MARION ZIMMER BRADLEY
ANDRE NORTON MERCEDES LACKEY
DER TIGERCLAN
VON MERINA
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Mari...
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MARION ZIMMER BRADLEY
ANDRE NORTON MERCEDES LACKEY
DER TIGERCLAN
VON MERINA
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe: TIGER BURNING BRIGHT
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Die Originalsausgabe erschien 1995 im Verlag Morrow/AvoNova, New York Copyright © 1995 by Marion Zimmer Bradley, Andre Norton and Mercedes Lackey Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München Umschlaggestaltung Atelier Schutz, München Umschlagillustration Donato Satz. Lemgarmer, Nabburg Druck und Bindung Wiener Verlag, Himberg Printed in Austria ISBN 3-453-09739-4
1. Adele Die Priesterin Elfrida kniete an ihrem Platz im Tempel auf dem kalten Steinboden und stimmte gemeinsam mit den anderen Grauen Kutten die Gesänge zum Ruhm der Göttin an. Sie versenkte sich in den Anblick des Allmächtigen Herzens, Verkörperung der Lichtgöttin und Zentrum aller Verehrung im Tempel. Der Große Tempel von Merina war ihr eigentliches Zuhause, und es fiel ihr nicht schwer, sich völlig dem Gebet hinzugeben, wenn sie hier niederkniete. Das Herz, das in der Tempelmitte von der Decke hing, war, so hieß es, ein Stück Sonne, ein Teil der Göttin selbst. Als es vom Himmel fiel und an diesem Punkt der Erde landete, habe es noch lichterloh gebrannt. Man hatte den Tempel einzig zu dem Zweck errichtet, das Herz zu beherbergen, und im Laufe der Zeit hatten Tempelkünstler es reich verziert. Der Legende zufolge war es ursprünglich ein seltsamer, glühender Felsbrocken gewesen, den man zunächst mit Gold überzogen und anschließend so dicht mit Rubinen besetzt hatte, daß die Goldschicht nun nicht mehr zu sehen war. Der Tempel von Merina war nicht der einzige, der eine Reliquie der Einen-Die-Hinter-Den-Sternen-Wohnt sein eigen nannte, doch er war eines der größten und wichtigsten Heiligtümer. Gewiß gab es gewaltigere und üppiger ausgestattete Tempel, die für größere Wunder berühmt waren, doch die Priesterin Elfrida hielt sich am liebsten hier auf. Das Herz hing genau in der Mitte unter der Tempelkuppel, deren einzige Zierde die Rippen waren. Somit wurde der Blick unweigerlich auf die Reliquie gelenkt, ganz gleich aus welcher Richtung man zunächst schaute. Das Herz funkelte bei jeder Beleuchtung - selbst im schwachen Kerzenschimmer während der ersten Abendmessen - und zog auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Betenden gen Himmel, dorthin, wo die Göttin wohnt. So sollte es sein, denn die meisten, die hier den Gottesdienst besuchten, gehörten den Vier Orden an und waren entweder Priester und Priesterinnen, die ihr Gelübde abgelegt hatten, oder Novizen - anders als bei den kleineren Tempeln in den Gemeinden, die vor allem von gewöhnlichen Bürgern von Merina aufgesucht wurden. Der 5
Große Tempel von Merina war kein Ort für ein romantisches Stelldichein oder weltlichen Klatsch, für Einmischungen von außen also, die in den anderen Tempeln zum Alltag gehörten. Da die meisten Mitglieder der Tempelgemeinschaft - unabhängig von der Farbe ihrer Kutten — die Gesänge zu Ehren der Göttin auswendig kannten, schauten ohnehin mehr Menschen auf das Herz als in ihre Gesangbücher. Der Grad der Frömmigkeit jedes einzelnen konnte stets daran abgelesen werden, wie tief er seine Nase ins Gesangbuch steckte. Die Priesterin Elfrida wurde plötzlich aus dem tranceähnlichen Zustand gerissen, in den die Gesänge sie stets versetzten, und hatte das unbestimmte Gefühl, daß ein Augenpaar auf ihr ruhte: Sie spürte, daß jemand da war und etwas von ihr wollte. Wer könnte das um diese Zeit sein? Oder sollte ich eher fragen, was könnte es sein? Sie versuchte, ihre müden Augen auf die nähere Umgebung zu konzentrieren - was ihr nicht gerade leicht fiel, denn ihre Augen waren ebenso wie der restliche Körper nicht mehr so jung und beweglich wie früher -, und sah, daß es ein Engel war, einer der kleineren, die der Göttin als Boten dienten. Für einen Augenblick spürte sie einen Anflug von Erregung und übermächtiger Freude, wie stets, wenn ihr die Ehre zuteil wurde, einen himmlischen Gast zu sehen, eine Unruhe, die sie nie abzulegen vermochte, obwohl sie schon viele Engel erblickt hatte — wie viele es gewesen waren, konnte sie nicht mehr sagen. Das mag naturlich einfach an mir und meinem schwachen sterblichen Gedächtnis liegen! Die Erscheinung stand auf der Höhe des Altars direkt vor den Betenden. Man hätte sie für einen Meßdiener halten können, wenn sie nicht von so ungewöhnlichem Äußeren gewesen wäre. Wie alle Engel besaß auch dieser Gesichtszüge von überirdischem Liebreiz und unbestimm barem Geschlecht, und die ihnen innewohnende Kraft vermittelte den Eindruck, daß sie von innen her strahlten. Die Leuchtkraft dieses Wesens breitete sich über den Kopf und die Schultern aus, so daß man das Gefühl hatte, ein riesiges Flügelpaar säße auf dem Rücken. Das Licht, das den Kopf umgab, verstärkte den Eindruck von strahlender Helligkeit noch. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, was es war, und Elfrida empfand für einen Augenblick Mitleid mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin, die diese Boten in ihrer furchterregenden Schönheit nicht zu sehen vermochten. 6
Sobald der Engel sah, daß er ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, hob er einen Arm in einer anmutigen Geste, die der Schönheit der Gesichtszüge entsprach, und wies in die Richtung, in der der königliche Palast lag. Elfrida unterdrückte ein qualvolles Stöhnen und neigte den Kopf, um dem Engel anzuzeigen, daß sie verstanden hatte. Für jemanden, der sie beobachtet hatte, mochte diese Kopfbewegung auf Erschöpfung oder Andacht hindeuten. Sie war sich ziemlich sicher, daß niemand außer ihr diesen besonderen Engel sah, auch wenn einige Mitglieder der Tempelgemeinschaft die meisten Himmelsboten durchaus erblickten. Dieser hier war allein für sie bestimmt, um ihr mitzuteilen, daß sie in der Zeit zwischen dieser Andacht und der nächsten nicht in ihre Klosterzelle gehen dürfe, um sich auszuruhen, sondern daß sie in ihre weltliche Identität schlüpfen und ihre Gemächer im Palast aufsuchen müsse. Dort würde sie heute abend Besuch erhalten. Gewöhnlich verfolgen einen die Engel nicht wie übereifrige junge Pagen mit dringenden Botschaften. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Natürlich wußte sie, was es war; Balthasar, der mächtige Kaiser, hatte nun schon seit geraumer Zeit seine Armee gen Merina marschieren lassen, doch in den letzten Wochen war die Bedrohung unmittelbar spürbar geworden. Bis vor wenigen Tagen hatte noch ein Hoffnungsschimmer bestanden, er könnte sich von einem anderen, reicheren Leckerbissen anlocken lassen — den Sarkenländern mit ihren Perlen und Seiden vielleicht. Man hatte sogar gehofft, man könne ihn mit Geschenken oder Geld bewegen, Merina in Ruhe zu lassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren heute abend alle anderen Pläne und Hoffnungen gescheitert, und jene Bedrohung war Wirklichkeit geworden. Und das hieß nichts anderes, als daß Balthasar mit der größten Streitmacht, die die Welt je gesehen hatte, im Anmarsch war, um ihre winzige Hafenstadt einzunehmen. Und wir sind nicht imstande, uns einer solchen Streitmacht zu widersetzen. Zum Glück redeten die Tempelangehörigen nachts nicht miteinander, und niemand würde sie hier vermissen, solange sie zur nächsten Andacht wieder zurück wäre. Und auch wenn sie dann noch nicht an ihrem gewohnten Platz wäre, würde niemand vor dem nächsten Morgen nach ihr suchen. Es geschah durchaus, daß Priester oder Priesterinnen einige Andachten in den Stunden der Dunkelheit verschliefen. Da man mindestens fünfunddreißig Jahre alt sein mußte, um ein volles Gelübde ablegen zu können, war der Großteil der Tempelgemeinschaft schon ziem 7
lich betagt; und Elfrida wußte aus eigener Erfahrung, daß die älteren mehr Ruhe benötigten als die jungen und kräftigen. Und ich spüre mein Alter mit jedem Tag mehr. Ein schwerer, wenn auch unsichtbarer Mantel der Erschöpfung hatte sich auf ihre Schultern gelegt. Das Doppelleben, das sie führte, half auch nicht. Sie wäre heilfroh gewesen, wenn sie ihren schmerzenden Knien und knackenden Gelenken in ihrer winzigen Zelle eine wohlverdiente Ruhepause hätte gönnen können - doch so wie es aussah, würde sie diese Gelegenheit nicht bekommen. Also schritt die Priesterin Elfrida, nachdem die Andacht vorüber war, nicht in ihre Tempelzelle, sondern schlüpfte in einen Seitenflur, dem sie bis zur unteren Ebene des Tempels folgte. Dort betrat sie einen Geheimgang, den nur sie und die Erzpriesterin Verit kannten. Der Gang war eine Verbindung zwischen Tempel und Palast und besaß versteckte Seitenzweige, die an verschiedene andere Stellen in der Stadt und im Königreich Merina führten. Der aus dem Fels gehauene Gang war dunkel und kalt, hier und da sogar ein wenig feucht. Er war so geschickt angelegt, daß die Schrittgeräusche nicht nach außen drangen. Man konnte sie nur wenige Meter weit vernehmen. Kurz bevor man den Eingang zum Palast erreichte, gelangte man in einen Alkoven, der einen Schrank, einen Hocker und einen kleinen Tisch mit einem Spiegel enthielt. An einem Nagel in der Mauer hing eine Laterne. Elfrida zündete sie an, öffnete den Schrank, entnahm ihm ein reich verziertes Nachtgewand aus Brokat und eine Schachtel mit Schminkzeug. Sie zog ihre weite graue Ordenstracht aus und schlüpfte in die Robe. Sorgfältig schminkte sie sich das Gesicht. Das Nachtgewand war wärmer als die Ordenstracht, aber auch schwerer — doch die Pflichten, die es repräsentierte, lasteten viel schwerer noch auf ihr, als es das Gewicht der Kleidung je vermocht hätte. Nachdem die Verwandlung beendet war, hätte niemand in ihr die Priesterin vermutet, die seit zwei Jahren nach Ablegung des Gelübdes im Tempel lebte. Doch jeder Einwohner der Stadt hätte Adele erkannt, die Königinwitwe von Merina, die Ehrwürdige, das weltliche Oberhaupt des Tempels, dessen geistliches Oberhaupt die Erzpriesterin Verit war. Adele blies die Laterne aus, warf einen prüfenden Blick durch ein Guckloch in der Wand, ob ihr Schlafgemach auch leer war, und öffnete die Geheimtür in der Holztäfelung neben ihrem Bett. Die Holzverkleidung war zwar schwerer, als sie aussah, aber leichter zu bewegen, als man vermutet hätte. Wer auch immer diesen besonderen Eingang ersonnen 8
haben mochte, er war davon ausgegangen, daß jene, die ihn einst benutzen würden, wahrscheinlich nicht in der Blüte ihrer Jahre standen. Auf der Zimmerseite befand sich ein sorgfältig geschnitztes Holzpaneel, das die Fugen geschickt verdeckte. Die Rückwand indes war aus Stein errichtet, so daß kein verräterischer »hohler« Ton erzeugt würde, wenn einmal jemand sie abklopfte. Die meisten Türen zu den verborgenen Gängen waren auf diese Weise konstruiert, damit man sie nicht entdeckte. Sie drehten sich um einen zentralen Punkt, ein Umstand, der es einer alten Frau mit steifen Gelenken und schlaffen Muskeln erleichterte, sie aufzuschwingen und wieder zu schließen. Es gab keine Dienerinnen hier, obwohl ihr vom Rang her zumindest eine Zofe zugestanden hätte - unter dem Vorwand der Frömmigkeit hatte sie alle entlassen, kurz nachdem sie ihr Doppelleben begonnen hatte, denn sie wußte, daß es einer Zofe nicht entgehen würde, wenn ihr Bett nicht benutzt wurde. Nachdem sie die Geheimtür hinter sich geschlossen und wieder an ihren Platz gerückt hatte, legte sie sich erschöpft auf ihr Bett, entschlossen, die kurze Zeitspanne, bis man ohnehin nach ihr schauen würde, zu nutzen und zu schlafen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie jede Ruhepause in den kommenden Tagen bitter benötigen würde. Doch der Schlaf wollte sich nicht sogleich einstellen. Sie unterdrückte den drängenden Wunsch, sich auf die Suche nach einem Diener zu begeben, um herauszufinden, was geschehen war. Geduld war in der Tat eine Tugend, und Ungeduld würde sich in diesem Fall wohl kaum bezahlt machen. Sehr wahrscheinlich wußte nicht einmal Prinzessin Schelyra, die jetzt für das Heer von Spähern und Kundschaftern zuständig war, was »nicht in Ordnung« war. Der Engel war ihr geschickt worden, um ihr mitzuteilen, daß man sie in naher Zukunft brauchen würde, nicht, daß man sie in diesem Augenblick bereits brauchte. Das war das Schwierige mit diesen Gästen aus der Anderen Welt. Sie machten sich nie die Mühe, Erklärungen abzugeben. Die kühlen Bettlaken nahmen ihre Körperwärme auf, und sie begann sich zu entspannen. Diese weltlichen Annehmlichkeiten würde sie wahrlich vermissen, wenn die Zeit für sie gekommen war, tatsächlich die Priesterin Elfrida zu werden. Die Betten in den Tempeln waren nicht sonderlich bequem, denn die Gedanken der Priester und Priesterinnen sollten bei der Göttin und nicht bei ihrem Körper weilen ... Obwohl es gewiß leichter wäre, sich auf die Göttin zu konzentrieren, wenn die Knochen nicht so schmerzten. Ich verstehe, daß es notwendig ist, die Annehmlichkeiten und das Wohlleben der Welt zu vergessen, doch wenn wir schon Bänke 9
aufstellen für jene, die nicht knien können, sollten wir dann nicht auch Nachsicht mit jenen üben, deren Gelenke in der Nacht schmerzen? Vielleicht könnte sie sich ja, wenn die Zeit gekommen war, Verit abzulösen, um diese kleine Reform kümmern. Vorausgesetzt natürlich, sie alle überlebten den Schlag, den Kaiser Balthasar gegen Merina zu führen gedachte. Und mit diesem hoffnungsvollen Gedanken ließ sich der Schlaf, den sie gesucht hatte, schließlich erweichen und kam zu ihr.
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2. Lydana Die Frau in dem großen Himmelbett erwachte, doch sie rührte sich nicht, noch schlug sie die Augen auf, obwohl sie wachsam war wie ein gut ausgebildeter Späher Balthasars. Im Laufe der Jahre hatte sie ihre fünf Sinne ganz bewußt geschärft. Daneben gab es noch jenen allmählich erwachenden sechsten Sinn, der zu den persönlichen Gaben ihres Hauses und Stammes gehörte. Diesen setzte sie jetzt ein und suchte, wie mit Fühlern tastend, die nähere Umgebung ab. Ja, jemand hatte den Raum betreten.Vorsichtig bewegte sie die Hand unter der schweren Bettdecke. Sie wagte einen kurzen Blick durch halb geschlossene Augenlider. Kein Licht brannte; und doch suchte sie nach einem Schatten in der Dunkelheit. Sie hatte die Hand inzwischen über den Kopf geführt, die Finger glitten unter den Rand des großen Kissens und schlossen sich um den Gegenstand, nach dem sie gesucht hatte - ein schmales, aber tödliches kleines Messer, das mit Vorbedacht so geschmiedet war, daß es bei Tage leicht in Kleiderfalten verschwand und bei Nacht keine verräterischen Falten in einer Bettstatt aufwarf. Eine Waffe, die sie bereits zweimal in den vergangenen Jahren erfolgreich gebraucht hatte und die sie hier und jetzt durchaus noch einmal einer Tauglichkeitsprüfung unterziehen würde. Mit der linken Hand fuhr sie geräuschlos wie eine Wasserschlange zur anderen Seite des Bettes, bis sie auf festes, warmes Fleisch stieß. Sie berührte es zweimal mit dem Finger, ehe sie sprach. Ihr Geruchssinn war ihr zur Hilfe gekommen — ein leiser Hauch von Blattseife lag in der Luft. »Nun, Schelyra, hast du wieder die inneren Wege erforscht und einen neuen Pfad entdeckt, auf dem du uns überraschen kannst?« Ein Ausruf, teils ärgerlich, teils gereizt, erklang aus der Dunkelheit. »Und Ihr, liebe Tante, könnt inzwischen wohl im Dunkeln sehen?« Die Stimme war weich, aber recht tief für eine Frau. »Ich kam mit diesen Augen zur Welt, aber du, meine liebe Nichte, kannst dich nicht so gut anschleichen, wie du vielleicht glaubst. Eines Tages wird dich Skita nach einer solchen List in Empfang nehmen und 11
einen empfindlichen Körperteil mit Aufmerksamkeit überschütten. Das wäre höchst bedauerlich — für uns alle.« Lydana aus dem Geschlecht des Tigers, Herrscherin über den Stadtstaat Merina mit seinem großen Hafen, richtete sich im Bett auf. Ohne besonderen Wink wurde eine Lampe entzündet, bei deren mattem Schimmer nichts mehr verborgen bleiben würde. Die Gestalt, die sie in der Hand hielt, war nicht größer als ein Kind. Dennoch war der schlanke, feingliedrige Körper mit der rotbraunen Hauttönung der einer gut entwickelten Frau, und die Augen, die sie zu schmalen Schlitzen verengt hatte, waren nicht gerade die einer Jugendlichen. Diejenige, die ins Zimmer eingedrungen war, trat in den Lichtkreis der Lampe. Auch sie war inzwischen zur Frau herangereift, wenn auch noch nicht so lange, wie sie es sich gewünscht hätte. Ihre Gesichtszüge wirkten ebenso gebieterisch wie die der Königin, und doch lag auf ihnen noch die Weichheit der Jugend. Das dunkle Haar war geflochten und mit einem schmalen Metallreif am Kopf befestigt. Neben der Trägerin der Lampe erschien sie riesig. Sie trug ein eng anliegendes, einteiliges schwarzes Kleidungsstück, das nur durch einen Gürtel unterbrochen wurde, an dem zwei Scheiden hingen. In der einen steckte ein kleines Messer, in der anderen, längeren, eine Jagdklinge. Gesicht und Hände waren vom Aufenthalt im Freien gebräunt, und wenn der kleine Brustansatz nicht gewesen wäre, hätte man sie für einen jungen Mann halten können. Sie schnitt der Trägerin der Lampe ein Gesicht, trat an das Bett und setzte sich ohne Aufforderung ans Fußende. Kaum hatte sie Platz genommen, wandte sie sich mit einem Ruck der Königin zu und hielt ihr eine geöffnete Hand entgegen, in der ein ovales Kästchen lag, nicht größer als eine Walnuß. Es war mit schwarzem Email überzogen und sah wie ein Stein aus — einer der Steine, wie man sie draußen auf den Straßen zu Tausenden finden konnte. Lydana betrachtete den Gegenstand eine Weile. Ihre gewohnte, nach außen zur Schau getragene Gefaßtheit wich keinen Augenblick von ihr. Doch das, was sie sah, an diesem Ort und zum jetzigen Zeitpunkt, war erschreckend genug. »Wer?« fragte sie nur. »Ich glaube ...«, sagte Schelyra und zögerte. Ihr Mund verzog sich, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen: »Rosthen.« »Du glaubst ...« Das Mädchen veränderte die Haltung, und ein Schatten von Furcht, 12
vermischt mit Abscheu, huschte über ihr Gesicht. »Die Unterirdischen waren über ihn gekommen. Er lag gleich hinter dem vierten Eingang. Zwischen seinen Schultern steckte ein - ein Pfeil, und eine Blutspur war zu sehen. Er wurde nicht an dem Ort getroffen, wo er schließlich zu Boden stürzte.« Ihre Stimme schwankte nicht, stellte Lydana fest, und dies, obwohl sie zutiefst erschüttert sein mußte. Ja, sie war wahrhaftig die Tochter ihres Bruders. Rasch beugte sich die Königin vor und nahm das Kästchen an sich. Mit dem Nagel des Zeigefingers berührte sie den verborgenen Verschluß. Das Kästchen öffnete sich nicht sofort, und sie mußte nachhelfen. Der Grund dafür lag auf der Hand. Es war so vollgestopft, daß die winzigen Scharniere unter erheblicher Spannung gestanden hatten. Ohne Aufforderung trat die kleine Frau mit der Lampe näher, so daß das Licht genau auf das Papier fiel, das Lydana glattstrich. Sie las die ersten Zeilen, und zum ersten Mal versagte ihr fast die Stimme. »An die Ehrwürdige«, sagte sie und hielt sich die Botschaft näher an die Augen, während sie aus dem Bett schlüpfte. Skita trippelte mit der Lampe in der Hand voraus, Lydana und Schelyra folgten ihr. Die Prinzessin schob einen in leuchtenden Farben bestickten Wandbehang zur Seite, damit Lydana Platz hatte, die kleinen Verschlußmechanismen zu öffnen. In diesem uralten Teil des Palastes gab es unzählige Geheimgänge, und alle, die vom Geschlecht des Tigers abstammten, lernten schon in frühester Kindheit davon Gebrauch zu machen. Man zeigte ihnen, wie man sonderbare Schlösser bediente, Knöpfe, an denen man drehen oder ziehen mußte, um zu schmalen, in den Mauern verborgenen Gängen und Treppen zu gelangen. Nach kurzer Zeit blieben sie vor einem kleinen, in die Wand eingelassenen Holzpaneel stehen. Skita trat zur Seite, und die Königin klopfte viermal. Zunächst geschah nichts, dann entstand eine Öffnung. Vor ihnen stand Lydanas Mutter, Schelyras Großmutter, die Königinwitwe Adele, die sich gerade im Übergang befand; sie nahm Abschied von dem lebhaften Treiben des Hofes von Merina und bereitete sich auf ein Leben im Tem pel des Allmächtigen Herzens vor, das weniger nach außen, als vielmehr nach innen gerichtet war. »Gibt es Schwierigkeiten?« Adele war ein wenig außer Atem, und Lydana fragte sich, ob sie mit ihren Vermutungen, die sie in der letzten Zeit angestellt hatte, nicht doch richtig lag. Adele hatte ein hohes Alter erreicht, und die beiden letzten Jahre des Übergangs schienen sie erschöpft zu haben. Lydana wußte, daß Adele viel Zeit im Tempel ver 13
brachte, und hatte sich schon oft gefragt, warum ihre Mutter überhaupt noch bei Hofe weilte. Während sie die kleine Gestalt betrachtete, die sich am Türrahmen festhielt, das Gesicht im Schatten, da der Raum hinter ihr schwach erleuchtet war, ahnte Lydana, was ihr bevorstand. Unwissende Menschen hielten sie für gesegnet, doch sie hatte zuweilen eher das Gefühl, als laste ein Fluch auf ihrem Geschlecht. Obgleich Adele den Übergang nach außen hin mit stiller Freude begrüßt hatte, hing sie noch immer am Leben bei Hofe, und diese Zerrissenheit raubte ihr die Kraft. Bis zu den Wechseljahren unterschieden sich die weiblichen Abkommen ihres Geschlechtes in nichts von anderen Frauen. Sie besaßen zwar durchaus das eine oder andere unbedeutende Talent, das sie, wenn sie klug genug waren, auch förderten. Doch mit den Wechseljahren setzte der große Wandel ein — gewisse Gaben, lange Zeit ungenutzt, machten sich bemerkbar und zwangen ihre Besitzerin, sie zu vervollkommnen. Das war die Zeit, in der die Herrscherin des Königshauses und der Stadt Merina die irdische Macht einer geistigen unterwerfen mußte, was jedoch bedeutete, daß sie eine noch schwerere Bürde auf sich zu nehmen hatte und zum Schutze alle Kräfte einsetzen mußte, die nicht von dieser Welt waren. Sie würden solche Kräfte wohl gebrauchen können, dachte Lydana finster, angesichts der ungeheuren Macht, die sich nun gegen sie gewandt hatte, der schlimmsten Bedrohung, der ihre Welt in diesen Zeiten ausgesetzt war. Womit ihre Gedanken sich wieder der Botschaft zuwandten, die sie mitgebracht hatte. »Schelyra hat — Rosthen gefunden ...« Ihre Mutter hob die knöchrigen Hände, um das Segenszeichen für die Toten zu machen. »Es ist ihm trotz seiner Verwundungen gelungen, den vierten Gang zu erreichen. Er trug dies hier bei sich«, mit diesen Worten hielt sie ihrer Mutter das Papier entgegen. »Rosthen war der Beste unter denen, die für uns lauschten und beobachteten«, sagte Adele. »Lies die Botschaft vor, für die er sein Leben gab.« »Balthasar hat sich in Bewegung gesetzt - Widerstand gegen seine Streitmacht ist aussichtslos. Hinter ihm steht ein gewisser Apolon - er ist ein Diener des Bösen. Apolon will das Herz und alles, was es beinhaltet.« Adele sog hörbar den Atem ein, es klang beinahe wie ein Seufzer. Sie hob erneut die Hände zu einer Geste, die sie alle gut kannten. Schwei 14
gend standen sie da, während die alte Frau die Augen schloß. Sie versuchte, sich in Gebetstrance zu versetzen, und bemühte sich, ihre seherischen Fähigkeiten zu verstärken. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Adele die Augen aufschlug und abermals seufzte. »So sei es«, sagte sie leise. »Merina wird aufgrund unserer Entscheidung leben oder sterben. Laßt uns darüber nachdenken, was zu tun ist, und uns zur dritten Stunde wieder treffen.« Lydana neigte den Kopf. Ihr war nicht entgangen, daß ihre Mutter versehentlich die im Tempel übliche Zeitangabe verwendet hatte, nach der ein Tag zur Stunde der Morgendämmerung begann. Ein Treffen zur dritten Stunde bedeutete also, daß sie alle noch frühstücken konnten, ehe sie eine schicksalhafte Entscheidung fällen mußten. Schelyra öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch nach einem kurzen Blick auf ihre Tante, die die Stirn in Falten legte, schwieg sie. Sie schritten durch den Geheimgang zurück ins Zimmer der Königin. »Wir müssen die Wachen alarmieren - die Zünfte ...«, brach es aus dem Mädchen heraus, kaum daß sich die Holzverkleidung hinter ihnen geschlossen hatte. Lydana schüttelte den Kopf. »Kaiser Balthasar ist ein gnadenloser Herrscher. Er hält fast unsere gesamte Welt in seiner eisenbewehrten Faust. Kind, du hast noch nie eine Stadt gesehen, die der Plünderung preisgegeben wurde: Das Blut aller Einwohner - auch der Kinder — fließt über die Straßen in die Kanäle, Tausende werden gefoltert und umgebracht. Ist es das, was du Merina wünschst? Ich habe - jenseits des Meeres - die Eroberung einer Stadt miterlebt ...« Die Königin schloß für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Mund wurde schmal. »Es war ein Anblick, der alle erwartet, die in die Hölle gestoßen werden. Glaubst du denn, unser kleines Aufgebot an Soldaten, die sonst nur als Wächter durch die Straßen schlendern, und die im Kampf ungeübten Mitglieder unserer Zünfte hätten einer siegesgewohnten Armee etwas entgegenzusetzen?« »Aber ...«, setzte Schelyra an. Lydana indes fuhr unbarmherzig fort. Das Mädchen sollte die volle, ungeschminkte Wahrheit erfahren. »Balthasar begehrt Merina als eine reiche Handelsstadt — das wissen wir schon seit Jahren. Er ist nicht käuflich, denn er muß der Größte sein, wohin auch immer sein Schatten fällt - das ist seine Natur. Nun zu Rosthen - mögen die Engel der Krieger ihn rasch zum Ort des Friedens tragen. Er hat uns eine noch schlimmere Botschaft zukommen lassen. Ich habe schon von Apolon gehört, aber nur sehr wenig. Er verbirgt sich im Schatten hinter Balthasars Thron.Vielleicht ist er gerade 15
deshalb noch gefährlicher. Wenn er sich den Mächten der Finsternis ver| schrieben hat, dann kann er in der Tat einen unseligen Einfluß auf den Mann ausüben, der glaubt, sein Herr und Gebieter zu sein. Apolon will das Herz - das, glaube ich, ist die schlimmste Warnung überhaupt, die Rosthen uns übermitteln konnte.« »Aber -«, das Mädchen spielte unruhig mit dem Griff ihres langen Messers. »Das Herz ist mächtiger als aller Zauber —« »Das Herz ist jetzt in der Erzpriesterin Verit erdgebunden. Sie ist mächtig — und sie hat die Tempelangehörigen zu ihrem Schutz. Doch es kann auch sein, daß ein einziges Leben zwischen diesem Apolon und dem, was er begehrt, steht.« »Was sollen wir dann tun? Sollen wir hingehen — uns wie Sklaven anketten, uns mit dem Gesicht in den Staub werfen, um Balthasar willkommen zu heißen?« »Wir werden tun, was die Ehrwürdige vorgeschlagen hat: Wir denken nach. Geh nun und ruhe dich aus, mein Kind. Die Schwierigkeiten, die uns erwarten, werden bald genug kommen.« Schelyra verließ den Raum - mit sichtlichem Widerwillen. Lydana ging nicht wieder zu Bett. Skita hatte die Lampe auf einen kleinen Tisch gestellt und war zu einem großen Schrank gegangen, dem sie einen Anzug entnahm, der dem von Schelyra sehr ähnlich war. Sie warf ihn auf das Bett und legte einen Umhang und ein Paar Stiefel dazu. Lydana lächelte. »Du hast recht, meine Kriegsfee, wir müssen auf unsere Weise Rat suchen.Wenn man etwas über Waffen erfahren will, geht man zu einem, der sich gut auskennt. So sei es.« Rasch schlüpfte sie in die schwarze Kleidung und zog die Kapuze des Umhangs fest um den Kopf. Skita hatte ähnliche Kleidung aus einer Kiste neben der Tür hervorgeholt. Die Laterne nahm sie nicht mit, denn sie brauchten kein Licht auf einem Weg, den beide gut kannten und schon häufig benutzt hatten. Ein schmaler Raum, Stufen, eine niedrige Tür, von der Feuchtigkeit herabtropfte. Schon standen sie an dem kleinen Anleger und stiegen in ein dunkelbraunes Boot ohne jegliche Insignien, das ein gewöhnliches Boot hätte sein können, wie es überall benutzt wurde. Die Kanäle zogen sich wie ein Netz durch Merina. Obwohl die Stadt nicht direkt an der Küste lag, war sie dank dieser Kanäle ein vorzüglicher Hafen. Andererseits war sie gerade wegen dieser Kanäle viel schwerer zu überwachen als eine Stadt an Land. Lydana wußte, daß sich Schmuggler und andere, die noch übleren Machen16
schaften nachgingen, in den Wasserstraßen sehr gut auskannten. Aber sie kannte auch die Rechtschaffenheit der Wächter und wußte, daß sie dem Geschlecht des Tigers treu ergeben waren. Balthasar hatte noch nie zuvor versucht, eine von Wasserstraßen durchzogene Stadt zu besetzen. Schon möglich, daß er auf größere Schwierigkeiten stoßen würde, als er erwartet hatte. Sie bewahrte diesen Gedanken sorgfältig in ihrem Gedächtnis und hoffte, er werde dort reifen und brauchbare Früchte tragen.
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3. Schelyra » Geh zu Bett, mein Kind«, sagt sie zu mir. Als wäre ich nicht schon seit mehr als drei Jahren für alle unsere Späher verantwortlich! Als hätte Großmutter den Befehl über sie nicht mir übertragen! Als hätten mich die Roßhändler nicht in den Kreis ihrer Anführer aufgenommen! Für sie bin ich nicht das »Kind«, das man zu Bett schickt! Schelyra kochte vor Wut und verdrängte damit andere Gefühle. In erster Linie Angst: eine Angst, die sich eiskalt um ihr Herz legte und die sie heftig unterdrückte. Ihre Tante dachte, sie hätte den Ernst der Lage nicht erfaßt - das mochte bis vor wenigen Stunden auch der Fall gewesen sein. Nun jedoch war Kaiser Balthasar mit seinen siegreichen Truppen keine ferne Bedrohung mehr, sondern unmittelbare Wirklichkeit. Heute hatte er nicht irgendeinen Fremden in einem unbekannten Land niedergeschlagen, sondern einen Menschen, den sie kannte, der für sie gearbeitet und ihr vertraut hatte. Und es war direkt auf der Schwelle zu ihrer Stadt geschehen. Wenn ihm das so leicht fiel, wozu war er dann noch fähig? Oder besser:Was gelang ihm nicht? Mit geschmeidigen Schritten huschte sie über den alten Gang. Die wenigen Kerzen, die um diese nächtliche Stunde noch brannten, warfen trübe, honigfarbene Lichtflecken auf das polierte Holz an den Wänden und auf dem Boden. Wie üblich bewegte sie sich in höchst sonderbaren Schlangenlinien über den Korridor. Wenn ihre Schritte nicht so sicher gewesen wären, hätte ein Beobachter meinen können, sie wäre betrunken. Doch sie war weder betrunken noch schwach auf den Beinen; sie umging lediglich die Dielenbretter, die knarrten. Dieser Korridor war auf der gesamten Länge eine einzige Falle für Diebe, Mörder, Fremde: Niemand, der sich mit dem »klingenden Korridor« nicht genau auskannte, vermochte die in unregelmäßigen Abständen eingesetzten Dielen zu umgehen. Schelyra kannte sie alle - in jedem Flur des Palastes, sowie im Sommerpalast jenseits des Flusses. Es gab eigentlich nicht viel, was sie über diese beiden Gebäude nicht wußte. Schon vor langer Zeit 18
hatte sie begonnen, jedes Geheimnis dieser verschwiegenen, uralten Gemäuer zu erkunden. Nicht einmal Großmutter oder Tante Lydana kennen alle diese Geheimnisse, die Geheimgänge, die Gucklöcher, die versteckten Türen. Als kleines Kind war sie bereits zufällig auf einen Geheimgang gestoßen und hatte damit einen Ausgang aus ihrem Kinderzimmer entdeckt, den niemand außer ihr zu kennen schien. Als Fluchtweg hatte ihr diese Entdeckung in den Fällen, in denen sie schlafen sollte oder auf andere Weise von dem spannenden Treiben der Erwachsenen ausgeschlossen war, mehr bedeutet als Süßigkeiten oder Spielzeug - und sie hatte sich aufgemacht, andere verborgene Wege zu entdecken. Schließlich hatte Großmutter Adele ihr alle Geheimgänge gezeigt, die sie kannte, doch inzwischen hatte sie dieses Wissen mehr als verdoppelt. Eines ihrer Geheimnisse kam ihr zugute, als sie etwa in der Mitte des Korridors angelangt war. Dort trat sie einen Schritt zur Seite und verschwand schattengleich in einer finsteren Ecke. Sie steckte drei Finger der rechten Hand in die Mitte jeweils einer geschnitzten Blume und übte leichten Druck aus, während sie mit der linken Hand an einer anderen Stelle der Holzverkleidung zog. Das ganze Paneel drehte sich lautlos um die eigene Mitte, so daß sie ins Innere der hohlen Wand schlüpfen konnte. Mit einem kaum vernehmbaren Klicken schloß sich das Holzpaneel wieder, und Schelyra stand in der undurchdringlichen, samtenen Dunkelheit des Geheimgangs. Sie atmete kurz auf, nachdem sie sicher im Innern gelandet war. Selbst wenn Balthasar Späher ins Haus des Tigers eingeschleust hatte: hier in den Geheimgängen würden sie Schelyra niemals verfolgen können. Ich bin wie eine Maus im Gemäuer. Oder vielleicht auch eine Schlange — mit einem sehr scharfen Zahn. Ihre Rechte streichelte den Griff des langen Messers, ein Geschenk der Roßhändler, und mit der linken Hand tastete sie nach der Wand des Geheimgangs, ehe sie zuversichtlich den ersten Schritt ins Dunkle unternahm. Natürlich knarrten hier keine Dielenbohlen. In diesem Gang gab es keine Gucklöcher. Er endete schließlich vor ihrem Schlafgemach, nachdem er in vielen Windungen um die Räume, die auf ihrem Weg lagen, herumgeführt hatte. Schelyra lächelte, wenn auch freudlos. Weder ihre Tante noch dieser kleine Knirps, den sie sich als Dienerin hielt, hatten herausbekommen, wie sie die Zimmer ihrer Tante nach Belieben betreten und wieder verlassen konnte, ohne ent 19
deckt zu werden. Ich bin weder Maus noch Schlange, sondern ein Geist der Finsternis, ein Traum, eine Vision, die im Palast spukt, und gehe, wohin ich will, eingehüllt und beschützt von den Schatten. Ein bezaubernder Gedanke; doch jetzt war keine Zeit für Phantastereien. Sie ließ die ausgestreckte Hand an der glatten Oberfläche der inneren Mauer entlanggleiten, um rechtzeitig Biegungen zu ertasten, vor allem dann, wenn sie mit dem Zählen der Stufen durcheinandergeraten war. Hin und wieder schien der Gang in einer Sackgasse zu enden; das war irreführend und hätte gewiß jeden, der sich in den Geheimgängen nicht auskannte, getäuscht. Diese Sackgassen waren nur die Stellen, an denen die Mauer durch eine Tür unterbrochen war; Schelyra tastete an der Wand vor ihr nach den klug angelegten, flachen Griffen für Hände und Füße und kletterte wie selbstverständlich hinauf, kroch dann über den Türrahmen und stieg auf der anderen Seite wieder hinunter. Innerlich bebte sie vor unbefriedigtem Tatendrang und vor Angst. Sie hatte sich im Geiste auf einen Kampf vorbereitet; nun schien es, als wolle ihre Tante das ganze Königreich widerstandslos ausliefern. Wir müssen kämpfen. Natürlich müssen wir! Aber wie? Merina besaß, wie ihre Tante bereits gesagt hatte, kein Heer, hatte noch nie eines gehabt. Die Könige und Königinnen hatten sich in der Vergangenheit stets auf kluge Bündnisse, auf Bestechung, Erpressung und hin und wieder auf den Ankauf einer Söldnertruppe gestützt, um sich vor den Tücken anderer zu schützen. Wenn die Herrscher von Merina die Sicherheit ihrer Stadt nicht zu kaufen vermochten, konnten sie eben diese Sicherheit durch wohlüberlegten Einsatz von Nachrichten gewährleisten, die von einem Netz von Spähern zusammengetragen wurden, um welche Monarchen größerer Länder sie nur beneiden konnten. Doch wie Tante Lydana heute abend zu recht bemerkt hatte, konnte sich nichts und niemand erfolgreich des Molochs erwehren, mit dem Kaiser Balthasar sie augenblicklich zu Boden drückte. Weder Täuschung noch Erpressung hatten die gewünschte Wirkung gezeigt, obgleich Schelyra ihre Kundschafter angewiesen hatte, es auf diesem Wege zu versuchen. Balthasar hatte nicht gerade ein untadeliges Leben geführt aber seine Macht über Land und Leute war so unantastbar, daß er einfach nicht erpreßbar war. Es war ihm schlichtweg gleichgültig, welche Enthüllungen über ihn ans Tageslicht kamen. Er quittierte sie obendrein mit einem erheiterten Schmunzeln. Was blieb, waren Bestechung und Bündnisse. Doch die Verbündeten von Merina waren entweder bereits gefallen oder warteten angstschlot 20
ternd, bis die Reihe an sie kam - und was Bestechung betraf, so war nicht einzusehen, warum Balthasar dieses Almosen annehmen sollte, wenn er ohnehin alles an sich reißen konnte, was er wollte. Die Königin hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um diese Lage zu vermeiden, sowohl offen als auch verdeckt. Nur hinterhältiger Mord war nicht versucht worden, doch daran durfte nicht einmal gedacht werden. Ganz gleich, wieviel Blut an den Händen Balthasars klebte: seine Ermordung oder der Plan, ihn zu ermorden, hätte ihre Seelen mit seinem Tod belastet. Mord war eine schreckliche Sünde und durfte ernsthaft nicht in Erwägung gezogen werden. Darüber waren sie sich alle drei einig gewesen. Obwohl Tante Lydana und ich ansonsten nur in wenigen Dingen übereinstimmen, scheint es. Lydana wollte nicht von ihrer Meinung abrücken, Schelyra sei ein Hitzkopf, ein wildes, leidenschaftliches Kind. Nun, sie hatte diese Eigenschaften durchaus besessen, doch ihr Aufenthalt bei den Roßhändlern hatte sie eines Besseren belehrt. Sie war immer noch aufbrausend und brachte ihre Wut im vertrauten Kreis durchaus noch zum Ausdruck. In aller Öffentlichkeit indes bezähmte sie ihren Zorn. Sie konnte berechnend wie Adele und geschickt wie Lydana planen - ja, und sie vermochte diese Pläne auch durchzuführen! Doch die Königin hatte noch nicht bemerkt, wie sehr Schelyra sich verändert hatte; sie sah in ihr nur das Kind, dessen Streiche den Palast immer wieder in Verwirrung gestürzt hatten. Daher fehlte ihr die Einsicht, wie sehr ihre starre Haltung die Nichte ärgerte und deren berüchtigtes Temperament immer wieder auf den Siedepunkt brachte. Merkwürdig, daß Menschen, die einem anderen Zuneigung entgegenbringen, dennoch so unfähig sind, ihn wirklich zu verstehen! Schelyra konnte mit Bestimmtheit sagen, daß sie zumindest ihre Tante nicht verstand; der Mystizismus ihrer Großmutter hingegen war leicht zu begreifen, obwohl sie ihn nicht teilte. Die Haltung der Königin zum Allmächtigen Herzen und zu allem, was es symbolisierte, war nicht genau einzuordnen. Ihr Verhalten zeugte zuweilen von tiefer Gläubigkeit - und doch wollte sie sich nicht zu dieser bekennen. Es war, als flößten ihr diese Gedanken Unbehagen ein. Und Schelyra — nun, sie hatte nie einen Engel gesehen und rechnete auch nicht damit. Es gab ausgesprochen praktische Erklärungen für vieles, was im Tempel vor sich ging, und was das übrige betraf- es kümmerte sie nicht. Für sie zählten praktische Dinge. Wie zum Beispiel die 21
Frage: Auf welche Weise konnte man die Stadt verteidigen? Und wie konnte sie sich selbst dabei schützen? Sollte Großmutter ruhig ihre Engel und Boten der Allmächtigen zu ihrem Schutz anrufen - sie selbst, Schelyra, würde sich auf die Waffen der Roßhändler und das Wissen des Fahrenden Volkes verlassen. Schelyras suchende Hände trafen nun auf eine echte Sackgasse. Dieser Gang endete hier vor der verborgenen Tür in ihre eigenen Gemächer. Doch sie hielt inne, ehe sie das Schloß ertastete, das die Tür am Kopfende ihres Bettes öffnete. Es muß etwas geben, was ich jetzt tun kann. Es würde eine lange Nacht werden, und eine schlaflose dazu. Ich könnte ohnehin nicht schlafen. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich — die Leiche. Schauer des Entsetzens schüttelten sie. Übelkeit stieg in ihr auf und nahm ihr den Atem. Sie schluckte krampfhaft und lehnte sich matt gegen die Mauer, als die Knie ihr den Dienst zu versagen drohten. Es ist nicht das erste Mal, daß ich einen Toten gesehen habe, rief sie sich in Erinnerung. Da war der arme Taz, der von der stampfenden Herde niedergetrampelt wurde — und jene Dienerin, die im Korridor einfach tot umfiel. Schließlich hatte sie sich wieder in der Gewalt; sie straffte ihren Körper und richtete ihre Gedanken wieder auf die vor ihr liegenden Stunden. Gedanken an die Zukunft; wie war es möglich, in einer Stadt zu kämpfen, die sich ergeben hatte? Ein Kampf aus dem Schatten heraus? Die Taktik des raschen Schlags aus der Deckung heraus einsetzen? Jeder in Merina stattfindende Kampf mußte verdeckt ausgetragen werden. Die Angehörigen der Zünfte, die man dazu überreden könnte, ein wenig Rückgrat zu beweisen, konnten in den Straßen und Kanälen durchaus erfolgreich einen ständigen Zermürbungskrieg gegen die Besatzer führen. Natürlich mußte Schelyra davon ausgehen, daß der Große Palast verloren ginge - doch der Sommerpalast bot weniger Anreiz für eine Eroberung und lag zudem jenseits des Flusses. Waren die Brücken erst einmal besetzt, wäre der Sommerpalast — theoretisch - von der Stadt aus nicht mehr zu erreichen. Sie lächelte traurig. Wie wenig sie doch wußten! Selbst ihre Tante wußte nicht viel - wenngleich Schelyra vermutete, daß zumindest Adele sich der Existenz eines Geheimgangs zwischen einem bestimmten Brückenpfeiler und dem Sommerpalast bewußt war, eines Ganges, der unter dem Fluß entlangführte. Bestimmt weiß Großmutter von dem Gegenstück, der Verbindung zwischen dem Palast und dem Tempel. 22
Wie und warum man ihn durch den harten Fels unter dem Flußbett gebohrt hatte, davon hatte Schelyra keine Ahnung - er war älter als die Brücke und mindestens so alt wie der Sommerpalast. Angenommen, zwischen den Eindringlingen und den Bürgern der Stadt fand ein verdeckter Krieg statt. In diesem Fall würde sie gewisse Dinge benötigen, die sich hier und im Sommerpalast befanden. Und diese Gegenstände mußte sie unbedingt in ein sicheres Versteck schaffen - für den Fall, daß die Eindringlinge doch den Sommerpalast einnahmen. Und der sicherste Ort für ein solches Versteck? Der Sommerpalast selbst! Selbst wenn der Palast eingenommen würde, gab es noch den Palast im Palast ... Zumindest gab es eine gewisse Anzahl verborgener Räume, Kam mern, in die man nur durch weitere Geheimgänge gelangen konnte, Gemächer, die seit Jahrhunderten niemand betreten hatte, ehe Schelyra sie zufällig entdeckte. Warum sollte jemand im Sommerpalast nach ihr oder ihren Geheimnissen suchen, nachdem er einmal erobert wäre? Nun gut. Sie hatte ein Ziel, zumindest für diese Nacht, und wahrscheinlich auch für die folgenden Nächte, bis Balthasars Armee schließlich da war. Sie würde Verstecke und Fluchtwege für sich einrichten, sie mit Geld und Vorräten bestücken und Verkleidungen dort hinterlegen. Und sie mußte schnell handeln. Zum Glück lagen die meisten Dinge, die sie brauchte, bereits in ihrer Waffenkammer im Sommerpalast. Die Sachen, die sie von dort benötigte, konnte sie in einem Bündel tragen. Sie löste den Verschlußmechanismus, und das mittlere Paneel am Kopfende ihres Bettes glitt zur Seite, so daß sie über ihre Kissen hinweg auf die Matratze kriechen konnte. Das weiche Federbett reizte sie nicht im geringsten; sie war zu aufgewühlt, um auch nur einen Moment der Ruhe in Erwägung zu ziehen. Eine Nachtlampe brannte neben dem Bett, deren Licht ihr, die gerade aus der pechschwarzen Finsternis der Geheimgänge kam, taghell erschien. Sie stieg aus dem Bett und ging entschlossenen Schrittes auf den massiven Schrank zu, der eine ganze Wand einnahm. Sie zog eine Tür auf und holte unter ihrem Jagdanzug ein ledernes Bündel hervor. Dann öffnete sie innerhalb des Schranks ein kleines Fach, wobei sie die Truhe mit Juwelen davor und die vielen kostbaren Gewänder, die daneben hingen, unbeachtet ließ. Später werde ich ein paar Juwelen mitnehmen — aber nur solche, die sich leicht 23
verkaufen lassen. Die Gewänder, die so erlesen waren, daß sie selbst das härteste Frauenherz unter gewöhnlichen Umständen in Versuchung geführt hätten, strahlten im warmen Kerzenschimmer einen weichen Glanz aus. In einem Anflug von Bedauern strich Schelyra mit der Hand kurz über den saphirblauen Samtärmel eines Kleides. Es würde wahrscheinlich lange dauern, bis sie Gewänder wie diese wieder tragen könnte - wenn überhaupt. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Nußbaumfach zu. Dieser Teil des Schrankes mußte absolut leer sein, wenn die Eindringlinge den Palast einnahmen, denn er enthielt Geheimnisse, von denen wohl niemand ahnte, daß sie sie besaß - niemand außer jenen, die sie ihr anvertraut hatten. Die geheimnisvollen Mittel, die sie von Schamanen der Roßhändler und von Zigeunern der Stadt erhalten hatte, befanden sich in diesem Schränkchen, ein jedes in einem eigenen, verschlossenen Gefäß oder einer Lederscheide. Die Phiolen erinnerten an Parfumfläschchen; harmlos und - tödlich. Zumindest einige von ihnen. Außerdem befanden sich hier die Werkzeuge für ihre Anwendung und sonderbare Waffen, sowie der Rest der Kleidung, die für ihre nächtlichen Schleichgänge erforderlich war. Sie bewegte sich schnell und sicher, füllte das Bündel, bis es sich ausbeulte, und hatte schließlich Mühe, es zuzubinden. Sie trat einen Schritt zurück und warf noch einen prüfenden Blick in das Schrankfach. Sie war zufrieden. Nichts deutete mehr daraufhin, daß Prinzessin Schelyra, Ausersehene Tochter des Königshauses, etwas anderes war als eine ganz normale junge Adlige mit gelegentlichem Interesse an der Jagd. Gut. Aber vielleicht wundern sie sich über das leere Schrankfach ... Sie nahm alle Fläschchen und Tiegel von ihrer Frisierkommode und stellte sie auf die Regale. So. Das ist besser. Warum sollte ich nicht wertvolle Kosmetika und Parfüms außer Reichweite der Zofen aufbewahrt haben? Sie sind immerhin sehr kostbar, und mir wäre es nicht recht, wenn die Dienerschaft Zugang zu ihnen hätte. Sie warf noch einen letzten Blick durch den Raum, um sicherzugehen, daß sie nichts zurückgelassen hatte, was auf ihr »wahres« Selbst schließen ließ. Sie war ebenso flink wie gründlich gewesen. Hier gab es nichts — nicht einmal in den vielen Verstecken, die das Gemach und die darin enthaltenen Möbel boten -, das einen Hinweis auf Schelyras wahres Wesen geliefert hätte. So, wie es jetzt hier aussah, war Schelyra nur eine adlige junge Dame, behütet und verzärtelt. Sollten Balthasar und seine 24
Späher ruhig nach einer verwöhnten Prinzessin Ausschau halten, wenn sie verschwunden war; sie würden vergeblich suchen. Ich muß gehen. Sie warf sich das Bündel über die Schulter und trat auf einen anderen Teil der Wandverkleidung zu, diesmal neben der Feuerstelle. Ein Abschnitt der großen Täfelung schwenkte zur Seite, Schelyra bückte sich und verschwand. Es gab noch viel zu tun - und die Zeit bis zur Morgendämmerung war knapp.
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4. Adele Nachdem die anderen den Raum verlassen hatten, ging Adele wieder zu Bett. Mit ausgesprochen gemischten Gefühlen schlüpfte sie unter die warmen Decken. Bitter stieg in ihr die Furcht um das eigene Leben auf; die Angst um Tochter und Enkelin versetzte ihr einen Stich - dennoch lag allen Empfindungen eine unleugbare Erleichterung zugrunde, und das nicht nur, weil das Warten endlich ein Ende hatte. Wie oft schon hatte sie sich gewünscht, das Leben am Hof aufzugeben und sich ausschließlich dem Tempeldienst zu widmen. Jetzt würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen. In wenigen Tagen schon, spätestens in einer Woche, könnte sie nun endgültig die Priesterin Elfrida werden. Adele würde für immer von der Bildfläche verschwinden, und mit ihr all der Kummer und die Erschöpfung, die ihr Doppelleben mit sich gebracht hatte. Doch zu welchem Preis! Nichts wird wieder so sein, wie es einmal war. Sie drehte sich auf die Seite und legte den Kopf auf den Arm. Sie wollte weinen; weinen um ihre Stadt, weinen um sich und ihre Angehörigen. Was auch geschehen mochte, Verluste waren in jedem Fall zu erwarten. Ein Problem, das angesichts der Bedrohung, die ihnen bevorstand, eigentlich von geringer Bedeutung war, hatte jedoch eine Lösung gefunden, die auch der Grund für ihre unterschwellige Erleichterung war. Sie wußte, daß Lydana sich bereits gefragt hatte, warum ihre Mutter ein Doppelleben führte, warum sie nicht einfach vor zwei Jahren in den Tempel eingetreten war. Lydana erkannte nicht — und Adele wollte es ihr nicht sagen - daß sie, die regierende Königin, für das Amt des weltlichen Oberhauptes des Tempels nicht geeignet war. Das allein war schon traurig genug, doch bei Schelyra stand es noch schlimmer, wenn es um spirituelle Dinge ging. Meine liebe Familie — wie sollten sie es auch verstehen? Doch hätte ich ihnen jemals etwas überlassen sollen, womit sie nichts anzufangen wissen? Die beiden verstehen von spirituellen Dingen soviel wie Schafe vom Fliegen. 26
Wie stets bei dieser Erkenntnis schnürte sich ihr die Kehle zu, und ganz kurz überkam sie das Gefühl, betrogen worden zu sein. Doch sie schob den Gedanken beiseite. Sie war nicht betrogen worden; Lydana und Schelyra waren eigenständige Persönlichkeiten, und niemand hatte das Recht, sie an Adele zu messen. Dennoch hatten die Frauen des Königshauses schon seit Menschengedenken diese innere Gabe besessen, die sie zu wahren Töchtern der Göttin machte, und es war einfach ungerecht, wenn mit dieser uralten Tradition ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt gebrochen werden sollte. Dennoch war dies der Fall. Weder die Prinzessin noch die Königin waren geeignet, den Sitz neben dem Altar einzunehmen. Diese Tatsache war Adele vor fünf Jahren unmißverständlich klar geworden, als sie mit Lydana und Schelyra vor der Stadt auf Jagd gewesen war. Sie waren ihrem Gefolge ein Stück vorausgeritten, als vor ihnen ein Engel auftauchte. Adele sah und hörte ihn sehr deutlich, während Schelyra lediglich bemerkte, der weiße Hirsch dort sei zu schön, um getötet zu werden, und versuchte, ihn zu verscheuchen, ehe die restliche Jagdgesellschaft aufholte. Mit einem Lächeln auf den Lippen verschwand der Engel, und Adele hatte sich gefragt, ob allein die Tatsache, daß Schelyra die Tochter ihres Sohnes und nicht die ihrer Tochter war, als Grund dafür ausreichte, daß sie unfähig war, den Engel zu erkennen. Doch als sie ihre Tochter befragte, mußte sie feststellen, daß ein heller Lichtfleck alles war, was Lydana gesehen hatte! Adele war über die Erkenntnis, daß ihre beiden Erbinnen gegenüber den Botschaften der Göttin blind und taub waren, zutiefst entsetzt. Wie konnte auch nur eine von ihnen auf dem hohen Sitz vor dem Altar neben der Erzpriesterin sitzen, wenn sie nicht die Gabe hatten, wirklich zu sehen, was vor ihren Augen geschah? Unruhig warf sie sich im Bett hin und her, doch ihr Rücken ermahnte sie, sich nicht zu heftig zu bewegen. Wäre ich ein Kutscher, wie sollte ich jemandem die Zügel überlassen, der die Pferde nicht sieht, sie nicht versteht und nicht einmal sicher ist, daß sie überhaupt da sind? Als ihr Bruder starb, hatte Lydana nur zögernd die weltliche Herrschaft über Merina angetreten. Ihre deutliche Zurückhaltung allerdings, sobald die Rede auf geistliche Aufgaben kam, zeigte, daß Schafe in ganzen Herden über den Tempel fliegen würden, ehe sie diese Aufgaben mit Freuden übernehmen würde. Daher hatte Adele, obwohl sie die Herrschaft über das Königreich an Lydana weitergegeben hatte, ihre Stellung als weltliches Oberhaupt des Tempels beibehalten. Sie hatte gehofft, mit der Zeit würde sich Lydanas Bewußtsein erweitern, oder 27
ihre Tochter würde plötzlich ihre Berufung entdecken. Doch nichts dergleichen war geschehen. Wenn Lydana wohl oder übel an heiligen Tem pelhandlungen teilnehmen mußte, verhielt sie sich wie ein kleiner Junge, der im Hause bleiben und mit den jüngeren Geschwistern spielen mußte; sie wirkte angespannt und gereizt und wünschte sich sehnlichst an einen anderen Ort. Die heranrückende Streitmacht Balthasars hatte nun dafür gesorgt, daß weder Lydana noch Schelyra gezwungen sein würden, ihre Aufgabe zu übernehmen. Gram flößte ihr einen bohrenden Schmerz ein, und in den Augen brannten ungewohnte Tränen. Verluste, Verluste und nochmals Verluste. Dramatische Veränderungen standen ihnen bevor, und sie vermochte nicht vorauszusehen, wie und wo sich etwas ändern oder wie es ausgehen würde. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als legte sich ihr die Angst wie eine eiskalte Hand um den Hals. Ihr gesichertes Leben, das genau den von ihr geplanten Verlauf genommen hatte, würde zerstört werden. Kaiser Balthasar war wie eine Sturmflut: nichts vermochte ihn aufzuhalten — zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Veränderungen an sich waren ihr nicht fremd, doch waren es stets Veränderungen gewesen, die sie selbst eingeleitet hatte. Jetzt war ihr alles aus den Händen genommen. Sie konnte die Folgen weder beeinflussen noch sie voraussagen. Eine Zeitlang gab sie dieser kalten Furcht nach, um sie dann entschlossen zu verscheuchen. Lydana schmiedete gewiß Pläne, wie sie sich verkleiden und auch zu diesem Zeitpunkt noch entkommen konnte — und was Schelyra betraf: ihre Streifzüge zu den Zigeunersippen hatten ihr beliebig viele Helfer eingebracht, an die sie sich wenden konnte. Wahrscheinlich hatten sich beide bereits heimlich aus dem Palast gestohlen, um ihre Flucht zu planen und Verstecke einzurichten. Das hätte sie, Adele, getan, wenn sie jünger gewesen wäre. Ihr Doppelleben war jetzt sogar zweckdienlicher, als sie angenommen hatte.Wenn sie verschwände, würde Balthasar unter den Tempelangehörigen nach einer neuen Priesterin suchen, in der er dann, wenn er sie fände, die Königinwitwe vermuten würde. Doch die Priesterin Elfrida diente bereits seit zwei Jahren im Tempel: sie war also keine Neue und für die anderen ein bekanntes Gesicht. Selbst wenn Balthasar den Tempel auskundschaften ließ, bestand für ihn kein Grund zu der Annahme, Priesterin Elfrida und Adele seien ein und dieselbe Person. Sie konnte sogar ihren eigenen Tod inszenieren — das war nicht 28
einmal eine schlechte Idee. Balthasar würde nicht nach einer Frau suchen, die er für tot hielt. Sie hoffte, daß Lydana und Schelyra sich ebenso sorgfältig vorbereitet hatten. Schelyra hatte sich bestimmt schon vor langer Zeit eine Identität bei den Zigeunerstämmen aufgebaut — eine Identität, von der Lydana sehr wahrscheinlich keine Ahnung hatte. Wenn die Königin davon erfahren hätte, wäre sie wohl allein bei dem Gedanken daran entsetzt gewesen. Sollte es Schelyra und Lydana gelingen, sich Masken zuzulegen, die ebenso vollkommen waren wie die Adeles, und wenn sie Fluchtmöglichkeiten aus dem Palast fanden, die so klug gewählt waren wie ein vorgetäuschter Tod, dann bestand vielleicht noch ein Hoffnungsschimmer. Und wahrscheinlich denkt keine von beiden auch nur einen Augenblick daran, daß ich errate, was sie tun. Wie kam es nur, daß jüngere Menschen so sicher waren, sie könnten ihr Tun und Treiben vor den Älteren verbergen? Sie kannte den unternehmungslustigen Ausdruck, den sie in Schelyras Augen bemerkt hatte; er verhieß eine schlaflose Nacht. Ebensogut konnte sie in Lydanas Augen lesen, die sich plötzlich verschleierten, wenn sie etwas im Schilde führte, von dem sie wußte, daß ihre Mutter nicht unbedingt damit einverstanden war. Ich kenne sie seit ihrer Geburt, während sie mich erst bewußt wahrnahmen, als die erste Hälfte meines Lebens bereits hinter mir lag. Kommt denn keine von beiden auf den Gedanken, daß ich sie leicht durchschaue, da ich sie schon seit der Zeit kenne, als sie ihre Absichten noch nicht verheimlichen konnten? Nun, zweifellos hatte ihre Mutter dasselbe von ihr gedacht. Wir werden Pläne und Ränke schmieden, und wir Frauen vom Geschlecht des Tigers werden einen Weg finden, wie wir diesen Herrscher mitten in seinem Eroberungsfeldzug besiegen können. Noch waren sie nicht besiegt. Sie unternahmen einen — wie hatte es ein Befehlshaber ihrer Söldnertruppen einmal genannt? - »strategischen Rückzug«. Es gab noch andere Möglichkeiten, eine Armee zu besiegen, als sich ihr im offenen Kampf entgegenzustellen. Ein Krieg, der in kleinen Scharmützeln geführt wurde, von einem Gebiet aus, das die andere Seite für erobert hielt, schwächte mehr als eine offene Schlacht. Wenn sie Balthasar hier nur genug Verdruß bereiteten, würde sich die Kunde vielleicht bis zu den anderen eroberten Gebieten verbreiten, die sich ihm dann auf dieselbe Weise widersetzen würden. Es war unmöglich, einen Krieg an hundert Fronten gleichzeitig auszufechten; das wußte sogar sie. Ihre Beine zuckten, kamen dann aber zur Ruhe, als sie die ver 29
krampften Muskeln bewußt entspannte. Solange in ihnen allen noch Leben glühte, bestand die Hoffnung, daß etwas getan werden konnte. Das mußte sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Daran mußte sie glauben. Ja, Balthasar war unerbittlich wie die Flut. Doch auf die Flut folgte immer die Ebbe. Die Frauen des Königshauses würden verschwinden, und sobald Balthasars Flut abebbte, wären sie bereit. Zunächst jedoch wollte Adele schlafen.
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5. Lydana Sie hatten sich von gut ausgeleuchteten Stellen ferngehalten, waren aber gezwungen, ins Helle zu fahren, als sie sich ihrem Ziel näherten dem Wirtshaus »Zur Meeresschlange«. Auf dem Bootsanleger vor dem Gebäude stand ein Wächter. Als Lydana geschickt die Ruder hob, damit das Boot geräuschlos herangleiten konnte, warf Skita ihm ein Tau zu. Er fing es mechanisch mit einer Hand auf, die andere indes lag am Schwertgriff. Lydanas weiße Hand hob sich deutlich gegen ihren dunklen Umhang ab, als sie nun die Finger kreuzte und dem Wachtposten damit ein Zeichen gab. Er nickte, half ihnen beim Aussteigen und trat zur Seite, als sie auf die Tür des Wirtshauses zugingen. Am Eingang leuchtete eine Fackel, und die beiden Frauen blieben vermummt, während Lydana die Tür aufstieß. Trotz der späten Stunde saßen noch Gäste an den Tischen, Trinkhörner in der Hand. Ein höchst unzüchtiges Lied aus vielen, nicht gerade musikalischen Kehlen ertönte — ein Angriff auf das Gehör. Die Neuankömmlinge versuchten gar nicht erst, in den größeren Raum zu gelangen, sondern huschten gleich weiter zur Treppe, die in die oberen Räume führte. Im Flur des ersten Stockes brannte lediglich eine einzige Lampe, noch dazu in der Mitte, doch Lydana hatte keine Mühe, die richtige Tür zu finden. Sie klopfte leise in einem bestimmten Takt an. Die Mauern waren so dick, daß sie von innen keinen Laut vernahm. Die Tür öffnete sich, und vor ihnen stand ein Mann, dessen Gesicht von einer Laterne erhellt wurde, die er in die Höhe hielt. Nach einem kurzen, prüfenden Blick forderte er sie mit einer stummen Geste auf, hereinzukommen. Sie betraten einen geschmackvoll eingerichteten Raum in einem der besseren Wirtshäuser von Merina. »Euer Gnaden«, sagte er und verbeugte sich. »Fräulein Skita —«, mit einer weit ausladenden Geste deutete er auf einen Stuhl an der Feuerstelle und einen Hocker. Offensichtlich hatten sie ihn nicht geweckt, denn obwohl das Hemd weit offen stand, steckte es fein säuberlich in der 31
Hose. Die Stiefel hatte der Mann allerdings gegen weichere Hausschuhe eingetauscht. Er war groß, hatte schmale Hüften und breite Schultern, seine Bewegungen waren schnell und geschmeidig. Das krause Haar war kurzgeschnitten, woran man den Stadtbewohner erkannte. Die Farbe des Haares lag etwa zwischen Hellbraun und Dunkelblond, und Lydana wußte, daß es in der Sonne golden schimmerte. Eine Narbe zog sich als dünne weiße Linie von der linken Augenbraue bis zum Haaransatz, doch sie konnte nicht von dem markigen, kräftigen Unterkiefer, dem festen Mund und dem entschlossenen Ausdruck seiner meergrünen Augen ablenken. Alles in allem war er ein gutaussehender Mann in mittleren Jahren und trat mit der Sicherheit eines Menschen auf, der gewohnt war, Befehle zu erteilen, die eilfertig befolgt wurden. Lydana öffnete ihren Umhang und warf ihn hinter sich über die Lehne des Stuhls. Als der Mann Anstalten machte, ihr ein Trinkhorn aus dem Krug auf einem kleinen Tisch zu füllen, lehnte sie mit einem Kopfschütteln ab. »Es gibt Ärger«, sagte er schlicht. Einer Frage bedurfte es nicht. Als Antwort hob Lydana leicht die Oberlippe - der vergebliche Versuch eines Lächelns. »Wann gab es den in den vergangenen Jahren nicht?« entgegnete sie. »Aber jetzt — tja, Kapitän Saxon, es sieht ganz so aus, als wären wir vor eine bittere Wahl gestellt: Entweder fällt Merina kampflos an Balthasar, oder sie wird der Willkür seiner Truppen ausgeliefert.« Der Mann nickte. »Wir wissen schon lange, daß wir keine andere Wahl haben. Es ist zwecklos, einen Kampf auszutragen, der von vornherein verloren ist. Aber — gibt es nicht auch einen dritten Weg, Hoheit? Ich kann Euch und alle, denen Ihr vertraut, aus der Stadt und übers Meer an Gestade bringen, an denen Ihr vielleicht Hilfe holen könnt -« Jetzt verzog sich Lydanas Mund zu einem bitteren Lächeln. »Welche Hilfe? Auch jenseits des Meeres zittert man beim bloßen Gedanken an den Klang von Balthasars Kriegshörnern. Außerdem ist das Geschlecht des Tigers seit nahezu einhundert Generationen durch Eid verpflichtet, die Stellung in guten und in bösen Zeiten zu halten. Ihr habt die Piraten aus Rappa besiegt, die auf unseren Seerouten im Süden auf Beutezug gingen - aber Balthasar führt keine unbändige Horde von Galgenvögeln an, deren Anführer so gierig sind, daß sie sich zusammentun würden, um unser habhaft werden. Ich will die Schlacht von Urs nicht schmälern, Kapitän, sie war einer unserer großen, ruhmreichen Siege in den vergangenen Jahren. Aber —« 32
Er hatte sich mit dem Rücken an den Tisch gelehnt und die Arme über der Brust verschränkt. Tiefe Nachdenklichkeit hatte sich wie ein Schatten über sein Gesicht gelegt. »Aber —«, kam er ihr zur Hilfe. »Nein, ich will Euch keinesfalls zur Flucht drängen, Königin Lydana, denn das ist nicht die Art des Tigers, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr Fersengeld zu geben. Wenn Ihr nicht kämpfen könnt und nicht fliehen wollt - was gedenkt Ihr zu tun?« Sie schlug die Augen nieder und heftete den Blick auf den schweren Siegelring, eine Last am Zeigefinger ihrer Rechten. Mit der linken Hand begann sie ihn zu drehen. »Morgen früh werden wir uns beraten. Heute abend jedoch haben wir noch etwas erfahren: Der Magier Apolon, dessen Einflüsterungen Balthasar ständig ausgesetzt ist, richtet sein Begehren auf etwas, das sich hier in Merina befindet — nicht mehr und nicht weniger als das Allmächtige Herz selbst. Er hat sich mit den Mächten der Finsternis verbündet. Die Ehrwürdige steht kurz vor der Abdankung. Ihre Macht nimmt zu, aber sehr langsam. Bleiben noch die Ausersehene Tochter und ich.« »Auf die es Balthasar abgesehen hat!« Saxon hatte den Unterkiefer jetzt vorgeschoben wie ein Hund, der bereit war, seine Herrin zu verteidigen. »Wenn — wenn er uns finden kann. Nun«, sie beugte sich ein wenig vor, noch immer über den Ring fahrend, »wie Ihr wißt, bin ich Handwerksmeisterin — ich habe mein Können in der Juwelenzunft unter Beweis gestellt. Somit gibt es ein Gewerbe, in dem ich mich verbergen kann —« »Euch verbergen!« Es klang beinahe wie ein Schnauben. »Man würde Euch sofort erkennen, sobald Ihr auch nur Euer Gesicht am Verkaufstisch eines Juwelenhändlers zeigtet.« Nun mußte sie wirklich lachen. »Der Frauen List ist der Frauen Kunst, Kapitän. Ich komme schon zurecht. Aber da ist noch Schelyra sie muß aus der Stadt verschwinden - sie ist jung, hitzköpfig und leidenschaftlich und sie hat sich noch in keinem Gewerbe hervorgetan.« »Wollt Ihr, daß ich sie -«, begann er. Lydana schüttelte den Kopf. »Wir beide wissen nur zu gut, daß Balthasar nicht dumm ist. Er wird Späher auf See eingesetzt haben, die jedes Schiff aufbringen, das in den nächsten Wochen den Hafen verläßt. Nein, ich habe für sie an etwas anderes gedacht. Nun -«, sie hob den Blick wieder und betrachtete ihn von oben bis unten, »kommen wir zu Euch, Kapitän Saxon.« 33
»Die Zünfte haben Euch nach dem Sieg bei Urs zu Recht zum Hafenmeister ernannt - es war das mindeste, was sie tun konnten. Die Urkunde, die Euch den Titel verleiht, den Ihr nicht annehmen wolltet, trägt meines Vaters Siegel — es war fast das letzte Mal, daß er es benutzte. Ihr kennt Euch auf dem Wasser aus - in der Stadt, auf dem Fluß und auf See. Balthasar rückt mit einer Armee heran. Eine Armee benötigt Nahrung, Kleidung, Waffen. Daher wird ständig Nachschub gebraucht .Vielleicht denkt er, daß das auf dem Wasserwege schneller zu bewerkstelligen ist - um so mehr noch, sobald er unsere Flotte erobert hat. Aber auf See können viele Gefahren lauern - wie Ihr sehr wohl wißt, Kapitän.« Nun strahlte er. »Ihr sagt es, Herrin.« »Jemand, der sich damit beschäftigt hat, was Piraten benötigen, muß sich in ihren Kniffen auskennen, sonst hätte er sie nicht erledigen können.« »Wohl wahr, Euer Gnaden.« »Nun, wir haben nicht viel Zeit, Kapitän. Ich muß fort — mit den besten Wünschen -«, sie hielt ihm die Hand hin, und er küßte sie mit einer Anmut, die jedem Höfling Anerkennung abverlangt hätte. »Falls Ihr eine dringende Botschaft für mich habt«, sie hatte den Umhang an sich genommen, hielt ihn jedoch noch einen Augenblick in der Hand, bevor sie ihn wieder überzog, »da sind die Beichtstühle im Großen Tempel, und -« sie zögerte, »diejenigen, die beichten wollen, könnten ja den dritten Beichtstuhl rechts vom Allmächtigen Herzen aufsuchen.« Er nickte. »Klingt gut.« Doch als sie sich zur Tür wandte, streckte er den Arm aus und versperrte ihr den Weg. »Meine Königin, alle, die sich auf teuflische Spielchen einlassen, schreiten auf Messers Schneide über einen Mahlstrom. Gebt auf Euch acht — ich kenne das Temperament Eures Hauses und weiß, wie heftig Menschen Eures Schlages reagieren. Seid vorsichtig -« Wieder begegneten sich ihre Blicke, und dann lächelte sie, um ihren guten Willen zu zeigen. »Das werde ich, Kapitän, dessen könnt Ihr sicher sein. Doch dasselbe gilt auch für Euch — wir können Menschen wie Euch nicht durch ein Mißgeschick verlieren.« Erst als sie wieder in ihrem Boot saßen und auf den Kanal hinausfuhren, brach Skita das Schweigen. »Herrin, wenn Ihr in Merina bleibt, wird dieser Hundesohn Baltha 34
sar die Stadt auf den Kopf stellen und ausschütteln, um Euch zu finden.« »Das wird er vielleicht tun, aber er sucht die Königin Lydana. Die wird er nicht finden. Skita, wenn ich mich recht erinnere, liegt Thom Ränkeschmied heute abend im Wassserturm?« »Was wollt Ihr denn mit so einem, Herrin? Er ist verschlagen und schlüpfrig wie ein Kockwurm.« »Stimmt. Doch auch Kockwürmer haben ihren Platz in der Welt. Er ist der hinterhältigste Dieb, der durchtriebenste Späher, den man sich denken kann, und - er wird von den Roßhändlern anerkannt. Ich habe sogar erfahren, daß er der Blutsbruder eines ihrer Anführer ist. Die Zeit, da sie zum Handeln nach Merina kommen, steht kurz bevor. Vielleicht halten sie sich auch von der Stadt fern, wenn sie von Balthasars Plänen erfahren. Andererseits brauchen Armeen jede Menge frische Pferde, und daher werden sie es sich vielleicht überlegen. Skita, du wirst noch heute abend eine Nachricht für mich zum Wasserturm bringen.« Lydana begann bereits die Erregung zu spüren, die sie immer überfiel, wenn sie ein gutes Geschäft mit dem geschicktesten Händler ihrer Zunft plante. Ihre halb angedachten Pläne begannen Gestalt anzunehmen, sich zu einem verschlungenen Muster zusammenzusetzen. Mit kraftvollen Ruderschlägen ließ sie das Boot noch rascher dahingleiten.
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6. Schelyra Zwei Tage waren vergangen, seitdem die schlechten Nachrichten sie erreicht hatten, und Schelyra hatte in der Zwischenzeit keine ruhige Minute verbracht. Für sie traf es sich gut, daß das Amt der Ausersehenen Tochter im wesentlichen aus dem Titel bestand und mit sehr wenigen Pflichten verbunden war, und dies lediglich bei feierlichen Anlässen. Sie benötigte jede freie Minute, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Wenn Balthasar kam, würde er sie nicht unvorbereitet antreffen. An allen geheimen Ausgängen des Palastes, die nur ihr bekannt waren, hatte sie Kleidung, Vorräte und kleinere Geldbeträge hinterlegt. Auch Tante Lydana hatte Ausgänge, die sie besonders bevorzugte. Diese ließ die Prinzessin unberücksichtigt. Sie wollte nicht, daß die Königin wußte, wie gut ihre Nichte auf eine Flucht vorbereitet war. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Lydana ihre eigenen Vorkehrungen für ihre Flucht und ein geeignetes Versteck treffen würde - Lydana war nicht so einfältig, daß sie sich in den Thronsaal stellen würde, wenn Balthasar kam, um den Palast in Besitz zu nehmen! Nein, ihre Tante wußte, was einer Herrscherin blühte, auch wenn sie freiwillig abgedankt hatte. Wenn sie Balthasar an einem großzügigen Tag erwischte, würde man sie nur in Gewahrsam nehmen, sie würde das Gnadenbrot an seinem Hof essen; man würde ihr stets mit Mißtrauen begegnen und gerade eben dafür sorgen, daß sie nicht verhungern mußte. Das könnte Tante Lydana niemals ertragen. Sie würde wahnsinnig. Sie selbst, Schelyra, würde niemanden, nicht einmal die Königin, über ihr Schicksal bestimmen lassen. Es bestand immer noch die Möglichkeit, daß Lydana versuchen würde, sie in den Tempel zu stecken. Sollte das der Fall sein, würde Schelyra nur unter Zwang gehen, doch sie hatte nicht vor, dort lange auszuharren. Sie hatte inzwischen genug Fluchtwege vorbereitet, so daß sie ohne weiteres verschwinden konnte, sobald man sie auch nur einen Augenblick unbewacht ließ — es sei denn, man würde sie in einer Zelle im Tempel anketten. Auch ihr Versteck im Sommerpalast war jetzt mit Wasser, Nahrung, Kleidung, Waffen und ihrer »Sonderausrüstung« gut ausgestattet. Wenn 36
nötig, konnte sie sich dort draußen eine Woche oder länger versteckt halten. Doch nun mußte sie noch eine letzte Aufgabe erledigen - nach allem, was man hörte, würde der Gesandte mit Balthasars Ultimatum morgen die Tore von Merina erreichen. Sie durfte für ihre letzten Vorbe reitungen keine Zeit verlieren. Sie konnte sich zwar vollständig in die Geheimgänge zurückziehen - aber das wollte sie nicht. Sie wollte gegen Balthasar kämpfen, und dafür mußte sie draußen in der Stadt sein. Diesmal wählte sie den Weg durchs Freie zu den Ställen. Sie hatte ein hübsches Reitkleid aus dunkelgrünem Samt angezogen. Sobald sie die Stallungen erreicht hatte, begab sie sich in einen winzigen Raum, der unter den Dielen des Sattelraums verborgen war, und tauschte das Reitkostüm gegen die Kleidung einer Dienerin von mittlerem Rang. Sie hatte die Verkleidung mit Bedacht gewählt und sich eine Stellung zugelegt, in der man beim Verlassen des Geländes weder befragt noch aufgehalten würde. Und so ritt eine Dienerin auf dem Rücken eines zottigen kleinen Ponys aus dem Palastbereich, vermutlich auf einem Botengang, da das Pony mit Satteltaschen beladen war. Ihr »Botengang« führte sie für alle Welt sichtbar ins Zigeunerviertel, wo sie auf das umfriedete Gelände des Roßhändlers Gordo Kaldesch zustrebte. Das Grundstück war von hohen Palisaden aus geschälten, angespitzten und getünchten Baumstämmen umgeben. Das Ganze vermittelte eher den Eindruck einer Festung, und der Vergleich war nicht einmal weit hergeholt. Gordo konnte hier, wenn nötig, einer Belagerung standhalten. Das allein war schon Grund genug, die Freundschaft mit ihm zu pflegen und ihn um Hilfe zu bitten. Sie ritt durch das geöffnete Tor und wußte sogleich, was die Rufe und das hier herrschende allgemeine Durcheinander zu bedeuten hatten. Gordo war auf der Hut; seine wertvollsten Tiere sollten noch heute das Gelände verlassen und wahrscheinlich zu seinen Zuchtherden auf den weiten Ebenen gebracht werden, wo Pferde und Hirten nur schwer aufzuspüren waren. Wahrscheinlich geht er davon aus, daß Balthasar möglichst viele für den Kriegseinsatz geeignete Pferde beschlagnahmen will. Ponys und Zelter sind nicht in Gefahr, aber alle schweren Zugpferde läßt er verschwinden, die Pferde, die für die Reiterei eingesetzt werden könnten, und die Maultiere. Mit ihrem durch die Arbeit bei den Roßhändlern geübten Blick suchte sie jedes Tier heraus, das Balthasar auch nur im entferntesten nützlich sein konnte, und 37
fand ihre Vermutungen bestätigt: alle diese Tiere wurden der Gruppe zugeführt, die das Gelände verlassen sollte. Außerdem fiel ihr auf, daß alle Palisadenwände und Tore sorgfältig instand gesetzt worden waren, ja daß man sie in den letzten Tagen sogar noch verstärkt hatte. Also wußte Gordo, was bevorstand — hatte es vielleicht schon gewußt, noch ehe ihr eigener Kundschafter ihnen die Botschaft übermittelt hatte. Gut zu wissen. »He, du da!« Dieser Anruf in der Sprache gewöhnlicher Leute veranlaßte sie, ihr Pferd anzuhalten. Der Mann, der sie so zwanglos angesprochen hatte, sah aus wie ein junger Zigeuner um die Zwanzig; an jeder Hand führte er einen Zuchthengst, die sich vorbildlich verhielten, denn sie versuchten nicht, um sich zu treten oder zu beißen. Dennoch fühlten sie sich nicht wohl in ihrer Haut, und Schelyra nannte rasch den Grund, der ihr das Recht gab, hierher zu kommen. »Ich suche Gordo Kaldesch«, sagte sie, langte unter den Kragen und zeigte ihm ein blitzendes Bronzemedaillon. Er betrachtete es, hob überrascht eine Augenbraue und nickte. »Im Stall«, sagte er knapp und führte seine beiden Hengste zu den Pferden, die für den Abtransport bestimmt waren. Zwei Gruppen waren, noch während sie miteinander gesprochen hatten, von ihren Treibern zum Tor hinausgeführt worden. Sie stieg ab und führte ihr Pony auf die großen Stallungen zu, die das Zentrum des Geländes bildeten. Gordo stand gleich am Eingang und brüllte Befehle. Er war groß und behaart wie ein Bär. Sein ausladender Brustkorb war in ein prächtiges rotes Zigeunerhemd gezwängt. Die leichte Krümmung der Beine verriet einen Reiter von Kindesbeinen an, und Schelyra wußte, daß er mit seinen großen Händen, die wild gestikulierten, ebensogut ein krankes Fohlen operieren wie einen scheuenden Hengst bändigen konnte. »Das doch nicht, du Dummkopf, das bleibt hier. Die Stute, die graue Stute! Kannst du denn keine Stute von einem Wallach unterscheiden?« Er drehte sich zu ihr um, als sie auf ihn zutrat, offensichtlich schon abweisende Worte auf den Lippen. Dann sah er ihr Gesicht, und die Worte blieben unausgesprochen. Er verzog den Mund zu einem aufgesetzten, leutseligen Lächeln. »Ah - Butterfäßchen!« sagte er laut und herzlich, während sie sich unter dem Namen wand, den er sich soeben ausgedacht hatte. »Will deine Herrin ein neues Pony haben? Ich bin im Augenblick ziemlich beschäf tigt -«
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»Meine Herrin braucht ein ganz bestimmtes Pferd für die Tigerjagd«, sagte Schelyra entschieden. »Das muß ich unbedingt mit Euch besprechen.« Gordo erblaßte unmerklich, wandte sich um und ließ einen wahren Schwall von Befehlen auf die vielen Handlanger niederprasseln, die die Pferde in den Boxen noch immer aussonderten. »Seht zu, daß ihr damit fertig werdet!« sagte er abschließend. »Ich komme gleich zurück und prüfe alles nach! Schickt die Tiere auf keinen Fall weg, bevor ich sie nicht noch einmal überprüft habe!« Dann wandte er sich rasch wieder Schelyra zu, nahm die Zügel ihres Ponys in eine Hand und packte ihren Ellbogen mit der anderen. »Seid Ihr verrückt, hierher zu kommen?« zischte er ihr in der Zigeunersprache zu, während er das Pony einem Stallburschen übergab. »Habt Ihr auch nur die geringste Ahnung davon, was uns bevorsteht? Glaubt Ihr denn, wir hätten Zeit für alberne Spielchen?« »Ich weiß sehr wohl, was auf uns zukommt«, sagte sie schroff. »Deshalb bin ich ja gerade hier.« Schnell umriß sie die Lage ihrer Tante: daß es selbstmörderisch wäre, wollte Merina Widerstand leisten, daß die Königin die Absicht hege, abzudanken und die Stadt dem Kaiser zu übergeben. Gordo hörte ihr zu und nickte, wenn auch stirnrunzelnd, während er sie in das kleine Schreibzimmer in seinem Stall führte. Er schloß die Tür hinter ihr und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. »Das ist klug und dumm zugleich«, sagte er schließlich. »Aber mir fällt auch kein anderer Weg für die Stadt ein, der auch nur im entferntesten die Möglichkeit einer Rettung bietet. Was ist mit den Angehörigen des Königshauses? Ergreift Ihr die Flucht? Benötigt Ihr schnelle Pferde und eine Eskorte, um zu den Roßhändlern zu gelangen? Ich kann sie Euch besorgen.« »Meine Tante meint, wir sollten fortlaufen - oder vielmehr, ich glaube, sie meint, ich sollte fortlaufen.« Sie schwieg bedeutungsvoll. Gordons Sorgenfalten glätteten sich allmählich, und er lächelte. »Aha. Und Ihr seid anderer Meinung. Und was denkt Ihr? Daß die fetten Händler von Merina dieses Herrschers - falls die Gerüchte über ihn sich bewahrheiten - früher oder später überdrüssig sind? Daß sie so lange alles erdulden, bis der Kaiser sie gemolken hat, so daß für sie selbst nichts mehr übrig bleibt? Daß sie über kurz oder lang ihre inzwischen fadenscheinigen Gewänder fester um sich ziehen und etwas unternehmen, um dieses Joch abzuschütteln?« 39
»So etwas in der Art«, gab sie zu. »Deshalb bin ich hier. Mag sein, daß meine Tante mich aus der Stadt schicken will, doch ich habe andere Vorstellungen. Und Ihr habt doch eine entfernte Verwandte, die einmal aus dem Norden hierher kam, um das Heilen von Pferden zu erlernen.« »Ja, ich erinnere mich an die kleine Raymonda, und was noch wichtiger ist, auch andere Angehörige der Sippen hier werden sich an sie erinnern. Und nur wenige unter uns wissen noch, daß zwischen Ray mondas Eltern und den Zigeunern keine Blutsbande, sondern nur Blutstreue bestand.« Gordo nickte zweimal heftig, und seine Haltung entspannte sich unmerklich. »Außerdem ist fast niemandem bekannt, daß ihr Vater der König von Merina war. Aber —« »Aber ich will nicht, daß die Kaldesch-Sippe einen Verlust erleidet, wenn der Handel nach Einnahme der Stadt zum Erliegen kommt«, fuhr Schelyra ruhig fort. »Das ist der zweite Grund, warum ich hier bin. Bevor wir also weiterreden, laßt mir die Satteltaschen von meinem Pony holen.« Gordo wirkte völlig besänftigt, als er die Tür einen Spalt öffnete und einen entsprechenden Befehl erteilte. Kurz darauf lagen die beiden Satteltaschen zwischen ihnen auf dem Boden des Arbeitszimmers, und die Tür war wieder fest geschlossen. Schelyra durchwühlte die zusammengerollten Kleidungsstücke, bis sie auf die darin eingewickelten schweren Bündel stieß. Sie zog sie heraus und warf sie auf den Boden, wo sie dumpf aufschlugen. »Seht nach«, sagte sie und deutete darauf. »Balthasar wird von Euren Pferden so viele wie möglich beschlagnahmen, und es wird schwer für Euch sein, das, was übrigbleibt, zu verkaufen. Das Haus des Tigers wünscht seine Verbündeten und Freunde vor der Armut zu bewahren.« Gordo bückte sich, um das Bündel aufzuheben, das ihm am nächsten lag. Es war so groß, daß Schelyra es gerade mit beiden Händen halten konnte. Er zog den Knoten auf, der es verschloß. Schwerer gesteppter Stoff fiel zur Seite und enthüllte Gold und Edelsteine, die im Licht der Laterne blitzten. Gordos Augen blitzten in diesem Augenblick nicht minder. »Dieses Bündel ist allein für die Kaldesch-Sippe bestimmt«, sagte Schelyra. »Ich an Eurer Stelle würde die Juwelen herausbrechen und das Gold einschmelzen. Es sind Geschenke von Freiern, und niemand wird sie vermissen, falls Balthasar eine Bestandsaufnahme durchführt. Ich lasse gerade so viele Edelsteine im Palast, wie es für ein junges Mädchen 40
angemessen erscheint, aber ich habe nicht die Absicht, ihm mehr zur Plünderung zu hinterlassen als unbedingt notwendig.« »Und das andere?« fragte Gordo und deutete mit dem Kopf auf das Bündel, das noch auf dem Boden lag. »Noch mehr«, erwiderte sie. »Etwas weniger wertvoll. Ich möchte Euch bitten, alles in eine nützliche Form zu bringen und für mich aufzuheben - falls die Sippe der Kaldesch bereit ist, Raymonda wieder bei sich aufzunehmen.« Es war keine Bestechung im eigentlichen Sinne - und es war durchaus denkbar, daß Gordo und seine Leute sie auch ohne den zusätzlichen Anreiz bei sich aufgenommen und ihre Identität verschwiegen hätten. Doch Schelyra wußte, daß sie aufgrund der Bezahlung - oder vielmehr des »Geschenks« — in ihrer Schuld stehen würden und somit die Wahrscheinlichkeit größer wäre, daß es ohne Murren oder Hintergedanken geschähe. Hatten sie das Geschenk einmal angenommen, würde nichts und niemand ihnen Raymondas Geheimnis entreißen können. »Raymonda ist uns wie immer willkommen«, sagte Gordo hastig und bückte sich, um das zweite Bündel aufzuheben und beide in die weiten Taschen seiner Jacke zu stecken. »Schließlich ist sie von unserem Blut!« »Dann will ich mein Pony und die übrigen Sachen hier bei Euch lassen«, erwiderte Schelyra erleichtert. Immerhin hätte Gordo auch ablehnen können. Doch nun hatte er sie eine Blutsverwandte genannt und sie damit in den Rang eines vollwertigen Mitglieds der Sippe erhoben. In Zukunft würde er sie wie ein eigenes Kind behandeln. »Die Satteltaschen enthalten den Rest meiner Zigeunerkleidung und die Mittel für Pferdeheilung.« »Und für die Rückfahrt werdet Ihr Euch ein Boot mieten?« Als sie nickte, ließ er ein zustimmendes Brummen vernehmen. »Klug. Falls Euch jemand beobachtet hat, wird er gewiß nicht annehmen, daß Ihr ein wertvolles Pferd hier bei den diebischen Zigeunern zurückgelassen habt. Er wird vergeblich nach der Dienerin mit dem Pony Ausschau halten.« Er öffnete ihr die Tür seines Schreibzimmers. »Mag sein, daß ich Euch nicht aufsuche«, teilte sie ihm vorsichtshalber mit. »Bei Euch Unterschlupf zu suchen ist nicht mein einziger Plan, sondern nur einer, den ich bevorzugen würde. Es hängt von vielen Dingen ab. Wenn ich nicht sofort erscheine, müßt Ihr warten, solange es Euch sinnvoll zu sein scheint - dann gehört das zweite Bündel auch der Sippe.« Er brummte: »Oder ich warte, bis Balthasar uns vertreibt oder uns 41
umzubringen versucht. Die Zigeuner sind nicht gerade seine Freunde, und er läßt uns nur deshalb in Ruhe, weil unsere Vettern, die Roßhändler, ihm keine Pferde verkaufen würden, wenn er uns beleidigte.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wenn das geschieht, ist niemand in Merina mehr sicher.« Sie dachte diesen Gedanken nicht zu Ende, doch sie fragte sich insgeheim, ob sie sich dann vielleicht doch zur Flucht entschließen müßte, um zumindest das eigene Leben zu retten. Nein. Solange ich lebe, werde ich um diese Stadt kämpfen, ob sie es will oder nicht! Sie verabschiedete sich von Gordo, wendete ihren Schal, der nun nicht mehr braun, sondern grün war, und ging mit einem Korb am Arm hinaus. Am Rande des Zigeunerviertels angelangt, rief sie ein Boot zu sich und gab dem Bootsmann Geld, damit er sie zum Tempelplatz brachte. Sie stieg in das winzige Ruderboot, zog sich den Schal über den Kopf und gab vor, zu dösen. Auf dem Wasser hatte es sich allem Anschein nach noch nicht herumgesprochen, daß etwas nicht in Ordnung war. Auf manchen Booten wurden sogar noch Blumen und andere Erzeugnisse verkauft, als wäre nichts geschehen. Der Bootsmann setzte sie an den Stufen, die zum Großen Tempel hinaufführten, ab; sie stieg aus und betrat den festen Boden mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der den Umgang mit diesen kleinen Booten gewohnt war. Sie brauchte nicht einmal seine stützende Hand. Tempel und Palast befanden sich auf demselben Gelände, umgeben von Gärten, die sowohl von Priestern als auch von Palastgärtnern gepflegt wurden. Im Tempel gönnte sie sich eine kurze Rast und setzte sich auf eine Bank, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war kurz vor einer Andacht, und wie gewöhnlich waren so viele Menschen im Tempel, daß sie nicht weiter auffiel. Es war nicht schwierig, durch den Tempel in die Gärten zu huschen. Sie ließ Schal und Korb auf der Bank liegen und ging entschlossenen Schrittes durch die Gärten auf die Stallungen des Palastes zu, als hätte sie eine dringende Besorgung zu erledigen. Wie erwartet, wurde sie von niemandem angehalten. Sie trug die richtige Kleidung für diesen Ort und erweckte den Eindruck, als habe sie ein bestimmtes Ziel. Das wiederum zeigte nur zu deutlich, wie leicht es für Balthasar wäre, beliebig viele Kundschafter in die Dienerschaft einzuschleusen. Im Innern der Ställe wechselte sie die Kleidung. Sie dachte einen Augenblick an den Palast und an ihre Pflichten dort. Ihre einzigen »Pflichten« bestanden im Moment aus ein paar Sprachstunden. Und das,
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was ich an einem Tag von Olar Islander lerne, hilft mir ohnehin nicht weiter Ihre Tante und ihre Großmutter beharrten darauf, daß dieser Tag so sei wie jeder andere, aber sie sah keinen Anlaß, diese Ansicht zu teilen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit des Stalles, um einen Stallburschen zu suchen. Die Tageszeit war sehr günstig für einen Gang zum Sommerpalast, wo sie sich versichern wollte, ob ihre Vorkehrungen dort ausreichend waren. Vielleicht würde ihr auf dem Weg dorthin noch zusätzlich etwas einfallen.
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7. Adele Die letzten drei Tage waren anstrengender gewesen als sonst, denn Adele hatte oft zwischen Tempel und Palast hin und her pendeln müssen. Sie mußte jede Nacht im Palast verbringen, so daß sie in ihrem Bett war, falls neuerlich ein unvorhergesehenes Ereignis eintrat. Man konnte sich nicht einfach darauf verlassen, daß immer zur rechten Zeit ein himmlischer Bote zur Stelle war, um einen zu warnen. Sie waren schließlich keine persönliche Leibgarde! Auf diese Weise jedoch bekam sie nur sehr wenig Schlaf und drohte ihre ohnehin schwindende Kraft zu verzehren. Nun, zumindest wird es glaubhaft wirken, wenn ich »zusammenbreche«. Sie hatte Verit soweit wie nötig eingeweiht, und ihre Beratungen hatten beinahe ebenso lange gedauert wie ihre gemeinsamen Gebete. Sie hatte versucht, einen Plan zum Schutze des Tempels und des Allmächtigen Herzens auszuarbeiten, doch solange sie dem Feind nicht ins Auge geblickt hatten und seine Waffen nicht kannten, konnte dieser Plan keine greifbare Gestalt annehmen. Die allgemeine Stimmung im Tempel erschien ihr von Tag zu Tag unwirklicher. Nur die Flammen bildeten hierbei eine Ausnahme. Die gewöhnlichen Priester und Priesterinnen verhielten sich in diesen Tagen nicht anders als sonst. Spürten sie denn nicht wenigstens die Spannung, die in der Stadt herrschte? Drangen denn keine Nachrichten von außen zu ihnen? Oder fühlten sie sich gar in ihrer vermeintlichen Sicherheit und Geborgenheit hinter den Tempelmauern, die das Allmächtige Herz gewährte, so unantastbar, daß sie sich dem Wahn hingeben konnten, hier werde sich niemals etwas ändern? Eine solche Haltung war ihr unverständlich, während Verit sie offenbar gut nachvollziehen konnte. Und so pendelte sie weiter und spürte, wie dieses Hin und Her zwischen Tempel und Palast ihre Kräfte immer mehr erschöpfte. Sie hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt, auf welche Weise sie im Tempel untertauchen wollte. Adele würde in zerrüttetem Gesundheitszustand den Tempel aufsuchen und ihn nicht mehr verlassen. Ein 44
logischer Schritt, denn dort konnte sie von den Heilern der Braunen Kutten gepflegt werden. Die vergangene Nacht war nach bekanntem Muster abgelaufen - bis auf die Tatsache, daß ihre Träume von Warnungen und Vorahnungen, von Bildern marschierender Armeen und bedrohlicher Waffen erfüllt waren. Sie zog daraus den Schluß, daß der nächste Tag bereits über ihrer aller Schicksal entscheiden würde. Adele wachte wie gewohnt eine Stunde vor der Morgendämmerung auf. Sie vergewisserte sich, daß ihre Zimmertür gut verschlossen war, und betrat den Geheimgang. Sie entfernte die Schminke, warf ihre grauen Gewänder über und eilte wieder zum Tempel. Pünktlich zu Beginn der ersten Morgenandacht stand sie wie gewohnt an ihrem Platz und stimmte in den Gesang der anderen ein, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Die Andacht endete mit der freudigen Begrüßung der Morgendämmerung, die an diesem Morgen indes etwas gedämpfter ausfiel als sonst. Jedenfalls schien es ihr so. Also hatten die anderen schließlich doch gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war. Böse Vorahnungen lagen in der Luft. Alle Priester und Priesterinnen des Tempels spürten die bedrohliche Atmosphäre, auch wenn sie nicht wußten, worin die Bedrohung bestand. Die Flammen hatten natürlich längst geahnt, daß etwas Schreckliches auf sie zukam. Auch jene Flammen, die nicht in Verits Geheimnisse eingeweiht waren, wußten, daß irgend etwas nicht stimmte. Doch inzwischen hatte sich die Furcht auf alle übertragen, und es blieb abzuwarten, ob Verit sie im Zaum halten konnte, wenn nackte Angst sie ergriff. Während der Gesänge hatte Elfrida gespürt, daß einigen die Stimme versagte, worauf sie mit der Bitte um Kraft und Trost zum Herzen aufblickten. Und als sie alle den Tempel verließen, um sich im Gemeinschaftsraum zur ersten Mahlzeit des Tages zu versammeln, gab es unter ihnen einige, die scheue Blicke um sich warfen, als suchten sie jemanden, der ihnen den Grund für die gedrückte Stimmung hätte nennen können. Nach der Andacht war es ihnen wieder gestattet, miteinander zu sprechen, wenngleich in der Regel auch während der Mahlzeiten kein Wort fiel. Daher konnte sich Elfrida gleich nach dem Frühstück an Erzpriesterin Verit wenden und sie um Erlaubnis ersuchen, den Tag in ihrer Zelle mit Meditationen verbringen zu dürfen. Das war durchaus nicht ungewöhnlich; sämtliche Tempelangehörigen verbrachten alle paar Monate einen Tag allein mit Fasten und Schweigen. Deshalb wurde
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Elfrida die Bitte anstandslos gewährt. Verits Blick indes zeigte deutlich, daß sie von den bevorstehenden Ereignissen Kenntnis hatte und dafür sorgen würde, daß niemand merkte, welche Rolle die Priesterin Elfrida dabei spielte. Sie trennten sich an der Tür zum Kapitelraum; die Erzpriesterin ging hinein, um anzukündigen, daß die Priesterin Elfrida sich an diesem Tag zurückziehen wolle, und Elfrida verschwand im Schatten, um in den Palast und in ihr anderes Leben zurückzukehren - für eine kurze Zeit noch. Denn heute würde sich Adele, die Königinwitwe, zum letzten Mal in der Öffentlichkeit zeigen. Ein Bild war vor ihrem geistigen Auge erschienen, in dem sie sich selbst als feierlich aufgebahrten Leichnam erblickte, umgeben von Trauernden. Ob dies nun eine Vorahnung ihres »Ablebens« als Königinwitwe oder ihres tatsächlichen Dahinscheidens war — oder sogar eines anderen Todes, den sie für den Fall des Falles vorgesehen hatte -, vermochte sie nicht zu sagen. Sicher wußte sie nur, daß Adele sterben mußte - und die Priesterin Elfrida würde in das Leben einer Flamme hineingeboren werden.
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8. Lydana Die letzten drei Tage waren hart gewesen, die Nächte angefüllt mit Heimlichkeiten. Nachdem Lydana in den Palast zurückgekehrt war, hatte sie in ihrem Zimmer drei Lampen auf den Tisch gestellt, damit möglichst viel Licht auf ein poliertes Holzstück fiel. Von ihrem Arbeitstisch holte sie ihre Werkzeuge und ein Kästchen. Dann schrieb sie rasch eine Nachricht, versiegelte sie mit dem königlichen Ring und reichte sie Skita, die ungeduldig gewartet hatte. Sobald die Kindfrau das Zimmer verlassen hatte, legte Lydana den Ring auf das Holzstück und öffnete das Kästchen. Rasch schlug sie mit einer Hand ein Zeichen, das Unheil abwenden sollte, während sie mit den Fingern der anderen Hand über die ungefaßten Edelsteine fuhr, die dort in kleinen Vertiefungen steckten. Lydana kannte sich mit Steinen aus - in gewisser Hinsicht vielleicht sogar besser als manche andere in ihrer Zunft. Was hier vor ihr ausgebreitet lag, waren Juwelen, die sie niemals aus freien Stücken benutzen würde, es sei denn zu dem Zweck, den sie heute im Sinn hatte. Es waren Gemmen mit wahrhaft bösen Omen — Edelsteine, die verflucht waren und Unglück brachten, wenn nicht gar den Tod. Diese Sammlung war die Frucht jahrelanger Suche. Sie seufzte und schüttelte den Kopf über ihre Anwandlungen von Reue. Zimperlichkeiten konnte sie sich im Augenblick nicht leisten. Einer Hülle entnahm sie einen leuchtend roten Edelstein, der in Farbe und Schliff aufs Haar dem Stein im königlichen Ring glich. Dieser Edelstein, das Siegel des Schreckensherrschers Tartus, war getränkt mit dem Blut aller, deren Todesurteile er besiegelt hatte, ehe der wahnsinnige König, der den Ring getragen hatte, von seiner eigenen Leibwache hingemetzelt worden war. Lydana arbeitete rasch und mit einer Geschicklichkeit, die sie sich in langen Jahren der Übung angeeignet hatte. Sie löste den ihr vertrauten Edelstein aus dem Ring, um ihn durch den Tartusstern zu ersetzen. Als sie ihr Werk schließlich vollendet hatte, rieb sie die Handflächen aneinander, stand auf und wusch sich die Hände in der Waschschüssel auf der Kommode, als klebe etwas Widerwärtiges an ihnen. 47
Den Stein, den sie herausgelöst hatte, setzte sie in eine Brosche ein, eine Art Fibel, die bei ihrem Werkzeug lag und die sie anschließend an der Unterseite ihres Gewandes befestigte. Dann steckte sie, obwohl es ihr widerstrebte, den Siegelring wieder an den Zeigefinger. Sie hatte gute Arbeit geleistet, das konnte sie zu Recht für sich in Anspruch nehmen. Von ganzem Herzen dankte sie im stillen noch einmal ihrem Vater für seine weise Voraussicht. Er hatte ihre Fähigkeiten schon früh erkannt und dafür Sorge getragen, daß sie das nötige Rüstzeug erhielt. Ihr Bruder war der Thronerbe, was ihn nicht daran gehindert hatte, rastlos durch die Welt zu schweifen. Er war bereits Vater einer Tochter, die jedoch der jüngeren Generation angehörte und nicht die direkte Thronfolge antreten konnte. Damals hatte Lydana noch nicht voraussehen können, daß sie einst den Thron besteigen würde. Dann, als Schelyra noch in den Windeln lag, starben Lydanas Bruder und seine Frau an einem rätselhaften, verheerenden Fieber, das durch ein treibendes verseuchtes Schiff nach Merina eingeschleppt worden war. In jenen Tagen hatte ihr Vater sie zu sich rufen lassen. Sie war noch sehr jung, jünger als Schelyra heute, und das einzige, was ihr am Herzen lag, war ihr Handwerk. In diesem Augenblick erinnerte sie sich wieder, wie eindringlich zuerst ihr Vater sie befragt hatte - und dann ihre Mutter, die bereits tiefer in die Seele blicken konnte als die meisten anderen. Nein, sie hatte nicht den Wunsch nach einem Mann oder einer Familie verspürt. Doch das Gesetz verlangte, daß sie verheiratet werden mußte. Daher hatte Vater einen seiner besten Freunde für sie ausgewählt, der selbst ihr Vater hätte sein können. Er war Kapitän, so wie Saxon, und weilte häufig auf See. Sie waren mit großem Pomp verheiratet worden, um die Einwohner der Stadt zufriedenzustellen, aber das war auch schon alles gewesen. Heute wußte sie, daß ihr Vater absichtlich einen Gemahl ausgesucht hatte, bei dem er sicher sein konnte, daß sie ihn überleben würde. Somit konnte sie unangefochten in ihrer Zunft bleiben und die Thronfolge antreten. Genau das war eingetreten. Sie erinnerte sich an Kapitän Gorganius mit stiller Zuneigung. Sie war traurig gewesen, als die Nachricht von seinem Tod auf hoher See sie erreichte, aber er hatte nie wirklich eine Rolle in ihrem Leben gespielt. Gleichwohl war er es gewesen, der ihre Aufmerksamkeit auf jene verfluchten Steine gelenkt und Vermutungen darüber angestellt hatte, ob sie tatsächlich Menschenleben zu beeinflussen vermochten. 48
Jemand klopfte an die Tür. Rasch ließ sie den Kasten mit den teuflischen Steinen zuschnappen, ehe sie »Herein!« rief. Überrascht blickte sie auf, als ihre Dienerin mit dem Tablett eintrat, auf dem wie an jedem Morgen geröstete Hörnchen und heißer, würziger Wein dufteten. Die Nacht mußte also schon vorüber sein. »Euer Gnaden, die Ehrwürdige wünscht Eure Aufwartung, wenn Ihr gespeist habt - und -« Lydana folgte dem Blick des Mädchens und schaute an sich herab. Ja, zu einer Beratung mußte sie sich allerdings respektierlicher kleiden. Emma mußte ihre Gedanken erraten haben, denn sie ging bereits zum Schrank, nachdem sie die Vorhänge an den Fenstern zurückgezogen hatte. Lydana war hungrig und aß alles bis auf den letzten Krümel auf. Dann zog sie sich an, wie es sich für einen offiziellen Anlaß gebührte. Sie ließ sich absichtlich Zeit, so daß ihre eigentliche Hast nicht auffiel, kam aber rechtzeitig, wenngleich Adele bereits auf ihrem gepolsterten Stuhl saß. Sie sieht mehr denn je wie ein Gespenst aus, dachte Lydana mit quälender Sorge. Schelyra stand neben dem Tisch. Auf ihren glatten Wangen lag ein rosiger Schimmer — wahrscheinlich war sie erregt. »Ich will nicht -«, sagte sie gerade, als ihre Tante eintrat, doch der Rest des Satzes wurde vom metallischen Dröhnen des großen Gongs verschluckt. Auf diese Weise zum Schweigen gebracht, fugte sich das Mädchen und begab sich an ihren Platz zur Linken Lydanas, während die großen Flügeltüren für die Zunftmeister aufgestoßen wurden. Sie traten heute nicht wie sonst in langem, zeremoniellem Zug ein, sondern in wildem Durcheinander. Nachdem sie sich vor den drei Frauen verbeugt hatten, beeilten sie sich, die Plätze einzunehmen. »Ein Herold steht vor den Toren, Euer Gnaden.« Der Sprecher war Totas, Zunftmeister der Seidenhändler. Sein kleiner grauer Kinnbart wippte beim Sprechen auf und ab. Also doch - jetzt schon! Ohne auf Adele zu blicken, spürte Lydana, wie die Kraft, die ihre Mutter ausströmte, auf sie überging. »Man soll ihn empfangen, ihm das Gastrecht gewähren - und er soll warten«, sagte Lydana ruhig. Sie musterte die Gesellschaft vor sich, während einer der Offiziere hinauseilte, um ihren Befehl zu befolgen. Bei einem Teil der Jüngeren spürte sie Wut, die jedoch von Verzweiflung überlagert war. Keiner, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde vorschlagen, daß Merina sich gegen die gewaltige Streitmacht Balthasars zur Wehr setzen sollte. Und
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was die Älteren betraf, so fragte sie sich, ob sich bei ihnen nicht sogar klammheimliche Zufriedenheit bemerkbar machte — weil sie hofften, sie könnten unter Balthasar zu noch größerem Wohlstand gelangen. Narren, die sie waren! »So hört denn«, Lydana hob gebieterisch ihre Stimme. »Wir alle wissen, wonach es unseren Feind gelüstet — wir sind reich, wir sind reif, von ihm gepflückt zu werden, und es gibt zwei Möglichkeiten. Es kann durchaus sein, daß Balthasar zögert, Merina zu stürmen — er will unseren Besitz, nicht die Überreste einer zerstörten Stadt. Wenn wir ihm unsere Tore öffnen, wird es keine Toten geben. Wir werden mit seinem Herold sprechen und ihm folgendes sagen: Dies ist die Stadt des Herzens, hier befindet sich das Allerheiligste des Tempels. Auch Balthasar gehört noch dem Tempel an - zumindest folgt er seinen Gesetzen, wenn es ihm beliebt. Laßt ihn also durch seinen Boten auf den heiligen Altar schwören, daß er der Stadt keinen Schaden zufügen wird, wenn sich kein Widerstand regt - und Merina wird ihm gehören.« Daraufhin erhoben sich laute Stimmen. Es gab Streit. Lydana ließ noch einmal die Hand auf den Tisch fallen, heftig genug, um das Stimmengewirr zu übertönen. »Ihr seid die Einwohner von Merina, die Entscheidung liegt in eurer Hand. Wir werden euch nun allein lassen, damit ihr zu einer Einigung gelangt.« Sie erhob sich und reichte Adele einen Arm. Schelyra trat an die andere Seite. Gemeinsam begaben sie sich hinter einen Vorhang in das kleine Gemach für den Herrscher. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, erhob das Mädchen erneut die Stimme. »Alles gebt Ihr auf. Wir sind schließlich aus dem Hause des Tigers wo sind denn jetzt Eure Krallen, Eure Pranken, Tante?« »Hört zu«, sagte Adele nun und hob die Hand. »Ich habe euch gebeten, nachzudenken und Pläne zu schmieden — und was könnt ihr mir nun vorschlagen?« »Folgendes«, sagte Lydana rasch. »Ihr, Ehrwürdige, werdet Euch ins Kloster zurückziehen, wenn auch früher als geplant. Da wir erfahren haben, daß ein Teil der Kräfte, die sich gegen uns wenden, den Mächten der Finsternis zuzurechnen ist, könnt Ihr von dort aus am besten beurteilen, was zu tun ist. Hinzu kommt, daß wir auf diese Weise miteinander Verbindung halten können, auch dann, wenn wir uns verbergen müssen -« Adele kam ihr zuvor. »Die Beichtstühle!« Ihre Augen leuchteten, ein 50
wenig zu stark vielleicht. »Wir können uns über die Beichtstühle Botschaften zukommen lassen.« »Der dritte Beichtstuhl vom Herzen aus«, erwiderte Lydana. Adele nickte. »Ich werde es so einrichten, daß eine Person meines Vertrauens während der Beichtstunden dort sitzt, wenn ich selbst nicht da sein kann.« »Und was ist mit mir?« Schelyra verfärbte sich dunkelrot. »Ich gehe nicht in den Tempel - ich will nicht!« Sie hob die Faust und schüttelte sie. »Nein«, stimmte Lydana ihr zu, »du weilst an einem Ort, der sich besonders gut für einen Kampf eignet, den wir zwangsläufig ausfechten müssen - einen Kampf im Verborgenen, einen Kampf der unsichtbaren Angriffe. Schelyra, du warst doch immer bei den Roßhändlern - sie werden bald wieder herkommen. Bedenke, keine Streitmacht kommt ohne Nachschub aus. Vielleicht werden die Anführer der Roßhändler mit Balthasar Handel treiben, vielleicht auch nicht. Aber sie werden sich nicht zu seinen Gefolgsleuten zählen. Du kennst sie, du kannst mit ihren Anführern reden und ihnen Unregelmäßigkeiten nahelegen ...« Sie suchte nach den passenden Worten. Die Röte auf Schelyras Gesicht schwand. Sie hatte die Hand an den Griff ihres langen Messers gelegt. Nun zog sie es heraus und stieß es kräftig wieder zurück in die Scheide. »Ja.« Sie strahlte wie ein Kind vor einem Fest. »Und du, meine Tochter?« fragte Adele. »Balthasar wird nach einer Königin suchen. Die wird er nicht finden. Wenn es in dem ärmlichen Marktviertel eine kleine Juwelenhändlerin oder ähnliches gibt, dann glaube ich nicht, daß man sie groß beachten wird.« Adele schüttelte den Kopf. »Sei dir da nicht zu sicher, meine Tochter. Doch ich sehe ein, daß du dein eigenes Spiel spielen mußt.« »Schelyra, sobald diese Beratung hier zu Ende ist, gehst du in mein Zimmer. Dort triffst du Skita und noch jemanden. Niemand begibt sich in einen Kampf, ohne einen erfahrenen Mann an seiner Seite zu haben. Ich gebe dir nun einen mit, der zwar sonderbar wirken mag, aber Fähigkeiten besitzt, die dir nützlich sein werden. Ich muß dir befehlen, dich seinem Schutz anzuvertrauen - er weiß, was zu tun ist, und er ist Blutsbruder eines Anführers der Roßhändler.« In dem Augenblick, als das Mädchen nickte, vernahmen sie jenseits der Vorhänge eine laute Stimme. 51
Lydana schaute von ihrer Nichte zu ihrer Mutter. »Sind wir uns einig?« fragte sie leise. Erneut betraten sie den Beratungssaal und stellten sich hinter den Tisch. Langsam zog Lydana den Staatsring vom Finger und legte ihn vor sich hin. Auch die Zunftleute hatten ihrem Vorschlag zugestimmt, was deutlich daran zu erkennen war, daß der symbolträchtige goldene Schlüssel bereits auf dem Tisch lag. Adele beugte sich plötzlich vor und betrachtete den Ring; so als wollte sie sich von einem Amt verabschieden, das auch sie einst innehatte. Ihre Worte waren kaum vernehmbar, als sie Lydana nun zuflüsterte: »Sei vorsichtig, meine Tochter, bei der Wahl der Spiele, die du spielen willst.« Man schob den Herold in seinen steifen, offiziellen Gewändern in den Raum und führte ihn direkt vor die Königin. Er lächelte nicht, doch sein Auftreten war von einer Selbstgefälligkeit, die deutlich machte, daß er gewußt hatte, was ihn erwartete. »Hat man Euch gesagt, was Merina wünscht?« fragte Lydana. Der Mann nickte, so daß die Federn auf seinem Hut flatterten. »Seine Majestät ist stets eingedenk der Menschen. Er wünscht kein unnötiges Blutvergießen. In meiner Eigenschaft als Herold will ich einen Eid schwören, der ebenso verbindlich sein wird, als spräche Seine Majestät persönlich.« »Habt Ihr das vernommen, Männer von Merina?« fragte Lydana. »Werdet Ihr dieses Versprechen und den Eid vor dem Herzen bezeugen?« Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge. Lydana wies auf den Ring und den Schlüssel. »Hier sind Siegelring und Stadtschlüssel. Bringt beides nun Eurem Herrscher, nachdem der Eid geleistet ist -« Sie hatte keine Zeit, noch etwas hinzuzufügen, denn plötzlich sank Adele nach Atem ringend auf ihrem Stuhl zusammen. Sie wäre auf dem Tisch aufgeschlagen, wenn Lydana und Schelyra ihr nicht zur Seite gesprungen wären, um sie aufzufangen. »Meine Mutter ist krank -«, zischte Lydana den Herold beinahe an. »Geht Ihr Eurer Pflicht nach wie ich der meinen.«
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9. Lydana Adele konnte sich kaum auf den Beinen halten und stützte sich schwer auf Lydana. Kaum vernehmbar, doch so deutlich, daß auch Schelyra es hörte, flüsterte sie: »Laßt sie in dem Glauben, daß es mit mir zu Ende geht. Das ist für uns im Augenblick am günstigsten.« Dennoch war sich Lydana nicht sicher, ob ihre Mutter eine Rolle spielte, die sie sich ausgedacht hatte, oder ob sie den beiden Frauen an ihrer Seite einen Teil der Sorgenlast abnehmen wollte. Auf dem Weg zu den Gemächern ihrer Mutter kamen ihnen Braune Kutten entgegen, die dem Orden der Heilenden angehörten. »Die Erzpriesterin weiß Bescheid«, erklärte eine von ihnen, während sie den zierlichen Leib Adeles in Empfang nahmen und auf die Bahre legten, die sie mitgebracht hatten. »Sie hat uns geschickt, um die Ehrwürdige in den Tempel zu bringen. Seid getrost. Alle, die dem Herzen dienen, tragen Sorge füreinander. Gebt nun acht auf Euch - und auf diese Hoffnung der Zukunft«, sagte sie mit einem Kopfnicken zu Schelyra. Doch Adele war noch nicht bereit, sie gehen zu lassen; sie wandte den Kopf, um Lydana und Schelyra ansehen zu können, und sagte mit einer Stimme, die beinahe die gewohnte Kraft wiedererlangt hatte: »Seid euch meines Todes erst dann sicher, wenn ihr das Grab gesehen habt. Wenn ihr Bedauern darüber zeigt, daß ich in den Inneren Bereich eingekehrt bin, mag das fürs erste Schutz genug sein. Nun, da wir Apolons Ambitionen kennen, aber nicht wissen, wie groß seine Macht ist, müßt ihr doppelt vorsichtig sein. Du, Tochter meines Sohnes«, damit wandte sie sich direkt an Schelyra, »mußt lernen, noch unscheinbarer als die Geringsten unter uns zu sein, um dich zu schützen. Hüte dein Temperament. Uns steht eine Prüfung bevor, die kaum je ein Mensch erfahren hat, und wir werden eher unseren Verstand und unseren Willen einsetzen müssen als unsere körperliche Kraft.« Schelyra nickte, die Lippen zu einem Strich zusammengepreßt. »Und du, meine Tochter -«, fuhr Adele fort und blickte Lydana an, »du hast eine Ausbildung genossen. Doch ich möchte dich noch einmal ein 53
dringlich warnen: Vor dem, was jene Quellen des Bösen, die du wie Augäpfel gehütet hast, dir selbst zufügen können, bist du vielleicht nicht gefeit. Sei auf der Hut, wenn du dich ihrer bedienst. Denke an das Gesetz des Allmächtigen Herzens: Wenn du das Übel in Gang setzt, und sei es für einen vermeintlich guten Zweck, wird es in doppelter Stärke auf dich zurückfallen! Und nun geht, ihr beiden. Wenn wir uns in Zukunft etwas mitteilen müssen, dann über den Beichtstuhl im Großen Tempel. Möge das Herz euch schützend begleiten bis zu dem Tage, an dem wir von diesen Schatten des Bösen befreit werden.« Sie warf keinen Blick zurück, als die Braunen Kutten die Bahre forttrugen. Adele hatte recht - sie hatten ihre eigenen Mittel und Wege ... Lydana hielt Schelyra am Arm fest. »Komm mit!« In den Korridoren standen keine Wachen — die Herrscher von Merina hatten sie nur für feierliche Anlässe benötigt, und Lydana wußte, daß sie in diesem Augenblick von ihrem Befehlshaber aufgefordert wurden, den Herold zum Großen Tempel zu geleiten. Dennoch konnte sie nicht sicher sein, ob sie unbemerkt verschwinden konnte. Aber was zu tun war, mußte schnell getan werden. Sie zog Schelyra hinter sich her in ihr Gemach. Dort wurden sie bereits erwartet, woran sie allerdings auch nicht gezweifelt hatte. Die Botschaft, die Skita in die Dämmerung hinausgetragen hatte, war unzweideutig gewesen. Sie schenkte der kleinen Dienerin, die auf ihrem niedrigen Stuhl saß und ein Bein baumeln ließ, keine Beachtung, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit sogleich dem Gast zu. So also sah der Held so vieler Balladen und Schalkgeschichten aus, die nur jene zum Lachen brachten, welche nicht unter seinen Betrügereien und seinem losen Mundwerk hatten leiden müssen. Er stand da, als hätte er im Geiste bereits eine Bestandsaufnahme aller im Raum befindlichen Gegenstände gemacht, sich die schönsten und am leichtesten zu befördernden Stücke ausgesucht, die er sich holen würde, sobald sich eine Möglichkeit ergab. Und allem Anschein nach war er durchaus der Meinung, daß sich diese Gelegenheit schon sehr bald ergeben könnte. »Thom Ränkeschmied«, sagte Lydana und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er strahlte die Arglosigkeit eines jungen Mannes aus, der die große weite Welt noch nicht kannte und von dem Reichtum, den sie zu bieten hatte, überwältigt war. Nichts hätte seinem Ruf ferner liegen können. »Der bin ich, Hoheit.« Er verbeugte sich mit der Vollendung eines Höflings, der sich alle Mühe gibt, zu gefallen. 54
»Dieb, Betrüger, ein zum Tode Verdammter«, antwortete sie in sachlichem Ton. »Immerhin stehe ich nun hier ...« Er lächelte jungenhaft und unschuldig wie das erste Morgenrot. Die Augen indes - seine Augen verrieten, was in ihm vorging. Er wirkte wie ein wildes Tier in der Falle - ein Tier, das auf der Hut und gleichzeitig entschlossen war, entweder freizukommen oder Blutzoll von seinen Häschern zu fordern. »Das Hohe Gericht hat das Urteil über dich gesprochen«, stellte sie fest. »Warum stehe ich dann auf königlichen Befehl hier?« entgegnete er. Sein Lächeln verschwand, und er schob das Kinn ein wenig nach vorn. »Weil Diebstahl, Betrug und was man dir sonst noch vorwirft, nicht alles ist, was man mit gutem Grund über Thom Ränkeschmied sagen kann. Er hat Mut und ist nicht auf den Umgang mit Eisenwaffen oder Keulen oder mit dem Dolch eines Meuchelmörders angewiesen, um dies unter Beweis zu stellen.« Er verbeugte sich erneut, während sie fortfuhr: »Ja, Mut. Und Verstand - auch das habe ich über Thom Ränkeschmied gehört. Wenn er sich einem gefährlichen Unternehmen durch Eid verpflichtet, hält er sein Wort, ganz gleich, wie das Glück sich wendet.« Schelyra hatte sich auf das Fußende des Bettes gesetzt und ihn mit Argusaugen beobachtet. Bei der letzten Feststellung ihrer Tante zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne und legte die Stirn in Falten. »Merina ist gefallen«, fuhr Lydana fort. Er zuckte die Schultern. »Was sonst? Gegen Balthasars Armeen sind wir machtlos. Und nur Tore sterben für eine verlorene Sache.« Nun war es Lydana, die lächelte. »Zu denen ein Thom Ränkeschmied natürlich nicht gehört! Die Stadt Merina mag fallen, aber sie ist weder tot, noch kann man sie sicher zu Grabe tragen, während der ruhmreiche neue Herrscher zu neuen Eroberungen aufbricht.« Sie griff nach einem schlanken Dolch, der zum Öffnen von Papieren verwendet wurde. Er lag auf dem Tisch neben ihr. Thom Ränkeschmied beobachtete jede ihrer Bewegungen, doch in seinen Augen lag alles andere als Furcht, nur Neugier und Spannung. »Was verlangt Unsere Erhabene Königin von mir?« fragte er mit einem leicht spöttischen Unterton, den Lydana jedoch mit einem Lächeln überging. 55
»Deine Dienste — als Vasall, der uns ergeben ist bis in den Tod —«, erwiderte sie und hob den Dolch ins Licht. Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden; Lydana bemerkte, daß seine Hand an die Schärpe fuhr, die er um die Hüfte geschlungen hatte, als wollte er nach einer Waffe greifen, die er nicht mehr trug. »Ich gebe dir eine Chance, Thom Ränkeschmied, dir, der betrogen und gestohlen und sich zum Gassenhelden aufgeschwungen hat; die Chance, ein wahrer Held zu werden.« Sein Blick fiel auf den Dolch. »Meuchelmord? An wem - an Seiner Mächtigkeit Balthasar persönlich?« »Wir verlangen nichts Unmögliches. Nein, du sollst folgendes tun: Diese junge Dame hier, die nächste Erbin von Merina«, sagte sie und wies mit einem Kopfnicken auf das Mädchen, »gehört zu denen, die Balthasar in seine Gewalt bringen und vielleicht töten will.« Zum ersten Mal wandte Thom Ränkeschmied den Blick von dem Dolch ab und richtete ihn direkt auf das Mädchen. Sie beäugten einander mit dem unverwandten Blick zweier Kater, bereit, ihr Revier zu verteidigen. »Es heißt, du bist durch Blutsbande einem der Roßhändler verbunden ...« Ohne den Blick von Schelyras Augen zu wenden, nickte er bejahend. »Also hast du die Möglichkeit, ein Versteck für Schelyra zu finden, noch ehe der Feind anrückt. Vielleicht kannst du bei ihnen ein gutes Wort für uns einlegen. Ich will dir den Bluteid abnehmen als Garantie für ihre Sicherheit - und damit für die Zukunft dieser Stadt.« Er runzelte die Stirn. »Sie ist eine Prinzessin, eine hohe Frau. Sie würde in den Schlupfwinkeln, die ich kenne, sofort auffallen.« »Dann sorge dafür, daß das nicht geschieht.« Ehe er sich rühren konnte, schoß Lydanas Rechte nach vorn und schloß sich um sein Handgelenk, an dem noch Spuren von Kerkerketten zu erkennen waren. Er stöhnte kurz auf und blickte dann fassungslos auf den Blutstropfen, der ihm aus der schmutzigen Haut drang. Lydana hielt die Klinge gerade, so daß der zweite Blutstropfen auf der Dolchspitze nicht herabtropfen konnte. Mit einer energischen Handbewegung forderte sie Schelyra auf, zu ihr zu treten. Glücklicherweise gehorchte das Mädchen ohne Widerspruch. Lydana 56
ergriff Schelyras Hand, drehte die Handfläche nach oben und ließ den Blutstropfen in die Höhlung fallen. »Beim Allmächtigen Herzen und allen größeren Mächten, bei allem, was über uns wohnt und die Finsternis unter sich abtötet, soll dieser Thom von nun an Vasall sein - doch auch sie aus dem Hause des Tigers sei dessen eingedenk, daß er für sie kämpfen wird und daß sie ihn stets als Vasallen achten soll.« Langsam sprachen die beiden die uralten Worte des Vasalleneides aus. Lydana warf Thom den Dolch zu, der ihn geschickt auffing und ohne Scheide in die Schärpe steckte. »Skita wird euch hinausbegleiten. Draußen wartet ein Ruderboot - nehmt es und sucht euch ein Schlupfloch. Und noch etwas«, fügte sie hinzu und lachte plötzlich auf, »sollte dir etwas einfallen, womit du unserem neuen Herrscher Ungelegenheiten bereiten könntest, hast du meinen Segen dazu — solange Schelyra nichts zustößt.« Er grinste wieder. Dann hob er die Hand, an der noch eine leichte Blutspur zu erkennen war, und grüßte wie ein Soldat. »Es sei, wie Ihr sagt, Königin.« Sie sah den dreien nach, als sie hinter einem der Wandteppiche verschwanden. Dieser Palast beherbergte in der Tat ein Gewirr aus unsichtbaren Gängen. Auch das war ein Vorteil, falls Balthasar beschließen sollte, sich hier einzunisten. Sie hatte für Schelyra alles getan, was in ihrer Macht stand - nun mußte sie ihr eigenes Verschwinden vorbereiten. Zum Glück hatte sie im Laufe der Jahre bereits gewisse Vorbereitungen getroffen, ohne zu wissen, warum. Ihres Wissens war Skita die einzige, die ihr Geheimnis vollständig kannte. Es hatte vor etwa sechs Jahren begonnen, kurz nach der Schlacht bei Urs, als sie von einer inneren Unruhe ergriffen wurde und mehr über Merina zu wissen verlangte, als sie je in ihrer Rolle als Herrscherin aus dem Hause des Tigers hätte erfahren können. Und Skita spielte eine bedeutende Rolle dabei. Nachdem Kapitän Saxon die Piratenflotte vernichtet hatte, waren ihre schmutzigen Nester entlang der Küste und auf den Inseln im Süden durchsucht worden. Dabei hatte man seltsame Dinge entdeckt. Es war allgemein bekannt, daß die Sklaven, die von den Piraten gefangengenommen wurden, nicht lange überlebten. In einem Käfig jedoch fand man Skita — eingesperrt wie ein Riesenvogel. Saxon selbst hatte ihr die Freiheit wiedergegeben, doch sie weigerte 57
sich, überhaupt mit einem Mann zu sprechen. Saxon erkannte, daß sie einer ihm unbekannten Rasse angehören mußte. Er hatte sie mit nach Merina genommen, als deutlich wurde, daß dies der einzige Schutz war, den er ihr bieten konnte. Als er sie dem König vorstellte, schritt Skita einfach quer durch den Raum auf den Platz zu, an dem Lydana an diesem Tag saß — auf einem niedrigeren Podest — und streckte der Königstochter beide Hände entgegen. Lydana, die völlig verblüfft war, hatte sie zunächst nur schweigend angesehen. Dann war in ihr etwas zum Leben erwacht - ein unbeschreibliches Gefühl, ihr bislang völlig unbekannt -, und in jenem Augenblick war ihr, als wäre eine Leere in ihr gefüllt worden. Inzwischen war Skita für sie zwar nicht unbedingt die Tochter, die sie nie gehabt hatte, aber sie stand ihr so nahe wie eine enge Verwandte, wenn sie auch nie mehr über die Geschichte ihrer kleinen Begleiterin erfahren hatte, als daß sie auf einer Insel gelebt hatte, die von Piraten überfallen worden war, deren Schiff vom Kurs abgekommen war. Skita hatte nie den Wunsch geäußert, wieder zu ihrem Volk zurückzukehren, und sie konnte — oder wollte — den Kartenzeichnern, die Lydana um Rat gebeten hatte, weder die Richtung noch den Namen ihres Heimatlandes angeben. Sie besaß eine rasche Auffassungsgabe und war auf manchen Gebieten durchaus begabt. Oft wenn Lydana ernsthaft über etwas nachdachte, hatte es den Anschein, als könnte Skita Gedanken lesen, außerdem war sie in der Lage, eine drohende Gefahr richtig einzuschätzen. Lydana hatte Skita ein wenig ins Schmuckhandwerk eingeführt; und das Mädchen vermochte sich Wort für Wort an alles zu erinnern, was sie gehört oder gelesen hatte. Hinzu kam, daß ihre Nähe irgendwie beruhigend und ermutigend wirkte - ein Gefühl, das Lydana niemals in Worte zu kleiden versuchte. Mit etwas Phantasie könnte man sich sogar vorstellen, daß sie einer der Schutzengel war, die in den Meßbüchern des Klosters und in der Bibliothek des Großen Tempels so häufig angeführt wurden. Kurz nachdem sie Skita in ihren Haushalt aufgenommen hatte, war Lydana zu dem Entschluß gekommen, endlich zu tun, was sie sich seit der Nachricht vom Tod ihres Mannes vorgenommen hatte. Die Freiheit, die sie für die Durchführung ihrer Pläne brauchte, hätte ihr nie zur Verfügung gestanden, wenn ihr Mann das Oberhaupt ihres Haushaltes geblieben wäre. Wie so viele Male zuvor benutzte Lydana auch jetzt wieder die 58
Geheimgänge des Palastes. Sie hatte eine kleine Kammer entdeckt, die ihren noch nicht klar umrissenen Zielen bestens diente. Dort begann sie alles einzurichten, was sie für ihren Versuch benötigte, sich von einer Dame königlichen Geblüts in eine gewöhnliche Händlerin von Merina zu verwandeln. In dieser Kammer befanden sich eine Kommode, die sie unter großen Mühen mit Skita dorthin gebracht hatte, ein Wandspiegel und ein Schminkkasten - ein Gegenstand, der auf dem spärlich ausgestatteten Frisiertisch in ihren offiziellen Gemächern niemals herumgestanden hätte. So war Mathilde entstanden. Das einfache Gewand, in dunklen Farben gehalten, die Lydana so sehr liebte, wurde hier zur Seite gelegt und gegen leuchtende Farben eingetauscht, vor denen sie als Königin Lydana zurückgeschreckt wäre. Die strenge, zu einer Tiara geflochtene Frisur wurde gelöst, das graubraune Haar sorgfältig und ausdauernd mit einem jener Kämme geglättet, wie sie für Frauen jenseits der Blüte ihrer Jahre auf den Märkten feilgeboten wurden, die sich nicht mit grauen Strähnen anfreunden konnten. Er verlieh dem Haar eine dunklere Tönung mit einem merkwürdigen rötlichen Schimmer. Danach wurde es nicht wieder geflochten, sondern gedreht und gerollt, bis über den Ohren zwei Schnecken entstanden waren — es hatte Lydana etliche, an ihrer Geduld zehrende Versuche gekostet, bis sie erreicht hatte, was sie sich vorstellte. Darüber zog sie Netze aus matten Silberfäden, die auf dem Kopf zusammengefaßt waren. Von dort hingen ihr baumelnde Troddeln aus glitzernden Glasperlen in die Stirn. Sie hatte gelernt, einen Gürtel so eng zu schnallen, daß er sowohl ihre Hüften betonte als auch ihre Brüste auf nahezu unziemliche Weise zur Geltung brachte. Darüber trug sie einen am Saum durchgescheuerten Seidenrock, ein eng anliegendes Mieder, das Hals und Schultern in höchst fragwürdiger Weise bloßlegte. Bevor sie das Mieder zuband, suchte sie aus dem großen Schminkkasten ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit aus, die nach zimthaltigem Punsch duftete. Mit Hilfe einer weichen Bürste und einem Stück Seide ließ sie ihre elfenbeinfarbene Haut verschwinden und legte sich das derbe Aussehen einer Frau zu, die sich oft an der frischen Luft aufhält und sich zu lange und zu stark geschminkt hat. Dann dunkelte sie die Augenbrauen nach, legte Lidschatten auf und tupfte sich Rouge auf die Wangen. Anschließend entnahm sie einer kleinen Schachtel einen 59
schwarzen Punkt, legte ihn auf den Zeigefinger und drückte ihn sich oberhalb der dick geschminkten Lippen auf die Haut. Nachdem sie sich äußerst kritisch im Spiegel betrachtet hatte, rundete sie das Bild mit ein paar Halsketten aus Halbedelsteinen und Kristallen ab, die mit Fäden aus schäbigem, angelaufenem Silber und Kupfer verflochten waren. Zum Schluß schob sie noch klimpernde Armreifen über die Handgelenke. Während Lydana sich auf diese Weise beschäftigte, war Skita ebenfalls in ihre zweite Haut geschlüpft - sie hatte sich in eine Person verwandelt, die sich in einigen sehr anrüchigen Bereichen des Stadtlebens gut auskannte. Sie hatte eine ähnliche Salbe benutzt wie Lydana, aber da sie diese nicht nur auf Hals, Gesicht und Arme, sondern auch auf die Kleidung verteilt hatte, erweckte sie nun den Eindruck, als brauchte sie mindestens ein ausgiebiges Bad, um wieder gesellschaftsfähig zu sein. Den Rest der Salbe hatte sie in eine Schüssel geschüttet und die Haare darin eingetaucht. Anschließend fuhr sie mit den Fingern durch einen Tiegel Fettsalbe, die sie sich in die Locken einarbeitete, bis sie in häßlichen Strähnen herabhingen. Nachdem die Salbe am Körper eingetrocknet war, nahm sie ein breites graues Tuch aus grobem Stoff zur Hand und wickelte es fest über die Rundungen ihrer Brüste. Jetzt hätte sie ebensogut ein Junge sein können - einer jener Grünschnäbel, die an den Kanälen herum lungerten. Die etwas zu groß geratene Hose, die sie mit einer dünnen Kordel um die Hüften band, und das kittelähnliche Hemd, das mit einem abgetragenen, häufig geflickten Gürtel zusammengehalten wurde, vervollständigten die Verkleidung. Skita und Lydana gab es nun nicht mehr. Die beiden, die nun ihre Schachteln schlossen und sich gegenseitig noch einmal kritisch betrachteten, waren Mathilde, die mit Perlen und Tand handelte und in einem dunklen Loch am Kanal im Süden der Stadt einen winzigen Laden betrieb, und »der Aal«, ihr Neffe, ein Rabauke, der mit einer Fingerfertigkeit, die bei den anderen Gassenjungen Bewunderung auslöste, brave Bürger um ihre Geldbeutel erleichterte. Mathilde hatte sich bereits den Ruf einer Streunerin erworben, und die wenigen braven Hausfrauen in ihrer Straße zogen hinter ihrem Rücken über sie her. Gerüchten zufolge tändelte sie mit Matrosen, wenngleich man sie noch nie in Begleitung eines Seemannes gesehen hatte. Aber wenn sie tagelang nicht auftauchte, wurde gemunkelt, sie sei 60
mit einem spendablen Matrosen unterwegs, der von einer einträchtigen Fahrt zurückgekehrt sei. Andererseits zollten die Frauen, obwohl sie Mathildes vermeintlichen Lebenswandel belächelten und sich die Mäuler über sie zerrissen, ihrer Nachbarin widerwillig Respekt und zeigten ihr gegenüber eine gewisse Scheu. Es hatte sich schon des öfteren gezeigt, daß sie das zweite Gesicht besaß. Sie war in der Lage, etwas über Vermißte zu erfahren - oder über verschwundene Töchter-, und sie hatte gute Ratschläge erteilt, wenn es darum ging, Familienmitglieder aus den Fängen der Ordnungshüter zu befreien. Obwohl sie nur glitzernden Tand verkaufte, waren die Sachen immerhin so hübsch, daß sie die Blicke der Frauen auf sich zogen, und Mathildes Waren fanden reißenden Absatz bei jungen Lehrburschen, die einer Dienerin imponieren wollten. Es war noch hell. Mathilde gähnte und merkte, daß sie Hunger hatte. Wann hatte sie das letzte Mal etwas zu sich genommen? Am frühen Morgen, und auch da nur ein Hörnchen und ein Glas Wein. Allem Anschein nach war Skita weitblickender gewesen, denn sie brachte einen Korb zum Vorschein und packte Käse, Brot, ein Stück Dörrfleisch und zwei saftige Pasteten aus. Sie mußten abwarten, bis sich die Nachricht von dem Einmarsch in der Stadt herumgesprochen hatte. Nachdem sie sich verwandelt hatte, nahm Mathilde im Schneidersitz auf dem Boden Platz und dachte darüber nach, was Lydana, die Königin, an diesem Tag getan hatte, um festzustellen, ob es Schwachstellen in ihren hastigen Vorbereitungen gab. »Thom wird sich an sein Versprechen halten.« Skita hatte die Flamme der Lampe heruntergedreht, so daß sie nur noch schwach leuchtete. »Er ist ein Mann mit vielen Gesichtern.« Mathilde seufzte. »Man hört ja vieles über ihn, aber alle Geschichten sind von den Gedanken und Gefühlen derjenigen gefärbt, die sie weitergeben. Ja, mir wurde auch gesagt, man könne Thom vertrauen. Ich hoffe nur, daß er schlau genug ist, um es mit Schelyra aufnehmen zu können. Im Augenblick tut sie, was man ihr sagt, weil sie nicht genug Zeit hat, nachzudenken oder sich vorzustellen, wie sie mit der Lage umgehen soll. Aber -«, Mathilde hob die Hände in einer etwas hilflosen Geste, »was hätten wir tun sollen in der kurzen Zeit, die uns blieb?« »Natürlich hatten wir Zeit.« Nun verzog sie den Mund, und das Rot ihrer Lippen verfärbte die Zähne, als sie sich verbesserte. »Aber offenbar waren wir mit Blindheit geschlagen - bis auf das vergangene halbe Jahr. 61
Wir haben dem Treiben Balthasars und seiner Armeen im Norden tatenlos zugesehen. Ein Stadtstaat schien ihm nicht der Mühe wert, bis er die Fürsten aus dem Schlad unterworfen hatte. Doch selbst wenn wir Vorbereitungen zu unserer Verteidigung getroffen hätten - was hätten wir ausrichten können? Gewiß, die Bewohner der Stadt werden um ihr Hab und Gut und ihre Familien kämpfen, aber sie sind keine Krieger. Wir haben keine Mauern, die den Belagerungsgeräten standhalten könnten, welchen sogar Hardklau zum Opfer fiel. Nein, uns bleibt nichts anderes übrig, als uns einzugraben und abzuwarten - und die Geduld jener Waldameisen an den Tag zu legen, die durch ihre emsige Arbeit ein uraltes Haus zum Einsturz bringen können.« Sie nahm den Korb, in dem das Essen gewesen war, und begann, ihn mit größter Sorgfalt zu packen. Sonderbare Waffen waren es, doch die wirkungsvollsten, die sie besaß. Zuunterst legte sie den Kasten mit den unheilbringenden Steinen. Darüber schichtete sie Perlen, die einen aufgefädelt und auf Rollen, andere in Päckchen verpackt. Kaum konnte sie ihre Ungeduld zügeln - sie wollte hinaus und etwas tun, doch sie brauchten Deckung für ihre Unternehmungen. »Soll der Aal mal schnuppern gehen?« fragte Skita und trat neben sie. Vielleicht konnte auch sie den Druck nicht ertragen, der ihnen durch die gebotene Vorsicht auferlegt wurde. Mathilde dachte kurz nach und nickte dann. Schon war der kleine eilfertige Gassenjunge jenseits der Mauern verschwunden. Mathilde hatte eine Perlenschnur in der Hand behalten. Es war zwar Jade, doch sehr brüchig und farblich unschön. Sie versuchte, alle Gedanken auszuschalten und sich auf eine Person - Adele - zu konzentrieren, während sie die Perlen langsam durch die Finger gleiten ließ und still dabei betete. Sie glaubte an den Tempel, sie war dazu erzogen worden, und sie wußte, daß Menschen wie die Ehrwürdige über Fähigkeiten verfügten, die einem gewöhnlichen Sterblichen rätselhaft erschienen. Doch sie selbst stand mehr auf dem Boden der Tatsachen und glaubte eher daran, daß das Herz und alles, was damit zusammenhing, alle beschützte, die für sich selbst kämpften - wenn es nur für eine gerechte Sache wäre. Adele war in Sicherheit. Mathilde hielt es für unwahrscheinlich, daß Balthasar - oder der mit den Mächten der Finsternis verbündete Magier, der hinter ihm stand — es wagen würde, das Kloster zu betreten. Der Tempel war so tief in ihrem Leben verwurzelt, daß selbst seine eigenen Edelleute gegen ein solches Unternehmen aufbegehren würden. 62
Doch es gab andere Möglichkeiten, ins Kloster einzudringen, als eine ungeschützte Tür mit Bewaffneten niederzureißen. Ungeschützt? Sie ließ eine weitere Perle durch die schmutzigen Finger gleiten. Es gab raffiniertere — und mächtigere — Schutzvorrichtungen als von Menschen bewachte Tore. Erzpriesterin Verit war alt. Sie saß nun bereits seit mehr als vierzig Jahren auf dem Hohen Sitz, obwohl sie allem Anschein nach weder an Geisteskraft noch Einfluß eingebüßt hatte. Besaß Apolon die Macht, sogar jenen zu schaden, die dem Herzen selbst verbunden waren? Es hatte keinen Sinn, sich mit solchen Mutmaßungen zu quälen. Sie wollte lieber daran denken, was unmittelbar vor ihr lag. Saxon — ja, der Hafenmeister war ein wichtiger Bestandteil ihrer Pläne. Aber Saxon stand ebenso im Lichte der Öffentlichkeit wie Lydana, als sie an jenem Ratstisch saß. Man konnte davon ausgehen, daß er sich um seine eigene Sicherheit kümmerte - vorläufig mußte sie sich darauf verlassen.
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10. Schelyra Skita verließ den Geheimgang vor den beiden anderen und betrat einen Korridor im dritten Stock, dem sie sogleich folgte — ohne sich zu verstecken. Thom Ränkeschmied schickte sich an, der kleinen Frau zu folgen, blieb jedoch stehen, als Schelyra keine Anstalten machte, mitzugehen. Sobald er anhielt, wandte Skita sich um. Schelyra schaute die beiden stirnrunzelnd an. Thom bedachte sie zusächtlich noch mit einem vorwurfsvollen Blick, der auch ohne Worte deutlich genug sagte: »Zumindest du solltest es besser wissen!« »Du kannst wieder zur Königin gehen«, befahl sie Skita mit einer entsprechenden Handbewegung. »Sie braucht dich jetzt dringender als wir.« »Aber das Boot -«, wandte Skita ein. Schelyra schüttelte den Kopf. »Das laß nur meine Sorge sein. Es ist besser, wenn möglichst wenige wissen, auf welchem Wege wir hier herauskommen. Auch dich, Skita, können sie fangen und zu Verhören einsperren.« Sie hatte ihre Worte mit Bedacht gewählt, da sie Skitas Geschichte kannte, und sie sah, daß das kleine Wesen unmerklich zusammenzuckte. Ohne weitere Einwände drehte Skita sich auf dem Absatz um und eilte zurück in die Gemächer der Königin. Schelyra wartete, bis das Mädchen außer Sichtweite war und sie nicht mehr hören konnte; dann winkte sie Thom, ihr zu folgen. An der Art, wie er die Lippen zusammenpreßte, konnte sie erkennen, daß es ihm nicht gerade behagte, Befehle entgegennehmen zu müssen, und sie unterdrückte ein grimmiges Lächeln der Zufriedenheit. Sie hatte nicht darum gebeten, daß man ihr ausgerechnet diese wundgerittene Schindmähre aufsattelte, und sie würde sich auf keinen Fall mit seinen Possen abfinden. Mir gefällt der Ruf dieses Mannes nicht, und sein Verhalten ist auch nicht besser. Er läßt sich auf unnötige Gefahren ein, nur um seinem Leumund gerecht zu werden; hätte er die Wahl zwischen einer sinnvollen Tat, die ihm anschließend keine öffentliche Bewunderung einträgt, und einer sinnlosen, die den Legendenschatz um seine Person noch vergrößert, würde er sich für letztere entscheiden. Schon beim ersten Mal, als er 64
sein Auge auf sie gerichtet hatte, wußte sie, daß er auf sein gewinnendes Wesen und sein gutes Aussehen vertraute und überzeugt war, daß sie beidem erliegen würde und er ein leichtes Spiel mit ihr hätte. Für ihn stand fest, daß sie eine verwöhnte, allseits bewunderte Prinzessin war, leicht zu umgarnen, leicht zu führen - was er bereits deutlich genug zum Ausdruck gebracht hatte. Nun, er irrte sich gewaltig, wenn er annahm, sie hätte keine Erfahrung mit der wirklichen Welt, nur weil sie in einem Palast aufgewachsen war. Er hatte nicht bedacht, daß sie in einer Umgebung aufgewachsen war, in der es von hübschen jungen Männern mit viel Ehrgeiz und wenig Grips nur so wimmelte, die mit ihrer Zeit nichts anderes anzufangen wußten, als der Prinzessin schöne Augen zu machen und auf den Augenblick zu hoffen, in dem sie ihnen Gehör schenken würde. Viele dieser jungen Männer hatten wahrlich besser ausgesehen als Thom, und sie hatte nie den Fehler begangen, auf ihre Schmeicheleien hereinzufallen. Tante Lydana hat keine Ahnung, was ich bei den Roßhändlern gemacht habe — und sie weiß nichts von meinen Freunden beim Fahrenden Volk. Ich glaube, das ist auch gut so. Ebenso wie Skita könnte auch meine Tante gefangen werden. Der Gedanke daran ließ sie frösteln. Am besten halte ich mich an meine eigenen Pläne. Das, was sie vorhat, geht vielleicht nicht lange gut. Außerdem würde ich niemals den Schwanz einziehen und mich davonmachen, nicht, solange noch die Chance besteht, daß ich etwas tun kann. Sie trat einen Schritt zur Seite und verschwand im Arbeitszimmer der Verwalterin des Palastes, die es erst am Nachmittag aufsuchen würde. Thom folgte ihr, immer noch mit finsterem Blick. »Was —«, begann er, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Schsch«, unterbrach sie ihn, noch ehe er seine Frage stellen konnte. »Die Wände haben Ohren.« Als sie zur Rückwand des Zimmers ging, seufzte er übertrieben und verdrehte die Augen, als wolle er die Engel im Himmel um Geduld bitten. Es war ihm deutlich anzusehen, daß er sie für übervorsichtig hielt. Ihre Verachtung für ihn wurde noch größer. Dummkopf. Wie hatte er bloß so lange überlebt? Der Mechanismus für diese Geheimtür war so gut versteckt, daß nicht einmal die Verwalterin, die täglich Bücher aus dem Regal an der Rückseite des Zimmers nahm, ihn bisher entdeckt hatte. Wie die Tür, die Schelyra am Abend zuvor im Flur benutzt hatte, drehte sich diese ebenfalls um einen zentralen Punkt. Sie achtete darauf, daß sie mit dem Rücken zu Thom stand, so daß er nicht sehen konnte, wie sie den 65
Mechanismus bediente. Sie war fest entschlossen, den Kampf mit Balthasar zu gewinnen, was bedeutete, daß das Geschlecht des Tigers dieses Gebäude wieder in Besitz nehmen würde. Daher wollte sie Thom auf keinen Fall in mehr Geheimnisse einweihen, als absolut notwendig war. Sie konnte seine Miene nicht sehen, als das Bücherregal sich drehte, doch als sie sich umwandte und ihm durch Handzeichen bedeutete, hineinzugehen, war der spöttische Ausdruck aus seinem Gesicht gewichen. Nachdem sie im Geheimgang in Sicherheit waren — in diesem Gang, dessen Mauern so dick waren, daß sie selbst laute Schreie zu ersticken vermochten, und in denen es keine Mauerritzen gab, durch die ein Lichtstrahl nach außen dringen konnte -, tastete sie nach dem Zündholz und der Laterne, die immer auf einem Sims neben der Tür bereitstanden. Sie zündete die Laterne an, verschloß die Geheimtür hinter sich, so daß man sie nur noch von dieser Seite öffnen konnte, und wandte sich dann erst dem Mann zu, der ihr treuer Vasall sein sollte. Sie musterte ihn kritisch, wozu sie bisher noch keine Gelegenheit hatte. Zuerst grinste er und warf sich in Pose, doch als sie keine Miene verzog, verschwand sein selbstgefälliges Lächeln, und er begann sich unter ihrem unbeirrbaren Blick unwohl zu fühlen. Er war ganz hübsch anzusehen - wenn er sich nur öfter und sorgfältiger waschen würde. Er war einen Kopf größer als sie, hatte dunkelblondes, halblanges Haar, das durch ein Band aus roter Seide daran gehindert wurde, ihm in die erstaunlich blauen Augen zu fallen. Er trug keinen Bart, das Gesicht machte einen jungenhaften, beinahe unschuldigen Eindruck, und er sah viel jünger aus, als er tatsächlich war. Er trug eine abgenutzte, weite braune Lederweste über einem fadenscheinigen Seidenhemd, dessen ursprüngliche Farbe, wie auch immer sie gewesen sein mochte, zu einem unbestimmbaren Beige verblaßt war. Das Hemd steckte in einer braunen Leinenhose, über die er kniehohe, braune Lederstiefel gezogen hatte, welche an den Seiten zugeschnürt wurden Stiefel, wie sie bei den Roßhändlern getragen wurden. Auch Schelyra besaß ein solches Paar Stiefel, das sie vorsorglich in einem Versteck hatte verschwinden lassen. Eine blaßlila Schärpe rundete die Kleidung ab, die durchaus eine Wäsche hätte gebrauchen können. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, als sie mit ihrem unverwandten, eindringlichen Blick von dem Mann unter der Kleidung Maß zu nehmen versuchte. Er war offensichtlich in guter körperlicher Verfassung; er war muskulös, jedoch nicht auffallend — und nicht drahtig und dünn wie sie selbst, doch mit zähen, sehnigen Muskeln. Sie stieß 66
einen langen Seufzer aus. »Wir wollen uns nichts vormachen«, sagte sie und warf ihm einen Blick zu, in dem sowohl Hochmut als auch Herausforderung lag. »Ganz gleich, was die Königin dir aufgetragen hat, ich habe hier das Sagen, und du wirst meinen Befehlen Folge leisten. Andernfalls wirst du dich von mir verabschieden, sobald wir auf der Straße sind, und mich mit deiner unwillkommenen und unerwünschten Gegenwart nicht länger behelligen.« Mit diesen Worten nahm sie die Laterne an sich, drehte sich unvermittelt um und schritt den Gang entlang, so daß er Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. »Einen Augenblick, Euer Gnaden«, sagte er mit spöttischem Unterton, während Schelyra so rasch voraneilte, daß er beinahe laufen mußte. »Ich bin —« »Du bist nichts weiter als ein Dieb mit märchenhaftem Ruf«, fiel sie ihm ins Wort. »Du hast nichts außer dem Messer in deinem Gürtel und den paar Sachen, die du draußen in der Stadt versteckt hast und die deine guten Freunde und Kameraden wahrscheinlich längst geplündert haben. Merina wird schon bald von Balthasars Leuten überschwemmt werden, falls es nicht sogar schon geschehen ist. Solltest du vorhaben, an den Vorräten teilzuhaben, die ich versteckt habe und von denen niemand etwas weiß, mußt du dich meinen Anordnungen fügen. Wenn nicht, kannst du dein Glück bei den Männern Balthasars versuchen.« Der Gang machte eine scharfe Biegung; sie wußte es, aber er nicht. Er lief zwar nicht gegen die Mauer, doch der plötzliche Richtungswechsel brachte ihn ins Straucheln, und für einen Augenblick verlor er das Gleichgewicht. Er mußte sich sputen, um Schelyra einzuholen. »Welche Vorräte?« fragte er, als er wieder ein paar Schritte hinter ihr war. Sie antwortete nicht. Vielleicht war er doch ganz nützlich, und sei es nur als Bote und erst dann, wenn er seinen anmaßenden Stolz ihr gegenüber ablegte. »Eigentlich sollten wir doch ein Boot nehmen -«, sagte er, und dann stahl sich Argwohn in seine Stimme. »Wir sollen zu den Roßhändlern gehen. Ihr aber habt nicht vor, die Stadt zu verlassen, oder?« »Bevor ich dir irgend etwas sage«, mahnte sie ihn, »will ich deine Entscheidung wissen. Ich teile meine Geheimnisse mit niemandem, schon gar nicht mit einem Gauner, der gerade dem Galgen entronnen ist und sich möglicherweise dazu entschließt, auf eigene Faust die Stadt zu verlassen. Und möglicherweise all seiner Mühe zum Trotz gefangengenommen wird!« 67
Ich habe ihn in der Hand, und er weiß es. Er hat sich durch Eid verpflichtet, mein Vasall zu sein. Meine Befehle sind für ihn bindend, nicht die meiner Tante. Ob sie daran gedacht hat? Er bestimmt nicht; ich habe den Eindruck, die meisten seiner wagemutigen und »schlauen« Fluchtversuche gelangen nur deshalb, weil er Glück hatte, nicht, weil sie gut geplant waren. Er stöhnte herzzerreißend. »Was bleibt mir anderes übrig?« rief er. »Die Königin hat mir den Bluteid abgenommen!« »Und ich habe die Macht, dich davon zu entbinden«, warf sie ihm über die Schulter herablassend zu, ohne stehenzubleiben. »Allerdings nur unter der Bedingung, daß du Merina sofort verläßt und nie wieder zurückkehrst.« Er schwieg, und sie vernahm nur sein heftiges Atmen. Sie schloß daraus, daß ihm die Entscheidung schwerfiel, und sie glaubte auch zu wissen, warum. Wenn Balthasars Männer die Stadt einnehmen, wird einige Verwirrung herrschen, dachte sie mit boshaftem Lächeln, und wo Verwirrung herrscht, gibt es Möglichkeiten, zu plündern und zu stehlen. Die Gefolgsleute des Kaisers kennen weder sein Gesicht noch seinen Namen. Bleibt er bei mir, erhält er die Chance, hier und da ein wenig zu erbeuten. Aber wenn er geht, kommt er mit dem Leben davon, was er bis zum heutigen Tage nicht einmal hoffen konnte. Die Entscheidung ist nicht leicht. Noch etwas kam ihr in den Sinn - ein Grund, warum er zögern mochte, sein Versprechen zu halten und sie zu den Roßhändlern in Sicherheit zu bringen. Das Gerücht, er sei Blutsbruder einer ihrer Anführer, war vielleicht nichts weiter als - ein Gerücht, das er selbst in die Welt gesetzt hatte, um sein Ansehen und seinen Mythos zu vergrößern. Nicht umsonst trug er den Namen Thom Ränkeschmied. Sie war inzwischen so weit, nahezu alles, was über diesen Mann geredet wurde, als Lüge oder zumindest als Halbwahrheit abzutun. Er sollte es ihr beweisen; ansonsten würde sie keiner Geschichte Glauben schenken. Geschichtenerzähler und Balladensänger sagten oft die Unwahrheit. Was die vielen dummen Lieder beweisen, die meine artigen Manieren und meine lilienweiße Haut lobpreisen! Wenn seine Stiefel, die er ebensogut aus zweiter Hand auf dem Kleidermarkt hätte erstehen können, das einzige waren, was an der Bruderschaft stimmte, dann hätte sie allen Grund, ihm zu mißtrauen. Wahrscheinlich hat er nicht im Traum damit gerechnet, daß man sein Lügengebilde aufdecken könnte, und er versucht jetzt, sich einen Ausweg zu überlegen. 68
Die Roßhändler haben nicht viel übrig für mittellose, lästige Fremde und machen kurzen Prozeß mit ihnen. Er kann nicht wissen, daß ich bei ihnen eine gewisse Achtung genieße, und er hat Angst davor, was wohl geschehen wird, wenn er mit mir im Schlepptau in ihr Land reitet und Gastfreundschaft erwartet! Sie hatte keine große Lust, ihm ihre wagemutigen Pläne zu offenbaren. Sollte er sich doch selbst aus den Fallstricken seiner eigenen Lügengespinste ziehen. Es wäre unterhaltsam gewesen, ihn dabei zu beobachten, hätte sie nicht dringendere Sorgen gehabt. Im übrigen wußte sie selbst nicht so recht, ob sie ihn eigentlich loswerden wollte oder nicht. In der Gegend, die sie aufsuchen wollte, wäre ein Mann an ihrer Seite durchaus von Nutzen, und sei es nur als Schutz, um die unerfreulichen Begegnungen zu vermeiden, die einer Frau unweigerlich bevorstanden. Im Augenblick reichten ihre Pläne nicht weiter als bis zum Zigeunerviertel, wo sie einen bestimmten Roßhändler aufsuchen wollte. Dort würde man ihr Zutritt gewähren, denn der Talisman, den sie unter dem hohen Kragen ihres Gewandes um den Hals trug, zeichnete sie als eine Frau aus, die eine gewisse Stellung unter den Züchtern und Zureitern innehatte. Dort würde sie abwarten, was Balthasar unternahm — und welche Schritte die Großmutter einleitete. Sie konnte ihre Ungeduld kaum zähmen und wollte endlich etwas tun, doch im Augenblick war dazu keine Gelegenheit, und das wußte sie. »Ich bleibe bei Euch.« Sie zuckte zusammen; sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, daß sie Thom beinahe vergessen hatte. »Ich habe einen Eid geleistet; ich will nicht, daß es nachher heißt, Thom Ränkeschmied hätte sich nicht an sein Versprechen gehalten, sobald die Lage mißlich wurde.« »Gut«, erwiderte sie. Soll er doch denken, was er will, solange er einen Entschluß gefaßt hat und dabei bleibt. »Wir werden jetzt zunächst zum Zigeunerviertel gehen.« Er lachte einmal kurz und laut auf. »Ach, wirklich? Und da werdet Ihr ja vorzüglich reinpassen, Eure Herrlichkeit!« Sie würdigte die schlagfertige Erwiderung keines Wortes, raffte die Samtröcke ihres Gewandes und ging in einen Laufschritt über, dem er sich wohl oder übel anpassen mußte. Unvermittelt führte der Gang über eine lange Flucht gefährlich schmaler Stufen steil nach unten. Am Fuße der Treppe, auf der Höhe des Erdgeschosses, befand sich eine winzige, gemauerte Kammer, die sich jedoch schon außerhalb des Palastes befand. Schelyra stellte die 69
Laterne auf dem dafür vorgesehenen Regal ab und öffnete den Beutel, den sie am Abend zuvor dort hingelegt hatte. Normalerweise hätte sie eine Ankleidefrau benötigt, die ihr das Mieder im Rücken aufgeschnürt hätte. Aber da sie nicht die Absicht hatte, das Kleid jemals wieder zu tragen, bestand eigentlich kein Grund, Zeit mit dem Aufschnüren zu verschwenden. Sie hob die schweren Röcke, zog ein winziges Messer aus einer Scheide, die an ihrem Fußgelenk befestigt war, und schlitzte die linke Seite des Kleides mit einem Ruck entlang der Naht von der Armbeuge bis zum Oberschenkel auf. Während Thom ihr mit offenem Munde zusah, trennte sie den eng anliegenden linken Ärmel auf, zog ihn aus und ließ ihn zu Boden fallen. Anschließend öffnete sie die Schulternaht und den hohen Kragen und schälte sich aus den Überresten des Gewandes. »Wollt Ihr denn nicht, daß ich mich umdrehe?« stammelte er. Sie warf ihm einen gleichgültigen Blick zu, während sie das kostbare Korsett auszog, dessen Kordeln sie ebenfalls durchtrennte, den schweren seidenen Unterrock ablegte und nur noch in Schuhen und einem leichten Unterkleid vor ihm stand. Die Schuhe waren wesentlich schlichter und viel praktischer als das Gewand; sie hatte darauf geachtet, daß der Herold des Feindes ihre Füße nicht zu sehen bekam. »Nein«, erwiderte sie kurz angebunden. »Warum auch? Ich habe kein Interesse an dir, und wenn du auch nur den Versuch unternimmst, mich anzurühren, wirst du deine Hand einbüßen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und beschäftigte sich mit dem Inhalt ihres Beutels. Die Zigeuner, die den Roßhändlern durch Blutsverwandtschaft und Blutsbruderschaft verbunden waren, kannten vier Kasten: Kesselflicker, Gaukler, Heiler und Pferdezüchter - in ihrer Sprache Kaldesch, Getan, Dukke und Romer. Manche zählten noch »Pferdediebe« hinzu, aber sie hatten nur zum Teil recht. Jede Kaste hatte eine eigene Tracht. Die Kleidung, die sie dem Beutel entnahm, war nicht die Tracht eines Pferdezüchters. Vielleicht erinnerte sich jemand an ihre Verbindungen zu den Roßhändlern und suchte sie daher bei allen, die mit Pferden zu tun hatten, oder zumindest bei allen, die sie zähmten und zuritten. Schade, denn der Anzug aus Lederweste, Hose und dunklem Leinenhemd wäre hervorragend für jemanden geeignet, der vielleicht einmal schnell laufen mußte. Auch die saubere braune Kapuzenjacke und den Rock einer Heilerin zog sie nicht an, denn ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Heilkunde beschränkten sich fast auschließlich auf die Erst 70
Versorgung von Wunden und auf Arzneien für Pferde, nicht für Menschen. Nein, sie hatte sich ganz bewußt für die Kaste entschieden, mit der man sie am wenigsten in Verbindung bringen würde - die Gaukler. Während Thom Ränkeschmied ihr erschrocken zusah, zog sie zunächst eine abgetragene rote Bluse mit engen Ärmeln an, die knapp oberhalb des Ellbogens endeten und in weite Rüschen übergingen; darüber zog sie drei Reifröcke, einen schwarzen, einen gelben und einen roten. Letzterer war mit einem hohen, engen Hüftband versehen, das bis unter den Brustkorb reichte. Sie griff sich ins Haar und zog alle Nadeln und den Silberreif heraus. Sie schüttelte den Kopf, so daß ihr die Haare über die Schultern bis zur Hüfte hinabfielen. Natürlich trug keine Frau von Stand die Haare offen, und sie wußte aus Erfahrung, daß sie mit dieser Haartracht völlig verändert aussah. Aus dem Beutel zog sie einen Gürtel, an dem winzige Glöckchen und Kupfermünzen hingen. Sie legte ihn sich um die Hüfte. Als nächstes folgte ein roter Schal, den sie sich über den Kopf warf, darüber ein Stirnband mit weiteren Kupfermünzen und Bronzeketten. Die Arme behängte sie mit schmalen Armreifen aus Kupfer, und die kostbaren Saphire an den Ohren wurden durch große Ohrringe aus Bronze ersetzt. Die Saphire warf sie Thom zu. Er war überrascht - doch nicht so sehr, daß er sie nicht hätte auffangen und in seine Tasche stecken können. »Als Sicherheit«, sagte sie und fuhr fort, sich zu verwandeln. Als letztes zog sie ein Umhängetuch hervor, das sie sich über die Schultern legte, ein Paar Kastagnetten und ihre Waffen. Ein kleines Messer ließ sie in eine zwischen den Brüsten verborgene Scheide gleiten. Ein zweites steckte sie in eine Beinscheide. Das Kampfmesser der Roßhändler hing offen neben den Ketten und Münzen am Gürtel; zwei zierliche Stilette verbarg sie als Befestigung für das Kopftuch und das Stirnband in den Haaren im Nacken. Die Kastagnetten hatten ihren Platz am Gürtel auf der Seite, an der kein Messer hing. Der Beutel mit ihren Wertsachen verschwand unter dem ersten Rock und war durch einen Schlitz in der Seitennaht erreichbar. Zu guter Letzt wischte sie sich die Schminke aus dem Gesicht. Eine Zigeunerin konnte sich solche Dinge nicht leisten. Ihr Gesicht, dessen Bräune unter vielen Schichten Perlmutt-Puder verdeckt war, nahm seine natürliche Frische wieder an. Ihr Talisman, ein Anhänger in Form einer Bronzescheibe mit dem Sonnenpferd auf der einen und der Heilenden Hand auf der anderen Seite, hing ihr nun offen an einem Lederband um den Hals. 71
Schelyra drehte sich um und schaute Thom an. Sie versuchte, eine belustigte, ironische Miene aufzusetzen. »Ich glaube«, sagte sie in eine Stille, die man mit dem Messer hätte schneiden können, »daß ich im Zigeunerviertel kein allzu großes Aufsehen errege.« Er schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Eure Schuhe sind für südländische Tänze nicht geeignet«, war alles, was er hervorbringen konnte. »Es fehlt der Absatz für die Stampfschritte —« »Ich bin keine gelernte Tänzerin«, erwiderte sie. »Ich werde mich, wenn nötig, durch den nordländischen Stil mogeln. Dafür sind die weichen Halbschuhe allemal gut.« Er hob die Hände und gab sich geschlagen. »Und da wahrscheinlich noch keiner von Balthasars Männern in den Ebenen gewesen ist und den nordländischen Stil kennengelernt hat, wird niemand beurteilen können, ob Ihr eine Tänzerin oder eine Anfängerin seid. In Ordnung.« Sie vollführte eine ironische Verbeugung vor ihm wie eine Tänzerin, übertrieben und frech. In dieser Kleidung fühlte sie sich freier; sie war nicht mehr die Ausersehene Tochter, sondern ein Mensch mit mehr Möglichkeiten und weniger Einschränkungen. »Diese Tür führt uns in einen abgelegenen Winkel des Gartens, zu einem Tor, für das ich den einzigen Schlüssel besitze«, sagte sie und legte die Hand auf die kahle Wand. »Das wiederum führt auf die Straße hinaus. Wir werden uns nach dem Boot umsehen; vielleicht ist es ja doch ganz nützlich. Bist du bereit?« Er nickte. Kein Zug in seinem unschuldigen Gesicht verriet, was er dachte, während er all das zu verdauen versuchte, was ihm gerade widerfahren war. Sie hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Und sie wollte, daß es so blieb. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, betätigte sie das verborgene Schloß in der Tür zum Garten, und sie schlüpften gemeinsam hinaus.
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l1. Leopold
Durch die vier Zeltwände, die Prinz Leopold von der Außenwelt abschirmten, drang das einschläfernde Brummen vieler Stimmen zu ihm. Nichts deutete darauf hin, daß es sich hierbei um ein Lager an der Front eines Kriegszuges handelte, der schon sehr, sehr lange dauerte; das stetige Raunen wirkte eher beruhigend. Leopold ließ sich im spartanisch eingerichteten Kriegszelt seines Vaters in einen mit Leinen bezogenen Holzklappstuhl fallen und wartete darauf, daß Kaiser Balthasar sich eine nützliche Aufgabe für ihn ausdachte. Mit wachsender Unruhe hatte er sich für den Kampf gerüstet; doch nun, nach der Rückkehr des Herolds, erfüllte ihn Schlaffheit, die immer dann eintrat, wenn er keine Möglichkeit hatte, seine Anspannung abzureagieren. Er war heilfroh, daß er an diesem Morgen wenigstens seine schwere Rüstung nicht angelegt hatte, wie er es in der Regel tat, wenn ein Feldzug oder eine offene Schlacht vor den Toren einer zu erobernden Stadt in Aussicht stand. Aus einem unerfindlichen Grund hatte er seinem Knappen abgewunken, als der Knabe den Brustpanzer brachte, und statt dessen nach seinem schwarzen Kettenpanzer und dem Waffenrock aus schwarzem Leder verlangt, der an der Innenseite mit Metallplättchen versehen war. Darüber trug er den Überwurf mit dem Wappen seines Vaters, einer strahlenden Sonne aus gleißendem Gold auf tiefschwarzem Untergrund, umgeben von goldenen Sternen. Plattenrock und Kettenhemd waren schon fast zuviel, um sie einen ganzen Tag lang zu tragen, ganz zu schweigen von dem gesamten Plattenpanzer. Die Kapitulation Merinas hatte Balthasar völlig überrumpelt. Er hatte sich auf eine lange Belagerung vorbereitet, denn selbst Apolon hatte erklärt, daß die Herrscher der Stadt des Herzens sich um keinen Preis kampflos ergeben würden. Alle Zeichen deuteten darauf hin, daß Königin Lydana, obwohl eine Frau, unbeirrbar ihre Leute um sich versammeln und dazu aufrufen würde, den Reichtum von Merina bis zum bitteren Ende zu verteidigen. Doch der Herold war mit den Palastschlüsseln und dem Handsiegel des Königshauses zurückgekehrt. An seinem Gürtel hing die Doku 73
mentenschatulle mit der Kapitulation und der Abdankung. Er hatte in Balthasars Namen den Eid abgelegt, daß den Einwohnern und der Stadt selbst kein Leid geschehen werde, wovon Apolon nicht gerade begeistert war. Balthasar selbst war immerhin so erfreut, daß er den Herold mit einer goldenen Kette beschenkte, ehe er ihn entließ. Er hatte sich sogleich den Siegelring über einen Finger gestreift, obwohl Apolon Anstalten machte, dies zu verhindern, da er ihn zuerst untersuchen wollte. Apolon, Diese heimtückische Schlange; was wollte er wirklich? Den Siegelring selbst einstecken? Zuzutrauen wäre es ihm. Apolon war wütend darüber, daß der Sieg so einfach gewesen war. Das war es, was Leopold eigentlich stutzig machte ... »Und was ist mit der Königin?« hatte der Magier gefaucht, als der Herold die Eide, die er im Namen Balthasars geleistet hatte, wiederholte. »Was ist mit der Königinwitwe Adele? Und mit Prinzessin Schelyra? Zumindest darauf hättet Ihr bestehen können, daß sie Euch als Sicherheit für das friedliche Verhalten der Einwohner ausgeliefert werden!« Auch darüber war Leopold sehr verwundert gewesen. Warum? Wieso sollte es den Einwohnern von Merina nicht gleichgültig sein, was mit der Prinzessin geschah? Nur ihre Familie würde durch die Tatsache, daß wir eine Geisel haben, in Schach gehalten — und sie haben abgedankt! Sie können nun nichts mehr gegen uns unternehmen, selbst wenn sie wollten ... Es war in der Tat sonderbar. Apolon hätte sich an diesem unblutigen Sieg freuen sollen - so wie Leopold. Ich habe in den letzten drei Jahren zuviel Blut gesehen. Wie lange kämpfe ich nun schon? Mit knapp vierzehn Jahren hatte er damit angefangen, und inzwischen war er sechsundzwanzig. Ein unblutiger Sieg ist allemal einem durch Tod erkauften vorzuziehen. Apolon, der verkündete, er habe stets die Anliegen Kaiser Balthasars und des Reiches im Auge, hätte über die Botschaft des Herolds noch glücklicher sein sollen als Leopold. Doch er schien verärgert, als habe man ihm etwas Auserlesenes verweigert, das ihm versprochen worden war. »Ich wette, die Königinwitwe stirbt noch vor Mitternacht«, sagte der Herold mit gleichgültigem Schulterzucken. »Sie brach zusammen, als ich ging, und wurde von Heilern in den Tempel gebracht, wo sie versorgt werden sollte. Sie wird diese Woche bestimmt nicht überleben. Im Tempel ging das Gerücht, daß sie im Sterben liegt. Sie haben natürlich uns daran die Schuld gegeben, aber das ist nicht weiter von Belang.« 74
»Und was ist mit den beiden anderen? Wo mögen sie stecken? Strengt Euren Verstand an, Apolon«, sagte Balthasar herrisch. »Zwei alleinstehende Damen von hohem Stand — vielleicht sind noch ein paar königliche Gefolgsleute bei ihnen geblieben, aber mehr auch nicht. Sehr wahrscheinlich sitzen sie zitternd in ihrem Palast und warten darauf, daß wir einmarschieren und die Stadt besetzen. Selbst wenn sie das Rückgrat hätten, einen Fluchtversuch zu unternehmen - wohin sollten sie schon gehen, und wie könnten sie uns überhaupt entkommen? Wir kontrollieren die Straßen und den Fluß, uns gehört das Meer; sie können uns nicht entschlüpfen. Und wenn sie sich in der Stadt verstecken, verraten sie sich durch ihr Benehmen. Wir werden sie schnell finden.« Apolon gab nach, doch sein Ärger hatte sich nicht gelegt; die harten Gesichtszüge, die verspannten Schultern und seine verkrampfte Haltung sprachen Bände für Leopold. Selten genug konnte man erleben, daß der Magier sich erregte; in der Regel war er der farb- und leidenschaftsloseste Mann, den Leopold je gesehen hatte. Farblos wie ein Skorpion, wie eine Schlange, die sich zwischen Unkraut verbergen, bis sie zuschlagen können. Leopold mochte Apolon nicht, und er traute ihm nicht über den Weg. Sein Vater hingegen unternahm kaum einen Schritt ohne den Rat des Magiers. Wenn es nach mir ginge, ich hätte ihn aus diesem Zelt geworfen, als Scharlatan gebrandmarkt und aus dem Reich verjagt. Ich wünschte, er wäre ein Scharlatan. Aber leider sind seine Fähigkeiten nicht zu leugnen. Apolon konnte Wunder bewirken - was er bereits unter Beweis gestellt hatte — und besaß ohne Zweifel magische Kräfte. Seine Macht hatte schon mehr als einmal das Kriegsglück zu ihren Gunsten gewendet - und bei den Voraussagen für die nahe Zukunft hatte er sich noch nie getäuscht. Es versteht sich von selbst, daß die Menschen ihn fürchteten und seine Gesellschaft um jeden Preis mieden. Apolon schien das nichts auszumachen; Leopold hatte sogar eher den Verdacht, daß er seinen düsteren Ruhm genoß. Apolon hatte Leopold nie etwas getan; er hatte sich ihm gegenüber nie respektlos geäußert. Doch Leopold wußte, was im Lager geflüstert wurde - Gerüchte, denen zufolge Apolon im Dunkel der Nacht Unaussprechliches tat. Man munkelte, er schicke seine Diener in die Zelte der Chirurgen und lasse sich Verwundete aus den Reihen der besiegten Feinde bringen - Männer, die nie wieder gesehen wurden. Nichts konnte bewiesen werden, aber Leopold war lange genug Soldat und wußte, wann hinter den Gerüchten im Lager etwas Wahres steckte. Je 75
wilder die Mutmaßungen waren, um so bereitwilliger wurden sie weitergegeben, und um so wahrscheinlicher war es, daß sie nicht auf Tatsachen beruhten. Wurde eine Geschichte jedoch nur zögernd weitererzählt, mit einem raschen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß kein ungebetener Lauscher in der Nähe war »Ich - wir müssen diese Frauen in unsere Obhut bringen, Majestät«, sagte Apolon nachdrücklich. »So schnell wie möglich. Wenn wir sie entkommen lassen, ist es ein leichtes für sie, einen Aufstand gegen Euch anzuzetteln. Dann hättet Ihr einen Zermürbungskrieg in den Straßen und Gassen dieser Stadt zu führen.« Balthasar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Immer mit der Ruhe, ich werde sie bald haben. Wenn sie den Mut aufbringen, einen Fluchtversuch zu unternehmen, was ich stark bezweifle, werden wir ihre genauen Personenbeschreibungen in Umlauf bringen und ihre Freunde und Verbündeten beobachten lassen. Apolon, sie sind von hohem Stand. Wie wollen sie denn verbergen, was sie sind? Wenn sie den Palast nicht verlassen, werde ich sie unter Bewachung stellen, sobald meine Männer die Stadt gesichert haben. Zu ihrem Schutz natürlich. Zu ihrem eigenen Besten. Es sind nur zwei schwache Frauen; sie werden einen starken Mann benötigen, der sie führt und sie vor ihrer eigenen Überreiztheit bewahrt.« »Natürlich.« Apolon sprach das Wort aus, doch seine grauen Augen waren kälter als Eis, und Leopold mußte einen Schauder unterdrücken. Alles an diesem Mann stieß ihn ab, angefangen vom Grau seines Samtrockes und der Hose, das zu stark der Farbe eines Leichentuches ähnelte, bis hin zum exakten, pedantischen Schnitt seines sauberen, kleinen grauen Bärtchens und seinem scharfgeschnittenen, kantigen Gesicht. Die schmalen Lippen zeugten eher von Gier als von Askese. Die breiten Augenbrauen ließen eher auf Verschlagenheit als auf Gelehrtheit schließen. Nichts deutete darauf hin, daß Apolon nicht der im Tempel ausgebildete Gelehrte war, der er zu sein vorgab — und doch war Leopold felsenfest davon überzeugt, daß Apolon die Tempelschulen nie betreten hatte. Erneut überkam Leopold ein Schaudern, und diesmal mußte er sich bewegt haben, denn plötzlich ruhten seines Vaters Augen auf ihm — abschätzend, beobachtend, wartend. Wartend? Worauf? Leopold versuchte es zu erraten. In den vergangenen sechs Jahren hatte Balthasar seinen Sohn beobachtet, um Anzeichen von Aufsässigkeit 76
oder Ehrgeiz an ihm zu entdecken, wahrscheinlich weil er vermutete, daß Leopold liebend gern die nächstbeste Gelegenheit ergreifen würde, um die Reichskrone an sich zu reißen. Balthasar traute keinem, nicht einmal seinem eigenen Sohn. Er hat mir einmal vertraut, aber das war in der Zeit, bevor Apolon auftauchte. Apolons kalte, graue Augen folgten dem Blick Balthasars, und die beiden Augenpaare ruhten kühl und berechnend auf ihm. »Es sieht so aus, als brauchten wir Euch heute nicht, Prinz«, sagte Balthasar ohne jegliche Gefühlsregung. »Vielleicht solltet Ihr Euch einstweilen eine anderweitige Beschäftigung suchen. Wir werden uns um die Einhaltung des Eides kümmern und den Bürgern Merinas dann einen Tag Bedenkzeit geben, ob sie sich uns unterwerfen wollen, während wir Männer aussenden, die uns die Stadt sichern sollen. Später müssen wir Eure Dienste dann vielleicht in Anspruch nehmen.« Damit war Leopold entlassen, und er hatte nichts dagegen. Er erhob sich mit aller Anmut, die das Gewicht der Rüstung ihm ermöglichte, von seinem Stuhl und machte aus der Hüfte heraus eine tiefe Verbeugung. »Ich danke Euch, Majestät«, sagte er in aller Form. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich das Lager inspizieren.« Balthasar nickte, Einverständnis und Entlassung zugleich, und Leopold verließ das Zelt, wobei er seine Stellung und seinen Stand nur insofern zur Geltung brachte, als er es nicht rückwärts gehend verließ, sondern seinem Vater den Rücken zukehrte. Als die Zeltwand hinter ihm herabfiel, war er spürbar erleichtert, daß diese beiden Augenpaare von ihm abgelassen hatten. Die »Inspektion des Lagers« war nur ein Vorwand, umherstreifen zu können. Nun, da kein Kampf unmittelbar bevorstand, hatten sich die Männer in Gruppen versammelt, sie entspannten sich und nutzten die günstige Gelegenheit des leichten Sieges, ihre Feiertagsrationen anzubrechen. Als er das Lager auf dem Weg zu seinem Zelt durchquerte, traten Befehlshaber und ihre Stellvertreter auf ihn zu und baten um Erlaubnis, daß sich ihre Soldaten auf diese Weise zerstreuen durften. Leopold erteilte sie, denn er wußte, daß die einzelnen Truppen, die Balthasar heute in die Stadt schicken würde, seine Elitetruppe und die Sondereinheiten waren. Sollen die Männer ruhig ihren Wein trinken; viele von ihnen haben nicht einmal damit gerechnet, zu überleben, um ihn genießen zu können. Balthasar würde seine Macht über die Stadt sichern, doch er würde sie nicht mit Bewaffneten überschwemmen, die das gemeine Volk in Schrecken ver 77
setzten, von dem aufgrund seiner Anzahl die größte Gefahr ausging. Nein, er würde seine Elitetruppen schicken, um die herrschende Schicht zu entmachten. Es war nicht die erste Stadt, die kampflos kapituliert hatte, obwohl eine derart einfache Eroberung die Ausnahme war. Balthasar wußte, wie er eine solche Stadt in kürzester Zeit völlig in seine Gewalt brachte. Er griff diese Orte im Herzen an, nahm die Anführer in Gewahrsam und beraubte sie der einzigen Waffe, die sie für den Widerstand hatten - des Goldes. Fette, selbstzufriedene Kaufleute traf dies immer wieder unvorbereitet. Wenn die wichtigsten Bürger erst einmal unter Bewachung standen und alle möglichen Anführer ausgeschaltet waren, würde sich die Stadt wie ein gezähmter Hund ergeben und sich den Bauch kraulen lassen. Zu den Personen, die in Gewahrsam genommen werden sollten, gehörten die Königin, die Prinzessin und — falls sie noch lebte - die Königinwitwe. Irgendwie hinterließ dieser Gedanke einen bitteren Geschmack in Leopolds Mund. Man führt keinen Krieg gegen Frauen ... Leopold verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schlenderte durch das Lager. Dabei stellte er fest, daß es keine Anzeichen von Lässigkeit oder Unordnung gab — und so sollte es auch sein. Die winzigen Zweimannzelte, in denen die gemeinen Soldaten hausten, waren fein säuberlich in Reih und Glied aufgestellt, regenfeste Waffenteile steckten ordentlich vor den Zelten im Boden. Jede Einheit besaß eine Feuerstelle neben dem Zelt des Feldwebels; jede Kompanie hatte ein Küchenzelt und eine größere Feuerstelle zur Verfügung, um die sich die Soldaten nun versammelten, als sich das Gerücht verbreitete, man habe die Erlaubnis zu feiern. Alles war, wie es sein sollte. Und das bedeutete, daß Leopold nichts zu tun hatte - wie immer, wenn es zu keinem Kampf kam. Balthasar war mit seinen fünfzig Jahren noch so gesund und tatkräftig wie ein junger Krieger. Es war durchaus möglich, daß er hundert Jahre alt wurde und bis zuletzt geistig und körperlich auf der Höhe blieb. Was würde in diesem Fall aus Leopold werden? Wie gewöhnlich. Nichts zu tun. Besorgungen für den Kaiser machen, doch keine Verantwortung übertragen bekommen. Einmal hatte man um eines Bündnisses willen eine Heirat erwogen, aber das war erledigt. Balthasar wollte nicht, daß ein weiterer Thronanwärter zur Welt kam, und daher versagte man Leopold selbst den kleinen Trost, den Heim und Familie 78
ihm geboten hätten. Der Kaiser würde den Sohn nicht aus den Augen lassen, damit dieser keine Verschwörung anzetteln konnte. Leopold preßte die Hände hinter seinem schmalen Rücken aneinander, um sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er mußte seine gespielte Gleichgültigkeit unter allen Umständen aufrechterhalten. Er war nicht dumm; er wußte, daß man ihn unablässig beobachtete. Er mußte auftreten wie immer; ein einfacher Mann, ein Krieger ohne jeglichen Ehrgeiz, die Herrschaft zu übernehmen, ein Kämpfer, dessen Welt einzig und allein das Schlachtfeld war. Das war die einzige Chance, sich hier zu behaupten, denn obwohl er der einzige Erbe seines Vaters war, brauchte ihn Balthasar hier eigentlich nicht. Er hätte ihn fortgeschickt und unter standesgemäße, aber unbarmherzige Bewachung gestellt. Leopold hätte sein Dasein in müßiger Gefangenschaft fristen müssen. Das wäre die einzig mögliche Alternative gewesen, wenn er nicht hier unter der persönlichen Aufsicht seines Vaters gelebt hätte. Und wenn ich jetzt schon das Gefühl habe, mich zu langweilen ... Doch Leopold wußte es besser. Trotz alledem bewunderte er seinen Vater und sehnte sich nach Balthasars Anerkennung mit einer Verzweiflung, die ihm zuweilen selbst unsinnig schien. Bevor Apolon in Erscheinung getreten war ... Vater war wie ein richtiger Vater zu mir. Ich glaube — ich glaube, er sorgte sich um mich und liebte mich auf seine Weise. Er war ein strenger Lehrmeister - aber nicht so wie jetzt. Die Gelegenheiten, bei denen Balthasar seinen Sohn anlächelte oder sogar lobte, ließen diesen alles andere vergessen. Tief in dem Kaiser verbarg sich der Mann, der sich einst sogar von wichtigen Staatsbanketten entfernt hatte, um seinem Sohn Gute-Nacht-Geschichten zu erzählen, und der die Gespenster, die unter dem Bett und im Schrank lauerten, wissen ließ, daß sie das Schwert des Herrschers erwartete, wenn sie es wagten, die Träume seines Sohnes zu stören. Vielleicht erinnert er sich eines Tages daran. Vielleicht erkennt er dann, daß nicht ich mich verändert habe. Inzwischen versuchte Leopold zu beweisen, daß man sich auf ihn verlassen konnte - während er auf den Tag hoffte, an dem sein Vater endlich erkennen würde, wie stark die Zuneigung seines Sohnes zu ihm war ...
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12. Lydana Ein leises Geräusch veranlaßte sie, einen kurzen Blick über die Schulter zu werfen und nach der einzigen Waffe zu greifen, die sie sich erlaubt hatte mitzunehmen: dem kleinen Messer, das sie unter dem Rock trug. Skita, nein, der Aal (sie mußte ihre Gefährtin in Gedanken unbedingt bei dem Namen nennen, den sie - nein, er — auf der Straße erhalten hatte) stürzte herein. »Der Herold kommt - er geht zum Herzen. In der Stadt igelt man sich ein ...« Mathilde biß sich auf die Lippen und ließ die Gebetsschnur mit den Perlen in den Korb gleiten. Im Nu hatte sie einen Entschluß gefaßt. Es mochte gefährlich sein, aber sie glaubte handeln zu müssen. Sie verschloß den Korb. »Auch wir sollten dabei sein, wenn der Eid geleistet wird.« Sie trat mit dem Korb am Arm an die Geheimtür. Der Aal nickte kurz. Sie tasteten sich durch die Geheimgänge, bis sie erneut vor dem verborgenen Eingang standen, der auf den Kanal hinausführte. Das Boot war nicht mehr da, also hatten Thom und Schelyra ihre Befehle befolgt. Es gab jedoch einen schmalen, glitschigen Pfad, dem sie vorsichtig folgen mußten, bis sie an eine Treppe gelangten, deren ausgewachsene Stufen nach oben führten. Mathilde hielt Augen und Ohren offen, als sie in das lärmende Treiben der Stadt eintauchten. Es sah beinahe so aus, als strömten alle, die innerhalb der Stadtmauern von Merina und am Kanal lebten, zum Großen Tempel. Die Menge war so dicht, daß es fast unmöglich war, sich zwischen die Leute zu drängen. Wut schwang in den lauten Stimmen mit, und beißender Geruch von Angst hing über dem Gewühl. Sie sah Frauen, die ihre Kinder fest an sich drückten, und einige weinten, während sie vorwärtsstolperten. Jene, die Ordnung in die Reihen brachten, waren auch schon da. Es waren nicht die Soldaten, die sie auf allen Darstellungen von Balthasars Truppen gesehen hatte. Es waren Männer ganz in Schwarz, die sich deutlich von der buntgescheckten Menge abhoben. Und sie hatten 80
Schlagstöcke, mit denen sie die Stadtbewohner wie Viehtreiber in eine bestimmte Richtung trieben. »Da rein mit dir ...« Mathilde spürte den Druck eines dieser Schlagstöcke und fuhr wütend herum. Als sie dem kalten Blick des Antreibers begegnete, schlug sie die Augen nieder und setzte sich in Bewegung, den Korb fest in den Händen haltend, damit er ihr im Gedränge nicht entrissen wurde. Der Aal war verschwunden, und sie mußte - ihn — nun seinem eigenen Schicksal überlassen. So riesig der Große Tempel auch war, er vermochte nicht einmal einen Teil der Menge zu fassen, die sich zu dem Zeitpunkt, als Mathilde ankam, bereits dort zusammendrängte. Es bestand nicht die leiseste Hoffnung, einen Blick von dem zu erhaschen, was sich hinter jenen Türen abspielte. Aber die Menge kam nicht zur Ruhe. Worte, Satzfetzen gingen von Mund zu Mund. »Anscheinend ist sie tot — die Ehrwürdige!« Ein stämmiger Mann vor ihr, Mitglied einer Zunft, brüllte dies einer Frau ins Ohr, offensichtlich seiner Gattin. »Sie haben sie umgebracht —«, ertönte die schrille Stimme der Frau, und Mathilde sah, wie der Mann heftig ihren Arm drückte. »Halt den Mund, Weib.« Erregt blickte er sich nach einem der schwarzen Männer um, der ganz in ihrer Nähe stand. Offenbar hatte der Kerl nichts bemerkt, denn er schaute in die entgegengesetzte Richtung. Die Menschen hinter Mathilde wurden auseinandergetrieben, jetzt nicht von Knüppelträgern, sondern von Bewaffneten, deren Pferde angesichts der dicht gedrängten Menschenmenge unruhig wurden und schwer zu zügeln waren. Mitten unter den Reitern fiel ihr ein Mann auf. Der Kleidung nach war er kein Offizier, vielleicht nicht einmal ein Edelmann; er trug vielmehr die lockere Robe eines Tempelmannes, nur daß diese kein heiliges Symbol auf Rücken oder Brust zeigte und aus dunklem, totem, mausgrauem Samt war. Die Robe hatte eine Kapuze, die er so weit über den Kopf gezogen hatte, daß man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Apolon! So sicher, als wäre der Name laut ausgerufen worden, wußte Mathilde, daß er es war. Sie wollte mehr von ihm sehen als nur den Faltenwurf einer anonym anmutenden Robe auf dem Rücken eines scheuen Pferdes, aber es war aussichtslos. Die kleine Prozession war schon an ihr vorüber und ritt auf den Großen Tempel zu. Überall dort, wo der Mann mit seiner kleinen Eskorte vorbeigeritten war, herrschte Stille. Die Menschen traten freiwillig zurück und bildeten 81
eine Gasse, die breit genug war. Dann war die kleine Reitergruppe am Fuß der Treppe zum Großen Tempel angelangt. Zu Mathildes Überraschung machte der Mann keine Anstalten, abzusteigen. Unmerklich hob und senkte er den verhüllten Kopf, als wolle er sich jede Einzelheit des Gebäudes ganz genau einprägen. Er war noch in seine Betrachtung vertieft, als aus dem Tempelinnern ein lautes Geräusch erscholl. Die Menschen um Mathilde hatten ihre Stimme wiedergefunden. »Der Eid wird geleistet«, sagte einer zum ändern. Erleichterung zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab, aber sie vermochte die unterschwellige Angst nicht zu verscheuchen. Dennoch begann sich die Menge zu zerstreuen, und die Männer mit den Schlagstöcken sammelten sich im Hintergrund. Mathilde setzte sich den Korb auf die Hüfte. Gut, zumindest vorläufig war Merina sicher vor den Plünderungen, die einem eroberten Land bevorstanden. Und Adele - hatte ihre Mutter ihre körperliche Verfassung falsch eingeschätzt? War sie wirklich tot? Nein! Mathilde atmete tief ein. An dieser Hoffnung würde sie festhalten: Wenn eine der Frauen aus dem Geschlecht des Tigers das Große Tor durchschritt, würden es alle vom gleichen Blut wissen. Adele lebte und spielte zweifellos ihre Rolle. So wie sie, Mathilde, in ihre schlüpfen mußte. Sie schob sich durch die Menge zu einer Stelle, wo das Gedränge nicht so dicht schien, und machte sich auf den Weg zu ihrem Schlupfloch.
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13. Adele Die Königinwitwe lag im Krankenzimmer des Tempels und hörte, was die Heilerinnen der eilig herbeigerufenen Erzpriesterin über ihren Zustand berichteten. Obwohl sie versuchten, so leise wie möglich zu sprechen, konnte die alte Frau ein paar Worte verstehen. »— das Herz läßt nach, und die Lungen füllen sich mit Wasser. Vielleicht, wenn wir sie zur Ader ließen —« »Nein!« unterbrach Adele sie heftig. Verdammt. Ich muß daran denken, daß ich im Begriff bin zu sterben. Das hat viel zu lebendig geklungen. Und sie durfte nicht vergessen, in entsprechenden Abständen nach Atem zu ringen. »Wenn meine Zeit gekommen ist«, fuhr sie fort, »werde ich mich nicht gegen den Willen der Göttin auflehnen.« Sie achtete nicht auf die besorgten Gesichter der Heilerinnen und heftete ihren Blick auf Verit. »Ehrwürdige, wollt Ihr mir die Beichte abnehmen?« Dies war ein deutlicher Wink für Verit, daß Adele mit ihr sprechen wollte. Die Erzpriesterin nickte und schickte alle übrigen Anwesenden aus dem Zimmer, einschließlich der Krankenwärterin, die den Auftrag erhielt, am anderen Ende des Korridors dafür zu sorgen, daß sie ungestört blieben. Adele war im stillen dankbar für die Regel, daß die Beichte in völliger Abgeschiedenheit stattfinden mußte. Diese Tatsache konnte in den folgenden Tagen sowohl Leben als auch Seelen retten. Als sie allein waren, zog Verit einen Hocker ans Bett, setzte sich und blickte Adele scharf an. »Nun gut, genug des Mummenschanzes. Ich nehme an, Ihr sterbt nicht. Wir krank seid Ihr wirklich?« »Nicht sehr«, gab Adele zu. Sie fühlte sich fast wie ein ungezogenes Kind, das Krankheit vorgaukelte, um dem Schulmeister zu entgehen. »Ich habe heute morgen ein paar Beeren gegessen, die ich für gewöhnlich nicht zu mir nehme, weil sie mir diese Übelkeit verursachen. Ich brauche nur ein wenig Ruhe und werde dann zur ersten Abendmesse wieder auf den Beinen sein. Außerdem sollte ich mich ohnehin bis dahin in meine Zelle zurückziehen.« 83
»Das sollte die Priesterin Elfrida«, stimmte Verit ihr zu, »aber die Königinwitwe Adele?« »Die wird in wenigen Stunden an Herzversagen sterben, falls erforderlich«, sagte Adele ruhig. »Könnt Ihr mein Abbild für die Aufbahrung herbeischaffen?« »Keine Sorge«, erwiderte Verit. »Ihr seid nicht die einzige, zu der die Engel sprechen, meine Tochter. Das Ebenbild ist bereits seit über einer Woche fertig. Ich werde allen Beteiligten glaubhaft versichern, daß sich jemand anders um den Leichnam gekümmert hat.« Sie legte die Stirn in Falten. »Aber ich denke, wir sollten wenigstens ein oder zwei Tage verstreichen lassen.« »Warum?« fragte Adele in schärferem Ton als beabsichtigt. Sie wollte einfach nur noch die Priesterin Elfrida sein und niemand sonst! Sie wollte das Doppelleben beenden! Verit hob die Schultern. »Es ist nur so ein Gefühl. Oder so etwas wie eine Vorahnung, wenn auch nicht so greifbar wie ein Gesicht oder eine Heimsuchung. Wenn wir Euch einmal haben sterben lassen, können wir Euch kaum wieder zum Leben erwecken. Also laßt uns abwarten, bis wir sicher sind, daß Ihr nicht mehr gebraucht werdet.« Adele runzelte die Stirn, unsicher, ob sie überhaupt »am Leben bleiben« wollte und somit in Reichweite Balthasars. Was wäre, wenn er beschloß, Soldaten in den Tempel zu schicken, um sie zu holen, unter dem Vorwand, man wolle sie zu seinen Heilern bringen? Da sie sich nicht im Allerheiligsten aufhielt, war dies sehr wohl möglich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich etwas unerledigt ließ. Aber vielleicht kann es nicht schaden, wenn ich meine letzte Krankheit ein wenig ausdehne ...« »Gut. «Verit erhob sich, ging zu einem Regal an der Wand und nahm ein paar graue Kutten heraus. »Dann wollen wir uns unserer Aufgabe zuwenden. Könnt Ihr stehen?« Adele setzte sich, schob die Beine über den Rand des Bettes, wartete, bis der folgende Hustenanfall nachließ, und stand auf. Mit Verits Hilfe zog sie die Kutte an und setzte sich auf den Hocker, während Verit rasch zusätzliche Kleidung und Bettzeug in Adeles abgelegte Gewänder steckte. Ein Kleidungsstück rollte sie zu einer Kugel zusammen, so daß es aussah wie ein Kopf. Als hätte sie bereits Übung darin, legte Verit den »Körper« auf die Seite, so daß er zur Wand hin schaute, und deckte ihn zum größten Teil mit einer Decke zu. Adele sah ihr völlig verwundert zu. Sieh an, sieh an. Da fragt man sich 84
doch nach Verits vertaner Jugend! Und warum sie diese besondere Kunst erlernte! Pflegte sie des Nachts ohne elterliche Erlaubnis umherzustreifen? Die beiden Frauen betrachteten das Ergebnis mit kritischem Blick. Im Licht einer einzigen Kerze sah es ziemlich echt aus. Das flackernde Licht vermittelte den Eindruck, als würde die Gestalt atmen. »Das reicht«, beschloß Verit. »Die Krankenwärterin wird dafür sorgen, daß niemand genauer hinsieht. Was müssen wir jetzt noch tun?« »Balthasar hat einen geheimnisvollen Magier bei sich, einen Mann, der sich Apolon nennt«, berichtete Elfrida. »Wir vermuten, daß er das Herz rauben oder zumindest Zugang zu der ihm innewohnenden Macht erlangen will.« Während sie sprach, überlief sie wieder jener Angstschauer, den sie zum ersten Mal gespürt hatte, als ihr die Gefahr, die von Apolon ausging, bewußt geworden war. Rasch legte sich Verit die gefalteten Hände aufs Herz, und Elfrida folgte ihrem Beispiel. »Allerdings«, nickte sie, denn das Erschrecken der Erzpriesterin erschien ihr nur allzu gerechtfertigt. »Ich glaube jedoch nicht, daß Balthasar offen gegen den Tempel vorgehen wird. Sein Herold hat den Eid geleistet, oder?« Verit nickte. »Ich war Zeugin, ehe ich zu Euch kam.« »Gut«, erwiderte Elfrida. »Ich nehme an, daß sowohl Balthasar als auch Apolon nach Lydana und Schelyra suchen werden, doch ich glaube nicht, daß sie Erfolg dabei haben. Die Frauen unseres Geschlechtes besitzen Fähigkeiten, die Kaiser Balthasar bei Personen von hohem Stand nicht vermutet.« »Was können wir tun, um ihnen zu helfen?« fragte Verit zögernd, als hätte sie sich auf unbekanntes Gelände begeben. »Können wir überhaupt etwas tun?« »Zunächst einmal können wir für sie beten«, sagte die Priesterin Elfrida mit fester Stimme. Ungeachtet ihrer Fähigkeiten als Erzpriesterin wirkte Verit zuweilen ein wenig hilflos, wenn es um Menschen in der Außenwelt ging. »Sie haben einen Weg gewählt, der viel schwieriger ist als meiner.« »Seid Euch dessen nicht so sicher«, riet Verit ihr. »Ihr beginnt in drei Tagen Eure Arbeit als Flamme.« Elfrida hob verwundert die Augenbrauen. Dann lächelte sie. »Die Zeit dafür ist sicher reif«, bestätigte sie und empfand ein wenig Freude trotz der finsteren Gedanken, die dieser schreckliche Tag mit sich gebracht hatte. 85
Die Flammen waren kleine Gruppen von Männern und Frauen, die aus Priestern der vier Orden auserwählt wurden: Graue, Braune, Rote und Gelbe Kutten. Es waren die Mitglieder der Tempelgemeinschaft, die über beträchtliche magische Fähigkeiten verfügten und die schwierigeren und geheimeren Rituale des Tempels durchführten. Elfrida wäre bereits vor einem Jahr in ihren Kreis aufgenommen worden, wenn sie nicht ihr Doppelleben geführt hätte. Jetzt würde sie nur noch ein Leben haben - jenes Leben, das sie allen anderen vorgezogen hätte, wenn nicht ihre anderen Sorgen und Pflichten gewesen wären. »Zwei weitere Dinge müssen wir noch für sie tun, und zweierlei müssen wir für uns und zum Schutz des Herzens tun«, fuhr sie fort. »Und das wäre?« fragte Verit, als hätten sie die Rollen getauscht. In gewisser Weise haben wir das auch. Verit weiß alles, was man über die Inneren Pfade wissen muß — aber ich bin diejenige, die draußen in der Welt war. Ich glaube, sie ist noch am selben Tag, als sie die Erlaubnis erhielt, als Novizin in den Tempel eingetreten und hat seitdem nicht zurückgeschaut. »Lydana will den dritten Beichtstuhl rechts vom Herzen für die Übermittlung von Botschaften nutzen. Deshalb muß dort während der Beichtstunden jemand sitzen, dem man völlig vertrauen kann.« Sie dachte einen Moment nach. »Ich werde es soweit wie möglich selbst übernehmen, aber ich kann nicht die ganze Zeit dort sein. Ich brauche jemanden, der mich vertritt, wenn ich woanders gebraucht werde. Auch die Meditationskapelle am Ende des mittleren Ganges muß Tag und Nacht durchgehend mit vertrauenswürdigen Leuten besetzt sein. Ich kann mir vorstellen, daß Lydana den mittleren Gang kennt, und von Schelyra weiß ich es. Vielleicht müssen sie ihn benutzen. Wir brauchten dort mindestens zwei Personen, drei wären noch besser.« »Und wir müssen zusätzliche Kutten in den Farben aller Orden im Flur bereitlegen, in die sich die Angehörigen Eurer Familie hüllen können, um sich unter die Priesterschaft zu mischen«, fugte Verit nickend hinzu. »Das wird erledigt. Was schlagt Ihr zum Schutz des Herzens vor?« Elfrida hatte die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß Apolon Kundschafter unter die Novizen geschmuggelt hatte. »Die Orden in vier Gruppen aufteilen und die Stunden unserer Andachten versetzt anordnen, so daß Tag und Nacht Messen abgehalten werden und das Herz stets gut bewacht ist.« Verit nickte, und Elfrida fuhr fort: »Falls Apolon Kundschafter anwirbt - und ich bin sicher, er tut es - werden sie unter den neuen Mit 86
gliedern unseres Ordens sein. Ich würde keinem von den Novizen trauen ...« »Aber wo denkt Ihr hin!« rief Verit erschrocken aus. »Einige von ihnen sind bereits seit fast einem Jahr bei uns!« »Und wie lange, glaubt Ihr, sind die Kundschafter Balthasars in Merina gewesen?« entgegnete Elfrida. »Ich vermute, mindestens ebenso lange. Ich bezweifle, daß es ihm gelungen ist, jemanden in die Orden einzuschleusen, aber unter die Novizen?« Sie zuckte die Schultern. »Es gibt immer welche darunter, die sich ihrer Berufung nicht so sicher scheinen. Es könnten seine Leute sein.« Verit nickte unglücklich. »Wir können zunächst die Nachtwache, dann das Begräbnis und anschließend die Trauerzeit für die Königinwitwe Adele als Vorwand nutzen, die endgültigen Gelübde zu verschieben - zumindest eine Zeitlang. Aber es tut mir leid um die Novizen, die es ehrlich meinen. Es ist ein Jammer, sie mit den falschen zusammen zu bestrafen.« »Gut.« Elfrida nickte kurz. »Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, Ehrwürdige Mutter: Die Mitglieder des Noviziats sollten zusammengehalten und gut überwacht werden.« »Einverstanden«, sagte die Erzpriesterin. »Was ist mit denen in den Häusern der Heilerinnen, die über die ganze Stadt verstreut sind?« Auch das hatte Elfrida bedacht. »Laßt alle Novizen zu ihrer eigenen Sicherheit in den Tempel bringen.« »Ihrer«, fragte Verit trocken, »oder unserer?« »Zu unser aller Sicherheit«, erwiderte Elfrida, während die Freude, die sie gerade noch empfunden hatte, allmählich nachließ. Sie fühlte sich wie ein Feldherr, der seine Truppen zu einem langen Kampf aufstellt, welcher viele Menschenleben fordern würde - und es war ein ernüchterndes Gefühl. »Apolon - und alle Diener der Finsternis mit ihm - werden zuerst das jüngste und schwächste Glied unter uns als Opfer auswählen. Wir wollen nicht, daß sie unseren Leuten noch mehr Kraft rauben. Und wir wollen nicht, daß er jemanden aus unseren Reihen für seine abscheulichen Ziele mißbraucht.« Verit schauderte bei diesem Gedanken. »Ich werde die Novizen sofort in den Tempel rufen«, sagte sie. »Und ich werde einen Brief an alle Mitglieder der Häuser schicken und sie an die Notwendigkeit erinnern, in diesen Zeiten des Wandels besonders wachsam zu beten.« »Taktvoll ausgedrückt«, sagte Elfrida und lächelte bitter. »Ich glaube, 87
das wäre im Moment alles, was wir tun können. Ich gehe lieber in meine Zelle, bevor mich jemand draußen sieht.« »Schafft Ihr es allein?« fragte Verit besorgt. Elfrida erhob sich langsam und glättete ihren Schleier. »Ja, mir geht es schon viel besser. Und diese Kutten sind zum Glück so geschneidert, daß eine Graue Kutte wie die andere aussieht.« »Stimmt«, bestätigte Verit. »Deshalb schauen wir allen ins Gesicht, nicht auf die Kleidung.« »Ich werde achtgeben, daß niemand mein Gesicht sieht«, versprach Elfrida.
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14. Lydana Die Menschenmenge war ein Hindernis, und sie hatte Mühe, sich einen Weg zu bahnen, doch sie konnte den Korb gut als eine Art Schutzschild einsetzen. Je näher sie jedoch den ärmeren Stadtvierteln kam, um so weniger Menschen begegneten ihr. Alle, die in der Menge auf Beute ausgingen, Taschendiebe und andere, hatten gewiß beim Tempel alle Hände voll zu tun, dachte sie. Was sie allerdings störte, war, daß sie keinen einzigen Gesetzeshüter im charakteristischen graugrünen Übermantel gesehen hatte. Diejenigen, die Merina und seine Einwohner schützen sollten, waren in den wenigen Stunden, in denen sie selbst so viel unternommen hatte, scheinbar vom Erdboden verschluckt worden. Am späten Nachmittag überquerte Mathilde die letzte Kanalbrücke am Unterlauf und gelangte in den Bereich der Stadt, in dem sie sich auskannte. Hin und wieder wurde sie von Menschen gegrüßt, für die sie bereits als Fürbitterin tätig gewesen war — hier eine Frau auf der Türschwelle, da ein kleiner Ladenbesitzer, der viel früher als sonst die Fensterläden schloß. Es gab Armut in Merina — wie in allen Städten -, doch andererseits hatten jeder kräftige Mann und jede Frau Arbeit, wenn sie auch oft hart und anstrengend war. Und die Zahl der Bettler war ihres Wissens geringer als in mancher größeren Stadt wie zum Beispiel in Arkanad, der berühmten Hauptstadt Kaiser Balthasars. Sie beantwortete alle Fragen und wiederholte dabei nur Gerüchte, die sich in der Menge wie ein Lauffeuer verbreitet hatten. In der gewundenen Straße, die zu dem winzigen Hof führte, in dem sich ihr Laden befand, überkam sie jedoch ein merkwürdiges Gefühl. Während sie vorbeiging, wurden plötzlich in aller Hast Türen geschlossen, die Menschen, die eben noch draußen gestanden hatten, waren verschwunden. Sie spürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Es lag auf der Hand, daß etwas oder jemand hinter ihr sein mußte, dem man besser nicht begegnete. Alle Läden waren geschlossen, auch die, welche Lam penöl und ähnliche Waren verkauften, die in den kommenden Abendstunden gebraucht würden. Sie waren in der Regel noch nach Mondaufgang geöffnet. 89
Sie lauschte. Es war so still, daß sie das Schlürfen der eigenen Stiefel auf dem Pflaster vernahm, doch nun hörte sie noch etwas, den festeren, taktmäßigen Schritt eines Bewaffneten. Trotzdem behielt sie den Deckmantel der Unschuld bei und blickte sich nicht um, obwohl ihre vage Besorgnis über den Verbleib ihres kleinen Gefährten wuchs. Mathilde erreichte ihr Ziel, eine dunkle Ecke des kleinen Hofes, nahm den langen Schlüssel, der an ihrem Gürtel hing, und schloß damit die Tür auf, die jetzt in der herabsinkenden Dämmerung in tiefem Schatten lag. Dieser Teil von Merina war sehr alt. Die Zünfte gaben sich alle Mühe, die Stadt in Ordnung zu halten, und erließen entsprechende Verordnungen, die jeden Haushaltsvorstand verpflichteten, seine Wohnung instand zu halten. Trotzdem waren diese Gemäuer mit den Jahren immer baufälliger geworden. Als sie den Schlüssel umdrehte und sich mit der Schulter gegen die schwerfällige Tür stemmte (die sich immer dem ersten Druck widersetzte), wagte Mathilde schließlich einen Blick über die Schulter. Sie konnte die gleichmäßigen Schritte nicht mehr hören, aber es waren in der Tat zwei Männer auf der Straße, und sie standen genau vor ihrem Hofeingang, die Augen auf sie gerichtet. Auch ohne ihre tiefschwarze Kleidung wäre ihre Aufgabe nicht zu übersehen gewesen. Es waren Gesetzeshüter - zumindest etwas ähnliches. Die Frage war nur, wessen Gesetze sie hüteten. Balthasar hatte keine Soldaten als Patrouillen in die neu erworbene Stadt geschickt. Diese Männer waren nicht von der Armee. Doch er hatte sie in Bereitschaft gehalten und in dem Augenblick entsandt, als Merina sich ergab. Mathilde behagte der Anblick dieser Männer ganz und gar nicht. »Frau ...« Einer der beiden hatte die Stimme erhoben, während er auf sie zukam. »Ist das Euer Haushalt?« Der Blick, mit dem er die Tür und das schmale, verschlossene Fenster daneben musterte, zeugte nicht gerade von Anerkennung. »Ich bin Mathilde Rankistochter, amtlich zugelassene Perlenhändlerin.« Mathilde ließ ein verächtliches Schnauben hören. Sie war keine Frau, die sich duckte, und sie hatte schon vor langer Zeit erfahren, daß es oft die beste Verteidigung war, wenn man Unverschämtheiten mit einer scharfen Zunge begegnete. Er war jetzt so nahe, daß er sie ohne weiteres hätte schlagen können, dachte sie kurz - nur um seine Macht all jenen zu beweisen, die jetzt durch die Spalten ihrer Fensterläden lugten. »Und wo seid Ihr gewesen, Frau?« Sein Ton war kalt, und er beobach 90
tete sie genau. Seinen Blick konnte sie körperlich spüren, so als würde er bis in ihren Kopf vordringen, um ihre Gedanken zu fassen. »Na, wo die ganze Stadt gewesen ist - ich habe zugeguckt, was der Mann des Kaisers gemacht hat - beim Schwören.« »Wie viele Menschen leben in Eurem Haushalt?« Er hatte das Thema gewechselt. Mathilde setzte den Korb ab und schlug die Hände vor den Mund. Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Die, die Fragen haben, wollen was rauskriegen. Und was ist mit Euch, Schwarzer?« »Hütet Eure Zunge, Frau. Wir sind die neuen Wächter in diesem Stadtviertel, und Ihr werdet schon noch feststellen, daß man uns nicht so leicht hintergehen kann. Jeder Haushalt muß erfaßt werden, und es werden Regeln aufgestellt. Wer sich nicht daran hält, wird in unvorstellbare Schwierigkeiten geraten. Also — wer wohnt hier?« Er zeigte auf die jetzt halb geöffnete Tür. »Ich und der Sohn meiner armen, lieben Schwester — der kleine Aal. Überzeugt Euch doch selbst, wenn Ihr wollt! Ihr werdet keinen anderen ...« Beinahe stockte ihr der Atem - wenn dieser neugierige Mensch nun tatsächlich hineinging? Es war offenkundig, daß die unaufgeräumte Wohnung schon länger nicht benutzt worden war, und das hätte sie sofort verraten. Doch allem Anschein nach war das Schicksal ihr gnädig. Er zuckte abfällig die Schultern und wandte sich ab. Doch sie wußte, daß er sie sich nach Art der Gesetzeshüter gut gemerkt hatte und daß sie bei ihren Unternehmungen sehr vorsichtig sein mußte. Jetzt hob sie den Korb auf und wirbelte mit wehenden Röcken herum, als sie ins Haus ging und die Tür, wenn auch vorsichtshalber leise, hinter sich ins Schloß fallen ließ. Drinnen war es stockfinster. Sie tastete mit der Hand nach dem Regal, auf dem die verstaubte Kerze stand, und zündete den Docht an. Der Raum vor ihr war lang und schmal. Zu ihrer Rechten am verschlossenen Fenster befand sich der heruntergeklappte Halbtisch, den sie zur Ausstellung von Waren benutzen konnte, wenn der Laden geöffnet war. Zwei Hocker standen daneben. Doch zunächst ging sie in den hinteren Bereich. Dort befanden sich die Kochstelle und ein Schrank, ein Tisch, drei weitere Hocker. Eine Lampe, die sie mit Hilfe der Kerze anzündete. Mathilde schnüffelte. Mäuse, bestimmt - und der muffige Geruch eines ungelüfteten Raumes. Er mußte ordentlich ausgefegt werden. 91
An der Wand stand ein Möbelstück, das wie ein langer Schrank aussah. Mathilde zog mit einem Ruck daran, so fest, daß das verzogene Holz sich bewegte, und betrachtete die Decken, die sich darin befanden. Man mußte sie vor dem Feuer wärmen und die Bettstatt mit Kräutern auslegen, ehe man die Absicht hegen konnte, dort zu schlafen. Auch Nahrungsmittel mußten unbedingt herbeigeschafft werden. Sie hatte Berta, die Bäckerin, und Lanny, die Käsehändlerin, aufsuchen wollen. Doch wenn dieser schwarze, unheilverkündende Vogel noch immer die Straße im Auge hatte, konnte sie es nicht wagen. Er würde sich zu Recht fragen, warum die Regale einer Hausfrau nicht besser gefüllt waren. Die Perlenschnüre und die Schachtel legte sie in die lange Schublade neben dem Ladentisch und ging wieder zum Korb. Sie hatten von ihren Vorräten gegessen, bevor sie den Palast verlassen hatten. Nun holte sie hervor, was übriggeblieben war. Das mußte für den Abend reichen. Noch wichtiger als das Essen war im Augenblick ihre als Junge verkleidete Gefährtin. Sie traute Skita — dem Aal — einige Gewitztheit zu, doch wenn jene Schwarzmäntel bereits so weit in die Altstadt vorgedrungen waren, würde es die Geschicklichkeit der Kleinen auf eine harte Probe stellen, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen. Es gab natürlich noch den anderen Weg. Mathilde schob den Tisch zurück und zog einen Hocker an seinen Platz. Sie stieg hinauf und hangelte schwankend mit ausgestreckten Armen im undurchdringlichen Dunkel über ihrem Kopf nach einer langen Kette. Sie zog so heftig daran, als wolle sie ein ganzes Glockenspiel in Gang setzen. Ebenso wie an der Tür wollte auch hier das alte Holz nicht sofort nachgeben. Dann sank eine Lage Staub auf Mathilde hernieder, was sie veranlaßte, das eine oder andere Schimpfwort zu gebrauchen. Über ihr öffnete sich ein schwach erleuchtetes Viereck. Sie hatte richtig vermutet und rechtzeitig gehandelt, denn jetzt vernahm sie ein kratzendes Geräusch von oben. Sogleich zwängte sich der schlanke junge Körper ihrer Gefährtin hindurch. Mathilde packte sie an den Hüften und ließ sie auf den Boden hinabgleiten, ehe sie die Kette noch einmal bediente, diesmal mit einem seitlichen Ruck. Die Öffnung über ihrem Kopf schloß sich mit leisem Knirschen. Der Aal hockte schwer atmend an der Stelle, an der Mathilde ihn abgesetzt hatte. Aus dem verschmutzten Gesicht blickten zwei runde Augen zu Mathilde auf. »Späher.« Die Stimme klang heiser. 92
Mathilde war vom Hocker gestiegen. Sie erstarrte. »Hier?« fragte sie. Der Aal machte eine rasche Geste, die alles einschloß, was jenseits ihrer vier Wände liegen mochte. Mathilde goß einen Teil des mit Wasser vermischten Weins in einen kleinen Hornbecher. Der Aal trank gierig und verschluckte sich. Beim nächsten Mal war er ein wenig vorsichtiger. »Sie kamen - aus dem Nichts - wie aus dem Boden gewachsen«, sagte er und verzog das Gesicht über dem Becherrand. »Sie - sie müssen schon vor dem Herold in der Stadt gewesen sein.« Mathilde biß sich auf die Unterlippe. Ja, es war ihnen bekannt gewesen, daß Kaiser Balthasar seine Kundschafter in Merina hatte. Das sagte einem der gesunde Menschenverstand. Doch sie hatten einen Truppeneinmarsch erwartet, Soldaten, die an strategisch wichtigen Punkten einquartiert wurden, wie es der Regel entsprach — nicht diese Schwarzmäntel. Sie mußten immerhin schon so lange hier sein, daß sie die Stadt kannten. Sie sank auf den Hocker, auf dem sie gerade noch gestanden hatte. Wie lange — und wie gut? Ihre Pläne, halbfertige Pläne noch, die unterschiedlichen Maßnahmen, die sie im Kopf gehabt hatte, als sie den Palast verließ — sollte denn alles schon zunichte sein, ehe sie begonnen hatte, sie in die Tat umzusetzen? Der Aal langte in die Falten seines zerknitterten Kittels und reichte Mathilde etwas, das aussah wie eine Nuß aus der letzten Ernte. Mathilde nahm es rasch an sich und brach mit Hilfe des Daumennagels eine unsichtbare Naht auf. In der Schale lag ein Ohrstecker, der Kopf eines fein gearbeiteten Fabelwesens mit einem grimmigen blauen Auge aus Saphir. Von Schelyra! Dann hatte Thom zumindest insofern seine Pflicht erfüllt, als das Mädchen im Augenblick in Sicherheit war. Doch mit diesen Schwarzen überall -? Sie mußte Thom vertrauen. Seine legendären Diebeszüge hatten stets bewiesen, daß er nahezu unerschöpfliche Fähigkeiten besaß. Wenn sie nur für die beiden ausreichten, bis sich die Lage ein wenig beruhigt und sie das neue Problem erfaßt und vielleicht ein Gegenmittel gefunden hatte! Sie dachte noch darüber nach und bedeutete ihrem kleinen Gefährten, etwas zu essen. Sie wartete, bis er fertig war, ehe sie ihn auszufragen begann. Sie wollte alles wissen, was er in Erfahrung gebracht hatte, seit sie durch die Menschenmenge getrennt worden waren. Die Schwarzen Männer tauchten nicht nur in den Straßen der Stadt auf, sondern auch in Booten auf dem Kanal. Gerüchten zufolge blieb 93
der neue Herrscher mit seiner Armee im Lager außerhalb der Stadtmauern. Mathilde atmete tief ein. Es klang beinahe wie ein Seufzer. Nun mußte man abwarten und versuchen, mehr zu erfahren, obwohl diese ihr auferlegte Untätigkeit an ihren Nerven zerrte. Inzwischen würde sie ihr Leben hier fortsetzen, als sei es noch nie anders gewesen. Mathilde hatte angenommen, sie wäre zu überreizt, zu sehr mit bedrückenden Gedanken beschäftigt, um einschlafen zu können. Doch sie und der Aal fielen in einen tiefen, traumlosen Schlaf, sobald sie sich in das Schrankbett gepfercht hatten.
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15. Schelyra Wenn Thom angenommen hatte, sie würde sich ins Heck des Bootes setzen und sich wie eine wohlhabende Dame über den Kanal gondeln lassen, hatte er sich getäuscht. Er war vermutlich sehr überrascht, als Schelyra ebenso behende wie er in das vertäute Boot sprang und sofort das zweite Ruder in die Hand nahm, so daß er sich mit einem begnügen mußte. Sie war es auch, die ablegte, sie stieß vom Kanalufer ab und ruderte von der geschützten kleinen Anlegestelle weg, an der das Boot verborgen gewesen war. Sie hatten Glück, daß dieser Teil des Kanalsy stems den ganzen Tag über im Schatten lag und keine Straße daran entlangführte; es war niemand da, der sich über ihr plötzliches Auftauchen hätte wundern können. »Wohin fahren wir?« fragte er schließlich mit sichtlichem Widerwillen. »Wie ich schon sagte, zum Zigeunerviertel«, erwiderte sie unumwunden, um dann mit triefender Ironie hinzuzufügen: »Ich nehme an, du weißt, wie man dort hinkommt?« Er antwortete mit verächtlichem Schnauben und tauchte sein Ruder ins Wasser. Auch Schelyra begann zu rudern, aber sie wünschte, sie hätte sich Zeit gelassen, die Röcke über die Knie zu ziehen; auf diese Weise wäre das Rudern viel leichter gewesen. Doch dann, als sie in einen anderen Kanal einbogen, an dessen Ufer ein Pfad entlanglief, spürte sie plötzlich eine Kälte im Nacken, als würde sie jemand mit bösem Blick verfolgen. Sie drehte sich nicht sofort um. Statt dessen legte sie sich schwer ins Zeug und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf das glatte Ruder in den Händen und darauf, daß sie Schlag um Schlag den gleichen Takt wie Thom beibehielt. Schließlich konnte sie beim Rudern unauffällig den Blick über die Ufer zu beiden Seiten des Kanals schweifen lassen. Viele Menschen eilten den Uferpfad entlang, was ungewöhnlich war, da die Leute in der Regel an den Kanälen entlang schlenderten und sich Zeit nahmen, die Sonne auf dem Wasser zu genießen, auch wenn das Wasser nicht gerade das sauberste war. Es lag eine Aura der Angst über 95
ihnen, die Schelyra erschauern ließ. Nur ein Mann stand regungslos da. Als sie ihn erblickte, mußte Schelyra sich auf die Unterlippe beißen und sich erst einmal abwenden, ehe sie ihm in die Augen schauen konnte. Er stand neben einem Bootsanleger und trug eine Art Uniform, ganz in schwarz, ohne Helm oder Abzeichen. In der Hand hielt er einen Schlagstock. Sie wußte sofort, daß es einer von Balthasars Männern war - und sie wußte, er hatte sie und ihren Begleiter bemerkt, auch wenn er sie nicht angerufen hatte. Nun war sie froh, daß sie sich eine recht außergewöhnliche Erscheinung zugelegt hatte, denn nichts an der Gestalt der Zigeunertänzerin Raymonda erinnerte an Schelyra, die Ausersehene Tochter aus dem Geschlecht des Tigers. Dennoch versetzte es ihr einen gewissen Schrecken, als sie Balthasars Männer dort auf den Straßen erblickte, noch ehe die Tinte auf den Kapitulationsurkunden getrocknet war. »Ruder weiter«, raunte sie Thom zu, »und mach einen zielbewußten Eindruck, als hättest du eine Besorgung zu machen. Wir werden beobachtet.« Erneut schnaubte er. »Das weiß ich schon längst«, gab er zurück. »Ich hoffe, Ihr habt Euer Schlupfloch gut vorbereitet. Mir gefallen diese fremden Vögel mit ihren schwarzen Federn nicht. Ich komme mir vor wie ein Wurm, der von hungrigen Krähen beäugt wird. Ich möchte mich in Eurem Versteck verkriechen und den Eingang fest verschließen.« Nachdem sie diesen Blick im Rücken gespürt hatte, ging es Schelyra — Raymonda - ebenso. Sie wechselte rasch das Thema, denn er sollte nicht merken, daß sie Angst hatte. »Wir müssen uns über unsere Geschichte im klaren sein, bevor wir dort anlegen. Ich bin Raymonda, und ihr seid mein — was? Wie steht Thom zu Raymonda?« »Ihr Freund und Liebhaber?« Sein schmieriger, vertraulicher Ton verriet, daß er annahm, sie würde begeistert auf diesen Vorschlag eingehen, und bei diesem Gedanken sträubten sich ihr die Nackenhaare. »Mein Vetter bist du; die Verwandtschaft ist so nahe, daß du nicht mein Liebhaber sein kannst, aber weniger verdächtig, als wenn du dich als mein Bruder ausgeben würdest — denn wir sehen uns nicht im geringsten ähnlich.« Sie sprach mit fester Stimme und unterlegte jedes Wort mit einem Ruderschlag. »Und du hast immer noch Grund genug, meine — eh — Tugend beschützen zu wollen.« Ein kurzes Knurren zeigte, daß Thom von diesem Szenario keineswegs begeistert war, doch daß er sich fürs erste damit abfinden würde. 96
Offensichtlich war er nach wie vor ehrlich davon überzeugt, daß sie in seine Arme fliegen würde - wenn sie erst zur Besinnung gekommen war. Selbst ein Kater hat mehr Anstand als du, Thom Ränkeschmied, und ich würde dich nicht in die Nähe meines Bettes lassen, selbst wenn du der einzige unverheiratete Mann von ganz Merina wärst. Ihr Gefährte war berüchtigt für die lange Liste seiner Liebschaften. Sie hatte nicht die Absicht, ihm auch nur die kleinste Gelegenheit zu geben, ihren Namen auf diese Liste zu setzen. Sie ruderten vom Tempel weg; die meisten Menschen schienen von dort zu kommen. Der Herold hatte demnach offenbar seinen Eid geleistet; die meisten Fußgänger hielten den Kopf gesenkt und das Gesicht verborgen, doch die Gesichter, von denen Schelyra einen Blick erhaschen konnte, waren nicht glücklich. Wüßte sie doch nur, was man sich in den Straßen erzählte! An den Ufern der Kanäle tauchten noch mehr schwarzgekleidete Männer mit Schlagstöcken auf, und sie war heilfroh, daß noch andere Fahrzeuge auf dem Wasser waren, von kleinen Booten bis hin zu großen Lastkähnen. Auf diese Weise fielen sie nicht weiter auf. Das Boot zu rudern war Schwerarbeit, auch für Schelyra, die gewohnt war, einen störrischen Hengst zuzureiten und gemeinsam mit anderen Boote wie diese über die Wasserstraßen rund um den Sommerpalast zu rudern. Doch Thom war diese Art schwerer Arbeit noch weniger gewohnt als sie, und ein flüchtiges Lächeln der Belustigung huschte über ihre Lippen, als sie merkte, daß er die Fahrt verlangsamte und des öfteren eine Ruderpause einlegte. Da er ihr leid tat, verminderte sie ihre Schläge und überließ der trägen Strömung des Kanals einen Teil der Arbeit. Warum so verzagt, Thom Ränkeschmied? Freilich, mit ehrlicher Arbeit kann man keinen Ruhm erlangen. Alle, die auf den Kanälen unterwegs waren, schienen sich rasch in Sicherheit bringen zu wollen, was für diese Tageszeit recht ungewöhnlich war. Kein gutes Zeichen; die Menschen suchten unwillkürlich Schutz, und dies gewiß zurecht. Wir hätten doch kämpfen sollen! dachte sie grimmig. Nichts als sein Ehrgefühl bindet Kaiser Balthasar an sein Versprechen - und wie weit reicht schon das Ehrgefühl eines Schlächters? Er wird uns nach Belieben ausplündern, Stück für Stück, und die Stadt Zoll um Zoll erdrosseln. Merina wäre besser in Flammen aufgegangen! Solange sie ungeschützt auf dem Wasser fuhren, fühlte sie sich allen erdenklichen Gefahren hilflos ausgeliefert. Mit zermürbender Langsam 97
keit näherten sie sich dem Zigeunerviertel, und Schelyra war sich ziemlich sicher, daß der Schweiß, der Thoms Hemd durchnäßte, nicht allein auf die körperliche Anstrengung zurückzufuhren war. Die Kanäle waren so breit wie zwei Straßen, so daß schnellere Boote die langsameren überholen konnten. Am Ufer hinter den Anlegern führte ein gepflasterter Fußweg entlang, an dem Läden und Wohnhäuser standen, ein bis zwei Stockwerke hoch und so dicht aneinander, daß nicht einmal eine Katze zwischen ihnen hindurchpaßte. Hier und da spannte sich eine Brücke über den Kanal, und auf jeder Brücke stand ein schwarzgekleideter Wächter. Ich muß daran denken, daß ich Raymonda bin, muß agieren und reagieren wie Raymonda, rief sie sich ins Gedächtnis. Schelyra ist eine Dame von königlichem Geblüt; ich bin nur eine kleine, unbedeutende Tänzerin. Ich kann und darf keine Vertreter der Obrigkeit herausfordern; ich bin eine Frau, die man ohne weiteres »verschwinden lassen« könnte, und niemand würde davon Notiz nehmen. Und dieses Wissen ist Raymonda angeboren. Zu guter Letzt erreichten sie das Zigeunerviertel; die Uferstraße war hier viel breiter, und überall gab es Pferde - sie wurden geführt, getrieben, geritten, Pferde in allen Größen, Formen und Farben. Viele Frauen waren gekleidet wie Ray monda, und sie empfand sich allmählich als weniger auffällig, wenn auch nicht weniger schutzlos. Leider gab es auch hier Männer mit Schlagstöcken. Und es gab nur eine einzige öffentliche Anlegestelle für kleine Boote wie das ihre. Und natürlich wartete dort einer jener Schwarzmäntel, um jeden zu beobachten, der mit seinem Boot dort anlegte, und ihn auszufragen, bevor er ihn an Land gehen ließ. Raymonda spürte, wie ihr auf der Stirn und in den Achselhöhlen der Schweiß ausbrach. Sie stießen mit dem Bug an die Steine des Anlegers, und Thom sprang heraus, um das Boot unter den mißtrauischen Blicken des schwarzgekleideten Wächters zu vertäuen. Sie verstaute die beiden Ruder sorgfältig im Boot und versuchte, dem Blick des Mannes nach Möglichkeit auszuweichen. »He da! Du - du und das Mädchen!« Der Mann trat mit drei Schritten angriffslustig auf sie zu, als Raymonda aus dem Boot stieg, und versperrte ihnen mit seinem Schlagstock den Weg. »Was habt ihr hier zu suchen? Wo wollt ihr hin? Was wollt ihr hier? Wohnt ihr hier in diesem Viertel?« Sie war nun froh, daß sie ihre restliche Kleidung im Geheimzimmer gelassen hatte, und noch glücklicher über den Umstand, daß sie alles, was 98
sie für notwendig hielt, bereits in die Verstecke geschafft hatte. Sie trug außer ein paar Münzen im Beutel an ihrem Gürtel nichts bei sich, was sie hätte verraten können - wenngleich sie sich gern noch die Haare gefärbt hätte, ehe sie ihr Versteck verließ. Es gab zwar Zigeunerinnen mit hellen Haaren, aber nicht viele. Suchten Balthasars Späher bereits nach ihr? Hatte man sie vermißt? Thom steckte die Hände in die Taschen und sah den Mann mit leicht amüsiertem Lächeln an. »Mann, das ist ja ein ganzes Fragespiel«, sagte er gedehnt. »Da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.« Thom kratzte sich die Stirn und setzte eine liebenswerte, etwas dümmliche Miene auf. »Diese ganzen Fragen haben mich völlig verwirrt! Jetzt fällt mir doch keine mehr ein!« »Fang damit an, wohin du gehst und was du dort zu tun hast.« Die harten, kalten Augen des Mannes zeigten nicht die Spur Belustigung, weder über Thoms ungezwungenes Benehmen, noch über seine lebensechte Darstellung eines dummdreisten Tölpels. »Zum Roßhändler Gordo Kaldesch wollen wir«, erzählte Thom ihm und behielt das bezaubernde, fröhliche Lächeln bei. »Wir wohnen hier, ich und meine Kusine.« »Soso, deine Kusine?« Der Mann musterte Raymonda eingehend von Kopf bis Fuß, und sie mußte an sich halten, um ihm für die Frechheit nicht eine Ohrfeige zu versetzen. »Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich.« »Dasselbe könnte man auch von manchen Brüdern und Schwestern sagen, Mann«, antwortete Thom schlagfertig. Dann wurde seine Stimme hart. »Sie steht mir nahe genug, daß ich niemanden an sie ranlasse.« Das gräßliche Kichern des Mannes jagte Raymonda kalte Schauer über den Rücken, und sie tastete in ihren Röcken nach einem der Messer, denn nun wollte sie den Fragesteller nicht mehr nur ohrfeigen. Suchte er Streit? Wie viele seinesgleichen konnte er zu Hilfe rufen, wenn er zu der Ansicht gelangen sollte, eine kleine Zigeunerin und ihr Begleiter seien so minderwertig und hilflos, daß ihr Verschwinden keine unangenehmen Fragen nach sich ziehen würde? Aber Thom stieß einen schrillen Pfiff zwischen den Zähnen aus, ein Zeichen, bei dem Raymonda erstaunt aufhorchte, denn sie kannte es. Im Nu versammelten sich dreißig Männer hinter dem Mann mit dem Schlagstock, die ganze Sippe der hageren, schwerfälligen Roßhändler. »He da, ist was nicht in Ordnung?« fragte einer von ihnen laut. »Meint der Kerl, ihr gehört nicht hierher, oder was?«
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Der Mann mit dem Schlagstock erschrak - offenbar hatte er nicht bemerkt, wie die Angehörigen des Roßhändlerclans aus den Straßen und Gassen hinter ihm aufgetaucht waren. Sein Gesicht erstarrte, und er riß für einen Moment die Augen auf, als er erkannte, daß er hier den kürzeren ziehen würde. Roßhändler trugen üblicherweise keine anderen Waffen als ihre langen Messer bei sich - doch hatten sie dies auch nicht nötig. Diese langen Messer waren in Verbindung mit der besonderen Ausbildung der Roßhändler im Nahkampf eine ebenso schreckliche Waffe wie ein Schwert. Die Roßhändler unterschieden sich von den Zigeunern, mit denen sie dieses Stadtviertel bewohnten, durch ihre Kleidung: ganz in Leder, von seitlich geschnürten Stiefeln über eine eng anliegende Hose bis hin zu langärmeligen Lederröcken, die an den Handgelenken zugeschnürt wurden, am Hals indes normalerweise offenstanden, damit das Abzeichen der entsprechenden Sippe zu sehen war. Die Frauen der Roßhändler trugen die gleiche Kleidung wie die Männer, wobei sie gelegentlich die Hose gegen einen knielangen, geschlitzten Rock tauschten. Die Männer des Clans kreisten den schwarzgekleideten Fremden ein, die Hand lässig am Messergriff. Der Mann mit dem Schlagstock blieb standhaft. »Kennt ihr diese Leute?« fragte er. »Sind sie hier gemeldet?« Raymonda suchte die Menge mit den Augen ab, und ihr Herz tat einen Sprung, als sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. »Laika!« rief sie. »Sag doch diesem — Mann —, daß wir hier wohnen! Er scheint anzunehmen, daß die Roßhändler und das Fahrende Volk kein Boot führen können, ohne ins Wasser zu fallen!« Die Umstehenden brachen in herzhaftes, aber auch spöttisches Gelächter aus, und Laika trat vor. »Ich kenne die beiden, sie wohnen hinter Gordos Ställen«, sagte er und schaute derart hochmütig auf den Fremden herab, daß dieser nicht wagte, ihm zu widersprechen. »Die Kleine verarztet hier und da mal ein Pferd und tanzt ein bißchen; ihr Vetter arbeitet nur dann, wenn es sich nicht vermeiden läßt.« Als Thom daraufhin empört aufschaute, brach die Gruppe erneut in schallendes Gelächter aus. Der Mann in Schwarz hob nur zögernd den Schlagstock und ließ sie durch. Raymonda beeilte sich, an ihm vorbeizukommen, während Thom ihr gemächlicheren Schrittes folgte. »Sagt diesem Gordo, er soll die Namen aller, die auf seinem Hof leben, den Behörden melden!« rief der enttäuschte Mann ihnen nach, während die Menge sich schützend um Raymonda und Thom schloß. »So lautet das 100
Gesetz! Ab sofort haben nach Sonnenuntergang nur noch Personen zu diesem Viertel Zugang, die hier gemeldet sind!« »Und wir sind vom Pferde-Clan, und wir gehen, wohin uns der Wind trägt!« rief jemand zurück. »Warum fragt Ihr nicht nach den Namen des Windes und der vielen kleinen Brisen, wenn Ihr schon dabei seid?« Sie ließen den verstimmten Wächter hinter sich und geleiteten Thom und Raymonda auf schnellstem Wege in das Gewirr der Gassen des Zigeunerviertels, so daß sie außer Sichtweite des Mannes kamen. Hier verschwanden die meisten ihrer Retter ebenso rasch in den Seitenstraßen, wie sie herausgekommen waren. Zuletzt waren nur noch Laika und ein Mann, den Raymonda nicht erkannte, bei ihnen. Aber Thom kannte ihn, soviel stand fest, denn die beiden sahen sich an, und ihre Gesichter verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Der Fremde sprach als erster. »Ich habe den Mädchen gesagt, sie sollten sich nicht eher Asche aufs Haupt streuen, bis wir deine Leiche gesehen hätten, du Hundesohn!« sagte der Mann. »Thom, du elende Schlange, du alter Fuchs, du bist dem Gewahrsam der Königin entkommen!« Er drückte Thom an sich, der diese stürmische Umarmung ohne eine Spur von Verlegenheit hinnahm. »Habe ich dir nicht gesagt, daß ich mehr Leben als eine Katze und mehr Glück als Iwan der Schnelle habe?« erwiderte Thom und begrüßte ihn ebenso überschwenglich. »Glaubt mir denn jetzt immer noch keiner von euch?« »Oh, ich schon, aber ...« Der Fremde löste sich von Thom. »Und wer ist die Tänzerin? Wieder eine von deinen ...« »Sieht nicht so aus, Puli«, sagte Laika ruhig. »Ich kenne sie, und ich glaube fast, es waren diesmal weder Thom Ränkeschmieds Schläue noch sein Glück, die ihn aus der Schlinge zogen.« Er warf einen Blick über die scheinbar menschenleere Straße und runzelte die Stirn. »Aber hier ist nicht der rechte Ort zum Reden. Laßt uns zu Gordo gehen.« Er blickte Raymonda fragend an, die zustimmend nickte. »Wir lassen unsere Brüder bei den Anlegern, damit sie nach weiteren verlorenen Schafen Ausschau halten, während wir diese beiden hier in die sicheren Stallungen bringen, was?« »Na gut«, stimmte Puli zu. Zu viert eilten sie nun so schnell sie konnten durch die dunklen, schmalen, gewundenen Gassen, ohne allerdings in einen Laufschritt zu verfallen. Eigentlich war Raymonda froh, Laika getroffen zu haben, obwohl er einer der drei Menschen in der Stadt war, der wußte, daß 101
Raymonda, die Pferdeheilerin und Tänzerin, und Schelyra, die Prinzessin, ein und dieselbe Person waren. Die beiden anderen waren Gordo und der Anführer seiner Clans, der Pate gestanden hatte, als sie Schelyra bei sich aufnahmen. Diese Art der Aufnahme war etwas anderes als die Blutsbrüderschaft, durch die Thom offenbar doch - all ihren Zweifeln an seiner Geschichte zum Trotz - mit Angehörigen des Clans verbunden war. Sie gehörte jetzt zur Sippe der Roßhändler, so wie ihre Kinder und Kindeskinder dazugehören würden. Thom hingegen war noch immer ein Außenseiter, wenn auch ein Verbündeter. Sie war vollgültiges Mitglied der Sippe und hatte Anspruch auf den Schutz und die Hilfe aller Clanmitglieder. Wenn die Königin das gewußt hätte, wäre sie auf der Stelle tot umgefallen. Thom indes konnte Hilfe nur von jenen einfordern, mit denen er durch Blutsbrüderschaft verbunden war. Gordo Kaldesch hatte sein Gelände, das von einer hohen Mauer umgeben war, noch weiter befestigt. Innerhalb der Mauer befanden sich die Stallungen und alle Wohngebäude. Vor dem Haupteingang standen vier kräftige Männer aus der Sippe der Roßhändler Wache. Das Tor war geschlossen — zum ersten Mal, soweit sich Raymonda erinnern konnte. Irgendwie glaube ich nicht, daß die Roßhändler einen umfangreichen Handel mit Balthasar aufziehen wollen. Er muß etwas getan haben, was sie beleidigt hat. Gut so. Das erleichtert mir die Sache. Einer der Männer, der ihre Begleiter erkannt hatte, pochte bereits an das verschlossene Tor, als sie noch über die Pflastersteine auf ihn zu eilten. Raymonda vernahm das krachende, bollernde Geräusch eines Balkens, der aus den Stützen quer über dem Tor gehoben wurde. Dann öffnete sich das Tor einen Spalt breit, so daß sie gerade eben hindurchschlüpfen konnten. Raymonda war die erste. Die anderen folgten ihr. Sobald sie drinnen waren, hoben die beiden Frauen auf der anderen Seite des Tores den Balken wieder an seinen Platz und verriegelten das Tor. »In Ordnung«, sagte Laika, sobald sie im Innenhof standen, wo Gordo in besseren Zeiten seinen Tierbestand möglichen Käufern vorführte. »Wir wissen, daß die Königin abgedankt hat. Balthasars Herold hat heilige Eide geschworen, die den Herrscher verpflichten, die Stadt in Ruhe zu lassen, was ihn aber nicht davon abhält, sie auszupressen und seinen Fuß auf jeden Mann, jede Frau und jedes Kind hier zu stellen - und genau das tut er. Er hat für Gordo eine Steuer in Höhe des halben Wertes eines jeden Pferdes ausgeschrieben, und er hat versucht, noch mehr 102
von diesen schwarzlivrierten Lakaien hierherzuschicken, um Gordo zu holen.« Raymonda kräuselte die Lippen zu ihrem ersten echten Lächeln an diesem Tag. »Da Gordo noch hier ist, nehme ich an, daß seine kleinen schwarzen Schoßhündchen nicht damit einverstanden waren, daß man ihren Herrn fortschaffen wollte?« sagte sie leichthin. »Kann sein, daß die Kleinen ein wenig an dem einen oder anderen geknabbert haben, und vielleicht haben sie auch ein bißchen geknurrt«, gab Laika zu. Raymonda lachte. Gordos »kleine schwarze Schoßhündchen« waren ein Rudel schwarzer Wolfshunde, so groß wie ein kleines Pony. Man müßte diese Hunde schon töten, um den Roßhändler gegen seinen Willen aus dem Haus zu holen, und offensichtlich waren Balthasars Männer noch nicht bereit, das zu tun. Doch ihr blieb das Lachen im Halse stecken, als ihr bewußt wurde, was ihr Freund zuvor gesagt hatte. »Hat Gordo so viel Steuergeld? Würde Balthasar Pferde aus dem Bestand beschlagnahmen, um fehlende Steuergelder auszugleichen?« Laika hob die Schultern. »Das nicht — denn unser Bestand ist von Spat und Strahlfäule bedroht, und die Pferde lahmen reihenweise. Wenn die Ärzte in den Ställen durch sind, lohnt es sich nicht einmal mehr, Zeit für die Schlachtung dieser Tiere zu vergeuden. Das wird den Wert der Pferde, die noch hier sind, auf ein Minimum herabsetzen - was bedeutet, daß die Steuer höchstens ein paar Kupfermünzen betragen wird. Die guten Pferde hat er ohnehin aus der Stadt geschafft.« Er betrachtete sie forschend. »Ihr könntet Euch da hinten nützlich machen, wenn Ihr Euch mit den geläufigen Tricks auskennt.« Sie erwiderte seinen Blick. »Ich kenne sie«, erwiderte sie beherzt. »Und vielleicht noch ein paar mehr. Aber was gibt es noch für Gerüchte aus der Stadt? Ihr verschweigt mir doch etwas.« Laika verzog den Mund. »Es heißt, die Königinwitwe sei tot. Die Feinde sollen sie umgebracht haben.« »Sie ist wie dieser streunende Kater hier - streut euch keine Asche der Trauer aufs Haupt, ehe ihr den Sarg gesehen habt und ich bezeugt habe, daß sie darin liegt«, sagte Raymonda fest, obwohl ihr das Herz stehengeblieben war. »Doch bis dahin — legt den Ponys zur Täuschung schwarze Bänder an und steckt welke Zweige an den Eingang. Bedenkt, die Königinwitwe war euch wohlgesonnen. Es macht keinen guten Eindruck, wenn ihr sie nicht betrauert, selbst wenn es nur ein Gerücht ist.«
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Laika nickte knapp. »Das werde ich erledigen«, sagte er. »Und ihr geht inzwischen hinten in die Ställe mit eurem >Vetter<, während ich Gordo Bescheid sage, daß Ihr hier seid.« Noch ehe sie antworten konnte, war er verschwunden. Sie zuckte gleichmütig mit den Schultern und wandte sich an Thom und seinen Freund, die der Unterhaltung aufmerksam gefolgt waren. »Wer ist denn nun deine Freundin, Bruder?« fragte Puli. »Laika hat sich nicht die Mühe gemacht, uns vorzustellen.« »Sie heißt Raymonda«, erwiderte Thom schlicht, und Raymonda stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, denn sie hatte befürchtet, er könnte sich versprechen und ihren echten Namen preisgeben. »Was wir brauchen, ist ein Unterschlupf, bis wir wissen, was Balthasar im Schilde führt. Weiter brauchen wir -« »Einen Grund, hierbleiben zu können«, unterbrach sie ihn, ehe er hinzufügen konnte, daß sie einen Weg aus der Stadt und dem Herrschaftsbereich des Kaisers suchten. »Obwohl, wenn die Pferde >krank< sind, gibt es Grund genug für eine Roßheilerin, hier zu sein.« Puli nickte. »Das dürfte als Grund für euch beide genügen — jeder Narr kann Pferdemist schaufeln, sogar ein Taugenichts wie Thom - und kranke Pferde machen eben mehr Mist als gesunde.« Thom funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts. Erneut mußte sich Raymonda trotz des tödlichen Ernstes der Lage ein Lachen verbeißen. Vielleicht bedauerte Thom jetzt, daß er sich auf den Handel eingelassen hatte - er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, zu schwerer körperlicher Arbeit herangezogen zu werden, als er auf Lydanas Bedingungen einging! Der Ärmste — zuerst muß er ein Boot rudern und jetzt auch noch Mist schaufeln! Und er dachte, er müßte nur mit mir durch ein Tor nach draußen schleichen, wenn gerade niemand hinschaute! Dann kam Laika zurück. Er trug ein Bündel in der Hand und sah äußerst besorgt aus. »Hier«, sagte er und warf ihr das vertraute schwere Bündel zu. »Gordo sagte, ihr hättet dies bei ihm gelassen. Er will wissen, ob euch jemand vermissen wird. Wenn ja, solltet ihr die >Raymonda< in einen >Raymond< verwandeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht, glaube ich - und im übrigen hat uns dort, wo wir aus unserem Versteck auf die Straße traten, niemand sehen können.« Als sie dann das Bündel in beide Hände nahm, fühlte sie sich ruhiger und zuversichtlicher. Das sollte wahrlich reichen. Jeder Händler in der Stadt wußte, daß man mit Gold alles außer der Gnade vor 104
dem Tod kaufen konnte. In diesem Bündel steckte wahrscheinlich genug, um selbst das bewerkstelligen zu können. Mit Hilfe des Inhalts würde es zumindest möglich sein, Balthasar eine Menge Unannehmlichkeiten zu bereiten. Gold war gleichbedeutend mit Macht, das wußten die Mitglieder des Köngishauses, und sie besaß nun eine Menge Macht, um ein großes Geschäft zu tätigen, zum Guten oder Schlechten. Das war der eigentliche Grund, warum sie ihren gesamten persönlichen Schmuck, die Kronjuwelen und alles Geld, dessen sie habhaft werden konnte, am Abend zuvor hierher gebracht und Gordo angewiesen hatte, jedes Stück in seine Bestandteile aufzulösen. Nichts war wiederzuerkennen, denn Gordo hatte die großen Münzen zerbrochen und in kleinere verwandelt. Alles hatte nun eine Form bekommen, in der sie es verwenden konnte. Als Prinzessin Schelyra hatte sie darüber hinweggesehen, daß Gordo ein bekannter Hehler für Diebesgut war; als Ray monda war sie stolz auf ihren Einfall gewesen. Und keiner von Balthasars Leuten wird auch nur ein Stück der Juwelen erkennen können, selbst wenn ihnen eine vollständige Inventarliste meiner Schatztruhe in die Hände fallen sollte. »Im Stall steht eine Box für euch bereit. Es gibt aber auch viele, die euch liebend gern einen Platz in ihrem Zelt anbieten würden«, fuhr Laika fort. »Ich ziehe die Box vor«, sagte sie entschlossen. »Ich muß euren Leuten mit den Pferden zur Hand gehen, ehe es Balthasars Männern gelingt, hier einzudringen und sie sich anzusehen. Wenn wenigstens eine eurer Roßheilerinnen im Stall übernachtet, wirkt eure Geschichte glaubhafter. Zeigt uns nur den Weg.« Wenn ich nur etwas zu tun habe, etwas, womit ich mich von all dem ablenken kann, bis ich zum Umfallen müde bin ... Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Es bestand immer noch die Möglichkeit, daß Adele ihren Tod nicht vorgetäuscht hatte - und daß Lydana die Flucht nicht rechtzeitig geglückt war. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß alle ihre Pläne durchkreuzt wurden. Wenn ihr Gelegenheit zum Nachdenken blieb, bestand die Gefahr, daß sie zusammenbrach. Das durfte auf keinen Fall geschehen, nicht jetzt. Laika nickte mitfühlend, als hätte er ihre unausgesprochenen Gedanken erraten. »Dann kommt mit«, sagte er und führte sie zu den Ställen. Dort bekam Raymonda sogleich alle Hände voll zu tun: Sie half Gordos Zureitern, alle Pferde auf dem Gelände so »verarzten«, daß es aussah, als 105
hätten sie nur noch wenige Stunden zu leben. Manchen wurde Arznei verabreicht, die Schüttelfrost und Schweißausbrüche auslöste wie bei hohem Fieber; andere erhielten einen Umschlag um ein Kniegelenk, oder man beschlug einen Fuß mit unförmigen Hufeisen, die sie vorübergehend lahmen ließen. Bei allen wurde das Fell so behandelt, daß es hart und schmutzverkrustet aussah. Die Mähnen und Schweife waren spröde und steif, und die Tiere hatten ein paar vorgetäuschte Kratzer und Schrammen. In den frühen Morgenstunden war Raymonda soweit, daß sie im Stehen hätte einschlafen können, und auf dem Anwesen gab es kein Pferd mehr, das man hätte geschenkt haben wollen. Sie erhob sich und schwankte einen Augenblick vor Erschöpfung. Im Nu war Thom zur Stelle und schob eine stützende Hand unter ihren Ellenbogen, und sie belohnte ihn mit einem dankbaren Lächeln. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß er da war. »Die kleine Freundin Eurer Tante kam vorbei, kurz nachdem Ihr die Arbeit an den Pferden begonnen habt«, sagte er, während er sie zu der ihr zugewiesenen Box führte. »Sie konnte nicht viel sagen, aber ich glaube, Eure Tante ist vorläufig in Sicherheit. Ich habe ihr einen Eurer Ohrringe mitgegeben, damit Eure Tante weiß, daß hier auch alles in Ordnung ist.« Raymonda nickte schwach. »Das reicht, aber ab sofort darf es keine Verbindung mehr zwischen uns geben. Wir wissen nicht —«, sie unterbrach sich, um herzhaft zu gähnen. »- wir können nie wissen, ob wir nicht mit einem Verräter sprechen«, vollendete Thom ihren Satz. »Genau das habe ich ihr auch gesagt.« Er geleitete Raymonda in die Box, in der saubere Decken auf einer dicken Strohschicht ausgebreitet lagen. Sie sahen in diesem Augenblick so einladend wie ein Federbett aus. Raymonda sank darauf nieder, sobald Thom ihren Arm freigab. Ihr ganzer Körper verlangte nach Schlaf. Sie hatte den Eindruck, als hätte er noch etwas geäußert — eine Frage vielleicht -, aber es war zu spät. Sie war bereits eingeschlafen.
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16. Adele »O die, die du im Himmel wohnst, sei uns gnädig«, rezitierte die Erzpriesterin in singendem Tonfall. Die Priesterin Elfrida kniete nun schon zur zweiten Andacht nach ihrer »Einkehr« an ihrem Platz. Es war Mitternacht, und nach der für diese Stunde üblichen Andacht hatte die Erzpriesterin die Sterbelitanei angestimmt. Deshalb betete Elfrida nun mit den anderen Priestern und Priesterinnen für Adele, die angeblich im Krankenzimmer im Sterben lag. Und wenn sie auch eher für das Wohl der Lebenden betete, für die Tochter und die Enkelin der bald Dahinscheidenden - nun, die Göttin wußte es und hatte Verständnis dafür. Vielleicht sollten wir auch für die Stadt beten, dachte sie traurig. Unsere Entscheidung beginnt mir bereits leid zu tun. Elfrida schaute sich unauffällig um, ihr Gesangbuch als Schild benutzend, hinter dem sie ihre neugierigen Blicke verbergen konnte. Der Chor des Tempels war so voll wie seit Jahren nicht mehr. Elfrida war nicht bewußt gewesen, wie viele Novizen die verschiedenen Orden hatten, aber jetzt füllten sie unter den prüfenden Blicken ihrer Ältesten die ersten Reihen des jeweiligen Ordens. Sie suchte nach schuldbewußten Mienen, obwohl sie keine Vorstellung hatte, wie ein Spitzel aussah. Manche wirkten nervös, aber die Mehrheit wollte wohl lieber wieder ins Bett. Eine Ausnahme bildeten die Braunen Kutten: Die meisten von ihnen waren erschüttert über die Ereignisse dieses Tages, und froh, im Haupttempel zu sein. Die Heilerinnen ...es gibt bereits Gerüchte, daß Balthasars Männer in den Straßen für Ärger sorgen, und die Heilerinnen dürften die ersten sein, die die Folgen zu sehen bekommen. Elfrida hoffte inständig, daß die Novizen hier in Sicherheit waren. Sie waren zwar keine Kinder mehr - der Tempel nahm keine Novizen, die junger als dreißig waren, und in der Regel trat man zwischen vierzig und fünfzig in den Tempel ein. Die Göttin nahm keine Diener an, die ihren Dienst als eine Flucht vor dem Leben betrachteten. Sie forderte, daß sie ein sinnvolles Leben außerhalb der Tempelmauern führten, bevor sie im inneren Bereich zugelassen wurden. Doch auf Elfrida wirkten alle 107
Novizen wie Kinder - nicht vorbereitet auf die Prüfungen, die sie kommen sah. Doch wir alle sind sterblich und fehlbar... Wenn die Versuchung an uns herantritt, werden ihr einige unterliegen ... Als die Litanei zu Ende war, erteilte Verit die Anordnungen, die sie am Nachmittag mit Adele im Krankenzimmer abgesprochen hatte und die gewährleisteten, daß in der Nähe des Herzens unablässig gebetet wurde. Wie klug von ihr, dachte Elfrida, daß sie die Anweisungen in der Nacht während des Großen Schweigens ausgibt, denn dadurch vermeidet sie jegliche Erörterungen darüber — zumindest bis zur Kapitelversammlung morgen nach dem Frühstück. Und am Kapitel werden nicht alle teilnehmen können, da wir für die Wache am Herzen eingeteilt sind. Elfrida war froh, als sie hörte, daß sie nicht zu der Gruppe gehörte, die jetzt sofort hierbleiben sollte; so konnte sie sich ein paar Stunden Schlaf gönnen, ehe sie zur nächsten Andacht wieder hier sein mußte. Sie hatte die Absicht, die Gelegenheit weidlich zu nutzen. Wie merkwürdig, daß der Körper mitten in einer Krise und vor einer schrecklichen Gefahr, die sie herannahen sah, auf seinem Recht bestand. Sie unterdrückte ein Gähnen, als sie wieder in ihre Zelle eilte; im Augenblick schien ihr jene harte, gnadenlose Pritsche so luxuriös und erstrebenswert wie ihr Bett im Palast. Das Bett im Palast! Sie blieb wie angewurzelt stehen. Was würde geschehen, wenn Apolon in ihr Gemach vordrang und das Bettuch mitnahm? Er war Magier und kannte gewiß Mittel und Wege, es zu benutzen, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden! Und in den letzten drei Tagen hatte die innere Anspannung zu Alpträumen geführt, in deren Verlauf ihr der kalte Schweiß ausgebrochen war, der das Leinentuch durchtränkt hatte. Die Diener haben bestimmt die Bettücher ausgewechselt, sagte sie sich und zwang sich, ruhig und ohne Hast in ihre Zelle zurückzugehen. Selbst wenn nicht — warum sollte er sich über meinen Aufenthaltsort Gedanken machen? Er weiß, wo ich bin. Und wenn Adele einmal gestorben ist — warum sollte er dann nach einer toten Frau suchen? Blieben immer noch die Betten von Schelyra und Lydana! Hatten die beiden sich überhaupt darüber Gedanken gemacht, daß Apolon Dinge von ihnen benutzen konnte, um sie aufzuspüren? Hatte irgend jemand daran gedacht? Es sind keine Kinder, sie kennen die Gesetze der Magie, sagte sie sich noch einmal. Und die Diener sind auch noch da. Unsere Habseligkeiten sind etwas
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wert, selbst das kleinste Nachthemd und Korsett; Bahhasar wird wahrscheinlich alles zusammenpacken und in seine Schatzkammer bringen lassen, ehe Apolon der Sachen habhaft werden kann. »Wenn und aber« war allerdings kein Trost. Sie öffnete die Tür ihrer Zelle und schloß sie hinter sich. Sie wünschte, sie könnte mit jemandem reden, und wenn es nur der geringste Diener des Palastes wäre. Ich habe Verit gesagt, ich wäre mir sicher, alles Nötige erledigt zu haben, und jetzt fällt mir das ein, dachte sie bedrückt, als sie sich für den Schlaf zurechtmachte, den sie jetzt nicht mehr herbeisehnte. Welche Versäumnisse werden mir noch einfallen? Und wie bedrohlich werden sie für uns und unsere Pläne sein?
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17. Leopold Leopold wachte beim ersten Morgengrauen auf - wie an jedem Morgen, seit er erwachsen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, länger als bis Sonnenaufgang geschlafen zu haben, selbst wenn er nach den Besprechungen bei seinem Vater erst spät in der Nacht zu Bett gegangen war. Nur Krankheit konnte ihn dazu bringen, noch im Bett zu bleiben, wenn die Vögel erwachten. Er hatte nur einen einzigen Knappen und einen Pagen, die sich um seine bescheidenen Bedürfnisse kümmerten — im Gegensatz zu den Scharen von Dienern, die andere - unter ihnen vor allem Apolon - für ihr leibliches Wohl in Anspruch nahmen. Und Leopolds Unterkunft war nicht viel eindrucksvoller als die seiner Offiziere; auch er hatte ein Zelt, in dem man aufrecht stehen konnte und das in einen Schlafbereich und einen Arbeitsbereich aufgeteilt war. Die Einrichtung war ebenso schlicht: eine Truhe für seine persönliche Habe, ein Feldbett, ein Kohlebecken zur Abwehr der frostigen Kälte, ein Gestell für seine Rüstung und die Waffen, ein kleiner Klapptisch und ein Stuhl. Die wenigen Luxusgüter, die er besaß, waren ausnahmslos Geburtstagsgeschenke von seinen Freunden und den wenigen Höflingen, die sich so sicher fühlten, daß sie sich offen als Freunde zu ihm bekannten. Das Zelt war mit Teppichen ausgelegt, die Feuchtigkeit und Kälte aus dem Erdboden abhielten, Lampen sorgten für warmes Licht, und Wandbehänge schmückten die kahlen Leinenwände des Zeltes; auf seinem Lager stapelten sich Wolldecken und Pelze. Sie waren der einzige Luxus, den er sich von allem, was er seinem Rang gemäß hätte beanspruchen können, leistete. Stets war er sich bewußt, daß man ihn beobachtete und daß zu viele Vergünstigungen Argwohn wecken würden. Er nahm die Mahlzeiten gemeinsam mit seinen Männern ein und hielt sich nicht einmal einen eigenen Koch, wie ihn selbst einige seiner Untergebenen hatten. In dem Augenblick, als er sich bewegte, stand sein Page bereits mit einer Schüssel warmen Wassers zum Waschen und der Kleidung für den Tag neben ihm. Der engelgleiche, blonde Knabe war ihm ans Herz gewachsen, wenngleich er sorgfältig darauf achtete, daß es niemand 110
merkte. Das geschah sowohl sich selbst als auch dem Jungen zuliebe — offene Bevorzugung wäre Anlaß genug, den Knaben jemand anderem zuzuweisen, vielleicht einem grausameren Herrn als Leopold. Das war in der Vergangenheit mehrfach geschehen. Wenn sie allein waren, achtete er darauf, den Knaben mit milden Worten zu ermahnen, wenn er etwas auszusetzen hatte, und ihn anzulächeln, wenn er mit ihm zufrieden war. Stets hatte er ein freundliches Wort für ihn. Allerdings hob er eine Augenbraue, als er die Kleider sah, die der Knabe ihm gebracht hatte: höfische Tracht, wie er sie bevorzugte, schlichter als die der meisten anderen Höflinge. Ein streng geschnittener Überrock aus schwerem, in weichem Dunkelrot gehaltenen Seidenwollstoff, mit Gold besetzt und geschmückt mit dem Kreuz seines Vaters auf Brust und Rücken; eine dazu passende, enganliegende Hose und hohe, schwarz glänzende Stiefel - außer der kleinen Krone, einem diskreten Schmuck auf dem Scheitel, zeugte nichts von seiner hohen Stellung. Alle hohen Offiziere trugen ähnliche Kleidung. »Euer kaiserlicher Vater wünscht Euch zu sehen, sobald Ihr angezogen seid, Herr«, piepste der Knabe mit zittrigem Sopran. »Vor Morgengrauen war ein Bote hier.« Daraufhin schnellte die andere Augenbraue in die Höhe. Für gewöhnlich verlangte Balthasar so früh noch nicht nach seinem Sohn nicht in dieser förmlichen Aufmachung. »Ich danke dir, Peter«, sagte er ruhig. »Das hast du gut gemacht, ebensogut wie Klaus es getan hätte. Ich kann mich allein anziehen; geh du lieber zu Feldwebel Athold und sieh zu, daß du Frühstück bekommst.« Der Page verbeugte sich und ging hinaus, bemüht, sich seine Eile nicht anmerken zu lassen, doch er war noch im Wachstum, und Essen spielte eine wichtige Rolle für ihn. Leopold lächelte und machte sich daran, seine Morgentoilette zu erledigen. Sein Knappe Klaus tauchte auf, als er gerade fertig war; er wies den Jüngling an, das Paradegeschirr für sein Pferd zu reinigen, und fügte hinzu, er möge es vor das Zelt bringen für den Fall, daß der Wallach gebraucht würde. Heiter trat er hinaus in das fahle Licht des frühen Morgens. Das Lager erwachte, und die Männer bereiteten sich auf den Tag vor. Hier war er von seinen persönlichen Truppen umgeben, und einzelne Soldaten, die er kannte, grüßte er. Sie grüßten zurück; er war ein beliebter Befehlshaber, und man wußte, daß er unparteiisch, gerecht und ein guter Führer war. Dies war der einzige Bereich, in dem er seine Fähigkeiten nicht unter den Scheffel stellen mußte; er war nicht bereit, seinen Männern 111
eine einwandfreie Führung zu versagen, auch wenn sich Balthasars Stirn in Falten legte, wenn man seinen Sohn nach einem Sieg umjubelte. Es gab genug schlechte Befehlshaber in dieser Armee; er hatte nicht die Absicht, seine Männer unter einem weiteren leiden zu lassen. Er ging auf demselben Weg zurück, an dem er am Abend zuvor gekommen war. Stimmen drangen aus dem Zelt. Eine Wache öffnete ihm. Beim Eintreten duckte er sich ein wenig und neigte dann den Kopf noch tiefer, da er sah, daß sein Vater gerade Hof hielt. Außer Balthasar selbst waren General Catal, der eigentliche Befehlshaber der Kaiserlichen Armee, Adelphus, der Kanzler, und der allgegenwärtige Apolon anwesend. Catal sah aus wie immer — wie eine Marmorstatue mit Eisenhaar und ernstem Gesichtsausdruck, zum Leben erweckt und in eine Rüstung gesteckt, die er nie auszog, nicht einmal zu offiziellen Anlässen. Er nickte kurz zum Gruß und wandte sich sogleich wieder seinem Herrscher zu. Adelphus in seiner scharlachroten Staatsrobe schenkte Leopold ein kurzes Lächeln und verbeugte sich knapp, wobei man seine beginnende Glatze gut erkennen konnte. Leopold kam mit ihm recht gut aus; Adelphus besaß nicht mehr Ehrgeiz als der Prinz, da er mit seinen Verwaltungsaufgaben (die er im übrigen hervorragend erledigte) vollauf zufrieden war. Intrigen überließ er anderen. Mit dem Prinzen verband ihn eine Art Seelenverwandtschaft, zumindest was den Mangel an Ehrgeiz betraf, und er bemühte sich nach Kräften, die Haltung des Herrschers gegenüber seinem Sohn zu mildern. Adelphus' einzige Schwäche war ein Hang zur Habgier; er liebte Kostbarkeiten, und für gewöhnlich fand er eine Möglichkeit, sich Dinge anzueignen, an denen er Gefallen gefunden hatte. Kaiser Balthasar gab durch ein Brummen zu erkennen, daß er die Ankunft seines Sohnes bemerkt hatte, doch er bot ihm keinen Sitzplatz an. »Wir haben eine Aufgabe für Euch, Prinz«, sagte er schroff. »Wir wünschen, daß Ihr mit Euren persönlichen Truppen die Stadt unter Eure Obhut nehmt. Besetzt den Palast; schaut Euch auf dem Gelände nach einem geeigneten Ort um, wo man eine Garnison unterbringen kann, und benachrichtigt Catal, sobald Ihr fündig geworden seid. Bereitet alles für die Besetzung der Stadt vor. Es muß sich jemand mit entsprechenden Vollmachten in der Stadt aufhalten, damit diese fetten Händler wissen, wer der Herr ist. Wie Apolon berichtet, sind noch zu viele der Meinung, daß ihre Königin das letzte Wort hat.« Soll heißen, jeder Funke von geheimem Widerstand ist zu unterdrücken, dachte Leopold, während er nickte. Doch seine Stimmung hob sich ein
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wenig. Eine kleine Aufgabe war besser als gar keine. »Apolon hat bereits seine Männer in die Stadt geschickt, um mögliche Verschwörungen aufzuspüren und um unsere Macht über die Stadt zu sichern«, fuhr Balthasar fort. »Ich habe ihnen freie Hand gelassen, um ein paar Sonderbefehle auszuführen; ich möchte, daß Ihr sie in Ruhe laßt und Euch nicht in ihre Angelegenheiten einmischt. Sie versuchen die Unruhe unter den Kaufleuten in den Griff zu bekommen und die Bürger zu registrieren, und sie sorgen vor Ort für Ruhe und Ordnung. Ihr sollt nur meinem Einzug den Weg ebnen.« Leopolds gute Laune schwand dahin. Also wieder eine Beschäftigung, die keine war; er war nichts weiter als ein Statthalter, bis der Herrscher bereit war, Merina einen Blick auf ihren neuen Herrn zu gewähren. »Haltet nach der Königin und der Prinzessin Ausschau«, mischte sich Apolon verdrießlich ein. Der gelehrte Magier sah an diesem Vormittag besonders verärgert aus, als hätte er eine herbe Enttäuschung erlitten. »Irgendwie sind sie uns gestern abend entwischt. Sie können nicht weit gekommen sein, aber wenn Ihr sie vor meinen Männern findet, müßt Ihr sie umgehend zu mir schicken.« Da Balthasar nicht widersprach, unterdrückte Leopold einen Einwand und nickte erneut. Doch bei diesem Befehl sträubten sich ihm die Nackenhaare. Hier stimmte etwas nicht. Warum ist ihm so viel daran gelegen, diese Frauen in seine Gewalt zu bekommen. Bestimmt nicht, weil er ihnen wohlgesonnen ist! »Geht —«, sagte Balthasar und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, daß er entlassen war. »Eure Truppen sollen sich zum Abmarsch bereitmachen.Veranstaltet einen großen Einzug. Seht zu, daß Ihr rechtzeitig an Ort und Stelle seid, um auf dem Platz der Königin an der Messe des Herzens teilzunehmen; es ist von größter Wichtigkeit, daß wir den Menschen zeigen, wer ihr Herr ist, und das ist die beste Gelegenheit, um damit zu beginnen. Diese Leute haben ein rührseliges Verhältnis zu ihrem Tempel, und alle, die sich freimachen können, werden wahrscheinlich an der Andacht teilnehmen.« »Zu Befehl, Majestät«, sagte Leopold förmlich, verbeugte sich und ging hinaus. Ungelöste Fragen und unerfreuliche Mutmaßungen schwirrten ihm durch den Kopf. Sobald er in Hörweite kam, begann er, seinen Männern Befehle zuzurufen; wie immer gehorchten sie mit vorbildlicher Präzision, so daß er lediglich auf sein Pferd warten mußte und in der Zwischenzeit Gelegenheit hatte, über die Besprechung in Balthasars Zelt nachzudenken. 113
Mag sein, daß Vater sehen will, ob ich versuche, die Stadt an mich zu reißen, oder ob ich seine Befehle genauestens befolge. Aber — diese Sache mit den vermißten Frauen des Königshauses gefällt mir ganz und gar nicht! Apolons Absichten sind undurchschaubar, er hat einen bestimmten Grund, warum er sie in seiner persönlichen Obhut haben will. Sein Knappe brachte ihm das Pferd genau zu dem Zeitpunkt, als die Männer fertig gepackt hatten und sich zu formieren begannen. Sogleich saß er auf und setzte sich nach außen hin entspannt in den Sattel, während er darauf wartete, daß sie ihre Aufstellung beendeten. Apolon führt nichts Gutes im Schilde. Catal — nun Catal steht immer hinter ihm. Man könnte meinen, Catal sei wie eine Puppe, der Apolon Leben eingehaucht hat — wenn er nicht ein so guter Stratege wäre und Apolon so unergründlich, daß es schon erschütternd ist. Adelphus, dem Kanzler, ist es gleichgültig, was Apolon treibt, solange er seinen Interessen nicht in die Quere kommt. Das alles verstehe ich. Doch ich begreife nicht, warum Vater damit einverstanden ist. Es scheint mir, als könne ihm das eine Menge Ärger mit den Einwohnern von Merina einbringen. Wenn Vater sie mit harter Hand regieren und darüber hinaus die königliche Familie auslöschen will, hat er eine große Gefahr nicht bedacht. Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, setzen für eine Veränderung zu Recht alles aufs Spiel — und mögen ihre Aussichten auf Erfolg noch so schlecht sein. Wenn Apolon wirklich nichts Gutes im Schilde führte - wenn er den Frauen Schaden zufügen wollte — Aber Balthasar würde in diesem Fall gewiß nur mit den Achseln zucken. Bis dahin, so dachte er sicher, wäre seine Herrschaft über Merina so gefestigt, daß die Menschen nichts tun könnten. Das ist ein Fehler. Verzweifelte Menschen begehen verzweifelte Taten. Leopolds Pferd schnaubte und begann zu tänzeln, da es die Unruhe seines Reiters spürte. Die Sache gefällt mir nicht. Und ich werde da nicht mitmachen. Da war es; sein erster echter Akt der Auflehnung. Aber es war doch keine Auflehnung gegen den Vater, oder? Nein. Sie ist gegen jenen Hund gerichtet, gegen Apolon. Wie auch immer er es fertiggebracht hat, Balthasar zu überreden — Vater hätte nicht zugestimmt, wenn er darüber nachgedacht hätte. Nein, Vater ist hart, aber er ist nicht — nicht böse. Und Apolon führt nur Böses gegen diese Frauen im Schilde. Dessen bin ich mir so sicher, wie ich Leopold heiße. Er nahm die Zügel auf und beruhigte sein Pferd. Es ging ihm ein wenig besser, zumindest war er sich über sein Vorgehen im klaren. Was auch immer die Pläne Apolons waren, er würde sie durchkreuzen, wo er nur konnte. Was schließlich jeder ehrenhafte Mann tun würde. 114
18. Lydana Mathilde und der Aal erwachten beim Klang einer Morgenglocke, die in jedem Stadtviertel ertönte. Sie war im Unterhemd zu Bett gegangen und sehnte sich nach dem tiefen Becken voll warmen Wassers, das im Palast für sie bereitgestanden hätte. Wasser! Sie mußten das Faß vor die Tür stellen, damit es gefüllt wurde. Der Wagen kam sehr früh. Ihr kleiner Gefährte war bereits aus dem Bett geschlüpft, da er offenbar denselben Gedanken gehabt hatte. Er zog die große Tonne aus der hinteren Zimmerecke und schob sie zur Tür. Mathilde beeilte sich, ihm zur Hand zu gehen. Gemeinsam schafften sie die Tonne vor die Tür. Sie warf einen raschen Blick nach links und rechts. Ja, in der Straße sah es aus wie sonst auch um diese Zeit — überall standen die Fässer vor der Tür, und aus Bertas Laden an der Ecke zog der Duft von frisch gebackenem Brot herüber. Mathildes Magen krampfte sich leicht zusammen. Eilig zog sie ihre Geldbörse heraus und warf dem Aal ein paar Münzen zu. »Zwei Laibe Schwarzbrot«, befahl sie ihm. »Und eine Schüssel Streichkäse, falls sie ihn vorrätig hat.« Er nickte und war verschwunden. Mathilde trat wieder ins Haus und betrachtete ihre äußere Erscheinung in einer Spiegelscherbe, soweit das möglich war. Die Frau, die sie jetzt war, kam nicht allzu oft mit Wasser zum Waschen in Berührung, und sie hatte genug Lippenrot und einen Kamm, um sich für den Tag herzurichten. Als der Aal zurückkehrte, war sie gerade damit beschäftigt, die großen Fensterläden zur Straße hin zu öffnen. Er legte rasch die Einkäufe auf den Tisch, um ihr zu helfen, das hochgeklappte Brett herunterzulassen, das ein Stück in den Hof hinausragte, so daß sie ihre Waren darauf ausstellen konnte. Mit seinen kleinen Füßen, an denen er Holzpantinen trug, versetzte er jedem Tischbein einen entschlossenen Tritt, um ihm einen festen Stand zu geben. Das Rumpeln des Wasserwagens wurde jetzt von anderen Geräuschen überlagert. Allem Anschein nach hatten sich die Nachbarn von ihrer gestrigen Furchtsamkeit erholt. Max, der Schuhmacher, hatte den Laden 115
fast aufgebaut, und auch Lottie, die mit gebrauchter Kleidung handelte, war schon bereit, Geschäfte zu tätigen. Sie wünschten sich einen guten Morgen, wobei Mathilde jedoch den Eindruck gewann, daß ihre Stimmen gedämpfter als sonst klangen. Die Blicke der Nachbarn wanderten häufig zur Hauptstraße hin, und nicht unbedingt in Erwartung von Käufern. Der Wasserhändler brachte einen Sackvoll Neuigkeiten mit. Ja, es stimmte, daß weder Balthasar noch seine Armee Anstalten unternommen hatten, die weit geöffneten Tore zu durchschreiten. Aber der Sohn des Kaisers war gerade kurz nach Tagesanbruch hereingeritten, jedoch nur mit seinen eigenen Soldaten. Er hatte den Palast besetzt. Man ging gemeinhin davon aus, daß sein Vater beschlossen hatte, Leopold solle die Stadt halten, während er selbst sich anderen, wichtigeren Dingen zuwandte. Welches seine Pläne sein mochten, wußte allerdings niemand zu sagen. Leopold, dachte Mathilde, als sie mit ihrem Gefährten vorsichtig das überschwappende Faß wieder in seine Ecke bugsierte. Was wußte sie von diesem einzigen Sproß des Kaisers? Obwohl alle Männer bereits seit Jahren von den Heldentaten Balthasars sprachen und dabei sogar seine Ratsherren nicht unerwähnt ließen, hatte man von dem Prinzen nur wenig erfahren. Selbst die meisten Generäle waren bekannter. »Raus?« Der Aal hatte sein Frühstück beendet und das Schrankbett in aller Eile zurechtgemacht. Nun zupfte er an Mathildes Ellenbogen. Sie wußte nur zu gut, daß er jetzt gehen mußte. Denn er würde viel mehr in Erfahrung bringen können als sie selbst. Doch der Gedanke an die schwarzen Männer ging ihr nicht aus dem Kopf. »Paß auf dich auf«, sagte sie, obwohl sie wußte, daß ihr kleiner Gefährte einer solchen Warnung nicht bedurfte. »Zuerst die Zunfthäuser?« erkundigte sich der Aal. Mathilde nickte. Der Wohlstand von Merina lag in den Händen der Zünfte. Wenn man die Stadt jetzt zur Plünderung freigeben würde, wären in erster Linie sie davon betroffen. Schon war der Aal unterwegs. Mathilde nahm ihre Tätigkeit auf, als wäre dies ein normaler Tag. Sie packte ihre Halsbänder aus, die sie mit kleinen Schnallen am Verkaufstisch befestigte. So konnten sie nicht wegrutschen oder von flinken Händen gestohlen werden. Sie achtete an diesem Morgen besonders darauf, daß keines der ausgestellten Stücke preislich aus dem Rahmen fiel — nur keinen teuren Schmuck. 116
Nachdem sie ihre Waren ausgebreitet hatte, setzte Mathilde sich auf ihren hohen Hocker und nahm einen Kasten auf den Schoß, in dessen Fächern sich eine Vielzahl von Perlen in allen Formen und Farben befand. Sie fädelte eine Nadel ein und machte sich an die Arbeit, während sie auf Kundschaft wartete. »Ach, Mathilde, so viele hübsche Sachen!« Kassie, die sich später als sonst auf dem Weg zur Bäckerei befand, schaute sehnsüchtig auf die Perlenschnüre. »Die da«, sagte sie und deutete mit einem schmutzigen Finger auf eine Schnur in der Mitte des Ladentisches, »die - die würde ich mir aussuchen. Die Schmetterlinge — sie sind wie echt!« Mathilde erwiderte in energischem Ton: »Hat auch eine Menge Arbeit gekostet, Mädchen. Wirst schon fünf Kupfermünzen oder einen Silbertalter hinlegen müssen.« Kassie seufzte. »Ich kriege nicht einmal annähernd soviel zu Gesicht nicht bei dieser hartherzigen zweiten Frau meines Vaters, die den Daumen auf dem Geld hält.« »Bring Hughes mit«, sagte Mathilde lächelnd. Kassie errötete und schüttelte langsam den Kopf. Zum ersten Mal warf sie einen Blick über die Schulter, ehe sie antwortete. »Hughes - ich habe ihn seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Man rief ihn, als die Ratsversammlung zusammentrat, aber er ist nicht nach Hause gekommen. Ich bin spät dran, sie wird mit dem Besen auf mich losfahren. Ich wünsche Euch ein gutes Geschäft heute, Mathilde.« Sie eilte davon. Hughes war in seinem ersten Jahr bei den Kanalwächtern. Mathilde fädelte nach einer Kupferperle eine rote Perle auf. Was war aus den Wächtern der Stadt geworden? Sie schauderte - das alles hatte etwas Unwirkliches - Balthasar kam nicht in die Stadt, die Männer in Schwarz »Hallo, Frau!« Sie erschrak, als erneut ein Schatten über ihren Ladentisch fiel. Sie sah auf und begegnete dem starren Blick eines jener Schwarzmäntel. Er war nicht allein. Sein Gefährte rollte dickes gelbes Papier aus, das er mit einer Hand hochhielt. In der anderen hatte er einen Zeigestock. »Schnüre, Herr. Es sind die besten —« »Habt Ihr eine Zulassung?« Der Mann wirkte nicht mißmutig, aber er machte auch nicht im geringsten den Eindruck eines Käufers. Mathilde wies auf ein Stück Pergament, das ein wenig schief in seinem Rahmen an einem der Fensterläden baumelte. Sie erlaubte sich einen leicht schnippischen Ton, als sie antwortete: 117
»Lest selbst - das ist mein Meisterbrief, ordnungsgemäß unterzeichnet von Meister Garmage höchstpersönlich, versehen mit dem Siegel ihrer Majestät, der Königin —« Er trat näher heran und betrachtete die Urkunde genau. Dann sagte er kalt: »Es gibt keine Königin in Merina, Frau, habt Ihr das noch nicht gehört? Ihr braucht eine neue Zulassung, und die Gebühren dafür müßt Ihr innerhalb von zwei Tagen am Zeichen der Drei Kelche entrichten. Name?« bellte er. »Ich bin Mathilde Rankistochter, meines Zeichens Perlenhändlerin.« Sie hatte das Gefühl, sie könnte sich eine scharfe Zunge leisten. Sie hatte sich einen bestimmten Charakter zugelegt, und nun war es an der Zeit, ihn auszuleben. »Mathilde.« Der Schwarzmantel nickte seinem Gefährten zu, der auf dem Papier in seinen Händen eine Linie zog. »Sechs Silberlinge für ein halbes Jahr, Frau. Und Versprechungen nehmen wir nicht entgegen, nur bares Geld.« Er hatte ihr den Rücken zugewandt und machte sich auf den Weg zu Max. Mathilde wußte, daß sie nicht weiter überrascht sein durfte. Schließlich hatten sie von Anfang an gewußt, daß Balthasar alles, was er nur konnte, aus der reichen Hafenstadt herauspressen würde. Doch eine solche Summe vermochte eine Händlerin wie sie in zwei Tagen unter keinen Umständen aufzutreiben. Hatte der Herrscher nun beschlossen, die Stadt auf seine Weise zu plündern, indem er Steuern verlangte, die keiner der kleineren Händler bezahlen konnte? Aus Max' Laden vernahm sie eine laute Stimme. Der Schuhmacher war jähzornig. Zudem war er ein Mann, der jede Kupfermünze umdrehte, bevor er sie ausgab. Einer der beiden Schwarzmäntel machte eine rasche Bewegung, packte den Schuhmacher beim Schlafittchen und schüttelte ihn. »Ihr könnt Euch glücklich schätzen«, sagte der Angreifer, »daß ich gut gelaunt bin, sonst würdet Ihr eingesperrt dafür, daß Ihr Euch gegenüber den Männern des Kaisers diesen Ton erlaubt habt. Entweder Ihr zahlt oder Ihr dürft nicht arbeiten, Dummkopf.« Mathilde dachte nach. Schelyra war in Sicherheit - noch -, aber diese Schwarzmäntel schienen überall zu sein. Und Saxon — was war ihm zugestoßen? Sie hatte die Absicht gehabt, sobald wie möglich Verbindung zu ihm aufzunehmen. Nun war sie sicher, daß sie dies - wenn es überhaupt möglich war - unter größter Vorsicht tun mußte. Für gewöhnlich wären jetzt, nachdem die Schwarzmäntel gegangen waren, die anderen Händler im Hof zusammengelaufen und hätten laut 118
hals alle möglichen Heiligen und Engel gegen solche Ausbeutung um Hilfe angerufen. Doch alles blieb still, grabesstill, und ihr fiel auf, daß auch von der Straße draußen nur wenig Lärm zu hören war. Wenn diese schwarzen Krähen bereits in die Schlupfwinkel der Armen vorgedrungen waren — wie mochte dann erst das Schicksal der Zünfte aussehen? Sie sollte es erfahren, noch ehe das Stundenglas herumgedreht wurde, denn der Aal kam zurück. Nicht im üblichen ungestümen Laufschritt, der zu seiner Rolle paßte, sondern von einem Eingang zum nächsten huschend, als fürchte er, aufgegriffen zu werden. Dennoch war er nicht außer Atem, als er den Perlenladen betrat. Sein Blick allerdings flog hin und her, als erwarte er, daß sich irgend ein Verhängnis über Mathilde zusammenbrauen würde. »Sie gehen gegen die Zünfte vor«, begann er ohne Umschweife. »Die Schwarzmäntel haben alle Zunftmeister heute morgen in den Palast mitgenommen. Sie haben einen der ihren in jedes Zunfthaus gesetzt und eigene Schreiber mitgebracht, die alle Hauptbücher anforderten. Auch die Gesellen und Gesellinnen lassen sie nicht weiterarbeiten. Sie haben sie aus den Arbeitsräumen ausgesperrt und fragen sie über die Geschäfte eines jeden Hauses aus.« Also sind sie nicht nur hinter den kleinen Fischen aus Merinas Handelswelt her, sondern verschonen auch die großen nicht. Mathilde spürte das dringende Bedürfnis, ihre eigene Zunft aufzusuchen, um zu sehen, was geschah. »Sie haben eine Sondereinheit zur Zunft des Tigers geschickt«, fuhr der Aal fort. »Meister Samensen und Meister Kird haben sie mitgenommen. Sie fragen nach der Königin —« Ja, das dürfte Balthasars erster Versuch gewesen sein, sie aus ihrem Versteck in der Stadt zu jagen. Aber nicht einmal die engsten Vertrauten unter den Arbeitern kannten Mathildes Unterschlupf. Kaiser Balthasar würde in ihrem Haus reiche Beute finden! Seit Jahrhunderten unterstanden ihnen die ergiebigsten Zweige des Juwelenhandels, und es war vielen Zunftmeistern ein Vergnügen gewesen, besonders feine oder ungewöhnliche Juwelen entweder für die Samm lung des Hauses oder für Sonderaufträge zurückzuhalten. Ein solches Stück lag gerade jetzt auf ihrem Arbeitstisch im Zunfthaus, es sei denn, jemand war gewitzt genug gewesen, es zu verstecken. Es war ein Auftrag für eine Hochzeitskrone aus Übersee - eine Arbeit, die ihre schöpferischen Kräfte voll und ganz beansprucht hatte. Sie zuckte mit den Schultern - im Augenblick ging es um mehr als um kunsthandwerkliche Arbeit. 119
»Sie planen eine große Zeremonie im Großen Tempel«, fuhr der Aal fort. »Vielleicht wird Balthasar daran teilnehmen. Es heißt, er wolle anschließend eine Ansprache halten.« Offenbar war das alles, was er an Neuigkeiten mitgebracht hatte, denn er setzte sich auf seinen Hocker und betrachtete sie schweigend. »Und Saxon?« fragte sie beinahe im Flüsterton. Sie hatte sich auf die Unterstützung des Kapitäns verlassen. Er würde nicht mehr im Wirtshaus sein. Vielleicht war er zum Hafen hinausgefahren. Sie klappte die kleinen Perlenfächer in ihrer Arbeitskiste zu, während sie überlegte, was sie unternehmen konnte. »Es gibt ja auch noch Jonas -«, wie immer hatte der Aal ihre Gedanken erraten. Richtig - Jonas! Obwohl Saxon ein kluger Mann war, gewohnt, mit sich selbst zu Rate zu gehen, vertraute er dem einbeinigen Wirt einer Kneipe für gewöhnliche Seeleute, die noch weniger anspruchsvoll war als die »Meeresschlange«. Jonas hatte ein paar Jahre unter dem Kapitän gedient, bis er bei Urs ein Bein verlor. Mathilde war sich durchaus bewußt, daß er der eigentliche Auskundschafter für Saxons nicht ganz legale Geschäfte im Hafen und in den Kanälen war. Doch am hellichten Tag konnte sie ihn nicht aufsuchen. Mathilde hätte keinen hinreichenden Grund, den Laden zu schließen und durch die Straßen zu stromern, und sie war inzwischen überzeugt, daß alles, was vom Normalen abwich, die Aufmerksamkeit der wachsamen Schwarzmäntel auf sich ziehen würde. Aber da war noch etwas. »Wann findet die Zeremonie statt?« fragte sie den Aal. »Gegen Mittag — heute.« Das war's. Nach dem Schreck, der ihr heute morgen im Laden widerfahren war, konnte niemand ihr ernsthaft verwehren, Trost im Tempel zu suchen. »Du führst den Laden«, sagte sie, »und ich gehe zur Zeremonie. Wenn jemand nach mir fragt, sag ruhig, wo ich bin. Ich — ich werde Berta bitten, mich zu begleiten.« Sie blieb vor der Bäckerei stehen. Auf den runden Wangen der dicken Ladenbesitzerin zeigten sich Tränenspuren. »Zehn Silberlinge!« begrüßte sie Mathilde jammernd. »Ich nehme vielleicht fünf Silberlinge in der Woche ein - wenn die anderen Geld genug haben, zu bezahlen. Aber dann ist da noch meine Tochter Ella, 120
deren Jüngstes krank ist. Sie ist heute morgen in die Stadt zur Apotheke gegangen, und die war geschlossen. Eine dieser schwarzen Krähen stand vor der Tür, um den Kranken mitzuteilen, sie sollten für sich selbst sorgen — es sei denn, sie bezahlten. Mathilde - es ist so schlimm —« »Schlimmer, als wir befürchtet haben«, nickte die Perlenhändlerin. »Heute mittag wird eine Zeremonie vor dem Heiligen Herzen abgehalten. Ich gehe hin und bitte um die Gnade der Allmächtigen - komm mit.« Berta klatschte in die Hände, und ihre zweite Tochter steckte den Kopf aus der Backstube. »Wir gehen zum Herzen«, sagte die Bäckerin. »Paß du auf den Laden auf. Nicht einmal die Schwarzmäntel können einen von der Großen Gnade abhalten -« Das ist die Frage, dachte Mathilde, als sie sich auf den Weg machten. Offensichtlich waren auch andere Menschen auf die Idee gekommen, zum Tempel zu gehen. In einem stetigen Strom, der vor allem aus Frauen bestand, strebten sie dem Tempel zu. Mathilde wunderte sich, wie wenige Männer zu sehen waren. Es gab ein paar ältere, aber wo waren die jüngeren? Balthasars Schergen konnten doch unmöglich alle Männer Merinas in Gewahrsam genommen haben! Wo hätten sie sie unterbringen sollen? Wieder einmal war sie Zeugin, wie rasch sich der Platz vor dem Großen Tempel füllte. Doch sie bahnte sich ihren Weg hindurch, Berta im Schlepptau, und diesmal gelang es ihr, die Treppe zu erreichen und in das lange Schiff des Gebäudes vorzudringen, wenn sie dort auch in eine Ecke gedrängt wurden. Das Ewige Licht brannte, und der Chor hatte seine Plätze eingenommen; nach und nach kamen die Priester und Priesterinnen herein, die in ihren Kutten und Schleiern kaum voneinander zu unterscheiden waren. Es waren nicht allzu viele, bemerkte Mathilde mit einem Anflug von Angst, vor allem bei den Grauen Kutten. Obwohl auch andere Familien außer dem Königshaus die angeborene Gabe besaßen, hatten sie in der letzten Generation nicht viele Töchter hervorgebracht. Und da dieses Talent sich erst in mittleren Jahren zeigte und diejenigen, die darüber verfügten, nicht sehr alt wurden, hatte ihre Zahl im Laufe der Jahre abgenommen. Die Tempelzellen der Grauen Kutten waren nur zu einem Viertel belegt. Die Prozession aus dem Allerheiligsten riß sie aus ihren düsteren Gedanken: Vornweg schritt die Erzpriesterin in vollem Ornat, aber statt 121
des üblichen strahlenden Scharlachrot trug sie das Rot der Trauer — der Trauer um eine bereits verlorene Stadt. Die Umstehenden sanken auf die Knie. Mathilde schloß sich ihnen rasch an, während die Ewige Flamme langsam zum Altar getragen wurde. Neben diesem standen noch immer die beiden Thronsitze. Auf dem Stuhl der Königin, den bis zum gestrigen Tage noch Adele eingenommen hatte, saß ein junger Mann von Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig - Prinz Leopold? Von Kaiser Balthasar war nichts zu sehen. Trotz gegenteiliger Ankündigungen kam er auch nicht mehr. Der Tempel war voll, aber die Erzpriesterin hielt keine Andacht ab. Sie erhob sich nur von ihrem hohen Stuhl und kniete in stillem Gebet vor dem Altar nieder, gestützt von einer Priesterin. Und Mathilde, die eine solche Abweichung von der üblichen Form der Andacht erst ein einziges Mal anläßlich des Todes ihres Vaters erlebt hatte, bekam es mit der Angst zu tun - Adele? Ihre einzige Hoffnung waren die starken Bande zwischen ihnen — wenn Adele gestorben wäre, hätte sie, Lydana, es bestimmt gewußt, schon in dem Augenblick, als ihre Mutter den letzten Atemzug tat. Als die Andacht vorüber war, hielt sie Berta am Arm fest. »Ich möchte mir Beistand holen«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Beichtstühle. Die Bäckerin nickte. »Ich auch, Nachbarin.« Mathilde mußte warten, bis der Große Tempel sich teilweise geleert hatte, ehe sie den vereinbarten Beichtstuhl aufsuchen konnte. Sie kniete eine Zeitlang andächtig nieder und schaute auf das Herz. Dann schob sie den Vorhang zurück, um sich auf einen sehr niedrigen Hocker zu setzen, das Gesicht auf einer Höhe mit dem groben Geflecht eines Wandschirms, durch den nur die Umrisse der Gestalt zu erkennen waren, die auf der anderen Seite hereinkam, kurz nachdem Mathilde den Beichtstuhl betreten hatte. Sie sprach die ewiggleichen Worte, mit denen man eine Beichte begann. »Ehrwürdige, in meinem Herzen herrscht kein Friede.« »Sprich, mein Kind«, vernahm sie leise die rituellen Worte, »denn deine Mutter hört dir zu.« War es Adele? Sie war sich nicht sicher. »Es gibt Ärger in der Stadt, Ehrwürdige —«, begann Mathilde. Es fiel ihr schwer, über ihre eigentlichen Sorgen zu sprechen, wenn sie nicht einmal wußte, mit wem sie sprach. »Wohl wahr, meine Tochter.« Mathilde lächelte froh. »Mutter!« flüsterte sie. 122
»Gib acht, was du sagst - wir wissen nicht, ob uns jemand beobachtet « Seit Jahren hatte sie ihre Mutter nicht mehr so ernst reden hören. Rasch berichtete Mathilde von allem, was sie wußte. Dann fragte sie: »Wißt Ihr über Schelyra etwas Neues?« »Sie ist vorläufig in Sicherheit. Doch das Kind ist impulsiv, und was diese schwarzen Diener Apolons im Augenblick treiben —« »Apolon?« unterbrach Mathilde sie. »Ja, die Schwarzmäntel sind giftige Pilze, die er ausgesät hat. Sie haben ihm gedient und durch ihn dem Kaiser; so gut, daß Balthasar ihnen die Aufsicht über die Stadt übertragen hat. Apolon -«, an dieser Stelle zitterte ihre Stimme zum ersten Mal, »ist mehr als ein Magier, meine Tochter. So wie Verit mehr ist als eine Priesterin. Auch er ist sehr mächtig. Obwohl er bisher noch keinen Schritt unternommen hat außer denen, die seinem Herrn dienen, glauben wir, daß er weiterreichende Pläne als Balthasar verfolgt. Sie haben die Zunftmeister als Geiseln genommen zwei Drittel ihrer Lagerbestände haben sie beschlagnahmt als Gegenleistung für das, was sie Freiheit nennen. Unsere Gesetzeshüter sind ihre Gefangenen, und sie ergreifen alle jungen Männer, deren sie habhaft werden, und stecken sie in Arbeitslager. Es gab sogar Gerüchte, daß man sie als Sklaven in die anderen eroberten Gebiete Balthasars schicken will. Jene unter uns, die mit der seherischen Kraft gesegnet sind, versuchen jetzt, mit Hilfe dieser Gabe etwas herauszufinden, aber wir wagen nicht, zu starke Kräfte einzusetzen, um Apolons Aufmerksamkeit nicht auf uns zu lenken - Macht zieht Macht an, wie du wohl weißt.« »Wer trägt den Ring?« fragte Mathilde leise. »Der Herold nahm ihn mit - vielleicht ziert er jetzt die Hand des Herrschers. Bedenke, Tochter, daß du mit dem Feuer spielst, wenn du diesen und alle anderen unheilbringenden Edelsteine verwendest.« Sie durfte nicht zu lange bleiben. Mathilde senkte den Kopf und sprach die an dieser Stelle üblichen Worte: »Gebt mir den Segen des Herzens, Ehrwürdige, denn ich will der Allmacht dienen.« »So sei es«, hörte sie die Mutter seufzen. »Was getan werden muß, werden wir tun.«
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19. Adele Priesterin Elfrida war, als die Beichtstunden vorüber waren, zutiefst besorgt. Eine Unruhe hatte sie ergriffen, die selbst die gewohnten rituellen Gesänge nicht zu lindern vermochten, obwohl diese sie an die Allgegenwart der Göttin und Ihre Fürsorge für Ihre Kinder gemahnten. Doch angesichts des Unglücks, das ihr in den Beichten geschildert worden war, schien das Mitgefühl der Göttin schwach und in weiter Ferne. Väter, Brüder und Söhne waren entweder spurlos verschwunden oder Apolons Schwarzmäntel in die Hände gefallen. Steuern und Zulassungen, die den finanziellen Rahmen eines Unternehmens bei weitem überstiegen, waren kleinen wie großen Händlern auferlegt worden — mit der Warnung, man werde im Falle der Nichtentrichtung das Geschäft schließen. Versuchte Balthasar, die Stadt zu strangulieren? Versuchte er gar, einen Aufstand zu schüren, um ihn dann zerschmettern zu können? Oder suchte er nur nach einem scheinbar legalen Vorgehen, um zu plündern? Mehr denn je bedauerte Elfrida, daß sie die Stadt Balthasar übergeben hatten. Doch was hätten sie tun sollen? Jeglicher Widerstand wäre von seinen Truppen rasch in einem Blutbad erstickt worden. Und jetzt, stand ihnen statt dessen nur ein langsamer Tod im Würgegriff bevor? So viel Unglück, so viele Tränen, und alle, die in den Beichtstuhl kamen, fragten dasselbe: Warum? Warum war das ausgerechnet ihnen zugestoßen? Warum hatte die Göttin sie verlassen? Warum hatte die Königin sie verlassen? Letzteres traf Elfrida hart und verletzte sie zutiefst. Auf all ihre Fragen konnte sie ihnen nur sagen, daß mitunter auch guten Menschen schreckliche Dinge widerfahren — nicht, weil die Göttin ihrem Schicksal gleichgültig gegenüberstand, sondern weil das der Lauf der Dinge auf Erden war. Wenn die Göttin jedes Gebet erhörte wozu Sie dank Ihrer Allmacht in der Lage wäre —, würden die Widersprüche, die dadurch entstünden, noch mehr Unfrieden stiften, als es ohnehin schon gab. Sie verwendete ein einfaches Beispiel: Wenn eine Frau darum bäte, der Baum neben ihrem Haus möge wachsen und ihre 124
Veranda in der Hitze des Sommers überschatten, und die Nachbarin bäte um einen Brand, der denselben Baum vernichten möge, da er die Grundmauern ihres Hauses zerstörte - welches Gebet sollte die Göttin da erhören? Oder wenn ein Sturm aufkäme und ein Fischerboot voller ehrlicher Männer vernichtete - geschah dies, weil die Göttin untätig blieb oder weil sie die Männer für irgend etwas bestrafen wollte? Bei den Ereignissen in Merina war keine göttliche Bosheit im Spiel Wenn auch gewiß irdische Bosheit eine Rolle spielte. Hab Vertrauen! ermahnte sie sich, während sie zum Refektorium ging, um zu Mittag zu essen. Vielleicht würde es ihr nach dem Essen ein wenig besser gehen. Vielleicht aber würde es ihr wie ein Klumpen Blei im Magen liegen, wie die meisten Mahlzeiten bisher. Die Dinge entwickelten sich nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Vor drei Tagen hatte alles noch ziemlich einfach ausgesehen ... »Die Bedrohung durch das Böse liegt in Zwietracht und Verzweiflung.« Diese Worte hallten in Elfrida nach. Es war die Stimme einer Frau, die sie nicht richtig einordnen konnte. Der Gedanke war bestimmt zutreffend, aber wo hatte sie diese Worte schon einmal gehört? Während der Mahlzeit, die wie gewöhnlich schweigend eingenommen wurde, fiel es ihr ein. Es war eine Predigt gewesen, die eine der Braunen Kutten vor einigen Monaten gehalten hatte, eine Frau, die außer ihrer Heilkraft eine natürliche Begabung zum Predigen besaß. Es war an einem der Hohen Feiertage zu Ehren der Göttin gewesen, und die Königinwitwe hatte daran teilgenommen. Verit hatte die Priesterin nach der Andacht Adele vorgestellt, und Adele hatte gefragt, woher sie neben all ihren anderen Pflichten noch die Zeit nähme, eine solche Predigt vorzubereiten. Verit hatte gelacht und der Königinwitwe erzählt, die Priesterin habe erst eine Stunde vor der Messe erfahren, daß sie die Predigt halten sollte. Vielleicht sollte ich Verit bitten, sie noch einmal predigen zu lassen, dachte Adele. Sie ist wahrhaft erleuchtet, und ihre Worte zeugen sowohl von Weisheit als auch von Sensibilität. Zwietracht und Verzweiflung sind genau das, was Apolon in uns zu säen sucht, und wir müssen sie mit aller uns zur Verfügung stehenden Kraft bekämpfen. Das Mittagsmahl verlief in gedrückter Stimmung; Elfrida war nicht die einzige Priesterin, die in einem Beichtstuhl gesessen hatte, und allem Anschein nach hatten die anderen ähnliche Geschichten über schmerzhafte Erfahrungen zu hören bekommen. 125
Und ich muß nach dem Essen wieder in den Beichtstuhl, dachte sie widerwillig. Sie sind noch drei Stunden geöffnet, und vielleicht will noch jemand Verbindung zu mir aufnehmen. Wie sie befurchtet hatte, lag ihr das Essen schwer im Magen, als sie wieder im dritten Beichtstuhl Platz nahm. Durch das grobe Tuch der Trennwand konnte sie sehen, daß ihr erster Bittsteller ein Mann war. Mehr konnte sie nicht erkennen. »Ehrwürdige, in meinem Herzen herrscht kein Friede«, erklang eine tiefe, angenehme Stimme, die, noch ehe sie die rituelle Antwort geben konnte, fortfuhr: »Die Wurzel reicht tief, der Baum steht hoch, die große Katze geht ihren Weg.« Während er sprach, sah sie den Schatten einer Hand, die etwas durch die abgelöste Ecke der Trennwand steckte. Es klirrte leise, als es zu Boden fiel, und sie hob es auf. Es war ein Ohrring in Form eines Fabelwesens, aus dessen wildem Auge blau ein Saphir funkelte. Er war ihr bekannt - es war Schelyras Ohrstecker, den sie bis zur Ratsversammlung getragen hatte, ehe die drei Frauen auf getrennten Fluchtwegen verschwanden. »Sprich, mein Sohn, denn deine Mutter hört dir zu«, erwiderte sie mechanisch, stutzte dann und fugte rasch hinzu: »Obwohl du nicht mein Kind bist, es sei denn, du hättest plötzlich eine andere Gestalt angenommen!« »Auch nicht Euer Enkel. Allerdings möchte eine gewisse junge Dame wissen, ob ihre Großmutter noch lebt«, sagte der Mann fröhlich. »Ich bin Thom Ränkeschmied, Ehrwürdige.« Thom Ränkeschmied — der Gauner, den Lydana zum Wächter über Schelyra bestellt hat! »Du kannst ihr ausrichten, daß Todesgerüchte gewiß übertrieben sind. Und du kannst mir sagen, was in meiner Stadt geschieht!« »Die Kerle mit den schwarzen Federn sind überall«, sagte der Mann rasch. »Ihr habt bestimmt schon gehört, was sie so treiben, da bin ich mir sicher. Ehrwürdige - ein paar von denen haben was Unheimliches an sich ...« Er schwieg eine Weile. »Es ist schwer zu erklären, aber einige von ihnen ... wirken gar nicht wie richtige Menschen. Es ist so — sie sind zielstrebig, aber nach was sie streben und wofür, das verstehe ich nicht und will es auch gar nicht wissen.« Sie runzelte die Stirn. »Es sind Apolons Männer, und er ist ein finsterer Magier — mehr weiß ich auch nicht. Aber ich wäre in ihrer Nähe äußerst vorsichtig. Er mag ihnen Kräfte verliehen haben, mit denen wir nicht gewohnt sind umzugehen.« Der Schatten nickte. »Ich habe noch eine Neuigkeit für Euch - der 126
große General, den sie Catal nennen, hat seine Sondereinheit aus Söldnern in die Stadt verlegt, und ich bin mir nicht sicher, ob der Prinz, der hier nach dem Rechten sehen soll, schon weiß, daß sie hier sind. Der General hat sie in einigen Lagerhäusern und in der alten Garnison unten am Hafen untergebracht. Ich habe ein paar von ihnen gesehen - die Sorte kenne ich. Sie werden für Ärger sorgen, Ehrwürdige. Sie haben ihren Kampf nicht gehabt, sie haben keine Beute gemacht, und sie suchen nach einer Möglichkeit, es nachzuholen.« Seine Stimme nahm einen bittenden Klang an. »Könnt Ihr unter den Leuten nicht die Losung verbreiten, sie auf keinen Fall zu reizen? Sie sollen leisetreten, >Ja Herr< hier, >Nein Herr< da, und die Augen niederschlagen. Sonst - diese Männer lechzen nach Blut.« Und sie würden es früher oder später bekommen. Elfrida nickte. »Ich kann versuchen, die Warnung über die Beichte weiterzugeben, und kann dafür sorgen, daß die anderen es ebenso machen.« Wenigstens etwas konnte sie nun tun, etwas, das die Sachlage ein wenig verändern mochte. »Was das Mädchen betrifft ...« Er zögerte und hustete. »Ehrwürdige, man hat mich damit beauftragt, sie hier rauszuschleusen.« »Und sie will nicht. Damit habe ich gerechnet.« Trotz des beklemmenden Gefühls in der Herzgegend mußte sie insgeheim über seine offenkundige Verwirrung lächeln. Sie vermutete, daß dieser Mann gewohnt war, mit Frauen nach Belieben umzuspringen. Junge Frauen vom Schlage ihrer Enkelin kannte er nicht. »Du wirst sehr wahrscheinlich noch die Erfahrung machen, daß du mehr bei ihr erreichst, wenn du sie zu überzeugen versuchst und nicht darauf bestehst, daß alles nach deinem Willen geht. Allerdings glaube ich nicht, daß du sie dazu bewegen kannst, die Stadt zu verlassen. Sie stammt aus dem Geschlecht des Tigers, und wir sind mit Merina verwachsen; das Wasser der Kanäle fließt in unseren Adern. Wir werden der Stadt beistehen, bis kein Stein mehr auf dem anderen liegt.« »Ich habe mich als Vasall verpflichtet ...« Seltsam. Seine Stimme klang traurig. Als schämte er sich, seiner Verpflichtung nicht nachkommen zu können. »Laß dir eine Woche Zeit; wenn du sie bis dahin nicht bewegen konntest, die Stadt zu verlassen, entbinde ich dich von deinen Pflichten«, erwiderte sie rasch. »Ich danke Euch.« Er seufzte. »Sie hat mich beauftragt, Euch auszurichten, daß sie nicht viel erfahren habe; der Prinz wohnt noch nicht im Palast, er lebt bei seinen Truppen in der >kleinen Garnison<, wie sie es nennt.« 127
»Das werden die Baracken auf dem Gelände des Palastes sein, wo die Palastwache wohnte«, sagte sie ihm. »Sehr bemerkenswert. Ich frage mich, ob er den Palast nach geheimen Fallen absucht, ehe er sich entschließt einzuziehen?« »Wenn ich in seiner Haut steckte, würde ich das«, sagte Thom. »Ihr habt kampflos kapituliert — und wenn ich so wie Balthasars Leute an Verrat gewohnt wäre, würde ich damit rechnen, daß der Kampf im Palast nachgeholt wird.« »Hm.« Allein diese Tatsache sagte eine Menge über den Prinzen und seine Denkweise aus. Und doch hatte sie, obwohl er ihr Feind war, anfangs einen beinahe günstigen Eindruck von ihm gewonnen. Hätte das Schicksal der Stadt in seiner Hand gelegen, dann hätte sie wohl nicht um die Sicherheit ihrer Bewohner furchten müssen. Aber er war nur eine Marionette seines Vaters - und Apolons. »Das ist alles, was ich zu sagen habe, Ehrwürdige«, sagte Thom in die Stille hinein. »Und da ich bereits im Wasserturm meinen Seelenfrieden gefunden habe, besteht meine Beichte einzig und allein darin, daß ich dieses Mädchen mindestens sechsmal am Tag erwürgen könnte.« »Du bist nicht der einzige«, sagte Elfrida und verkniff sich ein Lächeln. »Und wenn du dein Temperament zügeln mußt, ist das Strafe genug. Der Friede und Segen des Herzens sei mit dir, mein Kind«, beendete sie das Gespräch mit den rituellen Worten. »Gehe hin in Ihrem Schatten und wisse, daß Sie dich hört.« Bei diesen Worten senkte Thom Ränkeschmied den Kopf, murmelte einen Dank und schlüpfte aus dem Beichtstuhl. Elfrida wandte ihre Aufmerksamkeit dem nächsten Beichtkind zu, doch im stillen wunderte sie sich noch immer. Wer hätte das gedacht? Thom Ränkeschmied — ein Dieb, Schuft, Tunichtgut, Schmuggler, ein Trinker und ein legendärer Wüstling — war fromm! Er hatte seine letzten Worte tatsächlich als Beichte gesprochen, die ihm von Herzen kam! Sie wußte, wann es jemand ernst meinte, und sie hatte es ihm angehört! Sie bezweifelte nicht, daß er im Gefängnis wirklich eine volle Beichte abgelegt hatte — und eine ehrliche dazu. Aus irgendeinem Grund weckte diese unbedeutende Entdeckung bei ihr einen winzigen Hoffnungsschimmer und besserte ihre Laune. Denn wenn Thom Ränkeschmied sich als wahrer Sohn der Göttin entpuppen konnte - dann war vielleicht alles möglich. Selbst die Rettung der Stadt ...
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20. Lydana Wenn Berta mehr Trost aus ihrem Besuch im Beichtstuhl hatte ziehen können als Mathilde, so zeigte sie es nicht. Die beiden Frauen bezahlten murrend den Fahrpreis für das Boot, denn sie hatten es eilig, wieder nach Hause zu kommen. Dort wartete Ärger auf Mathilde. Ein Schwarzmantel hielt den Aal fest und schlug ihm brutal zuerst auf die eine Gesichtshälfte, dann auf die andere. Ein zweiter stand daneben. »Was geht hier vor?« fragte Mathilde. »Was hat der Kleine getan?« Der Mann mit dem eiskalten Blick, der sie schon einmal ausgefragt hatte, schaute sie abschätzend an. »Er führt ein Geschäft ohne Genehmigung. Er ist ein Betrüger, den man zu ehrlicher Arbeit zwingen muß —« Mathilde fuhr mit einer Hand unter das Mieder, als wolle sie sich vor Gram ans Herz greifen. Mit den Fingerspitzen berührte sie den Stein aus ihrem königlichen Siegelring, und sogleich durchflutete Wärme ihren Körper. »Er ist der Sohn von meiner Schwester.« Sie baute sich vor dem Schwarzmantel auf. »Und als solcher ist er von Rechts wegen mein Lehrling. Er ist kein Gauner, und wenn er den Laden führt, dann deshalb, weil ich es ihm befohlen habe.« »Während Ihr Euch herumtreibt, Perlenhändlerin?« »Während ich zur Andacht in den Tempel gehe, wie es recht und billig ist. Ist der Tempel jetzt für die Einwohner von Merina geschlossen? Ich glaube, das wäre dem Kaiser nicht recht - es heißt, er sei dem Tem pel treu ergeben.« Der Mann blinzelte und bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen, verkniff es sich aber. Er ließ den Aal los und schleuderte ihn gegen die Hauswand. »Ihr kümmert Euch lieber um Euren Laden - solange Ihr ihn noch habt.« Er spuckte aus. Ein Schleimklumpen traf ihren vergilbten Meisterbrief direkt über dem königlichen Siegel. Sie gingen fort, und Mathilde blickte ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach, bis sie den Hof verlassen hatten. Dann wandte sie sich 129
ihrem kleinen Gefährten zu, dessen Wangen nach den Schlägen, die er erlitten hatte, flammend rot waren. Das würde blaue Flecken geben. Im stillen ließ Mathilde die angestaute Wut ab. Dasitzen und stillhalten war nicht nach Art des Königshauses -, ihr furchterregender Helm war stets das Zeichen für ihren Mut und ihren Zorn gewesen. Es war höchste Zeit, mehr zu tun als nur auf Gerüchte zu hören und zu versuchen, diesem Chaos einen Sinn abzugewinnen. Sie führte den Aal in den hinteren Teil des Ladens und wühlte in dem Schränkchen, welches dort hing, nach einem Glas Kräuterpaste, die noch verwendet werden konnte. So sanft wie möglich trug sie diese auf die angeschwollenen Wangen auf. Dennoch konnte der Aal hin und wieder ein Stöhnen nicht unterdrücken. »Was hat die Schwarzen hergeführt?« fragte sie, als sie ihr Werk beendet hatte. Sie hatte die Arme um den schlanken, jungen Körper gelegt und hielt ihn, als könne sie ihn auf diese Weise vor weiteren Schmerzen bewahren. »Sie kamen, als hätten sie hier etwas zu erledigen.« Die Worte waren durch die geschwollenen Lippen kaum zu verstehen. »Zuerst erkundigten sie sich nach Preisen — aber sie stellten auch Fragen über Euch, über den Laden - sie durchwühlten alle Amuletthalsbänder, als suchten sie etwas. Dann bedrohten sie mich — und dann kamt Ihr.« »Die Amuletthalsbänder!« Mathilde, die einen Arm auf seiner Schulter ruhen ließ, fuhr mit der anderen Hand zum Ladentisch. Es war deutlich zu sehen, daß die Bänder durcheinandergewühlt worden waren. Nur die Schnallen, an denen sie befestigt worden waren, hatten verhindert, daß sie herabfielen. Eine Schnur war gerissen, und die Perlen waren auf die Straße gerollt. Sie hatte sich eigentlich nicht deshalb mit Amuletten befaßt, weil sie an ihre Macht glaubte. Hin und wieder hatte sie das eine oder andere ausgefallene Stück ausgewählt, weil es gut in das Muster paßte, das sie im Kopf hatte. So etwa das Doppelherz in mattem Silber, das Meerauge in Kupfer, die Darstellung der Flamme aus kleinen, zusam mengeklebten roten Perlen — und verschiedene Kuriositäten, die Händler von ihren Reisen mitgebracht und gegen ihre Waren eingetauscht hatten. Im Tempel war das Tragen von Amuletten nicht gern gesehen obwohl Amulette mit bestimmten Ornamenten häufig als Mittelstück von Gebetsschnüren verwendet wurden. Menschen, die in erster Linie an die Macht solcher Talismane glaubten, waren nicht gerade die 130
glühendsten Verehrer des Herzens. Und viele bedienten sich ihrer in einer Weise, die eher an die Umtriebe eines Magiers erinnerte. Eines Magiers! Apolon - ein Magier - diese Schwarzmäntel paßten zu ihm. Mathilde wußte, daß bestimmte Gegenstände Empfindungen übertragen konnten wenn man sich in sie versenkte - vorausgesetzt, die Empfänger besaßen ebenfalls eine gewisse Gabe. Wovor fürchtete sich Apolon, daß er seine Schwarzmäntel auf die Suche nach Amuletten schickte - selbst in einer Marktbude, wie sie sie führte? Ein weiteres Mosaikstück, das sich irgendwie in das Muster einfügen mußte. »Die Tempelstücke haben sie sich nicht angesehen.« Der Aal war ihrer Umarmung entschlüpft und nach draußen gegangen, um die herabgefallenen Perlen vom Pflaster aufzusammeln. Nun waren sein Kopf und seine Schultern plötzlich über dem Rand des Verkaufstisches aufgetaucht. Mathilde betrachete alles, was ausgebreitet vor ihr lag. Es gab fünf solcher Amuletthalsbänder - drei waren mit Ornamenten versehen, die vom Tempel gebilligt wurden, das vierte war das Stück, das Kassie so begehrlich bewundert hatte: jenes Halsband mit Schmetterlingen aus Kupfer, die mit Perlen aus Rosenquarz zusammengehalten wurden. Am fünften hing das Meerauge - doch das sah man in Hafenstädten häufig. Die meisten Seeleute trugen diese Art Amulett - vielleicht nicht einmal, weil sie so sehr an seine Macht glaubten, sondern weil sie das Gefühl hatten, daß sie jedes zusätzliche Quentchen Glück brauchten, das sie ergattern konnten. Da die Schwarzmäntel nur die Kette zerrissen hatten, an der das Meerauge hing, mußte Mathilde davon ausgehen, daß es aus irgendeinem Grunde ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Oder - war es ein Zeichen? Als Herrscherin von Merina hatte sie gewußt, was die Schmuggler trieben - ihre Umtriebe waren nie gänzlich abzustellen, und das hatte sie von Saxon auch nicht erwartet. Es hatte keine Rolle gespielt. Erst wenn ein durchtriebener, fähiger Anführer eine Schmugglerbande zusammenstellte und ihre Machenschaften größere Ausmaße annahmen, schritt die Regierung ein. Es war durchaus denkbar, daß bestimmte Amulette diesen Rabauken als eine Art Erkennungszeichen dienten. Da die Schwarzmäntel offenbar gut unterrichtet waren, mußten sie auch gehört haben, daß viele ihrer Kunden Seeleute waren. Ihr gutes Verhältnis zu den Seeleuten, das sie sich über Jahre hinweg aufgebaut 131
hatte, würde sich nun eher als Nachteil für sie auswirken. Sie nahm die Perlen und das Amulett an sich und steckte die Einzelteile wieder in ihren Kasten. An ihre Stelle legte sie eine sehr schlichte Kette aus Pechkohle und Kristall. Sie mußte unbedingt Saxon aufsuchen! Obwohl sie den Laden den ganzen Nachmittag geöffnet hatten, kamen keine Kunden. Mathilde erlaubte ihrem kleinen Gefährten, einkaufen zu gehen, so daß sie für ein paar Tage zu essen hätten. Inzwischen beschäftigten sich ihre Hände mit der Auffädelung von Perlen, während ihre Gedanken versuchten, alles, was sie erfahren hatte, abzuwägen und zu einem Muster zu verbinden. Zu diesem Zeitpunkt war es unmöglich, auf die Mittel der Zünfte zurückzugreifen. Allerdings hatte sie immer noch die unheilbringenden Juwelen und eine Arbeitskiste mit Fassungen, in die man sie einarbeiten konnte. Solange der Laden allerdings geöffnet war, konnte sie sich damit nicht befassen. Es war schon spät am Nachmittag, als endlich jemand den Hof überquerte. Max' Laden war geöffnet gewesen, und sie hatte den gleichmäßigen Rhythmus seiner Hammerschläge vernommen, doch er selbst hatte sich nicht blicken lassen. Es war, als hätte sich ein großer, schrecklicher Schatten über sie alle gelegt. Dann kam Kassie aus dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes gestürzt. Dicke Tränen rannen über das runde, kindliche Gesicht, die sie sich mit den schmutzigen Händen abzuwischen versuchte, während sie blindlings über den Hof rannte. Mathilde sprang auf und trat aus der Tür — gerade rechtzeitig, um das Mädchen abzufangen, als es vorbeihasten wollte. Kassie klammerte sich an sie, warf den Kopf zurück und stieß einen Laut aus, der an das Heulen einer Wölfin erinnerte. »Kassie«, sagte Mathilde beschwichtigend. Sie hielt sie fest und schüttelte sie sanft, um sie zur Besinnung zu bringen. »Was ist los?« Das Mädchen warf ihr aus verquollenen Augenlidern einen wilden Blick zu; sie war wie ein verwundetes Tier. Kassie hatte häufig unter der Eifersucht und Härte ihrer Stiefmutter zu leiden, doch in diesem Zustand hatte Mathilde sie noch nie erlebt. »Was ist los?« fragte sie nun etwas lauter. »Hughes —«, selbst diesen Namen konnte sie nur unter Schluchzen hervorbringen. »Was ist mit Hughes?« fragte Mathilde und verlieh ihrer Stimme eine gewisse Schärfe, damit das Mädchen ihr zuhörte. »Sie - die schwarzen Krähen sind beim Schmied gewesen - sie haben 132
seinem Vater - Hans - gesagt, daß sie ihn mitgenommen haben - als Sklaven! Alle Gesetzeshüter haben sie mitgenommen.« Mathilde überlief ein Schauer der Angst. Sie war sich so sicher gewesen, daß sie eine Chance hatten zu kämpfen - auch im Schatten. Aber allem Anschein nach ging der Feind nun mit einer Geschwindigkeit vor, die es unmöglich machte vorauszusehen, wo er das nächste Mal zuschlagen würde. »Sie - sie haben einen eigenen Schmied mitgebracht — er soll die Schmiede übernehmen und Hans soll nur ihr Diener sein - in seinem eigenen Haus!« Kassie hatte sich ein wenig beruhigt, schaute indes noch immer mit gehetztem Blick um sich. »Bitte, so sagt mir doch, warum tun die so was - wir haben nicht gekämpft! Vielleicht«, mit einem Ruck hob sie den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken ein letztes Mal über die Augen. »Vielleicht hätten wir es tun sollen. Jetzt fuhren sie unsere Männer wie Sklaven zum Schlächter, und — und sie — sie haben einen Mann gehängt — direkt vor dem Tempel —« »Einen Mann gehängt — für welches Vergehen?« Die Angst hatte sich nun fest in Mathilde eingenistet. »Meister Linos von der Metallzunft war es - sie - sie sagen, er hätte ihnen nicht gehorchen wollen.« Einen Zunftmeister gehängt! Nein, sie hatte lange genug planlos ihre Zeit vergeudet. Der Tiger - stolz hob sie den Kopf- der Tiger ging auf eigenen Pfaden, und niemand stellte sich ihm so einfach in den Weg. So war es immer gewesen — so sollte es bleiben! Sie beruhigte Kassie so gut sie konnte und ging dann wieder in den Laden, wo der Aal auf einem Hocker saß und nach dem Einkauf auf weitere Anweisungen wartete. Rasch berichtete Mathilde, was sie von dem Mädchen erfahren hatte, er aber konnte noch weitere Einzelheiten ergänzen - über junge Männer, die in Ketten aus den Stadttoren geführt wurden, über Läden, die zerstört worden waren, weil die Besitzer die Schwarzmäntel verärgert hatten.
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21. Adele Erzpriesterin Verit betrat den Raum, als sie gerade das Abendmahl beendeten, und nahm Elfrida zur Seite. Der Korridor zum Speisesaal war so breit, daß die anderen Priesterinnen an ihnen vorbeigehen konnten, ohne ein Wort von der im Flüsterton geführten Unterhaltung mitzubekommen. »Prinz Leopold will der Königinwitwe Adele seine Aufwartung machen«, sagte sie leise. »Könnt Ihr Euch krank stellen, oder müßt Ihr wieder richtig krank werden?« Elfrida seufzte. Da war sie wieder, die Last der Verantwortung, die sich mit der Person Adele verband. »Ich muß so tun«, erwiderte sie. »Ich habe die Beeren hier nicht bei mir. Aber ich glaube nicht, daß er die Täuschung durchschaut.« »Nun gut«, sagte Verit. »Wieviel Zeit braucht Ihr, um Euch herzurichten? Ich habe ihn während des Abendmahls hingehalten — habe ihm Speise angeboten und in meinem Sprechzimmer mit ihm geredet - aber viel länger kann ich ihn nicht vertrösten.« Sie sah besorgt aus und ein wenig erschöpft. Obwohl sich ihr in den langen Jahren als Erzpriesterin oft genug seltsame Aufgaben gestellt hatten, wie sie einer Autoritätsperson immer wieder begegnen, war sie auf das hier wahrscheinlich nicht vorbereitet. Auch Adele war nicht vorbereitet. Elfrida zog die Stirn kraus, während sie überlegte, wieviel Zeit sie für ihre Verwandlung wohl benötigen würde. »Haltet ihn so lange wie möglich auf. Ich muß mir mein Schminkzeug holen, das sich am anderen Ende des Geheimganges befindet. Bedenkt, es war Eure Idee, Adele am Leben zu lassen - ich habe dafür keine Vorkehrungen getroffen. Aber ich schätze, ich bin spätestens nach einer halben Markierung auf der Stundenkerze fertig.« Verit nickte, ein Teil ihrer Sorgen war von ihr abgefallen — aber bei weitem nicht alle. »Das ist besser, als ich dachte. Ich werde die Krankenwärterin benachrichtigen, damit sie Euch erwartet. Ihr könnt über den Meditationsraum zurückkehren; diejenigen, die sich dort aufhalten, sind absolut vertrauenswürdig.« Sie ging mit raschen Schritten davon, um die Schwester im Krankenzimmer auf die beabsichtigte Täuschung vorzubereiten, und Elfrida 134
strebte dem unterirdischen Tunnel zu. Sie spürte, wie sich ihre Schultermuskulatur unter der Anspannung verhärtete. So schnell sie konnte ging sie zum Palast, wo sie die Lampe anzündete und den Schminkkasten sowie ihr feinstes Nachtgewand an sich nahm. Sie wickelte beides in ein dunkles Schultertuch. Ich glaube, ich mag Adele nicht mehr. Auf dem Rückweg zum Tempel trug sie die Lampe vor sich her und nahm sich in Gedanken vor, bei nächster Gelegenheit den Toilettentisch an den Eingang zum Meditationsraum zu schaffen. Bevor sie aus dem Tunnel in den Meditationsraum trat, löschte sie die Laterne. Das Bündel erschien ihr unerwartet schwer - oder war es nur wieder die Last der Verantwortung? Der Tunnelausgang befand sich hinter einer der Zwillingssäulen, die zu beiden Seiten des Altars an der Wand standen. Im Tunnel selbst hingen vier Kutten in den Farben der vier Orden. Zwei Personen befanden sich im Meditationsraum, allem Anschein nach in Gebete vertieft: ein Mann, der eine rote Kutte trug, und eine Frau in brauner Kutte. Elfrida kannte die beiden; der Mann war Priester Fidelis, mit dem sie schon des öfteren zu tun gehabt hatte, und die Frau war jene Predigerin, an die Elfrida kurz zuvor noch gedacht hatte. Leider konnte sie sich nicht an den Namen der Frau erinnern. Seltsam, doch dieser Umstand bereitete ihr Kummer. Sie fragte sich, ob ihr Verstand sie verließ - was zu diesem Zeitpunkt eine Katastrophe für alle Beteiligten heraufbeschwören konnte. Nein, es ist nur die Anstrengung und die Tatsache, daß ich ihren Namen erst ein einziges Mal gehört habe. Das wird es sein. Die beiden schauten von ihren Gebeten auf- lange genug, um Elfrida zu erkennen, als sie hinter der Säule hervortrat. Priester Fidelis nickte ihr kurz zu, ehe die beiden sich wieder ihren Gebeten zuwandten und Elfrida keine weitere Beachtung schenkten. Wenn sie durch eine gewöhnliche Tür hereingekommen wäre, statt aus einer Wand aufzutauchen, hätten sie sich nicht anders verhalten. Verit hatte ihre Leute sehr sorgfältig ausgewählt. Elfrida gelangte unbemerkt ins Krankenzimmer - zweifellos durch die Gnade der Göttin, wie sie glaubte. In den langen Steinkorridoren war in der Tat niemand zu sehen, obwohl sich doch sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit mehrere Personen dort aufhielten. Die Krankenwärterin bewachte die Tür, während Elfrida sich umkleidete und die Ordenstracht zu einem Bündel zusammengelegt in einen Schrank steckte, ebenso wie die Kleidungsstücke, die Adeles Platz im Bett mar 135
kiert hatten. In aller Eile trug sie Schminke auf, welche ihre Gesichtsform veränderte und ihr zugleich das Aussehen einer Frau verlieh, die wahrhaft vom Tode gezeichnet war. Sie flocht ihr Haar in zwei lockere Zöpfe und zog das Nachtgewand über das Unterhemd. Als sie Stimmen auf dem Korridor vernahm, stieg sie rasch ins Bett und achtete darauf, mühsam und flach zu atmen. Nach ihrem Gang zum Palast und zurück fiel ihr das Keuchen nicht weiter schwer. So vieles konnte bei diesem ganzen Schwindel dennoch mißlingen. Sie hoffte, daß sie ihr Gesicht ordentlich hergerichtet hatte, aber sie erinnerte sich daran, daß sie dies in den letzten beiden Jahren ja schon so oft getan hatte. Die Verwandlung in Adele dürfte wie von selbst geschehen; gerade gestern noch habe ich sie vollzogen, und ich glaube nicht, daß ich über Nacht vergessen habe, wie es geht. Nur, daß ich nicht damit gerechnet habe, es noch einmal tun zu müssen. Ihre Lage hätte sie erheitern können, wenn sie nicht so gefährlich gewesen wäre. Die Krankenwärterin trat ein, gefolgt von der Erzpriesterin und Prinz Leopold. »Ihr könnt nicht lange bleiben«, sagte sie mit fester Stimme und mit einer Autorität, die selbst einen General beeindruckt hätte. »Die Ehrwürdige ermüdet schnell.« Adele fand diese Bemerkung sehr zutreffend. Sie war plötzlich völlig erschöpft. Sei auf der Hut, sei wachsam — du darfst dir hier keinen Fehler erlauben. Ihm darf nichts auffallen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, die auch ohne ihr Zutun zitterte. Im Schein der Kerzen sah sie besonders zerbrechlich und durchsichtig aus. Prinz Leopold beugte sich über die Hand, jeder Zoll ein vollendeter Höfling. Adele musterte ihn, ohne sich der Mühe zu unterziehen, ihren prüfenden Blick zu verbergen. Sie war eine alte, sterbende Frau was hatte sie von den Eindringlingen schon zu befürchten? Ich bin eine alte Frau, die bald den Schleier weitergibt, und nichts Sterbliches kann mich schrecken. Und ich bin eine alte Querulantin, die nie gezögert hat, ihre Meinung zu sagen. Ersteres war vorgetäuscht, letzteres stimmte, und beides zusammen verlieh ihr Mut, den Prinzen furchtlos zu betrachten. Prinz Leopold war ein geradliniger Mann. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augen, ein ziemlich gewöhnliches, knochiges Gesicht; er besaß nicht die edle Schönheit, die seinen Vater angeblich auszeichnete. Zwischen den Augenbrauen war eine steile Falte entstanden, als wäre er ständig wegen irgend etwas in Sorge. Der Körper war der eines Kämpfers, nicht der eines Höflings — jedoch nicht ganz so kräftig gebaut, wie man es seinem Vater nachsagte. Zudem war er einfach gekleidet und trug 136
keinerlei Zeichen seiner Geburt oder seines hohen Ranges an sich. Obwohl seine Uniform aus feinem Stoff bestand, war es gleichwohl eine Uniform, ohne Tressen und Orden, die die meisten königlichen »Krieger« so sehr schätzten. Balthasars Ausgeh-Uniform war angeblich so schwer mit Litzen und Goldtroddeln beladen, daß es zweier Knappen bedurfte, die Jacke hochzuhalten. Ganz offensichtlich war er kaum seinem Vater nachgeschlagen. Und das Gesicht war freundlich, was Adele überraschte. Sie hatte nicht damit gerechnet, im Gefolge Balthasars einem solchen Mann zu begegnen. Aber vermutlich hatte der Kaiser seinen Eintritt in die Armee angeordnet; vielleicht, um ein Auge auf ihn zu haben. Hat Balthasar ihm befohlen, nach mir zu sehen? »Euer Gnaden, ich bin zutiefst betrübt über Euren Gesundheitszustand.« Er sprach die angemessenen Worte höflich aus, doch Adele spürte, daß sie mehr als eine Floskel waren. Ob er nun aus eigenem Antrieb oder auf den Befehl eines anderen hierher gekommen war, sein Mitleid war ehrlich. Als er sich über ihre Hand beugte, hielt er sie sanft in der seinen und legte sie ebenso zart wieder auf die Decke. Er gefällt mir, dachte sie verwundert. Ich mag ihn wirklich. Er ist ein guter Mann. Ich hätte mir einen Mann wie ihn an meinem Hof gewünscht statt all der ehrgeizigen, unerfahrenen, selbstsüchtigen Laffen. Das ist ein Mann, vor dem die kleine Schelyra hätte Respekt haben können. Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Der Tod kommt zu uns allen, wenn es soweit ist, Hoheit«, flüsterte sie. Nach ein paar vorsichtigen, flachen Atemzügen fuhr sie fort: »Ich habe keine Angst um mich ... aber um mein Volk — und um meine Familie. Am meisten um meine Familie. Ich habe nichts von ... Lydana und Schelyra gehört.« Und das ist nicht gelogen, dachte sie triumphierend. Ich habe nur von Mathilde und Raymonda gehört. »Wenn ich die Königin und die Prinzessin finde«, sagte er entschlossen, »werde ich dafür sorgen, daß sie so ehrenvoll behandelt werden, wie es ihnen gebührt. Ich werde für den entsprechenden Schutz sorgen, denn die Königin hat diese Stadt ehrenvoll übergeben.« Adele neigte das Haupt. Da war etwas in seiner Stimme, das ihr große Sorge bereitete. Er redete nicht nur mit ihr, und er redete auch nicht mit sich selbst ... es war, als würde er sich dafür wappnen, in einer erbitterten Auseinandersetzung seinen Mann stehen zu müssen. Wer will Lydana und Schelyra haben, und zu welchem Zweck? Die verbissene Miene des Prinzen ließ darauf schließen, daß es Apolon war. Als sie ihm in die 137
Augen schaute, wußte sie, daß es Apolon war — so sicher wie es Leopold wußte. Wenn Apolon sie will — dann dient es keinem guten Zweck. Mit einemmal mußte sie ihre Krankheit nicht mehr vortäuschen. Sie sank in die Kissen zurück und war kaum noch in der Lage, zu atmen. Nur von weitem hörte sie, wie die Krankenwärterin ihre Besucher höflich, aber bestimmt zur Tür geleitete. Sie war sich nicht sicher, ob sie ohnmächtig geworden oder plötzlich eingeschlafen war, aber das nächste, was in ihr Bewußtsein drang, war Verits warme Hand auf ihrer Schulter. Ihre Stimme war voller Sorge. »Könnt Ihr aufstehen, Priesterin? Ihr habt bei der Andacht zur neunten Stunde gefehlt; wenn Ihr auch die Vesper verpaßt, wird es auffallen. Auch wenn wir die Orden gestern abend aufgeteilt haben, wissen alle bereits, wer in ihrer Gruppe sein sollte.« Elfrida stützte sich auf und spürte, daß sie wieder zu Kräften kam. »Apolon sucht nach den Frauen des Königshauses«, sagte sie. Wie ich befürchtet habe ... genau wie ich befürchtet habe. Verit runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippe. »Ja, das habe ich auch herausgehört. Prinz Leopold ist darüber nicht glücklich.« »Er scheint ein anständiger junger Mann zu sein«, teilte Elfrida ihre Beobachtung mit. Sie stand vorsichtig auf und ging zur Waschschüssel, um sich die Schminke aus dem Gesicht zu waschen. »Nicht so, wie ich mir Balthasars Sohn vorgestellt hätte. Ich glaube, ich weiß, was er dachte. Er meint, daß die Frauen des Königshauses beschützt werden müssen, aber er fürchtet, daß er nicht die Macht hat, es zu tun.« Verit nickte bestätigend. »Ich glaube, die Königinwitwe kann morgen früh sterben. Ich meine sogar, daß es besser so ist, ehe Apolon auf die Idee kommt, er könne Schelyra und Lydana aus ihrenVerstecken locken, wenn er Adele gefangennimmt. Ich möchte nicht, daß Ihr Euch in der Nähe des Krankenzimmers aufhaltet, wenn es soweit ist — ich werde es so einrichten, daß Ihr dann bei der Andacht seid.« Elfrida zog wieder ihre graue Kutte an und spürte, wie mit dem königlichen Nachtgewand zugleich eine schwere Last von ihr abfiel. Kein gespaltenes Leben mehr, kein gespaltenes Herz. Endlich. »Gut«, sagte sie. »Ich gehe zur Vesper. Soll ich morgen die Beichte abnehmen?« Verit schüttelte den Kopf. »Ich denke, Ihr solltet Euch so oft wie möglich zeigen. Ich möchte nicht, daß jemand die Priesterin Elfrida mit Euch in Verbindung bringt.« »Ich auch nicht«, sagte Elfrida. »Um ehrlich zu sein — nichts wird mich je glücklicher machen als die Gewißheit, daß Adele tot ist.« 138
22. Lydana Mathilde machte sich mit fest zusammengepreßten Lippen daran, den Laden zu schließen, obwohl es bis Sonnenuntergang noch weit war. Sie wollte keine Zeit mehr verlieren, heute abend mußte sie etwas unternehmen. Und ein Besuch bei Jonas gehörte zu den vordringlichsten Dingen. Die Mahlzeit verlief in aller Eile; Brot, Käse und dazu das bittere Bier, das man in diesem Viertel zu trinken pflegte. Dann zog Mathilde die obere der beiden Schubladen unter dem Schrankbett heraus, die vollgestopft war mit Kleidungsstücken. Sie mußte nicht lange suchen, denn sie wußte genau, was sie anziehen würde. Allein das Ausziehen nahm Zeit in Anspruch, und sie war so ungeduldig, daß sie nervös an Bändern und Schnallen zerrte. Aber schließlich hatten sie und der Aal sich entkleidet und waren wieder in jene hauteng anliegenden Anzüge geschlüpft, deren dunkles Grau beinahe schwarz wirkte. Auch die Kapuzenumhänge mußten mit. Mathilde steckte das kleine Messer in die Scheide am Gürtel und schlang sich ein schwarzes Seidentuch um die Taille, in das sie die unheilbringenden Steine wickelte. Der Aal öffnete eine Schachtel, der er zwei Satz Metallringe entnahm. Diese stülpte er sich mit geübtem Griff über die Finger. Nun war jeder Finger durch eine Messerklinge verlängert, dicker als eine große Nadel und tödlich wie die Klauen eines Raubtieres. Mathilde schloß die Haustür, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß die Fensterläden fest saßen, und legte den Riegel vor. Dem äußeren Anschein nach war der Laden über Nacht geschlossen. Drinnen stellte sie eine Laterne auf, deren schwacher Schein für jeden sichtbar war, der sich die Mühe machte, durch einen Spalt in den Fensterläden zu lugen. Mit Hilfe ihres kleinen Gefährten rückte sie den Tisch zur Seite und stellte den größten Hocker an seinen Platz. Erneut tastete sie über ihrem Kopf nach der Kette, mit der die Falltür bedient wurde. Der Aal trug ein aufgerolltes Seil über der Schulter, an dem ein großer Haken befestigt war. Nachdem die Falltür geöffnet war, nahm er Mathildes Platz ein und 139
schleuderte den Haken mit dem nachschleifenden Seil über den Kopf nach draußen. Mit einem kräftigen Ruck versicherte er sich, daß der Haken festen Halt hatte. Er kletterte an dem Seil nach oben und verschwand im Dunkeln. Das Seil schwang zurück, und Mathilde stellte sich wieder auf den Hocker. Obwohl sie dies in weiser Voraussicht schon oft genug geübt hatte, fiel es ihr schwer, sich an dem Seil emporzuhangeln, bis sie den Rand der Öffnung mit der Hand erreichen konnte. Der Aal packte sie mit beiden Händen an den Schultern und mußte alle Kraft seines drahtigen Körpers zusammennehmen, um ihr herauszuhelfen. Der Fluchtweg war eng, und sie hätte ihn niemals in gewöhnlicher Kleidung bewältigen können. Der Aal war bereits mit einem zweiten Seil beschäftigt, an dem er die beiden Umhänge heraufzog. Mathilde ging in die Hocke und ließ den Blick langsam über die nähere Umgebung schweifen. Der Laden der Perlenhändlerin war nur ein Stockwerk hoch und wurde zu beiden Seiten von höheren Häusern überragt, die das kleine Grundstück zwischen sich nahezu erdrückten. Der Aal versuchte gar nicht erst, auf ein Nachbarhaus zu klettern, sondern ging auf eine Mauer an der Rückseite zu, die Mathilde bis zur Schulter reichte. Mathilde war ihrem Gefährten gefolgt und kauerte sich auf die rauhe Oberfläche dieses Hindernisses. Auf der anderen Seite türmte sich unter ihr Schutt auf. Die Hausbewohner des Hofes hatten hier offensichtlich über Jahre hinweg die bei Hausreparaturen anfallenden Reste abgeladen. Diese Halde reichte bis hinunter zum letzten der inneren Kanäle. »Das Boot«, flüsterte der Aal kaum vernehmbar. Sogar im schwachen Licht der Dämmerung konnte sie das kleine, arg ramponierte Boot gut erkennen. Bedauerlicherweise standen zwei schemenhafte Gestalten daneben. Die eine zerrte bereits an dem Tau, mit dem das Boot festgemacht war. Der Aal stieß ein schnurrendes Geräusch aus, ähnlich einer Wildkatze auf Jagd. Mit einem weiten Satz sprang er nach unten und bohrte die Knie in den Rücken des Mannes, der ihm am nächsten stand. Mathilde zögerte keinen Augenblick, seinem Beispiel zu folgen. Sie hatte bereits oben auf der Mauer einen losen Stein in die Hand genommen, und nachdem sie ziemlich ungeschickt auf der Schutthalde gelandet war, rutschte sie auf das Boot zu. Der Mann, der sich dort zu schaffen gemacht hatte, drehte sich blitzschnell um. Ihre grobe Waffe traf ihn direkt ins Gesicht. Er stieß einen unterdrückten Schrei aus und stürzte 140
nieder. Der Aal hatte sich neben dem Mann, den er zu Boden gerissen hatte, aufgerichtet und versetzte dem Körper nun einen Stoß, so daß er auf den Rücken rollte. Mathilde erblickte bei flüchtigem Hinsehen ein weißes Gesicht, aus dem sie verwunderte, glasige Augen anstarrten. Auch ohne den Anblick hervorquellenden Blutes aus dem zerfetzten Hals hätte sie gewußt, daß er dem Tode nahe war. »Wir können sie nicht hier liegenlassen.« Mit äußerster Willensanstrengung hielt sie sich an Logik und Notwendigkeit. »Boot.« Der Aal kniete am Ufer und spülte die blutigen Spitzen seiner Klauen in den angeschwollenen Fluten des Kanals ab. »Sie nehmen — dann — über Bord werfen.« Er unterstrich seine Worte mit einer entsprechenden Handbewegung. Mathilde verspürte Übelkeit, die sie tapfer bekämpfte. Das hier war Krieg, und der Anblick feindlicher Leichen durfte sie nicht so leicht überwältigen. Sie hatte noch nie jemanden umgebracht, aber es hatte auch nie einen Grund dafür gegeben. Der Aal half ihr, die beiden leblosen Körper ins Boot zu ziehen, das gefährlich tief ins Wasser eintauchte, als Mathilde und ihr Gefährte ihre Plätze einnahmen. Sie tastete am Hals des Mannes, den sie erschlagen hatte, nach dem Puls. Nichts. Die beiden waren Schwarzmäntel. Wenn man sie hier in der Nähe fand, würden alle Bewohner des Hofes, wenn nicht sogar der Straße, unter Verdacht geraten. Der Aal hatte recht, sie mußten sie so weit wie möglich fortschaffen. Aber sie hatten nichts, womit sie die Leichen hätten beschweren können - doch einer, der aus dem Kanal gefischt wurde, konnte überall hineingeworfen worden sein. Sie nahm die Ruder und legte ab, wobei sie sich am linken Ufer hielt. Ganz in der Nähe führte eine Brücke über den Kanal, und dort war eine geeignete Stelle, an der sie sich ihrer gefährlichen Fracht entledigen konnten. Die Gebäude ringsum waren Lagerhäuser, und ihres Wissens gab es dort keine Bewohner, die man hätte verdächtigen können. Sie kämpfte gegen die Strömung an, bis die Brücke über ihnen auf ragte. Die Dämmerung war der Nacht gewichen. Die Laternen an beiden Kanalufern spiegelten sich im Wasser, doch diese Stellen konnte man umfahren. Irgendwie gelang es ihnen, die Leichen ins Wasser zu befördern, obwohl Mathilde beide Male befürchtete, das Boot würde umkippen und sie würden ebenfalls im Wasser landen. Das erheblich leichter gewordene Boot schaukelte nun viel höher auf dem Wasser. Eine Laune der Strömung nahm die beiden fast untergetauchten Körper mit sich 141
und trug sie in Richtung Hauptstrom - stromaufwärts! Sie hatte nicht bedacht, daß jetzt die Flut stieg und mit Macht in die Kanäle strömte. Nun konnte sie nur noch hoffen, daß die Leichen nicht an einer Stelle an Land gespült wurden, an der sie Unschuldige in Schwierigkeiten brächten. Sie selbst verspürte den Wunsch, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, und so legte sie all ihre verbliebene Kraft in die Ruder. Das kleine Boot schoß flußabwärts. In normalen Zeiten hätten die großen Nachtlaternen gebrannt, die in regelmäßigen Abständen am Ufer standen. Mathilde dankte Fortuna, daß manche Begleiterscheinungen einer Welt, die auf dem Kopf stand, sie insoweit begünstigten. »Boot«, zischte der Aal. Ohne zu zögern steuerte sie das linke Ufer an. Ihr Gefährte lehnte sich über Bord und hielt sich an einer Kletterpflanze fest, die aus einem verwilderten Garten herausrankte. Trotz dieses zerbrechlichen Ankers gelang es ihnen, das Boot ans Ufer zu ziehen. Hinzu kam, daß dieser dunkle Schlupfwinkel nicht besser hätte sein können Fortuna war ihnen in dieser Nacht wirklich wohl gesinnt! Fortuna - mit dieser Antwort war man schnell bei der Hand. Aber es mußte eine andere, stärkere Macht geben, die für sie arbeitete. Sie konnte Adele und die anderen, die die Gabe besaßen, nicht bei ihren Gebeten und »Gesichten« sehen, aber irgendwie glaubte sie zu wissen, daß heute abend eine Art Schutzmantel über sie gebreitet war. Das Boot, dem sie auf diese Weise ausgewichen waren, war ebenso wie ihres unbeleuchtet -, was bedeutete, daß die Leute an Bord so wenig wie möglich auffallen wollten. Schmuggler - Abschaum des Flusses -, die aus ihren Löchern krochen, nachdem die üblichen Kanalpatrouillen abgezogen waren? Oder waren es wieder Schwarzmäntel, die ihren dunklen Geschäften nachgingen? Das festzustellen war unmöglich. Sie wartete mit ihrem Gefährten, bis sie weit genug entfernt waren. Selbst dann griff Mathilde noch nicht sofort zu den Rudern, sondern zog wie der Aal an den Ranken der Kletterpflanze. Sie kamen nur langsam voran, aber diese Methode hatte denVorteil, daß sie geräuschlos war. Der Vorhang aus Ranken hörte schon bald auf, und sie mußte wieder rudern. Die Schultern begannen jetzt zu schmerzen, denn sie waren die Anstrengung nicht gewohnt. Aber Mathilde weigerte sich, auch nur eine Spur langsamer zu rudern — nur wegen einer kleinen Unpäßlichkeit. Schließlich gelangten sie an einen Abzugskanal, der dazu diente, die 142
sturzbachartigen Regenfälle im Sommer von den Straßen der Stadt in den Kanal abzuleiten. Sie wußte genau, wo sie sich jetzt befanden - zwei Drittel der Strecke lagen hinter ihnen. Geschickt steuerte sie das Boot in die Kanalöffnung; selbst der Aal mußte sich ducken, als sich die Rundung des Kanalrohres über ihnen schloß. Nach kurzer Zeit stieß das Boot bereits an eine Mauer. Zum Glück herrschte an dieser Stelle keine starke Strömung, die es in den Kanal zurückgetrieben hätte, und sie konnten es beruhigt hier außer Sichtweite liegen lassen. Mathilde rümpfte die Nase, als sie in eine Wasserlache trat, die nach Unrat stank. Sie zog ihren Umhang zur Hüfte hoch, damit er sich nicht mit dieser widerlichen Brühe vollsog. Vor ihnen tauchte ein winziger Lichtpunkt auf; der Aal hielt ein Zündholz hoch, um ihnen wenigstens eine Ahnung zu vermitteln, wohin sie den Fuß setzten. Er kannte diesen Weg noch besser als Mathilde, und sie hatte keine Angst, daß sie um eine falsche Ecke biegen könnten. Zweimal kamen sie an kleineren Öffnungen vorbei, aus denen der übelriechende Überlauf aus Gräben in den Abflußkanal strömte. Dann erreichten sie eine Leiter, die aus dem Wasser unter ihnen zu einem jener deutlich erkennbaren Einstieglöcher hinaufführte, die benutzt wurden, wenn Reparaturen oder Säuberungsarbeiten fällig waren. Der Aal kletterte hinauf und stemmte sich in gebückter Haltung mit aller Kraft gegen den Kanaldeckel. Mathilde verspürte einen Anflug von Angst. Was sollten sie tun, wenn das Ding verschlossen war? Doch dann vernahm sie ein knirschendes Geräusch, und der Deckel hob sich leicht. Sie zog ihren Gefährten am Bein. »Laß mich mal!« befahl sie. Er sprang von der Leiter, so daß sie seinen Platz einnehmen konnte. Ihre Anstrengung war von Erfolg gekrönt, denn eine schmale Öffnung tat sich auf — dann gab der Deckel nach, klappte auf und fiel mit lautem, metallischem Klang zu Boden. Mathilde kam es vor wie ein Glockenschlag. Sie klammerte sich an die Leiter und versuchte, außer dem Widerhall noch andere Geräusche herauszuhören. Nichts. »Ich zuerst«, sagte der Aal und zupfte an ihr. Obwohl sie ablehnen wollte, wußte Mathilde, daß er recht hatte. Er war kleiner und bewegte sich im Dunkeln viel sicherer als sie. Kurz darauf spähte er zu ihr herab. »Die Luft ist rein.« Erneut hatte Mathilde das Gefühl, daß das Schicksal es gut mit ihnen 143
meinte - daß sie ein Vorhaben verfolgten, welches die Allmächtige begrüßte, und daß eine Art Kräfteschild um sie gewoben war. Sie trat auf eine schmale Gasse hinaus. Nicht weit von ihnen hing eine Laterne, an der ein Seil baumelte, das in einem komplizierten Muster gedreht war. Das war Jonas' Zeichen! Sie waren an ihrem ersten Ziel — oder zumindest an der Tür zum Ziel. Mit einem Schwung wendete Mathilde ihren Umhang, so daß jetzt die Innenseite voller Flecken und Flicken außen lag. Der Aal tat es ihr gleich und förderte einen schlecht zusammengenähten Riß zutage. Fest vermummt huschten sie zum Anfang der Gasse und lugten um die Ecke. Von neuem wunderte sich Mathilde über die hier herrschende Stille. Für gewöhnlich erwachte dieser Teil der Stadt bei Einbruch der Dunkelheit zu einer ihm eigenen Geschäftigkeit. Doch nur wenige Fenster waren schwach erleuchtet, und nur eine oder zwei Gestalten, die sich im Schatten hielten, machten sich eilig an die Erledigung der Aufgaben, die sie aus ihren Löchern gelockt hatten. Selbst die Eingangstür zu Jonas' Wirtshaus war geschlossen - was sonst nur der Fall war, wenn die großen Stürme ihren Höhepunkt erreichten. Außerdem hatte er die Läden vor den Fenstern. Mathilde war so verblüfft über diesen Mangel an Gastfreundlichkeit, daß sie beinahe wie angewurzelt stehenblieb und das Gleichgewicht verlor. Dann sah sie ein schwaches Licht durch die Fensterläden und wußte, daß der Ort nicht gänzlich verlassen war. Die große Tür hatte keinen Klopfer, doch sie schlug beherzt zweimal mit der Faust gegen das Holz, hielt kurz inne, und pochte dann viermal rasch hintereinander. Dicht an den Aal gedrängt, schob sie sich so weit wie möglich in den Schatten des Eingangs. Als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, erkannte sie in der Dunkelheit, daß die Tür sich bewegte, geräuschlos, als wären die großen Eisenbolzen vor kurzem noch sorgfältig geölt worden. Sie öffnete sich jedoch nur einen Spalt, und von innen vernahmen sie eine heisere Stimme. »Wer da?« »Zwölf Pfeile und ein Schild.« Mathilde sprach sehr deutlich. Das war zumindest die Losung, die Saxon neulich erwähnt hatte, und sie vertraute darauf, daß sie noch immer gültig war. Der Türspalt wurde breiter, und sie konnte sich hindurchzwängen: der Aal war sogar noch schneller als sie. Beißender Geruch stieg ihnen in die Nase - eine Mischung aus abgestandenem Bier, mangelnder Sauber 144
keit und Kleidungsstücken, die ein gründliches Wasserbad gebrauchen konnten. »Ach - Ihr seid das!« Der Türhüter brachte eine Lampe zum Vorschein, die er hinter dem Rücken gehalten hatte. Sein Tonfall klang nicht gerade so, als wären sie willkommene Gäste. »Ja«, erwiderte Mathilde. »Wir brauchen Eure Hilfe.« »Wie vorauszusehen war«, entgegnete er, noch immer mit diesem griesgrämigen Unterton. Jonas war für gewöhnlich von stoischer Gelassenheit und nicht sonderlich erpicht auf Ärger. Er lebte so lange friedlich, bis man ihn völlig aus der Ruhe brachte. »Dann kommt.« Sie folgten ihm in den großen Schankraum, der sich vor ihnen auftat. Mathilde vernahm ein Rascheln und wispernde Stimmen. Mindestens ein halbes Dutzend Menschen hatte sich hier versammelt, ein paar Männer und zwei Frauen, welche die Halbmasken trugen, die in diesem Stadtviertel beliebt waren. Alle saßen an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes. Offensichtlich waren sie in eine Versammlung hineingeplatzt. Aber Jonas führte sie nicht an den Tisch, sondern stapfte auf seinem Holzbein in eine dunkle Ecke, in die kaum etwas von der angenehmen Wärme der Feuerstelle drang, und bedeutete ihnen mit einer Geste, auf zwei Hockern Platz zu nehmen. Dann drehte er sich wieder um, ging zu einem großen Faß und hielt geschickt drei Krüge gleichzeitig unter den Zapfhahn, die er der Reihe nach füllte. Nachdem er mit dieser Erfrischung zurückgekehrt war, setzte er sich auf eine kurze Bank und streckte das Holzbein von sich. »Sie haben den Kapitän festgenommen - ist es das, was Euch herfuhrt?« Mathilde horchte auf. »Wann haben sie ihn erwischt, wie -?« Das Gefühl, unter einem weiten, gefährlichen Netz gefangen zu sein, legte sich drückend auf ihre Schultern. Saxon hatte doch gewiß vorausgesehen, was den Amtsträgern der Stadt zustoßen konnte, wenn Merina fiel - er hatte bestimmt einen Unterschlupf vorbereitet, ebenso wie die drei Frauen aus dem Königshaus. »Da fragt Ihr was«, preßte Jonas zwischen den Zähnen hervor. »Dimity?« rief er laut, und eine der Frauen am langen Tisch hob den Kopf. Jonas winkte ihr mit dem Daumen, worauf sie aus der Bank schlüpfte und sich zu ihnen gesellte. »Der Kapitän«, sagte Jonas und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »'ne Botschaft«, die Frau war ebenso einsilbig wie der Wirt, »mit dem Siegel der Königin - hat er bekommen, als er hinunter zum Hafen ging. 145
Er blieb stehen, um sie zu lesen, und diese schwarzen Krähen packten ihn - sie haben Wurfseile verwendet und ihn eingeschnürt, ehe er eine Waffe ziehen konnte.« Ihr eigenes Siegel - das Siegel der Königin! Mathilde fuhr sich mit der Hand an die Brust und spürte den Gegenstand, den sie noch bei sich trug - auf der Botschaft war das falsche Siegel gewesen! Durch ihre eigene vermeintliche Klugheit hatte sie Saxon zu Fall gebracht — jener Edelstein war wahrlich unheilbringend. Sie tastete nach dem ersten Stein in ihrer Schärpe. Unheil - allem Anschein nach fielen gerade jene ihm zum Opfer, denen sie helfen wollte. Ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet hatten sie jedoch gelehrt, daß die Steine zu Waffen wurden, wenn man sie mit der gebotenen Vorsicht einsetzte. »Wohin haben sie ihn gebracht?« fragte sie. Die Frau zuckte mit den Schultern. »Sie hatten einen Kahn, schmissen ihn hinein wie einen aufgerollten Teppich oder so was. Simpkin — der hat es auch gesehen — wartete auf den Kapitän, weil er mit ihm hinausfahren wollte, aber er ist über Bord gesprungen und abgetaucht, als die schwarzen Krähen ihn auch schnappen wollten - Simpkin ist fast wie ein Seehund, sie haben nicht weiter auf ihn geachtet. Ich glaube, er ist dem Kahn hinterher. Würde ihm ähnlich sehen, wenn er sich irgendwie dran festgehakt und sie verfolgt hätte. Jedenfalls ist er noch nicht wieder da.« »Der Wasserturm —«, fragte sich Mathilde halblaut. Wenn sie Saxon dort festhielten ... Aber es war nur eine Möglichkeit unter vielen. »Da hat noch einer nach Euch gefragt«, sagte Jonas und beugte sich zu Mathilde über den Tisch, als fürchte er, belauscht zu werden. Bierdunst schlug ihr entgegen. Die Frau, die neben ihm gestanden hatte, drehte sich rasch um und kehrte zu der Gesellschaft am langen Tisch zurück. »Wer?« drängte Mathilde, als er keine Anstalten machte, fortzufahren. »Wartet noch ein wenig«, sagte er und deutete auf die Stundenkerze, die still in einer Ecke abbrannte, »und wir werden ihn Euch vorführen.« »Na schön«, sagte sie und nickte. »Aber Jonas, was ist mit dem Kapitän?« Er knurrte wie ein Hund und bleckte die gelblichen Zähne. »Darüber haben wir gerade geredet, als Ihr kamt.« Er wies auf die Runde am Tisch. »Wir warten ab - noch ein paar Striche auf der Stundenkerze. Wenn Simpkin Neuigkeiten für uns hat, kommt er schnurstracks hierher, und ich versichere Euch, daß keine Krähe seine Fährte aufnehmen 146
kann. Lakin?« Noch einmal rief er zum langen Tisch hinüber, und einer der Männer erhob sich und kam zu ihnen. »Sorg dafür, daß der Du-weißt-schon-wer herkommt - und zwar schnell.« Der unrasierte, graugesichtige Mann warf einen neugierigen Blick auf Mathilde und den Aal und schlurfte dann zur Tür. »Der Kapitän«, sagte Jonas plötzlich in vertraulichem Ton, als spürte er in Mathilde so etwas wie eine Verbündete, »hat der Bruderschaft eine Nachricht zukommen lassen - wollte sie heute nacht treffen. War zu ihnen immer offen und ehrlich, und sie wissen, daß es gut ist, ihm zu folgen. Diese schwarzen Teufel haben die Hafenwache durch ihre eigenen Leute ersetzt. Aber die kennen sich auf den Wasserstraßen nicht so gut aus. Ein paar von ihnen«, sagte er mit genüßlichem Grinsen, »sind schon hier und da baden gegangen - und kamen leider nicht zurück. Alle, die die Gezeiten nicht im Blut haben, sollten das Baden in solchen Gewässern lieber lassen.« Ohne zu überlegen, getrieben von einem Drang, den sie sich nicht erklären konnte, sagte Mathilde: »Jonas, wir haben heute abend zwei von jenen Wachen getötet.« Er blickte sie schweigend an und verzog den Mund erneut zu einem Grinsen. »Na, das ist mal eine gute Nachricht. Das wollen wir begießen.« Er war bereits verschwunden, ehe Mathilde ihn von seinem Vorhaben abbringen konnte, und kam mit drei Krügen wieder, über denen sich weißer Schaum wölbte. Bisher hatte er nicht erkennen lassen, daß er ihren Stand kannte, doch nun beugte er sich noch einmal über den Tisch zu ihr herüber und sagte leise: »Habt die Leichen hoffentlich verschwinden lassen, Herrin.« Diese beiläufigen Worte verstärkten Mathildes Entsetzen über ihre Tat. Der Aal ergriff das Wort und antwortete nüchtern: »Ab in den Kanal mit ihnen.« Jonas grinste wieder. »Saubere Arbeit, Junge. Wasserleichen können nicht erzählen, wo man sie unfreiwillig zum Baden geschickt hat.« »Es wird Vergeltungsmaßnahmen geben.« Noch vergingen die Zeit und mit ihr die Ereignisse langsam genug, daß Mathilde nachdenken konnte. »Ja. Dafür werden die Krähen schon sorgen.Wir leben in schwierigen Zeiten, Gnädigste.« 147
»Es wird noch schlimmer kommen.« Der Neuankömmling war wie ein Schatten leise zu ihnen getreten und stand nun hinter dem Aal. Zur Tür konnte er nicht hereingekommen sein. Mathilde kannte ihn gut. »Thom!« Er legte die Stirn in Falten. »Keine Namen, keine Schlingen um den Hals. Und eine nette Aufgabe, die Ihr mir da gestellt habt, Herrin.« »Schelyra?« sie hatte die Andeutung wohl verstanden. »Sche-ly-ra —«, sagte er und betonte jede einzelne Silbe. »Besser wäre Ti-ge-rin. Bin kurz davor, sie mit einem Kinnhaken außer Gefecht zu setzen und mit Stricken zu fesseln - kein Mensch kann die unter Kontrolle halten. Grad' ist sie wieder zu Hause. Zweimal schon ist sie mir entwischt, und jedesmal in den Palast. Sie schwört, sie kennt Wege, in die nicht einmal Ratten ihre Nase stecken. Sie sagt, sie vertreibt sich die Zeit und beobachtet diesen Weichling von einem Prinzen beim Herrschen. Ich könnte schwören, die hat Ohren rund um den Kopf, nach dem, was sie alles aufgeschnappt hat und wo sie überall gelauscht hat, wenn die anderen dachten, sie wären allein.« Mathilde mußte einsehen, daß es keinen Sinn hatte, Thom Vorhaltungen zu machen. Sie kannte ihre Nichte nur zu gut, und Schelyras Ausflüge in die Geheimgänge des Palastes gaben ihr die Möglichkeit, Erkundigungen einzuziehen. »Was hat sie in Erfahrung bringen können?« fragte sie betont gleichmütig, denn ihr war bewußt, daß Thom mit einer Schimpftirade gerechnet hatte, daß er die Prinzessin nicht genug beaufsichtigte. Er atmete tief durch. »Na ja, sie hat schon eine Menge zusammengetragen. Wir haben versucht, die Bruchstücke auf die Reihe zu kriegen, als ich sie wieder in Sicherheit gebracht hatte. Die Wächter tuscheln untereinander, daß Leopold mehr oder weniger nur eine Galionsfigur ist, daß man ihn nicht wirklich an den Angelegenheiten von Belang teilhaben läßt. Ich glaube, der alte Hahn will nicht, daß der Junge anfängt zu krähen.« Mathilde nickte; das paßte zu dem, was sie gesehen hatte — die Schwarzmäntel machten trotz der Versprechungen des Prinzen, was sie wollten. »Den alten Kanzler haben sie abgeschoben, damit er nicht über die Stränge schlagen kann. Der alte Adelphus ist keine Kämpfernatur — er soll die Gebiete verwalten, die Balthasar erobert, und sicherstellen, daß kein Ehrgeizling bei Hof dem Herrscher ein Messer in den Leib jagt.Wo er geht und steht, hat er zwei Leibwächter bei sich, und das sind rauh
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beinige Kämpfer aus Übersee. Leopold hat sich keine zugelegt, zumindest nicht, solange Schelyra ihn beobachtet hat.« Der Kanzler - das brachte sie auf eine Idee. »Und der General Catal, das ist vielleicht ein Widerling. Kam bisher, soweit uns bekannt ist, erst zweimal in den Palast - hält sich bei den Truppen auf. Er ist durch und durch Soldat und ein grausamer Befehlshaber. Die meisten Scheußlichkeiten, die bis jetzt geschehen sind, gehen auf seine Kappe. Balthasar hält ihn noch zurück. Ich glaube, er soll den Gehorsam der Bürger von Merina erzwingen, wenn sie nicht jedes neue Gesetz bis ins letzte befolgen. Dann wird der General den Platz des Prinzen im Palast einnehmen.« Er hielt inne, zog Mathildes Krug, den sie nicht angerührt hatte, zu sich und nahm einen kräftigen Schluck. »Was ist mit Apolon, dem Magier?« fragte Mathilde, als er nach einigen Schlucken immer noch schwieg. Thom senkte den Blick und starrte in seinen Bierkrug. Lange saß er stumm da und fragte dann langsam: »Euer Gnaden, habt Ihr jemals erlebt, daß Ihr eine Gänsehaut bekommt, als würde ein Schleimwurm Euch aussaugen? Dieser — dieser Mann - zumindest sieht er wie ein Mann aus - ist abgrundtief böse.« Jetzt hob Thom den Kopf und schaute ihr offen in die Augen. »Wie Ihr ja wißt,Verehrteste, bin ich gewiß kein frommer Sohn des Tempels. Und ich habe Blut an den Händen gehabt, das nicht aus meinen Adern kam, aber es war nie das Blut von Unschuldigen und Unbeteiligten. Ich bin ein Dieb, und Ihr selbst habt mich vor dem Galgen gerettet, damit ich Euren Willen ausführe. Ich habe den Abschaum von Merina gekannt, sogar die Piraten an der Küste - und ich habe schlimme Sachen gehört und gesehen. Ich habe von diesem Apolon bisher nichts als leeres Gewäsch gehört. Er hat auch noch gegen niemanden die Hand erhoben - das besorgen seine Krähen im Namen der neuen Gesetze. Aber in ihm steckt so viel tiefschwarze Nacht, daß es einem die Sprache verschlägt, wenn er einen nur ansieht. Das schwöre ich Euch. Das Böse, das in diese Stadt eingedrungen ist, verbirgt sich allein in diesem Apolon, und wir haben erst den Anfang erlebt!« Die Hast, mit der er seine Worte hervorstieß, zeigten, wie sehr sie seiner Überzeugung entsprachen. »Und er ist ein Magier —«, sagte Mathilde und fröstelte. Sie zog den Umhang fester um sich. Sie hatte plötzlich das Gefühl, auf hoher See zu sein — von heftigen Sturmböen erfaßt. Die beiden Männer sahen sie an, und trotz der schwachen Beleuchtung hatte sie den Eindruck, daß ihnen unbehaglich zumute war. 149
»Herrin«, sagte Thom, der als erster die Sprache wiedergefunden hatte, »alle kennen die Kraft des Tigers und wissen, wie sie von Generation zu Generation unvermindert weitergegeben wurde. Welche Mächte könnte denn ein Magier anrufen?« Sie legte die Hände mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte. Der rechte Daumen fühlte sich ohne den Ring leicht an - allzu leicht. Sie schuldete ihnen Offenheit; Unehrlichkeit würde jetzt alle Kräfte schwächen, die sie aufzurütteln hoffte. »Ein Magier ist nach unseren Maßstäben zunächst einmal ein Gelehrter, einer, der nach altem Wissen forscht. Dann kommt er an den Punkt, an dem er sich bemüht, einen Teil dieses Wissens nachzuprüfen. Aber da gibt es, wie es so ist in der Welt, den Weg des Herzens und den Weg des absolut Bösen. Wissen, das zum Wohle anderer angewandt wird, ist ein Segen und so wahrhaftig wie das Blut des Herzens. Wissen, das Macht erzeugen soll, das beherrschen und töten soll, kommt aus der Finsternis. Das Geschlecht des Drachens hat in der Vergangenheit drei Magier hervorgebracht. Sie alle traten in den Dienst des Tempels, als ihre Gabe zum Leben erwachte. Aber seit zwei Generationen hat es nun keine Magier aus diesem Geschlecht mehr gegeben, und andere kenne ich in Merina nicht.« Außer vielleicht - Adele? Und die Erzpriesterin? Der Tempel hielt es geheim, wer Macht innehatte und wer nicht, und hütete dieses Wissen sorgsam. Nun war sie froh darüber. »Es ist folgendes: Solange wir ihn nicht in Versuchung führen, wissen wir nicht, was dieser Apolon ist - außer, daß er sich für den Weg der Finsternis entschieden hat. Und wir sollten ihn auch erst dann in Versuchung führen, wenn wir uns unserer gesamten Kräfte vollkommen sicher sein können.« »Und inzwischen«, fuhr Thom sie an, »kann er alle unsere Chancen ruhig nach und nach zunichte machen.« Mathilde nickte. »Trotzdem«, sagte sie und tastete nach den Steinen in der Schärpe. Die Warnung ihrer Mutter ging ihr durch den Kopf, aber in Zeiten der Verzweiflung waren verzweifelte Maßnahmen vonnöten. Sie konnte nicht länger warten, sondern mußte etwas unternehmen. »Trotzdem«, begann sie von neuem, »können wir einen Versuch starten. Wer trägt den Herrscherring — Balthasar?« »Schelyra hat ihn nicht an Leopolds Hand gesehen. Sieht so aus, als wäre er für Balthasar kein Tand, den er seinem Nachfolger überlassen würde.« 150
»Leopold trägt ihn also nicht. Und dieser Kanzler, dem das Hemd näher ist als der Rock - ist das auch einer, der Reichtümern nicht abgeneigt ist?« »Er hat ein Viertel des Tributes der Zünfte in die eigene Tasche gesteckt«, antwortetet Thom. »Und der General?« Thom schüttelte den Kopf. »Das kann ich Euch nicht sagen. Wir haben noch nicht so viele Augen und Ohren, ihn zu beschatten.« Sie wechselte das Thema. »Wohin hat man Saxon gebracht — in den Wasserturm?« Thom verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sie haben aus dem Haus des Keilers ihr neues Gefängnis gemacht. Erst haben sie den Zunftmeister aufgehängt, dann seine Arbeiter zu Sklaven gemacht und abgeführt, und zuletzt haben sie die Edelfrau Fortuna und ihre Kinder auf die Straße gesetzt. Jetzt halten sie in dem Anwesen alle fest, die sie als wichtige Gefangene erachten. Meister Unois' Lagerbestände haben sie allerdings zusammengerafft und fortgeschafft.« »Tja«, sagte Jonas und rieb sich die Stoppeln am Kinn. »Der Kapitän das ist landläufig bekannt - weiß eben auf See besser Bescheid als die meisten aus Balthasars Armee. Wenn sie ihn nun einfach auf ihre Seite ziehen können - vielleicht schmieren sie ihm ja Honig um den Bart und versuchen, ihn für ihre Sache zu gewinnen.« Mathilde stieß einen Laut aus, der einem Knurren sehr ähnlich war. Und der ruppige Mann, der ihr gegenüber am Tisch saß, nickte. »Jaja, aber der Kapitän läßt sich bestimmt nicht drängen. Ich glaube, er würde nie voreilig ja oder nein sagen, sondern sich lieber anhören, was sie zu bieten haben - oder womit sie drohen —, um die Möglichkeiten auszuloten, wie er wieder Segel setzen kann.« Sie kannte das Haus des Keilers nicht sehr gut - es war das Zentrum des Feinmetallhandels der Stadt, und sie war nur an hohen Feiertagen dort gewesen, an denen eine Königin jede Zunft hatte aufsuchen müssen. Doch eines wußte sie sicher — so wie der Palast sein Gewirr von Geheimgängen hatte, besaß jede Zunft ihr besonderes Geheimnis, von dem nur ihre Meister und deren Familien wußten - und das den Eroberern vielleicht noch unbekannt war. Der Aal regte sich. Mit seinen messerscharfen Fingerspitzen zog er Linien über den Tisch. »Die Edelfrau Fortuna«, sagte er. »Wenn man sie finden könnte —« 151
Der Aal grinste. »Bin ich nicht ein Schattenwesen? Das dürfte ich schnell in Erfahrung bringen.« »Wenn der Kapitän wieder freikommt«, wandte sich Mathilde erneut an Jonas, »gibt es dann Leute, die seinen Befehlen gehorchen?« Der Gastwirt wies mit seinem fleischigen Daumen auf die Gesellschaft am anderen Tisch. »Die da drüben sind dem Kapitän alle durch Eid verpflichtet, und alle haben noch Leute unter sich. Der Kapitän hatte einen guten Plan ausgeheckt und hat die Meldung rumgehen lassen, kurz bevor er geschnappt wurde.« Wieder befingerte Mathilde ihre schwere Schärpe. »Thom«, sagte sie und wandte sich dem jungen Mann zu, »du bist doch so stolz auf deine Diebeskünste. Kannst du noch etwas aus dem Königshaus holen?« Seine Augen funkelten. »Sie haben eine doppelte Wache dort aufgestellt, aber das heißt noch lange nicht, daß ich nicht rein- und wieder rauskomme - wenn Ihr wollt, noch heute abend.« Mathilde tauchte einen Finger in das Bier, das ihr kleiner Gefährte kaum angerührt hatte, und begann, etwas auf die Tischplatte zu zeichnen. »Das hier ist der Garten hinter der Mauer«, erklärte sie, während sie zeichnete, und lächelte sanft. »Obwohl ich mir denken kann, daß du das Anwesen dieses Zunfthauses sehr gut kennst.« Er grinste und zog es vor, zu schweigen. »Sehr schön. Am Springbrunnen im Garten steht eine Bank, in der das Wappen unseres Hauses eingraviert ist. Du mußt tief ins rechte Auge der Tigermaske hineinlangen - von dir aus gesehen rechts. Damit wird ein Durchgang geöffnet. Nun ...« In rascher Folge zeichnete sie noch mehr Linien, die hin und her führten und sich teilweise überschnitten. Er folgte ihr mit dem kundigen Blick eines Mannes, der ähnlich grobe Karten schon häufig gesehen und genutzt hatte. »Dieser hier fuhrt zu meinem Arbeitszimmer«, sagte sie schließlich. »Dort steht ein Tisch, und in der Schublade befindet sich eine Schachtel — sofern sie nicht alles ausgeräumt haben. Wir können nur hoffen, daß es nicht der Fall ist. Sie ist ungefähr so groß.« Sie malte rasch ein Rechteck in die Luft. »Die brauche ich.« Er erhob sich und grüßte flott. »Ihr sollt sie haben.« Offenbar dachte er nicht im Traum an die Möglichkeit eines Mißerfolgs. Dann verschwand er behende. Mathilde nickte ihrem kleinen Gefährten zu, und auch dieser zog sich zurück. »Ich brauche einen Arbeitsplatz«, verkündete Mathilde entschlossen. »Ich denke, der Perlenladen dürfte da nicht in Frage kommen.« 152
»Ihr könnt den Lagerraum benutzen, Herrin. Und was soll ich denen sagen, was mit dem Kapitän ist?« Erneut deutete er auf die Gesellschaft am anderen Tisch. »Daß er wieder bei ihnen sein wird, sobald wir unsere Maßnahmen ergriffen haben«, erwiderte sie. Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, und jetzt meldete sich ihr Körper, der Ruhe brauchte. In dem Lagerraum, den Jonas ihr angeboten hatte, konnte sie sich endlich auf einem Stapel übelriechender Säcke ausstrecken. So gräßlich es auch sein mochte, es war dennoch eine Art Bett, und sie war bereit, ausgiebig davon Gebrauch zu machen. Sie würde eine, höchstens jedoch zwei Stunden ruhen und noch vor der Morgendämmerung wieder im Laden sein. Sobald die Sonne wieder aufgegangen war, würde sie mit ihrem Gefährten zurückkehren - bis dahin war es Thom hoffentlich gelungen, ihre Werkzeuge und alles andere hierher zu bringen. Und dann - dann wollte sie sehen, was sie tun konnte, um den Pfad, auf dem die Eindringlinge ohne einen Gedanken an möglichen Widerstand gingen, zu untergraben.
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23. Schelyra Von ihrem Guckloch hoch oben in einer Wand des Raumes, der Leopold als Beratungszimmer diente, sah und hörte Schelyra in bequemer Stellung alles, was dort vor sich ging. Es war einmal der kleine Ballsaal gewesen, in dem die jungen Leute bei Hofe Tanzstunden erhalten hatten. Nun hatte Leopold hier einen kleinen Tisch aufstellen lassen, an dem sechs Personen Platz fanden. Hier nahm er Berichte entgegen und beriet sich mit den Edlen des Kaiserreiches. Ganz offensichtlich traute Leopold den eigentlichen Empfangsräumen noch nicht. Nach der Gründlichkeit zu urteilen, mit der seine Männer jeden Raum abgesucht hatten, konnte Schelyra sich denken, daß er mit Hinterhalten rechnete. Schelyra befand sich in einem der unbequemeren Geheimgänge, der nur hüfthoch war und durch den man auf allen vieren kriechen mußte, da er oberhalb der Türrahmen verlief. Andererseits würde ihn gerade deshalb wohl niemand entdecken. Sie hatte den Kopf auf einen Arm gelegt und ein Auge gegen das Loch in der Wand gedrückt.Während sie dem vielbeschäftigten Prinzen zuschaute, der sich gerade die Berichte von zwei Hauptleuten anhören mußte, tat er ihr mit einemmal leid. Wie dumm von mir. Statt mich zu freuen, daß die Dinge sich schwierig für ihn gestalten! Und ich sollte froh sein, daß er Mühe hat, sie zu ordnen! »Apolons Männer sind leider überall, Herr«, beendete einer der Hauptleute gerade seinen Bericht. »Und wo sie sind, lassen sie uns nicht hin. Ich schätze, daß Apolon alle Gesetzeshüter der Stadt durch seine eigenen Männer ersetzt hat, so daß wir nicht mehr gebraucht werden.« In dem nun eintretenden Schweigen hörte man, wie der Prinz mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte. Schelyra konnte von ihrem Platz aus sein Gesicht nicht sehen, aber sie mußte keine Hellseherin sein, um zu wissen, daß er wahrscheinlich die Stirn in Falten legte. »Ich kann nichts tun, wenn sie sich entschließen, Euch den Zugang zu verwehren, Kastor«, sagte er schließlich. »Ich möchte auf keinen Fall, daß Ihr versucht, in der Sache etwas zu erzwingen. Das einzige, was ich tun kann, ist, es dem Kaiser mitzuteilen 154
und darauf hinzuweisen, daß wir den Auftrag, den er uns erteilt hat, schwerlich ausführen können, wenn uns Apolons Männer sogar daran hindern, einige Stadtviertel zu betreten.« Der Hauptmann seufzte matt. »In diesem Fall, Herr, solltet Ihr uns vielleicht wieder in den Palast zurückbeordern. Zumindest können wir uns hier auf der Suche nach Hinterhalten nützlich machen.« Seine Miene verriet denselben Widerwillen wie Leopolds Tonfall. Aus einigen aufschlußreichen Nuancen in seiner Stimme schloß Schelyra, daß die Schwarzmäntel bei den regulären Truppen Balthasars ebenso unbeliebt waren wie bei der Bevölkerung von Merina. Leopold nickte. »Macht es so«, befahl er. »Wir überwachen die Straßen, so gut es geht; niemand kann in der Stadt ein- oder ausgehen, ohne einen unserer Posten zu passieren. Den Teil unserer Aufgabe haben wir auf jeden Fall erfüllt.« Der Hauptmann grüßte, ebenso der andere Offizier; sie drehten sich mit einem Ruck um und verließen den Saal. Der Prinz wandte sich dem Mann an seiner Rechten zu, einem Dicken in kostbaren Gewändern aus pflaumenblauem Samt. »Versteht Ihr jetzt, was ich meine, Adelphus?« sagte er angewidert. »Ich kann beschließen, was ich will, es ist falsch. Befehle ich meinen Männern, ihre Pflicht zu tun und Apolons Haufen zum Teufel zu jagen, verletze ich die Anweisung meines Vaters, Apolons Männern freie Hand zu lassen. Befehle ich meinen Leuten, in den Palast zu kommen, verletze ich die Anordnung, die Stadt zu befrieden.« Er machte eine verzweifelte Geste. »Was soll ich denn eigentlich noch hier?« »Seid Ihr bei der Königinwitwe gewesen?« fragte Adelphus völlig überraschend. Wechselt er das Thema? wunderte sich Schelyra. Aber warum? Vielleicht, weil er die Frage nicht beantworten kann. »Ja.« Leopold legte den plötzlichen Themenwechsel wahrscheinlich genauso aus wie Schelyra. »Es würde mich sehr überraschen, wenn sie nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden stürbe. Wenn nicht, kann ihr Krankenpfleger Wunder bewirken, und ich würde ihn liebend gern in unseren Dienst stellen, damit er sich um die Truppen kümmert. Apolon mag darüber, was dort vor sich geht, denken, was er will - ich für mein Teil kann nur sagen, daß ihn seine berühmten seherischen Kräfte täuschen müssen. Die arme alte Frau konnte kaum atmen; wenn er glaubt, sie würde vom Totenbett aus noch eine Art Verschwörung anzetteln, ist er nicht ganz bei Verstand.« Die nun folgenden 155
Worte zeugten von einer tiefsitzenden, aber unterdrückten Wut: »Und ich sage Euch noch etwas — ich werde meine Männer nicht auf die Jagd nach der Königin und der Prinzessin schicken, nur weil er es angeordnet hat. Wenn er sie finden will, soll er doch seine eigenen Männer aussenden; er hat ja offensichtlich genug davon. Nach allem, was ich erfahren habe und was mich betrifft, sind die beiden aus Verzweiflung über die Abdankung ins Wasser gegangen. Zumindest hätte ich das an ihrer Stelle getan.« »Vielleicht haben sie es ja auch gemacht«, sagte der Kanzler besänftigend. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß zwei unbedeutende Frauen es fertigbringen sollten, sich so erfolgreich vor einer gemeinschaftlich durchgeführten Menschenjagd zu verbergen. Oder aber sie haben die Stadt verlassen und verstecken sich jenseits des Meeres, was für uns ohne Belang wäre.« Unbedeutende Frauen? O dieser aufgeblasene, eingebildete, kahlköpfige Tölpel! Schelyra kochte. Warte nur, wenn er in den Palast einzieht und ich ihn in die Finger kriege! Ich werde ihm schon zeigen, wer hier unbedeutend ist! »Das Problem ist, daß ich die Aufgabe, die mir anvertraut wurde, einzig und allein hier im Palast erfüllen kann«, sagte Leopold, der dem Gespräch geschickt die Wendung gab, die er haben wollte. »Was soll ich hier tun? Wenn ich mich bei meinem Vater beschwere, sieht es aus, als wäre ich unfähig — wenn nicht, sind mir die Hände gebunden!« Der Kanzler seufzte. »Ich denke, ich werde mit dem Kaiser über das Problem sprechen müssen«, sagte er zögernd. »Meine Aufgabe ist es zu beobachten, welche Fortschritte Ihr macht, und das ist gewiß eine Beobachtung, und eine stichhaltige obendrein.« Leopold schnaubte und sprang von seinem Stuhl auf, um mit großen Schritten den Saal zu durchmessen. Das hat er jetzt schon so oft gemacht, daß der Boden Furchen haben muß, dachte Schelyra. Ich möchte nicht in seiner Lage stecken. Er kann einfach nicht gewinnen, ganz gleich, was er tut, und er weiß es. Entweder ist er nicht besonders helle, oder seine politischen Fähigkeiten sind gleich null; ich kann mir kaum vorstellen, wie er sich in diese verfahrene Lage gebracht hat. Sie hätte sich darüber freuen sollen, aber es gelang ihr nicht so recht. Soweit sie es hatte beobachten können, war der arme Leopold ein ausgezeichneter Offizier, höflich und zuvorkommend zu allen; besorgt um das Wohlergehen seiner Leute - und völlig erfolglos. Und dies nicht etwa, weil er mit seiner Aufgabe überfordert gewesen wäre — sondern weil man ihm nicht gestattete, sie umzusetzen. 156
Sie hatte sich schon mehrmals bei dem Wunsch ertappt, Leopold möge doch auf ihrer Seite stehen. Ein Mann wie er könnte die Massen aufrütteln und anfeuern. Mit ihm wäre Merina in der Lage gewesen, sich sogar gegen den Kaiser zu verteidigen. Wäre Leopold auf ihrer Seite gewesen, hätte er natürlich nicht zugelassen, daß sich die Verteidigung der Stadt lediglich auf althergebrachte Strategien wie Bestechung, Diplomatie und Bündnisse beschränkte. Er hätte die Bedrohung durch Balthasar erkannt, noch ehe dieser überhaupt daran dachte, Merina einzunehmen, und hätte ein stehendes Heer eingerichtet Verflucht. Ich glaube, ich fange an, diesen Mann zu mögen, dachte sie mit Verdruß. Er wiegt zweihundert Männer von der Sorte eines Thom Ränkeschmied auf. Sein Vater ist ein Dummkopf. Aber— er mag noch so ehrenhaft, noch so tapfer sein — klug kann er nicht sein. Selbst ein Narr hätte erkennen können, daß diese Position eine Falle war. »Nun«, sagte der Kanzler, nachdem er Leopold eine Weile zugesehen hatte, »ich kehre lieber wieder ins Lager zurück. Unser Herrscher wartet auf meinen Bericht.« »Ich —«, fing Leopold an, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Ist schon gut. Wie Ihr seht, wird zumindest der Palast in Kürze belegt werden können. Sagt mir nur rechtzeitig Bescheid, so daß ich die Dienerschaft entlassen und den kaiserlichen Stab aus dem Lager hierherführen kann.« »Das werde ich tun.« Der Kanzler erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und ging gemächlichen Schrittes auf die Tür zu. »Hört auf, Euch mit diesem höllischen Hin- und Herlaufen zu erschöpfen, Hoheit. Gönnt Euch ein wenig Ruhe. Ich bin sicher, daß die Dinge morgen schon wieder besser aussehen werden.« An der Tür traf der Kanzler seine beiden Leibwächter, zwei blonde Hünen, die aussahen, als würden sie jeden Tag Schlachtvieh stemmen, um die Muskeln zu kräftigen. Was sie jedoch in den Armen hatten, fehlte ihnen an Verstand. Schelyra hatte wiederholt beobachtet, daß einfachste Geräte — wie zum Beispiel ein Anzünder - sie in kindliches Erstaunen versetzten. Wenn man sie aufforderte, Licht anzuzünden, nahmen sie nach wie vor einen ganzen Kandelaber aus der Halterung und hielten ihn ins Feuer, was für die Kerzen unselige Folgen hatte. Bärenstark, aber dümmer als ein Ochse, der sich noch vor den Pflug spannen läßt, wenn das Pferd längst verendet ist. Wenn einer den Kanzler wirklich angriff— so hinterhältig etwa, wie ein Meuchelmörder es tun würde —, würden diese beiden Prachtstücke sicher erst merken, daß etwas nicht in 157
Ordnung war, wenn er bereits mausetot und der Leichenwäscher längst mit seiner Arbeit fertig wäre. Leopold stand noch eine Weile am Tisch, nachdem der Kanzler den Raum verlassen hatte. Dann schüttelte er den Kopf. »Er hat ja recht«, sagte er laut. »Mit Hin- und Herlaufen komme ich auch nicht weiter.« Er ging ebenfalls hinaus, aber Schelyra kannte sein Ziel. Jeden Abend ging er dorthin, kurz bevor er den Palast verließ und sich in die Garnison zurückzog, wo er mit seinen Männern wohnte. Nur die Palastdiener blieben über Nacht hier. Er wollte sich und seine Männer nicht auf unsicherem »Gelände« unnötig einer Gefahr aussetzen. Sie zwängte sich durch den Gang zurück und nahm ihren eigenen Weg zur Palastkapelle. Auch dort gab es ein Loch in der Wand, und Leopold hatte die Angewohnheit, seine Gedanken in der Abgeschiedenheit der Kapelle laut auszusprechen. Manchmal erfuhr sie dabei etwas Nützliches. Die Kapelle war ziemlich schlicht; sie wurde nicht oft benutzt, da der Tempel in der Nähe war. Sie besaß nicht einmal eine Darstellung des Herzens — lediglich eine vielstrahlige Laterne über dem Altar, ein Symbol des Ewigen Lichtes. Tante Lydana hatte die Laterne anstelle einer Abbildung des Herzens anbringen lassen, und sie war offensichtlich das einzige Mitglied der Königsfamilie, das die schlichte kleine Kapelle einem Gang zum Tempel vorzog. Leopold jedoch schien an diesem Ort vorübergehend Frieden zu finden. Es verging kein Tag, an dem er nicht einen letzten Gang hierher unternahm, und mochte er noch so müde sein. Er war vor ihr angekommen und stand schweigend vor dem Altar, hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und sah zum Licht empor. Endlich begann er zu reden. »Es macht mir wirklich nichts aus, wenn ich in Ungnade gefallen bin«, sagte er laut. »Aber um meine Männer tut es mir leid - es gibt keinen Befehlshaber, dem ich sie unterstellt sehen möchte. Vor allem nicht Catal. Der Mann ist grausam. Über ihn gehen Gerüchte um, die ich nicht einmal wiederholen kann, ohne daß Übelkeit in mir aufsteigt. Ich habe ihn beobachtet, wenn wir eine Stadt einnahmen - wußtest Du, daß seine Truppen ausschließlich aus Söldnern bestehen, weil die kaiserlichen Truppen einen so durch und durch schlechten Mann als Befehlshaber nicht ertragen könnten? Wo denke ich hin, natürlich ist es Dir bekannt.« Er seufzte und rieb sich die Schläfen. »Die andere Sache ist — ich befürchte Schlimmstes, wenn Catal die Macht in der Stadt übernimmt. Oder Apolon, aber ich glaube nicht, daß 158
mein Vater einem Magier eine Stadt anzuvertrauen gedenkt, der stets nur ein paar Diener unter sich hatte. Adelphus - er wäre dafür geeignet. Er versteht etwas von Geld, er weiß, daß man eine Kuh nicht bis zum Umfallen melken und trotzdem erwarten kann, daß sie Milch gibt. Er würde es den Einwohnern hier sicher nicht leicht machen, aber er würde keine unerfüllbaren Bedingungen stellen. Catal indes - er hat seine Belagerung nicht gehabt, keinen Kampf, hat die Stadt nicht ausplündern können. Deshalb kocht er vor Wut. Das wirst Du bestimmt auch wissen.« Sein Tonfall wurde ein wenig herber. »Ich dachte immer, daß diese Stadt für Dich ein ganz besonderer Ort wäre - kannst Du nichts unternehmen? Du mußt mir nicht helfen, aber Du solltest Deiner Stadt helfen!« Seine Worte klangen wie eine ehrliche Bitte. Schelyra hielt vor Überraschung den Atem an. »Da ist noch etwas — Du bist vielleicht nicht in der Lage, in die schwarze Seele eines Apolon hineinzublicken. Ich habe genug erfahren, um zu wissen, daß er die Königin und die Prinzessin in Gewahrsam nehmen wird, wenn man sie aufgreift. Es ist beschlossene Sache; er ist derjenige, der sie bewachen soll. Es gibt etwas, das er ihnen entreißen will; ich weiß nicht, was, aber es wird sehr, sehr schlimm für sie sein. Er ist sogar bereit, in den Tempel einzudringen und die alte Frau zu holen, wenn er die Erlaubnis von meinem Vater erhält. Ich glaube, er will sie benutzen, um die anderen beiden aus ihren Verstecken zu locken. Das hieße aber, daß er Dein Heiligtum entehrt, ganz abgesehen davon, daß es widerwärtig und verwerflich ist. Als ich die Königinwitwe besuchte, versuchte ich, sie zu warnen. Ich hoffe nur, daß sie verstanden hat.« Diese Enthüllung ließ Schelyra erstarren. Leopold schwankte vor und zurück, als wollte er auf und ab gehen, wagte es an diesem Ort aber nicht. »Ich habe getan, was ich konnte, und dennoch stehe ich mit meiner Ehre und meiner Treue zum Kaiser«, sagte er schließlich. »Es liegt nun an Dir.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ die Kapelle. Schelyra stand noch immer wie betäubt an ihrem Guckloch. Als sie sich schließlich regen konnte, ging sie hinunter zu den Quartieren der Dienerschaft. Wenn Leopold sagte, er habe versucht, Adele zu warnen, dann hatte er es auch getan. Und Adele hatte die Warnung bestimmt verstanden. Sie war nicht dumm, und sie war geistig und körperlich gewiß nicht so geschwächt, wie sie vorgab. 159
Aber ich werde morgen abend ohnehin den Tempel aufsuchen, gelobte sie sich. Dann werde ich sie warnen. Wie dem auch sei, nicht einmal Apolon würde es so ohne weiteres gelingen, ins Kloster einzudringen. Er konnte Adele nicht so einfach entführen - er würde nicht wissen, in welcher Zelle sie sich befand. Also blieb ihm nur die Anwendung von Gewalt, und das würde bedeuten, daß er eine Truppe seiner Gefolgsleute schicken müßte. Und wenn sich ein Trupp Schwarzmäntel auf dem Weg zum Tempel befand, würde sich das in Windeseile herumsprechen, auch wenn sie aus dem Palast und nicht aus der Stadt selbst kamen. Während sie diese Überlegungen anstellte, suchte sie sich ihren Weg durch das Labyrinth von Gängen, bis sie in den Bereich gelangte, der den Zimmern der hochrangigen Dienerschaft und den Schlafsälen für die einfachen Bediensteten vorbehalten war. Sie hatte an jedem Abend, an dem sie diesen Ort durchstreifte, versucht, winzige Botschaften zu hinterlassen. Sie wisperte die Namen der Herrscher von Merina in die Stille der Schlafräume und rezitierte dabei die Zeilen, die sie als Kind hatte auswendig lernen müssen. Sie verteilte winzig kleine Halbedelsteine - Tigeraugen — auf dem Boden, wo man sie in der Frühe finden würde, wenn die Diener die Zimmer ausfegten. Manchmal, wenn sie hinter dem Portrait eines längst verstorbenen Königs stand, schüttete sie ein paar Tropfen Wasser aus dem Guckloch im Auge, so daß es den Anschein hatte, als weinte das Bild. Dann wiederum flüsterte sie mit hohler, klagender Stimme: »Wie könnt ihr schlafen, wenn Merina unter dem Stiefel des Eroberers stöhnt?« — »Weine, o weine, meine Stadt! Bei den Wassern des Flusses, lege dich nieder und weine!« — »Wehe, wehe den Feiglingen, die ihre Fesseln nicht sprengen!« »Der Tiger liegt in Ketten, und über seine Nachkommen haben sich gierige Ungeheuer gebeugt!« Den letzten Satz mochte sie besonders. All das sollte den Eindruck erwecken, als würden die verstorbenen Könige und Königinnen der Stadt unruhig durch den Palast wandern, aufgeschreckt durch das Eindringen des Eroberers. Sie wußte nicht, ob ihr Vorhaben Früchte trug oder nicht; tagsüber war sie zu sehr mit der Pflege der Pferde beschäftigt, die innerlich gesund erhalten werden mußten, äußerlich jedoch kurz vor dem Umfallen schienen. Die Schwarzmäntel waren schon einmal auf Gordos Anwesen aufgetaucht. Sie hatten seinen Bestand aufgenommen und waren mit verächtlichem Schnauben wieder abgezogen, ohne jedoch 160
das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, in Zweifel zu ziehen. Da sie die Gebühr für seine Zulassung bereits festgesetzt hatten, konnten sie sie jetzt auch nicht nachträglich in die Höhe treiben. Diese Gebühr für die Fortführung seiner Geschäfte veranlaßte Gordo, den lieben langen Tag Zeter und Mordio zu schreien. Es war frevelhaft — das Hundertfache der Gebühr, die er unter Lydana hatte entrichten müssen. Um sich zu rächen, forderte Gordo die Schwarzmäntel auf, das Geld persönlich abzuholen, mit der Begründung, er dürfe seine kranken Tiere nicht einen Moment allein lassen. Er bezahlte mit den kleinsten Kupfermünzen, die er auftreiben konnte. So mußten sie wohl oder übel unter der Last von zwei riesigen, schweren Säcken davonstapfen. Außerdem hatte Gordo dafür gesorgt, daß die Nähte an den Säcken schadhaft waren. Offenbar hatten sie erst knapp die Hälfte der Strecke bis zu den Stadttoren zurückgelegt, als die Nähte platzten. Schelyra wäre zu gern dabei gewesen. Thom hatte es gesehen, und seine Beschreibung, wie die Schwarzmäntel auf allen vieren im Straßendreck nach den Münzen suchten, brachte selbst Gordo wieder zum Lachen. Sie hatten ihre hübschen Mäntel ausziehen und diese für die Beförderung der Münzen zu den kaiserlichen Schatztruhen benutzen müssen. Schließlich beendete sie ihre Einflüsterungen und legte ihre letzten ominösen Zeichen aus. Es war höchste Zeit, zu Gordo zurückzukehren und ein wenig zu schlafen, um dann die armen Pferde wieder zu versorgen. Sie gähnte, während sie durch einen der vielen Fluchttunnel schritt - hier gab es Dinge, die nicht von ihr stammten, was bedeutete, daß dieser Weg auch von ihrer Tante und Skita benutzt worden war. Dabei fiel ihr Thom ein, der unter dem Vorwand, er wolle Erkundigungen in der Stadt anstellen, weggegangen war und seither durch Abwesenheit glänzte. Ha. Er will nur nicht zur Stallarbeit herangezogen werden. Kranke Pferde machen mehr Mist als gesunde. Das war gut so. Wenn er nicht auf Gordos Anwesen war, nörgelte er auch nicht an ihr herum, daß sie zu den Roßhändlern gegangen war. Es gibt hier immer noch etwas für mich zu tun, dachte sie störrisch. Und solange sich das nicht ändert, bleibe ich.
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24. Apolon Offiziell war er »der Graue Magier«. Hinter seinem Rücken nannte man ihn anders. »Balthasars Höllenhund« war dabei noch eine der höflichsten Bezeichnungen; die meisten waren wesentlich grober. Doch wie immer man ihn auch nannte, es geschah stets mit einem ängstlichen Unterton, und die Leute schauten sich um, wenn von ihm die Rede war, weil sie Angst hatten, er könnte in der Nähe sein und zuhören. Der Graue Magier lehnte sich bequem in seinem gut gepolsterten Feldstuhl zurück, während der Hauptmann seiner Gefolgsleute berichtete, was seine Späher in Erfahrung gebracht hatten. Nicht alles, was Apolon unternahm, hatte mit Zauberei zu tun — er fand sterbliche Augen und Ohren ebenso nützlich. Genau jene sterblichen Augen und Ohren waren es, die ihm genügend Wissenswertes über Merina geliefert hatten, so daß er Balthasar hatte überreden können, diese Stadt anzugreifen. Berichte über den Reichtum Merinas und die fehlenden Verteidigungseinrichtungen hatten sie zu einem unwiderstehlichen Ziel für den Kaiser gemacht. Da es in Merina etwas gab, das Apolon mehr als alles in der Welt begehrte, hatte er Balthasars Augenmerk auf diese Stadt gelenkt. »Und Leopold stellt seit neuestem Fragen über Euch«, beendete der Diener seinen Bericht mit heiserer Stimme. »Viele Fragen.« Apolon runzelte die Stirn, denn das hatte er von diesem faden Prinzen nicht erwartet. »Fragen?« wiederholte er. »Was für Fragen?« Was hatte dieser Grünschnabel vor? Gewiß keine Erpressung — er war zu ehrenhaft und aufrichtig, um sich in diese Niederungen menschlicher Beziehungen zu begeben. Was glaubte er, erfahren zu können? Und was wollte er mit diesem Wissen anfangen, wenn er es einmal hätte? »Er weiß inzwischen, daß man Euch die Frauen aus dem Königshaus übergeben will, sobald man sie gefunden hat«, flüsterte der Diener. »Er hat sich erkundigt, was Ihr mit ihnen zu tun gedenkt, was Ihr für sie vorbereitet habt und so weiter. Er hat mit Euren Dienern gesprochen, und ich glaube auch, daß er herauszufinden versucht, wie Ihr Eure Zaubereien durchführt.« 162
Apolon unterdrückte seine plötzlich aufsteigende Wut, zugleich aber auch ein Gefühl der Vorahnung. Leopold besaß von allen Angehörigen des Hofes als einziger so viel Verstand, um aus den Berichten der Diener Rückschlüsse auf die eigentliche Quelle der Macht Apolons zu ziehen. So langweilig er wirkte, dumm war er nicht; hinter dem ehrenhaften Getue und der Gefühlsduselei steckte ein scharfer Verstand. Und Leopold war als einziger klug genug, um zu sehen, daß die Vorbereitungen, die Apolon für die Gefangenschaft der beiden Frauen getroffen hatte, nicht auf Dauer angelegt waren, obwohl es wirklich sichere Vorkehrungen waren. Leopold mußte nur zwei und zwei zusammenzählen, und schon gab es einen Grund, Verdacht zu schöpfen; selbst wenn er nur wenig Wissenswertes von den Dienern erfahren würde, fand er wahrscheinlich andere Möglichkeiten, Beweise für seinen Verdacht zu sammeln. Zum Beispiel konnte er ein paar Männer in die von Balthasar eroberten Gebiete zurückschicken, um Listen vermißter Männer zusammenstellen zu lassen. Nicht alle, die Apolon zwangsverpflichtet hatte, stamm ten aus den Reihen der Besiegten. Zuweilen hatte er nicht die Freiheit gehabt, bei der Rekrutierung wählerisch zu sein. »Natürlich hat er nichts erfahren«, fuhr der Diener beschwichtigend fort. »Jene, die er befragt hat, werden sich hüten, irgend jemandem etwas über ihren Meister zu verraten.« Apolon brummte. Er neigte nicht zu Pessimismus, doch jetzt, da er gewarnt war, konnte er Maßnahmen ergreifen. »Und was ist aus der Suche nach einem Ort geworden, an dem ich ungestört arbeiten kann?« Der Diener senkte den Kopf. »Ich bedaure, Euch berichten zu müssen, Herr, daß der am besten geeignete Ort schon belegt war. Wir haben bisher noch nichts Vergleichbares gefunden.« »Belegt?« sagte Apolon verwundert. »Belegt? Was ist das für ein Ort? Wer hat ihn belegt? Bestimmt nicht Leopold - wenn einer dieser Jam merlappen von Merina eine Kupfermünze fallen ließe, würde Leopold sie aufheben und ihm zurückgeben.« »Nicht Leopold, Herr«, bestätigte der Diener. »Catal. General Catal. Seine Majestät hat ihm das Recht zugesprochen, die Zunftmeister als Geiseln zu nehmen und Lösegeld für sie zu fordern. Einige haben Widerstand geleistet — einer weigerte sich, die Geheimnisse seines Hauses preiszugeben. Catal ließ ihn hängen und brachte dann seine Männer in dessen Haus unter. Es ist das Haus, das für Eure Bedürfnisse genau richtig wäre - das Haus des Keilers. Es bietet alle Voraussetzungen, die 163
Ihr genannt habt; die anderen Häuser, die wir uns angeschaut haben, weisen ausnahmslos Mängel auf.« »Ach ja?« Apolon überlegte. »Und warum hat Catal das Haus besetzt?« Er hatte nicht damit gerechnet, daß der Diener es wüßte, doch erstaunlicherweise hatte der eine Antwort. »Im Untergeschoß befinden sich Räume, die für die Lagerung kostbarer Waffen vorgesehen sind. Sie eignen sich hervorragend für die Unterbringung von Gefangenen. Vor allem aber gibt es dort ein Schwert, von dem es heißt, es habe Zauberkraft, und Catal will es haben.« Apolon tat diese Bemerkung mit einer wegwerfenden Geste ab. »Catal soll alle Spielzeuge haben, die er begehrt. Ich will das Haus! Meinst du, er zieht aus, wenn er sein Spielzeug bekommt?« Der Diener zögerte und sagte dann: »Ich glaube schon. Es gibt bessere Orte, an denen man Gefangene halten kann - ohnehin wird er sie, so wie ich Catal kenne, nicht lange bei sich behalten. Sie werden ihm zu lästig werden.« Das reichte. Apolon entließ den Eunuchen mit einer entsprechenden Handbewegung und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Also hatte Catal nun auch in Merina seine Finger im Spiel - und nahm, wie vorauszusehen war, seine alten Gewohnheiten wieder auf. Er konnte einfach nicht dem Drang widerstehen, Menschen gefangenzunehmen und Lösegelder für sie zu fordern! Andererseits brauchte Catal bei den vielen Söldnern, mit denen er sich herumschlagen mußte, eine ergiebigere Geldquelle als Balthasars Kassen. Den Söldnern war die Plünderung versagt geblieben, daher mußte er für einen angemessenen Ersatz sorgen. Ja, das war zu erwarten gewesen. Dieser Umstand würde Leopold hart zusetzen. Die Schwarzmäntel hatten das gemeine Volk fest im Würgegriff, und nun preßten Catals Männer auch noch die Wohlhabenden aus, die sich wahrscheinlich bisher vor Belästigungen in Sicherheit wähnten. Bliebe nur noch der Tempel. Der allerdings war ihm ein Dorn im Auge! Seine Schwarzmäntel konnte er nicht hineinschicken - zumindest jetzt noch nicht; und nicht ohne beträchtliche Opfer. Auch er selbst konnte noch nicht über die Schwelle schreiten. Der erste Eindruck, den er sich von diesem Ort verschafft hatte, bestätigte ihm dies. Er hatte zunächst gehofft, diese Tem pelgemeinschaft würde sich als ebenso verdorben und kraftlos erweisen wie die in Wolderkan — dort hatte er mit seiner gesamten Dienerschaft über die Schwelle des Tempels schreiten und alle Artefakte mitnehmen 164
können. Doch der Tempel von Merina wurde von Menschen geführt, die reinen und wahren Glaubens waren, den sie vielleicht deshalb hatten beibehalten können, weil das Allmächtige Herz dort war ... was ihm die Sache ein wenig erschwerte. Und solange er keinen sicheren Arbeitsplatz hatte, würde sich daran auch nichts ändern. Erst dann wäre er in der Lage, die Kraft aufzubringen, um tun zu können, was er wollte - also auch die Tempelschwelle zu überschreiten. Wenn seine Gefolgsleute erst die richtige Speise erhielten, wäre er durch nichts mehr aufzuhalten. Er schloß die Augen, um eine Weile nachzudenken — nur einen Augenblick. Er schreckte auf, wäre er doch beinahe eingeschlafen. Ein kalter Schauer der Angst rann ihm über den Rücken, als er begriff, wie nahe er gerade einem unbewachten Schlaf gewesen war. Ein Magier wie er durfte es nicht wagen, sich ungeschützt schlafen zu legen. Er mußte in seinem Bett liegen, umgeben von Glücksbringern und Wächtern, darüber hinaus mit Betäubungsmitteln vollgepumpt, um zu verhindern, daß Träume seine Ruhe störten und in seinen Geist eindrangen. Magier, die in einen natürlichen Schlaf fielen, erwachten in einem geistig verwirrten Zustand — oder überhaupt nicht mehr. Seinem Lehrer war es so ergangen, und Apolon hatte dabei die Hand im Spiel gehabt. Jeder Dunkle Magier hatte unzählige Feinde, darunter auch nichtmenschliche, die nur darauf warteten, daß er einen Fehler beging, um ihn zu vernichten und sich seine Macht anzueignen. Apolon konnte sich nicht erinnern, wann es ihm zum letzten Mal möglich gewesen war, sorglos vor sich hin zu dösen. Er mußte sehr müde sein, daß er sich so weit hatte gehen lassen. Das durfte nicht wieder vorkommen. Nicht jetzt, da er seinem Ziel so nahe war. Mußte er noch mehr tun? Im Augenblick nicht. Er ging in Gedanken alles durch und konnte nicht feststellen, daß er etwas übersehen hätte. Morgen würde er mit Balthasar reden und ihm mitteilen, daß sein Sohn die Autorität seiner Schwarzmäntel untergrub. Wenn er Glück hatte, würde sich Balthasar von selbst fragen, wie lange es wohl dauern würde, bis Leopold die Autorität des Kaisers zu untergraben begann. Dann wäre Apolon zur Stelle, um diese Gedanken zu fördern. Morgen würde er sich auch um jenes von Catal besetzte Haus kümmern. Zuerst mußte er herausfinden, welche Bewandtnis es mit diesem Spielzeug hatte, das der General haben wollte. Hatte er es noch nicht an 165
sich genommen, dann mußte das Ding durch einen Zauber geschützt sein. Wenn es sich so verhielt, konnte er vielleicht seine Dienste anbieten. Dann würde er nach einer Möglichkeit suchen, wie er den General überreden konnte, das Haus aufzugeben und es ihm, Apolon, zu überlassen. Sobald er alles in Sicherheit hätte, konnte er jemanden in den Palast schicken, um die Gemächer der beiden vermißten Frauen nach Gegenständen zu durchsuchen, mit deren Hilfe er sie aufzuspüren hoffte. Doch zuallererst mußte er eine Möglichkeit finden, die Reihen seiner Männer wieder aufzufüllen. Er hatte ein Schiff draußen im Hafen liegen, beladen mit wahllos von der Straße aufgelesenen Männern, die ihm dienen sollten. Doch die Gesetze der Magie erlaubten ihm nicht, auf einem Schiff zu arbeiten. Nein, er brauchte einen Ort in der Stadt, erdverbunden, und je tiefer er lag, um so besser. Doch das Haus des Keilers - das hörte sich vielversprechend an. Er erhob sich aus seinem Stuhl und rief einen anderen Diener zu sich. Morgen. Ja. Morgen würden viele Dinge in Gang gesetzt.
25. Thom Thom Ränkeschmied war alles andere als glücklich. Nicht, daß er unglücklich gewesen wäre, sich gerade hier, innerhalb der Mauern dieses Anwesens zu befinden; wenn er sich schon in Merina aufhalten mußte, hätte er ohnehin auf dem schnellsten Wege bei den Zigeuern und den mit ihnen verschwägerten und verbündeten Roßhändlern Unterschlupf gesucht. Hier konnte sich ein Mann mit seinem Ruf am sichersten fühlen, denn die Eroberer hatten noch nicht gewagt, sich zu diesem Viertel Zugang zu verschaffen. Trotzdem war es noch in Merina; und das war es, was ihn bekümmerte. Er war nahe daran, sich die Haare büschelweise auszuraufen, während er wutschnaubend hinter der Prinzessin stand. Die Sache war die, daß sie sich eigentlich überhaupt nicht innerhalb der Stadtmauern aufhalten sollten. Dennoch waren sie hier, in einem kleinen, fensterlosen Raum mit zwei Eingängen, einem sichtbaren und einem unsichtbaren. Sie sollten schon längst außerhalb von Merina sein, unterwegs zu den endlosen Ebenen, dem Reich der Roßhändler. Schelyra ließ ihn spüren, daß ihr seine Laune völlig gleichgültig war, so wie ihr fast alles gleichgültig schien, was er gesagt und getan hatte, seitdem ihre Tante sie aneinander gefesselt hatte. Sie saß auf dem einzigen Hocker des Raumes vor einem kleinen Spiegeltisch, über dem eine kleine Öllampe an der Wand hing. Da das Zimmer keine Fenster hatte, brauchte man die Lampe Tag und Nacht. Zum Teufel mit dieser Göre! Gibt es denn nichts, was sie zur Vernunft bringen kann? Schlimm genug, daß sie noch einmal in den Palast zurückgehen muß - aber immer und immer wieder, Nacht für Nacht? Ist sie denn völlig übergeschnappt? Es sah ganz danach aus. Die Prinzessin hatte gerade ihre weichen Stiefel mit Sohlen aus Haifischleder geschnürt und die Haare zu einem festen Knoten aufgesteckt und zog sich die Kapuze ihrer fest anliegenden Jacke über den Kopf, so daß keine Haarsträhne mehr zu sehen war. Sie nahm eine Handvoll Ruß und rieb sich Stirn und Wangen ein, als habe sie das in der Vergangenheit schon so oft gemacht, daß es inzwi 167
sehen eine Selbstverständlichkeit war. Dann betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel und nickte. »Eigentlich sollten wir weit weg von hier sein. Wir sollten die Stadt verlassen, solange es noch möglich ist, Hoheit«, sagte er zum hundertsten Mal. »Wir hätten aufbrechen sollen, als diese komische kleine Dienerin Eurer Tante den Ohrring gebracht hat. Die Roßhändler wollen Euch gern verstecken, und die Zigeuner können Euch hinausschmuggeln, aber wir wissen nicht, wie lange das noch geht. Wir haben der Königin versprochen —« »Du hast es versprochen, nicht ich.« Dieses verrückte Wesen beendete seine Vorbereitungen mit grimmiger Gelassenheit. »Ich bleibe hier. Es muß etwas getan werden, wenn Merina je das Joch dieser fremden Viehtreiber abschütteln soll.« »Dann haltet Euch zumindest vom Palast fern!« flehte Thom ohne Hoffnung. »Hier wimmelt es von Gefolgsleuten des Prinzen. Wenn sie Euch fangen —« »Sie fangen mich nicht.« Schelyra hob eine Augenbraue in gut eingeübter Herablassung. »Sie können es nicht. Es gibt keine Möglichkeit, daß auch nur einer der Geheimgänge durch Zufall geöffnet wird —jetzt nicht mehr. Ich habe die meisten verschlossen, ehe wir den Palast verließen - und alle, die wir seither benutzt haben. Sie sind jetzt nur noch von innen zu öffnen, und man kann sie nur noch durch Eingänge außerhalb des Palastgeländes betreten. Und dort dürften nicht einmal die Schwarzmäntel danach suchen.« »Man kann sie immer noch mit einer Axt aufbrechen«, erwiderte Thom. Sein Hals rötete sich, als angesichts ihrer offenen Verachtung das Blut in ihm aufwallte. »Die Mauern sind dick; es ist nur eine Frage der Zeit, bis einer aus Leopolds Gefolge merkt, wie dick sie sind, und daraus entsprechende Schlüsse zieht! Ihr seid verrückt junge Frau. Balthasar ist mit allen Wassern gewaschen, und dieser Hund Apolon kennt sich noch besser aus.« »Und keiner von beiden ist hier.« Würde sie ihn denn nie zu Ende reden lassen? »Nur der Prinz, der mir nicht besonders helle zu sein scheint.« Sie lächelte spöttisch. »Ich glaube, ich kann mich ganz gut vor ihm schützen.« »Laßt mich zumindest dieses eine Mal mit Euch gehen«, bat er. Sie schnaubte nur. Sie traute ihm nicht über den Weg, das hatte sie zur Genüge klargestellt. Sie dachte, er wolle nur die Geheimnisse des Palastes ausspähen, damit er sich zu einem späteren Zeitpunkt an den 168
dort vorhandenen Schätzen bedienen konnte. Nicht, daß ihm ein solcher Gedanke fremd gewesen wäre, unter normalen Umständen Aber doch jetzt nicht. Ihn schauderte. Er hielt sich für tapfer, aber er verspürte kein Verlangen, jetzt in den Palast zu gehen. Nicht, solange Balthasar diese Stadt besetzt hatte. Es gab einfach Dinge im Leben, auf die er verzichten konnte. Schelyra erhob sich und ging auf die verborgene Tür zu. Diese Tür führte zu einem Geheimgang, der in jenem Teil des Gebäudes endete, welcher für die Lagerhaltung vorgesehen war. Von hier aus konnte sie unsichtbar zu einer Hintertür in einer stinkigen Gasse gelangen, die nicht einmal die Schwarzmäntel für überwachenswert hielten. Von dort aus würde sie irgendwie in den Palast gelangen. Sie schien sehr zuversichtlich, daß es ihr gelingen würde, ohne entdeckt zu werden. Sie hatte behauptet, sie sei Jägerin - wenngleich er keine Ahnung hatte, wie man als Jägerin die Fähigkeit erlangen wollte, unbemerkt durch Straßen zu schleichen. Bei solchem Unfug hätten selbst einem Heiligen die Haare zu Berge gestanden. Thom riß sie sich gleich büschelweise aus. Schelyra berührte einen versteckten Mechanismus, und die Holzverkleidung glitt zur Seite. Er streckte eine Hand aus, um sie zurückzuhalten, sie aber drehte sich zu ihm um und blickte ihn kurz mit beißender Verachtung an. Sie hielt ihn für einen Feigling. Ausgerechnet ihn! Unwillkürlich zog er die Hand zurück; sie schlüpfte durch die Holzverkleidung, die sich hinter ihr schloß. Da er nichts Besseres zu tun hatte, lenkte Thom seine Schritte in den Hof, wo stets ein Feuer brannte, um das sich Menschen scharten. Für gewöhnlich hielten sich dort Tänzer und Musikanten sowohl aus den Zigeunerfamilien als auch aus der Sippe der Roßhändler auf. Nicht etwa, daß es nach den letzten Tagen etwas zu feiern gegeben hätte, aber die Musikanten mußten ungeachtet der äußeren Umstände in Übung bleiben - manche »Tänze« waren nichts weiter als gut getarnte Kampfübungen. Natürlich gab es bereits Verordnungen, die derartige körperliche Ertüchtigung untersagten, aber man konnte kaum einen Tänzer oder eine Tänzerin davon abhalten, ihre Kunst zu üben. Als Thom zu ihnen trat, musizierten gerade nur Männer, und auch unter den Tänzern, die sich im Stocktanz der Roßhändler übten, waren keine Frauen. Sehr beeindruckend, sehr anregend, vor allem im Feuerschein. Und keiner, der die Roßhändler nicht kannte, hätte vermutet, daß 169
dies eine verfeinerte Form des Stockkampfes darstellte, der ebenso tödlich wie beeindruckend war. Es bedurfte jahrelanger Übung, bis man ihn beherrschte. Thom hatte nicht einmal den Versuch unternommen. Man konnte schließlich nicht alles im Leben beherrschen. Während Thom bei den Zigeunern stand und der Rhythmus des Klatschens und Trommelns sich mit dem seines Herzens verband, während die dünnen weißen Stöcke im roten Feuerschein wie Blitze aufzuckten und die Füße der Tänzer auf den Boden stampften, fühlte er sich plötzlich beobachtet. Da war jemand, der ihn unverwandt anblickte. Er drehte sich blitzschnell um und erblickte hinter sich das merkwürdige kleine Wesen, das die Königin als Boten benutzte. Es war wie bei ihrer ersten Begegnung als Junge verkleidet. Die Kleine beobachtete ihn mit wachsamen Augen, die ihre Gedanken nicht verrieten, und Thom dachte, daß es schon eines sehr klugen Kopfes bedurfte, um die winzigen verräterischen Zeichen zu erkennen, die den Jungen als schmal gebaute Zwergenfrau entlarvten. Als sie sah, daß er sich umwandte, wies sie mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf die Ställe und verschwand im Schatten des Hofes. Er unterdrückte einen Seufzer, steckte die Hände in die Taschen und schritt in die angegebene Richtung. Gleich hinter der Tür hing eine einzelne, abgedunkelte Laterne, die einen schmalen Lichtkeil nach außen in den Hof warf. Die sonderbare Kleine war vor ihm da und lehnte lässig am Türrahmen — ein großspuriger Halbwüchsiger. Sie ergriff das Wort. »Du bist noch da, aber meine Schachtel noch nicht.« Eine nüchterne Feststellung, die jedoch mehr als nur die Andeutung eines Vorwurfs in sich barg. Er ärgerte sich ein wenig. »Was letzteres betrifft, so hatte ich gestern keine Zeit mehr, ehe es hell wurde. Und das erstere ist wohl kaum mein Fehler«, entgegnete er. »Ich kann das Mädchen nicht dazu bewegen, die Stadt zu verlassen! Statt dessen -«, die Worte, die seiner Verärgerung Ausdruck gaben, purzelten aus seinem Mund, noch ehe er sie zurückhalten konnte, »— statt dessen hat sie beschlossen, jede Nacht in den Palast zu gehen und dort herumzuspionieren, und ich kann tun und lassen, was ich will, sie läßt sich nicht davon abbringen!« »Du kannst sie also nicht zähmen, wie?« Sardonische Belustigung blitzte in den Augen des kleinen Wesens auf, und Thom mußte an sich halten, um sie nicht zu würgen. »Komisch. Deinem Ruf nach hätte ich vermutet, du hättest keine Schwierigkeiten, ihren Willen zu beugen.« 170
»Keiner hat mir gesagt, daß ich sie zähmen soll«, sagte er mürrisch. »Das war nicht vereinbart, und ich bezweifle, daß du die Königin überreden könntest, den Maßnahmen zuzustimmen, die ich ergreifen müßte, um sie zu >zähmen<. >Bring sie aus der Stadt heraus<, habt ihr gesagt, >bring sie zu den Roßhändlern.< Nun, sie ist bei den Roßhändlern, also ist mein Handel zur Hälfte erfüllt, und wenn sie trotz all meiner Argumente und Überredungskünste nicht weggehen will, betrachte ich den Rest der Vereinbarung als null und nichtig.« Die Kleine kicherte. »Du hättest ihr natürlich eins über den Schädel geben, sie in einen Sack stecken und raustragen können, ob es ihr gefiel oder nicht. Du hättest der Königin ja nicht gerade sagen müssen, auf welche Weise du sie hinausgeschafft hast.« Der Gedanke war nicht ohne Reiz — ein Reiz, der durch die Gewißheit zunichte gemacht wurde, was sie mit ihm angestellt hätte, wenn er es auf diese Weise versucht hätte, oder, noch schlimmer, wenn er Erfolg gehabt hätte! Sopran ist nicht gerade meine Stimmlage, und jeder, der in die Familien der Roßhändler aufgenommen wird, weiß mit dem Kastrationswerkzeug umzugehen wie andere Leute mit der Gabel. »Das war nicht vereinbart«, wiederholte er störrisch. »Du gehst zur Königin und sagst ihr einfach, daß ich ihr heute nacht die Schachtel besorge und daß ich mit der Göre nichts mehr zu tun haben will. Ich werde sie beschützen, wo und wann ich kann, aber wenn sie meine Begleitung ablehnt und mir nicht erlaubt, ihr zu folgen, dann kann ich nichts machen.« Nun lachte der kleine Racker laut heraus. »Wenn das so ist, dann schuldest du meiner Herrin noch dein halbes Leben. Die einzige Möglichkeit, wie du es zurückkaufen kannst, besteht darin, die Schachtel zu holen, um die sie dich gebeten hat, und noch eine kleine Aufgabe zu übernehmen, die leichter als die erste ist.« »Und das wäre?« fragte er mißtrauisch. »Komm mit und finde es selbst heraus«, sagte das unausstehliche Wesen spöttisch. »Es sei denn, du bist ebenso feige wie erfolglos. Solange du die Schachtel noch nicht hast, bist du für mich nur das eine oder das andere.« Zutiefst gekränkt folgte er der kleinen Hexe auf dem Fuß, als sie über den Hof auf die Hintertür zu eilte, die Schelyra gerade eben benutzt hatte. Der Gestank in der mitternächtlich dunklen Gasse hätte selbst ein Kamel in die Knie gezwungen, und er rutschte in Pfützen und auf Gegenständen aus, an die er gar nicht erst denken wollte. Andererseits 171
wollte er ebensowenig darüber nachdenken, wie es wäre, wenn er Schwarzmänteln in die Arme liefe. Die Kleine hatte ein untrügliches Gespür, den Schwarzmänteln auszuweichen. Sie hielt Thom zurück oder bedeutete ihm, ihr zu folgen, so daß er von diesen unheilverkündenden Vögeln stets nur den Zipfel eines Mantels, der um eine Ecke verschwand, oder die Spitze eines Stockes, der über einer Mauer auftauchte, erblicken konnte. Schon bald hatte Thom seine Haltung wiedergefunden. Wenn sie ihn dahin führte, wohin er vermutete, dann waren sie unterwegs zum Stachelrochen-Hof, in dem kleine Händler und Zunftarbeiter wohnten und wo es Läden gab, die sie für den täglichen Bedarf brauchten. Schließlich führte sie ihn zu einem Ladenviertel von schäbigem Glanz, in dem alle Fensterläden geschlossen und fest verriegelt waren, um die Nacht und alles, was damit verbunden war, auszuschließen. Nachdem sie sich verstohlen umgeschaut hatte, rannte die Kleine über die Straße auf einen bestimmten Laden zu, klopfte einmal, und winkte Thom dann, ebenfalls herüberzukommen. Sie verschwand bereits im dunklen Eingang, während Thom, ihrem Beispiel folgend, schattengleich über die Straße huschte. Die Tür stand eine Handbreit offen, als er ankam, und die Kleine war nicht mehr zu sehen, aber eine Hand kam durch den Spalt, packte ihn beim Kragen und zog ihn mit einem Ruck hinein. Er versuchte gar nicht erst, sich zu wehren, und stand blinzelnd im Schein einer Lampe, während die Frau ihn mit der Schulter ein wenig zur Seite schob, um die Tür wieder zu schließen und zu verriegeln. Das Innere war von demselben verblichenen Glanz wie das Äußere des Ladens; die wenigen Möbelstücke waren abgenutzt, aber von feiner Qualität. Das Fenster zur Straßenseite hin konnte offenbar geöffnet werden, um die Waren auszustellen, die dieser Laden feilbot - was immer es war. Er erkannte in der Frau, die ihn am Arm hielt, die Königin, aber nur deshalb, weil er ein wenig Erfahrung mit Tarnung hatte. Kaum ein Einwohner dieser Stadt würde in dieser aufgetakelten, verbrauchten Brünette auch nur im entferntesten die vermißte Königin vermuten. Nun, damit war eine Frage beantwortet: wohin die Königin selbst gegangen war. Er hatte auch nicht angenommen, daß sie in Jonas' Hinterzimmer eingezogen war. Interessant war nur, daß sie allem Anschein nach ebensowenig Neigung wie ihre Nichte verspürte, Merina zu verlassen. Womit bewiesen wäre, daß sie beide spinnen! Das kleine Wesen flüsterte der Herrin etwas zu, während diese die Tür schloß. Die Königin warf Thom einen mißbilligenden Blick zu. Kaum 172
merklich hob er die Schultern. »Wenn Ihr nicht in der Lage seid, sie zu bewachen, warum sollte ausgerechnet ich es können?« erwiderte er den unausgesprochenen Vorwurf. »Sie tut, was sie will, und keiner von uns kann zu diesem Zeitpunkt etwas daran ändern.« Er fügte noch etwas hinzu, was ihm gerade eingefallen war. »Ihre Freunde bei den Roßhändlern und den Zigeunern würden es mir wahrscheinlich sehr übel nehmen, wenn ich versuchen würde, sie zu zwingen. Meine Blutsbrüderschaft ist nicht so stark wie ihre Bindung - und sie halten 'ne ganze Menge von persönlichem Mut. Wenn sie mich dabei erwischen, wie ich sie aufzuhalten versuche, gerate ich in Teufels Küche. Sie würden mich rauswerfen, und dann wäre niemand mehr da, der versuchen könnte, die Prinzessin zu beschützen oder sie von unsinnigen Vorhaben abzubringen.« Die Königin verzog das Gesicht zu einer Grimasse und nickte finster. Sie konnte sich seinen einfachen Argumenten nicht verschließen. »Glaube nur nicht, du kämst so einfach davon. Du wirst noch etwas tun müssen, um dein Leben und deine Freiheit zu erkaufen«, sagte die Königin daraufhin. »Ich brauche diese Schachtel noch immer, und ich habe eine weitere Aufgabe für dich.« Sie verzog den Mund ein wenig. »Es ist eine Aufgabe, mit der du vertraut sein dürftest, würde ich meinen. Ich brauche dich, um noch etwas anderes zu stehlen.« »Nicht aus dem Palast«, unterbrach er sie. Aber die Königin schüttelte den Kopf. »Nein, nicht aus dem Palast, sondern von einem Ort, zu dem jemand mit deinem Ruf ohne große Schwierigkeiten Zugang findet. Nämlich die Werkstätten im Haus des Tigers. Es gibt da einen bestimmten Holzkasten, etwa so lang«, sie deutete die Größe mit den Händen an, »so hoch und so tief. Er steht in der großen Werkstatt, an der dritten Bank von der Tür. Den brauche ich. Er enthält Werkzeuge, die mir fehlen. Du kannst die Schachtel, um die ich dich bat, und diesen Kasten in einem Zug holen, denke ich.« Er fragte sie nicht, wofür sie die Sachen brauchte. Ohne Zweifel hatte sie ihre Gründe. »Und soll ich sie Euch bringen?« Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich werde — woanders sein. Der Aal wird darauf warten, direkt vor dem Haus. Er kann dich zu mir führen oder beides von dir in Empfang nehmen, falls die Wachen mißtrauisch geworden sind. So werden sie, auch wenn sie dich verfolgen und anhalten, nichts bei dir finden.« Er hob eine Augenbraue. Der Aal? Nennt sich der Zwerg so? Na, das paßt wenigstens. 173
Er verbeugte sich flüchtig. »Die Schachtel und der Kasten sind so gut wie in Euren Händen, Herrin«, erwiderte er, und seine alte Selbstsicherheit klang wieder durch. »Ich werde sie noch vor der Morgendämmerung herausholen. Ich hatte ohnehin vor, die Schachtel heute nacht zu holen. Als ich gestern nacht auf die Straße kam, war es schon zu hell. Ich dachte mir, es dürfte Euch wohl kaum recht sein, wenn sie mich festnähmen, bevor Ihr Eure Habseligkeiten wiedererlangt habt.« »Es wäre schön, wenn du das in den nächsten Stunden erledigen könntest.« Kein Lob, nichts als die nüchterne Feststellung der Tatsache, daß er ein kleines Wunder zu vollbringen hatte. Nicht einmal die Anerkennung, daß es wirklich ein Wunder war. Verärgert knirschte er mit den Zähnen, ohne jedoch seine Verstimmung offen zu zeigen. Auf dem Weg zur Tür warf er statt dessen eine seiner witzigen Bemerkungen über die Schulter. »Ihr könnt Euch die Wartezeit ja mal mit dem Gedanken daran vertreiben, wie ich Eure Göre >zähmen< soll«, sagte er rundheraus. »Sonst bringt sie uns am Ende noch alle um.« Und mit dieser tröstlichen Nebenbemerkung verschwand er in der Dunkelheit.
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26. Schelyra Lieber wäre sie gestorben, als gegenüber diesem Angeber Thom Ränkeschmied zuzugeben, daß sie auf ihrem Weg durch die Stadt die ganze Zeit schreckliche Angst ausgestanden hatte. Sie fürchtete sich immer, wenn sie des Nachts unterwegs war; ganz so sicher, wie sie behauptete, war sie nicht, den Schwarzmänteln ausweichen zu können. Erst wenn sie die Geheimtür zum Tunnel unter dem Garten wieder hinter sich geschlossen hatte, atmete sie auf. In jenem verborgenen Raum, in dem sie sich in Raymonda verwandelt hatte, machte sie kurz Rast, um lang und tief durchzuatmen, bis ihr Herz weniger laut klopfte. Vor der Rückkehr graute ihr. Es gab viel zu viele schwarze Krähen da draußen, und sie schienen in der Dunkelheit ebensogut sehen zu können wie eine Eule! Nun aber war sie erst einmal hier, und es war wieder an der Zeit, die Eroberer auszuspähen. Sie waren heute endgültig in den Palast eingezogen, und Schelyra mußte nachsehen, ob es irgendwelche Veränderungen gegeben hatte. Zuerst die offiziellen Räume, dann die Arbeitsräume, die Küche zum Beispiel. Ich will wissen, ob sie Besprechungen abhalten, und ich will sehen, wie sie unsere Diener behandeln. Das heißt, falls sie nicht alle Diener heute hinausgeworfen haben. Ich glaube nicht, daß sie sie noch lange behalten. Schweigend schlich sie durch die Geheimgänge und steuerte als erstes den Thronsaal an. Im Palast herrschte Stille, was trotz der späten Abendstunde ungewöhnlich war. Schelyra kam es vor, als wäre sie das einzige Lebewesen hier. Sie hatte erwartet, daß der Prinz auf dem Thron ihrer Tante Hof halten würde, aber der Thron war leer; nur wenige Lichter brannten, und es sah nicht so aus, als wäre er seit der Abdankung benutzt worden. Das war äußerst merkwürdig, wenn man bedachte, daß Balthasar die Stadt seit über einer Woche besetzt hielt und der Prinz bereits einen ganzen Tag hier residierte. Noch absonderlicher war die außergewöhnliche Stille — sie hatte damit gerechnet, um diese Zeit bereits auf betrunkene Soldaten zu stoßen, die in den Korridoren ihr Unwesen trieben 175
und alles mitnahmen, was nicht niet- und nagelfest war. Inzwischen dürfte die Disziplin, die sich einstellt, wenn man auf fremdem, unsicherem Gelände ist, brüchig geworden sein. Doch auf ihrem Streifzug durch das Labyrinth von Geheimgängen entdeckte sie lediglich Soldaten auf Wache, je zwei auf jedem Korridor. Die Offiziere waren nüchtern und schliefen zu mehreren in einem Zimmer. Diese Räume waren einst den Gästen und deren Gefolge vorbehalten. Die einfachen Soldaten fand sie in den ehemaligen Dienerquartieren. Überall stieß sie auf Disziplin und Ordnung. Nichts deutete auf Mißbrauch und Plünderung hin. Selbst die kleinste Vase stand noch an ihrem Platz. An der Tür zum Weinkeller hing ein Schloß, nicht jedoch an der Tür zur Speisekammer - ein Zeichen dafür, daß ein hungriger Mann sich durchaus bedienen durfte, daß Leopold aber darauf bedacht war, ihn nicht zu sehr in Versuchung zu führen. Abschließend mußte Schelyra wieder einmal, wenn auch widerstrebend, den Prinzen bewundern. Offensichtlich war sich Leopold wenigstens des Respekts und Gehorsams seiner Leute sicher. Er hatte in der Tat die alte Dienerschaft heute fortgeschickt, aber das war zu erwarten. Er konnte ihnen schließlich kaum vertrauen, vor allem nach dem Schabernack, den sie, Schelyra, hier getrieben hatte. Das hieß natürlich auch, daß der Palast seit der Einnahme der Stadt durch Balthasar nicht gereinigt worden war, aber sie glaubte nicht, daß ein wenig Staub einem Soldaten etwas ausmachte. Leider bedeutete es aber auch, daß sie nicht viel in Erfahrung bringen konnte. Nüchterne, ruhige Männer ließen keine Geheimnisse über ihre Lippen. Doch die Ordnung, die sie hier vorfand, machte einen sehr merkwürdigen, beunruhigenden Eindruck auf sie — der Mann, der die Schwarzmäntel befehligte, und derjenige, der die im Palast einquartierten Soldaten unter sich hatte, waren offenbar zwei völlig verschiedene Menschen. Bei den Zigeunern hieß es, alle Schwarzmäntel seien Apolons Leute und hätten nichts mit den regulären Truppen zu tun. Sie hatten sich nicht einmal für das, was sie taten, vor dem Herrscher zu verantworten. Konnte es denn sein, daß Leopolds Macht sich einzig und allein auf den Palast und nicht auf die Stadt erstreckte, daß in Wahrheit die Schwarzmäntel, die ausschließlich Apolon Bericht erstatteten, die Stadt in Händen hielten? War es möglich, daß der Feind derart gespalten war? Wenn das der Fall war - dann konnte sie vielleicht für weitere Verwirrung in den feindlichen Reihen sorgen. Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, als sie zwei Soldaten in 176
einem der Korridore auf und ab schreiten sah. Ob sie wohl die Stille und die Leere als ebenso unheimlich empfinden wie ich? Die Soldaten, die ich kannte, waren alle abergläubisch wie eine alte Magd. Ob es mir wohl gelingt, sie zu der Überzeugung zu bringen, im Palast spuke es noch mehr, als die Diener behauptet haben? Vielleicht sollte ich meinen Spuk drastischer gestalten. Und wenn ich schon mal dabei bin, dann sollte ich im Sommerpalast ebenfalls spuken. Die Idee war zauberhaft, zweifelsohne! Wenn die Paläste in den Ruf kamen, daß erzürnte Geister in ihnen hausten, würden die Soldaten vielleicht fordern, woanders einquartiert zu werden! Auf diese Weise würde der Prinz von seinen Kämpfern getrennt, ganz abgesehen davon, daß Schelyra selbst freieren Zugang zu diesem Palast hätte. Ihre ursprüngliche Absicht war gewesen, die Diener zu verunsichern, damit sie den neuen Herren nur widerstrebend dienten und darüber hinaus die Geschichte vom »Spuk« im Palast in der Stadt verbreiteten — eine Legende, die vielleicht Unruhe unter die Einwohner tragen würde. Doch wenn sie unter den fremden Soldaten Unruhe schaffen könnte — um so besser! Wenn es so ist — Schluß mit den kleinen Zeichen, den leisen Tönen und flüsternden Stimmen im Dunkeln, Schluß mit den winzigen Veränderungen, die nur einem Diener auffallen würden. Es ist Zeit, die »Geister« offenkundiger auftreten zu lassen. Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, kurz aus Geheimtüren in leere Räume zu schlüpfen — bevorzugt in Räume, von denen sie wußte, daß sie abgeschlossen waren - und ein heilloses Durcheinander anzurichten. In einem Zimmer stellte sie alle Stühle auf den Kopf. In einem anderen drehte sie alle Portraits von Mitgliedern des Königshauses zur Wand. Sie stapelte Zierrat zu einer Pyramide in der Mitte eines Tisches auf, verstreute Bohnen auf dem Küchenboden und zog im Schlafgemach ihrer Tante das Bettzeug ab, das sie in den Tunnel trug. Nur den bestickten Überwurf ließ sie zurück und durchtränkte das Daunenbett mit Wasser. Alles würde normal aussehen - bis derjenige, der diesen Raum belegte, zu Bett gehen wollte! Sie brachte es nicht übers Herz, sich die eigenen Gemächer anzusehen, nicht jetzt, da sie wußte, daß die Eindringlinge ihre Habe mindestens einmal durchwühlt hatten. Obwohl sie nichts zurückgelassen hatte, was echten Wert besaß — außer den Kronjuwelen und den Sachen, die zu wertvoll waren, als daß Gordo sie hätte losschlagen können -, wurde ihr beim Gedanken, daß irgendein fremder Offizier ihre Sachen anrührte, leicht übel. Allein die Vorstellung war verletzend und schmerzhaft, und sie wollte sich diesen Anblick ersparen. 177
Nach ihrem Verwüstungswerk war Schelyras Kraft völlig erschöpft, und sie verschwand wieder in den Geheimgängen. Sie fragte sich, was Leopold und seine Leute wohl von ihrer »Arbeit« halten würden. Sie hatte darauf geachtet, möglichst geräuschlos zu arbeiten, denn sie ging davon aus, daß unwirkliche Stille für jemanden, der den Schaden entdeckte, noch furchterregender war als der greifbare Lärm von Vandalen, die einen Raum auf den Kopf stellten. Sie beschloß, ihren geplanten Ausflug in den Sommerpalast auf den nächsten Abend zu verschieben. Etwas mußte sie allerdings noch erledigen, ehe sie ins Zigeunerviertel zurückkehrte. Sie mußte in den Tempel — genauer, ins Kloster. Zum Glück war dies von allen Aufgaben dieses Abends am leichtesten zu bewältigen. Adele hatte ihr bereits den Geheimgang gezeigt, der von den Gemächern des Königs in den Tempel führte. Die Erzpriesterin bestand von alters her auf diesem besonderen Zugang zur Königin, die ihrerseits einmal Erzpriesterin würde, wenn die Zeit gekommen war. Ob Balthasar sich wohl zum weltlichen Oberhaupt des Tempels und der Stadt aufschwingen will? fragte sie sich, während sie sich durch die weniger vertrauten Teile ihres Geheimlabyrinths tastete. Was er wohl sagen wird, wenn man ihm eröffnet, daß ein Mann dem Tempel nicht vorstehen kann? Es sei denn, er ist bereit, ein kleines Opfer zu bringen. Um in diesen letzten Durchgang zu gelangen, mußte sie ihren schmalen Körper durch einen kleinen Schacht über dem Abtritt im Schlafgemach der Königin zwängen und sich von oben in einen Gang herablassen. Das gelang nur einer Person, die so schlank und jung war wie Schelyra; die meisten hätten die Geheimtür im Gemach selbst benutzt, statt sich solchen Verrenkungen zu unterziehen. Der Gang endete vor einer dicken, schweren Holztür, die sie vorsichtig öffnete. Sie befand sich in einem winzigen Raum, in dem nur eine Laterne brannte. An vier Haken hing jeweils eine formlose Kutte der vier Orden - grau, braun, gelb und rot. Durch ein Guckloch spähte sie in den nächsten Raum, der ein Bild des Herzens und einen Gebetsstuhl enthielt, auf dessen Bank eine Gestalt in brauner Kutte kniete. Sie zog die braune Kutte über und öffnete die Tür. Die Priesterin erhob sich rasch, als sich die Mauer an der hinteren Wand des Zimmers öffnete. Sie hatte offenbar auf Schelyra gewartet und winkte ihr nun mit der Hand zu, um zu verhindern, daß sie den Raum verließ. »Ich weiß, wer Ihr seid und warum Ihr hier seid«, sagte sie leise. »Man hat mich hierher gesetzt, damit ich Euch zu Eurer Großmutter bringen kann.« Die Frau, 178
die Schelyra auf etwa vierzig schätzte, lächelte schüchtern. Ihr dunkles, ergrauendes Haar war, wie bei den Orden üblich, kurz geschnitten, und sie trug eine Brille, durch die sie die Prinzessin ernst anblickte. »Das hier ist eine Zelle, die einsamer Meditation vorbehalten ist. Vier von uns sind in Euer Geheimnis eingeweiht, so daß zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand hier ist. Nur wir vier wissen Bescheid, und wir würden lieber sterben, als Euch zu verraten.« Schelyra betrat die Zelle, und die Tür hinter ihr glitt geräuschlos wieder an ihren Platz. Sie hoffte inständig, daß die Priesterin nie in die Lage kommen würde, ihre Versicherung beweisen zu müssen. Schelyra zog sich die Kapuze ihrer Kutte über den Kopf, um ihr schmutziges Gesicht zu verbergen. Dann ging sie mit der Priesterin langsamen Schrittes über einen der kühlen, widerhallenden Steinkorridore des Klosters. Schelyra dachte, sie könnte sich wohl nie merken, wer hinter diesen unzähligen kleinen Türen in diesem Korridor lebte, aber der Priesterin schien dies keine Schwierigkeiten zu bereiten. Sie klopfte leise an eine Tür und öffnete sie nach einer Aufforderung von innen, die so leise war, daß Schelyra sie nicht vernommen hatte. Die Priesterin ging nicht hinein. »Ich warte in dem Meditationsraum auf Euch«, sagte sie. »Ich lasse die Tür offen, so daß Ihr sie findet. Kommt, wenn Ihr fertig seid, oder nehmt einen anderen Weg, und ich werde Euch helfen.« Sie eilte über den Korridor zurück, und Schelyra mußte allein eintreten. All ihre Zweifel an der Klugheit eines solchen Besuchs wurden zerstreut, sobald sie ihre Großmutter erblickte, die auf sie wartete. Sie sah besser und kräftiger aus als in den vergangenen Monaten. Plötzlich kamen alle unterdrückten Ängste und Unsicherheiten in Schelyra hoch, und sie warf sich mit einem kurzen Klagelaut in Adeles Arme - einem verletzten, schutzsuchenden Waldtier gleich. Sie verweilte dort jedoch nur einen Augenblick. Die Zeit war nicht dazu angetan, Schwäche zu zeigen, und Adele hatte ohne Zweifel selbst genug Schwierigkeiten zu bewältigen. Nach einer kurzen Umarmung ließ Schelyra von ihr ab, ein strahlendes, aufgesetztes Lächeln auf den Lippen. »Wir hören in der Stadt immer wieder Gerüchte, daß Ihr krank seid oder sogar tot«, sagte sie, um ihre Entgleisung zu überspielen. »Auch wenn Thom behauptet, er habe mit Euch gesprochen. Ich hätte es besser wissen müssen —« »Selbst wenn du es hättest wissen müssen, dürfte dieser Augenblick für dich eine ebenso große Erleichterung sein wie für mich, da ich dich vor mir sehe«, erwiderte Adele warmherzig. »Hier wurden Gerüchte ver 179
breitet, Apolons Männer hätten dich auf der Flucht ergriffen und in einem Kanal ertränkt und Lydana befände sich in der Gewalt Balthasars. Auch ich hätte es wissen müssen, aber so etwas läßt doch schwere Zweifel aufkommen.« Schelyra nickte. »Ich komme, um zu fragen, ob Ihr etwas von draußen braucht«, sagte sie, »und um Euch mitzuteilen, daß ich in der Stadt bleibe. Ich bin im Zigeunerviertel genauso sicher wie anderswo auch und kann unsere Stadt nicht diesen Bestien überlassen, solange noch die Möglichkeit besteht, daß ich hier etwas bewirken kann. Ich habe ungehinderten Zugang zum Palast hier und zum Sommerpalast, und ich habe die Absicht, diesen Zugang zu nutzen, um unsere Feinde auszuspähen, wo ich nur kann.« Sie beschrieb die Lage im Palast in allen Einzelheiten, während ihre Großmutter aufmerksam lauschte. Adele schüttelte den Kopf, als Schelyra ihren Bericht beendet hatte. »Es scheint beinahe so, als hätte Leopold außer seinen eigenen Leuten niemandem zu befehlen, da die Schwarzmäntel allein Apolon unterstehen. Das muß eine scheußliche Situation für ihn sein! Beide Hände sind ihm gebunden.« Schelyra nickte eifrig, denn die Großmutter sprach aus, was sie selbst dachte. »Meint Ihr, ich könnte dazu beitragen, die Kluft zu vergrößern? Je stärker wir den Feind spalten, um so günstiger für uns!« Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Adele jedoch den Kopf. »Warte ab, bis ich den Plan überdacht habe. Wenn Leopold tatsächlich so wenig Verantwortung hat, dürfte die Kluft bereits so tief sein, daß wir nur Kraft und Zeit verschwenden, die wir woanders besser einsetzen können. Allerdings benötige ich in der Tat einiges aus dem Sommerpalast, wenn du dort ungehindert Zugang hast. Ich hatte nicht genug Zeit, alle meine Bücher zu holen, doch ich habe sie letztes Jahr im Sommer unter Zauberbann gestellt, ehe die Streitmacht Balthasars so nahe heranrückte. Niemand, der nicht von unserem Blut ist, wird in der Lage sein, die Bücher als das zu erkennen, was sie sind, geschweige denn, sie forttragen.« Sie lächelte freudlos. »Ich war gewarnt. Vielleicht hätte ich diese Warnungen noch stärker beachten sollen.« Schelyra zuckte die Achseln. »Wenn späte Einsichten gleichbedeutend mit einem Blick in die Zukunft wären, dürften wir nie Fehler machen. Wo sind diese Bücher, und wie finde ich sie?« »Sie sind in meinen Gemächern, in der kleinen Bibliothek«, sagte Adele. »Und wenn du sie nicht durch die Tunnel schleppen willst, bring sie in den Beichtstuhl — es ist der dritte rechts vom Herzen, wie du 180
weißt; ich werde mich bemühen, jeden Tag dort zu sein. Jedes zweite Buch in meinen Gemächern ist ein Band über Magie, aber für alle, die nicht vom Blut des Tigers sind, sehen sie nur wie Bücher über Geschichte und religiöse Fragen aus. Sehr langweilig zu lesen, nichts Ungewöhnliches für eine alte Frau, die glaubt, bald sterben zu müssen. So wird kaum jemand in Versuchung kommen, sie für eine nähere Untersuchung mitzunehmen.« Schelyra lachte bei diesen Worten still in sich hinein. »Morgen werde ich anfangen, sie herauszuholen und in den verborgenen Raum zu bringen, den ich entdeckt habe«, versprach sie. »Von dort aus werde ich sie nach und nach hierher schaffen. Oder ich werde sie jemandem mitgeben, der sie in den Beichtstuhl trägt, wenn es zu viele für mich sind. Ich glaube nicht, daß Frauen, die Gebetbücher bei sich tragen, wenn sie zum Tempel gehen. Verdacht erregen. Auch Zigeunerinnen müssen beten.« »Hoffen wir das Beste«, sagte Adele trocken. »Obwohl mir hin und wieder Zweifel gekommen sind. Was ist mit diesem Dieb, der dich heimlich aus Merina herausschleusen sollte?« Schelyra schnaubte verächtlich. »Das war Tante Lydanas Idee, nicht meine - und ich vermute, Eure auch nicht. Ich gehe davon aus, daß wir ihm in bestimmten Grenzen trauen können, aber er ist nur ein Auf schneider, und ich glaube nicht einmal, daß er einen Karren voller Steckrüben aus der Stadt schmuggeln kann. Er kümmert sich um nichts als um sich selbst, um seinen eigenen Vorteil und seine traurige Berühmtheit; nicht um Merina, nicht um das Königshaus.« Adele seufzte. »Mag sein, daß du ihn unterschätzt, aber er ist ein dünner Ast, dem man nicht das volle Gewicht anvertrauen kann. Ich glaube, du bist gut beraten, wenn du dich nicht allzu sehr von ihm abhängig machst.« Sie schürzte die Lippen, und Schelyra spürte, daß sie noch etwas hinzufügen wollte, aber zögerte. »Ich weiß, daß du mit beiden Beinen auf der Erde stehst«, fing sie vorsichtig an. »Wollt Ihr mir sagen, daß Ihr Engel beauftragt habt, mich zu beschützen?« fragte Schelyra halb scherzend. Adele sah Engel und andere Geister - oder behauptete es zumindest. Schelyra hatte nie etwas Außergewöhnliches entdecken können, wenn ihre Großmutter versucht hatte, sie auf diese Erscheinungen hinzuweisen - nicht einmal in ihrer Kindheit, als sie für solche Dinge noch empfänglicher war. Adeles Behauptungen hatten die Königin oft in große Verlegenheit gebracht, doch Schelyra hatte sich nichts dabei gedacht. Wenn ihre Großmutter Täuschungen unterlag, so war es nicht weiter schädlich, und wenn nicht 181
nun, gerade jetzt war Schelyra nur zu gern bereit, den Schutz irgendeines Wesens anzunehmen, sei es ein Engel, ein Geist, ein Elf, ein Gnom oder eine Sylphe mit durchsichtigen Flügeln wie aus einer Gutenachtgeschichte. »Nein — nicht ganz«, sagte Adele nüchtern. »Das Licht sendet seine Boten nur aus, um zu warnen oder zu leiten. Nein, ich wollte dich nur daran erinnern, daß wir es mit Magie zu tun haben — mit schwarzer Magie. Ich werde alles tun, was ich kann, aber ich bin nur eine arme Frau. Gib acht auf dich; laß nichts liegen, was mit dir in Verbindung gebracht werden kann, damit keine unfreundliche Hand es stiehlt. Ich weiß, daß du dich sehr gut vor dem Dolch in der Nacht schützen kannst oder vor dem Mörder in einer Gasse - doch ich habe allen Grund anzunehmen, daß eine Jagd auf dich im Gange ist und die Hunde, die deine Spur verfolgen, nicht von dieser Welt sind.« Schelyra biß sich nachdenklich auf die Lippe. »Ich werde mein Bestes tun, Großmutter«, sagte sie schließlich. »Aber — das sind nicht die Waffen, mit denen ich umzugehen gewohnt bin.« »Dann such dir jemanden, der es kann — vielleicht einen deiner Freunde bei den Zigeunern«, drängte Adele. »Ich kann nicht überall gleichzeitig sein. Es ginge mir besser, wenn ich wüßte, daß du jemanden im Rücken hast, der ein Meister in den Waffen des Geistes ist.« Nun war es an Schelyra, zu zögern. Denn die Zigeunerinnen, von denen sie wußte, daß sie mit Magie vertraut waren, verehrten nicht das Herz, und die Roßhändler waren auch mit Engelszungen nicht dazu zu bewegen, den Tempel zu betreten, da sie es vorzogen, die eigene Pferdegöttin Ekina anzubeten. Sie selbst störte das nicht sonderlich, doch Adele wäre darüber wohl nicht so erfreut ... »Ich werde sehen, ob sich jemand findet, und die Betreffenden dann zumindest in einige meiner Geheimnisse einweihen«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen. »Ich würde eine solche Aufgabe nicht gern jemandem anvertrauen, der sich der wirklichen Gefahr nicht bewußt ist.« Adele nickte zögernd. »Da ist noch etwas — ganz gleich, was du über mich aus dem Tempel hörst, glaube es erst dann, wenn eine der Priesterinnen dir dies hier zeigt.« Sie streckte eine Hand aus, an der sie noch ihren Ehering trug — ein schmaler Reif aus Weißgold, in den winzige runde Tigeraugen eingearbeitet waren. »Oder bis du es von jemandem im dritten Beichtstuhl erfährst, der an meiner Stelle dort sitzt.« »Das werde ich, und jetzt muß ich gehen«, sagte Schelyra hastig, ehe 182
Adele noch Einwände einfielen. »Der Tag zieht viel zu schnell herauf, und ich darf nicht davon überrascht werden.« Adele erhob sich und umarmte sie. »Natürlich; innerhalb dieser Mauern verliere ich jegliches Zeitgefühl — hier im Herzen scheint alles zeitlos. Geh rasch und kehre sicher dorthin zurück, woher du gekommen bist.« Schelyra erwiderte die Umarmung und ging in der Hoffnung, daß ihre Großmutter nicht merkte, wie eilig sie es hatte. Die Priesterin mit der Brille wartete wie versprochen im Meditationszimmer auf sie und schloß sorgfältig die Tür zum Tunnel hinter ihr. Durch diesen Gang gelangte man in einen Tunnel, der von den Gemächern der Königinwitwe nach draußen führte. Es ist wohl ganz gut, wenn ich nicht auf demselben Weg fortgehe, auf dem ich gekommen bin. Wenn mich jemand beobachtet hat und mich verschwinden sah, wird er den Eingang nicht finden, solange er mich nicht wieder herauskommen sieht. Sie gähnte; es war eine lange Nacht gewesen, und die Kraft, die ihr die Erregung verliehen hatte, war beinahe verbraucht. Doch als sie durch eine winzige Tür an einem dunklen, selten benutzten Kanal hinausschlüpfte, fiel ihr noch etwas ein. Sie hatte an diesem Abend, während sie den Palast durchstöberte, keine Spur von Leopold gesehen. Wenn er weder die Gemächer der Königinwitwe noch die der Königin belegt hatte, wo war er? Und was machte er?
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27. Leopold Leopold beendete seinen Rundgang durch den Palast kurz vor Sonnenuntergang; mit einer vagen Vorstellung von den Einrichtungen konnte er Quartiere und Pflichten viel effektiver und schneller verteilen. Natürlich hatte er heute alle Diener entlassen, nachdem er sich genau erkundigt hatte, worin ihre Pflichten bestanden und wo die Vorräte lagerten; man konnte ihnen nicht trauen. Im günstigsten Fall würden sie ihre Pflichten nur zögernd und widerstrebend erfüllen, und im schlimmsten Fall würden sie gegen ihn arbeiten. Ganz offenkundig waren sie nicht einmal sehr traurig, von hier fortzukommen; seine Feldwebel hatten ihm mitgeteilt, daß Gerüchte in Umlauf seien, im Palast spuke es. Er überließ es den Feldwebeln, die Aufgaben, die sonst von Dienern ausgeführt wurden, einigen ihrer Männer zu übertragen. Das war sicher nur vorübergehend nötig; wenn sein Vater schließlich einzöge, würde er seine eigene Dienerschaft mitbringen. Nachdem er seinen Offizieren die notwendigen Befehle erteilt hatte, stand Leopold auf dem Flur vor den königlichen Gemächern und betrachtete das Bild eines Vorfahren der Königsfamilie. Es war ein Mann mit ernstem Gesicht, dem gleichwohl eine Spur Humor aus den Augen strahlte. Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, und nichts erinnerte an die offiziellen Portraits von Balthasar. Sie waren alle so steif und förmlich, daß sie ebensogut Portraits einer leblosen Statue hätten sein können ... Wie gern hätte ich einen solchen Mann zum Vater, dachte er unwillkürlich und hatte sogleich Schuldgefühle. Was fiel ihm ein? Er war Balthasars Sohn, sein treuer Sohn. Kein unbedeutender König einer Stadt von Händlern könnte je seinem Vater das Wasser reichen ... »Wohin sollen wir Eure Sachen bringen, Herr?« fragte sein Knappe und schreckte ihn aus einem Tagtraum auf. »In die Gemächer der Könich meine, dieser Lydana?« Während er noch mit gerunzelter Stirn darüber nachdachte, legte sich ihm die vertraute Beklemmung wieder auf den Magen. Bis heute 184
hatte er bei seinen Leuten außerhalb des Palastes gewohnt, in alten, heruntergekommenen Baracken. Catals Söldner sollten die Baracken übernehmen und hatten ihn gezwungen, mit seinen Leuten in den Palast umzuziehen. Wieder eine Falle, eine weitere Fanggrube auf seinem Weg. Würde es denn nie aufhören, das Manövrieren, die Machenschaften? Wenn ich die Gemächer der Königin belege, könnte es so ausgelegt werden, als wollte ich mir Vaters Rang anmaßen. Nehme ich die Gemächer der Königinwitwe, wird Apolon alles tun, um mich daraus zu vertreiben. Und in die Räume der Prinzessin möchte ich nur ungern ziehen. Es scheint mir — unziemlich. »Bringt meine Sachen in die Gemächer am Ende des Korridors«, sagte er schließlich. »Ich weiß, daß sie seit geraumer Zeit nicht benutzt worden sind, aber ich bin sicher, daß sie nach gründlicher Reinigung für mich in Ordnung sind.« In diesen Räumen hatte zuletzt ein Mann gewohnt; dort würde er sich entschieden wohler fühlen. Vielleicht hatte sie sogar dem Mann auf dem Bild gehört. Der Knappe verbeugte sich stumm. Nachdem er gegangen war, um die Habseligkeiten des Prinzen zu holen - und wahrscheinlich, um sich Hilfe für eine ausgiebige Säuberung zu beschaffen -, blieb Leopold gedankenverloren stehen. Irgend etwas ging ihm im Kopf herum, obwohl er nicht hätte sagen können, was es war. Hatte es mit Prinzessin Schelyra zu tun? Mit der Tatsache, daß Apolon sie unter allen Umständen zu finden trachtete? Ja. Und es hatte mit ihren Gemächern zu tun. Nachdenklich ging er auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war, und versuchte sich darüber klar zu werden, was ihn beunruhigte. Er hatte Anweisung gegeben, daß in allen Räumen ausnahmslos mindestens eine Kerze oder Laterne brannte, auch wenn es nach Verschwendung aussah. Die Wachen, die durch die Korridore gingen, sollten etwas sehen können, wenn sie ein ungewöhnliches Geräusch in einem der Räume vernahmen. Er würde keine Plünderung dulden, und seine Männer wußten es. Das alles hier gehörte nun ihrem Herrscher; Diebstahl bedeutete, den Kaiser zu bestehlen, und war demnach ein Kapitalverbrechen. Er hielt es nicht für möglich, daß einer seiner Männer an Diebstahl auch nur zu denken wagte ... Aber in der Stadt waren nicht nur seine Männer. Wenn Catal seine Söldner noch nicht in die Baracken verlegt hatte, würde er es morgen tun, und Söldner würden alles mitgehen lassen, was nicht bewacht war. Außerdem waren da auch noch Apolons schwarze Hunde. Er traute ihnen nicht, und er wollte nicht in die Situation geraten, daß etwas Wichtiges oder Wertvol 185
les abhanden kam, solange er im Palast residierte. Vielleicht hatten sie ja die Gerüchte über Spuk in Umlauf gebracht, damit man sie hierher rief. Es sähe Apolon ähnlich, wenn er versuchte, einen Diebstahl zu begehen, dachte er wütend, als er die Räume der Prinzessin betrat. Oder ... vielleicht war das, was seine Männer für ihn entwenden sollten, überhaupt nicht wertvoll, außer für seine ganz bestimmten Zwecke! Dieser Gedanke kam ihm, während er sich in den gemütlichen Räumen der Prinzessin umsah und wieder einmal das merkwürdige Gefühl hatte, ihre Besitzerin wäre gerade eben hinausgegangen und würde bald zurückkehren. Oberflächlich betrachtet sah es nicht so aus, als hätte Schelyra überhaupt etwas mitgenommen, als sie verschwand, nicht einmal ihre Kleidung. Alles war so, wie sie es verlassen hatte, bis hin zu den Haarbürsten und den Schalen voller Haarnadeln und anderem weiblichen Flitterkram auf ihrem Toilettentisch. Und genau das war es, was in ihm Unbehagen geweckt hatte. Nicht etwa die Tatsache, daß der Raum wirklich unberührt zurückgelassen worden war - sondern daß Apolon alles, was hier war, benutzen konnte, weil es unberührt war. Leopold war kein Magier, aber er kannte einige Grundregeln, nach denen Magie ausgeübt wurde. Jedes Kind wußte, daß niemals etwas Persönliches in die Hände eines Magiers fallen durfte. Wenn der Zauberer es nicht verwenden konnte, um die betreffende Person zu beherrschen, so konnte er es zumindest dazu benutzen, sie aufzuspüren und auszuspähen. Vielleicht wußten die Frauen des Königshauses aber nicht, auf welche Weise persönliche Gegenstände benutzt werden konnten. Vielleicht wäre es am besten, wenn er die Sache selbst in die Hand nähme. Apolon will die Prinzessin haben, und ich bin überzeugt, daß er alle Mittel einsetzt, um sich ihrer zu bemächtigen. Hier ist bestimmt vieles, was er verwenden könnte, um sie zu finden! Nun, dagegen konnte Leopold etwas unternehmen — und wenn er schon dabei war, konnte er ebensogut dafür sorgen, daß die Gemächer der Königinwitwe und der Königin ausgeräumt wurden. Und er konnte es mit vollem Recht tun, unter dem Vorwand, »die Gemächer für den Kaiser vorzubereiten«. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln, während eine gewisse Befriedigung ihn warm durchflutete. Er hatte nicht oft die Gelegenheit, die Pläne des mächtigen Grauen Magiers zu durchkreuzen. 186
Er schickte nach zwei Männern, die ihm behilflich sein sollten, und fing beim Bett an, das er bis auf den kostbar bestickten Überwurf abzog. Damit wären die Leinentücher beseitigt, auf denen sie gelegen hat. Als nächstes kamen der Toilettentisch und das Schminkregal an die Reihe; er ließ alle Gläser und Fläschchen in die Leinentücher packen und schickte alles mit der Anweisung fort, es möge umgehend sorgfältig gereinigt und in die Lagerräume des Haushalts gebracht werden. Bürste, Spiegel und Kamm der Prinzessin nahm er selbst an sich, als die Männer hinausgingen; es gab Dinge, derer er sich selbst annehmen wollte. Als die Männer zurückkamen, hatte er alle Schubladen herausgezogen und die persönlichsten Stücke den Flammen der Feuerstelle übergeben. Die zarten Gebilde aus Leinen und Spitze fingen schnell Feuer. Dünne, glühende Fäden wehten wie Geister über den aufzüngelnden Flammen hinauf in den Rauchfang. Die übrigen Kleidungsstücke schickte er aus dem Haus ins Lager der Kompanie, wo sie als Lumpen Verwendung finden sollten. Soldaten brauchten immer Putzlappen, und er hatte eine offizielle Zeugmusterung für den nächsten Tag anberaumt. Bis morgen nachmittag würde auch der letzte Fetzen für einen Magier nutzlos sein, da er von Stiefelwichse und Ölresten verschmutzt wäre. Merkwürdig allerdings war, daß er weder im Schrank und noch an den kostbaren, hübschen Gewändern dort etwas »Persönliches« entdeckte. Auch die Juwelen vermittelten ihm nicht das Gefühl - und davon gab es sehr viele, wie es sich für eine Nachfahrin aus dem Geschlecht des Tigers gehörte, das für seine Edelsteine und Juwelen weltweit berühmt war. Die Kleider ließ er in die Bodenkammern schaffen, den Schmuck verschloß er eigenhändig in einer Kassette, die er gut sichtbar auf einen Tisch neben dem Bett stellte. Der Kaiser würde die Juwelen beanspruchen - oder der Kanzler. Apolon würde leer ausgehen. Und Leopold glaubte nicht, daß Apolon die Gewänder der Prinzessin von den anderen auf dem Speicher zu unterscheiden vermochte. Welcher Mann konnte schon sagen, was in Mode war und was vor hundert Jahren getragen wurde? Er selbst war oft genug in diese Falle getappt, wenn er einer jungen Dame ein Kompliment über ihr Kleid gemacht hatte und sie daraufhin in eisiges Schweigen fiel — später hatte er dann herausgefunden, daß es ein uraltes Stück Stoff war, aufgearbeitet von einer eifersüchtigen Stiefmutter, die das Mädchen der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Er schickte die Männer mit den letzten Kleidungsstücken fort und unternahm dann noch einmal einen letzten Gang durch die Räume. Er 187
wollte schon hinausgehen, als er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Seine Nackenhaare sträubten sich, und die Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut. Er fuhr herum, denn dieses Gefühl hatte ihn noch nie getrogen. War es möglich, daß jemand den Raum betreten hatte, ohne von ihm bemerkt zu werden? Neben dem Kleiderschrank stand jemand. Es war keiner von seinen Männern; die hätte er selbst im Dunkeln erkannt. Eigentlich konnte er nicht einmal sagen, ob diese Gestalt männlich oder weiblich war, obwohl das bartlose Gesicht so hübsch anzusehen war, daß sein Herz einen Sprung tat - und zugleich so fürchterlich, daß er schauderte. Er konnte den Blick nicht von jenen Augen abwenden, von jenem Gesicht; er hing daran fest, so wie seine Füße am Boden klebten. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren, auch wenn ihm jede Stimme in seinem Innern sagte, daß kein Mensch den Anblick eines solchen Wesens ertragen konnte. Er unterdrückte den Wunsch, niederzuknien und ehrfürchtig das Haupt zu senken, aber nur, weil er nicht sicher war, ob er je wieder in der Lage sein würde, sich zu erheben. Er hätte nicht sagen können, welche Kleidung die Gestalt trug; er sah nur das Gesicht, die Augen — - und die Hände: lange, schlanke Hände, die auf den Kleiderschrank zeigten, auf einen Teil, den er für leer gehalten hatte. Das Gesicht des Wesens war hell — übernatürlich hell, denn das Licht konnte kein Widerschein des Kaminfeuers und der beiden Kerzen über dem Kaminsims sein. Das Leuchten verstärkte sich noch, während er hinschaute, bis es so hell erstrahlte, daß es in den Augen brannte, und er mußte blinzeln, weil sie sich plötzlich verschleierten. Von einem Augenblick auf den nächsten verschwand die Gestalt, als wäre sie nie dagewesen. Nur seine Augen tränten noch und hielten ein Nachbild fest — ein brennender blinder Fleck in Form einer menschlichen Gestalt. Er begann zu zittern und mußte sich an der Wand hinter seinem Rücken abstützen, denn die Knie waren ihm weich geworden. War das —? Grundgütiger Himmel! Kein Wunder, daß sie als erstes »Fürchte dich nicht!« zu allen Sterblichen sagen, wenn sie ihnen erscheinen! Aber er war Soldat; schon bald hatte er sich wieder in der Gewalt. Er wartete, bis das Nachbild verblaßt war, und ging zum Kleiderschrank. Er öffnete die Tür an der angegebenen Seite und schaute hinein. Da er 188
nichts sah, nahm er eine Kerze aus der Halterung und hielt sie in die Höhe. Dann sah er es. Als ein Stück Besitz war es nicht viel wert. Apolon jedoch hätte sich, wäre er dort gewesen, darauf gestürzt und es mit kaum verhohlener Häme davongetragen. Leopold hob das kleine Metallstück mit einem Schauer freudiger Erregung auf. Es war ein winziges silbernes Pferd mit abgenutzter Oberfläche, als hätte die Besitzerin es häufig als Glücksbringer oder zur Beruhigung in den Händen gehalten. Nur ganz bestimmte Silberschmiede stellten diese Art von Pferde-Amulett her, die man einem Lieblingspferd ans Halfter steckte, damit der Segen der Pferdegöttin Erkina auf ihm ruhte. Die Roßhändler. Leopold wußte es im selben Augenblick, als er es entdeckte. Es war ein Schlüssel zu dem möglichen Unterschlupf der Prinzessin und daher unbezahlbar. Bis zu diesem Augenblick hätte er sich nicht träumen lassen, daß die Prinzessin überhaupt wußte, wer und was die Roßhändler waren - und er glaubte auch nicht, daß ein anderer auf diesen Gedanken kommen könnte. Mit Hilfe dieses häufig benutzten Überbleibsels hätte Apolon die Prinzessin so gut wie gefunden. Und das wurde ihm schon bald gelingen, wenn er das hier erst einmal in der Hand hätte. Leopold warf das winzige Amulett in die Höhe und fing es mit derselben Hand wieder auf. Dann steckte er es tief in eine Tasche und runzelte die Stirn. Nun, die Gelegenheit wird er jetzt nicht mehr haben! Nicht, solange ich hier bin. Aber wer - oder besser: was — war diese Erscheinung gewesen? Seine erste unbedachte Erklärung stellte er in Frage, denn warum sollte ausgerechnet ihm ein Engel erscheinen? War es denn ein Geist? Der Geist eines längst verstorbenen Herrschers von Merina? Oder etwas — etwas viel »Unpersönlicheres« und viel Gefährlicheres? Gewiß kein Dämon die standen alle auf Apolons Seite. Blieb nur eine Möglichkeit, auf die alle Eigenschaften zutrafen ... und wieder begann er bei der Erinnerung daran zu zittern. Ich will nicht daran denken, nahm er sich fest vor. Was immer es gewesen sein mag, es wollte mir helfen, Schelyra vor Apolons Klauen zu bewahren. Wenn es ein Engel war... Er versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Es war nicht von Belang. Wichtig war vor allem, daß er noch zwei weitere Zimmerfluchten aus zuräumen hatte. Ganz persönliche Gegenstände wie die Haarbürste und das silberne Amulett würde er an sich nehmen und sie in einem Koffer 189
mit selten benutzten Halstüchern hinten in seinem Kleiderschrank verbergen. Schließlich und endlich würde er eine Möglichkeit finden, sie zu »verlieren« — vielleicht an einem Kanal. Der Rest würde durch Seife und Wasser so umgewandelt, daß Apolon die Sachen nicht mehr benutzen konnte, um die Frauen aufzuspüren. Wenn Leopold die Gelegenheit hatte, würde er sogar eine Näherin finden, die ihm die Gewänder auftrennte und zu Stapeln von Stoff, Juwelen, Goldlitzen und Spitzen verarbeitete. Alles, was die drei Frauen in diesem Palast benutzt oder getragen hatten, würde er vernichten, alle Fährten verwischen, bis nicht einmal eine kalte Spur zurückblieb, die jener Hund von einem Magier hätte aufnehmen können. Hinzu kam, daß er damit ganz im Sinne seines Vaters handelte: Denn er schaffte ihm nutzlosen Weiberkram vom Hals und sorgte dafür, daß das Ergebnis von beständigem Wert war. Entschlossenen Schrittes ging er weiter zu den Räumen der Königin. Er hoffte zuversichtlich, daß er sein Ziel erreichen würde, noch ehe er zu Bett ging. Immerhin ... offensichtlich hatte er doch Hilfe, oder? Ganz gleich welchen Ursprungs sie war, er hatte nicht vor, sie auszuschlagen. Noch etwas wollte er tun. Er würde weitere Fragen über Apolon stellen — gezielte Fragen. Der Graue Magier hatte bestimmt irgendwo einen Fehler gemacht. Irgendwo mußte jemand sein, den er zuviel hatte sehen oder wissen lassen. Leopold hatte bisher nur Mutmaßungen über die Quelle von Apolons Macht anstellen können. Jetzt werde ich nach Tatsachen suchen, Tatsachen, die ich Vater vortragen kann, Tatsachen, die Apolon nicht leugnen kann. Es herrscht hier eine Verderbtheit, deren Ursache der Graue Magier ist — und das werde ich beweisen. Ich muß es beweisen. Die Erscheinung des Boten spricht dafür. Ich muß Apolons Geheimnisse aufdecken. Denn wenn er damit keinen Erfolg hätte — eine innere Stimme sagte ihm, daß Apolon der Einmischung des Prinzen nicht lange tatenlos zusehen würde ...
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28. Apolon Apolon lächelte. Es war ein dünnes Lächeln ohne eine Spur von Frohsinn. Frohsinn war etwas für Narren, die derart flüchtige Vergnügungen schätzten. Er lächelte nur, um seiner Befriedigung über die bisher erzielten Fortschritte Ausdruck zu verleihen. Leopold befand sich jetzt in einer Lage, in der er beseitigt werden konnte. Niemand überwachte ihn, und diese ungewohnte Freiheit verleitete ihn - wie die meisten Schwärmer - bestimmt zu einem übereil ten Schritt. Mit etwas Glück würde er Catal herausfordern, und wenn Balthasar die Wahl hatte, sich zwischen einem General, der so viele Siege errungen hatte, und seinem übertrieben empfindsamen (und irgendwie lästigen) Sohn zu entscheiden ... nun, Apolon zweifelte nicht im geringsten daran, welchen Weg er wählen würde. Zumindest würde Leopold auf einen weit entfernten Grenzposten verbannt werden, wo Apolon den Prinzen nach Belieben erledigen konnte. Im günstigsten Fall würde der Kaiser selbst den Narren vernichten — falls er zu dem Schluß kam, daß Leopold es auf den Thron abgesehen hatte. Es bestand immer noch die Möglichkeit, daß Apolons gezielte Hinweise auf junge Männer und ihre Ungeduld, an die Macht zu gelangen, bei Balthasar auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Das zumindest war zufriedenstellend. Die Suche nach den drei Frauen der Königsfamilie hingegen verlief weniger erfolgreich. Das Lächeln schwand von Apolons Lippen. Unter den dreien war die jüngste, diese Prinzessin Schelyra, von größter Wichtigkeit für seine Pläne, denn sie besaß das, was er brauchte. Potentielle Macht - nicht weltliche, sondern magische Kraft. Alle Frauen, die die Gabe besaßen, hielten sie gewissermaßen unter Verschluß, bis die Zeit ihrer Fruchtbarkeit vorüber war. Die Frauen aus dem Geschlecht des Tigers indes besaßen diese Gabe in solchem Überfluß, wie es ihm noch nie zuvor begegnet war. Ein Mann konnte Magie in jedem Alter ausüben, solange er seine Keuschheit bewahrte, aber die Macht einer Frau schlummerte bis zur Lebensmitte. Dann jedoch floß sie ihr zu, sozusagen als Ausgleich dafür, daß sie so lange im Schwebezustand verweilen mußte, und wurde mit 191
zunehmendem Alter stärker — so stark, daß die Frauen, die so spät erst erblühten, häufig die männlichen Magier übertrumpften, die ihr Leben lang ihre Kunst geübt hatten. Adele, die Königinwitwe, dürfte inzwischen, wenn nicht schon seit einigen Jahren, die volle magische Kraft erlangt haben, da sie zugunsten ihrer Tochter abgedankt hatte. Zu Apolons großem Glück hieß es, ihr Gesundheitszustand sei sehr schlecht; sie war geradezu zusammengebrochen, nachdem die Stadt an Balthasar übergeben worden war. Sehr wahrscheinlich hatte man sie im Klosterbereich des Tempels in Sicherheit gebracht, wo sie, nach Leopolds Worten, gleichwohl sterben würde. Wie alle, die ihre Macht aus dem Schatten zogen, fiel es Apolon schwer, ins Licht zu blicken, und er konnte weder Anzahl noch Stärke bestimmen, sobald mehr als zwei Magier des Lichts versammelt waren. Wenn aber sein Glück anhielt, würde sie sterben; man konnte sie also als erledigt abhaken. Die ehemalige Königin, Lydana - nun, wenn er schon nicht an Schelyra herankam, würde er sich auch mit ihr zufriedengeben. Sie stand allerdings wahrscheinlich gerade an der Schwelle, selbst Macht zu erlangen, so daß die Energie schlummernden Potentials sehr viel geringer wäre. Allein die Lebenszeit, die sie Schelyra voraus hatte, würde den Gewinn, den er aus ihr zu ziehen hoffte, wesentlich verringern. Eine jüngere Frau war viel ergiebiger. Hinzu kam, daß Lydana verheiratet gewesen und somit keine Jungfrau mehr war, was nach seinem Dafürhalten ein weiterer Makel war. Wenn er die Prinzessin nicht bekommen konnte, würde er noch gründlicher nach der Königin fahnden, aber vorläufig war das Mädchen vorrangig. Ja, das Mädchen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und weidete sich an dem Gedanken an sie, aber nicht aufgrund fleischlicher Begierde. Apolon fand keinen Gefallen an fleischlichen Gelüsten; sie waren flüchtig und sinnlos — leere Fassaden, um Narren in Versuchung zu führen. Die einzig wahren, dauerhafen Freuden waren geistiger und weltlicher Natur - es waren Wissen und Macht. Schelyra würde nicht den Gelüsten eines Lebewesens dienen müssen; schon gar nicht denen Apolons. Erstens, das enorme Potential der Gabe, das in ihr schlummerte. Zweitens, die Energie ihrer ungelebten Jahre - sechzig und mehr, wenn man von den langen Lebenszeiten ihrer Vorfahren ausging. Drittens, die Energie der Jungfräulichkeit — der Grund, warum die Schattenwelt keusche Jungen und Mädchen als Opfer unbedingt bevorzugte. Wenn er dem 192
Herrn über alle Schatten die zarte, unberührte Schelyra würde darbringen können ... Falls er die Prinzessin dem Herrn der Schattenwelt überließ, konnte ihm dieser keine Bitte mehr verwehren. Alles, was er bis zu diesem Augenblick erreicht hatte, wäre neben der Krone des Reiches nicht mehr als eine Handvoll Kieselsteine. Seitdem sich diese Idee in ihm eingenistet hatte, raunte ihm der Schatten unablässig Versprechungen zu, die ihn vor Erregung schwach werden ließen. Und bald schon würden diese Versprechungen Wirklichkeit werden! Apolon lehnte sich in seinem Feldstuhl zurück und dachte an den Tag, an dem er auf dem Thron säße und im Namen seines Herrn über das Reich herrschte. Das würde ein großer Tag werden; wenn seine Diener ihm all jene brächten, die ihm je in die Quere gekommen waren, die ihn jemals beleidigt hatten. Sie würden die kopflosen Körper vor ihn hinwerfen, bis sich der Teppich mit den vergossenen Rubinen ihres Blutes vollgesogen und rot gefärbt hätte. Ich glaube, Catal werde ich behalten. Er erheitert mich. Und ihm ist es gleichgültig, wer ihn an der Kandare hält, solange er sich seine Freiheiten erlauben kann. Nun, genug davon. Er hatte noch zu tun. Er gab einem seiner Diener ein Handzeichen, einem jener schwarzgekleideten Knechte, die jetzt die Stadt heimsuchten, die drei Frauen von Merina jagten und nach Wissenswertem forschten, das ihrem Herrn nützlich sein konnte. Der Diener, der jetzt vor ihm stand, hatte eine Stunde gewartet, bis sein Herr sich die Zeit nahm, seinen Bericht anzuhören. Er gehörte zu den Lebenden - wie über die Hälfte seiner Diener. Die Toten waren nicht so klug wie die Lebenden. »Hast du gefunden, was ich brauche?« fragte er. »Weißt du, wo die Frauen sich aufhalten?« Der Mann schüttelte den Kopf und warf sich Apolon zu Füßen. »Nein, Herr. Es ist, als wären sie niemals auf der Welt gewesen; es gibt keine Spur von ihnen. Aber wir haben die anderen Leute für Euch gefunden und die zweite Aufgabe erledigt, die Ihr uns aufgetragen habt, und wir haben die Feuerblumen in jedes Haus getragen, wie Ihr befohlen habt. Ihr könnt Proben von ihnen nehmen, wann immer es Euch beliebt. Diese Leute werden bald feststellen, wie töricht es war, sich Euch und dem Gesetz des Kaisers zu widersetzen.« Apolon beugte sich vor und breitete eine Karte von Merina vor sich aus, auf der jede Straße und jeder Kanal deutlich verzeichnet war. Er 193
legte sie vor seinen Diener auf den Teppich. »Zeig es mir«, forderte er ihn auf. »Sag mir, wie sie heißen und was sie getan haben, und beschreibe sie mir.« Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß unter denjenigen, an denen er ein Exempel statuiert hatte, auch eine der vermißten Frauen war. Sie konnten sich nicht gut verstecken, dessen war er sicher. Sie konnten sich nicht erniedrigen und dem ruppigen Verhalten seiner Diener mit der entsprechenden demütigen Furcht begegnen. Sie waren nicht zu Unterwürfigkeit erzogen; sie würden sich widersetzen, zumindest mit Worten. Sie konnten nicht über den eigenen Schatten springen. Als der Diener ihm nun berichtete - Apolons Diener verfügten über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, oder sie waren nicht lange seine Diener —, hörte er ihm genau zu. Aber die meisten der rebellischen Bürger waren Männer; nur eine Handvoll Frauen hatte ein gewisses Rückgrat bewiesen. »- Mathilde, die Perlenhändlerin im Stachelrochen-Hof; sie ist mittleren Alters, aber schlank und kräftig, und sie steht in dem Ruf, häufig mit Seeleuten zu verkehren. Es heißt, Kapitän Saxon sei auch einmal ihr Liebhaber gewesen. Auf die Männer, die die Steuer eintreiben sollten, ist sie wie eine Furie losgegangen, und wenn sie sich nicht mit Worten zur Wehr setzt, gibt sie sich widerborstig. Alle anderen Bewohner des Hofes haben Angst vor Euren Dienern, sie aber zeigt eindeutig keine Furcht, und es ist durchaus denkbar, daß sie jederzeit einen Aufstand anzetteln kann. Man weiß, daß sie die Spelunken der Seeleute besucht, wo viel Unruhe herrscht. Die Schäfchen ihres Viertels nehmen ganz offensichtlich bereitwillig ihre Anordnungen entgegen, und sie kommandiert sie gern herum.« »Diese Mathilde —«,Apolon beugte sich erneut vor, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. »Könnte es Lydana in einer Verkleidung sein?« Aber der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat schwarze Haare, und sie erweckt den Eindruck einer Frau, die sehr freizügig mit ihrer Gunst umgeht. Die fromme, mausgraue Königin würde in Ohnmacht fallen, wenn so eine wie Mathilde ihren Weg kreuzte. Für Schelyra ist sie zu alt. Und viel zu jung, um Adele sein zu können.« »Also noch ein zänkisches Weib. Na schön«, Apolon entließ seinen Diener mit einer Handbewegung. »Du hast deine Sache nicht gut gemacht, denn du hast noch keine der drei Frauen aus dem Königshaus dingfest gemacht, aber du hast keine Bestrafung verdient. Geh - und streng dich ein bißchen mehr an bei der Suche. Beim nächsten Mal erwarte ich bessere Nachrichten.« Der Mann ging hinaus, schwitzend vor Erleichterung. Apolon verzog 194
den Mund erneut zu einem dünnen Lächeln. Seine Bestrafungen waren eigentlich recht unregelmäßig, keineswegs so häufig oder so grausam wie etwa bei Catal. Er hatte schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht, daß die Furcht vor Bestrafung viel wirkungsvoller war als die Strafe selbst. Ein kalter Wind fegte durch den Zelteingang. Sein Lächeln wich einem Stirnrunzeln. Diese Art des Lebens behagte ihm ganz und gar nicht, und es fiel ihm schwer, seine Magie auch nur annähernd ungestört auszuüben - hier, wo jeder mitten in einem Ritual hereinstolpern konnte. Selbst wenn er in die Gemächer der Prinzessin hätte gelangen können, wäre er nicht in der Lage gewesen, das, was er dort fand, zu verwenden; seine Rituale gehörten eindeutig in den Bereich der schwarzen Magie, denn sie alle erforderten Blutvergießen. Er mußte Balthasar möglichst schon in den nächsten Tagen dazu bewegen, in die Stadt umzusiedeln. Er könnte jenes Haus, das Haus des Keilers, mit Beschlag belegen - und wenn er das nicht bekäme, wäre das Haus des Tigers vielleicht auch nicht zu verachten. Er würde Bewohner und Einrichtung entfernen lassen und es mit eigenen Dienern und Werkzeugen ausstatten. Dann erst konnte er arbeiten; einen Gegenstand finden, der den Frauen gehörte, und ihn dazu benutzen, sie aufzuspüren — vorausgesetzt, daß sie noch nicht gegen solche Machenschaften geschützt waren. Er hatte sich bei der Suche nach ihnen mit der Anwendung von Magie Zeit gelassen, einfach weil er von Anfang an davon ausgegangen war, daß sie unter einem solchen Schutz standen. Vordringlich für ihn war jedoch die Einrichtung seiner »Nachschubquelle«; er verlor Diener, ihre Zahl verringerte sich schleichend, aber stetig, da einige von Rebellen angefallen wurden und damit für ihn nutzlos geworden waren; andere verschwanden spurlos, wahrscheinlich in den Kanälen. Er mußte seinen Vorrat wieder auffrischen, und dazu brauchte er einen sicheren, abgeschlossenen Raum, um tote Narren in lebende tote Diener zu verwandeln. Balthasar war großzügig, aber es gab Dinge, die nicht einmal er dulden würde, und dazu gehörte eben auch Totenbeschwörung. Vielleicht konnte er sich denken, was sein Grauer Magier trieb, doch er würde nie danach fragen. Doch wenn allgemein bekannt würde, daß Apolons Umtriebe keiner Grauzone, sondern der Finsternis entsprangen - nun, einen Totenbeschwörer würde Balthasar in seinen Diensten nicht dulden, nicht zu dulden wagen. Was Apolon regelmäßig tat, verstieß gegen alle Gesetze des Reiches, und Balthasar würde zu seinem eigenen großen Bedauern den Henker bestellen müssen. 195
Aus diesem Grunde brauchte er, Apolon, falls er eine der beiden gesuchten Frauen finden sollte, ein Haus mit dicken Mauern, in dem er seinen Herrn anrufen konnte. So etwas tat man schließlich nicht in aller Öffentlichkeit! Die Gefahren, die er mit dem geheimen Ritual auf sich nahm, waren entsetzlich genug! Gut; das also sollte sein unmittelbares Ziel sein: Feuerblumen aussetzen, um diese Schäfchen mit seiner Macht einzuschüchtern. Balthasar in die Stadt einziehen lassen und ein Haus für sich selbst finden. Leopold aus dem Wege räumen. Für Nachschub an Schwarzmänteln sorgen. Die Frauen finden. Wenn seine Diener Schelyra oder Lydana aufspürten, sollte er die Frauen vielleicht solange unbehelligt lassen, bis das Haus wirklich sicher war. Es hatte keinen Sinn, sie zu ergreifen, wenn er noch keinen Ort gefunden hatte, an dem er sie unterbringen konnte; sonst könnte Balthasar am Ende erfahren, daß sie in seiner Gewalt waren. Er nickte vor sich hin, zufrieden darüber, daß er die bestmöglichen Pläne geschmiedet hatte. Und zufrieden darüber, daß alles nach seinen Plänen laufen würde. Schließlich stand er ja nicht allein da. Er hatte doch Hilfe, oder? Dem Herrn der Schattenwelt mußte sehr daran gelegen sein, daß sein Diener triumphierte. Apolon würde nicht um diese Hilfe bitten, denn das würde ihn noch mehr zum Schuldner seines Herrn machen - aber wenn sich diese Hilfe bot, würde er sie nicht verschmähen.
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29. Lydana Träge zog sie im Wasser dahin, ohne jedoch zu schwimmen. Mathilde drehte den Kopf ein wenig zur Seite und schaute in ein entsetzliches Gesicht, dessen Züge bis zur Unkenntlichkeit zerstört waren. Mathilde schrie auf, schlug mit den Armen um sich und bemühte sich, diesem Ding zu entkommen. »Herrin!« Sie wurde hin und her geschüttelt und klammerte sich an die Hände, die sie festhielten, in der Hoffnung, von diesem schwimmenden Etwas fortgezogen zu werden. »Herrin!« Sie blinzelte und sah über sich das Gesicht der Frau, die Jonas Dimity genannt hatte. Sie seufzte tief. Der Atem der Frau stieg ihr in die Nase. »Er war tot -«, stieß sie hervor, »tot. Und ich habe ihn umgebracht!« Obwohl ihr die Tat damals folgerichtig erschienen war und sie zu dem Zeitpunkt, als sie die Leichen über Bord geworfen hatten, nicht das Gefühl gehabt hatte, wirklich einen Menschen den Gezeiten zu überlassen -jetzt senkte sich alles wie eine erdrückende Last auf sie. Dimity hatte die Halbmaske abgelegt, die sie am Abend zuvor getragen hatte — nein, vor zwei Nächten. Oder war es länger her — es war schwer, die Tage und Nächte auseinanderzuhalten, sie vermischten sich alle zu einem einzigen Alptraum, zu einem endlosen Kreislauf aus Arbeit und Täuschung, in dem sie zu wenig Schlaf bekam. Das Doppelleben, das sie führte, war unglaublich anstrengend. Dimity war eine Frau mit jungen, durchaus ansehnlichen Gesichtszügen, doch alten, wachsamen Augen. Sie hielt Mathilde noch immer fest in den Armen. »War wohl Euer erster?« fragte sie. »Na, das geht uns allen so. Aber ich wette, Ihr hattet keine andere Wahl, oder?« Wie sehr hatte sie sich verändert? Zweimal in ihrem Leben hatte sie Todesurteile unterzeichnet und es als ihre Pflicht erachtet, aber das hier war etwas anderes. Sie fuhr sich mit der Hand über die bebenden Lippen. Dimity hatte sie jetzt losgelassen und zeigte auf ein Tablett, das auf einem etwas wackligen Tisch in Jonas' Allerheiligstem schwankte. »Ihr 197
solltet etwas essen, Herrin. Thom und der Aal haben das, was Ihr braucht, hergebracht, und Thom ist wieder gegangen. Wir haben jetzt alle zu tun.« Mathilde wusch sich in der Schüssel lauwarmen Wassers, die die Frau ihr offenbar ebenfalls bereitgestellt hatte. Dann setzte sie sich gehorsam hin, um etwas zu essen. Sie zitterte innerlich noch immer und versuchte krampfhaft, die Erinnerung an ihre Träume zu verscheuchen. Es war derbe Kost, aber sie stellte fest, daß Hunger eine ausgezeichnete Würze für das einfachste aller Gerichte war. Sie leerte eine ganze Schale klumpigen Haferbreis und aß ein Stück streng riechender Wurst, die sie zwischen zwei Scheiben trockenen Brotes klemmte. Dimity nickte, als Mathilde ihr dankte, und verschwand wieder. Mathildes Blick fiel indessen auf die Schachtel und den Kasten, die sie Thom beschrieben hatte und die nun neben dem Tablett standen. Obwohl das Gebäude des Wirtshauses alt war und gewiß dringend der Instandsetzung bedurfte, konnte sie aus dem Raum nebenan nichts hören. Die Tür besaß weder Schloß noch Riegel; sie mußte in Kauf nehmen, daß jemand hereinkommen und sie bei ihrer Arbeit stören würde. Sie stellte das Tablett auf den Boden und schob sich so nah an den Tisch heran, wie es der Hocker erlaubte. Sie hatte die Schärpe abgelegt und tastete in den eingenähten Taschen nach den einzelnen Steinen. Der Kanzler war habgierig — daher würde ihn mit Sicherheit ein atemberaubender Fund am meisten in Versuchung führen — der Diamant von Asusar. Sie zog den Edelstein aus seinem Versteck. Mathilde hatte im Verlauf ihrer langjährigen Ausbildung mit vielen Diamanten gearbeitet, aber sie hatte sie nie besonders gemocht, denn sie bevorzugte farbige Steine, selbst wenn sie weniger wertvoll waren: so etwa die in der Mitte feuerroten, nach außen hin eisblauen Opale, ja sogar die in allen Regenbogenfarben schillernden Mondsteine, auf deren Oberfläche die Farben spielten, die in der Struktur des Opals eingefangen waren. Da war ein Jadestein, der angenehm glatt durch die Finger glitt, Sternsaphire, Rubine - für einen winzigen Augenblick konnte sie all ihre Lieblingssteine in diesem einen glitzernden Edelstein vor sich sehen, der eine fast körperlich spürbare Kälte ausströmte. Aber es war eben ein edler Stein, um den Menschen immer kämpfen würden. Müßte er seine wahre Gestalt zeigen, dann wäre er rot vom Blut jener, die in vielen Jahrhunderten um seinen Besitz gekämpft hatten. Einem habgierigen Mann gebührte ein Stein, der seinem Ruf zufolge selbst die reine Habgier war - gierig nach den Menschenleben, 198
die um seinetwillen verschleudert wurden. Mathilde öffnete ihre Schachtel und den Werkzeugkasten. In einem der Fächer befanden sich eine Reihe alter — teilweise antiker - Fassungen für Ringe und Broschen. Häufig wurden sie wegen ihres Metallgehaltes in Zahlung gegeben, aber sie hatte solche Funde immer genau untersucht und oft das eine oder andere Stück an sich genommen, dessen Gestaltung ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein Ring sollte es sein, denn es war für einen Mann bestimmt. Sie durchwühlte die alten Fassungen. Silber - nein auch für sie waren die Silberringe, die sie noch hatte, aufgrund ihrer Gestaltung wertvoll. Nur Blattgold paßte zu dem Prunk jenes Klumpens aus gefährlichem Eis, den sie selbst abscheulich fand. Nun ging es noch um die Größe — wie konnte man ihn am besten in eine Fassung einarbeiten? Sie wählte ein breites Band aus grünem Gold, glatt bis auf den Ringkasten, in den sie den Edelstein einfassen würde. Er war sehr kunstfertig in ein Netz von fadendünnen Verästelungen eingebettet. Mathilde nahm ihr erstes Werkzeug zur Hand und machte sich an die schwierige Aufgabe, in diesem Netz ein Bett für den Diamanten zu formen. Sie hatte den fertig eingefaßten Stein gerade zur Seite gelegt, als das Knarren der Bodendielen sie herumfahren ließ. Der Aal schlenderte mit einem großen runden Brotlaib und einer Wurst, an der er genüßlich kaute, ins Zimmer. Nach einem prüfenden Blick auf den Tisch setzte er sich neben Mathilde, jedoch so, daß zwischen ihm und dem fertigen Ring ein möglichst großer Abstand lag. Einst, als der Aal zu ihrem engsten Vertrauten wurde, hatte Mathilde festgestellt, daß er sich vor todbringenden Edelsteinen noch stärker hütete als sie selbst. Zuweilen hatte er sie noch schneller in einer Ladung entdeckt, die das Pech hatte, solche Kostbarkeiten mitzuführen. »So großzügig heute?« brachte er zwischen zwei Wurstbissen hervor. »Wer ist denn der unglückliche neue Besitzer?« Mathilde lächelte. »Ich dachte, er könnte zum Kanzler passen. Es heißt, daß er solche Sachen liebt.« Der Aal grinste. »Nicht, wenn er Grips im Kopf hat, doch wer sagt schon, daß er ihn hat? Aber — ich habe Neuigkeiten für Euch —« Er beugte sich über die Tischkante und nahm sich Zeit, den letzten Bissen herunterzuschlucken - ein Bissen, groß genug, um daran zu ersticken. »Der Kapitän und ein paar andere sind tatsächlich im Haus des Keilers. Und nicht die Schwarzmäntel bewachen sie. Es sind Söldner 199
Männer aus Laqua, schätze ich. So wie die Wache des Generals. Sie haben ein paar Diener behalten, die sie herumscheuchen können, aber die Edelfrau und die Töchter saßen auf der Straße, sobald sie den Meister aus dem Haus zerrten, um ihn zu hängen. Es ist keine Mär, sie scheinen die Wahrheit zu sagen - er wurde gehängt, weil er das GideonSchwert nicht herausrücken wollte. Sie sagen, ein Magier habe es für alle Zeiten mit einem Zauberbann belegt, und sie haben versucht, ihm das Geheimnis zu entlocken. Aber sie haben es nicht herausbekommen. Mag sein, daß er es gar nicht kannte.« Jede Stadt, die so alt war wie Merina, hatte eine Vielzahl legendärer Helden und Heldinnen aufzuweisen, teure Erinnerung an sagenhafte Zeiten. Ihre Taten wurden verdreht, so daß kein Quentchen Wahrheit mehr übrigblieb, und im Laufe der Jahre und der Überlieferung zu Wundern überhöht. »Das Gideon-Schwert —«, wiederholte sie leise. Merina hatte einst einen Feind, der auf seine Art noch schrecklicher war, als Balthasar es bisher zu sein schien. Ein Wissenshungriger, der mehr war als ein Magier, ein Alchimist, der alle Quellen des Lichts entweiht hatte. Es gab einen Mann (oder einen Engel, welcher menschliche Gestalt angenommen hatte), der einen erbitterten Kampf gegen diesen Iktcar ausgefochten hatte. Der Diener der Finsternis war trotz seiner Künste vernichtet worden, doch auch der Retter der Stadt war verschwunden - nur sein Schwert war zurückgeblieben. Manche wollten es im Tempel untergebracht wissen. Darüber jedoch war man geteilter Ansicht gewesen - eine Waffe (ganz gleich, wie gut sie ihnen allen gedient hatte) sollte in den Augen der damaligen Erzpriesterin nicht an einem Ort des Friedens und der Frömmigkeit hängen. Da der Mann, der sich Gideon nannte, ein Arbeiter im Hause des Keilers gewesen war, bevor er sein Schwert geschmiedet hatte und in den letzten Kampf gezogen war, hatte die Metallzunft ihn zu ihrem Schutzpatron erklärt und das Schwert in ihrem Zunfthaus untergebracht, wo sie ihm jeden erdenklichen Schutz angedeihen ließen. »Der General. Er mußte bereits zweimal mitansehen, wie die Arbeiter aus dem Lager vergeblich versuchten, es herunterzuholen. Nun glauben alle, daß er noch einmal kommen wird, um die Scheide zu zerschlagen.« Mathilde blickte auf die Schicksalssteine. Was würde geschehen, wenn der General das Schwert in die Finger bekäme — und damit vielleicht etwas noch Mächtigeres? Es gab da eine Möglichkeit —. Dann fiel ihr die Witwe des Zunftmeisters ein. »Fortuna?« Wenn ihr 200
Mann das Geheimnis gekannt hatte, wäre sie vielleicht bereit, es zu verraten, um seine Mörder zu Fall zu bringen. »Sie hat bei den Barmherzigen Schwestern um Asyl gebeten«, erwiderte der Aal prompt. »Muß innerhalb ihrer Mauern bleiben, weil sie fürchtet, man könnte sie ergreifen - oder eine ihrer Töchter -« Also wußte sie vielleicht doch mehr, als sie erwartet hatten. Wie lange konnte es noch dauern, bis Catal, der für seine Greueltaten berüchtigt war, es sogar wagte, den Tempel zu betreten, um sich ihrer zu bemächtigen? Mathilde war sicher, daß der General das Herz nicht verehrte — was Balthasar zumindest vorgab. Erneut erriet der kleine Gefährte ihre Gedanken. »Sie haben eine Wache direkt vor dem Kloster aufgestellt, aber keinen Schwarzmantel. Sie ist fürs erste in Sicherheit.« Mathilde nickte. Sie beschäftigte sich in Gedanken bereits mit ihrer zweiten Aufgabe. Noch ein Ring? Nein, der Stein, den sie im Sinn hatte, war zu groß für die Fassungen, die sie aufgehoben hatte. Aber sie hatte festgestellt, daß die Offiziere des Großen Herrschers einen schweren Metallreif am linken Handgelenk trugen - einen sehr breiten, der im Handgemenge wie ein Schild benutzt werden konnte. Unter ihren vielen Fassungen befand sich die Manschette eines Bogenschützen, ein Glücksfall, auf den sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte sie aufgehoben, weil sie am Rand ein feines Muster hatte, das ihr unbekannt war. Dieses Stück zog sie nun heraus und förderte gleichzeitig einen neuen Edelstein zutage. Sie hörte, wie ihr Gefährte die Luft anhielt. »Den! Den habt Ihr, Herrin!« »Der Kapitän hat den Stein Frisal abgenommen, als er ihn auf dem Achterdeck seines Schiffes bei Graise niederstreckte. Ja, ich weiß, was es ist - nicht jedoch, wie er in Frisals Hände gelangt ist. Es ist der Mund von Vor.« Der schimmernde schwarze Stein war wirklich sonderbar geschliffen. Auf der einen Seite waren Linien eingraviert, die ihm die Form von Lippen verliehen — es sah aus wie ein geschlossener Mund. Auf der anderen Seite befand sich ein glattes Oval. Rasch machte sie sich an die Arbeit, doch die Sache zog sich in die Länge und erforderte ihr ganzes Können. Als sie fertig war, lag die glatte Seite nach außen, der Mund war verborgen. Sie konnte schlecht einschätzen, inwieweit die Offiziere Balthasars über entsprechendes Wissen verfügten, aber sie glaubte nicht, daß ihre List leicht zu durchschauen war.
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30. Schelyra Schelyra — oder besser: Raymonda, denn sie hatte wieder ihre Verkleidung angelegt — stand an einem Laternenpfahl etwas abseits von der Zigeunertruppe und sah einer neuen Tänzerin zu, die versuchte, eine Gruppe Arbeiter aufzumuntern. Raymonda gähnte; es war eine lange Nacht gewesen, zwar hatte sie ein wenig länger geschlafen als sonst, aber sich dennoch keine Ruhe gegönnt. Im Augenblick versuchte sie die Stimmung in der Stadt einzuschätzen. Sie war nicht zufrieden. Sie hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits hier und da offenen Widerstand erhofft, aber es hatte den Anschein, als wäre Merina eingeschüchtert und entmutigt, als würde sich die Stadt bereitwillig mit allem abfinden, was der neue Herrscher ihr aufbürdete. Die Stadt steckte jeden neuen Schlag ein, ließ sich jede neue Last auf den Rücken laden und senkte den Kopf unter dem Joch nur noch tiefer. Nicht nur Apolons Schwarzmäntel waren unterwegs: In einigen Stadtvierteln setzten Catals Söldner die willkürlichen Anordnungen des Generals durch. Leopolds Männer griffen nicht ein; weder versuchten sie, den Bürgern noch mehr Einschränkungen aufzuerlegen, noch hinderten sie die Söldner und die Schwarzmäntel an ihren Greueltaten. Merina war dreifach geknechtet, und Verwirrung machte sich breit, da alle drei Herren ihre eigenen Gesetze aufstellten. »Du da!« Als eine Hand Raymonda plötzlich von hinten am Arm ergriff, war es keine Verstellung, daß sie voll Angst zusammenzuckte, anstatt sich gegen ihren Angreifer zur Wehr zu setzen. Der Mann, der ihren Arm festhielt, war kein Schwarzmantel, sondern ein Söldner. Erstere waren tödlich, letztere indes waren tollwütige Hunde und unberechenbar. Der Mann, der Raymonda festhielt, hatte ein grausames Gesicht mit einem Mund voll fauler Zähne und schlechten Atem. »Was willst du von meiner Kusine, he?« Einer ihrer Freunde unter den Zigeunern schob sich zwischen Raymonda und den Söldner und zwang ihn damit, sie loszulassen. Bruno war ein Riese, der die wildesten Pferde in den Griff bekam, der sogar ein tobendes, verängstigtes Zugpferd bän 202
digen konnte. Selbst ein Söldner Catals wich vor Bruno zurück, zumindest vorläufig. »Sie steht hier herum, ist angezogen wie eine Tänzerin, aber sie tanzt nicht«, knurrte der Söldner. »Weshalb steht sie also hier? Wir haben Gesetze für welche von ihrer Sorte — sie gehören in die Freudenhäuser, zahlen ihre Steuern und halten sich dort auf, wo sie unter Aufsicht sind ...« »Sie ist nicht so eine, Gajo«, fuhr Bruno ihn an. »Behalt deine schmutzigen Gedanken für dich! Sie hat noch nicht getanzt, weil wir noch keine Musik aus dem Norden gespielt haben, was, Kleine?« Bruno streichelte ihr das Kinn wie einem Kind; sie klimperte mit den Wimpern und senkte verschüchtert den Blick. Dann nickte sie. »Sie tanzt den Stil aus dem Norden, ohne Stampfen und Hackenschlagen«, fuhr Bruno fort. »Die Musik dafür ist anders als der FlamankStil.« Der Söldner unterbrach ihn. »Dann spiel eben Musik aus dem Norden, Mann, sonst lasse ich sie als Lotterweib festnehmen! Wenn sie wirklich 'ne Tänzerin ist, dann sollte sie auch tanzen können!« Raymonda überrieselte es kalt. Sie war froh, daß sie sich nicht allein aus dem Zigeunerviertel herausgewagt hatte. Diese Gruppe war groß genug, um sie zu beschützen — vorläufig. Doch wenn sie allein unterwegs gewesen wäre Bruno versuchte die Stimmung des Söldners einzuschätzen und kam zu dem Schluß, daß er ihn genug gereizt hatte. Er gab den Musikanten ein Zeichen. »Nördlicher Stil, Jungs! Aber ein bißchen flott!« Flott —je schneller ich mich bewege, um so weniger werden meine Fehler auffallen. Falls dieser Schinder den nördlichen Stil tatsächlich kennt, wird er nicht merken, daß meine Schritte nicht genau stimmen, wenn ich mich nur schnell genug drehe und genug Armbewegungen mache. Hoffentlich. Raymonda stellte sich in der Mitte der Gruppe in Position, die sie während der einleitenden Takte beibehielt. Anders als bei den Tänzen der südlichen Länder, bei denen die Frau zu Anfang eine stolze Haltung einnahm, beugte sie sich leicht nach vorn und hielt die verschränkten Arme über den Kopf. Dann setzte die eigentliche Melodie ein, und sie begann zu tanzen. Sie wiegte sich wie eine Weide im Wind, wirbelte herum wie ein Wasserstrahl, die Röcke flatterten ihr in immer neuen farbigen, bewegten Mustern um die Beine. Bei den südländischen Weisen spielten meist Gitarren, und dazu wurde geklatscht; der nördliche Stil bevorzugte Fiedel und Tamburin. Südliche Flamank-Tänzerinnen 203
stachelten sich gegenseitig und ihr Publikum durch stolze Gesten und einen wahren Hagel von stampfenden Schritten an; die Zigantänzer aus dem Norden brachten unter geschmeidigem Beugen und Schwanken und mit wirbelnden Körperdrehungen sehnsüchtige, flehentliche, ja fast beschwörende Gesten zum Ausdruck. Der Flamank war reines Feuer, der Zigan hingegen Wasser und Luft. Einer der Umstehenden, ein Mann, den sie kaum kannte, sprang in den Kreis. Nun fiel das Tanzen leichter; er konnte das Muster vorgeben, dem sie nur zu folgen brauchte, und er konnte ihr bei geschickten Hebungen und Drehungen helfen. Sie legte ihren Tanz dankbar in seine Hände und folgte den winzigen Anweisungen, die sein Körper ihr vorgab. Die Geschwindigkeit nahm zu, es wurde immer schneller, während sie herumwirbelten und sich beugten, um ein unsichtbares Zentrum kreisend, das sie beide in seinem Bann hielt. Sie wurde müde; sie atmete heftig durch den Mund und bekam Seitenstechen, ihre Lungen brannten. Der Schweiß rann ihr von Gesicht und Hals, und die Musik hörte nicht auf und trieb sie und ihren Partner immer weiter — Bis sie schließlich verstummte. Mit den letzten Klängen verließ sie die Kraft. Sie sank in der traditionellen Schlußfigur des Zigan zu Füßen ihres Partners nieder und blieb auf dem Kopfsteinpflaster liegen, das Gesicht in den Haaren verborgen, keuchend und erschöpft. Niemand klatschte, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Sie war nur dankbar, daß sie es ohne größere Patzer überstanden hatte. Sie rührte sich nicht und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Seitenstechen ließ allmählich nach. Als sie sich in der Lage fühlte, aufzustehen, berührte eine Hand ihre Schulter. Es war ihr Tänzer, der zu ihr herablächelte und ihr eine Hand reichte. Sie ergriff sie. »Du tanzt gut, Schwester im Blute«, murmelte er in der Sprache der Zigeuner, »fast so gut wie meine Frau. Erinnere mich daran, daß sie dir ein paar Schritte beibringen soll, wenn wir nach Hause zurückkehren.« Er warf einen Blick auf die mürrischen Söldner und die bedrückte Menge. »Und das werden wir so schnell wie möglich tun. Hier haben wir nichts mehr zu suchen.« »Seht ihr?« ertönte Brunos Stimme in der Stille. »Sie tanzt. Seid ihr nun zufrieden?« Der häßliche Söldner, der seine Pläne durchkreuzt sah, hob die Oberlippe und knurrte: »Ach ja? Vielleicht nehme ich sie aber trotzdem lieber mit. Diese Schelyra wird gesucht - vielleicht ist sie es ja.« 204
Raymonda spürte, wie sich ihr eine kalte Hand um Herz legte, und tastete nach dem verborgenen Messer. Der Griff ihres Tänzers an ihrem Arm wurde fester — eine Warnung. Doch noch ehe jemand ernsthaft über diese Vermutung nachdenken konnte, brachen die eigenen Kameraden des Söldners in herzhaftes Gelächter aus. »Ach, Guntur, du warst wohl zu lange in der Sonne, oder das Sumpffieber hat dich gepackt!« höhnte einer von ihnen. »Das da soll die Prinzessin sein? Wo sollte eine Dame so tanzen gelernt haben? Wie kommt wohl eine Dame hierher zu diesem Gesindel? Sie würden sie ausrauben bis auf die Haut und in den Kanal schmeißen, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen!« Nun war es an Raymonda, warnend den Arm ihres Tänzers zu drücken, der angesichts dieser Beleidigung rot anlief und einen unbedachten Schritt nach vorn machte. An den zornigen Mienen der Umstehenden konnte sie sehen, daß sie ebenfalls große Mühe hatten, ihr Temperament zu zügeln. Sie wollen nur unseren Widerstand herausfordern, damit sie einen Vorwand haben, uns alle einzusperren — sie wollen in unser Gelände eindringen, und im Augenblick haben sie noch keinen Grund, die Tore einzureißen. Sie war offenbar nicht die einzige, die diesen Gedanken hatte, denn erneut trat Bruno vor und spuckte verächtlich auf das Kopfsteinpflaster - aber nicht in die Nähe der Söldner. »Pah! Nur Dummköpfe können eine gute Künstlerin nicht von einem Tanzbären unterscheiden. Wir gehen nach Hause, dort wird unser Können eher gewürdigt. Kommt mit, Brüder!« Er stapfte in Richtung auf das Zigeunerviertel davon. Die anderen packten ohne zu zögern ihre Sachen ein und folgten ihm. Die Gruppe nahm Raymonda und ihren Tänzer in ihre Mitte. Raymonda brach der Schweiß aus, aber nicht vor Erschöpfung, sondern aus Angst. Das war knapp gewesen, sehr knapp! Einzig und allein die Geistesgegenwart Brunos und der anderen Männer hatte sie gerettet - und ihr Glück. Doch wie lange konnte sie mit dem Glück rechnen, jetzt, da die Falle allmählich zuschnappte?
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31. Lydana Sie wußte nicht, wie lange sie gearbeitet hatte. Undeutlich nur war ihr bewußt geworden, daß ihr kleiner Gefährte vor einiger Zeit den Raum verlassen hatte. Die meiste Zeit mußte sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit richten, doch ihre Gedanken kreisten immer wieder um Saxon und das Gideon-Schwert. Saxon mußte befreit werden, und das Schwert - das Schwert konnte - so hoffte sie zumindest — noch einmal zur Rettung Merinas beitragen. Sie lehnte sich zurück und lockerte die schmerzenden Finger, straffte die schmerzenden, verspannten Schultern. Ihre Mutter hatte sie vor der Verwendung dieser unheilbringenden Steine gewarnt. Aber sie benutzte sie nicht wie ein Magier, der durch Beschwörungen und ähnliches versuchen würde, die ihnen innewohnende Macht des Bösen zu verstärken. Sie legte sie einfach Männern in den Weg, für die sie eine gewisse Verlockung darstellen würden, und überließ es dem Zufall, ob die Ewige Macht mit ihrer Arbeit etwas anzufangen gedachte. »Seid Ihr fertig?« Der Aal war zurückgekehrt und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. »Ja.« Mathilde streckte sich und bewegte erneut die Finger. »Dann kommt am besten mit raus und hört Euch an, was los ist.« Er öffnete die Tür und winkte ihr. Mathilde legte sich die Schärpe wieder um, die sich an der Stelle, an der Ring und Manschette steckten, ausbeulte. Plötzlich stand sie mitten im geschäftigen Treiben eines Wirtshauses. Männer und Frauen saßen beieinander und redeten, doch einer nach dem anderen stand auf und ging zu Jonas hinüber, der allein an einem kleineren Tisch saß. Er hatte ein Wirrwarr verknoteter Seile vor sich auf einem Brett liegen. Mathilde wußte, daß dies die besondere Art von Seeleuten war, sich Notizen zu machen, da es ihnen häufig an Schreibwerkzeug oder einer entsprechenden Unterlage fehlte. Als Jonas Mathilde erblickte, winkte er sie zu sich. Der Mann, der seine Unterhaltung mit dem Wirt beendet hatte und nun davontrottete, warf Mathilde einen 206
kurzen Seitenblick zu, aber er wurde ihr nicht vorgestellt. »Es gibt genug Ärger für ein hübsches Knäuel«,Jonas schüttelte das Seilbündel vor ihren Augen. »Die Schwarzmäntel bringen die Stadt ins Schwitzen. Hört, Herrin, Ihr kennt Euch besser in überliefertem Wissen aus als wir alle zusammen — habt Ihr je etwas von lebenden Leichen gehört?« Jonas hatte das Gesicht verzogen, und sie sah noch etwas in seinen Augen, die von dichten Brauen überwuchert waren — eine Spur von - Angst? »Lebende Leichen?« Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken - überliefertes Wissen, ja. Was ist Legende, was ist wahr an den jahrhundertealten Überlieferungen? »Da ist zum Beispiel Kastor«, fuhr Jonas fort, als müsse er seine schrecklichen Neuigkeiten so rasch wie möglich loswerden. »Er ist ein hartgesottener Mann, keiner, der in jeder Mauernische gleich Gespenster sieht. Er hat gestern einen Schwarzmantel gesehen, von dem er schwören könnte, daß er vor einem Jahr mit ihm zusammen auf einem Schiff gefahren ist und bei einem Kampf in Ulpar gegen ein paar stämmige Kerle von einem Schiff Balthasars erstochen wurde. Kastor schwört Stein und Bein, daß Guloper tot war — keiner steht schließlich mit aufgeschlitzter Kehle wieder auf. Doch er kam hier an und zitterte wie Espenlaub, nachdem er Guloper auf Patrouille beim Tempel gesehen hatte. Kastor ist weder betrunken noch übergeschnappt - obwohl das eine oder andere innerhalb der nächsten Stunde schon eintreten kann. Zwei seiner Kameraden mußten ihn dort hinüberbringen«, er deutete auf einen Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, »und ihm etwas zu trinken geben, sonst hätte er hier vor unseren Augen noch den Verstand verloren.« »Totenbeschwörung«, flüsterte Mathilde tonlos. »Aber- dieser Schmutz ist doch vor langer Zeit aus der Welt geschaffen worden, als Iktcar dem Schwert des Lichts unterlag.« »Ganz gleich wie Ihr es nennt, Herrin — für uns ist es Teufelswerk. Die Jungs«, er rollte die Seile zwischen seinen fleischigen Händen hin und her, »haben den einen oder anderen Schwarzmantel umgelegt - ohne Aufhebens und so, damit kein Unschuldiger dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Aber man kann doch keinen Mann umlegen, der schon tot ist - oder?« Mathilde bemühte sich, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. »Das muß die Erzpriesterin erfahren.« Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann in schärferem Ton: »Ist Dimity da?« 207
Jonas brüllte fast wie ein Hafenarbeiter: »Dimity, Weib!« Die Frau rutschte aus einer Bank und trat zu ihnen. Mathilde musterte sie stirnrunzelnd. Daß hier eine Frau aus dem Hafenviertel vor ihr stand, war schwerlich zu übersehen, doch die Allmacht wies niemanden ab, der das Gute suchte. Niemanden würde es also wundern, wenn eine Frau wie sie den Beichtstuhl im Tempel aufsuchte. Dimity schaute Mathilde mit wachem Blick an, als hätte sie gleich gewußt, wer etwas von ihr wollte. »Was ist?« fragte sie herausfordernd. »Komm mit«, Mathilde erhob sich abrupt und ging in den winzigen Raum, den Jonas ihr zur Verfügung gestellt hatte. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sprach sie schnell. »Hast du von diesen lebenden Leichen gehört?« Die dunklen Augen der Frau begannen zu flackern. Sie hob die Hand und machte hastig das Herzzeichen. »Wir wissen alle davon.« »Aber auch andere müssen es erfahren«, sagte Mathilde. »Es gibt Menschen, die gegen das drohende Unheil, das solche Dinge ankündigen, besser gewappnet sind. Geh zum Tempel und suche den dritten Beichtstuhl rechts vom Altar auf. Wenn die Ehrwürdige zu dir kommt, sagst du: >Die Wurzel ist tief, der Baum wächst hoch, die große Katze geht ihren Weg.« Dimity wiederholte den Satz rasch, und Mathilde nickte. Sie hatte von Anfang an gewußt, daß diese Frau vom Hafenstrich ein helles Köpfchen hatte und man ihr trauen konnte. »Wenn die Ehrwürdige dich gewähren läßt, berichte ihr, was Kastor erzählt hat. Die Beschützer müssen es wissen.« Dimity nickte. »Das ist nicht schwer, Herrin. Die schwarzen Krähen sind überall, aber bisher haben sie noch keinem den Zutritt zum Tempel verwehrt.« Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: »Da draußen laufen ganz schön viel Leute rum — Frauen, deren Männer fortgeschafft wurden, und welche, die einfach Angst haben. Das Wort des Herzens — das ist vielleicht alles, was uns bleibt. Aber wir werden am Licht und am Herzen festhalten, was auch geschehen mag.« Mit wehenden Röcken war sie entschwunden. Dimity würde ihre Sache schon machen - Mathilde hatte eine viel heiklere Angelegenheit vor sich. Sie blickte an sich herab auf den Anzug, den sie nicht ausgezogen hatte, seit sie den Perlenladen verlassen hatte. Der war zu auffällig. Und was Jonas betraf— Er war gerade in eine ernste Unterhaltung mit Thom vertieft, der die 208
Hände auf den Tisch gelegt und sich vorgebeugt hatte, so daß Mathilde nicht mehr als ein leises Murmeln vernahm. Jonas sah sie und winkte sie zu sich. Thom schaute finster drein, als er den Kopf hob, um sie anzusehen. »Eine harte Nuß habt Ihr mir da zu knacken gegeben«, polterte er los, ohne laut zu werden. »Ich habe Euch gewarnt, daß sie sich in Schwierigkeiten bringen würde. Sie läßt sich von niemandem was sagen. Gerüchte werden laut, daß es im Palast spukt, und das haben wir ihr zu verdanken.« Mathilde seufzte. Sie hatte geglaubt, Thom wäre ein Gefährte nach dem Sinn ihrer starrköpfigen Nichte, die schließlich eine recht ausgeprägte Abenteuerlust hatte. Doch nun sah es ganz so aus, als würden sie sich in ihrer erzwungenen Zweisamkeit aufreiben. Sei's drum, sie hatte ohnehin eine Aufgabe für ihn. Sie zog den Diamantring aus ihrer Schärpe. Thom schnappte nach Luft, und Jonas schluckte hörbar. »Damit kauft man Generäle frei«, Thom streckte die Hand aus, als wolle er ihr eine solche Last abnehmen. »Oder man schenkt es einem Kanzler«, erwiderte sie ruhig. »Betrachte ihn nicht so gierig, Thom, denn wer sich in Edelsteinen so gut auskennt wie du, sollte wissen, daß manche ihrem Träger Unglück und Vernichtung bringen.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Und das Geschlecht des Tigers hat davon jede Menge«, sagte er sehr leise. »Nein, von solchen Steinen wollte ich nicht einen einzigen haben.« »Du sollst ihn nur Schelyra bringen«, befahl sie. »Sag ihr, sie soll dafür sorgen, daß der Kanzler ihn bekommt. Wenn sie schon im Palast herum geistert, soll ihr Spuk wenigstens zu etwas nütze sein.« Er nahm den Ring nicht in die Hand, sondern griff nach einem Stück Seil von Jonas, um ihn darauf aufzuziehen. »Es geht etwas vor, was wir nicht in Gang gesetzt haben«, sagte er, während er die Kordel mit dem Ring in die Tasche gleiten ließ. »Die Zunftleute fangen an, wie Männer zu denken und nicht wie ängstliche Händler — doch es fehlt an Waffen. Merina steht etwas Schlimmeres bevor als jede Plünderung.« Jonas grinste. »Gut«, sagte er und knallte seine Seile auf den Tisch, »wir werden ihnen in die Suppe spucken. Herrin, wir brauchen den Kapitän!« »Ja. Und ich werde den ersten Schritt in dieser Richtung unternehmen. Jonas, besorge mir Kleider, wie eine arme Witwe sie tragen würde. 209
Ich gehe zum Kloster der Barmherzigen Schwestern. Die Edle Fortuna hat dort Unterschlupf gefunden. Offenbar haben sie noch Ehrfurcht vor einem Heiligtum.« »Und der Kapitän ist im Haus des Keilers«, nickte Jonas lebhaft. »Ja. Schau über den Bug, ehe du die Segel setzt. Und was die Kleider betrifft — he, Wanda!« Das pausbäckige Mädchen, das Tabletts mit Schüsseln voll dampfen-| der Suppe herumgereicht hatte, setzte seine Last ab und kam zu ihnen »Hol der Dame, was sie braucht«, wies Jonas sie an. Kurze Zeit darauf wagte sich Mathilde aus dem Wirtshaus. Sie trug einen schleppenden, mit Straßendreck verschmutzten Rock und hatte sich einen fadenscheinigen Schal sorgfältig über den Kopf gezogen. Zum Glück befand sich das Kloster in einer Gegend, in der die wohltätigen Priesterinnen am dringendsten gebraucht wurden - in einer der, armseligsten Straßen in der Nähe des Wirtshauses. Als sie in Sichtweite kam, sah sie eine kleine Gruppe von Straßenkindern — und unter ihnen den Aal - und eine oder zwei Frauen, die sich vor der Tür versammelt hatten. Sie war gerade rechtzeitig zur Stunde der Brotausgabe gekommen. Da die Barmherzigen Schwestern auf der Liste der guten Werke, die Lydana als Königin unterstützt hatte, eine Vorrangstellung eingenommen hatten, kannte sie alle und war mit Zenia, der Ehrwürdigen, gut befreundet. Auch Schwarzmäntel waren zu sehen, jedoch sie standen auf der anderen Straßenseite. Mathilde nahm einen hinkenden Gang an und gesellte sich zu den wartenden Bettlern. Die kleine Tür öffnete sich, und Priesterin Papania trat mit einem großen Korb heraus. Mathilde bemerkte, daß ein Wächter näher herantrat und unverwandt die Tür beobachtete. »Im Namen der Allmächtigen, Friede sei mit euch. Sie schenkt Ihren Kindern Nahrung für den Körper und Frieden für die Seele.« Mit diesen offiziellen Segensworten begrüßte die Priesterin die Wartenden. Es gab ein Gerangel um den Korb, aber keinen Streit um den Inhalt - ein derart unziemliches Verhalten hätte die Ehrwürdige auf den Plan gerufen, und niemand wollte ihr gegenübertreten, wenn sie erbost war. Im Nu stand Mathilde mitten unter den Kindern. Die Priesterin wandte schnell den Kopf — die weiten Flügel ihrer Kopftracht verhinderten, daß die Wächter den Blick auffangen konnten, den sie Mathilde zuwarf. Dann nahm sie die Perlenhändlerin beim Arm. »Wohl dir, die du kommst zu jenen, die dem Lichte dienen, Ver 210
zweifelte - und dein Kleiner auch. Hier wird Zuflucht gewährt, wie die Allmächtige und ihre Diener es verheißen haben.« Mathilde wurde umgehend zu der kleinen Zelle geschickt, die der Ehrwürdigen gehörte, und als sie ihren Schal abnahm, erhob sich Zenia mit einem Ruck. »Herrin«, sie war vorsichtig und benutzte die übliche Anrede, »bittet Ihr um Asyl? Bis jetzt sind sie noch nicht hier eingedrungen, aber sie beobachten uns Tag und Nacht, und wir können nicht hoffen, daß wir ihren Heimsuchungen am Ende entgehen werden. In dieser Stadt weht ein Wind der Fäulnis.« »Das stimmt allerdings, Ehrwürdige. Nein, ich bin nicht gekommen, um Euch noch mehr Unannehmlichkeiten zu bereiten, sondern ich suche die Edelfrau Fortuna, denn ich muß sie dringend sprechen.« Zenia nickte und betätigte einen Holzklopfer, bei dessen Geräusch die Priesterin Papania erneut eintrat. »Diese Dame möchte unter vier Augen mit der Edlen Fortuna reden.« »Sie hat sich zurückgezogen und betet unentwegt, aber wenn Ihr ihr ein wenig Hoffnung bringt, sind ihre Bitten erhört worden. Laßt uns in die Kapelle gehen.« Die Kapelle war klein und spärlich eingerichtet. Über einem Altar, den weder ein prunkvolles Tuch noch edelsteinbesetzte heilige Kelche zierten, hing immerhin ein Herz. Aber es war aus Holz geschnitzt und so alt, daß die rote Farbe abzublättern begann. Selbst die Umrisse waren leicht verwischt. Vor dem Herzen kniete die Frau, die Mathilde suchte. Sie kannte Fortuna aus besseren Zeiten als rundgesichtige, geschäftige Herrin, die einem großen Haushalt vorstand und diesen Haushalt nutzbringend führte. Doch diese Gestalt, die ruckartig den Kopf wandte, als Priesterin Papania neben sie trat, war ihr beinahe fremd. Die Augen waren rot umrandet und von vielen Tränen geschwollen, um den Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben, als wäre sie um Jahre gealtert. Die Wangen waren eingefallen wie nach wochenlangem Fasten. »Sind sie da?« fragte sie mit bedrückter Stimme. »Ich komme. Sagt der Ehrwürdigen, daß ich niemandem, der hier Zuflucht sucht, Böses wünsche. Aber - Lys und Rommy - müssen sie auch ausgeliefert werden?« »Das Heiligtum wird nicht entehrt«, erwiderte die Priesterin rasch. »Aber hier ist jemand, mit dem Ihr lieber reden solltet, Herrin. Es könnte sein, daß eher Gutes als Böses daraus hervorgeht.« Fortuna warf einen Blick hinter die Priesterin auf Mathilde, die den 211
Schal zurückgeschoben hatte und sich gerade die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, damit man sie besser erkennen konnte. Fortuna blinzelte ein wenig, als könne sie mit zusammengekniffenen Augen besser sehen. Dann öffnete sie wortlos den Mund und erhob sich unsicher von den Knien, um einen höfischen Knicks zu machen. Doch Mathilde hielt sie davon ab. »Wir sind Schwestern im Unglück, meine Liebe; hier gibt es keinen Rang. Eure Last ist indes die schwerere, denn Ihr habt Euren Gefährten verloren. Seid versichert, daß er nun im Herzen ruht, und sein Name soll bei uns, denen er die Treue gehalten hat, nicht in Vergessenheit geraten, damit kein Schatz in schlechte Hände gerät.« Fortuna senkte das Haupt, und eine Träne fiel zu Boden. »Aber die Zeit ist uns auf den Fersen wie ein Jagdhund dem Wild, und es ist genau dieser Schatz, der uns nun auf andere Weise helfen kann«, fuhr Mathilde fort. Fortuna hatte sich aufgerichtet; immer deutlicher trat jene Unbeugsamkeit zutage, die man von früher an ihr kannte. »Herrin«, die gewöhnliche Anrede schien ihr nicht leicht zu fallen. »Wenn es etwas gibt, was wir aus dem Hause des Keilers tun können — laßt es mich rasch wissen.« Sie setzten sich auf die kurze Bank im hinteren Bereich der Kapelle, die für Behinderte gedacht war, die nicht auf die Knie sinken konnten. Mathilde sprach offener mit ihr, als sie beabsichtigt hatte, aber die Umstände ließen ihr keine andere Wahl. Sie sah, daß der Ausdruck auf Fortunas Gesicht von lebhafter Neugier zu finsterer Abwehr und fester Entschlossenheit wechselte, doch bis jetzt hatte die Frau noch keine Einwände geäußert. Geduldig wiederholte Mathilde bestimmte Teile ihres Plans und wies darauf hin, daß der Feind Gerüchten zufolge bereit sei, noch viel entschlossener vorzugehen, um seine Ziele zu erreichen. Dann wickelte sie die Manschette aus ihrer Schärpe und drehte sie herum, damit Fortuna trotz des schwachen Lichts in der Kapelle den geheimnisvollen Mund sehen konnte. Die Frau schauderte, die Augen unverwandt auf den Stein gerichtet. »Das Schwert — es wird solche — solche Schlechtigkeit — nicht zulassen!« »Hat das Schwert nicht schon einmal im Kampf gegen diese Schlechtigkeit gesiegt? Laßt das Schwert entscheiden, wenn Ihr wollt.« Fortuna betrachtete ihre Finger, die sie im Schloß gefaltet hatte. 212
»Es gibt Eide, die nicht gebrochen werden dürfen -« »Auch zur Rettung des Allerheiligsten nicht?« fragte Mathilde geduldig. Sie hatte die Manschette wieder eingewickelt und eingesteckt. Nun hing alles von der Edlen Fortuna ab. Würde sie zustimmen, daß man etwas verlieren mußte, um zu gewinnen? »Der Zauberbann ist stark — der General hat das bereits feststellen können.« »Ja. Aber kann ein Zauberbann Hämmern widerstehen, die mit einem oder zwei Schlägen einen Glaskasten durchschlagen können?« »Somit —«, Fortuna sprach leise, als wäge sie das Gewicht ihres Gedankens sorgfältig ab, »somit kann Gewalt einen Bann brechen, das ist es doch, was Ihr sagen wollt?« »Das ist es, und das glaube ich.« Schweigen legte sich über die beiden Frauen. Schließlich seufzte Fortuna. »Er ist gestorben, weil er es bewahren wollte — und Ihr verlangt von mir, daß ich es freigebe.« »Fortuna, Euer Gemahl hat die Treue gehalten, die er geschworen hatte. Aber in der Vergangenheit war uns das Schwert ein Leuchtturm der Hoffnung und des Sieges; und so soll es wieder sein.« »Laßt mich noch einmal dieses — dieses Ding da - sehen -«, sagte Fortuna heftig. Mathilde wickelte die Manschette wieder aus. Fortuna berührte sie nicht, doch sie beugte sich darüber, betrachtete sie wie ein Handwerksmeister, der nach einem Fehler sucht. »Es paßt direkt unter den Knauf an die Stelle, in der die Klinge in die Scheide eintritt«, sagte sie. Mathilde fühlte das Glück eines hart erkämpften Sieges. »So soll es sein!« versprach sie. »Und ich schwöre Euch, Fortuna, bei der Ehre des Tigers - dies ist eine Waffe, die nie zuvor benutzt wurde, doch ich glaube, sie wird uns zum Sieg verhelfen.« »Dann -«, Fortuna beugte sich zu Mathilde, so daß sie ihr ins Ohr flüstern konnte. Sie wiederholte mehrmals Worte, die Mathilde in ihrem Gedächtnis bewahren würde. Sie hörte genau zu, damit der beschwörende Tonfall sich ihr einprägte. Noch einmal wickelte sie die Manschette sorgfältig in die Schärpe. Fortuna erhob sich unvermittelt. »Ich werde beten«, sagte sie und ging zum Altar. Wenn sie noch etwas hatte hinzufügen wollen, so blieb ihr dafür keine Zeit. Denn ein lauter Donnerschlag erfüllte den Raum — nein, ein Glockenschlag, dem ein zweiter folgte. Mathilde erstarrte. Der Tod einer Ehrwürdigen - sie zählte die Schläge laut mit; was 213
jedoch durch den Lärm der Glocke nicht zu hören war, das war die große Stimme des Tempels, die nur ihr galt. Nein! Mathilde schüttelte ungläubig den Kopf. Adele war nicht tot! Sie hätte es gewußt, ihre Herzensbindung war zu stark. Dennoch verkündeten die Schläge die Anzahl der Lebensjahre der Königin, und die Große Glocke war ein Zeichen für ihren Rang. Adele, die Königinwitwe von Merina, war in den ewigen Frieden eingegangen.
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32. Adele Die Priesterin Elfrida saß an ihrem Platz im Tempel, als die Totenglocke zu läuten begann. Sie hatten die Gesänge der Andacht zur dritten Stunde gerade beendet. Auch wenn sie in den letzten beiden Tagen ständig damit gerechnet hatte, erschrak sie beim Klang der Glocke. Verit hatte ihr den genauen Zeitpunkt von Adeles »Dahinscheiden« nicht mitgeteilt. Sie war nicht die einzige, die beim ersten Glockenschlag zusam menfuhr; im gesamten Tempelbereich blickten Priester, Priesterinnen und Bürger mit weitaufgerissenen Augen zum Glockenturm. Die dumpfen Töne drangen in die Stille und hallten im Brustbein wider. Alle Anwesenden im Heiligtum bewegten lautlos die Lippen, während sie die Glockenschläge zählten - als wüßten sie nicht genau, wer gestorben war. Oder wer angeblich gestorben war. Nein, Adele ist tot, wahrhaftig gestorben. Nur die Priesterin Elfrida lebt noch. Während der letzte Ton verklang, kniete die gesamte Priesterschaft wie auf ein unsichtbares Zeichen nieder. Elfrida kniete mit ihnen, um für Adeles Seelenheil zu beten, deren Seele gewiß dringender der Fürsprache bedurfte als die Seelen derer, die wirklich verstorben waren. Die Toten hatten ihre Arbeit getan; sie konnten nicht mehr irren. Elfrida war sich der Tatsache bewußt, daß sie durchaus noch Irrtümer begehen konnte - vielleicht schon begangen hatte. Alles war zu schnell gegangen, und man hatte nicht genug Zeit gehabt, um nachzudenken und Pläne zu schmieden. Wie viele Menschenleben oder auch Seelen werden der Preis für all das sein, was ich getan oder tatenlos mit angesehen habe? Lydana ist nicht die einzige, die mit dem Feuer spielt. Die Priester und Priesterinnen, die für die nächste Andacht eingeteilt waren, betraten den Raum und knieten an ihren Plätzen nieder, doch die erste Gruppe rührte sich nicht von der Stelle. Vergessen war, was sie als nächstes tun wollten, verdrängt durch das Bedürfnis zu beten. In gewisser Weise war Elfrida überrascht von dieser offen zur Schau getragenen Verehrung - es war nicht nur »Zurschaustellung«, es war ein sichtbarer Ausdruck der Gefühle, die die Menschen der Königinwitwe entgegengebracht hatten, sowohl die Priesterschaft als auch die Bürger 215
von Merina. Vielleicht bedeutet sie für diese Menschen den letzten Lichtschimmer aus der Vergangenheit in diesen finsteren Zeiten. Mit der Trauer um Adele betrauern sie auch den Verlust ihres bisherigen Lebens. Von den Gesichtern aller, die mit geschlossenen Augen sitzend oder kniend beteten, war auf jeden Fall mehr als nur eine Spur von Verzweiflung abzulesen. Elfrida senkte den Kopf, als sich ihre alten Augen mit Tränen füllten. Wie schrecklich, wenn man angesichts dieser Pein so hilflos war ... Kurz darauf, so schien es Elfrida, kam die Erzpriesterin Verit herein, erneut in purpurne Gewänder gekleidet, gefolgt von vier starken Priestern aus den vier Orden, die den offenen Sarg trugen. Sie setzten ihn vor dem Hochaltar ab, direkt unter dem Herzen. Verit hatte offensichtlich beschlossen, jeden möglichen Zweifel an Adeles Tod auszuräumen. Das Abbild war gut gelungen; es sah der Königinwitwe bemerkenswert ähnlich. Es sah der Adele, wie sie tatsächlich war, ähnlicher als Elfrida in diesem Augenblick. Elfrida stellte sich die völlig belanglose Frage, ob sie wohl ihre Schminke für das Gesicht benutzt hatten. Ich werde sie bestimmt nicht mehr brauchen. Ein paar kräftigere Priester folgten mit dem Totengitter und richteten es zwischen dem Sarg und der Gemeinde auf. Dann kamen vier weitere Priester mit großen Kerzen, die sie vorsichtig zu beiden Enden des Sarges aufstellten. Erzpriesterin Verit entzündete die Kerzen mit einem einzigen Wink - eine Zurschaustellung ihrer magischen Kräfte, auf die sie gewöhnlich in der Öffentlichkeit verzichtete. Nach einer angemessenen Zeit des Schweigens verkündete sie, der Göttin habe es gefallen, ihre Dienerin Adele zu sich ins Licht zu rufen. Sie hielt sogar eine eindrucksvolle kleine Ansprache über Adeles Frömmigkeit, ihre Mildtätigkeit, ihre Arbeit zum Wohle der Menschen, deren Leitung ihr die Göttin anvertraut hatte. Ihr sei das Herz gebrochen, als sie nicht mehr imstande war, ihnen weiterhin helfen zu können. Noch ehe Verit zum Ende kam, war Elfrida überwältigt von ihrem eigenen Ruf. Außerdem hatte Verit äußerst geschickt einfließen lassen, daß Adele eigentlich das Herz gebrochen war, weil die Stadt der harten Hand des Kaisers anheimgefallen war. Sie sagte nichts, was man als Verrat hätte auslegen können - aber was sie allein mit ihren Worten andeutete ... Ob Balthasar Späher in der Gemeinde sitzen hat? Wenn ja, was mögen sie denken? Ich glaube nicht, daß sie Einwände gegen eine Rede erheben werden, die im wesentlichen eine Totenehrung ist — aber man kann nie wissen. Ob Verit darüber nachgedacht hat? 216
Wie dem auch sein mochte - als die Erzpriesterin ihre Rede beendet hatte, entließ sie Elfridas Gruppe, damit sie ihren Pflichten nachkommen konnte. Die verbleibenden Priester bat sie, die Gesänge und Choräle anzustimmen, mit denen die Totenwache einer Ehrwürdigen begleitet wurde, nachdem diese sich in die Hände der Göttin begeben hatte. Elfrida verließ den Chorraum, wie man sie geheißen hatte. Ihr fiel ein, daß Verit sie angewiesen hatte, sich möglichst viel im Tempel zu zeigen. Also folgte sie einer Gruppe Grauer Kutten ins Skriptorium, wo sie ein eigenes Stehpult hatte. Sie zog das Manuskript hervor, das sie zu kopieren begonnen hatte, und machte sich an die Arbeit. Erst als es für sie an der Zeit war, zur nächsten Andacht wieder ihren Platz vor dem Herzen einzunehmen, legte sie die Feder nieder. Sobald sie die Glocken für ihre Gruppe vernahm, eilte sie auf schnellstem Wege in den Tempel, um ein wenig früher dort zu sein als die anderen. Sie wählte einen anderen Platz als den, an dem sie gewöhnlich niederkniete.Von hier aus war sie für alle gut sichtbar. Dann senkte sie den Kopf in stillem Gebet, während die anderen aus ihrer Gruppe eintrafen. Es waren ungewöhnlich viele Bürger der Stadt im Tempel; wenn noch mehr kamen, würde der Platz nicht ausreichen. Warum gehen sie nicht in ihre Kapellen in den Stadtvierteln? Halten Balthasars Männer sie davon ab? Oder haben sie das Bedürfnis, den Leichnam der Königinwitwe mit eigenen Augen zu sehen, um glauben zu können, daß sie wirklich tot ist? Oder — noch einfacher — sind sie alle so bewegt, daß sie persönlich von ihr Abschied nehmen wollen? Mitten in der Messe entstand an der Tür eine gewisse Unruhe. Elfrida hielt den Kopf gesenkt, wagte aber einen vorsichtigen Blick unter den Augenlidern hindurch. Wer auch immer es war, der da so spät noch eintraf, er störte die Andacht. Dann sah sie, wer dort zu spät noch eingetroffen war. Vor Schreck vergaß sie, weiterzusingen. Es war Prinz Leopold — in Begleitung von zwei Offizieren. Und er trug ein schwarzes Trauerband am rechten Arm. Er versuchte nicht einmal, auf das Podium zu steigen und hinter das Totengitter zu treten, wo der Sarg mit dem »Leichnam« lag - was Elfrida zunächst, als sie ihn erblickte, befürchtet hatte. Leopold hatte eine gute Beobachtungsgabe, und Elfrida war nicht sicher, ob Verits Täuschung seiner Prüfung standhalten konnte. Er stellte sich einfach zwischen seine beiden Offiziere in die erste 217
Reihe und blieb dort mit unbedecktem, gesenktem Haupt bis zum Ende der Andacht stehen. Anschließend trat einer der Offiziere zu der Priesterin vor dem Totengitter, die an der Stelle stand, welche der Vorsitzenden Ehrwürdigen vorbehalten war, und murmelte einige Worte. Ein kleiner dunkler Gegenstand wechselte den Besitzer. Ein Geldbeutel! Elfrida war nahe genug, um das leise Klingen von Münzen zu vernehmen. Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können, wenn der Offizier plötzlich Flügel bekommen hätte! Ein Grabgeschenk! Der Prinz hat ein Grabgeschenk für Adele gebracht! Da keine Verwandten da waren, die das Begräbnis hätten bezahlen können, hatte der Tempel die Kosten zu tragen - ein Umstand, der dazu führen konnte, daß die Beerdigung weniger prachtvoll ausfiel, als es Adeles Position gebührte. Leopold hatte einfach dafür gesorgt, daß Adele ein Begräbnis erhielt, das einer Königinwitwe zustand. Dies sollte jedoch noch nicht die letzte Überraschung sein. Der Offizier stellte sich wieder an die Seite des Prinzen, und sie traten zu dritt in den Mittelgang, ohne jedoch fortzugehen. Noch nicht. Statt dessen wandten sie sich langsam mit ernsten Mienen dem Totengitter zu, das den Blick auf den Sarg verwehrte. Mit Bedacht und unter Wahrung aller Förmlichkeiten legten sie in würdevoller Eintracht die Hand aufs Herz. Es war der Gruß, der sonst nur dem Kaiser zuteil wurde. Erst dann drehten sie sich um und gingen hinaus. Die Menge teilte sich vor ihnen; die Gesichter, die Elfrida von ihrem Platz aus sah, zeugten von einer Mischung aus Schrecken, Überraschung und Ungläubigkeit. Sie fühlte mit ihnen; ihr selbst ging es nicht anders. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Was bezweckte Leopold mit dieser erstaunlichen Geste? War es ein erster kühner Schritt in eigener Verantwortung, oder war es einfach die Reaktion eines galanten jungen Mannes auf den Tod einer alten Dame, die er immerhin so gut kennengelernt hatte, um sie zu bewundern? Oder wollte er jemandem - zum Beispiel Apolon — zeigen, wo seine Sympathien lagen? Was auch immer der Grund für sein Verhalten sein mochte, eines war sicher: Das Spiel hatte eine neue Wendung genommen. 218
33. Schelyra Raymonda konnte erst wieder frei atmen, nachdem sie alle wohlbehalten die Umfriedung des Anwesens erreicht hatten. Ihr Tänzer hatte die ganze Zeit über ihren Arm nicht losgelassen, und sie war dankbar für diese Stütze. An dieser Geschichte war absolut nichts Romantisches; seine Besorgtheit hatte etwas Brüderliches, als würde er sie kennen und nur darauf warten, daß auch sie ihn erkannte. In der Tat schien er ihr vertraut: ein sehr dünner Mann, drahtig und zäh, mit einer großen Hakennase und blitzenden, dunklen Augen unter einem strubbeligen schwarzen Lockenschopf. Sein Alter vermochte sie nicht zu schätzen; er hatte eines jener Gesichter, die sich zwischen zwanzig und fünfzig kaum verändern. Im matten Licht des trüben Tages strahlten seine Augen gleichwohl Fröhlichkeit aus. »So, mein kleines Füllen, nun sind wir wieder sicher zu Hause gelandet, und trotzdem hast du noch kein einziges freundliches Wort für deinen alten Gefährten«, neckte er sie, als die Tore sich hinter ihm schlossen. »Ich glaube fast, du erkennst mich nicht! Ich bin erschüttert! Ich hatte gedacht, ich wäre dir besser im Gedächtnis haften geblieben!« Kleines Füllen? Das war ihr Spitzname in jenen Tagen gewesen, als Vater sie noch zu den Zigeuner-Clans und den Roßhändlern mitgenommen hatte. Es konnte nicht mehr als eine Handvoll Leute sein, die diesen Spitznamen kannten. Wer war dieser Mann? Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Er seufzte. »Allein die Vorstellung, daß es mir die ganze Zeit leid tat, dich so grob behandelt zu haben, daß es dich schwer verletzt haben könnte und du nie weiter darüber nachgedacht hast!« Grobe Behandlung — das brachte allerdings eine Saite der Erinnerung in ihr zum Klingen! Es gab nur einen, der das zu ihr hätte sagen können! »Ilja?« fragte sie ungläubig. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du wohnst in Belrus! Dahin ist doch deine Sippe gezogen —« »Da waren wir auch, aber ein Zigeuner kann nicht lange an einem Ort verweilen, wie du weißt«, erwiderte Ilja lächelnd, so daß die weißen Zähne blitzten. »Also erinnerst du dich doch noch an mich!« 219
»Wie könnte ich dich vergessen? Du warst so grausam zu mir«, sagte sie, und bittersüße Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie hatte ihn nicht vergessen, o nein, obwohl Ilja sich sehr verändert hatte. Es war kaum verwunderlich, denn damals, als sie sich kennenlernten, war er erst acht oder neun Jahre alt gewesen und sie knapp sieben. Es war die Idee ihres Vaters gewesen, daß sie die Bräuche und Tänze ihrer Gastgeber kennenlernen sollte, und Ilja wurde damit beauftragt, sie zu unterrichten. Er seinerseits war alles andere als hocherfreut, als ihm dieses Gajo-Mädchen aufgebürdet wurde, und hatte Einwände erhoben, nicht selten in schrillem Ton. Sie war eine Fremde, und ein Mädchen obendrein; warum sollte er seine kostbare Zeit damit vergeuden, ihr Singen und Tanzen beizubringen? Wozu? Sie würde doch alles wieder vergessen, was sie gelernt hatte, sobald sie zu Hause war. Oder sie würde sich über die Art der Zigeuner lustig machen und ihre Tänze vorführen, damit ihre Gajo-Freunde etwas zu lachen hatten. Ilja hatte sich sogar erdreistet, sie zu kneifen und ihr auf die Füße zu treten, wenn niemand hinschaute. Wenn Ilja nun erwartet hatte, sie würde angesichts dieser geballten Ladung von Ablehnung und Beschimpfung in Tränen ausbrechen, dann sollte er sein blaues Wunder erleben. Sie hatte nämlich wütend gebrüllt und ihn mit Fäusten, Füßen und Zähnen traktiert. Lachend hatten die Eltern sie getrennt, und Ilja hatte der kleinen Schelyra tatsächlich Unterricht erteilt, wie man es ihm gesagt hatte - jedoch mit einem blauen Auge, schmerzenden Schienbeinen und einer neuen, von Vorsicht geprägten Achtung vor dem Mädchen. »Hast du deine große Liebe von damals geheiratet?« fragte sie ihn spöttisch. »Soweit ich mich erinnern kann, wolltest du lieber mit ihr tanzen. Deshalb hast du dich so dagegen gesträubt, deine Zeit mit mir verschwenden zu müssen.« »Natürlich habe ich sie geheiratet!« sagte er stolz. »Sie konnte mir einfach nicht widerstehen! Aber -«, seine Miene verdüsterte sich, »ich sollte hier nicht so gedankenlos herumstehen und Geschichten erzählen. Die Lage ist zu ernst. Finstere Zeiten stehen uns bevor, kleines Füllen, und dir besonders. Meine geliebte Maja hat mich zu dir geschickt, weil sie mit dir reden will, und zwar nicht über das Tanzen.« »Was -«, begann sie, doch er schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter. »Nicht hier«, sagte er. »Es gibt überall unsichtbare Augen und Ohren, auch wenn wir uns in Sicherheit wähnen. Es geht um Drukor. Kommst du mit? Da ist jemand, den du kennenlernen und mit dem du reden soll 220
test.« Ein leiser Schauer überlief sie, als sie begriff, was er ihr mitzuteilen versuchte. Drukor war das Wort der Zigeuner für Magie. Sie versuchte krampfhaft, sich Maja ins Gedächtnis zu rufen, doch sie konnte sich nur noch an große, scheue Augen und eine wilde Mähne erinnern. War Maja eine Magierin der Zigeuner geworden? Wie war das möglich? Maja war noch viel zu jung für eine Magierin! »Majas Großmutter hat dir viel zu erzählen«, fuhr Ilja fort. »Sie hat uns gebeten, dich zu suchen. Mehr kann ich hier nicht sagen.« »Ich komme mit«, sagte sie kurz entschlossen. Thom war nirgendwo zu sehen, doch das spielte keine Rolle. Er war schließlich nicht ihr Aufpasser. Ilja zeigte wieder sein strahlendes Lächeln. »Gut. Wir wohnen in unserem Wagen hinter den Stallungen. Es ist nicht weit von hier.« Es war in der Tat nicht so weit wie die meisten festen Häuser, und sie waren im Nu dort, nachdem sie den Hof überquert und hinter die Stallungen gegangen waren. Mehr als ein Dutzend Wagen standen dort, und in jedem lebte eine Familie. Iljas Frau Maja - Schelyra erkannte sie sogleich, denn sie hatte immer noch große dunkle Augen und eine wilde schwarze Mähne - saß auf dem Kutschbock des dritten Wagens und stickte. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt, denn die Arbeit war sehr anstrengend bei dem schwachen Sonnenlicht. Als sie bei den Stallungen um die Ecke bogen, erblickte Maja sie und sprang vom Wagen, um Ilja mit einem kurzen Freudenschrei zu begrüßen. Maja war zu einer anmutigen Frau herangereift, eine geborene Tänzerin — Iljas Behauptung, Raymonda tanze fast so gut wie seine Frau, war wohl reine Schmeichelei gewesen. Die falsche Zigeunerin Ray monda wußte, daß sie niemals die anmutige Grazie einer Frau erlangen würde, die selbst die gewöhnlichsten Dinge im Tanzschritt erledigte. Dennoch war es nett von Ilja gewesen, ihr das zu sagen. Maja umarmte ihren Mann freimütig und wandte sich dann mit einem scheuen Lächeln ihrem Gast zu. »Ich glaube, ich weiß, wer Ihr seid. Meine Großmutter möchte mit Euch reden, sehr dringend. Sie ist im Wagen; wollt Ihr unser Gast sein?« »Ja, gern«, erwiderte Schelyra. »In — außergewöhnlichen - Dingen bin ich ein unbeschriebenes Blatt. Wir haben einen Gegner, der kein unbeschriebenes Blatt ist - und kein Freund derer, die die Freiheit lieben. Ich will mir gern anhören, was sie zu sagen hat.« Maja nickte ernst und führte Schelyra die Treppe hinauf in den Wagen. Dort saß eine wirklich uralte Frau, eingehüllt in so viele Schals, 221
daß man ihre Gestalt nicht erkennen konnte. Doch als die alte Frau den Kopf hob, blickte Schelyra in ebenso wunderschöne dunkle Augen, wie auch Maja sie hatte, und sogleich entspannte sie sich, ohne zu wissen, warum. Sie setzte sich gegenüber der alten Frau auf eine Bank an einem winzigen Tisch, der an der Seite des Wagens eingebaut war. Dämmriges Licht fiel von außen durch das Fenster neben der Alten und tauchte ihr Gesicht in weiche Farbtöne. Natürlich mußte zunächst dem Ritual der Gastfreundschaft Genüge getan werden — in Form von heißem schwarzem Tee mit honigsüßem Gebäck, das Schelyra Zahnweh verursachte. Nachdem die Förmlichkeiten erledigt waren, stellte Maja ihre Großmutter vor. »Das ist Mutter Bajan; in unserem Clan ist sie als mächtige Drukorin bekannt«, sagte Maja stolz, während die alte Frau lächelnd abwehrte. »Ich bin, was ich bin und was die kleine Gabe, die die Zwei mir mitgegeben haben, aus mir macht«, sagte Mutter Bajan mit leiser und überraschend weicher, hoher Stimme. »Aber du, kleines Füllen — nein, wir wollen deinen richtigen Namen nicht nennen, denn ich bin nicht so hochmütig zu glauben, meine Schlösser und Riegel könnten alles sicher bewahren - du bist in großer Gefahr, die von den Mächten der Finsternis ausgeht.« Schelyra nickte, dachte einen Augenblick nach und beschloß, alles auf eine Karte zu setzen. »Man hat mich gewarnt, mir aber zugleich nahegelegt, jemanden zu suchen, der mich auf meinem Weg beschützt. Darf ich wagen, diesen Schutz von Euch zu erbitten? Ihr würdet mir eine große Gunst erweisen. Ich würde Euch nicht behelligen, wenn ich nur wüßte, wer mir sonst helfen könnte.« »Du darfst nicht nur bitten, sondern ich kann dir sagen, daß ich dazu ausersehen bin, dir diese Hilfe zu gewähren, kleines Füllen«, sagte die alte Frau mit fester Stimme. Die Prinzessin war überrascht. — »Die Zwei haben bisher nicht viel von mir verlangt — vielleicht hatten Sie die Absicht, so lange zu warten, bis Hilfe dringend geboten sein würde.« Die Frau hielt einen Moment inne und blickte auf einen Gegenstand, den sie in den Händen hielt; Schelyra konnte etwas Helles sehen, wie Licht, das von einem Spiegel zurückgeworfen wird. »Im Augenblick ist die Gefahr für dich nicht so groß wie gestern nacht ... ach! Jetzt sehe ich.« Sie schaute Schelyra mit weit aufgerissenen Augen an. Wärme und Fürsorge lagen in ihrem Blick. »Du hast einen Freund, wo du ihn am wenigsten erwartest. So wie er dir gedient hat, wirst du ihm eines Tages vielleicht dienen müssen, um ihn vor den Mächten der Finsternis zu bewahren, die euch beide verschlingen wollen.« Sie verzog den Mund zu einem 222
Lächeln, eingebettet zwischen all den Runzeln auf ihrem Gesicht. »Ich würde dir sagen, wer und was er ist, aber du würdest es mir nicht glauben. Daher sage ich dir einfach, suche nach einem Freund unter deinen Todfeinden, und du wirst ihn finden, wenn er in Not ist. Falls dieser Zeitpunkt eintritt, heißt das.« »Falls?« Schelyra war verwirrt. »Warum sagt Ihr das?« »Weil die Zukunft ungewiß ist. Was wir hier und jetzt tun werden, kann das, was ich geschaut habe, verändern«, erwiderte die Alte bereitwillig. »Ich sehe nur die Zukunft, die sehr wahrscheinlich eintreten wird - und auch die kann sich anders gestalten. Dein Feind-Freund zum Beispiel - ich habe nicht gesehen, was er gestern abend gemacht hat. Du stecktest zu dem Zeitpunkt in viel größerer Gefahr als jetzt, deine Zukunft wird voraussichtlich mit furchtbaren Gefahren verbunden sein und großen Mut und Schutz erfordern. Aber«, sie hob warnend den Zeigefinger, »ich kann auch die Vergangenheit sehen, und die kann sich nicht mehr verändern. Und in dieser Vergangenheit — nein, in deiner Vergangenheit - sehe ich den Höllenhund des Kaisers, Apolon.« »Apolon!« rief Schelyra erschrocken und voller Angst aus. »Was hat diese schwarze Krähe mit mir zu tun?« »Er sucht nach dir wegen der Macht, die in dir ruht«, sagte Mutter Bajan. Eine eisige Woge der Furcht überlief sie, und sie kuschelte sich in die Schals, um nicht zu frieren. »Er ist es, nicht der Kaiser oder sein General, der dich finden will. Und wenn du ihm in die Hände fällst«, sie schüttelte den Kopf, »wird dein Ende nicht nur schlimmer sein, als ein Sterblicher es sich vorstellen kann, sondern es wird dem schwarzen Hund so viel Macht einbringen, daß wir allein beim Gedanken daran vor Entsetzen zittern sollten. Macht in seinen Händen bedeutet das Ende von Freiheit und Frieden für alle Menschen innerhalb der Grenzen des Reiches - und auch für die meisten anderen. Darum haben mich die Zwei dazu ausersehen, dir zu helfen, denn alle Menschen werden leiden, wenn Apolon bekommt, was er will.« Wie tröstlich -, dachte Schelyra in einem Anflug von Verzweiflung. »Nun, es hat sich etwas verändert, obgleich die Bedrohung, die von Apolon ausgeht, für dich nach wie vor groß ist«, fuhr Mutter Bajan fort. »Die unmittelbare Gefahr ist von deinem Verbündeten beseitigt worden. Das Glas zeigt mir nichts, und das heißt, daß die Zukunft in diesem Augenblick völlig offen ist.« Sie nahm ein Stück Seide und bedeckte damit sorgfältig den Gegenstand, den sie in Händen hielt, ehe Schelyra auch nur einen kurzen Blick darauf hatte werfen können. 223
»Und was bedeutet das jetzt für mich?« fragte Schelyra kleinlaut. »Daß du sehr vorsichtig sein mußt und daß ich dich so gut wie möglich schützen muß, damit Apolon dich nicht anhand des Zeichens deiner potentiellen Kraft aufspüren kann.« Mutter Bajan schloß kurz die Augen. »Nun muß ich dich bitten, mir vollkommen zu vertrauen, mein Füllen«, fuhr sie fort, »denn ich benötige ein Haar von dir. Nur dann kann ich einen Schutzschild um dich errichten — denn so wird der Zauber, den ich kenne, gewoben.« Sie schlug die Augen auf und wartete. Ihre Hände ruhten auf dem mit Seide verhüllten Gegenstand. Schelyra zögerte, denn sie erinnerte sich an die Warnung ihrer Großmutter, sie möge achtgeben, daß solche Dinge nicht einem anderen in die Hände gerieten. Aber — was sollte sie denn tun? Sie kannte sich in Magie nicht aus, und sie hatte auch keine Ahnung, wie sie einen anderen Magier finden sollte, der ihr helfen konnte. Und selbst wenn sie jemanden fand: Wer konnte ihr garantieren, daß er vertrauenswürdiger als Mutter Bajan war? Ilja war ihr Freund aus Kindertagen; die Zigeuner hatten ihr Zuflucht und Schutz gewährt. Entschlossen suchte sie mit der rechten Hand ein Haar und riß es sich mit einem Ruck mitsamt der Wurzel aus. Sie reichte es Mutter Bajan, die es sorgfältig in ihre von Altersflecken übersäten Hände nahm, als wäre es der größte Schatz der Welt. »Ich werde es wie meinen Augapfel hüten, mein Füllen«, sagte sie ernst. »Ich werde dafür sorgen, daß es zerstört wird, wenn auch nur die Möglichkeit besteht, daß es in schlechte Hände fallen könnte. Ich schwöre bei den Zweien, daß dir dadurch oder durch mein Tun kein Schaden entstehen soll.« »Mehr kann ich nicht erwarten«, antwortete Schelyra ebenso feierlich. »Und Ihr erweist mir eine Gunst, die ich Euch niemals werde vergelten können. Seid versichert, daß ich es weiß.« »Papperlapapp«, entgegnete die alte Frau mit wegwerfender Geste. »Ich erweise uns allen einen Gefallen, wenn ich dich beschütze. Die Welt wird sich verfinstern für mein Volk, wenn dieser Höllenhund seine Fänge in dich graben kann. Ich erfülle nur meine Pflicht. Mein Dank gebührt den Zweien - dafür, daß Sie mir die Macht verliehen haben.« Schelyra senkte zum Zeichen des Einvernehmens das Haupt. Die Zigeuner verehrten das Licht in Form von zwei Göttern statt nur einer Göttin; es waren Zwillinge, ein Mann und eine Frau. Viel mehr wußte
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sie nicht, denn die Roßhändler und die mit ihnen verwandten Zigeuner hatten nicht einmal bei jenen, die sie als Brüder in ihre Sippe aufgenommen hatten, den Versuch unternommen, sie zu ihrer Religion zu bekehren. Der Glaube an die Zwei war kein Geheimnis, doch man sprach mit Außenseitern nicht offen über Religion. »Dann danke ich Euch im Namen von uns allen, Mutter Bajan«, sagte Schelyra leise. »Und wenn wir das alles heil überstehen, werde ich nie vergessen, was Ihr für mich getan habt.« Mehr gab es offenbar nicht zu sagen. Schelyra erhob sich von ihrem Platz, verabschiedete sich leise und ging hinaus. Sie spürte, daß die alte Frau nichts mehr tun würde, ehe sie gegangen war. Je schneller sie also den Wagen verließ, um so eher würde der »Schutz« — wie immer er auch aussehen mochte — wirksam werden. Ilja und Maja waren nicht zu sehen, als sie aus dem Wagen stieg, und so blieb es ihr erspart, mit ihnen über Belanglosigkeiten reden zu müssen. Nach allem, was heute morgen geschehen war, überkam sie eine plötzliche Mattigkeit, und sie sehnte sich nur noch nach ihrem Bett im Stall und wollte den Rest des Tages verschlafen. Heute abend würde sie ihre Arbeit im Sommerpalast beginnen müssen - eine Unternehmung, die weniger gefährlich, aber noch anstrengender als ihre Streifzüge durch den Stadtpalast war. Sie plante, möglichst alle Bücher ihrer Großmutter in einer Nacht in ein Versteck zu schaffen; soweit sie sich erinnern konnte, standen in dem Bücherregal in Adeles Zimmer nicht allzu viele Bände. Wenn die Hälfte davon sich mit Magie befaßte, wären es etwa zwanzig, vielleicht dreißig Bücher, die sie entnehmen mußte; nicht viele also, wenn man bedachte, wie groß die Bibliothek war, die Adele bereits im Tempel zur Verfügung stand. Der eigentliche Kniff an der Sache war, im Sommerpalast andere Bücher zu finden, die den Platz der gestohlenen Werke einnahmen - und zwar so, daß nicht jedem gleich auffiel, daß dort eigentlich mehr Bücher stehen sollten, als es der Fall war. Ich werde aus jedem Regal im Sommerpalast ein oder zwei Bücher nehmen müssen, entschied sie schließlich. Das ist die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, daß keine auffälligen Lücken klaffen. Dazu werde ich bestimmt die ganze Nacht benötigen. Ihre Tagträume wurden in diesem Augenblick unterbrochen. Beim ersten Klang der Großen Glocke des Tempels hob Schelyra ruckartig den Kopf. Sie starrte auf die obere Spitze des Glockenturms, die über den Mauern und den umliegenden Gebäuden zu sehen war. Die Große 225
Glocke wurde nur anläßlich des Todes einer sehr wichtigen Persönlichkeit geläutet. Wer aber war gestorben? Bestimmt nicht die Erzpriesterin — Sie zählte die Altersschläge, dann die Rangschläge; sie ließ alle vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen, die es betreffen konnte — bis nur noch eine Person übrigblieb. Adele. Die Große Glocke verkündete den Tod der Königinwitwe von Merina. Also hatte Adele sich dem Zugriff aller Feinde entzogen ...
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34. Lydana Die Ehrwürdige Zenia kniete in ihrem kleinen Arbeitszimmer, ließ die Gebetsperlen durch die Finger gleiten und rezitierte die Abschiedsworte, als Mathilde eintrat. Zenia streckte ihr die Hand entgegen, als brauche sie ihre tröstliche Nähe. »Liebste Herrin —«, begann sie, doch Mathilde unterbrach sie. »Ehrwürdige, bei Eurer Barmherzigkeit, könnt Ihr mir eine Tracht Eures Hauses borgen? Ich muß zum Tempel.« Die Ehrwürdige warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu und erhob sich rasch. »Ja. Auch das muß getan werden. Was ich habe, soll Euch gehören.« An der Wand stand ein kleiner Schrank, in dem mehrere rostbraune Kutten des Ordens hingen. Die Kutte, die sie Mathilde anbot, war ziemlich abgetragen, und der Rock war übersät mit sorgfältig eingearbeiteten Flicken einer etwas anderen Farbschattierung. Auf einem Regal darüber lag, schneeweiß und säuberlich gefaltet, eine der geflügelten Hauben. Die Glocke hatte ihr beängstigendes Läuten eingestellt. Mathilde zog bereits hastig den langen Rock aus und ließ das Schultertuch zu Boden fallen. Der enganliegende Anzug für ihre nächtlichen Streifzüge würde gut unter die Tracht passen, die Zenia ihr hinhielt. Aber es bedurfte der Hilfe der Ehrwürdigen, die Falten der Haube mit den herausstehenden Flügeln zu richten. Zenia schlug das Zeichen des Herzens zwischen ihnen. »Tochter«, sagte sie mit der Warmherzigkeit all jener, die ein gemeinsames Ziel hatten, »gehet hin mit Ihrem Segen. Dies ist die Stunde, in der Ihr Euch unter den Schutz Ihrer immerwährenden Gnade begeben müßt.« Mathilde senkte das Haupt. »Betet für mich, Berufene, ich gehe auf verschlungenen, teuflischen Pfaden — vielleicht sogar in den Tod -, doch ich glaube trotzdem beim Herzen, daß ich es tun muß!« »So ist es«, erwiderte Zenia ruhig. »Wir bewegen uns nach Ihren Mustern, die Sie für Ihr Gewebe benötig.« Sie nahm ihren Holzklopfer wieder zur Hand, und sogleich erschien Priesterin Papania, als 227
könnte allein dieser Ton sie aus der entferntesten Ecke des Klosters herzaubern. »Die Dame hier verläßt uns - da die Ehrwürdige, die gerade verschieden ist, mit ihr verwandt ist -, um am Hochaltar zu beten.« An der Tür standen keine Bedürftigen mehr, aber der Aal wartete auf sie. Mathilde legte die Hand einen Augenblick auf den unordentlichen Haarschopf. »Tochter im Herzen«, zum ersten Mal kamen ihr nun Worte über die Lippen, die sich in den vergangenen Tagen in ihr angestaut hatten. »Das muß ich - allein — tun. Aber du kannst auch etwas tun — halte deine Augen und Ohren offen, wie du es bereits in der Vergangenheit so gut gemacht hast.« Der Aal sah Mathilde an und blickte ihr eine ganze Weile schweigend in die Augen. Dann nickte er kurz und schlüpfte durch die Tür, die Papania geöffnet hatte. Im Nu war er verschwunden. Auf den Straßen herrschte Unruhe. Der Wächter vor dem Kloster trat einen Schritt vor, als Mathilde auftauchte, doch dann spuckte er hörbar in den Rinnstein und wandte den Blick ab. Auf ihrem Weg in den anderen Teil der Stadt folgte sie verschlungenen Pfaden über Brücken, die ihr Schutz geben würden. Mathilde spürte, daß etwas in der Luft lag. Es war, als hätte Merina plötzlich die Maske jenes großen Raubtieres übergestreift, das ihr Wahrzeichen war, als habe die Stadt im schleichenden Gang innegehalten, um den Kopf zu heben, zu wittern und die Möglichkeit des Kampfes abzuwägen. Sie schloß sich einem immer breiter werdenden Menschenstrom an, der sich auf den Tempel zu bewegte. In Gruppen kamen sie auf den Platz; Frauen weinten, Kinder liefen ehrfürchtig still herum, und die vereinzelt auftauchenden Männer hatten verdrossene Mienen. Zum ersten Mal standen Soldaten - keine Schwarzmäntel, sondern Söldner — am Fuße der Treppe in einer Reihe und ließen alle, die hineingehen wollten, nur einzeln hindurch. Während sie sich einen Weg bahnte - sie hielt den Kopf gesenkt und achtete darauf, daß die Haube, die ihr Gesicht halb bedeckte, nicht verrutschte —, sah Mathilde überall bunte Farbkleckse auftauchen. Die Angehörigen der großen Orden, die sich von dem bescheidenen Orden, dessen Tracht sie trug, deutlich unterschieden, waren sehr farbenprächtig gekleidet. Da gab es das Schiefergrau der Gelehrten, die ihre Stehpulte verlassen hatten, um der Königinwitwe die letzte Ehre zu erweisen, die Roten Kutten, die Gelben und die Braunen Kutten. Letztere waren neben der Armenfürsorge der Stadt 228
auch verantwortlich für die Pflege des berühmten Tempelgartens und des Tierheims, in dem alle herrenlosen oder verletzten Tiere Zuflucht suchen konnten. Hinter dem Totengitter konnte Mathilde den Sarg auf dem Podium neben dem Hochaltar sehen. Zu Häupten und zu Füßen standen Kerzen, und darüber hing das große, blutrote Herz, das wie ein lebendes Organ zu pulsieren schien. Priesterinnen standen in einer Reihe neben dem Sarg. Verit aber hatte sich wie eine Wächterin zu Füßen des Sarges aufgestellt. Ihre Miene war wie gewöhnlich ausdruckslos, doch die Lider lasteten schwer auf ihren Augen, als habe sie bis vor kurzem noch geweint. Die Klosterangehörigen befanden sich in den für sie vorgesehenen Abteilungen hinter einem Wandschirm. Sie hatten einen glockenhellen Gesang angestimmt, der nicht Trauer, sondern Frohlocken zum Ausdruck brachte. Hier hatte sich eine der Ihren in die Hände der Großen Mutter begeben, wo sie unfaßbaren Frieden und Ruhe finden würde. Der Gesang ging Mathilde zu Herzen. Nein, für sie war Adele nicht wirklich tot, trotz dieser heiligen Gesänge. Sie war hinter das Totengitter getreten. Der Sarg war offen — und eine Leiche lag darin! Sie mußte es wissen! Eine der Grauen Kutten trat ihr in den Weg. Ganz offensichtlich empfand der Priester ihr Eindringen als störend. Doch als er sich in Bewegung setzte, hatte Verit aufgeschaut, und Mathilde hob ebenfalls mutig den Kopf, so daß sich ihre Blicke trafen. Die Erzpriesterin sprach, und ihre Worte waren trotz des Gesangs deutlich zu hören. »Diese Priesterin war einer der Lieblinge der barmherzigen Ehrwürdigen - laßt sie vortreten und Abschied nehmen.« Die Graue Kutte trat einen Schritt zurück und ließ sie vorbei, und die anderen, die um den Sarg herumstanden, machten ihr Platz, da Verit es so angeordnet hatte. Dann stand sie am Sarg und schaute herunter auf - Adele? Ja, es war ihr Gesicht, ruhig und friedlich, das den Eindruck vermittelte, als sei sie in der Wärme des Herzens gestorben. Aber es war - Mathildes Gedanken taten einen weiten Sprung, dann dämmerte es ihr ... Und mit einemmal kannte sie im tiefsten Innern die Wahrheit. Was hier lag, war ein Abbild. Aus einem bestimmten Grund hatte Adele es so eingerichtet, daß sie für immer von der Bildfläche verschwand. Das wiederum bedeutete, daß sie ungewöhnlicher Gefahr ausgesetzt und gezwungen war, einen Schritt zu tun, der unter gewöhnlichen Umständen fast eine Blasphemie gewesen wäre. Wie groß mußte die Bedrohung gewesen sein! 229
Ob Verit wußte, daß die Finsternis rasch über Merina herabsank? Sie fiel neben dem Sarg auf die Knie, senkte das Haupt und verschränkte die Hände mit den Gebetsperlen, die am Gürtel ihrer langen, abgetragenen Kutte hingen. »Tochter —« Nein, nicht die verhüllte Gestalt neben ihr hatte gesprochen. Aber in diesem Augenblick strömte alles an Liebe und Vertrauen, was die Mutter ihr stets entgegengebracht hatte, in sie hinein. Sie wußte nicht, wie weit Adeles seherische Gabe reichte — nicht einmal, über welche Fähigkeiten die anderen Klosterinsassen verfügten. Vielleicht war Gedankenübertragung eine der Gaben, die ihnen in der Lebensmitte zuteil wurden. »Sieh!« Das war wie ein Aufschrei. Verblüfft hob Mathilde den Kopf, schaute von der Grauen Kutte, die zu ihrer Linken kniete, zu der älteren Braunen Kutte zu ihrer Rechten. Sie waren noch in ihr Gebet vertieft und hielten die Augen geschlossen. »Sieh!« Wieder diese Aufforderung. Mathilde hob den Kopf. Sie mußte sich weit zurückbeugen, damit ihr die Falten der Haube nicht die Sicht versperrten. Der Glanz des Herzens leuchtete stärker, als ob in ihm nicht nur Leben, sondern lodernde Flammen pulsierten. Ein roter Schein legte sich über den Sarg und hüllte die Umstehenden ein. Als der letzte Ton des Abschiedsgrußes verhallte, schien es Mathilde, als beginne das Herz zu beben. Dann traten Tropfen aus der Herzspitze - blutrot, wie echte Blutstropfen. Die Rubine, die dort so viele Jahre gesessen hatten, lösten sich. Sie fielen auf den Hochaltar, prallten ab und schlugen gegen den Sarg. Ein Stein fiel auf Mathildes Handfläche, die sie ein wenig vorgestreckt hatte. Sie stieß einen spitzen, rasch unterdrückten Schrei aus, denn der Rubin brannte auf ihrer Haut wie ein Stück glühender Kohle. Dennoch blieb sie standhaft, schloß die Hand und hielt ihn fest. »Das Herz — es blutet - es trauert«, ertönte es wie ein Schrei aus der Menge, der sich rasch fortsetzte. »Ein Wunder! Gelobt seien die Augen, die es sehen - ein Wunder!« Mathilde drückte die geschlossene Faust auf die Brust. Der Stein war noch heiß, und nun drang aus den Schichten ihrer Kleidung eine stetige Antwort - ein lebendiger Funke glühte auch in dem Siegelstein, der einst ihren Staatsring geschmückt hatte. Neben ihr entstand Unruhe, denn die Umstehenden krochen auf dem Boden herum und hoben die herabgefallenen Rubine auf, die sie 230
dann auf den Altar legten. Der Regen aus Edelsteinen hatte aufgehört. Mathilde behielt den Stein, der allem Anschein nach für sie bestimmt war. Sie wußte nicht, was sie da in der Hand hielt, nur daß es ein Quell der Macht war - und als solcher vielleicht die Waffe sein konnte, die sie für das, was ihr aufgetragen war, am dringendsten benötigte. Auf der anderen Seite des Totengitters wurden Rufe laut. Fragen wurden gestellt, in einem Ton, der mit der in diesen Mauern gebotenen Ehrfurcht nicht viel zu tun hatte. Das Totengitter schwankte, denn davor war offenbar ein Gerangel entstanden. Auf ein Zeichen von Verit erhoben sich alle, die zu ihren Füßen gekniet hatten, und mischten sich unter die erregte Gemeinde. Das Wort »Wunder« verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Mathilde rührte sich nicht von der Stelle. Dann trat Verit an ihre Seite und sagte hastig: »Euer Gnaden, die Zeit wird knapp — was hier geschehen ist, haben wir nicht veranlaßt, es ist ein Zeichen, das Sie uns geschickt hat. Die Ehrwürdige lebt, wie Ihr bereits wißt.« (Auch sie hat also die Macht, Gedanken zu lesen, dachte Mathilde.) »Aber es war notwendig, denn er, der uns mit Schlimmerem droht, als sich der Kaiser auch nur vorstellen kann, soll glauben, sie sei tot.« Er? Meinte sie Apolon? »Er will sich Eurer bemächtigen, die Ihr aus dem Geschlecht des Tigers stammt — als habe man ihn darauf hingewiesen, daß Ihr die Mächtigsten unter uns und daher am meisten zu fürchten seid. Es ist bekannt, daß er mit aller Sorgfalt die Suche nach der Prinzessin betreibt — und nach Euch. Seid auf der Hut.« Sie wußte, daß Apolon nach ihr - und nach Schelyra - suchte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß es einem anderen Zweck als dem der Geiselnahme dienen könnte, mit dem der Gehorsam der Stadt erpreßt werden sollte. »Aber wir sind beide noch zu jung für die Gabe —«, wandte Mathilde ein. Verit hob unmerklich die Schultern. »Wer weiß, was ein Eingeweihter jemandem aufzwingen kann, den er als Werkzeug benutzt? Wir müssen rasch handeln.« Sie brach ab, da es hinter dem Totengitter lauter wurde. Eine Frau schrie auf, dann eine zweite. Mit einem Schritt trat Verit vor und schaute um das Gitter herum. »Soldaten!« sagte sie zornbebend mit eisiger Stimme. »Bewaffnete Soldaten, die unser Volk angreifen — im Heiligtum selbst.« Heftig trat sie vor das Totengitter, und Mathilde folgte ihr, ebenso aufgebracht wie die 231
Erzpriesterin. Was hier geschah, war eine Mißachtung aller Gesetze nicht allein der Menschheit, sondern der Himmlischen Allmacht überhaupt. Es waren Soldaten. Keine Schwarzmäntel, womit Mathilde schon beinahe gerechnet hatte. Sie hatten ihre Schwerter noch nicht gezogen, aber sie schlugen mit leichten Lanzen um sich, die Frauen und Männer gleichermaßen trafen. Blutüberströmte Menschen lagen auf dem Boden. Die Erzpriesterin eilte hinzu, um sich den Eindringlingen entgegenzustellen. Sie-Die-Jenseits-Des-Himmels-Herrscht war zu Recht zornig, und dieser heilige Zorn wurde jetzt in Ihrer Dienerin auf Erden sichtbar. Ohne weiter darüber nachzudenken, stand Mathilde nur etwa einen Schritt hinter Verit und spürte an einem Luftzug, daß eine Lanze ihre Schulter nur um Haaresbreite verfehlt hatte. »Zurück!« schallte die Stimme der Erzpriesterin wie ein Trompetenstoß durch den Tempel und schwoll zu einem Donnergrollen an, das von den Mauern in doppelter Stärke widerhallte. Alle, die sich gerade noch wie Vieh hatten treiben lassen, wandten sich nun gegen die Soldaten. Haß stand ihnen auf den Gesichtern geschrieben. Obwohl sie unbewaffnet waren, schienen sie bereit, sich auf die Feinde zu stürzen. »Halt!« Die Stimme hallte ebenso laut wie Verits und war offensichtlich gewohnt zu kommandieren. Ein Offizier, der eine kleine Gruppe kämpfender Männer wie einen Keil durch die Menge getrieben hatte, wirbelte herum und stellte sich der angreifenden Truppe entgegen. Er war jung und bekleidete offenbar einen hohen Rang. Die Wut, die in ihm brannte, loderte ebenso hoch wie der Zorn der Erzpriesterin. »Raus hier!« Lässig schwenkte er den Stab eines Offiziers in der Hand, um dann gezielt auf den einen oder anderen Soldaten zu weisen. »Das hier ist heiliger Boden - wer hat Euch das befohlen? Verschwindet hier, meldet es in den Baracken, und Ihr werdet dort eine Antwort bekommen, die Ihr so schnell nicht wieder vergessen sollt. Raus!« Er ließ den Stab jetzt mit Wucht niedersausen, so daß einer der Soldaten nach hinten taumelte. Ein anderer mit harten Gesichtszügen und den Rangabzeichen eines Hauptmanns trat aus den Reihen seiner Leute hervor und baute sich vor dem jungen Offizier auf. »Wir haben unsere Befehle, Herr.« »Befehle!« brauste der junge Offizier auf. »Wessen Befehle? Der Kaiser selbst hat mir das Kommando über Merina übertragen. Ich habe solche Befehle nicht erteilt.«
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»General Catal aber«, erwiderte der andere störrisch. »Und wenn der größte Teufel der Unterwelt Euch solche Befehle erteilt hätte, wäre es mir einerlei, denn hier gehorcht Ihr meinen Befehlen. Raus mit Euch, sofort, oder ich werde dafür sorgen, daß meine Wache Euch aufgreift, und das wird Euch sehr schlecht bekommen!« Der Hauptmann biß sichtlich die Zähne zusammen, aber es war klar, daß er sich dem jüngeren Mann und ranghöheren Offizier nicht zu widersetzen gedachte. Dann grinste er, es war ein unangenehmes Grinsen, wie das des Mörders der Tiefsee und schwenkte seinen Stab, einen halb spöttischen Gruß andeutend. »Schon gut, Euer Hoheit. Ihr könnt das mit dem General unter vier Augen austragen, ich bin nicht der Sprecher meines Vorgesetzten. In Reihen aufgestellt«, schleuderte er den Befehl über die Schulter, und die zersprengte Truppe formierte sich. »Marsch.« Sie zogen sich zurück und ließen das durch ihr gewaltsames Eindringen entstandene Chaos hinter sich zurück. Die Braunen Kutten des Ordens der Heiler waren bereits ausgeschwärmt, um allen zu helfen, die Verletzungen davongetragen hatten. Der Prinz wandte sich direkt an die Erzpriesterin und verneigte sich höflich. »Ehrwürdige, wir sind keine Barbaren — zumindest nicht alle. Ich weiß nicht, was hinter dieser Roheit steckt, aber ich versichere Euch, daß ich es herausfinden werde. Was zerstört wurde, soll wieder instand gesetzt werden.« Sie starrte ihn an wie jemand, der vor einem völligen Rätsel steht. »Prinz Leopold - wie Ihr wißt, hat General Catal den schlechtesten Ruf, den man sich denken kann. Seine Männer haben nun Eure Befehle vernommen, aber haben sie Bestand? Sollen wir«, sie vollzog eine weite Geste, die alle Umstehenden mit einschloß, »das eigentliche Herz der Welt, geschändet werden? Ich warne Euch — Sie-Die-Hinter-DerSonne-Steht kann ebensogut Ihren Zorn über uns bringen als auch Hoffnung und Frieden. Wenn Ihr Sie zu sehr herausfordert, müßt Ihr die Folgen tragen.« Er hatte ein schmales Gesicht, das zum größten Teil unter dem Helm und den Wangenstücken verborgen war. Doch er stand kerzengerade und hatte die Lippen fest zusammengepreßt. »Des Kaisers Wort steht über allem - er soll es erfahren -« Verit trat einen Schritt auf ihn zu und hob die Hand. »Prinz, Sie erweist Euch insofern eine Gunst, als Sie Euch warnende Worte durch mich, Ihre Dienerin, zukommen läßt. Möglicherweise gibt 233
es Fallgruben, die heimtückisch unter den Pfaden errichtet wurden, auf denen Ihr geht. Vertrauen heißt zuweilen auch, der größten Furcht das Tor zu öffnen.« Eine Zeitlang blickten sie einander unverwandt an. Dann verzog er den Mund so merkwürdig, daß es ebensogut ein Zähnefletschen wie ein grimmiges Lächeln hätte sein können. »Ich schenke Euren Worten Glauben, Ehrwürdige. Ich versichere Euch, daß keine Warnung auf taube Ohren stößt. Aber ich verspreche Euch auch und stehe zu meinem Wort - solange ich Befehlshaber von Merina bin, ist dieser Ort sicher, und alle, die Ihr dienen«, er hob seinen Stock zum Gruß, »müssen sich nicht vor den Truppen des Kaisers fürchten.« »Ihr sagt die Wahrheit — so wie Ihr sie seht —«, erwiderte Verit. »Und darum ist die Allmächtige mit Euch.« Die Erzpriesterin schlug das Zeichen des Herzens über ihm und erteilte ihm den Segen, der allen zuteil wird, die reinen Herzens vor den großen Altar treten. Mathilde, die ihren Herzrubin noch immer fest umschlossen hielt, gelang es, unbemerkt aus dem Tempel zu entkommen. Von den Soldaten, die diesen ungerechtfertigten Angriff ausgeführt hatten, war nichts zu sehen. Vielleicht waren sie tatsächlich auf Leopolds Befehl in die Baracken zurückgekehrt. Mathilde indes versuchte, sich eine Meinung über den Prinzen zu bilden. Es hatte in der Vergangenheit Gerüchte gegeben, nach denen er nicht gerade Balthasars Liebling sein sollte. Es hieß, er habe sich zumindest zweimal der Plünderung von Hafenstädten im Norden widersetzt. Aber es hieß auch, daß sein Vater ihn in Wahrheit mit nur wenigen echten Befugnissen ausstattete, daß Teile der Armee über ihn spotteten und Balthasar ihn nicht wie einen echten Sohn behandelte. Vielleicht war er hier auch nur deshalb als Stadtkommandant eingesetzt worden, damit Balthasar, der nur darauf wartete, daß Leopold Fehler beging, allen Grund hatte, ihn abzusetzen und zum nutzlosen Schmarotzer bei Hofe zu degradieren. Leopold war Mathildes Feind, gleichwohl machte sie sich Sorgen um den jungen Mann. An Höfen wurde oft ein Netz von finsteren Intrigen gewoben, ein Mann konnte umsponnen und vernichtet werden, noch ehe er sich der Gefahr bewußt war. Wenngleich Balthasar aufgrund seines unersättlichen Wunsches, alle Länder zu erobern, in die er leicht eindringen konnte, keinen richtigen Hof unterhielt, umgab er sich in seinen zahlreichen Kriegslagern mit einem vertrauten Kreis von Menschen, die ihre Kameraden verraten würden, um ein Stück mehr Macht zu bekommen. 234
Auf der anderen Seite konnte eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Prinzen und dem Kaiser, selbst wenn letzterer sich gewiß durchsetzen würde, vielleicht den harten Griff, der auf der Stadt lastete, etwas mildern. Blieben noch die schwarzen Krähen - während des Überfalls hatte sie keine gesehen. Sie gehörten zu Apolons Leuten, und der Magier zog vielleicht seinen eigenen Vorteil aus dem Zwist zwischen Vater und Sohn und hatte am Ende eine eigene Lösung parat.
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35. Leopold Leopold gab nichts auf das Wort des Hauptmanns — nicht, nachdem der Mann seine Soldaten ausgeschickt hatte, um unbewaffnete Menschen auf geheiligtem Grund anzugreifen. Er sorgte selbst dafür, daß Catals Männer zu ihren Baracken zurückkehrten: Er schickte seine Offiziere hinterher, um sicherzustellen, daß sie seine Befehle auch befolgten. Er war erst zufrieden, als ihm gemeldet wurde, die Söldner seien ordnungsgemäß in ihren Unterkünften. Dann schickte er nach seinen Knappen, mit denen er in kaum verhohlener Wut zu seinem eigenen Quartier eilte. Die Söldner sollten als Ordnungshüter dienen, die den kaiserlichen Gesetzen vor Ort Geltung verschafften. In den vergangenen zwei, drei Tagen war ihm jedoch zu Ohren gekommen, daß an den Bürgern von Merina durch eben diese Söldnertruppen Freveltaten verübt worden waren. Als er versuchte, den Berichten nachzugehen, hatten die Söldneroffiziere stets »Beweise« vorlegen können, daß ihr Handeln gerechtfertigt war - und natürlich gab es niemanden, der das Gegenteil hätte bezeugen können. Diesmal indes war es anders. Sie waren gegen unbewaffnete Bürger vorgegangen, die sich zur Andacht auf geheiligtem Grund versammelt hatten, und es war nichts geschehen, was einen so frevelhaften Angriff hätte provozieren können. Er, Leopold, hatte keine Befehle erlassen, die Catal und dessen heißgeliebten Truppen aus menschlichem Abschaum freien Zugriff auf die Stadt ermöglicht hätten! Und selbst wenn ... Unbewaffnete Menschen im Tempel selbst anzugreifen! Der Mann muß verrückt sein! Versucht er, einen Aufstand zu entfachen? Wenn er die Sache noch einmal nüchtern betrachtete, konnte es genau das sein, was Catal beabsichtigte - denn ein Aufstand würde ihm den Vorwand liefern, die Stadt auszuplündern, worauf er sich ursprünglich wahrscheinlich gefreut hatte. Catal war nicht gerade begeistert gewesen, als Merina sich kampflos ergab; Widerstand hätte ihm die Möglichkeit verschafft, die Wildheit seiner bestialischen Seele auszuleben. Mehr als einmal hatte sich Leopold dagegen ausgesprochen, den Truppen des Generals den Vortritt in 236
einer Stadt zu gewähren, denn er wußte, das Ergebnis einer solchen Maßnahme wäre unweigerlich ein Blutbad. Catals Männer waren wie Catal selbst - Bestien, die in Plünderungen und Vergewaltigungen schwelgten. Auch sie waren enttäuscht worden, als sie der Möglichkeit beraubt wurden, ihren ureigensten Gelüsten zu frönen. Hier wird es nicht dazu kommen! Als seine Knappen auftauchten, wies Leopold sie an, ihm seine Ausgehuniform zu bringen, sein Pferd zu satteln und es vor den Eingang zu führen. Ehe der diensthabende Offizier Gelegenheit hatte, Catal von den jüngsten Ereignissen zu berichten, wollte Leopold seinem Vater den Vorfall melden. Er zog die Uniform über, während der ältere Knappe ihm das Pferd holte. Er rannte zu den Ställen und knöpfte sich im Laufschritt noch den Kragen zu. Er stürmte aus der Tür und die Treppe hinunter, schwang sich auf das Pferd, ohne die Steigbügel zu benutzen, und erschreckte das arme Tier damit derart, daß es mit einer ruckartigen Kopfbewegung dem Knappen die Zügel aus den Händen riß und rückwärts tänzelte. Für Leopold war es ein leichtes, das Tier mit einem beruhigenden Wort und kurzem Schenkeldruck wieder in seine Gewalt zu bekommen, denn es war ein echtes Schlachtroß, das nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war. Er beugte sich vor und nahm die Zügel auf, ließ dem Pferd freien Lauf und galoppierte aus den Toren des Palastes auf das Lager Balthasars zu. Inzwischen hatten die Bürger von Merina gelernt, aus dem Weg zu gehen, wenn sie ein Pferd im Galopp durch die Straßen reiten hörten. Mit offenen Mündern starrten sie ihn aus dem Schutz von Haustüren oder Seitenstraßen an, als er vorüberritt, doch niemand versuchte, ihn aufzuhalten. Die eisenbeschlagenen Hufe seines Schlachtrosses schlugen Funken auf dem Pflaster aus Feuerstein, während die Menschen ihm in lähmendem Entsetzen Platz machten. Die Vorposten des Lagers riefen ihn an, als er an ihnen vorüberritt, und Leopold warf ihnen die Parole über die Schulter hinweg zu, ohne auch nur einen Moment anzuhalten. Das wilde Stakkato der Pferdehufe wurde zu gedämpftem Trommelwirbel, als das Kopfsteinpflaster in einen unbefestigten Weg überging. Mit Ingrimm machte er sich bewußt, daß ihn und nicht Catal die Wut Balthasars träfe, wenn ein anderer Bericht über den Vorfall dem Vater zuerst zu Ohren käme. Die innere Anspannung verursachte ihm Übelkeit, und er zwang sich, die Gerte unbenutzt zu lassen. Das arme Pferd gab bereits sein Bestes; keine Peitsche der Welt würde seinen Lauf beschleunigen, ganz gleich, wie sehr Leopold es sich auch wünschte.
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Mit stampfenden Hufen erreichte das Pferd das Zelt des Kaisers. Der Prinz zügelte das mit Schaum und Schweiß bedeckte Tier so unvermittelt, daß es schlitternd in einer aufgewirbelten Staubwolke zum Stehen kam und sich auf die Hinterhufe stellte. Leopold warf, aus dem Sattel springend, einem der verblüfften Wächter die Zügel zu. Während er mit raschen Schritten auf das Zelt zuging, dachte er einen Augenblick lang schuldbewußt an das Pferd, das er so übel behandelt hatte - das hatte es wirklich nicht verdient. Ich werde es wieder gutmachen, versprach er sich im stillen; dann schlug er den Zelteingang zurück, und alle anderen Gedanken mußten in den Hintergrund treten. Außer dem Kanzler war niemand bei Balthasar, welch ein Wunder! Keine Spur von Catal oder Apolon. Die beiden Männer schauten verblüfft auf, als Leopold so hereingestürmt kam. Der Prinz sank sogleich auf ein Knie und neigte den Kopf, so daß über seine Beweggründe, seine Ergebenheit oder seinen Gehorsam von vornherein keine Zweifel aufkommen konnten. Er wartete, bis der Herrscher das Wort an ihn richtete und ihm erlaubte zu sprechen, auch wenn er innerlich vor Erregung bebte und sein Nacken sich verspannte - so große Überwindung kostete es ihn, die zornigen Worte zurückzuhalten. Er mußte einfach äußerste Demut zeigen; dann, und nur dann würde der Kaiser ihm überhaupt zuhören. »Ich nehme an, es gibt einen Grund, warum Ihr uns in so ungebührlicher Weise überfallt, Prinz Leopold«, sagte der Herrscher ungerührt. »Vielleicht besitzt Ihr die Güte, uns aufzuklären.« Das war Anstoß genug, den Sturm zu entfesseln. Leopold begann mit der Schilderung der jüngsten Freveltat Catals und fügte die anderen hinzu — die ungerechtfertigten Morde an bekannten Bürgern Merinas und daß er seinen Männern die Genehmigung erteilt hatte, auf den Straßen Unruhe zu stiften. Die Verschleppung von Frauen in Bordelle, die den Soldaten offenstanden; das öffentliche Auspeitschen aller, die der »Untreue« verdächtigt wurden. Er zählte die Taten mit kalter Wut auf, achtete jedoch auf die richtigen Worte und einen angemessenen Ton, denn so wollte Balthasar die Angelegenheiten vorgetragen haben; leidenschaftslos, zumindest oberflächlich. Doch nachdem er seinen Bericht über die Ausschreitungen Catals beendet hatte, übermannte ihn der Zorn, und er fuhr mit den Missetaten fort, die Apolons Schwarzmäntel anrichteten. Er wußte sofort, daß er einen Fehler begangen hatte, als sich eisiges 238
Schweigen ausbreitete. Doch es war bereits zu spät. Die Worte konnten nicht zurückgenommen werden. Er versuchte zu retten, was zu retten war, und kam erneut auf Catal zu sprechen, aber sein Vater unterbrach ihn, noch ehe er einen Satz beendet hatte. »Ich glaube«, sagte Balthasar langsam, »es wird Zeit, daß ich selbst in Merina Einzug halte. Noch heute, noch in dieser Stunde. Laßt die Stadt wissen, wer sie regiert, dann wird sie sich schnell beruhigen. Es wird Zeit, daß ich klarstelle, wer der Herrscher des Reiches ist. Ich gehe davon aus, daß es keine trügerischen >Wunder< mehr gibt, wenn ich erst einmal an Ort und Stelle bin, kein Beweinen alter Weiber, deren Zeit längst um war.« Einen Augenblick hatte Leopold Grund zu der Annahme, daß Balthasar verstanden hatte, was ihm am Herzen lag. Daß er sowohl den tollwütigen Hund als auch den Höllenhund zur Vernunft bringen würde, daß er ihnen ebenfalls die Peitsche zeigen und sie in ihre Schranken weisen würde. »Ich glaube, die Aufsicht über die Stadt hat Euch überfordert, Prinz Leopold«, fuhr der Herrscher in sanftem Ton fort, womit er Leopolds Hoffnungen endgültig zunichte machte. »Eine Stadt ist schließlich keine Kompanie von Soldaten. Man kann nicht einfach Befehle erteilen und davon ausgehen, daß ein Bürger Folge leistet. Man muß ihnen zeigen, daß sie mit eiserner Hand regiert werden, man muß ihnen einen Grund geben, zu gehorchen, ihnen beweisen, daß man Ungehorsam nicht duldet.« Ich habe ein Wort zuviel gesagt, eine Frage zuviel gestellt. Er nimmt mir die Stadt weg »Ja, ich werde das Kommando über Merina selbst übernehmen. Was meinen treuen Kommandeur Leopold betrifft«, fuhr Balthasar in honigsüßem, dennoch eisigem Ton fort, während Leopold die Muster des schwarzroten Teppichs betrachtete, auf dem er kniete, »so dürfte klar sein, daß noch mehr Offiziere die gleichen Fähigkeiten besitzen sollten. Und es ist deutlich geworden, daß die ihm auferlegten Pflichten ihn überfordert haben. Ich glaube, wir können diese Last von ihm nehmen und zugleich den jüngeren Offizieren Gelegenheit geben, die gleichen Fähigkeiten zu entwickeln.« Leopold stockte das Herz. Nein, er kann doch nicht — Aber er konnte. »Ich werde selbst das Kommando über Eure Truppen übernehmen«, fuhr der Kaiser leise fort. »Und Ihr, Prinz Leopold, werdet Euch in den Sommerpalast jenseits des Flusses zurückziehen, um die 239
jungen Offiziere auszubilden, die ich dort stationiert habe. Ich werde Euch die Männer schicken, von denen ich glaube, daß sie noch der Ausbildung bedürfen.« Leopold hätte sich nicht erheben können, wenn Balthasar es ihm jetzt befohlen hätte. Er war wie festgenagelt, taub. Mit einem Schlag hatte man ihm das Kommando entzogen, ihn kaltgestellt, ihn aus einer Position entfernt, in der er in der Lage gewesen wäre, Apolon oder Catal Einhalt zu gebieten. Man hatte ihn aller Möglichkeiten beraubt, sein Versprechen gegenüber der Erzpriesterin einzulösen. Irgendwie muß ich die Erzpriesterin wissen lassen, was hier vor sich geht! Vielleicht kann sie die Bürger von Merina dazu bewegen, unter der Knute des Kaisers stillzuhalten. »Ich werde Euren Knappen Bescheid geben lassen, so daß Ihr umgehend aufbrechen könnt, Prinz«, sagte der Kanzler und zerstörte damit Leopolds stille Hoffnung, noch einmal mit der Erzpriesterin reden zu können, ehe Balthasar tatsächlich die Zügel in die Hand nahm. »Ich glaube, die meisten Eurer Sachen sind ohnehin noch im Lager?« Er nickte stumm, die Augen niedergeschlagen. »Gut«, sagte der Kanzler aufmunternd, »dann holt sie doch und überquert gleich den Fluß.« Stoff raschelte, als der Kanzler an Leopolds Seite trat und auf seine Schulter tippte, um ihm zu bedeuten, daß er sich erheben sollte. Leopold folgte, war jedoch noch so betäubt, daß er sich wie ein Traumwandler bewegte. »Begleitet ihn doch«, sagte Balthasar. Leopold konnte es nicht ertragen, ihn anzuschauen. »Seht zu, daß er alles bekommt, was er benötigt. Wir wünschen nicht, daß er ohne Versorgung aufbricht.« Irgendwie war es Leopold gelungen, in Begleitung des Kanzlers das Zelt zu verlassen. Er mußte sich wohl vor Balthasar verneigt haben, konnte sich indes nicht mehr daran erinnern - es mußte geschehen sein, denn der Kanzler wäre eingeschritten, wenn er eine so wichtige Geste unterlassen hätte. »Reißt Euch zusammen, mein Junge, so schlimm ist es jetzt auch wieder nicht«, sagte Adelphus, als sie das Zelt verließen. »Hört auf, Euch zu benehmen, als hätte man Euch ans Ende der Welt verbannt! Apolon steht im Augenblick sehr hoch in der Gunst des Kaisers. Es war ein Fehler, ihn anschwärzen zu wollen. Er wird über kurz oder lang einen Patzer machen - das passiert solchen Leuten immer —, dann werdet Ihr wieder in Gnaden aufgenommen werden. Geht einfach in den Sommerpalast und tut, was der Herrscher gesagt hat; dann wird alles wieder ins Lot 240
kommen.« Adelphus fuhr in diesem Ton noch eine Weile fort, und Leopold unterdrückte das Bedürfnis, ihn zu würgen. Balthasar würde nichts, gar nichts gegen Catal unternehmen! Und auch nicht gegen Apolon. Zumindest braucht der sich aber nicht mehr einzubilden, er könnte die Prinzessin mit Hilfe von Magie aufspüren; dachte Leopold grimmig. Aber das würde den Bürgern von Merina nichts helfen. Apolon und Catal würden sie über kurz oder lang in den Staub zwingen.
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36. Adele Priesterin Elfrida erschrak, als sie für ihre nächste Andacht hereinkam und die Menge der Stadtbewohner im Tempel erblickte - sie hatte Adeles Tod schon so lange geplant, daß er für sie nichts Neues mehr war. Es rührte sie merkwürdig an, die Menschen weinen zu sehen — sie hatte nicht erwartet, daß man Adele so inbrünstig und so lange betrauern würde in einer Zeit, in der die Menschen so viele andere Sorgen hatten. Vielleicht liegt es daran, daß sie in diesem Fall ihre Trauer offen zeigen dürfen, dachte sie. Sie schaute zum Herzen empor und versuchte, die rechte Ruhe zu finden und ihre Gedanken zum Gebet zu sammeln. Selbst das Herz hatte sich jedoch verändert. An der Spitze trat Gold zum Vorschein — zum ersten Mal seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten - und auf dem Altar darunter lag eine Handvoll Rubine fein säuberlich aufgeschichtet. Was war hier geschehen? fragte sie sich erstaunt. Mach dir keine Gedanken, es ist noch nicht deine Angelegenheit. Und es gibt Dringlicheres, worum es sich zu kümmern gilt. Verit würde es ihr bestimmt später erklären. Elfrida richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihr Gesangbuch und mühte sich, die richtigen Worte zu singen, auch wenn sie in diesem Augenblick nicht mit dem Herzen dabei war. Aber die Menschen, die sich vor den Schranken versammelt hatten, welche sie von der Priesterschaft trennten, flüsterten untereinander, und das lenkte Elfrida ab. In der Regel hätte sie ihnen weiter keine Beachtung geschenkt - sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen. Aber jetzt — sie konnte sich nicht einmal auf die geläufigsten Lieder konzentrieren. » ... Wunder ...« — »Angriff von Soldaten ...« — » ... geschlagen direkt vor dem Altar ...« Soldaten im Tempel? Plötzlich konnte sie es zum ersten Mal seit ihrer Kindheit nicht mehr erwarten, daß die Andacht zu Ende ging. Sie mußte wieder im Beichtstuhl sitzen, nun, da sie sich der Öffentlichkeit oft genug gezeigt hatte. In der Abgeschiedenheit des Beichtstuhls würde sie bestimmt einen Hinweis erhalten, was während der Zeit 242
geschehen war, als sie selbstvergessen ein Manuskript abgeschrieben hatte. Die Messe schien Ewigkeiten zu dauern, doch schließlich war sie zu Ende, und Elfrida beeilte sich, den ihr angewiesenen Platz hinter der Trennwand im Beichtstuhl einzunehmen. Als ihr Dienst beendet war, konnte sie sich in der Tat ein Bild von den jüngsten Ereignissen machen. Sie bezweifelte nicht im geringsten, daß das Herzbluten wirklich ein Wunder gewesen war; sie hatte einst, als sie noch jung und geschmeidig war, bei der Säuberung des Herzens geholfen und dabei festgestellt, daß die Rubine mit größtem Geschick von den besten Juwelieren aus dem Hause des Tigers eingesetzt worden waren. Nur ein Vorgang, der das Gold selbst zum Schmelzen brachte, war in der Lage gewesen, sie zu lösen. Doch was die plündernden Soldaten betraf- das war allerdings eine neue sehr verstörende Entwicklung, die die Unruhe in der Stadt noch vergrößerte. Es sah ganz so aus, als müsse man nun nicht nur die Schwarzmäntel fürchten, sondern auch noch die Söldner des bösartigen Catal, der die Zügel hatte schießen lassen. Eine Frau war unaufhörlich schluchzend in den Beichtstuhl gekommen, und es hatte eine Zeitlang gedauert, bis sie sich so weit gefaßt hatte, daß sie über ihre Sorgen reden konnte. Ihr Neffe, ein Gesetzeshüter, war festgenommen worden und nicht zurückgekehrt — und ihre einzige Tochter, die sie schon lange in Verdacht hatte, käuflich zu sein, war von den Söldnern Catals aufgegriffen und in ein Haus gesperrt worden, das nur den Soldaten der Eindringlinge offenstand. Ich kenne meine eigene Stadt nicht wieder, dachte Elfrida wie betäubt, als die Frau fortging, ohne viel Trost gefunden zu haben. Denn auch für Elfrida gab es in der Tat wenig Trost. Es kamen noch mehr Menschen; die einen berichteten von seltsamen Feuern, die aus dem Nichts kamen und Häuser - aber nur einzelne - in Schutt und Asche legten. Diese Brände breiteten sich nicht auf Nachbarhäuser aus und konnten nicht gelöscht werden. Elfrida verließ den Beichtstuhl wie in einem Nebel. Sie hatte das Gefühl, daß die Ereignisse sich überschlugen und sie nicht einmal den Versuch unternehmen konnte, mit ihnen Schritt zu halten. Sie ging zum Abendessen ins Refektorium und fragte sich, ob die anderen Priester und Priesterinnen die gleichen Erfahrungen bei den Beichten gemacht hatten. 243
Nach den sprachlosen, fassungslosen Mienen zu urteilen, war es ihnen ebenso ergangen wie Elfrida. Während sie Essen zu sich nahm, ohne es zu schmecken, beschäftigte sie nur ein einziger Gedanke. Was ist aus meiner Stadt geworden? Und was kann die zahlenmäßig kleine Priesterschaft überhaupt tun, um gegen all das anzukämpfen? Aber das war nicht das einzige, was ihr im Refektorium merkwürdig erschien, denn während sie aß, drang zum ersten Mal innerhalb der Tempelmauern die Stimme der Zwietracht an ihr Ohr. Es fiel ihr auf, als eine Priesterin am Nebentisch das übliche Raunen übertönte. Der schrille Unterton in ihrer Stimme zeigte deutlich, wie angespannt sie war. Elfrida hatte den Anlaß für die Unterhaltung nicht mitbekommen, aber sie hörte deutlich den mittleren Teil, so wie alle an diesen beiden Tischen.» ... wie kannst du so etwas sagen, Priesterin Althea? Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe! Schau dir doch nur an, wie rasch der Prinz Männer herbeiholte, die mit den Störenfrieden fertig wurden! Der Kaiser ist ein treuer Sohn der Göttin und wird immer für unseren Schutz sorgen! Immerhin ist er unser Herrscher! Es ist schließlich seine Pflicht!« »Nur weil er unser Herrscher ist, heißt das noch lange nicht, daß er ein guter ist — oder daß er auch nur einen Pfifferling um uns gibt, Priesterin Patria«, lautete die scharfe Erwiderung. »Wenn du mich fragst, betrachtet er unseren Tempel nur als einen Ort mit vielen Reichtümern, den man ebenfalls plündern kann — wir sind nichts weiter als eine Nuß, die etwas schwerer zu knacken ist als ein gewöhnliches Haus.« Die Priesterin, die zuerst die Stimme erhoben hatte, stand mit einem Ruck auf, ihr Gesicht war gerötet. »Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt, Priesterin!« schrie sie. »Und ich glaube, du solltest mit der Ehrwürdigen, Priesterin Verit, sprechen wegen deiner — deiner blasphemischen und verräterischen Gedanken!« Bei diesen Worten stieß die beleidigte Priesterin — und es war nicht einmal eine der jüngeren - den Stuhl zurück und schritt wütend davon. Verräterisch — nun, mag sein, wenn man davon ausgeht, daß derjenige, der die Zügel in der Hand hält, der »rechtmäßige« Herrscher ist. Aber »blasphemisch«? Wie war es möglich, daß jemand einen Vorwurf gegen Balthasar als Blasphemie auslegen konnte? Elfrida schaute Priesterin Patria nach, die mit steifen Schritten aus der Tür ging, und sie war nicht die einzige, deren Blick der Beleidigten folgte. Die meisten waren völlig überrascht. Manchen 244
war eine Mischung aus Nachsicht und Verachtung vom Gesicht abzulesen. Doch wie Elfrida mit Unbehagen feststellte, gab es auch einige, die zustimmend nickten. Allmählich setzte ein allgemeines Raunen ein, und Elfrida spitzte schamlos die Ohren, um zu hören, welche Ansichten Patrias Ausbruch zutage fördern würde. Und einiges, was sie hörte, entsetzte sie zutiefst. Es gab eine Partei, eine Minderheit zwar, aber nicht unbedeutend, die ebenso dachten wie Patria. Sie waren der Ansicht, daß sie demjenigen, der den Titel des Herrschers von Merina trug, zu Gehorsam verpflichtet waren - allein deshalb, weil er die Verantwortung trug. Die Priesterschaft des Tempels sei ungeachtet der Person dieses Herrschers in ihrem Kloster völlig sicher - niemand würde ihnen ein Haar krümmen. Diese Partei behauptete, daß die Geschichten über das Leid in der Stadt völlig übertrieben seien, vielleicht verbreitet von möglichen Aufrührern, die dem neuen Herrscher Schwierigkeiten bereiten wollten. Und was das Eindringen in den Tempel betraf — das taten sie entweder als Fehler eines diensthabenden Offiziers ab oder als einen Fall, in dem Söldner versucht hatten, auf eigene Faust Unfrieden zu stiften. Die eine oder andere verteidigte Kaiser Balthasar und seine lauteren Motive mit solcher Heftigkeit, daß Elfrida rasch auf ihren Teller blicken, die Zähne zusammenbeißen und eine ganze Reihe von Gebeten vor sich hersagen mußte, um nicht über sie herzufallen und ihnen ihre Schneidebretter um die Ohren zu schlagen — in der Hoffnung, ihnen damit ein wenig Verstand einzubläuen. Auch sie waren, wie die Priesterin Patria, nicht gerade die jüngsten Mitglieder des Ordens. Die meisten gehörten in der Tat zu den ältesten. Und das könnte zugleich auch die Erklärung für ihr Verhalten sein, erkannte sie, als sie sich zur Ruhe zwang. Sie leben schon so lange hier, daß die Außenwelt ihnen nicht mehr wirklich erscheint. Sie können unbeschwert Mutmaßungen anstellen, daß die Geschichten über Morde, plötzlich verschwundene Menschen und Entführungen ohne Ausnahme erfunden oder völlig übertrieben sind, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, daß so etwas geschieht. Sie wollten einfach nicht, daß die Welt sich änderte — und deshalb würden sie auf ihrer Meinung, die Welt habe sich tatsächlich nicht verändert, so lange beharren, bis sie schwarz wurden. Und sie würden an dieser Meinung festhalten, bis unmittelbar vor ihren Augen etwas geschähe, das sie nicht übersehen konnten. Doch das bedeutete, daß im Tempel keine Einmütigkeit mehr herrsch 245
te. Und dieser Umstand würde ohne Frage ihre Kraft beschneiden ... wie bei einer hauchdünnen Muschel wäre ihre Kraft nur dann stark genug, einem Angriff von außen standzuhalten, wenn die Schale einwandfrei und ohne Risse war, ohne Sprünge oder Fehler. Und darin liegt unsere Schwäche, dachte sie unglücklich. Besser hätten es sich Apolon und Balthasar nicht wünschen können. Ein Schauer überlief sie, als wehte von irgendwo ein kalter Wind zu ihr, der eine schreckliche Vorahnung mitbrachte.
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37. Lydana Während sie durch die Straßen eilte, tauchten auch wieder Schwarzmäntel auf. In der Nähe des Tempelbezirks ließen sie sich nicht blicken, aber dann sah Mathilde sie in Gruppen durch die Straßen ziehen, wenngleich sie die Häuser rechts und links nicht beachteten. Wie gewöhnlich tauchte der Aal wie aus dem Nichts auf, huschte aus einem Hauseingang und schloß sich ihr an. »Mathilde die Perlenhändlerin könnt Ihr vergessen«, platzte er heraus. Mathilde hastete ohne anzuhalten mit großen Schritten weiter, wenngleich sie auf eine neue Schreckensmeldung gefaßt war. »Was ist passiert?« Ihr kleiner Gefährte mußte sich beeilen, um mit ihr Schritt halten zu können. »Der Laden ist weg. Obwohl an den Nachbargebäuden keine Brandspuren zu sehen sind, liegt nur noch Asche da, und ein übler Gestank hängt zwischen ihnen — ein Loch.« Der Laden zerstört. Sollte das bedeuten, daß sie ihr tatsächlich dicht auf den Fersen waren? In den weiten Ärmeln ihrer Robe ballte sie die Hände zu Fäusten. Der kleine Rubintropfen brannte noch immer in der einen Hand, doch sie ertrug den Schmerz frohen Mutes, wußte sie doch, daß der Stein Hilfe versprach — Hilfe, die man kaum erwarten konnte, stünde man nicht in der Gunst der Allmächtigen. »Was ist mit den Nachbarn - Berta, Kassie, Max -«, fragte sie. »Sie bleiben vorsichtshalber im Haus. Aber bislang droht ihnen keine Gefahr«, sagte ihr Gefährte. »Sie haben mir gesagt, es sei nachts passiert. Sie hätten so was wie einen schweren Donnerschlag gehört, und dann seien Flammen emporgeschossen, die sich jedoch auf den Laden beschränkten, als wäre er eine Feuerstelle, die man einfach angezündet hatte.« Sie runzelte die Stirn. »Wer ist man?« Der Aal schüttelte den Kopf. »Keine Spur von einem offenen Übergriff. Berta ist völlig verstört, aber das habe ich immerhin aus ihr herausbekommen .« »Eine magische Vorrichtung, die jederzeit, wenn wir nicht im Laden 247
waren, dort untergebracht werden konnte, um später durch einen Zauber ausgelöst zu werden — ich habe von solchen Dingen gelesen. Ach, wenn das wahr ist, dann werden wir wirklich auf uraltes, dunkles Wissen zurückgeworfen. Aber warum hat man den Laden zerstört?« »Wir haben ihn über den Geheimweg verlassen, so wie immer«, erwiderte der Aal ruhig. »Soweit dem Brandstifter bekannt war, lagen wir im Bett und sind jetzt nur noch ein Häufchen Asche, die vom Winde verweht wird. Was wiederum sehr günstig sein kann — ich meine, daß wir in ihren Augen tot sind«, überlegte er. Ihr Gefährte hatte recht, wenn sie auch keinen Beweis hatten, daß ihre Spuren gut verwischt waren. Das Kloster — sie durfte die Priesterschaft nicht in Gefahr bringen. Was war, wenn die Macht, die nach ihr suchte, ihre Spuren verfolgen konnte ... Dennoch mußte sie dort noch einmal vorsprechen. Sie beschleunigte den Schritt. Vor dem Kloster der Barmherzigen Schwestern angekommen, sah sie, daß die Wachen davor inzwischen auf drei Männer verstärkt worden waren, die unmittelbar neben dem Eingang standen, allerdings nicht den Versuch unternahmen, die beiden anzuhalten und auszufragen. Mathilde hatte ihren Gefährten weitergeschickt. Er sollte bei Jonas in Erfahrung bringen, wie man sich laut den Berichten seiner Späher am besten dem Haus des Keilers nähern konnte. Denn dort - sie atmete tief durch - dort würde sie ihrerseits zuschlagen. Sobald sie innerhalb der Klostermauern war, geleitete man sie umgehend in das Zimmer der Ehrwürdigen, die an ihrem Schreibtisch saß. In den Händen hielt sie einen auf der Oberfläche glatten, matt glänzenden rechteckigen Gegenstand, der aussah, als sei er aus undurchsichtigem Glas. Die Ehrwürdige starrte ihn an, als zöge eine Vision auf dieser Fläche sie in ihren Bann. Der Rubin in Mathildes Hand loderte auf und brannte so stark, daß sie einen leisen Schmerzensschrei nicht zu unterdrücken vermochte. Die Ehrwürdige blinzelte und schaute zu ihr auf, die Augen weit aufgerissen, als habe sie etwas gesehen, was es eigentlich nicht geben dürfte. »Das Herz - es hat geblutet!« sagte sie in zärtlichem, ehrfürchtigem Flüsterton. Aus irgendeinem Grund konnte Mathilde sich nicht länger aufrecht halten. Sie sank vor dem Tisch, an dem die Ehrwürdige saß, auf die Knie, streckte die Faust vor und öffnete langsam die Hand, um zu zeigen, was darin lag. Dort strahlte der Rubin - feuriger, als sie es je bei einem gewöhnli 248
chen Stein erlebt hatte. Nachdem sich ihr fester Griff gelockert hatte, glitt er ein Stück zur Seite. Das Zeichen des Herzens hatte sich in ihre Handfläche eingebrannt, als hätte man Mathilde ein Brandzeichen aufgedrückt. Zenia betrachtete den Stein und das Zeichen, das er hinterlassen hatte. Rasch vollzog sie das Segenszeichen der Allmacht über Mathilde. »Erwählte - Ihr steht hoch in der Gunst! Ihr Wille geschehe, wenn Sie ihn denn zum Ausdruck bringt! Wie lauten Ihre Befehle?« Mathilde blickte auf den Stein, der nun, da er frei auf ihrer Handfläche lag, nicht mehr brannte. Auch die Narbe, die er hinterlassen hatte, sah nicht roh aus — sie hätte ebensogut auch schon älter sein können. Der Rubin rollte ihr über die Finger und fiel herunter. In dem Augenblick, als er die Tischplatte berührte, zuckte ein Blitz auf, hell wie die Sonne in all ihrer Pracht, so daß beide Frauen aufschrien und die Augen bedeckten. Sie blinzelten in dem Versuch, die plötzliche Blindheit zu überwinden. Als sie wieder mehr als rötlichen Dunst erkennen konnte, starrte Mathilde auf die Tischplatte. Sie war nicht mehr gelblich-braun und stumpf, sondern durchsichtig ... Es war, als schaute sie durch ein helles Fenster in einen anderen Raum. Mit einer Hand stieß sie die lästigen Flügel ihrer Haube zurück, um besser sehen zu können. Im Hintergrund war noch immer ein Farbenspiel zu erkennen, als wäre ein Regenbogen eingefangen worden, klar und ebenmäßig. Davor stand Adele und schaute aus der Tischplatte zu ihnen auf. Sie bewegte die Lippen — keine Laute drangen zu Mathilde, sondern Gedanken: »Die der Göttin dienen, haben zu Frieden und Geduld aufgerufen. Das ist uns nicht mehr möglich, denn die Schlange, die aus der tiefsten Hölle kommt, kriecht frei herum. Wir haben erkannt, daß er in Wirklichkeit ein Totenbeschwörer ist, der Tote wieder in den Kampf schikken kann, auch gegen jene, denen sie einst von Herzen zugetan waren. Wir nähern uns rasch einem Endkampf, aber unsere seherische Gabe reicht nicht aus, etwas über den Ausgang vorauszusagen - denn wenn Licht und Finsternis sich in voller Macht gegenüberstehen, kann keine Menschenseele die Kräfte verstehen, die dort entfesselt werden. Wir sammeln jetzt unsere Kräfte für diesen Tag und diese Stunde.« Mathilde bewegte die Lippen, brachte jedoch keinen Laut hervor. »Meine Tochter, nimm das Geschenk der Allmächtigen an, gebrauche es, wie Sie es dir vorgibt. Wir müssen Armeen aufstellen — nicht unbedingt 249
gegen den irregeleiteten Herrscher, sondern gegen den furchterregenden Schatten hinter ihm.« Erneut zuckte ein Blitz, und der gläserne Block war stumpf und leblos wie zuvor. Zenia hatte die Hände zum Gebet gefaltet; und Mathilde, deren Sinne vielleicht durch das, was sie gesehen und gehört hatte, besonders geschärft waren, spürte förmlich, wie die feurige Kraft der gerade vernommenen Bitte zu ihr hinströmte. Ihr Weg indes war nicht das Gebet — wenngleich sie auch in diesem Augenblick um Kraft für die Stunden bat, die vor ihr lagen. Sie wollte handeln. Rasch erhob sie sich, nahm den Rubin vom Tisch und öffnete das Spitzenmieder ihrer Tracht sowie den Anzug, den sie darunter trug. Als sie die Brosche mit dem Siegel löste, mußte sie den Verschluß ein wenig verbiegen, aber sie stellte fest, daß der heilige Stein genau in den Hohlraum hinter der Einfassung des Siegels paßte. Sie störte Zenia nicht im Gebet, sondern verließ leise den kleinen Raum. Aus der Kapelle vernahm sie den Gesang der Priesterinnen, mit dem sie der verstorbenen Ehrwürdigen huldigten. Mathilde schlüpfte in den winzigen Torraum neben dem äußeren Eingang, der Papania vorbehalten war, legte die Kutte ab und entledigte sich der engen Haube. Sie prüfte nach, ob ihre Flechten noch fest saßen. Die zerlumpte Kleidung, die sie getragen hatte, als sie hierherkam, lag sorgfältig zusammengelegt auf der Seite. Diese zog sie nun wieder über. Plötzlich spürte sie, wie hungrig sie war. Der Tag war lang gewesen, und sie hatte nur unregelmäßig etwas zu sich genommen. Zum Fasten bestand jetzt überhaupt kein Grund, zumal sie ihre Kraft noch brauchte. Sie ging in die Küche und säbelte sich ein großes Stück Brot ab, war froh, nahrhaften Honig zu finden, den sie auf die Brotscheibe träufelte, die sie dann langsam aß und mit einer Mischung aus Fruchtsaft und Wasser herunterspülte, welche sie in einer Flasche entdeckte. Während sie aß, dachte Mathilde nach. Die Eindringlinge würden nicht verhindern können, daß sich die Geschichte über das Wunder verbreitete. Und das, was sie auf den Gesichtern derer gesehen hatte, die durch die Soldaten mit Schlägen vom Altar vertrieben worden waren, zeigte ihr deutlich, daß dieses Ereignis einen mächtigen Stachel gegen die Angst in die Herzen gebohrt hatte. Jonas hatte seine Augen und Ohren, und Jonas kannte Kämpfer, die in aller Heimlichkeit wirkten und sich nicht so leicht ergreifen lassen würden. Aber Saxon — ach, Saxon konnte noch mehr tun. Er hatte immer Gefolgsleute gehabt, auf 250
die er sich verlassen konnte — Treue war Schild und Schwert in seiner Hand. Saxon brauchten sie jetzt mehr denn je — einen, der kämpfen und verschlagene Pläne ersinnen konnte, wie er es in der Vergangenheit so oft getan hatte. Deshalb gab es über ihr Ziel keinen Zweifel. Sie mußte Saxon aus der Gefangenschaft befreien und zugleich ihre Falle für Catal aufstellen. Mathilde warf einen prüfenden Blick aus dem kleinen Fenster. Obwohl der Hof im Schatten lag, konnte sie erkennen, daß die Dämmerung nahte. Der Hof hatte kein zweites Tor, aber an der gegenüberliegenden Mauer stand ein Schuppen für Gartengeräte. Das war die Lösung. Es wurde rasch dunkel — in der Ferne vernahm sie Donnergrollen. Eine stürmische Nacht - was konnte ihren Zielen dienlicher sein? Sie schaute sich noch einmal in der Küche um und erblickte ein hölzernes Küchengerät, das dem Ausrollen von Teig diente. Eine geeignetere Waffe hätte eine Frau sich nicht wünschen können — leicht zu tragen, lautlos und zudem ein Gegenstand, mit dem sie vertraut war. Sie hatte den Garten durchquert und gerade den Schuppen erreicht, als direkt über ihr ein Donner krachte, daß man hätte meinen können, der Magier habe seine zerstörerische Macht in diesem Augenblick auf das Kloster der Barmherzigen Schwestern gerichtet. Zugleich allerdings zuckte ein Blitz auf, und Mathilde drückte sich schleunigst gegen die Wand des Schuppens. Mathilde war eine hochgewachsene Frau, und wenn sie auch viel im Sitzen tat, war körperliche Ertüchtigung ihr nicht unbekannt. Wie oft war sie auf Schiffen über sturmgepeitschte Meere gesegelt und hatte die jäh abfallenden Klippen der Yark-Inseln auf der Suche nach Vogelknochenopalen erklommen, die nur dort zu finden waren! Obwohl der lange Schleifrock sie behinderte, gelang es ihr, auf das Dach des Schuppens zu klettern.Von dort konnte sie in die schmale Gasse auf der anderen Seite blicken. Die Laternen, die hier von Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung brennen sollten, flackerten heftig, als der aufkommende Wind hineinfuhr. Eine nach der anderen verlosch. Von Wächtern war hier keine Spur zu sehen, und es gab weder Ecken noch Hauseingänge, aus denen sie hätten auftauchen können. Mathilde ließ ihre häusliche Waffe auf das Pflaster in der Gasse unter ihr fallen und sprang hinterher. Zuerst mußte sie zu Jonas - sie mochte über das Wissen verfügen, aber ihr fehlte die rechte Unterstützung für ihren Besuch im Haus des Keilers. Außerdem — die Allmächtige möge es 251
verhindern - war es durchaus denkbar, daß ihre Beute im Laufe des Tages an einen anderen Ort geschafft worden war. Wie aus dem Boden gewachsen stand der Schwarzmantel vor ihr. Er zielte mit einem Stab auf sie, und noch ehe Mathilde sich regen konnte, trat ein dünner Strahl grünlichgelben Lichts aus dem Ende, das direkt auf ihre Brust zielte. Nur traf der Strahl ihren Körper nicht. Der alte Schal rauchte, doch das Feuer drang nicht weiter. Der Schwarzmantel — sie konnte sein Gesicht nur als weißen, undeutlichen Fleck in der Dunkelheit ausmachen - zielte jetzt auf ihren Kopf. Aber es war bereits zu spät. Lange Jahre sorgfaltiger Ausbildung im Nahkampf hatten Mathilde gestählt. Ihre behelfsmäßige Keule sauste schneller nieder, und sie vernahm ein Geräusch, das ihr Übelkeit verursachte. Er sank zu Boden. Erneut hatte sie jemanden umgebracht - sie war sich dessen so sicher, als hätte sie gesehen, wie das Leben aus seinem Körper wich. Es kostete sie große Überwindung, sich ihm zu nähern und den Stab an sich zu nehmen. Es war eine Waffe des Magiers, daher war größte Vorsicht geboten. Zumindest wollte sie dafür sorgen, daß sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. Der plötzliche, stechende Schmerz an ihrer Brust war so heftig, daß Mathilde rückwärts gegen eine Mauer prallte und sich dort anlehnen mußte, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Das Feuer, das der Rubin ausströmte, ließ nicht nach. Sie mußte ihn von der Haut entfernen, ertastete ihn unter der Kleidung und quälte sich mit dem Verschluß der Brosche. Der niedergestreckte Mann auf dem Pflaster begann sich zu regen. Sie wagte einen schwankenden Schritt vor, und ihr Fuß stieß den Stab aus der Reichweite des Mannes, der, noch immer mit dem Gesicht nach unten, suchend einen Arm ausgestreckt hatte und mit den Fingern tastend über das Pflaster fuhr. Langsam kam er auf die Knie, ohne einen Laut von sich zu geben oder auch nur in ihre Richtung zu blicken. Sein Gesicht — wieder sah sie das von ihrem Stein zerschmetterte Gesicht des Mannes am Fluß vor sich ja, sein ganzer Kopf hatte eine merkwürdige Form. Ein Auge war zusammengekniffen, das andere blickte starr geradeaus. Unbeholfen stolperte er ein, zwei Schritte vorwärts. Obwohl er den Kopf aufrecht hielt und nicht sah, wohin er trat, baumelten die lose herabhängenden Arme hin und her, als hätte er sich vornübergebeugt und suchte den Boden nach der fehlenden Waffe ab. 252
Mathilde schnappte hörbar nach Luft; diese Kreatur der Nacht - ganz bestimmt war es kein Mensch — hatte etwas so Widerwärtiges an sich, daß sie ihr Entsetzen und ihre Angst nicht völlig unterdrücken konnte. Er wandte sich um; dieser gräßliche Kopf schaute nun in ihre Richtung. Und obwohl er sich bewegte, wußte sie in ihrem tiefsten Innern, daß dieses Wesen nicht von dieser Welt war. In diesem Augenblick war sie unfähig, sich zu rühren, erstarrt vor blankem Entsetzen. Er blickte sie zwar nicht direkt an, aber irgendwie mußte er ihre Gegenwart gespürt haben, denn er warf sich nach vorn, die Hände in die Höhe gestreckt, als wolle er ihr an die Kehle fahren. Noch immer gab er keinen Laut von sich. Mathilde riß die Hand hoch, Siegel mit Rubin fest umschlossen eine hilflose Geste, mit der sie sich gegen diese torkelnde Schreckensgestalt zu wehren hoffte. Während sein Stab blitzartig einen Lichtstrahl ausgesandt hatte, breitete sich nun, ausgehend von ihrer Hand, ein Nebel aus, ein schimmernder, gasförmiger Ball, der immer größer wurde, je weiter er sich von ihr entfernte. Er wurde rot wie das Blut des Herzens, und ein tiefes Dröhnen ging von ihm aus. Das Wesen, das auf sie zugewankt war, schwankte von der Stelle zurück, an der es einen Augenblick innegehalten hatte. Zum ersten Mal konnte sie einen Ausdruck auf der weißen Fratze ausmachen. Es torkelte zurück, doch schon wurde es vom äußeren Rand des kreisenden Lichts erfaßt und eingeschlossen. Mathilde vernahm den Laut nicht mit den Ohren - er durchdrang ihren ganzen Körper. Es war kein Schrei, der Schmerz, Haß oder Angst ausdrückte — sondern ein Gefühl, dem sie keinen Namen geben konnte. Der Schwarzmantel fiel erneut zu Boden und rollte sich zusammen wie ein Kind in tiefem Schlaf. Dann war er verschwunden. Nur Spuren von Asche und ein Kleiderbündel blieben zurück. Sie hatte heute erlebt, wie das Große Herz blutete, nun hatte sie noch etwas gesehen — Kräfte waren in Erscheinung getreten, die sich ihrem Verständnis entzogen. Adele und jene, die die Gabe besaßen, mochte ein solcher Anblick vielleicht ungerührt lassen, sie aber fühlte sich schwach und krank, denn sie hatte die Gabe nicht. Und vage, sehr vage tauchte ein anderer Gedanke in ihr auf: Vielleicht würde sie sich entgegen aller Tradition und trotz ausgiebiger Übung stets dagegen sträuben, daß Kräfte dieser Art zu ihrem Leben gehörten. Sie stieß sich von der Mauer ab und trat mit aller Kraft gegen den Stab, der kreiselnd über das Pflaster rutschte. Angeregt durch einen 253
Impuls, der keinem bewußten Gedankengang entsprang, bückte sie sich und schwenkte die Brosche mit Siegel und Rubin, die ihre Rettung gewesen war, über der seltsamen Waffe hin und her. Der Stab wand sich wie ein Lebewesen — versuchte wie eine Schlange von ihr wegzukriechen. Mathilde wußte, was zu tun war, und drehte die Brosche herum, so daß nun das Feuer des Rubins ungehindert auf den Stab traf. Er drehte und wand sich, ein finsterer Kampf fand statt, doch die Kraft, die ihm innewohnte, wurde offenbar in ihm versiegelt. Plötzlich war der Stab nichts weiter als eine Masse aus mattglänzendem Metall. In diesem Augenblick brach der Sturm los. Dicke, schwere Regentropfen fielen herab und stachen wie Nadeln auf der Haut. Das Unwetter brachte Mathilde wieder zu sich, und sie richtete ihre Gedanken auf das, was vor ihr lag. Das eben Erlebte mußte sie ganz bewußt aus ihrem Gedächtnis verbannen. Sie konnte es später noch Adele berichten, die es kraft ihres Wissens zu erklären vermochte — doch sie, Mathilde, gehörte nicht zu den Menschen, denen Visionen zuteil wurden, sondern eher zu den Handelnden, und heute abend mußte sie handeln. Sie raffte den wehenden Rock, um weiter ausschreiten zu können, und machte sich auf den Weg zu Jonas. Das Gefühl, daß die Zeit drängte, war nun zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Und sie wußte, daß sie in dieser Nacht ihren Raubzug im Hause des Keilers durchführen mußte. Als sie um eine Ecke bog, mußte sie gegen die Wucht des Windes, der ihr entgegenblies, ankämpfen. Um so besser für ihre Zwecke. Heute würden nicht viele Wachen unterwegs sein. Die Laterne, die über der Tür zu Jonas' Wirtshaus hing, spendete noch einen Funken Licht. Mit dem Losungswort verschaffte Mathilde sich Eintritt und gelangte in den großen Schankraum. An diesem Abend hatten sich eine Menge Menschen hier versammelt. Aus dem Gedränge löste sich der Aal und trat sogleich an ihre Seite. Am anderen Ende des Raumes konnte sie Jonas ausmachen, umringt von Leuten, die alle denselben verschlagenen Gesichtsausdruck und eine gewisse körperliche Beweglichkeit besaßen: Merkmale, die sie als das auswiesen, was sie waren — Flußratten. Einige der dort Versammelten schauten in ihre Richtung, als sie sich den Weg durch das Gewühl zum Wirt bahnte. Sie hatte, nachdem sie eingetreten war, Rock und Schal abgelegt, und in ihrer eng anliegenden Kluft hätte sie ebensogut eine Mörderin oder Diebin sein können. Einer der Männer stieß Jonas leicht an, und der Wirt blickte auf. Sein 254
rundes Gesicht war verschlossen, und Mathilde vermutete, daß er gerade dabei war, eine eigene List auszuhecken. »Was bringt Ihr uns?« Er gab ihr weder Namen noch Titel, als sie schließlich vor ihm stand und ihn ansah. »Einen Schlüssel zum Haus des Keilers«, sagte sie ihm ohne Umschweife. »Wir können Saxon noch heute nacht rausholen, wenn Ihr die Männer stellen könnt -« Jonas lachte bitter auf und ließ den Blick über die Gruppe schweifen, in deren Mitte er stand. »Hört euch das an, Jungs. Einen Schlüssel! Sieht so aus, als wäre uns das Glück wirklich hold. Wir hatten die Absicht, noch heute nacht das Haus zu stürmen«, fügte er, an Mathilde gewandt, hinzu. »Wunderbar«, erwiderte sie. »Woran hattet ihr gedacht?« »Brock hier«, sagte er und legte dem Mann an seiner Seite eine Hand auf den Arm, »kennt sich auf dem Wasser aus. Der Kanal im Süden macht eine Biegung nach rechts. Keiner dieser vermaledeiten Eindringlinge hat den Mumm und die Erfahrung, sich im Sturm aufs Wasser zu begeben. Was bleibt uns armen Seeleuten also anderes übrig, zumal wir das Wetter auf unserer Seite haben?« »Soweit ich sehe, nichts«, sagte Mathilde, erfüllt von dem Gedanken an das Ziel, das sie hergeführt hatte. Jetzt hatte sie das Rüstzeug für das bevorstehende Unterfangen, und trotz allem, was diese Menschen gewesen waren und was sie noch sein mochten: In dieser Stunde vertraute sie ihnen.
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38. Apolon Der Graue Magier starrte auf die leeren Schränke, in denen die intimsten weiblichen Kleidungsstücke hätten sein sollen, und wirbelte herum, um einen Blick in das Ankleidezimmer zu werfen, das nichts als unpersönliche, höfische Kleidung enthielt, welche höchstens ein- oder zweimal getragen worden war. Das reichte nicht aus, um die »persönliche Aura« eines Kleidungsstückes zu enthüllen, die er benötigte, um die Trägerin aufzuspüren. Man hatte ihn beraubt, ihm die Sachen genommen, die er gerade jetzt am dringendsten benötigte! Hier in den Gemächern der Prinzessin Schelyra, ebenso in den Räumen ihrer Tante und Großmutter, war nichts — rein gar nichts! —, was mehr als eine zufällige Verbindung mit den Frauen des Königshauses aufwies. Das genügte nicht einmal annähernd. Er kochte vor Wut. »Wer hat das getan?« fragte er den Soldaten, der ihn hierhergeführt hatte. »Wer hat veranlaßt, daß die Zimmer ausgeräumt werden?« Der Soldat zuckte die Achseln. »Der Kaiser, nehme ich an; er erwartet, daß er die Gemächer der Königin sofort beziehen kann, und hat diese Zimmerflucht für Euch vorgesehen, die der Königinwitwe für den Kanzler. Er muß den Befehl gegeben haben, daß alles ausgeräumt wird.« Der Soldat unterdrückte ein Schmunzeln, was Apolon jedoch nicht entging. Er wußte, was der Anlaß gewesen war. Das Bett im Zimmer der Königin war abgezogen, die Matratze mit Wasser durchtränkt und dann sorgfältig wieder hergerichtet worden. Der Schaden war erst entdeckt worden, als die Diener Balthasars einzogen; das Federbett selbst war inzwischen völlig verschimmelt und das Holz des Bettgestells mit Moder überzogen und schwarz vor Fäulnis. Der Gestank war unerträglich, das ganze Bett mußte entfernt werden. Apolon drehte sich mit einem wütenden Knurren wieder zu den leergeräumten Schränken um. Das war die letzte Enttäuschung an einem langen, anstrengenden Tag. Gerade in dem Augenblick, als Balthasar mit seinem Gefolge durch die Tore ritt und die Zuschauer, die von Catals Söldnern und Apolons 256
Schwarzmänteln zusammengetrieben worden waren, verhaltene Hochrufe hören ließen, hatte der Himmel die Schleusentore geöffnet, und alle waren bis auf die Haut naß geworden. Statt eines Triumphzuges zum Palast, eines Zuges, der Furcht und Respekt unter den Hunden von Merina verbreiten sollte, hatte Balthasar seine triefenden Offiziere in schmählichem Laufschritt zum Palast geführt, während die Bürger eilends den Schutz der Häuser aufsuchten, wovon nicht einmal die Gegenwart der Söldner sie abhalten konnte. Und als der Kaiser mit seinem Gefolge endlich den Palast erreichte, mußten sie feststellen, daß nichts für sie vorbereitet war. Balthasar und Adelphus hatten Leopold in aller Eile über den Fluß geschickt und dabei nicht bedacht, daß niemand da sein würde, der den Befehl geben konnte, den Palast herzurichten. Der Prinz hatte offenbar im Palast ebenso spartanisch gelebt wie im Lager, und seit der Abdankung der Königin hatte sich hier kaum etwas verändert. Den Aussagen der Offiziere zufolge hatte Leopold die Rationen für Soldaten im Kreise seiner Männer zu sich genommen, hatte sich tagsüber die meiste Zeit um seine Männer gekümmert und bis vor kurzem noch in derselben Garnison wie seine Leute übernachtet. Er hatte sich nicht an den Köstlichkeiten der Palastküche gelabt, ja, das gesamte Küchenpersonal war sogar vor allen anderen Dienern entlassen worden. Vielleicht hatte er aus diesem Grund nicht bemerkt, daß die Vorräte verdarben. Nicht Raub war es — sondern Vernichtung, bewußt ins Werk gesetzt. Das feine, weiße Mehl, aus dem die Weißbrötchen hergestellt wurden, die Balthasar so liebte, war voller Maden. Butter und Schweinefett waren ranzig, und der gute Käse war mit Schimmel überzogen. Das Fleisch war restlos von einer kleinen Armee von Ratten verzehrt worden. Zucker und Salz waren hart wie Ziegelsteine; Feuchtigkeit war eingedrungen und hatte sie so fest werden lassen, daß man sie erst wieder verwenden konnte, wenn die Knechte sie zerschlagen hatten. Das Gemüse war verfault. Und obwohl Apolon rätselte, wie es hatte geschehen können, war der Wein im verschlossenen und versiegelten Weinkeller zu Essig geworden. Übriggeblieben war nur die derbe Kost für die Dienerschaft getrocknete Bohnen und Erbsen, Gerste, gemeiner Weizen und Roggenmehl, gesalzener Fisch, Dörrfleisch, ein wenig Honig und Bauernkäse. Zudem war in den Holzkeller Wasser eingedrungen, und selbst das kleinste Holzscheit war feucht. Also würde Balthasar nichts anderes übrigbleiben, als kärgliche Soldatenkost zu sich zu nehmen und sich in ein ungelüftetes Bett zu legen, das man vom Speicher geholt hatte 257
noch dazu in einem frostig-kalten Raum mit einer qualmenden, blakenden Feuerstelle. Gerüchten zufolge sollte es im Palast spuken, Geister sollten des Nachts ihr Unwesen treiben, in aller Stille Verwüstungen anrichten und unbemerkt wieder verschwinden. Apolon hätte eines Menschen Werk dahinter vermutet, wenn die Dienerschaft nicht entlassen worden wäre, noch bevor der Schabernack seinen Anfang nahm. Außerdem wäre es einem Diener auf normalem, irdischem Weg unmöglich, Ratten in die Küche zu treiben oder den Wein in Hunderten von Flaschen sauer werden zu lassen ... Er spürte, wie sich ihm für einen Moment die Nackenhaare sträubten. Doch dann gewann sein Zorn wieder die Oberhand. Ob natürlich oder übernatürlich — er würde sich des Übeltäters annehmen! Er würde einen Schutzschild errichten, den nicht einmal ein Engel zu durchdringen vermochte, Fallen stellen, die selbst die kleinste Maus auslösen würde. Nun, da der Graue Magier die Sache in die Hand genommen hatte, sollte ein für allemal Schluß mit diesem Unfug sein. Die Realität kehrte wieder ein. Das alles konnte er tun - vorausgesetzt, er fand genug Zeit und magische Energie und konnte zugleich seine eigenen Pläne noch verfolgen. Er verlor hier und da noch immer einen Diener, doch jeder Sklave, den er einbüßte, war für immer verloren und mit ihm wertvolle Kraftreserven. Er mußte sie unbedingt wieder ersetzen. Er konnte seine Arbeit nicht ohne sie ausführen. Er mußte dringend die Prinzessin finden. Er brauchte ihre Gabe. »Bring meine Diener mit meinen Sachen zu mir«, fuhr er den wartenden Soldaten an. Apolons finstere Miene hatte den Mann offenbar in Angst versetzt; er verließ den Raum in einer Eile, die gar nicht zu seinem sonstigen überheblichen Verhalten paßte. Der Mann gehörte natürlich zu Prinz Leopolds Truppe. Der Prinz war viel zu vertraulich mit seinen Untergebenen umgegangen, was diese Überheblichkeit nur gefördert hatte. Nun, nachdem Balthasar sie Catal unterstellt hatte, würde der Kerl, noch ehe er es sich versah, an einen Pfahl gestellt und für sein Verhalten ausgepeitscht werden. Irgendwo in dieser Stadt mußte Apolon einen Ort finden, an den er sich zurückziehen konnte, an dem er seine Kunst in völliger Geheimhaltung und Sicherheit ausüben konnte. Im Palast war das nicht möglich. Er hatte sich vorgestellt, daß mit dem Einzug des Kaisers und seines Gefolges in Merina alles seinen Gang nehmen würde. Statt dessen waren
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ihm unerwartet viele Hindernisse in den Weg gelegt worden. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft gegen ihn arbeiten, unsichtbar wie der Gestank aus den Kanälen und ebenso durchdringend. Nun, wahrscheinlich ging diese »unsichtbare Kraft«, die gegen ihn arbeitete, von den lästigen, alten Waschweibern, Frauen wie Männern, dort oben im Tempel aus. In diesem Augenblick kamen seine Diener herein, angenehm leise und unterwürfig, beladen mit seinen Habseligkeiten. Er begab sich in den Wohnraum und wartete, bis sie seine Sachen eingeräumt hatten. Sie trugen das Eigentum der Prinzessin hinaus bis auf einen Kasten voll Juwelen, der auf einem Tisch im Schlafgemach gestanden hatte und von den Leuten des Kanzlers beschlagnahmt worden war. Drei solcher Kästen hatte es gegeben, einen in jedem Zimmer. Sie waren von den Dienern des Kanzlers fortgeschafft worden und sollten dem Schatz einverleibt werden. Das war gut so. Apolon hatte für Schmuck nichts übrig, was ihn dem Kanzler um so lieber machte. Während er dort saß und darauf wartete, daß die Zimmer für ihn hergerichtet wurden, entwickelte er einen Plan, nach dem er vorzugehen gedachte. Da seine Versuche, der Prinzessin habhaft zu werden, gescheitert waren, mußte er nach anderen Mitteln greifen, sie zu finden. Dafür aber — und um neue Schwarzmäntel erschaffen zu können — brauchte er einen sicheren und geheimen Ort, an dem er schwarze Magie ausüben konnte. Das also mußte sein vorrangiges Ziel sein: ein geeignetes Gebäude zu finden und zu übernehmen. Als nächstes mußte er sich um den Nachschub an Schwarzmänteln kümmern. Anschließend mußte Schelyra aufgespürt werden, denn dann würde er die Kraft benötigen, die ihr Tod ihm einbringen würde, um seine anderen Pläne verwirklichen zu können. Bevor er sich ihrer wirklich bedienen konnte, mußte er sich irgend etwas für diese Narren im Tempel einfallen lassen. Dafür brauchte er mehr Unterstützung von Catal und seinen Leuten. Ihr Versuch heute nachmittag war alles andere als erfolgreich verlaufen! Wenn dieser Leopold nicht gewesen wäre ... Apolon knirschte erneut verärgert mit den Zähnen. Dieser verdammte Leopold! Möglicherweise ließ sich dieser Schwachkopf auch noch von den frommen Narren im Tempel bezahlen! Und zweimal verflucht sollte er sein, weil er dann auch noch die Sache herausposaunt hatte, ehe Apolon zum Kaiser vordringen konnte, um die Dinge in die richtigen Bahnen zu lenken! 259
Er hatte sich schon seit langem des Prinzen entledigen wollen; der Junge rief bei Balthasar Erinnerungen an frühere Zeiten wach, und jedesmal, wenn dies der Fall war, mußte Apolon den Schaden wieder beheben, da Balthasar dann in gefährlich selbstloses Verhalten zurückfiel. Aber er wollte Leopold an einen Ort seiner, Apolons, Wahl verbannt sehen. Und der Sommerpalast war wirklich der letzte Ort im gesamten Weltkreis, den er gewählt hätte! Er hatte die Bibliothek mit den Büchern über Magie noch nicht gefunden, die sich, wie er wußte, im Besitz des Königshauses befand. Sie war nicht im Palast und nicht in den Zunfthäusern des Tigers. Es blieb nur ein Ort übrig - der Sommerpalast jenseits des Flusses. Und ausgerechnet dorthin hatte man diesen Störenfried Leopold geschickt! Leopold hatte bereits zu viele Fragen nach Apolons Tun gestellt, und Apolon war sogar fast versucht anzunehmen, daß es der Prinz und nicht Balthasar gewesen war, der die »Räumung« der Gemächer angeordnet hatte. Und nicht nur, daß es unmöglich war, die Bücher zu finden und fortzuschaffen, ohne daß Leopold davon erfuhr - wenn der Prinz zufällig eines dieser Bücher zur Hand nahm, war es mehr als wahrscheinlich, daß er genügend Hinweise erhielt, um nachvollziehen zu können, was Apolon tat. Wenn Leopold nur herausfände, wie Apolon für den Nachschub seiner Schwarzmäntel sorgte, wäre er auch in der Lage, Rückschlüsse auf Apolons endgültiges Ziel zu ziehen. Es war allerhöchste Zeit, daß er seinen Einfluß auf Catal geltend machte. Catal würde in der Lage sein, für einen zweckdienlichen Unfall zu sorgen. Doch zunächst gab es eine winzige Kleinigkeit, um die er sich kümmern mußte. Kanzler Adelphus zeigte eine ausgesprochene Zuneigung zu dem Prinzen, und es war denkbar, daß er versuchte, sich bei der Auswahl der Diener für den Sommerpalast einzumischen. Der Kanzler hatte seine Nützlichkeit als freier Mensch verwirkt; er hatte keine originellen Ideen mehr, und seine Kenntnisse konnten ebensogut von einer Marionette wie von einem denkenden Wesen in die Tat umgesetzt werden. »Eure Zimmer sind fertig, Herr«, sagte der Diener, der geräuschlos eingetreten war und in angenehm demütiger Haltung vor Apolon stand. Er war nicht eine seiner Marionetten, aber der Mann war so eingeschüchtert durch seinen Meister, daß der Unterschied kaum zu spüren war. Er wagte kaum zu atmen ohne Apolons Erlaubnis. 260
»Hol mir Kanzler Adelphus her«, sagte Apolon kurz. Der Mann verbeugte sich tief und zog sich zurück; die Marionettendiener watschelten herein und warteten auf weitere Befehle. »Macht Feuer in der Feuerstelle und bereitet meine Ausrüstung im Schlafgemach vor«, sagte Apolon. Das Feuer war dürftig und wärmte kaum, da es mit dem nassen Holz gemacht worden war, das alle anderen auch benutzen mußten, aber es war immer noch besser als gar kein Feuer. Und zumindest vermochte er die Lage ein wenig zu entschärfen, indem er einen Hauch von Magie einsetzte, so daß der Rauch in den Kamin entschwand und nicht ins Zimmer drang. Er wartete eine Zeitlang neben der Feuerstelle auf einem Stuhl, geduldig wie eine Spinne im Netz. Er konnte es sich leisten, geduldig zu sein. Der Kanzler wagte nicht, seine Aufforderung in den Wind zu schlagen; er würde auf jeden Fall kommen. Und das Ergebnis der Begegnung stand bereits fest, als er schließlich eintrat.
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39. Adele Nach der ersten Abendmesse fand Verit erst Gelegenheit, ausführlich zu schildern, was sich an diesem Tag abgespielt hatte. Ein heftiger Sturm hatte draußen eingesetzt, aber innerhalb des Tempels war das Heulen des Windes und das Donnergrollen nur als fernes Raunen zu vernehmen. Priester Fidelis zog Elfrida beiseite, als sie sich vom Herzen entfernten, und bedeutete ihr wortlos, ihm zu folgen. Da sie ihn zuvor schon im Meditationsraum gesehen hatte und wußte, daß er einer von Verits Vertrauten war, begleitete sie ihn zu einem Raum neben den Gemächern der Erzpriesterin. Es war eine kleine Zelle mit kahlen Mauern, in deren Mitte ein Steinaltar stand, ein Würfel, der Elfrida bis zur Brust reichte. Seine Grundfläche war fast so groß wie der Zellenboden. Der verbliebene Raum wurde von vier schmucklosen Holzstühlen mit hoher Lehne und Armstützen ausgefüllt. Das über dem Altar hängende Herz hatte die Ausmaße eines menschlichen Herzens und bestand aus einem Kristall mit rötlicher Färbung. Lydana würde wissen, was es ist, dachte Elfrida. Ich hoffe, es geht ihr gut, ihr und Schelyra. Priester Fidelis nahm auf dem Stuhl an der Ostseite des Altars Platz und wies Elfrida den Stuhl an der Nordseite an. Sie ließ sich schweigend nieder und fragte sich, was wohl geschehen würde und warum sie hier war. Erzpriesterin Verit betrat wenige Augenblicke später den Raum, gefolgt von der Braunen Kutte, die mit Priester Fidelis im Meditationsraum gewesen war. Sie setzten sich jeweils an die West- und die Südseite. Verit schlug das Zeichen des Herzens, und die anderen drei folgten ihrem Beispiel. Dann begann sie zu sprechen. »Finstere Zeiten sind über uns hereingebrochen«, sagte sie, »noch dunkler sind die Nächte. Ich habe Euch drei ausgewählt, um mit mir der finsteren Macht entgegenzutreten, die versucht, uns zu zerstören und das Herz für ihre eigenen Ziele zu mißbrauchen.« »Apolon«, sagte Elfrida. »Magier und Diener der Finsternis.« »Wenn er der Finsternis dient«, fragte die Braune Kutte, »ist dann die Nacht wirklich die beste Zeit, um gegen ihn zu arbeiten?« 262
Verit seufzte. »Priesterin Cosima«, sagte sie geduldig, »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, ich hätte heute tagsüber auch nur eine Minute Zeit gehabt?« Cosima schüttelte den Kopf. »Nein, Ehrwürdige.« »Neben den Vorkehrungen für den Tod der Königinwitwe und den Unannehmlichkeiten mit den Soldaten habe ich mehr Zeit, als mir lieb ist, damit verbracht, den Angehörigen unseres Tempels zuzuhören, die davon überzeugt sind, daß der Kaiser und sein Gefolge nichts Böses mit uns im Schilde führen.« »Nichts Böses?« fragte Cosima verblüfft. »Wie können sie das behaupten, nach dem, was heute nachmittag geschehen ist?« Verit verdrehte von Abscheu erfüllt die Augen. »Sie sind der Meinung, die Soldaten hätten nach einem Bürger gesucht, der etwas Unrechtes getan hat.« Cosima schüttelte ungläubig den Kopf, während Elfrida nickte. »Ich habe sie auch im Refektorium darüber reden hören«, bestätigte sie. »Dennoch habt Ihr nicht unrecht mit Eurer Vermutung«, fügte Verit hinzu. »Gewöhnlich ist der Tag die günstigste Zeit für diese Arbeit - die Diener der Finsternis können das Licht nur schwer ertragen. Aber wir wollen sehen, was Apolon treibt, und er arbeitet sehr wahrscheinlich eher jetzt als tagsüber.« Sie zog eine Glasscheibe aus einem Regal unter ihrem Sitz, erhob sich und legte sie auf den Altar zwischen die Kerzen, die an jeder Ecke brannten. Fidelis und Cosima standen ebenfalls auf, und Elfrida folgte hastig ihrem Beispiel. Verit blickte sie der Reihe nach an. »Fidelis und Cosima, ich denke, Ihr kennt Elfrida zumindest vom Sehen.« Die beiden nickten. »Ich habe sie gebeten, sich uns anzuschließen, weil ich glaube, daß sie Fähigkeiten besitzt, die für uns lebensnotwendig sind. Ich vertraue ihr vollkommen, und Ihr könnt es auch.« Sie deutete auf das Glas auf dem Altar. »Elfrida, ich denke, Ihr seid vertraut mit den Grundregeln des Kristallsehens, auch wenn Ihr diese Kunst noch nie geübt habt.« Elfrida nickte. »Dann laßt uns sehen, was wir nach dem Willen der Göttin sehen sollen.« Erneut schlug sie das Herzzeichen und streckte dann die Hände aus, um ihre Nachbarn an die Hand zu nehmen. Die anderen folgten ihrem Beispiel, so daß sie, sich an den Händen haltend, einen Kreis bildeten. Sie schauten auf das Glas. Elfrida schien es, als trübe sich das Glas vor ihren Augen. Dann wurde es wieder klar, und sie konnte einen Raum sehen, den sie als Schelyras Zimmer im Palast erkannte. Ein Mann in dunkelgrauer Kleidung schritt 263
wütend im Zimmer auf und ab und schrie den Soldaten an, der vor ihm stand. »Es war ein denkbar einfacher Befehl, Catal, und Ihr habt die Sache unglaublich verpfuscht! Schlimm genug, daß Eure Soldaten weder die Königin noch die Prinzessin finden können, aber wenn es ihnen sogar mißlingt, einen Leichnam aus einem öffentlichen Gebäude zu schaffen, in dem niemand außer ihnen Waffen trägt - seid ehrlich, Catal, warum geben wir uns dann noch mit Euren Truppen ab?« »Meine Männer hatten keine Schwierigkeiten, bis Prinz Leopold auftauchte und sie in die Baracken zurückschickte!« erwiderte General Catal zornig. »Warum beschwert Ihr Euch nicht bei ihm, Apolon?« »Um ihn werde ich mich kümmern, wenn es soweit ist«, knurrte Apolon. »Wäre es Euch wohl möglich, ein oder zwei Männer in Eurer großen Armee zu finden, die eine einfache Aufgabe bewältigen können? Vielleicht solltet Ihr eine kleine, schlagkräftige Truppe wenige Stunden vor Sonnenaufgang zum Tempel schicken, denn dies ist die Zeit zwischen den Messen, in der die Priester schlafen. Dann gelingt es Euch möglicherweise, mir diesen Leichnam zu besorgen.« »Was wollt Ihr überhaupt mit der Leiche der Königinwitwe anfangen?« murrte Catal. »Sie liegt schon seit heute vormittag aufgebahrt da; ich wette, die halbe Stadt ist inzwischen schon dort gewesen. Alle Welt weiß, daß sie tot ist - Ihr braucht doch nicht etwa die Leiche als sichtbaren Beweis!« »Was ich mit der Leiche anfange, laßt meine Sorge sein«, sagte Apolon kalt. »Kümmert Ihr Euch darum, sie mir herbeizuschaffen.« »Wie Ihr wollt«, sagte Catal schulterzuckend. »Aber an Eurer Stelle würde ich auf der Hut sein, Apolon. Nach Eurem Auftritt heute nachmittag, als der erste Versuch fehlschlug, glaubt bestimmt die halbe Armee, Ihr wärt ein Totenbeschwörer.« Apolon sandte dem hinausgehenden General ein grimmiges Lächeln nach. »Totenbeschwörer? Nein, nicht ganz. Doch selbst jene Narren kommen der Wahrheit näher, als sie glauben.« Verit unterbrach den Kreis und zog hörbar die Luft ein. Sie sank auf ihren Stuhl und lehnte sich an. Cosima kniete neben ihr nieder und ergriff ihr Handgelenk, offenbar um den Puls zu prüfen. Fidelis setzte sich ebenfalls hin, desgleichen Elfrida, die ein wenig verwirrt über Verits Erregung war. »Ehrwürdige, was bereitet Euch Kummer?« fragte sie. 264
»Der Leichnam«, keuchte Verit. »Schafft ihn hinaus und verbrennt ihn. Sofort.« »Verit«, sagte Fidelis ruhig, »draußen gießt es in Strömen. Nicht einmal einen Salamander könnten wir bei dem Sturm verbrennen.« »Dann nehmt das Feuer in der Küche.« Cosima blickte sie sonderbar an. »Wir können keine menschliche Leiche in der Küche verbrennen.« »Es ist keine menschliche Leiche«, sagte Elfrida. »Was ist es dann?« fragte Fidelis und riß verblüfft die Augen auf. Verit sammelte sich allmählich. »Wachs, Stoff und Holz.« Fidelis zuckte die Achseln. »Holz und Stoff können wir verbrennen. Ich hoffe, Wachs ist nur die oberste Schicht und kann abgekratzt werden.« »So soll es sein.« Elfrida hatte sich bereits erhoben. »Am besten, wir kümmern uns darum, während Ihr Euch erholt, Ehrwürdige.« »Wir gehen zusammen«, entschied Verit und stand auf, leicht auf Cosima gestützt. »Wir müssen den Sarg ohnehin zu viert tragen.« Als sie sich dem Haupttempel näherten, sagte Verit: »Haltet die Köpfe gesenkt. Es ist am besten, wenn niemand Eure Gesichter erkennt; die einzige, von der bekannt sein sollte, daß sie mit dieser Sache zu tun hat, bin ich. Und nun folgt mir.« Sie schritt mit hoch erhobenem Kopf auf den Altar zu, während die drei anderen ihr folgten, das Haupt gesenkt und die Hände in den Ärmeln verborgen. Verit sprach kurz mit den Priestern, die an beiden Enden des Sarges standen; sie nickten und begaben sich an ihren Platz in den Chorzellen. Sie blies alle Kerzen am Sarg aus, dann nickte sie ihren Begleitern zu. Jeder nahm eine Ecke des Sarges, und sie trugen ihn hinaus über den Korridor. Niemand folgte ihnen, und auch die Küche war zu dieser nächtlichen Stunde leer. Dort angekommen, war Verit wieder ganz die alte. »Elfrida, Ihr bewacht die Tür«, befahl sie knapp. »Cosima«, sie reichte ihr Hände und Kopf des vermeintlichen Leichnams, »das hier ist aus Wachs, bitte schmelzt es zusammen. Wir können es noch für die Arbeitskerzen im Aufenthaltsraum benutzen.« »Wenn Ihr Schminke aufgetragen habt, müssen wir sie zuerst abwaschen«, sagte Elfrida, ohne ihren Posten an der Tür zu verlassen. Sie war froh, daß Verit sie nicht gebeten hatte, beim Abtrennen der Gliedmaßen vom Körper behilflich zu sein; sie hatte bei der ganzen Sache ohnehin
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schon ein mulmiges Gefühl. Sie hätte nie gedacht, daß Sterben mit solchen Schwierigkeiten verbunden sein könnte. Sie vernahm das Prasseln des Feuers, das sie auf den glühenden Kohlen entfachten, und das Geräusch des Regens, der gegen die Küchenfenster schlug. »Das Kleid hier wird nicht brennen«, murmelte Verit. »Zu viele Goldfäden und zu viele Juwelen.« »Betrachtet es als Spende an den Tempel«, sagte Elfrida. »Steckt es in eine Truhe im Nähzimmer; es kann auch später noch auseinandergenommen werden.« »Der Gedanke ist gut«, erwiderte Verit, »doch vorläufig werden wir es in den Tunnel hinter dem Meditationsraum legen. Ich fühle mich außerstande, heimlich ins Nähzimmer zu schleichen; ich habe mich heute nacht schon genug herumgedrückt.« »Das dürfte uns allen so gehen«, sagte Cosima vom Herd aus. »Fidelis, weißt du, wo die Kerzenformen sind? Solange das hier flüssig ist, kann ich sie ebensogut auch gleich gießen.« »Zwei Schränke weiter, die zweite Schublade von oben«, antwortete Fidelis. »Verit«, fügte er hinzu, »was stimmt hier nicht? Warum haben wir es so eilig, diesen Körper zu zerstören — abgesehen davon, daß es kein Körper ist? Weiß Apolon, daß es eine Fälschung ist?« »Das bezweifle ich«, erwiderte Verit grimmig. »Apolon ist ein Totenbeschwörer.« Dieser Feststellung folgte ein entsetzter Ausruf aus drei Kehlen. »Seid Ihr sicher?« fragte Elfrida und wandte den Kopf, um Verit anzuschauen. »Habt Ihr nicht gehört, was er gesagt hat, Elfrida?« Verit legte die Stirn in Falten. »Ich ging davon aus, daß Ihr dasselbe gesehen und gehört habt wie wir auch.« »Ich sah und hörte Apolon, wie er General Catal anschrie, weil es ihm mißlungen war, die Leiche heute vormittag zu holen - wann geschah es genau? Ich habe es nicht mitbekommen.« »Ich auch nicht«, fügte Fidelis hinzu. »Ich wünschte, das könnte ich auch sagen«, murmelte Cosima mit düsterer Miene. »Ich mußte die Verwundeten versorgen.« »Zumindest sind keine Toten zu beklagen«, versuchte Verit sie zu trösten. »Es war wirklich ein ereignisreicher Tag. Als ich heute morgen die Beichte abnahm, kam ein Mädchen und berichtete mir von einem Seemann, der einen Schwarzmantel gesehen hatte, den er kannte - der Mann war vor einigen Jahren im Kampf gefallen.« 266
»Kanntet Ihr das Mädchen?« fragte Fidelis. »Nein«, erwiderte Verit, »aber sie hat mir die Losung genannt. Die Neuigkeiten, die sie überbrachte, kamen von der Königin.« »Dann ist die Königin noch am Leben und frei«, sagte Cosima mit sichtlicher Erleichterung. »Ja, ich habe sie später auch noch gesehen. Sie kam, um den Leichnam ihrer Mutter zu betrachten.« »Hat sie gemerkt, daß es eine Fälschung ist?« Elfrida tat, als frage sie aus reiner Neugier. »Ich bin mir ziemlich sicher«, sagte Verit, »aber dann geschah das mit dem Herzen, und die Soldaten überfielen uns. Dabei verschwand sie im allgemeinen Durcheinander, so daß ich nicht die Möglichkeit hatte, mit ihr zu reden.« »Was ist denn überhaupt mit dem Herzen geschehen?« fragte Elfrida. »Es sieht aus, als würde es demnächst auseinanderbrechen, und das kann nicht sein.« Cosima lachte in sich hinein. »Elfrida, Ihr habt keinen Sinn für das Wunderbare. Das Herz hat geblutet — da könnt Ihr jeden fragen, der dabei war. Sie sprechen von einem Wunder: Das Herz hat aus Trauer um den Tod der Königinwitwe geblutet.« Das war zuviel; Elfrida sank zu Boden und lachte hysterisch. »Eine Leiche aus Holz, Stoff und Wachs, und ein Herz, das >Rubine< ausblutet. Hat es jemals ein widernatürlicheres Begräbnis gegeben?« »Es wird natürliche zuhauf geben«, erinnerte Fidelis sie mit düsterem Blick. Das Lachen erstarb.
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40. Apolon Apolons Diener hatten ihrem Herrn ein wenig appetitliches Mahl aus Erbsensuppe und grobkörnigem Brot gebracht und das Feuer noch einmal angefacht, bevor Adelphus endlich erschien. Der Kanzler warf einen raschen Blick auf das Tablett auf dem Tisch und verzog das Gesicht beim Anblick der Essensreste. »Ich sende die Diener nach besseren Vorräten aus, bevor wir morgen unser nächtliches Fasten brechen«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Sie haben Anweisung, die Häuser der Reichen zu plündern, wenn sie auf dem Markt nichts finden. Wir wollen nicht noch einmal vor einem solchen Essen sitzen, solange ich in dieser Hinsicht noch etwas zu sagen habe.« »Ihr müßt Euch nicht bei mir entschuldigen«, sagte Apolon aalglatt. Sein Blick fiel auf einen neuen Ring an der Hand des Kanzlers, einen großen, glitzernden Diamanten, den Adelphus noch nie zuvor getragen hatte. Nun gut. Schön, schön, schön. Also war der Kanzler inzwischen so habgierig, daß er sich selbst bediente? Um so besser war es, Adelphus in seine Gewalt zu bekommen, bevor seine Habgier Apolons Pläne durchkreuzte. »Ich habe im Lager schon Schlimmeres zu mir genommen«, fuhr der Graue Magier mit berechnender Leutseligkeit fort. »Ich habe meinen Diener gebeten, Euch zu mir zu führen, weil im Schlafgemach der Prinzessin etwas war, das Ihr Euch ansehen solltet. Und zwar etwas, das nicht fortgeräumt werden konnte.« Erwartungsgemäß ging der Kanzler sofort davon aus, daß dieses »Etwas« wertvoll sein mußte. »Oh?« erwiderte Adelphus, und in seinen Augen blitzte die Habgier auf. »Gut, daß Ihr sofort nach mir geschickt habt. Wir wollen es uns ansehen, was immer es sein mag.« »Natürlich.« Apolon lächelte, erhob sich von seinem Stuhl und gab seinen Dienern hinter dem Rücken des Kanzlers ein Zeichen. Der eine ging zur äußeren Tür der Zimmerflucht und sicherte sie, während der Kanzler in das Schlafgemach schritt; der zweite stand neben der Tür zum Schlafgemach, verschloß und verriegelte diese, nachdem sie die 268
Schwelle überschritten hatten, der dritte und größte stellte sich hinter den Kanzler. »Nun?« fragte Adelphus und schaute sich neugierig im Zimmer um. »Wo ist es?« Auf ein neuerliches Zeichen Apolons packte der dritte Diener den Kanzler, fesselte ihm die Hände auf dem Rücken, noch ehe er überhaupt begriff, wie ihm geschah. »Das hier«, sagte Apolon, als der vierte Diener den Kanzler um den Hals packte und würgte. Adelphus, dessen Gesicht zuerst blau, dann rot anlief, strampelte in den Armen des Dieners wild um sich und rang nach Luft. Es nützte ihm nichts. Dieser Mann war zu seinen Lebzeiten ungewöhnlich stark gewesen, und jetzt, da er tot war, hinderten ihn so kleine Unannehmlichkeiten wie ein schmerzhafter Tritt nicht weiter daran, seine Kraft unvermindert einzusetzen. Der Diener, der den Kanzler würgte, war Steinmetz gewesen und hatte große, kräftige Hände. Das Ende trat ebenso rasch wie unausweichlich ein; der Kanzler trommelte mit den Absätzen auf den Boden, ehe er sein Leben aushauchte - weitaus leiser, als er es begonnen hatte. Auf diesen Augenblick hatte Apolon gewartet. Die Seele hatte den Körper noch nicht verlassen — und würde es jetzt auch nie mehr tun. Apolon langte nach einem Netz aus blutdurchtränkter Seide, an dem Kupfergewichte aus Sargnägeln hingen und hundert verzwickte Zaubersprüche angebracht waren, während er die beiden Diener anwies, den Körper zu Boden sinken zu lassen. Er warf das Netz darüber und fing die Seele ein, ehe sie entweichen konnte. Sie sträubte sich - länger, als Apolon angesichts der wechselvollen Vergangenheit des Kanzlers erwartet hätte. Häufig hatten es Seelen, nachdem sie sich ins Unvermeidliche geschickt hatten, nicht sonderlich eilig, ihr Urteil zu empfangen. Der Kanzler mußte sich seines Lebens nach dem Tode viel sicherer gewesen sein, als Apolon es ihm zugetraut hätte. Sei's drum. Die Seele war eingefangen; nun mußte er sie binden. Apolon ging langsam auf den Tisch neben dem Bett zu und zog einen kleinen Dolch mit schwarzem Griff aus seinem Gürtel. Damit öffnete er sich eine Vene im Handgelenk und ließ Blut in dünnem Strahl in eine Kupferschüssel laufen. Er sprach die Worte einer Anrufung, Worte, die mit dumpfer Eintönigkeit in die Stille drangen. So nah beim Tempel wagte er nicht, eine größere Anrufung auszusprechen, doch die kleine würde genügen. 269
Es wurde noch stiller, selbst der leiseste Hauch von Wärme, der in der Luft gehangen hatte, verflüchtigte sich, bis Apolon mit jedem Atemzug Nebelschwaden in die völlige Lautlosigkeit ausstieß. Bei den Dienern war es natürlich anders, da ihr Atem ohnehin nur noch flach und kalt war. Die glasige Oberfläche des abkühlenden Blutes in der Kupferschüssel kräuselte sich, als wehte ein unsichtbarer Wind darüber hin, obwohl sich kein Lüftchen regte. In der Mitte der Schüssel entstand ein winziger Wirbel, ein Strudel, der das Blut in der Schüssel langsam aufsog, bis der letzte Tropfen spurlos verschwunden war. Die Schüssel begann in sonderbarem Grüngelb zu schimmern. Darauf hatte Apolon gewartet. Er zeigte auf den am Boden liegenden Körper, der noch immer mit dem rotbraunen Seidennetz bedeckt war. »Binde«, sagte er knapp. Der Lichtglanz erhob sich aus der Schüssel, hing für einen Augenblick in der Luft und senkte sich dann auf den Körper. Die Diener wichen bis an die Mauern zurück. Das taten sie stets, und manchmal fragte sich Apolon, ob sie sich vielleicht ganz schwach an den Schmerz ihrer eigenen Bindung erinnerten? Der Glanz bedeckte den Körper und das Netz vollkommen, und ein leises Stöhnen entrang sich den bläulichen Lippen des Kanzlers. Der ganze Körper bebte, die Hacken trommelten erneut dumpf auf den Boden. Apolon wartete, während das Zittern nachließ; langsam richtete sich der Kanzler auf, kam unbeholfen auf die Füße, noch immer im Netz gefangen. Nun streckte Apolon die Hand aus und zog das Netz mit einem Ruck ab. Er bedeutete dem Diener, der ihm am nächsten stand, es an sich zu nehmen. Der Glanz blieb noch eine Weile auf dem Körper des ehemaligen Kanzlers liegen, während die bläuliche Farbe wich, die Druckstellen am Hals verschwanden und Leben in Adelphus' Gesicht zurückkehrte. Apolon sprach noch drei Worte der Macht; mit dem einen entließ er das angerufene Wesen, mit dem zweiten versiegelte er den Körper vor Verwesung, und mit dem dritten erlaubte er Adelphus zu reden, wenn er gefragt wurde. Der Kanzler starrte den Grauen Magier aus verschleierten Augen an, in denen gleichwohl blankes Entsetzen zu erkennen war. Adelphus wußte, was ihm zugestoßen war - und er wußte, daß er völlig hilflos war und nichts dagegen tun konnte. »Du wirst deinen üblichen Pflichten nachkommen, soweit du dich daran erinnerst«, trug Apolon ihm auf. »Du wirst Balthasar keinen Rat 270
erteilen, den du nicht zuvor von mir erhalten hast. Wenn er dich außerhalb deiner Anweisungen um deine Meinung fragt, wirst du dir Bedenkzeit ausbitten. Wenn er dich nach Leopold fragt, richte dich nach Catals Rat.« Er dachte einen Augenblick nach. Schwäche hatte sich wie ein Nebel über ihn gelegt, und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wollte das Haus des Keilers haben — er mußte in Erfahrung bringen, ob Catal es noch besetzt hielt. Die Vorstellung indes, in diesen Sturm hinausgehen zu müssen, der vermutlich bis zum nächsten Morgen anhalten würde, war ihm zuwider. »Geh zum Haus des Keilers und sieh nach, ob Catal es noch braucht«, befahl er dem Kanzler. Eiskalte Regenschauer und wütende Winde waren für Adelphus zu Belanglosigkeiten geworden, die ihm nichts mehr ausmachten. »Wenn nicht, beschlagnahme es in meinem Namen. Dann komm zurück und berichte meinen Dienern, was du erreicht hast.« Sollte Catal das Haus noch für sich beanspruchen, konnten sie am folgenden Tag darüber verhandeln. Was er dem General anzubieten hatte, wäre gewiß ein angemessener Tausch gegen ein einfaches Gebäude. Der Kanzler verbeugte sich steif. Damit waren alle vordringlichen Probleme erledigt. Apolon würde der Marionette am nächsten Morgen weitere Instruktionen erteilen, nachdem er sich ausgeruht hatte. Er hatte dem Dämon, der die Bindung vorgenommen hatte, einen Viertelliter Blut geschenkt, und er fühlte sich ein wenig schwach. Im Idealfall hätte er dem Dämon das Blut eines anderen gegeben, aber er hatte nicht riskieren wollen, daß der Kanzler laut aufschrie, wenn man ihm die Kehle aufgeschlitzt hätte. »Komm morgen früh wieder und hol dir weitere Anweisungen ab«, sagte er abschließend und mußte sich an der Tischkante festhalten, um nicht umzusinken. »Du kannst gehen.« Der dritte Diener entriegelte und öffnete die Tür, und alle Marionetten verließen den Raum, da sie die Entlassung auch auf sich bezogen. Apolon war das recht; er ließ sich nicht gern von Marionetten entkleiden und zu Bett bringen, es sei denn, er war nach einer Totenbeschwörung zu schwach, um es selbst zu tun. Sich an Möbelstücken abstützend, erreichte er das sichere Bett und zog sich soweit wie nötig aus, um bequem schlafen zu können. Die Seele des Kanzlers war nun an dessen Körper gebunden und hauchte ihm Leben ein, war aber völlig Apolons Willen unterworfen. Nur ein 271
Mensch von äußerster Frömmigkeit konnte sich erfolgreich gegen eine solche Bindung zur Wehr setzen, und Adelphus gehörte schwerlich zu den Frommen. Von Nachteil war, daß die Seele nicht mehr zu eigenständigem Denken fähig war, was bedeutete, daß ein schöpferischer Mensch nicht mehr in der Lage war, Schöpferisches zu leisten, sondern nur wiederholen konnte, was er in der Vergangenheit getan hatte. Adelphus war einst ein sehr schöpferischer Denker gewesen, doch seit einiger Zeit hatte er keine genialen Geistesblitze mehr gehabt. Und jetzt würde er ganz gewiß keine mehr haben — aber Apolon war gern bereit, für sie beide zu denken. Catal hatte er vor allem deshalb nicht in seine Gewalt gebracht, weil er, Apolon, sich in militärischen Fragen nicht so gut auskannte und fürchtete, daß es mit den leichten Siegen, die Catal bisher errungen hatte, zu Ende sein könnte, wenn er den General zu seiner Marionette machte. Aber er hatte ihn fest genug im Griff, um ihn zu beherrschen; sie hatten einen ähnlichen Geschmack, was ihre Vergnügungen betraf, denen Catal aufgrund seiner Position und seines Ranges nur mit großen Schwierigkeiten zu frönen vermochte. Aber Catal liebte es, darin zu schwelgen, und Apolon machte sich diese Tatsache zunutze. Er versorgte den General, und dieser würde fast alles tun, damit das so blieb. Catal war als freier Mann entschieden nützlicher denn als Marionette. Apolon legte sich steif ins Bett und schauderte ein wenig, als er die eiskalten, feuchten Laken spürte. Wütend brauste der Sturm, der draußen tobte, gegen den Zauber an, der sein Feuer nährte; er hatte das Gefühl, daß er ohne seine Vorsichtsmaßnahme in dieser Nacht nicht nur auf kalten, feuchten Laken geschlafen hätte, sondern obendrein in einem verräucherten Raum ohne Feuer. Für einen Augenblick loderte erneut Wut in ihm auf. Doch er sagte sich, das alles spiele keine Rolle. Morgen würde Adelphus dafür Sorge tragen, daß überall wieder Bequemlichkeit einkehrte, wobei Apolon erst an zweiter Stelle hinter Balthasar rangierte. Vorübergehend, so wie seine Schwäche nur vorübergehend war. Und das Ende der Geschichte war jede Unannehmlichkeit wert.
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41. Lydana Das Haus des Keilers war eines der wenigen größeren Gebäude in Merina. Es grenzte mit der Rückseite direkt an einen Kanal und hatte daher weder Garten noch Hof. Der Haupteingang lag auf der anderen Seite des Gebäudes zur Straße hin. Über dem Kanal gab es jedoch noch eine breite Speichertür, aus der schweres Gerät in Lastkähne geladen werden konnte. Sie hatten eine aufregende Fahrt durch die Stadt hinter sich. Nicht Mathilde, sondern ein Mann aus Jonas' Gefolge führte die Gruppe an, und die Art, wie er sowohl mit den Booten als auch mit der bunt zusammengewürfelten Schar umging, weckte in ihr höchste Bewunderung. Sie hatten etwa acht Flußratten bei sich, die zu nächtlichen Beutezügen hervorragend geeignet waren (und nachtschwarze Dunkelheit hatte sie in der Tat umhüllt, denn alle Laternen waren durch Regen und Wind gelöscht worden), sowie Mathildes kleinen Gefährten und vier seiner Kameraden, die sich in den verwinkelten Gassen gut auskannten. Mathilde hatte erwartet, daß Jonas Einwände gegen die Teilnahme der Jungen erheben würde, aber der Wirt nahm ihre Gegenwart ganz selbstverständlich hin. Ja, es war ein abenteuerlicher Weg gewesen. Bevor sie sich auf das Wasser begaben, mußten sie sich zuweilen an den Händen halten und eine Kette bilden, damit niemand vom Wind weggefegt oder vom Regen geblendet wurde und unterwegs verlorenging. Im Boot klammerte sich Mathilde mit Todesverachtung an die nächstbeste Ruderbank, blind und taub von dem Wüten der Naturgewalten um sie herum. Doch nun legte ihr Anführer, ein gewisser Dortmun, mit dem Boot an einer glatten Gebäudewand an. Sie waren am Ziel. »Los, ran, Jungs!« Sein scharfer Befehl ging im Geheul des Sturmes beinahe unter, aber offenbar hatte er seinen Leuten zuvor genaue Anweisungen erteilt, was zu tun war. Ein Seil zischte durch die Luft, geworfen von geübter Hand. Es mußte jedoch ein zweites Mal geworfen werden, was Dortmun zu einer bissigen Bemerkung veranlaßte. 273
Dann verfing sich der Haken am Ende des Seils in einem versteckten Mauervorsprung hoch über ihren Köpfen. Im Licht eines aufzuckenden Blitzes sah Mathilde, daß eine schmale, jugendliche Gestalt an der Hauswand hochkletterte, um zur Speichertür zu gelangen. Auch fiel ihr auf, daß einige durchtrainierte Burschen aus Dortmuns Gruppe sich inzwischen in Heck und Bug des Bootes verkrochen hatten. Die nächsten Minuten schienen wie eine Ewigkeit, herausgelöst aus dem Lauf der Zeit. Dann fiel von oben ein Seil herunter, das hart auf Mathildes Schulter traf. Dortmun hatte sich zu ihr vorgekämpft und erteilte weitere Befehle, die ihr in den Ohren gellten. »Da sind Halterungen dran für Hände und Füße. Ich geh' zuerst, komm sofort hinterher, wenn du da mitmachen willst.« Er schwang sich an ihr vorbei in die Lüfte. Froh, daß ihre Bewegungsfreiheit in dieser Nacht nicht von Röcken eingeschränkt wurde, streckte Mathilde suchend eine Hand in die Höhe, bis sie an einer verknoteten Schlinge Halt fand. Das reichte für den Anfang, doch unter der Wucht des Sturmes, der sie wie eine Fahne packte, vermochte sie die Kletterpartie kaum zu bewältigen. Schließlich wurde sie von kräftigen Händen an Schultern und Armen gepackt und hochgezogen. Sie fiel in ein dunkles Loch, in dem es nach Öl, Metall und Schimmel stank. Sie rührte sich nicht von der Stelle, bis auch der letzte aus ihrer Gruppe den Speicher erreicht hatte. Obwohl für Mathildes Handwerk keine größeren Gebäude erforderlich waren, wußte sie, daß fast alle großen Häuser nach demselben Plan errichtet waren. Aus der Dunkelheit vernahm sie ein Rasseln, dem ein erstickter Ausruf folge, dann schloß sich eine schwielige Hand um ihren Arm, glitt zum Handgelenk hinunter, und sie wußte, daß sie sich dieser Führung anvertrauen mußte. Sie kamen nur langsam voran, denn sie mußten sich den Weg um große Hindernisse herum bahnen. Mathilde vernahm Grunzlaute, abgehackte Flüche, und sie selbst stieß sich das Knie an einer hüfthohen Kiste an. Plötzlich sahen sie einen dünnen Lichtstrahl vor sich, der durch eine winzige Bodenritze drang. War es eine Falltür, die einen spaltbreit offenstand? Die Gruppe rückte eng zusammen, und die dunklen Umrisse eines Kopfes schoben sich langsam vor den hellen Spalt. Offenbar versuchte einer von ihnen herauszufinden, was vor ihnen lag. »Alles ruhig«, vernahmen sie ein heiseres Flüstern. »Jakkey, du kannst den Flaschenzug ausfahren.«
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Als Antwort ertönten Kratzgeräusche im Dunkeln. Inzwischen wurde der helle Spalt im Boden immer breiter. Schließlich wurde die Tür ganz geöffnet und lautlos auf den Boden zurückgeklappt. Das Licht, das in der pechschwarzen Finsternis auf dem Speicher so hell erschienen war, erwies sich als der schwache Schein einer einzelnen Kerze. Mathilde schob sich nach vorn, denn sie wollte unbedingt auch einen Blick nach unten werfen. Sie schaute in einen Raum, der zum größten Teil im Dunkeln lag, so daß sie nicht erkennen konnte, ob es ein zweiter Speicher war. Auch dort stapelten sich Kisten, Fässer und Pakete, die in Hüllen aus ungegerbtem Leder eingenäht waren - zur Verschiffung bestimmtes Frachtgut. Sie konnte sogar teilweise die großen Zeichen auf den Seiten erkennen, die als Bestimmungsort allerlei Länder in Übersee angaben. Neben einer Tür am Ende des Raumes steckte eine dicke Kerze in einer windgeschützten Laterne. Nichts rührte sich da unten, also gab es keine Wache. Die ganze Gruppe ließ sich an einem Seil herab, die meisten mit einer Leichtigkeit, die langjährige Übung mit sich bringt. Sobald sie unten angekommen waren, legte Dortmun beinahe feierlich eine Hand auf Mathildes Schulter. »Wohin?« fragte er kaum hörbar. Sie rief sich all das ins Gedächtnis, was sie von der Edelfrau Fortuna erfahren hatte. In den beiden oberen Stockwerken lagerte Frachtgut, das direkt in die Schiffe auf dem Kanal umgeladen werden konnte. Darunter lag die Wohnung der Familie, und im Erdgeschoß befand sich die Werkstatt. Wo Saxon indes sein mochte, konnte sie nicht sagen, sie wußte nur, wohin sie selbst zuerst gehen mußte. Sie flüsterte Dortmun die entsprechenden Anweisungen ins Ohr, die er mit einem Brummen quittierte. Er wandte sich um, packte einen seiner Männer und wiederholte, was sie gesagt hatte. Mathilde wandte sich bereits der Tür zu, doch sie war nicht als erste dort. Ihr kleiner Gefährte stand schon dort, ein wenig geduckt, und machte sich eifrig mit seinen scharfen, waffenartigen Krallen an dem Schloß zu schaffen. Wie auch immer das Schloß ausgesehen haben mochte, es gab dieser gründlichen Bearbeitung bald nach. Schon schlüpfte er durch die Tür, Mathilde an seiner Seite. »In die Große Empfangshalle des Meisters ...« Doch der Aal benötigte die Anweisung nicht, denn er war bereits auf dem richtigen Weg. Der Raum, den sie durchquerten, war schmal und endete an einer Treppe, die breit genug war für die Waren, 275
welche über ihnen lagerten. Von fern vernahmen sie noch immer das Heulen des Sturms, aber ansonsten herrschte völlige Stille, als wäre das Gebäude gänzlich unbewohnt. Am Fuße der kurzen Treppe befand sich ein kleiner Treppenabsatz, von dem zwei Türen abgingen. Hier gab es wieder eine Laterne, in der eine Kerze brannte. Mathilde zeigte auf die rechte Tür. Der Aal kniete nieder und drückte ein Ohr gegen die Holztür. Er hob eine Klauenhand und bedeutete ihr, vorsichtig zu sein. Die Tür war nicht verriegelt, denn er öffnete sie bereits behutsam. Dahinter war es heller. Mathilde konnte durch den Türspalt nur wenig sehen, doch das, was sie suchte, hing direkt an der gegenüberliegenden Wand. Zwischen Tür und Wand lag die große Empfangshalle, über die schwere, verzierte Möbel wie Inseln verstreut waren. Zwei Männer saßen auf hohen, stoffbezogenen Stühlen — Söldner, die sich eine heimliche Ruhepause gönnten. Sie saßen zu beiden Seiten einer durchsichtigen Scheibe, die anscheinend mit der Mauer verschmolzen war. Es war die Abdeckung für das Schwert, das dort glanzlos im Halbdunkel hing, als wäre es ein fühlendes Wesen, das sich vor seinen Feinden zu verbergen suchte. Wärme breitete sich auf Mathildes Brust aus. Sie spürte, wie die Kraft des Rubins erwachte, und legte die Brosche, an der inzwischen zwei Steine saßen, in die Höhlung der linken Hand. Ihr kleiner Gefährte beobachtete sie, ballte eine Faust, die er vor und zurück schwingen ließ, und richtete die Klauen angriffsbereit gegen die Wachen. Was Mathilde nun tat, war völlig verrückt, und das wußte sie - aber alles stand ihr so klar vor Augen, als würde sie vom Willen eines anderen gelenkt. Sie schlüpfte durch die Tür und schlich mit wild klopfendem Herzen zu einem breiten Sofa, auf dem ein Stapel Vorhänge lag, um sich dahinter zu verbergen. Der Aal folgte ihr nicht. Doch auch er rückte vor, allerdings in die andere Richtung. Mathilde blieb nur zu hoffen, daß er jede Möglichkeit der Deckung ausnutzen würde, um zu den beiden faulenzenden Wachen zu gelangen. »Kommt der alte Griesgram heute abend wieder?« »Sähe ihm ähnlich — will uns bestimmt beim Rumtrödeln erwischen. Bei dem Wetter heute nacht denkt er sicher, wir wären nicht auf Wache.« Der Mann rülpste laut. Es roch nach Bier. 276
»Heute nacht kommt keiner«, sagte der andere und schien sich seiner Sache sicher. Er gähnte. Auf den Knien hatte er sein blankes Schwert liegen. Die Hitze in Mathildes Hand brannte jetzt wie loderndes Feuer. Einer plötzlichen Eingebung folgend, warf sie die Brosche von sich, so daß sie zwischen die beiden Männer fiel und direkt vor der Schwertwand liegenblieb. »Was ...« Einer der beiden Wächter erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und fiel wieder zurück. Er vermochte den erstaunten Blick nicht von der roten Feuerkugel zu lösen, so daß er den Kopf im spitzen Winkel verdreht hatte. Dann kippte er mit dem Oberkörper nach vorn, bis der behelmte Kopf auf den Knien lag. Sein Kamerad folgte ihm nur einen Augenblick später und verharrte in derselben verkrampften Haltung. Mathilde schoß vorwärts und drückte zu beiden Seiten der Schutzscheibe mit der flachen Hand gegen die Mauer. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach den Zauberworten, mit deren Hilfe man verriegeln, aber auch öffnen konnte. Die Abdeckung verschwamm und verschwand schließlich. Mathilde biß sich auf die Lippe. Was sie nun tat, mochte den Kräften des Bösen dienen, aber das mußte sie in Kauf nehmen. Sie hatten so wenig Waffen, und sie kämpften gegen eine Finsternis ohnegleichen, die sich ihrem Verständnis entzog. Sie versuchte nicht, das Schwert aus seiner uralten Halterung zu nehmen; sondern sie zog die Manschette hervor, die sie so sorgfältig bearbeitet hatte. »Allmächtige«, sie formte die Worte mit den Lippen, ohne sie laut auszusprechen, »in Deinem Namen vollbringe ich diese Tat, so daß alle, die Deine Kinder sind, dem Bösen widerstehen können.« Flüchtig dachte sie an den Mann, der dieses Schwert vermutlich geschmiedet hatte, und fügte tief einatmend hinzu: »Wenn hierbei auch nur das kleinste Übel ist, dann nehme ich es auf mich. Ein schreckliches Schicksal soll mir allein widerfahren.« Sie streckte eine Hand aus und ließ die Manschette über den schmucklosen Schwertknauf gleiten. Er rutschte ganz leicht daran herab und blieb an einer Stelle stecken. So merkwürdig es war, die Manschette verlor, sobald sie mit dem glanzlosen Stahl in Berührung kam, ebenfalls ihren Glanz und schien in ihrer neuen Fassung zu verblassen. Mathilde versiegelte die Schwertnische wieder, bückte sich, um den Feuerball aufzuheben, und schlich mit langen Schritten davon. Der Aal trat aus dem Schatten eines großen Stuhls, und schon waren sie auf dem Weg zur Tür, sorgsam auf Deckung bedacht. 277
»Sapperlot!« Metall klirrte auf dem Steinboden. Ein Wächter hatte sich gestreckt, und sein Schwert war ihm von den Knien gerutscht. Sein Kamerad richtete sich blinzelnd auf und wandte mit einem kurzen Schreckenslaut den Kopf zum Schwert. »Keiner hat's berührt«, verkündete er laut. »Weiß auch nicht, was ...« Er schob den Helm zurück, um sich die Stirn zu reiben. »Nichts ist passiert.« Der leichte Anflug von Unwohlsein auf seinem Gesicht verschwand. »Ach ja —« Mathilde und ihr Gefährte hatten wieder das schützende Sofa erreicht. Mathilde glaubte, sie könnte es noch nicht wagen, zur Tür zu gehen. Die Wachen (obwohl sie offenbar nicht wußten, was geschehen war) befanden sich möglicherweise noch in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit. Doch plötzlich packte der Aal sie, zog sie noch weiter nach unten und drängte sie, unter das breite Sofa zu kriechen. Kaum war Mathilde unter dem Sofa, wurde die Tür weit aufgerissen. Die Wachen schienen die Gefahr ebenso gerochen zu haben wie der Aal, da sie beide aufgesprungen waren, die blanken Schwerter gezückt. Der Anführer der hereinstürmenden Horde war ein hoch aufgeschossener Mann mit schwerfälligem Gang, der dem eines Bergbären glich — und ebenso wie diese Tiere blickte er aus wütenden, blutunterlaufenen Augen argwöhnisch in die Runde. »Mehr Licht!« Er schnippte mit den Fingern, worauf zwei seiner Leute mit großen Öllampen neben ihn traten. Sie blieben an seiner Seite, als er mit schweren Schritten zur Wand ging, bis er vor dem Schwert stand. Das Gesichtsfeld der beiden in ihrem Versteck war begrenzt, aber Mathilde war sicher, daß es sich um Catal handelte, der noch einmal hergekommen war, um den Gegenstand zu betrachten, den er in ganz Merina am meisten begehrte. »Schafft sie herein, aber schnell!« ertönte ein weiterer schroffer Befehl. Das einzige, was die beiden unter dem Sofa sehen konnten, waren eine Reihe Stiefel, die einen, wie sie für die Söldner üblich waren, die anderen, die auch Bewohnern der Stadt gehören konnten. »So, und jetzt zerschlagt es! Los, hört ihr? Legt das Ding da frei, oder ich lasse euch die Gedärme rausreißen und Bogensehnen draus machen! Los, macht schon!« Die einzelnen Schläge ertönten nun in so rascher Reihenfolge, daß sie fast nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, und verur
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sachten selbst in einem so großen Raum wie der Empfangshalle einen ohrenbetäubenden Lärm. Schließlich barst etwas hörbar entzwei. »Geschafft!« erklang die Stimme des Generals triumphierend. »Aus dem Weg, Gesindel!« Sie vernahmen ein Geräusch , das nur von einem Schlag herrühren konnte, und einen Schmerzenslaut. »Engel-Schwert, daß ich nicht lache!« Die Stimme des Generals troff vor Hohn. »Alte Geschichten. Aber zugegeben, es ist eine gute Klinge. He — was soll das?« Mathilde erstarrte. Wahrscheinlich hatte er den Knauf gesehen. Ob ihm auffiel, daß er beim letzten Mal, als er das Schwert gesehen hatte, anders aussah? Würde er -? Doch General Catal lachte aus vollem Hals. »Ein Hauptmannsknauf, was? Nein - sieht eher nach einem höheren Rang aus, ganz klar. Dieser Engel - er soll Handwerker gewesen sein — aber es sieht so aus, als wäre er viel mehr gewesen. Und wenn dieser Gideon es für einen Schatz hielt - dann paßt es allemal zum General des Kaisers.« Leise stieß Metall gegen Metall, dann war ein Klicken zu hören, als hätte der General sich die Manschette um das Handgelenk gelegt. »Und, was gibt's?« An der Tür waren rasche Schritte zu hören. »Also ist er jetzt hier?« sagte der General als Antwort auf Neuigkeiten, die man ihm zugeflüstert hatte. »Na schön, ich habe meinen Schatz von Merina - soll er haben, was er will. Ich bin kein Vielfraß wie Adelphus.« Wieder schallendes Gelächter. Die schweren Tritte der Soldaten hallten durch den Raum, und ihre Stiefel kratzten über den einst polierten Boden. Dann waren sie verschwunden. Mutig rutschte der Aal ein Stück vor, um unter der anderen Seite des Sofas einen Blick in den Raum zu wagen. »Fort!« Die Laternen der Wachen waren noch da, aber als Mathilde sich aus ihrer unbequemen Behausung herausschob und vorsichtig zwischen zwei Vorhangfalten hindurchlugte, sah sie, daß die Stühle wirklich leer waren. Nur die Splitter der zerbrochenen Glasscheibe lagen auf dem Boden verstreut. »Kommt!« Ihr kleiner Gefährte zog sie nun mit sich fort. Die Tür war offengeblieben, nachdem die Soldaten mit ihrem Befehlshaber hinausgegangen waren, doch das helle Licht ihrer Lampen war fort, und nun hörte sie, daß in einiger Entfernung eine weitere Tür zuschlug. Mathilde hatte ihren Plan noch genau im Kopf. Dortmun und seine Flußratten sollten Saxon befreien, während sie die Falle für den General aufstellte. Sie hatte ihren Part erfüllt, noch dazu erfolgreich. Sie würde sich nun 279
mit dem Aal wieder in den Speicherraum zurückziehen. Nur, wie kamen die anderen an der Gruppe des Generals vorbei, der, wie sie mit gutem Grund annahm, auf dem Weg zu Saxon war? Würden Jonas' Männer vielleicht zwischen zwei Gruppen geraten? Doch sie konnte nicht das geringste tun, um ihnen zu helfen, denn sie hatte keine Ahnung, wohin sie hätte gehen sollen oder wo die anderen jetzt waren. Der Speicher wirkte nach der Helligkeit unten viel finsterer - die einzelne Laterne mit Kerze war zu schwach, um das Dunkel zu durchdringen. Sie ließen sich klugerweise hinter einer Barrikade aus Kisten und Körben nieder und warteten ab. Hier oben war noch immer das Heulen des Windes zu hören, der Sturm hatte nicht nachgelassen. Vor zwölf Jahren hatte es einmal eine solche Nacht gegeben, in der ein Sturm wütete und der Regen peitschte, und als die Flut kam, war das Wasser über die Mauern der Kanäle im Osten getreten und hatte die Straßen überflutet. Mathilde war in der Seefahrt nicht erfahren genug, um die Gezeiten berechnen zu können, aber sie war sicher, daß sie, wenn sie ihr Boot wieder besteigen mußten, solange die Flut hereinkam, trotz all ihrer Bemühungen in die Innenstadt gespült würden, weit weg von dem dürftigen Schutz, den Jonas' Wirtshaus ihnen bot.
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42. Leopold Leopold hatte es geschafft, mit seinen beiden Knappen und den drei Packpferden, die seine Habseligkeiten trugen, die Brücke zu überqueren und sicher in den Sommerpalast zu gelangen, noch ehe es dunkel wurde. Der Kanzler hatte ihm in seiner leutseligen Art Beine gemacht. Er hatte sogar jemanden in den Palast geschickt, der Leopolds Knappen und alle seine Habseligkeiten holen sollte, damit der Prinz keinen Vorwand hatte, dorthin zurückzukehren. Vielleicht befürchtete er, Leopolds Truppen, die ihm treu ergeben waren, könnten erfahren, wem sie in Zukunft unterstellt würden, und sich widersetzen, ja vielleicht sogar einen kleinen Aufstand anzetteln. Er hätte es besser wissen müssen; Leopold hatte seine Leute zur Ergebenheit gegenüber dem Reich, nicht gegenüber einem beliebigen Befehlshaber erzogen. Die beiden Jungen wußten sofort, daß Leopold in Ungnade gefallen war, aber beide — gesegnet seien ihre treuen kleinen Herzen — hatten sich für wenige Augenblicke von der Arbeit beim Packen davongestohlen, um ihm tapfer zu versichern, daß sie an ihn glaubten und die Stellung bei ihm für nichts auf der Welt aufgeben würden, ganz gleich, wer sie in seine Dienste nehmen wollte. Der Prinz wußte nicht, womit er so viel Ergebenheit verdient hatte, und er war zutiefst gerührt, als der Jüngere die Worte wiederholte. Was blieb ihm also anderes übrig, als sie mit in die »Verbannung« zu nehmen? Als sie sich auf den Weg machten, hatte der Himmel auch für Leopold etwas bedrohlich gewirkt. Dennoch hatte er nicht damit gerechnet, daß der Sturm mit einer solchen Wucht über sie hereinbrechen würde, mit der er jetzt vor den Fenstern seiner Gemächer wütete. Sie waren in ein völlig verlassenes Gebäude gekommen. Balthasar hatte nicht einmal eine Besatzungstruppe hierher geschickt, da das Land jenseits des Flusses, wo sich auch der Sommerpalast befand, zum größten Teil von Bauern besiedelt war. Balthasar hatte Bauern noch nie Beachtung geschenkt, da für sie ein Herrscher meist so gut oder schlecht wie der andere war und man ohnehin nur eine begrenzte Menge Waren und kein Geld aus ihnen herauspressen konnte. Es gab auf dieser 281
seite noch ein paar weitere Sommerhäuser, Jagdhütten und ähnliches, aber die Eigentümer wohnten auf der anderen Seite in der Stadt. Und nun hatte man ihnen auch noch untersagt, die Brücke zu überqueren, denn niemand sollte entkommen, ehe man nicht den größtmöglichen Profit aus ihm herausgeholt hatte. Der Sommerpalast war ebenso wie die Sommerhäuser der reichen Bürger und Edelleute größtenteils unbewohnt. Es war nur eine Handvoll Diener dort geblieben, die für das Nötigste sorgten: ein paar Frauen zum Saubermachen sowie ein alter Mann und zwei Jungen, die sich um den Stall und die Reitpferde kümmerten. Für die Instandhaltung der Parkanlagen und die Pflege des Wildes waren allerdings viele Bedienstete erforderlich, die jedoch in Katen außerhalb des Palastgeländes wohnten. Diese Einsamkeit kam Leopold eigentlich zupaß. Wenn er ehrlich war, dann war es ihm sogar lieber, wenn möglichst wenige Menschen hier Zeugen seiner Demütigung wurden. Weil niemand auf ihre Ankunft vorbereitet war, nahm das Personal ihre Anwesenheit mit einer Gelassenheit hin, die Ärger erregt hätte, wenn die Dienerschaft nicht so alt gewesen wäre. Die Haushälterin versprach, sich persönlich darum zu kümmern, daß in der Zeit, während sie zu Abend aßen, Gemächer für sie hergerichtet wurden. Aber sie hatte ihnen vorsorglich mitgeteilt, sie könne nicht kochen. Gegen zehn Uhr brach der Sturm los und machte auch die leiseste Hoffnung zunichte, einen der Jungen wieder über die Brücke schicken zu können, um in einem Wirtshaus etwas zu essen zu kaufen. »Nun denn«, hatte Leopold geseufzt, »ich glaube, wir sind hier auf uns selbst gestellt.« Die Knappen hatten ihre jungen adeligen Nasen gerümpft bei dem Gedanken, sich in die Küche begeben und eigenhändig das Abendessen zubereiten zu müssen, aber er hatte nur mißbilligend eine Augenbraue hochgezogen. Tatsächlich hob der Gedanke, daß er wenigstens bis zu einem gewissen Grade Herr der Lage war, seine Stimmung ein wenig. »Was veranlaßt euch zu glauben, daß ihr immer einen Koch zur Seite habt, wenn ihr unterwegs seid?« fragte er sie. »Ihr werdet am Ende aus meinen Diensten ausscheiden, um Krieger zu werden — und da kann es vorkommen, daß ihr plötzlich für einen Spähtrupp verantwortlich seid, der sich von dem ernähren muß, was die Pferde tragen können und was das Land an Früchten bietet. Und wenn ihr nicht gerade wild auf rohes Eichhörnchen und ungeschälte Wurzeln seid«, fügte er hinzu, während
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ihnen allmählich der Sinn seiner Worte dämmerte und sich ihre Mundwinkel ein wenig nach unten zogen, »dann lernt ihr am besten kochen.« Die jungen Gesichter durchliefen an diesem Punkt so viele Veränderungen, daß Leopold trotz seiner mißlichen Lage endlich einmal herzhaft lachen konnte. »Es ist nicht so schlimm«, versprach er ihnen. »Ich zumindest bin ein guter Koch.« Eine andere Frau, die dieser Unterhaltung mit sichtlicher Erheiterung lauschte, half ihnen, die Küche zu finden. Zu seiner großen Freude stellte er fest, daß dort ein reichhaltiger Vorrat an unverderblichen Lebensmitteln lagerte, wahrscheinlich weil man einen Besuch der Königin und ihres Gefolges erwartet hatte, zu dem es nie gekommen war. Die Küche war ein großer, wohnlicher Raum mit Ziegelmauern und Steinböden, einem riesigen Holztisch in der Mitte des Arbeitsbereichs und vielen hohen Hockern, die an der Wand standen. Bei Tageslicht und wenn nicht gerade ein Sturm tobte, mußte die Küche sehr hell und luftig sein, denn sie hatte große Fenster, die mit dickem, blasigem Glas versehen waren. Leopold zündete ein paar Laternen an, die an Wandhalterungen hingen, und fachte in der kleinsten der drei Feuerstellen ein Feuer an. Über der größten konnte man durchaus einen ganzen Ochsen braten. Alle Nahrungsmittel im Vorratsraum waren entweder eingekocht oder hielten sich wochen- oder monatelang frisch, und es war eine Vielfalt vorhanden, die es ihm ermöglichte, den beiden Jungen eine nützliche Lektion in den Grundbegriffen der Kochkunst zu erteilen. Ohne Eier oder Milch konnte er weder Pfannkuchen noch Brot backen, wie er es zunächst erwogen hatte, aber schließlich fand er genügend Zutaten, um ihnen ein hübsches Menü zuzubereiten. Kleingehackte Zwiebeln und Weißwurz, gebräunt in fettem Speck, mit gebackenem Dörrfleisch und aufgeschnittenem Käse bildeten das Hauptgericht, und als Nachtisch, den sich die beiden Jungen gewünscht hatten, briet er in einer Pfanne auf dem Herd getrocknete, aber immer noch genießbare Apfel mit Honig und Zimt. Zum Herunterspülen gab es einen heißen Kräutertee, ebenfalls mit Honig gesüßt. Die Jungen betrachteten das herzhafte Bauernmahl mit Argwohn - sie waren an Soldatenkost gewöhnt, das hier kannten sie nicht. Nachdem sie es jedoch probiert hatten, schwanden ihre Zweifel ebenso rasch dahin wie das Essen. Leopold selbst fühlte sich allein durch den Duft in glücklichere Zeiten zurückversetzt, als er ähnliche Mahlzeiten zusammen mit dem Jagd283
meister des Vaters am Feuer einer der zahlreichen Jagdhütten eingenommen hatte. Damals war alles einfacher gewesen. Seine schwermütigen Gedanken wurden durch den Eintritt der alten Frau unterbrochen, die wesentlich flinker war, als er angesichts ihres offenbar hohen Alters erwartet hätte. »Die alte Königssuite ist für Eure Hoheit hergerichtet worden«, sagte sie und machte einen Knicks. »Wie ich sehe, habt Ihr ein gutes Essen zubereitet - Eier und Milch gibt's morgen früh, ich hab' sie beim Bauern des Palastes bestellt. Aber es ist kein Koch da ...« An dieser Stelle brach sie ab und sah ihn fragend an. »Wir haben hier keinen Koch. Die Königin hat immer ihren eigenen mitgebracht.« »Das macht nichts, gute Frau. Wir kommen schon zurecht, bis noch mehr Männer hier eintreffen«, versicherte er ihr. Die beiden Jungen blinzelten sie aus müden Augen an, zwei Bärenjunge, den Bauch voll Honig und reif für ein Nickerchen. »Ich erwarte sie morgen, und ich denke, sie bringen einen Koch mit.« Obwohl Balthasar ausdrücklich angeordnet hatte, es sollte ihnen an nichts mangeln, war in Wirklichkeit nichts hergeschickt worden, was er nicht selbst mitgebracht hatte. Anscheinend war des Kanzlers einziges Bestreben gewesen, den Prinzen aus der Stadt zu schaffen, weiter nichts. Leopold hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet; es zeigte, wie tief er in Ungnade gefallen war. Balthasar würde im günstigsten Fall erst morgen nachmittag jemanden schicken, zweifellos in der Hoffnung, sein Sohn werde unter dem Mangel an Dienern leiden. Ein Umstand, der auf fast alle zugetroffen hätte, die in seiner Lage gewesen wären, nur auf ihn nicht. Merkwürdig, aber bei ihm war eher das Gegenteil der Fall. Er wäre ausgesprochen glücklich gewesen, wenn man ihn hier mit seinen Knappen und den paar Dienern allein gelassen hätte, die so alt waren, daß es ihnen inzwischen gleichgültig zu sein schien, wem sie dienten. Wenn man ihn hier doch nur vergäße! Wenn der Herrscher sich doch? nur weigerte, jemanden zu ihm zu schicken, und wenn er doch nur zu seinem nächsten Eroberungsfeldzug aufbräche, ohne sich an seinen Sohn zu erinnern! Er könnte hier an diesem Ort ein Leben lang in völliger Zufriedenheit leben. Er würde die Jungen mit auf die Jagd nehmen, ihnen beibringen, wie man einen Bauernhof richtig führte und Wild pflegte. Wenn es hier keine Diener, Soldaten oder andere Fußangeln Balthasars gäbe, dann wären auch seine Späher nicht da, die jede seiner Bewegungen überwachten. Das Gewicht seiner Pflichten und Verantwortlichkeiten hatte ihm zu lange wie der sprichwörtliche Mühl 284
stein am Hals gehangen — doch einstweilen, zumindest für einen Tag und eine Nacht, waren sie nicht anwesend, und er mußte nicht für alle Welt eine Maske aufsetzen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er sich frei - wenn auch nur begrenzt. Frei, er selbst sein zu können, frei von allen Verpflichtungen außer der Verantwortung für die beiden Jungen, die ohnehin die leichteste seiner Lasten war. Dem Jüngsten sank der Kopf auf die Brust, und er wäre beinahe vom Stuhl gekippt, hätte die ruckartige Bewegung ihn nicht im letzten Augenblick aufgeschreckt. »Ich glaube, wir gehen jetzt lieber in unsere Zimmer, gute Frau«, sagte Leopold höflich, erhob sich und stellte die Teller in den Spülstein. Wenigstens insoweit würde er den Prinzen herauskehren, als er die Aufräumarbeiten anderen überließ. Die Jungen rappelten sich auf und folgten seinem Beispiel. Dann ließen sie sich von der alten Frau in den oberen Bereich des Palastlabyrinths führen. Wie sich herausstellte, befanden sich die königlichen Gemächer in einem Turm, der auf einer Ecke des Hauptgebäudes saß; ein Steinzylinder, in dessen unterem Stockwerk ein Raum mit zwei einfachen Betten für die Jungen war. Darüber lagen ein Studier- und Empfangszimmer für Leopold, dann ein Schlafgemach und ganz oben eine Aussichtsplattform. Die ersten drei Stockwerke hatten eine gemeinsame Wand mit dem Hauptgebäude und daher nur an einer Seite der runden Mauer Fensteröffnungen, doch die Aussichtsplattform ragte über das Hauptgebäude hinaus und war ringsum verglast. In dem Augenblick, als Leopold bei den Jungen war, um nachzusehen, ob sie gut zugedeckt waren, erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Die Mauern zitterten bei jedem Donnerschlag, und die Fenster wurden bei jedem Blitz gleißend hell. Zwei Paar runde, schreckgeweitete Augen schauten Leopold flehentlich an. Vielleicht war es albern, aber es war niemand da, der sein albernes Benehmen sehen konnte. Er deckte die beiden gut zu und blieb bei ihnen. Er erzählte ihnen die Geschichten, die der Wildhüter Balthasars ihm in ähnlichen Situationen erzählt hatte, bis ein voller Bauch und warme Decken sogar die Furcht vor dem Sturm besiegten und ihre Augen sich fest schlossen. Er prüfte nach, ob das Feuer in der Feuerstelle gut eingedämmt war und ohne Nachlegen die Nacht über brennen würde. Dann blies er die Lampen aus und überließ die beiden Knaben ihren Träumen. Er ging die Treppe hinauf, denn er wollte auf die Aussichtsplattform, angelockt 285
vorn Geräusch des Windes, der um den Turm heulte, und vom Donner, der den Turm in seinen Grundfesten erschütterte. Trotz seiner ungeschützten Lage war es im Turm erstaunlich behaglich; die Kamine zogen gut, neben jeder Feuerstelle lag genug Holz, und die alte Frau hatte heiße Ziegelsteine in die Betten gelegt. Sie kam hinter ihm her, als er die Treppe hinaufging. Das freundliche Gesicht zeigte einen bangen Ausdruck. »Ich habe hier oben kein Feuer gemacht, Herr«, sagte sie zögernd, als er Halt machte, um sich in der Bibliothek umzuschauen. »Ihr wart so müde, da habe ich nicht gedacht, daß Ihr noch aufbleiben würdet.« »Ja, da habt Ihr ganz recht getan, gute Frau«, beruhigte er sie. Die arme Alte; sie war wahrscheinlich nicht gewohnt, die Arbeiten allein zu erledigen. Die Königin hatte offenbar ihren gesamten Hofstaat mitgebracht, wenn sie hierher kam. »Ich habe gesehen, was Ihr für die Jungen getan habt, und nehme an, daß Ihr für mich ebenso vorgesorgt habt. Ihr könnt Euch jetzt zur Ruhe begeben. Das habt Ihr Euch redlich verdient. Eine solche Nacht verbringt man am besten in einem warmen Bett und kümmert sich nicht um verrückte junge Männer und ihre Grillen.« Sie lächelte bei seinen Worten und wirkte nicht abgeneigt, den Vorschlag anzunehmen. Während sie langsam die Treppe hinunterwatschelte, beschloß Leopold, sich noch rasch in dem Zimmer umzusehen, ehe er die oberen Gemächer aufsuchte. Er setzte die Laterne ab, die er bei sich trug, und betrachtete zunächst das Mobiliar. Erneut überkam ihn ein Anflug von Nostalgie. Dieses Zimmer hatte offensichtlich ein Mann bewohnt; schwere, aber bequeme Holzmöbel, eine große Feuerstelle mit einer Vorrichtung zum Warmhalten von Speisen. Die Bücher würde er erst am nächsten Morgen genauer in Augenschein nehmen, hatte er doch das Gefühl, es könnte dort Bände geben, die ihm zusagten. Es war genau das Zimmer, das er für sich entworfen hätte, wenn ihm je das Privileg zuteil geworden wäre. Er nahm die Laterne wieder zur Hand und stieg über die offene Wendeltreppe vor der kahlen Wand in die nächste Etage hinauf. Hier brannte, wie versprochen, ein Feuer - hell und munter, und es sah nicht so aus, als würden die heulenden Winde draußen Rauch ins Zimmer drücken. Auch hier waren die Möbel schlicht: ein Schrank, ein Stuhl, ein Tischchen neben dem Bett, ein zweites mit Waschschüssel und Wasserkanne. Das Bett war ein altmodisches Himmelbett mit schweren Vorhängen aus dickem Samt. In einer Nacht wie dieser wäre es sicher angenehm, 286
wenn man sie fest zuziehen konnte. So fest dieser Turm auch sein mochte, bei diesem Wind würde es gewiß erbärmlich durch alle Ritzen ziehen. Donner und Blitz vor dem einzigen Fenster des Schlafgemachs bewegten ihn jedoch, weiter nach oben zu steigen. Die Laterne stellte er auf dem Tischchen neben dem Bett ab. Gegen die Fenster auf der Nord- und Ostseite des Turmes peitschte der Regen, so daß es unmöglich war, mehr als einen Lichtklecks bei jedem Blitz zu sehen. An den windgeschützten Seiten zum Süden und Westen war die Sicht jedoch klar. Bei Tag war die Aussicht von hier oben bestimmt wunderschön. Er fragte sich, wie es seinen Männern wohl ergehen mochte, und fühlte Mitleid mit den armen Narren, die in diesem Unwetter durch die Straßen patrouillieren mußten. Kündete dieser Sturm vom Zorn der Göttin, nachdem Ihr Heiligtum entweiht und das Begräbnis der Königinwitwe gestört worden war? War er ein Zeichen dafür, daß sie den Eindringlingen auch die Schuld an dem Tod der Königinwitwe gab? In gewisser Weise hoffte er es — und er hoffte, daß es jemanden gäbe, der es seinem Vater offen sagte. Vielleicht würde er Catal dann nicht ganz so bereitwillig freie Hand lassen bei seinen Plünderungen und Überfällen. Vater fürchtet kaum jemanden - aber jeder kluge Mann fürchtet den Zorn der Göttin. Der Donner, der die Grundfesten des Palastes erschütterte, wirkte hier oben wie eine Urgewalt. An jedem Fenster des Raumes stand ein Stuhl, und Leopold setzte sich, um dem Toben der Elemente zuzuschauen - oder vielleicht dem Treiben der Allmächtigen. Der Sturm zog ihn in seinen Bann und gewährte ihm so die Gnade, eine Weile an nichts denken zu müssen. Er lehnte sich in dem tiefen Lederstuhl zurück, ließ das Dröhnen des Donners in seinem Körper widerhallen, ließ den Schrei des Windes seine Ohren und seinen Verstand betäuben, ließ das Himmelsfeuer seine Augen blenden. Doch der Raum hatte keine Feuerstelle — und der Wind saugte gleich einem durstigen Blutegel die Wärme aus dem Zimmer. Nach einer Weile begann er zu zittern, als die Kälte durch seine Uniform drang und ihn bis auf die Knochen auskühlte. Dieser Umstand, nicht der eigentliche Sturm, veranlaßte ihn schließlich, hinunterzugehen zu seinem Bett, das auf ihn wartete. Das Schlafgemach war gemütlich, freundlich und herrlich warm nach der Kälte oben. Er zog die Uniform aus und wusch sich kurz mit dem 287
Wasser in der Kanne. Dann blies er alle Laternen aus und legte sich beim Schein des Kaminfeuers ins weiche, einladende Bett, zog die Vorhänge auf allen Seiten fest zu, was den Donner dämpfte und den Lichtschein der Feuerstelle und der zuckenden Blitze verdeckte. Der Ziegelstein in seinem Bett hatte noch keine Zeit gehabt, auszukühlen, und seine Wärme war angenehm in die Laken aus weichem Flanell gedrungen. Der Raum, die Suite, das Bett - alles schien ihn willkommen zu heißen. Er fühlte sich hier zu Hause, es war so gemütlich wie schon lange nicht mehr - damals war er etwa so alt gewesen wie sein ältester Knappe heute. Vielleicht irrte er sich, aber er würde sich diesem trügerischen Gefühl, an diesem Ort willkommen zu sein, vorläufig hingeben - falls es überhaupt trügerisch war. Und deshalb fiel er trotz allem, was ihm an diesem allzu langen und äußerst unglücklich verlaufenen Tag zugestoßen war, rasch in einen friedlichen Schlaf, ohne einen anspruchsvolleren Gedanken als den, wie gut es doch war, in einem warmen Bett zu liegen und der unverminderten Wut des Sturmes zu lauschen.
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43. Schelyra W e n n ich gewußt hätte, daß die Göttin ihr Mißfallen in einem Unwetter äußern würde, dachte Schelyra grimmig, als sie sich mit gesenktem Kopf gegen den Anprall von Wind und Regen stemmte, hätte ich eine ruhigere Nacht für mein Vorhaben abgewartet. Schelyra hatte sich nicht von der Stelle gerührt, als die Große Glocke Adeles Tod verkündete, eingedenk dessen, was ihre Großmutter gesagt hatte. Solange niemand zu ihr käme und Großmutters Ring brächte, würde sie einfach davon ausgehen, daß Adele in der Abgeschiedenheit des Tempelklosters in Sicherheit war. Hinzu kamen die Dinge, die sie von Mutter Bayan erfahren hatte. Diese in Verbindung mit Adeles Warnungen ließen Schelyra zu dem Schluß kommen, daß die Täuschung vor allem dazu diente, Apolon von der Spur abzulenken. Eine Tote wäre für ihn nicht von Nutzen — außerdem würde er nun nicht mehr mit ihrem Eingreifen rechnen. Aus diesem Grunde war Schelyra innerhalb der Einfriedung geblieben, obwohl einige Männer aus Gordos Gefolge unauffällig in die Stadt gegangen waren, um möglichst viele Neuigkeiten aufzuschnappen. Sie hatte ihre Ungeduld und ihre Angst gezügelt, denn sie wußte, daß sie letzten Endes doch erfahren würde, was vor sich ging — und sie wußte auch, daß es für sie nicht ungefährlich war, ohne den Schutz einer festen Gruppe hinauszugehen, jetzt, da nicht nur Apolons Schwarzmäntel, sondern auch Catals Söldner in den Straßen umherzogen. Thom Ränkeschmied hingegen hatte es nicht mehr ausgehalten. Während »Raymonda« den Pferden Mittelchen ins Fell gerieben hatte, damit es stumpf und brüchig aussah, war Thom im Mittelgang des Stalles auf und ab gegangen, mit einem Ohr lauschend, ob Leute aus der Stadt zurückkehrten, während er innerlich vor Wut schäumte. Sie hatte ihm wie gewohnt weiter keine Beachtung geschenkt. Wenn er ihr damit hatte zeigen wollen, wie sehr ihm der Tod der Königinwitwe naheging, dann hatte er seine Wirkung verfehlt. Er hätte schließlich an ihrem Verhalten erkennen können, daß Adeles »Tod« gewiß nicht eingetreten war. 289
Wenn es andererseits Ausdruck seines rücksichtslosen, rastlosen Wesens sein sollte, dann beeindruckte sie das noch weniger. »Ich gehe jetzt in die Stadt«, platzte er schließlich heraus, und noch ehe sie etwas entgegnen konnte, war er verschwunden. »Er ist ein Schwachkopf«, hatte sie zu dem Pferd gesagt, an dem sie sich gerade zu schaffen machte. Das Tier hatte die Ohren gespitzt und unruhig mit den Hufen gescharrt. Da Thom immer noch nicht zurückgekehrt war, als sie selbst das Gelände verlassen wollte, neigte sie mehr denn je zu der Annahme, daß er wirklich ein Schwachkopf war. »Du denkst das auch, nicht wahr?« fragte sie das Pferd. Nicht der tobende Sturm war es, der ihr Sorgen bereitete. Es lag noch etwas in der Luft. Sie spürte es schon die ganze Zeit. Es würde Ärger geben, und davon hatte sie bereits mehr als genug gehabt. Aber ihr war klargeworden, daß die Schwierigkeiten nicht immer dort blieben, wo sie begonnen hatten ... Sie ließ das Pferd in Ruhe und ging zu der Box, in der ihr Bett und ihre Habseligkeiten waren, um sicherzustellen, daß alles, was sie brauchte, gepackt war und in Sekundenschnelle mitgenommen werden konnte. Sollte es innerhalb der Einfriedung zu Schwierigkeiten kommen — falls sie nicht schon eingetreten waren -, so gab es immerhin mehr als einen Fluchtweg, den sie wählen konnte. Sie hatte das Tor beobachtet und auf jene gewartet, die in die Stadt gezogen waren. Die Zigeuner und Roßhändler, die nach und nach hinausgegangen waren, kamen in einer geschlossenen Gruppe zurück und brachten alle Mitglieder von Gordos Haushalt mit, die an diesem Tag draußen auf den Straßen gewesen waren. Dann wurde das Tor hinter ihnen verriegelt. Unter den letzten, die eintrafen, war Ilja, und er war umgehend auf sie zugekommen, sobald er sie an der Stalltür erblickt hatte. »Was —«, hatte sie ihm zurufen wollen, als er näherkam, aber er kam ihr zuvor. »Drinnen«, sagte er und warf einen scheuen Blick über die Schulter, bevor er sie in den Stall zog. »Die Königinwitwe ist wahrscheinlich in den dunklen Stunden vor der Morgendämmerung gestorben«, berichtete er ihr flüsternd. »Sie haben Totenwache für sie gehalten. Die Erzpriesterin kam, um den Trauergottesdienst abzuhalten - und - und dann geschah ein Wunder. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Er war so erschüttert, daß sie ihm einfach glauben mußte, aber ... 290
»Ein Wunder?« wiederholte sie ungläubig. »Und das konnten alle sehen?« Es klang unwahrscheinlich, und es war auch dann noch unwahrscheinlich, nachdem viele von Gordos Leuten es bezeugt hatten. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, beharrte er. »Das Herz — es begann zu bluten! Wie Regen fielen die Tropfen auf die Totenbahre! Alle haben es gesehen - und das war, als die Söldner uns angriffen.« Sie spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich und wie Hände und Füße so kalt wurden wie das Wasser in den Kanälen im Winter. »Catals Söldner - sie haben euch angegriffen? Auf heiligem Grund?« Sie konnte es nicht fassen. Bestimmt wäre nicht einmal der Abschaum von Söldnern, den General Catal als persönliche Truppe zur Verfügung hatte, so dumm, das zu tun! Andererseits sind sie töricht genug, sich bei heulendem Sturm auf den Straßen aufzuhalten, dachte sie grimmig, denn sie hatte ihnen auf ihrem Weg zum Fluß ständig ausweichen müssen. Ich vermute, sie sind auch dumm genug, den Tempel anzugreifen. »Mitten im heiligen Gottesdienst«, bestätigte Ilja ihr mit finsterer Miene. »Sie trieben die Menschen in den Tempel, dann haben sie sie mit langen Knüppeln und Speerspitzen traktiert. Die Erzpriesterin hat versucht ihnen Einhalt zu gebieten, aber erst als Prinz Leopold mit seinen Männern erschien, fügten sie sich. Er schickte sie fort und versprach der Erzpriesterin, daß ein solcher Vorfall nicht noch einmal vorkommen würde.« »Vorfall!« wiederholte sie verächtlich. »Ich würde einen Angriff auf unbewaffnete Menschen auf heiligem Grund schwerlich als einen Vorfall bezeichnen!« »Ich auch nicht«, meinte Ilja zähneknirschend, obwohl die Religion des Tempels nicht die seine war. »Und die Stimmung in der Stadt ist schlecht, äußerst schlecht. Catal — vielmehr seine Leute - sind in ihre Schranken verwiesen worden, und wir hielten es für besser, hinter unseren Mauern zu verschwinden.« Sie hatte ihm mit grimmiger Miene schweigend zugestimmt und sich gewünscht, sie müßte nicht wegen dieser verdammten Bücher noch einmal fort - aber es blieb ihr keine andere Wahl. »Ich danke dir, daß du es mir berichtet hast, Ilja«, hatte sie ihm gesagt. »Und - eh - ich an deiner Stelle würde Mutter Bayan nach ihrer Meinung über den Tod der Königinwitwe fragen.« »Wie?« hatte Ilja erstaunt erwidert. »Ach so!« fügte er hinzu, als ihm der Sinn ihrer Worte klar wurde. »Na schön.« Seine Miene hatte sich 291
aufgehellt, aber nur ein wenig. »Trotzdem. Die Stimmung in der Stadt ist gefährlich, und ich an Eurer Stelle würde lieber hierbleiben.« »Wenn ich schon gehen muß, werde ich wie eine Katze auf leisen Pfoten schleichen«, hatte sie ihm versichert — denn sie wußte, daß sie ihm nicht versprechen konnte, zu bleiben. »Im Dunkeln und über Dächer.« Oder zumindest über alle Dächer, auf denen ich mich bei dem Sturm halten kann. Ich werde nicht über nasse Dachziegel tanzen ... Der Sturm setzte ein, kurz nachdem sie aufgebrochen war. Sie lief zwar nicht gerade über Dächer, wählte jedoch Pfade, denen weder Söldner noch Schwarzmäntel zu folgen vermochten. Sie lief durch winzige, schmale Gassen, kletterte über Mauern und durchquerte Gärten. Nur in unmittelbarer Nähe von Gordos Anwesen führte ihr Weg wirklich über Dächer. Zum Glück hatte sie festen Boden unter den Füßen, als der Sturm losbrach, sonst hätte er sie von einem der Dächer heruntergefegt! Das Unwetter brach los, als sie sich durch ein wahres Labyrinth aus schmalen Durchgängen zwischen Häusern hindurchwand, einen Weg entlang, der sie zu einem ganz bestimmten Bootshaus am Ufer des Flusses in der Nähe der Brücke führte. Und wenn sie ihrer Großmutter nicht versprochen hätte, diese Bücher zu holen, wäre sie vielleicht zurückgekehrt, als der Sturm seine Wut an Merina ausließ und an allen, die in der Stadt wohnten. Aber sie hatte das Gefühl, daß sie Adele die Bücher unbedingt bringen mußte — ein Gefühl, das ebenso mächtig wie unerklärlich war, und sie kämpfte sich durch den windgepeitschten Regen, bis sie ihr Ziel und damit einen gewissen Schutz erreicht hatte. Das Bootshaus schien leer, obwohl es ein fester, robuster Bau aus Ziegeln und Steinen war. Die Tür war verschlossen, aber Schelyra hatte für dieses Gebäude noch nie einen Schlüssel gebraucht. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr schließlich, die Ziegel in der richtigen Reihenfolge zu drücken, so daß die verborgene Tür in der Ziegelmauer zur Seite schwang und sich einen Spalt öffnete, der gerade breit genug war, daß sie hindurchschlüpfen und dem Unwetter entrinnen konnte. Sie befand sich nun am Rande eines breiten Wasserbeckens, wo sie zunächst, tropfnaß wie sie war, eine Zeitlang im Dunkeln stehenblieb. Das Dock war erstaunlich breit, und das hatte seinen Grund. Zwar lag ein Boot hier, seine schmalen, dunklen Umrisse erinnerten an einen räuberischen Hecht - aber diesmal wollte sie kein Boot. Im aufzuckenden Licht der Blitze tastete sie sich zu der Seite des 292
Bootshauses vor, die zur Brücke hin lag. Dort ließ sie sich vorsichtig zum Wasser hinabgleiten, mit den Füßen nach Halt suchend. Das Wasser stand hoch, hatte aber den zweiten Plankenweg darunter nicht überschwemmt. Es war ein schmaler Pfad, der zur Stirnwand des Bootshauses zurückführte, und als Schelyra diese Wand erreichte, führte der Weg nicht mehr über Stützen im Wasser, sondern über festen, soliden Stein, wie man ihn am Ufer fand. Diesmal mußten keine Ziegelsteine in komplizierter Reihenfolge gedrückt oder gezogen werden - es waren nur ein paar Ziegel zu entfernen, die den Zugang zu einem Tunnel versperrten, der einst und vielleicht noch immer — Schmugglern gedient hatte. Mit den Füßen voran hangelte sie sich hinein und sprang leichtfüßig auf den Boden. Sie ließ die herausgezogenen Ziegelsteine auf dem Steinboden des Booteshauses liegen, der ohnehin durch den oberen Plankenweg verdeckt wurde. Die Gefahr, daß in dieser Nacht jemand dorthin kommen könnte und die Öffnung entdeckte, war so gering, daß sie sie getrost vernachlässigen konnte. Mit beiden Händen ertastete sie sich den Weg durch den mit Ziegelsteinen ausgekleideten Tunnel, denn sie wagte nicht, ein Licht anzuzünden. Man konnte nie wissen, wer sich hier unten aufhielt - wenngleich sie keinen Grund zu der Vermutung hatte, daß überhaupt jemand außer dem Geschlecht des Tigers diesen Ort kannte. Dennoch bestand jederzeit die Möglichkeit, daß Geheimgänge außerhalb der Palastmauern von Nicht-Eingeweihten entdeckt wurden. Dieser Gang war sogar von Außenstehenden errichtet worden — eine Tatsache, die sie nie vergaß. Modergeruch hing im Tunnel, und es war wahrlich bemerkenswert, daß er trotz seiner Nähe zum Fluß noch weitgehend trocken war. Hin und wieder trat sie in eine Pfütze oder vernahm in der Ferne das Geräusch tropfenden Wassers, aber das war alles. Der Weg schien kein Ende zu nehmen, doch schließlich stieß sie mit den Händen gegen eine Wand, die ihr den Weg versperrte. Eisensprossen führten nach oben. Der Tunnel lag nicht unter dem Fluß, sondern vielmehr darüber, verborgen unter der Brücke. Diese war auf beiden Ufern an jeweils einem Wachturm verankert; die Leiter, vor der Schelyra nun stand, führte in der Mauer des Turms auf dieser Seite des Flusses nach oben und von dort in eine Röhre, die direkt unter der Straße verlegt worden war, als die Brücke neu errichtet wurde. Der Baumeister hatte damals gemeint, es könnten Botschaften und Pakete mit Hunden zwischen den beiden 293
Wachtürmen hin- und herbefördert werden, aber das war ein so unsinniger Einfall gewesen, daß man die Eingänge von den Wachtürmen aus mit Ziegelsteinen zugemauert hatte. Die Röhre war nie benutzt worden, bis Schmuggler davon Wind bekamen und den Tunnel zu dem Schacht anlegten, der den unteren Weg mit der Röhre verband. Sie nutzten ihn mit großem Erfolg, bis sie erwischt wurden und man ihnen befahl, ihre Schliche der damaligen Königinmutter zu schildern, einer bezaubernden Frau mit viel Überzeugungskraft und einer großen seherischen Gabe. Soweit Schelyra bekannt war, blieb der Tunnel danach ein Geheimnis des Königsgeschlechts. Sie hatte zumindest noch niemanden getroffen, der ihn außer ihr benutzte. Sie kletterte an den Sprossen hoch, bis sie einen Luftzug an den Händen spürte. Sie zog sich hinauf und gelangte in die Öffnung der Röhre. Erschöpft hielt sie einen Moment in völliger Finsternis inne. Dann begann sie, durch die Röhre zu kriechen. Es war eine lange, ermüdende Strecke, die sie auf allen vieren zurücklegen mußte, denn man konnte hier nicht aufrecht stehen. Die Brücke bebte unter dem Druck der Wassermassen, die sich gegen die Stützpfeiler wälzten. Schließlich griff ihre suchende Hand wieder ins Leere, und sie stieg vorsichtig mit den Füßen tastend über Eisensprossen hinab. Unten angekommen, ruhte sie sich einen Augenblick aus und machte sich dann auf, die nächste Wegstrecke zurückzulegen. Nach kurzer Zeit berührte sie eine einfache Holztür, die keine verdeckten Vorrichtungen hatte; sie trat hindurch und schloß sie wieder hinter sich. Dankbar griff sie nach der Laterne und dem Zünder, die stets auf einem Regal auf der linken Seite in Schulterhöhe bereitstanden. Endlich, endlich konnte sie es wagen, Licht anzuzünden! Nach der langen Dunkelheit blendete es sie zunächst, aber es war auch eine Erleichterung; wenn es ihr auch nichts ausmachte, wie ein Maulwurf durch die Finsternis zu kriechen, so hieß das noch lange nicht, daß es ihre Lieblingsbeschäftigung war. Die nächste Wegstrecke würde wesentlich einfacher sein, denn diesen Tunnel, der zum Som merpalast führte, hatten Handwerker aus dem Hause des Tigers angelegt. Die Schmuggler hatten eine Möglichkeit gebraucht, Waren über die Brücke in die Stadt zu schaffen, ohne Abgaben dafür zu leisten. Das Königshaus wiederum hatte einen Fluchtweg aus dem Sommerpalast benötigt, der ebenso zweckmäßig war wie diejenigen, die aus dem Stadtpalast herausführten. 294
Da sie nun wieder sehen konnte, wohin sie trat, schritt sie energischer aus. Sie war zwar nicht gerade entkräftet, als sie den nächsten Eingang erreichte - wieder eine Geheimtür, in den Steinen der scheinbaren Sackgasse versteckt -, aber doch ziemlich müde und heilfroh, daß ihr Ziel nun nicht mehr weit war. Sie drehte einen bestimmten Stein heraus, langte in die so entstandene Öffnung und löste den Verschluß, so daß die Wand vor ihr sich um einen zentralen Punkt drehen und sie hindurchschlüpfen konnte. Während die Tür wieder in die Ursprungslage zurückglitt, suchte sie den Boden sorgfältig nach kleinen Papierfetzen ab, denn sie befand sich nun im Eingangsbereich des Sommerpalastes, und dies war der einzige Ort außerhalb Gordos Anwesen, an dem sie eine Verbündete hatte. Die Haushälterin war ihre alte Amme, die vor Schelyra bereits Lydana betreut hatte und davor Adeles Kammerzofe gewesen war. Ihr eigentlicher Name war »Nan«, doch nachdem sie für die Kinder zuständig war, wurde daraus unweigerlich »Nanny«. Nanny konnte man unter allen Umständen vertrauen — vor allem jedoch verdiente sie zu erfahren, was ihre geliebten Herrinnen trieben und wie es ihnen ging, damit sie sich aufgrund der Gerüchte aus der Stadt nicht zu Tode ängstigte. Diese Pflicht stand für Schelyra außer Zweifel; es wäre unschön gewesen, die alte Frau im Ungewissen zu lassen. Die anderen Diener waren einfach, was sie waren - Diener eben; sie mochten dem Königshaus zwar treu ergeben sein, aber ihre erste Sorge galt vor allem natürlich stets ihrem eigenen Wohlergehen. Nanny dagegen gehörte zur Familie. Als Schelyra daher zum ersten Mal zum Sommerpalast ging, um ihre Ausrüstung zu verbergen, hatte sie Nanny darüber in Kenntnis gesetzt, was vor sich ging. Außerdem hatte sie ihr eine Möglichkeit gezeigt, wie sie Botschaften hinterlassen konnte, denn früher oder später würden die Eindringlinge auch hierher kommen, und Schelyra wollte wissen, wann dies geschah, ehe sie ihnen in die Arme lief. Umgekehrt hatte sie Nanny versprochen, sie über die Ergebnisse in der Stadt auf dem laufenden zu halten. Da! Da lag ein fest zusammengefaltetes Stück Papier auf dem Boden - direkt unter dem herausnehmbaren Auge eines geschnitzten Tigers im vorderen Eingang! Schelyra hob es schnell auf und faltete es auseinander. »Kom zu mier, befor du in den Pallasst gest!« hieß es dort. »Gefar, hir.« Schelyra überlief ein kalter Schauer. Es mußte etwas geschehen sein, 295
es war jemand hier — Schelyra hoffte nur, daß es Balthasars Leute und nicht Apolons Männer waren ... Erneut schlängelte sie sich durch ein Labyrinth von Gängen, bis sie die Quartiere der Dienerin erreichte. Nanny hatte eine kleine Zimmerflucht für sich - und eine Tür zu den Geheimgängen, die Schelyra ihr gezeigt hatte, falls sie die Flucht ergreifen müßte. Vor dieser Tür lag ein zweites Stück Papier, das im wesentlichen dasselbe wie das erste besagte. Schelyra blies ihre Laterne aus und öffnete vorsichtig die Geheimtür. »Nanny?« flüsterte sie in die Dunkelheit. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung war die Antwort. Ein Zünder flammte in der Dunkelheit auf, eine Lampe wurde angezündet. Ihr flackerndes Licht beleuchtete das zerfurchte Gesicht einer alten Frau, die im Bett wartete, die Haare sorgfältig unter eine Haube gesteckt und einen Wollschal über die Schultern gelegt. »Ich habe hier im Dunkeln gesessen und gewartet, daß du kommst, Liebes«, sagte die alte Frau, deren Gesicht deutlich die innere Anspannung anzusehen war. »Diese vielen Gerüchte - und hier sind Männer des Kaisers —« »Viele?« fragte Schelyra rasch, und als Nanny den Kopf schüttelte, war es an ihr, erleichtert aufzuatmen. »Ich will dir schnell sagen, was geschehen ist, dann berichtest du mir über diese Männer.« Sie teilte der Amme alles mit, was sie erfahren hatte, und Nanny nickte weise bei der Meldung, daß Adele nicht gestorben war. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte sie daraufhin ruhig. »Ich hatte nie die Gabe wie deine Großmutter, aber es war stets ein Band zwischen uns, und mir fehlte nichts, als die Glocke zu läuten begann.« Sie sagte nicht mehr, aber die Prinzessin glaubte ihr jedes Wort. Nanny hatte tatsächlich immer gewußt, wenn Adele etwas fehlte - was Schelyra des öfteren selbst miterlebt hatte. Mit großen, weit aufgerissenen Augen hörte Nanny zu, als Schelyra von dem Wunder berichtete, und sie schlug das Zeichen des Herzens über der Brust. »Mehr weiß ich auch nicht«, schloß Schelyra ihren Bericht, nachdem sie erzählt hatte, wie der Prinz Tempel und Priesterschaft vor den Truppen General Catals beschützt hatte. »Oh!« rief Nanny aus und wurde mit einemmal lebhaft. »Das erklärt alles! Dein junger Prinz ist tief in Ungnade gefallen, Liebes. Er ist hier und hat als Eskorte nur zwei Knappen bei sich, zu jung, um von Nutzen zu sein.« Sie lächelte. »Ich habe mich verstellt und wie eine einfache alte 296
Bauersfrau getan, so daß er nicht annehmen konnte, ich wäre des Lesens und Schreibens mächtig, und mir nicht mit Mißtrauen begegnete.« »Leopold ist hier?« rief Schelyra. »Was ist geschehen?« Nanny schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir auch nicht sagen, aber ich vermute, daß er wegen der Verteidigung des Tempels Ärger bekommen hat. Er kam wie ein armer Sünder mit Sack und Pack über die Brücke und hatte eine schuldbewußte Miene aufgesetzt, die ich zum letzten Mal an dir gesehen habe, als man dich dabei ertappte, wie du deiner Hauslehrerin Frösche ins Bett gesteckt hast. Du wurdest für eine Woche in dein Zim mer geschickt, wo du über deine Unarten nachdenken solltest.« Schamröte stieg Schelyra ins Gesicht, doch sie lächelte zugleich, während sie versuchte, sich den würdigen Leopold mit der Miene eines schmollenden Kindes vorzustellen. »Er ist in den königlichen Gemächern oben im Turm«, fuhr Nanny fort. »Und ich muß sagen, Liebes, er ist der netteste Mann, der mir je begegnet ist, seit dein lieber Vater uns verlassen hat. Jeder andere hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er festgestellt hätte, daß niemand da war, ihn zu versorgen. Jeder andere Edelmann wäre verhungert oder hätte mich mit lauten Worten in die Küche geschickt, um ihm etwas zurechtzumachen — dann hätte er mich ausgeschimpft, weil ich keine Köchin bin. Er aber hat sich überhaupt nicht aufgeregt, ist in die Küche gegangen und hat für sich und die Jungen eigenhändig etwas zubereitet. Dann hat er die beiden ins Bett gebracht und ihnen Geschichten erzählt, bis sie eingeschlafen sind. Er ist also keineswegs so, wie ich mir den Sohn dieses Balthasars vorgestellt habe.« »Das ist mir auch schon aufgefallen«, gab Schelyra zu. »Er wirkt freundlich - und ich kann mir nicht vorstellen, von wem er es hat, denn in Balthasar steckt nicht ein Funken Freundlichkeit.« »Der hier würde einen guten Vater abgeben«, sagte Nanny nachdenklich, schüttelte dann aber den Kopf. »Auf jeden Fall ist er aus dem Weg, falls du etwas holen mußt, obwohl ich nicht dafür bürgen möchte, was morgen hier los ist.« Schelyra verzog das Gesicht. »Wenn er in Ungnade gefallen ist, wird Balthasar Männer schicken, die ihn beobachten sollen. Ich bin tatsächlich hier, um etwas zu holen, Nanny, und zwar für Großmutter. Und das mache ich am besten sofort. Eine zweite Gelegenheit wird sich mir wahrscheinlich nicht bieten.« »Kann ich dir helfen?« bot Nanny sofort an. »Ich kann zur Zeit ohnehin nicht viel schlafen.« 297
»Aber ja, das kannst du!« erwiderte Schelyra dankbar. »Meinst du, du kannst mir etwa zwanzig Bücher besorgen, sie an Stellen wegnehmen, wo keine auffällige Lücke entsteht, und sie in Großmutters Zimmer bringen?« »Nichts leichter als das«, sagte die alte Frau entschlossen. »Und es wird mir ein Vergnügen sein, endlich etwas tun zu können! Ich mag ja alt und schwach sein, aber es macht mich ganz wild, wenn ich dir nicht helfen kann.« Sie hievte sich aus dem Bett und zog einen Morgenmantel über; Schelyra verschwand wieder im Geheimgang und machte sich auf den Weg zu Adeles Zimmer. Sie öffnete die Tür, die Teil des Bücherregals war, das sie zu plündern hatte, und stellte fest, daß die Bücher, die Adele benötigte, so leicht zu finden waren, wie ihre Großmutter gesagt hatte — obwohl sie jeden Band zur Hand nehmen und zumindest den Anfang lesen mußte, um zu erkennen, um was es sich handelte. Sie hatte mindestens die Hälfte der Bücher über Magie gefunden, als Nanny hereinschlurfte, die Arme beladen mit nichtssagenden Titeln über Legenden und blumenreiche Poesie. Es waren nicht gerade Bücher, die Adele gelesen hätte, aber das wußten die Eroberer nicht. Sie legte ihre gesammelten Werke auf dem Bett ab und füllte die Lücken in Adeles Bücherregal. Sie betrachtete ihr Werk, als sie das letzte Buch eingeordnet hatte, und ging, ohne ein Wort zu verlieren, wieder hinaus, um noch mehr Bücher zu holen. Als sie wieder zurückkehrte, war Schelyra sicher, alle Bücher gefunden zu haben, die Adele zurückgelassen hatte. Sie stapelte sie im Geheimgang, wo sie vorläufig in Sicherheit waren, und half Nanny anschließend, die fehlenden Bücher durch andere zu ersetzen. »So«, sagte die alte Frau und legte den Kopf schief, um das Ergebnis zu betrachten. »Das sieht ganz annehmbar aus.« »Nanny, ohne dich hätte ich es bei weitem nicht so schnell geschafft«, sagte Schelyra dankbar und beugte sich vor, um der alten Frau einen Kuß auf die runzlige Wange zu drücken. »Ich danke dir!« Nanny kicherte entzückt. »Es ist gut, wenn man wenigstens etwas tun kann«, erwiderte sie. »Und jetzt verschwindest du am besten, sonst kommst du vor Tagesanbruch nicht mehr in die Stadt.« Sie scheuchte Schelyra mit einer Handbewegung hinaus, die bereitwillig folgte. Sie mußte dreimal gehen, um alle Bücher aus dem Geheimgang zu schaffen, sie wollte sie nicht dort lassen, da sie befürchtete, sie könnten 298
sich auf irgendeine Weise einem anderen Magier bemerkbar machen. Bis jetzt hatte noch niemand die Geheimgänge entdeckt, und wenn Apolon herkäme, wollte sie ihn nicht gerade mit der Nase darauf stoßen. Sie ließ einen Großteil der Bücher in ihrem Geheimzimmer und nahm nur wenige mit, die sie, wenn sie durch die Röhre kroch, nicht behindern würden und die sie unter ihrer Kleidung vor dem Regen schützen konnte. Sie hatte allen Grund anzunehmen, daß der Raum, der in den Fels gehauen war, vor Magie geschützt war; deshalb hatte sie die meisten Teile ihrer »Ausrüstung« hier untergebracht. Zumindest waren die Bücher jetzt vor dem Zugriff Apolons sicher; das war die Hauptsache. Sie zweifelte nicht daran, daß zumindest einer der Männer, die Balthasar zur Bewachung seines Sohnes schicken würde, ein Speichellecker dieses Magiers sein würde. Der arme Leopold, dachte sie, als sie sich auf den Rückweg machte. Trotz all der Mühen und Gefahren, die wir auf uns nehmen —für nichts und wieder nichts wollte ich mit ihm tauschen. Er ist es, der einen Schutzengel braucht, nicht ich.
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44.Thom
Untätigkeit brachte Thom zum Wahnsinn. Untätigkeit war es auch, die ihn wieder in die Stadt getrieben hatte, wo er in all seinen gewohnten Schlupfwinkeln Neues zu erfahren hoffte. Ursprünglich wollte er in den Tempel gehen, doch nach reiflicher Überlegung war er zu dem Schluß gekommen, daß es ein Fehler wäre. Gerüchten zufolge durchstreiften die Eroberer die Straßen auf der Suche nach kräftigen Männern, um sie in Balthasars Dienste zu zwingen, und er hatte nicht die Absicht, ihnen in die Hände zu fallen. Statt dessen machte er sich auf den Weg zu einer ähnlichen Spelunke, wie es das Wirtshaus von Jonas war, nur mit dem Unterschied, daß hier Landratten verkehrten. Er hatte sich dort seit einigen Tagen nicht mehr blicken lassen; wahrscheinlich würden eine Menge Neuigkeiten auf ihn warten. Er mußte erkennen, daß die Gerüchte stimmten: Mehr als einmal sah er eine Gruppe von Schwarzmänteln oder Söldnern, die halb bewußtlose oder sich sträubende Männer fortschleppten, die alle kräftig und zum größten Teil auch jung waren. Es gelang ihm, ihnen auszuweichen und sich zu verbergen, sobald er von fern einen festen, »soldatischen« Tritt vernahm. Er begann sich zu fragen, was sich der neue Herrscher bei seinem Vorgehen wohl denken mochte. Bei dieser Größenordnung wäre schon sehr bald niemand mehr in der Stadt, der die anfallende Arbeit verrichten konnte — und ohne Dockarbeiter, ohne Handwerker und Arbeiter würde der Wohlstand, den Merina einst besessen hatte, spurlos verschwinden. Es sei denn, die Frauen brächten es irgendwie fertig, die Arbeit zu tun, die ihre Männer einst verrichtet hatten. Bei diesem Gedanken schnaubte er verächtlich. Weiber? Nie im Leben! Man konnte schwerlich einen ganzen Stapel Waren auf einen Lastkahn laden, wenn sich Gören an den Rockzipfel klammerten! Und genauso wäre es doch, wenn eine Frau eine so harte und schmutzige Arbeit übernehmen wollte — nein, Frauen saßen lieber in Ruhe zu Hause. Er konnte sich in Merina keine Frau vorstellen, die den Mumm hätte, in die Bresche zu springen, welche durch den Verlust ihrer Män 300
ner entstanden war. Wahrscheinlich würden sie nur händeringend zu Hause sitzen und flennen. Er durchquerte die Stadt und gelangte an das andere, der Küste abgewandte Ende der Stadt. Hier ritten die Karawanen nach Merina ein. Wie das Hafengebiet war auch dies ein Bezirk, in dem es viele Lagerhäuser und Arbeiter gab. Und wie in den Docks gab es auch hier Gegenden, wo man gut beraten war, die Hand am Messer zu halten und ein bestimmtes Ziel zu haben. Sich in dieser Gegend bei Nacht aufzuhalten, wie er es jetzt tat, war — wenn einen hier nicht jeder kannte — der reine Wahnsinn. Das Wirtshaus »Engelszungen« erkannte man an einem Paar steinerner Taubenflügel, die an den Türpfosten genagelt waren. Um dorthin zu gelangen, ging Thom eine schmale, heruntergekommene Gasse voller Ratten, Katzen und schreiender Gören entlang, bis er zu der Treppe kam, die in den Keller des schäbigsten Hauses im Block hinabführte. In dem Augenblick, als er vor der Tür ankam, öffnete der Himmel die Schleusentore. Er war heilfroh, hineinschlüpfen zu können, als die Tür sich auf sein Klopfen öffnete. Der Geruch nach ungespültem Geschirr, ungewaschenen Körpern und ungeputzten Böden, verbranntem Essen und Bier, der ihm entgegenschlug, war so durchdringend, daß er einen Ahnungslosen hätte umwerfen können. Für Thom hingegen verbanden sich Erinnerungen mit diesem Dunst. Hier kommst du her. Hier wirst du enden, wenn du nicht vorsichtig und klug bist. Lieber, viel lieber würde er am Seil eines Scharfrichters enden, als ein jämmerliches Dasein zu fristen, das einen dazu zwang, in einer Ecke der »Engelszungen« oder an einem ähnlichen Ort ein paar Biere zu schnorren. Niemand begrüßte ihn; es war nicht üblich. Namen waren gefährlich, und niemand benutzte sie ohne Aufforderung. Thom nahm an einem leeren Tisch Platz und wartete, bis eine der Schlampen, die in jeder Hinsicht käuflich waren, zu ihm kam, um die Bestellung aufzunehmen. Doch die Person, die hier kam, das war keine der üblichen Schlampen, dunkeläugig und rundherum einladend. Es war ein verängstigtes Kind mit runden Augen und von unbestimmbarem Geschlecht. Es stand zitternd an seinem Tisch und flüsterte. Er konnte nicht verstehen, was es sagte, vermutete aber, daß es ihn fragte, was er trinken wolle. »Whiskey«, sagte er und warf eine Münze auf das Tablett des Kindes. »Und hol mir Ard her. Sag ihm, Thom will ihn sprechen.« 301
Ard Arnson war der Inhaber der »Engelszungen«; Thom hatte Ard bereits mehr als eine kleine Münze für die Nachrichten gegeben, die er zu verkaufen hatte. Ard wäre sicher froh, noch mehr Geld zu sehen, so daß er die barsche Aufforderung wahrscheinlich nicht krummnehmen würde. Nicht nur das, Ard brachte Thom den Whiskey sogar persönlich an den Tisch - es war das einzige Getränk, das stark genug war, um das Glas, in dem es gereicht wurde, zu reinigen. Der Whiskey war sehr schlecht, aber Ards Bier war noch schlechter. Ard brachte zwei Gläser und nahm mit einem Grunzlaut Thom gegenüber Platz. »Wo sind denn die Mädchen?« fragte Thom schroff. »Soldaten«, stöhnte Ard. »Die kamen hier durch, trieben sie zusam men und verschleppten sie in irgend so ein Soldatenhaus. Haben jedes Mädchen auf der Straße geschnappt, das sich nicht schnell genug verstecken konnte.« Er deutete auf die Kinder, die bedienten. »Das ist alles, was ich für hier unten noch kriegen konnte. Die paar Huren, die ich noch habe, sind oben in Sicherheit.« »Ahh.« Thom schüttete den Whiskey hinunter und achtete wohlweislich darauf, daß er ihm nicht über die Zunge rann. »Stark.« »Das kannste ruhig glauben.« Ard folgte seinem Beispiel. »Preßpatrouillen haben außerdem auch die Jungs mitgenommen. Wird keiner mehr übrigbleiben außer alten Männern, Weibern, Krüppeln und Kindern. Schlecht fürs Geschäft. Echt schlecht fürs Geschäft.« Thom dachte darüber nach. »Da könnte doch glatt einer auf die Idee kommen, ein paar von den Soldaten in den Kanal zu werfen«, warf er ein. Ard bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Ist ja alles schon passiert, morgens lag auf einmal ein Soldat unter dem Bett. Sie haben die Patrouillen markiert, und wenn einer von ihnen über Nacht verschwindet, wissen sie, von wo er verschwunden ist. Dann kommen sie und rechnen mit der ganzen Gegend ab. Heut' morgen haben sie gerade noch fünf Männer in der Glasdon-Straße aufgehängt, nur so zur Abschreckung.« »Was du nicht sagst!« Thom spielte mit seinem Glas. Es sah nicht sehr vielversprechend aus. Die Truppen der Eindringlinge waren den Bürgern Merinas immer einen Schritt voraus, so daß sie gegen ihre Plünderungen nichts unternehmen konnten. Außerdem waren sie ungerecht. 302
Das Wort Gerechtigkeit hatte offensichtlich keinen Platz in ihrem Wortschatz. Es war, als hätte Ard Thoms Gedanken gelesen. »Es ist ungerecht«, klagte er. »Man sollte doch meinen, daß die Obrigkeit die Gesetze einhält, und es ist einfach nicht richtig, wenn die da oben sich nicht mehr an die Regeln halten.« »Und das tun sie nicht«, stimmte Thom ihm zu und wagte sich dann ein Stück weiter vor: »Meinst du, daß der Tempel ...?« »Wann haben so welche wie die schon Zeit für uns, wenn ihnen selbst das Wasser bis zum Hals steht?« fragte Ard. »Klar hab' ich von dem Wunder und allem Drum und Dran gehört, aber direkt nach dem Wunder sind die Soldaten schon aufgetaucht und haben den Tempel gestürmt, und kein Engel hat sie aufgehalten.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Nee, Thom, es sieht überall ziemlich mies aus, und ich sag' dir, was ich auch den anderen schon gesagt habe. Mach die Mücke, solange es noch geht.« Thom holte noch mehr aus Ard heraus, was ihm aber nicht sonderlich weiterhalf. Die Truppen des Kaisers hatten auch diese Gegend im Würgegriff, denn sie durchstreiften sie in regelmäßigen Abständen und verschleppten jeden auch nur einigermaßen kräftigen Mann, der unvorsichtig genug war, sich auf der Straße blicken zu lassen. Einige wurden freigelassen, nachdem sie den Nachweis erbracht hatten, daß sie ein Geschäft oder eine Arbeitsstelle besaßen und daß sie darüber hinaus ihre Abgaben an den neuen Herrscher für dieses Privileg bereits geleistet hatten. Der Rest wurde als »bedürftig« eingestuft und in Arbeitstrupps gesteckt. Wo, wußte Ard nicht zu sagen. Geschweige denn, zu welchem Zweck. Nachdem Ard gegangen war, grübelte Thom über alles nach und versuchte, die Bruchstücke zusammenzufügen. Doch es paßte nichts nein, das war nicht ganz richtig. Nichts paßte, wenn man davon ausging, daß Balthasar die Stadt Merina und ihren Reichtum erhalten wollte. Keine Stadt konnte ohne Arbeitskräfte und wohlhabende Händler auskommen. Natürlich behauptete jeder Händler, die Regierung ziehe ihm das letzte Hemd aus, aber sie verdienten immer noch Geld, das sie für ihren persönlichen Bedarf zurücklegen konnten. Diesmal war es anders. Um ihr Geschäft weiterhin betreiben zu können, mußten die Händler den Gegenwert ihres Jahresgewinns auf Heller und Pfennig bezahlen - alles auf einmal, um dann eine Arbeitserlaubnis von sechs Monaten zu bekommen. Einige von ihnen konnten die überhöhten Forderungen von Erspartem bezahlen, aber die ande 303
ren? Ihnen blieben drei Möglichkeiten — das Geschäft aufzugeben, einen Teilhaber zu finden, der das Geld hatte — oder ... Oder die dritte Möglichkeit. Wenn sie nicht sofort die Türen verschlossen, obwohl sie im Rückstand waren, würde sich schnell ein »Teilhaber« einstellen. Die Soldaten Balthasars würden mit einer Urkunde in der Hand auf der Schwelle stehen, mit der ihr gesamter Besitz beschlagnahmt und einem Bürger des Kaiserreiches überschrieben wurde. Der arme Händler oder Handwerker wurde vertraglich als Diener des Reiches verpflichtet, der auf die Stunde genau »Strafen« abzuleisten hatte für jede Stunde, die er ohne offizielle Arbeitsgenehmigung durch den neuen Herrscher im Geschäft geblieben war. Dann waren die Chancen noch geringer: Entweder er versuchte zu fliehen und lief Gefahr, als »bedürftig« eingestuft und von einer Preßpatrouille aufgegriffen zu werden, oder er blieb Diener im eigenen Hause, Sklave im eigenen Geschäft. Nein, das alles ergab keinen Sinn, wenn Merina bestehen bleiben sollte. Aber wenn der neue Herrscher Wolle haben wollte und nach der Schafschur auch noch die Haut, das Fleisch und die Knochen verwendete, ohne sich weiter um neue Wolle zu scheren, dann ergab es allerdings einen sehr üblen Sinn. Balthasar hatte nie ein anderes Ziel gehabt, als die Stadt auszuplündern. Sie hatten es nur etwas bequemer und weniger kostspielig für ihn gemacht, als sie sich unterwarfen. Sie hätten kämpfen sollen. Jetzt war es zu spät. Vielleicht gab es noch eine Stadt hier, wenn die Eroberer schließlich abgezogen waren — aber es wäre der ausgetrocknete Kadaver einer Stadt, die auf grausame Weise ihres Wohlstands, ihrer Arbeitskräfte und all ihrer Werte unwiederbringlich beraubt worden war. Es wäre eine Stadt der Frauen, der alten Männer, Krüppel und Kinder. Vielleicht wären außer den Alten und Krüppeln nur Säuglinge und Kleinkinder übrig, die zu jung waren, um zu arbeiten. Wenn die Truppen der Stadt schon so viel genommen hätten, wer oder was könnte sie noch davon abhalten, alle auch nur halbwegs heiratsfähigen Frauen als Prostituierte für das Lager mitzuschleppen und die Jüngeren als Handlanger für die Armee? Nichts, außer einem Sinn für Anstand, der dem Kaiser ganz offenkundig fehlte. Thom wälzte das Gebilde aus Vermutungen, Vorahnungen und Tatsachen in Gedanken hin und her und versuchte, eine Schwachstelle zu entdecken. Doch je länger er es betrachtete, um so mehr verfestigte es sich. 304
Draußen vor dem Wirtshaus heulte der Wind wie tausend verlorene Seelen, und Donnerschläge erschütterten das alte Gebäude. Die lockeren Bretter an den Außenwänden rappelten ununterbrochen und übertönten alle Gespräche in mehr als ein paar Fuß Entfernung. Thom seufzte und schaute in sein leeres Glas. Bei dem Wetter war er kaum geneigt, zu Gordo zurückzukehren - aber hier war auch kein Ort, an dem man einen Sturm abwarten konnte. Das Wirtshaus »Engelszungen« hatte schon einmal unter Wasser gestanden, und bei der Menge Regen, die herunterkam, konnte es gut sein, daß es in dieser Nacht erneut überflutet würde. Er warf eine Kupfermünze auf den Tisch für das Kind, das sein Glas abräumte, zog sich den Umihang fest um den Körper und erhob sich. Niemand sah ihn an oder schenkte ihm mehr Aufmerksamkeit als beim Hereinkommen. Er mußte sich gegen die Tür stemmen, um sie gegen den Druck des wütenden Windes zu öffnen, der sie ihm wieder aus der Hand schlug und zuknallen ließ, sobald er draußen war. Der Wind wurde noch heftiger, als Thom wieder auf der Straße war, und der Regen prasselte so stark auf die unbedeckten Körperstellen, daß sie im Nu halb erfroren und wie betäubt waren. Es war mit Sicherheit der schlimmste Sturm, den Thom je erlebt hatte, und er fragte sich, ob es ein Ausdruck des Zorns der Göttin über die Entweihung ihres Tempels war. Oder - war es möglich, daß man die Heilige Totenmesse dazu mißbraucht hatte, die Tatsache zu verschleiern, daß die Königinwitwe noch am Leben war? Er hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, daß Adele noch unter den Lebenden weilte - aber die Frau im Beichtstuhl hatte einen sehr lebendigen Eindruck gemacht, und Schelyra hatte kein bißchen Unruhe gezeigt, als die Glocke, die den Tod der Königinwitwe verkündete, zu schlagen begann. Wenn man dann noch bedachte, daß die Eroberer wußten, daß die Königinwitwe im Tempel Zuflucht gesucht hatte, dann hatte man einen guten Grund für ein Scheinbegräbnis. Warum auch nicht? Niemand würde nach einer Verstorbenen suchen, und wenn man sie noch so gern lebend gehabt hätte. Nun, er für sein Teil hoffte, daß dieser Sturm nicht Ausdruck des Göttlichen Zorns über die Verunglimpfung Ihrer geheiligten Riten war. Viel besser wäre es, wenn sie den Eindringlingen zu verstehen gab, daß sie den Bogen überspannt hatten. »Am allerbesten wäre es sogar, wenn Sie sich entschließen könnte, uns
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zu helfen«, murmelte er hinter aufgeschlagenem Mantelkragen vor sich hin, während er über nasse Pflastersteine schlitterte. «Wenn nicht bald ein paar echte Wunder passieren, kann diese Stadt die übergroße Gnade Balthasars nicht überleben.« Na ja, ein Gutes wenigstens hatte der Sturm an sich. In einer solchen Nacht würden keine Preßpatrouillen unterwegs sein. Nur ein Narr, ein völlig Verzweifelter oder einer, dem nichts anderes übrigblieb, würde sich bei diesem Unwetter vor die Tür wagen. »Und zu welcher Sorte gehöre ich wohl?« fragte er sich laut. Und in diesem Augenblick wurde er von beiden Seiten an den Schultern gepackt. Er versuchte, einem der Angreifer den Ellenbogen in den Unterleib zu rammen und dem anderen mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Beide Hiebe zeigten keine Wirkung. Wer immer ihn ergriffen hatte, schien die Schläge nicht einmal zu spüren! Er begann, sich aus seinem Umhang zu winden, um die Flucht zu ergreifen und die beiden Angreifer mit dem Überwurf stehenzulassen, ein Trick, der ihm in der Vergangenheit stets gute Dienste geleistet hatte. Doch er kam nicht einmal dazu. Kälte und Finsternis umhüllten ihn, als er wieder erwachte, jedoch keine Stille. Mindestens zwölf weitere Männer, wenn nicht noch mehr, waren in seiner Nähe. Sie sprachen nicht, aber er vernahm die Geräusche ihres Atmens und ihrer Bewegungen. Er räusperte sich nachdrücklich. »Aha, der Neue ist wach geworden«, ertönte eine barsche Stimme aus dem Dunkeln. »Wäre fast besser für ihn, wenn einer von uns ihn wieder zusammenschlagen würde«, sagte eine zweite Stimme bedrückt. »Wo bin ich?« fragte Thom vorsichtig, während er sich langsam aufrichtete. Er hatte seinen Umhang noch bei sich, immerhin etwas. Seine Zellengenossen hatten ihn nicht bestohlen, was darauf schließen ließ, daß sie nicht zu den üblichen Galgenvögeln gehörten. Zudem hatte er an einer Seite des Kopfes eine Beule, halb so groß wie eine Faust, so daß er nicht weiter nachfragen mußte, »was geschehen war«. »Das darfst du ebenso erraten wie wir, Junge«, sagte die erste Stimme. »Irgendwo im Dunkeln, Nassen und Kalten, das ist alles, was wir wissen. Das, und daß wir alle von Schwarzmänteln hierher gebracht wurden.« Schwarzmäntel! Was wollte ein Magier mit Männern anfangen? 306
»Ich bin am längsten hier, und zwar seit ein paar Tagen«, warf ein anderer ein, »und wir stecken hier irgendwo in einem Loch — wenn sie Essen und Wasser oder einen Neuen bringen, lassen sie alles von oben herab.« Die letzte Stimme schien einem gebildeten Menschen zu gehören. »Wie in einer Zisterne, die nicht mehr benutzt wird?« fragte Thom. »Erinnert sich noch jemand außer mir an den Jeckeral-Skandal?« »Wie, jene Zisternen drüben im Bezirk der Metallarbeiter, die so undicht waren, daß man sie nicht mehr gebrauchen konnte?« sagte eine Stimme, die tiefer als alle anderen war. »Die so viel Geld gekostet haben, und dann fand man heraus, daß die Gebrüder Jeckeral mit dem ganzen Geld auf und davon waren?« »Sieht so aus, als hätte Apolon eine Verwendung für sie gefunden«, sagte die gebildete Stimme barsch. Thom erstarrte. »Ist er es, der uns gefangen hält?« fragte er. »Apolon selbst?« »Du sagst es«, bestätigte die Stimme des Gebildeten düster. »Er selbst hat mich eingesperrt. Und wenn dir etwas Kluges einfällt, wie man vom Grund einer Zisterne entkommen kann, Fremder, dann spuckst du es am besten gleich aus, ehe es zu spät ist.« »Warum?« wollte ein anderer wissen. »Weil er nach einem Ort sucht, wo er seine Magie ausüben kann, lieber Freund. Und Apolon ist Totenbeschwörer.« Der Gebildete lachte, aber es war ein bitteres Lachen. »Ich weiß es, weil ich seinen Schwarzmänteln auf die Schliche gekommen bin — jene, die nicht reden, keine Kälte spüren und sich nicht beschweren, wenn sie die ganze Nacht draußen sein müssen. Leider ist Apolon mir auf die Schliche gekommen, noch ehe ich es dem Kaiser enthüllen konnte.« »Du bist ein Soldat ...« Ein Murren entstand unter den anderen Männern und ein Geräusch, als würden sie sich näher an den Sprecher herandrängen »Ich war einer«, berichtigte der Mann mit einem bitteren Unterton. »Jetzt bin ich das, was ihr auch seid. Und wenn ihr mich jetzt umbringt, wäre es ein Segen. Also glaubt nur nicht, daß ich euch davon abhalten werde.« Diese Worte ließen alle zu Stein erstarren. »Warum?« fragte Thom in die Stille hinein. »Ich habe euch doch gesagt, daß Apolon ein Totenbeschwörer ist. Weiß denn keiner von euch, was das ist?« Er wartete eine Weile, um dann 307
fortzufahren. »Er benutzt Tote. Er bindet ihre Seelen, so daß sie nicht entweichen können, und er macht sich diese Toten zu Sklaven. Warum glaubt ihr, daß er uns hier am Leben hält? Er wird uns umbringen und aus uns noch mehr Schwarzmäntel machen.« »Nein«, flüsterte einer entsetzt. »Aber ja doch«, sagte der Soldat. »Und es gibt nichts, rein gar nichts, womit einer von uns ihn daran hindern könnte.«
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45. Adele Priesterin Elfrida, die in ihrer Tempelzelle schlief, wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere; wieder wurde sie im Schlaf von Visionen heimgesucht, und die Traumbilder hielten sie gefangen, so daß es ihr weder gelang aufzuwachen noch richtigen Schlaf zu finden. Der Traum war eine verwirrende Mischung aus Bildern: Das Herz und der Rubin aus dem Siegelring der Königin umkreisten einander wie Tänzer, aber zwischen ihnen blitzte ein Schwert auf - ein helles Schwert mit einem dunklen Band am Knauf. Das Schwert wurde wie von Geisterhand vor ihren Augen geschwenkt, bedrohlich, als solle sichergestellt werden, daß sie es auch bemerkte. Plötzlich wachte sie auf, zitternd vor Angst. Sie war so erschöpft, als hätte sie selbst Magie betrieben. Heilige Engel. Was ist nur über uns gekommen? Sie atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen und zu sich selbst zu finden, sich zu vergewissern, daß sie ganz in sich ruhte und im Tem pel in Sicherheit war. Irgend etwas geschieht, oder ist bereits geschehen, dachte sie. Sie wußte es. Nur muß ich noch herausfinden, was es ist. Sie erhob sich von ihrem schmalen Bett und zog die Kutte wieder über das Unterkleid, in dem sie geschlafen hatte. Ihre Zelle hatte ein kleines Fenster, aber als sie hinausschaute, sah sie nichts als den Regen, der gegen die Scheiben schlug. Es war, als weinte der Himmel selbst bittere Tränen der Wut angesichts der Schrecken, die über Merina gekommen waren. Es wäre noch schlimmer gewesen, wenn wir gekämpft hätten, ermahnte sie sich streng. Dennoch glaubte sie, daß sie für eine geraume Zeit nicht mehr würde schlafen können. Erst dann, wenn sie ihre Traumbilder zusammengefügt hätte. Was hatte ausgerechnet sie, die sich der friedlichen Arbeit im Dienste der Göttin verschrieben hatte, mit einem Schwert zu tun? Es war ein echtes Schwert, keine Metapher für Krieg oder Kämpfe, das war ihr klar. An den Stellen, an denen das dunkle Band den Glanz der Klinge nicht gedämpft hatte, war die Macht der Göttin zu spüren gewesen - und Sie legte äußerst selten Hand an eine Waffe, wenn Sie 309
nicht zugleich eine Macht der Finsternis und böse Absichten zu bekämpfen hätte. Das Gideon-Schwert, durchzuckte es sie plötzlich, das war das Schwert in meinen Träumen! Aber was war dieses dunkle Band? Sie blickte hinaus in den Regen; Blitze zuckten unablässig über den Himmel, so daß man bei dem Licht hätte lesen können. Dieser Sturm war schlimmer als die zu dieser Jahreszeit üblichen Unwetter. Könnte Schelyra etwas mit dem Traum zu tun haben? Es ist eine schlimme Nacht für alle, die draußen sind. Ob es Schelyra bereits gelungen ist, in den Sommerpalast zu gehen? Ich hoffe nur, daß sie nicht versucht, den Fluß bei diesem Unwetter zu überqueren. Sie entspannte sich ein wenig und ließ diesen Gedanken für eine Weile auf sich wirken; sie hatte das Gefühl, daß jemand aus ihrer Familie in dem Unwetter draußen war, aber Schelyra war es nicht. Zudem hatte sie nicht das Gefühl, daß Schelyra überhaupt etwas mit dem Traum zu tun hatte. Aber wer dann? Und woher kam das Bild der beiden Rubine, die einander umkreisten? Rubine ... Steine ... welches Familienmitglied beschäftigte sich mit Steinen? Wer hatte Zugang zu Edelsteinen der dunklen Mächte? Wer besaß das Siegel der Königin, und wer konnte einen Rubin aus dem Herzen erhalten haben? Die Rubine! Die der Königin und die des Herzens ... Verit hatte ihr gesagt, daß Lydana im Tempel war, als das Herz blutete ...— hat Lydana jetzt einen Teil des Herzens? Bei diesem Gedanken überkam sie ein Gefühl der Gewißheit, denn nun paßten alle Teile zusammen. Es ist Lydana, na gut, dachte sie finster, und die Dunkelheit stammt von einem ihrer verfluchten Edelsteine. Ich habe sie gewarnt, achtzugeben, wie sie die Steine einsetzt, aber hat sie jemals auf mich gehört? Sie seufzte, denn sie wußte, daß dies die Klage aller Mütter seit Menschengedenken war. Ach ja, die Welt dreht sich auch ohne mein Zutun. Und wenn sie dem Gideon-Schwert etwas wirklich Furchtbares angetan hat, werden wir es bald genug erfahren. Ich muß jedoch daran denken, es Verit zu berichten. Es kann etwas sein, wovor wir uns schützen müssen. Soviel war also klar, und nun hätte sie eigentlich wieder schlafen können! Sie öffnete die Tür und schaute zur Stundenkerze im Korridor hinüber. Es dauerte noch geraume Zeit, bis sie wieder im Heiligtum erwartet wurde, aber sie wollte nicht allein in ihrer Zelle sitzen. Ich mache mir ohnehin schon genug Gedanken. Wenn ich bereits wach bin, 310
kann ich auch wach bleiben und etwas Nützliches tun. Und wenn ich mir schon Gedanken mache, kann ich es ebensogut im Gebet tun. Auf leisen Sohlen schlich sie über den Korridor. Die Sandalen trug sie lieber in der Hand als an den Füßen, damit niemand von ihren Schritten gestört wurde. Der Steinboden war eiskalt, aber sie achtete nicht weiter darauf, als sie zum Meditationsraum hinunterging. Der Raum war bis auf eine kniende Gestalt in roter Kutte leer. Ich wußte nicht, daß Verit jetzt Wache hat, dachte Elfrida verwundert und kniete in geringem Abstand von ihr nieder. Verit blickte auf. Ihre Blicke trafen sich. »Konntet Ihr auch nicht schlafen, Elfrida?» Verit schien nicht einmal sonderlich überrascht. »Nein, nicht so gut«, gab Elfrida zu. »Ich habe geträumt, und es war nicht gerade erfreulich.« »Cosima war hier fast auf den Knien eingeschlafen.« Ein schwaches Lächeln huschte über Verits Lippen. »Ich habe sie zu Bett geschickt. Auch ich konnte nicht schlafen, obwohl mich kein Traum wachhielt.« Die arme Cosima! Während der gegenwärtigen schwierigen Lage führte die Braune Kutte ein ähnliches Doppelleben wie einst Adele! »Wenn sie die Verwundeten heute versorgt hat, wird sie wahrscheinlich davon müde sein«, sagte Elfrida. »Und jüngere Menschen scheinen mehr Schlaf zu benötigen als unsereins.« »Wohl wahr«, stimmte Verit ihr zu, »aber ich nehme an, daß wir alle so viel Schlaf wie irgend möglich brauchen, ehe diese Sache ausgestanden ist. Was macht Euch heute nacht Kummer? Ist es Apolon? Prüft er unsere Verteidigung, oder habt Ihr eine Vorahnung?« Sonderbar, doch Verits nüchterne Fragen bedeuteten für Elfrida so etwas wie eine Erleichterung. Elfrida hatte so lange mit Lydanas Vorbehalten gegenüber der Magie gelebt, daß es nun eine freudige Überraschung für sie war, mit zwangloser Offenheit über das Können von Magiern und über Vorahnungen reden zu können. Elfrida schüttelte den Kopf. »Nicht direkt - aber ich hatte in der Tat eine unbestimmte Vorahnung. Ich bin mir allerdings nicht so ganz sicher, was sie zu bedeuten hat. Sagt, kann es sein, daß jemand einen der Rubine mitgenommen hat, als das Herz blutete?« Verit schaute sie durchdringend an und hatte auch erraten, was sie nicht laut ausgesprochen hatte. »Die Soldaten sind nicht so weit in den Tempel eingedrungen, aber es stand jemand neben dem Sarg und verließ danach den Tempel.« Sie warf Elfrida einen fragenden Blick zu, und Elfrida nickte. Sie hatte von Verit bereits erfahren, daß Lydana, mit einer 311
braunen Kutte verkleidet, zum Begräbnis gekommen war, und nur Lydana konnte den Tempel verlassen haben. »Also befindet sich nun ein Teil des Herzens draußen in der Stadt«, schloß Verit nachdenklich. »Das kann gut oder schlecht sein; ich weiß es nicht.« »Ich auch nicht«, erwiderte Elfrida. »An dieser Stelle war mein Traum nicht eindeutig. Ich glaube, ich sollte nur erfahren, daß der Herzstein in Merina ist - und in der Hand dieser Person. Zumindest ist er nicht in die Hände einer der Novizen gefallen.« Bei dieser Bemerkung runzelte Verit die Stirn, als wäre sie wieder an etwas erinnert worden. »Ich fürchte, Ihr hattet recht, was die Novizen betrifft, Elfrida. Ich habe sie beobachtet, seit wir sie alle hier im Tempel versammelt haben, und es gibt einige unter ihnen, die sichtlich zögern, das Herz anzusehen. Ich könnte Euch nicht einmal sagen, ob der Grund dafür ein Schatten auf ihrer Seele ist oder nichts weiter als ein schlechtes Gewissen, aber auf jeden Fall bin ich froh, daß wir sie hier im Auge behalten können.« Elfrida lächelte grimmig. »Das dachte ich mir. Was habt Ihr jetzt mit ihnen vor?« Verit erwiderte ihr Lächeln, allerdings eher spitzbübisch schmunzelnd. »Ich habe den Dienstplan so eingeteilt, daß alle Novizen in jeder Minute, die sie nicht beim Essen oder im Bett zubringen, auf den Knien im Heiligtum liegen. Da sehen sie nichts, was sie nicht sehen sollen außerdem werden sie kaum eine Möglichkeit haben, sich von dort wegzuschleichen und jemandem Bericht zu erstatten. Jene, deren Seelen rein sind, werden aus tiefstem Herzen für uns beten — und jene, deren Seelen nicht rein sind, werden reichlich Zeit haben, über ihre unbehagliche Lage nachzudenken. Vielleicht schenkt die Göttin ihnen Reue.« Elfrida nickte; die Hoffnung auf Reue konnte sicher nicht schaden, obwohl sie selbst es für eher unwahrscheinlich hielt. Andererseits war sie viel zu sehr Zweiflerin und hatte in der Außenwelt zu viele Erfahrungen gesammelt. In der abgeschiedenen Tempelwelt mochten Verits Hoff nungen durchaus berechtigter sein als Elfridas Zweifel. »Schön. Was ist mit den Häusern der Heiler, die über die Stadt verstreut sind? Hat jemand sie von ihrer Arbeit abgehalten?« Verit schürzte die Lippen, als hätte sie etwas Saures gegessen. »Die Kräuterkundigen und die weltlichen Heiler wurden gezwungen, ihre Türen zu schließen, nicht indes die Heiler der Orden.« »Noch nicht«, warf Elfrida ein. 312
Verit zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt hat man sie noch nicht belästigt, wenn auch einige von ihnen unter Beobachtung stehen. Die Barmherzigen Schwestern - das Haus der Ehrwürdigen Zenia — stehen unter ständiger Bewachung, seitdem die Edle Fortuna und ihre Töchter dort Zuflucht gefunden haben, aber bisher hat noch niemand versucht, ihr Heiligtum anzutasten. Ich hoffe nur, daß es nicht geschieht — bis heute hätte ich diese Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen, aber da diese Söldner den Tempel selbst schon entweiht haben, bezweifle ich stark, daß es Pietät ist, die sie davon abhält, ins Kloster der Ehrwürdigen Zenia einzudringen.« Als der Name Fortuna fiel, sah Elfrida wieder das Schwert aus ihrem Traum vor sich, das wie ein Geist durch ihr Unterbewußtsein schwebte, mit jenem Schatten am Knauf. »Die Edle Fortuna wohnte im Haus des Keilers, nicht wahr?« Verit nickte. »Warum?« Nun fügte sich das letzte Mosaikstück ein. Zenia gehörte dem Orden der Braunen Kutten an, Lydana war als Braune Kutte verkleidet in den Tempel gekommen. Ob sie an diese Verkleidung herangekommen war, weil sie Zenia aufgesucht hatte? Wenn ja, welchen Grund sollte sie gehabt haben, außer dem Wunsch, mit Fortuna zu reden, die über das Gideon-Schwert Bescheid wußte? »Ich habe vom Gideon-Schwert geträumt, und an seinem Knauf war etwas Dunkles.« Verärgert biß sie sich auf die Lippe. »Ich fürchte, meine Tochter hat mit einem ihrer verfluchten Edelsteine etwas daran verändert.« Verit seufzte und schüttelte den Kopf. »Heilige Engel! Wie sollen wir bei der wilden Zauberei allüberall unsere Magie aufrechthalten? Nun, ich werde denen, die in die Zukunft schauen, sagen, sie sollen auf Zeichen aus dieser Richtung achten.« Sie schloß die Augen für wenige Sekunden, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich die gleiche Ratlosigkeit, die auch Elfrida spürte. »Warum sollte sie so etwas getan haben?« Elfrida seufzte schwach, denn sie hatte sich diese Frage auch schon gestellt. »Sie ist noch jung genug, um zu glauben, daß das Böse sich zuweilen zum Guten wendet. Und sie ist auf ihre Weise ebenso unberechenbar und ungeduldig wie Schelyra.« »Ihr hättet sie eines Besseren belehren müssen«, sagte Verit milde mit einem kaum merklichen Vorwurf. »Das Böse kann niemals zu einem anderen Zweck eingesetzt werden, als dem Bösen zu dienen.« »Ich habe es versucht«, bemerkte Elfrida bitter und mit größerer Schärfe, als sie beabsichtigt hatte, »aber sie hat sich immer geweigert, 313
etwas von den Lehren des Tempels anzunehmen. Es war, als hätte sie Angst vor unseren Kräften.« »Angst vor uns?« sagte Verit ungläubig. »Sie kann fluchbeladene Edelsteine in der Stadt verbreiten - aber ausgerechnet vor uns hat sie Angst?« Elfrida hob die Schultern, denn an diesem Punkt verwirrten sie Lydanas Denken und Tun so sehr, daß ihre Tochter ebensogut eine Fremde hätte sein können. Sie verstand Schelyra viel besser als die eigene Tochter. »Ich kann es nicht fassen. Und wenn wir uns von Balthasar befreien, weiß ich nicht, wer mir als weltliches Oberhaupt des Tempels nachfolgen soll. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Lydana dafür geeignet wäre, und Schelyra zeigt bisher noch keine Anzeichen -« »Wenn es sein muß«, erwiderte Verit, und anscheinend wollte sie Elfrida trotz der ernsten Lage necken, »lassen wir eben Adele wieder auferstehen.« Elfrida verdrehte die Augen. »Nach ihrem wundervollen Begräbnis?« rief sie. »Wie sollten wir das wohl erklären? Ich habe nicht die geringste Lust, mich zur wiederauferstandenen Heiligen erklären zu lassen! Im Augenblick bin ich aufgrund meines Mangels an Nachsicht selbst der eigenen Tochter gegenüber als Heilige denkbar ungeeignet!« »Seid unbesorgt«, sagte Verit, nun wieder mit ernster Miene. »Die Göttin wird auf sich achtgeben. Wir werden das hier überstehen, Elfrida, und vielleicht werden wir feststellen, daß sogar Lydanas sonderbare Pläne ihren Zweck erfüllen.« »Ich wüßte nicht, wie«, brummte Elfrida. »Genau das macht uns zu unvollkommenen Sterblichen«, ermahnte Verit sie. »Und genau deshalb müssen wir um noch mehr Geduld und noch erhellendere Visionen beten.« Dieser Hinweis war so deutlich, als hätte die Erzpriesterin Elfrida ein Gebetbuch in die Hand gedrückt. Elfrida nickte, faltete gehorsam die Hände und wandte ihre Gedanken wieder dem Gebet zu. Zumindest wußte sie jetzt, worum sie beten mußte.
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46. Lydana Das Warten war immer das Schlimmste an jedem Vorhaben. Mathilde schloß die Hand um die Brosche. Sie hatte damit zwar die beiden Wachen überwältigen können, aber wie groß war die Kraft des Rubins wirklich - wie viele Männer konnte sie mit seiner Hilfe kampf unfähig machen? Geräusche ertönten unter ihnen. Sie spannte alle Muskeln an, ebenso wie der Aal, der dicht neben ihr stand. Eine schmächtige Gestalt zwängte sich durch den Türspalt, ohne ihn zu verbreitern. »Aal?« zischte es in der Dunkelheit. »Hier, Smert.« Mathilde erkannte an dem Namen, daß es einer der Gassenjungen war, die ihr kleiner Gefährte mitgebracht hatte. »Sie schaffen den Käpt'n nach oben. Er ist schlecht dran - müssen was herrichten, damit wir ihn durch die Falltür kriegen ...« Der schmächtige Schatten zog bereits an einer Kiste, die beinahe so groß war wie er selbst, um sie unter die rechteckige Öffnung in der Decke zu schieben. Der Aal und Mathilde halfen ihm dabei. Sie zerrten und rückten, bis sie eine Art Treppe gebaut hatten, die ausreichende Standfestigkeit bot. »Was haben sie mit Kapitän Saxon gemacht?« wollte Mathilde wissen, während sie Atem schöpfte. »Sie wollten ihn zum Reden bringen - aber der Käpt'n ist nun mal nicht sehr gesprächig. Sie dachten, warum wohl die Schwarzmäntel auf ihn gekommen waren, und wollten erst was von ihm erfahren. Weiß auch nicht, was!« Sie hatten gerade die letzte Kiste an ihren Platz gerückt, als die Tür weit aufgerissen wurde. Von zwei Laternen fiel genug Licht auf die Rettungsmannschaft, daß Mathilde sie gut erkennen konnte. Vier Männer, deren Messer tödlich im Licht funkelten, sicherten die Gruppe nach hinten ab; Dortmun und ein Hüne von einem Mann stützten zwischen sich eine Gestalt, deren Kopf auf die Brust gesunken war und die sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte. »Los, rauf und raus!« knurrte Dortmun Mathilde und die beiden Jun 315
gen beinahe unfreundlich an. Sie kletterte die wacklige Treppe hinauf, drei Männer folgten ihr. Oben angekommen, drehten sie sich um und halfen, die »Beute« heraufzuziehen. Mathilde erblickte bei flüchtigem Hinsehen ein zerschlagenes Gesicht und blutüberströmte, unrasierte Wangen. Beide Augen waren zugeschwollen, und die Nase schien nur noch eine einzige dunkle Masse zu sein. Sie nahm einen schlaff herabhängenden Arm wahr, dessen Handgelenk ringsum nur noch aus zerquetschtem und zerrissenem Fleisch bestand. Wind und Regen schlugen ihnen ins Gesicht. Bei diesem tobenden Unwetter war es unmöglich, eine Laterne brennen zu lassen, ganz gleich wie gut man sie schützte. Mathilde konnte sich nur tastend voranbewegen, da jetzt die Sturmböen durch die weit geöffnete Speichertür drangen. Dann wurde sie gepackt, noch ehe sie sich zur Wehr setzen konnte. Man schlang ihr ein Seil um die Hüfte und stieß sie in die Nacht hinaus. Sie rang nach Luft, als der Sturm sie mit voller Wucht ergriff. Kaum hatte sie mühsam zwei Atemzüge getan, war sie auch schon wieder bis auf die Haut durchnäßt. Sie pendelte am Seil hin und her, bis sie plötzlich einen harten Griff an den Knien spürte und in den stark schwankenden Kahn hinabgezogen wurde. Daß dies überhaupt möglich war, hatte sie bestimmt der Geschicklichkeit von Leuten zu verdanken, deren Wirkungskreis außerhalb des Gesetzes lag. Sekunden später hockte sie neben einem unförmigen Bündel. Sie tastete nach seinem Kopf und zog ihn zu sich auf den Schoß. Unter ihrem Überkleid breitete sich allmählich Wärme aus — nicht so schmerzhaft, wie sie es bereits erfahren hatte, sondern eher kräftigend, eine Wärme, die ihr das Zutrauen einflößte, daß sie dieses Unternehmen trotz aller Widrigkeiten erfolgreich zu Ende führen könnten. Einem Impuls folgend und wohl wissend, daß sie dem Mann, der inzwischen das Bewußtsein verloren hatte, keinen anderen Trost zu bieten hatte, zog sie die Brosche noch einmal hervor. Sie tastete mit den Händen über die bereits durchnäßte Decke, die jemand um ihn gelegt hatte, bis sie einen Einschlupf fand, steckte die Hand hinein, legte sie mit der gewölbten Handfläche auf die Brust, die sie nicht sehen konnte, so daß die beiden Steine ihre Wärme an sein eiskaltes Fleisch abgeben konnten. Sie war keine Heilerin, und sie konnten auch nicht wagen, eine zu suchen — nicht in dieser Stadt und in dieser Nacht. Auch mit der Gabe war sie nicht richtig vertraut. Obwohl man ihr von Geburt an beigebracht hatte zu glauben, daß eine gewisse Kraft in ihr verborgen lag, 316
hatte sie sich im Laufe der Zeit immer weniger vorstellen können, daß sie einst ihrer Mutter in den Tempel folgen würde. Nachdem der Rubin ihr in die Hand gefallen war, hatte sie ihre Meinung geändert — und die Ereignisse in Merina waren wahrlich dazu angetan, ein Leben zu verändern. Obwohl sie die Gabe nicht besaß, hatte sie den festen Willen, zu helfen, und richtete ihre Gedanken gezielt auf die Steine in ihrer Hand. Werde gesund - spüre keine Schmerzen - diese Worte schienen sich vor ihren Augen wie hellrote Flammen in die Dunkelheit einzubrennen. Das war keine übliche Heilkraft — aber es war alles, was sie zu bieten hatte. Sie verlangte nach heilender Kraft und der Macht, die ihr der Stein verliehen hatte, so daß sie die Wachen überwältigen konnte. Sie richtete ihre Gedanken so stark auf das, was sie tun wollte, daß sie die Nacht, den Sturm, ja sogar das Boot, das sich unter ihnen bäumte und schlingerte, aus ihrer Wahrnehmung ausschloß, in der festen Überzeugung, daß sie nicht verlieren durfte, was vielleicht ein Teil der besonderen Gabe war — oder irgendeiner Begabung überhaupt. Mathilde war so in Gedanken versunken, daß sie zunächst nicht merkte, wie man sie an den Schultern in die Höhe zog. Sie schüttelte den Kopf und blinzelte. Vor ihnen war ein Lichtpunkt zu sehen, der anscheinend nicht vom Wind gelöscht wurde, und sie bewegten sich stetig darauf zu - zumindest so stetig, wie der Sturm es erlaubte. Dann tauchten zu beiden Seiten Mauern auf, die Wind und Regen ausschlossen. Die nadelkopfgroßen Lichter wurden zu zwei, drei großen Laternen an Schiffsmasten. Es mußte eines der alten Lagerhäuser sein, die vom Wasser her beliefert werden konnten — keine breiten Straßen weit und breit, nur ein Labyrinth aus schmalen Gassen. Sie kannte diesen Teil der Stadt nicht so gut, wollte aber gern glauben, daß ihre Begleiter hier zu Hause waren. Ohne Vorwarnung zog man sie vom Kapitän fort. Es geschah so ruckartig, daß der Edelstein ihr aus der Hand rutschte. Obwohl sie aufschrie, hörte sie niemand. Sie stand am Kai, neben sich ihren geduldigen Schatten, und beobachtete die anderen, die den Kapitän in den Lichtschein einer Laterne hoben. Er war noch in die Decke gehüllt, so daß man nur sein zerstörtes Gesicht sehen konnte. Wortlos eilten die Männer, die ihn trugen, weiter, und Mathilde mußte schnell laufen, um mitzukommen. Wieder stiegen sie eine Treppe hinauf, und Mathilde zog sich mit festen Griff am Halteseil von Stufe zu Stufe, so erschöpft war sie. Je höher sie kamen, um so stärker roch es nach Tierfellen. Doch der 317
Raum, in den sie am Ende der Treppe gelangten, war nicht mit Ballen und Bündeln vollgestopft wie der Speicher, aus dem sie gerade kamen. Statt dessen gab es unmißverständliche Anzeichen dafür, daß hier jemand hauste. An den Wänden waren Lager aufgeschlagen, die in der Hauptsache aus aufgestapelten Lumpen bestanden. Zwei Tische und eine Reihe Stühle gab es dort. Und Menschen waren da - eine Schar, die Mathilde im ersten Augenblick das Gefühl vermittelte, in einen Alptraum geraten zu sein. Ihr Blick fiel auf vernarbte Gesichter, auf Haken, wo Hände sein sollten, auf Holzbeine, wie Jonas eines hatte, während die Frauen entweder nach Art der Straßenmädchen im Hafen aufgedonnert waren oder Lumpen trugen, welche ebenso zerrissen waren wie die auf den Bettstellen. Hier war nun wirklich der Abschaum von Merina versammelt, und bei diesem Anblick fragte sich Mathilde, wie sie noch vor wenigen Wochen so selbstzufrieden hatte glauben können, eine derartige Armut gäbe es in der Stadt nicht. Die Männer, die den Kapitän hereingeschleppt hatten, brachten ihn auf die linke Seite, wo zwei Frauen hastig ein paar Lagerstätten übereinander geschichtet hatten, um ein höheres und vielleicht ein wenig bequemeres Bett zu richten. Zum ersten Mal gab er ein Geräusch von sich — kein Stöhnen, wie Mathilde es nach der unvermeidlich rauhen Behandlung, die ihm widerfuhr, erwartet hätte, es war eher »Seestern! «Trotz der geschwollenen Lippen waren die Worte deutlich genug, daß Mathilde sie verstehen konnte. Ihr Name - oder besser noch, der Name, den ihr Gemahl ihr vor so vielen Jahren gegeben hatte. Seestern — ein Leuchtturm für alle Heimkehrer. Mathilde breitete die Arme aus, schob alle, die ihr im Weg standen, zur Seite - mit einer Kraft, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Dann kniete sie neben ihm nieder und schob eine Hand fieberhaft suchend zwischen die Falten der Decke. Nein, der Rubin war nicht verlorengegangen - er lag noch auf seiner Brust, genau dort, wo sie ihn hingelegt hatte. Sie ließ die Brosche dort liegen und wandte sich an die Umstehenden. »Warme Decken — er muß aus den nassen Sachen hier raus. Ist jemand unter euch, der die Wunden behandeln kann?« Eine der Frauen gackerte. »Sehen wir etwa aus wie Heiler? Na klar können wir ihn so gut wie möglich versorgen. Rufon holt grad die Borkenhexe - die versteht ihre Sache am besten von uns allen.« Während sie den entkräfteten Körper entkleidete, zitterte Mathilde 318
vor Wut über den Anblick, der sich ihr bot. Die Handgelenke hatten in strammsitzenden Eisen gelegen, die sich blutig ins Fleisch geschnitten hatten. Und man hatte ihn mit üblen Schlägen traktiert. Nicht nur das blauviolett verfärbte Gesicht war zerschlagen und aufgedunsen. Hätte sie nicht gewußt, wen sie aus dem Hause des Keilers herausgeholt hatte, sie hätte ihn für einen Fremden gehalten - der durchaus zu bemitleiden und sorgsam zu pflegen war. Aber sie hätte nicht diese blinde Wut verspürt, die sie nun zu bekämpfen suchte, um ihm besser dienen zu können. Der Aal schmiegte sich an sie, und Mathilde erinnerte sich an längst vergangene Tage, als sie noch einen Palast beherrscht und eine kleine Begleiterin hatte, die auch etwas von Heilkunst verstand. Sie arbeiteten Hand in Hand mit den saubersten Lappen, die ihre Gastgeber zur Verfügung hatten, und einer Schüssel heißen Wassers - zu gern hätte Mathilde jetzt das Geschick einer Heilerin besessen. Aber es war keine Braune Kutte, die zu ihr trat. In den Lichtkreis der Laterne, die sie aufgestellt hatten, um bei der Wundbehandlung besser sehen zu können, schlurfte eine Frau, deren Umhang aus lauter Flicken bestand, aber weder zerrissen noch verschmutzt war. Die zurückgeschobene Kapuze gab den Blick auf ein Gesicht frei, das von Runzeln derart überzogen war, daß die Augen fast verschwanden und die beiden Mundwinkel wie Klammern wirkten. Den Kopf bedeckte kurzgeschnittener, gelblich-weißer Flaum. Die Frau stützte sich auf ihren Stock und auf den Arm von Dortmun; einer der Jungen, der einen Korb schleppte, trat hinter sie und setzte ihn mit einem Seufzer der Erleichterung auf dem Boden ab. Die Frau warf einen kurzen Blick auf Saxon und schaute anschließend Mathilde direkt in die Augen. Die Lippen öffneten sich zu einem Lächeln und entblößten ein paar gelbe Zahnstummel. Nach einem langen, abschätzenden Blick wandte sie sich wieder dem Bewußtlosen zu und setzte sich auf einen Hocker, den eine andere Frau ihr hinschob. Sie warf den Umhang zurück und bewegte sich mit einer Gewandtheit, die Mathilde ihr nicht zugetraut hätte. Ihr abgetragenes Kleid war sauber, ebenso das kleine weiße Tuch, das sie um den faltigen Hals trug. Plötzlich ließ die Alte eine Hand vorschnellen, die sich mit eisernem Griff um Mathildes Handgelenk legte, und zog die jüngere Frau näher zu sich heran; sie hatte die von einem Gitterwerk aus Runzeln umrandeten Augen weit aufgerissen und starrte Mathilde an. 319
»Bei der Dreigekrönten«, sagte sie mit einer Stimme, die im Laufe der Jahre immer schwächer geworden war, »Ihr habt die alten Kräfte und den Willen und den Mut, sie zu nutzen. Aber jetzt nehmt Euer Spielzeug da weg - das braucht er heute nacht nicht mehr, sondern nur noch Ruhe.« Nachdem sie Mathildes Hand wieder freigegeben hatte, entfernte diese den Edelstem von der Stelle, an der sie ihn vorsorglich während ihrer notdürftigen Hilfeleistungen hatte liegen lassen. Er strahlte noch immer Wärme aus, und als sie die Faust um ihn schloß, spürte sie, daß neue Energie ihren Körper durchströmte. Und so arbeiteten die Frau, die einst Königin von Merina war, und die Frau, die nur die Gesetzlosen kannten, Hand in Hand, um ein Leben und vielleicht sogar eine Stadt zu retten. Und Mathilde wußte, daß ihre neue Schlachtgefährtin, wenn sie auch gewiß nicht zu denen gehörte, die in einer Klosterzelle lebten, dennoch ein Liebling der Allmächtigen war.
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47. Apolon Das, was von Adelphus übriggeblieben war, und Apolons wichtigste Marionette warteten gemeinsam, bis ihr Herr und Gebieter aufwachte. Seite an Seite standen die beiden schweigend an der Schlafzimmertür. Der Wind heulte noch immer draußen vor den Fenstern, und Regen klatschte gegen das Glas; es war so dunkel, daß Apolon hätte meinen können, es sei kurz vor dem Morgengrauen. Doch er wußte, daß es viel später sein mußte, da er sich recht erholt fühlte. Er befahl der anderen Marionette, das Feuer zu schüren; inzwischen war das Holz trocken genug, daß er keine Magie anwenden mußte, damit es ordentlich brannte. Dann wandte er sich an den Kanzler. »Berichte«, forderte er Adelphus auf. Sein Magen knurrte und erinnerte ihn an seine gänzlich unbefriedigende Mahlzeit vom Vorabend, und der Hunger ließ ihn von seinem üblichen planvollen Vorgehen abweichen. »Was hast du unternommen hinsichtlich der Haushaltsführung im Palast?« »Es kann nicht viel getan werden«, brummte die Marionette. »Die Straßen sind überflutet, heute ist kein Markt, und die Diener melden, daß sie sich außerstande sehen, hinauszugehen.« Apolon war verärgert; das war nicht gerade das, was er zu hören wünschte, aber er konnte das Wetter — noch - nicht beherrschen und hatte keine Befehlsgewalt über die Dienerschaft, so daß man an der Situation nichts ändern konnte. »Was ist mit dem Haus des Keilers?« erkundigte er sich. »Hält Catal es noch besetzt?« Diesmal fiel die Antwort wesentlich zufriedenstellender aus. »General Catal braucht es nicht mehr und hat es Euch überlassen«, sagte Adelphus tonlos. »Er ist sehr beschäftigt mit seinen eigenen Angelegenheiten. Seine Männer schwärmen auf seinen Befehl durch die Straßen.« »Welchen Angelegenheiten geht er nach?« Dies war höchst ungewöhnlich, und noch ungewöhnlicher war es, daß die Söldner bei einem solchen Unternehmen mitmachten. Es war doch nicht möglich, daß sich Catal um die von einer Überschwemmung heimgesuchten Einwohner kümmerte, oder? Nein, Catals Söldner würden keine Anstren 321
gung unternehmen, um das Elend der Bürgerschaft zu lindern — ebensowenig wie Catal selbst. »Er hatte einen Gefangenen. Der Gefangene ist gestern nacht entkommen. Die Männer, die das zugelassen haben, fürchten seinen Zorn mehr als die Flut und das Unwetter.« Apolon brach in schallendes Gelächter aus und stellte sich Catals Verdruß und seine Wut darüber vor, daß ihm ein Gefangener entwischt war. »Sieh an! Nun, ich muß schon sagen, daß es mir nicht sonderlich leid tut, das zu hören - obwohl Catal seine Wut wahrscheinlich an jedem auslassen wird, der ihm in den nächsten beiden Tagen in die Quere kommt. Ich rate dir, dich von ihm fernzuhalten.« Die Marionette nickte, sagte aber nichts. »Was ist mit meinen Gefangenen?« fragte der Graue Magier. »Sind sie noch bei einigermaßen guter Gesundheit?« Er wollte sie nicht an einen anderen Ort verlegen, wenn es nicht sein mußte, aber sie steckten nun einmal in Zisternen, und wenn es dort aus irgendeinem Grund plötzlich einen Wassereinbruch gab, wäre er gezwungen, seine Leute einmal mehr nach kräftigen Männern auszusckicken, und diese waren mittlerweile Mangelware. Auch für Balthasar waren Preßpatrouillen unterwegs, ebenso wie für Catal, so daß Apolons Schwarzmäntel nicht die einzigen waren, die die Straßen auf der Suche nach Männern durchkämmten. »Und was ist mit meinen Schwarzmänteln?« »Sie sind gesund und trocken«, sagte die andere Marionette. »Sie wurden heute morgen überprüft. Und jetzt sind sie auf ihren Posten.« Also hielten sich wenigstens seine Diener an seine Befehle. Gut. Es war gewiß von Vorteil, Diener und Untergebene ohne eigenen Willen zu besitzen. »Du, Adelphus«, sagte er dem Kanzler, »du widmest dich wieder deinen üblichen Pflichten. Wenn der Kaiser eine Bemerkung zu deinem Verhalten oder deinem Äußeren macht, sag ihm, daß du dich ein wenig krank fühlst, und schiebe es auf —«, er dachte einen Augenblick nach und lächelte dann, »auf das ungesunde Klima hierzulande. Kümmere dich darum, daß wir mit allem Nötigen versorgt werden. Gib deinen Untergebenen einfach die entsprechenden Befehle und achte nicht auf ihre Einwände. Sag ihnen, du schickst sie zur Strafe zu Catal, wenn sie nicht gehorchen. Du kannst gehen.« Der Kanzler nickte und ging schwerfällig hinaus. Apolon wandte sich der anderen Marionette zu. 322
»Zuerst wünsche ich eine ordentliche, warme Mahlzeit«, befahl er ihm. »Geh zu Balthasars Koch; wenn jemand in dieser Lage etwas auf den Tisch zaubern kann, dann er. Zweitens will ich General Catal so bald wie möglich sehen; suche ihn und sag es ihm. Drittens wünsche ich, daß meine Sachen gepackt werden, alles außer den Dingen, die ich hier in diesem Zimmer habe. Wir werden ins Haus des Keilers umziehen, sobald dieser verfluchte Sturm vorüber ist. Nun geh und kümmere dich um alles.« Die Marionette folgte Adelphus auf dem Fuß, und Apolon blieb allein in seinem Zimmer zurück. Er überlegte sich gerade, ob es klug wäre, aufzustehen, aber bis der Sturm vorüber war - oder zumindest bis er eine warme Mahlzeit zu sich genommen hatte — gab es keinen vernünftigen Grund, die Bequemlichkeit des Bettes gegen das eiskalte Zimmer auszutauschen. Er würde warten bis nach dem Essen, denn bis dahin dürfte das Feuer den Raum genügend aufgeheizt haben. Seltsam; dieser Sturm hatte etwas durch und durch Unirdisches an sich. Er konnte sich nicht an einen Sturm erinnern, der so lange gedauert hatte, noch dazu mit einer solchen Stärke. Und dann der Zeitpunkt - er war gleich nach Catals törichtem, übereiltem Angriff auf den Tempel wie aus dem Nichts losgebrochen ... Flüchtig kam ihm der Gedanke, daß es ein sichtbares Zeichen göttlichen Zorns sein könnte, aber er verscheuchte ihn sogleich. Sollte diese Göttin doch wüten; ihm standen Mächte zur Verfügung, die sich mit Ihr messen konnten. Sobald er Gelegenheit hatte, wollte er beginnen, diese Mächte günstig zu stimmen. Nein, es waren bestimmt die Magier des Tempels, die versuchten, ihn einzuschüchtern; es roch nach der Art von Scherz, die sie für klug hielten. Nun, wenn diese frommen Narren im Tempel meinten, sie könnten das Wetter gegen ihn aufbringen, dann hatte er eigene Waffen, mit denen er ihnen begegnen konnte, sobald er ins Haus des Keilers einzog! Er warf einen stolzen Blick auf seinen Stab, der in einsamer Pracht im geöffneten Schrank lehnte. Auf den ersten Blick war er nicht einmal sonderlich beeindruckend; dem Anschein nach war er aus dunklem Holz geschnitzt und hatte einen zylinderförmigen Messingknauf. Erst wenn man näher herantrat - näher, als Apolon es je zulassen würde -, sah man, daß der Knauf nicht aus Messing war, sondern aus Gold. Und in das Gold war eine gewundene Schriftzeile eingraviert, Buchstaben so fein wie Spinnweben, Worte, von denen sich die Augen abwandten, ohne daß der Verstand sich dessen bewußt war ... 323
Ja, sobald er sich im Hause des Keilers niedergelassen hätte, wäre er in der Lage, sich mit jenen alten Weibern im Tempel zu beschäftigen. Er lächelte schmallippig. Sie würden es noch bereuen, daß sie je auf den Gedanken verfallen waren, sich mit ihm einzulassen. Natürlich — er hätte sich ihrer ohnehin entledigt, denn sie standen zwischen ihm und dem Herzen der Macht. Und doch, hätten sie ihm nicht so hartnäckig Widerstand geleistet, hätte er ihnen das Trugbild des Friedens vielleicht noch ein wenig länger gelassen. Seine Marionette kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem Essen dampfte; leider war es für Apolons Maßstäbe keine sonderlich schmackhafte Mahlzeit. Kräutertee mit Honig, Haferflocken, gesüßt mit Honig, geröstetes Weizenbrot mit Honigaufstrich — alles so süß, daß die Zähne schmerzten; für seinen Geschmack zu süß mit Honig, zu herb und schal ohne. Aber es war warm, und es war gut angerichtet. Das allein steigerte seinen Wert gegenüber dem ungenießbaren Abendessen vom Abend zuvor. Er brauchte Energie dringender als die Freude an einem guten Frühstück. Hauptsache, das Essen wärme ihn von innen. Er aß alles auf und bemühte sich, den vorherrschenden Honiggeschmack nicht zu beachten. Als er fertig war, gab er der Marionette ein Zeichen, das Tablett abzuräumen, streckte sich noch einmal ausgiebig und schwang die Beine über die Bettkante, wobei er darauf achtete, daß seine Füße sofort in den Stiefeln aus Schaffell und nicht auf dem kalten Fußboden landeten. Er rechnete damit, daß Catal bald auftauchen würde; schließlich gab es bei dem tobenden Sturm auch für den General nicht viel zu tun. Seine Männer — oder zumindest diejenigen, die nicht nach dem Entflohenen suchten — würden sich kaum freiwillig melden, um den armen, geplagten Bürgern von Merina in der Stunde der Not zu helfen. Und selbst wenn, dann würde der General sie entweder auslachen oder für ihre Dummheit bestrafen. Da Catals Leute Söldner waren, würden sie sehr wahrscheinlich nur für dreifachen Sold oder unter Androhung der Todesstrafe in dieses Unwetter hinausgehen. In dieser Hinsicht hatte Apolon einen entscheidenden Vorteil vor dem General. Seine Männer würden alles tun, was er ihnen befahl. Daher zog er sich rasch frische Kleidung an, denn er vermutete, daß der General ihn gleich nach dem Frühstück aufsuchen würde. Und damit sollte er recht behalten. Er hatte gerade noch Zeit, sich zu
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seinem Sessel im Wohnraum zu begeben und sich so hinzusetzen, als wäre er schon geraume Zeit vor der Ankunft des Generals dort gewesen. Catal kam mit schweren Schritten herein, mehr denn je einem Bären ähnelnd. Apolon schaute von dem Buch auf, das er gerade las, und obwohl er sich hütete, sich etwas anmerken zu lassen, wunderte er sich über Catals Erscheinung. Der General sah irgendwie sonderbar aus. Seine Augen waren auf seltsame Weise verengt, die Pupillen indes geweitet. Es hatte den Anschein, als würde er ständig die Zähne fletschen. Der General hatte Apolon stets an einen tollwütigen Vielfraß erinnert, in diesem Augenblick schien er jedoch noch unbeherrschter, viel gefährlicher als sonst. Blutrünstiger. Machte ihm die Untätigkeit zu schaffen? »Ich nehme an, Adelphus hat Euch von meiner Bitte unterrichtet?« sagte Apolon, nachdem sie einige verhaltene Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten. Der General war von ihrer letzten Begegnung nicht gerade erbaut gewesen - aber schließlich war Apolon auch nicht gerade erfreut über Catals Mißgeschick. »Daß Ihr das Haus des Keilers haben wollt?« erwiderte Catal und brummte, als Apolon nickte. »Nehmt es Euch«, sagte er unwirsch. »Ich warne Euch — Ihr werdet dort kaum finden, wonach Ihr sucht. Ich habe bereits alles Wertvolle fortgeschafft, und ich habe nicht die Absicht, meine Beute jemandem auszuliefern.« Diese Äußerung überraschte Apolon. Catal war ihm nie als besonders einnehmend aufgefallen — anders als Adelphus. Catal plünderte, weil es ihm Spaß machte, nicht weil er nach Gewinn trachtete. Was mochte Catal als so wertvoll empfinden, daß er es aus dem Hause des Keilers entfernte? Es war das Haus des Meisters der Metallgilde gewesen — ob Catals Beute eine besondere Waffe war, vielleicht etwas Magisches? Sollte es ihm etwa gelungen sein, sich so bald schon des GideonSchwertes zu bemächtigen? Er musterte den General mit einem durchdringenden, prüfenden Blick und versuchte sich daran zu erinnern, ob Catal je etwas Besonderes an Ausrüstung oder Waffen getragen hatte. An seinem Gürtel hing ein Schwert, aber er trug immer Waffen, auch in Gegenwart Balthasars. War das Schwert neu? Schon möglich; Apolon kannte sich mit Waffen nicht gut genug aus, um eine von der anderen unterscheiden zu können, und er hätte es länger unter Anwendung von Magie untersuchen müssen, um sagen zu können, ob es ein magisches Schwert war. 325
Aber Catal pflegte nie Schmuck zu tragen, und jetzt bemerkte Apolon an seinem rechten Handgelenk den Armschutz eines Offiziers, der auf eine Art gearbeitet war, die Apolon nicht kannte. Darin eingelassen war ein schimmernder, schwarzer eiförmiger Stein. Er sah recht fremdartig aus, sehr kostbar. War es diese Manschette, die Catal hatte haben wollen? Apolon glaubte, eine Spur von Magie zu spüren. Hatte Catal mehr bekommen, als er erwartet hatte? War es das, was Catals ohnehin schon angriffslustiges Wesen noch verstärkt hatte? Apolon schob diese Gedanken beiseite. Catal war bereits so tollwütig, daß es darauf auch nicht mehr ankam. Auf lange Sicht wäre es dann sogar einfacher, ihn loszuwerden. »Danke«, erwiderte er aalglatt, aber höflich. »Das war jedoch nicht der Grund, warum ich Euch sprechen wollte. Ich habe eine Idee bezüglich eines gewissen störenden jungen Schwärmers, die uns beiden zugute kommt.« Er erwähnte Leopold nicht namentlich, obwohl er sich in seinen eigenen Räumen weitgehend sicher wähnte. Man durfte jedoch nicht zu vertrauensselig sein. Balthasar hatte seine Lauscher überall. Zugegeben, die meisten wurden auch von Apolon bezahlt, aber es gab immer einige darunter, die nicht käuflich waren. »Ach ja?« erwiderte Catal, die Augen zu Schlitzen verengt und die Muskeln angespannt. »Wirklich? Und wie sieht diese Idee aus?« Apolon spreizte die Hände. »Der junge Narr wurde allein fortgeschickt, nachdem er in Ungnade gefallen war, um in aller Ruhe über seinen Ungehorsam nachzudenken. Und wir beide wissen doch, daß die Bürger der Stadt unsere Männer anfallen, sobald sie allein sind.« Der General lächelte wie ein Raubtier. »Ich glaube, ich habe verstanden. Es wäre doch schrecklich, wenn irgend so ein hitzköpfiger >Patriot<| aus Merina einen Mordversuch unternähme, oder?« Apolon nickte und faltete die Hände über dem Buch. »Und wenn dieser >Patriot< auch noch Erfolg hätte bei seinem Versuch - nun, ich könnte mir vorstellen, daß Balthasar nach dem Verlust eines so wichtigen Offiziers Vergeltung an Merina üben würde. Und die Truppen würden sich ohne Zweifel zu einigen — Übergriffen - aufschwingen in ihrer Trauer über den Verlust eines so edlen Kameraden.« Der General lachte böse in sich hinein. »Zweifelsohne. Ich denke, wir verstehen uns.« Apolon deutete eine Verbeugung an. »Das glaube ich auch. Ich habe da einen Mann, den ich dafür vorschlagen würde.« »Ich auch«, unterbrach der General ihn. »Ich schlage vor, wir schicken 326
beide einen Mann der sich um den Schutz des jungen Schwärmers kümmern soll. Da wir unserem Herrscher treu ergeben sind, müssen wir auf jeden Fall dafür sorgen, daß dieser junge Mann nicht völlig ungeschützt bleibt.« »Nein«, widersprach Apolon, »nein, wir sollten unsere Männer nur denen zuteilen, die Balthasar ohnehin schickt; ich bin sicher, sie werden den Befehl erhalten, den Fluß zu überqueren, sobald der Sturm aufgehört hat. Es besteht kein Grund, sich besonders in den Vordergrund zu spielen.« Der General nickte bedächtig. »Ich kann leicht herausfinden, welche Schwadron hinübergeschickt werden soll.« »Und ich kann Euch meinen Mann schicken«, erwiderte Apolon. »Ist das recht so?« Der General lachte. Das war die Antwort, die Apolon brauchte.
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48. Schelyra »... und Leopold ist noch immer allein mit den beiden Knappen«, berichtete Schelyra ihrer Großmutter. »Der Sturm hält nun schon zwei Tage an, und ich weiß wirklich nicht, wie jemand bei dem Wetter über die Brücke kommen soll. Deshalb glaube ich, daß er auch allein bleiben wird, bis das Unwetter sich verzogen hat. Wir haben die Bücher wohl gerade noch zur rechten Zeit herausgeholt.« »Da hast du wahrscheinlich recht«, erklang eine nüchterne Stimme auf der anderen Seite der Trennwand im Beichtstuhl. »Ich fürchte, die Ereignisse überschlagen sich, so daß wir kaum mithalten können. Wenigstens haben wir, was die Bücher betrifft, die Gefahr rechtzeitig erkannt und konnten etwas unternehmen, ehe es zu spät war.« Dieses Eingeständnis der Großmutter traf Schelyra um so tiefer, da seine Bedeutung in keinem Verhältnis zu den schlichten Worten stand, mit denen es vorgebracht wurde. In den vergangenen drei Tagen hatte sie selbst bereits hin und wieder das Gefühl gehabt, einen sinnlosen Kampf auszufechten. Wenn sich nun Adele — eine erfahrene Magierin, eine Priesterin, eine Eingeweihte des Tempels - in ähnlicher Weise äußerte, worauf sollten die anderen dann noch ihre Hoffnung gründen, die Stadt wieder zurückzugewinnen oder sich auch nur gegen den Feind zu behaupten? Adeles nächste Bemerkung - oder eher ihre Frage — kam für Schelyra allerdings völlig überraschend: »Was hältst du von dem Prinzen?« fragte sie. »Als Mensch, meine ich.« Was ich von ihm halte? Ihr Gewissen schlug, so daß sie, von Schuldgefühlen übermannt, vor Schreck zusammenfuhr. Der Himmel steh mir bei, ich mag den Mann! Ich wäre gern seine Freundin ... oder mehr — und er ist der Feind! Konnte sie das überhaupt zugeben? »Warum fragt Ihr?« entgegnete sie in der Hoffnung, Zeit zu gewinnen. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Großmutter ihre Gedanken lesen oder zumindest ihre Schuldgefühle spüren konnte. »Weil er mir sehr leid tut, Liebes«, sagte Adele, womit sie Schelyra
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erneut in Staunen versetzte. »Ich meine, er ist ein sehr anständiger Mann, der in einer unerträglichen Lage steckt. Die Treue zu seinem Vater gebietet ihm, dem Treiben des Kaisers tatenlos zuzusehen, und doch hat Balthasar Dinge getan und durch seine Untergebenen tun lassen, die Leopold absolut widerwärtig findet. Er ist in der Zwickmühle: Entweder gibt er seine Treue oder sich selbst auf.« Schelyra seufzte vor Erleichterung. Adele hatte zumindest teilweise ihre eigenen Gefühle so genau wiedergegeben, daß es schon beinahe unheimlich war. »Mir geht es genauso«, erwiderte sie dankbar. »So seltsam es ist, aber ich - ich möchte ihn beinahe beschützen, ihn vor Verletzungen bewahren. Ich weiß, das ist unmöglich«, fügte sie mit nervösem Lachen hinzu, »aber so ist das nun mal mit Gefühlen, sie entbehren jeder Logik.« »Es könnte nicht schaden, wenn du zumindest ein Auge auf ihn hältst«, sagte ihre Großmutter rasch. »Er befindet sich in einer gefährlichen Lage, und du könntest ihm vielleicht helfen, ohne gleich unserer Sache zu schaden.« Schelyra saß mit offenem Mund da. »Du kannst im Sommerpalast wahrscheinlich ebensoviel erfahren wie im Stadtpalast«, fuhr Adele ruhig fort. »Und - mir wäre es lieber, wenn du dich vorläufig vom Stadtpalast fernhieltest. Wir haben erfahren, daß Apolon sich in den Gemächern der Ausersehenen Tochter aufhält. Bitte, Schelyra, verstehe mich nicht falsch, aber Apolon ist äußerst gefährlich, als Mann und als Magier. Er hat nach dir und deiner Tante gesucht — wir wissen nicht warum, aber ich habe da so meine Befürchtungen ... und Verit auch. Apolon betreibt schwarze Magie, und wenn er sich deiner wirklich bemächtigen will - dann habe ich meine Zweifel, ob du ihm nur als Geisel dienen sollst, um die Stadt in die Knie zu zwingen.« Selbst Adele und Verit fürchteten sich also vor Apolons Umtrieben und Schelyra war durchaus in der Lage, sich in ihrer Phantasie eine Reihe gräßlicher Dinge auszumalen, die Apolon mit ihr anstellen könnte. Zum Entsetzen ihrer Tante hatte sie immer eine Schwäche für gewöhnliche Schauergeschichten und Balladen gehabt, in denen die Bösewichter häufig Zauberer waren. Selbst wenn die Geschichtener zähler und Balladensänger ihre Vorträge auf die Ohren einer Prinzessin zugeschnitten hatten, konnte man sich die Einzelheiten gut vorstellen. Ich bin vielleicht manchmal ein wenig leichtsinnig, aber dumm bin ich nicht, dachte sie schaudernd. 329
Adele fuhr fort: »Wenn du dich in einiger Entfernung von ihm aufhältst und wenn außerdem noch fließendes Wasser zwischen euch liegt, dann dürfte er dich nicht finden - aber wenn du innerhalb derselben Mauern weilst wie er ...« »Macht Euch keine Sorgen«, sagte Schelyra hastig. »Ich glaube, wenn ich einfach an den richtigen Stellen die Ohren aufhalte, kann ich eben soviel erfahren wie im Palast selbst.« »Vielleicht kann Thom Ränkeschmied ...«, begann Adele. Schelyra schnaubte. Sie kannte keine Nachsicht mit ihrem angebli chen Helfer. »Thom Ränkeschmied ist nutzloser denn je, denn er ist ein fach von der Bildfläche verschwunden. Kurz vor Ausbruch des Sturms stahl er sich davon, um eigenen Geschäften nachzugehen, und er ist noch nicht zurückgekehrt. Ich nehme an, er ist im Schutz des Sturmes aus der Stadt verschwunden.« Doch da ihr Gewissen sie plagte, fügte sie hinzu: »Um ganz ehrlich zu sein, er kann natürlich auch verletzt oder verschleppt worden sein. Oder - nun ja, da schwärmen Soldaten des Kaisers in Scharen durch die Stadt und nehmen alle Männer mit, die sich nicht ausweisen können. Sie bezeichnen sie als >bedürftig<, schaffen sie fort und lassen sie für sich arbeiten. Auch die könnten ihn gefangen haben.« Dumm genug ist er, um sich auf diese Weise einfangen zu lassen, dachte sie erbittert. Es geschähe ihm ganz recht — rennt einfach fort, nur um ein wenig ehr licher Arbeit in den Ställen aus dem Weg zu gehen, und läßt sich dann von einer Preßpatrouille zur Zwangsarbeit verschleppen! »Balthasar ist nicht der einzige, der seine Männer in der Stadt aus schwärmen läßt«, sagte Adele ruhig. »Auch Apolon hat seine Leute ent sandt. Und die arbeiten bei Nacht und Nebel und lassen sich, soviel wir wissen, nicht einmal durch den Sturm von ihrer Arbeit abhalten.« Ein Schauer lief Schelyra über den Rücken, und sie schüttelte sich unwillkürlich. Aber Thom konnte den Schwarzmänteln bisher geschickt aus dem Weg gehen — ich wüßte nicht, warum sich das geändert haben sollte, dachte sie bei sich. »Da gibt es noch etwas, das ich dir über Apolon sagen möchte«, fuhr Adele fort. »Du mußt das unbedingt deinen Leuten bei den Zigeunern weitergeben. Apolon - ist ein Totenbeschwörer.« Schelyras Herz verkrampfte sich, und plötzlich wurde ihr übel. Es gab niemanden in Merina, der die Geschichte von Iktcar nicht kannte. »Es gibt zuverlässige Berichte über Männer, die, wie man weiß, gestorben sind und dennoch auf unseren Straßen in diesen schwarzen Mänteln 330
gesehen wurden.« Adeles Stimme zitterte; Schelyra konnte ihr kaum einen Vorwurf machen. Kein Wunder, daß sie und Verit den Magier fürchteten! Das letzte Mal, als ein Totenbeschwörer durch die Straßen von Merina ging, hatte es eines Engels in menschlicher Gestalt bedurft, um ihn zu besiegen! »Wenn du Geschichten von lebenden Leichen gehört hast — nun, sie entsprechen der Wahrheit. Sei auf der Hut vor jedem, der einen schwarzen Mantel trägt!« »Das will ich!« versicherte Schelyra rasch. Sie schluckte hörbar. »Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gleich zum Zigeunerlager gehe und ihnen sage, was ich von dir erfahren habe.« - und dann in den Sommerpalast, dachte sie im stillen. Apolon wird nicht gerade zu Leopolds Freunden gehören. Vielleicht hat Großmutter recht; ich sollte ihn beobachten, zumindest ein wenig. »Die restlichen Bücher werden von den Zigeunern hergebracht, sobald der Sturm sich verzogen hat«, fuhr sie fort. »Es sind alte Frauen. Die jungen verlassen Gordos Anwesen nicht ohne Begleitung.« »Ich denke, zur Zeit sollte sich kein junger Mensch, ob Frau oder Mann, von Gordos Anwesen entfernen, ob mit oder ohne Begleitung«, sagte Adele und seufzte. »Es gibt zu viele, die in den Straßen nach Opfern Ausschau halten. Aber ich danke dir; wenn ich die Bücher hier in Sicherheit weiß, ist mir viel wohler. Ich lege Wert darauf, daß Apolon möglichst wenig über unser Wissen erfährt. Geh mit dem Segen Derje nigen-Die-Die-Sterne-Beherrscht, mein Liebes. Und mit meinem.« Na, wunderbar, dachte Schelyra, während sie den Beichtstuhl verließ und sich in den weiten Regenumhang wickelte. Das alles hat mir gerade noch gefehlt. Die Lage der Stadt gestaltete sich von Minute zu Minute hoffnungs loser. Schelyra senkte den Kopf, da der Regen ihr heftig ins Gesicht schlug, als sie aus dem Tempel trat. Ihr kam der Gedanke, daß der Kampf gegen den Kaiser im wesentlichen dem Versuch ähnelte, einen derarti gen Sturm mit einem durchlöcherten Schild aufhalten zu wollen. Ganz kurz nur - zum ersten Mal überhaupt - war sie versucht, aufzugeben. Sie konnte Lydanas ursprünglichen Plan befolgen; sie konnte zu den Roßhändlern gehen und sie ermutigen, sich den Eindringlingen offen zu widersetzen. Sie wäre dann in Sicherheit ... Doch dann setzte sich ihr unbeugsamer Wille wieder durch. Nicht, solange Großmutter und Tante Lydana hier sind, dachte sie trotzig. Wenn sie ihr Leben für Merina aufs Spiel setzen können, dann kann ich das auch. Es muß etwas geben, was ich tun kann, und das werde ich finden, das schwöre ich! 331
Doch zunächst mußte sie zu Gordos Anwesen zurückkehren. Gordo und Mutter Bayan mußten von Apolons Machenschaften erfahren, und zwar bald. Mit eigenen Augen konnte sie sich von der Richtigkeit der Ansicht ihrer Großmutter über Apolons Schwarzmäntel überzeugen: Sie standen auf ihren Posten und patrouillierten durch die Straßen, als gäbe es den Sturm nicht; ganz offensichtlich machte ihnen das Wetter überhaupt nichts aus. Das war es, was Schelyra letztendlich davon überzeugte, daß es keine menschlichen Wesen sein konnten. Dieser Umstand war es auch, der Gordo überzeugte, als Schelyra end lich über verschiedene Umwege, die sie wegen überfluteter Straßen und Brücken hatte gehen müssen, das Anwesen erreicht hatte. Mutter Bayan indessen mußte sie nicht erst überzeugen. »Nichts, was du mir über diesen abscheulichen Kerl berichtest, kann mich überraschen«, sagte sie mit fester Stimme. »Das Böse umgibt ihn wie ein dunkler Nebelschleier. Ich an deiner Stelle würde mich unter keinen Umständen in seine Nähe wagen.« Der Sturm wütete nun bereits drei Tage, und Mutter Bayans Warnungen hallten in ihr wider, sich in eisiger Harmonie mit Großmutters Ermah nungen vereinend. Schelyra war auf dem Weg zum Sommerpalast. Erst als sie die Brücke überquert hatte und im Tunnel auf der anderen Seite des Flusses war, empfand sie eine gewisse Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, als suchten unheilvolle Augen nach ihr — sie spürte förmlich, wie sie die Dunkelheit durchforschten und darauf warteten, daß sie eine ein zige unbedachte Bewegung machte. Dieser eine Fehltritt wäre alles, was der Besitzer jener Augen brauchte; er würde sie finden und dann ... Wieder war die Versuchung übermächtig, einfach davonzulaufen — diese Gelegenheit zu nutzen, um zu entfliehen. Es wäre so einfach, von hier zu entkommen, denn sie hatte alles, was sie brauchte, in ihrem Geheimzimmer versteckt. Sie mußte nur ihre Sachen holen, ein Pferd nehmen, und fort wäre sie. Nein. Nein, nein und nochmals nein. Wenn sie jetzt die Flucht ergriff, würde sie alles verraten, woran sie glaubte. Und wenn sie richtig vermutete, war das genau der >törichte Schritt<, auf den Apolon wartete, um sie zu finden! Eine einzelne Frau, die auf einem wertvollen Pferd den Machtbereich des Kai sers zu verlassen suchte, wäre viel auffälliger als eine gewöhnliche Frau in der Stadt. Als Raymonda bin ich sicherer. 332
Sie suchte nach einer Nachricht von Nanny, aber sie fand keine, weder unter der Eingangshalle noch im Geheimgang vor dem Zimmer der alten Frau. Die beiden jungen Knappen waren leicht zu finden; ihr fröhliches Geschrei hallte durch den Sommerpalast. Schelyra stellte fest, daß sie sich ein Spiel ausgedacht hatten, das zu den Lieblingsbeschäfti gungen der kleinen Prinzessin gehört hatte, wenn sie allein im großen Palast gewesen war ... Sie hatten herausgefunden, wie herrlich man auf dem Geländer der großen Haupttreppe hinunterrutschen konnte — und wie einfach man mit den Federbetten, die für gewöhnlich im Wäscheschrank für Winter sachen unter der Treppe lagen, einen weichen Landeplatz errichten konnte. Nanny ließ sie gewähren und tat, als merke sie nichts von dem Unsinn, den sie im Sinn hatten — so wie sie auch bei Schelyra stets die Augen zugedrückt hatte. Aber Leopold war nirgendwo zu sehen. Ich versuche es im Königsturm, entschied Schelyra. Wenn er allein ist, fängt er vielleicht wieder an, laut mit sich zu reden, und ich kann etwas Neues erfahren. Dieser Vorwand reichte allemal als Grund, nach ihm zu suchen. Und ganz richtig fand sie ihn im Arbeitszimmer des Königsturms; es hatte den Anschein, als hätte er den größten Teil des Tages dort ver bracht. Stapelweise lagen Bücher herum, und auf einem Tablett neben der Feuerstelle standen die Reste einer recht deftigen Mahlzeit. Der Beobachtungsposten, den Schelyra gewählt hatte, war gemütlich; der Geheimgang endete hier hinter der Feuerstelle, deren Wärme durch die Mauern drang. Vielleicht gelang es ihr sogar, die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben, wenn sie lange genug hier blieb. Aber Leopold las nicht und aß nicht; er saß auf einem Stuhl, der, wie sie noch wußte, der Lieblingsstuhl ihres Vaters gewesen war, und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Er hielt den Blick auf einen Gegenstand gerichtet, den sie von ihrem jetzigen Standpunkt aus nicht sehen konnte. Dann aber, als er seine Sitzhaltung veränderte, konnte sie deutlich erkennen, was es war. Sie mußte zweimal hinsehen, so überrascht war sie. Seine Aufmerksamkeit galt einer der kleinen Portraitstudien, die Mei ster Leonard von ihr angefertigt hatte, bevor er das offizielle Hofportrait malte. Dies hier war kaum mehr als eine Farbskizze, aber es stellte Sche lyra so dar, wie sie ihrer Meinung nach wirklich war, denn das steife, 333
förmliche Bild, auf dem sie in ihrer Staatsrobe gemalt war, zeigte in ihren Augen immer eine Fremde. Leonard hatte sie an einem windigen Tag am offenen Fenster sitzend skizziert; sie trug Reithosen und Mantel, Hemd- und Mantelkragen standen offen, und in den langen Haaren spielte der Wind. Ihre Großmutter hatte diese Skizze besonders gemocht und rahmen lassen. Sie hatte sie in ihr Arbeitszimmer neben eine Por traitskizze von Lydana gestellt, die sie bei der Arbeit an einem Edelstein oder ähnlichem zeigte. Leopold seufzte unvermittelt, so daß Schelyra zusammenfuhr. Dann redete er, und sie erschrak erneut, denn das erste Wort, das er aussprach, | war ihr Name. »Schelyra«, sagte er. »Ich weiß, daß es verrückt ist, mit einem Bild zu reden - aber dieses Bild schien mir so freundlich, daß ich es nicht übers Herz brachte, es mit den anderen persönlichen Gegenständen verbren nen zu lassen. Tut mir leid, daß ich das tun mußte, aber ich wollte nicht, daß Apolon auch nur ein Teil davon in die Hände fiel.« Er lachte traurig in sich hinein. »Ich hoffe, dir gefällt die Kleidung wirklich, die du auf dem Bild trägst - ich fürchte nämlich, daß all deine erleseneren Sachen inzwischen zu Asche geworden sind, und deine Gewänder sind in ihre Bestandteile zerlegt und in den entferntesten Winkeln des Speichers verstaut worden. Dasselbe habe ich für deine Tante und deine arme Großmutter getan, möge sie in Frieden ruhen.« Er lachte wieder, jetzt allerdings fröhlicher. »Ich hätte zu gern Mäuschen gespielt, als Apolon entdeckte, was ich getan habe. Ich kann mir vorstellen, daß er nicht gerade begeistert war, wenn man bedenkt, wie sehr er danach trachtete, euer habhaft zu werden. Ich hoffe, ihr wißt das und habt Vorkehrungen getroffen.« Schelyra hörte ihm zu und konnte es nicht fassen. Leopold hatte für sie genau das getan, wozu Mutter Bayan ihr geraten hatte! Sie hat gesagt, ich solle dort nach einem Freund suchen, wo ich ihn am wenig sten erwarten würde — aber wer hätte gedacht, daß es Balthasars Sohn sein würde? Die Ironie dabei war, daß er mit ihrem Portrait wie mit einer alten Freundin sprach, während sie, die er überhaupt nicht kannte, heim lich lauschte ... Er rieb sich den Kopf, als habe er Schmerzen. »Ich muß einfach mit jemandem reden, ich glaube kaum, daß vom Tempel jemand hier herauskommen würde, um mir die Beichte abzunehmen — schon gar nicht bei dem Wetter.« Und wie um diese Worte zu bestätigen, rüttelte der Wind an den Fenstern des Arbeitszimmers, und der Regen prasselte wie 334
Hagel gegen die Scheiben. »Deshalb hoffe ich, daß du, wo immer du auch sein magst, nichts dagegen hast, daß ich mich an das einzige freund liche Gesicht in dieser Stadt erinnert habe, um es mitzunehmen und mit ihm zu reden.« Sie war seltsam berührt. Etwas dagegen haben? Wie sollte ich? Armer Leo pold, Großmutter hatte recht, als sie sagte, du tätest ihr leid. Warum kannst du keinen anderen Vater haben? »Wußtest du, daß Vater vor sechs Jahren eine Heirat zwischen uns ins Auge gefaßt hat?« fuhr er fort, als unterhielte er sich wirklich mit ihr. Sie unterdrückte einen Hustenreiz. Oh — nein. Nein, das wußte ich nicht. Das wäre in der Tat eine bemerkenswerte Konstellation gewesen! »Daraus wurde natürlich nichts. Deine Tante wollte davon nichts wis sen, weil du zu jung warst — und ich auch nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Man stelle sich vor, ein junges Mädchen mit einem Mann in den Zwanzigern zu vermählen! Oh, ich weiß, das wird überall so gehand habt - aber ich habe gesehen, was bei derartigen Ehen herauskommt. Aus aufgeweckten, unschuldigen Kindern wurden innerhalb einer Nacht verschreckte, sprachlose Wesen, Schatten ihres früheren Selbst. Nein, das ist schiere Grausamkeit, selbst wenn sie auf Gleichgültigkeit beruht.« Schelyra ging rasch zu einem anderen Guckloch, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Sie hätte nie für möglich gehalten, daß er so emp findsam war. Wahrlich eine Überraschung! Es gab unter den Männern, die sie bisher kennengelernt hatte, nur wenige, die sich über die Gefühle ihrer Mitmenschen Gedanken machten. Niemand, den sie kannte, hätte eine eheliche Verbindung ausgeschlagen, nur weil die Braut zu jung war. Leopold verzog das Gesicht vor Abscheu. »Vater fand eine Kindsbraut famos. Ständig lag er mir in den Ohren, daß ich dich ja nach Belieben formen könnte. Bei der Haltung, die er damals an den Tag legte, frage ich mich neuerdings, ob Mutter nicht einfach starb, um ihm zu entkom men.« Das könnte ich durchaus verstehen, wenn ich mit Balthasar verheiratet wäre. »Aber das hier«, sagte er und nickte zum Bild hin, »ist die Art von Frau, mit der ich mir eine Freundschaft vorstellen könnte — ich hatte einen Kameraden, der seine Freundin aus Kindertagen heiratete, und ich habe selten eine glücklichere Verbindung erlebt.« Ein guter Beobachter ist er auch. Liegt das am Alter, an der Erfahrung oder an beidem? Oder ... Ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn: Vielleicht liegt es daran, daß man ihn so oft in die Rolle des Beobachters gedrängt hat. Er mußte
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das Leben bisher eher als Außenstehender betrachten, ohne wirklich daran teilzu haben. Aber er hat aus dem, was er gesehen hat, gelernt. »Ich habe nicht viele Freunde«, fuhr er nachdenklich fort, »aber ich nehme an, du weißt aus eigener Erfahrung, daß ein Mensch, dem das Etikett >Prinz< oder >Prinzessin< anhängt, nur wenige Freunde hat, denen er wirklich vertrauen kann.« Nun rieb er sich mit beiden Händen die Schläfen. Offenbar hatte er rasende Kopfschmerzen. Er schwieg eine Zeitlang, und als er wieder sprach, hörte man die innere Anspannung heraus. »Schelyra, ich weiß nicht mehr, was ich davon halten soll. Man erwartet von mir, daß ich Vater in allem recht geben soll - aber dieser Wahnsinn unentwegter kriegerischer Auseinan dersetzungen — wie groß muß das Reich für einen Mann denn sein? Das allein ist schon schlimm genug, aber die Dinge, die er Catal und Apolon durchgehen läßt -« Unvermittelt erhob er sich von seinem Stuhl und begann, im Zimmer auf und ab zu schreiten, ohne den Blick von dem Portrait zu wenden, mit dem er sprach. »Seit er Apolon zu seinem Berater gemacht hat, verstehe ich ihn nicht mehr!« sagte er aufgebracht. »Die ersten zwei oder drei Länder, die er eroberte — dafür gab es eine gewisse Entschuldigung. Berengeria bot riesigen Horden von Plünderern Unterschlupf und hat nichts unter nommen, als wir uns auf diplomatischem Wege darüber beschwerten. Mit Allaine hatten wir einen Grenzstreit, der seit Jahrhunderten schwelte. Und der König von Hergovia war ein Taugenichts. Doch danach — es war geradeso, als hätte er Blut geleckt und verlangte nach mehr.« Hinter dem Rücken ballte er die Fäuste, als wollte er im nächsten Augenblick zuschlagen. »Um diese Zeit etwa tauchte Apolon auf, führte ein paar Zauberkunststückchen vor, und als nächstes erfuhr ich dann, er sei der neue Berater neben Adelphus. Dann hat Vater Catal befördert.« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Ich kann den Zeitpunkt bestimmen, aber ich kann mir die Gründe nicht erklären! Ist die Eroberung eines Landes eine Art Rauschmittel für ihn? Ist er denn so machthungrig, daß er nur daran denken kann, sich noch mehr Länder einzuverleiben?« Schelyra lauschte diesem erstaunlichen Monolog und mußte sich mit beiden Händen an der Mauer abstützen. Nie hätte sie solche Überle gungen von dem Mann erwartet, den sie im stillen für etwas dumm, wenn auch ganz nett gehalten hatte. Anscheinend hatte sie ihn völlig falsch eingeschätzt — Leopold war nicht dumm, er ... 336
»Ich habe mich einfach Selbsttäuschungen hingegeben, Schelyra«, sagte er und vollendete ihren Gedankengang, ehe sie ihn zu Ende ge dacht hatte. Er war stehengeblieben und stand nun mit ausgebreiteten Armen vor ihrem Portrait. »Ich wollte unbedingt an meinen Vater glau ben und redete mir ein, daß er für alles, was er tat, gute Gründe haben müsse. Ich versuchte mir einzureden, er sei so ehrenhaft, wie ich ihn mir wünschte - er wäre gezwungen, Dinge zu tun, die mir übertrieben schienen, weil er Erwägungen anstellen müßte, von denen ich nichts wußte. Aber ich kann mir nichts mehr vormachen.« Und daran tust du gut! dachte sie mit einer Mischung aus Triumph und Bitterkeit. Wenn du nur rechtzeitig zur Besinnung gekommen wärst, steckten wir jetzt nicht in dieser Lage! Doch er ließ mutlos den Kopf hängen. »Und jetzt bin ich hierher ver bannt. Ich werde nie wieder eine Position bekleiden, in der ich etwas ausrichten kann. Man wird mich wahrscheinlich hier zurücklassen, mich >vergessen<, weil es bequem ist, und mir eine Schwadron Beobachter lassen, um sicherzugehen, daß ich Vater keine Schwierigkeiten mache.« Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen und schaute das Portrait an. »Ich wünschte —«, sagte er leise, »ich wünschte, die Dinge wären anders gelaufen, Schelyra. Was soll ich nur tun?« Sie hatte das Gefühl, als wollte er noch mehr sagen, doch das wollte sie nicht hören. Sie hatte bereits vieles erlauscht, wozu sie kein Recht hatte. Also zog sie sich von ihrem Lauschposten zurück. Ihr war schwer ums Herz. Er will wissen, was er tun soll. Tja, und was mache ich jetzt?
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49. Lydana Es gab keine Möglichkeit, die verstreichende Zeit zu ermessen, denn dieser große Raum hatte keine Fenster, durch die das Tageslicht hätte eindringen können. Außerdem waren Mathilde und die Borkenhexe unentwegt mit Saxon beschäftigt. Die jüngere Frau legte sich für eine kurze Rast auf einen Stapel Lumpen, der fast in Reichweite des Lagers war, auf dem sich der Kapitän jetzt unruhig hin und her warf. Er ver suchte, aufzustehen, und sie mußte zuweilen einen anderen Mann zu Hilfe rufen, damit der ihn festhielt. Den wirren Worten, die er vor sich hinbrabbelte, entnahm Mathilde ein wenig über die Alpträume, die ihn heimsuchten. In erster Linie hat ten ihn Catals Männer gemartert, das wußte sie nun. Aber von Zeit zu Zeit erwähnte er noch einen Magier, der bei solchen Schauspielen zugegen war. Während aus seinen mühsamen Entgegnungen auf die Fragen seiner unsichtbaren Folterer Wut herauszuhören war, schien er sich vor dem Magier eher zu fürchten. Mathilde aß, was man ihr in die Hand drückte — vor allem Teller voll Fischeintopf und Haferschleimsuppe —, und sie half der Borkenhexe, Saxon verschiedene Heiltränke einzuflößen, welche die alte Frau in Töpfen über einem großen Kohlebecken zusammenbraute, das sie hatte herbeischaffen lassen. Jonas schaute zweimal vorbei und betrachtete den Fiebernden. Dann blickte er Mathilde und die Borkenhexe trostsuchend an. Mathilde erinnerte sich, daß er eine Durchsuchung der Stadt erwähnt hatte, und sie hoffte, daß man sie nicht von ihrem jetzigen Zufluchtsort vertreiben würde, so unbequem er auch war. Die entstellenden Schwellungen in Saxons Gesicht verschwanden all mählich. Gleich zu Beginn der Behandlung hatte die Borkenhexe die zerschmetterte Nase vorsichtig mit zwei verschiedenen Flüssigkeiten abgewaschen, die stark nach Kräutern dufteten. Dann hatte sie, während Mathilde ihm den Kopf festhielt und beim leisesten Aufstöhnen zusam menzuckte, die gebrochene Nase wieder gerichtet, sie mit einer wachs ähnlichen, stützenden Substanz bedeckt und die blutverkrusteten Na338
senlöcher sorgfältig freigelegt. Nachdem sie fertig war, mußte er nicht mehr geräuschvoll durch den Mund atmen. Der Aal kümmerte sich um Mathilde, zwang sie beinahe, sich schlafen zu legen, und stand wachsam neben ihr, während sie die derben, unap petitlichen Mahlzeiten hinunterwürgte. Wenn Mathilde ihren Platz ver ließ, legte sie stets die Brosche mit dem Stein vorsorglich auf Saxons Brust, so nahe wie möglich über dem Herzen, und obwohl er sich hef tig hin und her warf, fiel sie nie herab, bis Mathilde wiederkam und sie an sich nahm. Wieviel Zeit war vergangen bis zu dem Augenblick, da seine Augen so weit abgeschwollen waren, daß er sie aufschlagen und zu ihr auf blicken konnte? Sie hätte es nicht sagen können. Diese Augen glänz ten nicht mehr fiebrig, vielmehr begannen sie ihre Umgebung wieder wahrzunehmen. Der Mund öffnete sich, und Mathilde hob rasch seinen Kopf an, so daß die Borkenhexe ihm noch ein Kännchen Stärkungs mittel verabreichen konnte. Nachdem sie ihn wieder auf eine weiche Unterlage gebettet hatte, streckte Saxon eine Hand aus, an deren Handgelenk schwere Bandagen lagen, und hob sie ihr unsicher entge gen. »Seestern!« Wieder der Name, von dem sie angenommen hatte, daß niemand ihn kannte und den sie selbst im Laufe der Jahre schon fast vergessen hatte. »Ihr — Ihr bringt mich sicher in den Hafen.« Mathilde fiel es schwer, den Mund zu einem Lächeln zu verziehen, da sie es beinahe verlernt hatte. »Erkennt Ihr mich?« Sie wollte sichergehen, daß er aus dem Land des Schreckens und der Geister zurückgekehrt war. »Euer Gnaden —«, die alte förmliche Anrede war nicht gerade das, was sie hören wollte. Mathilde schüttelte den Kopf. »Die Königin ist tot«, sagte sie hastig. »Was ich bin und was ich tue - ich bin ein anderer Mensch.« Er versuchte, trotz der aufgesprungenen Lippen ebenfalls zu lächeln, und stöhnte vor Schmerzen. »Ich bin ein nutzloses Werkzeug für Euch, Herrin.« »Es gibt keine Werkzeuge, wir selbst sind jetzt unsere Waffen.« Einer plötzlichen Eingebung folgend zog sie die Brosche hervor und hielt sie mit dem Rubin nach unten über seine Lippen. Er blinzelte, richtete den Blick auf den Gegenstand in ihrer Hand und schaute wieder zu ihr auf. »Ihr habt die Macht - vor der Zeit —«, sagte er mit einem seltsamen Unterton. Aber sie schüttelte den Kopf. 339
»Nein, die Gabe besitze ich nicht - was ich habe, ist ein großzügiges Geschenk der Allmächtigen. Schau es dir an, Krieger, und werde gesund!« Wieder spürte sie, daß ihre Energie zum Rubin hinströmte, ja geradezu von ihm angezogen wurde. Sie bemühte sich, die Hand ruhig zu halten, die Haltung nicht zu verändern. Hatte sie richtig gesehen? Später vermochte sie nicht zu sagen, ob es wirklich geschehen war oder ob sie es sich nur eingebildet hatte: Der Rubin begann zu schimmern wie ein Feuer, das einen durchfrorenen Reisenden an einem Winterabend willkommen heißt. Das Licht breitete sich in immer größer werdenden Wellen aus. Saxons Gesicht erstrahlte rot, als hätte er ein Bad in den Abendwolken genommen. Die Lichtwellen zogen über seinen Körper. Ruhig ließ er es geschehen, während er Mathilde unverwandt in die Augen schaute, und sie erwiderte seinen Blick. Irgendwo in weiter Ferne - es klang wie das Echo eines Echos vernahm Mathilde Gesänge. Zum Teil waren ihr die Klänge aus dem Hochamt vertraut, dem sie viele Jahre beigewohnt hatte, doch manche waren ihr auch fremd, wie ein Gebet und eine flehentliche Bitte vor einem Altar, den keines Menschen Auge je gesehen hatte. Die Wellen kräuselten sich und verliefen ineinander, und noch immer ruhte sein Blick auf ihr. Seelen konnte man nicht vereinigen — oder doch? Sie hatte die Gabe nicht erhalten — sie hatte nicht einmal den Wunsch verspürt. Aber in jenem Augenblick wußte sie, daß dieser Mann durch sie wiederhergestellt wurde - vielleicht sogar schneller als mit Hilfe einer echten Heilerin. Dann verlosch der rote Schimmer so plötzlich, wie er entstanden war. Mit einemmal hatte sie unerträgliche Schmerzen im Arm. Sie ließ ihn herabfallen, als wäre alle Kraft aus ihrem Körper entwichen. Aber — Saxon hatte sich auf seinem Lager aufgerichtet. Die Wunden waren nur noch blasse Male, die Schnitte waren sauber verheilt und hatten nur winzige Narben hinterlassen. »Aska, Herrin, neigjob varter - sebo larns ...« Die Borkenhexe hatte das Haupt gesenkt. Zwischen den vom Alter krummen Fingern drehte sie einen roten Faden, in den kleine Steinchen eingewirkt waren. Vielleicht war sie eine Priesterin wie Verit, die nur einem anderen Glauben anhing, vielleicht stand sie der Allmächtigen sogar noch näher. Mathilde hatte von ihrem Gebrabbel kein einziges Wort verstanden, aber der Tonfall war unmißverständlich. Wie die Ehrwürdigen in den Tem pelzellen mit ihren Gebetsschnüren beteten, so pries diese Frau, die 340
einer weit zurückliegenden Vergangenheit entstammte, auf ihre eigene Weise dieselbe Macht ... Der Mann, den sie gepflegt hatten, saß aufrecht da, mit erhobenem Kopf und geraden Schultern, stark und unversehrt. Mathilde seufzte und spürte, wie sich ein stützender Arm um ihre Schultern legte. Der Aal stand neben ihr - er war nie von ihrer Seite gewichen, während sie um Saxons Leben gerungen hatten. Mathilde hatte nicht die Kraft, sich zu erheben. Männer und Frauen, die hier Schutz gesucht hatten, versammelten sich jetzt um sie und schrien aufgeregt durcheinander. Mathilde erlaubte ihrem kleinen Gefährten, sie zu ihrem Lager zu führen. Dort brach sie zusammen und spürte schon nicht mehr, wie man sacht eine dünne Decke über sie breitete. Sie fühlte sich ausgelaugt und wollte sich nur noch in die willkommene Dunkelheit zurückziehen, die ihr einen unbegreiflichen Schutz versprach.
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50. Adele In den nächsten Tagen war das Leben im Tempel alles andere als friedlich. Die Priesterin Elfrida verbrachte so viele Stunden im Beichtstuhl, daß sie die Worte »Ehrwürdige, mein Herz findet keinen Frieden« bereits im Schlaf vernahm. Und die Geschichten, die diesem einleitenden rituellen Satz folgten, konnten wahrlich jeden das Fürchten lehren. »Ich wünschte jene Narren, die davon überzeugt sind, der neue Herrscher lasse in Merina Gerechtigkeit walten, würden einmal die Beichte abnehmen!« fuhr sie Verit an, als sie sich in dieser Nacht im Meditationsraum trafen. Da sie ihre seherische Arbeit nur zu viert verrichteten, hatten sie das Arbeitszimmer gegen den Meditationsraum eingetauscht, damit dieser nicht leerstand, wenn jemand durch den Geheimgang kam und Hilfe brauchte. »Ein ausgezeichneter Gedanke, Elfrida«, erwiderte Verit. »Ich werde versuchen, diejenigen unter ihnen, die etwas offener sind, mit dieser Aufgabe zu betrauen. Natürlich werde ich mich auf jene beschränken müssen, die zum Priester geweiht sind - wir können die Beichte nicht von Novizen abnehmen lassen. Außerdem werde ich natürlich niemanden einsetzen, der dem Opfer einer Greueltat - wahrscheinlich werden dies in der Mehrzahl Frauen sein - auf der Suche nach tröstenden Worten lediglich die Gegenfrage zu stellen weiß: >Und was habt Ihr getan, um den Unmut dieser Männer zu erregen?<« Sie seufzte. »Die Schwierigkeit an der Sache ist, daß die weltliche Führung von Merina während unserer ganzen Geschichte, soweit sie schriftlich oder mündlich überliefert ist, uns im schlimmsten Fall einfach geduldet und bestenfalls mit uns zusammengearbeitet hat. Ein Großteil unserer Priesterschaft kann sich einfach nicht vorstellen, daß eine Regierung jemals im Unrecht sein könnte, denn die weltliche Macht stand immer auf der Seite des Rechts. Priester, die diese Meinung vertreten, halten die Beichtenden einfach für unzufriedene Nörgler, im schlimmsten Fall für angehende Straftäter. Nur Priester und Priesterinnen, die sich die Gewißheit bewahrt haben, daß die Dinge sich ebenso zum Schlechten wie zum Guten wenden können, werden glauben, was sie hören.« 342
»Das schränkt Euch in Eurer Auswahl allerdings ziemlich ein«, sagte Fidelis bitter. »Wenn ich die Gespräche mit anhöre, die während der Ruhepausen geführt werden, meine ich fast, die meisten meiner Ordensmitglieder hätten nicht mehr Grips im Kopf als die Pflanzen, die sie pflegen.« »Habt Ihr denn noch Zeit, Pausen einzulegen?« fragte Cosima neidisch. »Ich glaube, ich habe mich schon seit Tagen nur noch zu den Mahlzeiten hinsetzen können.« »Ihr müßt Euch zu Ruhepausen zwingen, Cosima«, sagte Verit. Cosima hätte ihr beinahe einen wütenden Blick zugeworfen. »Ja, Ehrwürdige, ich weiß, daß die Atempausen ein wichtiger Bestandteil unseres Alltags sind ...« »Im Augenblick«, fügte Verit kühl hinzu, »erfährt man in dieser Zeit am besten, was die Bewohner des Tempels denken und wieviel Unterstützung oder Behinderung von ihnen zu erwarten ist, wenn sich die Lage zuspitzt.« Cosima nickte zögernd. »Ich werde mir mehr Mühe geben - aber ich sehe nicht ein, daß ich einen Kranken seinem Leiden überlassen soll, nur weil es an der Zeit ist, sich hinzusetzen und mit den anderen Mitgliedern meines Ordens zu plaudern!« Verit gab sich damit zufrieden. »Was ist mit Eurem Orden, Elfrida?« »Die meisten nehmen nicht einmal zur Kenntnis, was um sie herum geschieht«, erwiderte Elfrida. »In den Ruhepausen spricht man nicht darüber - und wenn tatsächlich jemand so >weltlich< ist, solche Dinge zu erwähnen, wird schleunigst das Thema gewechselt - vor allem nach dem Ausbruch beim gestrigen Abendessen. Ich glaube, das hat sie verstört. Die meisten von ihnen kümmert es wenig, was Balthasar treibt, solange er nicht die Bibliothek in Brand setzt.« Verit nickte. »Die Orden im Kloster neigen in der Tat dazu, allem Weltlichen den Rücken zu kehren, und darum ist es wichtig zu hören, was die Braunen Kutten berichten. Die Roten Kutten sind der Meinung, das Böse könne nicht in den Tempel eindringen; die meisten von ihnen denken, wir und unsere Tiere sind sicher, solange wir uns hinter unseren Mauern aufhalten.« Aber sie sah besorgt aus. »Und der Kaiser würde uns nie etwas zuleide tun«, sagte Fidelis mit sarkastischem Unterton, offenbar wiederholte er die Worte anderer. »Er ist immerhin ein gläubiger Sohn des Tempels, oder?« Verit verzog das Gesicht. »Ich erwähne es nur ungern - aber es kann sein, daß unser Schutz schwindet. Nur wenn alle Orden sich von Herzen einig sind und für dasselbe beten, sind wir sicher.« 343
»Auch ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht«, sagte Elfrida nach kurzem Zögern. »Es gibt Schriften, die das, was Ihr sagt, belegen. Wenn wir alle einer Meinung sind und für dasselbe Ziel beten, >sind die Mauern des Gebets stark und fest< - aber was geschieht, wenn die Hälfte der Priesterschaft die Göttin bittet, uns vor diesem Feind zu bewahren, ein Viertel einfach nur in Ruhe gelassen werden will und ein Viertel für einen Frieden um jeden Preis betet?« Sie machte eine hilflose Geste. »Oh«, sagte Cosima mit ebenso bitterem Spott wie Fidelis, »Balthasar ist doch nicht unser Feind! Er ist ein gläubiger Anhänger der Göttin und ein Sohn des Tempels, habt Ihr das vergessen?« »Keiner, der Totenbeschwörung duldet, ist ein Sohn des Tempels«, murmelte Elfrida. »Heute haben mir sechs verschiedene Menschen berichtet, sie hätten unter den Schwarzmänteln jemanden gesehen, von dem sie wußten, daß er gestorben war.« »Was habt Ihr ihnen gesagt?« fragte Fidelis. Er schien nicht einmal sonderlich überrascht zu sein. Elfrida wußte, daß auch er die Beichte abgenommen hatte. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollten um Geduld für sich selbst und um Gnade für die Seelen der Schwarzmäntel bitten. Und sie sollten daran denken, daß Sie-Die-Das-Licht-Ins-Dunkel-Bringt uns nie im Stich läßt, auch wenn es jetzt, da die Welt im Finstern liegt, so aussehen mag.« »Das ist wohl die beste Antwort, die wir ihnen geben können«, sagte Fidelis mit leichtem Zweifel. »Glaubt Ihr daran?« »Ja«, erwiderte Elfrida mit fester Stimme. »Ich glaube, daß unsere Gebete erhört werden, wenn Sie es will. Und vielleicht haben die Roten Kutten wenigstens teilweise recht.« Sie hielt inne, eher allerdings, um über die Tatsachen nachzudenken, als über die besorgniserregenden Einschätzungen mancher Priester. »Nicht einmal Iktcar hat auf dem Höhepunkt seiner Macht versucht, unsere Schwelle zu überschreiten. Apolon hat den Tempel nicht betreten — auch nicht unter dem Vorwand, er wolle hier beten. Schwarzmäntel sind ebenfalls nicht in den Tempel gekommen. Und General Catal hat Soldaten geschickt, aber er kam nicht persönlich.« »Die Soldaten haben genug Schaden angerichtet«, sagte Cosima ruhig mit düsterem Gesicht. »Keinen bleibenden Schaden«, stellte Verit fest. »Prinz Leopold war die meiste Zeit hier, ein paar seiner Soldaten ebenfalls. Der Herrscher und sein Kanzler sind nur einmal aufgetaucht — Balthasar, um auf dem Hohen Stuhl Platz zu nehmen —« 344
Elfrida zuckte zusammen. Prinz Leopold auf diesem Platz zu sehen, hatte sie nicht weiter gestört, aber allein der Gedanke, daß der Kaiser auf ihrem Stuhl gesessen hatte, wenn auch nur ein einziges Mal, verursachte ihr Übelkeit. »Ich wette, der Kanzler hat die ganze Zeit die Rubine auf dem Altar und am Herzen angestarrt.« »Er erweckte in der Tat den Eindruck eines Mannes, der eine Bestandsaufnahme vornimmt«, gab Verit zu. »Aber er war nur einmal hier; am Tag, nachdem der Herold den Eid geschworen hat. Seither ist er nicht wieder aufgetaucht. Prinz Leopold war nicht mehr hier, seit er General Catals Männer fortgeschickt hat«, fuhr sie nachdenklich fort. »Weiß jemand, warum?« Elfrida und Fidelis sprachen gleichzeitig. »Er ist im Sommerpalast.« »Aus den Worten seiner Männer schließe ich, daß er seines Kommandos enthoben und aus der Umgebung des Kaisers verbannt wurde«, fügte Elfrida hinzu. »Dasselbe wurde mir auch aus anderer Quelle zugetragen, von einer Person, die ihn dort gesehen hat.« »Stimmt genau«, bestätigte Fidelis. »Einigen seiner Männer gelingt es noch, zur Beichte zu kommen. Meistens lassen sie ihrer Wut über die Art, wie man mit ihm umspringt, freien Lauf und gestehen, wie zornig sie über ihren neuen Befehlshaber, den Kaiser, sind.« »Und was sagt Ihr denen?« fragte Elfrida. Verit ergriff das Wort, noch ehe er antworten konnte. »Genau das habe ich befürchtet«, sagte sie grimmig. »Ich habe versucht, ihn zu warnen, aber ich fürchte, er hätte die vielen Fallgruben auf seinem Weg kaum umgehen können. Vielleicht ist er in Sicherheit, wenn er aus dem Weg ist.« »Das nur zu seinem Versprechen, wir würden nicht noch einmal belästigt«, sagte Cosima. »Er hatte nie die Macht, es zu halten«, stellte Verit fest. »Und er war so klug, uns nur dann Sicherheit zu versprechen, solange er die Verantwortung trüge. Bis jetzt aber hat uns keiner mehr Schwierigkeiten bereitet.« »Das dürfte sich ändern, sobald sie ihre Macht über den Rest der Stadt gesichert haben«, sagte Fidelis ruhig. Elfrida fragte sich, ob er wohl Soldat gewesen war, ehe er in den Tem pel eintrat, und ob es überhaupt Priester mit Erfahrung auf militärischem Gebiet gab. Die könnten sie noch gebrauchen. »Zugegeben«, sagte Verit. »Deshalb wollen wir sehen, was Apolon heute nacht vorhat. Können wir anfangen?« 345
Da es im Meditationsraum keinen Altar in der Mitte des Raumes gab, stellte sie das Glas auf den Boden, ließ sich davor nieder und forderte die anderen auf, es ihr gleichzutun. Es war nicht gerade die bequemste Stellung für alte Knochen, und Elfrida hoffte, sie müßten nicht lange so sitzenbleiben. Die Vision tauchte schnell auf, und Elfrida war die erste, die Apolons Umgebung erkannte - jahrelang hatte sie zu feierlichen Anlässen Besuche bei den verschiedenen Gilden gemacht. »Das ist das Haus des Keilers. Was treibt er dort? Er hat doch im Palast in den Räumen der Ausersehenen Tochter gewohnt.« »Sieht ganz so aus, als habe er sich nun dort niedergelassen«, bemerkte Cosima leise. Sie hatte recht. Ein großes Sofa stand an einer Seite des Raumes neben einem Schreibtisch, der mit vielen Listen übersät war. In der Mitte des Raumes war ein Kreis auf den Boden gezeichnet, der an einer Stelle unterbrochen war. Daneben lag ein Stück Kreide. Im Kreis stand ein Bronzegefäß, das zur Hälfte mit einer Flüssigkeit gefüllt war, die verdächtig nach Blut aussah. In dieser Schale steckte ein Holzstab. Während sie zuschauten, wurde die Flüssigkeit weniger, als ob der Stab sie aufsaugte. Aber Holz saugte nicht so rasch etwas auf... Apolon stand neben der Tür und redete mit einem seiner Schwarzmäntel. »Ich wünsche, daß du mir meine Gefangenen bringst, sowie jeden kräftigen Mann, den du zwischen Sonnenaufgang und Mitternacht auf der Straße antriffst«, befahl er. Ein normaler Mensch hätte diesen Befehl vielleicht in Frage gestellt; der Schwarzmantel indes nickte nur und verließ schweigend den Raum. »Ich würde sagen, das war ein Toter«, flüsterte Fidelis kaum hörbar. »Ich glaube, Ihr habt recht«, sagte Verit und ließ die Hände sinken. Die Vision verschwand. »Wir werden uns wieder hier treffen, um zu sehen, was Apolon mit den Männern, die er aufgesammelt hat, im Schilde führt.« Die Mienen der drei anderen verrieten Elfrida, daß sich niemand darauf freute.
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51. Schelyra Im Bereich des Tunneleingangs lag wieder ein Zettel. Solldahten hir. Seks. In Dinerkwartir. Sei forsichtik. Die letzte Warnung war nun wirklich überflüssig. »Vorsicht« ließ sie neuerdings immer walten. Thom war noch immer nicht zurück, und da niemand ihn gesehen hatte, neigte sie zu der Annahme, daß er entweder im Sturm umgekommen war oder die Gelegenheit beim Schöpfe ergriffen hatte und ausgerissen war. Gordo hatte den RoßhändlerFamilien außerhalb der Stadt eine Nachricht zukommen lassen, nach ihm Ausschau zu halten. Schelyra war in den letzten drei Nächten im Sommerpalast gewesen und hatte Leopold des öfteren im Gespräch mit ihrem Portrait angetroffen. Allmählich dachte sie schon, sie sollte Adele bitten, das kleine Bild im Tempel einzusetzen, denn es eignete sich anscheinend vorzüglich als Beichtvater! Ein Großteil dessen, was sie zu hören bekam, war ihr zum einen äußerst unangenehm, ließ sie zugleich aber auch großes Mitgefühl für die Lage des Prinzen empfinden. Leopold war davon ausgegangen, daß sein Vater ihn auch nach dem Sturm ein oder zwei Tage allein im Sommerpalast sitzen lassen würde, damit er über seine Sünden nachdenken konnte. Er sollte recht behalten. Schelyra hatte nicht den Eindruck, daß Balthasar über die Schlüsse, die sein Sohn gezogen hatte, sonderlich erfreut gewesen wäre. Da Leopold nichts zu tun hatte, blieb ihm ausreichend Zeit, über Balthasars Führungsstil nachzudenken, über seine Truppen und Berater, wobei er einfach zugeben mußte, daß sie alles andere als bewundernswert, ja, nicht einmal annehmbar waren. Er hatte jedoch noch nicht das Ausmaß von Apolons Schlechtigkeit erkannt. Zwar hatte er den Grauen Magier in Verdacht, sich mit finsteren Zaubereien zu beschäftigen, aber es war ihm noch nicht in den Sinn gekommen, daß Apolon ein Totenbeschwörer sein könnte. Aber wer würde schon jemanden, der so vorsichtig wie Apolon zu Werke ging, der Totenbeschwörung verdächtigen wollen? Die einzigen Zauberer, die in 347
der Vergangenheit verderbt genug waren, in jene höllischen Tiefen hinabzusteigen, waren äußerst schillernde Gestalten gewesen, die sich mit der Absicht trugen, die Welt für sich zu erobern. Sie hatten sich nicht zahm in den Dienst eines anderen begeben. Zu Schelyras großer Erleichterung war der Graue Magier aus dem Palast ins Haus des Keilers umgezogen, nachdem der Sturm sich gelegt hatte. Seltsamerweise hatte er den Kanzler mitgenommen - sie hätte nicht gedacht, daß die beiden so enge Verbündete waren. Trotzdem fühlte sie sich, nachdem die beiden fort waren, etwas wohler; es wäre entsetzlich gewesen, wenn Apolon auf irgendeine Weise die Geheimgänge entdeckt hätte - und noch schlimmer, wenn er diejenigen gefunden hätte, die zum Tempel führten! Nun mußte sie sich keine Sorgen mehr machen, daß Apolon möglicherweise einen persönlichen Gegenstand finden könnte, den sie selbst, ihre Tante oder ihre Großmutter übersehen hatten. Sie steckte die Botschaft zur Sicherheit in einen Stiefel und beschloß umgehend, sich diese neuen Eindringlinge einmal anzusehen. Wenn es wirklich Männer waren, die noch treu zu Leopold standen - das wäre ein unerwarteter Glücksfall. Wenn auch nur ein paar Männer hinter ihm standen, konnte der Prinz einen echten Bruch mit seinem Vater in Erwägung ziehen. Damit würden die Kräfte des Feindes erneut gespalten, denn Teile der Armee würden sich auf die Seite des Prinzen schlagen, die anderen auf die des Kaisers. Sie glaubte nicht, daß Leopold wirklich gegen seinen Vater in den Kampf ziehen würde, aber es wäre ein Vorteil für Merina, wenn er auch nur einen Teil der Streitmacht Balthasars abziehen könnte. Im Quartier der Diener gab es nur ein Guckloch, das nicht einmal an besonders geeigneter Stelle saß. Sie mußte sich auf den Bauch legen und ein Ohr an die Öffnung pressen, um etwas hören zu können. Es war ihr nicht möglich, wirklich etwas zu sehen, denn das Loch befand sich unter einem der Bettgestelle, die an die Wand genagelt waren. Sie lag mit der Nase auf dem Boden und stützte das Kinn mit den Händen ab. »... so so, er sitzt also noch da oben und schmollt?« sagte eine fremde männliche Stimme, die merkwürdig kalt und tonlos klang. Lachen. »Er ist seit dem Sturm nicht heruntergekommen. Nur zum Kochen. Das ist mir ein Krieger! Geht in die Küche und verrichtet Weiberarbeit!« Diese Stimme gehörte eindeutig einem Söldner, womit die Hoffnungen der Prinzessin, es könnten Leopolds Männer sein, zunichte gemacht waren. »Ist er also überhaupt nicht mehr runtergekommen, seit der Alte
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uns einen Armeekoch geschickt hat?« Die erste Stimme klang weder verächtlich noch belustigt. »Das macht es schwieriger, ihn loszuwerden.« Ihn loszuwerden? Schelyra erstarrte. Sollte das heißen — »Wenn wir es den Bürgern der Stadt anlasten wollen, müssen wir ihn irgendwie nach draußen locken, damit wir ihn aus dem Hinterhalt überfallen können«, stimmte die zweite Stimme zu. »Ich habe alles bei mir, was ich brauche, um es so unauffällig wie möglich zu machen — sogar ein paar Befehle mit dem Siegel der alten Hexe, die wir zurücklassen können. Aber die Sache wird nicht klappen, wenn wir keinen richtigen Hinterhalt legen können. Keiner glaubt an einen Mord in einem Haus voller Diener, die zu schwach sind, das eigene Essen zu kauen, und wo wir die Bewachung übernehmen sollen.« Das Herz schlug Schelyra bis zum Halse. Sie wollen ihn umbringen! Sie wollen Leopold umbringen! Ich muß etwas unternehmen! Aber was? Sie konnte kaum aus einer Mauer vor ihm auftauchen, um ihn zu warnen. Und selbst wenn sie es tat, warum sollte er auf sie hören? Wahrscheinlicher wäre, daß er versuchte, sie gefangenzunehmen! Nur weil er mit ihrem Bild geredet hatte, hieß das noch lange nicht, daß er auf die echte Prinzessin hören würde! Ebenso konnte sie nicht alle Soldaten umbringen — es war unmöglich, sie alle gleichzeitig zu erledigen, und in dem Augenblick, in dem der erste starb, würden die anderen wissen, daß ihre Feinde eine Möglichkeit hatten, in den Palast zu gelangen. Und wenn sie das wußten, würden sie Leopold ermorden und den Eindruck erwecken, als wäre sie es gewesen! Was soll ich nur tun? O Göttin, was kann ich tun? Ich muß ihn retten... Dann hatte sie mit einemmal einen Plan vor Augen, als wäre er ihr von der Göttin selbst eingegeben worden. Und sie hatte hier alles zur Hand, was sie benötigte, um ihn erfolgreich auszuführen. Doch zunächst mußte sie Nanny aufsuchen. Sie stand vorsichtig auf, um kein Geräusch zu machen, und huschte lautlos wie eine Maus durch die Geheimgänge zu Nannys Zimmer. Die alte Frau war da, wie sie gehofft hatte, und erwartete die Prinzessin bereits neben einer brennenden Laterne. Zweimal tippte Schelyra an die Wandverkleidung, um ihr Kommen anzukündigen, dann öffnete sie. Nanny war schon aufgesprungen, um die Zimmertür zu verriegeln. »Das sind die gemeinsten Männer —«, schimpfte sie los, doch Schelyra unterbrach sie. 349
»Sie sind schlimmer, als du dir denken kannst; zumindest zwei von ihnen«, sagte sie grimmig und schilderte der alten Frau, was sie hinter der Mauer vernommen hatte. Nanny erbleichte. »Der arme Kerl!« rief sie unwillkürlich aus und bestätigte Schelyra in der Hoffnung, daß die alte Frau ihr helfen würde. Viel wäre es nicht - aber lebenswichtig. »Schelyra, mein Liebes, wir müssen ihm hel fen! Meinst du, wir könnten ihn durch die Gänge hinausschleusen? Oder -« »Ich werde ihn durch die Gänge holen, doch nicht so, wie du denkst«, sagte Schelyra rasch. »Aber ich brauche deine Hilfe. Ich möchte, daß du zu den neuen Männern gehst — warne sie davor, ins Dorf zu gehen. Sag ihnen, daß dort die Pest wütet. Sag ihnen —«, sie dachte kurz nach, »daß wir nach dem letzten verheerenden Sturm genau so eine schreckliche Pest hatten.« »Das war, als ich noch ein kleines Mädchen war«, nickte Nanny, obwohl sie noch nicht ganz begriffen hatte. »Aber wie soll das helfen?« »Nanny, wenn wir es fertigbringen, diese Männer davon zu überzeugen, daß auf dieser Seite des Flusses die Pest wütet, tun sie das ihre, den Prinzen für uns zu retten. Außerdem werden sie davon überzeugt sein, daß der Prinz stirbt«, erklärte Schelyra. »Noch dazu werden sie, wenn wir Glück haben und uns der Segen der Dreigekrönten zuteil wird, über den Fluß flüchten, wenn wir unsere Arbeit erledigt haben. Jetzt geh schnell, tu so, als wärst du entsetzt, als hättest du die Nachricht gerade erst aus dem Dorf erhalten. Dann treffen wir uns wieder in der Küche.« Sie schlüpfte wieder durch die Wand, während Nanny sich mit fliegenden Fingern ein Umschlagtuch überwarf. Alles hing jetzt von ihrer Schnelligkeit ab. Schelyra rannte förmlich in ihr Geheimzimmer und holte drei Fläschchen aus ihrem reichhaltigen Giftvorrat. Sie hatte keine Ahnung, ob diese Tinkturen neutral oder ekelhaft schmeckten; das Wagnis mußte sie eingehen. Eigentlich sollten sie neutral schmecken, denn sie waren für Pferde bestimmt, die alles wieder ausspucken würden, was ihnen zuwider war. Sie hoffte, mit reichlich Honig jeden Geschmack überlagern zu können. Sie lief wieder zur Küche und wartete auf Nanny. Kurz darauf schlurfte die alte Frau herein, und die Prinzessin trat aus der Rückwand der Vorratskammer, sobald sie Nannys Schritte vernahm. »Nun, ich habe es ihnen gesagt, und sie sind ganz und gar nicht begei 350
stert, eher ein bißchen unruhig«, verkündete Nanny. »Und was müssen wir jetzt tun?« »Wir werden dem Prinzen die Pest verabreichen«, sagte Schelyra spöttisch. Nun funkelte in Nannys Augen der Schalk, denn sie hatte verstanden. »In seinem Schlaftrunk?« fragte sie. Schelyra nickte und gab ihr die drei Phiolen. »Schütte alles hinein und dann süße den Tee bis zum Gehtnichtmehr«, sagte sie. »Koste aber nicht selbst davon! Das sind starke Mixturen, Nanny, und ich habe nur für eine Person Gegenmittel. Gib acht, daß die kleinen Jungen nichts davon bekommen.« Die alte Frau stand bereits an dem Kessel, in dem auf der Feuerstelle Wasser warmgehalten wurde, und hatte zwei Teller und drei Becher bereitgestellt. »Das dürfte nicht allzu schwer sein«, sagte sie und nickte bei der Arbeit. »Die Jungen trinken ohnehin lieber heißen Apfelwein. Tee für ihn und Apfelwein für sie und Kuchen für alle. Ich bringe es jetzt nach oben.« »Gut.« Schelyra brach vor Aufregung der kalte Schweiß aus, und sie mußte sich Mühe geben, das Zittern der Hände zu unterdrücken. Sie hatte keine Ahnung, wie krank Leopold davon würde. Wenn das Glück ihnen beiden nicht hold war, konnte es ihn sogar umbringen. Es waren Mixturen, die ein Pferd aus dem feindlichen Lager außer Gefecht setzen konnten, ohne das wertvolle Tier gleich zu töten - wie sie auf einen Mann wirken würden, konnte sie nur vermuten. Außerdem war es nicht vorgesehen, sie gemeinsam anzuwenden. Schon möglich, daß sie sich gegenseitig neutralisierten — oder aber die Symptome verstärkten. »Laß ihn ungefähr eine Stunde allein, dann gehst du wieder hinauf, als wolltest du das Geschirr abräumen. Wenn du feststellst, daß er krank ist, lauf und hol die Soldaten.« Heilige Mutter, wenn Du einem ehrlichen Mann Deine Gunst erweisen willst, dann nimm Dich seiner an, betete sie, verschwand wieder hinter der Mauer und überließ Nanny ihrer Arbeit. Er ist ein guter Mann und verdient es weiterzuleben. Hilf mir, ihm zu helfen! Dabei mußte sie so vieles dem Zufall überlassen! Dennoch wollte sie es wagen. Ihr blieb keine andere Wahl, und für ihn war es die einzige Hoffnung. Sie hatte die Gegenmittel in der Tasche, doch nun mußte sie sich Ausrüstung beschaffen, mit deren Hilfe sie in der Lage war, einen bewußtlosen oder halb bewußtlosen Mann aus einem Zimmer durch die Gänge hinunter in ihr Geheimzimmer zu befördern. Das würde nicht leicht 351
sein, und sie durfte keinen Lärm machen. Seile, dachte sie, während sie durch die dunklen Geheimgänge huschte. Eine meiner Pritschen, Decken — die Gegenmittel wirken nicht viel länger als eine halbe Stunde, und hinterher wird er schwach wie ein Kätzchen sein. Sie konnte sich nicht darauf verlassen, daß die Männer, die ihn umbringen sollten, aus dem Sommerpalast fliehen würden, und das bedeutete, daß sie den Prinzen in Sicherheit bringen und anschließend die Spuren so legen mußte, daß es aussah, als wäre er im Fieberwahn hinausgegangen und von der Turmspitze gestürzt. Koschenillefarbe, die sieht wie Blut aus. Sie hielt es für wenig wahrscheinlich, daß jemand nach der Leiche eines Pestopfers sehen würde. Für diesen unwahrscheinlichen Fall wollte sie blutdurchtränkte Kleidung unten am Fuße des Turmes ablegen, so daß die Männer zu der Ansicht gelangen mußten, wilde Tiere hätten den Körper zerfetzt. Bis die Prinzessin Schelyra alles Nötige herbeigeschafft hatte und es ihr gelungen war, es geräuschlos in den Gang direkt unter dem Turm des Prinzen zu bringen, hatte Nanny das Gebräu bereits Leopold gebracht. Schelyra kletterte in ihre Nische neben der Feuerstelle im Arbeitszim mer des Prinzen und schaute durch das Guckloch. Ihr erster Gedanke war, daß ihre Augen sie nach dem langen Aufenthalt im Dunkeln täuschten — denn der Prinz stand aufrecht in seinem Zimmer und hielt den Becher mit dem verhängnisvollen Tee in beiden Händen. Sein starrer Blick indes ruhte auf einer mannshohen Flamme, die aus dem Teppich emporzüngelte - so schien es Schelyra zumindest auf den ersten Blick. Sie öffnete den Mund und wollte schon einen Warnruf ausstoßen, da sie dachte, er habe den Raum in Brand gesetzt. Nachdem sie jedoch die Augen noch einmal zusammengekniffen hatte, war die Flamme verschwunden. Der Prinz hielt den Becher noch einen Augenblick vor sich hin. Dann hob er ihn mit einer Geste, die ebenso sonderbar wie sinnlos war, prostete mit spöttischem Lächeln ins Leere und trank den Inhalt in einem Schluck leer. Er tat dies alles mit der Todesverachtung eines Mannes, der davon überzeugt ist, tödliches Gift zu sich zu nehmen. Hat Nanny ihm etwas gesagt? Aber warum sollte sie? Dann setzte er sich auf einen Stuhl und faltete die Hände über einem Buch, als warte er auf etwas. Schelyra wußte, daß es nicht lange dauern würde. Innerhalb einer halben Stunde war er vom Stuhl gesunken und lag in Schweiß gebadet und halb bewußtlos auf dem Boden. Aber - auf seinem Gesicht hatten sich bläulich-violette Pusteln gebil 352
det! Und die gehörten nicht zu den Symptomen, die ihre Mixtur auslösen sollten! Aber sie sind für Pferde bestimmt, und bei Pferden liegt die Haut unter dem Fell verborgen, versuchte sie sich zu trösten. Ihr Magen verkrampfte sich, und ihr dröhnte der Kopf. Lila Pusteln könnte man gar nicht sehen —glaube ich... Es war ohnehin zu spät, denn jetzt kam Nanny, die nur einen kurzen Blick auf den armen Leopold warf, einen sehr überzeugenden Schrei ausstieß und die Treppen hinunterrannte, als ginge es um Leben und Tod. Kurz danach polterten zwei Männer in hastig übergeworfenen Uniformen die Treppe hinauf — Nanny und die beiden Knappen im Schlepptau. Sie betrachteten den Prinzen, der sich auf dem Boden krümmte, und traten, ohne sich weiter in den Raum zu wagen, schnellstens den Rückzug an. Die anderen zerrten sie mit sich, obwohl sich die beiden Jungen heftig sträubten. »Ihr kommt mit und haltet das Maul«, brüllte einer der Männer sie an und versetzte einem der beiden Knappen eine Ohrfeige, die durch das Treppenhaus schallte. »Der ist erledigt - willst wohl auch noch draufgehen? Halt den Mund und beweg dich!« Der lautstarke Widerstand der Jungen hielt an, doch dann hörte man das Klatschen einer zweiten Ohrfeige, und die Tür zum Königsturm wurde zugeschlagen. Schelyra wartete noch weitere quälende Minuten ab, um sicherzugehen, daß die Männer nicht noch einmal zurückkehrten, um sich vom Fortschreiten der Pest zu überzeugen. Dann vernahm sie zu ihrer unbändigen Freude ein anderes Geräusch von unten: Ham merschläge auf Holz! Sie verbarrikadierten die Tür zum Turm und nagelten sie zu! Sie konnte ihr Glück kaum fassen und verlor keine Zeit. Sie öffnete die Geheimtür und sprang in das Arbeitszimmer, während die letzten Schläge unten an der Tür noch zu hören waren. Ich muß ihn gar nicht erst verlegen! schoß es ihr durch den Kopf, während sie ihn in Decken hüllte, die sie mitgebracht hatte. Sie zog die Pritsche ins Zimmer und stellte sie neben die Feuerstelle. Dann rollte sie den Prinzen darauf. Und wenn er jetzt nicht zu krank ist, wenn ich ihn nicht umgebracht habe, wenn die verdammten Gegenmittel ihn nicht umbringen ... Diese waren bereits in flüssiger Form. Sie mußte nur noch seinen Kopf ein wenig anheben und sie ihm der Reihe nach einflößen — mußte ihm Mund und Nase zuhalten, um ihn zu zwingen, sie hinunterzuschlucken. Er wand sich in ihrem Griff, doch die Mixturen, die sie ihm bereits verabreicht hatte, schwäch 353
ten ihn so sehr, daß er nicht in der Lage war, sich ihr zu widersetzen. Es gelang ihr, ihm alle drei Gegenmittel in kurzen Abständen zu verabreichen, dann legte sie ihn auf die Pritsche zurück und wartete auf die Wirkung. Er sah grauenhaft aus; schlimmer, als sie erwartet hatte. Das Gesicht war über und über mit jenen weinroten Pusteln bedeckt, die sich bläulich gegen die blutleere Blässe der übrigen Haut abzeichneten. Er zitterte am ganzen Leib und zuckte hin und wieder. Er schwitzte heftig; unruhig warf er den Kopf hin und her, und seine Augen blickten starr. Hätte sie nicht genau gewußt, was sie getan hatte, dann hätte auch sie durchaus geglaubt, er habe die Pest. Dennoch war es immer noch möglich, daß er an den Folgen starb... Die nächste halbe Stunde würde es zeigen.
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52. Leopold Leopold hörte, wie die alte Frau die Treppe heraufkam und seine Knappen grüßte. Er war ein wenig verärgert. Schließlich hatte er sich aus gutem Grund nach hier oben zurückgezogen. Er hatte gehofft, es würde ihm gelingen, den Männern, die sein Vater geschickt hatte, so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen - und er war schon gar nicht geneigt, mit dieser Alten zu schwätzen, mochte sie noch so liebenswürdig sein. Doch er gab sich redliche Mühe, sich seine Verstimmung nicht anmerken zu lassen und die alte Frau freundlich zu begrüßen, nachdem sie mühsam die letzten Stufen zu seinem Arbeitszimmer erklommen hatte. Er konnte ihr nicht böse sein, zumal sie ihm Tee und etwas zu essen gebracht hatte. Es wäre flegelhaft gewesen, ihrer offensichtlichen Fürsorge mit Ablehnung zu begegnen. »Ihr macht uns ganz schön viel Sorgen, mein Guter«, sagte sie mit ihrem bezaubernden Akzent. »Ihr habt gegessen wie'n Spatz.« »Ich habe keinen Hunger gehabt, Verehrteste«, erwiderte er, erhob sich und nahm ihr das Tablett aus den Händen. »Aber - ich danke Euch vielmals. Ich will nicht unhöflich wirken, aber - nun, ich habe meditiert -« Das kommt der Wahrheit sogar ziemlich nahe, dachte er. Und sie wird gehen, wenn sie denkt, ich habe gebetet. Sie schürzte nachdenklich die Lippen und nickte. »Na schön, dann werd' ich Euch mal in Ruhe lassen, mein Bester«, sagte sie, wobei sie jedoch ein wenig besorgt dreinschaute. »Nur, den Tee müßt Ihr jetzt gleich trinken. Der wird Euch guttun.« »Das tue ich«, versprach er. Bevor die Alte den Raum verließ und die Treppe hinabstieg, warf sie ihm noch einen sonderbaren Blick zu. Erst dann kam ihm der Gedanke, daß eine dunklere Absicht sie in sein Arbeitszimmer geführt haben mochte als der Wunsch, ihm eine Stärkung zu bringen. Er drehte sich um und betrachtete den unschuldig wirkenden Becher Tee auf dem Tablett. Sie hatte so etwas bisher noch nie getan — warum also gerade jetzt? Und warum beharrte sie so sehr darauf, daß er ihn trinken sollte? 355
Bin ich übertrieben mißtrauisch? fragte er sich. Dann nahm er den Becher vom Tablett und roch daran. Furchtbar viel Honig ist da drin, und der Kräutergeruch ist mir nicht bekannt. Der Honigduft überdeckte eindeutig etwas Bitteres ... Das erste, was ein Soldat lernte, wenn er sich mit Nahrung aus der Natur versorgen mußte, war, daß alles, was bitter schmeckte, wahrscheinlich giftig war. Er war im Begriff, den Becher wieder abzusetzen, doch dann kam ihm eine bessere Idee. Er würde den Tee fortschütten, vielleicht aus dem Fenster. Dann wollte er abwarten, so tun, als schliefe er, und dann ... »Prinz Leopold«, erklang eine Stimme hinter ihm, eine Stimme, die so klar und so rein war wie Glockengeläut. Er schrak zusammen, drehte sich um ... ... und war überwältigt. Er sank auf ein Knie und beugte den Kopf ausgerechnet über den Teebecher, den er noch in Händen hielt. Vor dem ersten Engel, den er gesehen hatte, war er nicht auf die Knie gefallen — aber der hatte ihn auch nicht angesprochen. Allein die Stimme flößte ihm Ehrfurcht ein; Stimme und Anblick zusammengenommen stellten eine unwiderstehliche Macht dar. Der Engel lachte, aber Leopold hatte nicht den Eindruck, daß er ihn auslachte. »Steh auf, Prinz, und fürchte dich nicht«, sagte er zu ihm. Diese Worte gaben auf unheimliche Weise seine Gedanken bei der ersten Begegnung mit einem von Ihnen wieder. Er stand langsam auf und hob ebenso vorsichtig den Kopf. Das Gesicht, weder das einer Frau noch das eines Mannes, strahlte eine Macht und Schönheit aus, die ihm den Atem nahm. Ungeweinte Tränen stiegen in ihm auf und schnürten ihm die Kehle zu. Der Engel lächelte, und sein Lächeln war Freude schlechthin. Leopolds Herz tat einen Sprung und begann heftig zu schlagen. Seine Seele füllte sich mit Licht. Der Engel war in eine Robe aus reinem weißem Licht gehüllt. Seine ganze Gestalt war strahlende Helligkeit. Der Prinz fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen; das Herz schlug ihm bis zum Hals, und alle Fibern seines Körpers sprühten in Gegenwart des Engels förmlich Funken. »Du hast Freunde, wo du sie am wenigsten erwartest, Leopold«, sagte der Engel freundlich. »Und vom heutigen Tage an schwebst du in Lebensgefahr. Trinke das, was du in Händen hältst, wenn du dieser Gefahr entgehen willst — und wenn du den Pfad des Lichts und der Ehre beschreiten und Ihr dienen willst, DieDie-Sterne-Beleuchtet. Vertraue jenen Freunden, die dich jetzt retten wollen.« 356
Der Engel lächelte ihn noch einmal an, erfüllte sein Herz und seine Seele durch und durch mit seiner ruhigen Schönheit — und verschwand. Leopold stand noch geraume Zeit reglos da, und als seine Finger sich schließlich verkrampften, weil er den Becher so fest hielt, schaute er auf die dunkle Flüssigkeit hinab. Lebensgefahr? Trinken, was er in Händen hielt? Aber... Aber was hatte er schon zu verlieren? Wenn dies eine Mischung war, die ihn umbringen sollte — trotz der tröstenden Worte des Engels mochte dies immer noch der Fall sein, denn vielleicht war der Engel ihm gesandt worden, um ihn vor einer viel tödlicheren Gefahr als dem Tod zu bewahren - was hatte er schon zu verlieren? Sein Leben war wertlos — er konnte seinen Vater nicht von seinen Irrwegen abbringen, noch konnte er sich mit dem Bösen abfinden, das der Kaiser und seine Untergebenen vollbrachten. Das Beste, was er sich erhoffen konnte, war ein nutzloses Leben unter ständiger Beobachtung, ohne jede Freiheit. Selbst der Tod war dem Leben eines machtlosen Gefangenen vorzuziehen, der gezwungen war mitanzusehen, wie die Ratgeber des Herrschers eine Greueltat nach der anderen verübten und Balthasar selbst Macht und Blut trank wie andere Männer Wein. Er hob den Becher, prostete dem Engel mit spöttischem Lächeln zu und kippte den Tee mit einem Schluck hinunter. Dann setzte er sich in sonderbar schicksalsergebener Stimmung auf einen Stuhl, um abzuwarten, was geschah. Als es ihn dann jedoch traf, war es nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Zuerst fühlte er sich ein wenig benommen - dann verschleierte sich plötzlich sein Blick, die Glieder verflüssigten sich, so daß er sich nicht mehr regen konnte, und er begann hilflos zu zittern. Kurz darauf schlugen die Zähne aufeinander, Arme und Beine zuckten, und er rutschte vom Stuhl. Er versuchte zu schreien, brachte aber nur ein Stöhnen heraus. Danach wußte er nur noch, daß ihm schrecklich kalt war, während ein Wirbel aus merkwürdigen Farben und Geräuschen um ihn tanzte. Was er erlebte, konnte man nicht einmal mit »Visionen« umschreiben, mit »Alpträumen« oder »Halluzinationen«, denn sie waren ohne Form und Inhalt. Er »schmeckte« Farben, »hörte« den Geruch des knisternden Feuers und sein eigenes Stöhnen. Arme und Beine schlotterten, und er konnte nichts dagegen tun. Licht und Schatten wechselten einander ab, Farben verdunkelten alles, was ihm auch nur eine Ahnung hätte vermit 357
teln können, wo er sich befand. Er konnte nur ausharren, gefangen in einem absolut wahnsinnigen Wirbel. Die Kälte wich als erstes von ihm — dann hörte das Zittern der Glieder auf. Anschließend rückten alle Sinne wieder so rasch an Ort und Stelle, als würde ein ausgekugelter Arm mit einem Ruck wieder eingerenkt. Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, bis er die Augen wieder öffnen konnte. Als er sie dann aber aufschlug, war er nicht sicher, ob er nicht einer anderen Art von Halluzination erlegen war. Eine junge Frau mit den Gesichtszügen des gestohlenen Portraits, jedoch in der Tracht einer Zigeunertänzerin, beugte sich über ihn. Sie hatte ihm eine Hand auf die Stirn gelegt. Die Berührung war so sanft, daß er sie kaum spürte. Sie schaute ihn besorgt an. »Könnt Ihr sprechen?« fragte sie, ehe er auch nur erwogen hatte, es zu versuchen. Versuchsweise fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich glaube schon«, erwiderte er zögernd mit belegter, heiserer Stimme. Er war auf der Hut. Ich will ihr lieber nicht verraten, daß ich wußte, daß der Tee »behandelt« war. »Was ist geschehen? Bin ich krank?« Dann, weil er nicht widerstehen konnte: »Ihr seid doch Prinzessin Schelyra, oder irre ich mich?« »Schelyra, ja, aber zur Zeit nicht Prinzessin.« Sie wirkte erleichtert, und er fragte sich, warum. »Nun zu dem, was geschehen ist - ich habe Euch vergiftet, und gerade habe ich Euch die Gegenmittel verabreicht.« Nun, das war allerdings deutlich! Ich hätte nicht erwartet, daß sie es zugeben würde — halt! Sie hat zugegeben, mich vergiftet und geheilt zu haben? Er wollte etwas sagen - wenn er auch noch nicht wußte, was - aber sie legte ihm die Hand auf den Mund. »Bitte, hört mir zu, ehe Ihr sprecht«, bat sie ihn. Er wäre gern aufgestanden, doch der vergebliche Versuch, den Arm zu heben, um ihre Hand zu entfernen, überzeugte ihn, daß er wirklich keine andere Wahl hatte, als ihr zuzuhören. Er konnte im Augenblick nicht einmal den kleinen Finger rühren, ohne vor Anstrengung in Schweiß auszubrechen. Noch nie zuvor hatte er sich so schwach und hilflos gefühlt. Noch nie hatte er stärker das Bedürfnis empfunden, sich zurückzulegen und einfach nur zuzuhören, wie sie ihn geheißen hatte. Aber sie ist meine Feindin! schrie eine Stimme in ihm. - Aber bedenke, was der Engel dir gesagt hat. Du wirst doch nicht das Wort eines von Ihnen anzweifeln? Und wer sonst sollte der unverhoffte Freund sein? »Die Männer, die Euer Vater hergeschickt hat, waren nicht einfach 358
nur zu Eurer Bewachung hier«, sagte sie heftig. »Zumindest zwei von ihnen sollten Euch umbringen. Ich habe sie belauscht, als sie nach einer Möglichkeit suchten, Euch aus dem Palast zu locken. Sie wollten einen Hinterhalt legen, um Euch zu töten — eine Falle, die dann den Bürgern von Merina und der Königin zur Last gelegt werden sollte.« Das konnte er nun wirklich nicht glauben! »Mein Vater würde nie -«, wandte er ein und versuchte, sich aufzurichten. »Niemand hat behauptet, daß es die Idee Eures Vaters war«, fuhr sie ihn an und drückte ihn wieder auf die Pritsche. »Weder Apolon noch Catal sind sonderlich an Eurem Wohlbefinden interessiert - und wenn Ihr erst aus dem Weg geräumt wärt, wer, glaubt Ihr, wäre der nächste, der Anspruch auf die Thronfolge hätte?« Woher weiß sie denn das schon wieder? Er verkniff sich weitere Proteste. »Aber -«, begann er. »Ich schwöre es Euch, beim Herzen, ich habe wirklich und wahrhaftig mit angehört, wie sie Eure Ermordung planten!« wiederholte sie eifrig. »Ich würde über solche Dinge nie die Unwahrheit sagen und schon gar nicht würde ich Euer Leben und meines obendrein aufs Spiel setzen, um sie davon zu überzeugen, daß Ihr an der Pest erkrankt seid!« »Die Pest?« wiederholte er. »Ihr habt mich vergiftet, damit sie denken, ich hätte eine Art Pest?« »Genau.« Sie hockte sich auf die Fersen, und ein winziger Schimmer der Zufriedenheit legte sich über ihr besorgtes Gesicht. »Es hat auch geklappt. Sie haben Eure beiden Knappen mitgenommen und die Tür zum Turm zugenagelt, damit Ihr hier sterben könnt. Und es ist noch nicht lange her, da habe ich das Klappern von Hufen gehört, so daß ich annehme, sie haben die Jungen geschnappt und sich in die Stadt zu den Ärzten des Kaisers in Sicherheit begeben.« Und wie zur Bestätigung trällerte eine sehr vertraute Stimme direkt hinter ihr: »Diese vermaledeiten Männer sind weg, Liebes. Ich habe Jem und Lu aus dem Stall geholt, damit sie die Tür zum Turm wieder aufbrechen. Ist der nette Mann wieder wohlauf?« »Dem netten Mann ging es auch schon mal besser«, sagte Leopold sarkastisch, »aber ich danke Euch für Eure Bemühungen, Verehrteste.« Er versuchte noch einmal, sich aufzurichten, und diesmal ließ Schelyra ihn gewähren. Es war nun sehr deutlich, auf welchem Wege die alte Frau - und die junge — in diesen Turm gelangt waren. Ein Teil des Bücherregals neben 359
der Feuerstelle stand offen und legte einen schmalen Gang frei, der zwischen den Wänden entlang führte. Und die Hammerschläge, die von unten zu ihnen heraufdrangen, überzeugten ihn zumindest von einer Tatsache — anstatt sich um ihn zu kümmern und einen Hofarzt kommen zu lassen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, hatten die Männer, die angeblich zu seinem Schutz hier waren, die Tür verrammelt, um ihn hier sterben zu lassen. Also hat sie auf diesem Wege die Männer »belauscht« — und so viele andere Dinge erfahren. In den beiden Palästen muß es eine Menge Geheimgange geben. Ihre Mauern sind offenbar durchlöchert wie wurmstichiges Holz! Er setzte sich zurück und lehnte sich gegen den Stuhl, der hinter ihm stand. »Redet«, sagte er schließlich. »Ich höre zu. Mehr kann ich nicht versprechen.« Während er ihr zuhörte, fiel die Schwäche, die von sechs verschiedenen Mitteln herrührte, allmählich von ihm ab. Der Stallknecht und seine Helfer legten die Tür frei und gingen dann offenbar wieder zu Bett, denn sie kamen gar nicht erst zu ihnen herauf. Die alte Frau nahm jetzt den gebräuchlicheren Weg zur Küche und wieder zurück. Sie brachte heißen Branntwein und Brot und Käse mit. Leopold aß und trank, während Schelyra redete. Was sie zu sagen hatte, ergab leider sehr viel Sinn. Schlimmer noch, es stimmte mit seinen Beobachtungen überein, und er war erstaunt zu hören, daß sie darüber Bescheid wußte. Wenn sie natürlich wie eine Maus mit großen Ohren hinter den Mauern gelauert hatte, war es nicht weiter verwunderlich, daß ihr vieles bekannt war, was sie ihm nun in kleinen, bekömmlichen Häppchen servierte. »Ihr müßt mir nicht glauben«, schloß sie ihre Ausführungen. »Schon gar nicht ohne Beweis.« Bemerkenswert. Aufrichtig. Und sie gesteht mir zu, argwohnisch zu sein. »Wenn Ihr einer Ehrwürdigen im Tempel mehr Glauben schenkt, kann ich Euch zu ihr führen. Sie wird Euch dasselbe sagen, was Ihr gerade von mir erfahren habt, aber —«, sie hielt inne und errötete. »Aber ich bin natürlich eher geneigt, einer Ehrwürdigen zu glauben als Euch, das ist richtig«, sagte er freundlich. Es spielt keine Rolle, daß der Tempel in Merina steht; eine Ehrwürdige würde nie lügen. Ich muß das glauben, sonst ist alles andere, woran ich glaube, wertlos. Er erhob sich versuchsweise und erwartete fast, auf die Nase zu fallen. Er war überrascht und recht dankbar, als dies nicht der Fall war. Er schloß kurz die Augen. Je eher ich 360
es herausbekomme ... Einerseits war er begierig, die Wahrheit zu erfahren, andererseits wünschte er sich, sie nicht hören zu müssen. »Können wir jetzt gehen?« Schelyra überlegte und steckte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich glaube, zumindest eine Priesterin, die ich kenne, wird wach sein.« Sie seufzte. »Ich hoffe, Ihr wißt, daß das, was ich Euch jetzt zeigen werde, seit vielen Jahrhunderten ein Geheimnis unserer Familie war.« Nachdem sie sich erhoben hatte und neben ihm stand, hob sie den Blick und schaute ihn ernst an. »Ich habe diese Gänge nicht einmal einem unserer Verbündeten gezeigt.« Er nickte und spürte plötzlich, daß er sich noch nicht so weit erholt hatte, wie er geglaubt hatte, da der Raum ein wenig ins Schwanken geriet, als er den Kopf bewegte. »Schelyra, bei meiner Ehre verpflichte ich mich, daß ich diese Gänge niemals ohne Eure Begleitung oder Eure Erlaubnis betreten werde. Genügt Euch das?« Er hatte unwillkürlich die Hand ausgestreckt und ihre Hand in seine genommen. Sie blickte kurz darauf hinunter, versuchte aber gar nicht erst, ihm ihre Hand zu entziehen. »Bei einem anderen«, begann sie, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Aber schließlich seid Ihr es. Ja, ich traue einem Versprechen, das Ihr mir bei Eurer Ehre gebt.« Die besondere Betonung auf Ihr entging ihm nicht, und er fragte sich, wessen Ehrenwort sie wohl nicht glauben würde. Er lächelte und hob ihre Hand an die Lippen, um sie zu küssen, ehe er sie freigab. Sie errötete, erwiderte aber sein Lächeln. »Dann kommt mit«, sagte sie und führte ihn in den Geheimgang. Schon bald fragte er sich, warum sie sich überhaupt Sorgen machte, er könnte die Geheimnisse der Gänge erkunden, denn nachdem sie um drei Ecken gebogen waren, hatte er bereits die Orientierung verloren. An manchen Punkten war er ziemlich sicher, daß sie sich außerhalb des Palastes befanden - und schließlich, als es nach oben ging, dachte er, sie stiegen vielleicht in einem der Brückentürme hinauf. In einem zylindrischen, hüfthohen Tunnel glaubte er zu wissen, daß sie unter der Brücke selbst waren. Sie traten ins Freie. Es war dunkel. Er hatte nie erfahren, wie es ist, eine Stadt zu durchqueren und gleichzeitig patrouillierenden Soldaten ausweichen zu müssen. Erneut wuchs seine Hochachtung vor Schelyras Fähigkeiten. Wo hatte sie diese Dinge gelernt? Vielleicht bei den Roßhändlern, dachte er, während er ihr folgte, als sie 361
zwei Schwarzmäntel umging. Das war nicht die Frau, die er sich vorgestellt hatte ... Aber wer sagte schon, daß sie so sein mußte? Wenn sie ihm auch ein wenig unbesonnen und impulsiv erschien, so war es in diesem speziellen Fall nur von Vorteil. Sonst hätte sie ihm nicht vertraut. Wäre sie nicht unbesonnen und impulsiv gewesen — vorausgesetzt, er schwebte tatsächlich in Lebensgefahr, wie sie ihm erzählt hatte —, dann hätte sie ihn nicht gerettet. Allerdings - konnte sie die Geschichte mit dem Mordversuch nicht auch erfunden haben? Die Tatsachen, soweit sie ihm bekannt waren, würden ja dennoch einen Sinn ergeben. Ein Mensch, der ein vermeintliches Pestopfer in seinem Zimmer einschloß, mußte nicht unbedingt ein Verräter sein — er konnte auch einfach Angst haben. Auch dem tapfersten Soldaten der Armee mußte man das Recht zugestehen, vor der Pest zurückzuschaudern. Daher hegte er noch Zweifel, und viele von ihnen saßen tief. Merkwürdigerweise erholten sich seine Muskeln auf dem Weg durch die Stadt, obwohl er sich immer elender fühlte. Sie brauchten sehr lange, um die Stadt zu durchqueren. Kurz vor Morgengrauen erreichten sie endlich den Tempel. Da die Frühmesse unmittelbar bevorstand, konnten sie den Tempel offen betreten, ohne aufzufallen. Seit seiner Verbannung in den Som merpalast pflegte der Prinz statt der offiziellen Uniform seine gewöhnliche Jagdkleidung anzulegen. Er wollte die Uniform nicht länger tragen, da er nicht mehr sicher war, ob sie ihm noch Ehre brachte. Nun kam ihm dieser Umstand sehr gelegen, da er sich von den wenigen Gläubigen hier in keiner Weise unterschied. Die Messe empfand er als seltsam tröstlich, und seine aufgewühlten Empfindungen kamen teilweise zur Ruhe. Nach der Messe folgte er Schelyras Beispiel und betrat den Beichtstuhl, den sie ihm zuwies. Als er wieder herauskam, war er sichtlich betroffen. Er hatte die Stimme der Frau im Beichtstuhl erkannt; es war Erzpriesterin Verit. Diese Stimme würde er im Leben nicht mehr vergessen. Und er würde nie vergessen, was sie ihm mit der ruhigen, leidenschaftslosen Stimme einer Frau gesagt hatte, die zuviel gesehen hatte, um darüber erschüttert zu sein. Sie erklärte, sie selbst wisse zwar nichts von einem Mordkomplott gegen ihn, aber er könne Schelyra vertrauen, denn sie sage ihm die Wahrheit. 362
Doch weitaus entsetzlicher war das, was ihm die Priesterin über den engsten Berater und Magier seines Vaters zu berichten hatte. Denn Apolon war ein Totenbeschwörer. Er hatte vermutet, daß der Graue Magier etwas zu verbergen hatte, doch damit hatte er nicht gerechnet. Es gab auf Erden keine abscheulichere Kreatur als einen Totenbeschwörer. Und alles, was Schelyra ihm über die Lage am Hofe seines Vaters gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Die Erzpriesterin war sich ziemlich sicher, daß Balthasar von Apolons wahren Unternehmungen und der Quelle seiner Macht nichts ahnte —Tatsache indes blieb, daß der Kaiser keineswegs den Versuch unternommen hatte, es herauszufinden. Leopold trat aus dem Tempel und hatte das Gefühl, als ob der Boden unter seinen Füßen plötzlich so durchlässig wie Luft geworden wäre; als drehte sich die Welt in die andere Richtung. Schelyra stützte ihn , sobald er ins Freie trat, und das war gut so. Er hätte im Augenblick nicht einmal aus seinem eigenen Zimmer herausgefunden. »Ich bringe uns an einen Ort, wo wir uns ausruhen können«, sagte sie ruhig. Er brachte nur ein Nicken zustande und ließ sich von ihr die Tem peltreppe hinunterführen. In seinem Kopf drehte sich alles.
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53. Apolon Der Sturm war seit vier Tagen vorüber, und diese Zeit hatte Apolon genutzt, sich einzurichten. Entsetzen erfüllte das Haus des Keilers. In einem großen Raum im Kellergeschoß war die Luft geschwängert von süßlichem, metallischem Blutgeruch. Apolon war in seinem Element und mit sich und der Welt zufrieden. Endlich, nach so vielen Fehlschlägen, hatte sich das Blatt zu seinen Gunsten gewendet. Er hatte seine Festung - von hier aus konnte er ungestört und im geheimen operieren. Catal arbeitete zu seiner vollsten Zufriedenheit mit ihm zusammen. Und da Adelphus nun zu einer seelenlosen Marionette geworden war, hatte er von dieser Seite nichts mehr zu befürchten. Und in Kürze wäre auch dieser unbequeme Junge, der Narr Leopold, aus dem Weg geräumt. Als er sich hierher zurückgezogen hatte, um mit seiner Arbeit zu beginnen, hatte sein Kundschafter noch keinen Bericht erstattet, aber Apolon war sicher, daß der Anschlag glücken würde. Alles in allem war das Leben doch erfreulich. Im Augenblick hatte der Graue Magier alle Hände voll zu tun; die Nacht war fast vorüber, und er hatte noch nicht alle Gefangenen ihrer Bestimmung zugeführt. Die Hälfte von ihnen mußte entweder den Blutdämon nähren, der die Seelen der neuen Marionetten an ihre Körper band, oder das Wesen, das in Apolons Stab hauste. Menschliche Körper und Menschenblut allein würden ausreichen; er mußte nicht auf Tierblut ausweichen. Gefangene, die zur Ader gelassen wurden, um eine der beiden Wesenheiten zu nähren, waren später als Marionetten nicht mehr zu gebrauchen; sowohl der Blutdämon als auch der Stab entzogen dem Körper mit dem Blut zugleich die Lebenskraft. Somit war es unmöglich, sie wiederzubeleben, obwohl die Seele immer noch an die Leiche gebunden werden konnte, wenn der Magier nur rasch genug handelte. Dafür bestand allerdings kein Grund, denn eine Seele, die an einen Körper gebunden wurde, welcher sich weder bewegen noch sprechen konnte, war ziemlich nutzlos. Dennoch hatte er einem seiner Feinde einmal diesen besonderen Dienst erwiesen. Der Mann wurde später aufgefunden — er war dem Anschein nach an Herzversagen gestorben. Es hatte Apolon eine diebi 364
sche Freude bereitet, anschließend an der Beerdigung teilzunehmen, in dem Wissen, was in Wirklichkeit mit der Seele geschah, die »lebendig« begraben war und sich nicht befreien konnte. Die andere Hälfte der Gefangenen wurde in dieser Nacht zu Marionetten. Sie starben durch seine Hand und sollten die lebenden und nichtlebenden Schwarzmäntel ersetzen, die den Überfällen durch Einwohner der Stadt zum Opfer gefallen waren. Die meisten von ihnen hatte er nicht wiedergefunden; sie waren wahrscheinlich in Kanäle geworfen und ins Meer gespült worden. Er vermochte nicht zu sagen, was mit ihnen geschehen würde; sowohl Salzwasser als auch fließendes Wasser hatten die Fähigkeit, seinen Zauber nach einiger Zeit zu lösen, und es war denkbar, daß die Seelen von den Körpern befreit wurden, bevor Haie und andere Fische diese verschlangen. Einiger hatte er sich entledigt, als sie von Patrouillen zurückkehrten und zu versehrt waren, um noch länger von Nutzen zu sein. Jetzt, kurz vor Anbruch des Morgengrauens, war er sehr geschwächt. Bewußt hatte er sich jenen Abschaum aufgehoben, dessen Unterwerfung ihm am Ende einer arbeitsreichen Nacht gewiß keine Schwierigkeiten bereiten würde. Es waren ausnahmslos Verbrecher, keine verschreckten Bewohner der Armenviertel oder Männer, die nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs gewesen waren und das Pech hatten, einer seiner Patrouillen in die Arme zu laufen. Die Kundschafter, die er schon Monate vor dem Einmarsch in Merina eingeschleust hatte, suchten ein paar erlesene Vertreter der Gruppe aus, die in den Zisternen gefangengehalten wurde. Die meisten waren so tief in Verbrechen verstrickt, daß es keiner großen Anstrengung bedurfte, ihren Widerstand zu brechen; sie verspürten nicht den Wunsch, in die nächste Welt überzugehen, und mancher von ihnen hing so offensichtlich an seinem Körper, daß der Blutdämon eigentlich nur wenig Mühe hatte. Sie gaben letzten Endes die besten Diener ab. Sie legten weiterhin eine gewisse Begabung an den Tag, wenn es darum ging, die Einheimischen zu drangsalieren, als fänden sie noch immer Gefallen an derartigem Tun. Der letzte, den er sich für diese Nacht ausgesucht hatte, würde gewiß die wenigste Mühe machen; ein Dieb und unverbesserlicher Sittenstrolch, der sich Thom Ränkeschmied nannte. Glaubte man den Geschichten, die sich um diesen Mann rankten, war er wahrscheinlich auch ein Mörder, und er war sicher in verbrecherische Machenschaften verwickelt, so daß er dem Blutdämon in die Hände arbeiten würde, um erdgebunden zu bleiben. 365
Apolon kreuzte die Arme über der Brust und versuchte den Mann genau zu taxieren, der gerade hereingeführt wurde. Er schlug um sich und versuchte hartnäckig, sich dem festen Griff zweier kräftiger Marionetten zu entziehen. Der Magier wunderte sich über die äußere Erscheinung des Mannes. In der Regel waren Diebe hartgesottene Specknacken, dieser aber nicht. Jung und hübsch wie er war, hätte man ihn für einen jener grünschnäbligen, unschuldigen jungen Burschen halten können, die bei wohlhabenden Zunftmeistern in die Lehre gingen ... Für einen Augenblick überkam Apolon eine unerklärliche Wut, und unwillkürlich verkrampften sich seine Hände ineinander. Hätte er nur diese Vorzüge besessen, dann hätte er nie arbeiten, kämpfen und sich abrackern müssen, um seine jetzige Stellung zu erlangen — wäre er ein hübscher grüner Junge gewesen, hätte er einen anderen Weg zu Macht und Reichtum beschreiten können ... Doch er faßte sich bald wieder. Wäre er hübsch gewesen, dann hätte er vielleicht ähnlich diesem Tölpel den leichtesten Weg gewählt und sich auf sein Aussehen verlassen, um kleine Leute zu betrügen, statt sie als Köder für größere Fische zu benutzen. Er hätte seinen Verstand brach liegen lassen, und es hätte ihm durchaus passieren können, daß er eines Tages der Gefangene eines anderen, klügeren Mannes geworden wäre. Vielleicht hätte ihn dann dasselbe Schicksal ereilt wie diesen Thom Ränkeschmied. Apolon ließ die Gefangenen, die wußten, was auf sie zukam, vorsichtshalber immer knebeln; häufig beleidigten und verwünschten sie ihn lautstark und störten seine Konzentration. Thom funkelte ihn über den Knebel hinweg wütend an, aber die menschlichen Diener, die sich um seine Opfer kümmerten, verstanden ihr Geschäft, und so brachte Thom höchstens ein ersticktes Brummen, ein ohnmächtiges Knurren zustande. Offenbar rechnete der Dummkopf damit, Apolon würde die Situation feierlich angehen, würde in allen Einzelheiten das schreckliche Schicksal umreißen, das ihn erwartete, und ihm erläutern, was den Grauen Magier zu solchen Maßnahmen veranlaßt hatte. Vielleicht erwartete er sogar, daß Apolon mit seinen derzeitigen Plänen prahlen würde. Was natürlich eine Menge Zeit in Anspruch nehmen würde — und außerdem zu nichts führte. Apolon hielt sich nicht mit unnötigen Dingen auf. »Bald wirst du alles verstehen«, sagte er kalt und zog den Ritualdolch aus dem Ärmel, um ihn Thom mitten ins Herz zu stoßen. Der 366
Stoß war so berechnet, daß er schnell tötete, dem Blutdämon aber noch genug Zeit ließ, zu handeln. Aus der Wunde drang nur sehr wenig Blut; dank langjähriger Übung war Apolon Fachmann im Töten ohne großes Blutvergießen. Seine Marionetten sollten möglichst wenig Schaden nehmen; somit würde es ihn nicht viel Mühe kosten, sie wiederherzustellen. Als der Körper in den Händen der Marionetten zusammensackte, warf er das blutdurchtränkte Ritualnetz darüber. Die beiden Marionetten ließen den Körper zu Boden sinken, während die dritte Marionette den Blutdämon mit dem Blut nährte, das man dem letzten Gefangenen entnommen hatte. Dann traten alle Marionetten gleichzeitig zurück - eine gut einstudierte Choreographie, bei der er ihnen keine Anweisungen mehr erteilen mußte. Die Augen des Diebes wurden allmählich glasig, und der letzte Atemzug rasselte in seiner Kehle. Der zeitliche Ablauf war wie immer reibungslos. Apolon hob die Hände und entfaltete seine Macht, lenkte die Auf merksamkeit des Blutdämons von seinem Festmahl ab und deutete auf den gefangenen Geist und Körper. »Binde« befahl er dem Blutdämon. Und genau in diesem Augenblick wurden die ausgeklügelten Pläne des Grauen Magiers vereitelt. Noch bevor der Blutdämon überhaupt zur Tat schreiten konnte, erhob sich die im Netz gefangene Seele des Diebes und begann, am zarten Gewebe der Magie zu zerren. Sie wehrte sich erbittert und viel, viel heftiger als alle, die Apolon jemals zu binden versucht hatte! Apolon prallte zurück. In der langen Zeit, da er Gefangene zu seinen Marionetten machte, war es nicht ein einziges Mal vorgekommen, daß einer von ihnen auch nur versucht hätte, sich der Bindung mit derart grimmiger Entschlossenheit zu widersetzen! Was für ein Mann war das gewesen? Hastig warf er seine magische Kraft in das Gewebe und spürte, daß diese Energie wie aus einer offenen, klaffenden Wunde aus ihm herausströmte. Er versuchte, der Seele seinen Willen aufzuzwingen und sie zu unterwerfen; diese aber schüttelte den Druck wie eine lästige Hand auf der Schulter ab und mühte sich, mit neuer, verzweifelter Energie, das Netz, das sie gefangenhielt, zu durchbrechen. Der Magier verdoppelte seine Anstrengung, doch die Seele widersetzte sich ihm - und als der Blutdämon hineinfuhr, um sie mit seinen magischen Kräften und ätherischen Klauen zu binden, wandte sie ihre Aufmerksamkeit vom Netz ab und griff den Blutdämon selbst an! 367
Der Blutdämon wich vor der wütenden Attacke zurück und versuchte zu fliehen. Allmählich wurde das Wesen im Stab aufmerksam und regte sich träge. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wurde Apolons schwarze Seele von Angst erfaßt, die ihn an der Kehle packte, sich über ihn legte und in ihren kalten Klauen hielt. Wenn der Blutdämon sich seinem Meister entzog, würde er sich gegen ihn, Apolon, wenden, und das Wesen im Stab würde vielleicht eine günstige Gelegenheit wittern ... Nein, das Wesen im Stab würde ganz bestimmt sogar die Gunst der Stunde ausnutzen! Das Bündnis, das Apolon mit ihm eingegangen war, fußte auf der augenscheinlichen Macht des Magiers, war aber zerbrechlich. Sollte das Wesen spüren, daß er an Macht verlor, würde es sich gegen ihn wenden und ihn gemeinsam mit dem Blutdämon angreifen. Der Blutdämon allein konnte ihm nichts anhaben, aber das Wesen im Stab mit Sicherheit! Rasch zog er seinen Ritualdolch und ritzte sich den Arm auf, um den Dämon mit seinem Blut zu nähren, zu besänftigen und zu stärken. Mit neuer Kraft wandte sich der Blutdämon wieder der kämpfenden Seele zu. Apolon nutzte den Augenblick, in dem die Seele abgelenkt war, um rasch nach einem Heiltrank zu greifen und ihn zu leeren. Er würde dafür zahlen müssen - aber erst, nachdem die Seele unterworfen war. Er wagte noch nicht, sie freizulassen, nicht, solange das Wesen im Stab das Geschehen verfolgte. Er wollte nichts tun, was nach Schwäche aussah. Die Rauschmittel im Heiltrank verliehen ihm sogleich Kraft und Stärke. Nun war er in der Lage, die Auren der Macht zu sehen, die er ohne diese Mittel nicht wahrnehmen konnte. Die Seele war ein weißes Licht, das neben dem ekligen Grün des Dämons unregelmäßig aufflackerte. Er, Apolon, strahlte Schwärze aus; er war wie von loderndem schwarzem Feuer umgeben, wenn es denn überhaupt so etwas gab. Er konzentrierte sich auf die Energien der Seele, wild entschlossen, sie um jeden Preis zu unterwerfen. Am Ende lief es auf einen Kampf Willen gegen Willen hinaus, und es bedurfte einer weiteren Stärkung, bevor Apolon den Kampf siegreich beenden konnte. Während die Rauschmittel noch wirkten, band er die Seele an den Körper und belegte sie mit seinem Bann. Sie sollte vergessen, was sie einst gewesen war, und nur noch ihm gehorchen, sobald sie den ersten Befehl erhalten würde. Den Blutdämon entließ er satt und zufrieden, und das Wesen im Stab verlor das Interesse an ihm und schlürfte wieder 368
in gleichmäßigen, gierigen Schlucken das Blut, das man ihm vorgesetzt hatte. Woher hatte dieser Mann die Kraft gehabt, sich so hartnäckig zu widersetzen? Er hätte niemals damit gerechnet, daß ein Thom Ränkeschmied, seines Zeichens Dieb, Wüstling, Frauenschänder, fromm war! Dennoch war das die einzige Erklärung, die dem erschöpften Apolon einfiel, während er sich die Wunde am Arm verband und die Blutkam mer verließ. Der Dieb war wohl - so unwahrscheinlich es auch klingen mochte ein guter Mann gewesen und hatte fest an seine Göttin geglaubt. Ein Heiliger war er nicht gerade, denn dann hätte er Hilfe aus der Anderen Welt verdient - aber er war immerhin so lauter, daß Apolon ohne seine vielen Kraftreserven niemals in der Lage gewesen wäre, ihn zu besiegen. Die Kräfte des Magiers schwanden rasch, und er mußte sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Auf schnellstem Wege begab er sich in sein neues Schlafgemach, das mit allem ihm zur Verfügung stehenden Zauber gut abgeschirmt war. In dieser Nacht — oder besser: an diesem Morgen — würde er diesen Schutz brauchen. Er war völlig am Ende seiner Kraft und nicht mehr in der Lage, einen Angriff außerhalb dieses geschützten Raumes abzuwehren. Zufällig hatte er einen Raum gewählt, der ganz in der Nähe lag; es gelang ihm, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die letzten Tropfen des Heiltranks ihre Wirkung verloren. Er fiel der Länge nach auf sein Bett, ohne sich vorher auszuziehen, und sein Bewußtsein schwand mit der Wirkung der Rauschmittel. Die vier Marionetten, die sich noch in der Blutkammer aufhielten, hatten keine Befehle erhalten, als ihr Herr und Meister den Raum fluchtartig verließ. Drei von ihnen machten sich darüber keine Gedanken, denn ihr Geist war getrübt von dem Zauber. Ihr Herr hatte sie auch zuvor schon des öfteren ohne Befehl stehenlassen und würde es gewiß wieder tun. In diesem Fall hieß es, auszuharren, wo man war, bis er zurückkam. Die vierte Marionette hatte noch keine Befehle erhalten. Sie wußte nicht, ob sie nun stehenbleiben oder etwas anderes tun sollte. Man hatte ihr nicht einmal mitgeteilt, wem sie nun eigentlich zu gehorchen hatte. Also würde sie der Person gehorchen, der sie sich zuletzt verpflichtet hatte. Sie erhob sich vom Boden und blieb unschlüssig in der Mitte des Raumes stehen. Hätte sie in diesem Augenblick jemand beobachten 369
können, dann hätte er gesehen, daß die Marionette angestrengt nachdachte und durch einen Nebel von Zauber und Zwang zu begreifen versuchte, was mit ihr geschehen war. Da war doch etwas, was sie tun sollte. Sie ging versuchsweise einen Schritt auf die Tür zu und hatte das dumpfe Gefühl, daß sie das Richtige tat. Sie tat einen zweiten, einen dritten Schritt und folgte dem Drang, aus der Tür und durch den Korridor zu gehen. Man hatte der Marionette die Tracht eines Schwarzmantels angezogen, ehe man sie in die Blutkammer des Grauen Magiers gebracht hatte; daher schenkten ihr weder die menschlichen Diener noch die anderen Marionetten besondere Aufmerksamkeit. Wenn sie unterwegs war, geschah es auf Befehl des Meisters. So war es immer gewesen; es gab keinen Grund, das Gegenteil zu vermuten. Sie mußte doch etwas — Mußte was? Die Marionette versuchte krampfhaft herauszufinden, was es war, das sie unbedingt tun mußte, während sie das Haus des Keilers verließ und im schwachen, grauen Licht eines bewölkten Tages die Treppe hinabschritt. Was mußte sie tun? Es gab jemanden, den sie warnen sollte! Wieder das Gefühl, daß es das Richtige war. Eine Weile blieb die Marionette auf der Treppe am Haus des Keilers stehen und wandte sich dann, einem unbestimmten Gefühl folgend, nach Süden. Das schien die richtige Richtung zu sein. Wer auch immer zu warnen war, mußte in dieser Richtung zu finden sein. Sie setzte sich in Bewegung. Sie würde spüren, wen sie zu warnen hatte, wenn sie dorthin kam. Sie würde wissen, wenn sie am richtigen Ort angekommen war, wenn sich dieser Ort richtig anfühlte. Die Marionette stellte fest, daß viele Wesen dieselbe Kleidung trugen, die man auch ihr angezogen hatte. Sie gingen alle in eine Richtung. Da ihr ein anderer Anhaltspunkt fehlte, folgte sie ihnen. Schließlich, als es heller wurde, kam sie an ein großes Gebäude. Tempel, gab ihr die Erinnerung ein. Und dieses Gebäude hatte etwas, das die Marionette veranlaßte, es zu betreten. Schlecht. Sie spürte einen Schmerz, schwach und kaum merklich, der aber über einen rein körperlichen Schmerz hinausging und tiefer einschnitt als jedes Messer. Der Schmerz würde aufhören, wenn sie in den Tempel ging. Aber als die Marionette es versuchte, war sie nicht einmal in der Lage, die Stufen der Treppe hinaufzusteigen. Sie war wie festgenagelt; sie
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wollte vorwärtskommen, doch es gelang ihr nicht. Der Schmerz wurde heftiger, als sie versuchte, sich zu regen, und sie wußte, daß ihr etwas Wichtiges vorenthalten wurde, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, was es war. Enttäuscht wandte sie sich ab — und in diesem Augenblick sah sie eine Reihe von Menschen aus dem Tempel treten, die anders angezogen waren als die Marionetten. Und unter ihnen war eine Person, die die Marionette kannte. Neben ihr ging jemand, den sie nicht kannte. Ungeachtet dieser zweiten wußte die Marionette, daß die erste Person wichtig war. Das war es. Die erste war es, zu der sie wollte! Mit raschen, ungelenken Schritten trat die Marionette auf sie zu.
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54. Lydana Langsam erwachte Mathilde aus einem Tiefschlaf, der völliger Erschöpfung folgt. Sie fühlte sich ausgelaugt. Blinzelnd schaute sie in das Dämmerlicht und hatte das verwirrende Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Dann kehrte blitzartig die Erinnerung zurück. Sie drehte den Kopf auf einer sehr klumpigen Unterlage zur Seite und erblickte neben sich ihren kleinen Gefährten, der ihr wie die Geduld selbst erschien. Er lächelte, als sein Blick dem Mathildes begegnete. »Hunger?« Das war das Stichwort, welches sogleich ein Knurren in ihrem Magen auslöste. »Ja!« Sie versuchte noch nicht, sich aufzurichten, aber auch in ihrer jetzigen Haltung konnte sie die andere Bettstatt sehen, auf der Saxon gelegen hatte. Sie war leer. Allmählich wurde ihr bewußt, daß in dem schlecht ausgeleuchteten Speicher ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr, kaum lauter als ein Wispern. Der Aal war ebenso rasch wieder bei ihr, wie er verschwunden war, und ließ sich im Schneidersitz neben ihr nieder. Er hielt einen angeschlagenen Teller in der einen Hand und einen beschädigten Becher in der anderen. Mathilde rümpfte die Nase, als ihr starker Fischgeruch entgegenschlug. Ihr kleiner Gefährt grinste. »Es ist auch noch ein Stück Brot da - das habe ich für Euch aufgehoben. Aber wir ernähren uns jetzt hauptsächlich von Fisch.« Schließlich setzte sich Mathilde auf und nahm den Teller. Besteck war nicht vorhanden. Hier ist man wahrscheinlich gewohnt, mit den Fingern zu essen, dachte sie, stocherte im Fisch herum, schuppte ihn teilweise ab und löffelte die Stücke mit einem harten, kreisrunden Gegenstand auf, den sie als Schiffszwieback erkannte. Hastig nahm sie einen Schluck aus dem Becher, um alles hinunterzuspülen. Das Getränk schmeckte bitter und war ihr unbekannt. »Und der Kapitän?« »Mit seinen besten Leuten unterwegs. Er und Jonas haben ziemlich 372
lange die Köpfe zusammengesteckt, und seitdem geht es hier zu wie im Taubenschlag. Bis jetzt sind wir hier noch unentdeckt, aber ...« Hörte sie da einen Anflug von Zweifel heraus? »Was ist inzwischen in der Stadt geschehen?« Gewiß hatte Saxons Flucht einige Töpfe zum Sieden gebracht. »Nun ja«, der Aal rutschte hin und her, als wollte er sich bequemer hinsetzen. »Der Sturm hat ordentlich gewütet - wie damals, als ein ähnlicher über den Tempelvorplatz fegte. Mindestens zwei Tage lang hat er die Straßen von Suchtrupps freigehalten.« »Zwei Tage! Wie lange sind wir schon hier?« »Insgesamt etwa sechs Tage, vielleicht auch länger - man kann die Zeit so schlecht abschätzen, wenn kein Tageslicht eindringt. In den ersten beiden Tagen wart Ihr vor allem mit dem Kapitän beschäftigt.« Mindestens sechs Tage! So lange war sie handlungsunfähig gewesen es hätte ein Unglück geschehen können ... »Ihr könnt nicht alles verhindern.« Erneut schien der Aal ihre Gedanken erraten zu haben. »Die Schwarzmäntel sind wieder unterwegs, außerdem ein paar Soldaten — obwohl sie offenbar nicht gerade gut zusammenarbeiten. Was den jungen Prinzen betrifft — man hat fast den Eindruck, daß er es gut mit der Stadt meint, denn seine Soldaten verhalten sich tadellos. Seine Männer haben versucht zu helfen, wo sie nur konnten. Obwohl derartige Hilfe immer gewisse Gefahren in sich birgt.« »Apolon - Catal -« »Der Magier hat seine Schwarzmäntel um den Tempel herum zusammengezogen, unternimmt jedoch noch nichts. Der General ist nach neuesten Meldungen wieder ins Lager zurückgekehrt, wahrscheinlich, um Balthasar Bericht zu erstatten. Er hat kein sichtbares Interesse an den Ereignissen in der Stadt bekundet.« An der Rückwand des Speichers entstand eine gewisse Unruhe, als zwei Männer eintraten, dicht gefolgt von einem Trupp ihrer Räuberbande. Saxon trug leichte Rüstung, wie sie die Seeleute bevorzugen, und über Jonas' breiter Brust spannte sich eine verbeulte Brustplatte. Ein Topfhelm bedeckte seinen kahlen Schädel mehr schlecht als recht. Nach einem kurzen Blick auf Mathilde ließ Saxon seine Kameraden stehen und trat auf sie zu. »Wie geht es Euch, Herrin?« Sie blickte zu ihm auf. Die Narben, die die grausamen Schläge auf seinem Gesicht hinterlassen hatten, waren inzwischen fast verheilt. 373
»Dasselbe könnte ich Euch fragen!« entgegnete sie. Seine Bewegungen waren geschmeidig; er wirkte lebhaft und voller Tatendrang, als hätte er nie vom Fieber zernagt und von Schmerzen gepeinigt ihrer Pflege bedurft. »Gut.« Er streckte ihr eine Hand entgegen, die sie ohne Zögern ergriff, half ihr auf die Beine und ging mit ihr zu dem Tisch, an dem die meisten Plätze bereits besetzt waren. Er führte sie zu einer Bank, auf der neben Jonas noch genügend Platz für sie beide war. Jonas fingerte bereits an seinen Notizkordeln herum. »Mindestens zwanzig weitere sind eingesperrt worden, bevor der Sturm losbrach. Dabei haben sie ein paar von den Schwarzen Krähen verloren - was ja nicht schlecht ist«, sagte er mit dröhnender Stimme. »So wie's aussieht, haben sie inzwischen mindestens drei große Frachter beladen. Klar, die meisten Schiffe der Flotte wurden zerstört, aber von den Fischern an der Küste haben wir erfahren, daß sich eine Flotte auf den Weg hierher befindet.« »Balthasars Flotte«, stellte Saxon nüchtern fest. Dann sagte er rasch zu Mathilde: »Sie haben Männer aus der Stadt geholt und auf unsere größten und stabilsten Schiffe gepackt — zu welchem Zweck, wissen wir noch nicht. Vielleicht soll die kaiserliche Flotte sie fortbringen ...« »Es sind nicht so viele echte Soldaten dabei«, mischte sich Jonas ein. »Die meisten sind schwarze Krähen, und ein paar Söldner Catals sind auch darunter. Über ihn geht ein neues Gerücht um - ich dachte, Ihr erfahrt es am besten von einem, der es wissen muß, Kapitän.« Er wandte den Kopf ein wenig zur Seite. »Bringt ihn her, Jungs!« Vier Wasserratten führten in ihrer Mitte einen Gefangenen vor, den Mathilde erst genauer betrachten konnte, als man ihn in den Lichtkreis zweier Laternen an ihrem Tischende gestoßen hatte. Er sah beinahe ebenso mitgenommen aus wie Saxon bei seiner Befreiung, aber er hielt sich, wenn auch schwankend, auf den Beinen. Helm, Rüstung und Waffen hatte man ihm abgenommen. An der Schulter, die aus seinem ledernen Wams hervorschaute, war das Ende einer blutigen Wunde zu sehen. Er starrte die Menschen am Tisch an. In seinen Augen lag Hoffnungslosigkeit. Ein Schreck durchfuhr Mathilde, als sie erkannte, daß er fast noch ein Kind war! Und doch war er allem Anschein nach ein Söldner. »Den hier haben wir geschnappt, als er in einem Ruderboot flußaufwärts fuhr«, sagte ein Mann, der anstelle einer Hand einen Haken hatte. Mathilde erinnerte sich dunkel an ihn. Er sprach wie ein Bandenführer, der Bericht erstattet. »Er behauptet, er sei kein Mann Balthasars mehr.« 374
Das Gesicht des jungen Mannes überzog sich mit zartem Rot, als Saxon ihn musterte. »Was hat diesen Sinneswandel verursacht?« fragte Saxon. »Er — er hat Quin halbtot gepeitscht! Potton hat den Adler des Kaisers für Tapferkeit erhalten - er — er hat ihm die Augen aus dem Kopf gerissen und mehr ...« Er biß sich auf die Unterlippe, bis Blut herausquoll. »Ich ...« Die Röte auf seinem Gesicht war einer grünlichen Blässe gewichen. Plötzlich würgte er, und seine Häscher konnten ihn gerade noch rechtzeitig vom Tisch wegziehen. »Gebt ihm was zu trinken«, befahl Saxon. Der Söldner zitterte. Seine Häscher traten von ihm zurück. Mathilde hatte schon viele Männer in höchster Not erlebt, diese Übelkeit aber hatte ihren Ursprung in höchster Verzweiflung und blankem Entsetzen. »Wer hat das getan?« fragte Saxon ruhig, nachdem man dem Jungen, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, eine Flasche an den Mund gesetzt hatte, so daß er ein paar Schlucke trinken konnte. Ganz offensichtlich rang er um seine Fassung. »Der General - Catal. Er — er ist verrückt geworden. Er pickt sich einen Mann ohne ersichtlichen Grund raus und überläßt ihn seinen Lieblingsfolterern.« »Und der Kaiser erlaubt das?« fuhr Saxon in unverändert ruhigem Ton fort. »Der - der weiß nichts davon - oder es ist ihm egal«, brach es aus dem Gefangenen heraus. »Diese sonderbaren Schwarzmäntel scharen sich neuerdings um ihn - sie und der Magier! Aber Catal - er quält unschuldige Männer ohne Grund — als ob er übergeschnappt wäre!« »Und da es deinen Kameraden so erging, bist du abgehauen?« Saxon nickte. »Nun, ich glaube, daraus kann dir keiner einen Vorwurf machen. Aber Catal hält sich im Lager auf?« »Bis jetzt noch, ja. Da ist noch Balthasars Garde - sie nehmen keine Befehle von ihm entgegen — aber die schwarzen Krähen halten sie von Balthasar fern. Der Prinz wiederum ist ein anständiger Soldat, er behandelt seine Männer immer gut — er hat sich für sie eingesetzt. Aber sie sagen alle«, mit einem Mal wurde der junge Söldner gesprächig, und Mathilde fragte sich, ob er wohl seinen Häschern damit gefallen wollte oder ob das Bedürfnis zu reden seinem Haß auf den General entsprang. »Es heißt, daß Balthasar den Prinzen weggeschickt und sein Kommando übernommen hat. Obwohl keiner so recht weiß, warum — es sei denn, da hat der Magier wieder mal seine Hände im Spiel.« 375
»Nun sag mir noch eines, wenn du es weißt, Krieger — was hat der Kaiser mit den Männern vor, die er aus unserer Stadt herausholt und als Gefangene auf die Schiffe im Hafen bringen läßt?« Saxon beugte sich ein wenig vor, um dem anderen fest in die Augen zu sehen. Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Man hat uns nichts davon gesagt, Herr. Das ist wieder so ein Werk der Schwarzmäntel.« Ihn durchlief ein Schauer, als wäre er plötzlich eiskalter Winterluft ausgesetzt. »Dieser - Apolon — der hat seine eigenen Diener und seine Männer — wir haben mit ihnen nichts gemein, und auch er versucht nie, uns Befehle zu erteilen. Es ist - es ist, als wären sie völlig anders als wir. Kommt man in ihr Lager, sieht man niemanden abends ums Lagerfeuer sitzen und sich was erzählen. Sie trinken nicht einmal, wenn nach einer Schlacht der Siegestrunk herumgereicht wird - es ist, als wären sie eigentlich gar keine richtigen Menschen.« Lebende Leichen, dachte Mathilde. »Und die kümmern sich um diese Gefangenen?« »Soweit ich weiß, ja, Herr.« »Herrin«, Saxon wandte sich an Mathilde, »Ihr tragt etwas bei Euch, mit dessen Hilfe wir feststellen können, ob der Mann die Wahrheit sagt oder nicht.« Sie hob eine Hand an die Brust, und unter den Fingern wurden die verborgenen Steine warm. Aber sie hatte nie daran gedacht, sie zu diesem Zwecke zu benutzen - wie kam Saxon auf diesen Gedanken? Trotzdem wußte sie im selben Augenblick, daß er der Kraft des Rubins zu Recht vertraute. Sie zog die Brosche hervor und legte sie auf die Handfläche, genau auf das Zeichen des Herzens, das sie zu einem Dienst verpflichtete, welchen sie nicht einmal andeutungsweise begriff. »Schwört Ihr beim Herzen?« fragte sie und hielt die Steine in die Höhe. Jonas und Saxon lehnten sich zurück, so daß sich niemand zwischen Mathilde und dem Söldner befand. Er schaute nicht einmal auf den Gegenstand, den sie in der Hand hielt, sondern hatte den Blick fest auf Mathilde gerichtet. Dann antwortete er mit sehr leiser Stimme: »Herrin, ich weiß nicht, wer ihr seid, aber - aber Ihr habt etwas an Euch, dem man nicht widerstehen kann. Ihr sucht die Wahrheit, ich sage sie. Ja, ich schwöre, daß das, was ich gesagt habe, wahr ist, soweit ich weiß.« Auf Saxons Befehl hin nahmen sie ihm die Fesseln ab und schickten ihn auf eine Pritsche in einer Ecke des Speichers, während sie über die Dinge sprachen, die er ihnen mitgeteilt hatte. 376
»Catal war immer schon ein blutrünstiger Mann, und es gefällt ihm, Angst und Schrecken zu verbreiten«, sagte Mathilde. Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, und sie empfand heftige Schuldgefühle. Nach allem, was man in Merina über die vergangenen Kriege erfahren hatte, war Catal ein Ungeheuer, nun aber besaß er jenen unheilbringenden Edelstein, vor dessen finsterer Vergangenheit jeder normale Mensch zurückschreckte. Verrichtete dieser Stein sein Werk und verwandelte Catals angeborene Grausamkeit in noch Schlimmeres? Wenn ja, dann mußte sie die Last tragen. Sie schloß die Hand fest um die Brosche. Wenn ich an dieser Stelle gesündigt habe, sie sprach es nicht laut aus, aber ihre Gedanken waren klar und deutlich, dann laß mich die Sünde tragen, wende sie nicht gegen andere, die keine Schuld auf sich geladen haben. Sie erwartete beinahe, daß der Rubin in ihrer Hand brennen, ihr vielleicht sogar die Handfläche versengen würde, doch nichts dergleichen geschah. Sie spürte nur tröstende Wärme, einen Energieschub, ein Gefühl, daß ihre Tat dem Walten der Vorsehung entsprach. »Brechen wir nun zu den Schiffen mit den Gefangenen auf«, sagte Saxon gerade, und sie vernahm ringsum zustimmendes Gemurmel.
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55. Leopold Bis heute habe ich meinen Vater für einen Mann von Ehre gehalten, doch alles war eine Lüge. Das war der eine Gedanke, der Leopolds Welt in den Grundfesten erschütterte. Mag sein, daß er nichts über Apolon weiß, aber er hat bewußt vor jeglichem Verdacht die Augen verschlossen. Catals Umtriebe indes sind ihm bekannt — und er duldet sie. Er richtet sein Leben nach Zweckdienlichkeiten ein. Ehre und Wahrheit sind für ihn nur noch leere Worthülsen. Er war gerade mit Schelyra die Treppe zum Tempelvorplatz hinabgestiegen, als mit einem Male alle seine Sinne trotz seiner Benommenheit und Verwirrung zu erhöhter Wachsamkeit rieten. Im Nu war er hellwach; das Soldatenleben hatte ihn mit einem sicheren Gespür für Gefahr ausgestattet. Eine Bewußtseinskrise konnte warten, bis er in Sicherheit war und Zeit dafür hatte. Unauffällig spähte er über den Tempelvorplatz. Nachdem er seine Umgebung gemustert hatte, begriff er sogleich, was ihn hatte aufschrecken lassen. Der Tempel war weiträumig von Apolons Schwarzmänteln umzingelt. Als er mit Schelyra hierher gekommen war, war von ihnen noch keine Spur zu sehen gewesen. Sie hatten sich offenbar während der Messe hier versammelt. Einige hielten sich verborgen und lauerten hinter Ecken oder Fenstern; andere zeigten sich offen und ohne Scheu, als wollten sie die Obrigkeit im Tempel herausfordern. Ein Schwarzmantel stakste mit merkwürdig steifen, unbeholfenen Schritten auf sie zu. Es hatte den Anschein, als stünde er unter dem Einfluß von Rauschmitteln oder als hätte er so lange an einer Stelle gesessen, daß ihm die Beine eingeschlafen waren. Noch etwas war sonderbar an diesem Mann. Vielleicht hatte die eigene Berührung mit dem Tod den Prinzen besonders empfänglich für diese Dinge gemacht, denn als er den Schwarzmantel betrachtete, fiel ihm etwas Merkwürdiges an ihm auf. Ein Schatten schien über dem Mann zu liegen, ein dunkles, netzartiges Miasma, das ihn verhüllte und sein Gesicht verdunkelte. Der Prinz schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen, aber die Dunkelheit blieb, und mehr noch, bei ihrem Anblick wurde ihm übel. Und 378
als er sich umwandte, um die anderen Schwarzmäntel zu betrachten, stellte er erstaunt fest, daß diese schattengleiche Dunkelheit über ihnen allen lag. Die Einwohner der Stadt hingegen und auch die Söldner, von denen hin und wieder einer auftauchte, waren nicht von Dunkelheit umhüllt. Noch ehe er etwas sagen konnte, trat Schelyra mit schreckgeweiteten Augen einen Schritt auf den Schwarzmantel zu. »Thom?« flüsterte sie. »Was ist geschehen? Mit dir stimmt etwas nicht! Warum bist du ...« Der Mann mochte gut ausgesehen haben, bevor sich der Schatten über ihn legte: blond und jungenhaft, unschuldig und hübsch wie ein Märchenheld. Nun versuchte er, etwas zu erwidern, sein Mund verzog sich, auf dem Gesicht malte sich eine Anstrengung ab, als kämpfte er gegen einen inneren Zwang. Und Leopold sah, daß das Schattengewebe über ihm in Bewegung geriet und versuchte, sein Gesicht, vor allem aber den Mund weiter zu bedecken. Schließlich, nach einem endlos scheinenden, quälenden Augenblick des Kampfes, brachte der Schwarzmantel drei Worte als Antwort auf Schelyras Fragen zustande: »Warne -«, keuchte er heiser. »Warne Euch -.« »Mich warnen?« fragte Schelyra und schüttelte verblüfft den Kopf. Leopold wußte nicht, was er mit ihr anstellen sollte — war er denn der einzige, der diese finsteren Schatten sah? Oder waren die Schatten nur Einbildung? Wenn ja - warum überkam ihn dann aber eine derart übermächtige Furcht, wenn er sie sah? Je länger er hinschaute, um so kälter wurde ihm ums Herz, und doch schien Schelyra nichts zu sehen und zu spüren. »Mich warnen, wovor? Vor wem?« Der Schwarzmantel trat noch zwei Schritte auf sie zu, blieb stehen, schwankte, verzog das Gesicht, als er versuchte, sich gegen einen Zwang zu wehren, der ihn offensichtlich fest im Griff hielt. »Warnen —«, sagte er noch einmal, und die Dunkelheit zog sich zusammen und legte sich über seinen Kopf und seine Schultern, so daß er nach Luft ringen mußte. »Apolon -« Welche entsetzliche, böse Macht konnte so etwas tun? Wie gelang es Apolon, eine solche Macht über einen Menschen zu erlangen? Blitzartig begriff der Prinz, was geschehen war, und ihm wurde speiübel. Leopold packte Schelyra beim Arm und zog sie nah zu sich heran, so daß er ihr direkt ins Ohr flüstern konnte. »Er ist einer von denen!« zischte er drängend. »Versteht Ihr nicht? Schaut ihn Euch doch an! Er atmet kaum! Faßt ihn an seine Haut wird so kalt sein wie das Wasser im Kanal! Was immer er auch 379
war, als Ihr ihn zuletzt gesehen habt, jetzt ist er tot! Apolon hat ihn getötet, davor will er Euch warnen!« Schelyra wirbelte herum und starrte zunächst Leopold, dann den Schwarzmantel an. Sie wurde kreidebleich. Die Lippen zuckten, und sie hielt sich eine Hand vor den Mund, als wolle sie plötzliche Übelkeit unterdrücken. »O Göttin«, flüsterte sie hinter der Hand, »nein.« Leopold nickte mit finsterem Blick; er versuchte gar nicht erst, ihr den Schatten, den er auf dem Gesicht des Schwarzmantels sah, zu beschreiben. »Spricht er wie der Mann, den Ihr kennt?« fragte er. »Sieht er normal aus und verhält er sich normal? Wie lange habt Ihr ihn nicht gesehen?« »Lange genug«, sagte sie dumpf und streckte eine Hand aus, um den Handrücken des Mannes zu berühren. Die ruckartige, hastige Bewegung, mit der sie die Hand zurückzog, zeigte Leopold, daß er richtig vermutet hatte; der Mann war kalt wie ein Fisch. Er war eine lebende Leiche, ein nekromantischer Sklave des Totenbeschwörers Apolon. Wie es ihm gelungen war, sich soweit zu befreien, daß er sie warnen konnte, war Leopold ein Rätsel, auf das er wahrscheinlich nie eine Antwort erhalten würde. Wichtig war, daß er sie gewarnt hatte und daß er zu Schelyra gekommen war. Sie schüttelte wie betäubt den Kopf. »Was sollen wir tun?« fragte sie mit verstörter Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. Sie hatte sich an Leopold gewandt, der ihr auch nicht weiterhelfen konnte. Er war kein Magier; woher sollte er wissen, was zu tun war? Ihr Flüstern war immerhin so laut gewesen, daß — das Wesen — ihre Worte vernommen hatte und auf das Gehörte reagierte. Der Schwarzmantel verzog erneut das Gesicht, und seine Verzweiflung war ihm deutlich anzusehen. Mit einer ungelenken, flehentlichen Geste streckte er eine Hand aus. »Befreit mich«, keuchte er, und eine einzelne Träne rollte ihm langsam über die Wange. Das war Hinweis genug für Leopold. Das Wesen mochte zwar die Marionette eines Totenbeschwörers sein, doch saß in ihm noch immer eine menschliche Seele; er spürte es in seinem Herzen, ohne zu wissen, weshalb. »Dich befreien?« fragte Schelyra die Kreatur. »Thom, was meinst du damit? Wie können wir dich befreien?« Hoffnung erhellte ihr Gesicht. »Bist du — ist das nur ein Zauber, bist du irgendwie verzaubert? Wenn wir dich befreien, wirst du dann wieder zu deinem alten Selbst?« Leopold versuchte gar nicht erst, ihr zu erklären, was der Schwarz 380
mantel seiner Ansicht nach meinte; Erklärungen mußten warten, bis sie nicht mehr von zwanzig oder dreißig weiteren Schwarzmänteln beobachtet würden. Er will, daß wir seine Seele aus seinem Körper befreien, daß wir ihn von seiner Bindung an Apolon erlösen. Es gibt nur wenige Menschen, von denen ich weiß, daß sie dazu in der Lage wären, und diese Menschen sind alle in dem Gebäude hinter uns! »Wir müssen ihn in den Tempel bringen«, sagte er in seinem schärfsten Befehlston; das Entsetzen wich aus Schelyras Antlitz, und sie nickte. »Nehmt Ihr ihn an diesem Arm, ich nehme den anderen«, sagte sie. »Ich weiß, wie wir hineinkommen.« Er packte den rechten Arm des Wesens, Schelyra den linken, als wären sie die besten Freunde. Sie schleiften ihn mit sich, und Schelyra redete auf das Wesen ein, als wären sie in eine Unterhaltung vertieft. »Tut so, als hätten wir in ihm gerade einen lange vermißten Verwandten erkannt«, raunte sie Leopold zu, bevor sie erneut losplapperte. »Ich muß ihn in Richtung Palast führen.« Er nickte und vertraute sich ihrer Führung an. Sie wußte, wohin sie ging — wahrscheinlich wieder in einen ihrer Geheimgänge. Das war gut so, denn der Prinz war sicher, daß nicht alle Schwarzmäntel Apolons Marionetten waren, und je eher sie außer Sichtweite gelangten, um so weniger wahrscheinlich wäre es, daß einer seiner menschlichen Diener sich Gedanken darüber machen konnte, wieso ein Schwarzmantel in Merina zwei Freunde hatte. Das zumindest hoffte er. Und im Augenblick war das auch das einzige, was sie alle tun konnten. Hoffen - hoffen auf den Segen des Herzens.
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56. Lydana Mathilde schien es, als hätten sie die vergangenen Tage nur mit Planen verbracht. Eine plötzlich in ihr aufsteigende Erinnerung veranlaßte sie, die anderen, die sich zu einer Beratung zusammengesetzt hatten, zu unterbrechen: »Diese Schwarzmäntel tragen eine schlagkräftige Waffe bei sich.« Rasch schilderte sie ihre Begegnung mit dem Mann, der jenen Stab auf sie gerichtet hatte — was ihm leider zum Verhängnis geworden war. Saxon rieb sich das Kinn. »Ein Stab, der Energie ausspuckt«, überlegte er laut. »Und trotzdem konnte er Euch nicht verletzen. Womit habt Ihr Euch verteidigt?« Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Mit einem Gegenstand, den allein ich bei mir trage, fürchte ich.« Sie zog die Brosche hervor und hielt sie ins Licht, damit alle sie sehen konnten. »Das hier«, sagte sie und hielt die eine Seite nach oben, »ist das Siegel von Merina — was wir ausgeliefert haben, war ein anderer Stein.« Doch sie war nicht bereit, Einzelheiten über ihre Sammlung, von unheilbringenden Steinen preiszugeben. »Und hier —«, sie drehte die Brosche um, und ein rötlicher Schimmer schien nach oben zu steigen. »Ihr habt gehört, was im Tempel geschehen ist, als die Ehrwürdige aufgebahrt dort lag. Das Herz hat geweint — diese Träne fiel mir zu, ohne daß ich mich darum bemüht hätte.« Als Saxon und Jonas sich vorbeugten, legte sich der rötliche Schim mer des Steines auf ihre Gesichter. »Das hier«, begann Saxon langsam, »das habt Ihr verwendet, um mich zu heilen, nicht wahr?« Mathilde nickte. »Es ist ein Energiequell, und ich habe keine Ahnung, wie groß seine Reichweite ist.« Er dachte kurz nach. »Verbindet er Euch mit dem Tempel?« Wie um Saxons Frage zu beantworten, leuchtete der Rubin noch stärker auf. Natürlich wußte Mathilde, worauf Saxon hinauswollte: Der Stein war ein Stück des Herzens. Obwohl er von ihm abgesprungen war, mochte immer noch eine Verbindung besonderer Art zum Herzen bestehen, aber sie war sich nicht sicher. 382
»Ich kann es versuchen.« Sie nahm die Brosche wieder in die Höhlung ihrer Handfläche. Sie zögerte ein wenig, diesen Versuch zu wagen. »Aber die Ehrwürdige ist nicht tot«, bemerkte Jonas plötzlich, die Notizkordeln in seinen fleischigen Händen drehend und wendend. Dann streckte er einen Finger aus, tippte ihn in eine Bierlache und zeichnete, kaum erkennbar, ein Symbol vor Mathilde auf die Tischplatte. Vielleicht hatte er es bereits gewußt — aber sie war sicher, daß sie diesem Mann ebenso vertrauen konnte wie Saxon. »Ja«, sagte sie fest, wenn auch so leise, daß die übrigen es nicht hören konnten. Und dabei pochte sie mit dem Fingernagel gegen das Siegel an der Brosche. Er lächelte sie an. »Es heißt, daß der Tiger — oder die Tigerin - dort herrscht, wo er - oder sie — umherstreift. Ich sage, daß Merina nicht ohne Beschützer ist. Was sollen wir für Euch tun, Herrin?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Feldherr; was ich zum Kampf beitragen kann, werde ich tun. Doch versteht mich nicht falsch - mit einem Apolon haben wir nicht gerechnet. Und die Planung überlasse ich meinem Kapitän — und Euch und Euren Gefolgsleuten.« Deshalb saß sie schweigend dabei, während die anderen Pläne schmiedeten. Allmählich hatte sie das Gefühl, daß es auch in dieser nahezu ausweglosen Lage noch Männer gab, die eine Niederlage in einen Sieg verwandeln konnten. Erst als es um die Verteilung der einzelnen Aufgaben ging, ergriff sie wieder das Wort. »Dabei habe ich auch meinen Platz«, sie wies auf die Brosche, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, »oder wollt ihr das leugnen?« »Ihr wißt genau«, murmelte Saxon zwischen zusammengebissenen Zähnen, »welche Beute Ihr für Apolon wärt. Wollen wir dem Feind Schätze zu Füßen werfen und ihn auch noch bitten, sie zu nehmen?« Mathilde lachte. »Mein lieber Kapitän, jahrelang sind Gegenstände, die Männer für Schätze halten, durch meine Hände gegangen. Ich habe ihre Schönheit bewundert, der Wert war mir gleichgültig. Nun, schön bin ich nicht, aber vielleicht wertvoller für Euch als Ihr denkt. Jonas«, und damit wandte sie sich an den Wirt, »gibt es in diesem Haus einen Ort, an dem ich eine Zeitlang allein sein kann?« Sie nahm die Brosche wieder an sich und verbarg sie in ihrem Versteck. »Das Arbeitszimmer des Prüfers«, antwortete er. »Da herrscht allerdings ein ziemliches Durcheinander. Besonders gemütlich ist es wohl nicht, aber es steht Euch zur Verfügung.« 383
»Zeigt mir, wo es ist.« Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie hatte das Gefühl, als würde sie bald schon gebraucht und müsse sich für diesen Fall bereithalten. »Aal«, forderte sie die zierliche Gestalt neben sich auf. »Was habt Ihr vor?« fragte Saxon besorgt. Erneut fühlte sie ein Lachen in sich aufsteigen. »Kapitän, Ihr habt Eure Geheimnisse, laßt mir meine. Ich werde nichts tun, was mich aus dem sicheren Raum bei Jonas hinausführt, aber es dürfte für uns von Wert sein.« Stirnrunzelnd blickte er ihr nach, als sie Jonas über den weiträumigen Lagerspeicher folgte. Der Aal mußte laufen, um Schritt halten zu können. Das Arbeitszimmer war in der Tat ein muffiger, vollgestopfter Raum. Die hier verbliebenen Kisten und Fässer waren im Verlauf der vielen Jahre förmlich mit dem festen Boden verschmolzen. Mathilde wählte eine Kiste aus, schlug heftig dagegen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht unter ihr zusammenbrechen würde, und nahm Platz. Mit einer Handbewegung schickte sie Jonas hinaus. Die einzige Beleuchtung war eine Kerze, die der Aal mitgebracht hatte. Die Gabe - was war die Gabe? Niemand hatte sie in all den Jahren genau bezeichnet. Diejenigen, die sie nicht besaßen, betrachteten sie mit Ehrfurcht — diejenigen, die sie besaßen, sprachen nie darüber, wie sie davon Gebrauch machten. Sie hatte das Alter, in dem einer Frau die Gabe zuteil wurde, noch nicht erreicht, aber vielleicht würde ihr wie schon so oft auch diesmal Gnade zuteil. Sie schaute auf das in ihre Handfläche eingebrannte Herzzeichen - damit war sie für immer zum Dienst am Herzen verpflichtet. Sie nahm die Brosche in die Hand und schloß die Augen. In einen Trancezustand versetzte sie sich nicht, denn das lag jenseits ihres Könnens und ihrer Macht, doch entstand vor ihrem geistigen Auge ein genaues Bild von Adele - selbst der zuweilen geistesabwesende Blick ihrer Mutter fehlte nicht. Adele - ihre Augen weiteten sich plötzlich und schauten Mathilde an. Es war, als läge nicht eine ganze Stadt zwischen ihnen, sondern als säßen sie sich in diesem verlassenen Raum gegenüber. »Wir setzen uns in Bewegung«, sagte Mathilde im Geiste. »Wir, die wir auf dem Wasser zu Hause sind. Wir müssen uns beeilen.« Adeles starrer Blick drang noch stärker in sie ein. »Es wird bald ein Ende nehmen -«, die Worte schienen von sehr weit her zu kommen. Dann tauchte mit einemmal ein dunkler Schatten auf, 384
der sich wie eine runde Scheibe zwischen sie schob. Und hinter dieser Scheibe erschien ein gelbgrüner Wirbel, ekelhaft wie Schleim, der von verrottenden Pilzen abgesondert wird. Mathilde brach auf der Stelle die gedankliche Verbindung ab. Apolon - offenbar hatte er Wächter oder Späher aufgestellt, um ihre Verbindung zu vereiteln! »Herrin«, der Aal hatte sie gepackt und schüttelte sie heftig. Mathilde nickte. »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, wenn dieser Mann in der Lage ist, unsere Gedanken zu verfolgen. Aber ihn selbst habe ich nicht gesehen. Deshalb mag es sein, daß er nur einen Verdacht hegt.« Dennoch hatte sie genug erfahren, um zu Jonas und Saxon zurückzugehen und sie zu warnen. Doch sie waren verschwunden, und mit ihnen die meisten ihrer Gefährten. Mathilde war der Meinung gewesen, sie würden auf sie warten, und sie spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. War es das, was ihr bestimmt war - von dem eigentlichen Unternehmen ausgeschlossen zu werden? Als sie mit wütenden Schritten durch den Speicher ging, fiel ihr Blick auf jene Frau, mit der sie Saxons Pflege übernommen hatte - die Borkenhexe. Sie saß friedlich auf einem Hocker, den unvermeidlichen Korb neben sich, und schlürfte aus einer Schale, die sie in beiden Händen hielt. Einem inneren Antrieb folgend, gesellte sich Mathilde zu ihr. Die Augen, die hinter Runzeln fast verborgen waren, begegneten ihrem Blick. Sich die Lippen leckend, hielt die Borkenhexe dem Aal die Schale entgegen. »Hol mir noch eine ordentliche Portion davon, Kleiner. Es wärmt die alten Knochen, die bei der Kälte schmerzen.« Der Aal gehorchte wortlos, und die Borkenhexe winkte Mathilde auf einen zweiten Hocker. »Was beschäftigt Euch denn - Euch, die Ihr nicht seid, was Ihr zu sein scheint?« Die Frage klang ein wenig schnippisch. Mathilde betrachtete die Frau schweigend, ehe sie antwortete. Wieder einmal spürte sie, daß diesen vom Alter gebeugten Körper eine Aura von Energie umgab. Unwillkürlich hob sie die Hand und schlug das Segenszeichen des Herzens zwischen sich und der Frau. Die Frau lachte gackernd. »Sollte das eine angemessene Begrüßung der Alten durch die Junge sein, Herrin? Nun, Ihr habt das Recht dazu. Sie, die für Euch das Herz ist, erscheint mir in anderer Form — aber es ist Ein und Dieselbe — obwohl ich mich vor langer Zeit nur nach Der Einen richtete. Ihr habt Eure Sehergabe gebraucht — und etwas hat Euch Angst eingejagt -« 385
»Habt Ihr von Apolon gehört?« fragte Mathilde vorsichtig tastend. Sie faßte zunehmend Vertrauen zu der Borkenhexe. Die runzligen Lippen der Frau verzogen sich zu einer Grimasse. »Krankhafte Geister, die sich in Dinge vergraben, welche sie nicht einmal ansatzweise verstehen, wird es immer geben. Ja, von Apolon habe ich gehört und auch von Iktcar - die Finsternis hat ihre Söhne, so wie die Göttin des Lichts Ihre Töchter hat. Diese Welt wird nie im Gleichgewicht sein. Mal neigt sich die Waagschale zur einen Seite, mal zur anderen. Ihr wißt also Bescheid über Apolon - und was weiß er von Euch?« Mathilde entschloß sich, offen zu reden. »Das kann ich nicht genau sagen. Außer ...« Rasch berichtete sie von ihrem Versuch, Adele zu erreichen, und von der Barriere, die sich zwischen sie geschoben hatte. Die Borkenhexe nickte. Sie langte in ihren Korb und kramte darin herum, bis sie schließlich eine Handvoll dünner Stäbchen herausholte, die wie dürre Zweige aussahen. Sie waren mit einer silbernen Kordel zusammengehalten, welche sie rasch löste. Die Stäbchen waren etwa fingerlang und trugen die Patina hohen Alters und häufiger Benutzung. Die Borkenhexe drehte sie in den Händen, die runzligen Augenlider gesenkt. Lautlos bewegte sie die Lippen. Dann warf die Borkenhexe alle Stäbchen mit einer flinken Handbewegung zu Boden. Sie fielen nicht, wie Mathilde erwartet hatte, wahllos durcheinander, sondern bildeten ein bestimmtes Muster, und je länger sie hinschaute, um so deutlicher wurde es. Es ähnelte einem Ruderboot, in dem zwei Gestalten aufrecht standen. Von der Bootsform breiteten sich, nach vorn gerichteten Speeren gleich, fächerförmig drei dickere Zweige aus. Die Borkenhexe nickte. »So soll es sein. Ihr seid berufen — durch uralte Eide, die Euer Geschlecht vor langer Zeit geleistet hat. Männer kämpfen mit Schwert und Bogen - für jene, die in der Gunst der Göttin stehen, gibt es andere Möglichkeiten. Geht Euren Weg, wie Ihr es Euch vorgenommen habt. Zieht mit den Kämpfern. Ihr werdet etwas tun müssen, das mächtiger ist als jeder Schwerthieb, den der Große Kapitän führen kann.« Mathilde fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Macht zieht Macht an - die Schwarzmäntel sind bereits im Hafen ausgeschwärmt. Wenn ich eine Beschwörung vornehme —«, sie legte die Hand flach auf die Stelle, an der die Brosche saß, »kann Apolon die Spur aufnehmen — und mich finden —, und dann weiß er auch, wo Saxon und seine Männer sind.« 386
Die Borkenhexe gackerte. »Du lieber Himmel, was bringen sie Euch Jungen dieser Tage nur bei? Sind denn alle alten Weisheiten verschüttet? Fließendes Wasser - fließendes Wasser - Herrin - denkt an das fließende Wasser!« Mathilde dachte nach. Sie wußte zunächst nichts mit diesen Worten anzufangen. Dann fiel ihr etwas ein — bruchstückhaftes Wissen, das von den Weisen im Tempel großspurig abgetan worden war. »Das Böse kann nicht hinüber -«, begann sie. »Nehmt Eure fünf Sinne zusammen, wenn Ihr eine Retterin sein wollt«, lachte die Borkenhexe erneut. »Gebraucht, was Ihr habt, und trefft die von alters her bekannten Vorkehrungen. Und nun«, sagte sie und wandte sich wieder ihrem Korb zu, »laßt Euch von Eurem Jungen einen Krug heißes Wasser bringen — auf dem Kamin steht ein Kessel.« Mit dem Kopf deutete sie in die Ecke, in der auf einer Feuerstelle aus Ziegelsteinen Feuer brannte. »Und bring eine der Flaschen mit, die dort hängen.« Sie zeigte auf eine Reihe lederner Flaschen, die an Nägeln baumelten. »Spül sie zweimal aus, Kleiner, mit sehr heißem Wasser. Und dann bringst du einen Krug frisches Wasser mit.« Die Alte versank in Schweigen, während der Aal sich beeilte, ihren Auftrag auszuführen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit noch einmal von Mathilde ab und richtete den Blick nach innen. Dann kam der Aal mit einer feuchten Lederflasche und einem Krug dampfenden Wassers wieder. Die alte Frau nahm ihm die Flasche aus der Hand und roch daran. Sie schien zufrieden. Erneut förderte sie aus ihrem Korb etwas zutage, diesmal ein Päckchen, das einem kleinen Leinenbeutel ähnelte. Stöhnend, als beschwerten sich die alten Knochen, beugte sie sich darüber und schüttete eine Art Puder in den Wasserkrug. Sie hob ihn auf und vermischte den Inhalt mit kreisenden Bewegungen. Mathilde schnüffelte. Kräuter, dachte sie, aber eine Mischung, die sie noch nie zuvor gerochen hatte. Sie sog den Duft ein, als der Dampf aus dem Krug in ihre Richtung wehte. Es roch nach einem klaren Morgen auf dem Lande vor den Stadttoren - nach einem von Blumenduft geschwängerten Frühlingsmorgen. Vorsichtig füllte die Borkenhexe die Mischung in die Flasche. Ein Rest blieb noch im Krug, nachdem sie den Behälter zugekorkt hatte. Sie bot ihn Mathilde an. »Trinkt in großen Schlucken, Ihr und der Jüngling dort. Ihr werdet in den kommenden Stunden auf Schlaf verzichten müssen — damit Ihr 387
Eure Kräfte bewahrt für das, was Ihr tun werdet. Trinkt und seid versichert, daß Euch Kraft zuteil wird.« Mathilde trank, ohne zu zögern, sie wußte nur zu gut, daß sie hellwach sein mußte, um Saxons kleiner Truppe von Missetätern folgen zu können. Aber sie gab acht, daß die Hälfte des Trankes für den Aal übrigblieb. »Auf die Wohltätigkeit der Göttin«, sagte die Borkenhexe. »Eure mächtigen Denker im Tempel —jene, die der Göttin zuerst in den Hainen begegneten, könnten ihnen das eine oder andere beibringen.« Erneut lachte sie. »Gut«, sagte Mathilde langsam, »das glaube ich wohl, Ehrwürdige.« Sie zögerte nicht, der Frau, die in einem geflickten Kleid zusammengesunken vor ihr saß, diese Ehre zu erweisen. »Ehrwürdige — ha — in Eurem feinen Tempel würden sie mich wohl kaum so nennen. Nennt mich lieber bei dem Namen, den ich hier im Laufe der Zeit erhalten habe. Ich bin die Borkenhexe — und das kann mir niemand nehmen, denn die Göttin selbst hat mich erwählt.« Die alte Dreieinigkeit! Mathilde war verblüfft — Jungfrau, Frau, Hexe - Sie, die in Wahrheit drei Elemente in sich vereinte und einst für jede Erscheinungsform Ihre Diener hatte. Die Borkenhexe besaß das in einem langen Leben angesammelte Wissen, sie konnte heilen oder töten - aber nur, soweit es ihr von der Allmächtigen aufgetragen wurde. »Dank besteht nur aus Worten«, antwortete Mathilde, »aber Gefühle entstammen dem Herzen. Wenn die Göttin Euch auserwählt hat, mir den Weg zu weisen, werde ich ihm folgen — auch bis zum Großen Tor.« Die Borkenhexe grinste. »Ah, Ihr habt in der Tat einen starken Willen, aber vertraut nicht zu sehr auf Eure eigene Kraft. Ihr werdet einer Macht begegnen, die alles Licht und Leben auslöscht. Die Zukunft hat viele Gesichter - kann sein, daß jene, die behaupten, sie voraussagen zu können, sich zufällig auf eine Zukunft versteifen und sie für wahr halten. Ich sage Euch nur so viel, Königin, die Ihr wart und vielleicht wieder sein werdet: Euer Schicksal ist nun eng mit dem eines anderen Menschen verknüpft, und Ihr werdet vielleicht nie den Pfaden folgen, die der Tiger seit Urzeiten gegangen ist. Ihr werdet vielleicht neue Wege gehen obwohl niemand sagen kann, was daraus werden wird.« Sie zuckte die Achseln. »Ich werde es nehmen, wie es kommt. Denn ich weiß, daß ich nur ein Edelstein unter vielen in einer großen Fassung bin - vielleicht das letzte 388
Aufleuchten von allen.« Mathilde zögerte. »Ihr habt mir viel gegeben — womit kann ich es je wieder gutmachen?« Die Borkenhexe schaute ihr wieder direkt in die Augen. »Nur das, Königin Lydana: Vergeßt das Alte nicht, wenn das Neue kommt - in beidem steckt Tugend. Und nun brecht auf. Ein Kampf steht bevor, und Ihr sollt ebenso daran teilhaben wie die anderen.«
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57. Adele Schweigend saßen Elfrida und Fidelis im Meditationsraum und warteten auf Verit und Cosima, die sich ihnen nach der Mitternachtsmesse anschließen sollten. Elfrida wußte nicht, was Fidelis empfand, sie selbst jedoch fühlte Magengrimmen und mußte die Hände im Schoß falten, um ihr Zittern zu unterdrücken. Nach dem, was sie in der Nacht zuvor im Glas gesehen hatten, konnte keiner von ihnen auch nur den leisesten Zweifel daran hegen, daß Apolon ein Totenbeschwörer war - falls solche Zweifel überhaupt je bestanden hatten. Das Haus des Keilers ähnelte inzwischen einem Schlachthaus. Der Gedanke, das Glas noch einmal zu befragen, widerstrebte ihr zutiefst. »Wie viele mag er bisher getötet haben?« fragte sich Elfrida laut nicht etwa, weil sie wirklich eine Antwort hören wollte, sondern weil sie die angespannte Stille nicht länger ertrug. »Wer sollte sie zählen?« fragte Fidelis. Er wirkte recht gefaßt, und Elfrida fragte sich, wie ihm das gelang. Sie faltete die Hände. »Ich vermute, Apolon -«, sagte sie nachdenklich und zögerte noch, ihren Verdacht auszusprechen, aber sie wollte ihn auch nicht unerwähnt lassen. Vielleicht war sie die einzige, der es aufgefallen war. »Ich glaube, er arbeitet auf ein Ziel hin, von dem wir noch nichts wissen.« »Könnt Ihr Euch vorstellen, worum es ihm geht?« Mit diesen Worten huschte Cosima in den Raum, und kurz darauf folgte ihr Verit. Die beiden ließen sich sichtlich erschöpft auf die nächste Bank fallen. Ihre Mienen waren ebenso düster wie Elfridas Gemütszustand. »Nein«, Elfrida schüttelte den Kopf. »Ich wollte, ich hätte eine Vorstellung. Es ist nur so eine unbestimmte Ahnung; ich weiß nicht genug über Totenbeschwörung, um eine begründete Vermutung anstellen zu können. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß es an seinem Stab etwas gibt, das mich stört.« »Mehr als nur die Tatsache, daß er ihn in Blut taucht?« fragte Verit und verzog das Gesicht vor Schmerz und Ekel. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum er es tut.« 390
»Der Stab ist saugfähiger als alle Holzarten, die ich kenne«, erwiderte Fidelis langsam, und hinter seiner Stirn arbeitete es. »Das ist es, was mich stört«, sagte Elfrida und forschte in ihrem Gedächtnis nach weiteren Erkenntnissen. Im stillen verfluchte sie das nachlassende Erinnerungsvermögen, das das Alter mit sich brachte. »Mir will der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß ich eigentlich wissen müßte, was es zu bedeuten hat - ich glaube, es steht in einem meiner Bücher aus dem Sommerpalast. Nur habe ich die entsprechende Textstelle noch nicht gefunden.« »Müssen wir ihn uns heute abend wieder ansehen?« fragte Cosima bedrückt. Die Anspannung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. Elfrida nahm es ihr nicht übel. Für eine Heilerin mußte es unerträglich sein, so viele Menschen sterben zu sehen und nichts dagegen unternehmen zu können. »Wir wollen nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, um zu wissen, was er treibt«, sagte Verit und tätschelte tröstend ihre Hand, »und dann haben wir noch ein paar Dinge zu besprechen.« Müde setzten sie sich um das Glas auf den Boden und reichten einander die Hände. Nach wenigen Minuten war klar, daß Apolon noch mehr lebende Leichen erzeugte - und daß er genug Gefangene hatte, mit denen er bis zum Morgengrauen oder noch länger beschäftigt sein würde. Elfrida wurde übel von dem Anblick - und nicht nur ihr: Cosima, deren Gesicht sich grün verfärbt hatte, preßte die Lippen fest zusammen. »So«, sagte Verit, nachdem die Vision vorüber war, »wir wissen nun, was er treibt. Wie aber sollen wir es anderen klarmachen?« Die Frage war unverständlich. »Wem wollen wir es denn beweisen?« fragte Elfrida mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und warum ist das wichtig? Der Kaiser weiß es wahrscheinlich und kümmert sich nicht darum. Er kommt ohnehin jetzt nicht hierher. Prinz Leopold kann froh sein, wenn er das Jahr überlebt, so wie die Dinge augenblicklich stehen. Catal würde Apolon wahrscheinlich noch beim Töten helfen, wenn man ihn darum bäte. Einen anderen gibt es nicht, oder?« »Wir müssen es unseren Orden beweisen«, sagte Verit. »Wir müssen angesichts der Dinge, die auf uns zukommen, einig sein. Eine Spaltung macht uns zu leichter Beute, und wir sind ziemlich gespalten — trotz der Tatsache, daß wir fast die gesamte Priesterschaft in diesem Gebäude versammelt haben. Erinnert Euch, was Ihr mir über die Gleichgültigkeit innerhalb der Orden berichtet habt.« Sie hatte eine entschlossene, ernste Miene aufgesetzt. »Ich glaube, Ihr habt recht, Elfrida; wir stehen kurz 391
vor der Entscheidungsschlacht. Wir müssen fest zusammenhalten.« Die anderen nickten mit finsterer Miene. »Können wir nicht einen Schwarzmantel hereinholen und allen zeigen, was er ist?« fragte Cosima mit tonloser Stimme. Ihre Lippen waren weiß. Verit zuckte mit den Schultern. »Das ist eine Idee«, stimmte Fidelis ihr zu. »Aber da gibt es ein paar Dinge zu bedenken. Erstens sind nicht alle Schwarzmäntel Leichen. Zweitens, wie sollen wir an einen herankommen? Ich glaube nicht, daß wir einfach auf die Straße gehen und einen hereinbitten können. Und mit Gewalt würde ich es lieber nicht versuchen.« »Im äußersten Notfall könnten wir es«, sagte Verit, »aber offen gesagt, die Gefahr, daß wir bei diesem Vorhaben ums Leben kommen, ist zu groß. Wenn es gar keinen anderen Ausweg gäbe — aber ich glaube, so weit ist es noch nicht.« Noch nicht. »Kein einziger Schwarzmantel hat bisher den Tempel betreten«, erinnerte Elfrida die anderen. »Ich weiß nicht, ob sie es nicht wollen oder ob sie dazu nicht in der Lage sind.« »Glaubt Ihr etwa, sie würden sich in Staub auflösen, wenn sie es versuchten?« fragte Cosima zweifelnd und schüttelte ungläubig den Kopf. Elfrida mußte ihr zugestehen, daß das Ganze etwas Unwirkliches an sich hatte — plötzlich und ohne Vorwarnung sahen sie sich Dingen gegenüber, die es sonst nur in Legenden gab. Aber wenn das hier eine Legende wäre, dann gäbe es auch Helden mit Zauberschwertern, die nur darauf warteten, den Feind zu besiegen ... Leider standen ihnen keine Helden zur Seite, es sei denn, Fidelis hätte den Mut eines um dreißig Jahre jüngeren Kriegers entwickelt. Und das einzige Zauberschwert, das es in der Stadt gab, befand sich in den Händen des Feindes. »Ich weiß nicht«, sagte Elfrida und spürte, wie ihr Mut sank. »Ich weiß nicht, was sie können und was nicht, und ich kann mich nicht daran erinnern, etwas über sie gelesen zu haben. Ich wünschte, wir wüßten mehr über sie.« »Himmel, Elfrida, wir wissen, wie man sie macht!« wandte Fidelis stirnrunzelnd ein. »Reicht das nicht?« Elfrida schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Wir wissen, wie Apolon sie erzeugt, aber wir wissen nichts Genaueres darüber. Wir wissen nicht, wie er das Netz gemacht hat oder was die Worte, die er spricht, bedeuten oder bewirken. Sehr wahrscheinlich läuft ein Teil des Zaubers 392
auf geistiger Ebene ab, und auch dazu haben wir keinen Schlüssel. Wir wissen nur, was wir im Glas sehen, und das genügt nicht.« »Außerdem«, fügte Verit hinzu, »besitzen wir nicht die niedrigen Eigenschaften, die notwendig sind, um diese Art von Arbeit wirklich zu verstehen.« Sie schaute Fidelis an. »Oder?« »Natürlich nicht«, fuhr Fidelis sie an. »Aber es muß doch etwas geben, was wir tun können! Wir können bestimmt herausfinden, auf welche Weise er diese Wesen erzeugt, so daß wir etwas dagegen unternehmen können!« »Er bindet sie mit Hilfe eines Wesens, das Blut trinkt«, fügte Elfrida hinzu und hatte das Gefühl, daß Cosimas Beobachtung der Schlüssel zu der Lösung war, die sie so verzweifelt suchten. »Ich wüßte nicht, daß es außer Dämonen noch andere Wesen gibt, die Blut trinken.« »Ich auch nicht«, sagte Fidelis und hob den Kopf wie ein Hund, der die Beute wittert. Cosima schüttelte den Kopf und breitete die Arme aus. »Ihr habt recht, Elfrida. Ein Dämon — das wäre eine schlüssige Erklärung«, sagte Verit schließlich nach angestrengtem Nachdenken. »Wenn die Seele an einen Dämon gebunden ist, könnte sie durch Exorzismus erlöst werden. Die Schwierigkeit ist nur: Ich weiß von Dämonen lediglich, daß sie Blut trinken - aber das heißt noch lange nicht, daß Apolon nicht noch mehr über sie weiß.« »Aber Exorzismus kann doch nicht schaden?« fragte Fidelis scharf. »Uns bleibt schließlich gar nichts anderes übrig!« »Den lebenden Leichen schadet es auf jeden Fall nicht. Schlimmeres als ihre Lage kann man sich kaum vorstellen!« sagte Elfrida, die dabei auf ihre eigenen unerfreulichen Beobachtungen zurückgreifen konnte. »Sie leiden Qualen, das steht fest. Sie sind sich bewußt, was mit ihnen geschieht - zunächst wenigstens. Man sieht es ihren Gesichtern an.« »Aber Exorzismus kann dem Exorzisten beträchtlichen Schaden zufügen«, mahnte Verit. »Vor allem dann, wenn der Dämon freikommt und nicht gebannt wird.« Sie sah bedrückt aus, als sie in die Runde schaute. »Deshalb wird dieses Ritual nicht leichtfertig ausgeübt.« »Wenn wir zu mehreren zusammenarbeiten-«, begann Elfrida, doch sie brach ab. »Und damit wären wir wieder bei der Spaltung unserer Gemeinschaft angelangt. Mir scheint, daß diejenigen, die nicht mit ganzem Herzen bei uns sind, uns bei unseren Bemühungen eher im Wege stehen werden.«
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»Wenn wir das Ritual im Allerheiligsten durchführen«, widersprach Cosima, »können wir unsere Kraft vom Herzen beziehen. Oder nicht? Dafür haben wir das Herz doch!« »Aber wenn wir dort die Austreibung vornehmen, geschieht es vor mindestens einem Viertel der Priesterschaft, von denen einige sicher für Apolon arbeiten«, warf Elfrida ein. »Wenn das keine Spaltung ist, dann weiß ich nicht, wie sie aussehen soll!« »Was?« fragte Cosima völlig überrascht. »Wovon redet Ihr?« Elfrida biß sich auf die Unterlippe; sie hatte vergessen, daß der Inhalt ihrer früheren Unterredung mit Verit nicht allen Anwesenden bekannt war. »Das nächste Mal, wenn Ihr im Allerheiligsten seid«, riet sie Cosima, »schaut Euch einmal um und achtet darauf, wie viele Novizen nicht auf das Herz blicken. Das war der eigentliche Grund, warum wir sie alle hier versammelt haben: Wir wollten sie davon abhalten, uns anderswo Ärger zu bereiten.« »Gewiß, es sind einige«, räumte Verit ein, »aber nicht genug, um eine Handlung zu stören, wenn die anderen es nicht zulassen. Und so viele Narren gibt es in meinem Orden nun auch wieder nicht ...« »In meinem auch nicht«, sagte Fidelis mit Nachdruck. »Es sind ein paar, aber es ist nicht die Mehrheit. Wie ist es bei Euch, Elfrida?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? In meinem Orden wird nicht über die Lage gesprochen, aber die meisten halten so starr an Überkommenem fest, daß sie jedem Novizen Einhalt gebieten würden, der eine Zeremonie gleich welcher Art stört.« Alle blickten jetzt auf Cosima, und Elfrida fragte sich, ob sie ihrem Rat gefolgt war, nachdem sie zuletzt über das Thema gesprochen hatten. »Ja, ich war vor kurzem im Ruheraum«, sagte sie. »Mein Orden ist nicht so von der Welt abgeschlossen wie Eurer. Die Heiler haben genug gesehen und einander ihre Erfahrungen mitgeteilt, so daß wir wissen, was in der Stadt vor sich geht. Wahrscheinlich ebensogut wie diejenigen unter Euch, die den Leuten die Beichte abnehmen.« Sie hob eine Augenbraue. »Was ich darüber zu hören bekomme, klingt ganz so, als könnte man von einem Beichtstuhl aus ein ganzes Kundschafternetz aufbauen.« »Was für ein bezaubernder Gedanke.« Verit lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. »Falls unsere Stadt je wieder erobert werden sollte, müssen wir daran denken. Was ist also die Meinung der Heilerinnen?« »Wir machen uns nichts vor«, antwortete Cosima bitter. »Apolon und seine Diener sind abgrundtief schlecht, General Catal ist ein grausamer 394
Bastard, und Kaiser Balthasar ist wahrscheinlich nur unzureichend darüber unterrichtet, was vor sich geht. Manche unter uns meinen, daß wir sie nie in unsere Stadt hätten hineinlassen dürfen.« »Bemerkenswert«, sagte Fidelis nachdenklich. »Glaubt Ihr, es lohnte sich, den Kaiser über das, was vor sich geht, aufzuklären? Ob es überhaupt möglich wäre?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Elfrida mit einem tiefen Seufzer. »Wenn ein Herrscher die Verbindung zu seinem Volk verliert, dann entweder, weil es ihm gleichgültig ist, oder weil ihm selbst etwas zugestoßen ist, wie zum Beispiel Senilität —« Sie hielt inne, da ihr ein neuer Gedanke kam, und fügte bedächtig hinzu: »— oder - Besessenheit -« Was für ein scheußlicher Gedanke. Fidelis pfiff durch die Zähne. »Meint Ihr, daß Apolon ihn möglicherweise in der Hand hat?« »Soweit ich gehört habe«, erwiderte Elfrida, »ist er noch zu jung, um senil zu sein. Und kein fürsorglicher Vater würde zulassen, was man Leopold angetan hat.« »Wenn Apolon die Fäden in der Hand hält«, sagte Cosima langsam, »müssen wir herausbekommen, wie man seine Schwarzmäntel unschädlich macht.« Verit blickte finster drein. »Gut, dann werden wir es mit Exorzismus versuchen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Vorerst können wir nur hoffen. Wir wollen uns alle ein wenig ausruhen und nach der Morgenmesse wieder hier zusammenkommen.« Als sie sich nach der nächsten Messe wieder im Meditationsraum trafen, hatte Elfrida keine Zeit, mit Verit unter vier Augen zu sprechen, aber die Miene der Erzpriesterin ließ darauf schließen, daß sie Neuigkeiten für sie hatte. Vielleicht war Schelyra in der Morgenmesse? dachte sie hoffnungsvoll; zu lange hatte sie nun weder von Schelyra noch von Lydana etwas gehört. Gerüchten zufolge ging im Hafen etwas vor sich, aber im Augenblick waren es eben nur Gerüchte. Das Glas zeigte ihnen, daß die Blutkammer leer war, und eine Suche durch das Gebäude ergab, daß Apolon bewußtlos auf dem Bett lag, ohne sich zuvor entkleidet zu haben. »Ich nehme an, es wäre vermessen zu hoffen, daß er einen Fehlschlag erlitten hat«, sagte Fidelis zweifelnd. »Wahrscheinlich hat er sich bei seiner Arbeit einfach völlig verausgabt.« 395
»Hoffnung ist etwas, das wir niemals aufgeben sollten«, sagte Cosima ruhig, aber mit fester Stimme. Elfrida, die immer noch ins Glas schaute, dachte kurz an ihre Tochter und an ihre Enkelin und fragte sich, was sie wohl gerade taten. Vor allem um Schelyra machte sie sich Sorgen. Selbst für eine alte Frau wie sie war nicht zu übersehen, daß die Prinzessin sich zu ihrem vermeintlichen Feind stark hingezogen fühlte. Wenn wir nur Leopold irgendwie dazu bringen könnten, auf unsere Seite überzuwechseln! Er müßte ja nichts gegen seinen Vater unternehmen ... Mir wäre nur unangenehm, mit ansehen zu müssen, wenn ein so feiner Mann Schaden erlitte, nur weil er auf der falschen Seite steht. Angeregt durch diesen Gedankengang veränderte sich die Vision im Glas. Elfrida war überrascht. Ein rubinroter Schimmer legte sich über das Glas, und als er sich verzog, war ein neues Bild entstanden. Die Beleuchtung war sehr schwach, aber sie erkannte Schelyra. Sie und ein Mann, dessen Gesicht nicht zu sehen war, weil er zu Boden schaute, schleppten zwischen sich eine dritte Gestalt durch einen unterirdischen Tunnel. Elfrida wußte, daß es der Tunnel zum Meditationsraum war. Wer ist es? Und warum bringt Schelyra zwei Fremde mit durch den Tunnel? Von der dritten Gestalt nahm Elfrida nur einen dunklen Umriß wahr, spürte aber die Empfindungen, die ihr entgegenschlugen. Vielleicht stammten sie von Schelyra. Schreckliche Angst — Kummer — Ob das ein Schwarzmantel ist? Ist jemand, den Schelyra kennt, Apolon zum Opfer gefallen? Sind es Zigeuner, die sie bei sich hat?« »Seht Ihr das?« fragte sie die anderen. »Mir scheint, die Göttin ist bereit, uns einen Beweis der Macht Ihres Herzens zu geben.« Sie deutete auf das Glas. »Das ist Prinzessin Schelyra, und ich glaube, der Mann, den sie mit sich schleppen, ist eines von Apolons Opfern.« »Was wollt Ihr damit sagen?« fragte Fidelis und starrte ins Glas. »Warum sagt Ihr, daß die Göttin —« »Das ist der Geheimgang zum Tempel, der in diesem Zimmer endet, und sie kommen zu uns«, erwiderte Elfrida. »Ich kenne den Weg. Sie werden in ein paar Minuten hier sein. Ich glaube, Schelyra hat eine Möglichkeit gefunden, uns einen Schwarzmantel zu bringen — ich vermute, das Opfer ist jemand, den sie kennt.« Cosima schnappte nach Luft; Fidelis fuhr zusammen. Sein Blick wurde wachsam wie der eines Falken, der eine Beute gesichtet hat. Verit unterbrach den Kreis und übergab Elfrida das Glas. »Legt es in die Truhe im Tunnel und haltet nach ihnen Ausschau. Der zweite 396
Begleiter sah mir wir Leopold aus. Ich wünschte nur, ich wüßte, wer die dritte Person ist.« »Natürlich!« sagte Elfrida. Sie mußte sich auf eine Bank stützen, um wieder auf die Beine zu kommen. »Er kam mir gleich bekannt vor - aber seine Stimme kenne ich besser als sein Gesicht.« Verit ist nicht sonderlich überrascht. Vielleicht war das die Neuigkeit, die sie für mich hatte — daß Schelyra Leopold aus dem Sommerpalast geholt hat. Ich könnte wetten, daß Schelyra ihn hierher geführt hat, um mit Verit zu reden. Wenn er vorher nicht auf unserer Seite war, dann ist er es jetzt! Es war viel zu früh, um zu frohlocken, aber zum ersten Mal an diesem Morgen spürte sie, wie sich Zuversicht in ihr regte — und damit einhergehend eine große Erleichterung. Leopold würde zwar nicht in die Auseinandersetzung mit einbezogen, aber er würde zumindest auf der richtigen Seite stehen. Kurz darauf öffnete sich die Tür an der Rückseite des Raumes, und Elfridas Enkelin und der Prinz stolperten unter der Last des Schwarzmantels herein. Der Schwarzmantel, dessen Gesicht von Qualen überschattet war, sank kraftlos zu Boden, als sie ihn losließen. Offenbar war er nicht in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Dann erst sah Elfrida seine Züge und stellte mit Schrecken fest, daß sie diesen Mann kannte. Nun verstand sie, warum ihre Enkelin so unglücklich dreinschaute. Apolons jüngstes Opfer war Thom Ränkeschmied. Sie blickte den Mann unverwandt an, ohne ihn zu berühren, während Verit, Cosima und Fidelis die Neuankömmlinge rasch in schützende Kutten kleideten. Armer Thom — wie konnte es so weit kommen? Warst du doch nicht so schlau, wie wir dachten, oder hast du versucht, bei Schelyra Eindruck zu schinden? Elfrida kannte ihn nicht gut genug, um tiefe Trauer zu empfinden, aber sie hatte großes Mitleid mit ihm. Auf dem Gesicht dieses Mannes lag ein Ausdruck, den sie in den Mienen der anderen Schwarzmäntel bisher nicht entdeckt hatte — nicht einmal bei denjenigen, deren Bindung sie mit Hilfe der seherischen Gabe beigewohnt hatten. Er wußte noch immer, was mit ihm geschehen war — und wollte erlöst werden. Als er jetzt zu ihr aufschaute, lag eine flehentliche Bitte in seinem Blick. So kraftlos sie auch war, sie war unmißverständlich. Er will erlöst werden. Es ist eine Qual für ihn — mehr noch als für die anderen. Schelyra und Leopold hatten braune Kutten erhalten. Verit hatte darauf hingewiesen, daß die Braunen Kutten nicht im Tempel wohnten und daher den Priestern hier nicht so bekannt waren wie die Mitglieder der anderen Orden. 397
»Ich sehe einen Schatten über den Augen dieses Mannes«, sagte Leopold zu Verit, als er die Kutte überzog, die sie ihm gereicht hatte. »Es ist — ich kann es nicht beschreiben. Bevor wir ihn über die Schwelle trugen, lag der Schatten wie ein Netz aus Finsternis über Kopf und Oberkörper, aber als wir den Tempelgrund betreten hatten, zog er sich irgendwie in seinen Leib zurück.« »Ich habe keine Ahnung, wovon er redet«, gab Schelyra zu, das Gesicht von Kummer und Anspannung gezeichnet; doch dann fügte sie mit Entschiedenheit hinzu: »Aber wenn Leopold es sagt, dann glaube ich ihm. Ich kann den Schatten nicht sehen, von dem er redet - aber das hier ist nicht Thom. Oder es ist Thom, aber ihm fehlt etwas. Oder — es ist«, begann sie und stockte. »Ich kann nur sagen, daß sein Verhalten wohl kaum von Rauschmitteln oder Giften herrühren dürfte.« »Und darüber dürfte die junge Dame hier eine ganze Menge wissen«, fügte Leopold spöttisch hinzu, was ihm ein flüchtiges Lächeln von Schelyra eintrug, während sie um ihre Fassung rang. Nachdem Leopold sie auf den Schatten über Thoms Augen hingewiesen hatte, konnten Fidelis und die drei Priesterinnen ihn im Unterschied zu Schelyra auch wahrnehmen. »Du kannst ihm glauben, Kind«, sagte Verit freundlich, während sie sich bückte, um das arme Opfer genauer zu betrachten. »Er hat recht. Leider glaube ich zu wissen, was es mit diesem Schatten auf sich hat.« Immerhin kann Schelyra zumindest erkennen, daß etwas nicht in Ordnung ist, dachte Elfrida einigermaßen erleichtert, auch wenn sie nicht über unsere seherische Gabe verfügt. Sie muß erst noch hineinwachsen, wenn wir das hier überstanden haben. »Ihr müßt diesem Mann helfen«, sagte Leopold mit der Autorität eines Mannes, der gewohnt ist, daß seine Befehle befolgt werden. Dann fügt« er ein leises »Bitte —« hinzu, um die Wirkung seiner Wort abzuschwächen. »Das hätten wir auch ohne Eure freundliche Aufforderung getan, Prinz Leopold«, erwiderte Verit spitz. »Dessen seid versichert. Es ist unsere Pflicht, zu tun, was in unserer Macht steht, denn er leidet Seelenqualen.« Leopold nickte, doch er wirkte nach wie vor besorgt. Ihm war nicht entgangen, daß Verit nur versprechen konnte, »zu tun, was in unserer Macht steht«. Verit ordnete an, Thom für den Versuch eines Exorzismus ins Allerheiligste zu bringen. Sie erteilte ihre Befehle mit einer Schärfe, die der eines Generals in nichts nachstand. »Cosima, Ihr teilt allen mit, was vor 398
sich geht. Berichte einfach von Anfang an: was wir in den Beichtstühlen zu hören bekommen, was wir im Glas gesehen haben und was wir nun zu tun gedenken. Eure rednerische Begabung wird uns gut zustatten kommen; dessen bin ich sicher. Geht jetzt und bereitet den Altarraum vor - wir kommen nach.« Cosima nickte und verließ den Raum. Verit wandte sich nun an Elfrida. »Elfrida, wir beide werden das Ritual sprechen.« Ein Schauer der Angst überlief Elfrida, doch zugleich spürte sie einen Anflug von Stolz. Die Tatsache, daß Verit sie als Helferin auserkoren hatte, zeugte von großem Vertrauen. »Fidelis«, fuhr Verit fort, »ich möchte, daß Ihr mit den beiden hier den Körper festhaltet. Wir legen ihn vor dem Altar auf den Boden - an die Stelle, wo der Sarg gestanden hat. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich zur Wehr setzt, aber ich denke, ihr drei müßtet ihn festhalten können. Wenn nicht, werden wir andere um Hilfe bitten.« »Ihr wollt, daß wir Euch helfen?« fragte Leopold zweifelnd. »Aber — wir sind in keiner Weise — irgendwie geweiht —« »Alles, was ich brauche, sind sechs kräftige Hände«, sagte Verit, »und ich glaube, es ist vielleicht ganz hilfreich, wenn darunter zwei Menschen sind, die von dem, was ihm zugestoßen ist, betroffen sind.« Sie lächelte schwach. »Der Wille spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und Ihr beide seid fest in Eurem Glauben, denke ich. Auch das macht sehr viel aus.« Leopold lächelte scheu zurück, und Elfrida konnte nicht umhin sich einzugestehen, daß sie diesen Mann mehr denn je mochte. Ihr gefiel auch, wie Schelyra und er zueinander standen. Die Art, wie sich einer dem anderen zuwandte, zeugte von einer gewissen Zuneigung, von gegenseitigem Verständnis, das sich Menschen entgegenbringen, die einander vertrauen, seien es Kampfgefährten, einfach Freunde oder Eheleute. Als sie das Allerheiligste betraten, hatte eine Gruppe gerade ihre Andacht beendet und die nächste kam herein. Verit bat die erste Gruppe, zu bleiben, forderte die zweite auf, die Plätze einzunehmen, und läutete die Glocke, um den Rest der Priesterschaft zu rufen. »Ich möchte, daß alle herkommen«, sagte sie fest entschlossen, »auch die Novizen.« Cosima hatte außer den beiden Kerzen auf dem Altar und dem großen Meßbuch alles fortgeräumt. Als alle auf ihrem Platz saßen, stellte sich Cosima vor den Altar und begann zu reden. Nachdem ihre letzten Worte verklungen waren, konnte man, obwohl die Stille Zeit des Tages angebrochen war, überall 399
ein Raunen vernehmen. In allen Spielarten vernahm man den Satz: »Das glaube ich nicht.« Hier und da hörte man aber auch ein »Siehst du!« Verit, die die Vorbereitungen für die Austreibung überwachte, achtete nicht auf das Gerede. Erneut entstand Unruhe in der Priesterschaft, als Leopold, Schelyra und Fidelis den erschlafften Körper von Thom Ränkeschmied hereintrugen und dort ablegten, wo »Adeles« Sarg gestanden hatte. Die Priester und Priesterinnen in den ersten Reihen, die das Gesicht des Schwarzmantels sehen konnten, tuschelten miteinander. Der Schatten über seinen Augen war jetzt nicht mehr zu übersehen, als wüßte der Dämon, von dem er besessen war, was sie vorhatten — auf Thoms Gesicht zeigten sich die Verzweiflung und die Qualen eines Mannes, der sich nach einer Freiheit sehnte, auf die er kaum zu hoffen wagte. Cosima holte das schwere Meßbuch, in dem neben anderen selten benutzten Ritualen auch die Exorzismusmesse enthalten war. Sie trat zu den anderen und hielt das Buch so, daß Verit und Elfrida darin lesen konnten. Verit begann und breitete die Arme aus, den Blick nach oben gewandt. »Oh Du, Die-Du-In-Den-Himmeln-Wohnst, erhöre uns und stehe uns bei.« Elfrida sah die verängstigten Augen ihrer Enkelin, lächelte ihr aufmunternd zu und stimmte in Verits Gesang ein. »In unserer Not rufen wir Dich, und Du hörest unsere Worte.« Nicht zum ersten Mal spürte sie die vollkommene Wahrheit hinter diesen Worten und den Trost, den sie spendeten. Verit und Elfrida trugen abwechselnd eine Zeile vor; nun war Verit an der Reihe, und sie schmetterte ihre Worte geradezu heraus: »Befreie die Seele dieses Deines Dieners von Lügen und Falschheit.« Elfrida sprach mit derselben Entschiedenheit, jedoch flehentlicher. »Befreie ihn von seinen grausamen Feinden und erlöse ihn von dem Gottlosen.« Fidelis schwenkte ein rauchendes Weihrauchgefäß über dem auf dem Bauch liegenden Körper. Schelyra und Leopold hielten ihn gut fest und versuchten zugleich, den durch die Weihrauchwolken aufsteigenden Hustenreiz zu unterdrücken. Der Körper zuckte, als würde in seinem Inneren ein Kampf ausgetragen. Fidelis besprenkelte ihn ausgiebig mit Weihwasser. Die Zuckungen wurden heftiger, beinahe krampfartig. Rasch eilte Fidelis den beiden, die Thoms Körper vor dem Altar festhielten, zu Hilfe. Verit und Elfrida sangen gemeinsam die letzte Hymne der Liturgie, und Cosima stimmte ein, während sie das Buch zuklappte 400
und zur Seite legte. Das Ritual war nur bis zu dieser Stelle vorgeschrieben. Alles weitere würde sich ergeben, je nachdem, was geschah. Verit schaute Elfrida fragend an, die wiederum prüfend die Rubine ins Auge faßte, die seit dem Wunder des blutenden Herzens auf dem Altar lagen. Die Bewegungen des Opfers waren langsamer geworden, und Elfrida kam der Gedanke, daß sie vielleicht eine körperliche Verbindung zwischen Thom und dem Herzen herstellen mußten. »Laßt uns Rubine um ihn legen«, schlug sie flüsternd vor, »so wie Kerzen der Totenwache um einen Sarg.« »Die Idee ist gut«, flüsterte Verit und ergriff zwei Rubine. Elfrida tat es ihr nach. Sie knieten neben Thom nieder und legten die Edelsteine jeweils zu Häupten und zu Füßen auf den Boden. Dann streckten sie die Hände aus und berührten Thoms Körper. In diesem Augenblick wurde die Macht der Göttin zum ersten Mal seit dem Wunder des »blutenden« Herzens wieder sichtbar. Rote Lichtstrahlen blitzten von Stein zu Stein und schlossen den Körper — halb Mensch, halb Leiche - wie in einem Sarg ein. Schimmernder Dunst ging von den Strahlen aus und hüllte die sechs Gestalten neben Thom ein, nachdem Cosima neben Fidelis auf die Knie gesunken war und ihre Hände ebenfalls auf den Körper gelegt hatte. Allem Anschein nach war es genau das, worauf das Herz gewartet hatte. Es begann zu leuchten und tauchte Thom und die sechs Exorzisten in rotes Licht, so daß es aussah, als befänden sie sich in einem riesigen Rubin. Das Licht wurde immer greller, und alle Anwesenden im Heiligtum waren geblendet, doch niemand konnte die Augen abwenden. Auch die Novizen, die das Herz zuvor nicht hatten ansehen wollen, hingen mit den Blicken an diesem Schauspiel. Elfrida beobachtete aus dem Augenwinkel zwei Novizen, die sie aus den Messen kannte. Sie starrten die Gruppe mit offenem Mund an. Dann mußte sie ihre Auf merksamkeit wieder auf die bevorstehende Aufgabe richten. Eine unglaubliche Hitze hatte sich entwickelt; sie spürte, wie ihr unter der Kutte der Schweiß ausbrach und die Haare unter dem Schleier feucht wurden. Das gleißend helle Licht brannte ihr in den Augen, und sie fürchtete, nie wieder im Dämmerlicht - oder sogar bei normalem Tageslicht — etwas sehen zu können. Nun warf sich Thom unter ihren Händen erneut hin und her und stieß Laute aus, die zwischen Schreien und Winseln angesiedelt waren. Die Körperstellen, auf denen keine Hand lag, waren von einem ekelhaf ten Grüngelb überzogen. Aber was es auch sein mochte, es zog sich 401
anscheinend zurück. Der Schatten wich vor ihren Händen zurück, bis er nur noch wie ein schmales Band um Thoms Hals lag. Elfrida hatte jedoch nicht den Eindruck, als würde er sich in sein Inneres zurückziehen. Jetzt wurde dieses — dieses Ding - ausgetrieben, Stück für Stück aus Thom herausgezwungen, aus dieser Welt in eine andere, die sie weder sehen noch fühlen konnten. Er zuckte noch einmal heftig zusammen, genau in dem Augenblick, als der letzte Rest des Schattens mit hörbarem Plopp und einem hohen, dünnen Aufheulen, das nicht von Thoms Lippen kam, gänzlich entwich. Thoms Atem rasselte in der Brust, ging in ein Röcheln über, das schließlich erstarb. Nun war er wirklich und wahrhaftig tot. Er lag vor dem Altar auf dem Boden, und aus einer Wunde in der Brust sickerte Blut und tropfte auf die weißen Marmorstufen. Sein Gesicht aber strahlte vollkommene Ruhe aus, als wäre er nach einem langen, friedvollen Leben ebenso friedlich dahingeschieden. Die Allmacht des Herzens indes war noch nicht am Ende. Das Wesen, das über Thoms Körper erschien, war nicht gerade ein Engel - denn es war als Thom Ränkeschmied zu erkennen, und ihm fehlte die strahlende Helligkeit, die Elfrida stets bei den Himmelsboten wahrnahm. Ebenso augenscheinlich war es aber auch kein menschliches Wesen mehr. »Erlöst!« jubilierte eine Stimme in ihr. Er schaute auf die sechs Menschen hernieder, die geholfen hatten, ihn zu erlösen, dann auf die Priesterschaft, die sich um den Altar geschart hatte. »Habt Dank«, sagte leise eine Stimme in Elfrida, als sie seinem Blick begegnete. Dann, als er den Blick hob, um jeden Priester und jede Priesterin einzeln anzuschauen, sprach er lauter: »Dank sei Euch allen ...« Vier Gebilde aus reinem, weißem Licht traten aus dem rosaroten Schein des Herzens, legten sich um Thom und verschmolzen ineinander. Er lächelte sie an - ein Lächeln reiner Freude, das Elfrida anrührte und streckte die Hände nach ihnen aus. Sie legten Flügel aus Licht um ihn und entzogen ihn Elfridas Blicken. Dann loderten alle auf — und waren verschwunden. Das blendende, rubinrote Licht wurde schwächer und leuchtete schließlich nur noch blaßrosa, aber noch immer schwebte ein Schutzschild über dem Körper. Cosima erhob sich und durchbrach die dröhnende Stille mit ihrer klaren Stimme. »Es ist vollbracht. Kommt und erweist der Seele eines tapferen Mannes, eines treuen Dieners des Herzens und eines Sohnes der Allmächtigen die letzte Ehre.« 402
Die Priester und Priesterinnen standen auf und schritten in einer langen Reihe an den sterblichen Überresten des Thom Ränkeschmied vorbei. Niemand sprach ein Wort; Elfrida hatte den Eindruck, daß tiefe Ehrfurcht sie schweigen ließ. Es dauerte fast ein Stunde, bis auch der letzte vorbeigegangen war, und Elfrida war erfreut zu sehen, daß selbst die argwöhnisch dreinschauenden Novizen von dem Erlebnis zutiefst erschüttert waren. Die meisten vergossen Tränen - manche weinten still in sich hinein, andere versuchten, ihr Schluchzen hinter den weiten Ärmeln ihrer Kutten zu dämpfen. Fidelis musterte einige Mitglieder seines Ordens, die mit einer Mischung aus Erleichterung und Rührung weinten; wahrscheinlich handelte es sich um jene, deren Verstand er mit den Pflanzen verglichen hatte, die sie pflegten, dachte Elfrida. Seine Brüder kommen offenbar endlich zur Vernunft. Mir scheint, uns allen geht es so. Die Roten Kutten waren ähnlich betroffen, und viele Graue Kutten betrachteten den Körper entsetzt und gebannt zugleich. Anscheinend merkten sie jetzt, daß die Dinge, von denen sie gehört hatten, wirklich der Wahrheit entsprachen und nicht nur finsteren alten Legenden entstammten. Leopold stand wie ein Wachsoldat auf einem Staatsbegräbnis neben der Leiche; Schelyra beweinte den Leichnam, ohne ihre Tränen zu verbergen. Ihr Gesichtsausdruck ließ nach Elfridas Ansicht auf ein gewisses Schuldgefühl schließen, aber daran war nichts zu ändern. Anschließend erhob sich Verit und verkündete, die Leiche solle am nächsten Tag noch aufgebahrt bleiben, damit die Einwohner der Stadt sie sehen konnten. »Aber sie muß von den Stärksten unter uns bewacht werden, falls uns wieder ein Angriff bevorsteht, ähnlich dem, der uns nach dem Tode der Königinwitwe traf.« Einige Jüngere unter den Roten Kutten meldeten sich rasch freiwillig und bewaffneten sich mit den zeremoniellen Hirtenstäben, die sie für bestimmte Rituale — wie zum Beispiel die Ernte und die Segnung der Tiere - benötigten. Die Stäbe mochten zwar für einen zeremoniellen Zweck vorgesehen sein, aber Elfrida hatte einmal einen emporgehoben und wußte, daß sie ebenso solide waren wie die weniger dekorativen und eher handfesten Zwecken dienenden Stöcke. Dann ordnete Verit an, daß angesichts der außergewöhnlichen Umstände eine zusätzliche Beichtstunde für die Priesterschaft eingerichtet werde — und zwar gleich nach der Vormittagsmesse, »die wir 403
ebensogut jetzt sofort gemeinsam begehen können, da wir alle hier sind«, schloß sie und fügte mit einem scharfen Blick auf einige Priesterinnen und Priester hinzu: »Ich denke, es tut uns allen gut, wenn wir bekräftigen, daß die Mitglieder dieses Tempels einig im Herzen sind und nicht mehr — geteilter Meinung.« Einige wurden rot, andere bissen sich verlegen auf die Lippen, aber niemand wandte den Blick ab oder zeigte sich ungeduldig oder aufsässig, wie sie es in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Als Verit diejenigen bestimmte, die die Beichte abnehmen sollten, wählte sie bewußt jene aus, die geglaubt hatten, der neue Herrscher sei ihnen wohlgesinnt. Die nächsten paar Stunden werden ihnen schon die Augen öffnen. Doch zum ersten Mal seit dem Einmarsch herrschte in der Priesterschaft keine Uneinigkeit mehr. Endlich haben wir wieder ein gemeinsames Ziel! dachte Elfrida erleichtert, als sie die Stimme erhob und in den Gesang der anderen einstimmte. Doch dann kam ihr der nächste etwas nüchternere Gedanke. Ich fürchte nur, es wurde höchste Zeit.
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58. Lydana Fernes Geläut rief zum Vormittagsgottesdienst in den Tempel und in die näher gelegenen Gemeindehäuser, während die abenteuerliche, kleine Gruppe von Kämpfern sich auf den Weg machte. Die Bootsfahrt zum Hafen ähnelte in keiner Weise den Ausflügen, die Königin Lydana in den letzten Jahren zu offiziellen Anlässen unternommen hatte. Diesmal hatte sie weder auf einem bequemen Sitz Platz genommen, noch lauschte sie dem Gesang der zwölf Männer an den Rudern. Das Boot, in dem sie saß, war leckgeschlagen, roch nach Fisch und krängte, obwohl die beiden Männer, die Mathilde auf Geheiß der Borkenhexe zum Hafen fahren sollten, es einigermaßen zu beherrschen schienen. Auf dem ersten Teil ihrer Wegstrecke hatten sie sich umständlich von einem dicken, mit Seegras grün überwucherten Poller zum nächsten gehangelt und sich dort aufgehalten, wo es außer der Buglaterne an ihrem Boot kein Licht gab. Mathilde nahm an, daß sie unter den Lagerhäusern entlangfuhren, auf Wasserwegen also, die zum Teil so alt wie die Stadt selbst waren. Als sie ins Freie gelangten, empfing sie ein grauer Tag. Schwere Wolken hingen über ihnen, und Nebelschwaden waberten über dem Wasser. Hin und wieder mußte Unrat, den der Sturm ins Wasser gefegt hatte, rasch von einem Ruder fortgestoßen werden. Die schrillen Schreie von Seemöwen übertönten das Plätschern der eintauchenden Ruder und das Stöhnen der Männer bei ihrer schweren Arbeit. Sie mieden die Mitte des Stromes und hielten sich so dicht wie möglich an der linken Kaimauer des Kanals, als böte sie einen gewissen Schutz. Von See her wehte noch immer eine steife Brise ins Landesinnere, und Mathilde war dankbar für den Mantel, den man ihr geliehen hatte, als sie aufbrach. Sie behielt beide Ufer genau im Auge, den Kopf bald zur einen, bald zur anderen Seite drehend. Für gewöhnlich waren auf diesen Wasserstraßen stromauf und stromab viele Boote unterwegs, heute aber kamen sie nur an einem Kahn vorüber, der so voll Wasser gelaufen war, daß er bedenklich krängte und jeden Moment den Kiel nach oben zu 405
drehen drohte. An den beiden Toren standen keine Wachen, und das Gitterwerk, an dem lange, triefende grüne Algen hingen, war hochgezogen und gewährte ihnen eine ungehinderte Durchfahrt. Mathilde erschien das viel zu einfach. Sollte denn der Sturm so viele Schäden angerichtet haben, daß die Aktivitäten des Feindes für eine Weile zum Erliegen gekommen waren? Ihre Ungeduld wuchs, und sie hatte Mühe, stillzusitzen. Es hatte keinen Sinn, die Fahrt zu beschleunigen. Vor Tatendrang berstend, beschloß sie statt dessen, die Aussagen der Borkenhexe über die Macht fließenden Wassers zu prüfen. Sie bat den Aal, sich zu ihr herumzudrehen, so daß sie einander Knie an Knie gegenübersaßen. Sie glaubte nicht, daß die Ruderer sehen konnten, was sie machte. Sie holte die Brosche hervor und legte sie auf eine Handfläche. Mit der anderen Hand ergriff sie die schmutzige Hand ihres kleinen Gefährten. Obwohl sie ihn noch nie zuvor auf diese Weise mit einbezogen hatte, schien er zu wissen, was von ihm verlangt wurde. Sie starrte auf den Rubin und versuchte, alles andere auszuschließen und in ihm nur jene zu sehen, die sie suchte. Adele! rief sie in Gedanken. »Mutter —« Der Rubin auf ihrer Handfläche schwoll an und wurde beinahe so groß wie eine Glaskugel. Adele! Dann erhielt sie eine Antwort. Das Gesicht ihrer Mutter erschien, seltsam farblos trotz des lebhaften Rots, das sie umgab. Und ihr Blick suchte die Augen der Tochter. »Saxon ist auf dem Weg zu den Gefangenenschiffen - dann zur Flotte —«, versuchte Mathilde ihre Botschaft so knapp wie möglich zu übermitteln. »Wenn die Göttin uns wohlgesinnt ist, werden wir wieder an Land kommen.« Erreichten diese Gedanken die Ehrwürdige? Jetzt sah sie einen Funken in den Augen der Mutter aufblitzen. »Gebrauche, was du bei dir trägst.« Rubinrot brannten sich diese Worte in ihr Gedächtnis ein. »Befreie - und dann komm, o komm —« Obwohl Mathilde sich mit aller Kraft konzentrierte, verblaßte das Gesicht allmählich vor ihren Augen, und sie konnte keine Botschaft mehr empfangen. Befreien? Ihre Hand schloß sich um die Brosche. Sollte das heißen, daß man im Tempel den Sieg vorausgesehen hatte? Aber auf Hoffnungen sollte man nicht bauen - das überließ man Dummköpfen. 406
Sie erreichten die Bucht und erblickten Zeichen von Leben. Zwei große Frachter waren beschädigt, aber sie schwammen in einiger Entfernung vom Ufer noch auf dem Wasser. Den einen hatte man mit dem Bug auf eine Werft gezogen. Dahinter war ein Knäuel aus Schiffswracks zu sehen: Fischerboote, Kutter der Hafenmeisterei, ein paar Küstenwachboote. Die Wasseroberfläche war übersät mit bedrohlich vielen Wracks. An Bord der nächstliegenden Frachter konnte Mathilde Bewegung ausmachen. Die Männer, die dort arbeiteten, waren von den Schwarzmänteln gut zu unterscheiden. Sie entfernten einen zersplitterten Mast und versuchten, das seeuntüchtige Schiff von Ballast zu befreien. Die Ruderer hatten das Boot, in dem Mathilde saß, bereits nach links gesteuert, wo sich die längsten Piers erstreckten. Während sie hinüberfuhren, hielt Mathilde den Atem an; ob man sie vom Frachter aus sehen konnte? Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits, wie sie einen ihrer tödlichen Feuerblitze abschössen, um Mathilde zu vernichten. Ein Seevogel kreischte, woraufhin einer ihrer Begleiter die Lippen schürzte, um mit demselben wilden Schrei zu antworten. Ein letzter, schneller Ruderschlag brachte sie zum Anleger — genauer gesagt, unter den Anleger. Sie hatte gerade noch Zeit, den geflüsterten Rat »Kopf einziehen« zu befolgen, ehe sie erneut in ein Halbdunkel glitten. Hier unten auf Laufstegen, deren Planken von der letzten Flut noch glitschig waren, herrschte ein reges Hin und Her. Mathilde war nicht überrascht, als Saxon mit zorniger Miene auf sie zukam. Mathilde hob geschwind eine Hand, um den heftigen Worten Einhalt zu gebieten, die ihm augenscheinlich auf der Zunge lagen. »Das hier ist mein Kampf, Kapitän. Wollt Ihr etwa, daß ich mich im Schatten verkrieche, wenn die schwarzen Krähen unsere Männer im Würgegriff haben? Ich bin aus dem Geschlecht des Tigers und darum verfolge ich meine Beute.« Sie schaute ihn herausfordernd an und wartete auf Widerspruch. »Und wenn Ihr nun umkommt - oder in Gefangenschaft geratet?« fragte er besorgt. Nachlässig hob sie die Schultern. »Es kommt, wie es kommen muß. Ich habe Euch gesagt, wie das, was ich bei mir trage, auf die Schwarzmäntel wirkt. Wie viele habt Ihr mit Schwert oder Speer überwältigen können?« Seine Verblüffung war ihm deutlich anzusehen. »Woher wußtet Ihr, daß - daß man sie mit Stahl nicht töten kann?« 407
»Es sind lebende Leichen«, murmelte jemand in der Dunkelheit hinter ihnen, und seine Stimme bebte. Mathilde stand reglos da und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Auf welchem Schiff befinden sich die meisten Gefangenen?« Zu ihrer Überraschung begann Saxon doch tatsächlich zu schmunzeln. »Nur noch auf einem, Herrin. In der vergangenen Nacht haben wir das Schiff gekapert, das weiter hinten lag. Scheint so, als hätten sie nicht genug Schwarzmäntel - denn dort waren Söldner an Bord. Und unsere Flußratten sind im Umgang mit Enterhaken und Messern sehr geschickt. Wir haben die Übernahme des Schiffes bisher allerdings geheimgehalten. Zwei Schwarzmäntel kamen vorhin mit Botschaften. Turstan hat einem von ihnen den Schädel eingeschlagen, ehe er seinen Feuerwerfer einsetzen konnte, und Klein Fiete hat den anderen über Bord geworfen. Er landete auf einem schwimmenden Mast und hat sich, so lange wir ihn sehen konnten, nicht mehr gerührt.« »Aber der erste - « Das Lächeln wich aus Saxons Gesicht. »Wir konnten ihm den Stab abnehmen, während er am Boden lag. Aber er stand trotz des Schlages wieder auf- er wirkte nur ein bißchen benommen, wandte sich von uns ab und ging fort, als könnte er uns nicht mehr sehen. Er kehrte auch nicht auf das Schiff zurück, wo seine Gefährten waren. Einer der Gefangenen sagte uns, das sei schon einmal vorgekommen — er hätte es in der Stadt erlebt: Ein erstochener Schwarzmantel sei wieder aufgestanden und weggegangen, aber nicht, um sich gegen seinen Angreifer zu wenden, sondern als suche er Heilung für seine Wunde.« »Es gibt keine Heilung für sie«, antwortete Mathilde langsam. »Sie dienen dem Bösen — die Toten, die den Befehlen ihres Herrn gehorchen. Dennoch solltet Ihr sie nicht unterschätzen.« »Mitnichten!« entgegnete er. »Marson starb unter ihrem unheiligen Feuerblitz, als er nicht aufpaßte. Wenn uns von diesen Stäben nur eine Handvoll zur Verfügung stünde ...« Mathilde schüttelte heftig den Kopf. »Nein, so nicht. Wenn ein ehrlicher Mann eine derartige Waffe in die Hand nimmt, wie leicht kann er sich dann in Apolons Netzen verfangen? Wer mit Pech spielt, macht sich die Finger schwarz.« »Wie denn sonst?« fragte Saxon. »Wir müssen das letzte Nest ausheben, und zwar bald. Wir brauchen nicht nur die Gefangenen an Bord. Die Fischer haben nämlich berichtet, daß die kaiserliche Flotte durch Glück dem Sturm entronnen ist und hierher kommt. Wenn hier Truppen an 408
landen und die Armee, die jenseits der Stadtmauern bereitsteht, einmarschiert, wird er Merina wie eine Nuß knacken, trotz all seiner Eide!« »Er hat weder das Herz noch die Kraft, die es in sich trägt. Glaubt mir, Kapitän«, sie berührte leicht seinen Arm, »ich habe mehr in Händen, als je ein Mensch gegen einen Feind eingesetzt hat, seit das GideonSchwert Iktcar zur Strecke brachte.« »Was wollt Ihr tun?« entgegnete er. »Kämpfen«, erwiderte sie. »Ich will mich diesen Schwarzmänteln stellen - jetzt sofort!« Er starrte sie mit verzerrtem Mund an, als läge ihm ein Fluch auf den Lippen. Doch sie hielt seinem Blick stand, und allmählich schwand sein Zorn. Er wurde unsicher, und schließlich fügte er sich. »So sei es«, sagte er feierlich, als würde er von neuem den Treueeid leisten. »Man sagt ja vieles über den Tiger, und vielleicht ist ja was Wahres dran. Möge es nach Eurem Willen ...« Wieder schwang unterdrückte Wut in seiner Stimme mit. »Ja, nach meinem Willen geschehe es«, sagte sie ruhig. »Mag meine Hoffnung auch nur ein Schatten sein, der sich schnell verflüchtigt, so habe ich ihr dennoch eine Chance gegeben, und das ist es, was wir heute brauchen. Aal, die Flasche!« Im Nu hatte sie die Lederflasche in der Hand. Sie nahm zwei Schlucke und spürte, wie neue Kraft und Energie sie erfüllte. Dann brachte Saxon sie wie vereinbart an eine Stelle, von der sie leicht auf das Schiff steigen konnte. Die Schwarzmäntel waren noch bei der Arbeit. Dann blickte einer von ihnen auf und stieß einen Schrei aus. Mathilde hielt die Brosche vor sich, ohne jedoch das halb abgewrackte Schiff aus den Augen zu lassen. Dann aber entstand ein Gebilde in der Luft, das rasch an Umfang zunahm. Da hing das Herz, so wie es über dem Altar im Tempel hing. Und sie glaubte, in sich einen Ruck zu spüren, der ihr sagte, sie solle es so halten. Langsam trat sie einen Schritt vor, einen zweiten, und das Herz wanderte mit ihr. Sie fand Halt unter den Füßen, ohne hinzuschauen, und stieg über die Splitter einer zerborstenen Reling empor. Das Herz pulsierte jetzt und sandte hellrotes Licht, das in Wellen über das gesamte Deck strömte. Überall lagen Schwarzmäntel, als wären sie auf der Stelle umgefallen. Mathilde erblickte den Schatten eines weiteren, der an Deck eilte, taumelte, und wieder unter Deck verschwand. Doch sie hielt das Herz noch immer, und kein einziger Feuerstrahl blitzte auf, um sie zu treffen. 409
Doch ihre Konzentration ließ nach, während sie sich bemühte, das Herz im Auge zu behalten. Ganz plötzlich erklang wieder das Echo eines Echos - eine feste Stimme in ihrem Innern ... »Gut gemacht!« Nun schwappten die roten Wogen unter Deck. Irgendwie wußte Mathilde, daß sie unter den vielen Menschen dort unten nach Schwarzmänteln suchten, daß sie vom Schicksal ausgesandt waren, sie aus dem Weg zu räumen. Sie trat noch einen Schritt vor, spürte eine stützende Hand und wußte, daß der Aal ihr auch bei diesem Unternehmen zur Seite stand. Aber sie konnte das Bild nicht länger halten, sie hatte einfach keine Kraft mehr. Die roten Lichtwellen flackerten kurz auf und verschwanden dann. Hinter sich vernahm sie die Jubelschreie jener, die es gewagt hatten, ihr zu folgen. »Herrin!« Ein Arm, stärker als der ihres kleinen Gefährten, legte sich um ihre Schultern und drückte sie gegen einen kräftigen, vitalen Körper. Sie versuchte, die Brosche wieder an ihren Platz zu stecken, und als sie sie losließ, wurde ihr der Arm schwer wie Blei, und er hätte kraftlos an ihrer Schulter gehangen, wenn sich nicht ein Finger in ihrem Schärpengürtel verfangen hätte. Man führte sie zu dem umgestürzten Mast, damit sie sich darauf abstützen konnte. »Kapitän!« Dieser laute Ruf zerriß ruckartig den Nebelschleier, der sich über ihre Sinne gelegt hatte. »Jetzt seht Euch das hier mal an! Er ist an einem Axthieb gestorben.« Der Sprecher war über den Anblick derart verblüfft, daß seine Stimme stockte. Mathilde sah hin, ebenso der Kapitän. Dort lag in der Tat ein Schwarzmantel auf dem Rücken. Sie hatte nicht mit äußerlichen Anzeichen einer Verwundung gerechnet - aber was sie nun sah, war eine entsetzliche Kriegsverletzung: Dem Mann war der Schädel gespalten worden. Hinter ihm lag ein anderer Schwarzmantel, neben dem einer von den Flußratten kniete. Beherzt drehte der Mann die Leiche herum. Am Hals klaffte eine tiefe Wunde. »Aber -«, völlig verstört schreckte der Mann vor der Leiche zurück und blickte verwirrt Mathilde und Saxon an. »Wir hatten solche Waffen nicht - sie sind gefallen, aber nicht im Kampf gegen uns!« Mit einer Hand schlug er rasch ein schützendes Zeichen über sich. Mathilde fand als erste die Sprache wieder. Sie glaubte zu wissen, was das Blut des Herzens vollbracht hatte. »Sie waren bereits tot jetzt werden 410
die Wunden sichtbar, denen sie erlegen sind. Das finstere Werk des Totenbeschwörers tritt offen zutage.« Der Mann erhob sich und wich noch weiter zurück. »Lebende Leichen«, sagte er nachdenklich. »Ein verfluchter ...« »Einer von der schlimmsten Sorte«, bestätigte sie seine Worte, als er innehielt. »Aber die Männer, die Gefangenen ...«, begann Saxon. »Es sind Söhne des Herzens, Ihr werdet sie unversehrt vorfinden«, entgegnete Mathilde. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Rasch sorgte er dafür, daß sie sich inmitten des Durcheinanders an Deck hinsetzen konnte. »Macht die Ladeluke auf!« Sein Befehl war fast ein Schrei. Die Männer beeilten sich, ihm zu gehorchen, und mühten sich mit den durchweichten Verschlüssen ab. Als die Bodenklappe mit lautem Krachen zurück auf die Decksplanken fiel, trat Saxon an den Rand der Öffnung. »Ihr da unten, Männer von Merina«, rief er, »rauf mit euch und raus an Deck!« Seile wurden hinabgelassen. Langsam kamen die ersten an Deck. Mathilde sah die grüne Tracht der Wasserwachen, hier und da die Uniform eines Wächters, die verschiedenen Farben der Zünfte und dazwischen ein paar zerfetzte Wämser, wie sie die Männer trugen, die ihnen beim Hinaufsteigen halfen. Die Befreiten schauten sich um und sahen die Wrackteile im Hafen, und viele von ihnen schlugen dankbar das Zeichen des Herzens. Mathilde aber war durch die Ausübung übersinnlicher Macht so geschwächt, daß sie die Gestalten, die an ihr vorübergingen, kaum wahrnahm. Der Aal war noch an ihrer Seite, seine jugendliche Kraft eine Stütze. Dann versank alles wie ein Traum im Dunkeln, als Mathildes Kopf auf die Schulter ihres Gefährten sank.
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59. Schelyra Schelyra konnte während der ganzen Messe nicht aufhören zu weinen, obwohl sie das Schluchzen in den Ärmeln der geborgten Kutte zu ersticken versuchte. Ihr waren die Tränen gekommen, als Thom aufgehört hatte, sich zur Wehr zu setzen, und seine tödliche Wunde in Erscheinung getreten war. In dem Augenblick hatte sie erkannt, daß er nicht einfach unter einem Zauberbann stand, sondern daß er wirklich tot war. Auch bei ihrer Begegnung auf dem Tempelvorplatz hatte er schon nicht mehr gelebt, und sie war zumindest mit schuld an seinem Tod. Nach der Messe wollte sie tränenblind zu den Beichtstühlen tappen, doch Leopold hatte sie bei den Schultern genommen und zum Meditationsraum geführt. »Ich glaube, Ihr müßt eher reden als beichten, Prinzessin«, sagte er mit leiser, sanfter Stimme und so liebevoll, daß der Kummer sie erneut überwältigte. »Ich bin kein Beichtvater, aber ein guter Zuhörer.« »Ich auch.« Zu ihrer Linken tauchte die Großmutter auf und ging mit ihnen zum Meditationsraum. Schelyra nickte nur und ließ sich von ihnen führen, wohin sie wollten. Sobald sie den Raum betreten hatten, brach aus der heftig schluchzenden Schelyra ein Wirrwarr von Selbstanklagen und Vorwürfen hervor. Sie fühlte sich schuldig, weil sie sich nicht besser um Thom gekümmert hatte, der ihr Gefolgsmann war; sie war wütend auf Thom, weil er so leichtsinnig gewesen war; ein schlechtes Gewissen quälte sie, weil sie zornig auf ihn gewesen war, und Ärger, weil er ihr nicht hatte zugestehen wollen, daß sie wußte, was sie tat; dann wiederum fühlte sie sich schuldig, denn sie hatte gewußt, daß er sich wahrscheinlich den Gefahren der Straße aussetzen würde, wenn sie ihm nicht ein sicheres Betätigungsfeld bot oder sich den Befehlen der Tante fügte und ihm erlaubte, sie aus der Stadt zu schmuggeln ... »Das alles wäre nie geschehen, wenn ich getan hätte, was Tante Lydana wollte!« klagte sie zuletzt. »Wenn ich nur zu den Roßhändlern gegangen wäre ...« Wie ein Häuflein Elend saß Schelyra zwischen ihrer Großmutter und dem Mann, der einst ihr Feind war. Adele wollte etwas sagen, 412
doch Leopold ergriff als erster das Wort. »Wenn Ihr die Stadt verlassen hättet, Prinzessin, wärt Ihr aller Wahrscheinlichkeit nach gefangengenommen worden«, sagte er mit fester Stimme. »Von dem Augenblick an, als die Übergabe Merinas besiegelt war, befanden sich Wachposten auf allen Straßen, der Hafen war gesperrt, und schwer bewaffnete Patrouillen, angeführt von erfahrenen Kundschaftern, durchkämmten das Land. Der neue Herrscher nahm an, daß Ihr versuchen würdet zu fliehen, Ihr drei, und er verfolgte die Absicht, Euch festzusetzen, um das Wohlverhalten der Stadt zu erpressen. Auch sein Ratgeber Apolon wollte Euch haben — aus anderen Gründen. Und falls Ihr nicht noch andere Geheimgänge unter den Hügeln außerhalb der Stadt kennt« — hier war leiser Spott unüberhörbar -, »dann bezweifle ich, daß selbst eine so gewitzte Dame wie Ihr das alles hätte umgehen können.« Sie nickte, und Leopold wurde wieder ernst. »Apolon will Euch unbedingt haben - mehr als alle Schätze. Er würde alles daransetzen, um Euch in seine Gewalt zu bekommen. Und ich glaube, nach dem heutigen Tag dürfte uns einigermaßen klar sein, warum.« »Totenbeschwörung«, flüsterte sie. Adele indes schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, erwiderte die Großmutter. »Nein, die Sache ist schwieriger. Um sich die Kreaturen, die ihm bei seiner Magie dienen, gefügig zu machen, muß er ihnen bieten, was sie von ihm verlangen. Blut natürlich, aber auch die Macht, die daraus erwächst, wenn man ein Leben vor seiner Zeit beendet, sowie andere Kräfte, die von der Art und dem Wesen des Opfers abhängen.« Schelyra blickte mit tränennassen Wangen auf. »Wollt Ihr damit sagen, er wollte mich nur - opfern?« fragte sie und hatte das sonderbare Gefühl, in einem miserabel aufgeführten Mirakelstück mitzuspielen. Doch Adele schüttelte den Kopf. »Nicht nur opfern, Lyra«, erwiderte sie und gebrauchte den alten Kosenamen. »Du bist mehr als die armen Männer, die er in seiner Blutkammer umbrachte. In deinem Blut liegt Macht — die magische Kraft, die in dir erwachen wird, wenn du in mein Alter kommst. Das erhöht deinen Wert als Opfer - ach - um das Tausendfache gegenüber allen anderen.« Schelyra lief ein Schauer über den Rücken, und sie dachte an andere Merkwürdigkeiten, die sie bei den Zigeunern aufgeschnappt hatte. Ich bin außerdem noch Jungfrau - eine Tatsache, die zusätzlichen Wert haben dürfte. O Himmlische! Kein Wunder, daß Apolon mich in seine Fänge bekommen wollte! »Ihr seht also, wenn Ihr getan hättet, was Eure wohlmeinende Tante 413
wollte«, fuhr Leopold fort, »dann ginge es Eurer Stadt jetzt viel schlechter. Ihr selbst wärt wahrscheinlich bereits auf höchst unangenehme Weise aus dem Leben geschieden, und Apolon hätte die neu hinzugewonnene Macht benutzt, um die Herrschaft mit dem Kaiser zu teilen.« »Nein, Apolon wäre der absolute Herrscher«, sagte Adele entschieden und wandte sich Leopold zu. »Ich habe keinerlei Beweise - aber nach allem, was geschehen ist, habe ich Grund zu der Annahme, daß Euer Vater - nicht mehr das ist, was er einmal war. Apolon hat in den letzten Tagen wohl mehrere Hundert Menschen umgebracht. Nicht alle wurden in den Ritualen zu seinen Marionetten. Ich glaube, daß zumindest einige von ihnen dem Zweck dienten, für den er Schelyra vorgesehen hatte - und daß Euer Vater zwar keine Marionette ist, aber doch gewiß völlig unter seinem Einfluß steht. Vielleicht ist er sogar besessen.« Leopold erbleichte bei ihren Worten, und Schelyra streckte unwillkürlich die Hand aus, um die seine zu ergreifen. Er antwortete leise, aber seine Stimme war fest. »Das — würde eine Menge erklären, Ehrwürdige«, gab er zu. »Und mehr noch: Wenn ich davon ausgehe, daß der Graue Magier seine Macht ständig ausgeweitet hat, seit er in den Dienst meines Vaters trat, und auf den heutigen Tag hingearbeitet hat, dann verstehe ich auch, weshalb er mir dieses Schicksal zugedacht hat, vor dem mich diese Dame hier bewahrte.« Er drückte Schelyras Hand, während er fortfuhr. »Und deshalb, Prinzessin, wärt Ihr tot, ich wäre tot, und Eure Stadt stünde unter der Herrschaft eines Totenbeschwörers, wenn Ihr den Anordnungen Eurer Tante gefolgt wärt.« Er blickte Schelyra mit einem schmerzlichen Lächeln an. »Ich selbst muß Euch sogar ausgesprochen dankbar für Euren rebellischen Geist sein.« »Und was diesen Thom Ränkeschmied betrifft«, bemerkte die Großmutter nüchtern, »so möchte ich gewiß nicht schlecht über einen Verstorbenen reden, der überdies sein verpfuschtes Leben mehr als wiedergutgemacht hat, indem er sich gegen die Kreatur wehrte, die ihn in ihrem Bann hielt, und der hergekommen ist, um uns zu warnen. Doch ich muß auch darauf hinweisen, daß du ihn schließlich nicht mit der Peitsche auf die Straße getrieben hast. Er kannte die Gefahren, die dort lauerten; er hat sich ihnen aus freiem Willen ausgesetzt.« Schelyra nickte. Allmählich löste sich der Kloß von Schuldgefühlen und Kummer in ihrem Hals. »Betrauert ihn wie einen tapferen Freund«, sagte Leopold, »aber übernehmt nicht die Verantwortung für etwas, worauf Ihr keinen Einfluß 414
hattet.« Erneut drückte er ihre Hand. »Ich fürchte, das ist auch mein Fehler — ich glaube, es gehört einfach dazu, wenn man über andere gebietet.« Sie nickte und sah, daß ihre Großmutter Leopold von ganzem Herzen zustimmte. »Nun gut«, fuhr er fort und ließ ihre Hand los, kurz bevor sie es für angebracht hielt, ihn darum zu bitten. »Es liegen noch ein paar Probleme vor uns.« »Apolon wird wissen, was hier geschehen ist —«, begann Schelyra zögernd. »Ganz gewiß«, stimmte ihr die Großmutter zu. »Mehr noch, im Hafen wird zur Zeit um die Schiffe gekämpft, die er und General Catal beschlagnahmt und als Gefangenenlager benutzt haben. Es dürfte nicht allzu lange dauern, bis sich die Gerüchte darüber in der ganzen Stadt verbreiten.« Schelyra fragte die Großmutter gar nicht erst, woher sie das wußte. Wenn die Priester in der Lage gewesen waren, Apolon auszuspähen, dürfte ihnen das auch sonst überall gelungen sein. »Offene Rebellion«, hauchte Schelyra, und Leopold richtete sich auf. »Das meine ich auch — und das heißt, wir haben nicht viel Zeit zu verlieren«, sagte er. »Auch wenn die Rückeroberung der Schiffe zunächst unbemerkt vor sich geht, kann sie nicht länger als eine oder zwei Stunden geheimgehalten werden. Apolon wird mit ziemlicher Sicherheit herkommen.« Adele nickte. »Aus diesem Grund hat Verit die Priesterschaft nach der Vormittagsmesse auch nicht entlassen, denke ich. Wir werden ihn hier treffen, auf unsere Weise. Bliebe nur noch Catal — und Euer Va-« »Mein Vater ist tot, Ehrwürdige. Er ist einer langen Krankheit erlegen, die vor Jahren begann«, unterbrach Leopold sie mit einem Ausdruck tiefster Resignation, die zuweilen schlimmer als Trauer ist. »Balthasar ist ein Mann, den ich nicht kenne und dem ich nicht dienen kann. Er hat mich gezwungen, zwischen der Göttin und ihm zu wählen, und meine Wahl mußte auf die Allmächtige fallen.« Er verneigte sich leicht, und Adele streckte eine Hand aus und legte sie ihm segnend auf den Kopf. Ihre Berührung mochte ihm Trost spenden, denn die Verzweiflung auf seinem Gesicht war Entschlossenheit gewichen, als er wieder aufblickte. »Euer Platz ist hier - ich glaube, daß ich — nein, wir, sofern ich Eure Hilfe erbitten darf, Prinzessin«, sagte er, an Schelyra gewandt, »daß wir 415
im Palast gebraucht werden. Catal ist seit jeher ein grausamer Mensch, doch jetzt ist er ein Ungeheuer, das ich beseitigen muß .Vielleicht - vielleicht gelingt es mir, daß sich der Herrscher der Hilfe durch den Tempel öffnet.« Adele zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Wir haben dem Herrscher nicht sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet.« Sie lächelte Schelyra an. »Wir haben auf anderem Wege genug über seine Unternehmungen erfahren, so daß es wenig sinnvoll schien, uns der seherischen Gabe zu bedienen.« Schelyra hob lediglich eine Augenbraue. »Also müssen wir auf schnellstem Wege in den Palast gehen und sehen, was wir tun können, um Catal unschädlich zu machen, bevor er hinausgehen und seine Männer herbeirufen kann. Danach mag kommen, was will.« »Schlachtpläne überdauern selten das erste Zusammentreffen mit dem Feind«, stimmte Leopold ihr zu. »Aber ich glaube, wir müssen Catal mit Gewalt begegnen. Leider sind seine Söldner das vordringliche Problem.« Schelyra schürzte die Lippen. »Ich glaube, dafür gibt es eine Lösung, und die habe ich bei der Hand.« Sie griff nach ihrer großen Gürteltasche, die sie neuerdings nicht mehr ablegte, und forderte den Inhalt zutage: fünf kleine Phiolen mit klarer Flüssigkeit, fünfzig winzige, nadelspitze Pfeile in einer flachen Schachtel und ein Rohr, um sie abzuschießen. »Das ist eine Waffe, die bei den Roßhändlern benutzt wird«, erklärte sie, als Leopold die Pfeile neugierig betrachtete. »Und wenn Ihr es genau wissen wollt, auf diese Weise gelingt es ihnen, die Horden ihrer Feinde zu überfallen, ohne entdeckt zu werden. Die Flüssigkeit ist nicht direkt giftig, obwohl sie in höheren Dosen durchaus tödlich sein kann — das Opfer wird nur für eine oder mehrere Stunden bewußtlos. Die Pfeile können allerdings nur auf sehr kurze Entfernung eingesetzt werden ...« »... aber im Palast haben wir es bestimmt mit kurzen Entfernungen zu tun«, beendete Leopold ihren Satz. Er hatte sichtbar neue Hoffnung geschöpft. »Diese Aufgabe, Prinzessin, überlasse ich Euch, denn Ihr seid mit dieser Waffe vertraut. Was ich gern tun würde —«, er furchte die Stirn, was seinem sonst so offenen Gesicht plötzlich einen ernsten und unnachgiebigen Ausdruck verlieh. »Ich würde gern die Wächter Catals unschädlich machen, und dann Catal selbst beseitigen. Anschließend sollten wir mit etwas Glück und der Gnade der Allmächtigen in der Lage sein, einzuschätzen, wie es um den Herrscher steht ...« Schelyra biß sich auf die Lippen und entschloß sich, einen Gegenvor 416
schlag zu machen. »Seht, Prinz, wenn wir den Herrscher — unschädlich machen können, weiß niemand, daß nicht er Euch zurückgerufen hat, um mit Catal und dem machtgierigen Apolon fertig zu werden. Warum geben wir nicht einfach vor, daß er Eure Autorität wiederhergestellt hat? Eure Männer würden Euch ohne Frage gehorchen, und was Catals Söldner betrifft - nun, wenn der General erst einmal von der Bildflache verschwunden ist, werden sie jedem folgen, der sie weiterhin bezahlt. Damit stünden Eure Männer und Catals Söldner gegen Apolon.« »Viele Söldner begehren bereits auf«, sagte Adele. »Ich weiß, daß Ihr diesen Plan vom moralischen Standpunkt her verwerfen werdet, Leopold, aber auf diese Weise können aller Wahrscheinlichkeit nach die meisten Leben gerettet werden.« Schelyra hielt den Atem an, denn sie spürte, daß Leopold Bedenken hatte. Doch schließlich hob er die Schultern. »Es ist verräterisch und unehrenhaft, aber ich kann Euren Plan nicht verwerfen, meine Damen«, sagte er schließlich seufzend. »Ihr habt recht, Ehrwürdige, damit werden wir vielen das Leben retten können. Das wollen wir zum Maßstab nehmen.« Schelyra atmete hörbar auf. Leopold war ebenso praktisch veranlagt wie klug. »Wir können immer noch dafür sorgen, daß der Kaiser wieder an die Macht kommt, wenn er wieder zur Vernunft gekommen ist«, sagte sie, wobei sie taktvollerweise voraussetzte, daß sich Balthasar wahrscheinlich nicht in demselben Zustand befand wie Thom. »Ihr wollt doch nicht auf seinen Thron, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das wollte ich noch nie«, gab er zu. »Man hat mir beigebracht, zu herrschen und zu befehlen, aber gleich über ein ganzes Reich? Nein, das ist zuviel für mich. Ich wäre weitaus glücklicher, ein kleineres Königreich zu regieren ...« So wie Merina? Sie sprach es nicht aus, spürte jedoch, wie ihr Herz heftig schlug. Ein Gedanke, der sie bereits mehrmals gestreift hatte, nahm nun Gestalt an. Das ist der Mann, den ich lieben könnte. Das ist ein Mann, mit dem ich stolz ein Leben und einen Thron teilen könnte. Er schüttelte den Kopf, als wolle er Tagträume verscheuchen. »Wir verschwenden Zeit: Jeden Augenblick kann Catal vom Aufstand erfahren und den Palast verlassen, womit er für uns unerreichbar wäre.« »Stimmt«, sagte Adele und erhob sich. »Ich werde die Erzpriesterin über die Grundzüge Eures Plans unterrichten. Auch ich gehe davon aus, 417
daß Apolon uns hier gegenübertreten wird. Wenn Euer Anschlag geglückt ist und Ihr den Kaiser in Verwahrung genommen habt kommt mit ihm hierher. Wir werden jedes gläubige Herz brauchen nicht nur die geweihte Priesterschaft.« Sie lächelte den beiden zu und segnete sie. Als sie den Raum verließ, war ein leises Rascheln von Tuch zu hören, das über den Steinboden schleifte. Schelyra packte ihre Sachen wieder ein, erhob sich und betätigte den Mechanismus, der die Tür an der Rückseite des Meditationsraumes öffnete. Sie trat mit Leopold hindurch und schloß die Tür hinter ihm. Sie zogen die Kutten aus und hängten sie an die dafür vorgesehenen Haken. Schelyra legte die Hand auf die nächste Verriegelung, zögerte aber noch. Etwas mußte sie noch wissen. »Leopold, habt Ihr — habt Ihr dort drüben während des Exorzismus etwas gesehen?« fragte sie ihn. Er sah sie völlig verdutzt an. »Habt Ihr es denn nicht gesehen?« fragte er. Diese Frage hatte sie so oft von der Großmutter zu hören bekommen, daß sie nicht mehr das Gefühl hatte, ein Paria zu sein. Soweit sie das beurteilen konnte, gab es außer den Priestern nicht viele Menschen, die tatsächlich sehen konnten, was ihre Großmutter sah. »Nur Licht«, erwiderte sie. »Zuerst rotes Licht, das vom Herzen ausging, dann weißes Licht, dann verblaßte das Rot. Ich hatte den Eindruck, als hätte jemand >Danke< gesagt, aber es hätte auch aus der Priesterschaft kommen können.« Seinem überraschten Gesichtsausdruck zufolge hatte Leopold offenbar viel mehr gesehen als sie. Doch statt ihr direkt zu antworten, hielt er einen Augenblick inne, als müsse er sich sammeln. »Bevor ich hierher kam, habe ich nie etwas gesehen, nicht einmal einen Lichtschein«, sagte er schließlich. »Ich habe auch nie damit gerechnet.« »Und jetzt?« wollte sie wissen. Er horchte in sich hinein, und die tiefen Kummerfalten auf seiner Stirn glätteten sich. »Ich habe — Wesen gesehen. Aus ihrer äußeren Erscheinung, aus ihrem Verhalten und aus dem, was dann geschah, schließe ich, daß es sich um Engel handelte.« Er blickte Schelyra an. »Ich war sehr mißtrauisch gegenüber dem Tee, den Ihr mir verabreicht habt, drüben im Sommerpalast. Die alte Frau hatte mir noch nie Tee nach oben gebracht, und er roch so merkwürdig. Wißt Ihr, warum ich ihn getrunken habe?« Sie schüttelte den Kopf. »Weil mir ein Engel erschien und mir dazu riet.« Er lächelte über ihr 418
verblüfftes Gesicht. »Wirklich. Er sagte mir, ich wäre in großer Gefahr und hätte einen Freund, wo ich ihn nicht erwartete. Und um der Gefahr zu entrinnen, sollte ich den Tee trinken.« Seiner Miene entnahm Schelyra, daß der Himmelsbote noch mehr gesagt hatte. Doch es war sein Recht, es ihr zu verschweigen - sie würde nicht weiter in ihn dringen. »Nun zu dem, was ich im Allerheiligsten sah - ja, ich habe etwas gesehen. Mehr als genug, um sagen zu können, daß Euer Freund, wie Priesterin Cosima sagte, für jede Sünde seines Lebens bezahlt hat, als er den heldenhaften Mut aufbrachte, uns vor Apolon zu warnen.« Er legte eine Hand behutsam, aber tröstend auf Schelyras Schulter. »Glaubt mir, Verehrteste, ich weiß, daß Euer Freund sicher unter den Fittichen der Allmächtigen ist, so wie ich weiß, daß die Sonne aufgeht.« Die Worte aus seinem Munde - aus dem Munde eines Mannes, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand — spendeten mehr Trost als alles, was sie im Tempel vernommen hatte. Sie seufzte, denn eine große Last wälzte sich von ihrer Seele. »Und jetzt, meine Liebe, haben wir in der Tat Dringendes zu erledigen«, fuhr er fort. »Und es duldet keinen Aufschub.« »Stimmt.« Sie nickte kurz und vergewisserte sich des Inhaltes ihrer Tasche, bevor sie die Tür zum Tunnel zwischen Palast und Tempel öff nete. »Folgt mir, und schaut zu, was ich mache. Ihr solltet auch wissen, wie man sie öffnet; wenn wir fliehen, will ich nicht, daß Ihr mit einem mal auf der falschen Seite einer verschlossenen Tür steht!«
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60. Lydana Trotz der Finsternis, der sie nicht zu entrinnen vermochte, spürte sie ein ständiges Kommen und Gehen, dessen Sinn und Zweck ihr verborgen blieben. Aber es machte ihr auch nicht sehr viel aus. Einmal glaubte sie in weiter Ferne die Umrisse des Großen Herzens zu sehen, dann wieder erblickte sie wie in einem Nebel die Augen ihrer Mutter. Hinter Adele gewahrte sie ein Farbenspiel ohne eigentliche Form - Schelyras Lebenskraft, die ihrer eigenen Wege ging. Schließlich schwanden die Traumgestalten dahin — und sie sank in die Geborgenheit des Schlafes. Als sie aufwachte, fiel helles Sonnenlicht auf das Bett, auf dem sie lag - nein, ein Bett war es eigentlich nicht, stellte sie verwundert fest. Es ähnelte eher einer Pritsche im Lagerhaus. Hatte man sie etwa wieder in Jonas' Versteck gebracht, ohne daß sie es bemerkt hatte? Neben ihr regte sich etwas; es kostete sie große Anstrengung, den schweren Kopf zu wenden. »Skita?« Eine Kinderhand legte sich ihr auf die Stirn und fuhr ihr besänftigend über die Wange. »Trinkt, Herrin.« Irgendwie gelang es der Kleinen, sie ein wenig aufzurichten und ihr den Rand eines Trinkhorns an die Lippen zu setzen. Wie von weither nahm sie einen schwachen Geruch wahr — Erinnerungen wurden wach. Sie trank wie ein folgsames Kind. Plötzlich lichtete sich der Nebel, der ihren Verstand umgab, als wäre ein frischer Wind aufgekommen, der selbst die dunkelsten Wolken vertreibt. Hinter ihrer Pflegerin sah sie eine verwitterte Wand. Jetzt roch sie auch das Meer, spürte seine Rastlosigkeit. Und wie ein Mosaik, das sich von selbst zusammenfügt, kehrten die Erinnerungen Stück für Stück zurück. »Was —?« Skita lächelte. Sie hatte ihre Aalhaut abgelegt und war wieder sie selbst, trotz ihrer schmutzigen, zerfetzten Kleidung. »Was geschehen ist? Viel. Der Kapitän ist wirklich ein Führer, dem 420
alle Ehre gebührt. Noch vor Tagesanbruch hat er eine Armee zusam mengestellt. Nun arbeiten sie an einem Hinterhalt für die Flotte des Kaisers.« »An einem Hinterhalt?« Sie war wieder Lydana, nicht Mathilde, die Perlenfrau - es war ihre Stadt und ihr Volk, für das sie kämpften. Lydana suchte nach der Brosche und steckte sie offen an ihr Wams, denn sie konnte den Stein noch nicht in den Ring einfügen, zu dem er gehörte. »Der Sturm hat im Hafen viel Schaden angerichtet«, fuhr Skita derweil fort. »Der Kapitän macht sich diesen Umstand zunutze. Er hat Feuerschiffe vorbereitet.« Feuerschiffe. Lydana erinnerte sich an frühere Zeiten - an die Geschichte von Urs und an den Sieg, den sie dort errungen hatten. Mit einemmal kehrte ihre Kraft zurück, und sie richtete sich voller Tatendrang auf. »Das will ich sehen!« »Zuerst«, sagte Skita, und ihrer Stimme war anzuhören, daß sie keinen Widerspruch duldete, »müßt Ihr etwas essen. Dieser Wundertrank ist bis auf den letzten Tropfen verbraucht. Ihr müßt jetzt mit Euren Kräften haushalten wie wir alle. Rührt Euch nicht von der Stelle.« Sie war verschwunden, noch ehe Lydana sich nach ihr umsehen konnte. Der Raum, in dem sie lag, war klein und hatte ein einziges, unverglastes Fenster, durch das der Salzgeruch und das Rauschen des Meeres drangen. Die Gerätschaften, die an den Wänden hingen, ließen vermuten, daß sie in einer Fischerkate lag. Skita kam mit einer Wasserschüssel und einem rauhen Handtuch zurück. Dankbar wusch sich Lydana das Gesicht, schrubbte sich heftig die Wangen und betrachtete angewidert die Schmutzspuren auf dem Handtuch. Schon war Skita wieder verschwunden, um dann mit einem Tablett zurückzukehren, einem hölzernen Tablett mit eingelegtem Muster aus beschlagenem Kupfer, einer Erinnerung an eine weit zurückliegende Reise. Darauf stand eine angeschlagene Keramikschüssel neben einem Silberbecher, der aus der Beute eines Piraten stammen mochte. In der Schüssel dampfte ein Eintopfgericht, und daneben lag ein Löf fel. Der Becher enthielt roten südländischen Wein, der mindestens drei Jahre alt war. Der Fischer, der hier zu Hause war, ließ es sich gutgehen. »Sag -«, fragte Lydana zwischen zwei Bissen. Skita setzte sich im Schneidersitz hin, sie hielt ein Stück Schiffswurst in der Hand, von dem sie ab und zu einen kleinen Bissen zu sich nahm. »Sie machen drei größere Fischerboote seetüchtig. Die schwarzen Krähen und die anderen - sie hatten Wachen bei den Vorratslagern auf 421
gestellt, aber sie haben sie nicht geplündert. Wahrscheinlich wollten sie damit die Flotte ausrüsten. Deshalb konnte der Kapitän aus dem Vollen schöpfen. Sie werden die Boote mit Brennstoff ausrüsten, um Feuer zu entfachen —« Lydana schluckte hastig und versuchte, nicht an die Wirkung dieser Feuer zu denken. »Für die Besatzung haben sich Freiwillige gemeldet, es waren sogar so viele, daß der Kapitän das Los entscheiden lassen mußte. Die Feinde haben zwei Spähkutter vorausgeschickt. Sie haben nur Wrackteile und ein paar Männer in Söldneruniform als Wachen an Bord der Frachter gesehen. Jetzt laufen sie gerade ein.« Skita biß noch ein Stück Wurst ab. Lydana wartete ab, bis sie es heruntergeschluckt hatte, und erfuhr dann den Rest. »Die Bucht ist voller Wrackteile, deshalb werden sie vorsichtig einlaufen. Aber die Feuerschiffe sollen wie gekaperte Schiffe aussehen — noch dazu in gutem Zustand. Der Kapitän rechnet damit, daß sie die Schiffe erbeuten wollen und ihre Leute an Deck schicken. Unsere Männer sollen sich versteckt halten, und wenn die Feinde ihre eigenen Schiffe verlassen haben, dann wird es ein Freudenfeuer geben! Die Männer, die mit dieser Aufgabe betraut worden sind, haben bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet. Man kann sich drauf verlassen, daß sie ihr Bestes tun.« »Und wenn wir auf diese Weise die Flotte erobern?« fragte Lydana. »Der Kapitän glaubt nicht, daß wir alle erwischen, aber wenn wir ihr Flaggschiff und mindestens drei Transportschiffe erobern, können wir sie zwingen, abzudrehen. Schließlich hat Balthasars Flotte so etwas noch nicht erlebt. Ja, Gomba haben sie zwar eingenommen, das auch eine Hafenstadt war, aber die dort ansässigen Kaufleute waren für ihren Handel auf fremde Schiffe angewiesen, und die zerstreuten sich in alle Winde, als sie vom Herannahen der feindlichen Flotte hörten. Sie haben riesige Schiffe - wahrscheinlich, um den Ruhm des Kaisers gebührend zu würdigen.« Skita verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln, »aber es mangelt ihnen an Manövrierfähigkeit, im Gegensatz zu den Schiffen, die der Kapitän bei Urs eingesetzt hat. Und Korsik, obwohl Pirat, war gewiß ein besserer Seemann als alle, die auf den Schiffen da draußen fahren. Balthasar ist zu oft Sieger gewesen — eine lange Reihe von Erfolgen kann einen Mann verletzbar machen.« »Und leichtsinnig«, fügte Lydana hinzu. Skita nickte. »Wenn die feindliche Flotte keine Bedrohung mehr dar
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stellt, will der Kapitän mit seinen Leuten in die Stadt einmarschieren. Wir wissen nicht, was dort vor sich geht, Herrin, aber es brodelt überall, und dem wollen wir noch ein bißchen nachhelfen.« Lydana legte eine Hand auf die Brosche. Sollte sie es wagen, noch einmal Verbindung mit ihrer Mutter aufzunehmen? Ein unbestimmtes Gefühl hielt sie davon ab. Die Macht, die ihr geholfen hatte, den Frachter einzunehmen, wurde jetzt vielleicht anderswo benötigt, und selbst wenn sie nur wenig davon entzog, konnte das empfindliche Gleichgewicht gestört werden. Sie wollte lieber abwarten und sehen, ob Saxons Pläne Erfolg hatten. In Begleitung von Skita verließ Lydana das kleine Haus. Wie sie vermutet hatte, war es eine Fischerkate, die nur aus zwei Räumen bestand. Sie machten sich auf den Weg zu dem hohen Gebäude, das schon seit Generationen über die Geschäfte im Hafen wachte, wobei sie sicheren Abstand zu den arbeitenden Männern hielten, die unablässig aus dem unteren Stockwerk kamen und jeweils zu zweit einen großen Behälter trugen. Feuer hatten einst die Piraten als Waffe eingesetzt, doch nach dem Sieg bei Urs hatte Saxon sich auch einen Vorrat an Brennstoff angelegt - in weiser Voraussicht, wie sich nun herausstellte. Den Kapitän sah sie nirgends. Jonas' Gebrüll indessen war nicht zu überhören. Hier und da erblickte sie ein bekanntes Gesicht — Flußratten, die mit ihr im Lagerhaus gewesen waren. Sie betraten das Gebäude durch die obere Tür und stiegen in den Turm, vorbei an Männern, die zwar Söldneruniform trugen, aber niemals Balthasar den Treueeid geschworen hatten — geschweige denn Catal. Einige warfen den beiden Frauen einen kurzen Blick zu, ohne sie nach ihrem Ziel zu befragen, und sie hatten das Gefühl, daß man sie im hektischen Getriebe vergessen hatte. Lydana betrat Saxons Quartier unterhalb der Turmspitze. Es sah aus, als wäre dort geplündert worden. Die gewohnte Ordnung, die ein Seemann lernt, der sich gewöhnlich mit einem kleinen Raum bescheiden muß, fehlte. Überall lagen Papierfetzen herum. Auf dem breiten Schreibpult erblickte Lydana ihr eigenes Portrait, auf infame Weise von zwei Messern festgehalten, die in den Augen steckten. Sie musterte das Bild mit kritischem Blick. Wenn irgendwo an den Wänden ein kleiner Spiegel hinge - würde es ihr dann gelingen, ihre gegenwärtige Erscheinung auch nur annähernd mit dieser königlichen Frau in Verbindung zu bringen, die dort in kostbaren Gewändern und mit glitzernden Edelsteinen aus den Schatztruhen des Königshauses abgebildet 423
war? Aber sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als sich um solche Belanglosigkeiten zu sorgen. Lydana legte die Hand an die Brosche. Sie nahm sich nicht die Freiheit heraus, den Stuhl des Kapitäns zu benutzen, sondern rückte mit Skitas Hilfe eine zweisitzige Bank an ein Fenster, das auf den Hafen hinausging, um das Geschehen zu beobachten. Auf dem Wasser schwammen Wrackteile, vermischt mit Unrat aus der Stadt, der vom ablaufenden Wasser aus den Kanälen herausgeschwemmt worden war. Der große Frachter lag noch mit dem Bug an der Pier. Ein Schiff, das neben ihm gelegen hatte, war verschwunden. »Die Schwarzmäntel ...« Lydana hatte damit gerechnet, daß die Leichen noch draußen herumliegen würden. Skita lachte auf, doch es klang so grimmig, daß Lydana ihr einen erschrockenen Blick zuwarf. »Ha, sie dienen uns!« Die kleine Frau trommelte mit den Händen auf die Fensterbank, und Lydana stellte fest, daß sie wieder ihre Kampfkrallen trug. »Die Männer hatten Angst vor ihnen, aber der Kapitän und Jonas und Dortmun hatten einen Plan, und danach meldeten sich Männer, die halfen, ihn in die Tat umzusetzen. Die Leichen durften nicht sichtbar sein - der Anblick war für viele einfach zu schauerlich. Also — nichts wie fort mit ihnen auf die Feuerschiffe! Dort dienen jetzt alle, die keine größeren Wunden hatten, als - Besatzung. Wenn sie die Schwarzmäntel auf den Schiffen erblicken, werden die Männer der kaiserlichen Flotte kaum Verdacht schöpfen — bis es zu spät ist.« »Du sagst, unsere Männer hätten Angst gehabt — wer hat denn diesen Befehl ausgeführt?« wollte Lydana wissen. »Die Söldner — die, die der Kapitän beim ersten Angriff gefangengenommen hat. Sie hatten genauso viel Angst wie unsere Leute, aber sie waren Gefangene, und deshalb blieb ihnen keine andere Wahl, sie mußten es tun. Der Kapitän hat gesagt, daß man die Welt nur mit Hilfe des Feuers von solch schlechten Seelen reinigen kann, und die meisten haben ihm lautstark zugestimmt.« Also hatten die Feuerschiffe nun eine Mannschaft. Lydana befühlte ihre Brosche. »Große Mutter, auch sie waren deine Kinder, wenngleich man sie auf den Weg des Bösen gezwungen hat. Gewähre ihnen die Gnade, das Ende eines Kriegers zu finden.« »So sei es«, sagte Skita. »Wenn auch nur ein Stückchen Seele in diesen Leichen steckt, soll es den ewigen Frieden finden.« Der Abend senkte sich herab. Drei Schiffe mit schiefen Masten, die ohne Leinen vor sich hin dümpelten, kamen von verschiedenen Punk 424
ten an den zahlreichen Piers in die Hafenmitte. Skita hatte recht, an Deck sah man Schwarzmäntel. Einige waren in aufrechter Haltung festgebunden und erweckten aus der Entfernung den Eindruck, sie stünden Wache. Die kleinen Schiffe wurden jeweils von zwei Langbooten in die Mitte genommen, die sie mit heftigen Ruderschlägen umdrehten, so daß ihr Bug zur Hafeneinfahrt zeigte. Die Drehung geschah langsam, und es sah aus, als hätten die schwimmenden Wrackteile sie in Gang gesetzt. »Herrin — seht nur!« Skita zeigte mit einem Klauenfinger auf die offene See. Unrat schwamm auf den Wellen, aber dahinter war noch etwas — Schiffsrümpfe, die sich näherten. Balthasars Flotte - oder die Spähtrupps! Sie hatten bereits die vorgelagerten Inseln passiert und kamen schneller voran als die Feuerschiffe. Lydana hatte einen Finger vor den Mund gelegt und biß sich fest auf den Knöchel. Ob es auf den einlaufenden Schiffen jemanden gab, der mit einer arglistigen Täuschung rechnete? Wer hatte bereits ein weitsichtiges Glas und konnte auf einem schwankenden Schiff damit umgehen? War es möglich, ein derartiges Glas auf einen Schwarzmantel auszurichten und ihn auf die Schnelle als den zu erkennen, der er war — ein zweifach toter Mann, der nun dem Feind diente? Anscheinend gab es zumindest einen wachsamen Kapitän in Balthasars Diensten, denn die schnell dahinschießenden Kutter holten die Segel ein und verlangsamten ihre Fahrt. Es wehte ein kräftiger Wind, den sie bereits zu ihren Gunsten genutzt hatten. Die Langboote fielen nun hinter den kleinen Schiffen zurück und bremsten deren Fahrt. Sie blieben hinter den Schiffen, kehrten aber nicht ans Ufer zurück. Heute abend waren keine Sturmwolken aufgezogen; Raubvögel mit scharfen Schnäbeln flogen auf und umkreisten die vermeintlich abdriftenden Schiffe. Lydana überlief ein Schauer, denn sie wußte nur zu gut, wodurch diese Vögel angezogen wurden. Die Strandfalken waren Aasfresser, und sie kannten die Anzeichen des Todes. Würde das noch jemandem außer ihr auffallen, und würde er Verdacht schöpfen? Die ersten feindlichen Kutter schwenkten zur Seite und machten den Feuerschiffen Platz. Nun brachte der Wind die Flotte voran. Lydana vermochte ihre Größe nicht abzuschätzen und konnte auch nicht erkennen, ob die gesamte Flotte anlanden wollte. »Fleisch für die Falken«, schnurrte Skita. »Seht nur, sie schwenken zur 425
Seite und bilden eine Straße. Die Schwarzmäntel dienen uns am Ende doch recht gut.« Skita hatte recht, die Langboote hatten sich zwischen die Wrackteile begeben und die Schiffe, die sie eskortiert hatten, weiterschwimmen lassen - wenngleich Lydana keine Ahnung hatte, ob ihnen nun eine Laune des Windes oder der Strömung zu Hilfe kam. Vielleicht hatte aber auch eine Macht das Kommando übernommen, die stärker war als die Männer, welche dort ihr Leben aufs Spiel setzten. Sie wagten kaum zu glauben, daß es so einfach sein sollte. Das erste Feuerschiff passierte die Spähkutter, die ihm weiträumig auswichen. Waren die schwarzen Gestalten an Deck, die für die beiden Frauen inzwischen kaum noch zu erkennen waren, der Grund dafür? Vielleicht fürchteten die Krieger des Kaisers Apolons Truppen beinahe ebensosehr wie ihre Feinde, die über die Schwarzmäntel Bescheid wußten. Das zweite Schiff war auf Höhe der Kutter angelangt. Sie waren zu weit entfernt, als daß Lydana und Skita hätten sehen können, was an Bord geschah. Dann ... Sie vernahm keinen Laut, wie sie erwartet hatte, sondern sah nur hoch auflodernde Flammen. Feuer war ein Teil der Allmacht - eines der ersten Geschenke an die Menschheit. Das Feuerschiff brannte lichterloh, als es zwischen die ersten beiden Schiffe der feindlichen Reihen trieb. Die Flammen schossen über das Wasser; diese Brände waren nicht mit Wasser zu löschen - das war ihr größtes Geheimnis. Segel und Takelage fingen Feuer, als das zweite Fischerboot sich neben das erste schob. Die feindlichen Kutter versuchten vergeblich, das dritte Fischerboot von sich zu stoßen, wurden jedoch im Nu von rotgelb züngelnden Flammen eingehüllt. Obwohl die Stundenkerze bereits die Abendstunden anzeigte, war es draußen in der Bucht noch taghell. Nicht nur einzelne Flammen waren es, die auf die anderen Schiffe übergriffen, sondern — dank der Kunst erfahrener Feuerwerker — auch wahre Feuerbälle, deren Reichweite so groß war, daß sie Feuer auf Schiffe trugen, die sich in Sicherheit wähnten und womöglich hätten entkommen können. Lydana bedeckte die Augen. Es war ein schrecklicher Anblick — dort unten starben Männer einen grausamen Tod. Sie erschauerte innerlich. »Es ist wirklich entsetzlich —«, sagte sie. »Warum, Herrin?« Erstaunt sah sie Skita an. »So hätten diese Männer auch Merina 426
gedient, wenn man es ihnen befohlen hätte. Ich selbst habe es erlebt - es gibt welche, die ihre Freude am Gemetzel haben —« Skita starrte noch immer auf das Wasser. Und Lydana dachte daran — obwohl Skita nie darüber gesprochen hatte, wie sie in die Hände von Piraten geraten war —, daß sie damals vielleicht ähnliche Schrecknisse erlebt hatte. Aber ob Krieg oder nicht, Lydana schauderte. Sie konnte nicht länger mit ansehen, was auch ihr Werk war. Die Wut, die in ihr geschwelt hatte, wurde durch die Feuersbrunst vernichtet. Sie spürte ein Pochen in der Hand, die sie mit geöffneter Handfläche ans Licht hob. Das Brandzeichen, das ihr vom Herzen aufgedrückt worden war, glühte. Sie hatte darum gebeten, daß sie für das Unrecht, das sie begangen hatte, bestraft würde. War es ein Zeichen, daß nun die Zeit der Vergeltung nahte? »Böses kehrt zu Bösem zurück«, wiederholte sie die alte Lehre, die sie seit ihrer Kindheit kannte, »aus Gutem entsteht Gutes. Merina lebt durch Herz und Hand — aber nur durch die Gunst der Allmächtigen. Auch mein Atem kommt und geht nach Deinem Willen. Nimm alle, die jetzt den Flammentod sterben, gnädig in Deinen Ewigen Frieden auf, ob Freund oder Feind. Außerdem schwöre ich beim Herzen, dessen Blutstropfen ich bei mir trage«, sie schloß die Hand mit dem Brandzeichen um die Brosche, »daß ich Dir nie wieder auf diese Weise dienen werde, wie ich es jetzt getan habe. Denn die Schuld, die ich durch meine Taten auf mich geladen habe, wird ewig auf mir lasten.« Eigentlich hätte sie eine Antwort erwartet. Aber vielleicht war die Allmächtige mit ihr fertig - sie war ein Edelstein, der fest in seiner Fassung saß, und mußte weder nachpoliert noch eingepaßt werden. Nur sie wußte, daß das, was sie gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Selbst wenn die Gabe für kurze Zeit in ihr aufgekeimt war, sie war verschwunden. Lydana hatte mit Kräften gespielt, die sie nicht zu beherrschen vermochte. Doch sie hatte nicht das Gefühl eines Verlustes. Ihr war vielmehr, als hätte sie sich einer Last entledigt, die ihr nicht bestimmt war.
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61. Adele Priesterin Elfrida saß auf ihrem Platz im Allerheiligsten und stimmte in die Gesänge der anderen ein. Verit hatte recht gehabt; nachdem allen die Wahrheit über Apolons Treiben vor Augen geführt worden war, hatte sich die Stimmung im Tempel beträchtlich verändert. Die wenigen, die nicht völlig verstanden hatten, was während des Exorzismus geschehen war, erkannten die wahre Sachlage sehr bald, als die Novizen, die Apolon sich hatte gefügig machen wollen, zu reden begannen. Offenbar hatte Apolon die Tatsache nicht ausreichend bedacht, daß jeder, der länger als einen oder zwei Monate im Tempel verbracht hatte, ein anderer Mensch war, bei dem die Machenschaften eines Totenbeschwörers nur blankes Entsetzen auslösen konnten. Alle »Novizen Apolons« - bis auf einen — hatten in aller Öffentlichkeit eine Beichte abgelegt und den Magier mitsamt seinen Taten verdammt. Das jüngste Opfer Apolons war leider nicht lange genug im Tempel gewesen, um ein wahres Kind des Herzens zu werden. Er war während des Exorzismus zumindest vorübergehend — vom Licht des Herzens geblendet worden, und wenn er auch kein regelrechtes Geständnis abgelegt hatte, war das, was er aus sich herausschrie, als er erkannte, was mit ihm geschehen war, ebenso erhellend. Elfrida bemühte sich, die abschweifenden Gedanken auf die Messe zu lenken, die sie sang. Im Augenblick war sie nicht fähig, sich darauf zu konzentrieren, was sie eigentlich tun sollte. Eine innere Unruhe hatte sie ergriffen, und scheinbar zusammenhanglose Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Nur - diese Gedanken hatten durchaus einen Zusammenhang; bruchstückhaft wurden ihr alle Gefahren bewußt, die dem Tempel drohten, und für die es noch keine Lösungen gab. Wie lange würde es dauern, bis Apolon die Karten auf den Tisch legte? Der Tempel war von seinen Schwarzmänteln umzingelt, und sie hatten damit begonnen, die Menschen, die zur Messe kamen, wieder nach Hause zu schicken. Wie lange würde es dauern, bis die Nachricht von dem Aufruhr im Hafen, den Lydana und ihre Pöbelhaufen entfesselt 428
hatten, zu Balthasar und seinen Beratern drang — und was würden sie tun, wenn sie davon erfuhren? Schelyra und ihr junger - nun, vielleicht nicht ganz so junger Mann waren vor wenigen Augenblicken im Gewirr der Geheimgänge des Palastes verschwunden, vielleicht zu der gefährlichsten Mission überhaupt. Elfridas Gewißheit, daß der Kaiser eine Marionette Apolons war, nahm von Minute zu Minute zu. Der Graue Magier schien an der äußerlichen Zurschaustellung von Macht keinen Geschmack zu finden; ihm war es durchaus recht, andere als Galionsfiguren gelten zu lassen, wenn er sie aus dem Hintergrund beherrschte. Sollte das hier der Fall sein, war Balthasar in der Tat Apolons Meisterstück. Offenbar war der Herrscher in der Lage, selbständig zu reden und zu handeln — was auf besondere magische Praktiken schließen ließ, vielleicht sogar darauf, daß Apolon diesen Menschen auf rein geistiger Ebene zu lenken vermochte. Bestimmt hatte der Graue Magier seinen Zauber gut geschützt, um zu verhindern, daß Balthasar ähnlich wie Thom Ränkeschmied erlöst würde. Aber Thom Ränkeschmied wurde nicht durch Magie erlöst, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Er wurde durch die Macht des Herzens befreit. Ihr könnte sich gewiß nicht einmal Apolon widersetzen! Bevor Leopold und Schelyra sich jedoch ein Bild vom Zustand des Herrschers machen konnten, mußten sie an Catal vorbei. Und sie müssen Catal unschädlich machen, da bleibt ihnen nichts anderes übrig. Wenn ihnen das nicht gelingt, wird er sich auf jeden Fall mit Apolon verbünden. Wir können einen Angriff durch Magie wahrscheinlich abwehren, aber wir sind nicht in der Lage, uns gegen einen Angriff durch Soldaten zu verteidigen. Sie versuchte sich klarzumachen, daß dies alles nun nicht mehr in ihrer Macht stand; daß sie ihre Gedanken darauf beschränken mußte, was sie tun konnte. Sie mußte der Allmächtigen sowie den Fähigkeiten der anderen vertrauen, mit den Aufgaben fertigzuwerden, die sie übernommen hatten. Aber es war schwer, sehr schwer. Sie steckte noch zu sehr in der Rolle der Königinwitwe, die überall die Finger im Spiel hatte. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht ablegen. Sie fuhr zusammen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie drehte sich um. Es war Priester Fidelis, der einen Finger an die Lippen gelegt hatte und ihr mit einer Handbewegung bedeutete, mit ihm zu kommen. Verwirrt folgte sie ihm. Er führte sie bis zum Ende des Korridors, ehe er zu sprechen begann. 429
»Wie Ihr bereits gesagt habt, wurden die Gefängnisschiffe im Hafen gekapert, und die feindliche Flotte wurde angegriffen, als sie in den Hafen einlief. Beide Unternehmungen verliefen erfolgreich, und ein Mann -Verit nimmt an, daß es der Hafenmeister Kapitän Saxon ist — stellt einen Heerhaufen aus dem Hafengebiet zusammen.« Elfrida nickte nur; Fidelis ging zu schnell für sie, und sie mußte mit dem Atem haushalten, um mitzukommen. »Nun stehen wir vor einem Problem: Die Männer, die auf unserer Seite stehen, sind auf dem Weg hierher, ebenso Apolons Schwarzmäntel. Mir scheint, als müßten wir mit Kämpfen auf den Tempelstufen rechnen.« Fidelis schüttelte den Kopf. »Ich bin noch immer nicht überzeugt, daß die Schwarzmäntel - zumindest die lebenden - nicht die Schwelle des Tempels überschreiten können. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir uns verteidigen können.« »Warum kommt Ihr damit zu mir?« fragte Elfrida arglos. Fidelis warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Priesterin Elfrida, ich bin mir im klaren, daß wir unser voriges Leben hinter uns lassen, wenn wir unser Gelübde ablegen«, erwiderte er mit einem Anflug von Schärfe. »Doch ich bin weder blind noch taub, noch so unerfahren, daß ich hinter der Schminke und der Verkleidung einer Frau nicht auch sie selbst sehen könnte. In den letzten fünf Jahren stand und kniete ich nicht weit vom Doppelthron entfernt, Königin Adele. Ich wußte vom ersten Augenblick, als Priesterin Elfrida ins Noviziat kam, wer Ihr wart.« »Verdammt!« fluchte Elfrida, und das Wort war ihren Lippen entschlüpft, ehe sie es verhindern konnte. »Weiß noch jemand —« »Cosima, glaube ich. Niemand sonst außer Verit, die offenbar von uns allen weiß, wer wir sind.« Er hob eine Augenbraue. »Also, Priesterin Elfrida, Ihr und ich sind wahrscheinlich die einzigen Mitglieder aller Orden im Tempel, die über Erfahrung in Kriegsführung verfügen. Uns beiden obliegt es, unser Möglichstes zu tun, den Tempel auf einen feindlichen Angriff vorzubereiten.« Sie nickte kurz. »Und was wart Ihr, wenn ich fragen darf?« Auch in ihrer Stimme lag jetzt eine gewisse Schärfe. »Wenn Ihr wißt, wer ich bin, dann hielte ich es zumindest für angebracht —« »Nichts Besonderes, und niemand, von dem Ihr je gehört hättet, obwohl ich damals einen guten Ruf genoß.« Er bog um eine Ecke, und sie sah, daß er auf die Lagerräume zustrebte. Das war allerdings eine gute Idee; obwohl stets peinlich genau 430
aufgelistet werden sollte, was dort an Vorräten vorhanden war, wurden meistens nur Schreibutensilien und Nahrungsmittel aufgeführt. Schon möglich, daß dort Dinge lagerten, die man als Waffen einsetzen konnte — zum Beispiel Hirtenstäbe. »Ich war freier Söldner und Hauptmann«, erwiderte Fidelis. »Euch ist vielleicht mein Akzent aufgefallen.« »Hm, ja«, erwiderte Elfrida. »Aus dem Norden?« Er nickte. »Aus Venikia. Ich hatte meine eigene Truppe, bis ich eines Tages feststellte, daß ich das Kämpfen von Herzen leid war, und beschloß, den Rest meines Lebens einer wertvolleren Aufgabe zu widmen. Zu diesem Zeitpunkt erlitt ich während eines Kampfes eine Wunde, die mir sehr gelegen kam und viel schlimmer aussah, als sie eigentlich war. Ich überließ die Truppe meinem Stellvertreter und >starb< auf dem Felde.« Er zuckte mit den Schultern. »Da bin ich nun. Ich hätte nicht so weit nach Süden ziehen müssen, und doch fühlte ich mich zum Tempel des Herzens hingezogen. Vielleicht gab es dafür ja einen Grund.« »Ich denke schon - wenn man die Lage betrachtet, in der wir uns jetzt befinden«, erwiderte Elfrida trocken. »Verit und Cosima haben wohl das Glas befragt?« Fidelis nickte und blieb vor der Tür zum ersten Lagerraum stehen. »Wir haben in der Tat einen Vorteil«, sagte er. »Wir sind über die Beichte darauf gekommen, und Cosima hat es bestätigt. Viele Söldner sagen sich von Catal los — und zwar aufgrund der Scheußlichkeiten, die er an ihnen verübt hat. Als einer, der selbst früher diesem Berufsstand angehörte, kann ich nur sagen, daß ich an ihrer Stelle wohl ebenso handeln würde.« Sie trat hinter ihm in den Lagerraum, und sofort fiel ihr Blick auf etwas Nützliches. Es waren mit Ornamenten geschmückte Säulen, die aus künstlichem Stein hergestellt waren; wahrscheinlich hatten einst Statuen darauf gestanden. »Die können wir als Barrikaden verwenden oder Türen damit versperren«, schlug sie vor. »Auf diese Weise hätten wir nur den Haupteingang zu bewachen. — Das hieße also, daß sich viele Söldner Catals im Falle eines Angriffs nicht den Schwarzmänteln anschließen würden?« »Gut.« Fidelis machte sich eine Notiz in das kleine schwarze Buch, das er in Händen hielt. »Ja, genau das ist der Punkt. Dadurch verringert sich die Streitmacht, die gegen uns aufmarschieren wird.« Sie hatte noch etwas ausfindig gemacht — in einer dunklen, von Spinnenweben verhängten Ecke lehnten ein paar sehr altmodische Fahnenmasten, an denen Banner oder Wandbehänge befestigt wurden, welche 431
man zu besonderen Festlichkeiten im Allerheiligsten aufhängte. Diese Masten waren aus der Mode gekommen, denn sie hatten die Form von Speeren, was man im Tempel als unstatthaft empfand. Nun würde ihnen diese Ähnlichkeit eher zugute kommen. »Was ist damit?« fragte sie und zeigte auf die Stangen. Fidelis drehte sich um und schaute in die Ecke. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Sie sind aus festem Material, nicht wahr?« »Ich denke schon.« Sie schlängelte sich zu der Ecke durch und hob prüfend einen Speer hoch. »Kann man wohl sagen. Sind sie dann nicht zu schwer?« »Nein, nicht, wenn wir sie gegen Reiter einsetzen, die versuchen, uns niederzureiten«, sagte er in einem lässigen Ton, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Zum Werfen sind sie zu schwer, aber wir greifen nicht an, wir verteidigen nur. Wenn sie dumm genug sind, Pferde in Speere laufen zu lassen ...« Er zuckte mit den Schultern. Sie wand sich aus der Ecke heraus, während er sich weitere Notizen machte. »Damit hätten wir ein passives Hindernis und eine passive Verteidigung«, sagte er versonnen. »Ich nehme an, hier gibt es wohl nichts, was als Ersatz für Schwerter dienen könnte?« »Nein«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Die letzte echte Waffe, die hier Verwendung fand, war das Gideon-Schwert, und das ist vor ungefähr zwanzig Jahren nach der Niederlage von Iktcar aus dem Tempel entfernt worden. Alles, was wir hier finden, ist für einen anderen Zweck hergestellt worden als für einen Kampf.« Er hielt im Schreiben inne und rieb sich mit dem oberen Ende seines Stiftes einen Nasenflügel. »Ihr wißt ja, daß Ihr die Nachfolge von Verit als Erzpriesterin antreten sollt. Ihr solltet Euch wirklich überlegen, ob Ihr nicht einem der Kriegerorden einen Platz hier im Tempel einräumt, wenn wir das hier überleben.« Die Ruhe, mit der er das aussprach, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sieht er seinen eigenen Tod voraus? fragte sie sich. Es wäre ein logischer Gedanke. Sehr wahrscheinlich würde er in vorderster Front stehen, falls es zu einem echten Kampf käme. »Das werde ich tun«, versprach sie. »Im großen und ganzen halte ich nicht sehr viel von den Kriegerorden, aber der Orden des heiligen Mikael hat einen guten Ruf, und sie bilden ihre Kämpfer auch als Heiler aus.« »Genau die wollte ich vorschlagen«, sagte Fidelis. »Wir leben in gefährlichen Zeiten, und das Herz ist eine Reliquie, der große Macht 432
innewohnt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein neuer Apolon danach trachtet.« Bei diesen Worten erstarrte sie. Diesen Gedanken hatte sie völlig verdrängt. »Apolon will das Herz«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Natürlich will er das Herz«, erwiderte Fidelis. »Es ist eine Quelle der Macht, und was braucht er anderes als Macht?« »Ich sehe hier nichts mehr, was von Nutzen sein könnte«, sagte er dann, während Elfrida wie angewurzelt dastand. »Es sei denn, Euch fällt noch etwas ein.« Diese nüchterne Aufforderung rüttelte sie wieder auf. Sie warf noch einen Blick in die Runde, aber das, was hier noch lagerte, waren nur Dekorationen aus Holz oder Leinwand, die an verschiedenen Festtagen im Tempel und außerhalb aufgehängt wurden. »Soweit ich sehe, nichts«, sagte sie. »Wir gehen wohl am besten in den nächsten Raum.« Am Ende hatten sie eine Liste zusammengestellt, auf der zwei weitere Säulenreihen, Hirtenstäbe und verschiedene andere Kleinigkeiten verzeichnet waren. Man konnte tatsächlich mehr als Verteidigungswaffe einsetzen, als sie vermutet hatte — obwohl die Verteidigung zum größten Teil passiv sein würde. Es gab keine andere Wahl. Die Ordensmitglieder waren nicht gerade jung, und die meisten hatten in ihrem Vorleben keine Kampfausbildung genossen. »Ich habe nicht vor, einen an sitzende Tätigkeiten gewöhnten Gelehrten vor einen geübten Schwertkämpfer zu stellen«, sagte Fidelis grimmig, als sie die Lagerräume verließen - eine Zusicherung, die Elfrida ein wenig erleichterte. »Die Schrift verbietet Mord, und genau darauf würde es hinauslaufen. Es wäre am besten, wenn wir eine Möglichkeit fänden, uns hier drinnen zu verbarrikadieren. Wir müssen eine Belagerung nicht fürchten.« Als sie ihn verließ, um zu Verit zurückzukehren, dachte sie verwundert über seine letzte Bemerkung nach. Hatte er recht? Sie wußte es nicht. Und ihre einzige Hoffnung war, daß es nicht zum Äußersten kommen würde.
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62. Schelyra Zwei Tage lang hatten sich Schelyra und Leopold in den Geheimgängen des Palastes versteckt, ohne etwas ausrichten zu können. Kaiser Balthasar hatte für seinen Audienzsaal einen der wenigen Räume des Palastes gewählt, hinter denen keine Geheimgänge mit Gucklöchern entlangführten. Ihre Enttäuschung nahm mit jedem Gang in den Palast zu. Es war geradeso, als wüßte er etwas über die Geheimgänge und versuchte, sie an ihren Beobachtungen zu hindern. Er hatte seine Leibwache durch sechs Schwarzmäntel Apolons und sechs Söldner Catals ersetzt. Leopolds Regiment war wegen Ungehorsams in die Quartiere geschickt worden, nachdem die Männer während und nach dem großen Sturm hinausgegangen waren, um der Bevölkerung von Merina zu helfen. Offensichtlich hielt der Herrscher ein derartiges Vorgehen seiner Truppen für unangebracht. Leopold hatte das Gerücht vernommen, Catal habe einen seiner Offiziere in die Baracken geschickt, um das Kommando zu übernehmen, doch die Männer hätten sich buchstäblich geweigert, ihn anzuhören — sie hätten behauptet, der Sturm hätte sie alle taub gemacht. Und was Catal betraf- der Mann hatte seit zwei Tagen keinen Fuß in den Palast gesetzt. Seine Söldner aber - Männer, die seine Truppen verlassen hatten — verbreiteten Geschichten, die jeden Zuhörer mit Abscheu erfüllten. Offenbar vergriff Catal sich, wenn es ihm an Zivilisten mangelte, an seinen eigenen Männern, um seinen Überdruß an ihnen auszuleben. Die Beherrschung, die er sich über Jahre hinweg auferlegt hatte, war restlos verschwunden, und er versuchte nicht einmal mehr den Schein zu erwecken, die Männer, die er auspeitschte, quälte und aufhängte, hätten tatsächlich etwas ausgefressen. Sie hatten einfach das Pech gehabt, ihm in die Quere zu kommen. Unter dieser Voraussetzung waren viele seiner ehemaligen Soldaten zu der Überzeugung gelangt, daß Desertion die einzige Möglichkeit war, ihm zu entkommen. Einigen dieser Männer war es gelungen, durch die Absperrung der Schwarzmäntel in den Tempel zu gelangen; ein oder zwei von Schelyras 434
Zigeunerfreunden ebenfalls. Nur so hatten sie erfahren, was draußen vor sich ging. Die Zigeuner gingen wieder, sobald sie ihre Neuigkeiten berichtet hatten, die Söldner indes blieben im Tempel — eine Entwicklung, die Priester Fidelis mit grimmiger Schadenfreude zur Kenntnis nahm. Nun verfügte er über eine hübsche kleine Schwadron von Pikenieren, mit Eisenspeeren bewaffnet, an denen einst Wandbehänge im Tempel gehangen hatten. Sie bewachten alle Eingänge. Die Söldner waren offenbar heilfroh, im Tempel zu sein, Schelyra aber fragte sich, ob sie wohl ahnten, was sie dort in Kürze zu erwarten hatten. Eine Schwadron Pikeniere würde nicht viel ausrichten, wenn kaiserliche Truppen gegen den Tempel vorrückten. Andererseits - vielleicht hatten alle, die sich ihnen anschlossen, es als eine Art Buße getan. Sie verbrachten auch einen Großteil ihrer Zeit in den Beichtstühlen. Wahrscheinlich wußten sie doch, was sie letztendlich erwartete. Vielleicht war ihnen ein solches Schicksal immer noch lieber als das, was ihnen am Ende bei einem Unmenschen wie Catal blühte. Alle Vorbereitungen deuteten darauf hin, daß Balthasar - oder vielmehr Apolon im Namen des Kaisers - beschlossen hatte, den Tempel einfach zu belagern, da er davon ausging, daß sie sich früher oder später doch ergeben müßten. Möglicherweise mußte sich der Herrscher aber um mehr sorgen als um eine Handvoll alter, weiser Männer und Frauen, die unentrinnbar in einem großen Steinkäfig gefangensaßen. Die Söldner hatten nämlich auch berichtet, daß es gelungen sei, die Schiffe mit den Gefangenen im Hafen einzunehmen und anschließend die feindliche Flotte zu zerstören, die Vorräte und Verstärkung hatte bringen sollen. Die Söldner behaupteten, die Aufständischen hätten inzwischen die gesamte Küste in der Hand, und die Seherinnen im Tempel bestätigten das, soweit sie es vermochten. So sah die Lage aus, als Leopold und Schelyra sich am dritten Tag der Belagerung kurz nach Beginn der Morgendämmerung in die Geheimgänge begaben. Sobald sie ins Innere des Palastes vorgedrungen waren, spürten sie, daß etwas in der Luft lag. Im Palast wurde fieberhaft gearbeitet. Laute Männerstimmen und eilige Schritte hallten gedämpft in den Geheimgängen wider. In der Nacht zuvor war es im Palast so still gewesen, daß man hätte meinen können, er wäre unbewohnt; an diesem Morgen ähnelte er einem Nest aufgescheuchter Wespen, die nur darauf warteten, zuzustechen. 435
Im schwachen Lichtschein, der durch eins der größeren Gucklöcher fiel, wechselten sie einen raschen Blick und machten sich sofort auf den Weg zu den Geheimgängen, die zum Audienzsaal führten. Zwar war ihnen der Einblick in den Raum selbst verwehrt, doch sie konnten ins Vorzimmer spähen. Inzwischen kannte Leopold die Gänge, die Schelyra ihm gezeigt hatte, ebensogut wie die Prinzessin selbst, und sie mußten nicht umständlich im Dunkeln umhertasten, um den richtigen Weg zu finden. Leopold hatte seine militärischen Reitstiefel gegen ein Paar weicher Lederstiefel eingetauscht, wie sie die Zigeuner und Roßhändler trugen, so daß sie geräuschlos wie Mäuse zwischen den Wänden entlanghuschen konnten. Solange sie die Schritte zählten und mit der Hand an einer Wand entlangfuhren, wußten sie trotz der Finsternis stets, wo sie waren. Schelyra war vorausgegangen und kam als erste an das Guckloch. Sie öffnete es und lugte hindurch. Gerade noch sah sie Catal, der mit langen Schritten bebend vor Zorn in den Audienzsaal eilte, gefolgt von sechs nicht gerade begeistert wirkenden Söldnern, die vor der Tür Stellung bezogen, jeweils drei auf einer Seite. Catal ging allein hinein. Kurz darauf traten sechs Schwarzmäntel aus der Tür und gingen zielstrebig auf den Ausgang zu. Leopold hatte bereits herausgefunden, daß die Schwarzmäntel, die für den Herrscher zuständig waren, keine lebenden Leichen waren. Aber das machte keinen großen Unterschied, denn die Lebenden waren sadistische Ungeheuer, die an der Furcht, die sie den Menschen einflößten, ihren Spaß hatten. Flüsternd teilte die Prinzessin Leopold mit, was sie sah, ehe sie ihm das Guckloch überließ. Er schaute noch eine Zeitlang hindurch und legte dann das Ohr ans Guckloch. Catal hat die Schwarzmäntel hinausgeschickt, um mit dem Herrscher unter vier Augen sprechen zu können. Was auch geschehen sein mag, es muß von großer Bedeutung sein. Catal kommt sonst nie mehr hierher. »Da brüllt einer«, sagte Leopold ruhig; im spärlichen Licht des Ganges war es Schelyra nicht möglich, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber sie glaubte eine gewisse Anspannung herauszuhören. »Allerdings nicht Balthasar; es ist nur Catal. Doch es klingt so gedämpft, daß ich nichts verstehen kann. Ich glaube, er steht kurz vor einem Schlaganfall, weil Apolon gerade alle Schwarzmäntel für einen Großeinsatz zu sich gerufen hat, den er befehligt - und Catal braucht alle Männer, deren er habhaft wird, für sich. Im Hafen geht seit heute morgen etwas Größeres vor —« 436
Er wollte noch etwas hinzufügen, doch er wurde unterbrochen, als noch mehr Männer hereineilten. Er schaute noch einmal rasch durch das Guckloch, um dann wieder zu lauschen. »Das waren Boten«, flüsterte er, und seine Erregung wuchs. »Sie haben die Tür zum Audienzraum offengelassen - im Hafen gibt es einen Aufstand! Bewaffnete nähern sich den feindlichen Linien!« »Es geht los«, sagte sie, und sogleich spürte sie einen Druck auf dem Magen. »Apolon marschiert gegen den Tempel, und die Rebellen marschieren auf die Stadt zu. Wenn wir etwas tun wollen, dann müssen wir es jetzt tun.« Sie spürte, daß er nickte, obwohl sie ihn nicht sah. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wenn es ihnen gelänge, Catal und Balthasar jetzt unschädlich zu machen, würden sie damit zwei Köpfe des dreihäuptigen Ungeheuers abschlagen, das Merina zu verschlingen drohte. »Könnt Ihr alle Wachen von hier aus treffen?« fragte er. »Ich glaube schon«, erwiderte sie, während sie das Blasrohr, ein paar winzige Pfeile und eine Phiole mit dem überaus wichtigen Mittel aus der Tasche zog. Sie war sehr stolz, daß ihr die Hände nicht zitterten, obwohl sie den Eindruck hatte, sie müßte am ganzen Leib beben. »Sie sind nicht weiter entfernt als zehn Fuß. Ich kann die Geheimtür so weit öffnen, daß ich zielen und die Pfeile abschießen kann, ohne daß sie es merken.« Die Geheimtür zum Vorzimmer befand sich an der Rückseite einer Nische, in der eigentlich eine lebensgroße Statue stehen sollte. Im Augenblick hatte man dort allerdings einen eher lächerlich wirkenden künstlichen Baum aus Seide aufgestellt, da die Statue einer früheren Königin von Merina, die dort gestanden hatte, das Mißfallen des neuen Herrschers erregt hatte. Das kam Schelyra sehr gelegen, denn der Baum warf seinen Schatten auf den hinteren Bereich der Nische, ohne ihr Ziel zu verdecken. Wenn sie Glück hatte, würden die sechs Männer dort drüben erst dann merken, was sie »gebissen« hatte, wenn sie jedem von ihnen wenigstens einen Pfeil verpaßt hatte. Das ganze Unternehmen war höchst waghalsig, und sie konnte kaum glauben, daß dies alles wirklich geschah und daß sie mitten drin steckte! Ich bin bestimmt nicht mehr dieselbe Frau, die ich noch vor wenigen Monaten war ... Das Betäubungsmittel wirkte rasch, aber es verlor seine Wirkung ebenso schnell wie es eintrocknete — nach etwa einer Stunde; danach mußten die Pfeile erneut in die Flüssigkeit getaucht werden. Einen aus 437
gewachsenen Mann konnte man für mehrere Stunden aus dem Verkehr ziehen, ein Pferd nur für ein Drittel der Zeit. Vor allem glaubte sie, daß diese Söldner noch nie von einer solchen Waffe gehört hatten. Selbst wenn einer von ihnen erkennen sollte, daß er von einem Pfeil getroffen war, würde es wohl eine Weile dauern, bis er den winzigen Pfeil als gefährliche Bedrohung einschätzte. Sie tunkte die Pfeilspitzen in die Phiole, die sie anschließend beiseite legte; die restliche Flüssigkeit wäre ohnehin in ein paar Stunden wertlos wie Wasser, und es war zu schwierig, ein so winziges Gefäß in der Dunkelheit wieder zu verschließen. Dann trat sie an die Geheimtür neben dem Guckloch, während Leopold den Raum im Auge behielt. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt; für den Bruchteil einer Sekunde blendete sie das Licht, als sie den Spalt so weit öffnete, daß sie das Blasrohr hindurchschieben konnte. Die Männer standen zu beiden Seiten des Eingangs jeweils in einer Dreierreihe. Die Tür zum Audienzsaal wurde zugeschlagen, als Schelyra die Männer aufs Korn nahm. Erleichtert atmete sie auf, denn das bedeutete, daß sie die Wachen hier in diesem Raum vielleicht zur Strecke bringen konnte, ohne daß Catal davon erfuhr. Die geöffnete Tür im Schatten des künstlichen Baumes fiel niemandem auf. Wenn sie sich nur ein wenig bückte, konnte sie alle sechs gut sehen. Es muß sehr schnell gehen ... Mittlerweile war sie im Gebrauch dieser Waffe sehr geübt und hatte das wesentlich schwächere Mittel benutzt, das die Roßhändler bei der Jagd auf Wild verwendeten. Aber noch nie war sie gezwungen gewesen, so viele Opfer sozusagen gleichzeitig niederzustrecken. Ihre einzige Hoffnung war, allen einen Pfeil verpassen zu können, ehe sie merkten, daß es sich um einen Angriff und nicht um Schabernack handelte. Zweierlei kam ihr dabei zugute: zum einen der geringe Abstand, zum anderen die Wahrscheinlichkeit, daß die Männer die Pfeile für Insektenstiche halten würden. Auf diese Entfernung traf sie selten daneben, und die Pfeile durchdrangen alles, obwohl sie so winzig waren. Sie legte den ersten Pfeil ein, zielte auf den Mann, der am weitesten von ihr weg stand, und blies so fest wie möglich ins Rohr. Gleich darauf schlug sich der Mann laut fluchend an den Hals. »Was ist los, Kappa?« fragte ihn der Mann, der neben ihm stand, glucksend. »Hatte das letzte Mädchen, das du dir genommen hast, Flöhe?« »Mensch«, sagte der erste wütend. Offenbar hatte er den winzigen Pfeil nicht bemerkt; hoffentlich war er ihm in den Kragen gerutscht. Schelyra zielte auf den nächsten. »Hab' die ganze Nacht nach Mücken geschlagen.« 438
»Versuchst doch mal mit'm Bad«, johlte ein anderer, während der zweite Mann auf den zweiten Pfeil ebenfalls mit einem Schlag reagierte. »Verdammt!« fluchte er. »Geh bloß weg von mir, deine Flöhe springen schon zu mir über!« Schelyra traf den dritten und vierten, während die ersten beiden noch miteinander stritten; das Glück war ihr hold, denn keiner von ihnen hatte den kleinen Pfeil erwischt, als er nach den vermeintlichen Plagegeistern schlug. Catal brüllte noch immer im Audienzsaal herum, so daß er die Soldaten nicht hörte. Er hätte sonst bestimmt die Tür aufgerissen, um nachzusehen, was es gab. Der fünfte stand abseits von den Streithähnen, als ihn der Pfeil traf. Und dann war es mit Schelyras Glück vorbei. Wie die anderen schlug er sich auf die getroffene Stelle, doch im Gegensatz zu ihnen hielt er anschließend den Pfeil in der Hand, den er verblüfft betrachtete. Rasch, noch ehe der Mann seinen Fund näher untersuchen konnte, traf Schelyra den sechsten - genau in dem Augenblick, als der erste zu streiten aufhörte, die Augen verdrehte und auf der Stelle zusammenbrach. Einer nach dem anderen fiel um, und es wurde still. Schelyra öffnete die Tür vollständig, schob die Äste des Baumes zur Seite und rannte wie geplant zur Korridortür, um sie zu schließen und zu verriegeln. Jegliche Hilfe von außen wäre somit zumindest aufgehalten. Inzwischen lief Leopold zur Tür des Audienzsaales und lauschte. Schelyra nahm den bewußtlosen Söldnern die Waffen ab; wie bei allen gemieteten Soldaten waren die Waffen ausgesprochen bunt zusammengewürfelt. Sie rüsteten sich auf eigene Kosten aus, und für diese sechs waren Waffen und Rüstung offenbar wichtiger als alles andere gewesen. Sie selbst benötigten dringend ein Bad, aber die Rüstung war poliert, geölt und einwandfrei in Ordnung. Die Männer waren unrasiert, die Zähne verfaulten, aber ihre Schwerter und Messer waren aus bestem Stahl und tadellos gepflegt. Schelyra ergriff einen Dolch und wog ihn in der Hand, um zu prüfen, ob sie ihn werfen konnte. Dann nahm sie das leichteste Schwert der Männer an sich. Die anderen waren schwerer als die Waffen, an die sie gewöhnt war, und dieser Umstand konnte sich im Kampf tödlich auswirken. Kampf- ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte noch nie zuvor richtig gekämpft, sondern nur an den Ausbildungen der Roßhändler teilgenommen. Vielleicht bringe ich jemanden um. Vielleicht werde ich getötet. Ich 439
glaube, die Sache gefällt mir nicht ... Zu Beginn war es ein Abenteuer gewesen. Jetzt aber war es ein lebensgefährliches Unterfangen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als daß es vorbei wäre. Leopold trat einen Schritt von der Tür zurück und nahm ebenfalls ein Schwert und einen Dolch an sich. Dann nickte er Schelyra zu. »Fertig?« fragte er leise. Sie schluckte und nickte ihm zu. Oh, wie sie es bedauerte, hier hineingeraten zu sein, aber nun war es natürlich zu spät, um sich zurückzuziehen ... Leopold trat die Tür ein; sie flog auf, und schon stand er im Raum. Schelyra hielt sich direkt hinter ihm, den Dolch zum Wurf bereit und das Messer der Roßhändler griffbereit in der Scheide. Drei Menschen hielten sich in dem Raum auf. Catal, der Kanzler und Balthasar - keine einzige Wache. Catal starrte verblüfft zur Tür, denn diesmal hatte man ihn völlig überrumpelt. Adelphus stand mit ausdrucksloser Miene schräg hinter dem Thron, auf dem Balthasar saß. Das Gesicht des Kaisers wirkte ebenso leer wie das des Kanzlers. Catals Verblüffung hielt nicht lange an; mit unartikuliertem Gebrüll zog er seine Waffen und warf sich Leopold entgegen. Schelyra sorgte dafür, daß Balthasar nicht die Gelegenheit bekam, seinen Sohn gemeinsam mit Catal in die Zange zu nehmen. Sie zielte mit dem Dolch direkt auf seinen Hals, doch Balthasar wich schlangengleich aus. Der Dolch bohrte sich in die hölzerne Rückenlehne des Throns und blieb dort mit dumpfem Nachklang stecken. Das reichte jedoch, um Balthasars Aufmerksamkeit auf Schelyra zu lenken. Sie hatte indessen das Messer der Roßhändler gezogen, während Balthasar mit gezücktem Schwert vorsichtig auf sie zukam. Sie trat rasch ein paar Schritte vor, dann zur Seite, um sich zwischen Balthasar und Leopold zu schieben. Angstschweiß brach ihr aus, und sie hatte einen salzig-bitteren Geschmack im Mund. Ich darf nicht zulassen, daß er Leopold angreift; ich muß seine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Er war alt - aber er war auch ein erfahrener Kämpfer und viel kräftiger als sie. Sie wollte ihn auf keinen Fall nahe an sich herankommen lassen, obwohl sie ihn unbedingt ablenken mußte! Außerdem hatte sie noch das Blasrohr und zwei Pfeile; wenn es ihr gelang, ihn in den Vorraum zu locken, konnte sie ihn vielleicht mit einem Pfeil stechen, ehe die Wirkung nachließ. Also tänzelte sie vor ihm herum und nutzte den Vorteil, daß sie viel geschmeidiger war als er. Dabei achtete sie jedoch darauf, daß sie sich 440
außerhalb seiner Reichweite hielt. Das war leichter gedacht als getan; Leopold und Catal waren in einen heftigen Zweikampf verwickelt, der sich über den ganzen Raum erstreckte, und sie mußte achtgeben, daß sie weder Catal noch Balthasar in die Quere kam. Catal würde sie zweifellos als Schild benutzen, wenn er sie zufällig erwischte. Daher duckte sie sich, wich aus und dachte immer wieder daran, wie lange die Pfeile wohl noch wirksam blieben. Eine Fehleinschätzung kostete sie das Messer: Sie war gezwungen zu parieren und verlor die Waffe. Ein taubes Gefühl blieb in ihrer Hand zurück, aber es gelang ihr trotzdem, zurückzuweichen, ehe Balthasar ihr nachsetzen konnte. Die Pfeile wirken nicht mehr lange, dachte sie, während ihr der Schweiß den Rücken hinabrann und sie mit knapper Not sowohl Catals ausgestrecktem Arm als auch Balthasars Schwert entkam. Heiß brannte der Atem in ihren Lungen, und dennoch nahm sie alles mit übernatürlicher Deutlichkeit wahr. Allerdings könnten die Pfeile in diesem Augenblick die beiden hier bremsen. Das wäre immerhin besser als gar nichts! Leopold hatte seine liebe Not, und sie selbst konnte Balthasar kaum noch ausweichen, ohne auszurutschen. Sie und Leopold waren erschöpft, während weder der Herrscher noch der General auch nur eine Spur von Ermüdung zeigten! Daher ließ sie bei nächstbester Gelegenheit das Schwert fallen und nahm im Laufschritt das Blasrohr heraus. Die restlichen Pfeile steckten in ihrem Kragen; einen zog sie heraus, während sie auf den Thron sprang, legte ihn ins Blasrohr, drehte sich herum und blies heftig, nachdem sie ein Ziel anvisiert hatte. Zufällig traf es Catal, nicht Balthasar. In dem Augenblick, als Balthasars riesiges, schweres Schwert auf sie niedersauste, sprang sie vom Thron. Sie spürte den Lufthauch auf der Haut und war heilfroh, daß sie ihre enganliegende, schwarze »Späher«Kleidung trug. Balthasars Hieb war so mächtig, daß sein Schwert in das Holz des Throns getrieben wurde - er hatte Mühe, es wieder freizubekommen. Diese kurze Zeitspanne nutzte Schelyra, wirbelte herum, nahm den zweiten Pfeil, zielte und schoß. Catal hatte den Pfeil nicht bemerkt, doch damit hatte sie angesichts des hitzigen Gefechts auch nicht gerechnet. Der zweite Pfeil traf Balthasar direkt in den Hals ... Er unternahm nichts dagegen. Nicht einmal im Reflex schlug er danach, dabei war der Pfeil im weichen Gewebe des Halses gewiß 441
steckengeblieben! In geduckter Haltung umrundete Schelyra den Thron, sorgsam darauf bedacht, daß er sich zwischen ihr und Balthasar befand, denn der Kaiser holte immer wieder aus, um Schelyra zu treffen, und schlug riesige Kerben in das geschnitzte Holzwerk des Thrones. Flüchtig huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß Lydana tot umfiele, wenn sie das sähe ... Er ist furchtbar ungeschickt — wieso nur? Er soll doch angeblich ein ausgezeichneter Kämpfer sein! Dann erklang buchstäblich aus dem Nichts eine belegte, breiige Stimme. Schelyra hielt einen Moment verblüfft inne, was sie beinahe eine Hand gekostet hätte. Es war nicht Leopolds Stimme - nicht Catals und ganz gewiß nicht Balthasars Stimme. »Blut!« blubberte es seltsam gedämpft. »Nähre!« Noch einmal umrundete sie in geduckter Haltung den Thron und versuchte Balthasar so zu steuern, daß sie die beiden anderen Kämpfer und ihren Gegner im Auge hatte. Ihr Hals war ausgetrocknet, das Atemholen schmerzte, und sie mußte einen Hustenreiz unterdrücken. Das Herz klopfte rasend, und sie war zu Tode erschöpft. »Blut!« rief die Stimme erneut, drängender jetzt. »Sofort!« Was immer es sein mochte, es kam aus Catals Richtung. Sollte im General einer von Apolons Blutdämonen hausen? Aber — der Dämon, von dem Thom besessen war, hatte nie gesprochen! »Blut!« heulte die Stimme auf, und Catal wankte plötzlich rückwärts, obwohl Leopold ihn nicht einmal berührt hatte. »Bluuuut!« Catal prallte gegen die Wand und sank zu Boden, die linke Hand am rechten Handgelenk, als versuchte er, etwas loszuwerden. Er begann, mit der Hand gegen die Wand zu schlagen, während Leopold wie betäubt zusah. Nur mit Mühe gelang es dem General, die Schwerthand zu öff nen und die Waffe fallenzulassen. Sie schlug gegen die Wand und schlitterte dann ein Stück über den Boden in Schleyras Richtung. Als wäre damit eine dunkle Macht freigesetzt worden, mit der keiner von ihnen gerechnet hatte, schrie der General auf, zog seinen Dolch aus der Scheide und begann, auf seine rechte Hand einzustechen. Gebannt und entsetzt zugleich schaute Schelyra zu und hätte beinahe übersehen, daß Balthasar ihr auf den Pelz rückte. Blitzartig wurde ihr bewußt, daß sie um ihr Leben kämpfte.
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63. Leopold Leopold hätte sich bewegt, wenn er gekonnt hätte, doch jeder Muskel in ihm schien beim Anblick des schauerlichen Dramas, das sich vor ihm abspielte, wie gelähmt. Catal wollte sich des Armschutzes am rechten Handgelenk entledigen, und Leopold hatte das unbestimmte Gefühl, als wäre die unheimliche, nach Blut schreiende Stimme aus diesem Armschutz gedrungen. Es ergab keinen Sinn, nicht den geringsten! Sobald aber die ersten Blutstropfen aus Catals zerfetztem Handgelenk flossen, nahm die ganze Szene, die ohnehin schon bizarr gewesen war, eine noch eigentümlichere Wendung. »Blut!« brüllte jene blubbernde Stimme, weniger fordernd diesmal als vielmehr befriedigt. Catal heulte auf. Ein schriller Schrei des Entsetzens entrang sich Catals Kehle, wie Leopold ihn noch nie zuvor aus einem menschlichen Munde vernommen hatte. Dann mußte er mitansehen, wie Catals Körper gleich einer angestochenen Schweinsblase in sich zusammenfiel, während Catal unablässig wie ein Verrückter schrie. Herrin des Lichts - Leopold wurde übel, er wandte sich ab, wobei sein Blick zufällig auf das Schwert fiel, das Catal hatte fallenlassen. Leopold stutzte und sah genauer hin. Jetzt, da Catal es nicht mehr in Händen hielt, war es keine gewöhnliche, stumpfe Klinge mehr. Nun glänzte das Schwert in reinem, weißen Licht, das Leopold sofort mit den Himmelsboten in Verbindung brachte. Er konnte den Blick einfach nicht abwenden; unwiderstehlich wurde er von ihm angezogen wie Motten vom Licht. Ohne zu überlegen, ließ er die Waffen der Söldner fallen und hob das Lichtschwert auf... Schelyra — fiel es ihm reichlich spät ein. Schelyra ... Herrin des Lichts! Sie kämpft gegen Balthasar! Er wirbelte herum, stürmte quer durch den Raum und trat zwischen seinen Vater und Schelyra, das Schwert mit beiden Händen haltend. Während sein Vater innehielt und ihn anstarrte, sichtlich ohne ihn zu 443
erkennen, nahm Leopold einen neuen, ungewohnten Schatten auf seinem Gesicht wahr. Irgend etwas hielt den Herrscher in seinem Bann, doch es war kein Blutdämon wie bei Thom. Es blickte Leopold aus den Augen Balthasars an, es sah, was er in Händen hielt, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Leopold erinnerte sich an Elfridas Vermutung, Balthasar könne besessen sein, und drehte, einer Eingebung folgend, das strahlende Schwert in den Händen um. Er hielt es nun zwischen sich und den Vater, hob es wie eine Ikone in die Höhe, den Knauf nach oben. Balthasar blickte gehetzt hin und her, als könne er die Klinge nicht direkt anschauen. Mit einemmal mischte sich eine Spur Unsicherheit und Angst in seine Züge, obwohl er den Sohn noch immer nicht zu erkennen schien. Leopold trat einen Schritt vor, und Balthasar wich einen Schritt vor ihm zurück. Adelphus hatte die ganze Zeit abseits gestanden und sich ruhig verhalten. Er war dem Kampf lediglich ausgewichen, ohne einzugreifen. Als Leopold dem Kanzler jetzt einen kurzen Blick zuwarf, sah er einen Schatten in dessen Augen, der ihm nur zu vertraut war. Das kannte er bereits. Eine lebende Leiche. Wann hatte die Verwandlung stattgefunden? Kurz nachdem man ihn in den Sommerpalast verbannt hatte? Nur so konnte er sich erklären, warum Adelphus ihm nicht mehr geholfen hatte. Na ja, wenigstens scheint er sich nicht einmischen zu wollen. Vielleicht hat er Angst vor dem Schwert — oder vielleicht hat er auch keine Befehle. Ich kann ihn gewiß der Priesterschaft überlassen. Catal schrie nicht mehr, und Leopold wollte sich das, was aller Wahrscheinlichkeit nach von dem General übriggeblieben war, nicht ansehen. Statt dessen konzentrierte er sich auf seinen Vater. Offensichtlich würde Balthasar sie nicht angreifen, zumindest nicht, solange Leopold das Schwert in die Höhe hielt, aber sie konnten ihn nicht einfach so zurücklassen. Gab es denn nichts, was er jetzt tun konnte? Wenn er mit Schelyra fortging, hatte Balthasar immer noch seine Armee und konnte den Angriff auf den Tempel gemeinsam mit Apolon fortführen. Was auch immer den Herrscher in seinem Bann hielt, es war immerhin intelligent genug, Soldaten kommandieren zu können, zumindest unter Apolons Anleitung. Und trotz allem, was geschehen war, konnte Leopold den Gedanken nicht ertragen, den Vater eigenhändig umbringen zu müssen. Aber - vielleicht konnte sein Schwert etwas ausrichten? Das, was Balthasar beherrschte, hatte gewiß Angst davor. Ob das Schwert in der Lage war, seine Besessenheit zu vertreiben? 444
Auf jeden Fall war es einen Versuch wert. Er trat mit langsamen, aber festen Schritten auf den Vater zu und zwang ihn auf diese Weise, Schritt für Schritt von ihm zurückzuweichen, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. Balthasar drückte sich an die Mauer, als wollte er sich hindurchzwängen, das Gesicht noch immer merkwürdig ausdruckslos. Der Schatten in seinen Augen aber wich vor dem reinen, weißen Licht des Schwertes, das sich in Leopolds Augen spiegelte, zurück. Hinter sich vernahm er Schelyras schweren Atem, doch sie schwieg. Er näherte sich dem Vater, der das Gesicht vom Schwert abwandte und mit den Fingern vergeblich an der hölzernen Wandverkleidung kratzte, bis schließlich nur noch ein knapper Meter zwischen ihnen lag. Mit einer ruckartigen Bewegung drückte Leopold den Schwertknauf gegen Balthasars Gesicht, noch ehe dieser die Hand ausstrecken konnte, um es zur Seite zu schlagen. Lautlos blitzte Licht auf- ein unterdrückter Schrei war zu hören ... Als das Leuchten erstarb, sank Balthasar vor der Wand in sich zusammen. Bewußtlos war er nicht, aber seine Augen waren leer, das Gesicht wirkte völlig ausdruckslos, und die Muskeln hatte jede Kraft verlassen. Er war wie ein Kind in Mannesgröße, und als er zu Boden sank, rollte er sich tatsächlich wie ein Embryo zusammen, steckte den Daumen in den Mund und schloß die Augen. Schelyra trat leise neben Leopold und sah fassungslos auf das hinab, was von dem Herrscher übriggeblieben war. Wortlos griff sie nach Leopolds Hand. Er löste sie vom Schwert und drückte ihre Hand einen Augenblick. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und drehte sich um. Adelphus hatte sich über die verschrumpelten, verwelkten Überreste General Catals gebeugt. Der General selbst hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Menschen mehr, was die Marionette, die Adelphus inzwischen offensichtlich war, nicht zu berühren schien. Natürlich nicht, denn er lebt nicht und ist unfähig, etwas zu empfinden. Leopold ließ Schelyras Hand los und ergriff den Knauf des glänzenden Schwertes. Was auch immer Adelphus beherrschte, es würde gewiß der Macht des Schwertes weichen — auch wenn die Erlösung der Seele des Kanzlers das einzige wäre, was er für ihn tun konnte ... Er trat einen Schritt vor und erstarrte, als eine glockenhelle Stimme die Stille durchdrang. » Warte, Leopold. Du wirst woanders dringender benötigt.« 445
Verwirrt blickte er sich suchend nach dem Sprecher um. Seine Stimme glich jener des Himmelsboten, aber außer Schelyra und dem, was von Adelphus und seinem Vater übriggeblieben war, erblickte er niemanden im Raum. »Du kannst mich nicht sehen, Leopold, aber du trägst das Schwert in Händen, das ich einst geschmiedet habe, um einen anderen Magier wie Apolon zu vernichten. Sie sind in den Tempel eingedrungen, und die Priester befinden sich in höchster Not; sie können den Mächten der Finsternis nicht aus eigener Kraft standhalten. Dort wirst du gebraucht, und zwar bald, sonst fällt der Tempel, und das Allmächtige Herz wird in ein Herz der Finsternis verwandelt!« Leopold hielt nicht einmal inne, um zu überlegen, daß die innere Stimme auch Einbildung sein konnte. Jedes Wort war mit einer derart spürbaren Wahrhaftigkeit durchdrungen, daß er nicht eine Sekunde daran zweifeln konnte. Als er sah, daß Adelphus nach dem unseligen Armschutz griff, der das Leben aus Catal gesogen hatte, schwankte er einen Augenblick, doch länger nicht. Er konnte nicht hier und dort zugleich sein — aber er spürte, daß das, was der Armschutz aus Adelphus machen würde, nur ein Abglanz dessen sein konnte, was Apolon in eben diesem Moment war. Er drehte sich um und lief zur Geheimtür, und Schelyra mußte sich beeilen, wenn sie ihm folgen wollte. Er hatte das sichere Gefühl, daß er nicht einen Augenblick zu früh in den Tempel gelangen würde.
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64. Lydana »Also haben sie Fersengeld gegeben und dann fort mit Schaden!« Jonas, der einen verwegenen Verband um den Wuschelkopf trug, hatte immer wieder einen Schluck von dem bitteren Trank genommen. Sein breites Lächeln, bei dem er viele Zahnlücken entblößte, zeigte, daß er in bester Laune war. Vor der fleckigen Jacke baumelte eine fein gearbeitete goldene Kapitänskette hin und her — bestimmt ein wertvolles Beutestück. »Rechts und links haben wir sie aus dem Wasser gezogen, wie der Käptn befohlen hat. Die meisten wollten eben lieber ertrinken als schmoren. Und von denen, die gefangen wurden, sind die meisten längst hin.« Lydana konnte kaum glauben, daß seit dem Aussenden der Feuerboote erst zwei Tage vergangen waren. In den letzten vierundzwanzig Stunden waren Neugierige aus ganz Merina gekommen, um sich den Schauplatz der Katastrophe anzusehen. Die meisten Männer, die sie an Bord nahmen, waren so verbrannt, daß Lydana nichts mehr tun konnte, außer ihnen uralte Heilmittel zu verordnen. Sie waren schnell gestorben. Ihre Kameraden wurden auf einigen zerstörten Schiffen gefangengehalten. Man hatte ihnen die Rüstungen und alle Waffen abgenommen, die man bei ihnen fand. Sie dienten nun Saxons Truppe als Ausrüstung. Sie hatte den Kapitän nur einmal zu Gesicht bekommen. Er hatte einen schmutzigen Lappen um den Arm gewickelt und schien am Ende seiner Kräfte. Inzwischen schlief er in seinem alten Quartier im Hafenturm, denn er hatte sich dem Drängen von Jonas und Lydana fügen müssen, die beide darauf bestanden, daß er seinem Körper Ruhe gönnen mußte. Auf den Anlegern herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Flußratten, deren neue Ausrüstung entweder aus Lagerbeständen oder von ihren Gefangenen stammte, waren damit beschäftigt, sich im Gebrauch der für viele noch völlig unbekannten Waffen zu üben und Kompanien zerlumpter Gestalten zusammenzustellen. Denn sie wußten, daß ihnen der eigentliche Kampf in Merina selbst noch bevorstand. 447
Auch auf dem Kanal herrschte reger Betrieb, Schiffe legten an und fuhren wieder fort. Mit Hilfe aller Kniffe der einstigen Schmuggler erhielten sie auf diesem Wege Nachrichten aus der Innenstadt — obwohl man nie sicher sein konnte, was Wahrheit und Legende war. Die Boten erstatteten Jonas und Lydana Bericht. Der Wirt zupfte an seinen verknoteten Seilen herum, während Lydana sich über eine Karte von der Stadt beugte - eine sehr genaue, die sie in Saxons Pult gefunden hatte. Darauf kennzeichnete sie die kritischen Punkte. Sie hatte keinen Versuch unternommen, Adele mit Hilfe des Herzrubins zu erreichen, denn schon früh war die Nachricht eingetroffen, daß der Tempel belagert würde, und sie wußte, daß die gesamte Kraft der Gabe nun in diesem Kampf benötigt wurde. »Also haben die Krabbengesichter Catal die Hölle heiß gemacht«, bemerkte Jonas und knüpfte den nächsten Knoten. »Tja, die Söldner kämpfen, weil sie sich einen angemessenen Profit erhoffen, und für wen ist es schon ein Profit, wenn er geschunden oder geblendet wird oder wenn ihm sein Befehlshaber in seiner Wut die Hand abhackt! Sie sind keine Gefolgsleute, die durch Eid gebunden sind.« Lydanas Gedanken schweiften von den Bildern ab, die Jonas' Worte in ihr hervorriefen. Den laufend eintreffenden Berichten war zu entnehmen, daß General Catal sich nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Dämon verhielt, der einer uralten Legende entsprungen schien. Lydana wurde das Gefühl nicht los, der Mund des Vor könnte mit diesen verrückten Wutanfällen etwas zu tun haben, denen der General in immer kürzeren Abständen zum Opfer fiel. Bei dieser Vorstellung fühlte sie sich schuldig. »Balthasar«, fuhr Jonas fort, »hat jetzt 'n bißchen Pech mit seinen Hilfstruppen, was? Hätte nie gedacht, daß er seinem alten Kanzler 'nen Tritt versetzen würde. Anscheinend waren sie doch immer gut miteinander ausgekommen. Aber nun heißt es, man hätte ihn dabei erwischt, als er 'ne Idee zu tief in Balthasars Taschen griff. Jedenfalls steht der Kanzler unter Apolons Aufsicht, wie die meisten übrigens, die seinem Hof angehören.« »Apolon ...« Ihre Gedanken hatten eine andere Richtung eingeschlagen. Jonas' Lächeln verschwand. »Tja, der. Der scheint jetzt auf dem günstigsten Kurs von allen zu fahren. Sieht so aus, als hätte Balthasar ihm für den Tempel freie Hand gelassen. Aber der Kaiser — was wohl über den gekommen ist? Der benimmt sich nicht wie der Balthasar, von dem wir so viele Jahre lang gehört 448
haben. Anscheinend hat er sich auch noch mit seinem Sohn zerstritten. Keiner hat von Leopold etwas gesehen oder gehört, und Leopolds Männer folgen ebensowenig den Befehlen des Herrschers wie die Söldner. Seine Leibwache besteht neuerdings zum größten Teil aus Schwarzmänteln, und er schenkt Apolon jederzeit Gehör.« Lydana ärgerte sich bei dem Gedanken, daß sie keine Verbindung mit dem Tempel hatte aufnehmen können — wenngleich sie sehr wohl wußte, daß man dort wahrscheinlich weder die Zeit noch die Muße hatte, an etwas anderes zu denken als an die Frage, wie man sich mit den geringen Kräften, die zur Verfügung standen, verteidigen konnte. Saxons Späher fuhren jede Nacht mit ihren kleinen Ruderbooten aus, und da sie sich im Kanalnetz bestens auskannten, gelangten sie unbemerkt in die Stadt. Sie hielten den Kapitän über alles, was in den umliegenden Stadtteilen von Merina geschah, auf dem laufenden. Sie hatten sehr bald erfahren, daß Thom von den Schwarzmänteln aufgegriffen worden war, und Lydana mußte gegen den Wunsch ankämpfen, die seherische Kraft einzusetzen, um festzustellen, was aus Schelyra geworden war. Da ihnen bisher keine Gerüchte über die Gefangennahme der Prinzessin zu Ohren gekommen waren, hoffte sie inständig, daß das Mädchen dem Netz, in dem sich Thom verfangen hatte, entkommen war. Sie saß ganz in Leder gekleidet und in leichter Rüstung da, was sie noch vor zwei Monaten nicht für möglich gehalten hätte. Nur die festen Haarrollen verrieten ihr Geschlecht. Sie hatte die Lagerräume nach einem Schutz für sich und Skita durchstöbert, denn sie hatten beide nicht die Absicht, diese bunte Armee zu einem Angriff in die Stadt ziehen zu lassen, ohne sich daran zu beteiligen. Das konnte auch Saxon ihr nicht verwehren - obwohl er auf sechs von Jonas' handverlesenen Leibwächtern bestand, die die beiden Frauen im Auge behalten sollten. Obwohl sie eifrig damit beschäftigt waren, ihre kleine Streitmacht aufzustellen, schien für den Kapitän die Zeit zum Eingreifen noch nicht gekommen. Sie wandte ihre Gedanken der Stadt zu und achtete nicht auf die Boten, die von Zeit zu Zeit kamen, um dem Wirt Bericht zu erstatten. Schließlich trat sie noch einmal ans Fenster und blickte auf die Wrackteile im Hafen hinab. Außer zwei Fischerbooten, die sie von ihrem Ausguck sehen konnte, war von Merinas einst so stolzer Flotte nichts übriggeblieben. Der Wiederaufbau würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen — sollte die Gunst des Schicksals ihnen hold sein und sie als Sie 449
ger aus diesem Kampf hervorgehen lassen, so daß sie überhaupt an einen Wiederaufbau denken konnten. Sie errechnete bereits die Kosten, die auf sie zukämen, wenn sie die geschicktesten Schiffsbauer, die in Jamvar südlich von Merina saßen, mit dem Aufbau einer neuen Flotte beauftragten. »Herrin!« Skita war wie üblich auf leisen Sohlen neben sie getreten. »Es gibt Neuigkeiten —« Neugierig trat Lydana wieder an den Tisch. Dort stand Dortmun, der sehr schnell redete und wild mit den Händen gestikulierte, als wollte er jedes Wort einzeln unterstreichen. »... Dämonen - er hat Dämonen mitgebracht! Er schwört, er werde den Tempel knacken wie die Krähe eine Nuß! Noch wird der Tempel gehalten, aber die Schwarzen dringen vor!« »Was ist mit der Armee?« Die laute Frage unterbrach Dortmuns Redefluß, und hinter ihm tauchte Saxon auf. »Sie marschieren nicht - noch nicht«, Dortmun drehte sich rasch um und blickte den Kapitän an. »Lemmel, der ist bis an ihre Front rangekommen - die Söldner machen immer mehr Ärger, und der Herrscher hat sie von seinen Gefolgsleuten entwaffnen lassen. Auch da wird gekämpft ...« »Es wird Zeit«, Saxon blickte Lydana an. »Wenn der Tempel fällt ...« »Mit dem Tempel würde alles dahinschwinden, was Merina ausmacht«, sagte sie und nahm die Brosche, die jetzt an einem Band über ihrer Rüstung hing, fest in eine Hand. »Wir können nicht länger warten.« Er nickte. Schwungvoll drehte sich Saxon um und wandte sich an die Männer, die ihm gefolgt waren, um sie mit einem Schwall von Befehlen zu überschütten. Sogleich stoben die Männer in alle Richtungen auseinander. Jonas rollte seine Seile zusammen und steckte sie sorgsam in den Gürtel. »Es ist erst Vormittag«, bemerkte er. »Na und? Apolon wird kaum die Nacht abwarten, damit wir es leichter haben.« Skita vollführte Drohgebärden und rasselte mit ihren Klauen. Und so bereiteten sich die Verteidiger des Hafens von Merina darauf vor, ins Herz der Stadt vorzudringen. Lydana nahm wie selbstverständlich in einem der ersten Kähne Platz, Jonas an ihrer Seite. Saxon stand am Bug des Schiffes neben ihnen, und auf seinen Befehl legten sie ab. Die großen Ruder schwangen aus und beförderten die Boote in die Mitte des Kanals. Lydana warf einen Blick zurück. Rasch schlossen sich ihnen 450
andere Boote an - mehr, als sie zuvor bemerkt hatte. Die meisten Männer waren bewaffnet, dreiviertel von ihnen trugen Rüstung oder Halbrüstung. Sie waren alles andere als eine disziplinierte Truppe, aber wenn is zum Nahkampf kam, waren sie vielleicht auf ihre Weise gefährlicher als Balthasars Söldner. Im Vorbeifahren machte die Stadt einen verlassenen Eindruck. Aber als sie sich der Gegend um den »Seemannsknoten« näherten, schossen kleinere Ruderboote aus anderen Kanälen, um sich ihnen anzuschließen. Neuigkeiten wurden von Boot zu Boot ausgetauscht. Catal kommandierte noch einen Teil seiner rebellierenden Truppen, der, obwohl der General selbst nicht dabei war, zum Nordtor marschierte, offenbar unterwegs zum Tempelvorplatz. Bis jetzt hatte der Gefolgsmann Balthasars sich noch zurückgehalten, aber niemand wußte, wie lange das noch so bleiben würde. Sicher war aber, daß Balthasar sich direkt an Apolon und Catal um Unterstützung gewandt hatte. Seine Wachen bestanden aus Schwarzmänteln und Söldnern, und vom Rest seiner Truppe hielt er sich fern. Eigentlich hatte ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden niemand mehr außerhalb des Palastes gesehen. Die Bürger von Merina — mit Ausnahme jener, die in der Vergangenheit als Wachen oder bei der Marine gedient hatten - hielten sich in Verstecken verborgen. Einige Zunftherren und ihre Familien waren in aller Öffentlichkeit aufgegriffen und in der Nähe des Tempelvorplatzes eingesperrt worden. Sie wurden von Schwarzmänteln bewacht. Ein roter Schein lag auf Lydanas Brustpanzer; sie konnte die Wärme selbst durch die Rüstung spüren. War es ein Ruf- oder war es nur das letzte Aufbäumen der in Bedrängnis geratenen Macht? Die Neuankömmlinge aus dem Hafengebiet stiegen aus ihren Booten und stellten sich in ungeordneten Reihen auf. Das, was vor ihnen lag, schien sie nicht weiter zu ängstigen. Vielleicht hatte alles, was mit Magie zusammenhing, für sie seinen Schrecken verloren, nachdem sie die lebenden Leichen niedergeworfen hatten. Lydana, die Hand an der Brosche, kämpfte sich in die vorderste Reihe durch. Jonas, der durch sein Holzbein behindert war, hatte Mühe mitzukommen und blieb zurück; Saxon indes ging mit weit ausholenden Schritten voran, das Gesicht zur Hälfte durch den Helm verdeckt. Er hatte das blanke Schwert gezückt, und auf seinem Brustpanzer glitzerte die Sonne. Selbst wenn ihnen kein Banner vorangetragen wurde, genügte vielleicht dieser Anblick des Anführers, um den Rest der Truppe zusammenzuhalten. 451
Und noch etwas geschah. Als sie an den ersten Häusern vorbeigingen, schlüpften noch mehr Menschen durch halb geöffnete Türen und schlossen sich ihnen an. Sie trugen weder Rüstung noch Schwert, doch sie hatten Messer, Jagdspeere und andere, ungewöhnliche Waffen bei sich. Lydana sah eine stämmige Frau mit geschürzten Röcken, die einen langen Bratspieß in beiden Händen hielt. Nun vernahmen sie Geräusche, die der Endkampf um Merina mit sich brachte — laute, heisere Stimmen, die sich mit dem Klingen von Stahl vermischten. Plötzlich befanden sie sich in ihrem ersten Scharmützel, als ein paar Söldner versuchten, ihnen den Weg zu versperren. Im Nu standen Saxon zwei Schwertträger zur Seite, und von hinten deckten ihn Langspieße, deren Träger unruhig von einem Fuß auf den anderen traten, da sie nach einer günstigen Gelegenheit suchten, die Waffen einzusetzen. Lydana drückte sich mit dem Rücken an eine verschlossene Haustür und wartete ab, das leichte Schwert, das sie gewählt hatte, in der Hand. Aus dem Augenwinkel nahm sie schemenhaft Gestalten wahr, die sich nicht weit von ihr an den Fallrohren zu den Dachrinnen nach oben hangelten, ein Messer zwischen den Zähnen. Sie liefen ein Stück über das Dach und sprangen die Söldner von hinten an. Der Widerstand war bald gebrochen. Die geschlagenen Feinde wurden rasch entwaffnet und büßten alles ein, was die Sieger gebrauchen konnten. Ohrenbetäubender Lärm schallte vom Tempelplatz herüber: Über dem Geschrei und den Rufen lag ein Dröhnen, das Lydana durch Mark und Bein ging. Auch Saxon schüttelte den Kopf, als wolle er das Geräusch verscheuchen. Die Menschen ringsum hielten sich die Ohren zu, rissen den Mund weit auf und stimmten selbst ein lautes Geheul an. Die Hitze in Lydanas Hand wurde immer stärker. Saxon wischte sein Schwert am Mantel des Hauptmanns ab, der ausgestreckt zu seinen Füßen lag. Anschließend deutete er mit dem Daumen zunächst auf eine Haustür auf der rechten Straßenseite, dann auf eine Tür links von ihnen. Es waren nicht gerade die vornehmen Wohnungen angesehener Zunftfamilien, so daß kräftige Schulterstöße genügten, um die Türen einzudrücken. Die ersten verschafften sich Eintritt. Die Eigentümer selbst hatten kaum etwas zu befürchten, doch Lydana konnte sich denken, was Saxon vorhatte; entweder wollte er die Hintereingänge benutzen oder über die Dächer laufen, so daß er sich einen Überblick über das, was sie auf dem Platz erwartete, verschaffen konnte. Vorbeilaufende Männer rempelten Lydana an, noch ehe sie zur Seite gehen konnte, und verschwanden in den Eingängen. 452
Dortmun war unter den ersten gewesen. Offensichtlich setzte Saxon großes Vertrauen in ihn. Der größere Teil der Hafentruppe drängte weiter. Wieder trafen sie auf den Feind. Diesmal übernahm Lydana den Befehl, denn vor ihnen tauchten Schwarzmäntel auf, die sich wie Schmutz auf dem Pflaster ausmachten. Der Rubin entzog dem Herzen Kraft, doch er war ihre einzige Verteidigungswaffe. Zwiespältige Gefühle beherrschten Lydana, als sie die Hand mit dem Tropfen hob, und doch wußte sie, daß sie keine andere Wahl hatte. Lydana holte tief Luft und rief die Macht des Steines an. Darauf entstanden wieder die hellroten Wellen, die sich diesmal jedoch wie eine Speerspitze nach vorn schoben, um die bösartigen Kreaturen, die ihnen den Weg verstellten, niederzumähen. Sobald sie tödlich getroffen waren, sanken die Leichen aus weit zurückliegenden Kämpfen kraftlos zu Boden. Sie ließen die Toten achtlos liegen und bahnten sich einen Weg an ihnen vorbei. Vor ihnen öff nete sich der Tempelplatz, und eine farbenfrohe Menschenmenge, von der sich die Schwarzmäntel Apolons deutlich abhoben, drängte zu den Tempelstufen. Lydana hatte auf diesem Platz schon oft viele Menschen gesehen, doch sie waren nie so in Bewegung gewesen. Heute aber wurde an vielen Stellen gekämpft, und es herrschte ein Tumult, der sich bis auf die Tempelstufen hinzog, wo die Schwarzmäntel standen. Sie hatten dem Durcheinander auf dem Platz den Rücken zugewandt und schauten auf das große Tor. Die ersten hielten eine lange Röhre zwischen sich, deren Öffnung auf die Tempeltür gerichtet war. Am anderen Ende der Röhre befand sich ein kugelrunder Behälter, der fast einem Bierfaß ähnelte. Doch der schmierige Glanz, der auf der Oberfläche lag, ließ nicht gerade auf ein bekömmliches Getränk schließen. Lydana war sich ziemlich sicher, daß Apolon eine Zauberwaffe ins Spiel brachte. Saxon, der nach rechts und links Ausschau hielt, um festzustellen, ob seine Truppe sich näherte, stellte sich neben Lydana, die seinen Arm nahm. »Die Schwarzmäntel ...« Sie wußte nicht, wel chen Schrecken sie entfesseln würden, aber sie glaubte zu wissen, daß sie über eine Wunderwaffe verfügten, die sie für diesen Zeitpunkt aufgehoben hatten. Außerdem war ihr bewußt, daß sie nicht wagen durfte, jetzt das Blut des Herzens anzurufen. Die gesamte Kraft, die im Tempel vorhanden war, mußte dort bereitstehen — sie konnte es nicht wagen, auch nur einen Bruchteil abzuziehen.
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Saxon nickte und hob seine Stimme, die gewohnt war, Meeresstürme zu übertönen. »Holla, zu mir!« Die Kämpfer bildeten einen Keil, allen voran Saxon, gefolgt von Männern, die gut ausgerüstet und bewaffnet waren. Langsam drangen sie vor, vereint in dem gemeinsamen Ziel, und bahnten sich einen Weg durch die Menge. Söldner und die Gefolgsleute Balthasars mit ihren hellen Röcken wirbelten herum. Männer fielen, und ihre ehemaligen Kameraden schritten über die Leichen, um ihre Mörder zu erschlagen und dem Kapitän zu folgen. Lydana hielt ihr Schwert fest in der Hand und dankte im stillen ihrem Gemahl für die vielen Stunden, in denen er sie den Umngang mit der Waffe gelehrt hatte. Sie war nur noch von dem einen Wunsch beseelt, so schnell wie möglich die Stufen des Tempels zu erreichen. Und erst dann sah sie Apolon, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Doch der Mann, der jetzt dort vor der Tür stand, war ein anderer. Verschwunden war die graue Robe, in der sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er trug einen eng anliegenden Anzug, dessen blutrote Farbe durch die kleinen Rauchwirbel leuchtete, die ihn wie ein zweites Gewand aus zartem Gewebe umhüllten. In den Händen hielt er einen Stab, der ein Eigenleben entwickelte. Als Lydana es sah, fluchte sie, daß es ihr in den Ohren klingelte. Der Stab wand sich unter Apolons Griff, streckte sich hin und wieder, angetrieben von einer dunklen Macht, und langte wie zufällig nach einem der Umstehenden, als wolle er Trauben pflücken — doch wo er hinlangte, fiel ein Mann tot um. Aus welchem geheimnisvollen Lager hatte Apolon diesen Stab? Trotzdem kämpfte Lydana unverdrossen weiter — sie wich einem Schlag aus und ließ das Schwert niedersausen. Stillzustehen und zuzusehen wäre ihr sicherer Tod gewesen. Sie hatten sich inzwischen bis dicht an die Stufen vorgearbeitet. Ein kräftiger Ellbogenstoß in die Rippen hätte sie beinahe umgeworfen. Saxons mächtiger Körper tauchte vor ihr auf. »Wenn Ihr Macht habt ...« Der Rest seines Satzes ging in lautem Gebrüll unter, doch sie wußte, was er hatte sagen wollen. Apolon hatte vor der Tempeltür den Arm gehoben und ihn wieder sinken lassen, offensichtlich als Zeichen. Die Kämpfe auf dem Tempelvorplatz würdigte er kaum eines Blickes. 454
Obwohl die Schwarzmäntel mit dem Rohr direkt auf seinen Rücken zielten, trat er nicht zur Seite, als eine schwefelgelbe Flamme aus der Öffnung schoß. Sie legte sich um Apolon, ließ ihn anscheinend unberührt und traf mit voller Wucht auf die Tür. Gestank nach Tod und Verderben breitete sich aus. Und die eherne Tür, die vielen Jahrhunderten standgehalten hatte, schmolz dahin. Apolon indes trat nicht zurück, sondern wartete, bis das Hindernis verschwunden war. Die Umstehenden husteten und krümmten sich vor Übelkeit, der krampfhaftes Erbrechen folgte. Selbst Skita klammerte sich an Lydana. Ihr kleiner Körper wurde geschüttelt von innerem Aufruhr. Nur die Schwarzmäntel zeigten keinerlei Regung. Ebenso wie sie selbst, stellte Lydana fest. Vielleicht lag es an dem Talisman, den sie bei sich trug. Sanft löste sie sich aus Skitas Umklammerung und begann, die Stufen emporzusteigen. Die Schwarzmäntel waren noch zu sehr mit ihrer sonderbaren Waffe beschäftigt und richteten die unseligen Flammen ins Tempelinnere, so daß sie Lydana nicht bemerkten. Apolon indes betrat ungeachtet des noch immer ausströmenden Gestanks mit dem Hochmut eines Herrschers den Tempel; die Meute lebender Leichen folgte ihm. Vier hielten das Rohr, die anderen zogen an Seilen das Faß hinter sich her, aus dem das stinkende Gas entwich. Lydana ging hinter ihnen her. Das war das Ende, das wußte sie. Catal und Balthasar waren in dem hier stattfindenden Kampf Nebensache. Denn hier ging es nicht mehr Mann gegen Mann, sondern Macht gegen Macht. Von der Tempelschwelle aus sah sie den Hochaltar. Auf der Innenseite der Tür hatten keine Wachen gestanden — keine sichtbaren. Die Verteidiger des Tempels hatten sich um den Altar versammelt. Sie standen reglos wie die Statuen der Verstorbenen, die sich hier und da in Nischen erhoben. Das Herz schien ein wenig von seinem Glanz verloren zu haben. Sie spürte eine Bewegung, einen Ruck an dem Band, an dem die Brosche hing: Es stand mit einemmal waagerecht vom Brustpanzer ab. Sie hatte, bevor sie diesen Ort des Friedens betrat, das Schwert fallenlassen. Nun nahm sie die Brosche in die Hand und versuchte, den Stein aus der Fassung zu kratzen. Er war inzwischen so heiß, daß sie sich die Fingerspitzen verbrannte. Apolon ging siegesgewiß weiter, während seine Schwarzmäntel mit der sperrigen Waffe stehengeblieben waren. Dieser letzte Teil des Kampfes war offenbar eine Sache ihres Herrn und Meisters. 455
Das Band und die Brosche mit dem Rubin zerrten wie in rasender Wut an Lydana. Sie brach sich einen Fingernagel ab, aber sie hatte den Rubin freibekommen. Kaum hatte sie ihn jedoch auf die Handfläche gelegt, war er verschwunden. Ein heller Funke stob durch die Luft, flog über die Köpfe der Schwarzmäntel hinweg und ward nicht mehr gesehen, verschluckt im fernen Dunst beim Hochaltar. Das Herz glühte, hob sich empor und wurde immer heller. Lydana wurde von banger Ehrfurcht ergriffen. Diese letzte Auseinandersetzung war nicht ihre Sache - sie gehörte nicht zu den Auserwählten, würde nie zu ihnen gehören. Rasch wandte sie sich um. Auch als ringsum Unruhe entstand, als wollten die Statuen der Verstorbenen von ihren Podesten steigen und in einen Kampf für den Glauben eingreifen, für den sie gelebt hatten und gestorben waren, schaute sie sich nicht um. Im Laufschritt verließ Lydana den Ort, an dem sie keine Rechte hatte ... Dann stand sie draußen vor den Überresten der Tür und blickte wieder auf den Tumult, der den Platz erfüllte.
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65. Adele Die letzten beiden Tage im Tempel waren geprägt von Anspannung, aber auch Zuversicht. Trotz des anhaltenden Belagerungszustands hatte nicht ein einziger Schwarzmantel versucht, die Schwelle zu überschreiten, und die paar Söldner, die halbherzige Versuche an den Türen unternahmen, hatte Fidelis mit seiner winzigen Truppe von Speerträgern zurückgedrängt. Nun, da die Priesterschaft in Herz und Verstand einig war, sollten offenbar die Optimisten recht behalten: Apolon und seine Gefolgsleute waren nicht in der Lage, die Schwelle zu überschreiten. Als Leopold und Schelyra an diesem Morgen jedoch zu einem erneuten Erkundungsgang in den Palast aufbrachen, hätte Elfrida sie am liebsten wieder zurückgerufen. Sie hatte plötzlich eine Vorahnung drohender Gefahr, ein ungutes Gefühl beschlich sie, und nur weil sie nicht zu sagen vermochte, ob die Gefahr dem Tempel oder den Lauschern an der Wand drohte, rief sie ihnen nicht nach. Lange stand sie da und blickte auf die verschlossene Tür, während ihre innere Unruhe wuchs. Schließlich wandte sie sich um und — stand direkt vor Verit. Die finstere Miene der Erzpriesterin sagte alles. »Apolon -?« fragte Elfrida unsicher und war erleichtert, als Verit den Kopf schüttelte. »Noch nicht, aber er kommt. Er selbst.« Elfridas Erleichterung schwand dahin, als Verit fortfuhr. »Wir haben im Glas gesehen, wie er in einer fremdartigen Kleidung in die Blutkammer trat, geradewegs auf den — Bottich — zuschritt und den Stab herausholte, den er dort aufbewahrt. Sobald er ihn berührte, verschwand unsere Vision. Wenn wir jetzt sein Bild zu beschwören suchen, sehen wir nur noch Dunkelheit.« Elfrida fuhr sich mit einer Hand an den Hals, denn nackte Angst hatte sie gepackt. Für alle Tempelbewohner, die über die seherische Gabe verfügten, war es eine Binsenweisheit, daß das Licht kraft der Erleuchtung in sich immer den Schatten durchdringen konnte, daß es dem Schatten aber wesentlich schwerer fiel, ins Licht zu sehen, da es ihn blendete. Verit fand für die Tatsache, daß sie Apolon nicht mehr sehen konnten, 457
nur eine Erklärung: Er hielt sich nicht einfach nur im Schatten auf, sondern in der Finsternis, also im völlig lichtleeren Raum. »Aber wie hat er —«, begann Elfrida mit schwankender Stimme. »Um so weit zu kommen, muß die erforderliche Energie ...« Verit konnte nur Vermutungen anstellen. »Wie viele Menschen mag er in den letzten beiden Tagen umgebracht haben? Ich vermute, daß sein Meister ursprünglich ein kostbares Opfer von ihm verlangte, wie etwa Prinzessin Schelyra, daß er sich aber mit Quantität zufriedengegeben hat. Das ist jetzt ohnehin gleichgültig; wichtig ist, daß er sich auf dem Weg hierher befindet und daß es nun Zeit für uns ist, unsere Verteidigung aufzustellen.« Verit drehte sich mit raschelnden Gewändern um, und Elfrida folgte ihr auf dem Fuß. Die Szene im Tempel hatte sich bereits verändert. Fidelis hatte seine Söldner fortgeschickt - vielleicht an eine der weniger wichtigen Türen, damit sie, wenn möglich, fliehen konnten. Die Speere waren jetzt in den Händen der jüngeren Roten Kutten, die ein Viereck um den Hochaltar gebildet hatten. Sie hielten die Waffen mit den Spitzen nach außen und stellten somit gegen jede rein körperliche Bedrohung von außen eine stachelige Verteidigung dar. Die Novizen und alle, die nicht die magische Gabe besaßen, knieten gemeinsam hinter dem Altar, im Gebet vereint. Wenn sie schon nicht mit magischen Fähigkeiten dienen konnten, dann doch wenigstens mit ihrem Glauben, ihrer inneren Stärke und ihren Gebeten. Vor dem Altar, direkt gegenüber der Großen Tür, standen die Seher und Seherinnen des Tempels. Ob sie ihre Gabe bereits auf die Probe gestellt hatten oder nicht, spielte jetzt keine Rolle mehr. Wenn sie das hier überlebten, hätten sie ihre Fähigkeiten der einzig gültigen Feuerprobe überhaupt unterzogen. Wenn nicht, dann war es immer noch besser, im Kampf zu sterben, als Apolon in die Hände zu geraten. Draußen vor der Tür erhob sich lautes Stimmengewirr, und Metall traf auf Metall. Die leisen Gesänge im Tempel traten in den Hintergrund. Elfrida nahm ihren Platz unter den Sehern ein, während Verit sich ihrem Rang entsprechend vor die Gruppe stellte. Elfrida spürte, daß die Macht des Herzens über ihren Häuptern anwuchs. Es war ein langsamer Prozeß, der aber spürbar an Geschwindigkeit und Kraft zunahm. Die Frage war nur, ob das mächtige Herz rechtzeitig zu seiner vollen Größe anwachsen würde, um ihnen helfen zu können. Elfrida zwang sich, derartige Zweifel beiseite zu schieben und ihre Befürchtungen für sich zu behalten. Sie schloß die Augen, fiel in den 458
Gesang der anderen ein und vereinte ihre Energie mit der Kraft der Erzpriesterin. Der Kampflärm draußen vor dem Tempel schwoll an; offenbar wurde auf den Tempelstufen gekämpft. Plötzlich ertönte ein merkwürdiges Zischen, das laut im Tempel widerhallte und die Anwesenden für einen Moment verstummen ließ. Aller Augen wandten sich der Tür an der Tempelfront zu, die jetzt verschlossen und verriegelt war — zum ersten Mal seit jenen uralten Zeiten, als Iktcar versucht hatte, die Stadt einzunehmen. Die großen Bronzetüren, die dem bösen Totenbeschwörer und seinen Horden damals getrotzt hatten, hielten dem Ansturm der neuen Bedrohung nicht stand. Unseliger, schwefelgelber Rauch drang durch die Türen selbst und kroch aus sämtlichen Ritzen. Da draußen war etwas, das sich durch die Türen brannte, als wären sie aus Holz! Der Tempel war so groß, daß der Luftstrom den Rauch verteilte, noch ehe er die versammelte Priesterschaft erreichte, aber Elfrida spürte, daß es nicht gesund wäre, ihn einzuatmen. Vor ihren Augen schmolzen die Türen wie Schneeflecken im Frühling dahin und gaben den Blick auf eine Reihe von Schwarzmänteln frei, die eine fremdartige Waffe bei sich trugen. Vor ihnen stand Apolon in schreiendem Zinnoberrot, das in krassem Gegensatz zum gedämpften Scharlachrot der Roten Kutten stand. Wie er so durch die grünlichen Flammen und den schwefelgelben Rauch auf sie zukam, sah er selbst aus wie einer seiner Dämonen. Sprunghaft stieg die Energie des Herzens über ihren Köpfen an; es begann jetzt tief und dröhnend zu brummen, ein Geräusch, das eher zu fühlen als zu hören war und bis ins Mark drang. In diesem Augenblick erhoben sich die Rubine, geschleuderten Steinen gleich, vom Altar und kehrten dorthin zurück, von wo sie gekommen waren. Die Luft war energiegeladen und bebte, und das Herz tauchte alle in rosiges Licht, so wie bei der Erlösung von Thom Ränkeschmied. Doch Apolon schien nicht im mindesten beeindruckt. Seine Schwarzmäntel blieben an der Tempelschwelle stehen, aber der Graue Magier kam ungehindert herein. In den Händen hielt er den Stab, den Elfrida zuletzt in einem Bottich voller Blut gesehen hatte. In diesem Augenblick schlug ihr selbst über die große Distanz hinweg das Böse entgegen, das von ihm ausging. Allein die Tatsache, daß Apolon ihn über die Tempelschwelle getragen hatte, war Besudelung und Sakrileg genug. Apolon überblickte die Priesterschaft mit einem verächtlichen 459
Lächeln auf den Lippen. Er sagte nichts; er klopfte mit dem Ende des Stabes nur dreimal auf den Marmorfußboden. Der Mißklang dieser Schläge hallte mehrfach im Tempel wider und verursachte körperlichen Schmerz. Die Tempelwand hinter dem Magier, die Schwarzmäntel und die sonderbare Waffe verschwanden. An ihre Stelle traten wabernde, schwarze Wolken mit scharlachroten Lichträndern. In diesen Wolken befand sich eine Tür, die in den tiefsten Höllenschlund hinabführte, welcher sich rot und lauernd auftat. Diesem entstieg eine neue Art von Armee und scharte sich hinter Apolon - eine Armee aus Dämonen, Teufeln und namenlosen Mißgeburten. Aus gelben Augen glühte abstoßende Raffsucht; tropfnasse Klauen streckten sich gierig vor, um zu fangen und zu zerreißen. Grünes Gift sabberte aus Raubtierrachen, und zahnlose, saugende Blutegel sonderten gelben Schleim ab. Aus jeder Kehle dieser schauerlichen Armee drang Geschrei und Geheul, das nur Verdammte in ihren endlosen Qualen ausstoßen. Elfrida hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, wagte es aber nicht, die gefalteten Hände zu lösen. Sie hatte das Gefühl, als würde eine winzige Bewegung ihrerseits die Aufmerksamkeit der Horde allein auf sie lenken, und sie wußte, daß sie unter ihren Blicken dahinwelken würde. Beim Anblick der Teufelshorde fielen einige Novizen hinter Elfrida in Ohnmacht; der Gesang ließ nach, die Stimmen schwankten. Verits Stimme aber, klar und stark, sammelte sie wieder, während sie die Dämonen unentwegt anblickte, ohne mit der Wimper zu zucken. Apolon hob den Stab, und die Kakophonie der wilden Horde verstummte. Als er seine schneidende Stimme erhob, waren die heiligen Gesänge kaum noch zu vernehmen. »Ergebt ihr euch jetzt, so werde ich euch einen schmerzlosen Tod gewähren«, begann er herablassend, das Haupt hoch erhoben, als trüge er bereits die Herrscherkrone. »Außerdem werde ich niemanden von euch zu meinem Sklaven machen. Widersetzt ihr euch, werdet ihr tausend Qualen erleiden, ehe ihr sterbt, und tausend weitere nach dem Tode.« Verit antwortete, indem sie im Rhythmus des Gesangs dreimal über ihrem Kopf in die Hände klatschte, Donnerschlägen gleich. Die Seitenmauern des Tempels und das Kuppeldach über ihnen verschwanden. Das Herz hing unter weißen, dahinziehenden Wolken in der Luft, die Priesterschaft auch weiterhin in rosarotes Licht tauchend. Über dem Herzen und zu beiden Seiten indes schwebten Engel in all ihrer Pracht.
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Es waren keine Boten, die Elfrida so oft schon gerufen hatten, um ihr Warnungen oder Ratschläge zukommen zu lassen. Diese mächtigen Erscheinungen waren im Vergleich zu den Himmelsboten wie Blitze neben einer flackernden Kerze. Ihre Gesichter waren eigentlich zu hell, als daß man hätte hineinsehen können, und Elfrida war froh, daß ihre durchdringenden Blicke nicht auf ihr ruhten. Wäre das der Fall gewesen, dann wäre ihr vor lauter Ehrfurcht bestimmt das Herz stehengeblieben. Niemand konnte diese Erscheinungen ungerührt ansehen. Sie trugen Waffen bei sich, und nicht einmal diese wagte Elfrida anzusehen. Diese Wesen waren nicht für sterbliche Augen gedacht, und die Seele eines Lebewesens aus Fleisch und Blut konnte die Gegenwart derart ungeheurer Macht nicht ertragen. Es waren die mächtigsten Erscheinungen des Lichtes überhaupt; selbst Verit sank bei ihrem Anblick auf die Knie, und auf ihrem Gesicht malten sich Schrecken und Überraschung ab. Damit hat sie wahrscheinlich nicht gerechnet, als sie ihre Anrufungen ausführte! Elfrida wandte den Blick ab, senkte den Kopf zum Gebet und konzentrierte sich auf die Gesänge, sich an die Worte wie an eine Rettungsleine klammernd. Die Anrufung der Erzpriesterin war erhört worden, aber nur das gemeinsame Gebet der Priester und Priesterinnen war in der Lage, die Erscheinung aufrechtzuerhalten, so wie die Dämonen einzig und allein von Apolon und der Wesenheit in seinem Stab gehalten wurden. Fehlten diese Voraussetzungen, würden die Engel wieder in ihre eigene Welt verbannt. Vor Wut aufheulend, ließ Apolon seine Horde los. Die Engel bedurften keines derartigen Zeichens, denn sie waren nur ihrem eigenen Willen unterworfen. Die beiden Mächte trafen in den Wolken über dem Altar aufeinander. Das Herz stand im Zentrum ihrer Auseinandersetzung. Aus den Augenwinkeln sah Elfrida, daß viele Priester und Priesterinnen am Boden lagen, und sie schloß daraus, daß die Hälfte der Priesterschaft entweder bewußtlos oder tot war. Sie selbst war zu Tode erschrocken und fühlte sich überdies schwach und matt. Doch sie bemühte sich, nicht ohnmächtig zu werden. Ihres Wissens hing die Gegenwart der Engel über ihnen von der Stärke der Priester hier auf Erden ab, so wie die Gegenwart der Dämonen von der Anwesenheit und der Stärke Apolons abhing. Sie mußte einfach aushalten; sie selbst und alle anderen, sonst würden die Himmlischen Wesen aus dieser Welt verschwinden und den Weg für Apolon und seine Horde freigeben. Den Kampf, der sich über ihren Köpfen abspielte, konnte sie nicht 461
mit ansehen, daher warf sie einen Blick auf die Stelle, an der sie Apolon zuletzt gesehen hatte. Er war nicht mehr da. Nachdem er seine teuflische Armee gerufen hatte, war er weitergegangen. Voller Hochmut näherte er sich dem Hochaltar, den Stab wie eine Waffe vor sich her tragend. Ein rascher Blick in die Runde zeigte Elfrida, daß keine Roten Kutten mehr zur Verteidigung des Altars und der dort stehenden Priester bereitstanden; sie hatten zu den ersten gehört, die zu Boden sanken. Um den Sieg davonzutragen, mußte Apolon jetzt nur noch die stärksten Seherinnen mit körperlicher Kraft angreifen und niederschlagen, dann wäre der Widerstand endgültig gebrochen ... Krampfhaft schloß sie die Augen. Sie mußte sterben, entweder durch die Hand des Totenbeschwörers oder durch einen seiner Diener, und sie wollte diesen Tod nicht auf sich zukommen sehen. Sie konnte dem Grauen Magier nicht entkommen und weitersingen. Für beides zugleich fehlte ihr die Kraft. »Halt ein!« donnerte eine neue Stimme links hinter ihr. Elfrida schlug die Augen auf. »Halt ein, Ausgeburt der Hölle! Kehre zurück zu der Fäulnis, die dich geboren hat, oder stelle dich Gideons Schwert!« Als sie diese Worte vernahm, hätte Elfrida beinahe bei dem Gesangstext den Faden verloren. Das Gideon-Schwert? Aber — das hatte doch Catal — oder nicht? Die Gestalt, die nun mit wütenden Schritten aus dem Meditationsraum trat und auf Apolon zuging, war aber nicht General Catal, sondern Prinz Leopold. Er hielt das Gideon-Schwert, das so weißglühend war wie die Gesichter der Engel, in beiden Händen. Er trug es wie einer, der gut mit ihm umzugehen wußte. Apolon lachte. »Oh, du kleiner dummer Junge, wärst du doch tot geblieben! Was ist das für ein Spielzeug, das du da hast? Es ficht mich nicht an!« Er nahm seinen Stab in geübter Angriffshaltung fest in die Hand und trat vor. »Soso, du willst mich also mit deinem niedlichen Blechschwert herausfordern? Na schön; dann bleibt es mir wenigstens erspart, dich später noch suchen und töten zu müssen.« Leopold war der Atem zu kostbar, und er verzichtete auf eine Antwort; zornentbrannt stürzte er sich in den Kampf, während Apolon den Stab schwang und ihn zu treffen versuchte. Elfrida kannte sich in Kampfstilen nicht aus; sie hatte diese Angelegenheiten ihrer Tochter und ihrer Enkelin überlassen, denen so etwas zu gefallen schien. Eines wußte sie jedoch genau: Wenn ein Mann mit 462
einem Stab gegen einen Schwertkämpfer antrat, stand das Glück nicht gerade auf der Seite des Mannes mit dem Schwert. Der Stabkämpfer hatte eine größere Reichweite und konnte Hebelkraft einsetzen, und wenn man davon ausging, daß der Stab nicht gerade aus zerbrechlichem Material war, das ein gezielter Schwertstreich spalten oder zerbrechen konnte, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis der Schwertträger ermüden oder seine Waffe aufgrund eines klugen Hiebes mit dem Stab verlieren würde. Trotzdem hielt sich Leopold ausgezeichnet und trieb Apolon sogar ein gutes Stück zurück. Die Überraschung, die sich zunächst auf dem Gesicht des Grauen Magiers abgezeichnet hatte, war der Wut gewichen - ein hinlänglicher Beweis dafür, daß Leopold ihn nicht auf angenehme Art überrascht hatte. Aber der Graue Magier war noch lange nicht am Ende seines Lateins. Nachdem er die anfängliche Überraschung überwunden hatte, hielt er seine Stellung. So wie der Stab ein Netz aus Schatten zwischen Leopold und Apolon wob, baute das Gideon-Schwert ein Gitterwerk des Lichts zwischen ihnen auf. Apolon war nicht dumm, und er hatte nicht von ungefähr diese mächtige Stellung in der Welt erlangt. In Sekundenschnelle hatte er begriffen, was Elfrida bereits wußte: Leopold besaß zwar Geschicklichkeit, aber Kraft und Ausdauer waren eine Gabe des Schwertes, und Leopold wäre ohne das Schwert nicht stärker als die Roten Kutten, die bereits rund um den Altar am Boden lagen. Elfrida sah es, als Apolon zu diesem Schluß kam. Ganz plötzlich änderte er seine Taktik. Statt anzugreifen und zu parieren, konzentrierte er sich auf den Versuch, Leopold die Waffe aus der Hand zu schlagen. Er hatte genug Reichweite, und er konnte die Hebelwirkung ausnutzen. Es geschah so schnell, daß Elfrida die Schläge nicht genau verfolgen konnte; sie sah nur, daß Apolons Stab vorschnellte. Die Folge war, daß das Schwert aus Leopolds Händen flog und einen Lichtbogen bis zum Meditationsraum spannte; die nächsten Schläge streckten den Prinzen zu Apolons Füßen nieder. Er war bewußtlos und rührte sich nicht mehr. Elfrida verstummte und preßte sich die Fingerknöchel gegen die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Im stillen aber heulte sie in namenloser Pein auf, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie waren verdammt ... alle miteinander. Apolon trat mit hämischem Grinsen neben die hingestreckte Gestalt und holte mit dem Stab zum endgültigen Schlag auf Leopolds Schädel aus. »Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mich das freut, Leopold«, sagte er 463
jovial. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich davon geträumt habe, daß du so wie jetzt hilflos zu meinen Füßen lägest.« Leopold stöhnte und versuchte, sich aufzurichten, sank jedoch mit einem Schmerzenslaut wieder zurück auf den Boden. Elfrida war vor Schreck und Erschöpfung wie gelähmt, aber an der Stelle, an der das Schwert zu Boden gefallen war, regte sich etwas. Hatte sich eine der Roten Kutten erholt? Kam er rechtzeitig an das Schwert heran, um den Prinzen zu retten? »Als man dich in den Sommerpalast verbannte, mußte ich meine Männer schicken, um dich loszuwerden, aber es war eigentlich keine befriedigende Lösung«, fuhr Apolon fort. »Denn in Wirklichkeit wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dir den Schädel mit meiner Waffe zu spalten. Ich wollte dich vor Qualen aufheulen hören, wenn mein Stab dein Blut tränke — « »Scher dich fort von ihm, Bastard!« Es war nicht die Stimme eines Mannes, die so schrill klang, daß sie selbst die Kampfgeräusche über ihren Köpfen übertönte ... Apolon blickte auf - ausdruckslos, völlig überrascht -, rechtzeitig genug, um Prinzessin Schelyra zu sehen, das Gesicht weiß vor Wut, das Schwert in beiden Händen. Sie legte die Entfernung zwischen ihnen in einem todesmutigen Ansturm zurück, zu dem nur ein völlig Verzweifelter in der Lage war. Kaum hatte er wahrgenommen, daß sie tatsächlich eine Waffe trug, als sie auch schon zum Schlußsprung der Tänzer ansetzte, der mit einem lautlosen Schrei des Hasses begann. Die letzten fünf Schritte übersprang sie mit einem einzigen Satz ... ... und bohrte ihm das Schwert bis zum Knauf in die Brust.
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66. Lydana In einiger Entfernung vom Tempel versuchten noch immer kleinere Gruppen von Kämpfenden, die Feinde zu schlagen. In unmittelbarer Nähe des Tempels indes standen die Menschen wie betäubt da, als hätte sich ein Nebel der Verwirrung über sie gelegt. Der scheußliche, quälende Gestank hatte sich verzogen, obwohl das, was noch in der Luft hing, ausreichte, um Lydana Atembeschwerden und Hustenreiz zu verursachen. Sie stolperte und wurde von starken Armen aufgefangen. Es war Saxon, an den sie sich dankbar anlehnte. Er hatte sich offenbar soweit von dem Rauchangriff erholt, daß er schon wieder lauthals Befehle erteilen konnte. Dieser Schwall von Anordnungen brachte ein wenig Ordnung in die allgemeine Verwirrung. Männer und Frauen wurden aus ihrer vorübergehenden Betäubung gerissen und richteten sich auf. Lydana blickte von den Stufen des Tempels über den Platz und sah die Übermäntel der feindlichen Soldaten, die Schwerter und das Leder der Söldner. Einige von ihnen kämpften noch immer. Lydana wandte sich an ihren Gefährten. »Nichts wie weg von hier!« schrie sie ihm ins Ohr. In ihren Adern pochte das Blut, sie vernahm Schreie im Kopf- eine Warnung vor dem Bösen, das hinter ihr wütete. »Weg vom Tempel!« Saxon stellte keine Fragen, sondern erteilte seine Befehle. Die Hitze in ihrem Rücken stieg an, als strömte das Herz die größtmögliche Energie aus. An der Seite Saxons stolperte sie die Treppen hinunter. Die Menschen vor ihr wandten sich zum Tempel um, und ihre Gesichter, die vor Ehrfurcht erstarrten, überzogen sich mit rötlichem Schein. Und in dem Maße, wie sich die aufsteigende Macht vorschob, erstarben die Kämpfe, bis die Eindringlinge mit hängenden Armen neben den Bürgern von Merina standen, die Aufmerksamkeit auf einen Kampf gerichtet, der sich jenseits ihres Fassungsvermögens abspielte. Saxon legte einen Arm um Lydana, als sie über die Beine eines Gefallenen stolperte. Gemeinsam drehten sie sich zum Tempel um. Das gesamte Gebäude hatte sich ihren Blicken entzogen, als wäre es nur eine Erscheinung gewesen, die nun ihrer Kraft beraubt war. Aber Farben 465
sahen sie - Rot in allen Schattierungen, und, vorschießend in Schleierwolken, das Giftgrün der Flammen, die Apolon zu dieser letzten Festung Eintritt verschafft hatten. Lydana schauderte. In ihr floß das Blut des Tigers, und sie wußte, was dieser Kampf zu bedeuten hatte. Aber dies war nicht mehr ihre Schlacht. Sie wollte keine Macht mehr anrufen und verlangte nicht mehr nach Antworten. Der entschlossene Beistand Saxons war handfest spürbar, und an dieser Wirklichkeit hielt sie sich fest. Unruhe war in den Reihen der Kämpfenden entstanden. Die Menschen hatten sich in Bewegung gesetzt, langsam zunächst, dann immer schneller, bis sie schließlich rannten. Die feindlichen Soldaten folgten Hals über Kopf den Einwohnern von Merina, und die Söldner drängten sich unter Zuhilfenahme der Ellbogen hier und da an ihnen vorbei. Nur diejenigen, die Saxon direkt unterstanden, rührten sich noch nicht von der Stelle, obwohl die anfängliche Ehrfurcht auf ihren Gesichtern namenloser Angst gewichen war. Hier und da tauchte ein bekanntes Gesicht auf: Da stand Dimity mit einem lockeren Panzerhemd über der Werftkleidung und einem blutverkrusteten Langmesser in der Hand. Daneben Dortmun, der Mann, der einen Haken statt einer Hand hatte ... Vielleicht hatten sie früher bereits genug Merkwürdiges erlebt und oft genug dem Tode ins Auge gesehen, daß sie sich von diesem Anblick nicht einschüchtern ließen. Das Spiel miteinander kämpfender Farben ging weiter. Lydana konnte ihm nicht den Rücken kehren. Sie sah sogar — oder glaubte es zumindest — Formen, die sich im Licht bewegten, Formen, die das Licht wie Roben um sich legten, um ihre Gestalt sichtbar zu machen. Vielleicht war es aber auch nur ein Trugbild, erzeugt vom bloßen Wüten der Macht. Aber eine Veränderung zeichnete sich ab. Die sich windenden gelbgrünen Schlangen kamen nicht mehr so hoch, sie rollten sich zusammen und peitschten um sich, aber anscheinend trafen sie auf Widerstand, während das rote Licht mit unverminderter Kraft weiterwütete. Dann waren die unheilvollen Flammen so plötzlich verschwunden wie eine verloschene Kerze. Das Rot loderte himmelhoch auf und verschwand ebenfalls. »Es ist vollbracht.« Obwohl sie nicht mitten im Kampfgeschehen stand, wußte sie es: Sieg lag in der Luft, die sie einatmeten. Was immer Apolon gewesen sein mochte, es war dahin, so als hätte es ihn nie gegeben. Die lebenden Leichen, die ihm gedient hatten, waren wohl endlich erlöst. 466
Saxon atmete tief ein. »Euer Gnaden, Merina ist frei.« Sie zweifelte nicht im geringsten an seinen Worten - unabhängig davon, wie viele Söldner noch Catals Befehle befolgten oder wie viele Männer noch dem Willen des Kaisers gehorchten. Apolon war die treibende Kraft hinter dieser Eroberung gewesen, und ohne ihn würde sie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Nun war es an Lydana, tief Atem zu holen. Der rote Schein, der den Tempel noch immer einhüllte, zog sich allem Anschein nach in die Mauern zurück. Vor ihr gähnte ein Loch - die Tür, die das Böse gewaltsam niedergerissen hatte. Aber sie verspürte nicht den Wunsch, noch einmal die Stufen hinaufzugehen und vor den Altar zu treten. Sie zweifelte nicht im geringsten daran, daß das Herz wieder im alten Glanz strahlte und daß sich mit ihm auch die Ehrwürdigen erholt hatten — alle Orden, die der Allmächtigen dienten. Doch Lydana gehörte nicht zu ihnen. Sie warf einen Blick über die Schulter auf den mit Leichen übersäten Platz. Ebensowenig war es ihre Aufgabe, diesen Teil von Merina zu säubern. Ihre Stadt — und jetzt — ihre Pflicht ... Aber niemand stand völlig allein. Adele hatte die seherische Gabe, Schelyra hatte eigene Gefolgsleute. (Für Lydana stand fest, daß das Mädchen bei dieser letzten Auseinandersetzung ihre Hand im Spiel hatte und daß sie jemanden gefunden hatte, der zu ihr paßte.) Nein, keiner steht allein — und wenn doch, dann wird er ein Ungeheuer wie Apolon. Sie war Lydana gewesen, eine Königin und Handwerkerin, eine Tigerin auf der Suche nach rechtmäßiger Beute; sie war Mathilde gewesen, die kleine Perlenhändlerin (wenngleich ihre Erzeugnisse stets kunstvoll gearbeitet waren). Nun war sie allem Anschein nach wieder Lydana - aber sie hatte sich verändert. »Herrin —«, Skita blickte zu ihr auf. »Geht ihr zu - denen?« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf den Tempel. Lydana schüttelte langsam den Kopf. »Nein, jetzt nicht und nie mehr, meine Kleine. Ich setze die Segel für eine andere Reise.« Sie suchte nach Worten, denn sie wußte, daß sie die richtigen finden mußte — noch in diesem Augenblick, ehe die Zukunft durch einen Zufall verändert würde. »Für eine Reise braucht man einen Kapitän - nicht wahr, Kapitän Saxon?« Er ließ das Schwert fallen, das klirrend zu Boden stürzte, und ergriff ihre Hand. In diesem Moment wußte sie, daß Rang und Erbe keine Bedeutung hatten. Sie waren mehr als nur Kampfgefährten, viel mehr. Es machte ihr auch nichts aus, daß die Flußratten zusahen, wie sie ihrem 467
Anführer in die Arme sank und ihn küßte. Auch ihre Hochrufe hörte sie nicht - sie hatte ihre Gabe gefunden, die sie nicht abzulegen vermochte und die ihr niemand nehmen würde. Das einzige, was sie in diesem Augenblick von ihren Gedanken hätte abbringen können, war eine Bedrohung ihrer Stadt. Und die hatte sich in der Tat eingestellt und veranlaßte Lydana, sich aus der Umarmung zu lösen und sich der neuen Gefahr zu stellen. »Feuer!« ertönte ein hysterischer Schrei. »Die Stadt brennt!« Hoch über den Dächern, dort, wo die Zunfthäuser standen, schossen Flammen in den Himmel. Lydana, Saxon und ihre Gefolgsleute rannten los.
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67. Schelyra Schelyra saß auf dem kalten, harten Steinfußboden des Tempels und hatte Leopolds Kopf auf ihren Schoß gebettet. Sie hatte nicht widersprochen, als die Heilerinnen diejenigen zuerst versorgten, die ernstere Verletzungen davongetragen hatten. Zu viele reglose Gestalten wurden vorsichtig in Decken gehüllt, und Schelyra konnte bei diesem Anblick nicht böse darüber sein, daß der Prinz auf eine Behandlung warten mußte. Aber nun war er endlich an der Reihe. Fragend blickte sie Cosima an. Wenigstens kümmerte sich die beste Heilerin mit der größten Erfahrung um ihn. »Er wird doch wieder gesund, oder?« fragte sie, als Cosima die Kopfwunde des Prinzen untersucht hatte. Die Priesterin nickte müde. »Er hat eine Gehirnerschütterung davongetragen, meine Liebe, und er ist erschöpft wie alle Ehrwürdigen, die Verit im magischen Kampf geholfen haben. Beides zusammen ist nicht ungefährlich, aber ein junger Mann wie er dürfte es überleben.« Cosima senkte den Kopf. Eine Träne fiel, und sogleich überkamen Schelyra Schuldgefühle. Viele Priester, die zu Boden gesunken waren, würden nie wieder aufstehen Angst und Aufregung hatten so manches alte, schwache Herz zum Stillstand gebracht. Andere wiederum, zu denen auch Fidelis gehörte, hatte die kraftzehrende magische Arbeit getötet. Zögernd streckte Schelyra eine Hand aus, zog sie aber wieder zurück, da sie nicht wußte, wie sie hätte Trost spenden können. Cosima jedoch schaute zu ihr auf, als hätte sie gespürt, daß Schelyra sie trösten wollte, und brachte ein schwaches Lächeln für sie zustande. »Wir verdanken Euch beiden sehr viel, meine Liebe. Wärt Ihr nicht gekommen, um euch Apolon entgegenzustellen, hätte er uns alle umgebracht und die Macht gehabt, zu tun, was er wollte. Iktcar wäre gegen ihn ein kleiner Verbrecher gewesen. Ihr müßt Euch nicht schuldig fühlen. Und macht Euch keine Sorgen; in den Häusern der Stadt sind noch genug Heiler, und wir werden ihn Euch zuliebe gut pflegen. Laßt uns nur ein wenig Zeit, um die Dinge zu ordnen.« 469
Sie legte Leopold einen Kopfverband an und ging dann zum nächsten Opfer. Wieder war Schelyra mit dem Prinzen allein. Gehirnerschütterung. Was weiß ich über Gehirnerschütterung? Nur, daß Apolon zum Glück einen Stab und kein Schwert hatte, sonst wäre Leopold der Schädel gespalten worden. Sie kramte in ihrer Tasche nach hilfreichen Mitteln, fand jedoch nur eine Phiole mit einer Flüssigkeit, die, wie sie wußte, Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände beseitigte. Nun ja — vielleicht hilft es nicht, aber schaden kann es auch nicht. Sie zog den Stöpsel heraus und benetzte einen Finger mit der Flüssigkeit. Dann fuhr sie ihm vorsichtig über Stirn, Wangenknochen und Schläfen. Ein Geruch, der an Pinienhaine und hohe, blühende Weiden erinnerte, durchdrang den schweren Weihrauchduft. Nach wenigen Atemzügen fühlte sogar sie sich erfrischt und schöpfte neue Hoffnung. Kurz darauf flatterten seine Lider, und er schlug die Augen auf. Er sah sie an, und erleichtert konnte sie feststellen, daß sein Blick klar und wach war. Er hustete und krümmte sich, offenbar hatte er Schmerzen. Dann räusperte er sich vorsichtig. »Wie ich sehe, sind wir nicht bei den Engeln«, sagte er. »Sonst hätte ich nicht solche Kopfschmerzen. Demnach haben wir gesiegt.« Er atmete tief durch. »Ich will nicht nach den Opfern fragen; ich glaube nicht, daß hier auch nur einer ist, der ihre Zahl als zu hoch empfindet, nachdem er gesehen hat, was diese unheilvolle Kreatur für uns auf Lager hatte.« »Ich habe nicht viel gesehen«, gestand sie. Nur Licht und Dunkelheit, die über unseren Köpfen miteinander kämpften, und Feuerblitze und etwas Grüngelbes. »Meine Aufmerksamkeit war ganz davon gefangengenommen, daß du am Boden lagst und er mit hämischem Grinsen über dir stand.« Es gelang ihm, matt zu lächeln. »Und die Tigerin setzte erneut zum rettenden Sprung an? Das ist mehr Glück, als ich verdient habe, Prinzessin, und verdient mehr Dank als ...« »Ach, sei still«, sagte sie liebevoll. »Du redest zuviel und stellst dein Licht unter den Scheffel. Du brauchst eine Frau, die so viel von dir hält, daß sie dich zu deinem eigenen Vorteil vergiftet.« Er hob vorsichtig die Augenbraue auf der unverletzten Kopfseite. »So eine wie du, vielleicht? Ich weiß, warum ich mir das mehr als alles andere wünsche. Doch was hättest du davon?« Sie versuchte, gleichgültig die Achseln zu zucken, vermochte aber ihre wahren Gefühle nicht zu verbergen. »Nun, immerhin siehst du Engel, und Großmutter braucht jemanden, der das kann - um als welt 470
liches Oberhaupt des Tempels zu dienen. Das trifft sich gut, denn ich kann es nicht. Du hast doch gewiß gelernt, zu herrschen, und du siehst mir nicht so aus, als würde dir eine Herrschaft zu zweit Schwierigkeiten bereiten. Auch das trifft sich gut, denn ich würde meine Macht nicht hergeben.« Sein Lächeln wurde breiter. »O gewiß, da gebe ich dir recht«, erwiderte er zärtlich. »Vorausgesetzt, der Schlag von Apolons Stab hat mich der Fähigkeit, Engel zu sehen, nicht völlig beraubt.« Sie schnaubte kaum hörbar. »Das bezweifle ich. Und wenn doch - tja, dann werde ich eben das Gideon-Schwert nehmen und sie mit dem Knaufende wieder in dich hineinprügeln. Und außerdem«, fügte sie leise hinzu, »mag ich dich. Du bist wahrscheinlich der erstaunlichste und bemerkenswerteste Mann, dem ich je begegnet bin. Ich - ich wünsche es mir mehr als sonst irgend etwas. Einverstanden?« »Einverstanden.« Er schloß kurz die Augen, und Schelyra dachte schon, er sei eingeschlafen, wie es bei Gehirnerschütterungen häufig vorkommt. Als er dann die Augen wieder aufschlug, trat Adele gerade humpelnd zu ihnen. »Dann kann ich es doch gleich offiziell machen edle Schelyra, wollt Ihr mir den großen Gefallen tun, mir Eure Hand fürs Leben zu reichen?« »Natürlich«, erwiderte sie trocken, während ihr Herz einen Sprung tat und vor Freude hüpfte. »Großmutter, Ihr seid Zeugin.« »Nun, wenn du nach all dem, was geschehen ist, weder vernünftig noch vorsichtig geworden bist«, sagte Adele ruhig, »dann bist du doch zumindest so klug, einen Mann mit diesen Eigenschaften zu heiraten. Ich kann diese Verbindung nur begrüßen, ich bin sehr damit einverstanden, und wenn es sein muß, werde ich deine Tante überstimmen. Vorausgesetzt natürlich, daß sie zum Zeitpunkt der Heirat noch Königin ist.« Noch Königin? Aber ehe Schelyra Fragen stellen konnte, gab Adele zwei Männern, ehemaligen Palastdienern, die eine Bahre trugen, ein Zeichen. »Bringt ihn in die Gemächer des Königs und seid vorsichtig, er hat eine Kopfwunde«, befahl sie. »Legt ihn ins Bett, holt ein wenig Eis für ihn aus dem Eiskeller des Palastes und seht zu, ob ihr nicht seine Pagen finden könnt, damit sie sich um ihn kümmern — wenn nicht, überlaßt ihm eine von Schelyras früheren Dienerinnen. Er sollte unter Aufsicht bleiben, hat Cosima mir gesagt.« Die Männer hoben Leopold vorsichtig vom Boden und legten ihn auf die Trage, während Schelyra ihnen zusah, bereit, sie anzufahren, falls 471
sie ihm Schmerzen zufügten. Aber sie kamen ganz gut zurecht und trugen ihn ohne ein Mißgeschick zu einer der Seitentüren hinaus, die in den Garten führten. Sie wandte sich ihrer Großmutter zu, denn sie platzte vor Neugier. »Was soll das heißen, wenn sie noch Königin ist« fragte sie. »Was ist geschehen? Was hat Tante Lydana getan?« Adele bedeutete ihr durch eine Handbewegung, ihr zu folgen, und führte sie durch die rauchenden Trümmer der Haupttür ins Freie. »Ich will mit der letzten Frage beginnen, denn sie hat Einfluß auf die anderen beiden«, erwiderte sie. »Deine Tante hat sich für den Einsatz von Edelsteinen entschieden, auf denen sehr mächtige Flüche liegen. Den einen bekam Balthasar, ein anderer ging an den Kanzler und ein dritter an General Catal. Bisher haben wir nur einen gefunden, den verfluchten Siegelstein, den sie Balthasar in ihrem Ring schickte. Verit glaubt, daß sie jetzt, da Apolon ihre Visionen nicht mehr vereiteln kann, weiß, wo die anderen beiden sind.« »Wo?« wollte Schelyra wissen und biß sich auf die Lippen, denn ihr fiel die merkwürdige, breiige Stimme ein, die von Catals Handgelenk kam - und das, was dann mit ihm geschah. »Dort —«, Adele deutete auf eine dicke, schwarze Rauchfahne, die aus dem Zunftviertel aufstieg. »Sie hat versucht, die beiden Edelsteine mit Hilfe des Zweiten Gesichts zu finden, und dabei brach der Brand aus. Dort — du siehst die Flammen. Ich glaube, das ist — oder war - das Haus des Keilers, das Apolon für seine Zwecke belegt hatte. Warum die Steine dort sind, weiß ich nicht, denn wir haben die Überreste von Catal gefunden, der seinen Stein nicht bei sich hatte. Den Kanzler hingegen haben wir noch nicht gefunden.« »Er nahm Catal einen Armschutz ab«, platzte es aus Schelyra heraus. »Er hat sich genauso verhalten wie Thom. Und dann hat er Catals Armschutz an sich genommen und ist fortgegangen.« »Er hat sich verhalten wie Thom, wie eine lebende Leiche?« fragte Adele und schürzte die Lippen. »Das ist ja interessant. Die Frage ist nur, ob er nach einem grundsätzlichen Befehl handelte, demzufolge er alles, was von Bedeutung sein konnte, seinem Meister zu bringen hatte? Er konnte nicht wissen, daß Apolon im Tempel und nicht im Haus des Keilers war ...« Sie schauten über die Stadt und konnten den Blick nicht von der öligen, schwarzen Rauchsäule abwenden. »Verit hat angeordnet, das Feuer nicht zu löschen«, sagte sie schließlich. »Wir haben Leute hingeschickt, 472
die dafür sorgen sollen, daß die Gebäude in der Nachbarschaft unversehrt bleiben, aber sie hat befohlen, daß dieses Haus niederbrennen soll. Ich wäre mir nicht so sicher, ob Flammen den Ort wirklich reinigen, aber es ist ein Anfang. Wir werden wohl Monate damit zu tun haben, alles Schlechte zu vertreiben und den Ort zu reinigen, ehe an dieser Stelle wieder etwas aufgebaut werden kann.« »Wenn überhaupt.« Schelyra überlief ein Schauer. »Aber was hat das mit Tante Lydana zu tun?« »Verit beabsichtigt, ihr eine Buße aufzuerlegen für den Schaden, den sie angerichtet hat, und will ihr auftragen, alle Edelsteine ausfindig zu machen, die sie in Umlauf gebracht hat, sie eigenhändig zurückzubringen und so tief im Meer zu versenken, daß sie nie wieder auftauchen können, um der Menschheit zu schaden.« Adeles Augen waren auf einen Punkt weit hinter dem Rauch gerichtet, den nur sie sehen konnte. »Das erfordert Zeit, und Lydana muß die Seefahrten unternehmen, die sie ohnehin dem Thronsessel vorzieht. Sie hat die Herrschaft über Merina nicht freiwillig übernommen, und mir wurde von einer Augenzeugin hier im Tempel zu verstehen gegeben, daß sie offenbar - dem Hafenmeister Kapitän Saxon sehr zugetan ist.« Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. »Sie mochte ihn immer schon, und ich habe gewiß gegen eine solche Verbindung nicht mehr einzuwenden als gegen deine.« Schelyra nickte und reimte sich aus dem, was Adele nicht gesagt hatte, den Rest zusammen. Tante Lydana und Kapitän Saxon? Sieh an, sieh an! Ich hätte nie gedacht, daß der Wind ausgerechnet aus der Richtung wehen könnte! Sie muß doch tiefgründiger sein, als ich dachte! »Sie kann unmöglich zu meinen Gunsten abdanken - und ich nehme es ihr nicht einmal übel, denn ich bin wirklich noch zu jung. Aber Leopold hat gelernt, zu herrschen.« »Und er ist älter als du«, schloß Adele. »Ich glaube, daß wir auf diese Weise einige Probleme lösen können — dank der überaus günstigen Tatsache, daß du dich in diesen jungen Mann verliebt hast.« Erneut hob Schelyra die Schultern. »Ich weiß nichts über die Liebe ...«, erwiderte sie und wußte wohl, daß sie die Unwahrheit sprach, aber davon sollte Großmutter nicht einmal etwas ahnen. »Aber ich achte, bewundere und mag ihn. Er hat mir erzählt, daß es früher bereits einmal einen Plan gab, uns beide zu vermählen. Und — nun, Großmutter, wir wissen beide nur zu gut, daß ich schließlich doch einmal heiraten muß ... und dafür wäre mir ein Freund einfach lieber.« »Hm«, sagte Adele unverbindlich, jedoch mit der Andeutung eines 473
wissenden Lächelns. »Vielleicht ist gesunder Menschenverstand ja ansteckend.« Den Rest des Tages verbrachte Schelyra mit Arbeit — mehr, als sie glaubte bewältigen zu können, ohne vor Erschöpfung umzufallen. Adele schlüpfte vorübergehend aus der Rolle der »Priesterin Elfrida« und legte noch einmal das Gewand und die Juwelen der Königinwitwe an, um bei der Wiederherstellung der Ordnung in der Stadt zu helfen. Nach den vorausgegangenen Wirren verlor niemand, der vielleicht über Adeles plötzliche »Wiederauferstehung« verblüfft sein mochte, auch nur ein Wort darüber. Die beste Kleidung, die Schelyra auftreiben konnte, war ihr Jagdanzug, aber zu ihrer Erleichterung bemerkte sie bald, daß die Menschen nichts dabei fanden, wenn sie in diesem Aufzug auf dem edlen Pferd erschien, das sie aus dem Stall geholt hatte. Den ganzen Tag bis weit in die Nachtstunden ritt sie auf Adeles Anweisungen kreuz und quer durch die Stadt, um herauszufinden, was vor sich ging, und vorläufige Anordnungen zu erteilen. In den meisten Stadtvierteln hatten treue Bürger Merinas die Verantwortung übernommen; sie mußte herausfinden, wer es war, ihn (oder sie) in dieser Position bestätigen, mußte Übergangsregelungen treffen und Gerüchten entgegentreten. Die Söldner waren zum größten Teil bereits geflohen. Nun, da die Bürger bewaffnet waren und nach Rache dürsteten, war Merina für sie kein sicheres Pflaster mehr. In dem Viertel, in dem Catal Häuser von zweifelhaftem Ruf eingerichtet hatte, konnte Schelyra feststellen, daß die dort eingesperrten Mädchen sich bereits an jedem Söldner oder Schwarzmantel, den sie in die Finger bekamen, bitterlich gerächt hatten. Ein Blick auf die erste Leiche hatte sie davon überzeugt, daß die hartgesottene Frau, die dort die Ordnung wiederhergestellt hatte, keine Hilfe brauchte. Die Schwarzmäntel, die lebende Leichen gewesen waren, fielen, als Apolon starb, auf der Stelle um. Den anderen war es nicht gelungen, die Stadttore zu erreichen. Sie waren noch verhaßter als Catals Söldner, wenn das überhaupt möglich war, und ihre Opfer hatten sich die Gesichtszüge ihrer Peiniger gut eingeprägt. Schelyra unternahm nichts, um herauszufinden, ob die Wunden der Schwarzmäntel, die an jeder Ecke auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, nun alt oder frisch waren. Es gab Dinge, die man besser nicht beachtete. Balthasars Soldaten hatten sich — sofern sie nicht das Weite gesucht 474
hatten - klugerweise entweder im Lager außerhalb der Stadtmauern oder in den Baracken beim Palast verbarrikadiert. Diese Stellungen waren schwer einzunehmen, und die Bürger unternahmen keinen Versuch, sie zu vertreiben. Ein Unterhändler aus dem Lager, der vorsichtig seine Fühler ausstreckte, wollte von Adele erfahren, was aus dem Kaiser geworden sei. Ein Soldat aus den Baracken beim Palast aber erklärte unumwunden: »Es ist uns egal, was aus ihm geworden ist. Wir wollen unseren Prinzen.« Das überraschte Adele nicht. Die beiden Pagen des Prinzen - oder die »Knappen«, wie der Prinz sie zu nennen pflegte — hatte man bei diesen Männern ausfindig gemacht, die sie unter ihre Fittiche genommen hatten. Als die Jungen erfuhren, daß Leopold noch lebte - und sich überdies im Palast befand —, wollten sie auf der Stelle zu ihm laufen. Nachdem bekannt geworden war, daß Leopold die Seiten gewechselt hatte, daß er einigermaßen gesund war und in der Stadt bleiben würde, erklärte sich die gesamte Kompanie für Leopold und hätte die kaiserlichen Uniformen liebend gern abgelegt, wenn ihnen andere zur Verfügung gestanden hätten. Dieser Mangel war rasch behoben, indem alle Insignien des Kaiserreichs durch das Emblem des Tigers von Merina ersetzt wurden. Schon am nächsten Morgen sollten die neuen Truppen an der Seite von Männern der Palastwache in den Straßen patrouillieren und dafür sorgen, daß Ruhe und Ordnung wiedereinkehrten. Und Lydana - Schelyra fand sie beim Haus des Keilers. Sie wartete darauf, daß auch die letzte Flamme erlosch, und war wild entschlossen, die Trümmer nach den schrecklichen Edelsteinen zu durchsuchen, noch bevor sie erfuhr, welche Buße ihr Verit auferlegt hatte. Dort erfuhr Schelyra die letzte und vielleicht merkwürdigste Geschichte von allen. Ein Diener erzählte es ihr, noch völlig verstört, denn er war Zeuge der letzten Augenblicke in Adelphus' Un-Leben gewesen. Der Kanzler war ins Haus des Keilers gekommen, kurz bevor, wie der Diener sagte, »die ganzen Lichter da oben am Himmel angingen«. Lange stand er so da, während alle noch lebenden Diener nach dem Fortgang der Schwarzmäntel und ihres Meisters die Gelegenheit nutzten und schnell das Weite suchten. Alle außer diesem alten Diener, der erst ein paar Beutestücke zusam menraffen wollte, ehe er fortging. Während er, völlig unbeachtet vom Kanzler, dies und jenes einsackte, da... 475
»Da passierte was«, sagte der Mann. »Ein Geheul kam aus dem Zim mer, wo der Herr immer gesagt hat, keiner soll reingehen.« Er begann zu zittern. »Ich kann gar nicht sagen, wie es sich anhörte ...« »Macht nichts«, erwiderte Schelyra beruhigend. »Ich kann es mir vorstellen.« Das konnte sie in der Tat: An diesem Ort waren bestimmt Dutzende böser Geister gefangen, ganz zu schweigen von den gequälten, versklavten Menschenseelen. Und als Apolons Tod sie erlöste ... »Tja«, sagte der Mann, nachdem er hörbar geschluckt hatte, »der Kanzler wurde ganz blau und wäre fast vornüber gekippt — aber dann hat er sich auf einmal wieder aufgerappelt, ganz komisch hat er da geguckt...« »Wie?« fragte Schelyra. Er schüttelte den Kopf. »Komisch eben. So, als würde er mit etwas kämpfen. Er hat die Hand hochgehalten, so ...« Der Diener hob die rechte Hand. Der Arm, an dem Adelphus den Armschutz trug! dachte sie, und plötzlich tauchte das Bild vor ihr auf, wie Adelphus den Armschutz des verstorbenen Generals an sich nahm. »Und - und es hörte sich an, als ob er brüllen wollte, aber er konnte nur flüstern. Wie jemand, der keine Luft bekommt. Ungefähr so ...« Der Diener ahmte auf drastische Weise einen Mann nach, der mit einem zerstörten Kehlkopf zu sprechen versuchte. Schelyra standen die Haare zu Berge. »Nein. Bei der Allmacht, nein!« ächzte der Mann und gab wieder, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. »Ich - werde — dich — zuerst — in — der — Hölle — sehen!« Der Mann blieb noch eine Zeitlang mit erhobenem Arm stehen, so daß Schelyra ganz unheimlich zumute wurde. Dann ließ er den Arm sinken und hob die Schultern. »Dann - dann hat er eine Laterne genommen; er wollte sie auf was werfen, doch da hat er den Geist aufgegeben. Aber die Laterne, die sauste in die Vorhänge, und überall ist Öl ausgeflossen, und — paff. Die ganze Bude is' hochgegangen wie Zunder. Hab' gemacht, daß ich rauskam, fast hätte ich mir noch den Hintern versengt.« Lydana fragte den Mann nach dem Ort, wo der Kanzler zusammengebrochen war. Schelyra überließ die Suche ihr — was sie vorhatte, war offenkundig. Schließlich, als sie wirklich am Ende ihrer Kräfte war, ritt Schelyra auf ihrem ebenso erschöpften Pferd zum Palast und sank den alten, vertrauten Dienerinnen in die Arme, die sie zu Bett trugen. 476
Aber sie blieb dort nicht lange; sobald der Morgen graute, war sie schon wieder auf den Beinen und arbeitete hart. Lydana kam am späten Vormittag zum Tempel, wo sie jedoch nicht lange verweilte. Sie sah abgezehrt und verstört aus, und Schelyra vermutete, daß sie im Haus des Keilers gewesen war und entsetzliche Dinge gesehen hatte. Balthasar war, wie sich herausstellte, geistesgestört: Er konnte weder gehen noch reden und war hilflos wie ein Säugling. Verit glaubte, sein Verstand sei wahrscheinlich durch den Kampf zwischen der Wesenheit, die ihn besessen hatte, und der Macht des Gideon-Schwertes ausgelöscht worden. Die Offiziere seiner Armee wurden zu ihm geführt, um sich mit eigenen Augen von seinem Zustand zu überzeugen, und kehrten sofort in ihr Lager zurück. Kurz darauf wurde das Lager abgebrochen. Jeder Befehlshaber nahm seine Soldaten mit, und sie zogen in unterschiedlichen Richtungen davon. Leopold lachte bitter, als Schelyra ihm davon berichtete. »Du weißt, was das heißt, nicht wahr?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind aufgebrochen, um sich kleine Königreiche aus Balthasars Imperium herauszuschneiden, ehe sich die Nachricht verbreitet, daß Balthasar den Verstand verloren hat«, erklärte er. »Ich vermute, sie haben eine Besprechung abgehalten und einander zugesichert, sich etwa ein Jahr lang nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen. Und was dann?« Er zuckte mit den Schultern. »Krieg allenthalben. Vielleicht.« »Vielleicht?« fragte sie, und er hob erneut die Schultern. »Es sind Soldaten, die sehr lange im Krieg waren«, sagte er ruhig, aber mitfühlend, und Schleyra gelangte zu der Überzeugung, daß auch ihm dieses Problem zu schaffen machte. »Sie haben die Chance, in Frieden zu leben. Vielleicht ergreifen sie sie.« Sie kaute eine Weile auf ihren Lippen und meinte dann: »Was wäre, wenn sie einen guten Grund hätten, Frieden zu halten?« Er hob eine Augenbraue. »Zum Beispiel?« »Was ist es, was Menschen stets veranlaßt, Frieden zu halten?« antwortete sie lächelnd. »Ein angenehmeres Leben — das man haben kann, ohne dafür kämpfen zu müssen.« Er senkte die Augenbraue. »Handel?« Sie nickte. »Ja, Handel.« Das wäre ein guter Anfang. 477
68. Adele »Adele« war wieder verschwunden, sobald die Krise vorüber war. Lydana und Saxon waren zu einer Reise aufgebrochen. Als sie zurückkehrten, blieben sie nur kurz, um in aller Eile zu heiraten und noch hastiger die Abdankung zugunsten Schelyras und eines nicht namentlich genannten Gemahls zu unterzeichnen. Dieser Gemahl war dann genannt worden, sobald Leopold sich soweit erholt hatte, daß er sich den tagelangen Zeremonien einer königlichen Hochzeit unterziehen konnte. Er und Schelyra genossen große Beliebtheit, nachdem sie die Schätze des Königshauses großzügig für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt zur Verfügung gestellt und versucht hatten, alle, deren Verluste nicht nur materieller Art waren, so gut wie möglich zu entschädigen. Sie selbst führten ein einfaches, bescheidenes Leben und verzichteten auf jeglichen Prunk, solange Merina selbst noch nicht wieder zu Wohlstand gekommen war. Verit hatte dafür gesorgt, daß die Geschichte ihres Kampfes gegen Apolon im Tempel in der Stadt verbreitet wurde, was sicher zu ihrer Beliebtheit beigetragen hatte. Die Priesterin Elfrida hatte sich stillschweigend unter die Grauen Kutten eingereiht, nachdem das neue Herrscherpaar von Merina die Regierung übernommen hatte. Selbst wenn sie zuweilen versucht war, sich einzumischen wegen etwas, das die beiden gesagt oder getan hatten, hielt sie sich zurück. Sie mußten ihre eigenen Fehler machen — und vielleicht war das, was sie als Fehler ansah, einfach nur Ausdruck der unterschiedlichen Vorstellungen einer anderen Generation. Balthasar war im Laufe von sechs Monaten allmählich immer mehr verfallen, obwohl Cosima und die anderen Heilerinnen sich rührend um ihn gekümmert hatten. Als er schließlich starb, zeigte Leopold ehrliche Trauer, doch er vergoß keine Tränen. Er hatte Elfrida einmal gesagt, die Seele seines Vaters sei schon lange durch Apolons Hand gestorben; dies sei nur der längst fällige, körperliche Tod. Die Gebiete des Imperiums, die keine neuen Herrscher aus Balthasars Armee erhalten hatten, erhoben sich, als die Nachricht von seinem Tod bekannt wurde. Leopold 478
zeigte keinerlei Neigung, das Imperium zurückzuerobern, was Elfrida unendlich erleichterte. Das hatte ihr seit der Hochzeit Sorge bereitet Leopold hatte zwar von vornherein auf den Kaiserthron verzichtet, aber sie hatte gefürchtet, er könne es sich nach seiner völligen Genesung anders überlegen. Die Geburt des ersten Kindes aber war das Ereignis, das sie völlig beruhigte: Leopold war damit zufrieden, nur einen kleineren Stadtstaat zu regieren. Ein Blick in sein Gesicht, als er auf Mutter und Kind herabschaute, sagte ihr, daß dieser Vater niemals Heim und Familie dem Streben nach Macht und Eroberungen opfern würde. Die Tatsache, daß Leopold und Schelyra gemeinsam den Namen »Fidelia Adele« für ihre liebliche Tochter wählten, zeigte ihr, daß Merina jetzt zu seiner Heimat geworden war. Lydana und Saxon kehrten von ihrer zweiten Reise mit der Nachricht zurück, daß sich die Lage im früheren Kaiserreich beruhigt habe und daß viele der neuen Machthaber eher Handelsbeziehungen als bewaffnete Auseinandersetzungen anstrebten. Das waren gute Neuigkeiten. Bevor sie — ausgestattet mit Dokumenten, welche Vorschläge für die Aufnahme von ersten Verhandlungen enthielten — zum dritten Mal aufbrachen, nahmen sie an der Zeremonie der Namensgebung für die neue Thronerbin teil. Der Tempel war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Menschen standen bis auf den Vorplatz. Die königlichen Schatztruhen waren noch einmal geplündert worden, um Essen und Trinken für die ganze Stadt bereitzustellen, und alle Künstler, die in Merina lebten, ob Mann oder Frau, hatten freiwillig ihre Dienste angeboten, um die Feierlichkeiten würdig zu gestalten. Elfrida saß neben Verit auf einem Ehrenplatz am Hochaltar. Lydana und Saxon standen bei dem winzigen, aber kerngesunden Mädchen Pate. Der Tempel selbst war nach dem schrecklichen Kampf vollständig erneuert worden. Das Herz funkelte und glänzte über dem Hochaltar, aber nur dank des Kerzenlichts und der einfallenden Sonnenstrahlen, nicht aufgrund übernatürlicher Kraft. An den Speeren, die vor einem Jahr zur Verteidigung der Priesterschaft eingesetzt worden waren, hingen nun Wandbehänge, so wie es ursprünglich einmal vorgesehen war. Und auch an der Vorderseite des Hochaltars war etwas Neues hinzugekommen: In einem dunklen Kasten mit gläserner Frontseite lag das Gideon-Schwert — eine Mahnung, daß alle, die dem Licht dienten, zuweilen dazu aufgerufen waren, es mit ihrem Leben zu verteidigen. 479
Während die Priester und Priesterinnen frohe Gesänge anstimmten, trugen Schelyra und Leopold - beide in schlichter, aber aufeinander abgestimmter Kleidung — den Säugling vor die Erzpriesterin. Verit hob das Kind dem Herzen entgegen, damit es einen ersten Blick auf das Zentrum des Glaubens in Merina werfen konnte, und Elfrida hielt den Atem an und hoffte, daß das Kind, gerade weil es noch so klein war, nicht zufällig etwas tat, was man als böses Omen hätte auslegen können. Doch die Kleine gluckste nur und langte nach dem hübschen, glänzenden Ding über sich, und als Verit sie anschließend in die Wiege auf dem Altar legte, atmete Elfrida erleichtert aus. Die Aufmerksamkeit wandte sich nun den Eltern des Kindes zu, und Verit gemahnte sie an ihre Pflichten gegenüber ihrem Sprößling. Sie gelobten, das Kind nach bestem Wissen und Gewissen zu unterweisen, zu pflegen und zu lieben. Elfrida beachtete dies alles nicht; sie hatte die Litanei oft genug gehört, und sie zweifelte nicht daran, daß diese Kleine alles bekommen würde, was die Eltern ihr versprachen. Der kleinen Fidelia — sie wurde bereits Delia genannt — würde es an nichts mangeln, was menschlicher Verstand, menschliche Hände und Herzen ihr zu geben vermochten. Verit hob die Hände, um die Eltern zu segnen. Und in diesem Moment, als aller Augen auf die drei Gestalten vor dem Altar gerichtet waren, erschien der Engel und beugte sich über das Kind auf dem Altar. Es war der erste Engel, den Elfrida seit dem furchtbaren Kampf sah, und ihr Herz setzte für einen Augenblick aus. Welche schreckliche Mission führte den Himmelsboten diesmal her? Doch auf dem Antlitz des Engels lag nichts als Weichheit und Liebe, und er beugte sich über das Kind und hielt ihm einen Finger hin. Delia schaute den Engel an, brabbelte lachend und grapschte nach dem dargebotenen Finger. Sie sieht den Engel! frohlockte Adele voller Glück. Sie kann ihn sehen! Die Gabe ist wieder beim Königshaus! Sie lachte beinahe laut auf, so groß war ihre Freude. Endlich, nach drei Generationen, konnte wieder ein Mädchen aus dem Geschlecht des Tigers die Himmelsboten sehen! »Werde glücklich, klug und heiter, Fidelia«, flüsterte der Engel mit einer Stimme, die nur das Kind und die Urgroßmutter vernahmen. »Und wachse im Licht.« Dann verschwand der Engel, und das Kind grapschte nur nach einer herrlichen weißen Blüte. Und die Priesterin Elfrida stimmte in den Freudengesang der anderen ein.