte sie Stephen Vincy nicht töten, weil sie während der gesamten Pause nicht einen Augenblick lang allein war. Ihr ganzes gewagtes Spiel also, Mr. Darcy, das mir soviel Scherereien bereitete, hat sich als überflüssig erwiesen.« »Ich wußte schon während meines Auftritts, daß 208
ich mich wie der letzte Idiot benommen hatte«, sagte Darcy. »Eve hätte nicht so ruhig weiterspielen können, wenn sie ihn getötet hätte. Da kenne ich sie zu gut. Im ersten Augenblick jedoch …« »Ja, ich weiß. Sie standen inmitten Vincys Garderobe, sahen, daß er tot war, und dachten, sie hätte ihn getötet, die Frau, die Sie liebten. Und da wurde Ihnen klar, daß es nur einen Ausweg gab: für ihn zu spielen und ihr damit ein absolutes Alibi für die Zeit nach der Vorstellung zu schaffen. Doch davon später.« Parker räusperte sich. »Alles schön und gut«, sagte er, »aber ich hätte gern gewußt, weshalb Mr. Darcy Stephen Vincy nicht töten konnte, obschon ich sehr wohl verstehe, daß er nicht den Wunsch verspürt, sich dazu zu bekennen. Was für Beweise für Ihre Unschuld können Sie anführen? Immerhin gibt es einen solchen Berg von Schuldbeweisen, daß man damit fünf raffinierte Mörder bedenken könnte und immer noch etwas für einen bescheidenen Debütanten übrigbleiben würde.« »Vielleicht versuchen Sie, das selbst zu tun?« sagte Alex. Darcy sah ihn erstaunt an. »Außer meiner persönlichen Gewißheit, daß ihn ein anderer ermordet hat und deshalb ein anderer Mörder existieren muß, sehe ich keinerlei Möglich209
keit, Ihnen zu beweisen, daß nicht ich es war. Wie sollte ich das beweisen? Schließlich habe ich mich wie ein Verbrecher benommen, so, als plante ich das seit langem. Dabei hat mich erst das Zusammenspiel von Umständen auf den Gedanken gebracht, für ihn einzuspringen. Hätte ich nicht das gleiche Kostüm angehabt, hätte Vincy nicht mit einer Maske gespielt und würde der Sprecher nicht eine halbe Minute nach seinem Abgang die Bühne betreten, wäre ich nie darauf verfallen. Aber wie soll ich das beweisen? Ich mag da von rechts nach links denken, und die Polizei denkt von links nach rechts … Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ich kann nur wiederholen, daß der Mörder ein anderer ist.« »Sind Sie Linkshänder?« fragte Alex. »Ich habe gesehen, daß Sie als Sprecher die Kreide in die linke Hand nahmen, als Sie während der Vorstellung etwas an die Tafel zu schreiben versuchten. Doch das konnte ebensogut zur Regiekonzeption gehören. Es wäre möglich, daß der Sprecher auf diese Weise noch stärker unterstreichen wollte, daß er unfähig sei, die Gedanken des Alten anderen zu vermitteln. Man könnte das so deuten, als könne der Mensch, dem der Alte sein Testament anvertraut, nicht nur nicht sprechen, sondern wüßte nicht einmal, in welcher Hand man die Kreide hält, um zu schreiben. Doch als Sie dann hinter 210
der Bühne das Licht mit der linken Hand einschalteten, wurde mir klar, daß das für Sie ganz natürlich ist. Außerdem hat uns Mr. Davidson erzählt, daß Sie an der Front verwundet und als Invalide in die Heimat zurückgeschickt wurden.« »Ja, ich bin Kriegsinvalide«, sagte Darcy leise. »Mein rechter Arm wurde nur wie durch ein Wunder vor einer Amputation bewahrt. Ich habe fast keinerlei Gewalt darin. Zur Not kann ich die Finger bewegen und den Arm beugen, aber auch das nur mit Hilfe eines Apparats. Die Japaner haben mich im Dschungel mit einem Dumdumgeschoß verwundet. Das machte auch meinen Traum von einer Schauspielerkarriere zunichte und führte später dazu, daß ich Regisseur wurde. Ich kann mit dieser Hand keine ungezwungene Geste ausführen, obwohl ich es gelernt habe, mich ihrer zu bedienen. Aber das ist doch kein Alibi. Ich habe im linken Arm ungeheure Kraft. Diese Hand habe ich bis zur Perfektion trainiert. Mit der rechten Hand könnte ich keine Fliege töten, aber mit der linken … die linke Hand konnte den Mord ausführen …« »Könnten Sie uns den verwundeten Arm zeigen?« sagte Alex. »Ich weiß, das ist unangenehm, aber Sie werden sicherlich verstehen, daß die Angelegenheit wichtig genug ist. Vincy konnte nicht mit der linken Hand getötet werden.« »Er konnte nicht?« 211
»Nein.« Darcy sah ihn eine Weile stumm an, dann stand er auf und zog das Jackett aus. Er knöpfte das Hemd auf, streifte es ab und legte es auf den Stuhl. Parker ließ einen leisen Pfiff hören. Darcys rechter Unterarm war eine einzige schreckliche Narbe. Das Fleisch war einst bis auf die Knochen herausgerissen worden. Jetzt waren die Knochen nur von Haut überzogen, und daran war mittels zweier Riemchen ein Apparat befestigt. Mehrere lange, feine Stahlfedern, unterhalb des Ellenbogens angebracht, ersetzten die Unterarmmuskeln. »Ja. Damit ist diese Frage wohl beantwortet.« Darcy bewegte die Hand und ließ sie sinken. Dann streifte er das Hemd über und band sich die Krawatte, doch die Hände begannen ihm zu zittern, und er gab es auf. »Sind Sie … davon überzeugt?« fragte er. »Ich meine, daß ihn nur jemand mit der rechten Hand umgebracht haben konnte?« »Ich bemühe mich, die Menschen sowenig wie möglich zu belügen«, erwiderte Alex leise. »Und obschon das in unserer, ach so zivilisierten Gesellschaft nicht immer gelingt, so habe ich Ihnen doch in diesem Fall die absolute Wahrheit gesagt.« Darcy band sich die Krawatte zu Ende und setzte sich. »Ein Glück!« sagte er aufrichtig. 212
»Nun«, Alex machte eine unbestimmte Handbewegung, »ich wußte, daß Sie ihn nicht töten konnten, selbst wenn Sie zwei völlig gesunde Hände hätten.« »Was?« riefen Parker und Darcy gleichzeitig. »Sehen Sie, in einem Fall wie diesem muß man viel und rasch denken, denn die Fakten stellen sich bald in diesem, bald in jenem Licht dar. Eines jedoch ist entscheidend, und ich wiederhole es stets: Töten kann nur jemand, der erstens einen Grund hat, zweitens kein richtiges Alibi besitzt und drittens das Verbrechen unter solchen Bedingungen und genau auf die Weise ausgeführt hat, wie es ausgeführt wurde. Zu Beginn der Untersuchung haben wir in einer solchen Gleichung, in der die Unbekannte der Mörder ist, die Bekannte hingegen die Person des Ermordeten und die Umstände, unter denen die Leiche gefunden wurde, immer nur einen Weg: die Anpassung des Mörders an den Mord. In unserem Fall jedoch sieht es folgendermaßen aus: 1. Was die Ausführung des Verbrechens betrifft, so war nur eine Tatsache bekannt: daß Sie diese Garderobe drei Minuten vor Beginn des zweiten Teils der Vorstellung betreten haben. Alles andere gehört in die Zeit nach dem Verbrechen. So hat der Elektriker Caruthers ausgesagt, der danach kaum Zeit hatte, zu seinem Standort zurückzukeh213
ren, die Scheinwerfer zu überprüfen und die Lichter für den Beginn des zweiten Teils einzuschalten, als auch schon der Vorhang hochging. Außerdem ergab sich auch daraus, daß Sie ziemlich viel Zeit in der Garderobe von Miss Faraday und dann noch einige Minuten auf der Bühne verbracht haben, daß Sie, vor Vincys Garderobe angekommen, denkbar wenig Zeit zur Verfügung hatten, um ihn zu töten, die Maske aufzusetzen und sich auf die Bühne zu begeben. Sie hatten ungefähr hundertachtzig Sekunden. 2. Sie haben Vincy mit dessen eigenem Dolch getötet, also mußten Sie die Garderobe betreten, den Dolch an sich nehmen, Vincy durchbohren und dann in einem höllischen Tempo die Maske aufsetzen, in den Spiegel blicken, sich überzeugen, ob Vincy auch tot sei, hinausgehen, hinter sich die Tür abschließen, zur Bühne gehen und Ihren Platz einnehmen. Notfalls könnten Sie sogar das alles tun, aber unter einer Bedingung: daß Vincy nach Ihrem Eintritt ruhig dagelegen hätte und sich wie ein Schaf töten ließ. Vincy wurde ja tatsächlich auf der Chaiselongue liegend aufgefunden, sein Körper befand sich im Augenblick des tödlichen Stoßes in bequemer Rückenlage. War dies jedoch möglich? Vincy war ein Feigling. Einige Tage zuvor hatten Sie ihm angekündigt, Sie würden ihn umbringen, 214
wenn er noch einmal Eve Faraday beleidigte. Er brauchte natürlich nicht zu glauben, daß Sie ihn umbringen, aber sicherlich mußte er annehmen, daß Sie ihn vielleicht schlagen würden, denn er wußte, daß Sie Eve Faraday lieben und er selbst sich in dieser Angelegenheit von Anfang an recht niederträchtig benommen hatte. Er hätte also bei Ihrem Anblick aufspringen müssen. Abgesehen davon, weshalb sollte er drei Minuten vor Beginn des zweiten Aktes noch in seiner Garderobe liegen, während doch die Bühne ein ganzes Stück entfernt und durch Türen und Korridore abgegrenzt ist? Wäre er nicht aufgesprungen, dann hätte er sich zumindest aufgesetzt. Aber im Liegen wäre er nicht gestorben. So schien es mir wenigstens. 3. Sie erfuhren von Ruffin, daß Vincy ihn aus der Garderobe entfernt hatte. Aber er hatte ihn doch deshalb entfernt, weil er in der Pause oder nach der Vorstellung den Besuch einer Dame erwartete. Sie setzten sich also der Gefahr aus, dieser Dame in der Garderobe zu begegnen oder von ihr bei der Ausübung der Tat überrascht zu werden. Vorher konnten Sie ja die Tür nicht abschließen. Hätten Sie sie gleich nach Ihrem Eintritt abgeschlossen, dann darf man doch wohl annehmen, daß Vincy aufgesprungen wäre. Jemand, von dem wir wissen, daß er uns nicht wohlgesinnt ist und der nach seinem Eintritt die Tür abschließt, muß in 215
jedem von uns Unruhe hervorrufen und bewirken, daß wir unsere wehrlose Lage aufgeben, daß wir aufspringen oder uns zumindest aufsetzen. Wenn Sie also seit Monaten einen bis in alle Einzelheiten berechneten Mordplan besaßen, einen Plan, den man sensationell, ja fast genial nennen könnte, weshalb hätten Sie seine Ausführung solchen Zufällen aussetzen sollen? Die Vernunft ließ es geraten erscheinen, Vincy nicht gerade an dem Tag und in dem Augenblick in seiner Garderobe umzubringen, wo er in dieser Garderobe Besuch erwartete. 4. Darüber hinaus benahmen Sie sich für einen so genial planenden, listigen und durchtriebenen Mörder während der Pause ziemlich unsinnig. Sie verloren kostbare Minuten, indem Sie Miss Faraday in ihrer Garderobe trösteten. Dann verloren Sie mehrere Minuten auf der Bühne, dann, auf dem Wege zu Vincys Garderobe, ließen Sie sich fast bis zu dessen Tür von dem Elektriker Caruthers begleiten, statt ihn noch auf der Bühne abzufertigen, bevor Sie in den Korridor einbogen, der zur Garderobe führt. Warum taten Sie das? Sie verloren nur Zeit, die Sie für Ihr Manöver brauchten, und beschnitten sich damit die Möglichkeit, den Plan auszuführen. Denn nur ein Vincy, der mit Ihnen zusammenarbeitete oder auf Ihren Eintritt nicht reagierte, hätte Ihnen erlaubt, diese Aufgabe innerhalb von drei Minuten durchzuführen. Etwas ande216
res wäre es gewesen, wenn Sie die Garderobe fünf Minuten früher betreten hätten. Sie hätten dann abwarten und ihn im günstigsten Augenblick töten können. Und Sie hätten die Gewißheit gehabt, daß Sie zurechtkommen. Jedenfalls hätten Sie das etwa so geplant. 5. Der Dolch! Sie sind ohne Ihr Mordwerkzeug gekommen, obwohl Ihnen weniger als zweihundert Sekunden zur Verfügung standen, um auf der Bühne zu erscheinen! Wenn nun Vincy zum Beispiel den Schubkasten abgeschlossen oder den Dolch nach Hause mitgenommen oder hundert andere Dinge damit gemacht hätte, die dazu führten, daß er sich nicht sofort an der Stelle befand, an der Sie ihn in der Garderobe zu finden hofften? Was dann? Hätten Sie denn die geringste Chance gehabt, sich zwanglos in Vincys Garderobe zu bewegen und nach dem Dolch zu suchen, während Vincy, ohne auf Sie oder den nahenden Beginn der Vorstellung zu achten, seelenruhig hinter dem Korb voller Rosen gelegen und Sie nicht einmal angesehen hätte? Und wenn er Sie schließlich mit dem Dolch erblickte, hätte er dann nicht geschrien? Die Wände der Garderobe sind dick, und eine Unterhaltung dringt nicht hindurch, aber wäre die Stimme eines erschrockenen, erwachsenen Mannes nicht wie ein Echo im ganzen Theater erschallt? Außerdem ist mir die Sache mit dem 217
Dolch, ob er nun Vincy gehörte oder nicht, in einem so präzisen Plan einfach idiotisch vorgekommen. Wenn man eine so geniale Idee hat und sich die Möglichkeit zu schaffen wußte, sie zu verwirklichen, dann überläßt man doch die wichtigste Phase nicht hundert Zufällen. Vincy wurde mit einem einzigen Stoß getötet und hat nicht geschrien. Aber er hätte schreien können. Wäre er nicht genau ins Herz getroffen worden, hätte er aufspringen und vor Schmerz schreien können. 6. Warum hatte Vincy noch gelegen, statt sich vor, dem Spiegel die Maske aufzusetzen? Sie haben in äußerster Eile gerade noch die Bühne erreicht, aber ohne Vincy zu töten. Hätten Sie ihn noch töten müssen, wären Sie zu Ihrem Auftritt nicht zurechtgekommen. Vincy jedoch hatte keinen Grund, bis zur letzten Sekunde zu warten und sich dann im Laufen die Maske auf dem Korridor überzuziehen. Er mußte sie sich vor dem Spiegel aufsetzen und ihren Sitz prüfen, da er den Garderobier weggeschickt hatte. Außerdem lag Vincy nicht drei Minuten vor Beginn des zweiten Aktes auf der Chaiselongue, sondern weniger als drei Minuten. Sie haben ihn ja nicht getötet, nachdem Sie hereingekommen sind. Sie mußten erst hinter sich die Tür schließen, zu der Stelle gehen, wo der Dolch lag, den Dolch herausnehmen, zu Vincy zurückgehen und ihn töten. Das hätte ebenfalls gedauert. Und er 218
lag immer noch artig da und wartete auf den Tod! Weshalb? Er lag also wie gesagt zwei Minuten vor Beginn der Vorstellung auf der Chaiselongue und achtete nicht im geringsten auf Sie. Nein, das war undenkbar. Das hatte für mich weder Hand noch Fuß. Mörder und Gemordeter paßten nicht gemeinsam zu den Umständen, unter denen das Verbrechen verübt wurde. Folglich mußte es von einem anderen ausgeführt worden sein.« »Bravo!« sagte Darcy nach kurzem Schweigen. »Ich habe ihn also nicht getötet, aber jemand muß es doch getan haben!« »Eben. Das wissen wir, und so müssen wir jetzt feststellen, wer es war. Allerdings werden Sie zugeben, daß Sie alles getan haben, was in der Macht eines einzelnen Menschen steht, Verwirrung zu stiften und den Verdacht auf sich zu lenken. Erzählen Sie jetzt bitte alles genau, von Anfang an, aber ohne die Tatsachen und die Begleitumstände zu verdrehen.« »Das werde ich jetzt natürlich nicht mehr tun. Ich war also zu Beginn der Pause, nachdem Eve die Bühne verlassen hatte, sehr erregt. Eve bekam in der Garderobe einen Weinkrampf. Sie rief laut, sie hasse ihn, einen so niederträchtigen Kerl müsse man umbringen und sie werde ihn für alles bezahlen lassen. Mit einem Wort, sie war ganz aufgelöst, aber auch in furchtbarer Rage, als einer der Arbeiter 219
an die Tür klopfte und mir ausrichtete, Sawyer bitte mich auf die Bühne …« »Wie lange waren Sie bei Miss Faraday?« »Fünf oder sechs Minuten. Das läßt sich schwer sagen. Ich ging mit dem Arbeiter auf die Bühne und fragte Sawyer, was geschehen sei. Es stellte sich heraus, daß er den Zettel mit der von mir skizzierten Anordnung der Stühle, die während der Pause auf die Bühne gebracht werden, verloren hatte. Zunächst hatte er versucht, sie aus dem Gedächtnis aufzustellen, doch nach ein paar Minuten mußten er und auch die Arbeiter einsehen, daß sie damit nicht zurechtkamen. Ich zeigte ihnen, was zu tun sei. Als ich sah, daß er mich verstand, machte ich mich auf den Weg zu Vincys Garderobe. Ich wollte ihm natürlich nichts antun, obwohl ich vor Wut zitterte. Vielleicht hätte ich ihm sogar eine ’runtergehauen, ich weiß es nicht. Allmählich haßte ich ihn wirklich …« Er hielt inne. »Er war ekelhaft«, sagte er aufrichtig. »Muffig. Ein widerlicher, kleiner Egoist, ohne Skrupel und ohne Hirn. Ich wußte nicht genau, was ich tun würde, wenn ich eintrat. Die Vorstellung war erst zur Hälfte gelaufen, und wie jeder verantwortliche Theatermann stelle ich immer die Aufführung über alles, was außerhalb der Bühne geschieht. Die Vorstellung ist in gewissem Sinne heilig, und ich habe schon Schauspielerinnen gesehen, die irgendeine banale Rolle in ei220
ner Komödie spielten, während zu Hause ihre Kinder mit hohem Fieber im Bett lagen und phantasierten. Ich habe Menschen gesehen, die einen Tag nach dem Tode ihrer Lieben auftraten und jedesmal, wenn sie die Bühne verlassen hatten, wankten und schluchzten, aber beim nächsten Auftritt dem Publikum wieder ein beherrschtes Gesicht zeigten und ohne steckenzubleiben ihre Rolle rezitierten … So ging mir sogar der Gedanke durch den Kopf, daß er, wenn ich jetzt wirklich in meiner Wut kräftiger zuschlug, vielleicht nicht würde auftreten können und wir die Vorstellung abbrechen müßten. Es ist seltsam, daß man solche Überlegungen anstellt, obwohl man innerlich vor Wut kocht. Doch so war es. In diesem Augenblick begegnete mir der Elektriker Caruthers, der in den Kulissen mit jemandem sprach. Er erzählte mir etwas vom Kabel eines seiner Scheinwerfer und fragte, ob sich dieser Scheinwerfer nicht durch einen schwächeren ersetzen ließe, der in diesem Stück nicht gebraucht wurde. Die Wirkung des Lichtes ist mir zwar sehr wichtig, doch im Augenblick interessierten mich alle Scheinwerfer der Welt einschließlich meiner eigenen Theaterscheinwerfer herzlich wenig. Trotzdem mußte ich ihm eine Antwort geben. Ich sagte ihm, er solle versuchen, bis zum Schluß mit dem beschädigten zu ›fahren‹. Er sah mich erstaunt an, ging aber. Wir befanden uns gerade vor Vincys Gar221
derobe. Ich war noch immer erregt, aber die Tatsache, daß von mir soeben volle Konzentration verlangt worden war, hatte mich etwas ernüchtert. Als ich die Klinke herunterdrückte, hatte ich mich schon wieder unter Kontrolle. Im übrigen halte ich meine Nerven gewöhnlich im Zaum. Ich hatte zwar noch immer die Absicht, ihm gehörig die Meinung zu sagen, aber zuzuschlagen war ich nicht mehr imstande … Es sei denn, er hätte etwas gesagt, was mich erneut in Wut gebracht hätte. Aber er sagte nichts. Er lag tot da. Offenbar war der Tod soeben erst eingetreten, denn als ich wie betäubt über ihm stand, sah ich, daß das Blut auf dem Kostüm rings um den Dolch hellrot und noch nicht geronnen war. Daneben, auf dem Stuhl, lag seine Maske. Sie grinste mich an und schien lebendiger als er. Plötzlich begriff ich, daß ich vor Entsetzen zitterte. Der Gedanke, der in meinem Unterbewußtsein entstanden war, ließ sich nicht verdrängen. Während ich mich auf der Bühne befand, war Eve offenbar aus ihrer Garderobe gerannt und in sein Zimmer gestürmt, um ihm eine Szene zu machen! In diesem Augenblick überlegte ich nicht, ob dies möglich war oder nicht. Ich stellte mir vor, wie sie ins Zimmer kam, während er auf der Chaiselongue lag und sie wahrscheinlich wieder mit einem abscheulichen Schimpfwort bedachte, und da mußte sie seinen Dolch ergriffen haben, den ich 222
ja gut kannte, weil er ihn mir mehrmals gezeigt hatte, und ihn getötet haben; dann war sie hinausgerannt. Ich stand da und überlegte, wie ich ihr helfen könnte. Im nächsten Augenblick mußte doch alles herauskommen … Und da kam mir plötzlich ein Gedanke! So neu war er übrigens gar nicht. Vincy drohte seit einer Woche, er würde kündigen. Ich überlegte, ob ich nicht zum Direktor gehen und ihm vorschlagen sollte, Vincys Rolle mir zu übergeben. Sonst halte ich mich mit Rücksicht auf meine Hand und meine begrenzte Bewegungsfreiheit von jeglicher Schauspielerei fern. Aber in meiner eigenen Aufführung konnte ich ja alles so arrangieren, daß ich sie nicht brauchte. In den letzten Tagen hatte ich versucht, zu Hause vor dem Spiegel zu spielen. Zum Spaß ahmte ich sogar die Stimme des Alten nach. Im Bruchteil einer Sekunde begriff ich, daß ich Eve retten konnte, wenn ich die Garderobe als Vincy verließ, für ihn spielte und danach bis Mitternacht, also bis zu dem Zeitpunkt, wo ihn schließlich jemand finden mußte, nicht von ihrer Seite wich. Von Ruffin wußte ich, daß Vincy ihm verboten hatte, nach der Vorstellung in die Garderobe zu kommen, weil er auf eine Dame wartete. Mochte ihn also diese Dame nach der Vorstellung finden, während ich dafür sorgen wollte, daß Eve Faraday, nachdem sie mit dem Alten die Bühne verlassen hatte, keinen Augenblick 223
allein blieb. Alles das erzählt sich viel länger, als meine Überlegung gedauert hat. Ich nahm die Maske, lief zum Spiegel und zog sie übers Gesicht. Sie paßte ausgezeichnet. Sie hat ja auch Haare, so daß mich auf den ersten Blick niemand erkennen konnte. Jetzt mußte ich nur noch so schnell wie möglich verschwinden. Ich trat aus der Garderobe, doch in der Tür begriff ich, daß ich nicht spielen konnte wenn ich ihn hinter meinem Rücken in einem offenen Raum hatte. Gleichzeitig hinderte mich ja nichts daran, als Stephen Vincy die Tür abzuschließen und den Schlüssel mit auf die Bühne zu nehmen, obwohl das im Theater nicht praktiziert wird. Ich schloß also die Tür ab und ging hinter die Kulissen, Unterwegs begegnete ich niemandem. Als der Vorhang hochgezogen wurde, fürchtete ich einen Augenblick lang, Eve Faraday könnte mich erkennen oder vielmehr dahinterkommen, daß sie es nicht mit Vincy zu tun hatte. Doch es stellte sich heraus, daß das nicht so einfach war. Dann sprang ich aus dem Fenster und machte alles so, wie Sie es demonstriert haben. Schließlich stand ich wieder auf der Bühne, verneigte mich vor dem Publikum und dachte mit Entsetzen daran, daß er dort liegt. Erst jetzt, nachdem ich seine Rolle gespielt, begann ich die ganze Wahrheit und das, was ich getan hatte, zu begreifen. Am meisten jedoch setzte mich Eve in Erstau224
nen. Falls sie Stephen Vincy getötet hatte, so wußte sie sich auf der Bühne zu beherrschen, wie man es sich besser gar nicht vorstellen kann. Später, als wir die Bühne verließen, beobachtete ich sie unerhört aufmerksam. Sie äußerte sich boshaft und verächtlich über Stephen, darüber, daß er nicht herausgekommen war, um sich dem Publikum zu zeigen. Anschließend gingen wir zusammen essen. Ich besprach mit ihr ihre nächste Rolle, die Medea, und kam allmählich zu der absoluten Gewißheit, daß ich einen schrecklichen Irrtum begangen hatte. Eve hatte Stephen nicht getötet! Sie hätte sich nicht so verhalten können. Das war ausgeschlossen. Ich kenne sie zu gut, jede Regung ihres Gesichts. Vor mir hätte sie das nicht verbergen können. Und dann – welchen Schock hätte bei ihr sein Erscheinen auf der Bühne im zweiten Akt auslösen müssen! Daran dachte ich erst während des Abendessens. Hätte sie ihn getötet, so mußte sie doch annehmen, der Tote liege in der Garderobe, der Vorhang würde nicht hochgehen und im Theater würde man gleich Alarm geben. Statt dessen erschien der Getötete auf der Bühne und begann wie üblich seine Rolle zu spielen, während sie das völlig ruhig aufnahm. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. Außerdem … außerdem hielt ich es nicht für möglich, daß die Polizei darauf kommen würde, wenn es nicht einmal meine Partnerin oder irgend jemand 225
im Theater bemerkt hatte. Wie sich zeigt, hatte ich mich geirrt …« Er neigte den Kopf in die Richtung, wo Alex saß. »Das ist alles.« »Tja …« Parker stand auf, ging einige Male im Zimmer hin und her, »Eine unerhörte Geschichte! Einfach unerhört …« Er blieb stehen. »Wieviel Minuten fehlten noch bis zum Ende der Pause, als Sie hier hereinkamen?« »Zwei, vielleicht drei? So, wie Sie das errechnet haben. Genau läßt sich das kaum sagen. Unter solchen Umständen vergeht die Zeit anders. Als ich hereinkam, rief der Inspizient gerade über Lautsprecher Vincy und Eve Faraday auf. Lautsprecher haben wir in allen Garderoben angebracht. Sie sind mit der Bühne verbunden, so daß der Schauspieler die Vorstellung auch in solchen Augenblicken verfolgen kann, wenn er nicht selber auftritt.« Er wies auf ein kleines, an der Wand hängendes Kästchen. »In diesem Stück war das natürlich nicht notwendig, denn die Alte und der Alte verlassen zwischendurch nicht die Bühne. Bis zum Ende der Pause waren es noch etwa drei Minuten.« »Und wie lange dauert die Pause?« »Sechzehn bis siebzehn Minuten. Soviel Zeit brauchen wir ungefähr, um die Stühle aufzustellen.« »Sie wären also fast zu spät gekommen, ja?« »Ja. Ich hatte kaum den Platz eingenommen, 226
den der Alte einzunehmen hat, als der Inspizient auch schon das Zeichen gab, den Vorhang zu heben.« »Haben Sie in diesem Zimmer nichts bemerkt, was Ihnen vielleicht ungewöhnlich erschien?« »Nein …« Darcy schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte keine Zeit, mich umzuschauen. Außerdem war ich völlig benommen von der Situation und auch erschüttert vom Anblick des toten Stephen und von dem Gedanken, Eve könnte ihn getötet haben. Nein … nein.« »Versuchen Sie bitte, sich genau an alles zu erinnern, was Sie hier getan haben«, sagte Alex. »Ich kam herein und schloß hinter mir die Tür. Da war mir noch nicht klar, daß Vincy nicht lebte. Ich trat an die Chaiselongue und erblickte den Dolch. Ich beugte mich über ihn, um festzustellen, ob er noch lebte. Während des Krieges hatte ich so viele Tote gesehen, daß ich sofort begriff. Außerdem steckte der Dolch eindeutig im Herzen und so tief … Dann kam mir der Gedanke, daß ich für ihn spielen könnte, und ich drehte mich rasch um. Plötzlich erstarrte ich. Ich glaubte, der Tote halte mich am Hosenbein fest. Aber ich war nur an den Dornen einer der Rosen im Korb hängengeblieben. Ich griff nach der Maske. Nein. Zuerst lief ich zur Tür und schloß von innen ab, dann ergriff ich die Maske und rannte zum Spiegel. Ich setzte sie auf. 227
An der Tür fiel mir ein, daß auf dem Toilettentisch mein Hut lag, den ich die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. Zum Glück ist er aus weichem Filz, so daß ich ihn zusammenrollen und hinter den Gummi schieben konnte, der anstelle eines Gürtels die Hose festhält. Die Jacke ist lose genug, ich konnte also annehmen, daß ihn niemand bemerken würde. Dann ging ich hinaus und schloß hinter mir die Tür ab. Den Schlüssel steckte ich in die Jackentasche. Kaum war ich auf der Bühne, ging auch schon der Vorhang hoch.« »Ja …« Alex nickte vor sich hin. »Ich danke Ihnen sehr. Jetzt können wir sagen, daß uns Stephen Vincys Mörder bekannt ist. Sie haben uns alles oder so gut wie alles erklärt.« »Ich?« fragte Darcy erstaunt. »Ja. Sie … Sie sind frei, falls Inspektor Parker nichts dagegen hat. Ich würde Ihnen raten, jetzt in die Garderobe von Miss Eve Faraday zu gehen und sie nach Hause zu bringen. Nach dieser gespenstischen Nacht hat sie sich ihren Schlaf verdient.« Alex stand auf und streckte Darcy die Hand hin. »Sie haben sich ziemlich unsinnig benommen, aber nichtsdestoweniger haben Sie eine Menge Mut und Kaltblütigkeit bewiesen. Ich hoffe, wir begegnen uns noch irgendwann einmal unter anderen, angenehmeren Umständen. Entschuldigen Sie uns bitte bei Miss Faraday. Auch Sie können sich jetzt 228
in Ruhe hinlegen. Wir werden Sie nicht mehr brauchen.« Nachdem Darcy hinausgegangen war, sah Parker Alex fast erschrocken an. »Hör mal, Joe. Ich habe zugelassen, daß mir dieser Fall entgleitet, und habe dir vertraut. Offen gestanden, gibt es da etwas, was ich nicht fassen kann, was sich meinem Zugriff entzieht. Ich schäme mich dessen nicht. Wahrscheinlich würde manch ein Untersuchungsoffizier bei uns und auf dem Kontinent schon eine Stunde nach Beschäftigung mit diesem Fall verzweifeln, oder er würde mehrere unschuldige Personen verhaften und müßte sie dann beschämt und unter Entschuldigungen entlassen. Zuerst war da Mrs. Dodd. Sie schien alle Chancen für eine Mörderin zu besitzen. Sie hatte ein Motiv, war hier gewesen … Doch wie sich herausstellte, hast du sie nicht verdächtigt, und zwar nur deshalb nicht, weil Vincy im Liegen getötet wurde. Dann schien alles auf Darcy hinzudeuten. Im stillen dachte ich, daß dies ein verdammt intelligenter Mörder ist, aber daß du dich zum Glück als intelligenter erwiesen hast … Und was zeigte sich? Mr. Darcy wurde wie auf Bestellung auf dem Felde der Ehre verwundet, und zwar so, daß er auch dann niemanden erdolchen könnte, wenn er eine halbe Stunde Zeit dafür hätte. Einverstanden! Darcy ist ein weißes, unschuldiges 229
Schäfchen und soll sich von mir aus bis an das Ende seiner Tage mit Miss Eve Faraday auf grünen Weiden tummeln. Mögen sie heiraten, mögen sie sieben Söhne und sieben Töchter haben, mögen sie alt und grau werden, umgeben von menschlicher Achtung und wachsendem Wohlstand. Mögen sie schließlich zum Teufel gehen! Aber ich will wissen, wo Stephen Vincys Mörder ist! Du beschäftigst dich doch diese ganze Nacht mit nichts anderem, als allen Verdächtigen ein Alibi zu verschaffen. Aber wer hat getötet? Ich frage, wer Stephen Vincy getötet hat. Denn das allein geht mich etwas an. Mich interessiert nicht, wer ihn nicht getötet hat, nicht getötet haben ihn alle Menschen, die auf dieser Welt leben … außer einem.« »Möchtest du, daß ich dir sage, wer dieser eine Mensch ist?« »Wenn du weißt, wer es ist …« »Ich weiß es. Jetzt weiß ich es schon mit absoluter Gewißheit. Doch anstandshalber müssen wir überprüfen, ob alle Angehörigen des Theaterpersonals für die Zeit der Pause ein Alibi besitzen. Vergiß nicht, daß wir bisher nur auf ihr Verhalten nach Vincys Abgang von der Bühne geachtet haben. Nun wissen wir, daß er während der Pause umgekommen ist, genauer gesagt, in dem Zeitraum, da er nach dem ersten Akt die Garderobe betrat bis etwa drei Minuten vor Beginn des zwei230
ten Aktes, das heißt bis zu Darcys Auftauchen in der Garderobe. Ja, sogar etwas davor, denn der Mörder mußte ja herauskommen, ehe Darcy hineinging. Das heißt, daß Stephen in der Pause ermordet wurde, innerhalb dieser elf oder zwölf Minuten, nachdem er die Garderobe betreten hatte.« »Ja«, sagte Parker und nickte. »Wir müssen alles von neuem beginnen. Darcy entfällt, Eve Faraday und Susan Snow ebenfalls, denn die eine beruhigte die andere die ganze Pause hindurch, und dann begleitete die Garderobiere Eve bis zur Bühne. Angelica Dodd interessiert uns ebenfalls nicht, denn sie war während der Pause unter den Zuschauern. Bleiben die übrigen …« Er ging zur Tür. »Jones!« »Ja, Chef?«
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XVII. DER MÖRDER »B«
Eine Stunde verging, während der noch einmal die erschöpften, erschreckten Leute durch die Garderobe des Ermordeten zogen. Es waren ihrer neun. Der Inspektor des Scotland Yard, Benjamin Parker, wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf seinem Stuhl auf. In der Hand hielt er ein engbeschriebenes Blatt Papier. »Allmählich glaube ich an Gespenster, Joe«, sagte er leise. »Aber vielleicht träumen wir das alles nur?« »Warum?« fragte Joe Alex. Er war unausgeschlafen. Müde rieb er sich die Augen und entnahm seinem Zigarettenetui eine neue Gold Flake. »Was heißt warum? Hör zu: 1. Henry Darcy- konnte aus physischen Gründen nicht töten. Verkrüppelte Hand. 2. William Gullins – Portier – saß während der ganzen Pause mit 3. Oliver Ruffin – der Garderobier – in der Portierloge. 4. Jack Sawyer – der Inspizient – war die ganze Pause hindurch auf der Bühne damit beschäftigt, 232
das Aufstellen der Stühle zu beaufsichtigen, was einer der Arbeiter, 5. Joshua Braddon, der sich immer in seiner Nähe aufhielt, bestätigen kann. Der andere Bühnenarbeiter, 6. Stanley Higgins, ging nur für einen Augenblick in Eve Faradays Garderobe, um Darcy zu holen, und der Feuerwehrmann, 7. Simon Formes, zeigte ihm, wo sie sich befand, und blieb dann in der Tür stehen, die von der Bühne zum Hauptgang führt, weil er fürchtete, Higgins könnte nicht finden. Den Feuerwehrmann Simon Formes sahen die ganze Zeit hindurch die Leute, die die Stühle heranschleppten und aufstellten, und als er sich mit Higgins entfernte, sah ihn letzterer die ganze Zeit, denn er klopfte natürlich nur an Eve Faradays Tür und ging nicht hinein; er bat Mr. Darcy auf den Korridor hinaus und kehrte dann mit ihm zur Bühne zurück. Auch der Feuerwehrmann kehrte zur Bühne zurück und unterhielt sich anschließend mit dem Elektriker, 8. Richard Caruthers, der die ganze Zeit, bis die Arbeit auf der Bühne unterbrochen wurde, an seinem Scheinwerfer hantierte. Das können alle bestätigen, denn das Licht ging dauernd an und aus, was die anderen bei ihrer Arbeit ein bißchen nervös machte. Dann kam Caruthers herunter auf die Bühne und begegnete dort Darcy, mit dem er sich unterhielt und den er bis zur Garderobe begleitete. Doch das hat keinerlei Bedeutung, denn Vincy 233
lebte zu dem Zeitpunkt nicht mehr, wie Darcy aussagt. 9. John Knithe – der Souffleur – und 10. Malcolm Snow- der Mann am Vorhang – unterhielten sich die ganze Pause hindurch über das verwünschte Fußballtoto. 11. Eve Faraday und 12. Susan Snow – die Garderobiere – hielten sich die ganze Pause hindurch in der Garderobe auf, denn Eve brauchte Fürsorge. Die Garderobiere brachte sie bis zur Bühne …« Parker blickte von seinem Blatt auf. »Das sind alle, Joe! Alle! Sonst war niemand im Theater. Jeder dieser Leute hat ein vollständiges Alibi … Es sei denn, der Mörder hatte einen Spießgesellen. Er mußte einen haben, sonst beginne ich an Wunder zu glauben. Zuerst mußten wir erleben, daß niemand Stephen Vincy nach der Vorstellung ermorden konnte! Also lag der Gedanke nahe, daß er früher ums Leben gekommen ist. Als sich schließlich herausstellte, daß sich eine ganz phantastische Geschichte ereignet hatte und der Tote auf der Bühne spielte, während er gleichzeitig in seiner Garderobe lag, mit einem Dolch durchbohrt, wie weiland Cäsar persönlich, stellte sich ebenfalls heraus, daß der Urheber dieser Überraschung ihn gar nicht hatte töten können! Folglich mußte ihn während der Pause ein anderer getötet haben. Doch jetzt 234
zeigt sich, daß auch dies nicht stimmt. Und was nun?« Joe Alex schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber. Stephen Vincy starb während der Pause.« Parker sah ihn fast verzweifelt an. »Aber es konnte ihn doch niemand töten!« »Wieso denn? Natürlich konnte ihn jemand töten, wenn er ihn getötet hat.« »Das weiß ich, aber wenn ihn keiner dieser Leute getötet haben kann, dann …« Alex lächelte. »Ben, du vergißt den Mörder ›B‹. Ich sagte, daß ein Teil der Spuren auf den Mörder ›A‹ hinweist und ein Teil auf den Mörder ›B‹. Der Mörder ›A‹ war Darcy. Schließlich konnte ich nicht wissen, daß ein unschuldiger Mensch mir nichts, dir nichts eine so halsbrecherische Aufgabe durchführt. Sein Eingreifen verdunkelte das Bild und erschwerte die klare Sicht, denn der Mörder ›B‹ brauchte zum Beispiel nicht diese verwünschte Maske, er hätte auch gar nicht für Vincy spielen können, und töten konnte er ihn nur während der Pause, also hätte sich alles herausstellen müssen, noch ehe der zweite Teil der Vorstellung begann. Darcy hatte ja ungewollt allen ein Alibi verschafft, die Vincy in der Pause umbringen konnten, obwohl er es nur Eve Faraday verschaffen wollte. Jetzt, da Darcy als 235
Mörder nicht mehr in Frage kommt und die Sache mit der Maske sowie Vincys Auftritt nach seinem Tode geklärt werden konnten, thront der Mörder ›B‹ einsam auf dem Schlachtfeld, und das Alibi des ganzen Ensembles weist auf ihn wie auf einen schwarzen Klecks auf einem weißen Blatt Papier.« »Und wer ist es?« fragte Parker und beugte sich vor, um genau zu hören, so als könnten neue Worte in diesem Theater verschwinden oder sich in andere Worte verwandeln. Alex sagte ihm, wer es war. »Allmächtiger Gott!« flüsterte Parker. »Wie konnte ich das übersehen?« »Eine einfache, psychologische Wahrheit«, murmelte Joe Alex. »Das Banale übersieht man am ehesten.« »Warte bitte hier auf mich …« Parker ging zur Tür. »Gut.« Alex nickte. Als die Tür sich hinter dem Inspektor geschlossen hatte, saß er eine Weile reglos da und zündete sich schließlich noch eine Gold Flake an. Dann stand er rasch auf und ging in die Portierloge, wo ein verschlafener Polizist saß. Alex bat ihn für einen Augenblick hinaus, wählte eine Nummer und sagte ein paar Worte … dann wieder ein paar Worte … und legte den Hörer auf. Er kehrte in das Zimmer zurück und spazierte, eine leise, wehmütige Melodie vor sich hin pfeifend, langsam 236
auf und ab. Zwischendurch blieb er stehen, zog eine Rose aus dem Korb und roch daran. Endlich öffnete sich die Tür. Auf der Schwelle stand Parker. Er kam schwerfällig herein und ließ sich in einen Sessel fallen. »Er ist tot«, sagte er. »Eine Minute bevor wir kamen, hat er Selbstmord begangen. Für seine Familie hat er ein paar Zeilen hinterlassen, in denen er mit keinem Wort diese Angelegenheit erwähnt.« »Meiner Meinung nach hat er sehr vernünftig gehandelt«, brummte Alex. Der Inspektor sah ihn lange an. »Der Polizist, der in der Portierloge Dienst tut, hat mir gemeldet, daß du mit der Stadt gesprochen hast …« »Ach ja? Nun, ich darf ja wohl auch meine privaten Angelegenheiten haben, nicht wahr?« Alex betrachtete ihn ernst. Seine Finger spielten mechanisch mit dem langen, schlanken Stiel der aufblühenden roten Rose. »Selbstverständlich …« Der Inspektor senkte den Blick. »Ganz bestimmt. Aber hör zu, Joe … Es ist meine Pflicht …« »Es ist unser aller Pflicht, die Pflicht jedes anständigen Menschen«, unterbrach ihn Alex, »dafür zu sorgen, daß ein Verbrechen nicht ungesühnt bleibt. Das ist richtig. Aber auch dafür, daß das Gesetz ehrliche Menschen nicht nur deshalb benachteiligt, weil es Gesetz ist.« Er hob die Blume an 237
die Nase und roch daran. Dann lächelte er. »Ich warne dich. Solltest du die Absicht haben, mich anzuklagen in deiner edlen Leidenschaft, den Buchstaben des Gesetzes zu verteidigen und nicht seinen Inhalt, den ich ebenso achte wie du, dann werde ich mich zu wehren wissen.« »Hör auf …« Der Inspektor winkte ab. »Es ist nun mal geschehen. Zwei Menschen sind heute nacht gestorben: der Mörder und der Ermordete. Der Kreis hat sich geschlossen.« »Dann wollen wir ihn auch nicht auseinanderbrechen«, erwiderte Alex. »Ich danke dir, Ben. Sir Thomas Dodd hat recht, als er sagte, du seiest ein richtiger Gentleman.« »Unsinn!« Parker errötete. »Wenn der Mörder lebte, hätte ich ihn sofort in die Zelle transportiert, ohne Rücksicht darauf, wie ich darüber denke.« »Ja. Das gehört auch zu deinen tatsächlichen Pflichten. Einen Mörder laufenzulassen, nur weil man sein eigenes, subjektives Verhältnis zu der Sache hat, ist eine heikle Angelegenheit, das hättest du nicht getan. In dieser Situation jedoch, da ein Tod mit dem anderen gesühnt wurde, hattest du die Wahl. Ich freue mich, daß du gewählt hast, was dir Verstand und Gewissen diktiert haben und nicht der Gehorsam gegenüber trockenen Vorschriften.« »Das ist doch alles Unsinn!« Parker winkte ab. 238
»Reden wir nicht mehr davon.« Und um das Gesprächsthema zu wechseln, fügte er rasch hinzu: »Aber nun mußt du mir endlich sagen, wie du dieses Rätsel gelöst hast! Ich kann das immer noch nicht begreifen. Nicht deshalb, weil die Wahrheit zu tief verborgen war. Sie lag an der Oberfläche, das stimmt. Ich schäme mich deswegen ein bißchen, weil mir diese Möglichkeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist. Andererseits gab es so viele erstaunliche Ereignisse und Verwicklungen, die davon abgelenkt haben …« »Das ist wahr. Deshalb verstand ich das alles nicht schon früher. Als mir klar wurde, daß nicht Angelica Dodd Vincy getötet hatte – und wie du weißt, war ich fast vom ersten Augenblick an dieser Meinung –, blieb mir die Alternative: Mörder ›A‹ und Mörder ›B‹. Der Mörder ›A‹ war derjenige, der die Maske mitgenommen hatte, der Mörder ›B‹ derjenige, der die Briefe an sich genommen hatte.« »Das konnte doch ebensogut ein und derselbe Mensch sein …« »Nein. Wenn wir es nicht mit einem manisch kranken Verbrecher zu tun hatten, und die Art, wie das Verbrechen verübt wurde, zeugte eher von einem ›normalen‹ Mörder, so mußte man an seine Handlungsweise logische Maßstäbe anlegen. Die Maske konnte nur Darcy genommen haben, denn er allein von allen Menschen auf der Welt konnte 239
die Bedingungen erfüllen, Vincy sofort auf der Bühne zu vertreten. Gleichzeitig war er jedoch der letzte, der nach einem Mord an Vincy die Briefe genommen hätte, die dieser mitgebracht hatte, um sie gegen die Juwelen von Miss Dodd einzutauschen.« »Weshalb?« »Weil er a) ihren Wert nicht kennen konnte, b) ihren Inhalt nicht kennen konnte, c) nicht wußte, daß Vincy sie an diesem Tag mitbringen würde, d) überhaupt nichts von deren Existenz wußte, e) nach dem Mord nicht die Zeit gehabt hätte, sie zu lesen, f) hätte er die Zeit gehabt, dann hätten ihm die Briefe einer Miss Angelica Crawford von vor zwanzig Jahren nichts gesagt. Also wäre es für ihn völlig sinnlos gewesen, sie auf die Bühne mitzunehmen; später hätte er keine Gelegenheit dazu gehabt, weil er Vincys Garderobe nicht mehr betreten durfte. Folglich hat der Mörder ›A‹ die Maske genommen, aber nicht die Briefe. Hingegen hatte der Mörder ›B‹, der die Briefe an sich nahm, nicht den geringsten Grund, die Maske mitzunehmen. Als Mörder ›B‹ kamen nur zwei Personen in Frage: Sir Thomas Dodd und Mrs. Dodd, denn nur sie wußten von der Existenz der Briefe und davon, daß Vincy sie an diesem Tage in seine Garderobe bringen würde. Nur für sie stellten diese Briefe einen unschätzbaren Wert dar. Aber: 240
1. Sir Thomas besaß ein Alibi seit einundzwanzig Uhr zwanzig, eigentlich sogar ab einundzwanzig Uhr zehn, denn obwohl er mit dem Wagen gekommen war, brauchte er doch etwa zehn Minuten, um zu Doktor Amstrong zu gelangen. Doch Sir Thomas wäre als Mörder ›B‹ auf Darcys Dienste angewiesen gewesen, der zu diesem Zweck die Maske mitnehmen, für Vincy spielen und so für Sir Thomas ein Alibi schaffen mußte. Das war völlig rätselhaft und erschien mir im ersten Augenblick unwahrscheinlich. 2. Mrs. Dodd war zweiundzwanzig Uhr fünfzehn in der Garderobe und konnte die Briefe mitnehmen. Aber sie sagte uns, sie habe sie nicht gefunden. Sie hatte keinerlei Grund, uns zu belügen. Sie war das Opfer einer Erpressung, die Briefe waren von ihrer Hand geschrieben; wenn sie uns also gesagt hätte, sie habe sie gefunden, nach Hause mitgenommen und verbrannt, durfte keiner von uns ihr auch nur einen Vorwurf machen. Ich konnte ihr also glauben, um so mehr, als sie damit den Verdacht von den anderen nahm und auf ihren Mann lenkte. Und das war doch bestimmt nicht ihre Absicht. Ich glaubte ihr also. So blieben mir also nur zwei Mörder: der Mörder ›A‹, Darcy, der die Maske mitgenommen, aber die Briefe dagelassen hätte (wer hatte dann die Briefe genommen), und der Mörder ›B‹, Sir Thomas Dodd 241
– außer Mrs. Dodd der einzige Mensch, der die Briefe, nicht aber die Maske genommen hätte. Außerdem konnte Thomas Dodd Vincy nur unter der Bedingung töten und die Briefe mitnehmen, wenn anschließend Darcy die Garderobe betrat, die Maske nahm und die Rolle des Alten spielte, nachdem er Vincy vorher eingeschlossen hatte. Es entstand eine völlig absurde Situation: Dodd konnte die Briefe nur an sich nehmen, wenn Darcy Vincy tötete. Aber er konnte das nur tun, indem er die abgeschlossene Garderobe betrat; den Schlüssel jedoch hatte Darcy bei sich auf der Bühne. Hätte hingegen Dodd Vincy getötet und die Briefe genommen, dann mußte Darcy anschließend die Garderobe betreten und als völlig unschuldiger Mensch, ohne jemandem etwas zu sagen, die Maske nehmen und für den Toten spielen! All das war völlig unwahrscheinlich. Gleichzeitig häuften sich die Beweise, daß Darcy nicht getötet hatte. Doch wenn er nicht getötet und nach der Pause gespielt hatte, dann konnte auch Sir Thomas Dodd nicht der Täter sein. Wer also hatte die Maske und die Briefe genommen?« Alex ließ ein bitteres, rauhes Lachen hören. »Später, als sich herausstellte, daß nach der Vorstellung außer Mrs. Dodd niemand die Garderobe betreten hatte und in der Pause nur zwei Personen bei ihm waren: Darcy und der Blumenbote, klärte sich alles. 242
a) Mrs. Dodd hatte nicht getötet, denn als sie die Garderobe betrat, war Vincy mindestens schon seit einer Viertelstunde tot, was die Obduktion der Leiche ergab. b) Darcy hatte nicht getötet, denn sein rechter Arm ist verkrüppelt (und aus hundert anderen Gründen, die ich bereits erläutert habe). c) Es blieb nur der Bote aus dem Blumengeschäft. Der hatte mit Bestimmtheit Vincy getötet und die Briefe mitgenommen. An den Briefen aber war (außer Mrs. Dodd) nur eine Person interessiert, und nur eine Person wußte von deren Existenz und davon, daß sie sich an diesem Abend in Vincys Garderobe befanden: Sir Thomas Dodd. In diesem Augenblick war sein vorheriges Alibi völlig wertlos geworden, denn wenn er einundzwanzig Uhr fünf getötet hatte, konnte er ohne weiteres einundzwanzig Uhr zwanzig bei Doktor Amstrong sein, da sein Wagen ja in der Nähe des Theaters stand. Verständlich war auch, weshalb er die ganze Familie ins Theater geschickt hatte. Er wollte allein sein und wollte sein Auto nehmen, um rechtzeitig das Blumengeschäft und das Theater zu erreichen, ohne im Gedächtnis eines der Londoner Taxifahrer zu bleiben, die am nächsten Tag von dem Mord in der Zeitung gelesen hätten. Der Rest war relativ einfach. Auf einen Blumen243
boten achtet niemand, an ihn erinnert sich keiner. Die Portiers in den Theatern lassen sie durch, ohne auch nur hinzuschauen. Sir Thomas riskierte nicht viel. Er durfte annehmen, daß Vincy allein sein würde, da er ja Mrs. Dodd erwartete. Wäre er nicht allein gewesen, hätte Sir Thomas einfach die Blumen abgegeben, einen Schilling Trinkgeld in die Hand bekommen und wäre gegangen. Wichtig war hingegen der weiße, leere Briefumschlag …« »Weshalb?« »Sir Thomas kam, um zu töten. Er wollte (in dem Augenblick) zustoßen, wenn Vincy den Umschlag öffnete, also seine Aufmerksamkeit abgelenkt war.« »Und womit wollte er den Stoß führen?« »Natürlich mit dem Dolch! Du weißt doch, daß Vincy mit einem Dolch ermordet wurde.« »Moment mal …« Parker hob die Hand. »Du sagst, Sir Thomas ist gekommen, um zu töten. Warum hat er dann nicht das Mordwerkzeug mitgebracht? Und außerdem – hätte Vincy es zugelassen, daß der Blumenbote in der Garderobe umherläuft und nach einem Dolch sucht, von dessen Existenz in dieser Garderobe Sir Thomas nichts wissen konnte? Das ist doch Unsinn!« »Bravo!« sagte Alex. »Ich habe mir dieselbe Frage gestellt und konnte sie zunächst auch nicht beantworten. Aber schließlich war Sir Thomas der einzi244
ge Mensch, der Vincy töten konnte, folglich mußte es eine logische und einfache Erklärung geben.« »Aber welche?« »Die Geschichte muß sich folgendermaßen abgespielt haben: Sir Thomas konnte ja nicht schießen, und es wäre ihm auch nicht gelungen, Vincy Gift zu reichen. So blieb nur der Dolch – eine geräuschlose, lange und scharfe Waffe. Sir Thomas besaß einen solchen Dolch seit Jahren, er nahm ihn also mit, fuhr zum Blumengeschäft und kaufte einen Korb Rosen. Wahrscheinlich verkleidete er sich vorher ein bißchen, damit die Polizei nicht über den Korb den Käufer herausbekommt. Dann fuhr er bis in die Nähe des Theaters, parkte seinen Wagen inmitten Tausender anderer Wagen, befestigte am Korb den leeren Umschlag und betrat das Theater mit der Mütze eines Boten, wie man sie zu Hunderten in jedem Mützengeschäft kaufen kann. Die Situation war günstig: Es war Pause. Aber das hatte Dodd wahrscheinlich genau berechnet, denn er mußte Vincy ja in dessen Garderobe antreffen und nicht auf der Bühne, weil damit sein ganzer Plan gescheitert wäre. Vincy war allein, er lag auf der Chaiselongue und ruhte aus, denn diese Rolle ist wegen der dauernden Stühleschlepperei körperlich ziemlich anstrengend. Sir Thomas trat an die Chaiselongue heran, setzte den Blumenkorb ab und reichte Vincy den Umschlag. Vincy ging sofort 245
daran (natürlich ohne aufzustehen), den Inhalt des Umschlags zu untersuchen. Immerhin konnte Mrs. Dodd den Blumenkorb als Vorwand benutzt haben, um ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. In diesem Augenblick zog der demütig am Kopfende der Chaiselongue stehende Blumenbote seinen langen Dolch hervor und stieß mit aller Kraft zu. Zwar war er durch die Krankheit erschöpft, aber um einen Stoß von oben herab gegen einen reglos daliegenden Körper zu führen, braucht es nicht viel Kraft. Der Dolch durchbohrte das Herz, Vincy konnte gerade noch mit der linken Hand danach greifen und mit der rechten krampfhaft den leeren Umschlag umschließen. Eine Sekunde später lebte er nicht mehr. Nun stürzte Sir Thomas zum Schubkasten, um die Briefe zu suchen. Ich weiß nicht, ob er sie dort gefunden hat oder in Vincys Anzug, aber ich weiß, daß er dort sofort den zweiten Dolch fand! Er fand ihn und wußte natürlich, daß er genauso aussah, denn schließlich hatten sie einst diese Dolche zusammen anfertigen lassen. So brauchte er nicht mehr das Mordwerkzeug aus der Wunde zu ziehen und es zu verbergen. Es genügte, Vincys Dolch mitzunehmen, wodurch der Polizei die Untersuchung zusätzlich erschwert wurde. Als Sir Thomas das Theater verließ, hatte er allen Grund anzunehmen, daß er ein ideales Verbrechen begangen – hatte. 246
Keiner der Lebenden (außer seiner Frau, deren Diskretion er sicher sein durfte) wußte, daß er irgendeinen Grund hatte, Stephen Vincy zu töten. Das Mordwerkzeug, das sehr charakteristisch aussah und das er hätte mitnehmen müssen, war in diesem Augenblick nur noch Vincys Dolch, mit dem jemand diesen Schauspieler getötet hatte. Seine Frau würde Vincy nicht mehr begegnen und den Verdacht auf sich lenken, denn die Pause mußte gleich zu Ende sein, Vincy würde nicht auf die Bühne kommen, sie würden nachsehen und die Leiche finden. Angelica Dodd kehrte mit den Juwelen nach Hause zurück, und keiner der beiden würde je ein Wort darüber verlieren. Doch es geschah etwas, was er in seinen schlimmsten Alpträumen nicht voraussehen konnte: Die Vorstellung ging ruhig weiter, und der ermordete Vincy spielte bis zum Schluß, von Beifall überschüttet. Folglich suchte Mrs. Dodd natürlich seine Garderobe auf. Dort fand sie nicht die Briefe, aber sie erblickte den Dolch und die Leiche, außerdem lenkte sie die Aufmerksamkeit der Polizei auf das Haus der Dodds, das sonst niemals in diese Angelegenheit verwickelt worden wäre. Mrs. Dodd kehrte nach Hause zurück. Sie wäre kein lebendiges Wesen, hätte sie nicht sofort, und sei es unwillkürlich, in die Schublade der Kommode geschaut. Den Dolch fand sie natürlich nicht, denn ihr Mann war 247
noch nicht von Doktor Amstrong nach Hause zurückgekehrt. Da begriff Angelica Dodd, daß er auf irgendeine Weise vor ihr dort aufgetaucht war, Vincy mit seinem Dolch getötet und die Briefe mitgenommen hatte. Als Sir Thomas um elf nach Hause kam, wollte sie ihn nicht sehen, sie wollte nicht mit ihm über den Mord sprechen. Sie schloß sich in ihrem Zimmer ein und sagte, sie habe Kopfschmerzen. Als die Polizei eintraf, beschloß sie sofort, dieses Verbrechen für ihn zu sühnen, denn schließlich hatte er es aus Liebe zu ihr und zu Anne begangen. Auf meine Frage nach dem Dolch ging sie ganz ruhig zu der Stelle, wo er gewöhnlich lag, und wies mit der ausgestreckten Hand dorthin. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen befand sich der Dolch an Ort und Stelle! Später, als sie erfuhr, daß ihr Mann von neun Uhr zwanzig bis fast gegen elf bei Doktor Amstrong war, atmete sie auf. Also konnte nicht er ihn getötet haben, denn sie hatte ja Vincy selbst noch zehn vor zehn auf der Bühne gesehen und erst ein Viertel nach zehn festgestellt, daß er nicht lebte!« »Großer Gott!« stöhnte Parker auf. »Welch eine Hölle! Was für eine ungewöhnliche Häufung von Zufällen!« »Durchaus nicht!« protestierte Alex. »In dem Augenblick, wo der Mörder nach den Briefen zu suchen begann, mußte er auf den Dolch treffen, 248
und da er ihn nun mal in der Hand hatte, mußte er ihn auch mitnehmen, sonst wäre er einfach dumm gewesen. Das war nur primitive Logik des Handelns. Unter diesen Umständen konnte nichts anderes geschehen.« Er machte eine Pause und zündete sich eine neue Zigarette an. »Bleibt noch das Motiv der Tat. Sir Thomas hatte viel gewichtigere Gründe, Vincy für ewig zum Schweigen zu bringen, als seine Frau. Erstens kannte er ihn nur zu gut und wußte genau, daß er schließlich das Geheimnis ausplaudern würde; folglich würde auch Anne Dodd erfahren, daß sie nicht seine, Dodds, Tochter war. Das war sicherlich für ihn der schrecklichste Gedanke. Er liebte sie wirklich, hatte sie erzogen, und nun, da er an der Schwelle des Todes stand, sollte er in dem Bewußtsein gehen, daß sein Grab für sie nicht das Grab des Vaters sein würde. Außerdem würden dadurch die beiden einzigen Menschen, die er liebte, seine Frau und seine Tochter, in den Schmutz gezogen, ganz zu schweigen von dem Riesenvermögen, das es ihm leichter machte, Abschied von der Welt zu nehmen; denn es gab ihm die Gewißheit, daß sein Kind und somit auch Angelica Dodd bis an das Ende ihrer Tage nicht nur eine gesicherte Existenz besaßen, sondern im Überfluß leben konnten. Außerdem haßte er ja auch Vincy, was man ihm wohl 249
nicht verübeln kann. Und er riskierte nicht viel. Er wußte, daß er bald sterben würde. Krebs war ein unerbittlicher Mörder und vollendete bereits sein Werk in diesem erschöpften Organismus. Sir Thomas kam zu dem Schluß, daß es besser wäre, auf seinen letzten Weg den niederträchtigsten Menschen mitzunehmen, der ihm im Leben begegnet ist. Bedenkt man, daß dieser Mord den ihm liebsten Menschen so viel Glück gab und sie vor so großem Unglück bewahrte, dann muß man zugeben, daß das Motiv für eine solche Tat sehr stark war. Kann sich jedoch ein würdiger Archäologe so mir nichts, dir nichts in einen alternden Blumenboten verwandeln? Diese Frage beantwortete uns Sir Thomas selbst, indem er sagte, daß er und Vincy die Stützen des dramatischen Zirkels ihrer Schule gewesen seien. Er besaß schauspielerisches Talent, das jedoch nicht zum Durchbruch gekommen war, weil sein Vater anders entschieden hatte. Aber Talent geht nicht so schnell verloren. Überdies verlangt die fast stumme Rolle eines Boten eigentlich nur ein Kostüm: einen nicht allzu eleganten Anzug und eine Mütze mit irgendeinem Emblem. Darauf achtet doch kein Mensch. Ein Blumenbote, der einen großen Korb mit Rosen trägt, ist eben nur ein Blumenbote. Da wirft man schon eher einen Blick auf die Rosen als auf ihn. Und zieht man die Höhe dieses Korbes in Betracht, so 250
konnte Sir Thomas sogar recht geschickt sein Gesicht dahinter verbergen, wenn er mit dem Portier oder mit Vincy sprach. Außerdem hatten sie sich ja zwanzig Jahre lang nicht gesehen … Das war nun der Mörder ›B‹. Als sich herausstellte, daß weder der Mörder ›A‹ noch ein Mitglied des Theaterensembles die Tat begangen hatte, blieb er allein übrig. Und Sir Thomas mußte es sein, weil a) nur er die Dolche vertauschen konnte; b) ihm daran lag, seiner Frau zuvorzukommen. Er glaubte selbstverständlich, die Tat würde schon in der Pause bekannt werden, wenn Vincy nicht auf die Bühne zurückkehrte, und dann erfuhr es auch seine Frau, die ja im Zuschauerraum saß, und brauchte Vincy nicht mehr die Juwelen zu bringen, durch deren Aushändigung sie sich beide und auch Anne nur noch mehr dem Erpresser ausgeliefert hätten; c) er kein Alibi besaß. Das heißt, er hatte ein Alibi, aber das belastete ihn eher, denn der gesunde Menschenverstand ließ es geraten erscheinen, nicht mit dem eigenen Wagen zum Arzt zu fahren, sondern ein Taxi zu nehmen, um bei einem möglichen Schwächeanfall nicht hinter dem Lenkrad zu sitzen. Wenn er den eigenen Wagen genommen hatte, dann nur deshalb, damit niemand aussagen konnte, er habe Dodd in die Nähe des Chamber Theatre gefahren; d) sein Tatmotiv war viel stärker als das jedes anderen; e) er wußte, daß er zum To251
de verurteilt war; f) das Benehmen seiner Frau deutete darauf hin, daß sie wußte, wer Vincy getötet hatte. Sie wollte die Schuld auf sich nehmen. Später überraschte sie der Dolch in der Schublade. Aber mich überraschte er schließlich nicht; g) Sir Thomas war allein auf dem Kampfplatz zurückgeblieben. Alle anderen waren eliminiert worden.« Alex lächelte. »Obwohl … natürlich auch ein völlig Unbekannter die Tat begehen konnte! Das wäre dann allerdings ein ganz ungewöhnlicher Zufall, und viele Fakten könnten nicht geklärt werden. Aber wer weiß …?« Das Lächeln spielte noch immer um seine Lippen. Parker sprang auf. »Ich weiß doch, daß du ihn angerufen und ihm gesagt hast, die Polizei sei unterwegs. Deswegen hat er sich vergiftet! Ich weiß nicht, ob du ihm nicht auch geraten hast, einen Brief zu hinterlassen, in dem er schreibt, daß er seinem Leben ein Ende setzt, weil er sich vor den Qualen fürchtet, die das Ende der Krankheit ihm bringen könnte. Ich bin sogar überzeugt, daß du das getan hast!« »Hätte ich ihn angerufen«, sagte Alex leise, »dann würde ich ihm zweifellos etwas Ähnliches geraten haben. Auf diese Weise wird der Mord an Stephen Vincy nie geklärt werden, weil du dem Toten nichts beweisen kannst. Anne Dodd wird ihre Millionen und ihren Mann bekommen, über 252
Angelica Dodd wird von den lieben Gevatterinnen, die sich Damen der Londoner Gesellschaft nennen, nicht getratscht werden, und Sir Thomas Dodds Seele wird im Jenseits Stephen Vincys Seele begegnen; mag dort darüber entschieden werden, wer von ihnen mehr gesündigt hat. Doch das ist dann nichts mehr für die Polizei oder für Autoren von Kriminalromanen.« »Eben!« Parker schnippte mit den Fingern. »Du hast angerufen!« »Das habe ich nicht gesagt. Und ich werde es auch nie sagen. Etwas Ähnliches wirst du von mir nicht zu hören bekommen.« Alex gähnte. »Nun, für uns ist es Zeit … ›… Nach blutiger Nacht hat der Morgenröte Schein die Erde vergoldet …‹, wie der Dichter sagt. Ich bin entsetzlich müde. Ich hoffe doch, du fährst mich nach Hause?« Parker nickte. »Ja, Joe, ich bringe dich hin. Aber was mache ich mit dieser Untersuchung?« »Morgen denken wir darüber nach – oder besser gesagt, heute. Um vier Uhr nachmittags treffen wir uns bei ›Dufresne‹ zum Kaffee. Dort versuchen wir, uns etwas Überzeugendes auszudenken, was sowohl deine Chefs als auch die Presse und die Fami253
lie des Ermordeten zufriedenstellt … Ach, richtig! Vincy hatte ja keine Familie. Weder einen Sohn noch eine Tochter. Kein Mensch wird nach dem Ärmsten fragen. Ich flehe dich an, Ben, gehen wir, sonst schlafe ich im Stehen ein!« Mit der roten Rose in der Hand verließ er Stephen Vincys Garderobe, so daß Parker ihm wohl oder übel folgen mußte. Eine Viertelstunde später klingelte Alex an der Tür seiner Wohnung. Er wartete eine Weile. Dann vernahm er das leise Tappen bloßer Frauenfüße. »Wer ist da?« »Joe Alex.« Caroline, noch völlig verschlafen, ließ ihn in den dunklen Korridor ein. Alex knipste das Licht an und küßte sie auf die Nase. »Ist diese Rose für mich?« fragte sie und rieb sich die Augen. »Ja, natürlich.« »Wo hast du die Um diese Zeit gekauft? Du bist erstaunlich, Joe!« »Ach«, sagte Joe. »Diese Rose hat ein Toter für einen anderen Toten gekauft. Folglich ist sie allein auf der Welt geblieben, und ich bin ja ein großer Freund der Waisen, kleine Caroline … Ich bin ein großer Freund der Waisen … wie sich herausstellt.« Er reichte ihr die Rose, und Caroline steckte sie in ihr aufgelöstes Haar. 254
Tom Wittgen Herbstzeitlose
Kriminalroman DIE Reihe, etwa 185 Seiten, etwa 2, - Mark Leseprobe Mit der Dunkelheit kam die Angst. Olaf Lück fühlte sich allein. Der Druck im Kopf wurde unausstehlich, Furcht preßte ihm das Herz zu einem schmerzenden Klumpen zusammen. Er tastete nach dem Klingelknopf. Nach einer Weile fühlte er, wie jemand seine verkrampfte Hand zu lösen suchte. Ein Arm schob sich unter seinen Nacken, hob ihn vorsichtig an. Etwas Kühles berührte seine Lippen, Flüssigkeit lief über die Zunge. Er schluckte. Durch einen grauen Schleier hindurch sah er ein Augenpaar auf sich gerichtet. Langsam glitt sein Kopf auf das Kissen zurück. Im Sinken spürte er wieder Angst. Die Augen kamen näher. Ihr Blick strahlte Kraft aus, löste die Beklemmung in ihm und ließ ihn ruhig werden. Langsam formte sich ein Gesicht um die Augen, blaß, energisch und sorgenvoll. Das Ge255
sicht der Mütter. Er nahm es mit in den Schlaf hinüber. Von jener Stunde an hielt dieses Gesicht das Fünkchen in ihm am Glimmen, das die einen Lebenswille, die anderen Hoffnung oder Zukunftsglauben nennen. Eines Tages bemerkte er mehrere Ärzte und Schwestern neben seinem Bett, lächelnd, zufrieden, ihm und sich Glück wünschend. »Mein Name ist Gotenbach«, sagte die Frau im weißen Kittel, deren Gesicht ihm vertraut war. »Wir werden Sie noch ein Weilchen bei uns behalten. Wie lange, das hängt unter anderem auch von Ihnen selbst ab.« Lücks Zustand besserte sich nur langsam, doch im Rahmen dessen, was die Mediziner als normal bezeichneten. Als er aufstehen durfte, versuchte er, so gut es ging, sich nützlich zu machen. Bald war er mit den Schwestern ebenso vertraut wie mit dem Küchenpersonal der Station, erfuhr ihren Klatsch über Patienten und Ärzte und bemerkte, daß es über Frau Doktor Gotenbach nichts zu klatschen gab. Ein Kind war ihr gestorben, und sie hatte den Mann verloren. Weiter wußte man nichts über sie. Olaf Lück sah sie häufiger auf der Station als andere Ärzte. Das straff im Nacken verknotete Haar ließ ihr 256
Gesicht streng, die Nase spitz erscheinen. Bemerkenswert waren nur die Augen. Ihm fiel auf, daß sie zwar immer freundlich und voller Güte war, doch nie lächelte. Er stellte sich vor, wie sie spätabends oder erst morgens vom Nachtdienst nach Hause kam, sich erschöpft ins Bett warf, nach viel zu kurzem Schlaf aufstand, schnell etwas aß und wieder ins Krankenhaus eilte. Auch wenn sie keine Schönheit war, erschien es Lück ungerecht, daß das Leben sie so beiseite schob. Ob sie manchmal vor einem Schaufenster stehenblieb? Interessierte sie sich für Filme, für Musik? Wie würde sie reagieren, wenn ein Mann sie ansprach? Am Tag vor seiner Entlassung rief sie ihn zu einem letzten Gespräch zu sich. Als sie ihn verabschieden wollte, sagte er: »Was ich Ihnen zu verdanken habe, wissen Sie besser als ich. Wahrscheinlich vermag kein Mensch eine Gegenleistung für das zu erbringen, was er seinem Arzt schuldet. Wenn ich Ihnen wenigstens eine kleine Freude machen könnte.« »Sie sind noch längst nicht arbeitsfähig, Herr Lück. Halten Sie sich in den folgenden Wochen ebenso an meine Anweisungen wie hier im Krankenhaus. Dann kann ich bald mit Freude feststellen, daß ich Sie völlig wiederhergestellt habe.« Unvermittelt fragte er: »Hören Sie gern Musik?« »Ja. Aber die Zeit …« Sie lächelte entschuldigend. 257
»Noch in dieser Woche komme ich mit einer Karte fürs Konzert oder für die Oper. Sie werden meine Einladung annehmen, nicht wahr?« »Ein selbstbewußter junger Mann. Der Oberarzt wird Sie in Ihre Schranken weisen. Aber ich danke Ihnen.« Im Foyer waren schon eine Menge Leute, standen plaudernd in Gruppen, lasen im Programmheft oder warfen verstohlene Blicke in die Wandspiegel. Neben der Kasse kramte eine große, schlanke Frau in ihrer Handtasche. Sie trug einen langen dunkelblauen Samtrock, auf dem rosarote Flammen züngelten, und passend zu dieser Farbe war die Bluse. Ein breites Dekolleté gab den Ansatz ihres kleinen, festen Busens frei. Das braune Haar war locker hochgesteckt, betonte den Hinterkopf und fiel in weichen lustigen Löckchen über Stirn und Schläfen. »Guten Abend, Herr Lück«, sagte sie. In Gedanken zog er ihr den Arztkittel über. Er scheuchte das feine Lächeln von ihren Lippen, stellte sie sich blaß und verkniffen vor, das Haar stumpf, im Nacken straff verknotet. Zu der Person, die er suchte, wurde sie nicht. Die Augen … Er erkannte sie an den Augen. Ihr eindringlicher Blick konnte die Ärztin nicht verleugnen. Er hatte sich für ihr Kommen bedanken, nach der Arbeit auf der Station fragen wollen, hatte sich Worte und Sätze 258
zurechtgelegt für diese Frau, die er verehrte und zugleich bedauerte. Jetzt nahm er ihre Hand, drückte seine Lippen darauf und murmelte: »Sie sehen bezaubernd aus.« »Wie haben Sie das nur angestellt? Es war schon abgesprochen, daß ich heute für eine Kollegin den Nachtdienst übernehme.« »Ich habe Ihrem Oberarzt eine ganz einfache Frage gestellt.« Es klingelte zum zweiten Mal. »Ja?« »Wie lange er noch braucht, um sein Experiment abzuschließen.« »Welches Experiment?« »Das wollte er auch wissen. Und ich sagte: Nun, Ihren Versuch, einen Menschen in einen Roboter zu verwandeln.« »Der Ärmste. Er hat mir persönlich mit einem Gruß von Ihnen die Karte übergeben. Und morgen wird der Dienstplan überprüft. Sie haben auf unserer Station eine Art Rebellion angezettelt.« Sie lehnte ab, nach dem Konzert noch ein Glas Wein mit ihm zu trinken, versprach aber, sich für diese Einladung zu revanchieren, und ließ sich die Telefonnummer vom Salon »Figaro« geben. »Es war ein wunderschöner Abend«, sagte sie und ließ vor seiner Nase die Tür ins Schloß schnappen. 259
Im Konzertsaal hatte er sie unauffällig betrachtet. Wie war’s möglich, daß so viel Reiz unter einem Arztkittel einfach verschwinden konnte? Am darauffolgenden Freitag rief sie im »Figaro« an und lud ihn für Samstag nachmittag zum Kaffee ein – falls er frei sei. Sein Kollege überbrachte ihm die Nachricht nach Feierabend. Olaf Lück war froh, daß er sich nicht sofort entscheiden mußte. Die begehrenswerte junge Frau, neben der er im Konzertsaal gesessen hatte, verwandelte sich für ihn immer wieder in die reizlose Ärztin mit dem abgespannten Gesicht. Laß die Finger davon, sagte er sich. Zeit deines Lebens bist du komplizierten Beziehungen aus dem Weg gegangen und gut gefahren dabei. Er versuchte zurückzufinden zu dem Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung für die Ärztin, die ihm in schmerzgepeinigten Nächten beigestanden hatte. Wenn er am Samstag zu ihr ging, würde er sich Zurückhaltung auferlegen. Doch warum sollte er ihr weh tun und sie allein am gedeckten Kaffeetisch sitzen lassen? Es war nichts als der Wunsch, ihr eine kleine Freude zu bereiten, wenn er hinging. Im Grunde seines Herzens wußte er, daß es das erste Nachgeben einer großen Versuchung war.
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Originaltitel: Śmierć mówi w moim imieniu © Iskry, Warschau 1960 Aus dem Polnischen von Kurt Kelm
1. Auflage © Verlag das Neue Berlin, Berlin • 1980 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/124/80 • LSV 7224 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 6224640 DDR 2,– M