Cover DIE Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Der Tod des talentierten Schusters
Krimin...
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Cover DIE Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Václav Erben Der Tod des talentierten Schusters
Kriminalroman
Endlich Urlaub. Kapitän Michal Exner, Leiter der Prager Mordkommission, freut sich auf wohlverdiente Erholung in der idyllisch gelegenen Kleinstadt Opolná. Lange währt die Erholung jedoch nicht, denn bereits am Tage nach seiner Ankunft finden spielende Kinder eine Leiche in einer Höhle des Schloßparks. Die örtliche Polizei identifiziert diese als den Schuster Rambousek, der sich seit einigen Jahren einen Namen als naiver Maler und Bildhauer gemacht hatte. Rambousek war nicht sehr beliebt und hatte kaum Freunde. So verwundert es nicht, wenn schon nach kurzer Zeit ein Verdächtiger, der Wald- und Porstarbeiter Josef Kolář, festgenommen wird, der im Rausch Drohungen gegen Rambousek ausgestoßen hatte und in dessen Haus die Mordwaffe sichergestellt werden konnte. Aber Beweise und Motive reichen nicht, und Kapitän Exner glaubt nicht so recht an Kolářs Schuld, denn da sind noch andere aus Rambouseks Umgebung mit stärkeren Motiven.
Václav Erben
Der Tod des talentierten Schusters
Verlag Das Neue Berlin
Originaltitel: Smrt talentovaného ševce Aus dem Tschechischen von Gustav Just © Václav Erben, 1978
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin · 1980 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/123/80 · LSV 7234 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 433 3 DDR 3,– M
1. Durch die Allee der hohen Bäume ging der Mörder. Die Bäume waren alt, und der Mörder lächelte.
2. Der rote Fiat holperte über die Geleise einer alten Bahnstrecke im Vorland des Adlergebirges. Das blaue Licht an der Schranke blinkte geduldig. Der Wagen, gesteuert von einer Frau im gefährlichsten Alter, die mit verchromtem Stahl von den Ohrläppchen bis zu den knochigen Fingern geschmückt war, schwang sich über die sanfte Erhebung und sog die Luft ein, die von den Bergen am Horizont wehte. Auf einer weiteren sanften Erhebung lag in Steinwurfweite das Städtchen. Hinter dem Block der Molkerei und des Krankenhauses, über den roten Dächern der Häuser und Villen, versteckt im Grün alter Bäume, ragte das vom Grün der Kupferbleche gesäumte Schieferdach des Renaissanceschlößchens hervor, eine Zierde der alpenländischen Architektur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, des Stolzes der Stadt Opolná, eines Staatlichen Denkmals erster Kategorie. Die Frau interessierte sich nicht für diese Zierde am Horizont. Unnötig schnell fuhr sie auf den dreieckigen 6
Marktplatz, an der hohen Mauer eines französischen Parks entlang, hinter dem das schon verfallende Gebäude eines alten Treibhauses zu sehen war. Sie lenkte den Wagen in die gegenüberliegende Ecke des Platzes, von der ein schmales Gäßchen zur Pfarrkirche führte, weiter zum ehemaligen Brauhaus (jetzt Schloßweinstube), auf einen kleinen Platz mit einer alten Mariensäule (wieder ein im Grün verstecktes Schmuckstück); sie nahm das Verbot der Einfahrt vor dem in den Ehrenhof führenden Tor nicht zur Kenntnis, fuhr in den Hof und bremste vor der Durchfahrt, die auf den von Arkaden gesäumten gepflasterten Hof führte. Touristengruppen irrten über den Hof, darauf wartend, daß die Reihe an sie käme, die Jagdtrophäen der letzten Besitzer zu besichtigen sowie die Gemäldegalerie, die Waffensammlung und insbesondere den einzigen erhaltenen Keuschheitsgürtel von ganz Mitteleuropa. Inzwischen fotografierten sie bei den Kanonen und Sandsteinhirschen. Die Frau schloß den Wagen ab und trat in die Toreinfahrt. Der weiße Rock und die rote Bluse umspannten ihren durch Leibesübungen und strenge Lebensweise durchtrainierten Körper. Sie blieb an dem Fensterchen stehen, wo Eintrittskarten, Prospekte und Souvenirs verkauft wurden. „Guten Tag, Frau Kalábová. Mein Mann hier?“ Věra Kalábová, die Frau des Schloßverwalters, hob die Wimpern und weitete die tiefen blauen Augen. Sie musterte die verchromte Schönheit auf Brust und Bluse. „Vormittags war er hier. Vor dem Mittag ist er weggegangen, Frau Medková.“ „Danke, auf Wiedersehen.“ „Wiedersehen, Frau Medková.“ Věra Kalábová zeigte beim Lächeln die noch schönen Zähne. Und es war ein nachsichtiges Lächeln, denn ihre Vorzüge als Frau waren jedermann deutlich sichtbar. 7
Der rote Fiat kehrte auf den Marktplatz zurück. Er fuhr wieder an der Parkmauer entlang, bog unterhalb des Platzes nach links ab und hielt an einer Villa mit Mansarde. Hinter dem Haus stieg der Hang des Schloßparks an, oben zwischen den Bäumen sah man den Sommerpavillon und die Südwand des Treibhauses, in dessen Scheiben sich gerade jetzt der blaue Himmel und eine verschwimmende weiße Wolke spiegelten. Das Türchen war verschlossen, sie klingelte. Sie mußte lange warten, bis im offenen Fenster der Mansarde ein Glatzkopf auftauchte, der mit schläfrigen Augen in den Glanz des Sommernachmittags zwinkerte. „Ach …“, sagte er, „du bist das …“ Und er verschwand. Er kam in Turnhose und Pantoffeln heraus, um ihr zu öffnen. Und wie er so herbeieilte, schwabbelte unter der zottigen Brust der weiße Bauch. „Was fällt dir ein herzukommen, ich hab’ dir doch …“ Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ich habe Durst, ich bin müde. Und wenn du so vor der Frau Lehrerin rumläufst, machst du eine schöne Reklame für dich.“ „Na ja … die Hitze …“ Er folgte ihr in gebücktem Trab. Sie zog sich die Schuhe aus, legte das verchromte Blech ab, knöpfte den Harnisch der Bluse und des Rocks auf und ließ sich auf die Couch fallen. Mit einem Seufzer der Erleichterung lehnte sie sich an die Wand. So gelockert, sah sie um fünf Jahre älter aus. Der Puder und das Makeup waren schon am Ende in ihrem Kampf gegen Falten und Schweiß. „Sakra“, sagte Doktor Medek in der Tür und ließ die Arme am Körper herabhängen. „Warum sie heute unten zugeschlossen hat, das begreife ich nicht …“ „Na und?“ „Was zu trinken hab’ ich im Kühlschrank in der Küche.“ 8
„Damit willst du mir sagen, daß du hier oben gar nichts hast?“ „Wasser aus der Leitung.“ „Aber Jaromír!“ „Vielleicht könnten wir in die Weinstube gehen.“ „Aufs Schloß?“ „Gewiß … Dort …“ „Dort bin ich soeben gewesen. Eine grandiose Idee! Heute! Am Sonntag! Alles voll! Hör mal, Jaromír, geh mal lieber was einkaufen. Hier hast du den Wagenschlüssel. Übrigens: Wo hast du dein Auto?“ „In einer Seitenstraße abgestellt. Im Schatten. Was willst du trinken?“ „Egal, Hauptsache kalt.“ „Und essen?“ „Nichts.“ „Bleibst du nicht?“ „Nein.“ „Aber … ich hab’ dir doch geschrieben …“ „Das können wir uns alles erzählen. Jetzt will ich vor allem was trinken.“ Und sie war beides: das verhätschelte Kind, das die Unsicherheit und die Sehnsüchte durch die Entschlossenheit eines Korporals tarnt, und die Frau, die sich ihrer übergeordneten Stellung in der Ehe bewußt ist.
3. „Diese Leute“, sagte der Schloßverwalter Kaláb und schaute durchs Fenster ins Büro, „sind wie die Elefanten. Hast du zufällig Rambousek gesehen?“ „Nein.“ Sie zählte gerade dem Leiter einer Reisegruppe die Karten vor. „Seit heute früh nicht.“ „Und heute früh?“ „Auch nicht.“ Kaláb zupfte sich am Bart, ging zur Tür und trat ins 9
Büro. „Ich verkaufe weiter“, sagte er schroff. „Wieviel wollten Sie? Zweiundzwanzig?“ „Was hast du?“ fragte sie mit Unschuldsmiene. „Los, schau nach bei Rambousek, jemand ist oben über die Leine gestolpert und hat drei Ständer verbogen. Er soll sie austauschen.“ „Aber gern“, sagte sie demütig. Sie ging auf den Hof und schwebte auf den hohen Absätzen der weißen Schuhe darüber. Dort standen noch drei Reisegruppen zu je fünfzig Personen, und so war sie also annähernd für siebzig Männer das interessante Schauobjekt des Schlosses. Die Sandsteinhirsche und die Kanonen aus der Napoleonzeit konnten nur noch weinen. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. „Ich habe gesagt, zweiundzwanzig …“ „Ja, ja …“ „Aber Sie haben mir nur zwanzig gegeben …“ „Was?“ „Zwanzig haben Sie mir gegeben!“ „Ach so … Hier …“ Sie faßte an die Klinke der braunen Tür. Die Tür war verschlossen. Also machte sie kehrt und stöckelte zurück. Nicht ins Büro, sondern in die Toreinfahrt, und durch diese spazierte sie hinaus. Der Herr, der für die Reisegruppe die Karten kaufte, wurde noch zerstreuter. Kaláb beugte sich aus dem Fensterchen: „Wo willst du hin?“ Sie blieb stehen, wandte sich um, senkte den Kopf, die blonden Haare fielen ihr in die Stirn. „Er ist nicht zu Hause. Rambousek ist nicht zu Hause.“ „Das hab’ ich gesehen. Aber wohin willst du?“ „Nachschauen, ob er in der Werkstatt ist“, erwiderte sie und schwebte durchs Tor hinaus auf den gelben Sand des Ehrenhofes. „Wollen Sie bitte weitergehen.“ Er zog mit einem heftigen Ruck den Vorhang zu und nahm die Rolle der Ein10
trittskarten in die Hand. „Verdammt“, fluchte er leise und warf die Rolle auf die Erde. Sie flog auseinander wie Konfetti beim Silvesterball. Die Tür ging auf. „Du, Vati …“ Ein Junge von sechzehn Jahren stürzte herein. „Die Ständer … oh, was ist denn hier passiert?“ „Ist mir aus der Hand gefallen. Was fragst du so blöd? Komm, heb’s auf!“ Der Junge begann folgsam die Eintrittskarten aufzuwickeln. „Ich wollte …“ „Ja, die Ständer, ich weiß. Gib’s her. Rambousek hast du nicht gesehen?“ „Nein.“ „Schon wieder eine neue Reisegruppe. Die Führer sollen jede Besichtigung auf fünfunddreißig Minuten verkürzen.“
4. „So“, sagte sie und trank. „Kannst du mir einen Kaffee machen?“ „Das Wasser kocht schon“, erwiderte Doktor Medek. „Ich möchte nur gern wissen, warum du gekommen bist. Ich hab’ dir doch geschrieben, daß das Geld …“ Sie holte ein Blatt Papier aus der Handtasche und gab es ihm. „Ich habe Herrn Průšek vorgeschlagen, die Originale von uns zu kaufen. Fünfzehntausend. Vielleicht auch achtzehn. So können wir die Erbschaftssteuer bezahlen, und uns bleibt noch was übrig für die Einrichtung.“ „Aber das ist doch eingerichtet … Und überhaupt: Hast du meinen Brief nicht bekommen?“ „Hab’ ich, aber das ist Quatsch. Wo willst du das Geld hernehmen, ich bitte dich! Zum letzten Mal hast du was publiziert – ich erinnere mich gar nicht, wann. Das letzte Buch …“ „Aber mir geht’s doch darum, die Erbschaft nicht an11
zunehmen. Hör mal, das ist eine alte Bude, die Tante hat zwanzig, fünfundzwanzig Jahre keinen Heller ’reingesteckt, wozu brauchen wir so was?“ „Du vielleicht nicht, Jaromír, du fährst hierher zur Erholung. Du hast hier deine Datsche. Aber ich ersticke in Prag. Dauernd zu Hause. Oder im Geschäft. Ich habe das Recht wie jede andere …“ „Aber warum die Originale? Ich hab’ sie für einen günstigen Preis bekommen. Weil ich von Jugend an …“ „Von Jugend an machst du Blödsinn. Wozu brauchen wir sie, wozu? Die Wände voller Bilder!“ „Das ist mein Beruf. Und wenn du mit aller Macht das Häuschen willst … Das Geld werde ich besorgen. Es braucht ein bißchen Zeit, ein bißchen Überlegung …“ „Kocht das Wasser nicht schon?“ „Ja.“ „Dann mach mir den Kaffee, bitte. Ich hab’ Průšek überredet, morgen abend herzukommen. Gegen neun. Früher kann er nicht.“ Er brachte den Kaffee, seine Hände zitterten leicht. „Wozu diese Eile? Schau mal, der Spála zum Beispiel …“ „Den schau’ ich mir schon zehn Jahre an, da kann ich mir gleich die Natur betrachten. Nein, keinen Zucker. Er nimmt’s in Kommission, einen Käufer hat er schon.“ „Ich sag’ dir noch einmal …“ Medeks Glatze färbte sich rot. „Was denn?“ fragte sie liebenswürdig. „Daß es überflüssig ist, die Bilder zu verkaufen.“ „Das sagst du schon drei Monate. Vier. Aber ich sehe keinen roten Heller.“ „Ich hab’ mit dem Verlag verhandelt …“, stammelte er. „Ende des Jahres etwa …“ „Die werden sagen, daß du in fünf Jahren Hoffnung hast. Danke, das kenne ich.“ Sie seufzte. Knöpfte Bluse und Rock zu, begann das glänzende, kunstvoll geformte Blech anzulegen. 12
Auf dem Gehsteig vor dem Gartentürchen begegnete sie einem kleinen Herrn im schwarzen Barett. Er hatte ein kariertes Hemd an, die Ärmel hochgekrempelt, Leinenhosen, und Büschel grauer Haare starrten im Nacken und über den Ohren aus der Mütze hervor. Er breitete die kurzen Arme aus. „Gnädigste!“ „Guten Tag, Meister“, begrüßte ihn Jaroslava Medková. „Ich habe Sie lange nicht gesehen … Erinnere mich gar nicht mehr, wann.“ „Gnädigste …“, sagte er und drückte ihre Hand. „Die schönste Frau hat Opolná mit ihrem Besuch beehrt! Warum kommen Sie nicht öfter?“ Seine Augen glänzten fröhlich und zufrieden. „Frau Šustrová ist nicht zu Hause, Herr Matějka“, sagte Doktor Medek. „Ich bin ihr begegnet, soll auf sie warten.“ Er lächelte und zeigte auf die Bank zwischen den Wacholderbüschen. „Sie fahren schon wieder weg?“ „Nein, nur meine Frau.“ „So daß wir ein bißchen plaudern können, nicht? Auf Wiedersehen, Gnädigste!“ „Sehr gern“, erwiderte Doktor Medek. Der Fiat brauste davon. Doktor Medek seufzte und setzte sich zu Vojtěch Matějka, einem akademischen Maler, in Opolná ansässig und hier gebürtig.
5. Im Arztzimmer der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Opolná klingelte das Telefon, und Doktor Hauser, der auf dem weißen Kanapee lag und in einem Buch las, streckte die Hand nach dem Hörer aus. „Ja, Hauser“, meldete er sich, „ach, du bist’s.“ „Endlich“, hauchte im Hörer eine Mädchenstimme. „Endlich konnte ich mich losreißen. Hier ist heute ein schrecklicher Betrieb. Sehen wir uns abends?“ 13
„Das können wir, aber wo und wie …“ „Ich weiß“, entgegnete sie verstehend und leicht gelangweilt. „Wenn’s dunkel ist. Um neun. Am Teich. Du weißt, wie warm das Wasser heute sein wird!“ „Ja, das ist es bestimmt.“ „Und stell dir vor, gestern nacht hat man der Frau Kalábová ein Tischtuch geklaut. Das, was sie zum Trocknen auf die Balustrade gehängt hat.“ „Unsinn“, sagte Hauser. „Wer würde denn ein dreckiges Tischtuch klauen?“ „Aber es ist weg! Wer hat’s eigentlich so bekleckert? Du wohl! Eigentlich müßtest du es bezahlen!“ „Nein, ich hab’ nichts …“ „Keine Zeit, Herr Doktor! Um neun! Am Parktor! Hinterm Teich!“
6. Das Eckzimmer war eigentlich ein kleiner Musiksalon. Das braune Klavier war das Hauptmöbelstück, dazu Notenständer, ein Schrank mit Musikalien, darauf zwei Geigen, an dem Schrank lehnte ein Cello, an der Wand eine Gitarre mit Band. In der Ecke zwischen den Fenstern ein rundes Tischchen, darauf Kaffee, in den Sesseln Vojtěch Matějka, Doktor Medek und Marta Šustrová, die Likör einschenkte. „Apotheker“, sagte Matějka und spielte versonnen mit dem Glas, „und auch auf diesem Gebiet ein Meister. Schade um den Magister Šuster· Nicht nur Magister, sondern auch Künstler für Liköre.“ Frau Šustrová setzte sich auf den Sesselrand und hob das Glas. „Dann vielleicht auf sein Angedenken, ja?“ Doktor Medek nickte mitfühlend. Aufs Schloß Opolná fuhr er seit Jahren, an den langen Burschen mit der roten Nase konnte er sich gut erinnern. „Aber bitte, meine Herren“, sagte Marta Šustrová. „Sie 14
haben sich gerade über etwas gestritten, und ich habe Sie unterbrochen.“ „Wir haben uns nicht gestritten“, erklärte Meister Matějka. „Wir hatten nur Divergenzen. Liebe Marta, wir zwei, der Herr Doktor und ich, haben immer Divergenzen …“ „Worüber diesmal?“ „Zuerst über die Kopie des Kupecký …“ „Das ist keine Kopie“, beharrte Doktor Medek. „Meister, wie oft habe ich schon …“ Matějka winkte ab. „Unsinn. Das einerseits. Und dann über die letzte Studie des Doktors. Für solch einen Quatsch so viel Anstrengung, Papier und Zeit.“ „Eine Studie?“ „Über Rambousek“, sagte Matějka verächtlich. „Wo sind wir denn? Ein Kunsthistoriker, der schon einen Ruf zu verlieren hat, vergeudet seine Zeit mit etwas, das er naive Kunst nennt!“ „Aber Vojtěch“, lenkte Marta Šustrová sanft ein, „Sie dürfen das doch nicht so bagatellisieren. Jeder hat das Recht, sich in einer für ihn geeigneten Form auszudrücken oder es wenigstens zu versuchen. In Musik, im Vers, in der Malerei. Auch ein Laie.“ „Ja, das Recht hat er“, stimmte Matějka zu. „Das Recht hat er! Ich habe zum Beispiel auch das Recht, Schuhe zu machen. Aber ich mache sie nicht. Weil ich von vornherein weiß, daß ich das nicht kann. Oder nur ein bißchen könnte. Aber niemals würde mir ein ordentlicher Schuh gelingen, und zu einem Industrieentwerfer von Schuhen brächte ich es schon gar nicht. Und einen solchen Entwerfer macht der hier anwesende Herr Doktor aus dem Schuster Rambousek. Hören Sie, Doktor, was zahlt er Ihnen für diese Reklame?“ Medek lachte beleidigt. „Viel“, sagte er mit kaum unterdrücktem Ärger. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel, Herr Matějka.“ Er trank seinen Likör aus 15
und stand auf. „Wenn Sie erlauben, Frau Šustrová, gehe ich jetzt, ich habe noch nicht zu Abend gegessen.“ „Sie sind doch nicht vielleicht beleidigt, Herr Doktor?“ „Nein, bei solchen Meinungsverschiedenheiten nicht. Auf Wiedersehen, Meister. Gute Nacht, Frau Šustrová.“ Sein Kaffee blieb unausgetrunken. Vojtěch Matějka rieb sich die kleinen Hände. „Herrschaften, den hab’ ich aber heute auf die Palme gebracht …“ „Lieber Vojtěch, würde ich nicht seit Jahren Ihr gutes Herz kennen, dann würde ich nicht glauben, daß Sie so boshaft sein können.“ Marta Šustrová seufzte. Matějka schüttelte den Kopf. „Keine Bosheit, es ist mir ernst. Manchmal habe ich sie wirklich in Verdacht, daß sie sich zusammengespannt haben. Aber ich begreife nicht, warum! Warum sollte das dieser Medek machen? Wegen des Geldes? Er braucht es nicht. Rambousek wegen des Ruhms. Bestimmt. Dort zweifle ich nicht, ich kenne ihn von klein auf.“ „Er ist ein netter Mensch …“ „Wer? Der Doktor?“ „Nein. Der Herr Rambousek.“ Er lachte. „Sie sind eine der wenigen, die das sagen kann. Und das nur deshalb, weil Sie grenzenlos vertrauensselig sind. Und gut. Objektiv, liebe Marta: Rambousek ist ein verdrießlicher, gewinnsüchtiger alter Mann. Aber das unter uns. In der Öffentlichkeit spreche ich, wie Sie wissen, von ihm überall – vor allem über seinen Charakter – nur gut. Damit sich nicht ein Dummkopf findet, der das anders auslegt. Übrigens … hätten Sie noch ein paar von den Tabletten … jetzt im Sommer, bei dem jähen Sinken des Luftdrucks, gestern nach dem Gewitter … Nein, mir tut das nicht gut. Mich kostet die Malerei Nerven, liebe Marta. Für mich ist das harte Arbeit.“ 16
„Natürlich hab’ ich Tabletten, lieber Vojtěch. Für Sie …“ „Natürlich. Das sind bei Ihnen nicht nur Worte, ich weiß … Sie kennen meinen Wunsch … Ich weiß, Sie haben es nicht leicht. Das Haus bedarf der Reparatur, und ich bin allein. Und …“ „Nein, sprechen Sie nicht weiter. Heute nicht. So ein schöner Abend …“ Er rieb sich die Augen. „Verzeihen Sie, Vojtěch, ich bin taktlos. Ich spiele Ihnen lieber etwas vor, wollen Sie?“ Er verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. „Ich werde Ihnen dankbar sein.“ Sie setzte sich ans Klavier und griff in die Tasten. Sie spielte auswendig. Mozart. Sie klimperte Note für Note unfraulich pedantisch und exakt. Mit ihren großen, festen Händen.
7. Sie zog ihn hinter sich her. Er stolperte über die steile Treppe aus Sandstein. Hauser war ein großer Klachel. Im Mondschein glich er einem ulkigen Gespenst, das sich nicht in dieses Schloß traut, weil es nicht sein Rayon ist. Die Treppe führte vom Park auf den arkadengesäumten Hof. Sie blieb stehen, stieß ein Juhu aus. Nirgends regte sich etwas. Nur im Ostflügel schimmerten gelb im obersten Stock einige Fenster. „Geister“, flüsterte er und zeigte hinauf. „Ach was, Erich Murš im Depositorium … Guck mal, bei den Kalábs ist es dunkel. Und Rambousek schläft auch schon.“ Sie gingen über den Hof, das Mädchen öffnete die Tür gegenüber der Treppe. 17
„In meine kleine Kammer“, flüsterte sie. „Warte, ich zieh’ den Vorhang zu …“ Im Raum herrschte tiefes Dunkel, aber sie bewegte sich rasch und mit völliger Sicherheit. Sie knipste das Lämpchen an. „In mein ärmliches Kämmerlein …“ Es war wirklich ärmlich, und weil das Zimmerchen nur im Sommer bewohnt wurde, roch es ein bißchen muffig. „In dem muffigen Kämmerlein …“ „Von wegen! Das ist ein prima Kämmerlein“, erklärte Olga Domkářová, eine Schloßführerin während der Saison. „Ein Gratislogis für eine arme Studentin. Der Herr möchten wohl lieber oben bei der Komtesse!“ „Gewiß“, sagte Hauser, „ich möchte trinken, Olinka … aus der Wasserleitung.“ Der Hahn war über dem Waschbecken neben der Tür. Er ließ das Wasser laufen und trank. Dabei bespritzte er sich und wusch sich das Gesicht. „Warum nicht im Bett der Komtesse. Aber da hättest du Angst.“ „Wovor?“ „Daß sie geistern kommt.“ „Ich Angst? Von wegen!“ „Doch, hättest du. Daß das Bett einstürzt. Es ist sicher morsch.“ „Ist es nicht!“ „Aber, aber“, sagte er und neigte erstaunt den Kopf vor, „woher weißt du das?“ „Durch Zufall.“ Sie warf den Kopf in den Nacken. „Ich weiß es eben.“ „Also gehen wir?“ „Wir können nicht“, sagte sie. „Ich hab’ den Schlüssel nicht, er ist im Büro. Aber morgen!“ „Abgemacht!“
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8. Es war eine helle, vom Vollmond versilberte Nacht. Das blaue Licht an der Schranke blinkte gelangweilt. Schon längst war der letzte Zug durch, und es würde noch lange dauern, bis der erste fuhr. Die Scheinwerfer des nahenden Autos waren von weitem zu sehen. Auf der kurvenreichen Straße näherte es sich langsam der Schranke. Es fuhr holpernd über die Geleise und schimmerte unheilverkündend mit dem Chrom und dem Abglanz des Mondlichts und den Schlußlichtern auf dem schwarzen Lack. Das schwarze Verdeck war zugeklappt. In Opolná verminderte es das Tempo und schaltete auf Abblendlicht um. Vor dem Marktplatz kreuzte den Weg des Wagens ein langer Lulatsch, der von irgendwoher nach irgendwohin eilte. Ansonsten war die Straße menschenleer. Als vor dem Hotel am Marktplatz der Motor des alten Autos verstummte, war es so still, daß die Schritte des Langen unterhalb des Platzes zu hören waren. Aus dem Wagen stieg ein junger Mann. Er streckte sich und gähnte. Dann musterte er die dunklen Fenster des einstöckigen Hotels. Er zuckte die Achseln, seufzte, ging zur Toreinfahrt und rüttelte an der Klinke. Das Tor war verschlossen. Er drückte die Hausglocke. Das Läuten schien über den ganzen Marktplatz zu schallen. Es dauerte lange, bis Schritte zu hören waren. Im Schloß rasselte der Schlüssel, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. „Was wünschen Sie?“ fragte eine Frauenstimme. „Ich habe hier ein Zimmer bestellt …“ „Aha. Und wo haben Sie Ihr Gepäck?“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Im Wagen.“ „Wie ist Ihr Name bitte?“ 19
„Exner.“ „Aha. Dann holen Sie bitte Ihre Sachen. Herr Doktor Exner aus Prag?“ „Genau. Das Zimmer hat Frau Doktor Stein für mich bestellt.“ „Ja, sie hat Ihnen einen Brief dagelassen.“ Er holte seine zwei Koffer, das Jackett und den Mantel. Die Tür stand offen, und in der Toreinfahrt leuchtete an der Decke eine gelbe Lampe. Die Frau gab ihm die Schlüssel und den Brief. „Der große ist der vom Zimmer, der kleine vom Tor. Wir öffnen nachts nicht.“ Die Frau war bloßfüßig, unterm Morgenrock reichte ihr ein biederes Leinenhemd bis zu den Zehen. „Sie haben Nummer neun.“ Er stellte die Koffer hin und riß den Umschlag auf. Mit einer Kopfbewegung zum Tor fragte er: „Soll ich zuschließen?“ „Ich mach’ das schon. Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Frau …“, sagte Doktor Exner zerstreut und nahm den Briefbogen heraus. Er las: Lieber Michal! Schreckliches Pech. Urlaub im Eimer. Ich hatte erwartet, Du würdest wenigstens ein paar Stunden früher kommen. Man hat angerufen, ich muß zurück. Laß es Dir hier gut gehen oder fahr wieder heim, ich bitte um Entschuldigung. Deine immer getreue Gabriela
9. Opolná ist ein sehr altes Städtchen, umflossen von zwei Flüßchen und im Osten in Felsen und Schluchten übergehend. Auf einem Felsen das alte Schloß. Der Marktplatz hat den dreieckigen Grundriß des mittelalterlichen Festungsdorfes beibehalten. In die Spit20
ze des Dreiecks mündet die Straße aus der Kreisstadt Meziboří. Sie folgt der rechten, westlichen Front des Platzes, wo das gesellschaftliche und kulturelle Leben konzentriert ist: Hotel, Café, Kino, Selbstbedienungsladen, Eisenwaren, Tankstelle. Die andere Seite des Platzes, dem Hotel gegenüber, ist die Stätte der Ruhe, des Wohlbehagens: Poliklinik, Konditorei, Friseur, Stoffe und Weißwaren, Textilien. Das Schloß ist eine Zierde der Renaissance und der Stadt. Es breitet seinen Arkadenhof gegen Norden aus. Unten ist ein englischer Park, nicht minder berühmt als das Schloß. Er geht in die offene Landschaft mit Wäldern, Wiesen und Feldern über. Der englische Park windet sich im Tal des einen Flüßchens in einem Bogen um das Schloß und die Stadt. Er läuft in einen französischen Park mit Treibhaus bis fast zum Marktplatz hin aus, wo die weiße Mauer die dritte seiner Seiten bildet. An diesem Tage war in den Morgenstunden ein Gewitter übers Land gezogen. In der windstillen Luft stieg jetzt grauer Dampf über den Bäumen des Parks auf. In die Stille des Montagvormittags bellten Hunde. Die zwei Schäferhunde, scharf und begierig, die Spur eines Menschen zu verfolgen, waren hier fehl am Platze. Nach dem morgendlichen Regen konnten sie keine Spur erschnuppern. Das frische Gras war zerstampft. Die zehn, zwölf Uniformierten, die sich darin die Stiefel naß gemacht hatten, standen oben am Rande der Wiese an einem Felsen. Es war eigentlich kein Felsen, sondern eine künstliche Grotte aus Sandsteinflächen. Sie gehörte zu den kaschierten Bauschöpfungen, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Mode waren. Inmitten der Wiese lag ein Mann. Klein, verloren in dem nassen Gras. Die über ihm standen, waren blaß. Weil der Kahlkopf des kleinen Mannes von einem Axtschlag gespalten war … 21
10. Die Villa hinter dem alten Zaun stand da, wie eine düstere Burg. Im Garten gegenüber werkelte der Gärtner zwischen den Rosen. Dieses Viertel der Stadt Meziboří, das sich an einen bewaldeten Hang schmiegte, war an diesem Montagmorgen sehr still. Weiter oben in der Straße saß hinter dem halboffenen Fenster ihrer Wohnung die Witwe Kecová, um das Geschehen zu beobachten. In der Tür der Villa tauchte ein Mädchen auf. Es war das gleiche Haus, in dem vor einiger Zeit die Frau eines Arztes gestorben war und unter fragwürdigen Umständen ihr Bruder, ein Schizophrener und Peiniger seiner Umgebung. Das Haus, in dem diese sonderbar zerrüttete Familie, aus den Geleisen geworfen durch die Zeit und die Schicksale, gewohnt hatte. Auch das Mädchen in der Tür war die gleiche Lída Muršová geblieben, die Nichte der beiden Verstorbenen. Sie hatte sich nur die Haare lang wachsen lassen. Den Kopf trug sie genauso selbstbewußt, und ihre Bewegungen waren entschlossen und sicher geblieben. Sie trat hinters Haus und holte unter einem kleinen Dach ihr Fahrrad hervor. Sie probierte, ob die Reifen fest genug aufgepumpt waren, und war nicht zufrieden. Eine Luftpumpe war nicht am Rad, auch nicht in Sichtweite. Sie hob die Brauen, seufzte, setzte sich seitlings auf den Sattel, stieß sich ab und fuhr bis zum Türchen. Sie ging über die Straße zum Garten gegenüber. „Guten Morgen, Herr Harpíšek …“ Er blickte hinter einem Strauch auf. „Guten Morgen, Fräulein Lída. Brauchen Sie was?“ „Die haben bei uns die Luftpumpe verlegt“, sagte sie verdrießlich. „Und ich brauchte sie … Ich will nach Opolná zu Erich.“ „Ist er immer noch auf dem Schloß?“ „Ja, wohl noch den ganzen Sommer.“ 22
Er legte den Finger auf den Mund. „Kommen Sie weiter, die Kecová muß nicht alles sehen.“ Hinterm Haus pumpte er ihr die Reifen auf. „Sehr nett von Ihnen, Herr Harpíšek“, bedankte sie sich schmeichlerisch. „Wirklich sehr nett …“ „Da ist doch nichts dabei. Sie fahren also auch nach Opolná. Da werden Sie sich dort wohl treffen … mit diesem … na, wie hieß doch gleich der nette Herr, der hier … Wissen Sie, damals bei Ihnen, als das Unglück mit Ihrem Onkel passierte …“ „Was denken Sie, Herr Harpíšek! Den werde ich wohl niemals mehr sehen!“ Der muntere alte Herr zwinkerte verschwörerisch. „Wer weiß. Heute morgen sind alle vom Kreis hingefahren. Mit dem Čarda an der Spitze. Ein Mord. Wahrscheinlich ein Mord“, fügte er geheimnisvoll hinzu. „Ja“, sagte sie versonnen und warf den Kopf in den Nacken. „Das wäre ein eigenartiger Zufall, nicht wahr? Und wer hat wen …?“ „Ja, das weiß ich nicht. Ich hab’s nur gehört, als sie abfuhren und untereinander darüber sprachen. Sie wissen ja, vor einem alten Krauter hält keiner sein Mundwerk im Zaum.“ Er begleitete sie bis vors Gartentürchen. Sie stieg auf. „Dann frag’ ich dort mal, Herr Harpíšek, und erzähl’s Ihnen.“ Er schüttelte den Kopf. „Das brauchen Sie nicht, es wird einem ja doch alles zugetragen.“
11. Oberleutnant Čarda schaute nachdenklich auf die Tischplatte. „Die Hunde nichts?“ „Nichts“, erwiderte Leutnant Šlajner, der Leiter des Polizeireviers Opolná. „Absolut nichts. Es hat geregnet. Und Samstag nacht war ein Gewitter.“ 23
„Und woher wissen Sie, daß das vor dem Gewitter passiert ist? Vor dem Regen?“ „Er war in der Höhle und trocken.“ Im Hotel gegenüber wurde das Café geöffnet. „Ein Glück“, fuhr Šlajner fort, „daß ihn die Jungs schon heute gefunden haben. Bei der Hitze …“ Oberleutnant Čarda, Leiter der Kreispolizeibehörde Meziboří, seufzte. „Es war eine Axt?“ „Ja. Der Doktor hat’s gesagt.“ „Hören Sie, Genosse Leutnant, Sie bürgen mir dafür, daß seine Wohnung …“ „Sind schon zwei Mann dort. Einer an der Tür, der andere unterm Fenster.“ „War die Wohnung verschlossen?“ „Ja. Wir sollten sie uns vielleicht mal anschauen.“ „Kommt nicht in Frage. Das sollen die von der Kripo aus Prag machen. Bloß nichts vermasseln. Und was ist mit diesem Josef Kolář …“ „Fünfundzwanzig Jahre“, zählte der Leutnant auf, „vorbestraft wegen Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, beides unter dem Einfluß von Alkohol. Er lebt bei Anna Bílková, dreißig. Hat nicht ausgelernt, arbeitet beim Forst. Dem alten Mann hat er gedroht, er wird ihn umbringen. Schon einige Male.“ „Und warum?“ „Tja“, sagte der Leutnant mit einem Achselzucken, „das weiß keiner.“ „Wer ist diese Bílková?“ „Sie arbeitet in der Molkerei. Aber sonst … Na ja …“ „Tja“, bemerkte Čarda weise, „so ist das oft …“ Er richtete sich auf, vielleicht um vom Marktplatz aus gesehen zu werden, und legte die Hände auf den Rücken. „Damit wir nichts versäumen … suchen Sie ihn gleich und …“ Der Oberleutnant sprach immer langsamer, bis er verstummte, wie wenn sich an einem alten Grammophon die Feder entspannt. „Herrgott …“ 24
„Zu Befehl. Ich suche ihn persönlich. Was ist denn?“ Der Leutnant trat an Čarda heran und schaute wie dieser aus dem Fenster. Auf der anderen Seite, vor dem Hotel, im Schatten der Ahornbäume, parkte ein großes schwarzes Auto. Es glänzte von Lack und Chrom. Und es sah unheilverkündend aus in seiner altväterlichen Strenge und seinem Luxus. Es war ein altes Mercedes-Cabriolet, etwa aus den Jahren neununddreißig, vierzig. „Das Auto dort …“, sagte Čarda tonlos. „Hübsch, was. Es steht dort seit dem frühen Morgen.“ „Schauen Sie auf die Nummer!“ „Aus Prag. So ein feiner Pinkel hat sich im Hotel einquartiert.“ „Sie sagen feiner Pinkel?“ „Ich hab’ ihn nur von hinten gesehen“, rechtfertigte sich Šlajner. Der Oberleutnant nahm die Mütze ab. Diesmal wischte er sich wirklichen Schweiß ab. „Holen Sie diesen verdächtigen Kolář her, aber dalli. Das kann eine schöne Schlamastik werden“, fügte er nachdenklich hinzu. „Was?“ „Nichts.“ Und Čarda winkte ab.
12. Leutnant Šlajner ging auf den Marktplatz und sah sich um. Ringsum alles leer und still. An der Parkmauer brummelte der Dieselmotor eines Autobusses. Dort war eine Haltestelle, und der Fahrer war ein bißchen früher gekommen, er wartete also. Die Frau an der Tankstelle langweilte sich, deshalb grüßte sie Šlajner aus der Ferne. Vielleicht weiß sie was, fiel dem Leutnant ein. Er seufzte leise. Seit dem Morgen schon fühlte er, wie ungesund blaß er war. Denn in Opolná war zum letzten Male gemordet worden, na, wann eigentlich – vor vielleicht hundert Jahren. 25
Einen anderen würde es vielleicht erregen, wenn er einen möglichen Täter verhaften könnte, Leutnant Šlajner aber war überhaupt nicht erregt, er war zutiefst besorgt. „Stellen Sie den Motor ab, wenn Sie warten“, sagte er verdrießlich zu dem Busfahrer. Der Fahrer hielt die Beine aus der offenen Tür gestreckt und rauchte. „Wenn er halt so schwer anspringt, Genosse“, erwiderte er. Ein andermal hätte der Leutnant einen Vortrag über den technischen Zustand des Fahrzeugs und über die unzulässige Luftverschmutzung gehalten. Heute winkte er nur ab und schlug den Weg ein, der zum Schloß führte. Er ging an der Parkmauer entlang, trat durch das offene Tor. Und er schritt zwischen den gestutzten Bäumen und Sträuchern und zwischen den Rosen weiter in den englischen Park. Nach dem verdächtigen Kolář brauchte er nicht zu suchen. Er wußte, wo die Forstverwaltung gerade Bäume fällte. Und der kürzeste Weg führte durch den französischen und den englischen Park, ein Spaziergang von fünfundzwanzig Minuten. Es ist nicht ganz sicher, ob der Leutnant die Schönheit des reifen Sommers wahrnahm. Man kann mit Fug und Recht daran zweifeln, denn diese Stätten kannte er von Kindheit an, und er nahm sie nicht wahr als den eigenartigen Liebreiz der Natur, ausgedacht vor einhundertfünfzig Jahren von einem findigen Gärtner; er hatte sich daran gewöhnt, den Park und den anschließenden Wald mit den Augen seines Berufs zu sehen. Ein Tummelplatz von Unruhe. Die Stätten zahlreicher Vergewaltigungsversuche. Nachtlager für Lumpen. Der exponierteste Ort zum Diebstahl von Weihnachtsbäumen. Eine Stelle für Raufereien und Laster. Vielleicht waren es wirklich diese Überlegungen, die Leutnant Šlajner zwangen stehenzubleiben. Offenbar 26
dachte er nach. Und er wandte sich dem Bach zu und schritt an ihm entlang zu dem Teich, mit dem der Park endete, zu der alten Mühle, einer Ansammlung von kleinen Häusern am Rande der Stadt, die man das Zigeunerviertel nannte.
13. Der Schloßverwalter Kaláb blickte düster auf die Sandsteinklötzchen, mit denen der Hof gepflastert war. Er sah aus wie ein Kapitän der Seeschiffahrt, der den bedrohlich rasch fallenden Zeiger des Barometers verfolgt. „Das ist traurig“, sagte er dumpf. „Ein Mord.“ Seine Frau seufzte. „Noch hat niemand bewiesen, daß es Mord war. Vielleicht war er betrunken, ist gefallen und hat sich den Schädel eingeschlagen …“ Sie saß blaß auf der Schreibtischplatte und wippte unruhig mit den Beinen. Sie hatte es nicht so sehr zu ihrem Mann am Fenster gesagt, sondern eher zu dem Sohn, der sich in dem schäbigen, aus den Schloßsammlungen ausgesonderten Sessel fläzte. Vor dem Sessel lagen nasse Tennisschuhe, der junge Mann hatte die nackten Beine über die Lehne geworfen. „Ja“, meinte Kaláb trocken, „Rambousek hatte sich einen angetrunken, weil er sich mit seinen sechzig heiß verliebt hatte, und ist vom Felsen über der Grotte ’runtergefallen, und zwar so, daß seine Kräfte noch ausreichten, in das Versteck zu kriechen, wo er krepierte.“ „Pfui“, sagte sie. Der Mann drehte sich um, setzte sich auf die breite Fensterbrüstung und schaute sich im Büro um, als stünde er kurz vor dem Umzug. Sein Gesichtsausdruck war vielleicht auch deshalb so düster, weil er sich der Kargheit des mit einem abgetretenen Kokosläufer und drei vergilbten Stichen geschmückten Bürozimmers bewußt 27
wurde. Der kleine Vorhang im Schalterfenster war jetzt zugezogen. Die Ärmlichkeit des Büros gemahnte Kaláb vielleicht an die Dürftigkeit seiner eigenen Position. „Aber so sagt mir doch, ich bitte euch“, fragte Věra Kalábová, „wer sollte den armen Rambousek umgebracht haben und warum!“ Kaláb zuckte die Achseln. „Hast du ihn gesehen, Martin?“ „Sie haben ihn mit einem Tuch zugedeckt.“ „Du hast vielleicht eine Natur, ich bin ganz blaß davon.“ „Hab’ ich nicht“, widersprach Martin Kaláb und strich sich mit beiden Händen die Haare um die Ohren glatt, „aber ich hab’s gesehen … Machen wir heute noch auf, Vati?“ „Gewiß, es besteht doch kein Grund, um …“ Dem Vater fiel etwas ein. Er drehte sich wieder zum Fenster um und starrte in einen Winkel der gegenüberliegenden Seite des Hofes, unter die Arkaden, „Hör mal …“ „Ja?“ „Er steht schon dort an der Tür …“ „Wer?“ „Der junge Heyduk. Na dieser … Wachtmeister oder was er ist.“ „Ach ja?“ sagte Martin und sprang aus dem Sessel. „Nirgends gehst du hin“, sagte Věra Kalábová, um einen strengen Ton bemüht. „Ich begreife nicht, warum …“ „Ich geh’ ja nirgends hin.“ Der Junge setzte sich ans Fenster. „Ich weiß nicht“, fuhr sie fort, „was das für einen Sinn haben soll. Jetzt.“ „Das ist egal“, sagte Kaláb senior. „Das macht man so.“ „Soll ich aufschließen?“ fragte Martin abermals. „Oder machen wir heute frei?“ 28
„Wir werden öffnen“, entschied der Direktor würdevoll. „Es besteht kein Grund für uns, Hunderte von Besuchern wieder nach Hause zu schicken.“
14. Vojtěch Matějka stand auf einem niedrigen Hügel, wo sich zwischen alten, windschiefen Marterln eine kleine Plattform ausbreitete. Er stellte die Staffelei auf, befestigte den Rahmen mit der Leinwand daran, das Malköfferchen hatte er ins Gras gelegt. Im Rücken hatte er die Straße und die Kastanien, über sich ihre Kronen und vor sich Opolná mit dem Schloß, das über diesem Landschaftsbild dominierte. Er griff zu Pinsel und Palette. An dieser Stelle hatte er zu jeder Jahreszeit und fast bei jedem Wetter schon dreißig Jahre lang gestanden. Es gab keinen Landsmann aus dieser Gegend, es gab im ganzen Kreis Meziboří keinen kulturell gebildeten Bürger, der nicht ein Bild von Opolná aus der Werkstatt Vojtěch Matějkas besessen hätte. Die Maler aus den Künstlerkreisen des Bezirks, die ihn insgeheim um seine Dauereinnahmequelle und letztlich auch um seinen Erfolg beneideten, führten spöttische Reden über die Unsinnigkeit seiner Gänge auf den Hügel über Opolná im Munde, weil selbst der Oberkellner Karlík aus dem Hotel Rychta nach Jahren stetiger Übung das Schloß Opolná mit verbundenen Augen hätte malen können. Aber all diesem Gerede zum Trotz: Vojtěch Matějka malte gut. Er führte den Pinsel mit professioneller Sicherheit, und sein Opolná war lyrisch und knapp, verträumt und stolz, traurig und zart durchwebt von lindem Grün, wenn es nach dem Frühling verlangte und ins Land hauchte. Frau Provazníková, die Briefträgerin, fuhr wie jeden Tag mit einem Paket Post und Zeitungen zum volkseigenen Gut. „Guten Tag, Meister“, grüßte sie. 29
„Guten Tag, Frau Provazníková.“ Sie fuhr weiter, hielt aber plötzlich an und sprang vom Rad. Ein Weilchen überlegte sie, dann kam sie auf den Maler zu. „Was ist, Frau Provazníková, ein Brief für mich?“ „Haben Sie’s denn nicht gehört?“ „Was denn?“ „Der alte Rambousek … umgebracht hat man ihn!“ „Was?“ „Ja, umgebracht. Im Park!“ Vojtěch Matějka ließ die Hand mit der Palette sinken. Der Pinsel fiel ihm aus der Hand. „Den Bohouš?“ „Ja, den.“ „Aber … das ist doch … Umgebracht?“ „Ja“, sagte die Briefträgerin unumwunden, „wie ich’s sage. In die Grotte haben sie ihn gesteckt. Sagen Sie mir, Meister, wer kann das bloß getan haben? Und warum?“ Matějka schüttelte den Kopf. „Bohouš … Na, das ist ja schrecklich … Vielleicht ein Besoffener, aus Irrtum … oder was?“ „Von wegen aus Irrtum. Er soll seit vorgestern dort gelegen haben. Und da schien gerade der Mond. Meister, Sie haben doch den Herrn Rambousek genausogut gekannt wie ich. Sagen Sie selbst: Hätten Sie den mit jemandem verwechseln können? Selbst wenn es finster wie im Sack gewesen wäre?“ „Na ja, wer ihn gekannt hat …“ „Der hätte ihn doch nicht erschlagen, nicht?“ „Ich versteh’ das nicht, Frau Provazníková.“ Der Maler packte seine Gerätschaften ein. „Ich kann es immer noch nicht glauben … Im Park …“ „Im Park. Heute früh haben ihn Kinder gefunden, die in der Grotte ihr Versteck haben. Die armen Kinder. Sie werden fürs ganze Leben davon gezeichnet sein. Also ich fahr’ dann wieder, Meister, auf Wiedersehen.“ Er nickte zerstreut. Rieb sich die Augen. Schaute wie30
der auf das Schloß und das Städtchen und den Park, auf die Fläche des Teiches, die gerade jetzt eine schöne blaue Farbe hatte. Aber es schien, als würde er das tausendmal gesehene Bild nicht wahrnehmen.
15. Die Häusergruppe unter dem Damm des Teiches, zwischen dem Mühlgraben, der alten herrschaftlichen Mühle und dem Bach wäre gewiß ein Geschwür auf dem Antlitz der Stadt geblieben, wenn sie nicht das Grün der Bäume zugedeckt hätte und die schlimmsten Bruchbuden nicht unbarmherzig eingefallen wären. In einigen Häusern wohnten hier die Nachkommen der ehemaligen Stadtärmsten und dann jene, die die zerfallenden Buden gekauft und zu Wochenendhäusern umgebaut hatten. Ein geschwärzter Plankenzaun, eingehängt in schwankende Pfähle aus Sandstein, umgrenzte das Gärtchen und das Haus. Vor seiner Hütte bellte ein Hund, verdrossen über die Einsamkeit und aggressiv vor Hunger. Leutnant Šlajner richtete sich unwillkürlich das Riemenzeug und schob die Pistolentasche griffbereit. Er schaute sich auf dem Hof um, wo sich einige Hühner auf verzweifelter Körnersuche herumtrieben. Der Leutnant ließ den Blick über die schmutzigen Fenster wandern. Eine halboffene Schuppentür erregte seine Aufmerksamkeit. Er machte einen Bogen um den Hund, neigte den Kopf und trat ein. Durch die Spalten zwischen den Brettern schien die Sonne. Drinnen herrschte eine unglaubliche Unordnung: Möbelstücke, zerschlagene Wagenräder, Stücke von Brettern, Meterholz, geschwärzte Balken und ein von einem Spinnetz umsponnener Haken, ein Hackklotz, daneben ein Haufen frischgespaltenes Holz. Ohne bestimmte Absicht schob er mit dem Fuß die Scheite auseinander. Darunter war ein Ballen 31
alter Lappen. Ein harter Ballen. Er deckte ihn auf, trat darauf. Wirklich war etwas Hartes in dem Lappen. Er bückte sich und faßte angewidert das Bündel an. Wickelte es auf. Etwas klebte sich an seine Finger, Šlajner erblaßte. Rasch wickelte er die Lappen vollends auseinander. Vor ihm lag ein kurzes, blutbesudeltes Beil. Der Hund bellte gellend und trostlos. „He“, schallte draußen eine Frauenstimme, „was kläffst du so, du blöder Hund!“ Der Leutnant, blaß und verstört, packte das Beil ein und steckte es unter die Bluse. Der Hund hatte die Frage offenbar nicht verstanden. „Platz!“ Per Leutnant sah, wie ein Scheit Holz durch die Luft flog. Der Hund verkroch sich in seiner Hütte. Der Leutnant schaute aus dem Schuppen heraus. „Jesses“, kreischte Anna Bílková auf, „mich so zu erschrecken!“ „Ich suche Ihren Mann, Frau Bílková.“ „Er ist auf Arbeit. Was wollen Sie von ihm?“ „Ist bei Ihnen hier nicht was … was verlorengegangen?“ „Ja“, sagte sie und schwankte ein bißchen. „So manches. Was hat er angestellt?“ Šlajner gab keine Antwort. So würdevoll wie möglich ging er um die Hundehütte herum und verließ den Hof durch das windschiefe Türchen. Die Frau gab sich alle Mühe, fest und gerade zu stehen. Aber völlig gelang ihr das nicht. Doch das bekam Leutnant Šlajner nicht mehr mit. Er hatte es eilig. Und er war totenbleich in der beginnenden Vormittagshitze.
16. Das Hotel Rychta am Marktplatz war seit Menschengedenken ein Fuhrmannsgasthaus gewesen. 32
Von dieser Zeit waren die Keller, die sandsteingepflasterte Toreinfahrt und die Feuchtigkeit der steinernen Mauern geblieben. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte man dann zwei Stockwerke aufgestockt und auf den Platz hin große Fenster eingesetzt. Durch diese schien jetzt die Morgensonne, ihre Strahlen wurden geseiht durch die Maschen der Silongardine, die an einer altertümlichen Messingstange hing. Ein grauhaariger Herr in schwarzer Hose und weißem Hemd legte die Tischtücher auf die Tische und stellte Vasen drauf, aus denen verzweifelt rote Papiernelken starrten. Der Oberkellner Karlík ging in ausgelatschten Lackschuhen, er hatte offensichtlich X-Beine und Plattfüße. Er machte die Tür zur Toreinfahrt auf. Blickte durchs Fenster auf den Platz hinaus. Wie seit fünfundfünfzig Jahren. Denn der Herr Ober Karlík hatte hier gelernt und alles mit diesem Haus und dieser Stadt durchlebt. Er grüßte durchs Fenster den Friseur auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. An diesem sonnigen Morgen tauchte in der Tür eine Art Gespenst vom Lago Maggiore auf: über sämischledernen Schuhen, beigefarbenen Hosen, einem breiten Ledergürtel ein weinrotes Hemd mit hohem Kragen. Der Oberkellner Karlík zwinkerte kurz, aber ansonsten bewegte er keine Braue, weil das Gespenst mit dem Holzei eines Hotelschlüssels spielte. Und der Herr Karlík hatte einen ausgeprägten bedingten Reflex für makelloses Verhalten gegenüber Gästen. „Mhm, guten Tag“, sagte der junge Mann erstaunlicherweise tschechisch, „wo ist bitte die Rezeption?“ „Hier bitte“, erwiderte Herr Karlík, verbeugte sich leicht in der Hüfte und zeigte in den Winkel hinter den Ausschank. Dort hing an der Wand ein Brettchen mit sechs Häkchen. Darunter ein kleines Pult mit einem Buch darauf. Es fehlte nur ein einziger Schlüssel. Offenbar der, mit dem der junge Mann spielte. Herr Karlík nahm dem Gast den Schlüssel ab und 33
hängte ihn an den Haken, wohin er gehörte. Er stutzte. Tastete im Regal hinter dem Tresen nach der Brille. „Pardon …“ „Bitte?“ „Pardon, Herr Doktor Exner bitte?“ „Ja?“ „Sie hatten hier einen Brief. Frau Doktor Stein ist Samstag abgereist. Sie hat für Sie einen Brief dagelassen.“ „Hab’ ich bekommen, nachts. Wann ist die Frau Doktor gefahren?“ „Samstagnachmittag, gleich nach dem Mittagessen.“ „Das ist gut“, sagte trocken Michal Exner. „Was können Sie mir zum Frühstück empfehlen, Herr Ober?“ „Da hätten wir Schinken und Eier. Ungarische Salami, Kaffee, Brot, Butter. Oder Kuttelflecksuppe. Ganz frisch, bitte.“ „Ja, die möchte ich. Und Kaffee ohne Sahne. Und ein Mineralwasser. Und wohin könnte ich einen Spaziergang machen?“ „Zum erstenmal bei uns?“ „Ja.“ „Dann würde ich Ihnen den Schloßpark empfehlen. Jetzt am Morgen ist es dort besonders schön …“ Herr Karlík hielt inne. „Allerdings heute … heute sollten Sie sich lieber das Schloß anschauen, den französischen Park mit den Treibhäusern …“ „Warum das?“ „Ich glaube, der Schloßpark ist heute gesperrt …“ „Überschwemmung?“ „Nein, bitte …“ Der Ober räusperte sich. „Offenbar ein Mord, Herr Doktor …“ Michal Exner sah Herrn Karlík verdutzt an. Langsam, sehr langsam stemmte er die Hände in die Hüfte. Er atmete tief ein und seufzte. „Das Mineralwasser jetzt gleich, Herr Ober, ungekühlt. Diese Natter …“ 34
„Bitte sehr, eine Natter war es nicht. Im Park gibt es keine, dort ist es zu feucht.“ Der Ober reichte Exner das Glas, beugte sich vertraulicher vor und fügte halblaut hinzu: „Es war Mord, mein Herr.“
17. Vojtěch Matějka stürzte ins Parktor. „Halt!“ rief der junge Wachtmeister und sprang von der steinernen Bank auf. Matějka erschrak, und die Staffelei fiel zu Boden. „Oh“, sagte der Wachtmeister, „entschuldigen Sie, Meister, ich hab’ Sie nicht gleich erkannt …“ Er bückte sich, um die Staffelei aufzuheben. „Entschuldigen Sie.“ Matějka strich sich das Haar glatt und richtete sich die Brille. „Macht nichts, macht nichts … Was tun Sie hier?“ „Ich passe hier auf, Meister.“ „Ach.“ Der Maler nickte. „Dann also auf Wiedersehen.“ „Warten Sie“, rief der Wachtmeister und eilte ihm nach, „dort dürfen Sie nicht hin.“ „Warum denn?“ „Dort darf keiner hin, Meister.“ „Ach wegen dem …“ „Ja“, bestätigte der Wachtmeister. „In den Park darf einstweilen niemand.“ „Aber ich bitte Sie“, sagte der Maler und winkte ab, „das ist doch Unsinn … Ist wirklich was passiert?“ „Ja, leider“, entgegnete der junge Wachtmeister kummervoll. „Ach, deshalb passen Sie hier auf …“ „Ja, deshalb.“ „Das hat doch keinen Sinn, nicht? Jeder kann über die Mauer klettern, und an einigen Stellen ist sie eingestürzt …“ 35
Der Wachtmeister zuckte die Achseln. „Dort sind Hunde …“
18. Das Depositorium des Museums war nicht sehr günstig untergebracht. Es nahm Räume im zweiten Stock des Schlosses ein. Ein größerer Saal mit Balkendecke war einer der schönsten Räume. Er schloß den Ostflügel ab, hatte Fenster nach Westen, auf den Hof, nach Norden – tief unter dem steilen Schloßfelsen lag der englische Park, und über ihn hinweg bot sich der Ausblick zum Volksgut und weiter nach Meziboří. Die Ostfenster blickten auf die Wälder, in die der Park überging – dort waren ein paar Gebäude und rote Dächer, die Schloßgaststätte, weiter am Horizont Berge. Im Winter war der Saal eiskalt, aber jetzt schien die Vormittagssonne herein, beleuchtete die Regale mit Keramik, die Vitrinen mit Bronzen, wirbelte den Staub auf den Steinbeilen auf, schimmerte auf dem Perlmutt der Pistolen, auf dem Silber der zerlegten Gewehre und dem Messing der Reiterhelme aus dem vorigen Jahrhundert. An einem wurmstichigen Tisch, der an das mittlere von den Nordfenstern herangeschoben war, saßen der Student der Archäologie Erich Murš und Doktor Jaromír Medek einander gegenüber und tranken Kaffee. „Heute“, erklärte der glatzköpfige Vierziger, „mache ich überhaupt nichts. Und morgen auch nicht und übermorgen auch nicht, und dann werde ich wohl nach Hause fahren.“ „Er war ein prima Bursche, der Alte“, sagte traurig Erich Murš. „Ein Talent. Fast ein Genie, Kollege! Seine Monstren, Mensch, ich hab’ es gewußt! Die Welt hat in Montreal nur so gestaunt darüber.“ „Na ja“, stimmte Erich vorsichtig zu, „schlecht hat er 36
nicht gemalt …“ Er wollte den Doktor nicht kränken, von dem gesagt wurde, daß er alle zeitgenössischen Naiven gemanagt hatte. Einerseits interessierte es Murš nicht allzusehr, und andererseits hatte er als Zögling der beinahe mathematischen und streng realistischen Schule des Doktor Soudek eine nachsichtige Einstellung zum Romantismus aller Art. Und jede Begeisterung für irgend etwas löste in ihm solche Gefühle der Nachsicht aus. „Schauen Sie, Kollege“, fuhr Medek fort und rieb sich den Schädel, „die hiesige Gemäldegalerie, das ist mehr ein … mehr ein Kuriositätenkabinett. Warum, glauben Sie, komme ich seit Jahren her? Wegen der Kopien von Tizian und anderen? Ein Kabinett von Kuriositäten.“ Er winkte ab. „Nein, seinetwegen bin ich hergekommen! Das waren nicht nur Phantasie und Geschicklichkeit. Handwerkliche Fertigkeit, goldene Hände …“ „Schade um ihn“, wiederholte Erich Murš. „Vielleicht hat es jemand wegen des Geldes getan. Er hatte genug. Die letzten Jahre. Durch Ihren Verdienst, Herr Doktor.“ „Verkauft hat er genug. Und vergeudet nichts. Und Geld war ihm sehr wichtig. Ein Gewerbetreibender.“ „Gewerbetreibender?“ Murš lächelte. „Schuster. Ein Schuster ist doch kein Gewerbetreibender.“ „Doch, das ist er. Und sein Vater war auch Schuster.“ „Vielleicht hat Rambousek seinem Sohn was geschickt.“ „Mit dem pflegte er keinen Verkehr. Die ganze Familie hielt ihn für einen Narren, genauso wie viele Leute hier in der Stadt.“ „Viele waren wohl neidisch auf ihn“, meinte Erich Murš. „Wegen des Erfolges?“ „Ich meine mehr wegen des Geldes. Sie haben gedacht, er hätte weit mehr. Legenden“, fügte Murš hinzu, „haben die Eigenschaft, daß sie sich selber hypertrophieren, von selber weiterwuchern.“ 37
Doktor Medek blickte nachdenklich über die Felder gegen Meziboří. „Ich war morgens im Park, um ihn mir anzuschauen“, sagte er langsam. „Sie haben mich aber nicht zur Grotte gelassen. Ich legte auch keinen Wert darauf … Zurück bin ich den unteren Weg gegangen. Bei Rambousek steht übrigens ein Fenster auf … Ob sie ihn noch ausgeraubt haben? Mit einer kleinen Leiter und einem Seil wäre das ganz einfach.“ „Da hätten sie einen Lastwagen dabei haben müssen. Und eine Winde …“ „Er hat auch kleinere Plastiken gemacht …“ „Wo hätten sie sie verkauft?“ „Es kann ein Fanatiker gewesen sein. Oder ein Geschäftemacher. Aus dem Ausland. Dort haben solche Sachen einen ungeheuren Wert. Und er wird immer größer. Und …“ Er verstummte, weil von der Tür, die durch Regale, Schränke und Ständer verdeckt war, eine Frauenstimme ertönte: „Dein Schwesterchen ist gekommen, Erich, um dich ans Wasser zu locken!“ „Die Kollegin Muršová!“ rief Doktor Medek. Die Kollegin Muršová tauchte auf. Im Strahlungsbereich der langhaarigen Erscheinung quoll Doktor Medek sichtlich auf und erstarrte, und seine Glatze nahm einen seligen Schimmer an. Die Kollegin Muršová erlaubte dem Herrn Doktor Medek, ihr die Hand zu drücken; dann gab sie Erich einen Kuß. „Ihr seid am frühen Morgen schon traurig, wie ich sehe …“ Erich rückte sich die Brille zurecht und räusperte sich. Doktor Medek wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. „Sie haben noch nichts gehört?“ „Ich bin soeben eingetroffen, und der Drahtesel, müde von der Fahrt, steht unten und kühlt sich die Beine im Gras auf dem Hof. Herr Harpíšek hat mir gesagt, daß 38
hier gemordet wurde. Aber der Herr Harpíšek liebt Geheimnisse und spannende Histörchen. Er hat gesagt, daß heute früh die Mannschaft von Oberleutnant Čarda angetreten und unter seiner Führung nach Opolná abgedampft ist. Aber hier herrscht, wie ich sehe, Ruhe, auf dem Marktplatz Ordnung, im Schloß Stille, die Sonne scheint, und kein Oberleutnant Čarda ist zu sehen.“ „Jemand hat den alten Rambousek erschlagen“, sagte Erich trocken, „Erschlagen? Und warum?“ Beide Herren zuckten die Achseln. „Und wie?“ Doktor Medek schwieg düster. „Oh“, rief sie und warf erstaunt den Schleiervorhang der Haare zurück. „Wegen Geld?“ „Das weiß man nicht.“ „Hm …“ Sie verstummte und dachte über etwas nach. Dann lächelte sie kurz und wie geistesabwesend. Doktor Medek rieb sich zum zweitenmal die Glatze. „Das ist traurig, daß jemand den alten Rambousek erschlagen hat“, meinte sie dann. „Und ihr zwei seid so aufgeregt, daß ihr heute auf keinen Fall arbeiten könnt.“ „Ich nicht“, erklärte Doktor Medek. „Ich ja“, sagte Erich, „ich kann es.“ „Du kannst es nicht, Bruder. Jetzt über Mittag ist die beste Sonne.“ „Ich werde sie genug genießen, wenn …“ „… du im September zu Ausgrabungen fährst. Los, schnapp dir die Badehose, und ab geht’s.“
19. Der unter dem gemauerten Bogen in der schadhaften Parkmauer hervorfließende Bach war in der Fortsetzung des Fußpfades mit zwei Bohlen überbrückt. Ein paar Meter weiter begann in Sumpf und hochge39
wachsenem Schilf der Teich. Vojtěch Matějka, der an der Mauer entlangging, um den Weg ins Städtchen abzukürzen, kam an die Stelle, wo er über den Steg balancierte und nachdenklich auf den Bachaustritt schaute. Er war groß, berechnet für Hochwasser, man hätte bequem durchkriechen können. Nach den Trampelpfaden an beiden Ufern zu schließen, ging man hier häufig durch. Am Haupttor des Parkes stand, an einen Pfeiler gelehnt, ein weiterer Polizist. Er hatte offenbar genug eigene Sorgen, denn als wenige Meter von ihm entfernt der Maler Matějka über den Graben sprang, widmete er ihm nur flüchtige Aufmerksamkeit. Matějka schritt durch die Kastanienallee, die das Ufer des Teiches säumte, zur Mühle. Von dort kam ihm Leutnant Šlajner entgegen. „Guten Tag, Meister“, grüßte er. „Man hat Sie nicht in den Park gelassen, wie ich sehe.“ „Das macht doch nichts. Bitte, Herr Šlajner, wie ist das passiert? Wie ist das bloß passiert! Man sagt – ein Mord. Aber wer würde Bohouš, diesen guten Kerl, ermorden? Wer?“ Matějkas Stimme zitterte. „Es war Mord, Meister, das ist bereits erwiesen“, sagte der Leutnant teilnahmsvoll. „Aber warum?“ Der Leutnant zuckte die Achseln. „Ich möchte gern, Herr Šlajner … Ich würde ihn gern sehen. Er war ja doch mein Freund.“ „Das geht nicht, Meister.“ Matějka nickte. „Auf Wiedersehen dann, Meister“, sagte Šlajner. „Natürlich … also ich …“ Der Maler rückte sich den Riemen mit der Staffelei zurecht, nickte zum Gruß und schritt aus.
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20. „Morgen wird ein großer Andrang sein“, schrie Direktor Kaláb ins Telefon. „Das geht nicht so einfach, Genosse, so ohne weiteres zuzumachen. Was? Nicht so ohne weiteres? Genosse …“ Kaláb bekam einen Hustenanfall, daß es ihn in den Sessel warf und ihm die Tränen über die Backen in den Bart rannen. „Was? – Geben Sie mir Ihren Chef …“, röchelte er. „Ja? Čarda? Kenne ich nicht. Ach so, Genosse Čarda aus Meziboří. Aber Genosse … Ja … Ja. Verstehe.“ Er legte langsam den Hörer auf. Schaute auf seine erblaßte Frau, die am Fenster die Rollen mit den Eintrittskarten geradeschichtete. „Wir können einpacken“, sagte er. „Niemand darf ins Schloß und niemand heraus. Bis auf Widerruf. Wir sind eingeschlossen.“ Vielleicht war es wirklich die Absicht des Oberleutnants Čarda, das Schloß mit dem Park einzuschließen, damit wenigstens nachträglich der Tatort gesichert werde. Dessen ungeachtet war die Flucht der drei, die sich zum Teich begaben, kinderleicht. Sie gingen auf den Hof, stiegen über die steile, mit einem Geländer aus kegelförmigen Säulchen und mit Vasen verzierten Treppe hinab auf den Hauptweg des englischen Parks, auf diesem dann bis zum Tor, wo, an einen Pfeiler gelehnt, ein Polizist stand, das Gesicht in die Sonne haltend. „Halt“, sagte er und streckte sich, als er sich in der Brille von Lída Muršová spiegelte. „Jetzt dürfen Sie nicht hinaus!“ Er knöpfte sich die Bluse zu. „Und überhaupt: Wie sind Sie hineingekommen?“ „Wir sind vom Schloß“, sagte Lída Muršová mit Unschuldsmiene. „Und wir wollen im Teich baden. Weiter gehen wir nie. Wenn Sie uns brauchen sollten, dann finden Sie uns dort“, und sie zeigte auf die Wiese hinter dem Teich. „Sie können uns gut sehen. Brauchen bloß zu rufen …“ Der Polizist rückte sich die Mütze gerade. Er faßte an 41
die Pistole und streckte die Brust heraus. „Na … Wie heißen Sie?“ Sie sagte es ihm und führte an, was wer machte. Von sich erklärte sie, sie sei aus Meziboří gekommen, um dem Bruder zu helfen. „Gut“, begann der Wachtmeister bedächtig. „Also dorthin können Sie. Der Untersuchungsbeamte wird Sie vielleicht brauchen. Und es wird besser sein“, fügte er hinzu, „wenn Sie dort bleiben, bis ich Sie rufe. Gleich werden den Park drei Diensthunde durchkämmen.“ Das Gras war nach dem morgendlichen Regen feucht und biegsam. Sie breiteten die Decken aus. Doktor Medek war nicht begeistert über die grelle Sonne, denn er befürchtete einen Sonnenbrand. Am liebsten hätte er sich ein Taschentuch auf den Kopf gelegt, aber in Lídas Gegenwart wäre ihm das unpassend vorgekommen. Erich stellte sich ans Ufer, drehte sich mit dem Rücken zum Wasser, winkte ihnen zu und ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Lída Muršová nahm aus der Handtasche einige Tuben und Cremes, die sie sorgsam auf dem gebräunten Körper verrieb. Die weiße Haut des Doktor Medek leuchtete wie der Mantel eines Schloßgeistes. „Sie sollten mehr an die Sonne gehen“, sagte sie. „Das würde Ihnen guttun“, fügte sie mütterlich hinzu. „Ja, aber allein? Ich bin meistens allein. Sie könnten mich dazu verführen.“ Sie schlug hinter der Brille die Wimpern nieder. Doktor Medek lief im Gesicht und auf dem Kopf rot an. „Sie hat der Tod des armen Rambousek nicht angerührt, Herr Doktor?“ „Angerührt oder nicht – es ist vor allem ein großer kultureller Verlust. Der Mann war gesund und hätte noch lange Jahre arbeiten können. Man sagt von mir, ich würde wegen Rambousek nach Opolná kommen. Würde mir kunsthistorische Aufgaben für hier ausdenken, nur um Rambousek zu studieren. Mit dem Kollegen 42
Vobořil zusammen habe ich eigentlich aus Rambousek erst etwas gemacht. Gegen den Widerstand der schulmäßigen Profis. Wir haben ihn für Auslandsausstellungen durchgesetzt. Naive Kunst, das ist keine Mode, Kollegin“, entwickelte Medek sein Lieblingsthema, während Lída Muršová konzentriert fortfuhr, die Cremes zu verreiben, „das ist keine Richtung. Das ist die Erkenntnis des modernen Menschen. Die Erkenntnis der Quellen der künstlerischen Gestaltung und der Quellen seiner selbst, verstehen Sie?“ „Natürlich, Herr Doktor.“ „In dieser Kunst wird der Blick des Menschen auf die Welt wiedergeboren und …“ „Gehen Sie mit ins Wasser, Herr Doktor?“ „Natürlich, Kollegin, gleich!“ Sie sprang auf und lief vor ans Ufer. Aus der Mitte des Teichs winkte Erich. Eine Weile zögerte sie auf dem grasbewachsenen Ufer. Sie band sich ein Tuch um die Haare, sprang nicht ins Wasser, sondern stieg vorsichtig über die sumpfige Stelle am Rande und schwamm dann, den Kopf erhoben, um sich nicht die Haare naß zu machen, ihrem Bruder nach. Doktor Medek kletterte das Ufer hinab, tastete mit den Füßen auf dem Grunde, und als er bis zu den halben Waden eingetaucht war, bespritzte er sich mit Wasser, den Mund hielt er fest und energisch geschlossen. Dann tauchte er vorsichtig tiefer und tiefer. Erst als ihn das Wasser zu tragen begann, stieß er sich ab und schwamm in bedächtigem Tempo längs des Schilfgürtels, denn ihm schien, als wären nur hier die Stellen, denen er als Schwimmer gewachsen war.
21. „Hören Sie, Herr Ober.“ Kapitän Exner trank seinen Kaffee aus, und der Herr Karlík addierte 43
die Zeche. „Sie haben von einem Mord gesprochen. War das ein Scherz?“ „Nein, Doktor. Macht achtzehn dreißig, bitte.“ „Und wer wurde ermordet?“ „Der alte Rambousek, Reparaturhandwerker im Schloß. Man hat ihn heute früh gefunden.“ „Und warum …“ „Das weiß niemand, mein Herr. Ich danke Ihnen. Hier das Wechselgeld. Nein? Danke.“ „Rambousek? Reparaturhandwerker? Installateur?“ „Schuster. Ursprünglich ein Flickschuster. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren hat er sein Handwerk an den Nagel gehängt. So ein Alleskünstler, Herr Doktor. Ein Sonderling.“ „Und wer hat ihn umgebracht?“ „Das weiß man auch noch nicht, Herr Doktor.“ „Hatte er Geld?“ „Was ist schon Geld?“ „Sie haben recht“, stimmte Exner zu. „Wird’s schön heute?“ „Offenbar ja, das Barometer steigt.“ „So daß ich bei Ihnen ein paar Tage bleiben könnte“, sagte Michal Exner zufrieden. „Urlaub.“ „Gewiß. Im Schloßteich kann man schön baden, falls Sie das wollen.“ „Wie komme ich da hin?“ Der Ober schob die Gardine zurück. „Sehen Sie das Gäßchen gegenüber? Gerade hinunter, und wenn Sie auf eine gepflasterte Straße kommen, dann nach rechts. Und dann zur Mühle. Dort ist ein Damm. Und weiter führt eine Allee zum Schloßpark, wo man Rambousek heute morgen gefunden hat. In den Park darf man vorläufig nicht.“ „Ich schau’ mir den Teich mal an. Darf ich den Wagen auf den Hof stellen?“ „Gewiß, Herr Doktor. Das ist ein wertvoller Wagen. 44
Heute. Die Leute würden ihn begaffen und vielleicht auch begrapschen. Es könnte auch sein, daß jemand Ihnen was draus stiehlt.“ Exner stand auf, steckte sich das weinrote Hemd hinterm Gürtel zurecht und ging durch die dunkle Toreinfahrt auf den Platz. Er kniff vor der grellen Sonne die Augen zu. Der glänzende Käfer des alten Mercedes wärmte sich das Blech. Exner holte einen weißen Lappen hervor und wischte das erhitzte Leder des Sitzes ab, schob sich hinter das Lenkrad, startete und fuhr den Wagen langsam auf den Hof. Er klappte das schwarze Verdeck nieder und kurbelte die Fenster herauf. Staubte sich die Hände ab, aber das genügte ihm noch nicht. Er ging in die Toilette und wusch sich die Hände. Richtete sich die von blitzenden Knöpfen zusammengehaltenen Manschetten. Die Hände auf dem Rücken, so marschierte er auf den Marktplatz und quer über ihn hinweg. Im Rücken spürte er den Blick des Oberkellners Karlík, und er irrte sich nicht. In dem angegebenen Gäßchen, das im Schatten lag, verlangsamte er den Schritt. Er schlenderte dahin und pfiff sich eins, leise und ziemlich falsch. Die Welt war voller Wärme und Sommerdüfte. Sie roch nach Wasser und dörrendem Gras. Es war die Stunde des Reigens von Insekten und der Stille der Vögel, eines sanften Lüftchens und des grauen Dunstes über dem Horizont. Das Sausen des Autos von der nahen Landstraße drang bis an die Mühle heran. Man hörte das Rauschen des Wassers am Wehr. Die drei Schwimmer im Teich waren still. Der Kopf des entferntesten bewegte sich am Schilf entlang wie ein von einem Wassermann angestoßener weißer Ball. Der zweite Schwimmer kraulte konzentriert auf den Damm zu. Langsam, aber exakt. Tempo … Atemholen … Tempo … Exner interessierte am meisten der hochgehaltene Kopf im weißen Tuch, der auf einem langen Hals über das 45
Wasser ragte und bei den bedächtigen Tempi nicht allzusehr den Wasserspiegel kräuselte. Der Kopf bewegte sich auf ihn zu, hielt inne, das Mädchen legte sich auf den Rücken, streckte in der Richtung zu Exner die Zehen aus dem Wasser und erlaubte der Sonne, der Welt den Badeanzug von kaffeebrauner Farbe und alles übrige zu zeigen. Sie drehte sich auf den Bauch, um ans gegenüberliegende Ufer zurückzukehren. Aber plötzlich machte sie halt, änderte die Richtung und strebte mit energischen Schwimmzügen dem Ufer zu, über dem sich die Kronen der alten Kastanien neigten. Exner lächelte und ging jetzt langsam weiter, damit die gedachten Schnittpunkte ihrer Richtungen sich trafen. Er war früher dort. Hockte sich in die Kniebeuge und beobachtete die Schwimmerin. Sie schaute ihn nicht an, suchte sich ein Plätzchen, kletterte aus dem Wasser und setzte sich hin. Sie band das Tuch auf, warf den Kopf zurück, damit sich die Haare richtig ausbreiteten. Es gelang ihr. „Mhm“, sagte er, „ein paar Monate haben wir uns nicht gesehen … Die Haare sind Ihnen inzwischen schön gewachsen …“ „Ich überlege …“, sagte sie und sah ihn immer noch nicht an. „… während ich so zum Ufer schwimme …“, ergänzte er. „Während ich so zum Ufer schwimme“, wiederholte sie, „überlege ich …“ Sie verstummte. Er lächelte freundlich. „Belasten Sie nicht Ihr Gehirn, Lída. Ich bin auf Urlaub hier. Auf Urlaub. Für den unglücklichen Rambousek kann ich nichts.“ „Auf Urlaub und allein?“ „Allein und auf Urlaub. Ich habe Pech.“ „Der unglückliche Rambousek“, meinte sie, „war ein feiner alter Herr. Schade um ihn. Also auf Urlaub. Und 46
er interessiert Sie nicht. Und in den Park gehen Sie nur spazieren.“ „Genau. Das hat mir der Ober vom Hotel Rychta geraten, ich wohne dort.“ „Der Herr Ober weiß nicht, daß man nicht in den Park darf. Er ist geschlossen. Die Polizei fahndet dort nach den Verbrechern. Sie können also ruhig wieder umkehren. Man läßt Sie nicht hinein. Erst wenn sie den Mörder gefunden haben, der sich dort versteckt hält. Aber Sie haben ja auch im Urlaub Ihren Dienstausweis bei sich.“ „Hab’ ich nicht. Ich habe keine Taschen.“ „Dann vergessen Sie den Spaziergang im Park. Es sei denn, Sie klettern über die Mauer. Haben Sie wirklich so eine Sehnsucht, im Park spazierenzugehen?“ „Man hat mir gesagt, dieser englische Park sei einer der schönsten unseres Kontinents. Und da ich schon mal hier bin, kann ich es kaum erwarten.“ „Dann nur über die Mauer.“ „Die ist mir zu hoch. In Meziboří ist ein hübsches Freibad …“ „Ich bin zu Erich gekommen.“ Sie zeigte auf den kraulenden Schwimmer. „Er macht ein Praktikum im Depositorium des Schlosses. Abends fahre ich nach Hause.“ „Mit dem Bus?“ „Nein, mit dem Fahrrad.“ „Fahren Sie lieber nicht.“ „Warum?“ „Die Straßen sind gefährlich.“ „Ich hab’ keine Angst vor Gespenstern.“ „Sie haben vor niemandem Angst“, sagte er überzeugt. „So daß ich also allein zu Abend essen werde. Das ist Schicksal. Wo ißt man hier am besten?“ „In der ‚Waldbaude‘ nicht, aber es ist dort hübsch und ruhig.“ „Wo ist das?“ „Am andern Ende des Parks. Bei warmer Witterung 47
sitzt man unter Bäumen. Und heute wird es warm sein.“ „Ich glaube, ich bin um sechs dort.“ Sie band sich die Haare wieder ins Tuch. Knotete es über der Stirn zusammen. „Sind Sie wirklich auf Urlaub hier?“ „Gewiß. Rambousek ist ein Zufall.“ Sie tauchte ins Wasser, legte sich auf den Rücken und stieß sich leicht vom Ufer ab. Aus den Augenwinkeln sah er, daß die weiße Kugel am Schilf gegenüber eine Zeitlang an einer Stelle verharrte. „Wer ist der Herr dort …“ „Doktor Medek. Kunsthistoriker.“ „Aha …“ Sie entfernte sich. „In der Parkmauer“, rief sie leise, „sind viele Löcher …“ Sie drehte sich um auf den Bauch und teilte das Wasser mit energischen Tempi, so daß er das hinterhältige Aufblitzen in den blauen Augen nicht mehr gewahren konnte.
22. Das Restaurant „Waldbaude“ lag an einem Bogen des Baches. Die Wege teilten sich hier, der alte führte über eine hölzerne Brücke weiter am Bach entlang in den Wald, der neue, wohl ein ehemaliger Hohlweg, über die Wiesen zur Landstraße. Bis hierher hörte man die schwedischen Motorsägen. Das Gasthaus war noch geschlossen, auf dem Parkplatz kein Auto, im Garten flatterte trocknende Wäsche. Die Tische im Garten ohne Tischtücher und darauf die umgekippten Stühle. Leutnant Šlajner ging über die Brücke und folgte dem Geräusch der Säge. Er hatte Halbschuhe an, es ging sich schlecht hangaufwärts, die Ledersohlen rutschten auf den Tannennadeln. An den frischgefällten Fichten, deren Holz duftete, machten sich zwei alte Männer zu schaffen. Der Förster 48
Brůža, ein Bursche mit einer runden Brille von zehn Dioptrien, in grüner Hose an Hosenträgern und einem grünen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, ging um die gefällten Bäume herum. Er hatte einen Knotenstock, den er vielleicht nur als Zeichen der erblichen Würde eines herrschaftlichen Försters trug, der sein Vater gewesen war, genauso wie der Großvater und Urgroßvater. In den Kneipen von Opolná wurde behauptet, daß ein Urahne von Brůža noch mit Karl IV. Bären gejagt habe. Auf den Stämmen sprang ein Mann mit der ratternden schwedischen Motorsäge herum. Šlajner konnte nicht umhin, ihm eine Weile zuzuschauen und seine Gewandtheit zu bewundern. Josef Kolář, Forstarbeiter, ein Mann von schlechtem Ruf, mit einer Frau zusammen lebend, deren Ruf noch schlechter war, der Held von Raufereien, Schläge austeilend und noch häufiger einsteckend, schlafend unter seinem breiten Hut und in Straßengräben, spielte nur so mit der rot und silbern blitzenden Säge. Und weil dieses Gerät mit beiden Händen gehalten wird und niemand ihm half, die abgesägten Äste beiseite zu werfen, arbeitete er auch mit den Füßen. Es dauerte eine Weile, bis Leutnant Šlajner auf die Lichtung und zu Kolář trat. Die beiden alten Männer erblickten ihn als erste und hörten auf, an den Ästen zu ziehen. Der Förster strebte von der anderen Seite auf ihn zu. Nur Kolář, der ihm den Rücken zuwandte, arbeitete weiter. „Guck mal“, flüsterte der kleinere Opa dem anderen zu, „der Josef hat wieder jemandem die Fresse poliert …“, und er rieb sich erfreut die Hände. „He!“ brüllte Šlajner. „He, Kolář!“ Josef Kolář drehte sich um, hielt die Säge wie ein kurzes Schwert. Die Führungsleiste blitzte. „Was gibt’s?“ Šlajners Puls ging schneller. Kolář brauchte sich nur ein bißchen zu bewegen, um auf dem Stamm auszurutschen. „Stellen Sie die Säge ab!“ 49
Der Motor spuckte und verstummte. „Was gibt’s?“ „Sie müssen mal mitkommen, Kolář.“ „Ich wüßte nicht, warum.“ Der Förster Brůža schwenkte den Stock. „Hören Sie, lassen Sie uns arbeiten. Falls Sie was von Josef wollen, dann nach der Arbeitszeit. Wir müssen den Plan erfüllen …“ „Wir auch“, sagte Šlajner. „Was hat er angestellt?“ Šlajner zögerte kurz. „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Was soll er denn angestellt haben? Wir brauchen ihn nur … als Zeugen.“ „Dann komm’ ich abends“, erklärte Kolář. „Die verlorene Zeit bezahlt mir keiner.“ „Das geht nicht.“ Šlajner schüttelte den Kopf. „Es muß gleich sein. Es ist … sehr wichtig. Und laut Gesetz …“ „Damit können Sie mich am Arsch lecken“, erklärte Kolář ruhig. „Ich hab’ keinem was getan, und deshalb …“ „Hör zu“, sagte der Förster beschwichtigend, „geh mit ihm, Josef. Wenn er sich aufregt“, entschuldigte er seinen besten Arbeiter, „dann kennt er sich selber nicht …“ „Das wissen wir“, entgegnete Šlajner trocken, „nur allzu gut. Also gehen wir.“ Kolář stieg von dem Stamm herunter, legte behutsam die Säge hin. „Ihr müßt allein weitermachen“, sagte er zu dem Förster. „Ich muß halt mit dem Genossen mit, wie Sie sehen.“ Er tastete die Taschen nach einer Zigarette ab. Er fand keine, und so ging er die paar Schritte zu seiner Jacke, die an einem Baum hing. „Was hat er gemacht?“ fragte leise der Förster. „Nichts“, erwiderte gleichgültig Šlajner und lief rot an.
23. Während Oberleutnant Čarda mit dem Schloßverwalter Kaláb telefonierte, stand er dem Fenster zugewandt, so daß er genau sah, wie der schwarze 50
Mercedes in die Toreinfahrt des Hotels Rychta fuhr. Als er den Hörer aufgelegt hatte, zog er sich die Bluse an, setzte sich die Mütze auf, sagte dem diensthabenden Leutnant, er werde gleich wieder dasein, und überquerte mit energischen Schritten den Marktplatz. Er marschierte schnurstracks ins Restaurant des Hotels Rychta und schaute sich dort um. Am Fenster saßen zwei Männer und zwei Frauen in den Uniformen von Busfahrern und -schaffnern. Sie aßen Kuttelflecksuppe und dazu Salzhörnchen. Der Herr Ober schenkte am Zapfhahn Faßbrause ein. „Guten Tag“, sagte der Oberleutnant und trat zu ihm. Er war ein bißchen verstimmt, weil er seinen Mann nicht auf Anhieb fand. „Ein Bier oder einen Harten, Euer Ehren?“ fragte sachlich Herr Karlík. Euer Ehren hatte er bereits als Piccolo zu Gendarmen sagen gelernt, und niemand konnte ihn dazu bewegen, diese Anredeformel abzulegen. „Ein Bier“, sagte Čarda, räusperte sich und schaute sich wieder um. Herr Karlík ließ das Bier ins Halbliterglas laufen, daß es schäumte, und servierte die bestellten Brausen. An die Theke zurückgekehrt, fabrizierte er mit fachmännischer Liebe eine feste Schaumhaube auf die gelbe Flüssigkeit. Čarda begann kennerisch mit einem langsamen Schluck und leerte dann das Glas bis zur Hälfte in einem Zug. „Hören Sie, Herr Ober“, begann er, „wer ist mit dem schwarzen Mercedes gekommen?“ „Ein jüngerer, gut angezogener Herr …“ „Wohnt er bei Ihnen?“ „Ja.“ „Wann ist er gekommen?“ „Offenbar nachts.“ „Offenbar?“ „Offenbar, Euer Ehren. Ich bin nie über Nacht hier. Die Frau Direktor hat ihn empfangen.“ Herr Karlík ver51
beugte sich dienstfertig. „Falls Sie sie sprechen wollen – sie ist hinten in der Kanzlei.“ „Danke“, entgegnete Čarda, der den primitiven Versuch Karlíks, ihn loszuwerden, im Handumdrehen durchschaut hatte. „Könnten Sie nachschauen, wie dieser Herr heißt?“ „Das kann ich … bitte sehr.“ Er setzte die Brille auf und beugte sich über das Gästebuch. „Die Frau Direktor hat’s geschrieben … eine schreckliche kleine Schrift, Euer Ehren … Exner, Michal … Geboren …“ „Danke, das genügt. Wo ist er?“ „Er hat den Wagen auf den Hof gefahren und ist … er ist spazierengegangen.“ „Wohin?“ „Das hat er nicht gesagt, bitte … Er hat gefragt, was er sich hier anschauen könnte … Er kennt Opolná nicht … offenbar. Ich habe ihm einen Spaziergang durch den Park empfohlen.“ „Also, Sie haben ihm den Park empfohlen.“ „Ja, Euer Ehren. Noch ein Bier. Bitte sehr, danke. Ist daran etwas Besonderes? Diesen Spaziergang empfehle ich immer.“ „So“, seufzte Čarda. „Und er ist hingegangen, ja?“ „Das weiß ich leider nicht.“ Čarda wiegte den Kopf, höchst erstaunt über die Heimtücke dieser Welt. „Hat er noch etwas gefragt?“ „Nein …“ Herr Karlík schüttelte den Kopf. „Nicht, daß ich wüßte …“ Der Oberleutnant richtete sich die Bluse. „Auf Wiedersehen, Herr Ober.“ „Auf Wiedersehen. Falls Euer Ehren zum Mittagessen kommen möchten, es gibt heute ausgezeichnete gegrillte Hähnchen. Unsere Spezialität – auf Paprika.“
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24. Der Wachtmeister löste sich nicht allzusehr von dem Pfeiler. „Wohin?“ fragte er und streckte den Arm aus wie eine Schranke. Vielleicht hätte er einen anderen Ton angeschlagen und sich weniger mißachtend verhalten, wenn der Bursche ihm gefallen hätte. Aber er gefiel ihm überhaupt nicht. Wegen der Bügelfalten und des Hochglanzes der Schuhe. Wegen des Hemdes, das er nie über seinen wohlgenährten Bauch ziehen würde. Und ferner sagte ihm eine Ahnung, daß dieser feine Pinkel schlauer war als er selber. Aber mächtiger war er nicht. Und besonders nicht jetzt. Hier am Tor war er, der Wachtmeister, der Herr. „Spazieren“, antwortete Michal Exner bescheiden. „Der Herr Ober vom Hotel Rychta hat mir einen Spaziergang durch den Schloßpark empfohlen.“ Der Wachtmeister begriff, daß der Bursche ihn aufziehen wollte. „Sie werden ein anderes Mal wiederkommen müssen.“ „Falls ich Zeit haben werde“, wandte Exner ein. „Jetzt darf keiner in den Park“, sagte der Wachtmeister verbissen. „Und warum nicht?“ Exner schüttelte verständnislos den Kopf. „Es ist doch so ein schöner Tag.“ „Das geht Sie nichts an, warum man nicht hinein kann.“ „Das ist auch wieder wahr“, erwiderte Exner traurig. „Auf Wiedersehen, Genosse. Und auf diesen Pfad darf man?“ Der Wachtmeister gab keine Antwort. Aber Kapitän Exner wartete gar nicht auf eine Antwort. Er ging vom Weg auf den Fußpfad hinab und dann längs der Parkmauer weiter. Die überwölbte Öffnung, durch die der Bach floß, konnte er nicht übersehen. Er suchte sich sorgfältig einen sauberen Weg, trat mit kleinen Schritten auf, hob die Hände, um sie sich nicht an den Brennesseln zu 53
verbrennen, ergriff den Stamm einer Erle und schwang sich auf das Ufer hinter der Mauer. Rechts zwischen Bäumen schimmerte gelb ein Sandweg. Links stieg ein sanfter, bewaldeter Hang an. Die Fichten und Tannen standen weit voneinander, mächtige Bäume, die ruhig ihre Kronen ausbreiteten und nicht vor den Sägen der Holzfäller zu zittern brauchten. Zwischen den Tannennadeln wuchs schütteres Gras. Exner entschloß sich, durch diesen Wald zu gehen und sich dabei an den Bach zu halten. Der Tau war noch nicht verdunstet. Er suchte sich deshalb trockene Stellen aus. Den Blick versperrte das unter den Bäumen wuchernde Unterholz. Vor ihm tat sich eine Wiese auf, der eigentliche Beginn des Parks. Eine grüne, kurzgeschorene Fläche mit vereinzelten Fichten, Eichen und Tannen, mit Ausblicken und grünen Winkeln. Der Bach floß mittendurch, zwischen Birken versteckt, weiter hinten stieg die Wiese sachte zu dem Felsen an, auf dem, von einer verwitterten Mauer unterstützt, das weiße Schloß stand, den Hof mit den Arkaden auf den Park zu öffnend. Beim Suchen nach einem gangbaren Weg achtete er nicht auf die weitere Umgebung. Plötzlich vernahm er ein Schnaufen und Knurren. Er schaute sich um und erstarrte. Zwischen den Bäumen tauchte ein Schäferhund auf. Er rannte geradewegs auf ihn zu. Scharfgemacht durch die Dienstdressur, sah er alles andere als freundlich aus. Er blieb zwei Schritte vor Exner stehen und knurrte, knurrte … „Aas verdammtes …“, stieß der Kapitän zwischen den Zähnen hervor, „Bestie … belle schon, belle … los, belle!“ Das Wort kannte der Hund. Und im Wesen dumm wie jedes dressierte Geschöpf, gehorchte er und begann zu bellen, wie es ja eigentlich auch seine Aufgabe war. Exner atmete auf. Denn wer garantierte ihm dafür, daß 54
ein Diensthund nicht durchdreht und, statt zu suchen und aufmerksam zu machen, sich auf den erstbesten stürzt, den er findet. „Du blödes Vieh …“ Zwischen den Bäumen kam ein Unterleutnant gelaufen. Und dann lief er nicht mehr, und Exner sah aus den Augenwinkeln, daß er ganz langsam daherschritt und sich an der Leistung des Hundes weidete. „Blödes Vieh … Beeilen Sie sich, Mann!“ „Ron! Fuß! Sitz! Ich bin für Sie nicht – Mann! Was haben Sie hier zu suchen?“ „Ich bin auf einem Spaziergang, Genosse Unterleutnant.“ „Wie lange sind Sie im Park?“ „Ungefähr zehn Minuten.“ „Und wie sind Sie hereingekommen?“ „Ich bin unter der Mauer durchgekrochen.“ „Warum, Mann?“ „Ich bin für Sie nicht – Mann, Genosse Unterleutnant. Ich bin unter der Mauer durchgekrochen, weil man mich durchs Tor nicht hereingelassen hat.“ „Man hat Ihnen also gesagt, daß niemand in den Park darf.“ „Hat man. Ein Genosse Wachtmeister.“ „Und Sie sind dennoch … Hören Sie … Ron, Platz! Ihren Personalausweis!“ „Hab’ ich nicht.“ Der Unterleutnant trat näher. Er war verwirrt über die sinnlose Dreistigkeit dieses Menschen. „Wie kommt’s, daß Sie keinen Personalausweis haben?“ „Ich hab’ keine Taschen an der Hose. Weiß nicht, wohin ich ihn stecken soll.“ Kapitän Exner zuckte schuldbewußt die Achseln. „Ihn in der Hand tragen will ich nicht …“ „Und warum sind Sie in den Park eingedrungen, wo Sie doch klar gewußt haben, daß es verboten ist?“ 55
„Ich bin halt … Genosse Unterleutnant, ich bin sehr neugierig.“ Der Unterleutnant riß die Augen auf. „Ja“, wiederholte Exner friedlich, „ich bin nun mal so ein neugieriger Mensch.“ „Gehen wir, Mann … Herr!“ Der Unterleutnant raffte sich auf. „Ron, Fuß!“ Und er schritt aus, Ron zur Linken, Exner zur Rechten.
25. In das unfreundliche Dienstzimmer begann die Sonne zu scheinen. Ihre Strahlen ließen den Staub in der Luft und auf den Möbeln aufleuchten. Nur an dem halb mit einem Lappen bedeckten blutbefleckten Beil war kein Staub. Der junge Wachtmeister schaute durch den Schleier des aufgewirbelten und leuchtenden Staubs, durch den flatternden, vergilbten Vorhang auf den Marktplatz. „Sie kommen schon“, sagte er. „Wer?“ fragte Čarda. Er erwartete die Gruppe aus dem Park und sprang ungeduldig auf. „Der Genosse Leutnant. Mit diesem Kolář.“ „Gehen Sie ihnen entgegen. Ich will mit Kolář allein reden.“ Der Oberleutnant krempelte sich die Ärmel hoch und legte die Mütze, die er vorher bereits in den Nacken geschoben hatte, auf den Tisch. Šlajner trat ein: „Genosse Oberleutnant …“ Čarda zeigte auf die offene Tür. Šlajner schloß sie. „Aber nein“, wies ihn Čarda verdrossen zurecht. „Schicken Sie ihn ’rein. Weiß er Bescheid?“ „Mir scheint, er weiß nichts, Genosse Oberleutnant. Gesagt hat er nichts. Und ich hab’ ihn nach nichts gefragt.“ 56
„Also schicken Sie ihn ’rein, und Sie gehen wieder. Ach ja – hat er den Personalausweis dabei?“ „Nein.“ „Kennen Sie ihn persönlich?“ „Jawohl, Genosse Oberleutnant.“ „Und seine Frau?“ „Er hat eine Lebensgefährtin.“ Oberleutnant Čarda seufzte. „Na ja … wenn wir jetzt einen besoffenen Chauffeur festnehmen, dann wird’s durch den ganzen Kreis gehen, daß wir den Mörder verhaftet haben. Sie können gehen, Genosse Leutnant!“
26. Čarda zog die Schublade halb auf, in der die Pistole lag. „Sehen Sie sich das Beil an. Aber nicht anfassen!“ „Das da?“ Kolář zeigte mit dem Finger. „Ein anderes ist hier nicht. Ich habe gesagt – nicht anfassen.“ „Was soll sein damit?“ „Ob Sie es kennen!“ „Klar, ’s ist meins.“ „Können Sie das beweisen?“ „Wo haben Sie’s gefunden?“ „Die Fragen stelle ich, Herr Kolář! Also, woran erkennen Sie, daß es Ihr Beil ist?“ „Na, an der Schneide, ich hab’s selber geschärft. Die Ecken abgerundet. Wo haben Sie’s gefunden?“ „Das werden Sie noch erfahren.“ „Dann also schönen Dank“, sagte Kolář und streckte die Hand nach dem Beil aus. „Und kann ich jetzt wieder …“ „Hände weg!“ schnauzte Čarda. „Ich habe gesagt, nicht anfassen.“ 57
„Jesses, was soll denn das, ist doch mein Beil!“ Kolář stutzte. „Oder … hat es jemand geklaut?“ „Wo waren Sie gestern abend?“ „Zu Hause.“ „Und vorgestern?“ „Zu Hause.“ „Am Samstag?“ „Zu Hause. Das heißt, nicht zu Hause. In der ‚Waldbaude‘ … Falls ich mich recht erinnere.“ „Das würde ich Ihnen aber sehr raten, sich gut zu erinnern.“ „Ich brauch’ mich gar nicht erinnern“, brauste Kolář auf, „ich hab’ nichts geklaut! Und in der ‚Waldbaude‘ bin ich fast jeden Samstag.“ „Den Rambousek mögen Sie nicht, was?“ „Den mag ich nicht. Der alte Knacker müßte mal richtig Dresche kriegen.“ „Er könnte Ihr Vater sein.“ „Darauf scheiß’ ich …“ „Reden Sie anständig!“ „Dafür kann ich mir nichts kaufen.“ „Also …“, Oberleutnant Čarda dachte nach und wischte sich unwillkürlich den Schweiß von der Stirn, „also, das Beil gehört Ihnen …“ „Ja, und?“ „Wie sind Sie aus der ‚Waldbaude‘ heimgegangen?“ „Ich geh’ immer durch den Park.“ „Allein?“ „Meistens.“ „Und am Samstag?“ „Auch allein.“ „Schauen Sie …“ Der Oberleutnant zeigte auf die braunen Flecke auf dem Beil. „Sakra“, sagte Kolář, „das ist ja Blut …“ Plötzlich erbleichte er. „Wo haben Sie das Beil gefunden?“ „Im Park.“ 58
„Wie kommt’s dahin?“ „Hören Sie – wenn man so ein Beil findet und einen Ermordeten dazu …“ „Was?“ brüllte Kolář. „Leise“, ermahnte ihn der Oberleutnant. „Wenn wir so ein Beil und einen Ermordeten finden, dann fällt uns natürlich ein …“ „Sie wollen mich in was eintunken!“ „Mit diesem Beil wurde Rambousek erschlagen“, sagte Čarda hart. „Und Sie haben zugegeben, daß es Ihres ist.“ Josef Kolář riß die Augen auf. Er leckte sich die trockenen Lippen. „Jesses …“, flüsterte er. „Wir haben es übrigens“, fügte Čarda hinzu, „nicht im Park gefunden, sondern bei Ihnen im Schuppen, unter Holz versteckt. Sie sitzen bis über die Ohren drin, Kolář!“
27. Doktor Medek seufzte, streckte die Hände aus und bedeckte sich mit dem Handtuchende Kopf und Stirn. Das braungebrannte Mädchen, das neben ihm saß und sich konzentriert mit Öl einrieb, könnte ein Modigliani sein, überlegte er; wenn sie ein bißchen dunkler wäre; aber da müßte sie anders sitzen und ohne Badeanzug … Doktor Medek verspürte eine tiefe Sinnesbewegung. Innerlich errötete er. „Wollen wir nicht zum Mittagessen?“ fragte er. „Gehen Sie nur, meine Herren“, sagte sie, „ich bleibe hier, solange die Sonne scheint.“ „Bis zum Abend, liebes Schwesterchen“, sprach Erich Murš, „können wir uns nicht hier aalen. Das traurige Schicksal des Herrn Rambousek hat uns erlaubt, die Arbeit hinzuschmeißen, viel werden wir nicht mehr schaffen, aber so tun müssen wir wenigstens.“ 59
„Ihr ja, ich nicht“, erklärte sie, legte sich auf den Rücken und breitete die Arme aus. „Der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, hat der Sie nach dem Weg gefragt?“ interessierte sich Doktor Medek beiläufig. „Nein, danach hat er nicht gefragt. Aber eigentlich … dann auch.“ „Wer war das? Ein Bekannter?“ „Ich hab’ ihn mal wo gesehen“, sagte sie gleichgültig. „Ein Playboy …“ „Ein schrecklicher Playboy, Herr Doktor. Eigentlich ein Hooligan.“ Erich stützte sich auf die Ellbogen. Denn er begriff nicht, daß seine liebe Schwester ihren hübschen und langhaarigen Kopf voller Schabernack hatte. „He, Lidunka, wer war es denn?“ Sie seufzte. „Ein Kapitän von der Kripo“, erklärte sie gelangweilt. Doktor Jaromír Medek lachte, daß sein schwächlicher Intellektuellenbauch schwabbelte. Erich Murš kniff die Augen zu. Sonst aber regte sich in seinem Gesicht nichts.
28. Kolář saß auf einem Hocker, mit dem Rücken zum Fenster. Er schwitzte. Der Geruch seines Schweißes war so stark, daß Oberleutnant Čarda die Nase rümpfte. „Das nützt Ihnen gar nichts“, sagte er, „gar nichts nützt es Ihnen, wenn Sie schweigen. Wenn Sie sich an nichts erinnern. Uns ist bekannt, daß Sie schon vor einiger Zeit diesen Rambousek verprügelt haben.“ Kolář schwieg und starrte auf das graue, von altem Dreck ruinierte Linoleum. „Na?“ 60
„Das ist ’n Ding“, sagte Kolář leise, „das ist ’n Ding, daß man dem Alten den Kopf gespalten hat …“ „Na, gestehen Sie’s nur, Kolář, Sie haben es getan, geben Sie’s zu …“ Die Stimme des Oberleutnants war honigsüß. Aber Kolář schwieg. Jemand klopfte an die Tür. Der Oberleutnant seufzte. „Also … Herein!“ Im Türspalt tauchte das Gesicht des Wachtmeisters auf. „Was gibt’s, Wachtmeister?“ „Sie haben jemanden aus dem Park gebracht … Moment, Genosse Oberleutnant!“ Čarda hob die Hand, der Wachtmeister verstummte. „Ist Leutnant Šlajner draußen?“ „Hier, Genosse Oberleutnant!“ erschallte es hinter der halboffenen Tür. Šlajner trat ein. „Genosse Leutnant“, sagte Čarda seufzend. „Setzen Sie Kolář in den Wagen und schicken Sie ihn mit Begleitung zum Kreis. Kolář“, fügte er streng hinzu, „unterwegs keine Dummheiten! Ab!“ befahl er und winkte den Wachtmeister heran: „Und jetzt Sie!“ Der Wachtmeister wartete, bis Šlajner die Tür hinter sich und Kolář zugemacht hatte. „Genosse Oberleutnant, im Park wurde ein verdächtiger Mann aufgegriffen. Er ist in den Park eingedrungen, obwohl er gewarnt worden war. Ein Hund hat ihn gestellt. Er hat sich frech aufgeführt.“ „Hat er sich geprügelt?“ „Nein, er hat nur den Hundeführer und den anderen Genossen zum Narren gehalten. Er wollte nicht sagen, wer er ist, und hat keinen Personalausweis.“ „Sieht er aus wie ein überalterter Hooligan?“ „Na, überaltert grade nicht …“ „’rein mit ihm!“ befahl Oberleutnant Čarda begierig.
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29. Sie saßen einander gegenüber, Oberleutnant Vlček und Leutnant Beránek, an den alten Tischen, hinter denen sich schon drei Generationen von Verbrecherjägern abgelöst hatten. Oberleutnant Vlček mümmelte an seiner stinkenden Pfeife. Er schaute durchs Fenster auf den Hof, Beránek grübelte über dem Fernschreiben, das er mitgebracht hatte. „Hör mal“, sagte er, „in Opolná ist ein gewisser Rambousek ermordet worden …“ „Was du nicht sagst“, meinte Vlček ungerührt. „Rambousek … Ein hübscher Name … In Opolná …“ Und auf einmal räusperte er sich, nahm die Pfeife aus dem Mund und beugte sich zu Beránek. „Zeig her! In Opolná?“ „Da staunst du, was?“ sagte Beránek zufrieden. „In Opolná, und heute im Morgengrauen wurde der Betroffene gefunden, wie Oberleutnant Čarda aus Meziboří meldet.“ „Ist er schon dort?“ fragte Vlček. „Er müßte schon dort sein“, antwortete Beránek mit einem Lächeln. „Soweit ich die Übersicht habe, muß er vor dem erwähnten Morgengrauen eingetroffen sein.“ „Fahren wir?“ „Ich hab’s organisiert, daß wir fahren können“, sagte Beránek und strich sich selbstgefällig das Bäuchlein. „Die Zigaretten hast du in der linken Schublade, falls du sie suchst.“ „Ja, ich suche sie.“ „So … Er hat Urlaub …“, und die blauen Augen des Leutnants leuchteten schadenfroh auf. Vlček erhob sich und knöpfte sich das Sakko zu. „Wir rufen die Jungs zusammen.“ „Schon passiert.“ „Buble?“ „Nein, Arnošt hat gesagt, er sei kein Leichenbeschauer.“ „Er sollte mitfahren“, erklärte Oberleutnant Vlček 62
schroff. „Unser Herr Kapitän wird diesmal einen erfahrenen Arzt brauchen.“
30. Die Schloßgasse, die vom Marktplatz zum Schloß führt, ist winklig, erfüllt von duftigen Schatten alter Bäume, begrenzt von der Mauer des französischen Parks, von Häusern, auf deren Dächer man mit der Hand langen kann. Sie erweitert sich zu einem kleinen Platz, wo über den Baumkronen die Kirche des heiligen Wenzel aufragt, im Material gotisch und in den Formen vom Barock gewellt; die Gasse windet sich um stabile, massive Häuser, die einst Wirtschaftsgebäude und eine Brauerei waren und nun kleine Werkstätten, Magazine und auch die Schloßweinstube beherbergen. Diesen Weg kannte Vojtěch Matějka von allen Seiten und Blickwinkeln auch in den Einzelheiten genau. Jahrelang hatte er hier mit seiner Staffelei an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Richtungen gestanden. Seine hastigen Schritte dröhnten auf dem Holzpflaster der Toreinfahrt zum Schloß. Ganz in Gedanken eilte er an dem Fensterchen vorbei, wo die Eintrittskarten verkauft wurden. „Moment bitte!“ erschallte hinter ihm der klangvolle und warme Alt von Věra Kalábová. Sie schaute heraus. Zögernd blieb er stehen. „Ach, Sie sind es, Meister.“ Sie knallte das Fensterchen zu und kam zu ihm auf den Hof. „Sie kommen zu spät … oder zu früh, Meister, ich weiß es nicht“, sagte sie unsicher. „Wie das?“ Sie dämpfte die Stimme: „Niemand darf hinein … Sie haben die Tür versiegelt …“ Im Schatten der Arkaden ging vor der braunen zweiflügeligen Tür ein Polizist auf und ab. 63
„Ach so.“ Matějka seufzte und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Er war mein Freund …“ „Ja. Wollen Sie sich nicht setzen?“ „Warum?“ „Sie sind so blaß.“ „Kein Wunder bei dieser Hitze.“ „Ich könnte Ihnen einen Kaffee kochen, Meister …“ Er nahm die Einladung an und folgte ihr ins Büro. Direktor Kaláb saß an seinem Schreibtisch, vor sich Akten, aber er arbeitete nicht. Er strich sich den Bart, das Radio spielte leise. Es dauerte eine Weile, bis Kaláb aus seinen Gedanken erwachte, sich erhob und Matějka die Hand gab. „Eine Hölle ist das“, erklärte er. „Statt eines Kaffees sollten wir lieber einen zur Brust nehmen, nicht, Meister?“ „Das meine ich auch, Herr Direktor. Ihre Frau Gemahlin war so nett …“ „Věra“, befahl Kaláb, „bring den Kognak …“ Vojtěch Matějka ließ sich in den alten Ohrensessel fallen. Er stützte die Ellbogen auf die Lehnen und faltete die Hände unterm Kinn. Er blinzelte mit seinen wimperlosen Lidern. „Auf dieser Welt“, sprach Kaláb, um vielleicht seinen Gast in dessen Kummer zu trösten, „wechseln Freude und Leid, Katastrophe und bukolische Idylle. Das ist nun einmal so, und auch eine Schreckenstat liegt nicht außerhalb des menschlichen Handelns … Weil sie zu ihm gehört …“
31. Michal Exner stand an der Tür. Čarda seufzte. Exner lächelte und zeigte dem Oberleutnant seine Hände. „Handschellen haben sie mir nicht angelegt …“, sagte er schüchtern. 64
„Genosse Kapitän, ich bin ein kleiner Kreiskommandant“, begann Čarda ziemlich traurig. „Ich habe eine Menge Schwierigkeiten auf dem Halse und meistere sie, wie ich es verstehe und kann. Und ich achte darauf, daß alles im Rahmen der sozialistischen Gesetzlichkeit verläuft. Einige kompliziertere Fälle von Klauerei gehen mir ganz schön auf den Docht. Aber ich habe Geduld und gebe nicht so leicht auf. Ich kann nicht alles schaffen. Wenn ein pampiger Fahrer meine Leute anbrüllt, wenn er vierzig Kronen Strafe zahlen soll, weil der Schmutzfänger am rechten Hinterrad abgerissen ist, und er möchte gern wissen, was die Burschen aus Zbraslavice zahlen, die an ihren Rädern aus dem Steinbruch und vom Betonwerk Tonnen von Dreck auf die Fernstraße tragen, dann hat dieser Fahrer recht, wenn er verbittert ist. Diese Burschen zahlen nichts, und ich komm’ nicht an sie ’ran. Weil nämlich ein Mammut die schützenden Hände über sie ausgebreitet hält, und das heißt Ingenieurbauten. Wenn ich ihnen an den Karren fahren will, dann halten sie mir entgegen, daß sie ihren Plan erfüllen müssen. Die Talsperre ist ein Regierungsprojekt, und sie haben keine Leute, um die Autos zu waschen, weil sie sie dafür nicht bezahlen können – und ich knall’ die Hacken zusammen. So ist das. Und wenn sich fünf besoffene Zigeuner prügeln und ein junger Spund, der noch Mumm in der Hose hat, zwischen sie geht, dann stechen sie ihn mit dem Messer ab, und die Leute helfen ihm nicht mal ins Spital. So daß ich für Späßchen aller Art nicht gerade in Laune bin, Genosse Kapitän.“ „Genosse Oberleutnant … ich …“ „Moment, Genosse Kapitän, ich bin mit meinen Gedanken noch nicht fertig. Ich hab’ jetzt hier viele junge Burschen. Ihnen sind lauter hübsche und nützliche Dinge eingeprägt worden. Von der Disziplin bis zum Hüten der Gesetze, aber sie sollten sich täglich statt eines Gebets sagen – und ich bemühe mich, ihnen das in die Schädel 65
zu hämmern –, daß sie dazu da sind, die Gerechtigkeit und die Gesetze zu hüten, die die Leute sich selber gegeben haben. Sie sollen Engel sein“, schwang sich der Oberleutnant zu einer Metapher auf, „Engel mit Flammenschwertern. Aber sie haben mit Lumpen zu tun. Ein gerechter Mensch, und diese bilden die Mehrheit, kommt ihnen nicht in die Hände. Oder nur zufällig und ausnahmsweise. Und dann wundern Sie sich, wenn sie auch einen gerechten Mann für einen Lumpen halten?“ „Ich wundere mich nicht, Genosse Oberleutnant, nur …“ „Erlauben Sie mir, Genosse Kapitän, zu Ende zu sprechen. Und wenn einer von diesen Burschen opferbereit ist oder Lust hat und mehr will, dann lädt er sich zum Beispiel einen Hund auf den Hals und dressiert ihn ohne Rücksicht auf seine Freizeit und verrichtet mit diesem Hund seine Pflicht, und dann stößt er auf einen Kerl, der dort nichts zu suchen hat, wo er mit seinem Hund einen Lumpen sucht oder eine Spur von ihm, und es ist für ihn, den Hundeführer nämlich, nur eine Bestätigung, daß alle Menschen Lumpen sind, wenn dieser gerechte Mann ihn obendrein noch auf die Schippe nimmt, also wundern Sie sich dann nicht, Genosse Kapitän, daß so ein junger Polizist nervös ist und nicht gerade die Fragen stellt, die er intelligenterweise stellen sollte. So“, schloß Oberleutnant Čarda seinen traurigen Vortrag. „Genosse Oberleutnant, ich bin auf Urlaub hier“, sagte Michal Exner. „Ich wollte einen Spaziergang durch den Park machen.“ „War Ihnen bekannt, daß man in den Park nicht darf?“ „Ja.“ „Und trotzdem sind Sie dort eingedrungen. Warum? Weil Sie neugierig sind. Weil Sie ein Provokateur sind. Wollen Sie einen Kaffee?“ „Gern.“ 66
32. Sie saßen einander am Schreibtisch gegenüber, tranken Kaffee und rauchten. Čarda beobachtete eine Fliege, die Appetit hatte, von dem weggelegten Löffel den Kaffee abzulecken, aber wenig Mut, es zu tun. „Ein Pech ist das“, sagte er, „daß Sie nachts mit Ihrer Museumskarre angezockelt sind, Sie sollten sie verkaufen, so was braucht viel Pflege. Sie haben wirklich noch keine Meldung bekommen?“ „Nein, wirklich nicht“, antwortete Kapitän Exner. „Ich hab’ mich auf einige Tage eines schönen, warmen Urlaubs gefreut. Der Luftdruck ist gestiegen, die Bewölkung hat sich aufgelöst. Und alles ist umgekippt. Das ist eben Schicksal.“ „Das ist es“, stimmte Čarda zu. „Da hat Ihnen also der Ober Karlík zum Frühstück ausgeplaudert … Da sehen Sie, der alte Karlík. Der hat leicht reden, Euer Ehren – der reichste Mann in dieser Stadt.“ Der Oberleutnant war an diesem Tag ganz in Moll gestimmt. „Kellner, Gemüsehändler, Fleischer … wenn sie noch Brot backen würden, auch die Bäcker … Suchen Sie da die Gerechtigkeit … Ich hab’ den Josef Kolář einsperren lassen.“ „Hat er’s getan?“ „Weiß ich nicht.“ Čarda zuckte die Achseln. „Rambousek hat er gehaßt, das Beil als sein eigenes anerkannt … Wir haben es bei ihm im Schuppen gefunden.“ „Er kann es also getan haben.“ „Ja, es wird wohl der Kolář gewesen sein“, sagte Čarda fast traurig. „Leutnant Šlajner kennt ihn. Wenn er einen gehoben hat, kennt er sich selber nicht. Häufig Scherereien, und mehrere Male war er eingesperrt.“ „Und ich hab’ Urlaub“, erklärte Michal Exner und streckte sich. „Der Zufall begleitet uns auf Schritt und Tritt“, philosophierte er auf dem Niveau einer Marktfrau, „eigentlich ist das ganze Leben ein Zufall. Opolná ist schön, der Park auch, das Schloß, Spaziergänge. Die 67
paar Tage, die ich vorhatte, werde ich hier bleiben. Wissen Sie schon, wer von uns herkommen wird?“ „Nein.“ „Eigentlich ist das auch nicht so wichtig. Kann ich wieder gehen? Sie kennen mich, haben mich identifiziert, ich verdufte wieder. Ich werde ausruhen und die Welt genießen. Werde über sie nicht grübeln, geschweige denn ihre Rätsel lösen. Wenn Sie fertig sind, und ich bin noch da, würden Sie mich dann anrufen? Was und wie es gewesen ist … Und dann gehen wir zusammen zu einem feinen Abendessen in ein feines Lokal.“ Oberleutnant Čarda nickte. „Mach’ ich, Genosse Kapitän.“
33. Auf dem gleichen Weg, den vor einer gewissen Zeit der akademische Maler Vojtěch Matějka genommen hatte, schritt nun Kapitän Exner dahin. Der Marktplatz lag in seinem Rücken und ebenso die Geschehnisse, die dort abliefen. Während ihn die Gasse vor die Kirche des heiligen Wenzel führte, spielte sich auf dem Marktplatz ein sehr simples Geschehen ab. Zwei Tatras und ein Wolga fuhren vor dem örtlichen Polizeirevier vor. Schneidige Jungs in Hemdsärmeln stiegen aus, ferner ein hagerer, etwas gebeugter Mann mit einer erloschenen Pfeife zwischen den Zähnen. Und ein biederer Bursche mit rundem Bäuchlein, der als einziges Gepäckstück eine schwarze Kladde bei sich trug. Kapitän Exner stand vor der Kirche, genau in ihrer Längsachse, die Hände hatte er aufs Gesäß gelegt, und so beschaute er sich langsam das Gotteshaus von der Eingangstreppe über das Portal hoch zu den Türmen mit ihren grünen Jalousien. Aus der Schloßweinstube quoll ein Menschenpulk. Eine Gesellschaftsreise zu den Schönheiten des Vater68
landes und zu den Denkmälern seiner Vergangenheit. Männer in mittleren Jahren, um deren Münder bitterer Bierschaum haftete, schnurrbärtige Jünglinge mit gesunden roten Gesichtern, Mädchen, die Hüften in Jeans gezwängt, und eine lärmende Schar von Frauen der älteren Generation, die schwitzten, denn ihnen oblag es, den vollgestopften Magen und Dutzende Kilo Übergewicht durch die Hitze des Sommertages zu schleppen. Die Menge lärmte an Exner vorbei. Einzelnen Bemerkungen entnahm er, daß das Schloß heute für Besucher geschlossen war. Dann roch er Küchendüfte. Er griff an die Brusttasche des Hemdes, um sich zu vergewissern, daß er das Geld nicht verloren hatte, und trat unter der eisernen Laterne in die Schloßweinstube. Das Personal räumte im Halbdämmer nach der Reisegesellschaft auf. Er fand einen sauberen Tisch in einer Koje neben der Tür. Eine der Serviererinnen schaute ihn an, er lächelte und lockte sie damit herbei. Sie trug ein kurzes schwarzes Kleidchen und eine Schürze mit Spitzen dran, die wie für eine Puppe genäht aussah. „Ich habe Hunger“, sagte Exner erschöpft. „Ich habe einen Spaziergang hinter mir und möchte gern etwas essen. Aber“, fügte er traurig hinzu, „Sie werden wohl nichts mehr haben …“ „Sie waren heute früh im Park, stimmt’s?“ „Oh, woher wissen Sie das?“ „Man hat Sie abgeführt.“ Er zeigte hinaus: „Aber hier doch nicht …“ „Nein, hinten, durch die Gasse am Ausschank vorbei …“ Er nickte und lächelte. „Ich bin ihnen unter die Hände geraten.“ „Kalbsschnitzel hätten wir noch. Oder gebratene Leber …“ „Das Schnitzel wäre natur?“ 69
„Oder paniert.“ „Dann zwei Schnitzel natur. Zwei. Wenig Kartoffeln.“ Er rieb sich die Hände. „Salzkartoffeln.“ „Wir haben Pilsner.“ „Ein Mineralwasser.“ „Kaffee?“ „Hatte ich schon. Dort bei ihnen …“ Er wies mit dem Kopf zum Marktplatz. Vor den Fenstern fuhren zwei schwarze Schildkröten, Dienstwagen, vorbei. Michal Exner duckte sich unwillkürlich. „Kripo“, sagte die Serviererin. „Wahrscheinlich“, räumte er ein. „Von denen lieber weit weg.“ Sie lachte, ohne zu wissen, worüber, und trug auf ihren kleinen Füßen den wippenden Hintern davon. Kann sein, Kapitän Exner dachte nach. Kann auch sein, er träumte. Sicher ist nur, daß er beim Warten aufs Essen durch den Vorhang auf die Straße spähte, auf der überhaupt nichts zu sehen war, denn sie war leer, menschenleer. Die Serviererin brachte ihm das Bestellte, schön mit frischer Petersilie garniert, und diese Farben, grün, braun, ocker und gelb, boten einen ergreifenden Anblicke Sie stellte auch ein kleines Tablett mit Gewürzen und Saucen auf den Tisch. „Oh“, sagte er, „schön. Ich habe gehört, hier ist jemand ermordet worden …“ „Ja, das stimmt. Man darf nicht in den Park.“ „Schade. Ich bin eigentlich nur wegen des Parks hergekommen.“ „Aus Prag?“ „Ja. Das soll hier ein einzigartiges Kleinod sein“, fuhr er, bedächtig kauend, fort. „Das Essen ist gut“, konstatierte er dann erfreut. „Sagen Sie dem Herrn Koch, es ist ihm gut gelungen.“ 70
„Hier kommen viele Leute her …“ „Ist ja auch was anzugucken“, bemerkte er. Sie lachte.
34. Sie standen an die steinerne Brüstung der Arkaden im zweiten Stock gelehnt und schauten auf den Hof hinunter, wo vor einer Weile rücksichtslos die schwarzen Dienstautos der Polizei vorgefahren waren. Das war, als wäre die Welt ins Wanken geraten, vielleicht empörte sich sogar der Marmorbrunnen, vielleicht erzitterten selbst die Vasen auf der Balustrade. Die Diana mit dem Bogen zuckte zusammen, und einer der Hirsche schüttelte das Geweih. Aus den Wagen strömten die Jungs, und der die Tür zu Rambouseks Wohnung bewachende Polizist salutierte vor ihnen. „Oho“, bemerkte Doktor Medek und strich sich über die Glatze, „die sind aber forsch, nicht wahr, Kollegin?“ Lída Muršová nagte an den Lippen und hielt sich mit beiden Händen an der steinernen Einfassung der Brüstung fest, als wollte sie sich die Hände kühlen. „Das kennen wir … Ein bißchen kennen wir das, stimmt’s, Erich?“ Der Student der Archäologie antwortete nicht. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Hof um, stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung, warf den Kopf in den Nacken, daß die Haare nach hinten flogen und im sanften Lüftchen leuchteten; und sie fragte: „Herr Doktor, Sie haben doch Ihren Wagen da … Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich abends hier bleiben könnte …“ „Aber das ist ja großartig.“ Er freute sich. Erich Murš kniff die Augen zusammen. Er überlegte, was Lída noch im Schilde führen könnte. 71
„Ich möchte gern … ob Sie mich nicht nach Meziboří und zurück fahren könnten … Ich hab’ nur das da mit, und abends wird’s kalt …“ „Aber gewiß doch, liebe Lída, Sie haben uns zwar darauf hingewiesen, daß wir bis zur weiteren Disposition hier bleiben sollen. Es ist natürlich unangenehm und offenbar auch überflüssig …“ „Übrigens“, sagte sie lächelnd, „sind wir in einem Weilchen wieder da.“
35. Die Einfahrt ins Schloß sah sehr bescheiden aus. Die Gasse wurde von einer Reihe Lebensbäumchen und einer drei bis vier Meter hohen Mauer abgeschlossen, vielleicht einem Bestandteil der ehemaligen Burgbefestigung. Die ebenerdigen Fenster des Schlosses waren mit weißgestrichenen Gittern versehen. Im Herbst und zeitigen Frühjahr war es hier zweifellos kalt und naß, aber jetzt, am Mittag eines Sommertages, war das ein angenehmer Ort, und Kapitän Exner schlenderte hier entlang, so langsam er nur konnte. Die Toreinfahrt hallte von den aufgekratzten Stimmen trinkender und schmausender Herrschaften wider. Die Stimmen kamen aus dem Fensterchen mit der Überschrift KASSE. Es war mit einem blauen Vorhang mit gelben Sonnenblumen darauf verhüllt. Michal Exner interessierte der Durchblick auf den Schloßhof. Er blieb an dem Fensterchen stehen, lümmelte sich mit den Ellbogen auf das massive Brett, das als Verkaufspult diente, und ließ seinen Blick über die Sandsteinhirsche, die Vasen der Balustrade und die Lafette der alten Kanone wandern. Er konnte drei Stimmen unterscheiden. Zwei Männer und eine Frau. Bevor er verstehen konnte, worüber sie 72
sprachen, erschallte in der Gasse vor dem Tor das scharfe Brummen eines luftgekühlten Achtzylinders. Exner rannte auf den Hof und konnte noch rechtzeitig ausweichen. Der schwarze Wagen sauste in die Toreinfahrt, dröhnte auf den hölzernen Pflasterklötzchen, schwang sich rücksichtslos auf die Sandsteinplatten, entweihte die Stille, fuhr um den Brunnen herum und hielt in der Ecke gegenüber, vor der Tür der ehemaligen Wohnung von Boleslav Rambousek. Michal Exner wich hinter den Pfeiler zurück, um nicht in das Blickfeld derer zu geraten, die im Wagen saßen. Der Polizist, der an der Tür Wache hielt, salutierte wieder. Von dem Platz neben dem Fahrer schob sich ein hagerer Mann mit einer Pfeife im Mund heraus. Er schaute sich um, fingerte Streichhölzer hervor und versuchte die Pfeife in Brand zu setzen. Der Wachtmeister sagte etwas zu ihm, und er nickte. Dann zeigte er zum zweiten Stock, genau über Exner. Der Wachtmeister zuckte die Achseln. Der Mann mit der Pfeife deutete an, daß die Sache, die ihn da oben interessierte und ihm offenbar nicht gefiel, beseitigt werden solle. Der Wachtmeister salutierte und rief nach oben: „He, Sie da!“ „Wir?“ schallte es zurück. „Ja, Sie, was machen Sie dort?“ „Wir ruhen uns nach dem Mittagessen aus.“ „Wer sind Sie?“ „Wir arbeiten hier im Schloß.“ Oberleutnant Vlček, der Mann mit der Pfeife, legte dem rufenden Wachtmeister die Hand auf die Schulter und deutete damit an, daß die Sache erledigt war. Der Fahrer beugte sich aus dem offenen Fenster und gähnte. „Soll ich warten?“ Vlček, dessen Augen unaufhörlich über die Arkaden kreisten, hob einen Fuß und klopfte den Tabak an der 73
Schuhsohle ab. „Brauchst du nicht, Bohouš. Alle können fahren. Wo kann er nur sein?“ „Ist wohl in die Pilze gegangen“, vermutete der Fahrer Bohuslav Vok ruhig. „Er hat Urlaub.“ „Hat er nicht“, erwiderte bissig der Oberleutnant. „Hat er nicht mehr. Hast du ’ne Zigarette?“ Bohouš Vok hielt die Schachtel hin. Vlček nahm sich eine, zündete sie sich glückselig an und gab die Schachtel zurück. Er schaute sich zur Tür um. „Wie geht es?“ „Ausgezeichnet, gleich …“ In diesem Augenblick schrie Michal Exner beinahe auf, weil ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte. „Pst!“ Er gehorchte und drehte sich, hinter dem Pfeiler bleibend, langsam um. Hinter ihm stand ein Mann mit Bart, er sah gutherzig aus und hielt den Finger an den Mund. Dann zeigte er über die Schulter. Dort führte ein offenes Fenster in das Büro des Schlosses. Ein Schreibtisch, darauf Flaschen und Gläser mit Wein, ein paar Kekse, in einem hochlehnigen Sessel ein Mann mit ergrauten Schläfen und einem Barett auf dem Kopf, puterrot im Gesicht, offenbar von der Hitze und weil er vor Gesundheit strotzte. An dem blauen Vorhang mit den Sonnenblumen stand eine blonde Frau, braungebrannt und hübsch anzusehen. Und sie machte ein freundliches Gesicht. Exner zeigte auf das Fenster, der Mann nickte, die Frau vor dem Vorhang lächelte, daß ihre Zähne blitzten. Michal Exner verbeugte sich leicht, als Kavalier für diese Verschwörung und ihm erwiesene Ehre dankend. Denn das Fenster war sowohl den Blicken von Bohouš Vok als auch denen von Oberleutnant Vlček durch den Pfeiler verborgen. Kapitän Exner zauderte nicht und schwang sich durchs Fenster in das Bürozimmer des Schlosses, gefolgt von dem Direktor und Verwalter dieser alten Residenz. 74
Dieser schloß das Fenster und zog mit einer energischen Bewegung den Vorhang zu. „Danke“, hauchte Michal Exner und blickte schüchtern Frau Kalábová in die Augen. „Verzeihen Sie, mein Name ist Doktor Exner … Wem darf ich für die nette Verschwörung danken?“ „Kalábová“, stellte sie sich vor, und ihr Mann in Exners Rücken räusperte sich. Der Mann mit dem roten Gesicht beugte sich im Sessel vor, um seine erstarrten Gliedmaßen ein bißchen zu strecken, als er Exner die Hand reichte. „Ich bin Matějka, Doktor. Wem Sie danken dürfen? Hier der Frau Direktor!“ Er versuchte zu lächeln, aber er war schon zu betrunken, und so zauberte er auf sein Gesicht nur ein Grinsen. „Sie hat Sie am Morgen gesehen. Verhaftet und aus dem Park abgeführt in die Stadt. Sie haben Rambousek … mhm … Oder sind Sie ihnen bloß so entwischt und haben nun Angst, daß man Sie wieder einfängt?“ „Sie haben mich laufenlassen …“, sagte Exner bescheiden. „Ich war zufällig in den Park geraten. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Er schüttelte dem bebarteten Mann herzlich die Rechte. „Herr Kaláb offenbar. Freut mich, Herr Matějka … Ich bin auf Urlaub hier … Habe gehört, daß hier was passiert ist …“ Inzwischen stellte Kaláb ein viertes Glas auf den Tisch und füllte es bis zum Rand mit Rotwein. Schweigend reichte er es Exner. „Danke“, sagte der Kapitän. „Eine Totenfeier?“ Das Telefon klingelte, und Frau Kalábová hob den Hörer ab. „Staatliches Schloß Opolná“, sagte sie mit ihrer vollen, warmen Stimme. „Doktor Medek … einen Augenblick. Ich versuche, Sie mit der Gemäldegalerie zu verbinden.“ Sie drückte eine Klappe und wählte eine Nummer. Das ins Leere klingelnde Telefon war von irgendwoher durchs offene Fenster zu hören. Sie drückte wieder die Klappe. „Herr Doktor Medek meldet sich 75
nicht. Ist wohl zum Mittagessen gegangen … Ja. Hier Kalábová. Ein Telegramm? Ja, ich bestelle es ihm.“ Sie legte den Hörer auf. Zerstreut schaute sie sich um. „Was haben Sie gesagt? Eine Totenfeier?“ Sie stieß einen Seufzer aus. „So ungefähr. Wir sind alle ein bißchen außer Fassung.“ „Und was sind Sie für einer, junger Mann?“ interessierte sich der angeheiterte Maler. „Zum Wohl!“ Michal Exner hob das Glas in der Richtung zu Frau Kalábová und ihrem Mann. „Ich bin Botaniker. Und Sie, mein Herr?“ „Ich bin ein Vagabund“, antwortete Vojtěch Matějka zufrieden. „Ich vagabundiere durch diese Gegend, nicht wahr?“ Das Barett verschob sich und enthüllte die weiße Glatze. „Der Herr Matějka ist Maler“, erklärte Kaláb. „Landschaftsmaler.“ Matějka breitete die Arme aus und strahlte betrunken übers ganze Gesicht. Exner hob ihm ehrerbietig, wie es sich einem Meister gegenüber gehört, sein Glas entgegen. Sie tranken. „Alle sind heute“, bemerkte Exner vieldeutig, „sonderbar erregt …“ „Kein Wunder“, stieß die Kalábová hervor, „schließlich ist doch hier ein Mord …“ Exner lächelte verlegen. „Ich habe gesagt“, meinte er zaghaft, „ich habe gesagt, erregt, Frau Kalábová. Ich habe nicht gesagt, traurig oder niedergeschlagen.“ „Es hat ihn nämlich“, sagte Matějka, auf den schwappenden Wein in dem Glas vor seinem Gesicht grinsend, „niemand geliebt, werter Herr.“ Kaláb hüstelte verlegen. „Über die Toten nur Gutes, nicht wahr?“ Er ergriff die Flasche und schenkte allen nach. „Zum Wohl!“
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36. Der Nachschlüssel drehte sich mit hellem Klicken. Der Mann, dem dies gelungen war, kniff zufrieden die Augen zusammen, richtete sich auf, zog ein zerknülltes Taschentuch hervor, legte es auf die Messingklinke und drückte diese mit zwei Fingern fast zärtlich nieder. Die Tür öffnete sich langsam. Es war noch eine Tür da, aber die stand halb offen. Leicht tippte er mit dem Mittelfinger der linken Hand dagegen. Im schwachen Durchzug roch es nach Öl und Farben. Im Zimmer klappte leise ein Fenster zu. Oberleutnant Vlček trat sorgfältig mit dem Fuß die Zigarettenkippe aus und stieß sie in den Gulli. Er trat in die Wohnung von Boleslav Rambousek und blieb einen Schritt hinter der Schwelle stehen. Links war ein runder Kleiderständer, rechts ein alter Schrank. Von diesem einfachen Vorraum aus konnte man alles über blicken: einen Raum mit vier Fenstern, die nach Osten gingen, mit zwei Kachelöfen in den Ecken und einem mächtigen Koksofen. An der rechten Wand reichte vom Kachelofen bis zum Fenster ein alter Küchentisch mit Abwasch. Ein Kühlschrank, darüber ein Glasschränkchen mit Tassen und Gläsern, in denen offenbar Gewürze waren. Eine Küchenkredenz. Unterm Fenster ein wachstuchbezogener Tisch, an ihm drei weiße Stühle. An der Wand zwischen dem ersten und zweiten Fenster ein uralter Lehnsessel, neben ihm eine Stehlampe, an der Wand eine Uhr, die laut die Zeit abtickte. Neben der Lampe quer durch den Raum eine Couch, an sie herangeschoben ein Lehnstuhl. Längs der Couch und des Lehnstuhls ein dreißig Zentimeter breites Regal aus gehobelten Fichtenbrettern. Hinter dem Schrank, der rechts von Oberleutnant Vlček stand, war noch eine alte Wäschekommode, auf ihrer Holzplatte ein Sammelsurium von allem möglichen, von Kieselsteinen bis zu einer Porzellanstatue der Jungfrau Maria. Links von der Tür, hinter dem runden Kleiderständer, 77
an die Wand gelehnt, ungerahmte Bilder, meistens großformatige, davor und um den anderen Kachelofen herum Skulpturen verschiedener Größe, oft bloße Wurzelgebilde, seltsame Ungeheuer mit hervorquellenden Augen und herausgestreckten Zungen, mit Affengliedmaßen, mit gebleckten Zähnen kichernd, mehrere Holzungetüme, von denen einige bis zwei Meter hoch waren. Vom Ofen bis zum Fenster setzte sich dieses Magazin von Kunstwerken fort, dann folgte eine kleine Drechselbank, über der eine nackte Glühbirne schaukelte. Unterm linken Fenster eine bespritzte und bekleckerte Hobelbank, zwischen den Fenstern ein Regal mit Farben, Email und Lacken, eine Staffelei, davor ein hoher Hocker. Ein gleiches Regal mit dem gleichen Inhalt war auch zwischen den mittleren Fenstern gegenüber der Eingangstür. Das Fenster zwischen diesem Regal und einem langen Wandbrett aus Fichtenholz stand offen. Der Raum glich einem Atelier, und wenn er ausgesehen hätte, wie er geschildert wurde, wäre hier nichts Besonderes gewesen, mit Ausnahme der sonderbaren und geradezu phantastischen Statuen und der wilden, mit kleinen Menschenfiguren und Tieren bevölkerten Bilder. Daß Oberleutnant Vlček die Hände auf der Brust kreuzte, sich lange und aufmerksam umschaute, zwinkerte und die Zunge zwischen den Lippen rieb, hatte seine Ursache in dem Wirbelsturm, der offenbar über das Ganze hinweggebraust war. Die Bilder in den Rahmen waren zerschnitten. Die Statuen umgekippt, das Malgerät verstreut, die Bücher lagen auf dem Fußboden zwischen Pinseln und Fläschchen mit ausgelaufenen Farben. Schrank, Kühlschrank, Kredenz, alles stand offen, die Schubladen herausgezerrt, ihres Inhalts entleert. Die Gegenstände über die ganze Fläche des Fußbodens verstreut. Und alles beschmiert, befleckt, bekleckert mit satten Farben. Mit Grün und Blau. Mit Gelb, Rot, Orange. Mit Schwarz, 78
Weiß und Purpur. Einschließlich der Statuen und zerschnittenen Bilder. Begossen mit allen möglichen Lacken und Wässerchen (später wurden Terpentin, Epoxid-Lacke, Salzsäure und anderes festgestellt). Ein solches farbiges und wildes Werk der Zerstörung hätte sich nicht einmal Salvador Dali ausdenken können. „Der Fotograf!“ rief Vlček über die Schulter. „Ist Bohouš noch hier? Er soll Leutnant Beránek und Oberleutnant Čarda herholen.“ Bohouš Vok steckte den Kopf durch die Tür. „Den Oberleutnant Čarda … Mann, sieht das hier aus …“ „Gib mir noch ’ne Zigarette“, bat ihn der Oberleutnant. „Und komm hier nicht ’rein …“ Vorsichtig wich er selber zur Schwelle zurück. „Damit“, so sagte er zufrieden, „werden wir uns drei Tage beschäftigen.“ „Er sollte es sehen, nicht?“ „Wird er“, sagte Oberleutnant Vlček hart.
37. Der Wagen fuhr ab, und das Geräusch seines Motors wurde immer schwächer. Exner stand auf. „Warten Sie noch“, hielt ihn Kaláb zurück. „Ich schau’ erst mal nach.“ Er schob den Vorhang ein Stückchen zur Seite. „Man sieht von hier aus nicht die Tür von Rambouseks Wohnung.“ Er öffnete die Tür zur Einfahrt und ging auf den Hof, sah sich um, als erwartete er den Anflug von Brieftauben. „Einer“, meldete er, „sitzt neben der Tür auf einem Hauklotz. Er stopft sich die Pfeife.“ „Hoffentlich hat er Streichhölzer …“, entfuhr es Exner. Sie lachten, denn sie hielten das für einen Witz. „Er kann Sie nicht sehen, wenn Sie gleich in der Toreinfahrt verschwinden.“ 79
„Prima. Ich geh’ dann. Gnädigste“, und er verbeugte sich vor Frau Kalábová, „es war nett. Und hübsch. Auf Wiedersehen, Meister …“ „Moment“, erklärte Matějka. Rasch trank er aus, schaukelte sich und stellte sich auf die kurzen Beine. „Ich geh’ mit, Herr Doktor.“ „Prima“, erklärte Exner, der, wenn er mäßig Alkohol genossen hatte, banale Wörter zu wiederholen pflegte. „Auf Wiedersehen, Herr Direktor.“ „Küss’ die Hand“, brummelte Matějka und schritt aus. Weil es nicht sicher war, ob er nicht in der Vorbeuge bis in die Mitte des Hofes laufen würde, nahm ihn Exner am Arm. „Leise, Meister.“ Matějka, der einem Engelchen im Barett glich, schwamm im Glück. „Diese Stadt“, erklärte er, „ist altväterlich und nett.“ Er lachte. „Sie ist unsere Freude.“ Er nahm Exner am Ellbogen. „Jetzt“, sprach er und zeigte in den Winkel des kleinen Platzes hinter der Weinstube, „meine ich, könnten wir diesen Weg einschlagen. Durch das Gäßchen kommen Sie unterhalb des Marktplatzes ’raus, und …“, fügte er zwinkernd hinzu, „und Sie brauchen niemandem zu begegnen.“
38. Zwischen den kleinen Blättchen der wuchernden und ungestutzten Hecke hindurch sah Michal Exner die Fassade des Hotels Rychta, die Tankstelle und die Bushaltestelle. Er saß mit halbgeschlossenen Augen da, ließ sich vom Ahorn beschatten, stützte sich mit den Ellbogen auf die Lehne der Bank, oberflächlich einem aus dem Flugzeug gefallenen Mann ähnelnd, der von Mallorca nach Capri reiste und durch reinen Zufall mitten in die Herzynischen Wälder geraten ist. Neben ihm schlief Vojtěch Matějka. Exner beobachtete Leutnant Beránek und Oberleut80
nant Čarda, die aus dem Restaurant des Hotels Rychta traten. Der Leutnant war rosig angehaucht von dem üppigen Mittagessen. Dem aufgekratzten Oberleutnant saß die Mütze im Nacken. Als sie hinter der Hecke verschwunden waren, stand Michal Exner langsam auf. Plötzlich hob er die Brauen und ließ sich wieder auf die Bank fallen. An der Tankstelle hielt ein kleiner Fiat, aus dem sich das Mädchen herauszwängte, mit dem er vormittags am Teich gesprochen hatte. Sie tankte und startete sogleich wieder. Und fuhr am Park, vorbei, um ihre Fahrt durch die Kastanienallee hin zur Kreisstadt fortzusetzen. Exner betrachtete den schlafenden Vojtěch Matějka, und als er sich vergewissert hatte, daß dem Maler keine Gefahr drohte, verließ er den Park und ging zum Hotel, schlüpfte in die Toreinfahrt und ins Restaurant. Er trat an die Theke heran. Schweigend zeigte er auf den Schlüssel am Haken. „Man hat Sie gesucht“, bemerkte Oberkellner Karlík trocken. „Waren sie in meinem Zimmer?“ „Ja, ich dachte, Sie gehören dazu.“ „Wie man’s nimmt“, sagte Michal Exner. „Ich werde einen Ausflug machen. Habe von einem schönen Schlößchen gehört, das Alois Jirásek beschrieben hat.“ „In Temno“, belehrte ihn der Ober. Und Exner zwischen die Augen schauend, fügte er hinzu: „Dort ist auch ein schöner jüdischer Friedhof. Als letzte Ruhestätte wie geschaffen.“ „Danke, ich schau’ mir’s an. Den Schlüssel“, und Kapitän Exner spielte mit der Holzbirne in der Hand, „werde ich wohl zurückzugeben vergessen.“ „Das kommt vor, Euer Ehren.“
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39. Der Leiter des Berghotels auf dem Spitzberg freute sich. Wie immer, wenn jemand am Telefon das Küchenpersonal verlangte, jetzt, da das Mittagessen zu Ende war und das Abendessen noch nicht begonnen hatte. Die vom Küchenpersonal waren seit dem Morgen auf den Beinen und hatten jetzt ein Weilchen für sich, wo sollte man die jetzt suchen! „Meine Dame“, sagte er in die Sprechmuschel, „den Herrn Rambousek kann ich nicht finden, ich hab’ in die Küche gerufen, dort ist er nicht, ich hab’ in seiner Wohnung angerufen, dort ist er auch nicht“ – das war gelogen, er hatte nicht angerufen, in der Mansarde war gar kein Telefon – „ich kann Ihnen also nicht dienen.“ „Ich bin seine Mutter“, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung, „ich muß ihn dringend sprechen, Herr Holeček, Sie sind doch Herr Holeček?“ „Ja, Holeček am Apparat. Aber Frau Rambousková …“ „Sein Vater ist gestorben, wissen Sie …“ „Mhm … Mein aufrichtiges Beileid, ich schau’ noch mal nach. Bleiben Sie bitte am Apparat, es wird länger dauern.“ Er lief in die Küche und befahl dem erstbesten, den er erwischte, unverzüglich Rambousek herbeizuschaffen. „Sofort, es ist wichtig, ein Anruf aus Hradec, seine Mutter. Er wird oben in seinem Zimmer sein. Schläft wohl.“ Rambousek kam mit verschwollenen Augen angewetzt. „Aus Hradec? Ja, danke, Herr Holeček … Mutter? Grüß dich, Mama … Ja, ich bin’s … Was … was … sagst du?“ Er schaute sich im Büro um und stellte fest, daß sich der Leiter taktvoll verkrümelt hatte. „Allein, ja, ich bin allein.“ „Kannst du mich gut hören?“ „Ja, ich höre dich.“ „Die Polizei war da“, sagte sie im Telefon, „daß der Papa, Rambousek, verstehst du, tragisch umgekommen ist und daß ich gleich nach Opolná kommen soll.“ 82
„Das …“, sagte er voller Unruhe, „das kann doch passieren, nicht?“ „Ja, das kann es. Nur … da kommt doch nicht die Kriminalpolizei ins Haus.“ „Hat er gesagt, daß er von der Kripo ist?“ „Ja.“ Der Koch fuhr sich über den Nacken. Er schwieg. „Du … hallo! Hörst du?“ rief sie. „Klar höre ich“, sagte er verdrossen. „Ich denke nach. Vielleicht war’s ein Unfall … Oder der Schlag hat ihn getroffen. Jähzornig war er genug.“ „Dann würde doch nicht …“ „Aber ich bitte dich“, unterbrach er sie. „Wir werden uns doch nicht selber verrückt machen. Fahr hin, und du wirst es sehen.“ „Willst du nicht auch hinkommen?“ „Ich kann nicht, bin hier allein. Wenn was ist, dann ruf an, dann komm’ ich. Verstehst du? Wenn was mit der Wohnung ist, verstehst du? Dann komm’ ich.“ Sie seufzte. „Ich weiß halt nicht …“ „Fahren mußt du.“ „Ich hatte nur gedacht, wenn du auch dort wärst …“ „Ruf an. Es ist doch nur ein Katzensprung. Ich steig’ in den Bus und bin da.“ „Na gut …“, stimmte sie widerwillig zu. „Ich ruf dann an … Auf Wiedersehen!“ „Warte!“ stoppte er sie. „Warte! Ruf bestimmt an. Die Wohnung würde mich interessieren.“
40. Das Hotelzimmer war hell, aufgeräumt und relativ sauber. Unter dem Aschenbecher lag ein Blatt aus der berühmten schwarzen Kladde des Leutnants Beránek. Darauf stand mit schülerhaften Druckbuchstaben: Melde dich bei deinen Offizieren, Kapitän! 83
Exner zog sich um und steckte das Blatt in die Tasche. Aus dem Schrank holte er den Mantel und einen Sämischhut von sonderbarer Form, wie ihn wohl Robin Hood getragen haben mag. Den Hut in der Hand, den Mantel überm Arm, so lief er die Treppe hinab in den Hof, startete den alten Mercedes und fuhr etwas schneller, als vernünftig war, auf den Marktplatz. Über den Platz kam ihm im Trab ein junger Angehöriger der Polizei entgegen. Michal Exner bog scharf ab, Richtung Meziboří. Er schaute in den Rückspiegel. Der Polizist stand mitten auf der Fahrbahn und behinderte den Verkehr. Kapitän Exner winkte ihm zu, um ihn seines guten Willens zu versichern. Und dann verließ er bereits den Platz und gelangte durch eine flache Kurve in die Allee, die schöne Allee der alten Kastanien, diese Zierde der Stadt und der Natur.
41. „Er hat eigentlich Zeit“, sagte düster Oberleutnant Vlček. Er schickte sich gerade an, Leutnant Šlajners Dienstzimmer zu verlassen. „Wenn wir bedenken, daß es bis zum Morgen dauern wird. Mindestens.“ Dann fuhr er fort: „Und wenn wir weiter bedenken, daß ein Verdächtiger festgenommen wurde … Ich gehe also, Genosse Oberleutnant“, wandte er sich an Čarda. Und er verschwand aus dem Zimmer. Leutnant Beránek grübelte über seiner schwarzen Kladde. Er zählte an den Fingern ab: „Samstag … die Nacht, Sonntag, Montag … Dienstag … Am Sonntag sind viele Leute im Park, nicht wahr?“ „Viele“, stimmte Šlajner zu, der am Fenster stand und dem hageren Vlček nachschaute, der einsam über den Platz zum Schloß marschierte. Šlajner kam der Oberleut84
nant in Zivil, in dem schlottrigen khakifarbenen, ausgeblichenen Jacken, sehr verloren vor. „Aber die Grotte liegt unterhalb des Weges am Waldrand. Das Gras war gemäht, und die Leute laufen nicht auf den Wiesen im Park ’rum. Höchstens Kinder.“ Er seufzte. „Zum Glück haben sie nicht viel gesehen. Nur die Beine … Sie dachten, ein Besoffner, der dort seinen Rausch ausschläft. In der ‚Waldbaude‘ gibt es sonntags immer einen Fünfuhrtee. Und Samstag abend Tanz …“ „In der ‚Waldbaude‘?“ „Das ist die Gastwirtschaft hinterm Park. Ein Ausflugsrestaurant. Alle Gäste, die in die Stadt zurückkehren, gehen durch den Park.“ „Alle?“ Leutnant Šlajner trat an die Karte seines Reviers, die an der Wand hing. „Hier ist die ‚Waldbaude‘. Motorisierte kehren auf der Landstraße 325 Meziboří – Dobrá – Vachberk zurück, nach Opolná oder woandershin. Nur von dieser Straße aus kann man mit dem Wagen die ‚Waldbaude‘ erreichen. Wir sind früher mit dem Rad auf Waldwegen gefahren. Aber die sind heute von den Traktoren zerwühlt. Oder aufgelassen. Zum Beispiel der oder auch der …“ Beránek setzte sich an den Schreibtisch der Karte gegenüber und kritzelte in seine Kladde eine primitive Lageskizze in einem sehr eigenwilligen Maßstab. Auf die eine Seite die weitere Umgebung des englischen Parks einschließlich der Dörfer Dobrá und Vachberk, auf die andere die engere Umgebung von Opolná und der ‚Waldbaude‘. Er fragte noch, wo die Leiche des Betroffenen gefunden wurde, und machte auf seinem überaus einfachen Plan ein Kreuz. „Wollen Sie sich die Stelle anschauen, Genosse Leutnant?“ fragte Čarda. „Ihre Ergebnisse?“ Čarda zuckte ratlos die Achseln. „Ohne Spuren. Es 85
war ein Gewitter, hat zweimal geregnet … Die Grotte ist voll … na ja, voll Unsauberkeit …“ „Fäkalien vor allem“, ergänzte ihn sanft Šlajner. Leutnant Beránek kratzte sich am Ohr. „Ich würde doch ganz gern – falls Sie nichts dagegen haben – noch durch den Park gehen. Wenn der Genosse Leutnant mich begleiten könnte …“ „Das kann er“, stimmte Čarda zu. „Und ich geh’ auch mit. Ohnehin“, fügte er aufrichtig hinzu, „bin ich hier schon überflüssig.“
42. Der alte Polizeimeister langweilte sich und war schläfrig. Und weil es unmöglich war, daß jemand unangemeldet ins Dienstzimmer kam, zog er sich unterm Tisch die Schuhe aus, schob den Sessel zurück, lehnte sich hinein und hob schwer die Füße auf den Tisch. Nicht, daß er im Dienst geschlafen hätte. Er döste nur sachte mit geschlossenen Augen. Er erschlaffte mehr, als daß er schnarchte. Durch die geschlossenen Lider zuckten die Schatten und Lichter der Baumkronen. In dieser konzentrierten Erschlaffung überhörte er das Klopfen, und ihm entging das leise Öffnen und Schließen der Tür sowie der kurze Durchzug; es wurde vielleicht in seinem Bewußtsein als das Wehen eines Engelsflügels registriert. Der leichte Druck, den er auf der Schulter verspürte, schien ihm die Berührung eines Wesens von außerhalb dieser Welt zu sein. „Genosse …“, sagte eine leise Stimme, „Genosse Polizeimeister …“ Der Polizeimeister spürte einen Druck in der Kehle, denn er wollte etwas sagen, aber es ging noch nicht. „Genosse Polizeimeister … bitte, erschrecken Sie 86
nicht …“, sagte die Stimme weiter. „Es ist nichts passiert …“ Der Polizeimeister öffnete die Augen und zwinkerte. „Immer mit der Ruhe“, sprach die leise Stimme weiter. „Es ist wirklich nichts passiert …“ Der Polizeimeister sah sich um, schluckte und rieb sich die Augen. Er warf die Füße vom Tisch herunter. „Mann …“ „Nur nicht aufregen, Genosse Polizeimeister. Das wäre schädlich …“, sagte friedlich der Eindringling, ohne dabei zu lachen, er blieb ganz ernst. „Wer hat Sie ’reingelassen?“ Der Polizeimeister fuhr mühsam unterm Tisch in die Schuhe. „Wer hat Sie ’reingelassen? Wie sind Sie ’reingekommen?“ „Durch den Haupteingang“, sagte der junge Mann bescheiden. „Ich bin Kapitän Exner, Genosse Polizeimeister. Hier ist mein Dienstausweis.“ Der Polizeimeister glotzte auf das Foto. Er angelte nach der Brille. „Zeigen Sie …“ Er knöpfte sich die Bluse zu und rappelte sich aus dem Sessel hoch. „Genosse Kapitän …“ „Aber, Genosse Polizeimeister“, sagte Exner lachend, „wir kennen uns doch ein bißchen. Noch gar nicht so lange her. Der Fall Krempa … Doktor Bažant. Was macht er?“ „In einem fort Verkehrsdelikte, Genosse Kapitän. Meistens unter Alkoholeinfluß. Na ja. Entschuldigen Sie, aber der Genosse Oberleutnant ist nicht da … Ach so! Sie sind wegen diesem Opolná gekommen. Sie sind alle am Tatort und untersuchen den Fall. Schon seit dem Morgen, Genosse Kapitän. Hierher haben sie einen Verdächtigen geschickt. Leutnant Šlajner hat ihn festgenommen. Das ist der Leiter des Reviers in Opolná …“ Er setzte wieder die Brille auf und studierte das Papier auf dem Tisch: „Josef Kolář, Forstarbeiter, vorbestraft …“ „Gut, und weiter?“ 87
„Weiter nichts. Was sollte noch sein? Der verdächtige Kolář sitzt. Er ist rabiat. Fahren Sie weiter nach Opolná, oder wollen Sie zuerst einen Kaffee?“ „Ich hätte gern ein Glas Wasser aus der Leitung, Genosse Polizeimeister.“ „Da sind Sie aber sehr bescheiden. Aber wir haben sowieso nichts anderes zu trinken da. Und dann?“ „Ich möchte, falls Sie erlauben, mit diesem Kolář sprechen. Nur so, paar Worte. Ich weiß schon einiges von dem Mord …“ „Ich verstehe, Genosse …!“ Der Polizeimeister wusch ein Senfglas aus, ließ das Wasser ins Becken ablaufen und reichte dann Exner das Glas. „Wenn Ihnen das genügt …“ „Aber gewiß. Ich würde noch eins trinken.“ „Sie haben aber einen mächtigen Durst. Na ja, es ist ja schließlich ein heißer Tag. Der Kolář ist klein, aber oho.“ „Ich schau’ mir den Burschen mal an.“ Der Polizeimeister richtete sich auf: „Zu Befehl, Genosse Kapitän.“
43. Der Reflex aus der Erziehungsanstalt wirkte sicher. Sobald nämlich der Polizeimeister mit Kapitän Exner in den Raum trat, wo Josef Kolář seines künftigen Schicksals harrte, bis jetzt nicht Häftling, sondern nur eine festgenommene Person, sprang er auf und nahm Habachtstellung ein. „Das ist also dieser Kolář, Genosse Kapitän“, meldete der Polizeimeister. Exner lächelte. „Herr Kolář wohl, nicht?“ sprach er und reichte dem kleinen, stämmigen Burschen die Hand. „Ich heiße Exner; setzen wir uns, ja?“ Er drückte Kolář leicht auf den Stuhl (dabei spürte er die sehnige und muskulöse Schulter, und ihm kam der 88
Gedanke, er habe es mit einem behenden Affen zu tun), fläzte sich selber auf das niedrige Feldbett und lehnte sich an die Wand. Bequem streckte er die Beine aus. „Sie brauchen wir nun nicht mehr, Genosse Polizeimeister“, sagte er dann. „Aber vielleicht könnte uns einer der Genossen etwas zu trinken bringen. Jetzt wäre mir ein Kaffee recht.“ Er wandte sich Kolář zu: „Was meinen Sie dazu? Auch einen Kaffee, nicht? Also dann zwei Kaffee und ein Glas Wasser. Und vielen Dank.“ Als der Polizeimeister gegangen war, bemerkte er mit dem Ausdruck von Erleichterung: „So. Wenigstens werden wir in Ruhe einiges klären.“ Kolář teilte offensichtlich weder Exners gute Laune noch das Wohlbehagen, das den Kapitän in diesem Augenblick umhüllte, denn er blinzelte unruhig mit seinen außerordentlich kleinen Augen, und es war ihm anzusehen, daß er angespannt und um höchste Konzentration bemüht war. Sein Gesicht widerspiegelte deutlich seinen Gedanken: auf deine Tricks, du Scheißer, fall’ ich nicht ’rein. „Rauchen Sie?“ „Ja.“ Exner holte aus der Brusttasche des gebügelten Hemdes Zigaretten und Feuerzeug, beides reichte er Kolář hin. „Bitte!“ „Sie nicht?“ „Erst zum Kaffee.“ Kapitän Exner faltete die Hände auf der Gürtelschnalle an der Hose, schaute auf die staubigen Schuhe von Josef Kolář und sagte: „Sie haben es nicht leicht …“ „Hm …“ „Sie sind begründet eines Mordes verdächtig …“ „Das ist Blödsinn.“ „Falls Sie beweisen …“ „Was?“ „Daß das Blödsinn ist.“ 89
„Was soll ich beweisen, wenn ich ihn doch nicht erschlagen hab’.“ „Eben das, daß Sie ihn nicht erschlagen haben. Daß Sie ihn erschlagen haben, läßt sich bis jetzt ganz leicht beweisen.“ „Möchte gern wissen, wie.“ „Also erstens“, und Exner zählte an den Fingern ab: „Sie waren am Samstag in der ‚Waldbaude‘?“ „War ich.“ „Sind allein nach Hause gegangen?“ „Bin ich.“ „Sie standen unter Alkoholeinfluß?“ „Paar Biere hab’ ich gezwitschert. Aber unter dem Einfluß von Alkohol, das nicht, Genosse. Und das läßt sich heute auch nicht mehr beweisen, ob ich das war oder nicht.“ „Machen Sie sich klar, daß ich nicht von der Verkehrspolizei bin, sondern von der Kripo. Der Einfluß des Alkohols spielt hier keine Rolle.“ Michal Exner lächelte fast freundschaftlich. „Sie hatten diesen Rambousek gefressen, stimmt’s?“ „Das läßt sich auch nicht …“ „Aber klar läßt es sich, durch Zeugen. Das weiß ganz Opolná. Von dem Herrn Ober im Rychta bis zu Leutnant Šlajner, der dort schon von Kind auf lebt.“ „Der alte Knacker“, räumte Josef Kolář ein, „hat mich angestunken. Aber …“ „Moment“, unterbrach ihn Exner. „Warum?“ Kolář hatte offensichtliche Lust auszuspucken, aber er beherrschte sich und schwieg. „Das fängt an, mich zu interessieren, Herr Kolář …“ „Das sag’ ich nicht, nein. Damit kann mir jeder gestohlen bleiben. Ich sag’s nicht.“ „Hm …“ „Aber einen Mord, das nicht, ich bin doch kein Mörder.“ 90
„Ferner“, fuhr der Kapitän fort und zählte weiter an den Fingern ab, „sind Sie bereits wegen Gewalttätigkeit vorbestraft.“ „Ich hab’ einem die Fresse poliert, weil …“ „Das interessiert mich wieder nicht“, sagte Michal Exner trocken. „Wem Sie die Fresse poliert haben, wann und wie. Und warum und unter welchem Einfluß. Aber gemacht haben Sie’s. Und vom Fressepolieren ist es ein kleiner Schritt zum Schädeleinschlagen.“ „Das sind Tricks.“ „Wenn das Tricks wären, Herr Kolář, dann wären es sehr blöde Tricks. Und die werde ich mir nicht für Sie ausdenken. Und schließlich: Das Mordwerkzeug ist erwiesenermaßen Ihr Eigentum. So.“ „Aber …“ Kolář klappte den Mund auf und zu, so angestrengt dachte er nach. Und plötzlich trommelte er fast hysterisch mit den Fäusten auf den Tisch: „Schweinehund der, selbst im Tode. So ein Schweinehund.“ Michal Exner richtete sich langsam auf dem Feldbett auf. „Herr Kolář“, sagte er trocken, „hören Sie mit dem Geblödel auf, oder wollen Sie eins in die Zähne, damit Sie wieder zu sich kommen?“ Josef Kolář riß die Augen auf.
44. Das Fräulein auf der Post schaute aus dem Schalterfensterchen. „Ein Telegramm? Ach, Sie sind es, Herr Doktor. Nein, ich hab’ es nicht mehr da. Frau Kalousková war so nett und hat es für Sie mitgenommen. Sie sagte, sie steckt es in den Briefkasten oder gibt es Frau Šustrová.“ „Danke“, sagte mit einem Seufzer Doktor Medek. „Ich wollte nicht aufs Schloß telefonieren“, meinte das Fräulein leise. „Falls man Sie nicht gefunden hätte. Es ist vielleicht doch unpassend, jetzt …“ 91
„Ja, gewiß“, erwiderte er zerstreut. Er eilte in sein Mansardenzimmer, der Kopf schwirrte ihm von Sorgen. Ihn ärgerte es, daß er seinen neuen Wagen Lída Muršová geborgt hatte, denn ihm war klar, was passieren würde, wenn sie ihn nicht rechtzeitig zurückbrachte oder wenn, was Gott verhüten möge, etwas damit passierte. Frau Šustrová war nicht zu Hause, das Telegramm steckte im Kasten. Weil er keinen Schlüssel dazu hatte, mußte er so lange mit einem Pflöckchen darin herumstochern, bis es ihm gelang, einen Zipfel des Papiers zu fassen. Selbstverständlich schürfte er sich dabei am Blech des Kastens die Haut auf. Er fluchte laut. Er riß den Umschlag auf und strich das Papier glatt. Dort stand: KOMMEN BESTIMMT ZWISCHEN ACHT UND NEUN • BESORGE BEWIRTUNG, • WIR WERDEN NIRGENDS HINGEHEN • DU WEISST, WER PRŮŠEK IST! Er fluchte ein zweites Mal, zerknüllte das Telegramm und warf es unter einen Strauch. Er wußte, daß das ungehörig war, aber irgendwie mußte er sich abreagieren. Er sah auf die Uhr und lief ins Haus. Nach einer Weile trat er mit der Einkaufstasche heraus und eilte zurück in die Stadt.
45. Sie saßen am Tisch wie zwei wunderliche Kumpane, wie ein Agent der Maffia mit dem gedungenen Mörder, und rührten in dem Kaffee. „Ich kann mich nicht erinnern“, grübelte Kolář. „Ich kann und kann mich nicht erinnern. Am Samstag war Fußball, ja. Und dann bin ich mit den Jungs geradewegs in die ‚Waldbaude‘ auf ein Bier gegangen.“ 92
„Mit welchen?“ „Mit Pepek und Jarda.“ „Pepeks und Jardas gibt’s viele.“ „Mit Pepek Malát und Jarda Háša. Und dort haben wir paar Biere getrunken. In der ‚Waldbaude‘. Aber die beiden sind dann bald gegangen …“ „Um wieviel Uhr?“ „Wie soll ich mir das gemerkt haben! Aber es muß noch hell gewesen sein … Und ich bin dann mit paar jüngeren Burschen gesessen … Mein Gott, wer war das bloß … das fällt mir noch ein … Und dann bin ich allein nach Hause gegangen, im Dunklen.“ „Um wieviel Uhr?“ „Daran kann ich mich nicht erinnern. Aber dunkel war es. Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich allein gegangen bin … Aber ja, bestimmt allein. Oder den größten Teil des Weges. Ich weiß es nicht.“ „Wer waren diese jüngeren Burschen?“ „Ja, wenn ich mich bloß erinnern könnte. Aber der Ferda wird’s wissen, der Ober von der ‚Waldbaude‘. Ich hatte an die acht Biere. Und paar Harte. Mein Gott, ich war ganz schön voll. Das weiß ich genau.“ „Welche Freude, daß Sie wenigstens etwas genau wissen, Herr Kolář“, sagte Michal Exner unbewegt. „Aber Sie waren offenbar eben doch so voll, daß Sie die Samstage mit den Sonntagen und Wochentagen verwechseln.“ „Nein, das nicht, Genosse. Ich, nicht wahr, ich arbeite schwer im Forst … Da kriegt man Durst …“ Kapitän Exner trank seinen Kaffee aus und nahm die Zigaretten und das Feuerzeug vom Tisch. „Ich lasse Ihnen Zeit, Herr Kolář. In Ruhe, Bequemlichkeit und Sauberkeit. Ein einziger Rat: Nehmen Sie wenigstens jetzt Ihre Gedanken zusammen, falls Ihnen das gelingt, denn wie ich sehe, ist das nicht Ihre starke Seite, aber es wird Ihnen zum Nutzen gereichen.“ 93
„Und Sie glauben, Genosse Kapitän, daß …“ „Ich glaube“, meinte Exner düster, „manchmal so manches.“ „Aber ich … Ich hab’ ihn doch nicht … Die Gerechtigkeit …“ „Eben, Herr Kolář. Die Gerechtigkeit ist blind. Und sie greift in Bausch und Bogen zu. Nüchterne und Besoffene. Leben Sie wohl.“
46. Die Nachmittagshitze packte Leutnant Beránek voll unter der steilen Treppe, die aus dem Park hinauf in den Schloßhof führte. Den Wachtmeister, der ihn zur Wiese und der künstlichen Grotte begleitet hatte, schickte er zurück, den weiteren Weg setzte er allein fort. Das Hemd klebte sich ihm vom Schweiß an den Rücken. Er zog das Jackett aus und lockerte die Hosenträger. Er stieg über die ausgetretenen Sandsteinstufen hinauf und nahm nichts wahr außer der Sonne, die ihm vom Westen in die Augen brannte, und dem kümmerlichen Gras, das in den Lücken zwischen den Steinen sproß. Mit der schwarzen Kladde in der Hand ähnelte er einem abgehetzten Touristen. Einem ansonsten seßhaften Bürger, der von seinem neugierigen Temperament auf einen Sonntagsausflug kreuz und quer durch die Denkwürdigkeiten der Heimat getrieben wird. Auf der Stirn perlte der Schweiß, die Backen waren hochrot, und als er oben ankam, wurden ihm die Knie weich. Er mußte sich eine Weile an der Lafette der Kanone ausruhen und vortäuschen, daß er vom Ausblick in die Landschaft bezaubert war. Dann lenkte er seine Schritte zu dem Polizisten an der Tür von Rambouseks Wohnung. „Was Neues?“ „Nichts, Genosse Leutnant.“ 94
„Recht öde und verlassen hier“, bemerkte nachdenklich der Leutnant und folgte mit seinem Blick unwillkürlich dem Mädchen, das ein paar Schritte von ihnen entfernt aus einer Tür trat, diese hinter sich abschloß und zum Tor schwebte. Beránek hob fragend die Brauen. „Die wohnt offenbar dort, Genosse Leutnant. Seit ich hier stehe, ist sie schon zweimal über den Hof gegangen.“ „Kennen Sie sie?“ „Nein. Wohl eine Studentin im Praktikum. Sie macht Schloßführungen. Im Sommer sind hier immer mehrere.“ „Hm“, meinte der Leutnant, „Sie kennen sie also nicht.“ „Nein, Genosse Leutnant, aber ich kann …“ „Nicht nötig. Wo ist hier die Kanzlei des Direktors?“ „Dort.“ „Ist jemand drin?“ „Der Verwalter des Schlosses mit seiner Frau.“ „Kapitän Exner haben Sie nicht gesehen?“ „Nein, Genosse Leutnant. Eigentlich kenne ich ihn gar nicht, wie sieht er aus?“ Beránek winkte ab. Er zog das Jackett an, richtete sich auf und ging über einen Hof zum Büro. Höflich klopfte er an und trat auf die Aufforderung hin ein. Sie saßen am Konferenztisch und tranken den Rest des Weins. „Pardon, störe ich?“ „Nein, aber heute ist geschlossen“, sagte Frau Kalábová mit strahlendem Lächeln, und ihre blauen Augen schwammen sanft. „Ich bin dienstlich hier. Leutnant Beránek von der Kriminalpolizei.“ Er trat mit aufgeklapptem Dienstausweis zu ihnen. „Ich hätte gern ein paar allgemeine Informationen.“ 95
„Ja“, nickte Kaláb düster. „Bitte Platz zu nehmen, Genosse Leutnant. Einen Schluck Wein?“ „Lieber ein bißchen Wasser.“ Sie brachte ihm eine Flasche laues Mineralwasser. Die Promille des Alkohols im Blut verliehen ihr die Leichtigkeit eines Engels. Beránek trank artig und schlug die Kladde auf.
47. Der Waldweg senkte sich sanft und endete auf einem ovalen Parkplatz unter alten Ahornbäumen. Ein paar Dutzend Meter tiefer schimmerten unter den Kronen von Linden die gelben Mauern und das rote Dach der Ausflugsgaststätte hindurch. Vielleicht war das einst ein Jagdschlößchen gewesen. Aber schon vor langer Zeit, um die Jahrhundertwende, hatte man das Objekt umgebaut. Jetzt waren im Erdgeschoß ein Ausschank und ein Restaurant mit verglaster Veranda für kühle Frühlingsund Herbsttage, verbunden mit dem Tanzparkett. Im Sommer saß man draußen unter den Linden, im Hintergrund ein Altan für die Musiker, das lange Gebäude einer Kegelbahn, dann eine Schießbude, die jetzt mit Brettern verschlagen war und ramponiert aussah. An diesem frühen Abend eines Wochentags ging es dort lebhaft zu, wie in einem Freibad zu Weihnachten. In der Tür der Veranda langweilte sich der Ober Ferda in einem weißen Jäckchen. Er hielt sein blasses Gesicht in die Sonne, rauchte den Rest einer Zigarette. Drei Männer hatten sich von weiten Genossenschaftsfeldern hierher zu einem Bier verirrt, vertrieben in den Schatten der Bäume vom Durst und der unabsehbaren Ausdehnung der Getreideschläge. Einige Kinder spielten Haschmich um den Musikpavillon. Das Düsenflugzeug, das in zehn Kilometer Höhe über Meziboří flog, war schrecklich weit, am Rande des Kosmos. 96
Im Dickicht rauschte der Bach über die kleinen Wehre aus Steinen. Und längs des Baches führte der Weg durch den Wald und den englischen Park zum Schloß. Im Schlenderschritt, wie ein Sonderling, dessen Zeit nicht zu der Zeit gehört, die mit dieser Welt dahingeht, spazierte Michal Exner dahin. Leise und falsch pfiff er sich eins in das Murmeln des erwähnten Baches hinein. Der Weg war schattig, der Wald ausgedehnt, der Park erhaben, seine Wiesen duftend, die Bäume himmelaufragend und würdevoll wie ein leiser Chor alter, herausgeputzter Aristokraten. In der Nähe des Schlosses gabelte sich der Weg. Der rechte Zweig folgte dem Bachlauf, der andere führte in mäßiger Steigung bergan, offenbar zu der Treppe auf den Schloßhof. Michal Exner ging am Bach entlang, bis er nach einigen Dutzend Metern zur Linken die bekannte Wiese hatte, mit der Grotte am oberen Ende und der Masse des Schlosses direkt über sich. Er kehrte auf die Gabelung zurück und folgte dem oberen Weg zur Treppe. Hier wucherte ein Gestrüpp von Weißdorn und Flieder, aus dem wie riesige Säulen die Stämme der hundertjährigen Fichten und Lärchen aufragten. Unweit der Stelle, wo unter einem steilen Hang jene Grotte sein mußte, führte der Weg zwischen einer Gruppe dieser Bäume hindurch, die einst längs des Weges angepflanzt worden waren und nun in ihn gewachsen waren und ihn versperrten. Von dort sah man die alte Bastei, den kahlen, ehrwürdigen Zeugen des beginnenden Mittelalters. Das Schloß war zwischen den Zweigen oben versteckt. Um die Bastei sollten eigentlich Raben kreisen. Es kreisten keine. Auf dem Weg saß ein Eichhörnchen und guckte frech. Schließlich war das hier sein Revier. Wo keine Tannennadeln lagen, war der Weg mit Gras bewachsen. Weiter oben, wo sich der obere Teil der Wie97
se erstreckte, wuchsen die Zweige der Sträucher über den Weg. Exner blieb stehen. Das Gras war nach den reichlichen Gewitterregen längst wieder trocken. Nur die Erde und die Tannennadeln waren noch feucht. Er drehte sich um, betrachtete die Gruppe alter Bäume, kehrte um, irrte eine Weile zwischen ihnen umher, bis er endlich die gesuchte Stelle fand. Der letzte Baum, bevor die Büsche und die Wiese anfingen, war eine Fichte. Ihr Stamm hatte siebzig, achtzig Zentimeter im Durchmesser. Die Büsche in der Nähe verdeckten seinen Stamm zur Weggabelung hin. Hier konnte sich eine ganze Gruppe von Schurken verbergen, ohne daß man sie im Dunkel selbst gegen den hellen Himmel sehen konnte, während sich die Umrisse dessen, der die Baumgruppe verließ und auf den freieren Raum heraustrat, gegen den Himmel abhob, klar und genau auch in einer Nacht, da es bewölkt ist und der Mond nicht scheint. Michal Exner stellte sich auf diesen Platz. Ruhig hockte er sich hin, suchte den Erdboden ab, dann ging er ein paar Schritte oberhalb der Grotte weiter, zwischen den Zweigen hindurch schaute er in die Tiefe von drei, vier Metern vor ihrem Eingang, dann kehrte er zurück, ging um ein Gewirr von Steinbrocken, Zweigen, Brennesseln und Reisig herum, um vor den Grotteneingang zu gelangen. Dort setzte er sich auf einen flachen Stein, zündete sich eine Zigarette an und schaute in die ovale Öffnung des rabenschwarzen Dunkels. Obwohl die Stelle vom Regen begossen, von der Sonne ausgetrocknet und von den untersuchenden Organen Oberleutnant Čardas zerstampft war, war die Spur des Betroffenen, die in sein vorübergehendes Grab führte, sichtbar. Die Sonne ging unter, und der Park war hoffnungslos einsam. Und Michal Exner rauchte zu Ende, trat sorgfältig die 98
Kippe aus und schritt langsam die Wiese hinunter auf den Weg zum Bach. Er wandte der Sonne den Rücken und schlenderte bachaufwärts zum Ausflugsrestaurant.
48. Sie stützte die Ellbogen auf den Rahmen des offenen Fensters und legte das Kinn in die aufgestützten Hände. Sie beobachtete ihn, wie er über den Waldweg schritt, und ihr fiel ein, daß ihm eigentlich nur noch die Blume im Knopfloch fehlte, damit er eine Erscheinung aus dem wahnsinnigen Traum einer alten Jungfer mit festen Grundsätzen würde. Er blickte herauf. „Guten Abend.“ Ohne die Hand unterm Kinn wegzunehmen und ohne die Lider zu heben, sagte sie: „Wenn ich so überlege …“ „Aber …“ „Unterbrechen Sie mich nicht! Ich überlege also …“ „Wirklich?“ „Ich überlege, Sie nicht gerade wohlerzogener Genosse Kapitän, ob ich Sie wohl mal mit zerknitterter Hose und einem Fleck auf dem Ärmel sehen werde.“ Er lächelte. „Meine Mutter hat mich stets dazu angehalten, sauber gekleidet herumzulaufen.“ „Sie sind offenbar müde von der Fahndung.“ „Von der Fahndung bin ich nicht müde“, sagte er fast schroff. „Wovon dann?“ „Von den Leuten. Vielleicht hab’ ich dazu bei meiner Profession ein Recht.“ „Das müssen Sie selber wissen, Genosse Kapitän.“ Lída Muršová öffnete weit die Augen und erlaubte ihnen, die Gastwirtschaft, den Wald, den Staat, das Weltall zu erwärmen. Er lächelte. 99
„Was macht der Mörder, Genosse Kapitän?“ „Ich hab’ immer noch Urlaub. Und deshalb interessiert mich Boleslav Rambousek mehr als sein Mörder.“
49. Leutnant Beránek klappte die schwarze Kladde zu. „Das ist einstweilen alles“, sagte er trocken. Der Schloßverwalter Vlastimil Kaláb hatte Ringe unter den müden Augen. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Aus seiner Frau Věra war im Laufe des Gesprächs mit Beránek ein müdes Geschöpf geworden, das sich nur danach sehnte, zu schlafen und aus dieser Welt zu verschwinden. Leutnant Beránek klopfte zufrieden auf die Kladde. „Das Grundsätzliche hätten wir. Die Untersuchung steht freilich erst am Anfang. Sie wird von meinem Vorgesetzten geleitet. Übrigens“, fuhr er wie beiläufig fort, „ist es nicht ausgeschlossen, daß er bereits hier ist. Ich bin schon seit einigen Stunden ohne Verbindung zu ihm.“ Kaláb seufzte müde. „Keiner … keiner von Ihren Leuten hat sich hier gemeldet.“ Beránek schüttelte den Kopf und stand auf. „Er hielt es vielleicht gar nicht für nötig, sich hier zu melden.“ „Hier war niemand außer den Leitern von zwei abgewiesenen Reisegruppen“, erklärte Frau Kalábová. „Kein Fremder.“ „Außer …“ Kaláb verstummte unter dem Blick seiner Frau. „Außer?“ fragte der Leutnant mit professionellem Argwohn. „Ach“, meinte sie und winkte ab, „nur so ein unglückseliger Botaniker.“ „Warum unglückselig?“ „Na ja, am Vormittag hatte er sich in den Park verirrt. Er wurde festgenommen. Man hat ihn aber gleich wie100
der freigelassen. Eine Weile hat er hier bei uns gesessen. Er interessierte sich für die Flora des Parks. Sie wissen sicher schon von ihm.“ „Sicher. Wie sah er aus, dieser Botaniker?“ „Das kann Ihnen doch der Genosse vom Revier sagen“, erwiderte Frau Kalábová. „Ich weiß nicht, was an ihm Auffälliges sein sollte.“ „An ihm war wirklich nichts Besonderes“, sagte Kaláb eisig. „Vielleicht nur das“, ergänzte seine Frau spitzig, „daß der Herr Doktor ein sehr eleganter, angenehmer und aufmerksamer Herr ist.“ Leutnant Beránek räusperte sich. „Verzeihung, Pardon. Ja. Elegant …“ Er kämpfte einen Hustenanfall nieder. „Das geht in Ordnung, Frau Kalábová. Völlig in Ordnung, Herr Kaláb. An der Eleganz des Herrn Doktor … Botanikers … habe ich nie gezweifelt.“ Er senkte das Kinn über das Bäuchlein. „Ich danke Ihnen, und auf Wiedersehen. Ich brauche Sie nicht zu ermahnen, daß es gut sein wird, wenn Sie einstweilen niemanden über unser Gespräch informieren. Und zweitens: Das Schloß bleibt auch weiterhin für alle geschlossen, die hier nicht ständig arbeiten.“
50. „Doktor Jaromír Medek, Kandidat der Wissenschaften, Kunsthistoriker und Kunstkritiker, außerdem noch Restaurator, urteilt über Boleslav Rambousek“, sagte Lída Muršová, „daß er ein Genie ist. Das heißt“, korrigierte sie sich, „daß er ein Genie war, wie nur wenige geboren werden.“ „Doktor Medek …“ „Doktor Medek kommt in jeden Ferien her, um die örtliche Gemäldegalerie zu durchforschen. Sie ist riesig, alles mögliche ist drin, Kopien, übermalte Bilder, ver101
steckte Originale und so weiter. Die Sortierung und Bestimmung wird sein Lebenswerk sein. Und bei dieser Gelegenheit hat er vor Jahren das Talent des Volksschnitzers und Malers Rambousek entdeckt, ansonsten Reparaturhandwerker des Schlosses.“ „Haben Sie nicht Hunger?“ „Doch, hab’ ich.“ „Ich auch.“ Der Kellner im weißen Jäckchen schlug ihnen vor, sich voller Appetit über Jagdwurst mit Zwiebeln oder heiße Bockwurst mit Senf herzumachen. „Das ist ja eine tolle Auswahl“, sprach Exner lobend, und der Ober ignorierte diese Worte völlig, denn er empfand sie als den Spott eines blöden Freiers. Er hatte übrigens recht. Exner entschloß sich für Jagdwurst mit Zwiebeln. „Nach einem heißen Tag“, erklärte er heroisch, „kann ein kaltes Abendbrot letzten Endes nicht schaden. Was werden Sie trinken?“ „Gin“, entschloß sich das zarte Mädchen. „Und eine Selters. Und Sie wohl Mineralwasser. Wie gewöhnlich.“ „Wie gewöhnlich“, bestätigte er. „Aber … Lída … falls ich Sie so nennen darf …“ „Sie dürfen, Genosse Kapitän.“ „Nun, liebe Lída“, sagte Exner, dem abgehenden Kellner nachschauend, „damit wir es nicht vergessen … Was halten Sie von Rambousek?“ „Das war ein sehr geschickter Opa“, erklärte sie. „Er schnitzte Ungeheuer und malte ein Zeug, daß einem die Augen übergingen. Ich glaube, nur deshalb, um dem Herrn Doktor eine Freude zu machen. Oder um zu erkennen, was dem Herrn Doktor gefallen würde. Ich hatte den Alten immer in Verdacht, daß er sich mit Medek seinen Spaß machte. Da saßen wir voriges Jahr mal bei ihm in der Wohnung, haben ein bißchen getrunken, ich, mein Bruder, Doktor Medek, Kaláb. Medek pries das 102
Werk von Boleslav Rambousek, und der Alte guckte mich über seine Brille hinweg an, als wollte er sagen: Was der da quatscht!“ „Warum wurde er ermordet?“ „Das sollten Sie wissen, warum Leute ermordet werden. Wegen Geld doch wohl, nicht?“ „Hatte er Geld?“ „Was weiß ich?“ Im Ausschank wurde Bier getrunken, der Geruch drang bis auf die Veranda. Sie waren immer noch in dem Holzanbau allein. „Um Himmels willen“, sagte Exner plötzlich, „warum ist keiner hier?“ „Früher fuhr man mit der Eisenbahn auf einen Ausflug her. Jetzt macht das keinem mehr Spaß, und ein Hotel ist hier nicht.“ Der Kellner im weißen Jäckchen, der sie am liebsten ’rausgeschmissen hätte, weil sie weitab saßen und mit ihnen offensichtlich kein Geschäft zu machen war, servierte ihnen, was sie bestellt hatten. Er machte gar nicht den Versuch zu fragen, ob hier genug Licht sei, oder überhaupt etwas zu fragen. Michal Exner rümpfte die Nase und zerbrach voller Abneigung die krustige Scheibe Brot. „Sie haben sich die ‚Waldbaude‘ ausgesucht“, sagte sie und nippte mit Appetit von ihrem Gin, „also leiden Sie, Herr Kapitän.“ „Ich habe mit Josef Kolář gesprochen …“ „Ach ja? Und was hat er gesagt?“ „Daß er es nicht getan hat.“ „Er hat die Wahrheit gesagt.“ „Sie wissen offenbar alles auf der Welt, Teuerste. Sieh mal einer an.“ „Der Josef ist ein Rappelkopf, ein Narr, ein bißchen zurückgeblieben. Warum hätte er Boleslav Rambousek umbringen sollen?“ „Wegen des Geldes. Sie haben einander gehaßt.“ 103
„Mein Gott! Der hätte ihn auf dem Wege liegenlassen und sich gleich vollaufen lassen, zum Beispiel hier, und hätte ausposaunt, daß er dem Alten den Schädel eingeschlagen hat.“ „So gut kennen Sie ihn?“ „Ich habe ihn einige Male erlebt. Hier und in der Stadt. Und die mit ihm lebt, die hat ihn manchmal abgeholt. Zuerst schrie sie ihn an, dann bestellte sie sich ein Bier, dann stritten sie sich wieder, dann gingen sie nach Hause, sich gegenseitig stützend, manchmal hörte man sie aus der Ferne, wie sie einander anschrien und saftig beschimpften. So gemein, daß es schon wieder schön war, wissen Sie.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist traurig?“ fragte sie, und es war mehr eine Feststellung. „Menschlich ist das“, erklärte Kapitän Exner trocken. „Außerdem, von wem wissen Sie, daß Rambousek der Schädel eingeschlagen wurde?“ „Habe ich etwas Derartiges gesagt?“ „Allerdings.“ „Das ist mir nur so eingefallen.“ „Manchmal, Lída“, konstatierte er, „haben Sie bemerkenswerte Einfälle.“ „Aber ich …“ Sie errötete. „Noch einen Gin?“
51. Durch die offene Tür des Depositoriums wehte die laue Abendluft. Bei einem Gläschen Rotwein saßen Doktor Jaromír Medek und der Student der Archäologie Erich Murš. „Sie führt was im Schilde“, sagte der Kunsthistoriker. „Sie hat mir das Auto zurückgebracht und ist verschwunden. Hat nicht gesagt, wohin und warum.“ 104
„Sie führt dauernd was im Schilde“, erklärte Erich, der offenbar stolz war auf seine mißratene Schwester. „Man hat es schwer mit ihr.“ „Ich glaube nur, hier in der Gegend ist es momentan nicht ganz ungefährlich. Schließlich ist es zu einem Mord gekommen, und solange der Täter nicht ermittelt ist …“ Erich wies mit dem Kopf nach hinten und unten. „Hier treiben sich mindestens zehn bewaffnete Hüter des Gesetzes ’rum.“ „Nur kriechen die auf der Erde und an den Wänden herum und suchen Fingerabdrücke und wer weiß was noch.“ „Ein Sexualmörder“, warf Erich Murš leicht hin, „war das bestimmt nicht. Man hat nicht den geringsten Grund zu der Annahme, daß jemand in der Dunkelheit Rambousek mit einer Frau, verwechselt haben könnte. Was soll’s also?“ „Trotzdem“, meinte Doktor Medek. „Trotzdem.“ „Sie ist wahrscheinlich“, urteilte Erich sachlich, im offensichtlichen Bewußtsein, daß er damit seinen Gesprächspartner verletzte, „zu einem Rendezvous gegangen.“ „Um Gottes willen, mit wem? Hier?“ entsetzte sich Doktor Medek. „Ich war immer der Meinung, daß sie in diesem Städtchen …“ „Männer tummeln sich hier sehr viele“, sagte Erich Murš, dem der genossene Alkohol (den er nicht allzusehr gewohnt war) einen Aufschwung des Stils und des Geistes verlieh. „Besonders im Sommer. Ist sie volljährig, Herr Doktor?“ fragte er weise und gab sich selber die energische Antwort: „Jawohl, das ist sie.“ „Natürlich“, stimmte Doktor Medek zu, und in seiner Stimme klang Unsicherheit. „Werden sie ihn finden?“ „Wen?“ „Den Mörder …“ 105
„Bestimmt“, behauptete Erich Murš leichtfertig, aber plötzlich stutzte er. „Was ist denn?“ „Herr Doktor, haben Sie den Kerl bemerkt, mit dem Lída gesprochen hat? Heute früh am Teich? Am andern Ufer … Der da mit ihr sprach und dabei in der Hocke saß, fast wäre er kopfüber ins Wasser gefallen?“ „Ich habe gesehen, daß sie mit jemandem gesprochen hat. Ein junger Mann war es. Ich meine, der Kleidung nach. Ich hatte die Brille nicht auf … Natürlich habe ich den bemerkt.“ „Ein junger Mann“, meinte Erich lächelnd, „na, nehmen wir’s an. Er hat mich auf die Entfernung an jemanden erinnert …“ „Wirklich?“ fragte Doktor Medek, ganz bei der Sache. Erich Murš schwieg und leckte sich die Lippen, als wollte er Reste von Wein beseitigen. „Ich möchte nicht der Mörder sein … von unserem Rambousek“, sagte er langsam. „Aber gewiß doch, lieber Erich, nur verstehe ich dich nicht ganz. Du meinst, deine Schwester und dieser junge Mann …“ „Aber nein. Oder vielleicht doch?“ Er lachte. Griff nach der Flasche und goß die halbleeren Gläser voll. „Zum Wohl, Herr Doktor.“ Sie tranken ex. Und Erich schenkte wieder nach. „Ich versteh’ dich nicht, Erich, meiner Seel, ich versteh’ dich nicht.“ „Das macht nichts, Herr Doktor. Ich versteh’ mich manchmal selber nicht. Und dabei bin ich allein, ganz allein. Ich weiß, Sie mögen meine Schwester …“ „Natürlich. Sie ist ein sehr liebes Mädchen, und …“ „Frech ist sie. Und eigensinnig. Und trotzig.“ „Ich hatte Befürchtungen, daß gerade heute … in dieser Zeit, hier …“ „Ich meine also, Herr Doktor“, sagte Erich Murš fast 106
heiter, „daß Sie völlig beruhigt sein können. Heute abend ist sie außer Gefahr.“ „Bist du dir dessen sicher?“ Erich Murš schüttelte staunend den Kopf. „Aber ein Biest ist sie … Was hatte sie an, als sie zurückkam? So einen aufgeschnittenen Rock, nicht? Und eine flattrige Bluse, wie ein chinesischer Kuli, nicht?“ „Ja, aber wie …“ Erich Murš lächelte. „Ein Biest ist sie. Aber sie ist in Sicherheit“, wiederholte er zufrieden.
52. An dem mageren Hals des Herrn Průšek hüpfte der Adamsapfel, und er selber kratzte sich die gefurchte Stirn. „Verehrteste“, erklärte er, und seine Augen beobachteten begierig Doktor Medek beim Einschenken des Kognaks, „Sie sind eine hervorragende Gastgeberin.“ Er schnappte mit der sommersprossigen Hand nach der Gabel und spießte damit Schinken und ungarische Salami auf. Medek hatte größte Lust, ihm auf diese Hand einen Klaps zu geben. „Unter diesen Bedingungen einer Untermiete tun wir, was wir können“, sagte sie lachend. „Aber hier ist es schön, ich liebe diese Ausflüge zu meinem Mann.“ Doktor Medek empfand den brennenden Wunsch, ihr die marinierten Pilze in den Ausschnitt zu schütten, nach denen sie gierig langte, ewig hungrig in ihrer wahnsinnigen Furcht vor Fettleibigkeit, die sie niemals, seit er sich erinnerte, bedroht hatte. „Pardon.“ Průšek wurde sich endlich bewußt, daß er auch eine Erziehung genossen hatte. „Bitte sehr, Madame.“ „Danke. Wenn ich nur ein paar Tage normal essen würde, ginge ich auf wie Hefeteig. Stimmt’s, Jaromír?“ 107
Doktor Medek nickte lächelnd. Seit er sie kannte, und das waren schon gut fünfzehn Jahre, rasselten in ihr die Knochen. Seine Sehnsucht, die beiden loszuwerden, war quälend und unabweisbar. „Herr Průšek“, sagte er, „ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir ein Geschäft machen werden.“ Er versuchte ein Lachen, aber sehr gelang es ihm nicht. „Meine Frau hat Sie von so weither gelockt …“ „Es war ein sehr angenehmer Ausflug“, sagte der geriebene Geschäftsmann. „Ich habe schon alles vorbereitet. Heute läßt sich an solchen Sachen nichts mehr verdienen. Und aus alter Freundschaft versichere ich Ihnen, daß in meinen Händen …“ Medek fiel ihm ins Wort: „Geht in Ordnung. Ich meine nur, ob der Verkauf nicht verfrüht ist … und“, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „vielleicht auch überflüssig …“ „Jaromír, du weißt, daß …“, ermahnte sie ihn. Der Fuchs Průšek hielt das für ein abgekartetes Spiel und stopfte sich seelenruhig mit dem italienischen Salat voll, daß sich sein Hals blähte. „Ich möchte wiederholen“, sagte Doktor Medek mit erhobener Stimme, „daß wir uns das gerade jetzt gut überlegen sollten!“ „Ich war gestern hier“, sagte seine Frau schroff, „und Herr Průšek war so nett, heute herzukommen …“ Průšek hob die Hand, und Stückchen des Salats fielen ihm von den Lippen zurück auf den Teller. „Gern geschehen“, murmelte er mit vollem Munde und angelte mit der freien Hand in der Aktentasche herum. „Hier ist das Verzeichnis mit den Preisen. Wollen Sie es sich bitte anschauen.“ Medek nahm das Papier und vertiefte sich darin. Im Wesen war das ein Verzeichnis der wertvollsten und ihm liebsten Bilder seiner Sammlung: Autor, Titel des Bildes, mit Bleistift hinzugeschrieben der Preis. 108
Er runzelte die Stirn. Das sah aus, als konzentrierte er sich. Er kniff die Augen zu und sah nur farbige Kreise und zwischen ihnen den hüpfenden Adamsapfel. Er legte das Papier weg. „Hm … Im Herbst, Herr Průšek, komme ich nach Prag. Dann werden wir uns bestimmt einigen.“ Průšek verschluckte sich, und Frau Medková nahm energisch das Blatt Papier an sich. „Ich habe mein vorläufiges Einverständnis erklärt“, sagte sie schroff. „Vorläufig, natürlich“, sagte Medek. „Das vorläufige Einverständnis …“ „Sind Sie der Meinung“, stieß endlich Průšek hervor, „daß das Angebot nicht kulant ist?“ „Überaus kulant“, sagte Doktor Medek. „Das zweifellos.“ Frau Medková griff zum Kognak und kippte ihn hinunter. „Bitte“, sagte Doktor Medek, „du wirst doch noch chauffieren, nicht?“ „Der eine Kognak … Übrigens werde ich noch was essen. Die Sache ist erledigt, im wesentlichen sind wir einverstanden.“ Sie stieß ihren Mann unterm Tisch mit dem Fuß an, daß er vor Schmerz zieferte. „Wir können die Formulare unterschreiben, und dann widmen wir uns, meine Herren, ein Stündchen der freien Unterhaltung.“ Průšek legte sein Gerippe über die Aktentasche und fischte die Akten heraus. Sie unterschrieb mit ihrer Goldfeder. Dann legte sie die Papiere vor Doktor Jaromír Medek, drückte ihm den Füller in die Hand und zeigte mit dem rotlackierten Fingernagel genau die Stelle, wo er zu unterschreiben hatte. Er tat es wie im Traum. Dann tastete er nach der Kognakflasche …
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53. Im Schilf um den Teich quakten die Frösche, nein, sie quakten nicht, sie brüllten. In der Allee war es dunkel, in der alten Mühle leuchtete ein einziges Fenster, aber es beleuchtete nichts: so ein nirgendhin leuchtendes Irrlicht. An einen der Kastanienstämme, die sich leicht dem Teich zuneigten, lehnte sich ein Mädchen. Sie hatte dünne Arme und schmale Schultern. Diese Arme waren um den Hals eines langhaarigen Mannes geschlungen. Er preßte sich an sie, daß ein anderer Angst bekommen hätte, die alte Kastanie könnte umkippen und ins Wasser fallen. Der Baum aber hatte Verständnis. Er hielt sich mit den Wurzeln im Ufer fest, und seine Krone rauschte lieblich. Die beiden waren sehr lange still. „Komm schon“, flüsterte sie endlich. „Es ist schrecklich dunkel und schrecklich spät.“ „Ein Weilchen noch … Wir sind doch gleich zu Hause. Ich habe den Schlüssel zum Tor.“ „Wir können nicht durch den Park, Martin …“ „Warum nicht? Sie werden bei Rambousek sein. Aber sie sind überall ’rumgekrochen …“, sagte der langhaarige Martin Kaláb. „Und sie haben sich Scheinwerfer mitgebracht und im Park alles abgesucht unter seinen Fenstern …“ „Ich hab’ aber Angst …“ „Wovor?“ „Du weißt doch …“ Er stutzte. Und dann sagte er mit der Sicherheit eines tapferen Mannes: „Aber der Kerl wird doch jetzt nicht mehr dort sein, um jedem aufzulauern, der vorbeikommt. Wo doch die Stadt voller Kripo ist.“ „Das kannst du nicht wissen. Und … Ich hab’ Angst … Wo wir ihn doch gesehen haben … Wir haben ihn doch gesehen!“ 110
„Na ja“, sprach Martin Kaláb tapfer, „er wird es wohl gewesen sein … Aber er war weit weg von uns. Und er hat uns nicht gesehen.“ „Komm heim. Hier hab’ ich Angst.“ Er schluckte. Schaute sich unwillkürlich um. Eigentlich war er froh, daß sie den Rückweg durchs Städtchen nehmen würden.
54. Doktor Medek begleitete die Besucher zur Gartentür, dort verabschiedete er sich. Am Himmel standen Sterne, und den Garten beleuchtete das Fenster des Musikzimmers der Frau Šustrová. Es war offen, und sie spielte Schumann. Er ging nach oben, um sich den Kognak zu holen, und setzte sich auf die Bank zwischen den Wacholderbüschen. Hoch oben brummte ein Flugzeug und trug sein rotes und grünes Licht zwischen den Sternen dahin. Ein goldener Schein fiel auf die Rosenbüsche – und da hinein der Schumann. Doktor Medeks Augen schimmerten. Das hielt einige Zeit an, vielleicht zwanzig, dreißig Minuten, vielleicht auch eine Stunde. Das Klavierspiel klang aus, jetzt leuchtete nur noch das Fenster oben in der Mansarde, in der er wohnte. Im Hause hörte man die Schritte von Frau Šustrová, ihr Rufen. Die Lampe über der Haustür ging an, ihr Schein fiel auf den Weg, den stillen Winkel zwischen den Wacholderbüschen und die Glatze von Doktor Medek. Sie trat vor die Tür. „Herr Doktor …“, rief sie, und da entdeckte sie ihn. „Herr Doktor! Haben Sie mich erschreckt! Was machen Sie hier, Sie werden sich noch erkälten!“ Er zeigte schweigend auf die Flasche vor sich. 111
„Es ist kühl, Herr Doktor. Ich dachte, Ihre Frau Gemahlin würde bis morgen bleiben.“ „Sie ist nur gekommen“, entgegnete er, um einen leichten Ton bemüht, „um eine geschäftliche Angelegenheit zu regeln.“ „Wirklich?“ Sie setzte sich zu ihm. „Sie trinken doch sonst nie …“ „Aber nicht doch …“ „Fast nie, Herr Doktor. Ich kenne Sie schon so viele Jahre“, fuhr sie mit weicher Stimme fort. Das rührte ihn. „Schön haben Sie gespielt …“ „Ich spiele so fast jeden Tag.“ Sie lächelte und seufzte. „Ja, aber heute … Heute habe ich Ihnen richtig zugehört.“ Doktor Medek begann sentimental zu werden. „Vielleicht dieser Abend und die Sterne …“ „Ja …“, sagte sie. Sie spielte mit dem großen Ring, dessen grüner Stein bestimmt ein viertel Kilo wog. „So viele Jahre wohnen Sie schon bei mir … Vielleicht … vielleicht sind Sie böse auf mich. Weil ich mit Menschen befreundet bin, die Sie nicht mögen.“ „Nein, das nicht, Frau Professor. Wen denn, ich bitte Sie?“ „Ich weiß, Sie mögen Vojtěch nicht, Vojtěch Matějka meine ich.“ Er winkte ab. „Ach wo!“ „Doch, doch, Sie mögen ihn nicht, das weiß ich. Und er Sie auch nicht.“ „Sie irren sich, Frau Professor“, sagte Doktor Medek sanft in einer weiteren Anwandlung von Sentimentalität. „Ich nehme ihn nur als Maler nicht ernst. Und er weiß das. Er ist es, der mich haßt.“ Sie lachte. „Das ist nicht zum Lachen“, verwahrte er sich. Sie schüttelte den Kopf. „Sie irren sich, Herr Doktor, denn Vojtěch, bei Gott, Vojtěch kann nicht hassen. Er ist 112
ein guter Mensch. Mit allem, was dazu gehört, glauben Sie mir.“ Doktor Medek wiegte die Glatze, denn er wollte sich nicht streiten. „Sie kennen ihn seit Jahren, vielleicht haben Sie recht, aber ansonsten … Ich möchte auf keinen Fall, daß Sie den Eindruck gewinnen, ich würde mich in Ihre Häuslichkeit mischen. Denn ich fühle mich bei Ihnen sehr wohl.“ „Ich weiß, Sie haben gewisse Schwierigkeiten“, sagte sie freundschaftlich. „Mich geht das zwar nichts an …“ „Schwierigkeiten …“ Er lachte. „Die habe ich schon jahrelang, Frau Professor. Und welche – das werden Sie wohl erraten.“ Wie unabsichtlich legte sie ihm die mit dem grünen Stein belastete Hand auf den Arm. „Möchten Sie noch mit mir ein Täßchen Kaffee trinken, Herr Doktor?“ Er nickte traurig, denn er war schon ziemlich betrunken. „Sehr gern, gnädige Frau …“
55. Die Wohnung und die Werkstatt von Boleslav Rambousek waren von Arbeitsscheinwerfern beleuchtet, die die Schatten vertieften und dort, wo ihr Licht konzentriert war, schamlos die Verkommenheit und den Staub, die Frische der Farben und das Alter und die Oberflächenstruktur der Gegenstände entblößten. Leutnant Beránek stand in der Tür und schaute sich um. Vier Männer arbeiteten wie die Bienen. Oberleutnant Vlček saß am Eßtisch, der von einer Bürolampe aus Bakelit beleuchtet war, die er offenbar irgendwo gefunden hatte, und kramte in seinen Papieren, schmierte darin herum und zeichnete, ein Schülerdreieck benutzend, Lagepläne. „Ahoi“, sagte Beránek halblaut. „Habt ihr die Fenster?“ „Ja.“ 113
Er sah hinaus. An der Mauer wand sich Efeu hoch. Unterm Fenster war er abgerissen, mit deutlichen Spuren einer Leiter. „Ich war unten“, bemerkte Beránek, „jemand hat eine Leiter angestellt.“ „Jemand“, setzte Vlček fort, von seinen Papieren aufblickend, „ist durchs Fenster eingestiegen.“ „Und hat etwas gesucht …“ „So fleißig, daß er aus diesem gemütlichen Kämmerlein ein Bild der Verwüstung gemacht hat. Der Kapitän ist nicht aufgetaucht?“ „In der Kanzlei und Kasse der Schloßverwaltung hat einer herzlich debattiert und Wein getrunken, mit Einheimischen und der Frau des Herrn Verwalters, einer, der ihm aufs Haar gleicht.“ „Er wird nicht drum ’rumkommen“, sagte Vlček verbissen. „Das wird er nicht. Wie weit seid ihr?“ „Wir haben die Küche und das Eßzimmer“, konstatierte Vlček und beschrieb mit der Hand einen Kreis um sich. „Aber das ist erst der Anfang. Wir bleiben bis Tagesanbruch da und werden es nicht ganz schaffen.“ „Etwas Interessantes?“ „Hier ist alles mögliche. Von einem alten Fotoalbum über eine Münzsammlung von geringem Wert bis zu einer Meißner Tasse mit angeschlagenem Henkel. Aber eins ist nicht da: Geld. Geld von heute, das noch gilt.“ „Es wird in der Sparkasse sein.“ Oberleutnant Vlček zeigte mit dem Finger vor sich auf die Tischplatte, Beránek schaute hin. Auf zwei Sparbücher. Ein altes, noch aus dem Krieg, mit einer kleinen gesperrten Einlage, und ein neues, wo vor zwei Jahren fünfhundert eingezahlt worden waren und seitdem nichts, jedenfalls war nichts eingetragen, vielleicht war es das Sparbuch eines kollektiven betrieblichen Sparens. Beránek sagte das, und Vlček stimmte ihm bei. „So kann es sein. Und bei sich“, fügte er hinzu, „hatte er – falls ich 114
mich recht erinnere, was Čarda gesagt hat – weder ein Portemonnaie noch Kleingeld.“ Beránek nickte. „Hat es Sinn“, fragte Vlček und zeigte mit dem Daumen über die Schulter, „’runterzugehen?“ „Hat es nicht. Höchstens, Sie wollen sich früh die Lunge durchlüften. Es hat geregnet. Und in den zwei Tagen müssen dort mindestens zweihundert Menschen drübergegangen sein.“ „Und unter den Fenstern?“ „Dort zwanzig. Der Fußpfad“, und er wies hinter sich, „führt, falls ich mich nicht täusche, am Schloß und dann an der Kirche vorbei in den Park am Marktplatz. Wenn das Schloß abends geschlossen wird, kann jeder, der in den Park unterm Schloß gehen will, diesen Pfad benutzen. Das ist näher als am Teich entlang.“ „Aber wer wollte das?“ „Am Abend so mancher. Ich glaube sogar, dort geht es recht lebhaft zu.“ „Was wirst du tun?“ „Ich warte auf ihn im Hotel. Einmal muß er ja kommen.“
56. Die Sonne ging rot hinter den Bäumen unter, zurück blieb die rote Farbe der Welt, und es sah aus, als wären Himmel und Erde, die Bäume und das Gebäude des alten Gasthauses Infrastrahler, weil es warm und feucht war und der Wald duftete. „Es wird regnen“, bemerkte Michal Exner. „Immer wenn so ein Abend war, sagte mein Großvater, es wird regnen. Und er hatte recht.“ „Ihr Großvater war Meteorologe?“ „Nein. Gelegenheitsarbeiter. Die meiste Zeit arbeitslos. Übrigens – ist es hier immer so leer und ungastlich?“ „Nur am Dienstag. Mittwoch ist Tanz, der Donnerstag 115
wechselt irgendwie in den Freitag über, und Samstag und Sonntag geht’s hier munter zu. Bis aus Meziboří kommen sie hierher zum Schwof. Und man geht in die Pilze und baden in den Teich, der ein Stückchen bachaufwärts liegt.“ Deshalb ist es hier so feucht, fiel Exner ein. „Ich werde Sie wohl vernehmen müssen“, sagte er fast traurig. „Um Himmels willen, Herr Kapitän, das machen Sie doch schon die ganze Zeit?“ Er schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht. Wir plaudern nur ein bißchen. Ich habe nämlich Urlaub. Immer noch habe ich Urlaub. Erst in der kommenden Nacht werde ich irgendwie erfahren, daß er zu Ende ist. So daß ich also das Recht habe, mit Ihnen nur zu plaudern.“ „Vernehmen Sie mich nur, Genosse Kapitän, damit’s ein Gaudi gibt, wie unser Herr Harpíšek immer sagt.“ „Harpíšek?“ „Er wohnt uns gegenüber und züchtet Rosen. Vor einiger Zeit habe ich mir einen ganzen Strauß von ihm geholt. Hintenrum.“ „Wissen Sie, Lída, was ich von Ihnen glaube?“ „Keine Ahnung.“ „Daß Sie eine Natter sind.“ Sie lächelte zufrieden. „Das bin ich. Und wissen Sie, was ich gern möchte?“ „Das weiß ich.“ Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. „Sieh mal an! Und was also?“ „Daß ich erst morgen früh erfahre, daß mein Urlaub zu Ende ist.“ „Und da schämen Sie sich nicht?“ „Doch, ich schäme mich“, gestand er. Er hob das Glas, blickte ihr in die Augen und sprach: „Das ist Schicksal. Du hast es doch nicht eilig.“ Sie trank den letzten Rest Gin. „Vielleicht nicht …“, sagte sie lächelnd. „Mein Kapitän …“ 116
57. „Wohin fahren wir?“ fragte sie, als sie in den Wagen stiegen. „An einen verlassenen Ort, den du mir empfehlen wirst.“ „Ich werde mich fürchten.“ „Das ist gut“, sagte er und startete den Wagen. Die schwarzgraue Mauer des Waldes leuchtete in den Scheinwerfern in grünen und braunen Farben auf. Zufrieden kuschelte sie sich an das schwarze Leder des Sitzes. „Und auf der Hauptstraße nach rechts.“ „Warum bist du Samstag nach Opolná gekommen?“ „Zum Bruder und baden. Und abends tanzen.“ „Mit dem Bruder?“ „Und mit Doktor Medek.“ „Moment“, sagte er, „jetzt nach rechts?“ „Ja. Und wir saßen dort bis …“ „Von Anfang an“, sagte er mit einem Seufzer. „Von früh an.“ „Samstag früh bin ich aufgestanden und hab’ mir die Zähne geputzt, dann hab’ ich mich gewaschen und habe nachgedacht …“ „Objektiv.“ „Ich habe sehr objektiv darüber nachgedacht, was ich anziehen soll und wie es wohl sein wird …“ „Sakra, Verehrteste“, sagte Kapitän Exner ruhig, „zur Sache: Abfahrt, Ankunft und so weiter …“ „Mein Gott, warum so ausführlich? Steh’ ich denn in Verdacht?“ „Selbstverständlich.“ „Warum schleppst du mich dann in den Wald und nicht ins Gefängnis?“ „Weil ich immer noch Urlaub habe.“ „Aha. Ich bin in Meziboří um zehn losgefahren, Autostopp, Herr Krtička hat mich mitgenommen, Fernsehmechaniker. Und hat mich galanterweise bis vors Schloß gefahren. Es gibt noch galante Männer“, bemerkte sie. 117
„Das sind lediglich Erfahrungen der von Gott Begnadeten.“ „Womit begnadet?“ „Mit Schönheit und Frechheit. Fahr fort!“ „Ich bin zum Bruder ins Depositorium gegangen, um ihn zu begrüßen. Bald darauf stellte sich Doktor Medek ein, der zweifellos aus der Gemäldegalerie im andern Flügel auf die Straße geluppert und also gesehen hatte, wie ich kam. Wir tranken einen Kaffee, und dann ging ich baden.“ „Allein?“ „Mit meinem Bruder. Weil er Samstag nicht arbeiten muß.“ „Was macht er dann eigentlich am Samstag in Opolná? Was macht am Samstag in Opolná Doktor Medek, der nach Prag fahren sollte oder woher er ist …“ „Er ist aus Prag.“ „Was haben sie also alle beide auf dem alten Schloß zu suchen?“ „Mein Bruder arbeitet nicht aus Pflicht, sondern zur eigenen Freude, und …“ „Aber …“ „Im Ernst, Michal. Was soll er zu Hause? Als würdest du das bei uns nicht kennen. Die Mutter dauernd verbittert, der Opa furchtbar senil, die Oma, die sich langweilt, eine Tante, die eine alte Jungfer ist. Ihm macht das hier mehr Spaß. Und er büffelt für die Prüfungen. Und Doktor Medek …“ Sie faßte mit Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen an ihre Nasenspitze und rieb sie sachte. „Ja, das weiß ich nicht …“ „Wieso nicht?“ „Ich sage in einer Vernehmung aus. Ich kann also nicht sagen, was ich mir nur denke. Und Tratsch schon gar nicht.“ „Ich will aber Tratsch hören.“ „Nun ja, Doktor Medek … Er ist verheiratet. Und hat 118
irgendein Malheur oder so was. Er will einfach nicht nach Hause. Und es kommt auch selten jemand zu ihm. Und eigentlich ist er dienstlich in Opolná. Immer ein, zwei Monate im Jahr. Er hat viel Arbeit.“ „Du lügst“, sagte Kapitän Exner trocken. „Du lügst wie gedruckt.“ „Im Ernst, Michal. Nein, wirklich. Das heißt …“ „Na siehst du“, sagte der Kapitän. „Es gibt bestimmte Augenblicke, da du furchtbar lügst. Weil die Wahrheit die ist, daß der Herr Doktor sich in dich verliebt hat, und zwar schon vorvoriges Jahr.“ Sie richtete sich im Sitz auf. „Woher willst du das wissen?“ „Ich weiß es eben“, sagte er gleichmütig. „Aber ich habe mit ihm …“ „Du hältst ihn zum Narren.“ „Das tu’ ich nicht“, widersprach sie ruhig. „Na schön. Du bist also baden gegangen. Vormittags, nachmittags. Ohne Mittagessen. Gegen Abend ist Doktor Medek zu euch gekommen. Dann seid ihr abends essen gegangen. Was er bezahlt hat. Wohin?“ „In die Schloßweinstube“, sagte sie mit geheuchelter Demut. „Warum seid ihr nicht dort zum Tanzen geblieben, sondern seid bis in die ‚Waldbaude‘ gezogen?“ „Weil es in der ‚Waldbaude‘ lustiger zugeht.“ „Habt ihr Rambousek gesehen, oder seid ihr ihm begegnet?“ „Ich nicht. Ich hab’ ihn erst abends in der ‚Waldbaude‘ gesehen. Als wir kamen, saß er schon dort.“ „Mit wem?“ Sie stutzte. „Ja, das ist interessant … Das wäre mir von selber gar nicht eingefallen …“ „Was?“ „Er saß nicht allein dort.“ „Was ist daran Besonderes?“ 119
„Fahr mal langsam … Jetzt mußt du nach rechts abbiegen … Und langsam …“ Sie fuhren auf eine alte, staubige Straße zwischen hohen Fichten, die in Serpentinen steil anstieg, von den Rädern flog der Schotter seitwärts. „Das Besondere ist …“, sagte sie langsam und mit deutlicher Gespanntheit in der Stimme, „daß er meistens allein saß, Wein trank und das Getriebe ringsum beobachtete … Aber am Samstag …“ „Was war am Samstag?“ „Am Samstag“, fuhr sie langsam fort, „saßen mit ihm am Tisch … an seinem Tisch, wo er sonst immer allein saß, es ist so ein kleiner Tisch in der Ecke an der Theke … Am Samstag saßen mit ihm am Tisch zwei Burschen …“ „Wer?“ „Das ist es ja gerade …“ „Was?“ „Zwei völlig fremde Männer …“
58. Die Restauration des Hotels Rychta summte vom abendlichen Betrieb. Der Ober Karlík ruhte sich beim Inkasso aus. Die Arbeit hinter der Theke besorgte ein Büfettier, zwischen den Tischen stöckelte eine Serviererin in schwarzem Minikleid auf und ab, ihr Bruder im weißen Hemd trug die Biere aus. Herr Karlík kiebitzte ein bißchen an zwei Tischen, wo Mariage gespielt wurde, und führte ein nachbarliches Gespräch mit diesem und jenem. Er wußte, daß er nur auf zwei Tische aufpassen mußte, an denen sich Studenten und andere Einsatzhelfer aus der Molkerei versammelt hatten. Der Betrieb wickelte sich glatt ab, Herr Karlík konnte zufrieden sein. Er richtete sich leicht auf, als Leutnant Beránek eintrat. Beránek ging zur Theke, bestellte sich ein Bier im Stehen und wartete, bis der Ober an die The120
ke trat. Er mußte lange warten, aber er paßte ihn ab. „Herr Ober, ein Momentchen bitte …“ „Zahlen? Herr Kollege, bitte …“ „Ach wo, ich möchte nur den Ersatzschlüssel für das Zimmer meines Kollegen. Er wird offenbar spät wiederkommen, hat sich den Schlüssel wohl mitgenommen.“ „Damit kann ich bitte nicht dienen. Einen Ersatzschlüssel …“ „Haben Sie, aber …“ „Es ist verboten, bitte. Es gibt nur zwei Schlüssel zu jedem Zimmer, und wenn einer verlorenginge …“ „Das wird er nicht. Ich gehe jetzt aufs Zimmer und verlasse es nicht vor morgen früh. Ich nehme mir auch was zu essen mit.“ „Aber wir …“ „Den Schlüssel“, sagte Beránek trocken und trank rasch sein Bier aus. „Und lassen Sie mir in der Küche eine große kalte Platte fertigmachen. Und zwei Flaschen Bier.“ Der Herr Ober Karlík verbeugte sich leicht und mißbilligend in der Hüfte. „Wie beliebt, bitte. Werden Sie hier warten, Euer Ehren?“ „Ja, ich warte.“ Der Ober öffnete die Tür zur Küche und rief hinein: „Zweimal belegte Brote!“
59. Das Licht an der Schranke blinkte rot, und ein einziger Waggon des Motorzuges fuhr durch. Er hielt auf dem Bahnhof, auf dessen Bahnsteig der Fahrdienstleiter stand. Ein alter Herr mit grauem Schnauzbart, der ihm um die Mundwinkel aufs Kinn herabhing. Er salutierte wie ein Veteran aus den Träumen der Großväter. 121
Ein einziger Passagier stieg aus. Eine Frau im Kostüm, mit einer Umhängetasche und einer nicht allzu großen Reisetasche in der Hand. Der Fahrdienstleiter winkte mit dem grünen Licht seiner Lampe. Der Triebwagen fuhr weiter. „Guten Abend, Herr Vondráček“, grüßte die Frau den Fahrdienstleiter. Und sie blieb vor ihm im Licht einer Lampe so stehen, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. „Immer noch im Dienst?“ Er öffnete halb den Mund in angestrengtem Nachdenken. Er schaute der Frau lange ins Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern, Frau … ich erinnere mich wirklich nicht. Das da“, und er zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf das erleuchtete Fenster der Kanzlei, „habe ich noch immer im Kopf, aber das Gedächtnis für Menschen, das verläßt mich.“ „Rambousková … Ja, Herr Vondráček, die Frau Rambousková.“ „Anna! Ja, Anna Rambousková geborene Holá, der Vater hat in der Zuckerfabrik gearbeitet. Sie wohnten …“ Er hielt inne. „Verzeihen Sie … Die Vergangenheit steht mir näher als das, was gestern geschehen ist.“ Er richtete sich auf, denn er gehörte noch zu der Generation, für die die Uniform auch eine bestimmte Art des Benehmens bedeutete, verbeugte sich steif in der Hüfte. „Erlauben Sie mir, Ihnen mein Beileid auszudrücken. Der Arme.“ Er drückte ihr herzlich und fest die Hand. „Der Ärmste …“ „Danke, Herr Vondráček … Auch wenn wir schon so viele Jahre nicht zusammen gelebt haben, ist es eben doch …“ Sie seufzte. „Über die Toten nur Gutes, Frau Rambousková. Aber mit Boleslav hätte es keine ausgehalten. So jedoch hätte er nicht enden müssen“, fügte Vondráček traurig hinzu. „Es ist furchtbar, was heutzutage passiert. Auch hier schon.“ 122
„Man hat mir nichts gesagt, Herr Vondráček. Nur, daß … er tragisch umgekommen ist. Ich sollte gleich kommen und mich bei der Polizei melden.“ „Wirklich nichts?“ Sie schüttelte den Kopf. Er beugte sich zu ihr und sagte halblaut: „Ich möchte lieber selber … Bevor sie es Ihnen sagen. Er wurde ermordet! Im Park. Heute morgen hat man ihn gefunden.“ „Ermordet?“ Er schlug die Augen nieder. „Ermordet“, flüsterte er. „Das ist doch … das kann doch … Und wer …?“ stammelte sie. Er schüttelte den Kopf. „Das weiß man noch nicht. Deshalb hat man Sie wohl herbestellt.“ „Ich danke Ihnen, Herr Vondráček.“ „Für eine Trauerbotschaft gibt es nichts zu danken, Frau Rambousková. Ich wünsche Ihnen gute Reise.“ „Auf Wiedersehen … Herr Vondráček! Dürfte ich mal anrufen? Den Herrn Matějka. Ich würde ihn gern treffen, bevor ich zur Polizei gehe.“ „In diesem Ausnahmefall können Sie es.“ Er führte sie in die Kanzlei und suchte ihr selber im Telefonbuch die Nummer heraus. Er wählte die Nummer und übergab ihr den Hörer. „Vojtěch Matějka?“ fragte sie. „Ja? Hier Rambousková. Ja, Anna. Ja, die Anička … Nein, ich rufe aus Opolná an, vom Bahnhof. Herr Vondráček hat es mir gesagt … Nein, nur das Wichtigste. Sie haben mich herbestellt. Sie waren nachmittags bei mir. Daß er … daß er tragisch umgekommen ist. Ich möchte gern mit jemandem – mit dir am liebsten –, ja, ich möchte gern mit dir sprechen, bevor ich hingehe … Ja. Nein, entgegenzukommen brauchst du mir nicht. Den Weg kenne ich auswendig. Und Gepäck hab’ ich nicht. Auf Wiedersehen.“ Sie legte den Hörer auf. „Ich danke Ihnen, Herr Vondráček. Und gute Nacht.“ 123
Sie trat hinaus vor den Bahnhof. Er lag inmitten der Felder, Opolná versteckte sich hinter einer Anhöhe. Es war still, nirgends ein Mensch. Sie schritt auf dem bekannten Fußweg zur Hauptstraße.
60. „Jetzt nach links“, rief Lída. „Auf den Waldweg!“ Jäh drehte er das Lenkrad herum und fuhr über eine Holzbrücke. Die leicht angefaulten Balken knackten. „Noch ein Stückchen weiter. Zu den zwei zusammengewachsenen Bäumen. Es sind Buchen“, belehrte sie ihn. „Dort ist ein Platz, wo du auch wenden kannst.“ Der grasbewachsene Weg gabelte sich bei den Buchen. Dort war ein kleiner freier Raum. Er wendete den Wagen und parkte ihn. Löschte die Lichter. Und es herrschte mit einem Male eine drohende, unglaubliche Finsternis. Sie seufzte leise. „Was hast du?“ fragte Kapitän Exner. „Kommt dir die Nacht nicht auch sehr dunkel vor?“ „Das ist sie …“ Dann bemerkte er: „Das sind Freuden …“ „Meinst du?“ „Zweifellos“, sagte er trocken. „Erst nach zwei Stunden sagst du etwas, was eigentlich die Hauptsache ist.“ „Daß es dunkel ist?“ fragte sie unschuldig. „Das auch. Willst du, daß ich dich erdroßle?“ „Kannst du nicht. Du bist der Arm der Gerechtigkeit.“ „Ich habe Urlaub.“ „Hör mal“, sagte sie mit durchtriebener fraulicher Sanftmut, „bevor du mit dem Erdrosseln anfängst: Was hab’ ich Wichtiges gesagt?“ „Daß Rambousek am Samstagabend mit zwei unbekannten Jünglingen zusammensaß. Waren sie wirklich unbekannt?“ 124
„Ja. Offenbar aus Prag.“ „Was heißt offenbar?“ „Als wir zum Abendessen gingen, stand auf dem Parkplatz vor der Weinstube ein Wagen mit Prager Kennzeichen.“ „Genial. Und woher weißt du, daß er den beiden gehörte?“ „Er kann ihnen gehört haben“, sagte sie mit Nachdruck. „Nur ist an besagtem Fakt nichts Sensationelles, Genosse Kapitän. Weil Rambousek von vielen fremden Leuten besucht wurde. Hie und da wurde über ihn geschrieben, nicht nur von unserem Doktor Medek, und da und dort hatte er eine Ausstellung. Und manche seiner Ungeheuer wanderten auch ins Ausland. Und seine Scheusale und Bilder hat er laufend verkauft. So daß die ordentlichen Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler von weit und breit sich vor Neid in den Hintern beißen konnten. Rambousek war ein ungebildeter Flegel, Autodidakt und Dilettant, von Beruf Schuster.“ Lange war es still. „Sind sie zusammen weggegangen?“ „Nein, die zwei sind früher gegangen. Er blieb dann noch allein sitzen.“ „Das ist interessant …“ „Was?“ „Daß du manches ganz genau beobachtest …“ „Zufall … Zufällig hatte der Eine eine echte Jeansjacke an.“ „Nur die Jacke?“ „Ja, die Jacke …“ Sie schrie leise auf. „Nicht drosseln, Kapitän. Deine Haare sind zufällig viel schöner.“ Es war lange still. „Ich glaube“, sagte er nachdenklich, „wir werden nicht gleich wieder fahren, und ich muß nicht am Lenkrad sitzen.“
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61. Doktor Černoch und Frau Marta Šustrová wanderten wie gewöhnlich über den Marktplatz heimwärts. Kamil Černoch hatte seine Wohnung in dem Mietshaus hinter der Tankstelle, Frau Šustrová die Villa, die ein Stückchen unterhalb des Marktplatzes stand. Černoch pflegte sie zu begleiten und verlängerte damit seinen Heimweg um fünf, zehn Minuten. Der Maler schaute ihnen den ganzen Marktplatz hinweg nach, der überflüssig von bläulichen Neonlampen erleuchtet und menschenleer war. Aus dem Schatten, den die Bäume des um das Gefallenendenkmal angelegten kleinen Parks warfen, trat eine Frau. Sie ging geradenwegs auf Vojtěch Matějka zu. Für einen Augenblick beleuchteten sie grell die Scheinwerfer des Wagens, der auf der Straße aus Meziboří auf den Platz fuhr, ohne abzublenden. Die Frau und Matějka wandten unwillkürlich die Köpfe ab. Der Fahrer schaltete auf Abblendlicht, fuhr um den Platz und bog in das zum Schloß führende Gäßchen ein, um die Barockkirche herum. An dem schwungvollen Gitter des Haupttors zum Schloß hielt er so an, daß die Kronen der Linden vor der Schloßweinstube zwischen dem Wagen und einer Straßenlaterne waren. Der Fahrer blickte sich um und zündete sich eine Zigarette an. Es war Doktor Hauser. „Ich sehe niemanden“, sagte er. „Warum“, so ließ sich eine Frauenstimme unter der Decke auf dem Rücksitz vernehmen, „warum müssen wir ein solches Theater spielen, wenn wir ins Kino wollen? Warum müssen wir Dutzende Kilometer ins Kino fahren?“ „Weil“, antwortete er traurig, „wir wenig Leute in einer kleinen Stadt sind, die tausend Augen hat.“ Olga Domkářová machte leise die hintere Wagentür auf und schob sich geduckt heraus. Auf einmal hielt sie inne und schrie leise auf. 126
„Was ist?“ „Dort …“ „Wo?“ „In der Ecke, in dem wilden Wein!“ Er reckte den Hals. „Ja“, sagte er, „dort schläft im Stehen der Herr Štrunc.“ Sie seufzte. „Das ist ja das reinste Irrenhaus. Kommst du morgen?“ „Bestimmt.“ Sie schlüpfte durchs Tor, das sich merkwürdigerweise leicht und leise öffnen ließ. Und sie verschwand im Schatten der Mauer, die dunkel vom Efeubewuchs war. Doktor Hauser beugte sich nach hinten und zog die Tür zu. Die dunkle Gestalt zwischen den Blättern des wilden Weins bewegte sich. Aber der Wagen fuhr an und brauste nichtachtend vorbei. Die Gestalt schwankte und schwang beide Fäuste drohend dem davonfahrenden Auto nach. „Hier“, murmelte sie, „passieren jetzt schreckliche Sachen. Aber ich“, und die Gestalt schlug sich mit den Fäusten an die Brust, „ich schrecke vor nichts zurück.“
62. Im Atelier brannte eine einzige Lampe. Hoch, mit gelblichem Pergamentschirm. Das Fenster stand offen. Vojtěch Matějka saß auf einem Drehstuhl vor dem Klavier. Die Hände hatte er zwischen die Knie gelegt, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Glatze leuchtete etwas schwächer als die Lampe. Er starrte auf den Teppich, und zwar auf die Stelle, wo die Spitzen seiner Schuhe den Fußboden berührten. „Ich verstehe nicht, Frau Rambousková …“ „Es gab Zeiten, Vojta, da hast du mich geduzt.“ 127
„In Ordnung. Ein paar Jahre, zwanzig oder mehr, haben wir uns nicht gesehen.“ Er fuchtelte mit den Händen. „Du hättest nicht zu mir kommen sollen“, sagte er verdrießlich. „So spät in der Nacht.“ „Du bist sein Freund aus der Kindheit gewesen, mein Lieber. Wovor hast du Angst?“ „In der Stadt ist Kriminalpolizei. Wir sind alle, verstehst du, alle verdächtig. Dein Besuch war völlig überflüssig. Wir hätten uns morgen vormittag treffen können.“ „Du hättest ja ablehnen können, dann wäre ich morgen gekommen.“ „Das wäre ungehörig gewesen.“ Sie saß in einem Lehnstuhl am Fenster, im Schatten, beugte sich vor. Matt leuchteten die rötlichen Haare. In dem grünen Kostüm sah sie jünger aus, trotz einer gewissen Körperfülle. Die Augen klein, tief in einem zu flachen Gesicht liegend, als daß es wirklich hübsch wirken könnte. „Ich bin gekommen, um mich mit dir zu beraten …“ Sie verstummte. Und nach einer Weile sagte sie: „Ich werde wohl lieber gehen. Nach dieser Begrüßung.“ „Unsinn. Ich mach’ dir einen Kaffee.“ „Lieber hätte ich einen Kognak.“ „Den kannst du haben.“ Aus einem alten Schrank holte er eine angebrochene Flasche, zwei Gläser und schenkte ein. Beides stellte er auf ein silbernes Tablett und brachte es ihr. Er schob sich einen Sessel heran. Hob das Glas. „Auf unsere Begegnung … Auf sein Angedenken.“ Eine Weile zögerte sie, dann leerte sie das Glas in einem Zug. Er schenkte nach. Sich gleichfalls. „Heute sind sie zu mir gekommen … gegen Abend.“ „Wohin, wer?“ „Nach Hause, in die Wohnung. Ich wohne immer 128
noch in Hradec und arbeite immer noch bei der Post. Von der Polizei sind sie gekommen. Ich weiß nicht wer, vorgestellt hat er sich, aber ich hab’s vergessen, er war in Uniform, ihre Rangabzeichen kenne ich nicht. Er hat sich entschuldigt, hat gefragt, ob ich die Gattin von Boleslav Rambousek aus Opolná bin. Ich hab’ gesagt, ja, die bin ich, aber wir leben schon mehr als zwanzig Jahre nicht zusammen. Und daß ich ihn genauso lange nicht gesehen habe. Mich nicht mit ihm getroffen habe. Er hat mich gefragt, ob wir geschieden sind. Das nicht, hab’ ich gesagt, irgendwie haben wir’s versäumt. Dann teilte er mir mit, daß mein Mann plötzlich verstorben sei, hat mich aufgefordert, unverzüglich nach Opolná zu kommen und mich dort auf dem Polizeirevier zu melden. Ich hab’ gefragt, wie er gestorben ist oder was. Er wußte aber nichts. Oder wollte es mir nicht sagen. So bin ich gefahren.“ „Es ist furchtbar“, seufzte Matějka und schüttele den Kopf. „Was ist furchtbar?“, fragte sie verständnislos. „Vielleicht hat er es wirklich nicht gewußt. Vielleicht war er auf eine hysterische Szene gefaßt, Ohnmacht oder so was, und er war wohl froh, daß ich sachlich mit ihm verhandelte. Ich habe ihm gesagt, daß ich mit dem ersten möglichen Zug oder Bus fahren werde. Er hat sich bedankt und ist gegangen. Mein Zug fuhr gegen sechs. Hier auf dem Bahnhof macht immer noch der alte Vondráček Dienst. Der hat es mir gesagt und mir kondoliert.“ „Du hättest zuerst zur Polizei gehen sollen. Wenn dich jemand beobachtet hat … Hat dir Vondráček alles gesagt? Wie es passiert ist, wie sie ihn gefunden haben …?“ „Nur, daß sie ihn am Morgen im Park gefunden haben und daß er … Mir ist nicht ganz gut, Vojtěch …“ „Das ist doch verständlich … Furchtbar ist das. Ich begleite dich.“ 129
„Es geht mir nicht um deine Begleitung. Das schaffe ich allein. Mich zog es zu niemandem hier. Es ist schon so lange her, daß ich das letzte Mal in Opolná war. Kamil Černoch ist ein Pauker und ein Spinner. Das ist er immer gewesen. Und du bist ein guter Kerl. Deshalb bin ich zuerst zu dir gekommen, um mich zu beraten.“ „Um Himmels willen, worüber beraten? Übers Erbe?“ Er lachte traurig. „Da wäre doch eher der Notar …“ „Ich hab’ einen Sohn, das weißt du.“ „Weiß ich. Er muß jetzt zwei- oder dreiundzwanzig sein.“ „Fünfundzwanzig. Er ist verheiratet, wohnt bei mir, aber schon seit vier Jahren, seit er sich verheiratet hat, lebt er auf dem Spitzberg, wo er Koch ist. Er hat dort eine Wohnung und Frau und Kind. Das Quartier bei mir behält er, wie das eben so ist, für alle Fälle. Mit seinem Vater hat er nicht verkehrt …“ Sie verstummte. „Na und?“ „Ich glaube, er war am Samstag bei ihm.“ Meister Vojtěch Matějka erbleichte.
63. Er schenkte Kognak nach. Seine Hand zitterte sichtlich. „Warum sagst du das gerade mir? Was denkst du dir eigentlich? Wie konnte dir das überhaupt einfallen, daß dein Sohn … daß sein Sohn … Kurzum …“ „Aber es ist so.“ „Er muß einen ernsthaften Grund gehabt haben. Oder er muß wahnsinnig gewesen sein. Ist denn dein Sohn verrückt?“ „Nein. Wenn ich dran denke, daß er es gewesen sein kann, dann schlottern mir die Knie. Selbstverständlich hat er es nicht getan. Aber sie werden draufkommen, daß er hier war. Einen anderen werden sie nicht finden. Vernehmungen und das alles.“ 130
„Sie hatten doch gar keinen Umgang miteinander.“ „Gewiß, aber das ist es ja gerade. In den letzten Jahren haben sie sich einige Male gesehen. Er war einige Male bei ihm. Hier.“ Vojtěch Matějka stieß einen Pfiff aus. „Das hab’ ich nicht gewußt …“ „Dann und wann schrieben die Zeitungen über Boleslav. Wir haben uns gesagt, er muß doch Geld haben. Genug Geld. Mir schickte er immer ein paar Hunderter Unterhalt. Als der Junge beim Militär war, fuhr er einige Male zum Vater. Allein. Wegen Geld. Wenn andere bei der Fahne sind, sagte er immer, dann kriegen sie von ihren Vätern wenigstens etwas.“ „Hat er ihm was gegeben?“ „Etwas ja.“ „Vielleicht hatte er wirklich nicht so viel. Die Leute reden immer gleich …“, bemerkte Vojtěch Matějka. „Darüber weiß ich nicht Bescheid. Wirst wohl recht haben. Nur: Der Junge hat jetzt die Möglichkeit, ein gebrauchtes Auto zu kaufen. Für einen anständigen, niedrigen Preis. Er mußte sich nur noch ein paar Tausender borgen. Am Freitag war er bei mir. Nur kurz. Und sagte: Ich fahre über Opolná, ich muß was mit Vater besprechen.“ „Und ist er tatsächlich gefahren?“ „Ja.“ „Das bedeutet nicht, das bedeutet überhaupt nicht, daß du dir irgendwelche törichten Sorgen machen müßtest. Daß er seinen Vater mit einem Beil erschlagen haben könnte.“ „Ich mache mir keine Sorgen, daß er das getan haben könnte. Ich mache mir nur Sorgen, daß sie ihn von einem Verhör zum andern schleppen werden. Warum sollte er so was tun, er ist doch normal.“ Matějka rieb sich die kleinen Hände. „Ich weiß allerdings nicht, womit ich dir helfen könnte …“ 131
„Ich wollte dich fragen … Aber du hast es ja eigentlich schon gesagt … Und Vondráček hat es mir auch gesagt …“ „Was?“ „Daß er ermordet wurde … Das ist furchtbar, nur … du weißt, ich hab’ ihn die ganzen zwanzig Jahre wirklich nicht gesehen … Aus den Augen, aus dem Sinn. Mir geht es nur um den Jungen. Ob ich ihnen sagen soll, daß sie sich manchmal gesehen haben …, daß er herfahren wollte …“ „Das mußt du auf jeden Fall.“ Er hob die Hände in Kopfhöhe und fuchtelte mit ihnen. „Unbedingt. Bestimmt hat ihn jemand gesehen. Und du würdest nur überflüssigerweise in ein schiefes Licht geraten.“ Sie seufzte. „Gieß mir noch einen ein. Zur Stärkung. Ich geh’ hin.“ „Jetzt gleich?“ „Wann sonst?“ „Wo wirst du schlafen?“ „Weiß ich nicht. Werde irgendwo auf den Frühzug warten. Schlage mir eben die Nacht um die Ohren.“ „Ich bring’ dich zurück nach Hause.“ „Das kann ich nicht von dir verlangen!“ „Unsinn“, sagte Vojtěch Matějka energisch. „Ich kann mich doch am Morgen ausschlafen, ich arbeite zu Hause, muß in keinen Betrieb. Ich hol’ das Auto, hab’ es auf dem Hof in der Garage. Ich warte auf dich an der Tankstelle. Während du auf dem Revier bist, hol’ ich mir im Rychta Zigaretten.“ „Vielleicht werde ich nicht lange dort sein …“ „Ich werde warten. Übrigens“, und er stand auf, „hoffentlich ist Šlajner da.“ „Der junge Šlajner, dessen Vater die Milch fuhr?“ „Ja, der. Nur“, fügte er hinzu, während er sich die Schuhe anzog, „ist er auch nicht mehr der Jüngste, meine Liebe …“ 132
64. Auf dem Polizeirevier in Opolná war an diesem späten Abend nicht mehr viel los. Außer Oberwachtmeister Fafek, der als einziger dem ganztägigen Wirbel entgangen war – er war dienstlich wegen eines kleinen Diebstahls in den Bergen – hatten alle von allem genug. Čarda war weggefahren, Šlajner schlief, den Kopf auf dem Tisch. Es war nämlich die Stunde, da die Leute gewöhnlich schon schlafen. Fafek schaute ins Dienstzimmer und flüsterte: „Genosse Leutnant …“ Šlajner hob die Lider, langsam und schwer, als höbe er mit ihnen die halbe Welt hoch. „Genosse Šlajner, die Rambousková ist da …“ „Rambousková?“ „Na ja, die Frau vom alten Rambousek. Ich weiß nicht, wo die auf einmal herkommt …“ „In Ordnung, Fafek“, sagte Šlajner fast wohlwollend. „Ich hab’ sie vorladen lassen. Wie schaut sie aus?“ Fafek zuckte verständnislos die Schultern. „Ich würde sagen, normal. Was soll mit ihr sein?“ „Sie war seine Frau.“ „Sie sieht nicht aus, als hätte sie geheult. Ich hatte immer gedacht, der alte Rambousek sei gar nicht verheiratet.“ „Das weiß von den Älteren jeder“, sagte Šlajner müde. Er stand auf, streckte sich und rieb sich die Augen. „Aber das ist in all den Jahren so oft durchgehechelt worden, daß man es fast vergessen hat.“ „Werden Sie mich brauchen?“ Der Leutnant schüttelte den Kopf und knöpfte sich die Bluse zu. Fafek öffnete die Tür und rief hinaus: „Frau Rambousková!“ Er ließ sie ein und schloß leise hinter ihr die Tür. Šlajner erkannte sie, so wie man sich die Gestalt eines 133
Menschen merkt, den man von klein auf jeden Tag gesehen hat. Oder fast jeden Tag. „Setzen Sie sich, Frau Rambousková …“ Sie sank auf einen Stuhl. War blaß. Sah nicht sonderlich gut aus, der Oberwachtmeister Fafek hatte nicht richtig hingeschaut. „Man hat es Ihnen also in Hradec bestellt …“ „Ja … Aber sie haben mir nicht gesagt, daß er ermordet worden ist. Mit einem Beil erschlagen. Das haben sie mir nicht gesagt. Nur, daß er tragisch ums Leben gekommen ist. Mehr nicht.“ Leutnant Šlajner seufzte und schüttelte den Kopf. Wohl darüber, wie rücksichtslos die Menschen sind, nicht nur indem sie morden, sondern indem sie es der Hinterbliebenen, kaum daß diese in der Stadt erscheint, geradeheraus und ohne Skrupel auf die Nase binden. „Sie wissen es also schon“, sagte er farblos. „Mit wem haben Sie denn gesprochen?“ „Gleich auf dem Bahnhof mit dem Herrn Vondráček.“ Sie hielt inne. Rieb sich mit den Zeigefingern beider Hände die Augen. „Als ich aus dem Zug stieg. Wir kamen ins Gespräch.“ „Also der Herr Vondráček … hat Ihnen alles gesagt …“ Er schnörkelte aufs Papier die Buchstaben V und O. „Dann war ich noch bei Herrn Matějka. Wir kennen uns, noch aus der Jugendzeit. Er hat mir versprochen, mich nach Hause zu fahren, wenn das hier erledigt ist. Nach Hradec. Ich wüßte sonst nicht, wo ich hier schlafen könnte.“ „Gut, Frau Rambousková“, sagte Leutnant Šlajner. „Gut. Wir würden Sie selbstverständlich auch heimbringen, wenn Sie schon mal in der Nacht hergekommen sind. Mitteilen mußten wir es Ihnen, denn wenn Sie auch mit dem Betroffenen schon lange nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt leben – wie lange eigentlich?“ 134
„Zwanzig Jahre. Und mehr, warten Sie … einundzwanzig und ein halbes …“ „Also wenn Sie auch schon mehr als zwanzig Jahre nicht im gemeinsamen Haushalt leben, sind Sie doch nach dem Gesetz noch seine Gattin mit allen Rechten und Pflichten.“ „Ja, bitte.“ „Ich brauche Ihnen nicht zu erläutern, was das bedeutet … Vielleicht sollten Sie … als seine Gattin … das Begräbnis richten. War der Herr Rambousek versichert?“ „Ich weiß von ihm wirklich so gut wie nichts, Herr … Genosse Šlajner. Meiner Seel’, überhaupt nichts.“ Er nickte. „Das wäre also das Begräbnis. Dann die Erbschaftsangelegenheiten. Aber wir würden gern wissen – das ist in diesem Falle nur eine Formsache, Frau Rambousková, ob Sie sich im Verlauf dieser zwanzig Jahre wirklich nie getroffen haben. Vielleicht wegen einer gemeinsamen Angelegenheit, einem Todesfall in der Familie und so. Besonders in der letzten Zeit.“ „Nein.“ „Haben Sie Kinder?“ „Einen Sohn. Er arbeitet als Koch auf dem Spitzberg.“ „Wie alt ist er?“ „Fünfundzwanzig. Den Wehrdienst hat er abgeleistet.“ „Und der? Hat der auch nicht mit dem Vater verkehrt?“ Sie schluckte. „Soweit ich weiß, haben Sie sich manchmal gesehen. Gerade in den letzten Jahren. Als der Junge beim Militär war, hat ihm Boleslav dann und wann Geld gegeben.“ „Und nach der Militärzeit?“ „Dann auch, manchmal …“ „Wann zuletzt?“ Leutnant Šlajner hatte bereits aufgehört, Ornamente zu malen. Er klopfte leicht mit dem Bleistift auf den 135
Tisch. Er hatte in seinen Dienstjahren schon ein paar Dutzend Verhöre hinter sich und wußte fast genau, was kommen würde. „Also“, wiederholte er ruhig, „wann zuletzt, Frau Rambousková?“ „Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich gesehen haben, mir hat er nur gesagt …“ „Wann?“ „Am Freitagnachmittag.“ „An diesem letzten Freitag?“ „Ja. Er hat gesagt, er schaut mal bei Vater ’rein.“ „Und hat er gesagt, warum?“ „Das auch.“ „Und warum also?“ „Er will sich ein Auto kaufen. Und ihm fehlten ein paar Tausender. Nirgends konnte er was auftreiben, und da dachte er, der Vater könnte ihm was borgen, aber … so was hätte doch der Junge nie getan. Wegen der paar Kronen. Er hätte sich ja auch in seinem Betrieb was borgen können. Notfalls hätte auch ich ihm was besorgt. Er hätte doch nie den eigenen Vater, auch wenn er ihn nicht sehr kannte … Das nicht, das bestimmt nicht …“ Leutnant Šlajner nickte. „Das geht in Ordnung, Frau Rambousková“, sagte er mit professioneller Ruhe. „In völliger Ordnung. Niemand beschuldigt Ihren Sohn einer solchen Tat. Niemand. Um so weniger wir. Selbstverständlich. Und nachher haben Sie mit Ihrem Sohn nicht mehr gesprochen? Nach Hause ist er nicht zurückgekehrt?“ „Nein, er ist direkt zu seiner Arbeitsstelle gefahren … Er hat dort seine Familie. Zu mir kommt er selten. Einmal im Monat.“ „Er hat also eine Betriebswohnung?“ „So was Ähnliches. Ein Provisorium. Er hat ein kleines Kind, und seine Frau geht jetzt nicht arbeiten. Aber sie leben gut. Das bestimmt.“ „Ich danke Ihnen, Frau Rambousková“, erklärte Leut136
nant Šlajner, „daß Sie so schnell gekommen sind. Noch eine Formalität. Was Sie mir gesagt haben, das müssen wir noch protokollieren. Wo erwartet Sie Herr Matějka?“ „Er hat gesagt, an der Tankstelle.“
65. Von Meziboří nach Opolná führt die Straße durch Wäldchen und die langgezogenen Täler des Vorgebirges. Und hinter den Bergen sollte die Sonne erst aufgehen, so daß es also vor Tagesanbruch war, und das an einem warmen Morgen ohne Tau. An solch einem Morgen, da sich am Vormittag ein Gewitter zusammenbraut. Kapitän Exner fuhr mehr als langsam, wofür es drei Gründe geben konnte: Müdigkeit nach der durchwachten Nacht und die daraus hervorgehende Vorsicht, die Sehnsucht, von der Straße weit ins Land zu blicken, denn die Luft war durchsichtig rein, und die Aussicht reichte Dutzende Kilometer, oder schließlich und drittens das Verlangen, nachzudenken oder sogar zu träumen. Was freilich einem Autofahrer nicht erlaubt ist. Die Sonne kroch so weit hervor, daß er die Scheinwerfer ausschalten konnte. Die Kastanienallee vor Opolná stand reglos, kein Blatt erzitterte. Das waren selbstbewußte, weise Bäume, die schon manches gesehen hatten. Das einzige lebendige Geschöpf auf dem Marktplatz war ein zum Schloß fliehender furchtsamer Hund. Die Nachtfalter hatten sich zur Ruhe begeben, das Tagesgeziefer war noch nicht zu seinem Reigen aufgebrochen, aber die Vögel hatten bereits ihre Morgengesänge angestimmt. Exner bog ein zum Tor des Hotels Rychta. Er machte zuerst die Tür im Tor auf und dann das ganze mit einem Riegel gesicherte Tor. Er fuhr in den Hof. Parkte den Wagen unter einem Schleppdach, das zweifellos einst 137
Kutschen gedient hatte. Auf der Treppe hielt er sich am Geländer fest. Er träumte, wie deutlich erkennbar war, von dem Bett, in das er gleich sinken würde. Er steckte den Schlüssel mit der mäßig schlappen Bewegung eines Angeheiterten ins Schlüsselloch. Und er stutzte. Er schaute nach der Zimmernummer. Die war in Ordnung und entsprach der Nummer auf der Holzbirne des Schlüssels. Er versuchte es noch einmal. Es ging nicht. Er faßte die Klinke an. Die Tür war offen. Exner kratzte sich am Ohr, tippte mit dem Finger gegen die Tür. Langsam und leise ging sie auf. Im Dämmerlicht sah man ein getäfeltes Fenster, darin das herabgezogene Rollo. In der Ecke neben dem Fenster das gemachte Bett, neben der Tür das Waschbecken, ein Teppich, ein alter, aber sauberer, einst roter und jetzt ausgeblichener Plüschteppich. Auf der Couch dem Bett gegenüber lag ein Haufen Decken. Die Klinke der aufgehenden Tür schlug gegen den Schrank. Der Haufen bewegte sich und schnaufte. Kapitän Exner seufzte, trat ein, richtete sich die Krawatte, zog die Manschetten hoch, an denen deutlichere Spuren der durchwachten Nacht zu sehen waren als an seinem Gesicht, und setzte sich auf das Bett der Couch und dem Haufen Decken gegenüber, aus dem nackte Füße hervorschauten. Die Socken und die Schuhe lagen auf dem Boden, das Jackett und die Hose auf dem Sessel. Weil die Decken aufhörten sich zu bewegen, beugte sich Exner vor und pikte mit dem Finger hinein. „Au, sakra“, sagte Leutnant Beránek. „Du denkst doch wohl nicht, ich schlafe? Machst einen Krawall wie eine Horde Landsknechte nach der Plünderung eines Nonnenklosters.“ 138
„Warum gerade eines Nonnenklosters?“ interessierte sich Exner. „Wenn du Landsknecht wärst, dann nähmen sie dich als Spezialisten für die Plünderung von Nonnenklöstern.“ Leutnant Beránek seufzte tief. Er lag immer noch mit dem Rücken zu Exner da und sah aus, als hätte er keine Lust, überflüssig den Körper zu bewegen. „Ich habe gewußt“, sagte er giftig, „daß ich dich gegen Morgen hier sehen werde. Spätestens zur Frühstückszeit. Dein Urlaub ist zu Ende, Genosse Kapitän. Ich bring’ es dir schriftlich mit.“ Er murmelte etwas und kuschelte sich in die Decken. „Wenn es schon tagt, dann wäre es ratsam, du suchst Vlček auf. Er wird gleich fertig sein und dich bestimmt gern sehen. Und wenn du dann die Grundinformationen hast, wird es schon später Morgen sein, und alle werden munter und frisch sein, und dann kommt der Oberleutnant Čarda, dem du auch so schön aus dem Wege gegangen bist, und du kannst dich an die Arbeit machen. Ich hab’ meine schon hinter mir und werde schlafen.“ „Hier?“ „Hier ist’s nicht schlecht, Genosse Kapitän.“ Michal Exner zog sich langsam die Schuhe aus. „Brauchst dir gar nicht die Schuhe auszuziehen“, bemerkte Leutnant Beránek. „Wir fassen dann alles zusammen …“ Kapitän Exner gab keine Antwort. Ruhig und langsam entkleidete er sich, packte die schmutzige Wäsche sorgfältig in einen Igelitbeutel, den er zu diesem Zweck immer mit sich führte, wusch sich, so gut es ging, in dem kleinen Waschbecken in der Ecke. Aus dem Bett holte er seinen weißen Pyjama und zog ihn sich an. Leutnant Beránek, der sich inzwischen mit dem Rücken zur Wand zusammengerollt hatte, um unter den Wimpern beobachten zu können, was geschah, bemerkte: „Zum Arbeitseinsatz?“ 139
„Was?“ „Ich frage dich, ob du zu einem Arbeitseinsatz fährst.“ „Um Himmels willen, warum?“ „Weil du diese Maurermontur angelegt hast.“ Kapitän Exner machte ein angewidertes Gesicht. Er zeigte auf die Tasche: „Hier ist das Monogramm.“ „Arbeitsklamotten von Maurern werden nicht gestohlen“, bemerkte Beránek. „In den Jahren, da ich bei der Polizei diene, wurde, soweit ich weiß, kein Diebstahl von Maurerarbeitskleidung gemeldet.“ Exner seufzte und kroch ins Bett. Er legte sich auf den Rücken und kreuzte die Hände unter dem Kopf. „Das sind Freuden …“, bemerkte er. „Das sind sie“, sagte Leutnant Beránek. „Es war wohl ein Raubmord. Eine furchtbare Sauwirtschaft war dort. Du wirst die Fotos sehen. Und bei sich hatte Rambousek nichts. Er kam offenbar aus der Kneipe …“ „Bestimmt kam er aus der Kneipe“, entgegnete Exner. „Das ist erwiesen.“ „Aber?“ wunderte sich Beránek. „Im Ernst?“ „Ja“, sagte Kapitän Exner. „Von einem Tanzvergnügen im Ausflugsrestaurant ‚Waldbaude‘. Am Bach entlang ist das durch den Wald und den Park etwas über einen Kilometer. Ein sehr hübscher Weg. Offenbar auch nachts begehbar.“ „Sieh da, sieh da“, konstatierte Leutnant Beránek. „Da ist ihm also jemand gefolgt …“ „Oder hat ihm irgendwo aufgelauert …“ „Wohl eher nachgegangen“, beharrte Beránek, „obwohl nicht erwiesen ist, daß der Betroffene regelmäßig in das Ausflugsrestaurant ging und regelmäßig zur gleichen Zeit auf dem gleichen Weg zurückging. Letzten Endes läßt sich das nur schwer beweisen. Besonders da der Betroffene allein lebte und es nicht bekannt ist, daß er mit jemandem vertraulich oder intim verkehrte.“ „Nicht bekannt?“ 140
„Leutnant Šlajner ist von hier. Er meint, nein.“ „Irrt er sich nicht?“ „Einstweilen“, sagte Leutnant Beránek, „müssen wir das für bare Münze nehmen. Hör mal“, und er richtete sich zum Sitzen auf, „ich bin hier ein paar Stunden. Und so sage ich dir, dieser Schloßhandwerker und Volkskünstler von europäischer Bedeutung war hier nicht sehr beliebt.“ „Aber!“ „Selbstverständlich ist ein Mord immer was Schlimmes. Besonders in einer kleinen Stadt. Aber hier … Ich habe mit niemandem gesprochen, den das wirklich, verstehst du, wirklich gepackt hätte.“ „Doktor Medek.“ „Kenne ich nicht. Wer ist das?“ „Restaurator und Kunsthistoriker. Arbeitet einen Teil des Jahres in der hiesigen Gemäldegalerie. Er hat Rambousek entdeckt und berühmt gemacht.“ „Kenne ich nicht, dafür aber hast du Informationen, daß ich mich nur wundern kann.“ „Ich sammle Tratsch. Man hat mir von ihm erzählt.“ „Wer ist man?“ wunderte sich Beránek. „Ein Er?“ „Also diesen Medek“, fuhr Exner fort, als hätte er nicht gehört, „diesen Medek hat es gepackt … Obwohl eigentlich … Eigentlich auch nicht so sehr … Ich weiß nicht, ob ich baden gehen würde, wenn jemand gestorben ist, den ich sehr schätze … Obwohl …“ „Was obwohl?“ „Obwohl die Liebe …“ „Was für eine Liebe jetzt wieder, um Himmels willen?“ „Der Herr Doktor Medek ist verliebt“, sagte Kapitän Exner trocken. „Was bei den Menschen vorkommt“, bemerkte Beránek ein bißchen enttäuscht. „Es gibt auch solche, die dadurch in einen solchen Galopp geraten, daß es einem di141
rekt die Sprache verschlägt. Aber kehren wir zur Sache zurück, mein Kapitän: Warum kommt uns dieses Städtchen so kühl vor, obwohl ein Mensch ermordet wurde, der hier aufgewachsen ist und bestimmt etwas konnte …“ „Weil er erfolgreich war“, sprach Michal Exner, „und das wird einem nicht verziehen.“ Leutnant Beránek stand auf, raffte seine Siebensachen zusammen und taumelte mit einem Seufzer ab in sein Zimmer.
66. Er kehrte nach einer Viertelstunde wieder, gewaschen, rasiert, mit gewienerten Schuhen. „Ich geh’ zu Vlček. Wann fassen wir’s zusammen?“ „Wenn jetzt …“, Exner sah auf die Uhr, „wenn jetzt Vlček fertig ist, wird es vor nachmittags nicht günstig sein. Oder später.“ „Eher später“, meinte Beránek. „Er wird damit nach Prag müssen und so. Falls es nicht Komplikationen und außerordentliche Expertisen gibt, können wir das verantwortungsvoll heute am späten Abend zusammenfassen, wenn nicht morgen früh. Man sollte nach Meziboří fahren. Zu diesem Verdächtigen.“ „Nicht nötig. Ich habe mit ihm gesprochen.“ „Aber“, wunderte sich Beránek. „Du warst ja flink wie ein Wiesel. Wer hätte das gedacht? Und was hat er dir gesagt?“ „Daß er es nicht getan hat. Daß er auf Rambousek einen Rochus hatte, aber daß das nicht zu einem Mord ausreichte.“ „Und du denkst was?“ „Daß er die Wahrheit gesagt hat.“ „Freilassen?“ „Vorläufig nicht. Damit’s keine Panne gibt. Der Staatsanwalt wird auf der Grundlage, dessen, was wir bis jetzt 142
wissen, über ihn die Untersuchungshaft verhängen. Beil ist Beil, Mensch. Wenn ich morden gehe, dann nehm’ ich wohl das Beil, das mir am nächsten bei der Hand ist. Und das wird zweifellos mein eigenes sein.“ „Oder auch nicht.“ „Der Kolář ja.“ „Also das erledige ich mit Čarda zusammen. Soll ich ihn grüßen?“ „Wen? Den Kolář? Das wird wohl nicht nötig sein.“ „Den Oberleutnant Čarda!“ „Den ja. Er wird sich freuen, daß mein Urlaub vorbei ist.“ „Damit steht er nicht allein“, bemerkte hämisch Leutnant Beránek. „Und weiter?“ „Das ist so“, sagte Kapitän Exner und blickte nachdenklich zur Decke. „Ich habe festgestellt, daß der Betroffene mit zwei unbekannten jungen Männern Samstag abend in der ‚Waldbaude‘ gesprochen hat. Und zugleich ist erwiesen, daß selbiger sich gewöhnlich in der ‚Waldbaude‘ mit niemandem abgegeben hat. Ein weiterer Beweis dafür, daß er nicht besonders beliebt war, so daß festzustellen wäre, wer diese beiden Burschen waren …“ „Ausflügler“, tippte Leutnant Beránek. „Saßen zufällig an seinem Tisch. Sind in die ‚Waldbaude‘ zum Tanzen gekommen oder um was zu trinken.“ „Es besteht die Vermutung, daß sie aus Prag waren. Ein Wagen mit einer Prager Nummer stand auf dem Parkplatz.“ „Der hat einem andern gehört.“ „Aber er kann ihnen gehört haben.“ „Einverstanden. Ich werde fragen. Werde mich einfach umhorchen. Und wenn ich’s herauskriege?“ „In diesem Fall“, sagte Kapitän Exner, gähnte furchtbar und schloß die Augen, „in diesem Fall mich augenblicklich wecken!“ 143
„Zu Befehl.“ Leutnant Beránek stand in der Tür, fast in Habachtstellung. Er neigte den Kopf, lächelte und schloß übervorsichtig und leise die Tür.
67. An diesem frühen Morgen hatte die Gattin des Schloßverwalters in Opolná, Věra Kalábová, einen farbigen Traum. Sie schritt, nur in wehende Streifen eines leichten roten Stoffs gekleidet, über den Renaissancehof. Sie hörte den Gesang der Vögel, und der heftige Wind ließ ihre unzureichende Bekleidung flattern. Der Wind war warm, sie spürte ihn in den Händen und zwischen den Fingern und spielte mit ihm. In der Tür seiner Wohnung tauchte Boleslav Rambousek auf. Er hatte einen weißen Frack an und eine schwarze Fliege. Obwohl seine Kleidung mehr als gesellschaftlich war, trug er seine übliche Leinenmütze. Von irgendwoher kam ein weißes Pferd angetrabt, ein ebensolches, wie auf einem Bild in der Gemäldegalerie. Auf der Leinwand saß jedoch August Colloredo - Mansfeld darauf. Im Traum war der Schimmel ohne Reiter. Rambousek schwang sich leicht in den Sattel und ritt um den Hof herum. In einem langsamen, leichten Trab. Ihn rüttelte es sehr im Sattel, er streckte die Zunge heraus und rollte mit den Augen, wie die Scheusale, die er schnitzte. Dann stellte er sich auf den Sattel und sprang auf die Arkade des ersten Stocks. Er blieb auf der Brüstung sitzen und baumelte mit den Beinen. Sie wollte schreien, er solle nicht herunterfallen, er solle aufpassen. Bevor sie aber einen Laut hervorbrachte, begann Rambousek zu fallen. Herabzuschweben. Langsam. Sie lief hin, um ihn aufzufangen. Es gelang ihr. Und auf einmal sah sie, daß sie den unbekannten jungen Mann auf den Armen hielt, den man tags zuvor irrtümlich festge144
nommen hatte. Diesen Botaniker. Er trug die Festuniform des preußischen Grenadierregiments, die in einer Vitrine im Fürstenvorzimmer hing. Der Botaniker stellte sich auf die Füße, küßte ihr die Hand, zerrte sie hinter sich her, denn er wollte den Rappen einholen, in den sich der Schimmel verwandelt hatte. Seine Hufe klapperten deutlich auf dem Sandsteinpflaster. Sie klapperten und klapperten. Sie konnten das Pferd nicht einholen, schon stolperte sie, schon fiel sie … Sie erwachte. Aber das Hufgeklapper war weiter zu hören. Sie setzte sich auf. Es war schon heller Tag, und jemand klopfte mit etwas Metallenem gegen das Fenstergitter. Das Schlafzimmer lag im Erdgeschoß, und nichts war einfacher. Sie schaute hin zu Vlastimil Kaláb, der neben ihr leicht schnarchte. Draußen vor dem Fenster stand der dickliche Angehörige der Kriminalpolizei, der sich ihnen gestern nachmittag als Leutnant Beránek vorgestellt hatte. Sie ging zum Fenster und zog sich vor der Brust das Nachthemd zusammen. „Verzeihen Sie“, sagte er frech, „Sie schlafen wohl noch …“ „Ich nicht mehr“, zischte sie, „mein Mann ja.“ „Ich brauche Sie nur ein Weilchen. Ein paar Worte.“ „Jetzt? Ich bin nicht angezogen.“ „Es ist eigentlich schon Tag“, entgegnete der Mensch schamlos. „Wir haben viel Arbeit und müssen eine Kleinigkeit überprüfen.“ „Wenn es eine Kleinigkeit ist, hätte es doch Zeit gehabt“, flüsterte sie. „Es genügt so, durchs Fenster. Wenn Sie es zufällig wissen, brauchen Sie Ihren Mann gar nicht zu wecken. Hat jemand am Freitag oder Samstag Herrn Rambousek besucht?“ 145
„Zufällig ja“, sagte sie erstaunt. „Sein Sohn. Und nachmittags zwei junge Männer.“ „Wer waren die?“ „Das weiß ich nicht.“ „Können Sie sich erinnern, wie sie aussahen?“ „Ja. Der eine war schlank, groß, blond. Der andere sichtlich kleiner. Ich glaube, er hatte ebenfalls helles Haar. Der größere trug eine Brille.“ „Haben Sie die beiden jemals vorher gesehen?“ „Nie.“ „Haben sie sonst noch mit jemandem gesprochen?“ „Weiß ich nicht. Vielleicht mit Doktor Černoch. Weil sie fragten, wo sie Herrn Rambousek finden könnten. Aber der war nicht zu Hause. So wollten sie mit dem Museumsdirektor sprechen. Und das ist Doktor Černoch. Das Museum ist im zweiten Stock. Herr Černoch ist stets auch Samstag dort. Ich hab’ sie zu ihm geschickt.“ „So daß Sie nicht wissen, ob sie mit Doktor Černoch gesprochen haben?“ „Nein.“ „Und wo wohnt bitte Doktor Černoch?“ „In dem Haus hinter der Tankstelle.“ „Dann danke ich Ihnen schön“, sprach der Leutnant, so nett er nur konnte. „Und guten Morgen. Und auf Wiedersehen.“ Sie nickte. Kehrte ins Bett zurück und schloß die Augen. Vlastimil Kaláb schnarchte immer noch leise. Sie versuchte den Traum zurückzuholen. Sie schlief ein, aber es gelang ihr nicht.
68. „So“, rief Leutnant Beránek und stürzte in das Zimmer des Hotels Rychta, in dem vor zwei Stunden Kapitän Exner eingeschlafen war. „So, wir haben sie!“ 146
Exner fuhr im Bett hoch und schrie vor Schreck auf. Als er begriff, worum es ging, blieb er mit gekreuzten Beinen sitzen, legte die Hände auf die Waden, ließ den Kopf sinken und ähnelte so einem verzweifelten meditierenden Jogi. „Gott“, sagte er leise und demütig, „straft mich. Wen hast du? Es ist doch noch Nacht, und ich habe noch kein Auge zugetan.“ „Die zwei.“ „Welche zwei?“ „Die mit Rambousek in der ‚Waldbaude‘ gesprochen haben.“ „Wo sind sie?“ „Das weiß ich nicht. Vermutlich zu Hause im Bett. Oder sie haben ihr Nachtlager woanders. Es ist früh am Morgen, jeder anständige Mensch schläft noch.“ „Du schwatzt“, wies Michal Exner ihn zurecht. „Schrecklich schwatzt du. Woher willst du wissen, daß sie es sind?“ „Falls es sich bestätigt, daß der eine groß war und eine Brille trug, schlank und blond war und der andere kleiner, auch blond, mit einem Fotoapparat, und wenn der Große ein blaues Hemd oder ein Blouson anhatte und der kleinere ein buntes Trikot, dann weiß ich, wer sie sind.“ „Aber, aber …“ „Von wem soll ich die Bekleidung bestätigen lassen? Ich mach’ das ruck, zuck!“ „Moment …“ Kapitän Exner hängte die Beine aus dem Bett. „Hast schon genug gearbeitet. Diese Kleinigkeit regle ich selber.“ „Aber ich würde gern …“ „Daran zweifle ich nicht.“ Er schaute sich mit blinzelnden Augen um. „Wo ist hier das Telefon?“ „Das wirst du nicht finden“, sagte Leutnant Beránek zufrieden. „Hier nicht. Unten. Im Ausschank. Oder nebenan auf der Post. Oder auf dem örtlichen Revier bei Leutnant Šlajner.“ 147
„Mach dich nicht lustig“, erwiderte Kapitän Exner hart. „Geh zu Šlajner. Ich komme gleich nach.“
69. Das Polizeirevier von Opolná war überfüllt. Es waren auch die da, die keinen Dienst hatten, aus Meziboří hatte sich Oberleutnant Čarda eingestellt, ferner war hier der Fahrer des Dienstwagens aus Prag, Bohouš Vok, und ein Kollege von ihm. Dahinein platzten Leutnant Beránek und eine Viertelstunde später Kapitän Exner. „Haben wir Sie also wieder, Genosse Kapitän“, begrüßte ihn herzlich Oberleutnant Čarda. „Schön willkommen bei uns.“ „Das sind Freuden“, sagte darauf leise Kapitän Exner. Er hatte immer noch stumpfe Augen, unter ihnen bläuliche Halbmonde und an den Schläfen und im Nacken nasse Haare, so wie er unter der Wasserleitung den kalten Strahl hatte darüberlaufen lassen. Er sah sich um. „Hier ist ja ein Leben. Genosse Leutnant“, wandte er sich an Šlajner, „haben Sie nicht ein ganz kleines Kämmerlein, wo ich mal anrufen kann?“ „Hier, meine Kanzlei … Ich wäre Ihnen allerdings dankbar, Genosse Kapitän …“ „Ja …?“ „Wenn Sie sich zuvor diese Aussage durchlesen würden … die von Rambouseks Frau.“ Er reichte ihm die Papiere hin. „Hier.“ „Aha …“ „Welche Nummer wünschen Sie, Genosse Kapitän?“ „Ich such’ sie mir selber ’raus … Wenn Sie ein Telefonbuch da haben. Ja, vom Kreis, selbstverständlich. Danke … Ich schließe mich hier mal für ein Weilchen ein …“ Er sah Beránek an und fügte hinzu: „Das erledige ich selber …“ Er las sich die Aussage durch und fragte 148
nach einer Weile, ohne aufzublicken: „Haben Sie damit schon was unternommen?“ „Nein, Genosse Kapitän“, erwiderte Šlajner. „Ich habe auf Sie gewartet.“ „Holen Sie ihn her, diesen Bedřich Rambousek. Wenn er nicht dort sein sollte, suchen Sie ihn. Falls er verschwunden ist, ist es für uns leichter und schlimmer …“ Er legte das Vernehmungsprotokoll neben sich auf den Tisch. „Und, Genosse Leutnant, seid ihr hier nicht ein bißchen zuviel … Es kommt noch Vlček mit seinen Mannen …“ „Ich weiß nicht, Genosse Kapitän, aber falls es vielleicht notwendig sein sollte …“ „Nein, die keinen Dienst haben, sollen nach Hause gehen.“ „Gewiß“, stimmte Čarda zu. „Soll ich den verdächtigen Kolář herbringen lassen?“ Exner war schon in der Tür zu Šlajners Dienstzimmer. „Vorläufig nicht …“ Er schloß hinter sich ab, seufzte auf. Schaute durch die Gardinen auf den stillen Platz. Setzte sich an den Tisch, zog den Apparat heran. Er schlug im Telefonbuch Meziboří auf. Fand den Namen und wählte die Nummer. Er hielt den Hörer ans Ohr und lauschte auf das Rufzeichen. Erst dann fiel ihm ein, auf die Uhr zu schauen. Es war halb sechs. Eine verschlafene Frauenstimme meldete sich. „Ich möchte bitte Fräulein Lída Muršová“, sagte er. Die Frauenstimme im Telefon war sehr mürrisch. „Meinen Sie nicht auch, daß es sehr früh ist?“ „Gewiß …“ Und Exner überlegte ein Weilchen mit halboffenem Mund und fügte dann hinzu: „Frau Professor …“ „Aber“, ließ sich die Frauenstimme vernehmen, „darf ich wissen, wer anruft …“ „Falls Sie Frau Květa Krempová sind …“ 149
„Bin ich.“ „Exner, Kapitän Michal Exner.“ „Sind Sie in Opolná?“ „Wo sonst?“ „Ist sie hineinverwickelt, Herr Kapitän?“ Er lachte. „Ich hol’ sie. Das ist etwas Seltenes, daß sich für uns wieder Kapitäne interessieren. Wiedersehen, Herr Exner.“ „Auf Wiedersehen“, antwortete Exner schüchtern und demütig, denn seine Hochachtung vor unverheirateten Frauen höheren mittleren Alters war unermeßlich. Und er brauchte nicht lange zu warten. „Was ist los?“ Er erschrak fast, als sie sogleich hervorstieß: „Was mit Erich?“ „Aber nein … Kann ich denn überhaupt mit ihm gesprochen haben? Hier kommt doch kein Mensch her …“ „Das kann ich mir sogar ein bißchen vorstellen.“ Michal Exner schaute hinaus auf den Platz, von dem die Morgenbusse losfuhren, vor das Hotel, wo die Frau die Tankstelle aufmachte und schon eine Schlange von acht Autos wartete. Vor dem Hotel Rychta startete der Fahrer eines Ausflugsbusses seine verglaste stählerne Kiste. „Ja, hier ist alles ruhig. Keine Menschenseele … Hast du geschlafen?“ „Ich habe dir einen Schal gestrickt.“ Er räusperte sich. „Sei nicht böse … Das ist Schicksal … Ich rufe dich nicht an, weil ich dich vielleicht hören wollte. Das auch, selbstverständlich. Aber ich hab’ gestern was vergessen.“ „Ich kann mich nicht erinnern“, meinte sie zufrieden, „ich wüßte nicht, was du vergessen haben könntest.“ „Aber ja doch“, sagte er friedlich und geduldig, als sollte er ein eigensinniges Kind überzeugen. „Ich habe vergessen, dich zu fragen, wie die zwei Burschen ausgesehen haben, mit denen Rambousek Samstag abend in der Waldbaude gesprochen hat.“ 150
„Um Himmels willen! Und wegen so eines Blödsinns weckst du mich mitten in der Nacht!“ „Ich muß es wissen. Gestern bei all der Aufregung …“ „Und wenn ich es dir sage …“ „Dann melde ich mich bis abends nicht mehr. Und erwarte dich bei deinem Bruder im Depositorium des Schlosses. So zwischen sieben und acht. Abends selbstverständlich. Ich warte, bis du kommst.“ Man hörte ein undeutliches Geräusch. Dann meldete die sachliche Stimme von Lída Muršová: „Der eine, Genosse Kapitän, war groß und blond, hatte eine Brille mit dunklem Rand. Er war überdurchschnittlich groß. Der andere kleiner, auch blond. Sie hatten folgendes an …“ „Das habe ich bereits erfahren. Danke.“ Eine Antwort erfolgte nicht. Der Hörer am anderen Ende wurde auf die Gabel geknallt. Kapitän Exner hielt sich seinen Hörer vors Gesicht, betrachtete ihn eine Weile erstaunt und legte dann gleichfalls auf.
70. Leutnant Beránek zog aus der Brusttasche seines Jacketts die schwarze Kladde. „Was ist?“ „Sie werden es wohl sein.“ Beránek nickte, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, und blätterte die entsprechende Seite auf. „Der Museumsdirektor Doktor Kamil Černoch hat mir heute morgen mitgeteilt, daß ihn am Freitagnachmittag zwei Redakteure der Zeitschrift ‚Junge Horizonte‘ besucht haben. Laut Mitteilung von Doktor Černoch handelte es sich um den Fotoreporter Lucek und den Journalisten Richard Pohan. Sie wollten zu Rambousek, aber den trafen sie nicht an. Deshalb begaben sie sich ins Museum. Die Genannten suchten ihn dann am Samstag wieder für eine Weile auf, weil Rambousek vormittags wieder nicht zu Hause war. Ob sie mit Rambousek gesprochen 151
haben, weiß er nicht, wann sie abgefahren sind, weiß er auch nicht.“ Kapitän Exner nickte. „Genosse Leutnant“, fragte er Šlajner, „haben Sie hier zufällig irgendwo die ‚Jungen Horizonte‘?“ „Etwas Derartiges hab’ ich hier gesehen …“ Der Leutnant kramte in dem kleinen Bücherschrank. „Aber das dürfte eine ältere Nummer sein …“ „Das macht nichts …“ Michal Exner schlug die dritte Seite mit dem Inhaltsverzeichnis und Impressum auf. „Beránek … Ruf in Prag an. Sie sollen sich sofort mit dem Chefredakteur der ‚Jungen Horizonte‘ in Verbindung setzen …“ Er buchstabierte vom Impressum: „Tanja Vrabcová … jetzt ist es kurz nach sechs, sie wird bestimmt zu Hause sein … Oder mit ihrem Stellvertreter, der heißt Melichárek, falls sie Urlaub hat. Sie soll die zwei Redakteure herbeischaffen … Ich werde sie in der Redaktion zwischen elf und zwölf besuchen. Vielleicht früher. Ich werde wenigstens einen von ihnen brauchen.“ „Dürfen sie sagen, worum es geht?“ Exner seufzte. „Das weiß nicht mal ich. Sie sollen nur feststellen, ob die zwei in Opolná gewesen sind. Soweit das diese …“, er schaute wieder ins Impressum, „diese Tanja weiß. Wenn sie eine absolut negative Antwort bekommen …“, er blinzelte auf die Uhr, „sollen sie bis sieben hier anrufen. Um sieben Uhr fünfzehn fahre ich mit Bohouš in die ‚Jungen Horizonte‘.“ „Es ist fünf nach sechs“, bemerkte Leutnant Beránek. „Du willst mir sagen, ich sollte nach Vlček schauen.“ „Genau.“ „Ich habe Hunger … Bohouš soll mich dort abholen. Bei Vlček. Zu essen kauf ich mir unterwegs was.“ Er sah aus dem Fenster. „Guck mal, die Wolken. Genosse Leutnant“, wandte er sich an Šlajner; „was die Frau Ram152
bousková gesagt hat, ist sehr interessant. Falls es hier üblich ist, das Dienstgeheimnis zu wahren …“ „Dafür verbürge ich mich, Genosse Kapitän.“ Exner zeigte auf den Himmel. „Diese Wolken … Es wird ein Gewitter geben.“
71. Bevor er sich aufs Schloß begab, holte er sich im Hotel seinen Regenschirm. Er schulterte ihn wie eine Flinte und machte einen Rundgang über den Marktplatz. Milchladen – Urlaub; Selbstbedienung – noch geschlossen; Bistro – noch geschlossen … Er kam sich vor wie ein verstoßener Hund, sah aber nicht danach aus. Er betrachtete den Kiosk mit Obst und Gemüse. Gleichfalls noch geschlossen, nichts lag draußen herum, keine Birne, kein Stückchen verfaulte Melone. Das Glück lächelte ihm in dem zum Schloß führenden Gäßchen zu, in dem ein Milchladen war. Von der alten Frau kaufte er sich einen Liter Milch, zwei Stück Kuchen und eine Packung Waffeln, die, wie ihm die Frau versicherte, frisch waren. Zu dieser Versicherung provozierte sie wohl sein verzweifelter Blick, den er über die Regale schweifen ließ, wo verschiedene Kekssorten und Tüten mit Mehl aufgeschichtet waren. Als wären sie dort seit eh und je, festgewachsen an die Regale und nicht von ihnen loszureißen. Mit der Papiertüte in der einen und dem Milchbeutel in der anderen Hand, unterm Arm den Regenschirm, so begab sich Kapitän Exner zum Schloß. Die morgendliche Windstille war zu Ende. Die Kronen der Bäume in dem französischen Park hinter der Mauer, die die eine Straßenseite bildete, bewegten sich. Staub erhob sich und wirbelte in den Häuserecken. Ein weißes Papier flog hoch über den Hausdächern. Viele wurden sicherlich von Beklemmung befallen, 153
denn ein Morgengewitter ist schon etwas Seltsames. Auf die Dächer und das Pflaster fielen die ersten Tropfen, Kapitän Exner nahm beide Beutel in eine Hand und spannte den Schirm auf. Eine blonde Frau kam ihm entgegengelaufen. Es war Věra Kalábová. „Ich muß in die Milchhalle“, rief sie lachend, „und ich habe den Regenschirm vergessen.“ „Ich warte hier auf Sie.“ Der Wind rüttelte an den Dachziegeln. Er riß Blätter von den Bäumen. Exner drückte sich an die Mauer. Endlich der erste Blitz und Donner, und der Regen prasselte mit aller Kraft hernieder. Sie schritten unter dem Regenschirm dahin, den der Wind schüttelte und Exner aus der Hand zu reißen drohte. Nur gut, daß Frau Kalábová seine Hand zusätzlich festhielt. „Sie sind nicht gerade zur günstigsten Zeit gekommen“, sagte sie. „Wirklich?“ „Die Unannehmlichkeiten ‚gestern …“ „Unannehmlichkeiten? Weil sie mich festgenommen haben?“ „Ja. Und heute das Gewitter. Da haben Sie sich so früh in den Park aufgemacht?“ „Nein“, antwortete er, „in die Sammlungen.“ „Doktor Černoch hat Ihnen den Schlüssel gegeben?“ Er gab einen unbestimmten Laut von sich. „Ich weiß nur nicht … wo ich frühstücken werde und ob es mir gelingen wird, die Milch aus diesem Beutel zu trinken.“ Sie lachte auf. „Aber Sie können sich doch in die Kanzlei setzen. Ich geb’ Ihnen auch eine Tasse, Herr Doktor.“ „Ihre Zuvorkommenheit“, erwiderte er galant und trat grinsend mit den gewienerten Schuhen in die Pfützen, „Frau Kalábová, ist exzellent.“
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72. „Hallo, Mammi“, sagte der kleine Junge, der gerade aus dem Bad in die Küche wollte, um zu frühstücken, und hob im Korridor den Hörer ab, „jemand ruft an.“ „Ich komme schon“, rief Tanja Vrabcová aus dem Schlafzimmer. Sie flocht sich soeben vor dem Spiegel ihren Zopf, der ihr immer noch, obwohl sie das schöne Alter bereits leicht überschritten hatte, gut stand. „Frag, wer anruft.“ Der Junge tat es. Dann deckte er das Mikrofon mit der Hand zu. „Mammi … er sagt, von der Polizei …“ „Beruhige dich, mein Junge, da macht sich jemand einen Spaß.“ Sie beendete ihre Frisur und nahm den Hörer in die Hand. „Vrabcová …“ „Die Chefredakteurin der ‚Jungen Horizonte‘?“ fragte eine Männerstimme. „Ja.“ „Hier ist die Polizei, Kriminalzentrale. Oberleutnant Voněk. Genossin Chefredakteurin, arbeiten bei Ihnen in der Redaktion die Genossen Pohan und Lucek?“ „Ja.“ „Sind sie in Prag?“ „Soweit ich weiß, ja, Pohan bestimmt. Er soll heute in die Redaktion kommen.“ „Danke“, sagte die Stimme. „Und wissen Sie zufällig, ob die beiden Ende vergangener Woche in Opolná waren?“ „Das waren sie bestimmt, das weiß ich. Ist was passiert?“ „Nein, nichts Besonderes. Wir wissen hier eigentlich gar nicht, worum es geht. Aber wir müssen mit ihnen sprechen. Zwischen elf und zwölf oder etwas früher wird Sie in der Redaktion Kapitän Exner besuchen. Er würde gern mit den genannten Genossen sprechen. Wird das möglich sein? Wenigstens mit einem von ihnen.“ „Gewiß, soll er kommen. Beide werden in der Redaktion sein.“ 155
„Ich danke Ihnen, Genossin“, erklang die anonyme Stimme des nichtanonymen Oberleutnants Voněk, und seine Hand legte den Hörer auf. Das gleiche machte auch Tanja Vrabcová, aber langsam und nachdenklich. Sie frühstückte, doch mit ihrem Sohn sprach sie an diesem Morgen nicht viel. Beim Kaffee, bei dem sie schon allein war, zündete sie sich eine Zigarette an, es ließ ihr keine Ruhe, und sie rief Richard Pohan zu Hause an. „Hör mal, Richard“, sagte sie energisch, so wie sie mit den Kollegen umzugehen gewohnt war, „was habt ihr in Opolná angestellt?“ „Mein Gott, nichts …“, sagte erstaunt der ernste Reporter Richard Pohan. „Was hätten wir denn dort anstellen sollen?“ „Das weiß ich nicht. Die Polizei hat angerufen. Komm um halb neun zu mir. Und ruf Lucek an.“ „Der soll auch kommen? Er wollte heute Fotos machen …“ „Nirgends wird er hingehen. Weil um elf zu uns in die Redaktion ein Kapitän Exner kommt, um mit euch zu sprechen.“ „O weia“, wunderte sich Richard Pohan. „Und was wird er wollen?“ „Das weiß ich nicht, mein Junge“, entgegnete Tanja Vrabcová mit giftiger Ruhe, „das werdet wohl eher ihr beiden wissen! Ahoi!“ „Aber …“ Sie legte energisch den Hörer auf. Neugierig auf das, was Richard jetzt sagen würde, war sie nicht, denn sie wußte, daß der Genuß an der Information ihr ohnehin nicht entgehen würde, und damit schob sie den wonnevollen Augenblick der Erkenntnis hinaus und verlängerte ihn.
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73. Er saß an einem niedrigen Tischchen neben dem Fenster zur Toreinfahrt, bescheiden wie ein armer Wandersmann in der Gesindestube, trank aus der Tasse die lauwarme Milch und biß von dem Hörnchen ab. Sie hatte ihn eine Weile allein gelassen. Nur so lange, wie es wohl dauerte, daß sie sich die bespritzten Beine abgewischt und die Schuhe gewechselt hatte. Vlastimil Kaláb war es offenbar gewohnt, allein zu frühstücken. „Wie lange werden Sie sich hier noch aufhalten?“ „Weiß ich nicht genau“, antwortete er, froh, daß er nicht immer nur lügen mußte. „Ein paar Tage wird’s wohl dauern.“ „Es wird ruhiger sein, wenn die weg sind.“ „Das bestimmt.“ Sie setzte sich in den Sessel am Fenster, im Rücken hatte sie den Hof, wo die alten Speier Ströme von Wasser ausspien. Sie schlug die Beine übereinander, legte die Hände in den Schoß, und es schien, als wäre diese Kanzlei der behaglichste Ort auf der Welt. Kapitän Exner machte ein betrübtes Gesicht. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Ich habe mich in eine unglückliche Geschichte verwickelt … Es heißt, er war ein älterer Mann.“ „Sie meinen Rambousek?“ „Hat ihn vielleicht jemand gehaßt?“ „Wissen Sie“, sagte sie mit dem weisen Lächeln einer erfahrenen Frau, die zu einem jüngeren Freund spricht, „ich denke, es war wegen Geld.“ „Hatte er denn Geld?“ „Bestimmt. Als Reparaturhandwerker verdiente er nicht viel. Aber er war geschickt; neben der Reithalle haben wir eine Tischlerei und eine Schlosserwerkstatt, und dort arbeitete er auch für uns, für das Schloß. Auf 157
Rechnung. Er hatte die Genehmigung der Stadt. Und als Schuster …“ „Hat er auch geschustert?“ „Ursprünglich hat er das. Er besaß eine eigene Werkstatt. Unterhalb des Marktplatzes, wo man zur Schloßmühle geht, falls sie schon einmal dort waren.“ Er nickte eifrig mit vollem Munde. „Auch jetzt noch hat er gelegentlich geschustert. Für Bekannte. Die Werkbank hatte er in der Schlosserwerkstatt. Mir hat er voriges Jahr Winterstiefel genäht. Nach einem Foto in einer Modezeitschrift. Er sagte: aus Spaß. Er hielt es nicht aus, lange zu sitzen. Und dann und wann verkaufte er eines von seinen sonderbaren Bildern. Manch einem gefielen auch seine Scheusale mit den hervorquellenden Augen. Ich konnte keinen Gefallen daran finden.“ „Ich hab’ keines gesehen.“ „Er hat sie aus Holz geschnitzt. Große Stücke. Er hatte eine ganze Menge in seiner Wohnung.“ Und sie zeigte über die Schulter. „Falls es möglich ist, schauen Sie da mal ’rein. Vielleicht hat auch Doktor Medek was. Der hat ihn ja geradezu vergöttert.“ „Wer kann das bloß getan haben …“, grübelte Exner. „Man hat den Kolář eingesperrt, einen Forstarbeiter, Herr Doktor. Von ihm wußte man, daß er Rambousek nicht leiden konnte. Aber den Rambousek konnte kaum einer leiden. Kolář kann es getan haben, wenn er betrunken war. Aber eher in der Kneipe als im Walde. Obwohl … keiner kann es wissen. Geld brauchte er immer, weil sie viel tranken …“ „Wer? Kolář und Rambousek?“ „Nein, Kolář und seine Gefährtin. Er wohnt mit einer Frau zusammen in einer Bruchbude unterhalb der Mühle. In ihrem Haus.“ „So daß“, meinte er mit einem Seufzer, „schwer festzustellen sein wird …“ 158
„Gewiß. Sie hatten auch einen Sohn. In den letzten Jahren kam er manchmal zu ihm. Dem Rambousek soll kurz nach der Hochzeit die Frau weggelaufen sein, wie man hier sagt.“ „Ach ja?“ interessierte sich Exner. „Und weiß man, warum?“ „Ich weiß es nicht. Wir sind erst vor acht Jahren hergezogen. Und sie ist schon vor zwanzig Jahren weg.“ „Warum ist so einem fleißigen Mann wie diesem Rambousek“, sinnierte Exner laut, der an diesem Morgen vielleicht unter dem Einfluß des Wetters, des schlechten Frühstücks und der Schläfrigkeit nur aus den weisen Reden eines Volksphilosophen bestand, „warum ist gerade ihm, einem so arbeitsamen und ein geordnetes Leben führenden Mann, die Frau weggelaufen?“ Sie lachte. „Ob er damals ein so geordnetes Leben geführt hat, weiß ich nicht. Aber jetzt ja. Er hat wenig getrunken und viel gearbeitet. Nur“, fuhr sie wieder in jenem Ton einer Frau fort, die über alle Schlechtigkeiten und Zwietracht dieser Welt erhaben ist, „war er sehr redselig. Er debattierte furchtbar gern. Aber niemand wollte mit ihm debattieren. Wenn man ihn reden ließ, dann war alles in Ordnung.“ „Und so haben Sie gehandelt, Frau Kalábová?“ fragte Kapitän Exner. „Gewiß. Man mußte ihn wie ein Kind behandeln.“ „So daß also“, meinte Exner mit einem traurigen Lächeln, „allgemein von Rambousek bekannt war, daß er ein mürrischer, streitsüchtiger alter Knacker war, ein Geizhals dazu, und daß er deshalb Geld wie Heu hatte.“ „Genau so, Herr Doktor. Zuletzt hat er sich mit seinem eigenen Sohn gestritten, am Freitag. Der reinste Zirkus! Nur gut, daß nicht gerade eine Reisegruppe auf dem Hof war. Stellen Sie sich vor, er hat ihn über den Hof gejagt und mit Holzscheiten nach ihm geworfen, beinahe hätte er das Fenster hier eingeschlagen. Ram159
bousek spuckte dann aus, klaubte die Scheite auf und kehrte in seine Wohnung zurück.“ „Und was hat er geschrien?“ „Nichts, beide waren ganz still. Ich saß an der gleichen Stelle wie Sie jetzt. Und hab’ gesehen, wie der Sohn aus der Tür kam, vielleicht sagte er noch was, weil er sich umdrehte, aber da flog an ihm ein Scheit vorbei und gleich darauf das zweite, er schaffte es kaum auszuweichen. Und konnte nicht mal die Tür schließen. Und als er über den Hof ging, war Rambousek plötzlich in der Tür, in der Hand ein Scheit, er holte aus und warf und traf ihn in den Rücken. Eigentlich war es ulkig, wenn es nicht …“ Sie hielt inne. „Mein Gott …“, sagte sie plötzlich halblaut und biß sich in die Unterlippe. „Was denn?“ Exner blinzelte erstaunt. Zuerst auf die Kalábová und dann auf die Uhr. Er hatte nicht mehr viel Zeit. „Wenn es nicht ein solches Ende genommen hätte … Schließlich …“ „Und Sie wissen, wie es geendet hat?“ „Mir ist nur der Gedanke gekommen … was, wenn der eigene Sohn …“ Er zuckte die Achseln. „Solche Sachen passieren, sagt man.“ „Das stimmt, und es hat sogar einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit. Aber sie haben ja schon einen eingesperrt.“ „Sie werden schon wissen, warum.“ Er nickte. „Aber sie haben sich am Freitag gestritten, Rambousek wurde am Samstag ermordet, und gefunden hat man ihn am Montag. So daß – wenn sie sich am Freitag gestritten haben … Das spielt keine Rolle, er kann noch einmal gekommen sein …“, überlegte er laut und tat dabei ganz ernst. Sie lächelte fast mütterlich. „Sie spielen wohl gern Detektiv?“ 160
„Sehr gern“, gestand er begeistert. „Ich mache mir oft solche Gedanken … Hier in Opolná leben, sagen wir, dreitausend Menschen. Stellen Sie sich vor, zwei- bis dreitausend Menschen. Was haben die alle am Samstag getan? Wo waren alle diese Menschen zu der Minute, da die zwei sich unten im Park begegnet sind? Rambousek und sein Mörder. Zum Beispiel, wo sind Sie gewesen, gnädige Frau, wo Ihr Mann … erinnern Sie sich? Nur so zum Spaß?“ „Mir rieselt es kalt über den Rücken, Herr Doktor!“ „Nur so zum Spaß“, sagte er erfreut und rieb sich die Hände wie ein Markthändler. „Ob Sie sich erinnern … Wenn wir schon mal Detektiv spielen.“ „Da brauch’ ich überhaupt nicht nachzudenken. Hier haben wir gesessen. Bis zwölf. Und Canasta gespielt. Ich, mein Mann, Olga Domkářová, das ist eine Studentin, sie arbeitet hier während der Ferien als Führerin und wohnt gleich neben uns, da unter den Lauben …“ Sie hielt inne. „Der vierte kam erst im Dunklen, damit ihn niemand sähe. Wenn sie zu untersuchen anfangen, wer dieser vierte war, da wird Opolná gucken.“ „Sie werden es untersuchen“, sagte Michal Exner bekümmert. „Zweifellos. Wer war es?“ „Vielleicht sollte ich das nicht einmal Ihnen sagen.“ „Das müssen Sie, sonst ist es kein Spiel.“ „Aber wenn …“ „Wenn ich es erfahre, wird es vielleicht besser sein, als wenn es Leutnant Šlajner erfährt.“ „Ausgerechnet der!“ rief sie entsetzt. „Das gäbe einen weiteren Mord!“ Kapitän Exner trank seine Milch aus. „Sie haben bei denen dort … was gehört?“ Er schüttelte traurig den Kopf. Seufzte. Auf den Schloßhof fuhr ein Wagen, und das war zweifellos Bohuslav Vok. 161
„Mit Olga“, sagte sie mit einem Seufzer, „geht der Doktor Hauser aus dem Krankenhaus.“ Und Kapitän Exner tat es leid, daß er das angenehme Gespräch mit der angenehmen Dame beenden mußte. „Sieh da“, sagte er. „Ich weiß, das wird sich jetzt herumsprechen. Vielleicht sollte ich ihn …“ „Nein, lieber nicht. Und seien Sie mir nicht böse.“ Er schaute sie bittend an. „Ich habe da eine Dummheit gemacht. Gestern hab’ ich Sie angelogen. Eigentlich konnte ich mir das erlauben, weil ich noch Urlaub hatte, aber man hat sich meiner erinnert, und heute habe ich keinen Urlaub mehr. Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen … Doktor Exner …“ „Ja … das haben Sie doch gestern schon, Herr Doktor.“ „Nur … ich bin kein Botaniker, ich bin Doktor beider Rechte …“ „Jurist?“ „Ja. In den Diensten der … Ich bin nämlich Kapitän Exner von der Kripo. Hier ist mein Dienstausweis, Frau Kalábová. Lesen Sie sich ihn in Ruhe durch, ich verstehe, daß Sie aufgeregt sind. Ich komme heute noch mal wieder. Ich kann Sie nicht zwingen, über unser Gespräch mit niemandem zu sprechen, aber es wird besser sein. Mit dem verheirateten Herrn, der zu einem Stelldichein mit Fräulein Domkářová hergekommen ist, sprechen Sie lieber nicht. Ich werde es für mich behalten, das verspreche ich Ihnen. Ich bin kein Privatdetektiv und befasse mich nicht mit Ehebruch. So daß … Ach so, Sie brauchen … Hier im Schrank? Rum? Bitte sehr. Ein Glas? Aha, gleich aus der Flasche. Ja, Frau Kalábová, so wird es wohl das beste sein.“
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74. Bohuslav Vok fuhr mit dem Wagen dicht an die Loggia heran, damit der Kapitän trockenen Fußes einsteigen konnte. Aber es nützte nicht viel. Das aus den Speiern strömende Wasser spritzte meterweit auseinander, und der auf dem Hof blasende Wind trug die Regentropfen überallhin. Exner schlüpfte ins Auto, legte den noch nassen Regenschirm nach vorn. Beim Wenden des Fahrzeugs hob er die Hand wie zum Gruß zum Fenster der Kanzlei. „Bohouš“, seufzte er, „ich bin naß wie eine gebadete Maus. Und möchte gern schlafen.“ „Dann schlaf“, sagte Vok. „Eine Decke hast du hinten.“ Sie war in dem Gepäckraum hinter den Sitzen, und Exner konnte sich die Schuhe und die Hose ausziehen, die er sorgfältig über den Vordersitz legte, außerdem zog er sich das Hemd aus und kuschelte sich unter die Decke. Er schlief nicht gleich ein. Er hörte noch, wie Ströme von Wasser auf das Wagendach klatschten und wie der Lärm des Motors durch den Donner übertönt wurde … Plötzlich richtete er sich auf. „Moment, Bohouš. Hätte ich beinahe vergessen. Zum Bahnhof. Zuerst zum Bahnhof, schlafen werde ich nachher.“
75. „Also Jungs“, begann Tanja Vrabcová energisch, „was ist passiert?“ Sie stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und legte das Kinn auf die verschränkten Finger. Der Schreibtisch setzte sich in einem Konferenztisch fort, auf dem bei gutem Willen ein Flugzeug starten konnte. Richard Pohan saß am Ende, Mojmír Lucek hielt einen Stuhl in der Mitte der Startbahn besetzt, „’raus damit!“ Der bekannte Reporter Pohan rückte sich unwillkür163
lich die Brille zurecht und schwankte in der Hüfte wie die Krone einer Trauerweide. „Womit ’raus, Tanja?“ „Hört mal, ihr wart doch in Opolná?“ „Na und? Die Reportage ist fertig, du hast sie doch schon gelesen, nicht? Am Montag hab’ ich sie dir hier auf den Tisch gelegt.“ „Hab’ ich, sie ist gut!“ „Und die Fotos“, mischte sich Lucek leicht angewidert ein, denn er liebte die energische Art seiner Chefin nicht, „hab’ ich dir jetzt gegeben, so daß wir wirklich nicht, wissen …“ „Ich spreche nicht von der Reportage. Ich meine nur …“ Mit der einen Hand warf sie die Fotos durcheinander, die andere ließ sie unterm Kinn, „daß ihr über den Burschen fast zuviel schreibt … Das verlangt einen breiteren Blickwinkel … Auf die ganze Stadt, wie sie lebt und so. Und wennschon über den Mann, dann etwas Ordentliches, was er gemacht hat und so. Etwas aus seiner Werkstatt. Wenn er ein Volkskünstler ist. Aber warum kommt die Polizei zu euch?“ „Das ist tatsächlich äußerst sonderbar“, sagte Richard Pohan bedächtig. „Richard …“ „Höchstens, daß es irgendwie zusammenhängt … mit dem mangelhaften Fotomaterial …“ „Daraus kann ich nicht schlau werden.“ Sie schaute auf die Uhr. „Seht zu, daß ihr euch ausquetscht. Ich muß gleich zum Direktor, um elf wird der Genosse hier sein.“ „Was kann der hier wollen?“ überlegte Lucek. „Das ist bestimmt ein Irrtum … Soweit ich mich erinnere, hat Richard nicht mal eine Verkehrsübertretung begangen … Höchstens die Leiter …“ „Was für eine Leiter? Hat jemand an der Landstraße Pflaumen gepflückt und ihr habt ihm mit dem Auto die Leiter umgestoßen?“ Richard Pohan schüttelte lange den Kopf. „Nein, Tan164
ja, das nicht … Mit Rambousek hatten wir am Samstag gesprochen. Früh. Freitag hatten wir ihn nicht erreicht. Er hatte keine Zeit. Hatte irgendwas zu tun. Wir waren bei ihm in der Werkstatt, ein alter Herr hatte uns hingeschickt, der Museumsdirektor. Und Rambousek verabredete sich mit uns für den Nachmittag. Aber seine Arbeit zog sich bis zum Abend hin, wir spazierten unterdessen durch die Stadt und den Park. Wir sprachen dann mit ihm eine Stunde, und er lud uns zum Abendessen in die ‚Waldbaude‘ ein. Eine Ausflugsgaststätte. Darüber schrieb ich dann die Reportage. Und daß wir Sonntag zu ihm in die Wohnung kommen und Fotos machen sollten. Er stellte uns in Aussicht, daß es schöne Fotos würden, weil seine Fenster nach Osten gingen und bestimmt schönes Wetter sein würde, daß es Licht und Schatten geben würde und so … Und dann fuhren wir weg, weil wir keine Lust hatten, mit ihm den ganzen Abend ’rumzusitzen. Und am Morgen war er nicht zu finden. Nirgends. Zu Hause war er nicht, wir rannten wie bedeppert ums Schloß ’rum. Dann fiel uns ein, ins Fenster zu rufen, er wohnt im erhöhten Erdgeschoß des Schlosses. Sein Fenster stand offen, aber keine Antwort. Uns kam der Gedanke …“ Richard Pohan hielt inne, schaukelte hin und her und schaute Lucek an. „Uns kam also der Gedanke, ob ihm nicht was zugestoßen sein könnte. Und ein Ende weiter fanden wir eine Leiter. Und Mojmír kletterte hoch. Aber der Alte war nicht in seiner Wohnung. Dann bin auch ich hochgeklettert …“ „Das ist aber komisch!“ erklärte Tanja Vrabcová. „Du auch?“ „Ja. Weil mir Mojmír zurief, ich solle mir das mal anschauen.“ Richard Pohan kratzte sich am Halse. „Und in dem, was wir dort gesehen haben, wird wohl das Malheur bestehen …“ „Dramatisier das nicht“, wies ihn Lucek mürrisch zurecht. „Der Alte hatte da drin einfach eine heillose Sau165
wirtschaft. Als wäre eine Furie durch die Wohnung gejagt, Erdbeben ist zuwenig. Dort hatten zwanzig Vandalen gehaust. Alles ruiniert. Ein bizarres Bild. Wenn du das gesehen hättest … Sieh mal“, fügte er hinzu, „ich habe paar Fotos gemacht.“ Tanja Vrabcová nickte, ihr war alles restlos klar. „In der Wohnung waren Diebe, ihr habt nichts gemeldet und seid verduftet.“ „Hör mal“, begehrte Pohan auf, „wem hätten wir was melden sollen, am Sonntag! Und außerdem kann das doch der Alte in seiner Besoffenheit selber getan haben. Hitzig für so was war er genug. Und einige Male hatte er im Gespräch gesagt, er wird sowieso eines Tages alles in Klump hauen, damit keiner was erben kann. Nichts. Uns schien, er hatte einen Familienstreit. So haben wir uns still und heimlich verdrückt …“ „Herrschaften!“ Tanja Vrabcová, die Chefredakteurin der ‚Jungen Horizonte‘, schlug die Hände überm Kopf zusammen. „Verdrückt! Gefunden haben sie euch! Im Handumdrehen. Was, wenn dort etwas verschwunden ist?“ Pohan rieb sich wieder den Nacken. „Das dürfte dann wohl nicht sehr angenehm sein …“, sagte er. „Aber wir waren zu zweit, so daß …“ „… ihr noch mehr mausen konntet. Da habt ihr euch was Schönes eingebrockt, bei Gott“, und sie griff nach dem Telefon. Wählte eine Nummer. „Václav, hier Tanja, kannst du mal zu mir kommen? Ja, jetzt gleich. Danke …“ „Wen hast du angerufen?“ fragte Lucek. „Ronbek?“ „Ja. Ich glaube, ihr werdet ihn beide brauchen.“
76. „Ich bin bereit“, sagte der Fahrdienstleiter Vondráček und richtete sich auf. Er stand inmitten der 166
Kanzlei des Bahnhofs Opolná. „Ich bin bereit, mit Ihnen zu gehen, Genosse Kapitän. Natürlich nach Dienstschluß.“ Kapitän Exner klappte den Dienstausweis zu, steckte ihn ein und blickte sich fast scheu in dem altväterlich eingerichteten Raum um, der mehr wie das Exponat eines technischen Museums als das gängige Zubehör zu einem Bahnhofsbetrieb aussah. Er lächelte der kleinen Frau an der Kasse zu und sagte: „Sie brauchen nicht mit mir zu gehen, Herr Vondráček. Es genügt, wenn wir uns ein Weilchen auf den Bahnsteig stellen. Dort unter den Blumenkasten. Die Blumen sind sehr schön“, und er wandte sich der Frau an der Kasse zu: „Pflegen Sie die Blumen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer dann?“ „Ich“, antwortete Vondráček. „Ich wohne hier in dem Gebäude schon fünfzig Jahre. Mein Vater war hier Bahnhofsvorsteher. Auf den Bahnsteig können wir natürlich gehen, Genosse Kapitän.“ Und er setzte sich die Mütze, so wie er das von Jugend an gewohnt war, stutzerhaft schief auf. Vor einer Weile war ein Zug abgefahren, der Bahnsteig war leer. Michal Exner lehnte sich an das gußeiserne Geländer und beobachtete die Spatzen, die sich zwischen den Geleisen tummelten. Herr Vondráček war sich eine Weile unschlüssig, ob er aufgerichtet stehen bleiben oder sich ebenfalls an das Geländer lehnen sollte wie der junge Mann. Dann entschloß er sich, seinem Beispiel zu folgen, allerdings mit einer gewissen Verlegenheit. Möglicherweise stand er so zum ersten Mal im Leben auf dem Perron. „Hübsch ist es hier“, erklärte Exner zufrieden. „Ruhe und Frieden …“ „Ja, die Strecke ist nicht allzusehr frequentiert. Ich habe mich eingewöhnt.“ „Herr Vondráček, was halten Sie von der Geschichte?“ 167
„Von welcher Geschichte, bitte?“ „Was mit Herrn Rambousek passiert ist.“ „Das ist völlig unglaublich. In unserer ruhigen Stadt.“ „Und die Art und Weise …“, sagte Exner versonnen. „Ich verstehe Sie nicht … Was für eine Art und Weise?“ „Des Mordes.“ . „Ich weiß nichts über die Art und Weise, Herr Kapitän.“ „Ach so“, warf Exner leicht hin. „Ich dachte, das wüßte man schon allerseits. In der Stadt, überall. Wie das auf dem Lande eben so ist.“ „Niemand hat darüber mit mir gesprochen, Herr Kapitän.“ „Na schön, ist ja auch egal“, sagte Exner, und es schien, als interessierten ihn die Tauben auf dem Dach des Lagerschuppens am meisten. „Sie hatten Samstag abend Dienst, stimmt’s?“ „Ja, hatte ich. Weil ich hier wohne, vertrete ich oft …“ „Gewiß, in Ordnung. Die letzten Züge fahren wann?“ „Nach Meziboří um dreiundzwanzig Uhr dreiundfünfzig, nach Hradec null Uhr fünfzehn.“ „Und vorher?“ „Einundzwanzig Uhr fünfzig, zweiundzwanzig Uhr vierunddreißig.“ „Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt? Wer ausgestiegen, eingestiegen ist …“ „Moment, da muß ich nachdenken.“ „Bitte sehr.“ Herr Vondráček schüttelte nach einer Weile den Kopf. „Nein, da kann ich nachdenken, wie ich will. Mit dem letzten aus Meziboří kam eine Gruppe Mädchen und Jungen, wohl von einem Ball. Einige schon mit dem Zug vorher …“ Er verstummte, zuckte die Achseln. „Ja … Jemand kam aus Hradec … Ja. Der Herr Kodet. Er hat eine Tochter in Hradec. Und ein Unbekannter ist abge168
fahren. Ich hatte ihm die Fahrkarte verkauft. Nach Loučná. An mehr erinnere ich mich beim besten Willen nicht …“ Kapitän Exner zuckte die Schultern. „Da kann man nichts machen. So ein Zufall. Sie werden sicher noch darüber nachdenken, Herr Vondráček, und wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie bitte an. Bei Leutnant Šlajner. Kennen Sie ihn?“ „Freilich, sein Vater hat hier auf dem Bahnhof gelegentlich ausgeholfen. Im Lagerschuppen der Zuckerfabrik und auch sonst. Ein ehrlicher Mensch.“ „Auch heute findet man da und dort einen ehrlichen Menschen“, meinte Exner lächelnd. „Gewiß, Herr Kapitän.“
77. Der Hausjurist Doktor Václav Ronbek, ein allgemein bekannter Fachmann auf dem Gebiet des Urheberrechts und der Schrecken aller, die in dem Verlagsunternehmen, das außer Büchern, Zeitungen und anderen Zeitschriften auch die ‚Jungen Horizonte‘ herausgab, Honorare verdienten oder dazuverdienten, zeigte unverhohlene Freude. Zufrieden schaute er sich die Fotos aus Opolná an, einschließlich derer, die Lucek in der Wohnung des Volkskünstlers geknipst hatte, kicherte und erklärte mit seiner außerordentlich sonoren Stimme, die einem Staatsanwalt angestanden hätte: „Dort war aber eine Wirtschaft …“ Er zündete sich die zweite Zigarette an, legte die Fotos wieder vor Tanja Vrabcová, beugte seine ausladenden Schultern über den Tisch und zog sich einen Aschenbecher heran. „Haha“, meinte er zufrieden. Seine Freude war, wenn man Ronbeks subjektiven Standpunkt zu dem Fall in Betracht zog, berechtigt. Er war froh, daß ihm als Juristen durch diese Beratung das Vertrauen 169
auch in der Kenntnis eines anderen Rechtsgebiets ausgesprochen wurde, und außerdem war er zufrieden, daß die Journalisten wieder einmal in der Klemme saßen. „Hört mal“, sagte er klangvoll, „ist dort was verschwunden?“ „Das wissen wir nicht.“ Richard Pohan zuckte die Schultern. „Wir haben nichts genommen.“ „Das will ich stark hoffen. Aber wenn dort was verschwunden ist, wie wollt ihr dann beweisen – falls der wahre Täter nicht gefunden wird –, daß ihr es nicht genommen habt?“ „Das dürfte schwer sein …“, räumte Pohan ein. „Mein Gott, was sollten wir denn dort genommen haben, wo sollten wir es versteckt haben?“ „Das wird das Gericht nur vom Gesichtspunkt, um es primitiv zu sagen, der Beweise interessieren. Wie ich gesagt habe: Wenn sich der Täter nicht findet – im Falle, daß was gestohlen wurde –, dann wird es für euch nicht leicht sein. Und falls ihr nicht beweisen könnt …“ „Aber wie?“ rief Lucek verzweifelt. „Wie, Václav?“ Doktor Ronbek zuckte die Achseln. „Da werdet ihr euch schon was Glaubwürdiges ausdenken müssen. Und wenn ihr euch nichts ausdenkt und die vermißte Sache einen höheren Wert hat und wenn die Polizei beweisen kann, daß ihr in der Wohnung wart – und das wird sie beweisen, das heißt, sie hat es schon bewiesen, und außerdem seid ihr auf eine unangemessene Art in die Wohnung gelangt –, dann …“ „Na, was ist dann?“ fragte Tanja Vrabcová. „Dann“, spann Doktor Ronbek unheilverkündend sein Garn weiter, „müßt ihr notwendigerweise beweisen, daß ihr bis jetzt das ordentliche Leben eines Werktätigen geführt habt. Was sich in eurem Falle nicht beweisen läßt. Das Gericht wird dies in Betracht ziehen … Nun ja“, und Ronbek zuckte wieder die Achseln, „es wird darauf ankommen, wie die Polizei arbeitet und was ver170
schwunden ist. Wenn es sich um eine Sache von geringem Wert handelte … Dann vielleicht. Aber falls es um etwas Größeres geht … Da müßte ich noch mal im Gesetzbuch nachschlagen. Und es wird auch davon abhängen, ob die Sache beziehungsweise die Sachen, die verschwunden sind, nicht zur Einrichtung des Schlosses gehört haben. Dann wäre das sozialistisches Eigentum … Da könnte man Bewährung kaum in Betracht ziehen …“ „Hör auf!“ rief Lucek. „Václav, wir sind doch keine Diebe!“ „Bei Gericht“, entgegnete hart Doktor Václav Ronbek, „zählt einzig und allein der Beweis.“ Ins Zimmer schaute die Sekretärin herein. „Verzeihung … Tanja, der Genosse von der Polizei ist da. Er läßt sich entschuldigen, daß er etwas später gekommen ist … Er will gern warten, wenn ihr eine Sitzung habt …“ „Soll ’reinkommen!“
78. Michal Exner strahlte in der Tür mit seinem hellblauen Anzug und dem bescheidenen Lächeln. Bohouš war schnell gefahren, so daß er sich noch rasch zu Hause ein bißchen in Ordnung bringen konnte. „Verzeihung, störe ich wirklich nicht?“ fragte er leise. „Nein, Genosse“, begrüßte ihn Tanja Vrabcová. „Eigentlich warten wir schon auf dich. Ich heiße Vrabcová, das ist Genosse Pohan, das Genosse Lucek. Und das ist unser Hausjurist, Doktor Ronbek.“ Exner stellte sich vor und nahm an der Startrampe des Konferenztisches Platz, mit dem Rücken zum Fenster. „Kaffee?“ fragte Tanja. „Wenn ich einen kriegen kann.“ „Gewiß.“ Und sie bestellte ihn bei der Sekretärin. Exner schaute sich schweigend um. Ronbek lehnte sich bequem im 171
Sessel zurück und freute sich auf das, was nun kommen würde. Lucek sah aus, als wollte er gleich mit dem Fuß gegen etwas treten. Und Pohan saß gebeugt, wie das die Gewohnheit langer Kerle ist, die Augen hinter der Brille waren fast geschlossen. „Sie haben also schon darüber gesprochen …“, sagte Michal Exner. „Ist in der Wohnung was weggekommen?“ fragte Tanja Vrabcová. „In welcher?“ „Na, von diesem …“, sie blickte in die Reportage, die vor ihr auf dem Tisch lag, „von diesem Rambousek.“ „Das wissen wir noch nicht …“, antwortete Kapitän Exner langsam. „Wir wissen immer noch nicht, ob dort was weggekommen ist. Es handelt sich ja nicht um Diebstahl, Genossin …“ „Worum dann?“ „Um Mord“, sagte Kapitän Exner und rieb sich mit den Fingern die Nasenspitze.
79. Dazu hatte nicht einmal Doktor Ronbek etwas zu sagen. Tanja Vrabcová erbleichte sogar und brachte kein energisches Wort hervor, mit dem sie sonst komplizierte Situationen löste. Kapitän Exner schien es peinlich zu sein, daß er ihnen so viel Sorgen bereitete. „Falls du gestattest, Genossin Chefredakteurin“, sagte er und streckte die Hand über den Tisch, „würde ich mir mal die Fotos und die Reportage anschauen.“ Schweigend reichte sie ihm beides. Er lächelte Richard Pohan zu. „Ich lese Ihre Sachen gern … Einen besseren Reporter haben wir wohl nicht. Soweit ich das beurteilen kann …“ Pohan versuchte ein Lächeln. Das Mädchen aus dem Sekretariat brachte den Kaf172
fee. Exner bedankte sich und vertiefte sich in die Lektüre. Er blätterte die Fotos durch. „Das Negativ haben Sie?“ fragte er Lucek. „Gewiß.“ „Das ist alles auf einem Film? Ich meine diese und auch die von der verwüsteten Wohnung …“ „Ja.“ „Könnten Sie ihn mir borgen?“ „Natürlich. Gleich?“ „Ja, gleich, falls Sie ihn nicht mehr brauchen.“ „Ich hol’ ihn dann …“ Lucek schaute Tanja Vrabcová fragend an. Diese zuckte ratlos die Schultern. „Bitte sehr“, sagte Exner. „Ich les’ mir inzwischen das da durch.“ Er beeilte sich nicht, während des Lesens trank er den Kaffee. Es war ein Bericht über Opolná und über einen Menschen, der einen so gewaltigen Tatendrang in sich hatte, daß er in wunderlichen Holzschnitzwerken und in buntscheckigen Geschichten auf Leinwänden explodierte. „Haben Sie einen Durchschlag?“ „Gewiß“, sagte Richard Pohan. „Nebenan auf dem Tisch.“ Er stand auf. „Später. Wenn wir gehen … Es ist schön geschrieben, meine ich.“ „Morgen sollte es in die Druckerei“, erinnerte Pohan. „Moment, Moment“, hielt ihm Tanja entgegen. „Das wird uns der Genosse sagen müssen, ob …“ „Was ob?“ fragte Michal Exner. „Ob wir das Material drucken können.“ „Ich will Ihnen nicht hineinreden“, entschuldigte sich Kapitän Exner. „Aber vielleicht sollte eine Fußnote hinzugefügt werden … daß dieser Mensch tragisch oder plötzlich verstorben ist … Daß das eigentlich eine Reportage post mortem ist …“ Tanja Vrabcová nickte energisch. Lucek kehrte mit dem Negativ zurück. Exner schaute 173
es sich flüchtig gegen das Licht an und steckte es in die Tasche. „Brauchen Sie eine Bestätigung?“ „Nein, das ist es wohl nicht wert.“ „Gut. Dann wollen wir uns mal unterhalten, Genossen. Aber nicht hier. Und Sie sind so nett und nehmen die Kopie der Reportage mit.“ Er bedankte sich für den Kaffee und verabschiedete sich von Tanja Vrabcová. Doktor Ronbek begleitete sie bis auf den Flur, dann noch einen Stock tiefer bis an die Tür seines eigenen Zimmers. Dort schüttelten sie sich herzlich die Hände, und Václav Ronbek konnte durch die Flure pilgern und mit seiner sonoren Stimme eine Geschichte erzählen, wie sich Pohan und Lucek so schön in einen Mord verwickelt hatten, daß sie ganz blaß davon seien. „Und das kommt daher“, fügte er hinzu, „daß sie sich einbilden, ein Journalist sei allmächtig. Haha.“ Sie traten vor das Verlagsgebäude. Blieben auf dem Gehsteig stehen, und Exner schaute sich um. „Also, wohin jetzt?“ „Am nächsten ist es zu den Piaristen“, erklärte der Fotoreporter Lucek dreist. „Richtig, dort kocht man nicht schlecht. Wenigstens früher aß man dort ganz anständig“, stimmte Kapitän Exner zu. „Auch die Uhrzeit ist zum Mittagessen und zum Klönen ganz günstig.“
80. Sie bestellten ihr Essen. Exner komplizierte wie gewöhnlich dem Oberkoch die Situation, indem er sich ein Beefsteak ohne Ei bestellte und dafür bat, es mit englischer Leber zu belegen. „Ich habe furchtbar wenig gefrühstückt“, erklärte er den beiden, „und nicht gerade schmackhaft. Genehmigen wir uns einen Schoppen Rotwein, wenn sie Cabernet haben?“ 174
Die Herren Pohan und Lucek meinten, das könne nicht schaden. „Schauen Sie“, erklärte ihnen Kapitän Exner, „halten Sie die nun folgende vorläufige Vernehmung für ein freundschaftliches Gespräch. Was wir uns hier erzählen, das diktieren Sie nachmittags in der Bartholomäusgasse ins Protokoll. Oberleutnant Voněk wird Sie dort erwarten. Ein oder zwei Schoppen Rotwein können in diesem Fall wirklich nicht schaden“, fügte er zufrieden hinzu, „aber bevor wir anfangen, möchte ich Sie gern etwas Wichtiges fragen … Ja, es ist eigentlich das Wesentlichste. Vorher muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ein Geständnis ein mildernder Umstand von großer Bedeutung ist. Haben Sie ihn umgebracht?“ „Jesus Maria!“ schrie Lucek leise auf. „Nein, warum?“ Kapitän Exner sah fragend Richard Pohan an. „Auf Ehre und Gewissen“, sagte der Reporter besonnen, „wir haben ihn nicht umgebracht. Ich wenigstens nicht. Und weil er die ganze Zeit bei mir war, nehme ich an, daß auch er es nicht getan hat.“ „Also nicht?“ „Nein“, kam es wie aus einem Munde. „Haben Sie etwas an sich genommen aus seiner Wohnung? Ich meine eine Kleinigkeit. Ein Souvenir. Eine belanglose Sache. Ein Haar des Großvaters Allwissend. Einen Sechser, eine Zahnbürste, ein Stück Kohle, einen Ohrring. Einfach irgend etwas. Zufällig.“ „Nein, nichts.“ Exner nickte, machte für den Kellner Platz, damit dieser servieren konnte, und griff dann zum Besteck. „Also“, sagte er unzufrieden, beschaute sich die aufgeschnittene Leber, ob sie nicht zu roh war, und im stillen konstatierte er ärgerlich, daß sie zu durchgebraten war. Das Beefsteak hingegen war in Ordnung. „Und jetzt können wir mit dem Erzählen anfangen. Was hat Sie dazu bewogen, nach Opolná zu fahren?“ 175
„Die Ausstellung unserer modernen Kunst in Kopenhagen. In ausländischen Berichten darüber wurden die Arbeiten von Boleslav Rambousek einige Male erwähnt. So planten wir für den Sommer was ein.“ „Wann sind Sie nach Opolná gekommen?“ „Freitag gegen Abend“, antwortete Richard Pohan. „Weil Herr Rambousek nicht zu Hause war, suchten wir den Museumsdirektor auf.“ „Hatten Sie Rambousek geschrieben, daß Sie kommen?“ „Ja, und er hatte uns eine Ansichtskarte geschickt, er sei ständig zu Hause und wir könnten jederzeit kommen. So fuhren wir eigentlich aufs Geratewohl los.“ „Was haben Sie von Doktor Černoch erfahren?“ „Hm …“ Pohan rutschte hin und her. „Eigentlich … daß es nicht leicht sein wird … da Rambousek ein launenhafter Mensch ist. Daß er gerade vor einer Weile einen Familienkrach hatte …“ „Was für einen?“ „Daß er den eigenen Sohn davongejagt hatte …“ „Wie reagierte Doktor Černoch darauf?“ „Ich würde sagen“, meinte Lucek und nippte von dem Wein, „daß er seine Freude dran hatte. Die Leute langweilen sich manchmal, und da ist ihnen jede Aufregung recht. Richard unterhielt sich mit Doktor Černoch über das Städtchen, seine Geschichte und so. Ich ging los, um noch bei Licht ein paar Fotos zu machen. Das Schloß, den Hof, diese lächerlichen Hirsche aus Stein und so …“ „So daß Sie Herrn Rambousek erst am Samstag gesehen haben. Was haben Sie Freitag abend gemacht?“ „Wir saßen noch eine Weile in einer Kneipe am Markt und gingen dann schlafen.“ „Hotel Rychta?“ „Genau. Und am Morgen“, fuhr Richard Pohan fort, „sind wir abermals zu Rambousek gegangen. Und wieder war er nicht zu Hause. Wo die Eintrittskarten fürs 176
Schloß verkauft werden, riet man uns, in seine Werkstatt zu gehen. Dort war er und sagte, er hätte viel zu tun, er machte eiserne Torbeschläge. Und wir sollten nachmittags wiederkommen.“ „Moment“, unterbrach Lucek seinen Partner. „Er hat uns den Rat gegeben, nachmittags baden zu gehen, er würde uns am Teich abholen. Und das tat er auch. Etwa um fünf.“ „Und Ihr Eindruck von diesem Menschen?“ Lucek zuckte die Achseln, und Pohan sagte: „Kein Interesse für sich selber. Das ist für uns etwas Ungewohntes. Die Leute fühlen sich meistens geschmeichelt, wenn Journalisten zu ihnen kommen. Sie reden zwar anders, aber in Wirklichkeit … Er nicht. Als interessierte ihn überhaupt niemand. Als lebte er in sich und für sich … Ich rede vielleicht ein bißchen verworren …“ „Überhaupt nicht, ganz exakt.“ Exner seufzte. „Soweit man von Menschen überhaupt exakt sprechen kann.“ „Vom Teich nahm er uns dann mit in die Kneipe“, fuhr Richard Pohan fort, „und dort unterhielten wir uns so lange, bis ich erfahren hatte, was ich wissen mußte, um etwas Aussagekräftiges schreiben zu können. Sie haben es gelesen, es ist nicht sehr gelungen, weil es nicht ganz aufrichtig ist“, erklärte Richard Pohan sachlich. „Ich konnte keinen rechten Gefallen an ihm finden. Die Wahrheit über ihn war anders, interessanter, aber schreiben läßt sich das nicht, das ist subjektiv, würde niemanden interessieren, dem Manne würde es schaden, er würde es vielleicht gar nicht verstehen. Das ist eine Sache für die Literatur, nichts für eine Reportage. Mojmír brauchte Fotos seiner Werke. Er versprach uns, er würde Sonntag vormittag zu Hause sein. Wir kamen früh hin, klopften, hämmerten an die Tür. Nichts. Am Samstag hatten wir bemerkt, daß seine Fenster in den Park gingen – als wir uns dort am Freitag und Samstag herumgetrieben hatten. Wir gingen 177
also hinters Schloß und warfen Steinchen und riefen, das mittlere Fenster stand offen, aber niemand meldete sich …“ „Hör mal“, sagte Mojmír Lucek geradeheraus, „wir werden es dem Herrn Kapitän offen sagen: Wir waren ziemlich verärgert. Drei Tage, und es schleppte sich immer noch hin. Und ich wäre mit leeren Händen abgezogen. Im Apparat fast nichts, paar Landschaften und so, Sie haben es ja gesehen. Und ich hatte mich darauf gefreut, paar interessante Bilder zu schießen, weil ich vorher auf Fotos ein paar von seinen Geschöpfen und Bildern gesehen hatte. So fackelten wir nicht lange, eine Leiter stand nahebei, ich sagte zu Richard, wenn er nicht zu Hause ist, dann knipse ich, und wir fahren. Und wenn er oben schnarcht, dann lassen wir ihn schlafen, bis ich paar Bilder gemacht habe. O je“, seufzte Mojmír Lucek auf, „war das ein Schreck, als ich dort ’reinstieg. Sie haben es gesehen, nicht?“ „Nur auf Ihren Fotos.“ „Oh, hat jemand aufgeräumt?“ „Weiß ich nicht. Ich hatte noch keine Zeit.“ „Fünf Vandalen in fleißiger Arbeit. Und warum?“ Michal Exner lächelte traurig. „Das würde ich auch gern wissen. Und warum haben Sie es fotografiert? Für die Presse ist es doch nicht verwendbar.“ „Mir hat es keine Ruhe gelassen. Aber die Leiter haben wir wieder weggeräumt. Sind unsere Fingerabdrücke drauf?“ „Bestimmt“, erklärte Exner zufrieden. „Nachmittags wiederholen Sie das bei uns. Zur Kontrolle.“ „So“, sagte Richard Pohan mit einem Seufzer. „Den Alten hat man also umgebracht. So ein lebensvoller Mensch. So ein Fleiß war in ihm, so ein Tatendrang. Talentierte Menschen“, sprach er weise, „sind in sich gekehrte rotierende Räder, die auf vollen Touren laufen.“ 178
„Damit habe ich“, bemerkte Kapitän Exner und nahm einen Schluck Rotwein, „Gott sei Dank keine persönliche Erfahrung.“
81. Drei Stunden schon saß der Koch Bedřich Rambousek im Dienstzimmer des Leutnants Šlajner, und er hätte aus der Haut fahren wollen. Halbstündig lösten sie sich bei ihm ab und verschwanden wieder, Rambousek ging auf und ab, zuerst wollte er sprechen, aber das interessierte niemanden, dann versuchte er zu schreien, das unterbanden sie energisch. Er hätte ausgespuckt, wenn er sich getraut hätte. Es genügte, daß sie ihm überhaupt nichts sagten. Sie waren gekommen, hatten ihn aus der Küche herausrufen lassen, hatten mit dem Leiter gesprochen, aber mit ihm selber kaum ein Wort. Auf der Fahrt nach Opolná kein Wort. In Opolná war er bereits drei Stunden und hatte nichts erfahren. Sie fragten ihn, ob er Hunger hätte, er sagte, nein, sie fragten ihn, ob er genug Zigaretten hätte, er sagte, ja, obwohl er nur noch drei hatte, dann fragten sie ihn, ob er Durst hätte, den hatte er auch nicht. Jetzt aber hatte er Hunger und Durst, er hätte gern ein Bier getrunken, die Zigaretten waren aufgequalmt, aber sie äußerten sich in dieser Richtung nicht mehr, und Bedřich Rambousek war zu stolz, um etwas zu erbetteln. Wut konnte er haben, dagegen hatten sie nichts einzuwenden. Sie hätten ihm wohl auch erlaubt, mit dem Fuß gegen die schmutzige Wand hinterm Ofen zu treten. Er schrie, er habe Frau und Kind, und sie darauf, das gehe in Ordnung, für sie sei gesorgt, sie hätten seinen Arbeitgeber angerufen. Ob er Frau Korejsová kenne, die kannte er, gewiß, sie arbeitete in der Küche, ja, die würde sich um die Frau und das Kind kümmern, wenn sie in 179
seiner Abwesenheit etwas brauchten. Alles hatten sie geregelt, alles, nur ihn ließen sie hier schmoren. Wenn sie ihm wenigstens in die Fresse hauten. Etwas würde sich dadurch klären. Wenigstens die Beziehung von Mensch zu Mensch. Aber so war es für Bedřich Rambousek nicht auszuhalten. Dann kam ein dicklicher Zivilist und schrieb in eine schwarze Kladde, wie er hieß, wann er geboren war, wo und wie lange er arbeitete, Vater, Mutter, wann er Dienst hatte, wann frei, wann er seine Arbeit aufgenommen hatte. Der Zivilist fragte ruhig und freundlich. Wenn er wenigstens gebrüllt hätte … „Um was geht es?“ schrie ihn Rambousek an. Und der Zivilist blickte ihn mit treuherzigen blauen Augen an und fragte nach der Adresse seiner Mutter. Das war alles, dann ging er. Am Ende wurde er dann nach den drei Stunden Aufregung und Bewegung müde. So daß Rambousek, kurz bevor Kapitän Exner ankam, reif war, entweder durch die Fensterscheibe zu springen oder in dem abgeschabten Sessel einzuschlafen. Als Michal Exner eintrat, flog es Rambousek durch den Sinn: Sieh da, ein weiteres Opfer. Hier werden sie dich ausbügeln, du Freier … Der Freier setzte sich in den zweiten abgeschabten Sessel, Rambousek gegenüber. Er zog sich die Hosenbeine etwas höher, schlug ein Bein über das andere und legte die gefalteten Hände aufs Knie. Seine Schuhe waren gewienert und die Socken genauso dunkelblau wie die Krawatte. Ein Dussel. „Man hat mir gesagt, Herr Rambousek“, begann der Dussel, „daß Sie ein bißchen ungeduldig waren. Aus Prag ist ein langer Weg hierher.“ Er verbeugte sich leicht im Sitzen und stellte sich vor. Rambousek nickte, zum Zeichen, daß er die Entschuldigung annahm. 180
„Ich wollte Sie“, fuhr Exner fort, „nach einigen Kleinigkeiten befragen. Sie haben am Samstag Ihren Vater Boleslav Rambousek besucht. Was haben Sie miteinander besprochen?“ „Ich habe was Häßliches zu ihm gesagt. Mich ärgert es jetzt selber. Der Vater ist eben doch schon alt. Wir sind uns nicht einig geworden.“ „Worüber wollten Sie mit ihm einig werden?“ „Eine reine Familienangelegenheit.“ „Aber für uns ist sie wichtig, Herr Rambousek. Sonst würde ich Sie nicht fragen.“ „Meine Mutter hat mich aufgehetzt, ich soll mir von ihm Geld fürs Auto borgen. Ich brauche noch fünftausend. Das ist doch nicht viel, nicht? Die Mutter sagte, er hat Geld, also soll ich es ihm sagen. Wir verkehrten sehr wenig miteinander. Ein bißchen nur, als ich bei der Fahne war. Vorher hab’ ich ihn überhaupt nicht gekannt. Ich war noch klein, als Mutter ihn verlassen hat.“ „Und er hat Ihnen die Fünftausend nicht geborgt?“ „Nein. Das heißt …“ Bedřich Rambousek winkte ab. „Das war komplizierter. Er kam ins Reden und schimpfte auf Mutter. Mir ist das doch heute ganz Wurscht, Genosse Kapitän, warum er sich vor zwanzig Jahren von ihr getrennt hat oder sie sich von ihm. Aber sie ist meine Mutter. Sie hat mich aufgezogen. Nicht er. Er hat sich nur soviel gekümmert, wie er mußte. Und dann, als ich bei der Fahne war, da wär’s doch blöd für ihn gewesen, wenn er sich gar nicht um mich gekümmert hätte. So hab’ ich ihm also die Meinung gegeigt. Er mir auch. Und dann hab’ ich gesagt, daß ich auf sein Geld – na ja … Ich weiß, das hätte ich nicht sagen sollen, das Geld brauche ich, und er hat es, aber ich bin eben mal so ein Charakter. Er begann mir auf den Leib zu rücken. Da sagte ich noch was zu ihm … Er sprang zum Ofen und warf ein Holzscheit nach mir. Ich wich aus, und das Scheit flog 181
zwischen seine Kinkerlitzchen. Etwas wurde dort zerschlagen oder fiel um, das gab ihm den Rest. Und schon jagte er mich. Das dritte Scheit fing ich auf und warf es zurück. Das hätte ich nicht tun sollen.“ Bedřich Rambousek schüttelte den Kopf. „Ich traf besser, genau auf die Birne. Er machte einen Spektakel vor dem ganzen Schloß. Ich hätte mich zurückhalten sollen, das gebe ich zu. Fünftausend im Eimer. Ich hätte den braven Sohn spielen sollen. Aber das wäre Verstellung, und das kann ich nicht, Genosse Kapitän.“ Michal Exner blickte nachdenklich durchs Fenster, auf die Häuser der gegenüberliegenden Seite des Platzes. „Und dann sind Sie nicht mehr wiedergekommen?“ „Nein.“ „Auch abends nicht?“ „Nein.“ „Auch am Samstag nicht? Am Samstagabend? Haben Sie nicht daran gedacht, sich bei ihm zu entschuldigen?“ „Nein. Auch wenn ich es gewollt hätte – das konnte ich nicht. Samstag und Sonntag arbeite ich durch.“ „Was heißt durch? Ich meine, von wann bis wann?“ „Ja, falls ich mich genau erinnere …“ „Seien Sie so nett. Das würde uns Arbeit bei der Überprüfung ersparen.“ „Bei was für einer Überprüfung?“ „Ihrer Aussage.“ „Ja, sage ich denn aus?“ „Natürlich“, versicherte ihm Kapitän Exner milde. „Nachher diktieren Sie das alles dem Kollegen.“ „Aber … sakra! Was ist mit dem Vater?“ Kapitän Exner seufzte, erhob sich, ging in der Kanzlei auf und ab, rückte unwillkürlich und überflüssig ein Blatt Papier auf dem Tisch gerade und sagte: „Ihr Vater war nicht der Jüngste. Er näherte sich dem Alter, da alle Menschen zu sterben beginnen …“ „Und wann? Und warum diese Komödie?“ 182
„Ihr Vater ist nämlich unter besonderen Umständen gestorben …“ „Unter besonderen Umständen?“ „Ja. Sonst hätten wir uns gar nicht erlaubt … Ihnen sein Ableben in dieser unpassenden Form mitzuteilen …“ „Was ist denn mit ihm passiert, Genosse Kapitän?“ „Jemand hat ihn ermordet, Herr Rambousek …“ „Und wer?“ Kapitän Exner nickte. „Das wissen nur der liebe Gott und der heilige Wenzel, Herr Rambousek …“
82. „Wollen wir nicht ein bißchen Spazierengehen, Genosse Leutnant?“ fragte Michal Exner den Leiter des Polizeireviers Šlajner. „Das Gewitter ist vorbei, und wir müssen frische Luft schöpfen. Moment … Ich möchte mir nur noch mal die Aussage von Frau Rambousková anschauen. Danke.“ Er las das Blatt durch. „Sie haben hier ein Blatt mit dem Monogramm Vau O.“ „Vondráček.“ „So daß uns die gleichen Dinge durch den Kopf gehen. Wollen wir?“ Die Mütze ins Genick geschoben, die Hände leger auf dem Rücken, so führte Šlajner den Kapitän durch ein Gäßchen zwischen den Häusern und den Gärten auf einer Abkürzung zur Schloßmühle. „Ich würde mir gern mal das Haus von diesem Kolář anschauen. Eigentlich nicht seins‚ ich weiß …“ Sie stiegen auf dem Fußpfad zwischen dichtem Gesträuch zum Mühlgraben, überquerten ihn auf zwei schon recht morschen, dicht nebeneinanderliegenden und mit Krampen verbundenen Bohlen. Zwischen wuchernden Brennesseln und Erlengestrüpp folgten sie dem schmalen Pfad vom Mühlgraben zum Bach, über 183
den zwei Bohlen führten, die auf der einen Seite mit einem primitiven Geländer versehen waren. Wenige Schritte jenseits des Baches begann hinter einem halbzerfallenen Zaun ein Garten, ungepflegt, verkommen, zwischen den Sträuchern und den Baumkronen sah man die geschwärzten Bretter einer alten Scheune, den weißlichen, abbröckelnden Putz eines Wohnhauses und darüber das Pappdach. Der Fußweg führte rechts vom Bach weiter, an dem Zaun entlang, der mehr durch die windschiefen Sandsteinpfosten in dem wuchernden Gestrüpp von Brennesseln als durch Zaunlatten gekennzeichnet war. „Das ist das Haus“, bemerkte Šlajner. „Wollen Sie mit ihr sprechen?“ „Nein. Ich möchte mir nur mal anschauen, wo Sie das Beil gefunden haben.“ „Wir können durch den Garten gehen.“ „Gut“, erwiderte Exner und rollte sich die Hosenbeine bis zum Knie hoch, um sie sich nicht im Gras naß zu machen. „Mhm …“, machte er, „Genosse Leutnant …“ „Ja …“ „Was meinen Sie zu dem allem?“ Sie mußten noch über Stücke verrostetes Eisen steigen, die einst ein Türchen gewesen waren, über den Rest eines Pfluges und über ein ausgedientes Wagenrad und um einen umgekippten Bienenstock herumgehen, bis sie auf den Hof gelangten. Die Scheune stand immer noch halb offen, genau so, wie Šlajner sie in Erinnerung hatte. Das Tor war nicht bewegt worden. „Ich weiß nicht … Das Beil war hier … Gehen Sie nicht ’rein, ich hab’ mir einen Floh eingefangen.“ Exner sog den Duft von Nußbaumblättern ein. Sie standen gerade unter einem alten Baum. Er blickte hoch, durch die Krone in den Himmel. „So ein schöner Baum“, sagte er leise, „an einem so traurigen Ort …“ 184
„Das ja“, stimmte Šlajner zu. „Soll ich nachsehen, ob sie zu Hause ist?“ „Wenn es nötig wird, rufen wir sie. Wir gehen zur Mühle, und den weiteren Weg kenne ich schon.“ Der Weg stieg in einem Bogen zum Damm des Teiches an und führte dann auf ihm weiter zur Mühle. „Mit Kolář habe ich gesprochen“, sagte Exner. „Sein Beil … Das ist eine böse Sache …“ „Falls er kein sicheres Alibi nachweisen kann …“ „Das kann er nicht.“ Exner schüttelte den Kopf. „Da müßte den besoffenen Kerl jemand ein paar Minuten vorher oder nachher gesehen haben. Und sich selber melden … Wir werden doch nicht jemand suchen, der einem Verdächtigen und Beschuldigten ein Alibi liefert … Aber vielleicht hat ihn niemand gesehen. Es war schon spät. Wem kann er denn im Park um diese Zeit begegnet sein?“ Er zeigte auf die am Teich entlang zum Tor in den englischen Park führende Kastanienallee. „Ich bin froh, daß es mir gelungen ist, ihn zu uns zu kriegen. Bei seiner Natur. Aber jetzt … Ich freute mich über das Beil. Eine handfeste Sache.“ „Aber jetzt?“ „Mich macht das Geld irre“, sagte Šlajner. „Geld?“ „Daß keins bei Rambousek gefunden wurde, auch nicht in seiner Wohnung.“ „Aber das könnte doch gerade auf Kolář hinweisen.“ „Er ist auch vorbestraft. Aber das waren mehr Lappalien. Felddiebstahl, Gewalttätigkeit, Körperverletzung. Die Wohnung und die Verwüstung drin, das hätte er nicht getan.“ „Wer dann?“ Leutnant Šlajner zuckte die Achseln. „Es ist sonderbar.“ „Das meine ich auch, Genosse Leutnant. Gehen wir durch den Park und weiter aufs Schloß, was meinen Sie?“ 185
„Einverstanden.“ Über dem Teich, über dem Schilf, dort, wo es seicht und sumpfig war, über dem ganzen verträumten Tal des englischen Parks stieg dichter Dunst empor. Sie gingen bis zu der Treppe, die zu der Renaissancepracht des Schloßhofes emporführte. Beide blieben dort unwillkürlich stehen. „Ich glaube, die Bank dort ist trocken. Wollen wir uns nicht ein Weilchen setzen?“ schlug Exner vor. Von hier sah man die Wiese und die zwei Wege, die die schattigen Stellen zwischen den Bäumen verließen. Und ein Stück des Felsens, unter dem sich die künstliche Grotte verbarg. Einen Teil des bemoosten und bereits mit der Landschaft verwachsenen Steins. „Wer hat ihn gehaßt …“, überlegte Exner laut. „Wer? Das hat keiner von auswärts getan, Genosse Leutnant. Wer hat so gut seine Gewohnheiten gekannt? Oder glauben Sie vielleicht, er hat ihn verfolgt? Mit dem Beil in der Hand?“ „Mir will nur nicht in den Kopf, Genosse Kapitän, daß das jemand aus Opolná gewesen sein soll. Weil ich alle kenne. Ich hab’ schon alle für mich durchgenommen, Haus um Haus.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht einmal für mich allein einen Verdacht aussprechen. Sie haben gefragt: Wer mochte ihn nicht? Sie hätten besser fragen sollen: Wer mochte ihn?“ „Also gut: Wer mochte ihn?“ „Da müßte ich nachdenken.“ „Wir reden doch nur so, tratschen ein bißchen.“ „… daß er einen Kumpel hatte … oder Kameraden, Freunde … Nicht, daß ich wüßte.“ „Vielleicht sehnte er sich nicht danach – oder vielleicht doch? Wer weiß.“ Leutnant Šlajner zählte an den Fingern ab. „Vor allem der Doktor aus Prag, der dauernd in der Galerie ’rum186
werkelt. Er hat über ihn in der Zeitung geschrieben, und es heißt, er hätte eigentlich erst Rambousek berühmt gemacht. Es wurde natürlich auch gemunkelt, daß sie halbpart machen.“ „Weiter.“ „Meister Matějka.“ „Der Maler?“ „Ja. Sie kennen ihn?“ „Ich bin mit ihm zusammengetroffen, gestern. Als ich noch Urlaub hatte.“ „Doktor Hauser aus dem Krankenhaus. Chirurg. Seit der Zeit, da Rambousek sich die Hand gebrochen hat. Er hat ihm sogar ein Bild abgekauft. Im Ernst. Eines hat ihm Rambousek für die Hand gegeben, das andere hat der Doktor gekauft. Und dann noch eins von seinen Scheusalen.“ „Wirklich gekauft?“ „Das weiß ich bestimmt. Doktor Hauser hat manchmal so merkwürdige Einfälle“, erklärte Šlajner. „Merkwürdige?“ „Familiensachen.“ Der Leutnant winkte ab. „Er ist der Mann meiner Cousine.“ „Aha“, bemerkte Exner weise. „Dann einige im Schloß. Der Direktor, seine Frau … Dann selbstverständlich einige junge Leute. Die sich für alles Ausgefallene interessieren.“
83. Er mußte zweiundfünfzig Stufen bewältigen. In der Hälfte blieb er stehen und lehnte sich ans Geländer. Niemand konnte von ihm verlangen, nach einer fast durchwachten Nacht die Leistungen eines Spitzensportlers zu erbringen. Leutnant Šlajner verschwand am unteren Ende des Parks. Der Himmel hatte sich aufgehellt, im Westen war er 187
schon blau und löste die Hoffnung aus, daß noch vor Tagesende die Sonne herauskommen würde. Oben öffnete jemand laut ein Fenster. Exner hob den Kopf. Er sah nur Hände, die die äußeren Flügel aufklappten und sie mit Haken sicherten. Oben hatte er größte Lust, die zwei liegenden Hirsche freundschaftlich zu tätscheln, aber ihre steinernen Köpfe schauten so kühl und unbeteiligt drein, daß er es sich versagte. Auch deshalb, weil gerade eine Reisegruppe (offenbar die letzte) einem Mädchen in einem altmodischen Kostüm, das Haar dicht unter den Ohren abgeschnitten, nachdrängte. Sie balancierte auf hohen Absätzen. Exner bedachte kurz, welche Opfer doch viele bringen, um besser auszusehen, als sie vielleicht können oder denken. Dieses Mädchen brauchte für die Schönheit ihrer Beine nicht die Krücken hoher Absätze. Als sie die Tür öffnete, um die Reisegruppe einzulassen, erblickte sie ihn, aber die ganze Zeit, bis die Reisegruppe durch war und sie ihr folgte, schaute sie provokatorisch woandershin. Erst als sie die Tür hinter sich schloß, vergewisserte sie sich, daß er immer noch auf seinem Platz und sichtbar war. Er betrachtete die Kanone aus dem siebzehnten Jahrhundert. In einem alten Rohrsessel, der einst weiß war und von dem der Lack bereits abplatzte, saß einer von Vlčeks Jungs. Er war für die Wohnung von Boleslav Rambousek zuständig, trug Zivil und las in einem Buch. Er ähnelte mehr einem Liebhaber von guter Lektüre nach ganztägiger Rackerei. Er grüßte Kapitän Exner mit einem Kopfnicken. „Es ist offen …“ Niemand verstand so gründlich aufzuräumen wie Oberleutnant Vlček. Nirgends ein Stäubchen. Die ramponierten Statuen in einem Winkel aufgestellt, die zerrissenen Bilder auf einem Stapel geschichtet. Die ver188
schmierten Farben grob aufgewischt. Michal Exner starrte, die Hände auf dem Rücken, in die hervorquellenden Augen der Scheusale in Hüten und ohne Hüte, dieser Affen-, Menschen-, Sagen- und Märchenwesen. Er beschaute sich die in lustigen Farben gemalten Bilder, von denen die Zipfel der zerfetzten Leinwände herabhingen. Auf dem letzten, dem auf der Staffelei, waren sie noch nicht trocken. Er tippte mit dem Finger dran. Kleine Abdrücke blieben zurück. Er öffnete das mittlere Fenster, zu dem freier Zutritt war. Aus dem Park und aus den Wäldern wehte warme Luft. Weit konnte man nicht sehen, aber der Dunst löste sich langsam auf. Exner stützte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett. Die dunklen Blätter des Efeus glänzten frisch und zutraulich. Nirgends waren Spuren von einer Leiter, der Pfad unten war eng und undeutlich, der Felsen darunter steil, und die Masse des Schlosses über dem Fenster himmelaufragend. In seinem Rücken meldete sich der Mann, der die Tür bewachte: „Haben Sie einen Wunsch, Genosse Kapitän?“ Michal Exner überlegte eine Weile. „In der Galerie arbeitet ein Doktor Medek. Vielleicht ist er noch dort. Könnten Sie ihn mir herrufen?“ Er setzte sich an den Eßtisch, um den ganzen Raum überschauen zu können. Trotz der Fülle von Möbeln und des Sammelsuriums von Sachen herrschte hier eine gemütliche Atmosphäre. An der Decke irrte eine Wespe herum. Ihr behagte es nicht in dem Terpentingestank, sie suchte einen Weg ins Freie. Sie fand das offene Fenster, flog versuchsweise an, kehrte zur Decke zurück und flog in einem großen, elegant geschwungenen Bogen hinaus zu interessanteren Gerüchen. Exner schaute sich um und seufzte. Ja, die Dinge waren gewissermaßen objektiv auf ihren Platz zurückge189
kehrt. Hier gab es nicht die geringste Unordnung und eigenwillige Aufgeräumtheit, wie es das Alltagsleben mit sich bringt. Das Werk Oberleutnant Vlčeks und seiner Jungs hatte die letzten Spuren des Lebens von Boleslav Rambousek, so wie sie am Rande zurückbleiben, weggewischt. Man hörte das Öffnen der Außentür, danach ein Anklopfen. „Ja …“, sagte Exner. Doktor Medeks Glatze blitzte auf, und sein Schnurrbart, mit dem er kunstvoll die hervorstehende Oberlippe verdeckte, wackelte. „Ich bin Doktor Medek“, sagte er. „Ich bin Kapitän Exner“, stellte dieser sich vor und stand auf. Er ging dem Eingetretenen entgegen und schüttelte ihm die Hand. Dann zeigte er auf das verbliebene Werk von Boleslav Rambousek, „Ich habe gehört, Sie sind sein besonderer Bewunderer. Was sagen Sie dazu?“ Doktor Medek atmete hörbar aus. „Wer hat das getan?“ „Das wissen wir nicht.“ „Das ist ja …“ Er rückte sich die Brille zurecht. „Schrecklich ist das. Der reinste Vandalismus …“ „Ich glaube, kein einziges Bild ist unversehrt geblieben.“ „Das ist doch … Ich hatte gedacht …“ „Was hatten Sie gedacht?“ „Daß ihn jemand aus Haß oder wegen Geld umgebracht hat … Aber das scheint mir doch …“ „Wir haben kein Geld gefunden.“ „Das bedeutet also …“ „Für uns – Raubmord.“ „Aber“, setzte Doktor Medek an und breitete die Arme aus, „verzeihen Sie, Genosse Kapitän, das ist kein Raubmord! Das ist ein Racheakt! Das ist die psychopathische Tat eines Individuums mit krankem Gehirn!“ 190
„Dieses kranke Gehirn hat das Geld nicht vergessen. Übrigens – Sie haben Herrn Rambousek offenbar gut gekannt, hatte er überhaupt Geld?“ „Aber gewiß doch. Genug.“ „Wissen Sie, wieviel?“ „Das weiß ich natürlich nicht. Er hat es nicht ausgehalten, nichts zu tun. Und er hat sich gut bezahlen lassen. Für Bilder, Skulpturen, für Schnitzereien, Tischlerarbeiten, für Schlosserarbeiten und auch fürs Schustern.“ „Was hat er mit dem Geld getan?“ Doktor Medek schüttelte den Kopf. „Keiner von uns ist ohne Fehler. Ich glaube, er war geizig. Manchmal hab’ ich mir darüber ernsthaft Gedanken gemacht. Vielleicht deshalb, weil er eigentlich immer – mit Ausnahme der letzten Jahre – am Rande der Existenz lebte.“ „Sie sagen, er war sehr arbeitsam?“ „Das war er. Schauen Sie, Genosse Kapitän, man könnte sagen, daß ich ihn zu dem gemacht habe, was er war. Ich und einige andere, die ich auf Rambousek aufmerksam gemacht hatte. Dank hatte ich nie von ihm erwartet. Ich hatte es nicht für ihn getan, für einen Reparaturhandwerker, sondern für sein beachtenswertes Werk. Sehen Sie sich diese Figuren an. Sie sind in einem furchtbaren Zustand. Aber beachten Sie die Phantasie des Schnitzers, den Sinn fürs Detail und die Asymmetrie in der Symmetrie. Zum Beispiel dort die Hände, die halbe Drehung des Körpers, zu der ihn der natürliche Wuchs des Holzes inspirierte. Ich weiß nicht, ob Sie wenigstens flüchtig seine Leinwände betrachtet haben …“ „Flüchtig.“ „Sie haben die Farben gesehen. Es ist begreiflich, daß einfache Leute bunte Farben lieben, bis hin zum Kitsch. Und beachten Sie …“ Er trat an die Bilder heran. „Darf ich?“ „Selbstverständlich.“ 191
„Schauen Sie hier.“ Doktor Medek holte ein Bild nach dem anderen hervor und drehte es Exner zu. „Wie er diese überaus bunten Töne mit einem ganz und gar nicht alltäglichen Sinn für das Farbenmosaik auswägt. Sie haben nicht den Eindruck eines Gekleckses. Hier: Das ist ein lustiges Bildchen, das eine lustige Begebenheit vorführt; begreifen Sie?“ „Begreife ich. Es ist also sehr schade um Boleslav Rambousek.“ „Ja“, und Doktor Medek hob ernst das Kinn. „Sehr schade. Wenn er früher angefangen hätte … Wenn er länger gelebt hätte …“ „Wie ist ihm eigentlich der Gedanke gekommen, sich aufs Malen zu verlegen? Sie sagen: er hat spät angefangen?“ „Mir hat er gesagt, er hätte einmal genug Geld gehabt, um sich Leinwand und Farben kaufen zu können. Und sein Freund war der hiesige Maler Matějka.“ „War er sein Lehrer?“ „Soweit ich weiß, hatte Herr Matějka zu den künstlerischen Bemühungen von Rambousek ein freundschaftlich-nachsichtiges Verhältnis. Er hielt ihn für einen harmlosen Irren.“ „Herr Matějka ist ein guter Maler?“ „Gewiß, Genosse Kapitän.“ „Sie lieben Herrn Matějka nicht allzusehr?“ „Aber nicht doch“, verwahrte sich Doktor Medek erstaunt. „Sie haben mit Herrn Matějka wohl noch nicht gesprochen? Er ist ein sehr intelligenter, geselliger Mann. Von Zeit zu Zeit besucht er mich in der Galerie, wir sprechen über Bilder, Maltechniken, suchen die Kopien von Originalen. Er ist ein hervorragender Kenner der hiesigen Schloßgalerie und hat mir viele wertvolle Ratschläge und Anstöße gegeben.“ „Aha“, sprach Michal Exner. „Kommen Sie, schauen Sie sich etwas an, Herr Doktor …“ 192
Er führte Medek zu dem angefangenen Bild auf der Staffelei. „Könnten Sie einschätzen, wann Rambousek zuletzt gemalt hat?“ „Aber nur sehr annähernd …“ „Natürlich, nur annähernd.“ Michal Exner zuckte die Schultern. „Schließlich handelt es sich nicht um eine Expertise. Eher um meine momentane Neugier.“ „Sie erlauben.“ Doktor Medek trat an das Tischchen mit dem Malgerät und den Farben heran. Er nahm einen Spachtel, einen Lappen, Terpentin oder so etwas und machte sich an die Untersuchung. „Das wird eine sehr annähernde Schätzung, Genosse Kapitän.“ „So gut es eben geht …“ „Die blaue Farbe etwa eine Woche alt, ebenso die grüne, die rote vielleicht etwas weniger … diese Spritzer …“ „Ja, die interessieren mich eigentlich am meisten.“ „Mehr als zwei Tage … weniger als sechs …“ „Und Ihre Gesamtansicht, Herr Doktor?“ „Worüber?“ „Über den Mord“, sagte Exner trocken. „Über den Raubmord.“ „Ich? Ansicht? Ich kann doch nicht eine Theorie entwickeln, wenn ich keine Unterlagen habe. Ich weiß nichts davon.“ Er verstummte. Stand immer noch an dem Bild, in der einen Hand den Lappen und in der anderen den Spachtel. Kapitän Exner trat ans Fenster, dann zur Tür und zurück. Und schaute hinaus, Medek den Rücken zuwendend. „Hier ist es sehr schön. Fast beneide ich Sie, daß Sie jedes Jahr für einige Wochen herfahren können.“ „Ja. Ich habe hier immer ein Stück positive Arbeit geleistet.“ „Ich denke jetzt nicht so sehr an Ihre Arbeit, Herr Doktor …“ „Wie bitte? Was meinen Sie dann?“ 193
„Was Sie hier außerhalb Ihrer Arbeit getan haben.“ Doktor Jaromír Medek erbleichte, und es war nicht erkennbar, ob aus unterdrückter Empörung oder aus Verlegenheit. Übrigens sah das Exner nicht, weil er immer noch aus dem Fenster schaute. Er hatte es nicht als Frage gesagt und schien auch gar nicht so sehr auf eine Antwort zu warten, denn er fuhr fort: „Mit jemandem müssen Sie hier doch verkehrt haben, gesprochen haben, zum Abendessen gegangen sein, Karten oder Schach gespielt haben …“ „Ein sehr enger Kreis von Menschen.“ „Und Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen“, sagte Exner und drehte sich langsam um, „daß gerade aus diesem engen Kreis von Menschen jemand …“ „… Rambousek erschlagen hat?“ ergänzte Doktor Medek leise, und seine Glatze glänzte noch stärker. Er trat von einem Bein aufs andere. Starrte auf die Gegenstände in seinen Händen, legte sie zurück auf das Tischchen. Er strich sich den Bart. „Der Gedanke ist mir schon gekommen …“, gab er leise zu. „Na und?“ „Gerade aus diesem Kreis von Menschen sieht keiner nach einem Raubmörder aus.“ „Haben Sie eine Vorstellung davon, Herr Doktor, wie ein Raubmörder aussieht?“ Doktor Medeks Augen weiteten sich vor Staunen, er schüttelte den Kopf. „Also …“ „Sie wollen offenbar sagen“, unterbrach ihn Michal Exner, „daß diese Vorstellung vor allem ich haben müßte?“ „Ich bin gewissermaßen … Fachmann …“ „Auf einem anderen Gebiet. Sie auf dem des Malens und ich auf dem der Raubmorde.“ Doktor Medek bemühte sich um ein Lächeln, aber es gelang ihm nicht. „Sie haben recht“, sagte Exner. „Nun, Herr Doktor, was haben Sie am Samstag gemacht?“ 194
„Ein Verhör?“ „Ein vorläufiges“, stimmte Kapitän Exner mit einem Achselzucken zu. „Das ist das Schicksal meines Berufs. Was haben Sie Samstag nachmittag und abends getan?“ „Ich …“ Doktor Medek errötete. „Nachmittags war ich baden …“ „Wo?“ „Im Teich oberhalb der Mühle, genauso wie …“ „Mit wem?“ unterbrach ihn Exner. „Mit den Geschwistern Murš. Übrigens kennen Sie …“ „Und dann?“ „Sind wir zum Abendessen in die Schloßweinstube gegangen und anschließend in die ‚Waldbaude‘ gefahren.“ „Mit Ihrem Wagen?“ „Ja.“ „Und von dort?“ „Ich hatte gedacht, Sie …“ „Was?“ „Sie seien informiert.“ „Teilweise“, räumte Exner ein. „Wie lange waren Sie dort, und wohin sind Sie dann gefahren?“ „Wir sind dort ungefähr bis elf Uhr gewesen – oder auch zwölf, ich habe noch die Geschwister Murš nach Meziboří gebracht und bin in meine Untermiete zurückgekehrt.“ „Um wieviel Uhr sind Sie nach Hause gekommen, also in Ihre Untermiete?“ „Daran erinnere ich mich nicht. Ich nehme an, kurz nach zwölf.“ „Hat jemand Sie gesehen, als Sie nach Opolná zurückkehrten? Haben Sie jemanden gesehen?“ „Ob mich jemand gesehen hat“, überlegte Doktor Medek, „weiß ich nicht. Selber habe ich sicherlich jemanden gesehen, aber ich habe nicht darauf geachtet.“ „Das verstehe ich nicht recht.“ 195
„Ich nehme an“, sprach Doktor Medek mit vorgetäuschter Geduld, „daß mich jemand hat durch die Stadt fahren sehen. Ich habe natürlich auf die Fahrbahn aufgepaßt, und so …“ „Das genügt. So daß Sie … etwa von zwölf an kein Alibi haben?“ „Warum sollte ich eines haben?“ „Und warum nicht?“ sagte Exner liebenswürdig. „Es ist weder Ihre Schuld noch Ihre Unschuld erwiesen. Bei wem wohnen Sie?“ „Bei Frau Šustrová, Lehrerin an der Musikschule, Witwe des hiesigen Apothekers. Das ist das Haus unterm Marktplatz links. Praktisch unterhalb des französischen Gartens.“ „Vielleicht hat sie Sie kommen hören.“ „Kann sein. Aber in ihren Fenstern war es dunkel.“ „Wie war Ihr Verhältnis zu dem Betroffenen? Freundschaftlich?“ „Das kann man nicht so formulieren.“ „Wie würden Sie es also formulieren?“ „Wohlwollend.“ „Und seines zu Ihnen?“ Doktor Medek lächelte unmerklich. Es war mehr ein Hauch von Trauer. „Ich fürchte … er nahm mich nicht ernst.“ „Aber Sie haben ihn doch, wie Sie gesagt haben, zu dem gemacht, was er war.“ „Ja. Und das stimmt. Aber ihm war das egal.“ „Sind Sie sich dessen sicher? Man hat mir gesagt, er liebte das Geld. Dafür sollte er doch vor allem Ihnen verbunden sein.“ „Auch das war ihm egal. Schauen Sie, ich bin überzeugt, daß ihm an Geld überhaupt nichts lag.“ „Andere sagen etwas anderes.“ „Natürlich“, meinte Doktor Medek, „sie gehen von ihrem subjektiven Blick auf die Welt aus. Nicht von sei196
nem. Glauben Sie mir, ihm lag gar nichts an Geld. Er hatte nur Freude dran, weil das die ganze Stadt reizte. Die ganze Umgebung. Wenn Sie sich die Arbeit machen und zusammenrechnen, wieviel er eigentlich verdient hat, werden Sie zu dem Schluß gelangen, daß es nicht wenig war, aber wieder auch nicht so viel mehr, als er bei seinem Fleiß durch Gelegenheitsarbeit verdienen konnte. Seine Bedürfnisse waren gering. Und seine Sehnsucht, die Leute zu provozieren, maßlos.“ „Wir haben aber kein Geld gefunden“, konstatierte Kapitän Exner trocken. „Das hab’ ich mir gedacht.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Daß ihn jemand wegen des Geldes umgebracht hat. Die Gerüchte über seinen Reichtum wuchsen sich zu Legenden aus.“ „So ist das immer“, sagte Kapitän Exner. „Übrigens: Haben Sie Rambousek in der ‚Waldbaude‘ gesehen?“ „Hab’ ich.“ „Mit wem saß er dort zusammen?“ „Er war allein.“ „Wie das?“ „Er saß immer allein.“ „Sind Sie sich sicher, daß er allein dort saß?“ „Sicher nicht, Genosse Kapitän. Ich glaube, gerade am Samstag sprach er mit jemandem. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, mit wem. Ich habe nicht darauf geachtet.“ Kapitän Exner ging zweimal im Raum auf und ab. Er blieb vor einer ramponierten Schöpfung von Boleslav Rambousek stehen. „Es ist doch unmöglich“, sinnierte er, „daß dieser Mensch in der ganzen Stadt nicht einen einzigen Freund gehabt haben sollte. Einen Vertrauten. Einen Kameraden aus der Kindheit. Seine Einsamkeit war unglaubhaft. Verdächtig. Eigenartig. Ist es nicht eher eine Legende?“ „Er unterhielt sich schon mit den Leuten. Aber be197
freundet war er mit niemandem. Doktor Černoch, Direktor des Museums, ein Freund aus der Kindheit. Sie wechselten gelegentlich ein paar Worte. Übers Wetter. Was er im Museum reparieren oder bauen könnte. Herr Matějka, der hiesige Kunstmaler. Auch ein Freund aus der Kindheit. Dann und wann holte er sich bei ihm Farben, wenn sie ihm ausgegangen waren. Übrigens hatte ihn ja gerade Matějka in die Malerei eingeführt. Die Kalábs. Bei denen saß er manchmal in der Kanzlei bei einer Tasse Kaffee. Aber das waren erst recht nicht seine Kumpel. Nur Bekannte. Und keine sehr vertrauten.“ „Und Sie zum Beispiel?“ „Das gleiche.“ Und Doktor Medek schüttelte den Kopf. „Was ist?“ fragte Exner. „Ach, mir ist nur was eingefallen …“ „Darf ich wissen, was?“ „Maler … er war nicht nur Schnitzer, sondern auch Maler, und die Entscheidung fällt schwer, was bei ihm überwog. Maler also – und er interessierte sich überhaupt nicht für die hiesige Galerie, die ganz hervorragend ist. Ein völlig unmittelbares Herangehen an das Schaffen. Bilder betrachtete er wie Stühle oder wie Melonen. Aber das ist für Ihren Beruf wahrscheinlich unwesentlich. Ich meine diese Überlegung.“ „Das wissen nur der liebe Gott“, sagte Kapitän Exner seufzend, „und der heilige Wenzel.“
84. „Ich glaube“, fuhr Kapitän Exner nach einer Weile fort, „Sie haben, ohne beruflich dazu verpflichtet zu sein, nach dem Mörder gesucht.“ „Hab’ ich auch.“ „Und auf wen sind Sie gekommen?“ „Auf niemanden.“ 198
„Und Sie selber?“ Doktor Jaromír Medek erbleichte. Er schüttelte den Kopf. „Das freut mich aber“, sprach Exner zufrieden, „daß es bei Ihnen so ausgefallen ist.“ Er reichte Medek die Hand und schüttelte sie herzlich. „Ich danke Ihnen und auf Wiedersehen, Herr Doktor …“ Doktor Medek ging zur Tür und verließ den Raum, die Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Kapitän Exner wischte sich die Hand, die er Medek gereicht hatte, an seinem Taschentuch ab. „Warte … hier muß die Leiter gestanden haben …“, sagte jemand unter dem Fenster. Exner beugte sich hinaus. Ein sehr magerer und langhaariger Bursche, in gebeugter Haltung und mit schlaksigen Bewegungen, zeigte etwas auf der Erde einem genauso mageren, aber weit weniger langhaarigen Mädchen. Das Mädchen war ungeduldig und versuchte ihn an der Hand wegzuziehen. „Komm …“ Exner räusperte sich. Die beiden blickten auf, und das Mädchen stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus. „Verzeihung“, entschuldigte sich Kapitän Exner. „Wir sind hier auf einem Spaziergang …“, stammelte der junge Mann. „Wollen Sie heraufsteigen? Die Leiter ist wieder an ihrem Platz.“ „Nein“, sagte der Junge und bekam rote Ohren. „Wir haben nur so …“ „Und wer seid ihr?“ fragte Michal Exner freundschaftlich. „Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns bekannt machten.“ „Ich bin Kaláb, Martin Kaláb. Und das ist Věra … Věra Finková.“ „Ihr Vater ist der Verwalter dieses Schlosses?“ „Ja.“ „Ich bin Kapitän Exner.“ 199
„Das wissen wir“, sagte das Mädchen. „Wir wußten nur nicht …“ Sie stockte. „Was wußten Sie nicht?“ „Daß Sie bei Herrn Rambousek in der Wohnung sind.“ „Sind Sie auch manchmal bei ihm gewesen?“ „Nein“, sagte Martin Kaláb. „Was wollten Sie sich anschauen?“ „Wie die Leiter gestanden hat.“ „Sie haben die Leiter gesehen?“ „Klar. Wir haben gesehen …“ Martin Kaláb hielt inne. „Würden Sie es schaffen, die Leiter heraufzusteigen?“ „Aber sicher“, erklärte sie. „Das heißt …“ „Wissen Sie, wo sie ist?“ „Ja.“ „Dann holt sie euch schnell“, sagte Kapitän Exner, „und klettert ’rauf zu mir.“
85. Sie keuchten mehr vor Aufregung als von der Anstrengung. „Setzt euch. Dort oder auf die Couch. Ferien?“ „Ja“, sagte das anständig erzogene Mädchen. „Ich mach’ einen Arbeitseinsatz auf dem Schloß. Als Führerin.“ „Und Martin?“ „Macht auch Führungen.“ Kapitän Exner langte in die Tasche. Holte eine Schachtel Zigaretten hervor und spielte mit ihr. „Ich müßte ohnehin mit Ihnen beiden reden. So daß es egal ist, ob Sie mich gefunden haben oder ich Sie. Sie haben jemanden die Leiter hochsteigen sehen?“ „Ja“, sagte sie. „Und wen?“ „Diese Journalisten“, erklärte Martin Kaláb. „Die zu Herrn Rambousek gekommen waren.“ 200
„Wie kommt’s, daß Sie sie gesehen haben?“ „Wir … Ich … Nämlich, das ist so“, stotterte Martin Kaláb. „Wenn wir frei haben, gehen wir immer spazieren. Věra und ich, und da setzen wir uns gern dahin …“ Er deutete mit dem Kopf die Richtung an. „Ein Stückchen unterhalb der Schloßmauer. Dort ist eine Bank.“ „Führt ein Weg vorbei?“ fragte Exner. „Ein Weg? Nein, da ist nur eine Bank.“ „Wissen Sie“, sagte Věra Finková mit der weisen Ruhe einer verständigen Frau, „Martin hat diese Bank gemacht. Von dort sieht man den Park … Nach allen Seiten.“ „Wißt ihr was? Hier habt ihr’s euch schon angeschaut. Und schließlich ist hier nichts Schönes zu sehen. Jetzt werde ich wiederum mit euch gehen, zu der Bank und in den Park“, schlug Michal Exner vor. „Und was ist mit der Leiter?“ fragte Martin Kaláb. „Soll ich sie wieder zurückbringen!“ „Warum? Wir werden doch nicht ums ganze Schloß herumgehen.“ Und Věra fügte hinzu, als bestünde nicht der geringste Zweifel am persönlichen Mut des Kapitäns Exner: „Ich steig’ als erste ’runter!“
86. Martin Kaláb hatte den Platz für die Bank auf das beste ausgesucht. Es war eine kleine Plattform in dem verwitterten Fels unter der nordöstlichen Ecke des Schlosses. Wenn dort nicht dichte Fliederbüsche gewuchert hätten, wäre die Bank von allen Fenstern der nördlichen und östlichen Front des Schlosses zu sehen gewesen. Es hätte sie sogar derjenige sehen können, der sich über die Brüstung auf dem Hof gebeugt hätte. Links unten schimmerte zwischen den Zweigen die aus dem Park auf den Hof führende Treppe durch, dann die Wiese und die zwei Wege – der längs des Baches und der nähere, 201
der zur Treppe führte. Und höher über den Bäumen ein Stück der Parkmauer, das Schilf des Teiches, die Kronen der Kastanienallee am Teich. Der Weg zu dieser Plattform war bemerkenswert. Der sich unter den Fenstern von Rambouseks Wohnung dahinwindende Pfad drehte sich nach einigen Schritten jäh hangabwärts und verlor sich im Gebüsch. Aber diesen Weg gingen sie nicht. Sie drängten sich zwischen den Büschen auf einer Art kleinen Stufen in dem verwitterten Fels hindurch, die offenbar Martin Kaláb angelegt hatte. Die Plattform war zwei Meter lang und einen halben breit, und sie war saubergefegt. Die Bank selber – zwei Meter lange Bretter, in den Hang eingestemmt. Das dritte Brett diente als Rückenlehne, es war mit einbetonierten Schrauben am Fels befestigt, und das war Martin Kalábs Werk. Die Bretter waren glattgehobelt und gestrichen. „Das ist ausgezeichnet“, sagte Michal Exner zufrieden und machte es sich auf der Bank bequem. „Es fehlt nur noch eine Lehne für die Arme.“ Martin Kaláb lief rot an. „Aber … setzen Sie sich doch, Věra … aber, Martin, Sie haben von der Aussicht gesprochen. Und haben mich in ein Versteck geführt. In eine Höhle … Das wäre doch ein Versteck für den Räuber Schinderhannes …“ Kapitän Exner hielt mitten im Satz inne. Er strich sich die Haare an den Ohren glatt. Kratzte sich auf der Nase. „Von hier sieht man die Leiter nicht …“ „Wir hatten sie gehört, und da sind wir hingegangen“, sagte sie. „Die Leiter kann man von hier aus nicht sehen“, wiederholte Kapitän Exner langsam, „das nicht. Von hier sieht man woandershin … Aber es war Nacht. Kann sein, eine helle Nacht. Vor dem Gewitter. War am Samstag eine helle Nacht?“ „Ja“, antwortete Martin Kaláb und biß sich auf die Lippen. 202
Und Exner schaute Věra Finková an. „Nur …“, sagte sie langsam und schlug die Augen nieder, „unsere Eltern wissen nicht, daß wir hier waren …“ „Das werden sie auch nicht erfahren“, versprach Kapitän Exner.
87. Die Tür des archäologischen Depositoriums im zweiten Stock des Schlosses flog auf. „Einen Kognak!“ rief Doktor Jaromír Medek und stürzte herein. „Soeben habe ich ein Verhör dritten Grades durchgemacht! Rette sich, wer kann!“ Erich Murš blieb der Bissen kalten Huhns im Halse stecken, er hustete, daß sich seine Brille beschlug. Seine Schwester leckte sich die Finger ab und sah tadelnd Doktor Medek an. „Herr Doktor“, sagte sie, „tun Sie mir aber leid! Ein Kognak würde wirklich nicht schaden. Nur haben wir momentan keinen da.“ „Dann hole ich welchen aus der Galerie“, erbot sich bereitwillig Doktor Medek, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Erich Murš hustete sich aus und putzte sich die Brille. „Sieh mal an, das hat er mir noch gar nicht gesteckt, daß er Kognak hat … Da fällt mir grade was ein. Wieso bist du erst nachmittags gekommen, obwohl du versprochen hast, mir Mittagessen zu bringen? Dich wird doch nicht das Gewitter abgeschreckt haben …“ „Das hat es.“ „Du lügst“, sagte er ruhig. „Manchmal lügst du schrecklich. Aber immer schrecklich blöd.“ Sie biß in die zweite Hälfte des Hühnerschenkels. „Du wirst dich wundern, aber dieses Verhör dritten Grades habe gestern abend ich durchgemacht.“ „Das hab’ ich mir gedacht“, entgegnete Erich kalt. „Abends und in der Nacht. Das kann ich mir vorstellen …“ 203
Sie lächelte und leckte sich die Lippen. „Kannst du nicht …“ Erich Murš sprach zuckersüß: „Du Biest …“ Sie ergriff den Knochen, um sich zu verteidigen. Aber ins Depositorium segelte Doktor Medek mit der Flasche herein. Er portionierte die Flüssigkeit in die Gläser, sie tranken. „Es ist schwer“, konstatierte Doktor Medek, „schwerer, als ich mir vorstellen konnte.“ Und enttäuscht fügte er hinzu: „Wir haben uns so unterhalten, und nichts …“ „Da haben wir“, unterbrach ihn Erich Murš, „mit den Verhören durch gewisse Kriminalisten gewisse Erfahrungen.“ „Gewiß, Erich“, sagte Lída mit vorgetäuschter, desungeachtet entzückender Demut. „Wie gefällt denn Ihnen dieser Mensch?“ „Er spielt sich als Elegant auf“, erwiderte trocken Doktor Medek. „Ich würde sagen, er ähnelt dem Kerl, mit dem Sie gestern gesprochen haben, Lída, auf der anderen Seite des Teiches. Der Sie nach dem Weg gefragt hat.“ „Der sah nicht schlecht aus“, meinte Lída Muršová. „Den muß ich mir genauer anschauen.“ „Lieber nicht“, warnte Doktor Medek sie gewissermaßen in Vertretung des leiblichen Vaters. „Lieber nicht, solche Leute hält man sich besser weit vom Leibe.“ „Was für solche?“ interessierte sie sich. „Kriminalisten, meine ich.“ Erich Murš trank rasch aus und hustete ein zweites Mal.
88. Jeder andere wäre zumindest überrascht gewesen. Fast jeder wäre umgekehrt und hätte den Wächter an der Tür gefragt, wo der Mensch sei, der im 204
Raum sein sollte und plötzlich nicht mehr drin war. Ob sich der Posten nicht geirrt und den Weggehenden übersehen habe. Nicht aber Leutnant Beránek, als er in die Wohnung von Boleslav Rambousek trat und dort keinen Kapitän Exner antraf. Ruhig schaute er sich um, betrachtete die auf dem Tisch liegengebliebene Zigarettenschachtel, schaute aus dem Fenster und gewahrte die Leiter. Er seufzte. Er kehrte zur Tür zurück und machte sie halb auf. „Genosse …“ „Ja, Genosse Leutnant?“ „Ich habe festgestellt, daß in dem Bistro neben der Weinstube Pilsner verkauft wird. Heute komm’ ich nicht mehr zum Abendessen. Könnten Sie mir zwei Flaschen Pilsner und ein Paar Würstchen mit Senf holen? Oder eine Wurst mit Hörnchen?“ „Und der Genosse Kapitän?“ „Der ist hier nicht.“ „Das verstehe ich nicht, Genosse Leutnant.“ Beránek öffnete weit die Tür. „Überzeugen Sie sich, daß er nicht hier ist. Ich muß auf ihn warten.“ „Aber …“, stammelte der Polizist. „Er ist doch nicht weggegangen … Er ist doch“, und das schrie er fast, „Genosse Leutnant, er ist doch nirgends hingegangen! Ich schlafe doch nicht! Ich kann doch noch sehen! Jesusmaria!“ „Das geht in Ordnung“, beruhigte ihn Beránek. „Hier haben Sie zwanzig Kronen. Ich warte hier auf ihn, er kommt bestimmt.“ Und Leutnant Beránek klopfte dem Wachtmeister auf die Schultern. „Der verliert sich nicht“, versicherte er fast traurig. Und schüttelte den Kopf. „Ach wo … so was kann gar nicht passieren …“
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89. An Leutnant Beráneks Worten war viel Wahres. Denn in diesem Augenblick saß Kapitän Exner auf der von Martin Kaláb angefertigten Bank und sagte: „Sie haben wohl Angst …“ „Na ja …“, gab Věra leise zu, „das war ja auch gespenstisch.“ „Wodurch?“ „Die Gestalt war ganz allein. Durch den Park gehen auch nachts Leute. Und abends. Aber selten geht jemand allein.“ „Ach nein“, widersprach Martin Kaláb, „so doch nicht, Věra. Der wirkte nicht dadurch gespenstisch, daß er allein ging …“ „Moment“, unterbrach ihn Kapitän Exner. „Also zuerst: sie ging, er ging, es ging. Werden Sie sich zuerst über das Geschlecht einig.“ „Ich denke“, überlegte Martin, „es war ein Er … Aber es kann auch eine Sie gewesen sein.“ „Oder auch ein Es, ein Gespenst.“ „Ein Gespenst nicht.“ Martin Kaláb lachte zaghaft. „Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ein Gespenst aussieht. Und dabei bin ich auf einem Schloß geboren.“ „Ein Gespenst“, belehrte ihn Michal Exner, „sieht gespenstisch aus.“ „Also ein Gespenst war es nicht“, berichtete Věra. „Und es war wohl ein Mann, denn er hatte kurzes Haar. Die Gestalt hatte kein langes Haar, ich meine bis auf die Schultern. Vielleicht hatte er sogar was auf dem Kopf. Eine Mütze oder so was. Und ich weiß jetzt, warum er gespenstisch wirkte.“ „Ja?“ „Weil er langsam ging.“ Kapitän Exner seufzte leicht. „Sollen wir es noch mal von Anfang an durchnehmen? Sie saßen hier und plauderten … Wie konnten Sie da von unten Schritte oder ein anderes Geräusch gehört haben? Wie haben Sie geplaudert und wie war das Geräusch?“ 206
„Wir haben in diesem Augenblick“, sagte Martin Kaláb, „eigentlich nicht sehr geplaudert …“ „Ja“, ergänzte sie ihn, „in diesem Augenblick schwiegen wir gerade, und das Geräusch … das läßt sich schwer beschreiben. Das Knacken von Zweigen, das Tappen von jemandem über den Weg, Schritte, Atmen, lautes Atmen, wie wenn jemand davonläuft. Aber nur eine Weile. Dann haben wir hinuntergeschaut, uns hat es nicht sehr überrascht …“ „Und warum nicht?“ „Wir sind hier recht oft“, erklärte Martin Kaláb. „Und viele kehren aus der ‚Waldbaude‘ vom Tanz durch den Park heim. So haben wir gewöhnlich hingeschaut. Und die Gestalt ging dort auf dem Weg, zu der Treppe, dort beugte sie sich vor …“ „Beugte sich vor?“ „Oder so was Ähnliches. Als würde sie sich einen Schnürsenkel zubinden oder so was.“ „Moment! Wo beugte sich die Gestalt vor?“ „Bevor sie auf die Treppe trat. Dicht davor. Deshalb ist mir der Schnürsenkel eingefallen. Einen Schnürsenkel bindet man doch gern auf einer Treppe zu.“ „Das tue man“, stimmte Exner zu. „Und weiter?“ „Und dann stieg die Gestalt die Treppe hinauf. Recht langsam. Aber wiederum nicht so langsam, daß man von Trödeln sprechen könnte. Sie blieb für eine Weile auf dem zweiten Treppenabsatz stehen. Und dann stieg sie weiter bis auf den Hof.“ „Das Schloß ist um diese Zeit geschlossen?“ „Ja.“ „Und Ihnen kam es nicht komisch vor, daß dort jemand geht?“ Sie sahen sich an. „Doch …“, sagte Věra Finková. „Aber dann ging bei Herrn Rambousek das Licht an. So dachten wir, er sei es.“ 207
„Und weiter?“ „Dann ging bei Herrn Rambousek das Licht aus. Und weil es wieder still war, hörten wir, wie jemand die Treppe hinunterging. Aber“, erklärte sie, „da war er fast schon unten. Er trug ein weißes Bündel. Irgendwie stolperte er und mußte sich am Geländer festhalten.“ „Und er schaute sich um“, ergänzte Martin Kaláb. „Mir kam dabei der Gedanke, das könnte der Dieb sein, der meiner Mutter das Tischtuch gestohlen hatte. Und dann rückte er sich das weiße Bündel zurecht …“ „Ach, Ihrer Frau Mutter ist Samstag abend ein Tischtuch gestohlen worden?“ Kapitän Exner wunderte sich. „Ja.“ „Und wie? Vom Tisch?“ „Nein, sie hatte es zum Trocknen auf die Balustrade gehängt.“ „Ihre Mutter trocknet nachts Tischtücher auf der Balustrade?“ „Nein“, berichtigte Martin Kaláb. „Aber wir hatten am Samstag Besuch, sie spielten Karten und gossen Wein aufs Tischtuch. So hat es Mutter rasch durchgewaschen und über die Balustrade gehängt, und am Morgen war es weg.“ „Aha. Und weiter: Was hat der Mann anschließend getan?“ „Irgendwas unten an der Treppe, ich weiß nicht, was. Wieder so, als ob er sich den Schnürsenkel zubände.“ „Und dann?“ „Er trug das weiße Paket unterm Arm und ging aus dem Park hinaus.“ „Wie spät war es da?“ „Das wissen wir zufällig genau“, sagte Věra Finková. „Auf Martins Uhr halb zwölf.“ „Wie lange war bei Herrn Rambousek Licht?“ „Ziemlich lange … Aber wie lange genau, das wissen wir nicht. Aus den Fenstern fällt das Licht dort auf die Bäume, da sieht man es von hier.“ 208
„Gut. Sie haben mir interessante Dinge gesagt. Aber das ist noch nicht alles“, behauptete Kapitän Exner. Überrascht schauten sie einander an. „Es ist nicht alles“, wiederholte Exner. „Wer war es?“ Sie schüttelten beide den Kopf. „Nein, im Ernst“, sagte sie, „das wissen wir nicht. Sie können abends, wenn heute der Mond scheinen sollte, herkommen, und Sie werden sehen, daß man das nicht erkennen kann.“ „Ich hatte gedacht“, fügte Martin Kaláb hinzu, „daß es der Herr Rambousek war. Erst als wir erfuhren, was passiert war … was mit ihm geschehen war, da kam uns der Gedanke …“ „Und warum sind Sie nicht zu Leutnant Šlajner gegangen, wenn Ihnen dieser Gedanke gekommen ist?“ „Wir hatten Angst“, gestand sie. „Weil Leutnant Šlajner mit meinem Vater befreundet ist und weil mein Vater nicht weiß …“ „Was?“ „Daß ich so spät nach Hause komme. Ich schließ’ mich in meinem Zimmer ein, sage, daß ich mich fürchte, wir wohnen im Erdgeschoß.“ Kapitän Exner sah Martin Kaláb an. Dieser nickte mit ernster Miene.
90. „Wann fassen wir zusammen?“ fragte sachlich vom Eßtisch Leutnant Beránek, sobald der Kopf von Kapitän Exner im Fenster auftauchte. Exner preßte sich erschreckt an die Mauer und hielt sich an der Fensterbrüstung fest. „… dammt noch mal“, murmelte er, „unter mir sind doch drei Meter.“ „Ich trink’ doch nur mein Bier und tu’ dir nichts“, konstatierte Beránek. Kapitän Exner nickte ergeben und kletterte ins Zimmer. Er beugte sich noch einmal aus dem Fenster. „Dan209
ke. Die Leiter räumt wieder weg. Und keine Sorge, alles bleibt unter uns. Gute Nacht.“ Er richtete sich die Kleidung und wusch sich am Waschbecken die Hände. „Wir fassen es gegen neun, zehn Uhr zusammen …“ sagte er. „Und wo?“ „Ich denke, hier ist der geeignete Ort.“ „Und wer soll dabeisein?“ „Nur wir drei. Ist Vlček schon wach?“ „Er freut sich riesig darauf, dich wiederzusehen.“ „Du solltest es ihm sagen.“ Er blickte sich suchend um. „Was suchst du?“ „Ein Stück Papier und einen Bleistift.“ Leutnant Beránek langte würdevoll in die Brusttasche und holte sein schwarzes Notizbuch hervor. Er schlug es auf, öffnete den Klemmer, nahm ein unbeschriebenes Blatt heraus, nachdem er sich überzeugt hatte, daß es wirklich frei von Anmerkungen war, aus der anderen Brusttasche fischte er zwei Kugelschreiber. „Willst du den grünen oder den blauen?“ „Den blauen.“ „Ich borg’ dir den grünen, der schreibt besser.“ „Schau her“, sagte Kapitän Exner, zog sich die Hosenbeine etwas höher, kniete sich auf den Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich über das Papier. „Das ist die Treppe vom Hof in den Park.“ Er zeichnete. „Hier ist der Hof, die Treppe, die Treppenabsätze, der erste, der zweite, hier verzweigt sich die Treppe, hier läuft sie wieder zusammen, und da ist ihr Ende.“ „Interessant“, bemerkte Beránek. „Sehr interessant. Und weiter?“ „Du wirst Vlček sagen“, und Kapitän Exner zog um die Treppe, die er kunstlos und schematisch abgebildet hatte, eine Ellipse, „er soll das gründlich absuchen lassen. Aber gründlich. Besonders“, und er malte an der 210
Stelle, die das Ende des Geländers darstellte, einen kleinen Kreis, „an dieser Stelle. Bevor es dunkel ist. Es hat zweimal geregnet“, schloß er mit einem Seufzer, „aber man kann nie wissen.“
91. Es war kurz vor acht, als Kapitän Exner in das archäologische Depositorium hineinschaute. „Guten Abend“, grüßte er höflich. „Ich ahnte nicht, daß hier eine Gesellschaft ist …“ Doktor Medek richtete sich auf. „Sie wünschen, Genosse Kapitän?“ Exner schüttelte leicht den Kopf, zum Zeichen, daß er nichts wünschte, und deutete in Medeks Richtung eine beruhigende Geste an. Dann schaute er Lída Muršová an und winkte ihr mit dem Finger. Sie stand auf und schwebte zur Tür. Sie hatte sich für diesen Tag mit einem langen Jeansrock ausgerüstet, der ihr um die Hüften ein bißchen zu eng war. Doktor Medek schluckte. Kapitän Exner verbeugte sich leicht, winkte Erich Murš zu, trat zurück, damit der enge Rock auf den Flur durchgehen konnte, und schloß die Tür. Sie küßte ihn. „Das steht dir“, sagte er. „Aber ich werde für dich keine Zeit haben. Nur für Erich.“ „Nur für Erich?“ „Ich muß ein paar Worte mit ihm sprechen.“ „Du wirst überhaupt keine Zeit haben?“ Er zuckte ratlos die Schultern. „Wenn ich das wüßte … Liebe Lída …“ „Lieber Michal“, entgegnete sie zärtlich, „sprich du nur mit Erich. Ich werde meinen freien Abend einfach Doktor Medek widmen.“ „Ich beneide dich“, sagte er mit demütigem, schalk211
haftem Ernst. „Mir begegnet ein solches Glück nicht. Wo wirst du schlafen?“ „Zu Hause, Liebling.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte ihn sehr manierlich, langte mit der Hand hinter den Rücken, um die Tür in dem Augenblick zu öffnen, da sie ihn nicht mehr küßte, aber immer noch auf Zehenspitzen stand, und in dieser gespannten Haltung rief sie: „Erich, Michal würde gern mit dir sprechen … Gute Nacht, Michal …“ Sie machte kehrt und schwebte in dem hüftengen Rock zwischen den Regalen des Depositoriums hindurch.
92. Sie setzten sich auf die breite Brüstung des Fensters, das zur Treppe führte. Von hier aus konnte man den Hof und alle Loggien überblicken. „Das sind Freuden …“, erklärte Kapitän Exner unwillkürlich. „Ja, sie ist ein Biest“, stimmte Erich zu. „Aber gutherzig. Worum geht’s?“ „Sie hat mir erzählt, wie Sie beide den Samstag verbracht haben. Und von den zwei Journalisten. Von Rambousek, wie er in der ‚Waldbaude‘ saß. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie sich an etwas erinnerten.“ „Das kann sonstwer getan haben. Auch ich und Lída. Ihr Vertrauen zu uns ist grenzenlos.“ „Ihre ehrenhafte Haltung ist berühmt, Erich. Das kenne ich schon.“ „Das ist wenig exakt“, bemerkte trocken Erich Murš, der Student der Archäologie. „Auch in der exakten Wissenschaft gibt es Risiken … Hören Sie, wie lange arbeiten Sie hier schon?“ „Einen Monat. Und ich werde noch eine Woche hier sein.“ „Und voriges Jahr?“ 212
„War ich auch einen Monat hier.“ „So daß Sie viele Leute kennen. Wo wohnen Sie?“ „Im Depositorium.“ „Keine Angst vor Gespenstern?“ „Manchmal. Wir gewöhnen uns immer für die paar Tage aneinander.“ „Und wer kann Ihrer Meinung nach Rambousek ermordet haben?“ Erich Murš schüttelte den Kopf. „Keiner aus dem Schloß, keiner von seinen Bekannten. Nicht, daß sie ihn geliebt hätten, aber …“ „Kolář?“ „Kolář ist ein Hitzkopf. Aber kein Mörder. In der Wut kann er ihm vielleicht eins über den Schädel gezogen haben. In einem Zornesanfall, im Streit.“ „Sein ganzes Werk, das er unten hatte … Bilder, Statuen … alles ist zerstört …“ „Zerstört?“ „Ja. Nicht gestohlen. Mit allem möglichen Zeug begossen, durchstochen … und so.“ „Ein Narr? Ein Psychopath?“ Michal Exner zuckte die Achseln. „Ich kenne die Leute hier auch nur oberflächlich“, fuhr Erich Murš fort. „Begegne ihnen, grüße sie. Wir sitzen zusammen, erzählen uns was, wie man das eben tut. Keine Tiefensonden. Keine Beichten.“ „Aber Tratsch …“ Erich Murš lachte leise. „Ich weiß, Sie lieben Tratsch. Schauen Sie, dazu brauchen Sie doch nicht meinen Rat. Wenn das ein Psychopath war – dann kann das doch sonstwer gewesen sein. Ich zum Beispiel.“ „Sie zum Beispiel.“ „Na gut“, und Erich winkte ab. „Also: Doktor Medek, Kaláb, seine Frau, ihr Sohn. Psychopathische Tiefen. Von denen keiner weiß. Matějka, Doktor Černoch. Sie haben schon von ihm gehört?“ 213
„Von allen. Hier etwas und dort etwas.“ „Ich rate Ihnen, sprechen Sie mit Matějka. Mit dem Maler. Ich glaube, er hatte ein gutes Verhältnis zu Rambousek. Auch wenn er sich mit ihm seinen Spaß machte. Aber mehr einen gutmütigen Spaß. Er ist ein netter Mensch, ein Hiesiger, intelligent, und er kennt die örtlichen Verhältnisse.“ „Gut. Vielleicht ist die Sache zu Ende, bevor Sie wieder abfahren.“ „Ich hoffe“, erwiderte Erich Murš düster, „daß es später zu Ende geht.“
93. Oberleutnant Vlček verspätete sich. Die Pfeife hatte er schon gestopft und versuchte nun, sie anzuzünden. Er begrüßte Exner und sagte: „Ich hatte schon gedacht, wir würden nur noch schriftlich verkehren.“ Er grinste und stieß den Rauch aus. „Hier sind nette Orte. Bevor wir anfangen …“ Er räusperte sich. Exner und Beránek schauten einander leidend an. „Bevor wir beginnen“, fuhr Oberleutnant Vlček fort, schneuzte sich und legte die Pfeife auf den Tisch, „möchte ich bemerken, daß das mit der Treppe keine schlechte Idee war, Kapitän. Unter dem Sandsteingeländer ist eine Stelle, wo es auch bei Regen trocken bleibt. Dort sind Flecken geblieben. Es sieht nach Blut aus. Einer von meinen Leuten ist damit schon nach Prag abgedampft.“ „Prima“, sagte Kapitän Exner und wandte sich an Leutnant Beránek. „Wollen wir’s jetzt zusammenfassen?“ Beránek schlug ernsten Gesichts die Kladde auf. „Wir sind eben ein eingespieltes Kollektiv“, begann er wohlgefällig. „Nun, die Namen und Umstände kennt ihr beide. Die Daten auch. Ich möchte nur an die Uhrzeit erinnern. Durch Schätzung wurde angenommen, daß der Tod des 214
Betroffenen in der Nacht von Samstag zum Sonntag eingetreten ist. Die Obduktion hat bestätigt, daß das erstens um Mitternacht, eher früher, gewesen sein kann und daß zweitens die Todesursache Schläge mit einem Beil auf den Kopf waren. Das Mordinstrument wurde von Leutnant Šlajner gefunden. Über die Umstände des Fundes später. Schläge waren es zwei. Einer von hinten, ins Genick. Das war die unmittelbare Todesursache. Der zweite auf den Scheitel. Da lag der Betroffene bereits am Boden. Und war tot.“ „Ein Schlag zur Sicherheit“, bemerkte Vlček. „Ja“, sagte Beránek. „Hast du die Grotte besichtigt?“ „Ja“, antwortete Vlček. „Jetzt, als wir die Treppe erledigten.“ „Die Umstände, wie der Betroffene gefunden wurde …“ „Das laß aus“, meinte Exner. „Wie er’s getan hat. Hast du daran gedacht?“ „Sicherlich nicht so umsichtig und intelligent, wie du’s getan hättest, Doktor Kapitän. Aber am Wege steht eine Buche. Der Mörder, wie unglaubhaft das auch klingt, hat hinter der Buche zwischen den zwei Fichten gewartet. Dann hat er den Erschlagenen ein paar Schritte den Hang hinuntergezerrt, oberhalb der Grotte, hat ihn ’runtergeschubst, ist um die Grotte herumgelaufen und hat die Leiche hineingezerrt.“ Exner sah Vlček an. Dieser nickte. „Aber“, wandte Kapitän Exner ein, „scheint euch das nicht furchtbar riskant? Diese Operation muß zehn, fünfzehn Minuten gedauert haben. Auf dem Wege gehen Leute. Und die Spuren! Könnt ihr euch vorstellen, wie das dort aussähe, wenn es nachts nicht geregnet hätte?“ „Das können wir“, sagte Oberleutnant Vlček trocken. „Wie in einem Schlachthaus. Aber es ging ihm wohl gar nicht um die Verheimlichung des Mordes.“ Er zeigte auf Rambouseks Zimmer, in dem sie saßen. „Hier ist der Beweis. Der Regen hat zufällig geholfen.“ 215
„Ich möchte noch etwas bemerken“, meldete sich Leutnant Beránek zu Wort. „Du hattest nicht viel Zeit, Michal. Aber ich habe ein paar Stunden auf der Treppe zum Hof gesessen. Der Weg, auf dem das passiert ist, ist wenig frequentiert, weil er zur Treppe führt, an ihr vorbei, dann wieder zum Hauptweg zurückkehrt. Er ist eine Abzweigung. Wer würde dort abends gehen? Wenn jemand aus der ‚Waldbaude‘ nach Opolná heimkehrt, nimmt er natürlich den unteren Weg am Bach entlang.“ „Also“, und Kapitän Exner zählte an den Fingern ab, „erstens: Der Mörder hat auf Rambousek gewartet, weil er wußte, daß er auf diesem Weg nach Hause geht. Er kannte also seine Gewohnheiten und Wege. Darf ich fortfahren?“ „Du darfst“, meinte Beránek. „Zweitens: Der Mörder hat die Leiche versteckt, hat sie nicht nur des Portemonnaies und der Ausweise beraubt, sondern auch der Wohnungsschlüssel. Das Mordinstrument hat er mitgenommen. Ich nehme an, er hat das Beil an der Treppe abgelegt. Dann hat er die Wohnung aufgesucht, wo wir jetzt sitzen, hat das Geld eingepackt, soweit welches da war – und man kann annehmen, daß Geld da war – und hat sein Zerstörungswerk vollbracht. Das Motiv?“ „Unklar. Bis jetzt unklar“, ergänzte ihn Vlček. „Aber davon später. Weiter …“ „Drittens: Dann ist der Mörder zurückgekehrt, hat das Beil an sich genommen und hat sich nach Hause begeben. Dort hat er das Mordinstrument an seinen üblichen Platz gelegt, wo es später Leutnant Šlajner gefunden hat, und ist schlafen gegangen. Er war angeheitert wie gewöhnlich, und am Sonntag hat er geschlafen, und Montag ist er zur Arbeit gegangen.“ „Und das Beil“, setzte Leutnant Beránek fort, „blieb dort, von keinem beachtet, liegen.“ „Und darin gerade steckt der Haken bei der ganzen 216
Geschichte.“ Oberleutnant Vlček griff nach der Pfeife. Er zog die Stirn kraus. „Michal, hast du eine Zigarette? Danke.“ Er steckte sie sich an. „Und hier ist der Moment gekommen, wo es aufhört zu stimmen. Mir klingt das sehr unglaubhaft.“ „Damit stehst du nicht allein“, schloß sich Beránek an. „Aber ob uns das nicht durch den Kapitän zu suggestiv dargeboten wurde?“ „Das war es nicht“, verwahrte sich Exner. „Ich habe mir nur erlaubt, ganz kalt Fakt an Fakt zu reihen.“ „Ich würde diesen Kolář freilassen“, bemerkte Vlček. „Vorläufig lassen wir ihn noch dort“, entschied Exner. „Er kann sich vom Alkohol und seinem Weib ausruhen. Und seine Frau oder Lebensgefährtin wird sich von ihm ausruhen. Ich werde Oberleutnant Čarda sagen, er soll mit dem Staatsanwalt sprechen. Es handelt sich nur um ein paar Tage.“ „Vielleicht“, ergänzte ihn Vlček skeptisch. „Vielleicht. Weil ich nämlich aus dem da nicht recht klug werden kann.“ „Woraus?“ „Hier aus der Wohnung. Wir haben sie gründlich abgesucht. Wie immer, wenn wir keinerlei Anhaltspunkte haben. Wenn wir nichts wissen.“ „Ohne Umschweife, um Himmels willen“, ermahnte ihn Beránek. „Du sprichst nicht im Fernsehen.“ „Wir haben Fingerabdrücke auf dem Fensterbrett gefunden, die beweisen, daß jemand durchs Fenster ins Zimmer gestiegen ist. Wir haben unter dem Fenster Spuren von einer Leiter gefunden. Durch Vergleich haben wir festgestellt, daß es sich um die Leiter handelt, die etwa fünfzig Meter von hier unter dem Schleppdach neben der ehemaligen Reithalle liegt. An der Tür, an der Klinke, an einigen Gegenständen, wie zum Beispiel an der Schublade dieses Tisches, haben wir Blutspuren des Ermordeten gefunden. Das, so scheint es, beweist, daß 217
der Täter die Wohnung durch die Tür betreten hat, nicht durchs Fenster, daß er zuerst die Wohnung durchsucht und sie dann erst verwüstet hat. Zur Zerstörung der Bilder und Statuen wurden nur solche Methoden angewandt, die keinen Lärm verursachen. Es wurden ausschließlich Materialien verwendet, die der Täter hier zur Hand hatte. Verschiedene Arten Verdünnungsmittel, farblose Lacke, Epoxidlacke, Farben und Lacke aller Art, wie sie hier herumstehen. Die Bilder wurden zum Teil mit einem stumpfen Gegenstand durchbohrt oder durchstoßen, teilweise mit einem der Schnitzinstrumente zerschnitten. Verwendet wurden drei oder vier Meißel, wie sie dem Täter gerade unter die Hand kamen. Beweis: geringe Blutspuren des Betroffenen. Der Täter hat die Wohnung mit Handschuhen verlassen, die an Tür und Klinke Spuren hinterlassen haben. Es waren wiederum Spuren von verschiedenen Farben und Lacken. Was das aufgefundene Mordinstrument betrifft: Es wurde offenbar von der gleichen Person gehandhabt, die mit den Farben und Lacken gearbeitet hatte. Allerdings sind die Farbspuren am Beil sehr geringfügig. Während der ganzen Zeit, da der Täter sich in der Wohnung aufhielt, bis zu dem Augenblick, da er das Beil wieder aufnahm (und ich setze hier die Version voraus, daß er das Beil an der Treppe ablegte), hatte der Täter Handschuhe an, die mit dem Blut des Betroffenen befleckt waren.“ „Schlußfolgerung?“ fragte Beránek. Kapitän Exner zuckte die Achseln. „Bis jetzt sieht es so aus, daß der unbekannte Täter mit dem Beil des Josef Kolář, das er sich aus bisher unbekannten Gründen ausborgte, Boleslav Rambousek meuchlings ermordet hat, und zwar so, daß er ihm auf dem Weg durch den Park auflauerte, denn er wußte oder nahm an, daß Rambousek auf diesem Wege in seine Wohnung heimkehren würde. Er tötete ihn mit einem Schlag von hinten auf 218
den Kopf, schlug noch einmal auf den Liegenden ein und schleppte ihn in die künstliche Grotte im englischen Park. Er durchsuchte ihn und entwendete alles aus seinen Taschen …“ „… außer dem Taschentuch“, korrigierte ihn Beránek. Exner nickte. „Dann begab sich der Täter in die Wohnung des Betroffenen, durchsuchte sie offenbar deshalb, weil er Geld suchte. Darauf zerstörte oder beschädigte er die Bilder und Statuen von Rambousek, die einen noch nicht bezifferten Wert haben. Doktor Medek würde sagen, einen riesigen. Josef Kolář würde sagen, das ist nur Geschmier. Danach begab er sich in Kolářs Anwesen, woher er sich offenbar vorher das Beil geholt hatte, legte es wieder an seinen Platz zurück, vielleicht deshalb, um den Verdacht von sich abzuwälzen oder die Spuren zu verwischen. Und verschwand. Am Tage nach dem Mord suchten die Wohnung zwei Journalisten auf, die mit Rambousek verabredet waren. Sie stiegen durchs Fenster in die Wohnung, und diese Art wählten sie, weil sie berechtigte Befürchtungen hegten, Rambousek könnte etwas zugestoßen sein. Sie benutzten dazu die bereits genannte Leiter. Als sie sahen, daß die Wohnung verwüstet war, vermuteten sie, daß Rambousek bestohlen worden war. Sie wollten nicht, daß der Verdacht auf sie fiele, und fuhren ab. Einer von den beiden konnte sich allerdings nicht zurückhalten und fotografierte. Diese Fotos habe ich, und …“ „Vom Zeitpunkt des Fotografierens an bis zu unserer Ankunft wurde in der Wohnung nichts angerührt“, ergänzte Vlček. „Wie geht’s weiter?“ „Wir vergleichen die Fingerabdrücke der beiden Journalisten mit denen auf dem Fenster. Nur so, zur Kontrolle. Und wir werden einen Posten aufstellen müssen.“ „Aber“, wunderte sich Beránek, „wo denn?“ „Der ganze Bereich der Häuser unterhalb der Mühle. 219
Vor allem der Teil, der mit Brennesseln und Gestrüpp bewachsen ist. Und durch den ein Fußpfad führt, eine Abkürzung vom Weg in den Park zu den Häusern an der Mühle. Dort fließt ein Graben von der Mühle und der Bach vom Wehr.“ „Das erledige ich sofort“, sagte Beránek, „solange es noch ein bißchen hell ist.“ „Ich war heute nachmittag mit Leutnant Šlajner dort. Er wird dir alles zeigen.“ „Und ich gehe zu Abend essen“, erklärte Vlček zufrieden. „Denn diese öden Stellen werden wir erst durchsuchen können, wenn es tagt, so meine ich wenigstens.“
94. Es gibt Orte, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Ein solcher Ort war das Atelier von Vojtěch Matějka im Dachgeschoß. Die schrägen Wände geputzt, die Balken waren schwarz geblieben. Die Bilder an den Wänden sagten nichts aus über ihre Entstehungszeit oder nur unbestimmt (nachimpressionistisch), sie sprachen nur vom Wechsel der Jahreszeiten, genauso wie die vollendeten und angefangenen Leinwände, die in der Ecke an die Wand gelehnt standen. Ihre Sujets beschrieben, bis auf einige Porträts, die Geschichte des Städtchens und der umliegenden Landschaft: Ein Kenner von Opolná hätte nach den Dächern und einigen Gebäuden die Zeit der Arbeit am jeweiligen Bild genau bestimmen können. Wesentlich – was für das Gefühl der stehengebliebenen Zeit am wichtigsten war – blieb, daß alle Gegenstände im Atelier, das in dem einen Teil als Wohnecke mit Sesseln eingerichtet war, nicht später als während des Krieges oder kurz danach angeschafft worden waren. Vom Feuerzeug bis zu den Sesseln. Vom Teppich bis zu den Vasen und Gläsern und den gestickten Sofakissen. 220
An dem unter die schräge Decke gezwängten Pianino saß eine schlanke Dame mit kurzgeschnittenem graumeliertem Haar und spielte die Klavierbearbeitung von Schubertliedern. Es war Frau Šustrová. Das Instrument hatte einen guten Klang, es war richtig gestimmt, und ihr Vortrag war exakt, wenn auch ein bißchen steif. Meister Matějka saß in einem Lehnstuhl am offenen Fenster, für das eine Gaupe ins Dach eingesetzt worden war und das so hoch war, daß man es ein französisches Fenster nennen konnte, und rauchte eine Zigarre. Der Rauch kringelte sich in den unmerklichen Luftströmungen sachte und schwamm hinaus. Am anderen Ende des ovalen Tisches nickte Doktor Kamil Černoch mit geneigtem Kopf im Takt, früher Studienrat am Gymnasium in Meziboří, nunmehr Pensionär und Leiter des Schloßmuseums von Opolná. Er hielt die Augen geschlossen. Entweder in hingegebener Konzentration oder weil er schlief. Eher das zweite, denn die Zigarette in seiner Hand war erloschen (zum Glück), und ein Häuflein Asche lag auf dem Boden neben dem Sessel. Frau Šustrová beendete das Spiel, seufzte und drehte sich energisch um. „Wunderbar!“ rief Vojtěch Matějka und klatschte Beifall. Doktor Černoch zuckte zusammen, die Kippe fiel ihm aus der Hand, er hob das Kinn und klopfte mit den Fingern der rechten Hand in die linke. Meister Matějka schenkte in die geschliffenen Gläser Rotwein nach. „Auf Ihr Wohl, Marta!“ sagte er leise. „Ohne Sie wäre Opolná öde und leer.“ „Ohne Sie, lieber Vojtěch“, entgegnete sie, trank, und ihre dunklen Augen glänzten, vielleicht vom Wein, von einem Lichteinfall oder einem versteckten Gedanken. „Opolná kann man sich ohne Sie nicht vorstellen, weder jetzt noch in hundert Jahren.“ „Das stimmt“, schloß sich Doktor Černoch an. „Und 221
da wird alles andere schon längst vergessen sein. Auch solche Unglücklichen, wie Rambousek einer war.“ „Unglücklichen?“ fragte sie. „Ja, ist denn noch jemand …“ „Aber nein.“ Doktor Černoch winkte ab. „Niemand. Ein närrischer alter Mann hat es gewagt, nach der Kunst zu greifen! Und törichte, ungebildete junge Leute haben ihn auf den Schild gehoben. Speichellecker, Liebediener. Um sich selbst zu erhöhen, haben sie diesen albernen Schuster hochgehoben.“ „Aber, Herr Doktor“, ermahnte sie ihn, „über die Toten nur Gutes …“ „Über Rambousek nie“, sprach hart Doktor Černoch. Vojtěch Matějka lachte leise. Erstaunt schaute ihn Frau Šustrová an. Er nickte. „Etwas muß ich Ihnen verraten, Marta. Warum er ihn so gar nicht leiden konnte. Wegen zweier Dinge, Marta … Während mein Freund Kamil Černoch zum Studium ging, nahm ihm mein Freund Boleslav Rambousek sein Mädchen weg. Und heiratete sie, ich konnte es nicht verhindern. Und zweitens: Zur letzten Ausstellung nach Prag schickte Rambousek ein sinnloses Scheusal, das furchtbar unserem Kamil ähnelte.“ Wieder lachte er leise. Doktor Černoch lief rot an. „Sie werden ihm gewiß nicht glauben.“ „Das mit dem Mädchen?“ „Nein, das mit diesem Scheusal.“ „Ich möchte es fast glauben, Herr Doktor.“ „Unsinn!“ „Trinken wir lieber, streiten wir uns nicht“, rief Vojtěch Matějka. „Marta hat recht. Auf sein Angedenken!“ Das Telefon klingelte. Matějka erhob sich, ging ans andere Ende des Ateliers, zu dem mit Vasen voller Pinsel, mit Farben, halbleeren Tuben, Flaschen mit Ver222
dünnung, kurzum mit all dem Malerkram bedeckten Tisch, wo sich der Apparat versteckte. „Matějka … Ja … Ich höre …“ Weil es lange still war, beugte sich Doktor Černoch zu Marta Šustrová. „Wann werden Sie das nächste Konzert mit Frau Kalábová geben?“ „Im Oktober. Wenn sie nicht so viel zu tun haben wird.“ „Wir freuen uns schon alle darauf.“ „Aber, Herr Doktor, das sind doch mehr Freundschaftsabende als Konzerte.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, nein.“ Er zeigte mit einem Blick auf Matějka. „Ich gehe. Sie werden sicher gern …“ „Wir gehen zusammen, Herr Doktor.“ „Nein, nein, Sie wissen, was Vojtěch Ihnen gegenüber … Sie sind allein. Ihr Herr Gemahl war ein wertvoller Mensch. Wir haben ihn alle sehr geschätzt. Aber“, flüsterte er eindringlich, „Vojtěch vergöttert Sie. Und Sie haben doch auch ein gutes Verhältnis zu ihm. Sie sollten ihn erhören … einmal … heute …“ Sie lächelte, und es gelang ihr, daß es traurig aussah. „Wir gehen zusammen, Herr Doktor. Darüber ein andermal.“ Er winkte mit beiden Händen ab und langte nach einer neuen Zigarette. „Ich habe Gäste“, sagte Matějka ins Telefon. „Doktor Černoch und Frau Šustrová. Natürlich, ja. Sie spielt Klavier.“ „Die Gäste gehen“, rief Černoch und erhob sich. „Ja. In einer halben Stunde. Rufen Sie an. Danke.“ Er legte auf, räusperte sich. Er schien in Gedanken zu sein. Blaß. „Wer war das?“ interessierte sich Doktor Černoch. „Ein Kunde aus Prag. Der Sohn dieses … dieses Schlossers Král. Er fährt durch Opolná. Übernachtet 223
hier und fährt morgen weiter nach Polen. Er möchte sich ein paar Bilder anschauen …“ „Ein Kunde“, sagte Marta Šustrová, „hat den Vorrang. Und sei es um Mitternacht. Gute Nacht, Vojtěch. Und gehen Sie nicht zu spät schlafen.“
95. Um diese Zeit, da die Dunkelheit anbrach und die blauen Lichter der Neonlampen aufleuchteten, war es auf dem Marktplatz von Opolná menschenleer: die Einsamkeit zweier Katzen, der dunklen Fenster des Restaurants Rychta, das Schließtag hatte, und der Nachtfalter, die sich in zuckenden Scharen um den blauen Schein der Straßenlaternen versammelten. Niemand war da, den man nach dem Weg fragen konnte, so daß er das Polizeirevier aufsuchte, dort ein Glas Wasser trank und erfuhr, daß die Schloßweinstube bis eins geöffnet hatte – falls er Hunger habe. Hunger hatte er, aber keine Ruhe zum Essen. Da trank er lieber noch ein Glas Wasser und brach sich von dem Schmalzbrot, das sich der junge Wachtmeister mitgebracht hatte, ein Stückchen ab. Unterwegs begegnete er einem Paar: einer schlanken Frau mit kurzgeschnittenem Haar. Jugendlich und altmodisch zugleich, fast altjüngferlich, aber wieder auch nicht, so daß es ihm keine Ruhe gab, er stehenblieb und sich nach ihr umdrehte. Ihr Gang war ausgeglichen, das Rückgrat gerade und unverspannt, die Bewegungen der Arme ruhig und gemessen. Sie wirkte ein bißchen wie außerhalb der Welt von Opolná. Ein alter Herr begleitete sie. Gebeugt, sich auf einen Stock stützend. Ein Türchen klappte zu, und jemand drehte den Schlüssel herum. Als Exner dann über den Platz schritt, stellte er fest, 224
daß das die Tür war, zu der er strebte, und die Frau und der Mann aus der Wohnung des Malers Vojtěch Matějka gekommen waren. Was eigentlich gut war. Er knipste das Feuerzeug an, um die Namenschilder zu lesen. VOJTĚCH MATĚJKA Akadem. Maler Im Parterre, im Fenster neben der Toreinfahrt, war es dunkel. Im Obergeschoß ebenfalls. Das Tor war verschlossen. Er drückte auf den Klingelknopf. Eine Stimme schallte von oben: „Wer ist da?“ Wie vor dem Jüngsten Gericht. „Polizei!“ „Augenblick!“ Jemand machte in der Einfahrt Licht. Der Tür näherten sich kurze Schritte. „Wer ist da?“ Zugleich klappte ein altertümliches vergittertes Guckloch auf, darin eine Glatze und zerzauste graue Haare. Das Licht der Straßenlampe fiel schräg auf Matějkas blasses Gesicht. Er blinzelte, denn ihn blendete das Licht der Toreinfahrt. „Wer ist da?“ fragte er abermals. „Doktor Exner.“ „Der von sich behauptet, Botaniker zu sein?“ „Meister“, sagte Kapitän Exner, denn er wußte, wie man einen älteren Künstler anzusprechen hat, „ich untersuche in dieser Stadt den unglücklichen Tod des Herrn Rambousek. Ich habe gehört, daß Sie mit ihm gut bekannt waren, und so möchte ich mich mit Ihnen, wie ich schon am Telefon sagte, über ihn unterhalten.“ „Ich werde Ihnen gern helfen.“ Vojtěch Matějka drehte den Schlüssel im Schloß herum. „Auch wenn ich, Herr Doktor, zur Vergeltung für das Scherzen in der Schloß225
kanzlei meine Bereitschaft zur Mitarbeit einschränken sollte. Bitte sehr.“ Er führte Exner durch die Toreinfahrt, von der man auf den betonierten Hof sah, über die Treppe, auf der ein roter Teppich lag, bis auf den Dachboden, wo das Atelier eingerichtet war. Sie traten ein. Auf dem Tisch stand die angebrochene Flasche, daneben drei Gläser. „Vor einer Weile ist mein Besuch gegangen“, erklärte der Maler, „Sie müssen ihnen begegnet sein.“ „Ja“, bestätigte Kapitän Exner, denn die Gegenwart des alten Künstlers verfeinerte seine Manieren, „ich habe eine Dame gesehen, in Begleitung eines älteren Herrn.“ „Frau Šustrová“, erklärte Vojtěch Matějka, „die Witwe des hiesigen Apothekers. Musiklehrerin. Wir sitzen des öfteren zusammen, plaudern ein bißchen, sie spielt Klavier. Und Doktor Černoch. Direktor des Schloßmuseums.“ Er holte ein sauberes Glas und schenkte für Exner ein. „Falls Sie nicht ablehnen … Zum Wohl …“ Sie tranken, und Kapitän Exner setzte sich. Matějka stützte sich mit den Ellbogen auf die Sessellehne, spreizte die kurzen Finger und klopfte mit ihren Spitzen gegeneinander. Er neigte den Kopf seitwärts. „Nun, Herr … Herr Kapitän … Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ich weiß es nicht“, gestand Exner aufrichtig, „vielleicht mit einer Ansicht, mit einer Wahrnehmung.“ „Ich befürchte, daß Sie von mir, einem älteren Menschen, nicht mehr viele Wahrnehmungen zu erwarten haben. Von Ansichten ganz zu schweigen.“ Er winkte mit einem leisen Lachen ab. „Wer hat mich Ihnen denn empfohlen?“ „Weiß ich auch nicht“, log Exner mit eisiger Ruhe, „jemand auf dem Schloß. Sie können sich nicht vorstellen, mit wieviel Menschen ich heute gesprochen habe“, fügte er hinzu. 226
„Ich kann es mir vorstellen“, widersprach Matějka. „Ich habe gehört, der junge Kolář ist verhaftet worden.“ „Ja, er ist in Haft“, bestätigte Kapitän Exner deutlich bekümmert, aber auch mit sichtbarer Befriedigung. „Aber unsere Pflicht ist es, alle Umstände des Falles zu untersuchen. Und Sie haben, außer anderen, zu den Freunden des Herrn Rambousek gehört. Oder zu seinen Gönnern.“ Meister Matějka lächelte nachsichtig. „Das ist ungenau. Schauen Sie, Herr Kapitän, wir sind oder waren Altersgenossen. Sind beide in Opolná geboren. Sind zusammen in die Volksschule gegangen. Dann haben sich unsere Wege getrennt, wie das eben so ist. Wir waren niemals Kameraden im echten Sinne des Wortes. Wir waren Altersgenossen. Ich hielt – wie übrigens alle in Opolná – Bohuslav für einen Spinner …“ „Er hat doch aber gemalt?“ „Ach wo“, sagte Matějka lachend. „Was er auf die Leinwände gepinselt hat, kann man wohl kaum als Malerei bezeichnen.“ Kapitän Exner fiel es natürlich gar nicht ein, Doktor Medek zu zitieren. „Ja“, sagte er, „ich habe diese Sachen gesehen. Einerseits versteh’ ich nichts davon, andererseits ist das nicht mein Problem, und für die Sache, für den Fall ist das ohne Bedeutung, und schließlich: Ich selber würde es mir nicht an die Wand hängen.“ „Leider Gottes“, sagte der Maler seufzend, „ist die heutige Zeit den Dilettanten hold. In der Musik genügt Geschrei, in der Literatur Morde, Krimis und Alkohol, in der Malerei Farben und Dreistigkeit. Hängt das irgendwie mit diesem Mord zusammen?“ Michal Exner zuckte die Schultern. „Das wissen, verehrter Meister, nur der liebe Gott und der heilige Wenzel …“
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96. Sie trafen sich auf dem Marktplatz, nämlich Kapitän Exner und Leutnant Beránek. Blieben einige Meter voneinander stehen und starrten sich an. „Wir sind hier die einzigen wahnsinnigen Gespenster“, sagte Kapitän Exner. „Warum gehst du um Himmels willen nicht schlafen?“ „Ich wollte noch ein bißchen Luft schnappen“, erklärte der Leutnant auf die Entfernung von mehreren Metern. „Und dabei fiel mir ein …“ Sie näherten sich einander und lenkten ihre Schritte unwillkürlich zu dem beleuchteten Schaukasten, über dem blau die Buchstaben SNB ∗ zu erkennen waren. „… nachzuschauen, wie die Bewachung dort unten funktioniert. Sie haben auch zwei Hunde dabei.“ „Den einen kenne ich“, bemerkte Exner. „Er hat mich gestern durch den Park gejagt.“ „Ich leg’ mich jetzt hin.“ „Das Hotel ist dort.“ Exner zeigte über die Schulter. „Ja, aber du gehst nicht dorthin …“ „Ich möchte gern noch mit jemandem sprechen.“ „Jetzt in der Nacht, Kapitän?“ „Ich bin eben mal so neugierig.“ Exner seufzte. „Weißt du nicht zufällig – denn du weißt ja fast alles –, wo Doktor Černoch wohnt, der Direktor des Museums?“ Beránek fischte aus der Brusttasche des Jacketts sein schwarzes Notizbuch und blätterte darin. „Kamil?“ „Derselbe.“ „Platz des Friedens fünfundzwanzig.“ „Wo ist das?“ „Hier, wo wir stehen.“ Beránek schaute nach den Hausnummern der nächsten Gebäude. „Achtzehn, siebzehn, zwanzig … Das dürfte das dort sein.“ „Hm. Und Frau Šustrová?“ ∗
SNB – Sbor Národni Bezpečnosti – Bezeichnung für die tschechische Volkspolizei
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„Šustrová?“ wunderte sich der Leutnant. „Nie gehört.“ Er blätterte das Büchlein durch, hielt die Seiten ans Licht der Straßenlaterne. „Hab’ ich nicht. Was ist das für eine?“ „Doktor Medeks Zimmerwirtin.“ „Ach so, das habe ich. Felsengasse einunddreißig.“ „Aha.“ „Wo diese Straße ist, Kapitän, damit kann ich leider nicht dienen.“ „Ich werde jemanden fragen. Und was ist mit Doktor Hauser?“ „Meiner Lebtage nicht gehört. Was ist das für einer?“ „Chirurg.“ „Hast du einen Furunkel?“ „Du bist offenbar müde“, konstatierte Exner trocken. „Sehr, geh schlafen, während ich arbeiten werde.“ „Warte, du hast mir nicht erklärt, warum du einen Chirurgen suchst.“ „Ich habe von ihm gehört“, sagte Kapitän Exner, „daß er gern Canasta spielt.“ „Aha.“ Leutnant Beránek klappte sein schwarzes Notizbuch zu. „Dann also gute Nacht.“
97. Er wurde ins Arbeitszimmer geführt, dessen von schweren gehäkelten Gardinen verdeckte Fenster nach Westen gingen, in die Gärten und Villen. Hinter den Fensterscheiben herrschte schon tiefschwarze Dunkelheit. Ihm wurde ein Sessel an einer altertümlichen Stehlampe angeboten, deren Pergamentschirm einen Meter Durchmesser hatte. Sie beleuchtete das Zimmer mit einem warmen gelben Licht. Angeboten wurde ihm nichts, nur der Blick auf den zweiten Sessel, in dem ein struppiger alter Mann saß 229
und sich die Hände rieb, dessen Nase mit roten Äderchen besät war und der sich die Hände in einem solchen Tempo rieb, daß die trockene Haut auf ihnen raschelte. „Aber sicher“, sagte er lachend. „Was er konnte, hat ihn Vojtěch gelehrt. Er gab ihm Farben und anfangs auch die Leinwand. Selbstverständlich nahm er ihn nicht ernst.“ „Wer nahm wen nicht ernst?“ „Vojtěch den Rambousek natürlich. Haben Sie seine Scheusale gesehen?“ Kapitän Exner nickte. „Komisch, was?“ Kapitän Exner nickte wieder. „Das heißt“, fuhr Doktor Černoch fort, „es wäre komisch gewesen, wenn sich nicht Fürsprecher gefunden hätten. So ist das.“ „Wie meinen Sie das, Herr Doktor?“ fragte Exner ehrerbietig. „Doktor Medek und seinesgleichen suchen zu ihrer eigenen Realisierung Kuriositäten und geben diese als positive Werte aus. Und sie haben ja auch was davon. Sowohl sie als auch jene, die sie propagieren.“ „Ist Doktor Medek ein reicher Mann?“ „Das kann ich doch nicht wissen. Arm wird er nicht sein. So wie er sich anzieht und seine Frau ebenfalls.“ „Und Herr Rambousek?“ Doktor Černoch lachte wieder. „Ich werde Ihnen was sagen: Der hatte Geld wie Heu. Fleißig, nicht verschwenderisch, ein Knauser. So ist das.“ „Na ja“, sagte Michal Exner, „aber wo ist das Geld hin? Wir haben nichts gefunden. Auch auf den Sparbüchern hatte er nichts.“ Doktor Černoch warf ein Bein übers andere und kreuzte sehr zufrieden die Arme auf der Brust. „Gut, das ist gut. Raubmord. Ich beneide Sie nicht, Herr Kapitän.“ „Das ist kein so großes Problem, Herr Doktor.“ 230
„Nein?“ „Schlimmer ist es, wenn ein Psychopath mordet. Ein gewöhnlicher Raubmörder verrät sich am Ende immer irgendwie.“ „Das verstehe ich“, sagte Doktor Černoch mit einem zufriedenen Lächeln. „Ein Sexualmörder wird schwer gefunden. Das hab’ ich mal wo gelesen.“ Er verstummte und fügte nach einer Weile hinzu: „Aber Sie sind in dieser Gegend nicht ganz unbekannt …“ „Im Depositorium Ihres Museums arbeitet Erich Murš. Hat er Ihnen erzählt?“ „Nein. Erich wird ein guter Forscher. Über Familienangelegenheiten spricht er nie. Ich weiß von dem Fall in Meziboří woandersher; werden Sie sich lange bei uns aufhalten?“ Michal Exner zuckte die Achseln. „Sie haben von Doktor Medek gesprochen. Mir ist eingefallen, daß ich mit ihm sprechen sollte. Wissen Sie, wo er wohnt?“ „Bei Frau Professor Šustrová. Wenn Sie vom Marktplatz in Richtung Bahnhof fahren, dann die erste Straße links. Übrigens zweifle ich daran, daß Sie ihn zu Hause antreffen.“ „Und wo dann?“ „Er sitzt an den Abenden meistens in der Weinstube, Herr Kapitän. Und gibt sich dort“, fügte er mit Haß hinzu, wie er nur als Frucht von Neid entstehen kann, „mit sehr jungen Mädchen ab.“
98. Frau Professor Šustrová empfing ihn in einem seidenen Morgenrock und führte ihn in den Musiksalon. „Wie konnte ich darauf gefaßt sein“, entschuldigte sie sich, „um diese Zeit noch Besuch zu erhalten. Einen Kaffee, bitte?“ Er machte es sich in dem Sessel in der Ecke bequem, 231
so daß er den ganzen Raum überblicken konnte. „Ein schönes Instrument.“ Er zeigte auf das Klavier. Sie seufzte leicht. „Ein Geschenk meiner Eltern, als ich erfolgreich die Prüfung am Konservatorium ablegte.“ „Dann ist das hier ein altes Familienhaus.“ „Ein wahrhaft altes Haus und ein wahrhaftes Familienhaus. Kaffee?“ „Einen Schluck Mineralwasser, falls es Ihnen keine Mühe bereitet“, sprach er in der Art eines guterzogenen jungen Mannes. Er erhielt eine Flasche Mineralwasser und konnte es aus einem alten, geschliffenen Glas trinken. Sie setzte sich ihm gegenüber. Manierlich stellte sie die Füße nebeneinander, wie sich das gehört, legte die großen Hände mit den langen Fingern in den Schoß. „Das Wetter ist wieder schön geworden, nicht wahr?“ „Ja, wirklich“, bestätigte er. „Einige Gewitter haben die Luft durchfeuchtet.“ „Allerdings“, nickte sie. „Gleich atmet es sich besser. So ein Sommer ist am schönsten. Ohne trockene Hitze.“ „Ich muß Ihnen gestehen, Frau Professor, daß ich heiße Sommer liebe“, entwickelte Kapitän Exner die Debatte. „Aber im Schatten von Bäumen, falls Sie verstehen, was ich meine.“ Sie lachte. „Ich meine das ernst“, schwatzte Michal Exner weiter, „wenn Sie an einem heißen Tag unter einem Nußbaum sitzen, riechen Sie seinen Duft. Und Sie haben hier einen schönen Winkel aus alten Wacholderbüschen.“ „Mein Mann hat sie in seiner Jugend gepflanzt, Doktor Medek sitzt sehr gern dort …“ Sie hielt inne. „Ich kenne Herrn Doktor Medek nur oberflächlich“, bekannte Kapitän Exner. „Habe mit ihm einmal gesprochen und ihn ein paarmal gesehen. Aber er erschien mir als ein sehr korrekter Mensch.“ „Er wohnt schon das vierte Jahr jeden Sommer bei 232
mir. Es kam mir damals dumm vor, einen Untermieter aufzunehmen. Und obendrein einen Mann. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Anfangs gab es selbstverständlich abwegige Gerüchte. Aber wenn ich ehrlich sein soll, Herr Doktor: Mein Gehalt ist klein, das Haus braucht Reparaturen, und Doktor Medek zahlt regelmäßig.“ Er hatte etwas in ihren Augen oder in der Form der Lippen erspäht, als sie den letzten Satz beendete. „Wirklich, Frau Professor?“ „Nach seinen Möglichkeiten regelmäßig“, korrigierte sie sich. „Also nicht regelmäßig und …“ „Niemals habe ich den Herrn Doktor mahnen müssen“, sagte sie streng und errötete. „Übrigens war das nur im vorigen und in diesem Jahr. Ich glaube, es handelt sich um eine Familienangelegenheit. Mich interessiert es nicht, und ich frage nicht danach.“ „Dennoch meinen Sie, es geht um eine Familienangelegenheit.“ „Er lebt sehr bescheiden. Ich nehme an, er schickt der Familie Geld. Am Sonntag war seine Frau da, am Montagabend wieder mit einem Herrn. Nur kurz, sie sind gleich wieder gefahren …“ Sie stutzte. „Sie sprechen mit mir über Doktor Medek …“ Für eine Weile verstummte sie. „Ja, das ist begreiflich, er arbeitet auf dem Schloß, wo es zu diesem bedauernswerten Vorfall gekommen ist. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es meine Pflicht ist, Ihre Fragen zu beantworten.“ „Das ist Ihre Pflicht und auch nicht“, belehrte sie Kapitän Exner. „Wir könnten das vom rechtlichen Gesichtspunkt durchnehmen. Aber ich habe wenig Zeit, Frau Professor …“ Sie lächelte. „Die Spur wird kalt, Herr Kapitän?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Spurenleser. Ich bin ein verzweifelter Nachtschwärmer. Übrigens: War 233
Doktor Medek in der Nacht von Samstag auf Sonntag zu Hause?“ „Ich schätze, ja, denn am Sonntag morgen kam er wie gewöhnlich aus seinem Zimmer, um sich das Frühstück zuzubereiten.“ „Und wo war er abends und nachts?“ „Das weiß ich wirklich nicht. Ich überwache ihn nicht, wissen Sie.“ „Und Sie, wenn ich fragen darf?“ „Das dürfen Sie, Herr Doktor. Ich war in Meziboří zu einem Konzert. Das ist so eine Aktion – sommerliches Musikfestival in Meziboří. Ich bin mit dem Bus vor elf wieder zurückgefahren.“ „Mit dem Linienbus?“ „Allerdings. Im Zimmer des Herrn Doktor war es dunkel.“ Er nickte, als hätte er das mit Sicherheit vorausgesetzt.
99. Doktor Hauser wohnte nicht weit. Letztlich wohnten alle Einwohner von Opolná nicht weit. Es war keine Villa, sondern ein nicht sehr großes Mietshaus in einem Garten. In den Fenstern leuchteten die Bildschirme der Fernsehempfänger. Die Haustür war noch offen, oder sie wurde nie abgeschlossen. Ein Schalter war da, und als er ihn drückte, ging das Licht im Treppenhaus tatsächlich an. Doktor Hausers Wohnung lag im ersten Stock. Exner klingelte an der Tür. Niemand kam öffnen. Er klingelte ein zweites Mal. Nichts. Er drückte sehr lange auf den Klingelknopf. Nichts. Aber jemand machte unten im Parterre eine Tür auf. Und rief unsicher: „Hallo …“ „Hallo“, antwortete Exner ebenso. 234
„Wer ist dort?“ fragte eine Frauenstimme. „Exner.“ „Kenne ich nicht.“ „Hallo“, rief Kapitän Exner noch einmal, „wer ist dort?“ „Frau Vávrová“, sagte die Stimme. „Ich klingle bei Hausers.“ Frau Vávrová hielt es nicht mehr aus und stieg hoch auf den Treppenabsatz. Sie seufzte und schaute geringschätzig herauf. „Frau Hauser ist nicht zu Hause. Sie ist mit den Kindern in den Ferien bei ihren Eltern“, sagte sie knapp und streng. Er lächelte schüchtern. „Verzeihen Sie, Frau Vávrová, aber ich suche den Herrn Doktor …“ „Ach so! Der wird wohl Dienst im Krankenhaus haben, wenn er nicht zu Hause ist.“ „Ja, vielen Dank“, sagte Kapitän Exner, und ihm blieb nichts anderes übrig, als dieses Haus zu verlassen, beobachtet und bewacht bis auf den Gehsteig und immer weiter bis an die Straßenecke. Erst dann schloß Frau Vávrová die Tür und drehte laut den Schlüssel herum, damit klar sei, daß weitere nächtliche Besuche unerwünscht waren. Das Krankenhaus brauchte er nicht zu suchen. Er war vor einer Weile am Zaun seines Gartens entlanggegangen. Das beleuchtete Tor führte auf die Hauptstraße. Der in dem Glaskasten an der Schranke wachende Pförtner versicherte ihm, daß der Herr Doktor Hauser keinen Dienst habe. Exner äußerte daran seine Zweifel. Der Pförtner setzte sich die Brille auf und schaute zur Sicherheit auf das Papier, das an einem Nagel an der Wand hing. „Auf Ehre und Gewissen“, sagte er, „er hat keinen Dienst.“ Dann schob er die Brille auf die Stirn und musterte Exner. „Aha. Wer sind Sie?“ „Ein Bekannter …“ „Aha“, sagte der Pförtner, „warum kenne ich Sie dann nicht?“ 235
„Ich bin nicht von hier“, gestand Kapitän Exner. „Na ja“, und der Pförtner blinzelte. „Ich ruf mal zur Sicherheit oben an.“ Er hob den Hörer ab und rief auf der Chirurgie an. „Er ist nicht da.“ Er legte auf. „Doktor Veverka wäre da. Das ist ein Gynäkologe. Der hat heute Dienst auf der Chirurgie.“ „Und wo könnte ich wohl Doktor Hauser finden?“ „Das weiß ich nicht, Herr … Um diese Zeit …“ „Zu Hause ist er nicht.“ „Aha … Also ich weiß nichts. Vielleicht ist er ins Kino gegangen.“ „Wirklich?“ Und Kapitän Exner schaute sehr ungläubig drein. „Sie müssen dringend mit ihm sprechen?“ „Sehr dringend.“ „Aha. Hm …“ Und der Pförtner nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und schaute nachdenklich ins Freie, zum Himmel, aber die Sterne konnte er wegen der Lampe über dem Eingang nicht sehen. „Wenn Sie vielleicht mit Doktor Veverka sprechen … Aber der kann Ihnen auch nichts sagen … Na ja, ich weiß halt nicht.“ Und er sprach völlig für sich selber, immer noch nach oben blickend: „Vielleicht spielt er Canasta. Im Schloß. Aber es ist schon spät. Bei Herrn Kaláb. Aber das Schloß ist zu, und eine Glocke haben sie dort nicht. Oder er ist zu seiner Frau gefahren. Aber das wohl nicht.“ „Ich danke Ihnen, mein Herr“, sagte Michal Exner wohlerzogen. „Sie haben mir sehr geholfen.“ „Ich wüßte nicht, womit. Ich könnte Ihnen Doktor Veverka an den Apparat rufen, aber das haben Sie nicht verlangt.“ „Nein, das nicht. Angenehmen Dienst und gute Nacht, Herr.“ Der Pförtner seufzte. „Gute Nacht …“
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100. Ein leiser Wind spielte auf dem Gehsteig mit einem zerknüllten Papier. Die Mauer des Schlosses war von unbezwinglicher Schroffheit. Und wohl vier Meter hoch. Unübersteigbar in ihrer ganzen Länge. Von irgendwoher hörte man Musik. Hauptsächlich eine Trompete. Und darauf spielte vielleicht Armstrong selber, Armstrong spielte für Opolná. Er schlenderte durch die Gasse, die zum Schloß führte. Hier brannten keine Neonlampen, sondern alte Straßenlaternen; gelbliche, warme Lichter, die auf den Mauern verschwammen und weich die dunkleren Winkel füllten. Eine Lampe schwankte über der Tür der Schloßweinstube. Die Tür stand offen. Er ging durch den Hausflur und über den Hof mit den verlassenen Tischchen des Bistros. An den Wänden wellten sich lieblich die Blätter des wilden Weins. In der mit ockerfarbenen Ziegeln gepflasterten Halle saß in der Garderobe eine strickende ältere Frau. Hinter ihr hingen zwei einsame Mäntel. Er grüßte, und sie erwiderte den Gruß freundlich, als begrüßte sie einen guten Bekannten. Die Augen hob sie nur für einen Moment von ihrer Arbeit. Armstrong spielte hinter der zweiflügeligen Tür. Die Scheiben darin sahen aus wie eine Schießscheibe, eingesetzt in Bleirahmung. Er trat ein und sah, daß das nicht Armstrong war, sondern ein rötlicher Ire mit Schnurrbart. Er trug ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, am Hals hing der Haken fürs Saxophon. Die silberne Trompete spiegelte das Aufblitzen der gelben und roten Farbe wider, die von den Schirmen der Tischlampen kamen. Der Schlagzeuger wiegte sich nickend im Takt und hielt die Augen geschlossen. Vielleicht hätte auch er am liebsten geschlafen, so wie Exner. Ein langhaariger Jüngling beugte sich über die Tastatur der Elektroorgel. Sie saß der Tür gegenüber, rechts von der Band. Sie erspähte ihn augenblicks. Hob die Hand, um ihn zu be237
grüßen, aber Exner nickte ihr zu und faltete bittend die Hände. Sie kam über den Rand des Parketts, auf dem sich fünf Tanzpaare langsam wiegten, auf ihn zu. „Ciao …“ „Ciao.“ „Ich hab’ mir gedacht, daß du kommst …“ „Komm mit ’raus …“ Er führte sie auf den kleinen Hof zu den verlassenen Tischen. „Ich brauche den Schlüssel …“ „Was für einen Schlüssel?“ „Verzeih, ich schlaf schon ein bißchen … Den Schlüssel zum Schloß.“ „Hast du was getrunken?“ „Nein. Verstehst du denn nicht?“ sagte er müde. „Ich brauche den Schlüssel vom Schloß. Zum Schloßgebäude.“ „Darf ich fragen, warum?“ „Lieber nicht … Bitte Erich drum, ich warte hier.“ „Wie der Herr befehlen.“ Sie kam nach einigen Minuten wieder. Der Schlüssel war zwei Spannen lang und wog zwei Pfund. Sie hielt ihm die andere Hand unter die Nase. Darin hielt sie ein Glas. Er roch Kognak. „Das brauchst du, nicht?“ „Wo ich doch fast nicht trinke.“ Aber eigentlich war er durch ihre Fürsorge gerührt. Er nippte ein bißchen dran. „Nicht schlecht. Das genügt. Ich bin huppdiwupp wieder da.“
101. Das eiserne Tor, das die Straße vom Ehrenhof trennte, war zu, aber nicht abgeschlossen. Die Klinke war in Gesichtshöhe. Sie ließ sich leicht niederdrücken, das Tor öffnete sich leicht, es wurde regelmäßig geschmiert. 238
Vorsichtig machte er es hinter sich zu. Die oberen Fenster des Schlosses spiegelten das Mondlicht wider. Ansonsten war es hier dunkel, die schmiedeeiserne Lampe auf dem Hof brannte nicht. Es verdroß ihn, daß er keine Taschenlampe mitgenommen hatte, aber da war nichts mehr zu ändern. Umkehren wollte er nicht. Übrigens war die Nacht hell. Unter seinen Füßen knirschte der Sand. Leiser gehen konnte er nicht. Hier hätte man selbst den Flug einer Libelle gehört. Er wartete einige Minuten im Schatten, den der Block des Schloßgebäudes warf. Und er schaute auf eine Stelle, die ihm am schwärzesten schien, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das Tor war neu, das Holz noch nicht geschwärzt, der Lack darauf glänzte. Nur das Schloß war alt geblieben, der zwei Pfund schwere Schlüssel paßte leicht hinein. Und er ließ sich auch leise herumdrehen. Ihm fiel ein, daß das eigentlich unsinnig war, wo doch jeder auch ohne Schlüssel aus dem Park in den Hof konnte. Das Holzpflaster der Toreinfahrt dämpfte die Schritte. Der Himmel über dem Hof war mondhell. Der Schein fiel auch auf einen Teil des Ostflügels, vor allem auf die Loggien. Ihn ergriff Verwunderung, wie plötzlich die Zeit nicht mehr da war und der Raum ein anderer war, außerhalb dieses Landes und des Städtchens Opolná. Links war die Tür zum Treppenhaus in die oberen Stockwerke, rechts der Laubengang. Er begab sich nach rechts. Die erste Tür – die Kanzlei der Schloßverwaltung, die zweite die Wohnung der Kalábs, die dritte in der Ecke konnte auch zu den Kalábs gehören, die vierte war verriegelt. Die fünfte in der Mitte des Laubengangs. Er faßte die Klinke an. Er klopfte an der inneren Tür. Nichts. Er klopfte noch 239
einmal. Er probierte die Klinke. Die Tür war auf. Er sah das Fenster, vor dem Fenster ein Kreppvorhang, darin das Mondlicht, das den Schatten des Gitters auf den Stoff warf. Leise räusperte er sich. Nichts. Vorsichtig trat er ein. Tastete nach dem Schalter, knipste für drei Sekunden das Licht an. Die genügten ihm, um mit Sicherheit festzustellen, daß in dem Zimmer, in dem die Studentin Olga Domkářová wohnte, niemand war. Leise schloß er wieder die Tür. Ging zur Tür ins Treppenhaus, um den Patentschlüssel auszuprobieren, der mit einem Bindfaden an dem Zweipfundtrumm befestigt war. Er gehörte zum Treppenhaus im Ostflügel, wo die Reisegruppen mit der Schloßbesichtigung begannen und im zweiten Stock das Depositorium archäologischer Artefakten war. Er verhielt sich ganz still. Was in diesem Renaissancehof ein bloßes Anklopfen bewirken konnte, hatte er schon erfahren. In der Mauer unter den Lauben stach schwarz die Wohnungstür von Boleslav Rambousek ab. Daran leuchtete weiß der Versiegelungsstreifen. Ihm fiel ein, er sollte mal das ganze Schloß mit einer Reisegruppe besichtigen. Im ersten Stock waren zwei Türen, eine Holztür, sie führte auf eine Loggia, die andere, verglaste, auf einen kleinen Flur, durch den man die Wohnräume betrat. Die Glastür stand offen. Er trat dort ein und dann durch eine weitere Tür in das erste Zimmer des Schlosses. Dort lagen Parketten. Er probierte, ob sie nicht knarrten, bevor er voll darauftrat. An den Wänden glänzten undeutlich die Rahmen der Bilder, deren Leinwände schwarz und blind schienen. In der Südwand stand eine zweiflügelige Tür weit offen. 240
Diese öffnete ihm den Durchblick in alle Gemächer des Ostflügels, wenn es in der Dunkelheit einen Durchblick gegeben hätte. Er erkannte die weißen Flächen der Türen und ihrer Rahmen sowie die weißen Fenster und sah, daß überall Kristallüster mit vergoldeten Armen hingen. Der dritte Raum war der Speisesaal. Um einen ovalen Tisch weiße Stühle. Die Bilder wirkten riesig, und die Gesichter der Porträtierten waren übersät mit hellen Flecken. Hinter dem Speisesaal mußte er sich in einem Labyrinth zurechtfinden, offenbar Anrichtezimmer, Garderoben und Bäder. Ihn führte vor allem ein dunkler Läufer und auch die Leinen, die, an Ständern hängend, den Weg für die Besucher kennzeichneten. Vor ihm öffnete sich eine Reihe weiterer Zimmer des Südflügels. Die Abstände zwischen den Türen wurden kürzer, die Räume kleiner, und die Lüster waren nicht mehr aus Kristallglas. Einige sah er nicht, nur ihre Umrisse, andere glänzten weiß, offenbar waren sie aus Porzellan. Hierher schien der Mond. Er konnte die Gegenstände und Möbel unterscheiden. Er befand sich im Flügel der Schlafgemächer. Und da vernahm er plötzlich leise Stimmen. Er erstarrte mitten im Schritt. Er schnappte Wortfetzen auf, und es war unschwer zu erkennen, daß es sich um ein ganz privates, sehr privates Gespräch zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts handelte. Leise und zufrieden lachte die Frau auf, aber durch die Zimmer schallte es recht laut. Exner schritt aus. Fingerte sein Feuerzeug aus der Tasche und knipste es zweimal an. Dabei sagte er laut und ruhig: „Ich bin kein Gespenst, ich bin kein Mörder, ich bin Kapitän Exner. Ich ziele nicht auf Sie. Ich komme Sie nicht verhaften. Aber es hat mir viel Mühe bereitet, Sie zu finden.“ 241
Sie kreischte auf. Zweimal. Dreimal. Exner hielt sich die Ohren zu. Die Schreie schienen durchs ganze Schloß zu gellen, nichts an Lautstärke zu verlieren, in die Keller zu dringen und von dort widerzuhallen. Sie hallten durch alle Räume und weiter bis unters Dachgestühl, und dort erschreckten sie die Eulen. (Aber die waren wahrscheinlich auf Jagd.) Exner blieb an der Schlafzimmertür stehen und sagte: „Um Himmels willen, bleiben Sie, wo Sie sind!“ „Blöder Kerl …“, zischte die Männerstimme. Die Männerstimme hatte sich von dem Schreck erholt und wollte kundtun, daß sie einem Mann gehörte. „Schon gut, schon gut“, sagte Exner versöhnlich. „Ich bin wirklich von der Polizei, Kripo. Also bitte Ruhe.“ „Was heißt Ruhe?“ fragte der Mann drohend. „Ich zeig’ dir gleich, was Ruhe ist!“ „Viktor“, piepste die Mädchenstimme. „Hör auf.“ Sie war auf den Mann zweifellos sehr stolz. „Ich schlage Ihnen was vor …“, meinte Exner besänftigend. „Ich schlag’ dir auch gleich was vor!“ Das Bett der Fürstin Beatrice knarrte. „Herr Doktor Hauser“, sagte Exner, „es ist nur Zufall, daß ich Sie gefunden habe. Eine Überlegung über die Romantik. Eigentlich beneide ich Sie. Da kommt einem von selber der Gedanke …“ „Gedanke?“ Doktor Hauser tappte zur Tür. „Der Gedanke“, schwärmte Exner, „die Nacht im Schlafzimmer der Fürstin Colloredo zu durchträumen.“ „Sie sind ein Flegel, Herr!“ sprach Doktor Hauser. Er tauchte in der Tür auf, Exner trat unwillkürlich zurück. „Ich sehe“, meinte Exner frech, „daß Sie beinahe Kulturist sind und sich die Kondition als Holzfäller aufbessern …“ Er hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase und knipste das Feuerzeug an. „Überzeugen Sie sich, 242
Herr Doktor. Die zweite Person im Zimmer ist offenbar Fräulein Domkářová.“ Er rückte den Ständer mit der Absperrleine beiseite und nahm in einem Rokokosessel Platz. „Sie können zu dem Fräulein zurückkehren, Herr Doktor. Ich bleibe hier und werde ohne Ihr Einverständnis die Schwelle des Schlafzimmers nicht überschreiten. Wir brauchen kein Licht“, fuhr er fort, „wir halten Dunkelstunde.“ Doktor Hauser blies das Feuerzeug aus, zieferte kurz, weil er sich die Finger verbrannt hatte, und gab es mitsamt dem Ausweis Exner zurück. „Danke“, sagte Kapitän Exner, „Sie können wieder hinein.“ „Ich bleibe hier.“ „Mich braucht man nicht zu bewachen. Bitte nur zur Sicherheit – ist dort wirklich Fräulein Domkářová?“ „Ja.“ „Ich gratuliere Ihnen, Herr Doktor“, sagte Michal Exner unangebracht jovial, „zu diesem Ort und zum Mondschein …“ „Hören Sie“, unterbrach ihn Doktor Hauser, „das ist wohl nicht Ihre Sache.“ „Ist es nicht“, stimmte Exner zu. „Aber mir hat es keine Ruhe gelassen. Mir steht jetzt nicht der Sinn nach Scherzen. Ich mußte mit Ihnen sprechen und konnte Sie nirgends finden. Es ist meine Sache und purer Zufall, daß ich Sie zur Unzeit gesucht habe. Aber auf die Gelegenheit oder Ungelegenheit der Zeit kann ich bei meiner Arbeit keine Rücksicht nehmen. Samstag nacht wurde nicht weit von hier ein Mensch ermordet. Sie haben ihn gekannt. Sie haben ihn sogar geschätzt, Herr Doktor. Um die Tatzeit waren Sie auf dem Schloß und in seiner Umgebung. Etwa bis elf haben Sie Canasta gespielt. Und was dann? Und warum haben Sie Rambousek in Schutz genommen? Das ist eine Ausnahme in dieser Stadt. Sie haben ihn sogar für seine Bilder bezahlt. Das ist in 243
Opolná ein Einzelfall. Das also sind meine Fragen. Ich weise darauf hin, daß die Sache ernst ist, denn es handelt sich um einen Raubmord. Ferner weise ich darauf hin, daß ich mich über unser gemeinsames Gespräch sowie über die Umstände, unter denen es sich abspielt, niemandem gegenüber äußern werde. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Mich interessiert der Tod des Herrn Rambousek. Nichts anderes in diesem Augenblick und in dieser Stadt.“ Der Chirurg kratzte sich die behaarte Brust. „Gut, Doktor“, sagte er, und Exner staunte, wie aufmerksam Doktor Hauser seinen Dienstausweis studiert hatte. „Ihre Methoden sind eigenartig, aber es sind Ihre Methoden, und was soll ich mich da einmischen. Sie mischen sich nicht in die Ethik ein, und damit stehen wir gleich. Darf ich mir eine Zigarette anzünden?“ „Bitte sehr.“ Hauser ging in eine Ecke, eine Streichholzschachtel klapperte, und das Streichholz flammte auf. In seinem Schein sah Exner für einen Augenblick das weißblaue Himmelbett. Und darin ein blonder Kopf, derselbe, den er am Nachmittag über einem Sommerkostüm und über wippenden Hüften gesehen hatte. „Es ist hier wie in dem Märchen von der stolzen Prinzessin …“, bemerkte er. Hauser fläzte sich in den Sessel neben dem Bett. Im Dunkel leuchtete das Ende seiner Zigarette. „Ist es“, entgegnete er trocken. „Schießen Sie los, Doktor.“ Exner räusperte sich. „Ich möchte Sie zuerst … um eine kleine Information bitten. Am Samstagabend waren Sie also bei den Kalábs und spielten Canasta. Stimmt das?“ „Stimmt.“ „Im Laufe des Spiels haben Sie nichts Besonderes und Ungewöhnliches bemerkt? Bitte, sagen Sie nicht gleich nein. Denken Sie eine Weile nach. Beide. Stellen Sie sich noch einmal den ganzen Abend vor. Sie haben schon 244
mehrmals dort gesessen, ich will keine Einzelheiten. Nur wenn Sie zufällig …“ „Nein“, sagte Hauser nach einer Weile. „Nichts. Und du, Olga?“ „Auch nichts. Mir fällt nichts ein … Ganz normal. Wie immer. Nur hast du Wein aufs Tischtuch gegossen, und Věra, also Frau Kalábová, hat es ’runtergenommen, durchgewaschen und hinausgetragen. Aber bis zum Morgen hat es ihr jemand gestohlen.“ „Wohin hinaus?“ „Sie hat es über die Balustrade auf dem Hof gehängt. Als wir gingen, haben wir es dort noch gesehen.“ „Wann sind Sie gegangen?“ „Gegen halb elf“, sagte Hauser. „Vor halb zwölf war ich schon im Krankenhaus. Ich hatte nämlich abends Dienst. Bis elf hat ihn für mich Kollege Vaníček übernommen. Er fuhr in Urlaub, und der Zug fuhr kurz vor eins. So wollte er nicht erst schlafen gehen. Ich brachte ihn dann zum Bahnhof.“ „Wir wollen noch ein bißchen zurückkehren“, sagte Exner geduldig. „Der Herr Doktor hat Wein vergossen, Frau Kalábová hat das Tischtuch gewaschen und es draußen zum Trocknen aufgehängt. Um wieviel Uhr ist das ungefähr gewesen?“ „Wir haben nachher noch lange gespielt. Um neun? Ungefähr um neun.“ „Fräulein Domkářová?“ „Ich glaube auch, um neun. Vielleicht etwas früher.“ „Sie haben das Spiel beendet, weil Sie gehen mußten. Wann? Das sollten Sie doch genau wissen.“ „Es war fünf Minuten vor halb elf.“ „Ins Krankenhaus sind es zehn Minuten“, bemerkte Exner. „Eher noch weniger.“ „Ins Krankenhaus bin ich gegen halb zwölf gekommen.“ „So“, meinte Exner zufrieden. „Und da haben wir’s. Verstehen Sie?“ 245
„Ich verstehe, Doktor“, sagte der Chirurg. „Die Frage lautet: Was haben Sie von halb elf bis halb zwölf gemacht?“ „Genau.“ „Sie werden sich vielleicht wundern …“ Er brach ab, und dann lachte er leise. „Aber Sie werden sich bestimmt nicht wundern. Wir sind ins Krankenhaus gegangen.“ „Sie beide gemeinsam?“ „Ja.“ „Auf welchem Wege?“ „Durch den Park.“ „Durch den Park also. Und am Teich entlang. Und an der Mühle vorbei.“ „Ja“, sagte Hauser. „Dann hinauf auf den Marktplatz …“ „Die Abkürzung?“ „Aber?“ wunderte er sich. „Sie kennen das dort? Nein, die Abkürzung nicht. Die Straße.“ „Übers Katzenkopfpflaster.“ „Ja, auf der Straße“, bestätigte Hauser. „Und wir haben uns verabschiedet, bevor wir auf dem Platz anlangten. Olga ging …“ „Moment, das wird mir das Fräulein selber sagen. Sie gingen …“ „Direkt über den Marktplatz ins Krankenhaus.“ „Wo Sie gegen halb zwölf eintrafen.“ „Ungefähr. Zufällig hab’ ich beim Pförtner auf die Uhr geschaut, aber die geht mal so, mal so.“ „Danke, Herr Doktor“, sagte Kapitän Exner. „Und jetzt Sie, Fräulein. Sie haben sich verabschiedet, Sie sind zum Schloß zurückgekehrt. Oder nicht?“ „Doch, durch die hintere Gasse. Das ist eine kurze Gasse, die von der Ecke des Platzes ausgeht. Ich bin geradewegs nach Hause gegangen. Habe das Tor aufgemacht …“ „Wo trugen Sie den Zweipfundschlüssel?“ Sie lachte. „In der Hand.“ 246
„Gut. Sie haben das Tor aufgemacht …“ „Und bin geradewegs in mein Zimmer und schlafen gegangen.“ „Und das Tischtuch?“ „Das weiß ich nicht. Nein, da müßte ich lügen … Ich hab’ nicht zur Balustrade geschaut. Aber bei Herrn Rambousek brannte noch Licht.“ „Kam Ihnen das nicht sonderbar vor?“ „Überhaupt nicht. Er war wohl aus der ‚Waldbaude‘ heimgekehrt. Dort ist er doch fast jeden Samstag hingegangen.“ „Ich möchte Sie nicht aufhalten“, sagte Kapitän Exner fast zufrieden, „aber wir wollen es doch noch einmal durchnehmen … Hören Sie, Herr Doktor …“ „Bitte?“ „Haben Sie nicht auch für mich eine Zigarette?“ „Bitte sehr. Aber kommen Sie, setzen Sie sich hierher, ich habe hier einen Aschenbecher. Man darf hier nicht rauchen.“
102. An der Wand hinter Hausers Rücken schimmerte ein venezianischer Spiegel. Olga Domkářová, in ein Laken gehüllt, ließ die nackten Beine aus dem Bett hängen und schloß sich den Rauchern an. Die Fürstin Beatrice, die sehr bigott war, hätte darüber den Verstand verloren. „Nun“, begann Exner mit penetranter Pedanterie, „denken Sie bitte noch einmal nach. Sie sind die Treppe aus dem Hof in den Park hinabgestiegen. Auf dem Weg zur Treppe nichts?“ Sie schüttelten die Köpfe. „Nichts.“ „Welche Seite der Treppe haben Sie benutzt?“ „Die linke“, sagte sie, „die westliche.“ „Und warum gerade die?“ 247
„Das ist doch natürlich“, sagte sie. „Wir wollten zum Westausgang aus dem Park.“ „Auf der Treppe nichts? Geräusche? Menschen? Sind Sie niemandem begegnet? Durch den Park kehren doch die Leute aus der ‚Waldbaude‘ heim.“ „Wenige“, sagte sie, „so spät am Abend wenige. Rambousek allerdings kehrte immer so heim. Aber ich habe nichts gehört.“ „Und Sie?“ fragte Exner den Doktor. „Auch nichts. Wir sind niemandem begegnet. Auf dem ganzen Weg.“ „Ich hab’ in der Gasse zum Schloß jemanden gesehen“, erinnerte sich Olga Domkářová. „Den betrunkenen Herrn Štrunc. Er ist jeden Samstag betrunken. Nicht nur Samstag. Und dann einen Jungen mit seinem Mädchen. Habe aber nicht weiter auf sie geachtet. Sie kamen offenbar aus der Weinstube.“ „Von Zeit zu Zeit sind Sie stehengeblieben …“ „Nicht so oft“, sagte Hauser. „Wenn Sie bedenken …“ „Ich weiß.“ Exner nickte. „Es geht genau auf. Genauso wie es aufgeht, daß genau in dem Augenblick, da Sie im Park waren, aber genau in diesen Minuten …“ Er verstummte. „Was denn?“ fragte sie unsicher. „Was war denn genau in diesem Augenblick?“ „Genau das“, sagte er trocken, „was Sie denken.“
103. „Um Himmels willen …“, flüsterte sie, und das brennende Pünktchen ihrer Zigarette zitterte. Doktor Hauser drückte im Aschenbecher sorgsam seine Zigarette aus. Seine Hand war ruhig, wie das bei einem Chirurgen sein soll. „Wir haben kein Alibi. Wir waren dort. Und dennoch, so scheint es, verdächtigen Sie uns nicht.“ 248
„Sie irren sich“, sagte Kapitän Exner. „Ich muß Sie leider verdächtigen.“ „Sie haben Mut“, sagte Hauser. „Wieso?“ wunderte sich Exner. „Zu uns zu kommen.“ „Sie müssen in Betracht ziehen, Herr Doktor“, entgegnete Exner freundlich, „daß ich, als ich zu Ihnen kam, nichts von Ihrem Heimweg wußte und also nichts ahnte.“ „Das ist wahr. Wie geht’s weiter?“ fragte er trocken. „Morgen werden Sie, jeder extra, das Protokoll diktieren. Sie sind verdächtig, aber ich halte es nicht für unerläßlich, Sie in Untersuchungshaft zu nehmen.“ „Sie haben eine komische Art zu scherzen, Doktor“, meinte Hauser. „Hören Sie, das ist – leider – mehr Müdigkeit als Humor. Schließlich kursiert über Sie das Gerücht, daß Sie Rambousek gemocht haben.“ „Ja“, sagte Hauser zurückhaltend, „ich hatte den Alten ganz gern.“ „Wegen seines Malens, seines Charakters oder wegen einer Arbeit, die er für Sie getan hat?“ „Nichts hat er für mich getan. Ich hab’ ihm die Hand gerichtet. Zwei Finger. Er lobte mich, alles sei wieder in Ordnung. Brachte mir eine Flasche, die hab’ ich aber nicht genommen. Ich sagte ihm, ich wolle ihm lieber ein Bildchen abkaufen. Er forderte mich auf, zu ihm zu kommen und mir eins auszusuchen. Ich ging hin, suchte mir zwei aus und wollte sie bezahlen. Er verlangte zwei Hunderter, für jedes einen. Wenn wir einander begegneten, wechselten wir immer ein paar Worte. In einer kleinen Stadt entgeht das den Leuten nicht.“ „Ich hatte ihn auch ganz gern“, schloß sich Olga Domkářová an, „aber außer dem Gruß habe ich mit ihm nicht gesprochen. Er wußte von uns …“ Sie hielt inne. „Nur weiter“, sagte freundlich Kapitän Exner. „Verstricken Sie sich nur in Ihre eigenen Netze.“ 249
„Er wußte von uns. Einmal blinzelte er mir zu und fragte leise: Na, was ist, kommt der Herr Doktor?“ „So ist es!“, ergänzte Hauser. „Jetzt stecken wir völlig drin. Zu mir hat er einmal gesagt: Das ist aber ein prima Mädel. Und es war unzweifelhaft, wen er meinte, denn wir standen auf dem Platz, und Olga kam auf uns zu.“ „Das sind aber nicht Bemerkungen eines verdrießlichen alten Knackers.“ „Er war doch gar nicht verdrießlich“, erklärte Hauser. „Nur ein bißchen asozial. Und unbeständig, voller Unruhe.“ Kapitän Exner seufzte. „Die Stunde ist vorgeschritten. Sie haben die Nacht vor sich. Wir trennen uns jetzt und ziehen noch keinerlei Schlußfolgerungen. Morgen gehen Sie noch nicht aufs Revier. Wenn es notwendig ist, lade ich Sie vor. Selbstverständlich jeden extra.“ Er drückte vorsichtig die Zigarette aus und stand auf. „Ich werde mich hoffentlich nicht verirren.“ „Sie brauchen nicht außen herum“, sagte sie. Sie hielt sich das Laken um den Leib und schlüpfte aus dem Bett. „Kommen Sie. Hier führt eine Tür direkt auf die Loggia. Und zur Treppe hin ist es offen.“ „Vielen Dank und noch einmal Entschuldigung. Das sind Freuden …“ Kapitän Exner trat hinaus in die laue Mondnacht, in die vollendet ausgewogene Architektur der Renaissance.
104. In der Weinstube setzte er sich an den Tisch und legte den Schlüssel vor Erich. „Danke.“ Erich schenkte ihm Wein ein. „Wo ist Herr Doktor Medek hin?“ fragte Exner. „Schlafen gegangen“, antwortete Lída Muršová. „Seid ihr einander nicht begegnet?“ 250
„Nein …“, sagte Exner langsam. Er hob das Glas. „Menschenkinder, hab’ ich einen Hunger, aber hier kriegt man ja nichts Ordentliches mehr. Hat Doktor Medek einen Schlüssel zum Schloß?“ „Nein. Jeden Morgen holt er sich ihn bei Frau Kalábová ab. Mußt du dauernd nach was fragen?“ „Also er …“ Exner leerte sein Glas in einem Zuge. „Er ist also beleidigt. Der Ärmste … Herr Ober!“ „Du kommst aber auch auf alles“, konstatierte sie ärgerlich. „Ihm hat es nicht gefallen, daß ich dir einen Kognak brachte.“ „Das geht vorbei“, meinte er mit einem leisen Lachen, „wenn du es wollen wirst. Herr Ober!“ „Ich würde es nicht wollen“, sagte sie. „Ich würde noch was essen. Nicht etwas Beliebiges, aber bald.“ „Da hätten wir noch kalte …“ „Nichts Kaltes.“ „Dann nur noch Schweinskotelett, belegt …“ „Nichts anderes?“ „Bedaure, der Herr.“ Der Ober war jung und hatte freche Augen. Exner gefiel ihm nicht. „Es ist schon spät.“ „Womit belegt?“ „Wie bitte?“ „Ich frage“, sagte Exner müde, „womit das Kotelett belegt ist.“ „Normal, bitte.“ „Ist der Koch noch da?“ „Er macht gerade Schluß, aber das Kotelett …“ „Dann sagen Sie ihm, er soll es mir mit gebackenen Äpfeln belegen.“ „Wie bitte?“ „Er soll mir das Kotelett mit gebackenen Äpfeln belegen. Falls er ein Koch ist, wird er es begreifen. Willst du das nicht auch kosten, Lída?“ „Will ich.“ 251
„Dann zweimal.“ Der Ire mit dem Schnauzbart blies ins Saxophon, der langhaarige Jüngling haute in die Tasten. „Lída …“ „Ja?“ „Ein bißchen Bewegung vor dem Essen kann nicht schaden. Übrigens haben wir schon Praxis aus der Vergangenheit.“
105. Der Lüster an der Decke spendete ein ungemütliches Licht. Exner knipste das Nachttischlämpchen an und den Lüster aus. „Es ist traurig“, sagte sie, „aber ich hab’ überhaupt nichts mit. Außer der Gesichtsmilch.“ „Da hast du alles. Und einen Spiegel, ja? Und ein Stück Lippenstift, ja? Du hast alles … Und hier ist ein Pyjama von mir. Mach dich einstweilen über dein Gesicht her, ich wasche mich kurz.“ Er spritzte Wasser auf sich und auf den Fußboden. „Es ist ein bißchen spät“, sagte Exner und ging zu seinem Bett. „Ein Kissen würde ich mir auf die Couch nehmen. Und ich hätte nichts mehr essen und trinken sollen. Mit vollem Magen büßt der Mensch Scharfsinn und Witz ein … Bitte, das Bad ist frei.“ Er setzte sich auf das Kanapee, lehnte sich an die Wand und legte die Hände in den Schoß. „Schau nicht her“, ermahnte sie ihn. „Gewiß“, sagte er und schloß die Augen. Mitunter schaute sie zu ihm hin, und sie mußte anerkennen, daß er sehr diszipliniert war. Das war er, denn er schlief. Sein Mund klappte ein bißchen auf, und beinahe hätte er so, im Sitzen, zu schnarchen angefangen. „Michal …“ 252
Sie legte ihn auf die Couch und deckte ihn zu. Er war immer noch diszipliniert. Öffnete nur halb die Augen. „Schläfst du?“ fragte sie. „Nein. Das ist Schicksal“, antwortete er schlapp. Sie schlüpfte ins Bett, kuschelte sich unter die Decke und knipste das Licht aus. Das Zimmer war nicht völlig dunkel, denn auf das herabgelassene Rollo fiel das Licht der Straßenlaternen vom Platz. Ihr fiel ein, daß sie die Tür nicht abgeschlossen hatte. Aber dann sagte sie sich: „Wer würde hier was stehlen. In dem Zimmer, wo Kapitän Exner schläft!“ Ihr kam das sehr zum Lachen vor, aber dazu fand sie nicht mehr die Zeit, denn sie war eingeschlafen.
106. Jemand rüttelte ihn sachte an der Schulter. Er ließ die Augen geschlossen. Jemand rüttelte ihn sehr vorsichtig. Er schlug die Augen auf. Auf der Couch daneben saß Leutnant Beránek. Er hielt den Finger an den Mund. Mit den Augen zeigte er auf das Bett. Exner drehte den Kopf herum. Er sah auf dem Kissen eine sehr schlanke Hand, die aus sehr langen Haaren hervorlugte. Leutnant Beránek zeigte auf seine Armbanduhr, auf der es halb sechs war. Er stand auf und balancierte auf Zehenspitzen über den abgetretenen Plüschteppich zur Tür. Bevor er sie leise hinter sich schloß, deutete er Exner durch eine komplizierte Gestikulation an, daß er vor dem Hotel wartete. Und Michal Exner seufzte leise. Er rappelte sich aus den Decken, rasierte sich unheimlich leise und zog sich an. Auf ein Blatt Papier schrieb er mit Druckbuchstaben: ICH FINDE DICH! Er schlüpfte in die Schuhe und verließ das Zimmer. Unten sagte er trocken zu Beránek: „Es ist Nacht.“ 253
„Es ist Tag“, entgegnete zufrieden Leutnant Beránek, „ein Tag wie frisch gewaschen.“ „Ich sehe, es ist bewölkt.“ „Die beste Zeit für die Heuernte. Sie hat schon angefangen. Unter der Leitung des Oberleutnants Vlček.“ Exner überging die Bemerkung, ihm stand der Sinn nicht nach Reden, und ein Frühstück war nicht in Sichtweite. Schweigend trottete er über den Platz und die steile Gasse hinunter zur Mühle. Leutnant Beránek hatte recht. Zwei Männer des Oberleutnants, die das zufällig konnten, waren dabei, den verunkrauteten und an Brennesseln reichen Raum zwischen dem Mühlgraben, dem Bach und dem Garten des Josef Kolář abzumähen. Unten bildete die Grenze ihres Tuns der Zusammenfluß des Grabens mit dem Bach, oben die alte Steinmauer des Mühlenhofes und das altersgeschwärzte Gebälk der ehemaligen Mühlenscheune. Jetzt setzte einer der Freiwilligen die Mahd hinterm Bach bis zu dem vom Damm des Mühlteiches zu Kolářs Haus und zu den weiteren Gebäuden des Zigeunerviertels führenden Weg fort, der andere machte sich über Kolářs Garten her. Es duftete wie bei einer richtigen Heuernte. Sie stiegen auf dem Pfad zu den zwei angefaulten Bohlen hinab, die den Steg bildeten. Der Pfad war jetzt gut sichtbar und begehbar. Die Schnitter häuften das gemähte Grün zu Schobern. Am Bachufer stand Oberleutnant Vlček. Er hatte ebenfalls zu mähen versucht, war nur in Hemdsärmeln, jetzt versuchte er sich die Pfeife anzustecken. Von ihr wehte der süßliche Duft parfümierten Tabaks. „Guten Morgen“, grüßte er mit der Pfeife zwischen den Zähnen und breitete stolz die Arme aus. „Was sagst du dazu?“ „Und sonst?“ „Nichts. Wir haben noch nicht angefangen. Wir müs254
sen es erst vorbereiten. Durch die Brennesseln zu waten ist nicht möglich, und außerdem“, und er zeigte mit dem Pfeifenstiel, „ist es schwierig, festzustellen, wo was neben dem Pfad liegt.“ Er deutete auf einen der Schober. „Wie du siehst, zumeist Brennnesseln. In denen wird sich niemand verstecken. Bist du schon hier gewesen?“ „Einmal“, sagte Exner. „Zusammen mit Leutnant Šlajner hab’ ich mir angeschaut, wo er das Beil gefunden hat … Übrigens, wir haben die ziemlich genaue Tatzeit.“ „Ach?“ wunderte sich Vlček. „Wann?“ „Dreiundzwanzig Uhr bis dreiundzwanzig Uhr dreißig. Sie haben nicht auf die Uhr gesehen, als sie ihn bemerkt haben.“ „Wer?“ „Zwei Leute.“ „Wen?“ stöhnte der Oberleutnant. „Den Mörder.“ Exner lächelte. „Freu dich nicht zu früh. Auf die Entfernung hätten sie ihn höchstens am Tage erkennen können. Sie haben ihn selbstverständlich nicht erkannt. Dort, wo du gestern an der Treppe gesucht hast, hat er wahrscheinlich das Beil abgelegt.“ „Das Blut stimmt, der Bescheid ist nachts gekommen.“ „Und noch etwas.“ Exner winkte Oberleutnant Čarda zu, der durch Kolářs Garten auf sie zukam. „Bohouš holt mit jemandem, egal mit wem, die Frau des Doktor Medek aus Prag her, Beránek kennt die Adresse. Sie ist Sonntag hier gewesen und auch Montag abend. Sie sollten gleich losfahren.“ „Wird erledigt“, sagte Beránek. „Ja, und der Mörder hat, außer anderem, der Frau Kalábová ein Tischtuch entwendet. Ein weißes.“ Exner erklärte, wie. Inzwischen war Oberleutnant Čarda über den Steg zu ihnen balanciert. „Sie tobt fürchterlich“, meldete er. „Ist von gestern abend noch nicht nüchtern geworden. Zwei 255
Mann müssen sie bewachen. Ich fürchte um ihre Sicherheit, Genossen.“ „Vielleicht sind sie stärker als das Weibsbild“, sagte Kapitän Exner leichtfertig. „Sie sagen, sie ist eine notorische Säuferin?“ „Zweifellos“, antwortete Čarda. „Sollen wir sie festnehmen?“ „Wird nicht nötig sein“, meinte Exner. „Ich komme gleich, um sie mir anzuschauen …“ Er ließ seinen Blick über das nasse Gelände schweifen. „Wirklich nichts Interessantes?“ „Nichts“, konstatierte Vlček und stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind, um die Pfeife wieder anzünden zu können. „Du mußt uns mehr Zeit geben. Falls du meinst, daß das ein interessantes Gelände ist.“ „Ist es wohl …“, sagte Exner leise. „Vielleicht sehr interessant … meine Offiziere …“, fügte er mehr für sich hinzu. Ein gellendes Kreischen erschallte, das war offenbar Kolářs Gefährtin. „Sakra …“, sagte Exner. „Ich geh’ zu ihr … Und dann brechen wir auf … der Genosse Oberleutnant mit uns … zu einem Spaziergang. Bis zum Park und zurück.“ Er setzte einen Fuß auf die Bohle, probierte, ob sie nicht zu sehr wackelte, und ging dann drüber. Der Unordnung und dem Dreck widmete er nur einen flüchtigen Blick. Die Frau warf sich im Bett hin und her. Zwei Männer in Uniformen standen bei ihr. Sie waren wütend und verlegen zugleich. „Was will sie?“ fragte Exner. Sie zuckten die Achseln. Sie schimpfte inzwischen Exner einen Scheißkerl und Schweinehund. Auf dem Tisch stand zwischen allerlei Gerümpel eine Flasche, in der zweifellos ein Rest Rum war. Er zeigte auf die Flasche. „Gebt es ihr. Sie wird trinken und zu 256
sich kommen. Und geht ’raus. Sonst fangt ihr euch noch Flöhe ein. Wenn sie durchs Fenster flüchten will, soll sie mit Gottes Segen abhauen.“ Sie folgten ihm, offenbar sehr froh, daß er sie von dieser unangenehmen Wache befreit hatte. Er untersuchte gründlich seine Hose, ob nicht zufällig ein Floh auf ihn gehüpft war. „Sucht euch auch ab“, forderte er die beiden Polizisten auf und fügte hinzu: „Ein Saustall ist das. Aber sie würde jedermann totschlagen, wenn er nur eine Flasche Gin in der Tasche hätte.“ Und er trat durch das zerfallende Türchen auf den Weg, wo er sich seinen Offizieren und Oberleutnant Čarda hinzugesellte.
107. Sie standen auf dem Damm und beobachteten amüsiert Kapitän Exner, der sich eingehend für das Wehr zum Bach interessierte. Das Wasser floß nur zum Teil darüber, das Holz war mit Moos bewachsen, es engte die Strömung kaum ein. Die Menge des überlaufenden Wassers war nicht so groß, um eine zusammenhängende Wand bilden zu können. Exner interessierte mehr das zweite Wehr, durch das einst das Wasser in den Mühlgraben zum Mühlrad gelassen wurde. Entweder war es in den letzten Jahren ausgebessert worden, oder der Müller hatte qualitätsvolleres Material verwendet, oder das Wehr war solider gebaut worden: Das Wasser strömte über die ganze Breite des oberen Randes; das Wehr war allerdings auch niedriger, und obendrein war die eine Hälfte hochgezogen. „Genosse Oberleutnant“, fragte er Čarda, „wer hat diese Wehre in seiner Obhut?“ Der Oberleutnant spähte durch das offene Tor unter der gemauerten Wölbung in den Mühlenhof. Hinten an der Scheune hackte ein alter Mann Holz. 257
„Tja, das weiß ich nicht …“ „Wir werden fragen“, entschied Exner und ging auf den Mann zu. Er grüßte. „Grüß Gott“, sagte der Alte, in der einen Hand hielt er das Beil, mit der anderen fuhr er sich über die Bartstoppeln, daß es knisterte. „Wollen Sie was?“ „Wissen Sie zufällig, wer sich um diese Wehre kümmert? Ich meine, wer sie hochzieht, ’runterläßt …“ Der. Alte lachte. „Ja, das wüßte ich schon. Mein Schwiegersohn.“ „Und ist er zu Hause?“ „Ach wo. Der ist auf Arbeit. Er arbeitet von sechs an. Was wollen Sie von ihm, junger Mann?“ „Ich hätte gern, Herr … wie ist der Name, bitte? Ich heiße Exner.“ „Und ich Hamel“, sagte der Alte und gab ihm die Hand. „Fein, Herr Hamel. Ich möchte gern … den Teich anstauen. Das Wasser anhalten. Daß es weder in den Mühlgraben noch in den Bach fließt.“ „Der Einfall ist Goldes wert“, sagte lachend der Alte und blickte zum Tor, wo ihn am meisten der uniformierte Oberleutnant Čarda interessierte. „Aber da würden dich, mein Junge, die Angler totschlagen. Sie haben im Graben und im Bach Forellenbrut angesetzt.“ „Nur für einen Augenblick …“ „Aus Hetz?“ fragte der Alte. „Nur so zum Spaß, mein Junge?“ Michal Exner zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Aus Hetz, Herr Hamel, gewiß.“ „Na ja.“ Der Alte legte das Beil weg und kratzte sich auf dem Kopf. „Aber einfach wird’s nicht sein. Das ist ein ziemlich starker Zufluß. Unter uns – der Schwiegersohn macht das nur pro forma. Mir würden sie sonst die Rente kürzen. Und der Schwiegersohn kann’s eh nicht. Also, für wie lange möchtest du es anhalten?“ 258
„Für zwei, drei Stunden. Das hängt von den Umständen ab. Ob dort nicht viel Modder ist …“ „Im Bach ist keiner. Der Graben hat ein geringeres Gefälle. Dort wird Modder sein. Man könnte es ja durchspülen. Aber das wäre ein großer Aufwand.“ „Dann nicht. Es wäre sowieso nicht gut, wenn zuerst das Wasser aus dem Teich schlagartig abgelassen und dann angestaut wird.“ „Du möchtest nur ein wenig den Durchfluß erhöhen. Und dann drei Stunden anhalten. Wenn ich anfange, müßtest du ein Stündchen warten, vielleicht auch mehr, je nachdem wie heftig du mir die Strömung erlaubst.“ „Nicht sehr heftig, Herr Hamel.“ „Na gut, schauen wir’s uns an. Holen wir die Kurbel.“ Und wie sie so dahinschritten, um die Kurbel zu holen, fragte Exner: „Sie haben hier gearbeitet, Herr Hamel?“ „Nein, mein Junge. Mir gehört die Mühle schon in der vierten Generation.“
108. Bei den Wehren besprachen sie dann konkret und mit allen komplizierten Einzelheiten, durch welches Wehr mehr, durch welches weniger Wasser abgelassen werden sollte und, falls es nötig wäre, nur durch den Graben oder nur durch das Bachbett. Exner bedankte sich bei Herrn Hamel, und sie gingen. Der Kapitän hielt sich noch eine Weile bei dem Wehr zum Mühlgraben auf, das näher zum Weg in den Park war, eigentlich dicht neben der Kastanienallee. Er stützte sich aufs Geländer und schaute zu, wie das Wasser unter dem hochgezogenen Wehr zu schäumen begann. „Das passiert mir sonst nie, Herr Hamel, daß jemand für mich etwas tut, ohne zu fragen, warum“, bemerkte er. „Ich bin Gott sei Dank nicht auf den Kopf gefallen, mein Junge. Wirst du ihn schnappen?“ 259
„Weiß ich nicht, Herr Hamel. Aber es war jemand aus Opolná. Könnten Sie mir nicht einen Rat geben?“ Hamel schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht, mein Junge. Du erkennst den Mörder nicht und hast, sicher schon ein paar gesehen. Ich noch keinen … Mit dem Kolář bist du dir nicht sicher, was?“ „Bin ich nicht.“ „Hast recht. Ich wäre mir da auch nicht sicher. Höre, sie winken schon nach dir …“ „Danke schön. Und auf Wiedersehen, Herr Hamel.“ „Auf Wiedersehen, mein Junge. Und wenn du ihn hast, komm mal wieder vorbei. Bei uns ist es schön.“ Er lachte. „Eine Mühle mit Zentralheizung. Macht nichts. Eine andere Zeit. Wir trinken einen drauf. Ich hab’ meine Stube da hinten. Mit den Blumen am Fenster. Ich gucke auf den Teich.“ „Und auf den Wassermann.“ „Ja. Vier sind hier.“
109. Sie standen vor dem Tor im Park. Der Teich schimmerte blau, das hohe Schilf am anderen Ufer schwankte im Morgenwind. Oben, zwischen den Wiesen und Feldern, sausten die Autos über die Landstraße Opolná – Dobrá – Meziboří. Oberleutnant Vlčeks Pfeife brannte schön, er paffte, ließ seinen Blick über die Wasserfläche und die Stellen an der Parkmauer schweifen. Oberleutnant Čarda, die Hände hinterm Koppel, blickte in den Park, dorthin, wo die Leiche gefunden worden war. Er zog sich das Mützenschild in die Stirn, damit ihn die Sonne nicht blendete. Leutnant Beránek setzte sich auf einen Mauervorsprung, stützte die Ellbogen auf die Knie, faltete die Hände, schaute zwischen den Beinen auf die Steinchen des Weges und dachte offensichtlich über etwas nach. 260
Kapitän Exner trat langsam, die Hände auf dem Rücken, zu ihm. „Fassen wir’s also beim Gehen zusammen“, sagte er. „Am Samstagabend hat Frau Kalábová ein mit Rotwein bekleckertes Tischtuch gewaschen. Sie hängte es zum Trocknen auf die Brüstung zum Hof. Das Tischtuch verschwand. Am Samstagabend haben zwei Zeugen vor elf Uhr das Tischtuch noch hängen sehen. Andere zwei Zeugen sahen jemanden die Treppe vom Hof in den Park hinabsteigen, der etwas Weißes trug. Nehmen wir an, es war der Mörder. Nehmen wir an, er hatte das Beil am Fuß der Treppe abgelegt, damit es ihm bei der Ausraubung und Verwüstung von Rambouseks Wohnung nicht hinderlich war. Er nahm das Tischtuch an sich. Vorläufig wissen wir noch nicht, warum, aber wir können es vermuten. Wir können annehmen“, fuhr Exner fort und zeigte durch die Allee zur Mühle, „daß der Mörder diesen Weg benutzte, um das Beil zurückzubringen oder um nach Hause zu gehen. Einverstanden?“ Sie nickten. „Kann er nicht auch anders gegangen sein?“ „Schwerlich“, meinte Vlček. „Letzten Endes ist dieser Weg der sicherste. Durch die Allee. Zwischen Bäumen. Dort“, und er zeigte auf den Teich, „konnte er auch gehen, wenn er das hier so gut kennt, um den Pfad zu finden, der dort ist, aber den wir nicht sehen, nur: Dort wäre er in einer hellen Nacht gut zu sehen gewesen, und in einer dunklen Nacht würde sich auch derjenige schlecht orientieren, der das hier kennt. Aber: Hat er das Beil noch in der gleichen Nacht in den Schuppen gebracht? Ist er nicht woandershin gegangen? Hat er es nicht erst am Morgen hingebracht? Am nächsten Tag? Wenn es ein anderer war als dieser Kolář?“ „Schwerlich“, meinte Beránek. „Solche Sachen würdest selbst du so rasch wie möglich hinter dich bringen wollen.“ 261
Exner schaute den Oberleutnant Čarda an. Dieser nickte. „Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Beil auf diesem Wege gegangen. Weil das am einfachsten ist.“ „Einverstanden“, sagte Exner. „Es ist Nacht, menschenleer, halb zwölf. Um zehn ist in Opolná kein Schwanz auf dem Marktplatz, geschweige denn hier. Die Gefahr, daß er jemandem begegnet, besteht, aber nur minimal. Immerhin ist es möglich sich zu verstecken … Kommt, wir gehen langsam weiter, wie wahrscheinlich er … Hinter einem Baum, im Graben. Das Gras ist so hoch, daß mich selbst am Tage niemand sieht, wenn ich mich ’reinlege. Es ist wahrscheinlich, daß er das Beil trug, das Tischtuch, er ging in den Kleidern, in denen er gemordet und Rambouseks Wohnung verwüstet hat …“ „Gewiß“, stimmte Vlček zu. „Im Park hätte er sich nicht umgezogen … Es sei denn …“ „Es sei denn?“ „Er hätte im Park irgendwo versteckt gewartet. Eine Stunde, zwei. Und beobachtet. Und sich dabei umgezogen.“ „Das ist möglich. Hat er die Kleider im Park gelassen?“ „Hat er nicht“, sagte Oberleutnant Čarda. „Wenigstens hier nicht im Umkreis von fünf-, sechshundert Metern. Das hätte er weiter oben machen müssen, bachaufwärts.“ „Hat er die Kleider verbuddeln können?“ „Das konnte er“, meinte Beránek, „aber das ist unwahrscheinlich. Umziehen, das ja. Übrigens vermute ich, daß er das Tischtuch genommen hat, weil ihm eingefallen ist, daraus ein Bündel zu knoten. Um die Kleider besser zu tragen. Und die Schuhe. Alles, was er anhatte. Das Tischtuch kam ihm gerade zupaß. Und das ist, glaube ich, eine Realität, mit der wir fest rechnen können.“ 262
„Kann sein“, sagte Michal Exner zufrieden. „Er muß aber Kleider zum Wechseln gehabt haben. Hätte er sie mit in den Park geschleppt?“ „Wie willst du das wissen?“ hielt ihm Oberleutnant Vlček entgegen. „Das kannst du nicht. Hör mal, wir werden uns vorläufig keine anderen Varianten ausdenken. Nehmen wir das Wahrscheinlichste an! Er zieht sich Kleider an, darüber zweite. Die oberen zieht er an einem unauffälligen Ort aus, versteckt sie. Die Schuhe kann er in der Tasche haben. Er nimmt die Mordwaffe und geht los. Die Kleider, die er anhat, müssen seine eigenen sein, er kann ja jemandem begegnen, zum Beispiel dem Opfer. Wenn er anders, irgendwie auffällig angezogen wäre, könnte er Verdacht erregen. Selbst im Dunklen. Er vollbringt die Tat, kehrt zurück.“ „Bringt die Waffe zurück …“, mischte sich Exner ein. „Bringt von mir aus die Waffe zurück, dir gefällt dieser Kolář als Mörder immer noch nicht, ich weiß, ist schon gut, er zieht sich um. Die benutzten Kleider packt er in das Bündel und … der Bach. Oder der Teich.“ Oberleutnant Vlček blieb stehen, um sich die erloschene Pfeife wieder anzuzünden. „Nur“, nuschelte er mit der Pfeife im Mund, „der Morast ist vielleicht grundlos, wir werden aussehen wie die Schweine. Lassen wir den Teich ab? Und das Geld? Das hat er mit nach Hause genommen?“ „Wenn das alles ganz anders war“, bemerkte Kapitän Exner fast düster, „dann werden wir noch einmal von vorn anfangen. Wir werden auch den Teich ablassen. Schlimmstenfalls. Ohnehin meine ich …“ „Was?“ fragte Beránek. „Daß es ihm um das Geld ging und auch nicht ging …“ „Wie das?“ fragte Oberleutnant Čarda. „Ging und nicht ging?“ „Wissen Sie, er hat das Geld genommen, aber daß er sich mit dem Demolieren der Wohnung aufhielt … Ei263
gentlich nicht der Wohnung, sondern nur bestimmter Gegenstände, das reimt sich nicht zusammen.“ „Ja“, pflichtete ihm Čarda bei, „das ist komisch. Aber manch einer verliert nach einem Mord den Verstand.“ „Was diese Wohnung betrifft“, gestand Oberleutnant Vlček, „bin ich völlig ratlos.“ „Ich nicht mehr so sehr …“, sagte Kapitän Exner, als sie sich wieder dem Damm näherten. „Ich bin nur entsetzt … wenn mir die einfallen, die das getan haben können.“
110. „Falls ihr einverstanden seid“, erklärte Herr Hamel, „kann ich in fünfzehn, zwanzig Minuten die Wehre ’runterlassen. Aber ich würde empfehlen, durch das eine Wehr immer einen Durchlaß zu lassen. Dann durchs zweite. Damit mehr Zeit ist.“ „Gut, Herr Hamel“, sagte Kapitän Exner. „Und mit welchem könnten wir beginnen?“ Hamel ging mit ihnen zum Wehr des Baches. „Mit dem Bach. Der Graben ist morastiger, das macht mehr Mühe. Durch den Bach kann ich auch mehr Wasser ablassen.“ Sie stellten sich über das Wehr, beobachteten den Wasserschwall. „Ja“, sagte Hamel, „fließendes Wasser ist was Zauberhaftes. Manchmal lasse ich das Mühlrad laufen. Es ist noch nicht verfault. Aber bald ist es soweit.“ „Haben Sie ein Schöpfwerk angeschlossen?“ fragte Oberleutnant Čarda. „Warum?“ wunderte sich der Alte und zwinkerte Exner zu. „Ich lasse es zu meiner Freude und zur Freude der Wassermänner laufen.“ „Zu Ihrer Freude“, sagte Exner, „können Sie dann in dem Bach, wenn es unerläßlich ist, eine kleine Sintflut hervorzaubern.“ „Wird nicht nötig sein, mein Lieber. Wir haben heuer kein nasses Jahr.“ 264
111. Die zwei Uniformierten saßen auf Hauklötzen vor Kolářs Haus. Sie meldeten, daß das Weibsbild endlich eingeschlafen sei. Einen von ihnen schickte Čarda nach hohen Gummistiefeln. „Wir werden hier“, fügte er hinzu und schaute anzüglich den Kapitän an, „ein bißchen durchs Wasser waten … Die Hosen krempeln wir hoch oder stecken sie in die Stiefel.“ Exner, der inzwischen den leer gewordenen Hauklotz besetzt hatte und in die Scheune starrte, lachte. „Hör mal“, sagte Leutnant Beránek, „es ist zwar befremdlich, aber du denkst nach. Etwas geht dir durch den Kopf. ’raus mit der Sprache.“ „Ich weiß nicht“, sagte Kapitän Exner unsicher. „Wenn du nicht lachen wirst … hätte ich eine Idee …“ „Lachen werde ich vielleicht“, entgegnete Beránek, „ich bin von Natur ein lustiges Haus. Worum geht’s?“ „Hör zu“, erklärte Exner. „Willst du nicht ein bißchen den Mörder spielen? Nur kurz. Stell dir vor, du kommst vom Damm. Hast die Hände voll. Das Beil, das Bündel. Wo hast du das Geld?“ „In der Tasche.“ „Wahrscheinlich.“ „Bestimmt“, behauptete Beránek. „Ich werde es doch nicht in der Hand tragen, um es irgendwo zu verlieren.“ „Gut. Also geh. Es ist dunkel, die letzte und einzige Straßenlaterne ist dort, hinterm Mühlgraben. Viel Licht fällt hier nicht her, dort sind Bäume. Geh bis auf den Weg, also, Vlček, lach nicht. Genosse Oberleutnant, geben sie ihm bitte eine Zigarette. Er wird sie brauchen, denn gleich wird’s spannend. Oder … oder auch nicht. Also geh.“ Leutnant Beránek trat in das Tor, das so verfallen war, daß man es nicht schließen konnte. Er versuchte es. Er mußte es anheben. „Nein“, sagte er, „damit würde sich niemand aufhalten, selbst tags nicht.“ Er ging wei265
ter zur Scheune. Er machte eine Bewegung, als würfe er das Beil hinein. „So ungefähr?“ „Hmmm …“, machte Exner. „Das genügt nicht. Zwei Schritte mehr. Bück dich zu dem Haufen Scheite, so, und jetzt wieder aufrichten. So. Das geht leicht. Weiter. Du hast die Kleider an und in ihnen das Geld …“ „Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten“, bemerkte Vlček. „Entweder ist er jetzt zu Hause, oder er ist es nicht.“ „Nehmen wir an“, sagte Exner, „er wohnt nicht hier, es ist nicht Kolář. Kolář haben wir, aber er paßt uns nicht. Weder uns noch anderen. Der Mörder muß sich jetzt umziehen. Und noch etwas: Er kann nicht voraussetzen, daß es regnen wird. Er kann nicht voraussetzen, daß man den Mord erst am dritten Tag entdecken wird. Ich denke, er weiß von Hunden und Spuren. Das weiß heute jedermann.“ „Wenn es so ist“, sagte Vlček, „dann ist er kein Dummkopf, und diese ganze Strecke hat er wohldurchdacht gewählt.“ „Ich bin ein bißchen herumgestreunt“, sagte Exner. „Für seine Zwecke war dieser Weg, scheint’s, der günstigste. Bis zur Stadt ein Katzensprung. Er ist eigentlich in der Stadt. Seichtes Wasser …“ „Gut“, ließ sich Leutnant Beránek vernehmen. „Gehen wir. Wohin?“ „Er kennt es hier. Auf dem nächsten und verstecktesten Weg.“ „Durch den Garten …“ „Wahrscheinlich …“ Sie schlenderten langsam Leutnant Beránek nach. „Was ist mit dem Geld?“ fragte dieser. „Ich habe es immer noch in der Tasche …“ „Vorläufig laß es dort.“ Sie gingen durch den Garten zum Bach. Der Schwarm von Vlčeks Männern drang langsam, fast auf Knien, über 266
die Wiese vom Zusammenfluß des Grabens mit dem Bach in Richtung Mühle vor. Sie waren schon auf der Hälfte. Die vier Kriminalisten gingen an dem halbzerfallenen Zaun entlang. Hier endete der schmale, fast unkenntliche Pfad und verbreiterte sich zu einem Weg, der um das Grundstück längs der Reste des Zauns herumführte. Sie blieben stehen. Vlček und Exner sahen sich an und schüttelten die Köpfe. „Ich meine auch“, sagte Leutnant Beránek, „daß er weitergegangen ist … bis zum Bach. Dort hat er sich umgezogen und ist durchgewatet. Oder ist er durchgewatet und hat sich erst dann umgezogen?“ Exner zuckte die Achseln. „Er ist bestimmt hier durchgewatet. Der Mühlgraben ist morastig und hat höhere und nicht so zugängliche Ufer. Er hat also die Schuhe ausgezogen oder auch nicht und hat den Bach durchquert. Über den Steg zu balancieren ist am Tage nicht leicht, geschweige denn nachts.“ „Soll ich waten?“ fragte Beránek. „Gewiß“, sprach Oberleutnant Vlček. „Das ist unerläßlich.“ Exner schritt über den Steg. „Für deine Gesundheit und zur Erfrischung.“ Er drehte sich um. „Kommt her, seht euch das an. Diesen Platz dort. Um die Weiden wachsen keine Brennnesseln. Hier ist ein schönes, bequemes Plätzchen. Und in dem meterhohen Unkraut, das jetzt abgesenst ist, kannst du ein Auto verstecken. Um so eher ein paar Kleidungsstücke.“ Er hockte sich hin, starrte auf die Erde und schaute sich um. „Ich hoffe, die Jungs übersehen nichts. Falls natürlich überhaupt was zum Übersehen da ist“, fügte er kleinmütig hinzu. „Das Wasser im Bach sinkt. Herr Hamel hat das Wehr geschlossen.“ „Gehen wir’s an“, sagte Vlček, pfiff auf den Fingern 267
und rief seine Männer. Auf dem Weg von der Mühle zu Kolářs Haus stand ein Auto mit Leutnant Šlajner. Sie luden gewöhnliche und hüfthohe Gummistiefel aus. „Gut“, sagte Beránek. „Siehst du auf der Erde was?“ „Nein. Übrigens kann er am zweiten oder dritten Tag Ordnung gemacht haben, ja noch gestern nachmittag. Er hat sich umgezogen. Die gebrauchten Klamotten hat er in das Tischtuch gepackt. Moment! Einen Stein! Als Ballast! Er muß sich irgendwo was als Ballast bereitgelegt haben. Undenkbar, so was mitzuschleppen …“ Und Exner kroch in der Kniebeuge ringsherum. „Einen Stein. Verdammt! Guck mal!“ „Was ist?“ „Weißt du, warum die Bohle wackelt?“ „Sie ist krumm.“ „Quatsch. Schau nur“, und Exner zeigte auf das Ufer, wo die Bohle auflag. „Hier fehlt ein Stein. Auf beiden Seiten ist die Bohle mit Pflastersteinen unterlegt, genau die gleichen sind oben in der Straße. Genau die gleichen waren auf dem Marktplatz, überall, bevor hier asphaltiert wurde. Und ein paar hat jemand hergekarrt. Auf beide Seiten. Auf der anderen Seite, siehst du? Die Bohle wird von drei Steinen unterstützt. Und hier fehlt einer!“ In der Uferböschung klaffte tatsächlich eine sichtbare, begrenzte Öffnung. „Vielleicht hat ein Hochwasser ihn weggespült.“ „Nein, das ist frisch.“ Kapitän Exner rieb sich die Hände mit der Geste eines orientalischen Händlers. „So. Genosse Leutnant, ich bitte Sie, hallo, Genosse Leutnant Šlajner! Den Fotografen!“ Er stand auf und rieb sich zufrieden die Nase. „Sakra! Endlich. Der Genosse Oberleutnant wartet hier, wir gehen weiter!“ „Ich zieh’ mich also um“, fuhr Leutnant Beránek im Ton eines Märchenerzählers fort, „und gehe weiter. Die Kleider und der Pflasterstein im Tischtuch. Und wir gehen auch weiter …“ 268
Der Pfad wand sich in zwei natürlichen Bögen zu dem Steg über den Mühlgraben. „Kein Morast“, machte Exner aufmerksam. „Festgetretener Sand.“ Sie blieben am Steg stehen. Exner blickte bekümmert in das dunkle Wasser. „Im Bach wird nichts sein“, sagte er. „Er ist zu seicht. Ihm muß doch daran gelegen haben, das Bündel für längere Zeit loszuwerden. Rechts und links Weidengestrüpp, das Ufer. Oder sollte er auf den Damm zurückgekehrt sein?“ „Blödsinn! Mit dem Stein!“ „Sag nicht Blödsinn.“ „Warum nicht?“ „Nur so, es ist kein schönes Wort. Aber du hast recht. Auf den Damm ist er nicht zurückgekehrt. Es kann gar nicht anders gewesen sein.“ Er stützte sich auf das wacklige Geländer und beobachtete das frei strömende Wasser. Er hatte nicht darauf geachtet, wie rasch es geflossen war, bevor Herr Hamel den Abfluß aus dem Teich gestoppt hatte. Die Strömungsgeschwindigkeit war aber nicht sonderlich groß. Er riß ein Weidenblatt ab und warf es ins Wasser. Es schwamm so langsam, daß man ihm in bequemem Schritt folgen konnte. Auf beiden Seiten des Grabenbetts standen alte Weiden. Über ihnen waren noch die Kronen der Kastanien, die an der Straße wuchsen, die zweieinhalb Meter über dem Niveau des Stegs vorbeiführte. Jemand hatte die alten Randsteine weiß gekalkt, sie leuchteten zwischen den Blättern des Hagedorns hindurch, mit dem die Böschung über dem Graben bewachsen war. Selbst an diesem sonnigen Tag herrschte über dem Graben Dämmer. „Das ist ein gespenstischer Ort“, bemerkte Exner. „Undenkbar, daß hier keine Wassermänner sein sollten. Wie tief mag es hier sein?“ grübelte er. 269
„Wir werden nachmessen.“ Und wie jedesmal war Leutnant Beránek bereit, das Problem durch eine konkrete Aktion zu lösen. Er holte sein Taschenmesser hervor, schnitt eine lange Weidenrute ab und reichte sie Exner. Dieser ging langsam auf die Mitte des Stegs, dabei die Blätter von dem Zweig abreißend. „Die Bohlen“, sagte Beránek, „sind nicht gerade frisch. Ich glaube sogar, sie sind völlig durchgefault.“ „Wir müssen es riskieren“, entgegnete weise Kapitän Exner, hockte sich mitten auf dem Steg hin und hielt sich mit der Linken am Geländer an. „Halt dich nicht dort fest!“ rief Beránek warnend. „Keine Angst …“ Exner beugte sich über die Wasserfläche, die etwa vierzig Zentimeter unterhalb des unteren Randes der Bohle war, und steckte die Weidenrute ins Wasser. „Ich bin auf dem Grund“, sagte er. „Und da ist Modder. Hier bin ich auch auf dem Grund … Hier auch … Aber hier ist kein Modder“, stellte er überrascht fest. „Hier ja, aber hier nicht.“ Auf einmal begann er eifrig im Wasser zu stochern. „Viel Modder ist nicht. Aber hier ist der Grund, hier auch, das ist klar. Hier wieder nicht und hier ja!“ „Um Himmels willen, fall nicht ’rein!“ rief Beránek. „Keine Bange …“ Kapitän Exner richtete sich langsam und vorsichtig auf, um nicht in seinen hellen und frischgebügelten Hosen und gewienerten Schuhen auszurutschen. Er knöpfte sich das Hemd auf und zog es aus. „He, was soll das!“ „Fang auf! Obacht, mach es mir nicht naß!“ Mit einer energischen Bewegung zog er einen Schuh aus und warf ihn aufs Ufer. Dann den anderen. Er streifte die Socken ab. Sie flogen Beránek in die Arme. Er knöpfte die Hose auf, zog sie, lächerlich balancierend und sich am Geländer festhaltend, aus und schickte sie auf dem Luftweg den Socken nach. 270
„Mach keinen Quatsch! Herr Hamel läßt es doch ab!“ In schneeweißen, sportlichen Slips setzte er sich auf die durchgefaulten Bohlen, legte sich bäuchlings darauf, hielt sich mit den Ellbogen fest und glitt ins Wasser. „Herrgott!“ „Was ist?“ Er biß die Zähne zusammen. „Kalt …“ Mit den Füßen tastete er den Grund ab. Er ließ sich immer tiefer hinab. Schon war sein Kinn in der Höhe des Stegs, und mit den Füßen tastete er über den Grund. Er ächzte und ließ sich noch tiefer hinab. Hielt sich mit den Fingern fest. Mit den Füßen hatte er etwas auf dem Grund ertastet. Er trat darauf, ließ langsam die Bohle los und tauchte in den Modder ein. Endlich stand er. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust. „Du wirst noch ersaufen …“ Statt einer Antwort atmete Kapitän Exner aus, um besser untertauchen zu können. Er verschwand und zappelte im Wasser umher. Beránek zählte bis sechs. Kapitän Exner tauchte auf, schüttelte heftig den Kopf, schnaubte. Beide Hände hielt er vor sich, und in ihnen hielt er etwas. Er holte tief Luft, schnellte sich hoch und hievte es, ohne es loszulassen, auf den Steg. Es war ein Bündel weißen Stoffs. Schlamm rann heraus und ihm über die Arme, tropfte ihm auf Kopf und Schultern und den Rücken. Er hatte ihn im Gesicht, prustete, weil ihm der Modder über die Lippen rann. „Leute!“ sagte leise Leutnant Beránek. „Er hat es gefunden. Er hat es wirklich gefunden! Das wird wieder nicht auszuhalten sein mit ihm …“
112. Mit Beráneks Hilfe krabbelte er aus dem Bach und trug eigenhändig das Bündel zu dem Steg über den Bach, auf das kleine Plätzchen unter der Weide. 271
„Genosse Oberleutnant, hätten Sie eine Zigarette für mich?“ schnorrte Vlček bei Čarda. „Überstürze dich nicht damit, Michal.“ Sie beugten sich über Exner, der so, wie er war, in dreckigen Unterhosen und mit trocknendem Schlamm bedeckt, den Knoten an dem schlammgetränkten Tuch löste, das vielleicht wirklich das vermißte Damasttischtuch von Frau Kalábová war. Der Bach begann sich mit Wasser zu füllen, Herr Hamel erzeugte darin eine Sintflut, und Vlčeks Mannen und Čardas Leute zogen zum Mühlgraben um. In dem Bündel waren eine Männerhose und eine Jacke aus Kordsamt, von einem Schnitt, wie man ihn vor dreißig Jahren getragen hatte, abgetretene Halbschuhe, eine Leinenmütze, Socken, ein Flanellhemd, ein Pflasterstein. Exner rollte zuerst den Stein heraus. Er konnte es nicht abwarten, stieg in den Bach und versuchte, mit dem Stein die Bohle zu unterlegen. Er paßte wie eingegossen in das Ufer. „So“, sagte er zufrieden, „den können wir einstweilen dort lassen …“ Oberleutnant Vlček breitete den Manchesteranzug auseinander. „Guck mal, in der Tasche sind Handschuhe …“ Behutsam legte er sie auf das nasse Leinen. „Hier ist was im Futter … Na ja, das wird ein Taschentuch sein, die Brusttasche ist durchgescheuert.“ Er holte ein weißliches Knäuel hervor. „Sogar ein Damentaschentuch … Mit Monogramm M. Š.“ „Pack das zusammen“, sagte Exner, „und sofort zu uns. Warte! Hallo, Genosse!“ rief er einem Polizisten zu. Er meldete sich als Wachtmeister Souček. „Ziehen Sie die Bluse aus, und probieren Sie dieses Jackett …“ Der Wachtmeister zeigte keine Freude über den Befehl, führte ihn aber aus. „Paßt“, meinte Exner. „Ein bißchen kalt, was? Sie kön272
nen es ausziehen. Er war untersetzter. Und hatte breitere Schultern.“ Oberleutnant Vlček befahl zweien seiner Leute, sich fertigzumachen. „Wir fahren nach Prag. Wird der Graben noch zu Ende gemacht, Michal? Guck mal, hier an der Hose sind Farbstreifen. Am Hosenbein auf der rechten Seite.“ „Ich seh’s. Interessant, was? Den Graben absuchen. Selbstverständlich. Das übernimmt Leutnant Beránek mit Oberleutnant Čarda. Und hast du nicht bemerkt, daß ich noch nackt bin?“ „Hab’ ich. Aber es ist schon warm.“ „Ich spring’ in den Teich“, entschloß sich Michal Exner. „Jetzt gleich. Ja, den Pflasterstein nehmt auch mit. Für alle Fälle. Nachher legen wir ihn wieder an seinen Platz. Weißt du, was mich am meisten interessiert? Flecke von Lack und Emailfarbe. Das könnten sie finden. Im Wasser hat das Zeug nur eine Weile gelegen, und Lacke lösen sich nicht darin auf …“ „Noch etwas?“ „Nein, in Prag nicht mehr. Laß dich nicht aufhalten. Abfahrt, Jungs! Und ich geh’ in den Teich baden.“ „Genosse Kapitän“, fragte Čarda und schaute mit gelinder Verlegenheit auf Exners furchtbar dreckige Unterhosen. „Brauchen Sie etwas?“ „Nein, nein … Vielleicht ein Handtuch. Wo hab’ ich meine Klamotten? Aha, dort. Jemand soll mir ein Handtuch zum Teich bringen. Er kann es sich bei Herrn Hamel ausleihen.“
113. Er lief zur Mühle, um vom Wehr ins Wasser zu springen. Sie brachte ihn in Verwirrung, weil sie ihm von der Mühle her entgegenkam. Sie trug eine prallgefüllte Tasche. „Ahoi!“ sagte sie. „Du siehst ja aus!“ 273
Er beschaute sich von oben bis unten. „Das ist Schicksal“, erklärte er ergeben. „Ich hab’ dir die Badehose und Handtuch und Seife gebracht. Hab’ mir auch erlaubt, aus deinem Koffer eine Unterhose ’rauszukramen.“ „Mein Gott, Junge!“ rief der alte Hamel aus dem Tor. „Du siehst aber aus! Bist ’reingefallen, was?“ „Ja, Herr Hamel. So ein Pech …“ „Du müßtest dich mal sehen, Junge. Die Haare vom Schlamm verklebt.“ Der Alte lachte. „Komm ’rein, kannst dich baden.“ „Das will ich ja gerade, Herr Hamel.“ „Und wo?“ „Im Teich.“ „Auf dem Damm ist Lehm, und es wäre anstößig. So kannst du dich doch nirgends sehen lassen! Komm ’rein ins Badezimmer! Fräulein, während er sich wäscht, kochen wir ihm einen Kaffee.“
114. In den Hof der alten Mühle schien die Sonne, auf dem Tisch unter der riesigen Linde duftete der Kaffee. Lída war voller Lachen, im Wind flatterten ihre Haare, und Herr Hamel rauchte eine Zigarre. Ein Bild der Behaglichkeit. Er bot Exner auch eine an. „Danke, ich rauche fast nicht … Und eine Zigarre, Herr Hamel, davon würde mir vielleicht schlecht.“ „Du siehst wieder leidlich aus“, erklärte sie in dem besitzergreifenden Ton einer Frau, die sich eines Mannes ohne dessen Wissen und Willen bemächtigt hat. „Noch ein Stück Zucker?“ „Nein, danke“, antwortete er mit zerstreutem Lächeln. „Aber – hör mal, das ist mir unter der Brause eingefallen – warum hast du mir eigentlich Badehose, Handtuch und Seife gebracht?“ 274
„Mußt du mich dauernd verhören, mein Kapitän?“ „Nicht dauernd. Ab und zu, wenn ich eine freie Minute habe.“ „Ich bin aufgewacht und habe mir gesagt, jetzt gehe ich spazieren. Ich habe im Milchladen einen Kakao mit einem Stück Kuchen genossen, und dort hat jemand gesagt, daß die Kripo an der Mühle Gras mäht. Weil ich neugierig bin und dich mit der Sense sehen wollte, bin ich hingegangen, um mir die Heumahd anzuschauen. Von der Straße aus war gut zu erkennen, wie ein Herr Kapitän im Mühlgraben badete und Lumpen herausholte. Und da hab’ ich mir gesagt, er wird Hilfe brauchen, bin ins Hotel zurückgekehrt und …“ Er erbleichte sichtlich. Rasch trank er den Kaffee aus. „Jesus, ich hab’ ja ganz vergessen …“ „Was vergessen?“ „Das Geld und … Herr Hamel, vielen Dank, ich komm’ mal wieder vorbei. Jetzt muß ich mich sputen.“ „Ist was passiert?“ „Ja, das ist es.“ Er lief zum Tor. Man hörte, wie er über den Damm trabte und wie seine Schritte über den Steg am Wehr dröhnten. Lída Muršová und Herr Hamel sahen sich an. „Er hat recht“, sagte Herr Hamel. „Der Mörder muß ihn gesehen haben, wenn er das gewollt hat. Wie auf der offenen Hand. So wie du.“
115. Er lief durch die Allee und wollte die Abkürzung zum Marktplatz benutzen. Oben in der gepflasterten Gasse sah er eine Gestalt im Barett, die eine Malerstaffelei trug. Meister Matějka tippelte über die Katzenköpfe Exner entgegen. Michal Exner blieb stehen, lächelte und schritt 275
auf den Maler zu. „Guten Morgen. Zur Arbeit?“ Matějka verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. „Ich wollte heute bei der Mühle malen.“ „Ich bin auch schon dort gewesen“, sagte Michal Exner leichthin. „Von früh an spaziere ich umher …“ „Ich habe Ihre Leute gesehen.“ „Also schon nach Hause?“ „Ja.“ „Schade“, meinte Exner, „ich hatte mich schon darauf gefreut, mit Ihnen zu gehen und zuzuschauen, wie Sie malen. Ich sehe furchtbar gern zu, wie andere arbeiten. Maler, Tischler und überhaupt.“ „Heute wird nichts draus, lieber Herr …“ Vojtěch Matějka schüttelte den Kopf. „Oder vielleicht doch“, fügte er hinzu, offenbar gerührt durch Exners Einfalt, „das Licht ist nicht schlecht, lange schon hab’ ich das Glashaus im Sinn.“ Er zeigte auf jene Seite des Platzes, die von der Gartenmauer gebildet wurde. „Dort ist ein Glashaus aus dem Empire. Sehr reizvoll im Vormittagslicht.“ „Dürfte ich wirklich mit?“ „Warum nicht? Mir scheint, Sie haben eine Beziehung zur Kunst.“ „Ein bißchen“, räumte Exner ein. „Sie wissen ja, viel Zeit hab’ ich nicht, viel Dienst“, fügte er bieder hinzu. Auf dem Platz von Opolná herrschte reges Treiben. Die ersten Autobusse mit Reisegesellschaften waren eingetroffen, an der Tankstelle wartete eine Schlange von fünf Autos, der Ober Karlík öffnete die Fenster und lüftete das Lokal, die Verkäuferin in der Konditorei rasselte mit dem Rolladen. Die zwei gingen schweigend, und beide lächelten. Als sie an den offenen Fenstern des örtlichen Polizeireviers vorbeigingen, grüßte Exner schweigend den jungen Wachtmeister, der Dienst hatte. „Genosse Kapitän!“ rief der Wachtmeister. Exner blieb stehen, Meister Matějka ebenfalls. „Genosse Kapitän, einen Augenblick.“ 276
Kapitän Exner trat ans Fenster. „Genosse Kapitän“, meldete ihm der Wachtmeister halblaut, „soeben sind sie aus Prag gekommen. Sie warten hier.“ Michal Exner zuckte die Achseln und drehte sich zu dem Maler um. Er lächelte. „Da sehen Sie“, seufzte er, „ich hab’ auch heute keine Ruhe. Immer nur Arbeit. Aber ich komme zu Ihnen. In einer halben Stunde, einverstanden?“ „Gewiß, ich erwarte Sie.“
116. „Gut“, sagte sie und schlug ein Bein übers andere. Sie trug goldene Sandalen und ein olivgrünes Kleid, gegürtet mit einem goldenen Kettchen. „Herr Rambousek ist tragisch ums Leben gekommen. Aber warum, um Himmels willen, werde ich oder sogar der Herr Průšek, dieser alte, gute Herr, aus dem Geschäft geholt, warum werden wir ohne ein Wort der Erklärung hierhergeschleppt, und warum …“ „Dafür entschuldige ich mich bei Ihnen“, sagte Kapitän Exner kulant. „Auch für das Milieu, in dem Sie jetzt sitzen, obwohl die Sessel doch recht bequem sind, nicht wahr, Herr Průšek? Ich entschuldige mich auch für die Entführung. Ich sollte“, fuhr er lächelnd fort, „jeden von Ihnen einzeln vernehmen. Aber ich fürchte, wir haben zuwenig Zeit.“ „Mit uns verschwenden Sie Ihre kostbare Zeit nur, Herr Kapitän“, meinte sie, während sich der Antiquitätenhändler unruhig die Hände rieb. Er rückte sich die Brille zurecht. „Ich bin zwar Gerichtssachverständiger, mein Herr, fürchte jedoch, ich werde hier zu einem Fall hinzugezogen, der mir fernliegt, von dem ich nichts verstehe. Um es abzukürzen: Vor einiger Zeit bot mir das Ehepaar 277
Medek den Verkauf einiger Bilder aus seiner privaten Sammlung an. Sie bezeichneten die Gemälde, die sie zu verkaufen gedachten, und ersuchten mich, diese zu schätzen. Das tat ich auch. Am Montagabend bat mich die hier anwesende Frau Medková, mit ihr zusammen in Opolná ihren Gatten aufzusuchen und mit beiden Ehegatten die administrativen Formalitäten betreffs der Übernahme der Kunstwerke aus ihrem Eigentum in den Kommissionsverkauf zu erledigen. Wir trafen hier, glaube ich, gegen neun ein, nach ein bis anderthalb Stunden fuhren wir wieder ab. Wir sprachen ausschließlich über den Gegenstand des Verkaufs. Das ist alles, Genosse Kapitän. Die Unterlagen kann ich vorlegen, ich habe sie leider nicht mit, weil ich nicht wußte, zu welcher Angelegenheit ich zeugen werde.“ „Ich danke Ihnen, Herr Průšek“, sagte Kapitän Exner höflich. „Ich sehe, Sie haben Erfahrungen und Praxis. Sie haben mir meine Aufgabe erleichtert und uns beiden Zeit erspart. Nebenbei – wissen Sie nicht zufällig, warum die Medeks sich zum Verkauf der Bilder entschlossen haben?“ „Das weiß ich nicht und es interessiert mich auch nicht. Wir sind nicht befreundet, sondern nur miteinander bekannt, und wir verkehren nur dann, wenn das unser Beruf erfordert. Doktor Medek ist ein hervorragender Fachmann …“ „Ich weiß“, unterbrach ihn Exner. „Und seine Gattin?“ „Ist ebenfalls in unserem Fach beschäftigt. Im Kunstsalon.“ „Haben Sie Herrn Rambousek gekannt?“ „Nein.“ „Haben Sie von ihm gewußt?“ „Natürlich. Doktor Medek hat mir schon vor Jahren von ihm erzählt. Er schlug mir vor, mich für seine Bilder zu interessieren. Ich kam aber nicht dazu, einerseits aus Zeitmangel …“ Herr Průšek verstummte. 278
„Und andererseits?“ fragte Exner. „Andererseits, Genosse Kapitän, war das, um mich so auszudrücken, mein subjektiver Blick auf die ganze Problematik.“ „Aber?“ wunderte sich Michal Exner. „Was für eine Problematik?“ „Die naive Kunst.“ „Das interessiert mich.“ „Falls Sie mein persönlicher Standpunkt interessiert, dann sage ich Ihnen rundheraus, daß ich dieses Geschmier nicht mag, daß ich nicht an seine Zukunft glaube und daß ich die vorübergehende Vorliebe dafür für eine modische und snobistische Angelegenheit halte.“ „Na ja“, sagte Kapitän Exner im Ton eines Biedermannes und kratzte sich hinterm Ohr. „Das ist interessant, aber mir hilft das nicht weiter, Herr Průšek. Nachher werden Sie Ihre Aussage ins Protokoll diktieren, falls wir es noch als notwendig erachten. Jetzt werde ich Sie in diesem stickigen und ungemütlichen Dienstzimmer nicht länger aufhalten. Sie können Spazierengehen oder sich ins Restaurant setzen. Seien Sie aber bitte so freundlich und teilen Sie dem Oberwachtmeister nebenan mit, wo wir Sie finden können, sollten wir Sie noch einmal brauchen. Selbstverständlich fahren wir Sie zurück nach Prag, sobald das nur möglich ist.“ Sie zündete sich eine Zigarette an, und die goldenen Armbänder an ihr klirrten wie Engelsgeläut. „Darf man hier rauchen?“ Er zuckte die Achseln. „Vielleicht. Das ist Leutnant Šlajners Zimmer.“ „Worauf sind Sie neugierig?“ Sie legte die freie Hand auf den mit grünem Stoff bedeckten Schenkel. Damit erreichte sie dreierlei: Sie machte auf diesen Teil ihres Körpers aufmerksam, führte eine schöne Hand vor und gestaltete zugleich eine effektvolle bildkünstlerische Ak279
tion: Stilleben mit Frauenhand, braun mit leuchtendem Gold und rotlackierten Nägeln auf grünem Grund. Er würdigte das und lächelte. „Wozu haben Sie Geld gebraucht, Frau Medek?“ fragte er mit leiser und vertraulicher Stimme. „Aha, ich verstehe. Sie wissen es doch, Herr Kapitän. Für die Erbschaftssteuer und die Auszahlung der Verwandten und so weiter. Wozu man eben Geld braucht.“ „Leben Sie mit Ihrem Mann in Harmonie?.“ „In völliger, so wie alle Ehen, die schon fünfzehn Jahre bestehen.“ „Das ist eine ernste Sache, wenn ein Kunsthistoriker einen Teil seiner Privatsammlung verkauft.“ „Gewiß. Darüber hatten wir ja auch viele Gespräche.“ „Und wie sind die ausgegangen?“ „Sie haben es doch gehört, Herr Průšek hat die Bilder in Kommission genommen.“ „Ob es halt reichen wird“, meinte er seufzend. „Die Menschen sind mehr oder weniger anspruchsvoll. Zuweilen höre ich auch von sehr anspruchsvollen Frauen.“ „Es ist gut möglich“, sagte sie, als spräche sie über eine zertretene Spinne, „daß ich zu den anspruchsvollsten gehöre. Aber das braucht Sie doch nicht zu interessieren, oder?“ „Doch“, sagte er fast schüchtern. „Weil hier gewisse Umstände sind …“ „Welche?“ „Ein Mord, meine Dame, wissen Sie das nicht?“ Sie lächelte Kapitän Exner an, so wie ein weiser Mensch über das Treiben eines dummen und verspielten Welpen lächelt. „Für den Samstagabend hab’ ich ein Alibi. In Prag. Genügt das?“ „Ihr Herr Gemahl aber nicht.“ „Das ist traurig“, entgegnete sie und lächelte immer noch. „Mit mir war er bestimmt nicht beisammen, Ge280
nosse Kapitän. Und ich nicht mit ihm. Erst am Sonntagabend.“ „Er ist in einer unangenehmen Situation.“ „Mein Mann? Der ist immer in unangenehmen Situationen. Er ist ein Forscher.“ „Es macht Ihnen nicht viel aus“, sagte Exner hart, „daß er in der Klemme sitzt.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Er kann nicht in der Klemme sitzen, weil er niemals jemandem auch nur eins in die Zähne hauen könnte. Geschweige denn morden.“ „Werden Sie sich hier aufhalten?“ „Ist das Ihr Wunsch?“ „Ja. Inzwischen können Sie sich Ihre Aussage durchdenken. Es würde nicht schaden, wenn sie ein bißchen ausführlicher wäre als unser Gespräch.“ Sie stand auf. „Ich geh’ frische Luft schöpfen, Herr Kapitän.“
117. An einer geeigneten Stelle seitwärts vom Gewächshaus hatte Meister Matějka seine Staffelei aufgestellt. Die hohe Wand aus Glasscheiben war auf jede mögliche Weise bizarr verbogen, so wie die Holzkonstruktion der Rahmen vom Alter und dem Wetter verwittert war. Die Vormittagssonne fiel unter einem solchen Winkel auf die Scheiben, daß sich die fremdländischen Bäume des Parks darin wie kubistisch-surrealistische Deformationen spiegelten. „Das ist interessant“, bemerkte in Matějkas Rücken Michal Exner. Dem Maler fiel der Pinsel aus der Hand, und er stieß einen leisen Schrei aus. „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte sich Exner. 281
„Nein, nein … Schon in Ordnung.“ Matějka hob den Pinsel auf, seine Hände zitterten leicht. „Es ist alles in Ordnung. Ich bin eben doch nicht mehr der Jüngste. Ja, schön ist es hier. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich das Glashaus schon lange mal vorhabe.“ „Davon geht geradezu ein Schauder aus“, erklärte Kapitän Exner. „Von diesen Strahlen, von dieser Verzerrung. Und hinter den Scheiben sind obendrein noch Palmen! Na ja“, fügte er bieder hinzu, „von der Kunst soll Schauder oder Freude ausgehen, nicht wahr, Meister?“ „Wenn Sie meinen …“ Dann schwiegen sie mehr als eine halbe Stunde. In dieser Zeit bereitete Matějka mit Ocker und Grün die Grundierung vor. Exner seufzte. „Das macht Arbeit, dieses Malen.“ „Langweilen Sie sich?“ „Nein, ich langweile mich nie. Dummköpfe langweilen sich. Wer neugierig ist, kann sich nicht langweilen.“ „Damit wollen Sie sagen, daß Sie kein Dummkopf sind und daß Sie neugierig sind?“ „Denkt denn jemals ein Dummkopf von sich, daß er ein Dummkopf ist?“ „Auch wieder wahr.“ Michal Exner räusperte sich. „Hören Sie, Meister, Sie sind heute gar nicht malen gegangen, nicht wahr? Sie wollten nur nachschauen, was sich bei der Mühle tut. Es hat sich in der ganzen Stadt herumgesprochen.“ „Sie sind ein Hellseher. Und Sie sind nicht der einzige Neugierige auf der Welt. Sie haben richtig geraten.“ „Kleinigkeiten errate ich. Mein Pech. Wenn es um eine Belanglosigkeit geht, liegt sie für mich offen zutage. Und wichtige Dinge entgehen mir oft.“ „Das ist aber in Ihrem Beruf“, meinte Meister Matějka, „ein rechtes Handicap, nicht?“ „Ist es“, gestand bekümmert Kapitän Exner. „Gerade hier in Opolná habe ich ein Problem …“ 282
„Und welches, wenn ich fragen darf?“ „Wissen Sie, Meister, ich wüßte gern …“ Und Exner verstummte. Vojtěch Matějka trug sorgfältig die Farben auf der Leinwand auf. „Was ist Ihnen in Opolná unklar?“ „Herr Rambousek hatte bestimmt Geld zu Hause. Genug Geld.“ „Das hatte er, junger Mann.“ „Ich kann auf eine Sache nicht kommen, Meister …“ „Auf welche?“ „Wo Sie es hingetan haben“, sagte Exner nachdenklich.
118. Die Hand des Malers zitterte. Er führte sie mit dem Pinsel zur Palette. Sie beruhigte sich. „Ich verstehe Sie nicht.“ „Ich habe Sie gefragt, Meister, wo Sie das Geld von Boleslav Rambousek hingetan haben“, wiederholte Michal Exner ruhig. „Wo sollte ich es hintun“, wunderte sich Matějka. „Er hat mir nie welches anvertraut.“ „Anvertraut selbstverständlich nicht. Sie haben es ihm weggenommen. Ich frage Sie noch einmal: Wo haben Sie nach dem Mord an Boleslav Rambousek dessen Geld hingetan?“ „Aber Mann! Sie beleidigen mich!“ Er hörte auf zu malen und schaute Exner scharf an. „Ich meine das so“, erklärte Michal Exner im Ton eines Instrukteurs der Gesellschaft für Sport und Technik beim Übungshandgranatenwurf. „Ich weiß, daß Sie Herrn Rambousek ermordet haben. Aber ich kann nicht daraufkommen, wo Sie das Geld versteckt haben. Ich gestehe allerdings, daß ich noch nicht sehr gesucht habe. Ich hatte sozusagen keine Zeit …“ 283
„Hören Sie, hören Sie!“ Bei Vojtěch Matějka sträubten sich die Haare rings um das Barett. „Wissen Sie, was Sie da sagen? Sie!“ „Das weiß ich“, sagte Kapitän Exner. „Genau weiß ich das. Ich habe Ihren Manchesteranzug gefunden. Wir machen noch gründliche Expertisen. Aber schon jetzt weiß ich, daß es Ihre Sachen sind. Ohne Expertise. Im Futter hatte sich ein Taschentuch verirrt, ein Damentaschentuch mit Monogramm: Em Esch. Marta Šustrová. Es ist die Sache einiger Stunden, Sie zu überführen. Inzwischen verdächtige ich Sie begründet. Ich werde Sie auch gleich wegen Mordverdachts festnehmen, so daß wir so oder so an das Geld herankommen. Aber mich interessiert es, weil ich nicht von selber draufkommen kann.“ Vojtěch Matějka lief blutrot an. Übers Gesicht rann ihm der Schweiß. „Sie reden ein Zeug zusammen, Mensch …“ „Sie als einziger, außer den Polizeiangehörigen, haben gewußt, womit Herr Rambousek ermordet wurde. Frau Rambousková haben Sie es gesagt. Herr Vondráček, der Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof, hatte und hat keine Ahnung, wie Rambousek ermordet wurde. Ich habe mit ihm gesprochen.“ Vojtěch Matějka packte das Malgerät ein. „Ich weiß nicht, warum ich mit Ihnen meine Zeit durch Geschwätz verlieren sollte.“ „Packen Sie nur ein“, sagte Exner ruhig. „Ich weiß auch, warum Sie ihn erschlagen haben. Von unserem Gesichtspunkt ist es Raubmord. Von Ihrem – fingierter Raubmord. Das Geld haben Sie nur genommen, um die Spur zu verwirren. Ihnen ging es vor allem um die Vernichtung Rambouseks als Künstler!“ „Lächerlich! Rambousek war kein Künstler, er war ein Schmierant. Warum einen Schmieranten, einen Dilettanten ermorden?“ 284
„Sie wissen besser als ich, daß Rambousek mehr Talent hatte als Sie. Er fing an, berühmt zu werden. Sie kennt man in der Bezirksstadt. Schließlich haben Sie an der Akademie studiert. Aber Maler wie Sie gibt es ungezählte. Rambousek aber war ein Original. Er sprühte von Einfällen. Von Farben. Sie begannen sein Werk grimmig zu hassen. Wenn sich das Ganze nur hier abgespielt hätte, in Opolná! Das hätte man mit einer Handbewegung abtun können. Aber in der Welt! Das ging nicht. So haben Sie sowohl ihn als auch sein Werk aus der Welt geschafft. Nur – wo haben Sie sein Geld versteckt?“ Vojtěch Matějka stellte sich vor Exner hin und zischte ihm ins Gesicht: „Schweinehund, piekfeiner!“ Und er verzog das Gesicht zu einem bösen Grinsen. Michal Exner schüttelte traurig den Kopf. „Sie brauchen mich nicht zu beschimpfen. Der Raub und das, was in seiner Wohnung geschah – das ging mir am meisten im Kopf herum. Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte sein, der mich nicht liebt. Keiner lebt auf dieser Welt“, rezitierte Kapitän Exner, „der allen Menschen wohlgefällt …“ Matějka schritt energisch aus, Richtung Marktplatz. Das Köfferchen, die Staffelei, die Palette in den Händen. „Na sehen Sie“, sagte Exner und paßte sich seinem Schritt an. „So haben Sie die Bilder getragen, wenn Sie den Manchesteranzug anhatten, und genauso und an diesen Stellen haben Sie sich den Anzug mit den noch nicht ganz getrockneten Farben beschmiert.“ Matějka blieb stehen. „Ein Beil haben Sie nicht bei sich“, konstatierte Kapitän Exner, „Sie können mich höchstens mit dem Koffer niederschlagen. Aber mich überwinden Sie nicht, Vojtěch Matějka“, bemerkte Kapitän Exner trocken. „Ich verhafte Sie wegen des Verdachts des Raubmords an Boleslav Rambousek. Und jetzt“, fügte er hinzu, „gehen Sie schön neben mir. Und Sie werden keine Sperenzchen 285
machen, der Platz ist voller Menschen. Sonst schlag’ ich Ihnen den Malerkram aus den Händen und führe Sie mit Gewalt ab.“
119. Die Fenster des archäologischen Depositoriums waren in der Sommernacht geöffnet. Auf dem Tisch stand ein achtarmiger Leuchter, die Flammen der Kerzen zitterten sachte. Die Nachtfalter, die sich bis hierher verirrten, holten sich den Tod. Sie saßen in Sesseln rings um den Tisch. Das lange Haar von Lída Muršová war rötlich angehaucht, in der Brille von Erich Murš spiegelten sich die Kerzenflämmchen. Erich lächelte streng. Kapitän Exner hatte ein Bein übers andere geschlagen, die Arme lagen auf den Lehnen, die Hände hingen müde herab. Doktor Jaromír Medek strich sich ab und zu schicksalergeben über die Glatze, besonders dann, wenn er Lída anschaute, die zufällig und ganz leicht mit dem nackten Fuß Exners Knöchel berührte. „Eigentlich war es Leutnant Šlajner eingefallen“, sagte Kapitän Exner. „Nämlich: sich mehr mit den Freunden als mit den Feinden von Boleslav Rambousek zu befassen. Kolář sagte nicht, warum er Rambousek haßte. Auch nachdem wir ihn freigelassen hatten. Und das Geld? Wenn ich eben manchmal nicht genügend nachdenke.“ Er seufzte. „Mit Herrn Matějka gab es noch Sorgen. Er schluckte Tabletten. Sedativa oder so was. Doktor Hauser mußte ihm den Magen auspumpen.“ „Und ich hatte gedacht“, stieß Doktor Medek hervor, „Sie verdächtigen mich!“ „Das habe ich auch, Herr Doktor.“ „Und das Geld?“ „Das hat er Oberleutnant Čarda gesagt. Mir hätte es aber auch einfallen können! Wenn er sich von Kolář das 286
Beil ausgeborgt und es ihm wieder zurückgebracht hat, dann kann ja dort auch das Geld sein. Wenn wir Kolářs Anwesen gründlich durchsucht hätten, hätten wir es gefunden. Hinten, in einem Loch zwischen den Balken der Scheune. Seine Fingerabdrücke waren darauf. Wenn wir es früher gefunden hätten und Kolář in Verdacht geblieben wäre … Nein, ausgedacht hat er sich das nicht schlecht.“ Erich schenkte Wein in die alten Gläser, die sie sich gesetzwidrig für diese Gelegenheit aus dem Schloßinventar entliehen hatten. „Also worauf trinken wir?“ fragte er. „Wie ein lieber Freund von mir immer sagt“, sprach Michal Exner sentimental: „Auf nichts …“
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Jerzy Siewierski Fünfmal Mord Kriminalerzählungen aus dem Polnischen von Reinhard Fischer etwa 232 Seiten
Leseprobe Barlowes weiter Weg oder Mord auf amerikanisch Ich sog noch einmal sacht die Luft durch die Nase ein, und da erkannte ich den Geruch. Es war Marihuana. Jemand hatte eben erst in diesem Zimmer gequalmt. Der eklige Gestank hing trotz der Klimaanlage in der Luft. Die Frau sah nicht aus wie eine, die Marihuana raucht. Es paßte nicht zu ihr. Sie war fett, ziemlich alt und fett. Ihr Haar war gefärbt. Sie saß in einem tiefen Sessel und beäugte mich. Sie musterte mich und hatte dabei eine Miene, als säße ihr nicht ein Bursche in mittleren Jahren gegenüber, sondern eine verreckte Ratte. Mit ihren Wurstfingern, die mit spitzen roten Krallen bestückt waren, hielt sie meine Visitenkarte. „Sie sind also der Schnüffler, den man mir empfohlen hat. Sie wirken nicht gerade wie ein gewiefter Fuchs.“ Ich dachte, daß meine Physiognomie schon manchen getäuscht hatte, der hinterher klein und häßlich aussah, aber ich sagte nichts. Ich pflanzte nur mein gewinnendstes Lächeln auf. „Übrigens mag ich keine zu gerissenen Kerle“, fügte sie hinzu. „Sie wissen, was ich meine.“ Ich wußte es nicht, aber für alle Fälle nickte ich höflich. Wir saßen stumm da. Sie rückte nicht damit heraus, 289
warum sie mich herbestellt hatte, und ich wußte nicht, warum ich sie drängen sollte. Ich hatte viel Zeit. „Herr Barlowe“, entschloß sie sich endlich, „ich will Sie engagieren.“ Ich rührte mich nicht und lächelte weiter. „Wie teuer sind Sie?“ „Das hängt vom Auftrag ab, Madam“, erklärte ich höflich. „Ich übernehme nicht jede Arbeit. Zum Beispiel möchte ich um Himmels willen nicht um Haaresbreite die Gesetze übertreten. Selbst für das höchste Honorar nicht.“ Sie lachte. Es klang, als würde der abgesoffene Motor eines Oldtimers angelassen. „Ich wußte nicht, daß Sie ein so zartes Gewissen haben. Das wurde nicht erwähnt, als man Sie mir empfahl.“ Ich dachte, es wäre gut zu fragen, wer mich empfohlen hatte. Ich ließ es sein. Das war schließlich unwesentlich. „Also, Herr Barlowe, ich werde von Ihnen nichts verlangen, was Ihr zartes Gewissen beunruhigen könnte. Aber eines verlange ich. Diskretion.“ „Madam“, sagte ich, „die Firma Barlowe pflegt die Geheimnisse ihrer Klienten nicht preiszugeben. Sie können ruhig sprechen.“ Sie maß mich mit einem skeptischen Blick von der Schuhsohle bis zu den Haarspitzen. Die Fettwülste ihres Doppelkinns schwabbelten. Sie hatte eine Menge Kinn. „Mir ist ein gewisser Gegenstand gestohlen worden. Genauer gesagt, eine Perlenkette. Ich weiß, wer die Kette gestohlen hat, und möchte sie wiederhaben.“ „Das ist doch Arbeit für die Polizei …“ Sie unterbrach mich barsch: „Überlassen Sie das mir. Die Polizei hat nichts damit zu tun. Ich will nicht, daß die Polizei ihre Nase in meine Angelegenheiten steckt. Ich will die Kette und Diskretion.“ „Ein Dieb in der Familie?“ mutmaßte ich. „Ihr Sohn? Ihre Tochter?“ 290
„Ich habe keine Kinder“, knurrte sie. „Wie kommen Sie darauf, daß ich Kinder habe?“ Ich zuckte die Schultern. „Das habe ich einfach angenommen. Die Leute wollen in der Regel die Polizei nicht benachrichtigen, wenn es sich um ihre Kinder handelt.“ „In meinem Fall“, fauchte sie, „handelt es sich nicht um Kinder, sondern um meinen Mann.“ Sie machte eine Pause und musterte mich wieder. Ich schwieg diplomatisch. Eine Weile schien sie mit sich zu ringen, schließlich fügte sie erklärend hinzu: „Er ist jünger als ich. Ein bißchen jünger und sehr dumm. Aber ich liebe ihn …“ „Er hat Ihnen die Kette gestohlen?“ „Er hat sie einem Flittchen geschenkt. Das weiß ich.“ „Sind Sie sicher, daß Ihr Mann die Kette genommen hat? Niemand sonst? Vielleicht jemand vom Personal?“ „Er war’s. Außer ihm konnte niemand an die Schatulle.“ „Wollen Sie die Scheidung einreichen?“ „Nein, ich sagte doch, daß ich diesen Hundesohn liebe. Sie sollen dem Flittchen die Kette wegnehmen. Und er soll einen Denkzettel kriegen, damit er endlich begreift, daß er mich nicht ungestraft betrügen und bestehlen kann. Er soll nach Hause kommen.“ „Das ist ein schwieriger Fall, Madam. Es wird teuer, und für den Erfolg kann ich nicht garantieren.“ „Das heißt, ich soll mein Geld in den Dreck werfen?“ „Ich würde es nicht so auffassen“, erwiderte ich ruhig. „Ich bekomme hundert Dollar Anzahlung. Habe ich keinen Erfolg, ziehe ich davon die Spesen und mein Honorar von zehn Dollar täglich ab, den Rest gebe ich Ihnen zurück. Das heißt, ich gebe ihn zurück, wenn Sie die Kette nicht wiederbekommen. Wenn ich sie Ihnen bringe, legen Sie noch vier Hunderter drauf, und die Spesen werden extra abgerechnet. Sind Sie damit einverstanden? Mir scheint, ich sollte mich nach der Kette umsehen.“ 291
„Mir geht es nicht nur um die Kette“, brummte sie. „Ich will diesen Hundesohn nach Hause haben. Mich trifft noch der Schlag, wenn ich an das Flittchen denke!“ „Ich werde versuchen, ihn zurückzubringen. Das ließe sich machen, wenn er tatsächlich die Kette gestohlen hat. Liegt Ihnen wirklich so viel an ihm? Höchstwahrscheinlich befürchtet er, daß Sie ihn einlochen lassen, und kommt artig nach Hause zurück. Aber er wird Sie hassen, und er haut bei der erstbesten Gelegenheit ab, dann werden Sie ihn nicht mehr an der Leine haben …“ „Es geht Sie einen Dreck an, was dann wird. Ich will Ihnen ein paar Hunderter dafür zahlen, daß er wie ein Hündchen angekrochen kommt und die Kette apportiert.“ „In Ordnung. Wie Sie wünschen. Wenn ich den Fall übernehmen soll, muß ich Näheres über Ihren Mann, über das Flittchen und über die Kette wissen.“ Sie erzählte mir von ihrem Mann, von dem Flittchen und von der Kette. Ich notierte mir einiges. Dann gab sie mir die Anzahlung. Ich dankte, verabschiedete mich und ging. Sie war nervös geworden und hatte sichtlich darauf gewartet, daß ich verschwinde. Ich parkte den Wagen vor einer kleinen Bar in einer Seitenstraße des Sunset Boulevards. Seit dem Morgen hatte ich nichts gegessen und getrunken. Ein mächtiger Korkenzieher bohrte sich in meine Magenwände. Der Schweiß troff mir vom Gesicht, es war verdammt heiß. Ich wrang das Taschentuch aus, mit dem ich mir die Stirn abgewischt hatte. Unterwegs hatte ich mir nirgendwo einen Drink oder eine Cola gegönnt. Ich hatte mich durch die verstopften, verpesteten Straßen gezwängt bis zur Lotosbar. Meine Aufträge pflege ich solide zu erledigen. Ich mußte mit Joe Carpright sprechen, bevor ich mich an die Arbeit machte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Joe Carpright saß auf 292
einem Barhocker. Sein Kopf wankte automatisch über einem leeren Glas hin und her, und sein leerer Blick glitt abwechselnd über die Wände, über die Theke, hinter der ein kleiner verwachsener Barkeeper hantierte, und über den Fernseher in der Ecke. Ich setzte mich neben ihn und schnippte zur Begrüßung mit dem Zeigefinger an seine Hutkrempe. Er tat so, als bemerkte er mich nicht. Ich bestellte uns einen doppelten Whisky und außerdem für mich Sandwiches und eine Cola. Wir tranken den Whisky. Ich machte mich über die Sandwiches her. Als ich mich vollgestopft hatte, sagte ich: „Alter, ich habe eine Klientin und möchte Näheres über sie erfahren. Sie heißt Mitford. Eve Mitford.“ Er überlegte eine Weile. Seine Stirn kräuselte sich wie Wasser in einem Kochtopf kurz vor dem Sieden. Schließlich sagte er: „Noch einen Doppelten.“ Ich bestellte uns einen weiteren Whisky und wartete geduldig. Joe Carpright würde mir die notwendigen Informationen liefern. Er verlangte nie ein zweites Glas, wenn er nichts wußte. Er wußte viel. Joe Carpright war über zwanzig Jahre lang Lokalreporter bei der „Los Angeles Times“ gewesen, und er hatte ein Gedächtnis wie eine Datenbank. Als man ihn vor fünf Jahren gefeuert hatte, ging er für immer in der Lotosbar vor Anker und erteilte Auskünfte. Natürlich gegen Honorar. Er trank das Glas aus, wischte sich mit der Hand den Mund ab und sagte: „Zahlen. Zufälligerweise weiß ich etwas über dieses Frauchen.“ Ich nahm einen Fünfdollarschein aus der Brieftasche und legte ihn neben sein Glas. Er betrachtete den Schein mit angewidertem Gesicht. „Großzügig bist du nicht.“ „Ich bin selber klamm. Mehr ist nicht drin.“ Er seufzte schwer und nickte. Seine Augen blieben reglos und dumpf wie fauliges Wasser in einem tiefen Brunnen. 293
„Schwere Zeiten. Eve Mitford soll ein verdammt hartes Biest sein. Sie hat viele Jahre an der Börse spekuliert und manches Ding gedreht. Das, was man Skrupel nennt, kannte sie nicht. Mit fünfzig zog sie sich von den Geschäften zurück. Und heiratete.“ „So spät?“ „Jawohl, so spät. Vorher hatte sie von Zeit zu Zeit einen Jungen fürs Bett. Aber nicht allzu oft. Ausgehakt hat es bei ihr erst, als sie schon ein halbes Jahrhundert hinter sich hatte. Sie kaufte sich einen Mann. Frank Mitford …“ „Was weißt du über ihn?“ „Hier ist so trockene Luft.“ Ich bestellte uns noch einen Whisky. Wir tranken. „Dieser Frank ist ein erfolgloser Künstler. Er hatte mal eine Ausstellung in New York. Das war ein Reinfall. Angeblich hatten es die Kritiker auf ihn abgesehen. Vor drei Jahren ist er hierhergekommen. Er wollte beim Film einsteigen. Daraus wurde auch nichts. Wahrscheinlich wäre er vor Hunger krepiert, oder er hätte eine ehrliche Arbeit angefangen, wenn die Alte nicht gewesen wäre. Sie hat ihn sich als Ehemann gekauft. Sie ist völlig verrückt nach ihm.“ „Ist er viel jünger?“ „An die zwanzig Jahre.“ Ich erinnerte mich an den süßlichen Geruch im Zimmer von Frau Mitford. „Raucht er Marihuana?“ „Weiß der Teufel. Sie haschen und fixen fast alle, diese Möchtegernkünstler. Das ist bei denen so üblich.“ „Und Eve Mitford?“ „Langweile mich nicht. Keine Ahnung. Bestell lieber was zu trinken. Zum Beispiel ein Bier.
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